T. Berry Brazelton Stanley I. Greenspan
Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern Was jedes Kind braucht, um gesund aufzu...
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T. Berry Brazelton Stanley I. Greenspan
Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein s&c by AnyBody Amerikas anerkannteste Experten auf dem Gebiet der Kinderheilkunde und Kinderpsychiatrie beschreiben in diesem Buch - erstmals gemeinsam - die elementaren Bedürfnisse des Kindes, ohne die Kinder nicht wachsen, lernen und gedeihen können. Und sie ziehen daraus die Konsequenzen, wie sie sich für die Erziehung, für das Familienleben, für die Kinderbetreuung, das Schulsystem, die Sozialdienste und unser Gesundheitswesen ergeben. Folgende sieben elementare Bedürfnisse bilden die Bausteine der emotionalen, sozialen und geistigen Fähigkeiten unserer Kinder: Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen, nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit, nach individuellen Erfahrungen, nach entwicklungsgerechten Erfahrungen, nach Grenzen und Strukturen und stabilen und unterstützenden Gemeinschaften, nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit.
ISBN 3 407 85792 6 Originaltitel: The Irreducible Needs of Children What Every Child Must Have to Grow, Learn and Flourish Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Vorspohl © 2002 Beltz Verlag, Weinheim und Basel Umschlaggestaltung: Federico Luci, Köln Umschlagillustration: photonica, Hamburg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Klappentext »Die Grundbedürfnisse, die wir beschreiben wollen, betreffen sowohl Erfahrungen als auch bestimmte Formen der Fürsorge und Betreuung, auf die jedes Kind ein Recht hat. In einer Wohlstandsgesellschaft wie der unsrigen hat niemand von uns das Recht, diese Grundbedürfnisse zu ignorieren. Sobald wir sie jedoch genauer, wie in diesem Buch geschehen, definieren und praktische Konsequenzen daraus ziehen, wird zugleich deutlich, dass viele Familien und viele kleine Kinder von unserer heutigen Gesellschaft im Stich gelassen werden. Als Ärzte, denen das Wohlergehen der Kinder zutiefst am Herzen liegt, können wir die Selbstgefälligkeit, mit der diese Situation stillschweigend geduldet wird, nicht länger tolerieren. Erreichen können wir unser Ziel langfristig nur, wenn wir den Grundbedürfnissen der Kinder, von denen in diesem Buch die Rede ist, neben den Menschenrechten die höchste internationale Priorität als ›Recht‹ eines jeden Individuums einräumen.«
Die Autoren
T. Berry Brazelton, Kinderarzt und Begründer der Abteilung für Kinderentwicklung an der Kinderklinik in Boston, ist emeritierter Professor für Kinderheilkunde an der Harvard Medical School. Als weltweit einer der bekanntesten und erfahrensten Autoren zum Thema der körperlichen und psychischen Entwicklung des Kindes veröffentlichte er zahlreiche Bücher für Fachleute und Eltern.
Stanley I. Greenspan ist Professor für Psychiatrie und Kinderheilkunde an der George-Washington-Universität. Als praktizierender Kinderpsychiater und Kinderpsychoanalytiker entwickelte er ein weltweit bekanntes Modell für die Behandlung von Säuglingen und Kindern mit Entwicklungsstörungen und emotionalen Problemen. Seine zahlreichen Buchveröffentlichungen richten sich an Ärzte, Psychoanalytiker, Psychologen und Eltern.
Für Christine Lowell Brazelton und Nancy Thorndike Greenspan
Die Autoren danken Merloyd Lawrence, durch dessen Einsicht und Hingabe viele Visionen Wirklichkeit werden konnten
Inhalt Klappentext .......................................................................... 3 Die Autoren .......................................................................... 4 EINFÜHRUNG ............................................................................ 7 1. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH BESTÄNDIGEN LIEBEVOLLEN BEZIEHUNGEN ......................................................................... 29 2. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH KÖRPERLICHER UNVERSEHRTHEIT, SICHERHEIT UND REGULATION ................ 107 3. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH ERFAHRUNGEN, DIE AUF INDIVIDUELLE UNTERSCHIEDE ZUGESCHNITTEN SIND ........... 146 4. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH ENTWICKLUNGSGERECHTEN ERFAHRUNGEN ...................................................................... 204 5. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH GRENZEN UND STRUKTUREN ............................................................................................. 248 6. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH STABILEN, UNTERSTÜTZENDEN GEMEINSCHAFTEN UND NACH KULTURELLER KONTINUITÄT ................................................ 271 7. KAPITEL DIE ZUKUNFT SICHERN ........................................ 296 ANHANG................................................................................ 305
DAS TOUCHPOINTS-MODELL1 .................................. 305 Funktionsentwicklung - Diagramm und Fragebogen....... 320 Anmerkungen ................................................................... 328
EINFÜHRUNG Die elementaren Bedürfnisse unserer Kinder werden weder bei uns noch in anderen Ländern wirklich befriedigt. Diese Situation bereitet uns wachsende Sorge, da wir als Kinderarzt beziehungsweise Kinderpsychiater Familien in unseren Praxen betreuen und die Entwicklung von Säuglingen und Kindern darüber hinaus in einem breiteren Rahmen als Wissenschaftler erforschen. Trotz vieler Initiativen, die zur Verbesserung des Schicksals unserer Kinder im öffentlichen Gesundheitswesen und Schulsystem, in der Kinderheilkunde und in der Gesetzgebung ergriffen wurden, hat man über die Grundvoraussetzungen einer gesunden Kindheit bislang nur selten nachgedacht. In diesem Buch wollen wir die elementaren Bedürfnisse des Kindes zu beschreiben versuchen, das heißt jene Fürsorge, Betreuung und Erziehung, ohne die Kinder nicht wachsen, lernen und gedeihen können. Sobald man diese Grundvoraussetzungen kennt, ist es leichter, entsprechende Programme und Gesetzesvorhaben zu entwickeln und zu planen und sie auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Uns ist auch klar geworden, dass bestimmte Anforderungen, die auf jungen Familien lasten, im Laufe unseres eigenen Lebens erheblich gestiegen sind. Unter diesem Druck fällt es Müttern und Vätern schwer, den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu werden. Nur wenige Familien können den Belastungen und Spannungen, die sie erzeugen, ohne äußere Unterstützung standhalten. Wir haben zugelassen, dass die täglichen Anforderungen kontinuierlich wuchsen, ohne die gesellschaftliche Unterstützung, die möglich gewesen wäre, tatsächlich zu gewährleisten. Untersuchungen der National Commission for Children (1989-1991) haben gezeigt, dass selbst so ein reiches Land wie die USA anderen Kulturen -7-
hinterherhinkt, wenn es darum geht, Familien effizient zu unterstützen.1 Wir riskieren es, dass unsere Kinder dafür später einen furchtbaren Preis zahlen müssen - in Form von Drogensucht, antisozialen Verhaltensweisen und Gewalttätigkeit. Vor diesem Hintergrund stellte der Generaldirektor eines Wirtschaftsunternehmens die Frage: »Wird es unser Land teuer zu stehen kommen, wenn es die notwendigen Unterstützungen gewährt, damit die Grundbedürfnisse von Kindern und Säuglingen befriedigt werden können?« Teuer im Vergleich womit? Wir können es uns nicht länger leisten, die Auswirkungen der Missachtung dieser Bedürfnisse auf die Entwicklung unserer Kinder zu ignorieren. Unsere Enkel und auch ihre Kinder werden zusammen mit den Nachkommen benachteiligter Familien in einer Gesellschaft leben. Als Ärzte und Anwälte der Kinder haben wir im Laufe unserer Arbeit auch Erfahrungen gemacht, die uns optimistisch stimmen; ein neues Bewusstsein entwickelt sich landesweit, und damit einhergehend entstehen neue Programme, die das Kindeswohl zur obersten Priorität erheben. Wir hoffen, dass unser Versuch, die Grundbedürfnisse herauszuarbeiten und zu beschreiben, dazu beitragen wird, weitere Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen, auf die unsere Bundes- und Landesregierungen, unsere Kommunen und die Wirtschaft werden reagieren müssen. Aber auch das Individuum ist angesprochen, denn die vor uns liegenden Aufgaben können nur von der Gesellschaft insgesamt bewältigt werden. Die frühe Kindheit ist die kritischste und für Störungen anfälligste Phase im Leben des Menschen. Unsere eigenen Untersuchungen und die Forschungsarbeiten anderer Wissenschaftler zeigen, dass die intellektuelle, emotionale und moralische Entwicklung in den ersten Lebensjahren vorgebahnt wird. Zwar kann sich das Kind bestimmte Grundlagen, die es -8-
während dieser Phase nicht erwirbt, unter Umständen nachträglich aneignen, der Preis dafür aber steigt beständig und ebenso kontinuierlich sinken die Chancen auf Erfolg. Wir dürfen unsere Kinder in diesen ersten Jahren nicht im Stich lassen. Die »Grundbedürfnisse«, die wir beschreiben wollen, betreffen sowohl Erfahrungen als auch bestimmte Formen der Fürsorge und Betreuung, auf die jedes Kind ein Recht hat. In einer Wohlstandsgesellschaft wie der unserigen hat niemand von uns das Recht, diese Grundbedürfnisse zu ignorieren. Sobald wir sie jedoch genauer definieren, wird zugleich deutlich, dass viele Familien und viele kleine Kinder von unserer heutigen Gesellschaft im Stich gelassen werden. Als Ärzte, denen das Wohlergehen der Kinder zutiefst am Herzen liegt, können wir die Selbstgefälligkeit, mit der diese Situation stillschweigend geduldet wird, nicht länger tolerieren. Als vor etlichen Jahren die White House Conference on Infant and Development stattfand, vertraten die Teilnehmer einhellig die Meinung, dass adäquate frühe Erfahrungen für die intellektuelle und emotionale Entwicklung unverzichtbar sind. Daraufhin stellte der damalige Präsident Clinton eine bedeutsame Frage: »Welche spezifischen Erfahrungen sind die wichtigsten und in welchem Umfang müssen sie Kindern zugänglich sein?« Niemand versuchte, darauf zu antworten. Entwicklungsexperten haben auf diese Frage, die auch von Vätern und Müttern gestellt wird, nie eine klare Antwort formuliert. Eltern wollen ganz genau wissen, wie sie glückliche, selbstbewusste, kreative, intelligente und emotional gesunde Kinder großziehen können. Ihre Kinder sollen zu umsichtigen erwachsenen Menschen heranreifen, die ihrerseits in der Lage sind, eigene Kinder zu erziehen und einer Welt voller Mannigfaltigkeit und Komplexität die Zukunft zu sichern. In den folgenden Kapiteln werden wir die Frage, die der ehemalige Präsident und so viele Eltern stellen, zu beantworten -9-
versuchen. Wir verzichten auf vage Allgemeinplätze und beschreiben stattdessen sieben Grundbedürfnisse von Säuglingen und Kindern, deren Befriedigung unverzichtbar ist. Wenn wir uns diese Grundbedürfnisse ein wenig genauer ansehen wollen, müssen wir uns auch mit unserer eigenen Haltung gegenüber Kindern und Familien und mit der Familienpolitik unserer Gesellschaft auseinander setzen. Wir müssen unsere eigenen Überzeugungen und unsere täglichen Erziehungspraktiken, das durchschnittliche Familienleben, das Ausbildungs- und Gesundheitssystem, die Sozialdienste und unser Rechtssystem kritisch überdenken. Um dem Leser einen Eindruck davon zu vermitteln, wie heikel diese Fragen tatsächlich sind, haben wir Ausschnitte aus unseren Gesprächen, die wir miteinander geführt haben, um jedes einzelne dieser Grundbedürfnisse möglichst exakt zu definieren, in dieses Buch aufgenommen. Dieser Dialog vermittelt auch einen Eindruck von unserer Zusammenarbeit und illustriert, wie wir unsere Empfehlungen entwickelt haben. Der Leser wird sehen, dass die Gespräche und Empfehlungen in erster Linie auf einer Synthese unserer eigenen klinischen und wissenschaftlichen Erfahrung beruhen und nur gelegentlich auf einschlägige Forschungsarbeiten zurückgreifen. Da bestimmte Bereiche bislang kaum untersucht wurden, lassen sich viele der wichtigsten Fragen (zum Beispiel die Frage, wie viele Stunden am Tag ein Baby betreut und umsorgt werden muss) nur beantworten, indem man die klinische Erfahrung und die verfügbaren Studien miteinander verbindet. Auf diese Weise kann man zumindest einen Bezugsrahmen herstellen, um die aktuellen Standards zu bestimmen und künftigen Forschungsarbeiten und Diskussionen eine Richtung vorzugeben. Die Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln am Schluss des Buches enthalten Hinweise zur Literatur sowie zu unseren eigenen relevanten Forschungsarbeiten. Das erschütterndste Beispiel für die Konsequenzen, die die -10-
Vernachlässigung der Bedürfnisse kleiner Kinder nach sich zieht, haben uns in der jüngsten Vergangenheit die Waisenhäuser in Rumänien und anderen Ländern vor Augen geführt, Einrichtungen, in denen Säuglinge und Kleinkinder im Grunde lediglich abgestellt und aufbewahrt wurden. Diese Kinder, die jeder liebevollen Betreuung oder angemessener sozialer und intellektueller Interaktion entbehrten, entwickelten gravierende körperliche, intellektuelle und soziale Defizite. Vier- oder Fünfjährige vermochten sich lediglich mit einfachen Gesten zu verständigen, indem sie beispielsweise auf Nahrungsmittel zeigten, wenn sie hungrig waren. Wenn sie wütend oder verzweifelt waren, schlugen diese Kinder ihren Kopf auf den Fußboden oder gegen die Wand oder bissen sich selbst in den Arm. Sie waren nicht imstande, ihre Grundbedürfnisse oder Wünsche in Worte zu fassen, geschweige denn flüssig zu kommunizieren. Auch ihre Fähigkeit, sich trösten oder beruhigen zu lassen, wenn sie sich wehgetan hatten oder aus der Fassung gerieten, war rudimentär. Dank intensiver Hilfe konnten sich diese Kinder langsam, aber stetig weiterentwickeln. Sie haben gelernt, den Kontakt zu anderen Menschen zu suchen, liebevoll mit anderen zu interagieren, sich mit Gesten zu verständigen und nach und nach die Voraussetzungen zu erwerben, die ihnen auch das Sprechen und Denken ermöglichen. Dennoch ist dies ein langwieriger Prozess, der viele Jahre in Anspruch nimmt, und häufig hinterlässt die frühe Vernachlässigung für alle Zeiten ihre Spuren. Die rumänischen Waisenhäuser sind gewiss ein extrem abschreckendes Beispiel für die Folgen der institutionellen Betreuung. Andere unzulängliche Formen der Kinderversorgung aber werden nahezu unbeachtet direkt vor unseren Augen in den Vereinigten Staaten und anderen Industrieländern praktiziert. Wir denken hier an die Situation von Kindern, die in Pflege gegeben und von einer Pflegestelle an die nächste weitergereicht -11-
werden, weil sie »Schwierigkeiten machen«. Andere Kinder werden von ihren leiblichen Eltern vernachlässigt oder misshandelt. Missbrauch und Vernachlässigung nehmen nicht ab, sondern zu. Kindern, die in Pflegeprogramme aufgenommen werden, weil sie zu Hause vernachlässigt oder missbraucht wurden oder weil ihre Eltern nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern, oder nichts mit ihnen zu tun haben wollen, fällt es oft schwer, ihre Impulse zu kontrollieren und vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen zu entwickeln. Sie haben sprachliche, kognitive und soziale Defizite, die häufig auf frühe Misshandlung und Vernachlässigung oder auf pränatale körperliche (zum Beispiel durch einen Drogenmissbrauch der Mutter bedingte) Schädigungen zurückzuführen sind. Wenn solche Kinder von einer Pflegefamilie zur nächsten wandern, ist mit einer Verschärfung ihrer Probleme zu rechnen. Wir begegnen Mustern, die durchaus an die Bilder aus den rumänischen Waisenhäusern erinnern - die Kinder neigen zu Aggression und impulsivem Beißen und Schlagen und sind unfähig, mit Gleichaltrigen zu spielen, Mitleid zu empfinden und Anteil zu nehmen. Kinder, die bei einem leiblichen Elternteil oder bei beiden Eltern leben und denen die üblichen Erfahrungen vorenthalten bleiben, die es ihnen ermöglichen könnten, sich warmherzig, liebevoll und fürsorglich zu verhalten, stammen häufig aus Familien mit vielfachen Problemen. Sie wachsen zum Beispiel mit Eltern auf, die unter psychischen Erkrankungen leiden oder schwere antisoziale Verhaltensweisen zeigen. Diese Kinder werden nicht umsorgt und ihnen fehlt jede Interaktions- und Lernmöglichkeit. Auch hier beobachten wir chaotische, impulsive, selbstzentrierte, ziellose Kinder mit gravierenden sprachlichen, sozialen und emotionalen Schwierigkeiten. Angesichts dieser Situation könnte man fast ein Gefühl der Erleichterung darüber empfinden, dass Unterbringungen in -12-
wechselnden Pflegefamilien oder Vernachlässigung und Missbrauch in unserer Gesellschaft insgesamt nur sehr selten vorkommen. Mittlerweile aber gibt es sowohl in den Vereinigten Staaten als auch weltweit eine andere Tendenz - eine neue Form der institutionellen Betreuung, die wir heute in jeder Stadt finden. Annähernd die Hälfte aller kleinen Kinder wird mittlerweile während eines beträchtlichen Teils des Tages nicht von den leiblichen Eltern, sondern von anderen Personen versorgt.2 Wir sprechen hier nicht von der Nachmittagsbetreuung der Schulkinder. Wir sprechen von Säuglingen und Kleinkindern unter drei Jahren. Seit den 70erJahren des 20. Jahrhunderts hat sich die Einstellung der Familien zur Erziehung ihrer eigenen Kinder gewandelt. Im Laufe dieser Jahrzehnte ist die Zahl der Familien, die ihre Babys, Kleinkinder und Vorschulkinder mindestens 35 Stunden pro Woche anderen Personen überlassen, gewaltig gestiegen. Mit anderen Worten: Eine große Zahl von Säuglingen, Kleinkindern und Vorschulkindern wird während des größten Teils des Tages nicht von den eigenen Eltern betreut.∗ ∗ In Deutschland werden im Westen 2% und im Osten 16% Kinder unter 3 Jahren in öffentlichen Kinderkrippen betreut. Die tatsächliche Anzahl von in diesem Alter zumindest halbtags außerfamiliär betreuten Kindern dürfte indes höher liegen, da viele Eltern wegen der Knappheit an angebotenen Plätzen mithilfe von privaten Initiativen versuchen, das Problem zu lösen. Zudem dürfte sich die Situation in den Großstädten anders darstellen als auf dem Land. Ein wichtiger Indikator, der anzeigt, wie ernst sich dieses Problem mittlerweile auch in der Bundesrepublik stellt, stellt sicherlich die Berufstätigkeit von Müttern dar. Zwar arbeiten nur 5% der Mütter von Kleinkindern im Westen und 12% der Mütter im Osten Vollzeit, doch immerhin schon rund 15% der Mütter arbeiten bereits Teilzeit. Bei den Kindergartenkindern arbeiten 10% der Mütter im Westen und 36% der Mütter im Osten Vollzeit, 43% der Frauen im Westen arbeiten Teilzeit und 29% der Frauen im Osten. Nicht erwerbstätig sind bei den Grundschulkindern nur noch 33% der Mütter im Westen und 9% im Osten, wobei der Anteil arbeitsloser Mütter im Osten bei dieser Altersgruppe von Kindern bei 23% liegt. (Quelle IAB, Stand 2000) Untersuchungen zur
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Aussagekräftiger als nackte Zahlen sind Berichte über die Qualität dieser Betreuung. Sie sind nicht ermutigend. Die umfangreichste Studie über die Betreuung in Kinderkrippen, Krabbelstuben und Tagesstätten gelangte zu dem Ergebnis, dass die überwältigende Mehrheit der Einrichtungen (über 85% der Einrichtungen für Vorschulkinder und über 90% der Krippen und Krabbelstuben) keine hohen Standards erfüllt.3 Ähnliche Berichte gibt es mittlerweile auch über andere Formen der außerfamiliären Betreuung, zum Beispiel durch Tagesmütter.4 Darüber hinaus bleiben die gesetzlichen Regelungen zur Kinderbetreuung in den meisten Bundesstaaten der USA nur sehr vage.5 Besonders alarmierend sind neue Erkenntnisse über die Betreuung solcher Kinder, deren Mütter von der Sozialhilfe leben. Diese »Wave 1 Findings« wurden von dem Growing Up in Poverty Project 2000 erarbeitet und lassen darauf schließen, dass die Verhältnisse in Einrichtungen für die Kinder unterstützungsbedürftiger Familien miserabel sind (so wird von Kleinkindern berichtet, die ziellos umherwandern).6 Die Erkenntnisse über die Folgen einer generell unzulänglichen Betreuung zeigen, dass die Qualität der Betreuung einen bedeutsamen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes ausübt.7 Die Debatte über die Betreuung in Krippen und Tagesstätten wird jedoch verzerrt, wenn man sich lediglich auf Forschungsberichte konzentriert, die davon ausgehen, dass allein die Qualität der Versorgung zähle und die Frage, ob Kinder in Institutionen, von Tagesmüttern oder von ihren eigenen Eltern betreut werden, irrelevant sei. Die Berichte betonen, dass zwischen der Qualität der Betreuung, der Interaktion und der Sensibilität für die Signale des Kindes einerseits und dem Entwicklungsstand andererseits ein Qualität der Kinderbetreuung in dem jeweiligen Altersbereich liegen für Deutschland derzeit nicht vor. -14-
Zusammenhang bestehe. Natürlich leuchtet ein, dass die Qualität ein wichtiger Faktor ist, und selbstverständlich gibt es, wie bereits angedeutet, keinerlei Garantie dafür, dass leibliche Eltern ihre Kinder grundsätzlich zufrieden stellend versorgen. Verschleiert aber wird in solchen theoretischen Diskussionen die Tatsache, dass die außerfamiliäre Betreuung derzeit in der überwiegenden Mehrheit der Fälle keine hohen Qualitätsanforderungen erfüllt (dies belegt eine Reihe von Untersuchungen einschließlich jener Studie, die dokumentierte, dass die Qualität ausschlaggebend sei). Wir wissen, dass eine gute Betreuung für die optimale Entwicklung kleiner Kinder unverzichtbar ist. Gegenwärtig aber werden maximal 10% der Säuglinge oder Kleinkinder in Kinderkrippen und Tagesstätten optimal versorgt. Alle übrigen Kinder landen in Einrichtungen, denen niemand, der die Wahl hat, trauen würde. Und ebenso empfinden die Eltern dieser Kinder. Wenn eine Mutter weiß, dass ihr Kleinkind in der Tagesstätte nicht optimal betreut wird, muss sie zwangsläufig unter der Situation leiden. Ihr Kummer kann vielerlei Formen annehmen: Verleugnung, Distanzierung vom Kind, Wut auf den Arbeitsplatz, der ihr die Trennung abverlangt, oder Niedergeschlagenheit während der Arbeit. Wenn uns aber die Motivation unserer Arbeitskräfte wichtig ist, dann müssen wir Müttern und Vätern die Möglichkeit einer optimalen Kinderbetreuung oder flexibler Arbeitszeiten bieten, die es ihnen erlauben, sich abwechselnd selbst um den Nachwuchs zu kümmern. Angesichts der Tatsache, dass über die Hälfte der USamerikanischen Kinder tagsüber außerfamiliär betreut wird, müssen wir uns fragen, ob wir unseren Kindern die Fürsorge und soziale und intellektuelle Interaktion, die sie brauchen, tatsächlich vorenthalten wollen. Wir müssen fragen, ob ein liebevoller und intensiver Kontakt von Einrichtungen zu gewährleisten ist, in denen sich eine einzelne Betreuerin um vier -15-
oder mehr Babys (und später um sechs und mehr Krabbelkinder) gleichzeitig kümmert - bei Niedriglöhnen und ohne spezielle Ausbildung. Qualifiziertere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden durch keinerlei Anreize gehalten, wenn sie einen besseren Job finden. In den Kapiteln l, 3 und 4 beschreiben wir ausführlich, wie eine optimale Betreuung in den verschiedenen Settings aussehen sollte. Doch selbst bei Kindern, die in den ersten Lebensjahren zu Hause versorgt werden, sind beunruhigende Tendenzen zu beobachten. Der liebevolle, warmherzige Umgang mit Säuglingen, Kleinkindern, Vorschul- und Schulkindern wird zunehmend durch unpersönliche Betreuungsformen ersetzt. Ein Bericht der Kaiser Foundation8 dokumentierte vor einigen Jahren, dass Kinder im Durchschnitt fünf bis sechs Stunden täglich vor dem Fernseher oder am Computer verbringen.∗ Während dieser Zeit müssen sie auf liebevolle Kontakte oder altersangemessene soziale oder intellektuelle Interaktionen verzichten. Dies ist jedoch nur ein Symptom der Tendenz zu unpersönlichen Betreuungsweisen. Viele Familien sind zeitlich völlig überlastet. Beide Eltern arbeiten, um den Lebensunterhalt zu verdienen oder die finanzielle Situation zu verbessern, so dass für ein entspanntes Familienleben kaum Zeit übrig bleibt. Der Unterricht in den Schulen wird durch den zunehmenden Einsatz technischer Medien immer unpersönlicher, und auch in den familieninternen Beziehungen haben sich unpersönlichere Kommunikationsformen entwickelt. E-Mails ersetzen das ∗
Laut »Media-Perspektiven sitzt das deutsche Durchschnittskind jeden Tag 153 Minuten vor dem Fernseher. Anderen Angaben zufolge sehen 3- bis 6-Jährige ca. 76 Minuten täglich fern, 6- bis 9-Jährige 96 Minuten und 10bis 13-Jährige 117 Minuten. 29% der 6- bis 13-Jährigen Kinder verfügen im Westen über ein eigenes Fernsehgerät, im Osten waren es fast 50% (Spiegel 51/2000).
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Gespräch beim gemeinsamen Mittagessen und zahlreiche andere Formen der direkten Interaktion werden durch das Fernsehen verdrängt. Freizeit und Berufstätigkeit spielen sich in einer unpersönlicheren Atmosphäre mit immer weniger familiären Interaktionen ab. Einem der Autoren (S.LG.) wurde die Tendenz zu unpersönlicheren Umgangsformen vor einiger Zeit auf beeindruckende Weise vor Augen geführt. Er besuchte innerhalb einer Woche zwei sehr unterschiedliche Betreuungseinrichtungen, in denen er verblüffend ähnliche Ausdrucksformen einer, wie man sagen könnte, »institutionellen Liebe« kennen lernte. In der ersten Einrichtung saß eine Frau in einer Zimmerecke auf einem Stuhl und betrachtete den Fußboden. Um sie herum krabbelten vier Babys, die sich lediglich mit dem eigenen Körper und den Gegenständen, die sie sehen oder berühren konnten, zu beschäftigen schienen. Ein kleines Mädchen klemmte sich die Hand in einem Spielzeug ein. Die Frau ging zu ihm, zog die Hand heraus und sagte: »Alles klar.« Ohne ein weiteres Wort ließ sie sich wieder auf ihrem Stuhl nieder. Ein anderes Baby schlug auf seine halb gefüllte Milchflasche ein. Die Frau hob den kleinen Jungen auf und nahm ihn auf den Schoß. Sie hielt ihn steif und hölzern fest, während er, mit dem Blick zur Wand, den Rest seiner Milch austrank. Als die Flasche leer war, setzte die Frau ihn wortlos zurück auf den Boden. Im Zimmer war es völlig still. Es gab keine der vertrauten Gesten, Laute und Worte, die Menschen aneinander binden. Handelte es sich bei dieser Frau um eine überlastete, sozial benachteiligte Mutter in einer schwierigen familiären Situation? Oder um eine Betreuerin in einer überbelegten Krabbelstube in einer ärmlichen Wohngegend? Nein. In Wirklichkeit wurde diese Szene in einer Tagesstätte beobachtet, in der Familien aus der oberen Mittelschicht ihre Säuglinge und Kleinkinder unterbringen. Die Frau war eine Aushilfe und arbeitete für den -17-
Mindestlohn. Der Leiter dieses privaten, einwandfrei geführten und angesehenen Zentrums sagte: »Sie ist die Regel.« In einem anderen Raum des gleichen Zentrums kommunizierte eine freundlich blickende Frau mit Worten, Geräuschen, Lachen und Gesten lebhaft mit fünf Kleinkindern, die Lastwagen hin- und herschoben und sich miteinander amüsierten. Die Kinder zeigten mit dem Finger aufeinander, krabbelten zueinander hin und führten untereinander und mit der Betreuerin brabbelnd »Gespräche«. Mit ihrer subtilen Gestik und Mimik und durch eingestreute Zwischenbemerkungen gelang es dieser Frau, alle fünf Kleinkinder gleichzeitig am Geschehen zu beteiligen. »Wer ist die Frau?«, fragte S.LG. »Oh, sie ist die stellvertretende Leiterin. Sie springt heute für eine erkrankte Hilfskraft ein«, antwortete der Leiter. »Kann man nicht weitere Betreuerinnen einstellen, die sich ebenso liebevoll mit den Kindern beschäftigen?«, fragte S.LG. Der Leiter erwiderte: »Gelegentlich haben wir Betreuer, die ihr in ihrer Art ähneln, im Allgemeinen aber ist das nicht der Fall und jemand mit diesen Fähigkeiten macht rasch Karriere. Wir können es uns nicht leisten, Angestellte wie sie dafür zu bezahlen, dass sie ihre Zeit mit den Säuglingen verbringen.« Als S.LG. einige Tage später die zweite Einrichtung besuchte, sah er erneut Betreuerinnen, die auf ihren Stühlen hockten. Eine von ihnen befahl einer alten Frau: »Setz dich hin und halt den Mund, sonst gibt es nachher kein Eis.« In einem anderen Raum saßen sechs alte Frauen und starrten in die Leere, während zwei Hilfskräfte gelangweilt hinter ihnen am Tisch saßen. Eine der Seniorinnen bat vergeblich um eine Rückenmassage und bekannte später: »Ich sehne mich nur nach einer menschlichen Berührung.« Eine andere Frau strahlte, als eine Hilfskraft sie ansprach, und war für die kurze Unterhaltung grenzenlos dankbar. -18-
Diese Einrichtung ist eines der besten Seniorenheime der Stadt. Ernährung, Hygiene und medizinische Versorgung sind auch hier ausgezeichnet. Das ist »institutionelle Liebe«, wie sie am Anfang und am Ende der Lebensspanne den Armen wie den Wohlhabenden zuteil wird, jenen Menschen, die aufgrund ihres Alters und ihrer Hilflosigkeit darauf angewiesen sind, dass sich andere um sie kümmern. Wir alle wissen, wie sich eine solche Betreuung anfühlt. Wir wollen aber nicht darüber nachdenken, dass wir sie gerade jenen Menschen zumuten, die wir lieben. Nun könnte man einwenden, dass man, sofern man genügend Geld investiert, auch gute Leistungen bekommt. In manchen Firmen entsteht durch die elterliche Mitarbeit in den betriebseigenen Kinderkrippen und Tagesstätten das Gefühl, einer Großfamilie anzugehören. Solche Betriebskindergärten profitieren von der aktiven Beteiligung der Eltern. Eine mitfühlende Oberschwester kann in einem Seniorenheim eine persönliche Atmosphäre schaffen. Aber leider sind dies die Ausnahmen. Wenn sich in unserer Gesellschaft nichts ändert, werden die Menschen, die jetzt im Babyalter sind, in achtzig Jahren in ebendiese unpersönliche Umgebung zurückkehren und sie vermutlich als merkwürdig vertraut erleben. Einer der Autoren (S.I.G.) hat die Frage gestellt, ob wir durch die unpersönlichen Formen unserer Kinderbetreuung und Interaktionsmuster ein neues, an Äußerlichkeiten orientiertes, Verständnis vom Wesen des Menschen aufbauen9 - ein Verständnis, dem es weniger um die Psyche als um das Gehirn, weniger um Erfahrungen als um Biologie und Genetik zu tun ist. Eine solche Sichtweise kommt beispielsweise in der Behandlung psychischer Störungen zum Ausdruck. Kinder werden mit drei oder vier verschiedenen Medikamenten behandelt, damit sie schwierigen Familienmustern und inadäquaten Belastungen standhalten können. Eine Studie, die vor einigen Jahren in The Journal of the American Medical -19-
Association veröffentlicht wurde, belegt, dass einer alarmierenden Zahl von Vorschulkindern Medikamente verschrieben werden, die für dieses Alter gesetzlich überhaupt nicht zugelassen sind, und dass drei Viertel dieser Kinder keine begleitende Psychotherapie oder Familientherapie bekommen, in der sie sich neue Bewältigungsstrategien aneignen könnten.10 Immer mehr Kinder erhalten zu wenig Unterstützung, um die Belastungen, mit denen sie in ihrem täglichen Leben konfrontiert sind, psychisch bewältigen zu können. Die Gefühle dieser Kinder bleiben praktisch unbeachtet, und es gibt kaum Versuche, mit Familien daran zu arbeiten, fehlangepasste Muster zu verändern. Wenn Kinder in problematischen Beziehungen und schwierigen familiären Verhältnissen heranwachsen, hat selbst eine angemessene medikamentöse Behandlung nur selten Erfolg, weil der Stress bestehen bleibt. Medikamente führen vielleicht vorübergehend zu einer Besserung, langfristig aber ändert sich in den meisten Fällen nur wenig. Infolgedessen wird die Dosierung erhöht oder das Medikament gewechselt. Vor kurzem lernte einer der Autoren (S.I.G.) ein kleines Mädchen kennen, das mit vier verschiedenen Medikamenten behandelt worden war. Das dritte Mittel hatte derart schwere Erregungszustände hervorgerufen, dass das Kind ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Begründet wurde diese Maßnahme mit dem impulsiven und agitierten Verhalten des Mädchens. Angefangen hatte alles mit leichten Symptomen von Angst und Unaufmerksamkeit, bis sie schließlich zweimal wegen aggressiven und agitierten Verhaltens stationär aufgenommen wurde. Als nach einer umfassenden Anamnese klar war, dass sich der Zustand des Kindes mit jeder Erhöhung der Dosis und jedem Medikamentenwechsel verschlimmert hatte, wurden die Mittel nach und nach abgesetzt. Eine intensive Psychotherapie unter Einbeziehung der Familie wurde in die Wege geleitet, da verschiedene Konflikt- und Angstmuster -20-
zutage getreten waren, die auf eine psychotherapeutische Intervention erfolgreich ansprechen. Die Patientin war ein intelligentes, wortgewandtes Mädchen, das von der kombinierten Individual- und Familientherapie profitieren konnte. Nach bereits acht Monaten kam sie in der Schule gut zurecht und konnte ihre Gefühle in Worte fassen. Die Familie lernte, sich unterstützend und konstruktiv, statt boykottierend und Angst erregend zu verhalten. Das Mädchen nimmt keinerlei Medikamente ein, und es geht ihm nach wie vor sowohl in der Schule als auch im Kreis der Freundinnen und Freunde gut. Andere Kinder benötigen neben der psychotherapeutischen Arbeit manchmal auch eine medikamentöse Behandlung. Jenes kleine Mädchen ist indes kein Einzelfall. Das Menschenbild der professionellen Helfer hat sich gewandelt, so dass immer mehr Kindern Medikamente oder inadäquate psychotherapeutische Kurzzeitbehandlungen verschrieben werden. Der Druck, den HMOs11 (Gesundheitszentren) und Versicherungsträger ausüben, um kürzere und »effizientere« Interventionen durchzusetzen, leistet dieser Tendenz Vorschub. Die Einstellung, die unser System zur Versorgung psychisch Kranker gegenüber der Natur des Menschen vertritt, beeinflusst die Art und Weise, wie wir uns selbst, unsere Kinder und unsere Familien sehen. Zwischen den Fünfziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts kam im Diagnosesystem eine stärkere Forschungsorientierung zum Tragen. Die größten Veränderungen vollzogen sich während der Sechziger- und Siebzigerjahre. Das Ziel bestand darin, psychische Störungen zu beschreiben, um die Diagnose zu erleichtern. Im Laufe dieses Prozesses geriet all das Wissen über die inneren psychischen Vorgänge, das in den fünfundsiebzig Jahren zuvor angesammelt worden war, zunehmend in Vergessenheit. Zwar werden Abwehrmechanismen und Bewältigungsstrategien, Angst und Konflikt von manchen Psychotherapeuten auch heute noch -21-
bearbeitet; ihre Entfernung aus dem Diagnosesystem aber hat die Art und Weise, wie wir über uns selbst nachdenken, dramatisch verändert. Der Mensch wird heute auf eine Serie von Verhaltensweisen und Symptomen reduziert, die durch unterschiedliche genetische und biochemische Pfade organisiert sind. Wir dürfen das Verhalten, Denken und Fühlen des Menschen jedoch nicht nur auf einer biologischen Ebene verstehen, sondern müssen auch die psychische, soziale und kulturelle Ebene berücksichtigen. Viele Psychiater und Psychotherapeuten versuchen mittlerweile, diese ausgeglichenere Perspektive wiederherzustellen. Einer der Gründe für die allzu verengte biologische Definition der menschlichen Psyche ist das Missverständnis der Rolle, die den Genen für unser Verhalten zukommt. Auch wenn die individuelle Physiologie (Anlage) eines Kindes die frühen Mutter-Kind-Interaktionen unter Umständen in eine bestimmte Richtung steuert, kann die weitere Entwicklung doch in erheblichem Maße beeinflusst werden, indem man die äußeren Bedingungen (Umwelt) durch eine Anpassung des mütterlichen Betreuungsstiles verändert. Gene können sich ohne ihren engen Partner die Umwelt - letztlich nicht bemerkbar machen oder Einfluss ausüben. Darüber hinaus legen die neuesten Untersuchungen über die Wirkungsweise der Gene im Körper nahe, dass ihre Äußerung oder ihr Einfluss auf einer Wechselwirkung mit zahlreichen verschiedenen Umgebungen beruht, zum Beispiel mit der zellulären, der körperlichen, der sozialen und der natürlichen Umwelt; zum Teil entscheiden diese Interaktionen darüber, wie wir uns fühlen, wie wir denken und wie wir uns verhalten. Zwischen Anlage und Umwelt findet also eine fortwährende Interaktion statt - sie bilden eine Art Entwicklungsduett. Obwohl viele Untersuchungen auf die Wichtigkeit früher Erfahrungen schließen lassen, behaupten manche Fachleute und Laien, dass spätere Erfahrungen gleichermaßen wichtig seien. -22-
Sie unterscheiden jedoch nicht zwischen den frühen, elementaren Erfahrungen, die es Kindern erleichtern, Beziehungen aufzunehmen, soziale Signale zu lesen und zu denken (nachträglich können diese Erfahrungen nur teilweise und in jahrelanger Therapie erworben werden), und solchen Einstellungen, Werten und intellektuellen Fähigkeiten, die man sich im Laufe des gesamten Lebens aneignet. Eindimensionale, scheinbar plausible Erklärungen wie: »Ausschlaggebend sind allein die Gene«, »Schlechte Erbanlagen« oder »Biologie ist Schicksal«, mögen uns in ihrer verführerischen Einfachheit verlockend erscheinen; was jedoch die Kindererziehung betrifft, so leisten sie schlechten Lösungen häufig Vorschub und verschärfen die Probleme. Die Begeisterung, mit der die Medien vor nicht allzu langer Zeit die Auffassung propagierten, dass die Persönlichkeit des Kindes durch seine Peers, also Freunde und Freundinnen in der nächsten Umgebung, stärker beeinflusst werde als durch die Eltern, ist ein weiteres Beispiel für dieses kurzschlüssige Denken. Die Beziehungen zu Gleichaltrigen sind zweifellos wichtig, aber sie bauen auf den frühen Erfahrungen des Kindes mit seinen Eltern auf. Kindern, denen liebevolle Interaktionen mit Mutter und Vater in den ersten Lebensjahren vorenthalten bleiben, fällt es schwer, Freundschaften zu schließen oder gar die Höhen und Tiefen zu bewältigen, die in ihren Peerbeziehungen unweigerlich auftauchen. Allzu vereinfachte psychologische und biologische Erklärungen können sowohl die Öffentlichkeit als auch die Fachleute veranlassen zu glauben, dass sich das Verhalten lediglich durch eine neue Handhabung von Belohnungen und Strafen kontrollieren lasse. Auf diese Weise könnte anstelle von Mitgefühl, Warmherzigkeit und Liebe womöglich die Disziplinierung in den Mittelpunkt rücken. Um unsere Kinder zu gesunden Menschen zu erziehen, ist selbstverständlich nicht nur liebevolle Fürsorglichkeit notwendig; vielmehr müssen wir auch in der Lage sein, Orientierung zu bieten und Grenzen zu setzen. -23-
Im 5. Kapitel werden wir sehen, dass liebevolles Mitgefühl den Kindern dabei hilft, die Autoritätsfiguren, die sie lieben und bewundern, nachzuahmen und ihnen Freude zu bereiten, während klare Grenzen und verlässliche Strukturen es ihnen erleichtern, sich angesichts starker Versuchungen zurückzuhalten. Die richtige Balance wird zwar immer gesucht, aber dennoch beobachten wir ein beunruhigendes Ungleichgewicht: Fachleute und Eltern machen sich eine Zurück-zur-Disziplin-Ethik zu Eigen, die sich über alles hinwegsetzt, was wir über Babys und Kleinkinder wissen. Gelegentlich werden sogar für Säuglinge und kleine Kinder strenge Disziplinierungsmaßnahmen angeraten. Schablonenhafte Belohnungs-Bestrafungs-Systeme, mit deren Hilfe die komplexen Gefühle und Verhaltensweisen von Kindern unter Kontrolle gebracht werden sollen, sind ein Rückfall in frühere Zeiten, in denen man glaubte, Kindern »den Teufel austreiben« zu müssen. Solche überholten Ansätze rächen sich in der Regel auf diese oder jene Weise - entweder durch Negativismus und Rebellion oder durch Furcht, Angst und Passivität des Kindes. Eltern jedoch, die sich überfordert und mitunter völlig machtlos fühlen, sehen in strengen Strafen vielleicht die einzige und einfachste Lösung, und zwar insbesondere dann, wenn sie auf einer tiefen Ebene Schuldgefühle empfinden, weil sie ihren Kindern nicht genügend Liebe und Fürsorge widmen können. Warum hat sich die Entwicklung zu unpersönlicheren Formen der Interaktion mit unseren Kindern und im Familienleben derart rasch vollzogen? Warum haben wir nach den Fortschritten, die während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Kindererziehung zu verzeichnen waren, nun die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, so dass wir einen unpersönlichen Umgang praktizieren, der auch die Fähigkeiten künftiger Generationen, ihre Nachkommen zu versorgen und zu erziehen, beeinträchtigen könnte? Vielleicht können wir die Ursachen dieser Besorgnis -24-
erregenden Leichtfertigkeit in der Betreuung unserer Kinder ein wenig deutlicher erkennen, wenn wir die menschliche Evolution von zwei Seiten betrachten. Wir assoziieren die Evolutionsgeschichte des Menschen häufig mit dem Überleben der Stärksten, mit dem Rivalisieren verschiedener Spezies um ihr Überleben. Es gibt jedoch noch eine andere Tendenz, an die wir in diesem Zusammenhang zumeist nicht spontan denken, obwohl sie möglicherweise eine sehr wichtige Komponente unserer Entwicklung zu komplexen Lebewesen darstellt. Dieser Aspekt der Evolution hängt mit der Fähigkeit des Menschen zusammen, Familien zu gründen und in größeren sozialen Organisationen zu kooperieren. Die Ebene der sozialen Organisation, auf die eine hochentwickelte Wirtschaft, ein Militärapparat oder eine Regierung angewiesen sind, um sich in der modernen Welt behaupten zu können, ist von atemberaubender Komplexität. Menschen müssen fähig sein, in sämtlichen Bereichen des Lebens kooperativ, verantwortungsbewusst und empathisch mit anderen in Gruppen zusammenzuarbeiten. Familien, Kommunen oder gesellschaftliche Gruppen können ohne Kooperation und Organisation nicht funktionieren. Dies setzt die Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl voraus, die Fähigkeit, Gefühle auf konstruktive und reife Weise zu verstehen und zu verarbeiten. Künftige Generationen werden diese Funktionen nur dann erfüllen können, wenn sie sich als Kinder in liebevollen, empathischen Familien geborgen fühlen. Um mithilfe stabiler Regierungsstrukturen wirtschaftlich und militärisch konkurrenzfähig zu bleiben, sind hochentwickelte Gesellschaften darauf angewiesen, dass ihre Kinder, die einst erwachsen sein werden, in einer einfühlsamen und fürsorglichen Umgebung aufwachsen. Kurz, dem evolutionären Konkurrenzvorteil liegen Fürsorge und Anteilnahme zugrunde. Die lange Phase der Abhängigkeit gibt dem Menschen Gelegenheit, im Laufe einer behüteten und umsorgten Kindheit -25-
und auf der Grundlage komplexer Gefühle psychische und geistige Fähigkeiten zu erwerben. Dies gilt auch für andere Säuger, aber in geringerem Maße für Tiergattungen, deren Nachkommen bereits nach einer kurzen Versorgungs- und Schutzphase auf sich selbst angewiesen sind. Fürsorgliche Betreuung und rivalisierende Bemeisterung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, dennoch aber richten wir unser Augenmerk offenbar lieber auf den Konkurrenzkampf ums Überleben als auf Fürsorge und Anteilnahme. Fürsorglichkeit wird mit Verletzbarkeit und Hilflosigkeit assoziiert. Schwäche Hilflosigkeit und das Bedürfnis nach einfühlsamer Betreuung scheinen der selbstgewissen Unabhängigkeit, die so tief in die Konkurrenzethik des Überlebens eingebettet ist, zuwiderzulaufen. Könnte unser Bedürfnis, die eigene Verwundbarkeit zu verleugnen, bedeuten, dass wir auch die Verletzlichkeit unserer Kinder nicht wahrnehmen dürfen? In diesem Fall wäre zu fragen, weshalb sich dieser Konflikt ausgerechnet in der Gegenwart deutlicher zu erkennen gibt und unsere Erziehungspraktiken ins Wanken bringt. Vielleicht hat der wirtschaftliche Fortschritt, der den meisten von uns die Befriedigung sämtlicher Grundbedürfnisse garantiert, dazu beigetragen, dass wir unsere Hege- und Pflegebedürfnisse vernachlässigen. In der Vergangenheit fanden fürsorgliche Anteilnahme wie auch die Akzeptanz der Verwundbarkeit ihren Ausdruck häufig in der Mutterrolle. Von Frauen wurde erwartet, dass sie zu Hause blieben, sich um die Kinder kümmerten und ihre Befriedigung nicht in beruflicher Konkurrenz und Karriere, sondern in der Sorge für andere fanden. Von den Vätern und Ehemänner erwartete man, dass sie die Konkurrenzseite des Lebens meisterten. Nachdem Bildung und wirtschaftlicher Fortschritt größere Gleichheit ermöglicht und starre Regeln aufgeweicht haben, befinden wir uns nun in einer Phase des Übergangs. Wir sind auf der Suche nach einem neuen -26-
Gleichgewicht. Weder sollten Frauen und Mütter ausschließlich die Hege- und Pflegerolle verkörpern, noch sollten Väter den Konkurrenzkampf allein austragen. Wir wissen heute um die große Bedeutung und die langfristigen Vorteile einer intensiven Teilnahme der Väter am Leben ihrer Kinder. Bislang aber haben wir keinen Weg gefunden, um diese lebenswichtige Balance zu wahren bzw. sie wieder herzustellen. Im Laufe der Geschichte haben wir das Gleichgewicht zwischen den beiden Tendenzen der Evolution nicht durch Reflexion, sondern durch Rituale und konkrete Regeln gewahrt. In gewisser Weise haben wir diese beiden Tendenzen, die einen untrennbaren Bestandteil der menschlichen Natur bilden, vielleicht nie wirklich integriert. Eine nahe liegende Lösung besteht darin, dass sich Männer und Frauen gleichermaßen sowohl für die Hege- und Pflegeaufgaben als auch für den Konkurrenzkampf des Lebens engagieren. Dies setzt eine bewusste, wohl durchdachte Entscheidung voraus, die den Bedürfnissen der Kinder Rechnung trägt. Dass sich beide Elternteile im Konkurrenzkampf zu behaupten versuchen und die Versorgung ihrer Kinder fremden Personen und Institutionen überlassen, wie es seit etwa dreißig Jahren mehr oder weniger zur Regel geworden ist, bleibt vorerst ein Experiment, das im Lichte unserer Kenntnisse über die Grundbedürfnisse kleiner Kinder neu zu beurteilen sein wird. In dieser Übergangsphase, in der bewusste Reflexion und durchdachte Entscheidungen Regeln und Rituale ersetzen, sind wir auf eine klare Vorstellung von den elementaren Bedürfnissen der Kinder angewiesen, um die sich das Familienleben organisieren muss. Wenn wir den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht werden können, gefährden wir möglicherweise die Fähigkeit künftiger Generationen, Familien zu gründen und zu erhalten und ökonomische und politische Stabilität zu gewährleisten. Aus diesem Grund haben wir sieben Grundbedürfnisse von -27-
Säuglingen, Kleinkindern und ihren Familien herausgearbeitet. Diese sieben elementaren Bedürfnisse bilden die Bausteine unserer weiterentwickelten emotionalen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten. In den folgenden Kapiteln wollen wir untersuchen, welche Konsequenzen sich aus diesen Grundbedürfnissen für das Familienleben, die Kinderbetreuung, das Schulsystem, die Sozialdienste und Wohlfahrtssysteme, die Strafjustiz und das Gesundheitswesen ergeben. Wir werden zudem Empfehlungen ausarbeiten, die eine Richtung für notwendige Veränderungen in unserem Umgang mit diesen Bedürfnissen vorgeben können. Wir hoffen, den Status quo auf diese Weise infrage zu stellen und mit unseren Empfehlungen eine Grundlage für aufgeklärte Erziehungsmethoden im 21. Jahrhundert zu schaffen.
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1. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH BESTÄNDIGEN LIEBEVOLLEN BEZIEHUNGEN
Auch wenn die meisten Menschen beständige liebevolle Beziehungen zu einer oder zwei Betreuungspersonen als selbstverständliches Bedürfnis von Babys und kleineren Kindern betrachten, sieht die Realität häufig ganz anders aus. Wie wichtig solche Beziehungen tatsächlich sind, wurde bereits vor Jahren demonstriert. Die Filme von Rene Spitz und die gemeinsamen Untersuchungen von Spitz und John Bowlby haben der ganzen Welt gezeigt, wie wichtig die liebevolle Fürsorge für die körperliche, emotionale, soziale und intellektuelle Gesundheit der Kinder ist und welch schreckliche Folgen eine Heimunterbringung haben kann. Andere Pioniere, zum Beispiel Erik Erikson, Anna Freud und Dorothy Burlingham, haben uns vor Augen geführt, dass es nicht reicht, Kinder lediglich nicht zu vernachlässigen, damit sie die frühen Lebensphasen erfolgreich bewältigen können; um Vertrauen, Empathie und Mitgefühl entwickeln zu können, sind sie auf eine sensible, fürsorgliche Betreuung angewiesen. Studien aus den vergangenen Jahren wiesen nach, dass Familienmuster, die eine fürsorgliche Betreuung erschweren, sowohl die kognitiven als auch die emotionalen Fähigkeiten gravierend beeinträchtigen. Bestätigende, warmherzige, liebevolle emotionale Interaktionen mit Säuglingen und Kleinkindern hingegen fördern die gesunde Entwicklung des zentralen Nervensystems. Indem Babys zum Beispiel auf die menschliche Stimme lauschen, lernen sie, zwischen Lauten zu unterscheiden und schließlich selbst zu sprechen. Interaktionserfahrungen können bewirken, dass Gehirnzellen für -29-
bestimmte Aufgaben rekrutiert werden - zum Beispiel für das Hören, statt für das Sehen.1 Der Austausch emotionaler Gesten hilft dem Baby, emotionale Signale wahrzunehmen und auf sie zu reagieren und ein Selbstgefühl zu entwickeln. Gehirnuntersuchungen an älteren Menschen zeigen, dass Erfahrungen, die emotional als motivierend und interessant erlebt werden, die Lernzentren des Gehirns auf eine andere Weise unterstützen als Erfahrungen, die über- oder unterstimulierend wirken. Wenn notwendige Erfahrungen ausbleiben oder dem Kind nur eingeschränkt zur Verfügung stehen, wird sich eine Reihe von Defiziten entwickeln. Eine frühe Schädigung des Sehvermögens zieht beispielsweise Schwierigkeiten nach sich, die von einer Beeinträchtigung der Tiefenwahrnehmung und des räumlichen Auffassungsvermögens bis zu funktioneller Blindheit reichen.2 Auch emotionaler Stress verändert die Hirnphysiologie.3 Im Allgemeinen findet zwischen den genetischen Anlagen und den Umwelterfahrungen eine sensible Interaktion statt. Offenbar wird die Biologie des Säuglings durch Erfahrung an seine Umgebung angepasst.4 In diesem Prozess aber sind nicht alle Erfahrungen von gleichrangiger Bedeutung. Liebevolle, unterstützende emotionale Beziehungen bilden die ausschlaggebende und früheste Grundlage für die intellektuelle und soziale Entwicklung. Auf der elementarsten Ebene fördern Beziehungen Warmherzigkeit, Intimität und Wohlbehagen; sie vermitteln psychische und physische Sicherheit und schützen vor Krankheit und Verletzung; und sie erfüllen die Grundbedürfnisse nach Fürsorge und Schutz. Die »regulatorischen« Aspekte von Beziehungen (beispielsweise der Schutz vor Über- oder Unterstimulierung) erleichtern es Kindern, konzentriert und aufmerksam zu lernen. Die Forschungen, die einer der Autoren (T.B.B.) an Neugeborenen durchgeführt hat, zeigen, dass ein neugeborenes Baby versucht, sich selbst unter Kontrolle zu -30-
halten, um Signale in seiner näheren Umgebung visuell und akustisch wahrnehmen zu können.5 Das Baby kombiniert in dieser Situation vier Reflexe, die vom Mittelhirn gesteuert werden, um sich aufmerksam konzentrieren zu können - den tonischen Nackenreflex, den Hand-zu-Mund-Reflex (Babkin), den Such- und den Saugreflex. Wenn 'hm dies nicht gelingt und es die Kontrolle verliert, macht es sich die menschliche Stimme oder den Körperkontakt zunutze es verdoppelt seine Anstrengungen, um den Zustand der wachen Aufmerksamkeit wiederherzustellen. Dieselben Untersuchungen zeigen auch, dass das Baby etwa im Alter von acht Wochen in der Lage ist, zwischen Stimme und Gesicht seiner Mutter, seines Vaters und einer fremden Person zu unterscheiden und jeweils unterschiedlich zu reagieren. Seiner Mutter blickt es mit ruhiger Aufmerksamkeit entgegen, während es sich beim Anblick des Vaters auf eine lebhafte spielerische Interaktion einstellt. Diese beiden wichtigen Menschen kennen mittlerweile die Rhythmen und Signale ihres Kindes, während das Baby selbst die Erwartung aufgebaut hat, dass sie angemessen darauf eingehen werden. Dies sind die Grundsteine für ein künftiges stabiles Selbstwertgefühl und die Freude an späteren Lernprozessen. Darüber hinaus kommt dieses Lernen der Fähigkeit des Kindes zugute, seine Impulse auch in Zukunft zu kontrollieren. In den ersten Lebensjahren werden die wichtigsten Lernerfahrungen durch die menschliche Interaktion vermittelt. Gegenstände und didaktische Spielsachen können sich damit nicht messen. Einer der Autoren (S.I.G.) hat gezeigt, dass auch die Kommunikations- und Denkfähigkeit durch Beziehungen und emotionale Interaktionen erworben werden. Das Kommunikationssystem des Säuglings ist zunächst nonverbal. Es umfasst Gesten und emotionale Signale (Lächeln, bestätigende Blicke, Stirnrunzeln, Zeigen mit dem Finger, das Annehmen und Zurückgeben von Gegenständen, -31-
Verhandlungen usw.). Auf dieser Grundlage entwickelt sich ein komplexes System von Problemlösungsund Regulationsinteraktionen, das lebenslang Bestand haben wird. Obwohl dieses nonverbale System schließlich mit Symbolen und Wörtern kombiniert wird, bleibt es doch elementarer. (Wir vertrauen zum Beispiel eher dem stummen Nicken oder dem wortlosen, zustimmenden Blick einer anderen Person als lobenden Worten, die mitunter trügerisch sein können; und wir schrecken vor jemandem zurück, der uns feindselig ansieht, selbst wenn er sagt: »Du kannst mir vertrauen.«) Sichere, einfühlsame, fürsorgliche Beziehungen vermitteln Kindern die Fähigkeit zu Vertrauen und Empathie und ermöglichen es ihnen schließlich, ihre Gefühle in Worte zu fassen, über ihre Wünsche nachzudenken und eigenständige Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu Erwachsenen aufzunehmen.6 In Beziehungen lernen Kinder auch, welche Verhaltensweisen angemessen sind und welche nicht. Wenn ihr Verhalten im Laufe des zweiten Lebensjahres komplexer wird, zeigen ihnen Gesichtsausdruck, Tonfall, Gesten und Worte ihrer Bezugspersonen, welches Verhalten eine lobende oder eine missbilligende Reaktion auslöst. Durch den Austausch zwischen Kindern und Betreuungspersonen werden Muster aufgebaut. Wichtig ist jedoch, dass gleichzeitig mit dem Verhalten auch Gefühle, Wünsche und ein Selbstbild auftauchen. Die emotionale Atmosphäre und die subtilen Interaktionen in Beziehungen prägen, wer wir sind und was wir lernen. Beziehungen ermöglichen es dem Kind, das Denken zu lernen. In seinen Interaktionen mit der Mutter äußert es den Wunsch nach Verbundenheit zunächst durch Gesten - indem es sie anfasst -, bis es schließlich mit einem liebevollen Blick »Mama« sagt. Es beginnt mit dem »Agieren« oder der direkten Äußerung seiner Bedürfnisse oder Wünsche, bevor es diese psychisch abbilden und mit einem Wort bezeichnen kann. Diese -32-
Veränderung zeigt, dass es symbolisch zu denken beginnt. Alsob- oder Phantasiespiele, in denen das Kind menschliche Interaktionen und Dramen inszeniert (zum Beispiel die Puppen miteinander schmusen oder streiten lässt), helfen ihm zu lernen, eine Vorstellung oder ein Bild mit einem Wunsch in Verbindung zu bringen und dann mithilfe dieses Bildes zu denken: »Wenn ich lieb zu Mama bin, darf ich lange aufbleiben.« Diese Fähigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass es später zum Beispiel die Motive einer Figur aus einer Geschichte ergründen oder den Unterschied zwischen zehn Keksen und drei Keksen bestimmen kann. Die Fähigkeit, Beziehungen und schließlich auch andere Dinge innerlich abzubilden, leitet zu einer weiterentwickelten Form des Denkens über. Ein Schlüsselelement, das für künftiges Lernen und Bemeistern notwendig ist, ist beispielsweise die Fähigkeit des Kindes zur Selbstbeobachtung. Diese Fähigkeit ist für die eigenständige Kontrolle von Aktivitäten, etwa das Ausmalen von Bildern oder die Verbindung von Bildern mit Begriffen oder Zahlen, unverzichtbar. Die Selbstbeobachtung erleichtert es, Gefühle zu benennen, statt sie zu agieren. Sie ermöglicht es, sich in andere einzufühlen und Erwartungen zu erfüllen. Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung beruht auf der Fähigkeit, sich selbst und einen anderen in einer Beziehung zu beobachten. Wir verstehen also nun, dass emotionale Interaktionen die Grundlagen nicht nur der kognitiven Fähigkeiten bilden, sondern auch der meisten intellektuellen Fähigkeiten des Kindes einschließlich seiner Kreaktivität und seiner Fähigkeit zu abstraktem Denken.7 Wenn wir den Einfluss der frühen emotionalen Interaktionen auf die geistige Entwicklung betonen, so ist dies nicht zu verwechseln mit Howard Gardners wichtigem Konzept separater, multipler Intelligenzen oder mit Antonio Damasios Hirnforschungen, die nahe legen, dass Gefühle zwar eine wichtige Rolle für die Urteilsfähigkeit spielen, aber getrennt von -33-
intellektuellen Fähigkeiten oder allgemeiner Intelligenz existieren. Wir trennen nicht zwischen Gefühlen und Intellekt. Jean Piaget, ein Pionier der Kognitionspsychologie, betrachtete das Kind von dem Moment an als kausalen Denker, in dem es begreift, dass eine Glocke ertönt, wenn es an einer Schnur zieht. Dies ist jedoch nicht die erste Gelegenheit, bei der das Kind etwas über Ursache und Wirkung lernt. Die erste Lektion über Kausalität wird ihm viele Monate früher vermittelt, nämlich wenn es lernt, dass es durch sein eigenes Lächeln eine freudiges Lächeln auf das Gesicht seiner Mutter zaubern kann. Das Kind generalisiert diese emotionale Lektion und bezieht sie auf die physikalische Welt. Wir konnten feststellen, dass affektive oder emotionale Interaktionen den geistigen Entwicklungsschritten auf jeder Stufe vorangehen. Gefühle sind tatsächlich die inneren Architekten, Dirigenten oder Organisatoren unseres Geistes. Sie sagen uns, wie und was wir denken, was wir sagen und wann wir es sagen und was wir tun. Wir lernen durch unsere emotionalen Interaktionen und wenden dieses Wissen dann auf die kognitive Welt an. Wenn ein Krabbelkind zum Beispiel lernt, wen man mit »Guten Tag« begrüßt, lernt es dies nicht, indem es innerlich eine Liste der entsprechenden Personen anlegt. Die Erfahrung veranlasst es, den Gruß mit einem angenehmen Gefühl im Bauch zu verbinden, und dieses Gefühl wiederum hat zur Folge, dass es auf die freundlich-einladenden Gesichter anderer Menschen mit einem »Hallo« reagiert. Wenn es sie ansieht und ein anderes Gefühl verspürt, vielleicht misstrauische Wachsamkeit, wird es vermutlich den Kopf abwenden oder sich hinter der Mutter verstecken. Wir ermutigen diese Art des »Unterscheidens«, weil wir nicht wollen, dass unser Kind Fremde mit »Hallo« begrüßt, sondern nur freundliche Menschen wie den Großvater fröhlich willkommen heißt. Wenn ein Kind lernt, solche Menschen freudig zu begrüßen, wird es rasch auch zu einer netten Kindergärtnerin oder einem neuen -34-
Spielkameraden »Hallo« sagen. Es trägt seine Gefühle in sich, die ihm helfen, von bekannten Situationen auf unbekannte zu schließen und zu entscheiden, wann es was sagt. Selbst eine so theoretische und kognitive Vorstellung wie das Quantitätskonzept entwickelt sich auf der Grundlage früher emotionaler Erfahrungen. »Viel« ist für einen Dreijährigen mehr, als er haben möchte; »ein bisschen« ist weniger, als er erwartet. Später kann dieses Gespür für Mengen durch Zahlen in ein System gebracht werden. In ähnlicher Weise erwirbt das Kind eine Zeit- und Raumvorstellung durch die emotionale Erfahrung, auf seine Mutter zu warten oder sie zu suchen und in einem anderen Zimmer zu entdecken. Auch Wörter leiten ihre Bedeutung aus emotionalen Interaktionen her. Ein Wort wie »Gerechtigkeit« gewinnt Inhalt und Bedeutung mit jeder neuen emotionalen Erfahrung von Fairness und Unfairness. Selbst die Grammatik, deren Gebrauch renommierte Linguisten wie beispielsweise Noam Chomsky für weitgehend angeboren halten, so dass seine Aktivierung lediglich einiger sehr allgemeiner Formen der sozialen Stimulation bedarf, beruht teilweise auf ganz spezifischen frühen emotionalen Interaktionen. So haben wir festgestellt, dass autistische Kinder, die die Grammatik nicht einwandfrei beherrschten und nur Substantive wie Tür, Tisch und Milch wiederholten, syntaktische Formen erlernten, wenn wir ihr emotionales Engagement und ihre Intentionalität förderten. Sobald sie gelernt hatten, ihr Bedürfnis oder ihren Wunsch wahrzunehmen und zu äußern (indem sie uns beispielsweise zur Tür zogen, damit wir diese öffneten), begannen sie, Substantive und Verben korrekt miteinander zu verbinden (»Mach die Tür auf!«). Säuglinge und Kleinkinder ohne gravierende Einschränkungen beteiligen sich an solchen zielgerichteten emotionalen Interaktionen automatisch; vielleicht hat man die Wichtigkeit dieser Abläufe für die Grammatik und Sprache bislang gerade deshalb ignoriert, weil sie sich derart automatisch -35-
vollziehen. Nicht nur das Denken geht aus frühen emotionalen Interaktionen hervor, sondern auch das moralische Gefühl für das, was richtig und was falsch ist. Die Fähigkeit, die Gefühle eines anderen Menschen zu verstehen und Anteil daran zu nehmen, wie es ihm geht, kann sich nur auf der Grundlage fürsorglicher Interaktionen entwickeln. Wir können nur dann empathisch sein, wenn wir von einem anderen Menschen Mitgefühl und Fürsorglichkeit erfahren haben. Kinder können altruistische Verhaltensweisen erlernen, das heißt, sie können lernen, »das Richtige« zu tun - tief empfundene Anteilnahme am Wohlergehen anderer Menschen aber setzt voraus, dass man ein solches Mitgefühl in einer konstanten Beziehung selbst erlebt hat. Wir können keine Gefühle empfinden, die wir nie hatten, und wir können die Verlässlichkeit und Intimität beständiger Liebe nicht erleben, wenn uns diese Liebe nicht selbst zuteil geworden ist und sei es durch eine Großmutter oder eine Tante oder auch durch eine Nachbarin. Wir müssen diese Liebe erfahren haben, Halbheiten oder Kompromisse gibt es nicht. Eine konstante emotionale, fürsorgliche Beziehung zu einem Baby und Kleinkind gibt uns die Chance, aktiv an Interaktionen teilzunehmen, in denen wir die Signale des Babys lesen und auf sie reagieren können. Dieses Grundmerkmal einer langfristigen, liebevollen Beziehung zwischen dem Baby und der Betreuungsperson, die all seine Regungen kennt, ist für eine überraschend große Zahl lebenswichtiger geistiger Fähigkeiten verantwortlich. Durch gemeinsame »reziproke Interaktionen« lernt das Baby, selbst die Initiative zu ergreifen: Es macht etwas und bewirkt, dass daraufhin etwas passiert. An diesem Punkt beginnt es auch zu lernen, zielgerichtet oder kausal zu denken. Selbstgefühl, eigener Wille, Zielgerichtetheit, Selbstbehauptung und die Anfänge des kausalen logischen Denkens - all dies ist in solche wunderbaren reziproken Interaktionen eingebettet. Etwa im Alter von zwei bis drei Monaten haben das Baby und -36-
seine Mutter drei Lernstufen durchlaufen, in denen sie einander kennen lernten. Auf der ersten Stufe lernt die Mutter, wie sie ihrem Baby helfen kann, den Zustand der wachen Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten (1. bis 3. Lebenswoche). Auf der zweiten Stufe (3. bis 8. Woche) beginnt das Kind, im ruhigen Wachzustand zu lächeln und zu vokalisieren, und die Erwachsene reagiert entsprechend. Auf der dritten Stufe (8. bis 16. Woche) schließlich werden diese Signale im Rahmen von »Spielen« (D. Stern) reproduziert: Lautäußerungen und/oder Lächeln werden viermal oder öfter wiederholt und von der Erwachsenen imitiert. Durch diese Serien reziproker Spiele lernt das Baby Rhythmus und Reziprozität kennen. Im Alter von vier Monaten ist der Säugling bereits in der Lage, das Spiel selbst zu kontrollieren und seine Mutter zu solchen Interaktionen zu animieren (Margaret Mahler bezeichnete diesen Entwicklungsschritt als »Ausschlüpfen«). So taucht im Rahmen dieser Spiele die Autonomie auf. Und noch etwas anderes geschieht. Durch diese reziproken Interaktionen lernt das Kind, sein Verhalten und seine Gefühle zu kontrollieren oder zu modulieren. Wir alle wünschen uns, dass unsere Kinder angemessen reguliert oder moduliert sind, das heißt, dass sie sich je nach Situation aktiv und neugierig, konzentriert und nachdenklich, wachsam oder fröhlich verhalten können. Wir wünschen uns Kinder, die ihre Gefühle und ihr Verhalten in einer Weise zu regulieren vermögen, die der Situation angemessen ist. Wir bewundern Erwachsene, denen dies gelingt. Der Unterschied zwischen Kindern, die ihre Stimmung, ihre Gefühle und Verhaltensweisen regulieren können, und Kindern, die dazu nicht fähig sind, weil sie die kleinste Enttäuschung als Katastrophe empfinden oder ihre Wut nicht beherrschen können, beruht auf der Fähigkeit, sich über Gefühle und Gesten rasch zu verständigen. Wenn ein Kind in der Lage ist, sich mit seinen Eltern oder einer anderen wichtigen Betreuungsperson -37-
blitzschnell auszutauschen, kann es gewissermaßen über seine augenblicklichen Gefühle verhandeln. Wenn es sich geärgert hat, kann es seine Verstimmung durch einen wütenden Blick oder durch einen entsprechenden Laut oder eine Geste zum Ausdruck bringen. Sein Vater reagiert darauf vielleicht mit einer Handbewegung, die ihm zu verstehen gibt: »Ist schon klar« oder »Okay, ich beeile mich, um dir dein Essen zu holen« oder »Kannst du vielleicht noch eine Minute warten?«. Wie auch immer die Reaktion ausfällt - sofern sie das Signal des Kindes aufgreift, wird sie zu einem unmittelbaren Feedback, das seine eigene Reaktion modulieren kann. Im Kind taucht ein Gespür dafür auf, dass es seine eigenen Gefühle regulieren kann, indem es die Reaktionen seiner verschiedenen Umgebungen reguliert. Anstelle eines globalen oder extremen Verständigungssystems hat sich ein fein abgestimmtes System entwickelt. Das Kind muss keinen Wutanfall bekommen, um seine Verstimmung auszudrücken; es kann seinen Ärger durch einen kurzen Blick und einen düsteren Gesichtsausdruck bekunden. Selbst wenn die Mutter oder der Vater anderer Meinung sind oder ihm das Essen nicht umgehend bringen können, signalisieren sie ihm etwas, an dem das Kind erst einmal zu »kauen« hat, bevor es entscheidet, ob es sich in eine wütendere Reaktion hineinsteigert. Falls es dann tatsächlich einen regelrechten Wutanfall bekommen, spielt sich diese gesamte Sequenz, in der sich die Gefühlsintensität von 0 auf 10 steigert, im Idealfall innerhalb einer einzigen Sekunde ab. All die unterschiedlichen Gefühle, von Freude und Glück über Traurigkeit und Wut bis zur Selbstbehauptung, werden Teil dieser fein abgestimmten, regulierten Interaktionen und eines Musters, das nicht dem Allesodernichts-Prinzip folgt, sondern subtile Nuancen aufweist. Wenn ein Kind nicht lernt, solche fein abgestimmten Interaktionen mitzugestalten, kann es auch nicht die Erwartung entwickeln, dass seine Gefühle in seiner Umwelt eine Reaktion auslösen. Sie bleiben daher in gewisser Weise isoliert und -38-
nehmen lediglich an Intensität zu. Das Kind ist gezwungen, sich in globalere Reaktionen der Wut oder des Zorns, der Angst oder des Vermeidens, des Rückzugs oder der Beschäftigung mit sich selbst zu flüchten. In den ersten Lebensmonaten neigen Babys zu diesen extremeren Reaktionen. Wenn sie weinen, weinen sie sehr heftig und laut, weil sie frustriert sind, bis wir ihnen helfen, sich wieder zu beruhigen. Dies hat gewisse Ähnlichkeiten mit der so genannten Kampf-Flucht-Reaktion, einer globaleren Reaktion des menschlichen Gehirns. Aber Kinder sind nicht auf Kampf-oder-Flucht-Reaktionen beschränkt. Ihnen stehen die verschiedensten globalen Reaktionen zur Verfügung: Wut, Vermeidung, Rückzug, Beschäftigung mit sich selbst, Furcht oder impulsive Aktivität. Wenn Kinder im Alter von zwei bis zweieinhalb Jahren zu sprechen gelernt haben, sollten sie bereits auch die Fähigkeit besitzen, sich an ausführlichen Interaktionssequenzen (reziproken Interaktionen) zu beteiligen, in denen ihre unterschiedlichen Gefühle, Empfindungen und Verhaltensweisen Ausdruck finden. Solche Interaktionen bauen auf den früheren, im Alter von zwei bis vier Monaten entwickelten Mustern auf. Kinder, die diese Fähigkeit nicht erworben haben, empfinden kleine Frustrationen als Katastrophe oder reagieren grundsätzlich extrem; sie brechen leicht in Tränen aus, steigern sich in Wutanfälle hinein oder sind ihrer Erregung und Freude, ihrem Zorn oder ihrer Traurigkeit oder sogar depressiven Stimmungen ausgeliefert. Solche extremen Reaktionen stehen zu der augenblicklichen Situation in keinerlei Verhältnis. Sie zeigen aber, dass ein Teil der Gefühle, Stimmungen und Verhaltensweisen des Kindes keine Chance hatte, durch reziproke Interaktionen reguliert zu werden. Die Fähigkeit von Familien, über bestimmte Verhaltensweisen und Gefühle zu verhandeln, ist unterschiedlich ausgeprägt. Manche Familien interagieren sehr konstruktiv, wenn es um Selbstbehauptung und -39-
Wut geht, haben aber Schwierigkeiten mit Traurigkeit oder Verlustgefühlen. Bei anderen Familien verhält es sich genau umgekehrt. Die frühen Muster der Mutter-Säugling-Kommunikation schaffen die Grundlage für die späteren. Wenn das Kind gelernt hat, sein Verhalten und seine Gefühle zu regulieren, kann es zum nächsten Schritt und zur Problemlösung übergehen und sogar versuchen, die Geschehnisse in seiner Umgebung zu beeinflussen. Wenn ihm unbehaglich zumute ist, kann es etwas unternehmen, um die Situation und sein Gefühl zu verändern. Wenn ihm etwas gut gefällt, kann es seine Umgebung gezielt so verändern, dass sich sein Wohlbehagen noch steigert. Wir sehen also, dass Kinder im Alter von achtzehn bis zwanzig Monaten bereits eine Menge Erfahrung darin besitzen, äußere Bedingungen, die sie traurig oder wütend machen, zu reduzieren und jene zu erweitern, unter denen sie sich wohl fühlen. Ein wenig später, etwa zwischen zwei und zweieinhalb Jahren, können sie innere Bilder entwickeln, die wir als Symbole oder Vorstellungen bezeichnen würden, und die Gefühle, die nun sensibel reguliert werden, tatsächlich benennen. Wir beobachten dies in ihren Phantasiespielen: Sie agieren Szenen, in denen sie Wut, Fröhlichkeit oder Traurigkeit darstellen. Gut regulierte Kinder gestalten ihre Dramen detaillierter. Ihre Gefühle sind subtiler. Kinder mit extremeren Reaktionen hingegen folgen in ihren Phantasiespielen globaleren Mustern. Auf einer noch weiter fortgeschrittenen Ebene können sie beginnen, über ihre Gefühle nachzudenken und sich zu überlegen, weshalb sie glücklich oder traurig oder fröhlich sind. Diese Fähigkeit taucht im Alter zwischen drei und vier Jahren auf. Ältere Kinder können diese Gefühle im erweiterten Kontext ihrer Peerbeziehungen reflektieren und verstehen. Sie können die emotionalen Grauzonen wahrnehmen. Je älter sie werden, desto besser wird ihre Fähigkeit, über Gefühle nachzudenken. Interaktive emotionale Beziehungen spielen daher für viele -40-
unserer grundlegenden intellektuellen und sozialen Fähigkeiten eine wichtige Rolle. Von zentraler Bedeutung ist diese Art der Interaktion auch dann, wenn wir Kindern zu helfen versuchen, die auf eine besondere Förderung angewiesen sind. Indem wir Gelegenheiten zu ausführlichen, empathischen, liebevollen Interaktionen schaffen, in deren Mittelpunkt die verschiedenen Gefühle des Kindes stehen, helfen wir dem Kind langfristig dabei, zu lernen, sich zu »regulieren«, auch wenn diese Fähigkeit nicht von Beginn an vorhanden ist.8 Die Vorstellung, dass Beziehungen für die Regulation unseres Verhaltens, unserer Stimmungen und Gefühle sowie für die geistige Entwicklung unverzichtbar sind, muss stärker betont werden, wenn wir über die Umgebungen und Prioritäten nachdenken, die wir uns für unsere Kinder wünschen. Die notwendigen Interaktionen können sich in vollem Umfang nur in der Beziehung zu einer liebevollen Betreuungsperson entfalten, die dem Kind sehr viel Zeit widmet. Einer viel beschäftigten Tagesmutter, die vier Babys oder sechs oder acht Kleinkinder gleichzeitig betreut, bleibt für solche ausgedehnten Interaktionssequenzen normalerweise nicht genügend Zeit. Auch depressiven Müttern und Vätern, einer mit fünf Kindern überlasteten Betreuungsperson oder Eltern, die am Ende ihres Arbeitstages völlig erschöpft nach Hause kommen, fehlt für diese ausführlichen Interaktions- und Verhandlungsmuster gewöhnlich die Energie. Diskussion Frühe Beziehungen TBB: Wir haben die Einflusskraft und Wichtigkeit interaktiver Beziehungen kennen gelernt, als wir mit unserer Beurteilungsskala für Neugeborene arbeiteten.9 Zunächst war jeder der Ansicht, dass wir mit Neugeborenen nicht interagieren, sondern sie in Ruhe lassen sollten. Früher hatten wir die Babys einfach hingelegt und beobachtet. Und das veranlasste uns zu der Annahme, dass »Säuglinge weder sehen noch hören -41-
können« - eine aberwitzige Vorstellung. Sobald wir mit dem Baby zu interagieren begannen, es auf den Arm nahmen, um seine Aufmerksamkeit zu wecken, oder mit ihm schmusten, um es zu beruhigen, sahen wir, dass man Neugeborene zu phantastischen Dingen animieren kann. Uns wurde klar: »Hier ist eine Interaktion, die das Baby abspeichert.« Und dann kamen die Mutter und der Vater an die Reihe, die den Säugling ganz unterschiedlich behandeln, und er speichert auch diese Unterschiede ab und spiegelt sie ihnen mit sechs bis acht Wochen mit je unterschiedlichen Reaktionen zurück. Diese emotionalen Reaktionen gehen aus laufenden Interaktionen mit konstanten Betreuungspersonen hervor und sind der Schlüssel für die künftige Entwicklung. SIG: Wir können heute behaupten, dass das Wachstum von Geist und Gehirn und die Entwicklung der Denkfähigkeit durch diesen frühen wechselseitigen Austausch emotionaler Signale angeregt wird und nicht etwa durch irgendeine kognitive Stimulierung, zum Beispiel mit Leselernkarten. Sowohl die emotionale als auch die geistige Entwicklung beruhen auf intensiven, tiefen, liebevollen frühen Beziehungen. Dieser Prozess wurde auch von der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschung nachgewiesen.10 TBB: Die Vorbereitungen dafür beginnen schon vor der Geburt. Wir haben sieben Monate alte Feten mit Ultraschall untersucht, um ihr Verhalten zu visualisieren. Wenn wir einen Summer mit mittlerer Lautstärke in einem Abstand von etwa 6 cm vor den Bauch der Mutter hielten, schrak der Fetus zusammen und vollführte eine Art Hüpfbewegung. Mit jedem nachfolgenden Ton wurde die Schreckreaktion schwächer. Beim vierten oder fünften Mal hörte der Fetus auf, sich zu bewegen, und führte seine Hand an den Mund, als wolle er sich trösten. Diese nachlassende Reaktion wird als Habituation (Gewöhnung) an einen normalerweise intrusiven, erschreckenden Stimulus bezeichnet. Danach haben wir eine leise Rassel vor den Bauch -42-
der Mutter gehalten. Der Fetus horchte auf, nahm die Hand vom Mund und wandte sich der Rassel zu. Wir konnten die Tatsache, dass dieses kleine Mädchen bereits intrauterin den sanften Stimulus bevorzugte, auch im visuellen Bereich nachweisen. Wir haben gesehen, dass sie an eine starke Operationslampe habituierte, nachdem wir diese drei oder vier Mal auf den Bauch gerichtet hatten. Ein kleiner Lichtpunkt auf dem Bauch hingegen weckte ihre Aufmerksamkeit und sie wandte ihm den Kopf zu. Wir hatten den Eindruck, dass diese Fähigkeit des Fetus, zu hören und zu sehen, mit der Fähigkeit gekoppelt war, beunruhigende Reize auszuschalten und attraktive Stimuli aufmerksam zu registrieren. Ich würde es befürworten, wenn man sich diese komplexen intrauterinen Reaktionen zunutze machte, um gestresste von ungestressten Feten zu unterscheiden. Ein gestresster Fetus würde vermutlich automatischer reagieren, seine Reaktionen wären weniger moduliert und zielgerichtet. Wenn wir solche Verhaltensweisen des Ungeborenen visualisieren könnten, wäre dies der Beweis dafür, dass schon in utero wichtige Lern- und Prägungsprozesse stattfinden. Bei überwältigenden Stressfaktoren, zum Beispiel Unterernährung oder Beeinträchtigung durch Gifte wie Alkohol oder Drogen, müsste man den Schluss ziehen, dass vermutlich auch diese Lernprozesse beeinträchtigt werden. SIG: Gestern habe ich in meiner Praxis einen zwei Monate alten Jungen untersucht und beobachtet, wie er mit seinem Vater flirtete: Er lächelte ihn zaghaft an, woraufhin der Vater übers ganze Gesicht strahlte und seinen Sohn anblickte. Wir haben auch Babys untersucht, die infolge bestimmter Familienmuster oder physiologischer Schwierigkeiten nicht in der Lage sind, ihre Gefühle so einfach zu signalisieren. Oft aber können sie es lernen. Du hast diese frühen wechselseitigen Signale in deinen Filmen und Videos demonstriert. Das wichtige daran ist, dass sich diese Austauschvorgänge in den ersten Lebensmonaten -43-
abspielen, also lange bevor sich das Baby mit etwa acht, neun Monaten selbstständig fortzubewegen lernt. Dann kann es ein Spielzeug zu sich heranziehen, Freude oder Traurigkeit aber kann es schon viel früher signalisieren. Das Affektsystem entwickelt sich früher als die motorische Kontrolle. Jeder Stufe der kognitiven Entwicklung geht eine frühere Stufe im Affektbereich voraus, eine Vorstufe der Interaktionen mit der gegenständlichen Welt. Dieses emotionale System ist die erste Möglichkeit des Babys, die Welt kennen zu lernen, und es setzt die kognitive Entwicklung in Gang. Auch das Selbstgefühl taucht hier auf. Ohne eine Grenze zwischen den eigenen Gefühlen und den Gefühlen, die von außen zurückkommen, kann man kein Selbstgefühl entwickeln. Die einzige Grundlage dafür sind interpersonale Beziehungen. Ohne ein Selbstgefühl gibt es keine Realitätsprüfung. Sie setzt ebenfalls im ersten Lebensjahr ein, aber das Kind praktiziert sie dann im zweiten oder dritten Jahr symbolisch, indem es Wörter benutzt, die eine affektive Bedeutung haben: »Ich will das haben« und »Nein, das kannst du nicht haben«. Jeder Austausch dieser Art enthält ein »ich« und ein »du« und markiert eine symbolische Grenze. TBB: Meiner Meinung nach beginnt sogar die Intentionalität schon im Mutterleib. Neugeborene verhalten sich intentional. Vor Jahren haben wir die vier Stufen affektiver Reziprozität in den ersten vier Monaten beobachtet.11 Auf der ersten Stufe lernt das Baby von der Mutter, sich zu beruhigen und eine innere Balance herzustellen, um äußere Signale aufmerksam verfolgen zu können. Danach lernt es von der Mutter, seine Aufmerksamkeit zu verlängern und auf ihre Signale zu warten. Die nächste Stufe ist dann die des wechselseitigen Lächelns und »Erzählens«, und schließlich taucht die Reziprozität auf. Die Mutter stimmt ihre Reaktionen zeitlich, rhythmisch und in ihrer Qualität auf das Lächeln und die Lautäußerungen des Babys ab. Das Baby spürt, dass sie seine Signale liest und auf sie eingeht. -44-
Auf der vierten Stufe schließlich beginnt das Kind »auszuschlüpfen«, wie Margaret Mahler es bezeichnet hat, das heißt, es wendet sich von der Mutter ab und kontrolliert die Situation selbst. Dies vermittelt ihm das Gefühl, die Kontrolle zu besitzen - ein Selbstwertgefühl. In diesem Kontext beobachtet man meiner Ansicht nach auch die ersten Stufen des kognitiven Gewahrseins. Und wenn das Baby im Alter von etwa sechs Wochen die Gerüche, Stimmen und Gesichter seiner Eltern kennt, kann man an jedem Körperteil und am Herzrhythmus ablesen, ob es gerade mit der Mutter oder mit dem Vater interagiert. Es weiß genau, dass es von jedem der beiden etwas anderes zu erwarten hat. Beruht das etwa nicht auf einer Erwartung, einem Bewusstsein, das kognitiv und emotional zugleich ist? Man kann in diesem frühen Alter unmöglich zwischen der kognitiven und der emotionalen Seite trennen. Mit sechs oder acht Wochen ist dieses Gewahrsein der Unterschiede zwischen wichtigen Betreuungspersonen das erste sichere Zeichen für die kognitive Entwicklung. SIG: Ich glaube, wir können dies noch etwas nachdrücklicher formulieren: Gefühl ist nicht nur ein Bestandteil der Kognition; es geht ihr, soweit wir es heute beurteilen können, voraus. Zu Beginn vermag das Baby sein emotionales System weit besser zu kontrollieren. Allen gängigen Kognitionstheorien zufolge muss der Säugling, um die Welt zu erforschen, zu einem gewissen Grad sein motorisches System benutzen. Das emotionale System des Kindes aber reift wahrscheinlich schon wesentlich früher und das Baby kann mit seinen Gefühlen viel mehr komplizierte Dinge tun. Natürlich enthält auch das Lächeln eine motorische Komponente, die Antriebskraft für das Lächeln (die Gesichtsmuskeln) aber ist das Gefühl. Die Fähigkeit, die Welt zu manipulieren, das heißt, statt der Mimik die Grobmotorik einzusetzen, entwickelt sich ein wenig später. Selbst ein Baby mit niedrigem Muskeltonus kann einen Affekt durch ein Augenblinzeln oder auch durch eine Bewegung seiner -45-
Zunge zu erkennen geben. Wir müssen uns darauf einstimmen. Gefühle sowie motorische und kognitive Fähigkeiten sind natürlich Teil eines großen Ganzen. Aber statt wie bislang die Intelligenzentwicklung danach zu beurteilen, wie das Kind die Welt manipuliert und erforscht, sollten wir sagen, dass das Kind, wenn es die Welt zu verstehen versucht, zuerst den Gefühlsausdruck benutzt. Die ersten affektiven Austauschvorgänge lassen sein Gespür für Kausalität entstehen. Durch das Phantasiespiel und die Interaktion mit affektiv bedeutsamen Worten (nicht durch das Lesen dieser Worte in einem Buch) entwickelt das Kind später ein Gespür für die Realitätsprüfung und beginnt, nachzudenken und logische Schlüsse zu ziehen. Die Wachstunden des Babys TBB: Kommen wir zurück zu diesen frühen Beziehungen: Eine häufige Frage der Eltern lautet, wie viel Zeit sie mit ihrem Baby verbringen sollten. SIG: Auf einer Konferenz in Wisconsin, an der Sprach- und Beschäftigungstherapeuten, Psychiater, Psychologen usw. teilnahmen, habe ich das Publikum gebeten, mir zu sagen, was sie auf die Frage antworten würden, die der Präsident auf der White House Conference gestellt hatte: »Also, wie viel Zeit ist nötig?« Die Teilnehmer vertraten einhellig die Meinung, dass etwa die Hälfte der Wachzeit mit intensiver Interaktion verbracht werden sollte, das heißt nicht nur mit Füttern und Schmusen, sondern auch mit Erzählen, Spielen usw. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Das Baby sollte den größten Teil seiner Wachzeit entweder in direkten Faceto-Face-Interaktionen mit seinen Betreuungspersonen verbringen oder diese im Blickfeld haben, damit sie ihm jederzeit dabei helfen können, die Welt zu erforschen. Man sollte ein Baby, wenn es wach ist, nie aus den Augen lassen. -46-
TBB: Dieses Thema muss auf zahlreichen verschiedenen Ebenen untersucht werden. Als ich in Kambodscha war, habe ich in einigen Kinderkrippen vierundzwanzig oder sechsundzwanzig Säuglinge gesehen, die von nur einer oder zwei Überlebenden im Teenageralter betreut wurden. In der Regel horchten zwei bis vier Babys auf, wenn ich zur Tür hereinkam und fragte: »Hallo, was treibt ihr?«, oder wenn ich zu ihnen ging, um sie direkt anzusprechen. Die übrigen zwanzig oder zweiundzwanzig Kinder zeigten keinerlei Reaktion. Sie wandten sich von mir ab, wenn ich auf sie zuging, um mit ihnen zu spielen. Die anderen vier aber gingen auf Interaktionen ein. Und dann erfuhr ich: »Ach, das sind die Kinder, die von der Betreuerin auf der Hüfte getragen werden.« Ich weiß nicht, wie viel Zeit sie mit diesen Babys verbrachte, auf jeden Fall aber war sie für sie da. Vielleicht geht es weniger um die Zeit als einfach darum, für die Kinder da zu sein. SIG: Dem stimme ich zu. Das Problem besteht vielleicht darin, dass in unserer hektischen Gesellschaft der intime Kontakt zu unseren Babys zu kurz kommt. TBB: Das Tüpfelchen auf dem i aber bedeutet es für das Baby, wenn ihm die Mutter in seiner »Sprache« antwortet. Wenn es »Guuh« sagt, antwortet sie mit »Guuh«. Und wenn es lächelt, lächelt sie zurück. Wenn wir aber von der Hälfte der Wachzeit sprechen, jagen wir den Eltern womöglich einen Schrecken ein. Wenn wir von jeweils 15minütigen Interaktionssequenzen ausgehen, liefe das auf sechzehn Episoden von jeweils 15 Minuten hinaus. Das ist sehr viel. Aber ich denke, es wäre uns nicht wohl dabei, die Messlatte niedriger anzusetzen, nicht wahr? Vielleicht müssen wir betonen, dass es viele Formen von Nähe und Intimität gibt. Es ist ungemein wichtig, einfach nur da zu sein. Im mexikanischen Hochland, wo ich ein Forschungsprojekt durchgeführt habe, haben die Mütter mit ihren Babys praktisch gar keinen direkten Blickkontakt. Aber sie tragen das Kind den ganzen Tag in einem -47-
Tuch mit sich herum und geben ihm siebzig bis neunzig Mal am Tag die Brust. Sie sind wirklich für das Baby »da«! SIG: Man kann diese gemeinsame Zeit sicherlich auf vielerlei unterschiedliche Weise verbringen. Eine Möglichkeit besteht darin, dass das Kind und die Mutter direkt miteinander spielen oder schmusen oder zusammen im Schaukelstuhl sitzen. Eine andere Möglichkeit wäre es, verfügbar zu sein und dem Kind beim Explorieren zu helfen: »Oh, schau dir das einmal an!« Solange die Mutter verfügbar ist, wird das Kind abwechselnd alleine und mit ihrer Unterstützung spielen. Die dritte Möglichkeit besteht darin, dass das Kind alleine spielt, während die Mutter sich in Sichtweite aufhält, telefoniert oder die Zeitung liest oder kocht. Wie viel Zeit sollten wir für all diese verschiedenen Formen des Zusammenseins reservieren? Vielleicht ist es von Kind zu Kind unterschiedlich. Babys, die eher ruhig und gelassen sind, oder motorisch sehr aktive und selbstständige Kinder sind auf den direkten Kontakt und die Faceto-Face-Interaktion oft in höherem Maße angewiesen. TBB: Babys sind Individuen, sie sind ganz unterschiedlich; sie haben unterschiedliche Temperamente. Mein erstes Buch, Infants and Mothers12, handelte von drei sehr unterschiedlichen Babys: (1) einem ruhigen, sensiblen, (2) einem durchschnittlichen, ganz »normalen« Baby und (3) einem sehr aktiven, fast unsensiblen Baby. Jeder dieser Säuglinge hatte, was den Kontakt zur Mutter anging, seine eigenen Bedürfnisse, und jeder schaffte sich eine charakteristische Umwelt, indem er seine Mutter entsprechend beeinflusste. Ich bin mir sicher: Wenn sich eine Mutter auf das individuelle Temperament ihres Babys einzustimmen vermag, so dass die beiden »zueinander passen« (wie Winnicott13 es beschrieben hat), dann kann sie spüren und sogar »lesen«, welche Art von »da sein« ihr Kind gerade benötigt und wie intensiv sie sich ihm widmen muss, um es in seinem Selbstwertgefühl zu bestärken und zum Lernen zu motivieren. Für das »da sein« gibt es keine allgemein gültige -48-
Regel; jede Mutter muss es sensibel auf ihr Baby abstimmen. SIG: Wenn ich mich mit Eltern unterhalte, die nicht überlastet sind, sondern genügend Zeit haben, weil vielleicht ein Elternteil nicht berufstätig ist oder weil sie Berufstätigkeit und Haushalt zwischen sich aufteilen, habe ich in den meisten Fällen den Eindruck, dass sie den größten Teil der Zeit mit dem gemeinsamen Spiel, der direkten Faceto-Face-Interaktion, dem Halten oder Schmusen oder dem unterstützten Spiel verbringen, bei dem Mutter oder Vater »in Sichtweite« bleiben (und vielleicht telefonieren oder kochen usw.) und für das Kind verfügbar sind. TBB: Werden die Eltern nicht nervös werden und vor diesem Anspruch kapitulieren, wenn sie versuchen, ihn als Maßstab zu übernehmen? Es wäre faszinierend, eine Zeitstudie durchzuführen, um herauszufinden, was tatsächlich passiert. In den 60er-Jahren hat William Caudill untersucht, was japanische Kinder im Laufe von 24 Stunden erleben. Beatrice und John Whiting haben eine Zeit lang ähnliche Daten in Afrika gesammelt, ebenso wie Hans und Mechtild Papousek. Im Jahre 1900 hat Millicent Shinn in den USA den Tagesablauf ihrer Nichte Stunde für Stunde dokumentiert. Dank dieser Untersuchungen konnte man sich ein Bild davon machen, wie Kinder in unterschiedlichen Kulturen aufwachsen. Es handelt sich um bekannte Zeitstudien, auf denen nach wie vor sehr wichtige Annahmen über die Qualität der Säuglings- und Kinderbetreuung beruhen. All diese Untersuchungen aber haben gezeigt, dass tatsächlich nur sehr wenig direkter Faceto-Face-Kontakt stattfand. Vielleicht ist dieser Kontakt weniger wichtig, als einfach »da« zu sein, mit dem Kind zusammen zu sein. Das Baby spürt durch visuelle und akustische Signale, dass die Mutter verfügbar ist. SIG: Dolores Norton aus Chicago hat eine Studie durchgeführt und 24 Stunden täglich eine Videokamera laufen -49-
lassen.14 Diese Forscherin betont unter anderem, dass gar nicht viele ausführliche Interaktionssequenzen aufgezeichnet wurden. Es gab jeweils kurze Episoden, nicht annähernd in dem zeitlichen Umfang, von dem wir hier sprechen. Das National Institute of Child Health and Development hat die Qualität der Betreuung zu Hause und in Tagesstätten erforscht und herausgefunden, dass für die Sprachentwicklung und für die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten die Sensibilität und Qualität der emotionalen Interaktionen zwischen Babys und ihren Eltern oder Betreuungspersonen ausschlaggebend sind. TBB: In den meisten anderen Kulturen bleiben die Kinder nicht so häufig und lange sich selbst überlassen wie bei uns. Die Erwachsenen tragen sie bei der Arbeit ständig mit sich herum. In Korea tragen sie die Babys auf dem Rücken. Sie interagieren kaum mit ihnen, aber vielleicht steckt ein anderes Ziel dahinter. Ihnen geht es nicht darum, die Kinder zu selbstständigen Individuen zu erziehen, sondern zu stabilen, ruhigen, kultivierten, zufriedenen Bürgern, die auch ihre Mitmenschen wahrnehmen. SIG: In unserer Gesellschaft sollen Kinder schon früh selbstständig werden. Ein gesundes acht Monate altes Baby, das in einem responsiven Haushalt heranwächst und zu krabbeln beginnt, wird eine Menge Interaktion initiieren. Daraus entwickelt sich dann immer mehr. Das Kind findet viele Gelegenheiten zur Interaktion, weil es selbst Kontakt aufnimmt zu seinen Geschwistern, zu Verwandten oder wem auch immer. Wenn wir über reziproke Interaktionen sprechen, denken wir ja nicht nur an die Betreuung durch die Mutter. Wir denken auch an den Vater, die Geschwister, den Babysitter und andere Familienmitglieder. Emotionale Interaktionen SIG: Diese intensiven emotionalen Interaktionen bereiten die Bühne. Das Baby muss etwas wollen. Diese Absicht zu mobilisieren und in eine Interaktion einzuweben vermittelt eine -50-
emotionale und zugleich kognitive Erfahrung. Jede Erfahrung hat per definitionem affektive und kognitive Elemente. Von einem hohen emotionalen Bedeutungsgehalt aber sind jene Erfahrungen, in denen sich die Wünsche des Kindes verdichten und die seine Intelligenz fördern. TBB: Ich habe Filmaufnahmen gemacht, die zeigen, dass Neugeborene unmittelbar nach der Geburt mit einem anderen Gesichtsausdruck auf ein menschliches Gesicht reagieren als auf einen Gegenstand. Geschulte Beobachter können am Gesicht des Babys ablesen, ob es gerade einen Menschen oder einen Gegenstand betrachtet. Mit dieser Fähigkeit kommen Babys auf die Welt, und frisch gebackene Eltern spüren diesen feinen Unterschied, auch wenn sie ihn nicht bewusst wahrnehmen. SIG: Dies ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Babys Erfahrungen auf der Grundlage ihrer affektiven Bedeutung zu kategorisieren beginnen. Wenn dem Säugling das menschliche Gesicht aber nicht gefällt oder wenn es keine Freude oder angenehme Aufregung in ihm auslöst, wird er diese Unterscheidung wahrscheinlich nicht treffen. TBB: Tiffany Field hat in ihren Untersuchungen gezeigt, dass das Lächeln des Babys durch eine Lächelreaktion und seine Vokalisierungen durch entsprechende Antworten verstärkt werden.15 Anders formuliert: Wenn man das macht, was das Baby zuerst macht, steigt die Chance auf eine Verstärkung der Reaktion erheblich. Das Baby ist begeistert, so als sei ihm klar geworden: »Hoppla, die machen ja genau dasselbe, was ich gerade selbst gemacht habe.« Wir haben Studien durchgeführt, um dies aus der anderen Perspektive zu untersuchen: Wie hoch ist die Chance, dass die Mutter mit einem Lächeln antwortet, wenn das Baby lächelt? Sie beträgt etwa 80% gegenüber einer entsprechenden Berührungs- oder Vokalisierungsreaktion usw. Die Chance, dass sensible Eltern ihrem Baby genau das zurückspiegeln, was es selbst gerade gemacht hat, ist ungeheuer hoch. -51-
SIG: Ja, das sind die Schlüsselelemente all der reziproken Spiele, über die wir gesprochen haben. Ein weiteres gutes theoretisches Argument für die Wichtigkeit der emotionalen Interaktion für die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung ist die Tatsache, dass durch einen beteiligten Affekt viele verschiedene Regionen des Gehirns aktiviert werden. Häufig werden die linke und rechte Hirnhälfte und unterschiedliche Komponenten gleichzeitig angesprochen. Das gesamte Affektsystem ist mitbeteiligt und breitet sich über sämtliche Teile des Kortex aus. Es gibt Verbindungen zum visuellen, zum akustischen und räumlichen System usw. Emotionale Erfahrungen können die Synthese offensichtlich gewaltig fördern. Wenn wir PET-Scans von spielenden Babys hätten, würde man mit Sicherheit sehen, dass viele Bereiche aktiviert werden, sobald die Säuglinge emotional beteiligt und engagiert sind. TBB: Erinnerst du dich an das Diagramm, das ich oft benutzte, um die Energieversorgung des zentralen Nervensystems zu demonstrieren - die beiden Kreise, das äußere Feedback-System und das innere? (Siehe Abbildung 1) Ich habe den Eindruck, dass man sowohl das innere als auch das äußere Feedback-System füttert, wenn man das, was das Baby gerade gemacht hat, nachahmt. Man sagt ihm gewissermaßen: »Das ist großartig! Das hast du gerade gemacht!« Wahrscheinlich können wir dies auch auf die Unterscheidung zwischen Gegenständen und menschlichem Gesicht beziehen: Der Gegenstand füttert lediglich ein einziges System und nicht die Vielzahl von Systemen, die du erwähnt hast. Der Gegenstand erkennt sozusagen nicht an, was das Baby gemacht hat. Wenn man die Produktionen des Babys verstärkt hat, besteht der nächste Schritt darin, abzuwarten, bis das Baby sich äußert und etwas fordert.
