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Gerade erst ist Phantásien vor dem Nichts gerettet worden – da taucht eine neue Bedrohung auf. Immer mehr Insomnier fallen dem Vergessen zum Opfer, werden schwächer und verschwin- den schließlich ganz. Schutz scheint es nur hinter den Mauern von Seperanza zu geben – doch die Stadt droht bereits aus allen Nähten zu platzen. Auch die junge Saranya, die dort bisher ein ruhiges, behütetes Leben geführt hat, könnte platzen. Allerdings vor Wut! Nur durch Zufall hat sie erfahren, dass sie ein Findelkind ist und ihre »Eltern« sie immer belogen haben. Während Saranya beginnt, das Geheimnis ihrer Herkunft zu lösen, muss sich Kayún auf die gefahrvolle Reise durch Phantásien begeben. Beide machen erstaunliche Entdeckungen und finden phantásische Freunde und Verbündete – doch sie ahnen nicht, dass sie in Gefahr schweben. Auch sie können dem Vergessen zum Opfer fallen...
Peter Freund lebt und arbeitet in Berlin, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Seit 1980 ist er in verschiedenen Funktionen in der Film- und TV-Branche tätig und als Autor und Produzent für zahlreiche Fernsehserien und -filme verantwortlich. Mit seinem Romanzyklus um das Mädchen Laura Leander, dessen erste beiden Bände erschienen sind, begeistert er eine stetig wachsende Fangemeinde. Mehr Informationen über den Autor finden sich auf seiner Website: www.freund-peter.de »Michael Ende hat mich in die Welt der Phantasie eingeführt – oder soll ich besser sagen: in die Welt von Phantásien? Denn schon mit dem ersten Buch, das ich von ihm gelesen habe, hat er mir die Augen dafür geöffnet, dass die Phantasie ebenso real ist wie die Wirklichkeit und dass die eine ohne die andere nicht existieren kann. Wovon nicht zu letzt ›Die unendliche Geschichte‹ auf so wunderbare Weise erzählt – und ›Die Legende von Phantásien‹...« Peter Freund
Peter Freund
Die Stadt der vergessenen Träume Roman
DROEMER
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Copyright © 2004 Peter Freund, Berlin und AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur. Hcrrschirig/Breitbrunn (Germany) Copyright für die deutsche Erstausgabe © 2004 Droemcr Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Unter Verwendung von Motiven aus der Fernsehserie »Tales from the Nevcrending Story« © 2002 The Movie Factory Film GmbH/Muse Entertainment Enterprises, Inc./Medien Capital Treuhand GmbH & Co. 1.KG/MGI Film GmbH & Co. KG 2 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Redaktion: Dr. Andreas Gößling Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Satz: Ventura Publisher im Verlag Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-426-19644-1 2 4 5 3 1
Prolog XAYÍDE
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unkle Wolken ballten sich am Firmament. Regen strömte vom Himmel, in dicken, schrägen Schnüren, wie von einem stumpfen Stift gezeichnet. Schon zuckten die ersten Blitze durch die Dämmerung. Donner grollte über das phantásische Land und mischte sich mit dem Prasseln des Regens zu einer düsteren Melodie. Der durchweichte Heideboden konnte die Sturzfluten nicht mehr fassen. Pfützen bildeten sich, wurden rasch größer und tiefer. Die Wacholderbüsche, die wie ein Heer furchtloser Wächter auf dem Ödland standen, waren schwarz vor Nässe. In einem der Sträucher, dem niedrigsten weit und breit, saß eine Elster. Der Wolkenbruch hatte sie auf dem Rückflug zu ihrem Nest überrascht, und so versuchte sie sich im Gebüsch vor den Unbilden der Witterung zu schützen. Das schwarzweiße Gefieder aufgeplustert, hockte sie fast reglos auf dem untersten Zweig und wartete auf das Ende der vom Himmel stürzenden Flut. Mochten die Blitze auch noch so zucken und der Donner brüllen – sie rührte sich nicht. Nur die schwarzen, lebhaft hin und her gleitenden Knopfaugen verrieten, dass sie nicht schlief. Mit einem Mal aber fuhr sie zusammen. Ihr 7
Kopf, den sie ganz dicht an den Körper gezogen hatte, schoss nach vorn und drehte sich gleichzeitig schräg zur Seite. Aufmerksam spähte der Vogel zu Boden. Der Regen hatte die obersten Wurzeln des Wacholderbuschs freigespült. Zwischen den erdbraunen Holztentakeln glitzerte es – ein paar Kieselsteine oder vielleicht Scherben? Oder war es doch der verknäuelte Leib einer Schlange? Als der nächste Blitz das Dunkel für einen Augenblick erhellte, konnte die Elster erkennen, was unter ihr am Boden lag: ein Gürtel. Sofort hüpfte sie vom Ast, um ihn näher zu beäugen. Der Gürtel war aus schmalen, beweglichen Gliedern geformt, die aus farblosem Glas bestanden wie die Schließe auch. Der Kopf der Elster zuckte abermals nach vorn. Vorsichtig pickte sie den sonderbaren Gürtel mit dem Schnabel an und versuchte ihn dann zu packen. Obwohl das Glitzerding zehnmal so lang wie sie selbst war, konnte sie es mühelos vom Boden aufheben. Erschrocken öffnete sie den Schnabel und ließ den Gürtel wieder fallen. Dann reckte sie den Kopf in die Höhe und keckerte ihre Freude in das Rauschen des Regens hinaus. Endlich versiegte die Sturzflut. Der Vogel äugte zum Himmel, schüttelte sich, um das störende Nass aus dem Gefieder zu stäuben, und packte den Gürtel aufs Neue mit seinem Schnabel. Dann schraubte er sich in die Höhe und flog in die graue Dämmerung hinein, die sich über die Heide gesenkt hatte. Achtlos flatterte die Elster über das Heer dahin, das am Fuße eines großen Erdwalls stand. Seit Tagen schon verharrte es an Ort und Stelle, und weder die riesigen gepanzerten Fußsoldaten noch die Reiter, die auf mächtigen Metallpferden saßen, hatten sich in der Zwischenzeit auch nur eine Handbreit bewegt. Vor einigen Tagen, als ihr die seltsame 8
Heerschar erstmals aufgefallen war, hatte die Elster sie ausgiebig beäugt. Inzwischen jedoch war ihr der Anblick zur Gewohnheit geworden, und so schenkte sie den stummen Kriegern keinerlei Beachtung mehr. Sie verschwand im letzten Grau des Tages und versäumte so die Geburt einer neuen Legende, welche die Geschichtsschreiber von Phantásien fortan vor große Rätsel stellen sollte. Noch bis zum heutigen Tag grübeln die Gelehrten darüber, ob wegen der sich nun entspinnenden Ereignisse die phantásischen Geschichtsbücher neu geschrieben werden müssten oder ob auch scheinbar sich widersprechende Geschehnisse nebeneinander bestehen können, damit jeder sich seinen eigenen Reim darauf machen kann. Bislang sind sie zu keinem eindeutigen Urteil gelangt. In einem allerdings sind sie sich einig: Die Ereignisse müssen sich wohl genauso zugetragen haben, wie sie in dieser Geschichte erzählt werden. Denn der Alte vom Wandernden Berge schreibt nur das auf, was in Phantásien geschieht – und nur das geschieht, was er aufschreibt. Es begann, als sich die Dämmerung mit der Nacht vermählte. Dunst stieg auf zwischen den Überresten des einstmals Furcht erregenden Heers. Die Konturen der Panzerriesen verschmolzen mehr und mehr mit der Dunkelheit und waren kaum noch zu erkennen, als der Wolkenvorhang mit einem Mal aufriss. Kein Lufthauch war zu spüren, und dennoch stob das Gewölk gleich einer Herde flüchtender Rösser zur Seite und gab den Blick frei auf den Himmel, an dem die fahle Scheibe des Neumondes stand. Die Pfützen zwischen den Füßen der metallenen Panzerriesen schimmerten in seinem matten Licht wie stumpfe Spiegel. Plötzlich regte sich etwas im schlammigen Grund, langsam und anscheinend unter großen Mühen. Waren es die Konturen eines Kopfes, die nun sichtbar wurden? Oder die Umrisse spitzer Schultern gar, die 9
aus dem Boden zu wachsen schienen? Und wirklich: Als würde sie aus dem Schoß der Erde geboren, kam eine schlanke Gestalt aus dem nassen Grund gekrochen, erhob sich und richtete sich zu voller Größe auf. Es war eine junge Frau, über und über mit Schlamm und Erde bedeckt. Für einen Moment verharrte sie reglos und sog die feuchte Luft ein. Dann reckte und streckte sie sich, bevor sie sich umdrehte und den Blick über die Reste ihrer Panzersoldaten schweifen ließ. Mit einem Mal verzerrte ein grimmiges Lächeln ihr Gesicht, und ihre Augen – das eine rot, das andere grün – glommen auf. Sie legte den Kopf in den Nacken, hob die Arme zum Himmel empor und ließ einen Schrei hören, der wie das Jagdgeheul eines hungrigen Raubtiers klang. Alle Geschöpfe, die sich in Hörweite aufhielten, zuckten vor Entsetzen zusammen, wussten sie doch, dass nur ein Wesen in ganz Phantásien zu einem solchen Schrei fähig war: Xayíde, die Dunkle Prinzessin. Xayíde konnte die Angst, die sie auslöste, fast körperlich spüren. Wie eine unsichtbare Welle rauschte die Panik über Phantásien und wurde größer und größer. Wieder stieß Xayíde einen lauten Ruf aus, der ihren Triumph in die Nacht hinaustrug. Ihr Plan war aufgegangen, und alle waren sie ihrer List erlegen: Atréju, Fuchur, Hýsbald, Hýdorn oder Hýkrion – einfach alle! Diese Narren! Sie hatten gedacht, sie hätte sich von ihren gepanzerten Riesen einfach zu Tode trampeln lassen, weil sie eingesehen hatte, dass Bastian für ihre Pläne verloren war. Bastian Balthasar Bux – dieses Menschenkind, das es geschafft hatte, Phantásien vor dem Nichts zu retten. Nun wollte er in seine Welt zurückkehren und hatte sich ihrem Einfluss entzogen – und trotzdem würde er ihr nicht entkommen, mochte er auch noch so sehr vom Gegenteil überzeugt sein. 10
Wie dumm der Kerl doch war! Wie hatte er bloß glauben können, dass sie sich so einfach geschlagen geben würde? Und seine Freunde – hatten sie wirklich nicht durchschaut, dass sie ihren Tod nur vorgetäuscht hatte? Für einen Moment verspürte Xayíde einen Anflug von Bitterkeit: Hielten diese Tölpel sie wirklich für so töricht, dass sie keine rechte Antwort wusste auf den schmählichen Verrat des Menschenkindes? Ahnte denn niemand von ihnen, was sie vorhatte? Dabei mussten sie doch wissen, dass es für Bastian nur einen Weg gab, auf dem er Phantásien verlassen und in die Menschenwelt zurückkehren konnte. Glaubten sie wirklich, dass sie das einfach so zulassen würde? Oder hatte ihr vermeintlicher Tod sie nur allzu sorglos gemacht? Wieder musste Xayíde grinsen. Alles deutete darauf hin, dass ihr Plan aufgehen würde. Dieses Menschenkind war sicherlich auch nicht klüger als seine Freunde, und so würde es arglos in die von ihr gestellte Falle tappen. Aber diesmal würde Bastian ihr nicht mehr entkommen. Im Gegenteil: Er würde zu ihrem willigen Werkzeug werden und ihr zum vollkommenen Sieg verhelfen! Noch einmal schallte ihr triumphierender Schrei durch die Nacht, und als ihr Blick den fahlen Neumond erhaschte, wusste Xayíde, dass es an der Zeit war, ihre Verbündeten zu begrüßen. Ruhig schritt die Dunkle Prinzessin über die Heide dahin, bis sie an den Saum eines Eichenhains gelangte. Xayíde verharrte und sah auf den Saum des Wäldchens, bis mit einem Mal ein zufriedenes Lächeln um ihre Lippen spielte. Im Schatten zwischen den Bäumen ballte sich die Finsternis mehr und mehr zusammen, und aus der tiefen Schwärze begannen sich fünf Gestalten zu formen. Noch glichen ihre Umrisse bloßen Schemen, doch bald schon wurden die Konturen deutlicher. Die hoch aufgeschossenen Kreaturen – nur 11
eine der fünf Gestalten war deutlich kleiner als die anderen – trugen lange Umhänge, gewebt aus nächtlicher Schwärze, die ihre Köpfe und Körper fast vollständig verhüllten. Lediglich ihre Füße ragten darunter hervor, und von dort, wo sich ihre Augen befinden mussten, glühte Xayíde ein grünes Feuer entgegen. Dann schallte ein Grollen über die Heide, das aus tiefen Kehlen zu kommen schien. Erneut verzog die Dunkle Prinzessin ihren schmalen Mund zu einem freudlosen Lächeln. Als sie einen Arm hob, hetzten die fünf Gestalten los. Kein Wort gab sie ihnen mit auf den Weg. Wozu auch? Es war unnötig, die Traumfänger an ihre Aufgabe zu erinnern. Sie war ihnen vertraut seit undenklichen Zeiten, und so wussten sie, dass ihnen nur die Zeit bis zum nächsten Vollmond blieb, um Beute in Phantásien zu machen und diese in der Nacht des reifen Mondes in die Menschenwelt zu verschleppen – so wie sie es unzählige Male zuvor getan hatten. Zufrieden blickte die Dunkle Prinzessin den davonhastenden Traumfängern nach. Seit die Schwarzen Kreaturen in ihrem Dienst standen, waren sie niemals ohne Beute zurückgekehrt. Und sie würden auch diesmal nicht versagen.
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1 SEPERANZA
A
uf dem Marktplatz von Seperanza herrschte reges Treiben. Käufer, Schaulustige und Flaneure drängten sich zwischen den Verkaufsständen, die den großen Platz in der Mitte der Stadt bis zur letzten Ecke füllten. Eine leichte Brise blähte die bunten Schutzplanen der Buden, auf denen gleißende Sonnenreflexe Fangen spielten. Auch die mit Purpurund Silberschiefer gedeckten Dächer der umstehenden Häuser glänzten im Licht des frühen Vormittags. Weithin waren das fröhliche Lachen und die lauten Stimmen der zahlreichen Marktbesucher zu vernehmen, die in farbenfrohen Gewändern über den Platz schlenderten und sich in allen Dialekten und Sprachen des Phantásischen Reichs unterhielten. Die einen deckten sich mit Purpurbüffelschinken und Grassamenfladen aus dem Land der Grünhäute ein, während andere nach Traumsaft und Nachttee aus dem Haulewald anstanden. Wieder andere gelüstete es nach dem erfrischenden Quellwasser aus den Silberbergen. Vor einem Stand, an dem Morgenblättertau aus dem Land der Singenden Bäume feilgeboten wurde, drängten sich wenigstens zwei Dutzend Frauen. Der kostbaren Essenz wurden wundersame Wirkungen nach13
gesagt: Einige Tropfen, auf der Haut verrieben, ließen ältere Damen um Jahre jünger erscheinen und selbst die hässlichsten Frauenzimmer in strahlender Schönheit erblühen. Dass es für diese Behauptungen keinerlei Beweise gab, schien niemanden zu stören, und so herrschte dort ein so großer Andrang, dass der feiste Morgenblättertau-Händler der Nachfrage kaum Herr wurde und seine Apfelbacken vor Anstrengung glühten. Auch am Stand daneben herrschte Hochbetrieb. Irrwichte, Wahnfratzen, Grauenhafte und Gräuelgruseler standen in langen Schlangen davor, um sich mit Schreckbohnen, Wutwurz oder Schauderkraut aus dem Gelichterland einzudecken. Gewiss – in Seperanza konnten sie niemanden mehr erschrecken. Aber offenbar wollten sie sich bereithalten für den Tag, an dem der Ruf sie wieder ereilte, auch wenn keiner von ihnen wissen konnte, wann das geschehen würde. Und so unterwarfen sie sich einer strengen Diät aus Gräuelspeisen, deren Genuss sie das Gruseln lehrte. Saranya jedoch konnte der Anblick der finsteren Gestalten schon lange nicht mehr ängstigen. Obwohl sie erst zwölf Sommer zählte, wusste sie, dass sich hinter dem abstoßenden Äußeren die liebenswürdigsten Wesen verbargen, und so verursachten selbst die monströsesten Fratzen und bis zum Irrwitz verformten Glieder kein Schaudern mehr bei ihr. Unbekümmert eilte das schlanke blonde Mädchen im schlichten roten Gewand an der Reihe der Schreckbolde vorbei. Den größten Teil ihrer Einkäufe hatte sie bereits erledigt, und der Weidenkorb, den sie über dem rechten Arm trug, war schon gut gefüllt. Nur das Fläschchen Sonnensirup fehlte noch, das sie auf keinen Fall vergessen durfte, wie die Mutter ihr eingeschärft hatte. Dieser Saft, den die Wolkenbauern, enge Verwandte der Sternputzer, aus den obersten Wolkenschichten 14
molken und dessen Rezeptur sie wie einen wertvollen Schatz hüteten, war ein altbewährtes phantásisches Heilmittel. Es half gegen jede Art von Seelengrau, seien es Traurigkeit, Wehmut oder Bitternis. Allerdings durfte Sonnensirup nur in Maßen genossen werden. Ein Löffelchen die Woche, mehr nicht, sonst setzte man sich der Gefahr aus, in grundlose Heiterkeit bis hin zum blanken Wahnwitz zu verfallen. Saranya hatte noch nie im Leben von der golden schimmernden Tinktur gekostet. Ihre Mutter Raya auch nicht, soweit sie wusste. Nur Vater Asmus benötigte hin und wieder ein Löffelchen davon, weil seine schwere Aufgabe ihn gelegentlich doch sehr bedrückte. Asmus war nämlich der Hohe Herr von Seperanza und saß dem Rat der Hohen vor, der die Geschicke der Stadt lenkte. Ein verantwortungsvolles Amt, und so war es nicht verwunderlich, dass der Hohe Herr Asmus von Zeit zu Zeit eine kleine Aufmunterung brauchte. Der Sonnensirup war nur bei einer einzigen Marktbude zu erhalten. Sie wurde von einem fahrenden Händler namens Zarafin betrieben, der zahlreiche Länder Phantásiens bereiste und daher seinen Stand nur einmal im Monat in Seperanza aufbaute. Für gewöhnlich stand er neben der großen Marmorsäule, die sich in der Mitte des Marktplatzes erhob. Das weithin sichtbare Denkmal erinnerte an Morpheus den Schläfrigen, den legendären Gründer der Stadt. Als Saranya bei der Säule ankam, war von Zarafins Marktstand jedoch nichts zu sehen. Dabei hatte sie ihn sonst immer schon von weitem erblickt, denn die Plane, die ihn vor den Unbilden der Witterung schützte, schillerte im Gegensatz zu den anderen Buden in allen Farben des Regenbogens. Verwundert schaute sich Saranya um. Seit fast drei Sommern erledigte sie nun schon die Einkäufe für ihre Mutter, und in der ganzen Zeit hatte Zarafin nicht ein einziges Mal gefehlt. 15
Ob dem freundlichen Mann, der ihr nach dem Einkauf stets einen Gruß an die Eltern auftrug, womöglich etwas zugestoßen war? Neben der großen Säule hatten sich schon etliche Leute versammelt, die ungeduldig auf den Sonnensirup-Händler warteten. Unter ihnen erkannte Saranya auch Mutter Gris, die ganz in ihrer Nähe wohnte. Das Mädchen gesellte sich zu der alten Frau, die ihr ergrautes Haar fast vollständig mit einem Tuch bedeckt hatte, das so schwarz war wie ihr bodenlanges Gewand. »Mutter Gris, wisst Ihr vielleicht, was geschehen ist?« Für einen Moment blickte die Alte das Mädchen verwirrt an. Dann schien sie Saranya zu erkennen, und ein Lächeln huschte über das faltige Gesicht. »Ach, du bist’s, Kind«, krächzte sie mit einer Stimme, die vom Alter brüchig geworden war. »Verzeih mir, aber ich war in Gedanken und habe dich deshalb nicht richtig verstanden.« Saranya wiederholte ihre Frage. Mutter Gris schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, was in Zarafin gefahren ist. Er hat uns doch noch nie warten lassen. In all den Jahren nicht, an die ich mich erinnern kann. Und das sind viele, mein Kind!« Saranya wollte ihr gerade eine weitere Frage stellen, als ganz in ihrer Nähe Unruhe aufkam. Der Strom der Marktbesucher teilte sich, und ein Mann mit einer Kiepe auf dem Rücken stapfte unter heftigem Keuchen und lautem Schimpfen heran. Saranya erkannte ihn sofort: Es war Zarafin. Wie immer hatte er ein rotes Kopftuch in Piratenmanier um den Kopf geschlungen. In frühester Jugend war er nämlich bei Rowen dem Roten in die Lehre gegangen, dem berüchtigtsten Piraten, der je das Große Schlafmeer unsicher gemacht hatte. Obwohl Zarafin längst vom Banditentum abgekommen war, 16
hing er immer noch an der altgewohnten Kleidung. Sein gelbes Oberhemd mit den weiten Puffärmeln wurde von einem braunen Ledergürtel mit großer Silberschnalle zusammengehalten und hing über die engen blauen Beinkleider hinab. An den Füßen trug er lederne Stiefel von der gleichen Farbe wie der Gürtel. Zarafin war also genauso gekleidet wie immer – nur sein Gesicht schien Saranya auf erschreckende Weise verändert. Das freundliche Lächeln war einem Ausdruck maßlosen Zorns gewichen, und die blauen, sonst immer so lustig blickenden Augen funkelten vor Wut. Neben der Marmorsäule schnallte der Händler seine Kiepe ab und stellte sie auf den Boden. »Diese Hornochsen!«, schimpfte er, und der große goldene Ring in seinem rechten Ohrläppchen zitterte. »Diese verbohrten Federfuchser und dreimal vermaledeiten Erbsenzähler! Ygramuls Gift soll sie zersetzen, und die Sümpfe der Traurigkeit sollen sie verschlingen!« Kopfschüttelnd drehte sich Mutter Gris zu Saranya um. »Was hat er nur?« In seinem Zorn hatte Zarafin so laut gesprochen, dass die Händler und Käufer noch drei Buden weiter die Hälse reckten. Kein Wunder, dass sich immer mehr Neugierige um ihn scharten. Sie brauchten nicht lange auszuharren, denn nun tat Zarafin mit drastischen Worten den Anlass seines Wutanfalls kund: Die Wachen am Stadttor hatten gewagt, ihn aufzuhalten – ihn, Zarafin, der seit Jahren regelmäßig den Markt besuchte! Und warum? Weil er die Wagenpapiere nicht mit sich führte! Hatte man jemals etwas Lächerlicheres gehört? Er musste sie wohl in der Herberge vergessen haben, in der er genächtigt hatte, und trug daher nur den auf seinen Namen ausgestellten Passierschein bei sich. Natürlich war ihm bekannt, dass nicht nur jede Person, die Einlass in 17
Seperanza begehrte, eine entsprechende Erlaubnis benötigte, sondern auch jedes Gefährt, das in die Mauern der Stadt gebracht werden sollte. Aber niemals hätte er damit gerechnet, dass die Torwachen ausgerechnet ihm die Einfahrt verwehren würden, nur weil er das läppische Stück Papier nicht vorweisen konnte. Schließlich kam er schon seit Jahren mit seinem Karren, der von einem Gespann kräftiger Büffelvögel gezogen wurde, in die Stadt. Außerdem hatten die meisten Gardisten schon bei ihm eingekauft und kannten ihn daher persönlich! Doch diese »Paragraphengaukler, Obrigkeitsknechte und Nichtlinge in Uniform« – um nur die harmloseren der von ihm gebrauchten Schimpfwörter zu erwähnen – hatten sich nicht erweichen lassen. Also musste er seinen Wagen vor dem Tor abstellen, die Zugtiere ausschirren und die Ware mit der Kiepe persönlich zum Marktplatz schleppen. Unverschämtheit! Während Zarafin die dickbauchigen Sonnensirup-Fläschchen aus der Kiepe holte und mit dem Verkauf begann, entspann sich ein lebhafter Disput unter der Käuferschar. Die einen gaben dem Händler Recht und hielten das sture Beharren der Torwächter auf den Vorschriften für reichlich übertrieben. Andere dagegen schlugen sich auf die Seite der Wachen. »Das war wohlgetan von den wackeren Wächtern«, sagte ein Mann mit spitzem Ziegenbart. »Wir wissen doch alle, wie viele Fremde versuchen, sich heimlich Einlass in unsere Stadt zu verschaffen. Dabei platzt Seperanza schon aus allen Nähten! Wir können keinen einzigen Neuankömmling mehr aufnehmen.« »Das ist allseits bekannt, Meister Stichel«, entgegnete eine Frau mit einer blauen Haube auf dem Kopf, »und tut dennoch nichts zur Sache. Jedes Kind weiß, dass Zarafin Händler ist 18
und am Ende eines jedes Markttages vor Einbruch der Dunkelheit unsere Stadt wieder verlässt, so wie es angeordnet worden ist.« »Das ist doch völlig unerheblich, Frau Zungenspitz«, beharrte Meister Stichel. »Vorschrift ist Vorschrift und muss von jedermann eingehalten werden. Und dass die strenge Passierregelung ihre Berechtigung hat, daran dürfte es doch keinerlei Zweifel geben, oder?« Sichtlich gespannt, ob ihm jemand zu widersprechen wagte, spähte er in die Runde, die Augen unter den buschigen Brauen zusammengekniffen. Die Blauhaube ließ sich von seinem lauernden Blick nicht einschüchtern. »Aber Zarafin hat nicht den geringsten Grund, in Seperanza zu bleiben! Er ist doch gar kein Insomnier, also kann ihm das Vergessen auch nichts anhaben. Und von dem braven Händler einmal abgesehen: Auch wenn Ihr im Gegensatz zu mir kein Insomnier seid, Meister Stichel, so wisst Ihr doch auch, dass wir nur in Seperanza vor dem Vergessen in Sicherheit sind. In den übrigen Teilen des Phantásischen Reichs kann dieses schreckliche Schicksal jeden aus unserem Volk ereilen – heute mehr denn je. Und deshalb dürfen wir, die wir das große Glück haben, in Seperanza zu leben, unsere Tore vor den armen Leuten nicht versperren und müssen ihnen helfen, so gut wir können.« Meister Stichels Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Euer Mitgefühl in allen Ehren, aber in einer so wichtigen Sache hilft nur kühler Verstand. Auch wenn ihr Insomnier den größten Teil der Einwohner unserer Stadt stellt, ist doch niemandem damit gedient, wenn wir unsere Sicherheit aufs Spiel setzen. Also hatten wir gar keine andere Wahl, als den zügellosen Zustrom zu stoppen.« Der Ziegenbart schenkte der Blauhaube ein mildes Lächeln, das allerdings etwas gezwungen wirkte. »Versteht mich nicht falsch. Ich fühle durchaus 19
mit Euch und kann Eure Haltung gut verstehen. Aber erst wenn sich die Zustände hier grundlegend gebessert haben und wieder mehr von Euch Insomniern den Ruf vernehmen und ihm auch folgen, können wir an eine Lockerung der Zugangsregelungen denken.« »Hört, hört!«, schallte es aus der bunten Käuferschar. »Sehr wohl!« Aber auch Widerspruch war zu vernehmen. Anfangs fand Saranya den hin und her wogenden Streit noch recht amüsant. Doch bald fing er an, sie zu langweilen, weil immer nur die gleichen Argumente wiederholt wurden und jede Partei stur auf ihrer Ansicht beharrte. Sie war deshalb froh, als sie endlich an der Reihe war und ihre Bestellung aufgeben konnte: »Ein Fläschchen Sonnensirup, wenn’s recht ist.« »Es ist sogar sehr recht. Schließlich ist das mein Geschäft.« Zarafm lächelte sie an, reichte ihr die gewünschte Ware und strich eine Silbermünze dafür ein. »Beehr mich bald wieder und bestell deiner Mutter meine besten Grüße.« Saranya dankte und verabschiedete sich. »Eins noch, Saranya«, sagte Zarafin, als sie sich bereits zum Gehen wandte. »Dass die Wachen sich allesamt wie dickschädelige Hornochsen aufführen, ist wohl nicht die Schuld des Rats der Hohen und schon gar nicht des Hohen Herrn Asmus. Richte deinem Vater bitte aus, dass mir unterwegs ein neuer Trupp von Optasomniern begegnet ist. Auch sie streben wohl auf Seperanza zu und werden sicherlich versuchen, in den nächsten Tagen in die Stadt zu gelangen. Herr Asmus sollte die Garde zu größter Wachsamkeit anhalten. Vergiss das nicht, Saranya.« Das Mädchen musste sich ein Lächeln verkneifen. Merkten die Erwachsenen denn gar nicht, wie widersprüchlich sie sich manchmal benahmen? »Keine Sorge«, antwortete sie aber nur 20
freundlich. »So weit ist mein Nachhauseweg nicht, dass mir Eure Botschaft bis dahin entfallen könnte.« Damit eilte sie davon, drängte sich durch die Menge der Marktbesucher und ließ den überfüllten Platz endlich hinter sich.
\ Der Weg zu ihrem Elternhaus führte Saranya durch die Alte Spukgasse, die von windschiefen Häusern gesäumt wurde. Sie schienen dem Verfall nahe und waren mit einem gleichförmig nachtmahrgrauen Anstrich versehen, die Türen hingen schief in den Angeln, und die meisten Fensterscheiben waren zerbrochen. Doch Saranya wusste, dass dem äußeren Anschein nicht zu trauen war. In Wahrheit nämlich lebte es sich in den Schauerhäusern recht bequem, und die Schreckbolde hatten sich gemütlich darin eingerichtet. Die Spukgasse führte auf den Irrlichterplatz, wo der Blenderbrunnen stand. Die steinerne Brunnenschale hatte einen Durchmesser von gut zwei Dutzend Schritten. Eine riesige Wasserfontäne schoss aus ihrer Mitte mindestens ebenso weit in die Höhe, um sich dann nach allen Seiten zu teilen und mit weithin hörbarem Rauschen in das Becken zurückzustürzen. Saranya war fast schon daran vorbei, als sie eine Stimme hörte, die ihren Namen rief. »Saranya – so wart doch mal!« Die Stimme kam direkt aus der Fontäne in der Brunnenmitte. Sie blieb stehen und drehte sich dem Brunnen zu, wo gerade ein Mädchen aus der emporschießenden Wassersäule trat. An den grasgrünen Strubbelhaaren und dem sommersprossigen Gesicht erkannte Saranya auf den ersten Blick Colina. Ihre Freundin stapfte durch das Wasserbecken auf sie zu, kletterte auf den Brunnenrand und sprang herab auf das Pflaster des Platzes. 21
»Hallo, Colina. Was gibt es denn so Wichtiges?« Saranya blickte den grünen Strubbelkopf neugierig an. Dass Haare, Gesicht und Kleidung ihrer Freundin keine Spur von Nässe aufwiesen, verwunderte sie nicht im Geringsten. Schließlich wusste sie so gut wie alle anderen Einwohner von Seperanza, dass der Blenderbrunnen seinen Namen zu Recht trug. Die Einheimischen amüsierten sich immer wieder köstlich, wenn Besucher vergeblich versuchten Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, um ihren Durst zu stillen oder sich den Staub von den Gesichtern zu waschen. Schadenfrohes Gelächter war den so Gefoppten dann gewiss. Jüngst jedoch war es einem kleinen Jungen sehr viel schlimmer ergangen: Vom Rand des Brunnens hatte er sich kopfüber in das vermeintliche Nass gestürzt und sich beim Aufprall auf den Grund des Beckens eine heftig blutende Platzwunde zugezogen. »Ich hab vorhin Pamina getroffen. Du weißt schon – die aus dem Graugramviertel«, erklärte Colina. »Sie und ihr Bruder Pamino fordern uns für nächste Woche zu einem Wettspiel im Schwebeball heraus. Wir sollten noch ein bisschen üben, findest du nicht?« Schwebeball gehörte zu Saranyas Lieblingsspielen. Kaum ein Mädchen verstand es so geschickt wie sie, den Ball in der Schwebe zu halten und durch die Reihen der Gegner zu führen, um ihn schließlich mit einem raffinierten Dreh in den Schwebenden Reifen zu befördern. Was Saranyas Mannschaft natürlich einen Wertungspunkt einbrachte, und wer als Erster neun Punkte erzielte, ging als Sieger vom Schwebeballplatz. Da Colina nicht viel schlechter war als sie selbst, bildeten die beiden Freundinnen eine Mannschaft, die kaum zu schlagen war. Deshalb wurden sie auch immer wieder zu Wettspielen herausgefordert, und die Gegner setzten alles daran, sie zu besiegen. Da hieß es ständig in Übung bleiben. 22
Enttäuscht verzog Saranya das Gesicht. »Geht leider nicht, Colina«, sagte sie. »Ich hab noch einiges zu erledigen. Aber wie wär’s mit heute Nachmittag?« »Gut«, antwortete die Freundin. »Aber vergiss es nicht! Du weißt ja, was Pamino für ein fürchterlicher Angeber ist. Wenn wir gegen ihn und seine Schwester verlieren, tratscht er das in der ganzen Stadt herum und macht sich über uns lustig.«
\ Bitterkalte Winde strichen über die weite, mit grauem Ritzelgras bewachsene Ebene und trieben dicke Wolken vor sich her. Die Bäume, die das karge Plateau auf der Ostseite säumten, fügten sich der heranbrausenden Gewalt und neigten sich widerstandslos zur Seite. Zu ihren Füßen stand eine windschiefe Hütte, und fast hatte es den Anschein, als suche sie unter den Bäumen ebenso Schutz vor den stetig wehenden Winden wie die kleine Schnarchschafherde, die sich zwischen den Stämmen zusammendrängte. Schnarchschafe waren die einzigen Tiere, die das scharfblättrige Ritzelgras zu fressen vermochten, ohne sich dabei blutige Wunden in Maul und Rachen zu holen. Ihre Mäuler, Zungen und der gesamte Rachenraum waren nämlich mit einer dicken Hornschicht bedeckt, die sie vor den messerscharfen Grasrändern schützte. Diese Hornschicht erschwerte den Tieren allerdings das Atmen, weshalb sie sich stets nur träge bewegten, um nicht in Atemnot zu geraten. Im Schlaf pflegten sie mit ohrenbetäubender Lautstärke zu schnarchen, was zu ihrem Schutz diente, ihnen aber nicht selten auch zum Schaden gereichte. Wer ihr entsetzliches Schnarchen zum ersten Mal vernahm, wagte sich gewiss nicht näher an sie heran, da er unfehlbar 23
annahm, dass es von einem schrecklichen Ungeheuer stammte. Raubtiere, die es auf Schnarchschafe abgesehen hatten, konnten ihre Opfer dagegen schon von weitem hören. Doch obwohl diese allenfalls im Schleichschritt zu fliehen vermochten, bestand kaum Gefahr, dass sie gefressen wurden. Das gallenbittere Ritzelgras, ihre Hauptnahrung, verlieh dem Fleisch der Schnarchschafe einen geradezu Ekel erregenden Geschmack, und ihre Milch war so ätzend, dass sie Löcher in Magen und Gedärm derer brannte, die sie versehentlich zu sich nahmen. Nur die Erztrolle mit ihren Eisenmägen vermochten sie schadlos zu trinken, weshalb die Schnarchschafe zu ihren bevorzugten Haustieren zählten. In der Hütte herrschte Dämmerlicht, der Mittagsstunde zum Trotz. Die Sonne versuchte mit wenig Erfolg, die staubtrüben Scheiben der zwei Fensterchen zu durchdringen. In der dunkelsten Ecke war ein ärmliches Lager aufgeschichtet, und darauf ruhte eine Frau. Ihr Körper war unter der Wolldecke kaum auszumachen. Ihr Gesicht wurde vom flackernden Schein einer Kerze erhellt. Es war totenblass und von Erschöpfung gezeichnet. Die Frau atmete schwer, während sie die beiden Kinder, die mit bedrückten Mienen an ihrem Lager standen, mit wehmütigem Lächeln ansah. Der schwarzhaarige Junge war von kräftiger Statur und gut dreizehn Sommer alt. Das schmächtige Mädchen mit den langen dunklen Zöpfen war um einiges jünger. Mit einer mühsamen Geste bedeutete die Frau ihnen noch näher zu treten. »Es tut mir schrecklich Leid, meine Kinder«, sagte sie mit einer Stimme, die wenig mehr als ein Flüstern war. »Es ist alles meine Schuld ...« Der Junge fiel ihr ins Wort. »Nicht doch, Mutter«, sagte er besorgt. »Ruh dich erst ein bisschen aus, damit du wieder zu 24
Kräften kommst. Es ist doch noch weit bis nach Seperanza. Unterwegs kannst du uns alles erzählen, was du auf dem Herzen hast.« »Dann ist es zu spät.« Die Frau lächelte gequält. »Ich werde die Stadt nicht mehr erreichen, denn ich habe die Gefahr, in der wir schweben, zu spät erkannt.« Die Kinder wechselten einen erschrockenen Blick, während die Augen ihrer Mutter sich mit Tränen füllten. »Ich bin einer schrecklichen Täuschung erlegen. Erinnert ihr euch, als wir Abschied von eurem Vater nehmen mussten?« Sie sah den Jungen an. »Kayún?« Er nickte. »Und du, Elea?« »Natürlich, Mutter.« Die Kleine zwang sich zu einem traurigen Lächeln. »Natürlich erinnere ich mich.« Die Frau wandte den Blick von ihrer Tochter ab und starrte für einige Augenblicke zur spinnwebverhangenen Decke der Hütte, in der sie Unterschlupf gesucht hatten auf ihrer Flucht vor dem drohenden Verderben. »Damals habe ich geglaubt«, fuhr sie fort, »das Nichts hätte euren Vater Erwein geholt. Doch nun weiß ich, dass das nicht stimmt.« Kayún räusperte sich. »Warum bist du dir da so sicher, Mutter?« »Ganz einfach, mein Junge: weil das Nichts seit dem Tag, an dem dieses Menschenkind der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen gegeben hat...« »Mondenkind«, hauchte Elea dazwischen. Die Mutter wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte mühsam. »Ganz recht: Mondenkind. Seit diesem Tag also ist das Nichts besiegt und stellt keine Gefahr mehr für uns dar, zumindest vorerst nicht. Trotzdem bin ich immer schwächer geworden. Wenn wir sofort aufgebrochen wären, 25
damals, dann wäre es vielleicht ...« Sie brach ab und starrte erneut zur Decke. Der Junge kniff verwundert die Augen zusammen. »Aber warum denn? Dass man sich kraftlos fühlt, ist doch ganz normal bei einer Erkältung. Besonders wenn sie so schwer...« »Ich bin nicht erkältet«, unterbrach ihn die Mutter, »so wenig wie das Nichts euren Vater verschlungen hat. Erwein ist vielmehr das Opfer des Vergessens geworden, und auch ich werde ihm nicht mehr entkommen können.«
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2 DIE INSOMNIER
B
lubbernde Geräusche waren in der stickig heißen Küche zu hören. Töpfe dampften auf dem Herd, aus dessen Schürloch der Schein des Holzfeuers drang. Schwitzend rührte Saranya die Seerosenblättersuppe um. Es war die Lieblingsspeise ihres Vaters, besonders, wenn die Blätter aus dem Großen Morkelsee am Rand der Sümpfe der Traurigkeit stammten. Das seien die besten in ganz Phantásien, behauptete Asmus, denn sie verliehen der Suppe einen vortrefflich melancholischen Geschmack. Der Hohe Herr konnte gar nicht genug bekommen von der köstlichen Labsal. Raya musste darauf achten, dass ihr Gatte nicht zu viel davon in sich hineinschlang. Dann verfiel er nämlich in Melancholie und benötigte wieder ein Löffelchen Sonnensirup, das ihn aufheiterte. Saranya musste kichern bei diesem Gedanken. Erwachsene! Sie waren nichts anderes als wandelnde Widersprüche. »Ist die Suppe fertig?«, fragte ihre Mutter. Saranya tauchte einen Löffel in die Suppe und pustete ein paar Mal, bevor sie vorsichtig schlürfte. Hmm – sie schmeckte wirklich gut. Leicht salzig, mit einem schwachen Nach27
geschmack von Algen. Auch die fein geschnittenen Seerosenblätter waren auf den Punkt genau gegart – noch knackig und bissfest, wie der Vater es liebte. »Alles in Ordnung«, sagte sie und hielt der Mutter den Löffel hin. »Koste doch mal.« Raya strich sich die kastanienfarbenen Haare aus der Stirn, nahm den Löffel und führte ihn an die Lippen. Ihre braunen Augen leuchteten auf, während sie genießerisch das Gesicht verzog. »Köstlich! Einfach köstlich!«, schwärmte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Du kochst ja schon besser als ich!« Ein Lächeln erhellte ihr freundliches Gesicht, während sie Saranya über das blonde Haar strich, das dem Mädchen bis auf die Schultern fiel. Dann nahm sie die Schöpfkelle und füllte einen Blechnapf mit der dampfenden Suppe. Nachdem sie ihn sorgfältig mit einem Deckel verschlossen hatte, fasste sie ihn am Tragegriff und reichte ihn der Tochter, die fast schon höher gewachsen war als sie selbst. »So, und jetzt lauf, damit sie nicht kalt wird. Aber pass auf, dass dein Vater nicht zu viel davon isst – du weißt schon warum, nicht wahr?« »Natürlich, Mutter.« Saranya zwinkerte ihr zu. »Keine Sorge, ich werde dem Hohen Herrn seine Ration ganz genau einteilen.« Damit eilte sie aus der Küche, um sich auf den Weg zum Hohen Haus zu machen.
\ In der kleinen Hütte schwieg die zu Tode erschöpfte Mutter noch immer. Sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu bedrängen, setzte Elea sich vorsichtig auf ihr Lager und sah sie bekümmert an. »Was ich nicht so recht verstehe ...« »Ja?« 28
»Warum sind ausgerechnet wir Insomnier so anfällig für das Vergessen – und die anderen Bewohner Phantásiens nicht?« Die Mutter zog ein gequältes Gesicht. »Das ist das große Rätsel, das uns Insomnier schon seit Anfang der Zeiten bedrückt. Doch bis zum heutigen Tag haben nicht einmal die klügsten und eifrigsten Forscher es lösen können. Seit es uns gibt, müssen wir mit der Gefahr des Vergessens leben und können nur darauf hoffen, dass eines Tages jemand den Grund dafür entdeckt. Dann wird es vielleicht auch möglich sein, ein Mittel dagegen zu finden. Für mich aber ist es zu spät. Mein Schicksal ist nicht mehr abzuwenden.« Sie brach ab, und ihr bleiches Antlitz schien noch fahler zu werden. Wortlos ergriff das Mädchen die Hand des Bruders, der sich neben sie gesetzt hatte, und drückte sie ganz fest. Das Sprechen bereitete der Mutter zunehmend Mühe. Nur stockend kamen die Worte über ihre durchscheinenden Lippen. »Ihr müsst weiter fliehen und euch in Sicherheit bringen, meine Kinder. Auch wenn ich noch keinerlei Zeichen an euch entdecken kann, seid auch ihr vom Vergessen bedroht. Versucht Seperanza so schnell wie möglich zu erreichen. Nur in dieser Stadt seid ihr sicher vor dem Vergessen. Wartet dort in aller Ruhe ab, bis der Ruf wieder an euch herangetragen wird. Dann erst könnt ihr euch aufs Neue in die Weiten Phantásiens hinauswagen.« Ein wehmütiges Lächeln tanzte über ihr Gesicht, dessen Konturen nun immer mehr verblassten. »Kayún?« Der Junge senkte den Kopf, bis sich sein Ohr ganz dicht am Mund der Mutter befand. »Du bist um einiges älter als deine Schwester und schon weit herumgekommen in Phantásien«, flüsterte sie ihm mit 29
schwindender Stimme zu. »Elea benötigt deine Hilfe und deinen Beistand. Versprich mir, dass du deine Schwester beschützen wirst, bis ihr die sichere Obhut der Stadt erreicht habt.« »Ja, Mutter.« »Schwöre es – beim Andenken deines Vaters!« »Ich schwöre es beim Andenken meines Vaters«, wiederholte der Junge und schloss die Augen. »Ich werde dafür sorgen, dass Elea nichts zustößt – und wenn ich mein Leben dafür geben müsste.« »Gut«, wisperte die Frau zurück. Als Kayún die Augen öffnete, war nichts mehr von der Mutter zu sehen. Sie hatte sich vollständig aufgelöst. Nur ihre Stimme war noch zu vernehmen, wenn auch kaum mehr hörbar. »Vergesst mich nicht«, hauchte sie. »Und denkt immer daran, dass ich euch lieb ...« Aber da wurde ihr ersticktes Raunen auch schon ins Nichts verweht und verstummte für immer. »Mutter?«, rief Kayún voller Verzweiflung. Während Elea zu schluchzen begann, griff er zur Decke und zog sie zur Seite – doch darunter war nichts. Nicht die geringste Spur der Mutter war mehr auf dem Lager zu erkennen – und da wusste Kayún, dass sie von nun an ganz auf sich gestellt sein würden. Im Hohen Haus, dem Magistratsgebäude von Seperanza, waren nicht nur der Sitzungssaal, in dem der Rat der Hohen regelmäßig tagte, sondern auch die Amtsstuben und sonstigen Kammern und Räume der vielköpfigen Verwaltung untergebracht. Seinem Namen zum Trotz war das Hohe Haus
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allerdings schon lange nicht mehr das höchste Gebäude der Stadt. In grauer Vergangenheit, als es errichtet worden war, hatte es alle anderen Häuser um Längen überragt. Doch daran konnte sich kaum noch jemand erinnern. Und Saranya natürlich schon gar nicht. Dabei war das Hohe Haus nach wie vor ein recht imposanter Bau. Von weitem gesehen, wies es eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem überdimensionalen Spitzhut auf. Es stand mitten auf dem Magistratsplatz, war kreisrund und ragte von einem flach ansteigenden Steinsockel, der an eine Hutkrempe erinnerte, in die Höhe. In den ersten drei Stockwerken verringerte sich der Durchmesser des Gebäudes stetig, während er in den darüber liegenden sechs Etagen nahezu gleich blieb. Das Dach des Hauses schließlich bildete eine spitz zulaufende Kuppel. Diese für ein Gebäude recht eigenartige Form war allerdings nicht etwa einer schrulligen Laune seiner Erbauer entsprungen. Sie war vielmehr den hohen, aus dünnem Goldblech getriebenen Hüten nachempfunden, die die Mitglieder des Rates bei ihren Sitzungen zum Zeichen ihrer Amtswürde zu tragen pflegten. Weshalb die Außenwände des Hohen Hauses auch mit einem Anstrich aus glänzender Goldfarbe versehen worden waren, in die man winzige Partikel feinsten Flussgoldes gemischt hatte. Die Zahl seiner Etagen entsprach nicht nur der Anzahl der Ratsmitglieder: Neun Jahre dauerten auch die Amtsperioden, für die sie von den Einwohnern der Stadt jeweils gewählt wurden. Nach der Wahl bestimmten die neun Hohen einen aus ihrer Mitte zum Hohen Herrn, der als ihr Ranghöchster einen Hut tragen durfte, welcher die Kopfbedeckungen der anderen um mehr als zwei Handbreit überragte. Wie schon in den beiden Amtsperioden davor nahm auch gegenwärtig wieder Saranyas Vater Asmus diese verantwortungsvolle Position ein, und 31
alle Einwohner Seperanzas waren sich sicher, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändern würde. Denn der Hohe Herr Asmus übte seine vielfältigen Ämter sehr gewissenhaft und umsichtig aus, und es gab kaum Klagen über ihn zu hören. Die Wachen am Eingangsportal – wie alle ihre Kollegen zählten auch sie zu den Adlerleuten, die so genannt wurden, weil auf ihren Schultern imposante Adlerköpfe saßen – ließen Saranya anstandslos passieren. Alle Mitglieder der Magistratswache kannten das Mädchen, das seinem Vater jeden Tag das Mittagessen brachte. Auch der Portier, der seinen Platz gleich hinter dem Eingang der geräumigen Halle hatte, begrüßte sie mit einem freundlichen Nicken, bevor er sich wieder dem Besucher aus Sassafranien zuwandte, der vor seiner Loge stand. »Vergesst nicht«, schärfte er diesem ein, »Euren Passierschein wieder bei der Torwache abzugeben.« »Wieso das denn?«, fragte der Mann. Saranya wollte über so viel Unwissenheit schon die Nase rümpfen, als ihr sein zerfurchtes Gesicht auffiel. Da die Sassafranier als Greise geboren wurden und als Babys starben, musste er noch sehr jung sein. Wahrscheinlich handelte es sich um seinen ersten Besuch in Seperanza, weshalb er mit den hiesigen Gepflogenheiten noch nicht so recht vertraut schien. »Ganz einfach«, begann der Pförtner seine Erklärung, aber da war Saranya bereits außer Hörweite. Schließlich wusste sie seit langem, aus welchem Grund die Gardisten den Passierschein von jedem, der die Stadt verließ, wieder einsammelten: Wenn das Stadttor bei Einbruch der Nacht geschlossen wurde, konnten sie anhand der Dokumente leicht nachprüfen, ob keine auswärtigen Besucher in der Stadt geblieben waren. Fehlte eines der ausgestellten Papiere, so wurde der Betreffende unverzüglich zur Fahndung ausgeschrieben und ein Suchtrupp nach ihm ausgeschickt. 32
Für einen Augenblick überlegte Saranya, ob sie sich über die Treppe ins oberste Stockwerk begeben oder sich lieber der Laufenden Stufen bedienen sollte, die in jeder Etage des Hohen Hauses bereitstanden. Sie ersparten einem das mühselige Steigen, weil sie jeden, der sie betrat, geschwind ins gewünschte Geschoss schleppten. Saranya entschied sich für die Laufenden Stufen. Kaum trat sie auf eine der fußbreiten Schwellen, als ihr auffiel, dass die Laufende Stufe pitschenass war. »Was ist passiert? Hat jemand Wasser auf Euch vergossen?« »Das nicht«, antwortete die Angesprochene, »aber vorhin musste ich drei Kiemlinge transportieren. Sie verlangten zum Hohen Herrn gebracht zu werden. Und sie waren nicht nur überaus feucht, sondern auch ganz schön schwer, Mademoiselle.« Dann erkundigte sie sich höflich nach Saranyas Ziel: »Wohin darf ich Sie bringen, Mademoiselle?« »Ebenfalls zum Hohen Herrn Asmus, bitte.« »Oje«, seufzte die Stufe, »schon wieder ins oberste Geschoss. Heute bleibt mir auch gar nichts erspart. Zum Glück scheint Ihr mir nicht allzu schwer zu sein, Mademoiselle.« Damit setzte sie sich in Bewegung und huschte flink über die Treppe nach oben. Im neunten Geschoss angelangt, bedankte sich Saranya bei der Laufenden Stufe und eilte auf den Amtssalon des Hohen Herrn zu. Bereits von weitem konnte sie sehen, dass heute wieder Bubu zur Türwache eingeteilt war. Saranya kannte den alten Eulenkopf schon lange. Im Inneren des Hohen Hauses taten nicht die scharfsichtigen Adlerleute Dienst, sondern ihre Vettern, die Eulenköpfe. Die konnten zwar nicht so gut sehen wie die Adlerleute, waren dafür aber um vieles klüger, so dass sie gleichzeitig als Amtsdiener gebraucht werden konnten. Saranya nickte Bubu freundlich zu und wollte 33
schon zur Klinke greifen, als der Eulenkopf sie ansprach: »Du wirst doch nicht kneifen wollen, oder?« Saranya verzog das Gesicht. »Bitte, nicht, Bubu«, sagte sie gequält. »Nicht schon wieder.« »Stell dich nicht so an«, entgegnete der oberste Amtsdiener. »Wir haben’s doch bisher immer so gemacht, oder?« »Ja, schon. Aber heute ist mir einfach nicht danach. Außerdem bin ich spät dran, glaube ich.« »Bist du nicht!«, wischte Bubu ihre Bedenken zur Seite. »Du bist pünktlich wie immer. Außerdem hat der Hohe Herr noch Besuch. Was aber das Wichtigste ist: Brauch ist Brauch, und deshalb wollen wir es auch heute so halten wie immer. Oder gibt es einen Grund, davon abzuweichen?« Das Mädchen verdrehte die Augen. »Also gut«, seufzte sie und ergab sich in ihr Schicksal. »Dann mach schon, Bubu.« »Wusste ich doch, dass du einsichtig bist.« Der Eulenkopf grinste. »Dann mal los: Ein jeder Vogel hat’s in seinem Nest; im Kelch von jeder Blume sitzt es fest, du siehst’s im Spiegel, hast es im Gesicht; und nur in deiner Hand entdeckst du’s nicht!« Hätte ich mich bloß nicht darauf eingelassen, ging es Saranya durch den Kopf. Seit sie vor geraumer Zeit Bubus eher scherzhaft gemeintem Vorschlag zugestimmt hatte, erst nach Lösung eines Rätsels das Zimmer ihres Vaters betreten zu dürfen, hatte sich daraus ein Ritual entwickelt, an dem der Eulenkopf unerbittlich festhielt. An jedem Tag, an dem er Dienst tat, stellte er ihr ein neues Rätsel. Manchmal leichter, manchmal schwerer, gab es Saranya stets Anlass zum Nachdenken. Glücklicherweise kam sie diesmal recht schnell auf die Lösung. »Willst du mich beleidigen, Bubu?«, sagte sie und tat entrüstet. »Oder glaubst du, ich wäre noch ein Kleinkind? Dein 34
Rätsel ist nicht halb so schwer, wie es im ersten Moment den Anschein hat. Man muss es nur wörtlich nehmen: Die Lösung ist der Buchstabe E. Er kommt in den Wörtern ›Vogel‹, ›Nest‹, ›Kelch‹, ›Spiegel‹ und auch ›Gesicht‹ vor, nicht aber in ›Hand‹ – habe ich Recht?« »Ist ja gut, ist ja gut«, antwortete der Eulenkopf kleinlaut, bevor er dem Mädchen die Tür öffnete. »Aber warte nur bis morgen. Dann werde ich dir eine Aufgabe stellen, die deinen Kopf zum Qualmen bringt.« Als Saranya in das geräumige Gelass trat, das dem Hohen Herrn nicht nur als Amtsstube diente, sondern in dem er auch die Gäste des Magistrats empfing, verabschiedete Asmus gerade eine dreiköpfige Delegation von froschgesichtigen Kiemlingen. Diese dickbäuchigen Geschöpfe, die von einigen auch Süßwassermänner genannt wurden, waren im Land der Glitzernden Seen beheimatet, wie das Mädchen wusste. Es war eine der wasserreichsten Regionen des Phantásischen Reichs, die von Hunderten von Flussläufen und Tausenden von Seen durchzogen wurde. In diesen wimmelte es von Getier aller Art, besonders aber von Glitzerfischen, deren glänzende Schuppen die Gewässer aussehen ließen, als seien sie mit flüssigem Silber gefüllt. Wodurch sich natürlich der Name der Region erklärte. Diese Glitzerfische waren nicht nur prächtig anzusehen, sondern auch äußerst schmackhaft und bei den Einwohnern von Seperanza überaus begehrt. Der Hohe Herr Asmus hatte mit den Kiemlingen, die über die Fischereirechte in der Region verfügten, Gespräche über ein langfristiges Handels- und Lieferabkommen führen wollen. Seiner Miene nach zu urteilen, mussten die Verhandlungen erfolgreich verlaufen sein, denn Asmus strahlte übers ganze Gesicht, während er den drei Süßwassermännern die mit Schwimmhäuten versehenen Hände drückte und ihnen einen 35
guten Nachhauseweg wünschte. Die grünhäutigen Besucher, auf deren kiemenbewehrten Köpfen sich Algen und Tang kringelten – ihr Anführer trug sogar eine grellrote Seerose auf dem froschähnlichen Haupt –, bedankten sich und platschten zur Tür. Jeder Schritt ihrer schwimmhäutigen Füße hinterließ eine kleine Pfütze auf dem Marmorboden. Bevor sie den Raum verließen, gab Asmus ihnen noch einen Rat mit auf den Weg: »Hütet Euch vor den Optasomniern, meine Herren. Sie lagern in großer Zahl vor den Mauern unserer Stadt und haben sich zu einer wahren Landplage entwickelt. Diese gedankenlosen Nachäffer sind zwar nicht weiter gefährlich, aber manchmal genügt ihr bloßer Anblick, um Übelkeit und Erbrechen hervorzurufen, und das möchte ich Euch ersparen, Eure Feuchtigkeiten.« Der Sprecher der Wassermänner verzog belustigt das Froschmaul: »Platscheraplatsch, Herr Asmus – wir sind schon mit viel übleren Kreaturen fertig geworden, so dass wir die Optasomnier nun wirklich nicht fürchten. Für Euch und Eure Stadt jedoch scheinen sich die Herrschaften langsam zu einem echten Problem zu entwickeln, wie mich dünkt?« Der Hohe Herr zog ein gequältes Gesicht. »Wie Recht Ihr doch habt, Eure Feuchtigkeit. Und leider ist uns noch keine überzeugende Lösung eingefallen.« Dann bemühte er sich wieder zu lächeln. »Aber lasst unsere Sorgen nicht die Euren sein und gehabt Euch wohl!« Damit verbeugte er sich, und die Besucher verließen den Raum. Nachdem die Kiemlinge die Tür hinter sich geschlossen hatten, begab sich Herr Asmus an den langen Holztisch, den eine Abordnung von mondäugigen Nachtalben vor einigen Sommern als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Sanft strich er Saranya, welche die mitgebrachte Suppe gerade in einen Teller füllte, übers Haar und schnupperte. »Hmm! Riecht das 36
wieder köstlich!«, schwärmte er und schloss mit verzückter Miene die Augen. Saranya lächelte. »Lasst es Euch schmecken«, sagte sie. Anders als bei ihrer Mutter, gebrauchte sie beim Vater nicht das vertrauliche Du, sondern, wie in Seperanza zwischen Eltern und Kindern allgemein üblich, das förmliche Ihr. Nicht, dass Herr Asmus das von ihr verlangt hätte. Aber Saranya war zu dem Eindruck gelangt, dass diese Anrede ihm besser gefiel und auch seiner Amtswürde eher entsprach. Während der Vater stumm seine Suppe löffelte, strich Saranya in seinem Salon umher. Herr Asmus konnte es nicht ausstehen, sich während des Essens zu unterhalten, und so ließ das Mädchen ihn währenddessen lieber in Ruhe. Das Gelass des Hohen Herrn, dessen Wände mit Goldfarbe gestrichen waren, nahm eine Hälfte des obersten Stockwerks des Hohen Hauses ein. Von den Fenstern aus hatte man nicht nur einen ausgezeichneten Blick über die Stadt, sondern konnte auch bis weit über den dichten Trugwald sehen, der Seperanza von allen Seiten umschloss. Saranya lehnte sich an die Scheibe und kniff die Augen zusammen. Ganz in der Ferne, am Horizont, schimmerte ein schmaler Streifen gelben Landes auf. Das war die Gggrrrpfffüüü-Wüste, die zwischen dem Trugwald und dem Großen Schlafmeer lag. Saranyas Augen glitzerten in der spiegelnden Scheibe. 0b ich wohl jemals erfahren werde, wie es dort aussieht?, kam es ihr kurz in den Sinn, bevor sie den törichten Gedanken wieder aus ihrem Kopf verscheuchte. Schließlich wusste sie längst, dass es für alle in Seperanza lebenden Insomnier, die den Ruf noch nicht vernommen hatten, äußerst gefährlich war, die schützenden Mauern der Stadt zu verlassen. Weiter als bis in den Trugwald hatte sie sich deshalb auch noch nicht gewagt. Doch selbst diese 37
seltenen Ausflüge hatte sie stets nur in Begleitung von Erwachsenen unternommen. In dem dichten Wald, der noch dazu ständig sein Aussehen änderte, konnte man sich leicht verirren, und so war schon manch ein Unglücklicher auf Nimmerwiedersehen darin verschwunden. Zudem setzte man sich mit jedem Schritt, den man sich von der Stadtgrenze entfernte, der Gefahr aus, vom Vergessen befallen zu werden. Das Mädchen seufzte. Warum nur, ging es ihr durch den Kopf, warum müssen ausgerechnet wir Insomnier mit diesem Schicksal leben? Warum sind nicht auch die anderen Völker Phantásiens von dem schrecklichen Vergessen bedroht? Die Grasleute, die Sassafranier, die Amargánther und wie sie sonst noch alle heißen mögen? Und wieso kann mir keiner erklären, warum das so ist? Selbst mein Vater nicht! Saranya drehte sich um und warf dem Hohen Herrn Asmus einen verstohlenen Blick zu. Der löffelte mit zufriedenem Gesicht seine Suppe und merkte anscheinend nicht, dass er beobachtet wurde. Er muss doch ein kluger Mann sein, überlegte sie, denn sonst hätte man ihn kaum zum Hohen Herrn gewählt. Wusste er also wirklich nicht, was es mit diesem rätselhaften Vergessen auf sich hatte? Glaubte er tatsächlich, dass es schlichtweg nur »Schicksal« war, wie er auf ihre Fragen zu antworten pflegte – oder wollte er es ihr nicht sagen? Machte er, wie alle Erwachsenen, vielleicht nur deshalb ein großes Geheimnis darum, weil er glaubte, sie sei noch viel zu jung, um es verstehen zu können? Diese Fragen gingen Saranya schon seit geraumer Zeit durch den Kopf, und je mehr sie sich damit beschäftigte, umso mehr quälten sie sie. Nicht, weil sie noch keine rechte Antwort darauf gefunden hatte, sondern weil ihr immer klarer wurde, dass sie sich erst dann zufrieden geben würde, wenn sie das Rätsel endlich gelöst hätte. Sie musste einfach 38
herausfinden, was es mit dem Vergessen auf sich hatte. Saranya wusste nicht, warum, aber tief in ihrem Inneren spürte sie, dass sie dadurch in große Gefahr geraten würde. Und das machte ihr Angst. Einfach nur Angst.
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3 DER HOHE HERR
C
ourage konnte man Kayún nun wirklich nicht absprechen. Schließlich hatte er trotz seines jugendlichen Alters schon viele Regionen Phantásiens bereist und dabei so manches Abenteuer schadlos überstanden. Und dennoch: Die Aussicht, ganz auf sich gestellt und nur in Begleitung der kleinen Schwester den weiten Weg nach Seperanza antreten zu müssen, verursachte ihm ein mulmiges Gefühl im Bauch. Dabei wusste er genau, wie er in die Stadt gelangen konnte, auch wenn er noch niemals dort gewesen war. Der kürzeste Weg führte fast schnurgerade in Richtung Süden, zunächst über die Ritzelgrasebene und über den höchsten Pass des Eisiger-Wind-Gebirges. Daran schloss sich das Glasland an, hinter dem sich das Gebiet der Salzbauern bis an die Gestade des Großen Schlafmeers erstreckte. In Contrario, der alten Hafenstadt, würden sie sicherlich ein Schiff finden, das sie über das Meer brachte. Dann galt es nur noch die Gggrrrpfffüüü-Wüste und den Trugwald zu durchqueren – und schon würden sie vor den Mauern Seperanzas stehen. Ganz einfach also – und doch ganz schrecklich weit. Verstohlen musterte der Junge seine Schwester. Elea war 41
nicht nur drei Sommer jünger als er, sondern auch so schmächtig gebaut, dass sie fast zerbrechlich wirkte. Würde sie die Strapazen des langen Weges überhaupt durchhalten? Vermochte sie die kältestarren Höhen des Eisiger-WindGebirges zu bezwingen? Höchstwahrscheinlich nicht, und so war es wohl besser, das Gebirge zu umgehen. Aber selbst dann war es mehr als fraglich, ob sie jemals nach Seperanza gelangen würden. Allerdings ließ sich Kayún seine Zweifel nicht anmerken. Der Tod der Mutter hatte Elea schon genug verstört, und so wollte er sie nicht noch zusätzlich beunruhigen. Er bemühte sich denn auch um eine zuversichtliche Miene und versuchte ihre Frage mit fröhlicher Stimme zu beantworten. »Natürlich, Elea. Natürlich weiß ich, wie wir nach Contrario kommen«, sagte er und lächelte. »Und den Weg durch diese Wüste mit dem unaussprechlichen Namen und durch den Trugwald werden wir einfach erfragen. Wir sind doch mit Sicherheit nicht die Einzigen, die sich auf die Reise nach Seperanza gemacht haben. Mit ein bisschen Glück stoßen wir vielleicht sogar auf andere Insomnier, die mit dem gleichen Ziel unterwegs sind. Dann können wir uns ihnen ja anschließen.« »Hoffentlich hast du Recht.« Elea warf einen scheuen Blick über die Schulter zu der kleinen Hütte, vor der sie mit ihrem Bruder stand. »Wenn Mutter sich nicht getäuscht hat, dürften wirklich einige Insomnier auf dem Weg nach Seperanza sein.« »Meine Rede«, antwortete Kayún. Alles war bereit zum Aufbruch. Sie hatten noch mal ausgiebig gegessen und auch reichlich getrunken, um sich für den langen Weg zu stärken. Dennoch zögerte der Junge und warf einen abschätzenden Blick in die Ferne. Der Wind strich mit unverminderter Heftigkeit über die Ebene, graue Wolken 42
verdeckten die Sonne, und die hohe Bergkette, die den Horizont in südlicher Richtung begrenzte, sah nicht gerade einladend aus. Das Eisiger-Wind-Gebirge wurde wegen der bitterkalten Winde so genannt, die stets um seine Gipfel tosten. Im Winter wuchsen sie gar zu heftigen Stürmen heran, so dass es zu dieser Jahreszeit so gut wie unmöglich war, das Gebirge zu überqueren. Doch selbst im Sommer herrschte auf den Pässen noch eine fürchterliche Kälte. Außerdem konnte es in der warmen Jahreszeit vorkommen, dass die schneebedeckten Gipfel Feuer spien und glühendes Gestein ausspuckten. Einen solchen Ausbruch hatte Kayún zwar noch nicht miterlebt, dennoch schauderte ihn bei dem bloßen Gedanken. Auch aus diesem Grund ist es besser, das Gebirge zu umgehen, kam es ihm in den Sinn, und nicht nur aus Rücksicht auf Elea. Kayún griff nach dem Bündel, zu dem er ihre Habseligkeiten mitsamt den restlichen Vorräten geschnürt hatte. Eine verschrammte Blechkanne und eine Bratpfanne waren daran befestigt. »Komm schon«, forderte er die Schwester auf, während er sich den Packen über die Schulter warf. »Gehen wir los.« »Wie du meinst.« Elea schluckte. Es war ihr anzusehen, dass sie Angst hatte, und trotzdem bemühte sie sich zu lächeln. »Uns bleibt ja nichts anderes übrig: Ohne den ersten Schritt kommt niemand ans Ziel.« Kayún musste grinsen. Das war der Lieblingsspruch ihres Vaters Erwein gewesen, den er bei jeder Gelegenheit zu zitieren pflegte. »Ja, ja, Vater«, hatten die Geschwister dann immer schnell geantwortet und sich heimlich angegrinst. »Du hast ja so Recht.« Wenn sie dann wieder unter sich gewesen waren, hatten sie sich über ihn lustig gemacht und seinen Spruch auf ihre Weise verdreht: »Ohne Ziel macht niemand 43
den ersten Schritt.« Oder auch: »Mit dem ersten Schritt kommt niemand ans Ziel.« Dem Jungen wurde plötzlich ganz weh ums Herz, denn der schreckliche Gedanke, der ihm beim Tod der Mutter gekommen war, stieg neuerlich und mit unerbittlicher Klarheit in ihm auf: Sie hatten jetzt niemanden mehr, der sich um sie kümmerte und sorgte. Von nun waren sie ganz auf sich gestellt. Kayún wurde ernst. »Komm schon, Elea«, sagte er und ergriff die Hand seiner Schwester. »Ich werde dich nach Seperanza bringen, das verspreche ich dir.« Damit setzten sie sich in Bewegung. Schnurgerade und immer in südlicher Richtung schritten sie über die weite Ebene dahin. Die Schnarchschafe, die sich inzwischen aus dem Schutz der Baumgruppe zum Grasen auf die Ebene hinausbegeben hatten, warfen ihnen noch ein paar scheele Blicke hinterher. Dann senkten sie wieder die Köpfe, um unter angestrengtem Atmen und mit mahlenden Kiefern das graue Ritzelgras abzuweiden.
\ Längst war von den Geschwistern nicht die geringste Spur mehr zu entdecken, und sicherlich hatten sie sich auch schon aus dem löchrigen Gedächtnis der Schnarchschafe geschlichen, als ein unheimliches Geräusch über die Ebene ging: ein dumpfes Grollen wie von hungrigen Raubtieren. Die kleine Herde schreckte auf, die Tiere wandten sich um und starrten zu den Bäumen am Ostrand der Ebene. Unweit der windschiefen Hütte traten fünf unheimliche Gestalten zwischen den Stämmen hervor. Sie waren hoch aufgeschossen, nur einer von ihnen war deutlich kleiner. In 44
lange schwarze Umhänge gehüllt, die Köpfe und Körper bedeckten, spähten sie genau in die Richtung, die Kayún und Elea vor geraumer Zeit eingeschlagen hatten. Witternd drehten sie die Köpfe in den Wind und unterhielten sich, ungelenk gestikulierend. Ihre gutturalen Laute, die wild durcheinander klangen, erinnerten an Höllenhunde. Eigentlich war es so gut wie unmöglich, Schnarchschafe aus der Ruhe zu bringen, und da es ihnen an natürlichen Feinden mangelte, neigten sie auch kaum zum Erschrecken. Doch der Anblick der fünf Schwarzen Kreaturen war derart Grauen erregend, dass selbst diese behäbigen Tiere laut aufblökten, um dann die Flucht zu ergreifen, so schnell ihnen das eben möglich war. Allerdings hatten sie kaum fünf Schritte zurückgelegt, als sie auch schon keuchten wie asthmatische Büffel unter einer schweren Last. Und dennoch sollte sich überall in den phantásischen Landen alsbald die Kunde verbreiten, dass Schnarchschafe noch niemals schneller gelaufen seien als an diesem trüben Nachmittag in den unwirtlichen Weiten der Ritzelgrasebene – doch dies ist eine andere Geschichte und soll deshalb auch ein andermal erzählt werden.
