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Wenn Catherine an die Nacht des 12. April zurückdachte, war sie überzeugt, daß sie irgend etwas hätte tun können. Irg...
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Wenn Catherine an die Nacht des 12. April zurückdachte, war sie überzeugt, daß sie irgend etwas hätte tun können. Irgendwie hätte sie aus der ganzen Sache herauskommen können, sie hätte etwas tun oder nicht tun müssen, um gar nicht erst in diese Lage zu geraten, obwohl sie nicht genau wußte, was. Und das war das Schlimmste daran - zumindest glaubte sie das, bis man ihr den Verband von den Augen nahm. Bevor jemand zu ihr gekommen war, hatte sie lange Zeit - eine Ewigkeit - in panischer Angst und mit fürchterlichen Schmerzen in der Dunkelheit gelegen und über ihre Situation nachgedacht. Die meiste Zeit brachte sie damit zu, den Augenblick zu bestimmen, in dem sie von diesem Bummelzug in die Hölle hätte abspringen können. Die Büros ihres Vaters - sie war nun schon zwei Jahre bei Chandler und Prasker, aber für Catherine waren es immer noch nicht ihre Büros - lagen auf der West 57th Street, direkt an der Ecke vom Central Park South. Sein Büro hatte, im Gegensatz zu ihrem eigenen, eine imposante Aussicht auf die Avenue of the Americas. An einem so wunderschönen Apriltag war so etwas nicht zu verachten. Ihr eigenes Zimmer lag im Inneren der Etage; das gehörte sich so für ein jüngeres Mitglied der Sozietät, auch wenn es sich dabei um Charles Chandlers Tochter handelte. Vielleicht war das der Grund, warum sie dort so wenig Zeit verbrachte. Alles Rosenholz und alle Designerskulpturen der Welt konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in ihrem Büro keine Fenster gab. Sie konnte nicht verstehen, wie die anderen jungen Anwälte das aushielten. An diesem besonderen Montag kam sie zu spät - so spät, daß ihr gutgelauntes »Morgen ...« bei der Sekretärin an der Rezeption, an deren Schreibtisch sie vorbei mußte, ein spöttisches »Nicht mehr« auslöste. Sie zog ihren Mantel aus und versuchte gleichzeitig, so zu tun, als wäre sie schon mindestens eine Stunde da. »Pingelig, pingelig«, tadelte sie im Vorbeigehen und lief den teppichbedeckten Flur hinunter. Sie war ein kleines, schlankes Mädchen, das irgendwie zerbrechlich wirkte, und daran konnten nicht einmal die breitesten modischen Schulterpolster etwas ändern. Aber die Kritik hatte sie getroffen. Catherine wurde oft bewußt, daß sie sich nicht durchsetzen konnte - daß sie sich nie richtig durchgesetzt hatte -, und das macht ihr Sorgen, sogar wenn sie, was häufig vorkam, freitags schon mittags oder - nun komm schon, gib's ruhig zu Cathy! - schon um zehn Uhr ging. Zu den Zeiten wußte sie, daß es niemanden - vor allen nicht ihren Mandanten - nützen würde, wenn sie sich weiter mit ihrer Arbeit herumschlug, obwohl sie müde oder nervös war, oder sich einfach nicht gut fühlte ... Trotzdem hatte sie einen Horror davor, als »Daddys kleines Mädchen« angesehen zu werden. Meistens nannte man sie »Charles Chandlers Tochter«, und sie konnte machen was sie wollte, es lief immer auf dasselbe hinaus. »Cathy ...« Al Prasker kam aus seinem Büro und ging im Gleichschritt mit ihr den breiten Flur mit den Holzpaneelen und dem Glas hinunter. »Vergiß nicht die Konferenz um drei.« »Ich komme«, versprach sie mit ihrem strahlendsten Lächeln und bemühte sich ihrer Stimme die Schärfe zu nehmen. Sie war nicht direkt verärgert, aber sie fühlte sich verletzt, denn sie mochte Al schon seit der Zeit, als sie in der siebten Klasse gewesen war und er ihr in dem großen Arbeitszimmer ihres Vaters in dem schönen roten Sandsteinhaus in Grammercy Park, in dem sie großgeworden war, bei den Schulaufgaben geholfen hatte. Man braucht mich nicht an so etwas zu erinnern, verdammt noch mal! dachte sie unglücklich. Es mag ja sein, daß ich später komme und dafür früher gehe, aber ich würde nie eine Besprechung verpassen oder irgend etwas tun, was der Firma schaden könnte! Als sie die eichenen Doppeltüren zur Bürosuite ihres Vaters öffnete, fühlte sie sich sowohl ungerecht behandelt als auch in beunruhigender Weise schuldig, weil Al sie für ein exzentrisches, unzuverlässiges Mädchen zu halten schien. Als sie das Büro betrat, telefonierte ihr Vater gerade, Er sah sie lächelnd an - ein untersetzter Mann mit einem rosigen Gesicht, dessen Haar früher, bevor es weiß geworden war, einmal die gleiche rotblonde Farbe gehabt hatte wie Cathys. »Hal, ich rufe dich zurück«, sagte er, als Catherine ihren persimonefarbenen Dufflecoat über die Lehne eines der braunen Ledersessel, die in dem Büro standen, gelegt hatte - obwohl es ein so wunderschöner Tag war, war es draußen doch kalt. Durch die große Glasscheibe, die die ganze hintere Wand bildete, wirkte die Avenue wie ein schnell fließender Strom monochromer Grautöne, an dessen Rändern kleine frühligsfarbene Strudel blinkten - Frauenkleider, geparkte Autos, die abblätternde rote und gelbe Farbe der Würstchenbuden. Um die Ecke schienen die Bäume des Parks schwerelos in einem Meer von rosaroten Blüten zu schweben, und Catherine mußte trotzt ihrer Schuldgefühle zugeben, daß nur die Erinnerung an die Besprechung um drei und daran, daß sie gerade noch einen freien Tag außer der Reihe gehabt hatte, sie dazu bewogen hatte, in die Kanzlei zu gehen. »Das war Hal Sherwood.« Charles Chandler legte den Hörer auf und sah seine Tochter an, die es sich gerade in einem Sessel ihm gegenüber bequem machte. Das Büro war zwar nicht mehr dasselbe, an das sich Catherine aus ihrer Kindheit und Teenagerzeit erinnern konnte - das war im alten Bradshaw Building ein Stück die Straße
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hinunter gewesen -, aber es enthielt genügend Dinge, die sie immer mit ihrem Vater in Verbindung gebracht hatte und die ihr das Gefühl vermittelten, daß er immer schon hier gewesen war und auch immer hiersein würde. Seine Diplome von Harvard und Cornell waren vergilbte Rechtecke auf der dunklen Nußbaumvertäfelung; die aus rotlackiertem Holz geschnitzte antike Flasche, die er ihrer Mutter aus China mitgebracht hatte, bildete einen weiteren Farbfleck. Auf dem Schreibtisch standen die Fotos ihrer Mutter und ihr eigenes in schweren Silberrahmen. »Er kommt heute abend von Atlanta herüber«, erklärte ihr Vater. »Hast du Zeit, mit uns zum Dinner zu gehen?« Catherine schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht - tut mir leid. Tom gibt für die Architekten des neuen Gebäudes eine Party.« Sie lächelte trocken. »Wieder ein Vorwand, die Planungskommission bewirten zu können.« Ihr Vater lachte. »Weißt du, früher wurde ich auch zu solchen Anlässen eingeladen.« Er schnitt eine Grimasse und tat so, als ob ihm das leid täte - Tom Gunthers Partys, die gewöhnlich von der Firma Wiegart Immobilien finanziert wurden, waren stadtbekannt. »Das war, bevor ich dir unseren besten Mandanten überlassen habe.« »Aus deinem Mund klingt das wie ein Kuhhandel.« Er erwiderte das Lächeln, mit dem sie diesen Satz begleitete, aber ihm war der leise Unterton ihrer Stimme nicht entgangen, er deutete an, daß sie die Bemerkung nicht nur witzig gemeint hatte. Ein wenig zögernd sagte er: »Weißt du, es gibt weiß Gott schlimmere als Tom Gunther ...« »Als ob ich das nicht wüßte«, lächelte sie. Sie ahnte, welche Episoden er meinte. Es entstand ein kurzes verlegenes Schweigen. Aber auch wenn er empört und wütend gewesen war, als sie während ihrer Collegezeit ein oder zwei spektakuläre Fehler gemacht hatte, war er nicht der Typ, der alte Geschichten wieder aufwärmte, vor allem da er wußte, daß er ihr damit immer noch weh tun konnte. Er schien ihre Fehler in Kauf zu nehmen, so wie er es auch in Kauf genommen hatte, daß sie nicht innerhalb eines Jahres, nachdem sie »in die Gesellschaft eingeführt worden war«, geheiratet hatte und ihm noch keine Enkel beschert hatte. Er fragte nur: »Wie wär's dann morgen abend?« »Laß mich erst einmal an meinen Schreibtisch, damit ich in den Terminkalender sehen kann«, sagte sie ein bißchen zu lässig und stand auf. Seine silbergrauen Augen zogen sich zusammen, obwohl er sich bemühte, seine Stimme weiterhin ruhig klingen zu lassen. »Du bist jetzt erst gekommen?« »Ich bin spät ins Bett gegangen«, entschuldigte sie sich ausweichend und dachte: Und ich habe ungefähr drei Gläser Wein zuviel getrunken. In der letzten Zeit hatte sie feststellen müssen, daß es ihr dann leichter fiel, mit einem Mann zusammenzusein, mit dem sie sich nicht wohl fühlte, so wie es letzten Abend der Fall gewesen war. In einer solchen Situation erschien es ihr vernünftig, aber sie hatte das Gefühl, daß sie aufpassen mußte. »Außerdem mußte ich heute morgen noch ein paar Dinge erledigen.« Er musterte sie von der Seite, und sie konnte immer noch die Sorge in seinem Blick erkennen. Sie lächelte ihn strahlend an. »Du kannst mich ja verklagen.« »Dafür dürfte es ein bißchen zu spät sein«, seufzte er, während sie ihren Mantel nahm. »Ich hätte dich verklagen sollen, als du fünf warst.« Er stand auf und küßte sie auf die Wange. »Cathy ...« Er zögerte, lehnte sich dann ab seinen riesigen Schreibtisch und betrachtete voller Sorge sein einziges Kind. Catherine war schön und elegant in ihrem schicken schwarz-weißen Kleid, hielt ihren Mantel auf dem Arm und empfand ihm gegenüber das alte, immer wiederkehrende Gefühl der Hilflosigkeit. Die Wärme und Liebe zwischen ihnen schien durch eine Mauer blockiert zu werden, die sich aufgerichtet hatte, ohne daß sie es gemerkt hatte oder den Grund dafür kannte. Sie wußte nur, daß sie plötzlich da war, als sie nach ihrer Collegezeit wieder nach Hause gekommen war - und als sie dann später aus Europa und aus dem Orient zurückkam, war diese Mauer noch ein bißchen höher geworden, und sie wurde jedes Jahr ein wenig dicker. Es hatte nie irgendeinen größeren Streit gegeben. Die Distanz entstand nur wegen Dingen, die nicht ausgesprochen wurden, oder Themen, über die nicht geredet wurde, und wegen Schmerzen, von denen der andere nichts wissen sollte. Nach einer langen Pause - typisch für einen Anwalt, der seine Worte sorgfältig wählte - fragte er freundlich: »Was ist mit dir los?« Die berühmte Vierundsechzigtausend-Dollar-Frage, dachte Catherine und erinnerte sich an die unselige Verabredung mit Ed am letzten Abend und an die Party, auf der sie mit Greg am Abend davor war ... sie mußte an so viele Männer denken, mir denen sie nur deshalb ausgegangen war, weil sie eine unbestimmte Angst davor hatte, an den Wochenenden allein zu sein und von niemandem irgendwohin eingeladen zu werden. Sie hatte tatsächlich sogar angefangen, mit Ed in Diskos zu gehen, dabei hatte sie weder für Diskos noch für Ed viel übrig. Nun ja, Ed war eigentlich gar nicht so übel, milderte sie ihr Urteil. Aber selbst Tom, mit dem sie mit Sicherheit ihre ernsthafteste Affäre seit Jahren hatte und der so großzügig war und auf alle ihre Launen einging, vermittelte
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ihr das Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung war. Sie hätte beinahe gesagt: Wenn ich das wüßte, wäre ich schon ein ganzes Stück weiter. Aber ihr Vater, der selbst einen kleine Schmerz scheue, wählte den leichten Ausweg. »Gefällt dir die Arbeit hier nicht?« fragte er. »Findest du sie nicht befriedigend?« Catherine hätte fast gelacht, ihr Ärger mischte sich mit Zuneigung wegen dieser Reaktion, die so typisch für ihn war. Gleichzeitig war sie allerdings froh, daß die eigentliche Problematik nicht zur Sprache gekommen war. Wenn sie selbst schon nicht sagen konnte, was nicht stimmte, wie sollte er das können? Es würde ihn nur wieder aufs neue verletzen, er würde sich wieder Sorgen machen, daß er nach dem Tod seiner Frau bei seinem Kind versagt hätte. Sie lächelte ihn an. »Wenn ich an Gesellschaftsrecht denke, ist befriedigend bestimmt nicht das Wort, das mir dann als erstes einfällt.« Sie wollte damit keine Entschuldigung für ihr häufiges Zuspätkommen, für die langen Mittagspausen, in denen sie sich mit Freunden im Park unterhielt, und ihr frühes Nachhausegehen, wenn sie so unruhig war, daß sie sich einfach nicht mehr konzentrieren konnte, finden ... aber er lachte über ihre trockene Art, entspannte sich und akzeptierte ihr Ausweichmanöver. Außerdem war er genauso froh wie sie, daß das Gespräch nicht auf eine tiefere Ebene geglitten war. Aber der leicht sorgenvolle Ausdruck verschwand nicht völlig aus seinen Augen, als könnte er von seiner Seite der Mauer aus tatsächlich erkennen, daß sie sich nicht wie eine glückliche Frau benahm. »Wenn du dich darauf konzentrieren würdest, könntest du eine wirklich gute Anwältin für Gesellschaftsrecht sein, weißt du das?« »Nein.« Catherine lächelte und beugte sich vor, um ihm einen Kuß zu geben. »Ich bin die Tochter eines wirklich guten Anwalts für Gesellschaftsrecht.« War das der Augenblick gewesen? Ein leises Geräusch durchdrang ihre Dunkelheit, hohl und in eigenartiger Weise angenehm, ein metallisches Klopfen, dem nach einer Weile ein noch leiseres Pochen folgte. Dann von weither das Rattern von Eisenbahnrädern über die Schienennähte, wie ein plötzlich aufkommender Wind ... dann wieder leiser werdend. Kaum hörbar gurgelte Wasser; der Geruch von getragenem Leder, von Bienenwachskerzen, von feuchten Steinen und Erde. Und eine Stille wie der Schlaf. Wenn sie wegen ihrer Benommenheit, Hilflosigkeit und Schmerzen nicht eine solche panische Angst gehabt hätte, wäre sie eingeschlafen. Sie hätte ihre Verabredung mit Tom Gunther absagen können, um die Einladung ihres Vaters annehmen zu können. Sie hatten schon seit mehreren Wochen nicht mehr miteinander gegessen - da ihr Leben in der letzten Zeit ziemlich hektisch gewesen war. Wenn sie erst einmal in einem Restaurant saßen, vorzugsweise im Four Seasons, in einem ruhigen Viersternelokal oder im Club ihres Vaters, dann genoß sie gewöhnlich diese Dinner mit seinen Geschäftsfreunden. Wie er gesagt hatte, war sie tatsächlich eine gute Anwältin, auch wenn sie mit der Arbeit nicht zufrieden war. Sie hatte einen wachen Sinn für das Mögliche, eine Begabung für juristische Konstruktionen, Nuancen und Implikationen, und ihre Ausbildung versetzte sie in die Lage, die komplizierten Schachzüge der Firmenaufkäufe und Börsenmanipulationen zu durchschauen. Sie erkannte sehr rasch die Verflechtungen der Direktorien und wer im Vorstand welcher Firma saß. Alles war eigentlich so, als ob man auf einer Party still in einer Ecke sitzen und darauf achten würde, wer mit wem gesprochen hat und in welcher Reihenfolge, oder als ob man einen Einblick in das feinmaschige Netz der Einzelheiten im Leben der Freunde bekommen würde. Möglicherweise lag ihr Fehler, ihr Irrtum - was auch immer es war - weit zurück und ging bis zu dem Tag zurück, an dem ihr Vater sie zum Mittagessen mitgenommen hatte, damit sie Tom Gunther, den jüngsten Teilhaber einer der größten Landerschließungsfirmen des Landes kennenlernte? Oder damals, als sie zum erstenmal in ihrem Büro saßen und er sie mitten in ihrem Vortrag über eine Wegerechtsregelung unterbrach und zum Dinner einlud? Sie war mit Tom Gunther wirklich nicht schlecht bedient, da hatte ihr Vater recht. Sie hatte ihn im Atriumballsaal des Barron-Hotels kurz beobachtet. Der ganze Saal war in rosafarbenes Licht getaucht und mit prächtigen, wann auch vielleicht etwas konventionellen Blumenarrangements dekoriert. Überall wimmelte es von Mandanten, Architekten, Geschäftspartnern, dem einen oder anderen Mitglied der städtischen Planungskommission und ihren Begleiterinnen. Tom, ein schlanker, dunkelhaariger, energischer junger Mann, der selbst so früh im Jahr braungebrannt war und einen makellosen englischen Maßanzug trug, machte für den Chef der Baubehörde und den Vorstand des Irving-Trust eine Führung um die Eisskulptur in der Mitte des Üppigen Büffets herum, die die Form des neuen Gebäudes hatte, an dem er eine siebenstellige Summe verdienen würde. Über dem gedämpften Stimmengewirr und der vornehmen Musikberieselung hätte Catherine verstehen können, was er sagte, wenn sie zugehört hätte. Im Augenblick hörte sie nicht zu und blickte auch nicht zu ihm
