STEPHEN MARLOWE
DIE STADT UND DER FLUCH
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Allgemeine Reihe Band 13146 Erste Auf...
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STEPHEN MARLOWE
DIE STADT UND DER FLUCH
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Allgemeine Reihe Band 13146 Erste Auflage Juli 1979 Zweite Auflage Mai 1988 © Copyright 1976 by Stephen Marlowe All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1988 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: Translation Ins Deutsche übertragen von Dr. Ingrid Rothmann Titelfoto: Gruner + Jahr Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Druck- und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Flèche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-13146-0
Eine Stadt in Angst und Aufruhr. Seit in Martinsburg, Connecticut, die Gemäldesammlung der französischen Partnerstadt eingetroffen ist, häufen sich rätselhafte Gewalttaten. Niemand vermag sich die geheimnisvollen Vorgänge zu erklären. Nur ein junges Mädchen ahnt den Zusammenhang zwischen einem alten Bild und den schrecklichen Ereignissen. Doch wer sollte ihr schon glauben, daß hinter all diesen Verbrechen eine böse Macht der Vergangenheit steckt? Denn in einer Welt der Technik und des Fortschritts hat Schwarze Magie keine Macht mehr. Oder?
1
So früh am Morgen lag die Grand’rue noch verlassen da, und die uralten Pflastersteine waren nebelfeucht. Melody legte die letzte Steigung ungeachtet ihres leichten Hinkens schnell zurück und durchschritt die Torwölbung des Uhrturms. Es war, als verließe man in einem Augenblick das Mittelalter und beträte im nächsten das zwanzigste Jahrhundert. Hinter ihr lagen die verwinkelten Gäßchen der Altstadt, von denen manches so schmal war, daß Melody mit ausgestreckten Armen die Wände zu beiden Seiten berühren konnte. Vor ihr die Place de la Liberté, Hauptplatz des neuen Stadtkerns, auf drei Seiten von Läden gesäumt und auf der vierten von der Route Nationale. Ein großer blauer Bus brauste vorbei und machte den Sprung ins zwanzigste Jahrhundert vollkommen. »Guten Morgen, Melody.« Das war Madame Vautier, die eben den Gehsteig vor ihrem Lebensmittelladen mit einem Reisigbesen fegte. So wie sie den Namen aussprach, klang er allerdings wie Melodiiiie. »Bonjour, Madame«, erwiderte Melody. »Bonjour, Melodiiie.« Das war nun Malancourt, der Bäcker, der einen Riesenkorb mit Baguettes schleppte. Melody erschnupperte den köstlichen Duft des frischen Brotes. »Bonjour, Monsieur«, sagte sie, und der dicke Bäcker reichte ihr mit einem Lächeln eines seiner langen, schmalen Brote. »In Ihrem Alter ist man doch ständig hungrig, nicht?« fragte er. Nun, im Moment hatte sie tatsächlich Hunger. Melody bedankte sich gutgelaunt.
Sie war noch vor dem Frühstück mit der Familie Villiers aus dem Haus gegangen. Viel Zeit hatte sie nicht mehr. Der Bus von Bourg St. Martin nach Paris fuhr mittags ab. Es war Melodys letzter Tag in Frankreich. Nur knappe vierundzwanzig Stunden, und sie würde wieder daheim in Connecticut sein. »Bonjour, Mademoiselle.« Das war der Metzger Trevise, der eben den eisernen Rolladen seines Geschäfts aufschloß. »Bonjour, Monsieur«, sagte Melody und hinkte hastig weiter. Von Anfang an hatten die Dorfbewohner sie herzlicher aufgenommen als das halbe Dutzend anderer Studenten, das für den Sommer aus Martinsburg in Connecticut in die Schwesternstadt Bourg St. Martin gekommen war. Sie argwöhnte, daß der Grund dafür ihr Hinken war und nicht das lange blonde Haar, ihr angeblich spitzbübisches Lachen oder ihr Eifer, alles nur mögliche über Frankreich und Bourg St. Martin in knapp zwei Monaten zu lernen. Sie tat einfach allen leid. Melody hinkte am Rande der Route Nationale dahin. Die Sonne stieg eben über den Befestigungsanlagen der Altstadt empor, und vom Glockenturm schlug es achtmal. Hier in den Ausläufen des Zentralmassivs war es noch immer frühmorgendlich kühl. Eine leichte Brise verwehte den Nebel, der über dem Boden hing. Vor sich hinter einer Straßenbiegung sah Melody die Backsteingarage, den Platz für die Gebrauchtwagen und die drei kleinen Wohnwagen, die das Zuhause der Familie Piedoie bildeten. Bibi Tita, der Matriarchin der Sippe, zufolge hatte die Familie über viele Generationen hinweg Pferdehandel betrieben. Erst nach dem Krieg hatte man mit dem Gebrauchtwagenhandel begonnen. Zigeuner – auf französisch manouches – waren die faszinierendsten Menschen, denen Melody je begegnet war, besonders die alte Bibi Tita, die hin
und wieder für zwanzig Francs die Zukunft aus der Handfläche prophezeite. Indirekt war Melody mit den Zigeunern durch die Bilder im Museum in Berührung gekommen, durch die unheimlichen Bilder des Jean-Baptiste Columbine, dreihundert Jahre alt, weltberühmte Bilder. Columbine hatte unter Zigeunern gelebt und hatte sie gemalt. Das hatte Monsieur Taitbout, der Kurator des Museums, ihr erklärt. Eines Tages hatte sich ihr im Museum ein Junge ihres Alters genähert und sie angesprochen: »Gefallen sie dir?« Der Junge war dunkel und hübsch mit seinem sonderbar schüchternen, unverschämten Lächeln. Rückblickend stellte sie fest, daß er gleichzeitig selbstsicher und dabei auf eine Abfuhr gefaßt schien. »Ja, sie gefallen mir«, hatte sie gesagt. »Was er malt oder wie er malt?« hatte er hastig hinzugefügt. »Nun, wohl beides.« Melody war stolz auf ihr fließendes Französisch, wenn auch ihr Akzent die Amerikanerin im dritten High-School-Jahr erkennen ließ. »Ich heiße Raoul«, hatte der Junge gesagt. »Das ist zumindest mein französischer Name.« »Dein französischer Name?« »Ich bin ein Rom«, erklärte er. »Ein manouche.« »Was?« »Zigeuner«, sagte er von oben herab. »Es heißt Zigeuner. Komm mit, ich bringe dich hin.« Melody hatte gezögert, damals im Hauptsaal des Museums, umgeben von den Gemälden des Jean-Baptiste Columbine. »Wenn du mitkommst, werde ich dir vielleicht meinen richtigen Namen sagen. Oder jedenfalls einen davon.« »Einen?« »Ein Zigeuner hat drei Namen«, sagte Raoul. »Der erste ist sein Geheimname. Den flüstert ihm seine Mutter am Tage seiner Geburt ins Ohr. Der zweite ist der Romani-Name. Der
dritte…« Achselzuckend verlieh Raoul seiner Geringschätzung Ausdruck. »Der dritte ist für die gadje.« »Für die was?« »Für alle anderen. Die tölpelhaften Bauern. Für die gadje. Für die ganze Welt, die nicht zu den Zigeunern gehört. Für dich«, sagte er mit einem plötzlich aufleuchtenden strahlenden Lächeln. In der Folgezeit hatte Melody den größten Teil ihrer Freizeit bei den Zigeunern verbracht. Ja, sie hatte während ihres Sommers in Bourg St. Martin die manouches, zumindest die Familie Piedoie, besser kennengelernt als die Franzosen. Keine Rede davon, daß Piedoie – Gänsefuß – ihr richtiger Name gewesen wäre. Die Zigeuner hatten viel Sinn für Humor. Manchmal aber verhielten sie sich – sonderbar. So wie damals bei ihrer ersten Begegnung mit Bibi Tita. Die Alte hatte sie entsetzt angesehen, so, als – Melody fand keinen anderen Vergleich – hätte sie einen Geist erblickt. Nun trat Raoul aus dem an der Straße stehenden Wohnwagen, eine dampfendheiße Tasse Kaffee in der Hand. In dem Maße wie Melody im Laufe des Sommers ihre Scheu abgelegt hatte, war er immer schüchterner geworden. Sie wußte, daß er in sie verschossen war. Für sie war er ein Freund, mit dem man entlang des Flußufers unterhalb der Stadt Spazierengehen oder ein Glas Wein im Café trinken und mit dem man auch gelegentlich als Reaktion auf den flehenden Blick seiner großen traurigen Augen einen unschuldigen Kuß tauschen konnte. Seine Großmutter Bibi Tita war es, die sie seltsam faszinierte nach jener ersten Begegnung. Aus Raoul war bereits ein Franzose geworden, aber Bibi Tita war Zigeunerin durch und durch. »Ist sie schon auf?« fragte Melody Raoul, der ihr entgegenkam.
»Sie schläft doch kaum drei Stunden«, sagte Raoul. »Natürlich ist sie schon wach. Heute ist dein letzter Tag hier, und du kannst an nichts anderes denken als an Bibi Tita.« Er stieß einen Seufzer aus. »In Amerika wirst du dich dann kaum mehr an meinen Namen erinnern können.« »Wie heißt du denn?« fragte Melody leise. »Wie lautet dein wirklicher Name?« Er war drauf und dran, es ihr zu sagen, das spürte sie deutlich. Doch da füllte auch schon Bibi Tita den schmalen Eingang am Wohnwagenheck aus und stieg die drei Holzstufen herunter. Sie trug ein Kopftuch und baumelnde Goldohrringe, ein geblümtes Miederoberteil und eine Unmenge weiter, knöchellanger Röcke übereinander. Der oberste war tiefblau. Bibi Tita – Tante Tita – mußte mindestens achtzig sein. Ihr rundes walnußfarbiges Gesicht war ebenso zerfurcht wie eine Walnuß bis auf jene Stellen, wo die Haut sich straff und glatt über die hohen Backenknochen unter den großen dunklen Augen spannte. Zu Raoul gewendet sagte sie obenhin: »Stell Stühle hinter die Garage. Und laß uns dann allein.« »Kann ich denn nicht…« »Nein. Und die anderen Rom auch nicht.« Rom hieß Zigeuner in der Romani-Sprache, es hieß aber gleichzeitig auch Mensch. »Nur Melody.« Raoul brachte die Stühle – zwei hölzerne, steiflehnige und unbequeme Stühle – und stellte sie hinter der Garagenwand auf die blanke Erde. Abwartend blieb er stehen. »Geh jetzt«, brummte Bibi Tita mit ihrer tiefen Stimme, und Raoul ging, nachdem er sich noch einmal nach Melody umgedreht hatte. »Also, du kleine gadji mit dem gebrochenen Flügelchen«, sagte Bibi Tita. Sie stopfte ihre Messingpfeife mit Tabak und
zündete sie an. Der Rauch roch herb. »Du verläßt uns heute also und fliegst über die Weite eines Ozeans in deine Heimat. Die Rom sind zwar Wanderer, doch den Ozean, den haben wir immer gehaßt und gefürchtet. Merkwürdig, nicht?« Und ganz unvermittelt fragte sie: »Und was fürchtest du, Melody?« »Ich? Ich weiß es nicht. Den Tod. Oder daß meinem Vater etwas zustößt.« »Deiner Mutter nicht?« »Meine Mutter ist tot«, sagte Melody darauf. Bibi Tita beugte sich vor. »Erzähl mir von deinem Vater.« »Mein Vater? In gewisser Weise ist er wie du, wie die Rom. Sein ganzes Leben lang auf Wanderschaft, bis er diese Zeitung in Connecticut kaufte. Er ist groß und sieht gut aus und – ach, ich weiß nicht, man kann ihn so schwer beschreiben. Er ist stark und dabei sanft und…« »Du hast ihn lieb«, bemerkte Bibi Tita trocken. Sie saß noch immer vorgeneigt da, und Melody legte ihr, einem Impuls folgend, die Hand mit der Handfläche nach oben aufs Knie. »Du sollst mir die Zukunft voraussagen, Bibi Tita.« Dieses Verlangen wirkte auf die Alte wie eine Beleidigung. Sie zuckte zurück, paffte kopfschüttelnd an ihrer Pfeife, schob die Hand von ihrem Knie wie etwas Lebloses, nicht zu Melody Gehörendes. »Wahrsagen ist nichts für dich. Du bist meine Freundin. Das Leben ist ein Spiel, bei dem die gadje meist verlieren. Wenn ich ihnen wahrsage, wollen sie meist ihre Befürchtungen bestätigt haben und nicht ihre Hoffnungen verwirklicht…« »Dann kannst du also gar nicht wahrsagen?« fragte Melody enttäuscht. Wie oft hatte sie gesehen, wie Frauen sich in dem Wohnwagen hinter der Garage aus der Hand wahrsagen ließen. Die alte Zigeunerin kicherte. »Ich bin die phuri dai, die weise Frau meines Volkes. Ich kann die Vergangenheit deuten und nicht die Zukunft. Früher aber, als wir auf Wanderschaft
waren, da konnte ich manchmal sehr wertvolle Hinweise bekommen, wenn ich so tat, als läse ich die Zukunft aus der Hand eines gadji.« Bibi Titas Pfeife war ausgegangen. Sie klopfte sie an der Stuhlkante aus und stopfte sie von neuem. »Aber die Vergangenheit, die kann doch jeder deuten«, sagte Melody. »Das ist Geschichte.« »Geschichte, die geschriebene Geschichte«, wurde ihr erklärt, »ist das, was die Gelehrten daraus machen wollen. Wir Zigeuner haben keine schriftlich überlieferte Geschichte. Wir haben nur eine Tradition, vom Vater an den Sohn, von der Mutter an die Tochter, weitergegeben. Aber darin liegt Wahrheit. Die macht, daß die Zeit sich verflüchtigt.« Melody sagte, sie verstünde dies nicht. »Ich kann mich noch auf das besinnen, worauf meine Großmutter sich besinnen konnte, weil sie es mir sagte, und sie wiederum wußte noch, was ihre Großmutter ihr weitergegeben hatte, und diese wieder hatte es von ihrer Großmutter. Ein paar alte Weiblein wie ich der Reihe nach – und schon ist man zurückversetzt in die Tage eines Jean-Baptiste Columbine, der mit den Rom umherzog und sie malte«, fuhr sie fort. »Und was ist aus der Zeit geworden? Nicht die Zeit ist es, die vergeht. Wir sind es, die durch die Zeit gehen. Wußtest du, daß Columbine aus diesem Dorf fliehen mußte? Damals war es ein kleines Dörfchen, nicht größer als der alte Teil innerhalb der Mauern – damals vor dreihundert Jahren. Jetzt ist Columbine natürlich der berühmteste Bürger von Bourg St. Martin. Jetzt…« Bibi Tita strich ein hölzernes Zündholz an und setzte damit ihre Pfeife in Brand. »Erzähl mir etwas über deine Heimatstadt.« Ihre dunklen Augen blickten Melody an und hielten sie fest.
»Das ist eine richtige Kleinstadt. Ein Städtchen mit etwa zwanzigtausend Einwohnern. Wir haben eine große Textilfabrik und…« »Nein, mein Kind«, äußerte Bibi Tita voller Ungeduld. Noch nie hatte Melody solche Augen gesehen. »Mich interessiert das Gemeinsame der Stadt in den Vereinigten Staaten und dieser Stadt hier. Martinsburg, das ist doch die englische Übersetzung von Bourg St. Martin?« »Anfang des achtzehnten Jahrhunderts«, sagte Melody, »gründeten einige Bürger von Bourg St. Martin die Stadt Martinsburg. Und als vor zwanzig Jahren die Sache mit den Schwesterstädten begann…« »Die Namen«, sagte Bibi Tita. »Nenn mir die Namen.« Sie faßte nach Melodys Hand und hielt sie fest. Trocken waren ihre Finger und voller Kraft. »Namen? Was für Namen?« »Die Namen derer, die von hier kamen und die Stadt gründeten.« »Die kenne ich nicht«, sagte Melody. »War ein Ramezay darunter?« »Ein was? Das klingt aber gar nicht wie ein amerikanischer Name.« »Dann eben so ähnlich.« Der Druck der trockenen Finger lockerte sich. »Wie heißt dein Vater?« »Garrick«, sagte Melody. »Robert Garrick.« Bibi Titas Lippen wurden ganz schmal. Sie kniff die Augen zusammen. Es sah aus, als hielte sie den Atem an. Plötzlich bekam Melody es mit der Angst zu tun. »Das ist auch ein französischer Name«, sagte Bibi Tita. »Nein, du irrst dich. Die Familie meines Vaters kam aus England.«
»Französisch«, sagte Bibi Tita tonlos. »Der heilige Martin ist der Schutzheilige dieser Stadt. Das weißt du doch sicher? Ist er auch der Schutzpatron deiner Heimatstadt?« Melodys Angst wich von ihr. »Bei uns gibt es keine Schutzheiligen.« »Der Knecht des heiligen Martin ist der Teufel«, sagte Bibi Tita, und die Angst war wie weggeblasen. »Du glaubst an den Teufel?« fragte Melody. Diese Frage wunderte Bibi Tita sehr. »Glaubst du an Gott?« lautete ihre Gegenfrage. »Ja.« »Wenn es einen Gott gibt, dann gibt es auch einen Teufel. Wie wäre sonst der traurige Zustand der Welt zu erklären?« Und dann fuhr sie fort: »Die Gemälde von Columbine werden in deine Heimat geschickt?« »Ja. Im November.« Bibi Tita flüsterte mit geschlossenen Augen. »Dann bleib bei uns. Geh nicht zurück.« »Du weißt, wie gerne ich bliebe. Aber ich muß zurück.« »Bleib. Bleib bei uns. Du könntest eine der unseren werden, du kleine, blonde Romi.« »Ich würde gerne bleiben, wirklich. Aber ich muß nach Hause.« »Es heißt, daß wir wieder auf Fahrt gehen. Die Straßen liegen vor uns. Ich könnte dir vieles zeigen«, drängte Bibi Tita. Melody spürte, daß sie dringend gebeten wurde. »Den Schrein der Schwarzen Madonna in Saintes-Maries-de-la-Mer, den Pferdemarkt in Sevilla, das Dorf in den Niederlanden, wo Columbine während seiner geistigen Umnachtung malte.« »Ich möchte im nächsten Sommer wiederkommen. Vielleicht erlaubt es mein Vater.« Bibi Tita sah sie an. »Das könnte zu spät sein. Wer weiß, wie lange ich noch zu leben habe.«
»Ich werde nächsten Sommer wiederkommen, und du wirst dasitzen und den dummen gadje wahrsagen«, meinte Melody lächelnd. »Ja, natürlich wirst du kommen. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Bibi Tita erhob sich, eine hochgewachsene, als Zigeunerin verkleidete großmütterliche Frau. Kein bißchen furchteinflößend. Was ist nur los mit mir? dachte Melody bei sich. »Ich habe für dich ein Geschenk«, sagte Bibi Tita. »Das sollst du nach Amerika mitnehmen.« Melody wartete, während die Alte sich zum Wohnwagen schleppte, die drei Stufen erklomm und im Inneren verschwand. Und dann kam sie wieder und hatte etwas in gelbes Wachstuch Gewickeltes dabei. Sie wickelte es aus, und Melody sah ein kleines, in Leder gebundenes Büchlein. Sie drückte es Melody in die Hand. Der Ledereinband war fleckig und am Rücken eingerissen, die Ecken verbogen. »Schlag es auf«, forderte Bibi Tita sie auf, und Melody tat, wie ihr geheißen. Auch die Seiten sahen aus wie Leder, so vergilbt waren sie. Da und dort fehlte eine Ecke, und manche Stellen schimmerten grünlich. Das muß wohl Schimmel sein, dachte Melody. »Es gehörte meiner Großmutter«, erklärte Bibi Tita. »Und zuvor ihrer Großmutter und noch früher deren Großmutter – bis zurück in die Tage des Jean-Baptiste Columbine.« Melody sah eine der Seiten näher an. Eng mit der Hand beschrieben, die Tinte stellenweise verblaßt, daß der Text unleserlich wurde. Etliche Wörter konnte sie mühelos sofort lesen, doch war die Handschrift im ganzen nicht leicht zu entziffern. Sie las die französischen Ausdrücke für Arzt und Priester und Tochter. »Versprich mir, daß du es lesen wirst.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffen werde. Mein Französisch ist noch nicht so gut. Was ist es denn?« »Versprich es mir«, sagte Bibi Tita. »Na gut – ich werde es lesen. Und – vielen Dank, Bibi Tita.« Ein Buch war nun wirklich das allerletzte, was Melody sich von einer Zigeunerin als Geschenk erwartet hätte. Zigeuner galten allgemein als Analphabeten. Bibi Tita zeigte die Andeutung eines Lächelns. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte sie. »Ich kann Französisch und Ungarisch und Spanisch lesen, aber das sag ja niemandem. Das wäre mir sehr peinlich.« Melody war nun leichter zumute. Das war wieder die alte, köstliche Bibi Tita. »Du hast es gelesen?« fragte Melody. »Mehr als einmal.« »Und was ist es eigentlich?« »Das Notizbuch von Columbine, das er schrieb, als er wahnsinnig wurde. Das hat mir jedenfalls meine Großmutter gesagt. Natürlich könnte es auch eine Fälschung sein. Wer weiß?« »Glaubst du, daß es eine Fälschung ist?« »Nein.« Sie ging auf Melody zu und umarmte sie innig. »Komm uns nächsten Sommer wieder besuchen.« »Ja, bestimmt.« »Und achte auf dich, Kind.« »Keine Angst, ich kann gut auf mich achtgeben. Leb wohl, Bibi Tita.«
2
Am Martinstag, dem 11. November, war Bibi Titas schimmerndes, blauschwarzes Haar glanzlos, ja, es zeigte sich sogar eine Spur von Grau darin. Sie wirkte bleich und teilnahmslos. Und am Morgen, als alle manouches in die Stadt zogen, um wie üblich am Martinstag selbstgefertigten Schmuck zu verkaufen, blieb sie im Wohnwagen. »Kommst du denn nicht mit?« fragte Raoul. »Nein.« »Du solltest zu einem Arzt gehen«, riet ihr der Junge. »Ich war in meinem ganzen Leben bei keinem Arzt. Warum sollte ich jetzt damit anfangen? Wenn ich sterbe, dann sterbe ich. Ist heute Martinstag?« »Ja, natürlich.« »Worauf wartest du noch? Geh und verhökere deinen Tand an die dummen gadje.« »Wenn du möchtest, dann bleibe ich bei dir.« »Nein, das möchte ich nicht«, äußerte sie verdrossen, und Raoul nahm seinen Koffer voller Ringe und Schals und gehämmerter Kupfer- und Blechsachen und machte sich über die Route Nationale auf den Weg in die Stadt. Bibi Tita wartete eine halbe Stunde und folgte ihm dann. Auf dem freien Platz zwischen Madame Vautiers Lebensmittelladen und dem Tor zur Altstadt unter dem Glockenturm sah sie einen kleinen Lieferwagen, einen Citroën mit Pariser Nummer. Im Tor tauchten gerade zwei Männer auf, die eine flache, rechteckige Kiste mit sich schleppten. Bibi Tita nahm vor dem Wagen mit der Pariser Nummer Aufstellung. »Vom Museum?« fragte sie.
Derjenige, der ihr das Gesicht zuwandte, eine Zigarette an die Lippe geklebt, sah sie an, wie nur ein Pariser jemanden ansehen konnte. Ihre Frage beachtete er nicht weiter. »Zigeunerin«, sagte er abschätzig zu seinem Kollegen. Vorsichtig schleppten sie die Kiste ans Heck des Wagens. Es war ein kalter Tag, und der Wind blies stürmisch von den Höhen des Zentralmassivs. Nur ein paar Neugierige hatten die geheizte Terrasse des Café St. Martin verlassen und sahen beim Verladen zu. Ein Polizeibeamter war auch zur Stelle, die Dienstmütze tief in die Stirn gezogen. Er rieb sich vor Kälte die Hände. Die zwei Männer verschwanden durch das Tor wieder in der Altstadt. »He, Tantchen«, fragte der Beamte, »wo hast du heute deinen Kram gelassen? Gibt es bei dir am Martinstag nichts zu kaufen?« Das zynische Lächeln setzte er den Zuschauern zuliebe auf. Bibi Tita sagte kein Wort. Sie wartete, bis die zwei Männer mit einer zweiten Kiste zurückkamen, und sah zu, wie sie diese in den Lieferwagen verluden. Ein zweiter Polizist folgte ihnen, und ein paar Kinder liefen hinterdrein. »Das hätten wir«, sagte der zweite Polizist. »Die Bilder von Jean-Baptiste Columbine?« fragte Bibi Tita. Der zweite Polizist war ihr gut bekannt. Er teilte nicht die Verachtung seiner Kollegen für die Zigeuner. »Ja, sicher«, erklärte er. »Diese da und die Hälfte der Museumsbestände. Mon Dieu, man könnte mit Goldbarren nicht vorsichtiger umgehen. Wasserabstoßendes Papier und für die Ecken eigens eine Polsterung.« »Für Amerika?« fragte Bibi Tita. »Die Bilder werden noch heute von Paris aus per Flugzeug hinübergeschickt«, bestätigte er ihr. »Und sie kommen noch am Martinstag drüben an. Das macht die Zeitdifferenz von fünf
Stunden«, sagte er zu der Zuschauerschar gewandt. Er lächelte selbstzufrieden über sein Wissen. »Fünf Stunden und beinahe dreihundert Jahre«, sagte Bibi Tita. Die zwei Männer aus Paris stiegen vorne ein. Der Wagen startete, setzte ein Stück zurück, wendete und fuhr los. Bibi Tita spürte, wie ihr Herz pochte. Sie schleppte sich ein paar Schritte hinter dem Wagen her, fiel plötzlich nach vorne zu Boden. An jenem Abend wurde trotz der Kälte eine Matratze vor den Wohnwagen gelegt, damit Bibi Tita unter freiem Himmel sterben konnte. Bei den Zigeunern gilt es als Unglück, im Bett oder im Hausinnern zu sterben. Das Geheimnis des Todes kann wie das Geheimnis der Geburt ein Haus verunreinigen. Es sind Vorgänge der freien Natur. Bibi Tita lag, in drei Wolldecken gehüllt, seitlich auf der Matratze. »Möchtest du, daß der Arzt kommt, Tantchen?« fragte Raoul. »Wenn eine Romi im Sterben liegt, dann stirbt sie.« »Dann also den Priester?« »Nun ja«, sagte Bibi Tita mit mattem Lächeln, »mir nützt es zwar nichts mehr, aber den Priester wird es wohl glücklich machen.« Sie versuchte, sich aufzusetzen und sank zurück auf die Matratze. Sie zitterte am ganzen Leibe. Raoul machte seinem Vetter Gilbert mit einer Kopfbewegung ein Zeichen. Natürlich war Gilbert nicht dessen richtiger Name. »Hol den curé«, sagte er, und Gilbert verließ den vom Feuer geworfenen flackernden Lichtkreis und lief los. Raoul hielt die Stuhllehne so fest umklammert, daß seine Knöchel hervortraten. Bibi Titas Linke ließ den Stuhl los. Sie murmelte etwas auf romani vor sich hin, die Augen weit aufgerissen. Ihre Lippen bebten. Ihre Großmutter? Hatte sie
etwa »Großmütter« gemurmelt? Für Raoul war die Großmutter einer über Achtzigjährigen schwer vorstellbar. »Tantchen?« fragte er. Bibi Tita stieß keuchend etwas hervor. Raouls Vater kniete neben ihr nieder. Ihre Stimme wurde immer schwächer. Die Augen waren weit aufgerissen, ihre Züge verzerrt. »Die Art… wie sie hinkt?« fragte Raouls Vater kopfschüttelnd und verständnislos. Bibi Titas rechte Hand ließ das Stuhlbein los. Raouls Vater brauchte ihre letzten Worte nicht zu wiederholen, obwohl die letzten Worte einer phuri dai, einer weisen Frau, wiederholt werden sollen. Bibi Titas Hals mußte sich anstrengen, den Kopf zu heben. »Dieselbe«, sagte sie mit deutlicher, fester Stimme. »Die kleine gadji mit dem gebrochenen Flügel.« Bibi Titas Haupt sank zurück. Sie war tot. Raouls Vater kam mit dem Priester in dessen Wagen. Und das Klagen und Jammern der Zigeuner setzte ein.
3
Die großen, achtzehnrädrigen Laster dröhnten anmaßend durch die Nacht, beleuchtet wie sechs Wochen zu früh geschmückte Weihnachtsbäume – und alle trugen sie die Namen bekannter Firmen – Hemingway, North American, Mayflower –, lauter alte Bekannte von Matthias Hawley, den das Alter, seine schlechte Sehkraft und das Trinken auf einen fünf Jahre alten Eineinhalbtonner beschränkten, der kaum die Stadtgrenzen von Martinsburg, Connecticut, verließ. Er verlangsamte das Tempo im Regen und roch den eigenen Bierdunst, der von der Windschutzscheibe zurückgeworfen wurde. Eine Windbö erfaßte den Wagen, als er in die Autobahnausfahrt einbog. Vielleicht gibt es Glatteis, dachte er bei sich. Eigentlich noch zu früh für die zweite Novemberwoche, aber die Kälte hatte schon eingesetzt. Noch zwanzig Meilen, eine gute halbe Stunde bei diesem Wetter, und er konnte die Ladung Mister Garrick übergeben, der mit den vielen großen Tieren vor dem Zeughaus wartete. Vielleicht schaffte er es noch rechtzeitig nach Hause und konnte sich die letzten Minuten des Footballspieles noch anschauen. Ein feiner Mensch, dieser Mister Garrick. Immer wenn Matthias Hawley am Steuer seines Wagens aus der Stadt fuhr und sich so fühlte wie früher, als er durch das ganze Land zigeunerte, dann war es wie im Auftrag Mister Garricks von der Zeitung. Matt Hawley stand als Fahrer noch immer seinen Mann, und das Bier konnte ihm nicht viel anhaben, redete er sich ein, doch der häufige Griff zur Bourbonflasche, das war etwas anderes. Wie oft hatte er in letzter Zeit auf der Polizeistation
von Ned Revere eine Moralpredigt einstecken müssen? Bleib bei deinem Bier, Bier schadet nicht, sagte er sich jetzt und wünschte doch, er hätte nicht auf dem Rückweg vom Kennedy Airport an der Raststelle für Fernfahrer drei Bier gekippt, während sein Wagen sich draußen im Regen zwischen zwei Riesenbrummern duckte und Matt Hawley sich drinnen mit Mac und Floyd zuprostete, mit Mac, den er von früher kannte, und mit Floyd, einem neuen, pickelgesichtigen Grünschnabel, der so jung war, daß er um ein Haar sein Enkel hätte sein können. Denn wenn er die Ladung übergab, würde Mister Garrick seine Bierfahne riechen, so, wie Matt sie selbst riechen konnte, wenn sie von der Windschutzscheibe reflektiert wurde. Er hätte Tabletten für frischen Atem bei sich haben sollen wie der junge Floyd, der mit seinem Riesenlaster von Virginia her unterwegs war. Hawley stieß einen Seufzer aus und stieg vor der langgestreckten Kurve aufs Gas, ehe er die Straße Frenchman’s Creek überquerte, was der Name eines Buches und eines Filmes gewesen war, wie Emmy ihm erklärt hatte. Emmy, die nun seit fünf Jahren tot war, was vielleicht seine Gefräßigkeit und sein Trinken erklärte. Vielleicht. Nein, noch kein Glatteis, aber die Glätte feuchter Blätter, die wie angeleimt auf der Fahrbahnoberfläche hafteten, als der Wind das Fahrzeug erfaßte. Kein Verkehr, seitdem er von der Autobahn herunter war, nur der Regen, der in Streifen vor den Scheinwerfern herunterströmte. Er überquerte den Bach, über dem sich die Straße auf Brückenbreite verengte. Nun waren es nur noch vier Meilen bis zum Zeughaus im Zentrum von Martinsburg, in der Rivoire Street. Die lange Kurve lief eine halbe Meile hinter dem Bach, den man in manchen Gegenden Fluß genannt hätte, aus, und die noch von den Frostaufbrüchen des vergangenen Winters
punktierte Straße verlief gerade und kreuzte die Staatsstraße 62; ein Warnlicht über der Kreuzung, Rot für die anderen, Gelb für ihn, und hinter der Kreuzung begann praktisch schon Martinsburg. »Du könntest eine große Fracht, sagen wir einen großen Haus-Trailer, blindlings von der Autobahn bis in die Stadt bringen«, hatte Emmy mehr als einmal behauptet. »Du kennst jedes Stück der Straße so genau, als hättest du es eigenhändig gepflastert.« Emmy, dachte er betrübt, und seine Gläser beschlugen so, daß er sich später einreden konnte, es hätte einen Sekundenbruchteil verminderte Sicht gegeben, und er hätte nicht erkennen können, was da auf der 62. daherkam und die rote Ampel glatt überfuhr. Ob er nun Sicht hatte oder nicht. Er spürte jedenfalls das Unbehagen. Es war ein Instinkt, oder wie hätte man es sonst nennen sollen, wenn man schon so lange einen Laster fuhr? Etwas Unsichtbares. Unhörbares. Und dennoch spähte man vorgebeugt hinaus in die Dunkelheit und umfaßte das Lenkrad fester, auf alles gefaßt. Die Scheibenwischer schwangen, die Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit, ein Reifen holperte in ein Schlagloch, und der Regen, der fast ein Schneeregen war, prasselte aufs Dach. Das Unbehagen verschärfte sich zur Furcht. Piloten hätten Verständnis dafür aufgebracht. Piloten, die überlebt hatten, jedenfalls. Das gelbe Licht blinkte. Es schwankte im Wind an dem über die Straße gespannten Kabel. Er sah nichts entgegenkommen, sah nichts im Rückspiegel, sah weder rechts noch links etwas auf der 62. die auf ihrer eigenen Brücke den Bach querte. Sein Mund war wie ausgedörrt und dazu dieses heftige, beschleunigte Herzklopfen – völlig grundlos, denn Matts
eigenes Frühwarnsystem hielt ihn zum Narren, wie er sehen konnte. Er gab Gas, fluchte laut, weil seine Furcht unbegründet war, andernfalls hätte er die Gefahr ja längst sehen müssen. Geringschätzig verzog er das Gesicht und stieg aufs Gas, als das schwingende gelbe Warnlicht näher kam. Und dann trat er heftig auf die Bremse und verriß das Steuer nach rechts, um dem auszuweichen, was nun auf der Kreuzung in seinen Scheinwerferstrahlen auftauchte, blitzartig, wie im Film eines Autokinos. Er spürte das Gleiten und Rutschen, spürte, daß er die Herrschaft über den Wagen verlor, als zuerst der rechte Vorderreifen und dann der rechte Hinterreifen auf den unbefestigten Rand gerieten. Er wollte das Fahrzeug wieder auf die Fahrbahn bringen, doch es tat einen Satz nach vorne, sackte ab, und plötzlich kamen kleine Nadelbäume mit großer Geschwindigkeit auf ihn zu, splitternd, im Vorübergleiten an der Windschutzscheibe scharrend. Und wieder Bäume, als er auf zwei Rädern seitlich das Ufer entlangglitt mit dem Wissen, daß er sich ebenso sicher überschlagen würde, wie er wußte, daß er nicht gesehen haben konnte, was er auf der 62. gesehen hatte.
Mit einem Blick auf den großen Plan von Martinsburg an der Wand im Zeughaus sagte der Franzose: »Aber natürlich, Mister Garrick.« Er strich über seinen bleistiftdünnen Schnurrbart und schob seine Bifokalgläser den Nasenrücken hoch. »So schön! Und so praktisch!« »Das war Melodys Idee, Monsieur Taitbout«, sagte Robert Garrick. Melody, die neben ihnen inmitten der Menschenmenge vor dem Stadtplan stand, schaffte es, bescheiden und selbstzufrieden gleichzeitig auszusehen.
»Am Morgen werden die Tafeln angebracht«, erklärte Garrick, indem er mit einem Stab hindeutete. »Gemeindewiese. Das ist einfach. Die nennen wir dann Place de la Liberté.« »Großartig«, meinte Monsieur Taitbout. »Die Rivoire Street wird zur Grand’rue, die Ank Street zur Route de Thiers.« »Und man hat uns sogar erlaubt«, warf Melody ein, »draußen vor der Stadt an der Straße Tafeln aufzustellen und die US 44 in Route Nationale umzubenennen.« »Mademoiselle, es wird dank Ihnen fast so wie in Bourg St. Martin«, versicherte Taitbout ihr mit französischer Galanterie. »Außerdem dürfen wir ein Straßencafé eröffnen«, sagte Garrick. »Draußen vor Nicks Eisdiele, verglast.« »Das Café St. Martin«, erklärte Melody. »Natürlich«, bestätigte Monsieur Taitbout lächelnd. »Die Sachen müssen bald da sein«, meinte Garrick. »Der Fahrer hat vom Flughafen aus angerufen.« »Alles in Ordnung?« »Der Laster wurde vor knapp vier Stunden beladen.« »Hm, und Sie sagten, es wären knapp hundert Meilen. Das sind wie viele Kilometer?« »Etwa hundertsechzig.« »Vor vier Stunden?« »Matt Hawley ist ein verläßlicher Fahrer.« Monsieur Taitbout zeigte sich besorgt. »Ein sehr vorsichtiger Fahrer«, tröstete Garrick ihn. »Er wird wegen des Regens wahrscheinlich langsamer fahren.« Alvin Waugh, der Magistratsvorsitzende von Martinsburg, nickte mit seinem Kahlkopf und zupfte am Ohrläppchen. Er war von ständiger Unruhe erfüllt. »Scheußliches Wetter draußen.«
»Die Gemälde Columbines allein stellen einen unschätzbaren Wert dar«, ließ nun Taitbout, noch immer beunruhigt, hören. »Fünf große Stücke aus seiner Zigeunerperiode. Fünf Meisterwerke. Einfach unbezahlbar. Und auch die unbedeutenderen Werke.« Er zählte sie nervös an den Fingern ab. »Eine Kopie der Büste Colberts von Coysevox. Das Original befindet sich natürlich in Versailles. Eine Studie für Mignards Kardinal Mazarin. Die Totenmaske des Sieur de Ramezay. Und schließlich die Münzen und Medaillen und kostbaren Bücher – ich könnte noch lange fortfahren. Unser Museum in Bourg St. Martin ist zwar nicht groß, aber im Laufe der Jahre haben wir eine Sammlung zusammenbekommen, auf die wir stolz sein können.« »Sicher zu Recht«, sagte Alvin Waugh. Er sah auf die Uhr und warf Garrick einen nervösen Blick zu. Dann zupfte er Hemd- und Jackenärmel zurecht. Daß Garrick Matt Hawley zum Flughafen geschickt hatte, statt in New York einen Laster zu mieten, hatte ihn nicht wenig gewundert. Monsieur Taitbout war kleingewachsen und reichte Garrick kaum bis zur Schulter. »Sie werden doch die ColumbineGemälde in den Hauptsaal hängen? Die roten Backsteinwände würden hervorragend dazu passen. Ein schöner Bau«, setzte er hinzu. »Eine architektonische Sehenswürdigkeit.« Garrick wechselte einen kurzen Blick mit seiner Tochter. In Martinsburg galt das Zeughaus als Monstrosität. Türmchenund zinnenbewehrt, so erhob es sich massiv auf der einen Seite der Gemeindewiese als in Stein gehauene Anomalität, die die architektonische Einheit des Kolonialstils empfindlich störte. Monsieur Taitbout warf nun einen unverhohlenen Blick auf die Uhr. »Halb zwölf«, sagte er, und gleichzeitig kam ein Polizist in Uniform herein. Sein Regenmantel war triefendnaß, das Wasser lief ihm vom Mützenschirm. Verlegen sah er von Alvin Waugh zu Garrick.
»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Mr. Garrick?« fragte der Polizist. Er war neu in der vierzig Mann starken Polizeimannschaft von Martinsburg. Garrick fiel sein Name nicht ein. »Was ist denn?« fragte Garrick, und der junge Mann nahm die Mütze ab und sagte: »Unter vier Augen, wenn ich bitten darf, Sir.« Garrick sonderte sich einen Schritt weit ab und hörte sich an, was der Mann zu sagen hatte. Dann winkte er dem Magistratsvorsitzenden, der sich an der Tür zu ihnen gesellte. Alvin Waugh runzelte die Stirn so stark, daß auch der kahle Skalp sich verzog. Er war ein knochiger, dünner Mann, beinahe so groß wie Garrick, und stand nun da, das Gewicht auf einen Fuß verlagert wie ein nervöser Storch. »Hawley?« fragte er. »Die Verkehrspolizei hat uns über Funk benachrichtigt. Ned Revere ist schon draußen«, berichtete Garrick. »Matt Hawley hatte einen Unfall.« Alvin Waugh verkniff sich das »Habe-ich-es-nicht-gesagt?« Die vier Meilen schafften sie in wenig mehr als drei Minuten, wobei der Heulton des Einsatzfahrzeuges ihnen in kurzen, wilden Stößen vorauseilte. »Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen«, sagte der junge Polizist. »Das ist doch keine Polizeisirene.« »Das war die Idee von Polizeichef Revere«, meinte Garrick. »Nach französischer Art für den Monat der Verbrüderung.« »Und dazu die Trikolore über Rathaus und Zeughaus, neben dem Sternenbanner.« Der junge Mann lachte. »Und ich soll wohl französische Strafzettel schreiben?« »Hat Revere gesagt, ob der Unfall schlimm war?« »Dem Fahrer geht es gut. Der Laster ist über eine Böschung am Frenchman’s Creek abgerutscht. Hat sich überschlagen. Sie müssen wissen, daß ich Französisch spreche.«
»Wie?« fragte Garrick. Er war in Gedanken bei den Columbine-Gemälden und anderen Kunstschätzen. »Ich war zwei Jahre auf dem College. Ich bin Charlie Dahlgren. Seit einem halben Jahr bin ich da. Vorher war ich bei der New Yorker Polizei.« »Ja, jetzt kann ich mich erinnern.« Dahlgren hatte ein glattrasiertes, jungenhaftes Gesicht mit blonden, langen, bis an die Ohrläppchen reichenden Wangenkoteletten. Er sah einem College-Studenten ähnlicher als einem Polizisten. »Ein ruhiges Städtchen, dieses Martinsburg. Das kommt einem nach New York jedenfalls so vor. Hier in der Gegend tut sich wohl nicht viel. Für einen Polizisten der richtige Ort zur Familiengründung.« »Sie haben Familie?« »Nein«, sagte Dahlgren. Er räusperte sich. »Wie kommt es übrigens, daß sie hinkt?« »Sie meinen Melody?« Dahlgrens Stimme klang nun so, als wäre er errötet. »Ja.« Garrick hatte keine Lust, darüber zu sprechen. »Autounfall«, sagte er knapp. »Ach.« Dahlgren trat auf die Bremse. »Da sind wir.« Garrick sah vorne im Regen Lichter am Straßenrand und zwei rotierende rote Polizeileuchten, eine auf Ned Reveres Kreuzer, die zweite auf dem Einsatzfahrzeug der Verkehrspolizei. Dahlgren stellte die Sirene ab und blieb hinter dem Wagen des Chefs stehen. Die Vordertür auf der Fahrerseite stand offen, das Standlicht brannte, und der mit achthundert Kerzenstärke brennende Suchscheinwerfer bohrte sich in die Tiefe hinunter zum Ufer, wo Matt Hawleys Laster umgekippt lag. Garrick besah sich den Laster als erstes. Der starke Scheinwerfer nagelte ihn da unten praktisch fest. Garrick sah tiefe Reifenspuren und die Fährte geknickter Baumschößlinge.
»He, Rob«, rief Ned Revere, und Garrick ging rüber zur offenen Tür des Chefwagens. »Ned«, sagte Robert Garrick. »Alles okay, Matt?« »Heiliger Bimbam, Mister Garrick, es tut mir ja so leid«, sagte Matt Hawley zur Begrüßung. Er hockte zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, den Kopf gesenkt, die Schultern hängend, am Boden zerstört. »Alles in Ordnung bei dir?« »Das schon, aber was für eine blöde, gottverdammte dumme Sache habe ich da gebaut.« Ned Revere meinte: »Rob, setz dich nach hinten. Der Abschleppwagen von Ghizes Garage ist schon unterwegs. Es wird noch eine Weile dauern.« »Du warst schon unten beim Wagen?« fragte Garrick beim Einsteigen. »Hinten alles aufgerissen«, sagte Ned Revere. »Hoffentlich war das Zeug versichert.« »Ich stehe dafür grade«, sagte Matt Hawley. »Es ist versichert«, antwortete Garrick. Hinter Ned Reveres Kopf gewahrte er Dahlgren, der eben in den Einsatzwagen der Verkehrspolizei kletterte. »Pferde«, sagte Matt Hawley. »Aber Matt«, sagte Revere mit warnendem Unterton, »fang doch nicht schon wieder mit diesem Humbug an! Damit machst du für dich alles noch ärger.« »Vier der größten Pferde, die ich je gesehen habe«, fuhr Hawley unbeirrt fort. »Na klar doch«, sagte Revere. »Als nächstes wirst du uns noch rosa Elefanten auftischen. Wieviel hast du intus?« »Zwei Bier, vielleicht auch drei. Aber ich bin stocknüchtern, das schwöre ich zu Gott.« »Aber Matt«, ließ Revere sich wieder vernehmen. »Mister Garrick, Sie glauben mir doch?« jammerte Hawley.
»Was ist eigentlich passiert, Matt?« Ned Revere verrenkte sich den Hals über seine breite uniformierte Schulter. »Sagen Sie bloß nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« »Weiter oben am Warnlicht – an der Kreuzung mit der 62.« Garrick sah das gelbe Warnlicht im Wind schwanken. »Ich war ganz langsam, blieb fast stehen. Nichts kam entgegen. Aber ich hatte so ein Gefühl. Hatten Sie schon mal so ein Gefühl? Hatten Sie schon mal so ein Gefühl, Mister Garrick?« »Na sicher. Das kennen wir alle. Weiter, Matt.« »Also, ich sehe nichts. Und im nächsten Augenblick… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.« »Du hast es schon gesagt«, mahnte Revere ihn gelangweilt. »Ganz plötzlich«, fuhr Matt tonlos und unbeirrbar fort, »kommt doch dieser Pferdewagen über die Kreuzung, so blitzartig wie aus einem Fernseher.« »Und die Pferde waren etwas ganz Besonderes«, warf Ned Revere ausdruckslos ein. »Stimmt’s, Matt?« »Dazu komme ich noch, Chef«, sagte Hawley. »Die haben den Wagen nicht einfach gezogen, nein, die sind gerannt. Galoppiert. Meine Scheinwerfer haben es deutlich gezeigt. Gedampft haben sie. Und groß waren die. Riesengroß, wie eineinhalb normale Pferde, alle vier. Fast hätten sie sich aufgebäumt, wie sie heranpreschten. Und um die Hufe diese dichten Haarbüschel. Haben Sie schon mal solche Pferde gesehen? Ich nicht. Ich weiß, Sie glauben, ich wäre angetrunken gewesen und hätte weiße Mäuse gesehen, Chef. Mister Garrick, sehe ich betrunken aus?« »Nein«, gab Garrick zurück. Hawley sah stocknüchtern aus. »Stimmt«, sagte Ned Revere. »Das macht der Schock.« »Ich schwöre, daß ich nicht betrunken war. Ich wollte den Pferden ausweichen und geriet ins Schleudern. Und landete da
unten. Na, das haben Sie ja gesehen. Lieber Gott, noch nie im Leben hat mir etwas so leid getan.« »Und wo sind die Pferde jetzt?« fragte Ned Revere. Schweigen. Schließlich sagte Hawley verdrossen: »Die bäumten sich auf, als hätten sie eine Schlange gesehen. Und der Wagen kippte um.« »Wo ist er?« Hawley saß da und sagte nichts. Er seufzte. Garrick roch schwachen Bierdunst. Hawley deutete in eine Richtung. »Da drüben müßte er sein.« »Und?« »Er… er… verschwand.« »Hieß es nicht eben, er wäre umgekippt?« »Ja. Ich sah, wie er umkippte.« »Na, wo ist er dann?« »Wie wenn man den Fernseher abdreht«, äußerte Hawley. Und er wartete, daß jemand etwas sagte. Irgend etwas. Und als keiner ein Wort verlauten ließ, da begannen seine Schultern zu zucken, und man hörte sein Schluchzen. »Da kommt der Abschleppwagen«, sagte Ned Revere. Gleich darauf standen sie alle draußen im Regen, Dahlgren am Suchscheinwerfer seines Wagens, Revere bei seinen Scheinwerfern. Sie durchbohrten den umgekippten Laster mit ihren Lichtstrahlen, während Harry Ghize die Böschung hinunterkletterte und hinunterrutschte. »Mister Garrick, Sie glauben mir doch?« Garrick wußte nicht recht, was er darauf sagen sollte. Ihm fiel ein, wie der Alte geweint hatte. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sie glauben mir?« »Schon gut, Matt. Es wird alles wieder gut.« »Ja, sicher. Man wird den Laster raufziehen. Aber was ist mit mir? Mir wird niemand auch nur eine Ladung alter Kanister für
die Müllhalde anvertrauen. Jetzt nicht mehr. Ein Auto. Ich hätte sagen sollen, mir wäre ein Auto entgegengekommen. Das hätte man mir geglaubt. Aber es war keines.« Hawley ging auf die andere Straßenseite, und Garrick ging mit ihm. Da standen sie nun im Regen am Rand der Fahrbahn. Und plötzlich deutete Hawley auf etwas. »Verdammt noch mal, sehen Sie doch. Wer spinnt jetzt? Wer ist jetzt der verrückte Betrunkene, Mister Garrick?« Im fahlen, unheimlichen Licht am Rande des von den Scheinwerfern geschaffenen Kreises sah Garrick tiefe, parallele, etwa fünf Fuß voneinander entfernte Radspuren. »Und einfach so verschwunden«, sagte Matt Hawley. »Wie wenn man den Fernseher abdreht.«
4
Monsieur Taitbouts rundes Haupt hob sich langsam aus seinen gewölbten Händen. »Ich habe es ihnen gesagt«, jammerte er. »Ich habe ihnen spezielle Instruktionen gegeben. Ganz spezielle. Rahmen entfernen. Rahmen separat verpacken. Als Vorsichtsmaßnahme, müssen Sie wissen. Es ist einfach sicherer. Aber hat man das gemacht? Nein, hat man nicht. In Bourg St. Martin wird es ein großes Köpferollen geben.« Es war Viertel vor zwei. Charlie Dahlgren und die halbe freiwillige Feuerwehr von Martinsburg hatten die Ladung von Matt Hawleys Laster in den Hauptsaal des Zeughauses geschafft. Monsieur Taitbout höchstpersönlich hatte mit einem Spezialschraubenzieher den Deckel der am ärgsten beschädigten Kiste entfernt. Eine Ecke war eingedrückt. »Der Rahmen«, stöhnte Taitbout. »Blattgold, feinstes Blattgold. Haben Sie eine Vorstellung von der dafür erforderlichen Arbeit? Aber wie könnten Sie auch!« Trotz der Polsterung war der prunkvoll verzierte Rahmen an der Stelle abgesplittert, wo die Kiste eingedrückt worden war. Man sah blankes Holz. »Sie glauben wohl, das Gold ist bloß aufgemalt?« fragte Monsieur Taitbout. »Ist es nämlich nicht. Es ist richtiges Gold.« Er schloß die Augen. Und noch vorsichtiger als die Verschnürung löste er das Abdeckband, das das satinierte Papier festhielt. Jetzt wurde das Bild sichtbar. »›Das Zigeunerlager‹ von Jean-Baptiste Columbine«, sagte er andächtig. Garrick, der hinter ihm stand, besah sich das Gemälde. Es war eine Nachtszene, die Bäume des
Hintergrundes waren nur undeutlich sichtbar. Zur Linken stand ein Gefährt, das wohl ein Zirkuswagen sein mochte. Den Vordergrund beherrschte ein Lagerfeuer, über dem ein Kessel dampfte. Eng um das Feuer hatten sich Zigeuner geschart. Man konnte die Kälte direkt spüren. Monsieur Taitbout rief klagend: »Eine Perforation!« Erneut verschwand sein Kopf in den Händen und kam wieder zum Vorschein. Vorsichtig berührte er das winzige Loch mitten in der Leinwand. »Durch die Farbschichten und die Grundierung hindurch. Sogar die Leinwand wurde beschädigt«, stöhnte er. Er holte tief Luft. Ein Schaudern überlief ihn. »Öffnen wir die anderen«, sagte er. Und das brauchte seine Zeit, weil Taitbout darauf bestand, die meiste Arbeit selbst zu tun, und weil er des öfteren innehielt und sich in einem kleinen Notizbuch die Schäden notierte. Schließlich wurde es vier Uhr. Kisten und Kartons waren über den Boden verstreut. Bilder und Drucke sorgfältig auf dem Tisch aufgereiht, die Statuen aus Marmor und Bronze dort aufgestellt, wo noch Platz war. »Nun, es hätte schlimmer sein können«, sagte Taitbout schließlich. »Die Kopie der Büste von Colbert ist eine Katastrophe! Einfach hoffnungslos. Gottlob handelt es sich nur um eine Kopie. Und was alles übrige betrifft, so sind nur die Bilder von Columbine ernsthaft beschädigt. Haben Sie eine Zigarette, Mr. Garrick? Ich habe das Rauchen nämlich aufgegeben.« Garrick gab ihm eine Zigarette und reichte ihm Feuer. Monsieur Taitbout hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger in der hohlen Hand. Doch er führte sie nicht an den Mund. »Nur die Columbine-Bilder«, wiederholte er kopfschüttelnd. »Was für ein seltsames, qualvolles, tragisches Leben dieser
Mann geführt hat. Aber aus Qual und Schicksalsschlägen erwächst große Kunst, ist es nicht so?« Die Männer von der freiwilligen Feuerwehr saßen da und warteten. Charlie Dahlgren sah Garrick an. Ned Revere gähnte und streckte sich, einen Blick zur Decke werfend. Garrick sagte: »Wenn Sie Hilfe brauchen, Monsieur Taitbout, dann…« »Eine Ironie des Schicksals, ja, die größte Tragödie im Werk und Leben von Columbine ist es, daß sein großartigstes Bild, sein Meisterwerk, für die Welt verloren ist.« Monsieur Taitbout starrte die kalte Zigarette an. »Vorausgesetzt, daß er es überhaupt gemalt hat. Uns liegen Skizzen aus der Hand eines anderen vor – ich kann sie Ihnen morgen zeigen. Die ihn in seiner letzten Periode kannten – in seiner sogenannten schwarzen Periode, während des ersten Jahrzehnts des achtzehnten Jahrhunderts –, schrieben, daß er es tatsächlich malte. Dennoch…« Ned Revere sah angestrengt zur Decke hoch. Garrick fragte: »Können die Restaurierungsarbeiten hier durchgeführt werden, oder müssen Sie die Bilder verschicken? Wir richten uns da ganz nach Ihren Wünschen.« Alvin Waugh fingerte nervös an sich herum. »Monsieur Taitbout, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es uns tut, daß dies alles passieren mußte.« »Das mußte so kommen. Genau so«, sagte Taitbout. »Wie schon gesagt, Schmerz und Tragödie haben Columbine sein Leben lang heimgesucht.« Er sah zu Garrick hin. »Es ist wie beim Berg und dem Propheten. Entweder müssen die Bilder hier weg, oder aber die Konservatoren kommen samt ihrer Ausrüstung hierher.« »Hm«, sagte Alvin Waugh und runzelte die Stirn. »Wir haben für den französischen Monat schon verdammt viel Mühe
aufgewandt. Wenn die Bilder hier bleiben könnten, wüßten wir es sehr zu schätzen.« Ganz unerwartet rang Monsieur Taitbout sich ein Lächeln ab. »Wenn man sie wegschickt, nach Boston oder New York, dann sind sie meinem Einfluß entzogen. Wenn sie bleiben, dann kann ich die Arbeiten selbst überwachen. Entendu? Mir wäre es auch lieber, wenn die Bilder hier blieben. Ich wurde am Institut Royal du Patrimoine Artistique in Brüssel ausgebildet. Aber ich brauche einen Konservator, der Experte für Columbine ist. Ein fast so großer Experte wie ich. Ich muß etliche Anrufe tätigen.« »Kelly«, sagte er schließlich. »Kelly?« wiederholte Ned Revere. »M. A. Kelly, Konservator am Institute of Fine Arts der Universität von New York. Wir werden uns Kelly holen.« »Das wäre also geregelt«, meinte Revere. »Wollen wir nicht Schluß für heute machen?« Charlie Dahlgren war sichtlich einverstanden, aber Taitbout hatte nicht mal hingehört. Er zog wieder sein Notizbuch zu Rate. »Hat jemand eine Kiste gesehen?« fragte er. Alle hatten jede Menge Kisten gesehen, dachte Garrick bei sich, Kisten, deren Deckel behutsam geöffnet und deren Inhalt ebenso behutsam ausgepackt worden war. »Eine Holzkiste«, erläuterte Monsieur Taitbout. Garrick sah, wie Ned Revere alle Holzkisten musterte. »Von der Größe einer großen mallette? Was Sie etwa Reisetasche nennen? Eine richtige Kiste, keiner dieser großen Verpackungsbehälter.« Diese Kiste befand sich nicht im Saal. Charlie Dahlgren ging mit einem Feuerwehrmann nach draußen und meldete sodann, daß die Kiste auch nicht im Laster war.
»Münzen, Schmuck, was Sie vielleicht Kleinkram nennen würden«, sagte Monsieur Taitbout. »Jener Teil der Sammlung mit dem geringsten Wert, aber dennoch… Könnten wir wohl an die Unfallstelle zurück? Vielleicht ist sie vom Wagen heruntergefallen.« Ned Revere konnte den Franzosen schließlich überreden, bis zum Morgen zu warten.
»Du lieber Himmel«, sagte Garrick, während er den Mantel auszog. »Du bist noch auf?« Melody saß mit untergeschlagenen Beinen auf der Couch. Das lange, weizenblonde Haar hing ihr bis zur Taille. Sie trug einen gesteppten rosa Morgenrock. »Hausaufgaben«, sagte sie und klappte ein Buch zu. Sie stand auf, kam auf Zehenspitzen auf ihren Vater zu und gab ihm einen Kuß. »Um halb sechs Uhr morgens?« »Französische Kunstgeschichte«, erklärte sie. »Ich habe mich in diesen Columbine richtig vergraben, Daddy. Was für ein sonderbares Leben er doch geführt hat. Möchtest du warme Milch oder sonst etwas? Es ist auch noch Suppe da.« »Ja, einen Drink. Aber du gehst jetzt zu Bett.« »Nein, nein. Ich hätte jetzt Lust auf einen kleinen Imbiß. Wie ist es übrigens gelaufen?« Garrick berichtete ihr von der im Zeughaus verbrachten Nacht, während sie ihm einen Scotch mit Wasser eingoß. Er trank das Glas zur Hälfte leer und lächelte. »Ich habe noch nicht das Stadium für warme Milch vor dem Zubettgehen erreicht.« »Ach, so habe ich es nicht gemeint«, sagte Melody, die mit einem Riesensandwich aus der Küche kam. »Du weißt genau, daß du allerhöchstem wie dreißig aussiehst.«
Garrick war neununddreißig. »Und dazu sehr gut aussiehst«, setzte sie kauend hinzu. »Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du aussiehst wie Paul Newman, nur viel jünger?« Zwei der vier Jahre seit dem Tod ihrer Mutter hatte Melody in einem Internat verbracht. Dann hatte Garrick bei dem Sender gekündigt, bei dem er bis dahin gearbeitet hatte. Er hatte die Martinsburg News gekauft und war in das große alte Haus an der Rivoire Street eingezogen. Melody hatte ein Zuhause gebraucht, in dem sie wieder Wurzeln schlagen konnte. Nach dem Tode ihrer Mutter war sie immer verschlossener geworden. Und dazu kam ihr Hinken. »Es liegt kein physiologischer Grund dafür vor«, hatte der New Yorker Orthopäde Garrick erklärt. »Der Bruch ist längst in Ordnung. Es muß also psychologische Gründe haben. Sie leidet an Schuldgefühlen.« Damals hätte Garrick seinen Vertrag lösen und kündigen sollen. Er tat es nicht. Er war in seinem Beruf auf dem Gipfel angelangt und hatte den Schock von Catherines Tod noch nicht überwunden. Und er versuchte seinen Entschluß damit zu begründen, daß es für Melody schlecht gewesen wäre. »Möchtest du auf ein Internat?« »Wohin?« »Wohin du willst.« Sie entschlossen sich für eine alte renommierte Schule in der Umgebung von Boston. Melody fand sich mit ihrem Hinken ab, schloß wieder Freundschaften, weil Garrick es von ihr erwartete – und lebte nur für seine Besuche. Wenige Monate vor Auslaufen seines Vertrages bot sich dann die Gelegenheit, die Martinsburg News zu kaufen. Er bereitete Melody damit eine Überraschung, damit und mit dem großen, aus der Kolonialzeit stammenden Haus an der Rivoire Street.
Es war an ihrem fünfzehnten Geburtstag. Sie hatte geweint, so glücklich war sie darüber gewesen. Das erste Jahr in Martinsburg war noch nicht ganz vergangen, da wußte Garrick schon, daß sein Entschluß richtig gewesen war. Noch nie hatte er Melody so lebensfroh gesehen und so zufrieden. Er hatte keinerlei Bedenken, sie den Sommer über nach Frankreich zu schicken, und nach ihrer Rückkehr war sie, wenn möglich, noch fröhlicher gewesen. Jetzt fragte Melody: »Wie geht es Mr. Hawley?« »Er blieb unverletzt. Aber er fühlt sich natürlich elend.« »Ich werde ihn gleich besuchen. Ich habe Brot gebacken.« »Vergißt du dabei nicht eine Kleinigkeit? Die Schule?« »Ich versäume höchstens die erste Stunde.« »Nun ja, Matt wird sich sehr freuen, wenn du ihn besuchst.« Garrick trank sein Glas leer. Er dehnte und streckte seine müden Schultern. »Wenn du das machst, siehst du wie ein Bär aus.« »Na, dann wird dieser Bär jetzt ein paar Stunden Winterschlaf halten. Der morgige Tag wird viel Arbeit bringen.« »Ich mache die Lichter aus, Daddy.« Garrick teilte ihre blonden Haarschwingen und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Ach, übrigens«, sagte Melody und rückte von ihm ab. »Das hätte ich beinahe vergessen. Eve Talbot hat angerufen.« Dabei machte sie das Gesicht, das sie immer aufsetzte, wenn von Eve die Rede war. Eve Talbot war Reporterin bei Garricks ehemaliger Rundfunkgesellschaft, und zwar eine ausgezeichnete Reporterin. Garrick gestattete sich keinen Gedanken daran, wieviel sie ihm bedeutete. Melody machte es ihm nicht leicht. »Sie möchte in den nächsten Tagen kommen.« »Wann denn?«
»Sie ruft noch an. Sie meint, daß sie aus unserem Verbrüderungsmonat eine Story machen könnte.« »Und wie sie das könnte! Besonders jetzt, nach diesem Zwischenfall.« »Ja«, sagte Melody und starrte den Teppich an. »Ich weiß. Du hast sie sehr gern, nicht?« »Ja, sicher.« »Sie ist so… ich weiß nicht. Sie sollte nicht so offensichtlich… na, du weißt schon.« »Nein, Püppchen, ich habe keine Ahnung.« Melody wandte sich ab. »Ach, schon gut. Mensch, bin ich müde. Gute Nacht, Daddy!« Beim Hinaufgehen hinkte sie stärker als sonst.