\ »Vater?« Saranya sah den Hohen Herrn erwartungsvoll an. »Erlaubt Ihr eine Frage?« »Gleich, mein Kind, gleich.« Herr Asmus kratzte mit dem Löffel die letzten Suppenreste aus dem Teller, um diesen dann mit einem Stück Algenbrot auszuwischen, damit ihm auch nicht ein Tröpfchen der köstlichen Seerosenblättersuppe entging. »Hmmm!« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und strich sich behaglich über den Bauch. »War das wieder lecker!« 45
Mit unverhohlenem Grinsen schielte Saranya auf die Kugel, die sich unter dem mit Goldstickereien verzierten Kaftan des Vaters wölbte. Sein Bauch wurde immer dicker, und wenn er weiterhin alles, was ihm schmeckte, unmäßig in sich hineinschlang, würde er eines Tages bestimmt platzen. Und von Schnarchschafsragout einmal abgesehen, gab es so gut wie nichts, was Asmus nicht mundete! »Nun, mein Kind – was wolltest du mich denn fragen?« Saranya setzte sich auf den Stuhl neben dem Hohen Herrn, der sie liebevoll anlächelte. »Werden denn alle aus unserem Volk von diesem schrecklichen Vergessen befallen?« Herr Asmus fasste sich ans Kinn und begann es nachdenklich zu reiben. »Nun – alle nicht, obwohl es jeden treffen kann. Dennoch gibt es viele Insomnier, die damit noch niemals Bekanntschaft gemacht haben.« »Aber ...» Saranya runzelte die Stirn. »Wen trifft es – und wen nicht? Und vor allen Dingen – warum?« »Genau das ist ja das Problem: Niemand kann wissen, wann und warum es den einen befällt, den anderen dagegen nicht. Manch einer von uns hat ein langes Leben hinter sich gebracht, ohne auch nur einmal in Gefahr zu geraten, während es andere bereits im zarten Kindesalter erwischt. Und dann gibt es für die Unglücklichen nur noch eine Rettung – nämlich ...« »... hinter den Mauern Seperanzas Zuflucht zu suchen?«, fiel die Tochter ihm ins Wort. »Ja, genau – bis der Ruf sie erneut ereilt und sie sich wieder gefahrlos hinaus in die Weiten Phantásiens begeben können.« Das Mädchen zog eine Grimasse. »Aber wann das geschieht, kann niemand wissen?« Herr Asmus schüttelte den Kopf. »Nein, das habe ich dir 46
doch schon mindestens hundertmal erklärt.« Wie ein stummer Vorwurf kerbte sich eine kleine Falte in seine Stirn. »Dieser Ruf trifft einen wie aus heiterem Himmel. Den einen schon nach ein paar Tagen aufs Neue, den anderen niemals mehr.« »Aber er kann jeden ereilen?« »Eigentlich ja«, antwortete der Hohe Herr. »Egal, ob jung oder alt, ob Mann, Frau oder Kind. Jedem Insomnier, der in den Mauern unserer Stadt lebt, kann es widerfahren, dass er den Ruf vernimmt. Unsere Stadtschreiber, die genau Buch führen über die Zu- und Abgänge, haben allerdings festgestellt, dass denjenigen, die innerhalb der Stadtmauern geboren werden, dieses Glück weit seltener zuteil wird als jenen, die ihren ersten Atemzug in unserer Heimat Insomnien tun. Und so gibt es viele, die ihr ganzes Leben in Seperanza verbringen müssen.« Der Hohe Herr bemerkte offenbar, dass ein betretener Ausdruck das Gesicht der Tochter trübte, und so fügte er rasch hinzu: »Tut mir Leid für dich, aber ich dachte, ich hätte dir das längst...?« »Natürlich«, antwortete Saranya bedrückt. »Außerdem ist es ja nicht Eure oder Rayas Schuld, dass ihr mich hier bekommen habt.« Für einige Augenblicke sagte keiner der beiden ein Wort, und da der Lärm von Straßen und Plätzen nicht bis in den neunten Stock hinaufdrang, herrschte fast vollkommene Stille. Nur das Säuseln des Windes vor den Fenstern und der gelegentliche Ruf eines Vogels waren zu hören. Nach einiger Zeit räusperte sich das Mädchen. »Woran«, fragte sie, »merkt man eigentlich, dass dieser Ruf einen ereilt?« Asmus legte die breite Stirn in Falten, und Saranya hatte den Eindruck, als färbte sich sein von der Anstrengung des 47
Essens gerötetes Gesicht noch dunkler. Der Filzhut auf seinem fast kugelrunden Kopf zitterte kaum merklich. »Nun, das ist schwer zu beantworten, und ich weiß nicht so recht, wie ich es dir erklären soll. Entweder man verspürt den Ruf – oder man verspürt ihn nicht.« »Aber woran denn, Vater?« Das Mädchens zog eine Grimasse. »Es muss doch untrügliche Anzeichen dafür geben, oder nicht? Wie war es denn bei Euch, damals, als Ihr ...?« Saranya brach ab, denn die Miene des Vaters verdüsterte sich wie ein Sommerhimmel vor Ausbruch eines Gewitters. »Ach.« Der Hohe Herr Asmus machte eine wegwerfende Geste. »Das ist schon so lange her, dass ich mich kaum mehr daran erinnern kann.« Er wandte sich ab und blickte in die Ferne. Wenn Saranya sich nicht täuschte, dann verschattete nun Wehmut seine Augen. Sie streckte den Arm aus und legte ihre Hand ganz sachte auf die Rechte des Vaters. »Erinnert Ihr Euch denn gar nicht mehr?«, fragte sie sanft. »Nicht vielleicht ein ... klitzekleines bisschen?« Der Hohe Herr wandte sich wieder dem Mädchen zu. Erleichtert sah sie, dass er schmunzelte. »Nun – vielleicht ein klitzeklitzekleines bisschen, wenn du dich damit zufrieden gibst?« »Natürlich!« Saranya rückte näher an den Vater heran und sah ihn gespannt an. »Erzählt doch – bitte!« »Es war so«, begann Asmus, die Augen zum Fenster gewandt, als könne er dort die Bilder einer längst vergangenen Zeit erblicken, »dass ich mit einem Mal, von einem Augenblick auf den anderen, den Eindruck hatte, von einem übermächtigen Verlangen erfüllt zu sein. Alles in mir drängte danach, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Ich 48
verspürte ein unbändiges Sehnen, wenn du verstehst, was ich meine.« »Ihr meint, Ihr habt Euch ganz toll gewünscht, von hier wegzugehen?« Der Vater schüttelte den Kopf. »Nein, Saranya. Es war mehr als das. Viel mehr als nur ein Wunsch. Was wünscht man sich nicht alles, wenn der Tag lang ist! Mal dieses und mal jenes, und manches bekommt man und das andere wieder nicht. Aber das ist nicht weiter schlimm, und man geht nicht daran zugrunde, wenn ein Wunsch mal nicht in Erfüllung geht.« »Aber bei dem Ruf ist das anders?« »Genau.« Der Hohe Herr nickte. »Dieser Drang ist so übermächtig, dass man meint, auf der Stelle platzen zu müssen, wenn man ihm nicht nachgibt. Und dieses Gefühl wird mit jedem Augenblick stärker, bis du dir schließlich sicher bist, dass du sterben musst, wenn du die Stadt nicht auf der Stelle verlässt.« Saranya schluckte und schaute den Vater für eine Weile nur wortlos an. Nein, ein so übermächtiges Gefühl hatte sie noch nie verspürt. Natürlich – manchmal, wenn sie sich über die Eltern geärgert hatte zum Beispiel, hatte sie sich schon gewünscht, von zu Hause abhauen zu können. Aber dieser Drang hatte sich meist rasch wieder gelegt, und übermächtig war er schon gar nicht geworden – mit Sicherheit nicht. »Aber ...« Saranya zögerte. Sie wusste nicht so recht, ob sie dem Vater die Frage stellen sollte, denn sie ahnte, dass diese ihn seit langem bedrückte. Dann überwand sie sich doch. »Das ist schon lange nicht mehr geschehen, oder? Dass der Ruf einen von uns ereilt hat, meine ich?« »Wie wahr, wie wahr.« Der Hohe Herr seufzte. »Und genau das ist unser Problem. Keiner verlässt mehr die Stadt, weil niemand mehr den Ruf vernimmt. Das geht nun schon seit 49
geraumer Zeit so. Früher war das ganz anders. Alles war noch im Gleichgewicht, und die Zahl der Einwohner, die die Stadt verließen, um ihr Glück in den Weiten des Phantásischen Reichs zu erproben, war stets annähernd so groß wie die der Insomnier, die in unseren Mauern Schutz vor dem Vergessen suchten.« »Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern, Vater.« Ein wehmütiges Lächeln legte sich auf das Gesicht des Hohen Herrn Asmus. »Das will ich dir gerne glauben«, sagte er und strich Saranya über das seidige Blondhaar, »denn das war lange vor deiner Zeit.« Damit erhob er sich und schritt zu den breiten Fenstern, die nach Süden gingen. Für einen Erwachsenen besaß der Hohe Herr Asmus reichlich kurze Beine, so dass er Saranya mit seinem mächtigen Bauch manchmal vorkam wie eine wandelnde Kugel. Das Mädchen stand ebenfalls auf und gesellte sich zum Vater, der seinen Blick über die Stadt schweifen ließ. Dicht an dicht standen Häuser, Wohntürme, Werkstätten, Lagerhallen, Schulen, Akademien und was es sonst noch an Gebäuden geben mochte. Ihre Dächer gleißten im goldenen Licht der Mittagssonne. Asmus ließ einen Seufzer hören. »Früher einmal war Seperanza eine wunderschöne Stadt, mein Kind.« »Mir gefällt sie auch heute noch«, warf Saranya ein. »Natürlich – weil du sie nicht so kennst wie ich. Mit den prächtigen und großzügigen Gebäuden von damals, den breiten Straßen und Alleen und den weitläufigen Parks, in denen man lustwandeln und dem Müßiggang frönen konnte. All das ist längst vergessen. In den zurückliegenden Jahren mussten wir beinahe jeden freien Fleck bebauen, um Unterkünfte zu schaffen für die Landsleute, die bei uns Zuflucht suchen. Wir haben die alten Bauten aufgestockt und neue Wohntürme 50
errichtet, die das Hohe Haus weit in den Schatten stellen. Wir haben alles getan, was wir konnten – und dennoch hat es nicht ausgereicht. Die Zahl derer, die an die Pforten der Stadt klopfen, wird täglich größer, und ich fürchte, daran wird sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern. Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, lungern auch immer mehr Optasomnier vor unseren Mauern herum und begehren Einlass. Dabei sind sie gar keine echten Insomnier und behaupten nur, dass sie zu uns gehören. Aber wir können ohnehin niemanden mehr aufnehmen. Seperanza platzt aus allen Nähten, und wir haben Mühe, jeden ausreichend mit Nahrung zu versorgen.« Der Hohe Herr schwieg und blickte gedankenverloren über die Stadt, die sich zu seinen Füßen ausbreitete. Für eine Weile sagten weder er noch seine Tochter ein Wort. Schließlich war es Saranya, die das Schweigen brach. »Aber warum?«, fragte sie leise. »Warum vernimmt niemand mehr den Ruf?« »Wenn wir das wüssten, wären wir einen guten Schritt weiter.« Der Hohe Herr wiegte nachdenklich den Kopf. »Die Gelehrten an der Akademie« – Asmus deutete auf ein vielgeschossiges Gebäude, das sich in der Form eines neunzackigen Sterns nahe der südlichen Stadtmauer erhob – »plagen sich schon seit langer Zeit mit dieser Frage herum, haben Forschungen und Untersuchungen verschiedenster Art angestellt – und dennoch hat keiner von ihnen eine einleuchtende Erklärung für dieses Dilemma entdecken können. Und ich fürchte, solange das so ist, werden wir wohl auch keine Lösung für das Problem finden.« Saranya schüttelte betreten den Kopf. Mit einem Mal jedoch kam ihr eine Idee. »Aber warum«, fragte sie aufgeregt, »lasst Ihr die Stadtmauern nicht einfach abreißen und 51
erweitert die Stadt? Dann wäre doch Platz für alle da, oder nicht?« Der Hohe Herr lächelte und wollte eben zu einer Antwort anheben, als es an die Tür klopfte und Bubu in den Raum trat. »Es tut mir schrecklich Leid, wenn ich störe«, sagte der alte Eulenkopf, während er eine Verneigung andeutete, »aber in Kürze beginnt die Sitzung des Rates. Und Ihr wisst doch, Hoher Herr, die Hohen werden sehr schnell ungehalten, wenn die Besprechung nicht pünktlich beginnt. Besonders die Mürrischen Drei: Xandus, Yandus und Zankus.« »Wie wahr, wie wahr!« Asmus seufzte und verdrehte die Augen. »Dann wollen wir sie lieber nicht warten lassen.« Er eilte zu einem Wandschrank und holte den hohen Goldhut daraus hervor. Während er ihn an die Stelle des Filzhutes setzte, verabschiedete er sich von seiner Tochter. »Tut mir Leid, dich zu vertrösten – aber die Antwort auf deine Frage muss bis heute Abend warten.« »Schade«, murmelte Saranya. Doch sie sah ja ein, dass sie den Vater nicht länger aufhalten durfte. Bevor sie sich zurückzog, warf sie noch einen letzten Blick auf den Goldhut. Die Ornamente auf seiner Oberfläche faszinierten sie, seit sie den Hut zum ersten Mal gesehen hatte: Kreise, Drei- und Vierecke sowie weitere rätselhafte Symbole waren darauf eingraviert. Als sie den Hohen Herrn Asmus nach ihrer Bedeutung gefragt hatte, hatte der sie vertröstet: »Das wirst du später alles erfahren, mein Kind.« Fragte sich nur, wann das sein würde, dieses Später.
\ Während Saranya durch die engen Straßen der Stadt nach Hause ging, hing sie ihren Gedanken nach. Die zahlreichen 52
Gestalten, die um sie herumwieselten und -wuselten, nahm sie gar nicht richtig wahr. Eine Frage beschäftigte sie ganz besonders: Warum nur ereilte niemanden mehr der Ruf? Dafür musste es doch einen Grund geben! Und wenn es den gab, dann musste er doch auch herauszufinden sein – oder nicht? »Pass doch auf, wo du hintrittst, du Rotzgöre!«, riss eine verschnupfte Stimme Saranya aus ihren Gedanken. Erschrocken sah sie auf – und blickte einer Laufenden Nase mitten ins griesgrämige Gesicht. Ausgerechnet! Laufende Nasen gehörten nämlich zu der weitverzweigten Familie der Plage- oder Quälgeister, die es nur darauf abgesehen hatten, anderen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Saranya war nun wirklich nicht in der Stimmung, sich mit einem dieser gefürchteten Wesen auseinander zu setzen. Zum einen, weil die meistens überaus anhänglich waren: Wenn sie einen erst einmal erwischt hatten, ließen sie sich nur mühsam wieder abschütteln. Und zum anderen, weil sie allesamt nur üble Laune mit sich brachten. »Tut... tut mir Leid«, stotterte das Mädchen und wollte sich rasch davonstehlen. Allerdings hatte sie die Rechnung ohne den Plagegeist gemacht. »Meinst du, damit ist mir geholfen?«, keifte die Laufende Nase, während ihre kleinen Knopfaugen grimmig funkelten. »Meinst du, von einer Entschuldigung werden meine neuen Schuhe wieder sauber, auf die du in deiner Tollpatschigkeit gelatscht bist?« Sie deutete auf ihre gelben Lackschuhe. Unter dem nasenförmigen Körper der Laufenden Nase befanden sich zwei winzige Beine mit ebenso winzigen Füßen, die ihre Existenz überhaupt erst ermöglichten. Schließlich hätte es ohne Beine auch keine Laufenden Nasen gegeben. 53
Aus diesem Grund schenkten sie ihrem Schuhwerk auch allergrößte Beachtung, zumal es unter ihnen als abgemacht galt, dass an den Schuhen einer Laufenden Nase ihr wahrer Charakter zu erkennen sei. Kein Wunder also, dass manche von ihnen einen regelrechten Kult damit trieben. Die grellgelben Lackschuhe der Laufenden Nase wiesen in der Tat ein paar winzige Schmutzspuren auf. Allerdings konnte sich Saranya beim besten Willen nicht vorstellen, dass die von ihr stammten. Aber sollte sie sich deshalb von diesem quengelnden Quälgeist den Tag vermiesen lassen? Lieber nicht! Das Mädchen zog also ein Tuch aus der Tasche, bückte sich und wischte den Lackschuh ab. »In Ordnung?«, fragte sie, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte. Die Laufende Nase warf einen prüfenden Blick auf ihre Schuhe. »In Ordnung!«, schniefte sie. »Aber beim nächsten Mal passt du Tölpel gefälligst auf, wo du hintrittst!« Damit drehte sie sich um und trippelte davon. Doch schon im nächsten Augenblick hatte sie ein neues Opfer gefunden. »Glotz doch nicht so dämlich!«, keifte sie einen Okulanten an. »Als ob du noch nie im Leben eine Laufende Nase gesehen hättest.« Okulanten waren zweibeinige Wesen, auf deren Schultern ein einziges kürbisgroßes Auge saß. Es blieb ihnen also gar nichts anderes übrig, als ständig vor sich hin zu glotzen, zumal sie sich durch bloßes Sehen am Leben erhielten. Sehen war ihnen Atem und Nahrung zugleich, und so konnte es nicht verwundern, dass der arme Okulant zunächst reichlich irritiert war über den rüden Anpfiff der Laufenden Nase. Doch dann zahlte er mit gleicher Münze zurück. Wie sich der Disput der beiden so unterschiedlichen Geschöpfe entwickelte, bekam Saranya allerdings nicht mehr mit. Sie machte sich 54
schleunigst aus dem Staub. Wer hat schließlich schon Lust, sich auch nur einen Augenblick länger als unbedingt nötig mit einer Laufenden Nase herumzuschlagen?
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4 DAS RASENDE GERÜCHT
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ie matt schimmernde Kugel, die scheinbar ziellos zwischen dem dichten Buschwerk dahinschwebte, war kaum größer als eine Seifenblase und ebenso durchsichtig, so dass das Gesicht in ihrem Inneren gut zu erkennen war. Es glich dem eines griesgrämigen alten Weibes, hatte mehr Falten als ein Plisseerock und wurde von auffällig großen Ohren flankiert. Das offensichtlich verwirrte Wesen zischte mal nach links, mal nach rechts, um sich dann doch wieder in gerader Richtung vorwärts zu bewegen. Ein solcher Zickzackkurs war eher untypisch für Rasende Gerüchte, die in den belebteren Regionen des Phantásischen Reichs häufig anzutreffen waren. Dass es Wizz-Wizz – so lautete der Name des seltsamen Geschöpfes – nun aber in eine nahezu unbewohnte Gegend verschlagen hatte, war einem unglücklichen Umstand geschuldet – doch dies ist eine andere Geschichte und soll deshalb auch ein andermal erzählt werden. Wie es für seine Gattung charakteristisch war, befand sich Wizz-Wizz auf der verzweifelten Suche nach Gesellschaft. Seit Tagen schon war es auf kein anderes Geschöpf mehr gestoßen, mit dem es sich hätte unterhalten können, und so 57
schwand ihm mehr und mehr der Lebensmut. Zudem hatte es längst die Orientierung verloren. Wizz-Wizz wusste weder, wo es sich befand, noch wie es zur nächsten Ansiedlung gelangen sollte. Am schlimmsten aber war, dass es sich nicht mitteilen konnte. Da es ihm an Zuhörern mangelte, musste es all die interessanten Einzelheiten, die es bei seiner letzten Begegnung mit anderen phantásischen Wesen aufgeschnappt hatte, für sich behalten. Ein Zustand, der ihm mit jedem Augenblick unerträglicher wurde. Schon fürchtete es, an den nicht weitergegebenen Neuigkeiten zugrunde gehen zu müssen, als es plötzlich, wie aus dem Nichts, Stimmen hörte. Das Rasende Gerücht verharrte in der Luft, stellte die Ohren auf und lauschte. Tatsächlich – von irgendwoher trug der Wind leise Stimmen heran. Sie waren nicht klar zu verstehen, bewiesen aber zweifelsfrei, dass sich in der Nähe andere Wesen aufhalten mussten, die der Sprache mächtig waren. Und wer sprechen konnte, konnte auch zuhören! Außer sich vor Freude, zischte Wizz-Wizz los, immer in die Richtung, aus der die Laute gekommen waren. Wenig später lichtete sich das Strauchwerk, und die glitzernde Wasserfläche eines kleinen Sees schimmerte durch die Büsche. An seinem Ufer tollten zwei Gestalten herum. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich um zwei junge Insomnier. Allerdings waren sie noch zu weit entfernt, so dass das Rasende Gerücht keine Einzelheiten erkennen konnte. Dennoch fühlte sich Wizz-Wizz unsäglich erleichtert. Endlich hatte es jemanden gefunden, dem es sich mitteilen konnte! Schon wollte es auf die Kinder zuzischen, als es die Schwarzen Kreaturen erblickte, die sich in diesem Augenblick aus dem Schatten einer Trauerweide lösten. Das Rasende Gerücht hielt abrupt an, verbarg sich hinter einem Busch und beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie die un58
heimlichen Gestalten fast lautlos ausschwärmten und die beiden Insomnier, hungrigen Wölfen gleich, einkreisten. Als die Kinder die Jäger bemerkten, war es bereits zu spät. Jeder Fluchtweg war ihnen abgeschnitten. Wie versteinert verharrten sie am Ufer des Gewässers und sahen mit angstverzerrten Gesichtern auf die Gestalten in den schwarzen Umhängen, die unerbittlich näher kamen. Wizz-Wizz aber war schlagartig die Lust auf Gesellschaft vergangen. Natürlich wusste es, was die Traumfänger mit ihren unglücklichen Opfern anstellen würden, und schon der bloße Gedanke daran war so Grauen erregend, dass es schleunigst die Flucht ergriff.
\ Der kürzeste Weg vom Hohen Haus zum Süßtraumpfad, an dem Saranyas Elternhaus lag, führte mitten durch das Albtraumviertel, das einen denkbar schlechten Ruf besaß. Nur das benachbarte Spelunkenviertel galt als noch gefährlicher, und so machten die meisten Heranwachsenden einen weiten Bogen darum herum. Nicht weil die unheimlichen Geschöpfe, die dort beheimatet waren, ihnen Angst eingeflößt hätten. Die Nachtalben, Kobolde, Gespenster, Hexen und sonstigen zwielichtigen Gestalten, die dort wohnten, erschreckten sie nicht im Geringsten. Der Grund für ihre Vorsicht war vielmehr Gork. Gork, ein jugendlicher Insomnier, war vor einigen Sommern nach Seperanza gekommen und hatte im Haus eines Feuerkobolds, den er vom Gelichterland her kannte, Unterschlupf gefunden. Seit dieser Zeit war er – und nicht etwa die unheimlichen Gespenster oder grauenhaften Hexen – der Schrecken des Albtraumviertels. Seiner bulligen Statur zum 59
Trotz war er überaus feige und suchte sich stets nur Jüngere und Schwächere als Opfer aus, die deshalb in ständiger Angst vor ihm lebten. Er lauerte ihnen auf, nahm ihnen ihre Habseligkeiten ab, und wer sich ihm zu widersetzen wagte, fing sich eine Tracht Prügel ein oder musste schlimme Quälereien über sich ergehen lassen. Da er über große Körperkräfte verfügte und vor keiner Gemeinheit zurückschreckte, schien jeder Widerstand von vornherein zwecklos. Selbstverständlich gehörte es zu den Aufgaben der Garde von Seperanza, solche Übergriffe zu verhindern. Gork war aber schlau genug, sich stille Ecken für seine Schurkereien auszusuchen. Dass die Überfallenen dort lautstark um Hilfe riefen, war zu kaum etwas nutze. Bis die Ordnungshüter auf den Plan traten, hatte sich der Übeltäter längst verdrückt, und da die Opfer seine Rache fürchteten, wagte keines gegen ihn auszusagen. Den Kindern und Jugendlichen blieb deshalb nur eine Möglichkeit, sich vor Gork zu schützen: ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Saranya zählte zu den wenigen ihres Alters, die noch keine unliebsame Bekanntschaft mit Gork gemacht hatten. Ob das einem glücklichen Zufall zu verdanken war oder ihrem Ruf, ein mutiges Mädchen zu sein, konnte sie nicht beurteilen. Jedenfalls schreckte sie nur selten davor zurück, das Albtraumviertel zu betreten, und da sie es zudem eilig hatte – sie hatte sich im Hohen Haus verplaudert, so dass Colina auf dem Schwebeballplatz bestimmt schon auf sie wartete! –, schlug sie wie selbstverständlich den kürzesten Weg ein. Zunächst sah alles danach aus, als würde sie auch diesmal unbeschadet durch das verrufene Viertel kommen. Sie hatte den Nachtmahrweg, der direkt zum Süßtraumpfad führte, bereits erreicht, als sie erstickte Hilferufe hörte. Saranya blieb stehen und spähte durch einen Torbogen, der in einen finste60
ren Hof führte. Obwohl sie nichts erkennen konnte, ahnte sie natürlich, was sich auf dem verschwiegenen Platz hinter der übermannshohen Mauer abspielte: Gork hatte wohl wieder ein Opfer gefunden und raubte es gerade aus! Wie zur Bestätigung drangen erneut unterdrückte Laute an ihr Ohr – jemand brauchte Hilfe! Was sollte sie bloß tun? Konnte sie denn ganz allein etwas ausrichten gegen diesen Unhold – oder sollte sie lieber die Garde alarmieren? Noch bevor Saranya zu einer Entscheidung kam, erblickte sie drei Schreckgespenster, die den Nachtmahrweg entlangschlichen. Sie sahen einfach grausig aus: Die Augen in ihren verzerrten Monsterfratzen glühten rot wie Kohlen, in ihren schiefen Mäulern befanden sich scharfe Haifischzähne, und anstelle von Haaren trugen sie spitze Nägel auf den Köpfen. Saranya atmete auf: Diese Furcht erregenden Kerle musste der Himmel geschickt haben! Sie eilte auf sie zu. »Seid gegrüßt, Ihr edlen Herren«, sagte sie rasch. »Dürfte ich Euch um Hilfe bitten?« »Um Hilfe?«, knurrte das mittlere Schreckgespenst, dessen Körper von einem dichten Wolfspelz bedeckt war. »Wobei denn?« Sie deutete auf den Torbogen, aus dem erneut dumpfe Laute kamen. »Könnt Ihr es denn nicht hören?«, sagte sie. »Das ist bestimmt...« »Gork!«, fiel ihr das linke Schreckgespenst ins Wort. Sein Körper war über und über mit grünen Drachenschuppen besetzt, und seine Stimme grollte tiefer als die eines Höllenhundes. »Dieser verfluchte Kerl! Er bringt noch unser ganzes Viertel in Verruf! Wie oft schon hab ich mir gewünscht, ihn auf frischer Tat zu ertappen!« 61
»Worauf warten wir dann noch?«, grunzte der Rechte, der ein igelartiges Stachelkleid trug. »Kommt mit!« Damit zischten die drei grauslichen Gestalten in den Hof. Sie waren so schnell, dass Saranya nicht Schritt halten konnte. Als sie im Hof ankam, sah sie, dass ihre Ahnung sie nicht getrogen hatte: Während der Drachengeschuppte und der im Wolfpelz Gork in die Mangel nahmen, kniete der Igelleibige vor einem kleinen Mädchen und versuchte es zu trösten. Das Gesicht der Kleinen war tränenverschmiert, und sie zitterte am ganzen Körper. »Ist ja gut«, sagte das Schreckgespenst mit überraschend sanfter Stimme und strich dem Mädchen mit seiner krallenbewehrten Klaue behutsam über die Wange. »Alles ist wieder gut. Der Kerl kann dir nichts mehr tun, und deine Kette und deine Armreifen hast du auch wieder, nicht wahr?« Die Kleine nickte mit feuchten Augen. Um ihren Hals hing in der Tat eine kunstvoll gefertigte Kette. Obwohl Saranya nicht allzu viel von Schmuck verstand, sah sie auf den ersten Blick, dass die Kette wohl aus reinem Flussgold gefertigt war. Und die drei Armreifen offensichtlich auch. Sie mussten sehr wertvoll sein – kein Wunder, dass sie Gorks Raffgier erregt hatten. »Vielen Dank«, schniefte das zierliche Mädchen. »Danke, dass ihr mir geholfen habt.« »Ach, nicht der Rede wert.« Das Schreckgespenst winkte ab und deutete auf Saranya. »Bei der hier musst du dich bedanken. Sie hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass du Hilfe brauchst.« Das Mädchen lächelte Saranya an und schenkte ihr einen scheuen Blick. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll«, hauchte sie. 62
»Und ich erst!«, keifte da Gork los. Sein hässliches Gesicht, das über und über mit Narben und eitrigen Pickeln bedeckt war, glich einer Fratze maßlosen Zorns. »Dir verdammtem Gör habe ich es also zu verdanken, dass die mich geschnappt haben. Das wirst du mir noch büßen, du aufgelesener Bastard! Du wirst den Tag noch bereuen, an dem der Hohe Herr dich vor seiner Tür gefunden und in sein Haus aufgenommen hat!« Entgeistert starrte Saranya den bulligen Jungen an. Wie hatte Gork sie genannt – einen Bastard? Und hatte er tatsächlich behauptet, man habe sie vor der Haustür gefunden? Aber das war doch ... Das war doch nicht möglich! »Du lügst!«, schrie sie ihn an. »Du Lügner! Lügner! Lügner!« Der Schurke grinste breit. »Das hast du nicht gewusst, was? Hast wohl gedacht, als Tochter des Hohen Herrn Asmus bist du was Besseres? Aber dir wird noch Hören und Sehen vergehen, das schwör ich dir. Wenn ich erst wieder ...« »Halt endlich dein elendes Schandmaul«, fuhr das wolfshäutige Schreckgespenst ihn an und packte ihn mit seiner Pranke so hart im Genick, dass Gork vor Schmerz aufheulte und sich sein Gesicht noch mehr verzerrte. »Wir bringen dich zur Garde. Die wird schon dafür sorgen, dass du endlich die verdiente Strafe erhältst.« »Genau!«, warf sein geschuppter Kollege ein und stierte Gork mit seinen rot glühenden Augen drohend an. »Zum Glück haben wir dich auf frischer Tat ertappt. Und mach dir keine Hoffnung: Einschüchtern kannst du uns nicht.« Die drei Kumpane brachen in lautes Gelächter aus. Dann verabschiedeten sie sich von Saranya, einer nahm die Kleine bei der Hand, die beiden anderen kümmerten sich um den 63
Übeltäter und schleppten ihn davon, mochte Gork sich auch noch so sehr sträuben. Wie durch einen Schleier sah Saranya den sich entfernenden Gestalten nach. Es kam ihr vor, als habe sich mit einem Mal ein Schatten auf ihre Umgebung gelegt. Alles schien plötzlich ganz anders zu sein als noch wenige Augenblicke zuvor. In ihrem Kopf war nur noch ein einziger Wirbel. Ein Gedanke drehte sich wie wild darin herum und jagte schneller und schneller im Kreis: Bin ich wirklich ein Findelkind?
\ »Ja, Saranya, es stimmt.« Die Mutter sah sie mit ernster Miene an. »Es stimmt, was dieser Kerl zu dir gesagt hat – wir haben dich damals tatsächlich vor unserer Haustür gefunden. Ich erinnere mich noch so genau, als wäre es erst gestern gewesen.« Sie lächelte die Tochter liebevoll an. »Aber setz dich doch, damit ich es dir endlich erzählen kann.« Saranya wurde schwindelig, sie fühlte ein Würgen im Hals und fürchtete zu ersticken. Ihre Knie wurden weich wie Kuchenteig, so dass es der Aufforderung der Mutter gar nicht bedurft hätte, damit sie sich an den Küchentisch setzte. Rayas Blick ging in die Ferne, und ihre Augen verschleierten sich, als sie anhob: »Es war ein herrlicher Sommertag, damals. Ich war leider erkrankt und musste das Bett hüten. Dein Vater ... ähm ... Asmus war sehr früh aufgestanden, weil er ein paar dringende Einkäufe auf dem Markt erledigen wollte, bevor die Amtsgeschäfte nach ihm riefen. Ich hörte noch, wie er zur Haustür hinausging, doch zu meiner großen Verwunderung kam er nur wenig später schon zurück. Als er ins Zimmer trat, hielt er einen Weidenkorb in der Hand. ›Sieh doch, was ich vor dem Haus gefunden habe‹, sagte er und 64
stellte den Korb neben mich aufs Bett. Er war mit Laub und Moos gefüllt, und darauf lagst – du! Du kannst erst ein paar Tage alt gewesen sein, trugst nur Windeln und warst mit einem Tuch aus grobem Leinen zugedeckt. Es war nicht das sauberste, aber du, Saranya, warst das hübscheste Kind, das ich jemals zu Gesicht bekommen hatte.« Raya brach ab, und die Erinnerung zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. »Du warst so hübsch, meine Tochter«, wiederholte sie, während sie das Mädchen versonnen anblickte. Das Kreiseln in Saranyas Kopf hatte sich etwas verlangsamt. Der Kloß in ihrem Hals war kleiner geworden. Sie räusperte sich und sah die Mutter mit großen Augen an. »Und wer ... wer hatte mich vor eure Tür gelegt?« »Ich weiß es nicht. Herr Asmus hat lange nach deinen Eltern suchen lassen, aber es hat sich niemand gefunden, der ein Kind vermisste. Was bedeutet, dass man dich ausgesetzt haben musste.« »Ausgesetzt?«, wiederholte Saranya ungläubig. »Ja.« Raya nickte und strich der Tochter iibers Haar. »Aber das ... das heißt ja, dass meine Eltern mich nicht haben wollten?« Die Mutter schüttelte den Kopf. »Wer weiß, welche Gründe sie zu diesem Schritt bewogen haben. Mit Sicherheit ist es ihnen nicht leicht gefallen.« »Sie wollten mich nicht haben«, wiederholte Saranya. Bitterkeit hatte sich in ihr breit gemacht. Raya schloss sie in die Arme und drückte sie an sich. »Ich kann deine Gefühle ja verstehen«, versuchte sie das Mädchen zu trösten, »aber du darfst deinen Eltern nicht Unrecht tun. Vielleicht waren sie in einer Zwangslage und wussten keinen anderen Ausweg? Und um ehrlich zu sein: Ich glaube, es hätte mir das Herz gebrochen, wenn jemand aufgetaucht 65
wäre, der dich zurückgefordert hätte. Schon nach kürzester Zeit haben wir dich über alles lieb gewonnen, und als die Suche nach deinen Eltern erfolglos blieb, haben Asmus und ich beschlossen, dich an Kindes statt anzunehmen und für dich zu sorgen wie für eine leibliche Tochter. Und seitdem betrachten wir dich als unser Kind. Und dass ich dich nicht geboren habe, kann daran nicht das Geringste ändern!« Saranya wusste nicht, was sie sagen sollte. Zu viele widersprüchliche Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Wie hatten ihre wahren Eltern ihr das nur antun können? Warum hatten sie den Korb mit ihrem Baby ausgerechnet vor dem Haus des Hohen Herrn abgestellt? Oder war das Zufall gewesen? Und wieso hatten ihr Raya und Herr Asmus das alles so lange verschwiegen? Sie löste sich aus den Armen der Mutter und blickte sie vorwurfsvoll an. »Warum habt ihr mir nicht früher davon erzählt?« Für einen Moment schwieg Raya. »Wir ... wir wollten dich damit nicht belasten«, sagte sie dann. »Wir wollten abwarten, bis du alt genug bist, um zu verstehen, was damals geschehen ist.« »Was gibt es da schon groß zu verstehen? Ich war meinen Eltern lästig – so einfach ist das.« »Saranya, bitte ...« Doch das Mädchen ließ sich nicht bremsen. »Ich war ihnen lästig – und für euch bin ich immer noch ein kleines Kind, dem man nichts zutrauen kann!« »Aber Saranya ...« »Stimmt doch! Offensichtlich haltet ihr mich ja immer noch nicht für alt genug. Oder wann wolltet ihr es mir erzählen? In einem Sommer? In zweien – oder vielleicht überhaupt nicht?« Raya verzog gequält das Gesicht. »Ich weiß es nicht«, sagte 66
sie, während sie hilflos mit den Schultern zuckte. »Ich weiß es wirklich nicht.« Saranya wollte schon fortfahren mit ihren Vorwürfen, als sie ein verdächtiges Glitzern in den Augen der Mutter entdeckte. Sie meinte Kummer und Sorgen darin zu erkennen – und auch Angst. Deshalb verschluckte sie die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, und holte tief Luft. »Es war vielleicht falsch, dir das so lange zu verschweigen.« Verständnis heischend sah Raya sie an. »Aber hätte es etwas geändert, wenn wir es dir schon früher erzählt hätten? Meinst du wirklich, ich hätte dich dann weniger geliebt? Oder der Vater hätte sich weniger um dich gesorgt und nicht trotzdem alles dafür getan, dass es dir gut geht? Glaubst du das wirklich?« Saranya wusste nicht, was sie antworten sollte. Es stimmte ja – bessere Eltern als Raya und Asmus konnte sie sich gar nicht wünschen. Die beiden hatten sich immer so liebevoll um sie gekümmert, dass sie nicht einmal im Traum auf den Gedanken gekommen wäre, womöglich nicht ihre leibliche Tochter zu sein. Und auch jetzt, nachdem sie endlich die Wahrheit erfahren hatte, würden sie Mutter und Vater für sie bleiben. Aber trotzdem! »Es war nicht richtig, mir meine Herkunft zu verschweigen. Oder kannst du mir einen vernünftigen Grund dafür nennen?« Raya erwiderte den Blick der Tochter, die sie vorwurfsvoll ansah, und senkte dann schweigend den Kopf. »Ihr hättet ehrlich zu mir sein müssen«, fuhr Saranya fort. »Ihr hättet mir sagen müssen, wie es um mich steht. Wenn ihr mir sogar meine Herkunft verschwiegen habt, wie kann ich dann sicher sein, dass ihr mir in anderen Dingen die Wahrheit sagt? Wie kann ich wissen, wann ich euch noch trauen kann – und wann nicht? Kannst du das denn nicht verstehen, Mutter?« 67
Raya hob den Kopf und nickte. Ein Tränenschleier lag auf ihren Augen. »Doch, Saranya, das verstehe ich. Aber ...« Mit einem Mal brach sie ab und schüttelte den Kopf. »Es ... es tut mir Leid«, sagte sie nur noch. »Es tut mir wirklich Leid.« Saranya, die so sehr auf eine einleuchtende Erklärung gehofft hatte, sah die Mutter verwundert an. Doch die schwieg nur mit betretener Miene weiter vor sich hin. Saranya meinte, die Angst in Rayas Augen nun noch deutlicher erkennen zu können. Wovor nur fürchtete sie sich? Langsam, wie sich die verschwommenen Konturen eines Gebäudes aus dem Nebel schälen, stieg ein ungeheurer Verdacht in Saranya auf: Hatte Raya ihr vielleicht doch nicht alles erzählt? Gab es etwas, das sie ihr immer noch verschwieg? Hatten sie und Herr Asmus ihr etwa aus einem ganz bestimmten Grund die wahren Umstände ihrer Herkunft verheimlicht? Einem Grund, den sie nicht erfahren durfte? Würde das nicht auch ihr langes Schweigen verständlicher machen? Und mehr noch: Würde das nicht auch erklären, weshalb in all den Jahren weder die Verwandten, Bekannten und Freunde von Raya und Asmus noch die Nachbarn und Hausangestellten jemals auch nur ein Wort über Saranyas Herkunft verloren hatten? Waren sie von den beiden zum Schweigen verpflichtet worden – oder wollten auch sie nicht, dass sie davon erfuhr? Je länger das Mädchen grübelte, umso mehr Fragen tauchten in ihrem Kopf auf, hetzten wild darin umher, bis sie in keine sinnvolle Ordnung mehr zu bringen waren. Bald konnte Saranya keinen klaren Gedanken mehr fassen, und schließlich wusste sie nur noch eines: Sie musste das Rätsel ihrer Herkunft lösen – und zwar so schnell wie möglich.
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Als die Schatten länger wurden und schließlich die Nacht hereinbrach, fühlte Kayún tiefe Verzweiflung in sich aufsteigen. Elea und er waren den ganzen Tag hindurch marschiert. Sie waren gut vorangekommen und hatten die weite Ritzelgrasebene längst hinter sich gelassen. Aber genau das bereitete dem Jungen Sorgen: Es war eigentlich nicht möglich. Irgendetwas stimmte hier nicht, das fühlte er ganz genau! Kayún kannte die Ritzelgrasebene nämlich wie kaum ein anderer. Unzählige Male hatte er ihre Weiten schon durchstreift, so dass sie ihm fast besser vertraut war als einer Elster das heimische Nest. Deshalb wusste er, dass es von der windschiefen Hütte, in der ihre Mutter von ihnen gegangen war, bis zu den Ausläufern des Eisiger-Wind-Gebirges, die das Ende der Ebene markierten, mindestens zwei Tagemärsche waren – vorausgesetzt, man legte ein strammes Tempo an den Tag. Was aufgrund von Eleas schmächtiger Statur jedoch nicht möglich gewesen war. Völlig undenkbar also, dass sie die Ebene bereits überquert haben konnten – und dennoch befanden sie sich schon am Fuße des Gebirges, inmitten eines dichten Waldes, der Kayún völlig unbekannt war. Dabei hatte er sich erst vor drei Monden in der Gegend aufgehalten. Damals allerdings war von einem Wald weit und breit nichts zu sehen gewesen, und in der kurzen Zeit konnte er unmöglich aus dem Boden gewachsen sein. Oder doch? Wie war das nur zu erklären? Der Junge hatte nicht die geringste Ahnung. Er wusste nur eins: Sie mussten schleunigst einen geeigneten Ort finden, an dem sie die Nacht verbringen und ein Feuer anzünden konnten, um sich daran zu wärmen. Denn an der schrecklichen Kälte, die in diesen Gegenden Phantásiens des Nachts zu herrschen pflegte, hatte sich nichts geändert. Immerhin etwas, worauf Verlass ist, dachte Kayún grimmig, während er nach einem Lagerplatz Ausschau hielt. 69
Geraume Zeit später saßen die Geschwister vor einem knisternden Feuer. Funken stiebend loderten die Flammen auf, tauchten die kleine Lichtung in flackerndes Licht und ließen Schatten über die mächtigen Bäume zucken, die den Platz säumten. Obwohl Kayún und Elea so nah wie möglich ans Feuer gerückt waren und sich zusätzlich in wärmende Decken gehüllt hatten, konnten sie die Kälte spüren, die in ihrem Rücken aus dem Wald an sie herankroch und ihre eisigen Finger nach ihnen ausstreckte. Kayún rutschte näher an Elea heran. »Möchtest du noch etwas essen?«, fragte er und griff nach der Pfanne, die am Rand des Feuers auf zwei Feldsteinen stand. Darin brutzelten die Reste der fleischigen Runkelranken vor sich hin, die sie unterwegs von den Runkelsträuchern geerntet hatten, die in großer Zahl am Rand der Ebene wuchsen. Ihre Früchte gaben ein sättigendes, wenn auch nicht gerade schmackhaftes Nachtmahl ab, so dass sie ihre Vorräte nicht angreifen mussten. Elea schüttelte den Kopf. »Nur noch einen Schluck Schlafwurzelsud vielleicht«, sagte sie müde. »Der sorgt für einen tiefen Schlaf, und dann spüre ich auch die Kälte nicht so sehr – hoffentlich.« Kayún nahm die Kanne, goss den irdenen Becher voll und reichte ihn der Schwester. »Danke.« Elea schlürfte einen Schluck von dem heißen Sud und reichte dem Bruder den Trinkbecher zurück. Sie besaßen nämlich nur einen und mussten ihn sich deshalb teilen. Während Kayún trank, beobachtete sie ihn verstohlen von der Seite. »Kayún?«, fragte sie nach einer Weile. »Ja?« »Kann es sein, dass du mir etwas verschweigst?« »Aber wieso?« Überrascht wandte der Junge sich ihr zu. »Wie kommst du denn darauf?« 70
Elea sah ihn mit ihren großen braunen Augen an. »Beantworte meine Frage«, sagte sie leise. »Bitte.« »Was ... was soll ich dir denn verschweigen?« Die Miene des Mädchens ließ keine Gefühlsregung erkennen. Der Schein der Flammen verlieh ihrem kastanienbraunen Haar einen rötlich schimmernden Glanz. »Dass du nicht weißt, wo wir uns befinden, zum Beispiel?«, entgegnete sie. »Was?« Kayún klappte vor Verblüffung den Mund auf. Wieso ahnte die Schwester, was ihn beschäftigte? Sie war doch noch ein kleines Mädchen, das mit dem Leben in Phantásien kaum vertraut war. Oder war sie doch nicht mehr dieses hilflose Geschöpf, als das er sie bislang angesehen hatte? Auf das er aufpassen musste, weil es ohne ihn verloren war? Sollte er sich so sehr getäuscht haben? War sie am Ende klüger, als er angenommen hatte? Für einen Augenblick war er versucht, Elea die Unwahrheit zu sagen, um sie nicht zu beunruhigen. Doch dann besann er sich eines anderen und nickte. »Du hast Recht. Ich hab nicht die geringste Ahnung, wo wir sind. Der Wald hier ist mir völlig unbekannt. Weder weiß ich, wie er heißt, noch wie weit er sich erstreckt. Und wie wir wieder aus ihm herausfinden, schon gar nicht.« Nun zeigte Elea doch eine Regung. Die zarten Flügel ihrer Stupsnase zitterten, und ein plötzlicher Anflug von Angst verschattete ihr schmales Gesicht. Die samtigen Wimpern über den braunen Augen flatterten unruhig. »Aber wie kann das sein? Du hast doch gesagt, dass du den Weg zum großen Schlafmeer kennst!« »Natürlich hab ich das! Und heute Mittag noch hätte ich Stein und Bein geschworen, dass ich mit geschlossenen Augen dorthin finde. Aber jetzt?« Hilflos zuckte Kayún mit den Schultern. »Ich versteh das einfach nicht.« 71
»Was?« Ungläubig schaute Elea ihn an. »Aber ... dann sind wir doch verloren!« »Wer sagt das denn?« Kayún sah die Angst in den Augen der Schwester und zwang sich zu einem ermutigenden Lächeln. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte er, »wirklich nicht. Lass uns erst mal schlafen, damit wir wieder zu Kräften kommen. Und morgen früh, wenn wir frisch und ausgeruht sind, sehen wir weiter. Mag der Schlamassel auch noch so groß sein, es findet sich immer ein Weg aus ihm heraus ...« »Ja, ja«, fiel ihm die Schwester ins Wort, »und nur wer den ersten Schritt macht, findet auch ans Ziel.« Trotz der ernsten Lage erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. »Was würdest du bloß machen ohne die Sprüche unseres Vaters?« Die Geschwister wechselten einen stummen Blick und wussten, dass die gemeinsame Erinnerung sie auf immer verbinden würde. Kayún legte noch ein paar dicke Scheite ins Feuer, damit es ausreichend Nahrung hatte in der langen, bitterkalten Nacht. Gerade wollte er sich in seine Decke rollen und ausstrecken, als er das Wispern hörte – ein dünnes, zischelndes Wispern. Was war das? Alarmiert richtete er sich auf, neigte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch an sein Ohr gedrungen war, und lauschte. Doch dort war nun alles still. Dafür aber war plötzlich aus einer anderen Ecke etwas zu hören – und wieder war es dieses zischelnde Wispern! Kayún drehte sich um – und erblickte ein schimmerndes Etwas, das im Zickzack zwischen den Bäumen hin und her sauste und dabei diese seltsamen Laute hören ließ. Es war nur etwas größer als eine Seifenblase, beinahe genauso durchsichtig und bewegte sich fast so geschwind wie die Stur72
fliegenstecher, die zu den schnellsten Vögeln Phantásiens zählten. Gerade noch wisperte es hinter einem Baum zur Rechten, um schon im nächsten Moment weit links um einen Stamm zu zischen. Der Junge stieß seine Schwester an und deutete auf den herumgeisternden Fleck. »Hast du so was schon mal gesehen?« Elea kniff die Augen zusammen und spähte zwischen die Bäume. »Ich weiß nicht so recht. Also, ein Irrlicht ist das nicht, da bin ich mir sicher. Die leuchten bläulich und sind auch um einiges größer.« »Aber was ist es dann?« Sie zog die Schultern hoch und sah unverwandt auf die schimmernde Kugel, die sich mittlerweile auf sie zubewegte. Was immer es sein mochte – es schien dem Frieden nicht zu trauen, denn es war sichtlich langsamer geworden. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, rief Elea ihm zu. »Wir tun Euch nichts.« Das Schimmern verharrte. Für einen Moment befürchtete Kayún schon, dass es die Flucht ergreifen würde, doch dann besann es sich eines anderen und kam näher heran, bis es wenige Schritte vor den Geschwistern in der Luft schwebte. »Psst, psst«, flüsterte die schimmernde Kugel ihnen zu. »Seid mir gegrüßt, ihr Wanderer.« »Ihr uns auch«, entgegnete der Junge freundlich. »Aber kommt doch näher, damit wir Euch besser erkennen können. Außerdem ist es hier am Feuer wärmer.« Die Antwort kam prompt, auch wenn sie genau hinhören mussten, um das zischelnde Gewisper zu verstehen. »Psst, psst. Unsereinem macht die Kälte nichts aus, und sei sie noch so grimmig-grimmig. Sie kann mich nämlich nicht fassen.« Doch dann traute sich das leuchtende Etwas bis auf Griffweite an die Geschwister heran. »Ist’s euch so recht, oder was?« 73
Kayún musste grinsen. »Sehr recht«, erwiderte er, während er das eigentümliche Wesen näher in Augenschein nahm: Im Innern der kaum faustgroßen Kugel war ein griesgrämiges Altweibergesicht zu erkennen, das von auffällig großen Ohren geziert wurde. Aber auch das Gesicht selbst war ähnlich durchschimmernd wie die Kugel, so dass das ganze Wesen auf seltsame Weise gegenstandslos schien. Kayún hatte dergleichen noch nicht gesehen, und Elea offensichtlich auch nicht, denn sie sah genauso ratlos aus wie ihr Bruder. »Wer seid Ihr?«, fragte er verwundert. »Psst, psst«, flüsterte die schimmernde Kugel. »Gestattet, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Wizz-Wizz, und ich bin ein Rasendes Gerücht.« »Ein Rasendes Gerücht?«, wunderte sich Elea. »So was ist mir noch nie untergekommen.« »Das erscheint mir doch seltsam-seltsam«, gab Wizz-Wizz wispernd zurück. »Wir Rasenden Gerüchte, psst, psst, sind schließlich bekannt dafür, dass wir uns allenthalben verbreiten. Und so fühle ich mich ohne Gesellschaft immer so schrecklich-schrecklich.« Die letzten Worte hatten einem tiefen Seufzen geglichen, und Kayún fürchtete schon, Wizz-Wizz würde umgehend in Tränen ausbrechen. »Nicht traurig sein«, sagte er rasch. »Dazu habt Ihr doch keinen Grund mehr, wir sind ja da! Möchtet Ihr vielleicht etwas essen? Oder einen Schluck Schlafwurzelsud?« »Vielen Dank, sehr freundlich«, schniefte Wizz-Wizz. »Aber so was braucht unsereins nicht. Die Gesellschaft anderer hält uns am Leben. Wenn wir dagegen auf uns allein gestellt sind, verkümmern wir mehr und mehr und müssen schließlich zugrunde gehen. Ist das nicht grausam-grausam?« 74
»Grausam-grausam, fürwahr.« Elea grinste nun ebenfalls. »Ihr müsst also immer unter Leuten sein?« »So ist es. Und das ist manchmal nicht so einfach, wie ihr euch vorstellen könnt. Besonders in so abgelegenen Gegenden wie dieser hier. Dafür aber müssen wir uns vor den Traumfängern nicht fürchten wie ihr Insomnier.« Wizz-Wizz schwebte näher an die Geschwister heran. »Traumfängern?« Kayún war schlagartig ernst geworden, und auch Elea machte ein betroffenes Gesicht. »Heißt das, Ihr seid einem begegnet?« »Einem?« Das Rasende Gerücht schien bestürzt. »Gleich einer ganzen Horde! Es war bestimmt ein Dutzend. Wenn nicht sogar zwei!« Entsetzt blickten die Geschwister sich an. »O nein«, stöhnte das Mädchen. »Das ist ja schrecklich!« »Viel mehr als das«, berichtigte Wizz-Wizz, und sein Altweibergesicht trug eine Leidensmiene zur Schau. »Das ist sogar schrecklich-schrecklich!«
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5 DIE TRAUMFÄNGER
E
s war weit nach Mitternacht, doch Saranya lag immer noch wach. Die schmale Sichel des jungen Mondes lugte durch das Fenster in ihr kleines Zimmer unter dem Dachgiebel des Hauses am Süßtraumpfad. Von den Gassen und Plätzen der Stadt drang kaum ein Geräusch in ihre Schlafkammer. Nur hin und wieder waren das schrille Lachen eines Nachtmahrs oder das hämische Kichern eines Kobolds zu hören. Ab und an erklangen die tapsenden Schritte eines Schlafwandlers, oder ein Schreckbold war zu vernehmen, der sich im Erschrecken übte. Das allerdings nahm das Mädchen kaum wahr. Unruhig wälzte sich Saranya auf dem Lager hin und her. Das merkwürdige Verhalten von Raya und Herrn Asmus wollte ihr einfach nicht mehr aus dem Sinn gehen. Je länger sie darüber nachdachte, umso sicherer wurde sie sich, dass etwas faul war an der Geschichte, die sie ihr erzählt hatten. Ihr die wahre Herkunft zu verschweigen war ein übler Betrug, und um einen solchen zu rechtfertigen, bedurfte es gewichtigerer Gründe als der, die Raya angeführt hatte. Auch Herr Asmus hatte nichts als Ausflüchte vorgebracht, als sie 77
ihn nach seiner Rückkehr aus dem Hohen Haus zur Rede stellte, und je mehr Argumente er für das elterliche Verhalten ins Feld führte, umso überzeugter wurde Saranya, dass die beiden ihr nicht die Wahrheit sagten. Aber warum nur? Was konnte sie dazu bewogen haben? Hatte es etwas mit ihnen selbst zu tun? Oder mit ihr, dem angeblichen Findelkind? Oder vielleicht sogar mit ihren leiblichen Eltern? Hatten diese sie am Ende gar nicht ausgesetzt? Hatten Raya und Asmus vielmehr ...? Der Gedanke war so schrecklich, dass Saranya ihn gar nicht zu Ende denken konnte. Eine eisige Klammer legte sich um ihr Herz. Sie meinte, keine Luft mehr zu bekommen, Schweiß trat auf ihre Stirn, und trotz der wärmenden Decke zitterte sie. Ja, natürlich!, schoss es ihr dann durch den Kopf. Vielleicht haben mich Raya und Asmus meinen Eltern gestohlen? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass kinderlose Paare sich so sehnlich Nachwuchs wünschen, dass sie zu verbrecherischen Mitteln greifen! Und wenn meine leiblichen Eltern Ortsfremde waren, nur auf Besuch in Seperanza, dann konnten sie nichts weiter tun, als mich vermisst zu melden. Schließlich mussten sie die Stadt bei Einbruch der Dunkelheit wieder verlassen und konnten deshalb nicht lange nach mir suchen. Zudem verfügte der Hohe Herr Asmus kraft seines Amtes sicherlich über die nötigen Mittel, um lästige Nachforschungen zu unterbinden. Das würde allerdings erklären, weshalb Raya und er mir meine Herkunft so beharrlich verschwiegen haben. Sie mussten doch fürchten, dass ich ihnen weglaufen und mich auf die Suche nach meinen wahren Eltern machen würde! Konnte es sich so zugetragen haben? Aber schon stieg ein weiterer Verdacht in Saranya auf, der 78
mindestens ebenso schrecklich war: Konnte es nicht auch sein, dass ihre leiblichen Eltern mit Raya und Asmus gemeinsame Sache gemacht hatten? Sie gegen Bezahlung hergegeben und das Aussetzen nur fingiert hatten, um das schmutzige Geschäft zu verschleiern? In diesem Fall hätte es nicht einmal eine Vermisstenmeldung gegeben. Mehr noch – dann war es sogar möglich, dass ihre Eltern ebenfalls in Seperanza wohnten! Vielleicht war sie ihnen schon unzählige Male begegnet – auf der Straße, auf dem Markt oder sonst wo – und achtlos an ihnen vorbeigegangen, ohne zu ahnen, um wen es sich in Wirklichkeit handelte! Wie sie wohl aussehen mochten? Und mit wem sie wohl mehr Ähnlichkeit hatte – mit ihrer Mutter oder mit ihrem Vater? Fragen um Fragen drehten sich in Saranyas Kopf, wieder und wieder, bis alles in ihrem Inneren einem einzigen Schwindel erregenden Kreiseln glich. Als sich das Sausen in ihrem Kopf wieder etwas beruhigt hatte, wurde ihr klar, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, das sie quälende Rätsel zu lösen: Sie musste selbst nach ihren Eltern suchen. Am nächsten Tag schon, gleich nach dem Aufwachen, würde sie damit beginnen und sich von niemandem aufhalten lassen. Mit einem Mal spürte sie, dass sie schrecklich durstig war. Saranya erhob sich, um hinunter in die Küche zu gehen und einen Becher Wasser aus dem Stein zu schöpfen. Als sie an dem kleinen Fenster vorbeikam, das sich zum Süßtraumpfad hin öffnete, vermeinte sie im Schatten des gegenüberliegenden Hauses eine Bewegung wahrzunehmen. Verwundert blieb sie stehen und blickte aus dem Fenster. Doch da war nichts zu sehen. Weder ein Phantasier noch ein Tier oder sonst ein Geschöpf. Sie musste sich wohl getäuscht haben. Saranya zuckte mit den Schultern und verließ ihre Kammer. 79
Den Mann vor ihrem Fenster sah sie nicht mehr. Wie ein Schatten, den die Nacht gebiert, kam er hinter der Hausecke hervor und drückte sich an die Wand, so dass er mit dem dort herrschenden Dunkel verschmolz. Er war kaum zu erkennen, während er zum Fenster von Saranyas Schlafgemach emporspähte.
\ Elea war richtig schlecht. Ihre Knie wurden weich, und sie fürchtete jeden Moment umkippen zu müssen, so schwach und zittrig fühlte sie sich. Ihr Herz schlug wie eine Trommel in ihrer Brust, während sie das Rasende Gerücht anstarrte. »Zwei Dutzend Traumfänger?«, fragte sie. »Seid Ihr sicher?« »Aber ganz sicher-sicher«, wisperte Wizz-Wizz. »Ich, psst, psst, hab sie doch mit eigenen Augen beobachtet. Und obwohl ich schon viel gesehen habe, war es der entsetzlichste Anblick meines ganzen Lebens, wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt!« Was Elea jedoch nicht so leicht fiel. Sie wusste nämlich herzlich wenig über Traumfänger. Höchstens, dass selbst ihr Vater, der sich vor kaum etwas fürchtete, eine höllische Angst vor ihnen verspürt und seinen Kindern deshalb immer wieder eingeschärft hatte, sich vor den Schwarzen Kreaturen in Acht zu nehmen. Was diese so gefährlich machte, hatte er ihnen allerdings nicht erläutert, zumindest ihr nicht. »Glaub mir, mein Kind«, hatte er immer nur gesagt, »es ist besser, wenn du das nicht weißt. Und ich hoffe für dich, dass dir jede Begegnung mit ihnen erspart bleibt.« Kayún jedoch schien mehr über die unheimlichen Gesellen zu wissen. Warum sonst wohl kniff er die Augen zusammen 80
und blickte Wizz-Wizz misstrauisch an? »Ich dachte, die Traumfänger darf man nicht ansehen?« Das Altweibergesicht runzelte die faltige Stirn. »Psst, psst – natürlich nicht. Weil ihr Anblick einen lähmt und man sich ihnen dann nicht mehr entziehen kann!« Die Antwort schien den Bruder nicht zufrieden zu stellen. »Aber wie konntet Ihr ...?« »Es war doch nur für den Bruchteil eines Augenblicks!«, fiel das Rasende Gerücht ihm ins Wort. »Von Kopf bis Fuß waren sie in schwarze Umhänge gehüllt, und eine Kapuze hing ihnen bis weit ins Gesicht. Auch wenn ich es deshalb nicht erkennen konnte, vermochte ich mir mühelos vorzustellen, dass es einen ganz entsetzlichen Anblick bieten musste, nicht wahr? Einfach entsetzlich-entsetzlich!« Wizz-Wizz stöhnte auf, und Elea sah, dass sich das Altweibergesicht im Inneren der schimmernden Hülle verzerrte. Beklommen wandte sie sich an das Rasende Gerücht. »Wo kommen diese Traumfänger eigentlich her?« »Keine Ahnung.« Wizz-Wizz senkte die Stimme, als fürchte es belauscht zu werden. »Die einen behaupten dies und die anderen das, aber nichts Genaues weiß man nicht. Es muss sich allerdings, psst, psst, um Werwesen handeln, das scheint mir sicher-sicher.« »Werwesen?« Elea hatte diesen Ausdruck noch niemals gehört. »Was hat es denn damit wieder auf sich?« »Das sind ganz grauenhafte Geschöpfe, die sich nicht nur bei uns in Phantásien, sondern auch bei den Menschen aufhalten. Sie sind in keiner der beiden Welten richtig zu Hause und wandern deshalb zwischen ihnen hin und her. Es gibt sie in unterschiedlichster Form und Gestalt, aber sie sind allesamt gefährlich. Richtig gefährlich-gefährlich sogar.« 81
»Seid Ihr Euch auch wirklich sicher?«, fragte Kayún, und Elea erkannte zu ihrer Verwunderung, dass das Gesicht des Bruders immer noch von Misstrauen gezeichnet war. »Warum glaubst du ihm denn nicht?«, wollte sie deshalb wissen. »Nichts für ungut!«, raunte der Junge Wizz-Wizz zu, um sich dann an die Schwester zu wenden: »Ich bitte dich, Elea. Es ist ein Rasendes Gerücht, und es liegt nun einmal in seiner Natur, die Dinge ... sagen wir mal ... etwas zu übertreiben.« »Psst, psst!«, protestierte Wizz-Wizz. »Das mag vielleicht für unsere Vettern aus der Familie der falschen Rasenden Gerüchte zutreffen, aber doch nicht für uns. Schließlich gehören wir zu den echten Rasenden Gerüchten! Und außerdem: Was sollte ich davon haben, wenn ich die Gefahr übertreibe, die von diesen schrecklichen Kreaturen ausgeht? Mir tun sie doch überhaupt nichts zuleide. Nur für euch sind sie gefährlich – und wenn ihr mir nicht glaubt, dann könnt ihr fragen, wen ihr wollt!« Unsicher wanderte Eleas Blick zwischen dem Bruder und der schimmernden Kugel hin und her. »Heißt das, die Traumfänger haben es nur auf uns Insomnier abgesehen?« »Du sagst es, mein Mädchen«, erwiderte Wizz-Wizz ernst und warf Kayún einen vorwurfsvollen Blick zu. »Oder willst du etwa behaupten, dass auch das übertrieben ist?« Kayún biss sich auf die Lippen. Elea wurde noch schlechter, als ihr ohnehin schon war. »Wisst Ihr auch, warum sie es auf uns abgesehen haben?«, fragte sie Wizz-Wizz. Der Kopf in der Kugel schüttelte sich. »Das weiß niemand.« »Und – was machen sie mit ihren Opfern?« 82
»Auch das kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Die einen behaupten, dass sie die Unglücklichen an Xayíde verkaufen, an die Dunkle Prinzessin, der sie fortan als Sklaven dienen müssen. Andere meinen, sie würden ihre Gefangenen in die Welt der Menschen verschleppen, wo sie ein schreckliches Schicksal erwartet. In einem aber sind sich alle einig: Wer einmal in die Gewalt der Schwarzen Kreaturen gerät, verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Noch nie hat irgendwer von einem Insomnier gehört, der sich wieder aus den Klauen der Traumfänger befreien konnte.« »O nein!«, stöhnte Elea und wandte sich an den Bruder. »Stimmt das denn, was er sagt?« Kayún nickte. »Ich denke schon. Zumindest hat Vater mir das Gleiche erzählt.« Dann wandte er sich selbst an das Rasende Gerücht. »Wo sind Euch diese Kreaturen eigentlich begegnet?« »Gar nicht so weit von hier«, erklärte Wizz-Wizz. »Auf der Ostseite des Gebirges, wenn ich mich nicht sehr täusche.« »Verda...«, knirschte der Junge, der mit einem Mal totenbleich geworden war. »Was ist denn los?«, wollte Elea wissen. »Das fragst du noch?«, antwortete er mit finsterer Miene. »Der Weg nach Contrario verläuft östlich am Gebirge entlang, und wenn Wizz-Wizz die Wahrheit gesagt hat, treiben sich genau dort die Traumfänger herum. Es wäre lebensgefährlich für uns, einfach auf dem Talweg weiterzugehen.« Er brach ab und starrte mit finsterer Miene in die Ferne, um schließlich zu murmeln: »Dann bleibt uns wohl keine andere Wahl, als geradewegs über...« »Ihr müsst von allen guten Geistern verlassen sein«, fiel Wizz-Wizz ihm ins Wort, »Wenn ihr das macht, psst, psst, 83
dann seid ihr noch verrückter als die verrückten Schlamuffen.« Elea, die keinen Schimmer hatte, worauf das Rasende Gerücht anspielte, wandte sich an den Bruder. »Wenn wir was machen, Kayún?« »Wenn wir über das Eisiger-Wind-Gebirge gehen, meint es.« »Genau!« Empörung schwang in Wizz-Wizz’ Stimme mit. »Dann könnt ihr euch ebenso gut freiwillig in die Gewalt der Traumfänger begeben. Denn beides, psst, psst, läuft am Ende auf dasselbe hinaus – nämlich auf euer Verderben!« Kayún bedachte die schimmernde Kugel mit einem grimmigen Blick. »Wisst Ihr vielleicht noch einen dritten Weg?« Das Altweibergesicht trug eine bekümmerte Miene zur Schau. »Äh, das nicht, psst, psst. Tut mir wirklich Leid, aber ...« »Na, also! Dann erspart uns Eure Ratschläge.« Kayún winkte ab und zog ein verärgertes Gesicht. Dann jedoch schien ihm eine Idee zu kommen. »Aber vielleicht seid Ihr uns ja doch von Nutzen?« »Nun, psst, psst«, antwortete Wizz-Wizz kleinlaut, »kommt darauf an, worum es geht.« »Ganz einfach: Ich habe keine Ahnung, in welchem Wald wir uns hier befinden, und weiß deshalb auch nicht, wie wir wieder aus ihm herauskommen können. Alles hat sich total verändert, seit ich zuletzt in dieser Gegend war. Kennt Ihr vielleicht den Grund dafür?« »Aber natürlich. Selbstverständlich!« Wizz-Wizz schien erleichtert, und das Altweibergesicht im Inneren der Leuchtkugel verzog sich zu einem breiten Grinsen, während es näher an die Geschwister heranschwebte. »Hört zu, psst, 84
psst«, flüsterte das Rasende Gerücht, »daran ist niemand anderes als dieser Retter Schuld!« »Der Retter? Ihr meint das Menschenkind, das Phantásien von dem Nichts erlöst hat?« »Genau das meine ich«, erwiderte Wizz-Wizz. »Falls es euch interessiert: Der Retter heißt Bastian Balthasar Bux. Ich weiß, psst, psst, dass auch andere Namen im Umlauf sind. Raunhold, mein ungeratener Vetter, zum Beispiel behauptet, er heiße Luzian Lameran Lux. Aber darauf dürft ihr nichts geben. Raunhold ist bösartig, müsst ihr wissen, und gehört zu den falschen Rasenden Gerüchten, deren Worten einfach nicht zu trauen ist, wie ich schon erwähnt habe. Um euch nur ein Beispiel zu nennen ...« »Schon gut, schon gut«, fiel ihm Kayún ins Wort. »Erklärt uns lieber, warum sich an dieser Stelle plötzlich ein Wald befindet und was der Retter damit zu tun hat – wie immer er auch heißen mag!« »Das wollte ich euch doch gerade erzählen«, gab WizzWizz zurück. Es klang gekränkt. »Der Grund ist ganz einfach: Seit dem Tag, an dem Bastian der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen geschenkt hat – Monden...« »Auch der ist uns bekannt«, knurrte Kayún dazwischen. Wizz-Wizz verdrehte die Altweiberaugen. »Seit diesem Tag also erfindet unser Retter Phantásien ständig neu. Ganz wie es ihm beliebt und gefällt. Dieser Wald hier – er hat ihm übrigens den Namen Schreckwald gegeben – ist beileibe nicht das Einzige, was Bastian neu hat entstehen lassen – nein-nein!« Elea sah das Rasende Gerücht verwundert an. »Ihr meint, er hat noch mehr in unserer Welt verändert?« »Natürlich!« Leiser Triumph schwang in Wizz-Wizz’ Wispern mit. »Wir verdanken ihm den Nachtwald Perelin oder 85
Goab, die Wüste der Farben – um nur weniges von dem zu nennen, was er in der kurzen Zeit, die er sich hier bei uns befindet, bereits geschaffen hat. Auch wenn diese Gegenden zuvor völlig unbekannt gewesen sein mögen im Phantásischen Reich – seit dem Moment, als Bastian sie sich gewünscht hat, hat es sie schon immer gegeben.« »Wirklich?« Elea konnte einfach nicht glauben, was sie da hörte. »Oder übertreibt Ihr wieder, wie Kayún behauptet?« »Glaubt doch, was ihr wollt!« Wizz-Wizz klang nun doch etwas pikiert. »Aber vergesst nicht, psst, psst, ich gehöre zur Familie der echten Rasenden Gerüchte, und deshalb könnt ihr mir sehr wohl Glauben schenken.« »Schon gut«, versuchte Kayún ihn zu besänftigen. »Elea wollte Euch nicht kränken. Aber Ihr müsst uns schon verstehen: Was Ihr erzählt habt, klingt so unglaublich, dass es nur schwer zu fassen ist.« »Eine merkwürdige Ansicht für einen Phantasier, wenn ich das so sagen darf«, raunzte Wizz-Wizz. »Aber, psst, psst, ich will es euch nachsehen. Offensichtlich seid ihr müde und habt eure Sinne nicht mehr so richtig beisammen.« »Ihr wisst gar nicht, wie Recht Ihr habt«, seufzte Kayún und gähnte. »Deshalb will ich euch auch nicht länger aufhalten. Ihr scheint den Schlaf dringend nötig zu haben, weshalb ich mich auch auf der Stelle empfehle.« »Was?« Verwundert blickte Elea auf die schimmernde Lichtkugel. »Wollt Ihr nicht die Nacht mit uns am Feuer verbringen?« »Wozu das denn, psst, psst?« Das Altweibergesicht grinste. »Unsereins hält sich nirgends lange auf, ist ständig unterwegs und immer auf der Suche nach neuen Bekanntschaften. Also 86
gehabt euch wohl, ihr Wanderer – und auf ein baldiges Wiedersehen.« Wizz-Wizz verdrehte die Augen. »Hoffentlichhoffentlich«, fügte der leuchtende Ball seufzend hinzu, um dann im Zickzack zwischen den Stämmen der mächtigen Bäume davonzuzischen. »Halt«, rief Kayún ihm noch nach, »wie kommen wir aus dem Wald heraus?« Aber das Rasende Gerücht hörte ihn nicht mehr, und ehe die Geschwister sich versahen, war es im Dunkel des Schreckwaldes verschwunden.
