Ren Dhark®
Der Bitwar-Zyklus Band 4
Die Sonne stirbt
Herausgegeben von
HAJOF.BREUER
Scan: Puckelz
K-Leser: CC
Layout: Puckelz
! Ein Universum Release, nur für den internen Gebrauch !
HJB®
Die Sonne stirbt
von
ALFRED BEKKER
(Kapitel 2,4,6,8,16)
UWE HELMUT GRAVE
(Kapitel 1,3,5,7,9,11)
CONRAD SHEPHERD
(Kapitel 13,15,17,19,20)
JO ZYBELL
(Kapitel 10,12,14,18,21)
und
HAJO F. BREUER
(Expose)
1. Auflage HJB Verlag & Shop KG
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© REN DHARK: Brand Erben
Herausgeber: Hajo F. Breuer
Titelbild: Ralph Voltz
Druck und Bindung:
Ueberreuter Buchproduktion
© 2005 HJB Verlag
REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 3-937355-07-3
Der Bitwar-Zyklus Die terranische Regierung muß ein Geheimnis hüten, das auf keinen Fall bekannt werden darf, soll es auf der Erde nicht zu einer katastrophalen Panik kommen. Und gleichzeitig muß sie um jeden Preis etwas unternehmen, denn Die Sonne stirbt. Alfred Bekker, Uwe Helmut Grave, Conrad Shepherd und Jo Zybell schrieben einen fesselnden SF-Roman nach dem Expose von Hajo F. Breuer. Diese Buchausgabe präsentiert die Saga über das Leben des Sternenabenteurers Ren Dhark: eine Science Fiction-Serie, genau wie sie sein muß! Erstveröffentlichung
Vorwort
Es macht einfach Spaß, an REN DHARK zu arbeiten. Und manchmal sogar ganz besonders. Wie bei diesem Buch: Es führt meinen Lieblingsreporter Bert Stranger in eine Gegend, die ich per sönlich besonders mag und so oft wie möglich besuche. Falls jemand von Ihnen mal nach Schottland kommt, kann er einige Schauplätze des Geschehens aus diesem Roman in der Realität aufsuchen. Wer sagt eigentlich, daß SF-Literatur immer tief im All oder auf fremden Welten spielen muß? Für mich persönlich ist die Frage, wie es in naher und ferner Zukunft auf unserem Heimatplaneten ausse hen wird, mindestens ebenso spannend wie die Entdeckung fremder Welten im All. Auch die Serie REN DHARK hat seit ihren Anfängen im Jahr 1966 niemals nur die Erforschung des Weltalls zum Thema gehabt, sondern immer auch die zukünftige Entwicklung der Erde. Das halte ich für einen ebenso zentralen Aspekt der Serie wie das Motiv der Suche nach den Geheimnissen des Universums. Wie viele irdische Themen unser aller Lieblingsserie behandelt, erfährt man rasch bei einem Blick in das neue REN-DHARK-Lexikon, das ich im letzten Vorwort nur ankündigen konnte. Anfang Dezember 2004 ist es nun endlich erschienen und kann beim HJB-Shop bezogen werden – und nur dort. Ich glaube, wir sind es den treuen DHARK-Fans schuldig, einige exklusive Produkte anzubieten, die man nicht an jeder Straßenecke bekommt. Ein solches Exklusivangebot ist auch die neue Dauerserie REN DHARK – STERNENDSCHUNGEL GALAXIS, von der erst einmal sechs Ausgaben pro Jahr geplant sind. Sie erscheinen von Januar bis März, so daß zwei Bände garantiert vorliegen, wenn sie dieses Buch in Händen halten, und die nächsten beiden entweder gerade er schienen sind oder in den nächsten Tagen herauskommen. Die Titel der Romane können Sie auf Seite 2 nachlesen. Der erste Zyklus von STERNENDSCHUNGEL GALAXIS trägt den
Titel DREI JAHRE und behandelt die einschneidenden Ereignisse zwischen dem Ende des Drakhon- und dem Anfang des Bit war-Zyklus. Damit Sie sich selbst ein Bild von der Serie machen können, liegt diesem Buch eine Leseprobe aus dem ersten Band mit dem Titel »Der goldene Planet« bei. Ich finde, so könnte eigentlich jedes neue REN-DHARK-Jahr be ginnen. Jetzt aber wird es wohl langsam Zeit, mit der Lektüre des vorliegenden Buches anzufangen, denn schließlich werden Sie kaum verpassen wollen, wie Die Sonne stirbt… Giesenkirchen, im Dezember 2004 Hajo F. Breuer
P.S.: Ich muß noch einen Fehler aus Bitwar 1 korrigieren. Dort war auf den Seiten 349 bis 351 die Legende zur Rißzeichnung der POINT OF abgedruckt. Mir war nicht bewußt, daß Zeichner Oliver Johann drees dafür teilweise wörtlich auf einen Text von Manfred H. Rück ert zurückgegriffen hat. Korrekt hätte es auf Seite 351 also heißen müssen: »Text Oliver Johanndrees und Manfred H. Rückert«. Ich bitte um Entschuldigung.
Prolog
Im Frühsommer des Jahres 2062 gehen drei ruhige Jahre des Aufbaus für die Erde zu Ende. Mit dem aus der Galaxis Orn mitgebrachten Wissen ist es den Menschen erstmals vergönnt, Ovoid-Ringraumer der neusten Ent wicklungslinie zu bauen. Doch keinem dieser neuen Schiffe und nicht einmal der legendären POINT OF ist es noch möglich, die Galaxis der Worgun anzufliegen. Irgend etwas verhindert jeden weiteren Kontakt… Ren Dhark ist nicht länger Commander der Planeten. Dieses Amt be kleidet nun Henner Trawisheim. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, Ren Dhark als Belohnung für dessen unzählige Verdienste um die Ret tung der Menschheit zum privaten Eigentümer der POINT OF zu ernen nen. Trawisheim glaubte, den unvergleichlichen Ringraumer auch in Zu kunft für die Zwecke der terranischen Regierung einsetzen zu können, denn der Unterhalt eines Schiffes dieser Größe übersteigt Ren Dharks finanzielle Möglichkeiten bei weitem. Doch der Großindustrielle Terence Wallis, der auf der im Halo der Milchstraße gelegenen Welt Eden seinen eigenen Staat gegründet hat, zog Trawisheim mit der Einrichtung der POINT OF-Stiftung einen dicken Strich durch die Rechnung. Denn die großzügigen Finanzmittel der Stif tung schenken Ren Dhark völlige Unabhängigkeit. Und so bricht er im Frühjahr 2062 zu einem Forschungsflug nach Babylon auf, um endlich das Geheimnis des goldenen Salters ohne Gesicht zu lösen, der dort nun schon mehr als tausend Jahre im Vitrinensaal unter der eben falls goldenen Gigantstatue eines Menschen ohne Gesicht ausgestellt ist. Die Spur führt auf die vom Atomkrieg verseuchte Welt der Kurrgen – als die POINT OF einen Notruf erhält: Unbekannte Raumschiffe greifen die Zentralwelt der heute mit den Terranern verbündeten Grakos an. Die auf Grah stationierten Schiffe älterer Bauart sind für den unheimlichen Gegner keine echte Bedrohung. Als Ren Dhark eine Flotte hochmoderner neuer Ovoid-Ringraumer ins Gefecht führt, kommt es zu einer erbitterten Schlacht im All: Der unbekannte Gegner ist wesentlich stärker als vermutet!
Doch schließlich flieht er mit unbekanntem Ziel, und Ren Dhark kann seine Suche nach dem Geheimnis der Goldenen fortsetzen. Die führt ihn zu einer unbekannten Welt in den Tiefen des Alls, von der sich ein gigantisches Raumschiff erhebt und die POINT OF angreift. Und dann versagt der Antrieb des Ringraumers… Auf Grah soll eine Einheit der Schwarzen Garde die Trümmer der Roboter untersuchen, welche die Fremden zurückließen. Da nähern sich unbekannte Schiffe dem System – und verschwinden wieder. Die Gardisten folgen den Fremden, die über ein völlig andersartiges Antriebskonzept zu verfügen scheinen, mit der HAMBURG. Auf einem scheinbar verlassenen Planeten stoßen sie auf ein Kommando der Utaren, das sich an den Hinter lassenschaften eines verschwundenen Volkes zu schaffen macht. Schon sind die Fremden, die mittlerweile den Namen »Greys« bekommen haben, heran. Offenbar gehört ihnen der Planet, und sie wollen ihn nicht hergeben. Ohne Vorwarnung schießen sie die HAMBURG ab. Zwei Gardisten und ein Utare wollen mit einem kleinen Raumboot Hilfe holen. Doch sie werden von den Greys, die sich selbst Noid nennen, gefangen und an Bord ihres Flagg schiffes RUGA gebracht. Allerdings gelingt den dreien die Flucht, und fast wähnen sie sich schon in Sicherheit, als die Greys ihnen in großer Zahl auflauern… Etwa zur gleichen Zeit hat der legendäre Raumfahrer Roy Vegas, der einst als erster Mensch den Mars betrat, das Kommando über das neue Flotten schulschiff ANZIO übernommen. Der erste Ausbildungsflug führt das Schiff und seine Besatzung in den Machtbereich der Caldarer, mit denen die Menschheit erst eine kurze, unerfreuliche Begegnung hatte. Und auch diesmal gehen die Caldarer auf Konfrontationskurs: Mehr als 60 ihrer Schiffe nehmen die ANZIO in die Zange und decken sie mit Raptor- und Pressorstrahlen ein, bis ihr Intervallfeld zusammenbricht…
1.
»Sperrklappen!« entfuhr es dem jungen koreanischen Schützen Yo Ho erschrocken. »Ich spüre keinen Luftzug mehr! Die Greys schneiden uns den Rückweg ab!« Der dreiundzwanzigjährige Leutnant Kurt Buck nickte. Angesichts der geringen Besatzungsstärke und des gewaltigen Luftvolumens an Bord des siebenhundert Meter großen Fremdraumers RUGA brauchte man die Luft nicht fortwährend umzuwälzen und konnte es sich leisten, die Klimaanlage eine Zeitlang dichtzumachen. Damit war der Hauptfluchtweg durch die Luftschächte versperrt, ausge rechnet jetzt, da die Selbstzerstörungsanlage des Absetzers aktiviert war und der gleich mitsamt dem Hangar explodieren würde. Mit samt dem Hangar – und den drei darin befindlichen Personen. Buck und Ho gehörten der Schwarzen Garde an, einer schnellen Elite-Eingreiftruppe des terranischen Raumkorps. In diese außer gewöhnliche Kampfgruppe, deren Name sich von der weltall schwarzen Farbe ihrer schweren Kampfanzüge ableitete, wurden nur die Besten der Besten aufgenommen. Die Aufnah mebedingungen waren Mut, Entschlossenheit und überdurch schnittliche kämpferische Fähigkeiten – gepaart mit hoher In telligenz. Offizier konnte nur werden, wer promoviert hatte. Die Schwarze Garde war die Verkörperung des alten römischen Mottos mens sana in corpore sano in Reinkultur. Die beiden Gardisten kamen sich an Bord der RUGA vor wie Rie sen im Zwergenland. Die Schiffsinhaber, die Greys oder Noid, wie sie sich selbst nannten, maßen knapp eineinhalb Meter – was nur noch von dem Utaren Kle Klenet, der Kurt Buck und Yo Ho auf ihrer Mission begleitete, um fünfzig Zentimeter unterboten wurde. Klenets Haut-, Haar- und Augenfarbe war blau, und wie jeder
»Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper«
Utare bevorzugte er kreischend bunte Kleidung. Die vielfarbige Kombination, die er trug, wies im Brustbereich ein Loch auf; er hatte sich im vollautomatisierten Maschinenraum aus dem Me tallklauengriff eines Grey-Roboters »herausschneiden« müssen. Die Greys wirkten auf den ersten Blick wie Kinder – unheimliche, aschgraue Kinder mit übergroßen Augenhöhlen in einem fast an mutig zu nennenden Gesicht, welches über keinen Nasenhügel ver fügte, lediglich über zwei Nasenlöcher. Arme und Beine der vier fingrigen Wesen waren recht dünn, ebenso der Rumpf, weshalb es schien, als sei der haarlose Kopf, der zwar Ohren, aber keine Ohr muscheln aufwies, etwas zu groß geraten. Weder an der Körperform noch an der Kleidung – die Noid trugen alle schlichte graue Uni formen – konnte man auf Anhieb geschlechtliche Unterschiede er kennen. Die Noid-Flotte bestand aus insgesamt achtzehn Schiffen, die von der RUGA angeführt wurden. Der kommandierende Admiral hatte den Absetzer mit Buck, Ho und Klenet per Traktorstrahl an Bord geholt, die drei Insassen des Diebstahls bezichtigt und ohne Ver handlung zum Tode verurteilt. Seither befanden sie sich im Schiffs inneren auf der Flucht, wobei sie sich die meiste Zeit über in der nicht überwachten Klimaanlage aufgehalten hatten. Dieser Weg war ihnen nun versperrt worden. Somit gab es nur noch eine Fluchtmöglichkeit: raus aus dem Han gar und zurück ins Schiff. Doch als Kurt Buck das Schott öffnete und mit Yo Ho nach draußen trat, standen sie einer ganzen Armada von Einmannschützenpanzern gegenüber. Diese verhältnismäßig kleinen Panzer, in denen gerade mal Platz für einen einzelnen Noid war, waren mit einer todbringenden Hauptkanone sowie Betäubungs waffen ausgestattet. Leutnant Buck hatte keinen Zweifel daran, daß die Noid hier und jetzt die Kanone einsetzen würden. Die mit Schutzschirmen versehenen Panzeranzüge der Gardisten hielten eine Menge aus, doch unverwundbar machten sie ihre Träger nicht. Und die Multifunktionskarabiner, die Buck und Ho in den
Händen hielten, waren zwar brandgefährlich (das hatten die Greys in den vergangenen Stunden mehrfach zu spüren bekommen), aber eine ganze Armee konnte man damit nicht auslöschen, auch dann nicht, wenn die Gegner ein gehöriges Stück kleiner waren als man selbst. Yo und Kurt machten sich daher erst gar nicht die Mühe, mitten in den Panzeraufmarsch hineinzufeuern. Ohne daß sie sich vorher ab sprechen mußten, ergriffen beide die einzig wirksame Abwehr maßnahme: Sie schossen Kleinstraketen auf den vordersten Panzer ab. Als das Fahrzeug detonierte, sprangen die Gardisten zurück in den Hangar, in dem sich außer dem Absetzer keine weiteren Beiboote befanden. »Tür zu!« rief Buck dem Utaren durch den sich ausbreitenden Rauch auf Angloter zu. Kle Klenet hielt sich noch im Inneren des Hangars auf, in der Nähe des Schotts. Er sah, wie Buck und Ho im Schutz des Rauchs auf den Einstieg zur Klimaanlage zuliefen, und folgte ihnen. Tür zu! waren zwei der wenigen Angloter-Worte, die Kle verstand und auch aussprechen konnte – er hatte den Befehl also klar und deutlich vernommen (und ausgeführt). Jedwede sonstige Kommu nikation mit seinen Begleitern erfolgte über deren Miniaturtransla toren. Trotz der Sperrklappen, auf die sie voraussichtlich sehr bald stoßen würden, krochen Buck und Klenet erneut in die Klimaanlage. Yo Ho folgte den beiden und bildete somit diesmal das Schlußlicht. Diese Reihenfolge würde vorerst so bleiben. Überholen war nur in den breiteren Luftschächten möglich, allerdings gab es für Ho und Klenet keinen vernünftigen Grund, sich vorzudrängein. Kurt Buck hingegen wußte genau, warum er vorn liegen wollte: Er hatte Informationen, die die anderen nicht hatten. Um ihre weiße, gelbe und blaue Haut zu retten, mußten die drei Männer so viele Meter wie möglich zwischen sich und den Hangar
bringen, denn dort würde es gleich gewaltig krachen. Buck wählte zahllose offene Abzweigungen, und seine Begleiter folgten ihm vol ler Vertrauen. Sobald er auf eine Sperrklappe stieß, änderte er zwangsläufig die Richtung. Immer wieder fand er wichtige Zugänge verschlossen vor, dennoch bemühte er sich, in der verwinkelten Schachtanlage wenigstens halbwegs die Fluchtrichtung beizubehal ten. Kurt wußte, wohin er wollte, und würde sich nicht so ohne weiteres von seinem Weg abbringen lassen. Zugang zu einem kleineren Seitenarm verschaffte er sich durch einen harten Stiefeltritt – die Klappe war glücklicherweise aus leicht nachgiebigem Material gefertigt worden, vermutlich einer dünnen Blechplatte. Der darunterliegende Schacht entpuppte sich als schmale Röhre, durch die sich Buck und Ho mühevoll hindurch schlängelten, mit vielen Drehungen und Wendungen. Klenet hinge gen hatte kein Problem damit. Insgeheim lachte er die anderen aus. Hinter dem Seitenarm lag ein etwas breiterer, nach unten füh render Schacht, durch den sie sich hinabgleiten ließen. Eine Weile ging es abwärts, dann wieder geradeaus, bis sie vor der nächsten Sperrklappe stoppen mußten. Kurt schaute auf sein Vipho mit eingebautem Chronometer und drehte sich zu seinen Begleitern um. »Jetzt?« fragte Yo Ho, der wußte, was die Stunde geschlagen hatte. »Jetzt«, antwortete Buck und zog den verblüfften Klenet ganz nahe an sich heran. »Viel Spaß, ihr Turteltäubchen«, sagte Ho, der insbesondere in brenzligen Situationen stets einen flotten Spruch auf den Lippen hatte – das half ihm, seine Angst zu unterdrücken. Der Koreaner aktivierte den Prallschirm seines Anzugs. Kurt Buck tat das gleiche. Klenet verfügte über keinen Schutzanzug, nur über eine Kombination mit Loch. Buck hüllte ihn mit in seinen Schirm ein. Dadurch dehnte sich der Schirm zwar mehr und wurde etwas schwächer, doch Kurt ging davon aus, daß Yo Ho, der sich hinter ihm befand, eh das meiste abbekommen würde.
Mittlerweile waren mehrere kleine Panzer durch das offenstehende Schott in den Hangar gerollt. Einige bewaffnete Noid stiegen aus, um nachzusehen, ob sich die Flüchtenden im Absetzer verbargen… * Als der Absetzer mit höllischem Getöse explodierte, jagte ein ge waltiger Feuersturm durch das Klimasystem. Für mehrere Sekunden wurden die Luftschächte zu Backöfen mit unterschiedlichen Leis tungseinstellungen. In den hinteren Schächten reichte es bestenfalls zum Auftauen von Tiefkühlkost, in der Mitte hätte man Pizza backen können, und in Hangarnähe war die Grillstufe aktiviert. Dank der stabilen Prallschirme und der vielen vorangegangenen Abzweigun gen überlebten die drei Männer die Explosion. Ihr Herz schlug merklich schneller, sie waren ein wenig benommen, aber sonst ging es ihnen gut. Buck bezweifelte, daß die Noid, die sich direkt vor dem Hangar befunden hatten, genauso glimpflich davongekommen waren. Zwar hatte er Klenet befohlen, das Schott zu schließen, um den Panzer fahrern die Verfolgung zu erschweren und sie gleichzeitig vor allzu harten Auswirkungen der Explosion zu bewahren, aber die Druck welle hatte das Schott mit Sicherheit aus der Verankerung gerissen und die vordere Panzerreihe im Flammensturm hinweggefegt. Seit Buck und Ho gezwungenermaßen auf der Flucht waren, zogen sie eine Spur der Verwüstung und des Todes durch das Schiff. Sie hatten keine andere Wahl, schließlich wollte man sie umbringen, dennoch hatte Ho allmählich Gewissensbisse bekommen. Buck hatte ihm daraufhin den Kopf zurechtgerückt – insgeheim wußte er je doch, daß der Schütze recht hatte. Yo Ho und er hatten die Besat zung erheblich dezimiert. Und wenn schon! dachte Buck, und er verspürte ein Rachegefühl, das sich nur schwer unterdrücken ließ. Beim Abschuß der HAMBURG kamen zahlreiche Kameraden und Freunde ums Leben! Manch einer hatte
sich noch so viel vorgenommen… und überhaupt: Haben wir die Greys etwa gebeten, uns zu jagen und mitsamt dem Absetzer auf ihr Flaggschiff zu verschleppen? Dem Admiral war es völlig egal gewesen, ob sie unschuldig waren oder nicht. Auf seinem Schiff galten seine Gesetze; das Todesurteil hatte von vornherein festgestanden… trotzdem hoffte Kurt, daß er durch das Schließen des Schotts etlichen Noid den Feuertod erspart hatte. Was er nicht ahnte: Kle Klenet hatte seinen Befehl ignoriert. Von ihm aus konnten sämtliche Noid mit einem Schlag das Zeitliche segnen, je mehr, desto besser. Sie hatten ihn entführt, betäubt, aus gezogen, eingesperrt, gedemütigt… und ausgerechnet die beiden Terraner, denen er die ganze Zeit über hochnäsig die kalte Schulter gezeigt hatte, hatten ihn gerettet, was die Demütigung noch schlimmer machte. Gnade kannte er daher gegenüber seinen Ver folgern nicht. Überall im Schiff gellten Alarmsirenen. Es kam zu einer Ver änderung der Schwerkraftstärke und Schwerkraftausrichtung. Ein facher ausgedrückt: die Schwerkraft wackelte. In vielen Bereichen des Schiffes hing man zeitweise irgendwie in der Luft, im wahrsten Sinne des Wortes. Wurde das Problem behoben, ging es ohne Vor warnung wieder abwärts, was teilweise zu erheblichen Verletzungen führte. Nun zeigte sich, wie sinnvoll es war, zahllose kleinere Apparaturen und Einrichtungsgegenstände, die nicht unmittelbar benötigt wur den, in Wand, Boden und Decke zu versenken. Überall im Schiff gab es solche »Einbaugeräte«, die man bei Bedarf mittels Sensorschalter hervorholte und nach Gebrauch wieder in die Aufbewahrungs kammer zurückstellte, frei nach der Devise: Aus den Augen, aus dem Sinn. Dadurch wirkten die Kabinen stets aufgeräumt. Außer dem hatte man mehr Platz zum Arbeiten, was sich beispielsweise im Labor als überaus praktisch erwies. Chaos brach aus. Die überlebenden Noid hatten alle Hände voll
damit zu tun, ihr Schiff und sich selbst zu retten. Ihre Hatz auf die drei Flüchtenden wurde vorerst eingestellt; die Einleitung der Not fallmaßnahmen hatte jetzt oberste Priorität. Auch Buck, Ho und Klenet blieb keine Zeit zum Ausruhen. Dichter schwarzer Rauch zog durch das Klimasystem und breitete sich bis in den letzten Winkel aus. Höchste Zeit also, das Labyrinth der Schächte zu verlassen, schließlich trug der Utare keinen Schutzan zug. Die Hitze und der überdehnte Prallschirm hatten die Sperrklappe verbogen. Dennoch mußte Kurt mehrmals zutreten, um den Weg freizumachen. Die Klappe saß wesentlich fester in ihrer Halterung als die, die er zuvor mit einem einzigen Tritt beseitigt hatte, außer dem war sie um zirka zwei Zentimeter dicker. Eine andere Richtung einzuschlagen kam für ihn nicht in Frage. Er wußte ungefähr, wo sie sich gerade befanden; weitere Abzweigungen hätten ihn nur durch einandergebracht. Mit ausgeschalteten Prallschirmen kletterten die drei wenig später am nächstmöglichen Ausstieg aus der Klimaanlage. Buck und Ho öffneten ihre Visiere. »Wenn ich unseren Fluchtweg richtig nach vollzogen habe, befin den wir uns jetzt auf dem Deck, das unterhalb des Hangars liegt«, bemerkte Yo Ho. »Die Explosion dürfte hier einigen Schaden ange richtet haben.« Kurt Buck nickte. »Davon gehe ich auch aus. Auf den oberen Decks ist es garantiert sicherer, dennoch müssen wir hierbleiben.« »Warum?« fragte Klenet. »Gibt es hier unten etwas Besonderes? Ich sehe keinen Unterschied zu den übrigen Decks.« In der Tat sahen die röhrenartigen Gänge und Tunnel auf der RUGA überall gleich aus, wie triste Hotelflure, von denen sich einer kaum vom anderen unterschied. Selbst die geschlossenen Metalltü ren links und rechts schienen samt und sonders aus demselben Guß gefertigt worden zu sein. Kurt Buck wußte dennoch in etwa, wo er langzugehen hatte. Als er
vom Maschinenraum aus den Bordrechner »angezapft« hatte, hatte er sich die schematische Darstellung der RUGA auf dem Bildschirm so gut wie möglich eingeprägt, insbesondere die Anordnung der Decks. Sein Ziel war ein bestimmter geschützter Bereich im unteren Teil des Raumschiffs: eine kleine, von Alarmanlagen umgebene Halle. Von dort aus konnten sie möglicherweise den Doppelkugel raumer verlassen. Um bei seinen Begleitern keine falschen Hoff nungen zu erwecken, hatte er ihnen seine Entdeckung bislang ver schwiegen. Die Zeit drängte. An vielen Orten waren kleinere Brände aus gebrochen. In den Gängen roch es nach Rauch. Die Alarmsirene jaulte in einem fort wie ein gequältes Tier. Buck hätte sie zu gern mit einem gezielten Schuß von »ihrem Leiden« erlöst. Ein Roboterlöschtrupp war damit beschäftigt, Flammen einzu dämmen, die aus einer der vielen Kabinen schlugen. Wie groß der Raum war, vermochte Buck nicht zu sagen, schließlich hatte er sich nicht jedes Detail merken können, aber er wußte, daß sich auf diesem Deck überwiegend kleinere Lagerräume befanden. Quartiere oder Arbeitszimmer gab es hier nicht, und es handelte sich auch um kein Übungsdeck, so daß es nahezu ausgeschlossen war, hier einem Noid über den Weg zu laufen. Das Material der Türen bestand aus demselben unbekannten Me tallverbundstoff wie die Wände, die Einrichtung und fast sonst alles auf dem Schiff, mit Ausnahme der Sperrklappen in der Klimaanlage. Die Noid schienen regelrecht vernarrt in dieses Metall zu sein, mög licherweise deshalb, weil es sich leicht verarbeiten ließ. Buck fragte sich, ob es zudem besonders widerstandsfähig war. Für Tests blieb ihm keine Zeit, sie mußten weiter – vorbei an den Robotern. Das Standardmodell eines Roboters der Noid war geformt wie eine Röhre, die eine Länge von 1,20 Metern aufwies; hinzu kamen etwa 30 Zentimeter für das Prallfeld, auf dem sie schwebten – somit waren sie nicht größer als ihre Erbauer. Über Köpfe oder nachgeformte
Gesichter verfügten die Röhrenroboter nicht, nur über zwei aus fahrbare Metallarme sowie zwei zu kurz geratene, dicke Metallbeine, die allerdings nicht zum Laufen dienten. Die fußlosen Beine waren Energiestrahlwaffen. Solange der Abstrahlpol nach unten gerichtet war, bestand keine unmittelbare Gefahr. Brenzlig wurde es erst, wenn die Roboter die Beine in die Waagerechte bewegten… Bucks Einschätzung nach ging von den Robotern keine Ge fährdung aus. Schon in der Maschinenhalle hatte sich gezeigt, daß sich die Arbeitsroboter der Noid grundsätzlich auf die ihnen zuge wiesene Tätigkeit konzentrierten; alles übrige um sie herum küm merte sie nicht. Die Jagd nach den Flüchtigen war ausschließlich Sache der Wachroboter. Nur eines hatten weder Buck noch seine beiden Begleiter bedacht: Roboter konnte man jederzeit umprogrammieren… Die Hälfte des Löschtrupps widmete sich weiter dem Feuer. Die anderen legten überraschend ihr Löschgerät beiseite, stellten ihre Beine waagerecht und richteten die Abstrahlpole ihrer Waffen auf die drei Männer. Die Noid hatte zahlreiche ihrer schwebenden Helfer inzwischen darauf programmiert, noch eine Zusatzaufgabe auszuführen. Der neue Programmbefehl lautete: Tötet die Fremden! * Wenn man in einem Hotelflur wahllos irgendeine Tür öffnet, ist das wie das Aufreißen einer Wundertüte. Drinnen kann man auf etwas ganz Phantastisches stoßen – oder auf eine unangenehme Überraschung. Oder aber die Tür bleibt zu, da Hotelgäste ihre Zimmer abzuschließen pflegen. Auch auf der RUGA reihte sich Tür an Tür auf mäßig beleuchteten, einfallslosen Gängen. Jede war aus der eigenartigen grau schimmernden Metallegierung gefertigt, sie waren alle gleich groß, unbeschriftet und geschlossen.
Geschlossen – aber nicht verschlossen. Mit Ausnahme des Ma schinenraums nebst angrenzendem Ersatzteillager, dem Zugang zur Kommandozentrale und der kleinen Halle, zu der Buck wollte, war an Bord alles offen zugänglich. Kein Noid brauchte seine Unterkunft abzuschließen, niemand mußte befürchten, von einem anderen Noid bestohlen zu werden… denn die Strafe für Diebstahl war der Tod – wie für fast alle sonstigen Verbrechen. Diese konsequente Haltung hatte das ohnehin zahlenmäßig nicht sonderlich große Volk anfangs erheblich dezimiert, hatte aber auch dazu geführt, daß bei den Noid mittlerweile so gut wie keine Straftat mehr begangen wurde. Kamen Fremde an Bord, wurden sie schwer bewacht, um ihnen erst gar keine Gelegenheit zu geben, etwas Verbotenes zu tun. Nie mand, der nicht zum Volk der Noid gehörte, durfte sich frei auf den Schiffen bewegen. Die Flucht der drei zum Tode verurteilten Ge fangenen war sozusagen eine Premiere – so etwas war bisher noch nie vorgekommen, schon gar nicht auf dem gefürchteten Flaggschiff. Buck, Ho und Klenet waren allerdings keine gewöhnlichen Ge fangenen. Jeder Gardist war eine Einmannarmee, sogar dann, wenn er keinen Panzeranzug mit angeschlossenem Multikarabiner trug. Und der Utare, dessen waren sich die beiden Soldaten sicher, sta pelte absichtlich tief, wenn er behauptete, lediglich für die Sicherheit der Arbeiter und der Baustelle zuständig zu sein – jener Baustelle, die überhaupt erst zu dem Schlamassel geführt hatte, in dem die drei nun steckten. Hätten die Utaren von vornherein ihre Finger von der gewaltigen Industriestadt auf Spug im Walim-System gelassen, statt dort Aus grabungen vorzunehmen und aus der Stadt alle möglichen Fund gegenstände zusammenzutragen, hätten Buck, Ho und Klenet nicht hier und jetzt den Kampf gegen die Noid-Roboter aufnehmen müs sen. Und Kle Klenet hätte ganz bestimmt nicht die nächstliegende Tür geöffnet, um sich im vermeintlichen Lagerraum dahinter in Si cherheit zu bringen…
*
Kurt und Yo schlossen die Helme, aktivierten die Prallschirme und richteten ihre Karabiner auf die Roboter. Schützend stellten sie sich vor Klenet, der zwar bewaffnet, aber schirmlos war. Die Strahlenwaffen der Roboter und der Gardisten wurden gleichzeitig abgefeuert. Offenbar hatten die Röhrenroboter aus dem Löschtrupp keine Möglichkeit, Schutzschirme aufzubauen, zumin dest aktivierten sie keine. Ihre Energiestrahlen belasteten die Schir me der Gegner, brachten sie aber nicht zum Zusammenbruch. Buck und Ho schmolzen die schwebenden Maschinen so zu sammen, daß sie handlungsunfähig waren, aber der Kern nicht ex plodierte. Der Geruch von verschmorten Chips und Kabeln breitete sich aus. Die Gardisten merkten nichts davon; selbst wenn es nach »Chips und Fisch« gerochen hätte, wäre es ihnen unter ihren Helmen nicht aufgefallen. Da die übrigen Löschroboter keine Anstalten machten, an zugreifen, ließ man sie ungeschoren; offensichtlich waren sie nicht auf Kampf umprogrammiert worden. Buck war es nur recht, daß sie ihre Arbeit fortsetzten. Wenn sich die Brände bis zur Maschinenhalle durchfraßen, konnte es zu weiteren Explosionen auf der RUGA kommen – vielleicht sogar zur totalen Vernichtung des Schiffes. Der Leutnant und der Schütze deaktivierten ihre Prallschirme. Um sich in den Panzeranzügen ungehindert und möglichst schnell be wegen zu können, mußte man etwas Kraft und Geschick aufwenden – eine Frage des Trainings und der Gewohnheit. War der Schirm eingeschaltet, wurde die Bewegungsfreiheit noch weiter einge schränkt, weshalb er nur in Ausnahmefällen im Dauerbetrieb lief. Im übrigen verbrauchte der Schutzschirm nicht gerade wenig Energie, die man unter Umständen für wichtigere Zwecke benötigte. Buck drehte sich nach Klenet um. Der Utare war spurlos ver schwunden. Eine der Türen stand offen…
*
Als Ho und Buck eintraten, fanden sie sich in einem merk würdigen, fast leeren Raum wieder. Zur linken und zur rechten Seite ragten mehrere schräggestellte schlichtgraue Metallplatten aus den Wänden – etwa zwei Meter hoch, einen Meter breit und zehn Zen timeter dick. Die Mitte des Zimmers war frei. Dort saß Kle Klenet wie ein Häufchen Elend auf dem Fußboden. »Klenet?« Kurt Buck schaute ihn durchs Helmvisier fragend an. »Was, zum Kuckuck, machen Sie hier?« Sekundenbruchteile später läutete seine innere Alarmglocke. Fast zeitgleich ging auch Yo Ho ein Licht auf. Die beiden waren ein gutes Team, das sich hervorragend ergänzte. Leider reagierten sie zu spät. Hinter den Metallschirmen traten bewaffnete Greys hervor. Einige richteten ihre Waffen auf die Gardisten, andere auf den Utaren. Die eineinhalb Meter messenden Greys befanden sich zweifelsfrei in der besseren Position: Sie konnten jederzeit wieder hinter den Zweime terplatten in Deckung gehen, während Kurt und Yo völlig de ckungslos im Raum standen, umzingelt von ihren Feinden. »Scheißspiel!« fluchte der Leutnant. »Wir haben uns verhalten wie Anfänger!« Damit die angespannte Lage nicht durch eine unbedachte Hand lung eskalierte, ließen Yo Ho und er demonstrativ die Karabiner sinken, ohne sie aus der Hand zu legen. Ein Rückzug war nur mög lich, indem sie die Prallschirme aktivierten und ohne Rücksicht auf Verluste auf die Noid feuerten – eine solche Aktion hätte Klenet jedoch das Leben gekostet. Der Utare sah die beiden schuldbewußt an. »Tut mir leid, ich konnte ja nicht ahnen, daß hinter der Tür gerade eine Besprechung stattfand. Auch ich habe mir einen Teil des Schemas eingeprägt und hatte erwartet, hier drinnen auf Regale oder Kisten zu stoßen, nicht aber auf Noid, die um einen runden Tisch sitzen. Alles ging ganz schnell. Man nötigte mich mit Waffengewalt zum Hinsetzen.
Gleichzeitig verschwand die komplette Einrichtung um mich herum im Boden, und aus den Wänden schoben sich die schräggestellten Metallplatten. Die Noid versteckten sich dahinter…« Ein Grey gab unwirsche Laute von sich und brachte damit den aufgeregten Utaren zum Schweigen. Buck ersparte sich jeden Kommentar. Statt dessen suchte er fie berhaft nach einem Ausweg. Von der Decke schwebte ein klobiger Apparat herab, ein un förmiger, zu allen Seiten hin verschweißter Metallklotz, den Kurt und Yo bereits kannten: Es handelte sich um einen Translator der Greys. Admiral Seldar Buuhul hatte ihn beim Verhör der Gefange nen eingesetzt. Der Translator blieb in der Luft »hängen«, bewegte sich nicht mehr. Im selben Augenblick trat der greise Admiral höchstper sönlich hinter einem der Metallschirme hervor. Man erkannte ihn an seinen faltigen Gesichtszügen und an dem besonderen Emblem auf seiner grauen Uniformbrust: ein dunkelgraues Gewächs auf hell grauem Hintergrund. Die übrigen Grey trugen ähnliche Abzeichen, die allerdings wesentlich bescheidener ausfielen. Vermutlich han delte es sich um höhere Offiziere, da die Uniformen der Mann schaftsdienstgrade ohne solchen »Brustschmuck« auskommen mußten. Triumphierend schaute Admiral Buuhul Leutnant Buck und Schütze Ho an. »Hier ist Ihre Flucht zu Ende«, sagte er mit seiner etwas fiepsig klingenden Stimme, die vom Translator übersetzt wurde. * Die Minitranslatoren der Gardisten waren zwar aktiviert, al lerdings hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, sie auf die Grey-Sprache zu justieren – dies holten die kleinen Geräte jetzt au tomatisch nach.
»Auf diesem Deck habe ich mit Ihrer Anwesenheit überhaupt nicht gerechnet, Admiral«, räumte der Leutnant offen ein – seine Stimme kam aus dem Helmlautsprecher. »Befindet sich das Offiziersdeck nicht viel weiter oben?« Seldar Buuhul zögerte ein wenig mit der Antwort, er schien zu überlegen. »In dieser Hinsicht haben Sie sich schwer getäuscht«, sagte er schließlich mit geheimnisvoller Miene. »Auf der RUGA ist nicht alles so, wie es scheint.« Yo Ho seufzte laut und vernehmlich. »Wenn ich etwas hasse, dann sind es versteckte Andeutungen! Jeder Hanswurst, der sich ein biß chen wichtig machen will, tut so, als habe er ein Geheimnis zu ver bergen, aber meist kommt hinterher nur heiße Luft dabei heraus.« Buck ahnte, was er vorhatte. Sein Kamerad wollte den Anführer der Greys provozieren, ihn wütend machen. Wer zornig war, dachte nicht nach, handelte viel zu spontan, machte Fehler… Der Admiral schaute jedoch nur verwundert drein. Offenbar hatte der Translator erhebliche Schwierigkeiten, »Hanswurst« in die Sprache seines Volkes zu übersetzen. Hos frischjustierter Miniaturt ranslator funktionierte wesentlich besser und fand eine passende Formulierung – was aus Buuhuls beleidigtem Gesichtsausdruck hervorging. Richtig wütend wurde er allerdings nicht, er behielt sich unter Kontrolle, so wie jeder gute Anführer. Admiral Buuhul »entließ« seinen unfähigen Translator fristlos. Er betätigte einen in der Wand verborgenen Sensorschalter, und der klobige Metallklotz entschwebte wieder nach oben, wo er in einer Deckenöffnung verschwand. Kurt Buck tauschte einen Blick mit Yo Ho. Beide hatten dieselbe Idee, wie sie aus diesem Raum entkommen konnten. Dafür brauch ten sie jedoch Kle Klenets Unterstützung. Klenet signalisierte mit einem unauffälligen Augenaufschlag, daß auch er begriffen hatte… Na bitte, dachte der Leutnant. Ich habe ihn nicht überschätzt. Sicher heitsbeauftragter für Baustellen – daß ich nicht lache!
Klenet mochte kein Held sein, und zeitweise hatte er sich wie ein richtiges Ekel aufgeführt – aber er war beileibe kein Dummkopf. Das Panzerschott zur Maschinenhalle war mit einer ganz speziellen Si cherung ausgestattet; Klenet hatte sie blitzsauber ausgetrickst. Au ßerdem hatte er im Alleingang ohne Waffen einen gefährlichen Kampfroboter ausgeschaltet und einen bewaffneten Wachmann gleich mit dazu. Und ohne seine Mitwirkung hätten es die Terraner nie geschafft, vom Rechner im Maschinenraum in den übergeord neten Bordrechner einzudringen. Auf diesen Zwischenfall kam Buuhul jetzt zu sprechen, denn selbstverständlich hatte man in der Zentrale mitbekommen, daß sich Unbefugte am Bordrechner zu schaffen gemacht und eine schemati sche Darstellung des Schiffes aufgerufen hatten. »Ich weiß nicht, wie Sie es geschafft haben, den untergeordneten Rechner im Maschinenraum derart zu manipulieren, daß er Daten aus dem Rechner in der Kommandozentrale entnehmen konnte, aber die gestohlenen Informationen hätten Ihnen bei der Fortsetzung Ihrer Flucht nur unwesentlich weitergeholfen. Das Schema, das Sie sich auf den Bildschirm geholt haben, ist längst überholt, andernfalls hätte es der Hauptrechner nie preisgegeben. Schon vor längerer Zeit wurde das Offiziersdeck im Zuge größerer Umbauarbeiten komplett nach hierher verlegt. Noch deutlicher: Auf diesem Schiff befindet sich nichts mehr dort, wo es einmal war, deshalb vergessen Sie am besten alles, was Sie sich mühselig vor dem Bildschirm eingeprägt haben.« Er stieß Laute aus, die entfernt an ein Lachen erinnerten. Das Lachen verging ihm, als Klenet plötzlich und unerwartet auf sprang und mit einem gekonnten Überschlag hinter einer der schräggestellten Metallplatten verschwand – so wieselflink, daß der dort postierte Offizier erst gar nicht zum Schuß kam. Klenet war selbst für einen Noid ein viel zu kleines und viel zu bewegliches Ziel; man brauchte wenigstens zwei, drei Sekunden, um ihn ins Visier zu nehmen, doch so lange hielt er nicht still.
* Buck und Ho traten einen Schritt zurück. Nun konnten sie die Wände links und rechts vom Türrahmen berühren. Sie streckten je eine Hand nach hinten aus. In der anderen Hand hielten sie ihre Multikarabiner, weiterhin mit dem Lauf nach unten. »Lassen Sie das!« warnte sie Buuhul. »Finger weg von den Wän den!« Seine Stimme schwankte, er war für einen Moment verunsichert. Erst als es bereits zu spät war, wurde ihm klar, was seine Gefange nen vorhatten… Lautlos glitten die Metallplatten in ihre Wandöffnungen zurück. Fast zeitgleich kam aus dem Fußboden ein runder Metalltisch mit den dazugehörigen Sitzmöbeln zum Vorschein. Buuhul gab Feuerbefehl. Doch Buck und Ho eröffneten schon ih rerseits das Feuer und streckten einige Offiziere nieder. Ihre blitzar tig aktivierten Schirme hielten den gegnerischen Energiestrahlen stand. An verschiedenen Stellen schoben sich nun unterschiedliche Mö bel, Geräte und andere Gegenstände aus den Wänden und dem Fußboden, und selbst der klobige Translator schwebte plötzlich wieder im Raum. Klenet, der an seinem Standort fingerfertig einen Sensorschalter nach dem nächsten ausfindig machte, leistete ganze Arbeit. Erst als ein Noid seine Waffe auf ihn anlegte, setzte er sich in Be wegung und krabbelte wie ein aufgescheuchtes Eichhörnchen auf den Ausgang zu. Im Gurt eines toten Offiziers steckte der Blaster, den man Kle abgenommen hatte; er nahm ihn rasch an sich und kroch auf allen vieren weiter. Die Gardisten gaben ihm Feuerschutz. Augenblicke später befanden sich die drei wieder auf dem Gang und setzten ihre Flucht fort. Selbstverständlich aufrechtgehend. Die Kabinen auf dem Schiff waren nicht nur mit beweglichen Ge
genständen aller Art ausgestattet, sondern auch mit zahllosen ver steckten Sensorschaltern zum Versenken oder Hervorholen jener Gegenstände. Nach dem Schalter zur Entfernung der Metallplatten hatte Klenet nicht lange suchen müssen. Bei seiner Gefangennahme hatte er beobachtet, auf welche Stelle in der Wand einer der Noid seine vier Finger gelegt hatte, kurz bevor die Zweimeterplatten zum Vorschein gekommen waren. Diesen Vorgang hatte Kle kurzerhand wieder rückgängig gemacht und bei dieser Gelegenheit noch diver ses anderes Verborgenes ans künstlich erzeugte Licht befördert. Buck und Ho hatten die hinter ihnen liegende Wand nach dem Zufallsprinzip abgetastet. Auf ähnliche Weise hatten sie schon ein mal für Aufregung unter den Noid gesorgt – als man sie im Labor gewaltsam einem »Wahrheitstest« hatte unterziehen wollen. Leider hatte kaum einer der Labormitarbeiter diese blutige Auseinander setzung überlebt… »Waffen auf Paralyse stellen!« befahl Buck im Laufen. Yo Ho kam dem Befehl sofort nach. Auch er fand, daß es an der Zeit war, zu humaneren Mitteln zu greifen, um sich die Noid vom Leib zu halten. Beim Kampf mit den Löschrobotern hatten sie ihre Multikarabiner auf volle Leistung gestellt – und dabei war es bei dem anschließenden kurzen, aber harten Gefecht mit den Offizieren geblieben. Es hatte mehrere Tote gegeben, darunter vermutlich Sel dar Buuhul, der mit einem gequälten Aufschrei zu Boden gegangen war. Buck wollte unter allen Umständen ein weiteres Gemetzel ver meiden, ordnete aber an: »Sollten wir als nächstes wieder auf Robo ter treffen, schaltet zurück aufs volle Programm.« »Wo wollen Sie überhaupt hin?« rief Klenet ihm atemlos zu. Mit seinen kurzen Beinen kam er kaum noch mit. Buck entschloß sich, die Katze endlich aus dem Sack zu lassen. »Ich bin auf der Suche nach einer unmittelbar an der Außenhülle gele genen kleinen Halle, die mit auffällig vielen Alarmvorrichtungen gesichert ist. Leider konnte ich dem Hauptrechner nur spärliche
Informationen darüber entlocken, bevor es auf dem Bildschirm dunkel wurde, aber wenn ich die Hinweise richtig gedeutet habe, handelt es sich um eine Transmitterstation. Natürlich kann ich mich auch irren, doch welche andere Wahl haben wir sonst?« »Moment mal!« keuchte Klenet und blieb stehen. »Habe ich das richtig verstanden? Sie suchen nach einem Raum, den Sie auf dem veralteten Schema ausgemacht haben? Der Transmitter, bezie hungsweise das, was Sie für einen Transmitter halten, könnte in der Zwischenzeit ganz woanders stehen. Haben Sie denn nicht gehört, was der Faltengesichtige gesagt hat?« »Admiral Buuhul hat gelogen«, erwiderte Kurt Buck. Er öffnete den Helm und blieb stehen, um Klenet etwas Zeit zu geben, zu Atem zu kommen. »Falls sich tatsächlich ein Transmitter an Bord befindet, steht er garantiert schon seit einer Ewigkeit ›festgemauert in der Erden‹ an ein und derselben Stelle, nämlich hier auf dem Unterdeck, exakt dort, wo er auf dem Schema eingezeichnet ist. Der Admiral ahnte wohl, daß wir nach dorthin unterwegs sind, deshalb tischte er uns dieses an den Haaren herbeigezogene Märchen von den Umbauten und der Verlegung des kompletten Offiziersdecks auf.« »Aber warum? Es gab für ihn keinen Anlaß, uns anzulügen, schließlich befanden wir uns eben noch in seiner Gefangenschaft.« »Aus der wir schon einmal entkommen sind. Admiräle denken halt vorausschauend.« »Wenn Sie recht haben, Leutnant, müßten sich auf diesem Deck massenhaft Lagerräume befinden, wie es auf dem Schema dargestellt war«, mischte sich Yo Ho ein, der ebenfalls sein Visier geöffnet hatte. »Das läßt sich ja leicht überprüfen.« Ohne um Erlaubnis zu fragen, öffnete er eine der Türen – und zuckte erschrocken zusammen. Jemand hielt sich in dem Raum auf und starrte ihn aus großen Augen an. »Ich weiß, wer du bist«, sagte der Jemand mit angstvoller Stimme. »Ihr hättet mich beinahe umgebracht, dein Freund und du.«
2. Arlon. Kor Tranc. Dalon. Ein gesichtsloser goldener Salter, ein Tel und ein Worgun. Drei Wesen, deren Schicksalslinien auf dem zwölften Planeten des namenlosen roten Riesen zusammengetroffen waren. Die Suche nach den geheimnisumwitterten Balduren hatte den ersten von ihnen hergeführt: Arlon, dessen Körper jetzt in einer Vitrine innerhalb des großen Goldenen von Babylon lag, zusammen mit einem Daten speicher, der eigentlich Arlons auf seinen Expeditionen gesammeltes Wissen über die Balduren enthalten sollte. Aber Kor Tranc hatte dieses Wissen gestohlen und war Arlons Route gefolgt. Was den Worgun Dalon jedoch hierhergeführt hatte, war noch unklar. Die POINT OF hatte lediglich einen verstümmelten Notruf empfangen, in dem der Name des Worgun erwähnt wurde. Ren Dhark, dem weißblonden Commander des Ringraumers, war Dalons Name durchaus bekannt. Aber kurz nachdem die Ortungstaster der POINT OF einen Ring raumer der Worgun auf der Oberfläche orteten, hatte die Falle zu geschnappt. Wir können nicht sagen, daß man uns nicht vor dem Einflug in dieses System gewarnt hätte! durchzuckte es Dhark. Aber jetzt war es zu spät. Hilflos und unter feindlichem Feuer trieb die POINT OF auf den Planeten zu. Arlon, Kor Tranc, Dalon… Auf die eine oder andere Weise hatte Planet XII dieser roten Rie sensonne für jeden von ihnen schicksalhafte Bedeutung erlangt. Vielleicht mußte man dieser Reihe schon bald einen weiteren Namen hinzufügen. Ren Dhark. *
Das Raumschiff hatte eine Länge von etwa einem Kilometer, und seine Form war so unregelmäßig und unharmonisch, wie man es sich nur vorstellen konnte. Dutzende von Geschützbatterien waren im Einsatz und schossen Dauerfeuer. Zahllose Aufbauten und Fortsätze machten die Oberfläche des Raumers zu einem grotesken Labyrinth. Halbkugeln, Kuppeln und Pyramiden ragten daraus hervor. Aber es gab auch quaderförmige Aufbauten, deren Material im matten Licht der nahen roten Riesensonne eigenartig schimmerte. Dazwischen lagen tiefe, schattige Schluchten. Manche der Aufbauten wirkten wie Geschütztürme oder Abschußrampen. Ein metallgewordener Alptraum! dachte Ren Dhark. Der sportlich-schlanke Terraner starrte auf die erschreckend de taillierte Darstellung in der Bildkugel inmitten des Leitstandes der POINT OF. Gerade erst war dieses Monstrum aus Unitall und einem Dutzend anderer Materialien von der Oberfläche des zwölften Planeten des Roten Riesen gestartet. Der Angriff war unmittelbar darauf erfolgt. Ohne Vorwarnung. Aus Arlons Datei war hervorgegangen, daß sich auf dem zwölften Planeten dieses Roten Riesen die vollautomatische Anlage eines uralten und bisher unbekannten Volkes befand, die Raumschiffe mit Notrufen anlockte und ins Verderben führte. Sirenen des Alls, die im Lauf der Zeit offenbar schon die Hilfsbereitschaft ungezählter Raumschiffsbesatzungen ausgenutzt hatten. Niemand war den legendären Balduren, jenem geheimnisvollen Volk, dem selbst die Worgun den Großteil ihrer Zivilisation ver dankten, jemals dichter auf der Spur gewesen als der Salter Arlon, dessen goldener, gesichtsloser Körper sich in einer Vitrine im Inne ren der Statue von Babylon befand. Und vielleicht auch Kor Tranc! ergänzte Dhark in Gedanken. Der Tel hatte Arlons Datenprotokolle vor 160 Jahren gelöscht und war vermutlich im Besitz des gesammelten Wissens gewesen, das
der Salter im Verlauf seiner Suche angesammelt hatte. Arlon war einst in diesem System gewesen – und das bedeutete höchstwahrscheinlich, daß auch Kor Tranc diese Sonne angeflogen hatte. Ein verstümmelter Notruf hatte die POINT OF während des Anf luges auf das System erreicht. Er war in Worgunsprache gehalten gewesen und hatte den Namen Dalon enthalten. Dharks Mannschaft war gewarnt gewesen. Der Weg ungezählter Raumschiffe hatte in diesem Sonnensystem ein vorzeitiges Ende gefunden. Aber die Aussicht, hier endlich auf weitere Informationen über die Balduren zu stoßen, war stärker gewesen als jede Vorsicht, und so war die POINT OF dem Notruf gefolgt. Grellen Blitzen gleich zuckten jetzt die Energieschüsse aus den Mündungen der Geschütze und trafen direkt auf die Unitallaußen haut der POINT OF. »Alle Versuche, das Intervallfeld zu reaktivieren, sind gescheitert!« rief Arc Doorn von seinem Schaltpult aus, dessen Anzeigen er kon zentriert verfolgte. Der Sibirier mit der phantastischen Gabe, sich in die Technologien fremder Spezies hineinzudenken, stand an seinem Platz und machte ein ziemlich ratloses Gesicht. Seine Finger glitten noch einmal über die verschiedenen Schalter und Hebel, aktivierten hier und da eine Anzeige, die vielleicht Aufschluß hätte bringen können. Schließlich gab er kopfschüttelnd auf. Ren Dhark selbst hatte es auch schon versucht. Tino Grappa, der diensthabende Ortungsoffizier, machte Meldung. »Treffer in verschiedenen Sektionen des Schiffes! Aber der Unitall panzer scheint die Strahlen mehr oder weniger wirkungslos abpral len zu lassen.« »Es stellt sich die Frage, was passiert, wenn dieser Dauerbeschuß über längere Zeit anhält oder stärker wird!« meinte Dan Riker skep tisch.
»Um was für eine Art von Strahlung handelt es sich?« fragte Dhark. »Bislang unbekannt«, erklärte Grappa. »Analysen befinden sich in Arbeit, sind aber bisher ohne greifbares Ergebnis. Ein Abgleich mit unseren Datenbanken fiel jedoch negativ aus. Einer Waffe wie dieser sind wir bislang definitiv noch nicht begegnet.« Hen Falluta, der Erste Offizier der POINT OF, meldete sich zu Wort, nachdem auch er einige Augenblicke lang fast hektisch an seinen Schaltern und Kontrollmodulen herumhantiert hatte. »Sämtliche Antriebssysteme sind tot. Wir können keine Nottransi tion durchführen, der SLE arbeitet nicht, und auch der Sternensog ist blockiert.« Was ist da los? wandte sich Dhark über die Gedankensteuerung an den Checkmaster, jenen gewaltigen und niemals zur Gänze er forschten Hyperkalkulator der POINT OF, dem man so etwas wie eine persönliche Komponente nachsagte. Eine Komponente, die vielleicht mit seinen organischen Bauteilen in Zusammenhang stand. Sämtliche Antriebssysteme stehen nicht zur Verfügung, lautete die nüchterne Feststellung des Checkmasters. Es besteht derzeit keine Zu griffsmöglichkeit. Die Ursache ist unbekannt. Im Klartext bedeutete dies, daß die POINT OF vollkommen ma növrierunfähig war. Dhark hatte schon den Verdacht gehabt, daß es sich wieder um eine der Extratouren des Checkmasters handelte, der den Zugriff auf die Triebwerke einfach blockierte. Aber welchen Sinn hätte das ha ben sollen? »Die Waffensysteme sind anscheinend funktionsfähig«, stellte Leon Bebir nach einem kritischen Blick auf seine Anzeigen fest. Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht«, murmelte er. Riker glaubte ebenfalls seinen Augen nicht zu trauen. »Eigenartig, es ist Energie genug vorhanden für die Waffen systeme, aber trotzdem läßt sich keines unserer Triebwerke starten!« sagte er nachdenklich. Auf der Stirn von Ren Dharks Freund und
Stellvertreter, der seinen Posten als Chef der terranischen Flotte aufgegeben hatte, um an Bord der POINT OF auf Entdeckungsreise ins All gehen zu können, zeigten sich tiefe Furchen. Auch Dhark beschäftigte der Widerspruch, auf den Riker hin gewiesen hatte. Aber jetzt mußte angesichts der akuten Bedrohung erst einmal gehandelt werden. Schließlich durften sie nicht abwar ten, bis sich die unbekannten Strahlenschüsse des monströsen ge gnerischen Schiffs durch die Außenpanzerung des Ringraumers hindurchgefressen hatten. Dhark schaltete einen Interkomkanal frei. »Kommandant an alle Gefechtsstationen. Nadelstrahl und Strich-Punkt-Feuer frei auf die ses Monstrum von einem Schiff!« Bud Clifton, Feuerleitoffizier der Waffensteuerung West, und Jean Rochard, der dieselbe Funktion für die WS Ost innehatte, gaben be inahe gleichzeitig das Bestätigungssignal. Die POINT OF feuerte zunächst mit Strich-Punkt-Strahlen aus al len Rohren. Eine Vielzahl von lichtschnellen, blaßblau leuchtenden Linien zog sich innerhalb der nächsten Augenblicke von den Ge schützbatterien der POINT OF aus durch das All. Gegen die Schwärze des Weltraums hoben sie sich deutlich ab, wie auf der Bildkugel inmitten des Leitstandes zu sehen war. Die Schüsse trafen die Oberfläche des monströsen Riesenschiffs an Hunderten verschiedener Stellen. Aber so unhomogen die äußere Gestalt dieses Schiffs auch auf einen menschlichen Betrachter wirken mochte, so sprach doch einiges dafür, daß es eine einheitliche Ober flächenbeschichtung der Hülle gab. Die Strahlen prallten jedenfalls ohne jede erkennbare Wirkung daran ab, während die Ortung widersprüchliche Daten lieferte, aus denen sich kein klares Bild gewinnen ließ. »Benutzen die wirklich keinen Schutzschirm?« vergewisserte sich Dhark noch einmal. Angesichts der Wirkungslosigkeit des Strah lenbeschusses wollte er das kaum glauben. Aber der Ortungsoffizier konnte ihm nur die bisher erhobenen Meßwerte bestätigen.
»Nein, Sir. Unseren Messungen nach existiert keinerlei ener getischer Schutz«, meldete Tino Grappa. Bud Clifton meldete sich von der WS West, die aufgrund der ge genwärtigen Position der POINT OF die Hauptarbeit beim Beschuß des fremden Schiffs zu leisten hatte. »Strich-Punkt-Strahlen sind auf maximale Energie hochgefahren. Der erkennbare Effekt ist dabei gleich null. Ich schlage vor, daß wir es jetzt mit Nadelstrahl versuchen, Sir.« »Tun Sie das«, nickte Dhark. »Wir können nur hoffen, daß wir in unserem Waffenarsenal irgend etwas haben, das die andere Seite beeindruckt«, kommentierte Riker. Nur Augenblicke später begann der Beschuß mit Nadelstrahlen. Alle Antennen, die sich angesichts der gegenwärtigen Position der POINT OF auch nur annähernd auf das Aggressor-Schiff ausrichten ließen, waren jetzt in Aktion. Ein wahrer Schauer von Nadelstrahlen prasselte auf die Au ßenhülle des bizarren Objekts ein. Sie stellten die stärkste Strahlenwaffe der POINT OF dar. Rosarot hoben sie sich gegen die Dunkelheit des Weltraums ab. Anders als Strich-Punkt-Strahlen waren sie überlichtschnell und vermochten normalerweise sowohl jede bekannte Art von energetischem Schutzschirm als auch jede Panzerung zu durchdringen. Materie wandelten sie vollständig in Energie um. Unter normalen Umständen hätten sie auf dem fremden Schiff für ein wahres Inferno gesorgt. Aber in diesem Fall blieben sie vollkommen wirkungslos. Das gibt es doch nicht! dachte Ren Dhark fassungslos. »Keinerlei Beschädigungen an der Außenhülle des gegnerischen Schiffs erkennbar!« meldete Tino Grappa. »Für uns wird es allerdings langsam kritisch«, meinte Hen Falluta von seinem Pilotensitz aus. Ren Dhark ließ den Beschuß mit Nadelstrahlen noch einige Au genblicke lang fortsetzen, ohne daß sich auch nur der kleinste Effekt
zeigte. »Nadelstrahlbeschuß abbrechen«, befahl er schließlich. Es hatte einfach keinen Sinn, weitere Energie damit zu ver schwenden. »Was jetzt?« fragte Riker. »Hy-Kon?« Dhark nickte. »Hy-Kon-Einsatz!« befahl der Commander der POINT OF. »Vor ausgesetzt, wir haben genug Energie dafür.« »Energie reicht satt aus«, sagte Leon Bebir. Der Zweite Offizier der POINT OF nahm einige Schaltungen vor und nickte dann noch einmal heftig wie zur Bestätigung. »Hy-Kon ist einsatzbereit.« »Mal sehen, wie ihnen das schmeckt!« zischte Dan Riker düster zwischen den Zähnen hindurch. An den Anzeigen seines eigenen Schaltpultes konnte er inzwischen sehen, daß der Gegner seinen Beschuß sogar noch intensiviert hatte. Ein wahrer Hagel von Strahlentreffern prasselte auf die Unitallpan zerung der POINT OF ein. Bis jetzt hielt die Schiffshülle stand. »Hy-Kon aktiviert!« meldete Bud Clifton von der WS West. Opalisierendes Licht schoß von der POINT OF aus auf das mons tröse Riesenschiff zu. Es riß dabei förmlich den Weltraum auf und bildete schließlich einen Ring, der durch sechs schmale Bahnen un terteilt wurde. Dieser Ring erreichte Bruchteile von Sekunden später das gegne rische Schiff, dehnte sich aus und schloß den bizarren Raumer ein, dessen Außenhülle jetzt ebenfalls opalfarben zu schimmern begann. Dhark sah mit angespannt wirkendem Gesicht in der Bildkugel der POINT OF, was geschah. Normalerweise hätte Hy-Kon das fremde Schiff in ein unde finierbares Nichts hineinziehen und verschlingen müssen. So war die Wirkungsweise dieser erst seit dem Auffinden der Myste rious-Raumstation ERRON-3 bekannten Waffe. Sekunden verstrichen. Aber nichts dergleichen geschah.
Die Aura aus opalisierendem Licht, welche die Außenhülle des Feindschiffes für einige Augenblicke umflort hatte, verschwand. »Keine Wirkung!« war Rikers ebenso nüchterner wie zutreffender Kommentar. Tino Grappa rief: »Feindschiff hält Beschuß mit Strahlen un bekannter Art weiter aufrecht und erhöht sogar noch die ener getische Intensität und die Schußfrequenz!« Ren Dhark atmete schwer. Langsam wird es wirklich brenzlig! ging es ihm durch den Kopf. »Distanz zu Planet XII verringert sich weiter«, meldete Hen Fallu ta. »Wir geraten zunehmend in den Bereich seiner Gravitation.« »Können wir einen stabilen Orbit erreichen?« fragte Dhark. Falluta schüttelte den Kopf. »Damit würde ich nicht rechnen, Commander. Unser Auftreffwinkel ist zu ungünstig, und wir haben keine Möglichkeit zur Kurskorrektur.« Das heißt, wir stürzen auf den Planeten, wenn nicht irgendein Wunder geschieht! wurde es Ren Dhark schmerzlich bewußt. »Gegnerisches Schiff verstärkt noch einmal deutlich den Beschuß!« stellte Grappa fest. »WS West, Einsatz der Wuchtkanonen vorbereiten!« befahl Dhark. Der letzte Trumpf, den die POINT OF gegen ihren unbekannten, aber bisher scheinbar unverwundbaren Gegner ausspielen konnte. »Wuchtkanonen bereit«, meldete Clifton. »Auf Grund der ge genwärtigen Position können nur vier Geschütze auf das fremde Schiff ausgerichtet werden!« »Das müssen wir in Kauf nehmen. Eine Kurskorrektur ist leider unmöglich«, erwiderte Dhark. »Wuchtkanonen Feuer!« Augenblicke vergingen, ehe schließlich die ersten Treffer gemeldet wurden. Die in einem masseneutralisierenden Röhrenfeld verzöge rungsfrei auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigten, fünf Zentimeter durchmessenden Kugeln aus massivem Tofirit durchschlugen die Außenhülle des Riesenschiffs an verschiedenen Stellen. Eines dieser Wuchtgeschosse schlug in einen pyramidenförmigen Aufbau ein,
der daraufhin explodierte und regelrecht vom Mutterschiff weg platzte. Verglühende Trümmerteile wurden ins All geschleudert und irrlichterten für wenige Sekunden wie sprühende Funken durch die Dunkelheit des Weltraums, ehe sie für immer verloschen. »Massive Zerstörungen in mehreren Sektionen des fremden Schif fes«, meldete Tino Grappa. »Energieniveau schwankt stark, Strah lenbeschuß hat sowohl an Intensität als auch im Hinblick auf die Schußfrequenz um mehr als fünfzig Prozent nachgelassen.« Auf der Bildkugel konnte die Brückenbesatzung der POINT OF mitverfolgen, wie weitere Wuchtgeschosse in das bizarre gegneri sche Riesenraumschiff einschlugen. Hier und da kam es zu Explo sionen, die sich innerhalb des Schiffes weiterfraßen und neue Deto nationen auslösten, wenn sensible Bereiche in Mitleidenschaft ge zogen wurden. Das fremde Schiff brach in zwei Teile, die furch das All torkelten. Gasfontänen schossen aus verschiedenen Öffnungen. Die Or tungssensoren zeigten Wasserstoff, Stickstoff und Methan an, jeweils mit Temperaturen um 280 Kelvin. Beim Eintritt in die absolute Kälte des Alls gefroren diese Gase augenblicklich. Die Gasfontänen wirk ten wie Düsenstrahlen. Sie versetzten die Bruchstücke des Raumers in Bewegung. »Der Strahlenbeschuß durch das gegnerische Raumschiff ist ein gestellt worden!« kommentierte Grappa die Entwicklung überra schend nüchtern. Der diensthabende Offizier der Funk-Z meldete sich. Es war Leutnant Elis Yogan, seines Zeichen Zweiter Funker der POINT OF. »Uns erreicht ein Notruf von Planet XII«, erklärte er. »Schalten Sie die Phase frei, Yogan!« befahl Dhark. »Ja, Sir. Es handelt sich um ein Signal, das ausschließlich akustische Daten überträgt, keine Bilder.« Die Kunststimme des Translatorsystems meldete sich und über setzte die Botschaft simultan.
Dhark blickte auf eine der Anzeigen und sah, daß diese Botschaft im Original in der Sprache der Tel gesprochen wurde. »Sofort das Feuer einstellen!« verlangte der Sprecher. »Ich wie derhole: Sofort das Feuer einstellen!« »Das tun wir nur, wenn wir umgehend wieder freie Zugriffs möglichkeiten auf die Antriebssysteme unseres Schiffes erhalten, die Sie offenbar blockiert haben!« erwiderte Dhark. Dhark wartete auf eine Antwort. Statt dessen meldete Elis Yogan, daß der Kontakt abgebrochen war. »Ich bin gespannt, ob du irgendwelchen Eindruck auf die andere Seite gemacht hast«, raunte Dan Riker in Dharks Richtung. »Ich auch«, murmelte Dhark. »Für uns wird es jetzt nämlich lang sam knapp…« Sekunden vergingen. Nichts geschah, außer daß die POINT OF weiter der Oberfläche von Planet XII entgegentrudelte. »Die andere Seite ist an einem Handel offenbar nicht interessiert«, stellte Riker fest. Er ballte wütend die Fäuste. Was sollte dieses Manöver der anderen Seite? fragte sich Dhark. Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. »Grappa, was sagen die Biotaster?« wandte sich der Commander an den Ortungsoffizier. »Negativ. An Bord des gegnerischen Schiffes befindet sich den Abtasterdaten nach keinerlei Leben. Es wird entweder durch ein Rechnersystem gesteuert oder von Planet XII aus ferngelenkt. Ein entsprechendes Steuersignal konnte allerdings bislang nicht ange messen werden.« »Angesichts der Tatsache, daß der Funkspruch ebenfalls von der Planetenoberfläche kam, macht es durchaus Sinn, trotzdem von ei ner Fernsteuerung auszugehen«, fand Dan Riker. Ren Dhark atmete tief durch. Ein entschlossener Zug zeigte sich in seinem Gesicht. »Clifton, pulverisieren Sie die Reste des gegnerischen Schiffes!« befahl Dhark nach kurzem Zögern. Offenbar war das die einzige
Sprache, die die andere Seite verstand. »Ja, Sir«, bestätigte Clifton von der WS West. Die Wuchtkanonen traten wieder in Aktion. Zusätzliche Treffer drangen in die beiden Bruchstücke des gegne rischen Raumers ein, lösten Explosionen aus und trennten weitere Sektionen ab. Ein kegelförmiges Bauelement, das allein schon größer war als die gesamte POINT OF, wurde durch mehrere Treffer ab gesprengt und geriet in eine chaotische Drehbewegung, während Teile seiner Außenhülle durch Explosionen nach außen gesprengt wurden. Die Wuchtkanonen der POINT OF nahmen auch dieses Bruchstück noch ins Visier. Eine ganze Serie von Treffern sorgte dafür, daß es in mehr als ein Dutzend Trümmer zerfiel. Innerhalb von etwas mehr als einer Minute Dauerbeschuß durch die Wuchtkanonen der WS West wurde der Großteil dieser Trüm merteile vollkommen vernichtet. »Nur noch zwei Geschütze einsatzbereit«, meldete unterdessen Bud Clifton. »Der Winkel, in dem wir zu den Bruchstücken des Feindschiffs stehen, wird immer ungünstiger…« Aber die verbleibenden Wuchtkanonen reichten völlig aus, um für die endgültige Zerstörung des Monsterschiffes zu sorgen. »Wir treten jetzt in die Stratosphäre von Planet XII ein«, stellte Tino Grappa nüchtern fest. »Weiterhin keinerlei Antriebs- oder Steuerfunktionen verfügbar«, ergänzte Hen Falluta. »Grappa, was sagen die Biotaster über den Planeten?« fragte Dhark, in dessen Hirn jetzt die Gedanken nur so rasten. »Er scheint mehr oder weniger ohne Leben zu sein«, berichtete der Ortungsoffizier der POINT OF. »An zwei Stellen vermag ich starke Energiesignaturen anzumessen. Bei der einen handelt es sich um den wahrscheinlichen Landeplatz des Ringraumers…« »Kam von dort der Funkspruch?« »Nein, Sir. Der kam von einer zweiten Stelle, an der ebenfalls sehr
starke und charakteristische Signaturen anmeßbar sind.« Dhark runzelte die Stirn. »Position genau ermitteln!« befahl er. Der Commander der POINT OF aktivierte eine Projektion. Grappa schickte ihm die Ortungsdaten herüber. Augenblicke später erschien in der Projektion zunächst ein naturgetreues, dann ein schematisches Abbild von Planet XII. Der Landepunkt des Ringraumers war ebenso mit einem aufblinkenden Lichtpunkt gekennzeichnet wie die zweite Position, an der offenbar Energiesignaturen gemessen worden war en. »Sir, in etwa vier Minuten schlagen wir auf der Oberfläche des Planeten auf«, erinnerte Tino Grappa. Seine Stimme vibrierte leicht. Die Angespanntheit war ihm anzu merken. Aber Dhark ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Spezifikation der Signaturen?« »Analyse ist noch nicht abgeschlossen. Wir bekommen ständig neue Daten herein. Und jetzt haben wir weitere, deutliche Energie signaturen von beiden Positionen. Eine genauere Bestimmung braucht etwas Zeit.« Zwei Punkte, die gut tausend Kilometer weit auseinander auf der Ober fläche eines unwirtlichen Planeten liegen! ging es Dhark durch den Kopf. An einem dieser Orte ist der Schlüssel zu dem zu finden, was uns hier widerfahren ist. Ein Ruck durchlief Dhark. »Rochard! Clifton!« wandte er sich an die leitenden Offiziere der WS West beziehungsweise Ost. »Ich möchte, daß Sie ein paar Wuchtgeschosse in die nahe Umgebung des Punktes abfeuern, von dem die Funksignale kamen. Jeder übernimmt das Ziel, das er ge rade aus seiner Position heraus anzuvisieren vermag!« Clifton und Rochard bestätigten kurz, daß sie den Befehl ver standen hatten. Normalerweise wäre eine derartige Operation eine Kleinigkeit gewesen. Ein Routine Vorgang, der in unzähligen Raumgefechten
geübt worden war. Aber diesmal lag der Fall etwas anders, da die POINT OF manövrierunfähig in die Atmosphäre eines fremden Planeten hineintaumelte und von einem berechenbaren Kurs nicht gesprochen werden konnte. Das Energiefeuer des inzwischen zerstörten Monsterschiffs hatte ebenso Einfluß auf den gegenwärtigen Weg der POINT OF gehabt wie die Druckwellen, die bei seiner Zerstörung entstanden waren. Das Raumschiff Ren Dharks war buchstäblich zu einem Spielball fremder Mächte geworden. Auf der schematischen Darstellung in der Sichtsphäre konnte Dhark mitverfolgen, wie präzise die Feuerleitoffiziere Clifton und Rochard dennoch dafür sorgten, daß die Wuchtgeschosse ihre Ziele fanden. Die Treffer wurden in Anbetracht der Umstände, unter denen sie erzielt wurden, mit geradezu atemberaubender Präzision rund um die Energiesignaturen gesetzt. Die Wirkung war in der Bildkugel zu sehen, die vollkommen von der immer näherrückenden Planeten oberfläche ausgefüllt wurde. »Noch drei Minuten bis zum Aufprall«, stellte Grappa fest. »Yogan! Schalten Sie Funkphase auf derselben Frequenz frei, in der wir um Feuereinstellung gebeten wurden!« verlangte Dhark. »Ja, Sir!« kam die Bestätigung des diensthabenden Funkoffiziers. »Phase ist frei.« »Hier spricht Ren Dhark, Commander des Raumschiffs POINT OF. Ich verlange umgehend die Kontrolle über unsere Antriebssysteme und das Intervallfeld zurück. Andernfalls werden wir den Beschuß wiederholen – und diesmal punktgenau treffen! Dhark Ende.« Die Antwort bestand zunächst nur aus Schweigen. »Unsere Treffer zeigen erhebliche Wirkung«, stellte Grappa in zwischen fest. Der Ausschnitt, den die Bildkugel von der Oberfläche zeigte, veränderte sich. Grappa stellte eine höhere Vergrößerungs stufe ein und fokussierte den Ausschnitt auf jenes Gebiet, von dem aus die POINT OF angefunkt worden war.
Die Oberfläche war durch die Treffer der Wuchtkanonen auf gerissen. Die Geschosse hatten die planetare Kruste durchschlagen. Das darunter aufgestaute brodelnde Magma schoß in wahren Fon tänen aus dem Inneren des Planeten. Vulkane bildeten sich. Kilo meterhoch wurden Wolken aus glühender Asche in die Atmosphäre geschleudert und verdunkelten sie. Wenn das keine Wirkung zeigt – was dann? überlegte Dhark. Ein schneller Seitenblick auf die Anzeigen der verschiedenen In strumente zeigte dem Commander der POINT OF, daß die Druckund Hitzewellen dieser Vulkane sogar einen geringfügigen Einfluß auf den Todeskurs des Ringraumers hatten. Allerdings war dieser Einfluß dermaßen gering, daß er im Grunde nicht relevant war. Ein paar Sekunden wurde durch die Verände rung des Winkels, in dem die POINT OF der Oberfläche entgegens türzte, nach Berechnung des Checkmasters vielleicht gewonnen. An der Tatsache, daß wahrscheinlich niemand an Bord einen de rartigen Frontalzusammenprall mit einem Planeten überleben konnte, änderte dies allerdings nicht das Geringste. »Noch zwei Minuten bis zum Aufprall«, meldete Grappa. Seine Stimme wirkte tonlos. Niemand sagte in diesen Augenblicken ein überflüssiges Wort. Beklommenes Schweigen erfüllte den Leitstand der POINT OF. Dhark ballte die Hände zu Fäusten. Sein Mund bildete nun eine gerade, harte Linie. »Sie wollen es anscheinend nicht anders«, meinte der Kom mandant der POINT OF düster. Er wies erneut die Waffenleitstände dazu an, die Wuchtkanonen auf ihre Ziele zu justieren. Diesmal bereiteten sie den endgültigen, tödlichen Schlag vor. Die Zeit der Warnschüsse war vorbei. Wenn es für uns ums Ganze geht – dann soll dies auch für die andere Seite so sein! durchzuckte es grimmig Dharks Kopf. »Funkspruch!« meldete Elis Yogan. »Ich schalte frei!« Im nächsten Moment ertönte dieselbe Stimme, die schon einmal
mit der Besatzung der POINT OF in Kontakt getreten war. Wieder benutzte sie die Tel-Sprache. Ihre Worte wurden vom Translator system in Angloter übersetzt. »Versprechen Sie einen friedlichen Abzug, wenn wir Ihnen die Reaktivierung Ihrer Triebwerke erlauben?« »Wir kommen ohnehin nicht in feindseliger Absicht«, erwiderte Dhark. »Falls Sie uns die Kontrolle über den Antrieb zurückgeben, ziehen wir uns friedlich zurück und werden Sie nicht beschießen. Aber Ihnen bleiben nur die nächsten Sekunden, um dies zu ent scheiden. Ich werde jetzt Befehl zum gezielten Feuer geben…« »Nein, tun Sie das nicht!« Die andere Seite scheint begriffen zu haben, daß wir sie mit in den Tod reißen werden, wenn uns keine andere Wahl bleibt! erkannte Ren. Eine Sekunde verstrich. Eine zweite… Plötzlich blinkte eine ganze Reihe von Kontrollen auf. »Intervall steht wieder zur Verfügung!« meldete Falluta. »SLE, Sternensog und Transitionstriebwerke ebenfalls!« »Noch eine Minute bis zum Aufprall!« meldete Grappa. Aufprall nicht mehr zu verhindern! meldete der Checkmaster an Dhark. »Ich übernehme per Gedankensteuerung«, kündigte dieser an. Er aktivierte augenblicklich das Intervallum. Wie eine Blase hüllte dieses Feld die gesamte POINT OF ein und versetzte sie in ein Zwi schenkontinuum, so daß sie in der Lage war, feste Materie zu durchdringen. Die Gravitationskraft des Planeten hatte die POINT OF beschleu nigt und zog sie unaufhaltsam auf die Oberfläche herab. Dhark ak tivierte den Antigrav, der aber auch nicht ausgereicht hätte, um ei nen Aufprall zu verhindern. Selbst ein sofortiges Aktivieren von Gegenschub mit Hilfe des SLE hätte diese gewaltige Masse nicht mehr bremsen können. Jetzt drang sie durch die ausgesprochen dünne Kruste des Planeten hindurch, tauchte ein, so als wäre dort nichts. Antigrav und gleich
zeitig gezündeter Gegenschub mit SLE bremsten die Fahrt in die unermeßliche Tiefe des sich anschließenden brodelnden Magmao zeans. Die POINT OF tauchte wenige Augenblicke später wieder aus dem Planeten hervor. Dhark ließ sein Raumschiff in Richtung der Position des alten Ringraumers fliegen. Fast sechshundert Kilometer Luftlinie waren bis dorthin zurückzulegen. Ren ließ die POINT OF in einem niedri gen Atmosphärenflug über die Oberfläche gleiten, die ein bizarres Bild bot. So weit der Sichtausschnitt der Bildkugel reichte, schien Planet XII von Schrott bedeckt zu sein. Abertausende von Raum schiffen waren hier offenbar havariert. Ihre Wracks bedeckten die Oberfläche. Arc Doorn saß sehr konzentriert vor seinem Schaltpult, ließ die Finger über Knöpfe und Schalter gleiten, verglich verschiedene An zeigen und Meßwerte miteinander und schüttelte nur den Kopf. »So wahr ich hier stehe, so etwas habe ich noch nie gesehen.« »Gibt es in irgendeinem dieser Wracks noch energetische Aktivi täten?« wollte Dhark wissen. »Nein«, gab Doorn Auskunft. »Es ist wirklich nur Schrott, was wir hier sehen. Unvorstellbar viele Raumschiffe, die wahrscheinlich auf ganz ähnliche Weise hier gestrandet sind, wie es uns auch um ein Haar ergangen wäre.« Alle im Leitstand der POINT OF blickten wie gebannt auf das, was die Bildkugel ihnen zeigte. Gewaltige, bis zu mehrere hundert Me tern hohe Berge aus Trümmerteilen und Metallstücken türmten sich auf. Nur hin und wieder ließen die Schrottmassen einen Blick auf die eigentliche Oberfläche zu. Der steinig-trockene Untergrund trat nur abschnittsweise unter den Schrottmassen hervor. Offenbar war Planet XII ursprünglich eine wüstenartige, sehr tro ckene Welt gewesen. Derzeit gab es zumindest keinerlei offene Ge wässer auf dem Planeten, obwohl der atmosphärische Druck – an ders als etwa beim solaren Mars, mit dem dieser Planet in mancher
Hinsicht vergleichbar war – für das Vorhandensein von flüssigem Wasser vollauf ausgereicht hätte. Es blieb eigentlich nur die Erklä rung, daß diese Welt aus einer Laune der Natur heraus einfach sehr wasserarm war. Die Außentemperatur betrug durchschnittlich fünf Grad Celsius. Die Luft war für Menschen atembar. Der mit 19 Prozent für eine Trockenwelt ohne offenes Wasser ausgesprochen hohe Sauerstoffgehalt der Atmosphäre sorgte bei vielen Metallen für Korrosion. Von manchen Wracks war im Laufe der Zeit nichts weiter geblieben als rötlicher Staub und zerbröselnde Strukturen, die der nächste Wind davontragen würde. Zahllose vor sich hinrostende Metallteile bedeckten die Oberfläche. Manche schienen Reste von irgendwelchen technischen Anlagen zu sein, bei anderen handelte es sich vielleicht nur um ehemalige Panzerplatten, die sich gelöst hatten. Bei wieder anderen Stücken war die ehemalige Funktion, die sie einmal innegehabt hatten, auch beim besten Willen nicht mehr erkennbar. Schließlich erreichte die POINT OF die Position des fremden Ringraumers. In der Nähe setzte Ren Dharks Schiff auf. Der Landeplatz war zwar nicht schrottfrei, aber immerhin einigermaßen eben. »Manche dieser Raumschiffwracks müssen ein unvorstellbar hohes Alter haben«, war Riker überzeugt. Dhark nickte. »Seit Jahrhunderten stürzen sie offenbar auf diesen Planeten, und die meisten von ihnen sind wohl einfach zerschellt.« Der Fokus der Bildkugel war so ausgerichtet, daß der fremde Ringraumer etwa ein Drittel des Bildausschnitts füllte. »Was können Sie uns über diesen Ringraumer sagen, Grappa?« fragte Dhark. Der Ortungsoffizier blickte angestrengt auf seine Anzeigen. »Ein ganz normaler 180-m-Ringraumer«, erklärte er. »Ein Funkspruch erreicht uns«, meldete Yogan. »Unser alter Bekannter, wie ich annehme«, vermutete Dhark mit
einem milden Lächeln um den Lippen. Yogan bestätigte das. »Ja, und er ist ziemlich wütend!« stellte der Funkoffizier fest. Dhark atmete tief durch. »Dann lassen Sie mal hören, was er zu sagen hat!« »Sie haben Ihr Wort gebrochen«, grollte die Stimme des Überset zungssystems aus dem Lautsprecher. Der Translator versuchte dabei mit seiner Modulation, die Emotionalität des Originals adäquat wiederzugeben. »Das Vertrauen, das wir Ihnen entgegengebracht haben, wurde schändlich mißbraucht«, fuhr die Stimme fort. »Was nun geschieht, haben Sie sich selbst zuzuschreiben!« »Erneuter Totalausfall von Intervall und Triebwerken«, meldete Falluta, der sinnloserweise einige Regler und Knöpfe betätigte. Aber die Kontrolle der anderen Seite über die Antriebssysteme und das Intervallfeld schien vollkommen zu sein. Von Bord der POINT OF aus gab es keinerlei Möglichkeiten der Einflußnahme. »Das heißt, daß wir hier festsitzen«, war Rikers Kommentar. * Dhark wandte sich an Elis Yogan von der Funk-Z. »Setzen Sie eine T-Richtfunk-Botschaft nach Terra ab!« befahl der Commander der POINT OF. Eine Pause folgte. Dhark ahnte, daß da etwas nicht stimmte. »Sämtliche Funkfrequenzen sind tot«, erklärte Yogan schließlich. »Das gilt sowohl für den To-Richtfunk als auch für das normale Frequenzband.« »Erklärung?« fragte Dhark. Grappa meldete sich an Yogans Stelle zu Wort. »Wir scheinen von einem Störfeld umgeben zu sein, das jeglichen Funkkontakt verhin dert.« »Was ist mit einer Kontaktaufnahme auf der Frequenz, die unser Freund bislang benutzte?« hakte Dhark nach.
»Negativ, Sir!« rief Yogan. »Die andere Seite scheint im Moment keinerlei Wunsch nach Kontakt mit uns zu haben.« »Versuchen Sie trotzdem weiterhin eine Kontaktaufnahme«, befahl Dhark. »In Ordnung, Sir. Aber die Erfolgsaussichten sind gleich null.« Dhark wandte sich über die Gedankensteuerung an den Check master. Was ist mit den Flash? Die Antwort des Bordrechners der POINT OF war ernüchternd: Sämtliche Funktionen sind blockiert. Dhark erhob sich aus seinem Kommandantensitz und blickte ei nige Augenblicke lang nachdenklich zur Bildkugel. Der sichtbare Ausschnitt veränderte sich. Er zeigte nun den gesamten Ringraumer. »Ich werde hinausgehen und mich umsehen«, kündigte er an. »Eine andere Möglichkeit, als daß wir das fremde Schiff mal genauer untersuchen, sehe ich nicht. Die Stelle, von der der Funkspruch aus ging, können wir nicht erreichen, sie liegt tausend Kilometer ent fernt.« Dhark machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Jedenfalls werde ich nicht die Hände in den Schoß legen und mich damit ab finden, daß wir hier festsitzen!« »Die Lage ist doch relativ entspannt«, meinte Riker. »Unser Gegner weiß jetzt, daß wir über ausgesprochen wirksame Waffen verfügen, die ihm erheblich zusetzen und ihn wahrscheinlich sogar vollkom men vernichten können. Also wird er nicht allzu aggressiv gegen uns vorgehen.« »Aber wir haben keine Chance, ohne das Wohlwollen der anderen Seite jemals von hier wegzukommen«, gab Dhark zu bedenken. »Nennt man so etwas nicht eine klassische Pattsituation?« fragte Bebir. Der rothaarige Zweite Offizier der POINT OF zuckte dabei mit den breiten Schultern. »Dann kann mir ja nichts passieren«, meinte Dhark. Dan Riker war allerdings nicht damit einverstanden, daß der Kommandant der POINT OF selbst der Einsatzgruppe angehören wollte.
»Warum läßt du diesen Job nicht Leutnant Hornig und seine Fähnriche machen!« schlug der ehemalige Chef der Terranischen Flotte vor. Dhark überlegte kurz. Dan hat recht! wurde es ihm klar. Die jungen Fähnriche an Bord der POINT OF waren in der Aus bildung, ein Einsatz wie dieser konnte ihnen nicht schaden und brachte sie wahrscheinlich mit einem Schlag sehr viel weiter. »Okay, ich bin einverstanden«, nickte Dhark schließlich. »Unter der Voraussetzung, daß mit Amy und Brack zwei Cyborgs bei ihnen sind.« »Warum nicht?« erwiderte Riker, während ein leises, im An betracht der Situation etwas verhaltenes Lächeln seinen Mund um spielte. Tino Grappa schaltete sich ein. »Die planetenumspannenden Funkstörfelder, auf die wir hier gestoßen sind, dürften die Kommu nikation mit dem Landetrupp etwas schwierig gestalten.« Riker hob die Augenbrauen. »Was hältst du davon, wenn wir Chris Shanton mal fragen, ob er da auf die Schnelle Abhilfe schaffen kann!« Dhark zuckte die Achseln. »Meinetwegen. Dann können wir auch zunächst mit Hilfe der Ortungssysteme alles in der Umgebung noch mal gründlich abtasten.« »Soviel Zeit hätten wir dann«, stimmte Riker zu. Dhark stellte inzwischen die Interkomverbindung zu Chris Shan tons Labortrakt an Bord der POINT OF her. Das Gesicht des bärtigen, schwergewichtigen Fremdtechnik experten erschien auf einem kleinen Nebenbildschirm. »Wir brauchen Ihre Hilfe, Chris«, eröffnete Dhark.
3.