5
Melody hörte das Rattern und Dröhnen der Druckmaschinen, als sie das Haus neben der Martinsburg News durch den Hintereingang betrat und die Treppe zur kleinen Wohnung hinaufstieg, die Matt Hawley im zweiten Stock gemietet hatte. Sie hatte einen Wecken Brot bei sich, den sie für Matt gebacken hatte. Französisches Brot. Natürlich hatte sie kein steingemahlenes Mehl zur Hand gehabt und keinen französischen Backofen mit Dampfdüsen, die dem Brot die knusprige Kruste mit dem Nußgeschmack verliehen. Aber es kam einem französischen Brot sehr nahe. Jeden Samstag brachte sie Matt Hawley eine Stange Weißbrot – lang und dünn wie ein richtiges baguette. Das heutige Brot brachte sie ihm außer der Reihe. Nachdem der Ärmste das alles durchgemacht hatte und sich womöglich Vorwürfe machte… »Miß Melody«, empfing er sie im offenen Eingang. Melody hörte das Stimmengewirr aus dem Fernsehapparat hinter ihm. »Das ist doch nicht etwa Brot, was ich da rieche?« Melody hatte das Brot hinter ihrem Rücken versteckt gehalten, uneingewickelt wie in Frankreich. Sie ging an Matt vorbei ins unaufgeräumte kleine Wohnzimmer, dann weiter in die Küche und legte das Brot auf den Tisch. Die Fernsehstimmen verebbten, die Tür wurde geschlossen. Matt Hawley kam in die Küche. Er sah alt und abgespannt aus und war unrasiert. Während Melody das Brot aufschnitt und mit Butter bestrich, stellte er Wasser für den Kaffee auf. »Heute ist aber nicht Samstag«, sagte Matt Hawley. »Ich habe mehr Teig gemacht als geplant.«
Sie aßen in freundschaftlichem Schweigen. Der Kaffee schmeckte beinahe so jämmerlich, wie das Brot gut war. Matt Hawley tat einfach etwas Kaffee ins Wasser und hoffte auf gutes Gelingen. Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. »Dienstagsbrot. Schmeckt besser als samstags«, meinte er. »Wie steht es eigentlich mit den Bildern?« »Alles in Ordnung, Mr. Hawley«, versicherte Melody. »Mein Vater meinte, der Schaden wäre gar nicht so groß.« »Hat er Ihnen gesagt, was da eigentlich passierte? Von den Pferden? Ich schwöre, daß es nicht meine Schuld war.« »Niemand hat gesagt, es wäre Ihre Schuld.« »Ach was. Polizeichef Revere sagte…« »Ach, diese flics«, warf Melody ein. »Diese was?« »So nennt man in Frankreich die Polizisten, wenn man wütend auf sie ist.« Matt schüttelte den Kopf. »Ich bin gar nicht wütend auf ihn. Er ist wütend auf mich.« »Und wie fühlen Sie sich?« fragte Melody. Der alte Lastwagenfahrer schob die Schultern hoch. »Während der Nacht ging es mir tadellos. Aber heute morgen fühle ich mich, als hätte ich mit dem Hammer eins übergekriegt. Aber ich werd’s wohl überleben.« »Sie sollten zu Dr. Tom gehen.« »Ich denke nicht daran. Ein Arzt macht einen erst richtig krank. Aber warum sind Sie nicht in der Schule?« »Ich gehe später. Ich versäume nur die erste Stunde Mathe«, schloß sie mit dem dritten Stirnrunzeln dieses Morgens. »Na, wenn Sie die nächste Stunde noch erwischen wollen, müssen Sie sich auf die Beine machen.« Matt sah auf die Uhr. »Es wird Zeit für die Neun-Uhr-Nachrichten.«
Er stand auf und ging ins Wohnzimmer. Melody hörte Fernsehgeräusche, während sie hastig das Geschirr spülte. Matt stand vor dem Farbfernseher, als sie ins Wohnzimmer ging und den Mantel anzog. Er drehte sich wortlos zu ihr um. Merkwürdig sah er aus und irgendwie nervös. Eintönig dröhnte der Nachrichtensprecher vor sich hin. »Vielen Dank für das Dienstagsbrot«, sagte Matt Hawley. Auch seine Stimme war merkwürdig verändert. Er sah über Melody hinweg in die Luft. Seine Augen waren leer, wie bloße Abbilder von Augen. Melody spürte, wie sie fröstelte. Nur ein Frösteln. Sekundenlang konnte sie sich nicht rühren. Matt Hawley hatte seinen Hosenlatz geöffnet und stand so da, starrte mit leeren Augen an Melody vorbei und zeigte ihr sein Geschlechtsteil. Melody wandte sich hastig zur Tür. Sie faßte nach der Klinke. Da hörte sie hinter sich einen Laut – ein verzweifeltes Schluchzen. Sie mußte sich umdrehen. Matt Hawley saß zusammengesackt im Sessel neben dem Fernseher. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er hatte seine Blöße bedeckt. »Miß Melody?« Sie wußte nicht, was sie hätte sagen sollen. »Miß Melody, ich schwöre, daß ich nicht weiß, was mich eben überkommen hat. Ich weiß es nicht.« Melody nickte. Zu mehr war sie nicht in der Lage. »Niemals«, fuhr er fort, »niemals habe ich so etwas getan.« Er warf ihr einen gequälten Blick zu. »Sie werden es niemandem sagen? Ihrem Vater nicht und sonst auch niemandem? Wenn ein alter Mann damit anfängt, dann steckt man ihn in eine Anstalt.«
»Es ist nichts passiert«, sagte Melody nach einer Weile. »Gar nichts. Leben Sie wohl, Mr. Hawley. Samstag komme ich wieder.« »Sicher?« »Aber sicher.« Melody ging. Der anfängliche Schock war dem Gefühl des Mitleids gewichen. Noch nie im Leben hatte ihr jemand so leid getan.
Für Rob Garrick war es immer ein Grund zur Belustigung, wenn Polizeichef Ned Revere ihn in seinem Büro besuchte. Es war ein kleiner Raum und bot knapp Platz für den großen Schreibtisch, ein paar Aktenschränke und zwei Stühle. Der hochgewachsene schlanke Garrick füllte es vertikal aus. Der kleinere, aber breitschultrige und stämmige Revere, der die Ausmaße eines Fasses hatte, füllte es horizontal. »Komm rein, Ned.« Revere nahm die Schirmmütze ab. Sein dichtes, kurzgeschnittenes Haar wurde schon grau. Er hatte sanfte braune Augen und ein Kinn wie eine Axtklinge. Revere war Junggeselle, der letzte Nachkomme einer alteingesessenen Martinsburger Familie. Andernorts hätte man sein Interesse als für einen Polizisten höchst sonderbar eingestuft, das wußte Garrick. Nicht aber in Martinsburg. Er liebte Barockmusik, historische Romane und die Gedichte von Robert Frost. Sein Lieblingssport war Tennis, das er mit der unbeirrbaren, etwas bedächtigen Entschlossenheit der untersetzten Menschen betrieb. »Verdammt verrückter Tag heute«, sagte er und setzte sich. »Vierzig Mann haben wir in unserer Truppe – sehr viel für eine Stadt dieser Größenordnung, ausreichend für drei Schichten und hin und wieder eine Partie Bridge in der
Polizeizentrale.« Revere steckte sich eine Zigarette an. »Heute aber nicht.« Es war kurz vor vier. Es hatte sich wieder bewölkt und sah ganz nach Regen aus. »Verrücktes Zeug«, fuhr Revere fort. »Hat uns heute tüchtig in Trab gehalten.« Garrick nickte. »Ich kenne diese Tage, Ned. Die Belegschaft läuft sich die Hacken schief, um überhaupt damit klarzukommen.« »Und nicht ein einziger schwerwiegender Fall darunter«, sagte Revere. »Das ist ja das Komische daran. Es war, als – ich möchte lieber einen Vergleich gebrauchen: Nehmen wir an, Martinsburg wäre ein Typ aus einem Drama. Heute benahm sich die Stadt nicht rollengemäß.« Garrick widersprach nicht. »Erstens: Stella Lubrano, eine kleine Italienerin, die einen kleinen Chevy fährt und in zwanzig Jahren nicht mehr verbrochen hat, als auf der falschen Straßenseite zu parken. Kaum zu glauben, aber heute raste sie mit sechzig Meilen pro Stunde die Rivoire Street entlang. Zweitens: Eine Clique von High-School-Halbwüchsigen kommt zu Nick rein und bestellt Bier. Er bringt es ihnen. Du kennst ja Nick. Wenn man bei dem nicht aussieht wie mindestens Mitte Vierzig, dann sieht er rot. Die meisten waren noch nicht sechzehn und sahen auch danach aus. Als dann ein Streifenbeamter reinkam und Nick zur Rede stellte, da machte der ein ebenso überraschtes Gesicht wie der Cop. Er kommt mit einer Verwarnung davon. Diesmal. Drittens: Sergeant Whitlock kommt zur Frühschicht. Unterwegs geht er am Pfarrgarten hinter der Kongregationalistenkirche vorbei. Und sieht, wie Miles Pritchard schlafwandelt.« »Miles? Ein Schlafwandler?«
»Nicht so richtig. Aber er hatte einen Alptraum. Fing an zu schreien und schwenkte die Arme. Whitlock mußte ihn tüchtig schütteln, bis er ihn wachkriegte. Nächster Punkt – nun, in der Tour geht es weiter. Fünfundzwanzig oder dreißig Bagatellfälle. Verrücktes Zeug. Zwei oder drei Fälle dieser Art pro Tag wären schon viel. Was soll das alles?« Garrick hatte keine Ahnung. »Hm, vielleicht hat sich die ganze Stadt entschlossen, verrückt zu spielen. Aber alles in allem war der Tag nicht schlecht. Man muß auch die guten Seiten sehen. Monsieur Taitbout ist ein Nervenzusammenbruch erspart geblieben.« »Ach ja, diese Kiste. Der Großteil des Inhalts wurde unversehrt geborgen. Vor einer halben Stunde wurde es hereingeschafft. Dahlgren ist mit einer Busladung von Schülern der High-School noch draußen.« »Fehlt sehr viel?« »Ach, höchstens ein paar Münzen«, sagte Ned Revere achselzuckend. »Nichts Wichtiges, aber das hält die jungen Leute natürlich nicht von einer richtigen Schatzsuche ab.«
»Das wäre also die Unfallstelle«, sagte Charlie Dahlgren. Er stand am Straßenrand, die Hände in die Hüften gestützt, die Mütze zurückgeschoben. »Der Laster hat sich dort unten überschlagen.« Er deutete hinunter. »Beim letzten Aufprall ging die Hecktür auf, und die Kiste fiel raus. Seht ihr die geknickten Schößlinge? An diesem Felsen fanden wir die Kiste, offen, das Zeug überall verstreut. Das meiste konnten wir bergen. Aber es fehlen noch immer ein paar Dinge. Das Gestrüpp ist leider sehr dicht, es dürfte also nicht allzu leicht werden. Ein Glück, daß wir nicht Sommer haben. Da müßten wir nämlich das Buschwerk an den Wurzeln rausziehen.«
Zwanzig High-School-Studenten hörten ungeduldig zu. Sie wollten endlich mit der Suche beginnen, mit der Schatzsuche. Dann aber kam Dahlgren auf die Technik zu sprechen, die angewendet werden sollte, und plötzlich war ihr Interesse geweckt. Das war ja richtige Polizeiarbeit. Richtig professionell. »Es gibt vier grundlegende Methoden«, erklärte Dahlgren und hielt einen Augenblick inne, während sein Blick an Melody hängenblieb. »Streifenmethode, Zonenmethode, Spiralen- und Radmethode. Im Inneren eines Gebäudes wenden wir meist die Zonen- oder Streifenmethode an. Die könnten wir hier auf ebenem Boden ebenfalls anwenden. Aber da unten suchen wir mit Hilfe der Radmethode. Noch irgendwelche Fragen?« »Ein großes Rad?« fragte Craig Donaldson in unschuldigem Ton. Craig war mehr oder weniger Melodys Freund. Er benutzte jedenfalls die Wörter »mehr oder weniger«, wenn sie von ihrer Beziehung sprachen. Sie hingegen benutzte die Wörter »nicht ganz«. »Ach komm, Craig«, flüsterte sie, »das ist eine ernste Sache. Und du bist nicht fair gegenüber Dahlgren.« »Dieser Dahlgren ist in dich verknallt«, sagte Craig. »Er ist zu alt.« »Mindestens dreiundzwanzig.« »Mindestens«, sagte Melody, und dann redete wieder Dahlgren. »Also, wir alle gehen da hinunter und denken uns den großen Stein da als Radnabe. Sodann rücken wir nach außen entlang den Speichen vor.« Gleich darauf schwärmten sie vom Felsen aus, der an der tiefsten Stelle der Wasserrinne in die Erde eingebettet war, fünfzig Fuß von der Straße entfernt und etwa dreißig Fuß unter Straßenniveau. Craig und Melody folgten einer gedachten
Speiche die Böschung hinauf durch Schlamm und Gestrüpp bis zur Straße. Craig faßte nach Melodys Hand und hielt sie zurück. »Du bist zu schnell«, sagte er. »Bin ich nicht.« »Wie willst du bei diesem Tempo etwas finden?« Melody wollte sich umdrehen und ihm antworten. Craigs Kopf aber befand sich in der Höhe ihrer Knie. Er stieß einen Freudenschrei aus und richtete sich mit einer Münze in der Hand wieder auf. »Ich bin reich!« sagte er. Melody mißfiel seine selbstzufriedene Miene. »Alles nur eine Frage der Konzentration«, erklärte er ihr herablassend. Es war ein Tag, an dem es ihr schwerfiel, Craig Donaldson nett zu finden. Bei diesem ersten Versuch wurde ansonsten nichts gefunden. Sie versammelten sich also von neuem um den Stein. Melody hatte keine Lust, Craig wieder bei der Suche zu helfen. Sie blieb bei Dahlgren am Felsen, während die anderen fächerförmig ausschwärmten. »Müde?« fragte er und wich ihrem Blick ein wenig aus. »Ich müde? Keine Spur«, versicherte Melody. »Ach, ich weiß, was Sie meinen. Nein, das Hinken behindert mich nicht.« »Hinken ist eigentlich zuviel gesagt. Man sieht es ja kaum«, Dahlgren wechselte das Thema. »Wie ist es da drüben in Frankreich?« »Hübsch«, sagte Melody. »Ich möchte eigentlich auch mal da hinüber. Einfach hier abhauen und drüben ein Jahr bleiben. Ich möchte Europa richtig kennenlernen. Das muß wohl der Zigeuner in mir sein.« »Zigeuner wollen gar nicht auf Fahrt gehen«, meinte Melody. »Sie müssen einfach. Das ist wie ein Trieb – wie bei den Zügen der Vögel.«
Charlie Dahlgren räusperte sich. Ihm fiel kein passendes Thema mehr ein. Melody ließ ihn stehen und ging los, den steilen Hang zur Straße hoch, ohne richtig zu suchen. Sie erklomm die Böschung und kam zur Straße. Hier drehte sie sich um und beobachtete ihre Mitschüler, die gebückt vorrückten, im Boden stocherten und sich langsam entlang der gedachten Radspeiche bewegten. Fast hatte sie sich entschlossen, weiter mitzumachen, als Craig wieder einen Freudenschrei ausstieß. Sie war zu weit entfernt, um sehen zu können, was er diesmal gefunden hatte, aber gefunden hatte er etwas, soviel stand fest. Sie drehte sich um und starrte in die entgegengesetzte Richtung. Craig war eigentlich nicht so übel. Die meiste Zeit über war er ganz nett. Aber im Moment war er unerträglich aufgeblasen. Ein Auto näherte sich ganz schnell, sauste vorbei. Melody überlegte, ob sie wieder in die Senke hinunter sollte. Und dann überquerte sie aus keinem ersichtlichen Grund die Straße. Sie bemerkte zwei tiefe Radspuren auf dem noch immer aufgeweichten Seitenstreifen. Sie folgte den Spuren zu einer flacheren Senke und sah hinunter. Da sah sie einen schwachen Schimmer im Gestrüpp, und später würde sie sich immer daran erinnern, daß sie nicht sofort hinunterging, um nachzusehen, was das war. Sie blieb stehen und starrte zu der Stelle hin. Und zum erstenmal seit Monaten meldete sich in ihrem linken Bein ein leises Schmerzgefühl. Das Schimmern war noch immer da und wartete dort unten auf sie. Wartete – eine seltsame Art, zu denken, da »warte« etwas, sagte sie sich und ging los. Was immer es sein mochte, es war jedenfalls in einen Heckenrosenstrauch gefallen. Dornen zerkratzten ihre Hände, als sie sich zu dem Ding hindurcharbeiten wollte, das aussah
wie ein Goldrahmen, der etwas Dunkles umgab. Etwa zweimal zwei Fuß groß. Ein Bilderrahmen? Ein einziger Tropfen Blut fiel von ihrer Hand auf den dunklen Teil. Und dann kämpfte sie darum, es den Dornenzweigen zu entwinden. Sie wollten nicht nachgeben, hielten es fest, ließen nicht locker. Doch als Melody endlich erkannte, was es war, da schrie sie vor Begeisterung auf.
6
»Was für eine ausgezeichnete Fälschung!« stellte Monsieur Taitbout mit einer Mischung aus Bewunderung und gallischer Geringschätzung fest. Das Gemälde lag auf einem Tisch im Zeughaus, angestrahlt von einer Zeichenlampe, die an der Tischkante angeklammert war. »Wäre er nicht auf die alten Holländer und besonders auf Vermeer spezialisiert«, sagte Taitbout, »so könnte man meinen, der Meisterfälscher van Meegeren selbst hätte das gemalt. Sehr eindrucksvoll.« »Eine Fälschung?« fragte Melody. »Ja, natürlich ist es eine Fälschung. Was haben Sie denn erwartet? Columbines sogenanntes verlorenes Gemälde ›Der heilige Martin teilt seinen Mantel mit einem Bettler‹ hat sich niemals in Bourg St. Martin befunden. Wie könnte es also hierhergelangen? Es ist vor Hunderten von Jahren verlorengegangen.« »Ja, wie ist es denn hierhergelangt?« fragte Melody. »Eine raffinierte Fälschung«, sagte Monsieur Taitbout darauf, »nicht mehr.« »Wie dem auch sei – wie ist es hierhergekommen?« Das war eine berechtigte Frage. Mehr als berechtigt, und Garrick ertappte sich dabei, daß er gespannt auf die Antwort des Franzosen wartete. Ein kaum wahrnehmbares gallisches Achselzucken, ein Schürzen der Lippen. »Ich bin Museumskurator und nicht Detektiv. Jemand will uns – wie sagt man – einen Streich spielen.«
Wieder unterzog er das Bild einer Musterung. »Genial«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß es eine Fälschung ist«, behauptete Melody hartnäckig. »Es ist das verlorene Gemälde von Columbine. Ich weiß es.« Monsieur Taitbout lächelte über ihren blonden Kopf hinweg Garrick zu. »Aber Mademoiselle«, widersprach er. Garrick studierte das Bild unter der hellen Lampe. Es war quadratisch, etwa halb so groß wie Columbines Bilder aus der Zigeunerperiode. Den Hintergrund bildete, wie Melody bereits hervorgehoben hatte, Bourg St. Martin von Süden her gesehen, auf den steil aufragenden Felsen gelagert. Gedämpfte Farben. Grautöne, mattes Blau und blasses Siena. Der Regen peitschte in Schrägstreifen über die Leinwand und tauchte alles in Dunkel und Silber. Ein einziger Sonnenstrahl durchstieß die Wolken. Man konnte den Wind spüren, die bittere Kälte des Tages. Man spürte es wie die beiden Gestalten, die den Vordergrund beherrschten. Die eine, hoch zu Roß, sich aus dem Sattel beugend, war der heilige Martin selbst. Sein Antlitz war eine Studie in – ja, worin? Eine sonderbare Mischung. Garrick fiel dazu nichts anderes ein als das arrogante noblesse oblige. In gewisser Hinsicht wirkte es sehr französisch. Die zweite Gestalt war ein Bettler, dessen Lumpen einen krassen Gegensatz zum kostbaren Gewand des Heiligen bildeten. Der heilige Martin beugte sich herab, um einen überweiten purpurroten Umhang mit dem frierenden Bettler zu teilen. Auf dem Angesicht des Bettlers zeichneten sich einander widerstreitende Gefühle ab. Haß und Dankbarkeit. Das Bild war unsigniert. »Ich will gern zugeben«, sagte Taitbout, »daß es nicht nur eine gute Fälschung und nicht nur sehr gekonnt ist. Es ist eine meisterhafte Fälschung.« Er nahm eine Ledermappe vom
Tisch. »Die Reproduktion einer frühen Skizze für das verlorengegangene Gemälde«, erklärte er und legte die Mappe neben die Leinwand. Die Einzelheiten waren fast identisch, das konnte Garrick sehen. Der heilige Martin saß etwas aufrechter im Sattel, die von Mauern umgebene Stadt lag tiefer im Hintergrund und wirkte durch den Regen verschwommener. »Man kann den Unterschied sehen«, sagte Monsieur Taitbout. »Auch mit ungeübtem Auge, Mademoiselle.« Melody nickte. »Aber was macht das schon aus?« fragte sie. »Wer sagt denn, daß er sich bei dem Bild haargenau an die Skizze gehalten hat?« Monsieur Taitbout rückte seine Brille zurecht. »Im Gegenteil«, meinte er. »Ein Künstler weicht sehr oft von seinen ursprünglichen Skizzen ab. Und in diesem Fall stammt nicht einmal die Skizze von Columbine. Es ist eine von seinem Freund Vouet gefertigte Kopie. Ich wollte Ihnen nur vor Augen führen, wie raffiniert die Fälschung ist.« »Und warum sind Sie so sicher, daß es eine Fälschung ist?« fragte Melody. »Meine Liebe, es muß eine Fälschung sein. Wann ist JeanBaptiste Columbine gestorben?« Prompt kam Melodys Antwort: »1702«, und Garrick warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Tiens, es gibt Fachleute, die behaupten, es wäre erst ein Jahr darauf gewesen, aber für uns ist es exakt genug. Und wann malte er den heiligen Martin?« »Wenige Jahre vor seinem Tode«, sagte Melody. »Der genaue Zeitpunkt steht nicht fest. Etwa 1695?« »Ein Jahr auf oder ab. Jetzt sehen Sie sich mal das Bild an. Auf wie alt würden Sie es schätzen?« »Auf etwa zweihundertachtzig Jahre«, sagte Melody.
»Natürlich. Wenn es das Original wäre«, lautete Taitbouts trockene Antwort. »Aber sehen Sie es sich doch an. Nach dreihundert Jahren müßte das Gemälde doch Alterserscheinungen aufweisen! Ganz besonders, wenn das Bild verschollen war und nicht gut konserviert wurde.« Verwirrt zog Melody die Schultern hoch. »Man könnte erwarten, daß der Firnis farblos und nachgedunkelt wäre, die Farben matt. Die sogenannten vollen Gold- und Brauntöne auf alten Gemälden sind schlicht und einfach alter Firnis«, fuhr Taitbout fort. »Und was sonst noch? Wenn Feuchtigkeit den Firnis durchdringt, dann tritt eine Erscheinung auf, die wir Blüte nennen. Die Folge ist eine Blauweiß-Entfärbung. Entendu?« Das war ein rhethorisches Entendu. Monsieur Taitbout fuhr nämlich unbeirrt fort: »Natürlich glauben Sie jetzt, den Firnis könnte man entfernt und neuen aufgetragen haben. Was passiert dann? Wenn es nicht fachmännisch gemacht wurde, dann tritt meist etwas auf, das als Bleiche bezeichnet wird. Ein Grauschleier.« Melodys Blick ruhte unverwandt auf dem Bild. Ihre Miene wirkte immer niedergeschlagener. »Das Alter verursacht aber auch Risse und craquelure«, belehrte Taitbout sie. »Risse, die den Firnis durchdringen und bis an die Farbschichten selbst reichen. Dann muß man noch Runzeln, Blasen, Absplitterungen, Spalten, Aufwölbungen, Pentimenti in Betracht ziehen…« Monsieur Taitbouts Stimme hörte nicht auf zu leiern. Schließlich fragte er: »Und wo sehen Sie diese Alterserscheinungen? Wenn das Gemälde nicht in einem erstrangigen Museum mit größter Sorgfalt aufbewahrt wurde, müßten sie eigentlich unvermeidlich sein. Sehen Sie sich das Bild an!«
Melody hatte nichts anderes getan, als das Bild die ganze Zeit über anzusehen. »Sie haben eine Leinwand vor sich, die nicht älter ist als zehn oder zwanzig Jahre. Allerhöchstens dreißig. Eh voilà«, sagte Monsieur Taitbout und rückte seine Brille wieder zurecht. »Aber was für eine kunstvolle Fälschung! Diese Pinselführung, das Impasto – alle Achtung. Das alles sieht aus wie ein echter Columbine. Und das Antlitz des Heiligen – die Ähnlichkeit mit dem Sieur de Ramezay. Er hat mehr als einmal für Columbine gesessen.« Melody spürte wieder Hoffnung aufsteigen. »Vielleicht…« »Nein, Mademoiselle…« »Ist es nicht möglich, daß – « »Ich werde Ihnen sagen, was möglich ist, wenn Sie unbedingt möchten, daß ich in die Rolle des Detektivs schlüpfe.« Monsieur Taitbout überlegte angestrengt. »Eigentlich kommt das in der Kunstwelt öfter vor. Überlegen Sie doch! Ihr Vater hat das Eintreffen des oeuvre von Columbine hier in Martinsburg publik gemacht, stimmt’s?« Melody gab ihm recht. »Nehmen wir also an, daß jemand – ein unbekannter Maler etwa, ein sehr versierter, aber skrupelloser Kopist – davon gehört hat. Angenommen, er kennt Columbines sogenanntes verschollenes Gemälde und hat Zutritt zur Kopie der Skizze von Vouet. Entendu? Und er denkt sich: ›Was wäre, wenn ich nun eine Fälschung des verschollenen Meisterwerkes male? Wenn ich es unterwegs in die auf dem Weg nach Martinsburg befindliche Sammlung einschmuggle? Wenn das Bild wenigstens eine Zeitlang als echt angesehen würde?‹« »Das wäre schiefgegangen«, sagte Garrick. »Sobald ein Fachmann einen Blick darauf geworfen hätte. Nicht, nachdem Sie das Bild unter die Lupe genommen haben.«
Der Franzose strahlte. »Genau. Sie verstehen? Der Fälscher hat nämlich gar nicht die Absicht, damit durchzukommen. Er möchte entlarvt werden. Und dann? Dann kommen die Interviews, die Fernsehauftritte – er wird schlagartig berühmt. Seine Karriere nimmt ihren Lauf. Eine harmlose Fälschung macht ihn bekannt. Das wäre doch eine Möglichkeit, verstehen Sie?« »Besteht nicht doch auch die Möglichkeit, daß das Bild echt ist?« Monsieur Taitbout drehte die Handflächen nach außen. »Sagte ich nicht eben, daß dieses Bild etwa zwanzig Jahre alt ist, vielleicht sogar noch jünger? Und bedenken Sie eines: Angenommen, der unbekannte Fälscher konnte sein Bild nicht mehr in Frankreich in die Sammlung einschmuggeln, sondern hier in diesem Land auf dem Flughafen. Was dann? Dann wäre es separat verpackt und als letztes verladen worden, so daß es, als der Laster sich überschlug, als erstes herausgeschleudert wurde, weit entfernt von den anderen, auf der anderen Straßenseite. Wäre damit nicht genau geklärt, was sich wirklich abspielte? Wie schon gesagt, ich bin kein Detektiv. Aber andererseits bin ich nicht auf den Kopf gefallen. Dieses Gemälde ist eine Fälschung, davon bin ich überzeugt.« »Was werden Sie jetzt damit anfangen?« »Ich? Anfangen? Gar nichts!« »Nichts?« »Natürlich habe ich daran ein gewisses Interesse. Ich möchte beispielsweise die Farbstoffe untersuchen.« »Farbstoffe?« »Mittels einer chemischen Analyse. Mich interessiert, ob der Fälscher versuchte, Columbines Originalfarben möglichst nahezukommen, und ob es ihm gelang, die richtigen Farbstoffe zu finden. Wahrscheinlich nicht. Weil es unmöglich ist.«
Ganz unerwartet lächelte der Franzose. »Ich würde mir das Bild gerne ausborgen, wenn die bestellten Hilfsmittel vom Institut für Kunstrestaurierung eingetroffen sind.« Erst begriff Melody nicht, dann aber mußte auch sie lächeln. »Ausborgen?« »Ich möchte ein paar Tests durchführen. Eine Woche lang. Wenn Sie es mir dazu überlassen würden?« »Sie meinen also, ich könnte es behalten?« »Mademoiselle, ich habe alle Hände voll zu tun. Warum sollen wir die Lage wegen einer offenkundigen Fälschung noch komplizieren?« Er zwinkerte Garrick zu. »Und außerdem haben Sie es gefunden.« Da lachte Melody auf und umarmte ihn. »Oh, Monsieur Taitbout!« rief sie aus. Dabei rutschte ihm seine Brille fast von der Nase. Und dann warf sie einen hingerissenen Blick auf das Bild. Auf ihr Bild.
Mittwoch stand Rob Garrick morgens zeitig auf und machte das Frühstück. Melody schlief noch. Er trank zwei Tassen Kaffee, aß einen Toast und blieb in der Küche bei einer Zigarette sitzen, seiner ersten am Tage. Er gestand sich eine halbe Packung als Tagesration zu. Kein Wunder, daß Melody noch schlief. Sie hatte stundenlang gebraucht, den richtigen Platz für das Bild zu finden, ehe sie sich für den einzig möglichen entschloß. Für den Ehrenplatz im Wohnzimmer über dem Kamin. Er hatte ihr seine Hilfe angeboten. »Nein, Daddy, das mache ich lieber selbst.« Und da hing es nun im verdunkelten Wohnzimmer. Garrick trat ein, um die Vorhänge zurückzuziehen. Er hörte Melody die Treppe herunterkommen, als er an der ersten
Gardinenschnur zog und das Licht des frühen Morgens in den Raum strömte. Erst sah er den rosa Morgenmantel, dann ihr Gesicht. Sie hatte ihr Feiertagsgesicht aufgesetzt. Garrick rührte sich nicht. Er sah zu, wie sie die Treppen herunterkam und auf ihn zuging. Kein Hinken mehr. »Sag… sag nichts, Daddy. Ich fühle mich einfach…« Sie weinte und lachte, und dann verschwand ihr Lachen, und sie fragte: »Warum hast du das gemacht?« Er folgte ihrem Blick – er war auf das Bild über dem Kamin gerichtet. »Hör auf mit den dummen Witzen, Mädchen«, sagte er. Wenn er es nicht getan hatte – und er hatte es nicht getan –, dann mußte sie es gewesen sein. »Ich habe es nicht angerührt.« Das Bild hing verkehrt herum.
7
Dr. Tom Seymour nannte eine Weste Unterziehweste und trug eine solche. Er trug das Abzeichen seiner Studentenverbindung an einer dünnen Goldkette, rauchte alte Bruyère-Pfeifen und ließ die Nummern des National Geographic Magazine in Leder binden, einen Band pro Jahr, seit er sich in Martinsburg, seiner Vaterstadt, niedergelassen hatte. Es waren mittlerweile etwa dreißig Jahrgänge zusammengekommen. Er hatte noch nie ein Honorar bei einem Patienten angemahnt, und nur wenige waren es ihm schuldig geblieben. Die Medizin, so erklärte er gern seinen jüngeren Kollegen, sei eine Kunst und keine exakte Wissenschaft. Er verschrieb Plazebos ebensogern wie Wundermittel und behauptete, seine durchschnittliche Trefferzahl an Erfolgen sei ganz passabel. Er hatte schütteres weißes Haar und buschige weiße Augenbrauen. Wohnung und Praxis lagen unter einem Dach in einem alten Haus in der Conant Street, die nun in Rue Napoleon umbenannt worden war. Als Junggeselle konnte er jährlich ein Drittel seines Einkommens auf die Seite tun und es heimlich für wohltätige Einrichtungen, meist lokaler Art, spenden. Martinsburg stellte seine Welt dar, die er voller Behagen trug wie ein Paar alter Pantoffeln. »Was soll ich dazu sagen?« äußerte er brummig. »Die Zeit heilt alle Wunden? Oder: Es ist ein Wunder geschehen? Oder: Aber mein Fräulein, Sie bekamen es einfach satt, sich ständig zu bemitleiden? Sucht euch eines davon aus. Ich bin nicht der liebe Gott. Ich bin nur ein Landarzt. Für das Hinken hat es nie einen Grund gegeben. Das habe ich dir gesagt, seit du in Martinsburg bist.«
»Aber es ist einfach verschwunden«, sagte Melody. »Ich wachte auf, und es war nicht mehr vorhanden.« Dr. Tom ließ aromatisch duftenden Rauch aufsteigen. »Sehr schön. Was wollt ihr dann noch hier? Wozu das Kopfzerbrechen? Denkt nicht mehr daran und feiert tüchtig!« Garrick sagte: »Und ich werde dir dieser Tage noch eine Aufzählung dessen bringen, was man in New York mit ihr anstellte. Infrarot, Unterwassertherapie, Gymnastik.« »Gewichte an den Knöcheln«, sagte Melody. »Und damit fünfzigmal Beine heben. Gräßlich!« »Ein Neurochirurg wollte operieren«, sagte Garrick. »Das wollen die Chirurgen immer«, meinte Dr. Tom darauf. »Können einfach nicht die Finger davon lassen.« »Wird es wiederkommen?« fragte Melody. »Es hätte nie auftreten sollen, warum also sollte es wiederkommen?« Sie befanden sich noch immer im Untersuchungsraum. Melody saß mit zurückgeschobenem Rock auf dem Tisch. Dr. Tom schüttelte das weiße Haupt. Um seine Augen zeigten sich Lachfältchen. »Ein schickes Beinpaar, das Sie da haben, meine Dame. Warum benutzen Sie es nicht, endlich hier rauszutanzen und sich zu amüsieren? Nicht, daß mir der Anblick mißfiele, aber da draußen sitzen ein paar Kranke.« Melody stand auf. »Mach ich. Gleich jetzt. Daddy, ich verlange ein Essen mit vier Gängen bei Nick. Ich bin so hungrig, daß ich ein Pferd…« »Pferde«, sagte Dr. Tom, »sind eine höchst gefährdete Gattung, wenn gefräßige junge Damen in der Nähe sind. Einen schönen Tag euch beiden.«
Am Telefon klang Eve Talbots Stimme heiserer als in Wirklichkeit oder durch ein TV-Mikro gefiltert. »Rob! Ich
dachte schon, du wärest nicht da. Kein Mensch wußte, wo du steckst.« »Ich habe mir den Nachmittag freigenommen. Melody – nun, du wirst ja selbst sehen. Wo bist du?« »In deinem Büro. Melody geht es gut?« »Gut ist pure Übertreibung. Ich hole dich ab.« »Ich laufe lieber. Es ist nicht weit. Und ich bin ganz verrückt nach eurer kleinen Stadt nach den letzten Monaten in New York. Also, was ist das große Geheimnis?« Garrick wußte, das war nicht geschauspielert. Eve hatte Melody wirklich gern, trotz der ablehnenden Haltung, die das Mädchen ihr gegenüber einnahm. »Das behalte ich für mich«, sagte Garrick. »Also, in einer Viertelstunde?« »Das Gepäck schicke ich im Taxi hin. Ich genieße es direkt, eine Stunde entlangzulaufen, ohne befürchten zu müssen, daß einem die Handtasche entrissen wird. Gutes altes Martinsburg. Ich glaube, du hast die richtige Entscheidung getroffen, Rob.« »Ich auch«, meinte Garrick. Melody kam herein, als er auflegte. »Eve Talbot?« fragte sie. »Woher weißt du das?« »Ach, ich merke immer, wenn du mit ihr sprichst. Wird sie lange bleiben?« »Ein paar Tage. Am Freitag kommt ein Filmteam.« »Werden die Leute auch bei uns wohnen?« »Mädchen, das ist unfair. Warum sollte Eve nicht bei uns wohnen?« »Aus keinem Grund, denke ich.«
Melody entschloß sich, die beiden beim Abendessen allein zu lassen. Sie konnte von unten ihre Stimmen hören und ihr
Lachen. Ihr Vater und Eve. Nicht, daß es an Eve Talbot etwas auszusetzen gegeben hätte. Nur – sie war so unverblümt. Sie wollte Rob Garrick heiraten, hier in Martinsburg eine Familie gründen und Melodys kleine Halbgeschwister in die Welt setzen. Ich bin unfair, sagte sich Melody. Ich müßte ihr wenigstens eine Chance geben. Aber Melody war eifersüchtig, und daß sie es wußte, änderte nichts daran. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Bett wie eine Indianerin. Auf dem Bett lagen einige Bücher. »Das siebzehnte Jahrhundert« von Jacques Boulanger, das beste vorhandene Werk über diese Periode, wie die Bibliothekarin Melody versichert hatte. Daneben Durans »Zeitalter Ludwigs XIV«, das Melody viel lesbarer fand. Dazu ein französisches Wörterbuch und ein Werk über die Malerei des siebzehnten Jahrhunderts. Darin war ein ganzes Kapitel Jean-Baptiste Columbine gewidmet. Und das alte Büchlein Bibi Titas. Vielleicht war es jetzt die Aufregung, die ihr den Appetit verdarb. Denn ihre Hände zitterten unmerklich, als sie das alte Buch aufschlug, das Bibi Tita ihr gegeben hatte.
»Der kürzeste Weg zum Herzen einer Frau«, sagte Eve Talbot. Garrick hatte zwei dicke Steaks gebraten, dazu gab es Kartoffeln aus dem Backrohr. Eve hatte indessen einen Salat gezaubert. Auf dem Tisch standen nun leere Teller und eine leere Flasche Nuits St. George. Eve trug ihr kupferrotes Haar auf eine Art, die Garrick Pagenkopf nannte. Sie hatte grüne Augen und dazu Sommersprossen. Als Endzwanzigerin hatte sie sich ihre Mannequinfigur bewahrt, was die Eleganz ihrer Modellkleider
noch unterstrich. Eigentlich war sie eher der Jeans- und Rollkragenpullover-Typ, aber der elegante Stil wurde ihr durch die Arbeit beim Fernsehen aufgezwungen. »Weißt du, daß du aussiehst, als gehörtest du in dieses Haus?« fragte Eve. »Ja, es ist mein Zuhause. Das ging ganz schnell. Das kommt wahrscheinlich davon, wenn man vorher zu unstet war.« »Nicht nur das Haus. Die ganze Stadt meine ich. Du paßt hierher, Rob. Und es paßt zu dir.« »Meine Familie stammt von hier. Beide Seiten.« »Französisch oder englisch?« wollte Eve wissen. »Französisch? Warum fragst du?« »Ich meine die Hugenotten. Martinsburg wurde von geflüchteten französischen Hugenotten gegründet.« »Ja, das weiß ich. Aber ich habe Garrick immer für einen englischen Namen gehalten. So hieß doch dieser – dieser Schauspieler.« Rob zuckte die Achseln. »Ja. Wenn du dich aber mit Namen näher befaßt hättest, hättest du entdeckt, daß Garrick ursprünglich französisch war. Sehr viele Hugenotten flüchteten nach England und Holland, ehe sie hierherkamen.« »Und wann war das?« »Nun, sie verließen Frankreich seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, doch der Großteil kam, nachdem Ludwig XIV. das Edikt von Nantes aufgehoben hatte. Damals erreichte die religiöse Verfolgung ihren Höhepunkt. 1685.« »Das war die Zeit, als Columbine malte«, meinte Garrick versonnen. »Auch er floh nach Holland. Meines Wissens tötete er einen Soldaten in Bourg St. Martin und mußte sich aus dem Staub machen. Aber in seinem Leben gibt es eine Lücke. Er tauchte nämlich erst zehn Jahre später in Holland auf, glaube ich.« Eve
trank ihr Glas leer. »Wie Sie sehen, mein Herr, habe ich meine Hausaufgaben brav gemacht.« »Dann war also mein Ur-Ur-was-weiß-ich-Großvater Franzose«, überlegte Garrick laut, während sie ins Wohnzimmer gingen. Eve blieb vor dem Bild über dem Kamin stehen. Es hing nun wieder richtig. Melodys kleiner Scherz. »Das sieht ganz aus wie ein Columbine.« Garrick erzählte ihr nun die Geschichte des Bildes, während er Kaffee einschenkte. »Das ist aber… direkt unheimlich«, sagte Eve. »Könnte ich es mir mal genauer ansehen?« Garrick schaltete die Deckenbeleuchtung ein und schob eine Stehlampe näher an den Kamin heran. »Du wirst diesen Taitbout noch kennenlernen«, sagte er. »Museumskurator aus Bourg St. Martin. Sogar er mußte zugeben, daß es eine verdammt gute Fälschung ist.« »Aber wie kam es an die Unfallstelle?« Garrick schüttelte den Kopf. Und plötzlich runzelte er die Stirn. »Komisch. Dieser Teil des Bildes hier.« Er tippte mit dem Finger auf die Leinwand. »Was ist denn?« fragte Eve. »Ich sehe eine Mauer – und eine Tür. Und eine Straße, die durch die Mauer führt.« »Es ist verblaßt«, sagte Garrick. »Die Mauer wurde über die Straße gemalt. Da, um die Tür herum. Siehst du? Da ist sie fast durchsichtig.« »Ach? Nun, das kann bei einem alten Bild schon mal passieren. Manchmal sieht man sogar, welches Bild darunter ist, falls eines darunter ist. Ein Pentimento.« »Wenn man Taitbout glauben will, ist es dazu nicht alt genug. Und vorher war es ja auch nicht verblaßt.« »Wahrscheinlich hast du es dir ja gar nicht so genau angeguckt.«
»Vielleicht«, sagte Garrick nicht ganz überzeugt. Er schenkte Cognac in zwei Schwenker, und sie stießen miteinander an. Dann setzten sie sich aufs Sofa. Garrick konnte den Blick nicht vom Bild losreißen. »Der Name deiner Urgroßmutter«, sagte Eve unvermittelt. »Was?« »Manchmal kommt die Antwort ganz automatisch, wenn man die Frage unvermutet stellt. Irgendwo in deiner Erinnerung muß er doch vergraben sein.« »Nein, ich glaube nicht, daß ich ihn je wußte.« »Versuchen wir es mit Angell. Das wäre südliches New England. Nein? Conant. Pierce. Seymour…« Da läutete das Telefon, und Garrick konnte Eves Ahnenforschung nicht weiter folgen. »Hier ist Garrick«, meldete er sich. »Ich bin’s, Ned Revere. Etwas Schlimmes ist passiert. Komm rüber in dein Büro. Matt Hawley hat sich umgebracht.«
Matt Hawley steckte bereits in einem Sack, als Garrick eintraf. Zwei Polizisten schleppten ihn hinunter zu einem Rettungswagen, der in der Gasse hinter den Martinsburg News stand. »Armer Teufel«, sagte Ned Revere. »Kein Brief. Kein gar nichts.« »Er hat sich den Unfall sehr zu Herzen genommen. Und die Tatsache, daß ihm niemand recht glauben wollte.« »Ja, das war ein Fehler«, sagte Ned Revere ausdruckslos. »Nämlich daß man ihn beschuldigte, er wäre betrunken gewesen. Zum Teufel, Rob. Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.« Beide sahen zu, wie die Polizisten die Tragbahre mit dem Sack ins Heck des Rettungswagens schoben.
»Geh ja nicht rauf in seine Wohnung. Er hat sich in den Mund geschossen. Sein Hinterkopf wurde weggerissen. Ich wußte gar nicht, daß er eine Waffe hatte.« »Wenn es eine Luger war, hat er sie im letzten Krieg einem Deutschen abgenommen.« »Ja, es war eine Luger.« »Muß es eigentlich Selbstmord sein, Ned?« »Die Tür war verschlossen. Wir mußten sie aufbrechen.« »Nein, ich meine, muß es im Totenschein stehen?« »Einer eurer Nachtschichtarbeiter hörte den Schuß. Sam Phillips. Als er die Tür nicht aufbekam, rief er uns. Er war mit eurer Putzfrau oben – mit einer Mrs. Garcia –, als man die Tür aufbrach. Rob, es wissen zu viele. Ihr könnt nichts anderes schreiben.« Garrick nickte, während er dem Rettungswagen nachblickte. Da stand er nun in der Gasse und fragte sich, wie er Matt Hawley wohl hätte helfen können. Aber wenn man sich diese Frage stellte, war es immer zu spät.
8
Melody klappte den Durant zu. Ein Dragoner war ein Soldat, einer von der Kavallerie. Das war einfach. Dragonnade war schon schwieriger. Es bedeutete das Einweisen von Truppen in Häuser auf Kosten der Besitzer. Und manchmal waren diese Truppen ausfallend geworden, wie Durant berichtete. Manchmal sogar mehr als nur ausfällig, besonders die Truppen des Maréchal de Marillac, der ein fanatischer Katholik war und die hugenottischen Abtrünnigen verabscheute. Seine Dragoner durften daher ein wenig apostolischen Eifer daransetzen, um die Hugenotten wieder auf die richtige Linie zu bringen. Und apostolischer Eifer bedeutete in diesem Fall das Berauben, Schlagen und Vergewaltigen der Hugenotten. Melody klappte auch das Wörterbuch zu. Blieben also nur das Notizbuch Columbines und Melodys eigenes Notizbuch, dessen Seiten noch leer waren. Diagonal auf dem Bett liegend stützte sie ihr Kinn in die Hand. Sie studierte Columbines schwer leserliche Handschrift. Die Tinte verblaßte an gewissen Stellen, ja, ganze Passagen verschwanden unter grüngrauem Schimmel. Leicht würde es nicht werden, das wußte sie. Das war noch eine gewaltige Untertreibung, obwohl ihr Französisch recht gut war. Aber versuchen mußte sie es. Vielleicht würde sie sogar etwas über das Gemälde in Erfahrung bringen. Dieser Monsieur Taitbout! Der würde doch glatt behaupten, auch das Notizbuch sei eine Fälschung. Ganz oben auf die erste Seite ihres Notizbuches schrieb sie: »Aus dem Notizbuch des Jean-Baptiste Columbine.« Darunter
machte sie ein paar Punkte, weil die ersten Wörter unleserlich waren. Sie hörte unten das Telefon läuten, hörte Türen knallen. Sie blinzelte, als sie Columbines Handschrift zu entziffern versuchte, und ertappte sich bei dem Wunsch, man hätte damals schon Schreibmaschinen haben sollen. Und sie fing zu schreiben an. … Vetter des Maréchal de Marillac. Dennoch war er mein Freund. Mehr als einmal malte ich sein Porträt und das eines Kindes, auf einem Pony sitzend. Sie spielten mitsammen, seine und meine Tochter, und er hatte den hugenottischen Glauben angenommen. Wenn es eine Hölle gibt, dann wird er darin verrotten, der Sieur de Ramezay. Gaddara machte sich Sorgen. Ich wüßte noch zu wenig, sagte sie, ich müßte noch warten. Aber ich habe schon zehn Jahre gewartet. Erst belustigte es sie, mich in die Lehre zu nehmen, und noch mehr belustigte es sie, als ich immer geschickter wurde. Sie nannte mich ihren gadjo-Lehrling. (Hoppla! Diese Gaddara mußte eine Zigeunerin sein. Etwa eine weise Frau wie Bibi Tita? An dieser Stelle fehlten ein paar Zeilen.) … schließlich in den Westen zurückzukehren. Außerdem blieb mir noch viel zu lernen übrig, und für Gaddara war es ein Spiel, dieses Weitergeben des Wissens. Aber das liegt schon lange zurück. Die Rom waren bald außer sich, als ich gestern ohne den gestohlenen Wagen wiederkam. Gestohlen ist das Wort, das sie benutzten. Ich hatte ihn ausgeliehen. Und ihn in Frankreich im Straßengraben auf der Strecke nach Bourg St. Martin zurückgelassen. Aber die Pferde brachte ich zurück, und Pferde bedeuten den Rom alles. Diese Pferde sind milsoudiers. (??Im Wörterbuch nicht angegeben. Klingt nicht nach romani. Vielleicht altfranzösisch? Ein ausgestorbenes Wort? Bedeutet
wohl wertvoll oder dergleichen… Ich teile den Text in kürzere Absätze. Columbines Absätze reichen über drei bis vier Seiten.) Ich werde den Vorfall an geeigneter Stelle beschreiben. Gott weiß, daß ich im Moment nicht daran denken möchte. Ein Abbild der Hölle selbst – das gräßlichste Erlebnis meines Lebens, eines ausgenommen. Daß ich es ein zweites Mal malen muß, bedeutet gar nichts. Daß ich es in Bourg St. Martin abliefere, ist das wichtigste. Hier in den Niederlanden bin ich in Sicherheit. Aber ich muß wohl am Anbeginn anfangen, in Bourg St. Martin, Anno Domini… Melody kniff die Augen zusammen, um das Datum entziffern zu können, und gab es schließlich auf. Es stand ohnehin auf der nächsten Seite wie eine Überschrift. Anno Domini 1685. Sie rieb sich die Augen und versuchte, sich von neuem auf die verblaßte Handschrift zu konzentrieren. Das schmale Bändchen glitt ihr vom Schoß und klappte zu. Wie still es da unten ist, dachte sie. Möchte wissen, ob sie schon zurück sind. Mir ist, als hätte ich sie weggehen hören. Quer über dem Bett liegend schlief Melody ein.
»Das nennt man croque monsieur«, sagte sie zu ihrem Vater und zu Eve am Frühstückstisch, als sie das heiße Tablett abstellte. »Man fängt mit französischem Toast an – nur heißt er in Frankreich nicht so.« »Panamahüte kommen auch nicht aus Panama«, meinte Eve lächelnd. »Und Hamburger nicht aus Hamburg.« Garrick freute sich über das zwanglose Geplauder der beiden. »Na, jedenfalls ist es französischer Toast. Man legt eine Scheibe Schinken darauf und etwas Käse und überbackt das
Ganze, bis der Käse schmilzt. Eh voilà, wie Monsieur Taitbout wohl sagen würde. A croque monsieur.« »Einfach köstlich«, sagte Eve. Auch Garrick schmeckte es. Er hatte nur wenig geschlafen und war mit einem Bärenhunger heruntergekommen. Matt Hawley wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Bei der zweiten Tasse Kaffee fragte er Melody: »Na, was ist denn? Fühlst du dich nicht wohl?« Er hatte ihr von Matt noch gar nichts gesagt. »Ich? Ich fühle mich prächtig.« »Du hast ja dein Frühstück nicht angerührt.« »Ich muß mich jetzt anziehen«, sagte sie. »Sonst komme ich zu spät in die Schule.« Sie trug ihren gesteppten rosa Morgenrock wie immer beim Frühstück. »Wann hast du das letzte Mal gegessen?« Melody sah auf ihren Teller. »Gestern, nachdem du und Eve weggegangen seid, habe ich den Kühlschrank geplündert.« Eve sah Garrick an und sagte nichts. Melody ging hinaus. Sie hörten, wie sie die Treppe hochstieg. »Da soll einer klug daraus werden«, meinte Garrick. »Nun, sechzehn Jahre. Erinnerst du dich noch, wie du in diesem Alter warst? Sie hat keinen Hunger. Ein vorübergehender Zustand, wie ich deine Tochter kenne.« »Aber warum lügt sie uns an?« »Sie möchte in Ruhe gelassen werden, das ist alles.« Eve zündete sich eine Zigarette an. »Gestern habe ich fast bis zwei Uhr morgens auf dich gewartet. Viel geschlafen kannst du nicht haben.« »Nein.« Näher ließ er sich nicht darüber aus. »Tut mir leid«, sagte Eve. »Er war ein Freund von dir?« »Er war ein netter, harmloser alter Mann, der keinen Grund hatte, sich umzubringen. Gewiß, da war dieser Unfall…« »Er hatte keine Familie?«
»Nein, er wohnte über unserer Redaktion.« »Sicher war er allein mit seinen Selbstvorwürfen, und dann passiert es eben.« Eve drückte die Zigarette aus. »Ich wünschte, du würdest auch endlich Schluß machen.« Garrick zog die Brauen hoch. »Mit den trüben Gedanken.«
Melody legte Columbines Büchlein und ihr eigenes Notizbuch aufs oberste Regal ihres Schrankes, die anderen Bücher auf das Bord unter dem Fenster. Dann öffnete sie den rosa Morgenrock und stellte sich vor den großen Spiegel an der Schranktür. Hatte sie abgenommen? Viel nicht, dafür war es noch zu früh, aber ein wenig immerhin. Die Hände in die Hüften gestützt drehte sie sich langsam um sich selbst. Sie gefiel sich. Sie war nicht knochig, keine Rede von lauter Haut und Knochen, sondern schlank. Kleine Brüste, lange Beine, die Haut straff über den Hüftknochen. Sie nahm die Haut an ihrer Taille zwischen Daumen und Zeigefinger. Hier ist noch zuviel, dachte sie. Wie hübsch, wenn man richtig schlank war. Wie lange sie wohl brauchen würde, wenn sie weiterhin so wenig aß? Sie vollführte eine langsame Drehung und warf einen Blick nach hinten auf ihre schlanken Flanken. Noch ein paar Pfund weniger, und du wirst so sexy sein wie die Fotomodelle in den Illustrierten. Der Gedanke daran behagte ihr und erfüllte sie mit Selbstvertrauen. Mit der Zeit würde es ihr sogar leichter fallen, Eve Talbot zu mögen.
9
Garrick verlagerte das Gewicht auf den vorderen Fuß, holte aus, streckte sich und traf den Ball präzise. Er hörte das angenehme Geräusch, während er über den Platz ans Netz lief. Es erwies sich als unnötig. Der Aufschlagball schoß in die Ecke, und Ned Reveres verspäteter Vorhandschlag berührte den Ball nicht einmal. »Spiel und Satz«, sagte der stämmige Polizeichef. »Wo ich herkomme, da nennt man das ein As.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Na, reicht es jetzt?« An jedem Freitagnachmittag um drei spielten sie eine Stunde lang Tennis in der Halle hinter der Feuerwehr. Meist gewann Garrick, der mit seiner Körpergröße im Vorteil war und mit seinem unverschämten Aufschlag, wie Revere zu behaupten pflegte. Aber nie so leicht wie heute. Revere hatte sich offensichtlich nicht voll auf das Spiel konzentriert. Nach dem Duschen zogen sie sich an und holten sich eine Cola aus dem Automaten vor dem Umkleideraum. »Sieh mich mal an«, sagte Revere. »Sehe ich aus wie ein Nervenbündel? Mein Leben lang war ich Polizist, und ich habe nie zu den Empfindlichen gehört. Aber langsam geht mir das alles auf den Nerv. Von heute an müssen meine Leute Extraschichten einlegen. Erst waren es diese Bagatellen. Wenn es bloß dabei geblieben wäre! Verdammte, verrückte Woche! Zehn Autodiebstähle. Teenager, die damit Vergnügungsfahrten starten. Das sind etwa neun zuviel. Der letzte gestohlene Wagen war eine Schönheit. Würdest du gegen Craig Donaldson jr. ein Verfahren eröffnen?« »Das soll wohl ein Scherz sein«, sagte Garrick.
»Es handelt sich um Dr. Toms ehrwürdigen alten Buick. Der Doktor ist schon ein wenig vergeßlich und läßt den Zündschlüssel stecken. Er will übrigens keine Anzeige erstatten. Und wir sind heilfroh, daß wir die Sache auf sich beruhen lassen können«, schloß Revere. Craig Donaldson sen. war Präsident der Martinsburg Bank and Trust Company. »Der Junge wickelte den Wagen um einen Baum, draußen auf dem Strip. Hat sich dabei gottlob nur die Schulter ausgekugelt. Aber sein ganzes Gehabe war sonderbar. Er benahm sich, als hätte er etwas eingenommen und wäre high.« »Na, und war er das?« fragte Garrick. »Dr. Tom sagt nein. Du kennst doch Craig. Er geht doch mit Melody hin und wieder aus, nicht? Ein richtig netter Junge. Aber das ist es nicht. Mit der Zeit bekommt man eine Nase für diese Dinge. Als Charlie Dahlgren ihn hereinbrachte, da sah er völlig verwirrt aus, als wollte er sagen: ›Wo bin ich eigentlich?‹ Vier andere Autodiebstähle spielten sich nach ähnlichem Muster ab. Halbwüchsige ohne Vorstrafen aus angesehenen Familien.« »Und die übrigen Diebstähle?« »Da fanden wir die Wagen verlassen vor. Wir fahnden noch nach den Tätern. Und dann war da der Brand gestern nacht, drüben am Strip bei Hardee.« »Brandstiftung?« »Glaube ich nicht. Eher ein Kurzschluß. Es ging von der Küche aus. Aber ich habe aus Hartford die Brandstiftungsspezialisten angefordert. Für alle Fälle.« Garrick zog die Schultern hoch. »Ein Kurzschluß kann schon mal zu einem Brand führen, Ned. Wenn du unbedingt nach einem zugrunde liegenden Schema suchst…« »Ich weiß gar nicht, was ich suche. Ich weiß nur, daß ich vierzig verdammt gute Mitarbeiter habe. Gutbezahlte Leute.
Aber diese Woche hätten auch fünfzig oder sechzig nicht ausgereicht.« Da setzte das Heulen der Brandsirene ein. »Da geht’s schon wieder los«, sagte Ned Revere. Das klang so, als hätte er voller Angst das Unausweichliche erwartet und wäre nun fast erleichtert, daß es endlich eintraf. Es war ein alter viktorianischer Bau an der Elm Street mit einem Lattenzaun um den Garten und einer langgestreckten Veranda an der weißen, bretterverschalten Wand. Er war zweistöckig und hatte einen »Witwengang« genannten Balkon, als stünde er in einer Stadt an der Küste und nicht in Martinsburg. Sie kamen den Spritzenwagen um einige Sekunden zuvor. Eine Schar Neugieriger hatte sich bereits angesammelt. Revere sprang aus dem Wagen und rief: »Alles zurück! Bewegt euch! Los jetzt!« Zunächst sah Revere keinen Rauch, dafür konnte er ihn riechen. Er hörte ein Klirren, als die Hitze im Hausinneren ein paar Fenster im ersten Stock zum Bersten brachte. Rauch wehte schmutzig in den hellen Herbstnachmittag hinaus. Flammen schlugen durch die zerbrochenen Scheiben. »Auf die andere Straßenseite!« rief Revere. »Platz machen, wenn ich bitten darf!« Zwei Einsatzfahrzeuge der freiwilligen Feuerwehr bogen um die Ecke. Die Feuerwehrleute sprangen herunter und entrollten die Schläuche, noch ehe die Fahrzeuge zum Stehen kamen. Die Flammen schlugen bereits höher und hüllten den »Witwengang« ein. Sie prasselten und krachten und fraßen sich gierig in das trockene alte Holz. Rauch verdunkelte die Tafel an der Vorderfront, auf der stand: »Whalen Gästehaus.« Revere erspähte eine Frau in der Zuschauermenge. Sie war mollig und weißhaarig und trug nur einen geblümten Hausmantel und Hausschuhe. Verzweifelt rang sie die Hände.
»Ist noch jemand drinnen, Mrs. Whalen?« fragte Revere eben, als Garrick dazu kam. Die Schläuche spritzten Wasserströme durch die Fenster und durch die offene Tür. »Was? Nein, ich glaube nicht. Ich bin fast sicher. Nachmittags bin ich meist allein. Alle sind sie noch bei der Arbeit, meist junge Leute. Ich klopfte an alle Türen und rief, bis ich blau anlief. Nein, es ist niemand drinnen – Gott sei Dank.« Dampf zischte und wallte, wo das Wasser auf die Flammen traf. Die Zuschauerschar hatte sich vergrößert, der klare Herbsthimmel war vom Rauch verdunkelt. »Mitzi!« rief Mrs. Whalen plötzlich klagend aus und riß sich von Revere los. Er und Garrick liefen ihr nach. Sie überquerte die Straße und zwängte sich trotz ihres Umfanges an zwei Feuerwehrmännern vorbei, die einen Schlauch hielten. Garrick hörte sie rufen: »Nie habe ich Mitzi rausgelassen. Sie fürchtete sich rauszugehen.« Mrs. Whalen hatte die Veranda beinahe erreicht, als Garrick sie einholte. Er hielt sie nicht so sachte zurück, wie Revere es getan hätte. Das konnte er sich nicht mehr leisten. Denn sie kämpfte wild, um ins Innere zu gelangen. Da hörte Garrick ein Miauen. Eine gescheckte Katze umkreiste mit gewölbtem Buckel und gesträubtem Schwanz Mrs. Whalen. »Mitzi! Schätzchen!« lockte diese, doch gleichzeitig hörte Garrick ein Splittern und Krachen und sah hoch. Garrick hatte keine Zeit zum Überlegen. Er schob Mrs. Whalen von sich, und das mit aller Kraft. Der »Witwengang« genannte Balkon kam durch den Rauch auf ihn zu. Er schien auf ihn zuzutreiben wie im Zeitlupentempo. Er sah das verkohlte Holz, sah einen Teil des Geländers abbrechen, und er bewegte sich so langsam wie der herabstürzende Balkon.
Einen Augenblick lang glaubte er, er würde es nicht schaffen. Und dann krachte der »Witwengang« auf den Rasen hinter ihm. Revere und ein Feuerwehrmann halfen ihm auf die Beine. »Alles in Ordnung, Rob? Du lieber Gott, das war aber knapp!« Garrick sagte, ja, es sei alles in Ordnung, doch dann setzte bei ihm die Reaktion ein. Er spürte, daß ihm die Knie zitterten. Melody nahm sich vor, zu Hause etwas Toast zu essen. Eine Schnitte aß sie, auf die zweite strich sie Himbeermarmelade. Sie hatte richtigen Hunger. Dann biß sie ein kleines Stückchen von dem bestrichenen Stück ab. Die Marmelade war zu süß. Und so groß war ihr Hunger auch wieder nicht. Jetzt rasch eine Tageskapsel, entschied sie und nahm sie auch schon aus dem Schrank über der Spüle. Sämtliche lebensnotwendigen Vitamine und Minerale waren darin enthalten. Sie nahm eine und spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter. Den ganzen Tag hatte sie es kaum in der Schule ausgehalten und hatte auch kaum aufgepaßt. Außer in Französisch. Sie wollte so viel Französisch lernen wie nur möglich. Miß Graves’ Akzent war allerdings scheußlich. Wie konnte man bloß Französisch unterrichten, wenn man noch nie in Frankreich gewesen war? Melody ging auf ihr Zimmer und schloß die Tür ab. Nun holte sie sich die zwei Notizbücher, Columbines und ihr eigenes, und dazu das Wörterbuch. Sie setzte sich aufs Bett und streichelte Columbines Büchlein. Es rief ein so schönes Gefühl in ihr hervor. Wie damals, als Craig Donaldson sie zum erstenmal küssen wollte und sie darauf wartete. Und das Warten hatte den Kuß noch viel schöner gemacht.
Aber das hier war noch mehr. Es war wie Alice und der Spiegel. Wenn sie das Buch aufschlug, trat sie in eine andere, viel aufregendere Welt ein.