\ Saranya konnte das Ende des Frühstücks kaum erwarten. Mit einem einzigen Schluck leerte sie den Becher mit warmer Milch. »Ich weiß nicht, warum«, sagte sie betont beiläufig, »aber irgendwie hab ich heute überhaupt keinen Appetit.« Als wolle sie sich selbst Lügen strafen, schob sie rasch ein Stück Brot in den Mund, sprang dann, mit vollen Backen kauend, vom Tisch auf und eilte zur Küchentür. Zum Glück hatte Herr Asmus sich längst ins Hohe Haus begeben, sonst hätte er mit Sicherheit darauf bestanden, dass Saranya sitzen blieb, bis alle fein säuberlich aufgegessen hatten. Und dass sie kauend auf die Straße ging, hätte er schon gar nicht geduldet. Raya dagegen war in dieser Beziehung weniger streng, und so blickte sie der Tochter nur stirnrunzelnd hinterher. »Wo willst du denn hin?« »Wu Wowina!«, gab das Mädchen mit vollem Mund zurück und war im nächsten Augenblick zur Tür hinaus. Hoffentlich war Colina zu Hause! Saranya brannte darauf, endlich mit jemanden zu bereden, was ihr auf dem Herzen lag. Nach dem Aufwachen waren ihr zwar kurzzeitig Zweifel 87
gekommen, ob sie ihre Probleme der Freundin anvertrauen oder lieber für sich behalten sollte. Aber wozu hatte man schließlich eine Freundin, wenn man sie nicht mit seinen Sorgen behelligen durfte? Obwohl Colinas Elternhaus nur vier Querstraßen vom Süßtraumpfad entfernt lag, kam Saranya der Weg an diesem Morgen fast endlos lang vor. Zum Glück war die Freundin daheim. Allerdings wurde Saranya nicht gerade freundlich empfangen: Als sie ins Zimmer trat, blickte Colina ihr so finster entgegen, als hätte man sie gerade gezwungen, Schnarchschafsragout zu essen. Wenn nicht sogar Schlimmeres. »Was ist denn los?«, wunderte sich Saranya. »Was hast du denn?« »Tust du nur so unwissend«, erwiderte der grüne Strubbelkopf vorwurfsvoll, »oder weißt du es wirklich nicht mehr?« Saranya zog die Schultern hoch und schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, Colina, ich hab nicht die blasseste Ahnung, was du meinst.« »Dann will ich deinem Gedächtnis ein wenig nachhelfen. Erinnerst du dich an gestern Nachmittag? Ich dachte, wir wären verabredet, weil wir ...« O nein! Sie hatte vergessen, dass sie mit Colina Schwebeball üben wollte. Wie peinlich! »Tut... tut mir Leid«, stotterte Saranya. »Aber das hab ich völlig verschwitzt.« »Hab ich gemerkt!« Die Freundin guckte immer noch so finster, dass sie selbst einem Schreckbold hätte als Vorbild dienen können. »Dabei hast du mich doch noch nie versetzt. Und schon gar nicht vor einem wichtigen Wettspiel. Ist was passiert?« Und ob etwas passiert war! Unverzüglich begann Saranya zu erzählen. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, und 88
plötzlich begriff sie die Weisheit, die Mutter Gris ihr ein ums andere Mal ans Herz gelegt hatte: »Geteilte Sorgen wiegen nur halb so schwer; und wenn man sie mit einem Freund teilt, noch sehr viel weniger!« Während Saranya erzählte, blickte Colina immer nachdenklicher drein, und als sie schließlich fertig war, schien das sommersprossige Mädchen völlig fassungslos. »Du meinst also wirklich«, hauchte sie, »der Hohe Herr Asmus und Raya verheimlichen dir etwas?« Saranya nickte heftig mit dem Kopf »Natürlich! Warum sonst haben sie mir so lange verschwiegen, dass ich ein Findelkind bin?« »Möglicherweise hast du Recht«, entgegnete der Strubbelkopf mitfühlend. »Wenn meine Eltern mich derart belogen hätten, würde ich ihnen auch kein Wort mehr glauben.« »Siehst du?« Jetzt war es Saranya, die eine finstere Miene zur Schau stellte. »Ich darf gar nicht daran denken, was sie mir vielleicht noch alles verheimlichen oder wann sie mich einfach angelogen haben!« Für einige Augenblicke saßen die Mädchen schweigend beieinander. »Was willst du jetzt machen?«, fragte Colina dann. »Ganz einfach: Ich muss herausfinden, was damals, vor zwölf Sommern, wirklich geschehen ist. Und wenn es tatsächlich Ungereimtheiten gegeben hat, dann komme ich schon dahinter.« Colina runzelte die Stirn. »Und wie willst du das anstellen?« »Wie wohl? Ich werde die Leute befragen, die damals die Ereignisse vielleicht mitbekommen haben. Unsere Magd zum Beispiel oder die Nachbarn. Irgendjemand muss sich doch daran erinnern, was in jenem Sommer passiert ist. Und wenn 89
ich lange genug herumfrage, stoße ich vielleicht auf einen Hinweis, der mich auf die Spur meiner Eltern bringt.« Colina musterte die Freundin nachdenklich. Dann grinste sie übers ganze sommersprossige Gesicht. »Alle Achtung – du bist gar nicht so dumm, wie es manchmal den Anschein hat. Wenn du möchtest, helfe ich dir bei der Suche ...« »Ja, gern!« Saranya strahlte. »... allerdings nur unter einer Bedingung«, fuhr der Strubbelkopf mit unvermindertem Grinsen fort. »Und die wäre?« »Erst gehen wir zum Ballspielplatz und üben eine Runde Schwebeball. Wenn wir gegen Pamina und Pamino verlieren, werden wir zum Gespött des ganzen Viertels – und darauf habe ich wirklich keine Lust.«
\ Das Spiel wurde zu einem wahren Desaster. Saranya machte so viele Fehler wie schon lange nicht mehr. Ihr misslangen selbst so simple Dinge wie doppelte Luftpässe oder angetäuschte Seitenwirbel, die sie sonst im Schlaf beherrschte. Ein Glück, dass es sich nur um eine Übung handelte, sonst hätten Colina und sie gegen jede Mannschaft verloren – selbst gegen die tollpatschigen Plattfußtrolle. Und zwar haushoch! Dennoch wollte Saranya nicht einfach aufgeben. Zumindest einmal wollte sie in den Schwebenden Reifen treffen. Sie übernahm den von Colina zugespielten Ball, ließ ihn dicht vor ihrer Stirn in der Luft verharren, um ihn dann mit einem schnellen Gedankenimpuls in einen einfachen Steilwirbel zu zwingen und auf das Ziel zusausen zu lassen. Doch da merkte sie auch schon, wie der Schwebeball erneut ihrer Kontrolle entglitt und gleich einem Stein zu Boden plumpste. »Bei allen 90
Schleimschleichern!«, schimpfte sie und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich kann mich heute einfach nicht richtig konzentrieren.« »Was du nicht sagst!« Colina musste grinsen. »Sei bloß froh, dass deine Eltern ... äh ... deine Stiefeltern das nicht gehört haben. Die können es doch auch nicht leiden, wenn du Schimpfwörter in den Mund nimmst, oder? Noch dazu so schlimme wie ›Schleimschleicher‹.« »Und wenn schon?« Saranyas Gesicht verfinsterte sich zusehends. »Ich hätte auch Warzenspeier sagen können. Jedenfalls fühle ich mich danach.« »Schleimschleicher und Warzenspeier!« Colina prustete los. »Wenn meine Eltern das von mir hören würden, bekäme ich eine Woche nichts anderes als kalte Runkelranken zu essen!« Mit verkniffener Miene wartete Saranya, bis die Freundin sich wieder beruhigt hatte. »Hast du eigentlich den Eindruck, dass deine Eltern dir immer die Wahrheit sagen?«, fragte sie dann. »Äh.« Colina wurde plötzlich ernst und legte die Stirn wieder in Falten. »Ja, doch. Schon. Obwohl ...« Nachdenklich starrte sie für einen Augenblick vor sich hin. »Aber weißt du, es ärgert mich schon, dass sie sich in letzter Zeit bei vielen Fragen um eine Antwort drücken oder nach Ausflüchten suchen. Und meistens, wenn es sich um ganz wichtige Dinge handelt. »Dazu bist du noch viel zu jung‹, heißt es dann. Oder »Warte, bis du größer bist, dann kannst du das auch verstehen‹.« »Siehst du?« Saranya machte einen Schritt auf Colina zu und stieß ihr mit dem Zeigefinger gegen die Schulter. »Genau das meine ich! Oder hast du schon mal eine vernünftige Antwort erhalten, wenn du gefragt hast, was es mit diesem Ruf 91
auf sich hat? Oder warum nur wir Insomnier vom Vergessen bedroht sind?« »Nein. Noch nie.« »Eben! Und bei mir verhält es sich genauso, und Brianna ...« »Die aus dem Fieberwahnweg?«, fragte Colina dazwischen. »Genau! Die hat mir das Gleiche erzählt. Dafür muss es doch einen Grund geben.« »Einen Grund?« Die Miene der Freundin glich einem einzigen Fragezeichen. »Welchen denn?« Saranya rückte näher an sie heran. »Keine Ahnung«, sagte sie leise. »Aber ich habe schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass die Eltern uns etwas Wichtiges verheimlichen. Und seit ich weiß, wie sehr Raya und Herr Asmus mich belogen haben, ist dieses Gefühl nur noch schlimmer geworden.« Die Augen unter dem grünen Strubbelkopf weiteten sich. »Aber was könnte das denn sein, was sie uns verheimlichen?« »Ich weiß es doch auch nicht.« Saranya zuckte mit den Schultern. »Aber ich bin mir fast sicher, dass es sich so verhält. Es würde mich also gar nicht wundern, wenn wir bei unseren Nachforschungen noch weitere Dinge entdecken, die man vor uns geheim hält. Wie wenig den Erwachsenen zu trauen ist, habe ich schließlich am eigenen Leib erfahren.« »Stimmt.« Colina nickte. »Machen wir’s am besten so: Ich höre mich bei meinen Eltern und unseren Bekannten um, und du versuchst bei euch was rauszufinden. Und heute Abend treffen wir uns wieder.« »Einverstanden! Aber sei vorsichtig. Muss ja nicht jeder gleich mitbekommen, was wir vorhaben.« Die Freundin verzog das Gesicht. »Glaubst du, ich bin noch ein Baby?« 92
Dann verabschiedeten sich die Mädchen voneinander und eilten davon, jede in Richtung ihres Elternhauses. Weder Saranya noch Colina bemerkten den Mann, der ihnen, verborgen hinter einer Steinsäule, noch einige Augenblicke nachschaute, ehe er sich in Bewegung setzte und Saranya in einiger Entfernung folgte.
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6 DAS EISIGER-WINDGEBIRGE
D
ickbauchige Schneewolken umhüllten die Gipfel des Eisiger-Wind-Gebirges und verdeckten die Sicht auf die Passhöhe. Doch Kayún wusste auch so, dass sie noch geraume Zeit brauchen würden, bis sie den Übergang erreichten. Dabei war es beinahe ein Wunder, dass sie überhaupt so weit gekommen waren. Am Morgen, nach dem Aufwachen, war der Schreckwald nämlich auf rätselhafte Weise verschwunden gewesen, und Kayún hatte sich in einer ihm bestens vertrauten Landschaft wiedergefunden, so dass die Geschwister ohne Probleme bis zum Fuß des schroffen Gebirges gelangt waren. Seit Stunden kämpften sie sich nun schon über den steilen Saumpfad, der in engen Schleifen hoch zum Pass führte. Sie kamen nur quälend langsam voran. Immer wieder versanken sie bis zu den Waden im frisch gefallenen Schnee, und der bitterkalte Wind stürmte ihnen mit solcher Heftigkeit entgegen, dass sie höllisch aufpassen mussten, um nicht vom Pfad geweht zu werden und über die schroffe Bergflanke in die Tiefe zu stürzen. Plötzlich blieb Elea stehen und schaute den Bruder flehend 95
an. »Ich schaff’s nicht mehr, Kayún, ich kann einfach nicht mehr weiter!« Ihre gekeuchten Worte waren gegen das Heulen des Sturms kaum zu vernehmen. »Lass uns eine Pause machen, bitte!« Schwer atmend musterte der Junge seine kleine Schwester. Zum Schutz gegen die Kälte hatte sie den Kopf mit einem Tuch verhüllt, so dass von ihrem Gesicht kaum mehr etwas zu sehen war. Ihre blassen Wangen waren hohl vor Kälte und Erschöpfung. Ihr Atem flatterte, und sie zitterte am ganzen Körper. Elea war ganz offensichtlich am Ende ihrer Kräfte. Kayún nickte. »Gut«, sagte er. »Machen wir Halt und ruhen uns ein wenig aus.« Er nahm das schwere Bündel von der Schulter und schaute sich nach einem Rastplatz um. Auf der Bergseite des schmalen Pfades türmten sich Schneewehen. Kayún stapfte auf eine Wechte zu und begann mit den Händen zu graben. Der Schnee war weich, und so dauerte es nur kurze Zeit, bis er eine kleine Höhlung geschaffen hatte, die ihnen Schutz vor dem eisigen Wind bot. Zitternd verkrochen sich die Geschwister in die Kuhle, die ihnen gerade genug Platz bot. Dicht an dicht drängten sie sich aneinander. Die Wärme ihrer Körper linderte die grimmige Kälte ein wenig, und geschützt vor dem Sturm, empfanden sie fast Behaglichkeit in ihrem kleinen Schneeloch. Kayún kramte im Bündel herum und beförderte zwei kalte Runkelranken und einen Grassamenfladen zu Tage. Den Speck und das Brot wollte er für die nächsten Tage aufheben. Ihr Getränkevorrat erschöpfte sich in einem kärglichen Rest Schlafwurzelsud. Da Schlaf jedoch genau das war, was sie im Augenblick am wenigsten brauchen konnten, steckte er den Trinkbehälter wieder zurück. Schließlich mussten sie noch vor Einbruch der Dunkelheit die Passhöhe erreichen, denn 96
eine Nacht in der beißenden Kälte der Nordflanke des EisigerWind-Gebirges würden sie nicht lebend überstehen, das wusste Kayún nur zu gut. Der Junge füllte den Becher mit Schnee und versuchte ihn durch die Wärme seiner Hände zum Schmelzen zu bringen. Es dauerte endlos lange, so dass er zwischenzeitlich in den Schnee griff und sich eine Hand voll in den Mund steckte. Elea lächelte ihn an, als er ihr den Becher reichte. »Danke«, hauchte sie kaum vernehmbar, bevor sie das irdene Gefäß an die Lippen setzte. »Vielen Dank, Kayún.« Obwohl sie großen Durst haben musste, leerte sie ihn nur zur Hälfte und wollte ihn dann dem Bruder zurückreichen. Doch Kayún wehrte ab. »Trink nur!«, sagte er. »Ich weiß mir schon so zu helfen.« Erneut füllte er den Mund mit köstlich kaltem Schnee. Elea leerte den Becher bis zur Neige. Die Runkelranke, die Kayún ihr anbot, lehnte sie allerdings ab. »Danke, aber ich habe nicht den geringsten Appetit.« Der Junge jedoch ließ sich nicht abweisen. »Du musst etwas essen, Elea, sonst verlassen dich die Kräfte. Und du weißt, was das bedeuten würde?« Elea blickte ihn aus großen Augen an. Dann atmete sie tief durch und seufzte. »Gut – aber lass uns hier noch eine Weile ausruhen. Einverstanden?« Kayún nickte, beugte sich vor und spähte zum grauschwarzen Himmel. Die Sonne war nicht zu erkennen hinter den dichten Wolken, und so fiel es ihm schwer, ihren Stand richtig abzuschätzen. Wenn er sich nicht sehr täuschte, musste es jedoch um die Mittagsstunde sein. Ihnen blieb also noch ausreichend Zeit, um auf die andere Bergseite zu gelangen, wo es viel milder war, wie er sich von seiner letzten Reise über das EisigerWind-Gebirge erinnerte. Allerdings hatte es auch den Schreck97
wald, der ihnen am Vorabend beinahe zum Verhängnis geworden war, damals noch nicht gegeben, und so war es durchaus möglich, dass jener Bastian Balthasar Bux auch die Regionen auf der Südseite des Gebirges verändert hatte. Wer konnte also wissen, was sie jenseits des Passes erwartete? Der Gedanke, länger als nötig an Ort und Stelle zu verweilen, wollte Kayún deshalb überhaupt nicht gefallen. Andererseits musste Elea sich ein wenig erholen, sonst würden sie nie an ihrem Ziel ankommen. »Einverstanden«, sagte er also und hielt der Schwester ein Stück Runkelranke entgegen. »Und jetzt iss.« Doch Elea reagierte nicht. Als er sie anblickte, bemerkte er, dass sie die Augen geschlossen hatte und regelmäßig atmete. Rasch stieß er sie an. »He, nicht einschlafen!« »Lass mich«, murmelte das Mädchen. »Bitte! Nur für ein paar Augenblicke – dann kannst du mich ja wieder wecken.« Der Blick, der ihn aus halbgeschlossenen Augen traf, war derart flehend, dass Mitleid in ihm aufstieg. »Gut – aber wirklich nur kurze Zeit, verstanden?« »Verstanden«, hauchte Elea und schloss die Augen wieder. Nur Momente später war regelmäßiges Atmen zu hören – das Mädchen schlief. Kayún steckte sich die Runkelranke in den Mund und kaute lustlos darauf herum. Schon frisch gebraten war die grobfaserige Pflanze alles anders als eine Delikatesse, doch kalt schmeckte sie einfach widerlich und taugte höchstens zum Fraß für die Schweine. Er spuckte die Reste aus und starrte missmutig hinaus in den grauen Tag. Trübe Gedanken bemächtigten sich seiner, während die gleichmäßigen Atemzüge der Schwester an sein Ohr drangen. Ob wir Seperanza wohl jemals erreichen werden?, überlegte er. 0b es mir gelingen wird, den richtigen Weg zu finden und das Versprechen zu erfüllen, das ich der Mutter gegeben habe? 98
Müdigkeit stieg in Kayún auf und drohte Besitz von seinem Körper zu ergreifen. Er rieb sich die Augen, massierte die Wangen mit Schnee und gähnte ausgiebig, um seine Lunge mit frischer Luft zu füllen. Doch das alles half nicht viel. Ohne dass er sich dagegen wehren konnte, fielen seine Lider zu. Nun gut, dachte er schläfrig, es kann bestimmt nicht schaden, wenn ich ein wenig vor mich hin döse. Ich kann ohnehin nur untätig herumsitzen, während Elea schläft. Außerdem wird es mir gut tun, ganz bestimmt sogar. Er gähnte erneut, und dann tauchte er ein in eine dicke Wolke aus grauem Schlummer, die ihn sanft in sich bettete ... Als Kayún die Augen wieder öffnete, zuckte er erschrocken zusammen. Verdammt – er hatte geschlafen, kein Zweifel! Denn unterdessen hatte wieder Schneefall eingesetzt und ihre Spuren auf dem Pfad überdeckt. Es war nur ein leichter Flockenwirbel, und folglich hatte er wohl nicht nur wenige Augenblicke geschlafen, sondern längere Zeit, vielleicht sogar stundenlang! Kayún wollte Elea gerade wachrütteln, als sein Blick zufällig in die Tiefe ging – und da entdeckte er fünf Gestalten im Schneegestöber. Sie befanden sich auf dem Saumpfad vielleicht zweihundert Schritte unter ihnen und kamen mit schwerfälligen, aber steten Bewegungen näher. Ihre bis zum Boden reichenden Umhänge waren von Schnee bedeckt, die Kapuzen auf ihren Köpfen fielen so weit in ihre Gesichter, dass sie diese vollständig verbargen. Obwohl sie noch fern waren, meinte Kayún die Gefahr, die von den Schwarzen Kreaturen ausging, fast körperlich zu spüren. Ein plötzlicher Druck lastete auf seiner Brust, und ihm war, als würden die Traumfänger mit unsichtbaren Krallen nach seinem Herzen greifen. Fieberhaft blickte der Junge sich um – und dann wurde 99
ihm klar, dass sie ihnen nicht mehr entkommen konnten. Zumindest nicht über den Pfad, der zum Gipfel führte. Denn obwohl die finsteren Geschöpfe sich reichlich träge bewegten, kamen sie doch schneller voran, als Elea es vermocht hätte. Ohnehin schlief das geschwächte Mädchen immer noch und ahnte nicht das Geringste von der entsetzlichen Gefahr, in der sie schwebten.
\ Saranya traf Tramina im Hof. Die Magd fegte das kleine Geviert, das von niedrigen Mauern umgrenzt war, gerade mit einem Reisigbesen. Als sie das Mädchen erblickte, stöhnte und ächzte sie, als würde sie jeden Moment unter der Last der Arbeit zusammenbrechen. Saranya musste grinsen. Typisch Tramina, dachte sie. Sobald jemand in der Nähe war, tat sie, als hätte sie im Haus des Hohen Herrn wahre Frondienste abzuleisten. Dabei hatte sie es bei ihnen wirklich gut. Raya erledigte fast die gesamte Hausarbeit selbst, und seit Saranya ihre Liebe zum Kochen entdeckt hatte, blieb für Tramina noch weniger zu tun, so dass sie noch mehr Zeit am Brunnen vertrödeln konnte, wo die Mägde des Viertels den neuesten Klatsch und Tratsch austauschten. Außerdem zahlte Herr Asmus gut, wie Saranya wusste, seit sie ein Gespräch zwischen Raya und Colinas Mutter belauscht hatte: Diese hatte sich darüber beklagt, dass Selin, ihr Hausmädchen, eine höhere Entlohnung verlangt hätte, nachdem Tramina ihr gesteckt hatte, wie viel sie selbst verdiente. Dennoch schlich Tramina stets mit einer derart leidenden Miene durch die Gegend, dass es wahrscheinlich selbst Xayíde, die Dunkle Prinzessin, die für ihre Gefühllosigkeit in ganz Phantásien berüchtigt war, zu tiefstem Mitleid gerührt hätte. 100
Saranya holte einen zweiten Besen aus dem Schuppen und gesellte sich zur Magd. »Lass dir ein bisschen helfen«, sagte sie. »Zu zweit ist die Arbeit schneller getan,« Während sie mit flinken Bewegungen zu kehren begann, hielt die Magd inne, stützte sich auf ihren Besen und ließ einen tiefen Seufzer hören. »Überarbeite dich bloß nicht. Es reicht doch, wenn eine sich krumm und buckelig schuftet!« »Halb so schlimm«, antwortete Saranya. »Ruh dich nur ein bisschen aus. Du hast heute bestimmt schon mehr als genug gearbeitet!« »Wie Recht du doch hast!« Wieder entrang sich Traminas wogender Brust ein tiefer Seufzer. Dann wischte sie die Hände an der schmutzigen Schürze ab, die sie über dem grauen Leinengewand trug, strich sich die Haare aus der Stirn und musterte das Mädchen aus schmalen Augen. Allerdings war Saranya sich nicht sicher, ob Tramina sie wirklich ansah. Die Magd schielte nämlich gewaltig. »Die Arbeit geht dir ja gut von der Hand«, meinte Tramina anerkennend. »Ungewöhnlich für eine Tochter aus so Hohem Haus.« Saranya horchte auf. »Warum sagst du das?«, wollte sie wissen. »Ach, nur so.« Tramina winkte ab. »Und weil ich mich heute am Brunnen zufällig mit Selin darüber unterhalten habe. Selin sagt, Colina würde den lieben langen Tag keine Hand rühren. Und da sie von ihrer Mutter auch nicht dazu angehalten wird, bleibt die ganze Arbeit an Selin hängen. Aber was beklage ich mich denn. Das ist nun mal das Schicksal von uns Mägden. Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit – vom Morgen bis zum Abend.« Immer noch stützte sie sich auf ihren Besen und sah Saranya beim Fegen zu. »Wie lange arbeitest du eigentlich schon im Haus des Herrn Asmus?«, fragte Saranya beiläufig. 101
»Lange, viel zu lange.« Tramina seufzte. »Das sind jetzt bestimmt schon, lass mich nachdenken, fünfzehn oder sechzehn Sommer.« »Dann warst du also auch schon bei uns, als Raya und Herr Asmus mich gefunden haben?« »Gefunden?« Tramina sah sie mit so großen Augen an, dass Saranya schon fürchtete, sie würden ihr jeden Moment aus dem Gesicht fallen. »Warum denn gefunden?« Die Frage traf Saranya wie ein Keulenhieb. »Heißt das, du wusstest gar nicht, dass ich ein Findelkind bin?« Die Magd stand immer noch wie angewurzelt da und glotzte sie an. Ihre Unterlippe hing noch weiter herunter als sonst. »Woher denn? Davon hat mir niemand was gesagt.« Saranya verdrehte die Augen. »Aber Tramina! Du hast Raya doch jeden Tag gesehen. Da muss es doch deinen Verdacht erregt haben, dass sie urplötzlich, von einem Tag auf den anderen, einen Säugling hatte – oder nicht?« Für einen Augenblick starrte die Magd wie abwesend vor sich hin. Dann schüttelte sie den Kopf. »Mir ist wirklich nichts aufgefallen, damals. Allerdings ist das auch schon so lange her. Außerdem lag ich in jenem Sommer wochenlang mit schlimmem Fieber danieder und konnte meinem Dienst nicht nachgehen. Meine Mutter hat mich gepflegt, bis ich wieder gesund war.« Die Erinnerung entlockte der Magd einen neuerlichen Seufzer. »Es stand ganz schlimm um mich, nur mit knapper Not bin ich dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen.« »Aber dann kamst du hierher zurück?« »Natürlich – was bleibt einer armen Magd denn anderes übrig?« Ihr schlimmes Schicksal lastete offensichtlich so schwer auf Tramina, dass sie sich immer noch am Besenstiel festhalten musste, um nicht zu Boden gedrückt zu werden. 102
»Und du hast dich überhaupt nicht gewundert, mich hier vorzufinden?« »Warum sollte ich? Bevor ich krank wurde, war Raya doch guter Hoffnung. Weshalb sollte ich mich da wundern, dass ein Säugling im Haus war? Es wäre mir höchstens verdächtig erschienen, wenn keiner da gewesen wäre.« Saranya verstand nun überhaupt nichts mehr. Raya hatte ihr doch erzählt, dass sie sie vor dem Haus gefunden hatten. Aber wenn sie guter Hoffnung gewesen war – was war dann mit ihrem eigenen Kind geschehen? Oder brachte die Magd vielleicht etwas durcheinander? Schließlich war sie nicht gerade die Hellste, wie jedermann wusste, und hatte Raya durch ihre Begriffsstutzigkeit schon mehr als einmal an den Rand der Verzweiflung gebracht. Aber wie auch immer – Saranya musste einsehen, dass ihr Tramina keine große Hilfe war. Im Gegenteil: Die Magd hatte sie nur noch mehr in Verwirrung gestürzt. Mit wenigen flinken Besenstrichen fegte das Mädchen die letzten Schmutzreste zusammen. »Soll ich den Dreck noch auf die Schaufel fegen – oder schaffst du das allein?« Tramina zog eine leidende Miene, und ihre Unterlippe zitterte. »Lass gut sein, lass nur gut sein.« Ein tiefer Seufzer kam aus ihrem Mund, während sie die Augen flehend zum Himmel richtete. »Wer sich den ganzen Tag abschuftet, den bringt das bisschen zusätzliche Arbeit auch nicht um!«
\ Mit stetigen Schritten stiegen die Traumfänger den steilen Bergpfad empor. In regelmäßigen Abständen verharrten sie. Die verhüllten Häupter bewegten sich, als würden sie sich in den Wind drehen. Grüne Augenpaare glühten auf in der 103
nachtgleichen Schwärze unter den Kapuzen, und schnüffelnde Laute erklangen, die an witternde Raubtiernasen gemahnten. Dann drehte der Anführer sich zu seinen Gefährten um und stieß grollende Töne aus. Sie hörten sich an wie eine Mischung aus den Brunftschreien der Grasbüffel und dem Geheul tollwütiger Silberwölfe. Die anderen Traumfänger antworteten gleichermaßen. Außer Xayíde konnte niemand in ganz Phantásien die gutturale Sprache der Werwesen verstehen, was ihnen schon manches Mal zum Vorteil gereicht hatte, konnten sie dadurch doch selbst in der Gegenwart von Feinden Absprachen treffen. Doch dies ist eine andere Geschichte und soll deshalb auch ein andermal erzählt werden. Der Anführer jedenfalls gab sich keine Mühe, seine Stimme zu dämpfen. »Der Geruch der Beute wird immer stärker«, bellte er den Gefährten zu. »Wie viele sind es diesmal?«, schallte es zurück. »Wieder nur zwei.« »Verflucht!« »Aber diesmal ist es wertvollere Beute, weil ein Mädchen dabei ist, wie sie es nennen.« »Ah, ein Mädchen!« Der Kleinste von ihnen, der am Ende der Reihe ging, ließ wiehernde Laute hören. »Wie gut sie riechen, diese Mädchen. Kein Wunder, dass sie wertvoller sind für uns. Viel, viel wertvoller!« »Bezähme dich, Zwark!« Wütend bellte der Anführer den Kleinen an, der augenblicklich verstummte. Dann witterte er erneut. »Ihre Fährte wird immer heißer. Ich kann ihre Angst schon riechen und auch die Erschöpfung, die sich in den Schweiß des Mädchens mischt.« »Angst und Erschöpfung – welch ein herrlicher Geruch!«, keuchte eine der Schwarzen Kreaturen mit heiserer Stimme. 104
Der Anführer knurrte zurück: »Freut euch, die Beute ist nah und kann uns nicht mehr entkommen.« Damit brach er in lautes Hyänenlachen aus, in das die Gefährten einstimmten. Dann stapften sie weiter, der Passhöhe entgegen. Es ärgerte Zwark, dass er als der Kleinste stets am Schluss der Gruppe gehen musste. Schließlich verfügte er über die beste Nase von allen und konnte die Beute meist schon riechen, wenn die anderen noch völlig witterungslos waren. Und doch musste er stets hinter ihnen zurückstehen. Zwark ließ ein wütendes Grollen hören und trat in den Schnee, der sich am Rand des Saumpfades auftürmte. Die Erschütterung bewirkte, dass sich ein kleines Schneebrett löste und über die Bergflanke zu Tal schoss. »Du Narr!« Voller Zorn grollte einer der Kumpane ihn an. »Willst du uns umbringen? Erinnerst du dich nicht mehr an unsere Gefährten, die von einer Lawine mitgerissen wurden?« »War doch nicht ihre Schuld«, gab Zwark zurück. »Wenn dieser verfluchte Lawinenwicht ihnen nicht so übel mitgespielt hätte ...« »Schluss jetzt mit dem Geschwätz«, fuhr der Anführer dazwischen. »Unsere Beute wartet.« Die Werwesen waren kaum ein Dutzend Schritte weitermarschiert, als Zwark ein übler Geruch anflog. Der Gestank war noch schwach und musste von weit her kommen, dennoch konnte er ihn deutlich riechen. Der Traumfänger blieb erneut stehen und hob den Kopf. Die grünen Augen glommen auf, während er zu dem finsteren Wolkenvorhang spähte, der am Himmel aufgezogen war. Und plötzlich erkannte er, wessen Geruch der Wind an ihn herangetragen hatte: Hoch über dem Gebirge schwamm ein Glücksdrache durch die dunklen Wolken. Er war viel zu hoch, als dass Zwark ihn genau erkennen konnte, dennoch schimmerten die perlmutterfarbenen 105
Schuppen, die seinen langen, geschmeidigen Leib bedeckten, rosig und weiß. Erneut ließ Zwark ein dumpfes Grollen hören. Glücksdrachen galten bei den Traumfängern als Unglücksboten. Unzählige Male schon waren ihnen diese mächtigen Geschöpfe, die zu den seltensten in ganz Phantásien zählten, in die Quere gekommen und hatten dafür gesorgt, dass ihnen die sicher geglaubte Beute doch noch entkommen war. Kein Wunder also, dass der bloße Anblick des Glücksdrachen Zwarks Wut erregte. Schon wollte er den Anführer auf das Unheil bringende Wesen hinweisen, als dieser ihn anfuhr: »Soll ich dir Beine machen, Zwark? Wieso müssen wir denn ständig auf dich warten? Ausgeruht wird erst dann, wenn wir uns die Insomnier geschnappt haben!« In stummem Zorn setzte Zwark sich wieder in Bewegung und trottete den Kumpanen hinterher, immer weiter den Berg hinan. Sollten sie doch sehen, wie sie ohne ihn und seine feine Witterung zurechtkamen! Wenn sie die unmissverständliche Warnung, die das Auftauchen eines Glücksdrachen bedeutete, nicht wahrnahmen, war es doch nicht seine Schuld! Es dauerte nicht lange, bis ihm ein anderer Geruch in die Nase stieg. Wieder blieb Zwark stehen und schnupperte: Roch es hier nicht nach ... Insomniern? Nach ... einem Mädchen? Allerdings war außer seinen Kumpanen weit und breit niemand zu entdecken – und dennoch war der Geruch deutlich wahrzunehmen, so stark, dass er unmöglich von den Fährten der beiden aufsteigen konnte. Zudem hatte der Schnee ihre Spuren längst zugedeckt, so dass auch der davon aufsteigende Dunst schwächer geworden war. Und dennoch: Er konnte Insomnier riechen, ohne Zweifel. Zwark spähte zu den mächtigen Schneewechten, die den Pfad auf der Bergseite 106
begrenzten. War es denn möglich, dass sie sich darin verkrochen hatten? Brauchten sie keine Luft zum Atmen? Sonderbar! Jedenfalls konnte es nicht schaden, den aufgetürmten Schneehaufen etwas genauer zu untersuchen. Zwark beugte sich vor, um in den Schnee zu greifen, als er die aufgeregten Laute des Anführers vernahm. »Verflucht!«, grollte der. »Seht doch – ein Glücksdrache!« Damit deutete er zum Himmel, wo der schlangenförmige Leib gerade lautlos aus einer dunklen Wolke glitt und wie zum Spott einen perfekten Kreis in die Luft zeichnete, um dann wieder ins Gewölk zu tauchen und ihren Blicken zu entschwinden. Die Traumfänger stießen wütende Flüche aus, wünschten ihn in Ygramuls Netz und sahen ihm unter Grollen und Fauchen nach. Mit einem Mal schrie der Anführer auf und deutete den Berg hinauf, wo sich der schmale Pfad dicht am Abgrund entlangschlängelte. »Seht ihr das?«, bellte er, während seine grünen Augen gierig aufleuchteten. Ein heiseres Knurren antwortete ihm. Dann fielen die Schwarzen Kreaturen in Trab und hetzten weiter den Saumpfad hinauf, so rasch, als würde ihnen die nahe Beute neue Kräfte verleihen.
\ Kayún glaubte zu platzen. Seine Lunge brannte wie Feuer. Obwohl er Elea in der Dunkelheit, die sie umfing, nicht sehen konnte, fühlte er, dass es ihr genauso ergehen musste. Dennoch wagte er nicht, Luft zu holen. Noch nicht. Vielleicht waren die Traumfänger ja noch in ihrer Nähe und bekamen jedes noch so leise Geräusch mit? Von der Schneewechte, in der die Geschwister sich versteckt hielten, mussten sie sich jedoch 107
entfernt haben, denn der schreckliche Schmerz, den ihre Präsenz ihm in Kopf und Brust verursacht hatte, war bereits schwächer geworden. Nachdem Kayún die Traumfänger entdeckt und Elea wachgerüttelt hatte, war ihm in seiner Not kein anderer Ausweg eingefallen, als die Schneewehe zum Einsturz zu bringen, in der sie sich verkrochen hatten. Schützend hatten sie die Arme über die Köpfe erhoben, so dass vor ihren Gesichtern ein kleiner Hohlraum frei geblieben war. Die darin eingeschlossene Luft würde ihnen das Atmen ermöglichen, wenn auch nur für kurze Zeit. Völlig regungslos hatten sie in der Wechte verharrt und gehofft, dass der eingestürzte Schnee sie vor den Blicken der grausigen Werwesen verbarg. Als die unheimlichen Laute erschallt waren, hatte Kayún schon gedacht, es wäre um sie geschehen. Das kehlige Fauchen, vermischt mit Knurren und Zischen, hatte so nahe geklungen, dass er die Traumfänger fast zu sehen glaubte. Sie mussten unmittelbar vor ihnen gestanden haben! Wie glühende Lava hatten sich die grausigen Geräusche in seinen Kopf gefressen, und die Klammer, die sich um sein pochendes Herz gelegt hatte, war immer enger geworden. Dann waren schnüffelnde Laute erklungen, ähnlich denen von Raubtieren auf Beutejagd. Obwohl Kayún nicht das Geringste hatte sehen können, ahnte er, was sich vor dem schützenden Schneehaufen abspielte: Die Schwarzen Kreaturen mussten ihre Witterung aufgenommen haben und würden nun jeden Augenblick zuschlagen. In seiner grenzenlosen Angst hatte der Junge aufgehört zu atmen, und die Schwester hatte es ihm gleichgetan. Mit einem Mal aber waren die Laute verstummt, die Schritte hatten sich entfernt, und alles war still geworden. Totenstill. Die glühenden Lavaströme in seinem Kopf versiegten 108
allmählich, nur der Druck auf der Brust dauerte unvermindert an. Als ihnen das Bewusstsein zu schwinden drohte, ließen Kayún und Elea den angehaltenen Atem aus den Lungen entweichen. Einer Ohnmacht nahe, japsten sie nach frischer Luft. Aber die war in dem kleinen Hohlraum nun fast erschöpft. Elea bewegte ihre Arme, um eine Öffnung zu schaffen, doch der Bruder hielt sie zurück. »Noch nicht«, keuchte er unter Schmerzen. »Warten wir, bis sie weiter weg sind.« Endlich lockerte sich auch die erstickende Klammer um Kayúns Brust. Mit aller Macht stieß er die Arme nach vorn. Der Schnee knirschte, und es wurde Licht vor seinen Augen. Köstlich klare Bergluft wehte ihm ins Gesicht, und ihm war, als würde er neu geboren. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, lächelte er seine Schwester an. »Alles in Ordnung?« Obwohl sichtlich erschöpft, erwiderte Elea sein Lächeln. »Ist gerade noch mal gut gegangen, oder?« Der Junge nickte. »Stimmt«, sagte er. Dann arbeitete er sich aus der eingestürzten Wechte und half der Schwester, sich vom Schnee zu befreien. Nachdem er das Bündel ausgebuddelt und wieder geschultert hatte, nickte er Elea aufmunternd zu. »Komm, gehen wir weiter.« Damit marschierten sie los. Allerdings hatte er nun kaum mehr Hoffnung, die Passhöhe noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, aber das verschwieg er seiner Schwester lieber.
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7 DAS ARCHIV DER NEUNUNDNEUNZIG SÄLE
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iehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?« Verärgert wandte sich Bubu von der Schafherde ab, die sich im Gatter hinter ihm drängte, und blickte Saranya vorwurfsvoll an. »Jetzt habe ich natürlich den Überblick verloren und kann wieder von vorn anfangen! »Tut mir Leid, dass ich dich beim Schafezählen störe«, entgegnete das Mädchen kleinlaut. »Aber es ist wirklich wichtig.« »Das will ich auch hoffen.« Der Eulenkopf klang immer noch verärgert. Von jeher war das Schafezählen eine bei den Einwohnern von Seperanza äußerst beliebte Freizeitbeschäftigung. Was nicht weiter verwunderlich war, verdankte die Stadt ihre Existenz doch einzig und allein dem Schafezählen – aber das ist wieder eine andere Geschichte und soll deshalb ein andermal erzählt werden. Jedenfalls wurde in jedem der immer noch zahlreichen Parks eine Schafherde gehalten – deren Zahl natürlich mit jedem Tag geändert wurde! –, damit alle Städter dieser Passion nachgehen konnten. Obwohl der Platz innerhalb der Stadtmauern immer knapper 111
und kostbarer wurde, hatte der Rat der Hohen bislang nicht gewagt, Zahl und Größe der Schafherden zu beschränken. Seit einiger Zeit wurden sogar Vergleichskämpfe veranstaltet – im Wettzählen zum Beispiel, bei dem es galt, möglichst schnell die genaue Anzahl der in einem Pferch befindlichen Schafe herauszufinden, oder auch im Schnellzählen, bei dem eine Schafherde in großer Geschwindigkeit an den Schafzählern vorbeigetrieben wurde. Sieger war natürlich derjenige, der die Zahl am genauesten traf. Bubu diente das Schafezählen nur zur Entspannung. Es beruhigte ungemein und schulte zudem den Geist, behauptete der alte Eulenkopf, weshalb er dieser Leidenschaft regelmäßig während seiner Mittagspause im Magistratspark frönte. Saranya, die seine Vorliebe kannte, hatte ihn ohne Probleme am Schafsgatter aufgespürt. Sie entschuldigte sich ein zweites Mal für die Störung und trug Bubu dann vor, was sie auf dem Herzen hatte. Der Eulenkopf schien über ihren Bericht nicht weniger verwundert als zuvor Colina und die Magd. »Woher soll ich denn wissen, ob der Hohe Herr dich wirklich vor seiner Haustür gefunden hat?«, fragte er mit einer Miene, die an einen Tölpeltroll erinnerte. Saranya zog eine Schnute. »Als oberster Amtsdiener stehst du dem Herrn Asmus doch viel näher als die meisten anderen in der Stadt. Außerdem bist du über die Geschehnisse in Seperanza doch meistens auf dem Laufenden.« Der Eulenkopf kniff die Augen zusammen. »Willst du damit andeuten, dass ich neugierig sei?« »Aber nein!« Sie bemühte sich um einen möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck. »Allerdings behauptet Tramina, unsere Magd, wenn man wissen wolle, was in un112
serem Viertel vor sich geht, müsse man sich nur an dich wenden.« Das Gefieder auf Bubus Kopf sträubte sich, während er die Augen verdrehte. »Die hat es gerade nötig! Tramina ist doch ständig auf der Suche nach dem neuesten Klatsch und Tratsch!« Saranya musste an sich halten, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Zum Glück merkte der Eulenkopf das nicht. »Da wir schon von ihr reden«, fuhr er fort. »Hast du sie eigentlich gefragt, ob ihr damals vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist?« »Ja, hab ich.« Saranya war wieder ernst geworden. »Aber Tramina kann sich nicht mehr genau erinnern. Sie weiß nur noch, dass sie damals eine ganze Weile krank war und deshalb nicht arbeiten konnte. 0b ich tatsächlich in einem Korb vor der Tür gelegen habe, kann sie auch nicht sagen. Als sie geraume Zeit später wieder zum Dienst erschienen ist, gehörte ich jedenfalls schon zur Familie.« »Das hilft dir ja auch nicht weiter«, brummte Bubu. »Stimmt.« Saranya stellte sich auf die unterste Stange des Gatters und ließ ihren Blick über die Herde schweifen. Die Schafe glotzten zurück und blökten. »Aber ich hatte ohnehin nicht viel Hoffnung in Tramina gesetzt. Sie ist ein Tollpatsch und eine Transuse.« »Was du nicht sagst!« Bubu grinste, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Warum zweifelst du eigentlich an der Geschichte, die Raya und der Hohe Herr dir erzählt haben? Warum willst du nicht glauben, dass du ein Findelkind bist?« »Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete das Mädchen mit gerunzelter Stirn. »Nur, dass ich Zweifel habe, ob sich tatsächlich alles so zugetragen hat, wie sie behaupten.« »Und warum?« 113
»Weil es einen Grund geben muss, dass sie so lange geschwiegen haben, deshalb! Und wenn Gork mir nicht die Wahrheit ins Gesicht geschrien hätte, dann würde ich sie auch heute noch nicht kennen.« Der Eulenkopf schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich fürchte, du verrennst dich da in etwas, Saranya. Dass dieser Kerl darüber Bescheid wusste, zeigt doch, dass sie nicht versucht haben, die Sache zu vertuschen ...« »Wie sollten sie auch?«, ging Saranya heftig dazwischen. »Jeder konnte doch sehen, dass sie plötzlich ein Kind hatten. Schon aus diesem Grund mussten sie sich eine einleuchtende Erklärung dafür einfallen lassen. Die Frage ist nur, ob die auch stimmt, nicht wahr?« Bubu antwortete nicht sofort. Schweigend beobachtete er die Schafe. »Ich glaube, ich verstehe dich«, sagte er nach einer Weile. »Wenn meine Eltern mich derart belogen hätten, würde ich ihnen wahrscheinlich auch nicht mehr über den Weg trauen.« »Siehst du!« Saranya warf einen letzten Blick auf die Herde, sprang vom Gatter und baute sich vor dem Eulenkopf auf, die Hände auf die Hüften gestemmt. »Also was ist? Hast du damals etwas Verdächtiges bemerkt?« Bubu schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Saranya, aber ich kann dir nicht helfen.« »Und wieso nicht? Hast du Angst vor dem Hohen Herrn? Fürchtest du, er könnte dich entlassen – oder was? »Nein. Natürlich nicht.« »Und warum kannst du mir dann nicht helfen?« »Ganz einfach – weil ich damals noch nicht in seinem Dienst war. Vor zwölf Sommern war ich nicht einmal in Seperanza, sondern hatte einen wichtigen Posten im Elfenbeinturm inne.« 114
»Bei der mondäugigen Gebieterin der Wünsche?« »Genau! Bei der Kindlichen Kaiserin.« »Das hab ich ja gar nicht gewusst!«, staunte das Mädchen. »Es gibt vieles, was du nicht weißt«, seufzte der Eulenkopf. »Und noch viel mehr, was du dir nicht einmal vorstellen kannst.« Saranya musterte ihn schweigend, und auch Bubu sagte kein weiteres Wort. Beide wandten sich wieder den Schafen zu, die sich dicht an dicht im Pferch drängten. »Hast du eure Nachbarn schon befragt?«, brach der Eulenkopf nach geraumer Zeit das Schweigen. Saranya schüttelte den Kopf. »Noch nicht.« »Und im Archiv nachgeforscht?« Das Mädchen sah ihn erstaunt an. »Im Archiv? In welchem Archiv denn?« Wieder sträubte sich das Gefieder auf dem Eulenkopf. »Sag bloß, du kennst das Archiv nicht?« »Nein – keine Ahnung, was du meinst.« Ungeduldig trippelte das Mädchen mit den Füßen. »Jetzt sag endlich!« Bubu konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er fortfuhr: »Sobald du ein kleines Rätsel gelöst hast.« »0 nein! Das ist doch nicht dein Ernst, Bubu – oder?« Der Eulenkopf blickte sie ungerührt an. »Mein voller Ernst.« Saranya schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Also gut, schieß los.« Ein Lächeln huschte über das alte Eulengesicht. »Pass gut auf, die Frage ist bestimmt kniffliger als das letzte Rätsel: Wie schwer ist ein Sack Korn, der eineinhalb Scheffel mehr wiegt als die Hälfte seines Gewichts?« Saranya zog eine Schnute und legte die Stirn in Falten. Beim ersten Überlegen erschien ihr die Frage mehr als ver115
wirrend. Aber vielleicht war sie nur so kompliziert formuliert, um zu verschleiern, dass sie eigentlich recht einfach zu lösen war? Also, überlegte Saranya, gesucht wird das Gewicht eines Sacks Korn, dessen eine Hälfte unbekannt ist. Das Gesamtgewicht aber setzt sich aus zwei gleich schweren Hälften zusammen. Wenn es also eineinhalb Scheffel schwerer ist als die eine Hälfte ... Und da fiel ihr die Lösung auch schon ein. Mit der flachen Hand schlug sie sich an die Stirn: Das war ja so simpel, dass sie es aus dem Stegreif hätte wissen müssen! »Ganz einfach, Bubu«, sagte sie. »Der Sack wiegt zweimal eineinhalb Scheffel, also insgesamt drei – stimmt’s?« Der Eulenkopf ließ einen unwirschen Laut hören und nickte. »Stimmt«, knurrte er. Saranya unterdrückte ein Grinsen. »Jetzt sag endlich: Was hat es mit diesem Archiv auf sich?« »Ist mir schleierhaft, warum du es nicht kennst.« Bubu klang fast beleidigt. »Ich meine natürlich das Stadtarchiv, in dem alles, was sich jemals in Seperanza ereignet hat, dokumentiert ist.« »Alles?« »Ja, jedes Ereignis, das für die Nachwelt von Bedeutung zu sein schien.« »Und wo finde ich dieses Archiv?« »Im Keller der Akademie. Wie gesagt: Alle Ereignisse, die sich jemals in Seperanza zugetragen haben, sind in dicken Büchern niedergeschrieben worden. Mittlerweile müssen es Tausende und Abertausende sein – jedenfalls so viele, dass sie alle neunundneunzig Säle im Kellergeschoss füllen.« Saranya staunte. »Das Archiv hat neunundneunzig Säle?« Der Eulenkopf nickte. »Man muss also ziemlich genau 116
wissen, wonach man sucht. Sonst kann es Tage dauern, bis man es findet. Aber zum Glück weißt du ja, wonach du suchst.« »Ja, natürlich. Und in welchem Saal finde ich die Aufzeichnungen über die damalige Zeit – vor zwölf Sommern?« »Keine Ahnung. Aber dafür gibt es doch die Archivare. Sie werden deine Fragen beantworten und dir jeden Saal zeigen – bis auf einen natürlich.« »Bis auf einen? Was meinst du damit?« »Der innerste Saal, der im Herzen des Archivs liegt, ist nicht für alle zugänglich«, antwortete der Eulenkopf. »Nur wer zum Kreis der Weisen gehört, darf den Saal der Weisheit betreten, um die darin aufbewahrten Dokumente einzusehen.« »Und warum das? »Weil sich diese Unterlagen mit dem Rätsel des Rufs befassen. Aber das braucht dich ja nicht zu kümmern. Damit hast du ja nichts zu schaffen, oder?« »Stimmt«, antwortete Saranya und fühlte sich plötzlich ganz flau im Magen. Komisch, dass nicht jeder diese Unterlagen einsehen darf, dachte sie noch. Wozu soll das nur gut sein? Aber dann schob sie diesen Gedanken beiseite und verabschiedete sich rasch von Bubu. Sie war schon im Weggehen begriffen, als sie noch einen schnellen Blick auf die Herde warf. »Falls es dich interessiert«, rief sie Bubu zu, »heute sind es genau dreihundertfünfundvierzig.« »Dreihundertfünfundvierzig?« Bubu verzog staunend das breite Eulengesicht. »Woher willst du das denn wissen?« »Ganz einfach – ich habe sie gezählt!«
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Je weiter sich Kayún und Elea den Gipfelregionen des Eisiger-Wind-Gebirges näherten, umso heftiger wurden die bitterkalten Winde, die ihnen entgegenstoben. Der Sturm war jetzt so frostig, dass ihre ungeschützten Gesichter erstarrten und ihr Atem beinahe zu Eiswolken gefror. Selbst ihre dicken Gewänder boten ihnen nur noch unzureichenden Schutz vor der entsetzlichen Kälte. Schwer atmend blieb Elea stehen. Der Frost hatte alle Farbe aus ihrem Gesicht vertrieben, und von den Augenbrauen hingen winzige Eiszapfen. »Wie weit ist es denn noch?«, fragte sie keuchend. Kayún hielt ebenfalls an. Auch seine Wangen waren weiß wie die eines Vampirs. Mühsam hob er den Kopf und spähte zur Passhöhe empor, über der sich mächtige Wolken türmten. »Wenn wir uns beeilen – vielleicht noch eine Stunde«, antwortete er zögernd. »Beeilen?« Elea sah ihn voller Verzweiflung an. »Ich spüre meine Beine nicht mehr und kann keinen Schritt mehr weiter. Ich kann einfach nicht mehr!« Kayún legte einen Arm um seine Schwester. »Ich weiß, wie du dich fühlst«, erwiderte er. »Mir geht es genauso. Und trotzdem müssen wir weiter. In einer Stunde ... in einer Stunde ...« Er brach ab, wandte den Kopf zur Seite und blickte gegen Westen. Elea tat es ihm gleich – und da verstand sie auch ohne Worte, was er meinte: Dort, in weiter Ferne, hatte es aufgeklart, so dass die Sonne zu erkennen war. Sie stand nur noch knapp über dem Horizont. Spätestens in einer Stunde würde sie untergehen. Und dann würde sich eine entsetzliche Finsternis über das Eisiger-Wind-Gebirge legen, die selbst die Mondaugen eines Nachtalbs nicht mehr durchdringen konnten. Insomnier wie Kayún und Elea würden dann nicht mehr 118
das Geringste erkennen. Und das wäre das Ende, so oder so: Entweder würden sie in der Dunkelheit vom Pfad abkommen, in die Tiefe stürzen und dort unweigerlich zerschmettert werden. Oder sie würden in der eisigen Kälte erfrieren. Elea schaute den Bruder mit großen Augen an. »Das können wir nicht schaffen. Niemals – das weißt du genau!« Kayún war anzusehen, dass er der gleichen Meinung war wie sie. Trotzdem unternahm er den zaghaften Versuch, sie aufzumuntern. »Lass es uns wenigstens versuchen«, sagte er mit bedrückter Stimme. »Wir haben doch keine andere Wahl.« Für einen Augenblick starrte Elea wie abwesend vor sich hin. »Doch, Kayún«, sagte sie dann. »Wir haben eine Wahl.« Kayúns Gesicht glich einem einzigen Fragezeichen. »Und wie soll die aussehen?« »Ganz einfach: Du lässt mich hier zurück und gehst allein weiter. Ich bin doch nur eine Last für dich.« »Niemals!«, brauste der Junge auf. »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« »Aber warum denn nicht? Du bist viel kräftiger als ich und auch viel schneller. Wenn du dich beeilst, kannst du die Passhöhe noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.« Kayún schüttelte ungestüm den Kopf. »Vergiss es«, sagte er. »Ich werde dich nicht im Stich lassen, unter keinen Umständen.« »Sei doch vernünftig!«, flehte Elea ihn an. »Wir beide zusammen können es niemals schaffen. Weil ich viel zu langsam bin. Bring wenigstens du dich in Sicherheit, damit einer aus unserer Familie ...« »Schluss jetzt!«, schnitt Kayún ihr das Wort ab. »Ich habe unserer Mutter geschworen, dich heil nach Seperanza zu bringen, und nichts wird mich davon abhalten, mein Versprechen zu erfüllen. Lass uns endlich weitergehen, sonst 119
frieren wir hier noch fest. Und dann haben wir wirklich keine Chance mehr!« Kayún schaute nun wieder derart entschlossen drein, dass Elea keinen Widerspruch mehr wagte. Schon wollte sie losstapfen, um sich weiter den Berg hinaufzuquälen, als sie ein leises Wimmern hörte. Verwirrt blickte sie sich um. Als Kayún ihr Zögern bemerkte, sah er sie fragend an. »Was hast du denn?« »Hast du es nicht gehört?« »Was denn?« »Da war ein Geräusch. Ein Wimmern.« Kayún machte ein ungläubiges Gesicht, ließ seinen Blick dann aber doch suchend in die Runde schweifen. »Da!«, sagte er, streckte den Arm aus und deutete den Hang hinunter. Angestrengt spähte Elea in die angezeigte Richtung. »Tut mir Leid, aber ich kann nichts erkennen.« »Etwas weiter nach links«, wies der Bruder sie an. »Fünf Schritte unter dem Pfad.« Da endlich sah das Mädchen es auch: Aus der schneebedeckten Bergflanke ragten zwei dürre Beinchen auf, an denen sich übermäßig große Füße befanden. Sie waren schneeweiß, so dass sie sich kaum vom Untergrund abhoben. Dafür zappelten sie umso heftiger. Überrascht wandte Elea sich dem Bruder zu. »Was ist das?« »Keine Ahnung«, keuchte Kayún und stemmte sich gegen den Wind, der ihn vom Pfad zu fegen drohte. »Was auch immer das für ein Geschöpf sein mag, jedenfalls braucht es Hilfe. Wie es aussieht, steckt das arme Ding im Schnee fest und kann sich nicht allein befreien.« »Aber ...« Elea brach ab und sah den Bruder erschrocken an. Ihre Wangen waren noch blasser geworden. »Das wird einige Zeit dauern. Du weißt, was das bedeutet?« 120
Kayúns Gesicht verriet keinerlei Regung. »Ich weiß«, entgegnete er so leise, dass er im heulenden Wind kaum zu verstehen war. »Aber willst du ihn einfach seinem Schicksal überlassen?« Elea antwortete nicht. Wortlos folgte sie dem Jungen, der ein paar Schritte bergan ging, bis er sich direkt oberhalb der zappelnden Füße befand. Behutsam beugte er sich vor, um die Lage besser überblicken zu können. Auch Elea spähte die Bergflanke hinunter. Doch bei dem Blick in die gähnende Tiefe wurde ihr schwindelig, und so trat sie rasch einen Schritt zurück. »Das ist viel zu steil«, warnte sie. »Du wirst abstürzen.« »Nicht, wenn du mich sicherst«, erwiderte Kayún, löste das Seil, mit dem sein Bündel geschnürt war, band sich das eine Ende um den Bauch und drückte das andere der Schwester in die Hand. »Hier – halte gut fest.« Elea nickte nur. Obwohl sie wusste, dass sie ihrem Bruder niemals ausreichend würde Halt bieten können, sobald er ins Rutschen kam, krallte sie ihre klammen Finger um das kältestarre Tau und beobachtete ängstlich, wie Kayún sich Schritt für Schritt den steilen Hang hinunterarbeitete. Endlich war der Junge an seinem Ziel angelangt und drehte sich zur Schwester um. »Stemm dich gegen das Seil!«, rief er zu ihr empor, bevor er die wie wild zappelnden Beinchen an den Knöcheln zu greifen versuchte. »Halt endlich still!«, brüllte er. »Wie soll ich dir sonst helfen?« Augenblicklich erstarrten die Beine in der Luft. Kayún packte zu und zog. Doch das unbekannte Geschöpf steckte fest. Der Wind heulte, und der Junge ächzte und stöhnte, während er versuchte, das Wesen aus der Wechte zu ziehen. Er stemmte die Füße in den Schnee und mobilisierte seine 121
letzten Kräfte – und da endlich hatte er Erfolg. Zoll um Zoll hievte er ein kleinwüchsiges Geschöpf aus der Umklammerung des Schnees und arbeitete sich mit dem spuckenden und prustenden Kerlchen wieder nach oben, zurück auf den Saumpfad. Während sich der Wicht den Schnee vom Leib klopfte, hatte Elea Gelegenheit, ihn näher in Augenschein zu nehmen: Er war gut einen Kopf kleiner als sie und über und über mit schneeweißem Fell bedeckt. Nur um die funkelnd schwarzen Knopfaugen, die knollige Nase und den breitlippigen Mund gab es kleine kahle Flecken. Auch die großen Ohren, die weit von seinem spitz zulaufenden Kopf abstanden, waren bis auf vereinzelte weiße Härchen kahl. An seinem Körper befanden sich zwei Arme, die ähnlich dünn waren wie die Beinchen. Seine dreifingrigen Hände waren allerdings riesengroß und erinnerten Elea von ferne an Schaufeln. »Was glotzt du mich so an, als wäre ich die Kindliche Kaiserin persönlich«, blaffte der Zwerg sie mit heiserer Stimme an. »Oder hast du noch keinen Lawinenwicht zu Gesicht bekommen?« »He, he!« Kayún zog ein finsteres Gesicht. »Du könntest ruhig etwas freundlicher zu uns sein. Schließlich haben wir dir das Leben gerettet.« »Ähm.« Für einen Augenblick glotzte der Wicht sie verwirrt an. Dann verzog er das Gesicht. »Ihr habt ja Recht. Vielen, vielen Dank.« Damit verbeugte er sich vor den Geschwistern. »Bitte verzeiht mein ungehobeltes Benehmen. Das rührt nur daher, dass es mir furchtbar peinlich ist, in eine solche Lage geraten zu sein.« »Aber wieso denn?«, fragte Elea verwundert. »Das fragst du noch?«, ereiferte sich das Kerlchen aufs 122
Neue. »Ein Lawinenwicht, der im Schnee gefangen ist, das ist doch mindestens so peinlich wie ein Schreckbold, der sich erschrickt! Wenn nicht noch peinlicher! Obwohl – bestimmt wäre ich auch ohne eure Hilfe wieder freigekommen.« Kayún und Elea wechselten einen erstaunten Blick. »Wie du meinst«, antwortete der Junge grimmig. »Wie heißt du denn?« »Yetikazumanzu.« Der Wicht fuchtelte mit dem linken Finger seiner rechten Hand wild in der Luft herum. »Versteh nicht, warum diese finsteren Kerle mich nur Yeti nannten. Müssen schrecklich ...« »Verzeih, wenn ich dich unterbreche«, fiel Kayún ihm ins Wort. »Aber wir haben leider keine Zeit, dir zuzuhören. Wir müssen dringend auf die Passhöhe und können nicht einen Augenblick länger bleiben.« »Tatsächlich? Was ihr nicht sagt.« Zu Kayúns Überraschung legte sich ein breites Grinsen auf Yetikazumanzus Gesicht. »Ja. Deshalb müssen wir uns jetzt auch verab...«, fügte er gerade hinzu, als ein unterdrücktes Stöhnen der Schwester ihn innehalten ließ. »0 nein!«, rief Elea aus und deutete nach Westen, wo die Sonne eben hinter dem Horizont versank. Gleich einem hungrigen Schattentier auf blitzschnellen Pfoten raste die Dunkelheit heran und legte sich wie im Sprung über das Eisiger-Wind-Gebirge. »Zu spät«, flüsterte das Mädchen. »Wir sind verloren.«
\ Das Stadtarchiv von Seperanza nahm das gesamte Kellergeschoss des sternförmigen Akademiegebäudes ein. Ein riesiger Saal reihte sich an den anderen, gefüllt mit endlos langen 123
Holzregalen, die kaum zu überblicken waren. Tausende von Schriften stapelten sich darin, Berge von alten Folianten und Pergamenten, in denen nicht nur die Geschichte der Stadt dokumentiert war, sondern auch der Wissensschatz vieler anderer phantásischer Regionen. Staunend lief Saranya in der riesigen Bibliothek umher, erfüllt von Ehrfurcht, so dass ihr der ursprüngliche Anlass ihres Besuches schnell aus dem Sinn geriet. Ihr kam es vor, als tauche sie in eine fremde Welt ein. Der Geruch von Tinte und altem Papier stieg ihr in die Nase, während sie sich mit dem Strom der Archivbesucher durch Gänge und Säle treiben ließ. Überall herrschte reger Betrieb. Unzählige Besucher tummelten sich zwischen den Regalen oder saßen an Lesetischen, Stapel von Büchern und Dokumenten vor sich. Dennoch herrschte eine fast feierliche Stille. Nur gedämpfte Stimmen waren zu hören, und auch die Schar der Archivare und sonstigen Bediensteten wuselte fast lautlos umher. Die Archivare waren an ihren dunkelblauen Gewändern, die fast bis zum Boden reichten, leicht zu erkennen. Die meisten von ihnen waren Insomnier, einige wenige kamen auch aus anderen Ländern des Phantásischen Reichs. Saranya konnte Sassafranier ebenso ausmachen wie Grasleute oder Winzlinge. Die verschiedenen Völker Phantásiens bedienten sich zwar einer gemeinsamen Sprache, die Hochphantásisch genannt wurde, so dass ihnen die Verständigung untereinander keine Probleme bereitete. Solange sie sich jedoch unter ihresgleichen befanden, pflegten sie die Landessprachen ihrer Heimatregionen. Natürlich wurden auch die örtlichen Chroniken und sonstigen Aufzeichnungen in der jeweiligen Landessprache geführt. Diese teilweise äußerst unterschiedlichen Idiome waren für andere Phantasier in der Regel unverständlich, und so brauchte man im Archiv von Seperanza natürlich 124
auch Mitarbeiter, die das kostbare Wissen der verschiedenen Völker Phantásiens in eine allgemein verständliche Sprache übersetzen konnten. Aus diesem Grund führte beispielsweise in einem Saal, dessen Wände mit purem Silber verkleidet waren, ein Silbergreis aus der Silberstadt Amargánth die Aufsicht. Die dort aufbewahrten Werke waren allesamt Leihgaben der in ganz Phantásien berühmten Bibliothek von Amargánth und überwiegend in Amargánthisch abgefasst, so dass es eines Fachmanns bedurfte, der ihren Inhalt allgemein zugänglich machen konnte. Anders als bei den Archivaren handelte es sich bei den übrigen Bediensteten fast ausschließlich um Eulenköpfe, die weit über die Grenzen Seperanzas hinaus nicht nur für ihre Wachsamkeit, sondern auch für ihre Klugheit bekannt waren. Sie waren in dunkelrote Livreen gekleidet, die ihnen wohl ein ehrwürdiges Aussehen verleihen sollten. Saranya fühlte sich durch diese Dienstuniformen jedoch eher an Gaukler oder Fahrensleute erinnert, was ihr hin und wieder ein Grinsen abnötigte. Es dauerte nicht lange, bis das Mädchen den Überblick verloren hatte. Bald wusste sie nicht mehr, wie viele und vor allem welche der neunundneunzig Säle sie bereits durchstreift hatte. In einem Raum erblickte sie schließlich einen Tisch, hinter dem ein blau gewandeter Archivar saß. Er trug eine dicke Hornbrille auf der Nase, durch die er sie abschätzend musterte. Als sie das große Schild mit der Aufschrift »Allgemeine Auskünfte« entdeckte, das über seinem Tisch hing, fiel ihr der eigentliche Grund ihres Besuchs wieder ein. Rasch trat Saranya näher und lächelte den Insomnier, dessen Haut wie zerknittertes Pergament aussah, freundlich 125
an. »Ich hätte gern nachgeschaut, was sich vor zwölf Sommern in unserer Stadt ereignet hat.« Der Archivar senkte den Kopf und blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg an. »Vor zwölf Sommern. Im Jahr 1111 nach Morpheus also?« »Ja«, erwiderte Saranya. Natürlich kannte sie ihr Geburtsjahr, ebenso wie sie wusste, dass die in Seperanza übliche Zeitrechnung mit dem Jahr begann, in dem die Stadt von Morpheus dem Großen gegründet worden war. »Aha«, antwortete das Pergamentgesicht nur. Saranya fühlte sich zunehmend unbehaglich. »Wieso denn – aha?« Wieder musterte der Mann sie von oben bis unten. »In dem Jahr bist du wohl geboren, was? Und möchtest nun wissen, was damals an interessanten Dingen geschehen ist?« »Genau, Ihr sagt es«, antwortete sie. »Wo kann ich denn nachgucken? Ich meine, in welchem Saal finde ich die entsprechenden Unterlagen?« »Da hast du dir ja viel vorgenommen«, antwortete der Archivar, ohne auf ihre Frage einzugehen. Über Saranyas Nasenwurzel grub sich eine kleine Unmutsfalte ein. »Viel vorgenommen? Wieso das denn?« »Ein Jahr ist ein langer Zeitraum, in dem sehr viel passieren kann. Hast du es nicht etwas genauer?« »Genauer?« Endlich ging ihr auf, was der Archivar meinte. »Ach so, natürlich. Ich interessiere mich ganz besonders für die Zeit um meinen Geburtstag herum.« Der Archivar zeigte ein papierenes Lächeln. »Na siehst du – da sind wir doch schon ein Stück weiter. Und wenn ich jetzt noch wissen dürfte, wann genau du geboren bist?« Sein Lachen wurde breiter. »Oder ist das ein Geheimnis?« 126
»Ein Geheimnis?« Der Mann ahnte doch nicht etwa, was sie hierher trieb? »Wie kommt Ihr darauf?« »Na, weil viele von Euch Weibsleuten so ein Gewese um ihr Alter machen. Aber du bist wohl noch zu jung für solchen Unfug, oder?« »Ach so, das meint Ihr!« Saranya lächelte erleichtert. »Mein Geburtstag ist der einundzwanzigste Tag des Erntemondes.« Wie sie inzwischen wusste, war es wohl eher der Tag, an dem Herr Asmus sie vor seiner Tür gefunden hatte, aber das ging den Archivar schließlich nichts an. »Dann wollen wir doch mal sehen.« Das Pergamentgesicht blätterte in seinen Unterlagen und hatte schon bald gefunden, wonach es suchte. »Diese Aufzeichnungen findest du im Saal 27, Regal M, Band 1111-9.« Saranya bedankte sich und wollte gerade gehen, als ihr noch etwas einfiel. »Den Bericht der Garde aus dem gleichen Jahr – finde ich den auch dort?« Der Archivar blickte sie verwundert an. »Was willst du mit dem Bericht der Garde?« »Ach, nur so«, antwortete sie gedehnt. »Da stehen doch auch interessante Sachen drin, oder?« »Kommt drauf an, ob du Einbrüche, Überfälle, Vermisstenmeldungen und dergleichen mehr für interessant hältst.« Saranya zog eine Grimasse und zuckte mit den Schultern. »Der Bericht der Garde wird in der Kommandantur aufbewahrt und ist nicht öffentlich zugänglich. Außerdem muss man ein begründetes Interesse nachweisen, wenn man Einblick erhalten will – und daran dürfte es dir ja wohl mangeln, oder?«
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8 DER LAWINENWICHT
H
alt, halt! Nicht so schnell!«, rief Kayún dem Lawinenwicht keuchend zu. Obwohl Yetikazumanzu wahrscheinlich nur wenige Schritte vor ihnen auf dem Saumpfad bergan stieg, konnte Kayún nicht mal einen Schatten von ihm sehen. Abgrundtiefe Finsternis hüllte sie ein, und nur manchmal, wenn das Mondlicht die dichten Wolken durchdrang, huschte ein matter Schimmer über die Schneedecke. »Bitte vielmals um Vergebung«, kam die heisere Stimme Yetikazumanzus aus der Dunkelheit. »War mir ganz entfallen, dass ihr keine Lawinenwichte seid.« »Was du nicht sagst«, brummte Kayún. Er ärgerte sich mehr und mehr über den kleinen Kerl, der immer wieder vergaß, dass sie sich auf dem verschneiten Bergpfad nicht so sicher bewegen konnten wie er. Unter seinen riesigen Fußsohlen befanden sich zahllose winzige Vertiefungen, die ihm selbst auf dem glattesten Untergrund sicheren Halt verliehen. Kayún war bei seinen Streifzügen durch Phantásien schon mehrfach auf Lawinenwichte gestoßen. Daher wusste er auch, dass diese Bergbewohner noch schärfere Augen als Nachtalben 129
besaßen und selbst in pechschwarzer Finsternis besser sehen konnten als so mancher Kurzsichtige im hellsten Sonnenlicht. Die Geschwister dagegen erkannten nicht das Geringste und kamen nur deshalb nicht von dem schmalen Saumpfad ab, weil sie sich ein Tau um die Leiber geschlungen hatten, dessen Ende sie mit dem Lawinenwicht verband. Wie der Führer einer Seilschaft führte Yetikazumanzu sie bergauf zu seiner Höhle, die sich ganz in der Nähe befinden musste. Zumindest hatte er ihnen das gleich nach seiner Rettung versichert: »Ihr könnt gern die Nacht bei mir verbringen. In meiner Höhle findet ihr Schutz vor dem eisigen Wind. Dort ist es warm und gemütlich, und an einem Mahl soll’s auch nicht mangeln. Wir sind bald da, ganz bestimmt!« Nun aber stapften sie schon geraume Zeit durch die pechschwarze Nacht. Die Kälte war inzwischen so unerträglich geworden, dass Kayún weder Füße noch Beine spürte und sein Magen längst einem eisigen Klumpen glich. Seine Kräfte neigten sich dem Ende zu. Auch seine Schwester musste völlig erschöpft sein, jedenfalls hatte sie schon seit einer Weile keinen Ton mehr von sich gegeben. »Elea?«, fragte er in die Dunkelheit. »Ist alles in Ordnung?« »Ja, schon«, kam die gehauchte Antwort zurück. »Wenn man davon absieht, dass ich keinen Schritt mehr weiterkann.« »Halte durch!«, versuchte der Junge sie zu ermutigen. »Es kann nicht mehr lange dauern.« »Wir sind schon da!«, erklang im gleichen Augenblick Yetikazumanzus krähende Stimme. Endlich!, dachte Kayún, konnte allerdings noch immer nicht das Geringste erkennen. Wo war sie denn, die Höhle des Lawinenwichts? Plötzlich drangen Scharrgeräusche aus der Grabesfinsternis, und 130
wenig später sah der Junge ein blaues Licht vor sich aufschimmern. »Worauf wartet ihr denn noch?«, krächzte der Lawinenwicht. Kayún verspürte einen Ruck an dem Seil um seine Mitte, streckte die Hand nach Elea aus, umklammerte ihre eisigen Finger und ging mit ihr auf die kleine blaue Öffnung zu, die vor ihnen aufleuchtete – offenbar der Eingang zu einer Berghöhle. »Seid vorsichtig!«, warnte der Wicht. »Die Pforte ist nicht größer als ich selbst.« Er kicherte. »Wozu auch?« Kayún bückte sich und trat hinein in das blaue Leuchten. Vor ihm öffnete sich ein schmaler, schlauchartiger Gang, der in den Bauch des Berges führte. Die Wände, die aus blauem Gestein bestanden, erfüllten den Gang mit bläulich schimmerndem Licht. »Selbstleuchtender Lapislazuli«, erklärte der Lawinenwicht, als er Kayúns Verwunderung bemerkte. »Er zählt zu den seltensten Leuchtsteinen Phantásiens. Nur hier im EisigerWind-Gebirge gibt es eine dicke Schicht Lapislazuli, das von sich aus leuchtet – leider.« »Wieso leider?« Kayún musste den Kopf einziehen, um nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen. »Weil es nur zum Leuchten zu gebrauchen ist«, entgegnete Yetikazumanzu, während er sie immer tiefer in den Berg hineinführte. »Hier im Gang mag das ja noch von Vorteil sein, für euch Insomnier zumindest. Uns Lawinenwichte jedoch stört es ganz gewaltig, dieses Leuchten. Wir können doch selbst in der größten Finsternis sehen, und deshalb hindert mich das blaue Licht nur am Schlafen. Ich habe lange Zeit keine rechte Ruhe gefunden, bis mir endlich eine Lösung eingefallen ist.« Kayún verzog erstaunt das Gesicht und drehte sich zu 131
seiner Schwester um. Doch Eleas Miene, die im Licht des Gesteins blassblau schimmerte, ließ keinerlei Regung erkennen. Apathisch stolperte sie hinter ihm her, fast so, als schliefe sie im Gehen. Sorge machte sich in Kayún breit: Hatte das Vergessen auch sie schon befallen? Oder war sie nur restlos erschöpft vom mühsamen Aufstieg? Rasch trat er neben sie und legte ihr einen Arm um die Hüfte. »Halte durch«, flüsterte er ihr zu. »Es ist bestimmt nicht mehr weit.« Elea schenkte ihm einen dankbaren Blick. Zum Sprechen aber schien ihre Kraft nicht mehr zu reichen. Unvermittelt mündete der Gang in eine geräumige Höhle. Sie mochte gut zwanzig auf zwanzig Schritte messen und war ausreichend hoch, so dass Kayún endlich nicht mehr den Kopf einziehen musste. Während er sich den Nacken rieb, blickte er sich um. Ein Feuer, das in einer kaminartigen Vertiefung in der Höhlenwand knisterte, sorgte für flackerndes Licht und angenehme Wärme. Offenbar handelte es sich um einen natürlichen Hohlraum im Berg, denn Wände und Decke waren nicht behauen und leuchteten im kräftigen Blau des Lapislazuli. Der unebene Boden jedoch war mit grauem Sand bestreut. »Bitte setzt euch«, forderte Yetikazumanzu die Geschwister auf. Er deutete auf den groben Holztisch in der Mitte der Höhle, um den herum drei ebenso grobe Stühle und eine Holzbank standen. »Ich bereite euch schnell ein Nachtmahl, dann könnt ihr euch zur Ruhe betten.« Der Wicht hängte einen Kessel über das Feuer und verschwand dann in einem schmalen Gang in der Wand, der wahrscheinlich zu seiner Vorratskammer führte. Währenddessen begaben sich die Geschwister zum Tisch. Erst als sich Kayún gesetzt hatte, merkte er, wie erschöpft er war. Jeder Knochen und jeder Muskel taten ihm weh. Zugleich jedoch 132
breitete sich ganz langsam eine behagliche Wärme in seinem froststarren Körper aus, kribbelte durch Mark und Bein und hüllte ihn in wohlige Müdigkeit. Plötzlich schreckte er zusammen. »Was ist los?«, fragte Elea schläfrig. »Was hast du denn?« Der Junge lauschte noch einen Moment in Richtung des Höhlenausgangs, dann zuckte er mit den Schultern. »Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört. Aber wahrscheinlich habe ich mich getäuscht. Oder ich bin so müde, dass ich schon Gespenster höre.«
\ Saal 27 unterschied sich äußerlich in nichts von den anderen Räumen des Archivs, die Saranya schon durchstreift hatte. Auch hier gab es lange Regale voller Dokumente und Folianten. Im Regal M fand sie jede Menge Unterlagen aus dem Jahre 1111, darunter auch zwölf dicke, in Leder gebundene Chroniken, die den Ereignissen der einzelnen Monate gewidmet waren. Der Archivar hatte nicht übertrieben: Es würde einige Zeit erfordern, auch nur diese Monatschroniken durchzuarbeiten, von den übrigen Aufzeichnungen einmal ganz abgesehen. Sie beschränkte sich also auf die Bände 1111-9 und 1111-8, die sich mit dem Erntemond und dem Monat davor, dem Heumond, beschäftigten, und zog sich mit ihrer Lektüre an einen Lesetisch zurück. Stunden danach, als sie beide Bände durchgesehen hatte, war sie nicht viel schlauer als zuvor. Den Aufzeichnungen nach zu urteilen, hatte sich in Seperanza weder im Heu- noch im Erntemond etwas Außergewöhnliches ereignet. Aus Anlass des eintausendeinhundertelfjährigen Bestehens der Stadt war ein großes Fest abgehalten worden, zu dem Besucher aus 133
ganz Phantásien herbeigeströmt waren, um mit den Einheimischen zu feiern. Ansonsten aber war das Leben in jenem Sommer offenbar ohne besondere Ereignisse verlaufen, die den Chronisten erwähnenswert schienen. Nur eine kleine Notiz hatte Saranyas Aufmerksamkeit erregt. In dürren Zeilen wurde dort berichtet, dass am ersten Tag des Heumonds ein gewisser Magister Philonius Philippo Phantastus nebst seiner Gemahlin aus der Stadt verbannt worden sei. Saranya hatte noch nie zuvor von einem ähnlichen Fall gehört. Wer einmal in den Mauern von Seperanza ansässig geworden war, hatte ein Bleiberecht auf Lebenszeit. Was mochte wohl der Grund für diesen außergewöhnlichen Vorfall gewesen sein? Denn dass es dafür einen besonderen Grund gegeben haben musste, erschien ihr offensichtlich. Das Gesicht des Archivars verfinsterte sich, als sie ihn danach fragte. »Philonius Philippo Phantastus?«, fragte er mit schmalen Lippen. »Wer soll das denn sein?« »Ein Magister. In der Chronik habe ich eine kurze Notiz über ihn gelesen.« Verstohlen blickte sich das Pergamentgesicht nach allen Seiten um, beugte sich dann vor und sprach mit flüsternder Stimme: »Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, dann vergiss diesen Namen ganz schnell wieder. Und ebenso, wo du ihn gelesen hast. Das wird dir eine Menge Ärger ersparen, glaub mir.« Damit erhob er sich und eilte davon. Saranya schaute ihm nach, bis er in der Menge der Archivbesucher verschwunden war. Merkwürdig, dachte sie. Was mag so Besonderes an diesem Magister sein, dass die bloße Erwähnung seines Namens den Archivar derart verstört hat? In Gedanken versunken, machte sie sich auf den Weg zum Ausgang zurück, als mit einem Mal ein prächtiges Portal ihre Aufmerksamkeit erregte. Das Türblatt war ebenso wie der 134
Rahmen mit feinsten Schnitzereien verziert und mit purem Gold belegt. Die Ornamente erinnerten Saranya an die Verzierung auf dem Goldhelm ihres Vaters. Als sie ihren Blick darüber schweifen ließ, fiel ihr auf, dass die fest verschlossene Goldtür weder einen Griff noch ein Schlüsselloch aufwies. Merkwürdig. Was für ein Saal mochte sich wohl hinter dieser prunkvollen Pforte verbergen? Saranya blickte sich um und versuchte sich zu orientieren. Wenn sie sich nicht sehr täuschte, befand sie sich ziemlich genau in der Mitte des Saallabyrinths. Schon wollte sie näher an die Tür herantreten, als ein livrierter Eulenkopf herbeieilte und sie mit grimmiger Miene beäugte. »Was willst du hier?«, fragte er sie in mürrischem Ton. »Dass du nicht zum Kreis der Weisen gehörst, ist wohl offensichtlich. Und mit Sicherheit besitzt du auch keine Ausnahmegenehmigung, um den Saal der Weisheit zu betreten.« Zum Kreis der Weisen? Der Saal der Weisheit? Na klar! Vor kurzem erst hatte ihr ja Bubu von diesem Saal erzählt, der sich im Herzen des Archivs befand und nur von einem kleinen Zirkel betreten werden durfte. »Natürlich habe ich keine Genehmigung«, entgegnete sie mit spitzem Lächeln. »Selbst ein Tölpeltroll würde erkennen, dass ich dafür noch viel zu jung bin.« Der Eulenkopf zog die Brauen über den runden Augen hoch. »Natürlich«, entgegnete er pikiert. »Es sei denn, du wärst ein Sassafranier!« Der müde Scherz entlockte Saranya nicht einmal ein Lächeln. »Was ich aber nicht bin – und was zu erkennen ebenfalls keiner allzu großen Klugheit bedarf.« »Genug der Frechheiten!« Das Gesicht des Wächters verdüsterte sich. »Du hast hier nichts verloren. Also verschwinde und stiehl mir nicht die Zeit.« 135
»Das hatte ich auch gar nicht vor.« Saranya bemühte sich, ruhig zu bleiben. Dabei gärte es in ihrem Innern. Wie kam dieser Kerl dazu, sie derart herablassend zu behandeln? Dachte er vielleicht, er könnte mit ihr umspringen wie mit einem dummen Kleinkind? Sehr viel mehr als diese Kränkung ärgerte sie aber, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie man die Tür zu dem geheimnisvollen Saal aufbekam. Sie musste versuchen dem Eulenkopf das Geheimnis zu entlocken. »Ich wollte nur mal sehen, ob es auch stimmt«, sagte sie in beiläufigem Ton. »Ob was stimmt?« »Dass es ein Kinderspiel ist, in diesen Saal der Weisheit zu gelangen. Meine Freundin behauptet nämlich, man müsse nur den Türwächter ablenken – und schon könne man sich hineinschleichen.« Der Eulenkopf ließ ein verächtliches Lachen hören. »Da hat dir deine Freundin aber einen schönen Unsinn erzählt. Selbst wenn es jemandem gelänge, uns Wächter abzulenken – was ich, nebenbei bemerkt, für völlig ausgeschlossen halte –, wäre er noch keinen Schritt weiter.« Saranya musterte ihn aus schmalen Augen. »Und warum nicht?« »Weil die Tür höchstpersönlich ihm den Zugang zum Saal verweigern würde – deshalb!« »Den Zugang verweigern? Die Tür? Wie ist das denn möglich?« Der Eulenkopf verdrehte die Augen und plusterte sich auf. »Du bist nicht nur reichlich jung, sondern auch noch ziemlich unwissend. Sonst hättest du bestimmt schon von den Wachtüren gehört, die den Saal der Weisheit schützen.« »Von den Wachtüren?«, staunte Saranya. »Ja, von den Wachtüren. Sie sorgen dafür, dass nur die136
jenigen in den Saal der Weisheit gelangen, die dazu befugt sind.« »Und auf welche Weise, wenn ich fragen darf?« »Natürlich darfst du fragen.« Der Eulenkopf öffnete den Schnabel, so dass es fast aussah, als würde er grinsen. »Nur bekommst du darauf keine Antwort. Jedenfalls nicht von mir. Und jetzt scher dich weg, du Naseweis! Wie ich schon gesagt habe – du hast hier nichts verloren.« »Ist ja gut! Ich geh ja schon.« Verärgert zog Saranya von dannen. Was bildete dieser grobe Kerl sich bloß ein? Sie einfach so abblitzen zu lassen, als wäre sie noch ein kleines Mädchen! Andererseits hatte er nicht ganz Unrecht. Vom Saal der Weisheit und vom Rat der Weisen hatte sie erst durch Bubu erfahren, und von den Wachtüren hatte sie bis heute noch nie etwas gehört. Geschweige denn, wie sie funktionierten. Grübelnd lief sie durch die Flure, als ihr mit einem Mal einfiel, wer ihr weiterhelfen könnte. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie ihre Schritte beschleunigte, um zum Ausgang zu eilen.