Shanik Ventess war am Boden zerstört – wieder einmal. Als erstes hatte er sich bei der Festnahme der drei Fremden einen Patzer ge leistet und war beim Kroc, dem »Vater« der Schutztruppe, in Un gnade gefallen. Daraufhin hatte ihn der oberste Norll vom Geern-Rood zum Geern-Jungel degradiert und zur Schutzstreife versetzt. Die Fremden waren aus der Gefangenschaft entkommen und zogen seither eine Schneise der Verwüstung durch das Schiff. Auf einer Streifenfahrt war Shanik mit ihnen zusammengestoßen. Er hatte versucht, sie aufzuhalten… Aber er hatte erneut versagt. Sie hatten Shaniks Panzerfahrzeug zerstört und ihn fast getötet. Nur mit knapper Not war er ihnen entkommen. Dem Zorn des obersten Norll hingegen entkam niemand. Der höchste Offizier an Bord hatte ihn einen Feigling genannt und ein weiteres Mal degradiert: vom Geern-Jungel zum Oborsin. Daß man ihm zudem das Privileg gestrichen hatte, seinem Dienstgrad die Bezeichnung »Geern« voranzustellen, traf Shanik besonders hart. Nur wer auf dem Flaggschiff der stolzen, unbesiegbaren Flotte der Noid mitflog, durfte diesen Zusatz verwenden, vom rangniedrigsten Soldaten bis zum allwissenden, unfehlbaren obersten Norll Seldar Buuhul (dessen offizieller Dienstgrad Geern-Norll lautete – aber die hohen Offiziere und der Kroc verzichteten bei der Anrede auf derlei Firlefanz; sie strahlten auch so genügend Respekt aus). Buuhul hatte Ventess zu Lagerarbeiten auf dem Unterdeck ver donnert, eine Strafe, die für den ehemaligen Elitesoldaten fast schlimmer war als der Tod. Niedere Tätigkeiten waren normaler weise Sache der Roboter. War er hier an Bord weniger wert als eine Maschine? Bis sich Buuhuls Zorn wieder gelegt hatte, war es Shanik verboten, an Alarmübungen und realen Kämpfen teilzunehmen. Die Noid
waren ein sehr altes, hochentwickeltes, aber auch kriegerisches Volk. Soldat zu sein und nicht kämpfen zu dürfen galt als Schande – damit verletzte man die Ehre seiner gesamten Familie. Selbst wenn man Shanik eines fernen Tages begnadigen würde, wäre er gebrandmarkt und müßte sich mächtig anstrengen, um das Vertrauen seiner Mit noid zurückzugewinnen. Da er die Lagerarbeit ohne Hilfsmittel verrichten mußte, hatte er schwer zu schleppen. Sein Körper schmerzte an allen Ecken und Enden. Offensichtlich hatte ihn Silve, die siebenhändige, unbere chenbare Göttin des Glücks, endgültig verlassen. Statt dessen hatte sich Treheses, der weißgraue, steinalte Gott des Unheils, seiner an genommen – eine recht zweifelhafte Ehre, auf die Shanik gern ver zichtet hätte. Theoretisch konnte sich sein Pech kaum noch steigern… Daß es zwischen Theorie und Praxis erhebliche Unterschiede gab, wurde Shanik Ventess klar, als sich die Tür zum Lagerraum öffnete und einer der drei Fremden hereinschaute. Jetzt geben sie mir den Rest! schoß es ihm durch den Kopf. Er war unbewaffnet. Seine Handfeuerwaffe hatte er in einem mehrere Meter entfernten Regal abgelegt, weil sie ihn bei der Arbeit gestört hatte. Ein Fehler – und ein Verstoß gegen die Dienstvor schrift. An Bord hatte jeder jederzeit kampfbereit zu sein. »Ich weiß, wer du bist«, sprach er den Fremden mit zittriger Stimme an. »Ihr habt mich fast umgebracht, dein Freund und du.« Yo Hos Translator übersetzte seine Worte. Schweigend zog der Koreaner die Tür wieder zu, ohne daß sie dabei ins Schloß fiel, so daß sie einen kleinen Spalt offenstand. Weder Buck noch Klenet hatten in den Raum hineinschauen kön nen, aber sie hatten zweifelsfrei die Stimme eines Noid gehört. Beide machten ihre Waffen bereit. »Kein Grund zur Aufregung«, beruhigte Yo Ho sie. »Diesmal sind wir nicht mitten in eine Offiziersbesprechung hineingeplatzt. Hinter der Tür befindet sich tatsächlich nur ein Lagerraum – mitsamt dem
Lagerverwalter. Das kleine graue Kerlchen spricht allerdings in Rätseln. Er behauptet, wir hätten ihn beinahe umgebracht.« »Kann nicht sein«, meinte Leutnant Buck. »Auf unserer Flucht mußten wir gegen bewaffnete Soldaten, Roboter, Offiziere und schießwütige Laboranten antreten – aber mit Lagerarbeitern hatten wir bislang noch keinen Streit.« »Machen wir kurzen Prozeß mit ihm«, schlug Kle Klenet vor, »bevor er die anderen alarmiert.« »Mittlerweile weiß das ganze Schiff, wo wir uns aufhalten«, erwi derte Buck. »Wir machen Krach für zehn, hinterlassen eine unüber sehbare Energiespur, und Ihre Infrarotausstrahlung, Mister Klenet, ist das reinste Leuchtsignal. In der Kommandozentrale verfolgt man unseren Weg übers Unterdeck inzwischen bestimmt am Bildschirm mit, und man wird versuchen, uns noch vor dem Ziel abzufangen. Wir werden uns den Zutritt zur Halle wohl oder übel erkämpfen müssen.« »Hoffentlich haben Sie sich den Weg gut gemerkt«, sagte Schütze Ho. »Ich bin Ihnen mit Sicherheit keine große Hilfe. Für mich sieht es an jeder Abzweigung gleich aus.« »Für mich auch«, gestand Buck offen ein. »Möglicherweise werden wir ein paarmal falsch abbiegen, doch solange wir uns nicht total verlaufen…« »Wir kommen hier nie wieder raus«, unterbrach ihn der Utare knurrig. »Hätten Sie auf mich gehört, säßen wir jetzt im Absetzer und wären weit weg von der RUGA.« »Hätten wir versucht, mit dem Absetzer zu entkommen, hätten uns die Strahlengeschütze der RUGA längst in unsere Atome zerlegt«, widersprach ihm der Leutnant energisch. »Die Transmitterstation ist unsere einzige Chance. Wir haben keine andere Wahl und hatten nie eine. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie uns bei der Suche tatkräftig unterstützen, verstanden? Auch Sie haben das Schema auf dem Bildschirm gesehen, Klenet, also strengen Sie gefälligst Ihr Gedäch tnis an. Unser Erinnerungsvermögen ist unsere einzige Chance. Die
Greys werden uns kaum Wegweiser aufstellen.« »Aber vielleicht stellen Sie uns einen Fremdenführer zur Verfü gung«, warf Yo Ho grinsend ein. »Ihre albernen Scherze sind hier fehl am Platze!« schnauzte Buck ihn an, weil er gerade so schön in Fahrt war. »Wer sollte denn…?« Er hielt inne. Jetzt wußte er, worauf Ho anspielte. Drei Augenpaare richteten sich auf die einen Spalt geöffnete Tür zum Lagerraum. In diesem Moment stürmte eine Vierergruppe Noid-Soldaten in den Gang. Sie waren mit Strahlengewehren ausgerüstet. Buck, Ho und Klenet griffen zu ihren Waffen… * Kaum hatte der Fremde die Tür hinter sich zugezogen, sprintete Shanik Ventess zu dem Regal, in dem seine Waffe lag. Als er sie in den Händen hielt, fühlte er sich wieder etwas besser. Mit dem Routineblick eines Soldaten der Schutztruppe, welcher er leider nicht mehr angehörte, hielt er Ausschau nach einem geeigne ten Platz, an dem er sich verschanzen konnte und von dem aus er die Eingangstür gut im Blick hatte. Zwei nebeneinander stehende hohe Kistenstapel erschienen ihm dafür am geeignetsten. Von dort aus hatte er eine gute Schußposition. Die Kisten bestanden aus einem dünnen Leichtmetall. Shanik war sich bewußt, daß sie bei einem Schußwechsel schwer in Mitleiden schaft gezogen werden würden, doch um den Inhalt war es nicht weiter schade. Die »Geräte«, die sich darin befanden, dienten ledig lich Manöverzwecken, es handelte sich um funktionslose Attrappen. Kampflärm war auf dem Gang zu hören. Schüsse und Schreie drangen durch den Türspalt. Von einem Augenblick auf den anderen war es wieder ganz still. Shanik hatte keinen Zweifel daran, daß die Fremden das kurze Feuergefecht für sich entschieden hatten. Wie viele seiner Kamera
den hatten sie wohl diesmal umgebracht? Er ging hinter den Kisten in Deckung. Eine mehrere Zentimeter große Lücke zwischen den beiden Stapeln diente ihm als Schieß scharte. Shanik nahm die Tür ins Visier. Gleich der erste Schuß mußte ein Volltreffer sein, sonst war er verloren. Der zum Oborsin degradierte Soldat war überzeugt, daß die Schutzkleidung der Fremden aus einem ganz besonderen Material gefertigt war. Möglicherweise absorbierten die Anzüge Energie strahlen bis zu einem gewissen Grad, daher entschloß er sich, direkt auf den Kopf zu zielen, mitten hinein ins geöffnete Helmvisier. Selbst wenn es geschlossen war, war dort die Panzerkleidung am schwächsten, vermutete Shanik Ventess. Er hatte sich gemerkt, auf welcher Höhe sich der Kopf des hereinschauenden Fremden befun den hatte, und exakt diese Stelle des Türrahmens visierte er jetzt an. Auf dem Gang wurde gestritten. Shanik konnte so gut wie nichts verstehen, er vernahm nur Wortfetzen in zwei fremden Sprachen, vermischt mit dem maschinellen »Geplapper« von Translatoren. Allmählich wurde es ruhiger. Dann schob sich leise die Tür auf. Der Noid zielte kurz und betätigte den Auslöser… * Der Kampf war nur von kurzer Dauer gewesen. In ihrem Haß auf die entflohenen Gefangenen waren die vier Noid-Soldaten wütend losgestürmt, jedwede Eigensicherung außer acht lassend… Nun lagen sie am Boden – paralysiert. Zumindest auf drei von ih nen traf das zu. Der vierte Grey war tot. Fassungslos kontrollierte Leutnant Kurt Buck erst seine eigene Waffe und dann die Waffen seiner Begleiter. Er stellte fest, daß Kle Klenet den Blaster nicht auf Paralyse umgestellt hatte, obwohl das bei diesem Modell machbar war. »Haben Sie meinen Befehl nicht gehört?« fuhr Buck ihn barsch an. »Ich kenne mich mit dem Ding nicht so gut aus«, rechtfertigte sich
der Utare. »Schließlich entstammt es terranischer Produktion.« »Beim Schießen und Zielen scheinen Sie keine Probleme damit zu haben«, hielt ihm der Leutnant vor. »Warum haben Sie sich bei der Umschaltung nicht helfen lassen?« »Wieso regen Sie sich eigentlich so auf?« stellte Klenet ihm die Gegenfrage. »Die drei paralysierten Noid erwachen irgendwann aus ihrer Starre und jagen uns dann erneut kreuz und quer durchs Schiff. Der Tote hingegen kann uns nie mehr gefährlich werden.« »Sind Sie noch ganz klar im Kopf?« brauste Buck auf. »Wollen Sie die gesamte Besatzung ausrotten?« »Wenn es sein muß: ja!« erwiderte Klenet in gleichem Tonfall. Yo Ho seufzte leise. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als hätte sich das Trio zu einem perfekten Team zusammengerauft. Aber of fensichtlich war nichts auf der Welt wirklich perfekt. Der Leutnant nahm Klenet den Blaster ab und drehte sich weg. Ohne daß der Utare dabei zuschauen konnte, stellte er die Energie waffe auf die schwächste Stufe ein. Auf diese Weise wollte er ver hindern, daß Klenet, der sich laut eigenem Bekunden nicht damit auskannte, den Blaster wieder hochdrehte. »Sie gehen jetzt da rein und holen den Lagerarbeiter heraus«, be fahl ihm Buck, als er ihm die Waffe zurückgab. »Und paralysieren Sie ihn nur im äußersten Notfall, andernfalls können wir ihn nicht vernehmen.« »Wäre das nicht die Aufgabe des Rangniedrigsten?« fragte Klenet beleidigt, wobei er einen Seitenblick auf Yo Ho warf. »Welchen Rang bekleiden Sie denn, Herr Baustellensicher heitsbeauftragter?« fragte Buck ihn grinsend. Der Utare biß sich auf die Lippe. Fast hätte er sich verraten. Aber wäre das wirklich so schlimm gewesen? War es nicht längst an der Zeit, die Porat-Karten aufzudecken? Porat wurde über sieben Run den hinweg mit metallenen Karten gespielt, die erst in der letzten Runde aufgedeckt werden durften. Die Tel hatten es erfunden, an die Terraner weitergegeben, und von dort aus war es wohl irgend
wie nach Esmaladan gelangt. Seither spielten es die Utaren voller Begeisterung. Auf der Erde hatte der Name des Spiels sogar Einzug in die Lexika gefunden. »Daß Sie für diese Aufgabe ausgewählt wurden, hat nichts mit dem Dienstgrad zu tun«, sagte Yo Ho, der die Gedankengänge seines Vorgesetzten wieder einmal erriet, versöhnlich zu Klenet. »Der Herr Leutnant und ich sind dafür völlig ungeeignet, weil nur Sie über diese ganz spezielle Fähigkeit verfügen.« Klenet verstand kein Wort, aber er fragte auch nicht weiter nach. Mit dem Blaster in der Hand betrat er ohne zu zögern den Lager raum. Ein Energiestrahl zischte über ihn hinweg, hinaus zur Tür. Reak tionsschnell ließ Kle sich fallen. Jetzt wußte er, was Schütze Ho ge meint hatte… * Noch am Boden liegend stellte Kle Klenet den Blaster auf volle Leistung und jagte dann eine Strahlensalve in Richtung des Kisten stapels. Er haßte es, aus dem Hinterhalt unter Beschuß genommen zu werden. Wenn sich jemand unbedingt mit ihm anlegen mußte, sollte er gefälligst von vorn kommen. Die unteren Kisten zerschmolzen, platzten auf. Beide Stapel bra chen in sich zusammen. Ein grauer Schatten kam dahinter hervor und wollte hinter einem leergeräumten Metallregal verschwinden. Klenet zielte mit dem Blaster auf den Flüchtenden. Er konnte ihn unmöglich verfehlen… In letzter Sekunde riß er den Blaster herum und feuerte die nächste Salve aufs Regal ab. Es kippte um und versperrte dem Grauen den Fluchtweg. Der vermeintliche Lagerarbeiter wirbelte herum und richtete seine leichte Handfeuerwaffe auf den kleinen blauen Mann am Boden. »Nur zu!« brüllte Klenet ihn an. »Wenn dein Abzugsfinger auch
nur zuckt, zerschneide ich dich in zwei Hälften, von oben nach un ten!« Hinter ihm wandelte ein Translator die unmißverständliche Dro hung in Angloter und in die Grey-Sprache um. Daraufhin ließ der Noid erschrocken die Waffe fallen, streckte die Hände vor und zeigte seine Handflächen – als Zeichen der Aufgabe. Klenet erhob sich, drehte sich um. Buck und Ho standen hinter ihm, mit schußbereiten Karabinern. »Schau an, die heldenhafte Zweimannarmee greift ein, jetzt, wo alles vorbei ist«, spottete der Utare. »Irrtum, Mister Klenet, wir haben Sie keinen Moment aus den Augen gelassen«, widersprach ihm der Leutnant. »Ich ließ Sie vor angehen, weil Sie schwerer zu treffen sind als wir. Der graue Gnom sah Yo Ho in voller Lebensgröße im Türrahmen stehen, geschützt durch einen Panzeranzug. Dieser Anblick muß überaus bedrohlich auf ihn gewirkt haben. Hos einzige Schwachstelle war das offene Helmvisier, und genau dort hat das Kerlchen hingezielt.« »Und wenn er den Schuß tiefer angesetzt hätte?« regte Klenet sich auf. »Dann hätten wir rechtzeitig eingegriffen«, versicherte ihm Ho. »Wir standen kampfbereit hinter Ihnen.« »Aber erst, nachdem der Bursche seinen ersten Strahl auf mich abgefeuert hatte«, erwiderte der Utare ärgerlich. »Er ist übrigens kein gewöhnlicher Lagerarbeiter. Ich erkenne ihn wieder – er saß in dem kleinen Panzer, der unsere Frucht aus der Vorratskammer ver hinderte.« Die Gardisten waren verblüfft. Offenbar konnte der Utare die Greys auseinanderhalten, was ihnen bisher noch nicht gelungen war, wenn man mal von Admiral Buuhuls zerknautschtem Gesicht absah. Grauer Gnom, Kerlchen – was auch immer der Translator daraus machte, es kränkte den Noid offenbar über alle Maßen. »Redet nicht über mich, als sei ich nicht vorhanden!« beschwerte er sich lautstark. »Und hört auf, mich zu verspotten. Bringen wir es mit
Würde hinter uns: Tötet mich!« »Es lag nie in unserer Absicht, dich zu töten«, entgegnete der Leutnant. »Wir brauchen lediglich ein paar Auskünfte.« »Verstehe«, meinte der Noid. »Ihr injiziert mir euer Wahr heitsserum und tötet mich, sobald ich euch alles gesagt habe – so wie wir es mit unseren Feinden machen. Spart euch die Mühe! Mein Körper ist darauf trainiert, Drogen aller Art zu widerstehen. Ich verrate keine Geheimnisse meines Volkes.« »Die interessieren uns nicht im geringsten«, versicherte ihm Kurt Buck. »Wir wollen nur runter von diesem Schiff, sonst nichts.« »Ihr wollt weg von der RUGA?« Erleichterung lag im Gesicht des Noid. »Dabei helfe ich euch. Je schneller ihr vom Schiff und aus meinem Leben verschwunden seid, um so besser. Ihr glaubt gar nicht, wieviel Ärger mir eure Anwesenheit schon eingebracht hat.« »Da schau her, man will uns loswerden«, bemerkte Yo Ho mit spitzbübischem koreanischen Lächeln. »Haben wir uns etwa schlecht benommen?« Die vier machten sich kurz miteinander bekannt, wobei sie sich gegenseitig mißtrauisch beäugten. Von nun an hatten Buck, Ho und Klenet einen Verbündeten an Bord. Aber konnten sie ihm auch ver trauen? * Shanik Ventess bestätigte Bucks Vermutung, daß in dem be treffenden Bereich des Unterdecks eine Maschine stand, mit deren Hilfe man zurück nach Spug gelangen konnte. Er versprach den Fremden, sie zu der kleinen Halle zu bringen und von dort aus auf den Planeten zu befördern. »Woher wissen wir, daß du uns nicht hintergehst, Noid?« fragte Klenet ihn, als sie den Lagerraum verließen. »Vertrau mir oder laß es, Utare«, antwortete ihm Shanik. »Ohne mich werdet ihr den Weg zur Station niemals finden. Außerdem
wißt ihr nicht, wie unser Transportsystem funktioniert.« »Das kriegen wir schon heraus«, behauptete Kle Klenet. Er bluffte – aber das machte er sehr gut. Kurt Buck bluffte keinesfalls, als er dem Noid auf den Kopf zu sagte, daß dieser die falsche Richtung einschlug. »Keine Tricks, ich warne dich! Ich weiß in etwa, wo sich die Halle befindet.« »Wenn wir den direkten Weg nehmen, stoßen wir fortwährend auf Roboterwachtruppen«, erklärte der Kurze. »Ich umgehe nicht nur die Wachtposten, sondern führe euch auch sicher an den Alarman lagen vorbei, zu einem Seiteneingang, der aus Sicherheitsgründen auf keiner schematischen Darstellung eingezeichnet ist. Erst wenn wir in die Nähe der Station kommen, wird es problematisch.« Der noch Kürzere mißtraute ihm. »In eurer Kommandozentrale hat man uns bestimmt ständig im Blick. Von dort aus kann man die Wachtruppen an jeden Ort schicken, an dem wir uns aufhalten.« »Dir ist sicherlich nicht entgangen, daß man sich auf der RUGA leicht verlaufen kann«, entgegnete der Graue. »Insbesondere auf dem Offiziersdeck und auf dem Unterdeck wurden die Gänge wie ein Irrgarten angelegt, zum Schutz des obersten Norll, dem allwis senden, unfehlbaren, hochverehrten Seldar Buuhul. Geheime militä rische Besprechungen unter den Offizieren finden meist hier unten statt, in speziellen abhörsicheren Räumen, die über eine Reihe von Gängen und Tunneln zu erreichen sind, in denen man vor Anpei lungen aller Art geschützt ist. Außer den Norll kennen nur sehr we nige Besatzungsmitglieder den genauen Verlauf der Gänge, bei spielsweise der Kroc, der ›Vater‹ der Schutztruppe. Als ich noch mit dazugehörte, zählte ich zu den Ratgebern des Kroc. Inzwischen hat er wahrscheinlich bereut, daß er mich ins Vertrauen gezogen hat.« Der Blaue wollte es genauer wissen. »Wenn ich dich recht verstehe, ist die Schutztruppe eine ziemlich wichtige Institution an Bord des Flaggschiffs. Warum gehörst du ihr nicht mehr an?« Shanik Ventess schaute seinen Gesprächspartner grimmig an. »Wie ich schon sagte: Ihr habt mir einen Haufen Ärger gemacht, und ich
kann es kaum erwarten, euch wegzuschicken.« Die Unterhaltung zwischen den beiden fand im Gehen statt. Ganz offensichtlich redete der Noid lieber mit dem Utaren als mit den Terranern. Zu ihnen mußte er aufschauen, auf ihren Begleiter konnte er herabsehen. Kurt Buck und Yo Ho blieben ein paar Schritte zurück, um unges tört miteinander sprechen zu können. Zu diesem Zweck schalteten sie kurzzeitig die Translatoren aus. »Trauen Sie dem Grey?« fragte Ho den Leutnant. »Er ist mir ein bißchen zu eilfertig und geschwätzig«, antwortete Buck. »Möglicherweise lockt er uns in eine Falle. Wir müssen uns vorsehen und ihn genauestens beobachten. Für Klenet gilt das glei che. Angeblich kennt er sich mit terranischen Blastern nicht aus, doch kaum hatte er im Lagerraum den Fußboden geküßt, stellte er die Waffe zurück auf volle Leistung.« »Ist mir auch aufgefallen. Inzwischen steht der Blaster wieder auf Paralyse. Vermutlich glaubt Klenet, wir hätten nichts gemerkt. Doch allein die Art, wie er in den Lagerraum vorgedrungen ist, war überaus verräterisch. So handelt nur ein Vollprofi. Er hat den Standort des Heckenschützen sofort ausgemacht und gezielt dessen Deckung zerstört. Danach verhinderte er seine Flucht, ohne ihn zu verletzen.« »Was ihm offenbar nicht leichtgefallen ist. Man konnte ihm anse hen, daß er den Noid am liebsten über den Haufen geschossen hätte. In letzter Sekunde rief er sich jedoch zur Räson, schließlich brauchten wir den Mann lebend. Kein Plattfuß vom zivilen Wachschutz verfügt über so viel Selbstbeherrschung, schon gar nicht, wenn er tagtäglich auf Baustellen zugange ist. Auf dem Bau läßt man seinen Gefühlen noch freien Lauf, dort hat man das Brüllen sozusagen erfunden.« »Klingt, als stammen Sie aus einer Handwerkerfamilie«, meinte Yo Ho. Kurt Buck antwortete nichts darauf – und Ho hätte sich am liebsten auf seine vorschnelle Zunge gebissen. Seine Kameraden hatten ihm
erzählt, daß der blonde Leutnant nach dem Mord an seinen Eltern als Vollwaise aufgewachsen war. Buck war in einem staatlichen Internat in Sachsen großgeworden, wo er es zum Schulmeister im Boxen ge bracht hatte. Plötzlich griff der Noid in seine Uniformtaschen und drehte sich zu den beiden Hintermännern um. Bevor Klenet ihn daran hindern konnte, warf er den Terranern etwas zu. Buck und Ho fingen es in stinktiv auf. Jeder von ihnen hielt jetzt ein kleines kugelförmiges Gerät in der Hand, aus dem ein paar winzige Antennen ragten, of fenbar zum Empfang eines Funkzündersignals. Reaktionsschnell warfen sie die Kugeln über ihre Schultern, so weit weg wie möglich, und liefen los. Kle Klenet handelte kurz und kompromißlos und streckte den Noid mit einem Handkantenschlag nieder. Shanik, der mit einem Angriff »von unten« überhaupt nicht gerechnet hatte, ging zu Boden. David hatte Goliath besiegt. Wie ein Sieger verhielt er sich allerdings nicht. Klenet nahm die Beine in die Hand und rannte gemeinsam mit Buck und Ho auf die nächste Abzweigung zu, um sich vor den Minibomben in Sicherheit zu bringen. * Ungeduldig warteten Kle und Kurt hinter der Abzweigung auf die Explosionen. Nichts passierte. Derweil schaute Yo in andere Gänge hinein, den Karabiner im Anschlag. Falls sie sich tatsächlich in einem Geheimtunnelsystem der Offiziere befanden, war jederzeit mit einem weiteren blutigen Zu sammenstoß zu rechnen. Doch weit und breit war kein Noid zu se hen, weder mit noch ohne Abzeichen auf der Uniformbrust. Entwe der verschanzten sie sich in ihrem Konferenzraum und warteten auf Verstärkung, oder es existierte in jenem Raum ein Antigravlift, der direkt aufs Offiziersdeck führte.
Yo Ho kam Seldar Buuhuls Behauptung in den Sinn, das komplette obere Deck sei nach unten verlegt worden. Was für eine dreiste Lü ge! Nur den Leutnant hatte er damit nicht an der Nase herumführen können. In Hos Augen waren die Greys ein Volk von Täuschern. Die Gänge und Tunnel an Bord waren angelegt wie Labyrinthe, und hinter ih ren Türen befand sich nie das, was man dort erwartete. Sie verwen deten eine Wahrheitsdroge zum Verhör von Gefangenen, nahmen es aber selbst mit der Wahrheit nicht so genau. Nicht nur Buuhul hatte gelogen, sondern auch der Grey, der sie angeblich zur Transmit terstation führen wollte. Das heimtückische graue Kerlchen hatte nur auf eine passende Gelegenheit für seinen Anschlag gewartet. Apropos Anschlag, dachte der Gardist. Hätte es nicht längst krachen müssen? Er begab sich zurück zu den beiden anderen, die genauso ratlos waren. Die vermeintlichen Bomben waren noch nicht hochgegangen. Shanik Ventess lag weiterhin bewußtlos im Gang. »Wir brauchen einen Freiwilligen«, merkte Klenet an und stellte sogleich klar: »Ich gehe nicht wieder als erster, jetzt ist ein anderer an der Reihe.« Ho wollte sich anbieten, doch Buck ging bereits in den Gang hi nein. Als er bei dem Noid eintraf, kam dieser gerade zu Bewußtsein. Buck ergriff ihn am Uniformkragen und zog ihn hoch. »Pech gehabt!« herrschte er ihn an. »Wir leben noch! Dein An schlag ist mißlungen.« Der Vorwurf drang durch den Minitranslator an Shaniks Ohr. »Das ist ein Mißverständnis«, versicherte er dem Terraner hoch und heilig. »Ich wollte euch nichts antun. Die Bomben sind nicht echt, es handelt sich lediglich um Attrappen.« »Attrappen?« »Ja, sie fielen aus den Kisten, auf die euer Kleinster geschossen hat. Ich habe mir ein paar davon in die Taschen gesteckt, weil ich mir dachte, wir könnten sie unterwegs vielleicht gebrauchen.«
»Wozu sollten wir Bomben benötigen, die gar keine sind?« fragte Buck ihn verwundert und ließ ihn los. »Beispielsweise zur Verwirrung der Roboter«, klärte Shanik ihn auf. »Sollte es zu einer Begegnung mit ihnen kommen, werft ihr ih nen die Attrappen zu. Sie werden sie mit der Optik und ihren Abt astern erfassen und analysieren. Das dauert vielleicht nur einen winzigen Augenblick, doch die kurze Ablenkung verschafft euch unter Umständen einen entscheidenden Kampfvorteil. Bei Zusam menstößen mit Soldatentrupps dürften euch die Attrappen noch mehr von Nutzen sein, denn sie sehen unseren echten Fernzünder bomben frappierend ähnlich. Meine Kameraden werden sich beim bloßen Anblick sofort in Deckung werfen. Ihr müßt mir versprechen, ihnen nichts anzutun.« Also deshalb hat er die Bombennachbildungen mitgenommen, dachte Buck. Er möchte verhindern, daß noch mehr aus seinem Volk getötet wer den. Kurt winkte Ho und Klenet heran und erklärte ihnen alles. Um weitere böse Überraschungen zu vermeiden, wurde der Noid aufgefordert, seine Taschen auszuleeren. Es kamen noch mehrere Minibomben-Attrappen zum Vorschein, die Ho und Buck umge hend konfiszierten. »Ich hätte sie euch sowieso gegeben«, sagte Shanik. »Ich kann da mit nichts anfangen. Meine Kameraden würden sich mächtig wun dern, würde ich ihnen die Dinger vor die Füße werfen – schließlich bin ich eure Geisel.« »Bist du nicht«, widersprach ihm Yo Ho. »Du bist freiwillig mit gekommen. Na ja, mehr oder weniger…« Der Noid bewegte leicht die Schultern hin und her, eine Kör pergeste, die wohl vergleichbar war mit dem terranischen Kopf schütteln. »Ihr habt mich mit Waffengewalt gezwungen, euch zur Trans porterhalle zu führen«, stellte er klar. »Zumindest ist das die of fizielle Version. Höchstwahrscheinlich wird man mich auf ein an
deres Schiff versetzen und mir die niedrigsten Arbeiten zuteilen. Was für eine Schande für einen ehemaligen Geern-Rood! Aber im mer noch besser als die Strafe, die mich erwartet, wenn der oberste Norll erführe, daß ich euch ohne Zwang geholfen habe, von der RUGA zu entkommen.« * Das ungleiche Quartett erreichte den Seiteneingang zur Station ohne weitere Zwischenfälle. Shaniks Vorsichtsmaßnahme war somit völlig unnötig gewesen – was ihn selbst am meisten verwunderte; er hatte zumindest mit Angriffen von wacheschiebenden Robotern gerechnet. Sein Erstaunen steigerte sich noch, als er feststellte, daß der Türa larm deaktiviert war. »Durch den Haupteingang käme nicht einmal ein Insekt«, sagte er. »Aber hier können wir scheinbar einfach so hereinspazieren. Die Anlage muß einen Defekt haben.« »Oder man stellt uns eine Falle«, meinte Kle Klenet. Diesmal teilte Kurt Buck seinen Pessimismus. Auch Yo Ho war die Angelegenheit nicht ganz geheuer. Dennoch war er sofort bereit, freiwillig als erster hineinzugehen. »Das übernehme ich«, warf der Grey ein. »Falls in der Station wirklich Soldaten der Schutztruppe auf uns lauern, wäre mein Leben sowieso verwirkt. Der allwissende, unfehlbare, hochverehrte, anbe tungswürdige oberste Norll Seldar Buuhul würde mich als Volks verräter zum Tode verurteilen.« Kle Klenet wollte etwas einwenden, er mißtraute dem Noid nach wie vor. Doch Buck ließ es zu, daß Shanik vor ihnen die kleine Halle betrat, allein. Mit schlotternden Knien begab sich der Graue nach drinnen. Schon nach kurzer Wartezeit kehrte er wieder zurück und gab Entwarnung. Seinen eigenen Worten nach hatte er die Station
gründlich kontrolliert und die Alarmvorrichtung am Transport system ausgeschaltet. Aber entsprach das auch der Wahrheit? »Wir müssen uns beeilen«, drängte Shanik Ventess die anderen zur Eile. »Das manuelle Abschalten des Alarms wurde sicherlich in der Zentrale registriert. Bald wird es hier von Soldaten nur so wimmeln, bis dahin müßt ihr fort sein.« »Keine Sorge, wir wissen, was wir zu tun haben«, erwiderte Leut nant Buck, der sich während Shaniks Abwesenheit kurz mit Ho und Klenet beraten hatte. Die Gardisten ließen die Helmvisiere herunter und machten sich bereit, die Halle zu stürmen. Klenet, der draußen bleiben und den Noid bewachen sollte, riß die Tür auf. Mit ihren schußbereiten Mul tikarabinern betraten beide im Laufschritt die Station. Drinnen aktivierten sie sofort die Prallschirme. Ihre ganze Auf merksamkeit galt ihrer Umgebung. Jede verdächtige Bewegung wäre ihnen sofort aufgefallen… Aber es blieb ruhig. Zu ruhig für Bucks Geschmack. Mitten im Raum stand eine große, merkwürdige Konstruktion, jeweils etwa dreieinhalb Meter hoch, breit und tief. Sie hatte nicht die Form einer Kugel, auch nicht die eines Würfels, sondern irgendwie ein bißchen von beidem. Die seltsame Maschine war gespickt mit Schaltern, Lämpchen und kleinen Bildschirmen, auf denen unabläs sig stetig wechselnde Strichcodes gezeigt wurden. Auf der Maschine stand eine Antennenschüssel von ungefähr ei neinhalb Metern Durchmesser. Sie war nicht rund, auch nicht vier eckig, sondern irgendwie beides gleichzeitig. Vor der Maschine befand sich ein freier Platz. Der Boden dort war mit allerlei fremdartigen Schriftzeichen versehen – fremdartig für Buck und Ho, aber sicherlich nicht für die Greys. Die Zeichen waren nicht aufgemalt worden, man hatte sie eingebrannt, vermutlich mit einem Laserstrahler oder einem ähnlichen Werkzeug. Kurt und Yo konnten die Zeichen zwar nicht lesen, doch bei nä herem Hinsehen entdeckten sie mehrere mathematische An
ordnungen, möglicherweise physikalische oder chemische Formeln, die allerdings keinen Sinn zu ergeben schienen. Es war für die ge schulten Gehirne der Gardisten zwar keine große Sache, die fremden Symbole in Zahlen umzuwandeln, dennoch handelte es sich offenbar um unlösbare Aufgaben, die sich den Gesetzen der Logik entzogen – zumindest denen der den Terranern bekannten Logik. Buck begab sich zur Tür und ließ Klenet und Shanik herein. »Seid ihr eigentlich immer so mißtrauisch?« mokierte sich der Noid. »Ich sagte euch doch, daß niemand hier ist.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwiderte Yo Ho. »Nach allem, was wir auf diesem Schiff erlebt haben, würde es mich nicht wun dern, wenn sich plötzlich die Wände öffnen und Dutzende von eu ren Panzern in die Halle rollen.« Auch Klenet war nach wie vor überzeugt, daß sie im Begriff waren, den trickreichen Greys in die Falle zu gehen. »Mag ja sein, daß die Besatzung zahlenmäßig recht klein ist, verglichen mit der Größe dieses Schiffs. Aber daß sich hier gar keiner blicken läßt… Wo ste cken sie denn alle?« In dieser Sekunde vibrierte das Raumschiff, und die Schwerkraft geriet erneut ins Wanken. Die Männer verloren den Halt, schwebten ein Stück empor und stürzten dann hart zu Boden. »Beantwortet das deine Frage, Utare?« fragte ihn der Grey är gerlich. »Die Explosionen, die Energieausfälle, die Schwer kraftschwankungen – das ist doch wohl alles euer Werk, oder? Ihr habt nicht nur mein Leben zerstört, ihr löscht auch das meiner Vor gesetzten und Kameraden aus. Ich möchte euch vom Schiff runter haben, so schnell es geht! Nur deshalb helfe ich euch bei eurer Flucht.« »Wirklich nur deshalb?« fragte Klenet ihn. »Oder willst du dich dafür rächen, daß man dir bei der Schutztruppe einen Tritt verpaßt hat?« »Das ist absurd«, äußerte Shanik zu dieser infamen Unterstellung. »Es ist jetzt keine Zeit zum Streiten«, ermahnte Buck die beiden
und wandte sich dem Grauen zu. »Deinen Wunsch, uns los zuwerden, erfüllen wir dir nur zu gern. Aber wie kommen wir von hier fort? Dieses Gerät ist anders als die Transmitter, die wir ken nen.« »Kein Problem«, meinte Shanik. »Ihr stellt euch in den Ar beitsbereich der Maschine, und ich setze das Transportsystem in Gang.« Klenet war dagegen. »Das hast du dir so gedacht! Glaubst du wirklich, wir fallen auf dich herein? Sobald wir dir ausgeliefert sind, schickst du uns nach irgendwohin.« »Das ist mit dieser Maschine unmöglich«, erwiderte der Noid. »Ich benötige eine Gegenstation zum Anprogrammieren. Die Beförde rung erfolgt nur lichtschnell, weshalb die Reichweite begrenzt ist«, fuhr Shanik fort. »Die einzige von hier aus erreichbare Gegenstation steht in der Industriestadt.« »Genau da wollen wir hin«, entgegnete Buck. Allerdings traute auch er dem Grey nicht über den Weg. Daher schlug er Klenet vor, mit ihm gemeinsam die Maschine näher in Augenschein zu nehmen. »Vielleicht finden wir ja heraus, wie sie funktioniert; dann könnten wir ohne seine Unterstützung Spug erreichen. Schütze Ho sichert derweil die Eingänge, damit wir keine unliebsamen Überraschungen erleben.« Klenet und Yo Ho waren einverstanden. Shanik nicht, doch er fügte sich zwangsläufig. * Die Zeit verstrich, ohne daß Kurt Buck und Kle Klenet zu einem brauchbaren Ergebnis gelangten. Der Noid-Transmitter war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Shanik dachte nicht im Traum daran, ihnen zu helfen. Er lehnte an der Wand und schaute teilnahmslos zu. Allein sein Anblick ließ
Klenets Zorn wieder hochkochen. »Wie bedient man dieses Gerät?« fragte er ihn barsch. »Selbst wenn du es wüßtest, würde es dir nichts nützen«, machte ihm der Noid klar. »Einer von euch müßte auf dem Schiff zurück bleiben, um die Kontrollen zu bedienen. Nur ich kann euch zu dritt von hier wegbringen.« Buck wollte etwas sagen, doch Klenet traf wie selbstverständlich alle weiteren Entscheidungen. Offensichtlich war er es gewohnt, Befehle zu erteilen. »Du schickst zunächst die beiden Terraner auf den Planeten«, ent schied er. »Ich bleibe hier und sehe dir dabei zu. Sollte ihnen etwas zustoßen, wirst du dir wünschen, nie auf die Welt gekommen zu sein.« »Hören Sie, Mister Klenet«, mischte sich der Leutnant ein. »Ihr Engagement in allen Ehren, aber…« »Kein Aber!« unterbrach ihn der Utare. »Ich bin zwar kaum größer als eure Kleinkinder, dennoch bin ich ein erwachsener Mann, der selbst bestimmt, was für ihn richtig oder falsch ist. Mein Entschluß steht fest: Sie beide gehen voran, ich komme nach.« »Damit gehen Sie ein ziemlich großes Risiko ein«, machte ihm der Koreaner klar. »Selbst wenn wir heil auf Spug ankommen, bedeutet das nicht, daß der Noid auch Sie dorthin schickt. Womöglich transi tiert er Sie in die Sonne, weil er Sie nicht leiden kann.« »Mein Risiko ist nicht größer als Ihres«, erwiderte Kle Klenet. »Ih nen könnte genausogut etwas zustoßen – dann wäre ich auf dem Schiff in Sicherheit, zumindest solange, bis man mich wieder gefan gennimmt.« Er warf Shanik einen bösen Seitenblick zu. »Diesen Moment würdest du allerdings nicht mehr miterleben.« Klenet war ein Mann, der wußte, was er wollte. Leutnant Buck war überzeugt, daß er sich nicht mehr würde umstimmen lassen, schon gar nicht von jemandem, der viel jünger war als er… Yo Ho baute seinen Minitranslator aus und ließ ihn zurück, damit sich der Utare und dessen »bester Freund« verständigen konnten.
Kurz darauf standen Kurt und er inmitten der skurrilen Schrift zeichen, dicht beieinander, dort, wo der Noid sie hingeführt hatte. Mehrere Minuten lang nahm Shanik Ventess einige Schaltungen an der Maschine vor. Die Strichcodes auf dem Bildschirm änderten sich, was den beiden Gardisten sofort auffiel – im Gegensatz zu Klenet, für den ein Code wie der andere aussah. Man mußte wirklich schon sehr genau und sehr konzentriert hinschauen. Im Inneren der Antenne leuchtete es rotglühend auf. Zeitgleich wurden auch Buck und Ho von einem rötlichen Licht eingehüllt. Sie wirkten jetzt wie erstarrt. »Was soll das?« fragte Klenet den Noid und drückte ihm den Ab strahlpol des Blasters in die Rippen. »Was hast du mit ihnen anges tellt?« »Die Vorbereitungsphase verläuft plangemäß«, behauptete Shanik und nahm ein kleines flaches Gerät zur Hand, eine Fernbedienung. »Die Maschine wurde auf den Planeten ausgerichtet. Komm mit, Utare, du kannst dich aus nächster Nähe überzeugen, daß deinen Kameraden nichts Schlimmes zustößt.« »Es sind nicht meine Kameraden«, knurrte Klenet. »Ach nein?« wunderte sich der Graue. »Ich hatte angenommen, ihr hättet auf der Flucht so einiges zusammen durchgestanden. Wir nennen das Kameradschaft. Na ja, andere Völker, andere Sitten.« Beide betraten das Feld mit den Schriftzeichen und näherten sich dem roten Licht. Die Gardisten bewegten sich noch immer nicht. »Warum sind sie ganz starr?« wollte Klenet wissen. »Sind sie gar nicht«, widersprach Shanik. »Das ist nur eine optische Täuschung, erzeugt durch das Speziallicht. Wenn du genau hin schaust, fällt dir auf, daß ihre Augäpfel ständig in Bewegung sind.« Kle Klenet beugte sich vor. »Du hast recht, Noid. Sie scheinen mi teinander zu reden.« Für eine Sekunde ließ er den Grey aus den Augen. Shanik trat hinter ihn und kräftig zu. Der Utare stolperte einen Schritt nach vorn,
hielt aber noch das Gleichgewicht. Augenblicklich wurde auch er von dem Rotlicht eingehüllt. Shanik Ventess betätigte die Fernbedienung. Dort, wo Buck, Ho und Klenet standen, tat sich der Schiffsboden auf. Jetzt hatten sie den freien Weltraum unter ihren Füßen… Ein Geräusch in seinem Rücken ließ Shanik herumfahren. Fast hätte er die Fernbedienung fallen lassen, denn hinter ihm stand kein Geringerer als der an der Schulter verletzte oberste Norll Seldar Buuhul.
4.
Leutnant Hornig betrat eines von Chris Shantons Laboratorien an Bord der POINT OF. Hornig war einer der vielversprechendsten jungen Offiziere an Bord von Ren Dharks Raumschiff. Der Commander hielt große Stü cke auf ihn, andernfalls hätte er niemals zugestimmt, Hornig mit dieser Außenmission zu betrauen. Vielversprechend waren auch die jungen Fähnriche, die nun unter Hornigs Kommando standen. Während ihrer Zeit auf der POINT OF bekamen sie durch die Praxis, die sie während ihrer Einsätze er warben, den letzten Schliff, um eines Tages gute Offiziere der TF zu werden. »Ich bin gerade fertiggeworden«, verkündete Shanton, als er auf blickte und in Hornigs Gesicht sah. Der geniale Konstrukteur schüt telte energisch den Kopf. »War gar nicht so ganz einfach, noch was auf die Schnelle für Sie und Ihre Leute aus dem Hut zu zaubern, aber… na, sehen Sie selbst!« Er streckte den Arm aus und deutete auf einen Apparat, dessen Anblick bei Hornig zunächst einmal nur ein irritiertes Stirnrunzeln verursachte. »Was um Himmels willen ist das denn?« fragte Hornig und stemmte die Hände in die Hüften. Er betrachtete das »Objekt« von allen Seiten. Es bestand aus einem kastenförmigen Gerät, an dessen Oberseite Lautsprecher, Mikrophon und ein Kameraauge angebracht waren. Seitlich befand sich ein Bildschirm, den Shanton offenbar aus einem handelsüblichen terranischen Vipho herausgebaut hatte. Hornig sah den Rest davon auf einem anderen Tisch herumliegen. Das Gerät war fest mit einer altmodischen Kabeltrommel ver bunden. Shanton klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Rolle. »Es ist heute gar nicht so einfach, an derartiges Material heranzukommen«,
meinte er. »Sie müssen ein Zauberer sein, Sir!« »Nein, ich denke nur ein paar Schritte im voraus. Darum habe ich eine Kabelrolle mitgenommen, um damit im Notfall für eine Ener gieversorgung wichtiger Labors sorgen zu können. Ich nehme an, Sie verstehen, was ich meine!« »Sir, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber kann es sein, daß ich so etwas schon einmal in einem Museum gesehen habe?« Shanton grinste breit. »Der Gedanke ist gar nicht so abwegig!« meinte er. »Ich habe die alten Feldtelefone zum Vorbild genommen, die noch bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein von den Armeen der damals existierenden terranischen Staaten benutzt wurden.« Er zuckte die Achseln und fuhr fort: »Ich gebe zu, daß dieses Ding für gewöhnliche Raumsoldaten ein bißchen viel wiegt – aber Sie haben doch Cyborgs dabei, und für die dürfte das kein Problem sein. Über die Kabelverbindung bleiben Sie ständig mit der POINT OF in Kon takt. Sie wird ebensowenig durch die Störfelder beeinträchtigt wie die Interkomverbindungen hier an Bord.« Hornig atmete tief durch. »Na, dann kann es ja losgehen«, meinte er. »Die Mitglieder des Erkundungstrupps stehen schon zum Abmarsch bereit. Ich schicke Ihnen gleich Brack vorbei, damit er dieses Monstrum mitnimmt.« * Die zehn Fähnriche, die an dem Erkundungsgang teilnehmen sollten, standen stramm. Sie trugen W-Anzüge, die sich ihren Kör performen perfekt angepaßt hatten. Für jedes Besatzungsmitglied an Bord der POINT OF stand ein derartiger Anzug zur Verfügung. Das W stand für Worgun, früher bekannt als Mysterious. Im Industriedom waren die Terraner auf eine Anlage zu Massenfabrikation dieser voll raumtauglichen und
außerdem einen wirksamen Strahlungsschutz bietenden Kleidungs stücke gestoßen, die sich jedweder Körperform exakt anzupassen vermochten. Seither gehörten W-Anzüge zur Standardausrüstung der terrani schen Flotte. Wo in der hauchdünnen Membran des Anzugs eigentlich die äu ßerst leistungsfähige Sauerstoffversorgung untergebracht war, blieb bis heute ein Rätsel. Es gab verschiedene Theorien darüber, aber bislang hatten selbst so geniale Fremdtechnikexperten wie Arc Doorn oder Chris Shanton nicht vermocht, dieses Rätsel zu lösen. »Stehen Sie bequem«, sagte Leutnant Hornig zu den Fähnrichen. Auch er trug seinen W-Anzug. »Ich habe Ihnen alles Wichtige zu diesem Einsatz gesagt. Commander Dhark bringt jedem von Ihnen großes Vertrauen entgegen, indem er Sie für diese Mission vorgese hen hat. Erweisen Sie sich als dieses Vertrauens würdig und geben Sie Ihr Bestes!« Eine Tür öffnete sich. Amy Stewart betrat den Raum. Der enganliegende W-Anzug unterstrich ihre atemberaubende Figur. Amy war der erste weibliche Cyborg und hatte schon während der Orn-Expedition an Bord der POINT OF geweilt. Inzwischen war sie Ren Dharks Lebensgefährtin. Hornig war sich durchaus bewußt, daß Amy trotz ihres im Ver gleich zu den anwesenden Männern eher zerbrechlich wirkenden Äußeren als Cyborg ihnen allen an Körper- und Kampfkraft weit überlegen war. Erst vor kurzem hatte sie das unter Beweis gestellt, als sie auf der Welt der Kurrgen im Alleingang Ren Dhark aus der Gefangenschaft eines lokalen Machthabers namens General Noreg befreit hatte. »Worauf warten wir noch?« fragte Amy, an Hornig gewandt. »Auf Brack«, erwiderte der Leutnant knapp. Es dauerte nur wenige Augenblicke, und Percival »Val« Brack
betrat den Raum. Auch er befand sich zu Ausbildungszwecken an Bord der POINT OF, um Erfahrungen für den Dienst in der terrani schen Flotte zu sammeln. Shantons um die Möglichkeit der Bild übertragung erweitertes »Feldtelefon« trug Brack an Tragegurten auf dem Rücken. Dem Cyborg aus der sogenannten G-Serie machte dies nicht das geringste aus. »Da bin ich, Sir«, wandte er sich an Hornig und stand sogar mit dem Kommunikationsgerät auf dem Rücken stramm. »Schon gut, Brack, lassen Sie das besser!« meinte der Leutnant. »Auch wenn ich Ihnen aufs Wort glaube, daß Ihnen dieses Gewicht nichts ausmacht, so bekomme ich für meinen Teil schon vom Hin sehen Rückenschmerzen.« Bracks Haltung entspannte sich wieder. »Tut mir leid, Sir, dafür möchte ich nicht verantwortlich sein.« Hornig grinste kurz. Dann gab er den Befehl zum Schließen der Klarsichthelme, die sich bisher durch den Einsatz von Nanotechnik am Kragen zusammen gefaltet hatten. »Auf geht’s!« rief Hornig. Seine Stimme klang etwas dumpf unter der Klarsichtmembran des Helms hervor. Die Gruppe konnte auf Grund der Störfelder natürlich nicht damit rechnen, daß der Helmfunk funktionierte. Sie passierten die Hauptschleuse der POINT OF und traten ins Freie. Die Oberfläche von Planet XII wirkte alptraumhaft. Wenn jemand auf die Idee kommen sollte, mich um einen Na mensvorschlag für diese Welt zu bitten, so würde ich für die Bezeichnung »Apokalypse« plädieren! ging es Hornig durch den Kopf. Er hatte natürlich Bildübertragungen von der Oberfläche gesehen. Aber das, was sich ihm und den anderen Terranern jetzt bot, war in seiner Eindrücklichkeit mit der Realität nicht zu vergleichen. Weltraumschrott, so weit das Auge reichte.
Es mußte Äonen gedauert haben, bis diese Metallberge der unter schiedlichsten Herkunft entstanden waren. Wracks korrodierten langsam vor sich hin. Ätzende Flüssigkeiten hatten sich im Lauf der Zeit durch Tanks und Leitungen gefressen und sickerten nun ins Erdreich. Hornig stieg über eine Metallplatte hinweg, auf der etwa ein Dut zend Schriftzeichen eines Zeichensystems eingraviert waren, von dem Hornig noch nie etwas gehört oder gesehen hatte. Das andere Ringraumschiff war ungefähr hundert Meter von der POINT OF entfernt. Hornig glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Er starrte in Rich tung des zweiten Ringraumers. »Die haben ihre Hauptschleuse ebenfalls geöffnet!« stellte er fassungslos fest. »Ja«, bestätigte Brack, der seine Last mit demonstrativer Leichtig keit trug. »Aber die Schleuse auf der anderen Seite ist nur einen Spalt weit geöffnet.« »Los, vorwärts. Das sehen wir uns an!« befahl Hornig. Das Kabel wurde langsam abgerollt und war mit der POINT OF verbunden, so daß eine permanente Bildsprechverbindung bestand. »Wir können Sie ausgezeichnet hören und sehen«, stellte der diensthabende Funkoffizier Elis Yogan fest. Seine Stimme schnarrte über den Lautsprecher von Chris Shantons eigentümlicher Kons truktion. Hornig und der Erkundungstrupp marschierten vorwärts. »Ich frage mich, was die andere Seite vorhat«, hörte Hornig einen der Fähnriche sagen, die zur Zeit ihre Ausbildung an Bord der POINT OF absolvierten. Es handelte sich um Ahmad Azhari, einen Iraner mit krausem Haar, dem die Nervosität deutlich anzumerken war. Hornig deutete kurz in Richtung des fremden Ringraumers. »Die beobachten uns«, sagte er im Ton sachlicher Gewißheit an Azhari gewandt. Der Leutnant beobachtete schon eine ganze Weile die einen Spalt weit geöffnete Schleuse des fremden Ringraumers.
Eigentlich hatte er erwartet, daß jemand ins Freie trat. Aber bislang zeigte sich niemand. Meter um Meter näherte sich der Stoßtrupp dem Raumschiff, des sen Außenhaut aus Unitall im matten Licht der roten Riesensonne schimmerte. Plötzlich zuckten Strahlen durch die Luft. Ahmad Azhari griff unwillkürlich zum Handblaster an seiner Seite. Hornigs Befehl war jedoch unmißverständlich: »Runter!« Sämtliche Mitglieder der Gruppe warfen sich zu Boden und gingen in Deckung, während weiterhin Strahlschüsse durch die Atmos phäre zuckten. Rechts und links von ihnen sengten sie in den von Trümmern bedeckten Boden oder trafen einige der uralten Wracks. Hornigs erster Gedanke war, daß die Besatzung des Ringraumers offenbar solange gewartet hatte, bis sich jemand von der POINT OF hinaus ins Freie wagte, um danach den Beschuß aufzunehmen. Aber dann hätten sie uns längst getroffen! dachte Hornig. Es machte keinen Sinn, daß die Bordgeschütze des fremden Ringraumers of fenbar nicht in der Lage waren, auf weniger als fünfzig Meter ein paar relativ ungeschützte terranische Raumfahrer auszuschalten. Dann erschienen die ersten Roboter. Es waren bizarre Gebilde, zusammengesetzt aus Bestandteilen, die den Unmengen an Schrott entnommen sein mußten. Sie krochen aus diesen Massen an langsam vor sich hinkorro dierendem Metall, sie stiegen aus den Raumschiffswracks und manchmal gruben sie sich einfach aus der Schrottschicht heraus, die den Boden bedeckte. Eine Form organisierter Materie, die Hornig unwillkürlich an or ganisches Leben erinnerte. Nein, dachte er, eine groteske Parodie jener Form von Leben, die wir kennen. Rosarot zuckten die Nadelstrahlschüsse aus den Geschützbatterien des fremden Ringraumers und ließen die Roboter einen nach dem anderen explodieren. Manche von ihnen zerschmolzen zu Lachen
aus glühendem Metall, andere verloren einen Teil ihrer grotesken, an mechanische Insekten erinnernden Roboterkörper, was den verblei benden Rest nicht daran hinderte, einfach davonzulaufen. Offenbar herrschte hier ein permanenter Krieg zwischen den Ro botern und der Mannschaft des Ringraumers. Der konzentrierte Beschuß mit ganzen Salven Nadelstrahlen sorgte für hohe Verluste unter den Robotern. Wie auf ein geheimes Signal hin zogen sie sich plötzlich zurück. Hornig fragte sich, inwieweit diese mechanischen Angreifer wohl ferngesteuert waren. Der Ringraumer stellte den Nadelstrahlbeschuß jedenfalls sofort ein, als klar war, daß sich die Roboter zurückzogen. Der Spuk war so schnell vorüber, wie er gekommen war. Hornig war der erste, der sich wieder erhob. »Stecken Sie Ihren Blaster weg, Azhari«, wandte er sich an den Fähnrich. »Damit könnten Sie im Ernstfall ohnehin nichts gegen die Nadelstrahler des Ringraumers ausrichten.« Azhari wirkte einen Augenblick lang wie erstarrt. Er stand offenbar immer noch unter dem Eindruck des Robo terangriffs. Schließlich gehorchte er und steckte die Waffe ein. »Alles klar mit unserem Feldtelefon?« wandte sich Hornig an Brack. »Ja, Sir.« Sie gingen weiter auf die nach wie vor nur einen Spalt geöffnete Hauptschleuse des fremden Ringraumers zu. Als sie bis auf zwanzig Meter herangekommen waren, öffnete sich das Tor vollends. Ein Humanoide trat ins Freie. Er hatte eine blaue Haut und einen kantigen, von weißem Haar bedeckten Schädel. Der Humanoide trat ihnen entgegen. Auch er trug einen W-Anzug. »Mein Name ist Dalon«, erklärte der Blaue in einer Sprache, deren
Klang Hornig unbekannt war. Der Translator, den er bei sich trug, übersetzte die Worte des Fremden. »Lassen Sie mich mit ihm reden!« verlangte jetzt Ren Dhark über die Kabelverbindung. »Und sagen Sie ihm, daß wir wissen, wer er ist.« * Dalon! durchzuckte es Ren Dhark. Der Worgun-Mutant, der schon vor über tausend Jahren auf Hope Margun und Sola begegnet ist, um auch sie auf ihre Andersartigkeit hinzuweisen. Riker wechselte einen kurzen, aber vielsagenden Blick mit Dhark. Dalon war einer jener äußerst seltenen Worgun-Mutanten mit einer Lebenserwartung von gut zehntausend Jahren. Vor einem Jahrtau send hatte er Margun und Sola aufgesucht, die Konstrukteure der POINT OF. Danach hatte Dalon sich auf die Spur der Balduren ge heftet und versucht, das Geheimnis der goldenen Götter der Myste rious zu lüften. Margun und Sola hatten später in menschlicher Gestalt die auf verschleppte Angehörige einer römischen Legion zurückgehende Zivilisation des Planeten Terra Nostra in Orn aufgebaut und sie als Akademiepräsidenten bis heute maßgeblich beeinflußt. Durch sie hatte Dhark von Dalons Existenz erfahren. Offenbar war der Worgun-Mutant irgendwann während seiner Suche nach den goldenen Göttern hier in dieser Weltraumfalle ge strandet. Und nun ist uns dasselbe passiert! wurde Dhark schmerzlich bewußt. Er blickte in die Bildkugel. Über die Kabelverbindung war das Gespräch zwischen Dalon und Leutnant Hornig übertragen worden. Schließlich trat der Worgun in der Gestalt eines Ceraden vor. Das Kameraauge von Shantons Apparat erfaßte ihn voll. »Hier spricht Dalon«, stellte er sich vor, »und ich grüße den unbe
kannten Kommandanten dieses Ringraumers…« »Ich bin Ren Dhark, Kommandant der POINT OF«, erwiderte Dhark. »Sie sehen aus wie ein Cerade, sind aber ein Worgun, der sich vor langer Zeit aufmachte, um der Spur der geheimnisvollen Bal duren zu folgen. Ich habe von Ihnen gehört.« »Sie scheinen tatsächlich schon von mir gehört zu haben«, erwi derte Dalon recht erstaunt. »Das stimmt«, bestätigte Dhark. Ich werde nichts über die Identität von Margun und Sola erwähnen! nahm sich der Kommandant der POINT OF vor. Dalon, der Worgun Gisol, Riker und er selbst waren nach wie vor die einzigen, die davon wußten, daß die beiden Wor gun-Mutanten in Wahrheit die Akademiepräsidenten Laetus und Nauta waren und faktisch den Planeten Terra Nostra regierten. Über Zeitalter hinweg hatten die beiden mit Terra Nostra eine Bastion gegen die Zyzzkt-Eroberer zu errichten vermocht. Dhark dachte jedoch nicht im Traum daran, dieses Wissen jetzt preiszugeben. Der kurze Blickkontakt mit Riker hatte ihm bestätigt, daß der ehemalige Flottenchef Dharks Ansicht in dieser Frage vollkommen teilte. So sollte es fürs erste also beim bisherigen Kreis der Eingeweihten bleiben. »Wir empfingen einen Notruf und extrahierten aus den Bruchstücken unter anderem Ihren Namen – Dalon«, erklärte Dhark. Ein mattes Lächeln erschien auf Dalons blauhäutigem Gesicht. Es war davon auszugehen, daß seine Mimik und Gestik nichts mit den auf Terra verbreiteten Traditionen zu tun hatte, aber Dhark glaubte doch, so etwas wie Resignation und tiefe Verzweiflung bei dem Worgun zu erkennen. Wer weiß, wie lange er hier auf dieser Alptraum welt schon festsitzt? fragte sich der weißblonde Terraner. »Ich denke, daß ich durch die Abwehr der Roboter bewiesen habe, daß ich Ihnen und Ihrer Besatzung gegenüber nicht feindlich ein gestellt bin«, erklärte Dalon. Dhark nickte. »Das ist richtig, aber…«
»Der Angriff des Riesenschiffs geht auch nicht auf meine Initiative zurück«, unterbrach der Worgun den Kommandanten der POINT OF sogleich. »Aber ich schlage vor, daß Ihre Leute an Bord meines Schiffes kommen. Da ist es sicherer. Die Roboter können jederzeit zurückkehren und erneut angreifen.« »Gut, ich bin einverstanden.« »Über die Kabel Verbindung, über die Ihr Erkundungstrupp ver fügt, müßte auch weiterhin eine einwandfreie Bildsprech kommunikation möglich sein – und zwar trotz des starken Störfel des, das uns hier umgibt. Ich könnte die Kabelverbindung sogar mit meiner Schiffselektronik verbinden, so daß ein ganz normaler Kon takt über Interkom möglich wäre.« Dhark war damit einverstanden. »Tun Sie das, Dalon«, sagte er. »Leutnant Hornig?« »Ja, Sir?« Der Leutnant trat ins Blickfeld der Kamera und nahm Haltung an. »Sie haben gehört, was ich mit Dalon besprochen habe.« »Ja, Sir«, bestätigte Hornig. »Folgen Sie ihm mit Ihrer Gruppe in sein Schiff.« »Jawohl.« * Hornigs Gruppe verschwand im Inneren des Ringraumers. Die Schleuse blieb einen winzigen Spalt breit offen, um Bracks Kabel hindurchzuführen. Dhark und die Brückenbesatzung der POINT OF bekamen dies über optische Außensensoren mit, deren Bilder nun den größten Teil der Bildkugel ausfüllten. In einem kleinen Bildfenster lief unterdessen auch die Kabel übertragung aus dem Inneren des fremden Ringraumers weiter. Es war erkennbar, wie Dalon die Terraner durch die Hauptschleuse führte.
Nur Augenblicke später zeigten sich bereits wieder ein halbes Dutzend angreifender Roboter, die hinter einem der Schrottberge hervorkamen. Keine dieser bizarren mechanischen Gestalten glich der anderen. Sie begannen mit Strahlschüssen auf den Ringraumer zu feuern, aber der Unitallpanzer ließ diesen Angriffsversuch wir kungslos abprallen. Die Gruppe der Roboter wurde größer. Immer mehr tauchten zwischen den Schrottbergen auf und näherten sich Dalons Schiff. Der Worgun setzte erneut massives Nadelstrahlfeuer ein. Die Roboter zogen sich schnell zurück, sofern sie nicht von dem rosafarbenen Energiefeuer zerstört worden waren. Eine der bizarren Mechanismen hatte es auf ihren sieben un glaublich schnellen hydraulischen Beinen bis auf zehn Meter an die Hauptschleuse heran geschafft, ehe sie im Strahlenfeuer versengt wurde. Der Roboter erinnerte an ein Insekt. Seine Laufrichtung war nicht geradlinig, sondern beschrieb einen chaotischen Zickzackkurs, der nicht vorhersagbar war. Daher war es nicht leicht, die Maschine auszuschalten. Immer wieder gingen die Einschüsse knapp daneben und brannten sich statt dessen in den Boden. »Ich frage mich, weshalb er nicht ein flächigeres Energiefeuer ge gen dieses Biest eingesetzt hat!« wunderte sich Riker. »Wahrscheinlich, weil er Energie sparen will«, meinte Riker. Der Bildausschnitt und die Perspektive der Kabelübertragung än derten sich. Brack hatte die Kabeltrommel abgesetzt, und nun sah man nur noch die Beine der Männer aus Hornigs Gruppe. »Wir verbinden jetzt das Kabel mit dem Kommunikationssystem des Schiffes«, erklärte Amy Stewart über den Audiokanal. »Verstanden«, antwortete Hen Falluta. Einige Augenblicke später brach die Übertragung ab. Etwa anderthalb Minuten vergingen, dann zeigte der Bildaus
schnitt die Zentrale des anderen Ringraumers. Dalon, Hornig und Amy Stewart waren zu sehen, im Hintergrund Brack und Azhari. Abgesehen von dem Worgun-Mutanten schien es keine weiteren Besatzungsmitglieder des fremden Ringraumers zu geben. Arc Doorn trat plötzlich zur Seite, verließ seine Konsole und ging an ein anderes Schaltpult. Aus den Augenwinkeln heraus vermochte Dhark gerade noch zu sehen, was Doorn sich auf dem Sichtschirm seines Schaltpults hatte anzeigen lassen. Es war der Bildausschnitt, der von der POINT OF-Zentrale über das Kabel an das andere Schiff übertragen wurde. Schon in der nächsten Sekunde verblaßte die Anzeige, da Doorn sie deaktiviert hatte. Offenbar achtete der sibirische Ingenieur peinlich genau darauf, daß man ihn im Leitstand von Dalons Schiff nicht sehen konnte. Eine Tür öffnete sich in diesem Moment und lenkte auch Dharks Aufmerksamkeit für einen kurzen Augenblick ab. Chris Shanton betrat gemeinsam mit dem Roboter Artus die Zent rale. »Ich wollte mich doch mal davon überzeugen, wie die Kabel übertragung klappt«, meinte der geniale Techniker. »Wie du siehst ausgezeichnet, Chris!« antwortete Arc Doorn, den mittlerweile eine enge Freundschaft mit dem schwergewichtigen Cognacliebhaber Shanton verband. Artus, der äußerlich einem humanoiden Roboter aus der Großse rienfertigung von Wallis Industries glich, aber seit einem mißglück ten Experiment über eine eigene, inzwischen auch juristisch aner kannte Persönlichkeit mit Verstand und Gefühl verfügte, hatte den Leitstand der POINT OF kurz nach der Landung auf Planet XII ver lassen und kehrte jetzt zurück. Wie selbstverständlich übernahm er ein freies Schaltpult. Hatte Artus früher starken Wert auf die Feststellung gelegt, daß er allen organischen Lebensformen weit überlegen sei, so bemühte er sich inzwischen darum, diesen Aspekt nicht mehr in den Vorder
grund zu stellen und auf diese Weise weniger arrogant zu wirken. Seine Versuche, mit dem Checkmaster, der – vermutlich auf Grund seiner organischen Komponenten – ebenfalls so etwas wie Persön lichkeit zu besitzen schien, auf privater Basis zu kommunizieren, waren allerdings gründlich gescheitert. Der Bordrechner der POINT OF war bisher nicht bereit gewesen, diese Kontaktversuche über haupt zur Kenntnis zu nehmen. Er hatte Artus schlichtweg ignoriert. Ein Problem, das Artus in letzter Zeit stark beschäftigte und über das er mit Chris Shanton ausführlich diskutiert hatte, ohne daß der bärtige Fremdtechnikexperte dem »Roboter mit Gefühl« dafür eine befriedigende Erklärung hätte liefern können. Auf der Bildkugel erschien jetzt Dalons kantiges, blauschim merndes Gesicht. Schon vor langer Zeit hatte der Worgun die Gestalt eines Ceraden vom Planeten Warla in der Galaxis Orn angenommen, die er auf Grund seine Mutation auch nicht mehr ablegen konnte. »Wie Sie sehen, bin ich – genau wie Sie – mit meiner ASGOR auf dieser Schrottwelt gestrandet, Ren Dhark«, wandte sich der Wor gun-Mutant an den Commander der POINT OF. »Zweihundert Jahre sitze ich schon hier fest.« Das Translatorsystem der POINT OF rechnete die Originalzeitangaben Dalons in die auf Terra üblichen Zeitmaße um. Der so täuschend echt aussehende Cerade fuhr fort: »Der Hyperkalkulator meines Schiffes war dabei mein einziger Ge sprächspartner, aber die Robot-Angreifer halten mich immer ganz gut auf Trab, wie Sie eben ja sicher mitbekommen haben. Außerdem habe ich in den vergangenen zwei Jahrhunderten gesehen, daß es mir im Vergleich zu anderen, die es hierher verschlug, gar nicht so schlecht ergangen ist. Immerhin habe ich überlebt.« »Was ist geschehen, als Sie hier gestrandet sind?« wollte Dhark wissen. Der Blauhäutige hob leicht die Schultern. In seinem Gesicht ging eine Veränderung vor sich. Muskeln spannten sich und sorgten dafür, daß es einen anderen Ausdruck bekam. Was diese Veränderungen bedeuteten, vermochte Dhark
nicht einmal zu vermuten. Dazu kannte er sich einfach nicht gut genug mit der Mimik der Ceraden aus. ASGOR – der Name seines Schiffes war ein Begriff der Wor gun-Sprache und bedeutete soviel wie »Botschafter«. Ein Name, der angesichts des Schicksals, das dieses Raumschiff ereilt hat, fast schon wie Ironie wirkt! ging es Dhark durch den Kopf. »Ich wurde durch einen Notruf hierher gelockt – genau wie Sie«, berichtete Dalon. »Im Orbit wurde die ASGOR von einem giganti schen, aus Tausenden von Trümmern und Bruchstücken zusam mengesetzten Schiff angegriffen. Ich bin nun wahrlich im Kosmos herumgekommen, aber so etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ein bizarres Konstrukt, das über einen Kilometer lang war. Meine Antriebssysteme und das Intervall fielen aus, so wie es vermutlich auch bei Ihnen der Fall gewesen ist. Im letzten Moment brachte ich noch eine Landung zustande, bei der mein Schiff um ein Haar zer schellt wäre. Anschließend begannen dann die Roboterattacken. Von Anfang an kam mir das Ganze sehr planvoll vor. Ich hatte Zeit ge nug, um nach und nach herauszufinden, was hier gespielt wird.« »Und was?« hakte Dhark nach. »Auf diesem Planeten existiert eine KI, die offenbar wie ein gigan tischer Strandräuber programmiert ist. Sie lockt fremde Schiffe mit Notrufen an und zwingt sie dann zur Landung. Viele der Havaristen stürzen einfach auf die Oberfläche und zerschellen dort. Manchen gelingt es, zumindest ihr Leben zu retten und die Lebenserhal tungssysteme ihrer Schiffe noch eine Weile laufen zu lassen – bis ihnen schließlich die Energie ausgeht oder die Roboter kommen und ihnen den Garaus machen. Sie greifen die Havaristen beständig an, schaffen es irgendwann ins Innere der Wracks einzudringen und töten anschließend die Besatzung. Am Ende bilden die gestrandeten Schiffe so etwas wie ein Ersatzteillager, aus dem die KI nicht nur die Roboter fertigt, sondern auch diese gigantischen, monströsen Rie senschiffe.« »Haben Sie eine Ahnung, welchem Zweck die seltsamen Raumer
dienen?« fragte Dhark. »Wir haben einen davon zerstört. Seine Kampfkraft war nicht besonders groß. Wenn es der planetaren KI nicht gleichzeitig gelungen wäre, uns durch Ausschaltung sämtli cher Antriebssysteme und des Intervalls völlig manövrierunfähig zu machen, wäre es für uns keine Schwierigkeit gewesen, das Schiff sofort zu zerstören.« Dalon hob ein wenig das Kinn seines kantigen Gesichts. »Ich habe keine Ahnung, welcher Zweck mit der Herstellung die ser eigenartigen Raumschiffe verfolgt wird. Tut mir leid, das ist für mich so rätselhaft wie für Sie.« »Wissen Sie, wie viele von den Dingern existieren?« »Im Laufe der Zeit müssen es Tausende gewesen sein. Die Roboter, die überall auf der Planetenoberfläche zu finden sind, montieren sie zusammen, das konnte ich mit Hilfe meiner Überwachungsgeräte beobachten. Es wurde immer ein Schiff auf der Planetenoberfläche zurückgehalten. Wenn dann ein Neubau fertig und einsatzbereit war, startete das Altschiff auf Nimmerwiedersehen ins All. Ich habe in den zweihundert Jahren, die ich nun schon hier ums Überleben kämpfe, niemals erlebt, daß eines von ihnen zurückgekehrt wäre.« »Wir haben während unseres Sturzfluges einen Punkt auf der Planetenoberfläche mit dem Feuer unserer Wuchtkanonen ein gedeckt!« erklärte Dhark. »Sie haben vermutlich die Gegend um die KI herum beschossen«, stellte Dalon fest. Dhark nickte. »Ja, worauf eine sehr sensible Reaktion erfolgte. Wir bekamen kurzzeitig die Kontrolle über unser Schiff zurück und konnten hier landen.« »Ich gehe davon aus, daß dieser Punkt, von dem Sie sprechen, mit dem Ort identisch ist, an dem ich den Standort der KI lokalisiert habe.« Dalon betätigte ein paar Tasten auf einem Schaltpult. »Ich überspiele Ihnen die Daten zum Vergleich.« »In Ordnung«, nickte Dhark. »Datentransmission erfolgreich«, meldete Artus von seinem Pult
aus. »Kein Wunder, daß unser Gegner plötzlich kooperationsbereit war«, fügte der Roboter noch hinzu. »Wenn dort tatsächlich diese KI ihren Sitz hat, hätten wir Sie um ein Haar zerstört.« Dalon, der Artus in seinem Bildausschnitt sehen konnte, hatte in den letzten Minuten immer wieder kurz zu dem Roboter hingestarrt. Aus irgendeinem Grund hatte der seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. »Ich kann nur meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, daß an Bord Ihres Schiffes offenbar Roboter vollwertige Be satzungsmitglieder sind.« »Artus ist eine vollwertige Persönlichkeit. Ein Individuum mit al len Rechten und Pflichten, die auch für die anderen Besat zungsmitglieder gelten«, erklärte Dhark. Eigentlich hatte er damit gerechnet, daß Artus sich jetzt zu einem seiner gefürchteten Kommentare hinreißen ließe. Aber nichts derg leichen war der Fall. Er schwieg höflich. »Erstaunlich, daß ein dem äußeren Anschein nach vergleichsweise primitiver Roboter eine Persönlichkeit auszubilden vermag, wäh rend ich diese Eigenschaft dem Hyperkalkulator meines Schiffs nicht so ohne weiteres zugestehen würde.« »Ich bemühe mich, den Ausdruck ›primitiver Roboter‹ aus nahmsweise nicht als Beleidigung aufzufassen«, sagte Artus etwas pikiert. Dalon verzog das Gesicht zu etwas, das vielleicht die ceradische Entsprechung eines Lächelns war. Entgegen dem ersten Anschein hatte der Worgun seine Worte offenbar ganz bewußt gewählt und die Wirkung mit eingeplant. Er wandte sich direkt an Artus. »Man kann dich also beleidigen!« stellte er fest. »Im Prinzip ja«, gestand Artus. »In meinen Augen eine wichtige Eigenschaft individueller Persön lichkeiten.« »In meinen Augen ist aber auch eine vollwertige Persönlichkeit denkbar, die diese Eigenschaft nicht besitzt«, erwiderte Artus. Der Worgun in der Gestalt eines Ceraden hob die Schultern.
»Wäre es deiner Meinung nach auch möglich, daß du verrückt würdest? Rein hypothetisch natürlich!« Artus war über diese Frage ebenso überrascht wie alle anderen im Leitstand der POINT OF. »Ich weiß nicht, worauf du mit deiner Frage hinauswillst«, erwiderte er. »Bislang habe ich mich stets im Zustand geistiger Gesundheit befunden – zumindest nach meiner eigenen Definition. Grundsätzlich sind natürlich Störungen meines Systems denkbar, die in ihren Auswirkungen vielleicht einer psy chisch gestörten organischen Intelligenz ähneln.« Artus wandte die Hochleistungsoptik in Dharks Richtung und fuhr fort: »Einige As pekte dieser Diskussion erinnern mich an eine andere, zweifellos in ihrer Funktion gestörte KI. Ich spreche von dem sogenannten Ein samen auf dem Mars. Der war so verrückt, wie man nur verrückt sein kann, egal ob Huhn, Mensch oder Maschine. Vielleicht gibt es da Zusammenhänge zur Handlungsweise jener KI, mit der wir es in diesem Fall zu tun haben!« Dalon wirkte etwas verwirrt. »Was hat es mit dem Einsamen auf sich?« erkundigte er sich. »Artus spricht von einer KI, die wir auf dem Nachbarplaneten unserer Heimatwelt vorfanden«, erklärte Ren Dhark mit Blick auf Dalon, der von den erwähnten Ereignissen natürlich nichts wußte. »Dieser Rechner litt offenbar unter Einsamkeit und hielt einen irdi schen Raumfahrer über Jahrzehnte hinweg als unfreiwilligen Ge sellschafter gefangen.« »Klingt für mich nach wahnhaftem Verhalten«, meinte Dalon. »Vielleicht liegt hier auch nur eine Projektion von Begriffen vor, die bei organischen Intelligenzen Ihre Berechtigung haben, aber auf persönlichkeitsentwickelnde Rechnersysteme nicht so ohne weiteres übertragen werde können«, gab Artus sachlich zu bedenken. Dalon schwieg einen Moment. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich.
Siehe Drakhon-Zyklus Band 9, »Das Sternenversteck«
Er wandte sich an Ren Dhark. »Ihr robotisches Besatzungsmitglied versetzt mich immer mehr in Erstaunen«, erklärte der Worgun schließlich. »Unter anderen Um ständen würde ich Sie bitten, ihn mir für ein paar Analysen und Tests zu überlassen…« »… was ohne seine Zustimmung mit seinem Status als juristische Person unvereinbar wäre«, erwiderte Dhark sofort – schon um einen Protest von Artus’ Seite überflüssig zu machen. Der Worgun atmete tief durch. »Der Rechner, den Sie erwähnten, war also zweifellos verrückt. Und genau diesen Eindruck habe ich auch von der KI, die diesen Planeten beherrscht. Ihr Verhalten ist absolut unlogisch. Sie hetzt beispielsweise immer wieder ihre Roboter auf mein Schiff, obwohl sie eigentlich in zwei Jahrhunderten gemerkt haben müßte, daß diese primitiven Maschinen gegen die Nadelstrahler keine Chance haben. Mein Hyperkalkulator nimmt die Angreifer automatisch ins Visier und schaltet sie aus. Oder nehmen Sie die Produktion dieser eige nartigen Riesenraumer! Wirken die nicht wie der Materie gewordene Wahn einer völlig aus dem inneren Gleichgewicht geratenen KI?« »Das klingt, als würde von einer organischen Person gesprochen«, sagte Artus. Es war einfach nur eine sachliche Feststellung. Dalon verschränkte die Arme vor der Brust. Die blaue Haut auf seiner Stirn bildete eine deutlich sichtbare ge rade Furche. »Diese KI ist ein Killer. Und das Schlimme ist, daß wir uns nicht ewig gegen die Ausgeburten ihres Wahns verteidigen können. Die Energie meiner ASGOR reicht noch für etwa hundert Jahre. Die Ihres Schiffs wird sicher noch länger halten. Aber wenn die Waffensyste me nicht mehr gespeist werden können, kommen diese mechani schen Kreaturen aus zusammengeschraubtem Schrott an Bord. Ich habe es immer wieder erlebt, wie Raumschiffe abstürzten, wie die Biosignale der Besatzung noch eine Weile zu orten waren, während im Umkreis um die Absturzstelle starke Aktivitäten der Roboter
anzumessen waren. Irgendwann verlöschten die Bioimpulse. Manchmal schon nach wenigen Wochen, in anderen Fällen erst nach Jahren. Ich wußte dann jeweils, was das zu bedeuten hatte. Uns wird es nicht anders ergehen.« »Da die menschliche Lebensspanne ja sehr viel kürzer ist als die Dalons, wird das wohl ein Problem für unsere Enkel und Urenkel werden«, raunte Dan Riker, an den Commander der POINT OF ge wandt. In Ren Dharks Gesicht trat ein Ausdruck der Entschlossenheit. »Ich denke gar nicht daran, unsere Lage zu akzeptieren! Wir sollten ge meinsam darüber nachdenken, was wir tun können, um uns aus der Gewalt dieser KI zu befreien!« »Das ist nicht so einfach, wie Sie vielleicht glauben«, erwiderte Dalon. »Schließlich versuche ich das schon seit zwei Jahrhunderten.« »Wir kennen die Position der KI«, stellte Dan Riker fest. »Wäre es da nicht möglich, die Energie unserer Nadelstrahlgeschütze zu bündeln und einfach durch die Planetenkruste hin durchzuschießen?« »Das habe ich versucht«, antwortete Dalon. »Die Strahlen zerfa serten sehr schnell, genau wie an dem Schrottgiganten im All. Die genaue Ursache dafür kenne ich nicht, aber es scheint keine Frage der Energiemenge zu sein. Mit Energiestrahlen kommen wir der KI nicht bei.« »Auf die kinetische Energie der Wuchtkanonen reagierte die KI hingegen sehr sensibel«, stellte Dhark fest. »Aber es ist unmöglich, diese Geschosse durch die Planetenkruste hindurch an einen tausend Kilometer entfernten Punkt zu treiben. Die Geschosse würden schon hier beim Aufprall auf den Boden in Energie umgewandelt und uns zerfetzen.« »Wenn wir nur einen Start hinbekämen, sähe die Sache schon an ders aus!« äußerte sich Hen Falluta. »Genau das ist es, was wir brauchen! Und wenn es nur ein Kurzstart wäre, der uns hoch genug bringen würde, um den Standort der KI mit einem gezielten Treffer
aus der Luft anzugreifen!« »Voraussetzung dafür wäre das Ausschalten der Störfelder, die Antrieb und Funkverbindungen lahmlegen«, erklärte Dalon. »Deren Ursprung liegt übrigens dort, wo auch die KI zu finden ist. Aber das dürfte Sie kaum überraschen.« Und an diesem Punkt, so erkannte auch Ren Dhark, biß sich die Katze in den Schwanz. Wahrscheinlich sind alle unsere Probleme gelöst, sobald die Kl ausgeschaltet ist! ging es dem Commander der POINT OF durch den Kopf. Aber das war leichter gesagt als getan.
5.
»Die sind aber klein«, flüsterte Jake Calhoun seinem Nebenmann zu. »Klein und häßlich.« »Genau wie mein Bruder«, entgegnete Daniel Charoux ebenso lei se. Das war ein Witz, allerdings nur für Eingeweihte. Daniels Bruder Antoine sah ihm nämlich so ähnlich wie eine Chiquita-Banane der anderen – was bei Zwillingen bekanntermaßen häufiger vorkam. Jake wunderte sich über den Scherz, nicht, weil er ihn nicht ka pierte, sondern weil Daniel normalerweise nicht zu scherzen pflegte. Antoine war derjenige, der gern mal über die Stränge schlug, ein Tausendsassa, beliebt bei den Frauen… Daniel hingegen galt eher als schüchtern und langweilig. Jake und Daniel gehörten der Schwarzen Garde an. Sie hatten den Abschuß der HAMBURG überlebt und waren mit einunddreißig weiteren Gardisten und ihrem Kommandeur aufgebrochen, um den Mördern ihrer Kameraden in der Industriestadt einen »kleinen Be such« abzustatten. Nicht aus Rachedurst, obwohl der bei einigen von ihnen durchaus vorhanden war, sondern um mehr über die Besat zungen der achtzehn grauen Schildkrötenschiffe in Erfahrung zu bringen. Aufgrund des Verhaltens der Greys, wie die Gardisten sie »ge tauft« hatten, ohne sie je gesehen zu haben, lag die Vermutung nahe, daß ihnen der Planet gehörte. Zwar beanspruchten die Utaren Spug schon seit langem für sich, in der Annahme, die einstige Bevölkerung würde nie mehr zurückkehren, doch offensichtlich forderten die früheren Bewohner jetzt ihre älteren Rechte ein. Natürlich lag es auch im Bereich des Möglichen, daß es sich bei den Greys lediglich um Plünderer handelte, die den Utaren ihre Aus grabungsbeute abjagen wollten, doch dieser Verdacht wurde immer unwahrscheinlicher.
Drei ihrer achtzehn Siebenhundertmeterraumer waren auf Spug gelandet – auf freien Flächen in der Nähe der Industriestadt – und hatten zahlreiche kleine Schützenpanzer »ausgespuckt« sowie be waffnete Fußtruppen. Innerhalb und außerhalb der Stadt gingen sie diversen Tätigkeiten nach. Einige Greys untersuchten das verlassene Lager der Utaren und sicherten die zurückgebliebenen Ausgra bungsstücke. Alles in allem schienen die kindsgroßen grauen Wesen sehr genau zu wissen, was sie hier taten – so wie jemand, der hier hergehörte. Oberstleutnant Kenneth MacCormack war nicht nur der Leiter dieses Einsatzes, er war auch Mitbegründer der Schwarzen Garde. Sein ursprünglicher Auftrag hatte gelautet, die teilzerstörten Robo terwracks auf Grah zu untersuchen – aber dann waren die Greys aufgetaucht. Deren Schiffe hatten das System mit Überlichtge schwindigkeit durchquert, ohne Intervallfeld und ohne aus dem Normalkontinuum geworfen zu werden. Das hatte MacCormacks Neugier erweckt. Mit dem Kugelraumer HAMBURG, einem ehema ligen Beuteschiff der Giants unter dem Kommando des spanischen Kapitäns Hector Elizondo, war der Oberstleutnant den Grey-Schiffen auf den Fersen geblieben, bis es im All zu einem hinterhältigen Überfall und zum Absturz der HAMBURG gekommen war. Zu die sem Zeitpunkt hatte die HAMBURG 320 utarische Arbeiter und ei nen Teil der ausgegrabenen und gefundenen Artefakte mit an Bord gehabt. Die Utaren (abzüglich Kle Klenet), die überlebenden Gardisten (abzüglich MacCormack, seiner dreiunddreißig Mann starken Truppe, Leutnant Kurt Buck und Schütze Yo Ho), Kapitän Elizondo und der Rest seiner Schiffsbesatzung hatten sich in den Bergen von Spug ein Versteck eingerichtet, ein Verteidigungslager, ungefähr zweihundert Kilometer von der Industriestadt entfernt. Dort waren sie zum Warten verdammt. Warten auf die Rückkehr von MacCormack. Warten auf Nachricht von Buck, Ho und Klenet, die mit dem Absetzer aufgebrochen waren, um Verstärkung anzu
fordern. Dazu mußten sie allerdings erst einmal aus dem Störfeld heraus, das jedweden Funkverkehr auf dem Planeten verhinderte. Die Hy perfunksender funktionierten zwar, aber es ging kein Ton ab; selbst To-Richtfunk wurde von dem Störfeld unterbunden. Der starke Sender, der das Feld erzeugte und von einem der Grey-Schiffe aus aktiviert worden war, befand sich allem Anschein nach unterhalb der Industriestadt. Von dort aus waren auch sämtliche technischen Anlagen wieder in Gang gesetzt worden. Eine Geisterstadt erwachte zu neuem Leben. Extrem fremdartige Gebäude, vermutlich die Wohnhäuser der Arbeiter und ihrer Familien, verteilten sich auf dem riesigen Gelände zwischen Fabrikhallen, Meilern und Maschinen. Einige Häuser be fanden sich noch im Bau, andere, die wie Läden aussahen, standen leer. Soviel war klar: Die Stadt war irgendwann in aller Eile eva kuiert worden. Alle Bewohner waren geflohen. Die Utaren hatten noch nicht jedes Gebäude eingehend unter suchen können. Insbesondere die Fabriken waren mit starken Pan zertüren und Fenstersicherungen ausgestattet. Und mit Alarmanla gen, von denen man nicht genau wußte, welche Auswirkungen es hatte, wenn sie aktiviert wurden. Keiner der Forscher hatte Lust verspürt, von einem versteckten, aus Unachtsamkeit ausgelösten Sprengsatz zerrissen zu werden, deshalb war man mit sehr viel Be dacht vorgegangen. Entsprechend lange dauerten die Ausgrabungen bereits an. Durch das Auftauchen der Greys hatten sie ein abruptes Ende ge funden. Hätten die Terraner die Utaren nicht im letzten Augenblick an Bord genommen, wäre inzwischen keiner der Arbeiter mehr am Leben. Wie kompromißlos die Greys vorgingen, hatten sie beim Abschuß der HAMBURG demonstriert. Offensichtlich haßten sie es, wenn man ihnen etwas wegnahm. Wer tat das nicht? Daß sie am Stadtrand beobachtet wurden, schon seit geraumer Zeit, wußten die Greys nicht. Die Multifunktionsanzüge der Gar
disten, die sich am Rand des Lagers verbargen, ließen keine Anpei lung zu. Mit starken Feldstechern verfolgten sie jeden Schritt der geschäftigen Grauen. »Wir gehen näher heran«, entschied MacCormack. »Muß das sein?« entgegnete Jake Calhoun. »Die Greys sind so häßlich, daß es mich nicht gerade zu ihnen hinzieht. Außerdem machen sie nicht den Eindruck, als würden sie gern Freundschaft mit uns schließen.« »Wir schleichen uns nicht näher an die Greys heran, sondern näher an die Stadt«, stellte der Oberstleutnant klar. »Die Greys dürfen nicht einmal einen Luftzug von uns spüren, selbst dann nicht, wenn wir ganz dicht hinter ihnen vorübergehen. Unsere Einheit teilt sich in elf Gruppen von je drei Mann auf.« Der Befehl wurde sofort befolgt. Wer mit wem eine Gruppe bildete, klärte sich ruckzuck in sechzig Sekunden. Auf so manchem Kasernenhof wurden wertvolle Minuten ver schwendet, weil unfähige Vorgesetzte nicht in der Lage waren, die richtigen Leute mit den richtigen Aufgaben zu betrauen. Bei der Schwarzen Garde war das kein Problem – dort gab es nur »richtige Leute«. Die Gardisten waren ein miteinander verschweißtes Team. Privat mochte nicht zwangsläufig jeder jeden, aber im Ernstfall konnte sich einer auf den anderen felsenfest verlassen. Eben deshalb war es in diesem Fall völlig unwichtig, welcher Gruppe man zuge teilt wurde, man zog immer »zwei Richtige«. Vorgesetzte wurden mit derlei Kleinigkeiten erst gar nicht behelligt, das regelten die un teren Dienstgrade selbst in Windeseile unter sich. Oberstleutnant MacCormack sah keinen Anlaß, seine Männer für ihre schnellen Entscheidungen zu loben – er hatte nichts anderes von ihnen erwartet. Schließlich war dies hier die Schwarze Garde und nicht irgendein unkontrolliert agierender »Sauhaufen« der Flotte. *
UNSICHTBARKEIT – ein Wort, das im fortschrittsverwöhnten dritten Jahrtausend oft gebraucht wurde, aber eigentlich ein Unwort war, da es gar nicht existierte, so wie die Unsichtbarkeit selbst. Nach terranischen Erkenntnissen gab es weder in der Milchstraße noch in anderen Galaxien ein Volk, das in der Lage war, sich selbst und seine Schiffe wirklich und wahrhaftig unsichtbar zu machen. Tarnvorrichtungen auf Schiffen und in Kampfanzügen verhinder ten in erster Linie die Anpeilung durch Ortungsstrahlen und die Abgabe verräterischer Emissionen. Völlig unsichtbar wurde das Schiff, wurden die Personen dadurch nicht. Zwar hatten manche Völker, beispielsweise die Nogk, spezielle Absorberschirme entwi ckelt, die Gegenstände und in Kampfanzüge gehüllte Personen mit ihrer Umgebung »verschmelzen« ließen, doch im Endeffekt lief alles auf eine optische Täuschung hinaus. Mit der richtigen Tricktechnik konnte man theoretisch den Pariser Eiffelturm »verschwinden« las sen – doch sobald man näher herantrat, sah man deutlich, daß er noch immer da war, in voller metallischer Größe. Alle Versuche, künstliche Unsichtbarkeit zu erzeugen, liefen auf etwas hinaus, daß es schon seit Millionen von Jahren gab: Chamae leontidae. Das auf Erden allseits bekannte Chamäleon demonstrierte seit Urzeiten, wie man seinen Feinden mittels Tarnung ein Schnäppchen schlug – unsichtbar wurde es dadurch trotzdem nicht. Je vielfältiger und farbiger die Umgebung war, um so besser funk tionierte der »Unsichtbarkeitseffekt« chamäleonartiger Tarnschirme. Ob das auch im Weltall klappte, dafür gab es bislang noch keinen hundertprozentigen Beweis. Manche Tarnvorrichtungen waren viel zu durchlässig, andere standen fast schon am Rand der Perfektion… aber die totale Tarnung war nach dem Wissensstand der Terraner noch nie entwickelt worden. Auch die Angehörigen der Schwarzen Garde konnten sich in ihren Multifunktionspanzeranzügen nur in begrenztem Maße tarnen. Meist war das ausreichend. Wer das Geheimnis der Täuschung be herrschte, war seinem Gegner stets eine Nasenlänge voraus; so
manche Schlacht wurde vor allem durch den Überraschungseffekt entschieden. Jeder Gardist war sich bewußt, daß auch er, wie alle sterblichen Menschen, nur mit Wasser kochte. Aber jeder Gardist wußte auch, daß er etwas ganz Besonderes war, weil er gelernt hatte, die ihm gottgegebenen geistigen und körperlichen Fähigkeiten besser aus zunutzen als »normale« Menschen. Gardisten konnten keine Wun der vollbringen – doch sie hielten sich an gewisse Grundregeln: Im geheimen Einsatz war ein Gardist weder zu hören noch zu se hen. Es gab für einen Gardisten keine Mauern, keine Zäune, keine Tü ren und keine Schlösser. Ein Gardist war grundsätzlich unsichtbar, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er zuschlug. Nein, wahrhaftig unsichtbar machen konnte sich niemand von der Schwarzen Garde. Nicht Oberstleutnant MacCormack, fünf undvierzig Jahre, rothaariger vierschrötiger Ire, nicht Haupt feldwebel Jannis Kaunas, zweiundvierzigjähriger Balte, bepackt mit Muskeln aller Art, nicht Hauptmann Akira Musaschi, der Japaner mit dem »Glücksschwert« seines Großvaters – und schon gar nicht Sam Uitveeren, Nick Gantzier, Piet Lessing, Pete Garrison, Antoku Seiwa und all die anderen, die an diesem Einsatz teilnahmen. Aber sie konnten zumindest versuchen, die Unsichtbarkeit so gut es ging zu simulieren. Das Hereinbrechen der Nacht half ihnen dabei. Die Gardisten pirschten sich von allen Seiten an die Stadt heran und sickerten nach und nach in sie ein. Unbemerkt. Drohte dennoch eine Entdeckung, verhielt man sich ganz still und ruhig… Damit man sich in der riesigen Stadt später wiederfand, bestimmte MacCormack ein markantes Bauwerk in der Stadtmitte zum Treff punkt: ein hohes, schmales Gebäude, das wie ein überdimensionales, zusammengeklapptes Buch aussah. Es war in rotschimmerndes Licht getaucht, zumindest wirkte das aus der Ferne so. Ob es einem be
sonderen, wichtigen Zweck diente, war vom Standort der Schwarzen Garde aus nicht erkennbar, doch mit Sicherheit war es weit und breit das auffälligste Bauwerk – vielleicht der einstige Regierungssitz. Hier würden sich die Dreiergruppen zu einem vorab vereinbarten Zeitpunkt wieder vereinen… * Gemessen an terranischen Verhältnissen waren die Straßen in der Industriestadt sehr schmal, gerade ausreichend, um zwei Schweber unbeschadet aneinander vorbeizulenken. Terranische Schweber, wohlgemerkt. Für die Schwebefahrzeuge der Greys reichte die Straßenbreite massig aus. Und auch ihre grauen »Minimodellpan zer« hatten damit keine Schwierigkeiten. Hauptmann Akira Musaschi, Hauptfeldwebel Jannis Kaunas und der holländische Gefreite Piet Lessing bildeten eine Gruppe. Sie waren inzwischen bis in die Stadt vorgedrungen. An den Schiffen der Greys waren sie problemlos vorbeigekommen. Eines davon wurde derart schlecht bewacht, daß die drei kurz über legt hatten, es zu kapern. Sie hatten den Gedanken allerdings gleich wieder verworfen; es hätte viel zu lange gedauert, die fremde Tech nik zu begreifen und das Schiff zu starten. Obwohl jeder Gardist über einen Orientierungssinn verfügte, der selbst gestandene Pfadfinder vor Neid erblassen ließ, hatten Musa schi, Kaunas und Lessing erhebliche Schwierigkeiten, sich in der Stadt zurechtzufinden. Die Gebäude waren vielfältig und wirkten teils recht bizarr, doch manche Gebäudeformen gab es zigfach, und oftmals hatte man sie in derselben Weise angeordnet. »Sind wir in dieser Straße nicht schon gewesen?« fragte Kaunas seine beiden Begleiter. Der schmalbrüstige Gefreite nickte. »Mindestens schon viermal.« »Nicht in dieser hier«, widersprach ihm Musaschi, »sondern in vier Straßen, die dieser Straße sehr ähnlich sahen.«
»Was macht es für einen Sinn, die Straßen einiger Stadtviertel de rart identisch zu gestalten, daß man sich darin verirrt?« fragte sich Kaunas kopfschüttelnd. »Genau das ist der Sinn«, erwiderte der japanische Hauptmann. »Man soll sich darin verlaufen. Auf diese Weise schützen sich die Greys vor ungebetenen Besuchern. Sie selbst finden ihren Weg durch die Stadt mit Sicherheit im Schlaf, sogar bei völliger Dunkelheit.« Völlige Dunkelheit – die gab es in der Industriestadt nicht. Viele Straßen waren hell erleuchtet, was das Anschleichen nicht gerade leichter machte. Straßenlaternen wie auf der Erde kannte man hier nicht; Gassen und Wege wurden von Scheinwerfern angestrahlt, die man in die Wände der Gebäude eingelassen hatte. Glücklicherweise lag ein Teil der Stadt noch im Dunkeln. Laufend wurden neue technische Anlagen eingeschaltet, aber das Hochfahren der gewaltigen unterirdischen Meiler brauchte wohl seine Zeit. So mit brannte noch nicht überall Licht, und auch die Überwachungs anlagen waren noch längst nicht vollständig aktiviert. Die drei Männer konnten es daher riskieren, in stillen Straßenzügen bei auf geklappten Helmvisieren miteinander zu kommunizieren. »Wie mag es wohl auf den Raumschiffen der Greys aussehen?« bemerkte Lessing im Weitergehen. »Falls auch dort ein Gang dem anderen ähnelt, wäre jeder Kampfeinsatz das reinste Verwirrspiel.« »Nur für unerwünschte Eindringlinge«, meinte Musaschi. »Die Greys finden sich an Bord bestimmt bestens zurecht. Ich hoffe, daß die Schwarze Garde niemals in das Innere eines Schildkrötenrau mers vordringen muß. Solche Einsätze enden meist mit einem un kontrollierten Blutbad, vor allem wenn man es mit Völkern zu tun hat, denen ein Leben nichts wert ist, für die das Töten zum Alltag gehört.« Seine Gedanken waren jetzt bei den Gardisten und Besat zungsmitgliedern der HAMBURG, die den Abschuß nicht überlebt hatten: Edmundo Rossi, Ike Olsen, Huck Sawyer, Nepomuck Ber neck und viele – viel zu viele! – andere.