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Abb. 1 Drei Quellen, die die Entwicklung voranbringen
Auch hier kommt mir wieder das Konzept des »Ausschlüpfens« in den Sinn; wenn die Mutter jede Initiative, die der Säugling ergreift, respektiert, trägt sie zur Förderung seiner Ich-Entwicklung erheblich bei. Wenn sie die Forderungen des Säuglings nicht respektiert und sich über seinen Versuch, »auszuschlüpfen« und sich von ihr zu differenzieren, hinwegsetzt, kann diese Entwicklung behindert werden. Wir müssen nun sehen, wie viel verloren geht, wenn die Produktionen des Babys nicht gewürdigt und beantwortet werden. SIG: Wenn man das Signal des Babys liest und sensibel ist, entwickelt sich eine echte wechselseitige Interaktion, in der auch die Initiative des Babys Platz hat. Unsere ersten Spiele dienen im Allgemeinen dazu, das Baby zu unterhalten - wir schneiden Gesichter und wollen es dazu animieren, uns anzublicken. Aber wenn sich das Baby im Laufe des ersten Lebensjahres weiterentwickelt und das motorische System sich organisiert, können wir auch Interaktionen in Gang setzen, indem wir nach und nach dem Baby selbst die Initiative -53-
überlassen. Damit respektieren wir seine Einzigartigkeit und Individualität auf subtile Weise, nicht indem wir es einfach wegkrabbeln lassen, statt hinter ihm herzulaufen und es auf den Schoß zu nehmen, sondern indem wir seine Initiative herausfordern, so dass ein Kommunikationskreis nach dem anderen in Gang gesetzt wird. TBB: Meiner Meinung nach beginnt dies schon nach etwa zwei Monaten, wenn die Mutter auf eine Regung des Babys in derselben Sprache antwortet. Das Setup ist bereits vorhanden. Es ist vielleicht noch nicht sehr deutlich zu erkennen, aber wenn die Mutter abwartet und das Verhalten des Kindes dann nachahmt, kann sie es verstärken. SIG: Ja, das beginnt schon sehr früh. Je stärker man die Initiative des Babys respektiert und auf seine Einladungen eingeht, vor allem auf die frühen Gefühlsäußerungen - auf das erwartungsvolle Lächeln oder den neugierigen Blick -, desto früher setzt der Prozess ein. Er spielt sich im Rahmen der Beziehung ab, die man aufbaut. Individuation, Differenzierung (der Rhythmus des Hin und Her) und Beziehungsaufnahme sind Bestandteile ein und desselben Prozesses. Babys lernen zu lieben, indem sie sich in ihrer Einzigartigkeit respektiert fühlen. TBB: In dieser frühen Phase respektiert die Mutter auch das Homöostasesystem. Das Baby baut einen Erregungshöhepunkt auf und erhält dann Gelegenheit, ihn wieder herunterzufahren. Mit einem Baby zu spielen bedeutet, dass man sein physiologisches System ebenso wie sein motorisches, sein affektives und sein kognitives System respektiert. SIG: Mit anderen Worten: Diese erste Beziehung muss durch eine sensible Synchronizität zwischen den Systemen des Babys und denjenigen seiner Betreuungsperson, der Mutter, des Vaters oder eines anderen Menschen, charakterisiert sein. TBB: Wenn wir dieses Grundbedürfnis definieren, wollen wir vermitteln, dass die Beziehung zwischen dem Baby und seinen -54-
Bezugspersonen ein einheitliches System bildet. Genau dies haben wir in unserer Fernsehsendung »What Every Baby Knows« zu zeigen versucht. Ich wollte den Zuschauern im Grunde vor Augen führen, dass sie das Verhalten ihres Kindes wie eine Sprache auffassen und es als solche respektieren müssen. Wenn wir Eltern dazu bewegen können, dieses Verhalten aufmerksam zu beobachten, es zu respektieren und angemessen auf das, was das Kind tut, einzugehen, können wir die frühe Gehirnentwicklung fördern. SIG: Du hast sogar eine noch wichtigere Botschaft vermittelt, indem du erklärtest, dass die emotionale Beziehung der Mutter zu ihrem Baby, in der diese Sprache ihren Ausdruck findet, den ersten Schritt der Entwicklung bildet. Das ist keineswegs selbstverständlich. Dieser Schritt bildet sozusagen den Eckstein und das Fundament. Die Signale des Babys zu lesen und eine Beziehung aufzubauen setzt ein hohes Maß an affektiver Synchronizität voraus. Man muss an seinem Baby sehr große Freude haben können. Man muss sich als Teil von ihm fühlen und gleichzeitig reziprok mit ihm interagieren können. Es ist eine schwere psychische Aufgabe, die Initiative des Babys und seine Eigenarten zu respektieren. Das geht nicht auf die Schnelle, sondern erfordert eine intensive Beziehung zu ihm. Sie entscheidet über die Qualität der Empathie und Synchronizität. TBB: Dies bringt mich zu einer anderen Frage: Ist ein Trauma schlimmer als ein Rückzug der Affektivität oder als ein Affektmangel? Wenn die Grundlage für das Vertrauen vorhanden ist, scheinen Kinder ein Trauma, das nicht allzu schwer ist, bewältigen zu können. Es hat mich immer beeindruckt, dass Kinder mit einer stabilen frühen Beziehung fest mit Reaktionen rechnen und nicht aufgeben, sie einzufordern. Wir sehen dies in unseren Still-Face-Studien16, bei denen die Mutter vorübergehend nicht auf das Baby reagiert. Es gibt nicht auf, sondern versucht auf alle mögliche Art und Weise, die Mutter zu einer Reaktion zu bewegen, weil es diese -55-
Erwartung hat, dass sie zu ihm zurückkehrt und es ihm gelingen wird, sie zurückzuholen. Wenn die Mutter aber so depressiv ist, dass sie nicht reagieren kann, und die Versuche des Babys, sie zur Interaktion zu animieren, oft gescheitert sind, resigniert es nicht erst nach etwa fünfzehn, sondern schon nach drei Versuchen. Dies kann für die weitere Entwicklung gefährlich sein. Hier geht es um die Grundlage, um das sichere Fundament, das die Mutter errichten muss. Sobald die Basis vorhanden ist, kann das Baby eine größere Widerstandsfähigkeit und Hartnäckigkeit entwickeln. SIG: Am schlimmsten ist es für ein Baby, in seinem Leben niemanden zu haben, von dem es geliebt wird und auf dessen Liebe es sich verlassen kann. Wenn eine solche Person fehlt, weil der Säugling zum Beispiel in einem Heim untergebracht ist oder weil seine Betreuungsperson ambivalent oder unzuverlässig ist, dann wird das Bedürfnis, das wir hier definieren, nicht befriedigt. Am schlimmsten ist die Situation, in der das Baby überhaupt keine oder eine unsichere Beziehung hat. Kinder klammern sich eher an einen Elternteil, der sie misshandelt, als sich einer unbekannten Situation auszuliefern. Die größte Angst des Kindes ist die Angst vor dem Verlust einer primären Beziehung. Wenn wir von dieser positiven, liebevoll unterstützenden Beziehung sprechen, denken wir nicht an ein Shangri-La ohne Kummer, Wut, Ärger, Trotz. Schon nach ein paar Monaten können wir all diese Gefühle in einem Baby wahrnehmen. Eine Mutter, die sie als Teil der Beziehung begreift und eine realistische Vorstellung von Beziehungen hat, kann das Baby besser umsorgen. Wenn sich die Betreuungsperson verschließt und sich von dem Baby zurückzieht, sobald es zornig wird, vermittelt sie ihm den Eindruck, dass Wut zu Verlust und Distanzierung führt. Wenn Mütter auch für ein wütendes Baby da sind und es trösten, wird es die Veränderung in ihrem Tonfall erkennen (»Oh, du bist aber wütend auf mich. Na komm, lass sehen, was wir tun können.«). Es nimmt die Botschaft wahr, dass zu der Beziehung vielerlei -56-
unterschiedliche Gefühle gehören, Freude und Vertrauen, aber auch Wut, Ärger, Enttäuschung, Trotz, Negativismus. Das Baby lernt, dass es wütend oder trotzig sein darf und ihm die Mutter dennoch nicht verloren geht. TBB: Mein Mitarbeiter Joshua Sparrow hat eine Formulierung dafür gefunden. Er sagt, dass das Kind »die Toleranz für den negativen Affekt testet«. Meiner Meinung nach ist es interessant, dass Kinder diese Toleranz in ihrem ganzen zweiten Lebensjahr auf die Probe stellen. SIG: Das Kind muss darauf vertrauen können, dass es sich abwenden oder sich schlecht fühlen darf und Mama oder Papa trotzdem dableiben. Wenn es darauf zählen kann, kann es mit Trennung, Wut, Trotz und Erregung experimentieren. Wenn es sich seiner Mutter aber nicht sicher ist, muss es mit seinem Negativismus weit vorsichtiger umgehen. TBB: Das Syndrom des »hilflosen Kindes« ist das genaue Gegenteil. Die Mutter überlässt dem Kind nie die Kontrolle und behält es unentwegt im Auge. Indem sie das Baby überbehütet, nimmt sie ihm die Möglichkeit, auf sein eigenes inneres Feedback zu hören. Es wird allzu abhängig von ihren Signalen und ihrer Kontrolle und bekommt nie die Chance zu lernen, sich auf sich selbst zu verlassen. SIG: Wenn die Mutter nur ihrem eigenen Rhythmus folgt und dem Baby nie die Initiative überlässt, ist es zwar irgendwie eine Beziehung, aber keine ausgewogene, weil sie sich nicht wirklich in das Kind einfühlt. TBB: Das müssen Eltern wissen. Sie müssen wissen, dass das Baby mit der negativen Seite zurechtkommt und dass auch sie selbst damit fertig werden. So entwickelt sich ein Gleichgewicht von wechselseitiger Erwartung und gegenseitigem Vertrauen, eine Dyade, in der beide Partner einander anerkennen und respektieren. SIG: Auf dieser Grundlage wird die Beziehung schon früh zu -57-
einer integrierten Erfahrung. In der Psychoanalyse sprechen wir von Ich-Spaltung und polarisierten Affektzuständen. Ich glaube, sie lassen sich schon im zweiten Lebensjahr beobachten, wenn die Bezugspersonen nicht imstande sind, das Kleinkind auch in seinen Wutzuständen angemessen zu begleiten. Das Kind hält Wut und Liebe voneinander getrennt. Wenn es aber auch in seiner Wut und bei anderen intensiven Gefühlen liebevoll begleitet wird, kann es lernen, dass diese unterschiedlichen Gefühle, zum Beispiel Liebe und Hass, miteinander vereinbar sind. TBB: In unseren Touchpoints-Kursen17 weise ich grundsätzlich darauf hin, dass negative Aggression zwangsläufig sowohl im Baby als auch in der Mutter auftauchen wird. Leidenschaft ist immer positiv und negativ, niemals nur positiv. Ohne die negative Seite wäre es keine Leidenschaft. Dies müssen wir meiner Ansicht nach betonen. SIG: Es ist notwendig, zwischen diesen negativen Gefühlen und traumatischen Erfahrungen zu unterscheiden. Die Traumaforschung hat gezeigt, welche physiologischen und emotionalen Reaktionen Kinder unter schwerem Stress entwickeln. Diese Art von Extremstress lässt sich an Babys beobachten, die keine liebevolle, sichere Basis besitzen. Wenn eine Erfahrung überwältigende Angst erregt, zum Beispiel wenn ein Kind sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt wird, dann übernimmt das Stresssystem die Kontrolle. Misshandelte Babys sind überwachsam und extrem ängstlich. Diese physiologischen Muster sind nicht zwangsläufig irreversibel. Wenn man sich liebevoll um ein solches Baby kümmert und ihm Sicherheit und Wohlbehagen vermitteln kann, wird es diese negativen Erfahrungen als Bestandteile von Beziehungen integrieren, auch wenn es eine Zeit lang dauert, und sich zufrieden stellend entwickeln (sofern es den Belastungen nicht allzu lange ausgesetzt war und seine motorische und kognitive Entwicklung nicht entgleist oder -58-
mehrere Entwicklungsphasen beeinträchtigt worden sind). Zuallererst aber muss eine beständige, liebevolle, intime Beziehung gewährleistet sein; sie ist das Instrument, das dem Baby dabei helfen kann, sich von Stress zu erholen. Bei chronischem Stress kann der Erholungsprozess natürlich Jahre dauern. Scheidung und Sorgerecht TBB: Wie können wir diese stabile primäre Beziehung in einer Scheidungssituation aufrechterhalten? Wie verhält es sich mit dem Sorge- oder Besuchsrecht? Ich werde ständig nach dem gemeinsamen Sorgerecht gefragt. Wir müssen uns auch Gedanken über das Besuchsrecht oder die Übernachtungsregelungen machen. Ab wann kann ein Baby anderswo übernachten? SIG: Wenn geschiedene Eltern nicht weit voneinander entfernt wohnen und beide gute Betreuungspersonen sind, würde ich empfehlen, dass sie die Beziehung zum Kind möglichst ähnlich gestalten wie während ihrer Ehe. Ideal ist es, wenn beide Eltern das Kind täglich sehen. Auf diese Weise kann es sich bei beiden sicher und wohl fühlen. Wenn Vater und Mutter viel Zeit mit dem Baby verbringen und ihm tatsächlich Sicherheit vermitteln können (so dass es sich von beiden trösten lässt, wenn es aus der Fassung gerät), dann kann es schon früh auch bei dem Elternteil übernachten, der nicht mit ihm zusammenlebt. In der Regel aber wird das Kind mit einem Elternteil wesentlich mehr Zeit verbringen als mit dem anderen. Unter diesen Umständen wäre mir bei Übernachtungen vor Ende des dritten Lebensjahres nicht wohl zumute. Und selbst dann hängt alles von den individuellen Umständen ab und davon, ob das Kind mit der Situation gut zurechtkommt oder nicht. Zwar muss man grundsätzlich die individuellen Umstände berücksichtigen, aber im Allgemeinen sollte sich das Kind bei der primären -59-
Bezugsperson aufhalten und dort vom anderen Elternteil besucht werden. Je mehr dieser mit dem Baby spielt, es tröstet und füttert und ihm zeigt, dass es sich bei ihm sicher fühlen kann, desto schneller kann man Übernachtungen in Betracht ziehen. Wenn die zweite Bezugsperson das Kind zum Beispiel viermal pro Woche sieht, ergibt sich dies nach und nach auf natürliche Weise. Ich wurde im Fall eines vierjährigen Kindes um Rat gebeten, dessen Vater mit ihm zweiwöchige Sommerferien machen wollte. Ich habe vorgeschlagen, die Mutter auch mitzunehmen und als komplette Familie Urlaub zu machen. Ich habe davon abgeraten, das Kind derart lange von seiner Mutter zu trennen. Es war vorher nie länger als maximal drei Tage von ihr getrennt gewesen. Der Sprung von drei Tagen zu zwei Wochen erschien mir einfach zu groß. Man kann die Dauer allmählich strecken, aber nicht von heute auf morgen. Für dieses Kind haben wir einen Kompromiss ausgearbeitet. TBB: Ich denke, dass drei Jahre der richtige Zeitpunkt sind, um es mit Übernachtungen zu versuchen. Wenn das Kind nachts allein zurechtkommt und alleine schlafen kann, könnte man sagen, dass es so weit ist. Aber man sollte sich auch hier nach dem Temperament des Kindes richten und nach seiner Reaktion auf die Trennung von dem Elternteil, bei dem es lebt. SIG: Würdest du einem Familienrichter sagen, dass einem zweijährigen oder achtzehn Monate alten Kind, das seinen Vater normalerweise nicht oft sieht, keinesfalls eine Wochenendtrennung von der Mutter mit drei Übernachtungen zugemutet werden darf? TBB: Wahrscheinlich ja. SIG: Das Kind sollte also zum Beispiel im Sommer auf keinen Fall für eine Woche oder länger von der primären Betreuungsperson getrennt werden? Trotzdem erleben wir es immer wieder, dass Familienrichter solche Trennungen -60-
anordnen. Ich hatte einen entsprechenden Fall in meiner Praxis. Es hat zwei Monate lang gedauert, bis sich das Kind nach einem viel zu langen Aufenthalt bei seinem Vater erholt hatte und sich bei seiner Mutter wieder sicher fühlte. Es war einfach noch nicht so weit. Häufige Besuche tagsüber sind eine hervorragende Möglichkeit für das Kind, auch bei seinem zweiten Elternteil ein stabiles Sicherheitsgefühl zu entwickeln. TBB: Was das gemeinsame Sorgerecht betrifft, so benötigen wir bessere Richtlinien.18 Die entscheidende Frage lautet, ob die Eltern mit ihrer Wut und ihren Rivalitätsgefühlen so umgehen können, dass sie das Kind nicht mit hineinziehen. Der zuverlässigste Prädiktor für die künftigen Scheidungskinder ist die Frage, ob ihnen die antagonistischen Gefühle der Eltern erspart bleiben. Scheidungskinder fühlen sich immer schuldig, sie haben immer das Gefühl, dass sich ihre Eltern nicht getrennt hätten und die Familie nicht zerstört worden wäre, wenn sie selbst bessere Kinder gewesen wären. Die andere Angst ist die, ganz allein gelassen zu werden: »Wenn mich mein Vater verlassen kann, könnte irgendwann womöglich auch meine Mutter gehen.« Die Besuche des Elternteils, bei dem das Kind nicht lebt, müssen vorab vereinbart werden. Das Kind muss sich auf sie verlassen können und sie dürfen seinen Tagesablauf nicht durcheinander bringen. Die tägliche Routine vermittelt dem Kind ein hohes Maß an Sicherheit. Übernachtungen und Trennungen müssen als potenzielles Risiko für das Kind ernst genommen werden. Und trotzdem muss auch der zweite Elternteil verfügbar sein. Bei jeder Entscheidung sind viele Faktoren zu berücksichtigen: die Entwicklungsphase des Kindes, seine Anpassung an die Scheidungssituation, die Verlässlichkeit, mit der beide Elternteile ihre Versprechungen gegenüber dem Kind halten. Regelmäßige Besuche sind ideal, solange sie das tägliche Familienleben nicht unterbrechen. Das Wohl des Kindes steht an erster Stelle. (Siehe die Empfehlungen für Familienrechtsprechung am Schluss dieses Kapitels.) -61-
SIG: Manche Eltern haben es so eingerichtet, dass sie abwechselnd beim Kind wohnen. Sie sind der Meinung, dass Kinder ihr eigenes Zimmer und ein Zuhause als sichere Basis brauchen. Deshalb pendeln sie selbst hin und her. Wenn die Familien wohlhabend sind und es sich leisten können, das ehemals gemeinsame Heim zu behalten und sich darüber hinaus jeder eine Wohnung einzurichten, verbringt jeder von ihnen die eine Hälfte der Woche beim Kind und die andere in seiner Wohnung. Natürlich ist das ziemlich kompliziert und erfordert eine Menge Organisation. TBB: Wenn wir den Eltern zeigen, worauf man achten muss, und ihnen ein paar elementare Richtlinien an die Hand geben, damit das Kind durch das Pendeln zwischen ihren Wohnungen oder durch Übernachtungsregelungen nicht überfordert oder in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird, könnten sie selbst vernünftige Entscheidungen treffen. SIG: Wie gesagt, das Problem besteht nach wie vor darin, dass die Kinder unter Umständen allzu früh von dem Elternteil, bei dem sie leben, für verlängerte Wochenenden oder gar für ein- oder zweiwöchige Ferien getrennt werden. Die meisten Drei- oder Vierjährigen können eine zweiwöchige Trennung von ihrer primären Bezugsperson nicht verkraften. Sobald die Kinder fünf, sechs oder sieben Jahre alt sind, gibt es in der Regel keine Probleme mehr. Wenn man solche Trennungen nach und nach ausdehnt und die zweite Bezugsperson das Kind täglich besucht, vollzieht sich der Übergang rascher. Der zweite Grundsatz, auf den ich bei Scheidungen achte, ist der leichte Zugang zu beiden Eltern. Die Eltern sollten, sofern sie nicht im selben Haus bleiben, nicht weit voneinander entfernt wohnen, damit die etwas älteren Kinder sie jederzeit zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen können. Dann spielt es auch keine Rolle, in welchem Haushalt sie leben, denn die Schule ist ebenfalls in der Nähe, und sie können ihre Freunde an beiden Orten sehen. Dies gibt ihnen auch eher die Möglichkeit, selbst -62-
zu entscheiden, wann sie ihre Mutter oder ihren Vater sehen wollen. Am besten ist es immer, wenn das Kind die Nähe zu den Eltern aus eigenem Antrieb suchen kann. Dies hat sich bei einigen Kindern sehr gut bewährt. Aber nur sehr reife Eltern schaffen es, die Interessen der Kinder an erste Stelle zu setzen. Wenn sich Eltern haben scheiden lassen, erkläre ich ihnen, dass sie durch die Kinder lebenslang miteinander verbunden bleiben, egal, was passiert ist. Sie sind miteinander verwandt und gehören zu ein und derselben Familie, auch wenn ihnen das nicht gefällt. Es geht einzig darum, ob sie sich im Interesse der Kinder arrangieren und einigen können oder ob sie den Kindern Steine in den Weg legen wollen. Sie können den Kontakt zueinander nicht abbrechen. Die Kinder brauchen beide Eltern. Manche Eltern benötigen eine längere Therapie. Andere können die Situation allein bewältigen. TBB: Wir gehen nach wie vor davon aus, dass sich das Kind in den ersten Phasen seines Lebens auf eine konstante, liebevolle primäre Betreuungsperson verlassen konnte, die ihre Verantwortung ernst genommen hat. SIG: Idealerweise sollte es von Anfang an zwei primäre Bezugspersonen geben. Aber das ist heute selten. Die meisten Eltern, die zusammenleben, halten es nicht für erstrebenswert, die linke und die rechte Hand gemeinsam zu benutzen, damit das Kind zwei primäre Bezugspersonen hat. Sie gestalten die Situation eher so, dass das Kind eine primäre und eine sekundäre Bezugsperson hat. Bei zwei primären Betreuungspersonen könnten all diese Entscheidungen leichter getroffen werden, aber damit muss man schon früh anfangen. Zumeist sieht es anders aus. Wie können sich Gerichte ein Bild von der Situation machen? TBB: Die Familiengerichte sind überlastet. Sie haben nicht genügend Zeit. Sie haben keinerlei Unterstützung, um die Situation der Eltern und des Kindes einschätzen zu können. Wenn sie all die notwendigen Informationen bekämen, könnten -63-
sie vielleicht auch im Rahmen der Zeit, die ihnen für jedes Kind zur Verfügung steht, angemessenere Entscheidungen treffen. SIG: Die Realität der Rechtsprechung beruht auf falschen Vorstellungen, zum Beispiel auf der Annahme, dass man einen Zweijährigen ohne weiteres von seiner primären Betreuungsperson trennen kann. TBB: Gleichzeitig ist es natürlich notwendig, auch den Bedürfnissen der Väter Rechnung zu tragen. Dies geschieht mittlerweile zu einem gewissen Grad, aber zuvor ging es lediglich um die Mütter, denen in der Regel das alleinige Sorgerecht zugesprochen wurde. Das gemeinsame Sorgerecht war die Ausnahme. Mittlerweile haben die Gerichte erkannt, dass sie versuchen sollten, die Väter sowohl aus finanziellen als auch aus anderen Gründen stärker zu beteiligen. Sie haben beachtliche Anstrengungen unternommen, um die Väter mit einzubeziehen. So kam das gemeinsame Sorgerecht zustande, das aber gelegentlich zu wirklich verrückten Entscheidungen führt. Mich haben zum Beispiel die Eltern eines sieben Monate alten Babys angerufen. Sie berichteten mir, dass das Kind auf richterlichen Beschluss jeweils die Hälfte der Woche bei der Mutter beziehungsweise beim Vater verbringen solle. Die Mutter lebte in San Francisco, der Vater in Chicago. Sie kamen in unser Beratungszentrum und haben sich dort nach einigen Tagen auf eine bessere Lösung geeinigt. Nachdem sich jemand die Zeit genommen hatte, um ihnen zu erklären, worauf es für das Kind ankommt, konnten sie selbst aktiv werden. Ein anderer Faktor, der guten Entscheidungen heutzutage im Weg steht, ist die Übergewichtung der familiären Solidarität der Versuch, Familien um jeden Preis zusammenzuhalten. So etwas kann sehr destruktiv sein. Meiner Ansicht nach müssen wir darum kämpfen, dass die Entwicklung und die Bedürfnisse des Kindes und die Fähigkeiten beider Eltern sorgfältig beurteilt werden. Auf dieser Grundlage könnten die Gerichte den Eltern dabei helfen, im Interesse ihrer Kinder zu kooperieren. -64-
Kinderkrippen und Krabbelstuben SIG: Wenn Eltern die Wahl haben und es ihnen möglich ist, das Kind selbst optimal zu versorgen, halte ich es für das Beste, Säuglinge oder Kleinkinder in den beiden ersten Lebensjahren nicht für dreißig bis vierzig Stunden pro Woche anderswo unterzubringen. Aktuelle Forschungen und meine eigenen klinischen Beobachtungen zeigen, dass die meisten Krippen und Krabbelstuben keine optimale Betreuung gewährleisten. Die Qualität der Interaktion zwischen Betreuern und Babys lässt häufig zu wünschen übrig. Wenn vier Babys unter einem Jahr oder sechs Kleinkinder von einer einzigen Betreuungsperson versorgt werden, das Personal häufig wechselt, unterbezahlt ist und über keine angemessene Ausbildung verfügt und die Kinder sich zudem ohnehin Jahr für Jahr an eine neue Betreuerin gewöhnen müssen, ist eine optimale, konstante, liebevolle und zuverlässige Versorgung in diesen ersten Lebensjahren kaum gewährleistet. Die Frage ist, ob die Eltern in der Lage sind, zurückzuschalten und sich wieder selbst um ihre Babys zu kümmern oder die Unterbringung in Tageszentren zeitlich zu begrenzen. TBB: Mir wäre es lieb, wenn es solche Einrichtungen für Babys und Kleinkinder gar nicht geben müsste, aber ich glaube, dass sich heute sehr viele Eltern tatsächlich nicht ganztägig um ihre kleinen Kinder kümmern können. SIG: Liegt das auch daran, dass die Menschen heutzutage anders aufwachsen? TBB: Die Erwartungen haben sich verändert. Das gilt auch für die Ehe in einer Gesellschaft, in der die Scheidungsrate bis zu 50% in den Großstädten liegt. Die Erwartungen an die Ehe haben sich verändert. Ich glaube, ebenso verhält es sich in Bezug auf die Vorstellung, dass Mütter zu Hause bleiben sollten. Für die früheren Generationen war es selbstverständlich, dass Mütter die Kinder und den Haushalt versorgten, es fiel den -65-
Frauen folglich leichter als heutzutage. Die Erwartungen haben sich vollkommen gewandelt, und es ist schwer, diese Entwicklung rückgängig zu machen. SIG: Wenn wir dies aber vom Standpunkt eines Kindes betrachten, das im ersten Lebensjahr ganztags, vierzig Stunden pro Woche oder mehr, in einer Einrichtung untergebracht wird wie soll es unter diesen Umständen Beziehungen entwickeln? TBB: Babys können zahlreiche bedeutsame Bindungen aufbauen. Natürlich würde ich es vorziehen, wenn die Eltern an erster Stelle stehen und die Beziehungen zu allen anderen Personen sekundär sind. Ich habe vor kurzem eine Kinderkrippe besucht, als gerade alle Mütter anwesend waren. Nach einer Weile war nur noch eine Mutter da, und alle Kinder suchten ihre Nähe. Ich wandte mich den sehr begabten Betreuerinnen zu und meinte: »Die Kleinen lassen Sie offenbar alle im Stich, oder?« Die Betreuerinnen antworteten: »Sobald eine Mutter hier ist, sind wir für die Babys nicht mehr existent.« Die Kinder unterschieden bereits zwischen den Betreuungspersonen. Es muss nicht einmal die eigene Mutter sein; es muss nur eine Mutter sein. SIG: Das ist nicht gerade ermunternd. Ich habe in Krabbelstuben eine Menge emotional ausgehungerte Kleinkinder gesehen. Sobald ein neuer Erwachsener auftaucht, suchen die Kinder seine Nähe und klammern sich an ihn. Dieses Klammern an jede Mutter, die gerade da ist, bringt zum Teil nichts anderes zum Ausdruck als die Suche nach jemandem, der ihnen ein bisschen Aufmerksamkeit schenkt. Sie gilt gar nicht unbedingt einer bestimmten Person. Das lässt sich in Einrichtungen wie zum Beispiel Waisenhäusern beobachten, in denen die Kinder emotional depriviert sind. Hin und wieder eine flüchtige Interaktion beim Füttern oder Wickeln - das reicht einfach nicht, um ihnen die notwendige Sicherheit zu vermitteln und das Gefühl zu geben, dass sich wirklich jemand um sie kümmert. -66-
Wenn wir den Eltern flexible Optionen anbieten wollen, müssen wir die Situation in den Tagesstätten verbessern und gleichzeitig die Stundenzahl, die Babys und Kleinkinder in solchen Einrichtungen verbringen, reduzieren. TBB: Auch hier muss die Entscheidung meiner Ansicht nach von Fall zu Fall getroffen werden. Wir müssen die individuellen Umstände berücksichtigen, statt den Eltern pauschal vorzuschreiben, wie sie sich verhalten sollen. Manche Mütter kommen mit ihren Kindern besser zurecht, wenn sie gelegentlich eine Auszeit nehmen können. Aber dann braucht das Kind eine optimale sekundäre Bezugsperson. SIG: Wenn ich mich mit Studenten unterhalte, frage ich sie oft, wie sie sich ihr Leben vorstellen, wenn sie einmal Kinder haben werden. Wenn sie sich beruflich qualifizieren und irgendwann heiraten wollen - tragen sie der Kindererziehung in ebenso hohem Maße Rechnung wie den Anforderungen ihres Berufs? Sind sie mit einer Neurochirurgin zusammen oder wollen sie selbst Neurochirurgen werden? Wünschen sie sich mehrere Kinder? Zwei Neurochirurgen mit vier Kindern! Ein solches Leben ist wahrscheinlich schwieriger und strapaziöser, als sie es sich vorstellen können. Wenn hingegen zwei Menschen, die beide berufstätig sein wollen, heiraten und der Mann zum Beispiel Schriftsteller ist und seine Frau Psychologin, können sie ihre Zeit besser einplanen. Sie können beide nur zwei Drittel der üblichen Zeit arbeiten oder einer arbeitet halbtags, der andere ganztags, und eine Tagesmutter kümmert sich stundenweise um das Kind. Viele dieser künftigen Eltern aber machen sich darüber noch gar keine Gedanken. Sie wünschen sich Kinder und eine erfolgreiche Karriere und sehen darin überhaupt kein Problem. Ihnen wird heutzutage der Eindruck vermittelt, als sei die ganztägige aushäusige Betreuung des Babys mindestens so gut, wenn nicht besser als das, was sie selbst dem Kind bieten können: »Ich bekomme mein Kind, nehme zwei Monate Urlaub und bringe es dann in der Krippe -67-
unter. Ich werde als Rechtsanwältin arbeiten, mein Mann ist ebenfalls Anwalt. Wir arbeiten bis 20.00 Uhr. Dann holen wir das Baby ab, fahren nach Hause und spielen noch eine Stunde mit ihm.« Ich kann mir nicht vorstellen, wie das Bedürfnis der Kinder nach liebevoller Fürsorge und Sicherheit in solchen Familien befriedigt werden soll. TBB: Wenn ich eine solche Familie kennen lerne, spüre ich, dass alle Beteiligten sehr unglücklich sind. Diese Art, ein Kind zu behandeln, geht so radikal an seinen Interessen vorbei, dass sich das System nur durch massive Verleugnung aufrechterhalten lässt. Irgendetwas ist so schmerzhaft, dass sich die Eltern hinter ihrer Abwehr verstecken müssen. SIG: Aber wie sieht unsere Rolle dabei aus? Unterstützen wir diese Art der Verleugnung oder helfen wir den Eltern, sie aufzugeben? Wenn junge Eltern schon früh über anstehende Entscheidungen nachdenken, richten sie sich mitunter intuitiv darauf ein, mehr Zeit zu Hause zu verbringen; manchmal bleibt die Mutter, manchmal der Vater zu Hause. Eltern, deren Ambivalenz stärker ausgeprägt ist und die zur Verleugnung neigen, suchen oft nach Orientierungshilfen. Aber sie bekommen eine Menge irreführender Informationen. Man erklärt ihnen, dass es egal sei. Wenn künftige Eltern mehr über die Notwendigkeit einer konstanten, engen Beziehung wüssten, könnten sie realistischer planen. Sie würden sehen, wie schwer es ist, eine solche Beziehung aufzubauen, wenn beide Elternteile voll berufstätig sind und das Baby seine Tage in der Krippe verbringt. Wenn Eltern wissen, was auf dem Spiel steht, können sie realistischer entscheiden. Wenn sie sich zum Beispiel einen guten Babysitter leisten können, der zu ihnen nach Hause kommt, könnte dieser das Kind mehrere Jahre lang betreuen. In den Tagesstätten ist die Personalfluktuation oft so hoch, dass es möglicherweise innerhalb eines Jahres zwei oder drei Wechsel bei den Betreuungspersonen gibt. Nach einem Jahr in der Krippe hat das Baby dann unter Umständen außer der Leiterin drei -68-
verschiedene Betreuer gehabt. Niedrige Gehälter, mangelnde Ausbildung usw., all das ist für diese Situation mit verantwortlich. Die Betreuerin in einer Krippe ist nicht mit der Meta peleth in einem israelischen Kibbuz zu vergleichen, die vier oder fünf Jahre lang zuverlässig für die Kinder da ist. Es muss nicht unbedingt die Mutter sein. Auch der Vater oder der Opa oder die Oma kann sich um das Kind kümmern. Es braucht eine Bezugsperson in seinem Leben, auf die langfristig Verlass ist. TBB: Um die Situation in den Einrichtungen zu verbessern, sollte ein Erwachsener maximal drei Babys unter zwölf Monaten betreuen. Das wäre das absolute Maximum. Heute kommen vier Babys auf eine Betreuerin. Dabei können wir uns doch alle vorstellen, wie schwer es für eine Mutter von Drillingen ist, alle drei Kinder gleichzeitig zu versorgen. SIE: Berry, würdest du empfehlen, dass die Bezugspersonen in den ersten drei oder vier Lebensjahren grundsätzlich nicht wechseln sollten? Man könnte es zum Beispiel so einrichten, dass eine Gruppe von Betreuerinnen jeweils mehrere Jahre lang für eine Gruppe von Kindern zuständig ist. TBB: Das funktioniert, solange die Betreuerinnen jedes Baby wirklich gern haben. Aber was passiert, wenn dies nicht der Fall ist? Soll man das Kind dann in einer anderen Gruppe unterbringen? Man könnte versuchen herauszufinden, ob die Betreuerinnen und die Babys gut zueinander passen, so wie man auch Mutter-Baby-Paare danach beurteilt, wie gut sie zueinander passen und wo es vielleicht hapert. Wenn die Kinder dann zwei oder drei Jahre alt sind, könnte man die Dreiergruppe um ein Kind vergrößern. Dieses Kind käme dann vermutlich zu einer neuen Betreuerin. SIG: Man könnte ein Kind von außerhalb in die Gruppe aufnehmen, das vorher zu Hause versorgt wurde. Das würde allerdings voraussetzen, dass die Einrichtung flexibel ist und ihre Gruppen für die etwas älteren Kinder von Jahr zu Jahr vergrößert. Im Alter von drei Jahren werden mehr Kinder in -69-
Einrichtungen betreut als in den ersten zwei Lebensjahren. Darüber hinaus müssen durch bessere Löhne und durch Fortbildungsmöglichkeiten Anreize für die Mitarbeiter geschaffen werden, damit sie nicht so häufig wechseln. TBB: Wir müssen die Gehälter angemessen erhöhen und wir müssen den Status der Betreuer und Betreuerinnen verbessern. Zurzeit werden sie ein wenig verächtlich wie »Babysitter« betrachtet. SIG: Daran muss sich etwas ändern. Wir müssen all das abklären, was für eine angemessene Kinderbetreuung notwendig ist: kontinuierliche Dialoge, Reflexion und Akzeptanz einer Vielfalt von Gefühlen. Manchmal findet man liebevolle Mitarbeiterinnen, die für die Kinder wirklich da sind und emotional auf sie eingehen, obwohl sie keine Chance auf eine solide Ausbildung hatten. Manchmal gibt es junge Leute, die Erfahrungen mit Kindern sammeln wollen und sich ganz intuitiv sensibel und anpassungsfähig verhalten. TBB: Das Personal in den Tagesstätten muss Gelegenheit haben, selbst immer wieder auftanken zu können. Es ist anstrengend, die Kinder anderer Leute zu versorgen. Wenn Eltern und Mitarbeiter ihre natürliche, unvermeidbare Schrankenwärterfunktion gut im Griff hätten, könnten die Eltern den Betreuern sozusagen als Peers Auftrieb geben. Das Team (Eltern und Mitarbeiter) könnte die optimale Entwicklung des Kindes als gemeinsames Ziel betrachten. SIG: Wir müssen als dies unter dem Blickwinkel der Prävention sehen. Es ist eine Angelegenheit, die auch das öffentliche Gesundheitssystem angeht. TBB: Als der Kongress über jene 22 Millionen Dollar diskutierte, die für eine Verbesserung der Kinderbetreuung bereitgestellt werden sollten, hatte ich Gelegenheit, in Washington zu sprechen. Ich habe ihnen erklärt, dass die Gelder einfach versickern, wenn man sie pauschal an die einzelnen -70-
Bundesstaaten verteilt. Besser wäre es, das Geld zweckgebunden zuzuteilen, das heißt, es nur für solche Projekte auszugeben, die eine optimale Betreuung gewährleisten können. Als ich die Alternativen aufzeigte, die angemessen sind, hieß es: »Oh, da müssen wir zuerst ein Forschungsprojekt in Auftrag geben.« Ich habe ihnen erklärt, dass es bereits jede Menge solcher Untersuchungen gibt und es nur noch an der Bereitschaft fehle, die Forschung in die Praxis umzusetzen. Sie baten mich, ihnen zu erklären, welche Projekte funktionieren. Ich antwortete ihnen, dass ich dazu nicht der richtige Mann sei, ihnen aber eine ganze Reihe von Kollegen nennen könnte, die genau wissen, was gut ist und was nicht. Bei den Regierungen der Bundesstaaten können die Mittel für die Kinderbetreuung versickern, wenn wir nicht aufpassen. Der Sektor, der wirklich etwas ändern könnte und vielleicht auch zu motivieren wäre, wenn wir es geschickt anstellen, ist das Big Business. Wenn wir die Konzerne veranlassen könnten, in ihren Niederlassungen Zentren einzurichten, in denen Gesundheitsvorsorge, Krabbelstuben, Kindergärten und Horte für die Schulkinder sowie Betreuungsmöglichkeiten für die Senioren unter einem Dach versammelt sind, könnten wir viele Leute erreichen. Ich glaube nicht, dass wir dafür die Schulen benötigen, aber Ed Zigler hat in Yale ein Modell verwirklicht, das er als »Schule des 21. Jahrhunderts« bezeichnet. Er hat in leer stehenden Schulgebäuden sämtliche Betreuungseinrichtungen zusammengefasst und zu Gemeindezentren für Familien ausgebaut. In unserem Touchpoints-Modell empfehlen wir, in jeder Gemeinde Familienzentren einzurichten, die gleichzeitig Kinderbetreuung, Gesundheitsvorsorge, Nachmittagsbetreuung für Schulkinder und Seniorenbetreuung unter einem Dach anbieten. Man könnte auch Elternzentren wie »Family Support America« einrichten, in denen Eltern in der Peergruppe Unterstützung finden. Dies würde ihnen das Gefühl vermitteln, einer Gemeinschaft -71-
anzugehören. Unser Touchpoints-Modell wurde am Children's Hospital in Boston entwickelt, um Gemeindeangestellten unterschiedlichster Fachrichtungen, die an Veränderungen interessiert sind, Weiterbildungsmöglichkeiten anzubieten und sie mit der aufsuchenden Arbeit und einem beziehungstheoretischen Modell vertraut zu machen. Wir wollen die Gesundheitsvorsorge und die Kinderbetreuung verbessern und verfolgen dabei mehrere Ziele. Wenn uns die Mutter mit ihrem Kind aufsucht, identifiziert eine unserer Mitarbeiterinnen (eine Entwicklungspsychologin oder Kinderärztin) die Stärken und Schwächen der Mutter. Die Entwicklung des Kindes ist die Sprache, in der sich die Mitarbeiterin und die Mutter verständigen. Die Mutter wird als Expertin für die Entwicklung ihres Kindes respektiert. Diese Einstellung verstärkt ihre Liebe und fördert ihr Engagement. Es ist eine Beziehung zwischen zwei gleichwertigen Partnerinnen, keine Beziehung von oben nach unten. Jeder Besuch dient als Gelegenheit, sich über die jüngsten Fortschritte des Kindes auszutauschen und zu überlegen, wie seine körperliche und psychische Entwicklung gefördert werden kann. Mit diesem Konzept arbeiten bereits fünfundzwanzig Zentren, die auch auf die Gemeindeverwaltungen einzuwirken versuchen, damit diese elternfreundlicher werden. Unser Ziel ist die aufsuchende präventive Arbeit mit jenen 40% der Bevölkerung, die unterversorgt sind. Wir wissen, was zu tun ist. Können wir es tun? Pflegefamilien und Adoption SIG: Abgesehen von den Kindern berufstätiger Eltern müssen wir auch an die Kinder denken, die in Pflegefamilien oder in Heimen und anderen Einrichtungen aufwachsen. Wir haben gesehen, was mit den Kindern in den osteuropäischen Waisenhäusern geschehen ist, wo es keine primären Betreuungspersonen gab. -72-
In unserem Land wandern manche Kinder von einer Pflegestelle zur nächsten, so dass ihre Bezugspersonen häufig wechseln. Es gibt Übergangseinrichtungen, in denen die Kinder so lange bleiben, bis sich eine Pflegefamilie gefunden hat. Dass Babys oder Kleinkinder hier liebevoll umsorgt werden, ist keineswegs selbstverständlich. TBB: William Weld, der ehemalige Gouverneur von Massachusetts, hat 1992 eine Foster Care Commission einberufen. Ihr gehörten etwa zwanzig Kollegen an, die für das Sozialministerium Verbesserungsvorschläge erarbeiten sollten.19 Wir haben nach dem Zufallsprinzip einhundert Fälle herausgesucht und genauer unter die Lupe genommen. Kein einziger dieser Fälle war jemals vollständig aufgearbeitet worden. Niemand wusste genau über den Hintergrund der Kinder Bescheid, für die eine Pflegestelle gesucht wurde. Niemand wusste, was die Kinder brauchten, und niemand achtete darauf, ob sie zu der Familie, in der sie untergebracht werden sollten, auch wirklich passten. Das hatte natürlich zur Folge, dass die Kinder von einer Familie an die nächste weitergereicht wurden. Sämtliche Probleme wurden auf diese Weise noch verstärkt. SIG: Wie hoch war der Anteil der Kinder, die bereits mehrere Pflegestellen durchlaufen hatten? TBB: Die meisten von ihnen hatten mehrere Wechsel hinter sich. Der Gouverneur hat unseren Bericht aufmerksam studiert. Wir bekamen einen neuen, qualifizierten Manager, der ein System entwickelte, um den Werdegang dieser Kinder zu verfolgen. Sobald sich das Ministerium dahinter klemmte, wurde deutlich, dass die Kinder herumgereicht wurden. Es ist gelungen, die Häufigkeit der Wechsel signifikant zu reduzieren. Wir haben empfohlen, zunächst einmal die Vergangenheit jedes einzelnen Kindes gründlich zu erforschen, um Klarheit darüber zu gewinnen, was es tatsächlich erlebt hatte - ob die Kinder misshandelt oder missbraucht oder vernachlässigt worden waren -73-
oder aus Familien stammten, in denen sich niemand um sie kümmerte. Auf diese Weise konnten wir uns ein Bild von ihrem psychischen und emotionalen Entwicklungsstand machen. Nachdem dies geschehen war, wurden Pflegefamilien ausgesucht, die zu ihnen passten und bei denen sie bleiben konnten. In den Jahren, die seither vergangen sind, haben wir das Pflegestellensystem in Massachusetts beträchtlich verändert. SIG: Wie sah die praktische Lösung aus, nachdem ihr den Hintergrund der Kinder durchleuchtet hattet? Wodurch habt ihr es den staatlichen Einrichtungen erleichtert, bessere Entscheidungen hinsichtlich der Pflegestellen zu treffen? TBB: Zuvor hatten sie sich im Grunde darauf beschränkt, erste Hilfe zu leisten. Wir brachten dann sehr viel mehr über die Pflegefamilien in Erfahrung, die zum Teil vorher schon andere Kinder aufgenommen hatten, so dass Informationen über sie vorlagen. Indem wir die individuelle Situation des Kindes klärten, konnte sich die Vermittlungsstelle an eine Pflegemutter wenden, die vielleicht schon zwei Kinder hatte und ein drittes aufnehmen wollte. Man konnte ihr das Temperament des Kindes und seine Persönlichkeit beschreiben usw. Dies ermöglichte es den infrage kommenden Pflegemüttern, eine verantwortungsbewusstere Entscheidung zu treffen. Ein anderer wichtiger Teil unserer Arbeit bestand darin, die Kinder- und Jugendämter zu ermutigen, intensiver nach Adoptionsmöglichkeiten zu suchen. Die Ämter träumten in der Regel davon, die Herkunftsfamilien wieder zu vereinen, aber das bleibt allzu oft ein Traum. In der vagen Hoffnung, dass sich die leiblichen Eltern ihrer Kinder wieder annehmen würden, hat man die Adoption Jahr um Jahr hinausgeschoben. Die Leidtragenden waren die Kinder. SIG: Sollten wir die Gesetze verändern, die bei Adoptionen oft lange Wartezeiten vorschreiben? Für das Kind sind sie angesichts all dessen, was wir über die Wichtigkeit früher und konstanter Beziehungen wissen, keineswegs von Vorteil. -74-
TBB: In Massachusetts muss man mindestens ein Jahr warten, um zu klären, ob die leibliche Mutter ihr Kind zurückhaben möchte oder nicht. SIG: Dabei geht es um Fälle, in denen die Eltern oder die Mutter das Kind theoretisch zurückhaben wollen oder zumindest die Phantasie haben, wieder mit ihm zusammenzuleben. Aber was passiert, wenn die Mutter definitiv auf das Kind verzichtet? TBB: In diesem Fall ist die Adoption heute möglich. Die Notwendigkeit, frühere Adoptionsmöglichkeiten für Babys zu schaffen, war der eigentliche Grund, weshalb ich die NBAS (Skala, um das Verhalten Neugeborener einzuschätzen) entwickelt habe.20 In Massachusetts wurden Säuglinge unter vier Monaten nicht zur Adoption freigegeben, weil man nicht sagen konnte, ob das Kind neurologisch gesund war oder nicht. Ich habe die genannte Skala entwickelt, um Kinder zu identifizieren, die als Neugeborene adoptiert werden konnten. Sie diente als Grundlage für eine Gesetzesveränderung. Die Viermonatsfrist wurde gestrichen. Heute kann man das Kind gleich nach der Geburt adoptieren, wenn die leibliche Mutter auf das Sorgerecht verzichtet. Aber ich weiß nicht, ob die NBAS nach wie vor in solchem Umfang benutzt wird. Ich wünschte, es wäre der Fall. Manchmal werden Babys ohne Untersuchung zur Adoption freigegeben. In Korea verlangen die Vermittlungsstellen, dass sich die ausländische Mutter einen Monat in Korea aufhält, um das Kind kennen zu lernen. SIG: Wenn die Ämter nicht mit den Müttern zusammenarbeiten, verlängern sie zweifellos die Zeit, die das Kind in einer vorläufigen Pflegefamilie oder in einem Heim verbringen muss. Die gesetzlich vorgeschriebenen Fristen sind zu lang. Die Adoption wird dadurch erschwert und unnötig hinausgezögert. Dies läuft allen Grundbedürfnissen des Babys zuwider. Jedes Baby braucht eine stabile, konstante Beziehung. Indem wir die Unterbringung in Pflegeeinrichtungen verlängern und die Adoption auf die lange Bank schieben, setzen wir das -75-
Kind unnötig unter Stress. Wir sollten stattdessen versuchen, die leibliche Mutter und den Säugling kennen zu lernen und der Mutter dabei zu helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Der Staat und die Gerichte müssen sich klar machen, dass viele derzeitige Gesetze den Interessen des Babys zuwiderlaufen. Wir müssen die Zeiträume verkürzen und eine gesetzliche Beratung der leiblichen Mütter vorschreiben, die ihnen hilft, ihre Entscheidung rascher zu treffen. TBB: Es kommt auch vor, dass die künftigen Adoptiveltern die leibliche Mutter während der Schwangerschaft kennen lernen. Könnte dieser Kontakt den Aufbau einer intimen Beziehung zum Kind beeinträchtigen? SIG: Ich glaube nicht. In vielen Fällen funktioniert es gut. Die leiblichen Mütter fechten die Adoption seltener an. Wir haben es oft erlebt, dass sie sich gewissermaßen als Teil einer Großfamilie fühlten. TBB: Es besteht aber auch die Gefahr, dass die Adoptiveltern den Eindruck bekommen, die zweite Geige zu spielen. Möglicherweise fürchten sie, dass die leibliche Mutter mir nichts, dir nichts beschließt, ihr Baby zurückzuholen. Erinnerst du dich an das Baby, das der leiblichen Mutter nach der Adoption zurückgegeben wurde, Baby M? Die Mutter hatte es in den ersten Tagen nach der Geburt gestillt. Natürlich wollte sie es zurückhaben! SIG: Gibt es einen Zeitpunkt, den wir für eine Adoption empfehlen würden, einen Zeitpunkt, an dem es definitiv zu spät ist, das Baby und seine leibliche Mutter wieder zu vereinen? TBB: Wir müssen selbstverständlich eine Frist setzen, nach deren Ablauf die Rechte des Babys Vorrang haben. Natürlich hat auch die leibliche Mutter Rechte, aber werden die Rechte der Babys von unseren Gerichten wirklich anerkannt? SIG: Ab wann sollte das Kind von einer Bezugsperson nicht wieder getrennt werden? Sollten wir sagen, dass wir ihm eine -76-
solche Trennung nach einer bestimmten Frist nicht mehr zumuten dürfen? TBB: Ich denke, man sollte die Entscheidung von Fall zu Fall treffen. SIG: Im Alter von vier Monaten hielte ich einen allmählichen Übergang für empfehlenswert. Die Adoptivmutter sollte das Kind zuerst nur besuchen und eine Beziehung zu ihm aufbauen. Danach sollte sie ganz für das Kind da sein und es auch zulassen, dass die leibliche Mutter oder die Pflegemutter zu Besuch kommt. So kann die Trennungsangst gelindert werden. Die Pflegemutter könnte für das Kind wie eine Oma oder Tante sein und zu seinem Leben dazugehören. Das alles setzt einen Übergang mit intensiven Kontakten voraus. Je länger sich ein Wechsel hinzieht, desto schwerer ist er für das Kind. Sobald ein Baby sechs Monate oder länger von ein und derselben Frau betreut wird, werden seine Beziehungen und seine Entwicklung beeinträchtigt, wenn man es aus dieser Umgebung herausreißt. TBB: Warum würdest du einen Zeitraum von sechs Monaten ansetzen? Meiner Meinung nach sollte man die Frist auf vier Monate begrenzen, weil der Säugling in diesem Alter seine Autonomie zu entwickeln beginnt. Diesen Schritt kann das Kind aber nicht vollziehen, wenn man es traumatisiert, indem man es aus seiner vertrauten Umgebung herausnimmt. Damit gefährdet man die Grundlagen seiner Autonomie. Ich würde verlangen, dass leibliche Mütter, die ihr Baby zurückgeholt haben, sorgfältig überprüft werden. Nur so kann man sich ein Bild davon machen, ob sie mit dem Kind zurechtkommen. Die Bedürfnisse des Babys haben Vorrang. Ich stelle mir eine Art Sicherheitsnetzwerk, ein Unterstützungssystem für leibliche Mütter vor, die ihr Kind, gleichgültig, wie alt es ist, zurückhaben wollen. Meiner Ansicht nach müssen wir ergründen, weshalb die Mutter ihr Baby ursprünglich abgegeben hat. War sie depressiv? Hat sie ihre Depression überwunden? War sie ambivalent? Ist sie immer -77-
noch ambivalent? Irgendeine Form der Diagnose ist unverzichtbar. SIG: Die Grundüberlegung ist die, dass die Trennung von der Adoptivmutter den Interessen des Babys umso mehr schadet, je älter es ist und je enger die Beziehung ist. Das gilt auch dann, wenn die leibliche Mutter ihr Kind zurückhaben will. Die psychische Mutter ist die eigentliche Mutter. Wir haben die biologischen Rechte der Mutter übergewichtet und den Rechten des Babys zu wenig Bedeutung beigemessen. Je mehr Zeit vergeht, desto zwingender müssten die Gründe dafür sein, das Baby zurückzugeben. Unsere Gesetze vernachlässigen die Rechte des Babys. Es muss uns gelingen, Eltern und Richtern zu erklären, was in dem Kind vor sich geht. Es baut nach und nach ein Bild von sich selbst als Person auf, es entwickelt ein Gefühl des Vertrauens und der Zugehörigkeit, und all das geschieht dank der Beziehung zu einer fürsorglichen, konstanten Betreuungsperson. Wenn man diese Beziehung zerstört, wird das Kind massiv gefährdet. Sein Leid ist ungeheuer groß. Den meisten Menschen ist nicht klar, was Kinder durchmachen, wenn man ihnen auf diese Weise den Boden unter den Füßen wegzieht. TBB: Wir müssen genau beschreiben, was sich unserer Meinung nach in den ersten drei Jahren abspielt, und dies müssen wir den Eltern und all jenen, die Entscheidungen über Kinder fällen, klar machen. Drei Entwicklungen sind von zentraler Bedeutung. Erstens ein sicheres Selbstwertgefühl; zweitens Vertrauen und Selbstvertrauen, denn sie ermöglichen es, Anteil zu nehmen und sich um andere Menschen zu sorgen; und drittens die Motivation zu lernen. Diese drei Entwicklungen sind auf jeden Fall gefährdet, wenn die wichtigste Beziehung, die Kinder in den ersten drei Lebensjahren haben, gravierend beeinträchtigt oder zerstört wird. SIG: Sie sind in höchstem Maße gefährdet. Zudem entwickelt das Baby auch die Grundlagen für spätere Intimität. Indem es -78-
ein Selbstgefühl aufbaut, das auf Intimität, Vertrauen und intensivem Kontakt zu anderen Menschen beruht, lernt es Warmherzigkeit und Mitgefühl kennen. Durch Reziprozität lernt das Baby auch, sich intentional, zielbewusst und zielstrebig zu verhalten, und dies führt zur nächsten Stufe, auf der es etwas über Logik und Organisation lernt. Es lernt, dass es Einfluss ausüben und dafür sorgen kann, dass etwas geschieht. Im zweiten Lebensjahr hilft das wachsende Selbstgefühl dem Kind, all die kleinen Einzelteile zu einer Persönlichkeit zu vereinen. Schon präverbal lernen sie, Probleme wie kleine Wissenschaftler zu lösen. Dann lernen sie, Vorstellungen zu benutzen und sich selbst als Persönlichkeit wahrzunehmen. Auf dieser Stufe taucht der Altruismus auf. Normalerweise denken wir nicht genug an all diese Entwicklungen, wenn wir Kinder riskanten Situationen aussetzen. Wir gefährden ihre gesamte kognitive und emotionale Entwicklung, wenn wir mit Pflegestellen und Adoptionen und Sorgerechtsregelungen russisches Roulette spielen. Dies muss klar gesagt werden. Für das Kind sind diese Entwicklungen unverzichtbar und deshalb müssen wir sein Wohl in den Mittelpunkt rücken. TBB: Wir sollten auch erwägen, intensive Gespräche mit den künftigen Adoptiveltern zu führen, damit wir sie beurteilen und vorbereiten können. Viele Adoptivmutter sind zwangsläufig sehr verletzbar, vor allem dann, wenn Unfruchtbarkeit der Grund für die Adoption ist. Der unfruchtbare Elternteil hat das Gefühl, versagt zu haben, der andere musste die Situation akzeptieren. Dann haben sie beschlossen, ein Baby zu adoptieren. In der Wartezeit sind ihre Ungeduld und ihre Vorfreude auf das Baby gewachsen. Sie wollen ihm ideale Eltern sein. Wenn es dann aus einem anderen Setting oder aus einer anderen Kultur bei ihnen eintrifft, ist es wahrscheinlich übersensibel und von der Veränderung vollkommen überwältigt. Gleichgültig, aus welcher Umgebung es kommt - es hat sich an sie angepasst und empfindet nun großen Kummer. Im Alter von vier Monaten ist -79-
meiner Ansicht nach damit zu rechnen, dass es einen Monat braucht, bis es sein Leid verkraftet und die Neuanpassung bewältigt hat. Wenn es bereits ein Jahr alt ist, dauert dieser Prozess mindestens zwei Monate. Aufgrund seiner Hypersensibilität wendet sich das Baby von seinen Adoptiveltern, die alles zu tun bereit sind, ab. Es blickt sie nicht an. Es geht auf ihre Animation nicht ein. Es mag nicht essen. Es zieht sich zurück oder ist sehr labil. Die Verwundbarkeit der Eltern wird verstärkt. Da man heute so vieles über intrauterine Einflüsse weiß, werden sie irgendwann womöglich den Verdacht hegen, dass das Kind im Mutterleib geschädigt wurde, zum Beispiel durch eine Unterversorgung. Wir können Adoptiveltern auf diese Anpassungsphase vorbereiten. Wir können solche Adoptionsschicksale verhindern. Mütter in Gefängnissen TBB: Wie sieht die Situation bei inhaftierten Müttern aus? Die Chance, dass sich die Mutter des Kindes für ihre Resozialisierung engagiert, ist im ersten Lebensjahr so hoch, und gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Baby im Gefängnis beeinträchtigt wird, so gering, dass ich den gemeinsamen Aufenthalt empfehlen würde. SIG: Das ist vernünftig, sofern die Aussicht besteht, dass die Mutter nach einem oder zwei Jahren entlassen wird. Wenn sie zu zwei Jahren verurteilt wurde, sollte man ein entsprechendes Programm aufstellen oder alles unternehmen, damit sie in den offenen Vollzug kommt. Es sollte nicht so sein, dass das Kind ein Jahr lang bei der Mutter bleibt, dann von ihr getrennt und nach einem weiteren Jahr wieder mit ihr vereint wird. Wenn die Mutter zu zwölf Monaten Haft verurteilt worden ist, plädiere ich dafür, dass sie zusammenbleiben. Bei Müttern, die im Gefängnis entbinden, ist dies mitunter möglich, nicht jedoch bei fünf- oder sechsjährigen Kindern. TBB: Jean Harris hat ein entsprechendes Projekt in New York State (Sing Sing) ins Leben gerufen und die Erfahrungen damit -80-
sind sehr gut. SIG: Wenn eine Mutter wegen eines Kapitalverbrechens eine zehnjährige Haftstrafe abbüßen muss, wird es schwierig. Vielleicht kann man das Kind gleich nach der Geburt bei der Großmutter unterbringen, die die Mutter regelmäßig mit dem Baby zusammen besucht. TBB: Mir wäre es doch lieber, wenn das Kind im ersten Lebensjahr bei der Mutter bliebe. Die Anwesenheit des Babys kann sehr therapeutisch wirken. SIG: Für die Mutter ist es zweifellos sehr hilfreich, aber wie wirkt sich der Aufenthalt im Gefängnis auf das Baby aus? TBB: Wenn das Kind danach von einer Großmutter aufgenommen werden kann, ist die Situation vielleicht zu verkraften. Aber wenn es in der Familie niemanden gibt, der das Kind nach einem Jahr zu sich nehmen kann, sollte man sofort entscheiden, was seinen Interessen am besten dient, und unter Umständen ist dies keineswegs der Aufenthalt bei der Mutter. Auf jeden Fall gilt: Wir können dem Kind eine umso stabilere Umgebung zur Verfügung stellen, je früher die Entscheidung getroffen wird. SIG: Wenn die Mutter für ein, zwei oder drei Jahre inhaftiert ist und sich gut entwickelt, könnte man sie in einem Rehabilitationsprojekt unterbringen, so dass sie mit ihrem Baby zusammen sein kann. Es muss alles getan werden, was eine Trennung verhindern hilft, und zwar nicht nur im ersten Jahr. Halbherzigkeit nützt uns nichts, man muss es gründlich machen. Wenn die Mutter aber eine zehnjährige Strafe absitzen muss und es keine Großmutter gibt, dann würde ich auch sagen, dass eine Adoption für das Baby das Beste ist. Wenn sich eine Großmutter oder eine Tante um das Kind kümmern kann, muss man abwägen, ob es für das Baby besser ist, sein erstes Lebensjahr bei der Mutter im Gefängnis zu verbringen und eine Beziehung zu ihr und danach eine neue Beziehung zur Großmutter -81-
aufzubauen, oder ob es besser ist, wenn es von Anfang an bei der Oma lebt und die Mutter lediglich besucht. TBB: Es ist besser, zu lieben und den geliebten Menschen zu verlieren, als niemals zu lieben. SIG: Aber das Baby kann auch seine Großmutter oder Tante lieben. TBB: Die Chance, dass eine inhaftierte Mutter sich intensiv um ihr Baby kümmert, ist hoch. Erinnerst du dich an diese alte Studie von Skeels und Skodak über Frauen in Heimen und Anstalten?21 Sie alle hatten wunderbare Beziehungen zu ihren Kindern. Diese Frauen hatten massive Probleme, aber sie verbrachten ihr Leben in Institutionen und hatten nichts anderes zu tun, als mit ihren Babys zu spielen. Sie haben wahrscheinlich tatsächlich 50% der Wachzeit mit dem Baby verbracht. Meiner Meinung nach muss man dem Rechnung tragen. Wenn sie in Haft sitzen, sind manche Frauen vielleicht bessere Mütter, als wenn sie frei wären. Das Baby hätte einen ordentlichen Start. Dann kann die Großmutter es zu sich nehmen. Allerdings müssen wir uns auch überlegen, zu welchen Großeltern wir die Babys geben, wenn die Töchter in der Gesellschaft derart gescheitert sind. Waisenhäuser und Heime SIG: Damit hängt folgende Frage zusammen: Welche Art von institutioneller Kinderbetreuung gibt es derzeit neben den Pflegestellen? Wir müssen berücksichtigen, dass die Babys erst nach einer Übergangsphase in Pflegefamilien kommen. Vorher werden sie in Gruppenheimen betreut. TBB: Gegen Waisenhäuser hat sich in unserem Land ein solche Abneigung entwickelt, dass ich nicht weiß, wie viele es überhaupt noch gibt. SIG: Manche Gruppenheime sind wie Pflegefamilien organisiert. Bei großen Institutionen wie den Waisenhäusern besteht das Problem darin, dass die Betreuung zu unpersönlich -82-
wird. Kleine Gruppenheime funktionieren besser, weil es in ihnen persönlicher zugeht. TBB: Wenn wir wollen, dass die Kinder von fürsorglichen, zuverlässigen Betreuungspersonen umsorgt werden, sollten wir dann nicht auch überlegen, welche Unterstützung diese Betreuerinnen und Betreuer selbst benötigen? Wenn man in einer solchen Einrichtung arbeitet, lässt der Burnout nicht lange auf sich warten. Und er kann sich in unterschiedlichster Form äußern, etwa in Vernachlässigung oder schlechter Behandlung der Kinder. Manchmal werden sie regelrecht gehasst. Wie wäre es, wenn Betreuungspersonen, die in solchen Einrichtungen arbeiten, einmal wöchentlich zu einer Peergruppensupervision zusammenkämen? Außerdem sollte jede Mitarbeiterin eine Mentorin haben, an die sie sich mit ihren Problemen wenden kann. Auch eine regelmäßige Beurteilung der Anpassung und Schwierigkeiten der Mitarbeiter sowie ihrer Leistungsfähigkeit könnte ich mir vorstellen. Wir haben uns mit Sozialarbeitern und Sozialpsychiatern, die drogenabhängige Mütter im Teenageralter betreuen, über diese Fragen auseinander gesetzt. Sie leisteten gute Arbeit und ich fragte mich nach dem Grund. Schließlich wurde mir klar die Betreuer haben ein Motiv, ein echtes Motiv: Sie wollen, dass diese Mädchen von der Droge loskommen. Vielleicht müssen wir auch den Mitarbeitern in Kinderheimen usw. ein klares Motiv geben, ihnen erklären, was wir für diese Kinder erreichen wollen und auf welche spezifischen Entwicklungen im affektiven, kognitiven und motorischen Bereich es ankommt. Vielleicht müssen wir unmissverständlich klare Ziele formulieren. Es genügt nicht, die Betreuerinnen lediglich zu bitten, sich warmherzig, liebevoll und zuverlässig zu verhalten, denn dann ist der Burnout vorprogrammiert. Wir könnten ihnen stattdessen erklären, dass sie sich für diese und jene Fähigkeiten, diese und jene Aktivitäten, diese und jene Reaktionen einsetzen sollten. Dies ist zugleich eine Möglichkeit, Fortschritte -83-
festzustellen. SIG: Wir wissen, welche Art von Interaktion Kinder in den jeweiligen Settings brauchen. Wenn wir das »Spielen« oder die »reziproke Interaktion« unterstützen, wissen wir, was das bedeutet. Aber wir müssen sehr viel mehr Zeit in die Ausbildung investieren. Die Gesamtorientierung und das Wertesystem sämtlicher Betreuungseinrichtungen müssen im Lichte dessen, was wir heute über die Wichtigkeit konstanter Fürsorge und sensibler emotionaler Interaktionen wissen, überdacht werden. Ausbildung, Weiterbildung, begleitende Unterstützung für die Mitarbeiter und regelmäßige Kontrollen ihrer Tätigkeit im Kontext eindeutiger Standards sind das, was wir brauchen. All die Bedürfnisse, über die wir hier diskutiert haben, sollten Teil eines umfassenden Programmes sein. TBB: Ich erinnere mich gerne an die zehn Gemeindeschwestern, die wir ganz zu Beginn unseres Touchpoints-Projekts ausgebildet haben. Sie kamen alle aus der Umgebung von Boston und waren in der aufsuchenden Sozialarbeit tätig - sie brachten es zusammen auf 180 Jahre Berufserfahrung. Es waren wunderbare Frauen und hingebungsvolle Schwestern. Nach der ersten Hälfte unseres einwöchigen Kurses erklärten sie, keine zusätzlichen Aufgaben mehr übernehmen zu können. Sie hatten einfach nicht genug Zeit. »Die Anzahl unserer Klienten wächst und wächst«, sagten sie. »Sie nimmt nicht ab. Uns bleibt einfach nicht genügend Zeit.« Als wir fragten, womit sie ihre Zeit verbrachten, antworteten sie, dass die Mütter ihnen in allen Einzelheiten erzählten, wie schrecklich sie sich fühlten und welch furchtbare Dinge ihnen widerfahren seien. Ich fragte, ob sie irgendwelche Veränderungen in die Wege geleitet hätten, und sie verneinten. Sie könnten die Mütter lediglich unterstützen. Ich sagte, das könnten sie allerdings tun, aber in ihren Händen läge noch etwas ganz Besonderes. Nämlich die Zukunft eines Kindes. Wenn sie zehn oder fünfzehn Minuten -84-
der Zeit, die sie bei der Mutter verbringen, darauf verwendeten, über die Entwicklung des Kindes zu sprechen und die Mutter in ihrer Liebe zu ihm zu bestätigen, könnten sie ihr ein wenig Hoffnung vermitteln. Ihre Augen glänzten. Am Ende der Woche sagten sie, es sei ihnen nicht bewusst gewesen, wie nahe sie der Resignation waren. Manche Frauen weinten sogar. Sie hatten keinerlei Orientierungshilfe gehabt. Ich denke, Orientierungslinien sind das, was Betreuerinnen vor allem brauchen. SIG: Du hast den Schwestern dabei geholfen, zu spüren, dass ihre Tätigkeit wichtig ist. Wie sieht es mit der Wichtigkeit konstanter, fürsorglicher Beziehungen in den Waisenhäusern aus, die überall auf der Welt Kinder aufnehmen, die niemand haben will? Was haben wir zu diesem Thema zu sagen? TBB: In dem Waisenhaus in Seoul, das ich in der vergangenen Woche besucht habe, gibt es sehr kleine Babys, die vor der Tür abgelegt worden sind. Ich habe die Mitarbeiter gefragt, warum sie diese Säuglinge nicht zur Adoption vermitteln, und sie antworteten, dass sie nicht wüssten, wer die Eltern seien. Für diese Kinder wäre es wesentlich besser, sofort adoptiert zu werden, als ein Jahr lang oder zwei warten zu müssen, aber es ist nicht erlaubt. SIG: Schreibt das Gesetz vor, dass die Eltern eines Kindes, das adoptiert werden soll, bekannt sein müssen? TBB: Man muss ein Jahr lang nach den Eltern forschen, bevor das Kind zur Adoption freigegeben werden kann. Es gibt viele Familien, die diese Kinder adoptieren wollen. SIG: Wir müssen ein Bewusstsein dafür wecken, was man den Kindern mit dieser Wartezeit antut. TBB: Mir ist ein bisschen unbehaglich bei dem Gedanken, in fremden Kulturen oder Ländern aktiv zu werden, weil es so viele ethnische Probleme gibt, die wir überhaupt nicht verstehen. Wenn ich in anderen Kulturen gearbeitet habe, -85-
brauchte ich ein ganzes Jahr, um die relevanten Variablen wirklich kennen zu lernen. Wir können nicht mehr tun, als die Werte, die wir in unserer eigenen Kultur für wichtig halten, zu erläutern und unsere Hoffnung zum Ausdruck zu bringen, dass sie vielleicht auch auf die Verhältnisse in anderen Ländern abgestimmt und der jeweiligen Situation angepasst werden können. Ich glaube nicht, dass wir selbst einen solchen Versuch unternehmen sollten. In manchen Kulturen trägt das Kind wahrscheinlich ein Stigma, wenn es von der eigenen Mutter vor einer Tür abgelegt wurde. SIG: Die Aufgabe besteht darin, zuverlässige, fürsorgliche und liebevolle Bedingungen zu schaffen und zu verhindern, dass die Kinder in einem unpersönlichen Heim zu Schaden kommen. Wir können innerhalb der verschiedenen Kulturen Prozesse einschließlich der Adoption einleiten, die es den Kindern ermöglichen, so rasch wie möglich Teil einer Familie zu werden. In Russland experimentieren sie mit einem Programm, in dem Mütter, die ihr Kind im Krankenhaus gebären, eine gewisse Zeit mit dem Baby verbringen, es stillen usw., damit die Bindung aktiviert wird. Dies hat die sehr hohe Zahl von Kindesaussetzungen im Krankenhaus um die Hälfte verringert.22 TBB: Bevor Melvin Konner und seine Frau Marjorie Shostak in die Kalahari Wüste gingen, haben sie bei mir gelernt, Neugeborene mit der NBAS zu untersuchen. Ich war furchtbar neugierig, von ihnen etwas über die neugeborenen Babys der Buschmänner zu hören. Sie sagten, sie hätten nur etwa 50% von ihnen gesehen. Es ist offenbar so, dass die Großmutter zusammen mit der Mutter in den Busch geht, um das Kind zu entbinden. Unmittelbar nach der Geburt entscheiden die Frauen, ob sie das Kind mitnehmen oder zurücklassen. Es ist eine nomadische Kultur, die ständig ums Überleben ringt. Jedes neue Baby gefährdet das Gleichgewicht des Stammes, so dass sie nur wenige Babys pro Jahr aufziehen können. Die Säuglinge, die sie aus dem Busch mit zurückbringen, sind die aktiveren, besser -86-
organisierten Babys. Du siehst, dass transkulturelle Empfehlungen eine sehr heikle Angelegenheit sind. SIG: Für Säuglinge, die in Heimen untergebracht werden müssen, weil sich keine Pflegefamilien finden, können wir Richtlinien festlegen. Es sollte zum Beispiel eine konstante Bezugsperson geben, die für maximal drei Babys zuständig ist. Diese Bezugsperson sollte mit jedem Kind so lange zusammen sein, bis es die Einrichtung verlässt. Sie sollte auch versuchen, für einen Übergang zu sorgen, indem sie das Kind nach der Adoption oder nach der Aufnahme in eine Pflegefamilie regelmäßig besucht. Außerdem benötigen wir Richtlinien, was das interaktive Spiel und die körperliche Versorgung des Babys betrifft oder auch die Frage, wie lange Babys allein gelassen werden dürfen. TBB: Was hältst du von der Unterbringung bei Verwandten? SIG: Meiner Meinung nach müssen wir flexibel sein und in erster Linie darauf achten, dass das Baby optimal versorgt wird. Das setzt Flexibilität voraus, und außerdem müssen die zuständigen Stellen genügend Zeit haben, um einschätzen zu können, ob das System ausgebeutet oder missbraucht wird. Wenn man nach einer Pflegestelle sucht und die Großmutter sagt: »Ich nehme das Baby, aber finanziell kann ich es mir nur leisten, wenn ich die gleiche Unterstützung bekomme, die einer Pflegemutter zusteht. Ich kenne das Baby und liebe es«, dann muss man feststellen, ob sie die Wahrheit sagt, und wenn man überzeugt ist, dass sie es ernst meint, ist das Kind bei ihr am besten untergebracht. Wenn man aber den Eindruck hat, dass die Großmutter das Kind nicht optimal versorgen wird und es nur des Geldes wegen zu sich nehmen will, ist das Baby bei einer Pflegemutter besser aufgehoben. Man muss in all diesen Situationen klären, was für das Kind am besten ist. Sein Wohl hat Priorität. Das ist die Entscheidungsgrundlage. -87-
TBB: Ich denke, wir können für Gerichte und Vermittlungsstellen Leitlinien und sogar exakte Maßstäbe formulieren, an denen sie ihre Entscheidungen orientieren können. Ein großer Teil der gerichtlichen Fehlentscheidungen kommt deshalb zu Stande, weil die zuständigen Behörden die Situation aufgrund fehlender Informationen und mangelnder Zeit nicht angemessen beurteilen können. Man kann von einem Richter nicht erwarten, dass er sich selbst die Zeit nimmt, aber man kann sehr wohl erwarten, dass er mit qualifizierten Leuten zusammenarbeitet, die sich diese Zeit tatsächlich nehmen. Familienrichter haben eine sehr, sehr wichtige Aufgabe. (Vgl. die King's County, Washington Family Court Guidelines am Schluss dieses Kapitels.) Einleitende Überlegungen zu unseren Empfehlungen (S.LG.) Der Tagesablauf eines Kindes Um unsere Empfehlungen in ihrem Kontext darzustellen, skizzieren wir auf den folgenden Seiten, wie der optimal strukturierte Tagesablauf eines Kindes aussehen sollte. Die zuverlässige fürsorgliche Beziehung, die wir beschrieben haben, wird während eines solchen Tages auf folgende Weise gelebt. Babys und Kleinkinder. Wir können die Aktivitäten, die Mütter und andere Betreuungspersonen in den ersten Lebensjahren mit ihren Säuglingen und Kleinkindern teilen, mehreren allgemeinen Kategorien zuordnen. Solange der Säugling oder das Kleinkind schläft, hält sich die Mutter im Haus, aber in einem anderen Zimmer auf. Wenn das Baby wach ist, befinden sich beide im selben Zimmer oder bei weit geöffneten Türen in angrenzenden Räumen, so dass das Kind die Mutter und die Mutter das Kind sehen kann; sie befinden sich in Rufweite des anderen, kommunizieren aber nicht direkt miteinander, sondern gehen ihren eigenen Aktivitäten nach. Das Kind kann zum Beispiel in einer Babywippe oder auf dem Boden sitzen, während seine Eltern kochen, putzen oder andere Dinge erledigen. Eine dritte Form des Zusammenseins besteht -88-
darin, dass die Mutter oder eine andere Bezugsperson die Interaktion des Babys mit seiner Umgebung von Zeit zu Zeit unterstützt. Sie sehen sich gemeinsam Bilder an, oder die Mutter hilft dem Kind, ein Spielzeug zu untersuchen oder seine Umgebung zu erforschen. Sie hilft dem Krabbelkind, seine Umwelt zu betrachten, sie zu berühren, zu untersuchen, zu vokalisieren und seine Erfahrung schließlich zu verbalisieren. Die vierte Kategorie umfasst die direkte Interaktion zwischen Mutter und Kind. Die Mutter folgt dem Interesse des Kindes, schneidet Gesichter, produziert Laute oder tauscht Gegenstände mit ihm aus; sie beteiligt sich an den Phantasiespielen des Vorschulkindes, tut so, als sei sie ein Hund oder eine Katze, und spielt ihre Rolle in dem Drama, über das ihr Kind Regie führt. In dieser vierten Erfahrungskategorie beschäftigt sie sich direkt mit dem Kind; sie wird im Grunde zu dessen Spielobjekt oder Spielzeug oder zum Objekt seines Interesses. Zu diesen Interaktionen gehören das Halten, Schmusen, das beruhigende Streicheln über den Rücken, Umarmungen und Küsse, Liebkosungen, Phantasiespiele usw. Sobald das Kind sprechen kann, werden die Interaktionen durch direkte Gespräche oder Verhandlungen über Spielsachen oder Bücher, über das Schlafengehen oder über Entscheidungen bereichert, die das Essen, geplante Aktivitäten usw. betreffen. Charakteristisch für diese vierte Kategorie, die wir (S.LG.) als »Bodenzeit« (»floor time«23) bezeichnen, sind die Führungsrolle des Kindes und die direkte, kontinuierliche Kommunikation zwischen dem Kind und seiner Mutter oder einer anderen Bezugsperson. Viele der wertvollsten und kostbarsten magischen Momente, die wir mit unseren Babys und Kleinkindern erleben, gehören zu dieser Kategorie. Bei der Überlegung, wie wir die Wachzeit des Kindes am sinnvollsten in diese unterschiedlichen Aktivitäten aufteilen können, müssen wir berücksichtigen, dass bei einem Säugling, der vierzehn Stunden pro Tag schläft, etwa fünf oder sechs -89-