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9 DIE HÖHLE IM BERG
E
rst beim Essen merkte Kayún, wie entsetzlich hungrig er war. Wie ein vom Winterschlaf ausgezehrter Mähnenbär machte er sich über die von Yetikazumanzu aufgetischten Speisen her, und auch seine Schwester langte kräftig zu. Mit vollen Backen kauend, hielt er ihr ein großes Stück Speck hin. »Wagst wu woch?« »Gern«, antwortete Elea, »das schmeckt so ...« Mit einem Mal sank sie vornüber auf die Tischplatte und schlummerte, den Kopf auf die Arme gebetet, augenblicklich ein. Kayún beugte sich über sie und versuchte sie wachzurütteln. Doch es half nichts: Tiefer Schlaf hatte sich des Mädchens bemächtigt. Als der Lawinenwicht, der gerade mit einer neuen Ration Wurst und Käse in die Wohnhöhle zurückkam, Elea erblickte, huschte ein mitleidiges Lächeln über sein Gesicht. »Bring sie am besten in meine Schlafkammer«, trug er Kayún auf, während er den Teller auf den Tisch stellte. »Dort hat sie es bequemer als hier.« Er deutete zu dem schwarzen Loch, das nahe der Feuerstelle in der Höhlenwand gähnte. Behutsam hob der Junge seine Schwester von der Bank 139
auf. Sie war erschreckend leicht. Sicherlich – Elea war schon immer ein zierliches Mädchen gewesen. Aber dass sie sich kaum schwerer als eine Feder anfühlte, entsetzte ihn doch. Hatte sie in den letzten Tagen so viel Gewicht verloren? Oder war es doch das Vergessen, das allmählich von ihr Besitz ergriff? In diesem Fall konnte es nicht mehr lange dauern, bis ... »Vorsicht, der Kopf!«, riss ihn die Stimme des Lawinenwichts aus trüben Gedanken. Die Öffnung in der Wand war recht niedrig, und so rnusste er sich tief ducken, um hindurchzugelangen. Bereits zwei Schritte später war er von so rabenschwarzer Dunkelheit umfangen, dass er verwirrt stehen blieb. »Gib sie mir!«, hörte er die Stimme des Wichtes neben sich. »Ich lege deine Schwester lieber selbst aufs Lager.« Kayún überließ Elea den dünnen Ärmchen des Lawinenwichts, in denen dem Anschein zum Trotz große Kraft zu stecken schien. Augenblicke später vernahm er ein weiches Geräusch: Das Schlaflager, auf das Yetikazumanzu seine Schwester bettete, war wohl mit Fellen bedeckt. Während der Junge darauf wartete, dass ihn der Wicht in die Wohnhöhle zurückgeleitete, fragte er: »Hast du nicht gesagt, dass sich hier überall eine Schicht aus leuchtendem Lapislazuli durchs Gebirge zieht?« »Ja, stimmt.« »Warum schimmert es hier nicht ebenfalls blau?« Ein leises Kichern kam aus der Finsternis. »Ganz einfach: Ich habe die Wände mit schwarzem Pechstein verkleidet, damit ich ruhigen Schlaf finden kann. Aber jetzt komm. Wir wollen deine Schwester nicht länger stören.« Wenig später stellte der Wicht einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit vor ihm auf den Tisch. 140
»Iiih«, sagte Kayún und verzog das Gesicht. »Das riecht ja widerlicher als Schnarchschafsmilch. Was ist das denn?« »Tranfruchtwurzeltee.« Yetikazumanzu grinste ihn an. »Ich weiß, dass er scheußlich schmeckt. Er ist aber gesund und stärkt ungemein, wie du gleich merken wirst. Und neue Kräfte könnt ihr doch gut gebrauchen, nicht wahr?« Der Junge hob den Becher an den Mund und kostete schlürfend den heißen Sud. Der erste Schluck schmeckte wie Galle, versetzt mit faulem Wasser und saurer Milch. Kayún musste gegen das Erbrechen ankämpfen, und es wollte ihm schier den Magen umdrehen. Der zweite Schluck kam ihm bereits weniger widerlich vor, und beim dritten hatte er sich fast schon an den scheußlichen Geschmack gewöhnt. Der Lawinenwicht hatte nicht zu viel versprochen, denn schon fühlte er, wie sich frische Kräfte in ihm regten. Nach einem weiteren Schluck setzte er den Becher wieder ab, brach ein Stück Brot vom Laib und griff zu der Wurst auf dem Holzteller. Er schnitt ein Stück davon ab und wollte es sich gerade in den Mund stecken, als er innehielt und Yetikazumanzu argwöhnisch anblickte. »Das ist doch hoffentlich keine Schnarchschafswurst?« Das pelzige Kerlchen grinste. »Nur keine Angst, Schnarchschafswurst ist selbst für unsereinen ungenießbar.« Kayún kniff die Augen zusammen. »Was für eine Wurst ist es dann?« »Koste einfach. Und wenn du nicht von allein draufkommst, verrat ich es dir. Aber zuerst koste.« Zögernd schob der Junge das Wurststück zwischen die Zähne. Mit angespannter Miene begann er zu kauen. »Hmm«, brummte er endlich, um dann mit vollem Mund fortzufahren: »Schmeckt ja köstlich!« »Nicht wahr?« Wieder ging ein Grinsen über das pelzige 141
Gesicht des Lawinenwichts, während seine schwarzen Augen fröhlich aufblitzten. »Und weißt du nun auch, was für eine Wurst es ist?« Kayún schnitt ein weiteres Stück ab und kaute bedächtig darauf herum – um dann doch nur den Kopf zu schütteln. »Tut mir Leid, aber ich komme einfach nicht drauf.« »Das ist Glücksschweinwurst«, krähte der Wicht. »Sie ist nur ganz schwer zu bekommen, weil Glücksschweine äußerst selten sind, wie du vielleicht weißt.« Kayún nickte, mit vollen Backen kauend. »Damit hast du wohl Recht. Ich selbst hab noch nie eins zu Gesicht bekommen und kenne sie nur vom Hörensagen.« »Das verwundert mich nicht.« Yetikazumanzu sah ihn mit einem verschmitzten Grinsen an. »Nur die Bauern aus dem Duselland jenseits der Schicksalsberge verstehen sich auf ihre Zucht. Sie mästen die Tiere mit Eicheln aus dem Mirakelwald und tränken sie mit Wasser aus dem Wunschbrunnen. Aber nicht nur das verleiht der Wurst einen derart köstlichen Geschmack.« »Was denn noch?« »Die Rezeptur enthält noch zwei weitere Zutaten, welche die Dusellandbauern jedoch hüten wie einen kostbaren Schatz.« Kayún runzelte die Stirn. »Aber du kennst diese Rezeptur?« »Natürlich. Mein Vetter hat sie den Bauern dort entlockt und mir verraten.« »Aber hast du nicht eben gesagt«, vergewisserte sich Kayún, »dass sie das Geheimnis wie einen Schatz hüten?« Yetikazumanzu grinste nun beinahe so breit wie ein feister Glücksgötze. »Das machen sie ja auch. Allerdings sind sie auf die Gunst von Kretikratopanto angewiesen. So lautet der Name meines Vetters.« 142
»Und weshalb?« Der Lawinenwicht verdrehte die Augen. »Du weißt auch gar nichts, mein Junge. Nicht einmal, welche Aufgabe wir Lawinenwichte haben?« »Äh – nein.« »Das habe ich mir gedacht.« Das pelzige Kerlchen nickte bekümmert. »Es ist ein Jammer, dass sich keiner um uns schert. Dabei gäbe es ohne uns keine sicheren Wege über die Berge. Schon gar nicht im Winter!« »Wieso denn das?« »Weil nur wir uns darauf verstehen, Lawinen auszulösen und auf sicheren Wegen ins Tal zu lenken, damit sie nichts Schlimmes anrichten können. Wir halten die Bergpässe frei von Gefahren für Leib und Leben und machen dadurch Handel und Reisen erst möglich.« Kayún staunte. »Ach, so ist das!« »Ja. Mein Revier ist das Eisiger-Wind-Gebirge hier, während mein Vetter in den Westlichen Schicksalsbergen tätig ist, wo es noch mächtigere Lawinen gibt. Er leistet vorzügliche Arbeit, weshalb es dort noch zu keinem größeren Unglück gekommen ist – wenn man von dem Zwischenfall mit der Traumfängern einmal absieht.« Kayún runzelte die Stirn. »Was für ein Zwischenfall denn?« Ein Schmunzeln ging über das Gesicht des Lawinenwichts. »Nun – Kretikratopanto kam gerade rechtzeitig dazu, als sich eine Horde der Schwarzen Kreaturen ein paar Insomnier schnappen wollte. Er hat ihnen die Tour aber gründlich vermasselt. Hat eine Lawine ausgelöst, wodurch die schrecklichen Gesellen in die Tiefe gerissen wurden.« Kayún grinste schadenfroh. »Er gefällt mir, dein Vetter.« »Kann ich mir vorstellen«, gab Yetikazumanzu zurück. »Den Traumfängern hat es allerdings weniger gefallen. Des143
halb wollten ihre Kumpane mich ja auch auf dem Bergpfad ergreifen. Ich konnte mich gerade noch durch einen Sprung in die Tiefe retten. Dabei bin ich so unglücklich gelandet, dass ich kopfüber im Schnee stecken blieb. Wenn ihr nicht gekommen wärt ...« »... hättest du dich bestimmt auch von allein befreit, nicht wahr?«, fiel der Junge ihm lächelnd ins Wort. »Aber zurück zu der Glücksschweinwurst und den geheimen Zutaten – oder willst du sie mir nicht verraten?« Einen Augenblick lang schaute Yetikazumanzu den Jungen abschätzend an. »Doch, das will ich«, sagte er dann. »Schließlich hast du mir das Leben gerettet.« Er rückte näher an Kayún heran und senkte die Stimme. »Hör zu: Die Glücksschweinwurst schmeckt nur deshalb so köstlich, weil ein paar Tropfen Sonnenbalsam und eine winzige Prise Freudentränensalz darunter gemischt werden. Das darfst du aber nicht weitererzählen, versprochen?« Kayún lächelte müde. »Versprochen.« Er griff zum Becher und trank einen weiteren Schluck vom Tranfruchtwurzeltee, um gleich darauf angewidert das Gesicht zu verziehen und sich zu schütteln. »Was ich dich noch fragen wollte: Kennst du eigentlich den Weg nach Seperanza?« Der Lawinenwicht bedachte den Jungen mit einem nachdenklichen Blick. »Hab ich’s mir doch gedacht, dass ihr dorthin unterwegs seid.« Kayún nickte bekümmert. »Ja. Das Vergessen hat bereits unsere Eltern geholt, und deshalb ... Du verstehst?« »Und ob ich verstehe.« »Ist es denn noch weit bis dorthin?« »Wie man’s nimmt. Der Weg ist zwar beschwerlich, aber wenn man im Vollbesitz seiner Kräfte ist, braucht man nur ein paar Tage. Ihr beide aber ...« Er brach ab und wiegte be144
dächtig den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, wie ihr das schaffen wollt.« Kayún kniff die Augen zusammen. »Wie meinst du das?« »Ich möchte dich ja nicht beunruhigen, aber deine Schwester ...« Er verzog mitleidig das Gesicht. »Wenn mich nicht alles täuscht, greift das Vergessen bereits nach ihr.« Der Junge schluckte. »Wir werden es schon schaffen«, sagte er. »Also, kennst du nun den Weg?« Yetikazumanzu hob gerade zu einer Antwort an, als aus der Ferne ein Laut heranrollte. Ein Fauchen, das direkt aus den Schlünden der Unterwelt zu kommen schien. Kayún spürte einen Schmerz in der Brust, und ihm war, als würde eine eisige Hand nach seinem Herzen greifen. Zugleich fuhr ein frostiger Hauch in die Höhle, so dass das Kaminfeuer jäh aufloderte. Der Junge blickte den Lawinenwicht an, und da sah er, dass der an ihm vorbei zum Eingang der Höhle starrte. Kayún fuhr herum – und sah eine Gestalt in schwarzem Kapuzenumhang, die gerade in die Wohnhöhle des Lawinenwichtes trat. Dicht dahinter folgten vier oder fünf weitere Traumfänger. Elea, dachte der Junge, wir sind verloren!
\ »Seit wann interessierst du dich für das Stadtarchiv?« Verwundert blickte der Hohe Herr Asmus von seinem Nachtmahl auf. Er war später als sonst aus dem Hohen Haus zurückgekehrt, so dass er das Abendessen allein einnehmen musste. Dass Saranya ihm dabei Gesellschaft leistete, anstatt sich wie sonst auf ihr Zimmer zurückzuziehen, schien ihn weit weniger zu befremden als ihre Frage nach dem Archiv. »Ach, wisst Ihr«, antwortete das Mädchen gedehnt, »Bubu 145
hat neulich gesagt, dass ich langsam alt genug wäre, mich für die Geschichte unserer ehrwürdigen Stadt zu interessieren ...« »Womit er vollkommen Recht hat«, warf Herr Asmus mit erhobenem Zeigefinger ein. »Man kann gar nicht früh genug beginnen, sich mit seiner Vergangenheit auseinander zu setzen.« »Eben!«, bestätigte Saranya, biss sich aber gleich auf die Lippe. Doch zum Glück schien dem Hohen Herrn nichts Verdächtiges aufgefallen zu sein. »Und welcher Ort wäre dafür wohl besser geeignet als das Stadtarchiv? Deshalb wollte ich Euch ein paar Fragen dazu stellen, wenn Ihr gestattet.« »Aber natürlich, mein Kind. Ich kann dich in deinem Vorhaben doch nur bestärken!« Herr Asmus nickte und schaufelte sich den Mund voll. »Hmmm«, seufzte er. »Schmeckt wieder mal köstlich, der Balsamkrauteintopf. Was ist da alles drin?« »Balsamkraut gemischt mit Glücksbohnen und einer kleinen Prise Blendbaumblättern aus dem Trugwald«, sagte Saranya. »Hab ich heute frisch eingekauft auf dem Markt.« Herr Asmus schmatzte genüsslich. »Geht doch nichts über frische Ware, stimmt’s?«, schwärmte er. »Hast du das gekocht, mein Kind?« Saranya schüttelte den Kopf. »Nein. Ich war doch im Archiv.« »Ah, stimmt ja. Hatte ich schon ganz vergessen.« Saranya lächelte. Wie zerstreut der Hohe Herr doch manchmal war. Was sicherlich daran lag, dass ihn sein Amt über die Maßen beanspruchte und er den Kopf ständig voll hatte mit wichtigen Fragen. Für häusliche Angelegenheiten und die Belange, die Raya und sie selbst betrafen, war deshalb wohl nur noch wenig Platz in seinem Gedächtnis. »Möchtet Ihr vielleicht einen Becher Granatapfelwein?«, erkundigte sie sich. 146
Die Augen von Herrn Asmus begannen zu leuchten. »Warum denn nicht? Aber kann das nicht Tramina machen?« »Sie ist schon nach Hause gegangen«, erinnerte ihn Saranya. »Wie immer um diese Zeit.« »Tatsächlich? Dann wäre es sehr nett von dir ...« Ohne das Ende seines Satzes abzuwarten, eilte Saranya in den Keller, wo die großen Holzfässer mit dem selbst gekelterten Granatapfelwein standen, und füllte den irdenen Krug, der dem Lieblingsgetränk des Hausherrn vorbehalten war. Herr Asmus leerte den ihm kredenzten Becher in einem Zug. »Schmeckt immer wieder gut«, lobte er, während Saranya das Trinkgefäß aufs Neue füllte. »Da fällt mir ein: Bist du uns immer noch böse, weil...« Er brach ab und zog ein gequältes Gesicht. »Naja, du weißt schon – weil wir dir so lange verschwiegen haben, dass du ein Findelkind bist?« Hastig schüttelte Saranya den Kopf. »Nein, nein, natürlich nicht«, log sie. Ihre Wangen begannen zu glühen. Hoffentlich merkte Herr Asmus nicht, dass sie rot wurde. Er durfte unter keinen Umständen mitbekommen, was sie im Schilde führte. Und Raya natürlich auch nicht. Die beiden würden doch sonst mit Sicherheit versuchen, ihr Vorhaben zu vereiteln. »Um auf das Stadtarchiv zurückzukommen ...«, sagte sie gedehnt. »Ja?« »Alle Bewohner Seperanzas haben also Zugang zu den dort aufbewahrten Dokumenten?« »Aber klar. Wann immer ihnen der Sinn danach steht und während der üblichen Öffnungszeiten natürlich.« »Natürlich.« Das Mädchen lächelte. »Nur den Saal der Weisheit darf nicht jedermann betreten?« »Stimmt. »Und könnt Ihr mir auch erklären, warum das so ist?« 147
»Nun.« Herr Asmus begann auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen und spitzte missmutig die Lippen. »Der Saal der Weisheit ist allen verschlossen, die nicht dem Kreis der Weisen angehören.« »Ich weiß – aber das ist keine Antwort auf meine Frage.« Herr Asmus verzog das Gesicht und schnalzte mit der Zunge. Umgehend kam Bewegung in die vier Holzbeine seines Stuhls: Zunächst machten sie einige Trippelschritte rückwärts, um dann vorwärts zu schreiten und den Hohen Herrn quer durchs Esszimmer zur Kommode zu tragen, auf der seine Pfeife lag. Nachdenklich beobachtete Saranya den Hohen Herrn. Er neigte mehr und mehr zur Bequemlichkeit und bediente sich, wo immer es nur ging, seines Laufstuhls. Kein Wunder, dass sein Bauch immer kugeliger wird, dachte sie einmal mehr, bevor sie ihr Anliegen wieder aufgriff. »Warum darf nur ein kleiner Kreis von Ausgewählten diesen Saal betreten?« Herr Asmus stopfte seine Pfeife und zündete sie an, bevor er antwortete. »Ganz einfach: weil sich sämtliche Unterlagen und Dokumente, die dort aufbewahrt werden, mit der Problematik des Rufs beschäftigen.« »Na und?« »Ja, verstehst du denn nicht, mein Kind?« Schmatzend zog er an der Pfeife, aus der mehr und mehr Rauch ausstieg. Saranya konnte den Geruch nicht ausstehen, versuchte aber, sich ihren Widerwillen nicht anmerken zu lassen. Doch wahrscheinlich hätte der Hohe Herr das ohnehin nicht bemerkt, und gestört hätte es ihn schon gar nicht. »Weil alles, was mit dem Ruf zusammenhängt, viel zu kompliziert ist für jemanden, der sich damit nicht auskennt«, fuhr er schmauchend fort, während er sich vom Laufstuhl zum Tisch zurücktragen ließ. »Und erst recht natürlich für ein so junges und unerfah148
renes Ding wie dich.« Als er bemerkte, dass Saranya das Gesicht verzog, versuchte er sie zu besänftigen. »Versteh doch, mein Kind: Die besten Wissenschaftler und klügsten Köpfe der Akademie beschäftigen sich schon seit Ewigkeiten mit diesem Problem – und doch ist es bisher keinem von ihnen gelungen, das große Geheimnis zu lösen, das mit dem Ruf verbunden ist. Noch immer wissen wir nicht, warum er uns ereilt. Weshalb es Zeiten gibt, in denen er regelmäßig vernommen wird, und solche, in denen er kaum mehr erklingt.« »Wie jetzt gerade?«, fragte Saranya dazwischen. »Wie jetzt gerade – du sagst es.« Der Hohe Herr nickte, so dass der Filzhut auf seinem Kopf hin und her wackelte. »Unzählige Spekulationen sind dazu angestellt worden, aber eine Erklärung, die letzte Sicherheit bringt, hat uns noch niemand liefern können – selbst unsere begnadetsten Gelehrten nicht. Und wie soll das dann jemandem möglich sein, der über weit weniger Wissen und Erfahrung verfügt als sie? Ist das denn nicht einsichtig?« Saranya warf die Lippen auf. »Trotzdem will mir nicht einleuchten, warum nur wenige Auserwählte Zugang zu den Unterlagen haben.« »Weil sie äußerst wertvoll sind und weil ...« Herr Asmus brach ab und biss sich auf die Unterlippe. »Weil was?«, drängte Saranya. »Bitte redet doch weiter!« Die Stirn des Hohen Herrn verdüsterte sich, und er schwieg längere Zeit, bevor er sich doch noch zu einer Antwort entschloss. »Und weil sie gefährlich sind!« »Gefährlich?« Saranya sah ihn verwundert an. »Warum das denn?« »Bei einem derart komplizierten Problem wie dem Ruf ist es nicht leicht, die richtigen Schlüsse aus den unterschiedlichen Erkenntnissen zu ziehen, die wir im Lauf der langen 149
Geschichte unserer Stadt darüber gewinnen konnten. Sie widersprechen sich nämlich, teilweise sogar erheblich. Bei Unwissenden, die aufgrund ihrer Ausbildung gar nicht in der Lage sind, die Zusammenhänge zu erkennen, ist die Gefahr deshalb besonders groß, dass sie zu falschen Schlussfolgerungen kommen.« Ein Seufzer entrang sich der Brust des Hohen Herrn. »Was in der Vergangenheit leider häufig genug der Fall war.« »Und?« Saranya verstand nicht so recht, was der Hohe Herr andeuten wollte. »Was ist dann passiert?« »Ganz einfach: Jedes Mal wurde unter den Bewohnern Seperanzas Unruhe und Verwirrung gestiftet. Und das nur, weil irgendein Dummkopf, der in den Archiven herumgeschnüffelt hatte, etwas falsch verstand und dann seine Irrtümer als bahnbrechende Neuigkeit verkündete. Jedes Mal hat es dann eine geraume Weile gedauert, bis sich die Leute wieder beruhigt hatten. Und bis dahin waren Streit und offene Feindseligkeiten an der Tagesordnung. Familien sind auseinander gebrochen, aus Freunden sind Feinde geworden. Um dem ein Ende zu bereiten, hat der Rat der Hohen schon vor längerer Zeit beschlossen, sämtliche Unterlagen, in denen Erkenntnisse über den Ruf festgehalten sind, in einem gesonderten Saal aufzubewahren und nur einem ausgewählten Kreis von Wissenschaftlern und Gelehrten zugänglich zu machen – dem Kreis der Weisen eben. Vernünftigen Männern und Frauen, die verantwortlich mit dem von ihnen erworbenen Wissen umzugehen verstehen.« »Und wer bekommt eine Ausnahmegenehmigung?« »Gelegentlich empfängt unsere Akademie auch Gäste. Weise Männer und Frauen von weit her, die in unserem Archiv Quellenstudien betreiben. Da sie keine Bewohner unserer Stadt sind, können sie auch nicht in unseren Kreis der 150
Weisen aufgenommen werden. Um ihre Forschungen nicht zu behindern, gewähren wir diesen fremden Gelehrten dennoch Zutritt zum Saal – sonst aber niemandem!« Er atmete tief durch und sah Saranya missmutig an. »Schluss jetzt mit diesem Thema. Ich habe einen schweren Tag hinter mir und nicht die geringste Lust, mich auch in meiner Freizeit mit so ernsten Dingen zu befassen.« »Noch ein Schluck Granatapfelwein vielleicht?«, fragte Saranya. Bevor Herr Asmus antworten konnte, griff sie schon zum Krug und füllte den Becher nach. »Vielen Dank. Du bist heute aber sehr aufmerksam«, lobte der Hohe Herr. »Über die Maßen aufmerksam sogar!« »Ach, das kommt Euch nur so vor«, wiegelte das Mädchen ab. »Eine Frage noch: Weil die Unterlagen im Saal der Weisheit zu wertvoll sind, ist er mit einer Wachtür verschlossen?« »Sehr richtig, mein Kind. Wachtüren werden aus dem Holz der Raunbäume getischlert, die im Trugwald wachsen, und öffnen sich nur demjenigen, der im Besitz des Schlüssels ist.« Überrascht sah Saranya den Hohen Herrn an. »Vielleicht habe ich mich ja auch getäuscht – aber mir kam es vor, als wäre in der Tür gar kein Schlüsselloch?« »Wozu auch?« Der Hohe Herr grinste hintergründig. »Der Schlüssel, den ich meine, ist ja auch kein gewöhnlicher Türschlüssel.« »Nein?« »Nein«, wiederholte Herr Asmus, »aber wenn du nun glaubst, ich würde dir mehr verraten, muss ich dich leider enttäuschen.« Genüsslich zog er an der Pfeife. Saranya spürte, dass der Hohe Herr sich zu diesem Thema nichts mehr entlocken ließe. »Nur eine allerletzte Frage noch«, sagte sie. »Habt Ihr jemals von einem Magister Philonius Philippo Phantastus gehört?« 151
Herr Asmus schien wie vom Schlag gerührt. Seine Pfeife sank mitsamt der rechten Hand hinab. Alle Farbe wich aus seinen Wangen, und seine Augen funkelten ärger als bei einem tollwütigen Hund. »Erwähne diesen Namen niemals wieder!«, herrschte er Saranya an. »Nie mehr – hast du mich verstanden?«
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10 DER TAUSENDLEUCHTER
D
ie Traumfänger fauchten wütend und kamen quälend langsam näher. Kayún konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ihm war, als streckten sich die unheimlichen Kräfte der Werwesen wie unsichtbare Krallen nach ihm aus. Sie waren noch stärker als bei ihrer ersten Begegnung und ergriffen mehr und mehr von ihm Besitz. In seinem Kopf schien glühende Lava zu brodeln, und die eisige Hand in seiner Brust schien sich immer fester um sein Herz zu schließen. Wie in Trance stand Kayún auf und wich vor den Schwarzen Kreaturen zurück. Obwohl die Traumfänger kaum mehr zehn Schritte entfernt waren, konnte er unter den Kapuzen noch immer keine Gesichter erkennen. Außer den grün leuchtenden Augenpaaren war da nichts, überhaupt nichts – und doch schien ihn diese abgrundtiefe Leere, die sich unter dem schwarzen Tuch verbarg, mit unbändiger Kraft anzuziehen. Wie durch dichten Nebel vernahm er die Stimme des Lawinenwichts: »Schau weg! Nicht ansehen!« Kayún wusste ja, dass er nicht hinsehen durfte. Aber er konnte nicht anders – wie gebannt starrte er die Schwarzen Kreaturen an. 153
»Du musst den Blick abwenden«, krähte Yetikazumanzu erneut. »Sie lähmen sonst deinen Willen und ergreifen Besitz von dir!« Verwirrt drehte sich Kayún um und sah für einen Moment in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Wie durch einen Schleier erblickte er den Lawinenwicht, der neben dem dunklen Einlass zu seiner Schlafhöhle stand und ihm aufgeregt zuwinkte. »Komm her. Schnell!« Doch Kayún wandte sich wieder den Traumfängern zu und blickte ihnen in dumpfer Ergebenheit entgegen. »Kayún!« Es war Elea, die ihren Bruder aus dem Bann der Schwarzen Kreaturen riss. Was immer sie aus dem Schlaf geschreckt haben mochte – ihre Stimme schrillte, sich vor Angst fast überschlagend, durch die Höhle und öffnete Kayún schlagartig die Augen für die tödliche Gefahr, in der er schwebte. Die Warnung seiner Schwester kam nicht einen Augenblick zu früh: Die Traumfänger waren so nahe an ihn herangerückt, dass sie fast nach ihm greifen konnten. Da aber erwachte er aus seiner Erstarrung und hetzte auf Elea zu, die ihm an Yetikazumanzus Seite voller Panik entgegenblickte. »Schnell! Schnell!«, krähte der Lawinenwicht erneut und scheuchte die Geschwister in die kleine Nebenhöhle. In der Grabesschwärze, die im Schlafgemach herrschte, konnte Kayún wiederum nicht das Geringste sehen. »Elea? Wo bist du?«, fragte er in die Dunkelheit und wollte gerade nach ihr tasten, als er ein unheimliches Getöse vernahm. Ein kräftiger Lufthauch fuhr ihm ins Gewand, und dann – er ahnte es mehr, als dass er es sah – donnerte ein Felsblock von oben herab und verschloss den Zugang mit einem ohrenbetäubenden Rummms! Staub wirbelte auf und kribbelte in Kayúns Nase, so dass er heftig niesen musste. 154
Kaum war wieder Stille eingekehrt, da erklang ein leises Kichern: »Hihi, damit haben die wohl nicht gerechnet, diese nichtsgesichtigen Ungeheuer!« Das Herz in Kayúns Brust raste schneller als ein Rennpferd. Die Heiterkeit des Lawinenwichts konnte er nicht im Geringsten verstehen. Sie waren zwar mit knapper Not entkommen, aber die Gefahr war doch längst noch nicht gebannt! »Yetikazumanzu?«, fragte er beklommen und hörte im gleichen Augenblick die Stimme seiner Schwester: »Was ist denn nur passiert?« »Macht euch keine Sorgen.« Der ernsten Situation zum Trotz kicherte der Lawinenwicht von neuem. »Ich habe nur die Schutztür in Betrieb genommen, die den Eingang zur Kammer blockiert.« Kayún, der immer noch nichts sehen konnte, fühlte plötzlich Elea neben sich. Ihre Hand tastete nach der seinen und umschloss sie fest, so dass er ihren rasenden Puls deutlich fühlte. »Wird die Tür den Traumfängern standhalten?« Elea klang, als würde sie dem Frieden keineswegs trauen. »Sie werden doch bestimmt versuchen, sie aufzubrechen?« »Sollen sie ruhig versuchen. Was selbst die Feuerwürmer nicht geschafft haben, wird auch ihnen nicht gelingen!« »Die Feuerwürmer?«, fragte Kayún. »Was hat es denn damit wieder auf sich?« »Gemach, gemach«, antwortete der Lawinenwicht aus der Dunkelheit. »Ich will erst Licht machen, damit ihr was sehen könnt.« Kayún vernahm das Geräusch trippelnder Schritte und dann das sachte Klopfen eines Fingers an einem irdenen Behältnis. »Osmar«, rief Yetikazumanzu unerwartet sanft. »Auf155
wachen, Osmar, und frisch ans Werk. Es gibt Arbeit für dich.« Eleas Finger schlossen sich noch fester um die Hand des Bruders. »Was macht er denn?«, flüsterte sie ihm atemlos zu. »Ich weiß es nicht«, antwortete Kayún, als mit einem Mal ein Licht vor ihnen aufleuchtete. Es ließ die Konturen des Lawinenwichts aufscheinen und erhellte mehr und mehr das Grabesschwarz der kleinen Höhle. Schließlich konnte Kayún erkennen, dass das seltsame Leuchten aus einer bauchigen Vase zu kommen schien, die neben dem Schlaflager des Wichtes stand. Er wunderte sich noch, woher es wohl rühren mochte, als auch schon eine leuchtende Kugel daraus emporstieg. Sie ließ die Schlafkammer in gleißendem Licht erstrahlen und schwebte langsam auf ihn und Elea zu. Die fassungslosen Mienen der Geschwister entlockten Yetikazumanzu ein erneutes Kichern. »Da staunt ihr, was? Darf ich vorstellen?« Er zeigte mit einer theatralischen Geste auf den Lichtball. »Osmar, der Tausendleuchter!« Kayún sah staunend vom Wicht zur schwebenden Kugel. »Tausend-was?« »Tausendleuchter«, wiederholte der Lawinenwicht, um mit einem gequälten Seufzer hinzuzufügen: »Ihr kennt auch gar nichts, ihr Insomnier. Keine Feuerwürmer und keine Tausendleuchter. Ihr scheint noch nicht allzu weit herumgekommen zu sein.« Weder Kayún noch Elea antworteten. Wie gebannt starrten sie auf die vor ihnen schwebende Lichtkugel. Sie war viel heller und auch um vieles größer als das Rasende Gerücht, das ihnen im Schreckwald begegnet war. Urplötzlich jedoch veränderte der leuchtende Ball seine Form, streckte sich zu einem Lichterband von der Länge eines knappen Schritts und 156
bewegte sich zweimal wellenförmig vor ihnen auf und ab, bevor er wieder seine ursprüngliche Kugelform annahm. »Osmar sagt euch guten Tag«, erklärte der Wicht, was die Fassungslosigkeit der Geschwister nur noch vergrößerte. In diesem Augenblick erkannte Kayún, dass es sich bei der gleißenden Kugel gar nicht um ein einziges Licht handelte. Sie bestand vielmehr aus vielen winzigen Lichtwürmchen, wie die kräftigeren Vettern der Glühwürmchen genannt wurden. »Wisst ihr, wie ihr ausseht?« Ein verschmitztes Grinsen legte sich auf das Fellgesicht des Lawinenwichts. »Wie die glotzäugigen Grimaffen auf den Klippen von Contrario, die sich jeden Tag aufs Neue gegenseitig bestaunen, als hätten sie einander nie zuvor zu Gesicht bekommen. Dabei hocken sie schon seit Ewigkeiten beisammen, wie jeder weiß.« Kayún zog es vor, die grobe Anspielung zu überhören. »Wenn ich den Namen richtig deute, dann müssen das wohl genau tausend Lichtwürmchen sein?«, fragte er, ohne seinen Blick von der Kugel zu wenden. »Du irrst dich, mein Freund«, korrigierte Yetikazumanzu. »Es mag schon sein, dass du tausend Lichtwürmchen zählen könntest. Aber Osmar, der Tausendleuchter, ist trotzdem mehr als das.« »Mehr als das? Das verstehe ich nicht. Du sagst doch selbst, dass es tausend sein mögen. Wie können es dann mehr ...« »Weil ein Ganzes manchmal viel mehr ist als die bloße Summe seiner Teile, deshalb!«, unterbrach ihn der Lawinenwicht in ungehaltenem Tonfall. »Aber das wirst du auch noch lernen, glaub mir.« Seine Miene wurde wieder etwas freundlicher. »Setzt euch endlich, damit ich euch erklären kann, wie ihr hier rauskommt.« »Hier rauskommen?«, staunte Elea. Um mit einen scheuen 157
Blick auf den Felsblock vor dem Eingang hinzuzufügen: »Glaub bloß nicht, dass ich zurück in die Höhle gehe. Das ist viel zu gefährlich! Diese schrecklichen Kreaturen lauern doch bestimmt immer noch dort.« »Da will dir gar nicht widersprechen.« Yetikazumanzu grinste schon wieder. »Ich hatte aber auch gar nicht vor, euch dorthin zu schicken.« »Nein?« Kayún zog ein ratloses Gesicht. »Wie sollen wir denn sonst hier rauskommen.« »Nur gemach, mein Junge, nur gemach. Erschöpft, wie ihr beide seid, würdet ihr ohnehin nicht mehr weit kommen. Also legt euch erst mal für ein paar Stunden aufs Ohr, dann sehen wir weiter.«
\ Saranya öffnete die Tür ihrer Kammer einen Spaltbreit und lauschte. Vom Erdgeschoss her klangen die gedämpften Stimmen von Raya und Herrn Asmus an ihr Ohr. Sie konnte nur undeutlich verstehen, was die beiden sprachen, aber es hörte sich an, als ob sie miteinander stritten. Besonders Raya hob immer wieder ihre Stimme. Sie schien sich über irgendetwas zu ärgern und dem Hohen Herrn Vorwürfe zu machen, der sie daraufhin zu beschwichtigen versuchte. Offenbar vergeblich, denn gleich schon ließ sich wieder die Mutter vernehmen. Für gewöhnlich konnte Saranya es nicht ausstehen, wenn sich die beiden stritten. Aber diesmal passte es gut in ihre Pläne. Sie lächelte. Sehr gut sogar, dachte sie. Wenn sie erst einmal anfangen, sich zu ereifern, hören sie meist so schnell nicht wieder auf. Deshalb würde auch bestimmt keiner von ihnen in der nächsten Zeit einen Blick in ihr Zimmer werfen. Dennoch schien es ihr zu gefährlich, das Haus 158
durch das Portal zu verlassen, vorbei an der offenen Tür zum Wohnraum, wo Raya und der Hohe Herr saßen. Aber wozu gab es denn den Notausgang? Saranya drückte leise ihre Tür wieder zu, huschte zum Fenster und öffnete es vorsichtig. Wie eine Katze kletterte sie hinaus aufs Dach, zog das Fenster hinter sich zu und schlich auf Zehenspitzen über den Dachfirst bis zur Rückseite des Hauses. Die Schindeln aus grauem Schiefer ächzten unter ihren Tritten. Die Geräusche waren allerdings so leise, dass bislang noch keiner ihrer heimlichen Ausflüge entdeckt worden war. Das Rankgerüst für die Schlawinermalven reichte bis knapp unter die Dachtraufe. Geschmeidig kletterte Saranya daran hinunter in den Hof. Schon kurze Zeit später war sie vor dem Haus von Colinas Eltern angelangt und schlich in den dahinter liegenden Garten. Den Weg zum Zimmer der Freundin kannte sie fast im Schlaf. Zunächst ging es an den Beeten mit dem Balsamkraut und den Schlupfwurzeln vorbei, dann zwischen den Stangen mit den Rankbohnen hindurch, bis sie schließlich vor dem kleinen Erdgeschossfenster stand, hinter dem Colina schon ungeduldig auf sie wartete. Noch bevor Saranya das vereinbarte Klopfzeichen machen konnte – dreimal kurz, dreimal lang –, öffnete die Freundin, half ihr in ihre Kammer und blickte sie erwartungsvoll an: »Und? Wie es bei dir gelaufen?« Rasch berichtete Saranya über die Gespräche, die sie mit Tramina, Bubu und dem Hohen Herrn geführt hatte. Und den Besuch im Stadtarchiv erwähnte sie natürlich auch. »Warum hat der Archivar denn so merkwürdig reagiert, als du ihn nach diesem Magister gefragt hast?«, wollte Colina wissen. »Und der Herr Asmus auch?« Saranya verzog ratlos das Gesicht. »Keine Ahnung. Aber 159
wenn schon der Name von Philonius Philippo Phantastus ausreicht, um zwei erwachsene Männer in Verwirrung zu stürzen, dann scheint der Magister doch jemand Besonderes gewesen zu sein. Außerdem muss es einen Grund geben, weshalb man ihn mitsamt seiner Ehefrau aus der Stadt geworfen hat, nicht wahr?« »Das schon – aber ich verstehe nicht, was das mit dem Rätsel deiner Herkunft zu tun haben soll.« Saranya runzelte die Stirn. »Ich hab ja gar nicht behauptet, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt. Mir erschienen die Reaktionen des Archivars und von Herrn Asmus nur so verwunderlich, dass ich einfach neugierig bin, was es mit diesem geheimnisvollen Magister auf sich hat.« Colina schüttelte den Kopf. »Als ob du keine anderen Sorgen hättest im Augenblick.« »Bevor du weiter rummeckerst«, entgegnete Saranya, »was hast du denn rausgefunden?« »Nicht viel. Leider.« Die Freundin zuckte mit den Schultern. »Meine Eltern und deine ... Zieheltern kannten einander damals nur flüchtig. Sie haben sich erst durch uns näher kennen gelernt. Trotzdem meinte auch meine Mutter sich zu erinnern, dass Raya in jenem Sommer ein Kind erwartete. Sie hat sich deshalb auch weiter keine Gedanken gemacht, als sie eines Tages dich in Rayas Armen gesehen hat.« »Von einem ausgesetzten Kind hat sie also auch nichts gehört?« »Nein. Und mein Vater auch nicht.« Missmutig schüttelte Saranya den Kopf. »Hab ich’s mir doch gleich gedacht. Aber warum behaupten sie, dass ich ein Findelkind bin, wenn sich niemand außer ihnen daran erinnern kann? Das gibt’s doch nicht. An der Sache muss doch was faul sein!« 160
»Das kommt mir auch so vor«, pflichtete Colina ihr bei. »Aber was? Und wie machen wir jetzt weiter?« Sinnierend kniff Saranya die Augen zusammen. »Wenn wir einen Blick in die Berichte der Garde werfen könnten, würde sich zeigen, ob Herr Asmus damals den Fund eines Kindes gemeldet hat. Aber ich fürchte, das wird man uns nicht gestatten.« Der grüne Strubbelkopf grinste. »Und wieso nicht?« »Das fragst du noch?« Saranyas Gesicht war so düster wie ein Gewitterhimmel. »Die werden uns doch für verrückt ...« »Und wenn ich meinen Oheim ganz lieb bitte?«, unterbrach Colina sie, immer noch grinsend. »Du weißt doch, Casimir, der Bruder meiner Mutter, ist Offizier bei der berittenen Garde – und ich bin rein zufällig seine Lieblingsnichte.« Überrascht sah Saranya sie an, doch dann begann sie zu strahlen. »Na also! Dann lass uns gleich morgen früh zu ihm gehen.« »Nur mal langsam mit den jungen Schreitmaxen, wie Casimir zu sagen pflegt«, wehrte Colina mit einem Lächeln ab. »Lass mich ihn erst schonend auf unseren Besuch vorbereiten. Das ist allemal besser, als ihn ohne Warnung zu überfallen.« Notgedrungen stimmte Saranya zu. »Also gut, dann eben am Nachmittag – nachdem du ihm genug Honig ums Maul geschmiert hast.« »Genau so machen wir es«, antwortete Colina und grinste schon wieder. »Außerdem wird es langsam Zeit für dich. Der Nachtwächter hat eben die zehnte Stunde ausgerufen.« Colina hatte Recht. Raya und Herr Asmus begaben sich meist kurz nach der zehnten Stunde zu Bett. Bevor sie sich in ihr Schlafgemach zurückzogen, warfen sie stets noch einen Blick in Saranyas Kammer. Sie musste sich also sputen. 161
Sie war schon zum Fenster hinaus, als Colina ihr mit gedämpfter Stimme hinterherrief: »Übrigens, meine Mutter meinte noch, dass Mutter Gris Raya öfter bei der Hausarbeit geholfen hat, während eure Magd krank war.« Saranya warf ihr einen überraschten Blick zu. »Unsere alte Nachbarin? Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Colina blies die Backen auf und ließ die Luft geräuschvoll durch die vorgestülpten Lippen strömen. »Weil... weil es mir entfallen war – deshalb!« Saranya schüttelte nur den Kopf. Typisch Colina, dachte sie. Endlich ein brauchbarer Hinweis – und dann verschwieg sie ihn bis zum letzten Augenblick!
\ Elea schreckte aus einem traumlosen Schlummer hoch und sah den Lawinenwicht schlaftrunken an. »Was ist denn los? Warum weckst du mich?« Yetikazumanzu lächelte. »Nichts ist los – ich dachte nur, ihr hättet es eilig, nach Seperanza zu kommen?« »Natürlich, du hast ja Recht.« Sie beugte sich seufzend über ihren Bruder, der schnarchend neben ihr auf dem Lager in der Schlafhöhle lag, und schüttelte ihn. »Aufwachen, Kayún. Wir müssen weiter.« Der Junge schien nicht weniger benommen als sie. Gähnend richtete er sich auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah sich mit verwirrter Miene in der Höhle um. Erst als er den mächtigen Steinblock vor dem Ausgang erblickte, schien ihm wieder zu dämmern, was geschehen war. »Sind die Traumfänger weg?« Yetikazumanzu zuckte mit den schmalen Schultern. »Keine Ahnung. Ich hab zwar gute Augen, aber durch Felsen kann 162
auch ich nicht sehen. Allerdings haben die meisten Traumfänger eine ausgezeichnete Nase. Vermutlich ziehen sie erst dann ab, wenn sie euch nicht mehr riechen können.« Einem Alptraum gleich stieg die Erinnerung an die unheimlichen Gestalten in Elea auf. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, so dass sie mühsam um Luft ringen musste. »Aber wie ... wie sollen wir hier denn wieder rauskommen?« Der Lawinenwicht wackelte mit dem Kopf. »Kann es sein, dass ich diese Frage schon mal gehört habe?« Sichtlich ungehalten scheuchte er die Geschwister von seinem Schlaflager, rückte es zur Seite und bedachte Kayún und Elea mit einem grimmigen Blick. »Was sagt ihr dazu?« Er deutete auf die schmale Öffnung, die ihnen vom Boden seiner Schlafhöhle wie ein schwarzer Schlund entgegengähnte. »Auf diesem Weg bin ich schon einige Male geflohen.« »Geflohen?« Kayún sah den Lawinenwicht überrascht an. »Wovor denn?« »Vor den Feuerwürmern – was hast du denn gedacht?« »Aha«, sagte der Junge nur und suchte den Blick seiner Schwester. Doch auch Elea konnte nur ratlos mit den Schultern zucken. »Die Feuerwürmer sind eine große Gefahr für uns, müsst ihr wissen. Wenn nicht sogar die größte überhaupt.« Das weißfellige Kerlchen wirkte mit einem Mal ungewöhnlich ernst. »Sie haben ihre Nester tief unten im Boden und lassen sich für gewöhnlich nicht an der Oberfläche sehen. Sie lieben die glühende Hitze, die dort unten herrscht, so sehr, dass ich fast glaube, sie brauchen sie zum Leben. Manchmal aber, und ohne dass jemand wüsste, warum, packt sie die rote Wut. Dann drängt es sie mit unbändiger Macht nach oben. Sie sind dann durch nichts und niemand mehr aufzuhalten, denn ihr 163
Feueratem bringt jedes Gestein zum Schmelzen. Fast jedes zumindest.« Elea konnte nur noch den Kopf schütteln vor lauter Verwunderung. Feuerwürmer, Feueratem, Steinschmelzen – nichts von alledem hatte sie jemals zuvor gehört. »Aber was wollen sie denn hier oben?«, fragte sie. »Das weiß keiner, und sie selbst vielleicht am allerwenigsten. Jedenfalls fressen sie sich dann durchs Gebirge und verschlingen alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Natürlich auch unsereinen, wenn’s denn sein muss. Dabei werden sie größer und größer, je näher sie der Oberfläche kommen. Kaum aber durchstoßen sie die äußerste Erdschicht, da reißen sie auch schon ihre Mäuler auf und spucken das glühende Gestein im hohen Bogen aus. Das fließt dann über die Gebirgshänge zu Tal, kühlt sich dabei ab und erstarrt. Ihr habt es sicherlich schon gesehen: Es ist ganz wunderlich schwarzes Gestein, das die verschiedensten Namen trägt. Wir Lawinenwichte nennen es Wurmgestein. Andere sagen Lava dazu oder noch ganz andere Wörter.« »Und die Feuerwürmer? Was passiert denn mit ihnen?« »Sie ziehen sich wieder in die Erde zurück, wenn sie ihre kochenden Mägen geleert haben und ihre Wut abgeklungen ist. Und natürlich haben sie auch ihr Gutes, diese unberechenbaren Schlängler: Durch ihr Gewühle schaffen sie Höhlen und Gänge im Gestein, die nicht nur für unsereinen von Nutzen sind.« Verwundert schaute sich Kayún in der Schlafkammer des Lawinenwichts um. »Willst du damit sagen ...« »Natürlich. Auch meine Höhle haben die Feuerwürmer gewühlt. Ich hab sie nur wohnlich gemacht und behaglich eingerichtet«, erklärte Yetikazumanzu, um dann mit einem Blick auf den Felsblock hinzuzufügen: »Und natürlich auch 164
dafür gesorgt, dass sie mir Schutz bietet vor dem Feuer speienden Gewürm!« »Hast du nicht erzählt«, fragte Elea, »dass ihr Atem jedes Gestein zum Schmelzen bringt?« Der Wicht hob den linken Finger seiner rechten Hand. »Fast jedes, nur das Pechgestein nicht. Das hält selbst ihrem glühenden Atem stand – und erst recht den Krallen der Traumfänger. Jetzt aber genug geschwätzt. Es wird Zeit, dass ihr verschwindet.« Damit deutete Yetikazumanzu auf die schmale Öffnung im Boden. »Dieser Tunnel führt euch zu einem Gang, der sich quer durch die Berge zieht, bis zur Südseite, wo er am Fuß des Gebirges ins Freie mündet.« Elea sah, dass sich Falten in die Stirn ihres Bruders kerbten. »Und die Feuerwürmer?«, fragte er. »Was ist mit denen?« »Vor denen braucht ihr keine Angst zu haben«, versuchte der Lawinenwicht ihn zu beschwichtigen. »Sie haben sich erst kürzlich wieder nach oben gewühlt und ihre glühenden Mägen geleert. Danach dauert es meistens eine geraume Weile, bis sie aufs Neue um sich spucken. Obwohl – ganz sicher sein kann man sich natürlich nie.« Kayún schien beruhigt, Elea jedoch starrte beklommen in das dunkle Loch zu ihren Füßen. »Aber wie sollen wir den Weg finden?«, fragte sie den Lawinenwicht. »Da unten ist es doch dunkler als in der stockfinstersten Nacht!« Yetikazumanzu schien langsam mit seiner Geduld am Ende. »Warum, meinst du wohl, habe ich euch mit Osmar bekannt gemacht, hm? Osmar wird euch leuchten und den Weg weisen. Niemand kennt sich in den Gängen besser aus als er. Habe ich Recht, Osmar?« Wieder verformte sich die Lichtkugel. Zur Verwunderung der Geschwister schwebte sie nun als leuchtender Ring durch 165
die Höhle, dabei sich schneller und schneller im Kreis drehend. »Ich hoffe, ihr habt seine Antwort verstanden. Wenn nicht, kann ich euch leider auch nicht helfen.« Der Lawinenwicht lächelte grimmig. »Und nun geht endlich, damit wieder Ruhe einkehrt in meinem Berg.« Kayún wollte schon in die Öffnung steigen, doch Elea hielt ihn noch zurück. »Einen Moment«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Wir können so nicht gehen, unmöglich!« Ihr Bruder und der Lawinenwicht blickten sie an wie begriffsstutzige Schnarchschafe. »Warum nicht?«, fragte Kayün. »Weil sich unser Bündel in der Wohnhöhle befindet, deshalb. Ohne warme Decken und Proviant kommen wir nicht weit!« »Bei der Mutter aller Feuerwürmer noch mal!«, schimpfte Yetikazumanzu los. »Als ob das ein Problem wäre!« Er zog die Decken von seinem Lager und drückte sie Elea in die Hand, holte dann einen Rucksack aus einem Weidenkorb in der Ecke und reichte ihn Kayún. »Ich musste schon einige Male vor den Feuerwürmern fliehen, wie gesagt. Daher habe ich für solche Notfälle vorgesorgt. Die Sachen da drin« – er deutete auf den Rucksack – »müssten auch für zwei reichen.« Die Geschwister bedankten sich bei dem pelzigen Kerlchen und umarmten es zum Abschied. Für Yetikazumanzu sollte seine Hilfsbereitschaft schon bald ernste Konsequenzen haben, aber das ist wieder eine andere Geschichte und soll deshalb auch ein andermal erzählt werden. Kayún und Elea jedenfalls folgten dem Tausendleuchter in den schmalen Tunnel, der zunächst steil nach unten führte. Bald darauf mündete er in einen leicht abfallenden Gang, der sich schier endlos in den Berg hineinzuwinden schien. 166
Die Decke war so hoch, dass sie aufrecht darunter laufen konnten. Obwohl Osmar den Stollen in fast taghellem Licht erstrahlen ließ, war Elea nicht wohl in ihrer Haut. Mehr und mehr beschlich sie die Ahnung, dass ihr Weg durch das Gebirge nicht ganz so reibungslos verlaufen würde, wie der Lawinenwicht es vorausgesagt hatte. Ihr Bruder dagegen, der neben ihr herschritt, schien voller Zuversicht zu sein. Daher beschloss sie, ihre Bedenken für sich zu behalten und ihn nicht zu beunruhigen.
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11 DER MANN IM DUNKELN
D
er Mann war von schlanker Gestalt und nicht besongroß. Er hatte sich eng an die Hauswand gedrückt, so dass er kaum mehr war als ein Schemen in der Dunkelheit. Als er den Nachtwächter bemerkte, der, die Laterne in der einen und die Hellebarde in der anderen Hand, den Süßtraumpfad entlangging, reckte er sein kantiges Kinn vor. Doch der Hüter des Schlafs bemerkte ihn nicht: Er war damit beschäftigt, den Bewohnern von Seperanza lauthals zu verkünden, dass die Gelichterstunde angebrochen war. Unbeeindruckt spähte der verborgene Mann währenddessen hoch zum Dachfenster des gegenüberliegenden Hauses. Als der Nachtwächter um die nächste Ecke gebogen war und nur noch die Tritte seiner Stiefel in der Stille verhallten, erlosch das Licht hinter dem Fenster im Dachgeschoss. Der Mann gegenüber entspannte sich ein wenig, verharrte aber noch eine Weile in seinem Versteck. Er schien sichergehen zu wollen, dass das Mädchen kein weiteres Mal heimlich aus dem Fenster stieg und über das Dach davonschlich. Doch diesmal blieb das Fenster geschlossen, und die Blonde ließ 169
sich nicht mehr blicken. Offenbar hatte sie sich nun endlich schlafen gelegt. Da erst löste sich der Mann von der Wand und atmete auf. Schon wollte er sich davonstehlen, als er das Tier bemerkte, das sich aus der Dunkelheit schälte. Es hatte einen katzenartigen Körper mit einem großen Echsenkopf und bewegte sich ohne jeden Laut rasch auf ihn zu. Vor seinen Füßen verhielt es und winselte herzzerreißend, ähnlich einem Hund, der sich freut, seinen sehnsüchtig vermissten Herrn endlich wiederzusehen. Der Mann ging in die Knie, streichelte dem Tier über den Echsenkopf und kraulte es am Hals. »Das nenn ich aber eine Überraschung, mein Alter!« Wieder ließ das Geschöpf einen winselnden Laut hören. »Ich freue mich doch auch, dich wiederzusehen, Reißzahn. Mein Alter, mein braver Alter!« Liebevoll tätschelte er den Katzenleib des Tieres. »Und vielen Dank auch, dass du sie so gut im Auge behalten hast!« Damit wandte er sich ab und warf nochmals einen Blick hoch zum Dachfenster. »Und es könnte bestimmt nicht schaden, wenn du das auch weiterhin tun würdest. Sie scheint nämlich nicht zu ahnen, worauf sie sich eingelassen hat.« Nach einem letzten Klaps erhob er sich wieder. »Mach’s gut, Reißzahn. Bis bald«, raunte er dem Tier noch zu. Damit drehte er sich um und huschte davon. Wenig später hatte ihn die Finsternis verschluckt. Das echsenköpfige Tier aber verharrte noch einen Augenblick und spähte, die spitzen Ohren aufgestellt, hinauf zum Dachfenster des gegenüberliegenden Hauses. Dann verschwand es ebenso lautlos, wie es gekommen war, wieder im Dunkel der Nacht.