»Es muß ja nicht ein Kampfeinsatz sein, der uns an Bord eines Grey-Schiffes führt«, sagte Lessing. »Vielleicht laden sie uns zu Verhandlungen ein.« »Klar, bei Tee und Plätzchen«, entgegnete Jannis Kaunas sar kastisch. »Diese Spezies verhandelt nicht. Die Greys sind es offenbar gewohnt, ihre Feinde rigoros zu bekämpfen, beziehungsweise jeden, den sie für ihren Feind halten. Wir haben ihnen nichts getan, sind ihnen nur gefolgt, und trotzdem haben sie uns im Weltall aufge lauert und sind wie wilde Bestien über uns hergefallen. Noch deut licher konnten sie uns nicht zu verstehen geben, daß sie kein Inter esse an einer freundschaftlichen Beziehung haben.« »In ihren Augen sind wir Diebe und Plünderer, die gemeinsame Sache mit den Utaren machen«, warf Musaschi ein, stellte aber gleich klar: »Damit will ich ihren mörderischen Anschlag keinesfalls rech tfertigen, ich versuche nur, das Motiv zu ergründen.« Die Gruppe war gerade im Begriff, aus einer dunklen Gasse auf eine hellerleuchtete Straße zu treten, als der vorangehende Kaunas abrupt stehenblieb. Um seine Kameraden daran zu hindern, an ihm vorbeizugehen, breitete er seine Arme aus und spannte die Muskeln an. Wie ein Fels stand er unbeweglich am Ausgang der Gasse; keine zehn Pferde hätten ihn jetzt von dort wegziehen können. »Was ist los?« wollte der Hauptmann wissen. »Kamera«, antwortete der Hauptfeldwebel knapp und deutete mit dem Kopf auf ein niedriges Wohngebäude, das der Gasse gegenü berlag. Offensichtlich war das Gerät in Betrieb. Die Linse bewegte sich in alle nur erdenklichen Richtungen und streifte dabei regelmäßig den Eingang zur Gasse. »Wir müssen den geeigneten Zeitpunkt abpassen«, sagte Musaschi. »Sobald ich das Signal gebe, laufen Sie los, Gefreiter Lessing. Post ieren Sie sich auf der anderen Straßenseite in einem für die Kamera toten Winkel. Der Hauptfeldwebel folgt Ihnen nach dem nächsten Beobachtungsdurchgang, danach bin ich an der Reihe.«
Piet Lessing zählte zum Typus der »Dauernervösen«. Stillstehen war nicht sein Ding, ständig tänzelte er hin und her, ohne daß er sich dessen richtig bewußt war. Nur beim Scharfschießen war er die Ruhe selbst, dann wirkte er wie eine Statue. Bei der Schwarzen Garde war er als Schütze unübertroffen – und das wollte schon was heißen, der Beste unter den Besten zu sein. Piet bezweifelte, daß Musaschis Vorsichtsmaßnahme vonnöten war. »Die Greys ziehen gerade erst in ihre Stadt ein. Dabei geht es ziemlich hektisch zu. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es sich einer von ihnen in der Beobachtungszentrale vor dem Bildschirm gemüt lich macht und von dort aus passiv mitverfolgt, was draußen Auf regendes auf den Straßen passiert. Die Greys gehen davon aus, daß alle Eindringlinge längst vor ihnen geflohen sind, also dürfte die Kameraüberwachung für sie vorerst zweitrangig sein.« »Die Kameras könnten einen automatischen Alarm auslösen, so bald sie jemanden aufspüren, der nicht hierhergehört«, gab der Hauptmann zu bedenken. »Natürlich nur, wenn sie so ›intelligent‹ sind, Personen voneinander zu unterscheiden. Wie auch immer, wir gehen kein unnötiges Risiko ein. Machen Sie sich bereit, Gefreiter.« »Still!« rief Kaunas ihm leise zu. »Es kommt jemand die Straße hoch.« »Vielleicht eine unserer Dreiergruppen«, flüsterte Lessing. Niemand erwiderte etwas darauf, und auch ihm selbst wurde schlagartig bewußt, wie absurd diese Vermutung war. Würde sich ein Gardist in der Nähe befinden, würde Kaunas ihn nicht einmal dann bemerken, wenn er direkt hinter ihm stand. Stimmen waren zu hören. Fremdartige Stimmen mit seltsamen Fieplauten dazwischen. Wer auch immer sich auf der Straße befand, es war niemand vom Planeten Erde. Kaunas robbte auf dem Bauch zum Ende der Hausmauer und ris kierte einen Blick um die Ecke. Er sah zwei Greys näherkommen und zog sich rasch wieder zurück. Die ganze Aktion hatte knapp dreieinhalb Sekunden gedauert.
Musaschi wollte gerade vorschlagen, sich weiter nach hinten zu begeben und sich von der Dunkelheit verschlucken zu lassen – da flammte in der Gasse plötzlich das Licht auf. Die drei Gardisten hielten nach einem Versteck Ausschau, doch es gab keine Möglich keit, sich zu verbergen. Sobald die beiden Greys die Gasse erreichten, würden sie sehen, daß sich jemand in der Stadt aufhielt, der hier nichts verloren hatte. Musaschi entschloß sich, zum Direktangriff überzugehen und die Greys zu töten. Möglichst lautlos. Er zog sein Samuraischwert aus der Scheide, die er mit Spezialmagneten am Kampfanzug befestigt hatte… * Der ukrainische Korporal Wladimir Stepanowitsch Jaschin hatte mit zwei jungen Rekruten eine Gruppe gebildet, Neulinge zwar, aber voll ausgebildet und trainiert. Einer von ihnen war Daniel Charoux, dessen Zwillingsbruder Antoine aufgrund seiner Verletzung im Lager hatte zurückbleiben müssen. Der zweite Rekrut hieß Max Gregor und hatte ein ganz klein wenig zuviel Gewicht für einen Gardisten; er war jedoch fleißig dabei, sich den überflüssigen Speck wieder abzutrainieren. Einsätze wie dieser hier sollten ihm dabei helfen. Allein der vorangegangene 200-Kilometer-Marsch hatte in seinem Körper so viele Kalorien ver brannt, daß er sie sich nach seiner Rückkehr zur Erde unmöglich wieder anfuttern konnte. Um in die Stadt zu gelangen, hatten sich die drei unmittelbar an einem der gelandeten Schildkrötenschiffe entlangbewegt. Dabei war ihnen aufgefallen, daß das Schiff nicht sonderlich gut bewacht war. Daß sich ungefähr zur gleichen Zeit Musaschi, Kaunas und Lessing in der Nähe desselben Schiffes aufgehalten hatten, hatten sie nicht bemerkt, und die anderen umgekehrt ebenfalls nicht. Am Stadtrand hatten ihnen einige der kleinen Panzer als Tarnung
gedient. Sie waren geduckt neben ihnen hergelaufen und so unge sehen in die Stadt gelangt. Mittlerweile sahen sie die Schützenpanzer lieber von hinten. Dauernd rumpelte eines der Kettenfahrzeuge an ihnen vorüber und zwang sie, eine Deckung aufzusuchen. »Wenn das so weitergeht, schaffen wir es nie, pünktlich am Treff punkt zu erscheinen«, sagte Max, und der Tagträumer und Hobby poet Daniel seufzte: »Man müßte sich in die Lüfte erheben können, um über den Dingen zu stehen.« Wladimir griff diese ausgezeichnete Idee sofort auf – von nun an setzten sie ihren Weg über die Dächer fort, wann immer sich ihnen eine Möglichkeit dafür bot. Und jedesmal, wenn Max schwitzend eines der Gebäude erklimmen mußte, verfluchte er Daniel für dessen große Klappe. Bislang waren sie nur vereinzelten Panzern begegnet, da sich die meisten Greys noch außerhalb der Stadt aufhielten. Auch auf Fuß streifen stieß man glücklicherweise verhältnismäßig selten – aber um ertappt zu werden, genügte ja bereits eine einzige. * Als unten auf einer hellerleuchteten Straße zwei miteinander schwatzende, bewaffnete Greys entlanggingen, war Max Gregor doch ganz froh, sich auf dem Dach eines Hauses aufzuhalten. Das Gebäude hatte die Form eines Zylinders, das Dach hingegen war quadratisch. Daniel hatte das seltsame Bauwerk »Doktorhut« ge tauft. Als sie über den Rand des Dachs geklettert waren, hatten sie für wenige Sekunden frei in der Luft gehangen – wie »Bommeln« an echten Doktorhüten. »Dort drüben sind die Lampen angesprungen«, sagte Max leise zu Jaschin und deutete auf den Eingang zu einer Gasse, die eben noch im Dunkeln gelegen hatte. Die beiden Greys lenkten ihre Schritte auf die Gasse zu, of
fensichtlich wollten sie sie als Abkürzung benutzen. »Hoffentlich verbirgt sich keiner von uns in der Gasse«, bemerkte Daniel Charoux besorgt. »Das kann man für die Greys nur hoffen«, erwiderte Jaschin tro cken. Kurz bevor die Grauen die Gasse erreicht hatten, verlosch dort das Licht wieder. Scheinbar hatten die Meiler noch nicht genügend »Saft«, um die technischen Anlagen überall durchgehend in Gang zu halten. Die Greys blieben kurz stehen, diskutierten miteinander und gingen dann auf der beleuchteten Straße weiter. In die Gasse warfen sie keinen Blick – und selbst wenn sie es getan hätten, sie hätten nichts und niemanden gesehen. Musaschis Gruppe war mit der Finsternis eins geworden… * »Das war verdammt knapp«, atmete Piet Lessing erleichtert auf, als er Seite an Seite mit Kaunas und Musaschi die Gasse verließ. Um die Kamera brauchten sie sich nicht mehr zu kümmern, sie hatte gleichzeitig mit der Gassenbeleuchtung ihre Funktion einges tellt. Der Hauptfeldwebel warf einen Blick nach oben und hielt kurz inne. »Was ist?« fragte ihn der Hauptmann. »Haben Sie etwas gesehen?« Kaunas hob die Schultern. »Ich glaube nicht. Für eine Zehn telsekunde bildete ich mir ein, auf dem Dach des zylinderförmigen Gebäudes eine Bewegung wahrzunehmen. Aber wahrscheinlich habe ich mich getäuscht.« »Das denke ich auch«, meinte Akira Musaschi, der sein Schwert mittlerweile wieder weggesteckt hatte. »Die Greys haben derzeit sicherlich Besseres zu tun, als auf ihren Dächern herumzuklettern, und einer von uns kann es nicht gewesen sein. Als Gardist hat man gelernt, völlig bewegungslos zu verharren, wenn man das Gefühl
hat, von irgendwoher angeblickt zu werden.« Jannis Kaunas machte eine Kopfbewegung in Lessings Richtung. »Und was ist mit ihm? Gefreiter Lessing kann doch keine Sekunde stillstehen.« »Keine Sorge, Herr Hauptfeldwebel, das schafft er schon. Notfalls befehle ich ihm, ein bestimmtes Ziel anzuvisieren und erst auf mein Signal hin den Auslöser zu betätigen. In dieser Stellung kann er stundenlang verharren, wenn es sein muß.« Derweil sprangen Jaschin und seine beiden Kameraden vom »Doktorhut« auf das Dach eines anderen hohen Gebäudes. Bei ihrem Rückzug hatten sie nichts von der Anwesenheit der zweiten Gruppe bemerkt. Max hatte in derselben Sekunde den Kopf eingezogen, in der Kaunas nach oben geschaut hatte. Nachdem die Musaschi-Gruppe um eine Straßenecke gebogen war, trat aus dem niedrigen Wohngebäude gegenüber der Gasse eine weitere »Gardistengruppe«, sozusagen ein Einmanntrupp… * Oberstleutnant Kenneth MacCormack machte sich allein auf den Weg zum Treffpunkt. Wie ein Schatten glitt er durch die engen Straßen der Industriestadt – und durch die Häuser. Wann immer er ein Wohngebäude unverschlossen vorfand, nutzte er es, um sich eventuellen Beobachtern zu entziehen. Im Inneren der Häuser war die Gefahr, entdeckt zu werden, geringer als draußen. Als er auf einer gut ausgeleuchteten Straße mit dem Feldstecher in der Ferne zwei Greys wahrnahm, wich er ihnen in ein niedriges Wohnhaus aus. Drinnen staunte er nicht schlecht. In den anderen Häusern war er überwiegend auf (von den Utaren »gerupfte«) Hin terlassenschaften jener Personen gestoßen, die früher dort gewohnt hatten. Hier aber fand er sich überraschend in einer technischen Zentrale wieder. Dank seines enormen Wissens brauchte er nicht lange, um sich
wenigstens in groben Zügen in die fremde Technik einzufühlen. Er fand heraus, daß von hier aus zahlreiche technische Anlagen dieses Stadtteils gesteuert wurden – unter anderem auch die Beleuchtung. Auf einem kleinen Bildschirm empfing er Bilder von einer schwenkbaren Automatikkamera, die außen am Haus angebracht war. Hin und wieder erfaßte sie die beiden Greys, die langsam die Straße hochkamen. Auch der Eingang der Gasse wurde in regelmä ßigen Abständen aufgenommen, allerdings war dort nichts zu sehen. Erst als MacCormacks Blick mehr oder weniger zufällig durch ei nes der Fenster zur Straße fiel, entdeckte er Kaunas, Musaschi und Lessing. Der Hauptfeldwebel hinderte die beiden anderen daran, in den Kamerabereich zu treten. Plötzlich sprangen in der Gasse die Lampen an. MacCormack konnte nichts dafür, die Schaltung war automatisch erfolgt. Auf dem Bildschirm sah er, wie die Greys auf die Gasse zuhielten. Und durchs Fenster beobachtete er, wie Musaschi sein Schwert zur Hand nahm… Fieberhaft versuchte der Oberstleutnant, die Automatik auszu schalten. Schließlich zog er eine seiner Handfeuerwaffen und jagte gezielt einen dünnen Energiestrahl ins Kontrollpult. Der Strahl zer störte einen Schalter, bohrte sich weiter nach innen durch – und in der Gasse gingen die Lampen wieder aus. MacCormack hatte ei gentlich beabsichtigt, die komplette Straßenbeleuchtung lahmzule gen, um seinen Leuten im Schutz der Dunkelheit die Flucht zu er möglichen, aber ein Teilerfolg war bekanntlich besser als gar keiner. Daß sich auch die Kamera »verabschiedet« hatte, war ein ungewoll ter Nebeneffekt, gegen den es im Grunde genommen nichts einzu wenden gab. Nachdem der »Grey-Spuk« vorübergezogen war, setzte die Dreiergruppe ihren Weg zum Stadtzentrum fort. MacCormack zeigte sich nicht, er trat erst aus dem Haus, als die Straße leer war. Irgendwo innerhalb oder unterhalb der Stadt ging jetzt sicherlich die Meldung ein, daß im Bezirk »XYZ« ein paar Lampen und eine Ka mera ausgefallen waren. MacCormack setzte voraus, daß die Greys
sich darum kümmern würden – sobald keine wichtigeren Probleme mehr anstanden, und das konnte dauern. Ob er seinen Männern eines Tages erzählen würde, welche be drohliche Situation er als heimlicher Beobachter in letzter Sekunde entschärft hatte, wußte er noch nicht. Vielleicht ja, vielleicht nein… * Alle dreiunddreißig Gardisten erreichten den Treffpunkt voll zählig und unbemerkt. Zwar hatte man sich mangels Ortskenntnis nicht an einem speziellen Platz verabredet, doch hinter dem hohen, schmalen Gebäude befand sich ein unbeleuchteter, völlig verwahr loster Park, den jede eintreffende Gruppe umgehend aufsuchte. Es gab rund um das Gebäude keinen besseren Ort für eine heimliche Zusammenkunft. Vor dem Haupteingang auf die anderen zu warten, wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Die Greys hatten einen bewaffneten Roboter-Wachtrupp am vierflügeligen Eingangstor postiert. Auf einem freien Platz davor standen mehrere ihrer Einmannschützen panzer, angeordnet im Halbkreis. Die Seitenzugänge wurden von Grey-Soldaten bewacht. Das rotschimmernde Licht, das man aus der Ferne gesehen hatte, drang bis etwa zur Mitte des Parks vor und beschien dort Büsche und Bäume – und allerlei Getier, das sich dort recht wohlzufühlen schien. MacCormack, der als erster eingetroffen war, beobachtete schon seit geraumer Zeit voller Mißtrauen ein einheimisches Ge schöpf mit einem großen Hakenschnabel, eine Art Uhu, der nur ein einziges Bein hatte. Seine kurzen, scharfen Krallen hatte er in einen dicken Baum gebohrt, nicht in einen der Äste, sondern in den Stamm. Der Krallenfüßler, wie MacCormack das Wesen bezeichnete, »hing« somit in waagerechter Stellung seitlich wie eine Wetterfahne am Baumstamm. Hin und wieder zeigte der seltsame Uhu, daß Le ben in ihm steckte, indem er seine Flügel weit ausbreitete und laut
krächzte. Der Oberstleutnant bezweifelte, daß der Krallenfüßler es wagen würde, einen ausgewachsenen Menschen anzugreifen. Den wesent lich kleineren Greys konnte er aber bestimmt gefährlich werden, und Utaren wären nur ein Appetithäppchen für ihn. Von weitem hatte es ausgesehen, als ob das rote Licht das hohe, buchförmige Gebäude vollständig einhüllen würde. Bei näherem Hinsehen erkannte man jedoch, daß der Lichtschein ausschließlich von einem niedrigen Anbau ausging, der von innen heraus erstrahlte wie ein glühender Hochofen. Hitze erzeugte das Licht jedoch nicht. Musaschi nahm vorsorglich eine Messung vor, bei der sich heraus stellte, daß die Rotstrahlen absolut harmlos und unschädlich waren. Direkt gegenüber dem Nebengebäude lag ein freier Platz, we sentlich größer als der Platz vor dem Haupteingang. Mitten auf dem Platz stand auf einem Sockel eine Grey-Statue, die aus einem unbe kannten Metall gefertigt worden war. Scheinbar ehrten die Greys ihre Volkshelden auf die gleiche Weise wie die Terraner und ver schiedene andere Völker der Milchstraße. Im Park führte die Truppe eine genaue Ortung durch, um die Energiequelle unter der Stadt anzupeilen. Nach wie vor waren die Gardisten überzeugt, daß dort die Ursache für die Funkstörungen zu finden war. Zu MacCormacks grenzenlosem Erstaunen war die Quelle ganz in der Nähe… »… sehr viel näher, als ich erwartet hatte«, sagte er zu seinen Männern. »Sagen Sie jetzt nur nicht, wir sitzen darauf, Sir«, erwiderte Hauptfeldwebel Kaunas. »Befindet sich der Störsender unter dem Park? Das wäre ja zu schön, um wahr zu sein. Dann brauchten wir nur noch den Einstieg in die Unterwelt zu suchen.« »Auf der Erde haben wir Juli«, antwortete der Oberstleutnant schmunzelnd. »Wunder geschehen erst wieder zu Weihnachten, Herr Hauptfeldwebel, tut mir leid.«
Er deutete mit dem Daumen auf das gutbewachte, riesige Bau werk, hinter dessen sämtlichen Fenstern Licht brannte, obwohl sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in jedem Raum Greys aufhielten. »Die Anlage befindet sich unter dem Gebäudekoloß?« fragte Kor poral Jaschin erschrocken. »Wie gelangen wir dorthin?« »Na, wie wohl?« beantwortete Hauptmann Musaschi seine etwas naive Frage. »Wir gehen hinein. Irgendwo im Gebäude gibt es si cherlich eine Treppe oder einen Antigravschacht, der uns in die Tiefe transportiert.« Jaschin atmete einmal kräftig durch. »Damit dürften die Greys nicht ganz einverstanden sein.« Der Japaner setzte sein gewohnt höfliches Lächeln auf. »Richtig, mein junger Freund. Ich schätze, wir müssen mal wieder all unsere Überzeugungskraft aufbieten, um uns Zutritt zu verschaffen.« * Seit die Dunkelheit hereingebrochen war, ruhten die Aktivitäten der Noid weitgehend. Sie hatten im ehemaligen Ausgrabungslager und in den äußeren Stadtvierteln eine Art Bestandsaufnahme ge macht, um festzustellen, was nach der Plünderung noch vorhanden war. Am nächsten Tag würde man tiefer in die Industriestadt vor stoßen und prüfen, inwieweit die Häuser noch bewohnbar waren und ab wann die Arbeit in den Fabriken frühestens wieder aufge nommen werden konnte. Nach der langen Abwesenheit mußte man davon ausgehen, daß die Technik nicht mehr überall reibungslos funktionierte. In etlichen Betrieben waren mit Sicherheit aufwendige Reparaturen notwendig; zudem mußten die Maschinen neu koordi niert werden. Zu den fünfzehn Schiffen im All gab es keinen Funkkontakt. Den noch durften die Kommandeure der drei auf Slord (so lautete die Bezeichnung der Noid für den Planeten Spug) gelandeten Raum schiffe den Störsender auf gar keinen Fall deaktivieren. Dem Norll
Cral Penskir, Kommandant der MENTOZ und Gesamtleiter der Ak tion, war strikt untersagt worden, die Anlage ganz oder teilweise abzuschalten. Allem Anschein nach verbargen sich in den Bergen noch Flüchtlinge, die Verstärkung herbeifunken könnten. Eine be reits in Planung befindliche, mit Beibooten durchzuführende Groß offensive würde sie aus ihren Verstecken treiben, direkt vor die Bordkanonen der Schiffe. Aber alles zu seiner Zeit, die Untersuchung der Stadt hatte Vorrang… * Im verwilderten Park besprachen MacCormack, Musaschi und Kaunas ihre Vorgehensweise beim Sturm auf das Gebäude, unter dem sie die Energiequelle ausgemacht hatten. Der Oberstleutnant und der Hauptfeldwebel waren für einen Scheinangriff aufs Haupt tor. Zeitgleich sollte ein Durchbruch an einem der Seitenzugänge erfolgen. Den Hauptmann störte, daß die Greys dann wußten, daß sie nicht allein in der Stadt waren. Er plädierte dafür, sich in den rotschim mernden Anbau einzuschleichen, um zu prüfen, ob es von dort einen Zugang zum Hauptgebäude gab. Plötzlich schoß aus dem dunklen Nachthimmel ein gewaltiger, gleißender roter Lichtstrahl herab. Ziel des Strahls war der Anbau, was vom Park aus allerdings nicht sofort erkennbar war. MacCor mack nahm an, daß man im All eine Waffe abgefeuert hatte, und er rechnete mit einer heftigen Explosion. Doch es blieb still. Nichts geschah. Es kam zu keiner Detonation, zu keinen Zerstörungen. Allerdings verschwand schlagartig das rote Licht, so als hätte es jemand ausgeknipst. »Das Rätsel lösen wir später«, sagte der Oberstleutnant. »Oder gar nicht, schließlich sind wir nicht hier, um sämtliche Ge heimnisse der Greys zu lüften. Wir müssen in das Gebäude – und wir machen es auf meine Weise! Während des Scheinangriffs werden
wir uns nicht nur auf einen einzigen Nebeneingang konzentrieren. Wir versuchen, von zwei Seiten hereinzukommen. Dazu müssen wir uns erneut in Gruppen aufteilen.« Wenig später wußte jeder, wo er hingehörte und was er zu tun hatte. Dem Angriff stand nichts mehr im Wege… Fast nichts. Kampflärm drang zu den Gardisten herüber, von dort her, wo der rote Strahl niedergegangen war. Musaschi nahm eines der handlichen Geräte aus seinen Anzugtaschen und führte sofort eine Energieortung durch. Das Ergebnis war so außergewöhnlich, daß er es gleich noch einmal prüfte. »Es gibt keinen Zweifel«, teilte er den anderen mit. »Das sind die Energiesignaturen von Multikarabinern.« »Es könnten Gardisten aus dem Lager sein, die uns gefolgt sind«, vermutete Kaunas. »Wir müssen ihnen beistehen.« Dem sich steigernden Lärm nach setzten die Greys ihre Panzer und Roboter ein, die sie vor dem Haupteingang postiert hatten. Drei kurz aufeinanderfolgende Explosionen waren zu hören. »Wir ändern unseren Plan«, befahl MacCormack. »Da am Haupttor offenbar genügend Chaos herrscht, können wir uns den Scheinang riff sparen. Statt dessen teilen wir uns in zwei gleichstarke Gruppen auf und kämpfen uns durch zwei Seiteneingänge nach drinnen vor.« Kaunas glaubte, nicht richtig zu hören. »Aber… aber was ist mit unseren Kameraden? Sie brauchen dringend Unterstützung.« »Befolgen Sie meine Befehle!« erwiderte sein Vorgesetzter barsch. »Wir haben jetzt keine Zeit mehr für Diskussionen!«
6.
Während im Leitstand der POINT OF noch heftig über ver schiedene Befreiungsmöglichkeiten diskutiert wurde, hielt sich Arc Doorn auffällig zurück. Er machte eine Geste in Richtung seines Freundes Chris Shanton. Nachdem Doorn sie einmal wiederholt hatte, begriff dieser schließlich und ging zu dem Sibirier hin. »Was ist los, Arc?« fragte er. Der bärtige Fremdtechnikexperte wirkte etwas gereizt, denn of fenbar hatte er die bisherige Diskussion zwar stumm, aber innerlich sehr engagiert verfolgt. Auch er zerbrach sich den Kopf darüber, wie man die POINT OF aus der Gewalt dieser vielleicht tatsächlich dem Wahn verfallenen KI befreien konnte. »Ich muß etwas mit dir besprechen, Chris.« »Jetzt – und hier?« konnte sich Shanton nur wundern. Doorn sprach sehr leise. »Weder jetzt noch hier. Komm mit!« Shanton fühlte sich etwas überrumpelt. »Ich weiß nicht…« »Nun komm schon, Chris!« Von den anderen kaum beachtet, verließen sie die Zentrale. Als sie sich draußen auf dem Korridor befanden, stellte Shanton seinen Freund zur Rede. »Hör mal, was fällt dir ein, Arc? Wir versuchen gemeinsam mit diesem Worgun eine Möglichkeit zu finden, von hier wieder weg zukommen, und du holst mich aus der Zentrale!« Doorn machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ganze Gerede führt doch zu nichts«, war er überzeugt. Shanton verzog das Gesicht. »Aber du hast das Patentrezept wahrscheinlich schon in der Tasche was?« höhnte er. Arc Doorn versuchte seinen Freund zu beschwichtigen und das Gespräch auf ein anderes Terrain zu lenken. Doorns tiefer Überzeugung entsprechend gab es nämlich Dinge,
die entschieden wichtiger waren, als irgendwelche kleinen Animo sitäten unter Freunden zu klären. »Chris, du hast von deinen Labors aus einen Zugang zum Check master.« Shanton runzelte überrascht die Stirn. »Sicher!« stieß er hervor. »Was glaubst du denn? Daß ich in der Lage bin, Gleichungen der Mysterious-Mathematik im Kopf zu be rechnen?« »Wenn ich das jemandem zutrauen würde, dann dir, Chris. Aber Spaß beiseite, ich brauche diesen Rechnerzugang…« »Was?« »Und zwar jetzt.« Chris Shanton atmete tief durch. »Meinetwegen. Aber vielleicht kannst du mir erklären, was du vorhast.« »Später. Im Moment ist dafür keine Zeit. Aber mir ist da eine Idee gekommen, wie wir unsere Lage verbessern könnten.« »Und wieso kannst du nicht deinen Rechnerzugang in der Zentrale benutzen?« Doorn ließ sich nicht einmal im Ansatz auf eine Diskussion ein. »Chris! Wird das hier ein Frage- und Antwortspiel, oder un terstützt du mich?« Shanton seufzte hörbar. Dann marschierte er entschlossen los und bedeutete dem rot haarigen Sibirier mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. »Na, los!« rief Shanton. * Wenig später erreichten sie den Labortrakt. Der Roboterhund Jimmy kam ihnen entgegen und schmiegte sich gleich an Shantons Hosenbein. »Laß mal, zum Spielen habe ich jetzt wirklich keine Zeit«, sagte der
Ingenieur etwas barscher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Der mechanische Hund verstand ihn und trottete davon. Er ver kroch sich unter einem der Labortische und war offensichtlich be leidigt. Nach Dalons Hypothese ja der endgültige Beweis dafür, daß auch diese Maschine eine Persönlichkeit besitzt! überlegte Shanton voller Ironie. Der Experte für Energieanlagen hatte diesen Roboterhund 2050 konstruiert. Äußerlich hatte er die Form eines pechschwarzen Scotch Terriers, was ihm den Spitznamen »Brikett auf Beinen« ein gebracht hatte. In seinem Inneren befand sich jedoch ein sehr leis tungsfähiger Suprasensor. Inwiefern Jimmy ähnlich wie Artus einen Sprung zur Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit hinter sich hatte, war bislang unklar. Shanton glaubte jedoch, dafür durchaus einige Anhaltspunkte ge funden zu haben. »Nicht besonders nett, mich hier allein zurückzulassen«, meinte der Roboterhund und ließ ein Jaulen folgen, das vom internen Sup rasensor äußerst überzeugend moduliert worden war. Zum Steinerweichen! dachte Shanton. »Ich mußte in die Zentrale, und es wäre wohl ziemlich unpassend gewesen, wenn du da herumgewuselt wärst!« Chris Shanton trat inzwischen an eines der zahlreichen Schaltpulte, die in seinem Labortrakt zu finden waren, und stellte einen Kontakt zum Checkmaster her. »Du kannst jetzt hier machen, was du willst, Arc«, meinte er. »Ich muß allerdings schon sagen, daß ich das Ganze etwas merkwürdig finde.« »Ich muß ein paar Berechnungen durchführen und möchte dabei weder gestört werden noch falsche Hoffnungen damit erwecken… gleich erzähle ich dir, worum es geht«, versprach Arc Doorn. Der Sibirier machte sich daraufhin an dem Schaltpult zu schaffen. Auf einem kleinen Sichtschirm erschienen Symbole des Wor gun-Alphabets. Mit atemberaubender Geschwindigkeit nahm Doorn seine Schal
tungen vor. Es war für Shanton immer schon ein schier unfaßbares Phänomen gewesen, mit welcher Geschwindigkeit und Intensität sich Doorn in die Technologie fremder Spezies hineinzudenken vermochte. Die Terraner mochten sich zwar inzwischen die Raumfahrttechnik der Worgun zu einem gewissen Teil angeeignet haben – aber nie mand fühlte sich auf diesem Gebiet so zu Hause wie Arc Doorn. Das mußte auch Shanton anerkennen. Für den bärtigen Ingenieur gab es nicht viele Dinge, um die er an dere Menschen beneidete. Aber die Leichtigkeit, mit der Doorn technische Vorgänge zu erfassen vermochte, gehörte zweifellos da zu. Shanton suchte den beleidigten Jimmy hinter dem Labortisch auf. »Wollen wir beide den großen Meister besser nicht stören, was?« meinte er mit einer deutlichen Portion Ironie. Er begann damit, sich am Bart herumzuzupfen. Ein äußeres Zeichen seiner Nervosität. »Ich habe es!« rief Doorn schließlich aus. »Na, da bin ich aber mal gespannt!« sagte Shanton. »Jetzt schieß schon los, Arc!« Doorn deutete auf einen Bildschirm, auf dem Berechnungen an gezeigt wurden. »Ich habe nach einem Weg gesucht, die POINT OF in die Lage zu versetzen, mit gezielten Schüssen ihrer Wuchtkano nen diese verrückte KI auszuschalten.« »Soll das heißen, dir ist mit ein paar simplen Rechenoperationen die Quadratur des Kreises gelungen?« fragte Shanton skeptisch. Arc Doorn grinste. »Simpel waren die Berechnungen nicht gerade – aber wenn du es so bezeichnen willst… Ich habe berechnet, was passiert, wenn die ASGOR mit ihren Nadelstrahlern knapp unter halb der POINT OF in den Boden schießt – und zwar mit höchster Intensität!« »Und?« Arc Doorn deutete auf den Schirm. »Der Explosionsdruck würde die POINT OF in die Höhe schleu
dern. Die aufgewendete Energie muß dabei so hoch sein, daß unser Schiff über den Horizont gehoben wird. Nach meinen Berechnungen ist das möglich. Wir hätten dann eine Zeitspanne von vielleicht zwanzig Sekunden, um die KI zu zerstören. Danach würden wir zu tief abgesunken sein…« »Und wenn unser Angriff ein Fehlschlag ist, zerschellen wir an der Oberfläche.« »Besser, als bis in alle Ewigkeit hier festzusitzen, ohne Chance darauf, auch nur einen Notruf abzuschicken, der Terra oder Eden erreicht.« »Da hast du natürlich recht!« »Der Checkmaster muß noch die Richtigkeit meiner Berechnungen bestätigen. Dann können wir Dhark den Vorschlag unterbreiten.« Die Bestätigung des Bordrechners der POINT OF erfolgte wenig später. Arc Doorns Berechnungen waren richtig. Aber daran hatte Chris Shanton ohnehin nicht gezweifelt, schließ lich kannte er die überragenden Fähigkeiten des Sibiriers nur zu gut. »Und jetzt nichts wie in die Zentrale!« forderte Shanton. Euphorie hatte ihn angesichts dieser neuen Hoffnung erfaßt, die durch Doorns Plan entstanden war. »Könntest du das übernehmen?« fragte Doorn. Shanton runzelte die Stirn. »Wie bitte? Habe ich das richtig verstanden, Arc? Es war dein Vorschlag, und du hast die Berechnungen durchgeführt.« »Ich muß zu meiner Doris. Es geht ihr heute nicht gut. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du zu Dhark in die Zentrale gehst und den anderen den Plan erklärst.« »Sicher…« »Je eher wir hier wegkommen, desto besser!« »Klar.« »Bis nachher, Chris.« Doorn verließ den Raum und ließ Shanton etwas verdutzt stehen.
Jimmy kam aus seiner Schmollecke hinter dem Labortisch hervor und trat neben das von ihm akzeptierte »Herrchen«. »Halt hier Wache, ich muß noch mal weg!« murmelte Shanton, der etwas nachdenklich wirkte. Klingt fast so, als wollte Arc unter keinen Umständen im Leitstand sein und sich lieber verdrücken! dachte Shanton, aber dieser Gedanke erschien ihm einfach zu unlogisch, als daß er ihn weiterverfolgt hätte. Er schob ihn einfach beiseite, was ihm an gesichts der optimistischen Aufbruchsstimmung, die ihn jetzt völlig erfaßt hatte, sehr leichtfiel. * Dalon blickte in das Gesicht Ren Dharks, das auf einem der zahl reichen Schirme in der Zentrale der ASGOR zu sehen war. Dem Worgun entging nicht, daß sein Gesprächspartner für einen Moment abgelenkt war. Irgend etwas geschah dort außerhalb des Bildausschnitts, der über die Kabel Verbindung übertragen wurde. »Wir unterbrechen das Gespräch kurz«, sagte Dhark knapp. Er fügte keine weitere Erklärung hinzu. Dharks Gesicht verschwand. Der Schirm wurde dunkel. »Haben Sie eine Ahnung, was da los ist?« wandte sich Dalon an Leutnant Hornig. Dieser zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Amy Stewart mischte sich ein. Sie wollte das aufkeimende Mißt rauen Dalons bereits in einem Frühstadium dämpfen. »Ich nehme an, daß Ren Dhark irgendwelche neuen Fakten erhalten hat, die er jetzt erst einmal im Kreis seiner Brückenoffiziere besprechen muß.« Dalons Gesicht entspannte sich etwas. Er atmete tief und sagte schließlich: »Jemand, der schon so lange gewartet hat wie ich, sollte nicht ungeduldig werden, oder?« »Wer weiß, wie lange wir auf diesem Schrottplaneten festsitzen«,
erwiderte Amy. »Wohin waren Sie unterwegs, als Sie hier strande ten?« »Spielt das noch eine Rolle?« fragte Dalon. »Es ist so lange her.« Er weicht meiner Frage aus! ging es Amy durch den Kopf. Ren weiß mehr über diesen Mann, als er bislang offenbart hat. Aber er wird schon seine Gründe haben, sich zurückzuhalten… Amy Stewart blickte sich etwas in der Zentrale der ASGOR um. Ihr Blick schweifte über die Kontrollen und Anzeigen. Brack und Azhari waren währenddessen damit beschäftigt, die Verbindung zur POINT OF zu optimieren. Durch den Zusammenschluß mit dem Bordrechner gab es ein paar kleinere Probleme, die aber rasch be hoben waren. »Jetzt wäre sogar ein Datentransfer im großen Stil möglich – falls dies gewünscht wird!« verkündete Percival »Val« Brack. * In knappen Worten erläuterte Chris Shanton den Plan. »Nach Arcs Berechnungen bleiben uns zwanzig bis höchstens dreißig Sekunden in einer Höhe, die für einen Beschuß der KI noch ausreichend ist«, erläuterte der Fremdtechnikexperte. »Das müßte ausreichen«, meinte Riker. »Der Checkmaster hat die Daten überprüft und bestätigt«, fuhr Shanton fort. »Aber wir können natürlich noch einmal eine Über prüfung durchführen lassen und das Ganze im Rechnermodell si mulieren.« »Angesichts der Tatsache, daß wir nur einen einzigen Versuch haben, würde ich das befürworten«, mischte sich Artus ein. »Schließlich dürfen wir uns absolut keinen Fehler leisten.« »Dann assistierst du Shanton am besten dabei«, schlug Dhark vor. Die Verbindung zur ASGOR war während Shantons Erläuterungen unterbrochen worden. Jetzt gab Dhark den Befehl an die Funk-Z, sie wiederherzustellen.
»Verbindung aktiviert«, meldete Elis Yogan, der diensthabende Funkoffizier. In der Bildkugel war jetzt wieder die Zentrale der ASGOR zu sehen. »Wir haben vielleicht einen Weg gefunden, uns aus dieser Ge fangenschaft zu befreien«, eröffnete Dhark. Dalon war erstaunt. »Wenn das Risiko einigermaßen vertretbar ist, bin ich mit allem einverstanden, was uns von hier wegbringt«, er klärte er. »Die ASGOR muß mit punktgenau in den Boden unterhalb der POINT OF gezieltem Nadelstrahlfeuer für eine Explosion sorgen, die stark genug ist, um uns über den Horizont zu heben. Anschließend schalten wir die KI durch Beschuß mit unseren Wuchtkanonen aus.« »Ein interessanter, aber risikoreicher Vorschlag. Wenn Ihre Kano nen nicht die erhoffte Durchschlagskraft haben oder die Störfelder vielleicht nur unvollständig deaktiviert werden, könnte diese Vor gehensweise für Sie trotz allem eine Katastrophe bedeuten.« »Das ist mir bewußt«, entgegnete Dhark. »Andererseits macht es auch keinen Sinn, länger abzuwarten. Unsere Energievorräte werden mit der Zeit dahinschmelzen. Und auf Hilfe von außerhalb brauchen wir wohl nicht zu hoffen.« »Es sei denn, die KI würde Ihren Notruf aufzeichnen und als Lockruf in die Umgebung schicken, so wie sie es auch mit den Not rufen anderer hier gestrandeter Raumer getan hat…« Dhark ging auf Dalons skeptische Bemerkung nicht weiter ein. »Sind Sie einverstanden?« fragte er offen. Dalon atmete schwer und senkte schließlich den Kopf um ein paar Grad nach vorn. »Ja. Ich hoffe nur, daß das Energieniveau der ASGOR noch ausreicht, um einen derart heftigen Beschuß mit Na delstrahlen zu generieren.« »Übermitteln Sie uns bitte Ihre Energiedaten über die Kabel verbindung. Leutnant Hornig und seine Leute sollen Ihnen bei der Kalibrierung des Verbundes mit Ihrem Hyperkalkulator behilflich
sein.« »Das ist bereits im Hinblick auf künftigen Austausch geschehen«, erklärte Dalon. Dhark nickte zufrieden. »Gut. Wir schicken Ihnen die Berechnungen hinüber, die wir dazu angestellt haben. Ihr Hyperkalkulator kann daraus unter anderem die präzise Strahlstärke ermessen, mit der vorgegangen werden muß.« »In Ordnung«, bestätigte Dalon. »Für Sie besteht im übrigen bei diesem Manöver auch ein er hebliches Risiko«, stellte Dhark klar. »Ich glaube nämlich nicht, daß Ihre Energiespeicher danach noch für hundert Jahre reichen wer den…« »Ich weiß«, murmelte Dalon. »Daten sind übertragen worden«, bestätigte Chris Shanton von einem der Schaltpulte in der Zentrale der POINT OF aus. »Wir war ten jetzt nur noch die Fertigstellung der letzten Testsimulation durch den Checkmaster ab, dann können wir loslegen. Aber das kann nur noch Minuten dauern.« * Die Vorbereitungen zur Durchführung von Arc Doorns Be freiungsplan liefen auf Hochtouren. Die Feuerleitoffiziere von WS West und WS Ost bekamen den Befehl, die Waffentürme der Wuchtkanonen einzufahren. Leon Bebir kümmerte sich um die Funktionsprüfung der Andruckneutralisatoren. Wenn die POINT OF durch eine Explosion in eine Höhe geschleudert wurde, die ma ximal 150 Kilometer über Normalnull der Oberfläche von Planet XII lag, so entstanden dabei zwangsläufig extreme Beschleunigungs kräfte. Mit Belastungen bis zu zwölf Gravo hatten schon die ersten terranischen Astronauten bei ihren primitiven Raketenstarts rechnen müssen. In diesem Fall war die Beschleunigung mit Sicherheit höher.
Chris Shanton rechnete mit Werten von 25 bis 30 Gravo, was der fiktiven Anziehungskraft auf der Oberfläche eines beliebigen sol ähnlichen Sterns vom Typ G entsprach. Ohne eine korrekte Funktion der Andruckneutralisatoren wären sämtliche Besatzungsmitglieder der POINT OF förmlich zerquetscht worden. Und das Intervallfeld, das normalerweise ebenfalls vor den Aus wirkungen der Gravitationskräfte schützte, war durch die Stö rungsfelder der KI nicht einsatzfähig. »Hier an Bord der ASGOR ist alles bereit«, meldete sich Leutnant Hornig schließlich bei Ren Dhark. »Der Hyperkalkulator dieses Schiffes wird den Beschuß punktgenau vornehmen.« »Gut«, nickte Dhark. »Kehren Sie mit Ihrem Trupp an Bord der POINT OF zurück. Die Kabel Verbindung kann wohl oder übel nicht aufrechterhalten werden. Um so mehr kommt es auf Präzision an.« »Machen Sie sich da mal keine Sorgen«, sage Dalon. * Eine Viertelstunde später waren Leutnant Hornig und seine Leute auf die POINT OF zurückgekehrt. Hornig erschien in der Zentrale, um kurz Bericht zu erstatten. Amy Stewart war bei ihm. Dhark warf seiner Lebensgefährtin ein kurzes Lächeln zu. Doch dann verlangte die Funktion als Commander der POINT OF seine volle Aufmerksamkeit. »Andruckstabilisatoren aktiviert?« fragte er Leon Bebir. »Bestätigt«, sagte dieser knapp. »WS West und WS Ost bereitmachen zum Einsatz der Wucht kanonen«, befahl Dhark. »Außerdem soll eine Warnung an alle Decks gegeben werden. Am besten sucht sich jedes Besatzungs mitglied einen bequemen und sicheren Platz in einem Schalensessel. Schließlich wird unser Schiff gehörig durchgeschüttelt werden.« »Von dem Risiko, daß die Andruckstabilisatoren kurzzeitig mal
ausfallen, ganz zu schweigen«, meinte Bebir. Tino Grappa meldete sich zu Wort. »Die ASGOR justiert ihre Nadelstrahlgeschütze«, berichtete der Ortungsoffizier. »Dann wird es ja wohl bald losgehen«, meinte Dhark. Arc Doorn tauchte in diesem Moment wieder in der Zentrale der POINT OF auf. »Wie geht es Doris?« erkundigte sich Chris Shanton. »Schon besser«, murmelte Doorn. »Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.« »Keine Sorge.« Im nächsten Moment ging ein Ruck durch die POINT OF. Die ASGOR begann mit dem Nadelstrahlfeuer. Die Strahlschüsse drangen an exakt vorherberechneten Punkten in den Boden ein und sorgten für eine gewaltige Energieentladung. Nach ein paar Sekun den platzte die Planetenoberfläche in einem Umkreis von etwa fünf zig Metern um die POINT OF herum regelrecht in die Höhe. Eine gewaltige Explosion schleuderte Ren Dharks Raumschiff zusammen mit mehreren Tonnen Schrott und Geröll in die Höhe. Dalon feuerte weiter, nun direkt auf die Unterseite der POINT OF. Der Strahlungsdruck der Nadelstrahlen sorgte für weitere Beschleu nigung. Dann stellte die ASGOR den Beschuß wie verabredet ein. Wie ein Geschoß wurde die POINT OF emporgeschleudert. »Wie ist der Status der Außenhülle?« verlangte Dhark zu wissen. »Das Unitall hat erwartungsgemäß gehalten«, stellte Leon Bebir von seinem Schaltpult aus fest. »Alle Werte im akzeptablen Bereich.« Dhark blickte auf die Bildkugel. Der Blick auf die Planetenoberfläche wurde von immer kleineren Strukturen geprägt. Riesige Schrotthaufen und gigantische, vor sich hinrostende Wracks wurden innerhalb von Augenblicken zu kleinen Punkten auf einer rostroten Oberfläche.
Die Höhenanzeige stieg rasant. Innerhalb weniger Augenblicke schoß die POINT OF aus der At mosphäre von Planet XII heraus, deren höchste Schichten etwa drei ßig Kilometer hoch waren. Bei etwa siebzig Höhenkilometern setzte bereits ein durch die planetaren Gravitationskräfte verursachter Bremseffekt ein. Aber noch stieg die POINT OF weiter empor und entfernte sich damit von der Planetenoberfläche. Nicht mehr lange und der Sturzflug beginnt! durchzuckte es Dhark. »Wuchtkanonen ausfahren und den Standort der KI ins Visier nehmen!« befahl der Commander. Die Feuerleitoffiziere Rochard und Clifton bestätigten kurz den Erhalt dieses Befehls und setzten ihn umgehend in die Tat um. »Wuchtkanonenfeuer, sobald es der Einschußwinkel erlaubt«, be fahl Dhark. »Wir müssen jede Chance nutzen.« Die ersten Geschosse wurden abgefeuert. Auf Grund der noch sehr flachen Schußbahn gingen sie über ihr Ziel hinweg und schlugen im weiteren Umkreis um den Standort der KI ein. Die dadurch verursachten Eruptionen waren deutlich auf den Ortungsanzeigen zu erkennen. Hier und da trat flüssige Lava an die Oberfläche, weil die Planetenkruste offenbar durchschlagen worden war. »Höhe 150 Kilometer!« meldete Tino Grappa jetzt. »Das Hö henmaximum ist erreicht. Wir stürzen jetzt zurück auf den Pla neten.« »Feuer aus allen Rohren!« befahl Dhark an Rochard und Clifton. Aber auf Grund des Einschußwinkels und der Tatsache, daß sich die POINT OF weder drehen noch sonstwie manövrieren ließ, war immer nur ein Teil der acht Wuchtkanonen, über die die POINT OF verfügte, einsatzbereit. Der Checkmaster koordinierte deren Einsatz. Die durch die Nadelstrahlentreffer der ASGOR verursachte Explo sion hatte die POINT OF auf eine ähnliche, im mathematischen Sinne
des Wortes chaotische Weise emporgeschleudert, wie ein Mensch einen Stein in die Höhe warf. Die Eigenbewegung des Schiffs war erheblich. Die Andruckneutralisatoren und die Stabilisierungsagg regate der künstlichen Schwerkraft wurden auf eine äußerst harte Belastungsprobe gestellt. Das Schwierigste dabei aber war vorauszuberechnen, welche Seite der POINT OF in den nächsten Sekunden jeweils in Richtung der KI zeigte und welche Wuchtkanonen daher eingesetzt werden konnten. Trotz der Koordination des Checkmasters ging daher ein Großteil der verschossenen Ladungen schlicht und ergreifend ins Leere. Aber dann folgten einige sehr präzise Treffer, direkt im Zentrum jenes Gebiets, das als Standort der KI identifiziert worden war. »Uns erreicht ein Funkspruch«, rief Elis Yogan. »Es ist die KI. Sie hat ihre Störfelder teilweise deaktiviert.« »Lassen Sie hören, und schalten Sie die Phase frei, Yogan!« wies Ren Dhark den diensthabenden Funkoffizier an. Schon kam eine Stimme aus dem Translator. »Den Beschuß sofort einstellen! Sie zerstören mich!« »Das ist der Sinn dieser Übung«, entgegnete Dhark mit unge wohntem Zynismus. »Ich werde Ihr Schiff vernichten, wenn der Beschuß nicht sofort eingestellt wird!« fuhr die Stimme fort. »Einmal habe ich Gnade gezeigt, und wie wurde ich dafür gestraft! Haben Sie denn gar kein Mitleid?« »Sprich nicht in Fremdwörtern zu mir, du verrückte Konser vendose«, knurrte Dhark. »Aber ich… ich sterbe…! Hört auf zu schießen! Bitte!« »Nein.« Der Kommandant des Ringraumers wirkte wie ein grim miges Standbild der Entschlossenheit. »Schade, ich hätte gern mehr über den Ursprung dieser myste riösen KI erfahren«, meinte Riker. »In wenigen Sekunden sind wir zu tief gesunken, um weiterfeuern zu können!« meldete Grappa.
Die Feuerleitoffiziere holten im Zusammenspiel mit dem Check master noch einmal alles aus den Wuchtkanonen der POINT OF heraus. In dichter Folge schlugen jetzt die Geschosse in den Zielbe reich ein. Vulkane bildeten sich. Heißes Magma schoß in Fontänen an die Oberfläche. Ein Lavasee bildete sich dort, wo für so lange Zeit der heimliche Herrscher dieses Planeten residiert hatte – eine offen bar verrückt gewordene KI. Die POINT OF raste weiterhin der Planetenoberfläche entgegen. Ihre Geschwindigkeit nahm zu. »Der Eintrittswinkel ist äußerst ungünstig«, verkündete Grappa. »Aufprall in…« »Antrieb funktioniert wieder!« meldete Hen Falluta in diesem Moment und schnitt dem Ortungsoffizier damit das Wort ab. »Intervall wurde aktiviert. SLE ebenfalls. Wir bekommen wieder normale Flugparameter.« Die POINT OF bremste ihren Sturzflug und flog endlich in einer kontrollierten Bahn daher. Alle in der Zentrale atmeten tief durch. »Das verdanken wir dir, Arc!« wandte sich Chris Shanton an sei nen Freund Arc Doorn. Auf dem Gesicht des Sibiriers stand lediglich ein verhaltenes Lä cheln, während auch andere ihm zu seinem Einfall gratulierten. Elis Yogan meldete sich. »Funkspruch von der ASGOR«, eröffnete er. »Dalon möchte Sie sprechen.« »Dann lassen Sie hören«, sagte Dhark. Riker meinte: »Die Funkstörfelder scheinen ebenso vollkommen verschwunden zu sein wie die Blockade unserer Antriebssysteme.« Das Bild von Dalon erschien auf einem Nebenbildschirm. »Unser Befreiungsversuch war ein voller Erfolg, Ren Dhark«, fand er. »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Mannschaft.« »Danke«, erwiderte Dhark. »Ich nehme an, daß auch die Systeme Ihres Schiffes wieder einwandfrei arbeiten.«
»Ja, hier ist alles in Ordnung – von einem gewissen Tiefstand der Energiereservoirs mal abgesehen, aber das wird sich bald wieder geändert haben. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.« »Es war uns eine Ehre. Allein hätte wohl keiner von uns diese Schrotthölle zu überleben vermocht.« »Das ist wahr. Aber nun darf ich mich von Ihnen verabschieden. Ich habe zweihundert Jahre durch einen nutzlosen Zwangs aufenthalt verloren. Jetzt will ich meinen Weg fortsetzen. Leben Sie wohl, Ren Dhark!« »Einen Moment!« widersprach der Kommandant der POINT OF. Jetzt, da er Dalon – wenn auch vollkommen überraschend –gefunden hatte, wollte er ihn nicht so einfach davonziehen lassen. Jedenfalls nicht, ohne ihm noch einiges an Informationen zu entlo cken. »Warten Sie noch mit Ihrem Abflug, Dalon. Ich möchte gern an Bord Ihres Schiffes kommen, um mit Ihnen zu sprechen. Nach allem, was geschehen ist, werden Sie mir das nicht abschlagen können.« Es war selbst für einen Nichtkenner der ceradischen Mimik un schwer zu erkennen, daß Dalon zunächst alles andere als begeistert von Ren Dharks Ansinnen war. Aber er gab nach. »In Ordnung. Ich werde warten.« »Danke. Dhark Ende.« Die Verbindung wurde unterbrochen. »Welchen Kurs?« fragte Hen Falluta, der die Position des Piloten eingenommen hatte. »Drehen Sie eine Runde über das Gebiet, in das die Treffer einge schlagen sind, I.O.!« verlangte Dhark. »Anschließend landen Sie in unmittelbarer Nähe von Dalons Schiff.« »Jawohl, Sir.« * Die POINT OF flog mit SLE-Antrieb und eingeschaltetem Intervall
über die apokalyptische Landschaft, die sich im Zielgebiet durch die Einschläge der Wuchtgeschosse gebildet hatte. Seen aus erkalteter Lava waren entstanden, ab und zu kam es zu heftigen Eruptionen. Die dünne Kruste, die sich über Teilen des Glutsees gebildet hatte, platzte immer wieder auseinander. Auch an anderer Stelle riß die Oberfläche plötzlich auf, und Magmafontänen schossen Hunderte von Metern in die Luft. »Dieser Planet scheint geologisch gesehen Ähnlichkeiten mit einem Dampfkessel zu haben«, kommentierte Chris Shanton diesen Anb lick. »Auf jeden Fall geht von hier keine Gefahr mehr aus«, meinte Ri ker. »Von der KI dürften nicht allzu viele Spuren übriggeblieben sein.« »Keinerlei erwähnenswerte Impulse anmeßbar«, meinte Tino Grappa. »Weder Energiesignaturen noch Bioimpulse, die vielleicht von organischen Komponenten dieser KI stammen könnten.« »Hen, fliegen Sie zurück zum Landeplatz der ASGOR«, wies Dhark daraufhin seinen Ersten Offizier an. »Mit dem größten Vergnügen.« Die POINT OF flog einen letzten Bogen über das vollkommen zer störte Gebiet, stieg auf eine Höhe von etwas mehr als tausend Me tern und nahm Kurs auf den gegenwärtigen Landeplatz der ASGOR. »Gibt es noch Anzeichen für Aktivitäten der Roboter?« erkundigte sich Dhark bei Tino Grappa. Der Ortungsoffizier nickte. »Allerdings! Ihre Energiesignaturen sind überall auf der Planetenoberfläche nachweisbar. Offenbar wurden sie keinesfalls nur von der KI ferngesteuert, wenn sie zwei fellos auch unter ihrem Befehl standen.« »Schade«, erwiderte Dhark. »Ich hatte schon gehofft, daß dieser Spuk auch vorbei wäre.« »Es handelt sich offenbar um autarke Systeme, die auch auf sich gestellt noch eine Weile überlebensfähig sind«, warf Doorn ein. Shanton zupfte sich an seinem Bart und hob die Augenbrauen. Auf
seiner Stirn bildeten sich dabei ein paar tiefe Falten. »Nur überlebensfähig oder auch reproduktionsfähig?« hakte er nach. Riker grinste. »Wir werden kaum noch lange genug hier an diesem ungastlichen Ort bleiben, um das herausfinden zu können«, meinte er. »Ich persönlich schätze eher, daß die Roboter beginnen, Amok zu laufen, nachdem die KI zerstört wurde.« »Warten wir es ab«, meinte Shanton. Sanft setzte die POINT OF auf einem relativ ebenen Platz, etwa zweihundert Meter von der ASGOR entfernt, auf. Der alte Landeplatz kam wegen der gewaltigen Detonationen, die dort das Erdreich aufgerissen hatten, nicht mehr in Frage. In der Bildkugel bot sich das vertraute Bild. Ein paar Roboter wagten sich hervor. Der Hyperkalkulator der ASGOR fackelte nicht lange und verbrannte sie innerhalb weniger Sekunden zu Asche. Per Knopfdruck stellte Dhark eine Interkomverbindung zu den Flashhangars her. »Hier Dhark. Ich möchte, daß Flash 003 startklar ist.« Amy sah ihn erstaunt an. »Du willst mit einem Flash hinüberfliegen?« »Ja, schließlich habe ich keine Lust, mich von diesen Schrott monstern angreifen zu lassen.« Er erhob sich aus seinem Kom mandantensessel und wandte sich an Riker. »Ich nehme an, du kommst mit!« »Natürlich.« »Funk-Z?« »Ja, Sir?« meldete sich Elis Yogan. »Stellen Sie eine Verbindung zur ASGOR her und kündigen Sie unseren Besuch an. Ich nehme nicht an, daß Dalon etwas dagegen einzuwenden hat.« »In Ordnung.« Amy trat ihrem Lebensgefährten entgegen. Sie berührte ihn sanft
am Arm. »Einen Moment noch«, sagte sie auf eine sehr bestimmte Art und Weise, die Dhark nur sehr selten bei ihr bemerkt hatte. Es war ihrem Gesichtsausdruck deutlich anzusehen, daß sie mit Dharks Handlungsweise nicht einverstanden war. »Was ist noch?« fragte dieser. »Dan und ich sind bald zurück.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Findest du nicht, daß es langsam Zeit wird, uns mehr über diesen Dalon zu erzählen?« wandte sich Amy Stewart an den ehemaligen Commander der Planeten. Von den anderen kam lauthals Zustimmung. »Ja, wir platzen alle vor Neugier!« äußerte Leon Bebir. »Ich kann diese Emotion meinerseits nur bestätigen!« meldete sich Artus zu Wort. »Du wußtest offenbar, wer Dalon ist. Woher? Wer ist er? Und dieses Schiff, das er fliegt: Woher stammt es?« Dhark drehte sich herum und bemerkte, daß in diesem Moment alle Blicke im Leitstand der POINT OF auf ihn gerichtet waren. Normalerweise keine ungewohnte Situation für den Kommandanten eines Schiffes. Aber in diesem Moment war es ihm zutiefst unange nehm. »Dalon ist ein Worgun, das habe ich bereits gesagt«, erklärte Dhark etwas gereizt. »Er entschloß sich dereinst, die Gestalt eines Ceraden anzunehmen und nicht mehr abzulegen. Mehr gibt es im Augenblick dazu nicht zu sagen.« »O doch«, widersprach Amy. Dhark atmete tief durch. So einfach werden sie dich nicht da vonkommen lassen! wurde ihm klar. Er konnte die Neugier seiner Freunde und Mitstreiter durchaus verstehen. Er selbst hätte an ihrer Stelle sicherlich genauso empfunden. Aber es gab wichtige Gründe, die ihn so handeln ließen. »Ich könnte euch tatsächlich mehr über Dalon sagen – aber dann würde ich ein Versprechen brechen«, erklärte der Kommandant der
POINT OF schließlich. Doch mußten diese Männer und Frauen, die mit ihm durch dick und dünn gegangen und ihn nie im Stich gelas sen hatten, dies nicht als eine schwache Ausrede empfinden? »Ein Versprechen?« hakte Amy nach. »Wem gegenüber? Was hat das alles zu bedeuten?« Dhark blieb betont ruhig. Es war jetzt vollkommen still im Leitstand der POINT OF. Ihr Commander ließ den Blick über die erwartungsvollen Gesichter schweifen. »Ich habe Laetus und Nauta das Versprechen gegeben, ein Ge heimnis zu bewahren«, erklärte Dhark. »Und daran werde ich mich halten.« »Das kann nicht dein Ernst sein!« protestierte Amy. »Doch, das ist es«, entgegnete Dhark. Amy deutete auf Dan Riker. »Und der getreue Dan Riker ist natür lich in alles eingeweiht!« »Amy…« Ein Raunen ging durch die Brückenbesatzung. »Ein Geheimnis, das mit Dalon zu tun hat?« hakte Amy nach. »Ich darf es nur mit dem Einverständnis der beiden Akade miepräsidenten lüften«, erwiderte er. »Einstweilen muß genügen, was ich bereits gesagt habe. Es tut mir leid.«
7.
Kle Klenet stolperte Kurt Buck und Yo Ho regelrecht in die Arme. Sie fingen ihn auf und verhinderten seinen Sturz. Klenet, der gerade einen Tritt ins verlängerte Rückrat bekommen hatte, war noch etwas verwirrt. Wieso befand er sich plötzlich auf der anderen Seite des Lichts? Durch den roten Lichtschein, der alle drei umgab, war der Noid zu sehen, der ihnen versprochen hatte, sie hinunter auf den Planeten zu schicken. Er wirkte wie erstarrt. »Eine optische Täuschung«, erklärte Klenet. »Von drüben sah es ebenfalls so aus, als würden Sie völlig unbeweglich…« Weiter kam er nicht. Zu ihren Füßen tat sich plötzlich der Welt raum auf. Hatte der Noid sie reingelegt? Würde er sie jetzt aus dem Schiff katapultieren, mitten hinein ins freie All? Klenet war nur zu gut bewußt, daß er als erster sterben würde. Den Gardisten würden ihre Kampfanzüge noch einen gewissen »Gnadenaufschub« gewäh ren… Kurt und Yo schlossen die Helme. Auch sie rechneten mit dem Schlimmsten. Doch ihre Furcht war unbegründet. Noch bevor sie so richtig be griffen, was geschah, wurden sie von einer Energieblase eingehüllt. Die obere Hälfte der Blase leuchtete in grellem Licht auf – und dann schien ihnen die Welt Spug regelrecht entgegenzuspringen! Das letzte, was Buck auf dem Flaggschiff wahrnahm, war das überraschende Auftauchen von Seldar Buuhul. Dann befanden sie sich auch schon auf Spug. Die Reise hatte nur wenige Sekunden gedauert. Der Luftdruck im Inneren der Blase war stabil geblieben. Leutnant Buck vermutete, daß das Transportsystem eine Variation des greyschen Schiffsantriebs war. Die Greys hatten offenbar die Massenkontrolle perfektioniert und konnten die Massenwirkung ihrer Schiffe nach außen hin exakt auf Null regeln. Zur Fortbewe gung im All dienten ihnen die interstellaren Magnetfelder.
Grey-Schiffe hatten eine starke Panzerung und wurden dank der perfekten Massenkontrolle selbst bei einem Volltreffer einfach nur aus der Bahn geworfen wie ein welkes Blatt, weil sie einer Waffe einfach keinen Widerstand entgegensetzen. Das machte sie bei Kämpfen im Weltall nahezu unverwundbar. Die Energiekapsel hatte die drei Reisenden nach außen hin völlig masselos gemacht, wovon sie im Inneren nichts gespürt hatten. Ein kräftiger Lichtstrahl hatte ausgereicht, um sie mit Lichtgeschwin digkeit aus dem Schiff zu schleudern. Erschütterungs- und verzögerungsfrei landeten Buck, Ho und Klenet mitten in der Industriestadt, in der Gegenstation zu dem Transporter auf der RUGA. Hier wurde die Energieblase aufge nommen. Die Irisblende in der Decke, durch die sie hereingeschwebt war, schloß sich langsam. Die komplette Station war in blutrotes Licht getaucht. Doch kaum hatte sich die Blende vollständig geschlossen, wurde es stockdunkel. Sekunden später sprang die Deckenbeleuchtung an – kein Rotlicht, sondern ganz normales. Die drei Männer stellten fest, daß sich das Energiefeld um sie herum vollständig aufgelöst hatte. Sie befanden sich in einer kleinen Halle, ähnlich der Trans porterstation auf dem Schiff. Zeit, um sich gründlicher umzusehen, blieb ihnen nicht, denn ihre Ankunft war bestimmt nicht unbemerkt erfolgt. Leutnant Buck drängte daher zur Eile. Noch während sie auf das Ausgangstor zuliefen, öffnete es sich, und zwei Greys kamen herein. Yo Ho verpaßte ihnen eine Dosis Paralysatorstrahlung. Die Noid gingen zu Boden. Kle, Yo und Kurt sprangen über sie hinweg und gelangten nach draußen. Es war Nacht. Vor ihnen lag ein großer, beleuchteter Platz mit ei nem Denkmal – eine Noid-Statue auf einem Sockel. Beides, Sockel und Statue, war aus jener Metallegierung gefertigt, die schon auf der RUGA fast überall verwendet worden war. Der Platz war leer. Buck fiel ein mächtiges, schmales Gebäude mit zahllosen beleuchteten Fenstern auf. Wie ein Wohnhaus wirkte es
nicht, eher wie eine Art Büroturm. Aber bei den Greys wußte man nie, schließlich waren sie Meister im Täuschen und Verwirren. Klenet sah drei kampfbereite Roboter heranschweben und warnte die anderen. Ohne lange um Erlaubnis zu bitten, stellte er seinen Blaster auf volle Stärke. Auch Buck und Ho schalteten ihre Multika rabiner um. Die röhrenförmigen Roboter kamen nicht nahe genug an sie heran. Sie wurden bis zur Unkenntlichkeit geschmolzen und vergingen in sicherer Entfernung in drei farbenprächtigen Explosionen. Vom Haupteingang des großen Gebäudes her näherten sich Grey-Panzer. Drohend rumpelten sie heran. Die Gardisten stellten die Karabiner erneut um. Helmvisiere runter, Prallschirme ein. Die Miniraketen wirkten gegen den massiven Panzerangriff am effektivsten. Jeder doppelte Volltreffer hatte verheerende Auswir kungen. Aber auch ein einziger Einschlag reichte oftmals aus, um das angreifende Fahrzeug zum Stehen zu bringen. Mit Blasterstrahlen hingegen konnte man nicht viel gegen die Panzerfahrzeuge ausrichten. Klenet beschränkte sich daher darauf, auf Greys zu schießen, die den Raketeneinschlag überlebt hatten und versuchten, sich aus ihren brennenden Fahrzeugen zu retten. Buck befahl ihm, die Flüchtenden nur zu paralysieren, doch der Utare tat so, als würde er wegen des Kampflärms nichts hören. Als auch noch bewaffnete Fußtruppen der Grauen in den Kampf eingriffen, zog sich das Trio hinter das Denkmal zurück. Mehr schlecht als recht verteidigte es von dort aus seine Position. »Mir gehen allmählich die Raketen aus!« rief Yo Ho dem Leutnant zu. Buck nickte nur, konnte ihm aber nicht helfen, denn auch er hatte kaum noch Munition. Klenet lag auf dem Bauch und streckte einen Grey nach dem an deren nieder. Er war ein guter Schütze. Jeder Strahl schien ins anvi sierte Ziel zu treffen. Dadurch hielt er die Fußsoldaten auf Distanz. Der Leutnant verlangte erneut von ihm, die Paralyse einzu
schalten. »Nein!« Klenet weigerte sich strikt. »Ich habe ein Recht darauf, mein Leben zu verteidigen. Ihr habt eure Karabiner, Raketen, Schutzanzüge und Prallschirme. Ich aber komme mir vor wie nackt. Jeder Gegner, den ich nicht töte, bringt mich früher oder später um.« Buck überlegte, ob er mit Yo Ho über den Platz stürmen und einen Durchbruch riskieren sollte. Klenet müßten sie zurücklassen, er würde ohne Schutzschirm keine paar Schritte weit kommen. Aber wie lange würde er hier die Stellung halten? Die Greys begannen, den Denkmalplatz zu umzingeln. Allein hatte der Utare keine Chance gegen sie. Bei der Schwarzen Garde zählte Kurt Buck zu den härtesten und einfallsreichsten Offizieren – nicht umsonst war er die Karriereleiter nahezu raketenartig nach oben geschossen. Spontan entschloß er sich, einen der kleinen Panzer zu kapern. Für Kle Klenet. Technisch begabt wie der angebliche »Baustellenschutzpatron« war, würde er sich in einem Schützenpanzer der Noid bestimmt gut zurechtfinden. Und das Wichtigste: Er hatte reichlich Platz darin. * Zwei Einmannschützenpanzer näherten sich dem Denkmal aus verschiedenen Richtungen. Kurt Buck wählte den aus, der als erster heran war, und lief im Zickzack von vorn auf ihn zu. Der Fahrer schien ziemlich unerfahren zu sein, denn er schwenkte das Haupt rohr nervös hin und her, und als er endlich den Auslöser für den Energiestrahl betätigte, ging der Schuß weit daneben. Buck lief an dem Panzer vorbei und versuchte, im Laufen mit dem Multikarabi ner auf das Fahrzeug zu zielen. Seine Absicht war, mit einer Mini rakete die Einstiegsluke »wegzufegen«. Dann konnte er auf den Panzer aufspringen und den Noid nach draußen zerren. Der Fahrer des zweiten Panzers merkte jedoch, was er vorhatte, und feuerte einen Strahlenschuß auf ihn ab. Buck mußte sich hin
werfen. Einen Volltreffer aus dem Hauptrohr hielt selbst sein Prall schirm nicht aus. Panzer Nummer eins nutzte den günstigen Moment, drehte um und zog sich an den Rand des Platzes zurück. Nur kurz überlegte Kurt, ob er ihm nachsprinten sollte, da wurde er auch schon von weiteren Panzern unter Beschuß genommen und mußte wieder De ckung hinter dem Denkmal suchen. Yo Ho sorgte mit einer muniti onsverschwendenden Raketensalve dafür, daß der Fahrer von Pan zer zwo kein zweites Mal auf den Leutnant schießen konnte – und auch auf niemand anderen mehr. Hinter dem Denkmal gönnte sich Buck eine kurze Rast, um wieder zu Atem zu kommen. Trotz der Umzingelung war man hier ver hältnismäßig geschützt, da die Noid die Person auf dem Sockel of fenbar sehr verehrten; jedenfalls bemühten sie sich, das Denkmal nicht zu treffen. »Sie haben Ihr Leben riskiert, um meines zu retten, Leutnant Buck, das rechne ich Ihnen hoch an«, bedankte sich Klenet ganz gegen seine Art. »Tun Sie das bitte nie wieder, ich würde nur ungern in Ihrer Schuld stehen.« »Ich nehme an, Sie hätten das gleiche für einen von uns getan«, entgegnete Buck. »Mit dieser Annahme liegen Sie grundfalsch«, antwortete ihm der Utare mit erschreckender Ehrlichkeit. »Meine Existenz ist zu wichtig für das Volk der Utaren, als daß ich sie für andere leichtsinnig aufs Spiel setzen würde.« Yo Ho stieß einen verächtlichen Laut aus. »Überschätzen Sie Ihren Wert nicht ein bißchen? Ihr Beruf ist es, auf Baustellen Werkzeug diebstähle zu verhindern und auf die Einhaltung von Sicherheits vorschriften zu achten. Ich wette, es gibt Abertausende auf Esmala dan, die Sie mit Leichtigkeit ersetzen könnten.« Die Übersetzung der Unterhaltung erfolgte über den Miniatur translator, den Ho dem Utaren geliehen hatte. Er würde das Gerät gelegentlich wieder in seinen Kampfanzug einbauen – sobald es
etwas ruhiger war. Klenet durchschaute ihn. »Sie wollen mich provozieren, Schütze Ho, nicht wahr? Was erwarten Sie denn? Daß ich wütend werde und Ihnen die Wahrheit ins Gesicht schreie? Sie wissen doch längst, daß ich kein gewöhnlicher Sicherheitsmann bin. Ich gehöre dem utari schen Geheimdienst an, nicht als unbedeutender Agent, sondern als stellvertretender Geheimdienstchef. Außerdem bin ich Mitglied der Großen Weisheit. Als eines unserer Raumschiffe seinerzeit durch Zufall auf das Walim-System und Spug stieß, sandte man einen Er kundungstrupp aus. Die Entdeckung der Stadt war eine Sensation. Wir nahmen an, es würde sich um die Hinterlassenschaft einer hö hergestellten Rasse handeln, deren technische Errungenschaften wir uns zunutze machen wollten. Ich sehe nichts Unehrenhaftes darin, sich das Wissen einer untergegangenen Kultur anzueignen.« »Nicht nur ihr Wissen«, warf Buck ein. »Sie haben sich auch sonst alles unter den Nagel gerissen, was nicht am Boden festgelötet war.« »Weil die Sachen keiner mehr brauchte – dachten wir jedenfalls. Wer konnte denn ahnen, daß die Besitzer zurückkehren und gleich einen Krieg mit uns anfangen würden? Hätten sie friedlich mit uns verhandelt, hätten wir alles wieder an Ort und Stelle gebracht. Bis auf ein paar Kleinigkeiten vielleicht, die bei uns besser aufgehoben sind.« »Wenn Ihre Regierung so sehr davon überzeugt war, daß die Be wohner der Stadt nicht mehr unter den Lebenden weilten, weshalb sind Ihre Arbeiter samt und sonders Soldaten?« fragte Buck ihn. »Und wozu brauchte man die Anwesenheit des stellvertretenden Geheimdienstchefs?« »Einer muß ja schließlich für Ordnung sorgen«, rechtfertigte sich Klenet. »Der Lagerleiter Bo Borundo ist nicht der wahre Boß, er ist mir unterstellt. Im übrigen gibt es im Ausgrabungsteam auch ein paar echte Arbeiter.« Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Zugegeben, wir haben auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß die Erbauer
und Besitzer der Industriestadt nur vor den damaligen Strahlungs stürmen geflohen waren und eines Tages wieder nach Hause kom men würden. Doch je länger die Ausgrabungsarbeiten andauerten, um so erfolgreicher verdrängten wir diesen Gedanken.« Kle Klenet wußte jetzt, daß das ein Fehler war – aber naturgemäß fiel es den Utaren schwer, Fehler zuzugeben. »Ich war übrigens nicht von Anfang an mit dabei«, fuhr er fort. »Erst als man erste Hinweise auf eine Technologie der absoluten Massenkontrolle entdeckte, kam der Geheimdienst ins Spiel. Ich ließ mich mit einem Mitarbeiterstab auf Spug absetzen und übernahm die Führung. Bo Borundo paßte das überhaupt nicht, doch ›Seine Verschlagenheit‹ mußte sich fügen, ob er wollte oder nicht.« »Ihr Volk hat sich von der überraschenden Entdeckung einen ge waltigen Erkenntnisschub versprochen«, brachte Buck Klenets Ausführungen auf den Punkt. »Und einen enormen technischen Vorsprung gegenüber den anderen Milchstraßenvölkern. Aber dann kamen wir – und mit uns die Greys alias Noid.« Ein dunkler Schatten senkte sich vom Himmel herab. Auf dem Kopf der Statue landete ein großes Vogeltier, das einem Uhu ähnelte. Mit seinem einzigen Bein klammerte es sich dort fest, stieß einen Krächzlaut aus und verharrte dann still an seinem Platz. »Die Wellensittiche auf diesem Planeten sind scheinbar gut ge nährt«, ließ sich Yo Ho zu einem seiner berüchtigten Sprüche hin reißen. Das Scherzen verging ihm nicht einmal, als sich die Panzer von al len Seiten auf das Denkmal zubewegten. Offensichtlich wollten die Noid den Kampf jetzt beenden, so oder so. »Da kommt dein Futter angerollt«, sprach Ho den Uhu an, der ihn nicht im geringsten beachtete. »In Konserven zwar, aber die be kommst du mit deinem harten Schnabel schon auf.« »Durchbrecht die Reihen der Angreifer und laßt mich hier zurück!« verlangte Kle Klenet von den beiden Gardisten. »Die Noid werden mich schon nicht gleich töten. Erst einmal schleppen sie mich zu
einem Verhör, denke ich mir. Auf dem Weg dorthin könnt ihr mich ja wieder befreien.« Buck war drauf und dran, das Angebot anzunehmen. Aber dann sah er, daß die Panzer immer mehr wurden. Und auch die Fuß truppe, die sich im Schutz der Panzer näherte, hatte Verstärkung bekommen… Die Chance, einen Durchbruch zu schaffen, sank somit unter Null. Stellte sich nur noch die Frage: Tod oder Kapitulation? * Oberstleutnant Kenneth MacCormack konnte mit seinen Leuten zufrieden sein. Obwohl sie seine Verhaltensweise nicht billigten, weil sie sie nicht verstanden, befolgten sie strikt all seine Befehle. Das Anschleichen ans große Gebäude hatte perfekt geklappt. Die Wa chen an den Seiteneingängen waren regelrecht überrannt worden. Drinnen kam es zu ein paar kleineren Gefechten, die die Gardisten ohne große Anstrengung für sich entschieden. Wie MacCormack es sich bereits gedacht hatte, hielten sich weitaus weniger Greys im Gebäudeinneren auf, als es die erleuchteten Fenster vermuten ließen. Die geteilte Truppe fand sich in einer großen Eingangshalle wieder zusammen. Von dort aus führten mehrere Antigravschächte und eine breite Treppe zu den Tiefgeschossen. Irgendwo dort unten lag das Ziel der Gardisten… Allerdings gab es vorher noch etwas zu erledigen. MacCormack erteilte Daniel Charoux und Max Gregor den Befehl, die Antigrav schächte zu sprengen. Mit dem Rest der Truppe stürmte er durch den Haupteingang nach draußen. Die vor dem Haupttor verbliebenen Roboter wurden kurzerhand mit Blastern aus dem Weg geräumt. Danach kamen die Gardisten ihren umzingelten Kameraden zu Hilfe. Mit Brachialgewalt räumten sie auf dem Denkmalplatz auf und zerstörten die kleinen Panzer gleich reihenweise.
MacCormack vernahm mehrere Explosionsgeräusche aus dem Gebäude. Offenbar hatten Charoux und Gregor ihren Auftrag erle digt. Falls sich in den oberen Stockwerken oder unter dem Gebäude noch Grey-Soldaten aufhielten, sollten sie gefälligst zu Fuß laufen. Derweil brachen Korporal Jaschin und Hauptfeldwebel Kaunas zum Denkmal durch, ausgestattet mit genügend Ersatzmunition. Damit waren auch Leutnant Buck und Schütze Ho wieder hand lungsfähig. Mit ihren nunmehr voll bestückten Multikarabinern griffen sie in den Kampf ein. Kle Klenet ließ sich zwei frisch aufgeladene Blaster geben. Beid händig schießend räumte er unter den Fußtruppen auf. Seine Reak tionsschnelligkeit war unglaublich. Obwohl er von mehreren Seiten attackiert wurde, wich er den Strahlenbahnen immer wieder ge schickt aus und schoß sofort zurück. Nicht ein einziger seiner Gegner schaffte es, ein zweites Mal auf ihn anzulegen. Bis auf einen. Klenet sah den Noid nicht, obwohl der nur wenige Meter von ihm entfernt stand und auf seinen Hinterkopf zielte… Der Utare fuhr erst herum, als er hinter sich Flügelschläge ver nahm. Zu seiner Verwunderung war niemand zu sehen. Am Boden lag lediglich eine Handfeuerwaffe. Gleich daneben hatte sich ein Blutfleck ausgebreitet. Hätte Klenet seinen Blick zum Nachthimmel erhoben, hätte er im Schein des Mondlichts das einbeinige Vogeltier gesehen, das eben noch auf dem Denkmal gesessen hatte. Es flog hoch oben auf und davon. Mit der Kralle hielt es etwas Totes, Graues fest. Die Greys suchten ihr Heil in der Flucht. Ihre Toten ließen sie lie gen, wo sie waren, die Paralysierten nahmen sie mit – darunter alle Gegner von Kle Klenet. Er hatte letztlich doch noch Vernunft ange nommen und seine beiden neuen Blaster auf Betäubung geschaltet. Als kurz darauf am Nachthimmel ein Grey-Raumer auftauchte, stellten sich die Gardisten auf den nächsten Kampf ein. Doch das Schiff war kampfunfähig. Es brannte an einer Stelle und zog eine Rauchspur hinter sich her, die sich fett und schwarz ins tiefe Dun
kelblau des Firmaments malte. Am Stadtrand setzte das Schiff zur Notlandung an und verschwand aus dem Blickfeld der Gardisten. »Das war die RUGA«, berichtete Kurt Buck dem Oberstleutnant. »Nach der Explosion des Absetzers kann sie wohl nicht im Weltraum repariert werden.« »Hört sich an, als hätten Sie drei eine Menge erlebt«, erwiderte MacCormack. »Erstatten Sie mir Bericht, Leutnant. Ausführlich – aber in wenigen Worten.« * Nachdem sich Oberstleutnant MacCormack Bucks Bericht ange hört hatte, mußte er sich mit dem Gedanken anfreunden, daß auch die übrigen Absetzer auf Spug verbleiben würden. Um sie den Greys/Noid nicht in die Hände fallen zu lassen, mußten sie ge sprengt werden. MacCormacks Hoffnung, das Walim-System mit den Absetzern unbemerkt verlassen zu können, sobald etwas Gras über die ganze Angelegenheit gewachsen war und die Greys ihre Suche nach Überlebenden aufgegeben hatten, war jetzt dahin. Die Grauen würden ihre Überwachung im All verstärken und ihren Planeten gründlich nach Überlebenden absuchen. Die Entdeckung des Lagers in den Bergen war nur noch eine Frage der Zeit. »Verstärkung anzufordern ist unsere einzige Überlebenschance«, sagte MacCormack zu seiner Truppe. »Wir müssen daher unter allen Umständen das Gerät vernichten, das den Funkverkehr stört. Die größte Schwierigkeit sehe ich darin, es ausfindig zu machen. Zwar wissen wir ungefähr, wo wir suchen müssen, aber schon beim Ein dringen in das Gebäude hatten wir erhebliche Probleme, auch nur in die Eingangshalle zu gelangen. Dieses Haus scheint das reinste La byrinth zu sein…« »Zufälligerweise bin ich Spezialist für Labyrinthe«, unterbrach Kle Klenet ihn respektlos. »Auf dem Flaggschiff der Noid habe ich ein Gespür für deren Bauweise entwickelt.«
»Für mich gilt das gleiche«, meldete sich auch Kurt Buck zu Wort. »Ich kenne mich mittlerweile sogar in deren Klimaschächten aus.« »Ich schließe mich meinen Vorrednern ohne Vorbehalte an«, sagte Yo Ho. »Wir sind nämlich ein Team, und zwar ein sehr gutes, wenn ich das mal in aller Unbescheidenheit bemerken darf.« »Na, dann wissen wir ja, wer uns dort unten anführt«, erwiderte der Oberstleutnant. »Nehmt ihr mich mit, oder soll ich gleich ab danken?« Allgemeines Gelächter ertönte. Wenn man wie die Schwarze Garde ständig im Einsatz war, nutzte man jede sich bietende Gelegenheit, um sich ein bißchen zu amüsieren – selbst ein winziger Augenblick befreienden Lachens war mitunter mehr wert als ein Sack voller Gold. Der Platz rund ums Denkmal war leer, die Noid hatten vorerst das Weite gesucht, alles wirkte ruhig und friedlich… und jeder Gardist wußte, daß es nicht lange so bleiben würde. An dem großen, auffälligen Gebäude kroch inzwischen wieder der rote Lichtschimmer empor, ausgehend von dem Anbau, der Trans portstation, die wie gehabt in sattem Rot erstrahlte. Beim Eintreffen einer neuen Energiekapsel würde das Licht für gewisse Zeit verlös chen, so daß jeder in der Stadt gleich wußte: Besuch ist angekom men. Vor allem deshalb war so schnell Verstärkung für die kämp fende Noid-Truppe zur Stelle gewesen. Die in der Stadt verteilten Panzerfahrer und das Fußvolk hatten den Neuankömmling »wür dig« empfangen wollen. Die außerhalb der Stadt befindlichen Raumschiffe hatten sich bis lang aus den Auseinandersetzungen herausgehalten. Damit war es jetzt allerdings vorbei. Am Stadtrand erhob sich majestätisch eines der Siebenhundertmeterschiffe und schwebte in niedriger Höhe aufs Zentrum zu. Mit einem Schlag war es mit der guten Laune der Gardisten vorbei. Den Bordkanonen dieses Monstrums, das am nächtlichen Himmel besonders bedrohlich wirkte, hatten selbst die Elitesoldaten nichts
entgegenzusetzen. Nicht einmal die Flucht nach drinnen würde sie retten. Das Großkampfschiff war in der Lage, den gesamten Stadt kern in Schutt und Asche zu legen. Aber wollten das die Noid wirklich? Sie hatten die Eindringlinge aus ihrer Stadt vertrieben, die Technik hochgefahren, eine erste Be standsaufnahme durchgeführt, Patrouillenfahrten und -gänge ab solviert… all der Aufwand wäre bei einer großflächigen Zerstö rungsaktion völlig umsonst gewesen. * Norll Cral Penskir hatte nicht vor, die Stadt oder auch nur einen Teil der Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Doch er konnte auch nicht zulassen, daß die verhaßten Fremden das Territorium seines Volkes noch länger mit ihrer Anwesenheit beschmutzten, schon gar nicht, nachdem ihm der oberste Norll von ihrem sinnlosen Wüten auf der RUGA berichtet hatte. In seinen Augen waren sie alle Diebe und Mörder, verabscheuungswürdiges Gesindel, das es nicht ver dient hatte zu leben. Der mächtige Raumer senkte sich tiefer herab – und dann regnete es Massen von Noid in schweren Kampfanzügen und haufenweise Panzer vom Himmel. Per Antigrav schwebten sie auf den großen Platz herab, auf dem das Denkmal des ehrenwerten Stadtgründers stand. * Die Gardisten hielten sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf dem Platz auf – sie befanden sich bereits im Gebäudeinneren auf der breiten Treppe, auf dem Weg nach unten. MacCormack hatte das Haus als letzter betreten. Kurz davor hatte er am Nachthimmel, tief über dem Horizont, etwas aufblitzen sehen. Nur eine Sternschnuppe? Oder war draußen im Weltall ein Raum
schiff explodiert?
8.