Stunden übrig bleiben, in denen seine Interaktionen nicht vorrangig darin bestehen, dass ihn seine Mutter füttert, wickelt oder einfach beruhigt. Auch während der Mahlzeiten und der Körperpflege können und sollten intensive, liebevolle Interaktionen stattfinden, in denen Laute und Gesten ausgetauscht werden. In der Hektik des Alltagslebens können sich die drei Formen des Zusammenseins, bei denen sich die Mutter in Sichtweite des Kindes aufhält, in vielen verschiedenen Settings abspielen: in der Küche, im Spielbereich, im Supermarkt, im Auto usw. Auch diese Aktivitäten gehen natürlich ineinander über. Wir sprechen hier über Annäherungswerte oder ungefähre Richtlinien. Wenngleich die Bezugsperson für die dritte Interaktionskategorie im Idealfall täglich einen bestimmten Zeitraum reservieren sollte, in dem es keine äußeren Ablenkungen gibt, sind Überschneidungen ganz natürlich. In der Phase, in der die Mutter das Kind beim Explorieren unterstützt, kann es ihr im Supermarkt oder in der Küche oder beim Aufräumen im Schlafzimmer »helfen«. Es nimmt ihr Hausarbeit ab oder lernt, wie der Vater seine Socken anzieht oder welche Schalter die Mutter an der Waschmaschine bedient, wenn sie die Schmutzwäsche einfüllt. Im Supermarkt sieht es sich die interessanten Flaschen und Müslipackungen an, hilft der Mutter, sie aus dem Regal zu holen, lernt, sich zu kontrollieren, wenn es den Schokoriegel in der bunten Packung haben möchte und die Mutter »Nein, nein« sagt usw. Gelegentlich überfliegt die Mutter ihren Einkaufszettel, um sicherzustellen, dass sie alles hat, was sie braucht. Eine Sekunde später aber hilft sie ihrem Kind, sein Lieblingsmüsli aus dem Regal zu holen. Wir bezeichnen diese Art der Verfügbarkeit als informelle Unterstützung, weil die Mutter da ist, um dem Kind zu helfen, sich aber im Rahmen ihrer eigenen Tätigkeiten und je nach Situation auf dessen Interesse, Neugierde und Initiative einstellt. Wir möchten diesen entspannten, reibungslosen und -90-
natürlichen, liebevollen Interaktionsfluss vielen Eltern empfehlen. Mütter oder andere Betreuungspersonen, die mit ihren Aufgaben überbeschäftigt und komplett »durchorganisiert« sind, müssen unter Umständen bewusst mehr Zeit reservieren, in der sie die Explorationsaktivitäten ihres Kindes unterstützen oder direkt mit ihm interagieren. Als Minimum betrachten wir vier zwanzigminütige direkte Interaktionen täglich, weil sie den Babys und Kleinkindern Gelegenheit geben zu lernen, mit ihren Bezugspersonen einen ausgedehnten emotionalen und schließlich auch intellektuellen Dialog zu führen. Sie fördern die Konzentration und die Aufmerksamkeit, die Intensität des wechselseitigen Kontakts, das Lesen präverbaler Signale, das Lösen von Problemen und bei Kindergartenkindern den kreativen und schließlich logischen Umgang mit Vorstellungen und Ideen. Diese Phasen von zwanzig Minuten oder mehr sind ungemein wünschenswert, aber auch sie können durch kürzere Zeitabschnitte unterbrochen werden, in denen die Mutter ihren Routinetätigkeiten nachgeht. Beim Wickeln, Füttern, Einkaufen, Putzen und Kochen können wir Pausen einlegen, um das mit seiner Umwelt interagierende Kind zu unterstützen und direkt mit ihm zu interagieren. Die Zeit, in der das Kind sich selbst überlassen bleibt, sollte weniger als ein Drittel der Gesamtzeit ausmachen, die Kombination von direkter Interaktion (Bodenzeit) und intermittierender Unterstützung mindestens zwei Drittel. Um einen Eindruck davon zu gewinnen, ob man zu einem relativ angemessenen Gleichgewicht gefunden hat, sollte man einen typischen Tag Revue passieren lassen. Dies gilt in verschiedenen Formen für Kinder jeder Altersgruppe. Es ist auch wichtig zu betonen, dass das Baby den weitaus größten Teil der Zeit mit Bezugspersonen verbringen sollte, die langfristig zu seinem Leben gehören werden und denen es vertraut. Wie tief man sich anderen Menschen verbunden fühlen kann, hängt auch von der Tiefe der Gefühle ab, die man in -91-
konstanten Beziehungen erlebt. Diesen Voraussetzungen wird nicht jede Bezugsperson gerecht. Jedes Kind ist auf Betreuungspersonen angewiesen, die im Säuglingsalter, in der Kindheit und in der Adoleszenz Teil seines Lebens bleiben werden. Die Abhängigkeit von primären Bezugspersonen jedoch, die dann urplötzlich verschwinden, kann dem Baby kein inneres Gefühl der Sicherheit und Beständigkeit vermitteln. Der Wechsel von Betreuungspersonen ist nicht zu empfehlen und sollte vermieden werden. Kindergarten- und Vorschulkinder. Kinder dieses Alters sind ebenso wie Säuglinge und Kleinkinder auf liebevolle, fürsorgliche Beziehungen zu ihren Eltern angewiesen. Sie verbringen allerdings mehr Zeit im Spiel mit ihren Peers und in anderen Beziehungen, die ihr Leben bereichern können. Auch in diesem Alter strukturieren die vier verschiedenen Formen der Verfügbarkeit den Tagesablauf. Einen Teil der Zeit verbringen die Kinder vermutlich im Kindergarten, mit anderen Gruppenaktivitäten oder beim Spiel mit Gleichaltrigen. Die Wachzeit, die für Interaktionen mit den Eltern zur Verfügung steht, wird daher gegenüber dem Säuglings- und Kleinkindalter ein wenig verkürzt. Die Kinder werden sich über kurze Phasen in einem anderen Zimmer als die Eltern aufhalten, um sich Bilderbücher anzusehen, mit ihren Spielsachen zu spielen oder einfach zu entspannen. Aber auch in diesem Alter ist es ideal, wenn die Mutter in Sicht- und Hörweite bleibt. Kindern gefällt es, die Mutter im Nebenzimmer zu wissen, aber es ist ihnen nicht geheuer, wenn sie sich in einem anderen Teil des Hauses aufhält. Daher sollten die Betreuungspersonen auch in der Zeit, in der das Kind nicht im Kindergarten oder mit anderen Gruppenaktivitäten beschäftigt ist, in einer der drei beschriebenen Formen verfügbar sein, das heißt, ihren eigenen Tätigkeiten nachgehen, aber in Reichweite bleiben (weniger als ein Drittel der verbleibenden Zeit) und (mehr als zwei Drittel -92-
der Zeit) da sein, um mit dem Kind über dessen Aktivitäten zu plaudern oder ihm beim Werkeln zu helfen und direkt mit ihm zu interagieren. Das Spiel zu zweit mit einem gleichaltrigen Freund oder einer Freundin sollte zusätzlich zum Kindergarten täglich oder mindestens vier Mal in der Woche ermöglicht werden. Grundschuljahre. In den ersten vier Schuljahren können die Kinder im Allgemeinen längere Zeiträume außer Sichtweite der Eltern verbringen. Trotzdem ist es nach wie vor gut, wenn sich eine Bezugsperson in Rufweite aufhält und für die Kinder rasch erreichbar ist. Dies stärkt nicht nur ihr Sicherheitsgefühl, sondern reduziert auch die Wahrscheinlichkeit waghalsiger, gefährlicher Unternehmungen. Die Wochentage eines Grundschulkindes bestehen aus Schulstunden, dem Spiel mit Peers, den Hausaufgaben und der Zeit in der Familie. In den meisten Fällen bleiben der Familie die Stunden zwischen dem späten Nachmittag und dem Abend vorbehalten - eine Kombination von Schulaufgaben, Familienzeit einschließlich des Spiels mit Geschwistern und Vorbereitung aufs Schlafengehen. Für diese Zeit in der Familie sollte man täglich mindestens drei Stunden vorsehen - sagen wir, zwischen 18.00 und 21.00 Uhr -, die sich aufteilen in Phasen, in denen sich das Kind selbstständig beschäftigt, in denen es von den Eltern bei seinen Aktivitäten unterstützt wird und in denen es direkt mit beiden Eltern oder einem Elternteil interagiert. Zum Beispiel beteiligen kleinere Schulkinder die Eltern gern an interaktiven Phantasiespielen, während die etwas älteren interaktive Gesellschaftsspiele und Aktivitäten bevorzugen. Eine weitere wunderbare Gelegenheit, den Kontakt zu vertiefen, bieten die Gespräche während des Abendessens oder in den Übergangszeiten. In diesem Alter gibt es viele Möglichkeiten, am Leben der Kinder, die ihre Welt kennen lernen, teilzunehmen. Man kann ihnen bei den Hausaufgaben und ihren Hobbys helfen und ihnen -93-
von Dingen berichten, die den Eltern wichtig sind, beispielsweise von der Ferienplanung oder den Werten, die man selbst vertritt (einschließlich des religiösen Glaubens), oder sie an handwerklichen Tätigkeiten oder am Decken des Tisches beteiligen. Kinder dieses Alters können schon recht viele Dinge relativ selbstständig erledigen, sofern sich ihre Eltern verfügbar halten. Sie können ihre Schulaufgaben ohne Hilfe machen, ihren Hobbys nachgehen, alleine am Computer spielen oder fernsehen. Für das Geschwisterspiel mit und ohne Beteiligung der Eltern bieten sich die Nachmittags- oder Abendstunden an. Die Zeit, in der die Kinder gemeinsam mit Mutter oder Vater spielen, kann den Höhepunkt des Abends oder Wochenendes bilden. Diese Parameter bedeuten keineswegs, dass man die Zeit säuberlich in Intervalle von x Minuten für die Schulaufgaben und x Minuten für die Welterkundung und x Minuten für das direkte Spiel mit Geschwistern oder Eltern aufteilen muss. Ebenso wie bei den Babys und Kleinkindern sind die Übergänge häufig fließend. Das Kind benötigt für seine Schulaufgaben vielleicht zwanzig Minuten und braucht dann eine Pause, in der es sich einer Lieblingsbeschäftigung widmet oder Vater oder Mutter bei dem, was sie gerade tun, hilft. Vielleicht denkt es sich auch ein eigenes Spiel aus, bevor es den Rest der Schulaufgaben erledigt. Manche Kinder erzählen beim Abendessen gerne Witze, bevor sie sich entspannen und über Ereignisse aus der Schule berichten oder die neuen Bilder betrachten, die in der Küche aufgehängt wurden. Direkte Interaktion und unterstützte Welterkundung gehen dabei nahtlos ineinander über. Auch hier sollten mehr als zwei Drittel der verfügbaren Zeit für diese Art der Beziehung reserviert werden. Der Grund, weshalb es optimal ist, mit jüngeren Schulkindern Intervalle von mindestens zwanzig Minuten für das direkte interaktive, fröhliche Spiel und mit etwas älteren Schulkindern für gemeinsame Aktivitäten wie Sport, Tanz und Musik zu -94-
reservieren, besteht darin, dass in diesen Phasen eine besondere Nähe und Intimität zu den Eltern hergestellt werden kann. Der entspannte Umgang miteinander ermöglicht es, Ideen und Gedanken auszutauschen. In dieser Atmosphäre kann das Kind indirekt, durch Phantasiespiele oder organisiertere Spiele, ausdrücken, was ihm durch den Sinn geht. Ein wütendes und forderndes Kind beispielsweise wird verlangen, dass sich alle Mitspieler nach seinen Regeln richten; es wird sich nur widerwillig den Regeln anderer fügen. Ein schüchternes und ängstliches Kind agiert in seinen Phantasiespielen vielleicht Szenen, die sich um Orkane, Katastrophen oder Krankheiten drehen. Es kann sehr wertvoll sein, wenn sich die Eltern in das Kind einfühlen und ihm liebevoll dabei helfen, seinen Blickwinkel zu erweitern. Entspannte Verfügbarkeit, Zeit fürs Nichtstun Auch wenn Kinder an Projekten arbeiten oder alleine spielen, sollten sich die Eltern verfügbar halten. Kinder benötigen die Sicherheit, dass sie die Eltern verlassen können, um in ihr eigenes Zimmer zu gehen oder irgendetwas anderes zu unternehmen, und dass Vater oder Mutter da sein werden, wenn sie zurückkommen. Deshalb sollten die Eltern sich nicht in ihre eigenen Internetrecherchen oder in lange Telefongespräche vertiefen. Wenn sie die Zeitung lesen oder sich miteinander unterhalten, spüren die Kinder, dass sie ihnen auf ruhige, entspannte Weise zur Verfügung stehen und die Zeit, in der sie sich ihnen widmen, nicht mit der Stoppuhr messen. Viele Eltern, die sehr beschäftigt sind, werden klagen: »Nun gut, jetzt bin ich verfügbar, aber die Kinder wollen sich gar nicht mit mir unterhalten oder mir von der Schule erzählen. Sie lehnen auch meine Hilfe bei den Hausaufgaben ab und legen keinen Wert darauf, dass ich mit ihnen spiele.« Solche Eltern scheinen jede Minute, die sie nicht am Arbeitsplatz oder am Computer verbringen, zu zählen. Es geht jedoch darum, den Kindern das Gefühl einer entspannten Verfügbarkeit zu vermitteln. Sie -95-
müssen die Präsenz ihrer Eltern als Selbstverständlichkeit erleben können. Wenn dies der Fall ist, haben sie eine sichere Basis, zu der sie zurückkehren können, nachdem sie weggegangen sind. Wenn die Kinder älter werden, müssen die Eltern es ein wenig geschickter anstellen, um sie zu Aktivitäten zu animieren, die beiden Spaß machen. Eine Dreijährige kann jederzeit mit Phantasiespielen und anderen Aktivitäten, die ihr gefallen, gelockt werden. Sieben-, acht-, neun- oder zehnjährige Kinder aber sind bereits anspruchsvoller. Sie haben ihre speziellen Interessen -Sport, Tanzen, das Spielen mit Figuren aus einer Lieblingsfernsehsendung oder besondere Spiele, mit denen sich die Kinder und ihre Peers in der Schule amüsieren - und die Eltern müssen daran teilnehmen. Im Teenageralter wird diese entspannte Interaktion sogar noch schwieriger. Eine gute Chance zu ausführlichen Gesprächen ergibt sich, wenn die Eltern die Jugendlichen im Auto zu ihren Freunden fahren oder sie von ihren Unternehmungen abholen. Wenn Kinder zu viel Zeit allein verbringen Mitunter werden Kinder sehr lange allein gelassen. Noch bevor sie alt genug dafür sind, sollen sie sich Stunde um Stunde selbstständig beschäftigen. Manche Mütter »pflanzen« ihre Kleinkinder vor den Fernseher, um in Ruhe die Hausarbeit zu erledigen. Natürlich hat das Kind seinen Spaß, wenn es ein paar Minuten lang ein Sesamstraße-Video anschauen darf; zwei Stunden vor dem Fernseher sind für ein Kleinkind aber eher schädlich als hilfreich. Andere Eltern halten ihr acht Monate altes Kind für ein »pflegeleichtes Baby«, das damit zufrieden ist, in der Küche in der Babywippe zu sitzen und sich umzuschauen, während die Mutter stundenlang irgendwelchen Verrichtungen nachgeht oder telefoniert. Das Kind hat in diesen Phasen jedoch nicht genügend Interaktion. Die Tatsache, dass es die Aufmerksamkeit der Mutter nicht lautstark einfordert, bedeutet keineswegs, dass es von ihrer Zuwendung nicht profitieren -96-
würde. Kinder, die besonders komplikationslos sind, können in gewisser Weise »untergehen«, weil sie es den Eltern allzu leicht machen, sich ihren eigenen Interessen zu widmen. Gelegentlich können sich anderthalb- oder zweijährige Kinder wunderbar mit einem Puzzle, mit Bausteinen oder kleinen Spielzeugautos beschäftigen. Nicht selten aber spielen sie mit diesen Dingen nicht wirklich kreativ, sondern wiederholen lediglich ein und dieselbe Aktivität. Wenn es liebevolle und zärtliche Kinder sind, die bereits gut sprechen, kommen die Eltern möglicherweise gar nicht auf den Gedanken, dass etwas schief läuft; sie sind überzeugt, ein wunderbar selbstgenügsames, pflegeleichtes Kind zu haben, das »es ruhig angehen lässt«. Warum sollte sich die Mutter nicht um den Haushalt kümmern, ihre Telefonate erledigen oder sich an den Computer setzen und ein bisschen arbeiten? In Wirklichkeit ist es für Kinder in den ersten dreieinhalb Lebensjahren keineswegs optimal, allzu lange Zeit sich selbst überlassen zu bleiben. Wir halten ein Drittel der Wachzeit für das Maximum an Zeit, die das Kind allein verbringen sollte, und diese Zeit sollte darüber hinaus in Intervalle von kurzen (etwa fünfzehnminütigen) Phasen aufgeteilt sein. Wenn sich die Bezugsperson dem Kind zur Verfügung hält, um ihm bei Bedarf helfen zu können, ergeben sich automatisch fließende Übergänge zwischen selbstständiger Beschäftigung und unterstützender Interaktion. Ein Kind, das die Nähe seiner Mutter oder seines Vaters, seiner Geschwister oder anderer wichtiger Personen sucht, schafft sich seinen eigenen Rhythmus, dem sich die Eltern anpassen sollten. Wenn dies nicht gelingt, wird das Kind möglicherweise resignieren. Bis zum Alter von drei Jahren sollten Kinder nicht mehr als eine halbe Stunde täglich vor dem Fernseher verbringen. Kinder über drei Jahren sollten nicht länger als eine halbe Stunde am Tag fernsehen und nicht länger als eine halbe Stunde am -97-
Computer spielen. Im Großen und Ganzen aber werden die Eltern feststellen, dass alles wunderbar läuft, wenn sie sich für ihre Kinder in der beschriebenen Weise entspannt zur Verfügung halten, um ihnen dann und wann zu helfen, ihre Umgebung zu erforschen, während sie selbst die anstehenden Aufgaben erledigen und einkaufen gehen, kochen, putzen oder das Kind an den eigenen Hobbys oder Interessen beteiligen. Gleichzeitig müssen sich Eltern, wie bereits erwähnt, auf die Interessen ihres Kindes einstimmen. Hier ist es ideal, wenn sie mehrmals täglich mindestens zwanzig Minuten lang »nach der Pfeife des Kindes tanzen«. Die Bezugsperson begibt sich in die Welt des Kindes hinein, indem sie sich an einem direkten interaktiven Spiel mit ihm beteiligt. Vielleicht möchte das Kind auch explorieren; dann orientiert sich die Mutter an ihm, sei es im Supermarkt oder im Freien. Das Kind kann ihr auch beim Kochen helfen und dabei mit den Töpfen und Pfannen hantieren. Entscheidend ist, dass die Betreuungsperson mehrmals täglich etwa zwanzig bis dreißig Minuten auf diese Weise verfügbar ist. Beziehungen in Krippen, Krabbelstuben und Tagesstätten Wir müssen nun auch berücksichtigen, wie diese Grundsätze auf andere Betreuungskontexte angewandt werden können, zum Beispiel auf die Betreuung durch Tagesmütter, wechselnde Babysitter oder Verwandte sowie auf die Unterbringung in Krippen und Krabbelstuben. Für die Kinder, die in diesen Settings aufwachsen, gelten dieselben Standards wie für Kinder, die in den ersten Lebensjahren ausschließlich in der Familie betreut werden. Mit anderen Worten: Ein Kind in einer Krippe oder Krabbelstube sollte den größten Teil der Zeit mit unterstützten Aktivitäten oder in direkten EinszueinsInteraktionen verbringen. Unsere Beobachtungen in solchen Institutionen aber haben gezeigt, dass lange Interaktionssequenzen zwischen den Bezugspersonen und den Babys selten sind. -98-
Da es für die Mitarbeiter sehr schwierig ist, Zeit für ausgedehnte, liebevolle und konzentrierte Interaktionen zu reservieren, wenn sie sich gleichzeitig um vier oder mehr Babys kümmern müssen (wie es in den meisten Einrichtungen üblich ist), und das Personal in diesen Institutionen darüber hinaus in der Regel oft wechselt und die Kinder ohnehin automatisch Jahr um Jahr einer anderen Gruppe zugeteilt werden, halten wir den ganztägigen Aufenthalt in einer Krippe beziehungsweise Krabbelstube für problematisch. Für die Betreuerinnen ist es unter den gegebenen Bedingungen schwierig, den Kindern die konstante, fürsorgliche Aufmerksamkeit zu geben, die sie brauchen. Wenn das Kind hingegen täglich nur einige Stunden in der Krabbelstube verbringt, haben Mütter und Väter einen gewissen Freiraum, um ihrer Arbeit nachzugehen; das Kind kann die Erfahrungen, die wir beschrieben haben, auch unter diesen Umständen sammeln und die Sicherheit vermittelnde, konstante Fürsorge wird nicht beeinträchtigt. Wenn Säuglinge und Kleinkinder jedoch fündunddreißig Stunden pro Woche in einer Einrichtung zubringen, wird ihnen eine konstante Bezugsperson fehlen. Die intensive Fürsorge oder das Ausmaß der unterstützten Interaktion mit der Umwelt oder der direkten Interaktion, das wir als Voraussetzung einer gesunden Entwicklung betrachten, wird beeinträchtigt. Da manche Familien auf eine ganztägige Unterbringung ihrer Babys und Kleinkinder angewiesen sind, müssen wir uns für eine Verbesserung der Situation in Krippen und Tagesstätten einsetzen. Das Verhältnis zwischen der Anzahl der Betreuerinnen und der Kinder muss verbessert werden; außerdem müssen die Mitarbeiter besser ausgebildet und bezahlt werden und die Kinder ihrer Gruppe etwa drei Jahre lang konstant betreuen. Auch wenn die Notwendigkeit, die Kinderbetreuung zu verbessern, allgemein anerkannt wird, hat man in den letzten fünfundzwanzig Jahren nur bescheidene Schritte unternommen. Wie erwähnt, stimmen die Studien über -99-
die Qualität der Versorgung nicht eben optimistisch. Möglicherweise versuchen wir, ein System aufrechtzuerhalten, das den elementaren Bedürfnissen unserer Kinder nicht gerecht wird. Deshalb ist es vielleicht an der Zeit, dass wir unsere Grundannahmen überprüfen. Dies kann geschehen, indem wir jede Familie umfassend und genau informieren. Mithilfe solcher Informationen wird es den meisten Eltern unserer Ansicht nach gelingen, kluge und überlegte Entscheidungen zu treffen. Empfehlungen Wenn wir die folgenden Empfehlungen vertreten, vergessen wir keineswegs, dass die außerfamiliäre Kinderbetreuung unter einer Vielzahl von Umständen ausgesprochen wünschenswert und notwendig ist. Allein erziehende Mütter oder Väter, die arbeiten müssen, um eine Mahlzeit auf den Tisch bringen zu können, haben oft gar keine andere Wahl, als ihr Kind vierzig Stunden pro Woche in einer Einrichtung betreuen zu lassen, auch wenn sie es unter anderen Bedingungen optimal selbst versorgen könnten. Hier muss das Ziel darin bestehen, die bestmögliche Einrichtung zu finden und mit den Betreuerinnen als Team zu kooperieren, um die Versorgung und Erziehung des Kindes durch verschiedene Bezugspersonen aufeinander abzustimmen. Darüber hinaus gibt es Familien mit derart hohen individuellen oder familiären Belastungen, dass es dem Baby oder Kleinkind gut tut, dreißig oder mehr Stunden wöchentlich außer Haus zu verbringen, weil ihm so letztlich ein weit stabileres und effizienteres Unterstützungssystem zur Verfügung steht. Jeder Fall erfordert eine individuelle Beurteilung, und Eltern müssen kluge und wohl durchdachte Entscheidungen treffen, die ihrer eigenen, spezifischen Situation Rechnung tragen. Konstante Beziehungen • In den ersten drei Lebensjahren braucht jedes Kind eine oder zwei Bezugspersonen, die eine kontinuierliche, intime Beziehung zu ihm aufrechterhalten. -100-
• In der Säuglingszeit, als Kleinkinder und im Kindergartenalter sollten sich Kinder immer in Sichtweite ihrer Bezugspersonen aufhalten. Abgesehen von der Schlafenszeit sollte die Betreuungsperson sie jederzeit im Blick haben. • Säuglinge, Krabbelkinder und Kindergartenkinder sollten grundsätzlich nicht mehr als ein Drittel ihrer Wachzeit vollständig sich selbst überlassen bleiben. Die Zeit, die sie mit selbstständigen Aktivitäten verbringen, sollte sich in Intervallen von maximal zehn bis fünfzehn Minuten über den gesamten Tag verteilen. • Die übrigen zwei Drittel der Zeit sollten zwischen zwei Formen der Aktivität aufgeteilt werden: die durch eine Bezugsperson unterstützte Interaktion mit der Umwelt und die direkte Interaktion wie Schmusen, Umhertragen, gemeinsame Phantasiespiele oder Gesichterschneiden. Säuglinge und Kleinkinder benötigen täglich mindestens vier zwanzigminütige oder längere Phasen der direkten Interaktion. Kindergarten- und Vorschulkinder brauchen mindestens drei Mal am Tag die Gelegenheit, direkt mit einer Bezugsperson zu spielen. In einer Familie mit zwei Elternteilen sollten sich Vater und Mutter an diesen spontanen, fröhlichen Spielen beteiligen. Während der Zeit des unterstützten Explorierens stehen die Betreuungspersonen dem Kind zur Verfügung, um seine Aktivitäten zu kommentieren, seine Fragen zu beantworten und ihm zu helfen; dabei können die Erwachsenen zugleich auch ihren eigenen Aufgaben nachgehen, zum Beispiel kochen oder Wäsche in die Maschine füllen. Das Kind kann Vater oder Mutter während dieser Zeit begleiten und zum Beispiel im Supermarkt beim Einkauf helfen oder den Eltern auf andere Weise »assistieren«. • Wenn wir die während der Grundschuljahre verfügbare Zeit betrachten, gehen wir von der Freizeit abzüglich der Schulstunden, der Nachmittagsaktivitäten und jener Zeit aus, die das Kind mit seinen Peers verbringt. Wir empfehlen auch für -101-
dieses Alter, dass Kinder zwei Drittel der verfügbaren Zeit in Anwesenheit einer Bezugsperson verbringen, die sie teils bei ihren Aktivitäten unterstützen, teils direkt mit ihnen interagieren sollte. In der »Unterstützungszeit« kann sie dem Kind bei den Schulaufgaben helfen oder ihm bei seinen Hobbys oder anderen Beschäftigungen zur Hand gehen. Für die direkte Interaktion (an der sich nach Möglichkeit beide Eltern beteiligen) sollten mindestens zwei Phasen von etwa zwanzig Minuten für gemeinsame Phantasie- oder Gesellschaftsspiele oder andere Aktivitäten, bei denen das Kind die Führungsrolle übernehmen kann, reserviert bleiben. • Wir empfehlen, dass berufstätige Eltern zumindest zwei Drittel der Abendstunden, etwa von 17.30 oder 18.00 bis 21.00 Uhr, für das Kind verfügbar sind und zumindest ein Elternteil auch am späten Nachmittag für das Kind da ist, wenn es mit seinen Freundinnen und Freunden oder mit seinen Geschwistern spielt oder anderen Nachmittagsbeschäftigungen nachgeht. Die Eltern sollten sich in dieser Zeit so weit verfügbar halten, dass weder sie selbst noch die Kinder jede Minute mit der Stoppuhr abmessen müssen, sondern die oben skizzierten Richtlinien als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Erziehungsurlaub Wir empfehlen, dass ein Elternteil den größten Teil des ersten Lebensjahres beim Kind verbringt.24 Krippen und Krabbelstuben • Wir empfehlen, Säuglinge und Kleinkinder nicht dreißig Stunden oder mehr pro Woche in Einrichtungen betreuen zu lassen, wenn die Eltern in der Lage sind, sich selbst optimal um das Kind zu kümmern, und wenn sie die Wahl haben. Wir empfehlen zudem, die Versorgung in den Einrichtungen zu verbessern, und zwar durch ein angemesseneres Verhältnis zwischen der Zahl der Betreuerinnen und der Anzahl der Kinder sowie durch eine Verbesserung der Ausbildung und der -102-
Gehälter. Kinder, die in Ganztagseinrichtungen untergebracht sind, sollten drei oder vier Jahre lang von derselben Person betreut werden. Familien, die auf eine Ganztagsbetreuung angewiesen sind, könnten ihr Kind auf diese Weise besser unterbringen, als es heute der Fall ist. • In den ersten drei Lebensjahren sollte jedes Kind eine primäre Bezugsperson haben, die es während der drei oder vier Jahre, in denen es die Einrichtung besucht, betreut. • Eine Betreuerin sollte für nicht mehr als maximal drei Babys im ersten Lebensjahr zuständig sein. • Eine Betreuerin sollte für nicht mehr als vier Kleinkinder zuständig sein. • Eine Betreuerin sollte für nicht mehr als fünf bis acht Kinder zwischen drei und vier Jahren zuständig sein.25 Betreuung in Wohngruppen oder Heimen Die verschiedenen Formen der Gruppenbetreuung sollten sich an denselben Richtlinien orientieren, die wir für Familien ausgearbeitet haben. Zu der konstanten Betreuung durch eine oder einige wenige feste Bezugspersonen gehören direkte oder »unterstützte« Interaktionen, die mindestens zwei Drittel der verfügbaren Zeit ausmachen. Berufsbegleitende Fortbildungsmaßnahmen und Gehälter, die mit wachsender Erfahrung und Weiterqualifizierung steigen, sowie begleitende Strukturen, die eine liebevolle Haltung gegenüber den Kindern fördern, tragen wesentlich dazu bei, den Anforderungen zu genügen, die an eine beständige, warmherzige und zuverlässige Betreuung in Gruppensettings oder Heimen gestellt werden müssen. Fernsehkonsum In den ersten drei Lebensjahren sollten Kinder nicht mehr als eine halbe Stunde täglich vor dem Fernseher verbringen. Ab dem Alter von drei Jahren ist eine weitere halbe Stunde vor dem Fernsehgerät oder am Computer vertretbar, in der sich dem Kind -103-
nach Möglichkeit ein Elternteil anschließen sollte. das Kind bei dem Elternteil, bei dem es nicht lebt, sicher und geborgen fühlt. Wenn das Kind beide Eltern mehrmals pro Woche sieht, kann es im Alter zwischen drei und sieben Jahren gelegentlich bei diesem Elternteil übernachten, einige Monate später auch zweimal hintereinander, bis schließlich längere Besuche möglich werden. All diese Empfehlungen sollten im Interesse der Geborgenheit und Sicherheit des Kindes gehandhabt werden. King County Family Court (Washington State)26 Richtlinien für die Besuchsregelung: Gemeinsames Sorgerecht Kein Modell passt auf jede Familie! Säugling (0-12 Monate) • Zuverlässigkeit der körperlichen und emotionalen Betreuung. • Enge Beziehung zu den betreuenden Erwachsenen. • Beziehungsbrüche können eine schwere Regression auslösen. • Besuche: häufig, aber nicht länger als 1-3 Stunden und immer im selben Haushalt. Kleinkind (1-3 V2 Jahre) • Plötzliche äußere Veränderungen können das Kind massiv beeinträchtigen. • Besuche: häufige 4- bis 8stündige Besuche am Tag; Übernachtungen nur dann, wenn das Kind den Haushalt des Elternteils, bei dem es nicht lebt, gut kennt; im Alter von 3 Jahren: eine Übernachtung oder ein Wochenende. Kindergartenkinder (3l/2-5 Jahre) • Häufigere Besuche zusammen mit Geschwistern oder anderen Kindern. -104-
• Besuche: wöchentliche Besuche tagsüber; Minimum: zwei Wochenenden pro Monat; längere Aufenthalte von maximal zwei Wochen, aber mit Kontakten zu dem Elternteil, bei dem das Kind aufwächst. Erste Grundschuljahre (5-9 Jahre) • Besuche: zwei Wochenenden pro Monat; längere Aufenthalte von maximal vier bis sechs Wochen. Betreuungsplan Ein guter Betreuungsplan sollte folgende Aspekte berücksichtigen: 1. Die Entwicklungsbedürfnisse und das Alter des Kindes. 2. Die psychische Bindung des Kindes. 3. Die Art und Weise, wie die Erziehungsaufgaben während der Ehe verteilt waren. 4. Die Aufrechterhaltung oder Entwicklung einer engen Beziehung zu beiden Elternteilen. 5. Einen zuverlässigen und berechenbaren Zeitplan, der das Pendeln des Kindes zwischen den Haushalten auf ein Minimum beschränkt. 6. Das Temperament des Kindes und seine Fähigkeit, Veränderungen zu verkraften. 7. Die berufliche Inanspruchnahme der Eltern und ihre Arbeitszeiten. 8. Die Notwendigkeit, den Plan regelmäßig zu prüfen, Alarmsignale zu registrieren und die Vereinbarungen zu modifizieren, wenn sich die Bedürfnisse und die äußeren Umstände verändern. Beurteilung A. Interviews und Tests mit beiden Eltern. B. Beobachtung und Untersuchung kleinerer Kinder während der Interaktion mit der primären Betreuungsperson. -105-
C. Beobachtung und Untersuchung kleinerer Kinder während der Interaktion mit der sekundären Betreuungsperson. D. Einzeluntersuchung kleinerer Kinder. E. Sichtung der Unterlagen und Aufnahme von Kontakten zu beiden Seiten. F. Auswertung und Interpretation der Testergebnisse; Formulierung von Meinungen und Empfehlungen unter Berücksichtigung der Ergebnisse.
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2. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH KÖRPERLICHER UNVERSEHRTHEIT, SICHERHEIT UND REGULATION
Die meisten Eltern, Gesetzgeber und Politiker betrachten das Grundbedürfnis der Kinder nach körperlichem Schutz, nach Sicherheit und Regulation ebenso wie das Bedürfnis nach konstanten und zuverlässigen Beziehungen als Selbstverständlichkeit. Dabei machen wir uns das Ausmaß, in dem dieses Bedürfnis missachtet wird, gewöhnlich nicht bewusst. In zahlreichen Ländern der Welt können sehr viele Kinder aufgrund von Kriegen, Hungersnöten oder Armut nicht angemessen ernährt werden, sie bleiben ohne Obdach und ohne jede medizinische Versorgung. Trotz einer Reihe beeindruckender Gesundheits- und Ernährungsprogramme ist nicht daran zu zweifeln, dass die Vereinigten Staaten, ihre Bündnispartner und die Vereinten Nationen zum Schütze der Kinder dieser Welt entschieden mehr tun könnten, wenn sie sich zu einer konsequenten Zusammenarbeit entschlössen. In den USA und vielen anderen Ländern haben wir für die körperliche Unversehrtheit und das Wohlergehen der Kinder wenig Vorbildliches geleistet, obwohl die Voraussetzungen dafür dank der stabilen und erfolgreichen wirtschaftlichen und politischen Systeme gegeben sind. Viel zu viele Kinder sind unnötigen Risiken ausgesetzt; sie kommen untergewichtig zur Welt und weisen körperliche Beeinträchtigungen, Lernschwierigkeiten sowie emotionale und soziale Probleme auf, die man hätte verhindern können. Immer mehr Babys leiden infolge von Misshandlung und Vernachlässigung unter Schädigungen ihres zentralen Nervensystems. Die pränatale und postnatale Beeinträchtigung durch Alkohol, Tabak, Blei, -107-
Quecksilber und andere Giftstoffe sowie der Drogenmissbrauch im Kindesalter und in der Adoleszenz wirken sich ebenfalls schädlich auf die gesunde Funktionsfähigkeit des zentralen Nervensystems aus. Die wachsende Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie gewalttätige Auseinandersetzungen unter Kindern und Heranwachsenden gefährden die körperliche Unversehrtheit und Sicherheit. Ein weiteres Risiko für die Gesundheit der Kinder sind der emotionale und soziale Stress und die Verdrängung menschlicher Interaktionen durch übertriebenen Fernsehkonsum oder stundenlanges Spielen am Computer. Wir müssen akzeptieren, dass wir für die körperliche Unversehrtheit und das physische Wohlergehen unserer Kinder nicht das Nötige getan haben. Darüber hinaus haben wir auch nicht dafür gesorgt, dass sie in einer schützenden Umgebung heranwachsen können, die eine gesunde Entwicklung von der Empfängnis bis zur Kindheit und Adoleszenz garantiert. Gemessen an ihrem wirtschaftlichen Wohlstand und Wachstum schneiden die Vereinigten Staaten im Vergleich zu vielen anderen Industrienationen nicht gut ab. Die Präventiv-, Screening- und Interventionsprogramme könnten vor allem für die sozial schwache Bevölkerung und für bestimmte Minderheitengruppen erheblich verbessert werden. Unser Hauptaugenmerk gilt hier der Betreuung schwangerer Frauen, der Gesundheitsvorsorge im Säuglings- und Kleinkindalter, der Reduzierung der Säuglingssterblichkeit und der Untergewichtigkeit Neugeborener sowie dem Schutz der Kinder vor Gewalt, Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung. Eine der wichtigsten und vermeidbaren Gefahren für die körperliche Unversehrtheit unserer Kinder sind die Giftstoffe in der Umwelt. Diskussionen über die Frage, in welchen Mengen bestimmte toxische Substanzen für Kinder (oder Erwachsene) schädlich sind, verstellen den Blick auf zwei Fakten, um die wir uns unverzüglich kümmern müssen. Viele Giftstoffe, die das -108-
zentrale Nervensystem schädigen (und die zum Teil mit Krebserkrankungen sowie mit Funktionsstörungen des Immunund Fortpflanzungssystems in Verbindung gebracht werden), sind im Trinkwasser, im Boden, in der Luft und im Innern unserer Wohnhäuser enthalten. Kinder nehmen solche giftigen Substanzen in relativ höheren Mengen auf, da sie kleinere Körper haben als Erwachsene und zudem ausgesprochen gern auf dem Erdboden, dem Parkett oder Teppich spielen und mit Händen und Mund explorieren. Darüber hinaus orientieren sich die Sicherheitsgrenzen, die unsere Regierung festlegt, wenn Produkte auf Belastungen hin getestet werden, am Gewicht und an der Physiologie erwachsener Männer. Dass das körperliche Wohlergehen unserer Kinder tatsächlich akut gefährdet ist, illustrieren Untersuchungen aus den vergangenen Jahren. So wurde in der Muttermilch, einem der wenigen noch verbliebenen Symbole für Reinheit und Gesundheit, Dioxin nachgewiesen (die in »Agent Orange« enthaltene Chemikalie), und zwar in Mengen, die signifikant über den für Kuhmilch zugelassenen Werten liegen. In den Vereinigten Staaten ist der durchschnittliche Dioxingehalt von Kuhmilch fast dreimal so hoch wie der obere Grenzwert, den Länder wie Belgien, Frankreich und die Niederlande festgelegt haben. Daten der International Agency for Research on Cancer zeigen, dass die Werte zwischen 45 in Jordanien und 3 in Thailand schwanken; in Industrieländern wie Deutschland und Großbritannien liegen die Werte etwa genauso hoch wie in den Vereinigten Staaten. Das heißt, dass der Verkauf von Muttermilch in den meisten Ländern aufgrund der hohen Dioxinbelastung tatsächlich verboten wäre. Über diese Belastung gibt es relativ zahlreiche Untersuchungen; dokumentiert ist aber auch die Kontaminierung der Muttermilch durch PCBs und andere Chloridzusammensetzungen wie DDT und Lindan. -109-
Obwohl die American Academy of Pediatrics und die Weltgesundheitsorganisation erklären, dass die Vorteile des Stillens die Gefahren bei weitem überwögen, ist die Giftbelastung einer Substanz wie der Muttermilch, die normalerweise so gesund sein sollte, alarmierend. Die Aufgabe, unsere Kinder vor Chemikalien wie Dioxin zu schützen, ist weit schwieriger zu lösen, als wir es uns vielleicht vorstellen. Bereits pränatal wird der Fetus durch die Ernährung der Mutter und durch die Luft, die sie atmet, belastet; nach der Geburt nimmt das Kind Giftstoffe auf, die in der Muttermilch und in der Umwelt vorkommen. Wir müssen berücksichtigen, dass neben weiteren Faktoren auch diese Substanzen das gesunde Heranwachsen unserer Kinder beeinträchtigen und für die Zunahme von Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie verschiedener anderer Entwicklungsprobleme verantwortlich sein können. Sofern Daten gesammelt wurden, zeigen diese, dass mittlerweile erschreckend viele Kinder wegen massiver Entwicklungsprobleme untersucht und behandelt werden müssen. In Kalifornien zum Beispiel ist die Zahl der Kinder, bei denen eine autistische Störung diagnostiziert wurde, in den vergangenen zehn Jahren um 270% gestiegen.1 Die Häufigkeit von Störungen, die dem autistischen Spektrum zugeordnet werden, ist um 1.000% gestiegen (für diese Angaben könnten möglicherweise auch die verbesserte und frühere Identifizierung und Diagnose verantwortlich sein); zu Störungen des »autistischen Spektrums« zählen soziale Schwierigkeiten sowie Denk- und Kommunikationsstörungen, deren Schweregrad den für Autismus festgelegten Kriterien lediglich annähernd entspricht.2 Es gibt viele Kategorien von Umweltgiften. Neben den bekannten Risiken der Blei-, Alkohol- und Tabaknebenprodukte sowie der Drogen findet sich eine Reihe von Giften in Produkten für den Gartenbau (zum Beispiel in Herbiziden), die -110-
Insektenbekämpfung (Pestizide) und die Hausreinigung sowie den Malerbedarf (flüchtige organische Verbindungen). Wie bereits erwähnt, können Kinder, die gerne auf dem Rasen, dem Teppich oder Fußboden spielen und alle Gegenstände, die sie finden, in den Mund nehmen, über die Haut, die Atemluft oder mit den Nahrungsmitteln aufgrund ihres niedrigeren Körpergewichts relativ gesehen weit größere Mengen dieser Gifte als Erwachsene aufnehmen. Bislang aber besitzen wir keine umfassenden Untersuchungen, auf deren Grundlage die für ungeborene Säuglinge, für Babys und Kinder kritischen Grenzwerte dieser Toxine festgelegt werden könnten. Die Environmental Protection Agency hat mehr als ein Dutzend Kategorien klassifiziert, über die Eltern gründlicher informiert werden müssen; sie reichen von Blei bis zu Nitrogendioxiden (aus schlecht belüfteten Gasöfen und Durchlauferhitzern).3 Die Tatsache, dass Giftstoffe die Muttermilch, das Wasser, den Boden und die Luft kontaminiert haben, sollte ein Alarmsignal sein und uns zu gemeinsamen Korrekturmaßnahmen veranlassen. Deshalb muss ein vorrangiges Ziel darin bestehen, diese massive Gesundheitsgefährdung zu reduzieren und zu beseitigen; auch wenn Eltern und Kindern in der Zwischenzeit nur wenig zu tun bleibt, sollte man zumindest den Verzehr von tierischen Fetten (in denen diese Chemikalien gespeichert werden) sowie von Fischen und Schalentieren aus belasteten Gewässern einschränken und auf den Einsatz von Pestiziden, Herbiziden und anderen Giftstoffen (vor allem in Bereichen, in denen Kinder spielen) verzichten.4 Verstärkt wird die Sorge über Umweltgifte und andere Gefahren durch die Tatsache, dass selbst geringfügige Schädigungen des zentralen Nervensystems Lernstörungen und eine Vielfalt an intellektuellen, emotionalen und sozialen Schwierigkeiten auslösen können. Wenn Kinder bereits intrauterin giftigen Substanzen (beispielsweise Alkohol, Tabak, -111-
Drogen, Blei) ausgesetzt sind, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Nervensystem auf elementare Empfindungen wie Berührungen oder Geräusche entweder über- oder unterreagiert. Erhöht ist auch das Risiko, dass ihnen die Verarbeitung akustischer Reize, der Spracherwerb und das visuellräumliche Denken Schwierigkeiten bereiten. Diese Kinder haben darüber hinaus Probleme mit der motorischen Planung und Sequenzierung. Jeder einzelne dieser Faktoren kann die Tendenz zu Lernstörungen, zu impulsivem oder antisozialem Verhalten und zu Schwierigkeiten, Beziehungen zu Peers zu knüpfen oder soziale Signale zu lesen, weiter verstärken. Sogar die Organisation des Denkens und die Aufrechterhaltung eines Realitätsbewusstseins können in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Auswirkungen lassen sich im Säuglingsalter bei Babys beobachten, denen es schwer fällt, sich zu beruhigen, sich aufmerksam zu orientieren und einzelne Aktionen zu koordinieren, beispielsweise die Hand zum Mund zu führen oder sich in die Arme eines Erwachsenen zu schmiegen. Kommen zu diesen Beeinträchtigungen auch nur minimale familiäre Schwierigkeiten (Umweltstress) hinzu, besteht eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, dass das Kind in der Adoleszenz gravierende Probleme entwickeln wird. Kinder, deren Fähigkeit, auf Berührung, Geräusch oder Schmerz zu reagieren, durch eine frühe Schädigung des zentralen Nervensystems beeinträchtigt ist, empfinden ein gesteigertes Verlangen nach Sinneseindrücken und neigen zu Überaktivität und risikoreichem Verhalten; wenn solche Kinder in der Familie vernachlässigt, hart bestraft oder misshandelt werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie antisoziale Verhaltensweisen entwickeln, deren erste Anzeichen sich häufig bereits in der Kindheit bemerkbar machen. Die Kinder scheitern zunächst im Kindergarten, dann in der Schule, in ihren Peergruppen und schließlich in der Berufsausbildung. Durch diese Erfahrungen werden ihre Wut und Impulsivität und ihre Rücksichtslosigkeit -112-
gegenüber anderen noch verstärkt. In solchen Situationen, in denen das Kind einem doppelten Risiko ausgesetzt ist, stehen korrigierende Umwelterfahrungen häufig einfach nicht zur Verfügung - dem Kind fehlen sowohl zuverlässige Fürsorge und Empathie als auch berechenbare, seiner Entwicklung entsprechende, aber klare Grenzen; die intensive Arbeit, die notwendig wäre, um die Planung und Organisation des Verhaltens zu verbessern und es dem Kind zu erleichtern, die Konsequenzen seines Verhaltens vorherzusehen und seine Gefühle bewusst wahrzunehmen, bleibt aus. Diese Arbeit nimmt sehr viel Zeit in Anspruch und kann nur von qualifizierten Fachleuten geleistet werden. Wir haben die Elemente identifiziert, auf denen der Erfolg solcher Förderungsmaßnahmen beruht. Unsere Gesellschaft tut sich mit der Einrichtung entsprechender Programme schwer, so dass bislang nur einige Vorzeigeprojekte verwirklicht wurden. Für Kinder, die bereits in den beschriebenen Teufelskreis hineingeraten sind, ist eine solche Förderung jedoch unverzichtbar. Auch chaotische Umweltverhältnisse an sich können die Funktionsweise des Nervensystems beeinträchtigen. In einer Studie hat einer der Autoren (S.LG.) Babys beobachtet, die mit einer hervorragenden Fähigkeit geboren worden waren, sich zu beruhigen, zu fokussieren und die Aufmerksamkeit zu konzentrieren und zu regulieren. Sie lebten aber von Anfang an in chaotischen Verhältnissen. Im Alter von einem Monat reagierten viele dieser Kinder übersensibel auf Geräusch und Berührung; ihre Fähigkeit, Handlungen zu planen und zu sequenzieren, war unzulänglich ausgeprägt. Kinder, die vernachlässigt wurden, hatten einen niedrigen Muskeltonus und wirkten apathisch und lustlos. Im Extrem haben wir dieses Muster bei Säuglingen mit Gedeihstörungen beobachtet. Infolge emotionaler und körperlicher Vernachlässigung verlieren die Babys und Kleinkinder an Gewicht, wirken apathisch und -113-
zurückgezogen, haben einen niedrigen Muskeltonus und unterentwickelte kognitive und sprachliche Fähigkeiten. Wie bereits erwähnt, lassen sich diese Extreme auch in Heimen und anderen Einrichtungen beobachten, in denen es den Kindern an menschlicher Zuwendung fehlt. Die Beeinträchtigungen des Nervensystems scheinen auf einem Kontinuum aufzutreten und offenbar haben in der Vergangenheit lediglich die extremsten Formen unsere Aufmerksamkeit geweckt. Aus der sozialen Umgebung drohen jedoch auch weniger extreme Gefahren, die nicht gleich ins Auge springen. Eine Untersuchung der Kaiser Foundation hat gezeigt, dass Kinder täglich mindestens fünf Stunden vor dem Fernseher oder am Computer verbringen.5 Wie sich diese passive, repetitive Wahrnehmungsaktivität auf die Entwicklung auswirkt, wurde bislang nicht genügend erforscht; unsere Kenntnisse über das menschliche Nervensystem aber rechtfertigen es, ihre Folgen für die Aufmerksamkeit sowie für die Lernund Bewältigungsstrategien ernsthaft zu hinterfragen. Im Gegensatz zur »Bildschirmzeit« scheinen dynamische Interaktionen mit anderen Kindern und mit Erwachsenen das Lernen und die Entwicklung zu fördern. Unser Ziel besteht darin, zu verhindern, dass solche Serien von Fehlschlägen überhaupt in Gang gesetzt werden. Das bedeutet, dass wir die Situation auf zwei Ebenen angehen müssen: Wir müssen physiologischen Schädigungen vorbeugen sowie das familiäre Umfeld und die äußere Umwelt, in der Kinder aufwachsen, verbessern. Wenn wir die Schädigungen zu verhindern versuchen, die Kinder für Verhaltensprobleme und intellektuelle Schwierigkeiten anfällig machen, müssen wir uns klar machen, dass sich das menschliche Nervensystem nicht nur in der Schwangerschaft, sondern auch während der ersten fünf Lebensjahre ausgesprochen schnell entwickelt. Darüber hinaus legen neue Gehirnforschungen nahe, dass ein weiterer -114-
Entwicklungsschub in der Adoleszenz erfolgt. Das bedeutet, dass wir es mit einem verletzlichen, rasch wachsenden System zu tun haben, das durch physische und erfahrungsbedingte Faktoren jederzeit beeinflusst werden kann. Ebenso, wie ein mit hoher Geschwindigkeit fahrendes Auto durch einen leichten Stoß von der Seite die Richtung verliert, kann auch das schnell wachsende menschliche Nervensystem durch minimale Schädigungen beeinflusst werden. Viele Eltern, Ärzte, Lehrer und Politiker fragen: Warum sehen wir heutzutage immer mehr Kinder mit Problemen, sich zu konzentrieren oder ihre Impulsivität zu kontrollieren, Kinder mit Sprech- und Lernstörungen, mit Stimmungsschwankungen und allgemeinen Entwicklungsverzögerungen oder mit Entwicklungsstillstand, die ihre Beziehungs-, Kommunikationsund Denkfähigkeit beeinträchtigen? Da es nicht gelungen ist, einen einzelnen, spezifischen Faktor zu identifizieren, liegt es nahe, mit einem Modell des kumulativen Risikos zu arbeiten. Das heißt, dass wir, wenn wir die infrage kommenden Möglichkeiten betrachten, eine Reihe von Faktoren identifizieren können, von denen jeder einzelne in Kombination mit anderen Faktoren und mit einer genetischen Disposition zu der Störung beitragen kann. So kann beispielsweise eine Neigung zu Mittelohrentzündungen oder Allergien oder Autoimmunreaktionen durch die Aufnahme von Giften oder durch extremen Stress erhöht werden und solche Erkrankungen wiederum können vor allem bei genetisch anfälligen Kindern Entwicklungsprobleme nach sich ziehen. Viele diese Faktoren haben Auswirkungen auf die Regulation des zentralen Nervensystems, einschließlich der Reaktivität auf Körpersensationen (Geräuschwahrnehmung, Berührung, Bewegung, Schmerz), auf die Fähigkeit, jene Sensationen zu verarbeiten und zu begreifen (Sprache, visuellräumliches Denken), und auf die Fähigkeit, Handlungen zu planen und zu sequenzieren (Problemlösung, ausführende Funktionen). Wenn -115-
irgendeine dieser Regulationsfähigkeiten beeinträchtigt ist, kann das Verhalten des Kindes zur Belastung für seine Betreuungspersonen werden und das Potenzial für eine ganze Flut eskalierender Probleme schaffen. Wir müssen deshalb überlegen, wie wir Eltern und andere Verantwortliche durch eine Kampagne des öffentlichen Gesundheits- und Erziehungssystems umfassend über die bekannten Verdachtsmomente informieren könnten. Darüber hinaus müssen die »neuen Verdächtigen« gründlicher erforscht werden. Wenn wir uns vor Augen führen, welche Konsequenzen die Schädigung des kindlichen Nervensystems auf individueller und gesellschaftlicher Ebene nach sich zieht, wird deutlich, dass wir weit entschiedener handeln müssen als bisher. Wir haben dem körperlichen Wohlergehen und dem Schutz von Säuglingen, Kleinkindern und Familien in der Vergangenheit nicht die notwendige Priorität eingeräumt. Natürlich haben wir uns verbal zu diesem Ziel bekannt, aber in den nationalen und internationalen Präventions- und Interventionsprogrammen taucht es auf keinem der drei ersten Plätze auf. Das Grundrecht der Kinder auf den Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit muss als Grundlage aller weiteren Bemühungen dienen, wenn wir am Schicksal der Kinder tatsächlich Anteil nehmen wollen. Eine Fortführung der bisherigen Praxis würde alle anderen Maßnahmen, die man in die Wege leiten könnte, mit Sicherheit untergraben. Der erste Schritt zur Gewährleistung des körperlichen Schutzes und Wohlergehens eines Babys besteht darin, die Mutter während der Schwangerschaft, bei der Geburt und in den ersten Lebensjahren des Kindes zu unterstützen. Das bedeutet, dass man die Bedürfnisse der jeweiligen Familie versteht und mit ihnen arbeitet. Wenn solche Hilfen verfügbar sind, können Schwangerschaft, Geburt und die Betreuung des Babys zu positiven Erfahrungen werden. Gerade diejenigen Frauen, die in -116-
der Schwangerschaft nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen kommen, bereiten uns häufig die größten Sorgen; dennoch haben wir uns in der Vergangenheit nicht hinreichend bemüht, sie zu erreichen. Einzelne Projekte haben indes gezeigt, dass solche Anstrengungen hilfreich und effektiv sein können.6 Wir müssen sie zur Routine machen. Die Lehrpläne der Medizinstudenten und Assistenzärzte, vor allem der angehenden Geburtshelfer und Kinderärzte, müssen den psychosozialen Faktoren, die häufig über Gesundheit oder Krankheit unserer Patienten entscheiden, erheblich mehr Platz einräumen. Darüber hinaus gibt es viele Formen der Geburtsbegleitung, in denen die psychologische Betreuung neben der körperlichen nicht zu kurz kommt. Ein besonders innovatives Modell, das mit einer speziell ausgebildeten Helferin (einer Doula) arbeitet, welche die Mutter während der Geburt psychologisch und körperlich betreut, kann den Status vieler Babys und Mütter nachweisbar verbessern.7 Die postnatale Betreuung ist deshalb besonders wichtig, weil Babys schnell wachsen und ihre Bedürfnisse sich rasch verändern. In so genannten Problemfamilien ist die frühe Entwicklung massiv gefährdet, da eine angemessene Versorgung durch die Vielzahl problematischer Verhaltensweisen beeinträchtigt wird. Mittlerweile wurden in diesem Bereich erfolgreiche Programme entwickelt.8 In den meisten Städten aber werden gerade die unterstützungsbedürftigen Familien weitgehend vernachlässigt. Alle Eltern wollen wissen, ob sich ihr Baby gut entwickelt und was sie tun können, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Reichen die hergebrachten Anhaltspunkte wie Gewichtszunahme, motorische Entwicklung (Sitzen, Krabbeln und Laufen) und bestimmte kognitive und sprachliche Entwicklungen (Vokalisieren und Sprechen ganzer Wörter) zur Beurteilung aus? Wir können mittlerweile entschieden mehr tun. Wir können die intellektuelle, die soziale und die emotionale -117-
Entwicklung eines Babys parallel beobachten und Entwicklungs-, Lern- oder Verhaltensprobleme früher als je zuvor diagnostizieren. Dies setzt allerdings ein umfassenderes Verständnis der Säuglings- und Kleinkindbetreuung voraus. Das TouchpointsModell, das einer der Autoren (T.B.B.) entworfen hat, dient als Kontext für die Betreuung und Versorgung des Kindes sowie für die sorgfältige Beobachtung seines Wachstums und seiner Entwicklung (ausführliche Informationen über das TouchpointsModell enthält der Anhang dieses Buches).9 Das von S.I. Greenspan ausgearbeitete »Diagramm der Funktionsentwicklung« (»The Developmental Growth Curve«) ermöglicht es uns zu beurteilen, wie ein Baby seine motorischen, sensorischen, emotionalen, sprachlichen und kognitiven Fortschritte nutzt, um seine »funktionellen Entwicklungsfähigkeiten« auszuleben (das Diagramm und der dazugehörige Fragebogen sind ebenfalls im Anhang enthalten).10 Unser Ziel muss darin bestehen, eine gesunde Entwicklung zu fördern, Probleme frühzeitig zu identifizieren und dem Kind und seinen Eltern angemessen dabei zu helfen, sie zu bewältigen. Die schwierigste Entscheidung, die Eltern und Kinderärzte zu treffen haben, ist die Frage, wann man »abwarten« sollte und wann man eine umfassende Untersuchung und gegebenenfalls eine Intervention einleiten sollte. Bei signifikanten familiären Schwierigkeiten oder Problemen eines oder beider Elternteile sind Unterstützungsmaßnahmen und, sofern erforderlich, eine angemessene Behandlung grundsätzlich vertretbar. In unseren Empfehlungen beschreiben wir einige Entwicklungsbesonderheiten, die eine umfassende Evaluation des Babys rechtfertigen. Diskussion SIG: Babys benötigen schon vor ihrer Geburt eine sichere und behütete Umgebung. Viele Säuglinge sind pränatalen Risiken -118-
ausgesetzt. Sie erleiden alle erdenklichen Schädigungen, die die Entwicklung ihres Nervensystems beeinträchtigen. Nikotin, Alkohol und andere Giftstoffe gefährden die Entwicklung eines gesunden Nervensystems. Wir sehen heute immer deutlicher, welche Folgen sie für die späteren Fähigkeiten haben, akustische und visuelle Reize zu verarbeiten, Gedanken zu organisieren und angemessenes Handeln zu planen und auszuführen. TBB: Was die intrauterine Erfahrung des Babys betrifft, so haben die Aufklärungskampagnen das Verhalten werdender Mütter meiner Meinung nach sehr stark beeinflusst. Vor allem in manchen unserer Städte aber sind sie nicht zu Frauen vorgedrungen, die in Armut leben, überfordert und depressiv sind; in der Mittelschicht hingegen und vermutlich auch in der Arbeiterschicht ist mit solchen Informationskampagnen eine Menge erreicht worden. Diese Mütter wissen heute, dass sie ihrem Baby schaden, wenn sie rauchen oder trinken, und halten sich im Allgemeinen zurück. Es ist sehr ermutigend, dass man solche Gewohnheiten durch Information und Aufklärung verändern kann. Wir kennen die Auswirkungen verschiedenartiger Substanzen, die den Fetus schädigen, heute ziemlich gut. Darüber hinaus können wir intrauterinen Stress bei sechs oder sieben Monate alten Feten diagnostizieren. Irgendwann kommt vielleicht der Tag, an dem wir Feten, die eindeutig überfordert sind, aus dem Uterus herausholen können, um sie extrauterin besser zu versorgen. Mir schwebt eine Beurteilungsskala für Feten vor, in der Art meiner »Neonatal Assessment Scale«. Wir könnten die Babys im Mutterleib äußeren Stimuli wie akustischen oder visuellen Signalen aussetzen oder sie schaukeln oder auf andere Weise stimulieren, um die Komplexität und die Vielfältigkeit ihrer Verhaltensreaktionen zu beobachten. Die französischen Wissenschaftler J.P. Lecanuet und M.C. Busnel untersuchen die visuelle Responsivität des Fetus, und schon seit langem werden fetale Reaktionen auf akustische Reize erforscht11, aber unser -119-
Wissen ist nach wie vor sehr begrenzt. Meiner Meinung nach müssten wir die Fähigkeit des Fetus erforschen, Stimuli auszuschalten oder positiv auf sie zu reagieren. Ich konnte diese unterschiedlichen Reaktionen bei Ultraschalluntersuchungen im siebten Schwangerschaftsmonat beobachten. Anders formuliert: Wenn der Fetus sieben Monate alt ist, können wir erkennen, ob er eines speziellen Schutzes bedarf oder nicht. Wahrscheinlich wird sich die Diagnosetechnik in den nächsten Jahren erheblich verbessern. Zum Beispiel haben die Japaner eine dreidimensionale Ultraschalltechnik entwickelt. Man kann den ganzen Fetus betrachten, was bei uns noch nicht möglich ist. Man sieht nicht nur, wie komplex die Bewegungen des Babys sind, sondern kann auch beurteilen, wie aufmerksam es auf Reize reagiert und ob es die Aufmerksamkeit konzentrieren kann, ob es weiterschläft oder wie es habituiert. All die Dinge, die wir aus der Untersuchung von Neugeborenen gelernt haben, könnten auf den Fetus übertragen werden, und dies würde unsere Fähigkeit, gestresste Babys zu identifizieren, gewaltig verbessern. In den bereits erwähnten Habituationsstudien, die wir mit Ultraschalluntersuchungen im siebten Schwangerschaftsmonat durchgeführt haben, konnten wir Verhaltensweisen identifizieren, die einer gesunden Responsivität entsprechen. Wir haben dabei mit bestimmten komplexen Reaktionen gearbeitet, um gestresste von nicht gestressten Feten zu unterscheiden. Wenn der Fetus solche Verhaltensweisen zeigt, beweist dies, dass wichtige Lern- und Prägungsvorgänge in utero stattfinden. Bei einem gestressten Baby müssen wir mit Reaktionen rechnen, die automatischer wirken und weniger modulationsfähig und variantenreich sind. Wenn es für den Stress Gründe gibt, beispielsweise eine Unterversorgung oder Giftstoffe wie Alkohol oder Drogen, könnte wir mithilfe dieser Methode herausfinden, ob die Lernfähigkeit des Fetus beeinträchtigt ist. -120-
In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings eine sehr wichtige Frage: Ab wann dürfen wir das Recht geltend machen, ein ungeborenes Baby zu schützen? Können wir Mütter, die Drogen konsumieren, inhaftieren, um sie zu einem Entzug zu zwingen? Wäre eine Abtreibung bei manchen Müttern die bessere Lösung? Wenn ich Briefe bekomme, in denen man mich fragt, ob ich die Abtreibung befürworte, antworte ich: »Ja.« Allerdings nicht, weil ich den Schwangerschaftsabbruch als ein Recht der Frau betrachte, sondern weil ich der Ansicht bin, dass dem Baby dieses Recht zusteht. Jedes Baby hat das Recht, nicht in eine feindselige Umwelt hineingeboren zu werden, die seine Bedürfnisse ignoriert. Ich habe so viele vernachlässigte Babys und misshandelte Kinder gesehen, dass ich keinem Säugling ein solches Leben zumuten möchte. Mit der Abtreibungsfrage hängt ein weiteres Problem zusammen: Bis zu welchem Grad dürfen wir den Verlauf einer Schwangerschaft kontrollieren? Wie dem auch sei - es ist unbedingt erforderlich, dass wir die Unterstützung der Eltern verbessern und alles tun, damit Babys ohne Misshandlung und Vernachlässigung aufwachsen können. SIG: Was das Problem angeht, Müttern dabei zu helfen, ihr ungeborenes Kind vor Drogenmissbrauch, Alkoholismus, vor Nikotin usw. zu schützen, müssen wir uns fragen, inwieweit der Staat eingreifen und den Schutz des Fetus gesetzlich vorschreiben sollte. Können wir in Bezug auf den Fetus von Kindesmisshandlung sprechen? In manchen sehr stark gefährdeten gesellschaftlichen Gruppen sind 50% der Feten durch Drogen- und Alkoholmissbrauch vorgeschädigt. Wenn man sich klar macht, dass diese Beeinträchtigung des Nervensystems für das Kind lebenslange Folgen haben wird, dann haben wir es mit einem sehr gravierenden Problem zu tun. Sobald das Baby auf der Welt ist, setzen wir bereits bei Risiken, die im Vergleich zur intrauterinen Schädigung durch Alkohol und andere Giftstoffe relativ geringfügig sind, alle Hebel in Bewegung. -121-
TBB: Das gilt auch, wie wir festgestellt haben, für die Bleivergiftung. Bevor das bleihaltige Benzin abgeschafft wurde, konnten wir anhand des Verhaltens des Babys feststellen, ob die Mutter in der Nähe einer stark befahrenen Straße wohnte.12 SIG: Unsere wissenschaftliche oder klinische Erfahrung reicht noch nicht aus, um genau beurteilen zu können, wie die Reifung des Nervensystems und das Immunsystem prä- und postnatal durch Chemikalien beeinträchtigt werden, die in der Umwelt vorkommen. Was Krebserkrankungen betrifft, so wurden zahlreiche Untersuchungen durchgeführt. Neuere Studien zeigen, dass die Gefahr für die Integrationsfunktionen des Nervensystems und für das Immunsystem auf einem niedrigeren Niveau anzusiedeln ist als das Krebsrisiko. Wir müssen erforschen, wie gefährlich diese Gifte für Babys tatsächlich sind. Theo Colburn hat hier Pionierarbeit geleistet. Er zeigte, dass das Leben in den Großen Seen durch Pestizide gefährdet ist, und wies auf die potenziellen Gesundheitsrisiken für den Menschen hin.13 TBB: Peter Nathanielsz hat nachgewiesen, dass dies offenbar auch Konsequenzen für den Geburtsverlauf mit sich bringt. Das Risiko, dass ein anästhesierter Fetus nicht aktiv am Geburtsprozess mitwirkt, ist deutlich erhöht.14 Die Wehentätigkeit hängt mit der Aktivität des Fetus zusammen. Bei einem inaktiven Baby kommen die Wehen zum Stillstand, und damit wächst die Gefahr, dass das Kind eine Gehirnschädigung erleidet. Nathanielsz erklärt, dass die Gefahr einer Gehirnlähmung für ein Baby, das bereits im Uterus Giften, Drogen oder Narkosemitteln ausgesetzt wird, größer ist. Solche Studien arbeiten mit meiner Assessment-Scale. Schon 1983 konnte Greta Fein vom Merrill Palmer Institute in Detroit nachweisen, dass Schulkinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Milch von Kühen getrunken hatten, die mit DDT-behandeltem Gras gefüttert worden waren, einen signifikant niedrigeren IQ besaßen.15 Solche Informationen -122-
müssen uns zugänglich gemacht werden.16 SIG: Wir müssen die Schädigungen, die dem Nervensystem durch Drogen, Alkohol und Umweltgifte zugefügt werden können, noch weit gründlicher untersuchen. Insbesondere die Auswirkungen von Pestiziden und anderen Giftstoffen werden verleugnet. Uns allen ist bewusst, welche Konsequenzen schwere geistige Behinderungen und autistische Symptome haben. Nun gut, sagen wir uns, die meisten Babys, deren Nervensystem durch Unterversorgung, Gifte, Zigaretten, Alkohol usw. beeinträchtigt wurde, entwickeln keine schweren geistigen Behinderungen. Aber sie leiden später unter subtileren Problemen und haben zum Beispiel Schwierigkeiten, visuelle und akustische Eindrücke zu verarbeiten. Diese Risiken sind bei der Geburt unter Umständen noch gar nicht erkennbar. Solche Kinder geraten leicht unter Stress. Sie sind sehr leicht ablenkbar und überaktiv und weisen die Symptome auf, die für die Aufmerksamkeitsdefizit-Störung typisch sind. Viele von ihnen haben ein exzessives Bedürfnis nach sensorischer Stimulation, sie reagieren nicht auf Schmerz und entwickeln schließlich Störungen, zu denen auch antisoziale Verhaltensweisen und Aggression gehören. Wenn sie das, was sie hören oder sehen, nicht verarbeiten und rasch begreifen können, bekommen sie auch in der Schule Schwierigkeiten. Sie haben kein mathematisches Verständnis oder können nicht lesen. Wie sollen sie sich später in unserer hoch technisierten Welt als berufstätige Menschen und Steuerzahler zurechtfinden? Am wichtigsten ist vielleicht noch ein anderer Aspekt, nämlich die Unfähigkeit solcher Kinder, ihre Gefühle angemessen zu regulieren. Die Gefühlsregulation ist eine sehr komplizierte Funktion des Nervensystems, und sie ist von entscheidender Bedeutung, wenn man später selbst Kinder erziehen und ihnen die Fähigkeit vermitteln will, in Gruppen zu arbeiten, damit künftige Generationen ihre Sache besser machen können als wir. Dies sind einige der Risiken, die wir eingehen. -123-
TBB: Ein Großteil dieser Beeinträchtigungen erfolgt tatsächlich schon in einem sehr frühen Stadium. Wir haben sehr gute Chancen, die emotionale und neurologische Entwicklung zu schützen. Im intrauterinen Stadium sind die Folgen von Alkohol und Drogen verheerend; sie verringern sich nach der Geburt und verschwinden, wenn das Kind drei oder vier Jahre alt ist. Die Belastungsfaktoren und die Faktoren, die man verhüten kann, sind zu Beginn am gefährlichsten. Danach sinkt das Risiko. Je früher man anfängt, desto mehr kann man erreichen. SIG: Die CDC (Centers for Disease Control) in Atlanta planen eine epidemiologische Untersuchung über Störungen, die dem autistischen Spektrum zugeordnet werden. Kliniker aus dem ganzen Land berichten, dass sie immer mehr Kinder mit atypischen Funktionen des Nervensystems sehen - Kinder mit autistischen Zügen oder mit voll ausgebildetem Autismus. Wenn man die individuellen Unterschiede berücksichtigt, so sind offenbar weit mehr Kinder am extremen, fehlangepassten Ende deiner Skala anzusiedeln. Inwieweit wollen wir das Rechtssystem zu Hilfe nehmen, um Babys zu schützen? TBB: Hier muss man gut aufpassen, damit man nicht genau das Gegenteil bewirkt. Eine strenge Kontrolle des Schwangerschaftsverlaufs würde manche Menschen abschrecken und ihren Widerstand wecken, so dass sie sich den Vorsorgeuntersuchungen ganz entziehen. Auch Strafmaßnahmen sind meiner Meinung nach eine heikle Angelegenheit. Ich würde stattdessen für Aufklärungsarbeit und positive Anreize plädieren - wir können uns die Leidenschaft zunutze machen, die Frauen und Männer veranlassen, Kinder zu zeugen, und sie an diesem Punkt zu packen versuchen. Zu bedenken ist aber noch eine weitere Frage. Joshua Sparrow vom Boston Children's Hospital hat untersucht, wie die Vorstellungen und Phantasien, die werdende Mütter über ihr -124-
Baby und sich selbst entwickeln, durch den technischen Fortschritt (Ultraschalluntersuchungen oder Fruchtwasseranalysen usw.) beeinflusst werden.17 Wenn wir lediglich untersuchen, ob es dem Fetus gut geht, wirkt dies auf die Frauen so, als würden wir ein Urteil über sie selbst fällen. Sie fühlen sich in ihrer Fähigkeit als Mutter infrage gestellt und fühlen sich in ihrer Intimsphäre verletzt - als wollten wir darüber urteilen, ob sie sich als Schwangere korrekt verhalten. Diese Bedenken müssen wir ernst nehmen. Wir sind verpflichtet, die Mutter und ihr eigenes Ich zu schützen, damit sie nach der Geburt in der Lage ist, das Baby liebevoll zu umsorgen. Wir müssen sie an unseren Bemühungen beteiligen und ihr helfen, die Bedeutung unserer diagnostischen Arbeit zu verstehen. Dann kann sie selbst davon profitieren, während sie das Neugeborene zu versorgen lernt. Mit unserem Touchpoints-Modell versuchen wir, die Eltern schon in der Schwangerschaft auf die Arbeit einzustellen, die vor ihnen liegt. Diese Monate sind für Mutter und Vater eine wunderbare Zeit. SIG: Wir sollten uns aber nicht nur um das körperliche Wohlergehen der Mutter kümmern, sondern sie und den Vater des Babys auch psychologisch weit stärker unterstützen als bisher. Durch die rein körperliche Versorgung der Mutter (Blutdruckkontrolle, Bluttests usw.) können wir einen gewissen Prozentsatz der Babys vor Schädigungen bewahren. Der psychische Aspekt der Schwangerschaftsvorsorge, der möglicherweise genauso wichtig ist, verursacht weit geringere Kosten. Eine gut ausgebildete Krankenschwester, eine Mitarbeitern der Sozialdienste oder eine Beraterin könnten hier hervorragende Arbeit leisten. Auch Schwangerschaftskurse sind sehr hilfreich. Vielleicht sollten wir ein optimales Programm für diese pränatale soziale und psychologische Unterstützung entwickeln und empfehlen. TBB: Das Ziel besteht darin, dass die werdende Mutter und der Vater die Fähigkeit entwickeln, ihr Baby liebevoll zu -125-
umsorgen - gleichgültig, um welche Art von Baby es sich handelt. Zurzeit ist das System ganz darauf ausgerichtet, die körperliche Entwicklung des Säuglings zu optimieren. Wenn wir den Müttern aber zeigen, wie sich der Fetus verhält, gehen sie intensiv auf unsere Bemühungen ein und fühlen sich ihrem Baby näher. Wenn man der Mutter sozusagen vorführt, was ihr Neugeborenes alles kann, spricht man ihre Sprache. Gespräche während der Schwangerschaft können ungeheuer hilfreich sein. Ich bitte werdende Mütter, mir von den beiden Babys ihrer Träume zu erzählen - dem perfekten Baby und dem Baby, das nicht perfekt ist. »Ich träume nie von einem Baby, das nicht perfekt ist.« »Tatsächlich? Die meisten Mütter haben solche Träume.« »Ach, wirklich?« Daraufhin erzählt mir die Mutter von dem Baby, das in ihren Träumen zwar vorkommt, mit dem sie sich aber nicht konfrontieren kann. Und ich versichere ihr, dass wir auch mit diesem Baby umgehen können. Dies gibt uns Gelegenheit, gemeinsam mit den Eltern zu überlegen, was es für sie bedeuten würde, ein behindertes Baby zu bekommen, oder auch über frühere Erfahrungen mit einem behinderten Baby zu sprechen. Dies geschieht in einer urteilsfreien Atmosphäre, und wenn die Eltern mir ihre Sorgen offenbaren, kann ich ihnen helfen, ihr Baby zu umsorgen, gleichgültig, ob es gesund ist oder unter einer Behinderung leidet. Ich bitte die Mütter, über ihre Schlafwach-Zyklen im Laufe eines Vierundzwanzigstundentages genau Buch zu führen und aufzuschreiben, wann sie intrauterine Bewegungen wahrnehmen. Anhand dieser Notizen kann ich ihnen zeigen, dass das Baby auf verschiedenartige visuelle und akustische Stimuli unterschiedlich reagiert. Dann werden selbst die zurückhaltendsten Mütter lebhaft und drängen mich, mehr zu erzählen. Ich erkläre ihnen, was ich sehe, und sie nicken und verstehen, dass ihr Baby aktiver wird, wenn sie einen Raum betreten, in dem es hoch hergeht, und dass es sich beruhigt, -126-
sobald sie sich in einem stillen Zimmer aufhalten. Die Mutter hat all dies natürlich schon vorher gewusst. Im Grunde bestätigt man ihr lediglich das, was sie selbst gespürt hat, und hilft ihr so, diese erste Bindung an ihr Kind zu entwickeln. Je früher man damit beginnt, desto solider ist die Grundlage. Im Idealfall sollte der Kinderarzt, die Säuglingsschwester oder der Hausarzt solche Gespräche mit der werdenden Mutter führen. Falls dies nicht möglich ist, sollte qualifizierte Therapeuten anderer Fachrichtungen dafür zur Verfügung stehen. Jedes Baby hat es verdient, dass seine Mutter und sein Vater bereit und fähig sind, es liebevoll zu umsorgen. Wenn wir vor der Geburt eine solch hilfreiche Beziehung zu den Eltern aufbauen, können wir ihnen etwas zurückgeben, das in unserer Kultur verloren gegangen ist - das Gefühl, von einer Großfamilie umgeben zu sein, die Schutz und Geborgenheit vermittelt. SIG: Können wir in der Geburtsvorbereitung mehr tun? TBB: Zurzeit sollen die Mütter im Schwangerschaftskurs auf die Wehen und die Entbindung vorbereitet werden. Die Versorgung des Neugeborenen und des Babys spielen zumeist nur am Rande eine Rolle. Marshall Klaus und John Kenneil haben die Funktion der Doula untersucht, die der Mutter während der Wehen und der Geburt zur Seite steht. Diese beiden Forscher haben gezeigt, dass Mütter, die sich während der Geburt auf einen zuverlässigen Beistand verlassen können, deutlich seltener um Medikamente bitten. Der Geburtsverlauf wird verkürzt und außerdem kommt es seltener zu Komplikationen.18 Eine hilfreiche Begleiterin oder ein Begleiter (Vater und/oder Doula) erleichtert es der Mutter auch, selbst dann eine Bindung zu ihrem Kind aufzunehmen, wenn es nicht das Baby ihrer Träume ist. Man hat darüber hinaus nachgewiesen, dass sich der Vater rascher an das neugeborene Kind bindet, wenn er seine Geburt miterlebt. Wir versuchen auch, schon den werdenden Müttern eine Neugeborenenuntersuchung zu zeigen, da sie nach der Geburt -127-