Aus den Aufzeichnungen von Jean-Baptiste Columbine. Anno Domini 1685: Wie aber kann ich es das Jahr des Herrn nennen, nach allem, was sich an jenem Abend in Bourg St. Martin zutrug? Wenn es einen Gott gibt, dann ist es ein Gott, zu dem ich nicht beten möchte, nicht in der Kirche der Papisten und nicht in meiner eigenen. Einst dachte ich, es gäbe einen Unterschied. Ich erwartete von den Papisten keine Hilfe und suchte dort keine Hilfe. Aber Gavrillac, der einer von uns war und mir hätte helfen können. Er hätte… (Fast eine ganze Seite, die unleserlich ist.) Wäre der Sieur de Ramezay nicht selbst Hugenotte gewesen, so hätte ich Verständnis für seine Gemeinheit aufbringen können. Natürlich war es in seinen Augen kein Verrat. Er gehorchte nur den Reichsgesetzen, dem Gesetz des Königs Louis, und er war ein Landedelmann mit mehr (unleserlich) als jeder andere. Wir haben die dragonnades schon früher ertragen, sagte er zu mir, noch ehe der König das Edikt von Nantes widerrief, das uns unter den Schutz der Krone stellte. Wir werden sie von neuem erdulden. Sie trafen am frühen Nachmittag in Bourg St. Martin ein, kamen stolz durchs Tor geritten, die grünen und weißen Uniformen und sogar die Federhüte mit Straßenstaub bedeckt. Ihr Oberst war ein Mann aus der Perigord namens Lemaître. Sie forderten zwanzig Häuser als Quartier, hugenottische Häuser, auf unsere Kosten. Es war ein schöner Novembernachmittag, doch ich hielt mein Weib und mein Kind
im Haus. Marie, eine stattliche Frau und keineswegs alt, und Annique, die erst zur Frau erblühte, mit ihrem Gang, der an ein Füllen erinnerte, und ihrem arglosen Lächeln, das mit jedermann Freundschaft schließen wollte. Unser Haus war dasjenige, das Lemaître für sich auswählte. Er war noch jung für einen Oberst, doch er schien mir ein Mensch von guter Erziehung. Sein Adjutant und die zwei Berittenen, die er bei sich hatte, waren grobschlächtige bärtige Wüstlinge. Ich versuchte Ruhe zu bewahren. Alle waren sie schließlich dem Sieur de Ramezay verantwortlich, der selbst Offizier bei den Dragonern des Königs und zudem mein Freund war. Sie tranken den ganzen Nachmittag und ließen sich Wein aus der Schenke bringen. Lemaître zeigte sich interessiert an meiner Arbeit. Er bewunderte ein frühes Portrait des Sieur de Ramezay und fragte, ob ich ihn malen würde. Ich bin nicht reich, sagte er, und habe keinen Titel. Kein Maler hat je mein Bild gemalt, Monsieur Columbine. Er lächelte sogar. Kurzum, er saß gleich darauf auf dem Modellsitz. Ich hörte von unten Gelächter und das Splittern von Glas. Ich war so nervös, daß ich die Kohleskizze nicht so zustande brachte, wie ich wünschte. Ich merkte auch bald, daß Lemaîtres Aufmerksamkeit von etwas anderem gefangen wurde. Ich sah, woran sein Blick hängengeblieben war. Zwei kürzlich entstandene Skizzen und ein Gemälde meiner Tochter Anniaqe auf der gegenüberliegenden Wand. ›Und wer ist das, Monsieur Columbine?‹ fragte er. Ich hatte Annique durch die Hintertür hinausgeschickt, damit sie die Nacht auf dem Chateau de Ramezay zubringe. ›Ein Modell, das mir gelegentlich sitzt.‹ ›Lebt sie hier in Bourg St. Martin? Ein liebreizendes Kind.‹
Ich fuhr fort zu zeichnen und lauschte auf das trunkene Gelächter von unten. Marie hatte ihr Gesicht mit Ruß beschmiert, ihr Haar zerrauft und ihre ältesten Sachen angezogen. Sie war ein großartiges Modell mit einem sehr wandlungsfähigen Gesicht. Ich konnte mir vorstellen, wie sie nun unten ihrem Gesicht einen schlaffen, kuhähnlichen Ausdruck verlieh. Mit Glück und Gottes Hilfe war Marie in Sicherheit. Aber Anniaqe? ›Nun, lebt sie hier oder nicht?‹ ›Ja‹, sagte ich nach einer Weile. ›Ich würde dieses Euer Modell gern kennenlernen.‹ ›Aber sie ist jetzt nicht da.‹ ›Wo befindet sie sich denn, Monsieur Columbine?‹ Ich sagte, beim Sieur de Ramezay, und hielt das Thema für erledigt. ›Ein Modell?‹ Ich sagte, sie wäre die Freundin der Tochter Ramezays. ›Ein Modell?‹ fragte er wieder. ›Wie interessant. Gewiß bezahlt Ihr eine Freundin der Tochter des Sieur de Ramezay nicht, wenn sie Euch Modell sitzt?‹ Er erwartete eine Antwort, doch ich wollte ihm keine geben. Seine Augen, in denen ich bislang nur Neugier gelesen hatte, wurden hart. ›Monsieur‹, sagte er. Ich sagte, nein, ich bezahlte sie nicht. Da fragte er, wie es käme, daß sie mir Modell sitze. Ich hätte wohl zu einer Lüge greifen sollen, doch mir fiel nichts ein. Und außerdem wußte ich ja nicht, wie lange die Dragoner bleiben würden, und früher oder später mußte Anniaqe ja nach Hause. ›Sie ist meine Tochter‹, sagte ich, und Lemaîtres ausdrucksvolle Augen veränderten sich abermals.
›Dann holt sie heim, Monsieur. Sie soll uns diesen Abend Gesellschaft leisten.‹ Ich sagte, Annique wäre einige Tage zu Gast auf Château Ramezay. ›Diesen Abend wird sie mit uns verbringen. Holt sie, Monsieur.‹
Melody hörte von unten Geräusche, und dann rief die Stimme ihres Vaters: »Melody? Bist du da?« Draußen war es dunkel. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß sie inzwischen Licht gemacht hatte. »Ich mache Hausaufgaben.« »Komm herunter, Liebes. Eve macht Abendessen.« »Ich lerne für eine Französischarbeit. Ich werde später etwas essen.« »Spaghetti carbonara.« Das war eines von Melodys Leibgerichten. Allein wenn sie zusah, wie das Gericht bei Tisch endgültig fertiggemacht wurde, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Und jetzt wurde ihr allein beim Gedanken daran übel. Und außerdem mußte sie herausbekommen, was nun Annique Columbine zugestoßen war. »Laß mir etwas übrig, Daddy. Ich wärme es mir später auf.« Sekundenlang Schweigen. Melody hoffte, ihr Vater würde nicht heraufkommen. Das Büchlein Columbines war ihr Eigentum. Ihr Geheimnis. »Arbeite nicht zu lange.« »Schon gut.« Steil war der Weg, die Grand’rue zum mauerbewehrten Château de Ramezay hinauf, das die Stadt krönte. Zunächst hatte ich daran gedacht, Marie zu schicken, denn mir wollte
nicht gefallen, wie zwei Dragoner und der Adjutant sie ansahen. Aber wie hätte ich sie in jener Nacht hinausschicken sollen? Wo man auch hinsah, betrunkene Soldaten. Ich sah eine Frau voll Entsetzen durch die Dämmerung laufen, sah, wie zwei Dragoner sie in einem Gäßchen stellten. Ich hörte ihren Schrei und ging doch weiter. Was sonst hätte ich tun sollen? Man saß bei Tisch, als ich in das Château eingelassen wurde. Jean-Baptiste, sagte Armand de Ramezay zu mir. Er fragte mich, was mich zu ihm geführt hätte, und ich sagte es ihm. Er strich nachdenklich über den Spitzbart. Seine Hand war fettig vom Braten. ›Und was wollt Ihr, daß ich tue, mein Freund?‹ Da nannte er mich noch Freund. ›Sendet Botschaft, daß sie auf Euren Wunsch noch hier bleibt.‹ Seine Augen verzogen sich bei seinem geringschätzigen Lächeln. ›Ich kenne Lemaître‹, sagte er. »Ein kultivierter Mann. Anniaqe wird in Eurem Haus so sicher sein wie hier.« ›Ihr wißt nicht, wie es draußen zugeht. Ich komme von draußen.‹ ›Ach was, sie werden sich betrinken, werden plündern und vielleicht auch einen oder zwei Brände legen. Das wird fast erwartet von ihnen.‹ ›Nun, ich erwarte kein Plündern und Brandschatzen‹, stieß ich wütend hervor, ›und ich kenne niemanden im Ort, der dies erwartet.‹ ›Ruhig Blut, mein Freund‹, sagte Armand de Ramezay. ›Der König duldet es, und daher müssen wir uns damit abfinden.‹ Wie die meisten Hugenotten hatte der Sieur de Ramezay seine unbeirrbare Treue zum König fast zu einem Glaubensartikel erhoben. Es war eine Treue, die ich nicht mehr teilen konnte.
›Der König hat sein Recht auf unsere Treue verwirkt‹, sagte ich. ›Genug‹, sagte Armand de Ramezay. Er rief nach Anniaqe. Sie betrat die zugige, fackelerhellte Halle, und mit ihr kam Dominique, die blondhaarige Tochter des Sieur de Ramezay, die auf ihrem Klumpfuß hinkte (!!) (Die nächsten Zeilen sind unleserlich. Oder vielleicht ist es meine Schuld. Meine Augen brennen, als hätte ich Sand darin. Ich kann noch die Worte Saint Tortu ausmachen, doch ist kein Heiliger dieses Namens in der Enzyklopädie angeführt. Ich mache lieber weiter.) Der Adjutant bot mir einen Humpen an, und ich trank mäßig. Ein kleiner Saint Tortuel, und man fühlt sich gleich besser, sagt der Adjutant zu mir. (Also eine Weinsorte?) Wir hörten Rufe von draußen und das Geräusch von Laufschritten. Und aus der Ferne einen Schrei. Marie trug einen frischen Laib Brot und eine dampfende Schüssel Hasenfrikassee auf. Die Dragoner beachteten die Speise nicht weiter, ihre Gesichter waren vom Wein gerötet. Lemaitre aß mit davon und tat übertrieben wählerisch. Er ließ die Augen nicht von Anniques bleichem Antlitz. Bedrückendes Schweigen erfüllte die Küche, schwer wie die Luft vor einem Gewitter. Als Marie Lemaître nachschenkte, umfaßte der eine der Dragoner, jener, der mehr betrunken war, ihre Brust mit der Hand. Ich sah, wie sie erstarrte, ehe sie von ihm abrückte und wieder an den Herd ging. Kein Wort wurde gesprochen. Es war, als hätte es sich nicht zugetragen. Alle widmeten sich dem Wein, sogar Lemaître. Einer der plumpen Grobiane gähnte. Da dachte ich schon, alles wäre gut. Auch mich hatte die Ofenwärme schläfrig gemacht.
Doch da warf der Dragoner, der Marie angefaßt hatte, seinen Weinhumpen an die Wand. Seine Miene war niederträchtig, seine Augen gerötet. ›Das nennt Ihr Wein? Das ist ein ripopé!‹ (Steht nicht im Wörterbuch. Wird wohl Gesöff heißen.) Meine gute Frau hat ihn aus der Schenke geholt, beruhigte ich ihn. Es ist der beste, den sie haben. ›Ripopé‹, sagte er wieder. Schwankend ging er zum Herd und faßte Maries Arm. Bruleresse! (Auch nicht im Wörterbuch.) ›Bist du denn nur nütze, um das Feuer zu schüren? Vielleicht bist du auch gut zu donoier?‹ (Dieses verdammte Wörterbuch! Ich glaube aber zu wissen, was das bedeutet. Drei Zeilen fehlen.) … nichts zu verlieren. Wer würde auch nur so töricht sein, sich ihnen entgegenzustellen, wenn der König selbst… (Zwei Zeilen fehlen.) … andere Dragoner und der Adjutant hielten mich fest, während er sie auf den Boden warf und ihre Röcke hob. Da lag sie nun, reglos, während er sich auf bestialische Weise an ihr gütlich tat, durch Nase und Mund schnaufend wie ein Schwein. Ich wollte mich losmachen, doch sie hielten mich fest. Annique saß am Tisch, die Hände auf der Platte gefaltet, den Kopf gesenkt. Sie weinte. Und Lemaître? Er trank einen Humpen nach dem anderen. Und er sah nicht hin, als der Dragoner Marie vergewaltigte. Er sah über den Rand seines Humpens hinweg Annique stetig an. Der Dragoner gab Marie frei. Als sie aufstand, glichen ihre Augen zwei Glassplittern. Sie glaubte wohl, die würden mich nun loslassen, und die zwei Glassplitter ließen mir eine Warnung zukommen. Es ist nichts, Mann, wollten sie mir sagen. Es ist gar nicht passiert.
Aber sie ließen mich nicht los. Der Wein und die Szene, deren Zeuge er geworden war, hatten ein Feuer in Lemaîtres Blut entfacht. Er ging um den Tisch herum auf Anniaqe zu. ›Und du?‹ fragte er. ›Du bist alt genug. Alt genug, aber anders als deine alte Mutter, noch jung genug, um es zu genießen.‹ Annique kratzte und trat, doch ihr Widerstand schien ihn nur noch mehr zu reizen. Ich kämpfte mich los, doch der Dragoner, der mich festhielt, versetzte mir einen Schlag auf den Kopf, so daß ich umfiel. Ich sah Marie an den Herd stürzen und mit einem Messer wiederkommen. Der Dragoner, der sie vergewaltigt hatte, holte mit seinem mächtigen Arm aus und stieß ihr gegen die Brust. Sie taumelte rücklings wie eine Marionette, deren Fäden durchschnitten wurden, und da hörte ich auch schon das gräßliche Geräusch, als sie mit dem Kopf gegen den Eisenherd stieß. Dort brach sie zusammen und starrte mit weit geöffneten Augen die Deckenbalken an. Lemaître ergötzte sich an Anniaqe, und nach Lemaître die zwei Dragoner. Der Adjutant saß betrunken, den Kopf auf die Brust geneigt, in der Ecke und schnarchte. Was sich nun zutrug, läßt sich schwer wiedergeben. Ich sah Marie auf dem Boden neben dem Ofen, tot. Sah Anniaqe, nachdem der zweite Dragoner fertig mit ihr war. Sie versuchte aufzustehen. Und sie konnte nicht. Ihr hübsches Gesicht war verzerrt, und unter ihr breitete sich ein Fleck, der dunkel im Kerzenlicht schimmerte – Blut. Ein vor Kummer und Zorn wahnsinniger Mann wächst über sich selbst hinaus. Wie sonst könnte ich erklären, was ich zu tun imstande war und auch tat? Das Messer, mit dem Marie unsere Tochter hatte beschützen wollen, nahm ich und tötete die beiden Dragoner, noch ehe die merkten, daß ich überhaupt bei Sinnen war.
Lemaître zog sein Schwert, sah aber, was in meinem Blick lag. Er lief an die Tür und flüchtete ins Freie. Ich ging zu Anniaqe. Sie stöhnte und hob schützend eine Hand. So viel Blut… (Ein langer Absatz fleckig und verschmiert – ich glaube, meine Tränen sind nicht die ersten, die diese Seite netzen.) … trug sie in meinen Armen. Schreie widerhallten in der Grand’rue. Ich stolperte in der Finsternis über einen Toten. Aus einem Hauseingang quoll Rauch. Feuer ließ die Fenster zerspringen, Flammen züngelten hervor. Ich erreichte das Haus des Arztes unter dem Château. Meine Arme waren naß vom Blut Anniques. Der Arzt war kein Hugenotte, aber ein guter Mensch, das dachte ich jedenfalls. Er ließ uns selbst ein und führte uns eilends in den Raum, in dem seine Arzneien standen. Ich berichtete, was sich zugetragen hatte. Wie ein Wasserfall, so brachen die Worte aus mir hervor. Ich konnte kein Ende mehr finden. Annique lag auf dem Tisch. Und er rührte sie nicht an. Da merkte ich erst, daß er etwas sagte. ›Was?‹ fragte ich. Sein Gesicht war ausdruckslos. Seine Stimme tonlos. Er sagte, wir müßten fort, und ich starrte ihn verständnislos wie ein Narr an. Er wollte nicht hineingezogen werden. Er wagte es nicht. Ich hatte gestanden, zwei Dragoner des Königs getötet zu haben. Ich sagte, daß Annique verbluten müßte. Ich flehte ihn an. Da bekam er es mit der Angst zu tun und fing zu schreien an. Seine zwei Diener kamen, und einer ging an den Tisch und wollte Annique herunterheben. Ich stieß ihn weg und nahm sie in die Arme, und im Hinauslaufen sah ich, wie die Angst auf dem Antlitz des Arztes Gleichgültigkeit Platz machte. Ich schleppte Annique die Grand’rue hinauf zum Schloß des Sieur de Ramezay.
… unmittelbar unter den Mauern des Schlosses in der Dunkelheit. ›Jean-Baptiste‹, rief er leise und trat aus dem Gäßchen. Mein Freund Jacques Rivoire war es, der Haushofmeister des Sieur de Ramezay. Er hatte mir hin und wieder für ein paar Sous Modell gesessen. Er war so rund wie ein Weinfaß und sein Gesicht so wandlungsfähig wie das meiner armen Marie. ›Geht nicht weiter‹, sagte er. ›Man lauert Euch auf.‹ Ich fragte, wen er meinte. Annique lag schwer in meinen Armen. ›Der Bastard, für den ich arbeite, und ein Oberst mit Namen Lemaître. Man wird Euch wegen Mordes festnehmen. Ihr könnt nicht in Bourg St. Martin bleiben.‹ ›Das Kind‹, sagte ich. Eine Hoffnung blieb mir. Unser Priester Gavrillac war heilkundig. Wir fanden ihn im Presbyterium, bei Brot und Käse und Wein. Wortlos führte er uns in die kleine Zelle, die ihm als Schlafraum diente. Er zündete Kerzen an, während ich Annique aufs Bett legte. In mir keimte Hoffnung auf, als er sich über sie beugte. Dann aber richtete er sich langsam auf und machte das Kreuzzeichen über ihr. ›Das Kind ist tot.‹ Ich trat ans Bett und strich ihr über das weiche Haar. ›Es ist Gottes Wille‹, sagte Gavrillac salbungsvoll. Ich sah ihn an, ohne ihn zu sehen. Ich sah den Gott, dessen Wille es war. ›Mariole!‹ rief ich. (??) Er stieß einen Seufzer aus und sagte: ›Wenn es Euch leichter wird, dann mögt Ihr der Jungfrau Maria fluchen.‹ Wäre ich eines vernünftigen Gedankens fähig gewesen, so hätte mir das eine Warnung sein müssen. Der Priester Gavrillac hätte eine Blasphemie unter keinen Umständen geduldet.
Er legte mir schwer die Hand auf die Schulter. ›Bleibt über Nacht‹, sagte er. ›Ihr seid jetzt nicht in der Verfassung, um zu fliehen.‹ Wenn schon seine Gleichgültigkeit einer Gotteslästerung gegenüber mich nicht gewarnt hatte, so hätte mir jetzt etwas auffallen müssen. Denn weder Rivoire noch ich hatten ihm gesagt, was vorgefallen war. ›Ruht Euch hier aus. Schlaft. Morgen werde ich Euch mit Proviant versorgen.‹ Leise sagte mein Freund Rivoire: ›Ich glaube, Ihr solltet jetzt gehen.‹ Bleiben, gehen, mir war es einerlei. Erst Marie, dann Annique. Mein Leben hatte in einer einzigen Nacht ein Ende gefunden. Ich dachte in diesem Augenblick nicht an Vergeltung. Dazu war es noch zu früh. Gavrillac bedeckte Anniques Haupt. Ich sank in die Knie – aber nicht, um zu beten. Ich weinte. Nach einer Weile führte uns Gavrillac in die Küche. Er schnitt uns Brot und Käse ab. Doch ich konnte nichts essen. ›Kommt, Jean-Baptiste‹, sagte Rivoire. ›Ich weiß, wo Ihr ein Pferd bekommen könnt.‹ ›… Beerdigung am Morgen‹, sagte Gavrillac. Rivoire machte ein ängstliches Gesicht. Gavrillac konnte nicht stillsitzen. Er stocherte in den Scheiten im Herd, und die Flammen schossen hoch. Er schnitt Brot ab, obgleich niemand aß. Er ging ans Fenster und ging wieder an den Herd und schürte wieder. Doch das Feuer bedurfte des Schürens nicht, Gavrillac drehte sich um und kehrte sein fettes Hinterteil der Tür zu, als diese aufgestoßen wurde. Lemaître und zwei Dragoner stürzten herein. ›Da ist Euer Mann, Oberst‹, sagte Gavrillac. Da saß ich, momentan zu benommen, um mich in Sicherheit zu bringen. Oder vielleicht war mir alles gleichgültig.
Rivoire sprang auf und schleuderte ihnen den schweren Stuhl entgegen, auf dem er gesessen hatte. Er traf den Türrahmen, und einer der Dragoner fiel um. Der zweite legte an und feuerte seine Muskete ab. Die Kugel traf Rivoire mitten ins Gesicht. Und dann wollten sie auf mich los. Lemaître sagte: ›Gavrillac, Ihr habt klug gehandelt.‹ Ja, so nannte er ihn, einfach beim Namen. Gavrillac war für einen Soldaten der Papisten kein Geistlicher. ›Ich habe meine Pflicht als Diener Gottes und des Königs getan‹, sagte Gavrillac. Lemaître zog sein Schwert. ›Jean-Baptiste Columbine‹, sagte er, ›es ist meine Pflicht, Euch im Namen des Königs bekanntzugeben…‹ ›Encoplez König Ludwig!‹ rief ich aus, schleuderte ihn zur Seite und lief los. Ich stürzte an dem gefallenen Dragoner vorüber durch die Tür hinaus in die Nacht, die nun von einem Dutzend Feuern erhellt wurde. Ein Knall ertönte, und mein Arm wurde getroffen. Er riß mich fast um, doch ich lief auch mit der Musketenkugel weiter, obwohl mein linker Arm wie ein Stück Fleisch am Fleischerhaken schlaff herunterhing. Ich kannte das Städtchen, und die Dragoner kannten es nicht. Als ich das Thiers-Tor durch enge Gäßchen erreicht hatte, waren hinter mir die Geräusche der Verfolger verstummt. Aus der Torstube trat der Wächter Fouquet mit einer Fackel. Unsicher und schwankend kam er auf mich zu. Er roch noch stärker als sonst nach Fusel. Kein Wunder, daß er nicht mehr als Fuhrmann arbeiten konnte – er war ja nicht imstande, einen Wagen bis Thiers zu fahren. Wäre sein Bruder nicht beim Sieur de Ramezay in Diensten gestanden, hätte man ihn nie zum Nachtwächter gemacht. ›Columbine?‹ fragte er und leuchtete mich mit der Fackel an. Er sah meinen hängenden Arm und das Blut.
›Ein Zusammenstoß mit den Dragonern?‹ kicherte er. ›Ich bitte Euch, Fouquet, öffnet das Tor.‹ Er hegte keine Vorliebe für die Hugenotten. Der Fuhrmeister Guillemard, für den er gearbeitet hatte, war einer der unseren. Er schüttelte den Kopf. Rot schimmerte sein Gesicht im Licht der Fackel. Als ich an ihm vorbei zum Torhaus wollte, da zog er sein Schwert und schwenkte es trunken. Es durchschnitt meinen bereits verletzten linken Arm und fiel klirrend aufs Pflaster. Der Schmerz war zuviel. Ich konnte nichts mehr anderes fühlen. ›Hugenottenhund!‹ rief er und lief zur Wachglocke. Ich war vor ihm zur Stelle und wehrte ihn ab. Er stieß einen Ruf aus, und dann schlug ich mit seinem eigenen Schwert zu. Die Fackel entglitt seiner Hand, und er brach auf den Steinen zusammen. Ich holte mir den Schlüssel aus seinem Bund und sperrte das Tor selbst auf und schlüpfte durch. Und dann lief ich wieder. Ich wußte auf einmal, wo ich Zuflucht finden würde, der einzige Ort, wohin ich mich wenden konnte. Bei Anbruch des Tages kam ich im Lager an. Ein Pferd wieherte. Die Lagerfeuer waren zu Asche heruntergebrannt. Ich ging direkt zu Titas (Tita!!!) Wagen. Die dunklen Augen in dem braunen Zigeunergesicht sahen mich an und wußten sofort Bescheid. ›Wann brecht ihr auf?‹ fragte ich. ›Morgen, übermorgen. Wer weiß?‹ Wieder sah sie mich an. ›Oder sogar schon heute‹, sagte sie. Ihr Mann kam gähnend aus dem Wagen. Sie hatte mehr für mich übrig als er, aber er brachte mir immerhin Wohlwollen entgegen. Wenigstens war ich damals dieser Meinung. Ich war der einzige gadjo in Bourg St. Martin, den sie um sich
duldeten. Es hatte sie immer belustigt, daß ich sie malen wollte. ›Laß das Lager abbrechen‹, sagte Tita zu ihrem Mann. ›Wir ziehen heute in den Süden. Ein guter Tag für den Antritt einer Fahrt.‹ Er schien erstaunt, doch er nickte. Immerhin war sie die phuri dai ihres Volkes.
Auch in Martinsburg dämmerte der Tag herauf. Melody hatte die ganze Nacht damit verbracht, aus Columbines Büchlein zu übersetzen. Dunkle Ringe unter den Augen betonten ihr schmal gewordenes Gesicht, doch sie lächelte. Tita, dachte sie, wie kommt das bloß? Sie hieß Tita und ist die weise Frau ihres Volkes. Was hatte Bibi Tita ihr damals in Bourg St. Martin gesagt? Nimm ein paar alte Weiblein wie mich der Reihe nach, und du landest mitten in der Zeit Columbines. Wir Rom haben keine schriftlich überlieferte Geschichte, nur eine mündlich überlieferte, die vom Vater an den Sohn, von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde. Damit wird die Zeit ein Nichts. Aber das hier war geschriebene Geschichte. Um so besser. Jean-Baptiste Columbine hatte sie in seinen Erinnerungen festgehalten. Und jetzt gehörte sie Melody – jene Zeitspanne, die das Leben Columbines umfaßte. Sie hatte sie über den Ozean nach Martinsburg mitgebracht. Sie schlief ein, und das Lächeln blieb auf ihrem Gesicht.
10
Ned Reveres Miene verdüsterte sich, als er über den Parkplatz hinweg die Blaskapelle der High-School beobachtete, die sich nicht eben ganz exakt formierte. Was sie produzierte, war auch nicht harmonisch, und Revere hatte bereits Kopfschmerzen. Auf dem Weg zu seinem Wagen kam er an dem großen weißen Kabrio vorbei, das nun, rot-blau geschmückt, den Umzug anführen sollte. Alvin Waugh half eben der Gouverneurin Maria Stresa verlegen auf den erhöhten Sitz im Fond. Es war nicht einfach gewesen, die vielbeschäftigte Dame zur Teilnahme als Großmarschall der Parade zu bewegen, und der Magistratsvorsitzende zeigte sich gebührend beeindruckt und noch zappeliger als sonst. Revere warf einen Blick zum Himmel und hoffte, Gouverneurin Stresa hatte nichts dagegen, naß zu werden. Er setzte sich ans Steuer und suchte im Handschuhfach vergebens nach Aspirin. Dann startete er den Wagen. Neben dem Wagen standen zwei High-School-Jungen und kämpften mit schweren Fahnenstangen, deren Enden in Lederschlaufen ruhten. Im Davonfahren sah er noch im Rückspiegel, daß die beiden es endlich doch schafften, das Transparent gespannt zwischen sich zu halten. Bourg St. Martin stand darauf. Revere fuhr ganz langsam die Umzugsroute ab, als letzte Kontrolle sozusagen. Dabei kämpfte er gegen einen dumpfen Kopfschmerz an. Bis auf die Handvoll Leute von der zweiten Nachtschicht hatten alle seine Männer Dienst, und das für eine verlängerte Schicht von zwölf Stunden. Vier Einsatzwagen waren bemannt. Im Hauptquartier war ein einziger Mann geblieben
und dazu die Dame in der Telefonzentrale. Alle anderen waren die Strecke entlang postiert und versuchten, mit der Zuschauermenge fertig zu werden. Es müßten doppelt soviel wie vorausgesagt sein, dachte Revere bei sich. Das hieß also doppelt soviel Verkehrszwischenfälle, Unruhestifter, vermißte Kinder. Hoffentlich nichts Ernstes. Die Hauptstraßen waren für den Verkehr gesperrt, und man hatte Ausweichmöglichkeiten schaffen müssen, doch seine Leute konnten bei solchen Menschenmassen unmöglich die Kreuzungen freihalten. Er fuhr vor der Apotheke an den Gehsteig heran und bat einen Streifenbeamten, ihm eine Packung Aspirin zu besorgen.
Melody sah einen der Einsatzwagen in der Conant Street, ehe sie das Reformgeschäft betrat. Der schwarz-weiße Straßenkreuzer kam mit heulender Sirene daher, und Charlie Dahlgren nahm kurz die Hand vom Steuer und winkte. Melody winkte zurück. Der blonde, jungenhafte Charlie Dahlgren war sehr, sehr nett, und sie ließ sich die harmlosen Aufmerksamkeiten eines älteren Mannes von dreiundzwanzig gern gefallen. Und wenn Craig Donaldsons Eifersucht geweckt wurde, um so besser. Melody betrat den Laden und stöberte die Regale durch wie in einer Bibliothek. Sie hatte sich vor kurzem für Reformkost entschieden. Schließlich mußte sie ja irgend etwas essen. Sie suchte sich eine Tüte Sonnenblumensamen und lederartige Streifen getrockneter Aprikosen aus. »Zweivierundneunzig samt Steuer, Miß«, sagte der Inhaber, ein überalterter Hippie mit Perlengehängen und mexikanischer Leinentunika. Melody bezahlte. Da klingelte die Türglocke, und drei Jungen traten ein, wenig älter als Melody. Sie erkannte die drei
nicht. Touristen, dachte sie bei sich. Sie trugen Lederjacken, und ihre Augen blickten sonderbar. Schlecht gemalt? Sie fragte sich, wieso ihr diese Wendung in den Sinn kam. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, hörte sie den überalterten Hippie einen Schrei ausstoßen. Ein Krachen folgte darauf. Die drei hatten den Warenständer neben der Kasse umgeworfen. Scherben klirrten. Dosen rollten davon. Der alte Hippie schrie: »Was macht ihr da? Warum macht ihr das?« Einer der drei Lederjacken schubste ihn, und er fiel um. Die drei Jungen schlugen den Laden methodisch kurz und klein, rissen alle Ständer um, trampelten auf Dosen und Kartons herum. Kein einziges Wort wurde dabei gesprochen. Sie beachteten Melody nicht weiter, und nach dem einen Angriff auf den Inhaber ließen sie auch ihn unbeachtet. Er blieb klugerweise gleich auf dem Boden. Ruhig verließen sie den Laden, als wären sie gekommen, um etwas zu kaufen. Der alte Hippie stand auf. Er zitterte so stark, daß er die Polizeinummer nicht wählen konnte. Melody erledigte es für ihn. Die Leitung war besetzt. Sie versuchte es von neuem. Noch immer besetzt.
Die Dame in der Telefonzentrale nahm den Kopfhörer ab, riß das oberste Blatt von ihrem Block ab und schob es dem Verteiler hin. »Es geht wieder los, Art«, sagte sie. »Sind noch Einsatzwagen da?« »Möglich«, sagte der Verteiler lakonisch. Er zog das Mikro näher heran. »Wagen drei bitte melden, he, Charlie, wo steckst du?«
Charlie Dahlgrens Antwort kam krächzend und übertönte das konstante Surren der Zentrale. »Ein handgreiflicher Ehestreit«, sagte der Verteiler. »Draußen in Greenwood Acres, 519 Laurel. Ein Ehepaar namens Joynes. Die Anzeige kommt von der Nachbarin auf Nummer 521. Kannst du die Sache übernehmen?« »Schon unterwegs, Art.« Die Telefonistin setzte den Kopfhörer wieder auf, sah hilflos die Vielzahl aufleuchtender roter Lichter vor sich auf dem Schaltbrett, suchte wahllos eines aus und stöpselte ein. »Polizeizentrale«, meldete sie sich.
Die Zentrale der Martinsburg Bank war geschlossen, doch der Autoschalter draußen auf dem Strip war auch am Samstagmorgen geöffnet, als Dienst am Kunden sozusagen. Dank des Umzuges erwies sich der Dienst an diesem Samstag als überflüssig. Die zwei Angestellten, zwei junge Mädchen, hatten fünftausend Dollar in bar für etwaige Transaktionen, aber bis halb elf hatte sich kein einziger Kunde blicken lassen. In dieser Filiale konnte man die Bankangelegenheiten vom Auto aus erledigen oder aber, indem man den kleinen Raum zu Fuß betrat. Die Angestellten saßen hinter dickem Glas, und sowohl drinnen als draußen wurde alles mit Hilfe eines Gleitfaches getätigt, das elektrisch funktionierte. Der erste und einzige Kunde kam kurz nach halb elf. Die Kassiererin setzte die Lade in Betrieb und bekam einen Zettel in Scheckgröße präsentiert. Doch es war kein Scheck. Es war glattes, weißes Papier, und darauf stand mit Schreibmaschine: »Übergeben Sie mir das gesamte Bargeld. Nicht den Alarmknopf drücken. Ich kenne die Alarmanlage.«
Das Mädchen sah auf und stieß einen Schrei aus. Der Mann hatte eine Waffe und kein Gesicht. Sie sah auf den zweiten Blick, daß er sich einen Strumpf übers Gesicht gezogen hatte. Sie öffnete die Kassenlade und zog mit zitternden Fingern ein paar Fünfziger und Zehner heraus. »Los«, sagte die gedämpfte Stimme. »Ich sagte: alles.« Sie leerte die Kassenlade auf den elektrischen Schieber aus und drückte den Knopf. Das Nicht-Gesicht trug eine Flugtasche mit der weißen Aufschrift TWA. Da hinein stopfte er das Geld und ging rücklings hinaus. Jetzt erst trat das Mädchen auf die Alarmanlage. Und das Alarmsignal summte sofort in der Polizeizentrale auf. »Die Bank draußen auf dem Strip«, sagte der Verteiler. Er versuchte, einen erreichbaren Einsatzwagen festzunageln. Die Leuchtzeichen auf dem Schaltbrett flackerten wie wild.
In New York gab es Spezialeinheiten für häusliche Zwistigkeiten. Meistens ein Team, sehr oft weiblich und männlich, ein geduldiger älterer Cop, der gut zuhören konnte, und ein weiblicher Polizist, der aussah wie ein Engel – oder wie eine Krankenschwester. Charlie Dahlgren wüßte das noch von seiner kurzen Erfahrung bei der New Yorker Polizei her. In Martinsburg gab es diese Teams natürlich nicht. Doch als Einsatz auf eine Anzeige wegen häuslicher Zwistigkeiten wurde meist ein Zweier-Team losgeschickt. Die Einsätze waren immer für Überraschungen gut. Angenommen, der Mann war betrunken und bedrohte seine bessere Hälfte mit dem Messer. Man nahm ihm das Messer ab, und was macht die Alte? Die fällt einen an und harkt einem ihre Fingernägel in die Wangen.
Dahlgren nahm den Anruf allein entgegen. An jenem Morgen, mit Umzug und Touristenscharen, waren die sechs Einsatzfahrzeuge der Polizei von Martinsburg nur mit einem Mann besetzt. Nein, nur vier Wagen, korrigierte Dahlgren sich, und dazu die Fahrer. Alle anderen Polizisten machten Dienst auf der Straße. Eine komische Gegend für diese Art von Zwischenfällen. Mittelschicht, vielleicht sogar obere Mittelschicht, auf der halben Rivoire Street in Richtung Route 44, gepflegte, große Häuser mit säuberlich manikürtem Rasen. Keineswegs unten an der Fabrik oder beim Siebdruckbetrieb, wo die Italiener und Puertoricaner lebten. Charlie Dahlgren war vorurteilslos, falls jemand mit zwei Jahren Praxis bei der New Yorker Polizei überhaupt Vorurteilslos sein konnte, doch er wußte, daß bei einer Anzeige wegen Ruhestörung meist gewisse Umstände mit im Spiel waren. In den meisten Fällen hieß das Schwarze oder Puertoricaner. Man lernt nie aus, dachte er, als er an den Gehsteig vor dem roten eineinhalbgeschossigen Haus am Laurel Drive heranfuhr. Die Statistiken haben nicht immer recht. Er ging an die Tür und schellte. Er hörte eine Frau schreien und gleich darauf ein Krachen. »Verschwindet da draußen und kümmert euch um euren eigenen Kram!« schrie eine Männerstimme. »Aufmachen! Polizei!« rief Dahlgren und rüttelte an der Tür. Sie war nicht abgeschlossen. Er trat ein und gelangte durch einen kleinen Flur ins Wohnzimmer, wo Mrs. Joynes hinter einem Kaffeetischchen kauerte, keuchend, das Gesicht fleckig vom Weinen. Ihr zerrissener Flanellmorgenrock gab den Blick auf eine üppige weiße Brust frei. Als Mr. Joynes mit dem Feuerhaken auf sie losgehen wollte, kippte sie das Tischchen um. Dann fielen ein Armsessel und die Klavierbank um. Beide
sahen Dahlgren an, als wäre er ein Möbelstück, das man umkippen konnte oder auch nicht. Joynes machte einen Satz auf seine Frau zu. »… rumgespielt«, murmelte er und schwenkte den Feuerhaken so wild, daß er damit fast umfiel. Damit bot er Charlie Dahlgren den Angriffspunkt, den er brauchte. Er packte Mr. Joynes Handgelenk, riß es nach oben, und der Feuerhaken fiel zu Boden. Mr. Joynes stolperte und fiel so, daß er auf dem Teppich zum Sitzen kam. Da saß er nun wie ein indischer Heiliger und wiegte sich hin und her. Dahlgren trat rasch einen Schritt zurück, um beide im Auge behalten zu können. Wer wußte schon, was die Frau noch vorhatte? Die Frau wirkte total verwirrt. Der Mann hörte zu schwanken auf. Er starrte zu Dahlgren hoch. »Polizei«, sagte er ebenso verwirrt, wie seine Frau aussah. Er stand auf, und Dahlgren war wieder auf alles gefaßt. Mr. Joynes ging nun langsam und mit dümmlicher Miene auf seine Frau zu. Er hatte Schluckauf. Mrs. Joynes stieß einen erstickten Schrei aus und bedeckte ihre entblößte Brust. »Schätzchen«, setzte Mr. Joynes mit entschuldigendem Lächeln an. Mrs. Joynes erwiderte zögernd sein Lächeln, und dann war bei beiden das Lächeln wie weggeblasen. Sie rückten voneinander ab. Mrs. Joynes führte eine Hand an ihr Gesicht. Dahlgren spürte, wie auch seine Miene unnatürlich erstarrte. Es war, als hätte er ein zorniges Gesicht gemacht und das wäre nun festgewachsen. Sein Arm hob sich, und er spürte ein Gewicht in der Hand. Er hielt eine .38 Spezial und richtete sie auf das Ehepaar Joynes. Hatte er sie durchgeladen? Ja. Seine Finger spannten sich um den Abzug. Keiner der beiden Eheleute sagte ein Wort.
Charlie Dahlgren spürte, wie es in seinem Kopf pochte. Er hätte am liebsten den ganzen Raum mit Kugeln gepflastert. Er wollte alle beide töten. Einen sehr langen Augenblick glaubte er, er würde sich nicht zurückhalten können. Dann aber schaffte er es und ließ den Hahn los. Er steckte die Waffe weg und bedachte das Ehepaar Joynes mit der größtmöglichen Annäherung an ein Lächeln. Er war ebenso verwirrt wie die beiden vorhin, nachdem er dem Mann den Feuerhaken aus der Hand geschlagen hatte. »Der Hahn war gespannt«, erklärte er viel zu laut. »Ich wollte ihn bloß sichern. Tut mir leid, Leute, wenn ich euch einen Schrecken eingejagt habe.« Mrs. Joynes stieß einen tiefen Seufzer aus und faßte ihren Mann unter. Vor Erleichterung hatten sie ihren Krach ganz vergessen. Charlie sah zu, als Mr. Joynes seiner Frau half, die Möbel wieder zurechtzurücken. »Du weißt, daß ich es nicht getan habe«, sagte sie leise. »Was?« fragte Mr. Joynes. Mrs. Joynes warf Dahlgren einen Blick zu. Es war ihr sehr peinlich. »Ich habe nicht rumgespielt«, sagte sie schließlich. Sie redete, und er hörte zu. Am Abend zuvor waren sie auf einer Party gewesen. Ein kleiner, harmloser Flirt. »Ach, Leutnant«, sagten beide, und Dahlgren hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht. »Müssen Sie unbedingt…?« setzte Mrs. Joynes an. »Nein, geht schon in Ordnung«, sagte Charlie Dahlgren. »Vergessen Sie die ganze Sache.« Sie plauderten noch ein paar Minuten. Dann wurden die Hände geschüttelt. Charlie Dahlgren fühlte sich fast ganz normal, als er wieder in seinen Polizeikreuzer stieg. Die Funkanlage krächzte.
Das Haus der Donaldsons lag am äußersten Ende von Conant, dort wo Martinsburg in rollendes Land überging. Umgeben von zehn Morgen Land mit Bächen und Waldstücken bildete es einen Teil des Besitzes, der vor langer Zeit Rob Garricks Urgroßmutter gehört hatte. Das Haus selbst war noch das ursprüngliche, allerdings großartig renovierte Farmhaus. Ein bekanntes Magazin hatte einmal einen vier Seiten langen Artikel darüber gebracht. Craig Donaldson jr. saß oben in seinem Zimmer auf dem Bett. An der Wand hing neben einem Wimpel von Yale eine gerahmte Fotografie von Melody. Craig wollte auch nach Yale wie sein Vater und Großvater. Ihm war übel. Richtig übel. Eine Riesenfaust hatte sich auf seinen Magen gelegt und drückte ihn zusammen. Kalter Schweiß brach ihm aus. Er stürzte ins Bad, würgte und übergab sich in die Toilette. Wieder im Zimmer sah er die Flugtasche auf dem Bett, den Strumpf, die Spielzeugpistole und das Geld. Fünftausend Dollar. Genau fünftausend Dollar, was bedeutete, daß keine Kunden am Autoschalter der Martinsburg Bank mehr hatten bedient werden können. Ihm waren kleine Einzelheiten wie diese bekannt. Schließlich war sein Vater Bankdirektor. Er fragte sich, ob er kurz davorstünde, verrückt zu werden. Er war einfach in seinen Wagen gestiegen, war dort hingefahren, hatte geparkt, wo man den Wagen von der Bank aus nicht sehen konnte, und war dann seelenruhig mit dem Zettel und der Pistole hineinmarschiert. Er hatte gewußt, daß er im Begriff stand, etwas Verrücktes zu tun, und doch konnte er nicht dagegen an. Er setzte sich aufs Bett und dachte nach, obgleich er gar nicht nachdenken wollte. Wieder meldete sich das mulmige Gefühl.
Nach einer Weile stand er auf, nahm das Geld mit ins Bad und verbrannte es, Banknote für Banknote. Die Asche spülte er die Toilette hinunter. Was sonst hätte er tun sollen? Sich erschießen vielleicht, wenn die Waffe echt gewesen wäre?
Dr. Tom untersuchte den Arm eines kleinen Patienten, der sich beim Klettern auf einen morschen Ast gewagt hatte. Der Vater hatte den Jungen gebracht. Er weinte nicht und biß die Zähne aufeinander. Seine besorgten Eltern ließen ihn nicht aus den Augen. »Gebrochen?« fragte Mrs. Fassolino. Dr. Tom sah die Haut an zwei Stellen an der Innenseite des Armes gedehnt. Ein ganz schlimmer Bruch. Mehrfacher Bruch des Radius. Der Arm schwoll bereits an. Jetzt rasch Morphium, eine Schiene und ab ins Krankenhaus. »Leider ja«, sagte er. Er sah zu dem Schränkchen hinüber, in dem er das Morphium aufbewahrte, zu dem Regal, auf dem die Wegwerfspritzen lagen. Der Junge stöhnte auf. Der Schock löste sich, und das war gut so. Doch nun setzten die Schmerzen ein. Er mußte höllische Schmerzen haben, dachte Dr. Tom. Er holte das Morphium nicht, holte auch keine Wegwerfspritze. Dr. Tom faßte nach dem Arm, und der Junge stöhnte wieder. Dieser Schmerz. Furchtbar mußte das sein. Er verlieh Dr. Tom ein Machtgefühl: das Gefühl, ein bösartiger Gott zu sein. Er sah die kummervollen Gesichter der Eltern, und auch das stärkte sein Machtgefühl. Das Gefühl verflog so schnell, wie es gekommen war.
Danach machte sich Dr. Tom rasch und fachmännisch an die Arbeit und schiente den gebrochenen Arm. Er gestattete sich keinen Gedanken an das Böse, das er getan hatte, und nicht an das Gefühl, das es ihm verliehen hatte. Er haßte den Schmerz, den Schmerz der anderen. Und dieses Hassen, Lindern, Bekämpfen war sein ganzes Leben.
11
Als Garrick an diesem Abend nach Hause kam, traf er Eve und Melody in eine angeregte Unterhaltung vertieft an. Er legte den Regenmantel ab und warf ihn über einen Stuhl im Wohnzimmer. »Aber Daddy«, sagte Melody mit leisem Vorwurf. Sie stand auf, nahm den Regenmantel und hängte ihn im Flur auf. »Tut mir leid, daß ich das Buffet versäumte«, sagte Garrick. »Wie war’s denn?« »Wo warst du?« fragte Eve zurück. »Ich gebe schließlich eine Zeitung heraus.« »Das Buffet war berichtenswert.« »Es hat sich so einiges zugetragen«, sagte Garrick, als Melody wiederkam. »In Martinsburg trägt sich nichts zu«, widersprach sie lachend. »Ein komischer Tag«, meinte Garrick. Er verfolgte das Thema nicht weiter. »War Taitbout gut in Form?« fragte er. »Er ist ideal für Fernsehauftritte«, sagte Eve. »Mit seiner goldgeränderten Brille und dem herrlichen Akzent. Und seine Ausrüstung! Da hast du wirklich was versäumt. Also: er hatte Kameras und ein Richtungsreflektor genanntes Ding, das bewirkt, daß eine ganz normale Lampe, hm – durchdringendes Licht spendet. Und eine ultraviolette Lampe, die – was sagte er, Melody?« »Die bewirkt, daß der Firnis gelb-grün aussieht und eine Übermalung oder Retusche purpurn und so weiter.« »Und dann hatte er Infrarot«, fuhr Eve fort.
»Das dringt durch alles hindurch«, erklärte Melody. »Durch den Firnis, die oberen Farbschichten. Mit Hilfe der Infrarotfotografie kann man ganz unerwartete Dinge an einem Bild entdecken, sagte Taitbout.« Garrick sah zu dem Bild über dem Kamin hin. Ob Monsieur Taitbouts infrarote Lampe auch das Unerklärliche erklären konnte, das sich hier zugetragen hatte? Der Vorfall überstieg Garricks Vorstellungskraft. »Und ein monokulares Mikroskop«, sagte Eve, »für Fotomikrographien.« »Und wozu dient das?« fragte Garrick. »Damit man die Farbstoffe genauer untersuchen kann«, erklärte Melody. »Ihre Beschaffenheit. Es läßt Lasierungen funkeln und das Impasto wie Erhebungen hervortreten.« »Du hast ja richtig zugehört«, meinte Eve. »Mich interessiert das alles sehr.« Melody sah ebenfalls zu dem Gemälde über dem Kamin. »Warum bringst du dein Bild nicht ins Zeughaus, wenn du Näheres darüber erfahren möchtest?« fragte Eve. Melody schüttelte den Kopf. »Bloß nicht. Er sagte schon, es wäre eine Fälschung. Es gehört mir, und es bleibt hier.« Sie stellte sich schützend vor den Kamin. »Und wenn du herausfändest, daß er sich irrt?« beharrte Eve. Melody wechselte das Thema. »Er trägt ein Vergrößerungsglas auf der Stirn. Wie ein Arzt sieht er damit aus.« »Da weiß sogar ich, wozu er das braucht«, sagte Eve. »Damit er beide Hände für die Feinarbeit frei hat.« »Und dann wird das Bild geröntgt«, erklärte Melody weiter. »Der Apparat sieht zwar gar nicht so aus wie ein Röntgenapparat. Es ist eine Röhre in einem bleiverkleideten Behälter mit Glasdeckel. Das Bild wird darübergelegt, Malerei nach unten. Es klappt nur nicht immer.«
»Wie kommt das?« fragte Garrick. »Manche Bilder sind röntgenresistent. Wenn für den Untergrund Bleiweiß verwendet wurde oder wenn das Gemälde viel Weiß enthält.« Garrick sah wieder zu dem Bild auf, das Melody gefunden hatte. Diesmal brauchte er nichts zu sagen. Melody kam ihm zuvor: »Laß es in Ruhe. Es bleibt hier. Ich möchte nicht, daß Monsieur Taitbout damit alles mögliche anstellt.« »Warum nicht?« »Er hat sich darüber lustiggemacht.« »Das ist doch kein Grund. Eve hat ganz recht. Er könnte sich geirrt haben.« Melody rief nun laut aus: »Er hat genug durchgemacht…!« Garrick verstand nicht. »Du meinst Monsieur Taitbout?« »Nein, ich…« Melody war verwirrt. Dann aber erhellte sich ihre Miene. »Daddy, du hast dir kulinarisch etwas entgehen lassen. Es gab alle möglichen französischen Spezialitäten und dazu herrlichen Wein. Und keiner fragte mich nach meinem Alter! Und erst das Backwerk. Fast wie in Frankreich.« Eve lachte. »Und woher willst du das wissen? Du hast wie ein Vögelchen gegessen.« »Aber nein. Ich habe mich richtig satt gegessen.« Garrick warf Eve einen warnenden Blick zu. Warum griff Melody zu einer Lüge? Ob wieder ein Besuch bei Dr. Tom angebracht war? »Ich gehe jetzt rauf«, sagte Melody verdrossen. »Dann könnt ihr euch so lange und so viel über mich unterhalten, wie ihr wollt.« »Aber Melody!« sagte Garrick. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn, ignorierte Eve und ging hinaus. Garrick sah ihr kopfschüttelnd nach. »Ein Bier?« fragte Eve. »Na schön.«
Er holte zwei Dosen aus der Küche. »Was ist denn, Rob? Ich kenne dieses Gesicht an dir. Noch immer Melody?« »Ja und nein. Nun, eigentlich nicht. Aber sie benimmt sich so… so sonderbar. Die ganze Stadt ist sonderbar. Kannst du noch ein paar Tage bleiben?« Eve war ausgeglichenen Gemütes und eine gute Beobachterin. Ihre scharfe und intuitive Intelligenz drang immer gleich zum Kern der Sache vor. »Ich denke schon. Ich habe keine anderen Termine. Warum?« »In Martinsburg geht etwas vor. Ich weiß nicht, was es ist, aber es wird eine Story hergeben. Die Polizei hatte heute alle Hände voll zu tun. Viel mehr, als sie eigentlich schaffen konnte. Mehr als in einem ganzen Monat.« »Das ist nicht weiter verwunderlich«, sagte Eve. »Ein Umzug, Menschenmassen, alle Polizisten entlang der Umzugsstrecke postiert. Wenn die Katze aus dem Haus ist… du weißt schon.« »Aber nicht Martinsburg. Martinsburg ist anders.« »Auch wenn es darin von Touristen wimmelt?« Garrick gab keine Antwort. Er ertappte sich dabei, wie er das Bild anstarrte und wünschte, er könnte es besser sehen. Wenn Melodys Nicht-Essen-Wollen Teil der Absonderlichkeit war, die er nicht erklären konnte, so war es auch seine eigene Haltung dem Bild gegenüber. Das Bild störte ihn. Verursachte eine Spannung in ihm. Ähnlich dem, was die Psychologen den Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt nennen. »Heute kam ein Anruf von Craig Donaldson«, sagte er. »Wer ist das?« »Bankdirektor. Nach Ned und Dr. Tom mein bester Freund hier in der Stadt. Er suchte meinen Rat, ehe er zu Ned ging – das ist Ned Revere. Polizeichef.« »Ich kenne ihn. Er schaute kurz beim Buffet vorbei.«
»Na ja! Donaldson ist ein Mensch, der normalerweise keinen Rat sucht, sondern Rat erteilt. Aber heute nicht. Craig junior hatte mit seinem Vater eine kleine Unterredung. Vor einigen Tagen hat er einen Wagen geklaut. Heute morgen raubte er eine Filiale der Bank seines Vaters aus.« »Was?« »Strumpfmaske, Spielzeugpistole und fünftausend Dollar. Das Geld verbrannte er und spülte es die Toilette hinunter.« »Mein Gott! Aber warum?« »Das war die erste Frage, die Donaldson stellte, nachdem ihm klarwurde, daß der Junge nicht scherzte. Craig behauptete, er hätte so handeln müssen, hätte sich nicht zurückhalten können.« Eve überlegte. Garrick sah ihr an, daß sie skeptisch war. »Hat er schon mal dumme Sachen gemacht?« fragte sie. Garrick schüttelte den Kopf. »Vorzugsschüler. Will später nach Yale. Strebt ein Jura-Studium an. Außerdem kenne ich ihn. Er ist mit Melody befreundet. Gar nicht der Typ, der sich einen fremden Wagen zu einer Spritztour ausborgt – und schon gar nicht eine Bank ausraubt, sei es die seines Vaters oder eine andere.« »Und was hast du zu Mr. Donaldson gesagt?« »Er solle das Geld ersetzen, mit Ned reden und dann mit Dr. Tom.« »Nicht mit einem Psychiater?« »Tom hat eine psychiatrische Ausbildung hinter sich. Er sollte mit Dr. Tom oder mit Miles Pritchard reden, einem Geistlichen und Freund der Familie.« »Und was wird Revere tun?« »Ich werde mit ihm noch reden. Es wird zwar gar nicht nötig sein, denn das Zusammengehörigkeitsgefühl in unserer Gemeinde ist sehr ausgeprägt. Aber um wieder darauf zurückzukommen: Was Craig da anstellte, ist keineswegs – der
einzige Fall. Ned rief mich kurz an, ehe ich wegging. Er wollte einen Witz machen und sagte: ›Wer hat uns da bloß etwas ins Trinkwasser gemischt?‹ Und dann erzählte er mir ein paar Beispiele, die erklärten, warum er diese Frage gestellt hatte. Und das beste Beispiel sparte er sich für den Schluß auf. Einer seiner Leute bat heute um Urlaub, ein intelligenter Junge namens Dahlgren. College-Absolvent, Dienst bei der New Yorker Polizei. Ned lehnte ab.« »Und warum wollte er Urlaub?« »Dahlgren ging einer Anzeige nach, reine Routinesache. Krach zwischen Eheleuten. Es ging laut und betrunken zu und hätte gewaltsam enden können, wenn Dahlgren nicht dazwischengetreten wäre. Das gehört übrigens auch zum Schema. Die Menschen tun Dinge, die – die nicht zu ihnen passen. So stellt es Ned jedenfalls dar.« »Und was war nun mit Dahlgren, nachdem er dazwischentrat?« »Er spürte ein irres Verlangen. Ganz plötzlich hielt er seine Dienstwaffe in der Hand. Und er wollte die beiden erschießen.« »Meine Güte«, sagte Eve. Sie sahen einander an. »Wenn es sich nur um einen oder zwei verschiedene Fälle gehandelt hätte«, sagte er. »Aber so ist es nicht. Alle diese Fälle sind Teile eines Gesamtbildes. Wer hat uns etwas ins Trinkwasser geschüttet, wie Ned fragte.« »Zufall?« »Ja, sicher. Möglich.« »Möglich. Ich werde wohl deine Einladung annehmen und länger bleiben. Und wenn wir schon von Bildern reden: Weißt du, daß du die geschlagene letzte halbe Stunde das Bild da oben angestarrt hast?«
Garrick stand auf und stellte sich vor das Bild hin. Eve trat neben ihn. Er sagte nichts. Er wollte, daß Eve es aussprach. Sie studierte die Leinwand eingehend. »Komisch«, sagte sie. »Der verblaßte Fleck. Der sieht jetzt anders aus. Man kann fast etwas Darunterliegendes ausmachen.« Auch Garrick hatte es gesehen. Die schwache Andeutung – eine Treppe? »Ja, und da ist noch ein Fleck, der verblaßt – dieses Fenster. Aber das habe ich nicht gemeint. Sieh dir den heiligen Martin an.« Beide betrachteten sie die Figur im Vordergrund, die sich halb aus dem Sattel beugte und ihren Mantel mit einem Bettler teilte. Garrick wußte noch, wie er den Gesichtsausdruck beim ersten Mal gedeutet hatte. Eine Miene, die vornehme Überheblichkeit ausdrückte. »Siehst du einen Unterschied?« fragte er. »Nein… nicht daß ich wüßte.« »Dieser arrogante Kerl«, sagte Garrick, so, als stünde der heilige Martin neben ihnen. »Dieser arrogante Kerl sieht gar nicht mehr so arrogant aus.«
12
Dr. Tom verschob das kleinere Gewicht der Waage, bis er das Gleichgewicht wiederhergestellt hatte. »Ja, ich habe abgenommen«, sagte Melody. »Weil ich abnehmen wollte. Ich hatte Übergewicht.« »Etwas über hundert Pfund sind kein Übergewicht.« Garrick war nicht wenig erstaunt über Dr. Toms Aussehen. Seine Augen waren gerötet, die Hände unsicher. Vermutlich hatte er nicht gut geschlafen. Aber das sah Dr. Tom gar nicht ähnlich. »Harte Arbeit und ein reines Gewissen«, sagte er immer. »Das ist besser als Schlaftabletten.« Jetzt sagte er: »Vierundneunzig Pfund samt Bluse, Rock und ausgetretenen Tennisschuhen. Jetzt sag bloß, das wäre auch Übergewicht.« Melody sagte gar nichts. Gutgelaunt fragte sie: »Sehe ich so nicht prima aus?« Dr. Tom bohrte den Finger zwischen ihre Rippen. »Nichts wie Haut und Knochen und langes blondes Haar. Wie steht’s mit dem Appetit?« »Sehr gut«, sagte Melody hastig. »Was hast du gefrühstückt?« »Tee.« »Und dazu?« »Nur eine Tasse Tee. Ich hatte mich verspätet.« »Und gestern?« »Beim Frühstück?« »Ich meine den ganzen Tag.« Melody stieg von der Waage. »Ich bin jetzt wie wild auf Reformkost.«
Dr. Tom sagte gar nichts. Er wartete auf eine Antwort. »Also: Sonnenblumensamen. Und getrocknete Aprikosen, die wie Leder aussehen, Sie wissen schon.« »Ich fragte, was du gegessen hast!« »Dazu ein paar getoastete Sojabohnen«, sagte Melody. Er kniff sie in den Unterarm und hinterließ eine Vertiefung, die nur langsam wieder verschwand. »Du nimmst zu wenig Flüssigkeit zu dir, kleines Fräulein.« »Ach?« »Bauchschmerzen oder dergleichen?« »Nein, ich fühle mich tadellos. Ehrlich.« »Herzstechen? Übelkeit?« Melody schüttelte den Kopf. »Ich habe mich noch nie so gut gefühlt.« An der Wand gegenüber der Waage hing ein Spiegel. Sie starrte ihr Spiegelbild befriedigt an. Dann warf sie sich in Pose, Hände in die Hüften gestützt, eine Hüfte vorgeschoben. »Sehr hübsch«, sagte sie. »Ich bin vielleicht altmodisch«, meinte Dr. Tom obenhin, »aber ich hab’s gern, wenn Frauen etwas runder sind.« Melody lachte. »Ja, die älteren Frauen.« »Ich möchte, daß du ordentlich ißt, mein Kind. Die beste und gesündeste Kost sind Fleisch und Kartoffeln. Roastbeef und…« »Mit Yorkshire-Pudding«, warf Melody entzückt ein, »und dicker Soße. Möchtest du das heute zum Abendessen, Daddy?« Ja, Garrick war einverstanden. »Oder vielleicht Beef Wellington, falls mir Zeit bleibt«, fuhr Melody fort. »Auf französische Art. Ach, nirgends schmeckt es so gut wie in Frankreich! Wenn man in die Läden guckt, läuft einem schon das Wasser im Munde zusammen. Die größten und rötesten Tomaten, die ich je sah. Fünf
verschiedene Salatsorten. Und die Bäckereien, die Metzgerläden…« »Na, wie fühlst du dich jetzt? In diesem Augenblick?« fragte Dr. Tom sie und sah dabei Garrick an. »Ich sterbe noch vor Hunger«, sagte Melody. Dr. Tom stopfte die Bruyère-Pfeife. »Ende der Woche möchte ich dich wiedersehen. Vier, fünf Pfund schwerer. Ansonsten müssen wir dich genau untersuchen. Du mußt Barium schlucken, und dann machen wir ein Fluoroskop. Wenn das nichts nützt, dann müssen wir noch gründlicher ran. Und das kann unangenehm werden. Also tust du gut daran, die fünf Pfund zuzunehmen.« »Ich will’s versuchen«, sagte Melody, deren Begeisterung wie weggeblasen war. Sie wich seinem Blick aus. »Achtundneunzig Pfund wären vielleicht nicht so übel.« »Für einen Fliegengewichtler. Aber setz dich mal ins Wartezimmer. Es wird dir allerdings unbequem werden mit deiner knochigen Kehrseite«, sagte er trocken. Melody lachte und ging hinaus. Garrick steckte sich eine Zigarette an, Dr. Tom sog an seiner Pfeife. »Was ist denn mit ihr los?« fragte Garrick ein wenig ungeduldig. »Tja, darüber kann man verschiedener Ansicht sein. Ich glaube übrigens nicht, daß eine genauere Untersuchung uns weiterbringt. Körperlich ist sie in Ordnung.« Er zündete seine Pfeife von neuem an. »Sie will nicht essen, aber wenn sie vom Essen redet, da leuchten ihre Augen.« »Sie kocht sehr gerne.« »Für dich?« »Gewiß. Also?« »Das hatte ich erwartet«, sagte Dr. Tom. »Sie ist übrigens im richtigen Alter und hat das richtige Geschlecht.« »Wofür?«
»Um ein kleines Mädchen bleiben zu wollen. Nicht erwachsen werden zu wollen. Erzähl mir von ihrer Mutter.« Diese Frage wunderte Garrick. »Catherine? Nun, sie kamen sehr gut miteinander aus. Sie war eine gute Mutter, und sie liebte Melody.« »Hat sie denn nie die Fassung verloren? War sie so gelassen wie du?« »Worauf willst du hinaus?« »Gab es Probleme, die unter den Teppich gekehrt wurden?« »Doch, ich glaube schon. Ich war ja nicht viel zu Hause. Man könnte sagen, daß Catherine sehr nachgiebig war.« »Verstehe. Und würdest du dich selbst als zu nachgiebig einstufen?« Garrick überlegte. »Melody hat eine schwere Zeit hinter sich. Zwei Jahre Internat. Damals war ich ständig unterwegs.« »Du warst also immer fort«, sagte Dr. Tom. »Und zuvor war ihre Mutter gestorben. Wie kam es dazu?« »Ein Autounfall«, sagte Garrick widerstrebend. Lieber hätte er gar nicht davon gesprochen. Dr. Tom sagte kein Wort und sog nur an seiner Pfeife. »Wir wohnten damals im Village«, erzählte Garrick. »Ich war schon ein paar Wochen in New York und machte die Abendnachrichten, weil ich einen Kollegen vertreten mußte. Aber Melody hatte noch immer diese Freundin draußen in Westchester. Es hatte den ganzen Tag geregnet, und nachmittags gab es Glatteis. Catherine fuhr nur sehr ungern, aber Melody bestand darauf.« »Gab es Streit deswegen?« »Ich weiß es nicht. Ich war nicht da.« »Gehen wir davon aus, daß sie nicht stritten. Gehen wir davon aus, daß es unter den Teppich gekehrt wurde.« Garrick reagierte mit einem Achselzucken. »Mehr gibt es nicht zu sagen. Der Wagen geriet auf dem Henry Hudson
Parkway ins Schleudern, durchbrach die Trennschiene. Prallte direkt gegen eine vom Flughafen kommende Limousine.« Garricks Mund war wie ausgedörrt. »Und Melody machte sich Vorwürfe. In ihrem damaligen Alter fiel es ihr nicht schwer, auch gegen dich Vorwürfe wegen deines Weggehens zu erheben. Bei einem empfindsamen Kind kann dergleichen zu einer Art Schizophrenie führen.« »Das glaube ich nicht«, sagte Garrick. Er wollte sich nicht ärgern. »Ich dränge dir meine Meinung nicht auf. Sie ist ja nicht schizophren. Sie sucht einen anderen Ausweg. Wenn du einen Namen willst, dann gebe ich ihn dir. Anorexia nervosa. Eine Diagnose läßt sich schwer stellen, schon gar nicht im Frühstadium. Nennen wir es also im Moment eine sehr zwingende Möglichkeit. Und damit du dich gleich besser fühlst, Rob, sage ich dir, daß die Möglichkeit einer Frühdiagnose im allgemeinen auf eine gute und keine schlechte Beziehung zwischen Elternteil und Kind hinweist.« Wieder kam von Garrick ein Achselzucken. »Das wäre einfach. Ich müßte ja blind sein. Sie war immer richtig verfressen. Und plötzlich ißt sie nicht mehr.« »Absichtliches Verhungern«, sagte Dr. Tom. »Anorexia nervosa ist dafür nur ein Phantasiename.« Er schüttelte den Kopf, als Garrick ihn unterbrechen wollte. »Hör zu. Ein Teenager, meist weiblichen Geschlechts und meist gescheit, gutartig, fleißig, sportlich – und versessen aufs Essen. Sie denkt ans Essen, redet darüber, möchte für die ganze Familie kochen. Aber essen will sie nicht, und dazu hat sie Flausen bezüglich ihres Körperbaues. Knochigsein ist gut. Haut und Knochen ist schön.« »So wie sie sich im Spiegel ansah«, sagte Garrick.