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Elea hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie nun schon mit Kayún im Bauch des Eisiger-Wind-Gebirges unterwegs war. Eine Stunde, weniger oder mehr? Sie hatte nicht die blasseste Ahnung, und als sie Kayún fragte, antwortete er nur mit einem Schulterzucken. Die Wände des Ganges schimmerten jedenfalls schon längst nicht mehr im sanften Blau des Lapislazuli. Sie bestanden vielmehr aus löchrigem Wurmgestein von einer solchen Schwärze, dass das helle Licht des Tausendleuchters in seinen unzähligen Poren förmlich zu versickern schien. Beim Anblick der erstarrten Lava musste Elea wieder an die Feuerwürmer denken. Hoffentlich behält Yetikazumanzu Recht und sie lassen sich wirklich nicht blicken, schoss es ihr durch den Kopf. Andernfalls ... Sie wagte den schrecklichen Gedanken nicht zu Ende zu denken. Während ihres Marsches durch die schwarze Röhre hatten sie keinen einzigen Abzweig passiert. Nicht auszudenken, wenn plötzlich Feuerwürmer oder andere Angreifer auftauchen würden! Wohin sollten sie dann fliehen? »Woran denkst du?« Kayúns Frage riss Elea aus ihren trüben Gedanken. »Ach, an nichts«, antwortete sie leichthin. Er blieb stehen und hielt sie am Ärmel fest. »So siehst du auch aus«, sagte er in vorwurfsvollem Ton. Sie bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln. »Ganz bestimmt nicht.« »Hältst du mich für dumm?« Kayún schien nun ernsthaft gekränkt. »Ich kenn dich lang genug, um dir anzusehen, ob du dir Sorgen machst oder nicht. Und im Augenblick machst du dir Sorgen – auch wenn du dazu keinen Grund hast!« »Sag ich doch!« Elea zeigte auf den Tausendleuchter, der schräg über ihnen schwebte, dicht unter der schwarzen 171
Decke. »Wir haben doch alles, was wir brauchen. Osmar spendet uns Licht und wird uns sicher durch den Berg geleiten. Schließlich kennt er den Weg.« Sie deutete nach vorn, wo sich der Gang nach wenigen Schritten in der Schwärze des Berges verlor. »Und jetzt lass uns weitergehen. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, endlich wieder an die frische Luft zu kommen und Tageslicht zu sehen.« Kayún setzte eben zu einer Antwort an, als aus der Ferne ein unheimliches Geräusch erklang. Rasch wurde es lauter und schriller. Elea hatte derart Schreckliches noch niemals in ihrem Leben vernommen. So muss es sich anhören, wenn jemandem bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust gerissen wird, schoss es ihr durch den Kopf, und für einen Augenblick fühlte sie sich wie gelähmt. Auch Kayún war wie erstarrt stehen geblieben. Die letzte Spur Farbe wich aus seinem Gesicht, während er seine Schwester voller Entsetzen ansah. Auch er schien nicht die geringste Ahnung zu haben, woher das grässliche Geräusch stammen mochte. Welches Geschöpf auch immer diese Laute ausstoßen mochte, dachte Elea, es musste eine entsetzliche Kreatur sein. Noch viel grauenhafter als die Traumfänger!
\ »Sieht ganz so aus, als ob heute dein Glückstag wäre.« Tramina stellte einen Becher mit heißer Milch vor Saranya auf den Küchentisch und blickte sie scheel an. »Bist du deshalb so früh aufgestanden?« Das Mädchen gähnte nur. Nach ihrem nächtlichen Ausflug zu Colina hatte sie noch lange wach gelegen und gegrübelt. Erst um die Gelichterstunde hatte sie endlich in 172
den Schlaf gefunden und fühlte sich nun müde und zerschlagen. »Hörst du schlecht?« Die Magd glotzte Saranya an. »Oder bist du heute nur maulfaul?« »Ähm ... Hast was von Glückstag gesagt?«, murmelte Saranya. »Wieso denn das?« »Deshalb«, antwortete die Magd und deutete grinsend zur Küchendecke. Als Saranya aufsah, verstand sie, worauf Tramina anspielte: Drei Sturfliegen schienen direkt über dem Tisch an der Decke zu kleben. Natürlich wusste sie, dass die kaum fingernagelgroßen Tierchen ihren Namen einzig und allein ihrer übergroßen Sturheit verdankten. Diese rührte vornehmlich daher, dass Sturfliegen gleich zwei Köpfe besaßen – an jedem Körperende einen –, was ihnen das Leben unerträglich schwer machte. Diese starrsinnigen Köpfe konnten sich so gut wie nie auf einen Weg einigen. Stets verlangte jeder von ihnen, genau die Richtung einzuschlagen, in die er gerade blickte. So konnte es geschehen, dass sie stunden- oder sogar tagelang miteinander hadernd an der gleichen Stelle verharrten und einander mit Schuldzuweisungen für das offensichtliche Dilemma nur so überhäuften. Daher waren sie natürlich eine leichte Beute für die Sturfliegenstecher – eine Vogelart, die sich auf ihren Verzehr spezialisiert hatte. Die Zahl der Sturfliegen war deshalb bedrohlich zurückgegangen, und wenn diese Entwicklung weiter anhielt, konnte es nicht mehr allzu lange dauern, bis sie ausgestorben sein würden. Ihres äußerst seltenen Vorkommens wegen wurden sie als eine Art Glücksbringer angesehen: Wer eine Sturfliege erblicke, so glaubte man zumindest in einigen Regionen Phantásiens, dem sei an diesem Tag ein ganz besonders günstiges Schicksal bestimmt. Und wenn eine einzige Sturfliege schon Glück 173
bescheren sollte, wie viel mehr mussten dann gleich drei von ihnen bringen? Saranya jedoch hielt nichts von solchen Ansichten. »Glaubst du wirklich an diesen Unsinn?«, fragte sie die Magd. »Natürlich. Wieso denn nicht?« »Weil das alberner Aberglaube ist, weiter nichts«, entgegnete das Mädchen. »Als ob Sturfliegen einen Einfluss auf unser Schicksal hätten! Das liegt doch einzig und allein in unserer Hand, und niemand kann daran etwas ändern – außer uns selbst.« »Hört, hört!«, sagte die Magd, und ihre hängende Unterlippe zitterte wie immer, wenn sie sich über jemanden lustig machte. »Da will das Ei wieder mal klüger sein als die Henne. Dabei hat Selin mir neulich erst erzählt, dass sie beim letzten Mal, als sie eine Sturfliege gesehen hat, prompt beim Wetten auf dem Stuhlrennplatz gewonnen hat!« »Unsinn!« Saranya zog ein finsteres Gesicht. »Das war doch nichts als Zufall!« Damit erhob sie sich, schnappte sich eine Hutzelbirne aus dem Korb auf der Anrichte und ging zur Tür. »He!«, rief die Magd ihr hinterher. »Du bist noch nicht fertig mit Frühstücken.« »Ich hab keinen Appetit!«, gab Saranya zurück und biss in die Birne. »Und wo willst du hin?« »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« »Und wenn deine Mutter mich fragt?« »Dann sag ihr einfach, ich war bei Colina. Oder sonst irgendetwas.« Saranya grinste die Magd breit an. »Ich bin ganz sicher, dass dir was Passendes einfallen wird.« Und bevor Tramina antworten konnte, war sie zur Küchentür hinaus.
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Kayúns Herz klopfte so laut, als würde eine Trommel in seiner Brust geschlagen. Es wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Dabei war das schauerliche Geräusch, das ihn und seine Schwester in Angst und Schrecken versetzt hatte, längst verklungen. Dennoch hallte es wie das Echo jäher Furcht in seiner Erinnerung nach. Was mochte das wohl gewesen sein? Stammte es von einem Lebewesen – oder von einem Dämon? Oder von etwas ganz anderem? Kayún wusste es nicht, und sosehr er sein Gehirn auch quälte, es wollte ihm einfach keine Antwort auf diese bohrenden Fragen einfallen. Obwohl er befürchtete, jeden Moment von einem unheimlichen Wesen bedroht zu werden, blieben weitere unliebsame Überraschungen vorerst aus. Zügig marschierten sie durch den Bauch des Eisiger-Wind-Gebirges. Der Tausendleuchter Osmar schwebte ihnen voran und erhellte das Grabesdunkel des Ganges, und nicht einer der gefürchteten Feuerwürmer ließ sich blicken. Yetikazumanzu hatte wohl doch richtig vermutet: Die Biester schienen noch ermattet von ihrem letzten Ausflug an die Oberfläche. Oder sie hatten sich die Mägen noch nicht wieder voll genug geschlagen, so dass sich das Ausspucken nicht lohnte. Auch von den Traumfängern war nicht die geringste Spur zu entdecken. Vielleicht hatten die Schwarzen Kreaturen sich mittlerweile ja aus der Höhle des Lawinenwichtes zurückgezogen, um sich doch über den Gebirgspass zu quälen? Auf diese Weise würden sie natürlich viel länger als die Geschwister bis zur Südseite des Gebirges brauchen. Möglicherweise würden die Werwesen sie auch gar nicht mehr einholen auf ihrem Weg nach Seperanza? Elea, die vor ihrem Bruder ging, blieb mit einem Mal stehen. »O nein!«, stöhnte sie. 175
Ein mächtiger Spalt gähnte vor ihren Füßen im Boden. Er musste abgrundtief sein, und als Osmar über das Loch hinwegschwebte, sah Kayún, dass es wenigstens fünf Schritte breit war. Wie sollten sie bloß auf die andere Seite kommen? »Und was machen wir jetzt?«, fragte Elea und sah ihren Bruder Hilfe suchend an. Kayún biss sich auf die Lippen und furchte die Stirn. Doch so angestrengt er auch nachdachte, es fiel ihm nur eine einzige Lösung ein. »Wir müssen springen«, sagte er. »Springen?« Eleas Augen wurden größer als die Glotzaugen eines Nachtalbs. »Das wäre doch Wahnsinn. Das schaffen wir nie!« Und kleinlaut fügte sie hinzu: »Zumindest ich nicht.« Bedrückt musterte Kayún den breiten Spalt, der sich über die gesamte Breite des Ganges zog. Elea hatte Recht, ohne Zweifel. Ihm selbst mochte der Sprung vielleicht gelingen – wenn er sich anstrengte, perfekt absprang und das Glück ihn nicht verließ. Elea aber würde das niemals schaffen. Ganz bestimmt nicht! Was aber sollten sie nur tun? Umkehren kam nicht in Frage. Nicht nur wegen der Feuerwürmer und Traumfänger. Sie konnten es sich einfach nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren auf dem Weg nach Seperanza. Niemand konnte voraussagen, wann das Vergessen sie befallen würde. Aber hatte nicht Yetikazumanzu ohnehin schon befürchtet, dass es Elea bereits angegriffen hatte? »Sieh doch!«, rief sie auf einmal und deutete in die Ferne vor ihnen, wo ein grauer Fleck aufschimmerte. War das etwa schon das Ende des Ganges? Sollten sie so kurz vor dem Ziel noch scheitern? Nicht auszudenken! Schon deshalb konnten sie jetzt nicht einfach kehrtmachen – doch diese Spalte konnten sie ebenso wenig überwinden. Kayún fühlte, wie ihn schlagartig die Kräfte verließen. Er 176
lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, ging langsam in die Knie, dabei immer wieder verzweifelt den Kopf schüttelnd. Wenn er nur wüsste, was sie tun sollten! Doch alles Grübeln blieb ergebnislos, und auch Elea schien keinen Rat zu wissen. Im Gegenteil: In ihrem blassen Gesicht stand nichts als nackte Angst geschrieben. Auf einmal bemerkte Kayún, dass Osmar auf seine Schwester zuschwebte und dabei seine Gestalt veränderte. Die unzähligen Lichtwürmchen, die den Tausendleuchter formten, verteilten sich um den Körper des Mädchens, bis es vollständig von einer dünnen leuchtenden Schicht umhüllt war. Bevor Elea zu ahnen schien, wie ihr geschah, wurde sie Zoll um Zoll in die Höhe gehoben. Dann schwebte sie, getragen von Osmar, langsam über die gähnende Öffnung hinweg, bis der Tausendleuchter sie am jenseitigen Rand behutsam absetzte. Kayún hatte sich wieder aufgerichtet und das wundersame Geschehen mit offenem Mund beobachtet. Für einen Moment war er völlig fassungslos. So etwas war doch nicht möglich! Doch schon im nächsten Augenblick schalt er sich selbst einen Narren. In Phantásien war so gut wie alles möglich. Leider machte Osmar keinerlei Anstalten, auch ihn über die Spalte zu tragen. Vielmehr verharrte der Tausendleuchter neben Elea in der Luft und schien darauf zu warten, dass Kayún sich zu ihnen gesellte. Ungläubig blickte der Junge ihn über das tiefe Loch hinweg an. »Ich soll also wirklich springen? Ist das dein Ernst?« Osmar verformte sich zu einem leuchtenden Ring und drehte sich schneller und schneller im Kreis. »Er sagt ja, wenn ich das richtig deutete.« Elea lächelte Kayún aufmunternd an. »Ich fürchte, dir bleibt nichts anderes übrig, als tatsächlich zu springen.« 177
»Und wenn ich’s nicht schaffe und in das Loch stürze?« »Du schaffst es schon!«, antwortete das Mädchen. »Sonst würde Osmar dir doch sicher helfen.« Kayún biss sich auf die Lippen. Elea hatte leicht reden! Sie musste ja nicht springen! Doch dann zwang er sich zur Ruhe. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren, sonst würde er mit Sicherheit scheitern. Er atmete tief durch und maß die Breite des Lochs erneut mit dem Blick. Fünf Schritte, die es zu überspringen galt. Unter normalen Umständen war das sicherlich zu schaffen – aber waren die Umstände etwa normal? Kayún drehte sich um und entfernte sich ein paar Schritte von der Spalte. Tief durchatmend verharrte er, und die Blicke der Geschwister trafen sich. Du schaffst es!, schien Elea ihn nochmals zu beschwören. Dann lief Kayún los. Den Blick auf die gähnende Spalte geheftet, wurde er schneller und schneller, bis er sich endlich vom Boden abdrückte. Der Sprung schien ihm endlos, und dennoch: Als er wieder auf dem Boden aufkam, konnten nicht mehr als drei Herzschläge verklungen sein. Geschafft!, jubelte es in seinem Inneren. Ich habe es tatsächlich geschafft! Osmar formte einen weiteren Kreis und schwebte langsam davon. Elea aber sah Kayún grinsend an. »Na also«, sagte sie. »Hab ich doch gleich gesagt!« Damit drehte sie sich um und folgte dem Tausendleuchter. Bald schon schimmerte das Tageslicht, das vom Ausgang her in das Dunkel des Berges fiel, heller und heller vor ihnen. Im gleichen Maß jedoch, wie es den Gang erfüllte, verblasste Osmar, und mit jedem Schritt, den sich die Geschwister dem Freien näherten, wurde er langsamer. Kayún verstand: Der Tausendleuchter war im Berg zu Hause und 178
benötigte das Dunkel zum Leben wie ein Fisch das Wasser. Die Geschwister bedankten sich bei Osmar für seine Hilfe. Der Tausendleuchter, der wieder seine Kugelform angenommen hatte, schwebte kurz auf und ab – was wohl so viel wie »Keine Ursache« bedeuten sollte – und zischte dann davon, bis er in der rabenschwarzen Tiefe des Berges verschwunden war. Auf dem Weg zur Höhle des Lawinenwichts sollte er auf die Feuerwürmer stoßen, aber das ist wieder eine andere Geschichte und soll deshalb auch ein andermal erzählt werden. Seite an Seite legten Kayún und Elea die letzten Meter zurück. Als sie ins Freie traten, blendete sie helles Tageslicht. Kayún kniff die Augen zusammen, die durch den langen Marsch im Dunkeln überaus empfindlich geworden waren. Elea beschattete ihre Augen zusätzlich mit den Händen, so sehr schmerzte sie das Licht. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, schrak Kayún zusammen. Der dichte Urwald, der sich hier draußen am Fuß des Gebirges ausbreitete, war ihm völlig unbekannt. Mit seinen riesigen Bäumen, den sich windenden Schlingpflanzen und in allen Farben schillernden Blüten schien er sich endlos in südlicher Richtung vor ihnen auszudehnen. Kayún hatte das Eisiger-Wind-Gebirge zwar noch nie überquert, sondern stets auf dem Talweg umgangen, wenn er zum Großen Schlafmeer gelangen wollte. Dennoch hätte ihm dieser riesige Urwald doch auffallen müssen, dachte er verblüfft. Zumal es einer der merkwürdigsten Wälder war, die er jemals gesehen hatte: Die Blätter der Bäume schillerten in allen Farben – nur einen grünen Baum konnte Kayún weit und breit nicht entdecken. An einen solchen Vielfarbenwald aber hätte er sich doch mit Sicherheit erinnert! 179
Ein derart buntes Spektakel konnte unmöglich seinem Gedächtnis entfallen sein. Und doch verhielt es sich genau so. Wie war das nur möglich? Eine bange Ahnung stieg in ihm auf: Waren das die ersten Anzeichen des schrecklichen Vergessens, von dem seine Mutter stets mit flüsternder Stimme gesprochen hatte? Oder hatte dieses Menschenkind, dieser Bastian Balthasar Bux, wieder seine Finger im Spiel? Elea stieß ihn an. »Was ist denn los?«, fragte sie. »Kennst du diesen Wald hier auch wieder nicht?« Kayún konnte sich die Worte sparen. Sein Blick war beredt genug. Ungläubig schüttelte Elea den Kopf. »Und ich dachte, du bist schon oft zum Großen Schlafmeer gereist?« »Bin ich auch«, antwortete Kayún mit grimmiger Miene. »Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Es hat fast den Anschein, als hätte sich Phantásien komplett verändert.« Elea schnappte nach Luft und schaute ihn mit großen Augen an. »Hältst du das wirklich für möglich?« »Keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Das würde jedenfalls bedeuten, dass dieser Retter unsere Welt dermaßen durcheinander gebracht hätte, dass wir uns selbst darin nicht mehr auskennen.« »Und wenn es sich tatsächlich so verhält?« »Dann haben wir ein großes Problem.« Kayún starrte nachdenklich vor sich hin. »Ein sehr großes sogar! Wenn er wirklich alles auf den Kopf gestellt hat, kann ja dort, wo bisher Contrario war, nun eine ganz andere Stadt liegen ...» »Oder das Große Schlafmeer kann ebenso verschwunden sein wie Seperanza«, unterbrach ihn Elea. »Und was machen wir dann?« »Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen«, sagte er. »War180
ten wir einfach ab, was sich hinter diesem Vielfarbenwald befindet. Vielleicht entdecken wir dort ja all die Landschaften wieder, die wir von früher her kennen?« »Und wenn nicht?« Kayún legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Warum sollten wir uns jetzt schon Gedanken darüber machen? Warten wir es doch einfach ab. Sobald wir den Wald hinter uns gebracht haben, werden wir bestimmt nur noch darüber lachen, dass wir so verzagt waren.« Elea holte tief Luft. »Hoffentlich hast du Recht«, antwortete sie. »Der Weg durch das Gebirge war anstrengend und weit«, sagte Kayún leichthin, nahm Yetikazumanzus Rucksack von der Schulter und deutete auf ein Gebüsch in der Nähe. »Wir sollten uns ein wenig ausruhen und stärken, bevor wir den Urwald durchqueren.« Elea breitete eine Decke unter den dicht belaubten Zweigen aus. Die Geschwister ließen sich darauf nieder, und Kayún packte die Notration des Lawinenwichts aus. Als er die Glücksschweinwurst erblickte, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Mit leuchtenden Augen hielt er sie der Schwester entgegen. »Weißt du, was das ist?«, fragte er, als er mit einem Mal einen mächtigen geflügelten Schatten wahrnahm. Geschwind und ohne jedes Geräusch huschte der über den Boden dahin – gerade so, als würde ein riesiges Wesen vor der Sonne vorüberfliegen. Erstaunt spähte Kayún zum Himmel und erblickte gerade noch einen schwarz geschuppten Skorpionschwanz mit einem mächtigen Dorn, der hinter den Gipfeln des EisigerWind-Gebirges verschwand. Nur einen Augenblick später erscholl erneut das unheimliche Brüllen, das sie im Innern des Berges vernommen hatten. Einer Lärmlawine gleich grollte es 181
über die Flanke des Gebirges auf sie zu, und als der herzzerfetzende Schrei bei Kayún ankam, vermeinte er die dem Ruf innewohnende Wut fast körperlich zu spüren. Ihre Decke flatterte auf einmal wie in starkem Wind, und ihre Haare wurden aufgewirbelt. Welches Wesen auch immer diesen grauenhaften Laut ausgestoßen hatte – es musste von einer fürchterlichen Kraft beseelt sein. Ela zitterte und sah mit schreckgeweiteten Augen um sich. »Was war das nur?«, fragte sie. Kayún schluckte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er beklommen. Jedoch ahnte er, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie diesem Ungeheuer leibhaftig gegenüberstehen würden.
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12 ALTE ERINNERUNGEN
L
ange Zeit verschloss niemand in Seperanza seine Türen, wenn er aus dem Haus ging oder sich zum Schlafen niederlegte. Lediglich die öffentlichen Gebäude, Lagerhäuser und Geschäfte wurden während der Nacht verriegelt. Seit sich die Diebstähle jedoch häuften, waren immer mehr Einwohner auf ihre Sicherheit bedacht. Auch Mutter Gris war vor kurzem Opfer eines Einbruchs geworden. Dabei war bei ihr wirklich nicht viel zu holen. Die paar Silbermünzen, die sie sich vom Mund abgespart hatte, schmerzten sie denn auch längst nicht so sehr wie der Verlust der persönlichen Erinnerungsstücke, welche die Eindringlinge hatten mitgehen lassen. Ein paar Bilder, wertlosen Schmuck und bedauerlicherweise auch das Tagebuch, das sie vor vielen Jahren geführt hatte. Sie hatte gern und regelmäßig darin geblättert, weil das die alten Zeiten wieder lebendig werden ließ. Aber damit war es nun vorbei. Seit dem unerfreulichen Vorfall hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihr Haus abzuschließen, und so musste Saranya ans Küchenfenster klopfen, damit die alte Frau sie einließ. Als Saranya hinter ihr in die Küche trat, stieg ihr der 183
würzige Geruch eines Kräutertees in die Nase. »Sei mir willkommen und setz dich zu mir.« Mutter Gris zeigte mit freundlichem Lächeln auf die altersschwache Bank, die am Küchentisch vor der Wand stand. Das Mädchen nahm Platz. In den beengten Raum fiel nur durch zwei Fensterchen spärliches Licht ein. Eine Tranfunzel musste helfen, das schummerige Zimmer zu erhellen. Saranyas letzter Besuch lag schon eine ganze Weile zurück, aber alles sah noch genauso aus wie beim letzten Mal. Wände und Decke waren schwarz vom Ruß des Kochherds, in dem ein Holzfeuer für angenehme Wärme sorgte. Die wenigen Möbel – Küchenschrank, Anrichte und der Tisch mit Bank und Stühlen – deuteten daraufhin, dass Mutter Gris schon bessere Zeiten erlebt hatte. »Soll ich dir auch einen Vierkräftetee aufsetzen?«, fragte die alte Frau, die über ihrem grauen Haar selbst im Haus ein schwarzes Tuch trug, und deutete auf den dampfenden Becher, der vor ihr auf dem blank gescheuerten Holztisch stand. »Ich trinke ihn jeden Morgen. Er tut mir gut und verleiht mir die nötige Kraft für die Mühsal des Tages.« Mutter Gris seufzte. »Eine Zeit lang habe ich auch noch einige Tropfen Morgenblättertau untergerührt«, fuhr sie fort, »aber wie du selbst sehen kannst, hat das nicht viel geholfen.« Ein verschmitztes Lächeln ging über ihr gütiges Altfrauengesicht, gegen dessen unzählige Falten wohl selbst Kübel voll des gepriesenen Wundermittels nichts ausgerichtet hätten. Saranya lehnte dankend ab. Sie hatte Wichtigeres auf dem Herzen. »Du hast mich lange nicht besucht«, sprach die alte Frau weiter. »Nicht, dass ich mich beklagen wollte. Aber dass du mich heute aufsuchst, hat doch sicher einen besonderen Grund?« 184
»Nun ... es verhält sich so ... ich wollte ...«, begann Saranya zögernd, gab sich dann aber einen Ruck. »Ich wollte Euch nach dem Sommer damals fragen, im Jahr 1111 nach Morpheus, als ich ... äh ... geboren wurde.« Nur für einen Moment schien Mutter Gris überrascht. »Ach ja?«, antwortete sie dann scheinbar gleichgültig. »Und warum ausgerechnet mich?« »Weil Ihr damals, während Traminas Krankheit, Raya zur Hand gegangen sein sollt und Euch deshalb bei uns im Haus aufgehalten haben müsstet.« »Das ist richtig. Und weiter?« »Was ich Euch fragen wollte ...« »Ja?« Auffordernd sah die alte Frau das Mädchen an. »Nur heraus damit!« »Stimmt es, dass ... dass ich ein Findelkind bin? Dass Herr Asmus mich vor seinem Haus gefunden hat?« Wortlos musterte Mutter Gris das Mädchen. Noch immer war keinerlei Gefühlsregung in ihrem faltigen Gesicht zu erkennen. Nach kurzer Zeit jedoch nickte sie und lächelte gequält. »Mit dieser Frage hatte ich schon viel früher gerechnet, Saranya.« »Schon früher?« Das Mädchen schluckte. »Warum das denn?« »Weil...«, hob die Alte an, um gleich darauf kopfschüttelnd abzubrechen. »Ich glaube nicht, dass ich die Richtige bin, dir darauf zu antworten. Das müssen andere tun – oder du musst es selbst herausfinden.« Saranya blickte sie verwundert an. »Selbst herausfinden? Aber warum denn?« Ein mildes Lächeln legte sich auf das Gesicht der alten Frau. »Das wirst du schon merken – sobald du dahinter gekommen bist.« 185
Obwohl die Antwort Saranya keinen Deut klüger gemacht hatte, spürte sie, dass es sinnlos war, Mutter Gris weiter zu bedrängen. Sie würde ihr ohnehin keine Auskunft geben. Deshalb wiederholte sie ihre ursprüngliche Frage: »Stimmt es denn, dass ich ein Findelkind bin – oder wollt Ihr mir auch das nicht beantworten?« Wieder lächelte die alte Frau. »Doch, Saranya, das will ich tun. Sehr gern sogar, denn die Antwort ist ganz einfach ...« Saranya hielt die Luft an, und ihr Herz klopfte so laut, dass es wohl noch auf der Straße zu hören war. »Es verhält sich in der Tat so, wie du sagst«, fuhr Mutter Gris fort. »Dein Vater – oder soll ich lieber sagen, dein Ziehvater?« »Nein, nein«, antwortete Saranya rasch. »Raya und Herr Asmus bleiben meine Eltern, auch wenn ich nicht ihre leibliche Tochter sein sollte.« »Das bist du in der Tat nicht. Herr Asmus hat dich tatsächlich in einem Weidenkorb vor dem Haus gefunden.« »Also doch.« Abwesend starrte Saranya einen Moment lang vor sich hin. »Und Ihr seid auch ganz sicher?« »Ja – weil ich es nämlich selbst beobachtet habe, durch das Küchenfenster. Als sich deine wahren Eltern nicht gemeldet haben und selbst nach längerer Suche auch nicht zu finden waren, haben Raya und Herr Asmus dich an Kindes statt angenommen.« »Aber ...« Saranya konnte immer noch nicht richtig fassen, was sie gehört hatte. »Tramina hat doch erzählt, dass Raya damals ein Kind erwartete.« Mutter nickte mit ernstem Gesicht. »Das stimmt. Aber sie hat es vor der Zeit verloren – und war dann umso glücklicher, als das Schicksal ihr dich bescherte.« 186
»Dann haltet Ihr es also für ausgeschlossen, dass sie das alles nur inszeniert haben, um etwas anderes zu verschleiern?« Die Alte schien verwirrt. »Zu verschleiern? Was willst du damit sagen?« »Dass sie mich vielleicht gestohlen oder meinen Eltern abgekauft haben, zum Beispiel?« »Unsinn!« Mutter Gris schüttelte so energisch den Kopf, dass die Stubenfliegen, die sich auf ihrem Kopftuch niedergelassen hatten, aufflogen. »Schlag dir das schleunigst aus dem Sinn! Wenn du Raya damals gesehen hättest, würdest du wissen, dass ihre Überraschung und ihre Freude nicht gespielt waren. Und außerdem: Wenn sie sich tatsächlich unrechtmäßigerweise in den Besitz eines Kindes hätten bringen wollen, dann hätte es einer solchen Inszenierung mit Sicherheit nicht bedurft! In seiner Position hätten dem Hohen Herrn doch ganz andere Mittel und Wege zur Verfügung gestanden.« Saranya zog ein missmutiges Gesicht. Sollte sie sich wirklich so getäuscht haben? Sollte der Verdacht, den sie gegen ihre Zieheltern hegte, tatsächlich unbegründet sein? »Also gut«, brummte sie. »Nehmen wir an, Ihr habt Recht.« Sie holte tief Luft. »Warum haben sie dann ein derart großes Geheimnis darum gemacht und es mir nicht früher erzählt?« Mutter Gris hob die Schultern. »Das musst du nicht mich fragen, sondern Raya und den Herrn Asmus.« »Aber das habe ich ja getan und nur Ausflüchte von ihnen gehört. Deshalb ist mir ja der Gedanke gekommen, dass sie irgendwelche Gründe hatten, mir das alles so lange zu verheimlichen.« Die Antwort der alten Frau war so überraschend, dass Saranya fast die Luft wegblieb. »Und wenn es so wäre?«, sagte Mutter Gris nämlich und blickte sie durchdringend an. »We-wenn es so wäre?«, wiederholte sie stotternd. 187
»Ja. Was wäre dann?« »Dann ... dann müsste ich herausfinden, warum.« »Genau! Und warum tust du das nicht?« »Aber ...« Saranya klappte den Mund auf. »Aber das versuche ich ja! Ich bekomme nur nirgends eine vernünftige Antwort.« Wieder sah Mutter Gris sie mit diesem merkwürdigen Blick an, den sie nicht zu deuten wusste. »Vielleicht stellst du die falschen Fragen?« »Die falschen Fragen?« »Ja. Vielleicht solltest du mal überlegen, warum deine wahren Eltern sich nicht gemeldet haben. Und warum sie dich ausgerechnet vor der Tür des Hohen Herrn abgelegt haben und nicht irgendwo anders. Dafür muss es doch einen Grund geben, findest du nicht?« »Ja, schon«, antwortete das Mädchen. »Fragt sich nur, welchen.« »Genau.« Mutter Gris schaute Saranya eindringlich an. »Genau das musst du herausfinden, wenn du erfahren willst, wer deine wahren Eltern sind.« »Nichts auf der Welt würde ich mir mehr wünschen«, seufzte sie und erhob sich. »Jetzt will Euch aber nicht länger stören. Ihr habt sicherlich zu tun.« »Wie man’s nimmt«, antwortete die Alte lächelnd. »Und wenn du noch Fragen haben solltest – du bist mir jederzeit willkommen.« »Vielen Dank und auf bald.« Saranya hatte die Türklinke schon in der Hand, als ihr noch etwas einfiel. »Ach – ist Euch der Name Philonius Philippo Phantastus ein Begriff? Rein zufällig vielleicht?« »Natürlich. Aber ein Zufall ist das nicht.« Wieder erschien dieses hintergründige Lächeln auf dem Gesicht der Alten. 188
»Ich habe mich nämlich lange Zeit um den Haushalt des Magisters gekümmert und ihn deshalb wahrscheinlich viel besser gekannt als alle anderen in Seperanza.« »Das gibt’s doch nicht«, flüsterte Saranya, ließ die Klinke los und setzte sich wieder an den Küchentisch. »Dann wisst Ihr also auch, was er gemacht und weshalb man ihn aus der Stadt verwiesen hat? Und warum seine Frau ebenfalls verbannt wurde?« »Gemach, Saranya, gemach.« Mutter Gris hob eine Hand, wie um die Flut der aus Saranyas Mund sprudelnden Worte zu dämmen. »Immer schön langsam und der Reihe nach. Du brauchst nichts zu überstürzen – ich werde dir alles erzählen, was ich über den Magister weiß.« Die Alte kniff die wässrigen Augen zusammen und starrte für einen Moment wie abwesend vor sich hin. In der Küche war nun kaum ein Laut mehr zu hören, nur das Knistern der Holzscheite im Schürloch und ab und an das Brummen einer Fliege. Saranya räusperte sich ungeduldig. »Mutter Gris?« Die Alte blickte sie mit mildem Lächeln an. »Nur keine Bange, es geht sofort los.« Mutter Gris wollte eben zu sprechen anheben, als auf einmal ein bedrohliches Knurren erklang. Überrascht drehte sich Saranya um – und erblickte Reißzahn, den Wadenbeißer, der sich ihr auf leisen Pfoten genähert hatte. Obwohl kaum größer als Kater, waren Wadenbeißer überaus gefürchtet in Phantásien. Auf ihrem katzenartigen Körper saß ein großer Echsenkopf, der von spitzen Hundeohren gekrönt war. Das Maul zierten zwei lange Reihen messerspitzer Zähne, die sie all jenen in die Waden zu schlagen pflegten, die sich ihren Besitzern in unredlicher Absicht näherten. Da die Kiefer der Wadenbeißer ungemein kräftig waren, hatte ihr Biss für die Betroffenen äußerst unangenehme Folgen. Weshalb die meis189
ten auch einen großen Bogen um diese Tiere machten. Gelegentlich war es nämlich vorgekommen, dass die Beißer sich geirrt und jemanden angefallen hatten, der gar nichts Böses im Schilde führte. Reißzahn dagegen war für solche Irrtümer nicht bekannt. Außerdem mochte er Saranya. Vor einiger Zeit, als Mutter Gris schwer erkrankt war, hatte Saranya ihn in ihre Obhut genommen. Seitdem war eine innige Freundschaft zwischen den beiden entstanden. Der Wadenbeißer sprang also mit einem Satz auf Saranyas Schoß, die ihm sanft das struppige Fell zu kraulen begann. Mutter Gris lächelte. »Wie es der Zufall so will – weißt du, wer Reißzahns erstes Herrchen war?« »Keine Ahnung.« »Niemand anderer als der Magister Phantastus, wie er meist einfach genannt wurde.« »Was?« Ungläubig blickte Saranya zuerst auf den Wadenbeißer und dann auf die Alte. »Aber wie seid Ihr ...« »Immer mit der Ruhe«, unterbrach Mutter Gris. »Ich habe dir doch versprochen, dass ich alles erzählen werde.« Damit hob sie an: Zu der Zeit, als sie in den Diensten von Philonius Philippo Phantastus gestanden hatte, zählte dieser zu den angesehensten Gelehrten von Seperanza, ja vielleicht sogar von ganz Phantásien. Aus allen Regionen des Reichs waren die Studenten herbeigeströmt, um ihn zu hören. Seine Vorlesungen über die Historie der Wahrnehmungen waren stets überfüllt, und obwohl seine Thesen zur Allgemeinen Spekulationstheorie bei seinen Kollegen als abwegig galten, erfreute er sich auch auf diesem Gebiet regen studentischen Zuspruchs. Sein Spezialgebiet jedoch war die Insomnierologie, die Lehre von Wesen und Ursprung der Insomnier. An dieser Stelle unterbrach sich Mutter Gris und sah Sara190
nya, die ihr mit fiebrigen Augen zuhörte, eindringlich an. »Bedenke bitte, dass ich nur eine einfache Frau bin«, mahnte sie, »und mir diese schwierigen Fachbegriffe nicht so recht vertraut sind. Möglicherweise spreche ich sie nicht richtig aus oder bringe sie durcheinander. Ich habe weder die Akademie besucht noch den Vorlesungen des Magisters beigewohnt und kann dir nur berichten, was ich vom Hörensagen weiß. Außerdem ist das alles schon eine Weile her.« Ein wehmütiges Lächeln ging über das faltige Gesicht. »Und in meinem Alter ist es durchaus möglich, dass einem das Gedächtnis den einen oder anderen Streich spielt.« Saranya erwiderte ihr Lächeln. »So schlimm wird es schon nicht sein. Erzählt nur weiter, bitte, Mutter Gris.« Magister Phantastus also, so fuhr die Alte fort, habe sich insbesondere mit dem geheimnisvollen Ruf und seinem Ursprung auseinander gesetzt. Nach langer Forschungsarbeit habe er seine Erkenntnisse schließlich in einer Schrift zusammengefasst und den Kollegen zugänglich gemacht. »Ihr wisst nicht zufällig, welchen Titel sie trug? Damit ich im Archiv nach ihr suchen kann?« »Tut mir Leid, mein Kind.« Mutter Gris machte ein betrübtes Gesicht. »Aber das weiß ich wirklich nicht mehr.« »Nicht weiter schlimm«, sagte das Mädchen sanft. »Ich werde es schon rauskriegen. Aber was stand denn drin in dieser Schrift?« »Auch das ist mir nicht bekannt.« Saranya lächelte verständnisvoll. »Dann habt Ihr also auch das vergessen?« »Nein.« Die Alte schüttelte den Kopf. »Vergessen habe ich es nicht. Wir gewöhnlichen Bürger Seperanzas haben nur nichts darüber erfahren!« »Was?« Saranya glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. 191
»Wollt Ihr damit sagen, die Erkenntnisse des Magisters wurden geheim gehalten?« »Ich weiß es nicht.« Die Antwort verwunderte Saranya. »Wie – Ihr wisst das nicht?« »Ich weiß nicht, ob sie absichtlich geheim gehalten wurden«, antwortete Mutter Gris achselzuckend. »Ich weiß nur, dass man uns nicht darüber aufgeklärt hat.« »Aber Ihr habt ihm doch den Haushalt geführt. Habt Ihr ihn nie danach gefragt?« »Nein.« Mit offensichtlichem Bedauern hob die Alte die Hände. »Ich habe ihn doch kaum zu Gesicht bekommen. Die meiste Zeit des Tages hat er an der Akademie verbracht, und wenn er endlich nach Hause gekommen ist, hat er sich gleich in sein Studierzimmer verkrochen.« »Aber seine Frau – mit der müsst Ihr Euch doch unterhalten haben.« Ein Lächeln erschien in dem faltigen Gesicht. »Das schon. Nur hat Aina, so war ihr Name, es bei einigen vagen Andeutungen bewenden lassen. Der Magister hatte schon Sorgen genug, und sie wollte ihm durch unbedachte Äußerungen das Leben nicht unnötig schwerer machen.« »Aber irgendetwas wird sie doch gesagt haben?« Mutter Gris schüttelte den Kopf. »Nur dass seine Thesen für großes Aufsehen gesorgt hätten bei seinen Kollegen an der Akademie und einen ebenso großen Disput ausgelöst hätten. Weil seine angeblichen Erkenntnisse nicht nur das gesamte Weltbild Phantásiens auf den Kopf stellten, sondern auch überaus gefährlich seien und für Verwirrung und Unruhe sorgen würden bei der Stadtbevölkerung. Das war alles. Jedenfalls wurde die Verbreitung seiner Schrift kurzerhand verboten.« 192
»Das muss ein harter Schlag für den Magister gewesen sein?« »Mit Sicherheit.« Die Alte nickte. »Trotzdem ließ er sich davon nicht beirren. Im Gegenteil: Magister Phantastus hat seine Bemühungen nur noch verstärkt und seine Forschungen mit Nachdruck vorangetrieben, so dass er nicht lange darauf eine weitere Schrift veröffentlichen konnte, die seine Thesen angeblich untermauerte.« Auch dieses Buch, so fuhr Mutter Gris fort, wurde umgehend indiziert. Als Magister Phantastus sich auch davon nicht abschrecken ließ und unverdrossen eine weitere Schrift veröffentlichte, war das Maß anscheinend voll. Der Rat der Hohen wurde einberufen, um zu beraten, wie mit dem unbotmäßigen Gelehrten zu verfahren sei. Das Urteil, das der Hohe Herr dann verkündete, war äußerst hart: Philonius Philippo Phantastus verlor seine Stellung an der Akademie, außerdem wurde ihm ein striktes Lehrverbot erteilt. »Was?« Saranya stöhnte auf. »Warum hat mein Vater denn ...« »Er hatte keine andere Wahl, fürchte ich«, versuchte die Alte sie zu beschwichtigen. »Besonders die Mürrischen Drei, Xandus, Yandus und Zankus, zählten zu den erbitterten Gegnern des Magisters und setzten sich vehement für seine Bestrafung ein. Und da sie die anderen Hohen auf ihre Seite bringen konnten, wurde Herr Asmus einfach überstimmt.« »Wie konnten sie nur so grausam sein!« Mit betrübter Miene schüttelte das Mädchen den Kopf. »Wahrscheinlich hat er deshalb gestern so merkwürdig reagiert, als ich den Namen des Magisters erwähnt habe.« »Vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, sagte Mutter Gris mit einem Blick, den Saranya nicht deuten konnte. »Was wollt Ihr damit sagen?« 193
»Nichts weiter.« Die Miene der Alten war immer noch undurchdringlich. »Nur, dass es für die Reaktion deines Vaters noch andere Gründe geben könnte. Schließlich hat er dazu beigetragen, dass es noch viel schlimmer kam für den Magister. Über Philonius Philippo Phantastus und seine Familie wurde der Bann gesprochen, so dass er mitsamt seiner Ehefrau die Stadt verlassen musste. Unter Androhung der Todesstrafe wurde ihm verboten, jemals nach Seperanza zurückzukehren und seine Lehren weiter zu verbreiten.« »Wie schrecklich«, hauchte das Mädchen, und Reißzahn winselte, als hätte er ganz genau verstanden, wovon die Rede war. »Aber«, fuhr Saranya dann fort, »was war denn so schlimm an den Lehren des Magisters, dass man ihn so hart bestrafte?« »Wie ich schon sagte – davon habe ich nicht die geringste Ahnung.« Ratlosigkeit stand Mutter Gris ins faltige Gesicht geschrieben. »Was immer es auch gewesen sein mag: Es kann niemals die grausame Strafe rechtfertigen, die man über ihn verhängt hat.« »Da habt Ihr mit Sicherheit Recht!« Saranya war tief empört. »Warum hat er sich denn nicht dagegen gewehrt?« »Wie sollte er? Gegen das Urteil des Rates war kein Widerspruch möglich, und da selbst seine gelehrten Kollegen sich von ihm abgewandt hatten, stand er ohne jede Unterstützung da. Zunächst war er natürlich verbittert und haderte mit seinem Schicksal. Doch dann fand er sich überraschend schnell damit ab. ›Sie werden es noch bereuen, dass sie mich aus der Stadt jagen‹, hat er mir zugeflüstert, als wir am Stadttor Abschied voneinander nahmen. Er hat mir seinen Wadenbeißer anvertraut und ist dann, ohne sich noch einmal umzusehen, an der Seite seiner Frau mit stolz erhobenem Haupt durch das 194
Tor geschritten. Und das war das letzte Mal, dass ich die beiden gesehen habe.« Abermals starrte die Alte wie abwesend in die Ferne. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie Saranya wieder mit einem milden Lächeln anblickte. »Schade«, sagte sie. »Da dich das Schicksal des Magisters so sehr kümmert, hätte ich dir gern ein Bild von ihm gezeigt. Seine Frau hatte die Skizze angefertigt und mir zum Abschied geschenkt. Aber leider ist sie bei dem Einbruch neulich verschwunden.« Mutter Gris seufzte. »Keine Ahnung, was die Diebe damit anstellen wollen.« »Hattet Ihr auch eine Zeichnung von Aina?« »Leider nicht. Dabei war sie eine äußerst hübsche Frau mit anmutigem Gesicht und blonden Haaren. Ich glaube, du hättest sie gemocht.« »Wahrscheinlich.« Saranya lächelte versonnen. »Wisst Ihr denn, was aus den beiden geworden ist?« Die Alte schüttelte mit betrübter Miene den Kopf. »Auch das entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht ist Magister Phantastus nach Contrario, in seine Heimatstadt, zurückgekehrt. Er war nämlich gar kein Insomnier wie wir, musst du wissen. Im Gegensatz zu Aina, die er hier in Seperanza kennen gelernt hatte.« »Wie Raya und der Herr Asmus auch.« Der Gedanke an die Zieheltern zauberte ein Lächeln in Saranyas Gesicht. Auch wenn sie sich nicht richtig verhalten hatten, hatte sie ihnen doch viel zu verdanken. »Waren der Magister und seine Frau damals auch schon so lange verheiratet wie meine Zieheltern?« »Nein. Aina war damals erst seit einem Sommer in unserer Stadt. Wie so viele war auch sie vor dem Vergessen geflüchtet und hatte sich mit knapper Not hier in Sicherheit bringen können. Deshalb habe ich mir um sie auch ganz besonders 195
Sorgen gemacht: Als sie aus Seperanza verbannt wurde, hatte sie den Ruf noch nicht wieder vernommen. Also war sie in allergrößter Gefahr, als sie den schützenden Kreis der Stadtmauer verlassen musste.« Saranya schüttelte traurig den Kopf. »Umso grausamer, sie aus Seperanza zu verbannen!« »Was aber noch viel schlimmer war – Aina trug ein Kind unter dem Herzen. Es konnte damals höchstens noch zwei Monde bis zu ihrer Niederkunft dauern. Sie in einem solchen Zustand aus der Stadt zu weisen war nicht nur niederträchtig und grausam, sondern auch im höchsten Maß verwerflich und eines Phantásiers nicht würdig!«
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13 DAS IRRLICHT TRAUSDUMIR
K
ayún war der Verzweiflung nahe, denn er hatte die Orientierung nun vollständig verloren. Obwohl es mitten am Tag sein musste, herrschte Dämmerung im Vielfarbenwald. Die dichten Kronen der bunten Baumriesen, die sich wie mächtige Schirme über ihnen spannten, verwehrten den Blick zum Himmel und erweckten zudem den Eindruck, als würden sie unaufhörlich weiterwachsen. Das Sonnenlicht brach sich auf den glatten Oberseiten der verschiedenfarbigen Blätter, so dass es aussah, als wären die Wipfel mit endlosen Regenbögen geschmückt. Doch dafür hatte Kayún kaum einen Blick. Angestrengt spähte er nach einem Weg und konnte doch keinen mehr entdecken. Hatte es anfangs noch so ausgesehen, als ob sich Steige und Pfade durch den Wald zögen, so schienen Unterholz und Gesträuch zwischen den mächtigen Stämmen mit jedem Schritt dichter zu werden. Ein Weg war längst nicht mehr zu erkennen, und selbst von einem noch so schmalen Pfad fehlte jede Spur. Kayún und Elea mussten sich zwischen Büschen und Pflanzen hindurchzwängen, die sie weder mit Namen kannten noch je zuvor 197
gesehen hatten. Seit geraumer Zeit wusste Kayún nicht einmal mehr, ob sie sich nach Süden bewegten, wo Contrario lag, oder in eine andere Richtung. »Sollen wir nicht lieber anhalten?«, fragte Elea. Die Unruhe, die ihn befallen hatte, war ihr nicht verborgen geblieben. »Und was sollte uns das helfen?« Kayún fühlte sich immer hilfloser, und das ärgerte ihn selbst am meisten. »Meinst du, dadurch finden wir den richtigen Weg?« »Wahrscheinlich nicht.« Auch Elea wurde nun zornig. »Aber wenn wir weiter im Kreis herumirren, hilft uns das erst recht nichts!« Der Junge wollte eben zu einer Antwort ansetzen, als er einen schwachen Lichtschein bemerkte, der vor ihnen in Zickzacklinien durchs Gehölz huschte – eine bläulich schimmernde Kugel von der Größe eines Kinderballs, die, getrieben von einer kleinen Gestalt in ihrem Inneren, mal zu großen Sprüngen ansetzte, dann wieder sich langsam und offenbar ziellos zwischen den Stämmen bewegte. Es war ein Irrlicht, wie es Kayún auf seinen Streifzügen durch Phantásien schon häufig begegnet war. Der Anblick der Geschwister erregte wohl die Neugierde des leuchtenden Wesens, so dass es gegen seine Gewohnheit auf geradem Weg auf sie zusauste und sie beäugte. »Hehe«, kicherte es. »Man hat sich verlaufen, wenn ich mich nicht irre, was?« »Was du nicht sagst!« Kayún verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. »Du scheinst ja ein kluges Kerlchen zu sein.« Die Gestalt in der Kugel, die weder Männlein noch Weiblein war, verzog unwirsch das Gesicht. »Weiß gar nicht, weshalb man auf eine höfliche Frage eine patzige Antwort geben 198
muss. Zumal man es nicht einmal für nötig hält, sich vorzustellen.« »Verzeih«, meldete Elea sich zu Wort und nannte dem Irrlicht rasch ihre Namen. »Mein Bruder hat es nicht so gemeint.« »Aber gesagt hat man es!« Das Irrlicht klang immer noch beleidigt. »Mein Name ist Trausdumir. Kann mich aber auch verziehen, wenn man meine Gesellschaft nicht wünscht.« »Aber nicht doch, Trausdumir!«, antwortete Kayún schnell. »Es tut mir Leid, wenn ich dich gekränkt haben sollte. Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten, das musst du mir glauben.« Die Gestalt in der Kugel verschränkte die Arme vor der Brust und musterte die Geschwister mürrisch. »Na, gut, dann will ich mal nicht so sein. Man hat wohl Kummer, was?« »Was du nicht... »Kayún besann sich eben noch rechtzeitig und nickte. »Großen Kummer sogar. Wir kennen uns hier im Wald nicht aus und wissen nicht mehr ein noch aus.« »Was man wohl am allerwenigsten gebrauchen kann, wenn man sich auf dem Weg nach Seperanza befindet, was?« Erstaunt blickten die Geschwister das Irrlicht an. »Woher weißt du, wohin wir wollen?«, fragte Elea. »Kann man uns das schon ansehen?« Der Winzling schüttelte den Kopf. »Keine Angst. Man ist noch nicht vom Vergessen gezeichnet. Aber mir sind unterwegs schon viele euresgleichen begegnet, und so weiß ich, was in unserer Welt vorgeht.« Kayún zog die Brauen hoch. »Du scheinst ja viel herumzukommen in Phantásien?« »Kann man wohl sagen«, antwortete Trausdumir. »Kenne fast jeden Winkel und jede Ecke von Mondenkinds Reich.« 199
Elea lächelte das Irrlicht hoffnungsvoll an. »Dann kannst du uns ja vielleicht helfen?« »Kommt ganz darauf an, worum es geht, was?« »Das ist wohl nicht allzu schwer zu erraten, oder?« Kayún hatte Mühe, seinen Ärger zu unterdrücken. »Ich hab doch bereits gesagt, dass wir nicht wissen, wo wir uns befinden, und die Orientierung verloren haben.« »Wenn man weiter nichts von mir will?« Das runzelige Gesicht in der Kugel grinste. »Das hier ist Silvárkus, der Regenbogendschungel ...« »Silvärkus?«, fragte Kayún staunend dazwischen. »Davon hab ich ja noch nie gehört!« »Wundert mich nicht. Er wurde von diesem Menschenkind erfunden, das uns vor dem Nichts gerettet hat, und seitdem hat es ihn schon immer gegeben.« »Wie den Schreckwald jenseits des Gebirges?«, wunderte sich Elea. Das Irrlicht nickte eifrig. »Man vermutet richtig. Aber das ist noch lange nicht alles. Das Menschenkind hat noch dies und jenes mehr geschaffen. Überall, wo dieser Bastian Balthasar Bux hinkommt, stellt er unsere Welt auf den Kopf. Erfindet alles neu nach seinem Belieben. Denkt dabei gar nicht an die Folgen. Wird uns noch manchen Kummer bereiten, wenn ich mich nicht irre, was?« Die Geschwister wechselten einen sorgenvollen Blick, bevor sie sich wieder dem Irrlicht zuwandten. »Hat er auch das Große Schlafmeer verändert«, fragte Kayún angespannt. »Oder gar Seperanza?« »Nicht dass ich wüsste.« Trausdumir machte ein nachdenkliches Gesicht. »Scheint endlich Vernunft angenommen zu haben, der Kerl. Hat sich von Xayíde, der Dunklen Prinzessin, losgesagt, und versucht nun in seine Welt zurückzukehren. 200
Muss dazu allerdings das Bergwerk der Bilder finden, sonst wird es ihm nie gelingen. Einen anderen Weg gibt es nämlich nicht für ihn, wenn ich mich nicht irre – was einem Irrlicht ja nur selten passiert.« »Hoffentlich hast du Recht. Er hat nämlich schon genügend Unheil angerichtet in unserer Welt.« Grimmig blickte Kayún das Irrlicht an, als trage es die Schuld am Verhalten des Menschenkindes. »Was ist nun, Trausdumir – kennst du den Weg, der uns aus diesem Wald und zum Großen Schlafmeer führt?« »Kenne ich, natürlich!« Fast unterwürfig blickte das Gesicht in der Kugel die Geschwister an. »Ich schwebe gern vorneweg, damit man mir folgen kann.« Und dann fügte es mit einem hintergründigen Grinsen hinzu: »Falls man sich einem Irrlicht anvertrauen möchte, was?« Kayún und Elea wechselten einen raschen Blick. Natürlich wussten sie, dass Irrlichter all jene, die ihnen folgten, in die Irre zu führen pflegten. Worauf ja schon ihr Name hinwies. Allerdings blieb ihnen keine andere Wahl, als Trausdumir zu vertrauen. Allein würden sie nie aus diesem Regenbogendschungel hinausfinden, und ob sie sich nun von selbst verirrten oder von einem Irrlicht in die Irre geführt wurden, lief am Ende aufs Gleiche hinaus. Vielleicht hatten sie ja auch Glück und ihr Schicksal rührte das Irrlicht, so dass es sie ausnahmsweise auf den richtigen Weg brachte? »Wie steht’s?«, unterbrach die schimmernde Kugel ihre Überlegungen. »Hat man sich entschieden oder nicht?« »Ja, klar«, antwortete Kayún schnell. »Wir folgen dir.« »Wie man will!« Wieder huschte ein ungutes Grinsen über das runzelige Gesichtchen von Trausdumir. »Dann also los!« Damit schwebte das Irrlicht davon. Kayún und Elea folgten 201
ihm ergeben – dabei hätten sie doch wissen müssen, dass man einem Irrlicht nicht trauen darf. Niemals und unter keinen Umständen!
\ »Ja! Ja!« Bubu sprang von seinem Platz auf und warf erregt die Arme in die Luft. »Torrok! Torrok! Torrok!«, schrie er so laut, dass seine Stimme die tobende Menge übertönte. Saranya zupfte ihn zaghaft am Ärmel. »Bubu«, hob sie an, als der Eulenkopf ihr unwirsch ins Wort fiel: »Jetzt nicht! Gedulde dich bis nach dem Rennen!« Saranya schüttelte verstimmt den Kopf. Der alte Eulenkopf war nicht wiederzuerkennen. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass der oberste Magistratsdiener dermaßen aus dem Häuschen geraten könnte. Wie wild lärmte er auf der Tribüne der Arena herum und hüpfte auf und ab wie ein Springteufel, während er die Stuhlreiter auf der Rennbahn anfeuerte. Und nicht mal im Traum hätte sie geglaubt, dass er sich für Stuhlrennen begeistern würde! Bubu doch nicht! Es war daher nicht gerade einfach gewesen, ihn aufzuspüren. Der Magistratsdiener hatte an diesem Tag dienstfrei. Da Saranya ihn recht gut kannte, war sie sogleich zu seiner Wohnung in der Flattergasse geeilt, hatte ihn dort allerdings nicht angetroffen. Die Winzlingsfrau jedoch, die ihm den Haushalt führte, hatte ihr geraten, ihr Glück in der Arena zu versuchen, wo die wöchentlichen Stuhlrennen ausgetragen wurden. Diese waren seit geraumer Zeit Bubus große Leidenschaft, hatte sie noch hinzugefügt, und er kenne kein größeres Vergnügen, als auf den Ausgang der Rennen zu wetten. Der Hinweis hatte sich als goldrichtig erwiesen, und so stand Saranya nun inmitten der tobenden Tribünengäste und wun202
derte sich über den alten Eulenkopf, der mit fiebrigen Augen auf die ovale Sandbahn starrte, wo zehn Wettkämpfer auf ihren Rennstühlen um den Sieg stritten. Stuhlrennen waren in vielen Regionen Phantásiens beliebt. Wenn es allerdings eine Stadt gab, die sich als Kapitale der Stuhlreiter bezeichnen durfte, dann war das Seperanza. Schließlich waren die Rennen hier vor langer Zeit erfunden worden. Einige Gelehrte vertraten die Ansicht, dass man sich bereits in den Gründerjahren der Stadt, während der Regentschaft von Morpheus dem Schläfrigen also, die Mußestunden auf diese Weise vertrieben habe. Hieb- und stichfeste Beweise für diese Hypothese hatten sich allerdings nicht finden lassen, und so gingen die seriöseren Mitglieder der Historischen Fakultät der Akademie davon aus, dass die Anfänge dieses Sports aus der Zeit datieren, als Chimär der Einbeinige das Amt des Hohen Herrn innehatte. Zumindest deuteten zahlreiche im Stadtarchiv verwahrte Dokumente darauf hin, die immerhin neun der neunundneunzig Säle füllten. Wie sein Beiname schon sagte, verfügte der Hohe Herr Chimär nur über ein Bein. Das andere hatte er beim Absturz eines von ihm konstruierten Einmannschwebesessels verloren. So bedauerlich dieses Missgeschick auch gewesen sein mochte, brachte es ihn immerhin auf den Gedanken, einen Stuhl zu erfinden, der ihm das beschwerliche Laufen abnahm. Nach vielen zunächst erfolglosen Versuchen gelang es ihm auch, ein leidlich funktionierendes Exemplar anzufertigen. Dieser erste Laufstuhl kam zwar nur äußerst langsam voran, und seine Bewegungen waren alles andere als elegant. Aber er erfüllte den ihm zugedachten Zweck zur vollen Zufriedenheit seines Erfinders. Dass sich aus dieser eher plumpen Konstruktion dereinst ungemein schnittige und fast pfeilschnelle Rennstühle entwickeln sollten, hätte sich allerdings wohl 203
selbst Chimär der Einbeinige nicht in seinen kühnsten Träumen vorzustellen gewagt. Die Wettkämpfe – und natürlich auch die Stuhlreiter, wie die Wettkämpfer genannt werden – erfreuten sich in Seperanza und anderen phantásischen Ländern nahezu fanatischer Begeisterung. Und dies nicht nur bei den jungen, sondern auch bei älteren Phantásiern wie Bubu. »Schneller, Torrok, schneller!«, schrie der alte Eulenkopf wie von Sinnen und starrte mit fiebrigen Augen auf den Stuhlreiter im roten Renngewand, dessen Brust ein schwarzer Windläufer zierte. Saranya wusste, dass dieser Torrok der viel umjubelte Liebling der Massen war. Seit er vier Sommer in Folge ungefährdet die Stadtmeisterschaft von Seperanza errungen hatte, haftete ihm der Ruf der Unbesiegbarkeit an. Torrok also bog gerade an der Spitze der Wettkämpfer in die Zielgerade ein. Sein Vorsprung allerdings betrug höchstens zwei, drei Stuhllängen. »Torrok! Torrok! Torrok!«, feuerten ihn diejenigen an, die auf seinen Sieg gewettet hatten. Bubu gehörte offensichtlich auch dazu, denn seine Stimme überschlug sich fast und übertönte die der anderen mit Leichtigkeit. Als hätte er seine Anhänger gehört, setzte Torrok zum Endspurt an. Er gab seinem blutroten Rennstuhl die Peitsche – und der beschleunigte, baute seinen Vorsprung aus und setzte sich mit einigen Stuhllängen vom Feld ab. Das Ziel rückte immer näher. »Ja! Ja! Ja!«, schrie der alte Eulenkopf und warf die gefiederten Arme voller Siegesgewissheit in die Luft. Schon sah es so aus, als wäre seinem Favoriten der Triumph nicht mehr streitig zu machen, als Torrok ein böses Missgeschick ereilte: Sein Rennstuhl begann plötzlich zu hinken – worauf in der Menge der Zuschauer Laute des Entsetzens erklangen. Als Saranya genauer hinsah, erkannte sie, 204
dass das linke hintere Stuhlbein lahmte. Offensichtlich hatte er es sich vertreten oder auf andere Weise verletzt. Jedenfalls verlor der rote Raser rasch an Geschwindigkeit, das übrige Feld fegte an ihm vorbei, und der sicher geglaubte Sieger humpelte, sehr zur Enttäuschung seiner Anhänger, als Letzter ins Ziel. »Bei allen Schleimschleichern und Warzenspeiern!«, schimpfte Bubu, während er seinen Wettschein zerknüllte, auf den Boden warf und mit den Füßen darauf herumtrampelte. »Beim Pfefferfresser noch mal!« Saranya musste grinsen. Wie man sich doch täuschen konnte! Dass der stets auf gutes Benehmen bedachte Eulenkopf sich in einen Berserker verwandeln könnte, hätte sie niemals für möglich gehalten – und doch hatte sie es mit eigenen Augen gesehen. »Ich fasse es einfach nicht, wie man so viel Pech haben kann«, seufzte Bubu noch geraume Zeit später, als Saranya und er an einem Erfrischungsstand einen Kraftkräutersaft schlürften. »Das habe ich einfach nicht verdient, wirklich nicht.« Damit leerte der alte Eulenkopf seinen Becher und blickte das Mädchen fragend an. »Noch einen?« Saranya winkte ab. »Nein, danke. Vielen Dank.« »Dann erzähl mir endlich, was dich zu mir treibt. Es muss doch einen Grund geben, dass du mich in der Arena aufsuchst, oder?« Sie lächelte ihn freundlich an. »Ja, klar.« »Und der wäre?« »Nun, Bubu«, entgegnete Saranya zögernd und bemühte sich um einen möglichst beiläufigen Ton. »Dir ist doch sicherlich bekannt, mit welchem Schlüssel die Wachtür zum Saal der Weisheit geöffnet werden kann?« »Stimmt. Als persönlichem Sekretär des Hohen Herrn ist 205
mir das in der Tat bekannt.« Bubu kniff die runden Eulenaugen zusammen. »Du willst doch nicht etwa andeuten, dass du dir Zugang zu diesem Saal verschaffen willst?« Saranya schüttelte den Kopf. »Von Wollen kann gar keine Rede sein.« »Ein Glück«, atmete der Eulenkopf auf. »Ich muss da rein, unter allen Umständen!« Bubu schien wie vom Schlag getroffen. »Aber das kann nicht dein Ernst sein! Du weißt doch, dass nur Auserwählte Zugang erhalten?« »Natürlich weiß ich das – und trotzdem muss ich unbedingt in den Saal!« »Und warum, wenn ich fragen darf?« »Weil ...« »Ich höre?«, drängte Bubu mit grimmiger Miene. »Weil ich unbedingt rausfinden muss, weshalb man Magister Phantastus aus der Stadt verbannt hat, damals.« »Wieso das denn?« Sichtlich verwirrt sträubte der Eulenkopf die Federn. »Was geht dich denn der Magister an?« »Das ist nicht so einfach zu erklären.« Gequält sah Saranya ihn an. »Außerdem ist es nicht mehr als eine vage Vermutung. Aber seit meinem Besuch bei Mutter Gris habe ich das Gefühl, dass es einen Zusammenhang zwischen der Verbannung des Magisters und meiner Herkunft gibt.« »Tatsächlich?« Bubus Kopffedern stellten sich auf. »Und was für ein Zusammenhang sollte das sein?« »Das weiß ich doch nicht – aber deshalb muss ich ja in den Saal der Weisheit. Dort sind doch alle Erkenntnisse dokumentiert, die unsere Gelehrten über den Ruf gewinnen konnten, und deshalb müssten dort auch die Schriften des Magisters zu finden sein. Der Ruf war sein Spezialgebiet, wenn Mutter Gris sich richtig erinnert.« 206
Bubu kratzte sich am Kopf. »Und warum bittest du nicht einfach deinen Vater um Erlaubnis?« »Das ist doch nicht dein Ernst!« Entrüstet sah sie ihn an. »Das würde er niemals mitmachen.« »Aber von mir erwartest du, dass ich dir verrate, wie man in den Saal kommt, was?« »Irrtum, Bubu.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Du sollst mir nur sagen, welchen Schlüssel man für die Wachtür benötigt, weiter nichts.« »Was am Ende wohl aufs Gleiche hinauslaufen dürfte.« Unschlüssig wand sich der Eulenkopf hin und her. »Ist dir klar, wie der Hohe Herr toben wird, wenn er dahinter kommt?« »Muss er ja nicht! Was der Herr Asmus nicht weiß ...« Sie machte große Augen und warf dem Amtsdiener einen flehenden Blick zu. »Bitte, Bubu! Ich dachte, wir wären Freunde?« »Nein, nein und nochmals nein!«, entgegnete der Eulenkopf unter energischem Kopfschütteln. »Nichts zu machen – wirklich nicht!« Saranya zog eine Schnute. »Schade«, sagte sie, um dann betont beiläufig hinzuzufügen: »Dabei hätte ich so ein schönes Rätsel für dich gehabt.« Schlagartig machte Bubus abweisende Miene einem Ausdruck gespannter Neugierde Platz. »Ein Rätsel? Welches denn?« Saranya tat, als würde sie kurz nachdenken, und winkte dann ab. »Ach – wenn ich’s mir recht überlege, ist es doch nichts für dich. Es ist viel zu leicht. Wahrscheinlich würde selbst ein Kleinkind es lösen können.« Die Federn auf Bubus Kopf sträubten sich. »Woher willst du das wissen, wenn du es mir nicht stellst?« Saranya schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Es wäre nur eine 207
Beleidigung deiner Intelligenz, und du würdest zu Recht mit mir schimpfen, wenn ich dich mit solchem Kinderkram belästigte.« »Jetzt sag schon!« Der Eulenkopf wippte mit den Füßen. »Bitte, Saranya!« »Also gut«, antwortete sie scheinbar widerwillig, wobei sie sich ein Grinsen verkneifen musste. »Aber nur, wenn du wirklich willst...« »Jetzt mach schon!« »... und unter einer Bedingung!« »Ist ja gut!« Voller Ungeduld sah der alte Eulenkopf sie an. »Spann mich nicht länger auf die Folter und komm endlich zur Sache.« »Wenn du das Rätsel nicht löst, musst du mir verraten, mit welchem Schlüssel die Wachtür zum Saal der Weisheit geöffnet werden kann.« Bubu zog eine derart grimmige Miene, dass sich sein Gefieder neuerlich sträubte. »Dann ist das Rätsel also doch nicht so einfach, wie du behauptest?«, fragte er, das Mädchen durchdringend musternd. Saranya tat ganz unschuldig. »Vielleicht – vielleicht aber auch nicht. Ich jedenfalls hab’s ganz schnell rausbekommen.« »Oh, oh, oh.« Bubu stöhnte und trat von einem Fuß auf den anderen. Er schien sich immer noch nicht schlüssig zu sein, was er machen sollte. »So kenn ich dich gar nicht.« Scheinbar mitleidig sah sie den Eulenkopf an. »Hast du kein Vertrauen mehr in deine Intelligenz? Dabei hast du absolut nichts zu befürchten. Du löst das Rätsel sowieso ...» »Das sagst du!« »... und selbst wenn du mir verraten müsstest, mit welchem Schlüssel die Tür zu öffnen ist – was sollte mir das nützen? 208
Um in den Saal zu kommen, müsste ich ja erst einen solchen Schlüssel haben – was aber nicht der Fall ist, wie du weißt!« »Natürlich weiß ich das.« Bubu blickte sie nachdenklich an. »Aber wie ich dich kenne, wirst du dich davon nicht abhalten lassen.« Plötzlich winkte er ab. »Ich werde das Rätsel schon knacken. Und falls nicht: Ich bin auch der Ansicht, dass du endlich erfahren solltest, wer deine Eltern sind.« Herausfordernd blickte er das Mädchen an. »Also schieß los!« Saranya lächelte verschwörerisch und beugte sich näher zu dem alten Eulenkopf hin. »Pass auf«, flüsterte sie, damit keiner der umstehenden Arenabesucher das Rätsel mitbekam und Bubu vielleicht einen Tipp geben konnte. »Zwei Stuhlreiter, die schon viele Male gegeneinander angetreten waren, wurden es eines Tages müde, immer nur um den Sieg zu reiten. Deshalb schlug der eine dem anderen vor, dass bei ihrem nächsten Zweikampf derjenige der Sieger sein sollte, der als Zweiter ins Ziel komme. Der andere stimmte zu, doch als der Tag des Rennens kam, war die Ernüchterung groß: Nach dem Startsignal verharrten beide Wettkämpfer an ihrem Startplatz. Keiner ließ seinen Rennstuhl auch nur einen Schritt machen, um bloß nicht als Erster durchs Ziel zu gehen und damit zu verlieren. Zu ihrem Glück kam kurz darauf ein weiser Mann des Weges. Ein Eulenkopf, wie ich vermute.« Saranya grinste Bubu breit an. Doch der schien das gar nicht zu bemerken, sondern hing voller Spannung an ihren Lippen. »Die Reiter klagten ihm ihr Problem«, fuhr das Mädchen fort, »und baten ihn um Rat. Der weise Mann überlegte einen Augenblick, dann ließ er die beiden zu sich treten und flüsterte ihnen die Lösung ihres Problems ins Ohr. Mit dem nächsten Startsignal gaben die beiden Reiter ihren Rennstühlen die Sporen und jagten davon, als seien sämtliche Dämonen der 209
Unterwelt hinter ihn her. Und meine Frage lautet: Was hat der weise Mann den beiden wohl zugeflüstert?« »Oh, oh!«, stöhnte der alte Eulenkopf, zog ein ratloses Gesicht und kratzte sich hinter den Federohren. Dann stützte er sein Kinn auf die Hand und starrte vor sich hin. »Lass dir ruhig Zeit.« Ein siegesgewisses Lächeln spielte um Saranyas Mund. »Du musst nur gut überlegen, dann kriegst du das schon raus – ganz bestimmt.« Bubu wiegte den Kopf hin und her. Schließlich hob er resigniert die Hände. »Tut mir Leid, aber ich komm einfach nicht drauf. Ich gebe mich geschlagen.« Saranya grinste. »Wie du willst«, sagte sie, beugte sich vor und flüsterte dem Eulenkopf einige Worte ins Ohr. Seine Augen wurden noch größer. Dann schüttelte er verstimmt den Kopf. »So schwer war das ja auch wieder nicht«, brummte er. »Hätte ich auch von allein draufkommen können.« »Stimmt«, bestätigte Saranya lächelnd. »Bist du aber nicht. Und deshalb musst du mir jetzt verraten, mit welchem Schlüssel die Wachtür zu öffnen ist.« Bubu blickte sich vorsichtig um, beugte sich ganz dicht an Saranyas Ohr und flüsterte ihr zu: »Mit dem Siegel der Weisheit. Es befindet sich an einem Ring, den jeder Auserwählte trägt. Einmal zum Zeichen seiner Zugehörigkeit zum Kreis der Weisen natürlich, und zum anderen, um die Tür damit zu öffnen.« »Und wie?« »Tut mir Leid!« Bubu schüttelte heftig den Kopf. »Das war nicht abgemacht – wirklich nicht!« »Schon gut.« Beschwichtigend legte Saranya eine Hand auf die Schulter des Magistratsdieners. »War ja nur eine Frage.« Damit verabschiedete sie sich. Während Bubu zum Wert210
Schalter schritt, um eine Wette auf das nächste Rennen zu platzieren, drängte sich Saranya durch die lärmenden Arenabesucher zum Ausgang und machte sich auf den Heimweg. Sie fühlte sich leicht und beschwingt, denn ihr war plötzlich eingefallen, wie sie an einen Schlüssel zum Saal der Weisheit gelangen konnte.