Dhark und Riker fanden sich in einem Flashdepot an Bord der POINT OF ein. Flash 003 stand startklar bereit. Die beiden Männer stiegen in das zylinderförmige, in seiner Bet tung ruhende Beiboot der POINT OF. Dhark startete die Maschine über die Gedankensteuerung und aktivierte das Intervallfeld, das es dem Flash erlaubte, durch feste Materie hindurchzufliegen. Der Flash hob vom Boden ab, durchdrang die Unitallpanzerung der POINT OF und befand sich im nächsten Moment im Freien. Nur Sekunden später drang die 003 durch die Außenhülle der ASGOR. Dhark flog direkt in die Hangars des Ringraumers. Er stieg aus dem engen Flash. Riker folgte ihm einen Moment spä ter. Sie sahen sich um. Niemand erwartete sie. Offenbar hatte Dalon vollstes Vertrauen in sie. Sie machten sich auf den Weg in die Zentrale und erblickten den Worgun-Mutanten, der an einem seiner Schaltpulte stand. »Da sind Sie ja!« stieß dieser hervor. »Ich habe Sie beide bereits erwartet, Dhark.« Dalon trat etwas näher. Er hatte wie selbstverständlich die Sprache der Worgun benutzt und dabei bemerkt, daß Dhark keinen Translator bei sich trug. Als er das Translatorsystem der ASGOR aktivieren wollte, hob Dhark ab wehrend die Hand und antwortete Dalon in dessen eigener Sprache. »Danke, aber wir brauchen keine Übersetzungshilfe«, erklärte er. »Sowohl Riker als auch ich sind mit der Sprache und Kultur der Worgun bestens vertraut.« »Sie und Ihre Mannschaft geben mir so manchen Anlaß zum Staunen«, bekannte Dalon. »Ich weiß, daß Sie jener Worgun-Mutant sind, der Margun und Sola einst auf Ihre Andersartigkeit hingewiesen hat.«
Ein Ruck durchfuhr Dalon. »Sie kennen Margun und Sola?« »Ja. Wir sind ihnen begegnet.« »Das ist unmöglich!« »Es war in der Galaxis Orn…« warf Riker ein. Dalons Gesichtsausdruck veränderte sich. Dhark und Riker wechselten einen kurzen Blick. »Ich war zuletzt vor 500 Jahren in Orn«, gestand Dalon. »Seitdem habe ich mich nicht mehr dorthin zurückgetraut. Die Zyzzkt haben Jagd auf mich gemacht und die letzten unseres Volkes auf Epoy zu sammengepfercht. Die Lage war einfach hoffnungslos.« Ein mildes Lächeln spielte um Dharks Mund. »Unsere Informationen aus Orn sind etwa drei Jahre alt. Danach brach der Kontakt leider ab«, berichtete Dhark. »Also um einiges aktueller als mein Wissen über die dortige Lage!« »Das ist allerdings wahr!« »Berichten Sie mir alles, Dhark. Sie können sich vorstellen, daß ich nach dieser Zeit der Isolation auf einem Planeten, der von aggressi ven Robotern und einer dem Wahnsinn verfallenen KI beherrscht wurde, einen großen Nachholbedarf an Neuigkeiten habe…« »Als unsere Expedition Orn verließ, war dort die Herrschaft der Zyzzkt ins Wanken geraten. Epoy wurde befreit. Es gab eine Rebel lion unter den Zyzzkt, und jetzt dürfte dort ein furchtbarer Kampf toben, über dessen Ausgang uns leider nichts bekannt ist.« »Ein Grund mehr für mich, so schnell wie möglich dorthin zu rückzukehren«, fand Dalon. »Wir fanden im übrigen heraus, daß die Zyzzkt von mutierten Worgun beherrscht wurden, die ihre Gestalt angenommen hatten.« »Ach, wirklich?« Dalon schien etwas amüsiert darüber zu sein. Er hob das Kinn. »Das wundert mich ehrlich gesagt nicht sonderlich. Sie erwähnten, daß der Kontakt abbrach.« Dhark nickte. »Das ist richtig. Jedweder Versuch, zurück nach Orn zu gelangen,
ist bislang aus unerfindlichen Gründen gescheitert. Alle Transi tionsversuche in diese Richtung schlugen ebenso fehl wie Annähe rungsversuche mittels Sternensog. Also entsprechen auch meine Angaben nicht mehr dem neuesten Stand.« »Ich kann mir keinen Grund vorstellen, weshalb mein Schiff davon betroffen sein sollte«, erklärte Dalon. »Bis auf einen! Ich bin ziemlich knapp mit meinem Tofiritvorräten, wie Sie sich denken können.« »Wir könnten Ihnen eventuell aushelfen«, sagte Dhark. »Wenn ich einen Kubikmeter bekommen könnte, wäre ich sehr glücklich«, erklärte Dalon. »Das entspräche genau einer vorgesehe nen Tankfüllung für die ASGOR.« »Ich werde veranlassen, daß Ihnen ein Kubikmeter Tofirit aus den Vorräten der POINT OF für Ihr Schiff zur Verfügung gestellt wird.« »Eine komplette Tankfüllung? Ich danke Ihnen.« Dhark hob die Augenbrauen. »Allerdings möchte ich Sie im Gegenzug auch um einen Gefallen bitten.« »Nur zu!« »Vor genau 198 Jahren muß auf diesem Planeten ein Raumschiff der Tel abgestürzt sein. Anhand der Aufzeichnungen Ihres Hyper kalkulators müßte das festgestellt werden können.« »Kein Problem.« »Ich möchte die Koordinaten der Absturzstelle.« »Es ist zu befürchten, daß nicht allzu viel von diesem Schiff üb riggeblieben ist«, erklärte Dalon skeptisch und wandte sich dabei bereits einem seiner Schaltpulte zu. Auf einem kleinen Bildschirm ließ er sich die Absturzdaten der vergangenen Jahrhunderte anzei gen. Die Ortung der ASGOR hatte sie allesamt aufgezeichnet. Jede Zeile dieser in Worgun-Schrift über den Schirm flimmernden Liste war eine Tragödie. »In dem Jahr, das sie angesprochen haben, gab es insgesamt 24 Abstürze von Raumschiffen unterschiedlichster Bauart… Ihr Schiff müßte dabei sein.«
»Überspielen Sie mir sämtliche Daten zur POINT OF.« Dalon betätigte einen Schalter. »Datentransfer ist eingeleitet.« Er drehte sich zu Dhark herum und fuhr fort: »Die Kabelverbindung zwischen der ASGOR und der POINT OF war gewiß eine sehr gute Idee – aber ehrlich gesagt bin ich froh, daß wir darauf nicht länger angewiesen sind.« Glenn Morris meldete sich von der Funk-Z der POINT OF aus über Dharks Armbandvipho. Offenbar hatte Morris inzwischen Elis Yo gan als diensthabenden Funkoffizier abgelöst. »Sir, wir erhalten eine Datenübertragung.« »Das geht in Ordnung, Morris«, bestätigte Dhark. »Veranlassen Sie außerdem, daß ein Kubikmeter Tofirit zur ASGOR transferiert wird.« »Wird gemacht.« »Benutzen Sie dafür zweckmäßigerweise den Transmitter.« Morris war sichtlich verwundert, enthielt sich aber jeden Kom mentars. Die Verbindung wurde unterbrochen. In diesem Moment wurde ein Alarmsignal ausgelöst. Es schrillte durch die Zentrale der ASGOR. Riker und Dhark zuckten unwill kürlich zusammen, aber Dalon blieb vollkommen ruhig. Er nahm ein paar Schaltungen vor. »Es sind ein paar Roboter in der Nähe – aber der Hyperkalkulator ist darauf perfekt programmiert und wird diese mechanischen Bies ter wieder vertreiben.« »Offenbar besitzen die Dinger genug Autonomie, um ihre Aktivi täten fortsetzen zu können«, stellte Riker fest. Dalon hob leicht die Schultern und wiegte den Kopf hin und her. »Wenn ich den Daten glauben darf, ist das, was die Roboter im Moment tun, mit den koordinierten Angriffen der Vergangenheit nicht mehr zu vergleichen. Ihnen scheint die zentrale Steuerung zu fehlen. Eigentlich schade, daß wir nun wohl kaum noch erfahren werden, was diese KI in ihren wahnhaften Zustand trieb.« Auf der Bildkugel war wenig später zu sehen, wie ein paar ang
reifende Roboter durch Nadelstrahlbeschuß davongejagt wurden, nachdem einige von ihnen verdampft worden waren. Dalon seufzte. »Ich glaube kaum, daß ich das vermissen werde«, bekannte er. * Dhark und Riker kehrten zur POINT OF zurück. »Man wird uns mit Fragen löchern, Ren«, vermutete Riker, nach dem sie beide den Flash verlassen hatten und zum Innenschott des Depots gingen. »Mag sein. Ich werde trotzdem nicht mehr sagen als bisher.« Dhark stoppte und sah Riker mit ernstem Gesichtsausdruck an. »Dan, wir werden irgendwann nach Orn zurückkehren, das steht so fest wie das Amen in der Kirche. Im Moment mag eine Reise dorthin un möglich sein, aber glaubst du, ich würde diese Grenze auf Dauer akzeptieren?« Riker grinste. »Natürlich nicht. Dazu kenne ich dich nun wirklich gut genug.« »Na siehst du! Außerdem – wenn es uns nicht gelingt, den Kontakt mit Orn wiederherzustellen, dann bin ich davon überzeugt, daß eines Tages jemand von dort aus versucht, die Milchstraße zu errei chen…« »Wer auch immer das sein mag«, ergänzte Riker. »Schließlich weiß keiner von uns, was sich in der Zwischenzeit in Orn ereignet hat.« Dhark nickte düster. »Ja – und es mag sein, daß wir eines Tages Laetus und Nauta beziehungsweise Margun und Sola erneut gege nüberstehen und es sehr wichtig ist, daß wir ihr Vertrauen behalten haben. Wenn ihnen kein Unglück zustößt, werden uns die beiden schließlich um rund neuntausend Jahre überleben…« *
Wenig später trafen Dhark und Riker im Leitstand der POINT OF ein. Leon Bebir bestätigte, daß der Kubikmeter Tofirit an die ASGOR geliefert worden war. Glenn Morris meldete sich von der Funk-Z aus. »Wir erhalten eine Abschiedsbotschaft in Worgun-Sprache.« »Schalten Sie frei!« befahl Dhark. Dalons Gesicht erschien im nächsten Moment auf der Bildkugel. »Leben Sie wohl, Dhark. Wer weiß, vielleicht begegnen wir uns irgendwann wieder, und ich kann mich für die Hilfe, die Sie mir gewährt haben, revanchieren.« Die Verbindung wurde unterbrochen. »Die ASGOR startet«, meldete Tino Grappa. Auf der Bildkugel konnte die Besatzung der Zentrale mitverfolgen, wie Dalons Schiff von der Planetenoberfläche abhob. Im Hinter grund schimmerte die rote Riesensonne, die um diese Tageszeit fast ein Drittel des gesamten Firmaments einnahm. »Wer ist dieser Dalon?« fragte Chris Shanton an Dhark gerichtet. »Ich glaube, spätestens jetzt sollten wir darüber aufgeklärt werden und etwas mehr erfahren.« Dhark hob die Augenbrauen. »Er ist ein Worgun auf dem Weg in seine Heimat«, murmelte er in Gedanken. »Wirklich ein Worgun, Ren?« meldete sich nun Amy zu Wort. Dhark drehte sich zu ihr herum. »Was willst du damit sagen?« »Ich habe mir die Daten meines mobilen Ortungsmoduls noch einmal angesehen. Es war die ganze Zeit über, während ich mit Hornigs Fähnrichen an Bord der ASGOR weilte, eingeschaltet.« »Worauf willst du hinaus, Amy?« »Dalon wiegt 75 Kilogramm. Das ist für einen Worgun zu wenig!« Arc Doorn mischte sich jetzt beschwichtigend ein und kam Dharks Antwort zuvor. »Die Körpermasse eines Worgun beträgt durch schnittlich etwa hundert Kilogramm, das stimmt schon. Aber warum
soll es nicht auch mehr oder minder starke Abweichungen von die ser Norm geben? Die entsprechenden Bandbreiten sind bei den Menschen noch viel größer! Sehen Sie sich doch nur Chris und mich an! Außerdem finde ich, daß dieses Thema jetzt überbewertet wird…« »Überbewertet?« echote Amy fassungslos. Doorn zuckte die Achseln. »Ich denke, daß es Wichtigeres gibt, als sich darum zu kümmern, welche Ursachen eine geringfügige Ab weichung von der Worgun-Gewichtsnorm bei Dalon haben könnte. Uns wurden vom Hyperkalkulator der ASGOR äußerst interessante Daten überspielt. Inzwischen habe ich herausgefunden, welches der in dem in Frage kommenden Jahr abgestürzten Raumschiffe unser Interesse finden sollte. Es ist nur eines dabei, das offenbar von Tel geflogen wurde.« »Das muß das Schiff von Kor Tranc sein!« entfuhr es Riker. Dhark nickte. Kor Tranc war hier – das war die schlichte Botschaft gewesen, die der Tel in der Datenbank des Rechners unter dem Goldenen von Baby lon zurückgelassen hatte, nachdem er im Jahr 1860 dorthin vorged rungen war und die Datei mit dem gesammelten Wissen über Arlons Suche nach den mysteriösen »Goldenen Göttern« der Worgun ge löscht hatte. Und jetzt stand die Besatzung der POINT OF dicht davor, vielleicht mehr über Kor Trancs weiteres Schicksal und die Gründe zu erfah ren, die ihn zu seiner Handlungsweise bewogen hatten. Vielleicht gab es sogar irgendeinen kleinen Hinweis auf das Ziel ihrer eigentlichen Suche. Ein Fingerzeig auf die goldenen Balduren, jene geheimnisvolle Spezies, denen die Worgun offenbar einen Großteil ihrer überlege nen Technologie und Kultur verdankten. »Wir werden von ein paar Robotern mit Blasterfeuer angegriffen«, rief Tino Grappa. »Allerdings bedeutet das kaum eine Gefahr.« »Sollen wir Gegenmaßnahmen ergreifen?« erkundigte sich Leon
Bebir. »Schalten Sie das Intervall ein. Das genügt, um ihren Angriff ins Leere laufen zu lassen.« Der Kommandant der POINT OF wandte sich an Hen Falluta. »Starten Sie, I.O. Die Zielkoordinaten liefert Ihnen der Checkmaster.« »Die Zielposition befindet sich etwa dreitausend Kilometer von hier entfernt«, erklärte Arc Doorn. »Ich bin gespannt, was wir dort vorfinden werden.« * Hen Falluta steuerte die POINT OF in einem niedrigen Atmo sphärenflug über die Oberfläche des Planeten. Der Zielpunkt lag zur Zeit in der Nachtzone des Planeten. Der Ringraumer flog der Däm merung entgegen. Tino Grappa nutzte die Gelegenheit, um die Oberfläche auf dem Weg dorthin sorgfältig mit seinen Ortungsgeräten abzutasten. »Es gibt nirgends noch Biosignale auf dem Planeten«, erläuterte der Ortungsoffizier. »Das bedeutet, es gibt in keinem der Wracks dort unten noch ir gendwelche Überlebenden«, stellte Shanton fest. »Was ist mit Energiesignaturen?« hakte Arc Doorn nach. »Nur sehr schwache Anzeigen. Die stammen wohl von den Robo tern, die im Augenblick eine geradezu hektische Aktivität zeigen.« »Ich hoffe, daß sich diese Alptraummaschinen nicht gerade unser Zielgebiet für ihren Amoklauf ausgesucht haben«, meinte Riker. »Tut mir leid, Sir, sie sind überall. Es gibt kaum eine Region auf dem Planeten, wo sie nicht zu finden sind.« Auf der Bildkugel war das Bild der apokalyptisch wirkenden, von gewaltigen Schrottbergen gekennzeichneten Landschaft zu sehen. Ein schmutziger, graubrauner Schleier legte sich inzwischen über die glutrote, im Westen hinter dem Horizont versinkende Scheibe des Zentralgestirns dieses bislang namenlos gebliebenen Systems.
Das waren gigantische Staub- und Aschewolken. Die von den Treffern der Wuchtkanonen geschaffenen Vulkane hatten Millionen Tonnen an Materie in die Atmosphäre geschleudert. Es würde Jahre dauern, bis alles davon wieder bis zur Oberfläche abgesunken war. Schließlich flog die POINT OF in das Dunkel der Nachtzone hi nein. Planet XII besaß keinen Mond. Am Himmel glitzerten zwar die Sterne, ansonsten war es aber im Freien sehr viel dunkler, als man dies von der Erde her gewohnt war. Hier und da sah man auf der Oberfläche sich bewegende Lichter aufblinken. Das müssen die Roboter sein! überlegte Dhark. Mit einem Knopfdruck ließ er sich die Ortungsanzeigen auf sein Schaltpult legen und fand diesen Verdacht bestätigt. Die angemessenen Ener giesignaturen waren geradezu typisch für die bizarren Maschinen wesen, die zwischen den Schrottbergen und Wracks ihr Unwesen trieben. »Von den Wracks dort unten ist kein einziges noch funktions fähig«, meinte Tino Grappa. Der Ortungsoffizier nahm ein paar Schaltungen an seinen Ortungsgeräten vor und schüttelte schließlich energisch den Kopf. »Diese Roboterbestien haben wirklich ganze Arbeit geleistet!« »Wäre es uns nicht gelungen, die KI zu vernichten, würden wir jetzt dasselbe Schicksal haben wie die Besatzungen all dieser Wracks, von denen wohl nur noch Gebeine übriggeblieben sind«, sagte Riker. »So sehr ich die Erleichterung aller Anwesenden über den Tod der KI teile, so hätte ich doch gerne gewußt, was sie in einen Zustand hineintrieb, der dem Wahnsinn organischer Intelligenzen sehr na hezukommen scheint«, meldete sich Artus zu Wort. Er benutzte das Wort ›Tod‹ für die Zerstörung der KI! vergegenwärtigte sich Dhark. Das ist mehr als nur ein kleiner, aber feiner Unterschied in der Wortwahl. Offenbar beschäftige den Roboter der Umstand sehr stark, daß eine Künstliche Intelligenz derart die innere Balance verlieren konnte, wie es in diesem Fall wohl geschehen war.
Kurze Zeit später erreichte die POINT OF die Absturzkoordinaten von Kor Trancs Raumschiff. »Die Sensoren zeigen das Wrack eines 200-Meter-Doppelkugelraumers an«, meldete Tino Grappa. »Das muß es sein!« murmelte Ren Dhark. Die Anzeige der Bildkugel wurde umgeschaltet. Sie zeigte jetzt Wärmebilder der Umgebung, die Abweichungen in den Tempera turwerten von mehr als einem zehntausendstel Grad darstellten und damit gestochen scharf alles das sichtbar machten, was normaler weise im Schatten der Dunkelheit verborgen war. Die Doppelkugel war deutlich erkennbar. Genauso deutlich waren aber auch Löcher in der Außenhülle des Raumers wahrzunehmen, die einen Durch messer zwischen einem und zehn Metern aufwiesen. Sie waren in keinem Fall das Ergebnis natürlicher Zersetzungs und Korrosionsprozesse. Gerade Schnittkanten waren zu sehen. Es stand zu vermuten, daß die Horden von Robotern dafür verant wortlich waren, die auf der Oberfläche von Planet XII wüteten. In unmittelbarer Nachbarschaft der Doppelkugel befanden sich mehrere Haufen Schrott und einige Wracks kleinerer Raumschiffe. »Die Schrotthaufen sind nach verschiedenen Materialien ge ordnet«, stellte Leon Bebir anhand seiner Anzeigen fest. Er schüttelte amüsiert den Kopf. Ein geradezu absurder Ordnungssinn der KI und der von ihr über ganze Zeitalter hinweg gesteuerten Roboter kam darin zum Ausdruck. »Ich frage mich, ob die so sorgfältig getrennten Materialien jemals benutzt wurden«, murmelte Riker. »Die Antwort darauf ist wohl mit dem verwirrten Geist dieser KI untergegangen«, erwiderte Dhark nachdenklich. Hen Falluta landete die POINT OF sanft auf einem relativ ebenen freien Feld, das sich etwa dreihundert Meter von der Doppelkugel entfernt befand. Diese Fläche war von Asche bedeckt. Darunter be fand sich laut Anzeigen der Ortung eine stabile Schicht aus Sedi mentgestein.
»Sieht fast aus wie eine primitive, aber etwas überdimensionierte Feuerstelle«, meinte Amy. »Wahrscheinlich war sie das auch«, vermutete Arc Doorn. »Ich nehme an, daß die Roboter diesen Platz dazu genutzt haben, Mate rialien, die sie aus den abgestürzten Wracks der Umgebung gewon nen hatten, einzuschmelzen. Oder vielleicht auch eine weitergehen de Materialtrennung nach einzelnen Komponenten durchzuführen.« »Das Intervallum soll zunächst aktiviert bleiben«, ordnete Ren Dhark an, der sich jetzt voll auf die Aufgaben eines Kommandanten der POINT OF konzentrierte. »Ich habe die Daten der Abtaster noch einmal aktualisiert«, erklärte Tino Grappa. »Und?« hakte Ren Dhark nach, dem die Ungeduld deutlich anzu merken war. Am liebsten wäre er wohl sofort mit einem Team durch die Au ßenschleuse gegangen, um sich im Wrack gründlich umzusehen. Aber zunächst mußten noch ein paar offene Fragen geklärt wer den. »Ich konnte keinerlei Energiesignaturen orten«, erklärte Grappa. »Und was die Wärmeunterschiede angeht, so beruhen die aus schließlich darauf, daß wir es mit unterschiedlich schnell ab kühlenden Materialien zu tun haben.« »Mit anderen Worten: Es gibt derzeit auch keine Roboterakti vitäten in der Umgebung?« fragte Dan Riker gezielt nach. »Wenn es hier nämlich rund um die Doppelkugel zu Gefechten kommt, besteht die Gefahr, daß dabei vielleicht wertvolle Spuren zerstört werden, die uns andernfalls auf unserer Suche ein Stück weitergebracht hät ten.« »Wir sollten in dieser Hinsicht nicht allzu optimistisch sein«, er klärte Arc Doorn. »Der Absturz des Doppelkugelraumers liegt fast zwei Jahrhunderte zurück. Die Roboter hatten nun wirklich alle Zeit der Welt, um das Schiff völlig auszuschlachten.« Dan Riker stimmte dieser Meinung zu. »Wenn wir Pech haben,
verstreuten sie ihre Beute über den halben Planeten!« Leon Bebir aktivierte eine dreidimensionale Projektion. Die Um gebung der POINT OF war darauf wie in einem Relief zu erkennen. Auch das, was sich innerhalb des Doppelkugelraumers abspielte, konnte einigermaßen sichtbar gemacht werden. Es gab auf jeden Fall kein lebendes Wesen an Bord – und auch keinen Roboter. »Ein Landetrupp kann sich dem Schiff gefahrlos nähern«, erklärte Grappa. »In einem Umkreis von mehreren Kilometern sind derzeit keine Roboterbewegungen festzustellen.« Dhark nickte zufrieden. »Amy, ich möchte, daß du mich be gleitest.« »Gerne, Ren«, erwiderte die attraktive Frau. Dhark wandte sich an Arc Doorn und Chris Shanton. »Daß Sie beide dabeisind, dürfte selbstverständlich sein. Schließlich können wir auf die geballte Sachkenntnis über Fremdtechnik bei dieser Au ßenmission nicht verzichten.« Beide Männer nickten zufrieden. Sie hatten mit nichts anderem gerechnet. »Du solltest eine Einheit von Raumsoldaten zur Sicherheit mit nehmen«, schlug Dan Riker vor. Dhark nickte. »Okay, sorge du dafür, Dan. Alle Mitglieder des Außentrupps sollen W-Anzüge tragen und die Nachtsichtoptik ak tivieren.« »Okay«, bestätigte Riker. Ren Dhark wandte sich an Amy. »Laß uns keine Zeit verlieren. Gehen wir zur Schleuse.« * »Du hast die Besatzung ziemlich vor den Kopf gestoßen, Ren!« stellte Amy fest, als sie im Korridor allein waren. Arc Doorn und Chris Shanton holten noch ein paar technische Geräte, die zur Er
kundung des Wracks notwendig waren. Amy blieb plötzlich stehen und hielt Ren am Arm. »Wir müssen weiter!« forderte Dhark. »Wer weiß, wann es in die ser Gegend wieder von aggressiven Robotern wimmelt, die womög lich die letzten Spuren von dem zerstören, was wir zu finden hof fen.« Amy schüttelte entschieden den Kopf. »Wir müssen darüber reden, Ren«, fand sie. Seitdem die POINT OF erstmalig in den Orbit von Planet XII ein geschwenkt war, hatte es so gut wie keinerlei Gelegenheit für Amy gegeben, mit ihrem Lebensgefährten unter vier Augen zu sprechen. Die Situation hatte es einfach nicht zugelassen. Aber nun war es höchste Zeit, dies nachzuholen. Ren Dhark atmete tief durch. Er wußte genau, wovon Amy sprach. Dalon… Daß Rens Weigerung, etwas mehr von seinem Wissen über diesen Worgun preiszugeben, bei den anderen Besatzungsmitgliedern der POINT OF nicht gut angekommen war, lag auf der Hand. Dhark hatte keine Lust, die Angelegenheit noch einmal zu diskutieren. Gleichgültig mit wem. Da machte Amy keine Ausnahme, so sehr er sie auch liebte. »Ich bin der Kommandant der POINT OF«, sagte er. »Und du wirst mir – genau wie alle anderen Besatzungsmitglieder – schon soweit vertrauen müssen, mir zu glauben, daß ich dazu einfach nicht mehr sagen darf.« »Das habe ich auch nie angezweifelt, Ren.« »Dann weiß ich nicht, worüber wir noch länger reden müssen.« »Darüber, daß du genau im Auge behalten mußt, was sich in nerhalb der Mannschaft tut, Ren.« *
Kurze Zeit später befand sich der gesamte Erkundungstrupp im Schott vor der Hauptschleuse. Die Gruppe von schwerbewaffneten Raumsoldaten, die zur Sicherheit dabei sein würden, stand unter dem Kommando von Mike Doraner. Die Männer trugen Multikara biner. Das Blasterfeuer und die Explosivgeschosse, die mit dieser hochmodernen Waffe verschossen werden konnten, würden die Roboter auf Distanz halten, sofern sie wider Erwarten doch auf tauchten. »Wir sind bereit«, sagte Chris Shanton, an dessen sehr fülliger Körperform sich der W-Anzug ebenso perfekt angepaßt hatte, wie er dies auch bei der amöbenhaften Originalgestalt eines Worgun ver mochte. Sie passierten die Schleuse und traten hinaus in die Dunkelheit. Mittels ihrer Nachtsichtoptik konnten sich die Mitglieder des Trupps jedoch ohne Probleme orientieren, und seit dem Wegfall der durch die KI verursachten Funkstörfelder war auch eine einwandfreie Kommunikation möglich. »Eigentlich schade, daß mein Kabelkommunikator nicht noch ein zweites Mal zum Einsatz gekommen ist«, meinte Chris Shanton scherzhaft. »Verdient gehabt hätte es dieses unvergleichliche Beispiel technologischer Anpassung an extreme Rahmenbedingungen alle mal!« »Wir kommen sicher mal wieder auf eine Welt, auf der aus ir gendwelchen Gründen der Empfang von Funkwellen unmöglich ist, Chris!« lachte Arc Doorn. Es kam eine Funkmeldung der Zentrale. Tino Grappa bestätigte noch einmal, daß es im weiten Umkreis nach wie vor keine verdäch tigen energetischen oder thermischen Aktivitäten gab. Die Gruppe marschierte an einem kleineren Wrack vorbei. Es handelte sich um einen unregelmäßig geformten Raumer, der auf den ersten Blick wie ein pockennarbiger Asteroid wirkte. Erst auf den zweiten Blick war erkennbar, daß es sich um ein Raumschiff handelte, das offenbar zur Tarnung wie ein vagabundierender
Himmelskörper geformt war. Die ausgefahrenen Teleskopstützen wiesen daraufhin, daß es sich um ein künstliches Produkt handelte. Eine von ihnen war eingeknickt. Es schien so, als hätte das Schiff eine ziemlich harte Notlandung hinter sich. Das Außenschott war durch die Roboter entfernt worden. Dhark warf einen kurzen Blick ins Innere. Chris Shanton richtete sein Ortungsgerät aus und meinte schließlich über Helmfunk: »Die Roboter müssen buchstäblich alles aus dem Inneren dieses Schiffs entfernt haben. Alles bis auf ein paar Chitinstücke.« »Eine bekannte Spezies?« fragte Amy. Shanton schüttelte den Kopf. »Weder die Technik des Raumschiffs noch die Chitinreste lassen genaue Aussagen zu. Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, wer die Besatzung war.« »Aber sie sind wohl auf ebenso grausame Weise gestorben wie die Überlebenden von Kor Trancs Schiff«, sagte Amy. »Wie lang, schätzen Sie, ist der Absturz dieses Schiffes her, Chris?« Shanton blickte auf sein Ortungsmodul. »Es gibt eine geringe Reststrahlung auf der linken Seite des Schiffs. Vermutlich verfügte es mal über einen Reaktor, der von den Robotern zerlegt und entfernt wurde. Anhand des Zerfalls einiger Isotopenrückstände würde ich sagen, daß der Absturzzeitpunkt etwa 150 Jahre zurückliegt. Plus minus ein paar Jahre natürlich.« »Das heißt, dieser Raumer ist wahrscheinlich erst nach Kor Trancs Schiff hierhergelangt«, stellte Dhark fest. Chris Shanton nickte. »Ja.« »Es könnte sein, daß nicht nur die Roboter die Doppelkugel ge plündert haben, sondern auch die Überlebenden dieses Schiffes!« Dhark deutete auf den Pseudoasteroiden. In der Ferne zog sich jetzt ein blutrotes Band den Horizont entlang. Der Aufgang der roten Riesensonne! ging es Dhark durch den Kopf. Ein beeindruckender Anblick. Aber es wird noch Stunden dauern, bis es richtig hell wird. Die Gruppe ging weiter und umrundete einen vier bis fünf Meter
hohen Schrotthaufen, der aus Metallen bestand. Die Roboter hatten sie zu gleichschenkligen Dreiecken in vier verschiedenen Größen geschnitten. Warum – darüber konnte man nur spekulieren. Der Eindruck, daß die KI, deren Befehle letztlich wohl hinter alle dem steckten, wahnsinnig gewesen war, verstärkte sich durch diesen Fund noch. Amy deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Schrotthaufen. »Mich erinnert das hier an den Schreibtisch eines Zwangsneuroti kers und Autisten, der seine Büroklammern abzählt und die Stifte nach Farbe und Größe sortiert.« Sie erreichten schließlich den Doppelkugelraumer. Dhark wandte sich an Mike Doraner. »Lassen Sie einige Ihrer Leute hier in der Umgebung in Stellung gehen. Der Rest kommt mit.« »Ja, Sir«, bestätigte Doraner. »Die anderen verteilen sich im Schiff und sehen sich um. Wenn wir Glück haben, finden wir noch etwas, das uns irgendwie weiterb ringt.« »Vielleicht Teile von Arlons Daten?« fragte Chris Shanton skep tisch. »Die Chancen dafür stehen nicht allzu gut.« »Was auch immer. Kor Tranc ist Arlons Weg offenbar gefolgt, und wir müssen deshalb so viel wie möglich über diese Expedition er fahren.«
9.
Auf den Ovoid-Ringraumern der Rom-Klasse kam man pro blemlos mit sechs Mann Besatzung aus. Genaugenommen wurden aufgrund der extremen Automatisierung sogar nur zwei Mann für den Vollbetrieb benötigt, aber da der Mensch bekanntermaßen Schlaf brauchte, arbeitete man auf den Schiffen in drei Schichten. In Not fällen konnte das Raumschiff auch von einer Person allein bedient werden, was die Schlagkraft allerdings erheblich verminderte. Dem zweiundfünfzigjährigen Brigadegeneral P. S. Clark war das alles völlig egal. Als Kapitän eines Kommandoschiffs standen ihm fünfzig Mann Besatzung zu, und davon machte er auch Gebrauch. Falls ihm danach war, konnte er die Besatzung sogar auf zweihun dert Personen erweitern, beispielsweise, wenn wissenschaftliche Teams an Bord genommen wurden. Bei seinem derzeitigen Auftrag wären Scharen von Wissen schaftlern völlig fehl am Platze gewesen. Der untersetzte, kräftige Kommandeur der FREDERICKSBURG befand sich auf der Suche nach dem Kugelraumer HAMBURG, dessen Rückmeldung längst überfällig war. Die letzte Meldung war kurz vor dem Anflug auf das Walim-System hereingekommen. Dort wollte Clark mit seiner Suche ansetzen. In seiner Begleitung befanden sich zwei weitere Ovoid-Ringraumer mit je sechs Mann Besatzung: die AGRAM und die LAIBACH. Bei der Annäherung ans Walim-System hatten die drei Schiffe Energieimpulse geortet, die sich nicht hatten einordnen lassen. Inzwischen waren sie noch näher heran und orteten fremde Raumschiffe. Sowohl Clark und seine Mannschaft als auch die Be satzungen seiner Begleitschiffe wußten von den schildkrötenpan zerförmigen, überlichtschnellen Schiffen, welche die HAMBURG mit der Schwarzen Garde an Bord verfolgt hatte. Auf Elizondos Hyper funksprüche hatten sie nicht reagiert. Das war auch diesmal der Fall. Obwohl P. S. Clark auf allen Kanälen Meldungen absetzte, kam
keine Kontaktaufnahme zustande. Dafür traf auf der FREDERICKSBURG ein Funkspruch von gänz lich anderer Seite ein. * Die bevorzugte Form beim Bau von Raumschiffen war für die Utaren die Pyramide. Sie hatten einen ihrer großen Kampfraumer von Esmaladan zum Walim-System geschickt, um dort nach dem Rechten zu sehen. Seit geraumer Zeit gab es keinen Kontakt zu Spug mehr, was der Kleinen Weisheit, der Großen Weisheit und der Weisheit mehr als merkwürdig erschien. »Ich bestehe darauf, vor Ihnen in das System einfliegen zu dürfen«, verlangte der Kommandant des Pyramidenraumers HIMMELSSTÜRMER, Pal Paloma, mit Nachdruck. »Und Sie warten hier auf meine Rückkehr.« Brigadegeneral Clark ließ ihm gern den Vortritt. »Nur zu, ich reiße mich nicht um die erste Reihe. Das sind mitunter die schlechtesten Plätze, weil man sich darauf das Genick verrenkt.« Nachdem die HIMMELSSTÜRMER ins Walim-System eingetaucht war, ließ Clark einen seiner besten Piloten auf die Brücke kommen und erteilte ihm den Befehl, mit einem Flash und voll aktivierter Tarnvorrichtung die Verfolgung des Pyramidenraumers aufzuneh men und sich auch sonst etwas im Walim-System umzuschauen – insbesondere in der Nähe von Spug. Die Flash genannten Beiboote der Ovoid-Raumer empfand P. S. Clark als den größten »Luxus« an Bord. Früher war nur die POINT OF damit ausgerüstet gewesen, die normalen S-Kreuzer hatten dar auf verzichten müssen. Auf den Schiffen der Rom-Klasse hingegen gehörten jeweils achtundzwanzig Flash zum Standard. Am Bildschirm verfolgte der Kommandeur den Flug des Beibootes mit. Als der Flash die Grenze zum Walim-System passierte, brach abrupt die To-Richtfunkverbindung ab.
*
Fassungslos hörte sich P. S. Clark den Bericht der Ortungsabteilung an und verfolgte die Details an seinem eigenen Bildschirm mit. Der utarische Pyramidenraumer wurde von vier der »schweigsamen« Fremdraumer angegriffen. Die Ortung maß Impulswaffen an, stellte aber auch den Einsatz einer Waffe fest, die der terranischen Wucht kanone sehr ähnlich zu sein schien. Die Wirkung dieser Waffe war nicht so stark wie die einer echten Wuchtkanone, aber immerhin noch stark genug, um den Energieschirm der Utaren bis an die äu ßerste Grenze zu belasten. Clark überlegte, ob er in den Kampf eingreifen sollte, da erwiesen sich die Utaren als die Klügeren: Sie gaben nach, indem sie die Flucht ergriffen. Die Fremden verfolgten sie zunächst nicht. Offenbar wollte man das Pyramidenschiff nicht zerstören, sondern es nur aus dem System verjagen. Nicht nur die Utaren verließen das Walim-System. Auch der von der FREDERICKSBURG ausgesandte Flash kehrte zurück. Das Bei boot war nicht angegriffen worden – niemand hatte es bemerkt. Die Tarn Vorrichtungen der Flash waren die besten, die es gab. Aber gänzlich unsichtbar machten auch sie das Boot nicht. Noch bevor er sich mit Pal Paloma in Verbindung setzte, nahm Clark den Bericht und die Meßdaten seines Flashpiloten entgegen. Dieser hatte auf Spug eine radioaktiv verstrahlte Stelle entdeckt, die theoretisch der Explosionsort eines Raumschiffs in der Größe des gesuchten Giant-Raumers sein könnte. »Dann müssen wir wohl davon ausgehen, daß die HAMBURG nicht mehr existiert«, bemerkte der Brigadegeneral nachdenklich. »Aber was geschah mit der Besatzung? Kamen alle bei dem Absturz ums Leben?« Er beschloß, auf Spug nach Überlebenden zu suchen, als eine wei tere Meldung aus der Ortungsabteilung hereinkam…
Kurz darauf teilte Clark dem Kommandanten der HIM MELSSTÜRMER seinen Beschluß mit. Pal Paloma beharrte weiterhin darauf, daß die mit Terra getroffenen Vereinbarungen strikt einge halten wurden. »Ihre Regierung hat das System als unseres anerkannt. Deshalb werden Sie nicht eher einfliegen, bis wir herausgefunden haben, was dort vor sich geht, verstanden?« »Verstanden«, antwortete Clark seelenruhig. »Sie haben an Bord augenblicklich wohl alle Hände voll zu tun. Der massive Angriff der fremden Schiffe dürfte dem Ihren ziemlich zugesetzt haben.« »Wir kommen schon zurecht«, behauptete Pal Paloma. »Leider waren wir gezwungen, fast unsere gesamte Energie in die Schirme zu leiten, was zu einigen Kurzschlüssen führte. Bevor wir transitie ren können, müssen wir diese Probleme erst einmal beheben. Auch mit unseren Ortungsgeräten stimmt etwas nicht. Es ist zwar nur ein kleiner, reparabler Schaden…« »Kann ich Ihnen vielleicht mit dem Bericht meiner Ortungs abteilung aushelfen?« unterbrach Clark ihn ungeduldig. »Zunächst sah es so aus, als würden die Fremden Ihr Schiff ziehen lassen. Of fenbar haben es sich die Kommandanten aber anders überlegt.« Jetzt hatte es auch Pal Paloma auf dem Bildschirm: Die Schildkrö tenschiffe, die über den HIMMELSSTÜRMER hergefallen waren, hatten die Verfolgung aufgenommen. Scheinbar hatten sie mitbe kommen, daß der Pyramidenraumer leicht beschädigt worden war, und nun wollten sie ihm den Rest geben, den Gnadenstoß, wie bei einem waidwunden Tier. »Sieht ganz so aus, als müßte ich Sie um Ihre Hilfe bitten, Herr Brigadegeneral«, sagte der Utare zähneknirschend, denn um etwas zu bitten, fiel ihm nicht leicht. »Hilfe gewährt«, erwiderte Clark knapp. Er setzte sich mit der AGRAM und der LAIBACH in Verbindung und erteilte seine Befehle. Als die vier Fremdraumer aus dem Wa lim-System herausflogen, ging P. S. Clarks Verband auf Abfangkurs.
*
Kriegerische Auseinandersetzungen auf Planeten waren immer mit viel Lärm verbunden. Schüsse, Zischen, Explosionen, Fahrzeug- und Fluggeräusche, Sirenengeheul, gegrölte Befehle, warnende Zurufe, entsetzliche Todesschreie… bei Weltraumschlachten spielte sich der lärmende Teil ausschließlich an Bord der Raumschiffe ab. Im All selbst herrschte Todesstille. Wie bei einer Lasershow schwirrten die drei terranischen Ring raumer und die vier grauen Raumschiffe der Noid lautlos umei nander herum, ohne sich gegenseitig zu berühren. Die Ringe waren kleiner, aber flinker als die Siebenhundertmeterkolosse, deren Tempo etwas behäbig wirkte. Die ganze Zeit über waren die kleineren Schiffe von einem gleichmäßigen, kaum wahrnehmbaren Schimmern umgeben, das sich veränderte, sobald sich aus einem der großen Schiffe ein leuch tender Strahl löste. Strahl und Schimmer vereinten sich dann zu einem flackernden Farbinferno. Manchmal verlor sich der Strahl aber auch in den Weiten des Alls – so wie einige der Strahlen, die in um gekehrter Richtung von den Ringraumern zu den Siebenhundert meterschiffen ausgeschickt wurden. Traf der Strahl eines Ringschiffs mit einem der großen Schiffe zu sammen, brachte er den Koloß in Bewegung. Er wurde von seinem angestammten Platz verdrängt, tänzelte spielerisch durch den Raum, vollzog eine gekonnte Drehung, flog eine nahezu perfekte Kurve und reihte sich wieder in das geräuschlose Ballett ein. Leider hatte die prächtige Schau einen ernsten Hintergrund: Hier kämpften die Besatzungen von insgesamt sieben Raumschiffen um ihr nacktes Leben. Impulsstrahlen waren für die Intervallfelder, welche die Ringrau mer umgaben, kein Problem, damit wurden sie leicht fertig. Viel schlimmer waren die wuchtkanonenähnlichen Röhrenstrahlen, die
die Fremden auf die Terraner richteten. Mit 580.000 Kilometern verfügten sie über eine fast doppelt so große Reichweite wie die Wuchtkanonen, die auf der Erde entwickelt worden waren. Zudem hatten sie mit zirka zwanzig Zentimetern ein wesentlich größeres Kaliber. Die mit Lichtgeschwindigkeit verfeuerten Geschosse waren bei voller Reichweite allerdings fast zwei Sekunden lang unterwegs. Dadurch hatten die gedankengesteuerten Ringraumer reichlich Zeit, den Schüssen auszuweichen. Im Prinzip funktionierten die Wuchtkanonen der Fremden auf die gleiche Weise wie die terranischen: Ein modifiziertes Antigravagg regat baute ein röhrenförmiges, hellgelbes Feld auf, in dessen Inne rem die Wirkung von Masse neutralisiert war. Eine simple Kugel aus massivem Tofirit, von einem Kraftfeldprojektor in der Kanone dank Massefreiheit ohne Verzögerung auf Lichtgeschwindigkeit be schleunigt, durchraste das Feld in maximal einer Sekunde (bei einer Reichweite von 300.000 Kilometern). Traf das Röhrenfeld auf ein Hindernis, das größer war als der Rohrdurchmesser, war die Tofi ritkugel nicht mehr massefrei, aber lichtschnell. Es kam zu einem Verwerfungseffekt im Feld, der dessen Wirkung aufhob und gewal tige Energien freisetzte. Anhand der Energieentwicklung beim Austritt von Fehlschüssen am Ende des Röhrenfeldes erkannte man auf Clarks Schiffen, daß die Fremden kein Tofirit verwendeten, sondern ein wesentlich leichteres Element, vermutlich Uran. Das größere Kaliber bedeutete also nicht zwangsläufig, daß auch die Wirkung eines Volltreffers größer war. Im Gegenteil, die terranischen Wuchtkanonen waren weitaus ge fährlicher und konnten fast jeden bekannten Schutzschirm durch brechen. Nötigenfalls verpaßte man dem gegnerischen Schirm eine »volle Packung«, indem man alle acht Wuchtkanonen in einer Breitseite gleichzeitig abfeuerte – was im Sinne des Wortes extrem durchschlagende Wirkung hatte. Bei einem Gegner, der die Technologie der absoluten Mas
senkontrolle entwickelt hatte, war jedoch jede Waffe nutzlos. Die Schiffe der Fremden – ihr Name war Clark noch nicht bekannt – wurden von der Waffen Wirkung lediglich aus der Bahn geworfen, ohne Beschädigungen davonzutragen. Wieder und immer wieder griffen die Fremden erneut an, und wieder und immer wieder wichen die Ringraumer ihren Geschossen aus. Manchmal mußten sie aber auch Treffer oder Streifschüsse hinnehmen, welche die Intervalle bislang allerdings gut wegsteck ten. Die FREDERICKSBURG, AGRAM und LAIBACH nahmen Kurs auf das Walim-System. Die vier Fremdraumer folgten ihnen, ohne sich weiter um den Pyramidenraumer zu kümmern – so wie es ge plant war. Nicht eingeplant hingegen waren die fünf zusätzlichen Schildkrötenraumer, die dem terranischen Verband plötzlich den Weg versperrten. Nun hatte es Clark gleich mit neun Gegnern zu tun. Kein Problem für einen kampferprobten, mit allen Wassern gewaschenen TF-Veteran wie ihn. Obwohl man ihn in die Zange nahm, wichen seine Schiffe den Strahlenschüssen weiterhin gekonnt aus. Ein klares Patt! Oder? Die Fremden errechneten die terranischen Ausweich manöver und nahmen sich dann jedes Schiff einzeln vor. Als erstes hatten sie es auf die AGRAM abgesehen, deren Intervall nach eini gen Treffern eine Belastung von 94 Prozent aufwies. Offensichtlich meinten es die Fremden ernst. Sie wollten die totale Vernichtung ihrer Gegner. »Wie ihr wollt«, murmelte Clark auf der Kommandobrücke. »Jetzt zeige ich euch, mit wem ihr es zu tun habt!« In diesem Zustand war der Brigadegeneral, der bereits zweimal bei Schlachten schwere Verluste hatte hinnehmen müssen und dabei viele Freunde verloren hatte, zu allem fähig. Bevor er auch nur einen einzigen seiner Männer opferte, schlug er lieber mit aller Macht zu rück. Und davon hatte er mehr als genug…
*
Fast alle Raumschiffe, ganz gleich, welches Volk sie entwickelt hatte, waren mit Strahlenwaffen ausgerüstet. Eine der gefährlichsten an Bord der Ringraumer nannten ihre Erfinder, die Worgun, Yaar. Bei den Terranern hieß sie Nadelstrahl. Die pinkfarbene Strahlung von Yaar löste Materie in Energie auf. Selbst Unitall konnte ihr nicht länger als 210 Sekunden widerstehen. Eine andere Form von Strahl war der Traktorstrahl. Mit ihm konnte man Objekte aus dem Weltall »angeln« oder für einen begrenzten Zeitraum festhalten… Die Kommandeure der fremden Schiffe hatten offenbar erkannt, daß die AGRAM augenblicklich das schwächste Glied in der Kette war. Sie umzingelten den Ringraumer und richteten ihre Waffen darauf aus. Ein letztes Mal versuchte es Clark im guten. Seine Kommu nikationszentrale sandte UKW-Botschaften an die Fremden und schlug Verhandlungen vor. Über lichtschnelle UKW stand er auch mit seinen beiden Begleitschiffen in Verbindung, denn seit dem Ein flug ins Walim-System war der Hyperfunk tot. Auf keinem der Fremdraumer reagierte jemand auf das Frie densangebot. Und die Lage für die AGRAM wurde immer be drohlicher… P. S. Clark ließ die FREDERICKSBURG in einer Kurztransition weniger als fünftausend Kilometer an eines der Schildkrötenschiffe heranspringen und hielt es dann mit Traktorstrahlen fest. Noch be vor die Besatzung einen Befreiungsversuch unternehmen konnte, aktivierte Clark Yaar – das volle Programm. Die Explosion war so gewaltig, daß man sie auf Spug sehen konnte – als Lichtblitz am Horizont. Die FREDERICKS BURG ging rechtzei tig genug auf Distanz. Die LAIBACH sprang ans nächste Schiff heran, wie es mit dem
Kommandanten abgesprochen war. Umgehend suchte der betref fende Fremdraumer das Weite – und alle anderen Angreifer eben falls. Die Noid meinten es ernst, aber sie hatten auch begriffen, daß mit Brigadegeneral P. S. Clark nicht zu spaßen war.
10.
Die konvexe Tür teilte sich, beide Hälften verschwanden in der Wand, das Paar betrat die Transmitterkabine. Sie groß und schlank, in ärmellosem Top über weißer Hose und die Leinenjacke lässig über die Schulter geworfen, er klein und rundlich, in hellem Sommeran zug und das lachsfarbene Hemd bis zum Bauchnabel offen. Ein letzter Blick hinauf zu Edens Himmel: Wolkenlos und veil chenblau spannte er sich über der Klarsichtkuppel der Transmitter halle. Vor der Glasfront, rechts und links der Rollwege, ragten die mächtigen Edenpalmen mit ihren hellgrünen, meterbreiten Fächer blättern in dieses Wunder von Sommerhimmel. Die blonde Frau auf der anderen Seite der Halle drehte sich noch einmal um, bevor sie ins Gedränge vor dem Mittelausgang eintauchte. Sie hatten ihren Urlaub noch vor sich, die Glücklichen dort! Und die Blonde auch, wie es schien. Stranger bezog ihren suchenden Blick auf sich und lächelte versonnen. »Willst du deinen Urlaub nicht doch verlängern?« fragte die brü nette Frau an seiner Seite, während er die Transportkarten ins Lese gerät schob. »Wenn einer ihre Hoteladresse recherchieren kann, dann doch du…!« Veroniques Stimme klirrte vor Kälte und Sar kasmus. »Bitte?« Die Transportkabine schloß sich. Adieu, schönes Eden! »Du hast sie angeglotzt!« »Wen?« Er blickte zu Veronique und mimte den Verblüfften. Eben noch hatten sie sich draußen unter einer Edenpalme geküßt – der letzte Kuß von Tausenden während vier Wochen Urlaubs auf Eden –, und nun wirkte Veroniques Miene wie aus Marmor gemeißelt. »Tu nicht so scheinheilig!« zischte sie. »Du hast ihren Hintern an geglotzt wie ein ausgehungertes Testosteronmonster. Und wie sie sich nach dir umgeschaut hat! Hat sie größere Titten als ich, oder was?«
Einen Atemzug lang schien es, als wollte die Lukenwölbung ver schwimmen, einen Atemzug lang das typische Ziehen in Nacken und Fingerspitzen; mehr nicht, und dann lagen Tausende von Lichtjahren hinter ihnen. »Um Himmels willen, Veronique!« Bert Stranger verdrehte die Augen, tastete nach ihrer Hand und zog sie zu sich heran. »Du wirst doch nicht glauben, ich hätte dieser blonden Walküre hinterher…« »Aha!« Sie entwandt ihm ihre Hand, blieb stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Du weißt also ganz genau, von wem ich spreche!« Eine dreiköpfige Familie in Urlaubskleidung und mit feuchten Regenschirmen in den Händen belegte die anderen Plätze der Transportkabine. Neugierig beäugten Mann und Frau das strei tende Paar. »Du gibst also zu, daß du sie angestarrt hast?!« Es gab nicht viele Dinge, die Bert Stranger fürchtete. Von den we nigen rangierte ein Eifersuchtsanfall Veroniques an erster Stelle. »Habe ich nicht.« Er hob die Rechte. »Ich schwöre!« »Lügner!« Sie redete während des restlichen Transports kein Wort mehr mit ihm. Eine Stunde, nachdem sie Eden verlassen hatten, waren die 56.000 Lichtjahre nach Terra überwunden. Die Tür der Kabine schob sich wieder auseinander: keine Palmen vor der Glas front, kein transparentes Kuppeldach, kein Sommerhimmel. Guten Morgen, Terra, guten Morgen, Alltag! Die Transmitterhalle von Alamo Gordo war voller Menschen. Veronique hatte sich noch immer nicht beruhigt. Französinnen hatten einen Hang zur Leidenschaftlichkeit – im guten wie im bösen. Wutschnaubend stapfte sie Richtung Ausgang, Stranger hinterher. »Steh doch wenigstens dazu!« Sie schlüpfte in ihr Jackett und fuhr herum. »Steh doch dazu, daß du auf feiste Hintern und dicke Tit ten…!« Blicke trafen Bert und Veronique von allen Seiten; neugierige, amüsierte, schadenfrohe. Die hochgewachsene, attraktive Französin mit ihrer kastanienbraunen Mähne und in ihrem enggeschnittenen Leinenanzug und der um eine Handbreite kleinere Dicke mit seinen
abstehenden Ohren und seinen roten Haaren zogen die Blicke auch dann auf sich, wenn sie nicht stritten. Jetzt aber stritten sie, und brannte Veroniques Zorn erst einmal, kannte sie keine Gnade – weder was ihre Wortwahl, noch was ihre Lautstärke betraf. »Verdammt, Zuckerstück!« Fast flehend hob Bert Stranger beide Hände. »Wir hatten einen paradiesischen Urlaub auf einem paradie sischen Planeten! Ich werde den Teufel tun und eine andere Frau begehren!« Beiläufig registrierte er, daß die meisten Menschen in der Halle Jacken und leichte Mäntel trugen. »Begehren?! Das wäre ja noch schöner…!« Schimpfend stelzte sie der Gepäckausgabe entgegen, Stranger hatte Mühe, Schritt zu halten. Vergeblich versuchte er zunächst, sie davon zu überzeugen, daß er gar nicht wisse, wovon sie spreche, und genauso vergeblich schließ lich, daß er nur geglaubt habe, eine ehemalige Kollegin zu erkennen, die ihm noch Geld schulde. Jedes Wort, das er sagte, gab dem Feuer ihrer Eifersucht nur noch weitere Nahrung. Wann würde er endlich begreifen, daß kein Kraut gewachsen war gegen Veroniques Tem perament? Jedenfalls kein Kraut aus dem Garten der Vernunft. Endlich gelang es ihm, ihr den Weg zu versperren. Er hielt sie fest und schloß sie in die Arme. Bert Stranger konnte mächtig zupacken, wenn es darauf ankam. »Ich liebe dich!« rief er laut. »Und ich liebe nur dich!« Vergeblich versuchte sie sich loszumachen, er hielt sie einfach fest. »Und ich begehre nur dich.« Das flüsterte er ihr ins Ohr. Sie wurde ruhiger. »Unter allen mir bekannten Sonnen gibt es keinen schöneren Hintern als deinen, und niemand trägt köstlichere Titten über Gottes Planetenböden…« Sie hielt still. »Ich liebe dich. Ich will nur, nur dich und immer nur dich…« Sie schmiegte sich an ihn und ließ sich endlich auch küssen. Bert Stranger klopfte sich innerlich auf die Schulter. Er hatte dazugelernt, alles was recht war, er hatte tatsächlich da zugelernt! Irgendwann machte sie sich von ihm los. »Zur Strafe lädst du mich
jetzt zu einem Sektfrühstück ein!« »Sektfrühstück?« Stranger traute seinen Ohren nicht. »Bist du übergeschnappt, Zuckerstück? Es ist Montag, der Urlaub ist vorbei, jede Menge Arbeit wartet auf mich!« »Zuerst einmal wartet die fällige Versöhnung auf dich und mich.« Sie faßte seine Hand und zog ihn Richtung Transmitterhallenres taurant. »Außerdem bist du der Boß. Du kannst dir deinen Arbeits tag nach Lust und Laune einteilen. Tu also nicht so wichtig.« Halbherzig folgte er ihr. »Jetzt übertreibst du aber…« Im Prinzip hatte sie natürlich recht – seit er Chefreporter war und seine Erfolge ihm einen schier unantastbaren Status bei Terra-Press beschert hat ten, ließ Sam Patterson, der Eigentümer des Konzerns, ihm praktisch freie Hand. Schluß mit der Akkordschreiberei, Schluß mit der Jagd nach Storys – Bert Stranger konnte sich die Themen aussuchen, über die er schreiben wollte. Ein Luxusdasein, ohne Zweifel. Dafür hatte er auch gearbeitet. Sein Problem war nur: Früher hätte er nicht ein mal eine Woche ohne Arbeit ertragen. Gleich vier Wochen ohne Ar beit auszuhalten war ihm nur dank der süßesten und zugleich ans pruchsvollsten Zerstreuung gelungen, die das Universum seiner Meinung nach zu bieten hatte: Veronique de Brun. Mit anderen Worten: Bert Stranger brannte jetzt auf eine Story. Zunächst aber war Sektfrühstück angesagt. Kein Weg führte daran vorbei, so gut kannte er seine Geliebte inzwischen. Glücklicherweise war es bereits halb zehn, und er wußte, daß Veronique um 16 Uhr zu einer Vorstandssitzung in Brüssel erwartet wurde. Ihr Jett startete gegen elf Uhr auf dem Flughafen von Alamo Gordo. Auch wenn man es ihr nicht zutraute: Sie gehörte zu den Leuten, die Transmitter nur benutzten, wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ. Die Zeitinvestition für die Versöhnung war also überschaubar und von daher erträglich. Ein paar Schritte vor dem Restaurant, neben den Liften zu den Tiefgaragen, entdeckte Stranger eine Infokonsole. Das Restaurant war nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Hinter der Theke arbeitete eine
üppig ausgestattete Blondine. Himmel, was für ein Anblick! De ckentäfelung und Mobiliar waren aus Mahagoni-Imitat, und Stran ger gab sich alle Mühe, das Ambiente und nur das Ambiente zu betrachten und zu würdigen. Veronique wählte den Tisch, und Stranger setzte sich demonstrativ mit dem Rücken zur Theke. Er fröstelte und knöpfte sein Hemd zu. Auf Terra war es mindestens eine Jacke kühler als auf Eden. Der Kellner kam, und Veronique bestellte zweimal französisches Frühstück mit Sekt. »Entschuldige mich einen Augenblick, Cherie.« Sie stand auf und griff sich ihr Handgepäck. »Ich muß mich mal eben frischmachen.« Sie bedachte ihn mit einem reizenden Lächeln, beugte sich zu ihm herunter und küßte ihn auf den Mund. So schnell sie aufbrausen konnte, so schnell konnte sie auch den Grund dafür wieder verges sen. Seine Geliebte stolzierte Richtung Sanitärabteilung, und Stran ger blickte ihr hinterher. Himmel, was für ein Anblick! Er kramte seinen Hand-Suprasensor aus der Tasche, verließ das Restaurant und steuerte die Infokonsole an. Dort steckte er seine Kreditkarte in den Schlitz über der Schnittstelle und verband seinen HS mit dem Adapter. Über die Tastatur gab er die Kennziffern der Nachrichtenagenturen und Zeitungen ein, deren aktuelle Ausgabe er herunterladen wollte. Eine Sache von drei Sekunden. Zurück am Restauranttisch sondierte er die Schlagzeilen dieses Montags. Sie wurden größtenteils noch immer vom Überfall auf Grah beherrscht. Der Angriff hatte die Gemüter im bekannten Teil der Galaxis mächtig bewegt. Seit gestern hielt sich eine Delegation der Gordos auf Terra auf. Gespräche mit dem Commander der Pla neten und seinem Stab waren angesagt. Logisch, was die Verbünde ten von Henner Trawisheim fordern würden: mehr und modernere Schiffe zum Schutz ihrer Zentralwelt. Kein Thema für Bert Stranger. Über die Amok laufenden Roboter von Grah und die rätselhaften Angreifer aus dem All war schon so viel geschrieben worden, daß ihn der Stoff inzwischen langweilte. Vier Wochen Urlaub lagen hin ter ihm, er brannte auf eine Story mit Sprengstoff. Etwas wirklich
Neues wollte er aufspüren. Einige Siedlungen grönländischer Eskimos mußten seit drei Wo chen über eine Luftbrücke von Kanada aus mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Nicht genug damit, daß Schneestürme ihre Dörfer von der Außenwelt abgeschnitten hatten – zum erstenmal, seit me teorologische Aufzeichnungen gemacht wurden, war die Frühjahrs eisschmelze ausgeblieben und mit ihr die Wasserwege im Eis, auf denen die Eskimos im Sommer zu ihren Fischzügen ausfuhren. »Interessant«, murmelte Stranger. Aber nicht interessant genug für ihn. Ethnologische und klimatische Themen? Nicht sein Ding. Wozu hatte man Mitarbeiter? Der Kellner servierte Kaffee und Sekt. Stranger rief die nächste Datei auf. Meinungsverschiedenheiten aus der Untersuchungskommission, die sich mit dem Verlust der KONRAD ZUSE befaßte, waren an die Öffentlichkeit gedrungen. Hochrangige Flottenoffiziere bestritten angeblich die These vom Turing-Sprung des Bordrechners, glaubten an Programmfehler und wollten dessen Konstrukteure vorladen – Chris Shanton und Monty Bell. Diese Agenturmeldung schien Stranger schon eher etwas herzugeben… »Cherie?« Veronique warf ihre Tasche auf die Sitzbank und ließ sich gegenüber von Stranger nieder. »Du arbeitest doch nicht etwa schon?« »Wo denkst du hin, Zuckerstückchen?« Er tat empört über diese Verdächtigung. »Ich gucke gerade nach dem Wetter in Frankreich und Belgien.« »Schon wieder geschwindelt. Darf ich?« Sie langte über den Tisch, er überließ ihr den HS. »Es ist kalt! Nicht einmal zwanzig Grad in Florida!« Veronique tippte auf der Tastatur herum und machte plötzlich eine erschrockene Miene. »Mon Dieu! Fünfzehn Grad in Frankreich! Und noch genauso verregnet wie vor vier Wochen! Die Weinernte droht auszufallen! Was sagst du dazu, Cherie?« »Das möge Gott verhüten!« Prüfend sah sie ihn an. Man wußte bei ihm nicht immer, was ironisch und was ernst gemeint war. Diesen
frommen Wunsch aber meinte Stranger ernst: Seit er Veronique liebte, liebte er auch französischen Rotwein. Er hob sein Sektglas. »Auf euren Wein, Zuckerstück, und auf den bevorstehenden Hoch sommer!« Sie stießen an. Veronique nippte am Sekt, stellte ihr Glas ab und beschäftigte sich erneut mit dem Hand-Suprasensor. »Anderen Regionen geht es auch nicht besser.« Sie seufzte und zuckte mit den Schultern. »Schnee stürme haben die Maisfelder in Alabama verwüstet, und hör dir das an, Cherie: Vatneyri, Island, neunter Juni; zwei Eisbären brachen am Freitag vergangener Woche in die Ponykoppel eines Reiterhofes ein. Sechs Shetlandponys fielen den Raubtieren zum Opfer. Experten gehen davon aus, daß die Eisbären über die teilweise zugefrorene Dänemarkstraße von Grönland nach Island gelangt sind. Ein zwan zigköpfiges…« »Unglaublich…!« Stranger versenkte einen Zuckerwürfel in seiner Kaffeetasse. »Die Dänemarkstraße? Zugefroren?« Hinter seinem Brustbein regte sich ein Kribbeln – sein Jagdinstinkt schlug an. »… Einsatzkommando aus Sicherheitskräften, Zoologen und Tier ärzten jagt die Bären in den Fjorden im Norden der Insel. Und das hier erst, halt dich fest, Cherie: Rio de Janeiro, neunter Juli; dichtes Schneetreiben und schneeglatte Straßen brachten am Sonntagabend den Verkehr in der brasilianischen Metropole zum Erliegen. Noch am Morgen bedeckte eine geschlossene Schneedecke zahlreiche Plätze und Straßen der Stadt. Obgleich es auf Terras Südhalbkugel zur Zeit Winter ist, waren die Behörden…« »Was sagst du da?« Stranger beugte sich vor und runzelte die Stirn. Der Kellner servierte das Frühstück. »…auf ein derartiges Ereignis nicht vorbereitet – in Rio de Janeiro fiel zum erstenmal seit Menschengedenken Schnee.« »Beschissener Sommer dieses Jahr«, sagte der Kellner. »Wie soll da erst der Winter werden? Guten Appetit.« Er schnitt eine beleidigte Miene, weil das Paar ihn nicht beachtete, und zog wieder ab. »Schnee in Rio…« Veronique ließ das Gerät sinken und blickte ih
ren Dicken an. »Das ist doch nicht normal, Cherie!« »Nein…« Möglicherweise doch eine Story über Wetter und Klima? Und plötzlich machte es Klick in Strangers Kopf. »Nein, Mademoi selle de Brun«, sagte er leise und mit jenem rauhen Timbre in der Stimme, das er immer dann hören ließ, wenn ein Gedanke ihn fes selte. »Nein, das ist wirklich nicht normal…« * Eine Viertelstunde später holte Stranger das Gepäck aus der Halle, wo die Zollkontrolle war, und gegen halb elf verabschiedete er Veronique am Kontrollpunkt des Jett-Flughafens. Es gelang ihm einigermaßen, seine Hektik mit heiteren Sprüchen und Kompli menten zu kaschieren. Ein Taxigleiter brachte ihn samt seinem Ge päck in die Innenstadt. Statt seines Apartments suchte er als erstes das Redaktionsgebäude von Terra-Press auf. Ein noch unbestimmtes Gefühl veranlaßte ihn dazu. Während er im Fahrstuhl zum achtundachtzigsten Stockwerk des Büroturms hinaufglitt, beglückwünschte er seinen Chef, nur die Geschäftsstelle und nicht auch die Redaktionszentrale nach Eden verlegt zu haben. Sollte Sam Patterson doch im Urlaubsparadies residieren – hier in Alamo Gordo spielte die Musik, auf die es ankam, hier liefen die entscheidenden Informationskanäle zusammen, hier wurden die meisten Nachrichten verkauft; und das Wichtigste: Hier konnte er jetzt als Chefreporter in der obersten Etage und ohne den Alten über dem Kopf nach Gutdünken schalten und walten; im Ver gleich zu früher jedenfalls. »Willkommen, Mr. Stranger…!« Jenny Auckland, die neue Sekre tärin der Chefredaktion, sprang aus ihrem Sessel, als er seinen Bü rotrakt betrat. »Wie war es denn auf Eden…?« Während sie entzückt aus ihrem Lederkostüm guckte und allerhand Nettigkeiten abson derte, warf er sich in den Drehsessel vor seinem Schreibtisch. »Wol len Sie nicht erst einen Kaffee, Sir?«
»Danke, Jenny. Hatte ich gerade.« Er schaltete Hologramm und Netzkonsole an. »Sagen Sie – wie hieß gleich diese Veröffentlichung, die ich Ihnen vor meinem Urlaub mal auf den Schreibtisch gelegt habe? Ein schmales Taschenbuch von irgendeinem britischen Me teorologen oder Paläoklimatologen, oder beides. Sie haben es damals an die Universitätsbibliothek zurückgeschickt.« »Ich bin nicht sicher, von welchem Buch Sie sprechen, Sir, aber ich werde es herausfinden.« Mrs. Auckland setzte ihre wichtigste Miene auf. »Zum Glück pflege ich jeden Arbeitsvorgang zu dokumentieren, wie Sie wissen.« »Ich weiß es, Jenny, und ich bin stolz auf Sie. Und jetzt graben Sie mir bitte das Buch aus.« Sie schwebte zurück in ihr Vorzimmer. Stranger grinste. Per Knopfdruck schloß er die Trenntür. Anschlie ßend führte er ein paar Viphonate, meldete sich bei den wichtigsten Mitarbeitern zurück, überzeugte sich davon, daß sich ein Reporter team um die neusten Nachrichten von Grah kümmerte und ein an deres um die Arbeit der Untersuchungskommission in Sachen KONRAD ZUSE. Exakt drei Minuten dauerte es, eine freie Journa listin in Stuttgart davon zu überzeugen, daß eine gelungene Repor tage über Weinbau in Frankreich und den drohenden Ernteausfall durch den kalten und nassen Sommer einen Einstieg in eine Fest anstellung bei Terra-Press bedeuten könnte. Anschließend schaltete er sich ins Terranet ein und überflog die Wetternachrichten für Juni und Anfang Juli. Der erste Eindruck aus der Lektüre im Transmitterhallenrestaurant verstärkte sich: Das Wetter schlug Kapriolen – Schneefall, wo es nie zuvor geschneit hatte, Regen, wo es zu dieser Zeit trocken sein sollte, unwirtliche Temperaturen, wo man am Strand liegen und sich die Sonne auf den Pelz brennen lassen sollte. Danach surfte er durch die Seiten der Konkurrenz und las, was die lieben Kollegen rund um den Globus zu diesem Thema von sich gaben. Es war nicht viel und vor allem nichts Neues: Die einen winkten ab und schrieben: Zufall und Kommt doch alle zehn Jahre mal
vor. Andere behaupteten, es sei ein völlig ungefährliches und bere chenbares Symptom der doch seit langem vor der Tür stehenden neuen kleinen Eiszeit. Wieder andere machten die in den letzten Jahren so exzessiv betriebene Raumfahrt verantwortlich, bezie hungsweise die Oxidationsrückstände der Schiffstriebwerke, und forderten eine Verlegung der Raumhäfen ins All. Ein bekannter Journalist aus Washington behauptete allen Ernstes das Gegenteil: Wegen der zunehmend klareren Luft würde die Erde einfach mehr Eigenwärme als früher abstrahlen, und der restriktive Umweltschutz sei schuld. Basta. Stranger war begeistert. Die Sprechanlage summte, Mrs. Aucklands Konterfei erschien auf dem Bildschirm. »Das Buch war von einem gewissen Ian Carus, einem Doktoranden aus Edinburgh. Der Titel lautete ›Die Sonne stirbt‹.« »Exakt so hieß es!« Stranger klatschte in die Hände und notierte die Infos. »Rufen Sie bitte die Uni an, Jenny. Ich brauche die Arbeit so rasch wie möglich. Am besten noch heute abend.« »Ausgeschlossen, Sir. Ich habe bereits mit der Universität von Alamo Gordo gesprochen – das Buch ist verlorengegangen.« »Schade. Macht aber nichts. Besorgen Sie es in einer der Buch handlungen unten in der Stadt.« »In Ordnung.« Ein Kollege hatte Stranger das Buch vor über einem halben Jahr empfohlen. Er hatte es sich aus der Bibliothek kommen lassen, quergelesen und als uninteressant abgehakt. Jetzt bereute er es. Er gab die Suchbegriffe »Ian« und »Carus« ein. Nichts. Er versuchte es mit »Carus« und dem Buchtitel. Wieder nichts. Auch »Carus« und »Edinburgh« brachten »keine Treffer«. Er suchte die Nummer der Universität von Edinburgh heraus und rief an. Während das Freizeichen ertönte, blickte er auf die Uhr in der Fußzeile seines Rechners: 13.12 Uhr. Mist – jenseits des Atlantiks würden sie längst auf der faulen Haut liegen oder im Pub sitzen. Oder hatte er Glück? Er ließ es läuten. Ein Pförtner nahm ab, stellte in
die Bibliothek durch. Dort meldete sich die piepsige Stimme einer Studentin. Die zeigte sich hilfsbereit und stellte ihn ins geophysika lische Institut durch. Dort erwischte er einen wissenschaftlichen Mitarbeiter bei Überstunden – der Mann kannte nicht nur Ian Carus persönlich, sondern auch dessen Doktorvater, einen gewissen Pro fessor King. »Können Sie mir die Nummer von Mr. Carus geben?« »Nein, Sir, kann ich nicht – Mr. Carus ist nicht mehr bei uns in Edinburgh. Er hat unserem Institut gewissermaßen den Rücken ge kehrt.« Das klang irgendwie zufrieden, fast genüßlich. »Darf ich fragen, warum?« »Nun, schwer zu sagen. Ich bin eigentlich nicht befugt, über In terna… Konkretes ist mir in dieser Sache sowieso nicht bekannt.« »Alle Achtung, solche Loyalität lobe ich mir«, tönte Stranger. »Wenn meine Mitarbeiter nur halb so diskret wären! Ich will auch nicht weiter in Sie dringen – ich hatte nur gehört, Dr. Carus sei in zwischen aufgrund seiner aufsehenerregenden For schungsergebnisse auf einen Lehrstuhl in Cambridge berufen wor den, und da ich das gar nicht glauben konnte, wollte ich mich…« »Aufsehenerregende Forschungsergebnisse?« Der wissen schaftliche Assistent am anderen Ende der Datenleitung lachte ver ächtlich. »Lehrstuhl? Wer hat Ihnen denn diesen Bären aufgebunden, Sir?« Stranger mußte an die Eisbären in Island denken, während der Mann in Edinburgh – offenbar ein ehemaliger Konkurrent von Ian Carus – aus dem Nähkästchen zu plaudern begann. So erfuhr der Chef Journalist von Terra-Press, daß Carus sich mit seinem Doktor vater überworfen hatte und gegangen worden war. »Interessant…« Nach dem Gespräch lehnte sich Stranger zurück und sah durch den Bildschirm hindurch in eine Ferne, in der eine Story Konturen annahm, die sich lohnen könnte. Er spürte, daß es zu spät war, umzukehren – er hatte längst Blut geleckt. »Wirklich au ßerordentlich interessant…« Ein Stichwort flutschte ihm durchs Hirn – Kohlendioxid. Ir
gendwann hatte er darüber mal etwas gelesen, lange her, wahr scheinlich im Studium. Bloß was? Er gab den Begriff als Suchwort ein, paarte ihn mit »Klima«, und schon war er wieder im Bilde: Sechzig Jahre war es her, da hatte es einen Konsens über die Theorie gegeben, zunehmende Konzentration von Kohlendioxid beschleu nige die Erderwärmung. Polschmelze, globale Fluten und so weiter; lauter Weltuntergangsszenarien eben. Ein paar Jahre später wiede rum einigte man sich darauf, daß verstärkte Sonnenaktivität die Atmosphäre aufheize. Und ab 2020 etwa gab es kaum noch nen nenswerte Veröffentlichungen zu dem Thema. Die gute alte Sonne, so der allgemeine Tenor, hatte hinsichtlich ihres Energiehaushaltes zu gediegenem Normalmaß zurückgefunden. Und heute, im Juli des Jahres 2062? Stranger surfte nacheinander zu den Seiten der drei wichtigsten astronomischen Institute. Ergebnis im Telegrammstil: Die Sonne? Köchelte friedlich vor sich hin. Alles bestens also, aha… Es klopfte. »Bitte?« Jennifer Auckland zog die Tür auf. »Haben Sie das Buch schon?« Die Redaktionsmanagerin äugte ein wenig unglücklich aus ihrem engen Lederanzug. »Nichts. Kein Buchladen in Alamo Gordo hat den Titel vorrätig, keiner kann ihn besorgen, und die Terra net-Buchhandlungen führen ihn auch nicht.« Nicht diese Auskunft erstaunte Stranger – daß sie ihn nicht über raschte, erstaunte ihn. »Was Sie nicht sagen…« Er lehnte sich in sei nem Sessel zurück, stützte den Ellenbogen auf den Handrücken und rieb sich das fleischige Kinn. »So, so…« murmelte er halblaut. »›Die Sonne stirbt‹… das Buch gibt es nicht mehr, und Ian Carus fetzt sich mit seinem Doktorvater… wie interessant…« »Was meinen Sie?« »Buchen Sie bitte einen Transmitterdurchgang für mich, Jenny. Von Alamo Gordo nach Edinburgh…« »In Edinburgh gibt es keine Transmitterstation.« »Dann eben nach Glasgow.« Stranger sah auf sein Chrono: 13.41
Uhr. »Sagen wir um drei…« * Etwas mehr als eine Stunde später trat er in Glasgow aus der Transmitterstation auf die Straße. Stranger fröstelte – dunkel war es und kalt. Außerdem nieselte es. Der Mann von Terra-Press schüttelte sich. Am liebsten wäre er umgekehrt. Praktisch von einem Atemzug auf den anderen fand er sich in einer abendlichen Großstadt wieder. Sein Kopf war auf den Zeitsprung vorbereitet, seine Sinne nicht. Er drehte sich nach der Uhr über dem Stationseingang um: 22.03 Uhr. Zurück in der Transmitterhalle hielt er nach der in solchen Statio nen obligatorischen Geschäftsstelle einer Leihgleiterfirma Ausschau und entdeckte ihre Reklame neben einem tunnelartigen Durchgang zu den Bahnsteigen für den Nahverkehr. Vierundzwanzigstunden service, na prächtig! Stranger mietete einen geräumigen Gleiter und machte sich auf den Weg nach Edinburgh. In knapp siebzig Minuten brachte der Autopilot ihn bis an den Westrand der Stadt, erst über die alte M8 und dann über die für Gleiter neu ausgebaute AI. Kurz nach dem Flughafen wollte der Autopilot von ihm wissen, wo genau in Edinburgh sein Ziel lag. Stranger mußte passen. Er wußte lediglich, daß die Universität mehrere Gebäudekomplexe umfaßte, alle in der Innenstadt. Das meteorologische Institut lag nach seinen Informationen irgendwo in der Nähe der Burg. Doch eine Adresse hatte er nicht. Kurzent schlossen schaltete er den Autopiloten aus und steuerte den Gleiter in die alte Stadt hinein. Die Hinweisschilder waren nicht zu überse hen. Mehr seiner Intuition als einer sachlichen Orientierung folgend, bog er auf einen Parkplatz ab, schaltete den Gleiter aus und warf einen Blick auf den digitalen Stadtplan des Autopiloten. Danach stieg er aus, überquerte eine Straße namens King’s Street und sah sich plötzlich einem gigantischen Festungskomplex gegenüber:
Edinburgh Castle! Auf einer felsigen Anhöhe errichtet, ragte die alte Burg in den nächtlichen Großstadthimmel. Zahllose Scheinwerfer strahlten sie an. Stranger verschlug es den Atem. Keine Spur von Müdigkeit mahnte ihn, ein Hotelzimmer zu su chen. Für seinen Biorhythmus war es später Nachmittag und Zeit für einen ersten Drink. Er schlenderte Richtung Osten, also in die Alt stadt, und ließ sich von schmalen Gassen, wuchtigen Kathedralen und mittelalterlichen Fassaden verzaubern. Mehr und mehr fühlte er sich in die uralten Zeiten Mary Stuarts und John Knox’ zurückver setzt. Immerhin war er erst zwei Stunden zuvor aus Terras modern ster Stadt in diesen geschichtsträchtigen Teil der Welt gestolpert. Irgendwann blieb er vor einer Prachtfassade in der Victoria Street stehen. »Central Library« verkündete ein Bronzeschild am Rande der Vortreppe. Ob sie hier Ian Carus’ Buch in den Regalen stehen hatten? Es war nicht die richtige Tageszeit, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Hinter den Fenstern der Bibliothek herrschte Dunkelheit, hinter den Fenstern des Pubs drei Häuser davor gedämpftes Licht. Stranger trat ein und sah sich um. Kleidung und Alter der Gäste an Tischen und Theke sprachen für überwiegend studentisches Publi kum. Umso besser. Stranger stellte sich an die Theke, bestellte einen schottischen Malt und sprach den Burschen neben sich an. Zwei Stunden verbrachte er bei drei Whiskys und Plaudereien mit insgesamt fünf Männern, drei davon Studenten, einer Dozent an der Technischen Universität. Stranger erfuhr die Adresse des geophysi kalischen und des meteorologischen Instituts, die Zimmernummer von Professor Kings Büro und seine Vorlesungs- und Sprechzeiten. Mehr konnte er nicht verlangen. Kurz nach zwei Uhr Ortszeit warf der Wirt sie hinaus. Stranger ging zurück zur Burg und zum Parkplatz. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an die Suche nach einem Hotelzimmer, sondern schaltete die Standheizung seines Gleiters ein, legte sich auf die Rückbank und versuchte zu schlafen. Gegen halb sieben weckten ihn Tageslicht und Stimmen. Eine
Zeitlang blieb er noch liegen, hörte ein Morgenkonzert im Rundfunk und schließlich die Siebenuhrnachrichten. Nichts Neues unter der Sonne; abgesehen davon, daß der Hochsommer auf der Nordhalb kugel des Planeten noch immer als verschollen galt. Stranger kramte seinen Rasierer aus dem Gepäck. Während das Gerät summend über sein Gesicht schabte, kam er allmählich zu sich. Vor ein paar Stunden noch hatten vier oder fünf Fahrzeuge auf dem Parkplatz gestanden. Jetzt parkte Gleiter neben Gleiter. Dazwischen einzelne Oldtimer – benzinbetriebene Motorfahrzeuge auf vier Rädern. Männer und Frauen mit Aktentaschen strebten vom Parkplatz aus in die Altstadt. Der Reporter schnappte sich seinen Sommermantel und stieg aus. Luft und Himmel wie ihm November – kühl, feucht und grau. Er glättete seine zerknautschten Hosen, schlüpfte in seinen Mantel und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Universität. Wozu ein Taxi? Vor neun Uhr erschien der Professor sowieso nicht in seinem Büro. Das jedenfalls hatten seine Informanten im Pub behauptet. Die Läden hatten noch geschlossen, die Bistros und Cafes auch. Aber auf einem Markt vor einer Kathedrale wurden die ersten Stände aufgebaut. An einem kaufte er sich einen kleinen Walisischen Teekuchen. Ein Zeitungsladen eine Gasse weiter öffnete gerade seine Pforten. Stranger ließ die Infokonsole links liegen, seinen Hand-Suprasensor stecken und entschied sich für eine richtige Zei tung. Auf dem restlichen Weg zur Universität holte er seinen HS dann doch noch aus der Tasche und diktierte ein paar Eindrücke von der morgendlichen Altstadt Edinburghs. Am östlichen Rand der Altstadt schließlich die Edinburgh Univer sity; jedenfalls ein beträchtlicher Teil von ihr. Es war viertel vor acht. Er trat ein, fand die Cafeteria und holte sich einen Kaffee. Ein paar Frühaufsteher beugten sich an drei oder vier Tischen über Bücher und Zeitungen. Stranger bewegte sich so selbstverständlich unter ihnen, als wäre er ein Gastdozent oder ein Langzeitstudent. Er frühstückte seinen Teekuchen und las die Zeitung. Dann rief er über Vipho die Auskunft an und ließ sich die Nummer
der Central Library geben. In deren Sekretariat erwischte er tatsäch lich eine Bibliothekarin, die gerade ihren Dienst antreten wollte. Er beschwatzte sie solange, bis sie den Bibliotheksrechner hochfuhr und den Bestand nach Ian Carus’ »Die Sonne stirbt« durchforstete. »Tut mir leid, Sir«, beschied sie ihm schließlich. »Das Buch ist verloren gegangen.« »Verlorengegangen?« »Gestohlen vermutlich.« »Ach so, wie schade. Ich danke Ihnen, Ma’am.« Stranger war kei neswegs enttäuscht. Im Gegenteil – die Auskunft der Bibliothekarin erschien ihm ein weiterer Mosaikstein zu einem Bild zu sein, das sein Verstand zwar noch nicht einmal in Ansätzen vor sich sah, dessen Vollendung ihm seine Intuition jedoch jetzt schon in den grellsten Farben einer klassischen Sensation ausmalte. Nach halb neun schließlich fragte er sich zu Kings Büro durch. Es lag im dritten Obergeschoß. »Professor Doktor Ralf King« war auf einem Messingschild neben der Tür eingraviert; unter dem Namen die Fachgebiete: »Meteorologie & Paläoklimatologie«. Stranger ließ sich auf der mit Leder bezogenen Bank neben der Tür nieder und las den Fortsetzungsroman im Kulturteil der Zeitung: Die Geschichte eines Raumschiffkommandeurs, der auf einem fernen Planeten strandete, Schiff und Mannschaft verlor und sich in die Tochter des Häuptlings einer Horde von halbnackten und leidlich humanoiden Höhlenbewohnern verliebte. Stranger gähnte und kämpfte mit dem Schlaf. Eine Studentin setzte sich neben ihn; kupferrote Locken, höchstens zwanzig Jahre alt. Sie hatte eine niedliche Stupsnase und Sommer sprossen, und sie roch nach Dusche und Rosenöl. Stranger dachte an Veronique. Hatte er nicht versprochen, am Abend anzurufen? Ver gessen. Mist! Das schlechte Gewissen regte sich. Er haßte dieses Ge fühl. Das Mädchen allerdings war ziemlich hübsch. Am Ende des Ganges ging die Lifttür auf, ein Mann in dunklem Anzug und rotem Hemd unter dem Jackett trat aus dem Lift. Er war
mittelgroß – also größer als Stranger –, Mitte bis Ende vierzig, hatte schütteres, aber akkurat gescheiteltes blondes Haar und einen blon den Oberlippenbart. Und er wirkte zielstrebig und wichtig mit sei nem auf den Boden gehefteten Blick und seinen großen und schnel len Schritten. Kurz vor seiner Bürotür hob er den gedankenschweren Kopf, nickte lächelnd der Studentin zu, faßte Stranger ins Auge – und verlangsamte jäh seinen Schritt. Es war plötzlich, als hätte er mit Gegenwind zu kämpfen. Sein Lächeln bekam etwas Aufgesetztes. »Sie?« Stranger stand auf. »Sind Sie nicht… sind Sie nicht der Mann von Terra-Press?« Der Professor blieb stehen und streckte Stranger die Rechte entgegen. »Der Reporter, der während des letzten Wahl kampfes die Korruptionsaffäre in der Fortschrittspartei aufgedeckt hat? Ich bin Ralf King.« »Bert Stranger.« Er schüttelte dem Dozenten die Hand. »Sie kennen mich, Professor King?« »Welcher Mensch, der auch nur ein wenig am öffentlichen Leben teilnimmt, würde Bert Stranger von Terra-Press nicht kennen?« King schloß seine Bürotür auf. »Kommen Sie herein, Mr. Stranger.« Der Besuch aus Alamo Gordo schien den Gentleman direkt ein wenig aus der Fassung zu bringen – kein Blick mehr für die niedliche Studentin. »Was für eine Überraschung! Ich freue mich, Sie persönlich ken nenzulernen.« Er wies auf eine Sitzgruppe vor einer Bücherwand. Sie nahmen Platz. »Was verschafft mir die Ehre, Mr. Stranger?« »Nun, ich hatte beruflich in Ihrer schönen Stadt zu tun, und bei der Gelegenheit wollte ich den Autor eines feinen Buches persönlich kennenlernen, das ich vor einiger Zeit gelesen habe.« »Sie haben tatsächlich eine meiner Veröffentlichungen gelesen?« Der Professor strahlte. »Verzeihung, Professor King, ich muß Sie enttäuschen: nicht von Ihnen, von einem Ihrer Doktoranden, von Ian Carus. ›Die Sonne stirbt‹ – bestimmt kennen Sie die Arbeit.« Einen Wimpernschlag lang tendierte das Lächeln in Kings Miene
gegen den Gefrierpunkt, doch schon gewann er die Kontrolle über sein Mimik zurück und strahlte wieder in scheinbar bester Laune. Stranger hatte es dennoch wahrgenommen. »Warten Sie… ja, doch, ja – ich glaube, ich habe den Text gelesen. Es ging um periodische Schwankungen der Sonnenaktivität, wenn ich mich recht erinnere.« »So ist es.« Das erregende Empfinden, am Rande eines Wes pennestes zu operieren, beflügelte Bert Stranger. Er pirschte sich ein Stück näher heran. »Genaues weiß ich allerdings auch nicht, weil ich das Buch seinerzeit nur überflogen habe. Und jetzt – stellen Sie sich vor! – jetzt scheint es vom Buchmarkt verschwunden zu sein. Ist das nicht seltsam?« »Vielleicht verkaufte es sich nicht.« Der Professor zuckte mit den Schultern. Seine wippende Schuhspitze wollte nicht zu dieser Geste der Gleichgültigkeit passen. »Wenden Sie sich doch an eine Biblio thek. Jede größere Einrichtung müßte das Buch in ihrem Bestand führen.« »In der Universitätsbibliothek von Washington ist es verlo rengegangen, und aus der Zentralbibliothek Ihrer schönen Stadt wurde es gestohlen.« Das Lächeln des Professors hatte sich in zwischen zum Lächeln eines Mannes deformiert, der sich mühte, seine Zahnschmerzen zu ignorieren. »Aber das kann natürlich Zufall sein.« »Wahrscheinlich…« Kings Stimme klang belegt. »Ich habe gehört, Mr. Carus hätte Ihre Universität inzwischen verlassen; nicht ganz freiwillig, wie mir angedeutet wurde.« »Ja, das stimmt leider.« Endlich gab King sein krampfhaftes Lä cheln auf. Statt dessen wählte er nun eine betrübte Miene. »Wir mußten ihm kündigen, nachdem er sich einer Studentin… ahm… in unsittlicher Weise genähert hatte.« Stranger glaubte einen Schweißfilm auf Kings Stirn glänzen zu sehen. »Ach? Sie meinen, er hat sie sexuell belästigt?« »Tja, so muß man das wohl nennen.« Der Professor rieb die Hand flächen aneinander, bemerkte es sogleich und faltete die Finger
schließlich auf seinen übereinandergeschlagenen Beinen. »Wir war en alle wie vor den Kopf gestoßen. Niemand hätte Carus so etwas zugetraut.« »Wie bedauerlich!« Stranger schüttelte den Kopf und schnalzte dabei mit der Zunge. »Ich denke, ich werde ihm trotzdem einen Be such abstatten. Geben Sie mir seine Adresse?« »Oh, tut mir leid!« Bedauernd breitete King die Arme aus. »Die habe ich nicht. Ich glaube, er wohnt gar nicht mehr in der Stadt. Wenn ich recht informiert bin, hat er Europa verlassen, vielleicht sogar Terra. Tut mir leid, Mr. Stranger, wirklich.« »Macht doch nichts. Ihr Sekretariat wird mir die Adresse sicherlich geben können.« Stranger erhob sich. »Warten Sie, ich rufe eben dort an.« King stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und aktivierte ein Tischvipho. Nachdem er zwei Minu ten mit einer Sekretärin verhandelt hatte, kam er zurück zu Stranger. »Tut mir wirklich sehr leid, Mr. Stranger, aber Carus’ Adresse wurde erst kürzlich aus der Datenbank gelöscht.« »Wie schade auch!« Stranger ergriff die ausgestreckte Rechte des Dozenten und hielt sie länger als nötig fest. Sie fühlte sich anders an als bei der Begrüßung: feuchter, kühler. »Und Sie wissen wirklich nicht mehr, worum es in dem Buch und den Forschungsarbeiten Ihres Doktoranden ging?« »Nein, Sir.« King entzog ihm seine Hand. Ein unwilliger Unterton mischte sich in seine Stimme. »Nichts Bedeutendes jedenfalls, das können Sie mir glauben. Wenn ich noch ein Exemplar hätte, würde ich es Ihnen gern zur Verfügung stellen. Doch Carus hat alles mit genommen, auch seine Dateien. Ein Jammer!« »Ja, ein Jammer. Leben Sie wohl, Professor King.« Der Gelehrte brachte ihn zur Tür. Aus den Augenwinkeln nahm Stranger wahr, wie er der Studentin bedeutete, noch zu warten. Während er die Treppe hinunterstieg, fragte er sich, welchen Schlüssel zu welcher Mördergrube Ralf King mit sich herumtrug. Wenn Stranger noch eine Bestätigung gebraucht hätte, daß er einer heißen Story auf der
Spur war, dann hatte der Besuch bei Carus’ Doktorvater sie geliefert. King indessen ließ sich in seinen Schreibtischsessel sinken, seufzte tief und schloß ein paar Atemzüge lang die Augen. Dabei zog er ein Tuch aus seinem Jackett und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er murmelte einen Fluch vor sich hin, und als würde das seine Le bensgeister in Schwung bringen, sprang er auf und aktivierte sein Armbandvipho. »Ich bin es, King. Es gibt Probleme…«
11.