»Das hast du bemerkt? Gut. Habe ich eben Melody beschrieben?« »Das weißt du.« »Die Frage ist nur: Warum hören sie plötzlich zu essen auf? Wollen sie auf diese Weise zurück in eine gesicherte Zeit, als niemand sie bedrohte? Sie wollen nicht erwachsen werden und wollen mit Gewalt verhindern, daß ihr Körper sich in den Körper einer Frau verwandelt.« »Du sagtest bedrohte, Tom. Aber Melody wurde nie bedroht.« »Nun, wir werden sehen. Fürchtet sie etwas… etwas, das dich ihr wegnehmen könnte, so wie der Unfall ihr die Mutter wegnahm?« Garrick wollte verneinen. Doch dann fiel ihm Eve Talbot ein. Er erklärte Dr. Tom die Situation und fragte: »Soll ich Eve sagen, sie solle für immer gehen?« »Nie im Leben«, widersprach der Doktor heftig. »Das wäre das Allerletzte. Melody muß sich damit abfinden. Bei einem anoretischen Kind soll man Konflikten nicht ausweichen, und man soll nicht zuviel Konzessionen machen. Man soll das offen besprechen. Anoretiker stammen aus netten Familien, in denen nicht viel gestritten wird – umgängliche, zivilisierte Menschen. Der Anoretiker will Konflikten ausweichen.« Dr. Tom runzelte die Stirn. »Wenn das alles nicht so nach Freud klänge – und du kennst meine Meinung über Freud –, dann wäre ich versucht zu sagen, sie möchte in den Mutterleib zurückkehren.« »Ist das gefährlich?« »Hm, das hängt davon ab. Wenn man die Sache rechtzeitig abfängt, sind die Aussichten gut. Und die Behandlung hat mit Essen nichts zu tun. Einen Anoretiker kann man nicht dazu zwingen. Aber man kann… sagen wir mal so: das Familiensystem ist zusammengebrochen. Nicht aus
Lieblosigkeit, sondern aus Nachgiebigkeit. Das Kind hat nie gelernt, seine Rechte auf übliche Weise zu verteidigen. Wonach sie eigentlich verlangt… ist Beständigkeit. Die mußt du ihr geben.« »Welche Art Beständigkeit?« »Wenn sie auf deine Freundin eifersüchtig ist, dann soll sie es meinetwegen sein. Soll sie doch kämpfen, und wenn sie verliert, dann soll sie es einsehen – aber ich greife der Sache vor. Meinst du es ernst mit dieser Frau?« In gewisser Weise behandelte Dr. Tom ihn wie Melody, das wurde Garrick jetzt klar. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, gestand er. »Melody…« »Verdammt, Rob, darum dreht’s sich ja. Vater und Tochter sollen nicht in einer symbiotischen Beziehung miteinander existieren. Es sind zwei verschiedene Existenzen. Getrennt und verschieden. Wenn sie miteinander in Konflikt geraten, dann ist ein Kampf etwas ganz Normales. Und wenn du die Frau heiratest – kommt sie gut mit Melody aus?« »Ja, das tut sie.« »Dann muß Melody klarwerden, daß sie eine Mutter gewinnt und keinen Vater verliert.« »Du sagtest vorhin, die Aussichten stünden gut, bei einer Früherkennung. Wie sieht es aus, wenn wir zu spät dran sind?« »Die Statistiken darüber sind nicht sehr gut, vor allem deswegen, weil die meisten Fälle zu spät erkannt werden, wenn überhaupt. Eine schwere Anoretikerin wird immer mehr abnehmen.« »Bis sie stirbt«, sagte Garrick tonlos. »Ja, dann sterben sie. Wenn man nicht die Probleme rechtzeitig erkennt und dagegen angeht.« »Gibt es denn nicht Spezialisten, die…« »Ja, sicher, es gibt Behandlungszentren. Aber die größte Gefahr stellen immer die Eltern dar, die mit einem Anoretiker
nicht umgehen können. Man bringt das Kind also in eine Klinik. Dort wird es intravenös ernährt und wird belohnt, wenn es richtig ißt. Das dauert Monate.« »Und nützt es?« Dr. Tom wartete einen Augenblick mit der Antwort. »Für gewöhnlich nicht. Wenn es einmal so weit gediehen ist, dann findet der Patient eine Ausrede für einen Rückfall, sobald er wieder zu Hause ist.« Dr. Tom stand auf. »Aber gehen wir davon aus, daß wir recht mit unserer Annahme haben und daß wir noch rechtzeitig dran sind. Du weißt ja, was du zu tun hast.« Ja! Garrick sagte, er wüßte, was er zu tun hätte. Andernfalls hungert sie sich zu Tode, dachte er bei sich.
13
Aus den Aufzeichnungen des Jean-Baptiste Columbine: Die Gadje glauben, daß die Rom (fast hätte ich geschrieben: wir Rom) dorthin ziehen, wohin ihr Geist und der Wind sie hinwehen. Dem ist aber nicht so. Sie ziehen mit den Jahreszeiten wie Nomaden, die Beute und Wasserstellen in den großen Steppen des Ostens suchen, und sie wissen genau, wohin sie gehen. Die Sippe Zurkas – so hieß Titas roher Ehemann – zog zwei Jahre lang süd- und ostwärts. Man wollte nach vier Jahren, von dem Monat an gerechnet, als sie Bourg St. Martin verließen, wieder nach Frankreich zurückkehren. Damals wußte ich nicht, daß ich nicht bei ihnen sein würde, wenn sie den Kreis vollendeten. Manchmal fragte Tita mich: ›Warum arbeitest du nicht, Jean-Baptiste?‹ Da schwenkte ich meinen linken Arm wie eine Fischflosse und sagte, daß ich zum Krüppel geworden wäre. Kurz nachdem wir Bourg St. Martin verließen, hatte der Arm zu eitern begonnen, und ich bekam Fieber. Eines Nachts bekam ich starke geistige Getränke, bis sich alles in meinem Kopf drehte und das Lagerfeuer tanzte und hüpfte und mir die Tamburins in den Ohren dröhnten. Tita und ihre Base Kore hielten mich fest, und mit einem einzigen Hieb eines massiven Schwertes hieb Zurka den angeschwollenen Arm zwischen Ellbogen und Schulter ab. Ich stieß keinen Schrei aus. Ich schrie erst, als Zurka mit heißem Pech den Armstumpf ausbrannte. Und die ganze Zeit über lächelte Zurka. Ehe ich
das Bewußtsein verlor, sah ich als letztes dieses Lächeln. Nun war es nicht so, daß die Rom jemandem mit Freuden Schmerz zufügten, denn das tun sie nicht. Zurka haßte mich damals schon. ›Warum malst du nicht?‹ fragte Tita mich. ›Wir Rom schaffen Schönheit mit einem Tamburin, einer Fiedel oder mit unserem Tanz. Die meisten gadje verstehen gar nicht, was schön ist, aber du hast es erfaßt. Du kannst einen Vogel, einen Baum oder einen Wagen malen, und dann sieht das Bild dem Ding ähnlicher als das Ding selbst. Ich will für dich tanzen, wenn du mich beim Tanzen malst.‹ Ich sagte ihr, daß ich niemals wieder malen würde. Zurka und Tita waren kinderlos. Er war ein großer muskulöser Kerl mit einem auch für einen Rom ungewöhnlich dunklen Gesicht und einem großen aufgezwirbelten Schnurrbart. Tita war zehn Jahre jünger und sehr ansehnlich. So wie er trotz seiner Jugend woiwode, das heißt Sippenoberhaupt, war, so war sie trotz ihrer Jugend die weise Frau des Stammes. ›Das kam, weil ich von Gaddara lernte‹, sagte sie mir eines Tages. ›Wer ist Gaddara?‹ ›Du wirst sie kennenlernen – bei Belgrad.‹ ›Ziehen wir jetzt dorthin?‹ ›Nach Belgrad und zurück. In Belgrad verkaufen wir Pferde.‹ Ich fragte, wo sie diese Pferde her hätten, und Tita lachte. ›Wir beschaffen sie uns‹, sagte sie. Zwei Jahre lang malte und zeichnete ich nicht und half ihnen nicht beim Beladen und Entladen der Wagen. Und ich lag bei keiner Frau. Ich aß, und ich schlief, und ich lernte die RomaniSprache, ohne daß ich mich darum bemühte. Wohin sie zogen, da zog ich mit. Mir war alles einerlei.
Die gadje glauben, Zigeuner pflegten wahllose und ungeregelte Beziehungen unter den Geschlechtern, doch ist das Gegenteil der Fall. Eine Ehe wird meist fürs Leben geschlossen, und der Gatte, der zum Hahnrei wird, darf Rache dafür nehmen. Die Frauen sind kühn und wie alle Frauen voller Neugier. Während wir Piémont durchzogen und in die kargen, abweisenden Gebirge Serbiens gelangten, gab es viel Rätselraten, welche ich mir wohl auserwählen würde. Ich wählte gar keine, und das erregte erst recht ihren Spott, und dann, wie dies bei Unverheirateten und manchmal auch bei Verheirateten der Fall ist, ärgerten sie sich. Die Wahl wäre mir nicht schwergefallen, hätte mir überhaupt daran gelegen. Aber ich wollte nicht ravesquir (Mit Sex zu tun haben? Glaube ich nicht. Eher wiederbeleben), ehe ich Gaddara begegnete, obwohl ich das noch nicht wußte. Je mehr wir uns Belgrad näherten, desto ähnlicher wurden die Einheimischen den Rom. Was die gadje irrtümlich für die Kleidung der Rom halten, ist in Wahrheit die Kleidung des Ostens, und bald trugen in jedem Dorf, durch das wir kamen, die Männer lose Blusen zu den Hosen, die Frauen Ohrringe und ein halbes Dutzend bunter Röcke, einen über dem anderen. Sie sahen aus wie Rom, und manchmal waren sie dunkelhäutig wie die Rom. ›Stammt dein Volk von hier?‹ fragte ich Tita. ›Es kommt noch weiter aus dem Osten‹, sagte sie. ›Weit über Berge und durch Wüsten ist es gezogen. Aus einem Land genannt Ind.‹ (India! Daher stammen also die Zigeuner. Das wußte ich nicht.) … manchmal tagelang. Und wenn sie mit den Pferden zurückkamen, dann wurde immer das Lager schnell abgebrochen, und fort ging es durchs wilde, einsame Land.
Unser Ziel war der Pferdemarkt in Belgrad, doch dorthin sollte ich nie gelangen. Bald hatten wir ein Dutzend Pferde beisammen, dann sogar fünfzehn. Die Rom striegelten sie täglich und taten etwas mit ihnen, was mich höchst seltsam dünkte. Sie füllten einen Eimer zur Hälfte mit Kieselsteinen und hielten ihn dem Pferd unter die bebenden Nüstern, so daß es sich vor Angst aufbäumte. Die Rom hatten gehofft, mit zwanzig Pferden in Belgrad anzukommen, und als wir uns drei Tagesreisen von der Stadt entfernt befanden, da nahm sich Zurka ein letztes Mal die Hälfte der Männer aus dem Lager. Er sagte, sie würden höchstens zwei Tage fortbleiben. Dies schien Tita aus irgendeinem Grund zu behagen. Wir lagerten in der Nähe eines Dorfes aus lehmfarbigen Hütten, und die Dorfbewohner kamen und sahen dem Tanz Titas zu. Es war, als nähmen sie die Rom viel selbstverständlicher hin, als wir Franzosen oder die Piemontesen es taten. ›Wissen sie denn nicht, daß ihr ihre Pferde stehlt?‹ fragte ich. Tita lachte. ›Doch nicht ihre‹, sagte sie. ›Dies ist das Dorf, in dem Gaddara lebt. Hier stiehlt niemand Pferde!‹ An jenem Abend tanzte Tita nicht, obgleich die anderen Frauen tanzten. Es war warm, und wir schliefen nicht in den Wagen, sondern hatten Zelte aufgerichtet. Ich zog mich früh in mein Zelt zurück, da mir der Tanz gleichgültig war. Nur Tita sah ich gern beim Tanzen zu. Da lag ich nun wach und lauschte den wilden Fiedeltönen, dem Schlagen und Klingeln der Tamburine, dem Schreien, dem Füßestampfen. Ich war ruhelos und konnte die Augen nur voller Angst schließen, denn ich wußte, daß ich wieder mein Weib Marie tot auf dem Küchenboden sehen würde, und wie die Dragoner unserer Tochter Gewalt antaten. Aber dieser Abend war anders. Wenn ich die Augen schloß, dann sah ich
Tita tanzen. In mir regte sich etwas, ein kühnes Verlangen, ein Gefühl, von dem ich gewähnt hatte, es wäre so säuberlich und für ewige Zeiten von mir abgetrennt worden wie mein Arm. Ich wollte eine Frau haben, aber nicht irgendeine. Ich wollte Tita haben. Das war Wahnsinn. Sie hatte einen Mann, und der war das Oberhaupt der Sippe. Sie war liebevoll zu mir gewesen, hatte für mich gesorgt, mich gefüttert und Zurka immer wieder besänftigt, wenn er vorbrachte, daß ich zu nichts tauge. Ich schloß die Augen, und wieder sah ich sie tanzen. Ich lächelte ob meiner Einfalt und glaubte fast daran, daß das, was ich plötzlich von Tita wollte, mich ravesquir würde. Ja, gewiß, sagte ich mir voller Bitterkeit – für eine Nacht. Und dann würde Zurka kommen, davon erfahren und mich töten. Ich zwang mich zu schlafen, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Die Musik war zu Ende. Stimmen, Gelächter, Schritte, Stille. Dann hörte ich ein Rascheln, sah kurz Mondlicht aufschimmern, dann war wieder Dunkelheit. Hastig kam sie zu mir, legte sich neben mich, eng an mich gedrängt. Die Berührung ihrer Hand war leicht. ›Ich gehe wieder, wenn du willst.‹ Ich wagte keine Antwort. ›Er nimmt mich immer, ohne sich auszuziehen, wie ein Tier. Ohne Liebe. Ich bin ein Ding, das er benutzt. Der Woiwode und seine weise Frau. Deswegen hat er mich zur Frau genommen. Ich war schon vorher phuri dai. In gewissen Dingen aber bin ich nicht weise.‹ Ich spürte ihre Tränen auf meiner Wange. Zuerst hatte ich geglaubt, sie wäre aus Mitleid zu mir gekommen, doch dann spürte ich für sie Mitleid.
Wieder fühlte ich eine sachte Berührung. Ihre Hand stahl sich unter mein Hemd und glitt abwärts. Sanft stieß ich ihre Hand weg. (Was ist denn los mit ihm? Worauf wartet er noch?) ›Lieg ganz still‹, sagte ich, und sie seufzte und lag ganz still, während ich ihr Mieder löste und ihre Röcke, einen nach dem anderen. Dann zog ich mir Hemd und Beinkleider aus. Ziemlich unbeholfen mit einer Hand. Wir lagen ein Stück voneinander entfernt… ›Ich möchte dich sehen‹, sagte sie. ›Bist du schön, bist du mein schöner gadjo?‹ ›Du bist schön‹, sagte ich darauf ›Ich brauche dich nicht anzusehen, um das zu wissen.‹ Unsere Lippen fanden sich und auch unsere Körper. Ich dachte, sie sehnte sich nach Zärtlichkeit, doch ich konnte nicht zart sein. Mariole! Es war so lange her gewesen. Ich hatte mich in ihren Wünschen geirrt. Ich spürte ihre Nägel und ihre Zähne, und dann wand sie sich und schrie auf unter mir. … erwachte sofort und lauschte ihrem Atem. Ihr Kopf lag an meiner Schulter, ihr langes Haar fiel über meine Brust. Ich legte einen Finger an ihre Lippen, und sie küßte ihn im Schlaf und erwachte. ›Noch eine Nacht‹, sagte sie. ›Oder zwei, wenn wir Glück haben.‹ ›Und dann?‹ In mir war Leere. Mitleid ist nicht Liebe. Nie würde ich wieder lieben können, wie ich Marie und unser Kind geliebt hatte. Aber hassen würde ich. Im Dunklen sah ich das arrogante Antlitz des Sieur de Ramezay vor mir. Davon sagte ich nichts zu ihr. Ich wollte, daß sie spräche.
›Mein Volk braucht mich. Ich könnte nicht phuri dai bleiben, wenn ich Zurka verließe, um mit dir zu leben. Du bist kein Rom. Liebst du mich sehr, Jean-Baptiste?‹ ›Heute nacht‹, sagte ich. Ich wollte nicht grausam sein, und sie verstand mich. Sie sagte: ›Dann ist eben heute nacht alles, was uns bleibt…‹… der Zelteingang teilte sich, und gegen das erste Tageslicht hob sich Zurka ab. ›Hure!‹ schrie er und stieß mich beiseite, als ich mich auf Hand und Knie erhob und mich zwischen ihn und Tita stellen wollte. Er zerrte sie nackt aus dem Zelt und warf sie auf die Erde. Ich lief ihnen nach. Er schlug auf sie ein und stieß mich wieder weg, als ich ihn daran hindern wollte. Er war stark, und ich hatte nur einen Arm. Bald war die ganze Sippe aus den Zelten gekrochen und sah in tödlicher Stille zu. Zurka schlug und trat Tita, bis sie das Bewußtsein verlor. Dann redete er mit ihrer Base Kore. ›Hol ihre Kleider! Zieh sie an!‹ Voller Angst schlich Kore ins Zelt und tat wie ihr geheißen. Ich machte ein Tuch naß und wusch Titas geschwollenes Gesicht. Kore faßte mich an der Schulter. Sie hatte mir meine Kleider mitgebracht. Die Rom beschränkten sich aufs Zusehen. Was Zurka getan hatte, erregte bei ihnen weder Billigung noch Mißbilligung. Sie warteten ab. Zurka saß mit dem Rücken an ein Rad des Wagens gelehnt, den er mit Tita teilte. Er trank Wein. Stur vor sich hin starrend, sah er nichts und niemanden. Tita schlug die Augen auf. Sie hatte die Lage sofort erfaßt. ›Jean-Baptiste‹, flüsterte sie, ›hör gut zu. Er ist schnell im Zorn, aber langsam beim Denken. Mir wird nichts geschehen. Er braucht mich, um die Leute zu beherrschen, und das weiß er. Ohne mich würden sie an seiner Stelle einen anderen Woiwoden wählen.‹
Sie sprach diese Worte ganz hastig. Dann sagte sie: ›Du mußt auf der Stelle fliehen, ehe er…‹ Zurka ließ den Weinkrug am Wagen zerschellen. ›Gebt dem gadjo ein Messer‹, sagte er. Keiner rührte sich. ›Lauf, Jean-Baptiste‹, sagte Tita. Doch ich rührte mich nicht. Wie weit wäre ich gekommen? Wohin hätte ich gehen sollen? Zurka strich sich lächelnd über den langen Schnauzbart. ›Kore wird dem gadjo ein Messer bringen. Es sei denn, sie zieht es vor, zuzusehen, wie dem gadjo die Kehle durchgeschnitten wird, weil er sich nicht wehren kann.‹ Ich wußte, daß ich mich gegen Zurka nicht zur Wehr setzen konnte, Messer oder nicht. Er kam langsam auf uns zu, einen Dolch mit langer Klinge in der Hand. Er war sehr stolz auf diese Waffe – Stahl aus Toledo, einem aus dem Süden kommenden Rom, einem gitane, in Südfrankreich abgenommen. Tita hatte sich aufgesetzt. Kore sah sie an. Tita nickte, und Kore verschwand in einem der Wagen. Sie kam mit einem Messer wieder, dessen Klinge so lang war wie bei Zurkas Messer. ›Du mußt fest zustechen‹, flüsterte sie mir drängend zu. ›Er wird Katz und Maus spielen wollen. Es ist deine einzige Chance.‹ Aber ich hatte keine Chance. Die Sippe scharte sich in einem Kreis um uns, und es ging alles sehr rasch. Zurka ging in die Hocke, ließ die Zähne blitzen und das Messer an seiner Seite kreisen. Ich wollte tun, was Tita mir geraten hatte, doch war mir der Kampf mit dem Messer ungewohnt. Einmal stieß ich zu, ungeschickt, und Zurka packte mich mit der linken Hand und verdrehte meinen Arm. Das Messer glitt mir aus der Hand.
Zurka verharrte in seiner kauernden Stellung. ›Heb es auf, gadjo‹, sagte er. ›Das war erst der Anfang.‹ Ich bückte mich, und da schnellte sein Stiefel vor und traf mich an der Schläfe. Ich landete auf dem Rücken und hörte Tita aufschreien. Und dann hockte Zurka rücklings auf mir und drückte meinen Arm mit dem Knie zu Boden. Mit der Messerspitze berührte er meine Kehle. Um uns erhob sich Geraune, doch Zurka sagte, es wäre sein gutes Recht. Ich spürte die Messerspitze über meine Haut gleiten. Zurka ließ sich Zeit. Er zog mit dem Messer auf meiner Kehle eine Linie, sorgsam, fast so wie ein Graveur auf einer Kupferplatte. Ich erwartete den Tod. Seine Augen sagten mir, daß ich sterben würde. Doch dann sah ich nicht mehr Zurka. Ich sah den Sieur de Ramezay. Und es war eine Ironie, daß ich in dem Augenblick, den ich für den letzten meines Lebens hielt, wußte, daß ich nun etwas hatte, wofür ich lebte – ich wollte mich am Sieur de Ramezay rächen. ›Wie, du kennst keine Gebete?‹ fragte Zurka. Ich blieb stumm. Die Messerspitze bohrte sich in meine Kehle. ›Willst du nicht um dein Leben bitten, gadjo?‹ Da hörte ich ein Knallen, und Zurka sprang hoch. Er rollte über den Boden. Von allen Seiten hörte ich Ausrufe, ein einziges Wort: Gaddara. Ich setzte mich auf und sah nun innerhalb des Kreises, den die Sippe um uns gebildet hatte, ein tiefschwarzes Pferd und auf dem Pferd eine Gestalt, die ich zuerst für einen schlanken, schwarzgekleideten Jungen hielt, der einen Ochsenziemer in der Hand hatte. Das Peitschenende ringelte sich um Zurkas Hals. Er zerrte an dem Leder, das ihn zu ersticken drohte. Das Pferd bäumte
sich auf, und Zurka wurde durch den Staub gezerrt. Dann senkte der Reiter den Arm, und Zurka konnte sich befreien. ›Gaddara‹, stieß er heiser hervor. Der Reiter sagte: ›Schaffe deine Gäule zum Pferdemarkt nach Belgrad. Und dann verlasse Serbien. Wenn du Tita etwas zuleide tust, ja, wenn du sie bloß schlägst, dann bist du des Todes. Das schwöre ich dir, gleichgültig wo du sein magst.‹ Es war eine Frauenstimme, die so sprach. Ich sah ihr langes Blondhaar. Sie saß ab und kam zu mir. Die Rom machten den Weg für sie frei. Sogar Tita wich scheu zurück. ›Hast du etwas, das dir gehört, Jean-Baptiste Columbine?‹ fragte sie. Unmöglich, daß sie meinen Namen kannte, und doch kannte sie ihn. Ich schüttelte den Kopf. ›Dann komm auf der Stelle mit mir.‹ Ich sah Tita an. ›Dem Weib Zurkas wird kein Leid geschehen‹, sagte mir Gaddara. Veilchenblaue Augen sahen in meine Augen, und plötzlich wußte ich, daß ich mit ihr gehen mußte, daß ich mit den Rom hierhergekommen war, damit ich mit ihr gehen konnte. Sie streckte die Hand aus und half mir auf die Beine. Gemeinsam gingen wir zum Pferd, und wieder wichen die Rom vor ihr zurück. Sie hatten Angst. Sie fürchteten den durchdringenden Blick der veilchenblauen Augen. Gaddara schwang sich behende in den Sattel und sagte, ich sollte hinter ihr aufsitzen. Mit ihrer Hilfe stieg ich linkisch aufs Pferd. Sie gab dem Rappen die Sporen, und er trabte los. Ich warf nicht einen einzigen Blick zurück. Ich sah mich nicht nach Zurka um, nicht nach Kore, ja nicht einmal nach Tita. Ich war zwei Jahre lang gewandert, um meine Bestimmung zu erreichen.
Melody klappte das Büchlein zu. Sie war zu müde, um noch weiterzulesen, obgleich es eben sehr spannend war. Woher hatte Gaddara den Namen des Malers gewußt? Woher hatte sie gewußt, daß er da war? Du lieber Gott, was für eine Frau. Einfach so ins Lager zu reiten mit einem Ochsenziemer und Columbine das Leben zu retten… Und wie sich alle vor ihr ängstigten… Und schlank war sie. Wieder schlug Melody das Buch auf. So schlank, daß Columbine sie zunächst für einen Jungen gehalten hatte. Bald würde auch Melody so schlank sein.
14
Eine halbe Stunde mit M. A. Kelly reichte aus, um Monsieur Taitbout zu überzeugen, daß er einen anderen Restauratoi hätte kommen lassen sollen, irgendeinen. Kelly, unbestreitbar die weitbeste Expertin für das Werk Jean-Baptiste Columbines, war auch eine Perfektionistin. Und dazu arrogant, voreingenommen, herrschsüchtig. Und mit dieser berechnenden Reserviertheit, die sie sich zugelegt hatte, wollte sie Erfolg haben. Eine Frau mit schwarzem, zu einem strengen Dutt zurückgekämmten Haar, einem nichtssagenden Tweedkostüm und einem ungeschminkten Gesicht! Um eine solche Haltung zur Schau zu tragen, mußte eine Frau schon sehr schön sein. Und dennoch, dachte Monsieur Taitbout bei sich, während er sie mit dem Blick des Fachmannes noch einmal musterte, hatte sie etwas an sich, ein ›je ne sais quoi‹, das nur darauf wartete, ans Tageslicht zu kommen, wie ein Schmetterling aus seinem Kokon. M. A. Kelly bedeutete für Monsieur Taitbout Verwirrung und Ärgernis gleichermaßen. Es hatte mit dem »Zigeunerlager« begonnen. Monsieur Taitbout hatte das Gemälde auf die Staffelei gestellt, hatte die Beleuchtung darauf gerichtet und war einen Schritt zurückgetreten. »Sehen Sie«, sagte er. »Oder vielmehr, sehen Sie nicht?« Sie standen ganz nahe beieinander. Sie roch nach Seife, nicht nach Parfüm. Sie war groß und eckig, aber jünger, als er erwartet hatte. Er bot ihr sein binokulares Vergrößerungsglas an, dessen Kopfband sie mit geübten Fingern festmachte.
Er war stolz auf die Flickstelle an dem Bild, stolz auf die Geschicklichkeit, mit der er nach dem Wegschneiden des ausgefransten Randes ein Stück Leinwand zugeschnitten und mit einer dünnen Polyvinylacetatschicht versehen hatte, stolz auf das Ausfüllen, Retuschieren und Firnissen. »So gut wie neu«, sagte er. »Oder«, mit kleinem, gallischem Auflachen, »so gut wie alt.« M. A. Kelly stand da, unbeweglich und unbewegt, und prüfte die Leinwand durch das binokulare Vergrößerungsglas. »Nicht schlecht«, sagte sie. Monsieur Taitbout lächelte. »Aber auch nicht gut«, fuhr sie fort. »Das Problem ist die Leinwand der Flickstelle. Zuviel PVA dran. Dieser Fehler wird häufig gemacht.« Monsieur Taitbout räusperte sich und rückte sein Gesicht zurecht. M. A. Kelly hob das Vergrößerungsglas an die Stirn. »Aber wirklich mehr als gut genug«, gestand sie ein. »Aha«, sagte Monsieur Taitbout. »Falls das Flicken des Loches das einzige war, woran Ihnen lag.« Monsieur Taitbout kochte ob ihrer Arroganz. »So gut wie neu«, erklärte er. »Es ist kein neues Bild. Es ist fast dreihundert Jahre alt. Sehen Sie sich mal den Firnis an.« Der Firnis war nachgedunkelt und nicht überall durchsichtig. Aber das war nur natürlich, dachte Taitbout. So hatte das Bild immer ausgesehen. »Entfernen Sie den Firnis«, sagte M. A. Kelly. »Bei allen Bildern. Mischen Sie Aceton oder Methanol mit destilliertem Paraffin. Einverstanden? In kürzester Zeit werden diese Bilder aussehen, als kämen sie direkt von der Staffelei Columbines.« Das sagte sie auf englisch und gar nicht arrogant. »Stellen Sie sich vor, daß Sie die Bilder so in Bourg St. Martin aufhängen werden – vollkommen restauriert.«
Dieser Aussicht konnte er einfach nicht widerstehen, auch wenn er wochenlang diese arrogante Person ertragen mußte. »Ich fange an, wann Sie wollen«, sagte er.
Margriet Kelly brauchte keine fünf Minuten, um ihre Sachen im Martinsburg Motor Lodge auszupacken. Drei Arbeitskittel, ein Parka, ein Mantel, nur zwei Kleider, nach praktischen Gesichtspunkten ausgewählte Unterwäsche. Kein Make-up. Kein Nachthemd oder Schlafanzug. Die waren in einem überheizten Motelzimmer überflüssig. Sie zog sich rasch aus und hängte das streng geschnittene Tweedkostüm in den Schrank. Sie lechzte nach einer Dusche und hatte etwas Ruhe dringend nötig nach der langen Autofahrt und noch mehr nach ihrer ersten Begegnung mit Monsieur Taitbout. Immer war sie jünger als erwartet, und das war bei einem alternden Sexisten wie Taitbout besonders schlimm. Hoffentlich war sie nicht zu barsch mit ihm umgesprungen. Schließlich würden sie zusammenarbeiten müssen. Margriet wußte, daß sie sich, obwohl erst knapp über dreißig, sechs Jahre nach Abschluß ihrer Ausbildung am Institut Royal de Patrimoine Artistique in Brüssel bereits einen ansehnlichen Ruf erworben hatte. Allein der fast legendäre Stavros Mihalarias genoß in den Museen dreier Kontinente noch mehr Ansehen. Sein Ruf beruhte auf der von ihm entwickelten Methode, Gemälde, die aufeinandergemalt worden waren, zu trennen und zu konservieren. Margriet wußte, daß diese Technik das Geschick und die Geduld eines Neurochirurgen erforderte. Dennoch – Mihalarias war ein Techniker, punktum. Der Papst der Kunstkonservatoren, gewiß, doch waren auch ihm Grenzen gesetzt.
Ehe sie ihr Studium am Institut in Brüssel begann, hatte sie bereits ein Diplom in Psychologie erworben. Ihre beiden Fächer hatte sie in ihrer Dissertation vereint, indem sie einen Vergleich anstellte zwischen dem Wahnsinn Goyas und dem Columbines während der sogenannten schwarzen Perioden beider Maler. Bei Goya war es verhältnismäßig einfach gewesen. Der allmähliche Abstieg in den Wahnsinn war historisch belegt. Bei Columbine war das Problem komplexer. Das nach dem Tod von Frau und Kind bestehende Trauma, die Wanderjahre bei den Zigeunern – aber kein Beleg für eine Geisteskrankheit, keine politische Betätigung wie bei Goya, kein Einsiedlerdasein wie bei Goya, kein Menschenhaß wie bei Goya. Und kein Greisenalter, dachte Margriet, als sie unter die Dusche ging und diese auf volle Stärke aufdrehte. Columbine war Anfang fünfzig gestorben und hatte, anders als Goya, ein sehr zurückgezogenes Leben gelebt. Dazu kam, daß er erst nach seinem Tode richtig berühmt wurde und nicht wie Goya schon zu Lebzeiten. Aus diesem Grunde war über sein Leben nicht viel bekannt. Der einzige vorliegende Brief von eigener Hand, der von den meisten Gelehrten als echt angesehen wurde, warf mehr Fragen auf, als er beantwortete. Columbine hatte ihn kurz vor seinem Tod an den jungen französischen Maler Denis Vouet gerichtet und sich darin mit großem Wissen und leidenschaftlicher Überzeugung über die Schwarze Magie ausgelassen. Er hatte die grimoires gelesen, jene von den Zauberern des Mittelalters benutzten Sammlungen, und er glaubte, daß der Künstler, auf seine Art ein Magier, daraus lernen könne. Was er daraus lernen könne, das hatte er nie ganz klar zu verstehen gegeben, doch seine Kenntnis des Schlüssels Salomos, des Lemegeton, des Grimoire des Honorius, des Arbatel der Zauberei, des Grimoirum Verum und des Black Pullet war beträchtlich.
Zwei Absätze des Briefes fehlten und mit ihnen der wichtigste Teil des Briefes. Sie kannte das, was übrig war, auswendig: »Ich habe dergleichen Dinge gesehen, mein lieber Vouet. Ich habe die unerklärliche Konflagration sogar in einer Kirche Gottes gesehen. Ich habe die finstere Astralglocke vernommen, und mit eigenen Augen habe ich geschaut, wie ein Mensch, der verflucht wurde, dahinschwand. Natürlich kann ich nicht erwarten, Euch zu überzeugen, und ich bringe dies alles nur im Geiste der rationalen Fragestellung vor.« Rational? fragte Margriet sich, während sie sich abseifte, duschte und einen Moment den Wasserhahn auf ganz kalt stellte. Sie frottierte sich, schlüpfte zwischen die gestärkten kühlen Laken des übergroßen Bettes in dem überheizten Zimmer und war nach drei Minuten eingeschlafen. Sie träumte, daß sie sich mit einem Einarmigen liebte. Der Einarmige, dessen Antlitz den im Louvre und Rijksmuseum hängenden Selbstporträts so stark glich, wie Jean-Baptiste Columbine. Beim Erwachen fand sie ihren lebhaften Traum zuerst höchst amüsant. Schließlich liebte sie ihre Arbeit, oder nicht? Und was den nicht zu übersehenden Symbolwert betraf… Der Traum war daneben beunruhigend erotisch gewesen und zeitigte Nachwirkungen. Sie zog sich langsam an, wobei sie sogar die Berührung durch die eigenen Hände erregend fand. Die Haarbürste in der Hand, lächelte sie sich selbst etwas gekünstelt im Spiegel zu. Die Augen, die zurücklächelten, waren verändert, dunkler. Ihr Gesicht, durch das Lächeln weicher geworden, erschien ihr seltsam katzenhaft. Sie ließ die Bürste fallen und drehte sich plötzlich in einem Augenblick stechender Angst blitzartig um. Sie war nicht allein im Raum.
Da sah sie das Bett und die anderen Einrichtungsstücke, den Druck an der Wand, die Vorhänge. Sie war allein, die Tür war verschlossen, die Kette vorgelegt. Was ist bloß in dich gefahren? dachte sie. Als nächstes wirst du noch unters Bett gucken. Sie sah wieder in den Spiegel. Sie war bleich und ihre Hand unstet, als sie die Bürste aufhob und sie übers Haar gleiten ließ. Blaß war sie – das war es wohl. Und deshalb hatten ihre Augen dunkler gewirkt und ihr Gesicht irgendwie verändert.
Garrick stand am Eingang, und sein erwartungsvolles Lächeln verblaßte. »Mr. Garrick?« fragte die Frau. »Mr. Robert Garrick?« Er nickte. »Kommen Sie doch herein. Es ist kalt draußen.« Sie betrat den Flur, den Kragen ihres schwarzen Mantels hochgeschlagen. Garrick konnte einen hastigen Blick auf eine strenge, einfache Frisur tun, auf ein strenges, unhübsches Gesicht. Sie war groß und schlank, das Gesicht von der plötzlich einsetzenden Kälte des Spätnachmittags lebhaft gerötet. Garrick hatte eigentlich Eve Talbot zurückerwartet, die mit ihrem Kamerateam die alten, noch aus der Hugenottenzeit stammenden Häuser abklapperte. Er half der Frau aus dem Mantel. »Ich bin Margriet Kelly«, sagte sie. Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer, und Garrick legte ihren Mantel über eine Sessellehne, anstatt ihn in den Dielenschrank zu hängen – eine diskrete und manierliche Andeutung, der Besucher möge tunlichst nur kurz bleiben. Er mußte noch einen Leitartikel schreiben. »Nehmen Sie Platz, Miß Kelly. Was kann ich für Sie tun?«
Sie hatte sich reserviert an den Sofarand gesetzt. »Sie wissen wohl nicht, wer ich bin?« Garrick schüttelte mit einem kleinen höflichen Lächeln den Kopf. »Leider nein.« »Vielleicht hätte ich M. A. Kelly sagen sollen.« Jetzt fiel es ihm wieder ein. »Ach ja, Monsieur Taitbouts Restauratorin! Wie schön, daß Sie es doch geschafft haben.« »Mir ist das Wort ›Konservatorin‹ lieber. Bei dem Begriff Restaurator könnte man auf die Idee kommen, daß einer sich Freiheiten mit einem Original herausnähme. Das ist ein Fehler in meinem Beruf. Sie verstehen doch den Unterschied?« Garrick sagte, er glaube den Unterschied zu verstehen. Und er setzte sich nicht. »Einen Drink?« »Nein, danke, ich bleibe nicht lange.« Margriet Kelly faltete die Hände im Schoß. »Mr. Garrick, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« Und sie erklärte ihm die Sache mit den Touristen. »Ein Konservator ist ein reiner Techniker und kein ausübender Künstler, egal was Monsieur Taitbout auch denken * mag.« »Warum behelfen Sie sich nicht mit einem Kompromiß?« schlug er vor. »Stellen Sie doch einen Stundenplan auf. Sie am Morgen und ohne Touristen. Taitbout nachmittags mit Besuchern.« »Ja, ich glaube, wir…« Da brach ihre Stimme plötzlich ab. Sie starrte an Garricks Schulter vorbei. »Das Bild dort«, sagte sie. Sie stand auf und ging an Garrick vorbei, als wäre er gar nicht vorhanden. Vor der Feuerstelle blieb sie stehen. »Allmächtiger«, sagte sie. »Wissen Sie, was das ist?« »Ich weiß, daß es eine Kopie ist. Eine Kopie von Columbines sogenanntem verschollenen Gemälde. Eine meisterhafte Fälschung – so hat Taitbout es klassifiziert.«
Ihm noch immer den Rücken kehrend, sagte sie: »Das ist keine Fälschung. Unmöglich. Es ist viel zu gut. Zu vollkommen.« »Und zu neu«, sagte Garrick, dem es leid tat, sie enttäuschen zu müssen. »Zwanzig Jahre alt«, sagte Taitbout. »Allerhöchstens dreißig.« Als sie sich langsam umdrehte, hing Garricks Blick noch an dem Bild. »Mir egal, wie neu es aussieht. Es ist echt.« Ihre dünne Stimme war nun kehlig vor Erregung. »Es ist Columbines verschollenes Gemälde.« Garrick fuhr herum und starrte sie mit offenem Mund an. Es war unmöglich. Schimmerndes, schwarzes Haar, straff zurückgenommen, betonte die feinen hohen Backenknochen und die Schatten darauf, das Katzenhafte ihres Gesichtes. Das Tweedkostüm, das keineswegs bieder war, wie es auf den ersten Blick aussah, wirkte todschick und modisch auf sehr dezente Weise. Das Tweedmaterial betonte die Kurven ihrer gertenschlanken Figur. Unscheinbar? Bieder? So war sie hereingekommen. Jetzt war sie schön. So, als hätte der Anblick des Gemäldes sie verändert, dieser Gedanke kam ihm ganz plötzlich. Jetzt erst bemerkte er, daß sie weiterredete. »… gewisse Tests, sicher. Aber glauben Sie mir, die sind eigentlich unnötig. Kein Fälscher, und sei er noch so raffiniert, kann die Arbeit eines anderen nachvollziehen. Der Stil eines Künstlers ist so eigen und einzigartig wie ein Fingerabdruck. Die Pinselführung, der Gebrauch des Impasto, die Lichteffekte, das ist unverfälschter Columbine… Was ist denn?« »Was? Nichts«, gab Garrick zurück. Er begriff, daß er sie angestarrt hatte, wie sie das Bild anstarrte.
Da wurde die Tür aufgerissen, und Melody kam hereingestürmt. »Bei Nick im Lokal gab es einen Kampf!« rief sie aufgeregt. »Ein Mann wurde erstochen. Es ist furchtbar – ach, guten Abend!« »Guten Abend«, sagte Margriet Kelly. »Das ist meine Tochter Melody«, erklärte Garrick. »Melody, Miß Kelly. Sie ist die Kunstrestauratorin, die…« »Konservatorin«, berichtigte Margriet Kelly und sah Melody lächelnd an. »Wie war das mit dem Kampf?« fragte Garrick.
»Eine Messerstecherei ist noch kein Rassenkrawall«, sagte Sergeant Whitlock zu Charlie Dahlgren, während sie die Mill Street entlangfuhren. »Was ist übrigens mit dem Chef los?« »Er sagte nur, wir sollten achtgeben, wie wir den Jungen herbrächten, das ist alles.« Charlie konnte Reveres Besorgnis gut verstehen, auch wenn es Whitlock unverständlich war. Whitlock war gebürtiger Martinsburger und diente hier seit zwanzig Jahren bei der Polizei. In der Stadt lebten knapp dreihundert Puertoricaner, von denen die meisten in der Spinnerei am Riverside Park arbeiteten. Ein Stück weiter westlich standen zwei achtstöckige Wohnhäuser, für Martinsburg so unnatürlich wie das Zeughaus. Und dort hatten sich viele Puertoricaner eingemietet. Bis auf den Fluß und das schmale gekurvte Stück Park erinnerte es Charlie Dahlgren an eine der wenigen guten Gegenden in Spanish Harlem. »Du kennst den Kerl?« fragte Whitlock, als sie an der Umzäunung der Spinnerei vorüberfuhren. Es dämmerte, und die Straßenbeleuchtung war eben erst eingeschaltet worden.
»Garcia?« fragte Charlie kopfschüttelnd. »Das soll wohl ein schlechter Scherz sein? Der Name ist so häufig wie Smith.« Whitlock lachte auf. »Diese Spaghettis sind wie Chinesen. Alle Chinamänner sehen gleich aus. Ihr Jungs aus New York bringt mich wirklich zum Lachen.« Das New Yorker Revier, dem Charlie zugeteilt worden war, hatte einen großen puertoricanischen Bevölkerungsanteil. Er hatte da ein bißchen Spanisch aufgeschnappt, einfaches Spanisch von der Straße, doch damit war er der einzige bei der Polizei von Martinsburg. Charlie wurde von Ned Revere kurzerhand zum Experten für Puertoricaner erklärt. Vor dem Wohnhaus verlangsamte der Einsatzwagen die Fahrt, fuhr aber noch einen halben Block weiter, ehe er an den Randstein heranfuhr und anhielt. Fast hätte Charlie gewünscht, daß Angel Garcia bereits vorbestraft war – wenn schon nicht in Martinsburg, so doch in New York, wo er nach Aussage des Personalchefs der Spinnerei aufgewachsen war. Hier in Martinsburg war er unbescholten, und eine telefonische Anfrage in New York hatte ergeben, daß von ihm kein Vorstrafenregister existierte. Er war von drei Zeugen bei Nick eindeutig identifiziert worden. Dreiundzwanzig war er, in Charlies Alter also. Der Mann, den er mit dem Messer verletzt hatte, ein gewisser Harry Mauriello, lag auf der Intensivstation des Martinsburger Krankenhauses. Man hatte eine Lunge opfern müssen, um die Blutung zu stillen. »Ich kapiere immer noch nicht, warum der Chef sich graue Haare wachsen läßt«, sagte Whitlock. »Ein Kerl ersticht einen anderen, und man nimmt ihn hops.« »Ja, gewiß doch«, antwortete ihm Charlie und stieg aus. Er wußte, was Ned Revere Sorgen machte. Charlie Dahlgren machte Ned Revere Sorgen, und aus diesem Grund hatte er den ruhigen Cal Whitlock mitgeschickt. Seit Charlie in der Vorwoche den Fall Joynes draußen am Laurel
Drive übernommen hatte, gab es für ihn nur noch Schreibarbeit. Höchste Zeit, daß Charlie Neds Vertrauen zurückgewann. »Ich möchte nichts mehr davon hören«, hatte er Charlie vor einer halben Stunde erklärt. »Es ist nie passiert, verstanden?« Charlie hatte genickt und sich gewünscht, er könnte seiner selbst so sicher sein, wie der Chef seiner sicher war. Ned hatte eben nie diesen irren Drang zu töten verspürt. Sergeant Whitlock war hereingekommen, und er hatte dem schweren, kahl werdenden Mann erklärt: »Geht mit Samthandschuhen an die Sache heran. Diese Puertoricaner halten zusammen wie Pech und Schwefel. Gut möglich, daß einige hier mit Rachegelüsten aufkreuzen. Das ist nicht der Fehler Martinsburgs, sondern die klassische Situation für Rassenunruhen.« »Rassenunruhen?« hatte Whitlock wiederholt. »Was soll das, Ned?« »Er wohnt da draußen mit seiner Mutter zusammen. Angenommen, die will nicht dulden, daß man ihren Jungen festnimmt. Alles schon dagewesen.« Als sie nun aus dem Wagen ausstiegen, fragte Charlie sich, ob Whitlock wohl wußte, was sich in der vergangenen Woche zugetragen hatte. Er bezweifelte es. Ned hatte es ihm sicher nicht gesagt. Zwar änderte das gar nichts. Ned gab Charlie eine Chance, damit er sich bewähren konnte, und Ned machte sich große Sorgen deswegen. »Bloß keine Rassenkrawalle, Charlie. Schieß niemanden an.« »Brrr, kalt«, sagte Whitlock. Die Straße lag verlassen da. Sie gingen ein Stück zurück. »In New York«, sagte Charlie, der das Bedürfnis hatte, etwas zu sagen, »muß jeder Bus bewacht werden, damit die Leute ihn nicht demolieren.«
»Na, da muß die Polizeiarbeit großartig sein«, entgegnete Whitlock. Und sie betraten das Vestibül des Wohnhauses. Es war sauber. Es roch hier sogar sauber, die Wände waren nicht bekritzelt und die Deckenbeleuchtung nicht zerschlagen. Whitlocks Lachen war mehr ein Knurren. »Na, denkst du immer noch an New York?« wollte er wissen. Charlie schüttelte den Kopf. Der Name Garcia stand in der ersten Reihe der Namensschilder, Tür 2c. Charlie wollte eben den Klingelknopf drücken. »Laß das«, sagte Whitlock. »Ich erwarte zwar keinen Ärger, aber ich fordere ihn nicht heraus.« Charlie fühlte sich sehr dämlich. Whitlock hatte recht. Das gehörte einfach zur Routine, so, wie es selbstverständlich war, daß man einen halben Block weiter parkte. Er sah dem Älteren zu, wie dieser einen Schlüsselring hervorzog. Beim zweiten Versuch ging die Haustür auf. Auch das Treppenhaus war sauber und gut beleuchtet, ebenso der Gang im ersten Stock. Sie gingen an einer Tür vorbei, hinter der gedämpfte lateinamerikanische Rhythmen erklangen. Eine zweite Tür, und sie standen vor 2c. Whitlock formte lautlos das Wort: »Fertig?« Er drückte sich neben der Tür flach an die Wand. Charlie auf der anderen Seite. Auch das war Routine, vermutlich unter diesen Umständen übertriebene Vorsicht, aber… Whitlock schellte, und eine Frauenstimme rief sofort: »Ja, wer ist da?« als hätte sie sie bereits erwartet. »Mrs. Garcia?« fragte Whitlock. »Polizei.« Ihr Seufzer war durch die Tür zu hören. Langsam ging die Tür nach innen auf, und beide Männer lösten sich von der Wand. Die Tür war unversperrt gewesen.
Mrs. Garcia war untersetzt, dunkelhaarig und hatte traurige Augen. »Er ist nich’ weggelaufen«, sagte sie. »Er is’ gleich nach Hause gekommen.« »Ist er da, Mrs. Garcia?« fragte Whitlock behutsam. »Es war ein Unfall«, sagte sie. »Angel hat sich bloß verteidigt«, setzte sie hinzu. Keiner der beiden Polizisten sagte ein Wort. »Dieser Mann, er ist doch… nicht gestorben?« »Nein, Mrs. Garcia. Er lebt noch.« Mrs. Garcia bekreuzigte sich. Leise rief sie: »Angel, die Polizei ist da.« Sie standen in einem kleinen, hübsch eingerichteten Wohnzimmer. Eine Tür ging auf, und Mrs. Garcia sagte hastig und voller Hoffnung: »Er ist ein guter Junge und hat noch nie etwas angestellt«, und Angel Garcia kam herein. Er trug Jacke und Schlips. Er war blaß, und seine Lippen zitterten. Er sah Whitlock und Charlie an, tat einen tiefen Atemzug und sagte lauter als beabsichtigt: »Okay, ich bin bereit.« »Wird er denn etwas brauchen?« fragte Mrs. Garcia. »Zahnbürste, Rasierapparat. Vielleicht ein paar belegte Schnittchen?« fragte sie mit brechender Stimme. »Das besorgen wir, Mrs. Garcia«, sagte Whitlock. Einen peinlichen Augenblick lang standen sie da. Angel Garcia war es, der schließlich an die Tür ging und sagte: »In Gottes Namen, gehen wir.« Charlie faßte nach den an seinem Gürtel befestigten Handschellen. Whitlock schüttelte fast unmerklich den Kopf. Charlie ging mit Angel Garcia hinaus auf den Gang, Whitlock ein paar Schritt hinter ihnen. Mrs. Garcia war in der Tür stehengeblieben. »Es wird alles wieder gut, Mama. Keine Angst.« Die Tür wurde nicht geschlossen, ehe sie die Treppe erreichten. Sie gingen hinunter und aus dem Haus. Charlie und
Angel Garcia nebeneinander. Whitlock hinter ihnen. Charlie mußte sich anstrengen, um mit Angel Garcia Schritt halten zu können, der, hochaufgerichtet, schnell den Gehsteig entlangging. Charlie hatte den Streifenwagen unter einer Straßenlampe geparkt. In dem von oben einfallenden Licht sahen sie, daß zwei Jungen neben dem Auto standen und das Armaturenbrett studierten. Als sie Schritte hörten, sahen sie auf und traten zurück. Einer sagte: »Wie geht bloß die Sirene an? Ich sehe da keine Taste.« Da überkam es Charlie wieder. Im ersten Moment sagte er sich, daß es so war wie damals am Laurel Drive, doch diesmal könne er dagegen an und alles würde gut. Im nächsten Moment aber hatte er sich eingeredet, daß es ganz anders sei, denn diese Jungen hier wären auf Stunk aus, das konnte man den verdammten Spaghetti-Gesichtern ansehen, man sah es in ihren Augen, Bastarde, die einem nicht in die Augen sehen konnten. Als nächstes würde einer ein Messer oder eine Knarre ziehen, und Whitlock würde sich überrumpeln lassen. »He, ihr da!« rief Charlie. »Die Hände aufs Wagendach, beide!« Sie rührten sich nicht. Er spürte, daß Whitlock jetzt knapp hinter ihm war, und sagte: »Hände aufs Dach, dann zwei Schritt zurücktreten. Wird’s bald!« »He, Officer, wir…« »Rührt euch, verdammtes Pack!« Sie gingen in Stellung, wie Charlie es ihnen befohlen hatte, während Whitlock verblüfft stehenblieb. Charlie tastete den einen schnell ab und hatte sofort das flache Messer in dessen Gesäßtasche entdeckt. Erst als er es herauszog, merkte er, daß es ein Kamm und kein Messer war. Das hinderte ihn nicht daran, den Jungen an der Schulter herumzudrehen und ihm die Faust ins Gesicht zu pflanzen, so
daß dessen Kopf gegen die Wagentür prallte. Der Junge schrie auf und glitt auf den Gehsteig, wo Charlie ihm einen Fußtritt versetzte und ihn weiter mit Tritten traktierte, bis er jemanden rufen hörte – es war Angel Garcia: »Was ist denn los, du Irrer?« Da zog Charlie den Revolver. Angel Garcia lief los, Charlie legte an und drückte ab, ehe Whitlock ihm den Arm verdrehen konnte. Whitlock rief etwas, außer sich vor Wut. Charlie hörte es nicht. Er hörte vielmehr die Menschen schreien. Ein Dutzend Männer hatte sich angesammelt, weitere kamen gelaufen. Charlie stand da, bis Whitlock um seinet und der anderen willen sagte: »Rein in die Karre, du blöder New Yorker Scheißer!« Die Hecktür stand offen, und Charlie stieg ein. Der Junge, den er getreten hatte, wurde auf den Vordersitz gesetzt, während Whitlock beruhigend auf die Leute einredete oder es zumindest versuchte, während sie schrien und tobten. Whitlock stieg ein und startete den Motor. Der Wagen wurde gepackt und geschaukelt. Er fuhr ruckartig vom Randstein los. Charlie hörte einen Stein aufs Dach prallen. Er hörte, wie der Junge, den er getreten hatte, stöhnte. Charlie weinte.
15
Melody hörte von unten ihre gedämpften Stimmen. Sie hatte nach Eves Kommen höflicherweise eine Viertelstunde ausgeharrt und hatte sich dann entschuldigt. Eve war eigentlich gar nicht so übel, überlegte sie, nur schaffte sie es eigentlich immer wieder, zum falschen Zeitpunkt hereinzuplatzen. Fast so, als wäre sie ein Familienmitglied. Bis zu diesem Abend hatte Melody es für sehr gut möglich gehalten, daß Eve bald wirklich zur Familie gehören würde. Jetzt aber war sie nicht mehr so sicher. Noch nie hatte sie ihren Vater von jemandem so eingenommen gesehen wie von Margriet Kelly. Wie er sie ansah, jedes ihrer Worte verschlang – das war sogar Eve aufgefallen. Auch Melody war von Margriet Kelly ziemlich beeindruckt. Wie eine Frau sich so kleiden und ihr Haar so lieblos zurecht machen konnte und es dennoch fertigbrachte, eine Eve Talbot neben sich unscheinbar aussehen zu lassen, das begriff Melody nicht, aber sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Melody hatte zu Margriet Kelly instinktiv Vertrauen gefaßt und sie gemocht – bis sie auf das Bild zu sprechen kamen. Melodys Bild. Immer wollten die anderen etwas, dachte sie. Eve will meinen Vater. Margriet Kelly möchte mein Bild, damit sie es untersuchen und sich über mich lustig machen kann wie Monsieur Taitbout. Ob sie sich wirklich lustig machen würde? Sie hatte eigentlich ganz ernst geklungen. »Meisterwerke sind schon an den unglaublichsten Orten aufgetaucht – ein Fragonard auf dem Pariser Flohmarkt, ein
Rembrandt in einem strohbedeckten Haus in England. Warum also kein Columbine hier?« Melody verspürte eine starke Versuchung. Wenn es nun wirklich echt war? So echt wie das Notizbüchlein, das sie nun in Händen hielt? Es war noch früh. Sie würde heute abend viele Stunden mit Jean-Baptiste Columbine verbringen.
Aus den Aufzeichnungen des Jean-Baptiste Columbine: Ich konnte mich im Dorf frei bewegen, konnte nach Belieben kommen und gehen, doch ich wagte mich kaum einmal allein fort. Es war, als hätte Gaddara mich fae (verhext?). Ich wollte jeden wachen Augenblick mit ihr verbringen, auch wenn sie mir manchmal Angst einjagte. Einmal fragte ich sie, nachdem ich sie einige der Dinge hatte tun sehen, die sie vermochte, warum jemand die Schwarze Kunst auszuüben wünsche und Zauberer werden wolle. ›Um Macht zu erlangen‹, sagte sie. ›Um über das Universum so große Macht zu erlangen, wie Gott sie hat.‹ Und als sie das sagte, klang es gar nicht wie eine Gotteslästerung, oder aber sie hatte mich schon so weit gebracht, daß mir dieser Begriff gleichgültig war. ›Wie eine weise Frau bei den Zigeunern?‹ fragte ich. ›Wie Tita?‹ Gaddara lachte. ›Ah, Tita weiß ein paar Dinge, die ich sie lehrte. Aber ihre Magie ist die eines Kindes.‹ ›Ich habe mitangesehen, wie sie mit Krötenamuletten ein krankes Pferd heilte‹, sagte ich. ›Ich habe mitangesehen, wie sie verloren geglaubte Münzen wiederfand.‹ ›Und wie hat sie das angefangen?‹
Ich wollte Gaddara beeindrucken. Eigentlich hatte ich es nicht selbst gesehen, doch hatte mir Titas Base Kore davon berichtet. Damals hatte ich es nicht glauben können. ›Sie grub an einer Wegkreuzung ein Loch und stahl Weihwasser aus einer Kirche. Das goß sie in das Loch, während sie das Vaterunser von rückwärts aufsagte. Es dauerte nicht lange, und die Münzen erschienen bald darauf.‹ ›Tita ist eine gelehrige Schülerin‹, mußte Gaddara eingestehen. ›Weihwasser verfügt manchmal über Zauberkräfte. Und auch eine Kreuzung oder etwas Verkehrtes. Diese Dinge habe ich sie gelehrt. Doch Tita besitzt nicht den Schlüssel zur wahren Macht.‹ ›Macht wozu?‹ ›Titas Mann Zurka starb letzte Nacht‹, sagte Gaddara plötzlich. Ich starrte sie an. Die Karawane war schon lange nicht mehr auf dem Pferdemarkt in Belgrad, sie befand sich längst auf dem Weg nach Frankreich. ›Das kannst du nicht wissen‹, widersprach ich. ›Er war betrunken, und er schlug Tita, und bald darauf erlitt er einen Anfall. Ich hatte ihn gewarnt. Es geschah, als sie vor Turin am Fuße der Alpen ihr Lager aufschlugen. Es ist so einfach, einen Mann mit einem Fluch zu belegen, wenn man den Schlüssel dazu hat.‹ ›Von hier nach Turin ist es weit‹, sagte ich. ›Die Entfernung spielt keine Rolle, auch die Zeit nicht.‹ ›Was ist dieser Schlüssel?‹ fragte ich sie. ›Du bist noch nicht so weit, dies zu begreifen.‹ Und doch bat ich sie, mich einzuweihen. ›Nun gut. Es heißt, daß man die Kraft dessen, was man liebt, gegen das, was man haßt, einsetzt. Dann sind deinem Streben keine Grenzen gesetzt.‹ ›Ich verstehe nicht.‹
›Vielleicht wird es dir weiterhelfen, wenn ich dir sage, was Zurka tat, als er seinen tödlichen Anfall erlitt. Er schlief und träumte. Ich hatte ihn vor allen anderen beschämt. Das hast du gesehen. Ein Mann erträgt es schwer, von einer Frau beschämt zu werden. Sag mir, was ist mir das Liebste auf der Welt?‹ Als sie mich das fragte, waren wir drei Monate zusammen. Zu dieser Zeit wußte ich es schon. Es nicht zu wissen wäre Dummheit gewesen. Manches Mal erschöpfte Gaddara mich. Ich sagte, ›der Liebe pflegen‹. Gaddara lachte. ›Und ganz besonders mit meinem Franzosen‹, sagte sie. ›Und Zurka träumte, er täte mir Gewalt an, als er einen Anfall erlitt und starb.‹ Ich mußte lachen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es einen Mann gab, der gegen Gaddara Gewalt anwandte. Sie zu lieben war ein margauder (Verdammt!). Gaddara war wie eine Katze, nichts als Krallen und Fänge und katzenhafte Geschmeidigkeit. Oft hatte ich mich gefragt, warum ihre Wahl auf mich gefallen war. Sogar in unserem kleinen Dörfchen gab es Männer, die ihre Gelüste besser stillen konnten. Ich war kein kraftstrotzender Jüngling mehr, und ich hatte nur noch einen Arm. ›Dafür verfügst du über Gefühlstiefe‹, sagte sie. ›Die Tiefe des Schmerzes, der ungeheuren Haß gebiert. Du hast gelitten.‹ ›Braucht es dies, um die Schwarze Kunst zu meistern?‹ ›Wer sagt denn, daß du sie meistern willst?‹ ›Du lehrst sie mich.‹ ›Es macht mir Spaß, dich zu lehren. Manches…‹ Nie sollte ich erfahren, woher Gaddara gekommen war. Erst hielt ich sie für eine Zigeunerin, doch sie lächelte, als ich ihr dies sagte.
›Ich bin zu den Zigeunern‹, sagte sie, ›wie die Zigeuner zu den gadje sind.‹ Der mir flüchtig bekannte Stellmacher des Ortes hatte mir einmal erzählt, daß Gaddara einfach eines Tages vor zehn Jahren erschienen sei, allein, schwarzgekleidet auf einem Rappen. Sie war aus dem Osten gekommen, war geradewegs vors Tor des einzigen Hauses im Dorf geritten und wurde eingelassen. Damals lebte darin ein Mann namens Boro. Er lebte allein. Sie blieb drei Nächte bei Boro, dem ein Großteil des Bauernlandes rund ums Dorf gehörte, und am Ende der drei Nächte war Boro tot. Und Gaddara kam mit leuchtenden Augen und rosigen Wangen und verfügte über die Dokumente, die ihr Boros Ländereien, sein Haus und sein Gesinde übereigneten. Der Stellmacher hatte mir das alles im Rausch anvertraut, und ich merkte ihm an, daß er sich trotz seines Zustandes fürchtete. Am Tor hing ein verzierter bronzener Türklopfer in der Form eines Löwenkopfes. Und als Gaddara damals mit den Dokumenten herausgekommen war, da – der Mann schwor Stein und Bein – hätte der Löwenkopf verkehrt herum gehangen. Ich glaubte ihm. Es war das, was ich von Gaddara erwartete – die schreckliche Macht und dann etwas Spielerisches dazu. Gaddara sprach Serbisch fließend, aber mit einem Akzent. Ihr Romani war ebenso, und manchmal sprach sie Französisch mit mir. Ich fragte sie, ob sie jemals mein Heimatland besucht hätte. ›Besucht? In gewisser Weise.‹ Ich habe sie Dinge tun sehen. Mariole! Es sollte eine Zeit kommen, als ich… (Eine halbe Seite fehlt.)