zumeist nur kurze Zeit in der Klinik verbringen. Auf diese Weise können sie sich mit dem Verhalten eines Neugeborenen bereits ein wenig vertraut machen. Wenn ihr eigenes Kind dann auf der Welt ist, sagen sie: »Oh, mein Baby kann das auch!« Es hat für sie eine größere Bedeutung, weil sie vorher schon gesehen haben, über welch verblüffende Fähigkeiten ein Neugeborenes verfügt. SIG: Wie sehen unsere Empfehlungen für eine gesunde Lebensweise in der Schwangerschaft aus? Was würden wir unter dem Blickwinkel der körperlichen Unversehrtheit des Fetus und des Babys zum Beispiel in Bezug auf Zigaretten und Alkohol raten, und wann sollte man mit einer solchen Aufklärung beginnen? Im Kindergarten, in der Grundschule oder in den weiterführenden Schulen? TBB: Solche Empfehlungen müssen all die Punkte berücksichtigen, die wir hier angesprochen haben. Sally Scattergood hat in Philadelphia ein wunderbares Projekt durchgeführt. Sie hat Grundschüler der ersten Klasse zusammen mit kleinen Babys besucht.19 Die Erstklässler konnten die Babys wickeln, futtern und ihre Entwicklungsfortschritte beobachten. Da die wenigsten Kinder heutzutage in großen Familien aufwachsen, waren diese Besuche für die Fünf- bis Sechsjährigen eine Gelegenheit, Babys als »Person« wahrzunehmen und zu sehen, wie es ist, selbst mit einem Säugling umzugehen und ihn zu versorgen. Soweit ich weiß, hat man die langfristigen Auswirkungen dieses Projekts - zum Beispiel in Bezug auf Teenagerschwangerschaften oder auf die Fähigkeit dieser Schüler, im späteren Leben für ihre eigenen Kinder gute Eltern zu sein - nie untersucht. Es steht aber außer Frage, dass diese Erfahrung Einfluss darauf ausgeübt hat, wie sie sich selbst in ihrer Fähigkeit, für ein anderes menschliches Wesen zu sorgen, wahrnehmen. SIG: Vielleicht sollte die menschliche Entwicklung in all ihren Phasen von der ersten Klasse an Teil unsere Lehrpläne -128-
sein, ebenso wie Schreiben, Rechnen oder Lesen. In der Schule lernen Kinder heute mehr über Frösche und andere Tiere als über den Menschen. Über den Menschen erfahren sie lediglich indirekt etwas, nämlich im Geschichts- und Deutschunterricht. Auch früher hat man in der Schule nur in diesen Zusammenhängen etwas über den Menschen erfahren, weil es keine Wissenschaft der menschlichen Entwicklung gab. Man wusste nicht viel darüber, wie Kinder wachsen und sich entwickeln. Da wir aber heute über direktere Informationen verfügen, könnte man neben dem Gemeinschaftskunde- oder Deutschunterricht ebenso gut auch ein Fach »Menschliche Entwicklung« anbieten. Abgesehen von der Tradition steht dem meiner Ansicht nach kaum etwas entgegen. Es ist doch durchaus vorstellbar, dass Kinder parallel zum Biologieunterricht schon in der Vorschule oder in der ersten Klasse etwas über die Entwicklung des Menschen lernen. TBB: Sie sollten auch die Möglichkeit bekommen, praktische Erfahrungen zu sammeln. All die erfolgreichen Programme, die wir kennen, haben mit diesem Ansatz gearbeitet. An der Westküste wurden Schwangerschaftsverhütungskurse für Teenager durchgeführt. Die Mädchen haben gelernt, wie man mit Babys umgeht. Sie mussten sie wickeln, füttern und ihre Entwicklungsphasen beobachten. Kinder jeder Altersgruppe sind fasziniert, wenn sie menschliches Verhalten an einem Lebewesen beobachten können, das jünger ist als sie selbst. SIG: Widerstände könnten vielleicht aus der Befürchtung resultieren, dass wir uns in familiäre und religiöse Angelegenheiten einmischen wollen. Wenn es uns aber gelänge, es richtig anzustellen - stell dir vor, wie wunderbar es für die Kinder wäre, über die menschliche Entwicklung genauso gut Bescheid zu wissen wie über die Mathematik. Durchschnittliche Unterstufenschüler wissen, wie man addiert, subtrahiert, multipliziert, sie kennen Dezimalzahlen und Brüche. Wenn wir sie auch mit den Grundlagen der Baby- und Kinderentwicklung -129-
vertraut machen könnten, wären sie nicht nur bessere Babysitter; sie mussten nicht als Erwachsene, wenn sie ihr erstes Kind erwarten oder gerade bekommen haben, zum ersten Mal im Leben Brazelton lesen, sondern wüssten intuitiv, was nötig ist, und hätten schon jede Menge praktische Erfahrung. TBB: Wir dürfen nicht vergessen, dass die Schwangerschaft eine Phase des intensiven Lernens ist. Aber ein solcher Unterricht könnte eine Chance sein, auch eine Vorstellung von Beziehungen zu entwickeln, ein Gefühl für Altruismus und für die Fähigkeit, nicht nur über sich selbst, sondern auch über andere Menschen nachzudenken. Ich würde die Unterrichtsstunden nutzen, um den Kindern zu zeigen, dass in ihnen selbst ganz ähnliche Mechanismen am Werk sind wie in dem Kind, mit dem sie gerade spielen. Dann kann man sagen: »Siehst du, weil du weißt, wie du dich selbst als Baby gefühlt hast, kannst du so gut mit diesem Baby umgehen.« Wenn man es so anstellt, konzentriert man sich nicht lediglich auf die Elternschaft, sondern öffnet die Menschen für Beziehungen. SIG: Mit diesem Blickwinkel arbeite ich, wenn ich ein behindertes Kind untersuche. Ich beziehe die Geschwister mit ein und zeige den Eltern, wie sie ihnen dabei helfen können, mit dem behinderten Kind zu spielen. Wenn die Geschwister sehen, dass sie mit dem Bruder oder der Schwester trotz des Handicaps spielen und kommunizieren können, sind sie nicht nur froh und erleichtert, sondern fühlen sich auch selbst bestätigt. Zumeist scheuen sie vor dem Kontakt zurück, weil sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Wenn Kinder auf jüngere Geschwister aufpassen, beobachte ich immer wieder, wie faszinierend sie die Kleinen finden. Die Verbindung zu dem sanfteren, verletzlicheren Kern ihres eigenen Selbst macht sie offener. Diese direkte praktische Erfahrung ist wertvoller als alles andere. Sie aktiviert unsere Fürsorglichkeit und Anteilnahme. Bei manchen Menschen geschieht dies ganz intuitiv; Frauen tun sich damit im -130-
Allgemeinen leichter als Männer, aber auch Männer haben eine fürsorgliche Seite. Sie wollen sie gelegentlich nicht wahrhaben und laufen vor ihr weg. Viele Männer aber würden auch diese Seite gern zum Ausdruck bringen, wenn man ihnen die Chance gäbe. Natürlich würde ein Unterrichtsfach »Menschliche Entwicklung« auch deshalb auf Widerstand stoßen, weil es die emotionale Seite des Lebens, die Gefühle, anspricht. Fünfzehn, zwanzig Jahre später aber wüssten diese Kinder intuitiv, was ein Baby braucht, um sich zufrieden stellend entwickeln zu können. Verglichen mit der gegenwärtigen Situation wäre das ein wunderbarer Start. Ich erlebe es immer wieder, dass Eltern die Flucht ergreifen, weil das Leben mit einem Baby so neu für sie ist und ihnen Angst macht. Manche Mütter können gar nicht schnell genug wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren. Sie haben Angst und wissen nicht, was sie tun sollen. TBB: Meiner Meinung nach müssen wir darauf achten, dass sich durch diese Informationsarbeit niemand überfahren fühlt weder die Politiker noch die Kirchen oder die Familien selbst. Wenn ich in Washington als Fachmann um meine Meinung zu Kinderkrippen oder Tagesstätten, zu Vorsorgeprogrammen, Gesundheitsversorgung, Mutterschafts- oder Vaterschaftsurlaub usw. gebeten werde, reagieren Mütter oder Väter, die selbst ein intaktes Familienleben führen, regelmäßig beunruhigt. Sie sagen: »Dr. Brazeltons Vorschläge würden unserer Familie jegliche Entscheidungsfreiheit nehmen.« Es gibt in diesem Land eine sehr starke Tendenz, das Selbstbestimmungsrecht der Familie zu schützen; niemand soll das Recht haben, sich in familiäre Angelegenheiten einzumischen. In dem Unterricht, der uns vorschwebt, würde ich das Schwergewicht auf Beziehungen legen und darauf, dass die Kinder sich selbst kennen lernen. Ihnen beizubringen, wie sie später gute Eltern werden können, ist politisch zu brisant. Es ist gar nicht nötig, sich in familiäre oder politische Entscheidungsbereiche einzumischen, um auf -131-
ihre künftige Elternschaft vorzubereiten. SIG: Für welche Veränderungen der gesellschaftlichen Einstellung sollten wir uns einsetzen? Wir wollen zweifellos verhindern, dass Teenager Kinder bekommen. Wenn aber ein junges Mädchen tatsächlich schwanger geworden ist und nun glaubt, etwas Furchtbares angerichtet zu haben, wird sie die Schwangerschaft verleugnen oder verbergen und so lange wie möglich geheim halten. Womöglich wird sie weiterhin ihre Drogen konsumieren. Dasselbe gilt für den Vater. Wie sähe eine gesunde gesellschaftliche Einstellung gegenüber Teenagern aus, die schwanger werden? TBB: Erstens müssen wir uns mit der Frage auseinander setzen, ob die Schwangere das Baby wirklich bekommen muss. Wenn sie sich gegen einen Abbruch entscheidet, würde ich mich darauf verlassen, dass Mütter ihrem Baby eine bessere Chance geben möchten, als sie selbst sie in ihrem Leben hatten. An diesen Wunsch könnten wir anknüpfen und sagen: »Wäre es nicht wunderbar für Sie, wenn dieses Baby das gesündeste Gehirn der Welt hätte? Und die einzige Möglichkeit sicherzustellen, dass sein Gehirn tatsächlich fit bleibt, besteht darin, dass Sie aufhören zu rauchen oder zu trinken oder andere Drogen zu konsumieren.« Auf diese Weise kann man ein Gefühl der Hoffnung oder Zuversicht wecken. SIG: Wir müssen uns intensiver um die Prävention bemühen. Wenn es in den Schulen ein Fach »Kinderentwicklung« gäbe, könnte man im Unterricht zum Beispiel über das Thema »Ab wann bist du bereit, Kinder in die Welt zu setzen?« diskutieren oder über die Frage: »Welche Unterstützung braucht ein Baby?« Oder: »Sollte man warten, bis man ein wenig älter ist?« Wenn ein Mädchen aber schwanger geworden ist, und sei es aus Versehen, und die Schwangerschaft austragen möchte, müssen wir unmissverständlich klar machen, dass das Baby Liebe und Fürsorge braucht. Wir müssen alles dafür tun, dass das Baby gesund bleibt und sein Nervensystem nicht geschädigt wird. -132-
Deshalb muss auch die werdende Mutter spüren können, dass sie unterstützt wird - sie ist die Ballkönigin, und in ihr wächst der künftige Präsident der Vereinigten Staaten heran. Wenn sie sich aber im Stich gelassen fühlt, wird sie nicht gut auf sich selbst aufpassen können. Eine werdende Mutter, die sich wegen der Schwangerschaft schämt, entwickelt ambivalente Gefühle sie schwankt zwischen dem Wunsch, dem heranwachsenden Baby zu schaden, und dem Wunsch, ihm zu helfen, hin und her. Wir müssen uns für die Verhütung von Teenagerschwangerschaften einsetzen und gleichzeitig dafür sorgen, dass sich jede Frau, die ein Baby bekommt, geachtet und respektiert fühlen kann - das wäre das eigentliche Ziel. Hier muss sich meiner Meinung nach auch in der Gesellschaft etwas ändern. Jedes Baby ist auch ein Teil der Welt und der Gesellschaft insgesamt, und deshalb müssen wir den Teenagern die Botschaft vermitteln: »Es wäre gut, wenn ihr noch wartet und erst dann ein Baby bekommt, wenn ihr tatsächlich bereit dafür seid. Aber wenn es passiert ist und ihr das Baby haben wollt, dann tut ihr etwas Wunderbares und wir werden euch dabei nach Kräften unterstützen.« TBB: Ich glaube, wir haben in dieser Richtung bereits vieles unternommen. Trotzdem wurden wichtige Bereiche vernachlässigt. Zum Beispiel werden viele Latino-Mütter in den USA durch solche Kampagnen nicht erreicht. Hier gibt es eindeutig einen Bedarf, auch wenn andere Minderheiten vielleicht ebenso benachteiligt sind. Die Säuglingssterblichkeit (ein Indikator für die Verletzlichkeit des Neugeborenen) korreliert direkt mit der Schwangerschaftsvorsorge und den Interventionsmöglichkeiten, die sie bietet. Die Zahlen, die uns vorliegen, lassen darauf schließen, dass wir die LatinoSchwangeren entweder nicht erreichen oder dass unsere Methoden mit ihren kulturellen Werten nicht vereinbar sind. Vielleicht trifft beides zu. Unsere Beratungsstellen müssen die kulturellen Überzeugungen und Praktiken respektieren, die -133-
Minderheiten mit der Mutterschaft verbinden. SIG: Im gesellschaftlichen Zusammenhang müssen wir auch an die Unterernährung in anderen Teilen der Welt denken. Natürlich drängt sich die Frage auf, weshalb sich an diesen Zuständen nichts ändert, aber können wir darüber hinaus etwas sagen? Warum müssen so viele Babys sterben? Wir gehen davon aus, dass die Menschheit über einen gewissen Grad an Menschlichkeit verfügt. Wir haben vorwiegend über Fragen gesprochen, die für die Mehrzahl der Industrieländer relevant sind, aber um die elementaren Bedürfnisse der Kinder ist es weltweit schlecht bestellt. Die heutige Welt weist mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede auf. TBB: Wir haben Kliniken in Kenia besucht und Familien kennen gelernt, die so viele Kinder haben, dass sie sie von den Erträgen des Ackerlandes, das ihnen zugeteilt war, nicht ernähren können. Sie verbrauchen ihre Ressourcen. Was die Umwelt und die Versorgungslage betrifft, so stehen sie kurz vor einer Katastrophe. Wir haben bei diesen völlig überforderten Eltern den gleichen Teufelskreis von Unterernährung und scheiternder Bindung und Kinderversorgung beobachtet wie in Guatemala.20 Wir konnten genau zwischen Neugeborenen, deren Mütter täglich nur 1.400 Kalorien zu sich nahmen, und den Babys von Frauen unterscheiden, die ausreichend ernährt waren (2.000 Kalorien pro Tag). Deren Neugeborenen waren wacher, responsiver, sie konnten ihr Verhalten steuern, um ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, und sie konnten habituieren, um störende Stimuli auszuschalten. Die gut versorgten Babys nahmen am Geburtsverlauf aktiv teil und konnten in ihren Müttern und Vätern eine starke Bindung aktivieren. Die unterernährten Säuglinge waren allzu verhalten, sie wandten sich von sozialer Stimulierung ab und reagierten negativ auf ihre frisch gebackenen Eltern. Als wir sie in den Tagen unmittelbar nach der Geburt zu Hause besuchten, sahen wir, dass die Mütter diese deprivierten Babys nur auf Verlangen fütterten (häufig nur -134-
drei- bis viermal am Tag, und das in einer Phase, in der ein kleines Baby im Laufe von vierundzwanzig Stunden sechs bis acht Mahlzeiten braucht). Die Folgen der intrauterinen Mangelversorgung wurden durch die extrauterine Deprivation noch verstärkt, und so kam der Kreislauf »künftiges Scheitern und Armut« bereits im Säuglingsalter in Gang. Der IQ dieser unterernährten Säuglinge lag im Schulalter 10-15% unter dem Durchschnitt. Natürlich spielen bei der weltweiten Armut und Unterernährung noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die Punkte aber, die ich hier angesprochen habe, lassen sich verändern. SIG: Im Allgemeinen setzen wir einen gewissen Grad an Zivilisation und kollektiver Menschlichkeit voraus. Im weltweiten Maßstab betrachtet, tun wir nicht genug, um die Überlebenschance von Säuglingen zu verbessern. Was gibt uns das Recht, die Augen vor Verhältnissen zu schließen, die wir hier in den Vereinigten Staaten nicht tolerieren würden? Verleugnung? Gleichgültigkeit? Oder fühlen wir uns machtlos und durch unsere eigenen Probleme überfordert? Können wir den Faktor identifizieren, der uns an kollektivem Handeln in größerem Maßstab hindert? TBB: Meiner Meinung nach haben wir das Gefühl, nichts Entscheidendes tun zu können. Wenn ich mit dir über diese Fragen spreche, sehe ich mich kaum imstande, über die Probleme wirklich nachzudenken. Als wir in Kenia, in Guatemala und in Südmexiko gearbeitet haben, konnten wir vieles lernen; wir haben aber keinerlei Einfluss ausgeübt. Vielleicht wäre es möglich, nach dem Vorbild der Friedenstruppen ein internationales Gremium einzurichten, das sich um die Rechte der Kinder kümmert. SIG: Ein solches Gremium könnte die Situation zumindest beobachten, und dies gäbe uns eine Grundlage, um zu beurteilen, inwieweit sich die einzelnen Staaten für die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse einsetzen. Ebenso, wie es -135-
weltweite Bemühungen gibt, demokratische Entwicklungen durch Anreize wie Handel und Darlehen zu fördern, müssen wir auch das Niveau der Kinderversorgung anheben. TBB: Es gibt so viele Faktoren, von denen es abhängt, wie Kinder behandelt werden. Ein Grund, weshalb Frankreich, Schweden und andere europäische Länder einen solchen Vorsprung haben, ist zum Beispiel die Tatsache, dass sie die Geburtenrate erhöhen wollen. Sie schaffen Anreize, damit mehr Kinder geboren werden. In Afrika ist das nicht der Fall. Auf den japanischen Inseln, die wir besucht haben, war es für die Landbevölkerung wichtig, viele Kinder zu bekommen. Deshalb setzten sich diese Bauern sehr viel stärker als die Stadtbewohner dafür ein, die Entwicklung ihrer Kinder zu fördern. SIG: Die Richtlinien, die uns in Bezug auf bestimmte Grundbedürfnisse und rechte der Kinder vorschweben - zum Beispiel das Recht, mit einem gesunden Nervensystem geboren zu werden -, könnten weltweit als Kriterium dienen. Hier spielt ein ethischer Aspekt hinein, der uns veranlassen sollte, zu einer internationalen Übereinkunft zu gelangen.21 TBB: Bislang haben wir bestimmte Sicherheitsprobleme in unserer eigenen Lebenswelt noch nicht erwähnt. Ich habe auch für den Sicherheitsbereich Touchpoints beschrieben, denen wir unsere Aufmerksamkeit widmen müssen. Zunächst einmal müssen Eltern von Kleinkindern wissen, wie sie die Temperatur des heißen Wassers in ihrem Haus oder ihrer Wohnung absenken können. Spätestens wenn das Kind im Alter von acht Monaten zu krabbeln lernt, sollte jede Familie eine Reihe von Vorkehrungen treffen. Ich empfehle den Eltern, einmal selbst auf allen vieren durchs Haus zu krabbeln, um den Blickwinkel ihres Kindes einzunehmen und mögliche Sicherheitsmängel zu beheben. Der nächste Touchpoint ergibt sich, wenn das Kind seiner Mutter im Supermarkt oder Vorgarten wegläuft und auf die Straße rennen will. Wie soll sich die Mutter verhalten? Und dann gibt es einen weiteren Touchpoint mit vier oder fünf -136-
Jahren, weil Kinder dieses Alters für Pädophile interessant werden. Wann soll man damit anfangen, einem Kind beizubringen, wie es sich zum Beispiel gegenüber Kidnappern verhalten soll? Ich persönlich glaube, dass Vier- oder Fünfjährige damit überfordert sind. In diesem Alter beginnen sie gerade, sich ein Urteil über Erwachsene zu bilden, und es ist nur recht, wenn sie ihre ganze Energie darauf verwenden, sich mit wichtigen erwachsenen Menschen zu identifizieren und sie nachzuahmen. Wenn man ihnen diese Möglichkeit nimmt und ihnen einimpft, anderen Menschen zu misstrauen, richtet man einen Schaden an, den der Nutzen nicht aufwiegt. Es ist allein unsere Aufgabe, Kinder bis zum Alter von sechs oder sieben Jahren zu schützen. Danach können wir sie nicht mehr auf Schritt und Tritt kontrollieren, und deshalb sollte man nun mit ihnen darüber sprechen, was sie tun können, wenn fremde Personen Kontakt zu ihnen suchen, ihnen Angebote machen und/oder sie sich unbehaglich fühlen. Kinder sollten in der Lage sein, sich an einen anderen Erwachsenen zu wenden und zu sagen: »Ich habe kein gutes Gefühl«, und um Hilfe zu bitten. Kleine Kinder sollten nicht in die Lage geraten, vor Fremden weglaufen und ihnen aus dem Weg gehen zu müssen. Sie sollten sich beschützt fühlen und fremde Menschen in Gegenwart von Erwachsenen kennen lernen, denen sie vertrauen. Sobald sie sechs oder sieben Jahre alt sind, kann man mit ihnen sprechen und ihnen erklären, wann sie am besten weglaufen oder wie sie sich verhalten sollten. SIG: Kinder, die sich mit ihren Eltern nonverbal gut verständigen können, reagieren in der Regel stärker auf verbale Kommandos und Körpersprache und halten sich häufig in größerer Nähe zu den Eltern auf als hyperaktive Kinder oder solche, deren Fähigkeit zur nonverbalen Kommunikation weniger gut organisiert ist. Eltern können lernen zu erkennen, ob ihr Kind auf ihre nonverbalen Signale gut eingeht und in der Lage ist, sich auch an einem turbulenten Ort zurechtzufinden. -137-
Das ganze Konzept der körperlichen Sicherheit, des Schutzes und der sicheren Umwelt beruht auf einem Bewusstsein für individuelle Unterschiede. Wir machen uns darüber keine Gedanken, wenn wir Kinder in den Kindergarten oder in die Vorschule schicken. Diese individuellen Unterschiede aber haben zur Folge, dass Kinder in ganz unterschiedliche Gefahrensituationen hineingeraten. Die individuelle Verletzlichkeit des zentralen Nervensystems ist Teil des Bedürfnisses nach Sicherheit und Schutz. TBB: Die Unberechenbarkeit des Negativismus und der Autonomiekämpfe, die im zweiten Lebensjahr auftauchen, lässt neue Gefahren entstehen. Es gibt sehr gesunde Kinder, die wie ein Feuerwerk explodieren können. Wenn man ihnen aber allzu enge Grenzen setzt und sie zu streng kontrolliert, unterdrückt man womöglich ihre natürliche Neugierde und ihren natürlichen Negativismus. Harte Strafen sind keine angemessene Antwort. Wenn die Mutter weiß, wann und wie feste Grenzen zu setzen sind, begreift das Kind dies sehr schnell, weil es sich bei ihr rückversichert. Es spürt am Tonfall oder am nonverbalen Verhalten der Eltern, wann sie »nein« meinen. Dies ist der erste wichtige Schritt, um ein wildes Kind vor Gefahren zu schützen. SIG: Ja. In den ersten Jahren spüren Kinder, die nonverbal gut kommunizieren, am veränderten Tonfall der Mutter, dass Gefahr droht. Sie sind weniger gefährdet. TBB: Sofern nicht etwas anderes im Spiel ist, zum Beispiel das Bedürfnis, der Mutter wegzulaufen. Entscheidend ist Folgendes: Die Eltern dürfen nicht vergessen, dass es nach wie vor ihre Aufgabe ist, für die Sicherheit ihres Kindes zu sorgen, und dass sie wissen müssen, was zu seinem Schutz notwendig ist. SIG: An Dreijährigen kann man gut beobachten, wie das nonverbale Verständigungssystem funktioniert. Ein dreijähriges Kind, das sich nonverbal und ansatzweise auch verbal bereits gut verständigen kann und angemessen reguliert ist, wird wohl -138-
kaum seine Wasserfarben nehmen und sie im Wohnzimmer auf dem Teppich oder auf den Sesseln verschmieren. Wenn Eltern klagen: »Ich kriege ihn einfach nicht unter Kontrolle«, fällt mir oft auf, dass sie ihren Tonfall praktisch nicht verändern und dem Kind nicht genügend Feedback geben oder dass sie auf den kleinen Jungen nicht wirklich eingehen. In solchen Fällen frage ich: »Woran liegt es, dass er seine Wasserfarben nicht auf dem Wohnzimmerteppich verteilt?« »Oh, das würde er nie tun?« »Warum nicht?« »Weil er genau weiß, dass ich das nicht dulde!« Und ich frage zurück: »Woran liegt es, dass er nicht das Gleiche empfindet, wenn er sein Brüderchen oder Schwesterchen zwickt?« Man sieht häufig, dass Kinder von Vater und Mutter widersprüchliche Feedbacks erhalten. Ein Elternteil wird nervös, blickt missbilligend und schüttelt den Kopf, während der andere sich das Lachen kaum verkneifen kann oder mit sanfter Stimme bittet: »Hör doch auf damit.« In solchen Situationen spürt das Kind, dass es sein Treiben ungestraft fortsetzen und tun und lassen kann, was es will. TBB: Kommen wir noch einmal auf die Sicherheitsfragen zurück: Vielleicht wäre es hilfreich, sich anzusehen, was bislang erreicht wurde. Ich denke zum Beispiel an Autositze oder Airbags. Die Fortschritte in diesen Bereichen könnten als Vorbild für den gesellschaftlichen Umgang mit anderen Problemen dienen, etwa dem passiven Rauchen und der Verbreitung von Schusswaffen. SIG: Hier begeben wir uns in Diskussionen über die Frage, was Erziehung ist, was legal ist, was im Entscheidungsrecht der Eltern liegt. Wenn wir die Eltern in den Ausbildungsprozess einbeziehen können, und zwar beginnend mit der Grundschule, dann werden sie auch in die Denkweise der heranwachsenden Kinder integriert. Sie werden internalisiert. Dies schafft die -139-
Grundlagen für Glaubenssysteme, so dass später, im Erwachsenenalter, keine Überzeugungsarbeit mehr notwendig ist. Empfehlungen Alle Kinder dieser Welt haben ein Recht darauf, dass wir uns für ihr Wohlergehen einsetzen Um die Welt der Säuglinge, Kinder und Familien vor Hunger, Krankheit und Gewalt zu bewahren, sind verstärkte weltweite Anstrengungen erforderlich, denen die Industrieländer eine höhere politische Priorität als in der Vergangenheit einräumen müssen. Gefährdung durch Giftstoffe A. Vor der Geburt: Das Ungeborene muss vor der Gefährdung durch Alkohol, Drogen, Tabak und Umweltgiften geschützt werden. B. Nach der Geburt: Sämtliche Gesetze zum Schutz der Nahrungsmittel und der Umwelt müssen die erhöhte Verletzlichkeit der Kinder und vor allem die Verwundbarkeit ihres Nervensystems berücksichtigen. Insbesondere sollte nicht die Physiologie männlicher Erwachsener, sondern die des Kindes als Grundlage gesetzlicher Sicherheitsvorschriften dienen, da Männer weit weniger gefährdet sind als Kinder. Aus diesem Grund hat Senatorin Barbara Boxer dem Kongress den »Children's Environmental Protection Act« vorgelegt, der aber noch nicht verabschiedet wurde. Das Vorkommen gefährlicher Toxine in der Muttermilch ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte und verlangt unsere sofortige nationale Aufmerksamkeit. Öffentliche Aufklärungskampagne A. Um sicheren Schutz vor Giftstoffen gewährleisten zu können, ist eine öffentliche Aufklärungskampagne über die Beeinflussung des Nervensystems und der Gesundheit des Menschen durch verschiedenartige - teils verbotene, teils -140-
zugelassene -Substanzen notwendig. Das Minimalziel einer solchen Kampagne bestünde darin, den Eltern zu erklären, dass sie die Gefährdung durch Chemikalien reduzieren können, indem sie sich an den vier folgenden, einfachen Grundsätzen orientieren: Kaufen Sie keine Giftstoffe, sorgen Sie für eine gründliche Belüftung der Wohnräume, halten Sie giftige Substanzen, die im Haushalt verwendet werden, unter Verschluss und führen Sie Renovierungen, vor allem im Kinderzimmer, mit giftfreien Produkten durch. Wir müssen den Eltern bewusst machen, dass zusätzlich zu den jedermann bekannten Problemsubstanzen wie Blei auch gewöhnliche Haushaltsprodukte (Insektenvertilgungsmittel, Reiniger, Farben und Lacke) Gifte enthalten und dass es giftfreie Alternativen gibt, die denselben Zweck erfüllen. Grundsicherheit • Babys müssen in ihrer Welt sicher sein und in Familien hineingeboren werden, in denen sie erwünscht sind. Die Gesellschaft muss sich für die Verhinderung ungewollter Geburten einsetzen. Informationen über Verhütung und Fortpflanzung müssen jeder Frau im gebärfähigen Alter zugänglich sein. • Für die körperliche Sicherheit sehr kleiner Kinder sind allein die Eltern verantwortlich. Kinder unter sechs oder sieben Jahren dürfen nicht geängstigt werden, indem man ihnen einschärft, sich vor Fremden zu hüten, oder indem man sie vor Gefahren und Missbrauch warnt. Positive, konstruktive Orientierungshilfen jedoch - »Bleib im Einkaufszentrum immer an Mamas Hand« - können sehr hilfreich sein, sobald die Kinder alt genug sind, um verbale Erläuterungen zu verstehen und zu begreifen, weshalb die Eltern besorgt sind. Nach und nach können diese Anleitungen der Fähigkeit des Kindes angepasst werden, über solche Themen zu sprechen. Im angemessenen Alter müssen Kinder über die Gefahren aufgeklärt werden. Wichtig ist, dass dies auf ruhige Weise geschieht und ihnen -141-
keine Angst eingejagt wird. Geburtsbegleitung • Zusätzlich zur medizinischen Versorgung sind die Gebärende und der Vater während des gesamten Entbindungsprozesses auch auf die psychologische Unterstützung durch eine Doula, eine Hebamme oder andere professionelle Geburtsbegleiter angewiesen. Frühe pädiatrische Versorgung Die pädiatrische Frühversorgung sollte umfassen: A. Den regelmäßigen Austausch von Informationen und Diagnosen. B. Ratschläge zur Förderung der gesunden Entwicklung. C. Die frühe Diagnostizierung von Behinderungen oder Störungen. D. Frühe und - falls erforderlich - umfassende Interventionen. Zu den Entwicklungsauffälligkeiten bei Babys und Kindern, die als Indikatoren für eine gründliche Evaluation zu betrachten sind, zählen zum Beispiel: • Im Alter von zwei Monaten: kein visuelles Fixieren oder gezieltes Zuhören (Hinwendung zu visuellen Objekten und zu Geräuschen). • Im Alter von vier bis fünf Monaten: keine Signalisierung einer Bindung an die Bezugspersonen durch freudiges Lächeln oder Lautäußerungen. • Im Alter von acht bis neun Monaten: keine wechselseitige Kommunikation (Greifen nach der Rassel, die der Vater in der Hand hält, oder Initiierung und Austausch unterschiedlicher mimischer und akustischer Gefühlsäußerungen). • Im Alter von zwölf Monaten: kein Aufbau variierender Kommunikationszyklen (wechselseitiger Austausch von Gesten, Lauten oder sogar ein oder zwei Worten, die Gefühle zum Ausdruck bringen), keine Nachahmung des Gesichtsausdrucks -142-
oder der Lautäußerungen von Vater oder Mutter. • Im Alter von sechzehn Monaten: keine komplexen Interaktionen mit dem Ziel der Problemlösung (das Kind greift beispielsweise nicht nach der Hand der Mutter, um zu signalisieren, dass sie ihm ein Spielzeug oder etwas zu essen holen soll). • Im Alter von 24 Monaten: keine Entwicklung von Alsoboder Phantasiespielen (Schmusen mit einer Puppe); Wörter laili oder kurze Sätze, die Bedürfnisse signalisieren (»Saft haben«), werden nicht verstanden oder benutzt. • Im Alter von 36 bis 48 Monaten: Vorstellungen können in der Interaktion mit Betreuungspersonen und Peers oder im Phantasiespiel mit Puppen, Spielfiguren oder Stofftieren nicht logisch benutzt werden (das Kind kann Wo-, Wann- und Warum-Fragen in einem Gespräch von mehrminütiger Dauer nicht beantworten). • In jedem Alter: Hinweise auf schwerwiegende familiäre oder emotionale Probleme der Mutter, des Vaters oder anderer Familienmitglieder. (Siehe auch das Diagramm der Funktionsentwicklung sowie die Leitlinien des Touchpoints-Programms im Anhang.) Unterstützung für Problemfamilien und mehrfach gefährdete Familien • Umfassende Programme mit aufsuchenden und zentrumsgestützten Komponenten könnten vor und nach der Geburt eine weit erfolgreichere soziale, psychologische und familiäre Unterstützung gewährleisten als die bestehenden Projekte zur prä- und postnatalen Betreuung (siehe 6. Kapitel). Schutz vor der unangemessenen Verabreichung von Psychopharmaka A. Medikamente dürfen nicht ohne eine umfassende Evaluation der psychischen Gesundheit verabreicht werden. Sie -143-
umfasst neben der Beurteilung der aktuellen Probleme und Funktionsfähigkeiten eine Anamnese, ein klinisches Interview (einschließlich Spiel) mit dem Kind, die Beobachtung der KindEltern-Interaktionen sowie Gespräche mit den Betreuungspersonen über familiäre Beziehungen und Muster. B. Falls eine medikamentöse Behandlung notwendig ist, muss diese die Sicherheits- und Wirksamkeitsstudien für die entsprechende Altersgruppe und den relevanten Problembereich berücksichtigen. Sofern keine besonderen Gründe vorliegen, sollte die medikamentöse Behandlung lediglich als Bestandteil eines umfassenden Programms dienen, zu dem häufig auch die klinische Arbeit mit dem Kind und seiner Familie sowie Beratungsgespräche mit der Schule gehören. C. Nebenwirkungen müssen sehr aufmerksam im Hinblick auf ihre langfristigen Folgen für die Entwicklung, die Lernfähigkeit und für die Persönlichkeit beobachtet werden. Dies gilt insbesondere für subtile Nebenwirkungen, etwa milde Agitiertheit, Aggressionszunahme, Verlust des Sinns für Humor sowie für Einschränkungen in der emotionalen Bandbreite und Ausdrucksfähigkeit. Wenn gegen die Nebenwirkungen eines verabreichten Medikamentes ein weiteres Mittel verordnet wird, müssen die potenziellen Risiken extrem sorgfältig geprüft werden. D. Schulen und andere Ausbildungseinrichtungen sollten sich mit den Eltern in Verbindung setzen, wenn eine gründliche Untersuchung ratsam erscheint. Sie sollten aber keine medikamentöse Behandlung empfehlen. Schwierigkeiten haben vielerlei Ursachen. Sie sind am besten in einer umfassenden klinischen Evaluation abzuklären, in der auch Behandlungsmöglichkeiten erwogen werden können. Staatliches Schulsystem und Unterricht über die menschliche Entwicklung • Grund, Haupt- und weiterführende Schulen sollten die -144-
menschliche Entwicklung in den Unterrichtsplan aufnehmen. • Dem Unterricht über das Wachstum und die Entwicklung des Menschen ist die gleiche Wichtigkeit beizumessen wie anderen Fächern, etwa Geschichte, Englisch, Naturwissenschaften und Mathematik. Er sollte neben altersangemessener Lektüre praktische Erfahrung vermitteln und Gelegenheit zur Diskussion über altersrelevante Themen geben. Physische, psychische und soziale Faktoren sowie die im normalen Entwicklungsverlauf auftauchenden Fähigkeiten und Schwierigkeiten sollten ebenfalls berücksichtigt werden. Das Ziel dieses Unterrichts ist der Erwerb gründlicher Kenntnisse über die menschliche Entwicklung. Kommunale Programme auf drei Ebenen • › Kommunale Programme sollten umfassen: • Öffentliche, auch auf schulische Bedürfnisse zugeschnittene Aufklärungskampagnen über die kindliche Entwicklung. • Familienhilfe einschließlich der Unterstützung durch Peergruppen. • Frühintervention bei Risikokindern mit Beteiligung der Eltern an den Untersuchungen.
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3. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH ERFAHRUNGEN, DIE AUF INDIVIDUELLE UNTERSCHIEDE ZUGESCHNITTEN SIND
Wie wäre es, wenn wir uns ein Bild davon machen könnten, auf welche Weise Gene und pränatale äußere Einflüsse in den ersten Lebensjahren zum Ausdruck kommen? Wie wäre es, wenn wir die Stärken und Schwächen eines jeden Babys und seine individuelle Art, auf die Welt zu reagieren, genau einschätzen könnten? Könnten wir Säuglingen und Kleinkindern unter diesen Umständen besser dabei helfen, Schwierigkeiten zu bewältigen, die ihre Aufmerksamkeit und Stimmungsregulation, ihren Spracherwerb und ihre Impulskontrolle und wenige Jahre später das Lesenlernen oder ihre Fähigkeit, Mathematikaufgaben zu lösen, beeinträchtigen werden? Könnten wir sie dabei unterstützen, das nötige Vertrauen, die Nähe, Widerstandsfähigkeit und Ausdauer zu entwickeln, die sie brauchen, um Herausforderungen und Probleme zu meistern? Wir sind diesen Zielen bereits wesentlich näher gekommen, als man gemeinhin annimmt. Unser Widerstreben aber, die individuellen Besonderheiten der Kinder anzuerkennen, steht uns nach wie vor im Weg. Früher hielten wir es für selbstverständlich, dass sich Kinder den Erwartungen ihrer Eltern und der Gesellschaft fügen. Zu einem gewissen Grad ist dies auch heute noch völlig richtig. Kinder müssen sozialisiert werden und zum Beispiel lernen, ihre Aggression zu zügeln oder sich anderen Menschen gegenüber einfühlsam und freundlich zu verhalten. Andererseits haben wir in den vergangenen fünfzig Jahren gelernt, dass Kinder solchen Erwartungen am ehesten gerecht werden können, wenn wir uns klar machen, dass der Sozialisationsprozess zweigleisig verläuft. -146-
Je besser es uns gelingt, unseren Kindern Erfahrungen zu vermitteln, die ihren spezifischen Eigenschaften entgegenkommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu körperlich, intellektuell und emotional gesunden Menschen heranwachsen und in der Lage sind, den Vorstellungen ihrer Familie und Gesellschaft zu entsprechen. In der Vergangenheit schwankten unsere Erziehungsmaximen zwischen dem Wunsch, Kinder nach unseren Erwartungen zu formen, und dem Versuch, unsere Zuwendung auf die kindlichen Bedürfnisse abzustimmen. In den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts zum Beispiel wurden Kinder nach einem strengen Zeitplan gefüttert und schlafen gelegt. Damals nahm man an, dass Säuglinge feste Strukturen brauchen, um zu lernen, sich an ihre Umgebung anzupassen. Manche Kinder, die dank eines flexiblen zentralen Nervensystems über sehr flexible Coping-, also Anpassungsfähigkeiten verfügten, kamen damit zurecht. Andere aber konnten bei dieser Behandlung nicht gut gedeihen. Sie wurden nervös, zogen sich zurück, entwickelten Konzentrationsstörungen und wurden depressiv oder aggressiv. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren lernte man, die individuellen Besonderheiten der Kinder besser zu verstehen. Der deutlichste Ausdruck dieser neuen Sichtweise war die Temperamentsstudie von Stella Chess und Alexander Thomas.1 Sie zeigte, dass Eltern grundlegende Eigenschaften ihrer Kinder, zum Beispiel deren Aktivitätsniveau oder Aufgeschlossenheit, ganz unterschiedlich beurteilen. Daher sollten sie die Art ihrer Zuwendung und Betreuung vielleicht an diesen Wahrnehmungen orientieren. Andere Forscher, etwa Sybil Escalona, Lois Murphy und Jean Ayres, gingen über Temperamentseigenschaften hinaus und demonstrierten, dass Babys nicht nur unterschiedlich wahrgenommen werden, sondern dass sie tatsächlich Unterschiede aufweisen - manche Säuglinge reagieren physisch sensibler auf Geräusche oder Berührungen als andere und ihre frühe Umwelt muss darauf -147-
entsprechend eingehen. Einer der Autoren (T.B.B.) hat unser Verständnis solcher Zusammenhänge durch seine Untersuchungen über individuelle Unterschiede und durch die von ihm entwickelte, mittlerweile weltweit angewandte »Neonatal Assessment Scale« erheblich gefördert.2 Er zeigte, dass man neugeborene Babys systematisch untersuchen und ihre spezifischen Eigenschaften identifizieren kann. Viele Aspekte der physischen Unterschiede - die Reaktion auf Berührung, Geräusch und visuelle Reize, die Koordination der Bewegungen - machen es für die Eltern einfacher, ihr Baby kennen zu lernen. Diese Forschungen zeigten, dass interessante visuelle und akustische Stimuli die Aufmerksamkeit des Neugeborenen wecken; wiederholt präsentierte uninteressante Reize hingegen werden ausgeblendet (Habituation). Die Fähigkeit, Verhaltenszustände (Schlaf, Wachheit, Aufmerksamkeit, Quengeligkeit, Weinen) zu kontrollieren, um sich auf Stimuli konzentrieren zu können, ist individuell unterschiedlich. Manche Neugeborene werden gleich nach der Geburt das menschliche Gesicht fixieren und es mit ihrem Blick verfolgen, wobei sie mit aktiver Mimik reagieren und störende Bewegungen unterdrücken, um sich ihre Aufmerksamkeit zu wahren. Das Verhalten neugeborener Babys verrät zum Beispiel, ob der Säugling pränatal durch Giftstoffe und Mangelernährung beeinträchtigt wurde. Indem wir uns vom Verhalten des Kindes leiten lassen, können wir unser eigenes auditives, visuelles und taktiles Verhalten so steuern, dass es jedes Neugeborene zu seiner optimalen Reaktion veranlasst. Wenn wir allzu laut sprechen, das Baby zu abrupt berühren oder es zu plötzlich aufnehmen, wird ein fragiles Neugeborenes den Blick abwenden, einen Schluckauf bekommen oder spucken. Babys können sich selbst schützen! Wenn man das Kind aber sanft berührt und immer nur eine einzige Sinnesmodalität stimuliert, kann man beinahe jedes Neugeborene zu einer wechselseitigen -148-
Interaktion animieren. Die Demonstration des Säuglingsverhaltens wird auf diese Weise zu einer Methode, um frisch gebackenen Eltern unmittelbar nach der Geburt einen Eindruck vom Temperament ihres Kindes zu vermitteln. Ihre Frage: »Wie werde ich es je lernen, mit meinem Baby richtig umzugehen?«, wird durch seine Reaktionsweisen beantwortet: »Orientieren Sie sich einfach an seinem Verhalten.« Eine Kinderärztin, die den Eltern das individuelle Verhalten ihres Neugeborenen vor Augen führt und erklärt, fördert damit gleichzeitig die aufkeimende Beziehung. Einer der Autoren (S.I.G.) und seine Mitarbeiter zeigten darüber hinaus, dass diese individuellen Besonderheiten einen wichtigen Bestandteil der gesunden, normalen Entwicklung beziehungsweise verschiedenartiger emotionaler, sozialer und intellektueller Schwierigkeiten bilden, die sich während der gesamten Kindheit bemerkbar machen können.3 Diese Forscher haben spezifische Interventionsmethoden entwickelt, die auf solche individuellen Besonderheiten zugeschnitten sind und sowohl präventiv als auch zur frühen Intervention und Behandlung eingesetzt werden können. Die Erkenntnis, dass man mit den individuellen Besonderheiten arbeiten kann, hatte zur Folge, dass sich unser Verständnis des Zusammenspiels von biologischen Anlagen und Umwelteinflüssen grundlegend veränderte. Die kindliche Entwicklung ist nicht das Resultat eines Wettrennens zwischen Anlage und Erziehung oder, anders formuliert: Intelligenz, soziale Fähigkeiten oder Temperament sind nicht zu X % auf die Erziehung und zu X % auf die genetische Ausstattung zurückzuführen. Vielmehr wissen wir mittlerweile, dass die genetischen Anlagen auch in der spezifischen Art und Weise Ausdruck finden, wie das Kind Reize aufnimmt, wie es sie verarbeitet und wie es seine Aktionen organisiert und plant. Die Erziehung, das heißt die Interaktionen, die wir unseren Kindern anbieten, verschränkt sich dann mit der Natur wie ein Schlüssel -149-
mit einem Schloss. Die richtigen Erfahrungen können das Schloss der Natur öffnen und dem Kind helfen, sein Potenzial zu verwirklichen. Viele Persönlichkeitszüge beruhen nicht auf irgendeiner singulären, alles beherrschenden Eigenschaft, sondern gehen aus dem komplexen Zusammenwirken zahlreicher Faktoren hervor. Neugeborene Babys bringen keine angeborenen, grundlegenden Eigenschaften des Temperaments wie Introvertiertheit oder Extravertiertheit zum Ausdruck. Wir haben vielmehr beobachtet, dass sich sowohl normal entwickelte Babys als auch behinderte Säuglinge in ihrer Sensibilität für Geräusche und Berührung, ihrer Fähigkeit, Bewegungen zu planen und zu sequenzieren oder Laute und Wörter zu verstehen und Muster im physikalischen Raum zu identifizieren, erheblich voneinander unterscheiden. Kann ein Säugling, der am Daumen lutschen möchte, seine Hand mühelos zum Mund führen? Kann ein kleines Kind Formen wie Dreiecke und Karos abmalen? Schreckt es vor einer sanften Berührung zurück? Hält es sich die Ohren zu, wenn der Staubsauger eingeschaltet wird, oder schließt es die Augen bei grellem Licht? Kinder unterscheiden sich auch in der Art und Weise, ihre Welt zu begreifen. Manche Kinder können Geräusche nicht eindeutig identifizieren, erkennen aber blitzschnell, wie sich Gegenstände im Raum zueinander verhalten. Bei anderen Kindern verhält es sich genau umgekehrt. Kinder mit einem schwachen Muskeltonus müssen sich ungeheuer anstrengen, um auch nur den Kopf aufrecht zu halten oder ihn nach der einen oder anderen Seite zu wenden; und dann gibt es Kinder, die ihrem Papa einen Nasenstüber verpassen, obwohl sie ihn eigentlich zärtlich streicheln wollten. Solchen physiologischen Mustern können zahlreiche Ursachen zugrunde liegen - neben den Erbanlagen auch pränatale Umwelteinflüsse wie der Drogenkonsum in der Schwangerschaft. Diese Faktoren können das Temperament -150-
oder die Persönlichkeit oder eine Krankheitsanfälligkeit beeinflussen, sie sind jedoch intermediärer Natur und äußern sich auf unterschiedliche Weise. Viele autismusgefährdete Kinder wirken zum Beispiel zurückgezogen und scheinen auf Eindrücke kaum zu reagieren, aber die gleichen Züge lassen sich auch an zahlreichen gesunden Kindern beobachten. Optimistisch stimmt unsere Beobachtung, dass bestimmte physische Merkmale für die Kinder nicht zwangsläufig zu einem Hindernis werden müssen. Das Verhalten ihrer Betreuungspersonen kann einen nachhaltigeren Einfluss ausüben, als man bislang annahm. So können sich übersensible Kinder durchaus zu aufgeschlossenen und selbstsicheren Menschen entwickeln. Kinder mit unzulänglicher akustischer Verarbeitungsfähigkeit und verzögerter Sprachentwicklung können zu eloquenten Gesprächspartnern heranwachsen. Eltern müssen es nicht dabei belassen, lediglich zu einer »guten Übereinstimmung« mit ihren Kindern zu finden. Durch spezielle Methoden können sie ihren Kindern unter Umständen recht erfolgreich dabei helfen, die Funktionsweise ihres Nervensystems und somit ihre Persönlichkeiten zu verändern. Es gibt zweifellos allgemeine Persönlichkeitszüge, die auch durch physiologische Besonderheiten bestimmt sind; aber diese Merkmale können überall auf einem Kontinuum liegen, das von Störung bis Gesundheit reicht. Auch dies hängt zum Teil davon ab, wie die Bezugspersonen mit dem Kind umgehen. Viele überaus wichtige Eigenschaften wie etwa die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen oder Vertrauen, Intimität und Empathie sowie kreatives und logisches Denken zu entwickeln, hängen in sehr hohem Maße davon ab, wie wir die natürlichen Anlagen eines Kindes fördern. Somit vollzieht sich die Entwicklung des Kindes in einem Interaktionsrahmen, der durch ständige Feedbacks charakterisiert ist. Die Art und Weise, wie das Kind Eindrücke verarbeitet und motorische Reaktionen organisiert, beeinflusst -151-
die Reaktionen seiner Bezugsperson, deren Verhalten wiederum eine neue Runde der Verarbeitung und Reaktion seitens des Kindes einläutet. Ein gut koordinierter, lebhafter Säugling versucht vielleicht, dem Vater ein Spielzeug zu entreißen, und schon üben die beiden sich im Tauziehen; ein Kind mit schwachem Muskeltonus hingegen, das einen Ball oder einen Teddybären, den man ihm hinhält, kaum berührt, läuft Gefahr, die Interaktionserwartungen seiner Eltern zu enttäuschen, so dass diese ihre Animationsversuche schon bald resigniert aufgeben. Da die Betreuungsperson durch unzählige kleine Aktionen als Hauptvermittler zwischen dem sich entwickelnden Geist des Babys und seiner Umwelt fungiert, trägt das eigene Verhalten des Säuglings dazu bei, die Welt zu gestalten, die er nach und nach kennen lernt. Das Buch Infants and Mothers4 hat Eltern zum ersten Mal ein Verständnis für die individuellen Unterschiede und für die Beteiligung des Babys an der Gestaltung seiner Welt vermittelt. Es beschreibt drei Babys mit sehr unterschiedlichem Temperament und öffnet die Augen für die individuellen Persönlichkeiten dieser Kinder. Auch die Art und Weise, wie Mütter und Väter auf bestimmte Verhaltensweisen reagieren, ist unterschiedlich. Manche Eltern neigen dazu, ihr Kind zu Interaktionen zu animieren, während andere sich lieber abwartend verhalten. Manche Mütter sprechen sehr viel mit ihrem Säugling, andere hingegen verständigen sich in erster Linie mimisch. Manche Mütter sind fröhlich, andere ernsthaft, manche sind zurückhaltend, andere eher aufdringlich. Manche Eltern machen ihrem Baby regelrecht den Hof, während andere passiv bleiben und sich durch ausbleibende Reaktionen leicht entmutigen lassen. Diese Muster des elterlichen Verhaltens beeinflussen das Baby. Muster, die durch die Bezugspersonen hergestellt wurden, können die Tendenz zu bestimmten Verhaltensweisen gewaltig verändern. So können sich stille Säuglinge im Laufe von zwei Jahren zu kecken -152-
Kleinkindern entwickeln, ängstliche und vorsichtige Babys zu tollkühnen Krabbelkindern. In der Wechselwirkung zwischen den physiologischen Besonderheiten des Kindes und dem Verhalten seiner Eltern bilden sich die Persönlichkeitsmerkmale heraus. Wenn die Erziehung auf die individuellen Besonderheiten des Kindes abgestimmt ist, können sogar Babys mit angeborenen schweren Behinderungen besser als erwartet gedeihen. Bei einer Nachuntersuchung von zweihundert Kindern mit Störungen des autistischen Spektrums stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen signifikante Verbesserungen ihrer geistigen und emotionalen Funktionsweisen erzielen konnten, nachdem ihre Eltern und ein Therapeutenteam gelernt hatten, bei den individuellen Besonderheiten anzusetzen. Sie hatten die passenden »Schlüssel« gefunden.5 Diese Arbeit zeigt, dass physiologische Besonderheiten an sich das Entwicklungspotenzial des Kindes nicht zwangsläufig eingrenzen oder determinieren müssen. Mehr noch: Wenn es sich um eine starke Beeinträchtigung handelt, die vielleicht sogar an eine schwere Behinderung grenzt, kann sie durch geeignete Betreuungspraktiken und Förderungsmaßnahmen umso nachhaltiger beeinflusst werden. Da in Wirklichkeit nur wenige Kinder in einer optimalen Umwelt aufwachsen, können wir uns kein Bild davon machen, welche Parameter die Entwicklung tatsächlich determinieren. Eltern wissen seit langem, dass jedes ihrer Kinder anders ist. Heute stehen uns Werkzeuge zur Verfügung, mit deren Hilfe wir diesen intuitiven Eindruck bestätigen und - was noch wichtiger ist - systematisch formulieren können. Dies gibt Eltern die Chance, ihre Einsichten zu nutzen, um die gesunde Entwicklung all ihrer Kinder und nicht nur derjenigen zu fördern, die sich den vertrauten Mustern besonders gut anpassen. In der klinischen Praxis und Forschung hat einer der Autoren (S.LG.) Betreuungsstile identifiziert, die bestimmte -153-
physiologische Muster verstärken oder relativieren können. Eine bestimmte Kombination biologischer Anlagen kann zur Grundlage wertvoller Gaben wie Empathie, Mut, Führungsfähigkeit, Neugierde, Kreativität, Entschlossenheit, Selbstdisziplin, Selbstsicherheit, Ausdauer und Originalität werden; sie kann aber auch der Entwicklung von Zügellosigkeit, Leichtsinn, Grausamkeit, Feindseligkeit, Härte, Distanziertheit, Irrationalität und Ängstlichkeit Vorschub leisten. Kurz: Ob physiologische Muster zu Begabungen oder zu Problemen werden, hängt davon ab, wie das Kind erzogen wird. Zunehmend Sorge bereiten der Gesellschaft gewaltbereite, antisoziale Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die andere nicht als Mitmenschen, sondern als Gegenstände behandeln. In erster Linie hat man Armut, Misshandlung und emotionale Deprivation für diese gefährlichen Muster verantwortlich gemacht. In seinem klassischen Beitrag »Fortyfour juvenile thieves« beschreibt John Bowlby Kinder, die bereits früh vernachlässigt worden waren und extrem antisoziale Verhaltensweisen entwickelten.6 Der durchaus einleuchtende Zusammenhang zwischen mangelnder Wärme in der Kindheit und der späteren Unfähigkeit, liebevolle Gefühle für andere Menschen zu empfinden, überzeugte im Jahre 1944, als der Beitrag publiziert wurde, viele Leser davon, dass Umwelteinflüsse für die Entwicklung oder Verhinderung von Delinquenz eine alles beherrschende Rolle spielen. Dennoch können wir die biologischen Anlagen nicht völlig außer Acht lassen. Man hat bei Kindern, die in den ersten Lebensjahren unter schwerer Vernachlässigung litten und zum Teil in Heimen aufwuchsen, zwei Tendenzen beobachtet. Eine Gruppe wurde zurückgezogen, depressiv oder apathisch. Manche Kinder entwickelten sich körperlich nicht weiter, nahmen nicht zu und wurden sogar krank und starben. Die Kinder der anderen Gruppe suchten aktiv nach Stimulationen, wurden aggressiv, promiskuitiv und gleichgültig gegenüber -154-
anderen Menschen, die sie nur brauchten, um ihre eigenen, unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen. Andere Studien wiesen bei antisozialen Kindern und Erwachsenen überdurchschnittlich häufige, subtile Funktionsstörungen des Nervensystems nach, die zu Problemen mit der Wahrnehmung von Eindrücken, mit der Informationsverarbeitung und der motorischen Funktionsfähigkeit führten. Weder das Deprivationsmodell, das auf soziale Ursachen wie Armut, familiäre Zerrüttung, Traumatisierung, Verfall der Moral und fehlende Autorität abhebt, noch das physiologische Modell, das angeborene Unterschiede in der Funktionsweise des Nervensystems als Verursachungsfaktoren identifiziert, kann antisoziales Verhalten restlos erklären. Erhöht wird die Wahrscheinlichkeit des antisozialen Verhaltens vielmehr durch das Zusammenwirken von neurologischen Defiziten und umweltbedingtem Stress, was wiederum mit bestimmten Kategorien der frühen Mutter-Kind-Beziehung einhergeht. Betreuungsmuster, die intensive Zuwendung ermöglichen, Gelegenheit zum Einüben der Stimmungsmodulierung bieten, empathisches Phantasiespiel fördern und zugleich freundlich, aber bestimmt und berechenbar Grenzen setzen, schaffen häufig die Grundlage für eine positive Entwicklung. Dienen die Grenzen jedoch zur Bestrafung des Kindes und ist der Umgang mit ihm durch Feindseligkeit oder Vermeidung, Vernachlässigung und Unzuverlässigkeit charakterisiert, werden sich häufig antisoziale Muster entwickeln. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, um Unterschiede des Temperaments oder der physiologischen Muster von Kindern zu beschreiben. Einer der Autoren (S.I.G.) hat fünf häufig anzutreffende Typen beschrieben:7 das aktive, aggressive Kind; das hochsensible Kind; das in sich gekehrte oder zurückgezogene Kind; das eigenwillige Kind; und das Kind mit Konzentrationsschwierigkeiten. Jeder dieser Typen ist auf Betreuungs- und Erziehungsformen angewiesen, die sich an -155-
seinen spezifischen Neigungen und Bedürfnissen orientieren. Nur so kann das Kind seine individuellen Stärken entwickeln. Diese »maßgeschneiderten« Interaktionen oder Anleitungen können auch Kindern helfen, die normalerweise als autistisch oder geistig behindert diagnostiziert werden. Wir haben mit etlichen solcher Kinder gearbeitet, die daraufhin tatsächlich herausragende kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten entwickelten.8 Allein die Tatsache, dass einige Kinder derart positiv auf die Arbeit ansprachen, stimmt weit optimistischer, als man es je für möglich hielt. Gewöhnlich wird eine geistige Retardation auf eine umfassende und so gravierende biologische Schädigung zurückgeführt, dass man die mentalen, motorischen, verbalen und räumlichen Fähigkeiten dieser Kinder automatisch im untersten Bereich einstuft. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, dass auch diese Kinder eine ganze Bandbreite individueller Unterschiede aufweisen - bei manchen ist die Sprachfähigkeit besser ausgeprägt, bei anderen das räumliche Auffassungsvermögen oder aber die motorische Geschicklichkeit usw. Als man mit diesen Unterschieden zu arbeiten begann, die persönlichen Stärken förderte und gleichzeitig in defizitären Bereichen nachhalf, konnten sich viele Kinder besser entwickeln, als man es je erwartet hätte. Besonders im Vorschul- und Grundschulalter ist es wichtig, dass Erfahrungen an individuelle Unterschiede angepasst werden. So gibt es beispielsweise einen bestimmten Prozentsatz von Kindern, denen das Lesenlernen Schwierigkeiten bereitet. Diese Kinder laufen Gefahr, auch in anderen Unterrichtsfächern, in denen sie lesen müssen, schlecht abzuschneiden, etwa in Geschichte oder Sozialkunde. Sie verlieren den Mut, entwickeln Verhaltensprobleme, müssen möglicherweise die Regelschule verlassen usw. Kinder, die auf die üblichen Leselernmethoden selbst dann nicht ansprechen, wenn man besonders systematisch und intensiv mit ihnen übt, haben häufig Schwierigkeiten, Laute zu -156-
verarbeiten. Sie können subtile Lautnuancen nicht unterscheiden, so dass es ihnen ungemein schwer fällt, die Laute, die sie hören, zu den Buchstaben in Beziehung zu setzen, die sie sehen. Andere Kinder haben Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung der Schriftzeichen an sich, für die große Mehrheit aber ist die Differenzierung der Laute das entscheidende Problem. Solchen Kindern kann eine Methode, die sich auf die Verbesserung der Lautwahrnehmung konzentriert, offenbar sehr gut helfen. Die Kinder lernen, zunächst einzelne Laute voneinander zu unterscheiden und sie dann mit der visuellen Wahrnehmung von Formen und Buchstaben zu verbinden. Zahlreiche Studien haben nachgewiesen, dass dieser Ansatz es den Kindern erleichtert, lesen zu lernen, und dass sie schließlich sogar Freude am Lesen haben. Sodann gibt es Kinder, denen mathematische Konzepte Schwierigkeiten bereiten, und zwar weniger aufgrund einer Unfähigkeit, mathematische Fakten im Gedächtnis zu speichern, sondern weil sie Probleme mit der visuellräumlichen Verarbeitung haben und deshalb mit dem Begriff der Menge nichts anzufangen wissen. Hier können Ansätze, die ein starkes emotionales Interesse an bestimmten Objekten wie Münzen oder Keksen mit der Aktivierung der kindlichen Fähigkeit verbinden, Mengen oder Entfernungen (oder auch Zeiträume) zu visualisieren, offenbar die Grundlage für eine Verbesserung der mathematischen Fähigkeiten schaffen. Abschließend sei an jene Kinder erinnert, die Probleme mit der Planung und Sequenzierung von Bewegungen haben und denen es aus diesem Grund schwer fällt, vier oder fünf zusammenhängende Sätze nacheinander zu schreiben. Nicht das Einpauken und Abfragen der Grammatik kann dem Kind helfen, sondern allein das Verständnis der zugrunde liegenden Problematik. Die augenblickliche Mode, zum »Wesentlichen« zurückzukehren und die Unterrichtszeit zu verlängern, hat leider zur Folge, dass die schulische Ausbildung den individuellen -157-
Unterschieden immer weniger Rechnung trägt. Ein einziger pädagogischer Ansatz soll pauschal auf alle Kinder passen (»one size fits all«). Wenn man die Anzahl der Aufgaben, die das Kind nicht lösen kann, lediglich verdoppelt, ist ihm nicht geholfen, und ebenso wenig lernen sie, indem man ihren Wissensstand abfragt. Auch die Zuschreibung größerer Verantwortung ist ohne Unterrichtsinnovationen wahrscheinlich kaum geeignet, bessere Resultate zu erzielen. Man denke an das alte Sprichwort: »Vom Wiegen wird die Geiß nicht fett!« Tests und Prüfungen können ein sehr wertvoller Bestandteil des Lernens sein, sofern sie als Informationsquelle betrachtet werden, die den Lehrern Aufschluss darüber gibt, wie gut ihre Methoden funktionieren, und den Schülern und Eltern zeigt, welche Aufgaben das Kind meistern konnte und welche nicht. Die besten Beurteilungssysteme sind so angelegt, dass das Kind kontinuierlich lernt und seine eigenen Leistungen beurteilt und sich selbst und anderen zeigt, wie gut es den jeweiligen Gegenstand beherrscht. Wenn wir uns im Unterricht auf die individuellen Unterschiede konzentrieren, haben wir die basalen Prozesse wie akustische Verarbeitung und Sprache, visuellräumliches Denken, Bewegungsplanung und -Sequenzierung (häufig auch als ausführende Fähigkeiten bezeichnet), die sensorische Modulation sowie verschiedene Ebenen des abstrakten Denkens im Auge, die Kinder bewältigen müssen, um sich intellektuell, sozial und emotional gesund entwickeln zu können. Häufig vernachlässigen wir diese grundlegenden individuellen Besonderheiten oder Verarbeitungsfähigkeiten, die Lernen überhaupt erst ermöglichen, und messen dem bloßen Memorieren von Fakten das größte Gewicht bei. Wenn jemand meint: »Die Kinder sollten wenigstens wissen, wer der erste Präsident oder Kanzler war«, muss man ihm leider antworten, dass dieser Ansatz falsch ist. Es gibt kein »wenigstens«. Eine gute Ausbildung zu erhalten bedeutet nicht, isolierte Fakten -158-
vorgesetzt zu bekommen. Natürlich müssen unsere Kinder wissen, wie der erste Bundespräsident hieß, aber sie müssen diesen Namen in den historischen Kontext einordnen können. Das Verständnis historischer (und anderer) Konzepte setzt indes voraus, dass man begreift, was man liest, dass man visuellräumlich denken und komplizierte abstrakte Probleme lösen kann. Es gibt keine Abkürzungen, um diese elementaren Fähigkeiten zu erwerben. Das Motto »Zurück zum Wesentlichen« muss daher bedeuten, dass wir uns erneut den elementaren Prozessen zuwenden, die jeder Art des Lernens zugrunde liegen. Dabei sind die folgenden sechs Grundvoraussetzungen zu berücksichtigen: 1. Die Einzigartigkeit eines jeden Kindes. Das, was ein Kind lernt, hängt weitgehend von seinen Erfahrungen ab. Um das Lernen und die geistige Entwicklung zu fördern, müssen daher Erfahrungen auf das »individuell unterschiedliche« zentrale Nervensystem zugeschnitten sein. Kinder bewältigen die frühen Entwicklungsschritte unterschiedlich rasch; sie unterscheiden sich zum Beispiel in ihrer Konzentrationsfähigkeit, in ihrer Fähigkeit, Intimität und Bezogenheit zu entwickeln oder sich gezielt und intentional zu verhalten; sie unterscheiden sich auch in ihrer Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen, symbolisch und kreativ mit Ideen zu arbeiten oder logisch und abstrakt zu denken. Individuell spezifisch sind auch familiäre, kulturelle und Nachbarschaftsmuster. Das Verständnis dieser Muster ermöglicht es, Bildungsprogramme zu erarbeiten, die bei den individuellen Besonderheiten des Kindes, seiner Familie und der größeren Gemeinschaft, in der es lebt, ansetzen. 2. Kooperation von Schule und Familie. Ein Ansatz, der die individuellen Unterschiede ins Zentrum rückt, legt es nicht darauf an, Kinder zu testen, zu benoten und dann in Leistungsgruppen einzuteilen. Lehrer und Eltern sollten zusammenarbeiten, um sich über die Entwicklung des Kindes zu verständigen, seine Funktionsweisen zu beobachten und sein -159-
Profil zu beschreiben. Die äußere Umwelt, der Lehrplan und die Art der Beziehungen, die das Lernen erleichtern, können dann dem Profil eines jeden Kindes angepasst werden, um kognitive und soziale Fertigkeiten zu fördern. Auf diese Weise lassen sich auch Störungen häufig verhindern. Das heißt nicht, dass einzelne Kinder oder Gruppen getrennt voneinander lernen sollten. Kinder lernen gemeinsam und fördern sich gegenseitig in ihrer Entwicklung. Lehrer können unterschiedliche Bereiche des Klassenzimmers und flexible Module benutzen, um für jedes Kind optimale Lernbedingungen zu schaffen. Ein solcher Ansatz lässt sich allerdings nur dann verwirklichen, wenn die Schulleitung die Eltern als Partner anerkennt und die Schule in das kommunale Leben integriert ist. 3. Lernen durch dynamische emotionale Interaktionen. Sobald das Kind in die Schule kommt, werden dynamische emotionale Interaktionen zu einem wesentlichen Bestandteil des Lernens. Abstraktes Denken, das fürs Lesen, für das Verständnis historischer Zusammenhänge, fürs Schreiben, für die Natur- und Sozialwissenschaften sowie für die Mathematik unverzichtbar ist, enthält immer zwei Elemente: (a) emotional bedeutsame Erfahrungen mit anderen Menschen und der eigenen sozialen und äußeren Umwelt sowie (b) die Fähigkeit, über Interaktionen nachzudenken und sie zu kategorisieren und diese Erfahrungen weiterzuentwickeln. 4. Schulversager muss es nicht geben. Kinder, die an bestimmten Tests oder Übungen scheitern, müssen Gelegenheit zu einem zweiten Versuch bekommen. Sie können sich die Aufgabe während der Unterrichtsstunden, am Nachmittag, am Wochenende oder in den Sommerferien noch einmal vornehmen; gleichwohl können Kinder natürlich nicht einfach versetzt werden oder zwanzig Jahre lang Erstklässler bleiben. Beides funktioniert nicht. Wir müssen den didaktischen Ansatz vielmehr so lange verändern, bis wir einen Weg gefunden haben, das Kind auch in seinen »schwachen« Fächern auf einen -160-
bestimmten Leistungsstand zu bringen. Ein Kind beispielsweise, das Probleme mit der Mathematik hat, braucht vielleicht lange, um den elementaren Begriff der Menge zu erfassen. Selbst wenn das Ziel lediglich darin besteht, diesem Kind vor Abschluss seiner Schullaufbahn die Grundlagen der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division zu vermitteln, würde sich die Anstrengung lohnen. Daher sollte das Kind die Aufgabe immer wieder zu lösen versuchen, bis es ihm gelingt; und mit jedem neuerlichen Versuch versteht auch die Lehrerin seine Schwierigkeiten immer besser, so dass sie ihre Vorgehens weise entsprechend anpassen kann. Wenn das Kind zum Beispiel nicht imstande ist, seine Schulaufgaben zu Hause zu erledigen, weil ihm niemand dabei hilft, oder wenn das Kind unmotiviert ist, muss man ihm unter Umständen die Möglichkeit geben, die Aufgaben nachmittags in der Schule zu machen. Die Motivation des Kindes und die Familienstruktur werden in diesem Modell als individuelle Besonderheiten betrachtet, als Variablen der Gleichung und nicht als Vorwand für moralische Überlegungen, die es rechtfertigen könnten, ein Kind scheitern zu lassen. Man kann die fehlende Motivation des Kindes und die desorganisierte familiäre Situation sogar als Herausforderung begreifen und beispielsweise Sozialdienste zur Unterstützung heranziehen, wenn die Familie in extrem chaotischen Verhältnissen lebt und die soziale Situation derart schwierig ist, dass ein völliger Schiffbruch droht und das Kind die Schule verlässt und womöglich delinquent wird. Weitere kommunale Hilfsangebote werden im 6. Kapitel erläutert. Individuelle Besonderheiten zu respektieren bedeutet nicht, das Kind von seiner eigenen Verantwortung freizusprechen, im Gegenteil: Die individuelle Verantwortung ist in unserem Modell sogar weit größer als in jedem anderen. Dieses Modell lässt es nämlich nicht zu, dass sich die Kinder in Passivität, Hilflosigkeit oder fehlangepasste Verhaltensweisen flüchten. Zusätzliche Unterstützung und Strukturierung fordern die -161-
individuelle Verantwortlichkeit heraus - die des Kindes ebenso wie die seiner Lehrer und seiner Eltern. Wir (S.I.G.) haben ein beziehungsund entwicklungsorientiertes Modell der individuellen Unterschiede erarbeitet [developmental individual difference relationshipbased model, DIR-Modell], das Kinder unter dem Blickwinkel ihrer Entwicklungsfortschritte und ihrer individuellen Besonderheiten sowie im Zusammenhang mit jenen interaktiven Beziehungen versteht, von denen sie wahrscheinlich profitieren können. Berücksichtigt werden selbstverständlich auch aktuelle Beziehungen, die ihre Entwicklung möglicherweise beeinträchtigen.10 Das DIR-Modell dient einer neuen Organisation als Grundlage, nämlich dem Interdisciplinary Council on Developmental and Learning Disorders (ICDL), das über regionale Niederlassungen in den meisten amerikanischen Städten verfügt. Das ICDL setzt sich für eine Verbesserung der Förderungs- und Therapieangebote für Kinder mit Entwicklungs- und Lernstörungen ein und hat vor einiger Zeit die Clinical Practice Guidelines für förderungsbedürftige und behinderte Kinder und ihre Familien veröffentlicht. Diese Richtlinien berücksichtigen unter anderem auch die speziellen Bedürfnisse von autistischen Kindern und Kindern mit autismusähnlichen Störungen.11 Dieser Ansatz begünstigt den begabten Schüler nicht automatisch gegenüber dem langsameren. Aber er belohnt sie beide für ihre jeweils ganz spezielle Beteiligung am Lernprozess. Jeder Schüler kann ein stabiles Selbstwertgefühl entwickeln, weil er merkt, dass er Leistungen erbracht und etwas dazugelernt hat. In einer solchen Atmosphäre machen sich Kinder jene Vorgehensweise zu Eigen, die ihnen das Lernen erleichtert. Je besser es uns gelingt, innovative Methoden zu individualisieren und Kindern auf diese Weise dabei zu helfen, den Unterrichtsstoff zu bewältigen, desto rascher werden alle Kinder auf einen höheren Leistungsstand -162-
gelangen und ihr Selbstwertgefühl stärken können. 5. Kleingruppen. Das an den individuellen Unterschieden orientierte Modell sieht vor, dass Kinder in wesentlich kleineren Klassen unterrichtet werden, als es heutzutage üblich ist. Klassen von 25 bis 30 Kindern sind dem Lernen nicht dienlich. Im Großen und Ganzen werden in derart großen Gruppen nur solche Kinder gut abschneiden, die im Grunde auch ohne Hilfe der Schule lernen können. Damit begabte Schüler ihr Potenzial voll entfalten, durchschnittliche Schüler ihre Leistungen verbessern und lernbehinderte Kinder ihre Schwierigkeiten meistern können, sind für alle Kinder kleine Klassen erforderlich. 6. Tägliche Grundlagenarbeit. Wir haben bereits erläutert, dass jedes Kind sein eigenes physiologisches Verarbeitungsprofil besitzt. Von diesem Profil hängt es ab, wie das Kind Informationen aufnimmt und begreift, wie es kommuniziert und wie es denkt. Diese Verarbeitungsfähigkeiten sind die Bausteine oder Grundlagen des Lesens, Rechnens, Schreibens und aller Formen des intellektuellen wie auch des sozialen Denkens. Heutzutage werden diese Bausteine in der Regel nur beiläufig als Teil der Prozesse berücksichtigt, die in allen Unterrichtsfächern vorausgesetzt werden. Weil diese Prozesse nicht explizit, sondern implizit sind, nehmen Lehrer und Schüler häufig nicht genau wahr, inwieweit sie vom einzelnen Schüler mühelos bewältigt werden und wo es Lücken gibt, die zusätzliches Üben erfordern. Zu den Grundbausteinen, von denen wir hier sprechen, gehören die akustische Verarbeitung (die Fähigkeit, das, was man hört, aufzunehmen und seinen Sinn zu erfassen), die visuellräumliche Verarbeitung (die Fähigkeit, das, was man sieht, aufzunehmen und zu begreifen und die physikalische Umwelt zu meistern - eine Fähigkeit, die für die Mathematik und die Naturwissenschaften, aber auch für das Lesen von zentraler Bedeutung ist), die sensorische Modulation (die Fähigkeit, Informationen zu -163-
verarbeiten, ohne in einer der fünf Sinnesmodalitäten über- oder unterzureagieren) sowie die Bewegungsplanung und Sequenzierung (die Fähigkeit, Aktionen und Gedanken zu organisieren und koordiniert auszuführen - ein wichtiger Bestandteil jener Funktionen, die häufig als ausführende Funktionen bezeichnet werden). Weil diese basalen Verarbeitungsfähigkeiten die Voraussetzung für den Erwerb schulischer Grundkenntnisse bilden, sollte ein Viertel bis ein Drittel der täglichen Übungs- und Unterrichtsstunden (von der Vorschule bis zum Abschluss der 9. oder 10. Klasse) der Verbesserung dieser elementaren Fähigkeiten dienen. Viele begabte Lehrer und viele Schulen arbeiten bereits in dieser Richtung. Entscheidend ist jedoch, dass ein solcher Unterricht systematisch erteilt wird. Das Konzept der individuellen Unterschiede hat auch Implikationen für unsere Sozialdienste. Man kann Familien nur unterstützen, wenn man versteht, wie sie Informationen aufnehmen, organisieren und verarbeiten und wie sie ihre Aktionen planen. Das Verständnis individueller Besonderheiten kann Aufschluss über natürliche Begabungen und spezifische Defizite geben, die zum Beispiel für eine Berufsausbildung relevant sind, und vermittelt wertvolle Informationen im Hinblick auf die Leistungen, die ein Familienhilfsprogramm anbieten sollte. Das Konzept der individuellen Unterschiede ist besonders wichtig, wenn wir uns die Schnittstelle zwischen dem Sozialdienst- und dem Rechtssystem einerseits und unserer Arbeit mit solchen Kindern und Familien ansehen, die unter extremen Schwierigkeiten leiden. Um Rehabilitationsprogramme planen zu können, ist es zwingend erforderlich, die individuellen Besonderheiten des Kindes und seiner Familie zu verstehen, und zwar auch dann, wenn solche Projekte zum Beispiel während einer Haftstrafe durchgeführt werden sollen. Wenn wir Kindern oder Heranwachsenden -164-
effizient helfen wollen, müssen wir uns an ihren individuellen Profilen orientieren. Einem engagierten Sozialarbeiter beispielsweise, der in einem Projekt für potenziell delinquente Jugendliche mitwirkte, gelang es, die Betreuung individuell auf die spezifischen Bedürfnisse und Erfordernisse im Zusammenhang mit neuen Jobs und auf die Schwierigkeiten, die die Jugendlichen mit Familienangehörigen oder mit der Polizei hatten, abzustimmen. Die Projektteilnehmer lernten auch, zu lesen, zu rechnen und ihre Handlungen zu planen. Da dieser Erzieher mit den Jugendlichen zusammenlebte, konnte er sie emotional zuverlässig unterstützen und ihnen in den Bereichen ihrer individuellen schulischen und beruflichen Schwächen Orientierungshilfen anbieten. Nach zweijähriger Teilnahme an diesem Programm steuerten 80% der Jugendlichen in ihren Beziehungen, ihrer Familie und ihrem Beruf auf ein erfolgreiches Leben als erwachsene Menschen zu. 80% der Kinder hingegen, die die Schule verlassen und keinen Zugang zu einem solchen Projekt gefunden hatten, wurden entweder straffällig oder psychisch krank.12 Das Modell der individuellen Unterschiede spielt auch in der Sozialpsychiatrie eine wichtige Rolle. Unsere Art und Weise, psychische Störungen und psychische Gesundheit zu verstehen beziehungsweise zu behandeln, ist unseren empirischen Kenntnissen gewissermaßen vorausgeeilt. Wir haben Problemmuster kategorisiert und Syndrome diagnostiziert, obwohl nicht zwingend nachgewiesen wurde, dass viele dieser alarmierenden Verhaltensweisen tatsächlich Syndrome im eigentlichen Sinn darstellen. Indem wir diese und jene Verhaltensweisen als Syndrom statt als Verhaltensmuster behandeln, lassen wir uns zu Interventionen oder Behandlungsmethoden verleiten, die auf das Syndrom zielen, nicht aber auf die zugrunde liegenden Elemente, die für die jeweilige Auffälligkeit verantwortlich sein könnten. Ein einleuchtendes Beispiel ist das Kind mit einer -165-