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hinüber, weil sie zu ihrer großen Überraschung in Andrew Wiegart Juniors Begleitung Eve Penrith erkannte, mit der sie in Radcliff studiert hatte. Catherine war erschrocken, wie alt und müde Eve aussah. »Immer die falsche Wahl getroffen«, erklärte Eve und schüttelte das ab, als wäre die Hölle einer zerstörten Karriere und eine Ehe, in der sie nur ausgenützt worden war, eine Bagatelle, wie die milde Form einer Lebensmittelvergiftung, die schlimmstenfalls lästig war. Aber unter dem spröden Lächeln dieser Frau und hinter dem zu schnellen Lachen konnte Catherine eine Welt von Trauer und Hoffnungslosigkeit ausmachen. Sie hatte Eve seit einigen Jahren aus den Augen verloren, aber sie konnte sich noch gut an all die Nächte in ihrem gemeinsamen Zimmer im Studentenwohnheim erinnern, in denen sie bis morgens geredet hatten, und an das Lachen des schlanken, braungebrannten Mädchens; es kam Cathy vor, als wäre das erst gestern gewesen. Sie stahl sich von Tom und seinen Geschäftsfreunden weg und führte Eve in eine stille Ecke, um mit ihr reden zu können. Eve hatte es dringend nötig, sich jemanden anzuvertrauen. »Verdammt noch mal, das Schlimmste an allem ist, daß ich ihn - ich weiß nicht einmal, ob das das richtige Wort ist -, daß ich ihn immer noch liebe«, gestand Eve und blickte in den eisgekühlten Tiefen ihres Drinks. Im Gegensatz zu Catherines raffiniert einfachem Kleid trug sie ein silbriges Etwas aus Satin, das ein wenig zu mädchenhaft für sie war, und es stand ihr auch nicht gut. Sie hatte den nervösen gehetzten Blick einer Frau, die sich zu sehr bemüht. »Aber ich spüre etwas - so ein Gefühl, als ob eine Sache unerledigt geblieben wäre. Ich komme nicht davon los, aber ich weiß, daß ich das eigentlich müßte.« Ihre Stimme klang gepreßt, so sehr bemühte sie sich, distanziert zu klingen. »Man hat mir gesagt, ich solle so tun, als ob er tot wäre ...« Catherine beugte sich vor und nahm die knochige, dünne Hand, an der sie immer noch den Ehering mit dem Brillanten trug, in die ihre. »Es wird schon wieder werden« sagte sie leise. »Alles wird wieder gut werden.« »Geht's dir gut?« Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie blickte auf und sah Tom, der hinter ihr stand. »Sehr gut - Eve und ich, wir haben uns seit dem College nicht mehr gesehen. Wir haben eine Menge nachzuholen.« Es fiel ihr plötzlich ein, daß Tom Eve wahrscheinlich früher schon kennengelernt hatte, schließlich hatte sie ein Verhältnis mit Andrew Wiegarts Sohn. Aber Tom drehte sich nur kurz zu ihrer Freundin um, warf einen flüchtigen Blick auf sie und wandte sich dann desinteressiert wieder ab. »Schön«, sagte er in seinem neutralsten Ton. »Ich muß mit dir reden, Cathy. Würden Sie uns einen Augenblick entschuldigen?« Eve nickte, starrte immer noch in ihr Glas und auf das was sie darin zu sehen glaubte. Tom legte eine Hand besitzergreifend auf Catherines Hüfte und führte sie zu einem Platz in der Nähe der mit Holz verkleideten Treppe, die zu der oberen Etage des Ballsaals führte. »Was ist los mit dir?« Catherine sah ihn überrascht an. »Was meinst du damit?« Hinter ihnen auf der Treppe kamen und gingen die Leute, typische Geschäftsleute, ein paar konservativ gekleidete Ehefrauen, die nach anderen Frauen Ausschau hielten, die sie kannten, weil sie hofften, mit ihnen reden zu können, ohne daß Worte wie Prozentsatz oder Kostendeckung fielen. Noch größer war der Anteil der aufgeputzten schönen Frauen mit den Puppengesichtern, von denen Catherines Freundin Jenny behauptete, die Direktion des Hotels würde sie wie Kaviar en gros bei der Firma Bimbos-R-Us bestellen. Tom machte eine ungeduldige Geste in die Richtung, in der Eve still an einem Glastisch hinter einem dekorativen Lilienarrangement saß. »Ich meine, du hast lange genug da gesessen und dir den Quatsch angehört.« Catherine seufzte und schüttelte den Kopf, ihr Blick wanderte wieder zu der gebeugten, niedergeschlagenen Gestalt in dem Satinkleid zurück. »Sie hat es zur Zeit sehr schwer, Tom.« Die Erinnerung an die fröhliche, mutige Eve, an das lachende Mädchen, das sie gekannt hatte, tat ihr weh. Es war ihr, als wäre sie in einen Garten gegangen, in dem sie als Kind gespielt hatte, und hätte dann feststellen müssen, daß man in der Zwischenzeit einen Parkplatz daraus gemacht hat. »Wir waren früher einmal gute Freunde.« »Ich kenne sie«, unterbrach Tom sie brutal. »Sie ist eine Säuferin und war mit einem Säufer verheiratet. Sie ist die typische Verliererin.« Sie spürte, daß sie ärgerlich wurde. Tom haßte nichts mehr als Versagen und war sein ganzes Leben lang davor weggelaufen. Er kam aus einer Arbeiterfamilie und hatte sich zielstrebig bis zum Junior-Partner eines Multimillionendollarunternehmens heraufgearbeitet. Sie wußte, daß sie ihn nicht für das verantwortlich machen konnte, was seine Welt aus ihm gemacht hatte. Er war durch Verhältnisse geformt worden, vor denen sie der Reichtum ihres Vaters geschützt hatte - und außerdem war eine öffentliche Szene, ganz gleich welcher Art, genau das was sie am allerwenigsten gebrauchen konnte. Aber sie konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme schärfer als gewöhnlich klang. »Du bist sehr mitfühlend.« Tom ließ das Thema fallen und zeigte ihr sein jungenhaftes Grinsen. »Mach dir keine Sorgen um sie«, empfahl er wegwerfend und legte seine Hand mit leichtem Druck auf ihre Hüfte. »Komm - bleib bei mir. Ich möchte dich jemanden vorstellen.« Er schickte sich an, sie zum Büffet
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zurückzubringen - zweifellos, um sie dem Chef der Planungskommission oder sonst einer einflußreichen Persönlichkeit vorzustellen, aber Catherine weigerte sich. Das war die Seite von Tom, die sie am wenigsten mochte, eine Seite - das wußte sie -, die ihr Vater nicht wahrnahm oder anders sah: der forsche Geschäftsmann, der große Organisator, den er wie einen Mantel ablegte, wenn er mit ihr ins Theater oder zu Konzerten im Park ging. Manchmal hatte Catherine dem finsteren Verdacht, daß Tom sie dazu benützte, mit ihr bei seine Geschäftsfreunden anzugeben. Sie hatte Geschäftsleute kennengelernt, die stolz waren, die schönste Frau an ihrer Seite zu haben, selbst wenn sie diese Frau für diesen Anlaß gemietet hatten, wie das bei verschiedenen Männern an diesem Abend der Fall war. In den ersten Monaten ihrer Bekanntschaft mit Tom hatte sie geglaubt, bei ihm sei das nicht so, weil er auch stolz auf ihre Intelligenz war. Erst seit kurzem vermutete sie, daß die Tatsache, daß er überhaupt »stolz« auf sie war, die gleichen Besitzansprüche nach sich zog, die sie jetzt so ärgerlich machten. Vielleicht hing es aber auch nur damit zusammen, daß ihr die Begegnung mit Eve so weh getan hatte. Also riß sie sich los. Sollte das der Augenblick gewesen sein? Tom war überrascht. »Tom, es tut mit leid«, sagte Catherine. »Ich bin heute abend einfach nicht in der Stimmung.« Seine schlanken Finger schlossen sich um ihre Hand. »Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen.« Seine Stimme klang verletzt, hinter der Fassade des Geschäftsmanns kam immer wieder der charmante kleine Junge zum Vorschein. »Das kannst du auch ...«, versicherte sie verzweifelt und fühlte sich schuldig. »Vielleicht erwarte ich ja zuviel von dir.« Verdammt, dachte sie, jetzt lasse ich ihn genauso im Stich wie Dad. Sie machte eine Geste der Hilflosigkeit und versuchte ihn aufzuheitern. »Das ist doch eine Party und keine Gehirnoperation.« Toms Lippen wurden schmal. Einen Augenblick lang hatte Catherine das Gefühl, daß ihre Müdigkeit, ihr Unwillen, für den Chef der Planungskommission vor Geist sprühend, witzig und schön zu sein - schließlich war sie Charles Chandlers Tochter -, für ihn nur ein Hindernis darstellte, das entfernt werden mußte. Seine Stimme wurde schneidend vor Ungeduld. »Ich habe jetzt keine Zeit für so etwas.« Er klang genauso, als wäre sie schuld daran, daß er zu spät zu einem Geschäftstermin kommen würde, und das war wahrscheinlich tatsächlich der Fall. »Offen gestanden«, begann Catherine, die sich mit dem Rücken an der Wand lehnte, »habe ich es nicht gern, wenn man mir vorschreiben will, mit wem ich reden darf.« Aber inzwischen hatte er auch seine Geduld verloren. »Dann nimm Vernunft an.« »Schön«, sagte sie und löste sich aus seinem Griff. »Ich denke, ich gehe nach Hause.« Als sie auf Eves Tisch zuging, wo sie ihren schwarzen Samtmantel abgelegt hatte, stellte er sich ihr in den Weg. »Das geht nicht.« »Nein?« Jetzt war sie wütend - vor allem wegen seines abfälligen Urteils über Eve, wegen seiner Unterstellung, sie könne sich nicht mit einer Person sehen lassen, die er als gesellschaftliche Belastung betrachtete, und vor allem über den störrischen Gesichtsausdruck, den er hatte, als ihm klargeworden war, daß sie seinen Wünschen nicht nachkommen würde. Sie brachte ihre Stimme unter Kontrolle und sagte leise: »Es tut mir leid, Eve, ich muß dich morgen anrufen.« Dann nahm sie ihren Mantel und ihren dunkelroten Seidenschal. Aber als sie an dem völlig verblüfften, indignierten Tom vorbei quer durch den Saal ging, kochte sie innerlich vor Wut. Als sie durch das verlassene Foyer des Barron zu der großen Spiegelglastür ging und sich im Gehen den Mantel überzog, dachte sie, daß es womöglich tatsächlich Schlimmere gab als Tom Gunther. Er war vielleicht tatsächlich der Mann, der sich ihr Vater immer für sie gewünscht hatte: ein wohlhabender, intelligenter, ehrgeiziger Mann, der sie vergötterte, der sie umsorgen würde, der ihre Interessen, was Musik Theater und Malerei anbetraf, teilte ... der außerdem gut aussah, sympathisch und gepflegt war, weder unsteter radikaler Student noch ein ausgeflippter Dichter aus Peru oder ein Schmierenkomödiant, der jede Woche eine vierstellige Summe für Koks ausgab, oder irgendeiner von den anderen Typen, mit denen sie schon einmal etwas gehabt hatte ... Aber verdammt, dachte Catherine verzweifelt, Dad muß ja auch nicht mit dem Mann ausgehen. Es war gerade zehn Uhr vorbei, und der Ansturm auf die Restaurants nach dem Theater würde erst in einer Stunde beginne. Am Morgen hatte es leicht geregnet und die Luft hatte diesen besonderen Großstadtgeruch nach Regen, Asphalt, Auspuff und dem Dampf aus einem Entlüftungsschacht der U-Bahn ein paar Meter von ihr entfernt, es war wie eine Szene aus einem Film. Sie rief »Taxi!«, aber entweder war ihre Stimme zu leise - sie war nie laut gewesen, als sie klein war, war sie bei ihren Lehrerinnen an der Farthingdale Academy for Girls deshalb sehr beliebt gewesen, aber in dem großen New York konnte sie damit nicht viel ausrichten -, oder der Fahrer hatte sie nicht beachtet. der Wagen rauschte über die nasse Straße an ihr vorbei und bog um die nächste
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Ecke. Sie lief ein paar Schritte hinter ihm her und blieb dann stehen, dabei stolperte sie und hätte sich beinahe den Fuß verstaucht. Soll das heißen, daß ich tatsächlich auf diesen Absätzen zweieinhalb Blocks bis zur Lex zu Fuß gehen muß? »Kein Glück, oder?« hörte sie eine lachende Männerstimme hinter sich sagen. Sie drehte sich um. Er war mittelgroß, untersetzt, hatte schwarze Haare, seine Hände steckten in den Taschen einer hellgrauen Bomberjacke. Sie vermutete, daß er in dem Hotel arbeitete, obwohl sie kaum eine Gedanken an ihn verschwendete - Eves Probleme gingen ihr immer noch durch den Kopf, außerdem beschäftigte sie der Gedanke an ihre Auseinandersetzung mit Tom. Jedenfalls kam er aus einem Durchgang, der zu dem Lieferanteneingang der Hotelküche führte, auf sie zu. Obwohl sie ihn in der Dunkelheit außerhalb des erleuchteten Hoteleingangs kaum erkennen konnte, sah sie doch, daß er sie freundlich anlächelte. »Ich werde Ihnen eine Taxi rufen, darin bin ich Experte ... Taxi!!!« brüllte er und raste durch die silbrige Dampfwolke hinter einem Wagen her, der vorbeifuhr. Sie suchte gerade in ihrer Handtasche nach Kleingeld, um ihm ein Trinkgeld zu geben, als der Lieferwagen aus dem Seitenweg herauskam. Er bog vor ihr ein, fuhr an den Bordstein und blockierte die Sicht auf die Straße. Cathy war so in Gedanken, was sie denn nun verdammt noch einmal mit Tom anfangen sollte, wenn er sie morgen anrufen würde - und er würde sie wahrscheinlich im Büro anrufen, um alles noch schlimmer zu machen -, daß sie sich nichts dabei dachte, bis der untersetzte Mann neben ihr stand. Sein Gesicht war im Schatten, nur die Spitzen seiner gelockten Haare, die fahle graue Farbe seines Jackenärmels war erhellt. Sie suchte immer noch die Dollarnote, die sie für Trinkgelder gewöhnlich in der Tasche hatte - später konnte sie es nicht fassen, daß sie so dumm gewesen sein sollte -, als der Arm des Mannes sie umschlang und die Seitentür des Lieferwagens vor ihr aufgeschoben wurde. Seine tiefe Stimme war so leise, daß man den rauhen Ton kaum wahrnehmen konnte. »Carol, willst du heute abend allein nach Hause gehen?« Dann warf er sie in den Lieferwagen. In letzter Sekunde wich ihre Überraschung panischer Angst, und sie wand sich in seinem Griff, aber er war ungeheuer stark, viel stärker, als sie gedacht hatte. In diesem Moment schoß der Gedanke durch ihren Kopf, daß zwar schon viele Männer ihre Arme um sie geschlungen hatten, daß sie aber jetzt erst merkte, wie der Arm eines Mannes sich anfühlte, wenn er nicht gewillt war loszulassen. Dann fiel sie auf den Metallboden des Wagens, schnappte nach Luft und schrie. Im gleichen Moment schob jemand - eine düstere Figur in der sich schnell bewegenden blauschwarzen Finsternis des Innenraums - die Tür wieder zu. O bitte, lieber Gott, nein ... Es waren zwei Männer und der Fahrer, aber sie konnte jetzt nur noch ihre Umrisse erkennen und in der vorbeigleitenden Raute des Scheins einer Straßenlaterne einen Unterarm, der die Armlehne des Sitzes umfaßt hatte und auf den ein rot-blauer Drache tätowiert war, dessen Klauen und Maul den behaarten Handrücken umfaßten. Ihre Augen starrten gebannt auf den Drachen, während ihr Verstand aussetzte, sie war durch den Schock und die panische Angst wie betäubt, wie ein Kaninchen, das im Scheinwerferlicht eines Wagens vor Schreck starr wird. ... wie konnte ich so dumm sein? ... nein, bitte ... ... Brillanten, meine Ohrringe sind mit Brillanten besetzt, vielleicht nehmen sie meine Ohrringe und lassen mich laufen ... Sie wußte schon, das sie sie nicht laufenlassen würden, bevor sie mit ihr fertig wären. Der untersetzte Mann drückte sie mit dem Rücken gegen die Seitenwand des Lieferwagens, ohne Mühe hielt er ihr mit einer Hand ihre beiden Handgelenke auf den Rücken, seinen Körper preßte er dabei fest gegen ihren. Sie konnte den Schweiß an seinem Hand reichen, irgendein billiges Rasierwasser und den Tabakgeruch in seinem Atem, als er ihr immer wieder zuflüsterte: »Braves Mädchen, braves Mädchen - du weißt doch was mit Mädchen passiert, die ein großes Maul haben?« Sie hörte ein leises metallisches Klicken. Der Wagen schaukelte, und in dem plötzlichen Schein einer Straßenlaterne sah sie die fünfzehn Zentimeter lange blitzende Stahlklinge in der Drachenhand. »Gleich wirst du es erfahren.« »Carol«, flüsterte die einschmeichelnde Stimme in ihr Ohr, »du mußt von jetzt an immer daran denken, deinen Mund zu halten.« Starr vor Schrecken und Panik konnte sie nur noch flüstern: »Ich heiße nicht Carol.« »Halt's Maul!« Seine Hand packte sie vorn an ihrem Mantel und warf sie gegen die Metallwand, so daß sie mit dem Kopf dagegenprallte. Der Körper des anderen Mannes verdeckte den Schein der vorbeigleitenden Lichter; sie konnte das Messer mehr ahnen als sehen.