Die energieerzeugende Anlage unter der Industriestadt erinnerte Kurt Buck, Yo Ho und Kle Klenet an den großen Maschinenraum auf der RUGA. Hier gab es sogar mehrere Rechner, die man hätte an zapfen können – aber alle waren (noch) deaktiviert. Offenbar wurde die Anlage vorerst ausschließlich vom Hauptrechner kontrolliert, und der stand in voller Pracht und Größe… wo? Das labyrintherfahrene Team Buck, Ho und Klenet hatte die Gar distentruppe zwar mit sicherem Gespür zur Anlage geführt, aber bei der Suche nach dem Standort des Hauptrechners mußten die drei letztlich passen. Beim »Marathonlauf« über die Treppe war Klenet die Stufen mehr hinuntergefallen als hinuntergelaufen. Auf Dauer hatte der kurzat mige Geheimdienstchef mit den langbeinigen Gardisten nicht mi thalten können. Seine beiden neuen Freunde Yo und Kurt hatten ihn abwechselnd getragen. Nur wenige Gardisten hielten sich in der unterirdischen Halle auf, in der die vollautomatische Anlage stand – alle übrigen bewachten die Treppe. An ihnen kam kein Noid vorbei, soviel stand fest. Auch den Greys war klar, daß ein Treppenhaus verhältnismäßig leicht zu verteidigen war. Deshalb verharrten sie im vorletzten Stockwerk auf den Stufen und wagten es nicht, weiter hin abzusteigen und den Eindringlingen direkt vor die Karabiner zu laufen. MacCormack, der wie P. S. Clark kein Freund von faulen Komp romissen war, ließ derweil die gesamte technische Anlage verminen. Da er nicht ermitteln konnte, wie man den Funkstörer abstellte, würde er einfach alles in die Luft sprengen – wenn es denn sein mußte. Nachdem er die Aktion beendet hatte, ließ er einen leistungs starken Translator auf dem Treppenabsatz aufstellen, und zwar ge
nau dort, wo die Greys und die Gardisten zusammenprallen wür den, würden sich beide Gruppen zur gleichen Zeit in Bewegung setzen und im selben Tempo die Treppen hinauf- oder hinunterge hen. Das Übersetzungsgerät war mit einem Funkmikrophon ver bunden. Die Einstellung auf die Sprache der Greys war über Hos Minitranslator erfolgt (es gab Geräte, die ohne Vorabeinstellungen sofort damit anfingen, Worte und Sätze frei zu übersetzen, allerdings hörten sich die ersten Kommunikationsversuche an, als würden zwei Papageien versuchen, sich gegenseitig das Sprechen beizubringen), den der Koreaner anschließend wieder in seinen Kampfanzug ein gesetzt hatte. Klenet wurde mit einem eigenen Translator ausgestat tet. »Ich bin Oberstleutnant MacCormack von der Terranischen Flot te«, sprach der Chef der Garde mit fester Stimme ins Mikro. »Wer leitet Ihren Einsatz? Bitte identifizieren Sie sich.« Obwohl er überzeugt war, daß der Translator seine Worte perfekt übersetzte, kam keine Rückmeldung. »Auch gut«, fuhr MacCormack nach einer gewissen Wartezeit fort. »Wenn ihr zu arrogant seid, mit uns zu reden, müssen wir eben handeln. Wir werden das Herz eurer Industriestadt zerstören: die unterirdische technische Anlage. Unsere Funkminen wurden inzwi schen an sämtlichen strategischen Punkten angebracht.« Es blieb noch eine Weile ruhig, dann meldete sich der Kom mandant der MENTOZ. »Hier spricht Norll Cral Penskir«, sagte er. »Unser Schiff schwebt direkt über diesem Gebäude, das außerdem von Panzern umstellt ist. Ihr werdet dort nie mehr herauskommen, das schwöre ich euch!« »Und ihr niemals hier herein«, konterte MacCormack. »Ohne eure Panzer und Schiffe seid ihr nichts. Dummerweise könnt ihr damit nicht die Treppe runterfahren, und solltet ihr zu Fuß kommen, gebt ihr ein paar vortreffliche Zielscheiben ab. Entweder deaktivieren Sie auf der Stelle den Funkstörsender, Norll, oder wir jagen hier alles hoch: das Gebäude, eure Kampftruppe und uns mit dazu.«
»Du bluffst, Terraner.« »Laß es darauf ankommen, Noid. Wir haben nichts mehr zu ver lieren – im Gegensatz zu euch. Diese Stadt ist das Kernstück eurer Zivilisation. Sprengen wir die Anlage, sprengen wir auch ihr Herz. Und das Herz eures Volkes.« »Die Fabrikstadt auf Slord ist nur eine Industriekolonie von vie len«, behauptete Penskir. »Wir brauchen sie, sie ist aber auch ver zichtbar.« »Na, dann kann es dir ja egal sein, was mit ihr passiert«, erwiderte MacCormack. »Ich halte den Fernzünder in der Hand. Wollt ihr noch ein letztes Gebet zu euren Göttern sprechen?« »Warte, ich…« stammelte Penskir. »Ich kann das nicht entscheiden. Ich frage den obersten Norll. Das könnte dauern, denn er ist sehr beschäftigt. Seldar Buuhul mußte mit seinem Schiff auf Slord not landen und…« »Richten Sie ihm schöne Grüße von Leutnant Buck, Schütze Ho und dem Utaren Kle Klenet aus«, fuhr Kurt Buck ihm ins Wort. »Sagen Sie ihm, daß wir ebenfalls hier unten sind. Dann weiß er, daß wir nicht bluffen. Wir sind dafür bekannt, daß wir alles kaputtma chen, was uns zwischen die Finger gerät, immerhin haben wir auch sein Schiff auf dem Gewissen.« Oberstleutnant MacCormack blickte ihn ärgerlich an und nahm ihn beiseite. »Sind Sie verrückt geworden?« sagte er leise zu Buck. »Der Kom mandant des Flaggschiffs hat eine Stinkwut auf Sie, Ho und Klenet. Jetzt wird er dieses Gebäude aus Rachsucht in die Luft sprengen, mitsamt der Anlage und dem ganzen Stadtzentrum.« »Ich bezweifle, daß er derart unüberlegt handelt«, entgegnete der Leutnant. »Buuhul liegt das Wohl seines Volkes sehr am Herzen. Falls diese Stadt wirklich so wichtig für ihn ist, wie ich glaube, wird er zwischen seinen Rachegelüsten und seinem Verantwortungsge fühl abwägen müssen.« »Und wenn er frei aus dem Bauch heraus entscheidet und seinen
Gefühlen nachgibt?« »Dann… tja, dann habe ich ihn wohl falsch eingeschätzt.« * Stunden vergingen. Während die Gardisten auf Antwort warteten, unterhielten sich Buck, Ho und Klenet über den Noid, der ihnen geholfen hatte, von der RUGA herunterzukommen. Der Leutnant hatte den beiden inzwischen berichtet, daß er für einen kurzen Au genblick Seldar Buuhul in der Transportstation gesehen hatte. »Wahrscheinlich hat er den Verräter sofort hinrichten lassen«, be fürchtete Yo Ho. »In dieser Hinsicht fackeln die Greys bekanntlich nicht lange. Gnade können bestenfalls höhere Offiziere erwarten. Welchen Dienstgrad hatte er noch bekleidet?« »Er erwähnte, er sei ein ehemaliger Geern-Rood«, erinnerte sich Kle Klenet. »Möglicherweise ist das irgendwas Höhergestelltes. Um ihn zu demütigen, ließ man ihn Lagerarbeiten verrichten. Als näch stes zwingt man ihn vielleicht, an Bord alle Türen grün zu streichen oder so. Immer noch besser als hingerichtet zu werden.« MacCormack kam hinzu. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urtei len, hatte er eine gute Nachricht in petto. »Soeben erhielt ich übers Vipho Meldung von Hector Elizondo aus dem Lager«, teilte er den dreien mit. »Die Funkstörungen sind vor über. Elizondo wollte sofort Verstärkung anfordern, da meldete sich Brigadegeneral P. S. Clark aus dem All. Die Terranische Flotte hat so starke Sehnsucht nach uns, daß man nach uns suchen ließ. Clark befindet sich bereits im Walim-System. Die LAIBACH landet gerade auf Spug, um in den Bergen die Überlebenden aufzunehmen. An schließend holt man uns hier ab.« Als sich die Nachricht unter den Gardisten verbreitete, sah man nur noch fröhliche Gesichter. Die Noid schafften es allerdings schon bald, den Stimmungspegel wieder zu senken. Cral Penskir hatte Anweisung, die Truppe weiterhin im Untergeschoß des Gebäudes
festzuhalten. Geduldig harrte die Garde dort aus. MacCormack und Musaschi nutzten die Zeit, um sich in der Energieerzeugungsanlage näher umzusehen. Sie stießen auf nichts, das auch nur annähernd wie ein Störsender aussah, und dennoch waren sie sicher, daß er sich hier unten befand. * In den Bergen nahm derweil die LAIBACH alle Flüchtlinge auf. Die Aktion mußte schnell vonstatten gehen, für den Fall, daß sich die Greys entschlossen, die Evakuierung gewaltsam zu verhindern. Die AGRAM und die FREDERICKSBURG paßten im All auf, daß es keine bösen Überraschungen gab. Wenn es sein mußte, würden sie sofort mit aller Härte eingreifen. Aufgrund der Eile durfte nur das mitgenommen werden, was man auf dem Leib trug, einschließlich der Waffen. Alles, was nicht le bendig war, mußte zurückbleiben und wurde zerstrahlt oder ge sprengt – unter Protest der fortwährend meckernden Utaren. Als die Blauen sahen, daß die Terraner sogar die Absetzer spreng ten, wären sie beinahe kollektiv in Ohnmacht gefallen. Der typische Durchschnittsutare war ein Geizhals. Sie hätten es niemals fertig gebracht, mutwillig etwas zu zerstören, das noch zu gebrauchen war. Bald darauf zeigte sich die LAIB ACH über den Dächern der In dustriestadt. Der Kommandant stellte Funkkontakt zur MENTOZ her. Man verbot der Besatzung des terranischen Schiffes unmiß verständlich, die restlichen Überlebenden aufzunehmen. »Jeder Versuch, gegen diese Anordnung zu verstoßen, hat Konsequenzen«, drohte man ihnen. »Wir werden die komplette Anlage sprengen, mitsamt unseren eigenen Leuten, falls man uns zwingt!« Die Greys hatten den Spieß umgedreht.
Als P. S. Clark davon erfuhr, stellte er direkten Funkkontakt zum Chef der gegnerischen Flotte her. Seldar Buuhul sah in ihm einen offiziellen Vertreter der terranischen Regierung und machte ihm schwere Vorwürfe. Seiner Ansicht nach hatten Utaren und Terraner gemeinsam versucht, die Welt der Noid zu okkupieren. Clark stritt das vehement ab. Bei der Wortwahl war er nicht zimperlich – schließlich war er kein Berufsdiplomat. MacCormack dauerte das alles zu lange. Nachdem ihn der Kom mandant der LAIBACH von der Verhandlungsaufnahme in Kenn tnis gesetzt hatte, gab er seiner Truppe den Angriffsbefehl. Bei den stahlharten Gardisten rannte er damit offene Türen ein. Für Kaunas, Buck & Co. gab es nichts Furchtbareres als untätiges He rumsitzen. Mit herabgelassenem Visier und aktiviertem Prallschirm stürmten sechsunddreißig Mann nach oben und trieben die Greys, die ohne ihre Panzer kaum eine Chance gegen sie hatten, die Treppe hoch. Klenet folgte der Kampftruppe schnaufend, blieb aber immer weiter zurück. Die Panzer bereiteten MacCormack Kopfzerbrechen. Ihre Fahrer warteten draußen vor dem Gebäude und würden mit Sicherheit die Flucht gewaltsam verhindern. Der Oberstleutnant blieb stehen und setzte sich erneut mit der LAIBACH in Verbindung. Kle Klenet kam atemlos die Stufen herauf. Wenig später sank er dem Oberstleutnant ohnmächtig in die Arme. MacCormack hatte sich auf der Treppe extra hinter ihn gestellt, um ihn aufzufangen. Auch die Greys sanken dort in sich zusammen, wo sie sich gerade aufhielten. Lediglich die Gardisten waren durch ihre Anzüge und Schirme geschützt – vor den Strich-Punkt-Strahlen, mit denen die LAIBACH großflächig das Stadtzentrum bestrich, einschließlich der Panzer. * Mit allen Terranern und Utaren an Bord entkam die LAIBACH ins
Weltall. Niemand hielt sie auf oder verfolgte sie. Brigadegeneral P. S. Clark brach daraufhin die Verhandlungen mit Seldar Buuhul auf der Stelle ab. Der oberste Norll fühlte sich durch sein rüdes Verhalten pro voziert. »Sie scheinen kein Interesse an einer friedlichen Einigung zu haben.« Clark widersprach ihm. »Ich demonstriere Ihnen meinen Frie denswillen, indem ich hier und jetzt mit allen Schiffen den Rückzug antrete. Lassen Sie uns ziehen, und folgen Sie uns nicht – dann wird es zu keinen weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen kom men.« Ohne eine Antwort abzuwarten, brach er die Verbindung ab. »Ziemlich dreist«, sagte ein Noid, der sich in Buuhuls Privat quartier aufhielt und die Verhandlung mitverfolgt hatte. »Läßt du ihn ungeschoren, oder schickst du ihm unsere Schiffe hinterher?« »Es hat schon genug Tote gegeben«, erwiderte der Kommandant des angeschlagenen Flaggschiffs grantig. »Sollen sie sich doch zum Dum scheren, Hauptsache, sie lassen sich nie mehr hier blicken. Keiner von denen soll mir je wieder unter die Augen kommen, vor allem nicht die drei, die mein Schiff verwüstet haben.« Er sah seinen jüngeren Gesprächspartner durchdringend an. »Hättest du ihnen nicht geholfen, von der RUGA zu fliehen, wären sie jetzt tot!« »Oder sie hätten an Bord noch weiteren Schaden angerichtet«, er widerte Shanik Ventess. »Welche Strafe erwartet mich für meinen Verrat?« »Verrat? Wer redet hier von Verrat? Du hast die Fremden hel denhaft von Bord gejagt. Niemand wird es wagen, dieser Version zu widersprechen, wenn ich bestätige, es mit eigenen Augen so gesehen zu haben. Du wirst in deinen früheren Stand erhoben und wieder zurück zur Schutztruppe versetzt. Versprich mir, daß du dich dies mal dort besser bewährst. Eine weitere Blamage kannst du dir nicht leisten – du, der Sohn des obersten Norll.«
* Oberstleutnant Kenneth MacCormack wurde nach diesem Aben teuer zum Oberst befördert. Viel hatte er zwar nicht erreicht, doch ein fragiler Friede war besser als Krieg. Die Noid waren keine Freunde der Terraner geworden, verzichteten aber auf weitere Kampfhandlungen oder Regreßansprüche. Davon profitierten vor allem die Utaren. Dennoch sahen sie sich als Verlierer in diesem Spiel und beklagten noch lange den Verlust »ih rer« wertvollen Besitztümer. Immerhin hatten sie begriffen, daß sie auf Spug und im Walim-System nichts mehr zu suchen (und zu fin den) hatten. In welchem Teil der Milchstraße weitere Planeten der Noid lagen, wurde nicht bekannt. Vielleicht würde man eines Tages durch Zufall auf einen davon stoßen…
12.
Das altehrwürdige Gebäude hatte sich inzwischen mit Menschen, ihren Schritten und ihren Stimmen gefüllt. In kleinen Gruppen oder einzeln strömten sie an ihm vorbei; fast ausschließlich Studenten. Stranger stand in einer Fensternische, während er über Vipho mit Veronique sprach. Sie machte ihm keine Vorwürfe, war glücklich, daß er überhaupt anrief und daß es ihm gut ging. So liebte er es. »Warum sollte es mir denn schlecht gehen, Zuckerstück? Erstens arbeite ich, zweitens höre ich deine Stimme und sehe zumindest eine Miniaturausgabe deines schönen Gesichts.« »Umgekehrt, schätze ich doch«, sagte sie mit gespielter Strenge. Sie verabredeten sich für den Abend des übernächsten Tages in seinem Apartment in Alamo Gordo, für den Mittwoch also. Vergeblich, sie würden sich verfehlen. Nach diesem Gespräch – ihrem letzten für viel zu lange Zeit –schlenderte Stranger durch die Gänge des Universitätsgebäudes. Ohne seine ungewöhnliche Gestalt und Haarfarbe wäre er kaum aufgefallen unter all den Studenten. Der Reporter von Terra-Press schätzte es, sich so lange wie möglich an dem Ort aufzuhalten, wo eine neue Story zum erstenmal Konturen annahm und ihm die ersten konkreten Fragen diktierte. Das hatte nichts mit Aberglauben zu tun, das war einfach nur Intuition. »Such die Antworten zuerst dort, wo du über die passenden Fragen gestolpert bist«, pflegte er manchmal zu sagen. Die Fragen lauteten: Wo steckte Ian Carus? Warum war sein Buch wie vom Erdboden verschwunden? Hatte er über Probleme ge forscht, die mit den aktuellen Wetterkapriolen zusammenhingen? Und: Was hatte Professor King zu verbergen? Vor dem Hörsaal, in dem King ab zehn lesen würde, tat Stranger, als würde er die Vorlesungspläne und Seminartermine studieren. In
Wirklichkeit beobachtete er aus den Augenwinkeln die Studenten, die in den Hörsaal strömten. Nicht nur Indianer beherrschten das perspektivische Sehen. Die Kupferlockenprinzessin mit der Stupsnase blieb kurz im Ein gang stehen, als sie Stranger vor dem Schwarzen Brett entdeckte. Ein kaugummikauender Hüne mit tätowierter Glatze hielt sie im Arm. Er zog sie mit sich in den Hörsaal, während sie ihm etwas zuflüsterte und dabei in Strangers Richtung schaute. Der Mann von Terra-Press fackelte nicht lange – er mischte sich unter die Studenten, ließ sich von der Menge in den Hörsaal treiben und stieg zur letzten Reihe hinauf. In der vorletzten hatte er das Paar entdeckt. Sie knutschten und bemerkten ihn nicht. Er nahm direkt hinter ihnen Platz. Warum nicht mal wieder eine Vorlesung hören? Mal schauen, was dieser verlogene Professor draufhatte. Die Ränge füllten sich nur schleppend, fast ein Drittel der Plätze blieb leer. Von seiner leicht erhöhten Warte aus beobachtete Stranger die Studenten. Vor allem das Paar vor ihm. Die Tätowierung auf dem Kahlkopf von Kupferlockes Liebhaber entlockte ihm ein ers tauntes Lächeln: Ein Ringraumer vor einem Spiralnebel, auf dem Ringrumpf des Schiffes in sehr kleinen, aber für Strangers scharfe Augen dennoch lesbaren Buchstaben der Name des Schiffes: POINT OF. Nicht zu fassen – ein Verehrer des ehemaligen Commanders der Planeten in der altehrwürdigen Universität zu Edinburgh! Statt King kam sein Assistent, stellte sich an das Pult, klemmte sich das Mikro ans Revers und ließ verlauten, daß der Professor leider kurzfristig verhindert sei. Danach tippte er ein paar Autorennamen und Buchtitel in die Pulttastatur, die zeitgleich auf einer Projekti onsfläche an der Stirnwand erschienen. Die Studenten sollten sich mit diesen Veröffentlichungen beschäftigen. Dazu schrieb er noch ein paar Fragen, die »der Herr Professor im Hinblick auf die nächste Klausur für hilfreich hält«, wie er sich ausdrückte. Es ging um die klimatischen Verhältnisse in Perm und Kreidezeit und ihren Nie derschlag in den subglazialen Schichten der Antarktis. Als würde sie
spüren, daß Stranger sie beobachtete, drehte Kupferlocke sich um. Sie lächelte, und Stranger lächelte zurück. Süß, die Stupsnase mit den Sommersprossen. Der Assistent verschwand grußlos. In dem danach einsetzenden Exodus geriet Stranger mehr oder weniger absichtlich in die Nähe des Paares. Er wollte sie ansprechen, aber sie kamen ihm zuvor. »Candy sagt, Sie seien der Stranger von Terra-Press«, raunte der Kahlkopf auf ihn herab. »Ist das wirklich wahr?« »Nicht so laut«, grinste Stranger. »Ich bin gern inkognito un terwegs.« »Dürfte schwer sein bei Ihrem Kaliber«, nölte der Hüne. »Wie darf ich das verstehen, junger Freund?« »Ivan meint ihre Arbeit«, mischte sich das Mädchen ein. Sie errö tete ein wenig, und ihre Sommersprossen verblaßten. »Er ist ein Fan von Ihnen, ehrlich. Er hat da einen Artikel…« Sie sah zu ihrem Re cken hinauf. »Los, Ivan, sag’s ihm.« »Ich habe da also einen Artikel von Ihnen, Mr. Stranger…« Der Bursche grinste verlegen, machte aber trotzdem auf lässig. »Also ehrlich, ich wäre Ihnen echt dankbar, wenn Sie mir den signieren könnten…« »Aber nicht hier.« Stranger konnte sein Glück kaum fassen. »Kommen Sie mit, wir trinken irgendwo einen Kaffee.« Sie verließen Hörsaal und Universität. Candy hieß mit bürgerlichem Namen Rosalynn Macintosh, und ihr Großer war Ivan Turek. Sein Vater betrieb eine Pelztierfarm im Ural. Beide studierten Meteorologie, Paläoklimatologie und Mineralogie, beide wollten ans andere Ende der Milchstraße und möglichst noch weiter, und beide hatten ihre Bewerbungsentwürfe für die Flotte schon in der Schreibtischschublade liegen. Vor dem Eingang eines Studentencafes schwang Ivan sich auf sein Fahrrad und radelte nach Hause, um den besagten Artikel zu holen. Candy und Stranger gin gen in das Cafe und bestellten Kaffee und Sandwiches. »Wenn Sie bei King studieren, haben Sie doch sicher Ian Carus
gekannt.« Stranger hatte sich für den direkten Weg entschieden. »Klar doch.« Candys Augen leuchteten. »Ein toller Typ war das! Auf dem Campus werden Sie kaum jemanden finden, der ihn nicht mochte. Unter den Studenten, meine ich.« »Unter den Professoren schon eher?« »Darauf können Sie einen lassen! Da gibt’s ein paar, die haben ihn rausgemobbt, das schwöre ich Ihnen!« Sie ereiferte sich regelrecht. Carus’ Rausschmiß schien eine Menge Staub aufgewirbelt zu haben. »King, dieses Arschloch, an erster Stelle.« »Hoppla! Ich dachte, Carus hätte…« »Eine Studentin ficken wollen? Schwachsinn! Die Schlampe hatte doch einen an der Waffel! Ian ist ein Gentleman durch und durch, das schwöre ich Ihnen! Nie im Leben hätte der einen begrapscht. Schon gar nicht so eine!« Stranger unterdrückte ein Grinsen. Candy war es verdammt ernst, das spürte er. »Sie meinen, er ist einer Intrige zum Opfer gefallen?« »Wenn Sie es so nennen wollen… ich nenne es eine Riesensauerei! Fast alle meine Freunde sehen das so.« »Kennen Sie die Frau näher, die er belästigt haben soll?« Rauch schwaden schwebten über den Tischen und reizten Strangers Atemwege. Drüben in Alamo Gordo gab es so gut wie keine Kneipe, in der die Leute zu rauchen wagten. Seines Wissens war dergleichen in diesem Teil der Welt auch einmal verboten gewesen. »Spurlos verschwunden. Genau wie Ian nach seinem Rausschmiß.« »Das wäre meine nächste Frage gewesen – Sie wissen also nicht, wo er steckt?« »Nein.« Sie lehnte sich zurück, fingerte einen Tabaksbeutel aus ih rer Handtasche und begann sich eine Zigarette zu drehen. »Nicht genau jedenfalls. Fragen Sie Ivan, der spricht manchmal mit ihm.« Drei Minuten später stürmte ihr Freund ins Cafe, mit hochrotem Kopf und einigermaßen außer Atem. Er legte eine Klarsichthülle mit einem Text vor Stranger auf den Tisch. »Am Ende des Artikels bitte, und wenn’s geht mit Datum und einem persönlichen Gruß.«
Es war ein Artikel aus dem Jahre 2059, ein Nachruf. Stranger über flog den Titel und die ersten Absätze. Ganz seltsam wurde ihm zu mute, er mußte schlucken. Es war der Nachruf auf Holger Alsop. Der Cyborg war bei einem Kampfeinsatz auf dem Planeten Pscherid in der Galaxis Orn von einem Zyzzkt erschossen worden. »Der ist doch von Ihnen?« Ivan bemerkte die Betroffenheit des Reporters. »Ja«, sagte Stranger leise. Er zog das letzte Blatt aus der Klar sichthülle. Für Ivan Turek, guten Flug und eine glücklichere Heimkehr, schrieb er unter den Text und unterzeichnete mit vollem Namen und Datum. »Hören Sie, Ivan, Ihre Freundin sagt mir, Sie wüßten, wo Ian Carus lebt. Er ist ein alter Freund von mir.« »Ian?« Zufrieden steckte der Kahlkopf das Blatt zurück in die Klarsichthülle. »Der lebt auf der Black Isle. Im Haus seiner Eltern, vermute ich. Die sind bei der Giant-Invasion umgekommen. Ich glaube, das Kaff heißt Rosemarkie, aber schlagen Sie mich nicht, wenn’s nicht stimmt…« Eine Stunde später saß Stranger in seinem Mietgleiter auf dem Parkplatz bei der alten Festung. Über Vipho sprach er mit seiner Redaktion in Alamo Gordo. »… Rosemarkie, genau. Die Familie heißt Carus… Wie der Autor, korrekt, Jenny. Ich brauche die genaue Adresse… Ich weiß, daß das kein Problem für Sie ist, Jenny. Ich bin stolz auf Sie…« * Die Scheibenwischer schrammten über die Fenster. Es regnete in Strömen. Stranger nahm die Küstenstraße nach Aberdeen hinauf. Der Autopilot steuerte das Fahrzeug. Der Reporter war sofort auf gebrochen. Bis zur Halbinsel Black Isle im Nordwesten war es ein gutes Stück, und er wollte keine Zeit verlieren. Die neuen Gleitert rassen an der Küste entlang waren gut ausgebaut. Wenige Kilometer nach Edinburgh fiel ihm auf dem Monitor der Heckkamera ein schwarzen Gleiter auf.
Auf halber Strecke zwischen Edinburgh und Dundee rief die Re daktion zurück. Jenny Auckland hatte die Adresse von Carus’ Haus in Rosemarkie recherchiert. Sogar angerufen hatte sie dort, jedoch nur eine Mailbox erreicht. Der schwarze Gleiter befand sich noch immer unter den Fahrzeugen hinter ihm. An den runden Stabilisie rungsschwingen links und rechts der Frontseiten glaubte er ihn wiederzuerkennen. Gegen 12 Uhr hörte der Regen auf. Stranger erreichte Dundee. Kopf und Glieder waren ihm schwer, und Müdigkeit zerrte an sei nen Augenlidern. Er stoppte an einer Raststätte und brachte seinen Energiehaushalt mit Kaffee, Bratkartoffeln und einem Steak wieder ins Lot. Als er zurück zu seinem Gefährt ging, sah er wieder einen schwarzen Gleiter – er stand in der Parkreihe gegenüber seinem eigenen Fahrzeug. Runde Stabilisierungsschwingen an den Front seiten – war es derselbe, der schon seit Edinburgh hinter ihm fuhr? Stranger blickte sich um. Niemand zu sehen. Er deaktivierte den Autopiloten, warf einen Blick auf die digitale Schottlandkarte und entschloß sich, nicht über Aberdeen zu fahren, sondern den kürze ren, aber zeitlich aufwendigeren Weg mitten durch die Highlands zu nehmen. Zurück auf der Schnelltrasse behielt er den Monitor im Auge. Als er sich der Ausfahrt näherte, glaubte er einen schwarzen Gleiter unter den Fahrzeugen hinter sich zu erkennen. Er spürte sein Herz im Hals klopfen, sein Atem beschleunigte sich. Eine lange Hängebrücke führte über die Bucht südlich von Dun dee, gleich danach steuerte er seinen Gleiter von der Schnelltrasse hinunter und Richtung Westen. Drei Gleiter folgten ihm, doch Stranger konnte nicht erkennen, ob der schwarze darunter war. Minuten später verließ er die Hauptroute nach Inverness. Über Ne benstraßen schlich er von Dorf zu Dorf. Er wünschte, er hätte sich längst ein Beispiel an seiner Liebsten genommen und eine als Feuerzeug getarnte Handwaffe angeschafft. Zu spät. Die Moorlandschaft paßte zu dem trüben Wetter. Und sie hätte auch zu einem blutrünstigen Verfolger gepaßt. Nur – auf dem Mo
nitor zeigte sich kein schwarzer Gleiter mehr. Zwei Stunden lang nicht, und als Stranger sich während der dritten Stunde allmählich wieder entspannte, wollte er nicht mehr ganz ausschließen, daß er an einer leichten Paranoia litt. »Und das nach vier Wochen Urlaub«, tadelte er sich selbst. Die Moorlandschaft blieb zurück, Hügel wurden zu Bergen, die Steigungen nahmen zu, und bald war er mitten drin im schottischen Hochland. Da er nun endlich sicher war, von niemandem verfolgt zu werden, fand er über ein paar Bergstraßen zurück auf eine größere Nordsüdtrasse. Sie führte geradewegs nach Inverness. Über die A93, die A924 und schließlich die A9 erreichte er zwanzig nach fünf die Stadt zwischen Beauly Firth und Moray Firth. Von der Brücke bei Inverness aus waren es kaum fünfundzwanzig Kilometer bis nach Fortrose an der Ostküste der Black Isle. Gleich dahinter, direkt am Meer, lag Rosemarkie. Die Borduhr seines Mietgleiters zeigte 17.52 Uhr, als er den Ortseingang passierte. Seine Knochen und seine Nerven verlangten nach einem Hotelbett, sein Geist und sein Jagdtrieb nach Antworten. Also tippte er die Carus-Adresse in den Autopiloten, der übernahm die Navigation, und in Nullkommanix gelangte er durch verwinkelte Straßen an die Küste und zum Haus der Carus’. Es lag direkt an der Uferstraße namens Marine Terrace, man hatte bei Flut höchstens zwanzig Meter bis zur Wasserlinie zu laufen. Traumhaft! Was für schöne Flecken es doch auf der guten, alten Erde gab! Stranger nahm sich vor, Vero nique bei nächster Gelegenheit hierher zu entführen. Er stoppte direkt vor dem Haus und stieg aus. Die Luft roch salzig und feucht, ein rauher Wind blies. Möwengeschrei mischte sich in das Rauschen der Brandung. Ein schwarzer Hund, groß wie ein Schaf, verharrte vor dem Tor des Nachbarhauses fünfzig Meter weiter und beäugte ihn. Die anderen Häuser standen noch weiter entfernt. Stranger zog seinen Mantel von der Rückbank, schlüpfte hinein, verriegelte sein Gefährt und trat an das zwei Meter hohe Gittertor vor dem Grundstück. »Joseph und Elizabeth Carus« stand
auf dem Schild über der Klingel. Stranger drückte auf den Knopf. Lange rührte sich nichts. Endlich rauschte es aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. »Wer ist da?« »Bert Stranger aus Alamo Gordo. Ich würde gern mit Mr. Ian Carus sprechen.« »Was wollen Sie von mir?« Die Stimme klang keineswegs alt, aber ziemlich unwirsch. »Ich hätte ein paar Fragen an Sie, möglicherweise können Sie nur in einer Sache entscheidend weiterhelfen.« Stranger entdeckte eine Kamera im Ginster rechts des Tores. »Könnten wir das persönlich besprechen?« Eine Zeitlang schwieg die Stimme aus der Gegensprechanlage. Dann: »Sie bluffen.« »Aber nein!« Stranger verdrehte die Augen. Da schien sich ein ge prügelter Hund eingeigelt zu haben. »Es geht um…!« »Sie sind von der Presse, habe ich Recht? Hauen Sie ab! Ich will nichts mit euch Boulevard-Geiern zu tun haben. Los! Verpissen Sie sich!« »Es geht um ihr Buch.« Stranger nannte den Titel und berichtete in Stichworten, warum er sich dafür interessierte. Doch das Rauschen aus dem Lautsprecher war längst verstummt. Er begriff, daß er ins Nichts redete. Der andere reagierte nicht mehr. Umkehren kam nicht in Frage, also klingelte der Reporter Sturm. »Wenn Sie nicht abhauen, hole ich die Polizei, das schwöre ich Ih nen!« blaffte es Minuten später aus den Lautsprecherschlitzen. »Schmierer wie Sie haben meinen Ruf gründlich genug durch den Dreck gezogen! Verschwinden Sie endlich!« Stranger begriff: Der Mann glaubte, er wolle ihm wegen der Sex affäre auf den Zahn fühlen. »Ich arbeite für Terra-Press, Mr. Carus. Wir interessieren uns nicht für angeblichen Bürosex. Mein Name ist Bert Stranger, vielleicht haben Sie gelegentlich von mir gehört. Ich soll Sie von Ivan Turek und Candy grüßen.« Er lauschte. Noch im mer das Rauschen aus der Gegensprechanlage. Wenigstens hörte der
Mann jetzt zu. »Die haben mir erzählt, was man Ihnen angetan hat. Wenn sie mich nicht für vertrauenswürdig gehalten hätten, hätten sie Ihre Adresse nicht rausgerückt. Mir geht es um Ihr Buch, Mr. Carus.« »Was für’n Buch?!« Er klang schon nicht mehr ganz so ruppig. »›Die Sonne stirbt‹. Vielleicht ist es aktueller, als irgend jemand wahrhaben will.« Schweigen. Lange Pause. Endlich summte der Türöffner. Stranger drückte das Tor auf. Über einen Kiesweg schritt er zum Eingang des aus schottischem Granit gebauten Hauses. Ein hagerer Mann zog die Eingangstür auf; dunkelblond, unrasiert, schmales und kantiges Gesicht, hellgraue, mißtrauische Augen, Ende zwanzig. Seine Bin dehäute wirkten entzündet, so daß er einen verkaterten oder zu mindest doch unausgeschlafenen Eindruck machte. Er trug helle Kordhosen und eine Art Hemdkittel aus ungefärbter und grob ge knüpfter Baumwolle. »Falls Sie mich verarschen, soll Sie der Teufel holen.« »Einverstanden.« Stranger blieb einen Schritt vor der halbge öffneten Tür stehen. »Wenn Sie wollen, treffen wir einen Ver einbarung: Wir sprechen einzig und allein über ihr Buch und über sonst nichts. Einverstanden?« Carus zog die Tür vollständig auf und machte eine herrische Handbewegung. »Kommen Sie schon rein.« * Der junge Mann führte ihn durch einen Flur voller Wäsche- und Altpapierstapel in einen mindestens fünfzig Quadratmeter großen Raum, eine Mischung aus Arbeits- und Wohnzimmer. Eine lange Wand bestand nur aus Fenstern und Glastüren, die auf eine Terrasse hinausführten. Von dort aus weiteten sich zum Greifen nahe die Moray-Bucht und das Meer. Schwere Wolken hingen über dem Wasser. »Ist es hier immer so kühl?« fragte Stranger.
»Öfter mal.« Carus war auf der Schwelle stehengeblieben und be obachtete ihn. »Schön haben Sie es hier.« Stranger war ehrlich entzückt. Links der Terrassentür stand ein Teleskop, eines von der größeren Sorte. Ein Kabel verband es mit einer Rechnerkonsole auf einem Computer tisch. Die gegenüberliegende Wand füllten Bücherregale aus. Die reichten bis zur Decke und waren vollgestopft mit allen möglichen Werken. An der rechten Stirnwand, über einer kleinen Sitzgruppe, hingen Schaubilder und vergrößerte Fotos der Sonne und eines an deren Fixsterns. Stranger trat näher heran, um den Namen entziffern zu können. Es war eine Abbildung der Sonne Achmed beziehung sweise NGC 1324/58. Ein Asteroidengürtel dieses Systems galt als einer der wichtigsten Tofiritfundorte der Milchstraße. »Jetzt erkenne ich Sie.« Carus ging zu einem von drei Schreibti schen an der gegenüberliegenden Wand. Auf einem stapelten sich Schubladen aus buntem Leichtmetall. Nun erst entdeckte Stranger, daß der Raum einen L-förmigen Grundriß hatte. Auf der linken Sei te, bei den Schreibtischen, zweigte ein etwa vier Meter breites Zim mer zur Straßenseite hin ab. »Hier.« Carus zog die Seite einer Zei tung aus einer der Schubladen. »Sie haben vor zweieinhalb Jahren über Wallis Industries berichtet, über den Aufbruch des Stamm werkes nach Eden.« »Live und nur unter anderem.« Die Hände noch in der Man teltasche, aktivierte Stranger den Aufnahmemodus seines Hand-Suprasensors. »Setzen Sie sich.« Carus wies auf die Sitzgruppe unter den Schau bildern und Sonnenfotos. »Sie beschäftigen sich nicht nur mit der Heimatsonne?« Stranger wies auf das Foto von Achmed, während er sich auf dem einzigen freien Sessel niederließ. »Ich beschäftige mich mit den Lebensphasen und Aktivitätskurven von Sonnen im allgemeinen und natürlich mit deren Auswirkungen auf ihre Planeten.« Carus kam zu ihm. Sein Gang wirkte, wie Stran
ger sich fühlte: müde. »Aber hauptsächlich konzentrieren sich meine Forschungen natürlich auf unsere Sonne.« Er räumte Wäsche von einem der Sessel auf den anderen und nahm Platz. »Wie geht es Candy und Ivan?« »Scheinen ziemlich verliebt zu sein.« Stranger schilderte seine Eindrücke von dem Studentenpaar und gab wieder, was sie ihm erzählt hatten. Zum erstenmal glitt etwas wie ein Lächeln über Carus’ ausge mergelte Züge. »Liebenswürdige Menschen, finden Sie nicht? Ich vermisse sie. Beide sind übrigens ziemlich begabt. Haben mir eine Menge Daten für meine Studien zusammengetragen.« »Welche Art von Studien, wenn ich fragen darf?« Stranger spürte, wie das Eis brach, eigentlich schon gebrochen war. Ein verletzter Mann saß dort, einer, der sich mit Mißtrauen und Schroffheit gegen weitere Verletzungen panzern mußte. Vermutlich war er ziemlich einsam, und vermutlich war er froh, endlich wieder einmal mit ei nem halbwegs normalen Menschen sprechen zu können. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, das Gespräch ohne Carus’ Einwilligung aufzuzeichnen. »Ich erforsche die Geschichte des Erdklimas und seine Ab hängigkeit von der Sonnenaktivität. Wie wirken sich Jahrzehnte hoher Sonnenaktivität zum Beispiel auf die Polkappen aus? Was geschieht mit den wichtigsten Meeresströmungen während der Phasen reduzierter Sonnenaktivität? Und so weiter. Verstehen Sie?« »Ich glaube schon.« Stranger zog seinen Mantel aus und hängte ihn so über die Sessellehne, daß die rechte Tasche mit dem HS seinem Gesprächspartner zugewandt blieb. »Ich frage mich nur, wie Sie an Ihre Informationen kommen. Meteorologische Aufzeichnungen gibt es doch erst seit zweihundert Jahren oder so, und wer sollte in den Jahrhunderten davor Sonnenaktivitäten dokumentiert haben?« »Die Sedimentschichten im Eis oder im Erdboden zum Beispiel. Bestimmte Edelgase, Rückstände bestimmter Pflanzen, die nur zu Zeiten intensiver Sonneneinstrahlung gedeihen konnten, und so
weiter. Und dann bedenken Sie, daß jede große Kultur auf ihre Weise Astronomie betrieb. Die Mayas, die Chinesen, die Ägypter, die Babylonier – wenn sie auch keine Möglichkeit hatten, die Sonne direkt zu beobachten, so finden sich doch zahlreiche Hinweise in ihren Aufzeichnungen. Und nicht zu vergessen das my thisch-religiöse Schrifttum der Menschheit. Auch hier stößt man häufiger auf Hinweise, als der Laie es sich vorzustellen vermag. Natürlich in verschlüsselter Form. Ich greife für meine Forschungen auf die Erkenntnisse von gut zwei Dutzend Fachrichtungen zurück.« Seine Stimme wurde fester, seine Miene entspannter. Er redete sich in Eifer, ja, in Begeisterung. »Sie glauben ja nicht, was für eine riesige Menge von Informationen, Theorien und Daten Sie im Terranet fin den, eine unerschöpfliche Schatztruhe geradezu. Im Grunde betreibe ich eine Kybernetik der historischen Klimatologie…« »Und was treibt unsere Sonne zur Zeit so?« bremste Stranger sei nen Redefluß. Carus verstummte, seine Miene verfinsterte sich. Er stand auf, vergrub die Hände in den Hosentaschen und begann zwischen Schreibtischen und Sitzgruppe hin- und herzutigern. »Sie haben es doch in meinem Buch gelesen, Mr. Stranger. Seit einem Jahr gibt es keine nennenswerten Sonnenaktivitäten, abgesehen von den übli chen Fusionsvorgängen natürlich, sonst säßen wir ja nicht hier. Und seit dem letzten Winter messe ich einen Rückgang der Oberflächen temperatur unserer Sonne. Im Januar und Februar waren die Werte sogar signifikant.« Er blieb stehen und breitete die Arme aus. »Die Oberflächentemperatur der Sonne sank schneller, als es die gängigen astrophysikalischen Modelle gestatten! Es ist einfach unglaublich!« »Kann man sowas denn mit den technischen Mitteln einer Univer sität exakt genug messen?« »Selbstverständlich! Unserem Institut standen doch die Daten der Sonnenforschungssatelliten zur Verfügung, die zur Zeit aktiv sind und die Sonne jenseits der Merkurbahn umkreisen! Diese Daten könnten sogar Sie abrufen, wenn Sie daran Interesse hätten.«
»Kennt Professor King die Daten?« »Natürlich kennt er sie.« Carus ging zum Fenster, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte aufs Meer hinaus. »Er war doch mein Doktorvater, und meine Promotion beschäftigte sich mit genau die sem Thema. King war ganz heiß auf meine Entdeckung. Jedenfalls einige Wochen lang. Als meine Arbeit fertig war, wollte er plötzlich nichts mehr davon wissen.« »Soll das heißen, er hat Ihre Promotion abgelehnt?« »So ist es. Ich habe dann einen kleinen Verlag in Bristol gefunden, der sie als Taschenbuch herausgegeben hat. Das Buch enthält sämt liches Datenmaterial, das ich bis März zusammengetragen hatte.« Er wandte sich vom Fenster ab und ging zu seiner Bücherwand. »Und wissen Sie, was das Absurdeste ist?« Er entnahm einem oberen Re galfach drei Bücher und einen Ordner. »Hier, schauen Sie es sich selbst an, sonst glauben Sie es mir ja doch nicht.« Mit einer Handbewegung wischte er Zeitungen, vollgeschriebene Notizblätter und einen leeren Obstkorb von dem niedrigen Tisch chen, legte Ordner und Bücher ab und schlug den Ordner auf. Strangers Herz schlug schneller: Es waren drei Exemplare von ›Die Sonne stirbt‹. Carus aber blätterte in dem Ordner, bis er einige Aus drucke von Netzseiten fand. »Hier. Vergleichen Sie bitte das rechte Dokument mit dem linken.« Auf der rechten Seite war eine Terranet-Seite abgeheftet, die von Ende März stammte. In Verlaufskurven, Diagrammen und Listen waren Sonnendaten dokumentiert: Oberflächentemperatur, Anzahl, Geschwindigkeit und Höhe von Protuberanzen, Koronadurchmesser und -temperaturen, Sonnenwindgeschwindigkeiten, Anzahl und Fläche von Sonnenflecken, Magnetfeldaktivitäten und so weiter und so fort. Das Blatt auf der linken Seite war eine Folie und stammte der Kopfzeile nach aus Carus’ abgelehnter Doktorarbeit. Carus deutete auf das Datum: 23. Februar 2062. Es listete dieselben Parameter auf wie die Netzseite, nur lagen sämtliche Meßdaten deutlich niedriger. Das fiel sogar dem übermüdeten Stranger auf, der sonst nicht allzu
viel anfangen konnte mit diesen Zahlen. »Verstehen Sie, was ich sagen will, Mr. Stranger?« Carus beugte sich zu ihm herab. Etwas wie Leidenschaft leuchtete in seinen Au gen. »King lehnt meine Doktorarbeit ab, ein paar Tage später will ich die neusten Daten aus dem Terranet und von den Satelliten abrufen, und was ist geschehen? Die Meßdaten sämtlicher Parameter haben sich verändert! Von einem Tag auf den anderen produziert die Sonne wieder mehr und höhere Protuberanzen, weist mehr und größere Sonnenflecken auf, schickt stärkere Sonnenwinde ins All, ist heißer und was nicht alles. Plötzlich tickt sie wieder richtig!« »Bitte?« Stranger schwirrte der Kopf. »Ist nicht wahr…« »Sehen Sie?« Carus schlug sich auf die Schenkel und ließ sich in den Sessel fallen. »So ähnlich habe ich mich auch gefühlt! Ich habe meine gesamte Arbeit auf den Kopf gestellt, bin sämtliche Ergebnisse durchgegangen, aber es lag nicht an mir, ich war nicht verrückt ge worden!« Er sank gegen die Lehne, verschränkte erneut die Arme vor der Brust und sagte leise: »Jemand hat das Netz und die Satelli ten manipuliert.« Eine Pause entstand. Was Carus da behauptete, war eine Zu mutung für jeden gesunden Verstand. Er glaubte tatsächlich an so etwas wie eine Verschwörung. War das nicht typisch für Verrückte? Dunkel erinnerte Stranger sich an das Gespräch mit einem Psycho tiker sechs oder sieben Jahre zuvor. Solche Leute konnten ihre durchgeknallte Weltsicht ja mit derartiger Überzeugung vortragen, daß man an sich selbst zu zweifeln begann. Andererseits: Diese Da ten, diese Netzseiten und Candys Behauptung, Carus sei aus der Uni gemobbt worden… Kühl bleiben, kleiner dicker Bert, noch kein Urteil fällen, erst einmal ganz genau hingucken… Stranger enthielt sich jeden Kommentars. Er blätterte in dem Ord ner. Brachte ein Wahnsinniger eine derart differenzierte wissen schaftliche Arbeit zustande? »Und was ist mit dem Buch?« fragte er beiläufig. Er war scharf auf das Taschenbuch.
»Was soll schon damit sein? Der Verlag in Bristol hat’s veröf fentlicht, Auflage: tausend Exemplare. Nach drei Wochen waren die verkauft. Ich forderte den Verleger auf, eine zweite Auflage auf den Mark zu werfen. Er weigerte sich. Argument: Bei einem solch spe ziellen Thema sei der Markt mit tausend Büchern schon mehr als gesättigt.« Stranger zog die Brauen hoch. »Ich habe versucht, Ihr Buch zu be kommen. Unmöglich. Die zwei Universitäten, bei denen ich es be stellen wollte, führen es unter den Verlusten. Verloren, gestohlen.« »Ha!« Carus stieß ein bitteres Lachen aus. »Jetzt sagen Sie bloß, das paßt nicht!« Stranger antwortete nicht. Drei Atemzüge lang sahen die Männer einander an. Schließlich schnellte Carus nach vorn. »Sie glauben mir nicht, habe ich recht? Sie halten mich für einen dieser Verschwörungsneurotiker, stimmt’s?« Stranger mußte grinsen. »Könnte ich einen Kaffee haben? Einen starken, wenn es möglich wäre.« Er gähnte. Carus griff nach einem der Taschenbücher. »Hier. Schenke ich Ih nen. Ein Belegexemplar. Lesen Sie es in Ruhe, und dann bilden Sie sich Ihr Urteil, ja?« Er stand auf, eilte zu einer Tür zwischen den Schreibtischen und betrat seine Küche. Stranger hörte Wasser rau schen und Geschirr klappern. Er begann in dem Buch zu blättern. Es war ein schönes Gefühl, ein Buch in den Händen zu halten, nach dem man dreißig Stunden lang gesucht; hatte. Hundertachtzehn Seiten hatte es. Hundertachtzehn Seiten trockene Wissenschaft: Fakten, Zahlen, alte Theorien, Gegenargumente, neue Theorien, Be lege und so weiter. Auch die Tabellen und Verlaufskurven aus dem Ordner entdeckte er wieder. Seine Lebensgeister kehrten zurück, noch bevor es im Haus auch nur nach Kaffee roch. Stranger stand auf und ging zur Rechnerkonsole. »Darf ich mal Ihr Kunsthirn benutzen?« »Klar. Ist ihm Ruhezustand, einfach den Knopf drücken.« Der Reporter nahm Platz, warf den Rechner an und ging ins Ter ranet. Nacheinander surfte er die Seiten mit den Tabellen und Ver
laufskurven an, auf die Carus sich berief und deren Adressen er in den Fußnoten dokumentiert hatte. Er verglich die aktuellen Daten der einzelnen Parameter mit denen im Buch. Sie lagen allesamt über den im Buch abgedruckten Daten. Er stand auf, holte den Ordner und verglich die Daten von Ende März letzten Jahres mit den ak tuellen Meßergebnissen. Die Sonnenaktivitäten hatten sich kaum verändert. »Zucker? Milch?« kam es aus der Küche. »Nur Zucker bitte.« Allmählich duftete es doch nach Kaffee. Stranger steuerte die Seiten der Institute an, von denen die Son nensatelliten betreut wurden. Die Daten unterschieden sich nicht großartig von denen auf den aktuellen Wissenschaftsseiten. Und was, wenn der Junge niedrigere Zahlen eingesetzt hat, kleiner dicker Bert? Nur um sich wichtig zu machen, zum Beispiel… »Lesen Sie den Schlußabschnitt, Mr. Stranger!« rief Carus aus der Küche. »Er enthält Fazit und Hauptthese.« Stranger blätterte nach hinten. Das kurze Schlußkapitel begann mit einer in seinen Augen hochkomplexen mathematischen Gleichung und schloß mit zwei schlichten Sätzen: Bei kontinuierlicher Reduzierung der Sonnenaktivität im oben dargelegten Ausmaß wird unser Zentralgestirn in zehn Jahren, zwei Monaten und dreizehn Tagen keine Energie mehr abgeben. Anders sind die oben dokumentierten Berechnungen nicht zu interpretieren. Stranger schloß die Augen. Ihn schwindelte. Was hatte er da gele sen? Er zwang sich ein zweites Mal, hinzuschauen und zu lesen, und er spürte, wie er in sich zusammensank. »Ist Ihnen nicht gut?« Carus kam aus der Küche. Er stellte einen Becher Kaffee vor Stranger auf den Rechnertisch. »Was sagen Sie zu meiner These?« »Nichts.« Stranger griff nach dem Becher. »Sie verschlägt mir die Sprache.« Andächtig schlürfte er den Kaffee. Carus lachte laut. »Das sollte die geringste erwünschte Wirkung sein!« Er sah den Wissenschaftler an. Wenn er wenigstens ein bißchen
verrückt gewirkt hätte. Aber er wirkte beängstigend normal. »Und was wäre die größte erwünschte Wirkung?« »Daß diese Warnung endlich in die Welt hinausgeschrien wird.« »Wenn ich diese Forschungsergebnisse einem neutralen Wis senschaftler zur Prüfung vorlegen würde, könnte ich vielleicht etwas dazu beitragen.« »Von mir aus, aber ich habe wenig Hoffnung.« Carus begann wieder in dem großen Raum herumzutigern. »Denken Sie bloß nicht, ich sei einer von denen, die beim ersten Gegenwind die Flinte ins Korn werfen. O nein! Im Februar, als King meine Arbeit abgelehnt und ich den ersten Schock verdaut hatte, habe ich sofort ein neues Konzept gemacht. Ich habe sogar eine Förderungszusage von der Wallis-Forschungsstiftung beantragt und erhalten!« Stranger horchte auf. »Stellen Sie sich das mal vor: Zwei Jahre lang hätte ich ohne finanzielle Sorgen forschen können! Die Wallis-Stiftung wollte mir sogar einen eigenen Meßsatelliten für Sonnendaten finanzieren! Kostet nicht die Welt heutzutage so ein Ding, aber dennoch Wahn sinn…« Er steckte die Hände in die Hosentaschen, ging zum Fenster und starrte wieder zum Meer hinaus. »Tja, so war das. Und dann habe ich mein neues Konzept, meine überarbeitete These und die Zusage von der Wallis-Stiftung King auf den Schreibtisch gelegt…« »Warten Sie!« Stranger sprang auf. »Lassen Sie mich raten: Einen Tag später kam es Ihnen plötzlich in den Sinn, zur Abwechslung mal über eine Studentin herzufallen, einfach so.« Carus wandtte den Kopf und sah ihn an. Er zog die Brauen hoch, und sein Mienenspiel schwankte zwischen Erheiterung und Ver blüffung. »Nein«, sagte er schließlich. »Zwei Tage später. Sie ließ sich einen Termin bei mir geben, kam dann gleich morgens in mein Büro. So eine richtige dralle Klischeeblondine. Ich hatte sie nie zuvor ge sehen. Sie bat mich, ihr Tutor zu werden, und wollte mir die dafür üblichen Gebühren zahlen. Viele Kollegen finanzieren sich mit so einem Tutorium ihre Promotion. Aber ich schwamm ja fast in Geld. Dank der Wallis-Forschungsstiftung. Also lehnte ich ab.«
»Und dann?« »Dann war sie sauer. Sie wurde laut, sie schrie, und plötzlich riß sie sich Bluse und Hose auf und rannte schreiend aus meinem Büro.« Er seufzte laut, schlurfte zur Sitzgruppe und ließ sich in einen Sessel fallen. »Direkt zu King. Verdammtes Miststück! Ich hätte sie be grapscht, zum Beischlaf nötigen wollen und lauter solchen Mist. Die haben mir nicht einmal die Chance gegeben, die Sache aus meiner Sicht darzustellen, King nicht, der Dekan nicht, niemand. Sie kün digten mir fristlos. Noch am gleichen Tag mußte ich mein Büro räumen…« »Ach du Scheiße!« Kopfschüttelnd stand Stranger auf. Jetzt war es an ihm, unruhig zwischen Schreibtischen und seinem Kaffee vor dem Rechner hin- und herzutigern. »Unglaublich, einfach unglaub lich…« Carus hing in seinem Sessel wie ein ausgespuckter Schluck Wasser; die fleischgewordene Resignation. Stranger lehnte sich ge gen einen der Schreibtische und betrachtete ihn. Der Mann tat ihm leid. Roch das alles nicht wirklich nach einer Art Verschwörung, was er da erzählte? Aber wer, bei allen Göttern der Milchstraße, sollte ein Interesse daran haben, eine bevorstehende Apokalypse zu ver schleiern? Ja, eine Apokalypse. Weniger war es nicht, was Ian Carus da mit tausend Daten und Zahlen belegen zu können glaubte… Vor dem Haus bellte ein Hund. Ziemlich heiser und rauh. Klang nach einem großen Hund. Stranger wandte den Kopf und sah zum Fenster, das zur Straße hin lag. Der schwarze Hofhund stand noch immer hinter dem Gatter. Wuff, machte er, drehte sich um und trot tete zum Haus. Was aber stand dort rechts am Straßenrand? Stranger rannte zum Fenster. Ein schwarzer Gleiter stand dort rechts am Straßenrand. Einer mit runden Stabilisierungsschwingen an der Frontseite. Ganz ruhig bleiben, Berti. Möglicherweise bist du paranoid, möglicher weise verfolgt dich wirklich jemand, wir finden das heraus… Carus tauchte neben ihm auf. »Was ist los mit Ihnen?« »Ich glaube, jemand ist mir gefolgt. Rufen Sie die Polizei!«
»Die kennen mich leider. Wenn ich da anrufe, kommen die mit ein bißchen Glück morgen um die Mittagszeit.« »Geben Sie mir die Nummer…«
13.
Trotz ihrer überragenden Schutzfelder brachte das konzentrierte Feuer aus Pressor- und Raptorstrahlen die ANZIO nun doch in Be drängnis. Die Integrität der Schilde wurde aufs äußerste beansprucht, als der Ovoid-Ringraumer der Rom-Klasse im Strahlengewitter der Pressor und Raptorkanonen von insgesamt 60 gegnerischen Kampfschiffen gebadet wurde. »… Belastung der Intervallfelder auf 70 Prozent gestiegen«, kam die Warnung von der Ortung. Dann: »80 Prozent. Steigt weiter auf 90!« »Sir, wir sollten uns aus dem Staub machen!« erreichte Jay Godels drängende Stimme seinen Kapitän. »Sofort!« Vegas traf seine Entscheidung in gewohnter Schnelle. »Bringen Sie uns weg von hier, Nummer Eins! Raus aus dem Schlamassel. Schnell!« Olin Monro zögerte keine Sekunde. Seine Finger glitten über die Bedienfelder seiner Konsole, während er die Befehle seines Kom mandanten in die Tat umzusetzen versuchte. Dann versetzte er mit unnatürlich ruhiger Stimme: »Erst mal können, Sir.« Vegas wandte sich ihm zu. »Probleme, Nummer Eins?« »Wir kommen nicht von der Stelle, der Pressorbeschuß hält uns eisern fest.« »Warum wehren wir uns nicht und schießen zurück, Kapitän?« rief Ron Nozomi, die Nummer Vier in der Leitzentrale. »Weil wir gerade jetzt alle Energie für die Intervallfelder brau chen!« gab Vegas nicht minder lautstark zu verstehen. Und weil es kaum Sinn macht, dachte er und sah die Bestätigung auf der Miene des Funk- und Ortungsoffiziers. Eine Erwiderung auf den Feuerüberfall durch die eigenen Waffen stationen war für den Moment illusorisch.
Inzwischen hatten die Tarnkappenschiffe der Caldarer die ANZIO in einer fast perfekten Kugelformation eingekreist. Eine der wir kungsvollsten Formationen im Raumkampf, wenn es um anhaltende Feuerkraft ging, weshalb das Flottenschulschiff auch die ganze Wucht des konzentrierten Feuers aus den Abstrahlantennen der Caldarer über sich ergehen lassen mußte. Der anhaltende Beschuß »blendete« die Orter der ANZIO dermaßen, daß sich die eigenen Waffensteuerungen außerstande sahen, die Feinde exakt zu erfassen, um wirkungsvoll zurückschießen zu können. Und blindlings in die Gegend zu halten, um vielleicht einen Zufallstreffer zu landen, schien wenig Aussicht auf Erfolg zu haben. »Das Intervallum steht kurz davor, zu kollabieren!« übertönte Be kians überraschte Stimme den Lärm in der Hauptzentrale. In der Tat wurde die Integrität der Intervallfelder aufs äußerste beansprucht. Dann begannen sie zu versagen. Beide! »ACHTUNG«, meldete sich die Kunststimme des Hauptrechners, dabei ohne Mühe das Schnarren der Alarmhörner übertönend, das den Vorgang begleitete. »NOTFALLSITUATION. AUSFALL DES INTERVALLUMS. NOTFALLSITUATION.« »… zum Glück haben wir ja noch den KFS.« Oberst Vegas vernahm die Worte, ohne genau zu registrieren, welcher seiner Führungsoffiziere sie gerade ausgesprochen hatte. Wie schön, pflichtete er dem Sprecher in Gedanken bei und war sich gleichzeitig bewußt, daß der Kompaktfeldschirm nur bedingt als rettender Strohhalm geeignet war. Obwohl dieser sich beim Ausfall der beiden Intervallfelder automatisch aufbaute, bewirkte er keine signifikante Verbesserung der prekären Lage, da der KFS vom kon zentrierten Beschuß durch Raptorstrahlen ständig wieder zerlegt wurde. Die W-Konverter in den Maschinendecks des Flottenschul schiffes kamen gar nicht schnell genug mit der Bereitstellung der Energiemengen nach, die nötig waren, um einen permanenten
Schutz zu bieten. Das caldarische Dauerfeuer belastete den Kom paktfeldschirm und brachte ihn immer wieder zum Zusammen bruch, noch bevor er sich richtig aufgebaut hatte. Wie es schien, war der Ringraumer den Attacken der caldarischen Kreuzer und Schlachtschiffe schutzlos ausgeliefert. Und es gab kein Entkommen aus der fatalen Umklammerung. »Was ist los, Mister Monro?« drängte Vegas seine Nummer Eins. »Sie sollten das Schiff aus der Gefahrenzone bringen!« »Tut mir leid, wir kommen nicht mehr vom Fleck, Sir!« Monros schweißnasses Gesicht wandte sich dem Kapitän zu; in seinen Augen flackerte etwas, das fast wie Furcht aussah. Furcht beim Ersten Offizier? Undenkbar. Eine gewisse Besorgnis, ja, aber keine Angst. Vegas drehte den Kopf, sah auf eine bestimmte Stelle der Bildku gel. Draußen spalteten erneut Blitze das All wie bei einem nächtli chen Gewitter. Es hatte den Anschein, als würde sich Admiral Go pinks Flotte immer enger um die ANZIO zusammenziehen. Wie die Schlinge des Henkers um den Kopf eines Delinquenten. Einen Augenblick lang dachte der Oberst darüber nach, wie die ANZIO in diese Situation geraten war. Daß ihm dabei Marschall Theodore »Ted« Bulton in den Sinn kam, geschah nicht von unge fähr. Der primäre Auftrag des Flottenschulschiffes war, die an Bord be findlichen Kadetten während der Ausbildungsreise auf die Lauf bahnen von Raumoffizieren in der Terranischen Flotte vor zubereiten. Aber bei seinem letzten Aufenthalt vor wenigen Wochen in Alamo Gordo hatte ihn der nach Dan Rikers Rücktritt vom Amt des Flottenchefs zum neuen Oberbefehlshaber der Terranischen Flotte aufgestiegene Marschall beiseitegenommen und ihm unter der Hand den Auftrag erteilt, sich neben seiner offiziellen Aufgabe auch auf die Suche nach der Heimatwelt der Caldarer zu machen. Bei den Caldarern handelte es sich um ein annähernd humanoides
Volk von eierlegenden Warmblütern und Sauerstoffatmern. Sie hat ten fünffingrige Hände, drei Facettenaugen und eine faltige Leder haut, deren Farbe zwischen braun und grün changierte. Das Besondere an ihnen war ihre Kommunikation, ihre »Sprache«, ihre Verständigung untereinander; sie waren Synästheten, die sich statt mit einer Lautsprache durch Farbspiele ihrer Augen unterei nander verständigten. Man wußte nicht viel über sie. Nur daß sie seit etwa 2047 die über lichtschnelle Raumfahrt betrieben und sich bei ihren Erstkontakten mit anderen Völkern aggressiv und territorial verhielten. Die Tulusi konnten ein Lied davon singen. Terraner und Caldarer waren sich erstmals im Sommer 2058 im Munro-System begegnet. Schon damals war es zu einer krie gerischen Konfrontation gekommen, die die Terraner zu ihren Gunsten entschieden. Was den caldarischen Hochrat veranlaßte, eine umfassende Aufrüstung in die Wege zu leiten, wie sich inzwi schen herausgestellt hatte. Eine Aufrüstung, die die ANZIO nun am eigenen Leib erfahren mußte, beendete Roy Vegas seine Blitzanalyse. Längst waren die fernen, blinkenden Punkte zu waffenstarrenden Giganten angewachsen, aus denen sich permanent grelle Strahlbah nen lösten und ihr Ziel fanden: den Sendboten des Alten Feindes, wie die Caldarer irrtümlicherweise anzunehmen schienen. Die caldarische Flotte unternahm wirklich alle Anstrengungen, das Schulschiff von der Erde zu vernichten. Ein Schiff, das eigentlich mächtig genug sein sollte, ihr Paroli zu bieten und einen Angreifer, der, obwohl weit in der Überzahl, in seiner technologischen Evolu tion mehr als nur eine Stufe unter ihr stand, in die Schranken zu weisen. Roy dachte vage: Verkehrte Welt. Oder ausgleichende Gerechtigkeit – falls ein derartiger Begriff hier
Siehe REN DHARK-Sonderband 14: »Krisensektor Munros Stern«
überhaupt Berechtigung hatte. Aber… Ein alter Spruch kam ihm unwillkürlich in den Sinn: Viele Hunde sind des Hasen Tod. Man konnte wahrlich davon ausgehen, daß im Augenblick viele Hunde die ANZIO jagten. Er grinste plötzlich. Sein Erster Offizier sah ihn von der Seite an. »Sir?« dehnte er. Der Oberst winkte ab. Fraglich, ob seine Nummer Eins dieses Sprichwort überhaupt noch kannte. Dann erlebte Roy Vegas zum erstenmal, seit er das Kommando über das Schiff führte, daß die ANZIO bebte. Die Zelle des Ovoid-Ringraumers begann zu vibrieren, als Olin Monro den An trieb bei dem Versuch, sich loßzureißen, kurzfristig überlastete. Die Besatzung wurde in ihren Kontursitzen durcheinanderge schüttelt. Es kam zu Explosionen in Aggregaten und Speicher bänken, zum Zusammenbruch vieler Systeme sowie zu Unter brechungen einer Reihe wichtiger Energieleitungen. Feuer brachen aus. Qualm aus brennenden Leitungen brachte die Luftumwälzer für Sekunden an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, ehe die sich selbsttätig aktivierenden Schutzmechanismen ansprangen und die Lage stabilisierten. Wieder versuchte die ANZIO, die Falle zu verlassen, Fahrt aufzu nehmen und sich aus dem Staub zu machen. Und erneut gelang es ihr nicht, der Schwerkraftfalle der Pressors trahlen zu entkommen. Vegas aktivierte die Phase zur Maschinenzentrale. Dave Gjelstad meldete sich aus seinem Leitstand über dem Hauptkonverterraum; der Chefingenieur der ANZIO war bis zur Brust sichtbar. Vegas’ Brauen wölbten sich. Die Stirn des Chiefs war von bereits angetrocknetem Blut bedeckt; knapp unterhalb des Haaransatzes zeigte sich eine Rißwunde, doch
seine Stimme klang beherrscht wie immer. »Oberst?« »Bericht, Chief! Was ist geschehen?« »Wir hatten nur eine Reihe Kurzschlüsse und einige Brände im Maschinenraum, die wir aber rasch unter Kontrolle bekommen ha ben.« »Ihr Kopf?« fragte Vegas. »Unwichtig, Sir!« Gjelstad winkte ab. »Nur ein Kratzer.« »Gut. Wir brauchen mehr Energie für den Antrieb!« kam der Oberst zur Sache. Und erlebte eine herbe Enttäuschung. Dave Gjelstad schüttelte kategorisch den Kopf. »Vergessen Sie’s, Kommandant. Ich fahre schon Notleistung, um die Energie für den ständig kollabierenden KFS liefern zu können. Mehr ist einfach nicht drin.« Vegas’ Gesicht verdüsterte sich. Es war ein Fehler gewesen, den Tarnschutz zu desaktivieren und die Caldarer so nahe her ankommen zu lassen. Diesen Schuh mußte er sich anziehen, wie er jetzt erkennen mußte. »Informieren Sie mich, wenn sich die Lage zu unseren Gunsten verändert.« »Aye, Sir. Verstanden!« Der Schirm wurde leer. »Verdammt!« fluchte der Kapitän gegen seine Gewohnheit. »Hat sich denn alles gegen uns verschworen?« Es schien so. Der sich immer nur für Sekunden stabilisierende Kompakt feldschirm hielt zwar viel des caldarischen Feuers von der Wandung der ANZIO fern, aber immer dann, wenn die Raptorstrahlen ihn wieder zerlegt hatten, kamen Pressorstrahlen bis zur fünfzig Zenti meter starken Unitallhülle durch und nagten an ihrer Integrität. Vegas begann sich insgeheim vor dem Moment zu fürchten, an dem sie nachgeben würde. Allerdings hegte wohl kaum jemand an Bord ernsthaft die Vermutung, daß die starke Unitallpanzerung der
ANZIO dem Ansturm des massierten Strahlbeschusses durch Hochadmiral Gopinks Caldarerflotte nicht standhalten könnte. Pressor- und Raptorstrahlen waren nicht grundsätzlich in der La ge, jenes seltene, auf der Erde nicht zu findende Metall der alten Mysterious oder besser Worgun, Unitall genannt, zu zerstören oder gar aufzulösen. Dazu hätte es eines Beschusses durch Nadelstrahl bedurft, einer weiteren Waffe der Worgun (und Ausrüstung aller Ringschiffe und ihrer Beiboote), deren überlichtschnelle Strahlung als einzige in der Lage war, jegliche Materie aufzulösen. Auch das künstlich hergestellte Unitall konnte ihr nur ganze 210 Sekunden widerstehen, ehe es zu Energie zerfiel und dann mit der Wirkung einer nuklearen Megabombe ein atomares Inferno erzeugte. Noch hielt die Wandung des Ovoid-Ringraumers dem ständigen Bombardement stand – und sie würde es auch noch einige Zeit tun, obwohl sie sich langsam aufzuheizen begann. Vegas’ Blicke streiften die Anzeigen seiner Konsole; die Tempera tur der Außenwandung hatte noch keine tausend Grad erreicht. Zudem war die atomare Struktur so angelegt, daß das Material jede Strahlung in sechzehn Zentimeter Auftrefftiefe stoppte und wieder nach außen abführte. Selbst wenn die Wandungen bereits hellrot glühten, hätte dies keine Auswirkung auf die Umweltverhältnisse im Inneren des Ringraumers. Der Schmelzpunkt des Unitalls, das von den Worgun als Xer bezeichnet wurde, lag bei unglaublichen 143.750 Grad Cel sius. Dennoch mußte er eine Lösung finden, und zwar rasch. Er – Oberst Roy Vegas, ehemaliger Kommandant der ersten Marsexpedition, der zusammen mit drei weiteren Astronauten im Jahr 2011 in der Nähe des Marssüdpols als erster Mensch den Fuß auf den roten Planeten gesetzt hatte – um dann während einer So lomission zu den Eisfeldern des Polargebietes spurlos von der Bild fläche zu verschwinden, als er in die Gewalt des »Einsamen« geriet, eines intelligenten, verstandesbegabten Rechners, der ihn überwäl
tigte, als er in die im Marsboden verborgene Kaverne eines selbst heute noch unbekannten Robotervolkes eingedrungen war, die er bei seiner Exkursion entdeckt hatte. Siebenundvierzig endlose Jahre verbrachte er so in einem Tank voller Nährlösung als »Gesprächspartner« einer Künstlichen Intelli genz, ehe er im Jahr 2058 – welche Ironie des Schicksals! – von einem vernunftbegabten Roboter namens Artus aus seiner mißlichen Lage befreit worden war und ins »normale« Leben zurückkehrte. Für eine gewisse Zeit war er Kommandant eines 50-Meter-Kugelraumers namens SPECTRAL gewesen, ehe er im Mai 2062 zum Oberst befördert wurde und das Kommando über die ANZIO erhielt, jenen neu in Dienst gestellten Ovoid-Ringraumer der Rom-Klasse. Das neue Flottenschulschiff. Und plötzlich mußte er sich Gedanken über die Sicherheit von 500 Menschen machen – 50 Mann Stammbesatzung, 200 Rekruten der Rauminfanterie sowie 250 Kadetten der TF; alles angehende Offiziersanwärter, die auf den Reisen der ANZIO jene Fähigkeiten erlernen sollten, die sie später befähigen würden, Mannschaftsdienstgrade zu führen und selbsttä tig Kommandos zu übernehmen. Hunderte von Männern, die seinen Befehlen folgten, die ihm ihr Leben anvertrauten. Anfangs hatte er Zweifel gehabt, der schweren Verantwortung dieses Postens gewachsen zu sein. Anfangs. Jetzt nicht mehr. Er war der Kapitän, sein Wort war Gesetz. »Vorschläge, meine Herren?« Obwohl er inzwischen voll und ganz auf sich und seine Ein schätzung schwieriger Situationen vertraute, suchte er gleichwohl den Rat seiner Männer, allesamt weltraumerfahrene, kampferprobte Flottenangehörige. Marschall Bulton hatte ihm eine wirklich gute Mannschaft zur Seite gestellt. »Eine Transition aus dem Stand, Sir?« schlug Jay Godel vor und sprach damit den meisten in der Zentrale aus der Seele, wie Vegas an den zustimmenden Bemerkungen und Mienen erkennen konnte. Seit Robert Saam und Chris Shanton unter tatkräftiger Mithilfe ei
nes Wissenschaftlerteams und den Milliarden seines Arbeitgebers, Gönners und väterlichen Freundes Terence Wallis sowie dessen Be ziehungen zur Erdregierung einen flugunfähigen Ringraumer zum Zerlegen bekommen und herausgefunden hatten, wie man die Schiffe betanken und in den Vollbetriebsmodus schalten konnte, war so en passant ein weiteres Rätsel der Mysterious offengelegt worden: Die von ihnen hinterlassenen Ringraumer waren in der Lage, wie die Schiffe der Nogk aus dem Stand heraus zu transitieren. Allerdings wurden dazu Unmengen von Energie benötigt. »Nicht im Augenblick«, wehrte der Oberst ab. Er wandte sich an die Funk-Z. »Noch immer keine Antwort von den Caldarern?« »Negativ, Sir«, erwiderte Funkobermaat Dumbo von seiner Kon sole. »Halsstarriger Bursche, dieser Gopink«, murmelte der Kom mandant sauertöpfisch und mit einer gelinden Wut im Bauch. »Kann man wohl sagen, Sir«, bemerkte Monro und sah ihn von der Seite an. Doch das Gesicht seines Kapitäns verriet nichts von dem, was den hochqualifizierten Raumfahrer bewegte. Dazu war der Kommandant zu sehr Profi, um etwas von seiner Gemütsregung nach außen dringen zu lassen. Jetzt sagte er, und seine Stimme klang wieder ruhig und be herrscht: »Na gut, wer nicht hören will, muß fühlen. Dann also auf die harte Tour…« Er öffnete die Phase zu den Flashdepots. »Mister Skerl!« »Sir?« Oberleutnant Darren Skerl war auf einem Nebenschirm zu sehen. »Status?« »Bereit für den Start, Sir«, meldete der Geschwaderführer des Flashverbandes. »Starten Sie«, ordnete Roy Vegas an. »Zu Befehl, Sir!«
*
Leutnant Robert Ure saß in der Kanzel von Flash ANZIO 016 und ließ den taktischen Schirm nicht aus den Augen, der ihm den Status seiner startbereiten Maschine mit einer Flut von Daten präsentierte. Noch waren sie in den Depots, aber er fieberte dem Augenblick entgegen, in dem der Startbefehl kommen würde. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund, der nichts mit der Luftzusammensetzung zu tun hatte; die Werte waren optimal, wie er mit einem schnellen Blick auf die Anzeigen erkannte. Keine Abweichungen von den Standards. Alles war wie immer, so wie der vertraute Geschmack in seinem Mund, der von dem bevorstehenden Adrenalinstoß herrührte, der sich immer dann bei ihm einstellte, wenn ein Flug ins All unmittelbar bevorstand. Zumal es sich diesmal um keinen normalen Start handelte. Alle 28 zylinderförmigen Mini-Raumboote – Roy Vegas hatte den Einsatz des kompletten Geschwaders angeordnet – würden die ANZIO nicht auf dem üblichen Weg durch die Hülle verlassen, sondern in einer Kurztransition aus dem Stand aus dem Innern der Hangars heraus. Das kostete zwar immens viel Energie, wie Ure wußte, aber das schien dem Alten egal zu sein. Der Leutnant, zur Stammbesatzung des Flottenschulschiffes ge hörend und einer der regulären 28 Flashpiloten, lehnte sich tiefer in den Gliedersessel und versuchte, einen Moment zu entspannen; die Rückhaltevorrichtung des intelligenten Sitzes folgte seinen Bewe gungen und schloß ihn in ihre schützende Umarmung. Er blickte über die Schulter nach hinten zu seinem zweiten Mann, Roul »Torpedo« Hunter; sein Kopilot schien ein wenig ungeduldig zu sein. »Nervös, Fähnrich? Müssen Sie nicht. Bei mir sind Sie in guten Händen.« »Ich weiß das, Sir. Nein. Ich frage mich nur, wann es endlich los geht«, bemerkte Roul Hunter und konnte seine Erregung nur un
vollkommen unterdrücken. Ure grinste kurz. »Ungeduld, dein Name ist Jugend«, gab er halblaut zu verstehen. »Und nicht alles ist vernünftig, was man mit ernsthaftem Gesicht daherredet«, konterte Hunter. »Wohl gesprochen, Kadett Hunter.« Leutnant Ure lachte verhalten. Obwohl der Pilot im Rang über Roul Hunter und sein Flug ausbilder war, hatte sich zwischen dem nur wenig Älteren und dem Kadetten mittlerweile ein vertrauensvolles Verhältnis herausgebil det, das eine derartige Unterhaltung zuließ – solange kein höher rangiger Vorgesetzter in der Nähe war. Hunters Geduld wurde nicht mehr länger auf die Probe gestellt. »Achtung, Geschwader«, kam die Stimme des Geschwaderführers aus den Korns der Flash. »Transition einleiten. Beginnen auf mein Zeichen. Jetzt!« Hunter spürte seinen Magen; es war das erste Mal, daß er bei einer derartigen Aktion in einem Flash saß. Hoffentlich geht alles klar, dachte er, und wir kommen heil raus… Noch ehe er den Gedanken zu Ende gebracht hatte, war die ver traute Umgebung des Hangars verschwunden, und Roul Hunter starrte in die sterngesprenkelte, endlose Schwärze des Weltraums. Rechts unten auf seinem Sichtschirm glänzte das Zentralfeuer des hiesigen Sonnensystems. »Haben Positionen erreicht«, kamen die Meldungen der einzelnen Flash über die abgeschirmte Hyperfunkverbindung; Robert Ure be stätigte auf die gleiche Weise. Die ANZIO war auf dem Statusschirm über den Köpfen der Flashbesatzung als Dreieck in einem grünen Kreis dargestellt, der von einem roten, pulsierenden Gefahrenkranz umgeben war. Die Flash waren außerhalb des Ringes der caldarischen Schiffe wieder im Normalraum erschienen, dank ihrer aktivierten Tarnan lagen unbemerkt von den Flotteneinheiten. Die feuerten weiter ohne Unterlaß auf die ANZIO, die in den Energieentladungen der Waffen
nicht mehr zu orten war. Roul Hunter fragte sich in diesem Moment der relativen Untä tigkeit, wie lange wohl das Unitall der Hülle diesen massierten Angriffen standhalten würde? Laß dich nicht ablenken! ermahnte er sich und richtete sich in seinem Sitz etwas auf. Alle Gedanken verdrängend, die nicht unmittelbar mit der bevorstehenden Aufgabe zu tun hatten, konzentrierte er sich auf die taktische Situationsanalyse, die ihm vom Schirm geboten wurde, und studierte die hereinströmenden Daten. Über die ständig offene Kommandophase hörte er den Hyper funkverkehr zwischen seinem Geschwaderführer und der Leit zentrale wie ein fernes Flüstern. »Hier Null-Null-Eins. Transition vollzogen«, meldete Darren Skerl an die ANZIO. »Alle Einheiten sind draußen. Haben Position ein genommen, Sir.« »Verstanden, Null-Null-Eins«, bestätigte Oberst Roy Vegas. »Hal ten Sie sich bereit.« In der ANZIO wandte sich Vegas an die Funk-Z. »Haben unsere Gegner in irgendeiner Weise auf die Funkbot schaften reagiert?« fragte er, obwohl er sicher war, die Antwort zu kennen. »Nein, Sir«, antwortete Bekian erwartungsgemäß. »Auf keine ein zige.« »Hätte mich auch gewundert«, knurrte Vegas. Er schürzte die Lippen. »Aber man soll uns nicht nachsagen, wir hätten es nicht versucht. Rufen Sie sie noch einmal.« »Zu Befehl, Sir.« Erneut öffnete die Funk-Z einen Hyperfunkkanal. »Hören Sie, Hochadmiral Gopink«, sagte Roy Vegas laut und nachdrücklich. Das inzwischen auf caldarische »Sprache« ein gestellte Translatorprogramm des Universalübersetzers wandelte die Laute in die entsprechenden Färb- und Tonimpulse um. »Dies ist unsere letzte Warnung. Ich verlange eine sofortige Einstellung des
Feuers, andernfalls wird pro Sekunde eines Ihrer Schiffe vernichtet werden.« Die Phase blieb stumm. »Himmeldonnerwetter!« rief Vegas und schlug mit der flachen Hand auf die verbreiterte Armlehne seines Gliedersessels. »Na gut. Seine Halsstarrigkeit läßt uns keine andere Wahl. Mister Skerl«, richtete er sich über die Kommandophase an den Flashgeschwader führer, »Sie haben freie Hand.« * Oberleutnant Skerl wandte sich an die Piloten seines Geschwaders. »Ihr habt gehört, was der Kommandant gesagt hat. Bereit, Männer?« »Sind bereit!« Das war Leutnant Orsini von der 002. »Bereit…« Winchester aus der 003. »Jawohl, Sir! Gehen wir Schiffe versenken!« Das war Timulin Mandrakes forsche Stimme aus der 007. »Mandrake… natürlich wieder Mandrake«, murmelte Hunter halblaut, während die scharf artikulierte Stimme Darren Skerls den Fähnrich zur Funkdisziplin aufforderte. In rascher Folge liefen die Bestätigungen der einzelnen Flashpilo ten beim Geschwaderführer ein. Als die letzte Klarmeldung eintraf, befahl Skerl knapp und scharf: »Phalanxformation!« Diese Linienformation war eigentlich nicht für schnelle Jäger ge dacht, eher für auf breiter Front vorrückende Kreuzer und Schlacht schiffe, doch für das, was die Flash vorhatten, war sie dennoch her vorragend geeignet: Das Flashgeschwader hatte von Vegas den Auftrag, mit eingeschaltetem Intervall und aktiviertem Brennkreis mitten durch die dicksten Pötte zu fliegen und sie auszuschalten. »Achtung«, ließ sich Skerl mit eisenharter Stimme über die Inter nverbindung hören, »Synchroneinsatz aller Flash mit einer Sekunde Zeitverzug. Aufsteigende Nummernfolge. Ich beginne. Hals und
Beinbruch, Männer!« Die Gedankensteuerung beschleunigte Skerls Flash mit extrem hohen Werten. Mit aktiviertem Intervallum und Brennkreis drang die 001 in das nächstgelegene caldarische Schiff ein, durch die Wandungen hindurch, als wären sie nicht vorhanden, und auf der anderen Seite wieder hinaus. Auf seinem Weg flog er mitten durch den Hauptreaktor des Schlachtschiffes und brachte ihn innerhalb eines Sekundenbruchteils zum Kollabieren. Die Abschirmungen und Kraftfelder der Eindämmung versuchten zwar, das Desaster aufzu halten, waren aber machtlos. Was da genau geschah, überstieg den Wissenshorizont der meisten Flashpiloten – für sie zählte allerdings auch nur das Ergebnis ihres Einsatzes. Und das war furchterregend genug. Hinter der 001 leuchtete das Schiff von innen heraus auf wie ein papierener Lampion, dann trieb eine gewaltige, lautlose atomare Explosion die Zelle des Schlachtkreuzers auseinander und verstreute sie als glitzernde Trümmerwolke winziger Teilchen im Weltraum. Inzwischen war schon der nächste Flash zu seinem Ziel unterwegs, der dritte, vierte, der fünfte. Jede Sekunde drang ein anderes der Raumboote in eines der Schiffe ein und brachte dessen Kernreaktoren beim Durchfliegen zum Ex plodieren. Die 016 war an der Reihe. Mit einem merkwürdigen Gefühl in der Magengrube sah Roul Hunter auf seinem Schirm das Schiff näherkommen. Wie ein Berg türmte es sich vor dem kleinen Beiboot auf. Angespannt starrte Roul auf die Symbole der stumpfgrauen Wandungen, Schriftzeichen oder Zahlen, die vermutlich eine caldarische Nomenklatur bedeuteten, und wartete auf den Aufprall. Es gab keinen. Die 016 bewegte sich in ihrem eigenen Miniuniversum innerhalb des Normalraums durch das caldarische Kampfschiff. Nichts konnte
sie aufhalten, nichts ihr gefährlich werden. Auf ihrem Weg zum Maschinendeck und dem Hauptreaktor, der von den Tastern ein deutig und ohne Schwierigkeiten geortet wurde, huschte die 016 durch das vollbesetzte Flugdeck und tauchte in die Mannschafts decks hinab. Roul erhaschte einen Blick auf erschrockene caldarische Gesichter. Die Besatzungsmitglieder konnten sich keinen Reim dar auf machen, was sich da wie ein Schemen durch ihre Decks und Räume bewegte und dabei einen Kreis der Zerstörung hinterließ, durch den die Luft aus dem Raumer pfiff. Sie würden es auch nie mals herausfinden, dafür war die Zeit, die sie noch hatten, viel zu kurz. »Noch fünfzig Meter«, meldete Hunter. »Verstanden«, bestätigte Ure und korrigierte eine minimale Kurs abweichung. Auf dem Quantentaster tauchte der Reaktor als rotleuchtende, wabernde Zone reiner Energie innerhalb von grün und blau schim mernden Eindämmungsfeldern auf. »Ziel erfaßt«, meldete Roul Hunter und stieß den angehaltenen Atem aus, als Ure die 016 mitten hinein in das atomare Herz senkte, es durchstieß und auf der anderen Seite das Raumschiff wieder ver ließ. Und wieder geschah alles mit erschreckender, nicht nachvoll ziehbarer Schnelligkeit. Hinter der 016 wurde eine grelleuchtende Sonne geboren, schwoll an – und erlosch wieder. Und weiter ging die Vernichtung der caldarischen Flotte. Nach 21 Sekunden und ebensovielen explodierten caldarischen Schiffen stellte der Rest der Flotte das Feuer ein, löste die Einkrei sung der ANZIO auf und ging auf einem Absetzkurs tiefer ins Innere des Systems hinein. Wie aus den durch die Funk-Z aufgefangenen Funksprüchen zwischen den Flotteneinheiten deutlich wurde, waren die Caldarer zutiefst verwirrt und verunsichert über die Unkenntnis, welche Waffe der Terraner ihre größten Schlachtschiffe innerhalb unglaublich kurzer Zeit vernichtet hatte und ihren erwarteten
Triumph zu einem Desaster hatte werden lassen. »Sir!« Skerls Kopilot, Fähnrich Lenard Skenard, meldete sich von seinem rückwärtigen Platz in der 001. »Sichtspruch von der ANZIO!« »Öffnen Sie den Kanal«, befahl Darren Skerl und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Schirm, auf dem sich der Kommandant zeigte. »Status, Mister Skerl?« »Alle Einheiten haben den Einsatz unbeschadet überstanden«, meldete Darren Skerl. »Ihre Einschätzung, Oberleutnant? Wird die Flotte noch einmal angreifen?« »Hat nicht den Anschein, Sir. Eine Fortsetzung der einseitigen Schlacht ist kaum zu erwarten«, gab Darren Skerl seine Bewertung der Lage an die ANZIO durch. »Das, was von der caldarischen Flotte noch übrig ist, zieht sich zurück. Sollen wir sie verfolgen?« Vegas atmete vernehmlich aus. »Nein. Kehren Sie an Bord zurück, auf dem normalen Weg.« »Verstanden, Sir!«
14.
Ein weißer Gleiter mit orangefarbenen Streifen an der Seite und einer Alarmlichtleiste auf dem Dach hielt vor dem schwarzen Fahr zeug. Seine Scheinwerfer waren eingeschaltet, und das erst machte Stranger auf die Dämmerung aufmerksam. Er blickte auf sein Vipho: 21.32 Uhr behauptete die digitale Zeitangabe am unteren Rand des kleinen Bildschirms. Tatsächlich – der Tag ging schon wieder zu Ende! Die Flügeltüren des Streifengleiters spreizten sich nach oben ab, zwei Polizisten stiegen aus. Sie trugen blaue Uniformen – die Hosen weitgeschnitten und mit Beintaschen, die Jacken kurz und ärmellos. Bert Stranger hatte das Polizeipräsidium in Inverness angerufen und einen Beamten erwischt, der seinen Namen kannte. Eine knappe halbe Stunde war das her. »Warum haben Sie nicht versucht, den Kerl abzuhängen?« Carus’ Stimme klang vorwurfsvoll. »Hab’ ich doch! Auf dem ganzen Weg durchs Hochland habe ich dann niemanden mehr hinter mir gesehen! Ich verstehe es selbst nicht…« Einer der Beamten schritt um das schwarze Gefährt herum, als suche er irgendwelche Schäden oder Spuren. Er hob den Arm ans Kinn und gab das Kennzeichen über Vipho durch. An sein Revier vermutlich. Der andere stellte sich an die Fahrerseite und bedeutete dem Mann am Steuer, die Scheibe abzusenken. Carus und Stranger hatten niemanden im Inneren des Gleiters erkennen können, seine Fenster waren von außen nicht einsehbar. Jetzt, als das Seitenfenster in der Tür verschwand, erkannten sie auch niemanden – der Körper des Polizisten verdeckte die Sicht auf den Piloten. »Mist!« zischte Stranger. »Haben sie einen Feldstecher?« Carus nickte und ging zu den Schreibtischen. Stranger hörte, wie er na cheinander ein paar Schubladen aufriß. Der zweite Polizist blieb an
der Kopilotenseite stehen und ließ sich Papiere aus dem Gleiter rei chen. Beide sprachen sie mit den Insassen, beide beschäftigten sich mit Ausweisdokumenten. Carus tauchte wieder an Strangers Seite auf und drückte ihm das Fernglas in die Hand. Als er es ansetzte, grüßte der Polizist an der Pilotenseite gerade, und als der Beamte sich abwandte und die Sicht auf das Seitenfenster freigab, glitt das Fenster schon wieder nach oben. »Verdammt!« Der schwarze Gleiter startete und schwebte davon. Einer der Poli zisten stieg in das Streifenfahrzeug, der andere überquerte ohne Eile die Straße. Keine Minute später klingelte es. Carus lief zur Haustür und betätigte den Türöffner für das Gartentor. Stranger folgte ihm. »Mr. Stranger?« Der Polizist blickte auf den Reporter herab und wirkte ein wenig erstaunt. Vielleicht hatte er einen größeren und weniger rundlichen Mann erwartet. »Keine Sorge, Sir. Das waren harmlose Touristen. Die wollten nur den Sonnenuntergang mit Meersicht genießen.« Carus würdigte er keines Blickes. Die Affäre an der University of Edinburgh schien den jungen Wissenschaftler buchstäblich ins soziale Abseits befördert zu haben. Der Beamte verabschiedete sich. Stranger war die Sache so pein lich, daß er vergaß, nach den Namen der harmlosen Touristen zu fragen. Sein Gastgeber schloß die Tür. »Könnte es sein, daß man in Ihrem Job eine Art Verfolgungswahn entwickelt?« Carus grinste, während er die Frage stellte. Dann säßen wir ja im selben Boot, lag es Stranger auf der Zunge. Er schluckte die Bemerkung hinunter. »Schon möglich«, sagte er statt dessen. »Vielleicht lag es auch einfach…« Er schielte auf sein Vipho: kurz vor zehn. »Wissen Sie, ich habe wenig geschlafen in der ver gangenen Nacht.« Er überlegte, wie spät es jetzt in Alamo Gordo war. Drei Uhr nachmittags. Falsch. Fünf Uhr morgens. Auch falsch? »Und dann der Sprung über sieben Zeitzonen…« Fünfzehn Uhr oder fünf Uhr – er bekam es nicht auf die Reihe. »Ich werde jetzt gehen.« »Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie mich nicht in Grund und Boden schreiben?«
»Hören Sie doch auf, Mann! Was Sie da herausgefunden haben, ist… ist…« Stranger fehlten die Worte. »Ich werde es unabhängigen Forschern vorlegen. Wenn es stimmt, haben Sie einen Orden ver dient.« »Es stimmt – in weniger als neun Jahren ist es vorbei mit der Sonne. Und mit uns superwichtigen Übertieren entsprechend früher. Schon deswegen brauche ich keinen Orden, und ein Doktortitel nützt mir dann auch nichts mehr. Mir würden vernünftige Arbeitsbedingun gen reichen. Und eine Öffentlichkeit, die mich ernst nimmt.« Er sah, wie Stranger gähnte. »Wie wäre es, wenn Sie sich ein paar Stunden hinlegen, bevor Sie aufbrechen? Es ist kein Katzensprung nach Glasgow.« »Wenn das möglich wäre?« Stranger sah den anderen überrascht an. »Ja, ich glaube, dann würde ich Ihr Angebot annehmen. Vielen Dank.« Carus führte ihn durch die Küche hindurch zu einem Gäste zimmer. Klein, aber gemütlich. Vor allem war die Matratze des Bet tes so fest, wie Stranger es schätzte. Carus bot ihm sein Badezimmer an. Stranger duschte, ging ins Bett und schlief sofort ein. Er träumte, er sei mit Veronique auf Eden, und der Urlaub hätte gerade erst begonnen. Am Himmel stand eine Sonne, die war drei mal so groß wie die reale Sonne von Eden. Und sie wuchs noch, wuchs und wuchs, und füllte bald den ganzen Himmel aus. Die hohen Edenpalmen fingen Feuer, brannten lichterloh. Der Ozean dampfte, die Menschen flohen in die Transmitterhalle und rissen sich die brennenden Kleider vom Leib, während sie um die Plätze in den Kabinen kämpften. Allein Stranger war entzückt. Er zog seinen HS aus der Tasche und diktierte die Eindrücke von der wuchernden Sonne Edens, von den brennenden Palmen und den fliehenden Menschen. Was für eine Story, dachte er im Traum, was für eine saugute Story! Auf einmal riß Veronique ihm das Gerät aus der Hand. Sie schal tete daran herum, und Ian Carus’ Stimme ertönte, und zwar so laut,
daß alle anderen Eindrücke verblaßten. »Lesen Sie den Schlußab schnitt!« schrie er aus dem HS. »Er enthält die Hauptthese!« So dröhnte es durch Strangers Traum. Veronique erschrak und hielt den HS weit von sich, als würde sie die Stimme fürchten. »Bei konti nuierlicher Reduzierung der Sonnenaktivität wird unser Zentralge stirn in neun Jahren, zwei Monaten und dreizehn Tagen keine Ener gie mehr abgeben!« Am Himmel Edens schrumpfte die Sonne, das Feuer in den Pal menkronen erlosch, die Urlauber verließen die Transmitterhalle, ihre Kleider brannten nicht mehr. »In weit weniger als neun Jahren ist hier unten alles vorbei! Ich brauche keinen Orden! In weniger als neun Jahren…« Es dämmerte, es begann zu schneien, Edens Sonne verdichtete sich zu einem kleinen schwarzen Punkt, und plötzlich war es stockdunkel… Stranger fuhr aus dem Schlaf hoch, und wirklich: Es war stock dunkel. Er schüttelte sich, die Traumbilder verblaßten nur zögernd. Die Dunkelheit kam ihm vor wie die Finsternis am letzten Tag des Universums. Er machte das Licht an, stand auf, zog sich an und schlich auf Zehenspitzen durch die Küche in das große Terrassen zimmer. Es war kurz nach drei. Auf dem nächtlichen Meer entdeckte er die Positionslichter eines Schiffes. In irgendeinem Zimmer schnarchte Carus. Stranger schaltete eine der Schreibtischlampen an und schrieb einen Abschiedsgruß. Vielen Dank für alles, geben Sie nicht auf, ich werde dafür sorgen, daß man Sie ernst nimmt, ich melde mich bei Ihnen und so weiter. Als er das Haus verließ und zu seinem Gleiter ging, schlug der Hund im Nachbarhaus an. »Schlaf weiter, Kumpel, ich bin’s nur, der kleine, dicke Bert.« Bevor er ins Fahrzeug stieg, sah Stranger sich noch einmal nach Ian Carus’ Haus um. Er beglückwünschte sich, bis hierher gefunden zu haben; und er hatte das Gefühl, einem guten und zugleich einem wichtigen Mann begegnet zu sein…
*
Die Fahrt zurück nach Glasgow überließ er weitgehend dem Au topiloten. Er kämpfte mit dem Schlaf. Sicher tauchten da manchmal Scheinwerfer im Monitor auf, und manchmal blieben sie auch län gere Zeit hinter ihm. Aber Stranger kümmerte sich nicht um sie. Harmlose Touristen hatten in dem schwarzen Gleiter mit den gro ßen, runden Stabilisierungsflügeln gesessen und Punkt. Am Morgen, kurz vor halb acht, gab er den Gleiter zurück. In Alamo Gordo war es jetzt kurz vor halb eins – diesmal war er ganz sicher –, mitten in der Nacht also. Machte nichts, er würde einfach einen Taxigleiter zu seinem Apartment nehmen und noch ein paar Stunden schlafen. Mit diesen Gedanken trat er in die Transmitterka bine. Die Tür schloß sich, er hielt seine Sprungkarte an das Lesegerät, danach das charakteristische Ziehen in Nacken und in den Finger spitzen, das kaum wahrnehmbare Verschwimmen der Umgebung und ein unerheblicher Schwindel. Der war nicht unbedingt charak teristisch, lag aber vermutlich an seiner Müdigkeit. Er blickte auf sein Vipho – 0.41 Uhr. Diese Armbandgeräte stellten die jeweilige Zeitzone praktischerweise automatisch ein. Die kon kave Tür öffnete sich. Stranger dachte an seine Geliebte – nicht ein mal achtzehn Stunden, dann würden sie sich sehen. Als erstes fiel sein Blick auf den Panoramamonitor über dem Ausgang der Halle. Ein Lichtermeer glitzerte auf ihm: Die Posi tionslichter auf dem Flugfeld des Raumhafens Cent Field. Aus dem Nachthimmel senkte sich ein gleißender Lichterkranz herab; ein Ringraumer mit eingeschalteten Positionslichtern. Stranger trat aus der Kabine. Die Transmitterhalle von Alamo Gordo war voller Menschen. Un gewöhnlich für diese Tageszeit. Für den Bruchteil einer Sekunde kamen ihm all die Leute seltsam starr vor. Ungewöhnlich für eine Transmitterstation. Auf einmal bewegten sich die Menschen in der
Halle – ziemlich hektisch und so synchron, als würden sie einem einzigen Kommando gehorchen. Außerdem schrien Männerstimmen irgendwelche Befehle, die Stranger nicht verstand. Kurz bevor Scheinwerfer aufflammten, erkannte er, daß die meis ten Menschen in der Halle uniformiert waren. Auch das schien ihm ein eher ungewöhnliches Phänomen in einer Transmitterstation. Er schloß geblendet die Augen. Was war los hier? Ein Überfall? Feuer? Ein Bombenattentat? Krieg? Er riß die Augen auf, wollte sich auf den Boden werfen, und doch verharrte er wie gelähmt, weil fünfzehn und mehr Uniformierte ihm entgegenhetzten. Er fuhr herum. War irgend jemand unbemerkt mit ihm gereist? Ein Mörder, ein Terrorist, ein durchgeknallter Roboter? Doch nur die konvexen Türflügel schlössen sich hinter ihm vor einer leeren Transmitterkabine. Auf einmal packten Hände seine Oberarme, seine Handgelenke, seine Beine. Instinktiv wehrte er sich, wurde zu Boden gerissen, schlug hart mit der Schulter auf. »Sie sind verhaftet!« brüllte eine Männerstimme. Stranger sah in ein verschwitztes, zur erregten Gri masse verzerrtes Gesicht. Dessen Mund war eckig und schrie es ein zweites Mal: »Sie sind verhaftet!« Stranger konnte es trotzdem nicht fassen. Auch noch nicht, als jemand ihm einen Fetzen Papier vor die Nase hielt. Stranger erkannte den Briefkopf der Staatsanwaltschaft von Alamo Gordo, er entzifferte seinen Namen und die Worte ›Haftbefehl wegen‹. Bevor er weiterlesen konnte, rissen sie ihn hoch und warfen ihn auf den Bauch. »Seid ihr denn übergeschnappt?!« Jetzt begann Bert Stranger zu schreien. »Was wollt ihr von mir?« Er strampelte, bekam seine Rechte frei, schlug um sich. »Das muß eine Verwechslung sein…!« Er trat nach durch Uniformen gepolsterten Leibern, seine Faust traf eine Nase und danach eine Stirn. Allein, es nützte ihm nichts – irgend wann knieten sie zu dritt auf ihm, und es machte Klick und noch einmal Klick. An Handschellen rissen sie ihn schließlich auf die Beine, zerrten ihn quer durch die Transmitterhalle zum Ausgang. Auf dem Groß
monitor landete ein Ringraumer. Von vier Beamten flankiert stol perte Stranger in die Nacht. Es regnete. Sie stießen ihn in den Lade raum eines Mannschaftsgleiters. Er brüllte unentwegt: »Eine Ver wechslung!«, »Ihr seid ja vollkommen übergeschnappt!«, »Ich will meinen Anwalt sprechen!« und lauter solches Zeug. Fäuste schlugen nach ihm, Hände packten ihn und zerrten ihn zwischen zwei Uni formierte auf eine Sitzpritsche…
15. »Statusbericht, Mister Monro!« »Alle internen und externen Systeme arbeiten, Kapitän«, meldete der Erste Offizier. »Haben wir Schäden davongetragen?« Monro verneinte. »Sehr gut, Nummer Eins«, gab Vegas seiner Zufriedenheit Aus druck. Gleich nach der erfolgten Einschleusung aller Flash hatte Roy Vegas eine Lagebesprechung mit seinen Führungsoffizieren anbe raumt und um einen Zustandsbericht gebeten. Es hatte keine Verluste an Menschenleben gegeben, keine Schäden in den einzelnen Decks. Niemand hatte außer vernachlässigbaren Blessuren Verletzungen schwererer Art davongetragen; der Ring raumer hatte das Dauerfeuer der caldarischen Flotte nahezu schad los überstanden. Abgesehen von der sich wieder langsam abküh lenden Hüllentemperatur, konnte nur Dave Gjelstad mit einem Schadensbericht aufwarten. »Die Schäden am Antrieb sind eigentlich gering, Kommandant«, sagte er gerade. Der Chefingenieur hatte sein Refugium im Haupt maschinendeck verlassen, um seine Bewertung der Lage abzugeben. »Eigentlich?« dehnte der Kapitän und zog die Augenbrauen zu sammen. »Unser Sternensog ist beeinträchtigt. Einige Flächenprojektoren des Brennkreises wurden durch den Beschuß der Caldarer in Mit leidenschaft gezogen und sind ausgefallen.« »Das heißt…« begann Vegas. »Daß wir uns im Augenblick nur mit verminderter Fahrt fort bewegen können«, bestätigte Chief Gjelstad die Befürchtungen sei nes Kommandanten. »Funktioniert sonst alles an Bord des Schiffes ohne Probleme?« »Es gibt keine weiteren Ausfälle, Sir«, lautete Gjelstads Antwort.