Aufmerksamkeitsstörung. Wenn wir die individuellen Besonderheiten ins Zentrum rücken, stellen wir vielleicht fest, dass dieses Kind Schwierigkeiten mit der Planung und Sequenzierung seiner Bewegungen hat. Spezielle Übungen könnten ihm weiterhelfen. Ein anderes Kind zeigt möglicherweise Überreaktionen auf Geräusche und Lärm und gerät durch zusätzliche Frustration oder durch Angst derart unter Druck, dass es noch intensiver auf Gerausche reagiert und seine Impulsivität verstärkt wird. Einem solchen Kind kann man helfen, sein Verhalten zu organisieren, zu planen und zu modulieren, indem man den Lärm und die taktilen Sensationen in der Umwelt reduziert, die Fähigkeit zu Selbstberuhigung und Selbstregulierung durch spezielle Übungen verbessert und Situationen vermeidet, die erfahrungsgemäß Stress und Übererregung verursachen. Wenn diese grundlegenden Prozesse jedoch ignoriert werden und man lediglich mit den Oberflächensymptomen und dem »Syndrom« arbeitet (und aufgrund der Verhaltensweisen des Kindes beispielsweise eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung diagnostiziert), liegt eine syndromorientierte medikamentöse Behandlung nahe - dem Kind wird dann zum Beispiel Ritalin verschrieben. Bei Kindern, die auf äußere Eindrücke überreagieren und bei allzu starkem Druck übersensibel und impulsiv werden, kann diese Medikation fehlschlagen. Wir haben festgestellt, dass bestimmte Medikamente die Agitiertheit und das impulsive Verhalten solcher Kinder verstärken und mitunter auch zu grandiosem Denken führen. (Kinder hingegen, die auf Geräusche und Berührung tendenziell eher unterreagieren, können unseren klinischen Beobachtungen zufolge von diesen Medikamenten häufig profitieren.) Dieses Beispiel zeigt überzeugend, dass die Konzentration auf individuelle Unterschiede uns dabei helfen kann, für das einzelne Kind effizientere Behandlungspläne zu erstellen; es zeigt auch, wie wichtig es ist, bei einer medikamentösen Behandlung zu wissen, welche Aspekte zu -166-
Beginn berücksichtigt werden müssen, damit man kontrollieren kann, ob das Medikament Nebenwirkungen hervorruft oder wirklich hilft. Ähnliche Muster lassen sich bei traurigen und in sich gekehrten Kindern beobachten. Man kann ihr Verhalten als Syndrom -Kindheitsdepression - verstehen oder es im Kontext der individuellen Unterschiede begreifen. Wir haben erwähnt, dass manche Kinder, die schon als Säuglinge oder Kleinkinder sehr sensibel auf minimale Veränderungen in ihrer Umgebung reagiert haben, nicht aktiv oder impulsiv werden, sondern eher dazu neigen, sich verletzt zu fühlen. Einigen dieser Kinder scheint die Verarbeitung visuellräumlicher Wahrnehmungen schwer zu fallen, während ihre akustischen Verarbeitungsfähigkeiten sehr gut entwickelt sind, so dass sie oft überaus empfindlich auf minimale taktile oder akustische Veränderungen reagieren. Wenn wir dies verstehen, können wir ihnen durch eine besonders beruhigende und unterstützende Betreuungsweise helfen und es ihnen erleichtern, ihre eigenen Reaktionen auf ihre Umwelt zu verbalisieren und zu begreifen. Ihre Neigung zu Traurigkeit oder Verdrießlichkeit lässt dann oft nach, da sie allmählich eine auf dem Verständnis ihrer individuellen Besonderheiten beruhende Flexibilität entwickeln. In der Kindheit hat das Modell der individuellen Unterschiede sogar dann Vorteile, wenn medikamentöse Behandlungen in Verbindung mit psychosozialen Maßnahmen in Betracht gezogen werden. Die Orientierung an den individuellen Unterschieden versucht, das unverwechselbare Profil eines jeden Kindes in all seinen Feinheiten und unzähligen Varianten zu identifizieren. Hierbei geht es nicht darum, die Kinder zu kategorisieren und ihnen Syndrome zuzuschreiben - ein Vorgehen, das insbesondere deshalb fragwürdig ist, wenn die Ursachen des Syndroms weniger eindeutig abgeklärt sind, als man vielleicht annimmt. Kurz, ein am Modell der individuellen Unterschiede -167-
orientiertes Verständnis der menschlichen Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen kann die Art und Weise, wie wir in unseren Bildungseinrichtungen sowie in unseren Sozialdiensten und in der Sozialpsychiatrie über Kinder und ihre Familien denken, signifikant verändern. Diskussion SIG: Unsere gegenwärtigen Erziehungsmuster, unsere Bildungseinrichtungen und Sozialdienste und das Gesundheitswesen tragen den individuellen Unterschieden kaum Rechnung. Aus vielfältigen Gründen, die nicht restlos geklärt sind - vielleicht aufgrund chaotischer Verhältnisse in der frühen Kindheit oder infolge einer Schädigung des Nervensystems -, weisen immer mehr Kinder extreme individuelle Besonderheiten auf. TBB: Wir müssen uns diese Besonderheiten genauer ansehen, sowohl in den Mutter-Kind-Interaktionen als auch in der übrigen sozialen Welt. Dieser individuelle Beitrag des Kindes macht sich in sämtlichen Bereichen bemerkbar gegenüber den Eltern, Lehrern, Peers, den Betreuern in der Tagesstätte usw. All diese Personen haben die Chance, das Kind gründlicher kennen zu lernen und auf seine spezifischen Bedürfnisse einzugehen. Die frühe Wahrnehmung von Besonderheiten SIG: Die Mitarbeiter eures Touchpoints-Projekts untersuchen jedes Kind vom Säuglingsalter an regelmäßig, um seine individuellen Besonderheiten und Entwicklungsbedürfnisse zu identifizieren. Diese Beurteilung setzt eine Kooperation zwischen den Sozial-, Gesundheits- und Bildungsministerien voraus und impliziert ein neues Konzept dessen, was Bildung und Erziehung bedeutet. Gaben wir uns früher damit zufrieden, dass jedes Kind ab dem Alter von fünf Jahren die Schule besuchen sollte, setzen wir mittlerweile noch früher an. Der Staat finanziert die Vorschulen sowie die Head-Start- und nun, für eine begrenzte Anzahl von Kindern, auch die Early-HeadStart-Programme, also die Frühförderung, die schon vor dem -168-
Alter von drei Jahren einsetzt. Als Nächstes müssen wir sicherstellen, dass diese Beurteilungen grundsätzlich bei der Geburt beginnen. Zur Kostendeckung ist vielleicht die Einführung einer speziellen Pflichtversicherung notwendig, damit die Untersuchungen im Rahmen des Vorsorgeprogramms von qualifizierten Entwicklungsspezialisten in einer pädiatrischen Praxis durchgeführt werden können. Die Gesellschaft muss anerkennen, dass wir nur dann gute Arbeit leisten können, wenn wir das Baby oder Kind in seiner Individualität verstehen. Hier haben wir mit Widerstand zu rechnen. Manche Kritiker werden von einem Eingriff in die Rechte der Familie oder von der Verletzung der elterlichen Autorität sprechen. Aber man sollte solche Maßnahmen als Erweiterung der Gesundheitsvorsorge begreifen. TBB: Genau, nicht als Übergriff, sondern als Unterstützung. Wir müssen die individuelle Familie so gut verstehen, dass wir dem Kind dabei helfen können, sich optimal zu entwickeln. Wir müssen den Familien ein positives Ziel aufzeigen. Wenn wir bei ihnen hereinplatzen, auf sie herabblicken, ihnen erklären, was schiefläuft und was eigentlich getan werden müsste - wird das in der Tat als Bevormundung erlebt. Wenn wir aber stattdessen einen Transaktionsansatz wählen und sagen: »Wir möchten begreifen, wo Sie stehen und wie wir Sie unterstützen können, damit wir gemeinsam Ihrem Kind helfen können, stabil und gesund zu bleiben und gerne zu lernen« - weckt das meiner Meinung nach weniger Widerstand. Man hätte nach wie vor eine Menge Schwierigkeiten zu überwinden, aber vermutlich könnte man so tatsächlich die meisten Eltern erreichen - ganz gewiss diejenigen, die sehr verletzbar oder gefährdet sind und keine Hoffnung mehr haben. Dieser Ansatz ist besser geeignet, sie zur Mitarbeit zu motivieren. Mir schwebt ein Modell der Kontaktaufnahme vor, in dem das Kind im Mittelpunkt steht und die Sprache bestimmt, die gesprochen wird, und in dem man Mutter und Kind in -169-
regelmäßigen Abständen aus gesundheitlichen und psychologischen Gründen sieht, um zu sehen, wie gut sie zurechtkommen, nicht um etwas zu verändern oder vorzuschreiben usw. Dies ist der Fokus unseres TouchpointsProgramms. Wir versuchen auch, die Ausbildung unserer Kinderärzte, Kinderkrankenschwestern, Sozialarbeiter, Erzieherinnen und Lehrer zu verändern. Wir benötigen ein Modell, in dessen Mittelpunkt die verständnissuchende Kontaktaufnahme steht, und dies läuft meiner Ansicht nach der bisherigen Ausbildung oft zuwider. Wir müssen uns fragen: »Okay, wie oft müssen wir eine Familie sehen, um beurteilen zu können, ob sie es alleine schaffen oder ob sie die Hilfe brauchen kann, die wir anzubieten haben?« Verlieren die Besuche im Laufe der Zeit an Effizienz? Professionelle Helfer können die Kontakte nutzen, um das Entwicklungsniveau und die individuellen Bedürfnisse zu beurteilen. Dann kann man sehr gut abschätzen, inwieweit sich das Kind und seine Familie gut entwickeln und welche Unterstützung eventuell infrage käme. Nicht alle Familien sind auf umfassende Hilfe angewiesen, aber mithilfe eines effizienten Modells könnten wir die individuellen Unterschiede leichter identifizieren. Derzeit beruht unser Modell auf dem Konzept, dass man zunächst alle unter einem pauschalen Blickwinkel betrachtet, um Auffälligkeiten zu erkennen, die man dann auf einer symptomatischen Ebene anspricht. Das kann nicht funktionieren, und es hat nicht funktioniert. Wir können die Kinder, deren Entwicklung nicht in der Norm liegt, schon früh identifizieren, sodass man nicht irgendwann sämtliche Ressourcen mobilisieren muss. Wir arbeiten von Anfang an mit ihnen zusammen. Die Programme, die du entwickelt hast, sind genauso angelegt. Wir können sehr viel sowohl von den Kindern aus der Normgruppe als auch von denjenigen lernen, die der Norm nicht entsprechen. Das funktioniert natürlich nicht mit -170-
einer Nullachtfünfzehn-Methode; wir müssen uns von Anfang an auf die Individualität des Kindes, auf seine individuellen Bedürfnisse und Defizite einstellen. Das bedeutet, dass wir all diejenigen, die in der Kinderbetreuung oder in der medizinischen Versorgung arbeiten, adäquat ausbilden müssen, damit sie wahrnehmen können, welche Familie welche Art von Hilfe braucht. Zudem müssen sie in dieser Ausbildung auch lernen, kooperative Beziehungen zu den Familien aufzubauen, damit sich alle Beteiligten für die optimale Entwicklung des Kindes einsetzen können. SIG: Nehmen wir einmal an, wir müssten bei null anfangen. Wie würden wir das System aufbauen? Wie würdest du die Mitarbeiter ausbilden, und wer sollte diese Ausbildung erhalten? TBB: Nun, ich würde jeden ausbilden. Wir führen Schulungen auf verschiedenen Ebenen durch. Wir bilden die Ausbilder aus und diese gehen dann zu den Mitarbeitern der verschiedenen Dienste. Es gibt eine Ausbildung auf Gemeindeebene, aber auch eine Ausbildung für Spezialisten. Physiotherapeuten oder Beschäftigungstherapeuten benötigen lediglich eine Zusatzausbildung, denn sie müssen das, was sie ohnehin tun, nur erweitern, indem sie bei ihrer Arbeit einen familien- und beziehungsorientierten Ansatz ins Zentrum rücken. Unser Programm bildet Krankenschwestern und -pfleger, Kinderärztinnen, Arzthelferinnen, Hausärzte usw. gemeinsam aus. Sie setzen sich zusammen und sprechen über Beziehungen wie man sie knüpft, wie man mit ihnen arbeiten kann und wie man sich an jedem kritischen Touchpoint um sie kümmert. Diese Leute bekommen einen Crashkurs in Kinderentwicklung, von dem sie dann bei ihrer eigenen Arbeit mit den Eltern profitieren können. Im Zentrum unseres Programms stehen jene Situationen, die wir als Touchpoints bezeichnen. Es sind die kritischen Entwicklungsphasen, beispielsweise die normalen Regressionen, -171-
die Kinder durchlaufen. Sie werden von den Mitarbeitern als Gelegenheit genutzt, sich in das Familiensystem einzuklinken und gemeinsam mit den Eltern zu versuchen, das Kind zu verstehen. SIG: Kommen wir noch einmal auf ein anderes Thema zurück - Kinderentwicklung als Unterrichtsfach. Da sind zwei junge Leute, die heiraten und ein Baby bekommen wollen. Wann sollten sie lernen oder gelernt haben, was es bedeutet, für ein Baby verantwortlich zu sein? Würden wir in der Gesellschaft unserer Idealvorstellung schon in den Grundschuljahren einen entsprechenden Unterricht anbieten? Das Paar, das über ein eigenes Baby nachzudenken beginnt, sollte bereits gewisse Kenntnisse über Kinderentwicklung und -erziehung verinnerlicht haben. Deshalb müssten wir den ersten Touchpoint schon pränatal ansetzen, bei der Geburtsvorbereitung mit der Hebamme, der Säuglingsschwester und all den anderen Helfern. Mit diesen vorgeburtlichen Gesprächen entstünde bereits ein System. TBB: Ein anderes Schlüsselelement sind die Hausbesuche am siebten Tag. Wochenbettdepressionen werden wegen des kurzen Aufenthalts der Mütter im Krankenhaus oft gar nicht wahrgenommen. Aber nicht nur das Baby muss nach sechs Tagen untersucht werden, damit man sieht, ob es anämisch oder dehydriert ist oder unter einem Drogenentzug leidet. Man kümmert sich auch darum, ob die Mutter vielleicht außergewöhnlich depressiv ist. Außerdem versucht man, den Vater mit einzubeziehen. Ich würde gleich beim ersten Besuch mit einem Modell wie unserem Touchpoints-Programm anfangen, um die Familienangehörigen anzusprechen und in das System zu integrieren. Dann könnten wir uns nicht nur um die körperliche Entwicklung des Babys kümmern, sondern auch um die emotionale und kognitive, und wir könnten auch die Familieninteraktion beeinflussen. -172-
Der erste Schritt gilt der Prävention. Im nächsten erfolgt dann eine Beurteilung, damit wir uns einen möglichst genauen Eindruck vom Kind machen können. Diese Beurteilung wird zu festgelegten Zeitpunkten wiederholt. Man erhält so eine Genesungskurve, wie ich es nenne. Sie zeigt klar und deutlich, welche Dinge sich sozusagen von alleine gut entwickeln und welche Dinge sich nie verändern werden. Klar wird auch, inwieweit man helfen kann. Schwierigkeiten, die zum Beispiel damit zusammenhängen, dass Mutter und Kind nicht besonders gut zueinander passen und keine sichere Bindung aufbauen können, sprechen auf eine Intervention sehr gut an. Aber zuerst müssen wir die Familien in das System hineinbringen in ein Präventionssystem. Das Grundbedürfnis nach angemessenen Erfahrungen betrifft auch ein präventiv arbeitendes Gesundheits- und Versorgungssystem, das imstande ist, Bindungsstörungen zu identifizieren und zu erkennen, ob das Kind seinem Entwicklungsniveau und Temperament entsprechend wahrgenommen wird oder nicht. Präventionsdienste SIG: Wir können eine Strategie entwerfen, ein kommunales Projekt der aufsuchenden Familienarbeit mit regelmäßigen Gesprächen. Was müssen wir beispielsweise für ein Kind tun, das keine emotionale Beziehung zu seinen Eltern entwickelt? TBB: Wer sind die Menschen, die ihr Verhalten verändern müssen? Sollten entsprechende Maßnahmen in das Tagesstättenoder Schulsystem integriert werden? Welcher Verwaltungsapparat wäre zuständig oder müssen wir uns einen ganz neuen Ansatz ausdenken? SIG: Für Schulkinder gibt es zum Beispiel den schulpsychologischen Dienst. Sollten wir an die Schulen oder eher an das Sozial- oder Gesundheitsministerium appellieren, sich stärker zu engagieren? Durch welche Maßnahmen können negative Entwicklungen verhindert werden? Nehmen wir einmal an, wir haben bei einem achtzehn Monate alten Kind ein -173-
schlechtes Sprachverständnis und einen niedrigen Muskeltonus festgestellt und wissen außerdem, dass es in chaotischen familiären Verhältnissen heranwächst. Was ist notwendig, um hier Abhilfe zu schaffen? TBB: Jeder muss lernen, die Sprache des Kindes zu sprechen und alles zu tun, um ihm eine optimale Entwicklung zu ermöglichen. Unser Touchpoints-Konzept richtet sich nicht nur an die Betreuerinnen in den Tagesstätten oder an die Mitarbeiter der Sozial- oder Gesundheitsdienste. Es bezieht auch den Schulbusfahrer und jeden in der Gemeinde ein, der zu dem Kind Kontakt hat. Ich würde sagen, dass wir die Gemeinde kinderfreundlich und kinderorientiert gestalten müssen und dass die Elternhilfe dabei eine Schlüsselrolle spielt. Dann können wir uns um die Dinge kümmern, mit denen wir bereits Erfahrung haben - Geburtsvorbereitungskurse, und nach der Geburt dann die Peergruppen für Mütter, wie sie von der Family Resource Coalition gegründet wurden.13 Ich habe unseren TouchpointsMitarbeitern empfohlen, die Untersuchungstermine so zu planen, dass Mütter mit etwa gleichaltrigen Babys kommen. Sie können im Wartezimmer zusammensitzen und sich miteinander unterhalten usw. Auf diese Weise werden sie zu einer Peergruppe, die während der gesamten Entwicklung des Kindes Bestand hat. SIG: Plädierst du dafür, dass diese Dienste ebenso wie die Geburtsvorbereitungskurse von Krankenhäusern angeboten werden, oder sollte man sie zum Beispiel in das Tagesstättenund Schulsystem integrieren? TBB: Sobald ein frühe Intervention notwendig erscheint oder Entwicklungsprobleme auftauchen, musst du ohne große Umstände andere Disziplinen mit einbeziehen können, die ebenso wie die Geburtsvorbereitungskurse vermutlich im Rahmen des Gesundheitssystems tätig werden. Auch deren Vertreter benötigen eine Weiterbildung, in der es allerdings nicht um didaktische Informationen geht. Vielmehr müssen sie -174-
lernen, Beziehungen in den Mittelpunkt zu rücken. SIG: Die ideale Elternfortbildung, die es Müttern und Vätern ermöglichen würde, die Entwicklung und die individuellen Bedürfnisse ihres Kindes selbst bewusst wahrzunehmen, würde schon vor der Schwangerschaft ansetzen und sich mit dem Geburtsvorbereitungskurs und den regelmäßigen Untersuchungen während der gesamten Kindheit und Adoleszenz fortsetzen. Die Frage lautet: Welche Art von Hilfsdiensten brauchen wir, um all das verwirklichen zu können? Nehmen wir an, du merkst, dass eine Mutter sehr niedergeschlagen ist. Sie hat Angst, dass weder ihr Kind noch sie selbst es schaffen werden. Der Vater will von Problemen nichts mehr hören, die Ehe ist akut gefährdet. Sobald wir all das herausgefunden haben, können wir es beim bloßen Zuhören und Verstehen nicht bewenden lassen. TBB: In unserem heutigen System könnte diese Mutter ein paar Sitzungen bei einer Sozialarbeiterin bekommen, wenn sie energisch darauf drängt. Mir wäre eine Gruppe von Personen, die zusammenarbeiten, lieber, etwas in der Art einer Sozialpsychiatrie für Säuglinge und Kinder. Dazu gehören eine Sozialarbeiterin, eine Neonatologin, eine Familientherapeutin und eine Psychiaterin oder Entwicklungspsychologin, die mögliche Probleme identifizieren können. All diese Personen müssen jederzeit greifbar sein und sie müssen als Team zusammenarbeiten können. SIG: Wenn eine Mutter andere psychische Probleme hätte oder klinisch depressiv wäre, benötigte sie einen Profi, der mit ihr und ihrem Mann zusammenarbeitet. Wenn es nur um die typischen Ängste geht, reicht es unter Umständen, wenn sich die Mutter einer Gruppe mit anderen Schwangeren und werdenden Vätern anschließt. Diese Gruppen müssten ein fester Bestandteil der Gesundheitsversorgung sein. Und hier kommen wir zu weiteren Fragen: Was schreiben wir gesetzlich vor? Welche Leistungen sollten von Medicaid, -175-
Krankenversicherungen oder HMOs getragen werden? Wenn die HMOs, also die Gesundheitszentren, durch Bundesgesetze zu diesen Leistungen verpflichtet würden, müssten sie die Kosten tragen. Ohne gesetzliche Verpflichtung werden sie dazu nicht bereit sein. TBB: Bevor man sich zu einem solchen Schritt entschließt, muss man die Einstellung unseres Gesundheitssystems gegenüber Präventivmaßnahmen verändern. Anderenfalls wird niemand bereit sein, die Kosten dafür zu übernehmen. Unsere medizinische Versorgung beschränkt sich zurzeit auf eine kostspielige Symptombehandlung. Da wir nicht bewiesen haben, dass man durch Prävention viel Geld sparen kann, sind keine Veränderungen in Gang gekommen. SIG: Wir müssen genau definieren, was erforderlich ist. Es ist einfach, über Prävention zu sprechen, aber es ist schwer, präventiv zu handeln. TBB: Nun, im Krankenhaus sollte jeder, der sich unmittelbar nach der Geburt um die Mutter und das Baby kümmert, mit meiner NBAS vertraut sein und sie der Mutter erklären können. Das ist eine Sache von nicht mehr als zehn bis fünfzehn Minuten. Wir haben die Untersuchung modifiziert, so dass sie weniger zeitaufwendig ist und in größerem Umfang angewandt werden kann. SIG: Würdest du empfehlen, dass die Untersuchung von einer Doula oder einer Säuglingsschwester in der Klinik durchgeführt wird? Und sollten auch die Empfehlungen, die Marshall Klaus und John Kenneil in Bezug auf den Geburtsvorgang, die Bindungsaufnahme und den Hautkontakt formuliert haben, berücksichtigt werden?14 TBB: Das würde ich offen lassen. Manche Mütter möchten ihr Baby sofort bei sich haben, andere nicht. Das Gleiche gilt für die Doula. Die Doula kann der Mutter enorm helfen, aber wir sollten flexibel sein. Das Wichtigste ist meiner Meinung nach, -176-
dass die Beteiligten selbst entscheiden und erklären können, wie sie es sich vorstellen, und wir uns nicht darauf beschränken, zu fragen: »Wollen Sie dieses oder wollen Sie jenes? Dann unterschreiben Sie bitte hier.« SIG: Dem stimme ich zu. Genauso müssen wir vorgehen. Das Konzept der individuellen Unterschiede bezieht sich nicht allein auf die Babys, sondern auch auf die Familien, die ihre eigenen Entscheidungen treffen sollen. Wenn wir das Konzept, uns an individuelle Bedürfnisse und Besonderheiten anzupassen, gleich bei der Geburt anwenden, sehen wir zum Beispiel, dass es jede Menge Erfahrungen gibt, die vielen Müttern und Babys den Start erleichtern, etwa die Möglichkeit, eine Geburtsbegleiterin bei sich zu haben, oder die Möglichkeit, sich das gerade geborene Baby für ein paar Minuten auf den Bauch zu legen. Diese Dinge müssen mit den Mütter vor der Geburt im Rahmen der pränatalen Touchpoints-Gespräche geklärt werden. Und schließlich müssen die Kliniken flexibel genug sein, um diese Erfahrungen auch anbieten zu können und sie auf die individuellen Unterschiede abzustimmen. TBB: Nicht alle Frauen können sich diese Unterstützungsangebote, beispielsweise die Geburtsbegleitung durch eine Doula, leisten, solange die Krankenversicherungen nicht gesetzlich zur Kostenübernahme verpflichtet werden. SIG: Wir müssen herausfinden, welche Möglichkeiten unserer Meinung nach besonders hilfreich sind und in den Leistungskatalog aufgenommen werden sollten. Wir könnten auch empfehlen, dass die Beurteilung der individuellen Besonderheiten bereits pränatal, nämlich mit der Kontrolle der fetalen Aktivität, beginnt. Die Mütter müssen wissen, dass die intrauterinen Zyklen und die Verhaltenszustände des Babys sehr aufschlussreich sind. Wenn sich ein Baby pränatal sehr inaktiv verhält, könnte dies zum Beispiel auf diese oder jene Probleme verweisen. Möglicherweise können wir Maßnahmen ergreifen, um dem Baby dabei zu helfen, ein wenig aktiver zu werden. -177-
Bislang wurde das intrauterine Feedback nicht wissenschaftlich untersucht. Für Säuglingsforscher wäre dies eine wunderbares Projekt - man könnte Babys identifizieren, die pränatal inaktiv sind, und eine Reihe von körperlichen Übungen mit der Mutter durchführen, um zu sehen, ob sich etwas verändert. Wenn dann bei der Geburt die Neugeborenenuntersuchung vorgenommen wird und sich ein Unterschied zwischen den Babys mit pränataler Intervention und den Säuglingen ohne solche Übungen feststellen ließe, hätten wir ein neues, weites Feld erschlossen. TBB: Es ist noch viel mehr erforderlich. Den Müttern muss eine Stillberaterin zur Verfügung stehen. Wir haben die Hausbesuche am sechsten oder siebten Lebenstag erwähnt. Die Säuglingsschwester kann das Kind mit der NBAS untersuchen und der Mutter zeigen, wie sie sich auf die Entwicklungsebene und das Temperament des Kindes einstellen kann. Drei Wochen später sollte ein weiterer Besuch erfolgen. SIG: Ich glaube, dass wir an diesem Punkt intensiver über die Dienste nachdenken müssen, die für all diese Maßnahmen und Interventionen notwendig sind. Wenn wir die extremen Fälle oder die Kinder identifizieren, die aus der Norm fallen, benötigen wir das Team, von dem wir bereits gesprochen haben, die Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen. Die Intervention, die heute üblich ist, reicht nicht aus. Nehmen wir an, dass bei einem sechs Monate alten Baby ein niedriger Muskeltonus festgestellt wird. Es besteht die Gefahr, dass dadurch die Sprachentwicklung, die kognitive und die motorische Entwicklung beeinträchtigt werden und soziale und emotionale Probleme auftauchen. Wenn das Baby an einem Krankenhaus-Followup-Programm für Frühgeburten teilnimmt, erhält es unter Umständen eine Physiotherapie. Wenn das Kind zur Frühintervention für 0- bis 3-Jährige überwiesen wird, bleibt es vielerorts bei Hausbesuchen in ein- oder zweiwöchigem Abstand. Manche dieser Personen haben keine physio- oder -178-
spieltherapeutische Ausbildung, sie können der Mutter lediglich Anregungen zum Spielen mit dem Baby geben, aber sie erfährt kaum mehr, als sie auch in einem Buch nachlesen kann. Die Versorgung ist heutzutage extrem unterschiedlich, und die Chancen, dass das Baby tatsächlich in ein qualifiziertes Programm aufgenommen wird, sind minimal. Bei einem Baby mit niedrigem Muskeltonus sind mehrere Hausbesuche pro Woche notwendig. Man braucht einen Spezialisten, der interaktiv arbeitet, um herauszufinden, wie er dieses Kind erreichen kann. So etwas gibt es heutzutage nicht. Für diese Arbeit haben wir nicht genügend Fachleute. Uns ist noch nicht einmal hinreichend bewusst, dass ein körperliches Risiko immer auch Interaktionsprobleme und Verzögerungen der emotionalen und intellektuellen Entwicklung nach sich ziehen kann. Wenn ein Baby nicht interagiert, kann es Zielgerichtetheit und Intentionalität nicht lernen; auch die Erfahrung, abwechselnd mit der Mutter zu vokalisieren, bleibt ihm verwehrt. Man muss die sprachliche, soziale, emotionale und kognitive Entwicklung kontrollieren, um zu sehen, ob im Laufe der Zeit weitere Interventionen notwendig werden. Unter Umständen ist es nötig, dass sich ein Logopäde um die oralmotorische Entwicklung kümmert, wenn das Baby trotz verbesserter Interaktionen weiterhin keine Laute produziert. Wir müssen auch feststellen, ob die Ursache des Problems anderswo zu suchen ist. Vielleicht ist die Mutter drogensüchtig und nicht imstande, das Kind zur Physiotherapie zu bringen. Vielleicht hat das Kind auch deshalb einen niedrigen Muskeltonus, weil es keine emotionale Zuwendung bekommt (und nicht aus physiologischen Gründen), oder es wird misshandelt, weil der Freund der Mutter jähzornig ist. TBB: All dies kann bei den Touchpoints-Untersuchungen normalerweise festgestellt werden. Diese Verzögerungen der motorischen Entwicklung und die Hypersensibilität oder Dysfunktion in anderen Bereichen kämen ans Licht, wenn die -179-
Mutter eine gute Beziehung zu ihrem Betreuer hätte. Wir brauchen für die Frühinterventionszentren mehr und besser ausgebildetes Personal. 99-45715 war ein Bundesgesetz (1978), das Mittel für entwicklungsbeeinträchtigte und behinderte Kinder zur Verfügung stellte. Die Frühintervention wurde als Recht solcher Kinder definiert. Die Frühinterventionszentren, die es in den meisten Städten gibt und die über jede Kinderklinik erreichbar sind, sind Ansprechpartner für Eltern, die den Verdacht haben, dass ihr Kind sich nicht angemessen entwickelt. Je früher wir solche Kinder identifizieren, desto bessere Fortschritte können sie erzielen. Die United Cerebral Palsy Foundation hat diese Zentren großartig unterstützt. Sie veröffentlichte eine Studie, die zeigte, wie sensibel Eltern auf die Fortschritte ihres Babys reagieren. Wenn die Eltern ihr Baby selbst zur Intervention brachten, geschah dies schon im Alter von vier Monaten. Wenn die Überweisung durch den Kinderarzt erfolgte, kamen die Kinder frühestens mit sechzehn Monaten. Allzu häufig sagt der Arzt, der die Eltern nicht unnötig beunruhigen will: »Machen Sie sich keine Sorgen. Das wächst sich noch aus.« Durch die Frühinterventionsprogramme haben wir enorm viel über die frühe Entwicklung und über die Vorteile gelernt, die eine rechtzeitige gezielte Förderung für die Eltern und für die Kinder mit sich bringt. SIG: Heute sind die einzelnen Dienste in einem lockeren Verbund organisiert. Wenn die Misshandlung durch den Freund zufällig ans Licht kommt, werden vielleicht die Sozialdienste eingeschaltet. Man klärt, ob das Kind eine Pflegestelle benötigt oder nicht. Unter Umständen werden auch Mitarbeiter eines städtischen sozialpsychiatrischen Zentrums eingeschaltet, die keinerlei Erfahrung mit Babys haben und nicht wissen, was zu tun ist. TBB: Ein Baby, das mit drei Wochen oder sechs Monaten zur Untersuchung gebracht wird, ist seiner primären Bezugsperson -180-
völlig ausgeliefert, gleichgültig, um wen es sich handelt. Unter günstigen Umständen, zum Beispiel hier an der Kinderklinik in Boston, fände die Familie in jeder Abteilung Ansprechpartner. Trotzdem müssen wir die Teamarbeit intensivieren, die Mitarbeiter müssen einander kennen und wissen, wie man mit Familien und Kindern arbeitet. Im Rahmen der Beziehung zu den Eltern können sie über die Entwicklung des Kindes sprechen, solange es noch klein ist und relativ gute Chancen hat, sich von geburtsbedingten Beeinträchtigungen zu erholen. SIG: Die Klinik in Boston ist eine der besten im ganzen Land. Was passiert dort, wenn der Arzt bei der Untersuchung eines sechs Monate alten Säuglings feststellt, dass das Baby einen niedrigen Muskeltonus hat und (obwohl keine Zerebralparese vorliegt) nicht altersentsprechend sitzen kann? Die Mutter ist völlig niedergeschlagen, reißt sich aber bei dieser Untersuchung zusammen. Der Vater ist alkoholkrank. Was würde in der besten Klinik unseres Landes in dieser Situation geschehen? TBB: Nichts, solange keine weiteren Schwierigkeiten auftauchen. Wir führen ja nicht mit allen Eltern Präventivgespräche mit entsprechenden Untersuchungen. Aber wir versuchen, mehr Leute für unsere Ausbildung zu interessieren, damit sie schon bei Säuglingen von zwei bis viereinhalb Monaten auf solche Alarmzeichen zu achten lernen. Wir erklären ihnen, wie sie die Entwicklung des motorischen, kognitiven und affektiven Systems beurteilen können (vgl. die Richtlinien des Touchpoints-Programms im Anhang). SIG: Die Ausbildung ist tatsächlich entscheidend. Wenn man sich bei der Mutter nicht nach ihrem Ehemann erkundigt, erfährt man nicht, dass er trinkt. Wenn man die Interaktion zwischen der Bezugsperson und dem Baby nicht sorgfältig beobachtet, erkennt man nicht, dass das Kind keine Beziehung aufnimmt oder sich nicht zielgerichtet verhält. Und selbst bei einer umfassenden Untersuchung wird vermutlich nichts geschehen, -181-
weil kein Team für die nötigen Interventionen zur Verfügung steht. Die Krankenversicherung wird für Leistungen, die infolge von Entwicklungsproblemen notwendig werden, womöglich gar nicht zahlen. TBB: Mitunter werden solche Schwierigkeiten einfach auf die Gene zurückgeführt und nicht weiter berücksichtigt. Eines der Ziele unseres Touchpoints-Programms besteht darin, Angehörige der verschiedenen Disziplinen so auszubilden, dass sie solche Auffälligkeiten erkennen. Wir arbeiten heute mit Kinderkrankenschwestern in vielen Krankenpflegeschulen zusammen und bilden in zwei Medical Schools auch junge Ärzte speziell für die Untersuchung von Neugeborenen aus. Wir hoffen, dass künftig mehr auffällige Babys zur Frühintervention überwiesen werden. Wenn man die Untersuchung im Beisein der Eltern durchführt, lernen sie, das Verhalten ihres Neugeborenen aufmerksam zu beobachten, und gleichzeitig kann sich eine vertrauensvolle Beziehung zu der Kinderärztin oder der Schwester entwickeln. SIG: Aber selbst wenn diese speziell ausgebildeten Mitarbeiter Probleme diagnostizieren, müssen sie die Kinder zumeist an die jeweiligen Dienste verweisen, die sie auf eine Warteliste setzen. Sie werden zu selten untersucht, und die meisten Mitarbeiter sind nicht entsprechend ausgebildet, um effizient helfen zu können. Deshalb müssen wir sowohl den Spezialisten, welche die Kinder untersuchen, als auch den Mitarbeitern des Interventionsteams Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten. TBB: Unsere Aufgabe besteht also nicht nur darin, das Untersuchungsangebot zu erweitern; wir müssen darüber hinaus entsprechende soziale und medizinische Dienste organisieren, die einspringen können, sobald es notwendig ist, und die den Menschen ein wenig Hoffnung vermitteln. Den Kinderärzten ist die Existenz solcher Zentren für Frühintervention, in denen Angehörige der verschiedensten Disziplinen arbeiten, unter -182-
Umständen gar nicht bewusst. SIG: Der Kliniker hat das Gefühl, mehr ausrichten zu können, wenn er von Anfang an weiß, dass er ein kompetentes Interventionsteam im Rücken hat. Dann wird er wahrscheinlich auch auf Kleinigkeiten sorgfältig achten. Wie hoch ist der Prozentsatz der Kinderneurologen, Verhaltenstherapeuten oder Kinderärzte, die glauben, dass wir an diesen Problemen Wesentliches ändern können? Wie hoch ist der Prozentsatz derjenigen, die sagen würden, dass trotz gründlicher Diagnose und trotz eines hervorragenden Interventionsteams nicht viel zu machen sei? Viele werden sich auf den Standpunkt stellen, dass man erst einmal abwarten sollte. Sie gehen davon aus, dass man ohnehin keinen Einfluss darauf hat, ob ein Kind mit gewissen Auffälligkeiten eine Entwicklungsstörung wie zum Beispiel Autismus entwickeln wird oder ob sich die Dinge quasi von selbst regeln - seine Gene bestimmen den weiteren Verlauf. TBB: Weiterhin ist davon auszugehen, dass sehr, sehr viele Kinderärzte subtile Entwicklungsverzögerungen nicht einmal bemerken würden. Von den Ärzten, die sie registrieren, sagt 1%, dass wir gute Interventionsmöglichkeiten haben, 99% sagen, dass man abwarten und schauen sollte, ob es sich nicht von allein normalisiert. Erst wenn sich die Probleme tatsächlich verschlimmern, wissen sie, was zu tun ist. SIG: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Es gibt hier einen regelrechten Ausbildungsbedarf. Wir wissen, dass wir schon in einer frühen Phase für diese Kinder vieles tun können. TBB: Das ganze System ist nach wie vor an dem Krankheitsmodell orientiert, das uns die Medical Schools vermitteln. Ich würde dieses Modell am liebsten auf den Kopf stellen und sagen: »Sucht nicht nach den Defiziten, sondern nach den Stärken.« Stellen wir uns vor, du untersuchst ein Baby -183-
mit einem niedrigen Muskeltonus. Die entscheidende Frage lautet: »Wo liegen die Stärken der Mutter, auf denen man aufbauen kann?« Hat sie tatsächlich überhaupt keine Stärken? Ist sie so depressiv, dass sie dem Kind nicht helfen kann? Dann siehst du dir das Baby an und erkennst an seinem Ausdruck und seinen Reaktionen, dass es durchaus eine gewisse Motivation besitzt, auch wenn seine Muskeln dies nicht verraten. Dir ist klar: »Ich kann etwas verändern, weil das Baby motiviert ist. Diese Motivation muss in Aktion übersetzt werden. Wem kann ich diese Aufgabe anvertrauen?« Das ist ein völlig anderer Ansatz. Man verteilt keine Diagnosen, sondern fordert die Stärken heraus. Wenn es uns gelänge, das Modell der Medical School in einer systemtheoretischen Richtung zu verändern, hätten wir meiner Meinung nach einen größeren Handlungsspielraum. Solange dies nicht geschieht, läuft alles wie gewohnt weiter. Wir warten so lange ab, bis das Baby ganz offenkundige Schwierigkeiten entwickelt. Erst dann können wir aktiv werden. SIG: Man muss ein ganzes System an der Hand haben, das darauf spezialisiert ist, die Entwicklungsebene des Kindes und seine individuellen Besonderheiten zu verstehen. Wenn dann, falls immer nötig, Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, kann man von Anfang an gezielt auf die Problembewältigung hinarbeiten. Bevor tatsächlich eine gravierende Entwicklungsstörung diagnostiziert wird, kann man bereits mit diesem Baby, das einen zu schwachen Muskeltonus hat, arbeiten und gleichzeitig der Mutter helfen, mit ihrem Säugling zu interagieren und seine Signale zu lesen. TBB: Die Gemeinden und Organisationen, die versucht haben, unsere Touchpoints-Ideen zur Frühintervention in die Praxis umzusetzen, haben gemerkt, dass die Chance, etwas zu verbessern, in den ersten drei Jahren gewaltig ansteigt. Wenn eine Mutter besorgt ist, weil sich ihr Kind nicht gut entwickelt, wird sie sich zwangsläufig defensiv verhalten. Sie hört auf den -184-
Fachmann, der ihr sagt: »Das wächst sich aus«, weil sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat. Wenn ein Mitarbeiter unseres Projekts aber die Stärken des Babys identifiziert, statt die Mutter vorwurfsvoll mit seinen Defiziten zu konfrontieren, kann sie das, was er sagt, besser aufnehmen. Unser Touchpoints-Programm fördert die Kompetenz der Mutter, erkennt an, dass sie die Expertin für ihr Kind ist, dass alle Eltern Stärken haben, dass alle Eltern für ihr Kind das Beste wollen und dass alle Eltern jede Entwicklungsphase positiv beeinflussen können. Wir betonen auch, dass ambivalente Gefühle normal sind. Dieser Ansatz stärkt die Beziehung zwischen den Mitarbeitern und der besorgten Mutter und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern weiterhin mit uns kooperieren. SIG: Das ist eine ganz andere Art zu denken. Wir müssen dafür sorgen, dass Krankenversicherungen und HMOs, also Gesundheitszentren, diese Leistungen übernehmen, und wir müssen erreichen, dass der Staat die Kosten für Familien trägt, die nicht krankenversichert sind oder keiner HMO angehören. TBB: Es gibt noch ein weiteres Modell innerhalb des HealthySteps-Programms, für das sich Margaret Mahoney beim Commonwealth Fund eingesetzt hat.16 In den Gesundheitszentren arbeiten auch Entwicklungspsychologen, die diagnostizieren können, wo sich ein Baby in seiner Entwicklung befindet; sie testen die Kinder im Wartezimmer. Die Eltern merken, dass sie sich auf deren Beobachtungen und Ratschläge verlassen können. Die Kinderärzte dieser Zentren wissen, dass ihnen jemand den Rücken stärkt, und sind deshalb eher bereit, mit den Eltern über Entwicklungsprobleme zu sprechen. Das ist ein sehr gutes Modell. SIG: Wie du sagst, müssen wir die HMOs davon überzeugen, dass die Einrichtung solcher Dienste langfristig Kosten spart. Aber wenn wir dies vom Standpunkt der HMOs aus betrachten, wird auch klar, dass sie kaum bereit sein werden, die Kosten zu -185-
übernehmen, wenn das Kind in erster Linie psychisch, sozial und emotional beeinträchtigt ist. Unter Umständen muss das Schulsystem aktiv werden, die Justizbehörden oder die sozialpsychiatrischen Dienste. Vielleicht erklärt sich die Regierung bereit, ein Bonussystem einzurichten, von dem jene HMOs profitieren, die gesundheitsorientiert arbeiten. Wenn HMOs diese psychischen oder sozialen Faktoren ignorieren, könnte der Staat Bußgelder verhängen. Die Einnahmen kämen dann zum Beispiel Ausbildungs- oder Förderungsprojekten zugute. Die Frage ist, wie man Anreize schaffen kann. Im Idealfall würden die unterschiedlichen Systeme Gesundheitsdienste, Bildungseinrichtungen, Sozialdienste kooperieren und die Verantwortung gemeinsam tragen. Ich überlege, wie man die Einstellung der Menschen möglichst rasch verändern kann. Wenn du in einem ManagedCare-System arbeitest und dir ganz konkret Gedanken darüber machen musst, wie dieses oder jenes Kind mit sieben oder acht Jahren in der Schule zurechtkommen soll, weil ein Bußgeld fällig wird, wenn das Kind nicht lernfähig ist, wäre dies für manche sicherlich eine Motivation. Wenn sich die ManagedCare-Leute klar machen, dass sie später die Kosten für einen Nachhilfelehrer zu übernehmen haben, könnte dies ein Anreiz sein, unverzögert geeignete Maßnahmen für das Kind in Gang zu setzen. TBB: Ich glaube nicht, dass die Managed-Care-Leute langfristig denken. Bislang blicken sie meiner Meinung nach lediglich ein oder zwei Jahre voraus. Individuelle Unterschiede im Schulsystem SIG: Wenden wir uns nun den etwas älteren Kindern zu. Welche Pflichten sollte das Bildungssystem in Ergänzung zum medizinischen Aufgabenbereich übernehmen? TBB: Ich denke, dass in unserem Schulsystem die qualifiziertesten, kompetentesten Fachleute arbeiten sollten (dies -186-
haben wir im Head-Start-Programm gelernt). Im ersten Schuljahr sollten jede Menge Fachkräfte zur Verfügung stehen, die diese Kinder beobachten, um zu sehen, wer gut zurechtkommt und wer nicht. Und dann benötigen wir Überweisungssysteme, um Korrekturmaßnahmen einleiten zu können. SIG: Wie sollte ein solches Team aussehen, oder wie stellen wir uns die Person vor, die diese Philosophie in den Schulen vertritt? TBB: Es muss jemand sein, der sich das Kind insgesamt ansieht, also ein Kinder- und Entwicklungspsychologe. Er kann den Entwicklungsstand des Kindes, sein Temperament und seine individuellen Besonderheiten beurteilen und er könnte sich auch einen Eindruck vom familiären Hintergrund aller Kinder verschaffen. SIG: Sollte dieser Psychologe im Auftrag des Gesundheitsoder aber des Schulsystems arbeiten? TBB: Sowohl als auch, denn die Mutter-Kind-Beratung findet auf jeden Fall im Rahmen der Gesundheitsversorgung statt. Kinder, die im Head-Start-Programm mitmachen, kann man schon entsprechend früh fördern. Das haben wir bewiesen, auch wenn wir längst nicht so viel tun konnten, wie wir gerne wollten. Die Head-Start-Förderung kommt der weiteren Entwicklung des Kindes zugute. SIG: Das Touchpoints-Modell könnte auf die gesamte Adoleszenz erweitert werden, indem die Schulpsychologen mit den Touchpoints-Ärzten zusammenarbeiten. TBB: Bislang haben wir uns im Schulsystem noch nicht etablieren können, aber in den Tagesstätten ist es uns erfolgreich gelungen. Es hat phantastisch funktioniert. Die Betreuerin spricht eine Mutter an: »Wacht Ihre Einjährige nachts auf?«, und die Mutter antwortet: »Ja, woher wissen Sie das?« »Weil es ihr so schwer fällt, tagsüber wach zu bleiben. Sie ist -187-
offensichtlich nachts wach, und sie ist wahrscheinlich auch kein guter Esser.« Die Mutter denkt: »Alle Achtung, die kennt mein Baby gut!« Sie fühlt sich am Geschehen in der Tagesstätte weit intensiver beteiligt als vorher. SIG: Die öffentlichen Schulen müssen hier zu einer konzeptuellen Veränderung bereit sein. Das öffentliche Schulsystem - und zu einem gewissen Grad auch das Tagesstättensystem betrachtet sich als reine Bildungseinrichtung. Sie müssen ihren Aufgabenbereich erweitern. Das Gleiche gilt für die Gesundheitsversorgung, die auch die Beziehungen und Interaktionen und die emotionalsoziale Entwicklung als Teil ihres Zuständigkeitsbereichs betrachten muss. Damit verbunden ist das Problem, dass Intelligenz innerhalb des Bildungssystems zu eng definiert ist. Sobald man die Definition erweitert, wird die Wichtigkeit früher Beziehungen klar. Interaktive Beziehungen bilden die Grundlage des Denkens. Die Zahl der Kinder mit besonders schwierigen individuellen Besonderheiten ist keineswegs gering. Man schätzt zwar, dass lediglich 15 bis 20% der Kinder klinisch identifizierbare Probleme aufweisen, aber trotzdem ist wahrscheinlich weniger als die Hälfte der Kinder bei ihrer Einschulung fähig, vertrauensvolle, intime Beziehung zu knüpfen, zu teilen, empathisch auf andere einzugehen oder im Phantasiespiel und in nachdenklichen Diskussionen mit Ideen zu operieren (statt Bedürfnisse zu agieren).∗ Das Bildungssystem muss seinen Zuständigkeitsbereich ausdehnen, damit es all diesen individuellen Besonderheiten, von denen hier die Rede ist, Rechnung tragen kann. Die Schulen ∗
in Deutschland schätzt man ein Viertel aller Kindergartenkinder von drei bis sechs Jahren als verhaltensauffällig ein, wobei Aggressivität, Konzentrationsschwierigkeiten und Ängstlichkeit in Vordergrund stehen. Der Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie schätzt die Anzahl der »Problemkinder« auf rund l Million. (Spiegel, 14. 8. 2000) -188-
können sie nicht einfach ignorieren. Sie können nicht sagen: »Dies überfordert unsere Möglichkeiten. Unsere Aufgabe besteht darin, den Kindern das Rechnen und Lesen beizubringen.« Damit das Kind räumliche Beziehungen, die in der Mathematik eine wichtige Rolle spielen, verstehen kann, muss es logisch und konzentriert denken können. Dies ist nur möglich, wenn es fähig ist, mit anderen zu interagieren und zu kommunizieren. TBB: Als ich Gelegenheit hatte, mit Vertretern der National Education Association (NEA) zu sprechen, sagten sie, dass sie mit Problemen wie beispielsweise Lernbehinderungen überlastet seien, die eigentlich in den Bereich der Sozialarbeit fallen. Sie stecken bis zum Hals in Arbeit und verwenden all ihre Energien darauf. Wenn sie durch Spezialisten entlastet würden, die ihnen die Arbeit mit unterstützungsbedürftigen Kindern und Familien abnähmen, könnten sie all die notwendigen diagnostischen Aufgaben bewältigen. Das nötige Knowhow haben sie. SIG: Was hindert sie daran, solche Spezialisten gleich jetzt anzustellen? Das Präventionsmodell, von dem du sprichst, würde die Zahl der Kinder, die spezielle Förderungsklassen besuchen müssen, reduzieren. Indem man sich früh um die Kinder mit motorischen Schwierigkeiten, mit Konzentrationsund Sprachproblemen, mit sozialen und emotionalen und familiären Belastungen kümmert, kann man die Zahl derer, die später sehr kostenintensive Spezialschulen besuchen müssen, reduzieren. Wenn man diesem Präventionsmodell folgte, könnte man das Förderschulsystem in diesem Land so umgestalten, dass es weniger kostenintensiv, aber weit effizienter arbeiten kann. Zurzeit macht das Modell der Förderschulen all die Fehler, die du kritisiert hast - es ist ein Pathologiemodell, das die Defizite des Kindes diagnostiziert und kategorisiert, statt an den Stärken anzusetzen und Grundlagen zu schaffen, auf denen die Kinder sich weiterentwickeln könnten. Sie werden in noch tiefere -189-
Löcher hinein-»gefördert«. TBB: Wenn es dann endlich so weit ist, dass ihnen geholfen wird, sind sie bereits derart angeschlagen, dass sie keine Energie und keinen Mut mehr haben. Klassengröße und individuelle Besonderheiten SIG: Eine der Fragen, die in der Schule auftauchen, lautet, wie groß die Klassen sein sollten, wenn wir wirklich von den individuellen Unterschieden überzeugt sind und den Ansatz auf das Nervensystem des Kindes zuschneiden wollen. TBB: Ich habe keine Erfahrung mit dem Unterrichten, aber in den ersten Schuljahren sollten meiner Meinung nach die gleichen Empfehlungen gelten, die wir für die Tagesstätten und Kindergärten formuliert haben. SIG: In Privatschulen sitzen in vielen Klassen nur zwölf bis fünfzehn Schüler. Im Vergleich zu den öffentlichen Schulen ist das ein gewaltiger Unterschied. Oft bleibt es von der ersten bis zur zwölften Klasse bei dieser Größe. Nur an sehr beliebten Kursen nehmen gelegentlich bis zu zwanzig Schüler teil. Ich gehe davon aus, dass es zwei Gruppen von Kindern gibt. Zum einen die Kinder, die selbstständig lernen können. Sie können im Grunde ohne die Schule lernen. Gib ihnen Bücher und Arbeitsblätter und sie bringen sich die Dinge selbst bei. Die Kinder, die wirklich einen Lehrer brauchen, der ihnen beim Lernen hilft, gehen in Klassen von mehr als fünfzehn oder sechzehn Kindern unter, sofern man nicht Abstriche am Lernpensum macht. Man spricht immer wieder über den vermehrten Einsatz von technischen Medien im Unterricht, von Computern, Filmen und Videos, über Sommerschulen, Ganztagsschulen oder längere Unterrichtszeiten. Den wirklich kritischen Punkt aber, nämlich die Tatsache, dass eine Klasse mit fünfundzwanzig bis dreißig Kindern schlicht zu groß ist, lässt man außer Acht. Individuelle Unterschiede kann man bei der Arbeit in derart großen Klassen -190-
nicht mehr berücksichtigen. In Krabbelstuben für die Zweijährigen sollten auf eine Betreuerin meiner Meinung nach maximal vier Kinder kommen. Bei den Dreijährigen können es bis zu fünf Kinder pro Erwachsene und bei den Vierjährigen bis zu sechs Kinder sein. Wir könnten Gruppen von zwölf Kindern mit zwei Erwachsenen einrichten. Im sechsten Lebensjahr, im Kindergarten, könnten wir von sieben Kindern pro Betreuer oder von bis zu vierzehn Kindern bei zwei Betreuern ausgehen. In der ersten Klasse würde ich die Zahl der Kinder auf maximal fünfzehn beschränken. In den nächsten vier bis fünf Jahren sollte es mit geringen Abweichungen bei maximal fünfzehn Kindern bleiben. Manchmal vielleicht achtzehn, manchmal nur dreizehn. Ich halte es für günstig, wenn in den Grundschulklassen zwei Erwachsene arbeiten, von denen einer als eine Art Hilfslehrer fungiert. Er muss nicht unbedingt ein Pädagogikstudium absolviert haben. Von der sechsten bis zur zwölften Klasse kann ein Lehrer fünfzehn Kinder unterrichten. Dieser Übergang sollte allmählich, im Laufe des fünften und sechsten Schuljahres, erfolgen. Die meisten Kinder benötigen eine intensivere Einzelbetreuung, um wirklich etwas lernen zu können. Wenn wir ihnen helfen wollen, ihr intellektuelles Potenzial zu entfalten, und wenn wir es mit der Schulbildung ernst meinen, dann müssen wir etwas verändern. Man darf den menschlichen Faktor nicht ignorieren. Wir lernen durch Beziehungen und Interaktionen. Der Versuch, die Stunden, in denen Kinder Probleme interaktiv zu lösen lernen, zu reduzieren und vermehrt technische Medien einzusetzen oder die Zahl der Stunden zu erhöhen, in denen ihnen der Stoff eingepaukt wird, ist zum Scheitern verurteilt. Wenn man versucht, den menschlichen Faktor durch Technologie zu ersetzen, werden wir die Gesellschaft enthumanisieren. Eine angemessene Bildung wird dadurch nicht vermittelt. TBB: Manche dieser Zahlen sind -191-
vielleicht unrealistisch. Bei den Zweijährigen könnten wir meiner Meinung nach von bis zu sechs oder acht Kindern pro Betreuer ausgehen, bei den Dreijährigen von acht bis zehn. Vierjährige können in Gruppen von zehn Kindern pro Betreuerin zusammengefasst werden und im Kindergarten können es zwölf bis vierzehn Kinder sein. In der Grundschule sollten dann maximal zwölf bis sechzehn Schüler in einer Klasse sitzen und bis zur letzten Klasse nicht mehr als sechzehn. Aber diese Ansprüche zu realisieren ist sehr kostenintensiv. SIG: Im Grunde sind wir auf einer Wellenlänge. Die Idee ist kleinere Klassen während der gesamten Schulzeit. Du versuchst, in Bezug auf die finanziellen Möglichkeiten realistischer zu denken, und ich versuche, sehr idealistisch zu denken. Ich versuche mir beispielsweise eine optimale Situation in den Vorschuljahren vorzustellen - wobei optimal bedeutet, dass die Kinder nicht emotional ausgehungert sind und dass sie genügend Kontakt mit Erwachsenen haben. Wenn sich eine einzige Erwachsene um vier oder fünf Kinder kümmert, ihnen beim Spielen auf dem Boden hilft und da ist, wenn sie gebraucht wird, dann fühlen sich die Kinder genauso sicher, wie wenn sie zu Hause spielen. Ich überlege, wie die ideale Erfahrung für die Kinder aussehen könnte. Ein paar Kinder aus der Nachbarschaft sind zum Spielen gekommen, und die Mutter sieht hin und wieder nach dem Rechten. Alle vier Kinder wissen, dass sie jederzeit ansprechbar ist. Wenn zehn Kinder versammelt sind, ist die Mutter nicht ohne weiteres für alle verfügbar. Die Kinder müssen auch alleine zurechtkommen; bis zu einem gewissen Grad ist das in Ordnung, aber dennoch fehlt etwas. TBB: Denkst du vor allem an förderungsbedürftige Kinder? SIG: Vielleicht sehe ich in meiner Praxis mehr Kinder, die unter einer Behinderung leiden, aber ich sehe auch viele Kinder mit leichten Beeinträchtigungen und normal entwickelte Kinder. Unsere unterschiedlichen Blickwinkel hängen in erster Linie damit zusammen, dass du das finanziell Machbare stärker -192-
berücksichtigst. Wenn du aber ein Wort bei der Einrichtung von Krabbelstuben oder Tagesstätten mitzureden hättest und Geld keine Rolle spielte und man dich fragen würde, wie viele Kinder pro Betreuer optimal seien, würdest du, so denke ich, doch eher für ein bis vier Zweijährige pro Betreuer plädieren als für acht. TBB: Ja, ich würde sagen, ein bis vier Kinder. SIG: Um Kleinkindern Erfahrungen anbieten zu können, die auf ihr Nervensystem und ihre individuellen Besonderheiten zugeschnitten sind, muss sich ein Erwachsener für jedes Kind Zeit nehmen können. Das ist der entscheidende Punkt. Nach körperlicher Sicherheit und körperlichem Schutz sowie liebevollen und gefühlvollen Beziehungen, den beiden ersten Grundbedürfnissen, brauchen Kinder diese Aufmerksamkeit, die ihren individuellen Unterschieden Rechnung trägt. TBB: Eine der tragischsten Entwicklungen in unserem Bildungssystem ist die Tatsache, dass die Eltern an den Rand gedrängt wurden. Sie haben in unserem Schulsystem das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Für den Lernerfolg eines Kindes aber sind die Leidenschaft, mit der die Eltern selbst lernen, und ihr Verständnis für die Bedürfnisse ihres Kindes von entscheidender Bedeutung. Asiatische Familien sind hierfür ein gutes Beispiel. Es ist ganz natürlich, dass Lehrer und Eltern um das ihnen anvertraute Kind konkurrieren. Ich bezeichne dies als Schrankenwärterfunktion. Sie kommt immer dann zum Tragen, wenn sich zwei Erwachsene intensiv um ein und dasselbe Kind kümmern, etwa Vater und Mutter oder die Eltern und andere Betreuungspersonen. Das bleibt auch in der Schule nicht aus. Heute aber wollen sich die Eltern vor allem gebraucht fühlen und in die Ausbildung ihrer Kinder einbezogen werden. Sie sind durch zwei Vollzeitjobs häufig derart beansprucht, dass wir sie stärker in die Entwicklungsprozesse, zum Beispiel die schulische -193-
Laufbahn, einbeziehen müssen. Vielleicht sind die Elterntage und Elternsprecher keine angemessene Lösung mehr, so dass wir auf neue, innovative Mitsprachemöglichkeiten für die Eltern drängen sollten. Privatunterricht und individuelle Besonderheiten TBB: Was die Aufmerksamkeit für den individuellen Schüler betrifft, so ist viel von privatem Unterricht die Rede. Ich werde mit Briefen von Menschen überschüttet, die auf die Vorteile des Privatunterrichts gegenüber dem Unterricht in unseren öffentlichen Schulen schwören. Wenn man mich fragt, ob ich den privaten Unterricht für angemessen halte, verweise ich auf mehrere Nachteile, zum Beispiel die geringere Sozialisationschance. Kinder lernen so vieles voneinander, dass ich besorgt wäre, wenn man sie in solchem Maße isolierte. In den Briefen, die ich bekomme, ist die Rede davon, dass Kinder ein positiveres Selbstbild aufbauen können, wenn sie den negativen schulischen Verhältnissen nicht länger ausgesetzt sind. Viele solcher Eltern, deren Kinder privat unterrichtet werden, geben sich sehr große Mühe, um Peergruppen aufrechtzuerhalten oder um den Kindern Gelegenheit zu geben, mit anderen Sport zu treiben. Solche Eltern vertreten ihre Philosophie konsequent und sind ungemein engagiert. SIG: Wir hatten einige förderungsbedürftige Kinder, deren Eltern sich mit meiner Unterstützung für den Privatunterricht entschieden haben. Zum Teil haben sie sich bemerkenswert gut entwickelt, nachdem ihre Eltern die Sache nach gründlicher Überlegung selbst in die Hand nahmen. Manche Eltern stellten eine Lehrerin an, die das Kind vormittags unterrichtete (andere Eltern unterrichteten selbst). Nachmittags besuchten die Kinder Spielgruppen oder gingen anderen Aktivitäten nach, sie tanzten, musizierten oder trieben Sport. TBB: Es lässt sich machen. Dennoch hat ein solcher Schritt meiner Meinung nach manchmal auch etwas Resignatives. Ich denke, wir müssen uns für die Schulen einsetzen, denn nur sehr -194-
wenige Eltern haben die Mittel, um all dies in Eigenregie zu organisieren. Es ist gut möglich, dass manche Eltern einen Privatlehrer anstellen, weil sie enttäuscht sind und sich in unserem gegenwärtigen System ausgeschlossen fühlen. SIG: Die Eltern, die ich kannte, mussten ihre Kinder privat unterrichten lassen, weil es in der Schule nicht klappte und sie keine andere Wahl hatten. Einmal ging es um einen kleinen Jungen mit einer schweren Zerebralparese und sprachlichen, kognitiven und sozialen Behinderungen. Als ich dieses Kind kennen lernte, war der Kleine knapp vier Jahre alt, konnte aber nicht sprechen. Er war nicht in der Lage, Bewegungsabläufe zu planen, und seine kognitive Entwicklung war praktisch in jeder Hinsicht defizitär. Er machte nur winzige Fortschritte. Er hatte etwas intensivere Beziehungen entwickelt und verhielt sich ein wenig zielgerichteter, aber wenn er zu mir kam, streckte er bestenfalls die Hand nach irgendeinem Gegenstand aus oder nahm durch eine motorische Geste Kontakt auf. Er bekam Physio- und Sprachtherapie und seine Eltern versuchten, »Bodenzeit«, wie ich es nenne, mit ihm zu verbringen. Aber der Kindergarten, den er besuchte, tat ihm überhaupt nicht gut. Er hockte stundenlang in sich gekehrt auf seinem Stühlchen. Die Eltern machten sich zu Recht Sorgen. Es war ihnen nicht gelungen, die Erzieherinnen zu bewegen, ein Programm mit dem Jungen durchzuführen, das seinen individuellen Besonderheiten gerecht wurde. Deshalb erklärten sie mir: »Da es im Kindergarten ganz eindeutig nicht funktioniert, könnten wir es doch vielleicht zu Hause mit einem Programm versuchen, das auf ihn zugeschnitten ist?« Mir erschien ein solcher Versuch lohnenswert. Die Eltern organisierten nicht nur ein privates Programm, sondern verklagten überdies das Schulsystem und bekamen die Kosten für die Lehrkräfte, die sie zu Hause brauchten, erstattet. In den vier oder fünf Stunden, die das Kind normalerweise im Kindergarten verbracht hätte, wurde es nun privat unterrichtet. Dieser Einzelunterricht erfolgte auf drei -195-
Ebenen. Erstens ließ sich die Lehrkraft von dem Kind leiten und animierte es zur wechselseitigen Kommunikation. Auf der zweiten Ebene wurden Problemlösungen eingeübt; diese Lernsituationen sollten den Jungen zum Lernen und zur Bewältigung von Schwierigkeiten motivieren. Die dritte Ebene betraf motorische, sensorische und visuellräumliche Aktivitäten. Das Kind ist mittlerweile sehr bezogen und zielgerichtet, es benutzt Wörter und konstruiert kurze Sätze, und man kann einen Dialog mit ihm führen. Solche Kinder entwickeln sich eindeutig besser, als man es unter den üblichen Umständen erwartet. Aber man muss ein Programm ausarbeiten. Wenn diese Kinder in großen Gruppen oder Projekten sich selbst überlassen bleiben und individuelle Besonderheiten ignoriert werden, tut sich entweder gar nichts oder ihre Probleme verschlimmern sich. Empfehlungen • Bei der Geburt: Im Krankenhaus sollte das Neugeborene in Gegenwart der Eltern mit der Neonatal Behavioral Assessment Scale untersucht werden. Individuelle Besonderheiten und das Entwicklungsniveau des Babys sollten den Eltern erklärt werden. Falls eine Frühintervention notwendig erscheint, sind entsprechende Pläne auszuarbeiten. • Hausbesuche: Wir empfehlen, dass jede Familie zu Hause von einer auf die Säuglingsentwicklung qualifizierten Fachkraft besucht wird, die auch Wochenbettdepressionen zu diagnostizieren vermag. Bei diesen Besuchen wird die MutterKind-Beziehung beobachtet und die Fähigkeit der Mutter, das Baby seinen individuellen Bedürfnissen gemäß zu versorgen, beurteilt (vgl. das Touchpoint-Programm im Anhang). • »Aktion Gesundes Baby«: Bei den ersten Untersuchungen ist auf die entstehende Bindung zu achten sowie auf die motorische Entwicklung und auf neurologische Defizite, die möglicherweise behandlungsbedürftig sind. • Präventiver Ansatz: Vorsorgeuntersuchungen, bei denen -196-
die Eltern auf die Stärken ihres Kindes aufmerksam gemacht werden, sollten dazu dienen, Schwierigkeiten oder Entwicklungsverzögerungen zu identifizieren, bevor sie massive Probleme verursachen. Empfehlungen zur Intervention sollten erfolgen, nachdem der Untersucher eine tragfähige Beziehung zur Mutter hergestellt hat. • Unterstützungsdienste: Kinderärzte und Angehörige anderer Disziplinen, die sich um Säuglinge kümmern, sollten sich auf ein Team stützen können, in dem sämtliche für die Frühentwicklung relevanten Fachrichtungen vertreten sind. Die Förderungsmaßnahmen sollten auf dem Verständnis der individuellen Besonderheiten des Kindes und seiner Familie beruhen. • Versicherung: Screening, Frühdiagnostik und Intervention sollten den HMOs und Versicherungsträgern gesetzlich vorgeschrieben werden. • Schulausbildung: Die Schule muss grundsätzlich berücksichtigen, dass Kinder individuell unterschiedlich lernen und mit anderen und mit der Welt interagieren. Auch die Art und Weise, wie sie Informationen aufnehmen, begreifen, zum Denken benutzen und auf sie reagieren, ist von Kind zu Kind verschieden. Die Gruppen- und Klassengrößen in Tagesstätten, Kindergärten, Grund- und weiterführenden Schulen sollten es Kindern ermöglichen, ihrem individuellen Niveau und ihrem charakteristischen Stil gemäß zu lernen. Die Lehrer müssen in der Lage sein, Stärken und Verzögerungen zu erkennen. Das bedeutet, dass nicht mehr als vier bis sechs Zweijährige von einem Erwachsenen betreut werden sollten, im vierten Lebensjahr nicht mehr als fünf bis sieben Kinder, im fünften nicht mehr als sechs bis acht Kinder und im sechsten Lebensjahr maximal zehn bis zwölf Kinder. In der Grundschule sollte die -197-
Klassengröße bei maximal zwölf bis fünfzehn Kindern, in den weiterführenden Schulen bei maximal zwölf bis sechzehn Kindern liegen. An die Stelle defizitorientierter Ansätze sollten erfolgsorientierte Unterrichtsmethoden treten. Tests sollten dazu dienen festzustellen, wo das Kind Lücken hat und wie die Lehrmethode am besten an seine individuellen Besonderheiten angepasst werden kann. Das Kind ist für Misserfolge bei Klassenarbeiten nicht verantwortlich zu machen. Nachmittagsunterricht, Sommerprogramme und individuelle Nachhilfe können ihm helfen, den Unterrichtsstoff langsam und systematisch aufzuarbeiten. Das Kind sollte die Testaufgaben wiederholt zu lösen versuchen, bis es eine zumindest befriedigende Note erzielt. Dies gelingt nur, wenn ihm jemand hilft, die Aufgaben zu lösen, um dann zum nächsthöheren Schwierigkeitsgrad überzugehen. Bei manchen Kindern wird es ein bisschen länger dauern, bei anderen stellen sich Fortschritte rasch ein. Getrennt werden muss zwischen Grundlagenfächern wie Lesen, Schreiben und Rechnen und solchen Fächern, die diskussionsintensiver und stärker inhaltsorientiert sind. Hier können die Kinder auch häufiger in Gruppen arbeiten. In den Grundlagenfächern muss der Unterricht individuell gestaltet werden, damit die Kinder die Schule nicht verlassen, ohne lesen zu können und die Grundlagen der Mathematik zu beherrschen. Dieser Ansatz setzt kleine Lerngruppen und intensive individuelle Betreuung im Unterricht voraus. Darüber hinaus sollten die Grundbausteine des Denkens und der Problemlösung einen expliziten Fokus des Schulunterrichts bilden. Der Lehrplan sollte daher auch die Förderung der akustischen Verarbeitung, der visuellräumlichen Verarbeitung, der motorischen Planung und Sequenzierung sowie der sensorischen Modulation umfassen. Diese Bausteine können im Kontext traditioneller Unterrichtsfächer wie Mathematik, -198-
Naturwissenschaften, Lesen, Englisch und Schreiben gefördert werden. Wichtig ist, dass IQ- oder andere strukturierte Tests nicht als Methode dienen, um die Kinder zu kategorisieren. Solche Tests haben zwar eine lange Tradition, doch messen sie unter Umständen lediglich bestimmte kognitive Kompetenzen, nicht aber all die zentralen Verarbeitungsfähigkeiten, die mit der intellektuellen Funktionsfähigkeit zusammenhängen. Das Testergebnis kann durch selektive Verarbeitungsdefizite beeinflusst werden, etwa durch gravierende Probleme in der Bewegungsplanung und -Sequenzierung. Wir haben zum Beispiel Kinder mit massiven motorischen Planungs- und Sequenzierungsschwierigkeiten beobachtet, die im Laufe einer fünfjährigen gezielten Therapie auch ihre Leistung bei IQ-Tests um dreißig bis fünfzig Prozent verbesserten. Weit hilfreicher als jeder Intelligenztest sind Lerninteraktionen, die auf das Entwicklungsprofil und auf die Stärken und Schwächen des Kindes zugeschnitten sind. Wenn Kinder in Kategorien eingeteilt und ohne Rücksicht auf individuelle Unterschiede so behandelt werden, als seien sie allesamt gleich, werden individualisierte Lerninteraktionen nur selten stattfinden. Entwicklungsfördernd ist hingegen der kontinuierliche Versuch, bessere Wege zu finden, um individuelle Schwierigkeiten zu verstehen und dem einzelnen Kind dynamische, auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Lerninteraktionen zu ermöglichen. Die schulische Ausbildung muss sich an dynamischen, interaktiven Lernmethoden orientieren, die das konzeptuelle Verständnis fördern statt das Auswendiglernen einzupauken. Eltern und Lehrer können gemeinsam daran arbeiten, Lernerfahrungen auf die individuellen Besonderheiten eines Kindes zuzuschneiden. Durch diese Kooperation werden auch die Eltern an der Gestaltung des Schulalltags stärker beteiligt. • Spezifische Ausbildung für förderungsbedürftige Kinder: Ein auf die individuellen Besonderheiten -199-
zugeschnittenes Verständnis der Funktionsentwicklung (zum Beispiel das DIR-Modell) ist grundsätzlich unverzichtbar. Mit jedem Kind muss interaktiv unter Berücksichtigung seines individuellen Nervensystems und seiner Entwicklungsfähigkeiten gearbeitet werden. Vor allem Kinder, die zu Rückzug, Ziellosigkeit und Perseveration neigen, sind auf ein hinreichendes Maß an Einszueins-Interaktionen angewiesen. Solche Unterstützungsmaßnahmen sollten keinesfalls erst dann eingeleitet werden, wenn das Kind massiv versagt. Kleinere Klassen sollten auch förderungsbedürftigen Kindern den Besuch der Regelschule ermöglichen. Allerdings sollte den Eltern auch die Entscheidung offen stehen, ihr Kind privat unterrichten zu lassen. Die meisten aktuellen Untersuchungen sprechen für einen individualisierten, an der Funktionsentwicklung orientierten Ansatz.17 Dennoch beruhen viele Programme in Schulen und anderen Einrichtungen für autistische Kinder auf einem älteren, verhaltensorientierten Modell. Dieses Modell hat Maßstäbe für die intensive Einzelbetreuung gesetzt, die damals ein wichtiger Fortschritt war. Verhaltenstherapeutische Ansätze versuchen jedoch, oberflächliche Verhaltensweisen zu modifizieren, ohne der Verbesserung zugrunde liegender individueller Verarbeitungsprobleme oder auch der Unterstützung familiärer Beziehungen genügend Gewicht beizumessen. Neue Studien und klinische Beobachtungen ermöglichen es uns, über dieses ältere Modell hinauszugehen und intensive, individualisierte Verfahren zu entwickeln, welche die grundlegenden Verarbeitungsfähigkeiten stärken. Zudem hat die Forschung den verhaltenstherapeutischen Verfahren weit größere Mängel nachgewiesen, als deren Befürworter sie in der Regel eingestehen. Die Studie von Lovaas und seinen Mitarbeitern, die häufig zur Rechtfertigung dieser Ansätze zitiert wird, arbeitete mit lediglich neunzehn Kindern.18 Das Sample bestand nicht aus einer repräsentativen -200-
Gruppe autistischer Kinder (die Auswahlkriterien schlössen das mittelschwere, mäßige bis schwere Spektrum des Kontinuums aus), und es wurden auch keine Entwicklungsaspekte untersucht, die durch den Autismus am stärksten beeinträchtigt werden (zum Beispiel die Fähigkeit, abstrakt zu denken, das heißt, Rückschlüsse zu ziehen, Vorstellungen zu benutzen, zu lesen und auf nonverbale Gesten und emotionale Signale zu reagieren [soziale Reziprozität], neue Problemlösungen zu entwickeln und die eigenen Gefühle sowie die Gefühle anderer Menschen zu verstehen). Sie verglich auch nicht den eigenen Ansatz mit anderen, gleichermaßen intensiven Verfahren und benutzte keine klinische Versuchsmethode.19 In bestimmten Situationen können verhaltenstherapeutische Techniken in ein umfassenderes Verfahren integriert werden, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie sich auf die aktuelle Forschung und auf klinische Beobachtungen stützen. Sie sollten jedoch nicht im Vordergrund stehen. In Anbetracht dieser Gesamtsituation stehen wir heute vor einer wichtigen nationalen (und internationalen) Herausforderung. Um Kinder mit Entwicklungs- und Lernstörungen einschließlich autistischer Störungen angemessen betreuen und fördern zu können, müssen wir ältere, begrenztere Programme in einen funktions- und entwicklungsorientierten, auf individuelle Besonderheiten zugeschnittenen Ansatz umwandeln, der dem spezifischen Entwicklungsprofil des Kindes angepasst ist (statt zu versuchen, das Kind in ein Standardprogramm einzupassen). Um Kindern und Familien zum frühestmöglichen Zeitpunkt helfen zu können, müssen Entwicklungs-, Lern- und emotionale Probleme im Rahmen der Gesundheitsvorsorge für Säuglinge und Kinder diagnostiziert werden können. Diesen Herausforderungen wird nur ein umfassendes nationales Ausbildungs- und Programmentwicklungsprojekt gerecht. • Sozialdienste und Rechtssystem: -201-
Rehabilitationsprogramme für verhaltensauffällige und delinquente Jugendliche sollten individuelle Besonderheiten in den Mittelpunkt stellen. Bestrafung und das Erlernen von Verantwortungtragen müssen kombiniert werden. Sie sollten die unterschiedlichen Verarbeitungsfähigkeiten des Jugendlichen und die Charakteristika seiner Umwelt berücksichtigen. Sie sollten nicht von einer globalen, ererbten Tendenz zu antisozialem, delinquentem Verhalten ausgehen, sondern das Augenmerk auf solche Tendenzen richten, die zum Beispiel ein starkes Verlangen nach sensorischen Eindrücken und eine Neigung zur Impulsivität zum Ausdruck bringen. Es sollten Versuche unternommen werden, familiäre Umfelder zu verbessern, in denen es an Struktur und Anleitung, Empathie und liebevollem, fürsorglichem Verhalten mangelt. • Psychische Gesundheit: Auch der Psychotherapie muss ein an individuellen Unterschieden orientierter Ansatz zugrunde liegen.20 Statt der Versuchung nachzugeben, individuell unterschiedliche Muster unter bekannte Syndrome zu subsumieren, sollte man weitere Forschungsergebnisse abwarten. Ein Interventionsprogramm für das Kind, das individualund familientherapeutische sowie lernpsychologische Ansätze berücksichtigen muss, sollte sich am individuellen Profil orientieren. Eine medikamentöse Behandlung ist unter Umständen ebenfalls zu erwägen. Derzeit greifen die psychosozialen Interventionen häufig zu kurz. • Information der Eltern und künftigen Eltern über individuelle Besonderheiten und frühe Entwicklung: Durch öffentliche Aufklärungskampagnen und entsprechenden Unterricht in den Schulen sollten künftige Eltern mit dem Konzept der individuellen Besonderheiten vertraut gemacht werden. Auf diese Weise lernen sie, sich auch auf Schwierigkeiten einzustellen, die zum Beispiel entstehen, wenn Kinder auf Berührung oder Geräusche über- oder unterreagieren. Eine solche Vorbereitung kann dazu beitragen, -202-
Fehlentwicklungen zu verhindern und jedem Kind dabei zu helfen, positive Wege der Anpassung, der Interaktion und des Lernens zu finden.