Einmal kam ein Steuereintreiber aus Belgrad ins Dorf. Er sollte zwei Wochen bleiben, ein jedes Haus besuchen, jede Lehmhütte, sei sie auch noch so ärmlich, um das Vermögen des Besitzers und seine Steuer festzusetzen. In jenem Jahr hatte es eine Mißernte gegeben, erzählte Gaddara mir, und die Dörfler konnten keine Steuern zahlen. Dennoch begann der Steuereintreiber seine Runde. Da kam eine Abordnung zu Gaddara. Sie hatten ihre Ängste aus der noch größeren Angst vor dem Steuereintreiber vergessen und erbaten ihre Hilfe. ›Sein Name ist Boro, wie der frühere Besitzer des Hauses‹, sagte sie mir. ›Damit wird die Sache einfacher.‹ Ich fragte sie, warum. ›Einen Namen beherrschen heißt, Macht über das Ding zu haben, für das der Name steht.‹ Ich verstand das nicht, und sie versuchte es mir zu erklären. ›Ein Name ist dein Miniaturabbild eines Dinges, und bei der Anwendung des Fluches kann er für das Ding selbst stehen. Warum wohl haben die Zigeuner geheime Namen, die nur sie selbst kennen? So kann niemand ihnen etwas antun, indem er ihren Namen etwas antut. Warum hat der Engel des Herrn, der mit Jakob rang, seinen Namen nicht enthüllt? Oder der Engel, der Manoah heimsuchte, den Vater Samsons?‹ ›Der Name des Dinges ist das Ding selbst‹, sagte Gaddara, aber ich wollte es nicht glauben. ›Und was ist mit Gott selbst? Wir kennen ihn nur durch das Tetragrammaton, die hebräischen Lettern YHVH. Das ist aber nichts anderes als eine Form des Wortes ›sein‹. Es bedeutet, daß ER existiert. Wir sprechen es Jehovah aus. Doch ist das nicht Gottes Name, ebensowenig wie es Adonai ist oder Elohim. Das eine heißt Herr, das andere Gott. Du siehst, sogar der Gott der Hebräer und Christen fürchtete sich, seinen Namen preiszugeben.‹ Und plötzlich lächelte Gaddara.
›Nun, wir werden Boros Namen gegen ihn verwenden. Du und ich.‹ Als sie diese Worte sprach, da ängstigte ich mich. ›Ich?‹ fragte ich zurück. ›Gewiß. Es wird nicht schwierig sein, da du etwas benutzt, das du liebst.‹ Von irgendwoher nahm sie eine Bleitafel von der Größe eines Ziegels, nur flacher. Sie gab mir ein Messer. ›Schreib seinen Namen. Boro. Schreibe ihn so, wie ich es nicht könnte. Schreibe ihn schön.‹ Ich starrte sie nur an. ›Du bist doch Künstler, nicht?‹ Meine Angst wuchs. Ich sagte, das hier sei ihr Dorf und nicht meines. ›Mein Dorf? Es ist mir nicht mehr Heimat als dir.‹ Ich hoffte, sie von dem, was sie beabsichtigte, abzulenken. Und so fragte ich: ›Warum lebst du hier?‹ ›Es ist weder Ost noch West, es ist eine Wegkreuzung, JeanBaptiste. Und jetzt schreibe den Namen schön für mich.‹ Ich kritzelte den Namen Boro mit der Messerklinge auf das Bleitäfelchen – irgendwie. ›So könnte es jeder‹, schalt Gaddara mich. Schließlich ritzte ich den Namen Boro in hohen gotischen Lettern auf die Bleitafel. Gaddara prüfte die Schrift und nickte. Sie brachte einen Spaten. ›Und jetzt müssen wir im Hof ein Loch graben.‹ ›Ein Loch?‹ ›Du verstehst doch Französisch, oder nicht? Ein tiefes Loch, um die Tafel darin zu vergraben.‹ Ich sah zu, wie sie die Grube aushob. Als sie tief genug war, sagte sie: ›Begrabe die Tafel.‹
Das tat ich, und Gaddara sagte: ›Und jetzt sprich mir diese Worte nach: Wie dieses Blei kalt wird, soll auch das Blut Boros erkalten.‹ Ich wiederholte die Worte, und Gaddara lachte. ›Du sollst die Worte nicht nur sprechen, du sollst sie denken. Daran glauben.‹ ›Woher weißt du, ob ich sie denke oder nicht?‹ Sie tätschelte meine Hand, ob geringschätzig oder beruhigend konnte ich nicht unterscheiden. ›Ich werde es wissen.‹ Sie ließ mich diese Worte wiederholt sprechen, während sie mir in die Augen starrte. Ihre Veilchenaugen wurden riesig groß. Sie schienen den ganzen Raum auszufüllen. Fast hätte ich geglaubt, ich hätte zaubern können. (Sie hypnotisierte ihn!) Ich hörte ihren Singsang: By o pouro Del and o Bengh, durch Gutes und Schlechtes, durch Liebe und Haß, laß es geschehen. Meine eigenen Worte klangen mir in den Ohren, bis sie mir plötzlich Einhalt gebot. ›Das Ding ist vollbracht‹, sagte sie. Wie sonst soll ich wiedergeben, was geschehen war, als es einfach hinzuschreiben. Am nächsten Tag wurde der Steuereinnehmer Boro am Rande des Dorfes von einer Viper gebissen und starb. Man begrub ihn in einem unbezeichneten Grab, und wieder kam eine Abordnung zu Gaddara, um sich zu bedanken. Als später aus Belgrad jemand kam, um Erkundigungen über die Gerüchte einzuziehen, sagte man ihm, Boro wäre gekommen, hätte sie geschätzt und hätte das Dorf mit den eingetriebenen Steuern verlassen. Schließlich war er nicht der erste Steuereinnehmer, der so gehandelt hatte. Aber hatte ich denn wirklich etwas getan? Vipern sind im steinigen Hügelgelände oberhalb des Dorfes keine Seltenheit.
»Raus hier!« rief Melody. »Was treibt ihr hier?« Sie war noch immer in das Büchlein vertieft. O pouro Del and o Bengh, Gutes und Schlechtes, Liebe und Haß, eine Bleitafel im Hof vergraben… »Weg! Nicht anfassen! Was machst du da?« Eine Hand schüttelte sie an der Schulter. Es war ihr Vater. »Aber, aber, immer ruhig Blut. Ich wollte dir nur einen Gutenachtkuß geben.« Ihre Stimme klang ihr fremd in den eigenen Ohren. Sie konnte ihren Blick nur schwer auf etwas konzentrieren. »Daddy, es tut mir leid… Ich muß wohl… eingenickt sein. Ich hatte einen Alptraum.« »Was ist das für ein Buch?« Sie klappte das Büchlein zu. »Ach, über Columbine.« »Merkwürdig, dieser Einband. Und so was führen die in der Bibliothek?« »Man… hat es für mich aus der staatlichen Bibliothek kommen lassen.« Er wollte nach dem Buch fassen, doch sie zog es weg. »Ich bin richtig dösig.« Die Besorgnis wich einem Lächeln. »Du bist was?« »Dösig. So schläfrig, daß ich kaum die Augen offenhalten kann.« Sie bot ihm die Wange. Kaum aber war er draußen, versperrte sie die Tür und vertiefte sich wieder in ihr Büchlein. … Puppen, geformt aus geschmolzenem Kerzenwachs, dazu Nagelsplitter oder ein Schamhaar des Opfers. Dann kamen eine Krankheit und manchmal der Tod. Einmal sah ich, wie sie neunmal hintereinander jeden Tag einen Zweig von der
Trauerweide wässerte und mit dem Wasser nachts die Haustür des Opfers benetzte. Ich habe gesehen, wie sie eine Fehlgeburt herbeiführte – mit einem Gebräu aus Aloe, Ingwer, Muskat, Salbei, Gartenraute, grateron (?) und anderen Kräutern, durch die Schürze einer Schwangeren gedrückt, deren Monatsblutung bevorgestanden hätte. Ich habe gesehen, wie sie eine Eiterwunde mit weichen Brotkrumen heilte. Oder Kopfschmerzen mit Wasser von neun verschiedenen Orten, getrunken aus einem phallusförmigen Trinkgefäß, während das Vaterunser gesagt wurde, nicht auf griechisch wie hier üblich, sondern lateinisch. Ich half ihr beim Sammeln der Kräuter, beim Zubereiten des Gebräus und bei der Suche nach den Wasserquellen. Sie kannte jeden einzelnen im Dorf beim Namen und kannte auch seine Vorfahren bis zurück in die fünfte Generation. Namen bedeuten Macht, sagte sie mir immer wieder. Und sie sprach nie einen Fluch aus oder machte sich nie an eine Heilung, ehe sie nicht zuvor mit mir der Liebe gepflegt hatte. Einmal aber, als ich den Tag hoch oben in den Bergen auf der Suche nach Kräutern verbracht hatte, war ich bei meiner Heimkehr so erschöpft, daß ich ihren Wünschen nicht nachkommen konnte. Sie sah mich verächtlich an und war die ganze Nacht über verschwunden. Drei Tage lang sprachen wir kein Wort miteinander. Ich dachte schon, sie würde mich fortschicken, und der Gedanke daran jagte mir Angst ein. Wohin sollte ich denn gehen, so weit entfernt von der Welt, die ich kannte? Sie las mir den Gedanken von den Augen ab und sagte: ›Sorge dafür, daß du nicht mehr versagst, Jean-Baptiste. In der Qual, die du erlitten, liegt für mich Kraft.‹ ›Welche Qual?‹ fragte ich sie. ›Nun, Vergewaltigung und Tod von Weib und Kind!‹
›Mariole! Rede ich am Ende im Schlaf?‹ ›Nein.‹ ›Woher weißt du davon?‹ ›Ich weiß es‹, sagte sie. ›Doch hier im Dorf gibt es noch einen, der das Leiden kennt. Er erlebt es stellvertretend an jedem Tag seines Lebens.‹ Gewiß war dies der Mann, zu dem sie gegangen war. Ich mußte ihr die Frage stellen. ›Wer?‹ ›Denk nach, Jean-Baptiste. Wer erlebt stellvertretend Leiden?‹ Ich starrte sie ungläubig an. ›Richtig. Der Dorf geistliche, Vater Vasili.‹ Sie sah mir in die Augen und lachte. ›Er liebte mich deswegen. O puro Del and o Bengh, beide gleichzeitig. Dort gibt es für mich Macht. Doch macht es gleichzeitig, daß er mich haßt. O Bengh kann für einen orthodoxen Priester nicht existieren, für einen deines Glaubens auch nicht.‹ Ich dachte an Bourg St. Martin. ›Wenn o Bengh böse ist‹, sagte ich. ›Dann existiert er in jedem Priester, den es je gab.‹ ›Du bist für mich eine große Hilfe, Jean-Baptiste. Und viel sicherer als Vater Vasili. Eines Tages wird der in ihm schwelende Konflikt seinen Verstand vernichten. Er wird mich zu töten versuchen.‹ Erschrocken fragte ich: ›Was wirst du tun?‹ Ihr Angesicht lächelte, doch ihre Augen blieben ernst. ›Nun, ich werde ihm zuvorkommen und ihn vorher töten.‹ Melody klappte beide Notizbücher zu, das Columbines und auch ihr eigenes. Ihre Hände zitterten, sie spürte den Schlaf in den Augen. War ihr Vater eben hereingekommen? Sie war sich dessen nicht mehr sicher.
Sie mußte vorsichtig umgehen mit dem Büchlein. Es gehörte ihr wie das Bild, und niemand hatte das Recht… Das Bild. Es war die Rede davon gewesen, es ins Zeughaus zu schaffen, und sie war fast einverstanden gewesen. Sie stand rasch auf und erlitt einen Schwindelanfall. Sie mußte sich an den Bettrand setzen. Nur ganz verschwommen nahm sie um sich herum alles wahr. Sie hatte ein Gefühl, als würde sie in Ohnmacht fallen. Als der Schwindel nachließ, ging sie auf Zehenspitzen in der Dunkelheit hinunter. Sie war hungrig wie ein Wolf. In der Küche lief sie zum Eisschrank. Das Kühlschrankinnere war blendend weiß. Die kleine Glühbirne schien auf herrliche Fruchtsaftdosen, auf Konfitüregläser, einen Milchbehälter, ein halbes Brathähnchen… Sie riß eine Hähnchenkeule ab. Ich darf nicht. Nur einen Bissen. Sie biß einmal ab, dann noch einmal. Bald gerieten ihre Zähne an Knochen und Knorpel. Sie sah den abgenagten Knochen in ihrer Hand, spürte das Fett auf ihren Lippen. Und sie hatte das Gefühl, ihr müßte übel werden. Ich darf nicht. Barfuß ging sie ins Wohnzimmer und knipste eine kleine Lampe an. Das Bild hing noch an seinem Platz. Hatte es sein Aussehen verändert? Melody schaltete eine zweite Lampe ein. Jetzt fühlte sie sich besser, die Übelkeit hatte nachgelassen. Dieser Bettler da im Vordergrund, der sich unter eine Falte des Mantels vom heiligen Martin schmiegte, sah er nicht anders aus? Jünger? Oder die verblaßte Stelle am Tor. War die nicht auch anders geworden? Heller, durchscheinender? Melody konnte –
undeutlich zwar – darunter Figuren sehen, ein Bild unter dem Bild. Plötzlich wurde sie von Kummer übermannt. Matt Hawley war tot. Ihr Vater hatte es ihr gesagt. Wann? Das wußte sie nicht mehr. In letzter Zeit war ihr alles so unwichtig geworden. Sie lebte nur für die Nächte mit den Aufzeichnungen Columbines. Der arme Matt Hawley. Gleichgültig, was die anderen sagen mochten, es mußte ein Unfall gewesen sein. Und dann fiel Melody ein, wie ihr Vater das Bild verkehrt herum aufgehängt hatte – in der ersten Nacht, nachdem es ins Haus gekommen war. Ein komischer Spaß. Warum er das wohl getan hatte?, fragte sie sich.
16
Sergeant Whitlocks Anruf vom Krankenhaus kam über Reveres Privatanschluß herein, nicht über die Telefonzentrale. Die in der Zentrale Beschäftigten waren nämlich Zivilisten und keine Polizeiangehörigen, und Revere war der Meinung, was die nicht wüßten, bereite ihnen auch kein Kopfweh. »Ned«, sagte Whitlock über den Privatanschluß. »Ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll, aber es geht um folgendes: Ich bin im Krankenhaus. Wir haben einen Jungen hergeschafft, er heißt Herbert Lopez. Siebzehn. Kieferbruch, drei gebrochene Rippen. Vielleicht ist auch ein Auge hin.« Ned Revere sagte: »Hat das dieser Garcia auf dem Gewissen? Ich verstehe das nicht, Cal.« »Das hat Ihr verdammter New Yorker Hitzkopf auf dem Gewissen! Er hat den jungen Lopez niedergeschlagen und ist auf ihm rumgetrampelt.« »Das erklär mir mal«, kläffte Revere in den Hörer, und Whitlock erklärte es ihm oder versuchte es zumindest. »Er war irgendwie übergeschnappt. Erst dachte ich, hat er am Ende etwas gesehen, was ich nicht sah? Aber bis ich merkte, daß er durchdrehte, da war es zu spät. Es tut mir leid, Ned.« »Und wo ist Dahlgren jetzt?« Whitlock hatte Dahlgren mit einem anderen Streifenwagen in die Zentrale geschickt. »Und was ist mit Garcia?« fragte Revere. »Als der sah, was Ihr Musterknabe da aufführte, nahm er Reißaus.« Ned Revere saß an seinem Schreibtisch und trank eine Flasche Tab und wünschte, es wäre Scotch, als Charlie Dahlgren hereinkam. Er sah noch jünger aus als sonst, die
Dienstmütze in der Hand, das blonde Haar zerrauft, das Gesicht fleckig. Revere hatte den Eindruck, er hätte geweint. Wer war schuld? Etwa Charlie? Er selbst? Charlie hatte immerhin um Suspendierung vom Dienst gebeten. »Setz dich, mein Junge. Und jetzt schieß los.« Charlie Dahlgren blieb stehen. Und als er zum Reden ansetzte, da brach seine Stimme, und er fing zu weinen an. »Reiß dich zusammen«, sagte Revere brummig. »Es bleibt unter uns. Jetzt wenigstens.« Die Haare gekämmt, die Schultern straff zurückgenommen, und Charlie hätte wieder wie ein Polizist in einer Fernsehserie ausgesehen, direkt von der Polizeiakademie. »Was hat denn Lopez getan, daß du dich so benommen hast?« fragte Revere. Charlie blinzelte. »Wer ist Lopez?« »Der Junge. Der Junge, den du getreten hast.« »Ich konnte mich nicht zurückhalten«, sagte Charlie. Er weinte noch immer. Revere hatte noch die schwache Hoffnung gehegt, daß Whitlock etwas übersehen hätte und daß Charlie, auch wenn die Reaktion zu heftig ausgefallen war, in Selbstverteidigung so gehandelt hätte. Diese Hoffnung schwand nun. »Er hat dich nicht provoziert?« »Er stand einfach da.« »Nicht mal eine verbale Provokation?« fragte Revere. Junge, liefere mir doch wenigstens etwas, flehte er insgeheim! Gib mir etwas in die Hand, mit dem ich dir helfen kann. Charlie schüttelte den Kopf. »Es war genauso wie damals am Laurel Drive.« Ned Revere wußte nicht, was er nun tun sollte. Noch nie hatte er mit einem Polizisten zu tun gehabt, der übergeschnappt war.
»Hör zu, mein Junge«, sagte er. »Ich möchte, daß du dich im Krankenhaus untersuchen läßt.« Er wartete einen Augenblick. »Auf der psychiatrischen Abteilung.« Dahlgren gab nun einen Laut von sich, der zwischen Schluchzen und Lachen lag. »Hoffentlich gibt’s dort eine Gummizelle.« »Nimm die Sache nicht so schwer, mein Junge. Ein Nervenzusammenbruch bedeutet noch lange nicht, daß man verrückt ist.« »Ja, sicher«, sagte Charlie. »Ich bin nicht verrückt. Ich habe nur diesen Drang, Leute zu erschießen oder ihnen gegen den Kopf zu treten. Allmächtiger.« Er schüttelte den Kopf. »Sperren Sie mich ein und werfen Sie den Schlüssel weg, Chef.« Wenig später fuhren zwei Streifenbeamte Charlie ins Krankenhaus. Revere rief Dr. Tom an, geriet aber nur an den Anrufbeantworter. Dr. Tom sei im Krankenhaus, sagte der, und dort konnte Ned ihn endlich erwischen. Er erklärte ihm kurz die Situation. Dann fragte er. »Haben Sie sich nicht vor einiger Zeit auch auf Psychiatrie spezialisiert?« »Ja, aber ich übe das Fach nicht aus. Alles fauler Zauber. Außerdem haben wir hier einen Psychiater. Er wird mit dem jungen Dahlgren ein ganzes Feuerwerk an Tests veranstalten. Aber wenn Sie wollen, sehe ich mal bei dem Jungen vorbei.« »Genau darauf wollte ich hinaus. Ich halte von der Psychiatrie ja auch nicht viel, Tom. Aber Charlie hat hier keine Angehörigen und wird viel menschliche Wärme brauchen. Sie werden es sofort merken, wenn Sie ihn sehen.« »Das alles wird eine Weile dauern«, sagte Dr. Tom. »Was?« »Psychiatrische Auswertung. Der Psychiater – ein junger Mann namens Brooks – hat alle Hände voll zu tun.«
»Ach?« Revere hörte gar nicht mehr richtig zu. Er dachte an das, was man ihm am nächsten Morgen präsentieren würde. Eine Anzeige wegen brutalen Vorgehens der Polizei. Er mußte Rob Garrick anrufen und ihn bitten, den Fall in der Zeitung etwas herunterzuspielen, bis man sich Klarheit über Charlies Zustand verschafft hätte. In der Zwischenzeit mußte er ein innerpolizeiliches Verfahren in Gang setzen. Whitlock als Zeuge und dazu vielleicht die Aussage der Leute draußen am Laurel Drive. Oder vielleicht bloß Whitlock? Falls die Diagnose auf Nervenzusammenbruch lautete oder auf irgendeine psychische Störung, dann würde Charlie vielleicht ein Prozeß erspart bleiben. »… mindestens zwei Tage«, sagte Dr. Tom eben. »Ist das nicht furchtbar lange?« »Normalerweise schon. Aber auf der psychiatrischen Abteilung hat es heute fünfzehn Neuzugänge gegeben. Die Leute kommen entweder von selbst oder werden von ihren Familien gebracht. Ich bezweifle, ob Brooks fünfzehn pro Monat hatte, seitdem er da ist.« »Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie die Sache etwas beschleunigen könnten. Nicht nur unserer Abteilung wegen, sondern um Charlies willen. Es ist das zweite Mal, daß er verrückt spielt. Schlägt einfach einen harmlosen Jungen nieder, tritt ihm gegen den Kopf. Ohne jeden Grund. Und dann ist dieser Drang vorbei, und er steht da, sieht den Jungen daliegen und heult. Aber das habe ich ja schon gesagt. Er ist im Moment total am Boden zerstört.« Nach einer kleinen Pause sagte Dr. Tom: »Seltsam. Diese fünfzehn Neuzugänge, von denen ich Ihnen erzählte – die handelten genau nach demselben Schema bis auf das Ausmaß der Gewaltanwendung. Ein unwiderstehlicher Drang, den die Franzosen ›Trieb der Natur‹ nennen, und als Folge davon Reue. Ihr Dahlgren war nicht der einzige.«
So wie Martinsburg nicht die Stadt für diese Dinge war, dachte Ned Revere, als er auflegte. Der Druck, der hinter einem Drang nach Gewalt steht, war hier einfach nicht vorhanden. Nun, im Normalfall nicht. Jetzt waren zwar diese vielen Touristen da und der damit verbundene Anstieg von Bagatelldelikten wie das Zertrümmern des Reformladens oder der Ärger, den die Motorradbanden draußen auf dem Strip machten. Aber damit war längst nicht alles erklärt. In dieser Stadt ging etwas vor, das Ned nicht begriff.
Dr. Tom saß bei einer Tasse Kaffee und schmauchte seine Bruyère-Pfeife. Er hatte sich noch nicht rasiert, und die weißen Stoppeln jagten Garrick momentan einen Schrecken ein. So sah der Doktor nämlich um zehn Jahre älter aus. Nein, das allein war es nicht. Sein Gesicht war abgespannt, die Augen blickten glanzlos. Und als er sich Kaffee nachgoß, zitterte seine Hand. »Schreckliche Nacht«, sagte er. »In meinem Alter muß man früher zu Bett. Bin erst um vier Uhr morgens aus dem Krankenhaus gekommen. Psychiatrische Abteilung, ob Sie es glauben oder nicht.« Er berichtete Garrick von den fünfzehn Einlieferungen. »Verlangen Sie bloß keine Erklärung«, schloß er. »Wenigstens im Moment nicht. Ich kann kaum die Augen offenhalten.« Garrick nahm einen Schluck Kaffee. Stark und schwarz, genau wie er ihn jetzt dringend brauchte. Auch er war nicht viel zum Schlafen gekommen. Und so wie Dr. Tom ihn ansah, fragte er sich, ob er etwa auch um zehn Jahre älter aussah. »Melody?« fragte der Arzt.
Garrick nickte. »Es war schon reichlich spät, als ich gestern zu ihr nach oben ging. Ich sah Licht durch den Türspalt. Ich klopfte an. Keine Antwort, also ging ich rein. Sie saß im Bett und las. Ich gab ihr einen Gutenachtkuß. Nichts.« »Was soll das heißen?« »Sie saß einfach da und hörte nicht auf zu lesen.« »Das muß ja ein spannendes Buch gewesen sein«, bemerkte Dr. Tom leichthin. »Ich schüttelte sie. Keine Reaktion. Zehn Sekunden lang – dann erst kam sie zu sich. Erschrak. Sie… es ist schwer zu erklären. Dazu müßten Sie es gesehen haben. Sie erkannte mich nicht, ihr Blick war so seltsam. Leer ist das einzige Wort, das mir dazu einfällt. Sie rief etwas. Nicht anfassen, oder so ähnlich.« »Und was haben Sie getan?« »Ich hatte keine Zeit, irgend etwas zu tun. Ihre Augen waren plötzlich wie immer, und« – Garrick hielt inne – »es war alles in Ordnung. Sie war wieder Melody.« »Hat sie etwas gegessen?« »Ich dachte, ich hätte sie in dieser Hinsicht nicht drängen sollen.« »Das stimmt. Aber hat sie besser gegessen?« »Sie nimmt noch immer ab«, sagte Garrick. »Sie hat seit ich weiß nicht vor wie langer Zeit keine ordentliche Mahlzeit mehr zu sich genommen.« Dr. Tom klopfte Tabakreste aus dem Pfeifenkopf. »Das Wort, das Sie benutzten, um ihre Augen zu beschreiben. Leer. Würde ›ausdruckslos‹ auch hinkommen?« Garrick überlegte. »Ja, kann sein.« »Ein Anoretiker kann sich nur schwer konzentrieren. Jeder, der am Verhungern ist, kann sich schwer konzentrieren. Man wird so – unbestimmt, wirr im Kopf. Und schließlich bekommt man Halluzinationen.«
»Und was dann?« Dr. Tom stopfte seine Pfeife. »Dann ist schon ein weiter Weg zurückgelegt.« »Möchten Sie sich Melody noch mal ansehen?« »Nein, eigentlich nicht. Noch nicht. Wie geht es Ihrer Freundin?« »Sie ist so viel im und außer Haus wie ich. Es gibt keine Zusammenstöße mit Melody, falls Sie darauf hinauswollen.« »Ja, darauf will ich hinaus, und es ist eigentlich ein Jammer, daß es keine Konflikte gibt. Es wäre besser, wenn alles einmal offen zutage träte. Wie steht’s mit dem Generationenkonflikt?« Garrick lächelte. »Keine Spur davon. Wir haben uns mal in Debatten über alles mögliche versucht – Politik, Frauenemanzipation, Kommunen –, aber wir konnten dabei nicht ernst bleiben.« »Ich verstehe wohl nicht ganz.« »Zwischen uns gibt es keinen Generationenkonflikt, Tom.« »Auch das ist typisch. Leider. Harmonie über alles.« »Aber wir kehren dabei nichts unter den Teppich«, sagte Garrick eingedenk ihrer letzten Unterhaltung. »Wir sind eben so. Wollen Sie etwa, daß ich einen Konflikt erfinde, der gar nicht vorhanden ist?« »Zwischen Eltern und Kindern gibt es immer seelische Spannungen. Spielen Sie mir doch nichts vor.« »Aber wir wollten doch nur…« »Natürlich. Alles sehr zivilisiert. Umgänglich. Und unter den gegebenen Umständen für Melody das allerschlechteste.« Garrick mußte sich erst beruhigen. Nun, er war von Melody lange getrennt gewesen. Wie gut kannte er sie eigentlich? Vielleicht war diese Konfliktlosigkeit ein Symptom, das er nicht durchschaute. »Was soll ich also tun?« »Wir warten noch ein paar Tage ab.« »Und dann?«
»Dann bringen wir sie ins Krankenhaus und sagen ihr, daß sie essen muß. Dort gibt es eine Art Belohnungssystem. Sie darf Fernsehen, darf in den Aufenthaltsraum, darf Besuche empfangen – alles, wenn sie ißt. Aber das funktioniert nur, wenn man den Ursachen zu Leibe rückt.« Er stand auf. »Hoffen wir, daß es nicht soweit kommt.« »Tom, das ist ja wahnsinnig. Sie hat alles, was es gibt im Leben«, sagte Garrick. »Bis auf diesen Zwischenfall gestern war sie glücklich und zufrieden und…« »Ich weiß«, unterbrach ihn Dr. Tom. »Das sind sie immer.«
»Hier Martinsburg Senior High-School. Guten Morgen.« »Ist dort die Schule?« »Ja.« »Ich sage das nur einmal. Drinnen ist eine Bombe. Der Zeitzünder geht in einer halben Stunde los.« »Was? Hallo! Hallo!« Aus. Schluß. Kurz darauf schrillte die Feuersirene, und die zweitausend Schüler wurden zügig und ordnungsgemäß evakuiert und marschierten in Zweierreihen durch den schmelzenden Schnee auf dem Weg vor dem niedrigen Ziegelbau. Es fuhren drei Polizeiwagen vor, gefolgt vom rollenden Bestand der freiwilligen Feuerwehr. Polizei und Feuerwehr durchsuchten das Gebäude, bis die halbe Stunde fast um war. Dann zogen sich die Mannschaften auch zurück. Fünf Minuten vergingen, dann zehn und fünfzehn. Es explodierte keine Bombe. »Fünf Minuten vor Schluß der ersten Stunde«, sagte Melody. »Komische Zeit für eine Feuerwehrübung.«
Craig blinzelte ihr zu. Das vom Schnee reflektierte Licht blendete ihn. »Das ist ja der springende Punkt«, sagte er. »Man weiß nie, wann ein Feuer ausbricht.« Craig hatte von einer Telefonzelle des Schulvestibüls aus angerufen. Und er hielt es für ungemein witzig. Direkt literaturwürdig witzig. Die Geschichte von dem Jungen, der einmal schrie: »Der Wolf ist da!« Man mußte noch zwei, drei Stellen anrufen. Das Warenhaus oder Nicks Restaurant. Die Textilfabrik oder gar die Bank – immer wieder falscher Alarm, bis sie endlich draufkommen würden, daß es sich um einen harmlosen Irren handelte. Sein Vater war eben dabei, Baumstümpfe auszusprengen. Er rodete einen Teil des Waldstückes hinter dem großen Haus für sein Farm-Hobby. Und zum Heraussprengen der Stümpfe benutzte er Dynamit. Craig fragte sich, ob er wohl jemals wirklich Dynamit benutzen würde. Das war ja Teil des großen Spaßes, es nicht genau zu wissen.
17
Aus den Aufzeichnungen des Jean-Baptiste Columbine: … schöner Tag, und heiß dazu. Die Blätter der Olivenbäume bewegt kein Wind, die Eselskarren wirbeln Straßenstaub auf, die schwarzen und braunen Ziegen suchen mit prallen Eutern den Schatten, wo immer sie ihn finden, das Weib des Wagenmachers sitzt im Schatten ihrer Hütte und säugt ihr Kind. Ich fand ein Stückchen Kohle und ein Brett und fing zu zeichnen an. Ein paar Linien, ein Strich, noch mehr Linien. Meine Finger waren steif, so steif, als hätte ich nie zuvor eine Zeichenkohle angefaßt, nie eine Skizze gemacht. Der Wagenmacher kam und sah mir zu. Da und dort eine Linie, dann wieder ein dicker Strich – zunächst bedeutete ihm das nichts. Bald aber erinnerten sich meine Finger. Und ich hatte die Ähnlichkeit erfaßt, die schiefe Lehmwand, die Frau, das säugende Kind. Ich hatte sie, und sie waren nicht mehr für mich da. Sie waren aufs Brett gebannt, wo ich ihnen ein anderes Leben gegeben hatte. Nur das Brett war wirklich. Der Wagenmacher schrie mich an und machte das Zeichen gegen den bösen Blick. Dann nahm er das Brett mit beiden Händen und zerbrach es über seinem Knie. Und er zerbrach sogar noch die einzelnen Stücke. Wie wahnsinnig warf er das Holz gegen einen Stein. Er schwitzte und keuchte. Und als er mich ansah, wie er die Kohlezeichnung von Weib und Kind angesehen hatte, floh ich.
Der Vorfall belustigte Gaddara. ›Nun, was hattest du erwartet?‹ fragte sie mich. ›Für sie ist es Zauberei, Schwarze Magie, nicht viel anders als die Künste, die ich ausübe. Die Ähnlichkeit des Bildes nimmt seiner Frau etwas, einen Teil ihrer selbst. Er glaubt, daß du damit Macht über sie besitzt, wie ein Zigeuner glauben würde, du besäßest Macht über ihn, wenn du seinen geheimen Namen wüßtest. Er glaubte, du könntest das Bild benutzen wie ein aus Wachs gefertigtes Abbild, um einen Zauber wirken zu lassen.‹ Ich lachte. ›Das glaubst du doch nicht im Ernst.‹ ›Nein, die Sache ist komplizierter. So wie der Gebrauch von geschmolzenem Wachs oder einer Bleitafel, wie du gesehen hast. Er glaubte, das Bild würde dir Macht über seine Frau verleihen. Das kann er nicht zulassen. Eher würde er dich töten.‹ ›Ich wollte zeichnen‹, sagte ich. ›Ich muß wieder malen.‹ ›Natürlich, Jean-Baptiste. Es ist dir das Teuerste. Male die Olivenhaine, male die Hügel und Dorfhütten. Male die Ziegen, die am Rande eines ausgetrockneten Flußbetts grasen. Beherrsche dies alles, und keiner wird etwas dagegen haben. Und wo wirst du Farben finden?‹ Ich würde sie finden, sagte ich ihr. Ich wußte, daß ich sie finden mußte, und Gaddara wußte es auch. (Ein paar Zeilen fehlen.) … und ich malte. ›Du siehst aus wie ein Zigeuner unter Zigeunern, Jean-Baptiste. Die Sonne hat dich verbrannt.‹ Ich hörte ihre Worte kaum. ›Du bist glücklich, Jean-Baptiste.‹ Das hörte ich. Es war, als hätte sie mich gescholten. ›Die Qual, das Leid, sie sind von dir genommen.‹ Meine Arbeit hatte mich so in Anspruch genommen, daß ich seit Wochen nicht mehr mit Gaddara geschlafen hatte.
Und dennoch wirkte sie befriedigt wie eine Katze, die eine Sahneschüssel ausleckt. Wenn alle drei sich freimachen konnten, trafen sich Garrick, Dr. Tom und Miles Pritchard an Donnerstagen bei Nick zum Mittagessen. Pritchard, Geistlicher der Kongregationalistenkirche, war wenig älter als Garrick und fast gleich groß. Mit seinem männlichen guten Aussehen, der durchtrainierten sportlichen Figur sah er eher wie ein Fußballoder Basketballtrainer aus. Dr. Toms vom Zynismus gefärbte Weltanschauung war ein guter Gegensatz zu Pritchards unerschütterlichem Optimismus, so daß Garrick sich im allgemeinen auf ihre wöchentlichen Zusammenkünfte freute. Diesmal allerdings hätte er sich um ein Haar entschuldigt. Mit Melody war es noch ärger geworden. Teilnahmslos und leer war sie gewesen, bis er das Gemälde erwähnte. Sie hatte über Halsschmerzen geklagt und sich nicht für die Schule angezogen. Garrick war nahe daran zu sagen: »Warum läßt du dich so gehen? Was soll das?« Aber statt dessen hatte er gesagt: »Na gut, Schätzchen. Die Ruhe wird dir guttun.« »Ich brauche keine Ruhe. Ich habe nur Halsschmerzen. Ich bin nicht müde oder so.« Melodys Stimme klang jammernd, was für sie ganz uncharakteristisch war. »Es geht reihum. Alle haben sich angesteckt.« »Miß Kelly hat mich gestern wegen des Bildes angerufen.« »Ich habe meine Meinung geändert«, sagte Melody. »Wie willst du je herausbekommen, ob es ein echter Columbine ist, wenn du nicht…« »Mir egal. Ich habe das Bild gefunden. Es gehört mir.« Eve kam herunter und trat ein. Sie sah erst Melody an, dann Garrick – mit Besorgnis. »Hättest du Lust, im Fernsehen aufzutreten?« fragte sie Melody.
»Ich?« »Ich habe mitangehört, was Rob eben sagte. Auch wenn das Bild sich als nicht echt erweisen sollte, bleiben immer noch die seltsame Art, wie du es gefunden hast, und das Geheimnis, wie es hierhergelangte.« »Es ist auch ohne Prüfung echt!« rief Melody aus. »Warum läßt du nicht zu, daß Miß Kelly sich darüber Gewißheit verschafft?« schlug Garrick vor. »Für mich wäre das eine große Hilfe«, sagte Eve. »Genau das würde ich zur Abrundung der Sendung brauchen.« »Ich möchte darüber nicht mehr sprechen«, sagte Melody. »Ich gehe jetzt wieder ins Bett…« »Ist dir denn niemals der Gedanke gekommen«, fragte Garrick, »daß du für die Feststellung verantwortlich bist, ob das Bild echt ist?« »Ich sagte schon, daß ich darüber nicht sprechen möchte.« »Aber wir müssen darüber sprechen.« »Dann sprich mit Eve darüber«, sagte Melody unwirsch, »nicht mit mir.« Sie stand auf. »Entschuldige, Daddy. Geben wir meinem Halsweh die Schuld, ja?« »Schon gut.« Garrick faßte ihr an die Stirn. Fieber hatte sie nicht. Er sah sie bedrückt aus der Küche schlürfen und blickte Eve kopfschüttelnd an. In Nicks Restaurant angekommen, setzte er sich zu Miles Pritchard an ihren Stammtisch im Hintergrund des Lokals. »Hier gibt es den besten Martini in der ganzen Stadt«, sagte Pritchard und nahm einen Schluck aus seinem altväterlichen Glas. »Jeder Geistliche sollte ein geheimes Laster pflegen.« Pritchard verfügte über eine tiefe Stimme und ein ansteckend freundliches Wesen. »Was ist Ihres, Rob?« »Laster oder Drink? Ich nehme einen Scotch mit Soda«, sagte er zum Ober. »Tom hat angerufen. Er kommt später.«
»Der Gute mutet sich in letzter Zeit zuviel zu«, meinte Garrick. »Hat er das nicht immer?« fragte Pritchard achselzuckend. Außerberuflich – er nannte es so – pflegte er einen betont modischen Stil. Diesmal hatte er ein kariertes Jackett gewählt und trug dazu ein im Ton etwas dunkleres Hemd mit offenem Kragen. »Der letzte aus der alten Garde der Hausärzte. Und dazu einen Stehplatz in der Psychiatrie zusätzlich. Fünfzehn Einweisungen – nein, sechzehn, wenn man den jungen Polizisten dazurechnet.« »Wer hat Ihnen davon erzählt, Miles?« »Ned. Wir haben uns ausführlich darüber unterhalten. Ned und ich«, sagte Pritchard. »Diese Idee hatte ich, nachdem Sie in Ihrem Artikel quasi eine Vertuschungsaktion gestartet haben.« »Ned wollte es so.« Nun kam Garricks Drink und gleichzeitig Dr. Tom. »Nur einen Tomatensaft«, bestellte der Arzt. Er konnte seine Hände einfach nicht stillhalten. Er rückte den Teller zurecht, befingerte das Besteck, spielte mit der Serviette herum und legte sie wieder auf den Tisch. Dann wurde am Kragen gezupft. Das Fleisch an seinem Hals war schlaff und faltig. Ich habe es mir nicht nur eingebildet, dachte Garrick. Er ist um zehn Jahre gealtert. »Wie geht’s Ihrer blonden Schönheit?« fragte Dr. Tom. Garrick wollte ihn jetzt nicht damit behelligen. »Keine Veränderung«, sagte er. »Heute morgen hat sie etwas gegessen.« Dr. Tom rückte wieder seinen Teller zurecht. »Gestern gab es vier weitere Neueinweisungen«, sagte er tonlos. »Und heute bis jetzt drei. Ganz zu schweigen von einem neuen Anruf des Bombenlegers, aber das wissen Sie sicher.«
Garrick nickte. Diesmal hatte der Anruf dem Warenhaus gegolten. Es war schleunigst geräumt worden. Bomben hatte man nicht gefunden. »Da läuft also jemand rum, den man wirklich einliefern sollte«, sagte Dr. Tom, »wenn man ihn zu fassen bekommt.« »Heißt das, daß die anderen fälschlich eingeliefert wurden?« fragte Garrick. »Machen Sie sich selbst ein Bild: Ich bringe ein Beispiel, das typisch ist für diese Patienten, die ohne Vorwarnung, ohne Vorgeschichte einer Neurose den Drang zu etwas spüren, dem sie sonst völlig ablehnend gegenüberstehen. Hausfrau, drei Kinder, glücklich verheiratet, keinerlei Sorgen. Sie steht in der Küche und schneidet den Braten an. Da kommt ihr Mann herein, und sie möchte mit dem Messer auf ihn los. Ohne jeden Grund. Natürlich sträubt sich in ihr alles gegen den Drang. Sie wird damit nicht fertig und wird hysterisch. Manche gehen weiter und geben ihrem Drang nach. Dahlgren ist ein Beispiel dafür. Oder: Akademiker, jung, Familienmensch, liebt seine Kinder, liest alle möglichen Erziehungsbücher und handelt danach. Kommt nach der Arbeit nach Hause und schlägt seine Kinder – grundlos. Er verdrischt sie buchstäblich. Und ist nicht der einzige, der so gewalttätig wird. Ehe wir alle Tests beisammen hatten, sah es aus, als hätten wir es mit einer Psychoepidemie zu tun.« »Und was ergaben die Tests?« fragte Garrick. »Dazu komme ich noch. Der Rorschach-Test und der TAT sind statistisch verläßlich für Psychosen und Neurosen. In der Gruppe gab es keinen Psychotiker, nicht einmal einen am Anfang stehenden. Neurosen – nun, das ist ein graues Zwischengebiet, aber auch da zeigt sich eigentlich nichts. Natürlich gab es die üblichen leicht neurotischen Reaktionen, aber nicht stärker als bei jeder wahllos zusammengewürfelten Gruppe. Unser typischer Fall ist ein mehr oder weniger
normales Individuum, das völlig grundlos den Trieb zu einem Verhaltensmuster spürt, das es normalerweise für völlig undenkbar halten würde. Als wenn Sie, lieber Miles, morgen früh aufwachten und mit absoluter Sicherheit wüßten, daß Sie nicht mehr an Gott glauben.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Pritchard. »So, als wenn Sie als Arzt zu der Ansicht gelangten, Ihre wahre Berufung wäre das Töten der Patienten und nicht das Heilen.« Der Ober kam mit den Speisekarten, und Dr. Tom erschrak. Seine Pfeife fiel auf den Teller und verstreute Funken und Asche übers Tischtuch. Verlegen und mit unsicheren Händen wollte er das Mißgeschick beseitigen und schob den Stuhl zurück. »Ich muß rasch hinaus«, murmelte er und machte sich hastig davon. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Garrick trank seinen Scotch aus. Nach einer Weile sagte er: »Denken Sie jetzt dasselbe, was ich denke? Ich mache mir seinetwegen Sorgen.« »Er ist schon lange unter Druck. Und schließlich ist er nicht mehr der Jüngste.« Garrick schüttelte den Kopf. »Ein Mensch ändert sich doch nicht einfach über Nacht, schon gar nicht einer wie Dr. Tom. Plötzlich ist aus ihm ein Nervenbündel geworden.« Pritchard blieb wie immer optimistisch. »Ach was, ein paar Stunden Schlaf nachgeholt und… ach, da kommt er ja.« Dr. Tom erschien forschen Schrittes. Seine Augen strahlten, er wirkte rundherum entspannt. Er setzte sich und nahm die Speisekarte zur Hand. »Was ist heute Nicks empfehlenswertestes Gift?« fragte er. Er war keine fünf Minuten fort gewesen. Die Veränderung war unglaublich. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, sagte er: »Die Gäste hier sind heute besonders mittelmäßig, stimmt’s? Seht sie euch doch an! Verdammte Hundesöhne. Wissen Sie,
was ich glaube?« Er sagte es in leichtem, ja fast scherzendem Ton. »Diese psychiatrischen Fälle sind nur die Spitze des Eisberges. Nervenzusammenbrüche treten in Martinsburg jetzt endemisch auf. Habe ich eben das Hähnchen oder Kalbfleisch bestellt?« Danach wurde die Unterhaltung zusammenhanglos, und Garrick nahm entsetzt wahr, daß Dr. Tom kaum einen Satz ordentlich zu Ende brachte. Hätte er es nicht besser gewußt, so hätte er annehmen müssen, daß Dr. Tom unter Rauschgifteinfluß stand.
Melody stand nackt vor dem Spiegel, die Hände in die Hüften gestützt, tief einatmend und den Bauch einziehend. Nicht daß sie es etwa notwendig gehabt hätte. Ihr Bauch war schön und flach wie ein Brett. Sie konnte fühlen, wie ihre Hüftknochen hervortraten und wie die Haut sich über ihnen spannte. Keine Spur Fett auf den Rippen. Dadurch standen ihre kleinen hohen Brüste zu stark ab, und sie wünschte, sie wären noch kleiner. Doch dagegen ließ sich nichts machen. Ihre Beine waren gut. Richtig schön. Nicht eine Unze Fleisch daran. Waren die Knie etwa zu knochig? Nein, eigentlich nicht. Sie vollführte eine halbe Drehung. Es hing vom Blickwinkel ab. So wie beim Gesicht. Sieh dir mal diese hohlen Wangen an, richtig sexy, Melody Garrick. Aber ein wenig schwach, und wenn man plötzlich aufsteht, dann dreht sich alles um einen, und man sieht schwarze Flecken. Und Halsweh hast du auch nicht. Ja, ein kleines Kratzen und ein Kitzeln, mehr nicht. Es schmerzt nicht mal beim Schlucken. Wen willst du da auf den Arm nehmen?
Ach was, schließlich muß man ja nicht tagtäglich zur Schule, oder? Was ist denn wichtiger, Trigonometrie oder JeanBaptiste Columbine? Wieder wandte sich Melody voller Bewunderung ihrer Schlankheit zu und vollführte eine Pirouette vor dem Spiegel. Dann schlüpfte sie in ihren warmen Pyjama. Sie mußte das Gummiband um die Mitte so festziehen, daß vorne der Flanell wegstand. Du bist hungrig. Bist du nicht! Sie schlug das Büchlein auf. Allein das Berühren der Seiten bewirkte, daß es ihr besser ging, daß Schwäche und Schwindel verschwanden.
Wenige Tage nachdem ich die Farbstoffe fein zerstoßen hatte, ging ich in den Hof, um Wasser aus dem Brunnen zu holen, und fand Gaddara nackt und in Trance auf den harten Steinen in der prallen Sonne vor. Ich habe schon geschrieben, wie sie manchmal vor dem Ausüben ihrer Künste in Trance verfiel und aussah wie tot. (Das muß in einem der unleserlichen Teile gestanden haben. Vielleicht damals, als der Steuereintreiber starb?) Oft fragte ich sie nach dem Grund hierfür, doch sie vertröstete mich immer und sagte, es ginge über meine Auffassungsgabe. Sie lag im Hof auf den Knien, auf den Fersen sitzend, das Kreuz aufrecht, die Hände auf den Schenkeln, die bloßen Brüste steil, ihre Kehle so gewölbt, daß ihr Kopf zurücklag und ihre starren Augen zum Himmel blickten. Obgleich ich sie schon so kannte, war ich nie länger geblieben, um zu sehen, was sich tun würde. Doch war ich mit der Zeit kühner geworden, und diesmal wartete ich. Ich berührte sie an der Schulter. Die Sonne hatte das Fleisch
erwärmt. Doch es war starr. Ich sah kein Anzeichen von Atmung und war plötzlich erschrocken. Doch dann legte ich die Hand auf ihre Brust und spürte den verlangsamten Herzschlag. Und ich wartete, während die Schatten des Nachmittags länger wurden. Von jenseits der Mauern konnte ich die dörflichen Geräusche hören – den Schrei eines Esels, den Ruf eines Mannes, das Gerumpel von Karrenrädern. Am späten Nachmittag kam ein frischer Wind auf, und Wolken jagten dahin und verdunkelten die Sonne. Aus der Ferne hörte man Donnergrollen. Das Gewitter war rasch da, und es regnete in Strömen, doch Gaddara verharrte im Knien reglos. Sie hätte aus Stein gehauen sein können. Kurz ehe es dunkel wurde, sank ihr Kopf herab, die Starre des Rückens wich, sie erhob sich von den Fersen und öffnete die dunklen Augen. Der Regen hatte aufgehört, die Luft duftete köstlich, doch Gaddara sah mich zornig an. ›Wie lange bist du schon da?‹ ›Den ganzen Nachmittag beinahe.‹ ›In diesem Zustand bin ich sehr verletzlich. Das Tor war geschlossen, die Dörfler würden sich nicht hereinwagen, aber du…‹ ›Gaddara, ich würde dir niemals ein Leid zufügen‹, sagte ich. Allmählich legte sich ihr Zorn. ›Nein, das würdest du nicht.‹ ›Könntest du mich lehren, auch so zu werden?‹ Sie bat mich, ich solle ihr das Gewand bringen. Und dann fragte sie: ›Und was würdest du tun, wenn du deinen irdischen Leib verließest?‹ ›Das, was du tust‹, sagte ich kühn. Sie lachte. ›Das ist kein einfach Ding, Jean-Baptiste. Ich trete in meinen Astralleib ein, um die verzweigten Pfade des Lebensbaumes
entlangzuwandern. Ich trete in meinen Astralleib ein, um Macht zu gewinnen und um diese Macht zu benutzen.‹ ›Wozu zu benutzen?‹ fragte ich. ›Wie, glaubst du, habe ich von Zurkas Tod erfahren?‹ Mir fiel ein, daß Zurka im weit entfernten Turin gestorben war. ›Du warst dort?‹ stieß ich atemlos hervor. ›In gewisser Weise.‹ Gaddara tätschelte meinen Arm. Eine gönnerhafte und beruhigende Geste. ›Also gut, Jean-Baptiste‹, sagte sie. ›Wenn du wirklich lernen willst, dann wird es mir ein Vergnügen sein, dich zu lehren.‹ Daher blieben meine so mühselig gesammelten Farbstoffe eine Zeitlang vergessen, und ich wurde ihr Schüler, wie ich es nie zuvor gewesen war. Als Anfang brachte sie mir Zweige von Thymian, frisch vom Hügel. Sie hielt mir die Zweige unter die Nase und sagte, ich solle tief einatmen. ›Empfindest du den Duft als angenehm? Konzentriere dich darauf, bis du an nichts anderes mehr denken kannst. Thymianduft, das Gefühl von Samt, die Form eines Rades, eines Dreiecks, was immer, es spielt eigentlich keine Rolle. Man muß sich auf etwas konzentrieren und alles andere zurückdrängen.‹ Ich versuchte es, an jenem und am nächsten Tag, stundenlang. Aber noch immer hörte ich daneben die Geräusche aus dem Dorf und sah Wolken über den Himmel treiben. Gaddara bewies große Geduld mit mir. Am dritten Tag führte sie mich hinaus in den Hof. ›Zieh dich aus. Die Kleidung beengt dich.‹ Als ich mich ausgezogen hatte, befahl mir Gaddara, ich solle auf einem Bein stehen, auf dem rechten, und meinen linken
Knöchel mit der Hand umfassen. Sofort hatte ich das Gleichgewicht verloren und fiel unbeholfen um. ›Du mußt lernen, diese Stellung stundenlang durchzuhalten. Denk an ein Wort, Jean-Baptiste.‹ ›An welches Wort?‹ ›An welches du willst. Denk daran, bis du nichts anderes mehr denken kannst, wie beim Geruch des Thymians.‹ Ich sah Gaddara an und wählte das Wort margauder. Ihr Lächeln war gönnerhaft. ›Nein, das geht nicht. Es bedeutet nämlich, daß du an meinen Körper denkst, ihn begehrst, dich mit Äußerlichkeiten abgibst…‹ Da wählte ich das Wort Priester. ›Bist du eifersüchtig, Jean-Baptiste? Dann geht das auch nicht.‹ Schließlich wählte ich das Wort Stein, und dagegen hatte Gaddara keine Einwände. ›Und jetzt denk an Stein. Nicht nur an irgendeinen Stein, sondern an den Inbegriff des Steins. Bis zur Ausschließlichkeit. Und wenn du die erreichst, dann denk nicht mehr daran.‹ ›Und was soll ich dann denken?‹ ›An nichts‹ sagte Gaddara. ›An absolut nichts.‹ Das konnte ich nicht, ebensowenig wie ich es fertiggebracht hatte, daß der Thymiangeruch die ganze übrige Welt ausschloß. Doch mit dem Vergehen der Tage erwarb ich mir ein wenig von Gaddaras Fähigkeit. Es kam eine Zeit, da war der Kräuterduft überwältigend, so daß mein Sichtvermögen undeutlich wurde. Es kam die Zeit, da konnte ich wie ein Storch stundenlang auf einem Bein stehen – in der größten Nachmittagshitze. Die Zeit kam, da konnte ich mich auf den Begriff Stein so konzentrieren, daß alles andere ausgeschlossen war. ›Hast du Hunger?‹ fragte mich Gaddara.
›Nein‹, sagte ich. ›Ich habe keinen Hunger.‹ Ein gutes Zeichen. Den Gelüsten des irdischen Leibes nachzugeben ist ein Zeichen von Schwäche. Der Astralleib hat keine Bedürfnisse. Einen Monat darauf fing Gaddara ernsthaft an, mich in ihre Erziehung zu nehmen. Ich konnte auf die Knie fallen, mich auf die Fersen hocken, einschlafen, ohne richtig zu schlafen, und die Luft war erfüllt von Thymianduft, obgleich kein Thymian da war. Einen Monat später spürte ich ein Zittern und Beben durch meinen Körper wandern, und für einen kurzen Augenblick vermeinte ich neben mir selbst dazustehen und mich auf den Pflastersteinen des Hofes knien zu sehen. Als es vorbei war, zitterte ich und war in Schweiß gebadet. ›Du bist ausgefahren‹, sagte Gaddara. Ich nickte beklommen. ›Was hast du gesehen?‹ – ›Mich selbst.‹ ›Es wird die Zeit kommen, da wirst du andere Dinge sehen.‹ Tagelang machte ich die Übungen, die Gaddara mich lehrte. Nächtelang besprach sie die Wunder ihrer Magie mit mir. Vom Gebrauch der Namen wußte ich schon und von Gegenständen wie Puppen aus Kerzenwachs und von Bleitafeln. ›Das ist sympathischer Zauber‹, lehrte mich Gaddara. ›Seine Wirksamkeit hängt mit der Dualität der Dinge zusammen – du benutzt etwas, das du liebst, um zu vernichten, was du hast. Diese Doppeldeutigkeit gibt es in allen Bereichen, verstehst du?‹ Nein, sagte ich, ich verstünde es nicht. Gaddara erklärte es mir: ›Du kennst bereits o Del und o Bengh, die Mächte des Guten und des Bösen, die zwei Götter, die um Macht über die Welt kämpfen. Auf den Pfaden des Lebensbaumes trifft man niedriger stehende Ausbildungen ihrer selbst an. Und diese mußt du zu beherrschen lernen. Die geben uns Macht, die Welt zu verändern, eine Macht, die so
wirklich ist wie dieses Haus und dieses Dorf… so wirklich wie der Haß, den du für den Sieur de Ramezay fühlst.‹ ›Woher kennst du diesen Namen?‹ rief ich aus. Gaddara lachte heiser, und ihr Gesicht sah plötzlich häßlich aus. ›Um Macht zu besitzen mußt du Macht haben über das, was du haßt, und das, was du liebst. Und was liebst du, JeanBaptiste?‹ ›Du weißt es. Meine Arbeit. Meine Malerei.‹ In jener Nacht sprach Gaddara nicht mehr über die Doppelgestalt der Welt. ›Ich habe veranlaßt, daß du Vater Vasili kennenlernst‹, sagte sie. ›Warum?‹ ›Die Kirche braucht eine neue Ikone. Und du wirst sie für ihn malen.‹ Ich konnte nichts tun, als sie anstarren. ›Verstehst du, Jean-Baptiste?‹ ›Nein.‹ ›Vater Vasili wird von seiner Schuld vernichtet werden, oder aber ich werde zerstört werden. Ich brauche wohl nicht zu sagen, was ich vorziehe?‹
18
In der halbleeren Cocktail Lounge des Martinsburg Motor Lodge spielte eine Pianistin ein Potpourri alter Schlager, als Garrick eintraf. »Ich muß mich für mein Zuspätkommen entschuldigen«, sagte er und ließ sich am Tisch in der Nische nieder. »Das hatte ich fast erwartet. Ein pünktlicher Zeitungsmensch gehört zu den Raritäten«, sagte Margriet Kelly lächelnd. »Gibt es nicht immer noch eine Story im letzten Andruck?« »Na, so ähnlich«, meinte Garrick. Er bestellte Scotch mit Eis für beide. »Na, sehr voll ist es hier nicht«, sagte Margriet und sah sich im halbleeren Raum um. »Eigentlich klar. Heute nachmittag gab es zwei weitere Bombendrohungen, die eine direkt hier. Damit wird die Festfreude gewaltig gedämpft, auch wenn die Polizei inzwischen überzeugt ist, daß es sich um einen harmlosen Irren handelt.« Die Drinks wurden gebracht, und Garrick hob das Glas. »Auf das Mädchen mit dem seltsamen Namen«, sagte er scherzend. »Ach, so merkwürdig ist der nicht. Kelly ist sehr häufig. Und Margriet ist holländisch. Eine der Fluchtrouten, die die Hugenotten im siebzehnten Jahrhundert einschlugen, führte über Frankreich nach Holland und weiter nach Irland. Von da in die Kolonien. Daher mein holländischer Vorname. Er ist seit Generationen in der Familie gebräuchlich.« Ihre Stimme klang kehlig wie damals, als sie das Bild erblickte. Das jettschwarze Haar fiel ihr offen auf die Schulter
und umrahmte das feinknochige Gesicht. Die Augen bekamen dadurch etwas Exotisches. Garrick fragte sich verwundert, wie er sie jemals hatte bieder finden können. »Sicher wußten Sie, daß Martinsburg von Hugenotten gegründet wurde?« fragte er. »Ich bekomme hier ja nichts anderes zu hören. Verbrüderung mit Bourg St. Martin.« »Läuft mit Taitbout alles glatt?« »Nun, unter den gegebenen Umständen spielt das kaum eine Rolle. Es kreuzen keine Touristen mehr auf. Aber gegen unseren Kompromiß hatte er nichts einzuwenden. Außerdem fährt er in einem oder zwei Tagen ab.« »Ach?« »Sie haben ihn wohl länger nicht gesehen? Er sieht schrecklich aus. Die Leber, behauptet er. Aber ich glaube, das eigentliche Problem bin ich.« »Sie? Aber es war in erster Linie seine Idee, Sie zu rufen.« »Nun, sagen wir mal, wir haben grundlegende Meinungsverschiedenheiten über die Tätigkeit des Konservators. Und damit komme ich zum springenden Punkt. Ich muß an das Bild in Ihrem Haus heran. Deswegen wollte ich Sie sprechen.« Die Pianistin verbeugte sich mit einem kleinen, starren Lächeln. »Haben Sie sich mit Taitbout darüber unterhalten können?« »Das wäre mir wenig sinnvoll erschienen.« »Er ist überzeugt, daß es sich um eine Fälschung handelt, müssen Sie wissen.« »Das sagten Sie schon. Ich bin sicher, daß er sich irrt.« »Dann erklären Sie mir, wie es hierherkam.« »Warum erklären Sie es mir nicht?« Garrick tat es.