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»Jetzt wirst du daran denken«, knurrte die leise Stimme. »Und jedesmal wenn du in den Spiegel siehst ...«
2 Wieder dieses leise Läuten, wie seltsame, verirrte Glocken. Sie lag im Dunkeln. Sie hatte Schmerzen - alles tat ihr weh, ihre Schultern, ihr Rücken, ihr Bauch. Jedesmal wenn sie Luft holte, wurden die Schmerzen so unerträglich, daß sie fast ohnmächtig wurde. Catherine versuchte wieder, sich an den Zeitpunkt zu erinnern, an dem sie das Ganze hätte aufhalten und sich in Sicherheit bringen können. Es mußte doch irgendwann eines solche Möglichkeit gegeben haben ... Es kam ihr vor, als müsse sie Wasser mit der Hand schöpfen. Gedanken und Erinnerungen - das grobkörnige monochrome Bild der Avenue of the Americas, das sie aus dem Fenster ihres Vaters gesehen hatte, ihr eigenes Bild im Spiegel zu Hause in ihrer Wohnung. wenn sie mit der Üblichen Sorgfalt ihr Make-up auflegte; die süßliche Musikberieselung und das unpersönliche Geplapper auf der Party und die Erschöpfung und der Kummer in Eves müden Augen - all das wurde wie welkes Laub auf einem herumwirbelnden Karusellsitz weggefegt und verschwand in der Dunkelheit. Als man sie aus dem Lieferwagen geworfen hatte, war sie bei Bewußtsein gewesen. Es mußte irgendwo im Central Park gewesen sein, in seinem kalten, unheimlich flüsternden Wald. Während sie im feuchten Gras lag, hatte sie den verschwommen Eindruck, daß Autoscheinwerfer über ihren Körper schwenkten, und irgendwo in der Nähe hörte sie Verkehrslärm. Sie erinnerte sich an tiefschwarze Blindheit, an Schmerzen, wie sie sie nie zuvor gekannt hatte; die feuchte Kälte des aufgeweichten Bodens entzog ihrem Körper die Wärme, und das bißchen Kraft, das sie noch hatte, schwand langsam dahin. Sie erinnerte sich daran wie an einen unglaublich tiefen Traum, an die plötzliche Erkenntnis, daß sie im Sterben lag ... Sie war sich nicht klar darüber, ob das übrige ein Traum gewesen war oder nicht. Dieser Ort ... Ihr war warm - sie lag auf etwas Weichem. Wenn sie ihre Hand bewegte, konnte sie fühlen, wie sich die Oberfläche veränderte, weiche Baumwolle, alte Wolle mit Lederflicken, Häckelei .. eine geflickte Steppdecke? Auch diese Eindrücke verschwanden wieder, sie fiel wieder in tiefen Schlaf. »Nein!« Sie wachte schreiend auf, ihre Hände fuhren nach oben, und der stechende Schmerz in ihren Rippen rief die düsteren Horrorvisionen ihres Traums wieder in ihr Bewußtsein zurück. Ihr Mund tat ihr weh, er war geschwollen und halb taub; irgend etwas bedeckte ihre Augen - sie konnte nicht sehen ... Sie dachte, was ist, wenn sie mich immer noch in ihrer Gewalt haben ... »Nein...« »Sie sind in Sicherheit«, sagte eine leise Stimme. »Sie sind jetzt in Sicherheit.« Alles in ihr zuckte beim Klang dieser unbekannten Stimme vor Schreck zusammen - die Stimme eines Mannes. Aber es war die freundlichste, liebevollste Stimme, die sie je gehört hatte. »Wo bin ich?« »Niemand wird Ihnen etwas tun«, sagte die Stimme, sie war tief und etwas rauh: Granit und Seide. »Hier sind sie sicher.« »Bin ich im Krankenhaus?« Aber es roch nicht nach Krankenhaus. Sie drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite, als ob sie ihn dort, links hinter sich, sehen könnte. »Nein«, erwiderte die Stimme freundlich. »Aber Sie werden wieder gesund werden.« »Warum bin ich nicht im Krankenhaus?« Sie spürte, wie in ihr wieder die panische Angst aufstieg, als sie daran dachte, wie schwach und allein sie war und daß sie sich in der Gewalt eines anderen befand. »Sie bluteten. Es war keine Zeit mehr.« Sie trennte sich gewaltsam von dem kalten kleinen Samen der verschwommenen Erinnerung, von der Erkenntnis, sterben zu müssen, während sie gespürt hatte, wie ihr Bewußtsein langsam in der feuchten Dunkelheit versickerte. Was war danach geschehen? Ihre Stimme zitterte, und sie mußte sich anstrengen, um sie unter Kontrolle zu bringen. »Was haben die mit mir gemacht?« Sie hob eine Hand und betastete ihr Gesicht. Wie sie es erwartet hatte, war ihr ganzer Kopf verbunden. Wieder überfiel sie panische Angst, diesmal nicht wegen der Vergangenheit - der Träume -, sondern wegen der Zukunft. »Meine Augen ...« »Ihre Augen sind nicht verletzt.« Warum sind sie dann verbunden? fragte sie sich verzweifelt. Warum belügt er mich? Aber er hatte die Stimme eines Menschen, der nie gelernt hatte zu lügen. In den Stunden - Tagen - der Finsternis, an die sie sich nur verschwommen erinnern konnte, hatten Männer
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sie in einen Lieferwagen gezerrt. Immer wieder hatte sie diese schrecklichen Alpträume, daß sie unaufhörlich getreten und geprügelt wurde, sie sah die silbrig glänzende Messerklinge, und sie empfand nichts anderes mehr als Angst. Sie hatte das Gefühl, daß sie nie wieder jemandem trauen könnte - weder ihrem Vater noch Tom, noch dem Schicksal, noch Gott. Aber sie vertraute dieser Stimme. Sie schlief wieder ein. Ausgerechnet er mußte es sein, dachte sie in dem Seidenkokon ihres Traums. Die Erinnerung hatte sie nie im wachen Zustand, denn es war keine bewußte Erinnerung. Sie erinnerte sich an den Saum eines Mantels, der über Gras schleifte, an das gedämpfte Geräusch von Leder, Metall und Stoff. Die Schmerzen waren zu der Zeit fast verschwunden, verschluckt von der barmherzigen Gefühllosigkeit, aber ihr war sehr kalt gewesen. Sie glaubte, sich erinnern zu können, daß er sie hochgehoben und wie ein Kind getragen hatte - einen Berg hinunter, durch ein Gebüsch, dessen feuchte Blätter ihre Beine streiften - irgendwohin, wo sie dampfende Wärme in ihrem wunden Gesicht gespürt hatte ... Er hatte sie eine lange Strecke getragen. Ihr Bewußtsein hing an einem seidenen Faden, immer wieder wurde sie ohnmächtig. Manchmal dachte sie, sie könnte sich an Treppen erinnern, an eine endlose Wendeltreppe, die unter dem Gewicht seiner Stiefel einen schwachen metallischen Ton von sich gab. Manchmal redete das Echo mit sich selbst, die entfernten Geräusche das Wassers, das dumpfe Geräusch von Maschinen und das pulsierende Rattern eines Zuges. Manchmal auch Stille, die nur durch das undeutliche Klopfen, das sie jetzt bis in die tiefsten Abgründe ihrer Träume begleitete und sie wie eine immer wieder aufblitzende Kette wieder ins Bewußtsein rief. Als sie zu sich kam, hörte sie das Rascheln von Kleidern, das steife Knarren eines Ledergürtels und diese fast lautlosen Schritte. Wer auch immer in ihrem Zimmer sein mochte, er bewegte sich mit einer fast abnormen Lautlosigkeit, aber ihre Blindheit - was auch immer sie hervorgerufen hatte - und ihre Angst schärften ihre Sinne, und sie drehte ihren Kopf schnell auf den zerwühlten Kissen herum, eine Bewegung, die ihr Schwindel verursachte und in ihrem geschwollenen Gesicht unerträgliche pulsierende Schmerzen hervorrief. »Wer ist da?« fragte sie und hoffte, daß nicht die Männer aus dem Lieferwagen zurückgekommen waren, hoffte, daß das, was ihr passiert war, nicht noch einmal geschehen würde. »Wer sind Sie?« Ein deutlich wahrnehmbares Zögern. Dann sagte er: »Vincent.« Es war die Stimme, die sie kannte, der sie vertraut hatte. Er kam näher und kniete sich, so vermutete sie, neben sie hin. Er fuhr fort: »Mein Vater und ich haben ihre Verletzungen behandelt. Ihre Rippen sind gebrochen. Sie brauchen Ruhe.« »Wo bin ich?« Sie griff nach ihm, wollte etwas Menschliches anfassen, um mehr zu erfassen als nur eine Stimme, aber er befand sich außerhalb ihrer Reichweite und nahm auch ihre Hand nicht. Schwach fiel sie wieder auf das Bett zurück und berührte einen Flicken aus Pelz, ein Dreieck aus Samt und ein viereckiges Stück Spitze. »Sie sind an einem Ort, an dem niemand Sie verletzen kann«, erklärte Vincent und aus seinem sanften und doch rauhen Ton konnte sie schließen, daß nur dieser Umstand und nicht irgend eine genaue Ortsbestimmung von entscheidener Wichtigkeit war, und zwar sowohl für ihn als auch für sie. Aber woher soll ich wissen, ob das stimmt? Und warum willst du mir nicht sagen ... »Sagen Sie mir wie Sie heißen.« Sie zögerte, so als wäre das etwas Wesentliches, was sie nicht jedem anvertrauen könnte. Dann sagte sie: »Catherine.« »Catherine«, wiederholte er leise. »Ruhen Sie sich aus. Wenn Sie etwas brauchen, ich bin immer in der Nähe. Haben sie keine Angst. Bitte, haben Sie keine Angst.« Es war mehr als nur die Schönheit seiner Stimme, dachte sie; es war seine besondere Art der Fürsorglichkeit, so als wäre es für ihn das Wichtigste auf der Welt, daß sie in Dunkelheit und Verzweiflung Gefangene, wenigstens das Gefühl haben konnte, keine Angst haben zu müssen. Aber das war ihr im Augenblick unmöglich - das würde für sie überhaupt immer unmöglich sein, dachte sie. Sie tastete noch einmal nach seiner Hand und hörte, wie er sich bewegte, als wolle er sie ergreifen, sich dann aber wieder zurückzog. Mit einer winzig kleine Stimme stammelte sie: »Ich will es versuchen.« Vincent blieb schweigend neben ihr sitzen und wartete, bis sie eingeschlafen war. Das Zimmer - sein Zimmer - war von einer Unzahl von Kerzen erleuchtet, die in silbernen oder gläsernen Leuchtern steckten, von alten geflickten Tiffanylampen, von der roten Glut in einem niedrigen runden Kamin und von einem unheimlichen farbigen Licht, das sich nie veränderte. In dem goldenen Licht betrachtete er die Hände des schlafenden Mädchens: klein und quadratisch wie die eines Kindes, gepflegt, die Hände eines Menschens, der nie körperlich gearbeitet hat. Aber starke Hände die schnell zupacken konnten. Catherine Ein fremdes Wesen von einem anderen Stern. Sein Herz schmerzte vor Mitleid. Liebevoll deckte er sie zu, raffte den fleckigen Wollstoff seines Umhangs um sich und verließ das Zimmer.