»Haben wir genug Energie für die Schilde?« »Energie für Intervallum, KFS und Tarnfelder steht uns un eingeschränkt zur Verfügung, Kapitän.« »Wie lange werden wir ohne volle Antriebsleistung auskommen müssen?« Der drahtige Chief machte eine unschlüssige Bewegung. »Lassen sich die Schäden reparieren?« forschte Vegas weiter. Gjelstad zögerte unmerklich, ehe er antwortete: »Schon, Kom mandant.« »Aber?« »Offen gesagt, im Raum wäre eine Reparatur langwierig, und die Arbeit in den W-Raumanzügen ist auch nicht ungefährlich. Auf ei nem Planeten hingegen könnten meine Teams das Schiff mit den vorhandenen Bordmitteln innerhalb von maximal 24 Stunden wie der flottmachen, Sir.« »Das bedeutet also«, stellte der Oberst fest, »daß wir mit einem nicht optimal funktionierenden Antrieb unterwegs sind und auf einem Planeten landen müssen.« »Das heißt es, Kapitän.« »Hmm, stellt sich die Frage, auf welchem?« Vegas versank für einen Moment in Schweigen. Als die ANZIO der caldarischen Rebellenflotte gefolgt war und im Zuge der Verfolgung dieses System mit seinen insgesamt 16 Plane ten, in dessen Einflußbereich man sich noch immer aufhielt, entdeckt hatte, hatte man mit dem siebten Planeten eine erdähnliche Welt gefunden, die über eine Sauerstoffatmosphäre, ausgedehnte Meere, ausgeprägte Polregionen und ein ziemlich kühles Klima verfügte. War man anfänglich der Meinung gewesen, die Heimatwelt der Caldarer gefunden zu haben, stellte es sich wenig später heraus, daß es sich lediglich um eine Kolonialwelt handelte, um deren Besitz von zwei verschiedenen Gruppierungen der Caldarer Krieg geführt wurde. Planet VII bot sich als Reparaturbasis an, da man über ihn die
meisten Informationen besaß, was von den anderen Welten, die sich innerhalb der Lebenszone befanden, nicht behauptet werden konnte. Außerdem ergab sich damit auch die Gelegenheit, die 18 sich noch immer an Bord der ANZIO befindlichen caldarischen Rebellen, die sie in letzter Sekunde und mittels Einsatzes der Flash von der FORSCHEX vor deren kompletter Zerstörung gerettet hatten, auf ihre Kolonie zurückzubringen. Vielleicht hielt das die Siedler dort davon ab, Angriffe auf die ANZIO zu unternehmen. »Gut«, sagte Vegas entschlossen und wandte sich an den Funkof fizier. »Mister Bekian, lassen Sie die caldarische Flotte wissen, daß wir vorhaben, für die Dauer von 24 Stunden auf dem siebten Plane ten zu landen, um Reparaturen durchzuführen.« »Zu Befehl, Sir.« Der Hyperfunkspruch ging hinaus. Doch die Versuche der Funk-Z, Kontakt herzustellen, liefen auch diesmal ins Leere. Niemand antwortete auf die Rufe der ANZIO. Die Phasen blieben stumm. »Ob das klug war, Sir?« Vegas’ Brauen schoben sich fragend hoch. »Nummer Eins?« »Na, sie wissen zu lassen, daß wir angeschlagen sind«, gab sein Erster Offizier und Stellvertreter zu bedenken. »Es könnte diesen Gopink dazu animieren, uns erneut anzugreifen.« »Soll er«, antwortete der Kapitän. »Diesmal überraschen sie uns nicht mehr. Oder, meine Herren?« Die Frage war an die Waffenstationen West und Ost gerichtet, de ren Besatzungen in permanentem Kontakt mit der Zentrale standen. »Wird ihnen schwerfallen, Sir«, antwortete Oberleutnant Halit, und sein Pedant von der WS-Ost, Oberleutnant Lee Denschikof, pflichtete ihm bei. »Aber, Sir…« begann Hauptmann Olin Monro erneut. Er verstummte, als die Orterwarnung eine Folge von Warntönen produzierte. Vegas blickte alarmiert.
»Mister Bekian?« »Sir! Caldarische Schiffe im Anflug. Sie kommen zurück!« »Wenn man vom Teufel spricht«, konnte Ron Nozomi sich nicht verkneifen zu bemerken und grinste humorlos. Vegas starrte auf die zentrale Bildkugel, auf der der Vergröße rungsfaktor deutlich die Einheiten der Caldarer zeigte, wie sie sich breitgefächert wieder der Position der ANZIO annäherten und ver suchten, den Ringraumer erneut einzukreisen. »Da haben wir die Antwort auf unseren Funkspruch«, sagte sein Zweiter Offizier, Hauptmann Godel, scharf. Mit einer unbewußten Geste fuhr sich der Oberst mit den ge spreizten Fingern der rechten Hand durch das graue Haar. Dann erklang seine befehlsgewohnte Stimme: »Waffensteuerungen! Zielen Sie auf das uns am nächsten befindliche Schiff. Nadelstrahl! Nehmen Sie die Antriebssektionen unter Beschuß.« »Alle Strahler maximale Feldstärke und bereit, Kapitän.« »Feuer!« gab Vegas den Befehl. Aus den Abstrahlpolen der Waffenstation West lösten sich pink farbene Strahlen und zuckten überlichtschnell auf den caldarischen Raumer zu, der sich der ANZIO wild feuernd näherte. Die Energielanze fuhr präzise wie ein chirurgischer Laser in den Zerstörer. Das Ergebnis war eine lautlos aufblühende Farborgie im All. Binnen Sekunden wurde aus dem Angreifer eine diffuse rote Wolke im Weltraum mit einer Ausdehnung von mehreren Kilome tern, durchsetzt von glühenden, wirbelnden Trümmern auseinan dergebrochener Decks und Hüllensegmente. Diese Demonstration der Stärke genügte offensichtlich. Die restlichen Einheiten des Hochadmirals änderten sofort ihren Anflugwinkel und zogen sich schleunigst wieder zurück. Vegas fuhr seinen Gliedersessel etwas vor, als könne er dadurch der Darstellung in der Bildkugel genauere Einzelheiten abgewinnen. Nur noch die kümmerlichen Reste der zerstörten Schiffe der Calda rer trieben durch die stumme Schwärze des Alls, die intakten Ein
heiten hatten sich bis hinter den Asteroidengürtel zurückgezogen. »Diesmal scheinen sie genug zu haben«, kommentierte Ron No zomi den Rückzug der um ein Drittel geschrumpften Flotte. »Sie werden nicht noch einmal angreifen.« »Wenn sie klug sind«, ließ Vegas verlauten. Er schloß für einen Moment die Augen, und als er sie wieder öff nete, war seine Miene beherrscht wie stets. »Nummer Eins!« wies er seinen Ersten Offizier an. »Lassen Sie Kurs auf Planet VII nehmen. Wir werden dort die Reparatur an den Flächenprojektoren durchführen.« »Aye, Sir!« Monro wandte sich an seinen Kopiloten, Jon Mavor. Der Leutnant zählte zu den 50 Mann Stammbesatzung der ANZIO. »Mister Mavor! Sie haben den Kapitän gehört.« * In Schleichfahrt erreichte die ANZIO den Kolonialplaneten, um den noch immer gekämpft wurde, wie die Fernabtastung aus dem Raum zeigte. Die Flotte Gopinks hatte sich nicht mehr blicken lassen; keines der Tarnkappenschiffe stellte sich dem Ovoid-Ringraumer in den Weg. »Tarnkappenschiffe« nannte man sie deswegen, weil die caldari schen Raumer merklich von der gewohnten Bauweise abwichen. Bei ihnen handelte es sich durchweg um vielflächige Objekte mit Ecken und Kanten, scharfen Abbrüchen und dann wieder glatten Flächen. Entfernt erinnerten sie an atmosphärengebundene Flugobjekte mit weitgespannten Tragflächen, deshalb auch die terranische Bezeich nung. Sechzehn Planeten gab es im Rinok-System (dessen Namen man von dem Caldarer Damgelb erfahren hatte), jeder davon besaß mehrere Monde. Auch Rinok VII, die Kolonialwelt, Heimatbasis der Rebellenflotte, deren Kommandant Nurgelb sich zusammen mit
einem Rest seiner ursprünglichen Besatzung noch immer an Bord der ANZIO befand. »Wissen Sie, Sir«, sagte Hauptmann Jay Godel und deutete auf den Planeten, der in der zentralen Bildkugel im Vordergrund stand, »es gibt nichts, was majestätischer ist als der Anblick einer fremden Welt aus dem All.« Vegas’ Gesicht war nachdenklich, als er erwiderte: »Einer der Gründe, weshalb ich mich für die Raumfahrt entschieden habe, Nummer Zwei. Die Entdeckung neuer Welten fasziniert mich, seit ich mir als kleiner Junge wieder und wieder sämtliche Folgen der Abenteuer Captain Kirks und seines Raumschiffs Enterprise ange sehen habe.« Mittlerweile konnten mehr Einzelheiten von Rinok VII ausgemacht werden. Der Planet schimmerte überwiegend blaugrau und weiß; lang gestreckte Wolkenformationen warfen dunkle Schatten auf seine Oberfläche. Die äquatoriale Region war eine gewaltige Landmasse aus Ge birgszügen und weiten Ebenen. In diesen gemäßigten subtropischen Zonen lagen die meisten Kolonien der Rebellen, vorwiegend Mi nenkomplexe. Rinok VII war reich an Erzen, was den Planeten zum potentiellen Kandidaten für eine intensive Ausbeutung machte – und zum Objekt der Begierde für den caldarischen Hochrat, der diese Bodenschätze dringend zum Ausbau seiner Flotte benötigte. In ihr Tarnfeld gehüllt ging die ANZIO in eine sehr hohe Um laufbahn. Das Bild stabilisierte sich. »Sie kämpfen noch immer«, stellte Olin Monro fest, nachdem er eine Weile die Bildsequenzen studiert hatte. Seine Einschätzung wurde unwidersprochen hingenommen. In der Tat »brummte« die Zone, die die Tastererfassung ins Innere der ANZIO holte, vor Aktivitäten, die zweifellos militärischen Charakter
hatten. Dutzende von Landungsschiffen befanden sich auf einer niedrigen Bahn. Absetzmodule fielen wie Insektenschwärme aus den Bäuchen der Truppentransporter und entließen ihre Fracht an Sol daten ins Freie, mitten hinein in erbittertes Abwehrfeuer der Vertei diger. Die Taster der ANZIO erfaßten eine ausgedehnte Satelliten kommunikation und regen Funkverkehr zwischen den Schiffen des Hochrats. »Hier ist zuviel Betrieb«, bemerkte Vegas und runzelte die Brauen. »Aber wo setzen wir unsere Gäste ab, ohne gleich wieder in eine Auseinandersetzung verwickelt zu werden?« Er blieb einen Augen blick lang schweigend sitzen, ehe er fortfuhr: »Suchen Sie eine etwas weniger aktive Zone, Nummer Eins. Vielleicht auf der anderen Seite des Planeten, wir haben noch nicht einmal eine Umrundung hinter uns.« »Sie wollen landen? Entschuldigen Sie, Kapitän, aber davon rate ich ab.« »Nicht mit der ANZIO, Olin«, gab Vegas zu verstehen. »Mister Nozomi! Die Flash bereitmachen. Bringen Sie die Caldarer auf ihren Planeten zurück, ewig können wir sie ja nicht an Bord behalten. Bit ten Sie Major McGraves, ein paar seiner Kämpfer abzustellen, die Sie begleiten. Für alle Fälle.« Eine Möglichkeit, Kommandant Nurgelb und seine Offiziere eini germaßen gefahrlos abzusetzen, bot sich nach einer Weile. »Aha!« Olin Monros zufriedener Ausruf zeigte, daß er fündig ge worden war. »Da haben wir ja, was wir suchen. Sie wollten eine möglichst abgelegene Gegend, Kapitän? Hier ist sie.« »Schön«, zeigte sich Vegas zufrieden, nachdem er kurze Zeit die Bilder studiert hatte. »Eine abgelegene Bergbausiedlung, die die Neugierde des Hochrats offenbar noch nicht geweckt hat. Wenig Betrieb, keine Verteidigungsanlagen. Nummer Vier, wer leitet den Einsatz?« »Leutnant Burkhard, Sir«, entgegnete Nozomi.
Der Oberst wandte sich über einen Nebenschirm an den Offizier. »Bleiben Sie von der Siedlung weg, Leutnant. Landen Sie außerhalb und kehren Sie unverzüglich zurück, sobald Sie die Caldarer abge setzt haben.« »Verstanden.« Die Flash machten sich unverzüglich auf den Weg. Binnen Minu ten hatten sie die Lufthülle erreicht und sanken rasch in die Tiefe. In der ANZIO wandte sich Vegas an die Waffensteuerung. »Lassen Sie die Flash nicht aus den Tastern. Sobald sich ihnen je mand in eindeutiger Absicht nähert, feuern Sie ihm einen Warn schuß vor dem Bug, daß die Wandungen nur so knistern.« Die Waffenstationen mußten nicht in Aktion treten, niemand be helligte die Beiboote. Nach zehn Minuten kehrten sie zurück in ihre Hangars; die Absetzung der caldarischen Rebellen war ohne Komp likationen verlaufen. Unmittelbar nach der Einschleusung verließ die ANZIO ihre Posi tion und flog in einem Neunziggradwinkel zum Äquator hoch bis zum Polarkreis. Jenseits des äquatorialen Landgürtels, der sich um den ganzen Planeten wand, erstreckten sich über die Nordhälfte zahllose, von Eis bedeckte Inseln, die bis in die Polregion gingen. Dort herrschten ewiger Frost, Verlassenheit und Einsamkeit. Der ideale Platz für die Reparatur der Flächenprojektoren. Als die Ortung ein einsames Tal zwischen verschneiten Bergen ausmachte, ließ Oberst Vegas die ANZIO mit Antigrav landen; da der Brennkreis nicht mehr gleichmäßig seine Arbeit verrichtete, er schien ihm eine Landung damit zu riskant. Wesentlich riskanter jedenfalls als der herrschende Schneesturm, der sich just zum Toben entschloß, als sich die ANZIO aus dem bleigrauen Himmel senkte. Der Sturm konnte dem Schiff nichts an haben, sein hohes Gewicht hielt es unverrückbar auf dem Boden fest. Vegas ordnete augenblicklich höchste Alarmbereitschaft an. »Alle taktischen Systeme sind bereit, Kapitän«, meldete die Waf
fensteuerung von ihrem Platz. »Sehr gut«, nickte der Oberst. »Mister Bekian?« »Kapitän?« »Etwas zu erkennen, das uns zum Handeln zwingen könnte?« »Noch nicht, Sir«, antwortete Vegas’ Funk- und Ortungsspezialist. »Fein. Und, Kerim… absolute Funkstille nach draußen. Nur Hy perfunkkommunikation erlaubt.« »Aye, Sir.« »Was sagt die Funkpeilung? Irgendwelche Signale aufzufangen, die uns betreffen? Hat jemand unsere Landung beobachtet?« Der verantwortliche Techniker prüfte ein paar Anzeigen auf der Konsole; seine Finger glitten über die Bedienungsfelder… ein schar fes Zischen und Prasseln kam durch die Audiogitter. »Was ist los, Mister Dumbo?« »Sir…« Die tiefe Stimme des Funkobermaats wurde jäh von einem noch stärkeren statischen Rauschen abgeschnitten. Er wartete einige Sekunden, dann fuhr er fort: »Ich habe es schon bemerkt, als wir uns dieser Position näherten, die ionosphärischen Bedingungen über diesem arktischen Kontinent haben sich rasend schnell verschlech tert.« »Sonneneruptionen?« »Und nicht von schlechten Eltern, Sir«, bestätigte Bekian. »Die Fa ckeln unterbrechen im Augenblick das gesamte elektromagnetische Spektrum.« »Ist unsere Ortung davon beeinträchtigt?« Die Nummer Drei verneinte. »Wir sind durchaus in der Lage, Schiffe zu orten, die sich unserer Position nähern.« »Wenigstens etwas«, brummte Vegas und runzelte nachdenklich die Stirn, dann warf er einen Blick auf das wirbelnde Schneetreiben auf den Monitoren. Sofort nach Bodenkontakt waren die Bildkugeln vom Hyperkal kulator eingezogen worden; an ihrer Stelle waren die fünf großen Bildschirme erschienen, die in ihrer Anordnung einen nahezu per
fekten Rundumblick auf die Umgebung boten. »Kein Ort, an dem man lange bleiben möchte«, sagte seine Num mer Eins. »Wie…?« »Ich sagte, kein Ort…« begann Olin Monro erneut. »Natürlich nicht«, unterbrach Vegas. »Wir werden auch nur so lange bleiben, bis die Reparaturen abgeschlossen sind. Keine Se kunde länger, das verspreche ich.« Er stand auf. »Mister Bekian, bitten Sie Chief Gjelstad und Major McGraves in meinen Raum. Nummer Eins, Sie kommen mit mir. Die Brücke ge hört Ihnen, Hauptmann Godel.« * »Wie weit sind die Vorbereitungen für die Reparaturmaßnahmen gediehen, Chief?« »Wir können sofort anfangen«, antwortete der Chefingenieur auf die Frage des Obersts. »Trotz des schlechten Wetters?« Gjelstad zuckte bloß mit den Schultern. »Es gibt kein schlechtes Wetter«, begann er. Vegas winkte ab. »Ich weiß, nur unpassende Kleidung. Ersparen Sie mir den alten Kalauer, Chief.« »Selbstverständlich, Sir.« »Klären Sie Ihren Kapitän auf, Chief. Was genau gedenken Sie zu tun, um das Schiff wieder flottzumachen?« Sie befanden sich in Vegas’ Arbeitsraum, der direkt an die Zentrale angrenzte. Sie, das waren außer dem Chief und Olin Monro noch Major McGraves, der den Eindruck machte, nicht so recht zu wissen, was er bei dieser Besprechung verloren hatte. Aber er war ein wichtiger Punkt in Vegas’ Überlegungen. Der Kommandant der ANZIO fuhr fort: »Ich bin in Quantenmechanik und Hyperphysik leider nicht so
bewandert.« Der Chief erlaubte sich ein sparsames Lächeln über die schamlose Untertreibung seines Vorgesetzten, der tatsächlich ein sehr profun des Wissen über Antriebssysteme besaß. »Ich glaube mich zu erinnern, daß Reparaturen am SLE-Antrieb nur in speziell dafür eingerichteten Raumdocks durchgeführt wer den dürfen. Oder irre ich mich?« Der Sub-Licht-Effekt oder SLE war es, der einen Ringraumer bis dicht an die Grenze der Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen vermochte. Erzeugt wurde er durch ringförmig auf der inneren Au ßenhülle des Schiffes angeordnete Projektoren, die, auf einen ge meinsamen Mittelpunkt ausgerichtet, den sogenannten »Brennkreis« schufen. Erhöhte sich die Antriebsleistung, verjüngte sich dieser Brennkreis zu einem »Brennpunkt« und erzeugte den Sternensog, der einen Ringraumer in ständiger Beschleunigung bis weit über Lichtgeschwindigkeit zu bringen imstande war. Daß dabei das Raumschiff nicht das Normaluniversum verließ und in Transition ging, war dem Intervallfeld zu verdanken, das erst abgeschaltet werden mußte, ehe ein Ringraumer zu transitieren vermochte. »Nicht mehr ausschließlich«, ließ der Chefingenieur seinen Kom mandanten wissen. »Ach ja? Informieren Sie mich!« Knapp und präzise erläuterte der Chief die geplanten Repara turmaßnahmen am Antrieb. Mit einem speziellen Gerät, das zur Grundausrüstung jedes neuen Ovoid-Ringraumers gehörte – und mittlerweile auch den älteren Schiffen zur Verfügung stand, wie der Chefingenieur wissen ließ –, war man in der Lage, mittels einer Kombination aus speziell abge stimmtem Schwingungsfeld und Nanoaktuatoren die in das Unitall eingebetteten Flächenprojektoren quasi zu erneuern. »Noch einmal zum Mitschreiben, Chief!« Vegas hob die Hand und stoppte seinen Chefingenieur. »Wie genau funktioniert das?« »Die Moleküle der beschädigten Teile werden nanotechnisch neu
angeordnet und repariert, falls es sich als notwendig erweisen sollte. Danach sind die Flächenprojektoren wieder wie neu, Sir.« »Hört sich erstaunlich einfach an, oder?« Vegas blickte auf McGraves und seine Nummer Eins. Während sich Monro einer Bemerkung enthielt, hob der Major die Schultern. »Weiß doch jedes Kind«, murmelte er und zog eine Gri masse. Der dreiundvierzigjährige Schotte und jetzige Major der Rauminfanterie, dessen hagere Gestalt im Verein mit der stets etwas traurigen Miene zu Anspielungen auf Servantes’ »Don Quichote« verleitete, war Vegas’ ehemaliger Erster Offizier und Navigator auf der SPECTRAL gewesen, ehe er durch Marschall Bultons unerg ründlichen Ratschluß nun auch der ANZIO zugeteilt worden war. »Mhm«, brummte Vegas. »Sie sagten etwas von 24 Stunden, Chief«, wandte er sich wieder seinem Chefingenieur zu. »Ist das realistisch?« »Sicher, Sir. Der Prozeß erfordert etwa eine Stunde pro Flä chenprojektor. Da man uns dank des schon manisch zu nennenden Sparzwanges der Terranischen Flotte nur ein Reparaturgerät zur Verfügung gestellt hat, werden wir effektiv acht Stunden brauchen.« »Erwähnten Sie nicht etwas von 24 Stunden?« Vegas runzelte die Brauen. »Die Vorbereitungen, Sir, sind es, die die meiste Zeit in Anspruch nehmen«, gestand Dave Gjelstad ungerührt. »Und der nötige Ab gleich der Projektoren nach Beendigung der Arbeit. In diesen acht, vielleicht auch neun Stunden müssen Intervallfeld, KFS und Tarn feld abgeschaltet sein, sonst können meine Teams nicht arbeiten.« »Wir sind also für einen bestimmten Zeitraum ohne Schutz der Schilde, sehe ich das richtig, Chief?« Gjelstad nickte. Genauso wäre es, bedeutete er seinem Kom mandanten. »Na gut, Chief. Beginnen Sie.« »Aye, Sir.« Als Dave Gjelstad den Raum verlassen hatte, wandte sich der
Oberst an seinen früheren Stellvertreter auf der SPECTRAL. »Chester, von Ihnen möchte ich, daß Sie mit Ihren Truppen einen weiten Absperriegel um das Schiff bilden, um es gegen Überfälle zu sichern.« »Befürchten Sie, daß wir angegriffen werden, Skipper?« Vegas schwieg einen Moment, sein Blick war nach innen gekehrt. Schließlich sagte er: »Ja, ich befürchte, daß man uns hier nicht un gestört arbeiten lassen wird…« Wie um seine Worte zu unterstreichen, kam über das Vipho ein Alarmruf aus der Zentrale, daß ein Caldarerschiff im Weltraum über der ANZIO in Stellung zu gehen versuchte. »Nummer Eins«, forderte der Oberst seinen Ersten Offizier auf, »kümmern Sie sich darum!« »Jawohl, Sir.« Noch auf dem Weg in die Zentrale gab der Hauptmann über das Armbandvipho seine Anweisungen. Ein Warnschuß mit Nadelstrahl, haarscharf am Schiff vorbei ge zielt, veranlaßte den vorwitzigen Caldarer, der als Kommandant das Raumschiff befehligte, sich schleunigst wieder den Flotteneinheiten anzuschließen, die in der Äquatorregion mit den Rebellen ihre Händel ausfochten. »Er scheint’s gefressen zu haben«, zeigte sich Monro zufrieden. »Ich weiß nicht«, bremste Vegas den Enthusiasmus seines Ersten Offiziers etwas. Er nahm seine Nase zwischen Daumen und Zeige finger und rieb sie nachdenklich. Schließlich sagte er: »Es genügt nicht, uns nur am Boden gegen Angriffe abzusichern, Nummer Eins. Lassen Sie sämtliche Flash ausschleusen, um den Luftraum über uns weiträumig zu überwachen.« * Zeke York war sauer, während er beobachtete, wie der Schweber in einer Schneewolke wieder aufstieg.
Der Pilot senkte die Nase des Mannschaftstransporters ein wenig und grüßte das Dreierteam im Vorbeifliegen mit einem breiten Ab schiedsgrinsen. Wahrscheinlich dachte er daran, daß die drei armen Schweine jetzt gehörig in der eisigen Einsamkeit den Dienst verflu chen würden, während er in der wohligen Wärme der Kabine saß und den lieben Gott einen guten Mann sein ließ. Ob die drei Soldaten tatsächlich so dachten, konnte er nur vermuten. Vermutlich schon. Dennoch streckten sie ihre Arme winkend in die Höhe, als sie den Gruß des Piloten erwiderten. Dann beobachteten sie, wie er den Schweber wieder in eine gerade Fluglage brachte und mit hoher Fahrt zur ANZIO zurückkehrte, die vom Standpunkt der drei Män ner in ihren weißgrauen Kampfanzügen nicht zu sehen war, weil sich ein zerklüfteter, eisüberkrusteter Felsgrat zwischen dem Raum schiff und der Gruppe erhob. Offenbar hatte er es eilig, wieder in die ANZIO zurückzukehren. Zeke konnte es ihm nachfühlen; er wäre jetzt auch lieber wieder an Bord. Und sein Mißmut verstärkte sich noch mehr. Seiner Ansicht nach reichte der Schutz durch die im Luftraum operierenden Flash völlig aus. Daß man sie in den Schneesturm geschickt hatte, hielt er für übertrieben. Aber diese Meinung behielt er für sich; sich gegen einen Befehl aufzulehnen war wenig opportun und führte nur zu Unan nehmlichkeiten . Wenig später war das Geräusch des Schwebers nicht mehr zu hö ren, nur das Heulen des Windes, der über das eis- und schneebe deckte Terrain am Polarkreis von Rinok VII fegte. Jetzt war Gruppe 60 auf sich allein gestellt. Da half auch nicht das Wissen, daß es außer ihnen noch 59 anderen Dreiergruppen so erging, die den weiten Absperriegel um die ANZIO bildeten, um sie während der Reparatur der Flä chenprojektoren gegen unliebsame Überraschungen zu schützen. Kontakt zur ANZIO hielten sie über abhörsicheren To-Funk. Aus Sicherheitsgründen wurde jedoch weitgehend Funkstille ge
halten. Die Verbindung war lediglich für Notfälle und kurze Berichte gedacht oder falls Alarm gegeben werden mußte. »Mist!« fluchte York inbrünstig und sah sich um. Dieser Ort schien wie kein anderer auf diesem Planeten dazu ge schaffen, einen Mann verrückt zu machen. Es war einer der ein samsten Plätze, die der Feldwebel je erlebt hatte und, wie es schien, der ungemütlichste zudem. Aber wenigstens ließ der Sturm etwas nach. Es fiel kaum noch Schnee, trotzdem war die Luft voll von Milliarden spitzer Eisnadeln, die der Wind über das Land fegte. Wehe dem, der ohne entspre chende Ausrüstung in einen solchen Sturm geriet! Die Eiskristalle zerstachen binnen Sekunden jedes Stück freiliegender Haut und verwandelten sie in rohes Fleisch. »Suchen wir uns einen Platz, der uns mehr Ausblick bietet«, schlug Peter Cirulis vor. »Gute Idee«, meinte Oliver Kamal, der dritte Rekrut. »Sucht mal schon«, sagte Zeke York, der als Truppführer der klei nen Gruppe fungierte. »Aber entfernt euch nicht zu weit. In dieser weißen Hölle verliert man sich verdammt schnell aus den Augen. Funktioniert euer Funk?« »Alle Systeme sind grün, ja. Rufst du die Basis, Zeke?« »Mach’ ich.« Zeke York zog eine Hand aus seinem Isolierhandschuh, entfernte aber nicht das dünne Spezialfutter, das ein guter Kurzzeitschutz und bei den hier oben im Norden herrschenden Temperaturen unver zichtbar war. Außerdem war man damit in der Lage, feinfühlige Handlungen auszuüben – wie Funkgeräte bedienen oder Waffen abfeuern. Als sie der Pilot als letzte Gruppe hier abgesetzt hatte, zeigte das Außenthermometer des Schwebers minus elf Grad Celsius an, ge radezu »warm« angesichts der Position so hoch im Norden. Zwar lagen die gefühlten Temperaturen nochmals um mindestens zehn Grad niedriger, aber das war ein rein subjektiver Eindruck, der kei
nerlei Auswirkungen hatte. Zeke fuhr mit der Hand über einen bewegungssensitiven Kon taktschalter und betätigte dann einen daneben angebrachten Ta stenblock auf der Manschette seines linken Armes. Mist, verfluchter, dachte er mit leichter Wut im Bauch, die Kontrol lampe funktioniert nicht. Er gab noch einmal die Tastenfolge ein. Wartete. Nach einem Moment leuchtete die Lampe auf, flackerte für einen Augenblick – und erlosch wieder. »Muß wohl an der Kälte liegen«, murmelte er. »Na, dann muß es halt so gehen. Ich weiß ja, daß das Gerät funktioniert.« Er hob die Stimme und sagte in sein Helmmikrophon. »Rufe Basis. Geraffter Codespruch. Statusinformation. Trupp 60. Code 093-93-93-Z wie Zeppelin. Haben Position eingenommen. Ende.« Zeke wartete. Dann meldete sich eine ferne Stimme. »Verstanden, Z wie Zeppelin und bestätigt.« Zeke nickte und schaltete den Empfang auf Bereitschaft. Er zog die dunkelgetönte Schneebrille mit den polarisierenden Gläsern über den Sehschlitzen seiner Gesichtsmaske zurecht, die er unter dem Helm trug, über den er noch die Kapuze des Schneeanzugs gezogen hatte. Dann folgte er Kamal und Cirulis, die schon vorangegangen waren auf der Suche nach einem Platz, der Schutz vor dem eisigen Wind bot und gleichzeitig gute Sicht gewährte. Sein Weg führte durch Schneewehen, über breite Kiesbetten und dann wieder über nackten, vom Wind glattgeschliffenen Fels. Unter seinen Stiefelsohlen knirschten kleine Steinchen und Eisplatten. Überall waren Felsbrocken verstreut. Einige von ihnen waren nur kniehoch oder kleiner, andere von einer Größe, daß ein ausgewach sener Mann sich dahinter verbergen konnte, ohne in die Knie gehen zu müssen. Er umrundete einen Findling, den eine vulkanische Eruption vor Jahrtausenden aus der Tiefe des Planeten ans Tageslicht geworfen
haben mußte. Auf seiner Kuppe hatten sturmzerzauste, niedrig wachsende Nadelbäume ihre Wurzeln im Überlebenskampf in die Felsspalten getrieben. Dahinter lag wieder offenes, leicht ansteigen des Terrain vor Zeke. Die beiden Kameraden waren undeutlich zu sehen, wie sie sich den Hang hinaufbewegten. »Wo bleibst du denn, Mann?« erreichte ihn Cirulis’ Stimme über den niederfrequenten Helmfunk. »Komme ja schon«, brummte York. »Ihr seit ja schneller als Berg ziegen.« »Ist das ‘n Kompliment oder eine Beleidigung?« ließ sich Kamal hören. »Such’s dir aus«, war Yorks knappe Entgegnung. Er hatte die beiden eingeholt, die auf dem Kamm eines kleinen Hanges stehengeblieben waren. Der Schneefall hörte von einer Sekunde zur anderen ganz auf. Nur der Wind blies weiter. Im Süden kam die Sonne zum Vorschein. Ihre nahezu parallel einfallenden Strahlen warfen lange Schatten, ließen die Eisdrift in allen Farben des Spektrums schillern und hoben jede Erhebung, jeden Baum und jeden Strauch aus der weißen Fläche hervor. Vor und unter ihnen erstreckte sich eine Talsenke, die auf der an deren Seite flach anstieg, um sich dann zu einer Hochebene hin zu öffnen, die Inseln von niedriger Vegetation aufwies. Ein idealer Platz, um alles, was sich aus dieser Richtung näherte, schon aus einer Entfernung von mehreren Kilometern zu erspähen. Eine Reihe von Felsbrocken bot den Männern selbst genügend Schutz, um nicht gleich entdeckt zu werden. Zeke starrte hinaus in das Weiß des gegenüberliegenden Hanges. Dann schüttelte er den Kopf, zog sein Fernglas aus der Futteraltasche seiner weißgrauen Kampfweste und hob es an die Augen. »Also dann«, sagte er. »Sieht so aus, als würden wir uns auf eine langweilige Zeit einrichten…« York verstummte, weil er aus den Augenwinkeln irgend etwas
wahrgenommen zu haben glaubte – vielleicht einen Lichtreflex, weit am Horizont. Er richtete das schwere Glas auf die Stelle. Der eingespiegelte Entfernungsmesser veränderte sich laufend, als York das Glas hin- und herschwenkte und hob und senkte. Er sah aber nur eine Reihe niedriger Eisabbrüche. Vermutlich hatte sich die Sonne darin reflektiert. »Irgendwas Interessantes?« fragte Kamal, während er neben ihn trat. Zeke York ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Weder tauchte der Lichtreflex erneut auf, noch konnte er sicher sein, von wo genau er seinen Ausgang genommen hatte. Er ließ das Fernglas sinken. »Vermutlich bloß ein Sonnenreflex auf dem Eis.« Er zuckte mit den Schultern. Inzwischen war auch Cirulis zu ihnen getreten. »Wie weit entfernt war das?« erkundigte er sich. Zeke rief sich die Entfernungsangaben des Fernglases ins Ge dächtnis. »Etwa zwanzig Kilometer von hier, dort, wo der Anstieg in die Ebene mündet. Warum fragst du? Hast du auch etwas gesehen?« »Nicht gesehen, möglicherweise aber gehört«, erwiderte Cirulis mit angespannter Stimme. Seine Augen waren hinter den po larisierenden Gläsern seiner Schneebrille nicht zu sehen. »Ihr seid mir schon zwei«, ließ Kamal verlauten. »Der eine hat möglicherweise etwas gesehen, der andere etwas gehört. Könnt ihr euch nicht einig werden, was nun genau?« »Halt die Klappe«, wurde Zeke grob; als Truppführer und Dienst ältester konnte er sich diese Haltung herausnehmen. Weil er sich keine weitere Zurechtweisung einhandeln wollte, hielt Kamal den Mund. Statt dessen holte er sein eigenes Glas hervor und starrte hindurch. Ein Blick in seine Richtung verriet Zeke York, daß sein Kamerad nicht in die Richtung des Einschnitts blickte. Vielmehr studierte er den Himmel.
»Wo sind denn bloß die Flash?« murmelte er. »Blödmann«, gab ihm Cirulis zu verstehen. »Sind doch getarnt, die Dinger.« »Selber Blödmann«, schnappte Kamal zurück. »Doch nur or tungstechnisch, nicht gegen visuelle Erfassung.« »Zeke…« begann Peter Cirulis. »Pech für dich«, unterbrach ihn York. »Er hat leider recht. Du bist auf dem Holzweg, Kumpel.« Cirulis machte seiner Verärgerung mit einem Knurren Luft. Nach zwei oder drei Minuten sagte er: »Das ist doch nicht möglich…« Dann unterbrach er sich plötzlich. »Hört einer von euch dieses Ge räusch?« »Er schon wieder«, sagte Kamal. »Ich glaube, du hörst hier oben sogar das Gras…« »Still!« Zeke Yorks Stimme war peitschend. Kamal verstummte sofort; diesen Ton kannte er. Besser, man hielt sich dann zurück. Zeke legte den Kopf etwas zur Seite, als könne er dadurch besser hören. Und dann hörte er es tatsächlich – eine Art hohes, metallisches Summen, das aus einer nicht bestimmbaren Entfernung zu kommen und sich durch das Tosen des Windes zu bohren schien. »Da kommt etwas auf uns zu«, sagte Cirulis mit lauter Stimme. »Verdammt, da kommt was auf uns zu…«
16.
Die Mitglieder des Erkundungstrupps bildeten Zweiergruppen und stiegen an verschiedenen Stellen durch die Löcher, die die Ver schrottungsroboter in die Außenhülle der Doppelkugel geschnitten hatten. Dhark ließ die Hand über eine der Schnittkanten fahren. Der W-Anzug umspannte zwar auch seine Hände, aber das Material, aus dem er bestand, behinderte seinen Tastsinn nicht. »Diese Roboter verfügen über ausgesprochen präzise Schnei dewerkzeuge«, mußte Dhark anerkennen. Die Außenhülle der Doppelkugel bestand schließlich aus einer Panzerlegierung der Tel und war alles andere als leicht zu durch dringen. »Jedenfalls steht wohl fest, daß sie es irgendwann auch geschafft hätten, an Bord der POINT OF zu gelangen, wenn wir weiter auf diesem Planeten festgesessen hätten«, gab Amy zurück. Sie gingen durch lichtlose Korridore, die für ein menschliches Auge ohne Nachtsichtoptik stockdunkel gewesen wären. »Spätestens dann, wenn uns die Energie ausgegangen wäre.« Auf einem der Flure fanden sie die Leiche eines Humanoiden. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß es sich um ein Skelett handelte, das nur noch von der aus einem sehr widerstandsfähigen Kunststoffgewebe bestehenden Kleidung zusammengehalten wur de, die offenbar auch nach zwei Jahrhunderten nicht verrottete. Amy richtete ihr Ortungsgerät auf die Gebeine. »Es handelt sich zweifellos um ein Tel-Skelett«, stellte sie fest. Feiner Staub bedeckte die Uniform des Toten. Sie war eingefallen und legte sich dicht an das Skelett ihres Trägers. Knochen standen deutlich hervor. »Was ist das dort?« fragte Dhark und deutete auf eine Verdickung am Gürtel. Es schien sich um ein quaderförmiges Metallstück von
Daumennagelgröße zu handeln. Amy tippte auf der Tastatur ihres Ortungsgerätes herum. »Ein Kommunikator und ID-Chip zur Abgabe eines Autorisierungsco des.« »Ist noch irgend etwas auf diesem Chip zu finden?« »Er hat sich teilweise chemisch zersetzt. Es sieht für mich so aus, als wäre es hier an Bord zu starken elektromagnetischen Entladun gen gekommen, die dafür verantwortlich sind.« »Spuren von Kämpfen?« »Möglich.« Amy zuckte mit den Schultern. Sie kniete neben dem Skelett. »Ich versuche mit dem Suprasensor meines Ortungsgerätes in den Speicher hineinzukommen.« »Und?« »Es gibt hier einen besonders geschützten Speicherbereich«, stellte Amy fest. »Was ist der Inhalt?« »Ein Autorisationscode für den Ersten Offizier. Er besteht aus einer Aneinanderreihung von Zahlen, Farben und Schriftzeichen des Tel-Alphabets. Statusanzeige: Gültig nur nach Bestätigung durch Kommandant Kor Tranc. Das ist alles. Danach kommt hier nur noch Datenmüll – und ich glaube nicht, daß dies an mangelhaften Kon vertierungsmöglichkeiten meines Suprasensors liegt.« Ren Dhark atmete tief durch. »Immerhin wissen wir jetzt schon einmal, daß wir uns hier wohl wirklich auf dem richtigen Schiff befinden«, meinte er. * Chris Shanton und Arc Doorn drangen weiter in das Schiff ein. Ihr Ziel war der Bordrechner des Doppelkugelraumers. Selbst wenn er demontiert worden war, waren vielleicht einige Elemente zurück geblieben, die wertvolle Daten enthalten konnten. Die Unterhaltung zwischen Dhark und Amy hatten sie über
Helmfunk mitbekommen. Die Antigravschächte innerhalb des Doppelkugelraumers waren nicht nur deaktiviert, sondern die Verschrottungsroboter hatten auch die entsprechenden Aggregate ausgebaut. Sie waren dabei alles an dere als schonend vorgegangen. Große Löcher waren mit Thermo strahlern in die Wände hineingeschnitten worden, so daß die ent sprechenden, normalerweise nicht sichtbaren Kammern freigelegt waren. Von Deck zu Deck konnten sich die Terraner nur über die Notlei tern fortbewegen, die von den Robotern glücklicherweise an Ort und Stelle gelassen worden waren. Auf den Korridoren stießen sie immer häufiger auf die sterblichen Überreste von Besatzungsmitgliedern. Knochen und ganze Skelette, um die sich Kleidung aus Kunstfasern spannte. »Offenbar haben hier Kämpfe stattgefunden«, meldete Shanton über Helmfunk an alle. »Einige der Toten sehen aus, als wären sie durch verschiedene Arten Strahlerfeuer ums Leben gekommen…« »Man kann sich lebhaft vorstellen, welche Tragödien sich hier ab gespielt haben«, meinte Arc Doorn. »Nach und nach eroberten die Roboter Deck für Deck, während die letzten überlebenden Besat zungsmitglieder sich in Teilen des Schiffes verschanzten und einen aussichtslosen Kampf führten.« Über eine Leiter erreichten sie schließlich jenen Raum, der ein stmals der Maschinensaal gewesen war. Jetzt befand sich hier nichts weiter als eine leere Halle. Teilweise waren die Schotts von Korridoren vergrößert worden – offenbar zu dem Zweck, die Triebwerke besser abtransportieren zu können. »Nicht eine Schraube haben die hier übriggelassen!« stellte Doorn ärgerlich fest. Er ortete in den Wänden mehrere Zugänge zum Bordrechner und überprüfte sie. »Alles tot«, stellte er fest. Shanton blickte ebenfalls auf die Anzeige seines Ortungsgerätes.
Eine tiefe Furche erschien mitten auf der Stirn des Fremd technikexperten. Er zupfte sich nachdenklich an seinem Bart. »Von ihrem Zustand her müßten die Datenleitungen aber noch funktionieren«, meinte Shanton. »Wenn du mich fragst, sind sie da für, daß sie zwei Jahrhunderte lang nicht gewartet wurden, in einem überraschend guten Zustand.« »Liegt vielleicht daran, daß die Atmosphäre von Planet XII sehr trocken ist und Korrosionsvorgänge daher vermutlich langsamer ablaufen.« »Ja, du hast recht«, stimmte Shanton zu. »Wenn es noch einen Bordrechner gäbe, müßte er sich eigentlich über eine dieser Schnitt stellen ansprechen lassen. Aber das funktioniert nicht.« Eine Viertelstunde später erreichten Doorn und Shanton endlich die Zentrale des Tel-Raumers. Über Funk meldeten sie dies auch an die anderen. »Wie sieht es da aus?« erkundigte sich Dhark. »Überraschenderweise gibt es hier keinen Toten«, erklärte Shanton, während er sich umsah. »Und der Staub, der hier alles bedeckt, zeigt, daß hier schon sehr lange niemand mehr war.« »Keine Toten?« echote Ren Dhark etwas überrascht. Überall sonst auf dem Schiff hatten sie die sterblichen Überreste von Besatzungs mitgliedern gefunden. Warum nicht in der Zentrale? »Ich könnte mir vorstellen, daß die Zentrale in der letzten Phase des Abwehrkampfs aufgegeben werden mußte«, meinte Arc Doorn. »Angenommen, es ist den Robotern gelungen, die Energiezufuhr zu kappen und den Bordrechner lahmzulegen, dann blieb den Überle benden nur noch die Möglichkeit, sich anderswo zu verkriechen.« Shanton trat vor eine metallische Abschirmung, hinter der sich normalerweise der Bordrechner befinden mußte. Er hob sein Or tungsmodul und starrte auf die Anzeigen. »Hier ist nichts«, erklärte der Fremdtechnikexperte. »Vom Bord rechner dieses Schiffes existiert nur noch die Abschirmung, alles andere wurde geplündert.«
* Enttäuschung spiegelte sich in Ren Dharks Zügen wieder, nach dem er erfahren hatte, daß der Bordrechner entfernt worden war. Ob es Sinn machte, nach dem Verbleib der demontierten Einzelteile zu suchen, war fraglich. Möglicherweise hatten die Roboter einzelne Speicherelemente irgendwo auf einen ihrer Haufen aus Schrott ge schichtet – zusammen mit Millionen ähnlicher Stücke. Eine Funkmeldung von der POINT OF erreichte die Mitglieder des Erkundungstrupps über Helmfunk, so daß alle simultan informiert wurden. Es war Dan Riker, der sprach. »Unsere Ortungssysteme sind auf eine Gruppe von Robotern aufmerksam geworden, die offenbar mit Thermostrahlen und Blas terfeuer nur so um sich schießt und die Raumschiffwracks voll kommen sinnlos attackiert. Sie sind im Moment noch etwa vier Ki lometer entfernt und bewegen sich im chaotischen Zickzackkurs vorwärts. Wie ein Fischschwarm.« Die Roboter drehten jetzt offenbar völlig durch. Was auch immer sie zu ihrem gegenwärtigen Verhalten veranlaßte, man mußte sie beobachten und auf der Hut bleiben. »Hoffen wir, daß ihre Energievorräte verbraucht sind, ehe sie in unsere Nähe gelangen!« meinte Dhark leichthin. »Das ist so gut wie auszuschließen. Die Maschinen haben leis tungsfähige Kleinstmeiler. Ren, ich würde dir das nicht mitteilen, wenn ich es nicht für eine Gefahr halten würde.« Dhark nickte leicht. »Wie lange haben wir noch?« fragte er. »Eine Stunde, wenn diese Robotergruppe ihre bisherigen Be wegungsmuster beibehält. Aber es kann auch sein, daß den Biestern plötzlich etwas ganz anderes einfällt und sie sich abrupt in eine an dere Richtung bewegen. Wenn sie sich auf direktem Weg zu euch
hinbewegen und dabei ihre bislang von unseren Instrumenten auf gezeichnete Höchstgeschwindigkeit beibehalten, sind sie in zwanzig Minuten bei euch!« Dhark atmete tief durch. »Danke für die Warnung«, sagte er. »Wir halten euch auf dem laufenden«, versprach Riker. »In Ordnung.« »Glaubst du wirklich, daß wir hier noch irgend etwas finden wer den?« zweifelte Amy. »Wir müssen die sterblichen Überreste von Kor Tranc finden – oder zumindest seine letzte Zuflucht«, meinte Ren Dhark. »Er wußte um die Wichtigkeit von Arlons Daten. Also wird er dafür gesorgt haben, daß sie nicht durch die Angriffe der Roboter vernichtet wer den.« »Bist du sicher, Ren? Würdest du dich um Daten aus einer uralten Vitrine kümmern, in der ein gesichtsloser goldener Salter liegt, wenn es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis dich ganze Horden von Ro botern töten?« Ren Dhark grinste. »Natürlich würde ich das!« erwiderte er. »Schließlich bin ich Op timist. Es geht immer irgendwie weiter.« Amy zuckte die Achseln. »Schon möglich, daß Kor Tranc das in den letzten Augenblicken seines Lebens auch gedacht hat!« Dhark überlegte einen Moment lang und meinte schließlich: »Wir nehmen uns den ehemaligen Kabinentrakt vor.« »Glaubst du, daß wir dort seine letzte Zuflucht finden?« Skepsis schwang in Amys Tonfall mit. »Wenn du keine Hoffnung mehr hast und weißt, daß du dich auf den Tod vorbereiten mußt – würdest du dich dann nicht auch an einen vertrauten Ort zurückziehen?« fragte Dhark. »Eine menschliche Verhaltensweise – hoffen wir, daß sie auch für Tel gilt«, gab Amy zurück.
*
Amy und Dhark stiegen zwei Decks empor und gelangten in einen Bereich, in dem sich die Kabinen der Besatzungsmitglieder und Of fiziere von Kor Trancs Raumschiff befunden hatten. Arc Doorn meldete sich über Funk. »Chris und ich haben die Untersuchung der ehemaligen Zentrale abgeschlossen«, berichtete er. »Hier ist absolut nichts, was auch nur im Entferntesten wie ein Datenspeicher aussieht! Die Zentrale ist total ausgeschlachtet, und vom Bordrechner ist nicht ein einziger Chip übriggeblieben. Selbst Schaltpulte sind abmontiert worden.« »Hat wahrscheinlich alles in einem dieser monströsen Schrott schiffe seinen Platz gefunden, die die wahnsinnige KI in mehr oder minder regelmäßigen Abständen hinaus ins All geschickt hat«, vermutete Dhark. »Wo sind Sie jetzt?« fragte Doorn. »Im Quartiertrakt. Ich sende Ihnen die Koordinaten auf Ihr Or tungsmodul, dann können Sie beide zu uns stoßen. Wir wollen uns Kor Trancs Kabine vornehmen, sobald wir sie gefunden haben.« »Wir sind gleich bei Ihnen«, versicherte Doorn. Ren und Amy setzten ihren Weg fort. Um die Mannschaftsquartiere, an denen sie jetzt vorbeikamen, war offenbar sehr heftig gekämpft worden. Spuren von Strahlschüssen waren überall zu sehen, und es waren kaum noch vollständig erhal tene Skelette zu finden. Sie waren durch Strahlerfeuer teilweise gräßlich zugerichtet. Allerdings war bei keinem der Verteidiger, die irgendwann einer nach dem anderen den Angriffswellen der Roboter erlegen waren, noch eine Waffe zu finden. Die Roboter schienen sie sorgfältig ein gesammelt und für ihre eigenen Zwecke benutzt zu haben. Dhark warf in eine der Kabinen einen kurzen Blick und sah, daß die mechanischen Plünderer hier wesentlich weniger gründlich ge wesen waren als in anderen Regionen des Schiffes. Abgesehen von
Waffen hatten sie sogar Kommunikatoren und elektronische Module zurückgelassen. Ein Funkspruch von der POINT OF erreichte Dhark. Es war erneut Riker, der sich meldete. »Ren, die Bewegungsrichtung des Roboterschwarms macht uns Sorgen. Ihr solltet zusehen, daß ihr nicht mehr allzu lange auf dem Schiff bleibt.« »Wie groß ist die Entfernung?« fragte Dhark. »Zwei Kilometer.« »Und aus wie vielen Einheiten besteht dieser Schwarm?« »Das ist es ja gerade! Anfangs waren es nicht einmal hundert Ro boter, die ihm angehörten. Inzwischen haben sich ihm weitere um herstreunende und völlig orientierungslose Maschinen an geschlossen. Es sind mindestens fünfhundert Einheiten. Wir rätseln noch daran, was sie sich zusammenschließen läßt. Wahrscheinlich ist es so, daß sie sich nach dem Verlust ihrer Befehlsinstanz einfach aneinander orientieren, was zu dieser chaotischen Schwarmbewe gung führt.« »Habt ihr den Checkmaster mal ausrechnen lassen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß sie hierher kommen?« fragte Dhark. »Haben wir«, bestätigte Riker. »Sie liegt bei vierzig Prozent für die nächste halbe Stunde – danach allerdings bei über siebzig Prozent.« »Ich hoffe, du wirst uns rechtzeitig warnen, Dan.« Amy und Ren drangen schließlich in die Korridore mit den Offi ziersquartieren vor. Hier bot sich das gleiche Bild. Die letzten Tel-Verteidiger hatten sich eingeigelt und verzweifelt gewehrt. Aber ihr Widerstandsgeist hatte ihnen nichts eingebracht. Am Ende waren sie alle von dem erbarmungslosen, unerbittlichen Feind niederge mäht worden. An den Kabinen der einzelnen Offiziere befanden sich Schilder in Tel-Schrift. Für den in Amys Ortungsgerät integrierten Suprasensor war es keine Schwierigkeit, sie zu übersetzen. Es handelte sich um Namen und Rang des jeweiligen Offiziers.
»Kor Tranc, Kommandant«, las Amy die Anzeige ab, als sie vor einer Kabine stehenblieben, die sich in nichts von den Quartieren der anderen Offiziere unterschied. In die Tür war ein Loch mit einem Durchmesser von einem Meter fünfzig hineingebrannt worden, durch das die Angreifer offenbar ins Innere der Kabine gelangt waren. Dhark stieg als erster durch die Öffnung. Amy folgte ihm. Die Tür selbst ließ sich nicht mehr öffnen. In einem Schalensitz saß eine Gestalt. Der Totenschädel eines Tel grinste den beiden Terranern entgegen. »Das muß Kor Tranc sein«, glaubte Dhark. Staub bedeckte die aus hochwertigem Kunststoffgewebe be stehende Kombination, die die Gebeine des Tel noch zusammenhielt. In Brusthöhe befand sich ein handgroßes Loch im Stoff, dessen Ränder verkohlt waren. Der Schuß aus einer Strahlwaffe hatte Kor Tranc offenbar sofort getötet. »Der ID-Chip am Gürtel scheint intakt geblieben zu sein«, stellte Amy fest. »Es handelt sich tatsächlich um Kor Tranc, daran kann jetzt kein Zweifel mehr bestehen.« »Sind sonst noch Daten enthalten?« fragte Dhark. »Nein. Der Kommunikator, den wir bei einigen der anderen Toten fanden, wurde offenbar entfernt.« Vom Korridor her waren Schritte zu hören. Arc Doorn steckte im nächsten Moment den Kopf durch die Öffnung in der Tür. »Wie ich sehe, haben Sie Kor Tranc gefunden«, stellte er fest und stieg in die Kabine. Chris Shanton seufzte, als er die im Verhältnis zu seiner Kör perfülle relativ kleine Öffnung sah. Aber er zwängte sich schließlich ebenfalls hindurch. »Wir haben leider nichts gefunden, was uns irgendwie weiter gebracht hätte«, knurrte der bärtige Ingenieur. Er deutete mit der Hand auf Kor Trancs Gebeine und setzte schließlich noch hinzu: »Arlons Daten sind wohl für immer verloren. Hier an Bord sind sie
jedenfalls nicht mehr. Die einzige Chance, sie doch noch zu finden, bestünde wohl darin, jedes einzelne Stück Schrott auf diesem Plane ten dahingehend zu untersuchen, ob es nicht vielleicht einmal Teil des Bordrechners gewesen ist.« Shanton machte eine wegwerfende Handbewegung. Die Resignation war nicht zu überhören. »Das wäre eine Aufgabe für Jahre – vorausgesetzt, wir hätten eine ganz Armee von Fachleuten hier. Ansonsten dauert es noch länger.« »Unsere Ergebnisse sind leider auch nicht besser«, ergänzte Amy. Alles in Ren Dhark sträubte sich dagegen, in diesen Chor der Re signation mit einzustimmen und einfach aufzugeben. Andererseits mußte er den Fakten ins Gesicht sehen. Kor Tranc hatte offenbar in den letzten Stunden seines Lebens andere Sorgen gehabt, als Arlons gesammeltes Wissen über die Balduren zu bewahren. Arc Doorn wandte sich dem toten Kommandanten zu. Eine Verdickung unter dem Stoff des linken Ärmels ließ ihn auf merken. Der Ärmel reichte über die halbe Skeletthand. Doorn schob in ein Stück hoch. Ein Chronometer kam zum Vorschein. Es hing noch um die skelet tierte Handwurzel des Tel. Das messingfarbene Material, aus dem die oberste Schicht bestand, war zum Großteil korrodiert und blät terte ab. Doorn nahm dem Toten das Chronometer ab. »Den würde ich mir gerne mal genauer ansehen«, murmelte er. Mit Hilfe seines Suprasensors untersuchte er das Chronometer kurz und stellte schließlich fest: »Dies hier ist keineswegs nur eine einfache Uhr. Es befindet sich ein Datenspeicher darin, der allerdings starken elektromagnetischen Entladungen ausgesetzt wurde.« »Ist da wirklich nichts mehr zu machen?« hakte Chris Shanton mit gerunzelter Stirn nach. »An Bord der POINT OF vielleicht doch.« In diesem Augenblick erreichte Dhark ein Funkspruch von Riker. Diesmal nicht auf der allgemeinen Frequenz, die alle über den Helmfunk ihrer W-Anzüge empfingen, sondern über Dharks per
sönliches Armbandvipho. »Ich nehme an, du willst uns vor den herannahenden Robotern warnen«, meinte Dhark. Rikers Gesicht, das auf dem kleinen Bildschirm des Armbandvi phos erschien, wirkte äußerst besorgt. »Das auch. Aber du mußt aus einem anderen Grund sofort zu rückkehren, Ren«, erklärte Riker. »Und der wäre?« »Wir haben eine Funkbotschaft von Terra erhalten. Sie ist von Trawisheim persönlich.« Ein ungutes Gefühl machte sich in Dharks Magengegend breit. »Worum geht es?« »Kann ich dir leider nicht sagen, Ren. Die Botschaft ist mit einem speziellen Code versehen, der nur von dir geöffnet werden kann. Ich denke, du weißt, was das bedeutet.« Dhark schluckte. »Ja«, murmelte er. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, woraus der Inhalt dieser Übertragung besteht, aber uns beiden ist wohl klar, daß es sich um einen absolut dringenden Alarmfall handeln muß.« »Wir sind unterwegs«, versprach Dhark. »Der Roboterschwarm ist schon ziemlich nahe bei euch. Ich schicke euch ein paar Flash, die euch an Bord nehmen. Ihr solltet Kor Trancs Schiff auf keinen Fall zu Fuß verlassen!« * Mike Doraner blickte zum Horizont, wo der Morgen herauf dämmerte. Wie ein glühend heißer Lavastrom wirkte das rote Band der aufgehenden Riesensonne. Dieses Band war sehr schnell breiter geworden. Schwaches, rötli ches Dämmerlicht tauchte nun die von unzähligen Raum schiffswracks und Schrottbergen geprägte Landschaft des Planeten in einen eigenartigen Schimmer. Blanke Metallteile reflektierten das
Licht hier und da. Aber da blinkte noch etwas anders auf. Lichter von Robotern. Überall zwischen den Schrottbergen begannen sich plötzlich Schatten zu bewegen, die schon im nächsten Moment durch das rötliche Dämmerlicht huschten und für Sekundenbruchteile selbst für das bloße menschliche Auge erkennbar waren. »Sofort schießen, wenn ihr welche von diesen mechanischen Bies tern seht!« befahl Mike Doraner den anderen Raumsoldaten, die in der Umgebung in Stellung gegangen waren. »Anschließend Rück zug in den Tel-Raumer. Wir werden gleich abgeholt, aber bis dahin müssen wir überleben.« Die Roboter eröffneten sofort das Feuer. Ein schweres Gewitter von Blaster- und Thermostrahlfeuer zischte auf Doraner und seine Leute hernieder. Dhark hatte die Truppe zwar gewarnt und den Rückzug ins untere Deck des Tel-Raumschiffs befohlen, aber dennoch hatte der Angriff Doraner überrascht. Er hob den Multikarabiner und feuerte ebenso wie die anderen Raumsoldaten. Grell blitzten die Energieschüsse auf. Ein Explosivgeschoß sorgte für eine gewaltige Detonation. Ein gu tes Dutzend Roboter wurde dabei zerstört. Wie Puppen flogen sie durch die Luft und wurden durch die Gewalt der Explosion ausei nandergerissen. Aber die Angreifer waren einfach zu zahlreich. Der Schwarm, den sie gebildet hatten, bewegte sich vorwärts und nahm keine Rücksicht auf eigene Verluste. Dabei feuerten die Robo ter aus Hunderten von unterschiedlichsten Energiewaffen, die ent weder fest in ihre teilweise grotesken metallenen Körper integriert waren oder durch präzise arbeitende Greifarme gehalten wurden. Viele dieser Strahlwaffen wurden wohl ebenso als Werkzeuge ver wendet, um die massiven Außenpanzerungen gestrandeter Raum
schiffe im wahrsten Sinne des Wortes zu knacken. Der Schwarm der Roboter näherte sich mit atemberaubender Ge schwindigkeit. Dann änderte er urplötzlich die Bewegungsrichtung. Die Roboter schossen jedoch die ganze Zeit über ihre Ener giewaffen ab. Einige der nahegelegenen Wracks wurden dabei ebenfalls getroffen. »Zurück!« befahl Doraner seinen Männern über Helmfunk. Der Schwarm der Roboter änderte inzwischen abermals die Be wegungsrichtung. Der Hagel von Strahlschüssen ebbte etwas ab. Doraner und seine Männer zogen sich in die Richtung des Dop pelkugelraumers zurück. Einer von ihnen wurde getroffen, ehe er Deckung im Inneren des Schiffes suchen konnte. Er schrie auf, sank zu Boden. Zwei andere Raumsoldaten packten den Schwerverletzten an den Armen und schleiften ihn mit sich, während Doraner selbst und zwei weitere Raumsoldaten unermüdlich in Richtung der robotischen Gegner feuerten. Einige Augenblicke lang schafften sie es tatsächlich, die metallene Meute auf Distanz zu halten. Der Schwarm änderte schon wieder seine Bewegungsrichtung. Diesmal zog er sich zurück. Mehrere hundert Meter weit schnellten die Roboter davon. Ihre zumeist mit ausgesprochen leistungsfähigen Beinen ausgestatteten Körper ver schwanden zwischen den anderen Wracks. Der Verletzte war inzwischen ins Innere des Schiffs gebracht und auf den Boden gelegt worden. »Er ist tot!« meldete einer der Männer. Doraner zog sich als letzter ins Innere des Doppelkugelraumers zurück und bezog Posten an einer der Öffnungen, die die Roboter einst in die Außenhülle geschnitten hatten. »Mehr als eine Atempause ist das nicht«, war Doraner überzeugt.
Er sollte recht behalten. Schon wenige Augenblicke später brach die Flut der Angreifer wieder hervor. Dhark, Amy, Shanton und Doorn erreichten jetzt das unterste Deck. Über Helmfunk hatten sie mitbekommen, was sich unten ereignet hatte. Dhark und Amy traten neben Doraner und blickten der heran stürmenden Roboterhorde entgegen. Eine Flut aggressiver Ma schinen, die alles zerstörten, was ihnen in den Weg kam. Doraner feuerte mehrere Explosivgeschosse in ihre Reihen. Die Bewegungsrichtung des Schwarms veränderte sich dadurch kaum. Die Verluste der Roboter waren nicht hoch genug für sie, um den Angriff abzubrechen. Dhark und Amy feuerten mit ihren Handblastern. Eine Lichterscheinung durchzuckte den Himmel. Etwas schlug wie ein Blitz durch die massive Außenpanzerung des Tel-Schiffes. Ein Flash! wurde es Dhark sofort klar. Im Schutz seines Intervallfeldes hatte das Beiboot der POINT OF die Außenhülle des Doppelkugelraumers durchdrungen und war im Inneren gelandet. Jetzt stand es auf seinen Auslegern. Das zweisitzige, zylinderförmige Beiboot öffnete sich, und das Ge sicht von Larry Fonghauser, einem der Flashpiloten an Bord der POINT OF, kam zum Vorschein. Weitere Flash durchdrangen die Außenhülle des Tel-Raumers und landeten links und rechts daneben. Sie waren alle nur mit einem Piloten besetzt, so daß jeweils ein Mitglied des Erkundungstrupps zusteigen konnte. »Los, einsteigen!« rief Fonghauser. Ein Blitz zischte durch die Außenhaut des Tel-Raumers hindurch, bohrte sich wie eine Nadel durch die Panzerung und fuhr über die Köpfe der Terraner hinweg, ehe er eine Wand durchdrang.
Die Mitglieder des Erkundungstrupps erwachten jetzt aus ihrer Erstarrung. Einer nach dem anderen stieg in die Flash, während Doraner und einige andere Männer noch immer verzweifelt ver suchten, die Roboter mit Waffengewalt am Vordringen zu hindern. Bislang war ihr Kampf angesichts der erdrückenden Übermacht ziemlich aussichtslos gewesen. Doch nun erhielten sie Unterstützung aus der Luft. Weitere Flash hatten nicht das unterste Deck des Dop pelkugelraumers zum Ziel, sondern flogen Angriffseinsätze gegen die Roboter. Mit gezielten Nadelstrahlattacken wurden die Amok laufenden Maschinen gestoppt. Der Schwarm zerstreute sich. Die Roboter schnellten zurück in die Schattenzonen zwischen den Wracks und den sich zu gewaltigen Höhen auftürmenden Müllber gen. Ren Dhark war der letzte der Terraner, der einen der Flash bestieg. Es war die 006, die von Pjetr Wonzeff geflogen wurde. »Ich hoffe, Sie haben nichts abbekommen!« meinte Wonzeff, nachdem das Beiboot geschlossen war und startete. Im Schutz des Intervallums, das die 006 in ein eigenes Zwischenkontinuum hüllte, durchdrang sie erneut die Außenhaut des Schiffs. Nur Augenblicke später konzentrierten mindestens dreißig Robo ter ihr Energiefeuer auf einen Punkt, ganz in der Nähe jener Position, an der sich die Terraner soeben noch befunden hatten. Weitere Roboter folgten dem Beispiel der anderen und begannen ebenfalls, ihr Energiefeuer auf diesen Punkt zu richten. Ein Teil der Außenpanzerung platzte einfach ab. Metallteile wur den durch die Luft geschleudert. »Die hätten Sie einfach eingeschmolzen – wenn Sie mir die sehr direkte Redeweise gestatten«, meinte Wonzeff. Dhark atmete tief durch. »Sie haben recht, es war knapp«, gab er zu. Wenig später durchdrang die 006 wie alle anderen im Einsatz be findlichen Flash auch die Unitallpanzerung der POINT OF. Die Beiboote landeten allesamt sicher in ihren Depots. Als wenig
später auch jene Einheiten zurückkehrten, die die Roboter aus der Luft heraus angegriffen hatten, war klar, daß es unter ihnen keine Verluste gab. Dhark hatte Wonzeffs Flash noch nicht verlassen, da gab er über Vipho bereits den Befehl zum Start an die Brücke. »Welchen Kurs soll ich eingeben?« erkundigte sich Hen Falluta. »Sie müssen sich noch ein bißchen gedulden, I.O.«, verlangte Dhark. »Bringen Sie uns am besten erst einmal in eine stabile Um laufbahn.« »Wird erledigt.« Dhark unterbrach die Verbindung. Er wandte sich an Amy. »Ich werde mich jetzt in meine Kabine zurückziehen.« »Ich weiß, du willst Trawisheims Nachricht in Empfang nehmen, und dabei willst du ungestört sein.« Ein mattes, etwas angespannt wirkendes Lächeln huschte über Dharks Gesicht. »So kann man es natürlich auch ausdrücken.« * Ren Dhark suchte seine Kabine auf. Über Interkom stellte er eine Verbindung zur Funk-Z her. »Hier Morris.« »Geben Sie mir die Botschaft von der Erde in meine Kabine«, ver langte Dhark. »Kommt sofort.« Augenblicke später konnte er Trawisheims Botschaft öffnen. Auf einem kleinen Nebenbildschirm erschien das Gesicht von Henner Trawisheim, seines Zeichens Dharks Nachfolger im Amt des Com manders der Planeten. Gebannt hörte Dhark den Worten seines alten Weggefährten zu. Die Botschaft war nicht sehr lang.
Nachdem sie beendet war, lehnte sich Dhark einen Augenblick lang wie konsterniert in dem Schalensessel seiner Kabine zurück. Was er von Trawisheim gehört hatte, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Mit einem Knopfdruck stellte er eine Interkomverbindung zur Zentrale her. Riker meldete sich. »Umlaufbahn fast erreicht«, sagte er. »Ich möchte, daß gleich durchgestartet und die Transition vorbe reitet wird«, erwiderte Dhark entschieden. »Kurs?« »Kurs Erde.« »Erde? Ich verstehe nicht, Ren!« »Das wirst du aber gleich. Komm in meine Kabine und bring Amy, Doorn und Shanton mit. Dann werde ich euch sagen, was los ist.« Dan Riker nickte knapp. »Bin schon unterwegs!« erklärte er. * Chris Shanton und Arc Doorn waren gleich nach ihrer Rückkehr auf die POINT OF in eines von Shantons Labors gegangen, um den Speicher in der vermeintlichen Uhr zu untersuchen. »Es sind zweifellos Daten aus Arlons Datei in diesem Speicher vorhanden!« stellte Doorn fest, der wie elektrisiert wirkte. Die Aus sicht, möglicherweise das Wissen über die Balduren in den Händen zu halten, auch wenn es bislang noch nicht zugänglich war, beflü gelte ihn auf eine bemerkenswerte Weise. »Der Basiscode der Datei enthält Muster, die auch in Arlons verstümmelter Originaldatei auftauchen.« »Na großartig, dann kann es ja wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, wann du dich in der Zentrale mit Koordinaten für irgendeinen Planeten melden kannst, auf dem sich vielleicht ein paar weitere
Einzelteile dieses hochkomplexen Puzzles befinden«, meinte Shan ton. Aber Doorn dämpfte den Enthusiasmus seines Kollegen erneut etwas ab. »Kann sein, daß Arlons Wissen in dieser vermeintlichen Uhr ge speichert war oder sogar noch mehr Material vorhanden ist – aber im Moment sehe ich keine Chance, an die Daten heranzukommen. Im Verlauf der Kämpfe muß es zu dermaßen gravierenden elektro magnetischen Einwirkungen gekommen sein, daß der Speicher ein fach nicht mehr richtig funktioniert.« »Mit anderen Worten, wir sind kein Stück weitergekommen!« Arc Doorn nickte widerstrebend. »So ist es«, meinte er zerknirscht. »Ich komme einfach nicht weiter – zumindest nicht mit den Mitteln, die ich hier an Bord der POINT OF zur Verfügung habe!« Er ballte die Hände zu Fäusten. Sein Wissensdurst war groß. Manche hätten in diesem Zusammenhang das Wort »unersättlich« benutzt. In diesem Moment ertönte ein Summton – ein Zeichen dafür, daß jemand eine Interkomverbindung herzustellen wünschte. Jimmy, der Roboterhund, machte dabei durch ein lautstark ver nehmliches Bellen auf sich aufmerksam. »Mister Shanton und Mister Doorn?« fragte Glenn Morris von der Funk-Z. »Was ist?« ergriff Doorn das Wort. »Stewart, Doorn und Shanton sollen sich sofort in die Kabine des Kapitäns begeben. Er hat Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.« »In Ordnung«, bestätigte Shanton. Er runzelte die Stirn. »Das hat garantiert etwas mit Trawisheims Botschaft zu tun«, stellte Doorn erstaunlich sachlich fest. * Als Amy, Shanton, Riker und Doorn die Kabine des Kom
mandanten erreichten, erhob sich dieser aus seinem Schalensitz. »Wie alle Anwesenden sicherlich mitbekommen haben, wurde ein Start Richtung Erde befohlen«, begann er. Shanton verschränkte die Arme vor der Brust. »Worum geht es hier eigentlich?« fragte der dicke Mann. Er spürte – so wie alle anderen auch – ganz deutlich, daß hier etwas nicht stimmte. »Trawisheim hat uns aus einem außerordentlichen Grund um un sere Rückkehr zur Erde gebeten«, erklärte Dhark nach einer kurzen Pause. Er fuhr fort: »Im Sol-System bahnt sich eine beispiellose Ka tastrophe an.« »Was ist geschehen? Raus mit der Sprache!« rief Amy. »Die Zeit der Geheimniskrämerei ist vorbei, Ren.« Dhark atmete tief durch. Er sah Amy an und blickte ihr direkt in die Augen. Dann schluckte er. »Die Sonne stirbt«, stellte er fest und blickte in völlig entgeisterte Gesichter. Dhark beugte sich etwas vor. »Das ist leider die Wahrheit und kein Scherz«, fügte er noch hinzu. »Terras Sonne stirbt.«
17.
Der Schneesturm hatte nachgelassen, noch während Flash 013 das ihm zugeteilte Planquadrat im Luftraum über der ANZIO einge nommen hatte. »Zugeteiltes Planquadrat« war vielleicht etwas zu über schwenglich ausgedrückt. Tatsächlich hielten sich die 28 Raumboote nicht strikt an genau vorgegebene Parameter, sondern bildeten einen Schutzschirm über dem Ringraumer, dessen Grenzen fließend ver liefen. In der 013 saß Fähnrich Jon Spears auf dem Pilotensitz, Fähnrich Telek mit dem Rücken zu ihm auf dem hinteren Sitz. Beide Piloten waren das, was die regulären Flashpiloten als »Fri schlinge« bezeichneten und mit entsprechenden Bemerkungen ver knüpften. Spears flog die Null-Eins-Drei mit der Handsteuerung – an die Gedankensteuerung würde man ihn erst nach einem gewissen Aus bildungsstand lassen – und schenkte seine Aufmerksamkeit vor wiegend dem Luftraum, um ungebetene Schiffe rechtzeitig zu ent decken. Telek überwachte mit den Waffensystemen von seinem Platz aus das Terrain unter ihnen auf mögliche Bodenfahrzeuge und Trup peneinheiten der Caldarer, die die am Boden sitzende ANZIO mög licherweise als lohnende Beute für einen Überfall ansehen könnten. Die Taster der 013 arbeiteten und lieferten gestochen scharfe Bilder von der Oberfläche. Dennoch hatte Telek gewisse Schwierigkeiten, Details der unter Schnee verborgenen Landschaft richtig zu inter pretieren und zuzuordnen. Er mußte das eigentlich auch gar nicht, weil die 013 für ihre Insas sen dachte und handelte. Üblicherweise. Aber da die Ge dankensteuerung deaktiviert war, um unliebsame Überraschungen gleich gar nicht erst aufkommen zu lassen, gab es keine verbale
Alarmmeldung, sondern die übliche Instrumentenwarnung, als die Taster innerhalb des überwachten Rasters auf der Oberfläche eine Wärmequelle entdeckten, die sich rasch in geringer Höhe über das verschneite Gelände bewegte. Der Kursvektor zeigte eindeutig in Richtung des Landeplatzes der ANZIO, auch wenn die Infrarot quelle noch weit von ihr entfernt war. »He!« rief Telek alarmiert. »Ich habe da was auf den Schirm.« Das Signal, das die Taster aufgefangen hatten, hatte laut der Aus wertung eine stetige Geschwindigkeit von etwa 180 Kilometern pro Stunde. »Wahrscheinlich ein Bodeneffektfahrzeug«, vermutete Spears. »Hol es näher ran!« »Holla!« machte Spears, als er die Vergrößerung zu Gesicht bekam. »Hab mich geirrt, kein Bodeneffektfahrzeug. Ein konventionelles VTOL-Flugzeug mit zwei Turboprops am Heck im Tiefflug. Deshalb der geringe Abstand zum Boden. Ist es bewaffnet?« »Die Sensoren sagen ja«, gab Telek nach einer Sekunde bekannt. »Biozeichen?« »Zwölf! Die genetischen Profile entsprechen denen von Calda rern.« Nachdem die 18 Raumfahrer von der FORSCHEX geborgen wor den waren, hatte die Krankenstation der ANZIO eine Untersuchung über deren Gesundheitszustand durchgeführt, um eventuelle Ver letzungen feststellen zu können. Die dabei gewonnen Ergebnisse und physiologischen Daten waren der medizinischen Datenbank einverleibt und ein genetisches Profil erstellt worden, auf das die Biotaster nun geeicht waren. »Ein Stoßtrupp der Caldarer. Nimm ihn in den Fokus.« »Du meinst…« Telek stotterte fast ein wenig vor Aufregung. »Das meine ich, Mann. Los, mach voran, ehe wir ihn eventuell verlieren.« Bei dem Wetter, das hier oben am Polarkreis herrschte – heulende Winde, die den trockenen Schnee so rasch vor sich hertrieben, daß er
nahezu waagerecht über die Landschaft flog –, war es sogar wahr scheinlich, daß die Taster das Signal verlieren würden. Zusätzlich konnten die starken Entladungen in der Ionosphäre über dem Pol gebiet zu Fehleinschätzungen bei den taktischen Zielsystemen füh ren. Telek aktivierte das Waffensystem. »Nadelstrahl?« fragte er. »Warum mit Kanonen auf Spatzen schießen«, wehrte Spears ab. »Dust genügt.« Diese Waffe der Worgun, lichtschnell, verwandelte jede nicht von Kraftfeldern geschützte anorganische Materie in Staub, ohne Aus wirkungen auf organisches Leben zu haben. »Ziele auf ihre Antriebseinheit«, riet Spears Telek. »Sollten sie den Absturz überleben, haben sie zumindest einen höllischen Fußmarsch vor sich.« * »Was ist? Was hörst du?« Kamal hatte das Glas gesenkt und blickte zu Zeke York hinüber, dessen aufmerksam zur Seite geneigter Kopf verriet, daß er angestrengt lauschte und die Quelle des Geräusches herauszufinden versuchte. Ein schwieriges Vorhaben, weil der Wind unstet mal lauter und dann wieder leiser blies. Jetzt schüttelte er den Kopf, nahm das Fernglas wieder aus dem Futteral und starrte in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien. Zuerst fiel ihm nichts auf, doch dann glaubte er, in der Ferne ein Objekt zu sehen, das sich dicht über dem Boden bewegte und mit großer Geschwindigkeit näherkam. Noch glich das Objekt einer sich drehenden, windenden weißen Wolke, doch etwas später sah Zeke den dunklen Kern an der Spitze. Etwas kam mit großer Geschwin digkeit in ihre Richtung, dabei wirbelte es den Schnee hinter sich auf wie ein sich waagerecht über den Boden bewegender Tornado. Wenn es seine gegenwärtige Geschwindigkeit beibehielt, würde es in
wenigen Minuten bei ihnen sein. Und er hatte noch immer keine Ahnung, um was es sich dabei handelte. »Was zum Teufel ist das?« knurrte er. Zwei Meter links von ihm sagte Peter Cirulis in sein Helmmi krophon: »Was ist los, Zeke?« Das summende Geräusch war ständig lauter geworden, hatte jetzt einen singenden, eindeutig metallenen Charakter. Zeke kramte in seinen Erinnerungen, dann fiel es ihm wie Schup pen von den Augen: Es war das Geräusch laufender Turbinen! Und es war auch kein Blizzard, sondern ein Flugzeug, das im Tiefstflug auf sie zukam. Es flog so dicht über dem Boden, daß Pro pellerwind und Wirbelschleppe den Schnee in die Höhe rissen. Sein Antrieb bestand aus zwei Propellerturbinen; deutlich blitzten die Luftschraubenkreise in der Sonne. »Mein Gott!« stieß jetzt Kamal hervor und ließ das Fernglas sinken. »Ein Flugzeug!« Er sog mit einem scharfen Geräusch die Luft ein. Seine Nerven schienen bis zum Zerreißen gespannt. Zeke sah sich schnell um, wo sie in Deckung gehen konnten. So wie es aussah, kam das Flugzeug in direkter Linie auf sie zu und würde in weniger als einer Minute ihren Standort überfliegen. Er hatte noch nicht zu Ende gedacht, als die Situation eine neue, dramatische Wendung nahm. Aus dem Himmel zuckte ein olivgrüner Strahl, schlug in die Hecksektion des Luftfahrzeugs ein und trennte mit der Schärfe eines chirurgischen Lasers das Leitwerk sowie die davor auf Stummelpy lons sitzenden Propellerturbinen vom Rumpf. Einer der im Luftraum operierenden Flash hatte eingegriffen und die Bedrohung ausgeschaltet! Das Flugzeug, nach Verlust seines Antriebes und Teile des Leit werkes kaum noch steuerbar, zog heulend kurz vor der Position der Rauminfanteristen, die unwillkürlich die Köpfe einzogen, nach links und verschwand hinter einer Anhöhe. Sekunden später war das
Krachen zu hören, mit dem es im Schnee aufkam. Die Männer erhoben sich wieder aus ihrer Deckung. Sie sahen sich an, schließlich sagte Cirulis: »Sollen wir nachsehen gehen?« Kamal meinte: »Könnten wir schon, oder?« Die Frage galt Zeke York, der als Truppführer die Entscheidung hatte. Zeke überlegte einen Moment, seine Blicke suchten die Stelle, an der das Atmosphärengefährt der Caldarer niedergegangen sein mußte. Die Schneewolke, die den Einschlag markierte, hatte sich verzogen. Rauch, Dampf oder Feuer waren nicht zu sehen. »In Ordnung«, sagte er. »Ich bin einverstanden.« »Sollten wir nicht die Basis über unser Vorhaben in Kenntnis set zen?« wandte Cirulis ein. »Mhm. Nein, sehen wir erst nach«, traf Zeke York eine fol genschwere Entscheidung, deren Tragweite er zu diesem Zeitpunkt noch nicht übersehen konnte. »Die ANZIO können wir dann immer noch informieren. Oliver, du bist der Entfernungsexperte von uns. Die Stelle, wo sie runtergekommen sind. Wie weit ist es bis dahin?« »Etwa fünfhundert Meter von hier, Zeke«, antwortete Kamal. Zeke starrte hinaus in das Weiß, das es schwermachte, genaue Einzelheiten zu erkennen. »Also gut, machen wir uns auf den Weg.« Die Soldaten setzten sich in Bewegung. Nach allen Seiten Ausschau haltend, liefen sie so rasch, wie es die Verhältnisse erlaubten, durch die weiße Einöde, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Zeke begann unter seinem isolierten Einsatzanzug zu schwitzen und fragte sich, ob er richtig gehandelt hatte, ihr Vorhaben nicht an die Basis zu melden. Einen halben Kilometer entfernt von ihrer ursprünglichen Position befahl Zeke seinen Kameraden, langsamer vorzugehen. »Wir müßten gleich da sein«, ließ er verlauten. »Jetzt äußerste Vorsicht. Wir wissen nicht, was uns erwartet.« Sie trabten gemächlich über den schneebedeckten Grund, der Wind hatte zugelegt und trieb Myriaden von winzigen Eiskristallen
vor sich her, die die Sicht erschwerten. Cirulis sah das Loch in der Landschaft, noch ehe er das lädierte Luftfahrzeug darin entdeckte. Die Scharte im Boden hatte nicht etwa der Absturz verursacht – der flache Spalt, der an dieser Stelle die Landschaft aufriß und sich in der vom Schnee verwischten Ferne verlor, war schon vorher dagewesen. Das Atmosphärenfahrzeug hatte ihn nur genau getroffen. Die drei Rauminfanteristen gingen vorsichtig über den etwas ab schüssigen Boden hinüber. Peter Cirulis war der erste, der die Kante erreichte und über den Rand spähte. Der Torso des Flugzeugs lag knapp unter der Sichtkante, die merkwürdig geformte Nase vom Aufprall aufgeplatzt und verdreht, die Rumpf Seiten aufgerissen, so daß man teilweise das Kabinenin nere sah. Eine Tragfläche lag unter dem Flugzeug, die andere mußte beim Aufprall abgerissen und irgendwohin geflogen sein. Wenn es Brände gegeben hatte, waren sie vom Schnee erstickt worden, der bereits eine dünne Schicht auf dem zerschmetterten Rumpf gebildet hatte. »Irgendwer am Leben dort drin?« »Sieht nicht so aus, Zeke«, sagte Kamal. »Überprüfe es!« schnappte der Truppführer. Kamal war der Systemtechniker der Gruppe. Ihm oblag es, die gesamte Ausrüstung mit sich herumzuschleppen, die man bei Ein sätzen dieser Art auf Fremdwelten bei sich haben mußte, um über leben zu können. Cirulis war der Sanitäter und York der Waffen spezialist. Kamal klappte das seitlich am Helm befestigte Infrarotvisier vor sein linkes Auge. Jetzt sah er das zerstörte Flugzeug als schwarz gezeichnetes Objekt in einer grünen Scheinwelt aus Elektronen. Dort, wo einmal die Motoren gesessen hatten, war eine Spur von Gelb. Minimale Rest spuren von Wärme, kaum noch zu erkennen.