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14 DAS GEFLÜGELTE UNGEHEUER
D
icht hintereinander folgten Kayún und Elea dem schmalen Pfad, auf dem ihnen die schimmernde Kugel vorausschwebte. Die Nacht war hereingebrochen, und immer noch führte Trausdumir sie durch das Labyrinth des Regenbogendschungels. Obwohl er ihnen versichert hatte, dass er den Weg genau kannte, war ein Ende des Baum- und Pflanzendickichts noch immer nicht in Sicht. Dabei hatte das Irrlicht ein zügiges Tempo angeschlagen, so dass die Geschwister sich sputen mussten, um es nicht aus den Augen zu verlieren. Mit einem Mal blieb Elea stehen und drehte sich mit hängenden Schultern zu ihrem Bruder um. »Ich versteh das nicht«, keuchte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Dieser Wald kann doch unmöglich so groß sein!« »Warum denn nicht?« Obwohl auch Kayún der Erschöpfung nahe war, versuchte er zuversichtlich zu klingen. »Du hast doch selbst gesehen, dass er sich bis zum Horizont erstreckt. Es dauert also seine Zeit, bis man auf der anderen Seite ist.« 213
»Aber doch nicht bis in die Nacht!« Sie schien der Verzweiflung nahe. »Außerdem kann ich nicht mehr weiter, wirklich nicht!« Kayún zuckte nur bedauernd mit den Schultern, und so blieb Elea nichts anderes übrig, als sich wieder umzudrehen und Anschluss an das vorausschwebende Irrlicht zu suchen. Endlich schien sich der Wald zu lichten. Im Schein des Mondes schimmerten erste Anzeichen freien Landes durch die Bäume, die nun nicht mehr ganz so dicht beisammenstanden. »Na also«, sprach Kayún seine Schwester mit müdem Lächeln an. »Sieht ganz so aus, als hätten wir es doch noch geschafft.« Elea seufzte erleichtert. »Wurde auch höchste Zeit.« Sie keuchte. »Ein paar Schritte noch, und ich wäre zusammengebrochen.« »Armes Mädchen!« Kayún grinste sie breit an und versetzte ihr einen aufmunternden Klaps auf den Rücken. »Aber du kannst ja bald schlafen. Am Waldrand schlagen wir ein Lager auf, und wenn wir gegessen haben, legen wir uns zur Ruhe. Morgen kannst du dann so lange schlafen, wie du willst.« Damit ging er weiter. Schon nach ein paar Schritten jedoch blieb er wie angewurzelt stehen und sah mit versteinerter Miene um sich: Das Gebirge, das sich im sanften Licht des Mondes vor ihnen erhob, war unverkennbar – das EisigerWind-Gebirge! Das Irrlicht hatte sie tatsächlich in die Irre geführt! »Trausdumir!«, schrie Kayún, und seine Stimme überschlug sich vor Wut und Entsetzen. »Was hast du getan, Trausdumir?« Die leuchtende Kugel suchte nicht etwa das Weite, sondern schwebte rasch auf die Geschwister zu. »Was hat man von mir erwartet?«, fragte das Wesen in ihrem Innern. 214
»Was ich von dir erwartet habe?«, fragte er verblüfft. »Dass du uns den rechten Weg weist – was sonst?« Trausdumir grinste. »Aber ich bin nun mal ein Irrlicht, wenn ich mich nicht irre, was? Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht!« »A... aber«, meldete Elea sich stammelnd zu Wort. »Du ... hast doch versprochen, uns den richtigen Weg zu zeigen.« »Man irrt sich.« Das Gesicht des schimmernden Wesen zeigte erneut dieses ungute Grinsen. »Ich habe lediglich erwähnt, dass ich den richtigen Weg kenne. Vom Zeigen war nicht die Rede, jedenfalls meinerseits nicht, was?« »Das sind doch Haarspaltereien!« Kayún spürte, wie sein Gesicht heiß wurde vor Zorn. »Ist dir klar, was du getan hast? Wir haben kostbare Zeit verloren. Zeit, die uns das Leben kosten kann – und alles nur deinetwegen!« »Aber mich trifft keine Schuld. Jeder von uns muss seiner Bestimmung folgen – und meine besteht nun einmal darin, andere in die Irre zu führen.« In ohnmächtiger Verzweiflung schüttelte Elea den Kopf. »Trotzdem – wie konntest du das nur tun?« »Es gibt viele Wesen in Mondenkinds Reich, und jedes hat seine Berechtigung. Die Kindliche Kaiserin lässt alle gewähren und macht keinen Unterschied zwischen Bösen und Guten, zwischen Schönem und Hässlichem. Jedes Geschöpf ist ihr gleich wichtig – und so hat man auch nicht den geringsten Anlass, auf mich herabzusehen!« Kayún wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, als er plötzlich einen unheimlichen Druck auf der Brust spürte. Ihm war, als würde eine unsichtbare Hand nach seinem Herzen greifen. Ein erstickter Entsetzenslaut entrang sich seiner Kehle. Er fuhr herum – und da entdeckte er die fünf schwarzen 215
Schemen, die sich, ein gutes Stück vom Waldrand entfernt, aus einem Gebüsch lösten. Trotz der Dunkelheit konnte Kayün die grün glimmenden Augenpaare erkennen, die unter ihren Kapuzen hervorstarrten. Es waren die Traumfänger – kein Zweifel! In diesem Augenblick hatte auch Elea die Schwarzen Kreaturen bemerkt. Sie schrie so gellend auf, dass auch das Irrlicht sich umdrehte. Selbst Trausdumir schien beim Anblick der unheimlichen Gestalten zu erschrecken. »Da... damit habe ich nichts zu tun«, stammelte es. »Ich hatte keine Ahnung, dass die hier lauern. Muss man mir glauben, was!« Kayún funkelte Trausdumir böse an. »Glaub bloß nicht, dass du einfach so davonkommst!«, zischte er. »Wir beide sind längst noch nicht quitt.« Damit nahm er die zitternde Elea an der Hand und hetzte mit ihr in den Wald zurück. Er brauchte nicht über die Schulter zu blicken, um zu wissen, dass die Traumfänger ihnen folgten. Der Druck auf seiner Brust wurde mit jedem Schritt stärker. Obwohl Elea und er einen beträchtlichen Vorsprung vor den Werwesen besaßen, hatte Kayún kaum Hoffnung, ihnen zu entkommen.
\ Saranya konnte es nicht erwarten, dass endlich die Gelichterstunde anbrach. In dieser Nacht schienen die Stunden noch langsamer dahinzuschleichen als die langsamste Bummelschnecke aus dem Trödelland. Ihre Eltern hatten vor geraumer Zeit schon ihre Schlafkammer aufgesucht, aber sie wollte ganz sichergehen und ihr Vorhaben nicht durch unnötige Hast gefährden. Zu viel stand auf dem Spiel. Deshalb hatte sie auch dafür gesorgt, dass Herr Asmus 216
in dieser Nacht einen festen Schlaf haben würde. Nach ihrer Rückkehr von der Stuhlrennbahn hatte sie ihm nicht nur ein Pfeifchen Schmeichelkraut gestopft, das für Wohlgefühl sorgte, sondern ihm auch ein Gläschen Sonnenbalsam kredenzt, der den Hohen Herrn in einen Zustand tiefer Zufriedenheit zu versetzen pflegte. Allerdings hatte er trotz Saranyas gutem Zureden – »Das habt Ihr Euch allemal verdient!« – zunächst gezögert, es zu sich zu nehmen. Offenbar fürchtete er die Vorwürfe seiner Gattin, die es gar nicht leiden konnte, wenn er der geliebten Köstlichkeit übermäßig zusprach. Als er jedoch bemerkte, dass Raya noch mit der Hausarbeit beschäftigt war und deshalb kein Auge auf ihn haben konnte, hatte er das Glas mit einem raschen Schluck geleert, um kurz darauf, sehr zu Saranyas heimlicher Freude, herzhaft zu gähnen. »Wenn ich nur wüsste, warum ich in letzter Zeit so müde bin«, hatte er mit gerunzelter Stirn vor sich hin gemurmelt. »Aber kein Wunder bei der Bürde, die täglich auf mir lastet. Dieses schwere Amt! Dieses furchtbar schwere Amt! Das muss es wohl sein.« Schon kurze Zeit später hatte er sich in seine Kammer zurückgezogen, und auch Raya hatte bald darauf die Lampe gelöscht und sich zur Ruhe begeben. Endlich war die Stimme des Nachtwächters zu hören, der die Gelichterstunde ausrief. Rasch erhob sich Saranya von ihrem Lager und verließ ihre Kammer. Eine Kerze anzuzünden schien ihr zu gefährlich, und so schlich sie auf bloßen Füßen durch die dunklen Flure bis zum Schlafgemach der Eltern. Dort legte sie ein Ohr an die Tür und lauschte. Obwohl das Türblatt aus dickem Holz war, konnte sie das laute Schnarchen von Herrn Asmus vernehmen – alles lief nach Plan. Vorsichtig drückte Saranya die Klinke nach unten und 217
stieß die Tür auf, die sich mit einem leisen Knarren in den Angeln drehte. Das Mondlicht, das durch die beiden Fensterchen in die Kammer flutete, tauchte das Bett der Eltern in silbrigen Glanz. Ein mächtiger Baldachin spannte sich darüber. Obwohl aus blauem Tuch gefertigt, glich er nun einem silbernen Schleier, und auch die Federbetten, unter denen Mutter und Vater in tiefem Schlaf lagen, schienen wie aus Silber gewebt. Lautlos wie ein Kätzchen huschte Saranya über die Holzdielen zur rechten Seite des Bettes, wo der Hohe Herr ruhte. Der goldene Siegelring an der linken Hand des Vaters glänzte im Mondlicht. Saranya beugte sich vor und wollte gerade danach greifen, als Herr Asmus mit einem Mal die Hand zurückzog, sich auf die andere Seite drehte und sein Oberkörper auf seiner Linken zu liegen kam. Saranya unterdrückte einen Laut des Entsetzens. Das durfte doch nicht wahr sein! Vorsichtig packte sie den Hohen Herrn an der Schulter und versuchte ihn herumzuwälzen. Doch er war viel zu schwer. Kaum hatte sie ihn unter leisem Ächzen eine Handbreit bewegt, als er auch schon ihren Händen entglitt und wie ein prall gefüllter Mehlsack in seine ursprüngliche Lage zurückrollte. Dabei gab er merkwürdige Schmatzgeräusche von sich, so dass Saranya bestimmt aufgelacht hätte, wäre die Sache nur nicht so schrecklich ernst gewesen. Was sollte sie bloß machen? Ohne den Siegelring des Hohen Herrn war ihr Vorhaben doch zum Scheitern verurteilt! Da entdeckte sie im Mondlicht eine Flaumfeder neben dem Bett. Rasch hob Saranya sie auf, um damit ganz sachte über die Nasenspitze des Herrn Asmus zu streichen. Wieder ließ er ein Schmatzen hören, das von einem unwirschen Grunzen abgelöst wurde. Als sie ihn ein weiteres 218
Mal an der Nase kitzelte, begann er sich tatsächlich zu bewegen. Mit einer ungelenken Handbewegung fuhr er sich übers Gesicht und tastete nach dem Plagegeist. Geschickt wich Saranya seiner Hand aus – allerdings nur, um wenig später den Schabernack fortzusetzen. Und diesmal hatte sie Erfolg: Herr Asmus strich sich im Schlaf nicht nur übers Gesicht, sondern drehte sich auch ächzend um, so dass seine Linke auf der Bettdecke zu liegen kam. Endlich! Mit angehaltenem Atem spähte Saranya zur Mutter hinüber. Raya jedoch hatte offenbar nichts vom heimlichen Treiben der Tochter mitbekommen und schlief tief und fest weiter. Behutsam packte Saranya die Hand des Vaters und griff nach dem Siegelring. Dass es ihr gelang, den festsitzenden Ring von seinem feisten Finger zu streifen, hatte sie nur Tramina zu verdanken. Die arglose Magd hatte ihr nämlich verraten, dass in einem solchen Fall ein Lot Gänseschmalz wahre Wunder wirken könnte. Dennoch kostete es sie einige Mühe, bis der Ring endlich von seinem prallen Finger glitt. Sie legte die Hand des Vaters auf die Decke zurück und wollte die Schlafkammer eben verlassen, als Herr Asmus urplötzlich die Augen aufschlug, sich halb aufrichtete und sie ungläubig anstarrte. »Was ist denn los?«, sagte er. Saranya glaubte, ihr Herz würde stehen bleiben. Jetzt ist alles aus!, schoss es ihr durch den Kopf, als der Vater auch schon aufs Kissen zurücksank und einige unverständliche Worte murmelte. Dann verfiel er wieder in derart lautes Schnarchen, dass es einer ganzen Herde von Schnarchschafen Mühe bereitet hätte, ihn zu übertönen. Saranya atmete erleichtert auf und verließ die Schlafkammer so lautlos, wie sie eingetreten war. Als sie die Tür hinter 219
sich ins Schloss zog, war sie sich fast sicher, den heikelsten Teil ihres nächtlichen Vorhabens bewältigt zu haben – aber da ahnte sie noch nicht, welche weiteren Überraschungen diese Nacht für sie bereithielt.
\ Dicht hintereinander hetzten Kayún und Elea durch das Dickicht des Regenbogendschungels. Längst achteten sie nicht mehr auf Weg oder Richtung. Fort, nur fort!, war der einzige Gedanke, der ihnen immer wieder durch den Kopf jagte. Weg von diesen schrecklichen Traumfängern! Zweige schlugen ihnen in die Gesichter und zerkratzten ihnen die Wangen, dornige Ranken rissen an ihren Gewändern. Das Blut rauschte in Kayúns Ohren, und das Herz in seiner Brust dröhnte lauter als der Hammer eines Schmiedes auf dem Amboss. Seine Lunge brannte wie das Feuer einer Esse, und der Arm, an dem er die völlig ermattete Schwester hinter sich herzog, schien immer länger zu werden. Dann war auch Kayún am Ende. Schon wollte er innehalten, um nach Luft zu röcheln, als er zwischen den Bäumen eine Lichtung aufschimmern sah, die fast fünfzig Schritte messen mochte und vom Mond in bleiches Licht getaucht wurde. Von ihrem jenseitigen Saum wand sich ein breiter Pfad in den Wald hinein. In ihrer Mitte jedoch erhob sich ein dichtes Gebüsch – und das brachte Kayún auf eine Idee. »Schnell!«, keuchte er der Schwester noch im Laufen zu. »Wir verstecken uns in dem Strauch dort!« »Und dann?«, keuchte Elea zurück, den Blick auf den Boden geheftet, der mit Wurzeln und Steinen übersät war. »Werden uns die Traumfänger nicht entdecken?« Trotz der Lebensgefahr, in der sie schwebten, hielt Kayún 220
an. »Das Gebüsch ist unsere einzige Chance! Wenn wir weiterlaufen, haben sie uns bald eingeholt. Sie sind doch viel schneller als wir.« »Und in dem Busch werden sie uns aufspüren!«, gab das Mädchen zurück. »Das ist nicht gesagt«, versuchte Kayún ihr Mut zu machen. »Wenn sie hier ankommen und uns nicht mehr sehen, werden sie vielleicht annehmen, dass wir dem Pfad dort gefolgt sind.« Er deutete zur anderen Seite der Lichtung. Angespannt spähte das Mädchen zum jenseitigen Waldsaum. »Und wenn nicht?« »Wir haben keine andere Wahl. Ich bin völlig fertig – und du mit Sicherheit auch.« Elea gab ihm keine Antwort »Also, komm«, sagte er. Widerspruchslos folgte sie ihm. Wenig später waren sie in dem mächtigen Busch verschwunden. Die Zweige mit den großen, gezackten Blättern standen so dicht, dass keine neugierigen Blicke sie dahinter erspähen konnten, schon gar nicht in finsterer Nacht. Hoffentlich! Angespannt spähte Kayún zum Waldsaum, den sie gerade hinter sich gelassen hatten. Nur Augenblicke später tauchten dort dunkle Schemen auf, und schon hetzten die Schwarzen Kreaturen zwischen den Bäumen hervor. Kayún hielt den Atem an. Elea schmiegte sich dicht an ihn. Er merkte, dass sie am ganzen Leib zitterte. »Vater, Mutter«, murmelte sie. »Bitte helft uns.« Fast sah es so aus, als ob Kayúns List aufgehen sollte. Nur kurz verharrten die Werwesen am Rand der Lichtung. Als sie keine Spur von den Gejagten entdecken konnten, hetzten sie weiter, geisterhaften Schatten gleich, die einer nach dem anderen quer über die Lichtung jagten. Schon waren sie am 221
jenseitigen Waldrand angelangt, als der Letzte – es war der Kleinste von ihnen – plötzlich stehen blieb, sich umdrehte und zu wittern schien. Dann stieß er ein kehliges Fauchen aus. Kayún liefen eisige Schauer über den Rücken. In seiner Brust hämmerte es wie wild. Er musste sich mit aller Kraft zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien vor Qual, und an Eleas keuchendem Atem merkte er, dass es ihr genauso erging. Und dann schien alles aus und vorbei zu sein: Der kleinste Traumfänger bellte seinen Kumpanen aufgeregte Laute zu und deutete auf ihr Versteck. Dann waren witternde Laute zu hören, als die unheimlichen Wesen die Luft durch unsichtbare Nüstern einzogen. Im nächsten Moment ließ ihr Anführer einen kehligen Laut hören – und die Meute kehrte zurück zu ihrem Busch, wo der kleinste Traumfänger stand. Aus und vorbei, dachte Kayún, wir sind verloren. Wie gelähmt vor Angst kauerte er am Boden, und Elea klammerte sich an ihn. Sie zitterte am ganzen Körper und schluchzte leise vor sich hin. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis die Traumfänger ihre Krallen nach ihnen ausstrecken würden. Elea schloss die Augen. Da erscholl mit einem Mal ein unheimliches Brüllen im Rücken der Geschwister. Es wurde lauter und lauter und schwoll immer weiter an, so dass sie sich die Ohren zuhalten mussten, um nicht umzukommen vor Schmerz. Dennoch hörte Kayún ein Rauschen in der Luft, das stetig näher kam. Schon wurde das Gesträuch um sie herum von einem mächtigen Wind erfasst, der es so wild hin und her schüttelte, als wäre es nichts weiter als ein Büschel dürrer Ähren auf einem abgeernteten Kornfeld. Ein riesiger Schatten verdunkelte den 222
Mond, und dann landete keine zehn Schritte vor ihnen ein schreckliches Wesen auf der Lichtung. Es war ein geflügeltes Ungeheuer. Ein Drache. Als er sich aufrichtete, überragte er beinahe die Bäume des Waldes. Seine Flügel waren mit schleimiger Haut bedeckt und durchmaßen nahezu die gesamte Breite der Lichtung. Sein Leib, der dem Körper einer riesigen Ratte glich, ging in den stachelbewehrten Schwanz eines Skorpions über. Seine Hinterbeine ähnelten denen einer Riesenheuschrecke, die winzigen Vorderbeine aber sahen aus wie die Hände eines Kindes. Dazu hatte das Untier gleich drei Köpfe, die auf einem langen, sich ständig auf und ab bewegenden Hals saßen. In dem übermäßigen Schrecken, der Kayún erfasst hatte, bemerkte er, dass der größte und schrecklichste dieser Köpfe dem Haupt einer Wasserechse glich, das anstelle der Augen zwei weitere Köpfe aufwies. Auch wenn er das gesamte Ausmaß des Monstrums nicht überblicken konnte, war er sich sicher, etwas so Schreckliches in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen zu haben. Nun machte das Ungeheuer einen Schritt auf das Gebüsch zu, senkte den größten seiner Köpfe und spähte witternd umher. Ein schwefliger Hauch schlug ihnen entgegen. Unwillkürlich zuckte Kayún zurück. Hatte der Drache sie entdeckt? Oder hatte er es auf die Traumfänger abgesehen, die bei seinem Auftauchen Schutz am jenseitigen Waldrand gesucht hatten? Wie zur Antwort riss das Untier seinen Rachen auf. Eisiger Feueratem schoss daraus hervor, der Teile des Gebüschs in Flammen aufgehen ließ, während andere im Eis erstarrten. Das Blut gefror in Kayúns Adern, als Elea neben ihm einen erbärmlichen Schrei ausstieß. Der Anblick des Drachen schien ihre Sinne zu verwirren. 223
Auf einmal sprang sie auf und stürzte aus dem Versteck heraus, um in den Wald zu flüchten – wo sie den Traumfängern direkt in die Arme lief! Nein!, wollte Kayún in wildem Schmerz aufschreien, da legte sich eine haarige Krallenhand vor seinen Mund und erstickte jeden Laut. Eine zweite Pranke umschloss seinen Oberkörper und hielt ihn eisern fest, so heftig er auch gegen ihren Griff ankämpfte. Wie in der Zwinge eines Schraubstocks gefangen, musste er hilflos mit ansehen, wie zwei der Schwarzen Kreaturen seine Schwester ergriffen, ihr die Arme auf den Rücken zwangen und sie mit Tauen fesselten. Die anderen drei schwärmten aus und eilten auf das Gebüsch zu, in dem sich Kayún verborgen hielt. Doch da brüllte der Drache so schrecklich auf, dass es vertrocknetes Laub und dürre Zweige von den Bäumen regnete. Er trat den Werwesen in den Weg und hauchte ihnen seinen eisigen Feueratem entgegen, ganz so, als wollte er ihnen die Beute streitig machen. Sichtlich eingeschüchtert wichen die Traumfänger zurück und verschwanden mit Elea im Dunkel des Regenbogendschungels. Der Drache folgte ihnen mit zornigem Fauchen. Stämme zersplitterten unter der Wucht des Aufpralls, Gesträuch und Buschwerk wurden zur Seite gefetzt. Doch selbst die riesigen Kräfte des Untiers vermochten nichts gegen die mächtigen Bäume auszurichten, die so dicht wie eine Mauer vor ihm aufragten. Noch einmal brüllte das Ungeheuer den Schwarzen Kreaturen hinterher. Diesmal jedoch schwang ein sehnsuchtsvoller Unterton in seinem Gebrüll mit. Fast klang es, als bedauere er den Verlust des Mädchens. Dann erhob sich das Ungeheuer in die Lüfte und rauschte auf seinen schleimigen Hautflügeln davon. Noch immer in der Zwinge der haarigen Krallenhände 224
gefangen, starrte Kayún dem Drachen hinterher, bis er seinen Blicken entschwunden war. Dann erst lockerte sich der eiserne Griff. Er drehte sich um und glaubte, sein Ende sei gekommen.
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15 DER GRÄUELGRUSELER
U
ngeduldig trat Saranya von einem Fuß auf den anderen und spähte in den Nebel, der den Platz der Akademie einhüllte. Er war so dicht, dass man keine zehn Schritte weit sehen konnte. Die Umrisse des sternförmigen Akademiegebäudes waren im Dunst kaum zu erahnen. Wo Colina bloß bleibt, schoss es ihr gerade durch den Kopf, als von ferne gedämpfte Schritte zu hören waren. Ein Schemen tauchte vom Wahnwitzweg her aus den grauen Schleiern auf und näherte sich rasch dem Torbogen, in dem Saranya sich verborgen hielt. Es war Colina, kein Zweifel. Saranya trat aus ihrem Versteck. »Wo bleibst du denn?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Ich warte schon fast eine halbe Stunde.« Colinas Miene unter den grünen Strubbelhaaren nahm einen gequälten Ausdruck an. »Tut mir Leid, aber mein Vater wollte einfach nicht ins Bett gehen. Ein Freund von ihm ist überraschend zu Besuch gekommen. Die beiden haben einige Partien Gedankenschach gespielt und roten Wein dazu getrunken. Mit jedem Glas wurden sie fröhlicher, 227
so dass ich schon befürchtet habe, sie würden nie ein Ende finden.« »Du hättest ein wenig Schlafwurzpulver in ihren Wein mischen sollen«, sagte Saranya. »Das wollte ich ja, hab mich aber dann doch nicht getraut. Vater hat eine so feine Zunge, dass er jeden Wein am Geschmack erkennt. Das behauptet er zumindest, und das Pulver wäre ihm bestimmt aufgefallen.« »Unsinn! Es schmeckt nach gar nichts, wie Tramina mir erzählt hat. Und die müsste es ja wissen, schließlich braucht sie es fast jeden Tag.« Colina blickte sie missmutig an. »Das Risiko war mir einfach zu groß. Du weißt doch, wie wütend er werden kann. Wenn er mich erwischt hätte, könnte ich das Schwebeballspielen für die nächste Zeit vergessen. Und das willst du doch auch nicht, oder?« Sie zog eine so betrübte Miene, als hätte die Strafe sie bereits ereilt. Tröstend strich Saranya ihr über den Haarschopf. »Schon gut. Wahrscheinlich bleibt uns auch so noch genügend Zeit.« Die Mädchen spähten in die Runde, konnten in den Nebelschleiern jedoch keine Wächter ausmachen. Dennoch war es ratsam, auf der Hut zu sein, und so huschten sie möglichst leise auf das mehrgeschossige Gebäude zu, das sich an der Südseite des Platzes erhob. Den Eingang zur Akademie verschloss eine schwere, zweiflügelige Eisentür. Saranya holte den geschmiedeten Schlüssel aus der Tasche, den sie heimlich vom großen Schlüsselbund des Herrn Asmus genommen hatte. Hat doch seine Vorteile, mit dem Hohen Herrn unter einem Dach zu leben!, dachte sie stillvergnügt. Leise knirschend drehte sich der Schlüssel im Schloss, und das Portal schwang 228
mit gedämpftem Quietschen auf. Bevor sich die Mädchen in das Gebäude stahlen, schaute sich Saranya noch einmal um, aber noch immer war niemand zu entdecken. Dennoch wagte sie die mitgebrachte Laterne erst anzuzünden, als das Tor hinter ihnen wieder sorgfältig verriegelt war. Das flackernde Licht wies ihnen den Weg durch das Saallabyrinth des Archivs. Er war Saranya noch von ihrem Besuch am Vortag bekannt, und so dauerte es nicht lange, bis die Freundinnen vor dem Saal der Weisheit angelangt waren. Während Colina das vergoldete Portal mit großen Augen bestaunte, fingerte Saranya den Siegelring des Vaters aus der Tasche und betrachtete ihn eingehend. Das stempelartige Muster auf der Vorderseite des Rings, das beim Siegeln ins weiche Wachs gedrückt wurde, war ihr bestens vertraut. Es stellte das Siegel des Hohen Herrn dar – ein Dreieck, das ein stilisiertes Auge einschloss. Aber wie nur sollte sie das Portal damit öffnen? Suchend ließ Saranya ihren Blick über das vergoldete Türblatt schweifen. Es war mit zahlreichen Ornamenten und Gravuren bedeckt, die scheinbar willkürlich aufgereiht waren. Genau in der Mitte gewahrte sie das gleiche Muster wie auf dem Siegelring: ein von einem Dreieck umrahmtes Auge. Sollte das etwa bedeuten ... Noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, drückte sie den Ring in das Siegel auf der Tür – er passte genau! Saranya lächelte zufrieden, als sich eine raunende Stimme vernehmen ließ: »Seid willkommen und tretet ein in den Saal der Weisheit.« Colina fuhr einen Schritt zurück. Auch Saranya blickte verwundert auf das raunende Portal, das nun ohne jedes Geräusch aufschwang und ihnen den Eingang zum Herzen des Archivs öffnete, das in völliger Dunkelheit vor ihnen lag. 229
Die Mädchen traten über die Schwelle und machten einige zaudernde Schritte in den großen Saal hinein, während die knorrige Stimme, die direkt aus dem Türblatt zu kommen schien, ihnen zuraunte: »Möge dieser Besuch Eure Weisheit mehren und Euch die Erkenntnisse bringen, nach denen Ihr sucht.« Damit schloss sich das Portal hinter ihnen, und die Stimme verstummte. Gleich darauf erhellte sich der riesige Raum mehr und mehr, bis er vollständig von Licht durchflutet war. Staunend blickten Saranya und Colina sich um. Es hatte ganz den Anschein, als würde der Saal von der Decke her beleuchtet. Die Steine jedenfalls, aus denen sie gefügt war, strahlten hell und gaben ein angenehm warmes Licht ab. »Hast du so was schon mal gesehen?« Colina flüsterte, als fürchtete sie den Zauber der Erscheinung durch lautes Reden zu brechen. Saranya schüttelte den Kopf. »Noch nie. Das müssen wohl die Leuchtsteine sein, von denen Bubu mir erzählt hat. Sie stammen von den höchsten Gipfeln des Kristallgebirges, wo sie über Äonen das Licht der Sonne und der Sterne in sich gesammelt haben.« Sie löschte die Laterne, stellte sie ab und ging weiter in den Raum hinein. Der Saal der Weisheit unterschied sich kaum von den anderen Räumen des Archivs. Lange Holzregale, die fast bis zur Decke reichten, waren darin aufgereiht, gefüllt mit Büchern, Pergamenten, Folianten und Aufzeichnungen jeder Art. Zu ihrer Verwunderung stellte Saranya fest, dass sich, anders als in den Sälen, die sie gestern durchstreift hatte, an keinem Regal ein Hinweisschild befand. Nirgendwo war zu erkennen, wie die Schriften geordnet waren – alphabetisch, chronologisch, nach Sachgebieten oder einem anderen Sys230
tem. Natürlich wusste sie, dass sich alle hier versammelten Dokumente in irgendeiner Weise mit dem Ruf und dem damit verbundenen Geheimnis beschäftigten. Trotzdem musste es eine Möglichkeit geben, gezielt nach einem ganz bestimmten Werk zu suchen. Colina schien der gleiche Gedanke zu beschäftigen. »Wie sollen wir hier denn die Bücher des Magisters finden?« »Gute Frage!« Saranya deutete auf die endlosen Regalreihen. »Einfach blindlings danach zu suchen hat wohl wenig Sinn.« »Ich fürchte, du hast Recht.« Colina zog eine Schnute. »Nach irgendeinem System müssen die Schriften aber doch geordnet sein!« »Die Frage ist nur – nach welchem.« »Wenn ich das wüsste, würde ich bestimmt nicht lange herumreden«, antwortete Saranya leicht verstimmt und machte einen Schritt auf das nächste Regal zu, um es näher in Augenschein zu nehmen. Eine Stimme raunte: »Alte Hallizunologie, Werke A bis H.« Saranya zuckte zusammen. »Was war das denn?«, rief der grüne Strubbelkopf. »Hast du das auch gehört?« »Ich bin doch nicht taub.« Saranya trat noch näher an das Regal heran, worauf die geheimnisvolle Stimme erneut erklang: »Alte Hallizunologie, Werke A bis H.« »Ja, klar!«, rief Saranya plötzlich aus. »Genauso muss es sein!« »Was meinst du damit?« »Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Saranya zurück. »Die Regale hier sind aus dem gleichen Holz gezimmert wie die Tür – aus dem Raunholz, das im Trugwald wächst. Deshalb 231
braucht es auch keine Hinweisschilder. Die Regale können die Schriften, die sie enthalten, nämlich selbst ansagen.« »Ist doch logisch, oder?« Colina grinste unverfroren. Saranya verdrehte die Augen. Ihre Freundin war einfach unverbesserlich! »Zu gütig, dass du mir zustimmst«, erwiderte sie spöttisch. Als sie vor das nächste Regal trat, ertönte prompt eine weitere Stimme: »Alte Halluzinologie, Werke I bis Q.« Und das nächste Regal sagte folgerichtig die Titel mit den Anfangsbuchstaben R bis Z aus demselben Fachgebiet an. Langsam gingen die Mädchen die lange Reihe der Bücherregale entlang. Zunächst kamen sie zur »Neueren Halluzinologie«, passierten dann die »Historie der Wahrnehmungen«, die gleich fünf Regale füllte, um danach zur »Empirischen Spekulationstheorie« zu gelangen. Die folgenden Regale raunten Begriffe, die den Mädchen nicht nur gleichfalls unbekannt waren, sondern auch noch wie wahre Zungenbrecher klangen. Weder Saranya noch Colina hatten auch nur die geringste Ahnung, was es mit den seltsamen Fachgebieten auf sich hatte oder mit welchen Problemen die Gelehrten dieser Forschungszweige sich beschäftigt haben mochten. Herr Asmus hatte wohl doch Recht gehabt. Die Fragen, die mit dem Ruf zusammenhingen, schienen überaus komplizierter Natur zu sein. Sonst hätte es derart unverständlicher Bezeichnungen doch bestimmt nicht bedurft! Oder hatte das vielleicht andere Gründe? Dienten die gewichtig klingenden Begriffe nur dazu, Neugierige abzuschrecken? Sollte auf diese Weise womöglich verhindert werden, dass die gewöhnlichen Bürger Seperanzas, wie Mutter Gris sie bezeichnet hatte, sich mit dem geheimnisvollen Ruf auseinander setzten? 232
»Wie heißen denn die Bücher, die dieser Magister geschrieben hat?« Bedauernd zog Saranya die Schultern hoch. »Keine Ahnung.« »Nein?« Die Freundin bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. »Dann können wir ja gleich aufgeben.« »Aufgeben? Warum das denn?« Colina hob die Brauen. »Weil diese eigenartigen Regale nur die Fachgebiete und die Titel ansagen.« »Ja, und?« »Du weißt aber nur den Namen des Verfassers! Da kann es ja Ewigkeiten dauern, bis wir rein zufällig auf eine Schrift von diesem Philonius Philippo Phantastus stoßen!« »Unsinn.« Saranya machte eine wegwerfende Handbewegung. »Rein zufällig kenne ich nämlich sein Spezialgebiet – die Insomnierologie!« »Und warum stehen wir dann immer noch hier rum und ziehen dumme Schafsgesichter?« Sichtlich ungehalten, wandte sich Colina den nächsten Regalen zu. Es dauerte nicht lange, bis sie die Abteilung »Neue und Alte Insomnierologie« gefunden hatten. Nur – unter den zahlreichen Büchern war keine einzige Schrift von Magister Phantastus zu entdecken. Zur Sicherheit bestand Saranya darauf, alle Dokumente ein zweites Mal durchzusehen – doch auch diesmal hatten sie keinen Erfolg. »Das hätten wir uns sparen können.« Colina, die keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung machte, wandte sich kurz entschlossen ab und lief auf den Ausgang zu. Saranya konnte ihre Freundin nur zu gut verstehen. Wie sehr hatte sie gehofft, dass der Besuch in diesem verbotenen Saal ihr neue Erkenntnisse bringen würde. Doch wie es aussah, waren alle Mühen vergeblich gewesen. 233
Niedergeschlagen trottete sie los, um Colina zu folgen, als sie mit einem Mal ein Wispern vernahm: »Psst!« Und dann noch mal: »Psst, psst!« Saranya drehte sich um. Doch neben ihr stand nur ein Bücherregal, das sich in nichts von den anderen Regalen unterschied. »Hast du mich angesprochen?«, fragte sie. »Nicht so laut!« Die Stimme klang verknarzt. »Muss ja nicht gleich jeder mitbekommen. Trägt mir nur wieder Ärger ein.« Der beschwörende Ernst der Raunholzstimme ließ Saranya unwillkürlich lächeln. »Bitte vielmals um Vergebung«, flüsterte sie. »Nicht der Rede wert«, kam es ebenso leise zurück. »Spar dir das unnütze Geplapper.« »Unnützes Geplapper, so!« Saranya kam nicht gegen den Unmut an, der in ihr aufstieg. »Willst du dich über mich lustig machen – oder was sonst willst du von mir?« Auch in der Antwort des Regals schwang nun Ärger mit. »Anstatt ausfallend zu werden, solltest du dir lieber anhören, welche Schätze ich in mir berge.« »Schätze?«, wunderte sich Saranya. »Welche Schätze ...« »Wo bleibst du denn?«, schnitt Colina ihr das Wort ab. Die Freundin war zu ihr zurückgeeilt und blickte sie ungehalten an. »Wir haben hier doch nichts mehr verloren.« »Noch so ein unbedachtes Plappermäulchen!«, meldete sich die knarzende Regalstimme zu Wort. »Da hätte ich wohl besser geschwiegen und euch still eures Weges ziehen lassen.« »Nein, nein, nicht doch«, beschwichtigte Saranya rasch und machte einen Schritt auf das Regal zu. »Jetzt sag schon, was du zu sagen hast.« »Ach – auf einmal doch?«, knarzte das Regal. »Dann 234
will ich mal nicht so sein: Indizierte Schriften, Autoren N bis Z.« Während Colina nur ratlos dreinblickte, erhellte sich Saranyas Miene schlagartig. Sie wusste nämlich, dass »indiziert« so viel wie »verboten« hieß, und so wurde ihr mit einem Mal klar, dass sie endlich eine erfolgversprechende Spur entdeckt hatte. Natürlich – die Schriften des Magisters waren doch verboten worden, wie Mutter Gris ihr erzählt hatte, und so hatte man sie sicherlich unter die indizierten Schriften eingereiht. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht! Saranyas Herz begann heftig zu schlagen. Ihre Kopfhaut prickelte, als hätte ein ganzer Schwärm von Spuckwespen seinen brennenden Speichel darauf hinterlassen. Gefolgt von der immer noch ratlos wirkenden Freundin trat sie in den schmalen Gang zwischen den Regalen und ließ sich die ersten Titel der darin verwahrten Bücher ansagen.
\ Kayún zitterte am ganzen Leib. Eine grauenhaftere Gestalt als diesen Atrox hatte er nie zuvor gesehen. Sein unförmiger Körper war über und über mit schwarzgrauen Zottelhaaren bedeckt. An den langen Armen, die fast bis zum Boden reichten, saßen tellergroße Hände, deren vier Finger, ebenso wie die vier Zehen, mit spitzen Krallen bewehrt waren. Atrox’ Gesicht war eine abstoßende Fratze, mit zotteligen Haaren bedeckt, die kaum kürzer waren als sein Haupthaar. Nur der breite Mund mit den wulstigen blauen Lippen – zwei Reihen spitzer Haifischzähne blitzten darin auf, die von hauerähnlichen Eckzähnen ergänzt wurden –, die dunkelrote Nase, die eher dem Horn eines Nashorns glich, und die grünen 235
Glupschaugen mit der gelben Iris waren im Dickicht der Gesichtsbehaarung auszumachen. Aus seiner Stirn ragten zwei stämmige Hornstümpfe von der gleichen Farbe wie seine Nashornnase. Die abstehenden Ohren aber glichen großen Kammmuscheln, die in einem kräftigen Grün leuchteten. »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben«, versicherte Atrox ihm immer wieder. Seine Stimme klang überraschend sanft. »Ich bin doch nur ein Gräuelgruseler und tu dir nichts zu Leide. Also beruhige dich wieder!« Was leichter gesagt als getan war. Die Gräuelgruseler galten als die mit Abstand Furcht erregendsten Schreckbolde. Sie waren viel schrecklicher anzusehen als Grauenhafte zum Beispiel oder gar als Wahnalben. Und da es sich bei Atrox um einen ganz besonders grauslichen Gräuelgruseler handelte, war es nur zu verständlich, dass Kayún bei seinem Anblick in blinde Panik verfallen war. Hinzu kam, dass er für einen Schreckbold entsetzlich groß war und den Jungen um mehr als zwei Haupteslängen überragte. Konnte man einer solchen Monstergestalt tatsächlich vertrauen? »Wollen wir es uns nicht gemütlich machen, mein Kleiner?« Atrox wies auf eine etwas lichtere Stelle im Gesträuch. Auf dem Boden lag dort ein Rucksack, wie ihn die Seemänner benutzten, die das Große Schlafmeer befuhren. Offenbar hatte der Schreckbold hier gelagert, bevor die Traumfänger und der schauerliche Drache aufgetaucht waren. Kayún zögerte. »Aber ... Elea«, flüsterte er mit zitternder Stimme. »Wir müssen ihr doch helfen!« »Natürlich müssen wir ihr helfen«, stimmte Atrox ihm zu. »Und das werden wir auch tun. Allerdings nicht, indem wir den Schwarzen Kreaturen blindlings hinterherstürzen und ihnen auch noch in die Fänge gehen.« 236
»Aber wenn sie Elea umbringen? Oder in die Welt der Menschenkinder verschleppen, wie dieses Rasende Gerücht behauptet hat? Das darf ich nicht zulassen!« »Immer mit der Ruhe, mein Kleiner«, versuchte Atrox ihn zu beruhigen. »Dass sie deine Schwester umbringen, ist wenig wahrscheinlich, und was sie stattdessen im Schilde führen mögen, werden wir zu verhindern wissen, das verspreche ich dir. Aber jetzt setz dich endlich, damit wir einen Plan schmieden können.« Widerstrebend nahm Kayún Platz. »Hast du Hunger, mein Kleiner?«, fragte Atrox. »Möchtest du was essen?« »Gern – wenn du endlich aufhörst, Kleiner zu mir zu sagen.« »Aber natürlich.« Der Gräuelgruseler lächelte, wodurch seine Fratze zwar nicht unbedingt freundlicher, zumindest aber weniger Furcht erregend aussah. »Wenn dir so viel daran gelegen ist, mein Kleiner.« Kayún seufzte. Sollte der Kerl ihn doch nennen, wie er wollte. Außerdem hatte er wirklich Hunger. Sein Magen musste leerer sein als eine umgestülpte Hosentasche. Obwohl der Gräuelgruseler nur Wutwurz und Schreckbohnen dabeihatte, ließ er sich nicht lange bitten und machte sich über die angebotenen Gräuelspeisen her. Sie schmeckten gar nicht mal so schlecht. Während Kayún sein Essen verschlang, berichtete er Atrox, was ihm und seiner Schwester widerfahren war. »Das ist ja ganz entsetzlich!«, seufzte der zottelige Geselle. »Dass ein so kleiner Knirps wie du ein so schlimmes Schicksal erdulden muss.« »Jetzt reicht’s mir aber!« Aufgebracht sah Kayún ihn an. »Ich zähle immerhin dreizehn Sommer und bin be237
stimmt kein Knirps mehr! Merk dir das, du widerlicher Schreckbold.« »Danke für das Kompliment«, antwortete Atrox mit grausigem Lächeln und schien das durchaus ernst zu meinen. »Nichts schmeichelt einem Gräuelgruseler mehr, als widerlich genannt zu werden. Das ist eine der höchsten Auszeichnungen für uns, musst du wissen. Aber was dich betrifft ...« Wieder huschte die Andeutung eines Lächelns über sein Fratzengesicht. »Ich wollte dich keineswegs beleidigen. Ich habe ja selbst miterlebt, welch großen Mut du besitzt. Wenn ich dich nicht zurückgehalten hätte, wärst du deiner Schwester blindlings hinterhergestürmt und den Traumfängern geradewegs in die Hände gelaufen. Das zeugt von großem Mut – allerdings auch von einem großen Maß an Torheit.« Kayún wollte erneut aufbrausen, aber dann sagte er sich, dass der Gräuelgruseler ja Recht hatte. Er allein hätte doch nicht das Geringste gegen die Schwarzen Kreaturen ausrichten können. Und wenn sie auch ihn gefangen genommen hätten, wäre weder Elea noch ihm selbst damit geholfen. Die Schwester in den Fängen der unheimlichen Werwesen zu wissen, war ihm dennoch fast unerträglich. Er musste alles unternehmen, um Elea zu befreien, selbst wenn es ihn das Leben kosten sollte. »Woran denkst du, mein Kleiner?«, holte ihn die sanfte Stimme des Gräuelgruselers aus seinen trüben Gedanken. »An meine Schwester natürlich – und an meine Mutter, die dem Vergessen zum Opfer gefallen ist«, antwortete Kayún leise. »Ich habe ihr mein Wort gegeben, Elea sicher nach Seperanza zu bringen, und jetzt ... jetzt...» Seine Stimme versagte, und in seiner Kehle spürte er ein Brennen. Der Gräuelgruseler schlang seinen behaarten Arm um ihn 238
und drückte ihn sanft an sich. »Du brauchst dich deiner Tränen nicht zu schämen, mein Kleiner. Weine nur und lass den Schmerz aus dir herausrinnen. Danach wirst du dich bestimmt besser fühlen.«
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16 DIE VERSCHWUNDENEN BÜCHER
M
it einem Seufzer schüttelte Saranya den Kopf. »Ich versteh das einfach nicht. Mutter Gris hat doch erfzählt, dass alle seine Bücher verboten worden sind – und trotzdem sind sie unter den indizierten Schriften hier nicht zu finden.« Gemeinsam mit Colina war sie das Regal mit den indizierten Schriften bereits zweimal abgegangen und hatte doch nirgendwo ein Buch von Philonius Philippo Phantastus entdeckt. Auch das Raunholz hatte kein einziges Werk von ihm angesagt. Es war zum Verzweifeln! Wo konnten die Traktate des geheimnisvollen Magisters bloß sein? »Und wenn eure Nachbarin sich einfach geirrt hat?« Ihre Freundin zog bedauernd die Schultern hoch. »Oder etwas durcheinander gebracht hat? In ihrem Alter soll so was leicht vorkommen.« »Wenn du damit andeuten willst, dass Mutter Gris nicht mehr alle beisammenhat, muss ich dir widersprechen. Sie mag zwar alt sein, aber sie ist bestimmt nicht verkalkt.« Saranya schüttelte den Kopf. »Nein, nein – es muss einen anderen 241
Grund dafür geben, dass wir die Bücher des Magisters hier nicht finden können.« »Wenn du meinst«, antwortete Colina mit wenig Begeisterung. »Aber wir sollten langsam an den Heimweg denken.« Sie hatte Recht, dachte Saranya. Sie selbst musste unbedingt wieder zu Hause sein, bevor Herr Asmus erwachte und bemerkte, dass der Siegelring an seinem Finger fehlte. Oder seinen Schlüssel vermisste. Und trotzdem: Wenn sie schon einmal im Saal der Weisheit war, dann wollte sie wenigstens einen Blick in eins der vielen Bücher werfen, die sich mit dem geheimnisvollen Ruf beschäftigten. Also nahm sie einen dicken Folianten aus dem Regal, schlug ihn auf und begann zu lesen. Schon nach wenigen Seiten allerdings klappte sie das Buch wieder zu. Obwohl es in Hochphantásisch abgefasst war, verstand sie so gut wie nichts von den darin dargelegten Theorien. Der Autor drückte sich so kompliziert aus und benutzte derart hochgestochene Ausdrücke, dass ihr der Sinn seiner Worte verborgen blieb. Colina schien es nicht besser zu ergehen. Während sie in einem weiteren Buch blätterte, glich ihr Gesicht einem einzigen Fragezeichen. Mit einem resignierten Seufzer schlug Saranya den Folianten zu und stellte ihn ins Regal zurück. »Komm«, sagte sie zur Freundin und wollte eben gehen, als ihr die Lücke auffiel, die sich ein paar Schritte von ihr entfernt in dem ansonsten dicht gefüllten Regal auftat. Es sah ganz so aus, als hätte jemand einige Bände daraus entfernt. Das kam ihr eigenartig vor, schließlich hatte Bubu ihr die strenge Benutzungsordnung des geheimen Archivs erklärt: Bevor der Saal des Weisheit abends geschlossen wurde, mussten alle Bücher und Schriften in die Regale zurückgestellt werden. Sie mitzunehmen war jedermann strikt untersagt, sogar dem Hohen Herrn 242
Asmus. Wieso also schienen dort gleich mehrere Bände zu fehlen? Nachdenklich trat Saranya vor die Lücke im Regal. Sie war nicht breiter als die Spanne ihrer Hand und mochte zwei oder drei dicken Büchern Platz bieten. Welche Schriften hatten dort wohl gestanden? Als hätte es die Gedanken des Mädchens erraten, knarzte das Raunholzregal mit leiser, kaum verständlicher Stimme: »Erstens: ›Diskurs über den Ursprung der Geträumten‹. Zweitens: ›Im Dialog mit dem Ruft. Drittens: ›Und wir werden doch geträumt‹. Allesamt verfasst von Magister Philonius Phili...« Aber da wurde die Stimme so leise, dass Saranya überhaupt nichts mehr verstehen konnte. »Sprich etwas lauter«, bat sie. »Geht leider nicht«, kam die gehauchte Antwort zurück. »Sobald man mich eines Buches beraubt, schwindet meine Erinnerung daran mehr und mehr. Mein Wissen verblasst mit jedem Augenblick, und so ... und so ...« Damit verstummte die Stimme. Verzweiflung stieg in Saranya auf. »Nicht doch! Versuch dich zu erinnern – bitte!« Doch das Regal blieb stumm, mochte das Mädchen auch noch so flehen. Nicht nur der Name des Verfassers, auch die Titel seiner Schriften schienen nun aus seiner Erinnerung getilgt. Saranya stöhnte. Da hatte sie schon geglaubt, endlich mehr über die Schriften des Magisters zu erfahren, die diesem so viel Unglück gebracht hatten – um dann doch wieder enttäuscht zu werden. Dabei hatten schon die Titel so geheimnisvoll geklungen! Wer zum Beispiel waren die »Geträumten«, um die sich sein erstes Werk drehte? Und was nur sollte die fast trotzige Behauptung »Und wir werden doch 243
geträumt« bedeuten? Und wen meinte er überhaupt mit »wir«? Fragen über Fragen, die wohl nur von den Schriften selbst beantwortet werden konnten. Aber die schienen spurlos verschwunden. Es war zum Verzweifeln! »Lass uns endlich gehen«, drängte Colina. Saranya folgte ihr in Richtung Tür, und mit einem Mal fühlte sie sich so schrecklich müde wie schon lange nicht mehr. Als die Mädchen aus dem Akademiegebäude hinaus in die Kühle der Nacht traten, hatte der Nebel sich verzogen, und das helle Licht der Gestirne tauchte Gebäude und Straßen in silbrigen Glanz. Am Abzweig zum Wachtraumweg verabschiedete Saranya sich von ihrer Freundin. Colina erinnerte sie noch an das Schwebeballspiel am nächsten Nachmittag und eilte dann davon. Auch Saranya sehnte sich danach, endlich ins Bett zu kommen. Tief in Gedanken ging sie schnellen Schrittes auf das Haus im Süßtraumpfad zu. Wo mochten die Bücher bloß hingekommen sein? Und was war wohl mit dem Magister und seiner Familie geschehen? Seit ihr klar geworden war, dass das Kind von Phantastus und seiner Frau Aina etwa in ihrem Alter sein musste, fühlte sie eine seltsame Verbundenheit mit den Verbannten. Wenn Aina tatsächlich dem Vergessen zum Opfer gefallen war, wie Mutter Gris zu befürchten schien – was war dann wohl aus dem Kind geworden? Hatte es das Schicksal der Mutter teilen müssen? In solche Gedanken versunken, bemerkte Saranya erst im allerletzten Augenblick die Gestalt, die mit einem Mal hinter einer Ecke hervorsprang und ihr in den Weg trat. Verwundert hob sie den Blick – und da fuhr ihr ein Schreck in die Glieder, wie ihn selbst der schrecklichste aller Schreckbolde nicht hätte auslösen können: Wenige Schritte vor ihr hatte 244
sich der fiese Gork aufgepflanzt und stierte sie mit bösem Grinsen an.
\ Atrox hatte Recht behalten. Nachdem Kayúns Tränen versiegt waren, fühlte er sich viel besser. »Na, siehst du!« Der Gräuelgruseler schien erleichtert. »Hab ich dir doch gleich gesagt.« Er versuchte ein freundliches Gesicht zu machen und legte ein paar Zweige ins Feuer, das er inzwischen angezündet hatte, um sie gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Die Flammen loderten auf, erhellten die Fratze des Gräuelgruselers und warfen zuckende Schatten auf die Bäume ringsum. Kayún hatte kaum einen Blick für das bizarre Schattenspiel. Er holte ein Tuch aus seinem Rucksack, um sich die letzten Tränen aus den Augen zu wischen und die Wangen zu trocknen. »Dieser entsetzliche Drache«, schniefte er. »Mir wird immer noch übel, wenn ich nur an ihn denke. Ist dir dieses Untier vorher schon mal begegnet?« »Ja – und es ist noch gar nicht so lange her. Übrigens ist es mir damals nicht viel anders ergangen als dir. Ich dachte auch schon, es wäre um mich geschehen, aber zum Glück hat Smärg mich nicht bemerkt.« »Smärg?« Atrox nickte. »So lautet der Name, den unser Retter ihm gegeben hat.« Kayún staunte. »Dann hat also dieser Bastian Balthasar Bux auch dieses schreckliche Ungeheuer geschaffen?« »Du sagst es, mein Kleiner. Ohne Bastian würde es den Drachen nicht geben« Verbittert schüttelte Kayún den Kopf. »Ich kann es einfach 245
nicht fassen. Weiß er denn nicht, welch große Gefahr dieses Untier für uns darstellt?« »Wahrscheinlich macht er sich einfach keine Gedanken über uns und unser Schicksal. Dabei müsste doch gerade Bastian wissen, wie wichtig er und seinesgleichen für uns Phantásier sind. Nur sie können uns am Leben erhalten und davor schützen, dass unsere Welt im Nichts endet.« »Indem sie nach Phantásien reisen und der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen geben?« »Zum Beispiel!« Der Gräuelgruseler zog eine Grimasse und sah nun wirklich Furcht erregend aus. »Aber so sind sie nun einmal, die Bewohner der Menschenwelt. Sie handeln häufig nur aus der Laune des Augenblicks heraus und bedenken nicht, welche Folgen das haben kann. Allzu schnell erliegen sie den Verlockungen der Macht, die sie über uns haben. Deshalb vergessen einige von ihnen immer wieder, wo sie herkommen, und müssen für alle Zeiten in Phantásien bleiben.« »Dieser Bastian aber hoffentlich nicht!« Der Junge seufzte. »Glücklicherweise scheint er Phantásien ja wieder verlassen zu wollen.« »Was?« Die Neuigkeit schien den Gräuelgruseler zu überraschen. »Woher willst du das denn wissen?« »Ein Irrlicht hat es Elea und mir erzählt.« »Ein Irrlicht?« »Ja. Trausdumir, so lautet sein Name, hat uns berichtet, dass dieser Bastian sich zum Bergwerk der Bilder begeben muss, weil er nur dort den Rückweg finden kann. Aber wer weiß, ob das auch stimmt.« Atrox hob einen Finger. »Es gibt keinen Grund, den Aussagen eines Irrlichts zu misstrauen – es sei denn, man würde sie nach dem Weg fragen. Aber da jeder Knirps weiß«, fuhr er mit breitem Grinsen fort, »dass es in ihrer Natur liegt, einen in 246
die Irre zu führen, stellt das keine allzu große Gefahr dar. Was dieses Menschenkind betrifft, wird Trausdumir also schon Recht haben. Schließlich kommen die Irrlichter weit herum in Phantásien und sind meist bestens informiert.« Kayún zog ein finsteres Gesicht. »Dann will ich doch sehr hoffen, dass dieser Kerl dorthin zurückkehrt, wo er hingehört, und uns endlich in Frieden lässt.« Er unterbrach sich und sah nachdenklich ins Feuer. »Andererseits«, murmelte er dann, »wenn dieser grausliche Smärg die Traumfänger nicht in die Flucht geschlagen hätte, wäre wahrscheinlich auch ich in ihre Fänge geraten.« Ein Lächeln ließ die Haifischzähne des Gräuelgruselers aufblitzen. »Damit hast du auch wieder Recht. Wie es aussieht, gibt es nichts in unserer Welt, was nur gut oder nur schlecht wäre. Also sollten wir auch nicht zu hart ins Gericht gehen mit diesem Bastian. So viel Unheil er auch angerichtet haben mag, ohne ihn würde es uns und unsere Welt wohl schon gar nicht mehr geben.« »Stimmt«, sagte Kayún, dem mit einem Mal ein überraschender Gedanke kam. »Was meinst du – ob er uns vielleicht helfen kann, Elea zu befreien?« Der Gräuelgruseler blickte verwirrt drein. »Wie kommst du denn darauf?« »Ja, überleg doch mal«, antwortete Kayún, plötzlich ganz aufgeregt, »er hat das Nichts besiegt, und das war bestimmt gefährlicher als diese Schwarzen Kreaturen! Da müsste er doch auch mit ihnen fertig werden können.« Der Schreckbold zuckte mit den breiten Schultern. »Das vermag ich wirklich nicht zu sagen. Ich habe zu wenig Erfahrung im Umgang mit Menschenkindern und weiß nicht, was sie bewirken können und was nicht. Ich weiß nur eines: Wenn wir deine Schwester retten wollen, bleibt uns nur Zeit 247
bis zum nächsten Vollmond. Denn in dieser Nacht verschleppen die Traumfänger ihre Opfer in die Welt der Menschen. Und wenn Elea sich erst mal dort befindet, kann sie nie mehr zu uns zurückkehren.«
\ Es gab kein Entkommen, das erkannte Saranya sofort. Gork war nämlich nicht allein. Er hatte Verstärkung mitgebracht – vier Feuerkobolde aus dem Alptraumviertel. Ebenso unbemerkt wie ihr Anführer waren sie herangeschlichen und umringten ihr Opfer. Die roten Flammen, die anstelle von Haaren auf ihren glubschäugigen Köpfen loderten, zuckten durch das Dunkel der Nacht. »Was ist los? Freust du dich denn gar nicht über unser Wiedersehen?« Gorks Stimme schleimte vor Hohn, und das fiese Grinsen stand wie festgefroren im Pickelbeet seines Gesichts. »Nicht ein kleines bisschen? Dabei hatte ich es dir doch fest versprochen, nicht wahr?« Saranya spähte verzweifelt nach allen Seiten. Wenn an Flucht schon nicht zu denken war, würde ihr ja vielleicht jemand zu Hilfe kommen? Ein verspäteter Nachtschwärmer zum Beispiel? Oder ein früher Frühaufsteher? Doch nirgendwo war ein lebendes Wesen zu sehen. Gorks Grinsen gefror, während er seinen bulligen Körper auf sie zubewegte. »Hast du wirklich geglaubt, du kommst mir ungestraft davon, du Bastard? Nachdem du dafür gesorgt hast, dass ich der Garde in die Hände falle?« Saranya senkte den Kopf, um ihn nicht ansehen zu müssen. Gorkjedoch packte sie grob am Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu blicken. »Sie waren nicht besonders zimperlich. Willst du wissen, was sie mit mir gemacht haben?« 248
Sie starrte den Fiesling nur voller Abscheu an. »Ich hab dich was gefragt!«, brüllte er. Saranya biss sich auf die Lippen und schwieg beharrlich. »Ob du wissen willst, was sie mit mir gemacht haben?« Gorks Stimme überschlug sich nun fast. »Antworte, du Bastard, aber schnell!« Kein Ton kam aus Saranyas Mund. Gork nickte den Feuerkobolden zu. Während diese an Saranya herantraten und sie packten, zog Gork sein Obergewand über den Kopf und stand nun halbnackt vor ihr. Die Haut, die seinen schwabbeligen Körper bedeckte, war bleich wie bei den weißen Quarkfröschen, welche die stinkenden Molkesümpfe bevölkerten und das Tageslicht scheuten. Langsam drehte Gork sich um und wandte Saranya den Rücken zu. Der war von blutigen Striemen überzogen – offensichtlich hatte die Garde ihn zur Strafe für seine Missetaten ausgepeitscht. »Da staunst du, was?«, blaffte Gork sie an. »Wie du siehst, hat die Garde wenig Federlesens mit mir gemacht. Andererseits ...« Er drehte sich ihr wieder zu und grinste. »Jede Erfahrung ist zu etwas gut im Leben, und deshalb soll man für sie auch dankbar sein, nicht wahr?« Er zwinkerte den Kobolden zu, die ein wieherndes Gelächter anstimmten. Saranya wurde übel. Was wollte der Kerl damit andeuten? Doch nicht etwa, dass er nun sie auspeitschen wollte? Zu einer solchen Gemeinheit war er doch nicht fähig, oder? Wie zur Bestätigung nickte Gork einem seiner feurigen Kumpane zu. Der zog eine Lederpeitsche unter seinem Wams hervor und reichte sie seinem Anführer. Während Saranya entsetzt zusammenzuckte, ergriff das Pickelgesicht die Peitsche, schwang sie, als hätte er nie etwas anderes getan, und ließ die lange Lederschnur durch die Luft 249
schnellen. Ein lauter Knall zerschnitt die Stille. »Dreht sie um und haltet sie gut fest!«, befahl Gork. Augenblicklich folgten die Feuerkobolde seinem Befehl. Während Gork die Peitsche ein weiteres Mal durch die Luft sausen ließ, ergriff ein Kobold grob den Kragen von Saranyas Gewand. Offenbar wollte er ihr das Kleid vom Leib fetzen, damit die Schläge ihren ungeschützten Rücken trafen. »Nicht«, bettelte Saranya, der bereits schwindelig war vor Angst. »Bitte nicht!« Der Kobold grinste sie nur an. Doch da ließ eine herrische Stimme ihn und seine Kumpane herumfahren: »Halt!«, tönte es durch die Nacht. »Lasst sie los – sofort!« Gork ließ die Peitsche sinken. Auch Saranya wandte sich um und erblickte einen Mann, der aus dem Schatten der Häuser auf die Straße trat. Er war nichts besonders groß und von schlanker Gestalt. Das kantige, von einem schmalen Bart gezierte Kinn verlieh den sanften Zügen einen kühnen Anstrich. Ohne erkennbare Furcht blickte er Gork ins Gesicht. »Sag deinen Knechten, sie sollen sie loslassen. Und zwar sofort!«, herrschte er ihn an. Die Lider des Unholds flatterten. Als er jedoch erkannte, dass der Mann offensichtlich allein war, legte sich ein Grinsen auf seine schmalen Lippen. »Schnappt ihn euch«, rief er den Feuerkobolden zu, die Saranya auf der Stelle losließen und sich wie sprungbereite Raubtiere auf den Mann zubewegten. Doch der schien mit ihrer Attacke gerechnet zu haben. Seine rechte Hand zuckte nach vorn – und schon blitzte die spitze Klinge eines Dolches im Mondlicht auf. Die Kobolde wichen zurück. Im gleichen Moment stieß der Unbekannte einen schrillen Pfiff aus. Saranya vernahm 250
hechelnde Laute, und während sie noch rätselte, woher diese Töne kamen, schrie Gork gellend auf. »Nein! Nicht doch! Nein!«, schrie er, ließ die Peitsche fallen und stürzte in blinder Flucht davon. Überrascht schaute Saranya dem Unhold hinterher – und da erst erblickte sie den Wadenbeißer, der Gork folgte und ihm seine kräftigen Fänge ein ums andere Mal in die Waden schlug. Die Feuerkobolde suchten ebenfalls das Weite. Mit hell auflodernden Flammenköpfen und rot glühenden Glubschaugen stürmten sie davon. Währenddessen kam der Wadenbeißer zu Saranyas Retter zurückgehechelt. Lächelnd beugte sich der Mann zu ihm hinunter und strich ihm über den Echsenkopf. »Brav, mein Alter«, sagte er. »Das hast du wirklich gut gemacht.« Immer noch lächelnd kam der Mann dann auf Saranya zu. »Alles in Ordnung?«, fragte er ruhig. »J... ja«, stotterte sie. »Und vielen, vielen Dank auch. Ohne Eure Hilfe wäre ich verloren gewesen.« »Das glaube ich nicht.« Lächelnd wandte er sich dem Wadenbeißer zu. »Stimmt’s, mein Alter?« Der Wadenbeißer winselte – und es hörte sich ganz so an, als wollte er dem Mann Recht geben. Der fasste in die Tasche seines Gewandes, holte einen Zettel hervor und drückte ihn dem überraschten Mädchen in die Hand. »Hier, Saranya. Ich warte dort auf dich. Heute Abend, nach Einbruch der Dunkelheit.« »Warten? Auf mich?«, stammelte sie. »Aber wieso denn?« »Ich dachte, du wolltest etwas über den Magister erfahren – über Philonius Philippo Phantastus.« Ohne ein weiteres Wort drehte der Unbekannte sich um und ging, gefolgt vom Wadenbeißer, gemessenen Schrittes davon. Starr vor Erstaunen 251
sah Saranya hinter ihm her, bis die Nacht seine schmale Gestalt verschluckte.
\ Das Feuer war bis auf ein paar kärgliche Flammen heruntergebrannt. Einige dickere Holzscheite glühten noch in der Asche und warfen rotes Licht auf die beiden Gestalten, die noch immer keine Ruhe finden konnten. Atrox sah Kayún mit großem Ernst an. »Du musst gut abwägen, denn dir bleiben nur zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Entweder wir versuchen deine Schwester aus der Gewalt der Traumfänger zu befreien – was ein höchst gefährliches Unternehmen ist, für das wir Verbündete suchen müssen. Oder du bringst dich lieber selbst vor dem Vergessen in Sicherheit. Dann müssen wir eben versuchen, heimlich nach Seperanza zu gelangen – und ich wüsste auch schon, wie.« Kayún kniff die Augen zusammen. »Hast du nicht gesagt, die Stadttore von Seperanza würden streng kontrolliert?« »Stimmt.« »Und wie willst du an den Wachen vorbeikommen?« »Ganz einfach: im Karren eines Händlers. Wenn man den Boden entsprechend präpariert, findet man darin ausreichend Platz. Und da die Händler den Wachen bekannt sind, werden sie und ihre Ladung meist nur oberflächlich kontrolliert.« Kayún sah den Gräuelgruseler skeptisch an. »Und du meinst, das funktioniert?« »Wenn ich’s dir doch sage!« Atrox hob beschwörend die krallenbewehrten Pranken, während ein glühender Scheit zerbarst und Funken emporflogen. »Ich hab den Tipp bei meinem letzten Besuch in Contrario bekommen. Der Kerl, der 252
ihn mir gesteckt hat, beteuerte, er hätte ihn vor Jahren selbst ausprobiert und ein Mädchen auf diese Weise heimlich in die Stadt gebracht.« »Tatsächlich?« »Ja. Und er hat mir sogar den Namen des fahrenden Händlers verraten, der ihm dabei geholfen hat. Er hieß Zarina, Safira oder so ähnlich.« Kayún blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. »Oder so ähnlich?« »Wie er genau heißt, ist mir leider entfallen.« Im fahlroten Licht der glühenden Scheite sah der Schreckbold besonders gespenstisch aus. »Aber den Namen des Mannes, der dir den Tipp gegeben hat, den weißt du hoffentlich noch?« »Natürlich!« Der Vorwurf in Atrox’ Blick war nicht zu übersehen. »Er hieß Phantastus. Magister Philonius Philippo Phantastus, wenn du es ganz genau wissen willst.« »Und dieser Phantastus ist in Contrario zu finden?« »Ich denke schon.« Atrox nickte. »Jedenfalls hat er damals dort gewohnt.« Er warf Kayún einen verwunderten Blick zu. »Heißt das, du willst deine Schwester im Stich lassen und dich lieber selbst in Sicherheit bringen?« »Natürlich nicht. Ich wollte nur mal sehen, ob du dich wirklich noch erinnerst.« Empört pustete der Schreckbold die dicken Backen auf. »Du elender Knirps, du! Da erklärt man sich bereit, dir zu helfen – und was ist der Dank? Nichts als Hohn und Spott!« Kayún legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn zerknirscht an. »Tut mir Leid, Atrox. Ich wollte dich nicht kränken, wirklich nicht.« Der Schreckbold brabbelte noch einige unverständliche 253
Worte vor sich hin und winkte dann ab. »Nicht der Rede wert. Als ob ein Knirps wie du einen Schreckbold wie mich kränken könnte. Das wäre ja noch schöner!« »Dann bin ich ja beruhigt«, antwortete der Junge. »Aber jetzt wieder zu Elea: Weißt du denn, was die Schwarzen Kreaturen mit ihr vorhaben?« Atrox wiegte den Kopf. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich vermute, dass sie deine Schwester nach Schloss Hórok bringen, der Residenz der Dunklen Prinzessin.« »Warum das denn?« »Xayíde ist mit ihnen verbündet. Und da sich die Werwesen nur bei Vollmond in die Welt der Menschen begeben können, müssen sie ihre Gefangenen bis dahin an einem sicheren Ort verwahren.« Kayún sah den Gräuelgruseler voller Tatendrang an. Alle Müdigkeit schien von ihm gewichen. »Dann machen wir uns also gleich morgen früh auf den Weg zu Schloss Hórok?« »Irrtum: Wir begeben uns auf schnellstem Weg nach Contrario.« »Nach Contrario?«, wiederholte Kayún. »Du musst mich falsch verstanden haben, Atrox. Ich will meine Schwester retten. Ich will nicht ohne Elea nach Seperanza.« »Eben.« Der Schreckbold grinste wie eine Ausgeburt der Hölle. »Ich weiß, dass du deine Schwester retten willst. Aber wie gesagt: Für ein solches Unternehmen braucht es ebenso furchtlose wie raue Gesellen als Helfer. Und solche Kerle findet man nur in einer wilden Hafenstadt wie Contrario.« »Ach so«, sagte Kayún erleichtert. »Und ich dachte schon ...« »Das Denken solltest du lieber denen überlassen, die sich darauf verstehen«, fiel Atrox ihm ins Wort. Ein breites Grin254
sen verformte seine wulstigen Lippen, die nun einem Paar fetter Nacktschnecken im dunklen Dickicht seiner Gesichtsbehaarung glichen. »Außerdem wird es Zeit, dass wir uns aufs Ohr legen. Auf uns wartet eine anstrengende Aufgabe, und da kann es bestimmt nicht schaden, ausgeruht zu sein.«
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17 DIE WOLKENWEBER
N
achdenklich schaute Saranya auf den Zettel in ihrer Hand. »Zum Freigeist, Chimärenweg 17«, stand in einer kaum leserlichen Handschrift darauf. Dort sollte sie sich mit dem Mann treffen, der sie vor Gork gerettet hatte? Der Chimärenweg war ihr völlig unbekannt, und was »Zum Freigeist« bedeuten sollte, wusste sie auch nicht. Am besten, dachte sie, frage ich Bubu. Der kannte sich gut aus in der Stadt und würde ihr bestimmt weiterhelfen können. Sie steckte den Zettel ein und eilte nach Hause. In der Ferne färbte sich der Himmel bereits verdächtig grau. Saranya war eben vor dem Haus ihrer Zieheltern am Süßtraumpfad angelangt, als ihr schlagartig klar wurde, dass es wohl nichts werden würde mit dem Schwebeballspiel am Nachmittag. Und schon gar nichts mit dem nächtlichen Ausflug zum Chimärenweg, wo immer der auch sein mochte. In der Schlafkammer ihrer Eltern brannte nämlich Licht, wie sie schon von der Straße aus erkannte. Als sie ins Haus trat, wurde sie von Herrn Asmus bereits erwartet. Er hatte den Hausmantel aus Brokat über sein Nachtgewand gezogen und den goldenen Filzhut aufgesetzt, 257
was ihm ein fast amtliches Aussehen verlieh. Auch sein Gesicht trug einen gestrengen Ausdruck, keine Spur von väterlicher Güte war darin mehr zu erkennen. Mit vorwurfsvollem Blick streckte er ihr die Hand entgegen. »Meinen Siegelring!«, befahl er. »Und den Schlüssel natürlich auch.« Saranya sah ihn flehend an. »Vater, bitte lass dir erklären«, hob sie an. »Ich weiß, dass ich nicht richtig gehandelt habe. Aber du musst verstehen ...« »Meine Sachen!«, schnitt Herr Asmus ihr das Wort ab. »Und zwar schnell.« Saranya schluckte. Während sie unter ihr Gewand griff und Ring und Schlüssel hervorholte, wollten ihr Tränen in die Augen steigen. Mit Mühe gelang es ihr, sie zu unterdrücken. Sie machte einen Schritt auf Herrn Asmus zu und legte den Siegelring mitsamt dem Schlüssel in seine offene Hand. »Hier, bitte«, flüsterte sie. Wie eine Wasserechse, die nach Beute schnappt, schloss der Vater seine Hand. »Geh in deine Kammer«, befahl er, »und leg dich zur Ruhe.« »Bitte, Vater, lass mich doch erklären ...« »Kein Wort mehr!«, unterbrach er sie aufs Neue. »Du bleibst auf deinem Zimmer, bis ich aus dem Hohen Haus zurückkomme – und dann sehen wir weiter.« Saranya fühlte, dass jedes weitere Wort sinnlos gewesen wäre. Stumm huschte sie die Stiege empor und begab sich zu ihrer Kammer. Und sie hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als sie in Tränen ausbrach.