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In den Tunneln war das unaufhörlich tropfende Geräusch des Wassers lauter und hallte in den niedrigen Ziegelgewölben und auf der rauhen nassen Oberfläche der Steine in unheimlicher Weise wider. Er war mit diesem Geräusch großgeworden, eine Art Herzschlag, der ihn sogar im Schlaf noch beruhigte. Während er, ohne sich ein einziges Mal umzusehen, die kurze Treppe aus verfärbten Ziegelsteinen in die Dunkelheit des Tunnels hinabstieg, dachte er an das Mädchen - an die dunkle Silhouette, die in der Düsternis das Parks gelegen hatte, an das blonde Haar, das ihr Gesicht verdeckt hatte, an den Geruch ihres Blutes, der sich mit dem schweren Duft des nassen Grases vermischt hatte. Er ging an einem in Fels gehauenen Raum vorbei, in dem Dampf aus an der Decke befestigten Rohren in die undurchdringliche Finsternis strömte, und durch eine andere Tür. Sein Vater war, wo er ihn vermutet hatte, in seinem eigenen Zimmer und las in einem Buch. Vaters Zimmer war zwei Stockwerke hoch, fast kreisrund und hatte eine Gewölbedecke. Es war voller Bücher, an einer Wand vom Boden bis zur Decke und zwischen allen ramponierten Möbelstücken aufgestapelt. Alte Enzyklopädien, vergilbte Schwarten aus den Dreißigern, Klassiker in Leder gebunden mit Goldschnitt, wie sie den reichen Leuten meterweise verkauft wurden, zerlesene alte Romane, das Leben der Heiligen, Hegel, Bücher aus einem Buchclub mit bunten Einbänden, die gekauft wurden, um sie hinterher wegzuwerfen, Shakespeare, Donne, Cervantes und Do-it-yourself-Paperbacks - die Ausbeute von tausend Bibliotheken. Vincent ging durch den kleinen Vorraum mit seinen narbigen Steinfiguren und zerbröckelnden Säulen die kleine Treppe mit dem eisernen Geländer zum Hauptraum hinunter. Am anderen Ende des Raums war in Höhe von ungefähr drei Metern ein Holzbalkon, den Vincent gemeinsam mit ein paar anderen Männern vor Jahren aus Abfallholz und aus den geschnitzten Eichenbalustraden einer abgerissenen Kirche gebaut hatte. An seiner Unterseite hingen ein halbes Dutzend Öllampen und ein paar primitive Kerzenleuchter, die den Raum in ein topasfarbenes Licht tauchten. Obwohl das meiste im Schatten lag, bemerkte Vincent im Vorbeigehen, daß nicht nur die Bücherregale auf dem Balkon bis zu der Stelle, an der die Decke sich wölbte, vollgepackt waren, sondern daß inzwischen auch der Balkon selbst mit Vaters neuesten Erwerbungen angefüllt war. Sie würden sich sehr bald etwas Neues einfallen lassen müssen. Es fiel Vincent aus anatomischen Gründen schwer zu lächeln, aber an seinem unterdrückten Seufzer und seinem Kopfschütteln erkannte man, daß ihn das amüsierte. Auf dem Balkon unter den Kerzen, die in einer alten Bronzelampe steckten, stand sein Vater mit gebeugtem Kopf und las in einem Buch. Er war ein kleiner, untersetzter Mann, sein Haar und sein kurz geschnittener Bart hatten die Farbe von rostigem Stahl und waren von grauen Strähnen durchzogen. Seine Augen, die sich hinter einer uralten Nickelbrille verbargen, waren graublau und wirkten klug und wach, als er sich jetzt umdrehte und seinen Sohn anblickte. »Ist sie bei Bewußtsein?« Es war kalt in Vaters Zimmer, so wie in den meisten Tunnels. Der alte Mann trug Handschuhe, an denen die Finger abgeschnitten waren, und er hatte graue aufgeschnittene Socken, die über Kreuz mit Lederriemen an seinen Handgelenken und Unterarmen befestigt waren, als Pulswärmer übergestülpt. Seine Kleidung war ähnlich wie die seines Sohnes aus weichem altem Leder und aus Flicken von alten Mänteln und Anzügen zusammengenäht, die abgetragen und durch ihr Alter und viele Wäschen verschossen waren; am Hals war ein Pullover zu erkennen, den er darunter trug. Vincent nickte. »Sie hat schreckliche Angst.« »Vincent, wie konntest du nur so etwas tun?« Der Vater stützte sich mühselig auf die Balustrade, sein langes Gewand rauschte, als er die Treppe hinunterhinkte - ausgetretene Granitstufen, die einmal zu einer Kanzel in einer Kirche geführt hatten -, und nahm seine Brille ab, um zu seinem hochgewachsenen Adoptivsohn aufzublicken. »Wie konntest du eine Fremde hierherbringen? Du hast gegen unsere wichtigste Regel verstoßen.« »Es gab keine andere Möglichkeit«, erklärte Vincent mit seiner tiefen geduldigen Stimme. Vater hatte Angst, und das zu Recht. Aber Vater hatte das Mädchen - Catherine - nicht so gesehen, wie er sie gesehen hatte, hilflos in einer der verlassensten Ecken des Parks. Vincent kannte den Park, er kannte den Rhythmus seiner Nächte; die Routen und das Tempo der seltenen Polizeistreifen, die Ebbe und Flut der Leute, die in den Stunden der Dunkelheit herumliefen. Er wußte, daß niemand sie gefunden hätte. Er vermutete, daß der Vater das auch wußte. Der alte Mann drehte sich um, betrachtete ihn, und in seinen Augen lag ein Zorn, der aus Mißtrauen und Sorge entstanden war. »Weißt du, was sie mit dir machen würden, wenn du da oben erwischt würdest?« fragte er. »Oder sie dich hier unten fänden? Sie würden dich töten ... oder dich einsperren, dann würdest du wünschen, du wärst tot.« Vincent wußte, daß er recht hatte. Von weiten hörte man ein metallisches Klopfen, deutlicher als in Vincents Raum; dann eine Pause, dann heller, weiter entfernt, die Antwort. Vater schüttelte den Kopf. »Wie konntest du das nur tun?« wiederholte er. »Ich weiß das alles selbst«, antwortete Vincent leise. »Aber es gab keine andere Möglichkeit. Ich hätte sie
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doch nicht einfach liegenlassen können.« Vaters Lippen wurden unter dem ergrauten Schnurrbart schmal. Wortlos ergriff er seinen Stock, der an seinem gewohnten Platz neben dem verschlissenen Polstersessel stand, und hinkte damit zu der Stelle, an der seine alte Arzttasche auf einem grotesken viktorianischen Büffet lag, das eine der wenigen waagerechten Flächen darstellte, die nicht mit vermoderten Wälzern bedeckt war. Selbst sein Hinken wirkte kraftvoll und präzise. »Sieh zu, daß sie die nimmt, damit sie keine Infektion bekommt.« Aus der Tiefe seiner Tasche zog er eine kleine Plastikschachtel hervor, die ein halbes Dutzend Tetracyelin-Kapseln enthielt. »Ich werde darauf achten.« »Ich hatte sie für einen Notfall aufgehoben«, fügte er in vorwurfsvollen Ton hinzu. »Du weißt, wie schwer die zu bekommen waren.« »Vater, versuch doch, mich zu verstehen«, bat Vincent. »Das war ein Notfall. Sie wäre sonst gestorben.« Der alte Mann sah zur Seite, die Angst, mit der er leben mußte, lag im Widerstreit mit seinem natürlichen Mitgefühl, mit seinem Zorn auf eine Welt, die dem Mädchen, das er gestern zusammengeflickt hatte, so etwas hatte antun können. »Gut«, sagte er ruhig. »Wir werden ihr helfen, bis sie wieder zu Kräften gekommen ist.« Er wandte sich wieder Vincent zu. »Aber sobald sie wieder auf den Beinen ist, mußt du sie hier fortschaffen. Und Vincent ...«, fügte er hinzu. »Sag ihr nichts.« »Nein«, versprach sein Sohn. »Mach dir keine Sorgen. Vater. Es wird nicht lange dauern. Es geht ihr schon besser.« Vater seufzte. »Das will ich hoffen.« Er stand einen Augenblick da und betrachtete Vincents Gesicht. »Du hast die Seele eines Arztes«, sagte er fast verwundert und lachte dann in sich hinein über die Ironie der Situation. »Als ich Medizin studiert habe, ließ man keine Minoritäten zu - nicht einmal Frauen. Ich frage mich, was sie mit dir gemacht hätten.« Ihn schauderte, als hätte er eine deutliche Vision. »Denken wir lieber erst gar nicht daran.« Dann nahm er Vincents Kopf in seine Hände und küßte ihn sanft auf die Stirn. »Vincent, sagen Sie mir, wo sind wir?« bat sie. Obwohl sie immer noch schrecklich schwach war, hatte sie sich doch nach dem Aufwachen besser gefühlt. Ihre Benommenheit war Mattigkeit gewichen. Sie hatte das Gefühl, als ob ihre Arme und Beine bleischwer wären, und es bereitete ihr große Mühe, sie zu bewegen. Außer Vincent waren noch andere Leute bei ihr gewesen, andere Stimmen, die sie trotz ihrer verbundenen Augen identifizieren konnte; eine knappe, irgendwie britisch klingende Stimme und geschickte Hände, die die Verletzungen an ihrer Seite versorgt hatten, eine Frau, die das weiche handgewebte Nachthemd gewechselt hatte, das sie trug, und ihr geholfen hatte, das Badezimmer zu finden, das neben ihrem Zimmer lag. Aber Vincent war bei ihr gewesen, als sie dieses Mal wach geworden war, Vincent, der mit ihr gesprochen hatte, mit seiner tiefen, sanften Stimme, der ihr die Suppe gebracht und sie gefüttert hatte, als ihre eigenen Hände vor Schwäche und Erschöpfung zu zitterig gewesen waren, um den Löffel zu halten. Er gab keine Antwort. In der Stille hörte sie das schnelle Rattern eines Zuges, der irgendwo über ihnen zu fahren schien. Wie ein murmelndes Echo dieses Geräusches war dann wieder das unaufhörliche metallische Klopfen zu hören. »Da muß irgendwo eine Hochbahn sein«, mutmaßte sie - sie ließ sich nicht ablenken. »Sind wir in Brooklyn? In Queens?« Sie bezweifelte, daß man (wer war »man«) sie in Manhattan versteckt halten könnte, ohne entdeckt zu werden. Oder doch? Wie lange war sie schon hier? Warum suchte man nicht nach ihr? Vincent klang besorgt. »Nein - weder in Brooklyn noch in Queens.« »Bin ich den überhaupt noch in New York?« Sie war sich im klaren, daß sie eigentlich viel mehr Angst hätte haben müssen. Sie wußte nicht einmal, ob sie blind war, sie war in der Gewalt von Leuten, die sie nicht kannte, an einem Ort, den sie nicht kannte, und viel zu schwach um auch nur daran denken zu können zu fliehen ... Trotzdem empfand sie eigenartigerweise eher Neugier als Angst. Vincent würde dafür sorgen, daß ihr nichts zustößt. Soviel wußte sie. »Vincent, bitte«, murmelte sie durch ihre tauben, geschwollenen Lippe. »Sagen sie mir, wo wir sind.« Als Vincent unbehaglich hin und her rutschte, machte der Löffel auf dem Teller, den er in der Hand hielt, ein gedämpftes Geräusch. Dann bekannte er: »Das muß ein Geheimnis bleiben.« »Warum?« Wieder eine lange Pause, während er sich überlegte, was er sagen könnte, ohne sie zu belügen und etwas zu verraten. Seine Stimme klang bei manchen Lauten etwas belegt, es war kein Lispeln, und er sprach auch nicht undeutlich, aber doch irgendwie merkwürdig. Das änderte aber nichts an der Schönheit ihres Klangs oder an der Qualität ihrer schier unerschöpflichen Kraft. Endlich antwortete er: »Weil diese Ort vielen guten Menschen Sicherheit gewährt.« Als sie zum erstenmal in der Dunkelheit voller Angst und zu schwach, um eine Hand zu heben, aufgewacht war, hatte sie daran gedacht zu fliehen; sie hatte auf jedes Geräusch geachtet, hatte versucht, Schlüsse zu ziehen,
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irgend etwas zu finden, das ihr helfen könnte. Aber abgesehen von dem durchdringenden Geruch nach Feuchtigkeit und Rauch, Kerzenwachs und etwas, was wohl Petroleum sein müßte - und abgesehen von dem ständigen, metallischen Klopfen, dem Ratten, das weit von hier entfernt zu sein schien, und dem gelegentlichen an- und abschwellenden Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges, hatte sie nichts gehört: kein Telefon, keinen Verkehrslärm, kein Radio, kein Fernsehen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals ohne diese Geräuschkulisse gelebt zu haben. Aber auch dieses Fremdartige machte ihr inzwischen nicht mehr soviel Angst. Gute Menschen, hatte er gesagt, und sie hatte ihm geglaubt. »Vincent, ich werde ihr Geheimnis nicht verraten.« In der Stille konnte sie förmlich spüren, wie er mit sich kämpfte. »Und dieses Klopfen«, fügte sie leise hinzu, und es war ihr nicht wohl dabei. »Das hört ja nie auf.« »Das sind Leute, die miteinander reden«, erwiderte Vincent. »Sie klopfen auf die Hauptrohre.« »Sie meinen, sie übermitteln Nachrichten?« Sie hatte gehört, daß Leute, die im Gefängnis waren, sich auf diese Weise verständigten - als Kind hatte sie das gemeinsam mit einem Vetter, der zu Besuch war, ausprobiert, was zur Folge hatte, daß Installateure das Haus wochenlang untersuchten. Er gab ein zustimmendes Geräusch von sich. »Vincent, bitte ... sagen Sie es mir.« Sie hörte, wie er seufzte. »Wir befinden uns unter der Stadt«, erklärte er. »Unter der Untergrundbahn. Es gibt hier eine ganze Welt von Tunnels und Räumen, von deren Existenz die meisten Leute nicht einmal eine Ahnung haben. Es gibt keine Pläne und Karten von hier. Es ist ein vergessener Ort. Aber es ist warm hier, wir sind hier sicher, und wir haben soviel Platz, wie wir brauchen.« Verschwommenen Erinnerungen daran, wie sie durch die Dunkelheit getragen worden war, wurden in ihrem Gedächtnis geweckt, das Echo der Wassertropfen, der feuchte Atem des Dampfes. Die Stille. »Und hier leben wir nun«, erzählte er ruhig weiter, »wir versuchen, uns das Leben so angenehm wie möglich zu machen, und wir kümmern uns umeinander. Das hier unten ist unsere Stadt.« Eine Stadt ohne Licht, dachte sie. Nein, sie hatte gehört, daß sie sich bewegten, Vincents Vater, und die Frau, als könnten sie sehen - sie hatte Rauch, Kerzen und Brennstoff gerochen ... eine Stadt ohne Störungen, Eine Stadt ohne Elektrizität, ohne eine ordentliche medizinische Versorgung - das war etwas, was ihr Sorgen machte, trotz der Antibiotika, die Vincent ihr gebracht hatte. Eine Stadt, in der es Männer wie die, die sie in den schwarzen Lieferwagen geworfen hatten, nicht gab. Eine Stadt von Ausgestoßenen? »Und Sie?« fragte sie. »Was machen Sie hier unten? Warum sind Sie hier?« Ein noch längeres Schweigen. Schließlich sagte er langsam, gequält: »Ich bin als Säugling ... ausgesetzt worden, man hat mich meinem Schicksal überlassen. Irgend jemand hat mich gefunden, und zu dem Mann gebracht, der dann mein Vater geworden ist.« Sie erinnerte sich an die entschlossenen britische Stimme, die sie trotz ihrer Benommenheit und ihrer Schmerzen gehört hatte, an die geschickten Hände, die sie verbunden hatten. Sie erinnerte sich, daß Vincent ihn »Vater« genannt hatte. Der Schmerz in seiner Stimme wich Zuneigung, als Vincent fortfuhr: »Er hat mich großgezogen ... mir alles beigebracht. Er hat mich Vincent getauft.« Dann hörte sie ein leises Geräusch, wie ein gedämpftes Lachen. »Dort hat man mich gefunden, in der Nähe des St.-Vincent-Hospitals. Hier«, sagte er dann leise, »sonst wird sie kalt.« Die Löffelspitze berührte ihre Lippen. Sie fragte sich, was wohl der Grund für das Vertrauen war, das sie zu ihm hatte, der Grund für diese Unschuld, diese Ehrlichkeit, die sich in der Kraft seiner samtenen Stimme ausdrückte. Hing es damit zusammen, daß er in dieser anderen Welt großgeworden war - falls es tatsächlich eine andere Welt war, wie er behauptete? Während sie die heiße Brühe schlürfte, sagte sie sich, daß sie dafür nur sein Wort hatte. Es gab absolut keinen Beweis dafür, daß nicht alles was er sagte, gelogen war. Aber warum sollte er lügen? Warum sollten drei Männer eine Frau, die sie gar nicht kannten, in einen Lieferwagen werfen, sie zusammenschlagen wie geistesgestörte Kinder, die ein Möbelstück zertrümmern, und sie dann wieder hinauswerfen, damit sie starb? Der Schmerz kam wieder zurück, nahm ihr fast den Atem - diesmal war es nicht der Schmerz ihrer gebrochenen Rippen, ihres geschwollenen, wunden Gesichts, diesmal war es ein innerer Schmerz: ein Schmerz, als ob alles Vertrauen, alle Geborgenheit, die sie jemals empfunden hatte, wie Sand, der von der Brandung ausgewaschen worden war, zwischen ihren Fingern zerrinnen würde. Sie flüsterte verzweifelt: »Ich weiß nicht, was ich glauben soll ...« Wieder berührte der Löffel ihre Lippen: Vincents Stimme war voller Mitgefühl. »Glauben Sie mir«, bat er
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leise, als könne er verstehen wie wichtig es für sie war, etwas glauben zu können. »Es ist alles wahr.« Sie hob ihre Hand, und zum erstenmal berührte ihre Hand die seine. Sie war riesig, kräftig und behaart und mit zentimeterlangen Klauen bewaffnet, es war keine menschliche Hand.