»Kaum noch Wärmeemissionen«, sagte er in seinen Helm sprechfunk. »Und?« kam die drängende Stimme Yorks. »Was ist mit der Be satzung?« Kamal glaubte, nicht richtig zu sehen. Doch dann mußte er erken nen, daß er sich nicht irrte. Nirgends in dem elektronischen Abbild des Flugzeugwracks gab es rote oder orangefarbene Flecken. »Ist nicht da?« gab er seiner Verwirrung Ausdruck. »Sind alle tot, nicht wahr?« Das war Cirulis. »Ich meine, sie ist nicht da! Begreift ihr Schwachköpfe nicht, was ich sage?« »Keine Leichen?« kam Yorks alarmiert klingende Stimme über den Helmfunk. »Ich kann keine finden.« »Ganz bestimmt?« »Ich habe keinerlei Anzeigen auf meinem Gerät.« »Sie haben überlebt«, erklang Cirulis’ nervöse Stimme, »und sich auf den Weg gemacht. Sie müssen verletzt sein. Niemand überlebt einen derartigen Absturz ohne Verletzungen.« Zeke York schnitt unter seiner Gesichtsmaske eine Grimasse. Er griff nach seinem Multikarabiner. »Wohin können sie verschwunden sein? Es ist nur ein paar Minu ten her. Sie können nicht weit sein. Ich…« Er verstummte. In der Tat hatte er mit seiner Bemerkung, die Caldarer könnten nicht weit sein, recht. Sie waren überhaupt nicht weit, sondern nur rund zwanzig Schritte entfernt plötzlich hinter einem Felsblock hervorgetreten und hatten blitzschnell Positionen eingenommen, die dem Team keine Möglichkeit zur Flucht gaben. »Mist, verdammter!« fluchte Kamal mit Inbrunst. York sog mit einem scharfen Geräusch die Luft ein, hob den Kara biner – und ließ ihn wieder sinken, als er in die Mündungen der Waffen sah, die sich im gleichen Sekundenbruchteil auf ihn kon
zentrierten. »Keinen Widerstand leisten!« stieß er hervor, an die Adresse seiner Kameraden gerichtet. »Sie sind in der Überzahl und vermutlich so etwas wie eine Elitetruppe, wie es scheint.« Es waren zwölf. Und es waren Caldarer. Sie trugen uniformähnliche, gegen den Wind und die Kälte schüt zende Tarnanzüge, die farblich perfekt auf das polare Terrain abge stimmt waren, dazu helmartige Kopfbedeckungen sowie eine Art Gesichtsmaske. In Höhe der Augen umspannte ein metallenes, ver spiegeltes Band den Kopf, über das ständig Farbspiele liefen. In ihren Händen hielten sie wuchtige Waffen, die wie die Ab schußvorrichtungen für panzerbrechende Raketen aussahen. Zeke schluckte. Was immer die Ladung war, sie würde nicht viel von einem getroffenen Gegner übriglassen. »Mein Gott!« stieß Peter Cirulis hektisch hervor. »Da sind wir se henden Auges in die Scheiße getreten.« »Wir haben uns verhalten wie blutige Greenhorns«, pflichtete Kamal ihm bei. »Wenn das unser Ausbilder erfährt, haben wir für alle Zeiten Verschissen. Falls wir das hier überhaupt überleben.« »Keine Panik, Leute«, riet Zeke. »Sie haben nicht auf uns ge schossen, obwohl sie es hätten tun können. Das ist schon mal ein gutes Zeichen.« »Wofür?« ließ sich Kamal vernehmen, seine Stimme kam knisternd über den Helmfunk. »Daß wir erst etwas später umgebracht wer den?« In die Caldarer kam Leben, drei von ihnen näherten sich, die an deren postierten sich um, so daß sie freies Schußfeld hatten. Jetzt war Zeke sicher, es mit einer Elitetruppe zu tun zu haben; so verhielten sich nur spezialisierte Kämpfer. Zekes Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Was hatte man vor? Ein Caldarer blieb vor ihm stehen. Zeke hörte ein leises, bedrohlich wirkendes Schnurren hinter der Gesichtsmaske, dann schienen im
verspiegelten Augenband alle Farben des Spektrums auf einmal zu explodieren. Redete der Caldarer mit ihm? Zeke wußte, daß die Bewohner des caldarischen Reiches Syn ästheten waren, die über Farbspiele ihrer drei Augen untereinander kommunizierten. Nur half ihm das jetzt nicht die Bohne. Er war kein Farbhörer. Und hatte auch keinen Übersetzer dabei. Innerlich mit den Schultern zuckend, wappnete er sich gegen das, was kommen würde. Das Schnurren hinter der Maske verstummte, die Waffe in der Hand seines Gegenüber machte mehrmals eine Aufwärtsbewegung. Die Geste war auch auf einer Fremdwelt eindeutig. Sie hieß: Hände über den Kopf. Zeke nickte, was keine Reaktion bei dem Caldarer hervorrief. Statt dessen schlug er mit der Mündung seiner Waffe an die von Zeke. Der ließ den Karabiner fallen und hob die Hände über den Kopf. »Zufrieden?« Wieder erschienen die Farbspiele in dem Band. »Tut mir leid«, sagte Zeke laut gegen den Wind. »Ich bin kein Synästhet, ich verstehe eure Sprache nicht. Und einen Translator haben wir auch nicht mit.« Aus den Augenwinkeln sah York, daß es den beiden Kameraden ebenso erging wie ihm. So standen sie für Minuten mit erhobenen Händen im Schnee und versuchten mit der Bedrohung fertigzuwerden, die von den ver mummten Caldarern ausging. Einen blitzschnellen Ausfall zu ma chen, schien ihnen nicht angeraten zu sein angesichts der unentwegt auf sie gerichteten Läufe der unbekannten Waffen. Die Caldarer schienen untereinander in einen Disput getreten zu sein; die Farbspiele ihrer Helmblenden wechselten so schnell, daß es Zeke vor den Augen flimmerte. »Vermutlich beratschlagen sie«, kam Cirulis’ blechern klingende
Stimme über den noch immer aktiven Helmfunk, »auf welche Weise sie uns töten sollen.« »Klappe!« zischte Zeke, dessen Nerven vibrierten wie Spannseile. »Noch sind wir am Leben.« »Fragt sich, wie lange noch«, äußerte Kamal seine defätistische Einschätzung. »He! Nimm deine Pfoten von mir!« Der Ausruf galt einem Caldarer, der anfing, ihm mit einem flexib len Band die Handgelenke zusammenzubinden. Wenig später waren alle drei Terraner gefesselt. Ihre Waffen und Tornister warfen die Caldarer in einen großen Sack, den sie auf eine Art Schlitten deponierten. Dann begannen die Caldarer damit, sie zu durchsuchen und alles an den Kampfanzügen der Männer auszuschalten, was nur irgend wie nach aktiver Technik aussah. Zeke gelang es in letzter Sekunde, den Empfang seines Funkgeräts zu desaktivieren. Und da die Kontrolleuchte sowieso ihren Geist aufgegeben hatte, übersah der ihn durchsuchende Caldarer, daß das Funkgerät noch betriebsbereit war. Schließlich nahmen die Caldarer die drei Terraner in die Mitte und setzten sich mit ihren Gefangenen in Bewegung. »Wohin sie uns wohl bringen?« sagte Kamal, der hinter Zeke durch den Schnee trottete. »Spielt keine Rolle«, gab ihm der zu verstehen. »Wir müssen nur überleben, das ist alles. Je länger wir am Leben bleiben, um so mehr steigt die Chance, daß wir uns befreien können.« Oder befreit werden, setzte er in Gedanken hinzu und dachte an sein Funkgerät, das un sichtbar für die Caldarer eine Spur hinterließ. Eine Spur wie ein Leuchtfeuer in dunkler Nacht. * Während die ANZIO fleißig repariert wurde und die Arbeiten an den defekten Flächenprojektoren zügig voranschritten, hockte Eric
Hill in der Operationszentrale der Rauminfanterie am Funkgerät, über das die Meldungen der Außenposten hereinkamen. Er sah auf das Chrono. Wurde Zeit für den Routineruf. Hill aktivierte das Mikrophon. Er hielt sich an den vorgeschriebenen Modus, die Gruppen von eins an aufsteigend zu rufen. »Kontrolle ruft Gruppe Eins. Eins melden!« »Eins hier. Keine Vorkommnisse.« »Zwei…« »Keine Vorkommnisse, Basis.« Es war Routine. Dennoch spulte sie Hill mit der gleichen Intensität ab, als hinge jedesmal das Überleben der Männer davon ab. »Gruppe 27?« »Nichts…« »28. Was ist mit euch?« »Kontrolle! Kontrolle! Ihr werdet es nicht glauben«, kam eine ver blüffte Stimme über das Funkgerät. »Was ist, Gruppe 28?« fragte Hill alarmiert in sein Mikrophon. »Äh, wir sehen nur Weiß um uns herum. Ist das, öh… vielleicht Schnee?« Die Stimme des Funkers von Trupp 28 brach mit einem Glucksen ab. »Blödmann!« fauchte Eric Hill. »Du weißt schon, Kyle, daß das ei nen Eintrag bedeutet.« »Ach, hab dich nicht so, Hill!« ließ sich die ferne, knisternde Stimme aus dem Lautsprecher hören. »War doch nur Spaß. Hier draußen ist absolut tote Hose.« Kopfschüttelnd schaltete der Kontrollfunker zum nächsten Team. Und dann weiter und weiter und so fort… Er überlegte noch immer, ob er Kyle eine rein würgen sollte, als er bemerkte, daß Gruppe 60, die letzte auf seiner Liste, aus der Reihe tanzte und nicht reagierte. Er versuchte es erneut. Keine Antwort,
auch nicht, als er es über die Ausweichfrequenz versuchte. Dann überprüfte er, ob das Funkgerät des Trupps überhaupt aktiviert und nicht durch einen dummen Zufall ausgeschaltet war. Das interne Signal des Gerätes war eindeutig zu orten. Das sah nach Ärger aus. Umgehend informierte der Funker Major McGraves. * Der gepanzerte Mannschaftsschweber flog mit niedriger Ge schwindigkeit über die weite Schneefläche. Ziel war die Basis eines Hügelzuges etwa fünf Kilometer voraus, wo die Taster die Überreste von Gebäuden geortet hatten; in den Berg selbst erstreckten sich ausgedehnte Hohlräume in nahezu geometrischer Anordnung. Vermutlich ein längst aufgegebenes Bergwerk. Von dort kam das Signal von Gruppe 60. Die Luftverdrängung der Gleiter wirbelte Eis- und Schneewolken empor und zog sie eine ganze Weile hinter sich her. Chester McGraves saß vorne neben dem Piloten, hatte die Beine ausgestreckt und blickte durch die Kanzelverglasung hinab auf die Schnee wüste. Die Sonne stand nun in einem bleichen Hof, vereinzelt fiel noch immer Schnee aus dem Himmel, obwohl keine Wolken in der Nähe zu sehen waren. McGraves’ Gedanken galten den verschwundenen Männern. So wie es aussah, hatte vermutlich ein caldarischer Stoßtrupp den Außenposten gefangengenommen. Das paßte auch zu der Meldung aus der Flashzentrale, wonach die 013 ein Flugzeug abgeschossen hatte, das sich der ANZIO im Tiefflug nähern wollte. Ob es dessen Besatzung war, denen seine Männer in die Hände gefallen waren? Man würde sehen. Der Major runzelte nachdenklich die Stirn, dann warf er einen
Blick zurück in das Mannschaftsabteil des Schwebers. Dort hockten, fünf auf jeder Seite, zehn Männer seiner Rauminfanterie. Alle in Kampfausrüstung, über die sie weißgraue Schneeanzüge gezogen hatten. Ihre Bewaffnung entsprach dem Standard für Risikoeinsätze, mit ein paar zusätzlichen Spielereien, von denen aber der Major über zeugt war, sie nicht einsetzen zu müssen. Ob es klug war, den Oberst nicht einzuweihen? Gleich nachdem ihn sein Kontrollfunker über das Ausbleiben des Rückrufs von Außenposten 60 informiert hatte, hatte McGraves in aller Eile den Einsatztrupp zusammengestellt und seinen Hauptleu ten aufgetragen, Stillschweigen gegenüber der Führung der ANZIO zu bewahren. Seine Absicht dabei war schlicht und ergreifend, sei nen Männern Ärger zu ersparen. Offiziell war er auf einem Kontrollflug zu den Außenposten. Es würde ein rascher Einsatz werden, soviel sah McGraves schon jetzt. Vor allem, nachdem man die Männer geortet hatte. Die Ein satzgruppe mit ihm an der Spitze würde die Männer befreien und mit ihnen zur ANZIO zurückkehren, bevor dort überhaupt jemand merkte, was da abgelaufen war. Doch, er war jetzt sicher, daß er richtig gehandelt hatte, seinen Skipper nicht einzuweihen. »Wie weit noch?« fragte er. »Eintausend Meter, Sir«, sagte Stabsfeldwebel Greer laut, der am Steuer des Mannschaftsschwebers saß. Er ging etwas tiefer hinunter und folgte einer mit Eis gefüllten Rinne, die in gerader Linie auf die Ranke des Hügelzuges vorstieß. Erneut blickte McGraves nach draußen; das Bild der Schnee landschaft hatte sich nicht gewandelt. Hier gab es nichts außer Eis, schwarzen Felsen und Verlassenheit. »Gehen Sie noch tiefer, Greer. Erhöht das Überraschungsmoment. Hat sich das Signal verändert?« »Nein, Sir. Es bleibt konstant. Sie scheinen sich nicht zu bewegen.«
»Gut für uns«, erwiderte der Major, und seine Miene zeigte gelas sene Zufriedenheit. Und dann tauchte der Ausgangspunkt des Signals vor ihnen auf. Der Major gab letzte Instruktionen, dann deutete er nach draußen. »Gehen Sie runter, Mister Greer. Dalli!« * »Seid froh, daß sie uns nicht unsere Schutzanzüge abgenommen haben, wir würden sonst kaum in dieser Kälte überleben«, machte Zeke seinen Kameraden klar und stürzte fast zu Boden, als der vor ihm laufende Caldarer am Strick zog. Diese Geste war eindeutig. »Haltet die Klappe«, hieß sie. Und: »Vorwärts«. Taumelnd versuchte Zeke, Tritt zu fassen. Er zog den Kopf zwi schen die Schultern und schluckte seine Wut hinunter. Im Gänsemarsch hintereinander ging es weiter. Als sich Zeke einmal umdrehte, erkannte er, daß die Absturzstelle schon nicht mehr zu sehen war. Wie lange würden sie noch durch die Kälte und Einsamkeit mar schieren? Schließlich steuerten die Caldarer auf einen Steilhang zu. Hoffentlich verlangen sie nicht, daß wir den raufklettern sollen, dachte Zeke. Seine Befürchtungen diesbezüglich waren grundlos. Als sie sich der Wand näherten, sahen sie die Ruinen eines aufgelassenen Berg werks. Halbzerstörte Gitterstege zwischen Plattformen und Rampen, die Gerüste von Lastenaufzügen. Und die Öffnung eines Tunnels, der in den Berg führte. Alles machte einen verlassenen, zerfallenen Eindruck. Was verhältnismäßig intakt wirkte, war die aufgeständerte Schie nentrasse, die nach Süden führte. Vermutlich wurden mit ihr Mi
nenarbeiter zu ihrer Arbeitsstelle und wieder nach Hause transpor tiert. Die Caldarer trieben sie unter das Dach einer halbzerfallenen Hal le, an die ein Schuppen angegliedert war. Zeke konnte einen Blick auf das werfen, was in dem Schuppen war, nur unzulässig von einer zerschlissenen Persenning abgedeckt. Er kramte in seinen Erinnerungen. Wo hatte er so was schon mal gesehen? Diese metallenen Räder? Dann fiel es ihm ein. Es handelte sich um ein Schienenfahrzeug, vermutlich angetrieben von fossilem Brennstoff, der Bauart nach. Sicher Dieselöl oder ein vergleichbares Produkt, wenn er den Inhalt der in einer Ecke stehenden Tonnen richtig deutete. Eingemottet wartete es darauf, wieder in Betrieb genommen zu werden. Während einer der Caldarer die drei Terraner in eine Ecke drängte, kümmerten sich die anderen intensiv um das Schienenfahrzeug. Zeke konnte sich vorstellen, daß es lange nicht mehr im Einsatz ge wesen war und erst wieder betriebsbereit gemacht werden mußte. Das war die Gelegenheit, die Situation zu ihren Gunsten zu ver ändern. Kamal und Cirulis sahen das ebenso. Sich wortlos mit Blicken verständigend, gingen sie daran, ihre Fesseln zu lockern. Ihr Vorhaben wurde zusätzlich dadurch be günstigt, daß ihr Bewacher im Augenblick alles andere als auf merksam war – und vermutlich auch nicht damit rechnete, daß seine Gefangenen keinen Sinn darin sahen, noch länger gefangen zu blei ben. Es dauerte keine fünf Minuten intensiven Arbeitens, dann waren die Fesseln soweit gelockert, daß sie sie abstreifen konnten. Irgend etwas mußte dem Caldarer aufgefallen sein, denn in diesem Moment drehte er sich zu den Terranern um. Aber er sah nur noch, wie Zeke fast geräuschlos auf ihn eindrang und ein armlanges Stück Metall gegen seinen Kopf schlug, das er vom Boden aufgelesen hatte.
Der Caldarer brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Cirulis entriß ihm die Waffe. Sie einzusetzen gelang ihm aber nicht mehr. Die anderen Caldarer waren aufmerksam geworden, und die drei Rauminfanteristen starrten plötzlich in elf Mündungen. »Mist!« knurrte Kamal ingrimmig. »Das war’s dann wohl«, meinte Cirulis fatalistisch. Es war klar, daß er damit rechnete, im nächsten Moment erschossen zu werden. Aber irgend etwas hielt die Caldarer zurück. Etwas, das sich hinter Zeke und seinen Kumpanen abspielen mußte. Und als eine menschliche Stimme »Halt!« rief, wußten sie, daß endlich Hilfe gekommen war. * »Es ist nicht nötig, daß wir uns gegenseitig umbringen!« sagte Major McGraves sehr deutlich, und das Leuchtfeld des Cazzigian ni-Translators transformierte seine Worte in ein Konglomerat von Farben und Formen um, die »Sprache« der Caldarer – was für einige Verblüffung bei den Synästheten sorgte. Unschlüssig senkten sie ihre Waffen, nur um sie im selben Augen blick mit bedrohlich wirkenden Gesten wieder auf die ebenfalls schwerbewaffneten Männer der Rauminfanterie zu richten, die links und rechts des Majors ausgeschwärmt waren. Eine äußerst instabile Situation, die jeden Moment zu eskalieren drohte. »Ruhig bleiben«, befahl der Major und machte eine be schwichtigende Handbewegung, wobei er hoffte, daß sie auch von den Caldarern wenigstens in Ansätzen verstanden wurde. Er schien nicht besorgt. Woher er die Gewißheit nahm, konnte er nicht in Worte kleiden, aber seiner Ansicht nach bestand keine unmittelbare Gefahr, weshalb er hinzufügte: »Ich glaube nicht, daß sie uns wirk lich angreifen werden.«
Daß er dabei den Translator aktiviert ließ, geschah bewußt. Auf diese Weise zeigte er, daß er nichts zu verbergen hatte. Ein in Diplomatie geschulter Regierungsvertreter würde dies als »vertrauensbildende Maßnahme« apostrophieren. Nicht aber McGraves, der zu allen Zeiten ein Mann der Tat war und von rheto rischen Winkelzügen die Finger ließ. Die Caldarer antworteten noch nicht; die verspiegelten Bänder, hinter denen sie ihre Augen verbargen, zeigten ein gleichmäßiges Orange, mit dem der Übersetzer nichts anzufangen wußte. »Wir wollen keine Konfrontation mit Ihnen«, richtete McGraves seine Worte nun wieder direkt an sie. »Wir wollen nur unsere Leute zurück. Dann verschwinden wir auf der Stelle. Außerdem finde ich, daß wir uns vorstellen sollten. Wir sind Menschen und stammen von einer Welt namens Terra. Mein Name ist McGraves, ich bin der Vorgesetzte dieser Männer.« Jetzt reagierten die Caldarer; vor der Flut der auf den Blenden er scheinenden Farbspiele kapitulierend, gab der Translator kurzzeitig kaum Verständliches von sich. »So geht das nicht«, versuchte es der Major. »Wenn ihr alle durch einanderredet, macht unser Translator nicht mit.« Seine Worte schienen angekommen zu sein. Einer hob die Hand. Sofort erloschen die schwirrenden Farbmuster der anderen. Die verspiegelten Augenbänder der Caldarer schienen nichts an deres als Schneebrillen oder Helmvisiere zu sein, mit dem Unter schied, daß sie darüber auch ihre Kommunikation abwickelten, so lange sie die Ausrüstung trugen. Offenbar waren sie gegen Kälte empfindlicher als die Terraner, denn sie hatten die Vermummung noch nicht abgenommen. »Ich bin…« Der Translator stockte einen Moment, ehe er einen passenden Vergleich gefunden hatte »… Gorot«, sagte der Sprecher, »und Anführer dieser Gruppe. Wir wissen, daß ihr Terraner seid.« Sieh an, dachte der Major, es scheint sich schon herumgesprochen zu
haben! »Weshalb habt ihr meine Männer gefangengenommen?« »Wir wollten sie als Geiseln, um euch dazu zu zwingen, mit eurem unverwundbaren Schiff und seinen mächtigen Waffen für uns Partei zu ergreifen in unserer Auseinandersetzung mit dem Hochrat von Calda.« »Ihr seid Rebellen«, erwiderte der Major kühl. »Wir sind Kolonisten«, stellte Gorot über den Translator richtig, »und wollen nur unsere Unabhängigkeit.« »Das bleibt euch unbenommen, solange ihr nicht Unbeteiligte mit hineinzieht. Eines kann ich euch versichern, Terra wird sich nicht, ich betone ausdrücklich, nicht in innercaldarische Angelegenheiten einmischen, also weder für die eine Seite noch für die andere Partei ergreifen.« Der brüchige Waffenstillstand schien zu bröckeln. Unmutsäu ßerungen der Caldarer brachten den Translator vorübergehend aus dem Tritt, so daß er nur Unverständliches zuwege brachte. Chester McGraves wartete, bis einigermaßen Ruhe eingekehrt war, dann sagte er in hartem Tonfall (wobei er hoffte, daß der Translator seine Unbeugsamkeit auch richtig interpretierte): »Ich will sämtliche Ausrüstungsgegenstände und vor allem die Waffen zurück, die ihr meinen Männern abgenommen habt. Dann werden wir uns zurück ziehen.« Die Caldarer schienen zu zögern, McGraves’ Forderungen nach zukommen. Plötzlich liefen die Ereignisse rasend schnell ab. Unte roffizier Greer meldete sich aus dem Schweber, in dem er als Wache zurückgeblieben war. »Sir!« kam seine drängende Stimme über McGraves’ Helmfunk. »Angriff aus südlicher Richtung. Ein caldarischer Raumgleiter, etwa 30 Meter groß. Er wird jede Sekunde – hier sein«, wollte er sagen, als der Gleiter bereits über den zerfallenden Ruinen des Bergwerkes auftauchte und wild zu feuern begann. Rings im Schnee erschienen orangerote Einschläge von Ma
schinenkanonen, die exakte Reihen in den Boden stanzten und Schnee, Eis und Dreck emporschleuderten. Die Projektile ließen die letzten noch stehenden Träger der Hallen zusammenbrechen und rissen lange Fetzen aus der löchrigen Bedachung. Der Lärm der Einschläge und Explosionen war ohrenbetäubend. »Deckung!« schrie der Major völlig überflüssigerweise; längst hat ten seine ausgebildeten Soldaten jeden nur möglichen Schutz vor dem Angreifer gesucht und nahmen ihn ihrerseits mit ihren Hand waffen unter Feuer. Das Stakkato des Abwehrfeuers, an dem sich jetzt auch die Kolo nisten beteiligten, wie der Major erkennen konnte, erklang unun terbrochen, ohne daß Wirkungstreffer zu verzeichnen waren. Der Schutzschirm des Beibootes ließ nichts durch. Da wäre schon grö ßeres Kaliber vonnöten gewesen, ihn zu knacken. Jetzt zog der Gleiter über die Gruppe hinweg, entfernte sich und kam in einer Kehre wieder zurück. Erneut begann das Feuer aus den schweren Bordwaffen. Der Major sah, wie zwei der Kolonisten versuchten, zum Tunnel eingang zu laufen, um im Berg Schutz vor dem Angriff zu finden. Sie liefen genau in eine Kette detonierender Projektile hinein. »Greer!« keuchte McGraves in den Helmfunk. »Rufen Sie einen Flash zu Hilfe. Wir sind hier festgenagelt! Schnell, Mann!« »Schon geschehen«, kam die Stimme Greers über den Lautsprecher des Majors, der beschloß, Greers Personalakte für dessen Umsicht und rasche Reaktion auf diesen Überfall eine lobende Erwähnung hinzuzufügen. Erneut setzte das große Beiboot zu einem Anflug an. Der Pilot senkte den Bug etwas, um das Schußfeld genauer einzugrenzen. In diesem Moment traf der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel die Maschine. Die pinkfarbene Strahlung aus einem Nadel strahler löschte sie buchstäblich aus. Sie verschwand vom Himmel, als hätte sie niemals existiert. »Danke, Leute«, murmelte der Major aufs Geradewohl in seinen
Funk – und mußte erstaunt hören, wie er Antwort bekam. »Jederzeit zu Diensten, Sir!« kam es aus dem Äther. »Da brat ich mir doch einer ‘nen Storch«, griente McGraves, der die Phase bereits wieder deaktiviert hatte, und begann, seine Leute um sich zu sammeln. Sie hatten die Attacke des caldarischen Bootes ohne Verletzungen überstanden, während die Kolonisten zwei Tote zu beklagen hatten. »Nun hat Terra doch Partei für unsere Sache ergriffen«, machte sich Gorot bemerkbar. McGraves schüttelte den Kopf, ohne daran zu denken, ob Gorot diese Geste als das interpretierte, was sie bei den Menschen bedeu tete. Er hatte häufig genug die Erfahrung machen müssen, daß menschliche Gestik und Mimik nicht zwangsläufig den Ausdrucks formen fremder Völker gleichgesetzt werden konnte. »Das siehst du absolut falsch«, widersprach der Major dem An führer. »Wir waren gleichermaßen in Gefahr, und wir haben etwas dagegen, wenn man uns bedroht, in welcher Weise auch immer. Deshalb haben wir uns gewehrt. Das hat überhaupt nichts mit Par teiergreifen zu tun.« Gorots Enttäuschung war drastisch an den tiefblauen Farbspielen seines Augenbandes zu erkennen. »Nun«, fuhr Chester McGraves fort, »meine Forderung besteht nach wie vor. Die Ausrüstungsgegenstände und die Waffen meiner Männer, und wir verschwinden auf Nimmerwiedersehen.« Letzteres hoffte er, konnte aber nicht mit absoluter Gewißheit da von ausgehen, niemals wieder im caldarischen Hoheitsbereich er scheinen zu müssen. Gorot und seine Gefährten hatten keine Einwände mehr. Fünf Minuten später erhob sich der Mannschaftsschweber auf sei nem Antigravfeld und setzte sich in Richtung ANZIO in Bewegung. Die caldarischen Kolonisten waren noch eine kurze Zeitspanne auf dem Heckschirm zu sehen, dann verschluckte sie das unerbittliche Weiß der polaren Umgebung.
18.
Er war allein. Allein mit dem unbesetzten Kommandostand, allein mit den drei Instrumentenkonsolen, allein mit den beiden Großmo nitoren an der rechten Wand, allein mit unzähligen LED-Leuchten, Schaltern und Kontrollanzeigen; und allein mit einem Potential an Zerstörungskraft, dessen Ausmaß sich auszumalen er aufgegeben hatte. Zu ungeheuerlich war es, zu unvorstellbar. Jedesmal, wenn er es versuchte, schwindelte ihn. Es war das erste Mal, daß Fähnrich Sergio Scaglietti allein im Waffenleitstand Ost Dienst tat. Fast war ihm ein wenig feierlich zumute. Mit der Stiefelspitze stieß er sich vom Säulensockel seiner Ge fechtskonsole ab. Lautlos und langsam schwang der Sessel zweimal um seine Vertikalachse – Sergio war, als würde er schweben –, und zweimal glitten der Kartentisch, der Kommandostand, die Haupt monitore, zwei unbesetzte Gefechtskonsolen und die Wände des Waffenleitstandes durch sein Blickfeld. Die beiden Hauptmonitore hatten eine Fläche von je neun Quad ratmetern. Der äußere zeigte in der Regel eins zu eins die Bilder der zentralen Außenkamera. Auf ihm funkelte eine Sonne. Vor zwei Minuten noch hatte sie noch den Durchmesser einer Oblate gehabt, jetzt war sie nicht einmal mehr so groß wie eine menschliche Iris. Sie schrumpfte immer schneller. Und mit ihr auch die Beklemmung, die hinter Sergios Brustbein nagte, seit der bizarre Riesenraumer die POINT OF angegriffen hatte und das Schiff auf einem Planeten die ses Systems landen mußte – einer Schrottwüste. Raumschiffwracks von Pol zu Pol und rund um den Äquator. Dazwischen Amoklau fende Roboter. Eindrücke, die schwer abzuschütteln waren. Sergio hatte mit Kollegen gesprochen, die von Alpträumen voller Schrott bilder gequält wurden. Er überprüfte seine Kontrollinstrumente, sah die Daten vom Na
vigationsleitstand und von der Ortung durch und glich sie mit den Angaben seiner eigenen Instrumente ab. Alles im grünen Bereich. Er blickte zum unbesetzten Kommandostand und auf die beiden leeren Gefechtskonsolen rechts und links seines eigenen Arbeitsplatzes. Was, wenn ausgerechnet jetzt ein feindliches Schiff angreifen würde? Die anderen waren ausgeschwärmt; sein Chef, der Erste Offizier des Waffenleitstandes, Jean Rochard, und der dicke Bastjan Van haaren, Fähnrich wie Sergio selbst. Sie wollten die Gerüchteküche an Bord belauschen und herausfinden, warum die POINT OF das Schrottplanetensystem so schnell verließ, überstürzt geradezu. Ent sprechende Anfragen an die Kommandozentrale waren bisher un beantwortet geblieben. War es ein Versehen, daß Jean Rochard ihm ganz allein die Kont rolle über den Waffenleitstand Ost überlassen hatte? Oder sollte er es als außergewöhnlichen Vertrauensbeweis werten? Für einen Au genblick schwankte der kleine Mann aus Messina, Sizilien. Aber nur für einen Augenblick, sofort kehrte die innere Sicherheit zurück. Es war ein Vertrauensbeweis, Punkt. Und sollte es ausgerechnet jetzt zum Kampf kommen, würde Sergio seinen Job machen – und zwar gut. Das wußte er, das wußte sein Chef, und das hatte sich inzwi schen auch bis zur Kommandozentrale herumgesprochen. Wieder ein prüfender Blick auf die Kontrollinstrumente. Nichts, was ihn beunruhigen mußte. Außer eben der überraschende Auf bruch. Inzwischen unterschied sich das Zentralgestirn in Größe und Helligkeit kaum noch von den Nachbarsternen. Warum informierte die Schiffsleitung die Besatzung nicht über den Grund des Blitz starts? Und warum verlautete nichts über das neue Ziel der POINT OF? Inzwischen manövrierte der Ringraumer bereits im Grenzbe reich des Systems. Sergios Blick blieb an der Fußleiste seines Kontrollbildschirms hängen. Der Datumsanzeige nach war es Montag. Digitale Zeitan gaben zogen dort über das Sichtfeld: Alamo Gordo 10.17 Uhr, New York 13.17 Uhr, Berlin 18.17 Uhr, Tokio 2.17 Uhr des nächsten Tages,
Bordzeit 10.17 Uhr… Tokio… Lucia studierte in Tokio Astrophysik. Die schönste, die klügste und die liebenswürdigste seiner ehemaligen Freundinnen. Was sie wohl gerade tat? Wahrscheinlich hatte sie sich in ihr Apartment eingeschlossen und lernte. Lucia war unglaublich ziels trebig. Eine ihrer vielen Vorzüge, die er an ihr geliebt hatte und ei gentlich immer noch liebte. Er sollte sich gelegentlich bei ihr melden. Nein, so schnell wie möglich sollte er sich bei ihr melden. Vielleicht würde sie ihm verzeihen… Während er die neu hereingekommenen Daten von Navigation und Ortung durchcheckte, gestattete er sich ein paar zärtliche Ge danken. Auch reumütige Gedanken waren darunter, durchaus, denn er hatte der armen Lucia übel mitgespielt. Auch ihr… »Falluta an alle!« Die Stimme des Ersten Offiziers aus der Bord sprechanlage riß ihn aus einem beginnenden Anfall von Trübsinn. »Wir springen in sechzig Sekunden!« Sergio sah nach der Ge schwindigkeitsangabe auf seiner Instrumentenkonsole. Die POINT OF flog bereits im Sternensogmodus, wenn auch nicht sonderlich schnell. Was war nur los? Wohin bloß ging die Reise? Das linke Schott öffnete sich. Rochard und Vanhaaren traten ein. Sergio blickte ihnen erwartungsvoll entgegen. »Zurück zur Erde«, sagte der Holländer. »Mehr haben wir nicht herausgefunden.« Der leitende Waffenoffizier sagte überhaupt nichts. Er stieg in sei nen Kommandostand und rief die Protokolldateien ab. »Keine besonderen Vorkommnisse«, meldete Sergio in seine Rich tung. Rochard nickte flüchtig, sah nicht einmal auf. »Nach Hause?« Er wandte sich an Vanhaaren. »Warum das?« »Mehr konnten wir nicht rauskriegen, sag’ ich doch.« Der beleibte Holländer zwängte sich in seinen Sitz neben Sergio und schnallte sich an. »Angeblich wird der Commander sich demnächst an die Besatzung wenden.« »Falluta an alle.« Erneut die Stimme des Ersten Offiziers aus den
Bordsprechboxen. »Intervallum deaktiviert. Zehn, neun, acht…« Sergio beobachtete den Monitor der zentralen Außenkamera, und er beobachtete sich selbst, »…eins, null, Transition.« Der Monitor ver blaßte für einen Moment, um danach sofort wieder die Ansicht einer neuen Sternkonstellation aufzubauen. Die Sterne standen jetzt dich ter, am oberen Rand des Monitors waren die Konturen eines dunklen Nebels zu erkennen. Sergio hatte nichts gespürt. Kein Kribbeln im Nacken wie andere, keinen Schwindel. Offenbar war er resistent gegen derartige Phänomene. »Machen Sie eine Pause, Fähnrich Scaglietti«, sagte der Erste Offi zier ohne aufzublicken. »Ein zweites Frühstück wird Ihnen guttun.« Sergio schnallte sich los, rutschte aus seinem Sessel und winkte Vanhaaren zu. In Höhe des Kommandostandes grüßte er vor schriftsgemäß, was Rochard jedoch nicht zu registrieren schien. Der kleine Fähnrich verließ den Waffenleitstand, das Schott schloß sich hinter ihm. Zurück zur Erde, eine Ansprache des Commanders – das klang irgendwie nach Schwierigkeiten. Sergio schwang sich in den nächsten Antigravschacht, schwebte zwei Ebenen nach oben, stieg aus und lief dann etwa achtzig Meter Richtung Kommandozentrale. Zwischen ihr und dem Waffenleit stand gab es eine kleine Messe, wo die Fähnriche ihre Pausen ver bringen konnten und gemeinsam mit ihren Mentoren die Mahlzeiten einnahmen. Ein paar Schritte vor dem Eingang meldete sich Ren Dharks Stimme aus der Bordsprechanlage. »Commander an alle. Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Vermutlich wundern sich die meisten von Ihnen über den beschleunigten Aufbruch. Wir haben das ge suchte Wrack zwar gefunden und auch das Skelett jenes Tel mit dem Namen Kor Tranc, der vor hundertachtundneunzig Jahren von Ba bylon aus aufbrach und auf dem Schrottplaneten zugrunde ging. Ein ähnliches Schicksal ist uns durch die hervorragende Leistung der gesamten Besatzung erspart geblieben. Einen Dank also an Sie alle an dieser Stelle. Wir hätten den Schrottplaneten gern noch gründlicher
erforscht, doch eine persönliche Botschaft…« Sergio Scaglietti erreichte den Eingang der Messe. Er legte seine Handfläche auf den Sensor in der Wand neben dem Schott. Die Tür teilte sich. »… des Commanders der Planeten zwingt mich zu einer gra vierenden Änderung der ursprünglichen Pläne. Möglicherweise haben einige von Ihnen aus den Koordinaten der bevorstehenden Route bereits die richtigen Schlüsse gezogen: Ja, es stimmt – wir fliegen zurück zur Erde. Ich hatte mir das anders vorgestellt, doch Henner Trawisheim selbst hat mich darum gebeten. Über den Grund für diese Bitte zu sprechen fällt mir nicht leicht…« Sergio betrat die Messe. Am langen, ovalen Tisch saßen einige Männer und Frauen und lauschten reglos den Worten Ren Dharks. Unter ihnen die Fähnriche Mary-Lou Bakerfield, Timothy Nash und Percival Brack, der Cyborg. Auch die Flashpiloten Pjetr Wonzeff und Arly Scott erkannte Sergio. »… Professor Monty Bell, den Sie alle von der terranischen Flot tenakademie kennen, hat eine erschreckende Entdeckung gemacht. Nach seinen Messungen strahlt unsere Heimatsonne derzeit bedeu tend weniger Energie ab, als sie es normalerweise tun müßte. Es ist, als ob sich die Wasserstoffusion in ihrem Inneren reduziert hätte und noch weiter herunterfährt. Eine Erklärung dafür gibt es noch nicht. Uns stehen auch keine konkreten Daten zur Verfügung. Zu Hause aber rechnet man mit einschneidenden Veränderungen im Energie haushalt der Sonne. So einschneidend, daß sie sich bereits auf die klimatischen und meteorologischen Verhältnisse auf unserem Hei matplaneten auswirken…« Sergio stützte sich auf die Lehne eines leeren Sessels. Träumte er, oder war das wirklich die Stimme des Commanders? Verhörte er sich, oder hatte Ren Dhark eben wirklich behauptet, der guten alten Sonne würde allmählich die Puste ausgehen? Als suchte er nach einem Beleg dafür, daß alles nur ein böser Traum war, sah er sich unter den anderen um. Gerunzelte Stirnen, große, erschrockene
Augen und bleiche, ernste Gesichter, wohin er blickte. Niemand beachtete ihn. »… der Commander der Planeten hat mich gebeten, zur Erde zu rückzukommen, weil er die Kompetenzen einiger Wissenschaftler benötigt, die auf der POINT OF mitfliegen, und weil er sich von der noch lange nicht annähernd ausgereizten Kapazität unseres Hyper kalkulators Hilfe bei der Lösung des Problems erhofft. Mr. Trawis heim hat mich darüber hinaus gebeten, den Grund unserer vorzei tigen Rückkehr geheimzuhalten. Diese Bitte habe ich ihm abge schlagen. Wenn die POINT OF und ihre Besatzung an der Lösung des Problems mitarbeiten sollen, muß jeder von uns wissen, was die Stunde geschlagen hat. Auf Terra selbst ist die schockierende Ent wicklung der Sonne Staatsgeheimnis Nummer eins. Daß ich Ihnen dieses Geheimnis verraten habe, hat vor allem für die Fähnriche, die zur Zeit an Bord meines Schiffes ausgebildet werden, Konsequenzen. Solange wir das Rätsel der erkaltenden Sonne nicht gelöst haben, meine Herrschaften, wird keiner von Ihnen Kontakt zu Freunden und Angehörigen haben und die POINT OF verlassen können. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Wir werden die Erde in drei Tagen erreichen. Mehr habe ich im Moment nicht zu sagen. Danke.« Sergio ließ sich in den Sessel sinken, vor dem er stand. Ihm war übel. »Der Himmel sei uns gnädig«, stöhnte Pjetr Wonzeff. Wie andere auch, verbarg er sein Gesicht in den Händen. »Das kann doch… das kann doch nicht sein«, stammelte der schö ne Nash. »Ich… ich kann das einfach nicht glauben.« Stocksteif hockte er auf der Sesselkante und sah in die Runde. »Ihr?« »Der Commander wollte die Goldenen suchen«, sagte Mary-Lou Bakerfield. »Er hatte Monate für diese Expedition einkalkuliert! Glaubst du etwa, er würde sie irgendwelcher Kleinigkeiten wegen abbrechen?« Sergio bemerkte ihre feuchten Augen, und plötzlich sah er Tränen in einigen Gesichtern glänzen. Er stand auf und ging zum Kaffeeautomaten, um niemandem seine eigene Erschütterung zu
zeigen. »Jetzt bloß nicht die Köpfe hängen lassen, Kinder!« raunzte Arly Scott, der Ausbilder am Flash, in die Runde. »Noch ist nichts pas siert.« »Nichts passiert?« Pjetr Wonzeff brauste auf. »Hast du nicht zu gehört, Mann?« »Gemach, gemach!« Percival Brack, Cyborg und Fähnrich zugleich, hob beschwichtigend die Hände. »Arbeitet man bereits an der Lö sung des Problems, oder nicht?« Niemand antwortete. »Na also. Und dann hat jede Münze bekanntlich zwei Seiten: Was der Commander da eben gesagt hat, bedeutet für uns Fähnriche nämlich, daß wir länger an Bord dieses prachtvollen Schiffes bleiben dürfen. Vielleicht sogar um Monate länger…!« »Gott im Himmel!« Mary-Lou schlug mit der Faust auf den Tisch. »Seid ihr so bescheuert, oder wollt ihr es nicht begreifen?!« In Sergios Tasse strömte heiße Milch. Er merkte es nicht, denn er dachte an Lucia. Es war mal wieder zu spät, sich bei ihr zu entschuldigen. »Warum hört ihr nur, was ihr hören wollt?« Obgleich ihr die Tränen über das Gesicht strömten, war Mary-Lou wütend. »Die Erde ist in Gefahr, kapiert ihr nicht? Unsere Heimat wird zu einem Eisplaneten gefrieren, wenn die Sonne weiter erkaltet…« * Sie hatten sich in der Privatkabine des Commanders getroffen: Dan Riker, Arc Doorn, Chris Shanton mit seinem Roboterhund und Ren Dhark selbst. »Sie können Planeten aus einem Sonnensystem lösen und sie hinschicken, wohin sie wollen!« Doorn stand vor dem Sessel des Commanders und gestikulierte beschwörend. »Sie können Son nen nach Bedarf in Schwarzen Löchern versenken!« Ren Dhark saß in seinem Ruhesessel und stützte das Kinn in die Faust. Aufmerksam hörte er seinem Spezialisten für Fremdvölkertechnik zu. »Und ver mutlich können sie auch die Kernfusion innerhalb eines Sterns
bremsen oder beschleunigen, ganz wie sie wollen!« Der Sibirier sprach von den technischen Möglichkeiten der Wor gun. Er war überzeugt davon, daß einzig Worguntechnik das Rätsel der reduzierten Sonnenaktivität lösen konnte. Und der Commander neigte dazu, ihm recht zu geben. »Aber wie wollen Sie an dieses Wissen herankommen, Arc?« Er machte eine Geste der Resignation. »Wir sind ja nicht einmal dazu in der Lage, unseren Checkmaster zu veranlassen, die POINT OF erneut in die Galaxis Orn zu fliegen.« »Genau!« Doorn schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Weil der Checkmaster Geheimnisse in sich birgt, die wir nicht lüften können! Zum Beispiel rätselhafte Datenpakete, die den Sprung nach Orn verhindern. Wir finden sie nicht, und wenn wir Spuren davon finden, können wir sie nicht richtig packen, geschweige denn kna cken. Ist nicht schon das ein Beweis dafür, daß noch weitere unbe kannte Daten in den Tiefen des Rechners schlummern müssen? Da ten aus weiß der Himmel welchen Wissensgebieten? Warum nicht auch zum Thema solarer Manipulationsmöglichkeiten?« Alle Anwesenden kannten den Sibirier mit den langen roten Haa ren gut. Und sie kannten ihn als mürrischen, eher verschlossenen Mann. Chris Shanton, der mit Doorn die Ast-Stationen entwickelt und gebaut hatte, wußte allerdings auch, wie sehr er sich gelegent lich ereifern konnte – wenn ihm nämlich eine Sache ganz besonders heiß unter den Nägeln brannte. Nun ja – wenn einem Wissenschaft ler die drastische Abkühlung der Sonne nicht unter den Nägeln brannte, was dann? »Wieso unbekannte Daten, Arc?« Shanton blieb skeptisch. Wie meist wirkte er unausgeschlafen. »Wir wissen doch, daß es ein Virus ist. Irgendein Worgun hat uns einen Virus in den Checkmaster ge schmuggelt…« »Eine Theorie!« Doorn winkte ab. »Es könnte bessere Erklärungen geben… etwa den goldenen Planeten!« »Genau!« blaffte Jimmy, der Roboterhund. »Wir haben den Checkmaster durchforstet, tagelang, wochenlang!«
Jetzt ereiferte sich auch Chris Shanton. »Wir kennen die Struktur seiner Verzeichnisse und Dateien. Da ist kein Geheimnis…!« »Denkst du, Dicker!« Wieder mischte sich der Roboterhund ein. »Der Checkmaster ist mehr als nur ein Rechner, vergiß das nicht! Ich würde ihn eher mit einer Frau vergleichen – oder einem sensiblen Wesen, wie ich eines bin: rätselhaft und voller Überraschungen! Unter Umständen müssen wir bei ihm sogar mit einer eigenständi gen Persönlichkeit rechnen!« »Theorie!« »Hey, Chris! Was bin ich dann, wenn das Theorie sein soll? Der Checkmaster ist fast sowas wie ein guter Kumpel für…!« »Halt endlich die Schnauze, Jimmy!« Chris Shanton lief rot an. »Wenn’s um Frauen und Hyperkalkulatoren geht, hältst du dich gefälligst raus! Wenigstens dann!« Unter erfreulicheren Umständen hätten Dan Riker und Arc Doorn vielleicht gelacht, aber nach der Hiobsbotschaft aus dem heimatli chen Sonnensystem grinsten sie nur müde. Ren Dhark hingegen verzog keine Miene. »Und was ist mit den Dateien von Terra Nostra, Mr. Shanton? Wir haben sie erst vor zwei Jahren im Checkmaster abgelegt. Sind Sie sicher, daß auch die ausnahmslos entschlüsselt und bekannt sind?« »Ich gehe davon aus.« Shanton klang nicht mehr ganz so über zeugt. »Auf genau diese Dateien wollte ich hinaus«, sagte Doorn. »Was Socrates Laetus und Marcus Gurges Nauta uns da an Wor gun-Wissen überlassen haben, genau das sollten wir noch einmal unter die Lupe nehmen.« Der Commander und Dan Riker wußten, wer sich hinter den Masken von Laetus und Nauta verbarg: Die beiden Worgun-Mutanten Sola und Margun. Abgesehen von Dalon und dem Worgun-Rebellen Gisol kannte sonst niemand das Ge heimnis. Und Ren Dhark legte größten Wert darauf, daß es so blieb. »Ihre Dateien ermöglichen uns die Produktion kompletter Ovoid-Raumer samt ihrer Flash«, sagte Shanton. »Diesen Teil der
Worgun-Technik hat die Menschheit inzwischen sogar schon modi fiziert und in einigen Bereichen weiterentwickelt. Aber die Neurö mer haben uns nicht das gegeben, was sie versprochen haben: einen Überblick in die gesamte Worgun-Technik. Den haben wir leider nicht bekommen.« »Oder nur noch nicht gefunden!« Der Sibirier blieb hartnäckig. »Denk doch mal nach, Chris! Wir brauchen noch knapp drei Tage, bis wir zu Hause ankommen. Drei Tage! Was außer Nerven kostet es uns, in dieser Zeit den Checkmaster und vor allem die Dateien von Terra Nostra noch einmal nach allen Regeln der Kunst abzuklop fen?« »Nichts«, tönte es blechern von unten. »Chris macht mit, ist doch klar.« Der Roboterhund stieß seinem Herrn die Kunststoffschnauze in die Kniekehle und handelte sich einen giftigen Blick dafür ein. »Doorn hat recht«, sagte Riker. »Wir können nur gewinnen dabei.« »Wenn Sie sich die Mühe machen wollen?« Dhark nickte langsam. »Von mir haben Sie grünes Licht. Sie können alle Rechenzeit der Welt bekommen. Der Checkmaster steht zu Ihrer Verfügung.« Drei Augenpaare richteten sich fragend auf den schwerge wichtigen Ingenieur. »Also gut.« Shanton schnitt eine mißmutige Miene und zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Aber ich wette zwei Flaschen Cognac aus den vierziger Jahrgängen darauf, daß wir nichts finden…« »Du hast doch nur eine dabei«, krähte Jimmy. * Nach drei Stunden registrierte Chris Shanton das Treiben in der Kommandozentrale nur noch beiläufig. Selbst wenn er aufblickte oder an der Reihe war, die Stiege zur Galerie hochzusteigen, um neue Getränke aus der Messe zu besorgen, zog es an ihm vorbei wie ein Film, mit dem er weiter nichts zu schaffen hatte. »Arbeitstrance« nannte er das.
Der Commander hatte ihnen eine der beiden Hauptschnittstellen auf dem Kommandostand überlassen. So hing Shanton also im Sessel vor dem Monitor, während seine Finger über die Tastatur flogen oder seine kleinen Augen der endlosen Liste von Zeichen, Ziffern und Lettern auf dem Bildschirm folgten. Arc Doorn saß neben ihm in einem Stuhl aus Leichtmetallrohr und Kunstleder, den er sich aus der Offiziersmesse geholt hatte. Ein wenig geeignetes Möbelstück für Männer von Shantons Körpermaßen. Jimmy, Shantons Roboterter rier, hockte neben dem Sessel seines Herrn. Seine künstlichen Augen schimmerten wie Kristalle. Sie brauchten eine Menge Flüssigkeit – und nicht nur Kaffee – denn sie redeten fast ununterbrochen, während sie arbeiteten. Reden machte bekanntermaßen einen trockenen Mund und Durst. Auch Jimmy meldete sich mehr oder weniger regelmäßig mit mehr oder weniger hilfreichen Vorschlägen zu Wort. Allerdings verursachte ihm das weder Durst noch Mundtrockenheit. Um eventuelle alte Fehler aufzudecken und neue möglichst zu vermeiden, hatten sie sich zunächst für den konservativen Weg entschieden: Dialog mit dem Checkmaster und die Anwendung schon existierender Such programme. Den Dialog führte Arc Doorn. Er stellte dem Superrechner eine standardisierte Liste von Fragen, die sich auf den Inhalt von Daten banken, Programmverzeichnissen und Verknüpfungen bezogen; Fragen, die der Hyperkalkulator nicht einfach nur mit Ja oder Nein beantworten konnte. Zum Beispiel: In welchem Verhältnis stehen deine die Produktion unterstützenden Programmgruppen zu den analytisch arbeitenden? Antwort: 64,794 zu 35,206. Oder: Welche der produktiv arbeitenden Programmgruppen unterstützen technische Methoden der Verbrennung von Wasserstoff zu Helium bezie hungsweise die Konstruktion von Anlagen für die industrielle An wendung derartiger Methoden? Antwort: eine. Die Aufforderung, diese Programmgruppe darzustellen, quittierte der Checkmaster mit einer Liste von über hundert Programmen, von
denen ein einziges nach dem Vorbild der Kernschmelze in Sternen die Wasserstoffverbrennung technisch umsetzen und einen Zu satzmeiler für die Energieversorgung eines Bordwaffensystems bauen konnte; es handelte sich um ein Gerät für die Strahlenwaffe Mix-2. Wenn auch nicht bis ins letzte analysiert, so war das Programm doch längst bekannt. Ähnlich wie alle anderen Programme und Da teien, auf die Shanton und Doorn nach dem Abhaken der letzten Frage auf der Standardliste gestoßen waren. Drei Stunden Arbeit und am Ende nur die Bestätigung, daß in vorherigen Versuchen, den Datenkosmos des Checkmasters auszuloten, kein Fehler gemacht worden war. Immerhin. Der Roboterhund bestand darauf, eine Frage stellen zu dürfen, die nicht auf der Standardliste verzeichnet war. Chris Shanton verbot ihm das Maul, Arc Doorn war dafür. Also stellte Jimmy die Frage. »Enthält deine Ausstattung bisher unbekannte Programme oder Dateien?« Shanton verdrehte die Augen, Doorn runzelte die Stirn. »Nein«, antwortete der Checkmaster. »Aber ich mache darauf aufmerksam, daß auf diese Frage keine andere Antwort möglich ist.« »Warum?« wollte Jimmy wissen. »Weil mir, wie die Formulierung der Frage korrekterweise schon impliziert, unbekannte Programme und Dateien ganz einfach nicht bekannt sind. Selbst wenn solche Programme oder Dateien wider alle Erfahrung und Logik in den Grenzen meines Innenlebens exis tierten, wären sie mir nicht bekannt, und ich müßte eine solche Frage folglich mit Nein beantworten.« »Und dieses Nein…« »Eine Frage war ausgemacht!« blaffte Shanton seinen Maschinen terrier an. »Eine einzige Frage…!« »…und dieses Nein entspricht der Wahrheit?« Jimmy ließ sich nicht beirren. »Definiere mir den Begriff Wahrheit«, verlangte der Checkmaster. »Genug jetzt!« Shanton unterbrach die Sprachverbindung zum
Checkmaster. »Ich glaube, ich muß dich aufschrauben.« Mißtrauisch und sorgenvoll zugleich äugte er zu seinem Hund hinab. »Irgendwas ist faul mit deinem Hauptprozessor, oder wie kommst du dazu, de rart dämliche Fragen zu stellen?« »Du ziehst dämliche Schlußfolgerungen aus meinem Dialog mit meinem Freund«, entgegnete Jimmy. »Offensichtlich hat er dich überfordert, mein lieber Chris. Ich jedenfalls verfüge jetzt über zwei neue Informationen. Erstens: Der Checkmaster besitzt vermutlich eine Art Unterbewußtsein. Zweitens: Er wäre bereit für einen philo sophischen Diskurs.« »Leck mich doch«, raunzte Shanton und lud ein Programm, das er Ende der fünfziger Jahre geschrieben hatte. Arc Doorn sah den Ro boterhund nachdenklich an. Es war ein Suchprogramm, dessen Symbol jetzt den Monitor aus füllte. Shanton und Doorn hatten es in den letzten drei Jahren mehrfach optimiert. »Schauen wir uns das Datenschleppnetz noch einmal an, bevor wir es im Checkmaster versenken«, sagte der Sibi rier. »Vielleicht können wir es noch ein wenig verbessern.« »Mach du.« Shanton räumte seinen Sessel. »Ich hole frischen Kaffee und was zu knabbern.« Als er zwanzig Minuten später mit einer Schüssel Plätzchen und einer Kanne Kaffee zurückkehrte, funkelte in der Bildkugel im Zentrum der Kommando zentrale eine Sternkonstellation, die Shan ton noch nie zuvor gesehen hatte. Und auf dem Arbeitsmonitor wimmelte es schon wieder von Zeichen und Ziffern. Das Programm arbeitete bereits. »Ich habe noch ein paar Katalogoptionen hinzugefügt«, erklärte Doorn. »Außerdem an die dreißig lexikalische Kategorien – Wasser stoffusion, Heliumkernschmelze, Fusionsmanipulation und derg leichen…« »Alle Achtung!« Erstaunlich, wie der Rothaarige auf der Klaviatur der Worgun-Technik spielen konnte. Manchmal, wenn Shanton den Sibirier an der Tastatur des Checkmasters beobachtete, kam er ihm
vor wie ein Klaviervirtuose, der von Kindesbeinen an mit seinem Instrument vertraut war. »… außerdem habe ich mir noch erlaubt, ein kleines Subprogramm zum Aufspüren nichtidentifizierbarer oder beschädigter Dateien und Programme zu schreiben. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.« »Wie kommst du denn auf die Schnapsidee?« Shanton schenkte Kaffee ein. »Hast du nicht mitgekriegt, was der Checkmaster auf Jimmys Klugscheißerfrage geantwortet hat?« Das klang ein wenig beleidigt. Der fettleibige Ausnahmeingenieur steckte sich einen Keks in den Mund. »Natürlich hat er!« krähte Jimmys blecherne Stimme. Der Terrier hatte sich inzwischen mit den Vorderläufen auf die Tastaturkonsole aufgestützt. »Was glaubst du, warum er das Subprogramm ge schrieben hat?« Shanton schnitt eine mißmutige Miene und antwor tete nicht. »Ich bin einfach mal von der zwar unbewiesenen, aber nahe liegenden Annahme ausgegangen, daß der Checkmaster so etwas wie Persönlichkeit besitzt und aus jedem Dialog dazulernt. Deswe gen habe ich die Ordnungsoptionen auch um die Kategorien ›Da teiautor‹ und ›Programmautor‹ erweitert.« Eine weitere halbe Stunde verging. Programmliste um Programm liste summierte sich unter den Such- und Katalogoptionen des Suchprogramms, Dateiliste um Dateiliste. Endlich meldete das Programm die Suche als erfolgreich beendet. In der Fußleiste neben der Bordzeit – 19.56 Uhr – gab es die Anzahl der aufgelisteten Da teien an: eine schwindelerregende Zahl. Shanton und Arc Doorn seufzten. »Jedenfalls liegt es wenigstens auf der Hand, daß die Zahl der Da teien gewachsen ist seit der letzten Durchsuchung«, stöhnte Shanton. »Aber gleichzeitig haben wir ein Problem: Wie sollen wir diese Massen bewältigen? Es sind Billiarden.« »Trilliarden«, korrigierte Jimmy. Sie betrachteten die schier endlo sen Dateilisten auf dem Monitor, Hauptäste, Nebenäste, Haupt
zweige, Nebenzweige und so weiter. »Ein Urwald«, nörgelte der Roboterhund. »Ein undurchdringlicher Urwald.« Er hockte wieder neben Shantons Sessel auf seinen synthetischen Hinterläufen und beäugte die Dateilisten mit seinen synthetischen Augen. »Macht euch doch nichts vor! Wie wollt ihr nach fast sechs Stunden Arbeit mit euren lächerlichen Bio-Augen noch einzelne Bäume geschweige denn Zweige erkennen, wenn ich mit meiner Hochleistungsoptik das kaum noch vermag!« »Himmel über Terra – wie du nervst!« Eine konkretere Antwort fiel Shanton nicht ein, und der Sibirier reagierte überhaupt nicht. Seit ein paar Minuten waren beide merkwürdig still geworden. Der Robo terhund hatte recht: Die Arbeit ermüdete spürbar. »Eigentlich müßten wir jetzt eine neue Suchroutine schreiben, um die Ergebnisse des Suchprogramms zu analysieren und sie in komp rimierter Form darzustellen.« Arc Doorn stand auf und streckte sich. »Ich schlage aber vor, wir machen erst einmal Pause und schlafen ein bißchen. Schließlich haben wir noch zwei Tage Zeit.« »Leg dich hin, aber bring mir vorher noch einen doppelten Cog nac.« Chris Shanton sackte in den Sessel. Die Hydraulik federte hef tig. »Ich schreibe das Suchprogramm, bevor ich schlafen gehe. Die Analyse müssen ja nicht unbedingt wir machen. Frag doch den Commander mal, ob er uns vier Fähnriche dafür abstellt.« »Mach ich.« Arc Doorn stieg die Leiter hinauf. Minuten später stand ein Glas mit Cognac vor Shanton auf der Arbeitskonsole. »Wir kriegen Hilfe. Morgen ab sieben Uhr Ortszeit weise ich vier Fähnri che in die Programme ein. Danach brüten wir was Neues aus. Schlaf gut.« Er winkte und verließ die Kommandozentrale. Der Cognac weckte Shantons Lebensgeister. Nach weniger als zwei Stunden war das Analyseprogramm fertig. Er konnte sich nicht verkneifen, es sofort anzuwenden. Zunächst befahl er dem neuen Programm, den »Geistesinhalt« des Checkmasters nach der Ord nungskategorie »Dateiautoren« darzustellen. Ein diskusförmiger Körper erschien auf dem Monitor. Vier einzelne Fraktionen waren
mit unterschiedlicher Färbung markiert. Die kleinsten Tortenstücke, rot und bernsteinfarben wie Cognac, waren Arc Doorn beziehung sweise Chris Shanton zugeordnet; jeweils kaum zwei Prozent. Die Dateien der Programme, die sie während der elf Jahre seit der Ent deckung der POINT OF geschrieben hatten. Etwa dreiundsechzig Prozent des Diskuskörpers war blau ein gefärbt und in der Legende mit einem Kürzel versehen, das für die Konstrukteure des Schiffes und seines Hyperkalkulators stand: die Originalprogramme und -dateien. Unglaubliche neunzehn Prozent des gesamten Kuchens bean spruchte ein grellgelb gefärbtes Stück. Die Legende wies es als den Anteil der Dateien aus, die Sokrates Laetus und Marcus Gurges Nauta Ren Dhark überlassen hatten. Grün gefärbt waren die restlichen immerhin fünfzehnkommaneun Prozent. Die entsprechende Farbe in der Legende war mit dem Kürzel CM versehen. Dieser Anteil von Dateien und Programmen ging auf das Konto des Checkmasters. »Nullkommaeins Prozent fehlen«, sagte Jimmy. Shanton überhörte es. »Unglaublich…!« stöhnte er. Er befahl dem Programm, die fünfzehnkommaneun Prozent in eine absolute Zahl umzurechnen. Sie erschien auf dem Monitor, und das Ingenieursge nie staunte sie ungläubig an. »Über zwei Milliarden Dateien hat der Schiffsrechner inzwischen selbst produziert…?« »Hab ich’s dir nicht gleich gesagt?« In Jimmys Blechstimme klang etwas durch, das sich nach Triumph anhörte. »Gib Ruhe! Ich glaube das nicht.« Shanton ließ die Check master-Dateien nach Entstehungsdatum ordnen. Ihr überwiegender Teil war nach 2051 entstanden. »Er könnte sie also durchaus im Rahmen der Kommunikation mit dem Commander oder mit euch hervorgebracht haben«, krähte Jimmy. »Oder im intimen Gespräch mit sich selbst, was?« Shantons flei schige Finger hämmerten auf der Tastatur herum. »Vielleicht Er
gebnisse seiner erotischen Tagträume, wer weiß es denn?« Er rief die Kategorie »beschädigte und nicht identifizierbare Dateien und Programme« auf. Beschädigte Programme: 0, las Shanton auf dem Bildschirm. Beschä digte Dateien: 0. Nicht identifizierbare Programme: wahrscheinlich >1… »Was soll denn das jetzt?« knurrte er….nicht identifizierbare Dateien: n (n wahrscheinlich <1). »Siehst du? Er hat dazugelernt!« krähte Jimmy. »Wenn du mich nicht hättest, Chris, gib es wenigstens zu…!« »Wie groß aber ist n?« knurrte Shanton. »Und wie zum Teufel finden wir diese n Dateien…?«
19.
Der Planet blieb auf den Monitoren und Bildkugeln des Flot tenschulschiffes zurück. Vor wenigen Minuten erst hatte die ANZIO Rinok VII verlassen, aber schon war die Systemsonne nicht mehr als ein weiterer Lichtpunkt unter unzähligen anderen im All. Die Zentrale arbeitete mit der üblichen Besetzung. Für das Flot tenschulschiff bedeutete das, daß jeder Platz zumindest doppelt belegt war; 200 Offiziersanwärter auf ihren späteren Dienst in der Flotte vorzubereiten erforderte von der regulären Besatzung – an gefangen vom einfachen Decksmaat über die einzelnen Wissen schaftsstationen bis hin zu den Führungsoffizieren – ein gerütteltes Maß an Verantwortung und harter Arbeit. In den Waffenstationen WS-West und WS-Ost war man besonders aufmerksam. Noch befand man sich im Einflußbereich Caldas. Es war nicht auszuschließen, daß sich der Hochrat doch noch zu einigen unliebsamen Überraschungen entschloß, die es angemessen zu pa rieren galt. »Mister Bekian, irgendwas, das uns zur Sorge Anlaß geben könn te?« fragte Roy Vegas in seiner üblichen pragmatischen Art. Von seinem Platz aus beobachtete der Funk- und Ortungsspezialist die Anzeigen und Meßwerte seiner Konsole. »Alles im grünen Be reich, Kapitän. Weit und breit keine Hyperemissionen von Schiffen auf den Oszillos, die sich an unsere Fersen heften.« »Fein«, war Vegas’ lapidarer Kommentar. Er lehnte sich in seinen Sitz zurück; die Anspannung legte sich ein wenig. Mit den vereinten Anstrengungen von Chief Gjelstads Ingenieuren und Triebwerksspezialisten war es gelungen, die Flächenprojektoren in der Unitallhülle der ANZIO im vorgegebenen Zeitrahmen zu reparieren. Das Schiff war wieder voll einsatzfähig. Die Schicht hatte ge
wechselt. Von den Führungsoffizieren befanden sich im Augenblick nur Godel, Bekian und Vegas auf der Brücke. Dafür waren Monro und Nozomi sowie die Decksoffiziere, Fähn riche und Kadetten der Nachtschicht in ihren Kabinen ver schwunden und schliefen den Schlaf der Gerechten. Und natürlich auch Chief Gjelstad, der es sich nicht hatte nehmen lassen, eine Doppelschicht zu fahren, um die ANZIO wieder flott zukriegen, und der nun dringend eine Ruhepause benötigte. »Und wie fliegt sich unser Schiff, Mister Mandrake?« »Ausgezeichnet, Sir«, beantwortete der Fähnrich die Frage seines Kommandanten. Der Kadett mit seinem ausgesprochenen Händchen für alles, was flog, saß auf dem Kopilotensitz und ließ die Anzeigen der Steuerkonsole nicht aus den Augen. »Die Reparatur war rundum ein Erfolg.« »Wie erfreulich«, brummte Vegas und stand auf. Seine Miene hatte sich mit einem Schlag verfinstert. Was jetzt kam, war weit weniger erfreulich. »Nummer Zwei«, sagte er. »Sie haben die Brücke. Ich bin in mei nem Raum.« * »Was zum Teufel haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?« Ärgerlich musterte Vegas Chester McGraves, der vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte und ganz und gar nicht zer knirscht wirkte. »Wobei gedacht?« »Mich im unklaren darüber zu lassen, daß drei Ihrer Männer von den Calda-Rebellen entführt worden sind, wie inzwischen durchge sickert ist. Was sonst?« Der Major, Vorgesetzter des Rekrutenkontingents von 250 Raum infanteristen, die an Bord der ANZIO ihre Fortgeschritte nenausbildung absolvierten, antwortete dem Oberst mit ruhiger
Stimme: »Tut mir leid.« Er unterließ es, Vegas wie sonst mit »Skip per« anzureden. »Leid, leid!« Vegas verlor etwas von seiner sonstigen Be herrschtheit, und sein Tonfall war unangemessen grob – der Tonfall eines Mannes, der damit konfrontiert worden war, daß sein Ver trauen in einen Mann, den er zu kennen glaubte, einen Dämpfer erfahren hatte. Unwirsch rieb er sich sein frischrasiertes Kinn. Die wachen blauen Augen in dem markanten Gesicht blickten ärgerlich, als er fortfuhr: »Ich mußte es aus anderen Quellen erfahren und stand ganz schön blöd da, weil ich keine Ahnung davon hatte.« »Es tut mir leid«, wiederholte der Major, »und ich bedauere, daß Sie es so erfahren haben, Sir.« Noch blieb McGraves ruhig. Er kannte den Oberst lange genug, um mit einiger Berechtigung annehmen zu können, daß dessen augenb lickliche Verärgerung vermutlich nur seiner Sorge um sein Wohler gehen entsprang. »Es geht nicht darum, wie ich es erfahren habe, sondern um die Tatsache, daß ich es nicht von Ihnen erfahren habe, Chester«, machte dann auch Vegas deutlich. »Wollen Sie wirklich, daß ich mein Ver trauen in Sie verliere? Ganz zu schweigen von Ihrem Husarenstück, die Befreiung selbst in die Hand zu nehmen und sich dadurch unangemessen in Gefahr zu bringen.« »Dies ist…« McGraves verbesserte sich. »Dies war ein Problem der Rauminfanterie, Oberst, und keines der Flotte.« »Unsinn, Chester«, wischte Vegas seinen Einwand hinweg. »Alles, aber auch wirklich alles, was hier geschieht, ist ein Problem der Flotte, die ich an Bord repräsentiere. Sie und Ihre Männer sind mei nem Kommando unterstellt. Schon vergessen?« »Natürlich nicht, Skipper«, verfiel der Major wieder in sein altes Fahrwasser. Vegas seufzte. »Was mache ich bloß mit Ihnen, Chester?« sagte er nachdenklich. »Sie verstehen, daß ich nicht gerade glücklich über diese Entwick
lung bin. Ich müßte Ihren Alleingang eigentlich zur Meldung brin gen.« Major Chester McGraves lehnte sich einen Moment lang un schlüssig in seinen Sessel. Für gewöhnlich war er nicht auf den Mund gefallen und an und für sich ein beredter Verhandlungspart ner, aber Vegas, das sah er ein, hatte im Augenblick die größeren Trümpfe in der Hand. Blieb nur die Frage, ob er sie auch ausspielen würde? »Ich dachte mir bereits, daß Sie nicht begeistert sein würden. Aber Sie sollten mich auch verstehen. Ich muß darauf bestehen, daß die Rauminfanterie ihre Probleme weitestgehend alleine löst, ohne im mer sofort bei der Flotte anzuklopfen und um Beistand zu bitten. Wenn es das ist, was Ihnen Kopfzerbrechen bereitet, so kann ich das verstehen, wie gesagt. Aber es ändert nichts daran, wie ich darüber denke. Und ich kann auch nicht versprechen, daß ich meine Mei nung ändern werde. Mir geht es – wie Ihnen auch, Skipper – um das Wohlergehen meiner Männer.« Für einen schweigenden Moment saßen sich beide gegenüber, je der darauf bedacht, die Situation nicht eskalieren zu lassen; es hätte die Stimmung an Bord nur unnötig belastet. Daran konnte jedoch keinem von ihnen gelegen sein. Es gab noch eine dritte Option, die bisher keiner von beiden er wähnt hatte, derer sie sich jedoch durchaus bewußt waren. »Soll ich Ihnen sagen, was ich über Ihr Verhalten denke, Chester?« Vegas beugte sich etwas vor und musterte McGraves abwägend. Der Major war ein erstklassiger Mann. Natürlich war er eigensinnig und mitunter auch anmaßend und traf einsame Entscheidungen. Aber diese Eigenschaften hatte er, Vegas, ebenfalls, jedenfalls sagte man sie ihm nach, sie gehörten einfach zu jedem tauglichen Führungsof fizier. »Nur zu.« »Sie wollten die drei Nachwuchssoldaten schützen, um ihnen die Karriere nicht zu versauen. Was vermutlich geschehen wäre, wäre
die Meldung über ihr eigenmächtiges und höchst unvorsichtiges Vorgehen an die Flotte gelangt. Richtig?« »Was ist daran verkehrt?« Der Oberst seufzte unhörbar. »Nichts – außer den vorhin ge nannten Gründen.« Dann fügte er einlenkend hinzu: »Aber ver mutlich hätte ich nicht anders gehandelt, wäre ich an Ihrer Stelle gewesen, Chester.« McGraves musterte den Oberst abwägend. Er verstand, was sein ehemaliger Vorgesetzter ihm da mitteilen wollte, nämlich daß er seine Entscheidung akzeptierte, dies aber nicht öffentlich kundtun würde. »Gibt es sonst noch etwas, Sir?« »Nein.« Plötzlich grinste Vegas. »Zumindest hoffe ich es nicht!« Es war eine wohlwollende Verabschiedung. Chester erhob sich. »Danke, Skipper«, sagte er. »Machen Sie, daß Sie rauskommen«, brummte Vegas nur. * Zehn Stunden nach dem Start von Rinok VII hatte das Flot tenschulschiff bereits Sol erreicht, sich dem Abwehrring der Ast-Stationen genähert, sich identifiziert und im Gegenzug von der Raumüberwachung die Freigabe für den Weiterflug zur Erde erhal ten. Eine halbe Stunde später hatte die ANZIO Terra erreicht. Die Raumkontrolle öffnete eine Strukturlücke im nogkschen Abwehr schirm, und nur wenig später landete das Rottenschulschiff auf Cent Field, Terras größtem Raumhafen und Heimatbasis der Terranischen Flotte. Vegas, der seine Ankunft vorausgemeldet hatte, wurde schon er wartet. Ein Jett mit den Insignien des Flottenhauptquartiers holte ihn am Fuß der Schleuse ab und flog ihn geradewegs nach Alamo Gordo, Terras neuer Hauptstadt und Sitz der Erdregierung. Eine Metropole
mit gigantischen, unverwechselbaren Hochbauten: schlanke Türme, die sich in den Julihimmel reckten, und jeder von ihnen trug eine Kugel von hundertzwanzig Metern Durchmesser. Die Höhe dieser Wohneinheiten variierte zwischen fünfhundert und fünfzehnhun dert Metern. Das ehemalige, am Westabfall der Sacramento Moun tains gelegene Handelszentrum eines gewaltigen Viehzuchtgebietes im südlichen Neu-Mexiko und Mittelpunkt für militärische For schungen hatte in den vergangenen Jahren einen ungeahnten Boom erlebt. Für Roy Vegas begann in dem Moment, als der Jett sich seinem Bestimmungsort näherte, ein neuer Abschnitt seiner Karriere. Glücklicherweise hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht die leiseste Ahnung, was ihn erwartete. Entsprechend gelassen und entspannt verfolgte er die Ankunft auf dem Dachlandeplatz des inmitten der riesigen Stielbauten, der gi gantischen Verwaltungshochhäuser und Versorgungseinrichtungen eher ein wenig unscheinbar wirkenden Regierungsgebäudes mit seinen nur 40 Etagen, in dessen obersten Stockwerken die terranische Sternverwaltung zu finden war. Und Marschall Bultons Büro. Der Pilot übergab Vegas in die Obhut von bewaffneten Si cherheitsbeamten, die ihn nach unten brachten. Minuten später und vier Stockwerke tiefer – und nach einer wei teren intensiv durchgeführten Kontrolle durch Sicherheitsbeamte – ging Vegas die paar Schritte über den Korridor bis zu einer Tür, vor der zwei Wachroboter standen. Ihre Waffensysteme waren deakti viert, doch das hatte nichts zu bedeuten. In Bruchteilen von Sekun den waren sie dank ihrer hochentwickelten Technik in der Lage, vom Passiv- in den Aktivmodus zu wechseln. Die Roboter waren Teil der umfangreichen Vorsichtsmaßnahmen, die seit den Anschlägen der robonischen Terroristen auf Einrich tungen Terras getroffen und seitdem beibehalten worden waren. Das Schaltzentrum der terranischen Administration konnte nur betreten
werden, wenn der Besucher entsprechende Zugangsberechtigungen vorweisen konnte. Roy Vegas konnte es; seine Gehirnstrommuster waren im Si cherheitssystem gespeichert, weshalb die beiden Roboter den Weg nicht versperrten. Im Vorzimmer vermißte Vegas die junge Sicherheitsbeamtin, die ihn bei seinem Besuch vor knapp zwei Monaten so gekonnt uninte ressiert gemustert hatte. Statt dessen fand er eine weibliche Ordon nanz aus dem Stab des Marschalls vor. Er nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Ich habe einen Termin bei Ihrem Vorgesetzten.« Die junge Soldatin nickte und aktivierte das Vipho auf ihrem Tisch. »Sir. Oberst Vegas für Sie.« »Soll hereinkommen«, ließ sich die Stimme des Mannes hören, der seit Dan Rikers Demission die Geschicke der Terranischen Flotte als deren Oberbefehlshaber leitete. Sie drückte einen Kontakt; lautlos öffnete sich die Doppeltür links von ihr. »Bitte«, sagte sie auffordernd und wedelte mit der Hand. Vegas trat ins Allerheiligste. Salutierend legte er die rechte Hand an die Schläfe und sagte etwas weniger steif als bei seinem letzten Besuch in diesen Räumen: »Ich begrüße Sie, Marschall.« »Willkommen, Oberst.« Bulton grüßte mit einem dünnen Lächeln zurück. »Nehmen Sie bitte Platz. Kaffee?« »Danke, ja, Sir.« »Leutnant Maza«, sagte Ted Bulton in den Raum hinein. »Kaffee für uns… Sekunde!« Er blickte den Kommandanten der ANZIO fragend an. »Etwas zu essen?« Vegas verneinte. »Also nur Kaffee, Leutnant.« »Sofort, Sir«, kam Antwort aus dem Vorzimmer. »Sie haben etwas für mich?« fragte Bulton, nachdem Vegas Platz
genommen hatte, und nickte in Richtung der dünnen Mappe, die der Oberst bei sich trug. Vegas händigte dem Marschall die Daten der von den Caldarern bewohnten Systeme aus, die Timulin Mandrake aus dem Rechner der FORSCHEX überspielt hatte, ehe diese explodiert war. Leutnant Maza kam mit dem Kaffee. Bulton wartete, bis sie wieder verschwunden war, dann fütterte er einen Holoprojektor mit dem Datenkristall. Konzentriert studierte er die aufbereiteten Informationen aus dem Hauptspeicher des caldarischen Raumkreuzers. Hin und wieder schlugen seine Finger kurze, abgehackte Wirbel. Vegas trank von seinem Kaffee, während er auf eine Reaktion des Marschalls wartete. Sein Blick fiel auf die holographische Wiedergabe des Son nensystems in dem Holokubus hinter Bultons Rücken. Die tie fenräumliche Darstellung der Planetenekliptik zeigte zwischen den leuchtenden Linien ihrer Bahnen die Positionen aller Ast-Stationen und die Trauben der Wachkreuzer jenseits der Saturnbahn in sattem Rot. Schließlich desaktivierte Bulton den Holoprojektor. Er legte die Fingerspitzen zu einer Pyramide zusammen und blickte Vegas an. »Wie ich’s mir gedacht habe… Calda könnte zu einem Problem werden.« Vegas zog fragend die Brauen hoch. »Wie das, Sir?« »Seit der Auseinandersetzung im Munro-System haben die Cal darer ihre Flotte enorm vergrößert und aufgerüstet. Alles Anzeichen eines Expansionsstrebens, das wir nicht aus den Augen verlieren sollten, wollen wir uns nicht plötzlich vor vollendete Tatsachen ge stellt sehen. Auf Grund der Tatsache, daß sie jetzt über Pressor- und Raptorstrahler verfügen, stellen sie einen ernstzunehmenden Gegner dar, den wir unbedingt im Auge behalten müssen. Schließlich ist ihre Zentralwelt nur läppische 150 Lichtjahre von unserem System ent fernt. Sehen Sie das nicht auch so, Oberst?«
Vegas dachte an die Auseinandersetzung mit Hochadmiral Go pinks Flotte und bekannte: »Diese Möglichkeit kann nicht von der Hand gewiesen werden. Zumal die Caldarer in der Menschheit aufgrund unserer Ringschiffe den alten Feind vermuten, der sie vor Jahrhunderten fast vollständig ausgerottet hätte, wäre er nicht plötzlich einfach verschwunden.« »Die Grakos vermutlich.« »Die Grakos«, bestätigte Vegas. Er schwieg einen Moment. »So wie ich das sehe, wird noch verdammt viel Überzeugungsarbeit nötig sein, dieses tief eingebrannte Feindbild aus den Köpfen der Caldarer zu vertreiben.« Marschall Bulton ließ verlauten, daß er der gleichen Überzeugung war. »Ich werde«, fuhr er fort, »auch aus den eben von Ihnen genannten Gründen Commander Trawisheim empfehlen, daß Terra offiziell Kontakt mit den Caldarern herstellt und ihnen bei der Gelegenheit eindeutig die Grenze des terranischen Interessengebiets aufzeigt, die sie zum einen zu respektieren haben und zum anderen nicht über schreiten dürfen.« »Wird nicht leicht sein«, warf Vegas ein. Bulton sagte: »Es handelt sich um ein heikles Gebiet, an dem uns aber viel liegt. Wir können es uns nicht leisten, einen möglichen Gegner so nahe vor unserer eigenen Haustür zu haben. Es ist einfach eine Notwendigkeit, daß wir unsere Grenzen schützen.« »Und ein Problem«, schränkte Vegas ein. »Und ein Problem, da stimme ich Ihnen zu, Oberst. Es ist das äl teste Problem der neuen Menschheit: die Fremdheit unserer galakti schen Nachbarn.« »Die eine Menge Opfer kostet.« Marschall Bulton warf seinem »teuersten Raumschiffskom mandanten aller Zeiten«, wie er gerne zu bemerken pflegte, einen schnellen, prüfenden Blick zu. »Was wir nur sehr ungern sehen. Es sind Opfer, die niemand
wirklich will und die wir vermeiden, soweit es in unserer Macht steht. Aber das wissen Sie ja selbst.« Vegas beugte sich etwas vor. »Marschall«, begann er mit neutraler Stimme, »was wollen Sie tat sächlich von mir? Sie haben mich doch nicht herbeizitiert, nur um mir das mitzuteilen? Die Daten über die Caldarer hätte ich Ihnen auch per To-Funk übermitteln können. Oder sind es meine blauen Augen, in die Sie wieder mal blicken wollten?« Bulton blieb ernst. »Werden Sie nicht albern, Oberst, natürlich sind es nicht Ihre blauen Augen. Nein, Sie können mir bei der Lösung eines Rätsels helfen.« »Ich dachte mir«, sagte Vegas ohne jede Ironie, »daß es dar aufhinauslaufen würde. Ich höre?« »Sekunde, Sie werden gleich erfahren, worum es geht.« Der Mar schall aktivierte ein Vipho. Auf dem Schirm war Bultons Vorzimmerdame zu sehen. »Leutnant Maza. Schicken Sie bitte jetzt die beiden anderen Besu cher herein.« »Sofort, Marschall.« Es dauerte nur Sekunden, dann öffnete sich die Tür im Hinter grund. Schritte von mehreren Personen näherten sich. Roy Vegas drehte sich halb herum. Es waren zwei Männer. Beide in den pechschwarzen Uniformen der Schwarzen Garde, der Elitetruppe der Terranischen Flotte. Der ältere ein Oberst, der jüngere im Rang eines Leutnants. Beide blieben sie vor dem Schreibtisch des Marschalls stehen und salutierten vorschriftsmäßig. »Oberst MacCormack und Leutnant Buck zu Ihren Diensten, Sir«, sagte der Rangältere laut und verschränkte die Arme in Ha bachtstellung auf dem Rücken. Ted Bulton nickte. »Rühren, meine Herren. Nehmen Sie Platz.« Kenneth MacCormack plazierte seine vierschrötige Gestalt in einem Sessel. Leutnant Kurt Buck wartete die vorgeschriebene Sekunde,
dann folgte er dem Beispiel seines Vorgesetzten und wuchtete seinen muskulösen Körper in den anderen Sessel. »Sie kennen den Oberst?« wandte sich Bulton an den rothaarigen Oberst. »Nur dem Namen nach, Sir.« »Mir geht es genauso«, gestand Roy Vegas und nickte den beiden zu. »Waren Sie nicht bei den Kämpfen um Gerrck dabei?« »Ja«, bestätigte der hochdekorierte Offizier irischer Abstammung, »und an einigen anderen galaktischen Brennpunkten ebenfalls.« Nach der kurzen Einleitung des gegenseitigen Bekundens, sich nie persönlich begegnet zu sein, kam Bulton ohne Umschweife auf den Zweck dieser Zusammenkunft zu sprechen. Die beiden Repräsentanten der Schwarzen Garde hatten eine Prä sentation über die Roboter, die Grah angegriffen hatten, und deren Mutterschiffe dabei. »Wenn Sie beginnen wollen, Oberst!« forderte Bulton MacCormack auf. Der Ire nickte seinem Begleiter auffordernd zu. Leutnant Buck plazierte einen Holoprojektor auf dem Tisch, der ein tiefenräumliches Bildfenster von zwei mal zwei Metern gene rierte. Das Raumlicht wechselte. Das Bild stabilisierte sich und zeigte die fremdartigen Raumschiffe im Gerrck-System, gefolgt von Momentaufnahmen der ausge schleusten Roboterarmeen. Unterstützt von den visualisierten Momentaufnahmen begann Kenneth MacCormack zu berichten. Im Mai 2062 war Grah beziehungsweise Gerrck III ohne jegliche Vorwarnung von etwa 500 kampfstarken, bizarr aussehenden Fremdraumern angegriffen worden, die alle zwischen 300 und 400 Metern groß waren. Dabei glich kein Schiff dem anderen. Die Be satzungen hatte man nicht zu Gesicht bekommen, aber sie verfügten über große technische Möglichkeiten: einmal Kampfroboter von extremer Formenvielfalt, dann Schwarzstrahler wie von den Grakos, den »Schatten« her bekannt, sowie extrem starke Störfelder, die jede
technische Kommunikation innerhalb des Gerrck-Systems fast un möglich machten. Ihre Hauptwaffe war ein Nadelstrahler bislang nie gekannter Durchschlagskraft, außerdem verfügten sie über unfaßbar starke Schutzschirme und hatten die Fähigkeit zur »sanften« Transition, die an die Technologie der Nogk erinnerte. Zum Zeitpunkt des Überfalls hatten sich nicht mehr als 300 Giant-Raumer zum Schütze Grahs im Gerrck-System aufgehalten. Sie hatten gegen die Fremdraumer keine Chance gehabt. Erst das Eingreifen einer Flotte von 200 Ringraumern unter Füh rung Ren Dharks und der POINT OF wendete das Blatt zugunsten der Verteidiger Grahs. Die Fremdraumer flohen aus dem System und nahmen auch jedes ihrer beschädigten Schiffe im Schlepptau mit. Die unzähligen auf Grah stationierten Kampfroboter, die sie zurückgelassen hatten, waren offenbar auf einen Funkbefehl hin durch einen Selbstzerstörungsmechanismus vernichtet worden. »Stellen Sie sich unsere Überraschung vor«, sagte MacCormack eben, »als wir bei der Untersuchung der Roboterwracks feststellten, daß wir es mit unserem alten Gegner von Deneb IV zu tun hatten.« »Die Zippa-X«, zeigte sich Vegas informiert. »Sie wissen davon?« fragte MacCormack verblüfft und musterte Vegas erstaunt. Als Zippa-X hatte sich jene robotische Invasionsarmee bezeichnet, die im September 2054 die Kolonie auf Deneb IV überfallen hatte und nur mittels gebündelter Störsender vertrieben werden konnte. Die Verwunderung MacCormacks war verständlich, erlag er doch ganz offensichtlich dem verständlichen Irrtum, daß Vegas, der erst im Jahre 2058 von Artus aus seinem untermarsianischen Verlies be freit worden war, keine oder nur sehr geringe Kenntnisse über die Vorgänge auf Deneb IV haben konnte. »Ich habe mich nach meinem ›Erwachen‹«, Vegas zeigte ein dün nes Lächeln, »intensiv mit der Geschichte Terras und seiner Ausei nandersetzungen mit fremden Völkern beschäftigt. Daher mein
Wissen über die Zippa-X. Aber fahren Sie doch bitte fort!« »Wir haben weiterhin herausgefunden, daß die Roboter, die terra nischen Konstruktionen in puncto Autonomie unterlegen sind, durch extrem miniaturisierte To-Richtfunksender sowie eine auf wendige Richtkontrolle und Nachführung ferngesteuert wurden«, ließ der Oberst der Schwarzen Garde wissen. Er runzelte kurz die Brauen. »Was uns bei unserer Untersuchung dabei zu denken gab, war einmal die angesichts der Vielzahl der Roboter hierfür erforder liche Rechenleistung, zum anderen der extreme Aufwand für den Schutz und die Bergung ihrer beschädigten Schiffe. Was Leutnant Buck und mich letztlich zu der Vermutung brachte, daß die ›Besat zung‹ der Mutterschiffe aus Großrechnern bestehen muß, die den Turing-Sprung vollzogen haben.« Mit »Turing-Sprung« bezeichnete man den Übergang eines Rech ners von der Maschine zur Künstlichen Intelligenz; der Vorgang war nach dem Mathematiker A. M. Turing benannt, und das bekannteste Beispiel für einen erfolgreichen Turing-Sprung war Artus. »Aber damit nicht genug – wir haben noch eine andere, weit pro vokativere Vermutung«, fuhr MacCormack fort. »Wir gehen nämlich davon aus, daß die Roboter vor längerer Zeit schon einmal hier im Sonnensystem gewesen sein müssen.« Vegas warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu. »Was bringt Sie zu dieser Annahme, Oberst?« fragte er, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte. MacCormack musterte ihn abwägend. »Kommen Ihnen nicht viele der Maschinen bekannt vor?« wollte er dann von ihm wissen und bezog sich auf die Präsentation der Bilder. »Ich gebe zu, die Roboter erinnern mich an meine Zeit in der Sta tion des ›Einsamen‹ auf dem Mars«, gestand Vegas nach einem winzigen Zögern. »Und ich halte es durchaus für denkbar, daß in den unbekannten Raumschiffen intelligente Großrechner statt einer lebenden Besatzung stecken. Es würde die ›Fürsorge‹ der Schiffe für die teilzerstörten Einheiten erklären. Aber ich kann keine Auskunft
darüber geben, woher der Rechner kam, dem ich ausgeliefert war. Vor allem weiß ich nicht, weshalb dieser in einer immobilen Station im Marsboden feststeckte und nicht in einem Schiff.« »Schade«, meinte MacCormack und ließ ein bißchen von seiner Enttäuschung durchsickern. »Es hätte uns vermutlich ein gehöriges Stück weit geholfen.« Vegas wölbte die Brauen. »Wobei?« »Bei der Frage, von woher die Roboter kommen«, antwortete der Marschall an MacCormacks Stelle. »Ich verstehe«, sagte Vegas. »Wie sich die Probleme doch gleichen. Hier die Caldarer, dort die unbekannten Roboter.« »Wenn Sie so wollen«, brummte Bulton. »Es ist die alte Wa genburgmentalität. Wir errichten seit einigen Jahrzehnten mit einem viel zu kleinem Budget, dafür aber mit viel Material, Ideen und vor allen Dingen Enthusiasmus eine Schutzzone um die Erde, um in Frieden leben zu können. Das bedeutet, daß uns unbekannte Gefah ren nicht unbekannt bleiben dürfen. Diese Roboterzivilisation jedoch ist eine Gefahr für uns, das haben die Überfälle auf Deneb IV vor zwölf Jahren und auf Gerrck vor wenigen Monaten erst bewiesen. Verstehen Sie?« »Ich verstehe«, sagte Vegas und legte die Stirn in Falten; etwas schien ihn zu beschäftigen. Oberst MacCormack und Leutnant Buck erhoben sich. »Benötigen Sie uns noch, Sir?« Bulton tat es nicht – und sagte es ihnen. »Ich danke Ihnen, Oberst. Richten Sie Farnham meinen Gruß aus.« Als Vegas ebenfalls Anstalten machte, sich zu erheben, bedeutete ihm der Marschall, Platz zu behalten. »Wir sind noch nicht fertig, Oberst«, gab er zu verstehen. Ergeben ließ sich Roy Vegas wieder in den Sessel sinken. »Warum kommen Sie nicht zur Sache, Sir? Was haben Sie auf dem Herzen?« »Können Sie Gedanken lesen?«
»Nein«, erwiderte der Oberst, »aber eins und eins zusammen zählen.« »Soll einen ja auch weiterbringen«, sagte Bulton ohne jede Ironie. Er wartete einige Sekunden, ehe er fortfuhr: »Ich habe Ihnen ein Angebot zu machen.« Vegas lächelte vorsichtig. »Sie machen mich neugierig, Marschall.« »Ich möchte von Ihnen, daß Sie sich speziell der Aufklärung dieses Rätsels widmen. Terra muß wissen, ob wir es hier tatsächlich mit einer Zivilisation von intelligenten, selbsttätig handelnden Groß rechnern zu tun haben.« »Warum ich?« »Sie sind dafür prädestiniert – aus den bekannten Gründen«, be hauptete Bulton. »Ich verstehe – und ich bin neugierig.« »Sie akzeptieren also?« zeigte sich der Marschall nun doch über rascht. Vermutlich hatte er mit mehr Widerstand gerechnet. »Ich bin einverstanden, ja. Ich bin selbst erpicht darauf her auszufinden, ob zwischen meinem Gefängniswärter auf dem Mars und den aggressiven Robotern ein Zusammenhang besteht«, be kannte Roy Vegas und machte Anstalten, sich erneut zu erheben. »Ausgezeichnet. Halt! Wo wollen Sie denn hin, Oberst?« »Auf mein Schiff. Ich muß mich um Ersatz für die Verluste meiner Stammbesatzung kümmern. Und auch sonst gibt es einiges zu tun, bevor ich in den Raum starten kann.« »Es hat keine Eile«, beschied ihm der Marschall, und er fügte mit unbeteiligter Miene hinzu: »Die ANZIO und Sie bleiben vorerst auf der Erde.« Vegas runzelte die Stirn. »Also doch ein Pferdefuß – hätte ich mir eigentlich denken kön nen«, sagte er angriffslustig. »Machen Sie kein solches Theater«, wurde Bulton barsch, »und hören Sie mich erst einmal an! Die Verluste Ihrer Besatzung werden ausgeglichen werden, aber dann bleibt die ANZIO in Wartebereit
schaft in Cent Field.« »Erfahre ich auch den Grund für diese Maßnahme?« Der Anlaß für diese Maßnahme sei so einleuchtend wie simpel, ließ Bulton seinen Oberst wissen: Man habe einfach noch keine Spur von den Angreifern gefunden. Die im All verstreut operierenden Robot sonden, die ursprünglich für das Aufspüren der Grakos eingesetzt worden waren, konnte man zwar per To-Richtfunk für die Suche nach den Fremden umprogrammieren, aber sie hatten erst mit ihrer Arbeit begonnen. Als Vegas den Fehler machte, zu fragen, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, neue Sonden für diesen Einsatzzweck zu konstruie ren, machte ihm Bulton unverblümt klar, daß dafür im permanent knappen Budget der Raumflotte kein Etat vorhanden sei. Die weni gen Mittel, die man dafür aufwenden könne, schlucke die jährliche Apanage eines gewissen Oberst Roy Vegas in Höhe einer Million, der damit skrupellos die Steuerzahler ausbeute. »Ha, ha«, machte Vegas und grinste wie ein Junge, der sich über einen gelungenen Streich freute. »Irgendwann«, versprach Bulton, und ein sardonisches Lächeln funkelte in seinen Augen, wie es Vegas noch nie bei ihm gesehen hatte, »bekommen Sie noch mal die Quittung dafür. Trawisheim ist wie ein Elefant.« »So stur?« fragte der Oberst. »Nein, so nachtragend.« »Ich werde es überleben«, meinte der Oberst leichthin. »Im Au genblick habe ich andere Probleme – was fange ich mit der Zeit an, in der ich untätig herumsitze und darauf warte, mit der Expedition beginnen zu können?« Bulton schwieg einige Sekunden, ehe er antwortete. »Haben Sie nicht hier in der Stadt eine Freundin namens Mazda mit einem sündhaft teuren roten Flitzer, einem Hispano Suiza Impe rial, wenn ich nicht irre?« »Sie irren«, bedeutete ihm Vegas mit Nachdruck. »Erstens ist es
kein roter, sondern ein schneeweißer Imperial«, stellte er richtig. »Zweitens ist das mein Jett, und drittens ist der Name der Dame Ferrari.« »Na, wie auch immer.« Bulton zeigte nicht die Spur von Zer knirschung. »Was ich damit sagen will: Schlagen Sie doch mit ihr die Zeit tot!« »Auf die Idee wäre ich überhaupt nicht gekommen«, brummte der Oberst und stand auf. Diesmal hielt ihn der Marschall nicht zurück. * Die nächsten Tage verbrachte Roy Vegas auf der ANZIO. Major McGraves’ Truppe bekam den zugesagten Ersatz für die er littenen Verluste an Rekruten, die Vorräte wurden aufgefüllt, und der Kommandant gab seiner Mannschaft Landurlaub in Rufbereit schaft, was bedeutete, daß sie rund um die Uhr erreichbar sein mußte. Die an Bord verbleibende Rumpfbesatzung wechselte alle drei Tage, so daß niemand benachteiligt war. Nur der Kommandant nahm sich davon aus; altes verbrieftes Ka pitänsrecht, niedergelegt in den Statuten der R.M.S. der Royal Mari time Society. Nach drei Tagen setzte Vegas den Rat Marschall Ted Bultons in die Tat um. Von seiner Kabine aus ließ er sich mit einer bestimmten Nummer in Alamo Gordo verbinden. »Kanzlei Ferrari und Partner. Was können wir für Sie tun?« Eine kühle, geschäftsmäßige Frauenstimme. Auf dem Viphoschirm war ein kleiner, sehr vornehmer Empfangsraum zu sehen. Hinter einem Schreibtisch kein Avatar, sondern eine ganz und gar nicht kühl wirkende Empfangsdame, was das Renommee der Anwalts kanzlei für jedermann sichtbar unterstrich. Jetzt zog sie eine Augenbraue in einer winzigen Bewegung hoch,
als sie Vegas’ Uniform sah. Vermutlich gehörten Offiziere der Ter ranischen Flotte nicht unbedingt zur Klientel der Kanzlei, auch wenn sie im Rang eines Obersten standen. »Roy Vegas«, sagte er. »Ich hätte gern Miß Ferrari gesprochen…« »Ich will mal sehen, ob Doktor Ferrari Zeit hat«, betonte sie in un nachahmlicher Art den Titel. »Wenn Sie sich einen winzigen Au genblick gedulden möchten?« Doktor Ferrari! Hm, für einen Moment war Vegas irritiert, dann erinnerte er sich wieder, daß Jenna in der Tat einen Doktortitel besaß. Er räusperte sich und wappnete sich mit Geduld. Doch Doktor Ferrari hatte Zeit. Das Bild wechselte. »Hallo? Wer ist…« Jenna Ferrari hielt inne. Die geschäftsmäßige Kühle blätterte von ihrem Gesicht ab, und ihr unvergleichliches Lä cheln erschien. »Hi, Raumfahrer«, sagte sie mit ihrer vibrierenden Altstimme. Vegas schluckte unwillkürlich bei ihrem Anblick. »Hallo, Jenna. Tut mir leid, daß ich einfach so bei dir reinplatze, aber… ich wollte nur wissen, wie es meinem Imperial geht.« Verflucht, dachte er mit einem unguten Gefühl. Die blödeste Ausrede, seit Kleopatra ihrem Cäsar versicherte, nichts an Marcus Antonius zu fin den. »So…?« Abwartende Zurückhaltung. »Nur deswegen rufst du mich an? Wegen deines Jetts?« Ihre Stimme klang irgendwie ent täuscht. Aber sie hatte sich unter Kontrolle. »Ja. Nein. Ach, zum Teufel!« Er stotterte wie ein Pennäler. Ent schlossen sagte er: »Ich bin für eine noch nicht absehbare Zeit auf der Erde. Können wir uns sehen?« »Wann?« So kannte er sie, geradlinig denkend und ebenso handelnd. Ohne künstliches Geziere und halbseidige Ausflüchte, wie es viele Frauen gerne praktizierten, weil sie der Meinung waren, es würde einen Mann noch neugieriger auf sie machen. Das mochte bei einem Teil
der männlichen Spezies des Homo sapiens sapiens ja funktionieren – beim überwiegenden Teil, zu dem sich Vegas zählte, jedoch nicht. Er blickte auf sein Chrono. »Wollen wir uns zum Lunch treffen? Ich kenne da ein nettes Bistro in der Nähe des Forschungsministeriums. Der Besitzer vom ›McLean’s‹ ist Nachfahre eines ehemals sehr bekannten Schriftstel lers.« Sie lachte. »Du und deine Affinität zu allem Schöngeistigen. Nein, daraus wird wohl nichts werden. Im Ernst«, fuhr sie schnell fort, als sie die Enttäuschung auf seinem Gesicht sah, »ich würde gern, aber ich habe heute noch einiges vor. Doch was hältst du davon, wenn du mich zum Dinner einlädst?« »Das läßt sich arrangieren«, meinte er lässig. Sie lachte. »Schön. Wann soll ich fertig sein?« »Um acht?« »Ich freue mich. Übrigens«, meinte sie noch, »deinem Imperial geht es ausgezeichnet in meiner Garage.« »Wie schön«, murmelte er, aber das hörte sie schon nicht mehr. Doktor Jenna Ferrari hatte die Verbindung unterbrochen. Ihr Bild wurde zu einem vertikalen Strich, der sich im Projektions mittelpunkt zusammenzog und dann auflöste. Vegas starrte noch eine Weile auf die leere Viphoscheibe, in der sich sein Gesicht spiegelte. Er wußte ganz genau, wie es nach dieser Einladung weitergehen würde; er fand den Gedanken daran erre gend.