\ Noch vor dem Morgengrauen brachen Kayún und der Gräuelgruseler auf. Zum Glück kannte Atrox sich recht gut aus im 258
Regenbogendschungel, und so fanden sie schon bald aus dem farbenprächtigen Labyrinth heraus. Die Sonne erhob sich gerade am Himmel, als sie aus dem Wald ins Freie traten. Kayún blieb stehen und atmete erleichtert auf. Da stellte er zu seiner Überraschung fest, dass sie der aufgehenden Sonne entgegenmarschierten. »Ich fürchte, wir haben wieder den falschen Weg eingeschlagen«, sagte er. »Wir wollten doch nach Contrario.« Ungerührt erwiderte Atrox seinen Blick. »Ich weiß, mein Kleiner.« »Aber das Große Schlafmeer liegt doch im Süden – und wir gehen nach Osten. Wir machen also einen Umweg und werden nur unnötig Zeit verlieren.« Der Schreckbold schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Manchmal muss man nämlich Umwege machen, um schneller ans Ziel zu kommen.« Kayún verstand überhaupt nichts mehr. Er beschattete seine Augen mit der Hand und spähte über das wellige Land. Vor ihnen erstreckte sich ein grünes Grasmeer bis zum Horizont. Schleier von Morgennebel zogen über den Ozean der Gräser, aus dem sich vereinzelte Inseln aus Buschwerk erhoben. Von einer Ansiedlung jedoch war weit und breit nichts zu entdecken. Kayún ließ die Hand sinken. »Und wo willst du hin, wenn ich fragen darf?« »Klar darfst du das.« Atrox schien die Ruhe selbst. »In die Stadt der Wolkenweber.« »Nie davon gehört«, sagte Kayún. »Dachte ich’s mir doch!« Ein grausliches Lächeln umspielte den Haifischmund. »Du bist halt doch noch ein Knirps – auch wenn du es nicht glauben willst.« »Mag sein, dass ich noch vieles lernen muss«, entgegnete Kayún ungehalten, »vor allem, warum wir nach Osten mar259
schieren, wenn unser Ziel im Süden liegt und wir keinen Augenblick zu verlieren haben.« »Eben!« Nun war Kayúns Verwirrung komplett. »Was? Willst du im Ernst behaupten, dass wir Zeit sparen, wenn wir einen Abstecher zu den Wolkenwebern machen?« »Du scheinst mir ja ein richtiger Plagegeist zu sein«, seufzte Atrox. »Musst du denn immer alles ganz genau erklärt haben?« Kayún blickte ihn nur abwartend an. »Überleg doch mal«, erklärte der Gräuelgruseler daraufhin. »Wenn wir zu Fuß gehen, brauchen wir Tage und Tage bis nach Contrario. Mit Hilfe der Wolkenweber aber kommen wir vielleicht noch vor Einbruch der Nacht ans Ziel. Und wie du schon richtig gesagt hast: Wenn wir deine Schwester retten wollen, dürfen wir nicht unnötig Zeit verlieren.« »Noch vor Einbruch der Nacht? Wie soll das denn möglich sein?« »Jetzt ist es aber genug! Folge mir, dann wirst du schon sehen.« Damit lief Atrox auf das Grasmeer zu. Mit großen Schritten marschierte er der Sonne entgegen, und Kayún blieb nichts anderes übrig, als sich ihm anzuschließen.
\ Rauch stieg von den Bergen am Horizont auf, und dann wurde Gestein in den Himmel geschleudert. Allerdings brach die glühende Fontäne gleich wieder in sich zusammen, um als rotes Rinnsaal an den schroffen Gebirgsflanken hinunterzuströmen. Elea hatte den mächtigen Höhenzug noch nie zuvor gesehen. Die Gipfel waren mit Eis und Schnee bedeckt, dennoch war sie sich sicher, dass es sich nicht um das Eisiger-Wind260
Gebirge handelte. Nachdem die Traumfänger sie überwältigt hatten und mit ihr vor dem wütenden Drachen geflohen waren, hatten sie sich stets in östlicher Richtung bewegt. Seither schleppten die Werwesen sie an einem dicken Tau hinter sich her. Glücklicherweise schienen sie es nicht besonders eilig zu haben. Sonst wäre sie bestimmt längst vor Entkräftung zusammengebrochen. Doch auch so fühlte Elea sich der Erschöpfung nahe. Seit ihrer Gefangennahme hatte sie weder zu essen noch zu trinken bekommen. Was Hunger war, hatte sie fast schon vergessen. Dafür quälte der Durst sie umso mehr. In ihrer Kehle schien ein Feuer zu wüten, ihre Zunge fühlte sich an wie ein aufgequollener Filzlappen, und ihre Lippen waren aufgesprungen und wund. Wie im Fieber starrte sie auf die Berge am Horizont. Was haben sie nur vor mit mir?, ging es ihr durch den Kopf. Wo bringen sie mich bloß hin? Den Blick starr in die Ferne gerichtet, sah Elea die Wurzel zu spät, die aus dem Boden ragte. Sie stolperte und schlug der Länge nach hin. Den Schmerz, der sie durchfuhr, spürte sie kaum mehr. Die unsichtbare Klammer, die ihr den Brustkorb einschnürte, seit sie sich in der Gewalt der Schwarzen Kreaturen befand, war so unerträglich, dass sie kaum etwas anderes mehr fühlte. Nur den Ruck des Seils an ihren Handgelenken nahm sie noch wahr. Das grobe Tau hatte ihre Haut bis aufs Fleisch durchgescheuert. Ich muss die Wunden irgendwie reinigen, damit sie sich nicht entzünden, dachte sie gerade, als der kleinste der fünf Traumfänger sich über sie beugte. Er zerrte an ihren Fesseln und fauchte sie an. Selbst aus dieser Nähe konnte sie nichts als ein grünes Augenpaar unter seiner Kapuze erkennen. Nicht die Andeutung eines Gesichts – nur diesen stechenden Blick, der sich in ihr Innerstes zu brennen schien. 261
Elea schloss die Augen. »Wasser!«, keuchte sie, den Schmerz in ihrer wunden Kehle unterdrückend. »Wasser, bitte!« Ein Fauchen war die Antwort und ein weiterer Ruck am Seil. »Habt doch Erbarmen! Ich verdurste!« Zornige Laute schlugen ihr entgegen, und dann verspürte sie einen Tritt in den Rippen. Soll er mich doch tottreten, ging es ihr durch den Sinn. Da wurde das Fauchen des Traumfängers von den Lauten einer anderen Schwarzen Kreatur übertönt, die noch sehr viel wütender klang. Elea öffnete die Augen. Der Anführer der Graumänner hatte seinen Kumpanen am Umhang gepackt und wies ihn in ihrer wie Tierlaute klingenden Sprache zornig zurecht. Der Kleine duckte sich wie ein geprügelter Hund, was ihm allerdings auch nicht viel half: Der Anführer versetzte ihm einen so heftigen Fußtritt, dass er zu Boden stürzte. Ohne einen Schmerzenslaut von sich zu geben, rappelte er sich wieder auf und trollte sich zu seinen Kumpanen. Der Anführer griff unter seinen Umhang und holte eine mit grauem Filz umhüllte Trinkflasche hervor. Dann zog er den Stopfen aus dem Hals und kniete sich neben Elea hin. Ihr war, als würde die Klammer um ihre Brust sie noch fester umschnüren. Die Hand, die sich unter ihren Kopf schob, fühlte sich an wie pures Eis. Der Traumfänger hob ihren Kopf an und setzte die Trinkflasche an ihre Lippen. Es war kein Wasser, das gleich darauf in ihren Mund floss, sondern ein überaus wohlschmeckender Trank. Elea konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Köstliches getrunken zu haben. Gierig schluckte sie den herbsüßen Saft, der Zunge und Kehle schmeichelte und das Bren262
nen in ihrem Schlund löschte. Samtig weich floss er in ihren Magen, und ein wohliges Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit. Die schreckliche Müdigkeit, die sie eben noch verspürt hatte, war verschwunden, Hunger und Durst waren vergessen, und Furcht und Schmerzen fielen von ihr ab. »Mehr. Bitte noch mehr!«, bettelte sie, als der Traumfänger die Flasche von ihrem Mund nahm. Ohne ihr Flehen zu beachten, stöpselte er den Behälter wieder zu und ließ ihn unter seinem Umhang verschwinden. Dann half er ihr, sich aufzurichten. Als Elea wieder auf den Beinen stand, ließ der Traumfänger von ihr ab und kehrte zu seinen Kumpanen zurück. Ein kehliger Laut, und sie marschierten weiter. Willig stapfte das Mädchen hinter ihnen her. Nach einigen Schritten blickte sie verwundert auf das Seil an ihren Armen. Warum fesseln sie mich eigentlich?, fragte sich Elea. Ich würde ihnen doch überallhin folgen. Sie blickte auf, und da erst sah sie die Frau, die in einiger Entfernung im Schatten eines Felsblocks stand und auf die Schwarzen Kreaturen zu warten schien. Sie war groß und schlank und trug ein violettes Gewand, das bis zum Boden reichte. Auf ihrem Kopf leuchtete es rot wie Feuer. Ihr Gesicht konnte Elea aus der Entfernung nicht genau erkennen. Doch anscheinend hatte die Frau verschiedenfarbige Augen: ein rotes und ein grünes. Nicht weit von der Unbekannten entfernt hockten einige Gestalten in zerlumpter Kleidung auf dem Boden. Mit hängenden Köpfen saßen sie da, die Arme auf dem Rücken, und offenbar waren auch sie gefesselt.
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Gegen Mittag erreichten Kayún und Atrox einen Hügelkamm, von dem aus sie das Land weithin überblicken konnten. Von einer Ansiedlung, ob Dorf oder Stadt, war immer noch weit und breit nichts zu sehen. Vor ihnen in einer Senke hatte sich lediglich eine riesige Wolke aus Dunst und Nebel zusammengeballt. Verärgert blieb Kayún stehen. »Langsam glaube ich, dass du dir einen schlechten Scherz mit mir erlaubst.« Atrox verzog die Schreckboldfratze. »Ich verstehe nicht, mein Kleiner?« »Und ich verstehe nicht, warum diese Stadt der Wolkenweber immer noch nicht zu sehen ist«, entgegnete Kayún entrüstet. »Wie es aussieht, ist sie noch ewig weit entfernt – und da redest du von Zeitersparnis!« »Ich weiß gar nicht, warum du dich aufregst.« Mit unschuldiger Miene blickte der Gräuelgruseler ihn an. »Wir sind doch längst angekommen.« »Angekommen?«, wunderte sich Kayún. »Wo denn?« »Wovon reden wir denn die ganze Zeit?« Atrox wiegte verärgert das Haupt. »Du brauchst nur die Augen aufzumachen und genau hinzuschauen!« »Ja, wohin denn?« »Na, dorthin!«, brauste der Gräuelgruseler auf und deutete auf die mächtige Wolke, die in der Senke vor ihnen waberte. Verwundert wandte Kayún seinen Blick dem Nebelhaufen zu. Er kniff die Augen zusammen, und mit einem Mal meinte er im Inneren des durchscheinenden Dunstes die schemenhaften Konturen von Gebäuden zu entdecken. Auch Straßen und Plätze schienen sich in dem Gewölk zu verbergen. Atrox lächelte. »Das ist die Stadt der Wolkenweber.« »Unglaublich!« Mit großen Augen blickte Kayún auf die Stadt, um nach einer Weile den Kopf zu schütteln. »Warum ist 264
sie von dichtem Nebel eingehüllt? Ringsum herrscht strahlender Sonnenschein, nur bei den Wolkenwebern nicht. Das ist doch komisch, oder?« Der Schreckbold lachte. »Du weißt doch, dass es die verschiedensten Arten von Wolken gibt – Schönwetterwolken, Regenwolken, Schäfchenwolken ...» »Haufenwolken, Schneewolken, Gewitterwolken«, ergänzte Kayún. »Genau«, fiel der Schreckbold mit breitem Grinsen ein. »Und Eiswolken, Sturmwolken, Schleierwollen und wie sie sonst noch alle heißen mögen. Wo aber, glaubst du, kommen die alle her?« Kayún zog ein ratloses Gesicht. »Wir verdanken sie einzig und allein den Wolkenwebern. Sie verstehen sich nämlich auf die Kunst, all die unterschiedlichen Wolken in den mannigfaltigsten Formen und Gestalten zu weben und so am Himmel zu verteilen, dass sie immer dort sind, wo sie gerade gebraucht werden. Dazu benötigen sie natürlich jede Menge Nebel, weshalb sie ihre Stadt gerade hier in der dunstigen Senke errichtet haben.« »Ach, so ist das«, antwortete Kayún kleinlaut. »Das hättest du mir auch gleich erklären können.« »Oder du hättest mich fragen können«, gab der Schreckbold sichtlich genervt zurück. »Machst du doch sonst auch immer.« Damit marschierte der haarige Geselle auf die Senke zu und trat kurz darauf ohne weitere Erklärung in die riesige Dunstwolke. Kayún folgte ihm. Die Konturen von Atrox schienen in dem wabernden Gewölk zu zerfließen. Als sie an ein großes, aus Wolken geformtes Tor gelangten, bei dem es sich offensichtlich um das Stadttor handelte, lichtete sich der Nebel. Oder hatten sich Kayúns Augen nur daran gewöhnt, so dass 265
er jetzt mehr erkennen konnte? Das Wolkentor war nicht bewacht. Nachdem sie es durchschritten hatten, wurde die Sicht immer besser. In den Straßen der Stadt herrschte geschäftiges Treiben. Die Wesen, die hier herumwuselten, reichten Kayún nur bis zur Brust und liefen auf sechs dürren Spinnenbeinen, auf denen ein ebenso magerer Oberkörper mit vier zierlichen Armen saß. Die schmalen Köpfe auf den langen Hälsen waren nicht größer als bei untergewichtigen Insomnier-Säuglingen. »Das also sind die Wolkenweber?«, staunte Kayún. »Allerdings, mein Kleiner«, antwortete Atrox lächelnd. »Und das ist ihre Stadt.« Damit deutete er auf die umliegenden Gebäude, die allesamt aus Wolken gefertigt waren. Kayún kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Na, so was! Selbst die Balkone und Kamine bestehen aus Wolken!« Atrox schmunzelte. »Natürlich! Woraus denn sonst?« »Und wie zierlich diese Wolkenweber sind! Ich wette, die bringen nicht mehr Gewicht auf die Waage als ein Dutzend Küken!« Er legte die Stirn in Falten. »Warum haben sie eigentlich sechs Beine?« »Kannst du dir das nicht denken?« Der Gräuelgruseler blickte Kayún fragend an, doch der zuckte nur ratlos mit den Schultern. »Aus dem gleichen Grund, aus dem sie von so zierlicher Gestalt sind. Du kennst doch die Wasserläufer, die unsere Flüsse und Tümpel bevölkern?« »Ja, klar.« »Im Gegensatz zu den meisten anderen Lebewesen versinken sie nicht im Wasser, weil sie so leicht sind und ihr geringes Gewicht auch noch auf sechs Beine verteilen. Mit den Wolkenwebern verhält es sich ähnlich.« »Ich verstehe«, sagte Kayún, »wegen ihrer Statur können 266
sie sich selbst da noch bewegen, wo andere versinken würden?« »Genauso ist es. Nicht immer haben sie nämlich so soliden Grund unter den Füßen wie hier. Denk nur mal an die feinen Dunstwolken, die an so manchem Abend den Himmel verschleiern. Das sind hauchzarte Gebilde, die unsereinem nicht den geringsten Halt bieten würden. Die Wolkenweber aber müssen sich auch um sie kümmern, sie ausbessern, wenn sie aufreißen, oder sie flicken, wenn sie zu dünn werden und sich zu verflüchtigen drohen. Dann muss sich ein Ausbesserungstrupp an Ort und Stelle begeben, um die Schäden zu beheben. Dabei gereicht ihnen ihre besondere Gestalt sehr zum Vorteil, wie du dir sicherlich vorstellen kannst.« »Wo du Recht hast, hast du Recht«, brummte Kayún und ging an der Seite des Gräuelgruselers weiter durch die Menge der Wolkenweber. Was ihn am meisten verwunderte, war die Stille, die allem geschäftigen Treiben zum Trotz über der Wolkenstadt lag. Nur das Zischeln des Windes war zu hören und gelegentlich das Gezwitscher eines Vogels. Die Schritte der Wolkenweber jedoch verursachten nicht das geringste Geräusch, wie sie auch selbst keinen unnötigen Laut von sich gaben. Die meisten Einwohner der Wolkenstadt ließen sich durch ihre Gegenwart nicht stören und gingen unbeirrt ihren Geschäften nach. Kayún sah Wolkenweberinnen mit Körben, die aus feinsten Wolkenschlieren gewebt schienen, und männliche Wolkenweber, die riesige farblose Dunstballen auf ihren Köpfen transportierten – offensichtlich der Grundstoff, aus dem die verschiedenen Wolken gefertigt wurden. Emsig strebten die Sechsbeiner den großen Gebäuden zu, in denen die Webereien untergebracht waren, wie Atrox ihm erklärte. Auch aus den Wolkenmanufakturen drang kaum ein Laut. 267
Nur die Kinder starrten die beiden Besucher mit unverhohlener Neugierde an. Einige steckten bei ihrem Anblick die Köpfe zusammen und fingen an zu kichern. Mit einem Mal blieb ein alter Wolkenweber vor den Gefährten stehen. Er war von besonders feiner, fast schleierhafter Gestalt. Mit einer Hand lüftete er die weiß-blau gefleckte Dunsthaube, die er auf dem Kopf trug, streckte Atrox eine weitere Hand entgegen und sprach ihn mit leiser Knabenstimme an: »Welch eine Freude, Euch zu sehen, verehrter Schreckbold.« Der Gräuelgruseler, der ihn um das Doppelte überragte, beugte sich zu ihm hinunter und schüttelte das dargebotene Händchen. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Meister Cirrus.« Die kleinen Knopfaugen des Wolkenwebers funkelten lustig auf. »Darf ich Euch auf einen Krug Sonnensirup einladen – und Euren Gefährten natürlich auch?« Womit er Kayún eine dritte Hand zum Gruß reichte, um sich sogleich wieder dem Schreckbold zuzuwenden. »Bin doch überaus erpicht zu erfahren, was es Neues gibt in den phantásischen Landen und wen alles Ihr wieder in Angst und Schrecken versetzt habt seit unserer letzten Begegnung.« »Vielen Dank für die Einladung.« Atrox war von ausgesuchter Höflichkeit. »Ich wüsste nicht, was ich lieber täte, als mit Euch zu plaudern und mich an Eurem köstlichen Trank zu laben. Allein, wir haben es furchtbar eilig, mein kleiner Freund und ich, und können nicht einen Augenblick verweilen.« »Schade. Wirklich schade.« Das Gesichtchen des Alten trübte sich ein wie ein Sommerhimmel beim Anflug eines Gewitters. »Es ist immer so lustig mit Euch.« Lustig? Mit einem Schreckbold? Kayún sah Atrox verwun268
dert an, doch der feixte nur unschuldig – was kann ich denn dafür, wenn der mich lustig findet? »Was, wenn ich fragen darf«, fuhr Meister Cirrus fort, »führt Euch dann zu uns?« »Wir müssen schnellstens nach Contrario, in die Hafenstadt am Großen Schlafmeer, und da wollte ich Meister Cumulus fragen, ob er uns behilflich sein kann, damit wir schneller vorankommen.« »Da sehe ich aber schwarz für Euch.« Der Wolkenweber wiegte das Haupt, dass seine Dunsthaube schwankte. »Meister Cumulus ist schwer beschäftigt im Augenblick. Er hat einen größeren Auftrag von Gewitterwolken zu bearbeiten, was sich stets auf seine Stimmung auswirkt. Selbst wenn er Euch nicht zürnen sollte, wird er wohl kaum ein offenes Ohr für Euch haben.« Atrox zog eine so Furcht erregende Fratze, dass einige Wolkenweberkinder, die in der Nähe spielten, entsetzt aufschrien. »Ihr meint wirklich, er kann uns nicht weiterhelfen?« »Ich fürchte schon.« Mit sichtlichem Bedauern hob Meister Cirrus gleich alle vier Arme in die Höhe. »Aber bitte – sucht ihn ruhig auf. Vielleicht habt Ihr ja Glück.« Damit verabschiedete er sich von den Gefährten, nötigte aber Atrox vorher das Versprechen ab, bei seinem nächsten Besuch in der Wolkenstadt den einen oder anderen Krug Sonnensirup mit ihm zu leeren. Nachdem der Wolkenweber auf seinen sechs Beinen davongehuscht war, fragte Kayún: »Ich dachte, Sonnensirup ist kostbar und deshalb so teuer? Wie kommt es, dass man ihn hier gleich krügeweise verzehrt?« »Ganz einfach: Die Wolkenweber haben doch ständig in den Wolken zu tun. Dort oben gibt es Sonnensirup zuhauf, so 269
dass sie sich nach Belieben eindecken können. Allerdings ist der hiesige Sonnensirup nicht mit dem zu vergleichen, der von den Wolkenbauern aus den obersten Wolkenschichten gemolken und nach einem Geheimrezept der Glücksdrachen veredelt wird. Das ist in der Tat ein ganz besonderer Saft und jede Silbermünze wert.« Mittlerweile waren die beiden an einem großen Platz angelangt, dessen eine Seite eine riesige Halle säumte, während sich auf der anderen eine Reihe flacherer Gebäude hinzog. Nach hinten zu allerdings war der die Stadt umhüllende Dunst aufgerissen, so dass Kayún und Atrox ungehindert bis zum weit entfernten Horizont sehen konnten. Am Rand des Platzes blieb Kayún stehen. »Was ist das denn hier?« »Das ist der Platz der Flieger«, erklärte der Gräuelgruseler. »Hier werden die von den Wolkenwebern gefertigten Wolken verladen und dorthin gebracht, wo sie gerade gebraucht werden. Mit Hilfe der Flieger natürlich, die du überall auf dem Platz sehen kannst.« Und wirklich: Auf der großen Fläche, die sich vor ihnen ausdehnte, bemerkte Kayún zahlreiche Gru-Grus, die gerade beladen und zum Abflug fertig gemacht wurden. Diese überaus robusten Lastvögel wurden in weiten Teilen Phantásiens einfach Flieger genannt. Sie ähnelten den Büffelvögeln, die mancherorts als Zugtiere dienten, nur waren sie noch kräftiger und hatten kürzere Hälse. Wegen ihres ätherfarbenen Federkleides waren die Gru-Grus trotz ihrer imponierenden Größe im Blau des Himmels kaum auszumachen, so dass viele Phantasier von ihrer Existenz überhaupt nichts ahnten. Dabei bevölkerten die stolzen Flieger seit undenklichen Zeiten die Lüfte und segelten in großen Schwärmen auf mächtigen Schwingen mit dem Wind dahin. 270
Einzig die Wolkenweber verstanden sich auf die Kunst, sie einzufangen und abzurichten. Einmal an Geschirr und Zügel gewöhnt, leisteten die gezähmten Gru-Grus ihnen gute Dienste. Die Lastvögel vermochten nämlich große Mengen Wolken im Schlepptau über den Himmel zu ziehen. Mal langsam, mal schneller – je nachdem, wie dringend sie an ihrem Zielort gebraucht wurden. Viel wichtiger als der Wolkentransport aber war, dass sie auch die Wolkenweber zu ihren Einsatzorten tragen konnten. Kayún erkannte nun auch, was es mit den verschiedenen Gebäuden auf sich hatte. Das riesengroße diente als Lagerhalle für die fertigen Wolken, während es sich bei den flachen Bauten offenbar um die Ställe der Gru-Grus handelte. Und allmählich wurde ihm auch klar, dass das vermeintliche Durcheinander auf dem Platz der Flieger in Wahrheit einer festen Ordnung gehorchte. Da gab es Wolkenweber, welche die Wolkenballen aus dem Lager holten und auf den Fliegern verstauten. Andere kümmerten sich um die Lastvögel, versorgten sie mit Futter, kontrollierten das Geschirr und die Tragevorrichtungen, reinigten und ordneten ihr Gefieder. Wieder andere passten auf, dass die mächtigen Tiere einander beim Abflug nicht in die Quere kamen und immer genügend Platz für die landenden Flieger vorhanden war. Diese wurden umgehend auf kleinere Blessuren hin untersucht und dann zum Ausruhen in die Ställe gebracht. Und dann gab es noch die Wolkenweber, die an den Zügeln der Gru-Grus saßen und steuerten. Schon an ihrem stolzen Gang war zu erkennen, dass sie sich als etwas ganz Besonderes fühlten. Atrox stieß Kayún an. »Wie wichtig sie sich nehmen, diese Fliegerzügler. Und wie sie auf die anderen herabsehen, als wären die weniger wert als sie. Kein Wunder, dass schon die 271
Wolkenweberjungen davon träumen, dereinst als Fliegerzügler zu arbeiten.« »Das hört sich an, als würdest du nicht viel von ihnen halten?« Atrox verzog die Fratze zu einem hämischen Grinsen. »Wirklich nicht. Es ist nämlich keine allzu große Kunst, einen Flieger zu lenken. Einen kleinen zumindest.« »Willst du etwa behaupten, dass du das auch kannst?« Der Gräuelgruseler nickte. »Natürlich. Das habe ich schon öfter getan.« Der Junge sah ihn skeptisch an. »Öfter?« »Nun ja«, antwortete Atrox gedehnt. »Ein- oder zweimal vielleicht. Ist schon so lange her, dass ich mich nicht mehr genau erinnere. Und jetzt komm endlich weiter.« Damit strebte er auf ein kleineres Gebäude zu, das im Schatten der Wolkenhalle stand. Kayún folgte ihm notgedrungen. »He«, rief er dem Schreckbold hinterher. »Was hast du denn vor?« »Ich will uns einen Flieger leihen, damit er uns auf schnellstem Weg nach Contrario bringt.« Kayún blieb stehen. Er war fassungslos. Atrox musste von allen guten Geistern verlassen worden sein. Oder der blanke Wahnwitz hatte ihn befallen.
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18 DER ÜBERFLIEGER
Q
uält dich dein Gewissen – oder habe ich dir was getan?« Raya sah ihre Tochter forschend an, die mit ihr am Küchentisch saß und Sumpfblütensuppe löffelte. Saranya hob den Kopf und zog eine Schnute. »Weder noch«, erwiderte sie. »Und warum schweigst du dann wie eine Schildkröte vor dich hin?« Das Mädchen kniff nur die Augen zusammen. In ihrem Inneren aber brodelte es. Das Schwebeballspiel rückte immer näher. Deshalb hatte sie geplant, trotz des Stubenarrests kurz vor Spielbeginn über das Dach davonzuschleichen. Sie konnte Colina doch nicht im Stich lassen! Vor Pamina und Pamino zu kneifen kam überhaupt nicht in Frage. Das würde sie doch zum Gespött des ganzen Viertels machen! Nun aber schien ihr Vorhaben ernstlich gefährdet. Als hätte Raya etwas geahnt, hatte sie Saranya entgegen der Anordnung von Herrn Asmus zum Essen in die Küche beordert und ihr verkündet, dass sie danach bei der Wäsche helfen müsse. Tramina hatte sich nämlich am Morgen krankgemeldet, und so benötigte Raya jemanden, der ihr bei der schweren Arbeit zur Hand 273
ging. So ein Pech aber auch! Übellaunig schlürfte Saranya ihre Suppe. Raya musterte sie mit bekümmerter Miene. »Ich will dir ja nicht zu nahe treten«, sagte sie, »aber du hast keinen Grund, dich wie ein störrischer Esel aufzuführen. Die Strafe, die der Vater dir auferlegt hat, hast du einzig und allein dir selbst zuzuschreiben. Ihm Schlüssel und Siegelring zu entwenden und heimlich in den Saal der Weisheit einzudringen ist schon ein starkes Stück. Du weißt doch, dass das allen verboten ist, die nicht zum Kreis der Weisen gehören.« Saranya ließ den Löffel in den Teller fallen, dass die Suppe auf den Tisch spritzte. »Verboten! Verboten!«, äffte sie die Mutter nach. »Ob verboten oder nicht – ich musste es einfach tun! Kannst du das nicht verstehen?« »Wie denn?« Raya, die sich erhoben und einen feuchten Lappen geholt hatte, hielt beim Aufwischen der verschütteten Suppe inne und sah die Tochter mit großen Augen an. »Wie soll ich es denn verstehen können?«, fragte sie mit sanfter Stimme. »Ich habe doch nicht die geringste Ahnung, was du dort wolltest. Du hast dich mir ja nicht anvertraut – leider.« Saranya biss sich auf die Lippen. Raya hatte Recht. Sie kannte ihre Beweggründe doch überhaupt nicht. Wie also könnte sie Verständnis für sie haben? Saranya schluckte. Konnte sie Raya denn vertrauen? Einerseits hatte die Mutter ihr lange, viel zu lange verschwiegen, dass sie ein Findelkind war. Andererseits hatte sie ihr dann jedoch die Wahrheit gesagt, das stand für Saranya seit ihrem Gespräch mit Mutter Gris fest. Auch wenn damit immer noch nicht geklärt war, von wem und unter welchen Umständen sie vor der Haustür des Herrn Asmus abgelegt worden war. Sollte es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, dann war das sicherlich nicht Rayas Schuld. Schließlich hatte sie zur fraglichen Zeit 274
das Bett gehütet. Konnte sie Raya also doch vertrauen – oder lieber nicht? Saranya brauchte eine ganze Weile, bis sie endlich zu einer Entscheidung kam. »Also gut«, sagte sie. »Ich habe mir Zugang zu dem Saal verschafft, weil ich einen Blick in die Bücher des Magisters werfen wollte.« »Des Magisters?« Raya kniff die Augen zusammen. »Du meinst doch nicht etwa ... Philonius Philippo Phantastus?« »Doch.« Saranya nickte. »Genau den.« »Und warum?«, fragte die Mutter mit sichtlicher Anspannung. »Warum wolltest du wissen, was da drin steht?« »Zum einen, weil seine Schriften damals nicht nur verboten worden sind, sondern der Magister und seine Familie auch noch aus der Stadt verbannt wurden. Und den Grund dafür, den hätte ich schon gern erfahren.« »Und zweitens?« »Weil ich seit meinem Gespräch mit Mutter Gris das Gefühl habe, dass es irgendeinen Zusammenhang geben könnte zwischen dem Schicksal des Magisters und meiner ungeklärten Herkunft. Da habe ich eben gehofft, in seinen Büchern vielleicht einen Hinweis zu finden.« Die Mutter sah sie ausdruckslos an. »Und? Warst du erfolgreich?« »Nein.« Saranya schüttelte den Kopf. »Sie sind verschwunden. Spurlos! Dabei bin ich mir sicher, dass sie vor kurzem noch bei den indizierten Büchern standen. Sonst hätte das Raunholzregal sich doch nicht an sie erinnert.« Raya starrte wie abwesend vor sich hin und schwieg. Saranya kam es so vor, als sei sie blass geworden – oder lag das nur an dem matten Licht in der Küche? »Mutter?«, fragte sie besorgt. »Was hast du denn? Ist dir nicht gut?« 275
»Es ... ist nichts, wirklich nichts.« Raya schüttelte den Kopf. »Bitte warte einen Augenblick auf mich«, sagte sie unvermittelt und verschwand aus der Küche. Was sollte das denn wieder bedeuten? Als Raya zurückkam, hielt sie einige Blätter in der Hand. Sie waren verkohlt. »Schau dir das an«, sagte sie und legte die Papiere vor Saranya auf den Tisch. Offensichtlich handelte es sich um die Seiten eines Buchs, die mit knapper Not vor den Flammen gerettet worden waren. Viel hatte es allerdings nicht genutzt. Was nicht angekohlt war, hatte sich durch die Hitze so verfärbt, dass die Zeilen nicht mehr lesbar waren. Nur den Anfang einer Seite konnte Saranya noch entziffern: »Diskurs ... über den ... Ursprung der Geträumten«, las sie. »Von Phi...« Abrupt hob sie den Kopf und blickte Raya mit großen Augen an. »Von Philonius Philippo Phantastus«, sagte sie atemlos, ohne auf das Blatt zu sehen. »Wo hast du das her?« Raya zögerte einen Moment. »Gestern, als ich ins Waschhaus gegangen bin, um alles für den Waschtag vorzubereiten, habe ich zu meiner Überraschung Asmus dort angetroffen.« »Vater?«, fragte Saranya ungläubig. »Ja. Er stand vor dem offenen Schürloch des Waschkessels, und darin brannte ein Feuer. Soweit ich mich entsinne, hat er sich noch nie im Waschraum blicken lassen. Also habe ich ihn gefragt, was er da mache.« »Und? Was hat er geantwortet?« »Er hat nur rumgedruckst und sich dann schleunigst verzogen. Wodurch mein Misstrauen natürlich erst recht geweckt wurde. Ich habe mich vor das Schürloch gekniet, um nachzusehen, was er verbrannt hat.« »Und?«, fragte Saranya, obwohl sie die Antwort schon ahnte. 276
»Es waren Bücher, drei Bücher, soweit ich es erkennen konnte. Denn das Feuer hatte sie schon ziemlich zerfressen.« »Und was hast du dann gemacht?« »Zum Schürhaken gegriffen und die brennenden Überreste herausgezogen. Viel konnte ich allerdings nicht mehr retten. Das hier« – sie deutete auf die verkohlten Blätter – »ist alles.« Ungläubig starrte das Mädchen die Mutter an. »Aber warum hat er das gemacht?« »Das habe ich ihn auch gefragt, als du endlich im Bett warst.« Da erinnerte sich Saranya wieder. »Deshalb also habt ihr euch gestern Abend gestritten?« »Ja.« Die Mutter sah sie überrascht an. »Aber woher ...?« »Ist doch unwichtig«, warf das Mädchen schnell ein. »Was hat Vater denn gesagt?« »Zunächst wollte er mich mit Ausflüchten abspeisen. Wie es so seine Art ist, wenn ihm eine Frage nicht behagt.« Saranya nickte in Gedanken. Das hatte auch sie schon allzu häufig erlebt. »Die Bücher seien völlig belanglos, hat er behauptet. Aber ich wusste, dass das nicht stimmen konnte. Ich erinnerte mich doch genau, wie viel Staub die Sache damals aufgewirbelt hat. Die Schriften wären doch nicht verboten worden, wenn sie belanglos wären.« »Und wie hat Herr Asmus darauf reagiert?« »Als er einsehen musste, dass er mit seinen Ausflüchten nicht mehr weiterkam, hat er schließlich behauptet, dass er keine andere Wahl hatte. Er habe es tun müssen, weil er dich schützen wollte.« »Was?« Saranya klappte vor Verwunderung der Mund auf, und das Blut wich ihr aus den Wangen. »Mich schützen?« Raya nickte. 277
»Aber wovor denn? Oder vor wem?« Die Mutter zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Saranya. Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
\ Als Kayún Meister Cumulus erblickte, glaubte er im ersten Moment Meister Cirrus vor sich zu haben, so verblüffend war die Ähnlichkeit zwischen den beiden Wolkenwebern. Erst auf den zweiten Blick fiel ihm auf, dass Cumulus etwas dicker und von eher geballter Statur war. Und als Atrox ihn begrüßte, begriff Kayún auch, woher die Ähnlichkeit zwischen Cirrus und Cumulus rührte. »Euer Bruder hat mir erzählt, dass Ihr sehr beschäftigt seid«, hob der Schreckbold an. »Verzeiht also die Störung.« »Wenn Ihr wisst, dass ich viel zu tun habe«, blaffte der Angesprochene, »warum belästigt Ihr mich dann?« »Nun, ich wollte Euch um einen Gefallen bitten.« »Um einen Gefallen bitten?« Es hätte nicht viel gefehlt, und Blitze wären aus den funkelnden Knopfaugen gefahren. »Beim Wirbelwind und Schauersturm – wer tut mir denn einen Gefallen? Alles geht drunter und drüber im Augenblick, und jeder schreit nach frischem Gewölk. Die Kiemlinge im Land der Glitzernden Seen verlangen unverzüglich nach fetten Regenwolken, weil der Wasserstand in ihren Gewässern immer mehr absinkt. Und den Donnerriesen ist gerade erst eingefallen, dass sie für heute Abend unbedingt eine mit Blitzen geladene Unwetterfront benötigen, weil ihre Gewitterziegen sonst abmagern. Beim Tosen eines Sturmes nämlich schlingen sie vor lauter Angst so viel Futter in sich hinein, dass sie ordentlich Fleisch auf die Rippen bekommen. Aber wie ich das alles schaffen soll, das fragt mich niemand – und 278
da kommt Ihr einfach so daher und verlangt, dass ich Euch einen Gefallen tue!« »Nun«, antwortete Atrox behutsam, »wir würden Euch nicht belästigen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.« »Wichtig! Wichtig!«, ereiferte sich der Wolkenweber. »Hört mir doch auf damit! Heutzutage meint doch jeder, ausgerechnet sein Anliegen wäre das Allerwichtigste von allen. Also – was wollt Ihr?« Der Schreckbold ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wir wollten Euch bitten, uns einen Eurer Flieger...« »Einen Flieger wollt Ihr?« Die Knopfaugen von Meister Cumulus wurden groß vor Erstaunen. »Ausgerechnet einen Flieger? Ihr seid wohl nicht recht bei Verstand! Ich weiß doch so schon nicht, wie ich alle Aufträge fristgerecht erledigen soll – und da fragt Ihr nach einem meiner Flieger? Ausgeschlossen! Völlig ausgeschlossen!« Dazu zog er ein derart finsteres Gesicht, als würde es von einem Dutzend Gewitterwolken verschattet. Kayún und Atrox waren fast schon aus der Tür, als Meister Cumulus ihnen noch nachrief: »Wozu braucht Ihr den Flieger überhaupt?« »Die Schwester meines jungen Freundes hier« – der Gräuelgruseler deutete auf den Jungen – »ist in die Hände der Traumfänger gefallen. Wir wollen sie befreien und müssen deshalb schnellstens nach Contrario.« »Was?« Meister Cumulus’ Gesichtchen verzerrte sich vor Erstaunen. »Warum sagt Ihr das denn nicht gleich? Das lässt die Sache doch in einem ganzen anderen Licht erscheinen!« Er legte eine seiner vier Hände ans Kinn. »Mal sehen, ob ich nicht doch was für Euch tun kann.« Wenig später standen sie zusammen mit dem Wolkenweber in einem kleinen Nebengebäude, in dem sich lediglich 279
drei Volieren befanden. Die Flieger darin schienen recht munter zu sein. Unruhig stolzierten sie auf ihren langen Beinen in den Käfigen umher, als könnten sie es gar nicht erwarten, sich in die Lüfte zu erheben und mit dem Wind um die Wette zu segeln. »Ich könnte Euch diese Racker hier zur Verfügung stellen«, sprach Meister Cumulus. »Allerdings nur, wenn Ihr das möchtet.« »Aber ja doch!« Atrox strahlte über die ganze breite Schreckboldfratze. »Mit dem größten Vergnügen!« »Gemach. Nur gemach!«, wehrte der Wolkenweber ab. »Vielleicht sollte ich ein paar Worte der Erklärung vorausschicken.« Kayún warf dem Gräuelgruseler einen fragenden Blick zu. Doch Atrox zuckte nur mit den Schultern und schaute dann Meister Cumulus neugierig an. »Diese Gru-Grus hier sind neu und noch nicht richtig erprobt«, begann dieser. »Sie zählen zu den weniger gebräuchlichen Arten, außerdem ist ihre Ausbildung noch nicht ganz abgeschlossen, so dass wir sie im normalen Betrieb noch nicht verwenden dürfen. Aber wenn Ihr es wirklich eilig habt...?« »Das haben wir«, brummte Atrox, »wie Ihr Euch bestimmt vorstellen könnt!« »Nun denn – sucht Euch einen von den dreien hier aus. Welchen möchtet Ihr denn?« Er deutete der Reihe nach auf die verschiedenen Käfige. »Den Überflieger? Den Himmelsstürmer? Oder den Luftikus?« Atrox warf die wulstigen Lippen auf. »Hm«, brummte er. »Welchen würdet Ihr denn nehmen?« Meister Cumulus zog die Schultern hoch. »Das ist ganz allein Eure Entscheidung. Die nötigen Anlagen für einen guten Flieger besitzen sie alle drei, aber jeder von ihnen hat seine 280
Vorzüge und Schwächen. Das Für und Wider will deshalb wohl bedacht sein.« Der Wolkenweber trat an den ersten Käfig heran und deutete auf den darin befindlichen Lastvogel. »Das hier ist ein Himmelsstürmer. Er ist schnell und voller Tatendrang und lässt sich durch nichts schrecken.« Auch Kayún machte einen Schritt nach vorn und musterte den Flieger. Äußerlich unterschied er sich kaum von anderen Exemplaren seiner Art: Er hatte ein ätherblaues Gefieder, war von kräftiger Statur und konnte sicherlich zwei bis drei Personen auf dem Rücken tragen sowie zusätzliche Last, falls das nötig war. Lediglich sein Blick erschien Kayún eine Spur forscher und kühner als der seiner Artgenossen. »Andererseits«, fuhr Meister Cumulus fort, »neigt der Himmelsstürmer dazu, sich zu überschätzen und größere Risiken einzugehen. Was immer die Gefahr eines plötzlichen Absturzes in sich birgt.« Atrox deutete auf den Nachbarkäfig. »Und wie verhält es sich mit dem Luftikus?« »Ähnlich, wirklich ähnlich«, antwortete der Wolkenweber. »Er ist ein durchaus angenehmer Geselle und Spaß und Scherzen überaus zugetan. Allerdings ist er häufig viel zu sorglos, was gleichfalls zu unliebsamen Überraschungen führen kann.« Der Schreckbold schien sich immer noch nicht entscheiden zu können. »Wenn ich Euch recht verstehe, Meister Cumulus, würdet Ihr mir also zu dem Überflieger hier raten?« Damit trat er vor die dritte Voliere. »Stimmt«, pflichtete der Wolkenweber ihm bei. »Den würde ich Euch in der Tat empfehlen. Zumal Ihr ihn ja nur für kurze Zeit benötigt.« »Richtig.« Der Gräuelgruseler nickte. »Er muss uns nur bis Contrario bringen. Dort sehen wir dann weiter.« 281
»Bis dahin sollte es der Überflieger allemal schaffen. Sie sind nämlich bekannt dafür, dass sie besonders zu Beginn rasend schnell vorankommen. Nichts scheint sie aufhalten zu können, und erst später, wenn die Strecke länger und mühseliger wird, offenbaren sie ihre Schwächen. Es mangelt ihnen häufig an der nötigen Ausdauer, und der große Schwung des Anfangs geht ihnen meist recht bald verloren. Aber bis es so weit ist, müsstet Ihr längst in Contrario sein.«
\ Yor, der Blinde Bergmann, saß am Holztisch seiner kleinen Hütte, die aus einem einzigen Raum bestand. Nur das Prasseln des Feuers im offenen Herd, das sein bart- und faltenloses Gesicht beleuchtete, durchbrach die grenzenlose Stille, die ihn umfing. Wie er so dasaß, in seinem grauen Gewand, mit grauen Haaren und völlig reglos der Stille lauschend, erinnerte er an einen großen grauen Stein, der rein zufällig seine Konturen angenommen hatte. Aber Zufälle gab es nicht in Phantásien, wo selbst das Sinnlose einen Sinn hatte, und so hatte auch Yors Aussehen einen besonderen Grund – doch dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Der Blinde Bergmann also saß am Tisch, der schmucklosen Holzwand zugewandt. Mit einem Mal trat ein Glimmen wie von einer kleinen Flamme in seine dunklen Augen, und er bewegte kaum wahrnehmbar den Kopf. Yor lauschte auf ein Geräusch, das von weit her an sein Ohr gedrungen war. Sein Ursprung musste noch jenseits der endlosen Schneefläche liegen, die sich nach allen Seiten seiner Hütte erstreckte, so weit entfernt, dass niemand außer ihm es hätte hören können und dass selbst er noch nicht erkannte, wer es verursacht hatte. 282
Vielleicht das Menschenkind, auf das er nun schon so lange vergeblich wartete, dass er bereits befürchtete, es würde ihn niemals finden? Oder doch jener seltsame Phantasier, der sich als einer von ganz wenigen die Mühe gemacht hatte, ihn aufzuspüren und mit allerlei Fragen zu bestürmen? Wie enttäuscht war er gewesen, als er auf den Marienglasbildern nichts hatte erkennen können. Dabei war es einfach nur dumm von ihm, Derartiges zu erwarten! Er war doch weder ein Menschenkind noch ein Geträumter, und so war es ihm nun mal nicht möglich, die vergessenen Träume der Menschen zu sehen! Hatte er das wirklich nicht gewusst – oder nur nicht wahrhaben wollen? Jedenfalls war er tief enttäuscht und ohne große Hoffnung wieder von dannen gezogen. Kehrte er nun zurück? Oder war es jemand anderes, der sich Yors Hütte und dem Bergwerk näherte? Der Blinde Bergmann blieb ruhig an seinem Tisch sitzen. Es würde noch eine Weile dauern, bis der Unbekannte bei ihm ankam, und bis dahin konnte er sich der Stille hingeben, auch wenn sie nicht ganz vollkommen sein würde.
\ Seit Stunden schon segelten sie auf dem Rücken des Überfliegers durch den blauen Äther. Ein breiter Gurt hielt Kayún in einem sattelähnlichen Sitz fest, damit er nicht in die Tiefe stürzte. Der Wind rauschte in seinen Ohren und zerrte an Kleidung und Haaren. Vor ihm saß Atrox und hielt die Zügel des Fliegers fest in seinen Krallenhänden. »Was sagst du jetzt?«, rief er ihm durch das Brausen des Windes zu. »Habe ich dir etwa zu viel versprochen?« 283
Kayún lächelte still vor sich hin. Das Land unter ihnen schien nur so vorbeizuhuschen. Trotz der großen Höhe konnte er hier und dort vertraute Wegmarken erkennen. Was ihm zum einen zeigte, dass die Regionen, die sie überflogen, vom Veränderungsdrang des Menschenkindes verschont geblieben waren, und zum anderen, wie unerhört schnell sie vorankamen. Aber das brauchte er vor Atrox noch lange nicht zuzugeben! Er beugte sich vor und schrie dem Gräuelgruseler ins leuchtend grüne Muschelohr: »In der Tat, Atrox, es scheint nicht allzu schwer, einen Flieger zu lenken.« »Da hör sich einer diesen Knirps an!«, tönte die unwirsche Antwort durch den Wind. »Wenn man etwas kann, ist alles leicht. Aber wenn du es selbst versuchen möchtest – bitte schön!« Auffordernd hielt er ihm die Zügel hin. »Danke, vielen Dank!«, wehrte Kayún ab. »Der Flieger war einzig und alleine deine Idee.« Dann konnte er das Grinsen nicht länger unterdrücken. »Deshalb möchte ich dich auch nicht um dein Vergnügen bringen.« »Jetzt macht er sich auch noch über mich lustig!«, empörte sich der Gräuelgruseler. »Na, warte! Dir werden wir es schon zeigen – nicht wahr, Ikarus?« Damit war wohl der Überflieger gemeint, denn der stieß einen krächzenden Laut aus und wackelte mit den Schwingen. Kayún wurde kräftig auf seinem Sitz hin und her geschüttelt, und sein Magen schien einen Purzelbaum zu schlagen. Unwillkürlich schnappte er nach Luft und krallte sich an Atrox’ Rücken fest. »Das macht Spaß, nicht wahr?« Lachend drehte der Schreckbold sich um. »Du bist ja ganz grün im Gesicht«, wunderte er sich. »Nur keine Angst. Eine solche Schaukelei ist ganz normal und bietet keinerlei Anlass zur Besorgnis.« Kayún verspürte ein Würgen in der Kehle. Der Kerl hatte 284
leicht reden! Schließlich war Atrox schon mehrmals geflogen, während es für ihn die erste Reise mit einem Flieger war. Zum Glück ließ der Würgereiz bald nach, und auch das flaue Gefühl im Magen legte sich wieder. Wenn er sich nicht allzu sehr täuschte, musste es sich bei dem weiten flachen Land unter ihnen um die grünen Weiden und Wiesen der Gourmesen handeln. Erst im letzten Sommer hatte er mit seinem Vater Erwein einige Zeit bei ihnen verbracht. Die Gourmesen betrieben Landwirtschaft, hegten Pflanzen und Früchte aller Art und züchteten Kühe, Schafe, Ziegen und andere Nutztiere. Das Fleisch ihrer Tiere hatte einen leicht salzigen Geschmack, und selbst ihre Milch schmeckte nach Salz. Einige schworen darauf und konnten gar nicht genug davon bekommen, während andere sich mit Grausen abwandten. Dieser ganz besondere Geschmack jedenfalls rührte von den salzigen Weiden her, auf denen die Tiere grasten. Das Land der Gourmesen grenzte nämlich an das Große Schlafmeer, das für seinen hohen Salzgehalt bekannt war. Da ständig eine steife Brise vom Meer her wehte, lagerte sich das Salz auf Gräsern und Pflanzen ab und gelangte so in die Mägen der Tiere. Kayún spähte in die Ferne und sah am südlichen Horizont ein riesiges Gewässer, das im Licht der tief stehenden Sonne gleißte: das Große Schlafmeer. Und am Ufer, dort, wo sich ein mächtiger Strom in die See ergoss, meinte er auch schon die Konturen einer Siedlung ausmachen zu können: Contrario, die berühmt-berüchtigte Hafenstadt. Er selbst kannte sie bisher allerdings nur vom Hörensagen. »Die Stadt dort«, rief er Atrox zu, »das ist doch Contrario, oder?« Der Gräuelgruseler drehte sich zu ihm um. Seine Miene drückte, ihrer Grauslichkeit zum Trotz, Zufriedenheit aus, und seine Augen strahlten. »Ganz recht, mein Kleiner, ganz 285
recht. Ich habe dir doch versprochen, dass wir die altehrwürdige Hafenstadt noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.« Er wandte sich wieder nach vorn, schnalzte mit der Zunge und zog leicht am Zügel. »Ho, Ikarus, ho!«, rief er. »Bereit machen zum Sinkflug!« Der Überflieger krächzte erneut auf und kippte dann vornüber. Die jähe Bewegung presste Kayún die Luft aus der Lunge, so dass er um Atem ringen musste. Die Stadt, die eben noch in weiter Ferne gelegen hatte, kam rasend schnell näher. Bald schon konnte er die mächtige Stadtmauer und einzelne Häuser erkennen. Ebenso wie den Hafen am Ufer des Großen Schlafmeers, in dem zahlreiche Segelschiffe ankerten. »Gibt es in Contrario auch einen Platz für Flieger?«, rief er seinem Gefährten zu. »Nein«, antwortete Atrox, während er die Flugbahn des Überfliegers immer wieder durch einen leichten Zug am Zügel korrigierte. »Nur die Wolkenweber verfügen über eine solche Einrichtung. Deshalb müssen wir vor den Toren von Contrario landen.« Wenn das mal gut geht, dachte Kayún. Sicherlich hatte Meister Cumulus nicht ohne Grund erwähnt, dass die Ausbildung des Überfliegers noch nicht abgeschlossen war. Seine Befürchtungen sollten sich als begründet erweisen. Zunächst setzten sie problemlos auf der großen Wiese auf, die Atrox als Landeplatz gewählt hatte. Der Überflieger befand sich bereits im Auslaufen, als es ihn doch noch erwischte: Anscheinend hatte er sich in der Geschwindigkeit verschätzt, so dass er über das Ende der Wiese hinausschoss und über einen flachen Holzzaun stolperte. Kopfüber stürzte der Flieger in die angrenzende Sumpfwiese. Das war immerhin noch Glück im Unglück, denn der feuchte und schlammige Grund 286
dämpfte die Wucht ihres Sturzes, der für alle Beteiligten recht glimpflich verlief. Sie rappelten sich auf und prüften ihre Blessuren. Atrox hatte eine Schulterprellung davongetragen, Kayún sich die Wange ein wenig aufgeschürft. Der Überflieger aber humpelte stark. Offenbar hatte er sich ein Bein vertreten. Alle drei waren sie über und über mit Schlick bedeckt, so dass sie beinahe wie die berüchtigten Morkelmoorgeister aussahen. »Meinst du, die lassen uns so dreckig in die Stadt?«, fragte Kayún, während er den ebenfalls schlammverkrusteten Rucksack des Lawinenwichts vom Rücken des Fliegers abschnallte. »Ich denke schon«, antwortete der Schreckbold. »In einer Hafenstadt ist man sicherlich Schlimmeres gewohnt.« Dann wandte er sich an den Lastvogel. »Was machen wir nur mit dir, Ikarus? In diesem Zustand kannst du doch unmöglich zurückfliegen.« Ikarus reckte den Hals und krächzte rau. Der Gräuelgruseler hatte Meister Cumulus versprochen, den Überflieger nach der Ankunft in Contrario umgehend zu den Wolkenwebern zurückzuschicken. Aber mit dem verletzten Bein und dem schmutzverklebten Gefieder konnte Ikarus das unmöglich schaffen. »Weißt du was, mein Kleiner?«, sagte der Schreckbold zu Kayún. »Wir nehmen Ikarus einfach mit, damit er sich ausruhen und säubern kann. Und für eine Nacht sollte es auf einen Reisenden mehr auch nicht ankommen, oder?« Er nahm den Überflieger am Zügel, und die drei ungleichen Gefährten marschierten auf das Stadttor zu. Als sie näher kamen, trat ein Soldat in meerblauer Uniform aus dem Wachhäuschen neben dem Tor. Er trug eine Flinte mit aufgepflanztem Bajonett in der Hand und lächelte sie 287
freundlich an. »Immer weiter, die Herrschaften!«, raunte er ihnen zu. »Und ich will auch gar nicht wissen, wer Ihr seid.« Kayún wunderte sich. Warum stellten sie einen Wächter ans Tor, wenn der die Besucher doch nicht kontrollierte? Er erwiderte das Lächeln des Uniformierten und schritt durchs Stadttor. »Weiter!«, erklang es in seinem Rücken, noch leiser und freundlicher als zuvor. »Will er wohl weitergehen!« Was ist das bloß für ein komischer Kauz?, dachte der Junge gerade, als er Atrox’ aufgeregte Stimme vernahm: »Bleib stehen, mein Kleiner!«, brüllte der Gräuelgruseler. »Bleib endlich stehen!« Verwundert drehte Kayún sich um – und da sah er, dass der Wachsoldat die Flinte auf ihn angelegt hatte. Sein Zeigefinger krümmte sich schon um den Abzug, aber dazu strahlte er ihn an wie eine wahnwitzige Schlamuffe!
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19 CONTRARIO
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töhnend warf sich Gork auf seinem schäbigen Lager herum. Die Wunden an seinen Beinen taten immer noch höllisch weh. Der Feuerkobold, in dessen Behausung er untergeschlüpft war, hatte sie zwar mit einer heilenden Tinktur bestrichen und mit Leinenbinden umwickelt. Dennoch fieberte Gork und hatte sich während der ganzen Nacht wie im Wahn auf seinem Lager gewälzt. Die Visage jenes Fremden war ihm unablässig durch den Kopf gegeistert. Dieser verfluchte Kerl! Wie kam er nur dazu, sich in seine Angelegenheiten einzumischen! Ihm den Spaß zu verderben! Und Spaß hätte er bestimmt gehabt mit diesem Bastard des Hohen Herrn. Wieder stöhnte Gork auf. Verflucht, tat das weh! Aber dafür würde der Kerl büßen. Er würde es ihm heimzahlen, doppelt und dreifach! Wenn ihm nur einfiele, woher er diesen Mann kannte! Mühsam richtete er sich auf, griff nach dem irdenen Becher neben seinem Lager und schlürfte den Rest des längst erkalteten Tees, den ihm der Feuerkobold am Morgen aufgegossen hatte. Angewidert verzog er das Gesicht. 289
Sicherlich hatte sein Gastgeber es gut gemeint. Aber musste der Kobold ihm ausgerechnet Vierkräftetee vorsetzen? Wusste er denn nicht, dass Gork dieses Gebräu hasste wie die Pest und ihm schon vom bloßen Geruch übel werden konnte? Wie damals bei der Alten, deren ganzes Haus danach gestunken hatte! Es war so schlimm, dass er sich beinahe übergeben hätte. Und zu allem Übel hatten sie dort nichts als wertlosen Plunder gefunden ... Mit einem Mal erstarrte Gork und stierte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin – und plötzlich erinnerte er sich wieder. Ja, genau! Deshalb war der Kerl ihm die ganze Zeit so bekannt vorgekommen! Er warf die Bettdecke zur Seite und erhob sich vom Lager. Als er seine Beine auf dem Boden aufsetzte, zuckte er mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Doch schon nach wenigen Schritten ging es besser als erwartet. Er humpelte in eine Zimmerecke und öffnete die Truhe, in der er seine Habseligkeiten aufbewahrte. Die zerfledderte Kladde war unter einem zerschlissenen Gewand verborgen. Gork nahm sie aus der Truhe und zog das zusammengefaltete Stück Papier heraus, faltete es auseinander und starrte auf die Zeichnung, die sich darauf befand. Es war die grobe Skizze eines Mannes, hingeworfen mit raschen Kohlestrichen. Er war nicht besonders groß und von schlanker Gestalt. Auch wenn die Zeichnung gut zehn Sommer alt sein mochte, war Gork sich sicher: Das war der Kerl, der ihm gestern den Spaß vermasselt hatte. Der junge Unhold grinste. Wie der Zufall doch manchmal so spielte! Der Kerl würde es noch bereuen, ihm in die Quere gekommen zu sein. Rasch packte er die Kladde wieder weg und schloss die Truhe. Dann warf er sich sein Gewand über, faltete die Zeich290
nung zusammen, ließ sie unter dem Gewand verschwinden und humpelte eilends aus dem Zimmer.
\ Atrox schüttelte den Kopf. »Wie kann man nur so töricht sein!«, schimpfte er und schaute Kayún vorwurfsvoll an. »Noch einen Schritt weiter, und die Torwache hätte dich über den Haufen geknallt – stimmt’s, Ikarus?« Der Überflieger, der neben den beiden Gefährten durch die Straßen von Contrario humpelte, wippte mit dem schlanken Hals und krächzte zustimmend. Kayún zog ein zerknirschtes Gesicht. »Tut mir Leid. Aber ich hatte einfach vergessen, dass die Einwohner von Contrario immer das Gegenteil von dem meinen, was sie sagen.« »Nicht nur von dem, was sie sagen«, rief der Gräuelgruseler aus, »sondern von allem, was sie machen! Merk es dir endlich, mein Kleiner.« »Das heißt, wenn sie mich anlächeln, meinen sie es eigentlich böse – und wenn sie eine finstere Miene ziehen, freuen sie sich, mich zu sehen?« »Sehr gut, mein Kleiner!« Die Ironie in Atrox’ Stimme war nicht zu überhören. »Kaum zu glauben, wie schnell du etwas kapierst!« Kayún verschluckte die bissige Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Es brachte ja doch nichts, sich mit dem Schreckbold anzulegen. Dennoch wurmte es ihn, dass er ihn wie ein kleines Kind behandelte – oder meinte er es am Ende gar nicht so? Er musterte ihn verstohlen. Atrox sah eigentlich ganz ernst aus und blickte genauso grauslich drein wie immer. Trotzdem – die Frage musste geklärt werden: »Hast du das jetzt ernst gemeint – oder nicht?« 291
Der Gräuelgruseler schüttelte sich. »Natürlich habe ich das ernst gemeint. Warum fragst du?« »Na ja.« Kayún kratzte sich am Kopf. »Wir sind doch in Contrario, und eben noch hast du gesagt, dass man hier immer genau das Gegenteil von dem sagt, was man eigentlich meint.« »Stimmt.« Atrox blieb stehen, so dass die drei Gefährten eine schlammige Insel im Strom der phantásischen Geschöpfe bildeten, die sich durch die engen Straßen drängten. »Aber was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Ich bin ja kein Einwohner von Contrario!« »Ja, verstehst du denn nicht?«, sagte Kayún aufgeregt. »Schau dich nur mal um. Hier gibt es doch Angehörige fast aller Völker des phantásischen Reichs!« Damit deutete er auf die Menge, die sie umflutete. Darunter waren Grasleute, Sassafranier, Amargänther und Gourmesen. Blaue, grüne und gelbe Dschinns. Winzlinge, Schreckbolde, Okulanten und wie die ihm bekannten Wesen sonst noch alle heißen mochten. Aber es gab mindestens ebenso viele Geschöpfe, die er weder einer bestimmten Region noch einem speziellen Volk zuordnen konnte und deren Namen er schon gar nicht kannte. »Sind das alles Einwohner von Contrario oder nicht?« »Natürlich nicht!« Der Gräuelgruseler verzog unwirsch das Gesicht. Auch Ikarus blickte ratlos zwischen dem Gräuelgruseler und dem jungen Insomnier hin und her. »Siehst du«, sagte Kayún, »genau das ist das Problem.« »Wie?« Atrox schien immer noch ohne jede Ahnung. »Warum sollte es ein Problem sein, dass einige auf Besuch hier sind und andere ihren Geschäften nachgehen? Wieder andere befinden sich vielleicht ebenso auf Durchreise wie wir. Das alles ist nur normal für eine Hafenstadt – und bestimmt kein Problem!« 292
»Und woher soll ich dann wissen, ob ich es mit einem Contrarier zu tun habe oder nicht?«, fragte Kayún. »Wenn ich zum Beispiel jemanden etwas frage: Woher weiß ich, ob ich seine Antwort für bare Münze nehmen kann – oder ob er genau das Gegenteil von dem meint, was er sagt?« Atrox kratzte sich den Schädel, riss seine großen Augen noch weiter auf und stierte vor sich hin. »Ach, das meinst du«, sagte er endlich und schluckte. Der Überflieger tat es ihm gleich. Was reichlich merkwürdig aussah bei seinem langen Hals. Kayún kam nun erst recht in Fahrt. »Die Frage ist also: Nimmt man in dem Moment, wenn man Contrario betritt, die merkwürdigen Gepflogenheiten seiner Einwohner an, oder muss man sich erst für eine gewisse Zeit hier aufhalten, bis es so weit ist?« »Ich nehme doch das Zweite an«, brummte der Gräuelgruseler unschlüssig. »Jedenfalls, wenn ich von mir ausgehe.« »Und wie lange dauert es, bis es so weit ist? Einen Tag? Zwei Tage? Oder mehr?« »Woher soll ich das wissen?« Der Gräuelgruseler verzog unwirsch das Gesicht. »Fragen wir doch einfach jemanden.« »Das ist aber mal eine gute Idee!« Kayún musste grinsen. »Und woher willst du wissen, ob er meint, was er sagt – und nicht das Gegenteil?« Atrox starrte nur stumm vor sich hin. Auch Ikarus sah reichlich verwirrt aus. Und was hatte es zu bedeuten, dass der junge Mann, der auf sie zukam, sie so finster ansah, dass man fast Angst bekommen konnte? »Haut ab, ihr widerwärtigen Kreaturen!«, blaffte der Kerl. »Ihr seid hier nicht willkommen. Und ich weiß auch gar nicht, wie ich euch helfen kann. Ich kenne nur die schlechtesten Unterkünfte weit und breit, wo es überdies 293
den abscheulichsten Fraß gibt, den ihr euch vorstellen könnt! Also weg hier – oder ihr werdet es bereuen.« Meinte er das nun wörtlich – oder wollte er das Gegenteil des Gesagten zum Ausdruck bringen? Kayún wusste es einfach nicht. Eine bange Ahnung befiel ihn: Ausgerechnet in Contrario Mitstreiter für ihren Kampf gegen die Traumfänger zu suchen war wohl doch keine sonderlich gute Idee gewesen. Wie sollte man herausfinden, ob jemand seinen Treueschwur ernst meinte? »Jetzt reicht’s mir aber mit deinem unschlüssigen Grimaffengeglotze!«, drang Atrox’ ungehaltene Stimme an sein Ohr. »Ich vergehe vor Hunger und Durst und muss mich endlich säubern. Das jedenfalls weiß ich ganz sicher – und meine es auch genau so, wie ich es gesagt habe.«
\ Als die Sonne unterging und sich die Dunkelheit langsam über Phantásien senkte, wurde Elea klar, dass die traurige Karawane endlich an ihrem Ziel angekommen war. Außer der ärmlichen Hütte und dem dahinter aufragenden hölzernen Förderturm konnte sie jedenfalls auf der schier endlosen Schneefläche weit und breit kein anderes Gebäude erkennen, das der Frau mit den verschiedenfarbigen Augen und den Traumfängern als Ziel dienen könnte. Xayíde war ihr Name, jedenfalls nach den Worten von Kréak, dem Insomnierjungen, der fast genau in Eleas Alter und mit einem Seil an sie gefesselt war. Seit Stunden schon schleppten sie sich durch die plane Schneewüste und hielten schnurgerade auf die Hütte zu, die anfangs nur ein winziger Fleck am Horizont gewesen war, um dann mit quälender Langsamkeit immer größer zu wer294
den. Zuerst hatte Elea sich noch gewundert, was Xayíde und ihre Schwarzen Kumpane dort verloren haben mochten. Warum hatten sie sich ausgerechnet diesen einsamsten aller einsamen Flecken in Phantásien als Ziel ausgesucht? Eine einleuchtende Antwort war ihr nicht eingefallen, und auch das knappe Dutzend ihrer Leidensgenossen – allesamt Insomnier wie sie selbst, und nicht einer davon zählte mehr als zwanzig Sommer – hatte ihr keine Erklärung nennen können. Beim Anblick des Förderturms schließlich war ihr ein Verdacht gekommen: Vielleicht gab es hier ein Bergwerk, in dem man sie zu Sklavendiensten zwingen würde? Kréak hatte ihr allerdings etwas ins Ohr geflüstert, das sie an ihrer Vermutung wieder zweifeln ließ: Er war mitsamt seinem Vater und seinen beiden Oheims von den Traumfängern überrascht worden. Obwohl allesamt kräftige Männer im besten Alter, waren sie machtlos gewesen gegen die Schwarzen Kreaturen und hatten sich ihnen nach kurzem Kampf ergeben. Zu Kréaks Entsetzen hatten die Werwesen seine Verwandten getötet und nur ihn gefangen genommen. Aber hätten sie das getan, wenn sie darauf aus wären, Arbeitssklaven anzufangen? Hätten ihnen die Männer in diesem Fall nicht weitaus bessere Dienste leisten können als die viel schwächeren Heranwachsenden? Mit Sicherheit! Deshalb nahm Elea nun auch an, dass Xayíde und die Schwarzen Kreaturen ganz andere Pläne mit ihnen hatten – fragte sich nur, welche Pläne. Die Hütte war noch ein geraumes Stück entfernt, als der Mond am wolkenlosen Himmel aufstieg. Mehr und mehr wurde die weite Schneefläche von seinem bleichen Licht erhellt. Als die blasse Scheibe schließlich ein gutes Stück über dem Horizont stand, begann es hinter dem Förderturm zu gleißen und zu glitzern, als lägen dort endlose Reihen großer Spiegel auf dem Boden. Elea hatte Derartiges noch nie erlebt. 295
Woher mochte dieses glänzende Licht wohl rühren? Handelte es sich um Reflexionen des Mondlichts – oder gab es dort eine andere Quelle, welche die Nacht erhellte? Nun endlich hatten sie die Hütte erreicht. Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann trat heraus. Es war ein Greis von hoher Gestalt. Er ging ungebeugt, und alles an ihm war grau: Haare, Gesicht und Gewand. Seine dunklen Augen waren starr auf die Ankömmlinge gerichtet. »Was wollt Ihr von mir, Xayíde?«, sprach er die Frau im violetten Gewand an, die an der Spitze der kleinen Karawane schritt. »Warum stört Ihr die Stille?« Ein kaltes Lächeln legte sich auf Xayídes bleiches Gesicht, das im fahlen Mondlicht dem Antlitz einer Toten glich. »Ihr erstaunt mich immer wieder, Yor. Man nennt Euch den Blinden Bergmann, und dabei könnt Ihr besser sehen als die meisten Adlerleute.« »Ihr vergesst, dass meine Augen nur im Licht blind sind«, entgegnete Yor, und nicht der geringste Anflug von Furcht zeichnete sein Gesicht. »In der Dunkelheit aber können sie alles sehen. Und Euch natürlich ganz besonders, Xayíde.« Ein höhnisches Lachen entrang sich der Frau, und auch die Traumfänger, die bis dahin stumm dabeigestanden hatten, ließen nun gurgelnde Laute hören, die wohl ein Lachen darstellen sollten. »Was wollt Ihr von mir?«, fragte Yor. Xayíde machte einige Schritte auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm stand. »Könnt Ihr Euch das nicht denken? Wir wollen Euch Gesellschaft leisten. Damit ihr nicht so einsam seid beim ... Warten.« Yor entgegnete nichts, doch Elea war es, als hätte sie ein Zucken um seine Mundwinkel wahrgenommen. »Ihr habt Euch gut im Griff«, fuhr Xayíde fort, und Elea 296
konnte nicht unterscheiden, ob sie ihre Worte ernst meinte oder den alten Mann verhöhnte. »Aber es nützt Euch nichts. Ich weiß nämlich, auf wen Ihr wartet – und was dieser Jemand hier sucht.« Mit schnellen Schritten umkreiste sie den reglos dastehenden Alten und betrachtete ihn lauernd von allen Seiten. »Nur kann dieser Narr nicht wissen, dass ich seine Pläne besser kenne als er selbst – und deshalb wird er auch nicht mehr zurückfinden in seine Welt. Niemals! Ich werde ihn wieder in meine Gewalt bringen. Und diesmal wird es kein Entrinnen mehr für ihn geben – und Ihr, Yor, Ihr werdet dabei helfen.« Auf ihren Wink hin stürzten sich zwei Schwarze Kreaturen auf den Greis, zwangen ihm die Hände auf den Rücken und fesselten ihn. Mit einem Kopfnicken bedeutete Xayíde ihren Vasallen, ihn mitsamt den Gefangenen zur Mine zu schleppen. Dann wandte sie sich wieder an Yor. »Und falls Ihr geglaubt haben solltet, ich wüsste nicht um das Geheimnis der Bilder, die Ihr aus der Grube Minroud holt – ich habe Sorge getragen, dass unsere lieben Kleinen hier nicht einen Blick darauf werfen können.« Während Elea noch überlegte, was diese Worte bedeuten mochten, kam der kleinste Traumfänger auf sie zu. In der Krallenhand hielt er eine schwarze Binde, die er ihr mit einer raschen Bewegung um den Kopf schlang. Alles um sie herum wurde schwarz.