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Suche nach vermisster Rechtsanwaltstochter geht weiter Die Kriminalpolizei erklärt, daß die inzwischen sieben Tage dauernde Suche nach Catherine Chandler, die seit dem 12. April vermißt wird, weitergeht. Miß Chandler, die modebewußte, beliebte East-Side-Anwältin und Tochter des Seniors der Anwaltssozietät Chandler & Prasker wurde zum letztenmal gesehen, als sie vorigen Montagabend um halb elf eine Party im Barron Hotel im Zentrum von Manhattan verließ. Captain Hermann vom New Yorker Police Department, der die Untersuchung leitet, berichtet, daß man die Handtasche des Mädchens am nächsten Morgen neben einem Pfad im Central Park Reservoir gefunden hätte. Sie enthielt kein Bargeld und war blutverschmiert. Weder Mr. Chandler noch Catherine Chandlers Freund, der angesehene Immobilienmakler Tom Gunther, waren für einen Kommentar erreichbar. Dazu ein Foto. »Sie hat erzählt, daß sie auf einer Party gewesen wäre«, bemerkte Vincent leise, und Vaters blaue Augen warfen ihm einen schnellen Blick zu, während er die gefaltete Zeitung in der Hand behielt - ein verärgerter Blick, der fragen wollte, ob das alles wäre, was Vincent dazu zu sagen hätte. »Diese Anwälte, Bankiers und Börsenmakler von der East Side machen ein großes Theater, wenn eine ihrer Töchter verschwindet«, bemerkte der alte Mann mißmutig. »Nicht daß sie sonst etwas anderes tun. Ich kann ein Lied davon singen«, fügte er hinzu, und eine Erinnerung an alte Zeiten ließ die Stimme verbittert klingen. »Jeder Tag, den sie hier verbringt, vergrößert die Gefahr für uns.« »Wie könnte es anders sein?« fragte Vincent und beugte den Kopf ein wenig, um den untersetzten Mann anzusehen, der vor ihm im Licht der Kerzen an dem achteckigen Mahagonischreibtisch des Arbeitszimmers stand. »Wenn sie deine Tochter wäre, würdest du auch in der ganzen Stadt das Oberste zu unterst kehren, um sie zu finden.« Vater knurrte. »Schön und gut, es sei denn, man lebt selbst unter der Stadt.« Er nahm seine Lesebrille ab, legte sie auf den Schreibtisch und hinkte um ihn herum zu seinem Stuhl. »Sie muß weg, Vincent.« »In ein paar Tagen wird es ihr wieder so gut gehen, daß sie nach Hause gehen kann«, beruhigte ihn sein Sohn. Vater antwortete nur mit einem unverbindlichen Knurren, und Vincent ließ ihn an seinem Schreibtisch sitzen und ging, während Vater immer noch die Zeitung mit besorgten Blicken betrachtete und dabei Verwünschungen ausstieß. Waren es erst sieben Tage? Ihre Kraft kehrte nur langsam zurück, obwohl sie inzwischen schon hin und wieder einmal aufstehen konnte. Sie war schlimm zusammengeschlagen worden. Vincent konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie jemand einer Frau so etwas antun konnte - oder, besser gesagt, überhaupt einem Menschen -, obwohl er nur zu genau wußte, daß so etwas immer wieder passierte. Die Bücher, die er gelesen hatte, die Zeitungen, die von den Tunnelkindern aus jeder Mülltonne der Stadt gesammelt wurden und die Vater regelmäßig von oben bekam, waren voll von solchen Dingen. Und die Leute, mit denen er in den Tunneln gesprochen hatte, Leute, die einmal »oben« gelebt hatten, sprachen davon, nicht gerade gelassen, aber doch in gewisser Weise philosophisch. »So etwas passiert dauernd, Vincent«, hatte Winslow gesagt und sich von dem größeren seiner zwei Ambosse, auf dem ein Stück Stahl lag - Teil der Türverkleidung eines 72er Buicks - zu ihm umgedreht. Winslow war ein großer Neger mit einem Bart und einer Glatze. Er war, wie Vincent, in den Tunneln großgeworden, aber er hatte sieben oder acht Jahre »oben« zugebracht. In seiner Werkstatt war es heiß, deshalb war sein Oberkörper nackt, und seine Muskeln glänzten vor Schweiß, als er die Verkleidung mit regelmäßigen Schlägen platthämmerte. In einer Ecke des in den Felsen gehauenen Raums lag auf dem Boden bereits ein Haufen solcher geglätteten Eisen- und Stahlteile. Sie wurden bei der Reparatur der Rohrleitungen, für Türen und bei der Herstellung der Fallen benützt. Außerdem für die falschen Eingänge und Rollgitter, die die inneren Tunnel vor einer zufälligen Entdeckung von außen schützten. In einer anderen Ecke befanden sich alte Autoteile, Töpfe und Pfannen, deren Böden zu sehr verrostet waren, als
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daß man sie noch hätte benützen können, und ein paar alte verbeulte Ölfässer, die halb voll waren mit leeren Bierbüchsen und Konservendosen. Alte Kaffeebüchsen und Mayonnaisegläser mit Nägeln, Schrauben, Nieten und Stiften verschiedener Größe standen ordentlich sortiert in einem Regal über der Werkbank; die rötliche Glut einer kleinen Esse verstärkte das gelbliche Licht von vier oder fünf Petroleumlampen, die auf den Bänken standen oder an den Wänden hingen. Vincent hatte die Arme unter seinem schweren Umhang verschränkt, sich mit einer seiner breiten Schultern an die Tür gelehnt und gewartet, bis das Dröhnen das Hammers auf dem Stahl aufhörte und der Schmied eine Pause machen mußte, um Luft zu holen. »Ich weiß, daß so etwas immer wieder passiert«, hatte er gesagt. »Aber warum passiert es immer wieder?« Winslow zuckte mit den Achseln, seine behandschuhten Hände verlagerten ihren Griff an den Werkzeugen. »Drogen, eine Menge Drogen«, erwiderte er, und ein uralter Zorn blitzte in seinen braunen Augen auf. Vincent schüttelte den Kopf. Natürlich wußte er auch, daß es Drogen gab, aber er hatte nie verstehen können, warum. »Oder Geld. Wegen ein paar Dollar spielen manche Leute verrückt.« »Das ist alles so sinnlos.« Winslows Zähne blitzten weiß in dem roten Schein der Esse. »Glaubst du, ich würde hier unten leben, wenn das sinnvoll wäre? Wenn du jemals den Sinn dahinter finden solltest«, fügte er hinzu und gestikulierte dabei mit seinem Hammer, während er sich wieder an die Arbeit machte, »vergiß nicht, es jemandem zu sagen - die da oben werden froh sein, wenn sie es endlich erfahren.« Mary, die Hebamme der Tunnel, hatte ihm schon etwas mehr helfen können. Sie war eine kleine, untersetzte Frau von ungefähr vierzig Jahren, deren blondes Haar schon grau wurde. Sie kümmerte sich um die Tunnelkinder und hatte sich bei der Pflege von Catherine mit Vincent abgewechselt. Gleichzeitig hatte sie ihm geholfen, als er seine Pflicht als Lehrer der Kinder nicht wahrnehmen konnte. Vincent hatte Catherine vorgelesen - Dickens Große Erwartungen, eins seiner Lieblingsbücher -, und sie war beim Klang seiner Stimme eingeschlafen. Er hatte danach noch lange bei ihr gesessen und das verbundene Gesicht auf dem gehäkelten Kissenbezug betrachtet, bis Mary an der Treppe, die zu dem Vorraum führte, erschien, und er nach oben ging, um mit ihr zu reden und ihr die gleiche Frage zu stellen, die er Winslow gestellt hatte. »Es ist eine Verrücktheit«, hatte sie langsam erklärt, während ihr Gesicht einen sorgenvollen Ausdruck bekam, und ihre vom Waschbrett abgearbeiteten Hände hatten langsam die rotbraune Strickmanschette ihrer Ärmel geglättet. »Weißt du, das ist sogar bei Ratten im Labor so, wenn man zu viele in eine Käfig sperrt - selbst wenn genug Futter für alle vorhanden ist -, dann fangen sie an, sich gegenseitig umzubringen und aufzufressen ... vor lauter Wut, glaube ich.« Sie hatte ihn mit traurigen Augen angesehen. Sie war dabeigewesen, als Vincent Catherine hergebracht hatte. »Es gibt da oben so viele Menschen, die nicht wissen, wo sie hingehen sollen.« Während er jetzt durch den kleinen Vorraum mit den Ziegelwänden ging, in dem das Gespräch stattgefunden hatte, mußte er wieder daran denken. Dann blieb er auf dem Absatz der Treppe, die zu seinem Zimmer führte, stehen. Catherine saß auf der Bettkante, hatte ihre Hände gefaltet und hielt den verbundenen Kopf gebeugt. In dem verwaschenen und geflickten Nachthemd kam sie ihm klein vor; klein und sehr einsam. Aber so wie sie dort saß, wirkte sie nicht mehr so ängstlich oder wie jemand, der sich verkriechen wollte. Ohne ein Wort zu sagen, hielt er sich im Schatten, so wie es ihm sein angeborener Instinkt vorschrieb, und studierte die Umrisse ihrer schmalen, geraden Schultern, ihren schlanken Rücken. Kraftvolle Konturen, auch wenn sie jetzt vor Verzweiflung gebeugt dort saß. Genauso war auch ihre Stimme, sie war sanft, tief und ihm so vertraut, als hätte er sie schon sein ganzes Leben lang gehört. Nicht ein einziges Mal hatte diese Stimme in dieser Woche weinerlich nörgelnd oder schwach geklungen. Sie hatte etwas an sich, das ihn an edelstes Gold erinnerte, an seine Wärme und seine elementare Reinheit, wenn man überhaupt etwas mit einer menschlichen Seele vergleichen konnte - wenn es überhaupt etwas gab, mit dem man sie vergleichen konnte. Sie hob ihren Kopf, der Verband über ihren Augen war dunkel und feucht; als sie sprach, klang ihre Stimme verbittert. »Ich weiß, daß Sie da sind, Sie können ruhig hereinkommen.« Sie sprach in dem Augenblick so, als würde sie ihn hassen, obwohl er spürte, daß ihr Haß anderen Dingen galt: Er richtete sich gegen die Leute, die ihr diese Schmerzen zugefügt und sie so hilflos gemacht hatten, die schuld daran waren, daß sie ihr Selbstvertrauen verloren hatte. Sanft, als hätte er die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht gehört, sagte er: »Ich werde Ihnen etwas vorlesen«, und sie wandte ihr Gesicht ab, als könne sie durch den Verband sehen, wo er stand. »Das wird nichts nützen.« »Vielleicht doch«, beharrte Vincent. »Wir können Große Erwartungen zu Ende lesen. Können Sie sich noch erinnern, wie es ausgeht?« Sie schüttelte den Kopf - sie wollte nicht, daß er ihren Schmerz linderte, so wie er ihn in den langen Tagen
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ihrer Rekonvaleszenz gelindert hatte. »Vincent, ich habe Angst. Ich mache mir Sorgen.« Er wollte zu ihr gehen, sie in den Arm nehmen und trösten, aber nachdem sie seine Hand ein einziges Mal berührt und ihre Finger erschreckt zurückgezogen hatte, war er ihr nie wieder so nah gekommen, daß ein Körperkontakt möglich war, nicht einmal zufällig. Ihr Schock hatte ihm genügt. Aber irgend jemand müßte es tun. Sie brauchte mehr als Worte, und er kannte auch keines, mit dem man eine Verletzung hätte heilen können, die so tief war wie die, die ihr zugefügt worden war. Alles, was er sagen konnte, war: »Ich weiß es. Ich kann es spüren ... Ihre Kräfte kehren zurück.« Er fühlte sich sehr hilflos, so hilflos wie noch nie zuvor. »Ich werde Ihnen Tee bringen«, bot er ihr an. »Den Kräutertee, den Sie so gern getrunken haben.« Ihre Stimme klang klein und gepreßt. »Gut.« Er verließ den Raum hastiger, als er es geplant hatte. Um diese Tageszeit - in der Welt oben war es früher Nachmittag - waren die Kinder gewöhnlich über das ganze Labyrinth verstreut, das sich durch das felsige Fundament von Manhattan zog. Sie nützten die paar Stunden zwischen der Schule und ihren abendlichen Pflichten aus, um auf Entdeckungsreisen zu gehen. Aber Vincent wußte genau, wo die Stellen waren, an denen sie spielten - früher hatte er selbst als Kind dort gespielt, und heute patrouillierte er routinemäßig in der Gegend, weil er alle Gefahren der Unterwelt kannte. Es dauerte nicht lange, da hatte er zwei der Kinder im mittleren Alter entdeckt, die mit einem Rollbrett die Reach entlangfuhren, einen seit langer Zeit trockengelegten Kanal, der eine eben Fläche von fast siebzig Metern darstellte, eine Seltenheit hier unter der Erde. Die Kinder - Dustin, Miranda und Kipper - begrüßten ihn begeistert, da er nicht nur ihr Beschützer und der Lehrer war, bei dem sie Lesen lernten, sondern weil er wunderschöne Geschichten erzählen konnte und unheimlich gern Verstecken spielte. Randa, die sich von den dreien in den Tunneln am besten auskannte, hatte Mary versprochen, ihr vor dem Abendessen bei den Kräutern zu helfen. Dustin, der mit sieben nach Vincents Meinung eigentlich ein bißchen zu jung war, um eine so lange Expedition mitzumachen, hatte von Kipper die Erlaubnis bekommen, weil er nun einmal unbedingt mit wollte. »Nehmt diesen Tunnel drei Etagen tiefer«, wies Vincent sie an und deutete auf die linke Gabelung, die zur Hauptkreuzung der Reach führte. »Geht dann in den nächsten Tunnel nach oben bis zur ersten Leiter und klettert dort hinauf ...« »Und da ist dann Chinatown?« Kipper, der neun war, lebte seit drei Jahren in den Tunnels, seit dem Tag, an dem einer der ›Helfer‹ - ein kräftiger weißhaariger Mann, der in der Nähe des Times Squares einen Friseurladen hatte - den Jungen in einem Müllbehälter gefunden hatte, in dem er sich versteckt hatte. Er war überall an den Armen mit einer Zigarette verbrannt worden und hatte sich geweigert nach Hause zu gehen. »Es sei denn, ihr erwischt den falschen Tunnel«, sagte Vincent ganz ernst. »Wenn das passiert, könnt ihr womöglich in China landen.« Die Kinder brauchten gewöhnlich ein paar jahre, um das verhältnismäßig kleine Gebiet kennenzulernen, in dem die meisten Bewohner der Unterwelt ihr Zuhause hatten, und es gab sogar Erwachsene, die fünf oder zehn Jahre in den Tunnels lebten, bevor sie mehr als das eng begrenzte Gebiet kannten, in dem sie lebten, und wußten, wie man von dort zu einem bestimmten Punkt kommen konnte - zum nächsten Brunnen, zu den Leitern, die zu den Kellern der Helfer führten, zu den Räumen, in denen die Freunde lebten. Die meisten jungen Männer kannten die Umgebung der bewohnteren Gegend, weil sie die Eingänge kontrollieren mußten, aber die Eingänge selbst wurden oft gewechselt. Vincent war einer der wenigen, die ganz New York kannten. Jedes Dampfventil, jeden Kanaldeckel, jedes Zulaufrohr und jede stillgelegte Kanalisation. Er kannte die sekundären und tertiären Ausweichrouten und wußte, wie man von einem Abschnitt der tieferen Ebenen zur anderen kam, obwohl sie nicht immer durch Tunnel miteinander verbunden waren; er kannte jedes geheime Tor, jede unterirdische Quelle und die alte, versunkene Lagune. Vom bemalten Tunnel bis zum Raum der Winde hatte er sie immer wieder durchstreift und sich dabei weit von den üblichen Behausungen der Leute entfernt, die unten lebten in diesem Reich der Einsamkeit und der ewigen Nacht. Aber er kannte Kipper gut genug, um zu wissen, daß er mit einer so übersichtlichen Strecke nach Chinatown und zurück keine Probleme haben würde. Der Junge grinste ihn spitzbübisch an. »Okay - aber diesmal wird dich das etwas kosten.« Dann kletterte er schnell die paar Eisenstufen in den Kreuzungstunnel hinab und war in einem Wirbel von Leder, Patchwork und Lumpen verschwunden. Langsam blickte Catherine sich um. Nachdem sie eine Woche lang nichts gesehen hatte, nur das trübe Licht, das ihre Augenlider und der Verband durchgelassen hatten, schien ihr sogar das Kerzenlicht grell zu sein; die Luft auf ihrer Haut war fast schmerzhaft. Mit zitternden Fingern zog sie den letzten Verbandsstreifen weg. Obwohl Vincent ihr immer wieder versichert hatte, daß ihre Augen unversehrt wären, hatte sie bis zum letzten Augenblick Angst gehabt, daß etwas nicht stimmen könnte. Warum wären ihre Augen sonst verbunden