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Margriet ungeduldig. »Gemälde tauchen nicht so einfach im Straßengraben an Landstraßen in Connecticut auf – aber, was ist? Sie sind ja außer sich.« Garrick trank sein Glas leer. Er wußte genau, was er sagen wollte, und das erfüllte ihn mit einem albernen Gefühl. Aber es fiel immerhin in Margriet Kellys Arbeitsgebiet, oder etwa nicht? »Der Fundort ist nicht das einzig Unerklärliche daran. Das Gemälde hat etwas Unheimliches an sich.« »Was meinen Sie mit unheimlich?« Garrick schwieg einen Augenblick. Wie würde sie denn reagieren? Mit einem überlegenen Lächeln? Mit der Ansicht, er wäre überarbeitet? »Nun, sagen wir mal, Columbine oder der Fälscher oder wer immer…« »Es ist der heilige Martin von Columbine. Es ist keine Fälschung.« »Sagen wir, es ist ein Bild über einem Bild, gleichgültig wer es malte, ja?« »Sicher, das kommt häufig vor. Mir fiel ein deutliches Pentimento auf und ein zweites, ganz schwaches.« »Aber diese Stellen waren nicht vorhanden, als ich das Gemälde zum ersten Mal sah«, entgegnete Garrick. »Unmöglich. Das passiert doch nicht über Nacht. Das braucht Jahre, Jahrhunderte. Hat Taitbout es gereinigt oder sonst was damit angestellt? Manchmal läßt eine Reinigung die nachgedunkelte Übermalung heller werden, und man kann sehen, was darunter ist.« »Er hat es nicht gereinigt«, sagte Garrick. »Aber ich habe das Darunterliegende gesehen, das kann ich Ihnen sagen.«
Einen Augenblick lang sah Margriet beinahe so steif und formell aus wie bei ihrer ersten Begegnung. »Das ist unmöglich.« Aber immerhin kein geringschätziges Lächeln und keine Anspielung auf seinen Nervenzustand. »Es tut mir leid, Rob«, sagte sie. »Ich wollte Sie jetzt nicht abkanzeln. Es muß eine Erklärung dafür geben. Und die augenscheinlichste ist die, daß Sie sich geirrt haben.« Garrick war nun der Ansicht, daß er ihr auch alles übrige sagen konnte. »Und dann der Gesichtsausdruck des heiligen Martin«, sagte er. Sie schien erstaunt. »Haben Sie Vouets Skizze zu dem Bild gesehen? Sie wissen ja mehr darüber, als ich dachte. Mir hat das Gesicht des Heiligen auch Kopfzerbrechen bereitet. An dem Gemälde ist alles authentischer Columbine – bis auf das Gesicht. Natürlich ist es möglich, daß Columbine nach seiner ersten Vorstudie seine Arbeit geändert hat. Und auch diese Vorstudie existiert nicht mehr. Uns ist nur die von seinem Freund Denis Vouet angefertigte Kopie erhalten. Vouet war für Columbine in seinen späteren Jahren, als sein Interesse für Schwarze Magie erwachte, so etwas wie ein Resonanzboden.« »Das wußte ich nicht.« »Doch, es ist dokumentarisch festgehalten. Ein an Vouet gerichteter Brief läßt uns erkennen, daß das Alter eines grimoire, das man für viel jünger gehalten hatte, weiter zurückdatiert werden muß.« »Jetzt bin ich am Ende meiner Weisheit«, erklärte Garrick. »Was ist denn ein grimoire?« »Ein Handbuch für Zauberer, Hexen, Magier. Damit meine ich aber nicht die Sorte, die Hasen aus Hüten hervorzaubert. In den Tagen Columbines war die Schwarze Magie etwas Todernstes. Na, jedenfalls wird dieses grimoire ›Schwarzes Huhn‹ genannt. Die Gelehrten waren zunächst der Meinung, es
sei 1740 in Ägypten verfaßt worden, später bildete sich die Meinung heraus, es sei mindestens zwanzig Jahre später zusammengestellt worden, und zwar in Frankreich. Dann aber tauchte der Titel in einem Brief an Vouet auf, dem einzigen nachweislich von Columbine stammenden erhaltenen Brief, der aus dem Jahre 1698 stammt. Und damit ist erwiesen, daß das Schwarze Hühnchen viel älter ist, als zunächst angenommen wurde.« Dieser Exkurs über Schwarze Magie interessierte Garrick viel weniger als das Gemälde. »Sie sagten vorhin, alles an dem Bild sei echt Columbine, nur das Gesicht des Heiligen nicht. Was stimmt daran nicht?« »Es sieht Vouets Kopie der Skizze gar nicht ähnlich. Aber wie gesagt, Columbine könnte ja seine ursprüngliche Absicht geändert haben. Oder aber der Fehler liegt bei Vouet. Auf der Skizze ist der heilige Martin der personifizierte Hochmut. Er stellt fast eine klassische Studie der Arroganz dar. Na, Sie kennen ja das Bild. Wie würden Sie den Gesichtsausdruck des Heiligen beschreiben?« Garrick schüttelte den Kopf. »Sagen Sie es.« Margriet sprach es aus. »Der heilige Martin sieht aus wie von panischer Angst erfaßt.«
Aus den Aufzeichnungen des Jean-Baptiste Columbine: … ist es vielleicht ein Maß für das Übel aller Religionen, daß der katholische Glaube des Westens oder der orthodoxe des Ostens einander gegenseitig als escomenjableté (oje, wieder ein unauffindbares Wort) ansehen, und zwar auf Grund einer Abweichung in der Lehre, die weder das Gute, die Liebe, ja nicht einmal die Allmacht Gottes auch nur im entferntesten berührt. Rom behauptet, der Heilige Geist erhebe sich aus
Gottvater und dem Sohn, die Metropoliten in Moskau beharren darauf, der Heilige Geist erhebe sich aus dem Vater, aber durch den Sohn. Der Unterschied ist minimal, und doch vermag keiner die Kastanien des anderen zu schälen. (??) Als ich dies Gaddara gegenüber erwähnte, fragte sie mich: ›An was glaubt ihr Hugenotten?‹ ›Ich bin kein Hugenotte mehr. Ich glaube an nichts, am allerwenigsten an einen Gott, der die Güte und Liebe ist.‹ ›Dann wird es dir nicht schwerfallen zu tun, was ich will.‹ Vater Vasili war ein dicker, schwarzhäutiger, ungebildeter kleiner Mann, dessen Weib – denn anders als die katholischen Priester müssen die orthodoxen heiraten – jenes Schäfchen seiner Herde war, das dem Aberglauben am heftigsten verfallen war. Für sie war es rein gar nichts, wenn sie ein kurzes Gebet fünf- oder sechshundertmal am Tag leierte wie eine Zauberformel, und dabei ihren Rosenkranz befingerte. Vater Vasili aber folgte Gaddara durchs Dorf wie ein Hund dem Herrn, und seine tiefliegenden Augen wichen nicht von ihr. Doch war der Ausdruck in diesen Augen nicht einfach Lust. Daneben brannte der Haß. Ob er sie haßte, weil Gaddara ihn nun immer öfter zurückwies oder weil er von Schuldgefühlen geplagt wurde, sollte ich nie erfahren. Als ich Gaddara fragte, sagte sie bloß: ›Dieser dreckige Bart und der Knoblauchgeruch und wie er mich auf der Straße anstarrt oder an jungen Mädchen anstreift, wann immer sich eine Möglichkeit bietet! Sag mir, Jean-Baptiste, sind alle Priester rokerels?‹ (Vermutlich: schmutzige alte Männer.) In der kleinen kuppelüberwölbten Dorfkirche befand sich eine auf Holz gemalte Ikone, den Einzug Christi in Jerusalem darstellend. ›Vater Vasili behauptete, sie wäre vor vielen Menschenaltern von einem Mönch aus dem fernen Nowgorod
gemalt worden. Der Firnis war so stark nachgedunkelt, daß es schwarz aussah, und dazu durchzogen tiefe Risse die Farbschicht. Die Frau, die in Boros Haus wohnt, sagte mir, daß Ihr Maler seid, sprach er mich eines Tages an. Mittlerweile hatte ich die Sprache des Dorfes bis zu einem gewissen Grad verstehen und sprechen gelernt. Ich sprach mit dem Priester lange über den schlechten Zustand der rissigen, nachgedunkelten Ikone. Seltsamerweise zeigte Vater Vasili mir gegenüber keinerlei Feindseligkeit. Vielleicht glaubte er gar, ich hätte meine Männlichkeit gleichzeitig mit meinem Arm eingebüßt. Daß ich für Gaddara sowohl Gehilfe als auch Liebhaber war, ahnte er wohl nicht. Außerdem war er der Meinung, ich wäre vom römischen Glauben abgefallen und wollte meine Seele einfangen.‹ ›Viel können wir nicht zahlen. Wir sind ein armes Dorf. Was Ihr tut, würdet Ihr für die Liebe Gottes tun.‹ Wir feilschten um den Preis, denn Feilschen war hier Sitte. ›Ihr seid also einverstanden?‹ Ja, ich war einverstanden, und Vater Vasilis gelbe Zähne schimmerten durch seinen Bart. ›Mein rechtes Auge wird ein Meisterwerk erblicken‹, sagte er. Eine merkwürdige Art, jemand zu schmeicheln. ›Euer rechtes Auge?‹ fragte ich. ›Eine Verletzung, die ich als Kind erlitt. Ich kann am linken Auge nichts sehen.‹ Wir besprachen, daß ich ein Bild der Dornenkrone malen sollte, und ich ging nach Hause zu Gaddara und berichtete es ihr. ›Die Dornenkrone ist so gut wie etwas anderes. Das andere Bild ist es, das eigentlich zählt.‹ ›Ich soll zwei Bilder malen?‹ ›Eines als Ikone, und eines darunter verborgen.‹
Und dann stellte Gaddara eine seltsame Frage: ›Was weißt du über die Schwarze Messe?‹ Aus alter Gewohnheit hätte ich mich beinahe bekreuzigt. Dann aber zog ich die Achseln hoch. ›Das, was alle wissen. Es ist eine Verhöhnung der Heiligen Messe.‹ ›Unter der Ikone von der Dornenkrone wirst du malen, wie Vater Vasili eine Schwarze Messe feiert.‹ Melody steckte schnell ein Lesezeichen zwischen die dünnen Blätter und lief zum Telefonanschluß im Zimmer ihres Vaters. »Hallo?« »Melody?« Zunächst erkannte sie seine Stimme gar nicht, so gedämpft klang sie. »Hier Charlie Dahlgren.« »Ach, hallo, Charlie.« »Hör mal, ist dein Vater da?« Melody warf einen Blick zur Uhr auf der Kommode. Fast sieben. »Er sagte, er würde zum Abendessen nicht kommen. Hast du es in der Redaktion versucht?« »Da ist er nicht. Könntest du ihm ausrichten, er soll mich anrufen, sobald er heimkommt? Ich bin zu Hause.« Melody konnte sich vage erinnern, daß sie von Charlie in der Zeitung gelesen hatte. Er steckte in irgendwelchen Schwierigkeiten. Sie wußte aber nicht mehr, was das war. »Ich sag’s ihm, Charlie. Wie geht’s übrigens? Du klingst so komisch.« »Da ist etwas, das ich mit deinem Vater besprechen möchte. Na, alles Gute, Kleine.« »Dir auch, Charlie. Bis bald.« »Bis bald.« Charlie Dahlgren hatte den ersten Stock eines alten Zweifamilienhauses gemietet, eines Holzbaues an der Bank Street. Draußen hing eine Tafel der Historischen Gesellschaft,
auf der das Baujahr, nämlich 1760, vermerkt war. Charlie hatte großes Glück gehabt, daß er die obere Wohnung ergattert hatte mit ihren schrägen Balkendecken, den bleigerahmten Fenstern und dem Kamin im Wohnzimmer. Charlie legte mit einem nicht sehr glücklichen Gefühl auf. Im Krankenhaus hatte er Dr. Seymour brav alles erzählt, was er aus den Tintenklecksen herauslas, und hatte Geschichten aus den Bildern im zweiten Test zusammengesetzt – dem TATTest. Nach zwei Tagen hieß es, er könne gehen, und Ned Revere brachte ihn auf die Polizeizentrale und nahm ihn erst fest, sagte dann aber: »Sieh zu, daß du rauskommst. Ich habe den Richter überredet, er soll dich gegen Kaution freilassen. Charlie, ich hoffe, daß ich es nicht bedauern muß.« Und jetzt saß Charlie da, Schuhe abgestreift, Füße hoch, schlürfte an einem starken Bourbon und war trotz Dr. Toms gegenteiliger Versicherung überzeugt, daß er kurz vor dem Verrücktwerden stand. Ich werde wieder so etwas Ähnliches machen, hatte Charlie sich im Krankenhaus ständig vorgesagt. Ich weiß, daß ich es wieder tun werde. Was sollen denn diese blöden Tests? Auf seinem Zimmer im Krankenhaus hatte auch der stellvertretende Leiter der Textilfabrik gelegen, der nicht aufhörte, von Glocken zu schreien. Er hörte von irgendwoher Glocken, wie Kirchenglocken, nur erklangen sie im Inneren seines Kopfes. Die anderen hatten einander ängstlich angeguckt. Charlie wußte nicht, ob sie die Glocken hörten oder nicht. Sie sagten jedenfalls nichts. Und jetzt nippte er an seinem Bourbon. Und immer wenn er seinen Geist ein wenig wandern ließ, dann hörte er – ja, etwas… Hätte er an Glocken gedacht, wenn da nicht der Mann aus der Textilfabrik gewesen wäre? Nur dieses Getöse im Kopf, wenn er seine Gedanken wandern ließ. Eine Art metallisches Klicken, immer wieder,
ganz schwach und tief in seinem Inneren. Eine Glocke ohne Widerhall? Irgend etwas. Und es trieb ihn zum Wahnsinn. Das und die Gewißheit, daß er wieder gewalttätig werden würde. Beim Verlassen der Polizeizentrale hatte er daran gedacht, rüber zu Dr. Tom zu gehen, doch er tat es nicht. Erstens konnte er nicht einfach hineinmarschieren und Dr. Tom sagen, er höre etwas und hätte Angst vor dem, was ihm bevorstünde. Und außerdem war ja da die Sache mit Dr. Tom selbst. Er kannte niemanden, den er höher achtete. Deswegen erschien es ihm so sinnlos. Ein Mann an die Siebzig, Arzt, ein Wahrzeichen der Stadt wie sein unter Denkmalschutz stehendes Haus. Charlie hatte ihn zwei Tage lang im Krankenhaus beobachten können, und er kannte die Symptome, weil er sie in New York zu gut kennengelernt hatte. Nicht zu übersehende Symptome. Dr. Tom war heroinsüchtig, dessen war Charlie sicher. Er hatte zunächst mit sich gekämpft, und dann hatte er bei Garrick angerufen. Vielleicht konnte der Vorschlag nicht schaden. Garrick solle ein Auge auf Dr. Tom haben. Garrick sollte sich den richtigen Reim selbst darauf machen. Er würde wissen, wie man die Sache am besten anging. Aber Garrick war nicht zu Hause gewesen. Charlie schnitt eine Grimasse und hielt sich die Ohren zu. Wieder diese gottverdammten Glocken. Dann erst merkte er, wie weit es schon mit ihm gekommen war. Es war nur die Türklingel. Er bildete sich ein, die Rothaarige von irgendwoher zu kennen. Hübsch, Stupsnase, grüne Augen, Sommersprossen. »Mr. Dahlgren? Oder wollen Sie lieber Officer Dahlgren genannt werden?«
Kaum hörte er ihre Stimme, wußte er auch schon, wer sie war. Er hatte den Übertragungswagen des Fernsehens in der Stadt gesehen und die Kameraleute, die überall emsig am Werk waren. »Miß Talbot, ich bin vom Dienst suspendiert worden«, brachte er mit der Andeutung eines Lächelns heraus. »Aber natürlich würde ich lieber die zweite Version hören.« »Kann ich reinkommen und mit Ihnen reden?« Sie war so lässig und ungezwungen wie im Fernsehen. Aber Charlie zögerte. Sie war ein Professional und verstand es sicher, einen zum Reden zu bringen, und wenn er einmal ins Reden kam, würde er nicht mehr aufhören können, das wußte Charlie. Es würde nur so aus ihm heraussprudeln, und er wußte nicht recht, ob er das wollte. Er sagte: »Wenn es um die Sache geht, deretwegen ich…« »Es geht um Martinsburg«, warf Eve ein. »Nicht um Sie. Muß ich wirklich hier draußen auf dem Treppenabsatz stehenbleiben, Mr. Dahlgren?« Er erwiderte ihr Lächeln. »Sagen Sie einfach Charlie zu mir, und kommen Sie herein.« Sie saßen einander in Ohrensesseln am Feuer gegenüber. Einen Drink hatte sie abgelehnt. »Aber Sie lassen sich durch mich bitte nicht abhalten«, sagte sie. Er füllte nach, viel Bourbon, einen Spritzer Wasser, und setzte sich wieder. Ihm war nicht ganz wohl zumute, als sie, statt eine Fragensalve auf ihn abzuschießen, sagte: »Hübsch haben Sie es hier.« »Hören Sie«, sagte er widerspenstig, »bringen wir es rasch hinter uns. Ich nehme an, Sie wissen, was ich getan habe. Ja? Und Sie möchten wissen, warum ich es getan habe. Nun, ob Sie es glauben oder nicht, ich weiß es nicht.« »Ach, ich glaube Ihnen, Charlie«, sagte Eve, diesmal ohne Lächeln. »Ich habe heute die Leute interviewt, die man mit
Ihnen gemeinsam aus dem Krankenhaus entlassen hat. Und da wurde ich stutzig.« »Ja? Warum?« »Ich fragte mich, was mit denen ist, die nicht ins Krankenhaus gingen.« »Ich verstehe nicht.« »Sie sind doch aus New York, ja? Dann stellen Sie sich mal vor: Es ist Nacht, eine einsame Straße in einem schlechten Viertel. Zwei Männer kommen auf dem Gehsteig aufeinander zu, beide sind fremd in der Gegend und vielleicht ein wenig ängstlich.« Charlie nickte. »Kann ich mir gut vorstellen.« »Sie kommen immer näher, und die Angst wächst. Jeder ist überzeugt, daß der andere ihn berauben will. Sie gehen aneinander vorbei, beide drehen sich verstohlen um und gehen schneller, fangen fast zu laufen an.« »Ja, genauso ist es in New York.« »Genauso war es heute in Martinsburg, den ganzen Tag über auf allen Straßen. Die verstohlenen Blicke, das Ausweichen, das Gefühl, daß – etwas passieren würde. Fast so, als hätte eine Massenhysterie Martinsburg erfaßt. Ist Ihnen schon der Gedanke gekommen, daß – wenn zwei Dutzend Menschen zur Beobachtung ins Krankenhaus gingen – es Hunderte andere geben könnte, die dieselben Symptome haben? Übrigens ist das nicht nur meine Idee. Polizeichef Revere denkt ähnlich.« »Das sagte er Ihnen?« »Ohne daß ich ihn fragen mußte«, sagte Eve hastig. »Und Sie haben Angst, Sie könnten wieder so etwas tun, stimmt’s?« Charlie starrte in sein Glas, auf den Rest seines Bourbon. Er gab keine Antwort. »Ich habe fünf Personen interviewt, die von Dr. Brooke entlassen wurden. Ich stellte ihnen dieselben Fragen, die ich Ihnen stellte. Drei sagten ja. Die zwei anderen sahen so nervös
drein wie Sie. Und jetzt erzählen Sie mir von den Glocken, Charlie.« Er spürte, daß er errötete. »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden.« »Aber natürlich wissen Sie es.« »Na schön, dann sagen Sie’s mir!« schrie Charlie. »Was ist los mit mir? Was geschieht mit mir?« »Nicht nur mit Ihnen, Charlie. Das versuchte ich Ihnen beizubringen. Es passiert der ganzen Stadt.« »Ja, sicher, die ganze Stadt ist verhext oder steht unter einem Fluch«, sagte Charlie. »Ach, kommen Sie, Miß Talbot.« »Da gab es nach dem Krieg eine Stadt in Frankreich«, sagte Eve. »Ohne Vorwarnung wurden dort Menschen gewalttätig, und bald darauf benahmen sich fast alle völlig verrückt. Das war nicht nur Massenhysterie, sondern Massenparanoia.« »Und das ist wirklich passiert?« »Ja, und es fand sich eine Erklärung. Es mußte eine geben. Und es gibt immer eine.« »Und was war es?« »Ich habe die Einzelheiten vergessen, aber es war das Brot – irgendwas geriet ins Brot, ein Getreidepilz, der wie ein Halluzinogen wirkte. Als der nicht mehr wirksam war, wurde die Stadt wieder normal.« »Damit wollen Sie andeuten, daß etwas Ähnliches hier vor sich geht?« »Ich will damit andeuten, daß das, was Sie befallen hat, viele andere befallen hat. Ich habe zwar nicht die leiseste Ahnung warum, aber wenn wir irgendeine Gemeinsamkeit der einzelnen Fälle herausfinden, dann kämen wir ein Stück weiter.« »Also etwas im Essen?«
»Das ist gar nicht so komisch, wie es sich anhört. Das Essen oder irgendeine andere gemeinsame Erfahrung. Ich möchte es herausbekommen und brauche Ihre Mithilfe.« Charlie sah sie an. Ja, das klang nicht unvernünftig. Und er hatte gleich ein besseres Gefühl. Nicht nur er. Die ganze Stadt, wie damals in Frankreich. Er nickte und wollte ihr sagen, sie könne auf seine Hilfe zählen. Da traf etwas seine Schulter, warf ihn in den Sessel zurück, und da saß er nun, nach Luft schnappend, während ihm die Tränen in die Augen stiegen. »Was ist?« rief Eve erschrocken. »Was ist denn?« Er wußte es nicht. Es war ein höllischer Schmerz. Er fingerte an seinen Hemdknöpfen, zerrte das Hemd von der Schulter. Auf seiner Schulter zeigte sich eine immer dunkler werden böse Prellung.
19
Bis sie je drei Drinks geleert und gegessen hatten, war es fast elf geworden. »Ach du lieber Gott, es ist aber spät geworden«, sagte Margriet. Garrick mußte feststellen, daß er sie als Klagemauer für seine Sorgen um Melody und Dr. Tom benutzt hatte. Mit ihr konnte man so gut reden, und er hatte sich seit Tagen nicht mehr so ungezwungen gefühlt. Als er daheim bei Melody anrief, dachte er längst nicht mehr an das Bild. »Mir geht es wunderbar, Daddy«, sagte Melody. »Mein Hals ist viel besser. Es hat mich ja nur ein wenig gekratzt.« »Ist Eve schon da?« »Noch nicht. Charlie Dahlgren rief an. Du sollst ihn zurückrufen.« »Mach ich. Ich komme bald. Aber zuerst sehe ich vielleicht bei Dr. Tom vorbei.« Margriet wartete vor der Telefonzelle. »Wie geht es ihr?« »Kein Halsweh mehr jedenfalls.« Der Parkplatz war hell beleuchtet. Garrick hatte auf halber Höhe des Osttraktes geparkt, zwischen Eingang und Margriets Zimmer. »Sehen Sie sich das bloß an«, sagte Margriet. »So könnte es überall im ganzen Land aussehen. Dasselbe Restaurant, dieselbe Bar, dasselbe Moteldekor. Und draußen derselbe Neondschungel auf der Autobahn, dasselbe Asphaltmeer als Parkfläche. In einer Stadt wie Martinsburg ist das eine Affenschande.«
»Ach, wir sind besser dran als die meisten anderen Orte«, sagte Garrick. »Wenigstens ist unsere – verdammt, was soll das?« Garrick stand nun vor seinem Wagen, einem Porsche 911 S. Alle vier Reifen waren platt. »Ihr Wagen?« sagte Margriet. »O nein!« Garrick hockte sich neben den linken Vorderreifen. Es war nicht nur die Luft ausgelassen, der Reifen war zerschnitten worden. Auch davon hatte es in Martinsburg in den letzten Wochen eine Epidemie gegeben, zu allem Überfluß. »Was machen Sie jetzt?« »Ein Taxi rufen und morgen eine Werkstätte verständigen«, sagte er. Der Ärger ließ bei ihm langsam nach, nicht aber die Verwirrung. Warum hier in Martinsburg? Er sperrte den Wagen ab und brachte Margriet zu ihrem Zimmer am Ende des Traktes. Sie hielt den Schlüssel in der Hand. »Da wären wir. Sie können von hier anrufen, wenn Sie wollen.« Das Zimmer war so, wie Margriet es beschrieben hatte – modern im Motelstil, funktionell und eigentlich stillos. Er half ihr aus dem Mantel und merkte dabei, daß sie ihn abschätzte, daß ihre veilchenblauen Augen ihn genau unter die Lupe nahmen, und dann hatte er den merkwürdigen Eindruck, daß sie sie beide abschätzte, so, als könne sie sich irgendwie von sich selbst lösen. »Sie werden nicht lange so verrückt sein.« »Wie bitte?« »Ich würde schreien, so laut ich kann.« »Aber was hat das mit den Reifen zu tun?« »Nichts, aber mir wäre leichter.« Margriet setzte sich aufs Bett. »Wie groß sind Sie übrigens?« fragte sie und sah zu ihm auf. Ihre Stimme klang verändert, irgendwie erregt. Garrick
brauchte einen Augenblick, um zu merken, warum. Die Drinks, das Essen und dann das unvermeidliche Motelzimmer und die Aussicht auf den trübsten aller amerikanischen Träume – das einmalige Gastspiel nämlich. »Knapp einsneunzig«, sagte er. »Sicher haben Sie am College Basketball gespielt.« »Unsinn, ich hatte ein Football-Stipendium. Aber die Uni habe ich nicht geschafft.« Garrick lächelte. »Ich war zu eifrig damit beschäftigt, die Mädchen zu studieren, und hatte zu wenig Zeit fürs Training.« »Mädchen wie Ihre Freundin – Eve?« »Die habe ich viel später in New York kennengelernt.« »Aber sie muß dieser Typ gewesen sein. Sie wissen schon. Sportlich, überall beliebt.« Margriet fuhr fort: »Ich war anders. Ich war das Mädchen, das immer in der Bibliothek hockte, auch an Samstagnachmittagen, und mich in Jean-Baptiste Columbine vergrub, weil mich niemand auf den Sportplatz mitnahm.« »Aber so sehen Sie jetzt gar nicht aus«, sagte Garrick. Wieder fragte er sich, wie er sie jemals hatte unattraktiv finden können, ein graues Mäuschen mit einem Diplom als Kunstrestauratorin. Sie verfügte über einen exotischen und eigenwilligen Stil, den Garrick als geradezu provozierend empfand. Er schreckte davor zurück und wußte nicht, warum. Eve, ja gewiß – aber Eve war nicht der einzige Grund. Etwa die Unvermeidbarkeit der Situation? Auch das, aber da war noch etwas anderes, ein merkwürdiges Gefühl, daß sein Verlangen nach Margriet nichts mit ihr oder mit ihm zu tun hatte, daß es nicht nur voraussehbar, sondern geradezu vorherbestimmt war. Er ging ans Telefon und bat die Vermittlung, sie solle ihm ein Taxi besorgen.
Als er auflegte, sah er, daß Margriet aufgestanden war. »Vielen Dank fürs Abendessen. Ich habe es ungemein genossen.« Ihre Stimme klang wieder wie sonst. »Sie verständigen mich, wie Sie sich wegen des Bildes entschieden haben?« »Ich sagte schon, wie Melody darüber denkt.« »Warum sagen Sie ihr nicht, sie könnte mir helfen? Sicher würde sie die Arbeit interessieren.« »Ja, sicher. Es ist einen Versuch wert. Ich rufe Sie an.« Sie ging mit an die Tür. »Aber lassen Sie sich nicht zu lange Zeit, ja?« »Bestimmt nicht«, sagte er. Sie hob ihm das Gesicht für einen keuschen Gutenachtkuß entgegen.
»Diese kugelsicheren Trennwände, Sie wissen schon, was ich meine«, sagte der Taxifahrer. »Und dann einen Schieber, wo der Fahrgast die Kohlen hinlegt und ich das Wechselgeld. Wir haben heute dafür gestimmt.« »Was? Wer?« »Die Jungs hier in der Stadt. Das Zeug wird so rasch wie möglich eingebaut. Drei Taxis in dieser Woche ausgeraubt, zwei in der vergangenen. Verdammt! Das ist zuviel! Entschuldigen Sie, Mr. Garrick. Aber das stand doch alles in der Zeitung von den Überfällen. Und Sie lesen doch sicher Zeitung, Mr. Garrick?« Der Taxifahrer lachte über seinen kleinen Scherz und wurde gleich wieder ernst. »Können Sie mir vielleicht sagen, was mit dieser verdammten Stadt los ist? Urplötzlich ist alles anders. Sie wissen, was ich meine? Meine Frau traut sich am Abend allein nicht mehr vor die Haustür. Vor fünfzehn Jahren sind wir von Philadelphia hierhergezogen, weil es dort zu unsicher wurde. Und jetzt haben wir den Salat hier. Wir haben uns in der Nachbarschaft zusammengetan und
patrouillieren abwechselnd in den Straßen. Und wer verdächtig aussieht, der kriegt eine Abreibung.« Der Wagen wurde langsamer, fuhr an den Randstein heran. »Da wären wir. He, da brennen ja alle Lichter. Ja, schläft denn der Doktor niemals?« »Der Rest ist für Sie, Vinny.« »Vielen Dank, Mr. Garrick.« Der Wagen holperte mit alten Stoßdämpfern und ausgeleierter Federung davon. Die Fenster im Praxisflügel des Seymour-Hauses waren dunkel. Der L-förmige Anbau fast unsichtbar, so daß das Haus so aussah, wie es ursprünglich gewesen war, viereckig, einstöckig unter einem steilgiebligen Dach, dreihundert Jahre alt. Das Zuhause wie vieler Generationen von Seymours? Im ganzen Erdgeschoß brannte Licht, im Oberstock war es dunkel, soweit Garrick sehen konnte, bis auf ein einzelnes Fenster vorne links. Er hob den schmiedeeisernen Türklopfer an und ließ ihn fallen. Keine Antwort. Er wartete ab, versuchte es von neuem. Ein mitternächtliches Auto folgte seinen Scheinwerfern die Straße entlang. Wieder keine Antwort. Garrick wußte, daß Dr. Tom einen leichten Schlaf hatte. Er hätte das Pochen hören müssen. Oder nicht? Jetzt war es keine bloße Vermutung mehr. Je öfter er an die Szene im Lokal zurückdachte, desto mehr setzte sich in ihm die Gewißheit fest. Dr. Tom wäre nicht der erste überarbeitete Arzt gewesen, der Entspannung unter seinen eigenen pharmazeutischen Beständen suchte. Es sei denn, dachte Garrick mit plötzlicher Erleichterung, er war zu einem Kranken gerufen worden. Garrick ging die Einfahrt entlang. Auf halbem Wege blieb er stehen, denn die Garagentür stand offen, und er sah den Schimmer von Dr. Toms neuem Wagen.
Was sollte er nun als nächstes tun? Sollte er aufgeben, nach Hause gehen und gleich am Morgen nachsehen? Er spürte ein merkwürdiges, intuitives Unbehagen und ging an die Vorderseite zurück. Wieder versuchte er es an der Tür. Sie war unverschlossen, was nichts zu bedeuten hatte, denn Dr. Tom schloß nur selten ab. Wieder kämpfte Garrick mit sich, dann aber schob er die Tür ein Stück auf und rief: »Tom?« Keine Antwort. Er schob die Tür weiter auf und trat ein. »Tom? Rob Garrick hier.« Das Wohnzimmer hell erleuchtet, schwacher Duft von Dr. Toms Tabak, die übliche Junggesellenunordnung – Kissen auf einem Ende des Sofas angehäuft, wo Dr. Tom sich oft zum Lesen niederlegte, ein paar Riesenaschenbecher, Pfeifen darauf, auf dem Boden uralte Lederpantoffeln, auf dem niederen Tischchen ein Bücherstapel und Zettelkram. Die Küche hingegen untadelig – hier war weder gekocht noch gegessen worden, auch nicht im Eßzimmer. Das Unbehagen verschärfte sich plötzlich. Ein Drogensüchtiger litt meist unter Appetitlosigkeit, oder nicht? Bloß keine voreiligen Schlußfolgerungen, beruhigte Garrick sich. Schließlich aß Dr. Tom meist außer Haus. Als nächstes die Bibliothek. Großer Kamin, voller Asche, drei Wände voller Bücher, die vierte mit zwei großen Fenstern. »Medizinische Fachliteratur habe ich in der Praxis«, hörte er Dr. Tom sagen. »Dort erledige ich meine ernsthafte Lektüre.« Er besaß Bücher über eine Vielzahl von Themen. Seine geistigen Interessen waren weitgespannt, und er hatte seine Bibliothek sein Leben lang zusammengetragen. Ein paar tausend Bände, schätzte Garrick, jene auf den Borden im Wohnzimmer nicht eingerechnet. Dr. Toms letzter Lesestoff lag auf dem großen Teakholzschreibtisch – ein Stapel von vier Büchern, eines
aufgeschlagen und mit den Seiten nach unten hingelegt, ein gelber Notizblock, ein paar Bleistifte. Wieder spürte Garrick das Unbehagen, den sechsten Sinn des Reporters. Er ging an den Schreibtisch und überflog die Titel der Bücher. Die geheime Lehre der Magie, Grundlagen der Dämonologie. Anmerkungen zu einer Geschichte der Hexerei, die Schwarzen Künste, Garrick spürte leises Erstaunen. Er hatte gar nicht gewußt, daß Dr. Tom sich für okkulte Themen interessierte. Er nahm den gelben Notizblock zur Hand und sah darauf zwei Rubriken in Dr. Toms schwer zu entziffernder Arztschrift. Symptome eines ›psychischen Angriffs‹
Brookes Patienten
1. Angst, seelische Verzweiflung 2. Verwesungsgeruch 3. Abdrücke am Körper, manchmal in Form eines Ziegenhufs oder Kreuz-As 4. Poltergeist-Phänomen oder unerklärliche Brände
bei allen keiner
5. Schleimspuren mit/ohne Fußabdrücke/n 6. Klänge der ›Astralglocke‹ 7. Krämpfe, ziehender Schmerz in Herznähe, Anzeichen für heftiger Puls, Nacken- und Magenkrämpfe, Impotenz, Schweiß, schwere Lider 8. allmähliche Auszehrung, fort schreitende geistige Trägheit, schließlich Tod
keiner fragliche Brände mit Ned durchsprechen keine über 50 %
das eine oder andere Symptom bei allen
(Melody Garrick??)
Hier endeten die zwei Rubriken mit dem Namen in Klammern, gefolgt von zwei Fragezeichen. Die Klammern, vermutete Garrick, weil Melody nicht Dr. Brookes Patientin war, und die Fragezeichen, weil Dr. Tom die Symptome bereits anhand seiner medizinischen Ausbildung und nicht mittels seiner Bücher über Okkultismus erstellt hatte. Halt, sagte Garrick sich. Tom Seymour glaubt doch an den Unsinn ebensowenig wie ich. Psychischer Angriff? Poltergeist? Schleimspuren mit/ohne Fußabdrücke/n? Dennoch – Dr. Tom hatte sich veranlaßt gesehen, das Okkulte in seine Überlegungen einzubeziehen. Garrick überlas die Rubriken von neuem. Punkt sechs und sieben, vielleicht auch vier, hatten ihn in diese Richtung getrieben. Punkt acht bot ihm die Entschuldigung für einen intuitiven Sprung von der Medizin zur Magie. Punkt acht war Melody. Allmähliche Auszehrung, begleitet von geistiger Trägheit. Melody in Klammern, Melody gefolgt von Fragezeichen. Schließlich eintretender Tod. Dr. Toms Handschrift war an dieser Stelle deutlicher, als wäre er dieser zwei Worte ganz sicher. Beruhige dich, sagte sich Garrick. Ist doch egal, wenn Dr. Tom ein paar an den Haaren herbeigezogene Spekulationen auf einem Blatt Papier notiert. Fast konnte Garrick ihn hören, wie er dozierte: »Was zum Teufel weiß ich oder jeder andere Arzt eigentlich vom menschlichen Körper oder der Wechselbeziehung Leib-Seele? Weiß ich denn, warum ein Patient überlebt, der andere stirbt? Der eine stirbt langsam und qualvoll, der andere schläft friedlich ein. Das ist die Kunst der Medizin, mein Freund, und dazu viel Pfuscherei und Irrtümer, und wenn man Glück hat, hin und wieder etwas, was die Leute dann Wunder nennen.«
Garrick wandte sich rasch von dem Zettel, den Büchern und dem Schreibtisch ab. Erstmals seit seinem Eintreten fühlte er sich als Eindringling. Dr. Tom wäre es gewiß nicht recht gewesen, daß jemand Einblick in seine Notizen nahm. Es handelte sich dabei kaum um ein Thema, das ein namhafter Arzt in einer Fachzeitschrift abhandeln würde. Auf dem Weg zur Haustür fiel Garrick ein, daß er von draußen ein einsames Licht im Oberstock gesehen hatte. Er überlegte, ob er hinaufgehen sollte. Wenn Tom bloß schlief, hätte er Garricks Stimme und seine Schritte hören müssen. Wenn er aber besonders tief schlief, einen Drogenschlaf… Als Tom Seymours Freund mußte er sich Gewißheit verschaffen. Kein Arzt konnte als Morphinist auf Dauer seinen Beruf ausüben. Vom Treppenabsatz aus rief er noch einmal Dr. Toms Namen, ohne eine Antwort zu erwarten und zu bekommen. Er brauchte nicht Licht zu machen, denn das Licht drang durch die offene Tür am oberen Treppenabsatz. Dort mußte das Fenster sein, das er von draußen gesehen hatte. Rasch lief er die übrigen Stufen hinauf und betrat das Zimmer, das er für Dr. Toms Schlafzimmer hielt. Und diese Annahme bestätigte sich. Dr. Tom lag rücklings auf dem großen Bett, angekleidet bis auf die Schuhe, die Weste aufgeknöpft, das Studentenabzeichen an der Kette, das Gesicht grau, Mund verkniffen und blau, Fingernägel blau, die verkorkte Phiole mit Morphiumsulfat leer auf dem Nachttisch, die Injektionsnadel auf der Steppdecke neben einer Hand mit blau angelaufenen Nägeln. Mochte Martinsburg einem unerklärlichen Zusammenbruch zutreiben, mochte Garrick hilflos zusehen müssen, wie Melody sich zu Tode hungerte, dies hier war anders. Hier war etwas, das man geradebiegen konnte, etwas, das er für seinen Freund gutmachen mußte. Ihm war, als hätte der Tod Dr. Toms das
Treibenlassen und Abgleiten angehalten und ihm etwas gegeben, dem er gewachsen war und das nicht nur rational, sondern auch moralisch sinnvoll war. Er sah den Toten an, und das Entsetzen ließ nach. Die Trauer würde erst später kommen. Erst mußte er einiges erledigen. Und einiges mußte er unterlassen. Beispielsweise einen Anruf. Er sah die Schlagzeile vor sich, die er nie schreiben würde. Eine selbst verabreichte Dosis Morphiumsulfat machte gestern dem Leben von Dr. Tom Seymour ein Ende… Selbstmord? Unfall? Nein, ein natürlicher Tod. Die Haushälterin würde morgen früh den Toten finden. Als Todesursache würde man Herzversagen feststellen. Eine Autopsie? Dr. Tom besaß in der Stadt keine Angehörigen. Er besaß überhaupt keine. Garrick selbst, als Herausgeber der Zeitung und Dr. Toms enger Freund, würde nach der Polizei als nächster verständigt werden. Eine Autopsie würde nicht stattfinden. Garrick wußte, daß er sie Ned Revere würde ausreden können. Auch Ned hatte Dr. Tom gemocht und würde sich vernünftig verhalten, vorausgesetzt, die Beweise für das, was wirklich geschehen war, würden beseitigt. Garrick nahm die leere Phiole und die Injektionsspritze an sich. Er ging hinunter in die Bibliothek und riß das oberste Blatt des Blocks ab. Er brauchte es, weil er sich einen Reim darauf machen wollte – zwei Rubriken hingekritzelt, Toms Testament.
Garrick ging gemächlich die Conant Street entlang. Es war kalt und viel dunkler als sonst. Die Straßenbeleuchtung war nicht intakt, denn die Glühbirnen waren durch Steinwürfe oder
Schüsse aus Luftgewehren zerstört worden. Ein neuer Sport der Halbwüchsigen, wie das Reifenaufschlitzen. In der Nähe der Gemeindewiese kam ihm eine Gruppe von Männern entgegen. Er ging weiter und kämpfte nun selbst gegen die in der Stadt endemisch auftretende Angst an. Dann sah er, daß die Männer Baseballschläger bei sich hatten. Sie waren zu sechst und verteilten sich. »Was treiben Sie hier draußen zu dieser Zeit?« »Wer sind Sie, Mister?« Ehe er antworten konnte, rief einer: »He, gebt acht, das ist Mr. Garrick von der Zeitung, ‘n Abend, Mr. Garrick.« Garrick billigte dieses Vorgehen nicht. Er wußte, daß die Männer im guten Glauben handelten, doch war es nur ein kleiner Schritt vom »Für-Ruhe-Sorgen« zum »Gesetz-in-dieeigenen-Hände-Nehmen«. »Viel zu tun heute nacht?« fragte er. »Keine Spur. Richtig öde.« »Warum geht ihr nicht ins Bett?« Derjenige, der ihn erkannt hatte, sagte: »Wir ertappten ein paar junge Spaghettis beim Lichterausschlagen. Denen haben wir einen schönen Schrecken eingejagt.« Garrick sah reihum befriedigtes Nicken. »Wie denn?« fragte er. »Wir haben ihnen die Hintern mit dem Schläger versohlt.« »Holt nächstes Mal lieber die Polizei«, sagte Garrick noch immer ganz ruhig. Da sagten zwei wie aus einem Munde: »Wir haben zu wenig Polizisten.« »Man muß ihnen eine Lehre erteilen.« Garrick sagte nichts mehr. Es stimmte, daß die Polizei unter diesen Umständen nicht ausreichte, doch eine Gruppe selbsternannter Gesetzeshüter konnte mehr Probleme schaffen als lösen. Er mußte ein ernstes Wort mit Ned Revere sprechen.
Es sah ganz so aus, als würde er morgen viel mit Ned zusammen sein. »Sie sind auf dem Heimweg, Mr. Garrick?« Garrick bejahte. »Wenn Sie wollen, begleiten wir Sie.« »Nicht nötig.« Als sie außer Sicht waren, ging er den Randstein entlang und suchte einen Kanaldeckel. Dort ließ er Phiole und Spritze hineinfallen. Er richtete sich auf und wollte die Straße überqueren. Da bog ein Wagen mit quietschenden Reifen um die Ecke. Garrick hatte die Straßenmitte erreicht, hinter sich den Gehsteig, vor sich Rasen und Bäume der Gemeindewiese. Der Wagen kam mit seinen tastenden Scheinwerfern auf ihn zu, hielt ihn fest. Garrick beschleunigte den Schritt und dachte: Dieser Narr muß mich doch sehen können. Gleich darauf rannte er um sein Leben. Im letzten Moment wurde der Wagen abgebremst. Es war eine Notbremsung, die Reifen ansengte und den Wagen nach links ausbrechen ließ. Er blieb so knapp vor Garrick stehen, daß der den Kühler anfassen konnte. Er ging an die Tür und riß sie auf. »Gottverfluchte Raserei!« schimpfte er und erkannte Ned Revere hinter dem Steuer. »Rob, du lieber Gott! Ich hätte dich überfahren können!« Garrick sah, wie Neds große Hände das Lenkrad krampfhaft umklammert hielten. »Du läufst mitten in der Nacht einfach so herum«, sagte Ned nach einer Weile kopfschüttelnd. »Da müßtest du hellere Sachen anziehen. Als ich dich sah, war es fast zu spät.« Das konnte Garrick nicht glauben. Die Scheinwerfer waren direkt auf ihn gerichtet gewesen, hatten ihn geblendet. Aber
die andere Alternative konnte er auch nicht glauben – daß nämlich Ned Revere ihn hatte überfahren wollen. »Verdammt mühsamer Tag«, sagte der Polizeichef. »Vielleicht war ich sekundenlang eingenickt. Soll ich dich heimfahren?« Garrick lehnte ab, wie er vorhin die Begleitung abgelehnt hatte. Er mußte mit Ned reden, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Er sah dem davonfahrenden Wagen nach und ging den Rest der Strecke nach Hause. Noch ehe er den Schlüssel ins Schlüsselloch stecken konnte, hatte Eve die Tür aufgerissen. »Rob«, sagte sie und fiel ihm um den Hals. »Gottlob, daß du da bist!«
20
Garrick machte Kaffee, während Eve alles berichtete. Sie war blaß, ihre Stimme leise, und die Worte überstürzten sich so, als wolle sie sie loswerden, ehe sie womöglich ihre Absicht änderte. Garrick hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen, bis sie sagte: »Und dann wurde er von etwas getroffen oder in den Sessel zurückgedrückt, etwas trat ihn gegen die Schulter und…« »Was meinst du damit?« »Er knöpfte sein Hemd auf… und… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es klingt verrückt, aber ich habe es gesehen! Ein großer Abdruck an der Schulter.« »Ist es möglich, daß er sich vorher verletzt hatte?« Eve schüttelte den Kopf. »Nein. Ich sagte doch, ich sah mit eigenen Augen, wie sich der Abdruck veränderte. Erst war er schwach, dann ein greller roter Fleck und dann ganz schwarz und blau… O Gott, Rob, was ist da im Gange?« »Wo ist Dahlgren jetzt?« »Er saß einfach da und starrte durch mich hindurch. Ich sagte etwas. Was, weiß ich nicht mehr. Er hörte mich nicht. Ich faßte nach seinem Arm. Er war steif wie Holz.« Eves Hand zitterte, als sie Garrick ihre Tasse reichte. »Dann stand er auf und griff mich an.« »Er wollte dich schlagen?« »Nein, er wollte mich vergewaltigen.« Eve holte zitternd Luft. »Er war nicht bloß ein bißchen zudringlich, weil er zuviel getrunken hatte. Nein, das ist. Er griff mich an und warf mich aufs Sofa. Dann sah er mich an wie… inzwischen hatte er meinen Rock runtergestreift, und es war, als sähe er mich zum
ersten Mal. Als wäre ich eben in den Raum gekommen. Er trat zurück und rieb sich den Abdruck an der Schulter. Dann sagte er etwas Komisches: ›Du bist nicht die Richtige. Du bist nicht Dominique.‹Ja, ich glaube, das sagte er. Dann lief er hinaus. Ich weiß gar nicht, wo er ist. Ich weiß nur, daß ihn etwas getroffen hat und daß er wild wurde. Es war etwas mit uns im Zimmer, etwas…« Garrick wußte, daß Charlie schon länger auf einen Nervenzusammenbruch zusteuerte. Und heute war es offenbar zum Äußersten gekommen. Aber der Abdruck an der Schulter? Er hörte, wie Eve sagte: »Es war nicht nur irgendein Abdruck. Es war wie ein Brandzeichen.« Garrick verstand zunächst nicht, was sie meinte. * »Ich will damit sagen, daß es eine bestimmte Form hatte. Als wäre es ihm aufgedrückt worden. Es sah aus wie ein Kleeblatt.« »Ein was?« »Ein Kleeblatt. Dreiblättrig.« Eve sah Garrick trotzig an. »Na, sag schon, daß du mich für verrückt hältst.« Garrick faßte nach ihrer Hand. »Immer mit der Ruhe. Es muß dafür eine Erklärung geben. Wir werden Dahlgren finden und…« Er hielt inne. »Was sagtest du eben? Die Form des Abdruckes?« »Wie ein dreiblättriges Kleeblatt.« Oder wie ein Kreuz im Kartenspiel, dachte Garrick. Wortlos zog er das gelbe Blatt Papier aus der Tasche, strich es glatt und legte es vor Eve auf den Tisch. Sie las es ganz langsam. »Wer hat das geschrieben?« »Tom Seymour. Kurz vor seinem Tod.« »Kurz vor – ist er denn tot?« Garrick erzählte ihr, was sich ereignet hatte und was er getan hatte.
Wieder starrte Eve auf das Blatt Papier. »Rob, ich fürchte mich. Noch nie im Leben hatte ich so große Angst.« Erst als Garrick wieder Kaffee aufgesetzt hatte, war Eve ruhiger geworden. »Psychischer Angriff«, sagte sie. »Das ist doch kein Begriff aus der Schulmedizin?« Garrick schüttelte den Kopf. »Das ist Schwarze Magie – wie Voodoo. Man macht ein Abbild dessen, den man töten will, steckt eine Nadel hinein und ruft sämtliche Dämonen an, die man kennt.« »Das machen die Medizinmänner auf Haiti«, sagte Eve ungeduldig. Sie hatten die Rollen vertauscht, schien es. »Tom Seymour war der nüchternste Mensch, den ich kannte, und er gelangte zu diesem Schluß. Oder zumindest glaubte er, diese Möglichkeit in Betracht ziehen zu müssen.« »Und er starb.« »Und Matt Hawley starb«, sagte Garrick und sah Eve an. »Alles, was sich in den letzten zehn Tagen ereignet hat, ist als Einzelfall genommen nicht so außergewöhnlich. Unheimlich wird es nur, wenn man alles zu einem Zeitpunkt an einem Ort aufhäuft. Auch Dahlgrens Abdruck ist etwas anderes, etwas völlig außer der Welt der Möglichkeiten Stehendes.« »Aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« »Ich bestreite es nicht. Und da ist noch etwas. Ich habe dir gesagt, was Matt Hawley vor dem Unfall gesehen hatte. Aber ich habe dir nicht erzählt, was ich gesehen habe – tiefe Spuren, die von Wagenrädern stammen könnten.« »Möglich, aber…« »Und wie ist das Bild dorthin gekommen? In der Sendung aus Bourg St. Martin war es nicht enthalten. Es tauchte erst auf, als die Jugend draußen nach Münzen suchte.« Eve wollte ihn unterbrechen, doch Garrick fuhr fort: »Und was dann?
Dann brachten wir das Bild hierher. Und am nächsten Morgen war Melodys Hinken verschwunden. Und auch ihre Eßlust.« Garrick hielt inne. »Alle Veränderungen fingen gleichzeitig an. Melody änderte sich. Die ganze Stadt machte eine Veränderung durch. Und das Bild auch. Erst war es der verblaßte Fleck an der Mauer. Dann das Gesicht des Heiligen. Es ist, als würde das, was die Stadt befallen hat, auch das Bild befallen.« Garrick warf wieder einen Blick auf Dr. Toms Notizen. »Auf seinem Schreibtisch lagen einschlägige Bücher. Er hat sich mit den psychiatrischen Fällen der letzten Zeit befaßt. Und er hatte so eine Ahnung, daß sie nur die Spitze des Eisberges bildeten.« »Du meinst, daß viele Menschen sich nicht im Krankenhaus meldeten? Diese Idee hat mich den ganzen Tag verfolgt.« »Tom war wohl zu der Ansicht gelangt«, sagte Garrick langsam, »daß die Möglichkeit eines… nun, parapsychischen Angriffs auf die ganze Stadt bestünde.« »Auf Martinsburg? Wer sollte wohl Martinsburg mit einem Fluch belegen – wenn man davon ausgeht, daß es überhaupt möglich wäre. Aber, Rob!« »Wußtest du, daß Columbine sich für Schwarze Magie interessierte?« Garrick wiederholte, was Margriet ihm erzählt hatte. »Jean-Baptiste Columbine ist vor fast dreihundert Jahren in Frankreich gestorben. Du glaubst doch nicht etwa an Gespenster?« Garrick hatte jenen Punkt hinter sich gelassen, an dem er noch wußte, was er glaubte. »Und seine Bilder? Die sind hier.« Er stand auf. »Eve, es macht mir Angst. Ich möchte es loswerden.« »Melodys Bild?« Er ging ins Wohnzimmer, gefolgt von Eve. Garrick starrte das dunkle Bild an – das Gewitter, das im Hintergrund
dräuende Städtchen, den Sieur de Ramezay als heiligen Martin im Kostüm des siebzehnten Jahrhunderts, wie er sich aus dem Sattel beugte und seinen Mantel mit einem Bettelmann teilte. Plötzlich holte Garrick sich einen Stuhl, stieg hinauf, hob das Bild vom Haken und trug es zum niedrigen Sofatisch. Nun sah der Sieur de Ramezay zu ihnen auf. Der arrogante Zug war verschwunden. Die Augen blickten groß, der Mund teilte sich in einer Parodie des Schreckens. Der Bettler hatte sich verändert. War er jünger, knabenhafter geworden? Fast mädchenhaft, dachte Garrick bei sich. Und dann stieß Eve einen gedämpften Schrei aus. »Sieh mal – da ist die dritte verblaßte Stelle!« Garrick sah es sofort. Ganz schwach, aber unleugbar vorhanden – ein Verschwimmen und Hellerwerden des Farbstoffes an der Kirchenmauer, eine Andeutung von hellem Rot hinter den lehmfarbigen Wänden. Garrick studierte den zweiten verblaßten Fleck. Die Farbstoffe schienen ihm heller als vorher. Das Fenster eines Hauses im ersten Stock. Fast konnte Garrick ins Innere blicken. Er erfaßte die Andeutung eines Bildes unter dem Bild, gefangen in der Finsternis des Gewitters, im einzigen Sonnenstrahl. Er ging in sein Arbeitszimmer und holte ein Vergrößerungsglas. Damit konnte er unter dem verblaßten Fenster nichts sehen. Er rückte mit dem Glas weiter und besah nun den ersten verblaßten Fleck, neben dem Stadttor. Und da war etwas darunter. Das war nicht nur die Wirkung der Lupe. Er wußte, daß die Farbstoffe weiter verblaßt waren. Er sah eine steile Steintreppe. Vier winzige Gestalten schritten herunter und trugen etwas.
Die Figuren waren bis ins kleinste Detail ausgeführt, das konnte man trotz der Übermalung sehen. Und ihre Last war schwer. War es ein Sack? Und plötzlich sprang die Erkenntnis Garrick geradezu an. Er wußte nun, was da über die Treppe geschleppt wurde. Sie schleppten einen Leichnam. Vor seinen Augen blitzte eine Szene auf. Er stand mit Ned Revere im Redaktionsgebäude. War der Anruf nicht an jenem Abend gekommen, als er die erste Veränderung an dem Bild bemerkt hatte? Er hatte mit Eve gesprochen – worüber? Er wußte es nicht mehr. Reveres Anruf hatte ihre Unterhaltung unterbrochen, und er war gerade noch rechtzeitig gekommen, um zu sehen, wie man Matt Hawley fortschaffte – in einem Sack. Und das zweite Pentimento, das Fenster? Was wartete hinter dem Fenster? Er brachte die Lupe in Position, sah, wie die untergehende Sonne sich im Bleiglas spiegelte, und im Inneren stand plötzlich ganz deutlich ein Himmelbett, und auf dem Bett lag eine menschliche Gestalt. Er warf die Lupe weg und hörte Eve rufen: »Was ist denn?« Später wußte er nicht mehr, daß er den Feuerhaken holte und ihn gegen das Bild schwang. Dann hörte er Schritte, und Melody war da, jämmerlich dünn in ihrem überweiten Flanellpyjama. Sie warf sich zwischen ihn und das Bild. »Daddy! Nein! Was machst du da?« Melody weinte, mit verzerrtem Gesicht. Sie stand zwischen ihm und der in Dr. Toms Handschrift verfaßten Warnung. Melody Garrick. Schließlicher Tod. Er sah das Entsetzen in ihrem abgezehrten Gesicht. Er konnte es nicht.
Denn wenn er es tat, dann vernichtete er nicht das Böse, sondern gestand seine eigene Unzurechnungsfähigkeit ein. Schließlich war es doch nur ein Bild!
Melody lag still in ihrem Bett. Es war ganz still und dunkel in ihrem Zimmer. Sie hatte nicht geschlafen. Wie hätte sie schlafen können? Ihr eigener Vater! Der einzige Mensch auf der Welt, dem sie vertraute, den sie liebte. Und wenn sie nicht Eves Ausruf gehört hätte, nicht hinuntergelaufen wäre… Warum hatte er das Bild zerstören wollen? Warum haßte er sie? Er mußte sie hassen, wenn er so etwas tun wollte. Er gab ihr die Schuld am Tod ihrer Mutter, ja, das war es, mußte es sein. Er hatte sie ins Internat gesteckt, sie ignoriert, getan, als gäbe es sie nicht, und dann wieder getan, als stünde alles bestens zwischen ihnen. Er hatte ihr falsches Vertrauen eingeflößt, damit er ihr dann ganz überraschend das einzige wegnehmen konnte, an dem ihr lag – das einzige Schöne in ihrem Leben. »Melody?« Er stand in der Tür. »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Ich werde versuchen, es dir zu erklären – später.« »Schon gut, Daddy.« Wenn er doch endlich gehen würde! »Sobald ich selbst eine Erklärung dafür gefunden habe«, fuhr er fort. »Kannst du mir verzeihen?« »Aber sicher. Ist schon gut.« Sie mußte das Bild in Sicherheit bringen. Margriet Kelly – die wollte es untersuchen, wollte beweisen, daß es keine Fälschung war. Margriet Kelly liebte das Bild fast so, wie sie es liebte. Margriet würde es beschützen.
»Daddy«, sagte sie. »Ich habe nachgedacht. Du hattest die ganze Zeit über recht. Morgen werde ich das Bild zu Margriet schaffen.« Er setzte sich auf die Bettkante. Und sie versuchte, ihre Abwehrhaltung zu verbergen, als er sie küßte. »Du hast richtig entschieden«, sagte er. »Das weiß ich, Daddy.« Und als er fort war, schloß sie die Tür und schlug das Büchlein auf. Von allen heiratsfähigen Mädchen im Dorf war es Maria, die älteste Tochter des Wagenmachers, nach der es Vater Vasili am meisten gelüstete. Schlank war sie, dunkelhäutig, mit langen, schwarzen Haaren, und dazu von heiterer Gemütsart. Manche hielten sie für einfältig, und wenn die völlige Hingabe an die Religion ihres Volkes ein Zeichen dafür war, dann war sie einfältig. Maria sang mit ihrem hohen, klaren Sopran unablässig ihre Gebete vor sich hin, und das Licht ihres Glaubens strahlte ihr aus den großen Augen. ›Male sie in deine Schwarze Messe‹, sagte Gaddara zu mir. ›Wie kann ich das? Ihr Vater wird es nicht zulassen.‹ ›Dann male sie aus dem Gedächtnis.‹ Langsam nahm die neue Ikone für die Kirche Gestalt an. Ich malte sie mit den selbstbereiteten Farbstoffen auf Holz und war dermaßen beglückt, daß meine Hand nicht das Malen verlernt hatte, daß das Malen selbst für mich wichtiger wurde als das Thema. Nicht daß ich etwas gegen die Schwarze Messe gehabt hätte. Die kümmerlichen Reste meines Glaubens waren längst abgestorben. Wenn die Kirche als solche Magie ist, eine Magie so wirksam wie die Gaddaras, wer könnte dann unterscheiden, was das Gute ist und was das Schlechte? Der magische Gebrauch der Sprache, das Aussprechen von Wörtern, die mit übernatürlichen Kräften befrachtet sind, die
Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandeln. Die Worte machen die Hostie heilig, weil sie von Christus beim letzten Abendmahl ausgesprochen wurden und weil sie von einem geweihten Priester ausgesprochen werden, der an die Stelle von Christus tritt. Und wenn der Priester sich nicht im Zustand der Gnade befand? Das zählte nicht. Der von Fleischeslust getriebene Vater Vasili, der sich in Sünde wälzte, sprach dieselben Worte aus und wurde damit Christus selbst. Sogar Judas Ischariot hätte als Priester die Messe lesen können, denn er hätte die Zauberworte gesprochen, nicht als er selbst, sondern in der Person Christi. Gut und Böse sind eine eingeringelte Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Und in gewisser Weise war ich zweimal geweiht worden. Hatte Vater Vasili mich nicht gesegnet, als er eine neue Ikone für seine Kirche bei mir bestellte? Hatte Gaddara mich nicht auf ihre Weise geweiht, indem sie bei Sonnenaufgang einen schwarzen Hahn schlachtete, ihm Zunge, Herz und Augen ausriß, sie fein zerstampfte und vergrub und sodann eine Totenmesse las, damit die Macht der Höllendämonen sich meiner Finger bemächtigte? Hatte sie nicht neunmal neun Namen großer Macht ausgesprochen? Hatte sie nicht aus gelbem Wachs ein Kreuz geformt und sodann darauf eingeschlagen, bis es die Form verlor, während sie die Glorreiche Jungfrau mit den unzüchtigsten Namen belegte und die Geburt ihres Sohnes aus ihrem reinen Leib in den Schmutz zog? In der Gotteslästerung liegt große Macht, und ein Kraftstrom fließt aus dem Sakrileg, wenn ein Wissender es begeht. Und das alles war in mir, als ich die Schwarze Messe malte.
Die Hostie als schwarzes Dreieck, den Kelch schwarz, schwarze Kerzen auf dem Altar, das rote Missale geschmückt mit einem schwarzen, silbergehörnten Ziegenbock, auf dem roten Meßgewand des Priesters das Bild einer nackten Frau in Schwarz, über dem Altar die Spottgestalt Christi, den Kopf nach unten, lachend in seiner Passion. Gaddara verbrannte für mich sogar den Weihrauh der Schwarzen Messe – Nachtschattengewächse, Bilsenkraut, Myrthe, Stechapfel. Der Priester auf dem Bild trug das aufgedunsene Gesicht von Vater Vasili. Auf dem Altar rekelte sich der nackte Körper einer Jungfrau. Sie trug das Gesicht Martas. Gaddara sah das Bild an. Es gefiel ihr. Wenn man das Böse nicht mit dem Guten anbetet, dann begreift man nicht die wahre Natur des Universums, denn das Wissen von Gut und Böse ist Zeichen des Göttlichen. Die Magier wissen das. Ungebildete Priester wie Vasili wissen es nicht. Hätte er das Böse begriffen, statt es innerlich zu verachten, dann hätte er die ihm zugemessene Zeit leben können. ›Ich verstehe weder das Gute noch das Böse‹, sprach ich. Gaddara lachte. ›Du wirst bald die Macht verstehen, die aus deiner Hand fließt. Bringe ihm die Ikone.‹ Aber zuerst mußte ich noch die Schwarze Messe mit jenem Bild verdecken, das Vater Vasili sehen wollte, einer Abbildung der Dornenkrone. Das ging ganz schnell. Die Qual in den Augen Christi, das Blut an seiner Stirn, die spottenden römischen Soldaten. Vater Vasili war begeistert von dem Bild und hängte es sofort an Ort und Stelle. Am gleichen Tag noch kam er zu Gaddaras Haus gelaufen, keuchend und schwitzend, mitfliegenden Röcken und zitterndem Bart.
Gaddara schenkte ihm Wein ein, und als er wieder zu Atem gekommen war und sprechen konnte, rief er aus: ›Ein Wunder! Ein Wunder ist geschehen!‹ So groß war seine Erregung, daß er ganz vergaß, daß er seit Monaten kein Wort mehr mit Gaddara gewechselt hatte und daß sie es eigentlich war, die Schuld war an seinem Sündenfall. ›Ist es ein gutes Wunder?‹ fragte Gaddara. Sie schien belustigt. ›Alle Wunder sind Gottes Werk, alle sind gut‹, sprach Vater Vasili mit Leidenschaft aus. ›Und was ist dieses Wunder?‹ ›Ich kann sehen. Mein blindes Auge kann sehen. Ich sah zu der Ikone auf, und plötzlich konnte ich mit beiden Augen sehen. Gottes Hand hat die Hand von Jean-Baptiste geführt.‹ Als er gegangen war, fragte ich Gaddara. ›Wie ist das möglich? Ich dachte, die Ikone würde ihn vernichten?‹ Gaddara lächelte ihr Katzenlächeln. Sogar ein Dummkopf wie Vater Vasili sollte wissen, daß man um so tiefer fällt, je höher man steigt. Soll der gaignon (wieder so ein Wort!) doch sein Glück hinausposaunen, solange er kann. (Vier Seiten fehlen. Und mit dem Einband stimmt etwas nicht.) … mit dem Leib seiner Tochter Marta auf den Armen führte er die Dörfler über den Platz vor die Kirche. Gaddara sagte mir, das Kind sei von Vater Vasili in einen Olivenhain hinter der ersten Hügelkette oberhalb des Dorfes gelockt worden. Daß sie davon wußte, wunderte mich nicht. Gaddara wußte alles, was sie wissen wollte. Es hatte sich folgendes ereignet: Vater Vasili machte sich den schlichten verzehrenden Glauben des Kindes zunutze, um es zu verführen. Er sagte, er
wolle sie in die Mysterien der Metropoliten im fernen Moskau einführen. Diese Worte machten sie hilflos, so daß er ihr die Kleider abstreifen und ihren Leib streicheln konnte, bis ihre geistige Erregung sich in eine körperliche verwandelte und sie vor ihm die Beine öffnete. Er war ragie (??) von Wein und Lust und sah erst nachher, in welche Gefahr er sich begeben hatte. Er sprach zu dem Kind: ›Die Herrlichkeiten, die ich heute mit dir teilte, sind für uns allein, verstehst du?‹ In ihrer Einfalt sagte Marta: ›Meiner Mutter darf ich es nicht sagen? Sie liebt die Kirche ebenso wie ich. Es würde sie so glücklich machen.‹ ›Deiner Mutter schon gar nicht.‹ ›Aber du weißt, welch gute Frau sie ist, du bist ihr Beichtvater. Sie singt ihre Gebete fünfzigmal am Tag.‹ ›Wenn du es jemandem sagst, ist es eine Todsünde.‹ ›Du hast immer gepredigt, daß das, was wir eben taten, eine Todsünde wäre.‹ Vater Vasili sagte nun, sie wäre zu jung, um das zu verstehen. ›Ach, ich bin nicht zu jung. Ich habe Widder und Schafe reluire gesehen.‹ ›Das ist etwas anderes. Das ist keine religiöse Ekstase.‹ ›Aber so bekommen sie Junge. Und so bekommen die Menschen Kinder.‹ Vater Vasili wurde nervös. ›Du bildest dir Dinge ein. Das haben wir nicht gemacht. Du bist ein dummes Kind. Es war falsch, daß ich dich in die heilige Lehre einführte.‹ ›Du hast mir weh getan‹, sagte Marta. ›Der Herr in seinem Leiden spürte Schmerz.‹ In Vater Vasilis verschwitzter Hand tauchte eine Goldmünze auf. Zitternd hielt er sie ihr hin. ›Wenn du versprichst, daß du vergißt, was wir getan, gebe ich dir dies.‹
(Schimmel an dieser Stelle.) ›… dein Geld. Ich will jetzt nach Hause.‹ (Wieder Schimmel.) …und er lief ihr nach und holte sie am Rande des Olivenhains ein. Wahrscheinlich hatte er sie nur erschrecken wollen, aber sie war ein zartes Kind. Er schlug sie einmal, und sie schrie auf, und er legte ihr von hinten die Hand über den Mund, während sie sich zu befreien versuchte. Noch immer gab sie Laute von sich, außer sich vor Angst, als sie ihm in die Hand biß. Dann warf er sie zu Boden und drückte das Knie gegen ihren schmalen Rücken, während er den Kopf zurückbog. Und ihr Nacken brach wie ein Zweiglein, und sie war tot. Ein Ziegenhirte hatte es gesehen. Er lief ins Dorf, und der Priester lief ihm nach, doch der Hirte war schneller. (Wieder Schimmel.) … in die Kirche, wo man die Tote auf den Altar legte. In jenem Teil Serbiens hatten die Leute schon oft Böses mit ihren Priestern erlebt, sagte Gaddara. Da die orthodoxen Priester heiraten mußten, hätte man dergleichen eigentlich nicht vermutet, doch in Wirklichkeit war es anders. Schon manch ein Priester hatte um sein Leben laufen müssen. Vater Vasili hatte nicht so viel Glück. Daß das ganze Dorf mit dem toten Kind in die Kirche einzog, mag seltsam erscheinen, und es erscheint mir auch so, während ich diese Worte niederschreibe. Aber ich habe ihre Gesichter gesehen, den Wahn in ihren Augen, und nachher fragte ich Gaddara danach. ›Es ist eine Ekstase wie jede andere religiöse Ekstase. Sie haben für dich die Schwarze Messe gefeiert.‹ ›Für mich?‹ ›Du hast sie dazu gebracht.‹ Ich folgte ihnen in die Kirche, sah zu, wie sie den Leichnam auf den Altar legten und die
Kerzen anzündeten. Keiner sprach ein Wort, nicht einmal der Stellmacher. Sie sammelten bündelweise Olivenholz und umgaben damit den Altar. Der Stellmacher setzte sie mit einer Fackel in Brand, und die Dörfler liefen hinaus. Ich blieb einige Augenblicke und sah noch, wie die Flammen den Leichnam auf dem Altar umzüngelten und umspielten. Und dann sah ich die Ikone. Das Antlitz Christi auf der Übermalung war zum Gesicht von Vater Vasili geworden, doch noch während ich es entsetzt anstarrte, verblaßte es und war verschwunden. Und durch die Übermalung hindurch sprang die Schwarze Messe. Die Kirche war wie alle größeren Gebäude aus Stein. Die Dorfbewohner wußten, daß das Feuer bald verlöschen würde, und harrten draußen auf dem Platz aus. Als der Rauch sich verzogen hatte, ging ich mit ihnen gemeinsam wieder hinein und roch verbranntes Fleisch. Das Feuer hatte den Leichnam des toten Mädchens nicht versengt, sogar ihr Haar war unversehrt. Über ihr lag, nackt wie sie, Vater Vasili. Die zwei Toten bildeten ein Kreuz. Sein Gesicht war kaum mehr zu erkennen. Es war schwarz verkohlt.