\ »Sei bitte vorsichtig und pass gut auf dich auf«, sagte Raya in mahnendem Ton. »Das Spelunkenviertel ist ein gefährliches Pflaster, besonders für Mädchen deines Alters.« 297
Saranya lächelte sie an. »Keine Angst, ich werde die Augen offen halten«, versprach sie, »und nur so lange wie unbedingt nötig dort bleiben.« »Viel Glück.« Raya schloss sie in die Arme und zog sie an sich. »Ich hoffe, dass sich für dich endlich alle Rätsel auflösen, die dich so sehr bedrücken.« Als Mutter und Tochter sich voneinander lösten, schimmerten beider Augen feucht. Raya ging zur Tür. »Warte noch einen Augenblick. Ich will erst nachsehen, ob Asmus auch wirklich schläft«, sagte sie und schlüpfte hinaus. Nur Augenblicke später kam sie mit einem zufriedenen Lächeln zurück. »Er schlummert wie ein Mähnenbär im Winterschlaf – nur dass er mindestens doppelt so laut schnarcht. Das Schlafwurzpulver, das ich in seinen Granatapfelwein gemischt habe, scheint vorzüglich zu wirken.« Saranya musste kichern. Zu gern hätte sie einen Blick auf den schnarchenden Herrn Asmus geworfen, aber dazu war nun wirklich keine Zeit. »Du solltest trotzdem übers Dach gehen«, mahnte Raya. »Sicher ist sicher!« »Woher weißt du von meinem Schleichweg?« Saranya war mehr als überrascht. »Als ich so alt war wie du, habe ich auch gedacht, meine Mutter wäre blind und taub für meine Heimlichkeiten.« Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihren Mund. »Jetzt geh endlich, damit du vor der Gelichterstunde zurück bist.« Nach einem letzten Blick auf die Mutter schwang sich Saranya aufs Dach hinaus und zog das Fenster hinter sich zu. Auf bloßen Füßen, ihre Stiefel in der Hand, schlich sie auf ihrem vielfach erprobten Geheimweg davon. Raya hatte also seit langem davon gewusst? Wie man sich doch manchmal täuschen konnte! 298
Geschickt wie eine Sandkatze glitt Saranya am Rankgerüst der Schlawinermalven hinunter, durchquerte den Innenhof und trat durch die kleine Tür in der rückwärtigen Mauer auf die Straße. Hier erst schlüpfte sie in ihre Lederstiefel und ging in Richtung Spelunkenviertel davon. Ein kühler Wind wehte durch die Stadt, über die sich die Dunkelheit gesenkt hatte. Fröstelnd verkroch sich Saranya tiefer in ihren wollenen Umhang. Sie konnte immer noch nicht richtig fassen, dass Raya ihr Vorhaben, sich mit dem Unbekannten zu treffen, nicht nur billigte, sondern auch nach Kräften unterstützte. Am Nachmittag hatte sie ihre Mutter eingeweiht, und nach kurzem Nachdenken hatte Raya ihr zugestimmt: »Es wird höchste Zeit, dass du mehr über diesen Magister erfährst. Asmus hat seine Schriften doch nicht ohne Grund verbrannt!« Umgehend hatte sich Raya bei Nachbarn und Bekannten nach dem »Freigeist« erkundigt und schnell herausgefunden, dass es sich um eine berüchtigte Kneipe mitten im noch verrufeneren Spelunkenviertel handelte. Kurzzeitig hatte sie erwogen, Saranya dorthin zu begleiten. Aber was wäre, wenn der Unbekannte Zeugen scheute und sich deswegen am vereinbarten Treffpunkt nicht blicken ließ? Außerdem: War der nächtliche Zwischenfall mit Gork nicht Beweis genug, dass der geheimnisvolle Mann dafür sorgen würde, dass Saranya nichts zustieß? Und so hatte Raya alle Bedenken beiseite gewischt, ihrer Tochter den Weg zum Chimärenweg genau beschrieben und außerdem versprochen, dafür zu sorgen, dass Herr Asmus von ihrem Ausflug nichts mitbekam. Immerhin setzte sich Saranya über den von ihm verhängten Hausarrest hinweg! Im Laufen schüttelte sie den Kopf. Das hätte sie Raya niemals zugetraut. Allmählich kehrte Ruhe in der tagsüber so hektischen Stadt 299
ein. Die auswärtigen Besucher hatten Seperanza spätestens bei Einbruch der Nacht verlassen, wie es die strenge Vorschrift verlangte, und die Einheimischen strebten ihren Häusern und Wohnungen zu, so dass sich Gassen und Plätze zusehends leerten. Durch den großen Torbogen dagegen, der den Anfang der Rippergasse bildete, strömten zahlreiche Passanten, um ins Spelunkenviertel zu gelangen. Saranya, die niemals vorher einen Fuß in das verrufene Viertel gesetzt hatte, blieb vor dem Steinbogen stehen und ließ ihren Blick über die Reliefs schweifen. Sie zeigten Gaukler und Tänzer, Feuerspucker, Spielmänner und andere Fahrensleute bei der Ausübung ihrer Künste. So bot der reich verzierte Bogen den Besuchern des Spelunkenviertels bereits einen kleinen Vorgeschmack auf das, was sie in den Gassen und Winkeln dahinter erwartete. Der Mut drohte Saranya zu verlassen. Dann jedoch gab sie sich einen Ruck und schritt unter dem Bogen hindurch. Während sie sich durch die Menge drängte, blickte sie sich staunend um. An den Hausfassaden, welche die Rippergasse säumten, loderten Fackeln in allen Farben des Regenbogens. Bunte Aufschriften versprachen den Besuchern allerlei Spektakel: »Erleben Sie alle sieben Wunder des Siebenwunderlandes – und erhalten Sie eines kostenlos dazu!« – »Die unverhüllten Geheimnisse der Schleierwelt – nur noch für kurze Zeit!« – »Monster, Magier und Medusen – eine aufregende Reise ins Zauberreich der Kiemlinge« und viele weitere Attraktionen. Doch obwohl alles recht verlockend klang, ließ sich Saranya nicht von ihrem Ziel abbringen. Von der Rippergasse ging es nach rechts in den Versuchersteig und dann quer über den Luderplatz, von dem sie nach links in die Meuchelstraße einbog. Der nächste Abzweig, das Sirenengässchen, führte sie schließlich zum Chimärenweg. 300
Es war eine düstere Sackgasse, die von wenig Vertrauen erweckenden Gebäuden gesäumt wurde. Nummer 17 befand sich ganz am Ende. Die Hausnummer war mit Kreide auf die Eingangstür eines windschiefen zweigeschossigen Häuschens gemalt. An der Wand darüber schaukelte eine Laterne im nächtlichen Wind sachte hin und her. Aus den kleinen Butzenglasfenstern im Erdgeschoss fiel gelbliches Licht nach draußen. Im Stockwerk darüber war alles dunkel. Der Name des Lokals allerdings stand nirgendwo zu lesen. Saranya zögerte. War das tatsächlich der verabredete Treffpunkt? Sie zog den Zettel des Unbekannten aus der Tasche: Straße und Hausnummer stimmten, aber warum war nirgendwo der Schriftzug »Zum Freigeist« zu erkennen? Hatte der Mann ihr aus Versehen eine falsche Hausnummer aufgeschrieben? Saranya blickte sich um, doch auch die umliegenden Gebäude wiesen nicht den gesuchten Schriftzug auf. Und hatte sich dort drüben, im Schatten des gegenüberliegenden Eingangs, nicht gerade etwas bewegt? Mit klopfendem Herzen spähte Saranya auf die andere Straßenseite. Nein, dachte sie dann, sie musste sich geirrt haben.
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20 MAGISTER PHILONIUS PHILIPPO PHANTASTUS
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aranya öffnete die Tür und trat in einen verräucherten Raum, über den sich eine niedrige Balkendecke spannte. Stimmengewirr und Gelächter schlugen ihr entgegen, und der Geruch von Wein, Met und Schmeichelkraut, versetzt mit anderen, ihr unbekannten Düften, stieg ihr in die Nase. Der Rauch von Dutzenden Pfeifen und Qualmstangen ließ ihre Augen tränen. Alle Plätze in der Schankstube waren besetzt. An den Tischen drängten sich Geschöpfe aus allen Teilen Phantásiens, wenngleich die meisten Gäste Insomnier waren. Nur der Unbekannte war nirgends zu sehen. Enttäuscht schaute sich Saranya immer wieder im Gastraum um, als sie auf einmal von einer piepsigen Stimme angesprochen wurde: »Was steht sie hier rum und glotzt wie ein glotzäugiger Grimaffe?« Sie fuhr herum und erblickte einen Winzling in rotem Anzug aus feinstem Zwirn, einen gleichfarbigen Zylinder auf dem Kopf. »Ähm ...«, stammelte sie. »Ich ... ich bin hier verabredet.« Der Winzling reichte ihr gerade mal bis zur Brust. »So, so, 303
sie ist also verabredet?«, wiederholte er in vorwurfsvollem Ton und musterte sie grimmig von oben bis unten. »Warum schert sie sich dann nicht zum Teufel und geht mir aus dem Weg?« Saranya schnappte nach Luft. Was bildete sich dieser Gnom bloß ein? Sie hatte ihm doch höflich geantwortet, so dass er nicht den geringsten Grund hatte, sie derart unflätig zu behandeln! Eben wollte sie ihrer Empörung Luft machen, als sich der Winzling umdrehte und auf eine Treppe zutrippelte, die ins obere Stockwerk führte. Vor der ersten Stufe drehte er sich lächelnd zu ihr um. »Hat sie gehört? Sie soll sich zum Teufel scheren und mir aus dem Weg gehen!« Saranya schnaubte. Das war zu viel! So musste sie sich wirklich nicht behandeln lassen. Sie wandte sich zur Tür, um die Spelunke auf dem schnellsten Weg wieder zu verlassen, als sie von einem Okulanten angestoßen wurde. »Warum folgst du ihm denn nicht?«, fragte das kopfäugige Wesen. »Folgen?« Sie verstand nun überhaupt nichts mehr. »Warum denn das?« »Weil der Winzling aus Contrario stammt. Und ein echter Contrarier meint doch immer das Gegenteil dessen, was er sagt. Wusstest du das nicht?« »Ähm ... nein«, stotterte sie und beeilte sich, dem Wicht zu folgen, der bereits die halbe Treppe emporgetrippelt war. Von dem kurzen Flur im Obergeschoss gingen lediglich zwei Türen ab. Der Winzling deutete auf die linke. »Geh sie da bloß nicht rein! Warte sie gefälligst!« Er will mich also anmelden, dachte Saranya. Bitte, wie es ihm beliebt. Der Winzling jedoch rührte sich nicht von der Stelle. »Geh 304
sie da bloß nicht rein!«, wiederholte er grinsend. »Warte sie gefälligst!« Da endlich verstand das Mädchen und öffnete nach zaghaftem Klopfen die Tür. Als sie eintrat, erhob sich der Mann, der sie letzte Nacht vor Gork gerettet hatte, von seinem Stuhl und lächelte sie an. »Ich dachte schon, du kommst nicht«, sagte er und bat sie, an einem kleinen Holztisch Platz zu nehmen. Ein Leuchter stand darauf, mit einer Kerze, die das karg möblierte Zimmer spärlich erhellte. Der Mann setzte sich auch seinerseits wieder an den Tisch und schaute sie mit unergründlichem Blick an. »Du möchtest also mehr über den Magister erfahren?« Saranya nickte. »Kennt Ihr ihn denn?« Er schob das kantige Kinn vor und wiegte bedächtig den Kopf. »So gut wie mich selbst.« »Und Ihr wisst, was in seinen Schriften stand?« »Natürlich. Deswegen bin ich ja hier: um es dir zu erzählen.« Saranya musterte ihn verwundert. »Aber woher wusstet Ihr, dass ich ...« »Ich wusste einfach, dass das passieren würde«, fiel er ihr ins Wort. »Es war alles nur eine Frage der Zeit.« Sie verstand immer noch nicht, was er damit meinte. Dennoch gab es im Augenblick Wichtigeres zu klären. »Also – was stand so Schreckliches in den Bücher des Magisters, dass sie verboten wurden und man ihn selbst mitsamt seiner Frau aus der Stadt verbannte?« »Ganz einfach.« Der Mann verzog seinen Mund zu einem sanften Lächeln. »Phantastus hatte den Ursprung der Insomnier herausgefunden und damit das Rätsel gelöst, das seit alters mit dem Ruf verbunden ist.« »Wie bitte?« Saranya wagte ihren Ohren nicht zu trauen. 305
Konnte das denn wahr sein? Hatte der Magister tatsächlich das große Geheimnis gelüftet? »Und?«, fragte sie zaghaft. »Was hat es nun auf sich mit uns Insomniern?« »Bevor ich dir das erkläre, muss ich dich warnen. Die Wahrheit ist nicht leicht zu verkraften. Die meisten finden sie so schrecklich, dass sie lieber die Augen davor verschließen.« Ein Verdacht stieg in Saranya auf. »Wurden seine Schriften deshalb verboten?« Der Mann nickte. Auf einmal wirkte er müde. »Ganz genau. Für viele ist es einfacher, unliebsame Erkenntnisse zu unterdrücken, als sich mit ihnen auseinander zu setzen. Verstehst du, was ich meine?« »Ich glaube schon.« Versonnen starrte Saranya vor sich hin. »Raya und Herr Asmus haben sich ja auch gescheut, mich über meine Herkunft aufzuklären. Anscheinend haben sie gefürchtet, ich könnte unliebsame Fragen stellen.« »Das halte ich für gut möglich. Für sehr gut möglich sogar!« Saranya räusperte sich und sah dem Mann in die Augen. Da erst fiel ihr auf, dass sie vom gleichen Blau wie ihre eigenen Augen waren. »Und ... was ist das nun für ein schreckliches Geheimnis, das uns Insomnier umgibt?« »Euer Geheimnis ...« Er brach ab, holte Luft und begann von neuem: »Euer Geheimnis besteht darin, dass eure Existenz einzig und allein von den Menschenkindern abhängt.« »Was?« Saranya fuhr hoch und starrte ihr Gegenüber fassungslos an. Dann sank sie auf ihren Stuhl zurück. »Wollt Ihr damit sagen, dass wir nicht selbst über uns bestimmen können?« »Genau so verhält es sich.« Der Mann war ganz ruhig geblieben. »Ihr Insomnier seid nämlich die Gestalten, welche die Menschen annehmen, wenn sie des Nachts träumen. In 306
eurer Gestalt bevölkern sie Phantásien und erleben die wundersamsten Geschichten und Abenteuer.« »Aber was ist daran so schrecklich?« Der Mann lächelte. »Eigentlich nichts – solange sie euch immer wieder aufs Neue träumen.« »Solange sie uns ...?« Saranya stockte irritiert. »Was hat das zu bedeuten?« »Verstehst du nicht? Da ihr Insomnier nichts weiter als die Traumgestalten der Menschen seid, könnt ihr auch nur existieren, solange sie euch träumen. Wenn sie damit aber aufhören und euch vergessen ...« »... dann werden wir vom Vergessen heimgesucht und verschwinden«, hauchte Saranya atemlos, der mit einem Mal die ganze Tragweite dieser Erkenntnis klar geworden war. »Es sei denn ...« »... ihr findet Zuflucht in Seperanza, wo ihr weiterleben könnt, bis die Menschen euch von neuem träumen, der Ruf euch also wieder ereilt und alles von neuem beginnt.« »Unglaublich«, sagte Saranya und schüttelte den Kopf. »Dennoch verhält es sich so«, bekräftigte der Mann. »Und weil die Menschen immer weniger träumen, sind immer mehr von uns vom Vergessen bedroht, und kaum jemand vernimmt mehr den Ruf?« »Gut kombiniert, Saranya.« Er lächelte. »Wie ich sehe, gerätst du ganz nach deinem Vater.« Mit einem Mal begann es in ihr zu gären. »Aber das ist doch alles so ungerecht!«, empörte sie sich. »So furchtbar ungerecht! Wir haben also keinerlei Einfluss darauf, ob die Menschen uns träumen oder nicht?« »Überhaupt keinen«, sagte der Mann. »Verstehst du jetzt, warum die Erkenntnisse des Magisters mit aller Macht unterdrückt werden sollten? Wer kann schon mit dem Gedanken 307
leben, keinerlei Einfluss auf seine eigene Existenz zu haben? Keinerlei Macht über sein Schicksal zu besitzen? Wer ist schon bereit, sich damit abzufinden, dass er der Willkür anderer unterworfen ist?« »Wie schrecklich«, flüsterte Saranya und schloss die Augen. »Wenn wir nicht über unser Leben bestimmen können, dann hat es doch überhaupt keinen Sinn. Dann wäre es vielleicht besser, wenn es uns gar nicht geben würde.« Der Mann musterte sie stumm. Als sie ihn nach einiger Zeit wieder anblickte, nickte er ihr zu. »Das wird der Rat der Hohen sich damals auch gedacht haben – und wohl deshalb haben sie beschlossen, nichts von den Erkenntnissen des Magisters an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, seine Schriften zu verbieten und ihn lieber aus der Stadt zu verbannen, als die Insomnier in schreckliche Verwirrung und Existenzängste zu stürzen.« »Ja, so wird es gewesen sein.« Einige Zeit starrte Saranya wieder abwesend vor sich hin. »Was ich noch nicht verstehe«, sagte sie dann, »warum sind wir ausgerechnet in Seperanza vor dem Vergessen sicher?« »Das will ich dir gern ein andermal erklären«, antwortete er. »Wenn wir mehr Zeit dafür haben. Aber jetzt erst einmal zu dir, Saranya: Erkennst du nun den Zusammenhang zwischen der Verbannung des Magisters und dem Rätsel deiner Herkunft?« Saranya sah ihn an, und in ihrem Kopf begann es sich zu drehen. »Den ... Zusammenhang?«, wiederholte sie mit schwacher Stimme. »Verstehst du immer noch nicht?« Der Mann musterte sie mit unergründlichem Blick. »Eigentlich kennst du nun alle Einzelteile und müsstest das Mosaik zusammensetzen können.« 308
Weiterhin sah sie ihn nur wortlos an. »Aina, die Frau des Magisters«, sagte er, »war eine Insomnierin wie du, Saranya. Als sie aus der Stadt gejagt wurde, erwartete sie ein Kind – und war gleichzeitig vom Vergessen bedroht. Es dauerte dann in der Tat nicht mehr lange ...« Er unterbrach sich, schloss die Augen und schluckte schwer. Als er die Lider wieder hob, bemerkte Saranya ein feuchtes Glitzern. »Aina konnte gerade noch ihr Kind zur Welt bringen, es war ein Mädchen, dann wurde sie vom Vergessen geholt.« »Wie furchtbar«, hauchte Saranya. »Ja«, gab der Mann mit belegter Stimme zurück. »Auch das Kind hatte keine große Überlebenschance – jedenfalls nicht außerhalb der schützenden Mauern von Seperanza.« »Genau! Warum hat der Magister das Mädchen nicht sofort in die Stadt gebracht?« »Du vergisst, dass über seine ganze Familie der Bann verhängt worden war. Er durfte das Mädchen also nicht in die Stadt bringen. Außerdem gab es bereits damals eine strenge Zugangskontrolle.« »Heißt das« – Saranya wagte die schreckliche Frage kaum auszusprechen –, »dass Ainas kleine Tochter ebenso ein Opfer des Vergessens wurde wie die Mutter selbst?« Schweigend sah der Mann sie an. Noch immer konnte sie seinen Blick nicht ergründen. »Nein«, brach er nach einer Weile die Stille. »Das Mädchen lebt.« »Aber ... wie ist das denn möglich?« »Der Magister hat sich daran erinnert, dass sich Herr Asmus als Einziger im Rat der Hohen für ihn ausgesprochen hatte. Und als ihm unmittelbar nach der Geburt seiner Tochter zu Ohren kam, dass Raya ihr Kind verloren hatte, da ergriff er die Chance, die sich ihm dadurch bot – ihm und seiner kleinen Tochter.« 309
»0 nein!«, stöhnte Saranya. Alles begann sich vor ihren Augen zu drehen. »Er schmuggelte das Mädchen in die Stadt und stellte es in einem Weidenkorb vor der Haustür des Hohen Herrn ab. Und der Rest der Geschichte dürfte dir bekannt sein, Saranya.« Mit ungläubigem Staunen schüttelte sie den Kopf. »Dann ... dann ist Aina meine Mutter«, hauchte sie, »und der Magister mein Vater!« Der Mann lächelte. »Genauso ist es, Saranya.« »Aber ... warum ist er nicht selbst gekommen, um mir das zu sagen?« Das Lächeln des Mannes wurde breiter. Und ehe er ein weiteres Wort sagte, dämmerte es Saranya: Der Mann, der vor ihr saß, war niemand anderes als ... »Ihr seid der Magister?«, hauchte sie. »Und damit auch ... mein Vater?« Phantastus nickte stumm. Dann erhob er sich und kniete sich vor Saranya auf den Boden. »Lass dich umarmen ... meine Tochter!« Saranya zögerte nicht einen Augenblick. Sie schmiegte sich in seine Arme und drückte ihn an sich, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Endlich ließ sie ihre Arme sinken und blickte ihn fragend an. »Aber warum bist du nicht eher zu mir gekommen?« »Weil ich dich nicht in Gefahr bringen wollte. Wenn man herausgefunden hätte, wer du bist...« Er brauchte nicht weiterzureden, Saranya verstand nun auch so: Er hatte nicht anders handeln können. Eines allerdings war ihr immer noch nicht klar: »Und warum bist du gerade jetzt gekommen?« »Weil ich endlich herausgefunden habe, wie wir Aina, 310
deine Mutter, dem Vergessen entreißen können – und dazu benötige ich deine Hilfe.« Saranyas Augen weiteten sich. »Aber wie ...?« »Psst«, unterbrach sie der Vater. »Das tut im Moment nichts zur Sache. Ich werde es dir später erklären, wenn wir unterwegs sind. Ich habe alles vorbereitet. Hör zu: Morgen Abend, sobald der Markt zu Ende geht ...» Überrascht brach er ab, weil von draußen Lärm in die winzige Stube drang. Schwere Schritte polterten die Stiege herauf, dann ertönte ein krachender Tritt und die Tür flog auf. Drei Stadtgardisten stürmten mit gezogenen Säbeln in den Raum, gefolgt von ihrem Kommandanten Casimir. Als er Saranya erblickte, verzog er verwundert das Gesicht. Allerdings nur für einen kurzen Moment, dann pflanzte er sich vor dem Mann auf und blickte ihn mit grimmiger Miene an. »Im Namen des Rates der Hohen, Ihr seid verhaftet, Magister Philonius Philippo Phantastus. Ihr werdet in sicheren Gewahrsam verbracht, bis die für den Fall Euer Rückkehr angedrohte Strafe an Euch vollstreckt wird.«
\ »Man nennt mich Schwefelmaul, und ich bin der schlimmste Totschläger weit und breit!«, schrie der Mann mit der Augenklappe. Grinsend entblößte er die verfaulten Zahnstummel, die von seinem Gebiss übrig geblieben waren, und hauchte Kayún und Atrox mit seinem schwefligen Atem an. Die Flügel seiner breiten Nase waren von bleichen Fingerknochen durchbohrt, und an seinen Ohrläppchen hingen schwere, mit Miniaturtotenköpfen verzierte Ringe. »Ich fürchte weder Tod noch Teufel und schon gar nicht diese Dunkle Prinzessin und ihre Schwarzen Kreaturen. Ich werde sie jagen, bis sie frei311
willig in die Sümpfe der Traurigkeit springen. Wenn Ihr mich anheuert, ist Euch der Sieg schon gewiss!« Lauernd richtete er sein Triefauge erst auf Kayún, dann auf Atrox und streckte ihnen seine Pranke entgegen, die – wie jeder Zoll sichtbarer Haut – mit bunten Tätowierungen bedeckt war. »Also – sind wir im Geschäft oder nicht?« Der Gräuelgruseler wollte eben zustimmend nicken, als Kayún ihn in die Rippen stieß und sich an den Einäugigen wandte: »Einen Moment Geduld noch, Schwefelmaul. Ich muss mich erst kurz mit meinem Gefährten besprechen.« Er zog Atrox ein Stück zur Seite. Diese Vorsichtsmaßnahme war allerdings überflüssig. In der schäbigen Kaschemme direkt am Hafen von Contrario konnte man kaum sein eigenes Wort verstehen. Dennoch waren sie froh, hier überhaupt eine Unterkunft gefunden zu haben, denn alle anderen Gasthäuser in der Stadt waren besetzt. Sogar für Ikarus hatte sich noch ein trockenes Plätzchen im »Stall« gefunden, wie der feiste Wirt den windschiefen Schuppen im Hinterhof genannt hatte. Seit sie den Überflieger gesäubert und versorgt und auch sich selbst gewaschen und gestärkt hatten, versuchten sie Männer anzuheuern, die mit ihnen gegen Schloss Hórok ziehen wollten. Was sich bisher als recht schwieriges Unterfangen, wenn nicht sogar als unmöglich erwiesen hatte. Die Kerle, die sie ansprachen, winkten entweder von sich aus ab oder fragten nach Sold, den sie nicht zahlen konnten. Andere kamen schon von der äußeren Erscheinung her nicht in Frage – was zum Beispiel sollte ein Winzling gegen die Traumfänger ausrichten können? Und dann gab es noch Kreaturen wie Schwefelmaul, der auf den ersten Anschein wie geschaffen schien für ihr Unternehmen – dennoch zögerte Kayún, sich mit ihm zu verbünden. 312
Atrox schien langsam die Geduld zu verlieren. »Ich weiß gar nicht, warum du noch zauderst! Er ist ein fürchterlicher Totschläger, der vor niemandem Angst hat. Einen Besseren können wir gar nicht finden.« »Aber nur, wenn er kein Contrarier ist«, gab Kayún zu bedenken. »Wenn doch, meint er ja genau das Gegenteil von dem, was er sagt, und wird die Flucht ergreifen, sowie es ernst wird.« Der Gräuelgruseler verdrehte die Augen. »Aber er hat doch vernehmlich ›Nein‹ gesagt, als du ihn gefragt hast, ob er aus Contrario kommt.« »Was beweist das schon? Kommt er doch aus Contrario, hätte er die Frage natürlich auch verneint.« »Tja, wo du Recht hast«, gab der Gräuelgruseler zu und kratzte sich hinterm rechten Muschelohr. Sie beschlossen Schwefelmaul lieber noch ein bisschen zu vertrösten. Kurz vor Mitternacht belief sich die Stärke ihrer Truppe immer noch auf zwei Personen – nämlich auf sie selbst. Sie wollten schon alle Hoffnung aufgeben – die meisten Besucher der Spelunke waren ohnehin längst sturzbetrunken – und sich auf ihr Schlaflager zurückziehen, als mit einem Mal ein Leuchten über Atrox’ Fratze ging. »Jetzt wird doch noch alles gut«, sagte er und deutete zur Tür, durch die eben zwei hoch gewachsene Gestalten die Schenke betraten. Sie waren nach Art der Piraten gekleidet, die das Große Schlafmeer unsicher machten. Rotes Kopftuch, gelbes Oberhemd mit weiten Puffärmeln und enge blaue Beinkleider. Das Ganze zusammengehalten von einem braunen Ledergürtel mit breiter Silberschnalle. Das Gesicht des Jüngeren war freundlich und wettergegerbt, der deutlich Ältere dagegen blickte grimmig drein. Eine wulstige Narbe auf seiner rechten 313
Wange entstellte überdies sein Gesicht, das von dunkelroter Farbe war. »Wer sind die beiden?«, fragte Kayún. »Alte Bekannte«, gab Atrox zurück, »Freunde von mir!« Er erhob sich und winkte die Neuankömmlinge an ihren Tisch. Die beiden ließen sich nicht lange bitten und nahmen ihnen gegenüber auf der Holzbank Platz. Der Gräuelgruseler begrüßte sie freundschaftlich und orderte große Humpen mit rotem Wein für sie. Allerdings konnte ihre Freundschaft nicht allzu eng sein, denn Atrox schien sich an ihre Namen nur vage zu erinnern. »Darf ich vorstellen«, sagte er und deutete auf den Älteren. »Das ist der Rollende Robert...» »Rowen der Rote«, knurrte der und bleckte das makellose Gebiss. »... und das hier ist Zarina«, fuhr der Schreckbold ungerührt fort, auf den anderen zeigend. »Zarafin«, korrigierte der Jüngere lächelnd. »Und ich bin Kayún.« Der Junge strahlte, denn ihm war sofort klar geworden, wen er vor sich hatte. »Dann seid Ihr also der Händler, der einen im doppelten Boden seines Karren nach Seperanza schmuggeln kann?« »Genau der bin ich, mein Junge.« Zarafin lächelte ihn freundlich an. »Heißt das, du willst meine Dienste in Anspruch nehmen?« »Nein, nein«, entgegnete Kayún schnell. »Im Augenblick jedenfalls nicht. Aber sobald wir meine Schwester befreit haben, komme ich gern auf Euer Angebot zurück.« Damit war das Interesse der beiden geweckt. Zarafin und Rowen der Rote erkundigten sich nach dem Vorhaben der Gefährten, bewunderten ausgiebig ihren Mut und legten ihnen Tricks und Finten ans Herz. Besonders Rowen schien 314
ein in vielen Kämpfen erprobter Recke zu sein, was bei einem gefürchteten Piraten auch nicht erstaunlich war. Genau der Richtige also für ihr Unternehmen, dachte Kayún. Zu ihrer Enttäuschung jedoch schlug Rowen ihre Bitte um Unterstützung ab. »Wie gern wäre ich an eurer Seite«, antwortete er. »Und meine gesamte Mannschaft sicherlich auch. Auch bin ich fest davon überzeugt, dass Xayíde schon beim Anblick meiner Furcht erregenden Meute Reißaus nehmen würde. Aber leider sind wir die nächsten Tage anderweitig verpflichtet, und so muss ich euch zu meinem Bedauern absagen.« »Schade.« Kayún zog einen Schmollmund und blickte Zarafin an. »Und was ist mit Euch?« »Für mich gilt dasselbe wie für Rowen. Wir beide sind nämlich in der gleichen Sache unterwegs.« »Tatsächlich?« Atrox verzog die wulstigen Lippen. »Und worum geht es bei dieser Sache?« »Tut mir wirklich Leid.« Der rotgesichtige Rowen hob die Hände. »Es handelt sich um ein geheimes Kommando-Unternehmen.« Daraufhin leerten Rowen der Rote und Zarafin ihre Humpen und verabschiedeten sich von den Gefährten. »Ihr werdet schon noch jemanden finden, der mit euch in den Kampf zieht.« Sie klopften ihnen auf die Schultern und gingen von dannen. Kayún aber war gar nicht wohl in seiner Haut. Er konnte sich des Gefühls nicht mehr erwehren, dass sie in Contrario keine Hilfe finden würden – oder jedenfalls zu spät für die unglückliche Elea.
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»Was ist denn los?« Saranya schreckte hoch und sah verwirrt um sich. Da erkannte sie Herrn Asmus, der an ihrem Lager stand, eine Kerze in der Hand. Vor ihrem Fenster war es noch dunkle Nacht. Verwundert richtete sie sich auf und blickte den Hohen Herrn an. »Was ist denn los?«, wiederholte sie. »Was wollt Ihr mitten in der Nacht bei mir?« »Ich muss mit dir reden«, antwortete Herr Asmus mit brüchiger Stimme. »Ganz dringend.« Er ließ sich neben sie aufs Lager sinken und starrte abwesend vor sich hin. Plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht, und dann begann er zu schluchzen. »Es ist alles meine Schuld« stieß er unter Tränen hervor. »Alles nur meine Schuld. Es tut mir so Leid. Es tut mir so schrecklich Leid.« Fassungslos beobachtete Saranya, wie der Hohe Herr von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Mitleid erfasste sie, und sie barg den Kopf des weinenden Mannes in ihren Armen und strich ihm sanft übers Haar. Es dauerte eine Weile, bis Herr Asmus sich wieder beruhigt und die Tränenspuren getrocknet hatte. »Ich komme eben aus der Kommandantur der Stadtgarde«, sagte er dann. »Casimir hat mich mitten in der Nacht aus dem Bett holen lassen, um mich über die Ereignisse im Chimärenweg zu informieren.« Sofort erinnerte sich Saranya an den schrecklichen Vorfall im Spelunkenviertel, als der Magis... – als ihr Vater von Gardisten unter dem Kommando von Casimir verhaftet worden war. Zunächst hatte es so ausgesehen, als sollte auch sie selbst in Gewahrsam genommen werden, aber dann hatte Casimir ihr zugezischt, sie solle machen, dass sie nach Hause komme. »Dann weißt du jetzt also über alles Bescheid?«, fragte Herr Asmus mit belegter Stimme. »Ja.« Mit versonnenem Blick sah Saranya an ihm vorbei. 316
»Ich hätte es besser gefunden, wenn Ihr es mir erzählt hättet.« Nach einer Weile schaute sie den Hohen Herrn wieder an. »Aber wie ... wie haben sie ihn ... meinen Vater dort denn aufgespürt?« »Gork hat ihn an die Garde verraten.« »Gork?«, wiederholte sie fassungslos. »Woher wusste er ...?« »Vor ein paar Wochen ist er bei Mutter Gris eingebrochen, und dabei ist ihm ihr Tagebuch in die Hände gefallen, in dem sie die damaligen Ereignisse in allen Einzelheiten beschrieben hat. Außerdem befand sich eine Zeichnung darin, die Phantastus zeigt. Und als der Magis...« Er räusperte sich. »Als dein Vater dich neulich vor dem Übergriff des Halunken gerettet hat, muss der sich wohl daran erinnert haben – und so hat eins das andere ergeben.« »Aber warum habt Ihr mir nicht eher gesagt, dass er mein Vater ist?« Saranya bedachte den Hohen Herrn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Das durfte doch keiner wissen – niemand!« Herr Asmus schien der Verzweiflung nahe. »Aber warum denn nicht?« Der Hohe Herr nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Der Bann wurde doch damals nicht nur über den Magister, sondern über seine gesamte Familie verhängt – und damit auch über dich, seine Tochter!« Seine Hände bebten auf ihren Wangen. »Sobald jemand erfahren hätte, wer du bist, hättest du umgehend die Stadt verlassen müssen – so schreiben es die Gesetze nun mal vor! Und welches Schicksal dich dann erwartet hätte, das weißt du sicherlich so gut wie ich.« Saranya schluckte, und ihre Augen wurden feucht. »Ich wäre ... wie meine Mutter ...» »Genau.« Herr Asmus nickte schwer. »Deshalb behielt ich das Geheimnis für mich. Weil ich dich schützen wollte. Aber 317
erreicht habe ich damit genau das Gegenteil.« Er ließ ihren Kopf wieder los und verharrte schwer atmend neben ihr auf dem Bett. Für eine kleine Weile schwiegen sie beide. Es war ganz still im Zimmer, nur in der Ferne war ein erster Hahnenschrei zu hören. »Und jetzt?«, fragte Saranya beklommen. »Was wird mit meinem Vater?« Herr Asmus zögerte. Die Antwort machte ihm wohl selbst Angst. »Dein Vater ist in die Stadt zurückgekommen, obwohl ihm das bei Androhung des Todes verboten worden ist. Wenn heute nicht Markttag wäre, würde das Urteil noch heute auf dem Marktplatz vollstreckt. So aber hat er noch einen Tag zu leben. Sobald morgen der Tag graut, wird er gehängt – und nicht einmal ich kann ihm noch helfen.« »O doch, das kannst du!« Rayas Stimme ließ Saranya herumfahren. Ihre Ziehmutter stand in der Tür und sah ihren Ehemann mit großen Augen an. »Du kannst seine Lage sehr wohl verbessern – und wenn du Saranya so sehr liebst, wie du immer beteuerst, dann wirst du das auch tun!«
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21 DIE OPTASOMNIER
E
rst als Saranya ihren gefesselten Vater sah, der in Begleitung zweier Stadtgardisten zum Hohen Haus gebracht wurde, glaubte sie daran, dass der Plan gelingen könnte. In stiller Verwunderung schüttelte sie den Kopf: Was für eine erstaunliche Frau Raya doch war! Nicht nur hatte sie Magister Phantastus im Verlies aufgesucht, um ihm alle Einzelheiten seines geheimnisvollen Vorhabens zu entlocken, sondern überdies den immer kopfloser werdenden Hohen Herrn genauestens instruiert. »Befiehl Casimir, den Magister zu einem letzten Verhör ins Hohe Haus zu bringen.« »Und dann? Was soll dann geschehen?«, hatte Herr Asmus verwundert gefragt. »Den Rest überlässt du einfach mir«, hatte Raya nur geantwortet und gelächelt. Der erste Teil des Plans war also geglückt. Magister Phantastus wurde tatsächlich zum Hohen Haus gebracht. Die Stadtgardisten mussten davor warten, weil im Innern die Adlerleute und Eulenköpfe zuständig waren. Als Magister Phantastus in Begleitung Bubus das kleine 319
Gemach im Kellergeschoss betrat, warteten Saranya und ihre Zieheltern bereits auf ihn. Kaum hatte sich die Tür hinter dem Gefangenen geschlossen, als Herr Asmus an den Magister herantrat und ihm die Fesseln löste. »Beeilt Euch, Ihr habt keine Zeit zu verlieren.« Phantastus rieb sich die schmerzenden Handgelenke. »Wie kann ich Euch bloß danken?«, fragte er. »Indem ihr gut auf Saranya aufpasst und sie hütet wie Euer eigenes Leben«, antwortete der Hohe Herr. »Ich betrachte sie nämlich ebenso als meine Tochter wie Ihr selbst.« Phantastus lächelte. »So soll es auch immer bleiben. Vielen Dank auch dafür, dass Ihr Saranya in Eurem Haus aufgenommen habt und ihr gute Eltern wart.« »Nicht der Rede wert.« Die Augen des Hohen Herrn glitzerten verdächtig. »Und jetzt geht endlich, bevor noch jemand Verdacht schöpft.« Phantastus klopfte ihm sichtlich verlegen auf die Schulter, dann streckte er Saranya die Hand entgegen. »Bist du bereit – Tochter?« Das Mädchen nickte. Dann blickte sie Raya an, die Tränen in den Augen hatte. Die beiden umarmten sich zum Abschied. »Pass gut auf dich, Saranya«, flüsterte Raya mit tränenerstickter Stimme. »Und vergiss mich nicht.« »Niemals«, versprach Saranya. »Niemals in meinem ganzen Leben werde ich dich vergessen.« Dann trat sie zum Hohen Herrn und umarmte auch ihn. »Grämt Euch nicht länger«, sagte sie. »Ihr habt alles richtig gemacht – Vater!« Herr Asmus konnte nur noch nicken. Rasch wandte er sich ab, damit niemand seine Tränen sah. Bubu brachte Saranya und den Magister zum Hinterausgang, wo bereits Zarafin mit seinem Karren auf sie wartete. Der Eulenkopf gab ihr einen Klaps auf den Rücken. »Jetzt 320
aber rein mit euch!«, schniefte er. »Und das letzte Rätsel, das noch zu lösen bleibt, lautet: Wird euch die Torwache entdecken oder nicht?« Das Versteck im Karrenboden war reichlich eng. Saranya und ihr Vater mussten sich dicht aneinander drängen. »Du bist ganz schön groß geworden«, bemerkte der Magister lächelnd. »Als ich dich damals in die Stadt geschmuggelt habe, hast du weit weniger Platz gebraucht.« »Schluss jetzt!«, schalt Zarafin. »Ich will kein Wort mehr hören, bis wir aus der Stadt sind.« Damit legte er das Bodenbrett wieder auf, das den geheimen Hohlraum verschloss, und verteilte die Körbe mit seinen Waren darüber. Dann schwang er sich auf das Kutschbrett, ergriff die Zügel und trieb die Büffelvögel an. »Ho, ho! Lauft zu, ihr Racker, lauft!« Für Saranyas Gefühl dauerte es endlos lang, bis sie das Stadttor erreichten. Die Wachen ließen ihr Gefährt anstandslos passieren. Schließlich kannten sie Zarafin schon seit langer Zeit, und wer wäre außerdem so töricht, sich aus der Stadt hinausschmuggeln zu lassen? So machten sie sich nicht einmal die Mühe, den Karren zu kontrollieren. Zarafin rumpelte noch ein gutes Stück die Landstraße entlang, dann erst zügelte er seine Büffelvögel. Sie befanden sich bereits mitten im Trugwald, als er endlich anhielt und Saranya und ihren Vater aus dem engen Behältnis befreite. »Sicher ist sicher«, sagte er, als er Saranyas vorwurfsvollen Blick bemerkte. »Euer Vorhaben ist viel zu wichtig, um es durch unbedachte Eile noch zu gefährden.« Zustimmung heischend blickte er den Magister an. »Habe ich Recht?« Phantastus lächelte. »Natürlich hast du Recht.« Vater und Tochter nahmen gerade neben dem Händler auf dem Kutschbock Platz, als Saranya die Optasomnier bemerkte, die ihnen auf der Straße entgegenkamen. 321
Es war eine ganze Horde. Jung und braun gebrannt, glichen sie einander wie ein Ei dem anderen. Sie bewegten sich auch völlig im Gleichklang, was ihre gespenstische Ähnlichkeit noch unterstrich. Beim Anblick des Gefährts ging ein Strahlen über ihre Gesichter. »He, toll«, riefen sie im Chor und deuteten auf die Regenbogenplane. »Stark, das Teil, was?« Saranya warf ihrem Vater einen ratlosen Blick zu, doch der Magister lächelte nur milde. Die Optasomnier wandten sich an Zarafin. »He, bist du gut drauf heute?« »Ahm, na ja«, sagte der Händler irritiert. »He, toll!« Die Optasomnier strahlten. »Einfach super. Wie weit ist es denn noch bis zu dieser Stadt ... na, du weißt schon?« »Seperanza?« »He, super. Seperanza – klar!« »Klar«, sagte Zarafin. »Bis dahin ist es nicht mehr weit. Das habt ihr bald geschafft.« Jubel brach aus in den Reihen der Optasomnier. »He, toll! Echt toll!« Und dann marschierten sie weiter, immer im Gleichklang, als ob jeder von ihnen peinlichst darauf bedacht sei, sich bloß nicht von den anderen abzuheben. Kopfschüttelnd schaute Saranya ihnen nach. »Was sind das nur für seltsame Gestalten?« »Du darfst es ihnen nicht übel nehmen«, erwiderte der Vater, immer noch milde lächelnd. »Sie können nichts dafür. Seit geraumer Zeit sind immer mehr Traumfänger in unserer Welt unterwegs. Sie fangen die Insomnier, die Geträumten also, ein und verschleppen sie in die Welt der Menschen. Aber da alle Phantasier in der Menschenwelt zu Lügen werden, verwandeln sich auch die Geträumten dort zu falschen Träu322
men. Sie werden den Menschen vorgegaukelt, damit die ihre echten Träume vergessen. Aber diese falschen Träume vergessen sie noch viel schneller, weil sie langweilig und oberflächlich sind.« »Und diese vergessenen falschen Träume sind die Optasomnier?« »So ist es. Nur falsche Träume können einander wie ein Ei dem anderen gleichen, während echte Träume immer einzigartig sind – je nachdem, wer sie träumt.« Saranya schüttelte den Kopf. »Aber merken die Menschen das denn nicht?« »Ich fürchte, nein«, erwiderte Phantastus. »Anstatt sich auf ihre wahren Träume zu besinnen, greifen sie zum nächsten falschen Traum, den man ihnen vorgaukelt. Hauptsache, er erweckt den Anschein, besser und bunter zu sein als der vorhergehende. Das ist einfacher und viel bequemer. Denn nur wer sich eigene Gedanken macht, kann auch eigene Träume haben – was immer mehr Menschen zu vergessen scheinen.« Während Zarafin seinen Karren durch den Trugwald lenkte, ohne sich von vermeintlichen Abkürzungen, Scheinabbiegungen und falschen Wegweisern in die Irre führen zu lassen, hing Saranya schweigend ihren Gedanken nach. Was sie in den vergangenen Tagen erfahren hatte, war so verwirrend, dass sie sich noch keinen rechten Reim darauf machen konnte. Vor allem aber dachte sie an Aina, ihre wahre Mutter. »Auf welche Weise können wir Aina denn dem Vergessen entreißen?«, fragte sie ihren Vater. »Ich dachte, das wäre gar nicht möglich?« Der Magister, der vor sich hin gedöst hatte, schreckte leicht zusammen. »Lange Zeit habe ich das auch gedacht«, sagte er. 323
»Erst als Bastian Balthasar Bux in unsere Welt kam, begann ich daran zu zweifeln.« »Du meinst das Menschenkind, das uns vor dem Nichts gerettet hat?« »Genau. Ich habe nachgeforscht, wie es ihm gelingen könnte, in seine Welt zurückzukehren und dort wieder ganz der Alte zu sein.« Phantastus lächelte. »Zumindest fast der Alte, denn von einer Reise nach Phantásien kehrt niemand unverändert zurück.« »Und was hast du herausgefunden?« »Bei meinen Forschungen bin ich schließlich auf das Bergwerk der Bilder gestoßen und habe dort bestätigt gefunden, was ich schon immer vermutet hatte: Ganz Phantásien ruht auf dem Fundament vergessener Träume.« »Auf vergessenen Träumen? Alles was recht ist, Vater, aber...« Phantastus schien ihren Einwand gar nicht wahrzunehmen. »Ein Traum, der einmal geträumt ist, kann nicht zu nichts werden, selbst wenn ihn der Mensch, der ihn geträumt hat, wieder vergisst.« »Und was geschieht dann mit ihm?«, fragte Saranya. »Die vergessenen Träume lagern sich tief in unserer Erde ab, in ganz feinen Schichten aus Marienglas. In der Grube Minroud, dem Bergwerk der Bilder, werden sie wieder zu Tage gefördert. Nur wenn Bastian dort ein Bild findet, das ihn an seine Welt erinnert, kann er in die Menschenwelt zurückkehren.« »Und woher weißt du das alles?« »Yor, der Blinde Bergmann, hat es mir erzählt. Ich habe ihn gesucht, weil ich gehofft habe, Aina auf einem der Bilder zu erkennen. Wenn Bastian auf diese Weise in seine Welt gelangt, so dachte ich, wird Aina vielleicht auch in unsere 324
zurückkehren können, aber leider ...« Er brach ab und blickte vor sich hin. »Du hast sie nicht gefunden?« Phantastus lächelte gequält. »Ich habe die Bilder nicht einmal gesehen, nicht eines von ihnen. Ich bin nämlich weder ein Menschenkind noch ein Geträumter wie du. Aber nur diese können vergessene Traumbilder erkennen – und deswegen brauche ich deine Hilfe, Saranya. Wenn du deine Mutter auf einem dieser Bilder wiedererkennst, wird Aina gerettet werden – das hoffe ich zumindest.« Dann schwieg der Magister. Wozu auch noch weiter reden?, dachte Saranya. Alle Worte dieser Welt könnten ihre Mutter nicht retten – höchstens ihre eigene Erinnerung. Und mit diesem Gedanken schlief sie auf dem Kutschbock ein.
\ Als Saranya wieder erwachte, war es bereits heller Tag. Das Rauschen von Wellen drang an ihr Ohr. Verwundert fuhr sie hoch und bemerkte, dass sie unter einer Decke im Inneren des Karrens lag. Ihr Vater musste sie dorthin gebettet und zugedeckt haben, nachdem sie eingeschlafen war. Sie schlug die Regenbogenplane zur Seite und erblickte vor sich ein Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte: das Große Schlafmeer. Offenbar hatte sie den weiten Weg durch den Trugwald und die Gggrrrpfffüüü-Wüste völlig verschlafen. Zarafins Gefährt war am Rand einer versteckten Bucht abgestellt. Nicht weit vom Ufer entfernt ankerte ein stolzer Segler. An seinem Toppmast flatterte eine rote Flagge mit einem Totenkopf im steifen Wind, der von der See her wehte. Verwegene Gestalten waren an Bord des Segelschiffs zu erkennen – Piraten wohl, wie sie aufgrund der Flagge vermu325
tete. Ein kleines Ruderboot legte eben am Ufer an. Während die Ruderer auf ihren Plätzen verharrten, stieg ein Mann in Piratenkleidung und mit einer großen Narbe auf der rechten Wange aus. Ihr Vater begrüßte ihn und kam dann mit dem Piraten auf den Karren zugestapft. »Endlich ausgeschlafen?«, begrüßte Philonius Philippo Phantastus seine Tochter lächelnd und zeigte auf den Mann an seiner Seite. »Darf ich vorstellen: Rowen der Rote. Er wird uns mit seinem Schiff über das Große Schlafmeer bringen, damit wir vom jenseitigen Gestade aus zur Grube Minroud gelangen können.«
\ Kayún war richtig verärgert. »Die ganze gestrige Suche war umsonst!«, blaffte er Atrox an, während sie den Überflieger aus dem Stall holten. »Dass wir hier niemanden finden, der mit uns gegen Schloss Hórok zieht, hätten wir uns eigentlich vorher denken können!« »Was du nicht sagst, du Knirps!«, muffelte der Gräuelgruseler zurück. Allerdings war ihm anzusehen, dass er sich über ihren Misserfolg mindestens so sehr ärgerte wie Kayún. Völlig nutzlos war ihr Abstecher nach Contrario trotzdem nicht gewesen. Die Gefährten waren nämlich auf einen schmächtigen Ritter mit feuerroten Haaren getroffen, der sich Hýsbald nannte. Dieser Hýsbald konnte ihnen den Weg nach Schloss Hórok ganz genau beschreiben, weil er erst kürzlich dort gewesen war. Jedenfalls behauptete er das. Ihrer Suche nach Elea aber wollte auch er sich unter keinen Umständen anschließen. »Ich befinde mich auf einer Suche ohne Sinn, so dass ich mich von Eurer Mission leider fern halten muss, 326
scheint sie mir doch wohlbegründet zu sein! Sicherlich habt Ihr dafür Verständnis, Ihr Herren.« Kayún war nicht allzu traurig über die Absage des Herrn Hýsbald. Der schmächtige Ritter wirkte reichlich verwirrt und schien zudem, der frühen Tageszeit zum Trotz, dem Wein bereits kräftig zugesprochen zu haben. So bedankten sie sich für die Wegbeschreibung und ließen ihn in der Spelunke zurück, in der sie ihn zufällig getroffen hatten. Herrn Hýsbalds Suche ohne Sinn sollte schon bald darauf ein überraschendes Ende finden, doch dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Kayún und Atrox aber beschlossen die Suche nach Unterstützung endgültig aufzugeben und ihr Glück auf eigene Faust zu erproben. Auf der großen Wiese vor dem Stadttor machten sie den Überflieger fertig zum Start. Atrox hatte nämlich den Plan gefasst, mit Ikarus über das Große Schlafmeer zu fliegen, um von den südöstlichen Gestaden aus weiter zum Schloss der Dunklen Prinzessin zu marschieren. Kayún war dieser Plan nicht recht geheuer. Die mahnenden Worte von Meister Cumulus klangen ihm noch deutlich im Ohr: »Überfliegern mangelt es häufig an der nötigen Ausdauer, und der große Schwung des Anfangs geht ihnen meist recht bald verloren!«, hatte der Wolkenweber ihnen mit auf den Weg gegeben. »Und was passiert, wenn ihn unterwegs die Kräfte verlassen?«, fragte er deshalb seinen Gefährten. »Ikarus hat uns von der Stadt der Wolkenweber sicher bis nach Contrario getragen – warum sollte er uns nicht auch über das Große Schlafmeer bringen können?«, gab Atrox zurück. »Außerdem: Hast du eine bessere Idee?« Nein, die hatte Kayún wahrlich nicht, und so stimmte er schließlich zu. Sie kletterten auf den Überflieger, Atrox nahm 327
den Platz des Fliegerzüglers ein, Kayún setzte sich hinter ihn und schnallte sich fest. Ikarus machte zwei, drei lange Schritte, breitete die Schwingen aus und schraubte sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Der Gru-Gru gewann so rasch an Höhe, als ob er die Last auf seinem Rücken überhaupt nicht spürte. Unter ihnen wurden die Häuser von Contrario kleiner und kleiner, bis von der Stadt nur noch ein undeutlicher Fleck am Ufer des Großen Schlafmeers zu sehen war. Da befanden sie sich längst über der offenen See. »Und was sagst du jetzt?«, schrie der Gräuelgruseler Kayún durch den Wind zu. »Zweifelst du immer noch an Ikarus? Wenn das so weitergeht, sind wir viel früher drüben als gedacht.« Zunächst kamen sie auch schnell voran, so dass sich schon bald bis zu allen Horizonten das Meer erstreckte. Gegen Mittag zogen Wolken auf, der Himmel verfinsterte sich mehr und mehr, bis schließlich ein Sturm losheulte, der sich rasch zu einem regelrechten Orkan auswuchs. Den Gefährten wurde angst und bange. Nur ihren Gurten hatten sie es zu verdanken, dass sie nicht vom Rücken des Überfliegers gefegt und in die Tiefe geschleudert wurden, wo das sturmgepeitschte Schlafmeer brodelte und schäumte. Ikarus wurde von mächtigen Böen gepackt und war bald nur noch ein Spielball der tobenden Gewalten. Der Gru-Gru hielt sich tapfer und kämpfte gegen den Orkan an, so gut es ging – doch schließlich war er mit seinen Kräften am Ende. Sein klagender Schrei übertönte noch das Heulen des Windes, dann stürzte er wie ein Stein nach unten. Vor Kayúns Augen begann sich alles zu drehen. Er wusste nicht mehr, was oben und unten, was hinten und vorne war – und dann verlor er das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, erblickte er als Erstes ein rot328
häutiges Gesicht mit einer großen Narbe auf der rechten Wange. »Sieh an, sieh an«, sagte Rowen der Rote und bleckte die Zähne. »So schnell sieht man sich wieder.« Verwundert rappelte Kayún sich hoch. Er lag auf dem Vorderdeck eines Segelschiffs, das mit geblähten Segeln über das Große Schlafmeer rauschte. Der Sturm hatte sich gelegt, aber noch immer wehte ein kräftiger Wind, so dass der Segler mächtig Fahrt machte. »Wo bin ich?«, fragte Kayún den Piraten. »Was ist denn passiert?« »Wo du bist, kannst du wohl selber sehen.« Der rote Rowen verdrehte die Augen. »Und mein Schiff heißt Windsbraut, falls du das mit deiner Frage gemeint haben solltest. Wir haben euch auf den Wellen treiben sehen und schleunigst rausgefischt. Nur wenige Augenblicke später, und du könntest mit den Medusen Ringelreihen tanzen! 0b dir das allerdings so viel Spaß machen würde, wage ich zu bezweifeln.« Kayún schüttelte sich. Erst jetzt merkte er, dass seine Kleider triefend nass waren. »Und wo sind Atrox und Ikarus?« Rowen der Rote grinste. »Deine Gefährten sind wohlauf. Sie befinden sich unter Deck und leisten dem Magister und seiner Tochter Gesellschaft. Und jetzt sieh endlich zu, dass du aus den nassen Sachen rauskommst. Wäre doch misslich, einen solchen Absturz zu überleben, um sich wegen einer lächerlichen Verkühlung doch noch den Tod zu holen.«
\ Saranya empfand auf Anhieb eine tiefe Zuneigung zu Kayún. Nicht nur, weil er ein Geträumter war wie sie selbst, sondern weil ihm ein noch schlimmeres Schicksal widerfahren war – und er trotzdem den Mut nicht verloren hatte. »Glaubst du 329
wirklich«, fragte sie ihn, »dass du deine Schwester aus den Klauen der Traumfänger befreien kannst?« »Wieso denn nicht?«, antwortete er. Obwohl ihm das trockene Gewand, das er von den Piraten bekommen hatte, viel zu groß war, fühlte er sich so wohl wie seit langem nicht mehr. Schließlich hatte er nicht nur einen Absturz aus großer Höhe unbeschadet überstanden, sondern war auch noch im letzten Augenblick vor dem Ertrinken gerettet worden. Warum also sollte ihm das Glück nicht auch weiterhin zur Seite stehen? »Es sind immerhin noch ein paar Tage bis zur Nacht des vollen Mondes«, fügte er hinzu, »und solange Elea noch in Phantásien ist, besteht auch Hoffnung, sie zu retten.« Saranya schaute ihren Vater fragend an. Der Magister nickte. »Kayún hat Recht. Die Traumfänger können nur in Vollmondnächten in die Welt der Menschen zurückkehren. Und ihre Gefangenen sind viel zu wertvoll für sie, als dass sie ihnen etwas antun würden.« »Warum kommt ihr nicht einfach mit zum Bergwerk der Bilder?«, fragte sie Kayún, einer spontanen Eingebung folgend. »Vielleicht findest du in der Grube Minroud sogar Bilder, die dich an deine Eltern erinnern, und kannst ihnen so helfen, in unsere Welt zurückzukehren? Und danach ziehen wir alle gemeinsam zum Schloss Hórok, um mit Xayíde und diesen Traumfängern abzurechnen!« Aufgeregt schaute sie in die Runde. »Was haltet ihr von meinem Vorschlag? Vater? Atrox? Und du, Kayún?« Der Magister lächelte. »Das klingt gut«, sagte er. Der Gräuelgruseler verzog die wulstigen Lippen zu einem grauslichen Grinsen. »Sehr gut sogar – der Vorschlag könnte glatt von mir stammen!« Und Kayún hatte schon gar nichts dagegen einzuwenden. Beim Anbruch des nächsten Tages erreichten sie das nord330
östliche Ufer des Großen Schlafmeers. Rowen der Rote versprach, bis zu ihrer Rückkehr in der Bucht zu warten, wo sie vor Anker gegangen waren. Sie bis zur Grube zu geleiten, hielt er für überflüssig. Er sollte darüber wachen, dass Saranya und Kayún ungestört Marienglasbilder ansehen konnten? Das schien ihm eines Piraten unwürdig. Es würde nur die Disziplin seiner Männer untergraben, so legte er dem Magister dar, wenn er ihnen so weibische Taten abverlangte. Während sie in der Bucht warteten, konnte er sie jedoch mit nützlichen Aufgaben wie Deckscheuern, Segelausbessern und Rumpfstreichen bei Laune halten und so die Kampfkraft seiner weithin gefürchteten Truppe noch weiter steigern. Daher blieb Magister Phantastus und seiner Tochter, Kayün und Atrox nichts anderes übrig, als sich von Rowen dem Roten fürs Erste zu verabschieden und sich ohne die Piraten auf den Weg zum Bergwerk der Bilder zu machen.
\ Sie brauchten mehr als zwei Tage, um an den einsamsten Ort Phantásiens zu gelangen. Gelegentlich sahen sie in der Ferne Rudel von Schattenwölfen, die Jagd auf Phantomochsen machten, und hin und wieder geisterte eine einsame Schimäre am Horizont vorbei. Ansonsten aber begegneten sie niemandem. Nur am Abend des ersten Tages kam es zu einem erzählenswerten Ereignis. Die Gruppe marschierte gerade durch eine Heidelandschaft und hielt Ausschau nach einem Lagerplatz für die Nacht, als Kayún ein klägliches Fiepen vernahm. Er blieb stehen, bat die Gefährten um Ruhe und lauschte in die Dämmerung. Und da erklang der erbärmliche Laut wieder, aus einer in der Nähe stehenden Erle, wie es schien. 331
»Wartet hier auf mich«, sagte Kayún zu den anderen und näherte sich dem Baum. Dort fand er, zwischen Wurzeln und Gestrüpp, eine junge Elster, die erst vor kurzem aus dem Ei geschlüpft sein konnte. Offenbar war sie aus dem Nest gefallen und konnte dorthin ohne fremde Hilfe nicht zurück, da sie noch längst nicht flügge war. Mitleid stieg in Kayún auf. Das schmerzliche Gefühl, ohne Eltern dazustehen und in der Welt verloren zu sein, war schließlich auch ihm vertraut. Er legte den Kopf in den Nacken und entdeckte das Vogelnest weiter oben im Geäst. Ohne lange nachzudenken, steckte er die junge Elster in sein Gewand und kletterte in den Baum. Als er das Vogelkind ins Nest zurücksetzte, fiel ihm der Gürtel auf. Er war aus schmalen, beweglichen Gliedern geformt, die, wie die Schließe auch, aus farblosem Glas bestanden, und glitzerte im Dämmerlicht. »Mach’s gut, Kleiner, und pass beim nächsten Mal besser auf dich auf!«, raunte Kayún dem Vögelchen zu, steckte den Gürtel ein und machte sich auf den Rückweg. »Schaut mal, was ich gefunden habe«, rief er den Gefährten entgegen. »Ich glaube, er würde dir gut stehen!« Damit schlang er Saranya den Gürtel um den Leib – worauf das Mädchen vor aller Augen blitzschnell und spurlos verschwand. »Der Gürtel Gemmal«, rief der Magister aus. »Der Gürtel, der jeden, der ihn trägt, unsichtbar macht!« Und wirklich – als Kayún den Gürtel von Saranyas Hüften löste, stand sie wieder vor ihm, unversehrt und genauso hübsch wie zuvor.
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22 DIE TAFEL AUS MARIENGLAS
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ur Mittagszeit des nächsten Tages erreichten sie die Grube Minroud. Die Sonne stand im Zenit, ringsumher herrschte unendliche Stille. Als Magister Phantastus zaghaft an die Tür der Hütte klopfte, die vor dem hölzernen Förderturm stand, hörte es sich fast wie Donner an. Dennoch bekam er keine Antwort. »Yor wird sich in der Grube aufhalten und arbeiten«, sagte er gerade zu den Gefährten, als Kayún mit einem Mal einen schrecklich vertrauten Druck auf seiner Brust spürte, so als verkrampfe sich sein Herz in plötzlichem Schmerz. Er keuchte und spähte nach allen Seiten, doch von den Schwarzen Kreaturen war nichts zu sehen. »Was ist los?«, fragte Magister Phantastus. »Was hast du denn?« Kayún verzog gequält das Gesicht. »Ich weiß es nicht genau. Die Traumfänger ... sie müssen in der Nähe sein.« Der Druck auf seiner Brust schien ihn nun fast wie eine eiserne Fessel einzuschnüren. Unruhig blickte sich auch der Magister um. Sein Blick ging 333
zum Förderturm. »Gib mir den Gürtel, schnell!«, rief er dem Jungen zu. »Und schau dir die Traumbilder an, zusammen mit Saranya!« Philonius Philippo Phantastus hatte die Gürtelschnalle kaum geschlossen, als er auch schon ihren Blicken entschwunden war. »Was hat er denn vor?«, fragte Kayún. Saranya zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Aber er weiß ganz bestimmt, was er tut.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Komm, gehen wir zu den Bildern.« Die Tafeln aus Marienglas waren hinter dem Förderturm auf der Schneefläche ausgebreitet. Ihre Zahl schien ebenso grenzenlos wie die Vielfalt der Formen und Größen. Und noch mannigfaltiger waren die Motive, die darauf zu sehen waren. Kayún, der doch schon vieles gesehen hatte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, und Saranya erging es nicht anders. Fieberhaft suchte Kayún nach Abbildern seiner Eltern, während Saranya ihre Blicke ratlos über die Tafeln schweifen ließ. Wie sollte sie das Bild ihrer Mutter hier finden, an die sie sich doch überhaupt nicht erinnern konnte? Auch Kayún suchte lange Zeit vergebens. So näherte er sich bereits wieder dem Förderturm, als ihm eine Marienglastafel ins Auge fiel, an der er schon mehrmals achtlos vorbeigegangen war. Die Zahl Eins war darauf zu sehen, außerdem ein Paar bloße Füße, die einen Schritt machten, und ein Tor, das vielleicht ein Stadttor sein sollte, vielleicht aber auch nicht. Obwohl er sich darauf keinen Reim machen konnte, fühlte er sich auf einmal unwiderstehlich angezogen von diesem merkwürdigen Traumbild. Was konnte das nur bedeuten: eine Eins, ein Schritt und ein Tor? Der erste Schritt aus dem Tor? Der erste Schritt ins Tor? Und plötzlich dämmerte es 334
ihm: Ohne den ersten Schritt ... Aber da zuckte ein furchtbarer Schmerz durch seine Brust. Kayún wirbelte herum und sah die Traumfänger, die auf ihn und Saranya zukamen. Fünf grüne Augenpaare glommen ihnen aus der Leere unter den Kapuzen entgegen, während die Werwesen sich unaufhaltsam näherten. Er war zu keiner Regung mehr fähig. Sie waren verloren – er selbst und Saranya auch. Plötzlich hörte er die Stimme seines Vaters. »Das Bild«, sagte Erwein so laut und deutlich, als stünde er direkt neben ihm. »Das Traumbild – du musst es ihnen entgegenhalten!« Ohne zu merken, was er tat, ergriff Kayún das Marienglasbild und hob es hoch. Das Licht der Sonne brach sich darin, und die gleißenden Strahlen fuhren den Traumfängern entgegen und erhellten die Leere unter den Kapuzen. Die Schwarzen Kreaturen brüllten auf. Ihre Schreie waren die entsetzlichsten Laute, die Kayún jemals gehört hatte. Viel entsetzlicher noch als das Brüllen des Drachen Smärg – und das war schon überaus schrecklich gewesen. Dann fielen die Traumfänger in sich zusammen, und mit ihnen erstarben ihre Schreie. Als alles wieder still war, lagen fünf leere schwarze Umhänge auf der weißen Schneefläche. Und aus jedem von ihnen rollte ein Paar grüner Glaskugeln, die gleich darauf in tausend Splitter zerbarsten. Kayún erwachte aus seiner Erstarrung. Er blickte auf die Marienglastafel in seinen Händen – doch die war leer. Nicht eines der seltsamen Zeichen war mehr darauf zu erkennen. Nicht die Eins. Nicht die Füße. Und auch nicht das Tor. Dabei war es doch offensichtlich, was das alles zu bedeuten hatte: »Ohne den ersten Schritt kommt niemand ans Ziel.« Der Lieblingsspruch seines Vaters. Da wusste Kayún, dass er 335
Erwein nie wiedersehen würde. Sein Vater hatte sich geopfert, um ihm das Leben zu retten. Nun hörte Kayún Stimmen. Er blickte auf und sah Gestalten in zerlumpten Gewändern, die aus der Grube kamen. Unter ihnen war ein alter grauer Mann, der blind zu sein schien. Und da war auch seine Schwester. »Elea!«, schrie Kayún auf. »Elea! Elea!« Er ließ das Marienglasbild fallen, das in Scherben zersprang, stürzte auf seine Schwester zu und schloss sie in die Arme. Erst als sich die Geschwister wieder voneinander lösten, bemerkte Kayún die schlanke Frau mit den feuerroten Haaren: Xayíde! Ihr Gesicht war bleich wie der Tod. Vor ihrer Kehle schien ein Dolch zu schweben, und die Arme hielt sie krampfhaft auf dem Rücken verschränkt. Kayún musste grinsen: Wozu so ein Tarngürtel doch gut sein konnte! Der unsichtbare Magister ließ Xayíde unbehelligt von dannen ziehen. Was er schon bald bereuen sollte, doch dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Saranya suchte noch tagelang nach ihrer Mutter Aina. Doch sie konnte auf keiner der zahllosen Tafeln aus Marienglas auch nur den geringsten Hinweis auf ihre Mutter entdecken – aber vielleicht war ihre Erinnerung an Aina auch nur nicht stark genug? Als sich die Gefährten schließlich von Yor, dem Blinden Bergmann, verabschiedeten, war Bastian Balthasar Bux immer noch nicht am Bergwerk der Bilder eingetroffen. Deshalb trugen sie Yor auf, ihm eine Botschaft zu bestellen: »Wenn er in seine Welt zurückkehrt, soll er die Menschen an ihre wahren Träume erinnern. Sie sollen endlich den falschen Träumen abschwören, die man ihnen vorgaukelt, und sich darauf besinnen, was wirklich wichtig für sie ist.« 336
Doch Yor schüttelte das graue Haupt. »Das wird leider nicht möglich sein.« »Warum denn nicht?«, fragte Phantastus. »Weil er alles vergessen muss, um in seine Welt zurückzufinden.« »Das heißt, er kann gar nichts für uns Geträumte tun?« Tief enttäuscht sah Kayún den hoch gewachsenen Greis an. »Nein. Ihr könnt nur hoffen, dass sich die Menschen von sich aus besinnen. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät.«
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EPILOG
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autlos glitt die Feder des Alten vom Wandernden Berge über die Buchseiten. Er schrieb alles auf, was sich in Phantásien ereignete, und alles ereignete sich, weil er es aufschrieb. »Yor, der Blinde Bergmann, stand vor seiner Hütte und lauschte in die Weite der Schneefläche, die sich nach allen Seiten erstreckte. Die Stille war so vollkommen, dass sein feines Ohr eines Wanderers Schritte im Schnee knirschen hörte, der noch weit entfernt war. Doch die Schritte kamen auf die Hütte zu. Ein Lächeln legte sich auf das bart- und faltenlose Gesicht des Blinden, denn Yor wusste, wer sich auf dem Weg zu ihm befand. Doch dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.«
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