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gewesen? Aber es sah so aus, als ob sie ihm auch in diesem Punkt vertrauen könnte. Aber auch dieser Gedanke tat irgendwie weh, so wie die Luft auf der wunden, empfindlichen Haut ihres Gesichts. Sie hatte geglaubt, nie wieder einem Menschen trauen zu können. Vincent hatte gesagt, daß das sein Zimmer wäre. Jetzt blickte sie sich um, und sah es zum erstenmal, obwohl ihr kleine Details, die sie berührt hatte, allmählich vertraut geworden waren, vor allem da sie seit einigen Tagen hatte aufstehen und umhergehen können. Aber es sah doch anders aus, als sie es erwartet hatte. Trotzdem entsprach es Vincent irgendwie. Überall waren Kerzen, die Luft war von ihrem Licht und dem Rauch und dem Geruch nach Bienenwachs gesättigt. In dem goldgelben Licht sah sie das Bett, in dem sie gelegen hatte, die flauschigen Patchwork-Kissen, Leder und Pelz, die roten Strickdecken, das verschlissene und geflickte Leinen. Ein geschnitzter Sessel mit einem Ledersitzpolster; eine Figur aus Marmor mit einem wunderschönen archaischen Gesicht, die aus der Fassade eines vor langer Zeit abgerissenen Hauses gerettet worden war; ein Tisch, auf dem stapelweise Bücher lagen; ein Poster von Einstein, der einen Lutscher im Mund hat, von John Lennon, Amelia Earhart und Igor Strawinsky. Aus einem großen fächerartigen Fenster aus buntem Glas, apricot und blau, konnte man auf einen Platz blicken, der im gedämpften Schein von hundert Petroleumlampen lag. In einem runden Kamin, auf dessen Sims - das mit Sicherheit aus einem alten roten Sandsteinhaus stammte - standen verschiedene Spieluhren, ein Bronzemodell des Empire State Building, wie man es in Souvenirläden bekommt, und ein Stapel Paperbacks von Theodore Sturgeon. Der Raum war mit seinen Felswänden, seinen verblichenen Farben und den verschiedenen Materialien sehr gemütlich und machte einem sowohl sinnlichen als auch intellektuellen Eindruck; es war das Zimmer eines Mannes, der mit sich im reinen war. Hier war er großgeworden, erinnerte sie sich. Er war als Baby ausgesetzt worden, hatte er gesagt. Während sie sich in dem Zimmer umsah, vergaß sie für einen Augenblick ihre eigenen Ängste und ihr Gefühl, bedroht zu sein, sie dachte daran, was es wohl ein Gefühl sein mochte, ein kleines Kind zu sein und erkennen zu müssen, daß die Eltern nichts anderes mit ihm vorhatten, als es loszuwerden. Und trotzdem war Vincent der Mann geworden, der er war. Wenn sie daran dachte, ließ ihre Bitterkeit etwas nach, und einen Augenblick lang verschwand sogar das Gefühl der Bedrohung. Und dann kehrte die Angst zurück. Sie hatte sie von Anfang an begleitet, als sie sich Sorgen wegen ihrer Augen gemacht hatte. Sie war gewachsen, als Vincent ihr - behutsam, aber weniger vorsichtig als ihm selbst klargeworden war - von dem Leben hier unten erzählt hatte. Daß sein Vater trotz der schwierigen und häufig primitiven Bedingungen ein tüchtiger Arzt wäre; daß die Menschen, die unten lebten sich das, wovon sie lebten zusammensuchten mußten, daß sie von dem lebten, was in der Stadt, die im Überfluß lebte, weggeworfen wurde, daß sie dieser Stadt den Rücken gekehrt hätten und die Stadt ihrerseits nichts mehr von ihnen wissen wollte. Die Tatsache, daß in der Schachtel, die Vater Vincent gegeben hatte, nur noch so wenig Antibiotika waren, sprach für sich. Jedesmal wenn sie ihr verbundenes Gesicht mit den Händen berührt und die wunde, geschwollene Haut unter dem Verband gespürt hatte, wurde sie daran erinnert. Und dahinter, ganz tief unten in dem bodenlosen Abgrund ihrer Alpträume, hörte sie die flüsternde Stimme eines Mannes: Jedesmal wenn du in die Spiegel blickst, wirst du dich daran erinnern, und sie sah im Schein der Straßenlaterne die Klinge in der tätowierten Hand. Obwohl sie sich kaum traute, berührte sie ihr Gesicht mit den Händen. Es war schwierig, auf diese Weise etwas festzustellen. Das Fleisch war immer noch geschwollen und ungeheuer empfindlich, aber sie wußte, daß es sich nicht so anfühlen sollte. Sie stand auf und wankte. Sie hatte immer noch weiche Knie, und ihre Beine zitterten. Auf dem Boden lagen dicke Teppiche. Aubussons und Perser, die so verschlissen waren, daß sie kaum noch Farben hatten -, die sich weich unter ihren nackten Füßen anfühlten. Sie wankte zu dem Schreibtisch, zu der Frisierkommode, suchte mit wachsender Panik einen Spiegel. Sie hatte den Eindruck, daß auf dem Schreibtisch, auf dem Kaminsims und auf den Tischen alles mögliche lag, nur kein Spiegel. Der Gedanke, daß dahinter eine Absicht stecken könnte, kam ihr nur ganz kurz, dann flatterte er wieder fort wie ein ängstlicher Vogel. Je länger sie suchte, um so hektischer wurden ihre Bewegungen, um so verzweifelter wollte sie sich mit dem Schlimmsten konfrontieren ... sie wollte wissen, woran sie war. Sie wollte die Wahrheit wissen. Verdammt noch mal, ganz gleich was ... Zwischen dem Krimskrams, der auf dem Kaminsims lag, fand sie schließlich die flache Silberschale des Reflektors eines Autoscheinwerfers, außen verbeult, innen aber glatt poliert. Sie hantierte damit herum und versuchte im goldenen Licht der Tiffanylampen den richtigen Winkel zu finden. Der Atem stockte ihr, und halb war es ein Flüstern, halb ein Schrei. »O Gott!« Es war schlimmer, als sie befürchtet hatte.
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Viel schlimmer. Selbst wenn man berücksichtigte, daß der silberne Spiegel das Bild verzerrte, daß ihr Gesicht nach einer Woche immer noch geschwollen war, daß die Blutergüsse sich erst langsam verfärbten, daß ihre Haut faltig und blaß war, weil sie lange nicht mehr an der frischen Luft gewesen war daß ihr ungewaschenes Haar strähnig und platt an ihrem Kopf anlag ... Ihr Gesicht war von Nähten bedeckt, die Messerschnitte durchzogen es kreuz und quer mit schwarzen gezackten Linien, wie alptraumhaftes Graffiti. Beide Wangen waren durch Schnitte entstellt, die die Form eines schiefen Y hatten, ein Schnitt hatte ihre Oberlippe verstümmelt, ein weiterer lief über ihre Stirn und spaltete eine Augenbraue. Noch ein weiterer lief von ihrem linken Ohr bis zum Unterkiefer hinunter. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus, sie konnte nur wie versteinert und voller Entsetzen und Verzweifelung dieses Gesicht anstarren - das mußte das Gesicht einer anderen sein! -, blaß, aufgedunsen und grauenhaft mit seinen schwarzen Linien und den großen starrenden grünen Augen. »Catherine!« Das war Vincents Stimme, voller Mitgefühl und Sorge. Hinter sich sah sie in dem Zerrspiegel ein anders Gesicht und diesmal schrie sie. Es war das Gesicht eines Ungeheuers. Eine Mißgeburt, ein Monstrum stand hinter ihr, als sie sich umdrehte: über einsachtzig groß, mit einem massigen Körper, die flache Nase eines Tieres und die Schnauze mit den Fangzähnen wurden von einer honiggelben Mähne umrahmt. Voller Angst und Schrecken warf sie den Reflektor mit einem Aufschrei auf ihn. Seine scharfe Kante traf ihn an der Stirn und hinterließ eine blutige Spur. Er wich mit einem schmerzerfüllten Knurren zurück, und sie konnte seine Fänge aufblitzen sehen. Dann hob er seine Hand, diese haarige Pfote mit den Klauen, die sie vor ein paar Tagen berührt hatte - sie hatte sich inzwischen selbst eingeredet, daß sie sie nicht berührt hätte -, um sein Gesicht vor Scham und Verlegenheit zu bedecken. Dann drehte er sich abrupt um und verließ fluchtartig das Zimmer.
4 »Ich habe nie bedauert, so zu sein, wie ich bin«, sagte Vincent leise. »Bis jetzt.« Es tut mir leid, war schon gesagt worden. Er war zurückgekommen, ihr Weinen hatte ihn zurückgebracht erst sehr viel später wurde ihr klar, wieviel Mut ihn das nach ihrer ersten entsetzten Reaktion gekostet haben mußte, obwohl es doch eindeutig nicht sein Fehler gewesen war. Es war, als ob er wüßte, daß sie die Tränen, die sie weinte, während sie auf dem Bett lag und ihr Gesicht in den Kissen verbarg, nicht um sich selbst vergoß, daß es keine Tränen des Entsetzen und des Selbstmitleids, sondern Tränen der Scham waren, weil sie ihm das angetan hatte. Und er hatte das womöglich schon vorher gewußt. Er sprach mit ihr, als wäre der Vorfall schon vergessen, als wäre all das, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, davon unberührt geblieben - die Gespräche der letzten Woche; die Nächte, in denen sie schreiend aus ihren Alpträumen aufgewacht war, Nächte, in denen er sich leise wie eine riesige Katze hereingeschlichen hatte, um mit ihr zu reden, ihr vorzulesen und ihr die gleichen Geschichten zu erzählen, die er den Kindern erzählte; die Tage, an denen er ihr ihre eigenen Geschichten entlockt hatte von den Freunden, die sie im College gehabt hatte oder die sie auf ihren Reisen durch Italien und Frankreich kennengelernt hatte. Aber er blieb jetzt im Türeingang stehen, wo er sich im Schatten verbergen konnte, und hatte die Kapuze übergestreift, die zu dem Umhang gehörte, den er über seiner Kleidung trug - ein großes ärmelloses Cape aus Leder und Patchworklappen, das ihn vor der Kälte der Tunnel schützte, sein Gesicht war so nur zur Hälfte zu sehen. »Wie?« fragte sie und blickte zu der hochgewachsenen, kräftigen Gestalt hinüber, die mit Ausnahme der gefalteten Hände mit den langen rötlichen Haaren und den mächtigen Klauen, auf die das Licht fiel, in der Dunkelheit verborgen war. »Wie ist das passiert?« Nachdem der erste schreckliche Schock vorbei war, betrachtete sie ihn jetzt nicht mehr als eine Mißgeburt oder ein Monstrum, sondern als einen Freund, dem etwas Fürchterliches widerfahren war, etwas, das ihn weit mehr entstellt hatte als sie. Sein Kopf bewegte sich ein wenig unter der schützenden Kapuze. »Ich weiß es nicht.« Seine Stimme, die sie manchmal ihren Träumen hörte, die sie schon immer gekannt hatte und noch kennen würde, wenn sie neunzig Jahre alt war. »Ich habe verschiedene Ideen darüber, aber ich werde nie wirklich dahinterkommen.« Die riesigen Hände wollten eine Bewegung machen, aber er hielt sie sofort wieder still. Das Licht schien auf die spitzen gelblichen Klauen. »Ich wurde geboren ... und ich habe überlebt.«
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Er sagte das ganz einfach, als ginge es nur um die Tatsachen. So als wollte er sein Schicksal nur grob umreißen, ein Schicksal, das ihn für immer in die Tunnel verbannt hatte, weil er Angst vor dem haben mußte, was die Welt oben mit einem Wesen, das so war wie er, machen würde. Er lebte in dem Bewußtsein, immer schon ein Außenseiter gewesen zu sein und auch immer einer zu bleiben. Und wahrscheinlich war das tatsächlich das einzige, worauf es ankam. Er war das, was er war - das Mitgefühl, die unermüdliche Geduld und Sorge, die er ihr hatte zuteil werden lassen, die Zärtlichkeit und die Kraft. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er nicht gültig und hilfsbereit ein könnte. Oder - jetzt, nachdem sie ihn gesehen hatte -, daß er anders aussehen könnte. Denn er war nicht häßlich. Mehr als an alles andere erinnerte er sie an einen großen, goldbraunen Löwen, mit seiner Kraft und den fast geräuschlosen graziösen Bewegungen. Wie Aslan in den Romanen von C. S. Lewis, die sie als Kind so gerne gelesen hatte. Nur seine klaren saphirblauen Augen unter den schrägen topasfarbenen Braunen waren die Augen eines Mannes - abgesehen davon, daß sie nur wenige Männer kannte, deren Augen eine solche Unverdorbenheit und Ruhe ausstrahlten. Leise klangen die Rohre in ihrem unaufhörlichen Rhythmus, eine geflüsterte Frage, das Stackato der Antwort. Mit einem leichten Zögern, als hätte er immer noch Angst, sie zu erschrecken, trat Vincent einen Schritt nach vorn, und sie konnte erkennen, daß er unter seinem Umhang ein zusammengerolltes Kleiderbündel versteckt hielt. Er ließ es auf das Bett an ihrer Seite fallen, und sie erkannte den dicke Samtmantel, den sie auf Toms Party im Barron getragen hatte, und das elegante einfache schwarze Kleid, für das sie tagelang durch die Geschäfte gelaufen war, dazu die Schuhe mit den hohen Absätzen und den langen dunkelroten Schal. Die Blutflecken waren entfernt und das Kleid war mit sorgfältigen Stichen geflickt worden. Sie konnte es kaum über sich bringen, die Sachen anzuschauen, weil sie dadurch wieder an alles erinnert wurde. »Es ist Zeit für Sie, zurückzugehen.« Sie hatte nicht geglaubt, daß der Gedanke an ihre Rücckehr sie so erschrecken würde, daß sie eine solche Angst überfallen würde, die ihr Herz im Hals klopfen ließ. Es war, als hätte man sie mit einem Baseballschläger in die Magengrube geschlagen. Sie blickte ihn schweigend an und spürte, eine heiße Tränen in ihre Augen steigen; es war ihr, als spüre sie jeden Riß, jede Narbe und jeden Faden in ihrem zerstörten Gesicht. Sie hatte das Gefühl, daß der schwarze Lieferwagen überall, wohin sie auch gehen mochte, auf sie warten würde, daß sie bis zum Ende ihres Lebens in jedem Schatten eine tätowierte Hand und eine blitzende Messerklinge sehen würde. Lange saß sie schweigend da. Sie hätte sich am liebsten unter den Decken verkrochen, um für immer in diesem unterirdischen, von Kerzen erleuchteten Zimmer bleiben zu können. »Sagen Sie mir, daß es ein Alptraum ist«, flehte sie schließlich, und als er auf das hinunterblickte, was von ihrem Gesicht übriggeblieben war, wußte sie genau, was er sah. »Sagen Sie mir, daß es nicht geschehen ist - es kann einfach nicht sein.« »Es ist kein Alptraum«, erwiderte er. »Es ist passiert, und Sie leben.« Er kniete sich vor sie hin, und seine Augen blitzten aus dem Schatten der Kapuze. »Catherine, Sie haben überlebt. Und das, was Sie durchmachen mußten, wird Sie nur noch stärker machen und besser ...« Sie drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht soviel Kraft wie Sie.« Und damit drückte sie ihre tiefste Überzeugung aus. Der Gedanke, die Tunnel verlassen zu müssen, allein schon dieses Zimmer verlassen zu müssen und jemanden, selbst wenn es nur ihr Vater war, ihr entstelltes Gesicht zu zeigen, war qualvoll für sie, eine bittere, tief in die Seele reichende Demütigung, als wäre sie für irgend etwas bestraft worden, das sie getan hatte. Gebrandmarkt. Sie dachte, Ich glaube, ich hätte nicht einmal den Mut, mit einer Kapuze mitten in der Nacht durch den Central Park zu gehen, wie Vincent das tut. Kleinlaut und mit gepreßter Stimme sagte sie: »Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll.« »Sie haben die Kraft, Catherine«, sagte Vincent und blickte ihr fest in die Augen, als könne seine Stimme und seine Seele ihr Stärke übermitteln. »Sie haben die Kraft. Ich weiß, daß Sie sie haben.« Und er wußte es wirklich. Nach einer langen Pause streckte sie ihren Arm aus und zog ihm die Kapuze vom Kopf. Er zuckte zusammen, und sie konnte sehen, wie seine Blicke hin und her schossen, als suche er eine Möglichkeit zu fliehen, aber er blieb vor ihr knien. Im Kerzenlicht sah sie, wie hell seine Augen waren, wie Turmalin; sein kräftiges Haar fiel wie eine safrangelbe Kaskade über seine Schultern fast bis zu seine Hüften hinunter; der kurze Pelz auf seiner Nase und an seiner Schnauze war wie sandfarbener Samt, und die geraden Wimpern seiner tiefliegenden Augen hatten im Licht der Kerzen ingwerfarbene Spitzen. An dem Schnitt auf seiner Stirn, wo der Reflektor ihn getroffen hatte, hatte sich schon ein Schorf gebildet, der von seinen langen Haaren fast verdeckt wurde. Dann stand er auf. Sie streckte ihre Arme aus, und er nahm sie bei den Händen. »Kommen Sie«, sagte er freundlich. »Es ist Zeit.« Sie stiegen durch die Tunnel nach oben, durchquerten ein Labyrinth nach dem anderen, eine dunkle