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4. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH ENTWICKLUNGSGERECHTEN ERFAHRUNGEN
Heranwachsende Kinder müssen eine Reihe von Entwicklungsstufen bewältigen. Auf jeder dieser Stufen erwerben sie Grundbausteine der Intelligenz, Moral, emotionalen Gesundheit und kognitiven Leistungsfähigkeit. In einer bestimmten Phase lernen sie zum Beispiel, anteilnehmende und einfühlsame Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen, während sie sich in einem anderen Stadium in der Fähigkeit üben, soziale Hinweise zu entziffern, und in einem dritten Stadium zum kreativen und logischen Denken vordringen. Auf jeder Stufe sind bestimmte Erfahrungen notwendig. Die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, setzt Betreuungspersonen voraus, die auf liebevolle, empathische Weise mit dem Kind interagieren. Die Fähigkeit, soziale Signale zu lesen, kann auftauchen, wenn sich die Betreuungspersonen am interaktiven Spiel und an Verhandlungen beteiligen. Kreatives und logisches Denken wiederum kann sich nur entfalten, wenn die Betreuungspersonen zu Partnern im Phantasiespiel und in Diskussionen und Auseinandersetzungen über Ansichten und Standpunkte werden. Während das Kind mit den Herausforderungen einer neuen Entwicklungsstufe kämpft, benötigt es weiterhin jene Interaktionsformen, die sich in den vorangegangenen Phasen herausgebildet haben. Da diese alten Interaktionsformen kontinuierlich um neue erweitert werden, verfügt das Kind, wenn es in die Schule kommt - und sofern alles gut geht -, über eine Vielfalt grundlegender Erfahrungen, die es für seine -204-
Weiterentwicklung braucht. Viele Eltern spüren intuitiv, auf welche grundlegenden Erfahrungen es dabei ankommt. Sie spüren auch, welche Erfahrungen das Kind bewältigt hat und welche stärker betont oder eingeübt werden müssen. Manche Kinder brauchen zum Beispiel mehr Übung, um sich auf warmherzige und vertrauensvolle Beziehungen einlassen zu können. Sie sind im ersten Lebensjahr vielleicht ruhiger und selbstgenügsamer und entwickeln erst im zweiten Jahr eine größere Intimität und Bezogenheit. Andere Kinder benötigen mehr Zeit, um sich dem phantasievollen Spiel überlassen zu können. Kinder meistern diese Entwicklungsaufgaben in sehr unterschiedlichem Tempo. Der Versuch, das Kind anzutreiben, kann die Entwicklung insgesamt eher hemmen. Der Preis ist hoch, denn die Grundlagen bleiben instabil, nicht anders, als wenn das Fundament eines Hauses in aller Eile gegossen wird das Gebäude wird den ersten Orkan kaum überstehen. Die meisten Frühförderungsprogramme betonen, dass die Aufgaben, die wir Kindern stellen, ihrer Entwicklung angemessen sein müssen. Das bedeutet allerdings, dass man zuerst herausfinden muss, wie man die Entwicklungsmöglichkeiten eines individuellen Kindes charakterisieren kann. Dies ist ein wichtiger Aspekt, denn wenn es uns gelingt, Erfahrungen auf die vordringlichen Entwicklungsbedürfnisse zuzuschneiden, können wir dem Kind oft dabei helfen, Schwierigkeiten zu überwinden, und auf diese Weise zu einem gesunden Wachstum und einer angemessenen Entwicklung beitragen. Weil sich motorische, kognitive, sprachliche, emotionale und soziale Fähigkeiten bisweilen unterschiedlich rasch entwickeln, müssen wir uns ansehen, welche Ebene das Kind in jedem einzelnen dieser Bereiche bewältigt hat. Wenn bestimmte Fähigkeiten verzögert sind, können wir verstehen, wie hoch der Preis für das Kind sein muss. -205-
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, die Entwicklungsstufen zu beschreiben. Einer der Autoren (S.I.G.) hat sechs primäre Stufen (beziehungsweise die Entwicklung sechs funktioneller Fähigkeiten) sowie drei weitere Stufen beschrieben, die für das Schulalter charakteristisch sind.1 In diesen Grundfähigkeiten vereint das Kind die ganze Vielfalt seine Fertigkeiten. Sie geben zu erkennen, wie seine geistigen und psychischen Kompetenzen einander im »Team« zuarbeiten. Kognitive, motorische, sprachliche, emotionale und soziale Fähigkeiten wirken zusammen und helfen dem Kind zu lernen, sich in der Welt zurechtzufinden. Wir können diese Stufen folgendermaßen beschreiben. Innere Sicherheit und die Fähigkeit, zu sehen, zu hören und sich zu konzentrieren Eine der ersten Fähigkeiten, die alle Kinder und insbesondere alle Schulkinder benötigen, ist die Fähigkeit, ruhig und reguliert zu bleiben und sich gleichzeitig auf das Geschehen in der Umgebung zu konzentrieren und an ihm teilzunehmen. Das bedeutet zum Beispiel, Menschen, Gegenstände, visuelle Eindrücke, Geräusche, Gerüche oder Bewegungen interessiert und aufmerksam zu verfolgen. Kindern fällt es nicht leicht, sich ruhig und ausgeglichen zu verhalten und gleichzeitig aufregende Eindrücke zu verarbeiten. Normalerweise beginnen Kinder, diese Fähigkeit in den ersten Lebensmonaten zu erlernen. Im Alter von drei oder vier Monaten sollten sich Säuglinge auf das, was sie berühren, sehen und hören, konzentrieren können, ohne aus der Fassung zu geraten. Manche Babys lächeln und gurren von Natur aus gern, sie registrieren, was es zu sehen und zu hören gibt, schlafen regelmäßig und sind gute Esser. Viele andere Säuglinge aber haben in diesem oder jenem Bereich Probleme. Wenn ein Kind nicht in der Lage ist, einen Zustand der ruhigen, wachen -206-
Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, müssen wir mit ihm arbeiten, gleichgültig, wie alt es ist. Man kann diesen grundlegenden inneren Entwicklungsschritt nicht überspringen. Beziehungsaufnahme: die Fähigkeit, sich anderen nahe und verbunden zu fühlen Die innere Sicherheit, die es dem Kind ermöglicht, aufmerksam zu sein, vermittelt ihm auch die Fähigkeit, warmherzige, vertrauensvolle Beziehungen zu erwachsenen Menschen und zu Gleichaltrigen zu knüpfen. Einen ersten Höhepunkt erreicht diese Entwicklung normalerweise im Alter zwischen vier und sechs Monaten.2 Der Säugling erforscht das Gesicht seiner Mutter, gurrt mit ihr und erwidert strahlend ihr Lächeln, während sie einander umwerben und sich zu lieben lernen. Wir beobachten diese Fähigkeit an dem siebenjährigen Erstklässler, der selbstständig an seinem Pult arbeitet und die Lehrerin, die zu ihm kommt, anstrahlt, um ihr dann voller Stolz sein Werk zu zeigen. Wir beobachten sie an dem Zwölfjährigen, der sich in der Pause zu seinen Freunden gesellt, mit ihnen herumalbert, einem anderen Jungen beiläufig den Arm auf die Schulter legt und ihn spielerisch in die Rippen boxt. Kinder, die nicht in der Lage sind, sich anderen Menschen gegenüber so warmherzig und vertrauensvoll zu verhalten distanzierte, zurückgezogene und misstrauische Kinder oder Kinder, die sich vor einer Demütigung fürchten -, isolieren sich und nehmen das, was andere sagen, unter Umständen gar nicht auf. Sie beschließen vielleicht, dass es das Beste sei, für sich zu bleiben oder Menschen wie Gegenstände zu behandeln. Sie verletzen andere, weil sie nicht damit rechnen, das zu bekommen, was sie sich wünschen. Bisweilen gelangen sie zu der Überzeugung, dass sie sich nur auf ihre eigenen Gedanken und Erfahrungen verlassen können. Argwöhnisch gegenüber anderen, folgen sie konsequent dem eigenen Rhythmus. Da sie -207-
sich in ihren eigenen Empfindungen, Gefühlen und Gedanken verlieren, laufen sie Gefahr, sich der äußeren Realität und der Welt der Logik und Objektivität - zu einem gewissen Grad - zu entfremden. Solche Kinder müssen eine gewaltige Hürde nehmen, um die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen, denn all das, was Kinder in den ersten Lebensjahren lernen Einsichten, Intuition und Grundsätze -, resultiert weitgehend aus den Erfahrungen, die sie mit und in Beziehungen machen. Allen abstrakten, intellektuellen Konzepten, die ältere Kinder beherrschen, liegen jene Konzepte zugrunde, die sie in ihren frühen Beziehungen erworben haben. Zielgerichtete wechselseitige Kommunikation ohne Worte Die dritte Grundfähigkeit baut auf den beiden ersten auf (man muss imstande sein, auf Menschen einzugehen und Beziehungen zu ihnen zu knüpfen, damit man mit ihnen kommunizieren kann). Kinder lernen schon früh, Signale zu verwenden und zu lesen, die nicht durch Worte vermittelt werden, sondern durch Verhalten, Mimik, Gestik usw. Die kindliche Kommunikationsfähigkeit taucht im Alter zwischen sechs und achtzehn Monaten nach und nach auf. Zuerst kommuniziert der Säugling ausschließlich nonverbal, aber es dauert nicht lange, bis er einen reichen Dialog zu führen vermag, in dem er sich durch Lächeln, Stirnrunzeln, Zeigen mit dem Finger, windende Körperbewegungen, durch Gurgeln, Quengeln oder auch Schreien verständigt. Mit achtzehn Monaten können viele Kinder nonverbale Signale sehr gut lesen (Rückversicherung). Kinder, die nonverbal kommunizieren können, begreifen die Grundlagen der menschlichen Interaktion und Verständigung weit besser als Gleichaltrige, denen dies nicht gelingt. Sie verhalten sich auch in der Schule zumeist kooperativer und aufmerksamer, da sie wortlose Hinweise und Situationen -208-
erfassen, die sich andere Kinder nicht erklären können. Schwierigkeiten mit der nonverbalen Kommunikation ziehen zumeist auch Probleme in der Schule und in der Peergruppe nach sich, da solche Kinder die nonverbalen Signale nicht intuitiv verstehen und nicht begreifen, was ihr Gegenüber wirklich meint. Folglich können sie sich auf den Unterrichtsstoff nicht wirklich konzentrieren. Die nonverbale Kommunikationsfähigkeit, die Kinder bereits sehr früh in ihrem Leben erwerben, spielt daher auch für die schulische Sozialisation und die Lernfähigkeit eine überaus wichtige Rolle. Problemlösung und Entwicklung des Selbstgefühls In dieser Phase lernen Kleinkinder, wie die Welt »funktioniert«. Sie können nun Muster erkennen und sich diese bei der Lösung von Problemen zunutze machen. Sobald sie begriffen haben, welche Verhaltensweisen die Eltern zur gewünschten Reaktion veranlassen, kommen komplexe Interaktionsserien in Gang. Da sie das, was sie haben wollen Saft, ein Spielzeug oder eine Umarmung - nun erfolgreich einfordern können, beginnen Kinder im Alter von vierzehn bis achtzehn Monaten, ein Gefühl für sich selbst als Person zu entwickeln. Auf der Grundlage dieses frühen emotionalen Erlebens, gemeinsam mit einem anderen Menschen Probleme zu lösen, können sich nicht nur kognitive Fähigkeiten entfalten, sondern auch die Neugierde, die wissenschaftlichen Forschungen zugrunde liegt. Emotionale Konzepte Im nächsten Schritt lernen Kinder, mentale Bilder oder Vorstellungen zu entwickeln - innere Konzepte von ihren Wünschen, Bedürfnissen und Gefühlen. Ein Kind, das nicht -209-
einfach zum Stift greift, sondern sagt: »Ich möchte den Stift haben«, benutzt Symbole. Wir beobachten diese Fähigkeit, wenn Kinder Forderungen anbringen: »Gib mir das«, oder wenn sie ihre Gefühle in Worte fassen: »Ich bin so glücklich« oder »Ich bin traurig«. Sie beginnen, Aktionen (Treten oder Schlagen) durch einen Gedanken oder eine Vorstellung (»Ich bin wütend!«) zu ersetzen. Sie nehmen nicht nur das Gefühl wahr, sondern auch eine innere Vorstellung dieses Gefühls, die sie verbalisieren oder in einem Alsob-Spiel zum Ausdruck bringen können. Sie benutzen eine in Worte gefasste innere Vorstellung, um über das, was sie wollen, was sie fühlen oder was sie tun möchten, zu kommunizieren. Diese Fähigkeit eröffnet dem Kind eine neue Welt voller Herausforderungen: Es kann seine Gedanken, seinen Körper und seine Gefühle als Einheit erleben und dieses Erleben ausdrücken. Diese Art der Kommunikation müssen Kinder beherrschen, wenn sie in die Schule kommen, denn nur so können sie das, was andere zu ihnen sagen, verstehen und Wörter und Symbole benutzen, um sich selbst verständlich zu machen. Viele Kinder (und Erwachsene) beherrschen diese Fähigkeit indes nur unzureichend. Sie setzen Gefühle oder Gedanken mit Aktionen gleich. Kinder, die ihre Absichten und Gefühle nicht identifizieren können und das Leben nur agierend verstehen und bewältigen, neigen verstärkt dazu, sich in schwierigen Situationen aggressiv zu verhalten. Kinder lernen die Bezeichnungen für Gefühle und Empfindungen auf natürliche Weise in ihren Familien kennen, wo sie täglich erleben, dass Wörter beispielsweise zum Interaktionsgeschehen oder zu körperlichen Vorgängen in Beziehung gesetzt werden. Kinder lernen die Bedeutung der Wörter, indem sie hören, wie andere sie benutzen, um dieses oder jenes Gefühl auszudrücken. Wenn sie dann glauben, das -210-
gleiche Gefühl zu erleben oder die gleiche Erfahrung zu machen, probieren sie die entsprechenden Wörter aus, und wenn ihre Bemühungen einfühlsam aufgenommen und belohnt werden, konsolidiert sich die Verbindung des Wortes mit dem Gefühl. Emotionales Denken Die Fähigkeit, die das Kind auf der nächsten Stufe erwirbt, geht über die bloße Benennung eines Gefühls hinaus - es lernt, mit den inneren Konzepten zu denken. Im Alter zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Jahren benutzen Kinder ihre emotionalen Konzepte, um Verbindungen zwischen unterschiedlichen Kategorien von Vorstellungen und Gefühlen herzustellen: »Ich bin heute wütend, weil du nicht kommst und mit mir spielst« oder »Ich bin froh, weil Mami so lieb zu mir war«. Wenn man genauer darüber nachdenkt, erkennt man, dass dieser Verbindung ein recht differenzierter Blickwinkel zugrunde liegt - das Kind verknüpft zwei Gefühle miteinander, die es zu unterschiedlichen Zeiten empfunden hat, und realisiert, dass das eine durch das andere Gefühl verursacht wurde. Diese Fähigkeit, auf einer emotionalen Ebene Brücken zwischen Konzepten zu bauen, liegt allem künftigen logischen Denken zugrunde. Abstrakteres logisches und kausales Denken baut auf diesem fundamentalen Begriff von Ursache und Wirkung auf. Das emotionale Denken wird tatsächlich zur Basis des künftigen Denkens. In dieser Phase beginnen Kinder auch, alle Konzepte, die zu »Ich« gehören, und alle Konzepte, die zu »Nicht-Ich« gehören, zu verknüpfen. Damit beginnen sie, zwischen Phantasie (Dinge, die in mir sind) und Realität (Dinge, die außerhalb meiner selbst sind) zu unterscheiden. Sie können diese Ich-Nicht-IchDifferenzierung auch benutzen, um ihre Impulse zu kontrollieren und um künftige Entwicklungen in Betracht zu -211-
ziehen oder zu planen: »Wenn ich böse zu jemandem bin, könnte ich ihn verletzen, und dann werde ich vielleicht bestraft.« In der Schule kommen Kinder nur dann zurecht, wenn sie begreifen, dass Aktionen Konsequenzen haben - das heißt, sie müssen sich vorstellen können, welche späteren Folgen ihre augenblicklichen Verhaltensweisen für sie haben werden -, denn die Schule ist in hohem Maße auf die Zukunft ausgerichtet. Dass es abends noch Hausaufgaben machen muss, ist für ein Kind nur verständlich, wenn es einzusehen vermag, dass es durch seine Mühe neues Wissen erwirbt. Infolgedessen bekommt es gute Noten, wird von Lehrern und Eltern gelobt und ist mit sich selbst zufrieden. Kinder müssen Frustrationen tolerieren, sich hartnäckig um die Lösung ihrer Aufgaben bemühen und Erfolge antizipieren können. Trianguläres Denken, die Phase der Phantasie und der Omnipotenz Im Kindergartenalter und in den ersten Grundschuljahren entwickeln Kinder ihre Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen, zu kommunizieren, innere Konzepte zu bilden und zu denken, weiter. In dieser Phase, das heißt etwa im Alter zwischen viereinhalb und sieben Jahren, ist nach wie vor »alles möglich«. Das magische Denken und die Grandiositätsgefühle, von denen Kinder in diesem Alter erfüllt sind, hat Selma Fraiberg erstmals beschrieben.3 Die Kinder sind neugierig auf das Leben, voller Selbstbewusstsein und Wagemut (»Ich kann das am besten!«) und empfinden ein tiefes Gefühl des Staunens über die Welt. Man bezeichnet diese Phase gewöhnlich als ödipale Stufe: Jungen, so heißt es, entwickeln romantische Phantasien über ihre Mutter, Mädchen über den Vater, während der gleichgeschlechtliche Elternteil starke Rivalitätsgefühle in ihnen auslöst. In dieser Phase entsteht eine neue Form der Beziehung, nämlich die trianguläre. Mutter und Vater können einander für -212-
das Kind nicht mehr ohne weiteres ersetzen, wie es zuvor der Fall war, als seine Grundbedürfnisse der Sicherheit und Geborgenheit galten. Ein System, zu dem drei Personen gehören, verleiht dem Kind eine größere emotionale Flexibilität. Die Beziehungen zum Vater und zur Mutter bilden keine »Allesodernichts-Situation« mehr. Ein Dreieck ist ein effizientes System, um Gefühle zu überprüfen und eine emotionale Balance herzustellen; es ermöglicht dem Kind, auch komplizierte Gefühle durchzuarbeiten, ohne von einem Extrem ins andere zu fallen. Rivalitäten und heimliche Liebesaffären können in wechselnden Konstellationen innerhalb dieses Systems ausgetragen werden. Dennoch ist das Kind, dem die ganze Welt zu gehören scheint, in diesen Jahren mitunter auch voller Angst. Sein Größengefühl und sein reiches Phantasieleben sind ein zweischneidiges Schwert. Es ängstigt sich vor seiner eigenen Macht, fürchtet sich vor Hexen unter dem Bett und vor Gespenstern und Räubern, die ins Haus eindringen, um es zu fangen. Es möchte zu Mama und Papa ins Bett schlüpfen und dort Schutz suchen. Wenn alles gut geht, erwerben Kinder in dieser Phase verschiedene Fähigkeiten: Ihr Realitätssinn gewinnt an Zuverlässigkeit, auch wenn sie nach wie vor ein lebhaftes Phantasieleben haben und vor Grandiositätsund Omnipotenzgefühlen nicht gefeit sind. Sie können kompliziertere Beziehungen begreifen und werden auf diese Weise auch emotional stabiler. Nach und nach taucht eine Fähigkeit zu eher »erwachsenen« Gefühlen auf, zum Beispiel die Fähigkeit, Schuldgefühle oder Empathie zu empfinden (wenngleich sich die Empathie rasch verflüchtigt, sobald sich Eifersucht oder Rivalität Bahn brechen). Sie erleben eine größere Bandbreite von Gefühlen und emotionalen Dramen mit Themen wie Abhängigkeit, Rivalität, Wut und Liebe usw. als Dreh- und Angelpunkt. All diese Fähigkeiten bereiten das Kind -213-
darauf vor, aus dem Kreis der Familie herauszutreten und sich die Welt anzusehen. Das Alter der Peers, die Gruppe als Verhandlungsforum Im siebten und achten Lebensjahr erweitert sich der kindliche Horizont. Die Welt besteht nun noch aus anderen Kindern. Jungen und Mädchen lassen die familienorientierte Entwicklungsphase allmählich hinter sich und begeben sich in die komplexe Welt ihrer gleichaltrigen Freundinnen und Freunde und in die Verhandlungen auf dem Spielplatz hinein. Kinder nehmen sich nun in höherem Maße über ihre Beziehungen zu Klassenkameraden und Schulfreundinnen wahr. Ihr Selbstbild wird bereits teilweise durch die Hackordnung auf dem Spielplatz definiert. In sämtlichen Aspekten, von sportlichen Fähigkeiten über Beliebtheit, Aussehen und Intelligenz bis hin zur Kleidung, setzen Gleichaltrige den Maßstab. Kindern dieses Alters tut es ausgesprochen gut, sich als Mitglieder einer Gruppe fühlen zu können. Gleichaltrige tragen beispielsweise zur Entwicklung komplexer Denkvorgänge bei, da die Kinder auf einer sehr differenzierten Ebene argumentieren müssen, wenn sie die Kompliziertheiten multipler Gruppenbeziehungen untereinander klären. Sie lernen: »Nora möchte vielleicht gerne mit Emily spielen, aber nicht, weil sie mich nicht leiden kann oder weil ich blöd bin, sondern weil Emily heute ihre beste Freundin ist und ich ihre zweitbeste und Joey ihre drittbeste. Aber das kann sich wieder ändern, vor allem wenn ich Nora ein paar Mal zu mir nach Hause einlade und sie mit den neuen Spielsachen, die ich zum Geburtstag bekommen habe, spielen lasse.« Diese Fähigkeit, gruppendynamische Prozesse zu diagnostizieren, hilft den Kindern, kognitive und soziale Fertigkeiten zu entwickeln, die sich in der Schule - und darüber -214-
hinaus - als ungemein hilfreich erweisen. Sie lernen, dass sich das Leben zumeist in Graubereichen abspielt und nicht in Allesodernichts-Extremen. Um diese subtilen Grautöne einschätzen zu können, muss das Kind die Relativität von Gefühlen und Beziehungen begreifen. Es lernt: »Ich kann an einem bestimmten Tag ein bisschen böse sein, an einem anderen sehr böse und an noch einem anderen fuchsteufelswild.« Rivalitätsgefühle werden in diesem Alter mitunter sehr intensiv erlebt, und Spiele sind eine ernste Angelegenheit (»Du hast geschummelt, ich hab's genau gesehen!«). Gelegentlich verhalten sich die Kinder gegenüber jedem intolerant, der die Regeln verändern will (sie selbst sind natürlich die Ausnahme), und fühlen sich tief gekränkt, wenn sie verlieren. In dieser Lebensphase rufen Demütigung, Respektverlust und Missbilligung die schlimmsten Ängste hervor. Das Selbstgefühl Im Alter von zehn bis zwölf Jahren beginnen Kinder, ein konstanteres Gefühl für die eigene Persönlichkeit zu entwickeln, ein Selbstbild, dem ihre auftauchenden Ziele und Wertvorstellungen zugrunde liegen, während sich das Selbstbild des kleineren Kindes vorwiegend an dem Verhalten orientiert, mit dem ihm andere Menschen tagtäglich begegnen. Allerdings können sich Kinder dieses Alters zwischen ihrer Sehnsucht nach Nähe und Abhängigkeit und dem Verlangen, zu wachsen und Teenager und junge Erwachsene zu werden, hin- und hergerissen fühlen. Manchmal sind sie trotzig: »Ich komme ohne dich klar« oder »Ich weiß das besser als du!«. Dann wieder haben sie Angst vor ihrer eigenen Unabhängigkeit: »Ich will nicht in die Schule gehen. Ich will einfach nur zu Hause bleiben!« Die Kinder können sich nun an zwei Realitäten gleichzeitig orientieren: ihrer Peergruppenrealität und ihrer auftauchenden -215-
inneren Realität, die aus Wertvorstellungen und Haltungen besteht (»Wenn ich groß bin, möchte ich Lehrerin werden«). Mit diesen Phasen ist der Weg natürlich noch nicht zu Ende. Sie geleiten uns lediglich durch die ersten Jahre der Schulzeit. In der Adoleszenz setzt das Kind seinen Lernprozess fort und erwirbt die Fähigkeit, mit noch komplexeren inneren und äußeren Welten umzugehen. Diese elementaren Fähigkeiten aber werden es ihm leichter machen, die Schwierigkeiten und Erschütterungen, die das Leben bereithält, mithilfe seiner Familie, seiner Lehrer und Freunde zu meistern. Wir richten unser Augenmerk gerne auf eine Vielfalt einzelner Fähigkeiten, die den motorischen, sprachlichen oder kognitiven Bereich betreffen. Weil diese elementaren Fähigkeiten aber die Bausteine komplexerer Entwicklungen bilden und der Intelligenz und emotionalen Gesundheit zugrunde liegen, sollten sie Eltern, Kinderärzten, Erziehern und Lehrern unserer Meinung nach als Anhaltspunkte für die Beobachtung und das Verständnis des Kindes dienen. Darüber hinaus zeigen sie uns ganz unmittelbar, welche Art von Erfahrungen Kinder brauchen. Sie geben Aufschluss darüber, wie wir das Leben des Kindes ausgewogen gestalten und eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung fördern können (siehe die Touchpoints-Orientierungslinien und das Diagramm der Funktionsentwicklung im Anhang). Ist es für Fünfjährige beispielsweise gesünder, phantasievoll zu spielen, oder sollten sie Schreib- und Leseprogramme am Computer durcharbeiten, um in der Schule einen guten Start zu haben? Man könnte geltend machen, dass das phantasievolle Spielen zwar der emotionalen Entwicklung zuträglich sei, das systematische Lernen am Computer aber die intellektuelle Entwicklung fördere. Wenn wir jedoch verstehen, welche Erfahrungen Kinder brauchen, um die verschiedenen Entwicklungsstufen meistern zu können, begreifen wir auch, dass dieses Argument schlicht falsch ist. Phantasievolles -216-
Spielen, meinungsorientierte Gespräche - in denen wir das Kind bitten, seine Ansicht zu äußern, und es mit »Warum«-Fragen fordern - und ausführliche Diskussionen sind wesentlich wichtiger als Computerlernprogramme, die in erster Linie repetitive Gedächtnisleistungen oder sehr strukturierte intellektuelle Fertigkeiten ansprechen. Es ist gewiss nicht schädlich, wenn Kinder täglich zwanzig oder dreißig Minuten lang Intelligenzaufgaben am Computer lösen, der Großteil der Zeit aber sollte weiterhin den dynamischen Lerninteraktionen gewidmet sein. Wenn man ein Kind durch diese Phasen hindurch begleiten und diese Grundfähigkeiten fördern möchte, sind eine Menge Zeit und Energie vonnöten. Wichtig ist vor allem die »Bodenzeit«, in der man direkt mit dem Kind interagiert. Mit einer Viertelstunde am Tag ist es nicht getan, schon gar nicht, wenn man müde ist und eigentlich nur die Füße hochlegen und die Nachrichten sehen möchte. Kinder dieses Alters brauchen wache Eltern, die sich an ihrem lebhaften Kleinkind oder Vorschulkind und seinen sich entfaltenden Fähigkeiten erfreuen können. Während der Grundschuljahre müssen wir dem Kind neue Interaktionsformen anbieten. Es lernt nun, Ideen auf einem höheren Niveau zu konstruieren, logisch miteinander zu verknüpfen und durchzudenken. So vieles steht dabei auf dem Spiel: Das Kind muss sich umsorgt und behütet fühlen, es muss die Fähigkeit zu reflexivem, komparativem Denken in Grauzonen entwickeln, und es muss diese Fähigkeiten in den Beziehungen zu seinen Peers und beim Lernen zu Hause und in der Schule praktisch anwenden können. Dies kann nicht gelingen, wenn es die Zeit, die ihm nach Erledigung der Hausaufgaben zur Verfügung steht, vor dem Fernseher verbringt; eine Weile lang wird das Kind in der Schule noch recht gut mitkommen, aber ihm fehlt die Gelegenheit, diese elementaren Fähigkeiten einzuüben. Mindestens drei- oder -217-
viermal die Woche sollte sich ein Erwachsener mit dem Kind zu einem Spiel zusammensetzen. Darüber hinaus sollte man feste Zeiten vereinbaren, in denen sich die Eltern aktiv an den Hobbys des Kindes beteiligen und mit ihm spielen. Auch die Schulaufgaben bieten Gelegenheit zu Gesprächen, und sogar in Auseinandersetzungen über die Aufteilung häuslicher Pflichten können lebendige Interaktion und Problemlöseverhalten eingeübt werden. Diese Ebene aktiver Anteilnahme der Eltern setzt voraus, dass zumindest ein Elternteil in den Abendstunden weitgehend für das Kind da ist, um Schularbeiten mit ihm zu machen, mit ihm zu Abend zu essen und zu spielen und seine auftauchenden Denkfähigkeiten im gemeinsamen Gespräch anzuregen (man unterhält sich über Freunde, über Bücher, die das Kind liest, usw.), kurz: In den Schuljahren muss zwischen Peers, Familienleben, Freizeitunternehmungen und Schularbeiten ein Gleichgewicht hergestellt werden. Wenn das Kind zum Beispiel allzu viel Zeit für seine Aufgaben benötigt, um in der Schule mitzukommen, kann sich dies auf die anderen Lebensbereiche nachteilig auswirken, in denen es kognitive und soziale Fähigkeiten erwirbt. Vielleicht lässt sich in einem Gespräch mit den Lehrern vereinbaren, dass man das schulische Pensum kürzt und zum Beispiel einen Teil der Sommerferien nutzt, um den Unterrichtsstoff aufzuarbeiten. Eine gesunde Balance setzt auch voraus, dass die Computerund Fernsehzeiten begrenzt bleiben, denn sie schränken nicht nur die Gelegenheiten zu lebendigen Interaktionen ein, sondern können das kindliche Nervensystem auch überfordern. Die gemeinsame Zeit mit Freunden ist für die Entwicklung von Kindergarten- und Grundschulkindern, aber auch für Jugendliche ungemein wichtig. Im gemeinsamen Spiel erwirbt das Kind Beziehungskompetenzen und fortgeschrittene Reflexionsfähigkeiten, die es ihm erleichtern, die Schwierigkeiten, die in seinen Peerbeziehungen auftauchen, zu -218-
meistern. Zu den entwicklungsgerechten Erfahrungen gehören auch Familienaktivitäten wie Spiele, bei denen das Kind gemeinsam mit Mutter und Vater ein Team bildet, oder konstruktive Gespräche im Familienkreis über Regeln des häuslichen Lebens, die Anlage eines Gemüsegartens oder die Planung eines Ausflugs. Geschwister spielen lieber zusammen, wenn sie sich bei ihren Eltern aufgehoben, sicher und geliebt fühlen und um die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse nicht rivalisieren müssen. Dann macht es ihnen Spaß, ihre Kräfte zu messen, denn sie müssen nicht um die Liebe oder Achtung der Eltern kämpfen. Dieser spielerische Wettbewerb fördert eine gesunde Selbstbehauptung, die sich in der Schule, beim Sport und später im Beruf auszahlen wird. All diese Erfahrungen setzen, wie gesagt, voraus, dass die Eltern ihren Kindern genügend Zeit widmen. Einer der Autoren (T.B.B.) hat wiederholt beschrieben, wie wichtig die Stunde ist, in der die Eltern von der Arbeit nach Hause kommen.4 Sie müssen sich für diese Zeit Energien »aufsparen«. Sie müssen darauf eingestellt sein, dass die Kinder auseinander fallen, sobald sie die Wohnung betreten. Kinder äußern ihre Beschwerden und ihre Verstimmtheit oder Traurigkeit erst dann, wenn sie sich sicher fühlen, und deshalb sollten sich die Eltern zuerst einmal mit ihnen aufs Sofa setzen und sich über den Tag austauschen: »Was hast du erlebt?« »Buh!« »Ja, mir ging's genauso. Ich habe dich die ganze Zeit vermisst.« Bevor man zu Abend isst oder diese und jene Pflichten in Angriff nimmt, benötigen Eltern und Kinder eine entspannte Zeit des Nichtstuns, in der sie einander von ihren Erlebnissen erzählen und einfach zusammen sind. Wenn die Nähe zwischen ihnen wiederhergestellt ist, können sie gemeinsam in die Küche gehen und das Abendessen zubereiten. Die meisten Kinder genießen es, sich als Helfer erleben zu -219-
können. Für Schulkinder sollten beide Eltern ab 18.00 Uhr uneingeschränkt zur Verfügung stehen. In den meisten Familien gehen Hausarbeit, Spielaktivitäten, Abendessen und ein bisschen Fernseh- und Computerzeit nahtlos ineinander über. Die Eltern können darauf achten, dass die gesunde Balance erhalten bleibt. Diese unterschiedlichen Aktivitäten sollten einem Rhythmus folgen, der den Bedürfnissen der Familienmitglieder angepasst ist. Sofern die Eltern verfügbar sind (und die Mutter sich nicht in ihre Internetrecherchen vertieft und der Vater endlos telefoniert), werden die Kinder diesen Rhythmus vorgeben. Kinder nehmen die Verfügbarkeit ihrer Eltern sehr sensibel wahr und suchen deren Nähe, um mit ihnen zu spielen, sie um Rat zu fragen oder um sich bei den Schulaufgaben helfen zu lassen. In Familien hingegen, in denen Vater und Mutter erst um 19.00 oder 20.00 Uhr oder gar noch später nach Hause kommen (statt die Zeit ab 18.00 Uhr für das Familienleben zu reservieren), entsteht eine gehetzte, angespannte Atmosphäre. Wenn die Mutter früher zurückkehrt (gelegentlich kommen auch die Väter als Erste nach Hause) und dann mit den Kindern alleine ist, fühlt sie sich durch deren Bedürfnisse überfordert, denn die Kinder werden sich unweigerlich zanken und sind der Situation ebenso wenig gewachsen. Wenn beide Eltern rechtzeitig zusammen nach Hause kommen, kann sich eine ganz andere Atmosphäre entwickeln. Dann können beide gemeinsam ein wunderbares Team bilden. Viele Eltern halten eine solche Zeiteinteilung für unrealistisch. Sie fürchten, ihre Kinder nicht mehr ernähren und ihnen kein Dach über dem Kopf mehr bieten zu können, wenn sie ihre Arbeitszeit verkürzen, um schon um 18.00 oder 18.30 Uhr zu Hause zu sein. Manchmal sind diese Sorgen berechtigt; manchmal aber ist es eine Frage der Prioritäten. Häufig kann -220-
man auch den späten Abend oder einen Teil des Wochenendes zum Arbeiten nutzen, ohne dass man der Familie die überaus wichtige Zeit von 18.00 bis 21.30 Uhr wegnimmt. Kindergarten- und Grundschulkinder sollten am späten Nachmittag von einem Elternteil oder einer absolut zuverlässigen Betreuungsperson versorgt werden (zum Beispiel einer Großmutter, Tante oder einem Aupair-Mädchen). Die meisten Kinder dieses Alters sind überfordert, wenn sie sich nach Schulschluss noch bis 18.00 Uhr im Hort aufhalten müssen. Eine zweistündige Nachmittagsbetreuung im Hort, die ihnen zwischen 14.00 und 16.00 Uhr oder von 15.00 bis 17.00 Uhr die Möglichkeit gibt, mit Gleichaltrigen zu spielen oder in Projektgruppen zu arbeiten oder anderen Aktivitäten nachzugehen, ist für sie leichter zu verkraften. Gegen Abend aber müssen Kinder die Möglichkeit haben, sich zum entspannten Familienleben mit ihren Eltern zusammenzufinden. Diskussion SIG: Wie sehen die typischen Alltagserfahrungen des Kindes aus? Sind wir dabei, reale Erfahrungen durch virtuelle zu ersetzen, oder melden wir sie in drei verschiedenen Sportvereinen gleichzeitig an, statt einfach zusammen mit ihnen in den Hof oder Garten zu gehen und gemeinsam Ball zu spielen? TBB: Vor allem Kinder aus wohlhabenden Familien haben häufig einen beeindruckenden Terminkalender. Der gesamte Tag muss durchgeplant sein. Aber das Kind braucht einen Lebensbereich, in dem kein Erwachsener versucht, ihm dieses oder jenes beizubringen. Es muss auch Beziehungen zu Gleichaltrigen knüpfen können. SIG: In meiner Kindheit gingen wir auf den Spielplatz gleich auf der anderen Straßenseite. Wir haben Mannschaften gebildet und uns unsere eigenen Spiele ausgedacht. Heutzutage wird den Kindern von Trainern erklärt, was sie zu tun haben. Alles ist -221-
durchorganisiert. Es ist aber eine völlig andere Atmosphäre, wenn die ganze Familie in den Hof geht und sich eigene Spiele mit eigenen Regeln ausdenkt. Solche Spiele sind weit kreativer und vor allem für kleinere Kinder viel lustiger als Mannschaftssportarten. Wir müssen überlegen, was den Kindern verloren geht, wenn sie keine Gelegenheit mehr haben, miteinander herumzualbern und sich im Matsch die Füße nass zu machen und sich ihre eigenen Spiele auszudenken. Statt zum Beispiel hinterm Haus »Räuber und Gendarm« zu spielen, sitzen sie stundenlang vor dem Fernseher. TBB: Sehen wir uns doch einmal an, wie ein typischer Tag aussieht. SIG: Gut. Sagen wir, die Kinder haben bis 14.30 oder 15.00 Uhr Unterricht. Wenn sie nach Hause kommen, nehmen sie eine Kleinigkeit zu sich, und die Eltern verlangen, dass sie unverzüglich ihre Schulaufgaben machen. Sie gehen nicht zum Spielen hinaus, sie gehen nicht hinaus, um eine Baumhütte zu bauen. Um 16.30 oder 17.00 Uhr steht dann vielleicht ein Fußball- oder Balletttraining auf dem Programm, wobei nicht selten lange Wege mit dem Auto zurückzulegen sind. Danach gibt es Abendessen und vor dem Schlafengehen müssen schnell noch die restlichen Hausaufgaben gemacht werden. So sieht der Tag unserer Schulkinder aus. Sollte noch ein wenig Freizeit übrig bleiben, wird sie gewöhnlich vor dem Fernseher verbracht. Es gibt kaum Gelegenheit, um zum Beispiel mit einer Freundin oder einem Freund durchs Viertel zu strolchen. Was ist davon zu halten? Wenn wir an das kindliche Nervensystem denken... TBB: Das alles hat seinen Preis. Das Kind verliert seine Spontaneität, wenn es keine Chance hat, seine Ideen im Spiel auszuprobieren. Kinder können so viel lernen, wenn sie sich Gleichaltrige zum Vorbild nehmen, wenn sie ihre Grenzen testen oder wenn sie herausfinden, wie man miteinander teilen kann. SIG: Den Familien, die mich aufsuchen, sage ich oft: »Wenn -222-
Johnny und Susi aus der Schule nach Hause kommen, müssen sie zuerst einmal rausgehen und mindestens eine Stunde lang spielen.« Ich lege großen Wert darauf, dass Kinder sich mindestens viermal pro Woche mit ihren Freundinnen und Freunden verabreden. Susi kommt aus der Schule und trifft in der Nachbarschaft andere Kinder; oder sie bringt eine Freundin mit oder geht selbst zu einer Freundin nach Hause, um dort eine oder zwei Stunden lang zu spielen. Es ist überhaupt kein Problem, wenn sich die Kinder erst um 17.00 Uhr an die Schulaufgaben setzen. Wenn sie zum Fußballtraining müssen, können sie sich eine halbe oder Dreiviertelstunde vorher verabreden, um noch ein bisschen zu spielen oder einfach zu entspannen. Wie du sagst: Die meisten Kinder haben gar keine Gelegenheit zu lernen, wie man Peerbeziehungen knüpft und lebt und die damit verbundenen Schwierigkeiten löst. Um Rivalität und Zurückweisung verkraften zu können Erfahrungen, die einen unvermeidbaren Bestandteil solcher Peerbeziehungen bilden -, müssen Kinder viele Stunden miteinander verbringen. Wenn man als Kind nie eine Demütigung erlebt hat oder Sticheleien ausgesetzt war, ist man später in seinen erwachsenen Beziehungen gehandicapt. Ohne solche Erfahrungen kann man die Fähigkeiten, mit solchen Problemen umzugehen, nicht erwerben. TBB: Kinder brauchen sehr vielfältige Erfahrungen. Sie müssen Zeit mit Gleichaltrigen verbringen, mit dem Computer umzugehen lernen, sie brauchen ein Familienleben und Stunden, in denen sie lediglich das machen, wozu sie Lust haben. Aber ich schätze, dass wir das Spielen als festen, unverzichtbaren Bestandteil ihres Lebens anerkennen müssen. Gemeinsames Nichtstun SIG: Kinder und Eltern benötigen auch unstrukturierte gemeinsame Zeit, und zwar vor allem in diesen prägenden Jahren, in denen die Eltern entweder bei der Arbeit sind oder damit zu tun haben, den Kindern bei den Schulaufgaben zu -223-
helfen. Aber diese unstrukturierte Zeit ist auch in der Adoleszenz und sogar darüber hinaus wichtig. Familien brauchen die »Zeit des Nichtstuns«, Zeit ohne Hausaufgaben oder vorprogrammierte Aktivitäten. TBB: Wir müssen hier und da eine Stunde reservieren, die nicht verplant wird. Ich empfehle auch, dass sich jeder Elternteil einmal täglich mit dem Kind zusammensetzt, damit man einfach so, nur zu zweit, ein wenig Zeit füreinander hat. Das brauchen alle Kinder. Ellen Galinsky vom Families and Work Institute hat Kinder interviewt, deren Eltern beide berufstätig sind. Sie alle sagten einstimmig, dass es nötig sei, dass ihre Eltern arbeiteten. Was ihnen am meisten fehlte, war die Erfahrung, mit einem Elternteil »einfach nur herumzuhängen«, »gemeinsam zu faulenzen«, gar nichts Großartiges.5 SIG: Ja, Grundschulkinder brauchen Zeit, um mit Freunden zu telefonieren, aber sie brauchen auch Zeit, in der sie mit Mutter und Vater zusammen faulenzen und herumalbern. Gerade solche Erfahrungen bleiben als wunderschöne Momente in Erinnerung, weil sie wechselseitige Nähe schaffen. TBB: Ich empfehle berufstätigen Eltern, absolut nichts zu tun, wenn sie nach Hause kommen, sondern sich zu den Kindern zu setzen und sie zu fragen, was sie tagsüber erlebt haben und wie es ihnen geht. Nach einer Weile werden die Kinder dann unruhig und wollen sich bewegen, und dann kann man sie mit in die Küche nehmen und gemeinsam das Abendessen vorbereiten. Wenn Kinder in Familien, in denen es viel zu tun gibt, helfen können, haben sie das Gefühl, ihren Teil beizutragen und gebraucht zu werden. Begrenzung der Fernseh- und Computerzeit SIG: Dies bringt uns wieder zurück zu dem Thema Schutz und Sicherheit: Wir müssen Kinder vor dem übertriebenen Fernsehkonsum und vor stundenlangen Computerspielen schützen. Sehr oft läuft in der Zeit, die sie gemeinsam mit den -224-
Eltern verbringen könnten, der Fernsehapparat. Wenn das Fernsehen problematisiert wird, konzentrieren sich die Diskussionen zumeist auf den Inhalt dessen, was Kinder sich ansehen; natürlich muss man sich auch darüber Gedanken machen, schädlicher aber ist die Passivität des Fernsehens, das Fehlen jeglicher Interaktion. Der wechselseitige Austausch, der das zentrale Nervensystem aktiviert und die Bildung der Leitungsbahnen anregt und die Entwicklung fördert, kommt zu kurz. Wenn sich diese Deprivation mit Gewaltszenen in Filmen verbindet, verdoppelt sich der Schaden. Man hat bei Personen, die mit negativen Bildern bombardiert wurden, quasi hypnoide Zustände beobachtet. Wenn Kinder im Freien »Verbrecherjagd« spielen können, ist das in Ordnung, weil sie das Thema durcharbeiten und sich über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit Gedanken machen. Sie bearbeiten die Themen des Lebens, und das ist etwas ganz anderes, als wenn sie passiv die Fernsehbilder absorbieren. TBB: Wir haben untersucht, was mit Dreijährigen passiert, die vor dem Fernseher sitzen. Wir haben ihre emotionale Erschöpfung und die Strapazierung ihres vegetativen Nervensystems gemessen. Die Kinder sind nach dreißigminütigem Fernsehen völlig fertig. Wir haben ihre Herzund Atemfrequenz gemessen und die Auswirkungen auf den Kortex nachgewiesen. Die Kinder werden zuerst stimuliert, dann habituieren sie. Sobald wir den Habituationsprozess unterbrachen, »explodierten« sie und wechselten in den motorischen und vegetativen Abfuhrmodus über. Durch die Habituation schützt das Gehirn das Kind vor Überstimulierung. Erinnerst du dich an die Skinner-Bettchen?6 Die Eltern haben mir berichtet, dass ihre Kinder in den Betten wie die Murmeltiere schliefen und nach dem Wecken »die Wände hochgingen«. Damals habe ich erkannt, dass es sich um einen Effekt des Homöostasesystems handelte. Wir beobachteten die gleichen Reaktionen bei Kindern vor dem Fernseher, wenn wir -225-
ihre Herz- und Atmungsfrequenz maßen. Sie verfielen in diesen hypnoiden Zustand, ihre EEGs wurden flach. Sobald sie ihren Platz vor dem TV verließen, rasteten sie aus. Meiner Meinung nach zeigt dies, welch hoher Preis für diese künstliche Situation zu zahlen ist. SIG: Wenn ihr die physiologischen Funktionen nur während des Fernsehens und nicht auch nachher gemessen hättet, wäret ihr womöglich zu dem Schluss gekommen, dass sich die Kinder in einem entspannten Ruhezustand befanden, in dem sie die Aufmerksamkeit abwechselnd ein- und ausschalteten. Die Messergebnisse während des Fernsehens verwiesen nicht unbedingt auf einen unstimulierten Zustand. TBB: Ich habe immer vermutet, dass es sich um einen aktiven Schutzvorgang handelt. Der Herzschlag verlangsamte sich und wurde regelmäßig. Es gab keinerlei Schwankungen. Auch die Atmung verlangsamte sich und wurde völlig regelmäßig, obwohl die Kinder mit all dem, was sie im Fernsehen sahen, regelrecht bombardiert wurden. Und schließlich sah das EEG aus, als sei es im Schlaf aufgezeichnet worden. SIG: Das Fehlen von Schwankungen war ein Zeichen für den Stress im gesamten physiologischen System. Wenn ich spät am Abend fernsehe, fällt es mir schwer, mich noch einmal an die Arbeit zu setzen. Ich bin müde und habe keine Energie mehr. Wenn ich dann mit der Arbeit beginne, brauche ich lange, um aus diesem passiven Modus herauszufinden. Ich kann die Fernsehunterbrechung nicht vermeiden, aber wenn ich stattdessen etwas anderes tun könnte, um zu entspannen, wäre es viel leichter, zur Aktivität zurückzufinden. Offenbar wirkt es irgendwie entspannend, überhaupt nichts tun zu müssen, aber es ist ein physiologischer Zustand, aus dem man nur schwer wieder herausfindet. TBB: Wäre es vernünftig, die Fernsehzeit zu begrenzen? Meiner Ansicht nach reicht es vollauf, wenn Schulkinder eine Stunde an Wochentagen und zwei Stunden am Wochenende -226-
fernsehen. Das Kind soll ruhig mit entscheiden, welches Programm es sich anschaut, das letzte Wort aber haben die Eltern. Wir sollten das Fernsehen als unseren größten Rivalen um die Herzen und Seelen unserer Kinder betrachten. Wir müssen es ernst nehmen. SIG: Eine Stunde am Tag ist realistisch. Aber wenn wir von einem idealen Zeitraum sprechen, würde ich versuchen, den Fernsehkonsum an Schultagen auf eine halbe Stunde und am Wochenende auf eine oder vielleicht zwei Stunden zu reduzieren. Off ist es so, dass die Eltern nach Hause kommen und den Apparat einschalten, um Nachrichten zu gucken, und danach versammelt sich dann die ganze Familie vor dem Bildschirm. Das macht regelrecht süchtig. TBB: Andere Medien haben denselben Effekt, zum Beispiel Computerspiele. SIG: Wenn Kinder nichts anderes zu tun haben, können sie bis zu vier Stunden mit solchen Computerspielen verbringen. Es sind irgendwie geistlose, repetitive Spiele. Viele Kinder würden interaktive Spiele vorziehen, wenn sie die Wahl hätten. Wir haben Videoaufzeichnungen von Kindern gemacht, die am Computer spielten, und von Kindern, die sich mit altmodischen Spielen beschäftigten und zum Beispiel Karten spielten. Bei den Computerspielen kommt es kaum zu Emotionsäußerungen oder Interaktionen. Beim Kartenspiel wurden die Kinder lebendig. Sie haben gelacht und palavert und Probleme gelöst. Es passierte viel mehr. TBB: Ich habe aber auch lernbehinderte Kinder beobachtet, die bei diesen Computerspielen geradezu aufblühten. SIG: Ja, wir haben für Kinder mit Entwicklungsproblemen logopädische Programme entwickelt oder spezielle Übungen, um das Rechnen zu verbessern. Dabei setzen wir auch Computerspiele ein. Sie sind in Ordnung, aber selbst dann gilt, -227-
dass die Kinder ihre Aktivitäten lediglich wiederholen und sich in sich selbst zurückziehen, wenn sie stundenlang damit spielen. Solange sie nur eine halbe Stunde am Computer sitzen und dann Gelegenheit zu intensiver Interaktion haben, gibt es nichts daran auszusetzen. Dann können auch Computerspiele sehr hilfreich sein. TBB: Computergestützte Techniken sind für manche solcher Kinder fabelhaft. Wenn man sie aber in übertriebenem Maße einsetzt, geht ihr Nutzen verloren. Wir sehen, dass wir all diese Dinge - Fernsehen, Computerspiele - auf ihre Folgen hin untersuchen müssen. Hausaufgaben , SIG: Dem Kind muss Zeit zum Spielen und Nichtstun bleiben, aber trotzdem dürfen wir die Schulaufgaben nicht vergessen. Manche Kinder setzen sich an den Schreibtisch und sind erst nach vier Stunden fertig. Da sie nicht stundenlang still sitzen können, stehen sie alle zehn Minuten auf, so dass aus zwei Stunden realer Arbeit vier Stunden werden und die Eltern den ganzen Nachmittag oder Abend oder den ganzen Samstag damit beschäftigt sind, dem Kind zuzureden, dass es sich nicht ablenken, sondern auf die Hausaufgaben konzentrieren soll. Es kann nicht mit seinen Peers spielen, lernt die Natur nicht kennen, darf nicht malen oder Baumhäuser bauen. TBB: Mir ist überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, einem Kind vorzuschreiben, was es mit seiner Zeit anfangen soll. Wir sollten davon abkommen. Mir gefällt deine Überlegung, verschiedene Bereiche des Alltagslebens abzustecken. Was die Hausaufgaben angeht, so sollten die Eltern gemeinsam mit dem Kind zu einer Regelung finden. Wir haben die Eltern aus dem Schulsystem hinausgedrängt, und das war, wie ich meine, ein schwerer Fehler. Wenn es tatsächlich nötig ist, dass die Kinder nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause lernen müssen, dann muss sich die ganze Familie beteiligen. -228-
SIG: Soweit ich sehe, geschieht das in vielen Familien bereits. TBB: Ja, aber es wäre bestimmt hilfreich, wenn man die Hausaufgaben explizit als gemeinsame Aktivität des Kindes und seiner Familie betrachtete. SIG: Gut, nehmen wir das einmal als Grundsatz. Aber würdest du für die verschiedenen Altersgruppen und Klassen nicht trotzdem allgemeine Richtlinien festlegen? Wie viel Zeit sollten Sechsjährige für die Schulaufgaben aufwenden? Sollten sie nicht auch mit ihren Freunden an der frischen Luft spielen? Wie lange sollten sie an den Aufgaben sitzen? TBB: Die Lehrer sollten ihnen nicht viel aufgeben. Ich bin über die Arbeit, die in den jeweiligen Klassen anfällt, nicht gut informiert, aber etwa in der vierten Klasse beginnen die Kinder verstärkt, symbolisch zu denken und selbstständig zu lesen. Dann können sie ihre Aufgaben zweifellos selbstständig erledigen und auch Hausaufgaben machen, die dazu dienen, sich neuen Stoff anzueignen. Vorher aber sollte das Ziel darin bestehen, die Eltern mit zu beteiligen. SIG: In der ersten Klasse lernen sie lesen und die Grundrechenarten - Addieren und Subtrahieren. In der zweiten Klasse lernen sie die Addition und Subtraktion mit zweistelligen Zahlen und die Grundlagen der Multiplikation. Außerdem fangen sie an, ganze Geschichten zu schreiben. Ein paar zusätzliche Übungen sind dann vielleicht durchaus angemessen. TBB: Ja, die Kinder haben bestimmt Spaß daran, solche Übungen mit der ganzen Familie zu machen - als freiwillige Zusatzaufgaben, durch die sich die Eltern auf dem Laufenden halten können, um zu sehen, wie ihr Kind zurechtkommt. Und das Kind selbst kann seinen Eltern vorführen, was es schon alles gelernt hat. Dreißig Minuten am Tag wären sinnvoll. SIG: Die meisten Schulen nehmen es mit den Hausaufgaben in der ersten und zweiten Klasse nicht sehr genau. Die Kinder werden im Allgemeinen nicht überfordert. Die dritte Klasse ist -229-
ein Übergang, aber in der vierten, in Ländern mit Förderstufe fünften und sechsten Klasse, wenn die Kinder etwa zehn, elf oder zwölf Jahre alt sind, geht es dann richtig zur Sache. Wie viel Hausaufgaben sind für dieses Alter vertretbar? TBB: Alles, was über zwei Stunden hinausgeht, ist eindeutig zu viel. Die Kinder müssen ein wenig älter sein, um sich in das, was sie gerade tun, wirklich vertiefen zu können. Dann sind auch drei Stunden angemessen. SIG: Also könnten wir sagen: maximal zwei Stunden für die vierte bis sechste Klasse und bis zu drei Stunden für die älteren Kinder. Diese dritte Stunde sollte meiner Meinung nach solchen Projekten vorbehalten bleiben, für die sich die Schüler wirklich interessieren. Das ist günstiger, als wenn sie gezwungen sind, sich in dieser Zeit mit Unterrichtsstoff zu beschäftigen, der sie nicht anspricht. Zwei Stunden sind reichlich Zeit für die Pflichtaufgaben, besonders wenn man schon sechs Stunden in der Schule gesessen hat. TBB: Kinder brauchen allerdings unterschiedlich lange, um ihre Aufgaben zu machen. SIG: Ja, natürlich, die fixeren Kinder können in zwei Stunden weit mehr erledigen als diejenigen, bei denen alles ein bisschen mühsamer vonstatten geht. Wenn Kinder aber fünf oder sechs Stunden lang über ihren Aufgaben brüten, muss man sich fragen: Wie hoch ist der Preis, den sie dafür in anderen Bereichen ihrer Entwicklung zahlen müssen? Die Klasse lernt, Aufsätze zu schreiben, und ein langsames Kind braucht den ganzen Nachmittag und Abend, bis es fertig ist. Es kann nicht mit seinen Freunden spielen und lernt folglich nichts über Beziehungen. Ihm bleiben die Erfahrungen vorbehalten, die es braucht, um irgendwann eine Erörterung oder eine kreative Geschichte verfassen zu können. TBB: Welche Schlüsse müssen wir daraus ziehen? -230-
SIG: Nun, die Kinder, die auf besondere Lernhilfen angewiesen sind oder Lernschwierigkeiten haben, müssen in bestimmten Bereichen vielleicht Zusatzaufgaben und spezielle Übungen machen. Wenn das aber bedeutet, dass sie Tag für Tag eine zusätzliche dritte oder vierte Stunde am Schreibtisch sitzen, dann drängt sich die Frage auf, ob man ihnen damit wirklich einen Gefallen tut. Zu viele andere Bereiche kommen zu kurz. Solche Kinder müssen meiner Meinung nach in der Schule individuell gefördert werden. Dann reicht es, wenn sie am Wochenende zu Hause noch ein bisschen üben. TBB: Hier könnten die Eltern einspringen und zusammen mit dem Kind am Nachmittag oder Abend zwei Stunden lang arbeiten. Damit sollte es aber genug sein. SIG: Es wäre auch hilfreich, wenn die Mathematikaufgaben für Elfjährige nicht aus zwanzig Pflichtaufgaben bestünden, sondern aus fünfzehn Pflicht- und fünfzehn freiwilligen Aufgaben. Kinder, die gut rechnen können, lösen diese dreißig Aufgaben in einer Stunde, während die langsameren eben nur fünfzehn schaffen. Ich rate den Eltern oft: »Sprechen Sie mit der Lehrerin und bitten Sie darum, dass Johnny fünfzehn Aufgaben voll angerechnet werden - mehrere aus jeder Kategorie, damit er den Dreh rauskriegt. Wenn er intensiver üben muss, um die Lücken aufzuarbeiten, kann er dies am Wochenende tun.« Die Lehrer sind häufig einverstanden, wenn die Eltern einen solchen Vorschlag machen. Ich habe Kinder gesehen, die sich mehr als drei oder vier Stunden mit ihren Hausaufgaben abmühten. Sie haben keine Zeit mehr für ihre Freunde und hassen die Schulaufgaben. Sie werden negativ und trotzig. Das schafft familiäre Konflikte und der Preis ist sehr hoch. TBB: Vielleicht muss man intervenieren, wenn das Kind auch mithilfe der Eltern mehr als zwei Stunden für die Schulaufgaben benötigt. In solchen Fällen ist es Zeit, über eine spezielle Aufgabenregelung oder über Nachhilfeunterricht nachzudenken. Eltern und Lehrer sollten diese Situation als -231-
Signal verstehen, als einen Touchpoint in dem Sinn, dass sie versuchen müssen zu begreifen, was mit ihrem Kind los ist. SIG: Es gibt sehr viele Kinder mit dem Problem, ihr Vorhaben motorisch adäquat umzusetzen, die zwar die Wörter völlig korrekt verstehen, aber sehr langsam sind; statt zwei Minuten brauchen sie fünf, um einen Satz hinzuschreiben. Sie profitieren von einem kleineren Hausaufgabenpensum mit klar strukturierten Übungen. Langsamere, aber intelligente und sprachlich gewandte Kinder kommen in der Schule sehr gut zurecht, wenn sie ihre Aufgaben nicht in einer vorgegebenen Zeit lösen müssen. Nur so haben sie die Chance zu zeigen, was sie wirklich können. Schließlich machen wir keine Geschwindigkeitstests; wir überprüfen das Wissen. Unsere Lehrer müssen sich von der Vorstellung verabschieden, dass alle Kinder gleiche Rahmenbedingungen brauchen. Was sie brauchen, ist mehr Flexibilität und individuelle Zuwendung. TBB: Das gilt auch für die Mitarbeit der Eltern. Sie muss sich nach dem Alter des Kindes richten. Irgendwann wird das elterliche Engagement vom Kind als aufdringlich empfunden, es nimmt ihm die Eigeninitiative. Kinder müssen die Chance haben, zu experimentieren und auch einmal zu scheitern. SIG: In den weiterführenden Schulen sind die Eltern sehr unterschiedlich engagiert; manche Eltern helfen grundsätzlich bei den Hausaufgaben, andere nur gelegentlich. Manche schreiben ihren Kindern ganze Aufsätze, aber das sind wohl eher die Ausnahmen. Aufgrund meiner eigenen Erfahrung mit drei Kindern und all ihren Freunden kann ich sagen, dass eine ganze Bandbreite abgedeckt wird. Gelegentlich bleibt die Hilfe der Eltern minimal, sie belassen es bei kurzen Kommentaren wie: »Oh, hier hast du ein Komma vergessen.« Oder das Kind meint: »Ich weiß nicht, wie es grammatikalisch richtig ist, kannst du das mal durchlesen?« Manche Eltern fragen: »Was wolltest du hier sagen? Ich verstehe diese Formulierung nicht.« Aber ich habe es auch erlebt, dass Jugendliche bis Mitternacht -232-
an einem Aufsatz sitzen und eigentlich schlafen gehen wollen und sich dann an die Eltern wenden: »Mama, ich weiß einfach nicht, was ich in der Einleitung schreiben soll. Sagst du es mir?« Und die Mutter antwortet: »Nun ja, du könntest es so und so machen.« TBB: An diesem Punkt gehört der Aufsatz nicht mehr dem Kind selbst. Ich habe schon einmal erwähnt, dass asiatische Eltern uns gezeigt haben, was es bedeutet, sich für die schulische Ausbildung des Kindes zu engagieren. Ein Großteil dessen, was wir an unserem Schulsystem auszusetzen haben, ist darauf zurückzuführen, dass die Eltern nicht motiviert sind, sich zu engagieren. Wenn wir den Kindern vielfältige Erfahrungen und die Freiheit vermitteln wollen, ihrer Wissbegierde nachzugehen, dann müssen die Eltern bei der Planung mitwirken. Es ist eine heikle Balance - man muss die Kinder unterstützen, ohne ihnen die Eigeninitiative zu nehmen und sie um ihre Leistung zu bringen. Noten TBB: Abgesehen davon, dass wir die Entwicklungsfähigkeiten des einzelnen Kindes und die individuellen Unterschiede anerkennen und mit ihnen arbeiten müssen, benötigen wir auch hier ein Modell, das sich an den Stärken und nicht an den Defiziten orientiert. Wir kennen den Rosenthal-Effekt.7 Man erhält die Ergebnisse, die man erwartet, wenn man Menschen in Schubladen steckt. Deshalb ist es vollauf berechtigt, den resignativen Ansatz, der die Erwartung des Scheiterns vermittelt, durch einen optimistischeren zu ersetzen. SIG: Wir müssen mit der Grundannahme beginnen, dass jedes Kind lernfähig ist. Es gibt keine Veranlassung zu glauben, dass nicht alle Kinder fähig seien, Grundkenntnisse zu erwerben. Der Schlüssel ist das Konzept der entwicklungsgerechten Erfahrungen, verbunden mit der Berücksichtigung der individuellen Unterschiede. Entwicklungsgerecht bedeutet, das Kind an dem Punkt anzusprechen, wo es sich gerade befindet, -233-
nicht zwei Schritte dahinter oder voraus. Jedes Kind muss auf seinem augenblicklichen Wissensstand aufbauen können. Häufig aber sind wir schon einen oder mehrere Schritte voraus, das heißt, wir überspringen die Grundlagen. Wenn wir noch etwas weiterdenken: Würdest du sagen, dass sich die Art und Weise, wie wir Kinder in der Schule anhand von Klassenarbeiten und Prüfungen beurteilen, am Defizitmodell orientiert? Anders formuliert: Die Kinder bekommen Noten und können sich dann überlegen, was sie wissen und was sie noch nicht wissen, aber diese Note bleibt sozusagen an ihnen kleben. Kann man die Prüfungen nicht zu anderen Zwecken benutzen? Sagen wir, du machst einen Test und bekommst eine Fünf. Wenn der Lehrer dich einigermaßen unvoreingenommen beurteilt, bist du nicht auf diese Fünf abonniert. Du arbeitest dieselben Aufgaben so oft durch, bis du eine Zwei bekommst. Dann weißt du, dass du die Sache kapiert hast. Bei einer Drei hast du immer noch irgendwelche dummen Fehler gemacht, aber grundsätzlich hast du es begriffen. Du arbeitest weiter, gehst aber schrittweise vor, das heißt, du baust auf deinem Wissensstand auf und arbeitest dich Stufe um Stufe höher, ohne zu bluffen und die Zwischenschritte auszulassen. Du kannst Nachhilfeunterricht nehmen oder in eine Fördergruppe gehen usw. Dann schaffst du es, weil du die Chance hast, nach und nach, mit Unterstützung und zusätzlichem Üben, auf dem, was du bereits kannst, aufzubauen. TBB: Was passiert, wenn das Kind den ersten Test im zweiten Halbjahr immer noch nicht geschafft hat? SIG: Dann haben wir nicht herausgefunden, woran es wirklich hapert und wo wir ansetzen können. Welches Ziel haben wir im Auge? Wollen wir diese Kinder auf einer Glockenkurve verteilen und sie abstempeln, oder wollen wir, dass jeder in seinen Klassenarbeiten eine Zwei schafft? Sollten wir nicht das gesamte Notensystem verändern? TBB: Zurzeit dienen die Noten lediglich dazu, die Schüler in -234-
Leistungsgruppen einzuordnen. Wenn wir uns hingegen deine Arbeit mit autistischen Kindern zum Vorbild nehmen und uns auf den Prozess statt auf die Note konzentrieren, könnten wir den Teufelskreis durchbrechen und dafür sorgen, dass niemand eine Fünf nach der anderen schreibt. Bei jüngeren Kindern sollten wir den Prozess beobachten, das Niveau, das sie in den einzelnen Fächern erreicht haben. Wie gut können sie lesen? Können sie lediglich Buchstaben und Laute identifizieren, oder verstehen sie das, was sie lesen? Können sie den Text analysieren und Zusammenhänge erkennen? SIG: Sagen wir, ein Fünftklässler erreicht auf einer 10Punkte-Skala im Lesen die 8; das heißt, er kann lesen und interpretieren und über Begriffe und Zusammenhänge diskutieren. Für eine 10 reicht es nicht ganz, weil er den Text noch nicht vollständig erfasst und nicht extrapolieren kann. Ein anderes Kind steht auf der Skala bei 5. Würdest du die beiden entsprechend benoten, also dem einen Kind ein »Gut« geben und dem anderen ein »Ausreichend«? Oder würdest du ihnen mündlich erklären, wie sie sich noch verbessern können? TBB: Diese Methode wird in vielen privaten Grundschulen praktiziert. Die Lehrerin schreibt ausführliche Berichte, anhand deren die Eltern sehen können, inwieweit ihr Sohn oder ihre Tochter den Unterrichtsstoff in den einzelnen Fächern beherrscht. Irgendwann aber gibt es dann doch Noten, oder die Kinder ordnen sich selbst ein: »Ich bin die fünftbeste in meiner Klasse.« Es ist interessant, Kinder zu fragen: »Wer ist am Schlauesten? Wer ist die zweitschlaueste?« Sie sagen dir, wo sie sich selbst einordnen, und sie sagen sogar: »In dem und dem Fach bin ich genau hier.« SIG: Ja, die Kinder beurteilen sich häufig zutreffender als ihre Lehrer. TBB: Also ist es keine Heimlichtuerei, wenn man auf Noten -235-
verzichtet? SIG: Kinder urteilen allerdings nach anderen Kriterien als Erwachsene. Es ist interessant, dass sie ihre Hackordnung auf der Grundlage von Fähigkeiten, nicht von Noten, festlegen. Lehrer richten sich nach der Leistung, aber die Kinder wissen besser Bescheid. Ihnen ist klar, dass die Intelligenz nicht von einer Note in einem bestimmten Test abhängt. Die Kinder wissen immer, wer in den jeweiligen Bereichen wirklich clever ist. TBB: Also sind Noten im Grunde gar nicht erforderlich. SIG: Aber die Lehrer sagen natürlich: »Das ist in der Grundschule gut und schön. Wir können ausführliche Berichte über die Kinder schreiben und müssen ihnen keine Noten geben. In den weiterführenden Schulen aber brauchen die Schüler Noten, um zum Studium zugelassen zu werden.« Was sollen wir tun, wenn es ernst wird? Welches System würdest du empfehlen? TBB: Ich würde ein System zu entwickeln versuchen, in dem die Schüler nicht auf eine bestimmte Leistungskategorie festgelegt werden, ein System, das ihnen Anreize bietet. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie das in der Praxis aussehen könnte. Wenn die Kinder wirklich motiviert sind, weil sie studieren wollen und deshalb in allen Fächern gut abschneiden müssen, dann funktioniert wahrscheinlich auch das Benotungssystem. Meiner Meinung nach sollten wir überlegen, was wir ganz zu Anfang tun können. In den ersten Schuljahren vermittelt ein prozessorientierter Ansatz den Kindern, aber auch den Eltern und Lehrern vermutlich einen besseren Einblick in die individuellen Lernfähigkeiten. Ein solches Vorgehen setzt voraus, dass die Fertigkeiten und Stärken genau analysiert werden. Dies ist aber nur möglich, wenn sich die Lehrer intensiv um ihre Schüler kümmern. Das wäre der wichtigste Vorteil des prozessorientierten Ansatzes. Eine Lehrerin könnte beispielsweise sagen: »X lernt, indem er die Dinge auf einer -236-
quantitativen, statt auf einer qualitativen Ebene durchdenkt. Mein Ziel ist es, ihm das qualitative Denken ein bisschen näher zu bringen, aber zurzeit ist er so intensiv damit beschäftigt, die Welt abzumessen, dass es mir noch nicht gelungen ist.« SIG: Dieser Ansatz ist stärker kindorientiert als das gegenwärtige System, aber nicht kindorientiert in einem extremen Sinn. Man fokussiert die didaktische Intervention und die Aufgabenstellung auf das augenblickliche Lernniveau des Kindes, auf die Ebene, auf der es das Phänomen, das man ihnen zu vermitteln versucht, begreift. Das ist ein Unterricht, der sich am Entwicklungsstand des Kindes und an seinen individuellen Besonderheiten orientiert; er ist aber nicht kindorientiert in dem Sinn, dass ein Kind zum Fußballspielen auf den Pausenhof gehen kann, weil es keine Lust hat, lesen zu üben. Unterricht ist entwicklungsorientiert, wenn er die Interessen des Kindes berücksichtigt, er sollte sich aber nicht der Lust und Laune der Schülerinnen und Schüler unterordnen. TBB: Das Kind merkt genau, wann man es zu verstehen beginnt, und erwartet, dass man ihm die Schwierigkeiten, die es durchmacht, widerspiegelt. SIG: Ich glaube, du hast Recht. Wir müssen diese Prozessorientierung gründlich erforschen. Unser Verständnis der Grundbausteine einer bestimmten Fähigkeit muss Teil der Lehrerausbildung sein. Mathematische Fähigkeiten entwickeln sich in einer bestimmten Reihenfolge. Viele Pädagogen kennen die Bausteine ihres mathematischen und naturwissenschaftlichen Curriculums. Ich denke, dass sich die Didaktik in diese Richtung entwickelt - dann lernen zum Beispiel Kinder, die sich für Geschichte interessieren, das Denken in historischen Zusammenhängen. Wie sehen die Schritte, die Bausteine, aus, die von der ersten bis zur zwölften Klasse aufeinander geschichtet werden? Sobald man diese Schritte definiert hat, kann man auch sagen, wo sich das betreffende Kind auf diesem Weg genau befindet. Nicht anders verhält es sich mit der -237-
Mathematik. Was bedeutet es, mathematisch zu denken, Addition, Subtraktion, Division und Multiplikation zu begreifen? Wo steht das Kind jeweils? Sobald Pädagogen auf diese Weise vorgehen, verstehen sie das Kind besser und wissen, welche Hilfe es braucht. TBB: Was diese Grundbausteine im Einzelnen betrifft, bin ich ein Laie. Aber mir erscheinen zwei Dinge erstrebenswert: (1) ein individuierter Ansatz, der die Anstrengung berücksichtigt, die das Kind auf sich nimmt, um diese einzelnen Schritte zu meistern; und (2) der Versuch, mit dem individuellen Temperament des Kindes zu arbeiten. Wenn Lehrer diese beiden Punkte berücksichtigten, könnten sie jedes Kind besser verstehen; gleichzeitig fiele es ihnen selbst leichter, positive Erwartungen aufrechtzuerhalten, statt von vornherein mit schlechten Leistungen zu rechnen. Eigentlich müssten die meisten Lehrer von einem solchen Ansatz begeistert sein. Das erfolgsorientierte Modell SIG: Das ganze Konzept der Orientierung am Prozess und der Grundbausteine ist ein positives Modell. TBB: Ja, ich denke, dass dieser Ansatz eine breite Anwendung finden kann. Wenn ein Schüler in irgendeinem Fach - zum Beispiel in der Geometrie - Schwierigkeiten hat, ohne sich deshalb als Versager zu fühlen, dann können die Probleme für ihn zu einer Herausforderung werden, sich mit seiner ganzen Energie auf eine Lösung zu konzentrieren. Unter dem Blickwinkel unseres Touchpoints-Modells betrachtet, verstehen wir eine Regression oder das Ringen mit einem Problem als Zeit der Reorganisation: »Gut, das Kind kommt mit der Geometrie nicht zurecht. Wie hoch ist der Preis, den es dafür in anderen kognitiven Bereichen zahlen muss? Wie hoch ist der Preis für seine Peerbeziehungen?« Der Lehrer kann jede dieser kritischen Phasen als Chance nutzen, um die Anforderungen, die auf dem Kind lasten, neu zu beurteilen. Er hat die Chance, eine echte Beziehung zu dem Mädchen oder Jungen und seinen -238-
Eltern herzustellen. Dabei kann man durchaus ökonomisch vorgehen. Man muss sich nicht das ganze Jahr lang so verhalten, sondern klinkt sich speziell in den Phasen ein, in denen das Kind Schwierigkeiten hat. Das bedeutet nicht zwangsläufig Nachhilfeunterricht oder Therapie oder dergleichen. Wenn ein Kind in einem Fach nicht mitkommt, ist es Zeit, sich mit der Familie in Verbindung zu setzen. Wenn die Lehrerin weiß, dass ihr der Rücken gestärkt wird, kann sie Probleme identifizieren, die sie vorher wahrscheinlich nicht erkannt hätte, und dem Kind helfen, bevor es ins Schleudern kommt. SIG: Genau. Hinter Schwierigkeiten in der Geometrie, um bei dem Beispiel zu bleiben, verbirgt sich mitunter ein Problem mit einer Grundfertigkeit, etwa mit dem abstrakten oder räumlichen Denken. Es kommt ganz oft vor, dass Probleme mit den Geometrieaufgaben aus einer basaleren Störung resultieren. Manchmal helfen spezielle Übungen. Ich habe viele solcher Erst- oder Zweitklässler mit »Rechenblockaden« kennen gelernt. Ihnen scheint ein elementares Gefühl für Mengen zu fehlen. Wenn wir mit ihnen arbeiten, setzen wir ganz am Anfang an. Wir verhandeln darüber, wie viele Kekse sie haben wollen, wie viele Münzen oder Pizzastücke. Wir fragen: »Wie viele möchtest du?«, und sie können es dir nicht sagen. Ihnen fehlt das Gefühl für Mengen. Also gehen wir noch etwas weiter zurück zur visuellen, motorischen und räumlichen Bestimmung von Mengen. Wir fangen mit kleinen Zahlen an. Wir teilen die Pizza in sechs Stücke: »Okay, er bekommt zwei Pizzastücke und sie bekommt drei. Wie viele Stücke essen sie zusammen?« Das Kind hat die Pizza direkt vor sich stehen und sieht »zwei plus drei Stücke«. Es muss nur noch zählen, schafft es aber nicht. Daraufhin fordern wir es auf, die Augen zu schließen: »Pass auf, du stellst dir mit geschlossenen Augen die ganze Pizza vor, ja? Er bekommt zwei Stücke und sie nimmt drei. Wie viele Stücke sind das zusammen? Zähle mit geschlossenen Augen und stell dir die Pizza vor. Fass sie aber nicht an.« Wenn der Junge nun -239-
die Augen schließt und die Pizzastücke innerlich vor sich sieht, wissen wir, dass er das Konzept verstanden hat. Wir üben Addieren und Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren und Bruchrechnen. Dabei arbeiten wir nur mit kleinen Zahlen, maximal bis sechs. Wir lassen die Kinder nicht auswendig lernen, sondern fordern sie auf, sich die Mengen vorzustellen. Wir benutzen emotional bedeutsame Stimuli, Pizzastücke, Bonbons oder Münzen. Wenn sie dann wieder im Matheunterricht sitzen, sind sie selbstsicherer und kommen mit ihren Übungsaufgaben häufig sehr gut zurecht. TBB: Das ist also die Mathematik-Therapie! SIG: Die Kinder konnten die Rechenaufgaben nicht lösen, weil ihnen das Mengengefühl einfach fehlte. Wenn man dieses Problem identifizieren und bearbeiten kann, macht das Kind rasche Fortschritte. Ob es diesen Baustein aus Gründen, die mit dem zentralen Nervensystem zusammenhängen, nicht erworben hat oder ob ihm entsprechende Erfahrungen verwehrt blieben oder beides - das fehlende Mengengefühl war die Ursache seiner Schwierigkeiten. Dieser Ansatz unterscheidet sich radikal von dem Versuch, jede schulische Fertigkeit in einer bestimmten Klasse zu vermitteln und Kinder, die nicht mitkommen, durchfallen zu lassen. TBB: Bei den Frühinterventionen im Rahmen unseres Touchpoints-Modells gehen wir genauso vor wie ihr. Wir setzen am Entwicklungsstand des Kindes und der Eltern an und arbeiten uns Schritt für Schritt vorwärts. SIG: Ja, die Methode funktioniert auf jeder Ebene. Wenn der Lehrer ein Kind prüft, um zu sehen, ob es zehn Fakten auswendig weiß, ist dies ein defizitorientiertes Modell. Wenn der Lehrer aber danach schaut, inwieweit das Kind bereits historisch denken kann, arbeitet er mit einem erfolgsorientierten Modell. Das ist ein grundlegender Unterschied. Die einzigen Schulen, die sich nicht an den Defiziten, sondern vorrangig an den Fortschritten und Erfolgen ihrer Schüler orientieren, sind -240-
heute paradoxerweise die Privatschulen, die gewöhnlich von sehr intelligenten Kindern besucht werden. Aber nicht nur begabte Kinder profitieren von einem solchen Ansatz, sondern auch die weniger begabten. Viele Kinder bewältigen die Anforderungen, selbst wenn ihre Schule nicht perfekt ist. Andere aber, vor allem Schüler mit Lernschwierigkeiten, brauchen diese Prozessorientierung. Die Realität geht in unserem System völlig am Bedarf vorbei. Begabte Kinder erhalten in kleinen Privatschulklassen oder in freiwilligen Unterrichtsprojekten häufig Aufgaben, die speziell auf ihr Verständnisniveau zugeschnitten sind, während Kinder mit Lernschwierigkeiten oder anderen Problemen, zum Beispiel Kinder aus sozial schwachen Familien, in sehr großen Klassen sitzen, in denen sie nicht individuell gefördert werden können. Prüfungen und Benotungen sind dort weitgehend defizitorientiert. Empfehlungen 1. Familie. Die Familie sollte den Kindern die ganze Bandbreite an entwicklungsgerechten Erfahrungen ermöglichen. Dies setzt voraus, dass das Kind auf seiner Ebene angesprochen wird und sich die Entwicklungsleiter hocharbeiten kann. Für Kinder aller Altersgruppen gilt, dass sie nicht mehr als ein Drittel ihrer Wachzeit völlig sich selbst überlassen bleiben sollten. Das Familienleben sollte reserviert werden, um dem Kind dabei zu helfen, seine Welt zu verstehen und zu meistern, und um direkt mit ihm zu spielen und sich mit ihm zu unterhalten. Für Säuglinge und Kleinkinder gilt, dass man täglich mindestens vier zwanzigminütige Sequenzen für direktes interaktives Spiel, für Aktivitäten und Gespräche reservieren sollte; für Kindergarten- und Grundschulkinder mindestens zwei solcher Sequenzen. Kinder profitieren davon, wenn sich täglich beide Eltern an diesen Interaktionen beteiligen. Diesem entwicklungsorientierten Ansatz liegen folgende Prinzipien zugrunde: -241-
• Jedes Kind ist darauf angewiesen, dass seine Eltern täglich Zeit mit ihm verbringen, in der sie sich auf die Aktivitäten einlassen, die dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechen. Mit kleineren Kindern können sie sich Phantasiespiele ausdenken, während sich ältere Kinder eher für strukturiertere Spiele und Aktivitäten interessieren. Teenagern tut es gut, sich mit den Eltern angeregt unterhalten und auseinander setzen zu können. Diese Zeiten der Nähe und Wärme, in denen die Interessen des Kindes im Vordergrund stehen, schaffen die Basis für das stabile Sicherheitsgefühl, das alle Kinder brauchen. Sie schaffen auch die Grundlage für das Vertrauen, auf das sie in härteren Zeiten angewiesen sein werden. Ab dem Alter von etwa dreieinhalb Jahren bis ins Teenageralter ist es für alle Kinder wichtig, dass sie sich mit ihren Eltern über den Kindergarten, die Schule, über ihre Freunde und über ihre augenblicklichen Schwierigkeiten sowie über mögliche künftige Probleme unterhalten können. Die antizipierende Problemlösung setzt Gespräche voraus, in denen Eltern und Kinder gemeinsam versuchen, sich künftige Schwierigkeiten möglichst genau vorzustellen und zu überlegen, wie sich das Kind in solchen Situationen fühlen wird, was man normalerweise angesichts bestimmter Schwierigkeiten unternimmt und welche Alternativen eventuell infrage kämen. In Diskussionen mit Kindern ist es wichtig, deren Blickwinkel einzunehmen, auch wenn man selbst einen anderen Standpunkt vertritt. Ob man gemeinsam ein Spiel aufführt, dessen Hauptfigur wütend ist, oder eine hitzige Diskussion führt, weil das Kind länger aufbleiben oder sich vor einer Schularbeit drücken möchte - die Eltern sollten dem Kind zuerst einmal vermitteln, dass sie es verstehen, und entsprechende eigene Erfahrungen schildern, bevor sie gemeinsam nach einer besseren Lösung suchen. Die Herausforderungen, die Erwachsene zusammen mit den Kindern zu bewältigen haben, müssen so strukturiert werden, dass sie in kleinen Schritten zu meistern sind, gleichgültig, ob es -242-
gilt, eine mathematische Regel zu lernen, Pflichten im Haushalt zu übernehmen oder seine Spielsachen mit anderen zu teilen. Wenn die Kinder sehen, dass ihre Anstrengungen belohnt werden, geben sie sich im Allgemeinen große Mühe. All das bedeutet, dass die Eltern viel Zeit für das Familienleben reservieren müssen. Die Kinder brauchen sie, damit sie ihnen bei ihren Schulaufgaben oder Hobbys helfen, sich mit ihnen unterhalten oder mit ihnen spielen. Leitlinien für Säuglinge und Kleinkinder haben wir im 1. Kapitel formuliert. Kindergartenund Grundschulkinder sind darauf angewiesen, dass ein Erwachsener für sie da ist, wenn sie nachmittags nach Hause kommen. Am Abend sollten sich beide Eltern ab 18.00 Uhr dem Familienleben widmen. 2. Spiel mit Freundinnen und Freunden. Kinder brauchen Zeit, um sich außerhalb der Schule und unabhängig von festen Terminen (Fußballtraining, Ballettunterricht usw.) mindestens viermal wöchentlich mit Gleichaltrigen zu treffen. In diesen Beziehungen machen sie sich mit komplexen Denk- und Sozialisationsprozessen vertraut, die sie nur im freien Spiel einüben können. Jedes Kind braucht unverplante Zeit, die es mit seinen Peers, Geschwistern oder Eltern sowie allein und ohne Anleitung durch Erwachsene verbringt, um zu explorieren und zu spielen. 3. Hausaufgaben. Die Schularbeiten, die von den Schülern zu Hause gemacht werden müssen, sind lediglich eine der verschiedenen Erfahrungen, welche die intellektuelle und soziale Entwicklung des Kindes fördern. Wenn die Hausaufgaben die gesamte Freizeit beanspruchen, kommen andere Erfahrungen, die für eine gesunde Reifung und Entwicklung notwendig sind, zu kurz. Gespräche mit den Eltern und das Durcharbeiten komplizierter Peerbeziehungen fördern die intellektuelle Leistungsfähigkeit ebenso wie das Einüben mathematischer Regeln oder das Lesen eines Buches. Deshalb haben wir für Pädagogen und Eltern die folgenden Richtlinien -243-
formuliert: • Die Schule sollte es begrüßen, wenn die Eltern ihr Kind anhalten, seine Hausaufgaben zu erledigen, und ihm dabei helfen. • Vorschulkinder sollten keine Hausarbeiten aufbekommen. • Erst- und Zweitklässler sollten nicht länger als eine Stunde täglich an ihren Aufgaben sitzen. • Kinder in der dritten und vierten Klasse sollten nicht länger als eine bis eineinhalb Stunden zur Erledigung der Aufgaben benötigen. • In der fünften und sechsten Klasse sollten die Hausaufgaben maximal eineinhalb Stunden beanspruchen, • in der siebten und achten Klasse maximal zwei Stunden pro Tag. • In der neunten bis dreizehnten Klasse sollten die Jugendlichen nicht mehr als zwei Stunden täglich für ihre Aufgaben benötigen. Spezielle Arbeitsgruppen, Referate oder Prüfungsvorbereitungen sind hierbei nicht berücksichtigt. 4. Orientierung an den sich wandelnden Entwicklungsbedürfnissen der Kinder. Ebenso, wie sie das körperliche Wachstum (Größe, Gewicht usw.) des Kindes beobachten, sollten Eltern, Kinderärzte und Lehrer auch seine intellektuelle und emotionale Entwicklung sorgfältig verfolgen, um Stärken zu identifizieren und um zu erkennen, ob das Kind zusätzliche entwicklungsgerechte Erfahrungen braucht (vgl. die Touchpoint-Leitlinien sowie das Diagramm der Funktionsentwicklung im Anhang). 5. Schule. Die Chance, entwicklungsgerechte Erfahrungen sammeln zu können, übt einen grundlegenden Einfluss auf die schulische Leistungsfähigkeit der Kinder aus. Intelligenz und kognitive Fähigkeiten erwachsen aus diesen Erfahrungen, die die Grundsteine des Denkens und Lernens bilden. Das -244-
Eintrichtern und Memorieren von Fakten ist etwas anderes als die Einführung in die Art und Weise, wie man über die Welt nachdenken und sie verstehen kann. Ein entwicklungsorientierter Unterricht wird durch folgende Rahmenbedingungen erleichtert: • Kleine Klassen (Empfehlungen zur Klassengröße enthält das 3. Kapitel). • Dynamische, auf interaktive Problemlösungen konzentrierte Lehrpläne, die sich am individuellen Entwicklungsprofil des Kindes orientieren. • Schulische Förderkurse und innovative Projekte für Kinder, die auf spezifische Unterstützung angewiesen sind, zum Beispiel auf die Begleitung durch einen Erwachsenen, bei dem sie sich aufgehoben fühlen (Betreuungsprogramme am Nachmittag, kein Wechsel der Betreuerinnen in den ersten sechs Lebensjahren), oder auf Nachhilfeunterricht in Fächern, die ihnen Schwierigkeiten bereiten. • Außerschulische Angebote für Kinder, die sich für spezielle Sportarten interessieren, an Debattierklubs oder Mathematikwettbewerben teilnehmen möchten, Theater spielen, malen oder musizieren wollen usw. In diesen Bereichen sollten Anfänger- und Fortgeschrittenenkurse eingerichtet werden, die allen Kindern offen stehen. • Noten sollten zumindest in der Grundschule und im Idealfall auch in den weiterführenden Schulen durch Berichte ersetzt werden, die das Verständnisniveau des einzelnen Kindes erläutern und darlegen, inwieweit es die Grundkenntnisse der einzelnen Unterrichtsfächer beherrscht. • Die Einteilung in Leistungsgruppen sollte grundsätzlich fachspezifisch erfolgen. • Die Betonung sollte auf den Stärken des Kindes liegen. Die Unfähigkeit, eine bestimmte Fertigkeit zu erwerben, sollte nicht dazu führen, dass das Kind ein für alle Mal auf eine bestimmte -245-
Note festgelegt wird. Sein Problem sollte vielmehr als Fenster verstanden werden, das es ermöglicht, den augenblicklichen Leistungsstand, die Defizite und die Schwierigkeiten (zum Beispiel im Bereich der auditiven oder visuellen Verarbeitung) zu identifizieren, die durch gezielte Hilfe überwunden werden können. 6. Fernseh- und Computerzeit. Entwicklungsgerechte Erfahrungen setzen auch voraus, dass dem Fernsehkonsum oder dem Spielen am Computer Grenzen gesetzt werden. Dies ist die Aufgabe der Eltern. Die Zeit, die Kinder (ohne für die Schule zu arbeiten) am Computer oder vor dem Fernseher verbringen, sollte an Schultagen maximal eine Stunde und an den Wochenendtagen maximal zwei Stunden betragen. Zum Fernsehen und Computerspielen ist erst nach den Schulaufgaben, nach dem Spiel mit Freunden und nach Aktivitäten innerhalb der Familie Zeit. • l- bis 3-Jährige: nicht länger als 1/2 Stunde am Tag • 3- bis 5-Jährige: nicht länger als 1/2 Stunde am Tag • 6- bis 9-Jährige: nicht länger als l Stunde am Tag • 10- bis 16-Jährige: nicht länger als l Stunde am Tag 7. Sozialdienste und Rechtssystem. Orientiert am Konzept der entwicklungsgerechten Erfahrungen, sollten Rehabilitationsprojekte fehlende Erfahrungen nach folgenden Leitlinien zugänglich machen: • Kinder aus instabilen Familienverhältnissen benötigen zuverlässige, liebevolle Betreuer. • Kinder, die ohne Halt und Anleitung aufwachsen, brauchen angemessene Grenzen und Strukturen. • Verhaltensauffällige Kinder sind auf Unterstützung angewiesen, damit sie die oben beschriebenen Entwicklungsstufen bewältigen können. • Dem Rechtssystem wird empfohlen, mit einem Modell der -246-
Funktionsentwicklung zu arbeiten, anhand dessen die Verantwortungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen beurteilt werden kann. • Dem Rechtssystem wird auch die Einführung eines entwicklungsorientierten Rehabilitationsmodells empfohlen. Ein Entwicklungsprofil des Kindes oder Jugendlichen ermöglicht es, jene Erfahrungen zu identifizieren, die ihm helfen könnten. 8. Psychische Gesundheit. Auch die sozialpsychiatrischen Dienste müssen das Konzept der entwicklungsgerechten Erfahrungen berücksichtigen. Es genügt nicht, Symptome oder gar zugrunde liegende physiologische Störungen zu behandeln. Behandlungspläne müssen immer auch familiäre und psychosoziale Unterstützungsmaßnahmen beinhalten, da Kinder mit psychischen Problemen Zugang zu Erfahrungen brauchen, die ihrer Entwicklung angemessen sind. Dieser Aspekt ist ungemein wichtig, weil die meisten psychischen Probleme auch mit fehlenden entwicklungsgerechten Erfahrungen dieser oder jener Art zusammenhängen. Viele Kinder beispielsweise, die Probleme in Beziehungen haben, sind nicht imstande, soziale Hinweise und Signale korrekt zu lesen. Kinder, die extreme emotionale Reaktion zeigen, haben häufig das relativierende Denken in Grauzonen, insbesondere die relativierende Reflexion von Gefühlen, nicht erlernt. Jeder dieser Problembereiche kann, wenn man ihn unter dem Aspekt des kindlichen Entwicklungsprofils betrachtet, die Identifizierung spezifischer Erfahrungen ermöglichen, denen im Interventionsprogramm und im Leben des betreffenden Kindes eine größere Bedeutung beigemessen werden muss. Auf diese Weise können die Familie, die Schule und andere Settings, in denen das Kind seine täglichen Erfahrungen sammelt, zur Förderung seiner psychischen Gesundheit beitragen.8
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5. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH GRENZEN UND STRUKTUREN
Auch wenn im Großen und Ganzen Einigkeit darüber besteht, dass Kinder Grenzen, Struktur und Anleitung brauchen, beantworten Fachleute die Frage, wie dieses Bedürfnis am besten befriedigt werden könne, doch höchst unterschiedlich. Manche Erzieher glauben an vorrangig pädagogisch orientierte Methoden und treten dafür ein, Kindern genau zu erklären, »warum« dies und jenes notwendig sei, während andere der Meinung sind, dass bereits in den ersten Lebensjahren unverrückbare Normen gesetzt werden und Disziplin, Struktur und Respekt im Vordergrund stehen müssten. Diese Debatten reichen zurück bis in die 40er- und 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als man von den sehr strengen und rigiden Grundsätzen, an denen sich die Ernährung und Sauberkeitserziehung von Säuglingen und Kleinkindern zuvor orientiert hatte, zu den von Benjamin Spock und anderen Kinderärzten empfohlenen Methoden überging, die den individuellen Bedürfnissen des Kindes ein größeres Gewicht beimaßen. Es ist interessant zu sehen, dass die strukturierteren und die flexibleren Erziehungsmethoden einander im Laufe mehrerer Generationen regelmäßig abwechselten. An diesen Grundfragen entzünden sich auch heute noch, fünfzig oder sechzig Jahre später, Diskussionen. Um diese Fragen klären zu können, muss man verstehen, wie Säuglinge und kleine Kinder lernen. Jeder Lernprozess, auch das Erlernen von Grenzen und Strukturen, ist eingebettet in die liebevolle Zuwendung, die dem Kind Vertrauen, Wärme, Intimität, Empathie und ein Gefühl der Verbundenheit mit den Menschen, die es umgeben, vermittelt. Grenzen und Strukturen müssen auf -248-
Zuwendung und Fürsorge aufbauen, denn mit dem Wunsch des Kindes, den Menschen, die es liebt, Freude zu bereiten, ist die Aufgabe, ihm die Internalisierung von Grenzen zu ermöglichen, bereits zu 90% gelöst. Kinder suchen die Zustimmung ihrer Bezugspersonen aus verschiedenen Gründen: weil sie diese Menschen lieben und von ihnen anerkannt und respektiert werden möchten oder weil sie sich vor deren Missbilligung fürchten. Selbstverständlich sind Angst und das Bedürfnis zu gefallen häufig gleichzeitig im Spiel. Kinder lernen auch, indem sie sich die Menschen ihrer Umgebung zum Vorbild nehmen. Moral erwächst aus dem Versuch, so zu werden wie ein bewunderter Erwachsener. Die Gründe, weshalb Kinder Grenzen respektieren, sind deshalb wichtig, weil die zu Hause erlernten Regeln verallgemeinert und auch in anderen Settings befolgt werden müssen, zum Beispiel in der Schule und im Freundeskreis. Je älter das Kind wird, desto zahlreicher werden die Versuchungen, mit denen es konfrontiert ist. Kinder, die ihre Aggression und ihren »Ungehorsam« lediglich aus Angst zügeln, werden sich in Gegenwart einer Autoritätsfigur anpassen, um einer Strafe zu entgehen. Angst ist tendenziell situationsspezifisch. Wird sie exzessiv, kann sie das Kind in einem solchen Maße hemmen, dass es zu einer gesunden Form der Selbstbehauptung nicht mehr fähig ist - auch dies ist keine wünschenswerte Entwicklung. Zudem fällt es sehr ängstlichen Kindern schwer, Regeln zu generalisieren. Ein Kind zum Beispiel, das sein kleines Geschwisterchen aus Angst vor der Mutter nicht schlägt, schreckt unter Umständen nicht davor zurück, in der Schule andere Kinder zu verprügeln, denn dafür wurde es nicht ausdrücklich bestraft. Kinder, die durch Angst diszipliniert wurden, sind als Jugendliche anfälliger für Alkohol- und Drogenmissbrauch und delinquentes Verhalten. Sofern Eltern die Anpassung an Normen und Regeln als einen Lernprozess betrachten und diesen einfühlsam und liebevoll -249-