Der Reverend Miles Pritchard erwachte schweißgebadet, mit trockenem Mund und rasendem Herzklopfen. Barfuß tappte er ins Bad und trank zwei Glas Wasser. »Miles«, rief seine Frau. Die Leuchtzeiger der Uhr zeigten auf drei. Pritchard ging wieder zu Bett. »Ein Alptraum«, sagte er und faßte nach Janets Hand. »Ach, wirklich? Du träumst doch kaum mal etwas.«
»Kann mich meist an meine Träume gar nicht erinnern.« Pritchard unterdrückte ein Frösteln. »Aber den werde ich nicht vergessen.« »Möchtest du ihn mir erzählen?« »Es war… unheimlich, Janet.« »Dann nimm doch eine von deinen Tabletten und versuch zu schlafen.« »Möchte wissen, was Pater O’Reilly dazu sagen würde.« »Wenn du eine Schlaftablette nimmst?« »Wenn ich ihm erzähle, daß ich eine Schwarze Messe träumte.« »Eine Schwarze Messe? Ich bin gar nicht sicher, ob ich weiß, was das ist«, sagte Janet. »Ich wußte auch nicht, daß ich die Einzelheiten kannte. Aber vielleicht habe ich sie mir nur zusammengeträumt. Mein Unterbewußtsein. Na, ich stand da in einem roten Meßgewand, meinen Geburtstagsanzug darunter. In einer alten Steinkirche irgendwo. Ein schwarzer Kelch für den Wein, die Hostie ein schwarzes Dreieck, das Missale mit einer schwarzen Ziege bemalt. Und alles so echt, Janet.« »Sind das die Dinge, die ein Priester bei einer Schwarzen Messe benutzt?« »Keine Ahnung. Jedenfalls benutzte ich sie. Dazu schwarzer Altar, schwarze Kerzen und ein Kruzifix verkehrt herum. Und dann natürlich eine Jungfrau. Wie gesagt, meine Liebe, nur ein Traum.« Pritchard fühlte sich erleichtert. Rückblickend fand er die Sache fast erheiternd. »Die Jungfrau Maria?« »Nein, nur ein ganz gewöhnlicher, durchschnittlicher Typ von Jungfrau lag auf dem Altar.« »Du liebes bißchen!« sagte Janet.
»In der Tat«, sagte Pritchard. »Offenbar gehört es zur Schwarzen Messe, daß man, hm, den Körper der Jungfrau mit der Hostie entweiht. Oder umgekehrt.« »Diesen Teil kannst du getrost weglassen, mein Lieber«, äußerte Janet spitz. »Und was nun kommt, möchte ich am liebsten vergessen. Nach der Hostie, hm, da schien es mir, als ob ich an die Reihe kommen sollte bei der Jungfrau.« »Auch das laß lieber weg.« »Hübsches kleines Ding. Sehr… feurig.« »Miles!« »Nicht das war es, was ich vergessen wollte. Ich meine vielmehr das, was hernach kam. Als Reue-Reaktion sozusagen. Schön zu wissen, daß mein Unterbewußtsein mich mit einem solchen Traum nicht ungeschoren davonkommen läßt.« »Was ist passiert?« Pritchard spürte wieder Trockenheit im Mund und dazu beschleunigten Herzschlag. Der Traum wirkte nicht mehr erheiternd. »Die Kirche fing Feuer«, sagte er. »Ich konnte nicht raus. Ich spürte die Hitze, die Flammen. Ich sah, wie meine Hände verkohlten…« Sie drückte ihn an sich. »Miles, Miles, du zitterst ja am ganzen Leib.« Er konnte nichts dafür. Er roch verbranntes Fleisch und sah die Jungfrau, unversehrt von den Flammen, die ihn im Traum verzehrten.
Aus den Aufzeichnungen des Jean-Baptiste Columbine: Zwei Tage und zwei Nächte lang konnte ich nichts essen und nichts trinken, obwohl Gaddara mich mit süßem Wein und
saftigem Fleisch lockte. Einmal schnitt sie einen Granatapfel für mich auf, doch die Samenkörner schwammen in Blut. ›Warum wendest du dein Gesicht zur Wand, Jean-Baptiste? Du wußtest doch, was passieren würde.‹ ›Ich wußte nicht, daß das Kind sterben würde.‹ Mein Hunger bewirkte, daß mir schwindlig wurde und mein Sehvermögen nachließ. Am dritten durchlebte ich einen Traum, der so echt war, daß ich mich zurückversetzt fühlte nach Bourg St. Martin und wieder den Schrecken meiner letzten Stunden dort erlebte. Ich sah den Tod meines Weibes, mußte zusehen, wie die Dragoner meinem Kind Annique Gewalt antaten, lief mit ihr durch die Straßen zu dem Arzt, der uns nicht helfen wollte, und zum Priester Gavrillac, der mich verriet. Wieder lief ich im Traum zu meinem falschen Freund Ramezay, und wieder kostete es mich beinahe das Leben. Ich sah mit an, wie mein wahrer Freund Revoire starb, und floh zum Stadttor, doch der Wächter wollte mir nicht öffnen. Ich sah das Gesicht Ramezays und sein blondes, hinkendes Kind, das am Leben blieb und nun schon eine Frau war, während meine Annique lange tot war. Und alles erschien mir wirklicher als beim ersten Mal. Mariole! rief ich aus, und Gaddara versuchte mich zu trösten. Ich brauchte keinen Trost. Ich wußte, was ich tun würde, und dieses Wissen erfüllte mich so, daß daneben für nichts mehr Raum war. Am nächsten Morgen sagte Gaddara: ›Tita und die Zigeuner sind wieder da.‹ (Eine Dreiviertelseite fehlt. ) ›… dann nimm diese drei Bücher‹, sagte Gaddara, ›wenn du wirklich so töricht bist und gehen willst.‹ Sie war wütend mit mir. ›Warum sollte ich nicht gehen?‹
›Gut und Böse sind ein Rad, das sich dreht. Sie sind eins und nicht voneinander getrennt. Ein Magier kann sein ganzes Leben darauf verwenden, das Rad zu begreifen. Unvollständiges Wissen ist schlimmer als gar kein Wissen. Ich weiß, was du erreichen willst, aber du bist noch nicht reif‹ ›Ich bin bereit‹, sagte ich. ›Das glaubst du nur. Ich kannte einen Kenner der Schwarzen Künste, der jenen Mann mit einem Fluch belegte, der ihm seine Frau weggenommen hatte. Dieser Mann war sein Bruder, und der Magier konnte nicht mehr als du. Der Fluch hatte katastrophale Folgen. Für ihn selbst.‹ Die Zigeuner warteten. Trotz meiner Begierde, bald aufzubrechen, war ich neugierig. ›Was geschah?‹ ›Der Fluch traf statt dessen ihrer beider Vater und tötete ihn, noch ehe beide gezeugt wurden.‹ Ich wußte nicht ein noch aus. ›Sagtest du nicht, daß du ihn kanntest?‹ ›Ich kannte ihn, ehe der Fluch den Falschen traf. Nachher kannte ich ihn nicht mehr.‹ ›Unmöglich‹, sagte ich, aber Gaddara schüttelte den Kopf und sah mich mitleidig an. ›Jean-Baptiste, du hast das Rad von Gut und Böse noch nicht gemeistert. Und du beherrschst noch nicht Raum und Zeit, und wer das nicht kann, riskiert, von Raum und Zeit beherrscht zu werden. Nimm diese Bücher. Vielleicht werden sie dir eine Hilfe sein.‹ ›Welche Bücher sind es?‹ ›Die drei großen grimoires. Das zweite ist auf lateinisch verfaßt. Das Grimoire des Honorius‹, sagte sie mir. Und dann gab sie mir wortlos das dritte Buch. In schwarzes Leder gebundener Titel in Rot: Das Schwarze Huhn. Ich
schlug es auf um sah sofort den Irrtum auf der Titelseite. Das Erscheinungsjahr war MDCCLX. ›Soll das ein Scherz sein?‹ fragte ich. ›Ich versichere dir, daß es kein Scherz ist.‹ Ich lachte verlegen. ›Im Jahre 1760 werde ich längst tot und begraben sein. Wenn das Datum kein Irrtum ist, dann ist dieses Buch noch gar nicht geschrieben.‹ ›Natürlich nicht, Jean-Baptiste. Man könnte sagen, daß ich große Entfernungen zurückgelegt habe, um es zu bekommen.‹ ›Das ist ebenso unmöglich, wie der Mann, dessen Vater… Du willst mich nur in Verwirrung stürzen.‹ ›Verwirrung ist der Zustand der Welt. Ein fähiger Magier stellt wie Gott die Ordnung wieder her. Ein unfähiger schafft Chaos. Bleib noch ein paar Jahre, Jean-Baptiste. Ich werde dich noch mehr lehren.‹ Aber Tita und die Zigeuner warteten, und ich wußte, was ich zu tun hatte.
Janet schlief, auf die Seite gedreht, das Gesicht ihm zugewendet. Ihre Hüfte bildete einen runden Hügel unter der Decke. Er rückte unruhig hin und her, und auch sie bewegte sich. Ihr Atem kam nun flacher, weniger regelmäßig. Er lag still, um sie nicht zu wecken. Warum sollte sie eine schlaflose Nacht haben, nur weil er an Alpträumen litt? Und bei ihm war es nicht der erste Anfall von Schlaflosigkeit. Janet schlief immer wie ein Baby. Und dabei sah er sie immer an und liebte sie und ärgerte sich gleichzeitig über sie. So wie auch jetzt. Halb sieben, und draußen regnete es. Er hätte schon früher ein Nembutal nehmen sollen. Ein paar Stunden wie betäubt schlafen. Zu spät. Er würde den ganzen Tag über mürrisch und unausstehlich sein. Deswegen lag er da,
rührte sich nicht, wollte Janet nicht im Schlaf stören, dachte an die Jungfrau im Traum, auf dem Altar liegend: langes, blondes Haar hing lose herunter, die Beine gespreizt, um die Hostie zu entweihen oder von ihr entweiht zu werden, gewiß aber nicht, um von ihm entweiht zu werden. Die Jungfrau im Traum war Melody Garrick gewesen. Davon hatte er Janet nichts gesagt. Er hatte schon früher von ihr geträumt, zweimal, nein dreimal – in den letzten zwei Wochen. Davon hatte er Janet auch nichts gesagt. Rob auch nicht. Niemandem. Für einen Katholiken war es sicher einfacher. Für die war alles einfacher. Eine kleine Buße, und man konnte die Sünde vergessen. Sechzehn Jahre, du lieber Himmel. Und da träumte man nun von ihr wie ein schmutziger alter Mann und wachte mitten in der Nacht erregt auf. Und diesmal hatte er sich eine Strafe auferlegt. Eine Opferung in einem Alptraum! Jetzt werde ich wieder richtig schläfrig, dachte er. Das machen die tiefen Gedanken… so schläfrig. Und dann kam wieder der Traum, die Schwarze Messe, mit schwarzer Hostie und Jungfrau, die Dorfbewohner, die sich draußen zusammenrotteten… Schlafrock, Pantoffel. Janet war nicht aufgewacht. Er selbst schlief und wandelte im Schlaf. Ich kenne mich im Haus aus, finde auch im Schlaf hindurch, ohne anzuecken. Die Treppe runter, die Tür, die aus der Küche in die Garage führt. Muß nicht mal ins Freie. Sehr gut. Es regnet noch immer, hörst du? Der Benzinkanister ist schwer, aber es ist ja nicht weit. Zurück durch die Küche, die Bibliothek, durch die Tür ins Amtszimmer und in die Kirche, und die Flammen hüllen sie ein, verbrennen sie aber nicht, das Gesicht sieht dich an, das Gesicht von Melody Garrick, aber natürlich ist der Altar leer. Einsame Schritte über den Steinboden, Kälte durch die dünnen Sohlen der Pantoffel, und jetzt kommen die Leute aus dem
Dorf mit Augen wie Glas, lautlos, geisterhafte Kommunikanten einer Schwarzen Messe, in der Christus verspottet wird und der Priester stirbt. Du wirst es nicht tun. Es ist nur ein Traum. Ja, ein Alptraum, und du liegst im Bett, und in einer Stunde gibt es frischen Orangensaft. Du preßt ihn selbst aus, während Janet im Morgenrock Eier und Schinken brät für das Frühstück, das du nie verzehren wirst, weil du nicht im Bett liegst, sondern zum zweiten und sicherlich letzten Mal im Leben schlafwandelst. Einen Augenblick lang war er fast ganz wach, und es schrie in seinem Inneren. Nein, hör auf, tu es nicht, warum tust du es? Du wirst schweißgebadet im Bett sitzen, und Janet wird sagen, es ist ein böser Traum. Aber im nächsten Augenblick war er nicht mehr wach, bis auf die Sekunde, als er das Benzin roch, als er den Verschluß aufschraubte, sich mit dem Zeug begoß und sich vor den Altar stellte und ruhig und mit sparsamer Bewegung ein Zündholz anstrich.
21
Garrick wurde durch den gegen die Scheiben prasselnden Regen geweckt. Viel hatte er nicht geschlafen. Nun, es würde wieder einer dieser mühsamen Tage werden. Er mußte damit fertig werden, mit viel nervöser Energie und viel zu vielen Tassen Kaffee. Er stellte die elektrische Kaffeemaschine ein, rasierte sich, zog sich an und sah kurz bei Melody vorbei. Sie schlief, die Faust an die Wange gedrückt wie ein Baby. Unten stand Eve am Herd und quirlte Eier. »Schon auf?« fragte er. »Gut geschlafen?« Sie drehte sich um und erwartete seinen Kuß. »Wie eine Tote.« Sie sah sehr jung aus mit ihrem sommersprossigen Gesicht und den Kupferhaaren. »Und im hellen Licht des Tages…« setzte sie fort. »Du meinst das Geschwafel über die psychische Attacke?« »Kommt mir jetzt reichlich albern vor. Es muß doch eine andere Erklärung dafür geben.« Er sagte nichts darauf. »Oder etwa nicht?« »Nun, ich werde es nicht als heutige Schlagzeile bringen, wenn es das ist, was du meinst.« »Du hältst das alles immer noch für möglich?« »Wie du gesagt hast – bei hellem Tageslicht… Ich weiß gar nicht mehr, was ich glaube. Sag mir, daß das Bild sich nicht verändert hat.« »Doch, es hat sich verändert.« Eve häufte Rührei auf einen warmen Teller und goß Kaffee ein. »Und du hast den Abdruck auf Dahlgrens Schulter gesehen?«
»Ja.« Eves Blässe ließ die Sommersprossen stärker hervortreten. »Ich will nicht daran denken. Es macht mir Angst.« Soviel zum hellen Tageslicht, dachte Garrick. Er sagte: »Du kannst das Übernatürliche nicht einfach hinnehmen. Es richtet sich gegen alles, was du je gelernt hast, richtet sich gegen fünfhundert Jahre westliche Zivilisation. Aber was ist das Übernatürliche denn anderes als etwas, das mit unseren Vorstellungen vom Natürlichen nicht übereinstimmt? Während des Krieges trafen wir in Neuguinea auf Eingeborene, die noch in der Steinzeit lebten und nie ein Flugzeug gesehen hatten. Und dann kamen wir, legten mit dem Bulldozer einen Flugplatz an und führten Zauberdinge wie Gewehre und Radios, Uhren, Jeeps und Kühlschränke ein. Nach dem Krieg trugen wir das alles wieder weg, und die Eingeborenen machten sich eine Religion zurecht. Sie bauten sich aus Holz ein Gebilde, das aussah wie ein Flugzeug. Das stellten sie auf den verlassenen Flugplatz und beteten es an. Sie glaubten wohl, wenn sie inbrünstig beteten, würden die Götter wiederkommen. In einer Frachtmaschine.« Eve schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dasselbe, Rob. Diese Eingeborenen wollten einen Schritt nach vorne tun. Wenn man aber Dinge hinnimmt wie Verwünschungen oder Astralglocken oder Bilder, die… die sündig sind, dann ist das kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt bis zurück in die Steinzeit, als Götter Blitze schleuderten und in jedem Baum und Fels ein Dämon wohnte.« »Vielleicht führt es eben dorthin, wohin die Beweise führen«, sagte Garrick. »Beweise wofür, Daddy?« Melody stand fertig angezogen in der Tür. »Nichts, mein Kind. Wir haben uns nur unterhalten.«
»Ist es noch zu früh, um das Gemälde zu Miß Kelly zu schaffen?« »Die kommt erst um neun«, erklärte Garrick, erleichtert, daß sie ihre Absicht nicht geändert hatte. »Ich muß mich mit Ned Revere treffen. Eve wird dich hinfahren, ja? Möchtest du Rührei?« Melody trat an den Tisch und nahm gehorsam eine Gabel voll vom Teller. Sie trank mit einem Glas Wasser nach, wie nach einer Medizin. »Kommst du ins Zeughaus nach?« fragte sie Garrick. »Ich werde es versuchen.« »Dann sage ich Miß Kelly Bescheid.«
»Rob, du bringst mich da in eine ganz lausige Situation.« Ned Revere kratzte sich am Nacken und wartete, daß Garrick etwas sagte. Erstaunt fragte Garrick: »Was hättest du denn an meiner Stelle getan? Es tut doch niemandem weh, Ned.« »Wenn du es mir nicht gesagt hättest. Jetzt tut es weh. Was immer ich jetzt tue, wird falsch sein. Verdammt, ich bin schließlich Polizist. Wie konntest du nur annehmen, ich würde dir beim Vertuschen eines…« »Selbstmordes?« unterbrach Garrick ihn. »Wir sprechen von der Möglichkeit eines Selbstmordes, nicht von Mord. Und es ist nur eine Möglichkeit. Es hätte ja auch ein Unfall, eine irrtümlich eingenommene Überdosis sein können. Wem tut es denn weh, wenn Herzversagen im Totenschein steht?« »Du hast das Zeug einfach weggeworfen. Schön und gut, das kann ich ja noch irgendwie verstehen. Aber warum mußtest du mir das alles erzählen?« »Weil ich kein Arzt bin. Im Falle einer Autopsie hätte man ja Spuren von Morphium finden können. Ich mußte es dir sagen.«
»Also noch ein Stück, das man mir aufhalst, während die ganze gottverdammte Stadt in Stücke fällt«, knurrte Revere. »Ned, er war schließlich auch dein Freund«, sagte Garrick und versuchte, seinen eigenen Zorn angesichts von Reveres Gemütslage zuzügeln. »Du wolltest mir die Sache aufhalsen und zusehen, wie ich mich drehe und winde. Gib’s doch zu!« Reveres Gesicht war gerötet, seine Stimme heiser, seine Einschätzung von Garricks Beweggründen geradezu schwachsinnig. Er sah nicht mehr aus wie Ned Revere und klang auch nicht danach. »Die Anzeige geht heute in die Zeitung. Tod nach Herzversagen. Du kannst machen, was du willst, Ned«, sagte Garrick langsam. »Aber wenn du Tom Seymours Grab mit Dreck bewirfst, dann wird es dich dein Dienstabzeichen kosten.« In dem Augenblick, als Revere sich blitzartig umdrehte, dachte Garrick noch: Was war denn das? Warum mußte ich das sagen? Er hatte nichts dergleichen sagen wollen. Man bedroht einen Freund nicht auf so schäbige Weise, gleichgültig was er gesagt haben mag. Die Worte waren ihm einfach so herausgerutscht. Garrick fing den Hieb mit dem Unterarm ab und stieß den Polizeichef weg. »Ned, wir beide zügeln wohl besser unser Temperament.« »Zügeln, Scheiße. Wenn du von nun an hier reinkommen möchtest, dann melde dich gefälligst eine Woche vorher an. Und jetzt nichts wie raus.«
Monsieur Taitbout kam langsam die Stufen vor dem Zeughaus herunter, einen gewaltigen schwarzen Schirm mit beiden Händen festhaltend, damit ihm der Wind das Ding nicht entführte. »Ich bin auf dem Weg zur Redaktion. Ich wollte Sie sprechen!« rief er Garrick zu, der ihm entgegenkam. Als Garrick auf die Tür hinter ihm deutete, schüttelte der kleine Franzose mit Nachdruck den Kopf. »Nicht, solange dieses Frauenzimmer da drinnen ist. Deswegen wollte ich ja zu Ihnen. Ich habe meinen Flug nach Paris schon gebucht.« Da erfaßte ein plötzlicher Windstoß den Schirm. Monsieur Taitbout tat einen Satz treppabwärts, und Garrick faßte nach seinem Arm. Die Brillengläser des Franzosen waren angelaufen, so daß er wie blind in den strömenden Regen starrte. »Ist Melody schon da?« »Ihre Tochter und diese lächerliche Fälschung eines Columbine-Gemäldes, ja. Und diese Kelly behauptet, es wäre echt, wenn doch schon ein Student im ersten Semester erkennen müßte, daß es unmöglich ist. Der reinste Hohn. Sie macht unseren Beruf zum Gespött.« Garrick kam eben von der Polizeizentrale, und Taitbouts Aufregung kam der seinen gleich. Er wies mit einer Kopfbewegung zu Nicks Lokal hinüber. »Erzählen Sie mir das alles bei einer Tasse Kaffee, ja?« Taitbout nickte bekümmert. »Sehr schön, aber das kann an der Sache nichts ändern. Mein Entschluß steht fest.« Zehn Minuten später saßen sie an einem Tisch auf der verglasten Terrasse vor Nicks Restaurant. Um diese Zeit und bei diesem Wetter waren sie die einzigen Gäste. Garrick hörte nur mit halbem Ohr zu, als Taitbout, wie schon damals, als Melody das Bild gefunden hatte, erklärte, warum
es nicht älter als dreißig Jahre sein konnte. »Und vielleicht noch weniger«, sagte er eben. »Der Firnis ist meines Erachtens nicht mal richtig trocken. Und dann das Fehlen jeglicher Alterungserscheinungen! Eine Tatsache, die M. A. Kelly ebenso gewärtig ist wie mir.« »Und die verblaßten Stellen?« fragte Garrick plötzlich. »Wie?« Monsieur Taitbout strich über sein Bärtchen und hielt den Kopf schräg. »Ich sagte verblaßte Stellen. Sind das nicht auch Alterserscheinungen?« »Natürlich«, sagte Taitbout ganz leise. Er starrte in seine Tasse. »Mit der Zeit können sich durchscheinende, Pentimenti genannte Stellen im Ölmedium zeigen. Die ursprüngliche Arbeit des Künstlers, ja sogar seine Kohleskizze, kann sichtbar werden. Oder manchmal entdeckt man, daß die Leinwand schon früher für eine Malerei verwendet und dann übermalt wurde. Ein Beispiel wäre…« »Und was ist mit den Pentimenti auf dem Bild, das Melody gefunden hat?« Monsieur Taitbout spitzte den Mund. Er wollte etwas sagen, änderte dann aber seine Absicht. »Na? Was ist mit denen?« Monsieur Taitbout rückte sich die Brille zurecht und zwinkerte. Er nahm die Brille ab und polierte sie mit einem Taschentuch. »Merkwürdig, daß Sie das erwähnen«, sagte er schließlich. »Wie schon gesagt, gehören sie zu den unverkennbaren Alterungserscheinungen. Meine Augen sind auch nicht mehr das, was sie waren.« Er brachte ein kleines Lächeln zustande, und plötzlich fand Garrick den Mann recht sympathisch. »Erst dachte ich, meine Augen – wie sagt man? – wollten mir einen Streich spielen. Zunächst sah ich keine Pentimenti, und jetzt… jetzt sehe ich sie mit eigenen Augen.
Der einzige Versuch des Fälschers, sein Bild künstlich altern zu lassen.« »Sie konnten sie nicht sehen«, sagte Garrick, »weil sie nicht da waren.« »Das ist nicht möglich, Monsieur. Ich versichere Ihnen, es lag an meinen Augen.« »Aber ich habe gesehen, wie sie entstanden.« Jetzt sah Taitbout Garrick zum erstenmal an. Er schüttelte den Kopf. »Meine Augen«, sagte er und schlug mit dem Finger an die Schläfe. »Und wenn nicht meine Augen, dann hier drinnen. Ich hielt es für Einbildung. Und deshalb wagte ich nicht, M. A. Kelly darauf hinzuweisen. Aber Sie haben die Stellen auch gesehen?« »Ja.« Der kleine Franzose schwieg eine ganze Weile. Dann seufzte er und sagte: »Monsieur, wäre es wohl möglich, um diese Zeit im Staate Connecticut zum Kaffee einen Cognac zu bestellen?« Der Cognac wurde bestellt und serviert. Monsieur Taitbout trank ihn in einem Zug. »Was wir beide sahen, ist unmöglich. Sie verstehen?« »Ich verstehe, was Sie sagen, ja.« »Und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß die Malerei darunter ebenso von Columbine zu stammen scheint wie das darübergemalte Gemälde. Aber auch das ist in Anbetracht des augenscheinlichen Alters des Bildes unmöglich.« »Sind Sie ganz sicher, was das Alter anbetrifft?« »Absolut sicher. Und doch…« Garrick wartete ab. »So gut kann kein Fälscher sein.« Wieder wartete Garrick ab. »Ich glaube, ich genehmige mir noch einen Cognac. Bevor ich meine Platzreservierung nach Paris storniere.«
Margriet Kelly schraubte eine Reflektorbirne in die an die Tischkante geklammerte Lampe ein und stellte sie so, daß der Lichtstrahl fast parallel zur Leinwand verlief. »Bien, wir kommen noch zurecht«, sagte Taitbout zu Garrick. »Sie steht eben im Begriff, das Bild mit schrägem Licht zu untersuchen. Anders als flach einfallendes Licht, zeigt es auch das geringste Vorhandensein von Absplitterungen, Rissen, eben jene Alterungserscheinungen, die…« »Was in diesem Fall viel wichtiger ist«, warf Margriet ein, »die Schatten können auf das Vorhandensein eines darunterliegenden Bildes hinweisen.« »Falls eines darunter ist«, sagte Taitbout. Der schmale Lichtstrahl durchschnitt das Bild horizontal und fiel genau auf die Stadtmauer von Bourg St. Martin. »Absolut keine Absplitterungen. Keine Risse«, sagte Taitbout. »Mit Sicherheit keine dreißig Jahre alt.« Garrick hatte das Gefühl, als wäre Taitbout fast enttäuscht. »Es ist uneben«, sagte Melody. »Hier, man kann die Aufwölbungen sehen.« »Eine Wölbung«, sagte Margriet. Sie verrückte die Lampe. »Und da«, rief Melody. »Als wäre etwas darunter, das die Wölbungen verursacht.« »Ja, wirklich«, bestätigte Monsieur Taitbout. »Die Farbschichten eines zweiten Bildes. Jetzt ist klar, daß die Leinwand mehr als einmal benutzt wurde.« »Und nach dem Ausmaß der Aufwölbungen zu schließen – sehen Sie da und hier drüben – für zwei vollständige Bilder.« Wieder rückte sie die Lampe zurecht. »Hier«, sagte Garrick. Der schmale Strahl fiel nun auf das zweigeschossige Haus, auf das Fenster, das er gesehen hatte, auf den einzelnen Sonnenstrahl und auf die vage Andeutung von etwas, das darunterlag.
Entweder war es noch mehr verblaßt oder aber das schräge Licht zeigte deutlicher, was Garrick zu sehen vermeint hatte. Einen Raum. Ein Schlafzimmer mit einem minuziös gemalten Himmelbett. »Eine Innenszene«, sagte Taitbout, tief über das Bild gebeugt. »Kaum ein Pentimento.« »Aber er hat doch das Fenster darübergemalt«, wandte Margriet ein. »Und die Sonne, die vom Fenster reflektiert wird. Die Frage ist nun, ob…« »Festhalten«, sagte Garrick. Margriet hatte die Lampe wieder verschieben wollen. Auf dem Bett lag eine kleine Gestalt. Garrick spürte ein prickelndes Gefühl im Nacken. »Das war vorher nicht so«, sagte Eve. »Das Bett war nicht zu sehen.« »Man konnte nicht mal in den Raum hineinsehen«, setzte Melody fort. »Ob das schräge Licht so viel ausmacht?« fragte Eve. Margriet schüttelte den Kopf. »Bei Pentimenti spielt es keine Rolle. Die stellt man mittels Infrarotaufnahmen fest.« Melody sprach nun aus, was Garrick sich dachte. »Wäre es möglich, daß es sich irgendwie verändert hat, seit ich es fand?« Garrick wußte, wie Margriets Antwort lauten mußte. Er sagte nun: »Richten Sie den Strahl doch auf die Kirche.« Margriet richtete den Stahl höher. Nun schien die Steinmauer der Kirche durchsichtig. Darunter sah man Rot. Nicht irgendein Rot, wie Garrick es zuvor gesehen hatte, sondern eine Röte, die Columbine als Flackern festgehalten hatte. Ein Feuer. Na schön, dachte Garrick. Alle haben das Bild schon mal gesehen, sogar mehrmals. Und das da war nicht sichtbar gewesen. Das muß nun jeder zugeben, oder etwa nicht? Eine feste Steinmauer mit dick aufgetragenen Farbschichten, um
ihre Wuchtigkeit zu unterstreichen. Und jetzt eine Wand, durchsichtig wie Glas, und ein dahinter wütendes Feuer. Er hörte Taitbouts gedämpfte Stimme: »… als wäre das Gemälde in gewisser Hinsicht vor unseren Augen um dreihundert Jahre gealtert.« Garrick erwartete eine Erwiderung. Fast hoffte er, daß Margriet dafür eine Erklärung hatte. Aber sie sagte nichts. »So, als hätte Columbine einen Querschnitt durchs Dorf gezeichnet und dann das Dorf darübergemalt«, sagte Melody. »Das wäre immerhin möglich«, gab Margriet ihr recht. »Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, warum er das machte.« Melody biß sich auf die Lippen. »Nun, wenn er sich mit Magie befaßte und…« »Mademoiselle«, unterbrach Taitbout sie, »es wurde nicht einwandfrei festgestellt, daß es sich um ein echtes Werk von Columbine handelt. Keine Rede davon.« »Was hast du da von Magie gesagt?« fragte Garrick. »Ach nichts. Nur – Columbine hat sich ziemlich eingehend damit befaßt. Stimmt’s, Miß Kelly?« Margriet nickte. Sie hatte die Schräglichtlampe ausgeschaltet, und das Gemälde, dessen Farben nun im normalen Licht viel matter wirkten, erschien Garrick nun weniger bedrohlich. »Mehr wollte ich nicht sagen«, erklärte Melody. Garrick spürte, daß sie mit etwas zurückhielt, als wolle sie es mit niemandem teilen, der die Echtheit des Bildes anzweifelte. »Mr. Garrick?« Es war der Kustos des Zeughauses. »Anruf aus der Redaktion.« Garrick nahm den Anruf im kleinen Büroraum des Kustos entgegen.
»Rob? Eine gottverdammte Sache ist das.« Er erkannte die Stimme von Howie McGrath, dem Lokalredakteur. »Beide am gleichen Tag. Allmächtiger.« Garricks erster Gedanke galt Dr. Tom. Fast hätte er voreilig gefragt, wer denn der zweite Tote wäre. »Dr. Tom Seymour und Reverend Pritchard. Beide wurden heute morgen tot aufgefunden«, teilte McGrath ihm mit, und Garrick sagte sich wie betäubt, daß er es hätte wissen müssen.
22
Margriet stellte das Gebläse des Vergrößerers ein, als Garrick die im Keller gelegene Dunkelkammer des Redaktionshauses von Martinsburg betrat. Der kleine fensterlose Raum quoll über vor veralteten Apparaten, die auszuwechseln Garrick nie für notwendig befunden hatte. »Kommen Sie nur herein«, sagte Margriet. »Ich bin fast fertig.« »Ach, lassen Sie sich nicht stören«, sagte Garrick. »Wie kommen Sie voran?« Seine Mattigkeit war mehr seelischen als körperlichen Ursprungs. Er hatte stundenlang die Nachrufe auf Dr. Tom und Miles Pritchard überarbeitet, doch hatte er für den Geistlichen nicht viel tun können. Wenn ein Mensch sich mit Benzin überschüttet und dann ein Zündholz entzündet, kann es sich nur um Selbstmord handeln. Die einzige Frage, die sich nicht beantworten ließ, war die nach dem Motiv: Miles Pritchard war als Selbstmörder nicht vorstellbar. Wären da nicht das Bild gewesen und das Pentimento an der Kirchenmauer mit den roten Flammen. Verblaßte Stellen auf einem unter mysteriösen Umständen von der Tochter des Martinsburger Zeitungsherausgebers Robert Garrick gefundenen Bildes sagten den Selbstmord von Miles Pritchard voraus, wie frühere Pentimenti den Tod von Matthias Hawley und Dr. Tom Seymour vorausgesagt hatten. Mr. Garrick konnte dazu leider nicht befragt werden, da er sich gegenwärtig in einer Gummizelle der psychiatrischen Abteilung des allgemeinen Krankenhauses von Martinsburg befindet.
»… ausgehend von Sechzehn-Millimeter-Nahaufnahmen der drei Pentimenti«, führte Margriet eben aus. »Hochgeschwindigkeitsfilm und schräger Lichteinfall, damit die Bestimmung auch nach der Vergrößerung glattgeht. Ich muß nämlich vergrößern, weil ich mit den Röntgenaufnahmen eine Niete gezogen habe.« »Haben Sie das nicht mehr oder weniger erwartet?« »Hm ja, im allgemeinen benutzen Fälscher Bleiweiß zur Grundierung und machen so ihre Werke röntgensicher.« Garrick wußte nicht, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. »Dann ist es eine Fälschung?« »Fälscher benutzen Bleiweiß im allgemeinen, und Columbine hat es fast immer benutzt. Wir stehen also wieder dort, wo wir angefangen haben. Aber diese Vergrößerungen…« Während Margriet sich über das Gewebe ausließ, über die individuelle Pinselführung, über die spätere Farbstoffanalyse, um festzustellen, ob es sich um Columbines Farben handelte, während sie ihn also mit Erklärungen überschüttete, spürte Garrick Widerwillen, sich die Vergrößerungen anzusehen. Fast hatte er Angst vor ihnen. »Aber es ist gar nicht nötig«, sagte Margriet. »Was? Wie bitte?« »Sie hatten heute wohl einen schweren Tag, wie?« »Ich werd’s überleben«, sagte Garrick, ärgerlich über sich selbst. »Was ist nicht nötig?« »Eine Farbstoffanalyse. Die würde nur bestätigen, was wir schon haben. Pinselstriche sind so verläßlich wie Fingerabdrücke. Glauben Sie mir, dies ist das Werk Columbines. Stoßen Sie sich nicht an dem angeblichen Alter der Leinwand. Ich ließe mich in meiner Überzeugung auch nicht erschüttern, wenn die Farbe noch feucht wäre.« »Wie das?«
»Wenn ein Fälscher die Pinselführung eines Künstlers kopieren will, muß er es ganz exakt machen. Und das gerät meist zum Eigentor, weil die Spontaneität des Meisters fehlt und man das Zögern des Fälschers merkt. Wenn es sich nur um ein Bild im Stil Columbines handeln würde, dann hätte ich meine Zweifel. Aber hier, wo es sich an die Skizze in so vielen…« Margriet verstummte mitten im Satz. Sie hatte sich gerade eine der Vergrößerungen genauer angesehen. »Ich glaube, ich bilde mir Dinge ein«, sagte sie. Garrick trat neben sie an den Vergrößerungstisch, auf dem sie die drei Abzüge nebeneinander aufgelegt hatte. »Das mittlere.« Keiner sagte ein Wort. Das war auch unnötig. Die Vergrößerung sagte alles. Die Kirchenmauer war vollständig verblaßt. Das Ganze war eine Innenraumszene geworden. Flammen brannten am Altar, und die kleine Figur eines Priesters im Meßgewand beugte sich über etwas auf dem Altar Liegendes, etwas von den Flammen fast Verborgenes. Einen Körper? Über dem Altar hing ein Kruzifix, verkehrt herum. So, wie das Gemälde an jenem ersten Morgen verkehrt gehangen hatte, als Melody die Treppe heruntergekommen war – ohne zu hinken. Garrick nahm die Vergrößerung zur Hand. »So starb Miles Pritchard«, sagte er. »Er übergoß sich mit Benzin und zündete sich an. Heute morgen in der Kirche. Vor dem Altar.« Margriet drehte sich um und war in seinen Armen, die Hände auf seiner Brust, den Kopf an seine Schulter gelehnt. »Der Brief, der alte Brief Columbines.« »Was ist damit?«
»In dem er von Schwarzer Magie schrieb.« Ihre Stimme war heiser. »Darin sagte er, der Künstler könne vom Magier lernen. Und dann sagte er etwas von einem Feuer in der Kirche. Konflagration, sagte er.« »Hör zu. Du mußt mir jetzt alles sagen, was du von diesem Columbine weißt. Über sein Leben in Bourg St. Martin, wann er fort mußte, wohin er ging, was er…« Er spürte, wie sie sich in seinen Armen gerade aufrichtete, ehe sie von ihm abrückte. Er sah Furcht in ihren veilchenblauen Augen aufblitzen, Furcht, die rasch wieder verschwand. Sie lächelte. »Du glaubst doch nicht, daß dies die Erklärung liefert? Das ist doch nur Gerede gewesen«, sagte sie, und sogar ihre Stimme klang anders. »Natürlich sieht man jetzt Dinge, die zuvor nicht sichtbar waren. Hauptsächlich deswegen habe ich die Vergrößerungen gemacht. Daran ist nichts Geheimnisvolles. Wie ich erwartet habe, bestätigen sie nur die Echtheit des Bildes.« »Ach was. Nicht davon haben wir gesprochen.« Garrick schob ihr die drei Abzüge hin. »Wir sprachen über folgendes: Dr. Tom ist so gestorben.« Er deutete auf den Abzug mit dem Haus und dem Fenster. »Und Miles Pritchard starb so.« »Von einem Bild getötet? Bitte, Rob. Wirklich…« »Vor einer Minute hast du dasselbe gedacht.« »Ich?« Wieder dieses seltsame Lächeln. Sie wollte an ihm vorbei zur Tür. Er wollte sie packen, sie schütteln, sie zwingen, es zuzugeben. Wie hatte sie ihre Meinung so ändern können? Verwirrt ging er nach ihr hinaus, schloß die Tür, sah ihr nach, wie sie den Gang entlang zur Treppe ging. Die Explosion sollte er nicht hören. Er spürte nur, daß er über den Zementboden des Ganges geschleudert wurde.
»Was soll ich mit einem Menschen wie dir bloß machen?« fragte Ned Revere. »Ich lasse dich für ein paar Stunden aus den Augen, und was passiert?« Garrick saß auf dem einzigen bequemen Sessel in seinem Büro und ließ sich widerwillig von einem jungen Mann von der Erste-Hilfe-Abteilung versorgen. »Das müßte reichen, Mr. Garrick«, sagte er und legte einen zweiten Klebstreifen über den Gazeverband an Garricks verletztem Ellbogen. Die Salbe tat bereits ihre Wirkung. Garrick bewegte den Arm vorsichtig. Er war steif und würde noch steifer werden. In seinem rechten Knie pochte dumpf der Schmerz. »Das müßten wir röntgen lassen«, sagte der junge Mann. Revere war einverstanden. »Die sollen dich rüber ins Krankenhaus bringen.« »Keine Rede. Nicht so schlimm.« »Nur als Vorsichtsmaßnahme.« »Nein, nicht nötig.« Revere kam näher und starrte ihn an. »Schwindlig? Übelkeit oder sonstwas?« Garrick schüttelte ärgerlich den Kopf. Nichts haßte er mehr, als wenn Aufhebens von ihm gemacht würde. Die Tür seines Büros war zwar geschlossen, doch wußte er, daß die halbe Belegschaft der Zeitung draußen auf dem Gang lauerte, jene Hälfte, die nicht unten im Keller war und die Trümmer der Dunkelkammer begutachtete. Neben ihm saß Margriet und rauchte eine Zigarette. Sie war von der Dunkelkammer schon zu weit entfernt gewesen, als daß die Explosion ihr hätte etwas anhaben können. Sie drückte die Zigarette aus, als Revere sagte: »Die Ladung steckte unter dem Spülbecken. In einer Konservendose oder einem anderen offenen Behälter. Das Spülbecken hat das meiste aufgefangen, aber der Raum ist hin. Ein paar Sekunden früher, und man hätte euch raustragen
können. In Einzelstücken. Wer hat Zutritt zur Dunkelkammer?« »Die Tür war nie verschlossen«, antwortete Garrick. »Unser Hausfotograf ist Larry Applebaum. Aber einige unserer Reporter schießen selbst Bilder und entwickeln sie auch selbst. Ned, dort unten hatten auch Leute von der High-School Zutritt. Der Fotoklub – fünfzehn oder zwanzig Mitglieder.« Revere verzog das Gesicht, während Garrick hervorhob: »Es muß nicht unbedingt jemand sein, der die Dunkelkammer benutzt. Ich sagte schon, die Tür war nie verschlossen.« »Nun, ich wollte Namen hören. Die Reporter, die ihre Bilder selbst machen, die Klubmitglieder.« »Frag doch den jungen Craig Donaldson, der ist Klubpräsident.« Revere überlegte kurz. »Donaldson hat draußen auf seinem Besitz Baumstümpfe mit Dynamit ausgesprengt.« »Ach komm, Ned«, sagte Garrick. »Craig jr.? Warum sollte er…« »Warum sollte irgend jemand?« »Ist es sicher, daß es Dynamit war?« »Ich weiß es nicht, was es eigentlich war. Eine Bombe kann doch heute jeder basteln. Wer könnte etwas gegen dich haben? Vielleicht einer dieser Halbverrückten, die immer Briefe an die Redaktion schreiben, die nie abgedruckt werden?« Garrick schüttelte den Kopf. »An Vorwarnungen hat es nicht gefehlt«, sagte er. »Wie oft hat der Bombenleger schon angerufen?« »Das muß nicht derselbe sein. Ein harmloser Irrer macht ein paar Anrufe und setzt damit jemandem einen Floh ins Ohr. Das geht manchmal so. Aber ich stellte wieder bloße Vermutungen an. Bombenlegen ist kein Verbrechen, das in Martinsburg sehr häufig vorkommt.« »Was denn?« fragte Garrick.
Revere war zunächst verblüfft, dann aber nickte er. »Ja, sicher, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Bei uns war doch bis auf Verkehrsdelikte und Wochenendtrunkenheit nichts los. Und jetzt haben wir bis auf Mord jedes Verbrechen aus dem Strafgesetzbuch. Als wäre die ganze Stadt zum Katastrophengebiet geworden. Wie kommt es bloß, daß ein ganzer Ort wie verhext ist? Rob – wegen heute morgen.« Revere war sichtlich verlegen. »Vergessen wir es, ja? Manchmal steht man eben mit dem falschen Fuß auf.« »Schon gut, Ned. Mir tut es auch leid.« Hoffentlich hatte Revere nicht die Ungeduld aus seinen Worten herausgehört. Hier war nichts weiter für ihn zu holen. Ob nun Revere den Bombenleger fand oder nicht, die Vorgänge in Martinsburg würden damit nicht erklärt.
Eve hockte auf dem Sofa, Schuhe ausgezogen, Buch auf dem Schoß. »Hi«, sagte Melody, als sie hereinkam. Eve legte das Buch weg. Melody las den Titel verkehrt, herum. Der Ruf der Taube. Das Leben des Jean-Baptiste Columbine. »Woher hast du das?« fragte sie. Sie war ein wenig eifersüchtig, so, als hätte Eve ihr etwas weggenommen. »Hier in der Bibliothek hat es das nicht gegeben.« »Ich habe es aus New York kommen lassen. Es ist eben mit der Post angekommen. In der Bibliothek hier habe ich nichts über ihn gefunden.« »Doch, es gab ein paar Bücher. Aber die habe alle ich ausgeliehen. Ist das hier gut? Steht darin etwas über…« Melody ließ den Satz unvollendet. »Kann ich mal sehen?«
Eve reichte ihr das Buch, und Melody schlug hastig das Inhaltsverzeichnis auf. Nichts über Gaddara in den Kapitelüberschriften. Sie überflog den Index – keine Gaddara. Sie gab das Buch zurück. »Sieht nicht schlecht aus«, erklärte sie lächelnd. »Es muß gut ein. Viele halten Moreau für den besten Biographen des zwanzigsten Jahrhunderts.« »Ach? Auch wenn er manche Dinge einfach wegläßt?« »Was für Dinge?« fragte Eve leise. »Ach, einfache Dinge. Du weißt schon.« »Dinge, von denen du in den anderen Büchern gelesen hast?« Melody nickte. »Vermutlich ist aus dir mittlerweile Martinsburgs beste Columbine-Kennerin geworden. Gib mir ein Beispiel.« »Mir fällt jetzt keines ein. Was steht eigentlich in dem Kapitel ›Wanderjahre‹?« Melody nahm das Buch wieder zur Hand und suchte das bewußte Kapitel. Hastig überflog sie die Seiten. … und zog mit einer Gruppe Manouche-Zigeuner in den Osten. Wohin sie zogen und wie lange, bleibt ein Geheimnis. Sehr wahrscheinlich begann Columbines Interesse für den Okkultismus während dieses Zwischenspiels, denn der Brief an Vouet wurde kurz nach der Rückkehr in den Westen geschrieben, als er mit den Zigeunern eine Zeitlang vor dem Marktstädtchen Coevorden in Drenthe lagerte. Kein Serbien, keine Gaddara, keine Schwarze Messe. Alles nur Spekulationen, wie sich das Leben bei den manouches an der Wende zum achtzehnten Jahrhundert wohl abgespielt haben mochte. Das nächste Kapitel, das vorletzte, führte die Überschrift ›In Drenthe zu Hause‹. Melody überflog auch dieses Kapitel in
aller Eile. Eine fast pastorale Existenz… duldsame Haltung der Holländer den Zigeunern gegenüber… die Wirkung der grimoires auf Columbine. Und dann: … reiste er ganz allein im Winter nach La Rochelle, in der Hoffnung, etwas von seinem Sohn Philippe zu erfahren, jenem kränkelnden Kind, das man kurz vor Maries und Anniques brutaler Ermordung durch die Dragoner zur Erholung auf den Bauernhof einer Tante in der Charente-Maritime geschickt hatte. Philippe war jedoch etliche Jahre zuvor von La Rochelle nach Amsterdam und schließlich nach England gegangen, eine Route, die viele Hugenotten während der Jahre der Verfolgung gewählt hatten. Man kann sich Jean-Baptistes Freude vorstellen, als er bei seiner Rückkehr nach Drenthe von Tita erfuhr, daß sie guter Hoffnung war. Fast schien es ihm, als könnte er neu beginnen, die Jahre hinter sich lassen, die Qual vergessen… »Ich wußte gar nicht, daß er einen Sohn hatte«, sagte Melody. »Columbine?« »Einen Sohn, der nach England oder sonstwohin ging.« Melody blätterte eine Seite zurück. »Was heißt akelai?« »Das ist holländisch für Tauben.« »Wie viele Sprachen kennst du eigentlich?« Trotz ihrer Ungeduld, endlich wieder zum Notizbuch zu kommen, das sie an diesem Abend zu beenden hoffte, war Melody beeindruckt. Eve lächelte. »Wie viele ich sprechen kann? Nur Englisch, und manchmal bezweifle ich das. Aber du kennst mich ja, ich bin an Namen und ihren Abwandlungen sehr interessiert. Hat Columbine seinen Namen in Holland in Akelei umgewandelt?« »Nein, da stand etwas über seinen Sohn.« »Hat er nun seinen Namen geändert?«
Melodys Ungeduld ließ sich nicht mehr zügeln. Sie klappte das Buch zu und legte es weg. »Ich habe den Namen zufällig in einer Fußnote gesehen. Ob der Sohn Kinder hatte und alles das, und wie der Familienname sich verändert haben könnte. Ich habe übrigens noch Hausaufgaben.« »Zum Essen kommst du doch herunter? Ich mache ein Filet Stroganoff«, sagte Eve. »Ich esse oben eine Kleinigkeit.« Melody überlegte beim Hinaufgehen: Wäre das nicht eine Idee? Aus dem Namen Akelei könnte Kelly geworden sein!
23
Aus den Aufzeichnungen des Jean-Baptiste Columbine: … um ihre edlen belgischen Percheron-Rösser mehr als um den Wagen, doch Tita war ihre phuri dai, und so zeigten sie sich schließlich einverstanden. Am Morgen des Aufbruchs sagte sie: ›Du bist kein Jüngling mehr, Jean-Baptiste. Mußt du fort?‹ Ich sagte ihr, ich sei weit davon entfernt, nonpoant zu sein. Sie warf einen Blick auf mein graues Haar und den leeren Ärmel meines Wamses. Der Weg ist lang. La Rochelle war noch weiter entfernt. Und was hat diese Reise gebracht? Ich erfuhr wenigstens, daß mein Sohn in England in Sicherheit ist. ›Hier ist deine Tochter. Unsere Tochter. Sie braucht dich, Jean-Baptiste. Warum mußt du das Bild nach Bourg St. Martin bringen?‹ Ihre Worte erschreckten mich, und ich fragte sie, woher sie wüßte, daß ich das Bild hinbrächte. ›Weil du am Tage nach der Vollendung sagtest; du wolltest fort.‹ Tita wich meinem Blick aus. Ich sagte, daß sie lüge. ›Weil ich gewisse Dinge sehe, zwar nicht so deutlich wie Gaddara, aber immerhin.‹ Wieder sah sie beiseite. Und als sie mich wieder ansah, da wirkte ihr Gesicht katzenähnlich. ›Du darfst nicht gehen‹, sagte sie, und ihre Stimme war tiefer und rauher. Ich tätschelte ihren Arm, ob beruhigend oder herablassend, wußte ich nicht. Ich hatte diese Geste von Gaddara.
›Gaddara ist mir gestern im Traum erschienen. Sie sagte, ich sollte dich aufhalten.‹ ›Nur ein Traum.‹ ›Es war Gaddara, die zu mir sprach. Das weiß ich, weil sie einst vor fahren mir im Traum erschien. Zurka war damals betrunken und schlug mich. Im Traum befahl Gaddara, ich sollte den Wagen verlassen. Und als ich am Morgen wiederkam, da fand ich Zurka tot vor. Das Innere des Wagens sah aus, als…‹ (Die Seite zum Großteil zerfallen.) … immer kleiner, wie sie mit dem Kind in den Armen im Staub der Straße stand, und dann ließ ich die Zügel schnalzen, die Straße beschrieb hinter ein paar Weidenbäumen eine Biegung, und ich konnte sie nicht mehr sehen. Mariole! Endlich geschafft! Das Bild lag hinten im Wagen, und die vier mächtigen Percherons brachten es mit jedem Tag näher an Bourg St. Martin heran. Alle Magie, die Gaddara mich gelehrt, alles Wissen, das ich in den grimoires gefunden, all der Haß, der mich verzehrte, all das war durch meine Finger ins Bild übergegangen. Ich hoffte, ich könnte das Bild bei der Familie meines Freundes Jacques Rivoire lassen, der sein Leben für mich gegeben hatte. Ich wußte, daß seine Witwe, wenn sie noch am Leben und nicht geflohen war wie so viele Hugenotten, mich conjoir würde. Und was würde mit ihr geschehen, wenn ich das Bild bei ihr ließ? Ich gestattete mir keinen Gedanken daran. Wie konnte ich ihr raten, sie solle um ihr Leben laufen, ohne ihr den Grund zu sagen? … alles im Bild festgehalten, der Wächter, der das Stadttor nicht öffnen wollte, der Dragoneroberst Lemaître, der Annique vergewaltigt hatte, der Arzt, der nicht verhindert hatte, daß sie verblutete, der Priester Gavrillac, der mich verriet.
… die Dinge, die mir am teuersten waren, die Gerüche von Öl und Terpentin, das Gefühl des Pinsels in meiner Hand, als ich mit dem unteren Bild anfing, als wären die Häuserfassaden mit einem Streich von einem Riesenmesser weggeschnitten worden, so daß ich die Details so gewissenhaft wie ein Breughel oder ein Bosch ausführen konnte… … was ich liebte . (Die Seiten gegen Ende des Buches sind am zerfallen. Manchmal zerkrümeln sie bei der leisesten Berührung. Wie hier an dieser Stelle. Heißt es: ›das, was man haßt, mit dem vernichten, was man liebt‹? Das hat Gaddara Jean-Baptiste immer gesagt. Und dieser Teil ist gar nicht französisch, sondern lateinisch. Quod superius est sicut quod inferius et quod inferius est sicut quod superius ad perpetranda miracula rei unius. Was immer das heißen mag!) … und wenn der Sieur de Ramezay hilflos zusehen muß, wie seine Tochter Dominique leidet und stirbt, dann wird meine Rache… Ihn als ›heiligen Martin, seinen Mantel mit einem Bettler teilend‹ zu malen war die Krönung. Der Schutzpatron Frankreichs, das am meisten Geliebte für das am meisten Gehaßte – ich weiß, daß Gaddara es zu schätzen gewußt hätte. Und ihre Gesichter, darunter, in dem Unterbild… … Christus mit der Dornenkrone, der die Züge Vater Vasilis annimmt. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Diesmal habe ich es geschehen lassen. … kälter… … durchnäßt von den Herbsttagen… … vertraut… … als das Land zu felsigen Erhebungen ansteigt… … die Dringlichkeit scheint sich den dampfenden Rössern mitzuteilen… … den dahinjagenden Wagen mit nur einer Hand zu lenken…
(Ich schreibe diesen Teil so, wie er auf der Seite oder vielmehr auf den Resten der Seite zu lesen ist.) Der Stift entglitt Melodys vor Erregung zitternden Fingern. Es ist dasselbe Bild, das verschollene Gemälde des Jean-Baptiste Columbine. Mein Bild. Es ist nicht damals in Bourg St. Martin, es ist jetzt in Martinsburg. Jemandem davon erzählen? Aber wer würde ihr glauben? Sicher nicht Eve. Ihr Vater? Möglich. Aber er haßte das Bild und hatte eben wieder versucht, es zu zerstören. Margriet? Würde Margriet sie verstehen? Sie wußte ja, daß das Bild echt war, trotz dieses albernen Monsieur Taitbout. Sie wußte, daß es echt war, auch wenn es nicht alt genug aussah. Wenn jemand ihr glauben würde, dann war es Margriet. Fast hatte Melody Angst umzublättern. Vielleicht waren die letzten Seiten überhaupt unleserlich und vom Zahn der Zeit zu stark angenagt. Vielleicht würde sie nie erfahren, was sich weiter ereignet hatte. … blendete mich, zwei Lichtstrahlen, die die Dunkelheit im strömenden Regen durchdrangen, als ich mich der Wegkreuzung nördlich von Bourg St. Martin näherte. … ärger, denn mit dem plötzlichen Auftauchen der Lichtstrahlen vernahm ich ein dröhnendes Geräusch, ein wildes Röhren, das furchteinflößend durch die Nacht klang. Es kam näher, und hinter den Lichtern sah ich etwas Riesiges, ein großes, kistenartiges Ding, größer als ein Dutzend Wagen, mit schaurigen roten Augen ausgerüstet. Wie ein Drache sah es aus, doch diese gibt es nur in Sagen, und das hier war schrecklich und wirklich. Die Rösser gingen vor Angst fast durch, bäumten sich auf und liefen dann los. Der Wagen geriet gefährlich ins
Schwanken, als ich die Pferde zügeln wollte, doch meiner Hand fehlte es an Kraft. Uns entgegen raste ein Höllenbild, dessen große Lichtstrahlen uns durchbohrten. Sein Leib schimmerte rot im Licht dieser gräßlichen Augen, und der windgepeitschte Regen prallte gleich Hagelkörnern von seinen Flanken ab. Dann raste das Ding vorüber, und ich sah Rauch dahinter, roch Verbranntes, spürte die Hitze… … so plötzlich, wie es gekommen war. Das erste Pferdepaar wieherte und stieg, die Wagenräder gerieten in Schlamm, und ich wußte, daß wir umkippen würden. (Matt Hawleys Laster??? War es das, was damals eigentlich passierte?) … zwei Räder ab, eines in der Nähe, das andere fand ich im Graben ein Stück weiter. Von der Höllenvision sah ich nichts mehr. Sie war verschwunden wie ein flamerole. Aber Spuren waren noch da, wie von Mühlenrädern so groß. Mein Kopf schmerzte, als ich mich zurück zum Wagen schleppte. Der war seitlich in den Schlamm gekippt, die dampfenden Rösser standen mit zitternden Beinen da. Die Hinterachse war zu Kleinholz zersplittert. Und ich? Meine Glieder waren wie Blei. Ich konnte kaum klar sehen und fühlte mich, als hätte ich ein ignise hinter mir. Ich schaffte es kaum, hinten auf den umgefallenen Wagen zu klettern. Ein paar Stunden Schlaf, dachte ich, und dann würde ich das Bild den Rest des Weges zu Fuß befördern. Ich stolperte in der Dunkelheit und kroch über den Seitenteil des Wagens, der nun den Bodenteil bildete. Plötzlich tat mein Herz einen Satz, und ich wurde von Angst erfaßt. Wenn das Bild nun Schaden genommen hatte? Ich tastete mich weiter in den vorderen Teil des Wagens, wo ich das Bild verstaut hatte. Ich entdeckte eine Kerze,
Feuerstein und Zündbüchse. Ein mühsames Geschoß, wenn man nur eine Hand hatte, aber schließlich brannte die Kerze. Das Bild war verschwunden. (Großteil der Seite zerfallen.) … nirgends… verschwunden, wie die Höllenvision verschwunden war. So, als hätte die Höllenvision es mitgenommen. In jener Nacht konnte ich keinen Schlaf finden. Gaddaras Warnungen kamen und quälten mich. Ich hatte es nicht allein geschafft. Mariole! Würde ich das Bild von neuem malen müssen? Ich wußte, ich würde nicht Frieden finden, bis ich es geschafft hätte. … den Wagen, wo er lag, und machte mich mit den Rössern auf den Weg nach Coevorden, immer während der Nacht unterwegs. Ich stahl meine Nahrung zusammen, wo ich sie finden konnte… (Praktisch zur Gänze vom Schimmel zerfressen.) Fieberphantasien. In Titas Antlitz milsoudiers, Jean-Baptiste, und sie sind jetzt nichts mehr als roquarts nichts mehr von der Höllenvision im Spiegel eines alten Mannes Nur Tita, denn sie liebten sie so wie sie kräftig genug, um kurze Spaziergänge entlang des Kanals unterhalb der Befestigungen zu machen. An einem kalten Frühwintertag, bis zu den Ohren eingemummt Auf dem Kanal hatte sich bereits eine dünne Eisschicht gebildet und bald würde seltsame und traurige Stille Wie konnten ihre Augen so veilchenblau sein wie die Gaddaras
… katzenhafte Bewegungen je vergessen? Ich schüttelte sie, doch war ihre Stimme noch immer nicht Titas Stimme, sondern tiefer und heiserer. Du bist ein Pfuscher, Jean-Baptiste, sagte sie. Gaddara war in der Gestalt Titas zu mir gekommen. Gaddara, die Zurka über große Entfernung hinweg getötet hatte. Gaddara, die mir ein noch nicht geschriebenes grimoire gegeben hatte. Warum sollte sie jetzt nicht zu mir kommen? Das konnte ich bereitwilliger hinnehmen als diese Höllenvision. Ich erzählte ihr von der Vision. Ja, natürlich, ich weiß es, sprach sie. Dann sag mir auch, wo ich das Bild finden kann. Ihre blauen Augen sahen mich an, Titas Augen und doch nicht Titas Augen. Sie sagte mir nicht, was ich wissen wollte. Statt dessen sprach sie die Worte: Magie ist für wenige Auserwählte, Jean-Baptiste. Die Stümper verirren sich dabei. Ein Magier muß alles meistern, muß Gott in Menschengestalt werden. Aber der stümperhafte Magier? Der ist wie ein überheblicher, wichtigtuerischer Gott. Ich konnte nichts darauf sagen. Der Gott, von dem Gaddara sprach, war nicht der Gott, den ich schon vor so langer Zeit vergessen hatte. Er war Gott und Teufel in einem sowie das Rad von Gut und Böse, das eins ist und nicht zweierlei. Und jetzt fällt es auf mich, den Schaden wieder gutzumachen, den du angerichtet. Ich muß hingehen. Wohin? fragte ich. Dort, wohin du das Bild gebracht hast. Nach Bourg St. Martin? Nein, nicht Bourg St. Martin, lachte sie. Wohin dann? An jenen anderen Ort. Wo die Kräfte stärker sind und wohin das Blut der Ramezays dich zieht, wie ein Magnet Eisen
anzieht, wo es wieder einen Ramezay mit einer lahmenden Tochter gibt. Sie sind also fort von Bourg St. Martin? Ach, Jean-Baptiste! Sie sind nur für eine Weile fort. Nach Paris. Sie werden wiederkommen. Das meinte ich nicht. Da wußte ich schon mit Sicherheit, daß ich das Bild von neuem malen würde. Das sagte ich aber nicht. Du begreifst so wenig. Aber du machst mir Spaß, mein JeanBaptiste. Immer schon. Und nun hast du mich gezwungen, das größte aller Abenteuer zu wagen. Und dann sagte sie nachdenklich wie im Selbstgespräch: Aber ich werde niemanden finden, der mir im Blut nahesteht. Wen dann? Einen Ramezay? Oder vielleicht einen Columbine? Ja, das wäre am besten, seine Kraft gegen meine. Ich sagte ihr, daß ich nichts davon begriffe, und sie sah mich verständnislos an, mit verändertem Blick. Und ihr Gesicht wurde anders, als sie sich an mich drückte. Sie war wieder Tita. Wir kehrten ins Lager zurück. Später am Nachmittag, als Tita unserer Tochter ein altes Zigeunerlied von einem Tanzbär vorsang, spannte ich Leinwand auf einen Rahmen und grundierte sie mit Bleiweiß. Melody klappte das Büchlein zu und blieb auf ihrem Bett sitzen. Sie starrte das dunkle Fenster an. War es schon Nacht? Wie immer hatte sie jedes Zeitgefühl verloren, wenn sie sich in das Buch vertiefte. Sie hatte ein ganzes Leben in jenen Seiten erlebt, ein in ihrer Übersetzung neu geborenes Leben. Und nun war alles vorbei – die letzte Seite, die letzte Zeile, und der fleckige weiche Einband hatte sein ganzes Geheimnis hergegeben. Hatte Columbine das zweite Bild vollendet? Hatte er es vor seinem Tode nach Bourg St. Martin schaffen können?