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geheimnisvolle Welt. Seine Welt, dachte Catherine, während sie sich umsah, so wie das goldene Zimmer mit den Büchern, den Statuen und dem Einstein-Poster ... Warum habe ich vorher nicht gewußt, das so etwas existiert? Es gab Tunnel, die waren in die Felsen von Manhattan gehauen worden, quer durch den Gneis, Mergel und die Granitadern, in denen das Phosphor trübe in dem Wasser funkelte, das sich an den Seitenwänden angesammelt hatte; gewölbte Kanäle aus Zement oder Ziegelsteinen, die noch aus der Zeit Peter Stuyvesants stammen mußten; Abgründe, die sie auf Stegen überquerten, während das Echo ihrer Schritte in der Tiefe unter ihnen erstarb. An manchen Stellen standen Kerzen in Nischen, die in den Fels gehauen waren; an anderen Stellen, wo der Weg besonders gefährlich oder steil war, hatte man alte verbeulte Petroleumlampen oder Öllampen aufgestellt. »Wo bekommt ihr den Brennstoff her?« fragte sie und blickte in dem schwefelgelben Licht neugierig zu ihm auf. »Die Kerzen ... das müssen Tausende sein ...« »Es ist verhältnismäßig einfach, Kerzen zu machen« erklärte Vincent ruhig. »Und was den Brennstoff anbetrifft ... wir haben oben in der Welt Helfer. Die geben uns, was sie uns geben können, zum Beispiel den Tee, den ich für Sie gemacht habe. Aber sie haben gewöhnlich selbst nicht viel. Wir leben zum größten Teil von dem, was wir finden und sammeln. Es ist erstaunlich, was die Leute in Ihrer Welt alles wegwerfen.« Nachrichten hallten wie leise Musik durch das Bündel von Rohren, das an der Wand rechts neben ihnen entlanglief und dann einem nach oben führenden Schacht folgte. »Wäre es nicht leichter, die Elektrizität der städtischen Leitungen anzuzapfen?« Seine Augen lächelten. »Das sagt Mouse auch immer ...« »Mouse?« »Ein Freund. Ein Bastler ... Elektrizität fasziniert ihn. Am liebsten würde er auch ein Telefonnetz installieren. Aber selbst die kleinste Auffälligkeit würde schließlich Verdacht erregen, und selbst der winzigste Verdacht würde für unsere Welt den Untergang bedeuten. So viele von denen, die hier unten leben, wüßten nicht, wo sie sonst hingehen sollten.« Catherine dachte an die Strickdecke auf Vincents Bett, die offensichtlich aus aufgezogener und wieder neu verstrickter Wolle alter Kleidungsstücke bestand; an die zusammengenähten Decken, aus denen auch Vincents Umhang gemacht war. Als sie durch den belebteren Abschnitt der Tunnel gingen, konnte sie durch den aufgezogenen Vorhang einer Tür im Licht einiger Petroleumlampen und eines halben Dutzends dicker brauner Kerzen zwei Frauen an alten Tretnähmaschinen sehen. An einer anderen Stelle gingen sie an einem offensichtlich nur provisorisch angebrachten PVC-Rohr vorbei, das durch die Dampfrohre geleitet worden war, um das Wasser darin zu wärmen. Und ganz von weitem glaubte Catherine das asthmatische Geräusch eines Hilfsmotors zu hören, mit dem eine Pumpe betrieben wurde. Nicht weit von ihnen rumpelte eine Untergrundbahn vorbei und erinnerte daran, daß oben eine Stadt existierte. Aber abgesehen von den Lampen und Fackeln der bewohnten Abschnitte war es in den Tunnels stockdunkel. Vincent hielt sie bei der Hand und führte sie mit untrüglicher Sicherheit, denn er hatte nicht nur das Gesicht eines Löwen, sondern auch dessen Fähigkeit, im Dunkeln sehen zu können. Diese Hand, die ihr einmal solchen Schrecken eingejagt hatte, war jetzt nur noch die eines Freundes; stark genug, das spürte sie, um eins der Stahlrohre zerquetschen zu können, trotzdem war ihr Druck so leicht, daß sie an ihre Tanzstunde und an die älteren Jungen erinnert wurde, die unbefangen und selbstbewußt waren und wußten, wie man richtig Walzer tanzte. Seine Handflächen waren unbehaart, seine Berührung warm in der feuchtkalten Luft der Tunnel. Treppen und Leitern mit eisernen Sprossen, die so lange nicht benützt worden waren, daß sie Rost angesetzt hatten; das dumpfe Donnern der Züge; das unaufhörliche Klopfgeräusch in den Rohren, die an der Decke der Tunnel und an den Seitenwänden der Schächte entlangliefen. Sie kamen an einer Tür vorbei, durch die sie einen Blick auf einen riesigen Raum werfen konnte, ein riesiges Gewölbe, in dem Hunderte von Rohren zusammenliefen. Ein kleiner glatzköpfiger Mann klopfte mit einem Schraubenschlüssel auf diese Rohre und beugte im Schein einiger Kerzen, die in alten Night-Train-Flaschen steckten, seinen polierten Kopf, um das Stakkato der Antworten hören zu können. Als Vincent vorbeiging, blickte er auf und winkte zur Begrüßung mit dem Schraubenschlüssel. Drei in Lumpen und Leder gekleidete Kinder liefen vorbei und riefen fröhlich Vincents Namen. Für sie war er, genau wie jetzt auch für Catherine, kein Monstrum, sondern ein Freund, jemand, dem man vertraute und den man kannte. In dieser Welt war er sicher. Und sie auch, dachte sie plötzlich verblüfft. An der Tür zu Vincents Zimmer war kein Schloß gewesen, und die meisten dieser Räume hatten nur Vorhänge und keine Türen. Die niedrigen gewölbten Korridore, die immer im Dunkeln lagen, konnten ihr auch nicht die leiseste Angst einjagen. Keine Angst vor den Männern aus dem Lieferwagen, vor dem Mann mit dem Messer - keine Angst, gesehen zu werden. Genau wie Vincent hatte sie ihr entstelltes Gesicht nicht bedeckt, und es fiel ihr erst später ein, daß die neugierigen Blicke, die ihr die Kinder zugeworfen hatten, nur der Fremden galten und nicht ihrem entstellten Gesicht. Sie überquerten einen Abgrund, der von Hängebrücken überspannt wurde, die Gott weiß wer einmal gebaut
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hatte; sie kamen zu einem leise zischenden Dampftunnel, der von den Rohren, die an den Wänden entlangführten gewärmt wurde; wieder eine Leiter. Dann sprang Vincent im Halbdunkel des Tunnels einer offenbar stillgelegten Untergrundbahn leichtfüßig über eine mit Dampf gefüllte Spalte und hielt ihr seine Hand hin. »Sie schaffen es«, drängte seine tiefe Stimme aus dem Dunkel. Und sie brauchte seine Finger nur zu berühren, um zu springen. Und sie schaffte es tatsächlich. Dann eine Treppe, die aus durchlöcherten eisernen Stufen bestand, eine lange Wendeltreppe, die sich Stockwerk um Stockwerk aus der Unterwelt nach oben wand. In einem gewölbten Korridor spürte sie unter ihren Füßen stehendes Wasser, das leise plätscherte. Sie war inzwischen erschöpft, weil sie so lange gelegen hatte und nicht mehr gewohnt war, sich zu bewegen. Sein starker Arm in dem wattierten Ärmel vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit, der vertraute Tunnelgeruch nach Kerzenrauch und Erde strömte beruhigend aus seinem Umhang. Noch ein kurzer Aufstieg, dann eine winzige Tür, die aus einer Ziegelsteinmauer herausgehauen war. In dem versteckten dunklen Raum, der mit vermoderten Kartons vollgestopft war, roch es nach Schimmel und Mäusen. Am anderen Ende noch eine Tür, ein kleiner Flur, eiserne Krampen, die zu einer vergitterten Öffnung hinaufführten, durch die ein bläuliches Licht wie eine nebelige Säule hindurchschien. Vincent sagte einfach: »Dort gehen Sie hinaus.« »Wo sind wir?« »Unter den Keller ihres Apartmenthauses.« Sie mußte über den prosaischen Abschluß ihres Aufstiegs aus der Unterwelt lachen; als er sie nach ihrer Adresse gefragt hatte, hatte sie geglaubt, er hätte das aus reiner Neugier getan. Aber natürlich war Vincent, der sein ganzes Leben durch die Tunnel gestreift war, in der Lage die exakte Stelle von unten so zu finden, wie sie oben eine Adresse auf der Third Avenue finden würde. Es war still zwischen ihnen. Sie standen im Halbdunkel vor der Tür, die sie in ihre Welt zurückbringen würde, ihre Finger berührten sich - sie wußte, daß die Tür sich hinter ihr schließen würde, sobald sie gegangen war, um die geheime Welt der Tunnel wieder in der schützenden Dunkelheit zu verbergen. Ihr war klar, daß sie auf der anderen Seite in ihre Wohnung hinaufgehen müßte, sich den erstaunten Blicken und dem demütigen Mitleid des Fahrstuhlführers, des Hausmeisters oder wer sonst noch in der Eingangshalle war, stellen mußte. Sie würde ihren Vater anrufen müssen ... würde weiteren Blicken ausgesetzt sein, noch mehr Mitleid, Fragen der Polizei, Erklärungen über Erklärungen, sie müßte sich anhören, wie jeder den Atem anhielt und »O mein Gott« sagen würde, um dann wegzugucken. Aber in diesen letzten Minuten auf dieser Seite der Tür fühlte sie sich vollkommen geborgen. Geborgen bei Vincent Sie blickte ihm ins Gesicht, und im fahlen Schein der Lichtsäule, die durch das Gitter fiel, erkannte sie in seinen Augen nicht nur die Sorge um sie, sondern auch große Trauer und Schmerz. Ihr wurde klar, daß nur seine Fürsorge - seine Stimme, wenn sie nachts wach geworden war, seine selbstlose Freundlichkeit - sie so weit gebracht hatten, daß sie jetzt in der Lage war, durch diese Tür zu gehen und sich dem Schrecken zu stellen, der sie - das wußte sie - auf der anderen Seite erwarten würde. Er glaubte, daß sie stark genug war, das zu schaffen, und ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, vertraute sie einfach darauf, daß das, was er gesagt hatte, stimmte; sowohl das, als auch alles andere, ob sie es nun in ihrem erschöpften Herzen so empfand oder nicht. Er hatte ihr tatsächlich das Leben gerettet: körperlich im Park - das Ganze kam ihr inzwischen schon wie ein düsterer Alptraum vor, der mit der Zeit verblaßte. Und in einem tieferen Sinn hatte er ihre Lebensfähigkeit mobilisiert. Und jetzt würde sie ihn nie wiedersehen, diesen wunderschönen Löwen in dem geflickten Mantel, diesen starken und zärtlichen Freund. Ihre Finger umschlossen seine pfotenähnliche Hand. »Ihr Geheimnis ist bei mir sicher«, sagte sie und sah ihn an. »Ich würde Ihr Vertrauen nie enttäuschen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß.« Seine Stimme, die immer so ruhig klang, war kaum zu hören, als hätte er große Mühe, ein starkes Gefühl unter Kontrolle zu halten. »Ich wußte das von Anfang an, als Sie mir vertraut haben.« Zögernd ging sie einen Schritt auf ihn zu, streckte dann ihre Arme aus und schlang sie um ihn. Sie fühlte, wie bei der Berührung ein Zittern durch seinen Körper lief, wie er den Atem anhielt und dann in abgehackten Stößen ausatmete. Dann schlang er seine Arme um sie, drückte sie so an sich, daß sie unter dem abgetragenen Wollstoff und Leder seines Mantels die harten Muskeln seiner Brust spüren konnte und seine seidige Mähne sich mit ihrem Haar vermischte. »Was soll ich dir sagen?« flüsterte sie. In seinen Armen, den Kopf an seine breiten Schultern gepreßt, fühlte sie sich geborgen, und in diesem Augenblick wünschte sie sich nichts mehr als für immer dort bleiben zu können.
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Schritte hallten laut in dem Keller über ihnen. Sie standen da, wo das diffuse Licht durch die Tür fiel. Als Vincent reflexartig zurückwich und sich duckte, weil er das Licht und die Oberwelt scheute, glitt Catherine mit ihm in den Schatten zurück. Einen Augenblick lang stand sie da und erkannte den weichen Virgina-Dialekt des Hausmeisters, der mit einem seiner Assistenten sprach. Seltsam, daß das die erste Stimme war, die sie nach ihrer Rückkehr hören sollte ... Die Schritte verschwanden, die Stimmen verstummten. Sie drehte sich um ... Vincent war nicht mehr da. »Vincent!« sie ging ein paar Schritte in den dunklen Raum zurück, aber sie wußte, daß sie ihn nie finden würde - daß sie wahrscheinlich nicht einmal mehr die Öffnung finden würde, durch die sie gekommen war. »Vincent ...« Keine Antwort. Sie stand lange im Dunkeln und fühlte sich völlig allein gelassen. Irgendwo in dem Gebäude machten die Dampfrohre ein leises klopfendes Geräusch und erinnerten sie an den Herzschlag der unterirdischen Welt. Einen kurzen Augenblick lang dachte sie, daß sie lieber nackt durch die Vorhalle gehen würde als mit diesem Gesicht. Der Vergleich war treffend, dachte sie - treffender, als sie das jemals zuvor erkannt hatte. Sie hatte ihre Schönheit, ihre gepflegte modische Eleganz wie ein Kleidungsstück getragen, um die Person darunter zu schützen und zu verbergen. Und jetzt war die Schönheit nicht mehr da. Sie wußte, daß die nächten Tage schrecklicher werden würden, als sie sich das ausmalen konnte. Aber sie würde das überstehen. Schließlich waren es nur Tage. Sie zog den Mantel enger um ihren Körper, schob den dunkelroten Schal hoch und bedeckte damit ihren Kopf - um das zu verbergen, was die Männer in dem Lieferwagen von ihrem Gesicht übriggelassen hatten. Ihre hohen Absätze verursachten auf dem feuchten Beton nur ein leises Geräusch, als sie mit festen Schritten durch die Tür ging und in ihre eigene Welt zurückkehrte. Aus der Dunkelheit des Tunneleingangs beobachtete Vincent, wie sie über die niedrige Ziegelsteinschwelle trat, sich durch den kurzen Korridor immer weiter von ihm entfernte und dann in das weiße Licht hinaustrat, das von oben herunterschien. Dann schloß sich das Licht wie ein Vorhang um sie, und sie war verschwunden.
5 Der erste Anruf fiel ihr schwerer als irgend etwas, was sie vorher in ihrem Leben hatte tun müssen. »Jenny?« »Cathy?« »Ja ...« Das war alles, was sie sagen konnte. Die Stimme versagte ihr - Tränen, nie zuvor in ihrem Leben war sie so verwirrt gewesen, hatte sie eine so qualvolle Angst erlebt. Der entsetzte Blick des Fahrstuhlführers, der Hausmeister, der vor Schreck keinen Laut herausbrachte, all das hatte ihre Seele wie Peitschenhiebe getroffen. Sie war durch die Eingangshalle gegangen, mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren und dann durch ihren eigenen Korridor zum Apartment 21B gegangen. Sie wußte jetzt noch nicht, wie sie es geschafft hatte. Jenny war wie immer eine praktisch denkende Frau, das mußte sie auch sein, da sie tagtäglich mit Autoren umgehen mußte. »Wo bist du?« »Ich bin zu Hause ...«, flüsterte Catherine, die direkte Frage löste die Spannung in ihrer Kehle, die sie zu ersticken drohte. »Im meinem Apartment ... ich bin gerade zurückgekommen.« Mein Gott, was für eine Formulierung, dachte sie zerstreut, das hört sich an, als wäre ich gerade auf den Bahamas gewesen. »Geht es dir gut?« »Nein, nicht wirklich. Kannst du zu mir kommen, bitte ...?« »Ich bin in fünf Minuten bei dir. Soll ich irgend etwas mitbringen?« »Nein.« Sie konnte spüren, wie die Stimme ihrer Freundin stockte, und kämpfte gegen die Tränen und gegen das Bedürfnis an, irgendeine Erklärung oder Entschuldigung zu stammeln. »Komm bitte einfach nur her.« »Ich bin sofort da.« Catherine legte auf. Ihre Hand, die den hellrosa Hörer hielt, zitterte und war feucht von kaltem Schweiß. Cathy hatte das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Das mußte an dem langen Marsch durch die Tunnel liegen, sagte sie sich und versuchte tief durchzuatmen. Sie war körperlich erschöpft, schließlich war sie erst seit ein paar Tagen wieder auf den Beinen ... Das war der Grund für ihre Übelkeit, für die panisch Angst, den unwiderstehlichen Drang, zu weinen und nicht mehr damit aufhören zu können.