unterstützen, fühlt sich ihr Kind wohl, wenn es solche Grenzen respektiert. Es spürt, dass es den Eltern Freude bereitet, und empfindet ein Gefühl der Nähe und Geborgenheit. Wenn die Mutter es jedoch enttäuscht ansieht, weil es sein Schwesterchen geschlagen hat, empfindet es ein Gefühl des Verlustes, weil es die vertraute Zustimmung und Wertschätzung vermisst. Ein Kind, das diese positiven Gefühle nie empfunden hat, wird angesichts von Missbilligung auch kein Verlustgefühl entwickeln, das es motivieren könnte, sein Verhalten aus eigenem Antrieb zu ändern. Schläge und Prügelstrafen sind als Erziehungsmaßnahmen nicht länger akzeptabel. Kinder zu erziehen bedeutet nicht, sie für ihr Fehlverhalten zu bestrafen, sondern ihnen die Anerkennung von Regeln und Grenzen zu erleichtern. Körperliche Bestrafung ist respektlos. Sie muss das Selbstwertgefühl zwangsläufig beeinträchtigen. In dem geprügelten Kind staut sich möglicherweise Wut auf, die sich später entlädt. Zu bedenken ist außerdem, dass die Anwendung von Gewalt in unserer Gesellschaft ohnehin weit verbreitet ist. Wer ein Kind schlägt, um Auseinandersetzungen zu beenden, sagt ihm damit: »Das ist unsere Art, Konflikte zu lösen. Auf Frustration oder Wut reagieren wir mit Gewalt.« Wir können es uns nicht mehr leisten, Kindern diese Botschaft zu vermitteln. Statt ihr Kind zu bestrafen, müssen Eltern jede Gelegenheit nutzen, um sich mit ihm zusammenzusetzen und ihm zu erklären: »Immer, wenn du das machst, muss ich deinem Treiben Einhalt gebieten - so lange, bis du dich selbst bremsen kannst.« Der erste Schritt besteht grundsätzlich darin, den Kreislauf rasch zu durchbrechen (Halten, Isolation, Auszeit). Danach sollte man mit dem Kind sprechen und ihm die Situation erklären. Gehorsam erlernt man nicht auf die Schnelle. Das Ziel besteht darin, dem Kind dabei zu helfen, seine Impulse nach und nach selbstständig zu kontrollieren. Brauchen Kinder weiterhin Hilfe, wenn sie in Wut geraten -250-
oder alles stehen und liegen lassen wollen, weil vielleicht ein Freund auf sie wartet oder die Familie zu einem Ausflug aufbrechen will? Natürlich. In solchen Situationen müssen die Eltern Strukturen vorgeben, ohne es an liebevoller, einfühlsamer Fürsorge fehlen zu lassen: »Tut mir Leid, mein Lieber. Wir können erst dann losfahren, wenn du deine Spielsachen aufgeräumt hast, und wir werden alle zu spät kommen.« Den Diskussionen über Konflikte und dem Versuch, die Ursachen von Regelverstößen zu ergründen, kann man also durchaus mit Sanktionen Nachdruck verleihen. Kinder, die auf diese Weise erzogen werden, geben sich später Mühe, auch von anderen Erwachsenen, zum Beispiel ihren Lehrern, respektiert zu werden und deren liebevolle Zuwendung, Bewunderung und Anerkennung zu finden. So bildet das Gefühl, geborgen zu sein, unterstützt und geliebt zu werden, die Grundlage für das Gefühl, respektiert und bewundert zu werden, und dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass das Kind ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln kann, andere Menschen zu achten und zu respektieren lernt und sein Verhalten an internalisierten Normen orientiert. Normen werden auf verschiedenen Ebenen internalisiert. Eingebettet sind sie in das Gefühl, von anderen behütet und umsorgt zu werden. Daraus geht das Gefühl, behütet und umsorgt und respektiert zu werden, hervor. Die Achtung, mit der die Betreuungspersonen dem Kind begegnen, ermöglicht es ihm, eigene innere Ziele und schließlich Wertvorstellungen zu entwickeln, an denen es sein Verhalten orientiert, so dass es sich auch in Abwesenheit von Autoritätsfiguren zufrieden und sicher fühlen kann. Kinder oder Jugendliche, die ein solches inneres System stabil verankert haben und von inneren Werten und Zielen geleitet werden, wissen sich in den unterschiedlichsten Situationen angemessen zu verhalten, weil es ihnen nicht allein darum zu tun ist, ihren Eltern oder ihren Lehrern zu gefallen oder sozialen Normen zu gehorchen, sondern weil sie ihren -251-
eigenen inneren Wert- und Zielvorstellungen gemäß handeln möchten. Während Grenzen, die auf Angst beruhen, vorwiegend situationsspezifisch bleiben und kaum generalisierbar sind, bilden die internalisierten Grenzen die Grundlage der Entwicklung differenzierter innerer Leitlinien, die für die Orientierung in unserer komplexen, vielgestaltigen Gesellschaft überaus notwendig sind. Diese Entwicklung beginnt im ersten Lebensjahr und setzt sich in allen weiteren Phasen fort.1 Bevor das Kind verbal argumentieren kann, werden Grenzen durch die nonverbale, gestische Verständigung gesetzt. Wir beobachten dies zum Beispiel, wenn ein Krabbelkind eine Steckdose ins Visier genommen hat und sich ihr nähern will. Die Mutter schüttelt ablehnend den Kopf und betont ihren Einspruch, indem sie entschieden »nein« sagt und dabei mit dem Finger auf den Anschluss zeigt. Das Kleinkind schaut sie verschmitzt lächelnd an, hält kurz inne und strebt seinem Ziel erneut entgegen. Diese wechselseitige gestische Kommunikation wiederholt sich unter Umständen fünf- bis sechsmal, bevor die Mutter dem Kind den Zugang zur Steckdose verwehren muss, indem sie es hochnimmt und ihm freundlich, aber entschieden erklärt: »Das darfst du nicht, mein Schatz, das kann ich nicht zulassen. Du darfst nicht an der Steckdose spielen.« Das Kind lernt auch, dass es weniger ernste gestische Verhandlungen gibt. Wenn es zum Beispiel bei der Mutter im Kinderzimmer bleiben soll, aber ins Wohnzimmer läuft, wird die Mutter ebenfalls intervenieren. Ihre Stimme klingt jedoch weniger streng als in der Steckdosenepisode. Erst wenn das Kind die Hand ausstreckt, um eine Vase aus dem Regal zu holen, wird der Tonfall ernster. In anderen Situationen macht das Kind die Erfahrung, dass es einfach hochgehoben und aus der Gefahrenzone verbannt wird. Auf diese Weise lernt es, dass Erwachsene seinem Verhalten unterschiedlich strenge Grenzen setzen. In solchen Interaktionen kann sich eine fein abgestimmte Verhandlung entwickeln, durch die das Verhalten des Kindes -252-
reguliert wird. Auf dem Verständnis dieser Art von Grenzen baut eine zweite Ebene auf. Mit achtzehn bis dreißig Monaten entwickeln Kinder Vorstellungen, Symbole oder innere Bilder. Sie können sich angesichts einer Versuchung selbst ermahnen: »Nein, nein« oder »Darfst du nicht!«. Das Kind vermag sich nun vorzustellen, dass Papa ablehnend den Kopf schütteln wird, und es kann sich, orientiert an einer inneren Leitvorstellung, die Befriedigung bestimmter Impulse versagen. Wenn das Kind im Alter von dreißig bis achtundvierzig Monaten Vorstellungen miteinander zu verbinden lernt, kann es eine innere Diskussion fuhren (»Ich sollte das eigentlich nicht tun, aber ich möchte so gerne...«) und die Folgen bestimmter Verhaltensweisen antizipieren (»Wenn ich das mache, darf ich nicht fernsehen oder muss eine Auszeit nehmen« oder »Wenn ich lieb bin, sind Mama und Papa stolz auf mich«). Das Kind benutzt nicht von Anfang an all diese Worte; mit etwa vier Jahren aber ist es dazu in der Lage. Es verknüpft verschiedene Ideen miteinander, um Konsequenzen vorauszusehen und sich Alternativen zu überlegen. Nun kann die Mutter ihm zum Beispiel erklären: »Immer, wenn du das machst, muss ich dir Einhalt gebieten - so lange, bis du dich selbst zügeln kannst.« Die Grundlage all dieser unterschiedlichen Ebenen sind der Wunsch des Kindes, seine Eltern zu erfreuen, seine Sehnsucht, von den Betreuungspersonen geachtet zu werden, und schließlich seine Fähigkeit, diese Achtung und Bewunderung als innere Ziele und Leitlinien zu verankern. Sobald Kinder und Jugendliche ein solches inneres Wertsystem konsolidiert haben, finden sie in sich selbst Stärke und Sicherheit, indem sie ihren Zielen nachstreben. Die liebevolle, umsichtige Fürsorge der Eltern schafft daher die Grundlage einer sicher verankerten moralischen Haltung und der Fähigkeit, sich an Regeln anzupassen.2 Den Dreh- und Angelpunkt der Erziehung bilden -253-
Erwartungen. Eltern erwarten von ihren Kindern, dass sie in der Schule lernen, sich in eine Gemeinschaft einfügen, auf andere Menschen Rücksicht nehmen und sich einfühlsam verhalten. Gleichzeitig erwarten wir, dass sich Kinder eigene Ziele setzen. Wir hoffen, dass es sie befriedigen wird, Ziele zu erreichen, die ihnen wichtig sind, und dass sie nicht lediglich die Vorstellungen ihrer Eltern realisieren. In unseren Diskussionen haben wir einige wenige Leitlinien herausgearbeitet. Von zentraler Bedeutung ist der Grundsatz, dass Kinder aus ihren Beziehungen zu uns Erwachsenen lernen und dass sie auf der Basis dieser Beziehungen eigene Erwartungen entwickeln. Sie lernen aber nicht nur durch das, was wir sagen, sondern vor allem durch unsere Art und Weise, auf sie einzugehen und dies in Worte zu fassen. Empathie zum Beispiel wird nicht vermittelt, indem man Kindern erklärt, dass sie zu anderen freundlich sein sollen oder dass sie sich bemühen müssen, andere zu verstehen. Vielmehr müssen Eltern die Geduld aufbringen, ihren Kindern wirklich zuzuhören, damit diese sich verstanden fühlen können. Ein Kind, das erfahren hat, wie sich Empathie »anfühlt«, kann sich in seinen Beziehungen auch selbst empathisch verhalten. In ähnlicher Weise kann man Liebe zwar ausführlich beschreiben, aber wenn wir uns nicht geliebt fühlen, fehlt uns der emotionale Bezugspunkt, um zu verstehen, was mit dem Wort wirklich gemeint ist. Wir müssen diese komplizierten Gefühle selbst empfinden, um sie zu begreifen und um zu lernen, sie in der Beziehung zu anderen Menschen zu leben. Ein zweites wichtiges Merkmal der Erwartungen besteht darin, dass wir dem Kind durch die Art und Weise, wie wir leben, und durch die Ziele, für die wir uns engagieren, allgemeine, grundsätzliche Wertvorstellungen vermitteln. Allgemeine Ziele sind seiner Entwicklung zuträglicher als eng gefasste, spezifische Ziele. So ist es ein grundsätzliches Ziel, die Welt kennen zu lernen und zu entdecken und die Erregung zu -254-
verspüren, die durch die Befriedigung unserer Wissbegierde in uns geweckt wird. Ein solches Ziel schreibt dem Kind nicht vor, wofür es sich interessieren soll - für die Biologie oder die Literatur -, sondern bringt ihm jene Faszination an Lernprozessen nahe, die in einer komplexen Gesellschaft unverzichtbar ist. Allgemeine Ziele abzustecken bedeutet nicht, dass man dem Kind einen Vortrag darüber hält, wie wichtig es ist, schlau zu sein und viel zu wissen. Vielmehr müssen wir dem Kind die Chance geben, unsere Erregung mitzuempfinden und unsere Neugierde zu teilen, wenn wir den Wald erforschen oder ihm ein Buch vorlesen oder über Politik diskutieren oder ein Spiel nach selbst erdachten Regeln spielen. Ein anderer Bereich, in dem unsere Erwartungen eine prägende Rolle spielen, ist die Gesundheit - die Freude am Tanzen, am Mannschaftssport, am Joggen oder an gesunder Ernährung. Kindern macht es Spaß, solche Aktivitäten mit den Eltern zu teilen, gleichgültig, ob es sich um ein Spiel handelt, ein gemeinsames Essen oder einen Bootsausflug. Der nächste Schritt in der Entwicklung gesunder Erwartungen besteht darin, dem Kind zu zeigen, dass seine unverwechselbare Identität geachtet und respektiert wird, denn nur so wird es ihm gelingen, seine persönlichen, individuellen Besonderheiten zu entfalten. Die Fähigkeit des Kindes, selbstständig zu entscheiden, was es tun möchte, beruht auf der Gewissheit, dass seine unverwechselbaren besonderen Eigenschaften geachtet und geschätzt werden. Hier berühren wir einen Punkt, der bereits angesprochen wurde - die Anerkennung der individuellen Besonderheiten. Kindern, die sich als unverwechselbar und einzigartig erleben, gelingt es weit besser, Erwartungen an ihre Beziehungen zu entwickeln und sich Ziele für ihre schulische und berufliche Laufbahn zu setzen, die ihnen Befriedigung vermitteln und für sie bedeutsam sind. Sie fühlen sich nicht getrieben, lediglich die Vorstellungen ihrer Bezugspersonen zu verwirklichen. Ein solcher Druck könnte sie veranlassen, zu -255-
rebellieren oder sich den Erwartungen anderer zu unterwerfen oder auch in völliger Passivität zu verharren. Allerdings gibt es noch einen weiteren Aspekt, der zur Entwicklung eigener Vorstellungen und Ziele beiträgt, die dem Kind wirklich am Herzen liegen. Es muss Freude und Befriedigung über seine Kompetenz in jenen Bereichen des Lebens empfinden, die ihm wichtig sind oder später einmal wichtig sein werden. Dieses Kompetenzgefühl stellt sich nicht erst ein, wenn man als Fußballer bereits in der Profiliga spielt oder als Wissenschaftler zu den Nobelpreisaspiranten zählt; es beginnt mit jenen kleinen Schritten, aus denen der Lernprozess an sich besteht. Wenn man eine natürliche Begabung besitzt, zum Beispiel gut tanzen kann, macht es einem Spaß, komplizierte Schritte zu erlernen, da man sie als etwas ganz Natürliches empfindet. Bei einem unbegabten Tänzer hingegen wirken die gleichen Schritte ungelenk und schwerfällig, und er fühlt sich überhaupt nicht wohl dabei. Eine einfache Schrittfolge hingegen kann auch ihm Freude bereiten. Eine Dreijährige, die es nicht schafft, einen Kreis oder ein Dreieck nachzumalen, freut sich vielleicht wie ein Schneekönig über das Gekritzel, das sie zu Papier bringt. Wenn das Kind und ein Erwachsener einander gegenübersitzen, jeder mit einem Stift in der Faust, und einen Kritzel in die Luft malen, ist das Kind vielleicht stolz auf sein Kunstwerk. Nach einigen Wochen gelingt es ihm, eine Linie zu zeichnen, die sich etwas später zum Kreis schließt, bis das Kind nach und nach lernt, sich über die Figuren, die es nun zeichnen kann, zu freuen. Ein anderes Kind fängt gleich mit den Kreisen an und ist nach drei, vier Wochen imstande, einzelne Buchstaben zu malen. Jedes Kind hat seine eigenen Abläufe, und wenn wir anerkennen, dass es seine Fertigkeiten auf je individuelle, persönliche Weise und in seinem eigenen Tempo entwickeln muss, beugen wir Enttäuschungen vor und fördern sein Kompetenzgefühl und Wohlbehagen. -256-
Wenn Kinder gegen Erwartungen aufbegehren, sind sie häufig nicht in der Lage, ihnen gerecht zu werden. Daher haben wir als Eltern und Lehrer die Pflicht, ihnen Gelegenheiten zu geben, sich kompetent zu fühlen und jeden kleinen Fortschritt voller Stolz zu genießen. Das bedeutet nicht, ihnen harte Arbeit zu ersparen, im Gegenteil. Kinder sind durchaus zu großen Anstrengungen bereit, wenn sie sich ihrer Aufgabe gewachsen fühlen und sie ihnen Spaß macht. Kein Kind entscheidet sich freiwillig für Dinge, die ihm von Natur aus schwer fallen. Eine Schülerin, die gut lesen kann, oder ein hervorragender Mathematikschüler ist nicht motivierter oder gewissenhafter als ein Kind, das sich vor dem Lese- oder Matheunterricht am liebsten drücken würde. Das Lesen beziehungsweise Rechnen kostet sie lediglich weniger Mühe und vermittelt ihnen daher Befriedigung. Das Kind hingegen, dem diese Fächer schwer fallen, fühlt sich unbehaglich und fehl am Platz. Wenn wir die einzelnen Schritte, aus denen sich die verschiedenartigen Fähigkeiten aufbauen, verstehen, können wir unsere Lehrmethoden besser auf das individuelle Kind zuschneiden und es so einer größeren Anzahl von Kindern ermöglichen, sich wirklich kompetent zu fühlen.3 Die an seinen Fähigkeiten und Fortschritten ansetzende Arbeit hilft dem Kind, Erwartungen mit einer selbstsicheren, optimistischen Haltung zu assoziieren. Von den ersten Lebenstagen an tauchen während des gesamten Lebenszyklus immer wieder Gelegenheiten auf, aktiv zu lernen, statt Erfahrungen lediglich passiv in sich aufzunehmen. Das neugeborene Baby, das den Kopf dreht und wendet, um nach der Quelle der faszinierenden Stimme zu suchen, mit der sein Vater aus wechselnden Richtungen zu ihm spricht, behauptet seinen Willen, die Welt zu entdecken. Es kann sich weit aktiver verhalten als ein Baby, dessen Eltern lediglich vor ihm sitzen und ihm etwas »erzählen« oder es zur Beruhigung sachte schaukeln. Die Mutter, die ihrem sechzehn Monate alten Kind das Lieblingsspielzeug herbeiträgt, fördert -257-
eine passive Haltung, während die Mutter, die dem Kind die Hand reicht und es auffordert: »Komm, wir suchen es zusammen«, dem Kleinen Gelegenheit zu Problemlösung und Selbstbehauptung gibt. Die Mutter, die ihr Vorschulkind vor den Fernseher pflanzt, leistet der Passivität Vorschub, während die Mutter, die sich zu dem Kind auf den Boden setzt und sich seinem Phantasiespiel anschließt, seine Aktivität unterstützt. Phantasievolles Spiel, meinungsorientierte Gespräche, in denen das Kind Gedanken erarbeiten muss, und lebhafte Debatten fördern die Selbstbehauptung, und zwar nicht allein auf der Verhaltensebene, sondern auch auf der Ebene des eigenständigen Denkens. Eltern, die sich die Gesprächsmethode des Sokrates zum Vorbild nehmen, um mit dem Kind zusammen Lösungen zu erarbeiten, oder die in Diskussionen auch einmal die Rolle des Advocatus Diaboli übernehmen, fördern eine assertive Haltung gegenüber der Welt. Durch Interaktionen dieser Art lernen Kinder auch, Frustrationen zu tolerieren und Verluste und Enttäuschungen zu verwinden. Indem wir es ihnen ermöglichen, die Lerninstrumente zu meistern, die sie in all ihren Lebensbereichen brauchen, unterstützen wir ihre Selbstbehauptung und ihre Fähigkeit, Vorstellungen zu entwickeln und zu verwirklichen. Im Rahmen verlässlicher Strukturen und angemessener Grenzen und in einer liebevollen Atmosphäre, in der sich das Kind in seiner Individualität geschätzt und bewundert fühlt, helfen ihm solche Anreize, sich innere Ziele zu setzen und sie konsequent zu verfolgen. Diskussion SIG: Viele Menschen sind der Meinung, dass man Kinder verhätschelt und verwöhnt, wenn man ihre individuellen Besonderheiten respektiert und sich an ihrem Entwicklungsstand orientiert. In Wahrheit jedoch ist die Anerkennung des Entwicklungsstandes ein sehr wichtiger Aspekt des Setzens von Grenzen. Das Entwicklungsniveau und die individuellen -258-
Besonderheiten müssen berücksichtigt werden. Wenn Eltern und Kinder gemeinsam über die Konsequenzen nachdenken, mit denen jeder zu rechnen hat, der seinen Pflichten nicht nachkommt, sind alle Familienmitglieder an der Festlegung von Grenzen beteiligt. Eine Atmosphäre, in der Erwartungen, Strukturen und Grenzen dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes angemessen sind, ist für die Grundsicherheit, über die wir bereits gesprochen haben, unverzichtbar. TBB: Ich würde sagen, dass die Disziplin das Zweitwichtigste ist, was man einem Kind vermitteln kann. An erster Stelle steht die Liebe, gleich danach aber folgt die Disziplin. Unser Ziel ist es, das Kind nicht zu bestrafen, sondern ihm das Erlernen von Selbstdisziplin zu ermöglichen. Das Wort Grenzen klingt vielleicht allzu streng. Langfristig soll das Kind lernen, seine Impulse selbst zu kontrollieren und gesteckte Ziele konsequent zu verfolgen; diese Fähigkeit stellt sich nicht über Nacht ein. Das Kind erwirbt sie nicht durch Zauberei. In Gesprächen gewinnt man oft den Eindruck, als ließen sich sämtliche Konflikte, die das Kind durch sein Fehlverhalten heraufbeschwört, durch die fünfminütige Auszeit lösen. Dies entspricht nicht meiner Vorstellung von Disziplin. Wenn sich ein Kind an bestimmte Regeln nicht hält, muss man den Kreislauf zunächst einmal unterbrechen, und zwar effektiv, sei es durch eine Auszeit oder wie auch immer. Sobald uns das Kind wieder aufmerksam zuhören kann, setzt man sich mit ihm zu einem Gespräch zusammen: »Lass uns über die Sache reden. Du darfst das einfach nicht tun. Deshalb muss ich dich jedes Mal, wenn du es doch machst, bremsen. Wie soll ich dich bremsen? Kannst du mir helfen? Du erklärst mir, was ich tun soll, denn das ist deine Aufgabe, nicht meine. Ich finde, dass du in dieser Sache Verantwortung übernehmen musst.« Im Alter von vier oder fünf Jahren kann dir das Kind nicht nur sagen, wie du seinem Fehlverhalten Einhalt gebieten kannst; es ist auch in der Lage, an dem Prozess mitzuwirken - zuweilen mit -259-
wunderbaren Ergebnissen. So würde ich mit Grenzen umgehen. Jedes Fehlverhalten wird zu einer Gelegenheit, das Einhalten von Grenzen zu erlernen - ein langfristiges Ziel. Körperliche Bestrafung SIG: Was denkst du über körperliche Bestrafung? Wahrscheinlich lehnst du Schläge ebenso ab wie ich. Leider gibt es auch heute noch allzu viele Familien, in denen Kinder geprügelt und sogar misshandelt werden. TBB: Wenn ich aber mit einer Mutter spreche, die ihr Kind prügelt, muss ich das Problem unter ihrem Blickwinkel betrachten. Ich könnte etwa sagen: »Es ist bestimmt sehr schwierig, ein Kind zu haben, das einem so wichtig ist und einen gleichzeitig auf die Palme bringt. Kann ich Ihnen helfen? Was könnten wir tun, damit der Druck, unter dem Sie stehen, nachlässt und Sie wieder durchatmen können?« Es hat keinen Zweck, einer Mutter, die ihr Kind gerade verprügelt und die Kontrolle verloren hat, verbal zuzusetzen. Man muss ihr helfen, ihre Fassung zurückzugewinnen. SIG: In Konfliktsituationen sichern wir uns die Aufmerksamkeit des Kindes am besten durch Strafen, die seinem Entwicklungsstand entsprechen. Bei Schulkindern kann man zum Beispiel ein Computerverbot verhängen und Ähnliches. Letztlich aber geht es darum, die Kinder zu motivieren, zuzuhören und den Konflikt gemeinsam mit uns zu besprechen, denn wir wollen ihnen helfen, die Gründe zu verstehen und zu begreifen, dass man sich in solchen Situationen auch anders verhalten kann. TBB: Erziehung beginnt im Alter von acht oder neun Monaten, wenn das Kind zum Fernseher krabbelt und sich nach dir umsieht, um sich zu vergewissern, dass du auch da bist. In den nächsten neun Monaten lassen sich die Kleinen noch gut ablenken und zur Not nimmt man sie auf den Arm. Im Alter von eineinhalb bis dreieinhalb Jahren entwickeln sie -260-
ein ausgeprägtes Bedürfnis nach festen, aber liebevoll gesetzten Grenzen. Wenn Eltern auf provozierendes Verhalten mit deutlicher Ablehnung reagieren, ist das Kind geradezu erleichtert. Bestimmte ruhige, respektvolle Grenzsetzungen wie das Halten oder die Auszeit sind für den ersten Moment gut geeignet. Unmittelbar danach aber muss man dem Kind eine Erklärung geben: »Immer, wenn du das machst, muss ich dich bremsen - so lange, bis du dich selbst bremsen kannst.« Kindern zwischen dreieinhalb und sechs Jahren kann man den Konflikt bereits differenzierter erklären: »Immer, wenn du das machst, werde ich wütend. Ich möchte nicht wütend auf dich sein. Hast du irgendeinen Vorschlag, der mir hilft, dir zu helfen, bevor der Ärger da ist?« Danach zeigt man die Grenzen noch einmal auf und erklärt, weshalb man auf ihre Einhaltung achten muss, solange sich das Kind keine eigenen Grenzen setzen kann. Prügelstrafen helfen nicht weiter. Ausgewogenheit zwischen Grenzen und liebevoller Fürsorge SIG: Abgesehen davon, dass Eltern Grenzen setzen müssen, empfehle ich ihnen auch, dass sie sich täglich Zeit nehmen, um entspannt mit dem Kind zu interagieren. Ich bezeichne dies als Bodenzeit. Wenn man sich eine Zeit lang gemeinsam den Interessen des Kindes widmet, kann man häufig problemlösende Gespräche führen und zusammen Grenzen ausarbeiten. Dabei kann man auch künftige Situationen antizipieren, und man fühlt sich in die Perspektive des Kindes ein, selbst wenn man einen anderen Standpunkt vertritt. Man sollte grundsätzlich versuchen, Veränderung in kleinen Schritten herbeizuführen. Man sorgt dafür, dass sich das Kind überwiegend als erfolgreich erleben kann und nicht das Gefühl haben muss, auf Schritt und Tritt zu versagen. Wenn man sehr viele Grenzen setzen muss, reserviert man besonders viel Zeit für das entspannte gemeinsame Nichtstun. Gerät man in eine Situation, in der weitere Grenzen notwendig werden, darf man nicht zulassen, dass sich die Beziehung verschlechtert, denn sonst könnte man auf das Kind -261-
wütend werden, das dann seinerseits aggressiv reagiert. Womöglich zieht man sich von ihm zurück und spielt nicht mehr mit ihm, weil man das Gefühl hat, vor Wut zu platzen. Das ganze Leben wird so zu einem Machtkampf. Fürsorglichkeit, Wärme und Intimität bleiben auf der Stecke. Wenn man die Grenzen verschärft, muss man für mehr Fürsorglichkeit und Wärme sorgen. Wenn man mehr gibt, kann man mehr erwarten. TBB: Es ist hilfreich, jedes Mal, wenn sich das Kind an seine internalisierten Regeln hält, eine erläuternde Bemerkung zu machen. Eltern sollten auch als Vorbild dienen und ihren Kindern gelegentlich schildern, wie sie sich selbst unter Kontrolle halten: »Ich war so wütend auf die Frau, die sich vor mir in die Schlange gedrängelt hat, dass ich sie am liebsten von hinten geschubst hätte. Aber das geht natürlich nicht.« SIG: Ich finde es erstrebenswert, wenn das Kind voraussehen kann, womit es sich Schwierigkeiten einhandelt. Es sollte sich vorstellen können, wie es sich selbst fühlt, wenn es seinen kleinen Bruder schlägt, wie sich der andere fühlt und wie es zu der Situation gekommen ist. Man kann das Kind fragen, wie es normalerweise reagiert, wenn die kleine Schwester es beißt. Gibt es vielleicht andere Möglichkeiten, sich zu wehren, mit denen es sich keinen Ärger einhandelt? Auf diese Weise lernt das Kind, sich Situationen und sein eigenes Verhalten vorzustellen, insbesondere den emotionalen Aspekt. Dann bist du sozusagen der gute Schutzmann. Wenn es das kleine Geschwisterchen erneut schlägt, bekommt es einen Strafzettel und muss ein »Bußgeld« zahlen - oder welche Sanktion auch immer man vereinbart hat. Danach aber spricht man den Konflikt mit ihm durch und hilft ihm, sich zu überlegen, was es tun kann, damit es bei der nächsten Gelegenheit nicht wieder in die Bredouille gerät. Erfahrungen dieser Art sind ungemein wichtig: Durch sie lernen die Kinder, mit ihrem Egoismus, ihrer Wut und ihren Ansprüchen umzugehen. Der wichtigste Schritt -262-
in der Entwicklung zu einer reifen Persönlichkeit ist die Bewältigung von Enttäuschungen. Das ist sehr wichtig. Indem man sich in das Kind einfühlt, hilft man ihm, seine Frustration darüber auszudrücken, dass nicht alles nach seinem Willen läuft oder dass es sich ungerecht behandelt fühlt. Durch die Grenzen, die man setzt, und durch die Gespräche darüber vermittelt man außerdem Ziele und Erwartungen, und diese Haltung verleiht dem Kind ein Gefühl der Sicherheit. Grenzsetzung und berufstätige Eltern TBB: Mir ist noch etwas aufgefallen: Berufstätigen Eltern fällt es sehr schwer, über Grenzen nachzudenken. Das ist an der heutigen Generation gut zu beobachten. Die Mütter erklären mir: »Ich ertrage es nicht, den ganzen Tag über weg zu sein und dann nach Hause zu kommen und mich autoritär zu gebärden.« Man muss ihnen den Rücken stärken, damit sie sich bewusst machen können, dass Regeln und Grenzen für das Kind wichtig sind. Ein Grund, weshalb Kinder am Abend, wenn die Mutter nach Hause kommt, quengelig und ungezogen werden und ausrasten, besteht darin, dass ihnen die Sicherheit fehlt, die durch Grenzen vermittelt wird. Wir müssen darauf achten, wie schwer es heutzutage für Erwachsene ist, ihre Autorität geltend zu machen. Sie wollen sich in der knapp bemessenen Zeit, die sie gemeinsam mit ihren Kindern verbringen, nicht zum Buhmann machen.4 SIG: Damit sprichst du ein wichtiges Thema an. Wenn man seinen Sohn den ganzen Tag lang nicht gesehen hat und der Kleine am Abend verrückt spielt, ist einem natürlich nicht wohl bei der Vorstellung, unverzüglich zu intervenieren und Grenzen zu ziehen, denn man hat ohnehin ein schlechtes Gewissen, weil man sich den ganzen Tag nicht um das Kind gekümmert hat. Bei diesem Problem sind zwei Seiten zu bedenken: Die Eltern haben Schuldgefühle; sie glauben, nicht das Recht zu haben, Grenzen zu setzen, und das Kind macht ihnen - so wie du es beschrieben hast - mit seiner Quengeligkeit oder Ungezogenheit vielleicht -263-
klar, dass kompliziertere Dinge im Spiel sind. Um erfolgreich Grenzen setzen zu können, müssen sich die Eltern zunächst einmal Zeit für das Kind nehmen; dann bekommen sie kein schlechtes Gewissen, wenn sie es an Regeln erinnern und auf deren Befolgung pochen. Wenn die Mutter wirklich »da« ist, nachts aufsteht, sobald das Kind wach wird, und durch dick und dünn mit ihm geht, fühlt sie sich eher berechtigt, die Einhaltung bestimmter Regeln zu verlangen, und macht sich deswegen keine Vorwürfe. Solange man aber das Gefühl hat, nicht wirklich für die Familie da zu sein, wagt man es unter Umständen nicht, das Kind um Ruhe zu bitten, wenn man mit seinem Partner etwas Wichtiges besprechen möchte. TBB: Wir haben schon erwähnt, dass es berufstätigen Eltern abends leichter fällt, die Kinder zur Ordnung zu rufen, wenn sich alle zunächst einmal zusammenfinden und von ihrem Tag berichten. Ich empfehle allen berufstätigen Eltern ein solches Begrüßungsritual, durch das die Nähe zwischen den Familienmitgliedern wiederhergestellt wird. Erst dann kann man auch auf seine Autorität pochen, vorher nicht. SIG: Wenn sich ein solches Ritual nicht einhalten lässt, weil beide Eltern erst um 19.30 Uhr nach Hause kommen (und womöglich beruflich sehr angespannt sind), müssen sie sich klar machen, dass mit Hektik nichts zu erreichen ist. TBB: Grenzen spielen in der Kindererziehung eine zu wichtige Rolle, als dass man sie vernachlässigen könnte. Sie müssen zuerst von den Eltern und dann von anderen Betreuungspersonen gezogen werden. Das muss klar sein. SIG: Stellen wir uns eine junge Familie vor, die mit mehreren Kindern in unsere Sprechstunde kommt. Die Eltern fragen: »Wie viel Zeit müssen wir mit unseren Kindern verbringen, wenn wir nach Hause kommen? Wir wollen nichts falsch machen. Wie viel Zeit brauchen wir täglich, um eine enge, liebevolle Beziehung aufrechterhalten und gleichzeitig auch die nötigen Grenzen setzen zu können?« Was würdest du ihnen -264-
empfehlen? TBB: Ich würde wahrscheinlich Folgendes antworten: »Sie sind den ganzen Tag über fort. Sie sind es Ihrem Kind schuldig, etliche Stunden mit ihm zu verbringen, wenn Sie abends nach Hause kommen. In der ersten Stunde stellt man die wechselseitige Nähe wieder her, und wenn das gelungen ist, kann man die nächste Stunde benutzen, um Regeln und Grenzen zu besprechen, die Hausarbeit gemeinsam zu erledigen usw. Auf jeden Fall aber hat das Kind ein Recht darauf, mindestens eine Stunde lang die liebevolle und ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern zu genießen, sich etwas vorlesen zu lassen, mit ihnen zu schmusen, Bilder anzuschauen oder Lieder zu singen. Alles in allem sind zwei Stunden am Tag das absolute Minimum.« SIG: Das müssen wir festhalten: zwei Stunden täglich, und davon sollte man sich eine Stunde lang ausschließlich dem Kind widmen. In der zweiten Stunde kann man zusammen aufräumen, kochen usw. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir empfohlen, dass etwa zwei Drittel der freien Zeit (zum Beispiel nach der Schule und dem Spiel mit Freunden) unterschiedlichen Interaktionen mit den Eltern gewidmet sein sollten. Das heißt, dass ein Elternteil nachmittags zu Hause sein sollte und beide Eltern abends ab 18.00 Zeit für die Familie haben sollten. Die erzieherischen Aufgaben können so auf natürliche Weise in den Tag integriert werden. TBB: Entscheidend aber ist diese erste Stunde. Wenn sich die Nähe in diesem Zeitraum wiederherstellen lässt und das Kind dann unruhig wird, kann man dazu übergehen, gemeinsam das Abendessen zuzubereiten oder aufzuräumen, zu putzen usw. SIG: All diese Interaktionen sind wichtig, weil sie Auswirkungen auf das Setzen und Einhalten von Grenzen haben. Das Bedürfnis nach Grenzen und das Bedürfnis nach stabilen, sicheren Beziehungen hängen eng miteinander zusammen. -265-
TBB: Das heißt nicht zwangsläufig, dass Kinder, deren Eltern beide berufstätig sind, nicht gut erzogen werden. Ich habe in den beiden letzten Generationen beobachtet, wie wohl sich viele Frauen in ihrem Job fühlen. Manche Frauen berichten mir, dass sie zu Hause wesentlich besser zurechtkommen, wenn sie wenigstens einen Teil des Tages arbeiten gehen. Mütter, die ihre eigenen Ziele verfolgen können, wägen im Allgemeinen auch die Wichtigkeit verschiedener Regeln gut ab. Gemeinsame Grenzziehung SIG: Ein letzter Aspekt dieses Themas ist unsere Überlegung, dass die Eltern als Team zusammenarbeiten müssen. Das gelingt ihnen nur dann, wenn sie sich gegenseitig unterstützen und füreinander da sind, das heißt, wenn sie ihre sexuelle Intimität genießen können, warmherzig und verständnisvoll miteinander umgehen, mitfühlend sind und sich für all dies auch die nötige Zeit nehmen. Manche Eltern sind derart überlastet, dass ihnen keine freie Minute füreinander bleibt. Sie gehen am Wochenende nicht essen, gehen nicht zusammen ins Kino und sind immerzu derart beschäftigt, dass sie nicht die Muße haben, gemeinsam abzuschalten. Sie sind frustriert über diesen Verlust an Intimität, und diese Frustration erhöht die Gefahr, dass sie ihr Kind schlagen. Ihnen fehlt die Kraft, das Kind liebevoll zu unterstützen, weil sie einander nicht den Rücken stärken. Über Erziehung zu sprechen heißt, die Bedürfnisse der Eltern anzuerkennen. Das bedeutet nicht, dass man gemeinsame Aktivitäten minutiös planen muss. Sie sollten sich auf natürliche Weise ergeben, so wie auch das Kind einfach hinausgeht, um zu spielen. Solange die Kinder jedoch klein sind, sollten wir vielleicht allen Eltern dringend raten, sich Zeit füreinander zu nehmen. Der jüdische Glaube schreibt Eheleuten vor, morgens nach dem Aufwachen noch ein wenig zusammen im Bett zu bleiben. -266-
Die Rabbiner haben über die Gründe dafür diskutiert. Klar ist, dass Workaholics, die nach dem Aufwachen am liebsten sofort an die Arbeit gehen würden, auf diese Weise angehalten werden, sich zuvor ganz bewusst dem Partner oder der Partnerin zu widmen. Vielleicht muss man über solche Dinge in unserer Gesellschaft klar und deutlich reden. Ich halte es für wichtig, sich jeden Abend ein bisschen Zeit füreinander zu nehmen und am Wochenende zusammen auszugehen. Auch allein erziehende Eltern dürfen ihr Bedürfnis, selbst einmal umsorgt und unterstützt zu werden, nicht verdrängen, denn dieses Bedürfnis gerät besonders leicht ins Hintertreffen, wenn man ganz allein für die Kinder verantwortlich ist. Empfehlungen Grenzsetzung in Familien • Mehr geben und mehr erwarten. Indem wir Grenzen und Erwartungen mit umsichtiger Fürsorge verbinden, fordern wir unsere Kinder auf liebevolle Weise. Diese überaus wichtige Verbindung ermöglicht es ihnen, zu produktiven, schöpferischen Mitgliedern unserer Gesellschaft heranzuwachsen. Wenn wir diese Balance jedoch verlieren und Erwartungen stellen, ohne zu geben, oder geben, ohne etwas zu erwarten, werden Kinder wütend und trotzig oder verwöhnt und passiv. • Erziehung ist ein Lernprozess. Kinder sollten zur Anpassung an Regeln erzogen werden, indem die Eltern ihnen deren Notwendigkeit erklären. Eltern müssen Grenzen aufzeigen, gemeinsam mit dem Kind an Problemlösungen arbeiten, schwierige Situationen mit ihm antizipieren und ihm auch dabei helfen, Enttäuschungen und Verlust- und Demütigungsgefühle zu bewältigen. • Körperliche Bestrafung. Körperliche Züchtigung ist in unserer heutigen, gewalterfüllten Welt nicht mehr akzeptabel. • Niemals demütigen. Demütigung erzeugt Groll, Wut und verstärkt den Trotz des Kindes. Sie verhindert die Internalisierung gesellschaftlich wichtiger Werte und Ziele. -267-
• Erwartungen müssen in Beziehungen eingebettet sein. Kinder müssen die Erfahrung machen, dass die sie umgebenden Erwachsenen den Anforderungen, die sie stellen, auch selbst gerecht werden. Kinder lernen nicht allein durch Beobachtung, sondern indem sie sich als Teil von Beziehungen erleben, in denen bestimmte Haltungen, Werte, Ideale und Ziele durch die Interaktionen mit Erwachsenen vermittelt werden. • Erwartungen müssen dem Alter des Kindes angepasst sein. Man kann von Kindern nicht erwarten, dass sie Grenzen verinnerlichen und Freude am Lernen haben, wenn man sie nicht mit den Instrumenten versieht, die notwendig sind, um die Welt kennen zu lernen, zu meistern und zu verstehen. Dies setzt die Anerkennung des individuellen Entwicklungsstandes und eine am Kind orientierte Erziehung und Anleitung voraus (siehe 4. Kapitel). • Selbstdisziplin. Das Ziel des Grenzensetzens sollte darin bestehen, dass sich das Kind selbst zu kontrollieren lernt. Indem man gemeinsam mit dem Kind darüber nachdenkt, welche Sanktionen ihm die Anpassung an Regeln erleichtern könnten, und mit ihm zusammen über Möglichkeiten spricht, intensive Gefühle unter Kontrolle zu halten, fördert man seine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. • Erziehung am Ende eines Arbeitstages. In der ersten Stunde nach dem Heimkommen sollten sich die Eltern ganz auf die Bedürfnisse des Kindes konzentrieren und die vertraute Nähe wiederherstellen. Danach können sie ohne Schuldgefühle auf der Anerkennung der nötigen Grenzen bestehen. • Die Eltern als Team. Eine konsequente Erziehung fällt Eltern leichter, wenn sie sich auch Zeit füreinander nehmen. Sie sollten als Team Grenzen ziehen und auf deren Einhaltung bestehen. Indem sie dem Kind zeigen, dass sie selbst Regeln respektieren, dienen sie ihm als Vorbild und erleichtern es ihm, Selbstdisziplin zu erlernen. Allein erziehende Eltern müssen ihr eigenes Bedürfnis nach Fürsorge und Unterstützung anerkennen. -268-
Grenzen in Institutionen • Wichtige Institutionen (Bildungseinrichtungen, Rechtssystem und Sozialdienste) sollten entwicklungsgerechte Erfahrungen fördern und sich für die Anerkennung individueller Unterschiede einsetzen. Diese Ethik des »Gib mehr und erwarte mehr« muss nicht nur das Familienleben charakterisieren, sondern auch die Schulen, andere Bildungseinrichtungen, das Justizwesen, die Sozialdienste, religiöse Institutionen und andere Organisationen. Nur wenn Kinder merken, dass sie Fortschritte erzielen, können sie lernen, Grenzen zu internalisieren und konstruktive Ideale zu entwickeln. Die Fähigkeit, Wertvorstellungen und Erwartungen zu bilden und zu verinnerlichen, taucht häufig im Alter zwischen neun und zwölf Jahren, das heißt in unserer neunten Entwicklungsphase, auf. Ihr liegen all die Erfahrungen der vorangegangenen Jahre zugrunde - liebevolle, einfühlsame Beziehungen, eine regulierende Umwelt und die Fähigkeit, kreativ und logisch zu kommunizieren und zu denken. Weitere Voraussetzungen sind das trianguläre Denken, die Peerbeziehungen und das relativierende Denken. Die Fähigkeit, eigenen Zielen und Wertvorstellungen gemäß zu leben, ist das Ergebnis eines langen Entwicklungsweges. Wir können sie von unseren Kindern nur dann erwarten, wenn wir sie auf diesem Weg angemessen begleiten. In Schulen oder in restriktiven Settings wie Jugendstrafanstalten müssen sich Kinder und Heranwachsende behütet fühlen können. Sie sind auf zuverlässige Beziehungen, in denen sie Unterstützung finden, sowie auf Strukturen angewiesen. In diesen Settings tragen Erwartungen, die aus den Interaktionen mit Erwachsenen hervorgehen, und die Ausbildung praktischer Fähigkeiten wesentlich zur Weiterentwicklung und Reifung bei. In restriktiven sozialpsychiatrischen Settings (für Kinder, die kurz- oder auch langfristig hospitalisiert werden müssen) sollten sich Kinder und Jugendliche in regulierenden und fürsorglichen -269-
Beziehungen geborgen fühlen können. Wenn diese mit freundlichen, aber festen Grenzen und vernünftigen Erwartungen gekoppelt werden, die auf eine allmähliche Verbesserung ihrer emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten zielen, lernen Kinder und Heranwachsende, Grenzen und konstruktive Erwartungen zu internalisieren. Übertrieben strenge Methoden, Strafen oder allzu permissive Ansätze können diese Kombination unerlässlicher Faktoren nicht gewährleisten.
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6. KAPITEL DAS BEDÜRFNIS NACH STABILEN, UNTERSTÜTZENDEN GEMEINSCHAFTEN UND NACH KULTURELLER KONTINUITÄT
All die elementaren Bedürfnisse, die wir erläutert haben, sind in soziale Gemeinschaften und Kulturen eingebettet. Dieser überaus wichtige Zusammenhang wird leicht übersehen. Der Erfolg sämtlicher Bemühungen, die Lebenssituation von Kindern zu verbessern, hängt von der Stabilität der Familien, der Gemeinden und der kulturellen Netzwerke ab, innerhalb deren Kinder heranwachsen. Eine wichtige und viel diskutierte Aufgabe betrifft die Notwendigkeit, kulturell spezifische Verhaltensmuster zu respektieren und es Familien und ihren Kindern gleichzeitig zu ermöglichen, sich an eine komplexe Gesellschaft anzupassen, mit anderen kulturellen Gruppen zu interagieren und die in der Schule und schließlich im Arbeitsleben gestellten Anforderungen zu erfüllen. Diese Debatten drehten sich um pädagogische Fragen, etwa die, inwieweit Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet werden beziehungsweise am Unterricht in der jeweiligen Landessprache teilnehmen sollten. Welches Gewicht sollte der westlichen Kultur gegenüber anderen Weltkulturen oder gegenüber der Geschichte einer spezifischen ethnischen Gruppe im Schulunterricht beigemessen werden? Sobald diese Fragen auftauchen, wird auch deutlich, dass das Thema der kulturellen Kontinuität in der Praxis mit gewissen Schwierigkeiten verbunden ist. Obwohl niemand die Bedeutung stabiler, autonomer Gemeinschaften, die über ein Gefühl der Identität und Kohärenz verfügen, in Abrede stellen würde, finden auch in diesem -271-
Bereich wichtige Diskussionen statt. Inwieweit sollten Bundesoder Landesmittel direkt den einzelnen Gemeinden zufließen, damit diese durch ihre Bürgerorganisationen, Kirchen, Synagogen oder anderen Einrichtungen selbst über die Verwendung solcher Ressourcen, über Prioritäten und Kontrollverfahren beschließen? Oder sollten diese staatlichen Mittel ausschließlich projektgebunden vergeben werden? Hier kommen auch Probleme ins Spiel, die mit den unterschiedlichen bundesstaatlichen beziehungsweise kommunalen Perspektiven zusammenhängen. Kontrollverfahren spielen in den Schulen und anderen wichtigen Institutionen eine Rolle. Inwieweit sind ortsansässige Familien an der Kontrolle und Verwaltung der öffentlichen Bildungseinrichtungen mit beteiligt? Inwieweit wird die Kontrolle vom Bund, vom Land oder von kommunalen Gremien ausgeübt, die zwar aus demokratischen Wahlen hervorgegangen sind, aber mit den Sorgen und Problemen der Familien im Einzugsbereich der öffentlichen Schulen wenig zu tun haben? Hitzige Debatten haben sich auch an Privatschulen in freier Trägerschaft sowie an der staatlichen Unterstützung kirchlicher Privatschulen entzündet. Schulen, die unmittelbar von der Kommune verwaltet werden oder von Einzelpersonen, Familienzusammenschlüssen oder auch religiösen Organisationen mit starker lokaler Bindung gegründet werden, unterliegen automatisch einer konsequenteren und direkteren Kontrolle. Dennoch spricht manches für die staatlichen Richtlinien, für die Chancengleichheit und den freien Zugang zu unseren Bildungseinrichtungen. Auch wenn niemand das Recht der Familien infrage stellt, das Programm der von ihren Kindern besuchten Schule mit zu gestalten, wird dieses Mitspracherecht in der Praxis höchst unterschiedlich gehandhabt. Manche Schulen werden von staatlichen und kommunalen Aufsichtsbehörden geleitet, die mit den lokalen Gegebenheiten -272-
kaum vertraut sind, während andere von Familien verwaltet werden, die alle in derselben Wohngegend leben und direkten Kontakt zueinander haben. Wie können wir es Kindern ermöglichen, ihre eigenen kulturellen Besonderheiten anzuerkennen und zu respektieren und sich gleichzeitig die Englisch-, Mathematik- oder Geschichtskenntnisse usw. anzueignen, die sie brauchen, um sich in unserer Gesellschaft zu behaupten? Das Problem liegt auf der Hand. Alle Kinder müssen die Sprache des Landes, in dem sie leben, mündlich und schriftlich beherrschen. Die Frage ist, ob die Muttersprache, mit der diese Kinder zu Hause aufwachsen, in der Schule herangezogen wird, um das Verständnis neuer Konzepte zu erleichtern, oder ob sie als Hindernis betrachtet wird, das den Zugang zu neuen Lerninhalten erschwert. Wenn eine bestimmte Sprache oder ein Dialekt über spezifische Begriffe verfügt, um Ideen oder Gefühle auszudrücken, muss man in der offiziell benutzten Sprache nach entsprechenden Bezeichnungen suchen, damit ein gemeinsames Vokabular zur Artikulation dieser Empfindungen und Haltungen zur Verfügung steht. Wenn man neue Konzepte zu begreifen versucht, zum Beispiel Begriffe wie Gerechtigkeit, Hingabe und Verantwortung, sollte man zugleich die Sprachen berücksichtigen, die in den an der Diskussion teilnehmenden kulturellen Gruppen benutzt werden, um das Verständnis dieser Konzepte zu erleichtern und - häufig - zu erweitern. Asiatische Kulturen haben zum Beispiel ein differenzierteres Vokabular für die Verantwortung und Loyalität gegenüber der Familie als amerikanische oder europäische Kulturen. Solche Vergleiche zwischen den Feinheiten der eigenen Sprache und den subtilen Ausdrucksweisen einer neuen Sprache machen es leichter, sich Konzepte und Begriffe anzueignen. Der emotionale Bezug zu differenzierten Bedeutungen aber ist in der Muttersprache grundsätzlich stärker. Deshalb empfehlen wir allen Eltern, mit ihren Kindern zumindest einen Teil des Tages -273-
in der eigenen Muttersprache zu sprechen.' In analoger Weise ist es auch im Geschichtsunterricht nicht zwingend erforderlich, sich entweder für die Vergangenheit einzelner kultureller Gruppen oder aber für die Entwicklung der westlichen Kulturen (zum Beispiel der europäischen und amerikanischen) zu entscheiden. Der Unterricht sollte sich vielmehr auf Prozesse konzentrieren, auf die Vermittlung eines historischen Verständnisses und der Mechanismen, die es uns ermöglichen, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Asiatische, afrikanische, amerikanische und europäische Geschichte sollten unter dem Blickwinkel der historischen Analyse behandelt werden. Historisch zu denken bedeutet nicht, sich Fakten über regionale Entwicklungen oder Ereignisse einzupauken. Die Analyse eines bestimmten Krieges kann vielmehr als Fenster für das Verständnis von Konflikt und Krieg im Allgemeinen dienen. So muss weder der Geschichtsunterricht noch der Sprachgebrauch Konflikte erzeugen. Unterschiedliche Sprachen und unterschiedliche »Geschichten« können sich gegenseitig bereichern, sofern nicht das Auswendiglernen von Fakten, sondern der Lernprozess an sich das Ziel ist. Wenn wir die mit der kulturellen Kontinuität zusammenhängenden Aspekte unter dem Blickwinkel betrachten, wie wir das Sprechen, Lesen und Schreiben oder das historische Denken erlernen, oder wenn wir die Verwaltungsstrukturen der Schulen betrachten, wird deutlich, dass der Konflikt zwischen Assimilation und Vielfalt nicht durch vage, allgemeine Erklärungen gelöst werden kann. Eine grundsätzliche Philosophie der Anerkennung kultureller und nachbarschaftlicher Unterschiede ist zwar unverzichtbar, dennoch aber müssen diese Probleme in der Praxis diskutiert und bewältigt werden, bevor sich eine tragfähige Balance herstellen lässt. Noch komplizierter werden diese Fragen aufgrund der Tatsache, dass in vielen Wohngegenden und in den meisten -274-
Städten ganz unterschiedliche kulturelle Gruppen mit je eigenem kulturellen Hintergrund leben. Dies erhöht die Komplexität der Aufgabe, sämtliche Aspekte der Diversität zu respektieren und die ortsansässigen Familien gleichzeitig in eine funktionsfähige Nachbarschaft zu integrieren. Unsere Bemühungen, stabile, integrierte Nachbarschaften zu fördern, in denen die kulturelle Vielfalt Platz hat und Familien Struktur und Unterstützung vorfinden, stecken bislang noch in den Anfängen. Trotzdem muss diese Form des Miteinanders zur Regel werden, wenn wir den in diesem Buch beschriebenen elementaren Bedürfnisse der Kinder gerecht werden wollen. Um zu verstehen, wie Gemeinwesen operieren, hat einer der Autoren (S.I.G.) die Parallelen zwischen unterschiedlichen Organisationsebenen und den Entwicklungsstufen des Individuums untersucht.2 Die erste Ebene betrifft die Fähigkeit des Gemeinwesens, Schutz, körperliche Sicherheit und innere Regulierung zu gewährleisten. Wir wissen, dass zahlreiche Gesellschaften von Angst und Gefahr beherrscht werden und nicht in der Lage sind, die Sicherheit ihrer Bürger zu garantieren, während in anderen ein grundlegendes Sicherheitsgefühl besteht. Auf einer zweiten Ebene sind menschliche Gemeinschaften durch ihre Fähigkeit charakterisiert, ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter ihren Mitgliedern zu erzeugen. Ist die Gemeinschaft zersplittert, aus isolierten Familien oder Kleingruppen zusammengesetzt, oder beteiligen sich zahlreiche Menschen an gemeinsamen Aktivitäten (Religionsgemeinschaften, Bürgerorganisationen, Sportvereine, Eltern-Lehrer-Verbände, Kunstvereine usw.)? Gelingt es ihr, die individuellen kulturellen Unterschiede kollektiven Zielen unterzuordnen, zum Beispiel dem wirtschaftlichen Wohlergehen, der medizinischen Versorgung oder den Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten? Erkennt sie das Wohl der Kinder als Organisationsprinzip des öffentlichen Lebens an? -275-
Auf einer dritten Ebene sind Gesellschaften durch die Fähigkeit ihrer Mitglieder charakterisiert, miteinander zu kommunizieren, um gemeinsame Ziele auszuarbeiten und zu verwirklichen und um die Erwartungen und kulturellen Muster des anderen zu verstehen. Die Gemeinsamkeit bestimmter Symbole, Werte oder Ideale, die individuelle Überzeugungen und Verhaltensweisen transzendieren, kennzeichnet die nächsthöhere Entwicklungsstufe. Ein Beispiel wäre etwa die Identifizierung mit Werten wie Gleichberechtigung, Rechte des Individuums, Gerechtigkeit oder Umweltschutz. Den Gegensatz dazu bilden polarisierte Überzeugungen, die zu einer Spaltung oder Zersplitterung der Gemeinschaft führen. So entwickelt sich eine »Wir-versus-sie«-Mentalität, die Angst, Misstrauen und Aggression erzeugt. Die höchste gesellschaftliche Entwicklungsebene ist durch die Fähigkeit zu Selbstreflexion und aktiver Zukunftsplanung charakterisiert. Reife Gesellschaften können ihre eigenen Bedürfnisse reflektieren und Veränderungen und Verbesserungen auf der Grundlage sich wandelnder Umstände herbeiführen. Soziale Gemeinschaften, in denen es an Zusammenhalt, innerer Sicherheit und Kommunikation mangelt oder deren Mitglieder polarisierten Überzeugungen anhängen, besitzen im Allgemeinen weder die Mittel noch die Energie zu reflektiertem Handeln. Beispiele für instabile und chaotische Gesellschaften, in denen sich Familien und Individuen resigniert zurückziehen oder gegnerische Parteien einander bekämpfen, finden sich in Hülle und Fülle. Vielen anderen Gesellschaften jedoch ist es gelungen, kulturelle Gegensätze zu überbrücken und einen Zusammenhalt zu schmieden, der es ihnen ermöglicht, auch im Interesse der Gesundheit und des Wohlergehens der Kinder reflektiert und planvoll zu handeln. Jeder, dem das Kindeswohl am Herzen liegt, muss sich fragen, welche Schritte die Entwicklung kohärenter, sicherer, -276-
reflektierter Gemeinschaften fördern und die Entwicklung unsicherer, polarisierter und zersplitterter Gemeinschaften, deren Mitglieder einander misstrauen, verhindern können. Zunächst einmal sind Gruppen, deren charakteristische kulturelle Identität gestärkt wird, so dass ihre Mitglieder auch ein stabileres persönliches Identitätsgefühl entwickeln können, aufgrund der so gewonnenen Sicherheit besser in der Lage, die Andersartigkeit anderer anzuerkennen. Gleichzeitig müssen das Sicherheits- und Identitätsgefühl und das Bewusstsein für gemeinsame Bedeutungen mit dem Instrumentarium und Wissen der größeren Gemeinschaft in Einklang gebracht werden, denn nur unter dieser Bedingung können sich einzelne Gruppen ihrer Umwelt gewachsen fühlen. Eine kulturelle Gruppe, die in einer größeren Gesellschaft lebt und nicht über die erforderlichen Bildungsvoraussetzungen und politischen und ökonomischen Potenziale verfügt, fühlt sich unter Umständen isoliert und entwickelt Angst. Ihre Fähigkeit, reflektierend an ihrer Umwelt teilzunehmen, wird dadurch beeinträchtigt. Welche praktischen Maßnahmen könnten eine Gemeinschaft stärken und ihren Zusammenhalt fördern? Öffentliche Aufsichtsorgane sowie die effiziente Kontrolle von Programmen, die dem Wohl der Allgemeinheit dienen einschließlich der Aus- und Weiterbildungsprogramme -, wurden bereits genannt. Vorhandene Organisationen wie die Kirchen und Synagogen oder Nachbarschaftsorganisationen könnten einen Anfang machen und Programme anbieten, die den Bürgern Gelegenheit geben, zusammenzukommen und kohärente Strukturen aufzubauen. Wenn man mit fragmentierten Gemeinden oder Nachbarschaften arbeitet, ist es oft schwierig, einen Einstieg zu finden. Gut organisierte und zufrieden stellend funktionierende Kommunen können sich in der Regel ein höheres Maß an Unterstützung sichern, weil sie erfolgreicher konkurrieren. Das Ziel aber sollte es sein, Gemeinden dabei zu helfen, sich -277-
effizient zu organisieren. Häufig bilden Schulen den Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens. Sie können als hilfreiches Modell für andere kommunale Einrichtungen dienen, weil sie in jeder größeren Gemeinde vorhanden sind. Mitunter sind die Eltern durch Eltern-Lehrer-Vereinigungen, Elternbeiräte und informellere Zusammenschlüsse (Eltern-Lehrer-Stammtische usw.) bereits aktiv an der Gestaltung der schulischen Aktivitäten beteiligt. In anderen Schulen bleiben sie tendenziell außen vor; sie besuchen die Elternabende, haben aber mit der Verwaltung der Schule oder mit den Lehrplänen wenig zu tun. Um den Bedürfnissen der Schüler und ihrer Familien gerecht werden zu können, müssen Schulen einer gewissen öffentlichen Kontrolle unterliegen, an der auch die Eltern, deren Kinder die Einrichtung besuchen, beteiligt sind (wie es in den meisten Privatschulen der Fall ist). Sobald eine solche Verwaltungsstruktur eingerichtet wurde, können Eltern und Gemeindevertreter die Funktionen der Schule erweitern. Welche Nachmittags- oder Abendaktivitäten könnten in diese wichtige - und vom Steuerzahler finanzierte - Einrichtung integriert werden? Könnten sich die Schulen zum Beispiel auch jener Bedürfnisse annehmen, über die wir im Zusammenhang mit der Nachmittagsbetreuung gesprochen haben? Hier ist vor allem an gefährdete Kinder und Jugendliche zu denken. Oder sollten die Gesundheits- und Sozialdienste stärker in die Schulen integriert werden, um besser erreichbar zu sein? Mit anderen Worten: Schulen besitzen das Potenzial, weit mehr aus sich machen. Für die Eltern ist auch der regelmäßige Austausch mit den Lehrern wichtig, und diese müssen sich mit solchen Eltern in Verbindung setzen, die beruflich überlastet sind oder so tief in familiären Problemen stecken, dass sie sich um die schulischen Leistungen ihrer Kinder nicht mehr kümmern. Edward Zigler und James Corner von der Yale University -278-
haben Modelle entwickelt, welche die Funktionen der Schulgemeinden beträchtlich erweitern. Eltern und Anwohner sind an der Planung und Gestaltung sämtlicher schulischer Aktivitäten mit beteiligt, so dass die gesamte Kommune einbezogen wird.3 Davon profitiert nicht allein die Schule selbst. Auch das langfristige Ziel, das Gemeindeleben im Interesse der Familien und Kinder zu organisieren und zu verbessern, rückt so um einen wesentlichen Schritt näher. In vielen Gemeinden und Wohngegenden gibt es gewaltige Probleme. Hier bleiben die Kinder nach der Schule unbeaufsichtigt und geraten in Schwierigkeiten, weil die Eltern sich nicht um sie kümmern oder weil ihnen jede Gelegenheit zu sinnvoller Beschäftigung fehlt. Sie »lungern herum« und machen Unfug, statt Sport zu treiben, zu musizieren oder zu tanzen, sich naturwissenschaftlichen Arbeitsgruppen oder Debattierklubs oder anderen Aktivitäten anzuschließen, die konstruktiver wären und sich auch langfristig auszahlten. In sehr gefährdeten Wohngegenden und Gemeinden sollten die Schulen möglicherweise rund um die Uhr offen stehen, um die Entwicklung der Kinder und Familien, die in der Nachbarschaft leben, zu unterstützen. Das setzt ein weit ehrgeizigeres schulisches Angebot voraus, das vom Nachhilfeunterricht über Zusatzangebote in den naturwissenschaftlichen Fächern, der Mathematik, Kunst und den Geisteswissenschaften bis zu einer Vielfalt von Aktivitäten wie Theaterspielen, Musizieren und Sport reicht. Behütete Kinder mit einem funktionierenden Familienleben, die einfach mit ihren Freunden spielen wollen, sind auf solche Programme vielleicht nicht unbedingt angewiesen, könnten aber ebenfalls von ihnen profitieren. In den weiterführenden Schulen gibt es viele Kinder und Jugendliche, die nachmittags zahlreichen Aktivitäten nachgehen, zwei oder drei verschiedene Sportarten ausüben, musizieren, Theater spielen usw. Theoretisch macht diese Betriebsamkeit -279-
vielleicht einen guten Eindruck, sinnvoll ist sie aber nur dann, wenn auch wirklich viele Kinder und Jugendliche an ihr teilnehmen können und niemand ausgeschlossen wird, weil er für die jeweilige Aktivität »nicht gut genug« ist. Anders formuliert: Notwendig sind Nachmittagsaktivitäten, die allen Kindern offen stehen. Dennoch bilden die Nachmittagsaktivitäten nur einen Bestandteil der Programme, in denen die Schulen mit gutem Beispiel vorangehen könnten, um in der Gemeinde Zusammenhalt zu stiften, den Dialog anzustoßen und gemeinsame Werte und Ziele zu entwickeln. Unsere Schulen könnten sich auch abends öffnen und zum Beispiel Fortbildungskurse für die Eltern anbieten; die Sozial- und Gesundheitsdienste könnten hier ihre Sprechstunden abhalten, es gäbe Angebote für größere Kinder und Jugendliche, und die Gemeindegremien könnten im Schulgebäude tagen. Anders formuliert: Jede Gemeinde sollte imstande sein, den staatlich finanzierten Besitz (die Schule) im Einklang mit ihren Prioritäten für eine Vielzahl von Zwecken zu nutzen. Das öffentliche Interesse an der Schulausbildung und der Gestaltung des schulischen Alltags könnte einen Kooperationsprozess einleiten, der zunehmend mehr öffentliche Aufgaben einbezieht, beispielsweise die Sozialdienste, die Gesundheitsversorgung, die Weiterbildung für Erwachsene sowie präventiv orientierte Nachmittagsprogramme für Kinder und lugendliche, um Drogenkonsum, Delinquenz und gesundheitsschädlichem Verhalten vorzubeugen. Auch Mentorenprogramme könnten in die Schul- und Nachmittagsaktivitäten integriert werden. In den meisten Gemeinden leben jedoch auch Familien, die auf eine umfassendere Unterstützung angewiesen sind, als Schulen und andere Einrichtungen sie gewähren können. Wenn es in einem Krankenhaus keine Notaufnahme zur Versorgung akuter Fälle gibt, wird die gesamte Klinik demoralisiert und in ihrer zentralen Funktion, nämlich der Erhaltung und -280-
Verbesserung der Gesundheit, beeinträchtigt. In vergleichbarer Weise müssen auch Kommunen in der Lage sein, sich angemessen um ihre bedürftigsten Mitglieder zu kümmern. Hochgefährdete Familien oder Familien mit multipler Problematik - Depressionen oder andere psychische Erkrankungen, Drogenmissbrauch, gravierende Eheprobleme usw. - haben massive Schwierigkeiten, Kinder zu erziehen.4 Familien, die seit Jahren oder gar über mehrere Generationen hinweg in Hilflosigkeit, Passivität, Argwohn und Vermeiden verharren, sind oft unfähig, sich an die üblichen Gesundheitsoder Sozialdienste und die sozialpsychiatrischen Anlaufstellen zu wenden. Statt Hilfe zu suchen, halten sie an selbstdestruktiven Verhaltensweisen wie Drogenmissbrauch und sozialem Rückzug fest. Viele Projekte, die sich solcher Schwierigkeiten annehmen, haben sich als sehr effizient erwiesen.5 Der Schlüssel zu ihrem Erfolg ist ihr umfassender Ansatz und die Tatsache, dass sie aufsuchend arbeiten können, um die bedürftigsten Familien zu erreichen. Eine Möglichkeit, solche Programme zu realisieren, besteht in der Gründung vertikaler Dörfer, wie S. I. Greenspan sie beschrieben hat. Ein großer Wohnkomplex könnte als äußerer Rahmen dienen und die unterschiedlichsten Bewohner beherbergen: mehrere hochgradig dysfunktionale Haushalte, andere, teils von Sozialhilfe lebende, teils erwerbstätige Familien, die besser zurechtkommen, ältere Menschen, auch Rentner, die alleine oder bei Verwandten leben, sowie einige Erwachsene ohne Kinder. Dienstleistungen für Kinder und deren Eltern können direkt innerhalb eines solchen Wohnkomplexes angeboten werden. Ein gut ausgestattetes Säuglings- und Kinderzentrum mit genügend Personal könnte Kinder praktisch von Geburt an aufnehmen. Kinder und Erwachsene fänden sich täglich ein, die Kleinen, um zu spielen und zu lernen, die Eltern, um ihren Bedürfnissen entsprechend Rat und Unterstützung zu holen. Qualifizierte -281-
Mitarbeiter könnten dauerhafte persönliche Beziehungen zu allen Dorfbewohnern entwickeln, den Erwachsenen helfen, ihren Aufgaben als Eltern gerecht zu werden, und den Kindern eine vertraute, verlässliche Betreuung bieten, um die häufig überforderten Mütter und Väter zu entlasten. In Problemfamilien könnte eine Mitarbeiterin die Rolle einer Ersatz-»Verwandten«, etwa einer verständnisvollen und tatkräftigen Tante oder Großmutter, übernehmen. Diese ausgebildete Betreuerin würde eine dauerhafte Beziehung zu der Familie herstellen: Sie hilft den Eltern, ihre persönlichen Probleme zu lösen, die sie daran hindern, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern, und sorgt dafür, dass diese in jeder Entwicklungsphase die Zuwendung und Förderung erhalten, die sie brauchen, auch wenn die leiblichen Eltern sie ihnen nicht geben können. Die Touchpoints-Ausbildung (T.B.B.) ist ein Beispiel für ein auf Beziehungen konzentriertes Unterstützungsprojekt. Die Mitarbeiter nehmen Kontakt zu den Familien auf, um stabile Beziehungen zwischen Ärzten und Therapeuten, Kinderbetreuern (Krippen, Tagesstätten) und den Eltern herzustellen. Dem Projekt liegt die Theorie zugrunde, dass sich die Eltern intensiver für die Förderung und Erziehung ihrer Kinder engagieren, wenn man nicht mit einem defizitorientierten Modell arbeitet, sondern die Stärken der Eltern hervorhebt und die Entwicklung des Kindes als Sprache benutzt, in der sich Mitarbeiter und Eltern verständigen. Das gesamte Personal der Hilfsdienste wird ausgebildet, um Kontakte zu gefährdeten Eltern herzustellen. Jeder »Touchpoint«, das heißt jeder Rückschritt in der Entwicklung des Kindes, ist eine Chance, die Beziehung zwischen Mitarbeitern und Eltern zu vertiefen. Die Ärzte, Therapeuten oder Sozialarbeiter erklären nicht von oben herab, was die Eltern zu tun haben, sondern tauschen sich mit ihnen über das Kind und seine Stärken und Schwächen aus. Es ist unglaublich, zu sehen, wie sehr die Kooperationsbereitschaft der Eltern -282-
wächst, wenn sie spüren, dass sie für die Entwicklung des Kindes eine wichtige Rolle spielen. Sie fühlen sich unterstützt und verstanden. Dem defizitorientierten, krankheitszentrierten Modell ist es nie gelungen, Beziehung zu intensivieren. Wenn wir die Eltern beteiligen wollen, müssen wir die Hilfsteams in all diesen unterschiedlichen Kontaktsystemen entsprechend ausbilden. Die Eltern sind erreichbar und brauchen unsere Hilfe (siehe die Touchpoints-Leitlinien im Anhang). Wenn ein Kind über einen Zeitraum von vier oder fünf Jahren konstant mit ein und derselben Betreuerin arbeiten kann, findet es in dieser Beziehung einen stabilen Anker, der auch massiven familiären Schwierigkeiten trotzt. Eine Mutter, die allzu depressiv ist, um sich angemessen um ihr Baby zu kümmern, fände Unterstützung, so dass der Säugling nicht völlig auf die Interaktionen verzichten muss, die er braucht, um Beziehungen zu knüpfen und zu lernen, mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Wir können selbst mit drogensüchtigen Müttern Kontakt halten, wenn die Zukunft ihrer Kinder im Mittelpunkt der aufsuchenden Arbeit steht. Ein Drogentrip oder stationärer Entzug bedeutet dann nicht automatisch, dass die Welt des Kindes aus den Fugen gerät und es Hals über Kopf in irgendeiner Pflegestelle untergebracht werden muss. Das Zentrum wäre Tag und Nacht besetzt und so lange wie nötig ein sicherer Zufluchtsort. Das Chaos im Leben der Kinder würde drastisch reduziert. Eine solche zuverlässige Nachbarschaftseinrichtung könnte auch den Eltern helfen, ihr Leben zu ordnen und Verantwortung zu übernehmen. Abgesehen von der Unterstützung bei der Kindererziehung fänden sie hier persönliche Beratung, Hilfe bei Drogenabhängigkeit sowie Anleitungen zur Gesundheitsvorsorge und Familienplanung. Sie könnten Kurse besuchen, um einen Schulabschluss nachzuholen, und fänden Hilfe bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle oder einem Arbeitsplatz. -283-
Die Nachtschicht wäre ebenfalls mit Mitarbeitern besetzt, die den Eltern vertraut sind und in Notsituationen auch die Kinder übernehmen können. Wenn eine Mutter in eine Krise geriete, wüsste sie immer, an wen sie sich wenden kann. Im Gegenzug würden die Mitarbeiter verlangen, dass die Erwachsenen ein Mindestmaß an Reife unter Beweis stellen, bevor die Familie wieder zusammengeführt wird. Damit wäre sichergestellt, dass die Kinder wirklich verantwortungsbewusst betreut werden. Funktionieren kann dieses System nur dann, wenn die Problemfamilien in eine feste Gemeinschaft integriert sind, deren Mitglieder in der Mehrzahl gut zurechtkommen. Die übrigen, teils von Sozialhilfe lebenden Familien aus dem Gebäude müssten ebenfalls dem Zentrum angehören. Ihre Kinder besuchen die Tagesstätten und den Kindergarten, während die Erwachsenen an Kursen, Gruppenveranstaltungen und Aktivitäten teilnehmen, die sie interessieren und von denen sie profitieren können. Arbeitssuchende könnten als Kinderbetreuer ausgebildet und danach in der Tagesstätte angestellt werden. Andere Erwachsene, vor allem ältere Leute oder Rentner, die in der Kinderbetreuung oder im Bildungswesen tätig waren, könnten ehrenamtlich oder gegen Honorar im Zentrum arbeiten. Verschiedene finanzielle Anreize niedrige Mieten, verringerte Tagesstättenbeiträge, Weiterbildungsmöglichkeiten - würden Interessenten in diese heterogene, aber ausgewogene »Nachbarschaft« locken. Ein solches Dorf in der Stadt würde durch die Kultur und die Institutionen der Gemeinde, in die es integriert ist, stabilisiert und unterstützt. Kirchen, Gemeindezentren, Bürgergruppen und lokale wohltätige Einrichtungen, die mit der kulturellen oder ethnischen Herkunft der Bewohner vertraut sein sollten, könnten soziale und geistliche Unterstützung sowie Freizeit- und Weiterbildungsprojekte anbieten. Im Unterschied zu den heutigen Sozialwohnungssiedlungen, die zum Ghetto für die sozial Schwächsten geworden sind, wäre die Gemeinde nicht -284-
nur für die ganz Armen, sondern auch für Haushalte mit anderen Optionen attraktiv. Im Idealfall wäre eine gefährdete allein erziehende Mutter mit ihrem Kind von dessen Geburt an in das Dorfnetzwerk integriert. Statt erst zu intervenieren, wenn das Kind offenkundig Schwierigkeiten zu erkennen gibt, könnten die Mitarbeiter der Mutter von Anfang an zur Seite stehen und die Entwicklungschancen des Babys verbessern. Obwohl ein solches Projekt langfristig äußerst kostenwirksam arbeiten kann, ist es alles andere als billig. In der Vergangenheit sind ähnliche Versuche gescheitert, weil die Anlaufstellen nachts nicht besetzt waren. Wenn Familien in eine Krise geraten, müssen Tag und Nacht genügend qualifizierte Mitarbeiter erreichbar sein, um einzugreifen und die Entwicklung des Kindes zu sichern. Solche Hilfsprojekte für die bedürftigsten Familien sind zweifellos schwierig zu realisieren; mit ihnen aber stellt die Gemeinschaft unter Beweis, was sie zu geben bereit ist. Diskussion Rivalität um Einflussbereiche TBB: Wir sprechen hier im Grunde über ein elementares Bedürfnis der Eltern wie auch der Kinder. Alle Erwachsenen müssen sich in einer Gemeinschaft aufgehoben fühlen, so wie Mütter das Bedürfnis haben, selbst bemuttert zu werden. Durch die herkömmliche Art der Kinderbetreuung oder durch die Vorgehensweise der Sozialdienste aber wird die Mutter-KindBindung häufig geschwächt. Meiner Meinung nach ist hier ein Rivalisieren um Einflussbereiche im Spiel. Jeder bewacht sein Terrain wie ein Schrankenwärter... SIG: Schrankenwärter bedeutet... TBB: Nun, alle, die für ein kleines Kind verantwortlich sind, konkurrieren miteinander um eine exklusive Beziehung zu ihm. Unbewusst versucht jeder, andere auszuschließen. Sie schieben sich gegenseitig die Schuld zu, sobald irgendetwas nicht in -285-
Ordnung ist. Dies gilt nicht nur für Eltern und die Erzieherinnen in den Tagesstätten, sondern auch für Pflegeeltern usw. Wenn dieses Schrankenwärterverhalten nicht thematisiert wird, ziehen sich die Eltern voller Groll zurück. SIG: Wenn niemand den Eltern hilft, sich ihre eigenen Bedürfnisse bewusst zu machen und über sie nachzudenken, reagieren sie unter Umständen verletzt und wütend. Die Situation polarisiert sich. Eltern und Lehrer oder Kindergärtnerinnen oder Sozialarbeiter verstricken sich in eine Art Machtkampf und rivalisieren miteinander. In Institutionen kann man so etwas ständig beobachten. Solange genügend Gelder fließen und großzügige andere Ressourcen vorhanden sind, ist jeder zufrieden. Aber wenn die Mittel knapp werden, regrediert das gesamte Personal. Man verleugnet sich gegenseitig, verbündet sich gegen die anderen und es gibt jede Menge Konflikte. Das ist die Situation, in der jeder seinen Machtbereich absteckt und die Grenzen bewacht. Wenn alle gut versorgt sind und die Eltern mit den Betreuerinnen und Lehrerinnen als Team zusammenarbeiten wollen, taucht dieses Verhalten nur in Ansätzen auf. TBB: Trotzdem kann die Arbeit von der Bindung an das Kind, die ja den Anlass für dieses Konkurrenzverhalten gibt, profitieren, wenn man den Konflikt zur Sprache bringt. Deshalb halte ich es für entscheidend, dass die Eltern und das Betreuungspersonal in den Tagesstätten miteinander in Kontakt bleiben, sich austauschen und Probleme gemeinsam zu lösen versuchen. Sie müssen nicht immer zu einer Übereinkunft gelangen, aber sie müssen sich über die Gefühle des anderen im Klaren sein: »Wenn du das und das machst, bin ich sehr eifersüchtig«, oder: »Wenn ich mein Töchterchen abends abholen möchte und sie weint, sobald sie mich sieht, fühle ich mich abgelehnt.« SIG: Eine Erzieherin, die selbst keinen Rückhalt hat, wird mit den Eltern stärker konkurrieren und Voreingenommenheiten -286-
entwickeln. Es ist nicht immer einfach, sich die Kindererziehung zu teilen. Die Eltern sollten darauf achten, ob die Erzieherin, der sie ihr Kind anvertrauen, vielleicht unglücklich ist und Zuspruch braucht. Nehmen wir an, die Mitarbeiter sind unterbezahlt oder die Leiterin der Tagesstätte nörgelt an allem und jedem herum in einem solchen Arbeitsklima neigen die Betreuerinnen eher dazu, einer Mutter, deren Kind einen Schnupfen hat, Vorwürfe zu machen: »Wenn Sie sich besser um ihn kümmerten, wäre er nicht dauernd erkältet!« Diese Feindseligkeit entwickelt sich eher, wenn die Betreuerin zum Beispiel selbst in schwierigen familiären Verhältnissen lebt oder wenn sie in der Tagesstätte das Gefühl hat, für einen Hungerlohn zu arbeiten und ganz auf sich allein gestellt zu sein. Wenn sie einen festen Partner hat, der sie liebt, und wenn die Tagesstättenleiterin verständnisvoll und kompetent ist, kann sich die Erzieherin gegenüber der Mutter einfühlsamer verhalten: »Geht es dem Kleinen besser? Zurzeit ist hier fast jeder erkältet.« Solche Entwicklungen lassen sich durchaus erklären. In einer Institution oder Gemeinde, die über ein umfassendes Angebot an sozialer Unterstützung verfügt, können sich die Mitarbeiter ihre Bedürfnisse bewusst machen und ihre Probleme lösen. In einem Setting mit knappen Ressourcen oder in einem chaotischen Umfeld fangen die Menschen an zu agieren; sie werden egoistisch, kritisieren an anderen herum und verhalten sich sehr rivalisierend. Daher können die Bedürfnisse der Kinder nur befriedigt werden, wenn sich sowohl die Eltern als auch die Mitarbeiter der Tagesstätten oder Schulen in ihrer Familie aufgehoben und unterstützt fühlen. Wie aber können wir es erreichen, dass sich Familien gegenseitig helfen und in der Gesellschaft Rückhalt finden? Als Ziel erscheint uns dies selbstverständlich, dennoch aber wird in dieser Richtung wenig unternommen. Was können wir also tun? Glücklicherweise sind in den Vereinigten Staaten mittlerweile etliche Gruppen in der Familienselbsthilfe aktiv. TBB: Family -287-
Support America in Chicago hat gezeigt, dass man Eltern zusammenbringen kann, damit sie sich gegenseitig unterstützen. Auch Organisationen, die Selbsthilfegruppen für die Eltern behinderter Kinder koordinieren, haben bewiesen, wie wichtig solche Initiativen sind. Die Child Care Action Campaign in New York City ist ebenfalls eine Gruppe, die sich für die Verbesserung der Kinderbetreuung einsetzt und Eltern unterstützt, die ganztags arbeiten müssen. Unser Touchpoints-Projekt, das mittlerweile in dreißig Städten der USA vertreten ist, hat die Kinderbetreuung, die Gesundheitsvorsorge und die Frühintervention verbessert. Die Projekte funktionieren, und sie vermitteln den Eltern das Gefühl, dass sich jemand um sie kümmert. Kulturelle Stärken SIG: Hier ist ein weiterer Aspekt zu erwähnen, nämlich die kulturelle Schicht, in der Programme wie das TouchpointsProjekt oder Interventionsprogramme in den Kommunen ansetzen. Ihr Erfolg hängt davon ab, wie sensibel sie auf spezifische kulturelle Bedürfnisse reagieren und ob sie sich von den Menschen, die jener Kultur angehören, beeinflussen lassen. Es geht also nicht darum, analog zu den bundesstaatlichen Programmen alle möglichen Vorschriften zu erlassen. Ein bevormundendes Programm, das von außen aufgezwungen wird, erzeugt Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Wenn die Beteiligten aber selbst die Initiative ergreifen können, haben sie das Gefühl, sich um die Sachen zu kümmern, die wichtig sind, und den tatsächlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. TBB: Wir haben die Großfamilien und den kulturellen Rückhalt verloren. Wir haben die kulturelle Vielfalt entwertet. Über all das müssen wir uns Gedanken machen. Ich habe mit Neugeborenen aus vielen ethnischen und religiösen Gruppen gearbeitet und gesehen, wie sehr unsere eigene Kultur durch -288-
andere Traditionen bereichert werden kann. Deshalb hat es mich immer entsetzt, dass die Zugehörigkeit zu anderen Kulturen in unserer Gesellschaft als anrüchig gilt. Irgendwann würde ich gerne untersuchen, woher diese Menschen kommen, was sie mitbringen, und vor allem, was sie aufgeben müssen, um in unserer Kultur leben zu können. Ich würde auch gerne die Touchpoints, die kritischen Momente, untersuchen, in denen diese ethnischen Unterschiede zum Problem werden - wenn zum Beispiel ein vierjähriges Mädchen aus dem Kindergarten nach Hause kommt und erzählt, dass es wegen seiner gekräuselten Haare gehänselt worden sei, oder wenn es klagt: »Ich habe zu dunkle Haut.« Wenn wir mehr über solche Erfahrungen wüssten, könnten wir den Eltern dabei helfen, in solchen Augenblicken nicht in die Falle hineinzutappen, sondern souverän mit der Sache umzugehen. Die Mutter könnte beispielsweise antworten: »Natürlich hänseln sie dich. Sie mögen dich. Man hänselt immer die Leute, die man gern mag. Sie wollen verstehen, weshalb du anders aussiehst als sie. Weißt du, weshalb du anders aussiehst?« Dann kann man mit dem Kind auf seiner Verständnisebene über alle möglichen Unterschiede sprechen: Sprache, Religion, Hautfarbe und so weiter. Wenn man auf solche Krisen vorbereitet ist, muss man die Vorstellung, dass es schlecht sei, anders zu sein, nicht mehr von einer Generation an die nächste weitergeben. SIG: Wir können auch unterschiedliche kulturelle Gruppen, Religionen und ethnische Hintergründe betrachten und fragen: »Auf welche Weise können Familien von bestimmten religiösen, kulturellen oder ethnischen Besonderheiten profitieren?« Wo liegen, wie du sagst, die Stärken? Bestimmte religiöse Überzeugungen machen es den Eltern zum Beispiel einfacher, den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu werden. Wenn eine Religion für eine enge Beziehung zu den Kindern und für eine intensive Anteilnahme an ihrer Entwicklung eintritt, fällt es den -289-
Erwachsenen leichter, für die Kinder da zu sein und viel Zeit mit ihnen zu verbringen. Man befolgt eine religiöse Vorschrift und ist deshalb mit sich im Reinen. Oft ist in der Philosophie einer Religion mehr Unterstützung enthalten, als man sich im Allgemeinen klar macht. Die Menschen leben nicht immer danach, aber fast alle Religionen messen dem Zusammenhalt der Familie und den Verwandtschaftsbanden große Bedeutung bei. An diesem Punkt kann man ansetzen. Aber es gibt auch schreckliche Traditionen, zum Beispiel die Empfehlung der Prügelstrafe. TBB: In dieser Tradition wird die Religion instrumentalisiert, um strenge, hartherzige Erziehungsmethoden zu rechtfertigen: Dem Seelenheil des Kindes ist es förderlich, wenn man Babys weinen lässt, sie nur alle vier Stunden füttert und ältere Kinder die Rute spüren lässt. SIG: Das Kind weinen lassen? TBB: Ja. Das haben mir die Eltern in bestimmten Religionsgemeinschaften erzählt. SIG: Ich glaube, es ist hilfreicher, wenn wir uns auf die Unterstützung konzentrieren, auf Glaubensaspekte, von denen die Erziehung wirklich profitieren kann. Wir können darauf verweisen, dass die Religion lehrt, Verantwortung für das Kind zu tragen und sich um sein Wohlergehen zu kümmern. TBB: Wir alle haben den Eindruck, dass es diesem Land an Wertesystemen fehlt. Viele der Werte, für die wir als Nation eingetreten sind, haben versagt. Wir suchen nach besseren. Wenn man sich umschaut, erkennt man, dass einige Werte auf der Strecke geblieben sind. Viele Kulturen, die sich mit unserer eigenen vermischen, haben ihre traditionellen Wertvorstellungen aufgegeben. Es stünde uns allen gut an, zurückzublicken und zu fragen: »Was habe ich verloren und was habe ich im Gegenzug bekommen?« Wir haben religiöse Werte und kulturspezifische Glaubenssysteme aufgegeben und nicht viel zurückbekommen. -290-
Heute beginnen sich die Menschen wieder auf ihre kulturelle, ethnische und religiöse Herkunft zu besinnen. Gemeinsame Werte SIG: Wenn ich mit Gruppen aus unterschiedlichen Kulturen arbeite, versuche ich die Elemente zu betonen, von denen Eltern profitieren können. Stellen wir uns zum Beispiel eine Mutter mit einem übersensiblen Kind vor, das in Panik ausbricht, wenn es hart angefasst wird. In der Kultur der Mutter ist es aber üblich, Kinder streng zu bestrafen. Um den beiden zu helfen, sage ich: »Nun, Sie wissen, dass Ihr kleiner Johnny eine sehr sensible Haut hat. Ein leichter Klaps ist für ihn ein gewaltiger Schlag, der ihm große Angst macht. Ich denke, dass Sie gar nicht vorhatten, ihn so zu erschrecken. Ihr Glaube schreibt Ihnen ja auch nicht vor, dass man Kindern Angst einjagen muss, es heißt lediglich, dass sie erzogen werden sollen. Man kann dem Kleinen aber auch, ohne ihn zu erschrecken, klar machen, dass er gehorchen muss.« Die grundsätzlichen Ziele der Religion oder Kultur sind gewöhnlich sehr konstruktiv. Es ist ausgesprochen interessant, sich Glaubenslehren im Kontext unserer psychologischen Konzepte über die Grundlagen einer reifen, gesunden Persönlichkeit anzusehen. Alle Religionen und Kulturen erleichtern irgendwie das Überleben, sonst hätten sie nicht überdauert. Aber es ist wichtig, dass sich die Eltern klar machen, welche Elemente der eigenen Kultur ihnen bei einem bestimmten Problem, das sie mit ihrem Kind haben, helfen könnten. Unser Ziel, die Entwicklung einer gesunden, kreativen, umsichtigen, respektvollen Persönlichkeit zu fördern, wird wahrscheinlich von den meisten Religionen und Kulturen geteilt. Die verschiedenen Kulturen befriedigen die Grundbedürfnisse, für die wir hier eintreten, auf je spezifische Art und Weise. Die meisten Kulturen fördern starke Familienbande, enge Beziehungen, das Setzen von Grenzen und die Fähigkeit, Autonomie und Anteilnahme am Schicksal anderer in ein ausgewogenes Gleichgewicht zu bringen. -291-
TBB: Viele Minderheitenkulturen haben aber positive Werte aufgegeben, um sich unserer dominanten Gesellschaft anzupassen. Dies müssen wir den Eltern meiner Meinung nach bewusst machen. Sie müssen sich die Freiheit nehmen können, in ihrer eigenen Tradition nach Unterstützung zu suchen. Das setzt jedoch die Offenheit und Verständnisbereitschaft aller Beteiligten voraus. In der traditionellen griechischen Kultur bekommen die Babys als Neugeborene zum Beispiel keinen Namen. Die Mutter will gar nicht, dass Außenstehende ihr Baby bewundern, weil sie Angst hat, dass sie es ihr wegnehmen. Wenn eine Kinderärztin oder eine Säuglingsschwester in unseren Entbindungskliniken eine solche Frau kennen lernt und die Gründe für ihr Verhalten nicht kennt, denkt sie womöglich: »Die Mutter ist bindungsunfähig.« Lateinamerikanische Eltern müssen häufig auf den engen Familienzusammenhalt verzichten, wenn sie sich in unserer Gesellschaft assimilieren. Infolgedessen sind sie ganz auf sich allein gestellt. Sie haben viele vertraute Beziehungen zurückgelassen, die ihnen angesichts der gewaltigen Aufgabe, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren, hätten Kraft geben können. Empfehlungen Stabile Nachbarschaften und kommunale Organisationen sind die Voraussetzung dafür, dass die Grundbedürfnisse der Kinder befriedigt werden können. Unterstützung für Familien und kulturelle Stärken können aus verschiedenen Richtungen kommen. Nachbarschaftlicher Zusammenhalt Die Unterstützung auf der nachbarschaftlichen Ebene setzt voraus, dass man seine Nachbarn kennt, dass die Wohngegend sicher ist und der soziale Kontakt zum Beispiel durch Straßenfeste und dergleichen aufrechterhalten wird. Familien beziehen eine persönliche Identität aus ihrer Wohngegend und -292-
den Beziehungen, die ihnen den Rücken stärken. Kirchen, Schulen, Bürgerorganisationen, Elterngruppen und die verschiedenen Dienste bilden die öffentliche Infrastruktur. Sie werden ihrerseits gestärkt durch ihren kollektiven Einsatz für das öffentliche Wohl - Aufräumarbeiten im Viertel, Nachmittagsbetreuung für Schulkinder, Bürgerhäuser usw. Verbessert werden die äußeren Bedingungen auch durch Einrichtungen mit größerem Aktionsradius: Polizeiwachen, freiwillige Feuerwehr, mobile Pflegedienste, Bibliotheken, Einkaufszentren. Diese familienfreundliche soziale Infrastruktur ist in vielen Gemeinden nicht vorhanden oder nicht wirklich funktionsfähig. Staatliche Programme Staatliche Programme müssen möglichst optimal mit lokalen Projekten kooperieren. Versuche, Schulen und kommunale Einrichtungen »von oben« zu kontrollieren, wirken auf die örtlichen Mitarbeiter nicht selten demoralisierend, weil auch bereits bestehende Gemeindeprojekte und kulturelle Netzwerke solche Aufsichtsfunktionen übernehmen könnten. Neue Programme könnten durch einen Lackmustest auf ihre Tauglichkeit geprüft werden: »Unterstützen oder untergraben sie das Funktionieren der Familie und die kommunale Infrastruktur?« (Aufklärungsinitiativen erreichen, was die Stabilisierung familiärer Beziehungen betrifft, wenig.) Die Hoffnung, fehlende oder brüchige Grundlagen durch vereinzelte Initiativen wettmachen zu können, würde sich dann in vielen Fällen als trügerisch erweisen. Unsere Möglichkeiten, Programme auf ihre Tauglichkeit zu prüfen, wurden durch neue Forschungen verbessert.6 Familien mit Mehrfachproblematik • Programme für Familien mit einer Vielzahl von Problemen müssen gewährleisten, dass Tag und Nacht Ansprechpartner erreichbar sind, die Säuglinge und Kinder in Obhut nehmen und -293-
Erwachsene betreuen können; aufsuchende Arbeit und Krisenintervention, diagnostische und Frühintervention sowie schulische und berufliche Ausbildungseinrichtungen sollten feste Bestandteile eines »vertikalen Dorfes« (S.I.G.) sein. In einem solchen Dorf müssen sich gefährdete Familien und Familien mit Mehrfachproblematik respektiert fühlen und sich trotz ihrer gewaltigen Schwierigkeiten auf liebevoll unterstützende Anteilnahme verlassen können. Solche Beziehungen sind ein Bestandteil des Touchpoints-Programms (siehe Anhang). Tagesstätten und Schulen • Um die Familien einzubeziehen und es den Schulen zu ermöglichen, auf die Gemeinde, in deren Dienst sie stehen, besser zu reagieren, ist als erster Schritt die Beteiligung der Eltern und der Kommune an der Schulverwaltung notwendig. Eltern und Gemeindemitglieder arbeiten (wie in den Privatschulen) in allen öffentlichen Schulen eng mit den Lehrern zusammen und bauen eine Struktur mit einem lokalen Beratergremium und mit Arbeitskomitees für sämtliche wichtigen Bereiche auf (Lehrpläne, besondere Aktivitäten, Theater-, Tanz- und Musikgruppen und Nachmittagsaktivitäten). • Familien und Nachbarschaften würden gestärkt, wenn die Schulen ihre Aktivitäten erweiterten, statt sich auf ihren Bildungsauftrag zu beschränken. Dies gilt vor allem für sozial benachteiligte Wohngegenden und Gemeinden. Die Schulen könnten zum Beispiel wesentlich ehrgeizigere Nachmittagsprojekte anbieten, die vom Nachhilfeunterricht über naturwissenschaftliche, mathematische, künstlerische und literarische Projektgruppen bis zu Theater-, Musik- und Sportgruppen reichen. Verschiedene Teams und Leistungsklassen beziehungsweise mehrere Aufführungsgelegenheiten böten allen Kindern die gleiche Chance, aktiv mitzuwirken. Gesundheitsdienste könnten durch die Schulen leichter zugänglich gemacht werden. Abendliche -294-
Versammlungen der Gemeindevertretungen usw. könnten in den Schulgebäuden stattfinden. Für hochgefährdete Familien oder solche mit Mehrfachproblematik könnten in den Schulen Anlaufstellen eingerichtet werden, die Tag und Nacht besetzt sind. Alle diejenigen, die mit kleinen Kindern arbeiten - in Tagesstätten, in der Gesundheitsberatung, in Schulen oder Sozialämtern - sollten tun, was immer möglich ist, um das Rivalisieren um Einflussnahme zu vermeiden und mit den Eltern als Team zu kooperieren. Ein erster wichtiger Schritt besteht darin, sich der Rivalität bewusst zu werden und sie zu thematisieren. Wenn man den Mitarbeitern der Tagesstätten und den Lehrern keine angemessenen Gehälter zahlt und ihre Arbeit nicht wirklich respektiert, kann man nicht von ihnen erwarten, dass sie verängstigten oder überforderten Eltern den Rücken stärken. Statusverbesserung und Gehaltserhöhungen müssen als nationale Priorität betrachtet werden. Langfristig können angemessene Ausbildung und Supervision dem so genannten Burnout vorbeugen. Jeder, der mit Familien arbeitet, sollte konsequent nach den Traditionen und Lehren suchen, in denen die Eltern Kraft und Unterstützung finden. Die Werte und langfristigen Ziele, die von unterschiedlichen Religionen und Kulturen geteilt werden, machen Konflikte über Erziehungsmethoden und -stile wett. Kirchen, die auf diese Grundbedürfnisse eingehen, tragen bereits vieles dazu bei, den Druck, unter dem Eltern heutzutage stehen, zu erleichtern.