Melody ging ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört, doch das Pflaster schimmerte noch feucht im Schein der Straßenbeleuchtung. Rivoire Street. Von den ersten hier siedelnden Hugenotten so benannt, weil sie zum Fluß führte? Aber rivoire war gar nicht das Wort für Fluß. Melody schlug im Wörterbuch nach. Das Wort ließ ihr keine Ruhe und nicht nur der Bedeutung wegen. Sie wußte gar nicht, warum. Es hieß Hammer. Niethammer. Es hatte nichts zu tun mit… Es war der Name von Columbines Freund, der getötet wurde, als Columbine aus dem Haus des Priesters Gavrillac fliehen konnte. Jacques Rivoire. Auf englisch Jack Hammer. Sie kannte niemanden namens Hammer in Martinsburg. Gut möglich, daß der Name ausgestorben war. Nur der Name der Straße war geblieben. Melody wollte Eve danach fragen. Sie sehnte ihren Vater herbei, weil sie das Bedürfnis hatte, mit jemandem zu sprechen, sich endlich von dem alten Buch loszureißen und die Angst ein wenig zurückzudrängen. Bibi Titas Warnung, ihr letzter Tag in Bourg St. Martin. Gehe nicht zurück. Bleib bei uns. Sei unsere kleine blonde Romi. Die andere Tita, die im Buch mit Gaddaras Stimme sprach: ›Wo es wieder einen Ramezay mit einer lahmenden Tochter gibt.‹ Aber das ergab doch keinen Sinn. Sie war keine Ramezay. Dann vielleicht eine Reinkarnation, eine Wiedergeburt? In der Schule gab es viele, die ganz wild auf Reinkarnation waren. Melody glaubte zwar nicht daran, fand aber, daß es eine nette Gedankenspielerei war. In meiner früheren Gestalt war ich… Und dann mußte man etwas hinschreiben, wenn einen der Geist erfaßte. Ich war Alexander der Große oder Cleopatra oder Madame Curie. Ich war die lahmende Tochter des Sieur de Ramezay, und ich hatte weizenblondes Haar und eine Freundin namens Annique,
die verblutete, nachdem die Königsdragoner ihr Gewalt angetan hatten. Deswegen haßt Jean-Baptiste Columbine mich, und er haßt auch meinen Vater, und er nimmt nun dreihundert Jahre später Rache. Einfach albern. Und doch verspürte Melody erstmals den Wunsch, Bibi Tita hätte ihr das Büchlein nicht gegeben, den Wunsch, sie hätte das Bild nicht gefunden. Und sie verspürte den Wunsch, Bourg St. Martin und Martinsburg wären keine Schwesterstädte. Sie ging hinunter. Eve zog sich unten im Flur eben den weißen Trenchcoat an. »Ach, ich wollte dich nicht stören«, sagte sie. »In der Küche liegt ein Zettel. Um halb acht solltest du das Fleisch in Streifen schneiden und kurz anbraten, falls ich noch nicht da bin.« »Aber ja«, sagte Melody. »Ich weiß doch, wie man Filet Stroganoff macht. Warum gehst du noch aus?« »Unten an der Gemeindewiese ist was los. Diese selbsternannten Nachtwächter oder wie immer sie sich nennen, treffen sich dort.« »Eve, ich habe eine Frage«, sagte Melody. »Du kennst dich doch bei Namen gut aus. Rivoire müßte französisch sein, nicht?« »Rivoire? Ach, die Straße…« »Ich weiß. Ein Hammer für Nieten, ehe es Nietmaschinen gab.« Eve zeigte sich beeindruckt. »Stimmt. Dein Französisch macht sich.« »Es war doch auch ein Name, nicht?« Eve nickte, noch mehr beeindruckt. »Ja.« »Und ist er einfach ausgestorben, oder wie?« »Nein, gar nicht. In New England erhalten sich die alten Namen. Aber die Schreibweise hat sich geändert.« »Das dachte ich mir, als… genau das.«
»Möchtest du raten?« »Rivoire? Hm, ich weiß nicht recht.« »Und wenn ich dir einen Tip gebe. Er ist ein Freund deines Vaters.« »Wirklich? Rivoire? Ich weiß noch immer nicht – « Da faßte sich Melody an die Stirn. »Aber ja, wie dumm von mir. Das muß Revere sein – Ned Revere.« »Wetten wir, daß er keine Ahnung hat?« sagte Eve lächelnd.
Melody legte das Messer auf die Arbeitsfläche neben der Spüle und lief zur Haustür. »Wer ist da?« »Ich bin’s, Craig.« Sie wunderte sich, daß Craig um diese Zeit nicht zu Hause beim Abendessen saß. Sein Vater liebte Pünktlichkeit, und im Hause Donaldson war sieben Uhr gleichbedeutend mit Essen. »Hältst du auch schon Diät?« fragte sie. »Ist jemand da?« »Nein. Deswegen ist ja keiner gekommen, als du geklingelt hast.« Das war ein matter Witz, und Craig lachte nicht darüber. Nicht einmal ein Lächeln brachte er zustande. Sie gingen in die Küche, und Craig zog den Reißverschluß seines Parka auf. »Bekomme ich nicht mal ein Küßchen?« sagte Melody. Craig trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ist wirklich niemand da?« »Was ist denn los?« fragte Melody und schärfte das Messer am Wetzstein. »Nichts.« »Man sieht es dir an der Nasenspitze an.« »Ich sagte schon, es ist nichts. Ich wollte nur mit dir reden.«
Melody brauchte selbst jemanden, bei dem sie sich aussprechen konnte. Und als sie Craig die Tür geöffnet hatte, hatte sie sich gefragt, warum sie nicht eher an ihn gedacht hatte. Sie mußte jemandem vom Buch erzählen und von Bibi Titas Warnung. Gleichgültig, wie unwahrscheinlich das alles klang, Craig hätte sie nicht ausgelacht. Dazu hatte er sie zu gern. Jetzt aber sah es aus, als bedrücke Craig etwas, wie sie das Buch bedrückte. Er setzte sich an den Tisch und sagte nichts. »Ich dachte, du wolltest mit mir sprechen…« »Melody, hör zu, ich…« Craig schluckte schwer, und dann fing er zu weinen an. Melody drückte seinen Kopf an ihre Brust, strich ihm übers Haar und hätte selbst am liebsten geweint. Craig war sonst so unbeschwert, lachte immer und war fröhlich. Immer wenn sie niedergeschlagen war, hatte sie nur mit ihm zu reden brauchen, und alles war gut. »Schon gut, schon gut. So schlimm kann es doch gar nicht sein.« Craig stand auf und ging an die Spüle. Er sprühte sich kaltes Wasser ins Gesicht. »Nein, natürlich nicht. Ich sollte eigentlich dieses Messer nehmen und mir die Gurgel durchschneiden.« Sie stellte sich hinter ihn und legte ihm die Arme um die Mitte. »Sag keine dummen Sachen. So was soll man nicht mal sagen.« Er trocknete sich das Gesicht mit einem trockenen Geschirrtuch ab. Melody fuhr ihm durchs feuchte Haar. »Kindischer Unsinn«, sagte sie, und nun lächelte er ein wenig verlegen. Und als Melody glaubte, er würde nun endlich reden wollen und ihr seine Sorgen erzählen, schrillte das Telefon. Sie ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. »Ja?«
»Melody?« Ihr Vater war es. »Sag Eve, sie soll mit dem Essen nicht warten.« »Es gibt Filet Stroganoff. Das geht ganz rasch. Wenn du möchtest, daß wir warten…« »Nein, schon gut. Ich bin mit Margriet im Zeughaus. Wir lassen uns was zum Essen schicken.« Und nach einer Pause sagte er: »Könnte ich mit Eve mal sprechen?« »Sie ist gar nicht da.« »Wo ist sie denn?« Garrick schien beunruhigt. »Praktisch direkt vor dem Zeughaus. Auf der Gemeindewiese gibt es ein Treffen.« »Hm, wenn ich es recht überlege, komme ich zum Essen vielleicht doch lieber nach Hause.« »Was ist denn, Daddy?« »Nichts Ernstes. Vielleicht besser, wenn du nicht allein bist.« »Bin ich nicht. Craig ist da.« »Ach? Warum kommt ihr beiden nicht her ins Zeughaus?« »Jetzt gleich?« »Ja. Übrigens würdest du sicher gern dabeisein.« »Wobei?« »Margriet will versuchen, das über dem Bild liegende Gemälde zu entfernen.« »Ach?« sagte Melody. »Na, dann kommen wir gleich rüber.« Als sie aufgelegt hatte, sagte Craig: »Sagte er etwas von der Explosion?« »Welche Explosion?« »Jemand hat in der Redaktion eine Bombe gelegt.« »Was? Guter Gott! Wurde jemand verletzt?« Craig schüttelte den Kopf. »Aber ausgeschlossen wäre es nicht gewesen. Nur ein Irrer kann sich so etwas ausdenken.« Melody sah ihn an und wußte Bescheid. Sie wußte es schon, noch ehe er sagte: »Ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich… konnte… mich nicht zurückhalten.«
24
Sergeant Whitlock saß am Steuer, an einer kalten Zigarre kauend, Ned Revere neben ihm. Magistratsvorsitzender Alvin Waugh rutschte auf dem Hintersitz hin und her. Sie parkten am Nordrand der Gemeindewiese, vor der Kirche der Kongregationalisten, und sahen zu, wie die Menschenmenge ständig wuchs. Die Funkanlage quäkte, Revere hörte, daß der Verteiler zwei Wagen hinaus auf den Strip geschickt hatte. Draußen hatten Plünderer die Scheiben eines Discount-Centers eingeschlagen und schleppten nun Fernsehapparate, Küchengeräte und alles mögliche davon. Revere griff nach dem Mikro. »Nicht schießen«, sagte er. »Verjagt sie alle, und wenn es nicht glückt, dann laßt sie in Gottes Namen mit dem Zeug laufen.« Al Waugh beugte sich vor und legte Revere eine Hand auf die Schulter. »Ned, wir werden damit nicht mehr fertig. Es geht in der ganzen Stadt los.« Revere gab keine Antwort. Seit Einbruch der Dunkelheit war die Hölle los. Der Mob stürmte durch die Straßen, Steine krachten gegen Schaufenster, es wurde geplündert, und dazu kamen drei Brände, die verteufelt nach Brandstiftung aussahen. Vierzig Polizisten, sechs Einsatzwagen, keine Spezialausrüstung – er wußte, daß Al Waugh recht hatte. Und der lärmende Mob auf der Gemeindewiese wußte es auch. Mindestens tausend Menschen, rechnete Revere sich aus, und es wurden mehr mit jeder Minute. Sie hatten Baseballschläger bei sich, Golfschläger, alles mögliche. Und Revere hatte den Eindruck, daß einige sogar Handfeuerwaffen hatten. »Wer ist denn der Spaßvogel?« fragte Whitlock.
Auf der anderen Seite der Rasenfläche hatte jemand ein Autodach erklommen. Scheinwerferstrahlen malten ihn vor dem Hintergrund herbstlich kahler Äste eines Ahornbaumes ab. Er trug eine Schirmmütze und hielt beide Arme hoch erhoben. Revere holte aus dem Handschuhfach einen Feldstecher. Er richtete ihn auf den Mann, der auf dem Autodach stand. »Sieht aus wie Vito Mauriello«, sagte er. Mauriello, Lagerhalter in der Textilfabrik, war aktiv in der Kommunalpolitik tätig. Whitlock fragte: »War sein Bruder nicht der Junge, der bei Nick damals ein Messer zwischen die Rippen kriegte?« Revere nickte. Er sah, daß Vito Mauriello ein Megaphon an den Mund hob. »Woher hat er das Ding bloß?« fragte Revere. Plötzlich geriet der Vordersitz in Bewegung, als hätte sich Whitlock mit seinem ganzen Gewicht dagegengestemmt. »Allmächtiger!« rief er. Er krümmte sich zusammen und hielt eine Hand an die Brust. Dann stieß er die Tür auf. »He, Cal, was ist denn?« Whitlock gab keine Antwort. Er ging über die Straße auf den Rand der Menschenmenge zu und mischte sich unter sie, die immer näher an Mauriello herandrängte. Mauriellos Stimme dröhnte durch die Dunkelheit.
Verdammt recht hast du, es ist unsere Stadt, sagte sich Charlie Dahlgren, der sich Vito Mauriellos Rede anhörte. Charlie stand ganz nahe am Auto, anonym in Windjacke und Jeans. Recht hast du, das können wir nicht zulassen. Ich kenne diese Spaghettis. Man reicht ihnen den kleinen Finger, und sie wollen die Hand bis zum Ellbogen. Charlie spürte das Gewicht seines Dienstrevolvers am Gürtel unter der Windbluse. Er wußte, daß er ihn benützen würde, noch ehe die Nacht um war. Er wollte ihn benutzen. Fast spürte er schon den kleinen
Rückstoß, sah den Lauf blitzen. Diesen Hundesöhnen mußte man es richtig zeigen. Charlie hörte den Heulton der Feuersirenen. Der Himmel erglühte rot hinter der Kongregationalistenkirche, wo Reveres Wagen parkte. Charlie hörte nicht alles, was Mauriello sagte. Diese Glocke – diese verdammte Glocke würde ihn noch zum Wahnsinn treiben. Der Mob brandete fort von Mauriellos Wagen, flutete über die Gemeindewiese, zersplitterte in kleinere Gruppen, die in die Conant Street stürmten, auf die Bank zu, in die Rivoire Street, Baseballschläger und Golfschläger schwingend. Mauriello, der eine Schrotflinte bei sich hatte, lief mit einer Gruppe an Charlie vorüber. Der vergewisserte sich, daß sein Dienstrevolver sicher am Gürtel steckte, und lief mit.
Garrick war einer der letzten Auslandskorrespondenten gewesen, die Pnom Penh verlassen hatten. Das häßliche Geräusch des Mobs, das Sirenengeheul, das panikartige Vorwärtsstürmen durch dunkle Straßen, Brände in der Ferne, die Sinnlosigkeit all dessen und das Grauen, wenn eine Gesellschaft endgültig zusammenbricht – das alles erinnerte ihn an seine letzte Nacht in Kambodscha, während er eilig zurück zum Zeughaus lief. Melody war nicht zu Hause. Keine Nachricht. Nichts. Er hatte ihr für den Fall, daß sie nach Hause käme, Nachrichten hinterlassen. Sie solle daheim bleiben, die Türen verschließen und nur ihm oder Eve öffnen. Er sah nachdenklich zur häßlichen Steinfassade des Zeughauses hinüber. Vielleicht habe ich sie verfehlt. Möglich, daß sie jetzt schon drinnen ist, dachte er. Gebe Gott, daß sie jetzt dort drin ist.
Eve war drinnen bei Margriet. Sie standen neben einem großen Arbeitstisch. Man hatte den Rahmen vom Bild gelöst, die Leinwand mit einem Stück Seide abgedeckt. »Na, Glück gehabt?« fragte Eve. »Sie ist nicht zu Hause.« »Vielleicht sollten wir dort auf sie warten.« Garrick überlegte diese Möglichkeit. Er kannte den menschlichen Mob und hatte die Leute draußen beobachtet. In ein Haus, in jedes Haus konnte man einbrechen. Das Zeughaus war eine Ausnahme – es war eine kleine Festung. »Ich gehe zurück, für den Fall, daß sie auftaucht. Du bleibst hier. Ruf mich an, wenn sie kommt.« »Gut«, stimmte Eve zu. Margriet wandte sich ihnen zu und drehte der mit Seide bedeckten Leinwand den Rücken, Ihre großen, veilchenblauen Augen waren weit aufgerissen, ihre Stimme war heiser, als sie sagte: »Ich muß hin.« Eve sah Garrick an. Der schüttelte den Kopf. »Dorthin, wo es noch einen Ramezay mit einer lahmenden Tochter gibt«, sagte Margriet. Garrick packte sie an den Schultern. Er glaubte in ihren Augen einen verwirrten Ausdruck zu sehen, als sie dann sagte: »… vorausgesetzt, daß es geht. Wir werden es in zwei Stunden wissen. Die Übermalung müßte an der Seide haften bleiben, wenn ich diese anhebe – theoretisch. Es ist das erste Mal, daß ich es mache.« Garrick und Eve sahen zu, wie sie eine scharf riechende Flüssigkeit auf die weiße Seide strich und hörten sie mit ganz normaler Stimme sagen: »Die Lösung dürfte den Farbstoff nicht angreifen, wenn ich sie richtig dosiert habe. Statt dessen sollte sie bis zu der Firnisschicht zwischen den beiden Bildern eindringen und sie aufweichen. Ein wenig mehr bei jedem
Mal. Dreimal wird aufgetragen, und nach jedem Mal muß die Leinwand trocknen.« Sie lächelte ihnen zu, ein völlig normales Lächeln. »Der Mann, der diese Technik entwickelte, sagt, daß sie um einiges komplizierter sei als Gehirnchirurgie.« Eve begleitete Garrick an die Tür. »Rob, was ist denn los mit ihr? Hast du ihr Gesicht gesehen? Wovon hat sie da geredet? Es war, als würde sie…« Und plötzlich sagte Garrick: »Ramezay!« Eve sah ihn bloß an. »Weißt du nochmals mir damals der Name meiner Urgroßmutter nicht einfallen wollte, die hier in der Gegend eine Farm hatte? Jetzt weiß ich ihn – sie hieß Ramezay.« Und er dachte: Dort, wo es noch einen Ramezay mit einer lahmenden Tochter gibt. Eve faßte nach seiner Hand. »Rob, du mußt sie finden. Unbedingt.«
Eine halbe Stunde zuvor waren Melody und Craig über die Rivoire Street zur Gemeindewiese gegangen. Melody hielt seine Hand und zog ihn praktisch hinter sich her. Vor sich hörten sie die Menschenmenge, die von einer Lautsprecherstimme überschrien wurde. »Ich kann nicht«, sagte Craig. »Wie kann ich es ihm sagen?« »Du mußt es ihm sagen.« »Aber ja«, stieß Craig verbittert hervor. »Ich kann mich direkt hören: Mr. Garrick, sicher interessiert es Sie, zu hören, daß ich einen Dynamitstab meines Vaters an mich nahm, eine Zündvorrichtung, einen Wecker und…« Er konnte nicht mehr weiter und blieb stehen. »Bitte, nicht.« »Craig, du mußt. Daddy kann…« »Nichts kann er tun. Niemand kann etwas machen. Ich werde wahnsinnig!« schrie Craig. »Warum gibst du dich noch mit mir
ab? Ich bin ein schwachsinniger, mordlustiger Irrer. Vielleicht… vielleicht werde ich als nächstes versuchen, dich zu töten.« Wieder wollte Melody nach seiner Hand fassen, aber Craig riß sich los und lief mitten auf die Straße. »Halt dich fern von mir, wenn dir dein Leben lieb ist!« rief er, und dann sah Melody, daß Männer von der Gemeindewiese her mit allen möglichen Schlägern auf sie zugelaufen kamen. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte Melody, sie wollten Craig attackieren. Doch sie liefen an ihm vorbei, liefen weiter, und Craig rannte ihnen nach. Soll ich ins Zeughaus? überlegte Melody. Wozu eigentlich? Craig brauchte sie. Der Mob hatte sein Tempo verlangsamt und hielt nun die Rivoire Street entlang auf den Fluß zu.
25
Ned Revere stand vor dem beladenen Schreibtisch des Magistratsvorsitzenden, als Alvin Waugh den Hörer auflegte. Es war kurz nach neun. »Na?« »Die Gouverneurin ist ihrer Sache nicht sicher«, sagte Alvin Waugh. »Was soll denn das wieder heißen? Sie muß einfach die Nationalgarde schicken. Ich habe ja nicht mal mehr eine Polizeitruppe. Die läuft mit dem Mob mit.« Waugh ging ans Fenster und zog die Jalousien herunter. Unten auf der Straße sah er zwei umgekippte Wagen. Einer davon gehörte Revere. Die Gemeindewiese war leer. »Sie schickt einen gewissen Oberst Ballard her«, sagte Waugh. »Ich kenne John Ballard vom dritten Bataillon. Ich dachte, Sie sagten eben, sie sei ihrer Sache nicht sicher.« »Ist sie auch nicht. Ballard kommt her, um sich die Sache mal anzusehen.« Waugh rückte seinen Krawattenknoten zurecht. »Scheiße«, sagte Revere. »Er kann frühestens in einer Stunde hier sein, und dann wird er eine Stadtrundfahrt machen wollen. Könnten die nicht wenigstens mit der Mobilisierung anfangen? So, wie die trödeln, können sie erst nächsten Morgen hier sein.« Revere verzog das Gesicht. »Martinsburg geht in Flammen auf, und wir müssen ausgerechnet einen weiblichen Gouverneur haben!« Die beiden Männer standen am Fenster und sahen den Kirchturm, der sich gegen das pulsierende rote Glühen des
Nachthimmels abhob. Trotz der geschlossenen Fenster konnten sie den Rauchgeruch spüren. Den Kragen hochgeklappt als Schutz gegen den kalten Wind, der vom Fluß her über den Park blies, so stand Dahlgren da und sah zu, wie ein Dutzend Männer einen Wagen ins Schwanken versetzte. Er hörte ihren Aufschrei, als das Auto endlich umkippte. »Ich möchte den jungen Garcia erwischen«, sagte Vito Mauriello. Was dieser Mauriello da wollte, erschien Charlie völlig normal. Der junge Garcia hatte schließlich seinen Bruder mit dem Messer angegriffen. »Dem puste ich glatt die Eier weg«, schwor Mauriello. Dann nahm er seine Flinte griffbereit unter den Arm und spuckte aus. »Wie ich diesen feigen Bastard kenne, ist er inzwischen schon auf halbem Weg zur Staatsgrenze.« Charlie sagte nichts. Jeder andere Hugenotte würde ebenso handeln.
Craig trat schnell zurück, drei ungeschickte Schritte, als der Wagen krachend umkippte. Das erinnerte ihn an das Holzfällen mit seinem Vater, das Geräusch der Säge und dann das Abschätzen, nach welcher Richtung der Baum wohl fallen würde, und das schnelle Ausweichen. »Fassen wir uns ein paar Spaghettis!« rief ein Mann. Craig folgte der Menge auf den Gehsteig. »Bist du nicht zu jung dafür?« fragte ihn jemand. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.« Da spürte er, wie jemand nach seinem Arm faßte – Melody. Er riß sich los und folgte den Männern ins Treppenhaus. Hinter sich hörte er Glas splittern, als jemand mit einem Baseballschläger die Glastür einschlug.
Jemand vertrat ihr den Weg. »Melody«, sagte er beschwörend. »Du gehörst nicht hierher.« Erleichterung überflutete sie. Charlie Dahlgren war es. Charlie konnte ihnen helfen. Charlie würde wissen, was nun zu tun war. »Du mußt ihn aufhalten! Craig will…« Charlie hörte gar nicht hin. »Ich bringe dich nach Hause«, drängte er. Colonel John Ballard, Kommandant des dritten Bataillons der Nationalgarde von Connecticut, saß neben seinem Fahrer im Dienstwagen, der auf der US 44 auf die Kreuzung mit der Staatsstraße 62 zujagte. Die Nacht war klar und kalt, der Himmel bedeckt, die Fahrbahn trocken. Ballard sah am Straßenrand weiße Eisflecken. Major Hockaday, der hinten saß, beugte sich vor und fragte: »Wie ist denn dieser Waugh eigentlich?« Er wußte, daß Ballard in Martinsburg aufgewachsen war und dort Angehörige hatte. »Al Waugh? Ach, ein bißchen ängstlich ist er immer.« »Also ist dies dann falscher Alarm?« fragte Hockaday. »Schwer zu sagen. Waugh ist konservativ und übervorsichtig und neigt zur Ängstlichkeit. Es ist alles möglich – ein richtiger Krawall ebenso wie ein harmloser Menschenauflauf.« Ballard war froh, daß die Gouverneurin Stresa nicht einfach telefonisch die Mobilisierung angeordnet hatte. Wenn die Unruhen noch kein kritisches Stadium erreicht hatten, dann konnte der Anblick eines in die Stadt einfahrenden Konvois der Nationalgarde mehr schaden als nützen. Ballard sah vor ihnen das gelbe Warnlicht im Winde schwanken. War Waugh ein vorsichtiger Mensch, so war er selbst es nicht minder. Er konnte die Nationalgarde samt
rollendem Material innerhalb von fünfzehn Minuten in Bewegung setzen. Und er hatte bereits den Kommandanten der staatlichen Polizei benachrichtigt. Mittlerweile waren zwanzig Mann zur Verstärkung der städtischen Polizei abkommandiert worden. Ballard hoffte, sie würden es schaffen. Martinsburg war so klein, daß sie die Einheimischen hier sicher kannten. Und viele waren so wie er in Martinsburg aufgewachsen. Aber die Nationalgarde war schon was anderes. Die wurde meist mit Feindseligkeit empfangen. Egal, wie besonnen sie auch vorgehen mochte, man sah sie als Außenseiter, ja, beinahe als Invasionsarmee an. Und falls ihm nach Einsatz der Garde die Situation entglitt, würden Einheimische und Massenmedien ihm, John Ballard, die Schuld geben. »Kennen Sie sich in der Stadt aus?« fragte er den Fahrer. »Nein, Sir. Ich war nur ein- oder zweimal in Martinsburg.« »Sie fahren die 44. einfach immer weiter«, sagte Ballard. »Das Château ist an der Gemeindewiese.« Hockaday lachte. »Schweren Tag gehabt heute? Sagten Sie nicht eben Château?« »Ich?« Das Warnlicht war nun ganz nahe. Ballard sah vorne die Stahlträger einer kleinen Brücke. Die Straße war frei. Plötzlich verspürte er ein Unbehagen. »Rathaus«, sagte er. »Ich meine das Rathaus.« Sein Unbehagen wich nackter Angst, Ballard wünschte, der Wagen würde nicht so rasen, wünschte, sie wären bereits in Bourg St. Martin, und das Feuer im Kamin der großen Halle des Châteaus würde flackern, er könnte mit seinem Freund Armand de Ramezay bei gutem Rotwein und Braten sitzen, und die Dragoner hätten sich bereits in den Häusern Quartier verschafft. Sekundenlang fragte sich Colonel John Ballard, der nun aufrecht und stocksteif dasaß, ob er total übergeschnappt sei.
Dann hörte er Hockadays Ausruf »Achtung!«, hörte, wie der Wagen das Brückengeländer streifte. Die Räder verloren auf dem Eis die Bodenhaftung. Der Wagen geriet ins Schleudern. Es krachte, splitterte, weiteres Schlittern, Abrutschen in einen Graben. Aufprallen, das Würgen des Sicherheitsgurtes an Colonel Ballards Kehle.
In gewissen Augenblicken, besonders wenn sie sich auf die vorliegende Tätigkeit konzentrierte, beherrschte Margriet die Lage. In diesen Augenblicken zog sich das andere, dieses in ihr Lauernde, zurück und schien fast völlig zu verschwinden. Und manchmal stritten sie innerlich miteinander, Margriet und – ja, und wer? Eine unhörbare Stimme in ihrem Inneren, die sie dennoch hören konnte, eine tiefere und heisere Stimme. Du kannst es zerstören. Du mußt es zerstören. »Nein, ich kann es nicht.« Und wenn du die Lösung zu lange einwirken läßt? »Nein! Sie würde sich durch den Firnis durchfressen. Das untere Bild würde beschädigt und zerstört werden. Das kann ich nicht.« Du möchtest es nicht. Du bist eine Columbine. »Es ist ein Columbine, meinst du wohl.« Du könntest ein Palettenmesser nehmen. Warum nicht? Es ist doch so einfach. Das Werk weniger Sekunden. Zerschneide das Bild, Margriet. Schon hielt sie das Messer in der Hand. »Margriet?« Sie hörte, wie Eve ihren Namen rief. Das Ding in ihrem Inneren verkroch sich. Margriet legte das Messer auf den Tisch neben die mit Seide abgedeckte Leinwand.
Wenn du es vernichtest, dann ziehe ich mich für immer zurück. Du wirst vergessen, daß ich je da war. Würde dir das nicht gefallen? Margriets Hand bewegte sich auf die Dose mit der Lösung zu. Wie hätte sie das Bild zerstören sollen? Jean-Baptiste Columbine war ihr Lebenswerk, das Auftauchen seines verschollenen Bildes der größte Fund seit dem Auftauchen eines Rembrandt in einem englischen Landstädtchen. Margriets Möglichkeit, die Übermalung zu entfernen, war die Chance ihres Lebens. Würde es dir nicht gefallen? Margriet faßte nach dem Messer und schleuderte es durch den Raum. »Helfen Sie mir!« rief sie und lief auf Eve zu. »Sie müssen mir helfen.«
Major Hockadays linkes Handgelenk war blau und geschwollen. Von einer Kopfwunde lief ihm Blut in die Augen. Der Wagen war hundert Yards von der Straße entfernt auf den Rädern gelandet. Hockaday fand einen Stock und verfertigte damit und mit einem aus dem Hemd herausgerissenen Stoffstück einen Knebel, mit dem er den Arm des Fahrers abband. Der Mann hinter dem Steuer war bewußtlos. Der Unterarm war zerschmettert. Das Blut strömte schwarz aus der Arterie. Colonel Ballard war tot. Hockaday lockerte den Knebel, zog ihn wieder fester. Dann versuchte er, ob die Funkanlage noch funktionierte. Tatsächlich, sie war in Ordnung. Er stellte die Frequenz der Staatspolizei ein und meldete den Unfall.
Garrick sah die Nachricht, die er für Melody auf dem Tisch im Flur gelassen hatte, sah das Messer auf der Arbeitsfläche in der Küche, das Stück Fleisch auf dem Schneidbrett, einen Topf auf der Herdplatte. Sie mußte gleich nach seinem Anruf aus dem Haus gegangen sein und alles liegengelassen haben, aus Ungeduld, endlich ins Zeughaus zu kommen. Um welche Zeit war das gewesen? Vor fast drei Stunden. Die Rivoire Street entlang bis zur Gemeindewiese war ein Spaziergang von zehn Minuten. Beim zweiten Schrillen nahm Garrick den Hörer ab. Craig Donaldson sen. sagte ihm, er hätte den ganzen Abend über versucht, ihn zu erreichen. Der junge Craig sei vor dem Abendessen ausgegangen und noch nicht zurück. Ob Garrick wüßte, wo er sei? Und ob Garrick wüßte, daß Al Waugh die Gouverneurin angerufen und sie um Entsendung der Nationalgarde gebeten hatte? Das alles klang so besorgt und hilflos, wie Garrick sich fühlte. Er legte auf und durchsuchte das Erdgeschoß, ohne recht zu wissen, was er eigentlich suchte. Das Zeughaus anrufen? Sinnlos. Eve würde ihn verständigen, sobald Melody käme. Er goß Scotch in ein Glas, trank ihn unverdünnt. Sein Blick fiel auf die kahle Wand über der Feuerstelle. Langsam ging er nach oben und wußte wieder nicht so recht, was er suchte. Als erstes betrat er Melodys Jungmädchenzimmer. Es war tadellos aufgeräumt, keine Spur vom üblichen Teenagerchaos. Melody hielt ihr Zimmer so in Ordnung, wie sie ihre eigene persönliche Erscheinung pflegte. Sogar die Bücher auf den Regalen waren fein säuberlich nach Melodys ureigenen Gesichtspunkten aufgereiht: Taschenbücher oben, die anderen
unten, Belletristik alphabetisch nach den Autorennamen. Sachbücher nach Sachgebieten. Die zwei auf dem Bett liegenden Bände waren das einzig Unordentliche an dem Raum. Eines sah aus wie ein gewöhnliches Schulheft, das andere war ein dunkles, schmales, in Leder gebundenes Bändchen ohne Titel auf dem Umschlag. Garrick befühlte das weiche, fleckige Leder und schlug das Buch wahllos auf. Die Seiten waren spröde, vergilbt und verschimmelt. Kein Druck. Handschriftliche, schwer leserliche Aufzeichnungen. Er erkannte, daß es in Französisch geschrieben war. Nun schlug er die erste Seite auf. Das war gut leserlich und einfach, auch für Garrick, dessen Französischkenntnisse höchst lückenhaft waren. Le Cahier de Jean-Baptiste Columbine. Wo hatte sie das bloß her? Er nahm ihr Schulheft und sah in Melodys Handschrift: Aus den Aufzeichnungen des Jean-Baptiste Columbine. Garrick war erst ein paar Zeilen weit gekommen, als das Telefon wieder läutete. Er nahm den Hörer in seinem Zimmer ab. Es mußte Eve sein. Sicher war Melody mittlerweile bei ihr im Zeughaus. »Rob?« »Ist sie da?« Eine Pause. »Nein, keine Spur von ihr. Rob, es tut mir leid, wahrscheinlich hätte ich gar nicht anrufen sollen, aber…« »Nein, schon gut. Was ist denn?« »Margriet! Sie ist total hysterisch. Sie sitzt heulend da und jammert, ich solle ihr helfen.« »Ihr helfen? Wobei?« »Einfach helfen. Mehr weiß ich nicht.« »Hallo?« sagte Garrick. »Eve?« Aber die Stimme von Eve schwieg.
Er legte auf, wartete, nahm ab und horchte. Kein Ton. Die Leitung war tot. Garrick erfaßte die Lage sofort – der aufgebrachte Mob in den Straßen, plündernd, brandschatzend, und die Telefongesellschaft war dagegen genausowenig immun wie alles andere, nicht wenn König Louis seine Soldaten losließ, wie Bluthunde, die zu lange eingesperrt waren. Der Maréchal de Marillac hatte ihn gewarnt. Garrick saß zehn Sekunden reglos da, die längsten zehn Sekunden seines Lebens. Dann ging er wieder in Melodys Zimmer, schlug das Heft auf und fing zu lesen an.
26
Ned Revere fuhr langsam am Gebäude der Telefongesellschaft vorüber. Aus den offenen Türen und eingeworfenen Fenstern drang Rauch. Eine böse Sache – falls die Feuerwehr hier nicht bald zu löschen begann, würde das Gebäude als ausgebrannte Ruine enden. Da fiel ihm ein, daß die Feuerwehr wie die Polizei nicht mehr funktionsfähig war. Er fuhr den letzten funktionsfähigen Streifenwagen und hatte verlassene Löschwagen in der Bank Street, in der Conant Street und draußen auf dem Strip gesehen. Und jetzt um halb zwölf waren die mit Trümmern übersäten Straßen fast menschenleer, und die Brände loderten ungehindert. Was nicht niet- und nagelfest war, wurde geplündert. Der Mob hatte sich verzogen. Hin und wieder huschte ein Fußgänger verstohlen die Straßen entlang. Das Zentrum von Martinsburg hatte sich hinter verschlossenen Türen zurückgezogen und leckte seine Wunden wie ein sterbendes Tier im Käfig. Revere kam an die Gemeindewiese, fuhr am Rathaus vorüber, an der Kirche und am Zeughaus. Flammen ließen den Kirchturm silhouettenhaft hervortreten. Dahinter brannte der ganze Häuserblock, und wenn der Wind sich drehte, würde auch die Kirche ein Raub der Flammen werden. Revere rieb sich den Nacken. Es war eine Geste der Erschöpfung. Hatte er die Kirche denn nicht schon brennen gesehen? Da fiel ihm die Nacht ein, als es den Schneesturm gegeben hatte, eine ruhige Nacht, doch er hatte das Schlimmste befürchtet. Er war draußen gewesen und hatte sich vorgestellt, der Kirchturm rage wie eine brennende Fackel zum Himmel empor. Fast hatte er
den verrückten Gedanken gedacht, es würde wirklich passieren. In der Rivoire Street fuhr er am Hause der Garricks vorüber, sah, daß alle Fenster beleuchtet waren, daß auch das Licht an der Haustür brannte. Ein Fahrzeug der Staatspolizei kam ihm entgegen, mit eingeschaltetem Blaulicht und Lichthupe. Revere trat auf die Bremse, während sich der andere Wagen längsseits schob. »Verdammte Sache, Ned.« Er erkannte das fleischige Gesicht unter der Mütze – Captain Tomlinson, der Chef der Staatspolizei in diesem Bezirk. Revere nickte trübe. Er war nicht mehr fähig, irgend etwas zu empfinden. Es war, als wäre er durch die Filmkulisse einer bei einem Luftangriff zerstörten Stadt gefahren. »Die Nationalgarde ist unterwegs«, sagte Tomlinson. »Der Befehl kam vor etwa zwanzig Minuten.« »Reichlich spät«, sagte Revere. »Ging nicht anders. Ballard ist ja hier nicht angekommen. Sein Wagen geriet draußen am Frenchman’s Creek ins Schleudern. Er war sofort tot.« Auch das nahm Revere hin wie alles andere, wie die wahllosen Brandstiftungen, die Plünderungen, die sich in bestimmten Vierteln austobten, andere wiederum ungeschoren ließen, während die Gemeindewiese in dem allgemeinen Tumult eine wahre Oase bildete. »Gibt es schon Tote und Verletzte?« fragte Tomlinson. »Ich habe ja keine Polizeitruppe mehr«, sagte Revere darauf. Er dachte an Whitlock, der aus dem Wagen gestiegen war und sich dem Pöbel angeschlossen hatte. Und er war nicht der einzige. Soviel Revere wußte, war er selbst der einzige Polizist in Martinsburg, der noch seinen Dienst versah – falls man das ziellose Durchfahren der demolierten Straßen so bezeichnen konnte.
Tomlinson verstand ihn nicht. »Zu wenig Leute im Einsatz? Ja, das sehe ich.« Revere erklärte es ihm nicht weiter. »Drüben im Rathaus gibt es Kaffee«, sagte Tomlinson. »Und etwas Eßbares. Kommen Sie nicht rüber?« »Danke. Später vielleicht.« Revere war ganz durcheinander, so, als müßte er noch etwas erledigen, doch er konnte sich nicht erinnern, was das war. Er wünschte, Tomlinson mit seinen allerbesten Absichten und dem mitleidigen Ausdruck würde ihn in Ruhe lassen. »Wir sind die ganze Nacht über da.« »Klar, Fred. Vielen Dank.« Sie fuhren in entgegengesetzter Richtung davon. Tomlinson zur Gemeindewiese, Revere zum Fluß. Er bog von der Ironbound Road links ab, dann von der Elm Street hinter der Schule nach rechts. Da stand die Schule hinter dem Zaun des Sportplatzes, unberührt von wahllos angewandter Gewalt und sinnloser Zerstörungswut. Wenn dies alles zu einem Ende gebracht war, würde man niemanden zur Verantwortung ziehen können, auch nicht Mauriello, der den Mob aufgehetzt hatte, und auch nicht die meisten der vierzig Polizisten, die mit dem Mob gelaufen waren. Mauriello war ein Symptom, aber keine Ursache. Die Uniformierten befolgten nur Befehle, die Befehle des Königs und des Maréchal de Marillac. Dem König oder Marillac die Schuld geben? Denen bedeutete die Stadt gar nichts. Und wenn das Straßenpflaster rot war von Blut, dann war es nicht mehr als ein Zufall der Politik. Ihre Entscheidung, die Dragoner zu schicken, war vom pragmatischen Standpunkt aus getroffen worden als ein kleiner Zug auf dem Schachbrett der Geschichte und nicht als Verrat an ihrem Volke.
Doch der Sieur de Ramezay, der hinter den Mauern seines Château in Sicherheit war – hatte der nicht das Plündern, das Brandschatzen und Vergewaltigen geduldet, ja ermutigt? Wenn einer schuld hatte, dann war es Ramezay. Sie ließ sich erschöpft gegen den Drahtzaun der Schule fallen, als das Polizeiauto langsam vorbeifuhr. Sie hatte nicht mal mehr die Energie, sich Craigs wegen Sorgen zu machen. Sie wollte nichts mehr, als sich irgendwo hinlegen und schlafen. Wäre da nicht Charlie gewesen, sie hätte keinen Schritt mehr weiter getan. Er würde sich um sie kümmern und dafür sorgen, daß sie sicher nach Hause käme. Sie gingen wieder die Elm Street entlang, und Charlie hielt ihren Arm und stützte sie. Wenn er sie heimbegleiten wollte, dann war die Ironbound der kürzeste Weg, doch sie überquerten die Straße und gingen geradeaus weiter. Die Elm Street zog sich endlos. »Wohin gehen wir?« »Nicht mehr weit.« »Aber da wohne ich nicht.« »Meine Wohnung ist viel näher«, sagte Charlie. Melody sollte es recht sein. Ihr war alles recht, solange sie sich irgendwo hinsetzen und hinlegen konnte. Charlie schob die Gartentür auf und führte sie über einen Weg, der an einem zweigeschossigen Haus entlangführte. Das Zeughaus. Ihr Vater. Sicher war er halb verrückt vor Angst um sie. »Könnten wir wohl gleich meinen Vater anrufen?« Sie hörte in der Dunkelheit Charlies Schlüssel klirren. Sie sah ein weiches Bett vor sich. Sie wollte sich ausstrecken, die Augen schließen und die Welt vergessen. »Wohnt sie nun hier im Haus oder nicht, dieses Euer Modell? Ich würde sie gern kennenlernen«, sagte Charlie.
Melody wollte schreien, doch sie brachte nicht mehr heraus als ein ersticktes kleines Schluchzen, ein Schluchzen der Verzweiflung.
Craig war Mauriello knapp auf den Fersen, während er die Treppe zum Dach des Hauses hinauflief, knapp hinter ihm, als er die Eisentür aufstieß, hinter ihm, als er übers Dach zum Aufzugsgehäuse lief, hinter ihm, als er Angel Garcia entdeckte, der auf der anderen Seite des viereckigen kleinen Baues kauerte. Außer Mauriellos keuchendem Atem war nichts zu hören. Er holte aus und schwang den Kolben der Flinte gegen Garcias Schädel. Garcia duckte sich rechtzeitig, und der Kolben prallte nur gegen die Mauer. Mauriello hieb ihm mit der Faust ins Gesicht und wollte wieder ausholen, als Garcia langsam zu Boden ging. Craig wußte, daß Mauriello nicht aufhören würde, ehe er diesen Garcia getötet hätte. Er packte Mauriellos Arm, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und gab so Garcia die paar Sekunden, die dieser brauchte, um die Treppe zu erreichen. Aber inzwischen war ein Dutzend Männer durch die Dachtür gestürmt, und Angel Garcia, der sich rasch in die andere Richtung wandte, war am Dachrand in die Falle geraten, acht Geschosse über der Straße.
Eve war verzweifelt. Sie hätte Garrick nicht noch zusätzlich Sorgen aufhalsen sollen. Jetzt, eine halbe Stunde nach dem Anruf, war Margriet wieder in ganz normaler Verfassung. Sie war völlig beherrscht, so vertieft in ihre Arbeit, daß Eve sich fragte, ob sie überhaupt wußte, was draußen vorging. Und wenn sie es gewußt hätte, wäre es ihr gleichgültig gewesen. Diese Haltung hatte auf Eve ein wenig abgefärbt. Das
Zeughaus stellte eine Zuflucht dar, seine dicken Steinmauern schlossen den Wahnsinn der Nacht aus, Eve wartete so begierig wie Margriet darauf, ob sich die zwei Gemälde voneinander trennen ließen. Margriets schöne dunkle Augen leuchteten vor Aufregung. »Hoffen wir, daß ich es richtig erwischt habe. In einer oder zwei Minuten müßten wir zwei Columbines haben statt einen.« »Ich weiß noch immer nicht, wie das funktioniert.« Margriet stutzte. »Da sind wir beide in der gleichen Lage. Ich habe es noch nie zuvor versucht. Ich bin nicht mal sicher, ob ich die Lösung richtig gemischt habe. Größtenteils Toluol, dazu in einem gewissen Verhältnis Propylalkohol und Aceton…« »Nein, ich meinte, wie die Bilder sich eigentlich trennen?« Margriet hob vorsichtig ein Eckchen der steifgewordenen Seide mit dem Messer ab. »Wenn es mir geglückt ist, daß sich der Firnis löst – und mehr wollte ich nicht –, dann bleibt das Übergemälde an der Seide haften, das darunterliegende bleibt auf der Leinwand.« Margriet schob das Messer behutsam unter eine andere Ecke der erstarrten Seide. Die Lösung hatte alles mit einer undurchsichtigen Schicht bedeckt und verbarg das Bild. »Los geht’s«, sagte Margriet.
Garrick klappte das Heft zu und schloß damit etwas von sich selbst in die Seiten ein, etwas, das er für immer verloren hatte… seinen Glauben an eine heile und geordnete Welt, an die Wahrheit hinter den Aufklebern, die wir Wissenschaft nennen, an ein wie ein Uhrwerk ablaufendes Universum, dessen Geheimnisse zugänglich waren, dessen dunkle Mysterien enthüllt wurden durch das geduldig sich vortastende Licht des menschlichen Verstandes.
All das war nun zunichte durch das, was er in diesen Seiten gelesen hatte, in der Art und Weise, wie die Einzelstücke sich zusammenfügten, Bourg St. Martin damals, Martinsburg heute… Er trat ans Fenster, sah hinaus in die Dunkelheit, sah das rote Glühen, sah sein Spiegelbild in der Scheibe. Was dachte er eigentlich? Diese Dinge gab es nicht, hatte es nie gegeben, würde es nie geben. Melody, deren Hinken verschwand, so wie Vater Vasili die Sehkraft des Auges wiedergewann; Dr. Tom, der anstatt des ungenannten Arztes von Bourg St. Martin gestorben war, Miles Pritchard anstelle des Priesters Gavrillac, Matt Hawley anstelle… wo paßte Matt da hinein? Einfach wahnsinnig. Tom Seymours Notizen über einen körperlichen Angriff, der Abdruck auf Dahlgrens Schulter. Melody, die sich zu Tode hungerte. Wo es noch einen Ramezay mit einer lahmenden Tochter gibt. Das Bild – viel zu neu, keine Zeichen der Alterung, nun im Zeughaus, und Margriet versuchte mit den Mitteln der Wissenschaft zu enthüllen, was darunter lag. Matt Hawleys Vision von vier gewaltigen Rössern. Percherons. Milsoudiers. Die Pentimenti – eines für Matt Hawley, eines für Dr. Tom, eines für Miles Pritchard. Der Sieur de Ramezay als heiliger Martin, auf dessen Antlitz Hochmut der Angst Platz gemacht hatte. Ramsey. Der Name seiner Urgroßmutter. Bourg St. Martin damals, Martinsburg jetzt… Er schlug auf sein Spiegelbild ein und zerbrach das Glas. Er lief hinunter, lief aus dem Haus und sah, daß gerade ein Polizeiauto vorbeifuhr. »Rob?« Es war Ned Revere.
Nur vier Häuserblocks bis zur Gemeindewiese, zum Zeughaus. In Neds Wagen nur Sekunden. Ned streckte die Hand gegen ihn aus. Hatte etwas in der Hand. Garrick sah Flammen, hörte den Knall. Die Kugel schlug hinter ihm gegen die Haus wand. Er lief. Wieder knallte es, dreimal, als Ned Revere in der Dunkelheit seine Verfolgung aufnahm.
Melody hielt die Augen fest geschlossen. Ich empfinde nichts, er tut es nicht, er hat mich nicht hierhergebracht, er ist nicht wahnsinnig, ist kein Tier, das mich zu Boden wirft, er ist Charlie Dahlgren, der schüchterne, höfliche Charlie Dahlgren, der das nicht tut, bitte, bitte nicht. Charlie, ich will nicht, daß du es tust! Bitte!
Die Fehler von Jean-Baptiste bedurften natürlich der Korrektur, doch diese Columbine setzte ihr Widerstand entgegen. Die Liebe zur Malerei lag ihr zu stark im Blut, als hätte Jean-Baptiste wie sie den dunklen, unbekannten Astralweg seiner Nachkommen an jenen Ort und in jene Zeit beschritten. Welcher Ort? Welche Zeit? Übers Meer, über ein Nichts vieler Generationen, dorthin, wo die Sprache eine Abart des Englischen war. War die Stadt, die nun ein Raub der Flammen wurde und deren Bürger zum Wahnsinn verdammt schienen, auch ein Bourg St. Martin? Die Sicht blieb unklar. Man konnte die Astralebene nicht zur Gänze verlassen. Man sah Phantome, sah seltsame und furchteinflößende Dinge – dröhnende Fahrzeuge, die sich mit eigener Kraft fortbewegten, andere wiederum, die wie
Kanonenkugeln über den Himmel sausten, Stimmen, die über große Entfernungen hinweg zu vernehmen waren. Waren denn die Menschen an jenem fernen Ort Meister der Schwarzen Künste, die die Natur besiegt hatten, sich über die Engel erhoben und die Einheit hinter dem Chaos des Universums entdeckt hatten? Hatten sie alle den Weg zur göttlichen Macht gefunden, den sie gesucht hatten? Vielleicht hätte sie Schwierigkeiten mit jedem Medium gehabt, das sie sich hier auserwählte? Vielleicht war diese Columbine-Nachkommin so widerspenstig wie alle anderen hier. Aber die gewonnene Macht würde sie schließlich alle vernichten – auch Ninive lag in Schutt und Asche, Thyrrus, Sodom, das hunderttorige Babylon, sie alle in Staub getreten. Sie sah die Zeit, die noch kommen sollte, wie viele Generationen später? Die Finsternis, die Flammen, die Städte zu Staub zerfallen. Vielleicht war es nur ihre Phantasie. Sie kehrte wieder, flatternd wie die Schwingen eines gefangenen Vogels, und kämpfte gegen die hartnäckige Seele der Frau, die eine Columbine war.
27
Margriet hielt die zwei bereits losgelösten Ecken des Seidenstoffes in der Hand. Sie brauchte ihn nur langsam wegzuziehen, und das verborgene Gemälde wäre enthüllt. Und sie brachte es nicht über sich. Sie wollte die Ecken wieder fallen lassen, das Messer zur Hand nehmen und die Leinwand zerschneiden. Nein! »Margriet?« Eve sah sie beklommen an. »Alles in Ordnung?« Die Seide in Händen, das Messer auf dem Tisch, die Stimme, ihre Stimme und doch nicht die ihre, die in ihrem Inneren so schwach hörbar war, daß sie kaum die Worte verstand… Vorbei. Die Stimme war verstummt. Vorsichtig, um das daran haftende Bild nicht zu beschädigen, zog sie die erstarrte Seide ab.
Er hörte Neds Schritte hinter sich. Fünfzig Meter? Weniger? Hatte er die Tür des Zeughauses verschlossen? Hatte Eve sie verschlossen? Wenn die Tür verschlossen war, dann war er ein toter Mann. Er lief die Treppe hinauf, warf sich gegen die Tür, war durch, lehnte sich innen an die Tür, drehte den Schlüssel um und lief durch den Gang zum großen Saal des Zeughauses. Eve und Margriet standen am Tisch. Margriet nahm eben die Seide ab. Eve lächelte ihm zu. »Genau zum richtigen Zeitpunkt«, sagte sie. Da stieß er sie zur Seite, stieß auch Margriet beiseite und mit ihr die Seide, packte das Messer, hörte eine Fensterscheibe klirren, und da war Ned
Revere, Revolver in der Hand, ein Bein schon über dem Fensterbrett. Er sah seinen eigenen Tod auf der Leinwand. Das Antlitz des heiligen Martin war nicht das des Sieur de Ramezay, sondern Garricks Gesicht, und der Bettler war ein Kind, ein Mädchen – Melody. Margriet kämpfte mit ihm um das Messer, lautlos schreiend. Ihre Stimme verlor sich im gewaltigen, umfassenden Tönen einer Glocke, Dr. Toms Astralglocke, und dann stach er auf die Leinwand ein, stach und schnitt, hin und her, vor und zurück. Pigmentschichten knisterten, splitterten, krümelten ab. Unter seinen Füßen schwankte der Boden, neigte sich. Er vernahm aus der Ferne ein Grollen wie Donner. Der Raum schwankte.
Das Dach war ins Schwanken geraten, und der Schock warf Craig gegen Garcia. Der zweite Stoß warf beide beinahe vom Dach. Vito Mauriello war vor ihnen auf den Knien, so nahe, daß sie ihn anfassen konnten. Er erhob sich langsam, die Flinte mit dem zerschmetterten Kolben noch immer in der Hand haltend. Da stand er nun, sehr lange, wie es ihnen schien. Alles wird kurz vor dem Tode verlangsamt und scheint zu warten, dachte Craig. Dann hörte er Mauriello sagen: »Seid ihr okay? Was war denn das eben? Etwa ein Erdbeben?«
Melody spürte, daß der Boden sich neigte und sie schüttelte, Charlie von ihr herunterschüttelte. Da lag sie nun und wagte sich nicht zu bewegen.
Dann hörte sie Schritte. Sie wurde zugedeckt, von etwas Rauhem und Warmem. Sie spürte eine Decke auf ihrer bloßen Haut. Was trieb sie hier eigentlich – unbekleidet? Sie schlug die Augen auf und sah ihn neben sich auf dem Boden kniend, in einen Bademantel gehüllt. Charlie Dahlgren. Da fiel ihr der Wohnblock am Fluß ein, Charlie vor der Tür, der Mob, der ins Haus drängte, Craig mit ihm, und Charlie, der sie nach Hause bringen wollte. Doch sie war nicht bei sich zu Hause. Sie wußte nicht, wo sie war. Sie hatte diesen Raum noch nie zuvor gesehen. Vielleicht war es Charlies Wohnung. Und nachdem sie sich angezogen hatte, hatte sie auch vergessen, daß sie nackt gewesen war. Charlie brachte zwei Tassen Kaffee. Ein hübsches Zimmer war das. Sie setzten sich an den Tisch, über ihnen hing ein Reiseposter. »Ich konnte deinen Vater nicht erreichen«, sagte Charlie. »Mit dem Telefon stimmt was nicht.« »Er ist im Zeughaus.« »Trink aus. Ich bringe dich hin.« »Weißt du, daß du herrlich Kaffee kochen kannst? Hast du etwas zum Dazubeißen? Ich bin halb verhungert.« Die Leinwand war eine Katastrophe. Dunkler, blasenbedeckter Firnis, lange, gezackte Risse, als hätte jemand das Bild mit einem Messer attackiert. Hatte er das getan? War er etwa wie ein Wahnsinniger hereingestürzt, hatte das Messer genommen und das Bild zerschnitten, weil Melody – was, ihr Buch? Er konnte sich nicht mehr erinnern und hatte im nächsten Moment vergessen, daß er etwas vergessen hatte. Margriet stand mit der steif gewordenen Seide da, an der Farbflecken und Farbstofflocken hafteten.
Sie weinte leise vor sich hin. »Ich habe es nicht geschafft«, sagte sie. »Die Lösung, oder die erforderliche Zeit – ich habe es falsch gemacht. Ich habe beide Bilder ruiniert.« Garrick wurde von einer Woge des Mitleids erfaßt. Arme Margriet – ein so unhübsches, schlichtes Mädchen! Ihre Arbeit war für sie das Leben – verständlich. Und jetzt war sie natürlich zutiefst enttäuscht. Von draußen hörte Garrick den Verkehrslärm von der Straße an der Gemeindewiese. Ned Revere kam von der Tür her. »Die Nationalgarde«, sagte er. Das klang recht forsch, trotz des Schreckens der Nacht, der plündernden Banden, der Brände, als wüßte er, daß das alles ein Ende gefunden hatte. »Ist euch nie der Gedanke gekommen, daß Nationalgarde und Rotes Kreuz einander in einem Punkt sehr ähnlich sind? Beide kommen immer um eine Spur zu spät.« Garrick hielt diese Bemerkung für unfair, doch er ließ sich auf keine Debatte ein. Die vergangenen zwei Wochen waren für sie beide schwer gewesen – gute Freunde waren gestorben und dazu diese unerklärliche Welle von Kriminalität. Kein Wunder, daß Ned zynisch geworden war. Er sah, daß Ned die Klappe seiner Revolvertasche öffnete, seine Dienstwaffe herausnahm und den Lauf an die Nase hielt. »Habe ich dieses verdammte Ding abgefeuert? Ja, zum Henker! Wann war denn das?« Er drückte das Magazin auf. »Vier Kugeln fehlen. Kapier’ ich nicht.«
28
Melody machte die Tür auf und warf sich Garrick in die Arme. Es war ein warmer Tag Anfang April. Garrick war tiefbraun, und Eve hatte noch mehr Sommersprossen als sonst. »Wie wär’s, wenn du deine überschüssige Energie auf unser Gepäck verwenden würdest?« schlug Garrick vor. Melody umarmte gerade Eve. »Na, Mutter«, sagte sie. »Soll ich euch etwa fragen, wie die Flitterwochen waren? Er ist für einen Flitterwöchner schon etwas alt, wie du weißt.« »Wenn du schon fragst – die Hochzeitsreise war einmalig«, antwortete Eve. Sie gingen hinein, und Melody schleppte einen der Koffer. »Weicher Sand, Korallenbänke«, seufzte Melody. »Sanfter Wind in der Nacht, der in den Palmblättern raschelt – gibt es dort Palmen?« »Keine Ahnung«, sagte Eve trocken. »Glaubst du etwa, ich hätte Zeit gehabt, mich da viel umzusehen?« Eve war in Ordnung. Eigentlich sehr nett, sie zur Stiefmutter zu bekommen. »Dreh dich mal, kleines Fräulein«, sagte Garrick. »Hm, dachte ich mir’s doch. Ein Ansatz von Bauch.« »Ach was, das macht die Haltung. Ich bin nicht dick.« »Habe ich nicht gesagt.« »Aber Craig behauptet es. Aber Charlie sagte, ich wäre nicht dick.« »Reichlich kompliziert«, meinte Eve. »Eigentlich nicht. Ich mag beide, aber aus verschiedenen Gründen. Daddy, Mr. Waugh hat heute angerufen. Es handelt sich um eine Anleihe für das neue Bürgerzentrum oder so.«
Garrick ging ans Telefon. »Hat das nicht bis nach dem Essen Zeit? Ich habe ein fabelhaftes neues Rezept für Hähnchen. Man brät es in einem Tontopf, damit es nicht austrocknet. Fast so wie die Zigeuner den Igel zubereiten.« »Igel?« fragte Eve mißtrauisch. »Köstlich, wie Bibi Tita ihn zubereitet hat.« »Was ist?« fragte Garrick. Melody machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ach nichts. Mir ist nur etwas eingefallen. Da war doch so ein kleines Büchlein, das sie mir mitgegeben hat. Es bedeutete ihr viel, und sie wollte, daß ich es lese.« »Na und?« fragte Garrick. »Ich habe es verloren. Ich kann es nirgends finden.«
Pete Kalem betrachtete das Bild. Die alte Frau, die den Trödelladen führte, hatte ihm erlaubt, es ins Freie zu tragen, damit er die Farben in der Sonne besser sehen konnte. »Was hältst du davon?« fragte er. »Mir gefällt es, Schätzchen«, sagte seine Frau. Seine Frau. Vor zwei Tagen noch seine Braut. Es war nicht zu fassen! Aber jetzt waren sie in Paris, und in wenigen Tagen würden sie nach Bourg St. Martin fahren und dort ihre Flitterwochen verbringen. Das Ehepaar Kalem kam aus Martinsburg und hatte vor vier Jahren, damals als Austauschstudenten, einen Sommer in Bourg St. Martin verbracht. »Na ja, aber sie wird sicher einen gepfefferten Preis verlangen. Und sie wird behaupten, es wäre ein alter Meister.« »Sieht ja auch richtig alt aus.« »Aber echte Meisterwerke findet man nicht in Altwarenläden in der – wie heißt diese Straße doch gleich?«
»Rue St. Martin«, sagte Linda Kalem. »Bitte, können wir das Bild nicht kaufen?« Pete Kalem starrte das Bild an, den Reiter im Vordergrund, der sich mit hochmütiger Miene aus dem Sattel beugte und den Mantel über einen in Lumpen gehüllten Bettler breitete. Dieser Teil des Bildes ließ Pete kalt, aber der Hintergrund, das war etwas anderes, den Hintergrund hatte er auf den ersten Blick erkannt. Es war Bourg St. Martin, hochaufragend auf seinem Felsen, wie der Bug eines Schiffes im Sturm, während die dräuenden Wolken von einem einzigen Sonnenstrahl durchbohrt wurden. Die Alte kam nun heraus, und sie feilschten um den Preis. Es war weniger, als Pete erwartet hatte, aber keineswegs billig. Trotzdem mußte Pete lächeln. Die Alte spürte in Linda eine Verbündete und fing an, sie zu bearbeiten, wie nur eine französische Händlerin es vermochte. »Fünfhundert sind zuviel«, sagte Pete, und die Alte ging auf vierhundertachtzig herunter, und das mit einer Miene, als wolle der Himmel einstürzen. »Ach Pete«, rief Linda. »Wir müssen es nehmen. Es ist Bourg St. Martin. Bis zu jenem Sommer wußtest du kaum, daß es mich gab.« »Vierhundertachtzig ist nicht wenig.« »Unsere Flitterwochen. Und das ist der Ort, an dem wir uns praktisch kennenlernten.« »Wir haben ja dafür nicht mal Platz im Auto.« »Ich werde Platz schaffen.« »Und in einem Monat wird es dir leid tun, daß wir es gekauft haben.« Nun tat Linda so, als wende sie sich an die vorbeiflanierenden Pariser um Hilfe. Auf französisch. »Eh bien, wo hat der Mann bloß sein Gefühl? Wo ist die Romantik? Wo bleibt sein Herz für die Frau, die…«
»Hör auf!« rief Pete. »Alle starren dich an.« »Kaufe das Bild!« »Vierhundert«, sagte Pete zu der Alten. Er handelte sich einen Blick ein, als wolle er ihr Enkelkind für vierhundert Franc kaufen. Sie einigten sich auf vierhundertfünfzig. Und das war das Bild wert, so viel verstand Pete davon’. Und es war es wert, das Lächeln auf Lindas Gesicht zu sehen, als sie sagte: »Ich kann es kaum erwarten, es nach Bourg St. Martin zu bringen. Dort wird es gleich über das Bett gehängt.«