20.
Um acht Uhr traf sich Vegas mit Jenna Ferrari an der Hauptplaza vor dem intergalaktischen Gästehaus der Regierung. Gekonnt kurvte sie mit seinem Imperial um die Ecke und hielt eine Handbreit vor ihm. Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem Ausschnitt so tief, wie es die herrschende Moral gerade noch tolerierte; ihr Haar war so hoch aufgetürmt, wie es der Coiffeur schaffen konnte. Sie sah einfach umwerfend aus, aber es wirkte alles ein bißchen sehr riskant. Sie gingen ins »Orcide«, ein Restaurant, in dem sich der Oberst nicht sehr oft sehen ließ. Einmal war es teuer, was Vegas aber als wohl reichsten Raumschiffskapitän Terras kaum tangierte. Zum anderen war das Publikum typisch für das in der Nähe befindliche Diplomatenviertel. Schon beim ersten Umsehen fielen ihm mehrere Senatoren und Abgeordnete der Terranischen Regierung auf. Er hoffte, nicht ausgerechnet Trawisheim über den Weg zu laufen. Ein distinguiert wirkender Ober führte sie zu ihren Plätzen, die Vegas in weiser Voraussicht hatte reservieren lassen. Dann bestellten sie das Essen. Der Wein kam, dem Jenna seinem Eindruck nach ein bißchen zu rasch zusprach. Als sie seinen Blick bemerkte, sagte sie: »Hatte einen verdammt harten Tag. Wein hilft mir, mich zu entspannen, wie du wohl weißt, mein Lieber.« Die Entspannung gelang ihr. Sie lachten beide viel, manchmal auch etwas laut, redeten und amüsierten sich. Und nach dem Essen trank sie weiter. Schließlich hob sie das Glas, stellte es auf den Kopf und fragte: »Und was machen wir jetzt?« »Jetzt«, sagte er grinsend, »verlassen wir eilenden Fußes dieses Lokal. Man redet schon über uns.« »Pah!« machte sie mit einer nonchalanten Handbewegung, die den
Schmuck an ihren Gelenken zum feinen Klirren brachte. »Spießer.« Auf dem Weg nach draußen nahm Jenna eine Pille aus ihrer Handtasche und schluckte sie runter. »Was war das?« fragte er. »Gegen den Alkohol, oder was glaubst du?« Er brummte, während er ihr in den Imperial half. Sie lehnte sich in die teuren roten Polster und holte eine weitere Pille aus ihrer Handtasche. »Und was ist das?« fragte er und startete das Aggregat. »Kopfschmerztablette. Ich habe Migräne.« »Antialkoholtabletten und Mittel gegen Migräne vertragen sich nicht«, sagte er. Er steuerte den schweren Gleiter über den Parkplatz auf die nächtliche Straße hinaus. »Macht süchtig.« »Süchtig hin, süchtig her. Es tut mir gut.« Sie lächelte ihn an und präsentierte ihr Dekollete. »Mach dir keine Sorgen.« »Sehe ich aus, als machte ich mir welche?« Sie lachte. »Sehr sogar.« »Unsinn«, sagte er. »Wohin?« »Wohin wohl? Zu mir natürlich. Ist viel näher als dein Landhaus in den Bergen. Und auf die ANZIO setze ich keinen Fuß, seit du dich geweigert hast, mich mit an Bord zu nehmen.« Er räusperte sich. »Ich denke, du hast Migräne?« Sie lehnte sich eng an ihn, näherte ihren Mund seinem Ohr und sagte mit verheißungsvoller Stimme: »Die Tablette wirkt sofort. Meine Migräne ist schon verflogen.« Zunächst blieben ihm die Worte im Halse stecken. Nach ein paar Sekunden sagte er matt: »Ein Hoch auf die moderne Pharmazie« und trat den Beschleunigungshebel durch. * »Aufstehen, Faulpelz!«
Roy schlug die Augen auf. Kaffeeduft stieg ihm in die Nase. Tageslicht fiel durch das Fenster, und Jenna stand mit einem Tab lett in den Händen und kaum etwas am Körper neben dem Bett. »Guten Morgen!« sagte sie. »Wie hast du geschlafen?« »Gut«, brummte er einsilbig. »Fein«, sagte sie, stellte das Tablett aufs Bett und dehnte sich aus giebig. »Ich auch.« Er sah sie an. Sie war ungeschminkt. Ihr Haar hing lose und un gekämmt auf die Schultern, und sie sah einfach wunderbar aus. »Ich hoffe«, sagte sie und reichte ihm eine Kaffeetasse, »du bist mir nicht böse wegen gestern abend.« »Keineswegs«, sagte er matt und versuchte krampfhaft sich zu erinnern, weshalb er nicht böse sein sollte. »Ich weiß, daß mein Entschluß vielleicht etwas zu plötzlich kam«, fuhr sie fort. »Aber ich will einfach nicht meinen ganzen Urlaub in der Stadt verbringen. Du verstehst?« Er nickte, während sich der Nebelschleier in seinem Kopf lichtete. »Das geht schon in Ordnung«, beeilte er sich zu sagen. Sie lachte fröhlich und küßte ihn aufs Ohr. Er erschrak. Sein Kaffee schwappte über, und er sprang auf. Sie lachte wieder. Dann ging sie in den Nebenraum und zog sich an. Er schaute sich im Zimmer um. Es war in sanften Farben gehalten. »Ist das dein Schlafzimmer?« »Wem sonst sollte es gehören?« Sie kam wieder ins Zimmer, in bequemen Hosen und einem lege ren Pulli mit Rollkragen. Er sah zum Fenster hinaus; der Blick fiel nur auf andere Wohnku geln. »Gefällt dir, was du siehst?« »Nicht unbedingt«, gestand er.
»Siehst du, und deshalb ist es richtig, was ich dir vorgeschlagen habe. Wir können die Tage, die du auf der Erde bist, in deinem Landhaus in den Bergen verbringen. Ich habe mir schon selbst Ur laub genehmigt. Gepäck brauche ich keines. Es sind noch eine Menge Sachen von mir vom letzten Mal dort. Aber ich rede wieder mal zu viel. Oder?« Sie kicherte. »Sicher willst du duschen. Da drüben ist das Bad.« Sie zeigte auf eine Tür. »Ich mache inzwischen das Frühstück.« »Kochen kannst du auch?« »Nur Toast.« Er zog ein Gesicht. »Eier mit viel krossem Speck!« Sie sah ihn an. Er schaute zurück. »Na gut«, meinte sie schließlich, »als Willkommen, aber glaube nicht, daß das zur Gewohnheit wird.« Sie küßte ihn feucht und schmatzend und verschwand aus dem Zimmer. * Oberst Vegas zog sich mit Jenna Ferrari in sein Landhaus in den Sacramento-Bergen zurück, das die beiden nicht nur wegen des un gewöhnlich kalten und verregneten Sommers kaum verließen. Allerdings dauerte die traute Zweisamkeit nicht sonderlich lange. Am 11. August kam ein Rundruf von der Funk-Z der ANZIO und beendete die Idylle ziemlich abrupt. Eine der umprogrammierten Sonde hatte einen Pulk der Fremd raumer in 1700 Lichtjahren Entfernung geortet. Es war ihr noch ge lungen, Daten über den Verband und seine Position mittels To-Richtfunk an die Raumflotte nach Cent Field zu übermitteln, ehe sie ihre Aktivitäten einstellte. Offenbar war ihre Anwesenheit be merkt worden, und man hatte sie zerstört. Bulton hatte mit Nachdruck den sofortigen Alarmstart der ANZIO angeordnet. Bereits sechzig Minuten nach dem Rundruf befanden sich Be
satzung, Kadetten und das Kontingent der zweihundert Raumin fanteristen von Major McGraves vollzählig an Bord. Einige der Führungsoffiziere wurden höchstpersönlich mit Flash abgeholt, darunter auch Oberst Vegas, der nicht einmal Zeit fand, sich aus reichend von Jenna Ferrari zu verabschieden. Vier Minuten später betrat Roy Vegas, vom Flashdepot kommend, die vollbesetzte Zentrale der ANZIO über den Haupteingang von Deck vier. Der Oberbootsmann neben dem Schott nahm Haltung an und entlockte seiner Pfeife das typische Signal. Dann holt er tief Luft. »Kommandant auf der Brücke!« Für einen Augenblick erstarben die typischen Arbeitsgeräusche, dann setzten sie mit verminderter Stärke wieder ein; es herrschte die verhaltene Hektik eines unmittelbar bevorstehenden Starts. »Willkommen an Bord, Sir«, sagte Hauptmann Olin Monro. Vegas nickte seinem Ersten Offizier zu, setzte sich auf seinen Platz und warf einen forschenden Blick auf die Instrumente und holog raphischen Bildgeber seines Pultes. Die große Bildkugel, die beim Start des Ringraumers automatisch über der Hauptkonsole erschien, war noch inaktiv. An ihrer Stelle waren die fünf großen Zentral bildschirme in Betrieb und boten Ausblicke auf den Raumhafen und dessen nie endende Betriebsamkeit. Der Oberst fuhr seinen Sessel etwas zurück und nickte seinem Ersten zu. »Bericht, Nummer Eins.« »Klarschiff, Kapitän«, meldete Olin Monro, der wußte, worauf es seinem Kommandanten ankam. »Was ist mit unserer Kavallerie?« »Steht in den Steigbügeln«, ertönte es im selben Augenblick vom Hauptschott her, und Major McGraves kam in die Zentrale. »Die Männer sind vollzählig an Bord. Waffen, Munition, Ausrüstung auf dem neuesten Stand, Skipper.« »Ausgezeichnet, Chester«, stellte Vegas fest. »Nummer Eins!
Können wir starten?« »Jederzeit«, erwiderte der schwarzhaarige Hauptmann. »Ziel?« Vegas nannte ihm die Koordinaten der Sonde. »Wir werden 1500 Lichtjahre in einer Transition zurücklegen, die restlichen 200 mit voll aktiviertem Tarnschutz im Sternensog.« »Verstanden, Sir.« »Dann bringen Sie uns raus, Mister Monro.« Der Erste Offizier holte sich vom Kontrollturm Cent Field die Startfreigabe. Kaum in der Luft, erschien automatisch die große Bildkugel so wohl über der Hauptkonsole als auch in allen relevanten Ne benzentralen wie Maschinenraum und Waffensteuerungen. In den anderen Räumen des Schiffes entstanden weitere, we sentlich kleinere Bildsphären. Antigrav trug das Ovoid-Ringschiff durch die Lufthülle der Erde. Cent Field sank rasch nach unten weg. In einer Höhe von knapp hundert Kilometern befand sich die ANZIO über der Atmosphäre. Das Flottenschulschiff beschleunigte und durchschnitt in einem geradlinigen Kurs die Ekliptik des Sol-Systems in Richtung auf den tiefen Weltraum jenseits der Bahn des äußersten Planeten. Die Flä chenprojektoren des Ringschiffes erzeugten den nötigen Schub für SLE. Die Intervallfelder blieben deaktiviert, so daß sie die anstehen de Transition nicht behinderten. Roy Vegas verfolgte zufrieden, wie professionell seine Nummer Eins das Schiff führte und die Transition in die Wege leitete, die in zwei Minuten erfolgen würde. Eine moderate Zeitspanne, sie ließ sich im Krisenfall auf dreißig Sekunden verkürzen, wenn man den kompletten Ablauf dem Hyperkalkulator überließ. Dafür bestand jedoch keine Notwendigkeit. Sternensog war in der Lage, innerhalb des Intervallums variable Überlichtgeschwindigkeiten zu erzeugen, die alles anderen in den Schatten stellten. Dennoch dauerte es eine bestimmte Zeitspanne, um von einem Punkt zum anderen zu kommen.
Die Transition hingegen war ein Sprung quasi in Nullzeit. Nachteil dabei war die Tatsache, daß eine Transition wesentlich mehr Energie verschlang als ein Sternensogflug. Außerdem war der Sternensog der Sprungtechnik überlegen, je größer die Entfernung war, die zurückgelegt werden mußte, denn je länger der Flug dauerte, desto stärker beschleunigte das Schiff. Eine Transition hin gegen konnte nicht über beliebige Entfernung durchgeführt werden, und das Errechnen der Daten für den nächsten Sprung nahm immer wieder eine gewisse Zeitspanne in Anspruch. Ein akustisches Signal ertönte. Mit seinem Verklingen desaktivierte der Hyperkalkulator das Doppelintervallum. Die Transition der ANZIO erfolgte. Der Ovoid-Ringraumer überbrückte während eines für die Men schen nicht meßbaren Zeitraumes 1500 Lichtjahre und materialisierte am errechneten Eintrittspunkt. Der Hyperkalkulator schaltete innerhalb von Nanosekunden die Intervallfelder wieder hoch, und Sternensog übernahm den Antrieb. Mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit und im Schutz ihrer voll auf gedrehten Tarnfelder überbrückte die ANZIO die restlichen 200 Lichtjahre zum Zielgebiet. Dann ging das Flottenschulschiff unter Licht. Lautlos glitt es durch die unendlich scheinende Nacht des Weltraums. An den von der Sonde übermittelten Koordinaten entdeckte die Ortung zwar die Trümmer der Suchdrohne, doch keine Spur von den gemeldeten Fremdraumern. Die hatten allerdings genügend Möglichkeiten, sich zu verbergen; es existierten zahlreiche Sonnen systeme im Umkreis von zirka zehn Lichtjahren. »Mister Nozomi«, wandte sich Vegas an seine Nummer Vier. »Existieren irgendwelche Daten über diesen Raumquadranten?« Der Astrogator der ANZIO verneinte. »Also bewegen wir uns auf absolutem Neuland«, stellte der Kommandant fest und fügte hinzu: »Wieder einmal.« »Sieht so aus, Sir«, bestätigte seine Nummer Vier, deren übli
cherweise sympathisches Lächeln ein wenig unglücklich wirkte. Offenbar wurmte es den Offizier, mit keinen besseren Nachrichten dienen zu können. »Was machen wir mit der zerstörten Sonde?« meldete sich Monro. Vegas überlegte nicht lange. »Lassen Sie sie aufbringen und in ei nem Lagerraum deponieren. Vielleicht ist sie uns noch einmal von Nutzen«, befahl er. »Aye, Kapitän.« Vegas hob ein wenig den Blick. Die zentrale Bildkugel mit ihren unvergleichlichen Möglichkeiten der visuellen Wiedergabe bildete den Weltraum in extremer Brillanz ab. Wieder spürte der Kom mandant die Faszination dessen, was er da zu sehen bekam: Zehn tausende, Millionen und Milliarden von Sternen. Ein Meer von dicht zusammengedrängten Sonnen in allen Spektralklassen, von Dun kelwolken und geheimnisvoll glühenden Nebeln. Und irgendwo dort draußen, in relativer Nähe, gemessen an den Dimensionen des Weltraums nur einen Steinwurf weit entfernt, mußten die vier Fremdraumer zu finden sein, die die Sonde auf gespürt hatte. Nur wo? Vegas drehte seinen Sessel etwas zur Seite. »Mister Bekian. Noch nichts?« Der Ortungs- und Kommunikationsoffizier verneinte. »Die Tie fenraumtaster haben noch keine Spur aufgefangen. Vielleicht befin den sie sich bereits innerhalb eines dieser Systeme und bewegen sich im Ortungsschatten der Planeten.« »Mhm«, Vegas runzelte nachdenklich die Stirn. Dann sagte er ent schlossen: »Nummer Eins. Schicken Sie das Flashgeschwader nach draußen. Es soll sich an der Suche beteiligen. So können wir einen wesentlich größeren Raumbereich unter die Lupe nehmen.« »Zu Befehl, Kapitän.« Vegas’ Anordnung war relativ rasch von Erfolg gekrönt. Nach zwei Stunden bereits meldete sich ein Fähnrich namens Jon Spears aus der 013 über To-Richtfunk. Er hatte Energieechos aus
einem acht Lichtjahre entfernten System geortet. Da es sonst keine Ortungen gab, beorderte der Oberst alle Flash in ihre Depots zurück und wies seinen Ersten Offizier an, das System anzufliegen. * Die ANZIO blieb außerhalb der Umlaufbahn des äußeren Pla neten, von dem sie nicht mehr als sieben Astronomische Einheiten entfernt war. Eine Entfernung, die siebenmal der Strecke Erde – Sonne entsprach. Der Oberst ließ den Blick nicht von der Bildkugel. Links vom Standpunkt des Ringraumers glühte gelb das Zen tralgestirn, vom Typ her Sol gleich. Um sich herum hatte es sieben Planeten versammelt, deren Ent fernungen zur Sonne bedingten, daß nur zwei der Welten sich in nerhalb der Lebenszone bewegten: die Planeten drei und vier. Die inneren Welten waren zu heiß, die äußeren aufgrund ihrer großen Entfernung zu kalt. Sie rotierten als absolut lebensfeindliche Gasrie sen auf Bahnen weit draußen an der Grenze des Systems. Zwischen dem vierten und fünften Planeten klaffte eine große Lücke, als hätte es da mal eine Welt gegeben, die aber nicht mehr existent war. Nicht mal ein Asteroidengürtel war vorhanden. »Da sind unsere Energieechos«, ließ sich der Dritte Offizier ver nehmen. »Lassen Sie sehen!« Im Zentrum der Bildkugel wuchsen durch den Vergröße rungsfaktor die bizarren Formen der Raumschiffe förmlich aus der Sphäre heraus. Die Konfigurationen waren absolut ungewohnt, entsprachen so gar nicht den Vorstellungen, die man nach men schlichen Maßstäben vom Aussehen eines Raumschiffs üblicher weise entwickelt hatte. Nicht einmal eine einheitliche Grundform war zu erkennen. Jedes
der Schiffe war ein Unikat, keinen Gesetzmäßigkeiten folgend, vollkommen willkürlich konstruiert. Als hätte man die Insassen ei ner Irrenanstalt die Baupläne entwickeln lassen. Nirgends gab es glatte oder fließende Formen. Jedes dieser Raumfahrzeuge wirkte, als hätte irgendeine unerklärliche Macht das Schiff ein paarmal in sich gefaltet und dann das Innerste nach außen gestülpt. Allerdings gab es eine Gemeinsamkeit, wenn man so wollte: Die eingespiegelten Datensequenzen zeigten für alle vier Schiffe einen Durchmesser zwischen 300 und 400 Metern an. »Mein Gott!« stöhnte der Zweite Offizier Jay Godell. »Der Anblick ist ja augenverknotend.« »Physiologisch unmöglich«, erwiderte Vegas trocken, »aber ein treffender Vergleich, Nummer Zwei. Mister Nozomi, läßt sich ihr Kurs feststellen?« Hauptmann Nozomi sah seinen Kommandanten an, überrascht zunächst, doch dann begreifend. »Ich verstehe, was Sie meinen, Kapitän. Ja, die Taster haben den Einflugwinkel der vier Schiffe entlang der Bahnebenen berechnet. Die Resultanten ihrer Kursvektoren zeigen auf den vierten Plane ten.« »Was haben wir über ihn?« »Eine Trockenwelt. Marsähnlich. Auch kein angenehmer Auf enthalt«, gestand Kerim Bekian von der Ortung. »Das ganze System erscheint wenig anheimelnd«, pflichtete ihm der Oberst bei. »Aber wir wollen hier ja nicht unsere Zelte aufschla gen.« Er schwieg einen Moment. »Geht es nur mir so«, stellte er die Frage in den Raum, »oder scheinen drei von den Schiffen das vierte in die Mangel zu nehmen?« »Jetzt, wo Sie es sagen, habe ich auch den Eindruck«, bekannte die Nummer Eins. Einer der fremdartigen Raumer versuchte offenbar, sich abzu setzen, immer wieder schlug er Haken oder vollführte Manöver, die nur einen Zweck verfolgten: den anderen drei zu entkommen. Die
allerdings unterbanden seine Ausreißversuche jedesmal mit knapp gesetzten Strahlschüssen, die auf den Ortern der ANZIO merkwür dige Energieanzeigen verursachten. »Kompri-Nadel«, ließ sich Vegas einsilbig vernehmen, als jemand die Frage stellte. Das war eine vom sibirischen Fremdtechnikgenie Arc Doorn ge prägte Bezeichnung für die neuartige Waffe der unbekannten Fremden, die im Mai 2062 Grah angegriffen hatten. Meßergebnisse in den Forschungslabors der Schwarzen Garde hatten gezeigt, daß die Waffe dem Nadelstrahl ähnelte, wobei die Energieabgabe allerdings auf einen unglaublich kleinen Durchmes ser im Nanometerbereich gebündelt wurde. Dadurch bestand die hohe Wahrscheinlichkeit, daß auch Intervallfelder aufgebrochen und gefährdet werden konnten. »Das ist ja fast wie Tontaubenschießen«, ließ sich Bekian hören. »Meine Taster zeigen, daß der Verfolgte weder Waffen-Systeme noch Schutzschirme zur Verfügung hat. Erinnert mich ein bißchen an das Spiel von Orcas mit Seehunden.« »Ein tödliches Spiel«, nickte der Oberst und strich sich mit der Hand über das Haar, in dem nur noch wenige dunkle Strähnen er kennbar waren, »mit vorhersehbarem Ausgang.« »Sollen wir näher herangehen, Kapitän?« »Auf keinen Fall, Nummer Eins. Wir beobachten im Schutz unserer Tarnfelder aus der Ferne, um so viele Daten wie möglich zu sam meln, mischen uns aber in keinster Weise ein, was immer dort auch geschehen mag.« »Aye, Sir. Darf ich vorschlagen, Drohnen auszuschleusen, mit de nen wir gefahrlos näher an den Ort des Geschehens herangehen könnten?« »Machen Sie das, Olin«, erwiderte der Oberst. Mittels Intervallfeldern wurden eine Reihe nur unterarmlanger Drohnen ausgestoßen. Winzige Roboterschiffe, ausgerüstet mit Transitionstriebwerken und SLE, vollgestopft mit Ortungs- und
Bildaufzeichnungssystemen in Mikro- und Nanotechnik. Niemand sah sie hinter ihren Tarnfeldern. Niemand ortete sie. Im freien Raum beschleunigten sie, traten kurz in den Hyperraum ein und kehrten im selben Augenblick in relativer Nähe zu den Fremdraumern in den Normalraum zurück, um mit den Schiffen auf den dritten Planeten zuzufliegen. Der in jeder Sonde integrierte To-Richtfunk meldete der ANZIO alle Systeme positiv, Taster und Sichtanzeigen waren aktiviert. Kerim Bekian sagte: »Achtung, die ersten Bilder kommen!« Jetzt, in der relativen Nähe zu den Schiffen, zeigten die Aufnahmen die erschreckende Fremdartigkeit der unbekannten Raumschiffe in aller Deutlichkeit. Gebannt verfolgte die Besatzung der ANZIO, was sich dort drau ßen abspielte. Der unbewaffnete Raumer wurde von den anderen drei zur Lan dung auf dem marsähnlichen Planeten gezwungen, während sie selbst keinen Bodenkontakt herstellten, sondern über ihm in der Schwebe blieben. Kaum war der Raumer gelandet, schleusten seine Verfolger Hor den von Robotern aus, die wie Käferschwärme zu Boden schwebten und sich über die Hülle des gelandeten Schiffes hermachten. »Das möchte ich mir näher ansehen!« sagte Vegas. »Sofort, Sir.« Der Bildfunk ging auf Nahbereichserfassung. Das Bild stabilisierte sich. »Beim großen Konfuzius«, sagte Olin Monro fast erschrocken, nachdem er die Bildsequenzen zu Gesicht bekam, »die zerlegen das Raumschiff ja!« »Vermutlich, um es an der Flucht zu hindern«, mutmaßte Jay Go del. Dieser Einschätzung konnte nicht widersprochen werden. Allerdings gab sich der am Boden stehende Raumer nicht so ohne weiteres kampflos geschlagen. Er schleuste seinerseits ganze Horden
von Robotern aus, die die Mechanischen aus den anderen drei Schiffen attackierten. Die kastenförmigen, kugelartigen oder spin nenbeinigen Konstruktionen, schwarz und bedrohlich aussehend, erwiesen sich als ernstzunehmende Verteidiger. Aus ihren Schulter projektoren zuckten lange Strahlen, aus Werferrohren lösten sich Feuerkugeln, Werferbatterien rotierten und verwandelten eine Menge der Angreifer in glühenden Schrott. Die Umgebung des am Boden befindlichen Schiffes wurde zu einem Chaos aus Feuer, Flammen, Detonationen und riesigen Pilzen aus Staub sowie von der Wucht mancher Explosionen emporgeschleuderten Trümmern. Die Maschinen stellten sich rollend, springend und schwebend ih ren Gegnern in den Weg, feuerten aus sämtlichen Rohren. Ein Ge räuschorkan erhob sich. Die Explosionen lösten einander in schneller Folge ab und griffen ineinander über. Eine Bahn aus Feuer und Flammen breitete sich kreisförmig um das Raumschiff aus. Dennoch war es ein ungleicher Kampf, wie die unsichtbaren Beobachter aus der Ferne erkennen mußten. Die drei über dem Kampfgeschehen schwebenden Raumschiffe schleusten mehr und mehr Roboter aus, die systematisch damit be gannen, die Roboter des gelandeten Schiffes auszuschalten. Schließlich erstarb jegliche Gegenwehr, und die Sieger begannen damit, das Schiff auseinanderzunehmen, es regelrecht und mit gro ßer Präzision zu zerlegen. Noch während der Kampf in vollem Gang war, hatten bereits Ro boter der Angreifer damit angefangen, etwas abseits vom Hauptge schehen eine Kaverne in eine steil aufragende Felswand zu fräsen. Jetzt machte man sich daran, Bauteile des zerlegten Schiffes ins In nere zu bringen, wo man offenbar etwas Bestimmtes montierte. Vegas wagte nicht, eine Drohne so nahe ans Geschehen zu ma növrieren, daß man an Bord der ANZIO hätte erkennen können, was genau da vor sich ging. Das Risiko der Entdeckung war ihm nun doch zu groß. Allerdings mußte es sich um kein zeitraubendes Vorhaben ge
handelt haben; der Eingang der Kaverne wurde bereits mit einem schweren Metallschott verschlossen. Im Freien sammelten die Roboter allen Schrott, auch den ihrer zer störten Artgenossen, auf drei gleichgroße Haufen, die von den Schiffen mittels Antigrav aufgenommen wurden. »Haben wir es mit galaktischen Schrottsammlern zu tun?« wun derte sich Monro. »Wohl kaum«, versetzte Godel. »Es sind halt Reinlichkeitsfa natiker, die ihre Abfälle selbst entsorgen.« Gelächter kam auf. Vegas beteiligte sich nicht an der allgemeinen Heiterkeit. Grübelnd verfolgte er, wie die drei Fremdraumer nacheinander starteten und auf einen Kurs gingen, der sie aus dem System führte. Sie schienen es nicht eilig zu haben. Geradezu gemächlich zogen sie durch die Ekliptik, auf ihrem Weg würden sie sogar nahe an der ANZIO vorbeikommen. Wobei »nahe« in der Größenordnung von einer Astronomischen Einheit angesie delt war. »Haben wir nicht ein paar nichtmagnetische Peildrohnen an Bord?« wandte sich Vegas plötzlich an seine Nummer Eins. »Haben wir, Sir. Darf man den Grund erfahren, weshalb Sie fra gen?« »Wie lange brauchen Sie, um sie startklar zu machen?« »Sind sie schon. Sie werden ständig gewartet und im Bereit schaftsmodus gehalten.« »Meinen Sie, Sie könnten welche an den drei Fremdraumern anb ringen, ehe die aus dem System verschwinden?« Olin Monro nickte begreifend. »Jetzt verstehe ich, Sir. Und es eilt, nicht wahr?« »Es eilt sogar gewaltig«, bestätigte sein Kapitän. »Schicken Sie sie auf die Reise.« »Aye, Sir.« Monro schaffte es gerade noch, an jedem der Schiffe eine Peil
drohne zu befestigen, die nach dem Prinzip der Halterfische arbei teten. Statt eines Magnetfeldes hatten sie Metallkleber an Bord, mit dem sie sich ans Objekt ihrer Begierde hefteten. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, wohin ihr Weg sie führt«, mur melte Roy Vegas – und erlebte eine Enttäuschung, die sein Vorhaben zunächst zum Scheitern verurteilte. »Was ist denn jetzt los?« Kerim an der Ortung gab einen tiefen Kehllaut von sich. Alarmiert wandte sich Vegas ihm zu. »Bericht, Nummer Drei!« »Die Schiffe der Fremden hüllen sich in ihre Karoschirme!« Die extrem starken Schutzschirme der unbekannten Fremden hat ten von den Terranern während der Kämpfe um Grah diesen Namen erhalten, weil sie unter Belastung ein kreuzförmiges Muster aus Stützfeldern zeigten. Beim Erreichen der Belastungsgrenze, bei spielsweise durch eine Wuchtkanonenbreitseite, stellten die Frem den das Feuer ein, da dann offenbar alle verfügbare Energie in die Schirme fließen mußte. »Sie müssen die Peildrohnen entdeckt haben.« »Kann das sein?« wunderte sich Vegas. »Ich war bislang der Mei nung, diese seien nicht zu orten.« Kerim hob kurz die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Offenbar doch, Kapitän.« Und er schickte gleich die nächste Hiobsbotschaft hinterher: »Sir, die Fremdraumer gehen auf neuen Kurs. Sie kehren ins System zurück. Eindeutig ein Suchmuster!« »Uns bleibt aber auch nichts erspart«, brummte der Kommandant und kratzte sich an der Schläfe. Eine tiefschürfende Erkenntnis, die ihre Berechtigung hatte. Die Fremden begannen, systematisch das gesamte System zu durchsuchen. Dabei stöberten sie einige der Drohnen auf, die vorher so gute Arbeit geleistet hatten, und zerstörten sie. »Jetzt wissen sie, daß sie nicht allein im System sind«, resümierte
Jay Godel. »Fragt sich nur, ob sie glauben, derjenige sei verschwunden oder verberge sich nur gekonnt«, gab Ron Nozomi zu bedenken. »Sir, was unternehmen wir?« Erst als ihm die plötzliche Stille in der Zentrale bewußt wurde, merkte Vegas, daß alle auf seine Entscheidung warteten. Er mußte eine Lösung finden, und zwar schnell. Trotz voller Tarnung war die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß die Fremden noch etwas in petto hatten, mit dem sie in der Lage waren, die ANZIO selbst hinter ihrem Tarnfeld auszumachen. »Nummer Eins! Bringen Sie das Schiff in die Korona der Sonne. Ich will nicht riskieren, entdeckt zu werden. Wir sind nicht hier, um zu kämpfen, sondern wir haben eine Aufklärungsmission. Die hat Vorrang.« »Aye, Sir!« SLE brachte die ANZIO innerhalb vier Minuten quer über die Planetenekliptik in die Korona des Zentralgestirns, wo sie in der Exosphäre unsichtbar für jegliche visuelle und ortungstechnische Erfassung verharrte. Schaden konnte die ANZIO in ihrem Doppelintervallum keinen nehmen. Dennoch fühlte sich mancher im Ringraumer mehr als un behaglich. Die Vorstellung, daß jenseits des Mikrouniversums ein atomarer Brennofen sozusagen auf Tuchfühlung brodelte, war dem Seelenfrieden einiger schwach besaiteter Besatzungsmitglieder nicht gerade zuträglich. Allgemein hoffte man, die Zeit würde schnell genug vorübergehen, bis sie diesen nuklearen Hochofen mit seiner brüllenden Hitze wie der verlassen konnten. Schließlich gaben die Fremden ihre Suche auf, verließen das Sys tem und verschwanden jenseits der Bahn des äußeren Planeten mit den typisch weichen, nicht anmeßbaren Transitionen. Aber wer geglaubt hatte, die ANZIO würde sofort die Sonnen korona verlassen, mußte sich eines Besseren belehren lassen.
Oberst Vegas traute dem Braten noch nicht uneingeschränkt, son dern blieb vorsichtig. Er hatte eine kurze Unterredung mit seinem ehemaligen Ersten Offizier, und Major McGraves stimmte seinen Vorschlag zu, mit einem Flash und einem Piloten die von den Ro botern gebaute Höhle zu erkunden. * Scheinbar bewegungslos stand die ANZIO in der Korona der na menlosen Sonne. Dieser Eindruck war nicht ganz richtig. In Wirklichkeit griff ständig der Hyperkalkulator korrigierend ein, wann immer die enormen Gezeitenkräfte des Sterns an der blauen Unitallhülle des Ringraumers zerrten und ihn in die Tiefe ziehen wollten. In der Zentrale wandte sich Vegas seinem Ortungsoffizier zu. »Mister Bekian, was macht die Null-Eins-Eins?« »Müßte jeden Moment die Lufthülle des Planeten erreichen.« »Stimmt«, kam Chester McGraves’ Stimme über die abgeschirmte To-Richtfunkstrecke, über die er permanent mit der ANZIO ver bunden war. Auf einem Nebenschirm seiner Konsole konnte Vegas das Gesicht des Majors sehen, der auf dem Rücksitz von Flash 011 saß und sein Gesicht in die Aufnahmeoptik hielt. Dann wechselte der Bildausschnitt, als McGraves auf die Frontop tik umschaltete. Die Oberfläche kam ins Bild. »Eintausend Kilometer«, kam die Stimme des Piloten. »Fünf hundert… dreißig.« Dann: »Sinken auf Bodenniveau.« Der Bildausschnitt zeigte, wie sich die 011 dicht über dem Boden auf die Felswand zubewegte. Das Metallschott kam ins Bild, wuchs über das Fassungsvermögen der Optik hinaus. In der Zentrale der ANZIO herrschte mit einem Mal verhaltene
Unruhe, eine Mischung aus Nervosität und unbestimmter Er wartung. »Dringen jetzt mit Intervallum und Antigrav ein«, ließ sich McGraves’ Stimme vernehmen. In diesem Moment fiel die Bildübermittlung aus. Man hörte nur noch, wie McGraves plötzlich flüsterte: »Phantas tisch…!« Dann folgte ein gräßlicher Schrei aus zwei Kehlen. Und das Signal des Flash erlosch auf den Orterschirmen in der ANZIO.
21.
Dienstag, behauptete die Datumsangabe an der Fußleiste des Mo nitors; 13.24 Uhr Bordzeit. Fast fünf Stunden brüteten sie schon wieder am Rechner. Shantons Magen knurrte im Minutentakt und so laut, daß Tino Grappa an der Ortung jedesmal aufblickte und die Stirn runzelte. Arc Doorn schenkte frischen Kaffee ein, Jimmy stand so starr und reglos auf allen vieren, als hätte er die Witterung eines Hasen auf genommen, und auf dem Bildschirm drehte sich behäbig ein drei dimensionales Gebilde, das Shanton an sechs miteinander verfloch tene Zwölfender-Hirschgeweihe erinnerte; reichlich verbogene und in allen Farben des Regenbogens schimmernde Geweihe allerdings. Sie hatten den Hyperkalkulator dazu gebracht, seine Programme und Dateien selbst nach Hauptstichworten zu systematisieren, die lexikalischen Stichworte in eine Rangordnung zu bringen, sie gleichzeitig nach den Entstehungsdaten der jeweiligen Dateien an zuordnen und das alles in einem Schaubild seiner Wahl zu veran schaulichen. Das Ergebnis schillerte und kreiste jetzt auf dem Moni tor. Ziemlich träge. »Es hat keinen Sinn«, sagte Shanton. »Unsere Programme können auf diesem Chaosding keine UNDs finden.« Mit der Abkürzung UND bezeichneten sie inzwischen die gesuchten unentschlüsselten und namenlosen Dateien. »Lassen wir uns was Besseres einfallen.« Arc Doorn setzte sich auf den Rohrstuhl. »Aber erst nach dem Essen.« Shantons Magen knurrte schon wie der. »Sorry, Sir – wir können n nicht bestimmen.« Fähnrich Vanhaaren blieb vor den Stufen zum Kommandostand stehen. »Sicher ist nur, daß es sich um mehr als zwei Dateien handelt, und wahrscheinlich ist, daß sie zu den neu aufgespielten Dateien von Terra Nostra ge
hören.« Bastian Vanhaaren gehörte zu drei Gruppen von Fähnrichen, die der Commander beauftragt hatte, die unzähligen Dateien und Programme zu durchsuchen, die Doorn und Shanton am Vortag aufgelistet hatten. Er arbeitete mit dem Fähnrich Haiko Häkkinen zusammen. »Immerhin wissen wir jetzt sicher, daß es bisher unbekannte Daten gibt. Das motiviert doch, was meinst du, Chris?« Doorn schlürfte seinen Kaffee. »Und wie!« knurrte Shanton. Er erhob sich. Seine Gelenke krach ten, die Hydraulikkonsole seines Sessels federte auf und ab. »Was Neues über die CM-Dateien?« »Nicht wirklich viel, Sir.« Vanhaaren zuckte mit den Schultern. »In erster Linie Protokolle von Rechenoperationen. Etwa zu achtzig Prozent, schätzen Sergio und Mary-Lou. Sie haben aber auch ein kleines Programm gefunden, auf das der Checkmaster zurückgreift, wenn er mit Ihnen kommuniziert…« »Mit mir…?« Shanton schnitt eine ungläubige Miene. »Es geht um Ihre Sprachmodulation, Eigenarten der Formulierung, Arbeitsweise und so fort. Das Team vermutet, daß es weitere solche individuellen Kommunikationsprogramme gibt. Wahrscheinlich für jeden Menschen und Worgun, mit dem der Checkmaster je zu tun hatte.« »Na prächtig.« Shanton stieg kopfschüttelnd vom Komman dostand. »Richtig menschlich, dieses Superhirn, beängstigend men schlich. Machen wir eine Pause und essen endlich eine Kleinigkeit.« Gefolgt von den sechs Fähnrichen und Jimmy verließ er die Zentrale. Der Sibirier blieb allein zurück. Er konnte ausdauernd an einer Sache arbeiten, ohne essen zu müssen; wenn es darauf ankam, zwölf und mehr Stunden am Stück. In kleinen Schlucken trank er seinen Kaffee und meditierte über das skurrile Schaubild. Davor hatten sie es mit einem terranischen Bauwerk probiert. Der Checkmaster mußte seinen Informationskosmos in der Architektur und funktio nellen Systematik eines Raumhafens anordnen. Abflughallen,
Durchgangsbereiche, Logistikgebäude, Flugfeld, Schiffe und so weiter und so weiter. Ein herrliches Schaubild war das Ergebnis. Shanton hatte eine Vergrößerungsoption programmiert und auf diese Weise einen bisher unerreichte Übersicht über die Programme und Dateien des Checkmasters gewonnen. Aber versteckte Dateien fanden sie nicht. Doorn stellte seinen Kaffeebecher auf der Konsole ab und wech selte in den Arbeitssessel. Er hatte eine Idee. Seine Finger flogen über die Tastatur. Ren Dhark stieg den Kommandostand hinauf und stellte sich ne ben ihn. »Und? Kommen Sie weiter?« »Irgendwie schon.« Doorn nahm den Blick nicht vom Monitor. »Im Tempo eines Holzwurms, würde ich sagen.« Er hatte die Kreation des Checkmasters abgespeichert. Auf dem Bildschirm entstanden bereits die Konturen eines neuen Gebildes. »Irgendwann frißt sich jeder Holzwurm durch den dicksten Bal ken.« Dhark klopfte ihm auf den Rücken. »Also nicht aufgeben!« »Wer hat den was von Aufgeben gesagt?« zischte Doorn. Er konnte es nicht leiden, bei der Arbeit angesprochen zu werden. Der Kommandant löste den Ersten Offizier ab und setzte sich an seinen Arbeitsplatz. Etwa dreißig Minuten später kehrten Chris Shanton und Jimmy mit den Fähnrichen zurück. Shanton begrüßte den Commander und stellte dann eine Schüssel Schokoladenpudding vor Doorn auf die Konsole. »Hier, für deinen Energiehaushalt.« Sein Blick fiel auf den Bildschirm. »Hey, Sir Fremdtechnikspezialist vertreibt sich die Zeit mit Naturromantik!« Eine knorrige Sommereiche mit dichter, tau sendfach verzweigter Krone voller Eicheln füllte den Monitor aus. »Nix da Zeitvertreib – ich habe den Checkmaster veranlaßt, mir seine gesammelten Daten in Form eines lebendigen Wesens zu prä sentieren. Die Wahl des Baumes war seine Entscheidung.« »Eine gute Entscheidung.« Shanton stützte sich mit den Fäusten auf der Konsole auf. »Wieso kann er eigentlich eine Eiche von einer
Zypresse unterscheiden? Das kriege ich ja selbst kaum hin.« »Wir haben ihn vor ein paar Jahren mal mit sämtlichen Bildern und Informationen über terranische Flora gefüttert. Entsinnst du dich?« Doorn beugte sich vor und tippte Befehle in die Tastatur. Das neu programmierte Suchprogramm tastete die Eiche ab. Das dauerte. »Seht ihr das?« Jimmy richtete sich auf und stützte die Vorderläufe auf die Konsole. »Was liegt da am Fuß der Eiche?« »Hasenscheiße«, sagte Shanton. »Eine einzelne Eichel«, widersprach Doorn. Das Suchprogramm fand keine unbekannten Daten – im Stamm nicht, in den Ästen nicht, in den Zweigen und Blättern und Eicheln nicht. Keine UNDs gefun den, verkündete ein Schriftzug auf dem Bildschirm. »Laß mich mal ran, du bringst mich da auf einen Gedanken.« Arc Doorn räumte den Platz für Shanton. »Das Wissen des Checkmasters als lebendige Pflanze darzustellen, ist eine verdammt gute Idee.« Kaum saß er, flogen seine fleischigen Finger auch schon über die Tasten. »Damit kann man nämlich auch nichtlineare Datei en–entwicklungen darstellen, wie wir gesehen haben. Das ist bei einem Gebäude nicht drin. Ich speichere die Eiche mal ab.« »Was hast du vor?« Arc Doorn schnappte sich seinen Pudding. »Ein alter Hut eigentlich, das mit dem Baum. Da gab es fünfzig oder siebzig Jahre später noch ein besseres Modell, auch schon wie der hundert Jahre her.« Auf dem Bildschirm entstand eine karierte Fläche. »Perkolationsprozeß nannten sie das, ein Modell, um das Wachstum von Informationen darzustellen…« Tausende von win zigen Quadraten füllten nun den Monitor, einige färbten sich schwarz. Rasch entstanden so schwarze Quadratansammlungen, und Brücken von schwarzen Quadraten wuchsen von einer zu an deren. »Wie Inseln in einem endlosen Ozean, seht ihr? Nennt sie von mir aus Dateninseln. Wenn die Anzahl der schwarzen Quadrate einen kritischen Wert überschreitet, wird theoretisch die ganze Flä che schwarz. Das ist das Wesen der Perkolation. Schaut nur: Sobald eine Brücke zwei Inseln verbindet, entsteht eine neue, größere Insel.
Wieso?« »Ganz einfach«, sagte Jimmy. »Weil Information plus Information nicht einfach zwei Informationen ergibt, sondern eine ganze Kette neuer Informationen hervorbringt, im günstigsten Fall wachsen sie sogar exponentiell, Information im Quadrat, wenn du es so besser verstehst.« »Werd bloß nicht frech, Jimmy. Brauchst dir nichts darauf einzu bilden, daß ich einen einigermaßen klugen Hund konstruiert habe.« »Genial!« Arc Doorn beugte sich über die Konsole, als wollte er in den Monitor kriechen. »Und wie schnell er das Schema umsetzt. Scheint ihm zu schmecken.« Kontinente und Halbinseln wuchsen auf dem Bildschirm. »Und jetzt verkleinere die Quadrate so weit es geht«, forderte Doorn. Shanton tat, was der Sibirier verlangte. Auf dem Bildschirm überblickten sie nun sämtliche Dateien des Check masters, wie man auf einer Weltkarte die gesamte Erde überblickt. Die gesamte »Landmasse« und sämtliche Inseln waren miteinander verbunden. »Und jetzt lege das Raster ›Dateiautoren‹ darüber.« Shanton tippte einen Befehl ein, »Landmassen«, »Landbrücken« und »Halbinseln« färbten sich ein; überwiegend blau, hier und da gab es größere grüne und gelbe Flächen und ganz vereinzelt auch rote und bernsteinfarbene Einsprengsel. »Und was ist das?« Doorn deutete auf eine kleine, graue Insel. Er wirkte plötzlich sehr zufrieden. »Das ist die Eichel«, sagte Jimmy. »Oder das Unterbewußtsein des Checkmasters.« »Ich werd’ verrückt!« Shanton schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Und jetzt hetzen wir sämtliche Suchprogramme mit allen unseren neuen Ordnungsparametern auf diese Insel.« Doorn legte seine Hand auf Shantons Schulter. »Los, Chris, fang endlich an!« Gegen 15.45 Uhr Bordzeit wußten sie, daß sie es mit einer kleinen Anzahl ungewöhnlich stark komprimierter Dateien zu tun hatten. Um 16.12 Uhr Bordzeit konnten sie die Dateien dem Datensatz zu
ordnen, den die beiden Präsidenten der Akademie von Terra Nostra dem Commander geschenkt hatten. Gegen 17.00 Uhr Bordzeit wuß ten sie, daß n gleich drei war: Aus drei Dateien bestand die Daten insel. Um 18.34 Uhr Bordzeit hatten Doorn und Shanton ein speziel les Dekomprimierungsverfahren entwickelt, und um 19.02 Uhr Bordzeit stand Chris Shanton auf, um in seine Kabine zu gehen und eine der beiden verlorenen Flaschen zu holen; als Anzahlung seiner Wettschulden. »Wir sind fertig«, sagte er zu Ren Dhark, als er an dessen Arbeitsplatz vorbeischlurfte. »Arc und mein Hund hatten recht…« * Ren Dhark selbst öffnete die erste der drei Dateien, und Ent täuschung spiegelte sich in den Gesichtern rund um seinen Sessel: Keine physikalischen Formeln flimmerten über den Arbeitsmonitor, keine Schaubilder über chemische Prozesse im Inneren von Sternen, keine Konstruktionspläne von Transmittern, Generatoren oder sons tigen technischen Anlagen, von denen man sich eine Manipulati onsmöglichkeit solarer Fusionsprozesse erhoffen konnte. Die Datei enthielt keine Informationen über bisher unbekannte Wor gun-Technik, sondern einen Film: Man sah ein Erdloch, man sah einen Scheinwerferkegel, man sah Erdbrocken und Lichtreflexe in einem halbkugelförmigen Metallkörper. »Fehlanzeige«, sagte Dan Riker. »Versuchen wir es mit der näch sten Datei.« »Warte noch.« Dhark hob die Rechte. Ein metallener Gliederarm ragte in die Grube und schaufelte Erde aus ihr. Die Grube wurde tiefer. Hin und wieder erschien ein sich windendes Etwas am Bildrand, das Chris Shanton zunächst für eine Schlange hielt, bis Arc Doorn behauptete, es handele sich um einen Tentakel. Später, als die Halbkugel ihre Grabschaufeln aus dem Er dloch hob und sich aus dem Bild zurückzog, schlängelten sich gleich
drei dieser Tentakel in die Grube hinein. »Tentakel zweier Worgun«, bemerkte Doorn, ohne die geringste Aufregung zu zeigen. Alle anderen rund um den Monitor machten immer größere Au gen, hielten gar den Atem an, knackten mit den Fingergelenken oder bissen sich auf die Unterlippen. Kurz: Die anfängliche Enttäuschung war gewichen und hatte einer gewissen Erregung Platz gemacht. Doorn saß neben dem Commander auf dem Rohrstuhl, hinter Dharks Sessel stand Shanton und links des Commanders Dan Riker. Auch Manu Tschobe, Amy Stewart und die vier Fähnriche, die bei der Suche nach den Dateien assistiert hatten, hatten sich auf den Kommandostand gewagt. Sergio Scaglietti mußte sich auf die Ze henspitzen stellen, um zwischen Shanton und Riker hindurch einen Blick auf den Monitor zu erhaschen. Schweigend betrachteten sie den Film. Im Scheinwerferlicht glänzten jetzt ein paar Würmer und feuchte Erde über einer metal lenen Fläche. Eine kranartige Vorrichtung schob sich ins Bild, mit ihr wieder eine Halbkugel. »Roboter«, kommentierte Doorn. Der Kra narm senkte sich in die Grube, teilte sich und bohrte sich an ihren Rändern in die Erde. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. Metall scheuerte über Metall. »Klingt nach einem Worgun-Idiom, das sich deutlich von der heu tigen Sprache dieses Volkes unterscheidet.« Doorn beugte sich über die Konsole und tippte Befehle in die Tastatur. »Ich aktiviere mal ein Translatorprogramm.« Die Kranzange hob sich langsam, eine lange, metallene Kiste hing zwischen den Greifbacken. Erdbrocken rutschten von ihrem leicht konvexen Deckel, während sie zum Bild Vordergrund und zur Grubenöffnung herauf schwebte. »Ich hätte mich nie darauf einlas sen dürfen«, sagte eine Stimme im Hintergrund. Der Roboter hievte die Metallkiste über den Grubenrand, der Scheinwerferkegel folgte ihr. »Ein Sarg.« Jimmy sprach aus, was alle längst dachten. »Da wird einer exhumiert.« »Ein Worgun, wie es aussieht.« Doorn lehnte sich wieder zurück in
seinen Stuhl. Die Kiste knallte in den Dreck, der Kranroboter öffnete den Deckel, grauer Kunststoff wurde sichtbar, eine Art Sack. Der Kranarm zog sich zurück, bald wanderte ein feineres Werkzeug ins Bild, machte sich am Sack zu schaffen und zog eine Art Reißver schluß auf. Das Scheinwerferlicht fiel auf ein paar dunkle Brocken, die an Wirbelkörper erinnerten, auch ein paar Knorpelfetzen wurden sichtbar und am unteren Ende des Sacks eine schwärzliche, runde Scheibe, nicht wesentlich größer als das Glas einer Sonnenbrille. »Könnte ein Rekorder für akustische und visuelle Daten sein«, sagte der Sibirier, und Shanton wunderte sich ein weiteres Mal über Doorns Einfühlungsvermögen in die Fremdtechnik. Selbst so einem kleinen Gerät ordnete er intuitiv eine Funktion zu. Ein Tentakel griff nach der Scheibe und holte sie aus dem Sack. »Ich wußte es«, sagte eine leise Stimme aus dem Off. »Ich habe es immer gewußt.« Dharks Sessel machte eine halbe Drehung nach links. Er sah zu Riker hinauf. Seine Augen waren schmal, sein Gesicht kantig. »Wo her kennen wir das, Dan?« Der wirkte plötzlich sehr nachdenklich. »Gisol«, murmelte er. »Wenn das nun die Geschichte von diesem Sektengründer ist, die Gisol uns vor drei Jahren erzählte…?« Fragende Blicke vor allem der Fähnriche richteten sich auf den Commander. Doch der wandte sich wieder dem Monitor zu. Auf dem hatte es inzwischen einen Szenenwechsel gegeben. Statt Er dloch, Scheinwerferkegel und Leichensack sah man die kleine Scheibe nun in einer Glasschale unter dem Licht einer Leuchtröhre. Ein Tentakel hielt sie fest, ein zweiter und dritter reinigten sie mit feinen Bürsten von Schmutz und Knorpelspuren. Wieder ein Schnitt, die unförmige Gestalt eines Worgun füllte den Bildschirm aus. Zwi schen der gespaltenen Spitze eines Tentakels hielt er die Scheibe. »Mein Schüler Gilam hatte recht«, dolmetschte das Übersetzungs programm die tiefe Stimme des Worgun. »Das hier ist tatsächlich Osarks Protokollrekorder…«
Über die Schulter sah Ren Dhark zu Riker und Tschobe hoch. Alle drei nickten. »Was hat das zu bedeuten, Sir?« fragte Sergio Scaglietti. Ihm und den anderen Fähnrichen war anzusehen, daß sie schier platzten vor Neugierde. Der Commander hob abwehrend die Hand. »Moment noch.« »… Gilam hat darauf bestanden, die Exhumierung zu filmen, um den Fund zweifelsfrei zu dokumentieren. Diese wenigen Bilder sind als Beweise in einem möglichen Prozeß gedacht. Ich, Gilams Lehrer Hesal, kann die Umstände des Fundes bezeugen. Ich bezeuge auch, daß ich in der vergangenen Nacht in meinem Forschungslabor zu gegen war, als Gilam den uralten Datenträger in meinen Hochleis tungskalkulator integrierte und aktivieren konnte. Gemeinsam und mit eigenen Augen sahen wir, was einst Osark gesehen hatte: gol dene Roboter, das blaue Himmelslicht Baldurs, Worgun mit golde ner Haut und ohne Gesicht, die Festtafel, an der die goldenen Bal duren den einzigen Überlebenden der NYMED bewirteten und kri tisierten. Der mißglückte Hypersprung hat Osark keineswegs den Verstand gekostet, und die Balduren sind keineswegs dem Reich einer kranken Phantasie entstiegene Götter. Es gibt sie wirklich, und Osark hat sie tatsächlich gesehen. Noch heute wird mein Schüler Gilam seine Entdeckung dem Lehrkörper der historischen Zentral akademie für Raumfahrtgeschichte vorführen…« Das Bild löste sich auf, der Monitor verblaßte. Ren Dhark schwang mit seinem Sessel herum und blickte in erwartungsvolle Gesichter. »Es war im Juni 2059, nicht lange nachdem wir Simon den Wächter getroffen hatten. Gisol schilderte damals die Erlebnisse des ersten Worgun, der je ein Raumschiff mit Transitionsantrieb befehligte. Das Schiff hieß NYMED, der erste Hypersprung in der Geschichte der Worgun mißglückte, die NYMED mußte auf einem unbekannten Planeten notlanden oder, was wahrscheinlicher ist, wurde zur Lan dung gezwungen. Nur der Kommandant überlebte: Osark. Das ist fast eine Millionen Terra-Jahre her. Was Osark erlebte, habt ihr eben gehört. Niemand glaubte ihm, als er zum Mutterplaneten der Wor
gun zurückkehrte, nach Epoy. Er wurde als Spinner abgetan; jene, die ihm glaubten, als Sektierer. Tausend Jahre nach seinem Tod forschte ein junger Worgun-Historiker über die gescheiterte Mission. Er hieß Gilam…« Mit einer Kopfbewegung deutete Dhark auf den Monitor. »Okay, den Rest habt ihr ja gerade selbst gesehen und ge hört.« Er stieß sich mit dem Fuß ab, sein Sessel schwang um eine halbe Drehung zurück. »Öffnen wir die nächste Datei.« Der Com mander tippte einen Befehl ein. Die Gestalt eines Worgun erschien auf dem Monitor, stellte sich als Hesal vor und kündigte einen Überblick über eine halbe Millionen Epoy-Jahre Geschichte an. »Ein Epoy-Jahr ist um sechsundzwanzig Erdentage kürzer als ein Terra-Jahr«, erklärte Doorn für die Fähnri che. Eine Liste von Zahlen und Stichworten in Worgun-Sprache über blendete den Worgun-Wissenschaftler. Aus dem Off kommentierte er die schriftlichen Angaben, die in einem uralten Zeichensystem gehalten waren, das die heutigen Worgun nicht mehr verwendeten und das den Menschen daher unbekannt war. »Mistkram!« blaffte Shanton. »Wieder nichts.« Er gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. »Übertreib nicht, Chris!« tönte Jimmy. »Keine Sonnentechnik, okay, aber ›nichts‹ würde ich das nicht nennen.« »Wir haben noch eine dritte Datei«, tröstete Doorn. Die zweite Datei war fünfundvierzig Jahre jünger als die erste. Sie enthielt im wesentlichen eine Auflistung bedeutender Ereignisse in der Geschichte der Worgun-Raumfahrt. Die Jahrtausende bis zum ersten bemannten Flug zum Nachbarplaneten wurden nur kurz ab gehakt, die wenigen Jahrhunderte bis zur Mission der NYMED und dem ersten Transitionsversuch ziemlich ausführlich. Die Angaben danach waren eher spärlich. In den tausend Jahren zwischen dem gescheiterten Kommandounternehmen Osarks und seiner Exhu mierung war offenbar wenig passiert in Sachen Raumfahrt. Zwar fanden regelmäßige Expeditionen zu den Planeten innerhalb des
worgunschen Heimatsystems Fora statt, der Unterlichtantrieb wurde optimiert und einige Biosphären auf den Nachbarplaneten errichtet, aber die Worgun wagten keinen zweiten Versuch, durch den Hy perraum aus dem Heimatsystem zu springen. »Unglaublich!« ent fuhr es dem Commander. »Hatten sie Angst?« Wie die meisten schüttelte auch Shanton den Kopf. »Oder haben sie einfach nur gepennt?« Die Tabellen und Listen verblaßten und machten dem Kom mentator Platz. »Drei Jahre nach Osarks Exhumierung und der Ent deckung seines Protokollrekorders setzte sich in der Regierung Epoys die Fraktion der Fortschrittlichen durch«, erklärte Hesal. »Osark wurde rehabilitiert, und man beschloß, den seit tausend Jahren auf Eis gelegten Hypersprungantrieb zu überarbeiten und ein zweites Mal einzusetzen. Einige seiner technischen Komponenten wurden verbessert, so daß diesmal eine erfolgreiche Transition zu erwarten war. Innerhalb von zwölf Jahren wurde ein Spezialschiff gebaut, die OSARK. Das Kommando legte die Regierang in die Hände des erfahrenen Astronauten Woymet. Er sollte den Spuren Osarks folgen und Baldur finden. Mein Schüler Gilam nahm als Erster Offizier an der Expedition teil. Das von ihm geführte Logbuch ist in der Datei ›Baldur‹ dokumentiert…« Das Konterfei des Worgun verblaßte. Die Finger des Commanders flogen über die Tastatur, um die dritte Datei zu Öffnen. »Wie es aussieht, wird auch sie nichts über Sonnentechnik enthalten. Schade. Wir übertragen die Daten diesmal auf die zentrale Bildkugel.« »Tausend Jahre!« Shanton staunte noch immer. »Tausend Jahre nach dem ersten Hypersprung haben sie die überlichtschnelle Raumfahrt noch immer nicht im Griff! Ich kann es kaum glauben!« »Ich verstehe es auch nicht«, sagte Ren Dhark. »Wieviel Zeit ver ging auf Terra zwischen der Erfindung der Dampfmaschine bis zum ersten Überlichtraumschiff mit ›Time‹-Antrieb?« »Die erste Niederdruckdampfmaschine hat ein gewisser James Watt in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts kons
truiert, Sir«, sagte Sergio Scaglietti. »Und schon gut zweihundertfünfzig Jahre später verließen unsere Väter mit einem Überlichtantrieb das Sonnensystem!« Der Com mander breitete die Arme aus. Auf dem Monitor vor ihm erschien ein Schriftzug, den der interne Translator des Checkmasters mit ›Baldur‹ übersetzte. »Stellen Sie sich das bitte vor! Aber die Worgun machten in tausend Jahren keinen nennenswerten Fortschritt! Was halten wir denn davon?« »Nun, Ren – bedenken Sie, daß die Worgun eine über zehnmal höhere Lebenserwartung haben als die Menschen.« Arc Doorn schlug einen beschwichtigenden Ton an. »Wer neunhundert Jahre alt werden kann, meidet vermutlich gern das Risiko. Immerhin hat er mehr zu verlieren als einer, der nur achtzig Jahre alt wird. Außerdem haben wir schon hin und wieder vermutet, daß dieses Volk geistig… hm… sagen wir: ein wenig unbeweglich ist. Sie mögen es langsam, haben ja auch mehr Zeit. Und schließlich: Sind wir doch froh über die neuen Einsichten. Beweisen sie doch, daß wir Menschen uns nicht vor den Worgun verstecken müssen. Im Gegenteil…« Die Sternenkonstellation in der Bildkugel im Zentrum der Kom mandobrücke erlosch, ein Datum und ein Schriftzug flimmerten in dem fast drei Meter durchmessenden Hologramm: Baldur… * 0.57 Uhr Bordzeit. Knapp 24 Stunden noch bis zur Landung auf dem Raumhafen Cent Field, Terra. Aggregate summten leise, im Hintergrund und kaum wahrnehmbar rauschte die Klimaanlage, irgend jemand sog scharf die Luft ein. Sonst war es still in der Zent rale. Alle hatten den Kommandostand verlassen, und wer von der diensthabenden Besatzung nicht durch das laufende Manöver ab gelenkt war, beobachtete fasziniert die Aufnahmen in der Bildkugel. Ein gutes Dutzend Männer und Frauen hatten sich um das große Hologramm versammelt.
Das Raumschiff in der Bildkugel stand unter einem exotisch blauen Himmel. Im Hintergrund und auf der rechten Seite des Raumhafens sah man mächtige Kuppelbauten und Türme, die an Trompeten und Muscheln und an eine Kombination beider erinnerten. So auch das Schiff selbst: Halbwegs kuppelförmig sah es aus wie der grindige Buckel eines mit Muscheln bedeckten und von Harpunen gespickten Wals. Genauso fremdartig wie Raumer und Bauten wirkten die Schriftzeichen am oberen Pol des Hologramms. »Können Sie eine Option für die Textübersetzung einpro grammieren?« fragte der Commander. »Kein Problem.« Schon beugte Arc Doorn sich über die Tastatur. »Da steht ›Epoy‹ und eine verdammt hohe Jahreszahl, Augenblick noch – ich stelle das so ein, daß der Checkmaster die Worgun-Daten in unsere Zeitrechnung überträgt.« Zwei Minuten später – Feuer und Rauch hüllten inzwischen das Schiff ein – konnten es alle lesen: Epoy, 3. Tag des 5. Monats, 979.814 v. Chr. »Heilige Jungfrau!« entfuhr es Sergio Scaglietti, dem sizilianischen Fähnrich. »Wir sehen eine fast eine Million Jahre alte Videodatei!? Ich fasse es nicht!« »Schon ein Weilchen her, nicht wahr?« sagte Dan Riker. »Damals hielten unsere Vorfahren Baumkronen noch für kom fortable Unterkünfte…« Mit einer herrischen Geste brachte Arc Doorn sie zum Schweigen. Eine Kommentatorenstimme ertönte aus dem akustischen System des Hologramms, »…der Start verlief reibungslos und planmäßig«, dolmetschte der Translator. »Außer Woymet und mir befinden sich siebzehn Besatzungsmitglieder an Bord. Wir alle haben vollstes Vertrauen in die OSARK. Die Technik des Schiffes ist in zwölf Jahren intensiver Arbeit gereift.« Das Trompetenkuppelmuschelschiff hob ab. Wie ein surrealistisches Traumbild stieg es in den Blauhimmel von Epoy. Foru-System, 9. Tag des 5. Monats, 979.814 v. Chr.
Im Zentralhologramm glitzerte eine blaue Sonne, nicht viel größer als ein Stecknadelknopf – die Perspektive der Außenkameras des Worgun-Schiffes. »Die OSARK kreuzt heute die Bahn von Lurpan, dem äußersten der vierzehn Planeten unseres Heimatsystems. Noch drei Stunden bis zur Transition. Wir sind aufgeregt, alle. Doch was soll schon geschehen? Zwölf Jahre Zeit haben unsere Techniker sich genommen, um den Hypersprungantrieb zu verbessern, mit dem Osark einst verunglückte. Er wurde dreimal getestet – wenn auch nur virtuell – und niemand von uns rechnet mit einem zweiten Scheitern.« Der Kommentator schien sich selbst Mut zusprechen zu wollen. Ein Lichtjahr vor Ugal 17 im Sternbild der Roten Quelle, 10. Tag des 5. Monats, 979.814 v. Chr. »Der erste gelungene Hypersprung in der Geschichte der Worgun! Wir feiern. Die OSARK hat keinerlei Schaden genommen, niemand wurde verletzt, und wir stehen exakt an den vorgesehenen Koordi naten, zweikommasieben Lichtjahre von der Grenze des heimatli chen Systems entfernt. Woymet hat die Erfolgsmeldung an die Heimatbasis auf Epoy funken lassen. Die Glückwünsche von zu Hause sind bereits eingegangen. Nun wagen wir es und folgen wei ter dem Kurs des Pionierschiffes NYMED. Der nächste Hypersprung wird uns gleich zwanzig Lichtjahre in die Tiefen Orns hineintra gen…« 0,7 Lichtjahre vor WE 2/88 im Sternbild der Dreifachen Fruchtkapsel, 29. Tag des 5. Monats, 979.814 v. Chr. »Erst siebenundzwanzig Tage im All und bereits neunhundertsie benunddreißig Lichtjahre zurückgelegt!« Der Translator gab sogar die Euphorie wieder, die in den Worten des Kommentators schwang. Gilam und die Besatzung des Pionierschiffes schienen triumphiert zu haben. »Gestern über Hyperraum einen Funkspruch nach Epoy abgesetzt. Bis jetzt keine Antwort. Disziplin an Bord vorbildlich. Jeder einzelne auf der OSARK fühlt sich als Held, und jeder an Bord ist ein Held. Noch nach Tausenden von Generationen werden die
Geschichtsschreiber unsere Namen mit Ehrfurcht weitergeben! Woymet hat eine Ruhepause von drei Tagen verordnet. Danach sollen die Triebwerke gewartet werden, und anschließend nehmen wir die letzte Etappe der glorreichen Reise in Angriff, auf der Osark uns vorausflog. Diesmal dreihundertsieben Lichtjahre auf einmal…« Osark 1 im Sternbild des Großen Tentakelrings, 4. Tag des 6. Monats, 979.814 v. Chr. »Der Stern dieses Systems ist ein Weißer Zwerg und trug als Be zeichnung bisher das Kürzel der astronomischen Außenstelle auf Lurpan samt der entsprechenden Katalognummer. Wir aber haben ihn nach jenem Worgun benannt, der mit seinem Schiff als erster unseres Volkes in dieses System einflog, nach dem großen Osark. Woymet funkte die Benennung persönlich nach Epoy. Selbst wenn wir niemals zurückkehren sollten, so werden wir dem größten Raumfahrtpionier aller Zeiten dennoch ein bleibendes Denkmal gesetzt haben. Woymet hat angeordnet, zunächst mit 0,01 Prozent Lichtge schwindigkeit Richtung Zentralgestirn zu fliegen. Er hält es für an gemessen, das System präzise zu vermessen und zu untersuchen, bevor wir auf einem der Planeten landen. Ich selbst habe ihm dazu geraten.« Osark 1 im Sternbild des Großen Tentakelrings, 17. Tag des 6. Monats, 979.814 v. Chr. Zum Greifen nahe schwebte ein gelber Ringplanet im Hologramm. »Nur vier Planeten umkreisen Osark 1. Den äußeren und größten, einen Gasriesen, haben wir nach dem Vorsitzenden des erhabenen Wissenschaftsrates ›Hesal‹ getauft. Der zweite, ein gelblich leuch tender Wüstenplanet mit sieben Ringen und der zehnfachen Masse Epoys, heißt seit heute nach dem Kommandanten der OSARK – ›Woymet‹. Der dritte Planet hat eine Atmosphäre aus Stickstoff und Kohlendioxid und in etwa die Masse von Epoy. Woymet hat mir vorgeschlagen, ihn Gilam zu nennen. Das macht mich sehr stolz. In zwei Tagen, wenn wir seine Umlaufbahn kreuzen und ihn in gerin
ger Entfernung passieren, werde ich ihn selbst taufen. Über den vierten Planeten, den innersten, können wir noch nicht viel sagen; er ist noch zu weit entfernt. Nur eines scheint gesichert: Er ist sehr dicht, besteht zu einem großen Teil aus einem relativ schweren Metall und strahlt in einer Helligkeit, die der seines Zent ralgestirns nur um weniges nachsteht…« Osark 1 im Sternbild des Großen Tentakelrings, 2. Tag des 7. Monats, 979.814 v. Chr. »Ungeheuerliches ist geschehen: Der innerste Planet von Osark 1 hat seine Umlaufbahn verlassen!« Ein Ruck schien durch die Männer und Frauen vor dem Holo gramm zu gehen, Ausrufe des Erstaunens wurden laut. »Da!« rief einer der Fähnriche und deutete auf das Sternengefunkel in der Bildkugel. Und jetzt sahen es alle: Ein kugelförmiger Körper raste durch das Bild. »Er leuchtet, als würde er brennen!« sagte jemand. Und dann wieder die Stimme des Translators: »Statt in das Zentralgestirn zu stürzen, kreuzte er die Bahn Gilams, beschleunigte, raste über die Umlaufbahnen Woymets und Hesals hinaus und verließ dieses Sonnensystem. Einige Minuten lang konnten wir ihn so exakt orten, daß kein Zweifel blieb: Dieser Planet besteht aus Gold! Ein Planetenraumschiff aus Gold! Hat ein Wor gun-Auge jemals Vergleichbares gesehen…?« Die Veteranen der POINT OF sahen einander an. Sie mußten keine Worte verlieren – jeder wußte, woran der andere dachte: An jenen Tag Ende Oktober 2059, als sie aus der Galaxis Orn in die Milchstraße zurückkehren wollten und im intergalaktischen Raum ein goldenes Planetenraumschiff orteten… Osark 1 im Sternbild des Großen Tentakelrings, 13. Tag des 7. Monats, 979.814 v. Chr. »Woymet hat eine große Datei erstellen lassen: Die Ausmaße des Osarksystems, die Daten seiner Planeten und Monde und vor allem die Aufnahmen von dem goldenen Planetenraumschiff. Per Richt funk und über den Hyperraum ist das Paket nach Epoy abgestrahlt
worden. Selbst wenn es den Hyperraum nicht unbeschadet über steht, und selbst wenn wir niemals zurückkehren sollten, so wird doch die Nachricht von der Existenz dieser Sonne und ihrer Planeten und von der Existenz des goldenen Planetenraumschiffs die Heimat erreichen. In spätestens 1 247 Jahren…« Osark 1 im Sternbild des Großen Tentakelrings, Planet Gilam, 21. Tag des 7. Monats, 979.814 v. Chr. »Auf Gilam haben wir ein großes Objekt aus Metall geortet. Die OSARK ist nicht dafür konstruiert, auf Planeten oder Monden zu landen. Kommandant Woymet hat jedoch drei Beiboote aussetzen lassen. Ich fliege mit ihm.« Gilam im System Osark 1,23. Tag des 7. Monats, 979.814 v. Chr. »Ein Beiboot ging bei der Landung verloren. Es zerschellte an ei nem Gletscher, den sein Kommandant irrtümlich für eine sandige Hochebene hielt. Drei Gefährten verbrannten. Wir konnten nur ein wenig Asche in drei Urnen abfüllen. Wenn uns Start und Rückflug zur OSARK gelingen sollte, können wir wenigstens diese Spuren der gefallenen Helden übergeben. Das Metallobjekt ist ein Raumschiff, kann nur ein Raumschiff sein. Seine Ausmaße und Form müssen einem genialen Nervensystem entsprungen sein: Es sieht aus wie ein gewaltiger Ring. Der Ring körper selbst hat einen kreisförmigen Querriß von etwa achtund zwanzig Metern Durchmesser, und der Kreis, den er bildet, mißt gut hundertfünfzig Meter. Der tapfere Woymet will versuchen, in das Schiff einzudringen…« Gilam im System Osark 1, 30. Tag des 8. Monats, 979.814 v. Chr. »Viele Tage hat es gedauert – endlich haben unsere Ingenieure und Physiker es geschafft: Sie konnten das fremde Schiff starten! Seine Technik ist der unseren in schwindelerregendem Ausmaß überlegen. Es verfügt über Hyperraumantrieb und infernalische Waffensyste me. Die Götter Orns mögen uns gnädig sein und schenken, daß wir es samt der OSARK zurück nach Epoy steuern können…«
*
»Wie es aussieht, sind sie heil zu ihrem Muttersystem zurück gekehrt.« Doorn stieg die Stufen zum Kommandostand hinauf. Im Hologramm schrumpfte der weiße Stern, den Gilam und sein Kommandant vor fast einer Millionen Jahren »Osark« getauft hatten. Das Sternenmeer der Galaxis Orn wurde dichter, ähnelte bald einem Nebelschleier. Schließlich ein Schriftzug und ein Datum – Epoy, 3. Tag des 1. Monats, 979.815 v. Chr. –, das vorletzte Bild zeigte die in einer Umlaufbahn um die Worgun-Welt zurückbleibende OSARK und das letzte den gelandeten Ringraumer auf einem Raumhafen von Epoy. Schließlich löste sich die Projektion innerhalb der Holog rammkugel auf. »Ich möchte noch einmal das Innere des Ringraumers sehen.« Ren Dhark wandte sich an Doorn. »Können Sie zurückgehen?« »Kein Problem.« Sekunden später konnten sie noch einmal die Aufnahmen der Kamera sehen, die jenem Worgun-Team folgte, das zum erstenmal in der Geschichte der Mysterious einen Ringraumer betrat. Ein Muster von Schweißnähten kleidete die Gangwände aus, die Instrumentenkonsolen wirkten wuchtig, die Schalter, Hebel, Kontrollschirme und -leuchten klobig und sperrig, und die Sessel in der Kommandozentrale sahen aus wie zurechtgebogene Zinkwan nen. »Ziemlich alter Kahn«, raunzte Shanton. »Würde dir irgendwie gut stehen«, tönte sein Roboterterrier. Die Kamera glitt über Schaltpulte und Monitore, verharrte über Instrumenten und ihren Armaturen. »Alt, sicher.« Ren Dhark stand auf. »Aber die Grundkonstruktion entsprach schon den modernen Ringraumern, wie wir sie kennen.« »Die Steuerkonsolen und die Instrumentenanordnung unter scheiden sich tatsächlich nicht großartig von unserer hier.« Dan Ri ker betrachtete noch immer die Aufnahmen im Hologramm. »Allzuviel Mühe und Geld scheinen sie nicht in die Weiterent
wicklung investiert zu haben, unsere geheimnisvollen Gönner und Förderer.« »Vielleicht waren diese Ringraumermodelle schon ähnlich ausge reift wie die heutigen«, gab Anja Riker zu bedenken. »Glaubst du das wirklich?« Der Commander stieg zum Kom mandostand hinauf und ließ sich dort in seinen Sessel fallen. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.« Mit einer Geste bedeutete er Arc Doorn, die Datei endgültig zu schließen. »Denk doch nur an die Nachfahren der Römer auf Terra Nostra. Wie lange brauchten sie, um die Ringraumer zu den in fast jeder Hinsicht leistungsfähigeren neuen Ovoid-Raumern weiterzuentwickeln? Ein paar hundert Jahre, mehr nicht. Nein, ich bin…« Er zuckte mit den Schultern, »…ich bin enttäuscht, möchte ich fast sagen.« »So geht es mir auch.« Dan Riker ließ sich auf den Stufen zum Kommandostand nieder. »In diesem Nachlaß finden wir sicher keine Daten, Formeln und Konstruktionspläne, auf deren Basis wir unserer guten alten Sonne wieder einheizen könnten. Die Hoffnung sollten wir vergessen.« »Nicht so schnell, Dan, nicht so schnell.« Ren Dhark rieb sich nachdenklich die Stirn. »Ich begreife es nicht!« Arc Doorn schlug mit der flachen Hand auf die Konsole vor dem Arbeitsmonitor. »Sollten diese Quallenhirne tatsächlich so träge sein? So einfallslos und faul?« Richtig laut wurde der Sibirier; Zorn hatte ihn gepackt. »Klugscheißer, verdammte! Sie geben vor, etwas zu sein, was sie gar nicht sind…!« »Gemach, gemach, Arc.« Ren Dhark machte eine Geste der Be schwichtigung. »Habe ich denn nicht recht, Dhark?« Beifallheischend sah der Rothaarige in die Runde. »Ist es etwa nicht wahr? Sie sind gar nicht so mysteriös, wie sie immer tun! Die Goldenen – das sind unsere Leute! Sie sind die wahren Mysterious! Die müssen wir suchen!« Ein paar Atemzüge lang sprach niemand ein Wort in der Kom mandozentrale. Bis Amy Stewart irgendwann das Schweigen brach.
»›Balduren‹ – bedeutet das im Worgun-Idiom nicht ›die Geheim nisvollen‹?« »Korrekt«, sagte Arc Doorn. Der Commander blickte auf die Zeitangabe in der Fußleiste seines Monitors. »Gleich halb drei. Wer keinen Dienst hat, sollte jetzt schlafen gehen. In zweiundzwanzig Stunden erreichen wir Terra.« Er wandte sich an Doorn und Shanton. »Gute Arbeit, meine Herren. Danke. Dürfte ich Sie trotzdem bitten, morgen noch einmal nach verborgenen Patches zu suchen? Vielleicht gibt es noch mehr komp rimierte Dateien in den Tiefen des Checkmasters.« Doorn und Shanton verständigten sich durch einen Blick. Beide nickten. Um acht Uhr Bordzeit saßen sie wieder im Kommandostand und jagten ihre Suchprogramme durch den Hyperkalkulator. Sie arbeiteten bis 21.25 Uhr – und fanden keine einzige weitere ver steckte Datei. Müde und resigniert suchten sie danach ihre Kojen auf. Um 22.12 Uhr Bordzeit zählte Hen Falluta die Sekunden bis zum letzten Hypersprung herunter; um 23.06 Uhr Bordzeit passierten sie die Jupiterbahn, und um 0.39 Uhr Bordzeit leitete Ren Dhark per sönlich die Landung auf Cent Field, Alamo Gordo ein. »Transitionsimpuls«, meldete Tino Grappa. »Ein einzelner Ring raumer…« Er gab die Koordinaten durch, und Dhark bestätigte. Reine Routine. Das Schiff war auf der anderen Seite des Sonnensys tems aus dem Hyperraum getreten, irgendwo jenseits der Plutobahn. Der Commander hakte die Meldung ab. Was ging ihn das an? Sache der Raumüberwachung und Flugkontrolle. Mit seinen Gedanken war Ren Dhark längst bei Trawisheim. Wie er den Regierungschef kannte, würde er sie noch in dieser Nacht empfangen und sprechen wollen. Dhark sah dem Gespräch mit gemischten Gefühlen entge gen… * Meldungen aus den einzelnen Abteilungen abwarten, Meldungen
bestätigen, Triebwerke abschalten, Durchsage an die Besatzung – »Commander an alle: Wir sind auf Cent Field gelandet« – reine Rou tine. Mit der zweiten Durchsage ließ Dhark den Rahmen des Ge wohnten hinter sich: »Niemand verläßt die POINT OF, den ich nicht ausdrücklich dazu auffordere.« Sekunden später eine Meldung aus der Funkzentrale. »Yogan an Commander, Mr. Trawisheims Büro will Sie sprechen.« »Stellen Sie durch.« Das Konterfei eines knapp Dreißigjährigen er schien auf seinem Monitor, gestriegelt, gescheitelt und mit Fliege und Dreiteiler gerüstet. Ein Sprecher von Henner Trawisheim. Dhark kannte ihn flüchtig, hatte aber seinen Namen nicht gleich parat. »Herzlich Willkommen auf Terra, Commander Dhark.« »Danke. Ich nehme an, Sie wollen einen Termin für ein Treffen mit Ihrem Chef vereinbaren.« »So ist es Sir.« Der Mann lächelte, wie ein glattrasierter Fuchs lä cheln könnte. Jetzt fiel Dhark auch der Name wieder ein: Smooth. Roger Smooth. »Der Commander der Planeten schlägt zwei Uhr vor.« Dhark sah auf die Monitoruhr. Noch über eine Stunde Zeit bis da hin. »Einverstanden. Wo?« »In seinem Büro. Ich schicke einen Gleiter.« »Machen Sie das.« Dhark unterbrach die Verbindung. Er rief die Funkzentrale. »Hören Sie, Yogan – Doorn und Shanton und das Ehepaar Riker schlafen noch. Seien Sie so freundlich, und wecken Sie die Herrschaften. Ich möchte, daß sie mich um zwei Uhr zu einem Termin bei Trawisheim begleiten. Ich erwarte sie um viertel vor zwei an der Hauptschleuse.« »Verstanden, Sir.« »Schauen Sie sich das an, Ren!« Grappa im Ortungsstand rief nach ihm. Er deutete auf die Bildkugel. Fünf Ovoid-Ringraumer hoben in knapp zwei Kilometer Entfernung mit atemberaubender Beschleu nigung vom Flugfeld ab und bohrten sich in den Nachthimmel. Drei
Wimpernschläge, und weg waren sie. »Ein Alarmstart!« rief Grappa. »Da ist doch irgendwas im Busch!« »Commander an Funkzentrale! Verbinden Sie mich mit dem Kontrollturm!« Sekunden später meldete sich der Chef der Raum hafenkontrolle bei ihm. »Wir haben gerade fünf Ovoidraumer bei einem Alarmstart beobachtet. Gibt es ein Problem?« »Wissen wir noch nicht, Sir«, sagte der Offizier. »Ein fremder Ringraumer steuert die Plutobahn an. Er hat um Landeerlaubnis für Cent Field gebeten.« »Ich will nicht aufdringlich sein, aber was daran erscheint Ihnen so gefährlich, daß Sie gleich fünf Ovoids auf den Besucher hetzen?« »Wir hetzen niemanden auf einen Besucher, wir schicken ihm nur eine Eskorte entgegen, die ihn unter die Lupe nimmt und gegebe nenfalls zur Erde geleitet. Ich habe da meine Vorschriften, Sir. Im merhin sind Schiff und Kommandant bei uns hier nicht registriert.« »Verstehe. Hat das Schiff einen Namen?« »ASGOR. Sein Kommandant nennt sich…« »Dalon?!« »Korrekt, Sir! Woher wissen Sie das?« »Wir kennen Dalon gut. Er ist ein Freund der Menschheit. Ich schicke Ihnen ein aktuelles Bild von ihm. Wenn Sie den Kom mandanten der ASGOR darauf erkennen, erteilen Sie ihm bitte die Landeerlaubnis. Ich verbürge mich persönlich für ihn.« »Also gut, Sir. Wir warten auf das Foto. Ende.« Dhark setzte sich mit der Funkzentrale in Verbindung. »Sie haben mitgehört, Yogan?« »Ja, Sir. Die Daten sind schon unterwegs.« »Danke.« Der Commander erhob sich, stieg aus dem Kom mandostand und die Treppe zur Galerie hinauf. Auf leisen Sohlen betrat er seine Privatkabine. Es war dunkel und roch nach Frau. Amy schlief noch. Er zog sich aus und kroch zu ihr unter die Decke. Sie war nackt, und ihre Haut fühlte sich an wie heißes Wildleder. Zärt lich küßte er sie wach. »Wir haben ein Date bei Trawisheim, Herz«,
flüsterte er. »Ich wäre froh, wenn du mich begleitest.« Sie streckte sich. »Wieviel Zeit haben wir noch?« »Knapp vierzig Minuten.« »Wie schön.« Sie öffnete die Arme. »Komm zu mir…« Zehn vor zwei trafen sie die Rikers, Shanton und Doorn an der Hauptschleuse. Wie meist wollte Chris Shanton auch für diesen Nachttermin nicht auf die Begleitung seines Roboterhundes ver zichten. Und wie meist akzeptierte es der Commander. Sie verließen die POINT OF. Noch beherrschten gewisse Düfte, Bilder und Empfindungen Dharks Hirn. Er tastete noch einmal nach Amys Hand und drückte sie. Nach und nach drängten sich wieder die aktuellen Themen in sein Bewußtsein: die Balduren, die Sonne, Dalon und Trawisheim. Unten an der Rampe wartete bereits der Regierungsgleiter. Sie stie gen ein, Dhark vorn beim Fahrer. Quer über das Flugfeld rasten sie Richtung Alamo Gordo. Drei Kilometer hinter ihnen landeten sechs Schiffe: ein fremder Ring raumer und seine Eskorte aus fünf Ovoid-Raumern. Nichts Unge wöhnliches. Niemand im Gleiter achtete auf die kleine Flotte. Dhark flüsterte mit dem Fahrer. Niemand verstand das leise Gespräch, und niemand interessierte sich groß dafür. Die fünf Männer und Frauen im Fond des Gleiters hingen noch ihren sich auflösenden Träumen nach oder den letzten Resten eines zärtlichen Gefühls, oder sie kämpften noch gegen die Bettschwere in ihren Gliedern. Die Nacht war kurz gewesen. Nach zehn Minuten etwa erreichten sie das Regierungsviertel und kurz darauf den Regierungspalast. Der Fahrer steuerte den Gleiter durch ein Panzerschott in die Tiefgarage. Mit dem Lift fuhren sie zu der Ebene hinauf, in der Trawisheims Empfangszimmer und Büro lagen. Wenn er auch den größten Teil seiner eigenen Amtszeit im All zugebracht hatte, kannte Ren Dhark sich dennoch bestens aus hier oben. Vertraut allerdings waren sie ihm nicht, die Gänge, Wände, Zimmer und Möbel.
Im Büro des Regierungschefs erwarteten sie Eylers, Monty Bell und Marschall Bulton. Und Trawisheim natürlich. Man erhob sich, man schüttelte einander die Hand, man erkundigte sich nach der Reise, nach dem persönlichen Ergehen und so weiter und so fort. Die Be grüßung zwischen Trawisheim und Dhark fiel zwar nicht gerade frostig, aber doch sehr förmlich aus. Freunde würden die beiden Männer in diesem Leben wohl nicht mehr werden. Es gab einen Imbiß, es gab Kaffee und Tee – und für Chris Shanton sogar einen Cognac. Auch sonst hatte Trawisheim keine Mühe ge scheut, die diplomatische Ampel auf Grün zu stellen. »Wir sollten anfangen«, sagte Dhark irgendwann. »Die Zeit ist knapp, wenn ich Sie richtig verstanden habe.« »Einen Moment, bitte.« Dharks Nachfolger stand auf. »Ich erwarte noch jemanden.« Lächelnd ging er zur Tür. »Einen Über raschungsgast, wenn Sie so wollen. Von seinem Rat verspreche ich mir viel für die Lösung unseres Problems.« Er ging ins Vorzimmer, ließ die Tür aber halb offen stehen. Bald hörten sie Stimmen, und zwei Minuten später kam Tra wisheim zurück in sein Büro. An seiner Seite – Dalon. Alle erhoben sich, um ihn zu begrüßen. Nur Doorn blieb sitzen, als wäre er auf der Sesselkante angefroren. Dhark beobachtete es aus den Augenwinkeln: Starr vor Schreck erschien ihm der Sibirier plötzlich. Es blieb ihm kleine Gelegenheit, sich groß über das Verhalten sei nes Fremdtechnikspezialisten zu wundern. Denn die nächste Über raschung bahnte sich bereits an, und sie verschlug ihm ganz und gar die Sprache: Dalon blieb nämlich im Türrahmen stehen, auch er auf einmal wie festgefroren, und seine Miene zeigte grenzenloses Stau nen. »Du…?« flüsterte er. »Bist du es wirklich, Arcdoorn…?« Zwei bleierne Sekunden lang herrschte Schweigen im Büro des Regierungschefs. Niemand begriff, niemand atmete. Dann machte Dalon drei schwere Schritte auf den Rothaarigen zu. Breitbeinig blieb
er vor ihm stehen, kopfschüttelnd und mit offenem Mund, gerade so, als ringe auch er um seine Sprache. »So sieht man sich wieder… nach mehr als zweitausend Jahren!« Ein Universum Release