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7. KAPITEL DIE ZUKUNFT SICHERN Unsere Diskussion über die elementaren Bedürfnisse der Kinder bliebe unvollständig, wenn wir nicht auch die Verantwortung zur Sprache brächten, die wohlhabende Nationen gegenüber den Kinder in Krisengebieten oder unterentwickelten Regionen haben. Angehörige reicher Nationen beklagen die Zustände in Ländern, deren Regierungen es hinnehmen oder die Schuld daran tragen, dass zahllose Menschen verhungern oder an Krankheiten zugrunde gehen und Familien auseinander gerissen werden. Verschiedene Hilfsorganisationen und internationale Zusammenschlüsse setzen sich zwar für Verbesserungen ein, gleichwohl aber haben wir uns international für andere politische und wirtschaftliche Ziele deutlich stärker engagiert als für die Lebensbedingungen der Kinder dieser Welt. Den Kampf gegen Hungertod und tödliche Krankheiten haben wir nicht zur obersten internationalen Priorität erklärt. Politische Hindernisse (und mitunter auch kulturelle), die es uns erschweren, die Kinder zu schützen, werden zur Rechtfertigung bemüht, obwohl wir alle wissen, dass weit mehr geschehen könnte, wenn das Kindeswohl auf Platz l der Weltpolitik stünde. In diesem Zusammenhang dürfen wir auch nicht vergessen, dass die emotionale Deprivation ebenso verheerende Auswirkungen nach sich ziehen kann wie die Unterernährung und andere physische Entbehrungen. In gewisser Hinsicht zieht die emotionale Vernachlässigung aufgrund der psychischen Qual und Desorganisation, die sie verursacht, sogar noch schlimmere Konsequenzen nach sich. Emotionale Entbehrungen untergraben den menschlichen Geist und die Fähigkeit, für künftige Generationen zu sorgen. Die körperlichen Bedürfnisse der Kinder sind von ihren emotionalen nicht zu trennen. -296-
Vielmehr haben wir dieses Buch über die Grundbedürfnisse von Säuglingen und Kindern zum Teil auch deshalb geschrieben, um all die elementaren Bedürfnisse in einem einzigen Rahmen zu vereinen und die Befriedigung körperlicher, sozialer, emotionaler und intellektueller Bedürfnisse als gleichermaßen wichtige Voraussetzung für den Fortbestand des menschlichen Lebens, wie es uns vertraut ist, und für den weiteren weltweiten sozialen, politischen und ökonomischen Fortschritt zu beschreiben. Ein solcher Rahmen könnte es ermöglichen, Nationen danach zu beurteilen, wie gut sie diesen Grundbedürfnissen Rechnung tragen, und abgesehen von Indikatoren wie Säuglingssterblichkeit, Morbidität und Armut auf der Grundlage der in diesem Buch formulierten Empfehlungen auch Schlüssel-»Indikatoren« für jedes einzelne Grundbedürfnis mit einzubeziehen. Zum Beispiel könnte man untersuchen, welche Regelungen die verschiedenen Länder für den Mutterschutz oder den Erziehungsurlaub vorsehen, wie die Gesetzgeber zur Kinderarbeit stehen, wie ausgesetzte Babys versorgt werden und inwieweit die Familienhilfsprogramme das elementare Bedürfnis nach konstanter, zuverlässiger Betreuung berücksichtigen. Wenn wir die Zukunft der Kinder dieser Welt - in den Industriestaaten wie auch in den Entwicklungsländern betrachten, sind nukleare, biologische und ökologische Bedrohungen augenblicklich präsent. Mehr als eine Verlangsamung der weiteren Verbreitung von Kernwaffen wurde bislang offensichtlich nicht erreicht. Zudem verfügen mittlerweile zahlreiche Staaten auch über biologische Massenvernichtungswaffen. Ökologische Probleme wie die Erwärmung des Globus und die Umweltvergiftung, die Verseuchung des Trinkwassers oder die Vernichtung des Pflanzen- und Tierlebens in den Meeren stellen uns vor ebenso ernste und dringliche Aufgaben. Neue Krankheiten wie -297-
AIDS, die sich rasch über nationale Grenzen hinweg ausbreiten können, sind eine weitere Gefahr. Diese unübersehbaren Bedrohungen können zwei unterschiedliche Reaktionen auslösen. Einerseits Angst und Hilflosigkeit, häufig einhergehend mit Verleugnung und Vermeidung, andererseits aber den Versuch, auf internationaler Ebene verstärkt zu kooperieren, um die Gefahren zu lindern oder abzubauen. Angst, Verleugnung und Vermeidung stehen der notwendigen weltweiten Zusammenarbeit im Weg. Es könnte scheinen, als hätten all diese Überlegungen mit den Grundbedürfnissen der Kinder wenig zu tun. In Wahrheit jedoch drängt der Wunsch, zu überleben und die Nachkommenschaft zu sichern, alle übrigen Bedürfnisse in den Hintergrund. Jede Generation hat es heute in der Hand, den Lebensraum der Menschheit zu zerstören. Das wichtigste Erbe, das wir unseren Kindern hinterlassen können, ist ein Planet, auf dem kommende Generationen heranwachsen und überleben können. In Wahrheit sollten wir die sichere Umwelt nicht als letztes, sondern als erstes der hier beschriebenen Grundbedürfnisse betrachten. Wegen des Angst erzeugenden Charakters dieser Probleme (und unserer Tendenz, ihre Wichtigkeit zu verleugnen) beschreiben wir es hier als ein übergreifendes Bedürfnis, das mit all den übrigen aufs Engste zusammenhängt. Um die Zukunft zu sichern, müssen alle Länder dieser Erde weit effizienter als bisher kooperieren. Hier jedoch offenbart sich eine grundlegendere Dimension dieses siebten Grundbedürfnisses. Wir müssen uns heute mit einem neuen Typ der gegenseitigen Abhängigkeit auseinander setzen, mit einer psychologischen Herausforderung, die sich der Menschheit in der Vergangenheit noch nicht gestellt hat. Eine ganze Reihe verschiedener Faktoren hatte zur Folge, dass sich relativ kleine, im wörtlichen Sinn umgrenzte Gruppen zu einer einzigen weltumspannenden Gruppe erweiterten. Die Vereinigten Staaten können sich nicht mehr hinter ihren Grenzen verstecken, ebenso wenig wie -298-
Kanada hinter den kanadischen, Indien hinter den indischen usw. Die Bindungen, die es relativ kohärenten Gruppen erleichtern, ihre Gemeinschaften und Gesellschaften aufrechtzuerhalten - nationale Werte, Ideale, politische Systeme oder kulturelle Besonderheiten -, sind an Aufgaben und Einflüssen globaleren Ausmaßes zerbrochen. Erstens lassen die genannten Bedrohungen - Kernwaffen, Umweltkatastrophen und biologische Gefahren - eine von Angst geprägte wechselseitige Abhängigkeit entstehen. Ölbrände im Mittleren Osten können zu Wolkenbildungen führen, welche die Sonne in andere Teilen der Welt verdunkeln. Viren, die irgendwo auf der Welt in einem Labor gezüchtet wurden, können die Bewohner anderer Kontinente heimsuchen. Jeder Versuch, Schutzschirme zur Abwehr nuklearer Angriffe zu entwickeln, blieb bislang erfolglos. Die biologische, ökologische und nukleare Interdependenz erzeugt daher Ängste, die uns alle miteinander verbinden. Nur gemeinsame Lösungen können diese Angst lindern. Zweitens wächst die weltweite wirtschaftliche Verflechtung. Wenn in Indonesien oder Südamerika Märkte zusammenbrechen, sind die US-amerikanischen und europäischen Märkte in Mitleidenschaft gezogen. Diese Verflechtung zeigte sich unübersehbar in den vergangenen Jahren, als die westlichen Länder in hektische Aktivität ausbrachen, um die Wirtschaften in Asien und Südamerika zu stützen. Sie hat auch zur Folge, dass sich große Gesellschaften und Konzerne zu neuen, internationalen Organisationen zusammenschließen. Diese Entwicklung kann die Befürchtung wecken, dass solche großen Gesellschaften ohne Regeln oder Vorschriften wie Regierungen operieren werden. Die Welthandelsabkommen, die ihre Geschäfte regulieren sollen, unterlaufen die Gesundheits- und Umweltschutzgesetze der einzelnen Staaten. Wie auch immer die Risiken beschaffen sind: Sie erzeugen eine weitere Dimension der wechselseitigen -299-
Abhängigkeit. Ein dritter Faktor ist die kommunikationsbedingte gegenseitige Abhängigkeit. Das Fernsehen ist überall verbreitet und bringt alle Teile der Weltgemeinschaft zusammen. Bald schon wird das Internet sämtliche Individuen auf der Welt miteinander vernetzen. Interessanterweise rückt die Weltbevölkerung aufgrund gemeinsamer Interessen und kultureller Muster, sei's in der Musik, der Mode oder der Filmproduktion, rascher zusammen, als sich die Regierungen der verschiedenen Staaten einigen können. Zudem gelangen jüngere Politiker an die Macht, die für die gleichen Werte eintreten wie gleichaltrige Staatsführer in vielen anderen Ländern der Welt. Diese gemeinsamen Werte gehen entweder aus einer homogenen Bildungserfahrung hervor oder aus der engen wechselseitigen Kommunikation. Wir sind daher alle miteinander verbunden, sei es durch Angst, Kommunikation oder wirtschaftliche Verflechtung. Wie sollten wir uns als globales Dorf oder als Weltfamilie verhalten? In der Vergangenheit haben wir internationale Konflikte entweder durch Kooperation oder durch eine Politik der Einschüchterung in den Griff zu bekommen versucht. Wenn die Kooperation versagte, trat immer die Einschüchterungsstrategie auf den Plan. Die Länder mit der größeren Militärmacht konnten sich durchsetzen, indem sie eine Mentalität des Überlebens der Stärksten vertraten, eine Macht-schafft-Rechte-Ethik. Die Erfahrungen der Vereinigten Staaten in Vietnam oder der Sowjetunion in Afghanistan haben indes bewiesen, dass solche Strategien häufig nicht einmal dann erfolgreich sind, wenn sie sich auf einen überlegenen Militärapparat stützen. Wie dem auch sei, schon bald werden auch militärisch weniger hoch gerüstete Länder über genügend biologische und nukleare Waffen verfügen, um verheerende Katastrophen vor der eigenen Haustür oder anderswo auf der Welt anrichten zu können. Letztlich bedeutet dies, dass die Risiken der -300-
Einschüchterungsstrategie allzu hoch sind, sobald die Mehrzahl der Staaten über die Mittel verfügt, um unseren Planeten zu zerstören. In sehr großen Gruppen fällt es den einzelnen Menschen gewöhnlich schwer, sich zu organisieren. Sie flüchten sich in primitive psychische Mechanismen, die dann häufig auch die internationalen Beziehungen dominieren. Ein typischer Ausdruck dieser Entwicklung sind neben dem polarisierten »Wir-versus-sie«-Denken Nichtanerkennung oder Rückzug, Misstrauen und Manipulationsversuche sowie Einschüchterung. Aber weder Individuen noch der internationalen Politik ist es in der Vergangenheit wirklich gelungen, die Organisation von Gruppen mithilfe solcher primitiver Taktiken aufrechtzuerhalten. Diese Mechanismen werden angesichts der erhöhten Verflechtung und gegenseitigen Abhängigkeit auch weiterhin nicht imstande sein, jene Kooperation zu erzeugen, die zur Sicherung der Zukunft nachfolgender Generationen erforderlich ist. Wir können die Zukunft allein durch die Entwicklung einer neuen Psychologie sichern, die diese faktische Interdependenz anerkennt und berücksichtigt. Die Bevölkerung dieser Welt ist auf Kommunikationsmethoden und -muster angewiesen, die nicht auf die Ebene von Entstellungen, Polarisierungen oder Rückzugsverhalten, von Vermeidung und Misstrauen regredieren. Wie kann man eine solch neue Psychologie der Kooperation entwickeln? Wie können wir die Verflechtung, die es in unserer Geschichte in diesem Umfang noch nie gegeben hat, so mobilisieren, dass sie Diversität zulässt, ein gemeinsames Gefühl der Menschlichkeit vertieft und unsere Kooperationsfähigkeit verbessert? Wenn wir ein Großgruppenverhalten zu fördern versuchen, das durch Kooperation im Dienste der Zukunft charakterisiert ist, müssen wir auch jene Faktoren betrachten, die Polarisierung, -301-
Argwohn und Rückzug oder Aggression verstärken. Hier schließt sich unser Kreis: Die Faktoren, die unser Bewusstsein für die allen Menschen gemeinsamen Anliegen vertiefen, sind mit den von uns erläuterten Grundlagen identisch. Auf diese Grundlagen müssen wir uns intensiver und konsequenter besinnen als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Dies setzt ein radikales Umdenken voraus, eine Abkehr von Unpersönlichkeit und Fragmentierung und eine Orientierung an Grundprinzipien der menschlichen Entwicklung, die eine künftige Zusammenarbeit der Völker erleichtern können. • Die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse. Gruppen, die um ihr Überleben kämpfen, werden durch sehr konkrete Bedürfnisse geeint und können sich den Luxus, langfristige weltweite Ziele zu verfolgen, nicht leisten. Ausreichende Ernährung, Wohnraum und medizinische Versorgung müssen der gesamten Weltbevölkerung ebenso zugänglich sein wie dem einzelnen Kind. Die wirtschaftliche Entwicklung ist daher kein individuelles Ziel, sondern muss zu einem breiten internationalen Anliegen werden. Strategien, die das ökonomische Wachstum der einzelnen Staaten fördern, können dazu beitragen, eine sichere Umwelt für alle Menschen zu schaffen. • Eine weltweite Philosophie stabiler menschlicher Beziehungen, die zum Erhalt und zur Unterstützung von Familien und Gemeinschaften beitragen. Nur Individuen, die sich behütet und sicher fühlen können, sind in der Lage, mit anderen eine Ethik der Menschlichkeit zu teilen. Deprivierte, gestresste oder hungernde Menschen können aufgrund ihrer Angst und Furcht über ihre eigenen konkreten Bedürfnisse nicht hinausblicken. Da ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, ist ihre Fähigkeit, für andere Angehörige der Menschheit zu sorgen und Anteil an ihrem Schicksal zu nehmen, beträchtlich eingeschränkt. Wir haben uns auf das »Überleben des Stärksten« konzentriert, auf das -302-
Konkurrenzmotiv der Evolution, haben aber die Wichtigkeit fürsorglicher Anteilnahme verleugnet, die es den Menschen ermöglicht, Beziehungen zu knüpfen und Familien zu gründen und zu bewahren, in Gruppen und Gesellschaften zu kooperieren und gemeinsame politische, ökonomische und militärische Ziele zu verfolgen. In einer komplexen Gesellschaft sind Fürsorge und Anteilnahme die Grundlage für die Kooperation, die allein das Überleben ermöglicht. In einer Welt, die uns allen aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeiten eine beträchtlich größere Toleranz gegenüber kultureller Vielfalt und Andersartigkeit abverlangt als je zuvor und es nötig macht, dass wir weit über unsere eigene Lebensdauer und die unserer Kinder hinausdenken, um den Planeten erfolgreich zu schützen, dürfen wir die Bedeutung, die der umsichtigen Anteilnahme für die menschliche Evolution zukommt, nicht länger unterschätzen. Die zuverlässige, fürsorgliche Obhut in stabilen Familien ist daher eine Voraussetzung dafür, dass unsere Kinder später einmal in der Lage sein werden, Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen. Familien, Bildungseinrichtungen und Gemeinden, die Kindern helfen, zu kommunikationsfähigen, umsichtigen Mitgliedern der Gesellschaft heranzuwachsen. In den vorangehenden Kapiteln haben wir erörtert, dass auf der Grundlage von Fürsorge und Obhut entwicklungsgerechte Interaktionen stattfinden müssen, die auf die individuellen Besonderheiten des Kindes zugeschnitten sind. Daher müssen wir den Menschen überall auf der Welt die Chance auf eine qualifizierte, problemlösungsorientierte Ausbildung geben. Stabile Gemeinschaften müssen den Familien Rückhalt bieten und Schulen und andere Institutionen stärken, die zur Entwicklung der Reflexionsfähigkeit beitragen können, ohne die wir die Aufgaben, vor denen alle Länder dieser Welt stehen, nicht bewältigen können. Die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse von -303-
Säuglingen, Kleinkindern und ihren Familien ist die Grundbedingung dafür, dass unsere Nachkommen zu toleranten, weit blickenden Bürgern heranwachsen können, die mit der neuen weltweiten Interdependenz zurechtkommen. Die Befriedigung unseres siebten Grundbedürfnisses setzt daher die Befriedigung der übrigen sechs voraus. Das bedeutet, dass unser Humanitätsbewusstsein alle Menschen mit einschließen muss, damit wir umsichtige gemeinsame Anstrengungen unternehmen können. Unser Gerechtigkeitsempfinden darf vor der Gleichberechtigung der Generationen nicht Halt machen - es darf uns nicht gleichgültig sein, mit welcher Welt unsere Enkelkinder dereinst konfrontiert sein werden. Ohne eine solche Perspektive wird es uns ebenso wenig wie in der Vergangenheit gelingen, langfristig, in Zeiträumen von fünfzig Jahren, zu planen, um das Risiko biologischer, ökologischer und nuklearer Katastrophen zu verringern. Erreichen können wir dieses Ziel nur dann, wenn wir den Grundbedürfnissen der Kinder neben den Menschenrechten die höchste internationale Priorität als »Recht« eines jeden Individuums einräumen. Die sieben Grundbedürfnisse können als Bezugsrahmen für die Bewertung einzelner Nationen, Regionen und der internationalen Staatengemeinschaft dienen, um den Status quo zu kontrollieren und Anreize für Verbesserungen zu schaffen. Künftige Generationen von Kindern und Familien werden weltweit wesentlich enger miteinander verflochten sein. Um die Zukunft eines einzigen Kindes zu sichern, müssen wir allen Kindern eine Zukunft geben.
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ANHANG
DAS TOUCHPOINTS-MODELL1 T. Berry Brazelton Alle Eltern profitieren von Informationen über die Kinderentwicklung und über die Wichtigkeit einer unterstützenden, fürsorglichen Umwelt. Als professionelle Helfer sollten wir uns bemühen, ihnen als Verbündete in einem System der Kinderbetreuung zur Seite zu stehen. Unsere heutigen Systeme werden häufig erst in akuten Krisen aktiv; sie sind defizitorientiert und schrecken die Eltern eher ab. Viele Familien, vor allem jene mit förderungsbedürftigen und behinderten Kindern, fühlen sich isoliert und im Stich gelassen (Bowman et al. 1994; Turnbull, Turnbull und Blue-Banning 1994). Daher sollten wir unsere Energien auf die Entwicklung eines Systems konzentrieren, dessen Mitarbeiter präventiv denken und den ethnischen und religiösen Hintergrund der Eltern sowie ihre Lebensweise respektieren. Statt schwangere Jugendliche als Versagerinnen zu behandeln, wodurch wir sie vergraulen und jede Chance auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit zunichte machen, sollten wir die Schwangerschaft akzeptieren, die Zukunftsaussichten des Babys mit der Mutter besprechen und ihr unsere Unterstützung anbieten. Wenn wir den Müttern als professionelle Helfer die notwendigen Informationen liefern und ihnen demonstrieren, wie sie selbst die Entwicklung ihres Kindes verstehen und fördern können, tragen wir entscheidend zu einem erfolgreichen Funktionieren des Familiensystems bei. In den vergangenen Jahren habe ich das Touchpoints-Modell -305-
entwickelt (Brazelton 1992).
Abbildung 1: Touchpoints oder kritische und interventionsbedürftige Phasen
Touchpoints sind jene Phasen während der ersten drei Lebensjahre, in denen das gesamte Familiensystem durch die Entwicklungsschübe des Kindes erschüttert wird. Die Touchpoints konstituieren eine Karte der Kinderentwicklung mit Wegmarken, die von Eltern sowie Kinderärzten und Vertretern anderer Disziplinen, die mit Kindern zu tun haben, identifiziert und antizipiert werden können (siehe Abb. 1). Dreizehn solcher Touchpoints wurden für die ersten drei Lebensjahre, beginnend mit der Schwangerschaft, beschrieben. Sie zentrieren sich nicht um die traditionellen Meilensteine der Entwicklungspsychologie, sondern um Versorgungsthemen, die für die Eltern und für ihre Beziehung zum Kind wirklich wichtig sind (Füttern, Erziehung zur Anpassung an Regeln usw.). Die Bewältigung dieser vorhersehbaren Phasen kann als Indikator für das erfolgreiche Funktionieren des Familiensystems betrachtet werden. Wenn man diese Touchpoints kennt und über -306-
Strategien verfügt, um mit ihnen zurechtzukommen, lassen sich negative Muster, die vielerlei Probleme erzeugen können, reduzieren. Schlaf- und Essstörungen, Schwierigkeiten mit der Sauberkeitserziehung usw. müssen unter diesen Umständen nicht eskalieren. Bei Frühgeburten oder sehr fragilen Säuglingen treten die Touchpoints unter Umständen leicht verzögert auf, bieten aber eine umso wichtigere Gelegenheit, die besorgten Eltern zu unterstützen. Die Grundsätze, an denen sich die Mitarbeiter des Touchpoints-Modells orientieren, enthält der nachstehende Kasten. Grundsätze des Touchpoints-Modells 1. Achten und verstehen Sie die Beziehung, die sich zwischen Ihnen und der Mutter entwickelt. 2. Benutzen Sie das Verhalten des Kindes als Sprache, in der Sie sich mit ihm verständigen. 3. Erkennen Sie Ihren eigenen Interaktionsbeitrag an. 4. Seien Sie bereit, Fragen zu besprechen, die über Ihre traditionelle Aufgaben hinausgehen. 5. Suchen Sie nach Gelegenheiten, um die Kompetenzen der Mutter zu fördern. 6. Rücken Sie die Mutter-Kind-Beziehung ins Zentrum. 7. Achten und stärken Sie Liebesgefühle, wo immer sie auftauchen. 8. Betrachten und respektieren Sie Desorganisation und Verletzlichkeit als Chancen. Professionellen Helfern können diese Touchpoints als Bezugsrahmen für ihre Begegnungen mit Familien in den ersten drei Lebensjahren des Kindes dienen. Verschiedene Grundannahmen über die Eltern bilden den Kern der Touchpoints-Arbeit. Gemeinsam können Professionelle und Eltern wiederkehrende Themen identifizieren und Strategien erarbeiten, um künftige Herausforderungen zu meistern. Wenn -307-
ein Baby vier Monate alt ist, kann man zum Beispiel vorhersagen, dass es schon bald zu einem Schub in der kognitiven Umweltwahrnehmung kommen wird. Das Baby wird sich beim Füttern unkonzentriert verhalten, es wird die Brust oder die Flasche ignorieren, um den Kopf hin- und herzuwenden und auf jeden Stimulus zu lauschen. Zum Ärger seiner Eltern schläft es auch nachts nicht mehr durch. Wenn die Eltern diese Phase aber als einen natürlichen Vorläufer einer rapiden und aufregenden Entwicklung verstehen können, haben sie nicht das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Die Orientierung oder das »Gerüst«, das professionelle Helfer Eltern an die Hand geben können, ist nicht bevormundend, sondern unterstützend. Antizipierende Anleitung besteht nicht aus »Expertentipps«, sondern entwickelt sich als Dialog, als gemeinsamer Austausch über das, was die Eltern empfinden und denken, wenn sie plötzlich mit neuen Herausforderungen konfrontiert sind. Diese Einstellungen beruhen zum Teil auf der Art und Weise, wie sie ähnliche Konflikte in der Vergangenheit gelöst haben. Für Eltern ist die Tatsache, dass Entwicklungsschübe und rückschläge vorhersehbar sind, beruhigend. Das Konzept der Überschneidungen verschiedener Entwicklungslinien kann ihnen Mut machen, wenn sie an ihrer eigenen Fähigkeit, das Kind angemessen zu betreuen und zu fördern, zweifeln. Angesichts der normalen Regressionen in seinem Verhalten fragen sie sich häufig, welche Fehler sie gemacht haben. Gespräche über diese Touchpoints können hier helfen, indem sie ihr Selbstvertrauen und das Vertrauen in ihr Kind stärken. Ursprünglich wurde das Touchpoints-Modell für die kinderärztliche Praxis entwickelt. Heute aber wird es von Angehörigen verschiedener Disziplinen in den unterschiedlichsten Settings benutzt. Wir erkennen die Fachkompetenz dieser Kollegen an und ermutigen sie, das Modell an ihre eigene Klientel und ihre spezifischen Arbeitsbedingungen anzupassen. -308-
Das zentrale Merkmal der Touchpoints-Ausbildung ist die präventive antizipatorische Anleitung, ihr Ansatz ist multidisziplinär, und ihr Fokus ist das Interesse am Kind, das die professionellen Helfer mit den Eltern teilen. Das Modell konzentriert sich auf die Entwicklung von Beziehungen als integrales Ziel der Interaktionen zwischen Eltern und Professionellen in unterschiedlichen Settings, etwa in Geburtsvorbereitungskursen, in der kinderärztlichen Praxis und bei Hausbesuchen, in Kindertagesstätten usw. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Kontinuität der Familienbetreuung anstelle einzelner Dienstleistungen, deren Vertreter keinen Kontakt zueinander haben. Wie können einzelne professionelle Helfer als Team kooperieren, um eine stabile Verbindung zu der Familie aufrechtzuerhalten, die für die Gesundheit und Entwicklung der Kinder von großer Bedeutung ist? In einer systemtheoretischen Perspektive betrachtet, ist eine hoch entwickelte kommunale Infrastruktur für die optimale Arbeit mit Familien unverzichtbar (siehe 6. Kapitel). Unser Ziel besteht darin, sowohl die individuelle Praxis als auch das umfassendere System, das Dienstleistungen für Familien anbietet, zu verändern. Auf kommunaler Ebene ist dies nur zu erreichen, wenn wir sämtliche professionellen Helfer mit einbeziehen, die während der Schwangerschaft und in der Kindheit in den unterschiedlichen Settings mit Familien arbeiten (kinderärztliche Praxen, Krankenhäuser, private Vereine und öffentliche Behörden, Betreuungseinrichtungen usw.). Dieses multidisziplinäre Modell, das sich auf die Gemeindestruktur stützt, wird derzeit in dreizehn Städten getestet. Die vorläufigen Ergebnisse sind ermutigend. Als konzeptuelles Modell bietet das Touchpoints-Projekt eine Grundlage, die es einzelnen Angehörigen verschiedener Disziplinen und ihren Systemen erleichtert, die Familienbetreuung zu verbessern. Aufgrund des dualen Fokus Entwicklung und Beziehungen - hat das Modell Implikationen -309-
für multidisziplinäre Anbieter und unterschiedlichste Familien. Die verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Orientierung auf eine Gemeinschaft von professionellen Helfern setzt einen expliziten konzeptuellen Rahmen voraus. Wenn er von der Organisation vertreten und von den Mitarbeitern akzeptiert wird, kann dieser Rahmen als Grundlage einer professionellen Weiterentwicklung innerhalb des Arbeitssettings und der Gemeinde dienen. Nur unter dieser Voraussetzung wird es uns gelingen, die gegenwärtige Fragmentierung der verschiedenen Dienste zu überwinden und Familien effektiver als Verbündete innerhalb eines einzigen Betreuungs- und Versorgungssystems zu unterstützen.2 Die zentralen Themen der Touchpoints Der pränatale Touchpoint Vorbereitung - Mütter und Väter bereiten sich auf ihre Elternschaft körperlich und psychisch vor. Hoffnungen, Erwartungen und Ängste in Bezug auf die Geburt stehen mit Herannahen des Entbindungstermins im Vordergrund. Das Baby in der Phantasie - Das idealisierte, kranke oder behinderte und das reale Baby, das Mütter und Väter sich vorstellen, ist ein aktiver Bestandteil ihres psychischen Lebens. Diese Phantasien zeigen, dass sie emotional an das Baby gebunden sind, dass sie sich selbst mit anderen Augen zu sehen beginnen und dass ihnen die künftigen Aufgaben und Belastungen auch Angst machen. Beziehungen - Mit der Vorbereitung auf das Baby geht eine Neuausrichtung der Beziehungen einher. Die Beziehung der Schwangeren zu ihrer eigenen Mutter wird häufig intensiver. Freundschaften mit kinderlosen Peers können an Bedeutung verlieren. Als Arzt oder Helfer kann man das Unterstützungssystem der jungen Mutter mit beeinflussen. Mutter und Vater in ihrer Phantasie - Werdende Eltern sind stolz, wenn sie sich in ihrer Elternrolle sehen, und entwickeln -310-
gleichzeitig Selbstzweifel. Die imaginierte Mutter und der imaginierte Vater sind mit dem imaginierten Baby assoziiert. Die Neugeborenenphase als Touchpoint Gesundheit - Ist mein Baby gesund? Die Eltern wollen unbedingt hören, dass mit ihrem Baby alles in Ordnung ist. Falls der Säugling nicht gesund ist, muss man ehrlich zu ihnen sein und sie in allen Belangen, die seinen Zustand betreffen, unterstützen. Gefühle der Eltern - Eltern empfinden bei der Geburt eines Babys intensive und häufig widersprüchliche und verwirrende Gefühle. Jubel, Erleichterung, Angst, Liebe, Wut, Einsamkeit, Freude und Zweifel - all diese Gefühle können sie überfluten. Das Baby ist ein mächtiger Auslöser der emotionalen Stärken und Schwächen seiner Eltern in ihrer gesamten Bandbreite. Das reale Baby - Die Eltern entdecken die charakteristischen Eigenschaften ihres Babys - Geschlecht, Größe, Hautfarbe, Temperament - und geben ihnen einen Sinn, sobald sie das idealisierte Kind ihrer Phantasie durch das reale Baby, das sie nun bekommen haben, zu ersetzen beginnen. Bindung - Die Beziehung zum Baby entwickelt sich im Laufe des ersten Jahres und gewinnt an Intensität, die erste emotionale Bindung aber zwischen der Mutter und ihrem Kind wird durch die Vorgänge in den gemeinsamen Minuten und Stunden nach der Geburt aktiviert. Der Touchpoint nach drei Wochen Mütterliche Erschöpfung - Die emotionale Verfassung der Mutter ist zu diesem Zeitpunkt besonders labil. Sie erholt sich noch von der Geburt und macht vielleicht eine Wochenbettdepression durch. Das Baby stellt enorme Anforderungen, aber die Interaktionsfähigkeit der Mutter ist noch nicht eindeutig definiert. -311-
Stillen - Die Bedürfnisse des Babys konzentrieren sich auf Nahrungsaufnahme und Schlaf. Das Stillen bringt die Fähigkeit der Mutter, ihr Baby angemessen zu versorgen, besonders prägnant zum Ausdruck. Gewichtszunahme, Stillzeiten und Verdauungsprobleme sind die Themen, die für viele Mütter bei diesem ersten Besuch im Vordergrund stehen. Individualität - Die Verhaltensorganisation und das Temperament des Babys treten allmählich deutlicher zutage. Die Eltern beginnen, seine Reaktionen auf ihre Betreuungsbemühungen besser zu verstehen. Beziehungen - Im Leben der Eltern vollziehen sich gravierende Veränderungen. Auch die Paarbeziehung erfährt einen Wandel. Die Beziehungen zu weiteren Familienangehörigen, zu Freunden und zur Gesellschaft im Allgemeinen gestalten sich deutlich anders als vor der Ankunft des Babys. Der Touchpoint nach sechs bis acht Wochen Geselligkeit - Das Baby wird geselliger. Seine bessere Fähigkeit, die Welt um sich herum wahrzunehmen und auf sie zu reagieren - längere Phasen der Wachheit und der visuellen Aufmerksamkeit, soziales Lächeln -, geben den Eltern Gelegenheit, mit ihrem Kind über die Befriedigung konkreter Bedürfnisse hinaus zu interagieren. Mütterliches Selbstvertrauen - Der körperliche und emotionale Erschöpfungszustand, in dem sich die Eltern drei Wochen zuvor befanden, weicht nun normalerweise einem ausgewogeneren Blick auf ihre künftigen Aufgaben als Eltern. Die jungen Mütter und Väter haben nicht mehr das Gefühl, lediglich zu überleben, sondern spüren, dass sie in ihre Aufgabe hineinwachsen. Die Still- und Schlafzeiten stabilisieren sich und die Eltern werden etwas sicherer. Sie wissen zum Beispiel, ob das Baby schreit, weil es Hunger hat oder weil es müde ist, und können ihren eigenen Schlafrhythmus besser als drei Wochen -312-
zuvor dem des Kindes anpassen. Beziehungen - Die Eltern nehmen den Kontakt zur Außenwelt wieder auf. Die Begeisterung und Erschöpfung nach der Geburt und während der ersten Anpassungsphase haben sich gelegt, so dass alte Beziehungen und die Rückkehr ins Berufsleben allmählich stärker in den Vordergrund treten. An diesem Punkt fürchten sie häufig, dass sich ihre eigene Beziehung zueinander für immer verändert hat. Der Touchpoint nach vier Monaten Bindung - Zwischen dem Baby und seinen Eltern entwickeln sich aufgrund der klareren und besser vorhersehbaren Interaktionsmuster intensive emotionale Bindungen. Interesse an der Welt - Das Baby beginnt, seine Aufmerksamkeit nach außen zu richten. Es interessiert sich für seine Umwelt und sucht den Kontakt zu ihr. Betreuungsmuster - Bestimmte Routineabläufe haben sich entwickelt, die den Eltern häufig ein größeres Selbstvertrauen vermitteln. Die Still- und Schlafzeiten werden berechenbarer. Forderungen des Babys - Die verstärkten und effektiveren Bemühungen des Babys um Aufmerksamkeit können das Beziehungsbedürfnis der Eltern befriedigen, aber auch die Enttäuschung und Resignation solcher Eltern verstärken, die diese Forderungen nicht erfüllen können. Väterliches Engagement - Das größere Interesse des Babys an seiner Umwelt ist auch für die Väter eine Chance, die Beziehung zu ihrem Kind zu intensivieren. Mütter erleben diese Außenorientierung unter Umständen als einen Verlust an Intimität. Der Touchpoint nach sieben Monaten Motorische Fähigkeiten - Die motorischen Fähigkeiten des Babys und seine verbesserte kognitive Wahrnehmung bewirken, dass es seine Umwelt erfolgreicher zu kontrollieren vermag. Es -313-
kann sich aufrecht halten, so dass seine Hände über größere Bewegungsfreiheit verfügen. Der Pinzettengriff, der sich nun herausbildet, ermöglicht es ihm, die Hände effizienter zu benutzen. Es exploriert zielgerichteter. Füttern - Die neuerworbenen kognitiven und motorischen Fähigkeiten beeinflussen auch das Verhalten während der Mahlzeiten: Das Baby gibt sich nicht mehr damit zufrieden, lediglich gefüttert zu werden. Die Ablenkbarkeit der vorangegangenen Monate weicht dem Bedürfnis, sich bei den Mahlzeiten und allen anderen Geschehnissen aktiv zu beteiligen. Schlaf- Die Aufregung über die Entdeckung der Welt reicht bis in die Nacht hinein. Es ist schwierig, das Kind schlafen zu legen oder es nachts, wenn es aufwacht, zu beruhigen. Die Eltern ringen erneut mit einem Problem, das sie überwunden glaubten. Objektpermanenz - Das Baby versteht nun, dass Objekte unabhängig von seinen eigenen sensorischen Wahrnehmungen existieren. Es beginnt, Gegenstände zu manipulieren und ihre physikalischen Eigenschaften zu untersuchen. Der Touchpoint nach neun Monaten Mobilität - Die Verbesserung der Motorik steht im Vordergrund der Aktivität. Die meisten Babys können nun stehen. Es gelingt ihnen aber noch nicht, die Balance so gut zu halten, dass sie laufen könnten. Sie krabbeln oder kriechen umher und gelangen in Ecken und Winkel, die zuvor unerreichbar waren. Soziale Rückversicherung - Das Baby nimmt die Reaktionen der Eltern auf seine Aktivität bewusster wahr. Wenn es auf eine »verbotene« Stelle zukrabbelt, blickt es zu seiner Betreuungsperson, um deren Reaktion zu prüfen. Damit eröffnet sich den Eltern und ihrem Kind eine neue Welt des gemeinsamen Verstehens und Missverstehens. Personenpermanenz - Die kognitive Erkenntnis, dass Objekte -314-
unabhängig von der eigenen, direkten sensorischen Wahrnehmung existieren, wird nun auf Personen erweitert. Sowie die Menschen seiner Umgebung kommen und gehen, möchte das Baby sie bei sich behalten oder von sich wegstoßen. Kontrolle - Schlafphasen und Mahlzeiten geraten unter den Einfluss der neuerworbenen Fähigkeiten, sich fortzubewegen und zu denken. Durch das auftauchende Gewahrsein für die eigenen Intentionen und die anderer Menschen rücken Kontrollthemen in den Vordergrund. Der Touchpoint nach zwölf Monaten Autonomie - Die Balance zwischen Selbstständigkeit und Abhängigkeit beruht auf einer sicheren Bindung zwischen dem Kind und seiner Betreuungsperson. Die Fähigkeit des Kleinkindes, seine Welt zu erforschen, wird durch die Zuverlässigkeit seiner Beziehungen gefördert. In einer Phase, in der die Abhängigkeit so nachdrücklich zum Ausdruck gebracht wird, fällt es den Eltern häufig schwer, sich mit dem paradoxen Phänomen abzufinden, dass größere Abhängigkeit als Grundlage für größere Selbstständigkeit dient. Motorische Fähigkeiten - Die Fähigkeit, sich auf zwei Beinen fortzubewegen, ist eine Entwicklungserrungenschaft, denen die Eltern eine große Bedeutung beimessen und die das Baby in Aufregung versetzt. Für manche Babys ist es sehr frustrierend, diese Fähigkeit zu antizipieren, aber noch nicht zu besitzen. Das Warten der Eltern auf die ersten Schritte und ihre Hilflosigkeit angesichts der Negativität des Kindes können diese Phase schwieriger gestalten, als es notwendig ist. Lernen - Die Monate nach dem ersten Geburtstag sind voller Entdeckungen. Das Kind, das nun über ein Bewusstsein für die Objektpermanenz verfügt, beginnt die Eigenschaften einzelner Objekte und die Welt insgesamt zielgerichtet zu erforschen. Es experimentiert und vergewissert sich, wie andere auf seine Entdeckungen reagieren. -315-
Reizbarkeit - Das Kind verlangt unter Umständen sehr hartnäckig, seine verbesserte Fähigkeit, sich selbstständig fortzubewegen und zu kommunizieren, auch einsetzen zu können. Seine Kommunikationen bekommen gelegentlich einen negativen Unterton, da es mittlerweile weiß, dass es seine Betreuungspersonen auf diese Weise mobilisieren kann. Der Touchpoint nach fünfzehn Monaten Autonomie Der körperliche und intellektuelle Entwicklungsschub, der den Eintritt ins Kleinkindalter markiert, weckt den Drang, die neuerworbenen Fähigkeiten einzuüben. Die Aufgabe der Eltern besteht nun darin, diese Fähigkeiten zu fördern und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass das Kind seine Grenzen kennen lernt und nicht in Gefahr gerät. Spiel - Das Kind ist mittlerweile ein echter Forscher. Seine Transaktionen mit der Umwelt sind durch Experimentieren und Entdecken geprägt. Das abendliche Bad soll in erster Linie dazu dienen, das Wasser zu untersuchen und die Eigenschaften von Gegenständen zu ergründen, die versinken oder schwimmen. Jeder Winkel des Hauses wird erforscht. Gleichzeitig versucht das Kind herauszufinden, wie es selbst auf Gegenstände und Menschen einwirken kann. Motorische Fähigkeiten - Das Alter, in dem Kinder zu laufen beginnen, variiert erheblich. Die meisten normal entwickelten Kinder können nun frei laufen. Wenn es ihnen noch nicht gelingt, reagieren die Eltern besorgt. Die Feinmotorik verbessert sich ebenfalls. Das Kind kann kleine Gegenstände geschickter ergreifen und wieder fallen lassen oder abgeben als mit zwölf Monaten. Und es kann kichernd weglaufen und seine auftauchende Autonomie mit den neuen motorischen Fähigkeiten verknüpfen. Abhängigkeit - Die Kehrseite der Autonomie ist die extreme Abhängigkeit, die in diesem Alter häufig zutage tritt. Das Kind entdeckt immer wieder, dass es tatsächlich allein ist, wenn es -316-
der Mutter davonläuft, und muss sich vergewissern, dass die Eltern da sind, wenn es sie braucht. Fremden- und Trennungsangst erreichen ihren Höhepunkt. Sprache - Das Sprechenlernen absorbiert zunehmend mehr Energie. Das Kind benutzt einige Wörter, vor allem aber bringt es sein Verständnis für ihre Bedeutung klarer zum Ausdruck. Die Frustration, wenn es etwas sagen möchte und um die richtigen Worte ringt, aber nicht verstanden wird, kann sehr groß sein. Das Sprachverständnis eilt der Ausdrucksfähigkeit in diesem Alter noch weit voraus. Der Touchpoint nach achtzehn Monaten Kognition - In dieser Phase verlagert sich das Denken des Kindes vom konkreten Hier und Jetzt auf die symbolische Dimension. Dies lässt sich am besten an der dramatisch verbesserten Sprechfähigkeit beobachten. Das Kind spricht nicht nur, um seine Wünsche und Bedürfnisse zu äußern, sondern auch, um sein Erleben zu beschreiben und zu organisieren. Die verbale Ausdrucksfähigkeit entfaltet sich zudem in differenzierteren Phantasiespielen. Selbstgefühl - Diese Phase ist durch eine bedeutsame Veränderung der Selbstwahrnehmung charakterisiert. Die Frustration, die das Kind empfindet, wenn es ihm nicht gelingt, Erwachsene nachzuahmen, sein größeres Bewusstsein für erlaubtes und unerlaubtes Verhalten, sein Stolz über seine Erfolge und seine Empathie für andere - all dies kennzeichnet die Entwicklung eines ausgeprägteren Selbstgefühls. Machtkämpfe - Neue Fähigkeiten gehen unweigerlich mit dem Bedürfnis einher, sie einzuüben und zu praktizieren. Das stärkere Selbstgefühl und die gewaltigen Fortschritte der intellektuellen Fähigkeiten führen zu Konflikten zwischen dem Kind und seinen Betreuungspersonen. Jede Grenze stellt die kindliche Autonomie infrage. Die Eltern stehen der Intensität, mit der die zuvor umgänglichen Kinder solche Konflikte -317-
austragen, häufig ratlos gegenüber. Sprache - In diesem Alter verfügt das Kind normalerweise über ein kleines Vokabular, das es wiederholt und effizient einzusetzen vermag. Sein Sprachverständnis ist seiner verbalen Ausdrucksfähigkeit nach wie vor weit voraus. Erwachsene können ihm Dinge erklären und sein Verhalten dadurch erfolgreicher steuern als in der Vergangenheit. Aber das kindliche Sprachverständnis ist weiterhin an den konkreten und sensorischen Bereich gebunden. Die Ungeduld, mit der die Eltern darauf warten, dass ihr Kind »verständiger« wird, kann durch das Wissen gelindert werden, dass es weiterhin auf den unmittelbaren Kontakt mit Menschen und Dingen angewiesen ist. Der Touchpoint nach zwei Jahren Alsob- und Phantasiespiele - Dem Kind eröffnet sich eine neue Phantasiewelt. Es beginnt, Geschehnisse aus dem Alltagsleben in seinem Spiel zu inszenieren und die Rollen der Erwachsenen aus seinem Umfeld zu imitieren. Es benutzt die Gegenstände, die es manipuliert - seine Bausteine, Puppen und Lastwagen -, um einer komplexen Welt Sinn zu verleihen. Sprache - Die Fähigkeit des Kindes, im Spiel Sinn zu stiften, entwickelt sich parallel zu der verbalen Sinngebungsfähigkeit. Es benutzt nun Verben, formuliert kurze Sätze und beginnt, die Sprache zur Deutung seiner eigenen Handlungen zu benutzen. Die dramatische Verbesserung seines Sprachverständnisses und seiner verbalen Ausdrucksfähigkeit ermöglicht es ihm, an der Gemeinschaft der Sprechenden teilzunehmen. Autonomie - Der berühmtberüchtigte Trotz der Zweijährigen hat zwei Seiten. Er markiert den Höhepunkt neuer körperlicher, kognitiver und sozialer Fähigkeiten, die sich Ausdruck verschaffen müssen, und zeigt zugleich, dass das Kind diese Fähigkeiten generalisiert und auf alles bezieht, was es sich vorzustellen vermag. Die Eltern, die sich daran gewöhnt hatten, -318-
ein Baby zu versorgen, sind nun mit einer Persönlichkeit konfrontiert, die ihre eigenen Anliegen für die allerwichtigsten hält. Motorische Fähigkeiten - Im Alter von zwei Jahren verfügt das Kind über eine deutlich bessere motorische Kontrolle als noch wenige Monate zuvor. Es überwindet nahezu jedes Hindernis, kann eine Tasse mit nur einer Hand halten und kleine Gegenstände manipulieren. Es bewegt sich mit größerer Selbstsicherheit und sehr geschickt und gibt auf diese Weise nicht nur seine motorische Meisterschaft, sondern auch ein stärkeres Selbstgefühl zu erkennen. Der Touchpoint nach drei Jahren Phantasie - Dank seiner Fähigkeit, Symbole zu verwenden, entwickelt das Kind nun eine lebhafte und aktive Phantasie. Aspekte der Welt und seiner Beziehungen zu anderen können innerlich repräsentiert werden. Und da das Kind mittlerweile auch unabhängig von seiner konkreten Erfahrung neue Vorstellungen entwickeln kann, beginnt es, sich eine komplexe Welt mithilfe seiner Phantasie zu erklären. Ein imaginärer Freund oder ein Übergangsobjekt wie der Teddybär erlangen in diesem Alter mitunter eine besonders große Bedeutung. Ängste und Phobien - Wenn sich die neuerworbene Fähigkeit, die eigenen Erfahrungen und Gefühle in der Vorstellungs- und Phantasiewelt zu organisieren und zu erklären, auf besonders beunruhigende Erfahrungen konzentriert, tauchen Ängste und Phobien auf. Der Grat zwischen Phantasie und Realität ist besonders beim Erwachen sehr schmal. Die Gefühle sind real, und die Eltern müssen sie respektieren und das Kind beruhigen. Sprache - Die verbale Ausdrucksfähigkeit explodiert. Sie wird für das Kind zum wichtigsten Medium in seinen Beziehungen zu anderen Menschen. Darüber hinaus hilft sie ihm nun auch, seine eigene Welt zu organisieren. In dieser Phase stellen viele Kinder unentwegt Fragen, führen beim Spielen Selbstgespräche und -319-
werden von Erwachsenen aufgefordert, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren. Die Art und Weise, wie die Eltern und andere Erwachsene die Sprache benutzen, geht in den Sprachgebrauch des Kindes ein und übt einen wichtigen Einfluss auf seine spätere schulische Entwicklung aus. Das Vorlesen kann als kooperativere Interaktion gestaltet werden, da das Kind nun auch eigene Ideen und Vorstellungen in Worte zu fassen beginnt. Peerbeziehungen - Das dreijährige Kind ist normalerweise eine sehr gesellige Persönlichkeit. Es kann Trennungen von den Betreuungspersonen weit besser ertragen als zwölf Monate zuvor und ist fasziniert vom interaktiven Spiel mit Gleichaltrigen. Es besitzt noch nicht die sozialen Fähigkeiten, um Spielvorhaben zu besprechen, ist aber fähig, solche Interaktionen aktiv zu gestalten. Soziales Verständnis - Das Kind ist nun besser in der Lage, die Signale anderer zu lesen, die Folgen seines eigenen Verhaltens zu antizipieren und sich entsprechend zu verhalten. Die Eltern erwarten reifere Verhaltensweisen und messen Fehlverhalten größere Bedeutung bei. Das dreijährige Kind versteht es sehr gut, seine Eltern zu manipulieren, indem es sie gegeneinander ausspielt, ohne seine eigenen Absichten zu offenbaren.
Funktionsentwicklung - Diagramm und Fragebogen Stanley I. Greenspan Ihr Kind hat einen neuen Meilenstein der Funktionsentwicklung erreicht, wenn Sie alle Fragen zu der betreffenden Stufe mit »Ja« beantworten können. Wenn auch -320-
nur eine einzige Frage mit »Nein« beantwortet wird, hat das Kind diesen Schritt noch nicht bewältigt. Vergessen Sie nicht, dass dieses Diagramm lediglich ein visuelles Hilfsmittel darstellt, das Ihre Aufmerksamkeit auf jene Entwicklungsbereiche lenkt, in denen Ihr Kind sich erwartbar entwickelt beziehungsweise Schwierigkeiten hat. Drei Monate (Erste Stufe: Regulation und Aufmerksamkeit) • Zeigt Ihr Baby Interesse an seiner Umgebung, indem es Gegenstände und Personen betrachtet und sich Geräuschen zuwendet? Fünf Monate (Zweite Stufe: Aktive Teilnahme an Beziehungen) Beantworten Sie die Fragen zu der vorangegangenen Stufe und die folgenden: • Wirkt Ihr Baby glücklich oder zufrieden, wenn es die Menschen erblickt, die es am liebsten mag? Schaut es sie lächelnd an, »erzählt« es oder vollführt es Bewegungen mit Armen oder Beinen, die seine Freude oder Begeisterung zu erkennen geben? Neun Monate (Dritte Stufe: Zielgerichtete Interaktionen) Beantworten Sie die Fragen zu allen vorangegangenen Stufen und die folgenden: • Kann Ihr Baby zeigen, was es haben möchte, indem es nach dem Gegenstand greift oder auf ihn deutet, die Ärmchen ausstreckt, wenn es hochgenommen werden möchte, oder spezifische Laute produziert? • Reagiert Ihr Baby auf Menschen, die mit ihm sprechen oder spielen, indem es »erzählt«, Gesichter schneidet oder gestikuliert, zum Beispiel die Arme ausstreckt usw.? Vierzehn bis achtzehn Monate -321-
(Vierte Stufe: Organisation von Interaktionssequenzen; Problemlösungsverhalten) Beantworten Sie die Fragen zu allen vorangegangenen Stufen und die folgenden: • Kann Ihr Kleinkind (im Alter von etwa vierzehn Monaten) signalisieren, was es haben möchte oder braucht, indem es Interaktionen initiiert und zum Beispiel Ihre Hand ergreift, damit Sie eine Tür öffnen, oder auf ein Spielzeug deutet, das Sie ihm holen sollen? • Kann Ihr Kind (mit etwa achtzehn Monaten) komplexere Interaktionssequenzen organisieren, um Probleme zu lösen und Ihnen zu zeigen, was es haben oder essen und trinken möchte (nimmt es Ihre Hand, um Sie zum Kühlschrank zu fuhren, wo es am Griff zerrt und auf ein bestimmtes Nahrungsmittel oder auf den Saft oder die Milch zeigt)? • Kann Ihr Kind Sie (mit etwa achtzehn Monaten) nachahmen und Ihre Geräusche, Wörter oder Gesten im Rahmen einer spielerischen Interaktion imitieren? Vierundzwanzig bis dreißig Monate (Fünfte Stufe: Verwendung von Ideen - Wörtern oder Symbolen -, um Absichten oder Gefühle mitzuteilen) Beantworten Sie die Fragen zu allen vorangegangenen Stufen und die folgenden: • Reagiert Ihr Kind (mit vierundzwanzig Monaten) auf Menschen, die mit ihm sprechen oder spielen, indem es Wörter benutzt oder Lautfolgen artikuliert, die eindeutig den Versuch darstellen, ein Wort auszusprechen? • Kann Ihr Kind (mit vierundzwanzig Monaten) vertraute Handlungen nachahmen, zum Beispiel eine Puppe füttern oder umarmen? • Kann Ihr Kind (mit vierundzwanzig Monaten) einige Grundbedürfnisse mit einem oder mehreren Worten zum -322-
Ausdruck bringen, zum Beispiel »Saft«, »aufmachen« oder »Kuss« sagen (auch wenn Sie das Wort unter Umständen zuerst aussprechen müssen)? • Kann es (mit vierundzwanzig Monaten) einfache Aussagen oder Bitten seiner Betreuungsperson verstehen, zum Beispiel: »Das Spielzeug liegt da drüben«, oder: »Bekomme ich einen Kuss von dir?« • Kann es (mit dreißig Monaten) interaktive Alsob-Spiele mit einem Erwachsenen oder einem anderen Kind gestalten (Puppen füttern, zum Kuchenessen einladen usw.)? • Kann es Freude oder Interesse (mit dreißig Monaten) mithilfe von Wörtern oder Symbolen ausdrücken (zum Beispiel: »Da, Laster!«)? • Kann es Symbole (Wörter, Bilder, Spiele mit Regeln) benutzen, wenn es mit einem oder mehreren Freunden/Kameraden interagiert? Sechsunddreißig bis achtundvierzig Monate (Sechste Stufe: Stellt logische Verbindungen zwischen Ideen her) Beantworten Sie die Fragen zu allen vorangegangenen Stufen und die folgenden: • Kann Ihr Kind (mit sechsunddreißig Monaten) Wörter oder andere Symbole (zum Beispiel Bilder) benutzen, um zu zeigen, was ihm gefällt oder missfällt, indem es etwa sagt: »Will das!« oder »Will das nicht!«? • Kann Ihr Kind (mit sechsunddreißig Monaten) Alsob-Spiele mit einer anderen Person gestalten, deren Geschichte oder Handlung einen Sinn ergibt? (Lässt es zum Beispiel die Teddybären einen Besuch bei der Oma machen, die etwas Gutes gekocht hat?) • Kann Ihr Kind seine Wünsche oder Bedürfnisse (mit sechsunddreißig Monaten) ansatzweise erklären (»Mama, will raus!« -323-
»Was hast du draußen vor?« »Will spielen.«)? Vielleicht müssen Sie ihm mehrere Möglichkeiten zur Auswahl geben (»Was möchtest du machen? Spielen oder schlafen?«). • Kann Ihr Kind (mit achtundvierzig Monaten) begründen, weshalb es etwas haben möchte oder tun will (»Warum möchtest du den Saft?« »Weil ich Durst habe.«)? • Kann Ihr Kind (mit achtundvierzig Monaten) gelegentlich Gefühle in Worte fassen, um die Gründe für einen Wunsch oder für sein Verhalten zu erklären (»Weil ich so froh/aufgeregt/traurig bin«)? • Kann Ihr Kind (mit achtundvierzig Monaten) sowohl mit Gleichaltrigen als auch mit Erwachsenen interaktive Phantasiespiele mit mehreren Elementen gestalten, die logisch zusammengehören (die Kinder gehen zur Schule, lernen, essen zu Mittag und treffen später auf dem Heimweg einen Elefanten)? • Kann Ihr Kind (mit achtundvierzig Monaten) eine logische Unterhaltung mit vier oder mehr Austauschsequenzen über die unterschiedlichsten Themen führen, zum Beispiel über das Essen, die Schlafenszeit, über Freunde oder über den Kindergarten? Vier bis sieben Jahre • Knüpft Ihr Kind Freundschaften zu Gleichaltrigen und spielt es auch außerhalb des Kindergartens/der Schule mit seinen Peers? • Hat Ihr Kind eine warmherzige und vertrauensvolle Beziehung zu beiden Elternteilen? • Kann Ihr Kind mit zwei oder mehreren Personen gleichzeitig verhandeln (kann es zum Beispiel abwechselnd bei Mutter und Vater versuchen, die Schlafenszeit hinauszuzögern oder einen Extrakeks zu bekommen, oder bemüht es sich, zwei Peers zu -324-
überreden, das Spiel nach seinen Regeln zu spielen)? • Kann Ihr Kind zwei Ideen miteinander vergleichen und zum Beispiel erklären, weshalb es den einen Freund lieber mag als den anderen oder weshalb es lieber Pizza isst als Kartoffeln? • Kann Ihr Kind erläutern, wie und warum es ein bestimmtes Gefühl empfindet? • Kann Ihr Kind seine Impulse und seine Ängste regulieren (sein Verhalten kontrollieren und sich mit ein wenig Unterstützung beruhigen)? • Ist es den schulischen Herausforderungen gewachsen, so dass es Lesen, Zählen, Addieren und Subtrahieren und Schreiben lernt? Neun Jahre • Geht Ihr Kind in seinen Freundschaften auf? • Hat Ihr Kind eine liebevolle und vertrauensvolle Beziehung zu beiden Eltern? • Ist Ihr Kind ohne größere Wutanfälle in der Lage, Enttäuschungen und/oder Frustrationen in Peerbeziehungen und/ oder Familienmustern zu verkraften?
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• Kann Ihr Kind in Grauzonen (das heißt relativierend) denken (zum Beispiel abwägen, weshalb es das eine Kind lieber mag als das andere, oder zwischen »ein bisschen traurig«, »sehr traurig« und »sehr, sehr traurig« unterscheiden)? • Beherrscht Ihr Kind die altersentsprechenden schulischen Fertigkeiten und kann es zum Beispiel ganze Absätze lesen, sicher addieren und subtrahieren, leichte Multiplikations- und Divisionsaufgaben lösen und einen kompletten Gedankengang in logischen Sätzen schriftlich darlegen? • Kann Ihr Kind Impulse und Ängste angemessen regulieren, so dass es sich überwiegend wohl fühlt und mit sich zufrieden ist? Zwölf Jahre • Hat Ihr Kind eine liebevolle und vertrauensvolle Beziehung zu beiden Eltern? • Kann Ihr Kind seine Freundschaften genießen und sich gleichzeitig die Fähigkeit bewahren, seine eigenen Ansichten in Bezug auf sich selbst und andere zu vertreten? • Beginnt Ihr Kind, seine eigenen Vorstellungen über Recht und Unrecht zu entwickeln, über das, was es mag und nicht mag, und über die Dinge, die es in der nahen Zukunft tun möchte? • Kann Ihr Kind in Grauzonen denken und mehrere Faktoren gegeneinander abwägen, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen (zum Beispiel in der Diskussion über eine Geschichte, im Gespräch über seine eigenen Gefühle oder Freundschaften oder über die Vor- und Nachteile einer bestimmten Handlung; kann es dabei die Gegenwart ebenso wie die jüngste Vergangenheit und die Zukunft mit berücksichtigen?)? • Kann Ihr Kind zumindest ansatzweise seine eigenen Stimmungen und Gefühle reflektieren und seine Impulse, Ängste und Stimmungen so weit regulieren, dass es nicht von ihnen überwältigt wird? -327-
Anmerkungen Einführung Beyond Rhetoric: The New American Agenda for Children and Families. Report of the National Commission for Children, Department of Documents. Washington, D.C., 20402, 1991. 2 Children's Defense Fund. Child Care Challenge, Washington, D.C., 1998. 3 S. W. Helburn et al. (1995). Cost, Quality, and Child Outcomes in Child Care Centers. Public Report. Denver, Department of Economics, Center for Research in Economic and Social Policy. University of Colorado-Denver. 4 E. Galinsky, C. Howes, S. Kontos und M. Shinn (1994). The Study of Children in Family Child Care and Relative Care: Highlights ofFindings. Boston, MA (Families and Work Institute). 5 K. T. Young, K. W. Marsland und E. Ziegler (1997). The regulatory Status of centerbased infant and toddler child care. The American Journal for Orthopsychiatry 67(4): 535-544. 6 B. Füller und S. L. Kagan (2000). Remember the Children: Mothers Balance Work and Child Care Under Weifare Reform. Growing Up in Poverty Project 2000. Wave l Report. Berkeley, CA (University of California Berkeley). 7 National Institute of Child Health and Human Development. NICHD Study ofEarly Child Care, Executive Summary. NIH Pub. No. 98-4318 Washington, D.C., National Institute of Health 1998. 8 Kaiser Foundation Kids and the Media in the New Millenium, Publication No. 1536, Menlo Park, CA, 2000. 9 S. I. Greenspan (1997). The Growth of the Mind. Cambridge, MA (Perseus Books). -328-
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J. M. Zito, D. Safer, S. dosReis, J. F. Gardner, M. Boles und F. Lynch (2000). Trends in prescribing of psychotropic medications to preschoolers. Journal of the American Medical Association 283(8): 1025-1030. 11 Health Maintenance Organisation (Organisation zur Erhaltung der Gesundheit). In einer HMO-Gemeinschaftspraxis arbeiten Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen, Ernährungsberater, Physiotherapeuten usw. zusammen. Die Patienten, die einer HMO-Gemeinschaftspraxis angehören, verpflichten sich, im Krankheitsfall immer zuerst ihren HMOArzt aufzusuchen, der sie bei Bedarf an Spezialisten oder Kliniken weiterverweist und die persönliche Betreuung koordiniert. [A.d.Ü.] 1. Kapitel Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen 1 Erfahrungen können hormoneile Veränderungen herbeifuhren; so werden zum Beispiel durch tröstende Berührungen Wachstumshormone freigesetzt. Hormone wie etwa das Oxytozin fördern offenbar wichtige emotionale Prozesse wie Affiliation und Nähe. Darüber hinaus besteht ein Zusammenhang zwischen emotionalem Stress und Veränderungen der Hirnphysiologie. Siehe S. M. Schanberg und T. M. Field (1987). Sensory deprivation stress and supplemental Stimulation in the rat pup und preterm human neonate. Child Development 58: 1431-1447. 2 Siehe T. N. Wiesel und D. H. Hubel (1963). Singlecell responses in striate cortex of kittens deprived of vision in one eye. Journal of Neurophysiology 26: 1003-1017; W. Singer (1986). Neoronal activity äs a shaping factor in postnatal development of visual cortex. In: Developmental Neuropsychobiology. Hg. von W. T. Greenough und J. M. Juraska, Orlando (Academic Press), S. 271-293; A. Hein und R. M. Diamond (1983). Contribution of eye movement to the -329-
representation of space. In: Spatially Oriented Behavior. Hg. von A. Hein und M. Jeannerod. New York (Springer), S. 119134. 3 Siehe zum Beispiel B. D. Perry (1995). Incubated in terror: neurodevelopmental factors in the »Cycle of Violence«. In: Children, Youth and Violence: Searchingfor Solutions. Hg. von J. Osofsky. New York (Guilford). 4 Siehe zum Beispiel M. A. Hofer (1988). On the nature and function of prenatal behavior. In: Behavior of the Fetus. Hg. von W. Smotherman und S. Robinson. Caldwell, NJ (Telford); M. A. Hofer (1995). Hidden regulators: Implications for a new understanding of attachment, Separation and loss. In: Attachment Theory: Social, Developmental, and Clinical Perspectives. Hg. von S. Goldberg, R. Muir und J. Kerr. Hillsdale, NJ (Analytic Press), S. 203-230; P. Rakic, J. Bourgeois und P. Goldman-Rakic (1994). Synaptic development of the cerebral cortex: implications for learning, memory, and mental illness. In: The Self-Organizing Brain: From Growth Cones to Functional Networks. Hg. von J. van Pelt, M. A. Corner, H. B. M. Uylings und F. H. Lopes da Silva. New York (Eisevier Science), S. 227-243. 5 T. B. Brazelton (1999). Behavioral competence of the newborn infant. In: Neonatology. Hg. von E. B. Avery et al. Philadelphia (Lippincott, Williams and Wilkins). T. B. Brazelton und B. Gramer (1990). The Earliest Relationship: Parents, Infants and the Drama of Early Attachment. Cambridge, Mass. (Perseus Publishing); deutsche Ausgabe: Die frühe Bindung. Die erste Beziehung zwischen dem Baby und seinen Eltern. Übers, von E. Vorspohl. Stuttgart (Klett-Cotta) 1991. T. B. Brazelton (1999). Touchpoints: Your Child's Emotional and Behavioral Development. Cambridge, Mass. (Perseus Publishing). Eine ausführlichere Beschreibung der Beziehung zwischen emotionalen Interaktionen sowie Intelligenz und emotionaler Entwicklung enthält S. I. Greenspan -330-
(1997). The Growth of the Mind. Cambridge (Perseus Publishing); siehe auch S. I. Greenspan (1999). Building Healthy Minds. Cambridge (Perseus Publishing). S. I. Greenspan und W. Wieder (1998). The Child With Special Needs. Encouraging Intellectual and Emotional Growth. Cambridge (Perseus Publishing); deutsche Ausgabe: Mein Kind lernt anders. Ein Handbuch zur Begleitung förderungsbedürftiger Kinder. Übers, von M. Buchwald, A. Grube und M. Klostermann. Düsseldorf (Walter Verlag) 2001; S. G. Greenspan mit Jacqueline Salmon (1995). The Challenging Child. Cambridge (Perseus Publishing). (T.B.B.:) Wir haben die Neonatal Behavioral Assessment Scale (NBAS) 1973 entwickelt, um die komplexen Verhaltensweisen des neugeborenen Babys systematisch zu beurteilen. Neugeborene können nicht nur sehen und hören; sie sind auch in der Lage, ihre Aufmerksamkeit konzentriert zu steuern und Aufregung oder Interesse zu bekunden, wenn man sie auf ein Gesicht blicken lässt, sie Stimmen hören lässt, ihnen einen roten Ball zeigt oder mit einer Rassel ein Geräusch erzeugt. Sie können intrusive akustische oder taktile Stimuli, die sich wiederholen, gewissermaßen ausschalten. Die Art und Weise, wie neugeborene Babys auf diese Stimuli und auf die Untersuchung ihrer Reflexe und ihres neurologischen Systems reagieren, gibt dem Beobachter Aufschluss über die Persönlichkeit des Kindes. Die Reaktion, die es auf tröstendes oder beruhigendes Verhalten zeigt, wenn es aktiv ist oder schreit, führt den frisch gebackenen Eltern vor Augen, wie ihre künftige Fürsorge aussehen wird. Mit der NBAS können nicht nur Beeinträchtigungen oder intrauterine Schädigungen diagnostiziert werden. Die Untersuchung demonstriert den jungen, neugierigen und aufgeregten Müttern das Verhalten des Neugeborenen, und dies ist der wertvollste Dienst, den die NBAS leistet. Wir besitzen achtundvierzig Studien, die zeigen, wie intensiv das Neugeborene durch sein Verhalten die Bindung -331-
der Mutter aktivieren kann. Man kann aber auch belegen, dass die Eltern eine stärkere Bindung an das medizinische System, das ihnen und dem Baby zur Verfügung steht, und eine größere Loyalität entwickeln. Wir haben den Müttern und Vätern vorgeführt, auf welch wunderbare Weise das neugeborene Baby seine Verhaltenszustände (Schlaf, Wachheit und wache Aufmerksamkeit, Schreien) einsetzt, und dies war für die aufkeimende Bindung von entscheidender Bedeutung. Siehe T. B. Brazelton und J. K. Nugent (1996). Neonatal Behavioral Assessment Scale. 3. Aufl. New York (Cambridge University Press). 10 W. T. Greenough und J. E. Black (1992). Induction of brain structure by experience: Substrates for cognitive development. Developmental Behavioral Neuroscience 24: 155-299; I. J. Weiler, N. Hawrylak und W. T. Greenough (1995). Morphogenesis in memory formation: synaptic and cellular mechanisms. Behavioural Brain Research 66: 1-6; R. L. Holloway (1966). Dentritic branching: some preliminary results of training and complexity in rat visual cortex. Brain Research 2: 393-396; A. M. Turner und W. T. Greenough (1983). Synapses per neuron und synaptic dimensions in occipital cortex of rats reared in complex, social or Isolation housing. Acta Stereologica 2, Suppl. 1: 239-244; A. M. Turner und W. T. Greenough (1985). Differential rearing effects on rat visual cortex synapses. I: Synaptic and neuronal density and synapses per neuron. Brain Research 329: 195-203; C. Thinus-Blanc (1981). Volume discrimination learning in hamsters: effects of the structure of complex rearing cages. Developmental Psychobiology 14: 397-403; T. N. Wiesel und D. H. Rubel (1963). Singlecell responses in striate cortex of kittens deprived of vision in one eye. Journal of Neurophysiology 26: 10031017; W. Singer (1986). Neuronal activity äs a shaping factor in postnatal development of visual cortex. In: Developmental Neuropsychobiology. Hg. von W. T. Greenough und J. M. -332-
Juraska. Orlando (Academic Press), S. 271-293; A. Hein und R. M. Diamond (1983). Contribution of eye movement to the representation of space. In: Spatially Oriented Behavior. Hg. von A. Hein und M. Jeannerod. New York (Springer), S. 119134; B. D. Perry (1995). Incubated terror: neurodevelopmental factors in the »Cycle of Violence«. In: Children, Youth and Violence: Searching for Solutions. Hg. von J. Osofsky. New York (Guilford). 11 T. B. Brazelton und H. Als (1979). Four early stages in the development of motherinfant interaction. In: A. Solnit et al. (Hg.), The Psychoanalytic Studyofthe Child. Bd. 34. Madison, CT (International Universities Press). 12 T. B. Brazelton. Infants and Mothers: Difference in Development. New York (Delacorte Press) 1969, 1983. 13 Donald W. Winnicott (1896-1971), einflussreicher britischer Kinderarzt und Psychoanalytiker. 14 D. Norton. Diversity, early socialization and temporal development. Social Work 38: 82-90. 15 T. Field (1987). Affective and interactive disturbance in infants. In: J. D. Osofsky (Hg.), Handbook of Infant Development. New York (Wiley), S. 972-1005. 16 E. Tronick, H. Als, L. Adamson, S. Wise und T. B. Brazelton (1978). The infant's response to entrapment between contradictory messages in facetoface interaction. Journal ofthe Academy of Child Psychiatry 17: 1-13. 17 Das Touchpoints-Projekt am Boston Children's Hospital bietet Angehörigen verschiedener Disziplinen die Möglichkeit, die frühe Intervention bei Mutter-Säugling-Paaren kennen zu lernen. Das Ziel besteht darin, die Gesundheitsvorsorge und die Kinderversorgung unter Einbeziehung der Mütter zu verbessern. Eine ausführlichere Beschreibung des Projekts enthält der »Anhang« des vorliegenden Buches. 18 Association of Family and Visitation Courts. 329 West -333-
Wilson St. Madison, WI 5370. 608-251-4001. 19 Governor's Blue Ribbon Commission on Foster Gare, März 1992. 20 T. B. Brazelton und J. K. Nugent (1996). Neonatal Behavioral Assessment Scale. 3. Aufl. New York (Cambridge University Press), S. 1-4. 21 H. M. Skeels und H. Skodak (1939). A study ofthe effects on environmental Stimulation. In: University oflowa Studies in Child Weifare. Bde. 15 und 16. University Park, IA. 22 N. M. Lvoff, U. Lvoff und M. H. Klaus. Effect ofthe babyfriendly initiative on infant abandonment in a Russian hospital. Archives of Pediatric and Adolescent Medicine. Bd. 15, Mai 2000, S. 474-477. 23 Siehe S. I. Greenspan (1999). Building Healthy Minds. Cambridge, MA (Perseus Publishing), sowie ders. (1993). Playground Politics. Cambridge, MA (Perseus Publishing). 24 P. Hopper und E. G. Zigler. The Medical and social science basis for a national infant care leave policy. American Journal of Orthopsychiatry 58: 324-338. 25 B. Halcomb et al. (1998). Childcare: How does your state rate? Working Mother, Juli/August. 26 Diese Richtlinien wurden uns freundlicherweise von Dr. Carol Grey, einer Gerichtspsychologin in Seattle, Washington, zur Verfügung gestellt. 2. Kapitel Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation 1 California Department of Developmental Services, A Report to the Legislature: Changes in the Population ofPersons with Autism and Pervasive Developmental disorders in California's Developmental Services System: 1987 through 1998. Department of Developmental Services, California Health and -334-
Human Services Agency, Sacramento, CA, 1. März 1999, Abschnitt IV: »Rates of Occurrence«, S. 5. 2 Ebd. 3 Vgl. Environmental Protection Agency, The Inside Story: A Guide to Indoor Air Quality. Washington, DC, 1988. Zu weiteren Informationen siehe www.CHECnet.org. 4 Zu weiteren Informationen siehe: Center for Health, Environment and Justice, November 1999. America's Choice: Children's Health ofCorporate Profit, the American People's Dioxin Report. Falls Church, VA (Myers, J. P.) 2000; Hormone disruption and the precautionary principle. Unveröffentlichter Vortrag, Delegate Science Briefing at the UN POPs Negotiations, INC 4, 22. März 2000; M. E. Herman-Giddens, E. J. Slora, R. C. Wasserman, C. J. Bourdony, M. V. Bhapkur, G. G. Koch und C. M. Hasemeier (1997). Secondary sexual characteristics and menses in young girls seen in office practice: a study from the pediatric research in office settings network. Pediatrics 99 (4): 505-512; L. J. Paulozzi, J. D. Erikson und R. J. Jackson (1997). Hypospadias trends in two US surveillance Systems. Pediatrics 100 (5): 831-834; N. Rothman, K. P. Cantor, A. Blair, D. Bush, L. W. Brock, K. Helzisouer, S. H. Zaum, L. L. Needham, G. R. Person, R. N. Hoover, G. W. Comstock und P. T. Stricklan (1997). A nested casecontrol study of non-Hodgkins lymphoma and serum organochlorine residues. Lancet 350 (9073): 240-244. 5 Kaiser Foundation. Kids and the Media in the New Millenium, Publication No. 1536, Menlo Park, CA, 2000. 6 E. E. Zigler und N. W. Hall (2000). Child Development and Social Policy: Theory and Applications. New York (McGraw Hill). 7 M. H. Klaus, J. H. Kennell und P. H. Klaus (1993). Mothering the Mother. Cambridge, MA (Perseus Publishing). 8 B. F. Greenspan, S. I. Greenspan (1987). Infants in Multi-335-
Risk Families. New York (International Universities Press). 9 T. B. Brazelton (1999). Touchpoints: Your Child's Emotional and Behavioral Development. Cambridge, MA (Perseus Publishing). 10 S. I. Greenspan mit N. B. Lewis (1999). Building Healthy Minds: The Six Experiences That Create Intelligence and Emotional Growth in Babys and Young Children. Cambridge, MA (Perseus Publishing); deutsch: Das große Erziehungshandbuch für die ersten sechs Lebensjahre. Übers, von M. Buchwald, A. Grube und M. Klostermann. Düsseldorf/Zürich (Walter Verlag) 2001. 11 J. P. Lecanuet, C. Gramer-Deferre und M. C. Busnel (1995). Human fetal auditory perception. In: Fetal Development: A Psychological Approach. Mahwah, NJ (Lawrence Erlbaum). 12 J. W. Scanion (1995). Dangers to the human fetus from certain heavy metals in the environment. Review of Environmental Health 2(1): 39-64. 13 T. Colburn, J. Meyers und D. Dumanowski (1997). Our Stolen Future. New York (Dutton). 14 P. Nathanielsz (1998). Life Before Birth: The Challenges of Fetal Development. New York (W. H. Freeman). 15 G. G. Fein, M. Schwartz, S. W. Jacobsen und J. L. Jacobson (1983). Environmental toxins and behavioral development. American Psychologist 38: 1198-1205. 16 E. E. Tronick (1987). The NBAS äs a biomarker of environmental agents on the Newborn. In: G. Lucius (Hg.), Environmental Health Perspectives. Proceedings ofthe National Research Council. 74: 185-189. 17 J. D. Sparrow. Psychiatrie Research and Prenatal Diagnoses. American Psychiatrie Association, Federation Francaise de Psychiatrie. Paris, Juni 1998. -336-
18
M. H. Klaus, J. H. Kennell und P. H. Klaus (1993). Mothering the Mother. Cambridge, MA (Perseus Publishing). 19 Educating Children for Parenting. 211 N 13th St. #701, Philadelphia, PA 19107, www.ecparenting.org. 20 T. B. Brazelton et al. (1977). The behavior of nutritionally deprived Guatemalan infants. Developmental Medicine and Child Neurology, Bd. 19, Nr. 3, S. 364-367. 21 S. Bok (1995). Common Values. Columbia (University of Missouri Press). 3. Kapitel Das Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf individuelle Besonderheiten zugeschnitten sind 1 S. Chess und A. Thomas (1987). Know Your Child. New York (Basic Books). 2 T. B. Brazelton (1969). Infants and Mothers: Differences in Development. New York (Delacorte Press) 1982; T. B. Brazelton und J. K. Nugent (1996). The Neonatal Behavioral Assessment Scale. 3. Auflage. New York (Cambridge University Press). 3 S. I. Greenspan und J. Salmon (1995). The Challenging Child: Understanding, Raising, and Enjoying the Five »Difficult« Types of Children. Cambridge, MA (Perseus Publishing); S. I. Greenspan (1992)). Infancy and Early Childhood: The Practice ofClinical Assessment and Intervention with Emotional and Developmental Challenges. Madison, Conn. (International Universities Press); S. I. Greenspan (1989). The Development of the Ego: Implications for Personality Theory, Psychopathology, and the Psychotherapeutic Process. Madison, Conn. (International Universities Press); S. I. Greenspan und N. T. Greenspan (1985). First Feelings: Milestones in the Emotional Development of Your Infant and Child from Birth to Age 4. New York (Viking Press). -337-
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T. B. Brazelton (1969). Infants and Mothers: Differences in Development. New York (Delacorte Press) 1982; deutsch: Babys erstes Lebensjahr. München (dtv). 5 S. I. Greenspan und S. Wieder (1997). Developmental patterns and outcomes in infants and children with disorders in relating and communicating: A chart review of 200 cases of children with autistic spectrum diagnoses. Journal of Developmental and Learning Disorders 1: 87-141; S. I. Greenspan. Infancy and Early Childhood, a.a.O.; S. I. Greenspan und S. Wieder (1998). The Child with Special Needs. Cambridge, MA (Perseus); deutsch: Mein Kind lernt anders. Ein Handbuch zur Begleitung förderungsbedürftiger Kinder. Übers, von M. Buchwald, A. Grube und M. Klostermann. Düsseldorf/Zürich (Walter) 2001. 6 J. Bowlby (1944). »Fortyfour juvenile thieves: Their characters and home life«. International Journal ofPsychoAnalysis 25: 19-52, 107-127. 7 S. I. Greenspan und J. Salmon. The Challenging Child, a.a.O. 8 S. I. Greenspan und S. Wieder. Developmental patterns and outcomes, a.a.O.; S. I. Greenspan. Infancy and Early Childhood, a.a.O.; S. I. Greenspan und S. Wieder. The Child with Special Needs, a.a.O. 9 R. Calfee, P. Lindamood und C. Lindamood (1973). Acousticphonetic skills and reading - Kindergarten through twelfth grade. Journal of Educational Psychology 64: 293-298. 10 Siehe S. I. Greenspan. Infancy and Early Childhood, a.a.O.; S. I. Greenspan mit N. B. Lewis (1999). Building Healthy Minds. Cambridge, MA (Perseus Publishing); deutsch: Das große Erziehungshandbuch für die ersten sechs Lebensjahre. Übers. M. Buchwald, A. Grube und M. Klostermann. Düsseldorf/ Zürich (Walter) 2001; S. I. Greenspan und S. Wieder. The Child with Special Needs, a.a.O. -338-
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Informationen über die Clinical Practice Guidelines und die Aktivitäten der Organisation finden sich auf der Website des ICDL ‹ www.icdl.com ›. 12 M. F. Shore und J. L. Massimo. Contributions of an Innovative psychoanalytic therapeutic program with adolescent delinquents to developmental psychology. In: S. I. Greenspan und G. H. Pollock (Hg.), The Course ofLife. 2. Aufl., Bd. 4: Adolescence. Madison, Conn. (International Universities Press) 1990. 13 Family Resource Coalition (heute Family Support America) ‹ www.fsca.org ›, 20 N. Wacker St. Chicago, IL 60606 (312338-0900). 14 M. H. Klaus, J. H. Kennell und P. H. Klaus (1995). Bonding: Building the Foundation of Secure Attachment and Independence. Cambridge, MA (Perseus Publishing). 15 Healthy Stepps Program, c/o Commonwealth Fund ‹ www.healthystepps.org ›, l E 75th St. New York, NY 10021. 16 S. I. Greenspan und S. Wieder. The Child with Special Needs, a.a.O. 17 ICDL Clinical Practice Guidelines, Kap. 4, »Intervention Research«, auf der ICDL-Webseite ‹ www.icdl.com › oder erhältlich durch ICDL, 4938 Hampden Lane, Suite 800, Bethesda, MD 20814. 18 O. I. Lovaas (1993). Behavioral treatment and normal educational and intellectual functioning in young autistic children. Journal of Consulting and Clinical Psychology 55 (1987): 3-9; J. J. McEachin, T. Smith und O. I. Lovaas. Longterm outcome for children with autismus who received early intensive behavioral interventions. American Journal of Mental Retardation 97: 359-372. 19 ICDL Clinical Practice Guidelines, Kap. 4, »Intervention Research«. -339-
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J. K. Nugent und T. B. Brazelton (1999). Preventive infant mental health: Use of the Brazelton Scale. In: H. E. Fitzgerald und J. D. Osofsky (Hg.), Handbook of Infant Mental Health. New York (Wiley). 4. Kapitel Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen 1 Siehe S. I. Greenspan mit N. B. Lewis (1999). Building Healthy Minds. The Six Experiences that Create Intelligence and Emotional Growth in Babys and Young Children. Cambridge, MA (Perseus Publishing); deutsch: Das große Erziehungshandbuch für die ersten sechs Lebensjahre. Übers, von M. Buchwald, A. Grube und M. Klostermann. Düsseldorf/Zürich (Walter) 2001; S. I. Greenspan mit J. Salmon (1993). Playground Politics. Cambridge, MA (Perseus Publishing); S. I. Greenspan mit B. L. Benderly (1997). The Growth of the Mind and the Endangered Origins of Intelligence. Cambridge, MA (Perseus Publishing); deutsch: Die bedrohte Intelligenz. Die Bedeutung der Emotionen für unsere geistige Entwicklung. Übers, von F. Griese. München (Goldmann) 2001. 2 T. B. Brazelton und B. G. Gramer (1990). The Earliest Relationship: Parents, Infants, and the Drama of Early Attachment. Cambridge, MA (Perseus Publishing); deutsch: Die frühe Bindung. Die erste Beziehung zwischen dem Baby und seinen Eltern. Übers, von E. Vorspohl. Stuttgart (Klett-Cotta) 1991. 3 Selma Fraiberg (1959). The Magic Years. New York (Scribners). 4 T. B. Brazelton (1992). Touchpoints: Your Child's Emotional and Behavioral Development. Cambridge, MA (Perseus Publishing). T. B. Brazelton (1985). Working and Caring. Cambridge, MA (Perseus Publishing); deutsch: Und was ist mit den Kindern? Beruf und Kind. Beispiele, Erfahrungen, Hilfen für berufstätige Mütter und Väter. Übers. -340-
Von H. Kober. München/Zürich (Piper) 1989. E. Galinsky (1999). Ask the Children: What America's Children Really Think About Working Parents. New York (Morrow). 6 B. F. Skinner, Psychologieprofessor an der Harvard University, entwickelte transparente Babybetten, um das Verhalten kleiner Säuglinge zu beobachten. Die Bettchen waren mit Ventilatoren versehen, die ein summendes Geräusch machten. Im Tiefschlaf habituierten die Säuglinge an das Summen. 7 Robert Rosenthal, Professor für Psychologie an der Harvard University, zeigte, wie die Leistungsfähigkeit des Kindes durch die Voreingenommenheiten des Lehrers beeinflusst wird. 8 Siehe S. I. Greenspan (1997). The Growth of the Mind (wie Anm. 1); S. I. Greenspan. Developmentally Based Psychology. Madison, Gönn. (International Universities Press). 5. Kapitel Das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen T. B. Brazelton, D. M. Snyder und M. W. Yogman (1994). A Developmental Approach to Behavior Problems. In: R. A. Hockelman et al. (Hg.). Principles ofPediatrics. New York (McGraw-Hill). T. B. Brazelton (1992). Touchpoints: Your Child's Emotional and Behavioral Development. Cambridge, MA (Perseus Publishing); S. I. Greenspan mit J. Salmon (1992). The Challenging Child: Unterstanding, Raising and Enjoying the Five »Difficult« Types of Children. Cambridge, MA (Perseus Publishing). 3 Siehe S. I. Greenspan und S. Wieder (1998). The Child with Special Needs. Cambridge, MA (Perseus Publishing); deutsch: Mein Kind lernt anders. Ein Handbuch zur Begleitung förderungsbedürftiger Kinder. Düsseldorf/Zürich (Walter Verlag) 2001; S. I. Greenspan (1992). Infancy and Early Childhood. Madison, CT (International Universities Press); S. I. -341-
Greenspan mit J. Salmon (1992). The Challenging Child (wie Anm. 2). 4 T. B. Brazelton (1985). Working and Caring. Cambridge, MA (Perseus Publishing); deutsch: Und was ist mit den Kindern? Beruf und Kind. Übers, von H. Kober. München/Zürich (Piper) 1989. 6. Kapitel Das Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und nach kultureller Kontinuität 1 R. H. Wharton, K. Levine, E. Miller, J. Breslau und S. I. Greenspan (2000). Children With Special Needs in Bilingual Families: A Developmental Approach to Language Recommendations. The ICDL Clinical Pradtice Guidelines. Hg. von S. I. Greenspan. Bethesda, MD (ICDL). 2 Siehe Kapitel 14 in: S. I. Greenspan mit B. L. Benderly (1997). The Growth of the Mind and the Endangered Origins of Intelligence. Cambridge, MA (Perseus Publishing); deutsch: Die bedrohte Intelligenz. Die Bedeutung der Emotionen für unsere geistige Entwicklung. Übers, von F. Griese. München (Goldmann) 1997, vor allem S. 355-387. 3 E. Zigler (1989). Addressing the Nation's Child Gare Crisis: The School of the 21 st Century. American Journal of Orthopsychiatry 59: 484-491; über die Corner Schools siehe E. Zigler (2000). Child Development and Social Policy: Theory and Applications. New York (McGraw-Hill), S. 245 f. 4 Siehe S. I. Greenspan, S. Wieder, A. Lieberman, R. Nover, R. Lourie und M. Robinson (1987). Infants in Multi-Risk Families. New York (International Universities Press); S. I. Greenspan (1992). Infancy and Early Childhood: The Practice of Clinical Assessment and Intervention with Emotional and Developmental Challenges. Madison, Conn. (International Universities Press). -342-
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S. I. Greenspan et al. (1997). Infants in Multi-Risk Families; S. I. Greenspan mit B. L. Benderly (1997). The Growth of the Mind, 13. Kapitel. 6 R. Karr-Morse und M. Wiley (1997). Ghosts from the Nursery. New York (Atlantic Monthly Press); S. Provence und A. Naylor (1983). Working with Disadvantaged Parents and Their Children: Scientific and Practical Issues. New Haven (Yale University Press); A. S. Honig und J. R. Lally (1981). Infant Caregiving: A Design for Training. Syracuse, NY (Syracuse University Press); J. R. Berrueta-Clement, L. J. Schweinhart, W. S. Barnett, A. S. Epstein und D. P. Weikart (1984). Changed Lives: The Effects of the Perry Preschool Program on Youths Through Age Nineteen. Ypsilanti, Mich. (High/ Scope); C. T. Ramey und F. A. Campbell (1984). Preventive education for highrisk children: Cognitive consequences of the Carolina Abecedarian Project. American Journal of Mental Deficiency 88: 512-523; S. I. Greenspan et al. (1987). Infants in Multi-Risk Families (siehe Anm. 2). Anhang Das Touchpoints-Modell T. Berry Brazelton 1 Der Verfasser dankt Maureen O'Brien, Kristie Brandt und anderen Kollegen aus dem Touchpoints-Projekt für ihre Mitarbeit. Der Beitrag ist die überarbeitete Version eines Artikels, der ursprünglich in Infants and Young Children, 10 (1997): 74-84, erschienen ist. 2 P. Bowman, M. Grady, M. Kendrick, J. Ladew-Duncan, S. Mentzer, R. Newman, K. Son und L. Spandinger (1994). From the Heart: Storys by Mothers ofChildren With Spedal Needs. Portland, ME (University of Southern Maine); T. B. Brazelton (1992). Touchpoints: Emotional and Behavioral Development. Reading, MA (Addison-Wesley); deutsch: Die Hürden der ersten Lebensjahre - ein Kind wächst auf. Übers, von C. Trunk. Stuttgart (Klett-Cotta) 1999; A. P. Turnbull, H. R. Turnbull und -343-
M. Blue-Banning (1994). Enhancing inclusion of infants and toddlers with disabilities and their families: A theoretical and programmatic analysis. Infants and Young Children 7: 1-14.
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