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Vincent ... Sei nicht albern, sagte sie sich. Vincent hätte sie unter keinen Umständen weiter als bis zu der verborgenen Tür des Tiefkellers begleiten können, er hätte sich niemals im hellen Tageslicht zeigen können. Sie mußte das allein durchstehen. Natürlich war sie stark genug. Er hatte es gesagt, und er kannte sie. Ein Bus fuhr am Central Park West vorbei, selbst noch im vierten Stock machte er einen Lärm wie ein Flugzeug; Taxis hupten, das Summen des Verkehrs erfüllte geräuschvoll die tiefblaue laue Luft. Nach der Stille der Tunnel war der Lärm schrecklich. Das Dröhnen und Summen traf sie fast wie ein Keulenschlag. Sie griff noch einmal zum Telefon, zog dann ihre Hand wieder zurück. Noch nicht ... Sie schaute auf die Uhr. Halb neun. Ihr wurde plötzlich klar, daß sie über eine Woche lang keine Uhr gesehen hatte und nie gewußt hatte, wie spät es war. Unter der Erde war es immer Nacht gewesen. Hinter den vergitterten Glastüren, die auf die Terasse führten, verwandelte sich das Zwielicht der Dämmerung entgültig in Dunkelheit. Hinter dem Central Park konnte sie die Lichter der Fifth Avenue erkennen, die wie Edelsteine in dem dunklen Fries der Zweige hingen. Seit über einer Woche hatte sie kein Telefon mehr benützt. Seit über einer Woche vermißt, mein Gott, Dad ... Aber sie konnte den Hörer nicht abnehmen. Sie preßte ihre Hände zusammen, um sie am Zittern zu hindern, legte sie auf ihren Mund, weil sie hoffte, die Tränen zurückhalten zu können. Aber ihre Finger berührten die Fäden an ihrer Lippe, und sie zog sie rasch wieder zurück. Ich darf jetzt nicht hysterisch werden, sagte sie sich verzweifelt. Denn wenn das passiert, kann ich nicht mehr aufhören. Ich darf nicht weinen, wenn ich Dad anrufe. Ich kann nicht ... Die Schuldgefühle, die sie überfielen, weil sie sich nicht sofort bei ihm gemeldet hatte, lösten bei ihr fast körperliche Übelkeit aus. Sie wußte, daß das ihr erster Impuls hätte sein müssen, ihr erster Anruf, aber sie hatte in der zunehmenden Dämmerung fast eine halbe Stunde vor dem Telefon gesessen, ohne Mut zu finden, sich seiner Reaktion zu stellen. Er würde fürsorglich sein, liebevoll, aber auch entsetzt und voller Schmerz über ihr Schicksal. Und dann hatte sie schließlich statt dessen Jenny angerufen. Von den Mädchen, die sie in Radcliff gekannt hatte, war Jenny Aronsen die einzige, mit der sie engen Kontakt gehalten hatte, so eng, wie es angesichts ihrer völlig verschiedenen Arten des gesellschaftlichen Lebens in den folgenden Jahren möglich gewesen war. Nancy Hoyt - inzwischen Nancy Tucker, die damals ihre beste Freundin gewesen war, war verheiratet und wohnte in Westport, Connecticut. Als sie an die Freundin dachte, wollte ihre Hand einen Augenblick lang wieder zum Telefonhörer greifen, aber sie zog sie erneut zurück. Nancy konnte ihr nicht helfen, und ein Anruf würde sie nur unnötig ängstigen und aufregen ... Außerdem bezweifelte Catherine, daß sie mehr als zwei Sätze sprechen könnte, ohne in Tränen auszubrechen. Sie mußte ihren Vater anrufen, das war klar. Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie nicht wählen konnte. Sie streckte den Arm aus, um die rötlich-braune Lampe auf dem Tisch neben sich anzumachen. Der schmale goldgelbe Lichtkegel ließ den Rest des eleganten kleinen Zimmers noch dunkler erscheinen. Catherine bekam plötzlich Angst, stand auf und ging zum Sekretär, um die Leselampe anzuknipsen. Die Tür des Schlafzimmers schien sie plötzlich wie ein schwarzes, unheimliches offenes Maul anzustarren. Mein Gott, dort hätte sich schon die ganze Zeit jemand verstecken können ... Als Jenny ankam, brannten in der Wohnung alle Lampen. Ihr Klopfen erschreckte Catherine zunächst fürchterlich, sie blieb einen Augenblick lang wie erstarrt auf dem Stuhl neben dem Telefon sitzen, auf den sie sich wieder hatte fallen lassen. Sie fragte sich, was, um des lieben Himmels willen, sie dazu veranlaßt hatte, das Licht einzuschalten. Eigentlich wünschte sie sich Dunkelheit, Schatten, in dem sie ihr Gesicht verbergen konnte, die schützende Dunkelheit eines Zufluchtsortes. Wie Vincent würde sie sich am liebsten für immer unter einer Kapuze verstecken. Aber es war ihr natürlich klar, daß Vincent sich nur aus Gründen der Sicherheit in der Dunkelheit und unter einer Kapuze verbarg, und nicht weil er sich wegen seines Äußeren schämte. »Cathy?« Sie konnte durch die Tür hindurch hören, daß Jenny besorgt war und Angst hatte. Catherine überlegte sich einen Augenblick lang, ob sie aufstehen und ihr durch die geschlossene Tür hindurch erklären sollte, was geschehen war. Sie würde es ihr schonend beibringen, dann würde sie sie nicht so anstarren, nicht so erschreckt die Luft anhalten, würde nicht ... sie nicht daran erinnern, wie widerwärtig sie aussah? Sie stand auf und öffnete wortlos die Tür. Jenny blieb eine Sekunde lang auf der Schwelle stehen, ihre braunen Augen waren vor Schreck geweitet; dann kam sie herein und nahm Catherine zur Begrüßung ungestüm in die Arme. Jenny bot ihr an, ihren Vater anzurufen. »Schau, wenn du dir zuviel Sorgen darüber machst, wie er es auffaßt, tu dir das doch nicht an«, sagte das dunkelhaarige Mädchen mit ihrer vernünftigen tiefen Stimme. Sie trug Jeans über einem lavendelfarbenen Trikot, weil sie gerade von der Gymnastikstunde nach Hause gekommen
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war, als Catherine sie angerufen hatte. Sie schaffte es immer noch, wie ein Mannequin auszusehen, Catherine, die selbst nur knappe einsachtundfünfzig groß war, hatte sie immer um ihre Körpergröße beneidet. Catherine schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde das selbst tun.« Sie wollte nicht sagen, daß sie es nicht zulassen konnte, daß ihr Vater auf den Gedanken käme, sie hätte ihn nicht zuerst angerufen. Ganz gleich, was Jenny dachte - schon seit der Collegezeit war sie Zeugin der liebevollen, aber in eigenartiger Weise schwierigen Beziehung zwischen ihr und ihrem Vater gewesen -, sie behielt es für sich, und Catherine dankte ihr stumm, während sie die Nummer wählte. Es fiel ihr jetzt nicht mehr so schwer, weil jemand bei ihr war. Während des Gesprächs ging Jenny in die moderne Küche in Honiggelb und Weiß und kochte Tee. »Daddy?« Ein erschrecktes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann, als hätte er erst Luft holen müssen, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus »Cathy! O mein Gott, wo warst du? Was ist passiert?« »Hör zu, Daddy -« »Liebling, geht es dir gut? Wo bist du? Ich komme und hole dich ab ...« »Daddy, ich bin zu Hause.« Wieder dies stupide Redensart. Sie schluckte. »Daddy, hör zu ...« »Die Polizei hat dich überall im Land gesucht!« »Daddy, bitte.« Die Verzweiflung in ihrer Stimme brachte ihn zum Schweigen. Sie versuchte, den nächsten Satz zu formulieren, es war eine Qual für sie. »Daddy, ich ... ich bin überfallen worden. Es geht mir ... es geht mir mehr oder weniger gut.« »O mein Liebling ...« Fang nicht damit an, bitte nicht, es ist schon so schwer genug. »Ich komme sofort zu dir. Hast du die Polizei angerufen? Weiß Tom Bescheid?« »Wehe, wenn du Tom anrufst!« Sie stieß die Worte so schnell hervor, daß sie selbst erschrak. »Bitte«, fügte sie hinzu und versuchte, ihn zu besänftigen, sie war entsetzt, das sie ihn angeschrien hatte, ohne daß sie genau wußte, warum sie nicht wollte, daß Tom sie in diesem Zustand sah. Sie spürte nur im Innersten ihrer Seele, daß sie es nicht wollte. »Bitte, Ich bin ... ich bin mit einem Messer verletzt worden.« Jetzt halte nicht wieder die Luft an. Sag nicht wieder »O mein Gott«. »O mein Gott.« Sie schloß die Augen, sie konnte dieses entsetzte, fast unverständliche Gestammel nicht mehr länger ertragen. »Ach, mein Liebes, mein Schätzchen ... ich komme sofort. Soll ich einen Arzt mitbringen?« »Nein«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich bin ... es geht mir gut.« »Ich komme sofort. Sofort, mein Liebes.« Sie legte den Hörer auf. Schuldgefühle, die sie nicht einmal genau definieren konnte, überwältigte sie. Seit dem Tod ihrer Mutter war sie für sein Glück verantwortlich gewesen. Obwohl sie an dem, was ihr zugestoßen war, völlig schuldlos war - oder etwa nicht? -, hatte sie das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben, so wie sie ihn seit Jahren tagtäglich enttäuschte, weil sie nicht die beste Anwältin für Gesellschaftsrecht in New York war. Tränen brannten in ihren Augen. Sie beugte den Kopf, und als sie ihre Hände an das Gesicht preßte, spürte sie wieder die schrecklichen Nähte und geschwollenen Narben. Jennys kräftige schlanke Hände faßten ihr tröstend in den Nacken, und Catherine senkte den Kopf und weinte. Ihr Vater brachte die Polizei mit. Catherine saß auf der Couch und blickte auf, als Jenny aufstand, um die Tür zu öffnen, an der heftig geklopft wurde. Sie merkte, wie ihre Freundin vor Schrecken erstarrte, als sie die Tür aufgemacht hatte. Jenny sah aus, als ob sie etwas sagen wollte, aber nicht wußte was. Im nächsten Augenblick kam Charles Chandler mit einem stämmigen weißhaarigen Captain der Kriminalpolizei ins Zimmer gestürzt, direkt hinter ihnen ein uniformierter Polizist und ein Polizeifotograf. Es war klar, daß Vater die Polizei mitbringen würde, dachte Catherine und schloß verzweifelt die Augen. »O mein Liebes«, flüsterte er und starrte sie an, Entsetzen, Kummer und Schuldgefühle waren ihm ins Gesicht geschrieben - Schuldgefühle, weil er nicht in der Lage gewesen war sie zu beschützen. Natürlich war es sein erster Gedanke gewesen, die Polizei anzurufen, ohne daß er daran gedacht hatte, daß die Polizisten natürlich darauf bestehen würden, mitzukommen, um Catherine zu befragen. Er hatte nicht daran gedacht, daß es ihr unangenehm sein könnte, von drei völlig fremden Menschen gesehen zu werden, daß es etwas geben könnte, was sie ihm am Telefon nicht hatte sagen wollen. Er hatte nur daran gedacht, sie zu beschützen, sie zu rächen, das zu tun, was das Beste für sie war, so wie er das immer getan hatte. Einen Augenblick lang starrte er ihr Gesicht an, das jetzt vom Weinen noch zusätzlich angeschwollen und gerötet war, und sie merkte, daß er selbst den Tränen gefährlich nahe war. »O Cathy ...« Sie streckte die Arme aus Ihr wurde plötzlich klar, daß, so seltsam es ihr auch vorkam, er ihre Kraft und ihre Nachsicht brauchte. Sein Gesicht war schrecklich eingefallen, in seinen Augen zeugten rote Flecken von
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durchwachten Nächten und von dem Anstrengungen der letzten Woche; er war deutlich dünner, als er es vor zehn Tagen gewesen war - Zehn Tage?! Waren das wirklich nur zehn Tage gewesen? -, als er vor ihr in seinem komfortablen Büro mit der Eichentäfelung gesessen und sie besorgt gefragt hatte: »Was ist los mit dir?« Das war lange her und gehörte zu dem anderen Leben, in dem ihr einziges Problem gewesen war, was sie auf Toms Party anziehen sollte. Als er sie in den Arm nahm und verzweifelt an sich drückte, biß sie die Zähne zusammen und sagte ihm nichts von ihren gebrochenen Rippen, weil sie nicht wollte, daß er sich noch schlechter fühlte. Innerlich fühlte sie sich völlig leer, als hätte sie seinen Namen in der Dunkelheit gerufen und er hätte nicht geantwortet. »Cathy«, stammelte er, während er sie wieder losließ und sich auf die Couch setzte, »das ist Captain John Hermann von NYPD.« Der große stämmige Mann in dem zerknitterten Regenmantel nickte ihr zu, sah ihr Gesicht und bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen. »Er bearbeitet deinen Fall. Man wird die Männer erwischen, die das getan haben, sie werden dafür büßen müssen.« Büßen? Wofür? dachte Catherine verständnislos. Sie war erschöpft und wollte nur noch schlafen, sie fühlte sich bloßgestellt vor diesen fremden Leuten, die sie anstarrten. »Er möchte dir ein paar Fragen stellen.« »Nein.« Sie zuckte zurück und schüttelte verzweifelt den Kopf, ihr schmutziges Haar berührte ihre Wangen, sie drehte sich um und versuchte ein plötzliches Schluchzen zu unterdrücken. Verdammt, ich will nicht vor diesen Leuten in Tränen ausbrechen. Sie hatte es Vincent versprochen. Sie schuldete es ihm. Er hatte ihr das Leben wiedergeschenkt; das Geringste, das sie ihm dafür geben konnte, war ihr Schweigen. »Wenn Sie uns eine Beschreibung der Männer geben könnten, die das getan haben, würde uns das weiterhelfen«, sagte Hermann und zog ein Notizbuch aus der Tasche seines Regenmantels. »Sie waren zehn Tage lang vermißt Miß Chandler. Wir haben auf eine Lösegeldforderung gewartet.« »Bitte, ich möchte nicht darüber reden.« »Hat man sie eingesperrt?« »Nein«, stammelte sie. »Nein, ich war nicht ... ich ... ich kann jetzt einfach nicht darüber reden.« Sie hob den Kopf, und ein Blitzlicht blendete sie so, daß sie zusammenzuckte. »Nur für das Protokoll, Miß«, erklärte der Polizeifotograf, als ob das eine Entschuldigung dafür sein könnte, der Nachwelt die scheußliche Überreste ihres Gesichts zu überliefern. Jenny stand mit fest zusammengepreßten Lippen in dem beleuchteten Durchgang zur Küche und sagte nichts, aber in ihren dunklen Augen leuchtete Zorn auf über das, was mit ihrer Freundin geschah. »Wenn Sie uns irgendwie helfen könnten, Miß Chandler ...« »Liebes, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.« Ihr Vater hatte sich wieder etwas gefangen, aber sie konnte immer noch den Schock in seinem Gesicht erkennen und diese entsetzlichen Schuldgefühle. »Ich kann nicht.« Sie schluckte heftig. »Ich kann jetzt nicht darüber reden. Ich werde ... später ...« Hermann machte einen verärgerten Eindruck, seine Lippen wurden schmal vor unterdrücktem Zorn, weil er heute abend keinen Bericht schreiben konnte, und Catherine hatte groteskerweise das Gefühl, als hätte sie ihn im Stich gelassen. Ihr war klar, daß sie ihm irgend etwas erzählen mußte, irgendeine Geschichte, einen Ablauf von Ereignissen, der überzeugend klang, aber niemanden zu den Tunneln führen würde, zu Vincent. Aber ihr Kopf war leer. Sie fühlte sich elend und erschöpft, ihre Gedanken drehten sich ständig im Kreis, sie hatte nur noch einen Wunsch: sich hinzulegen. Alle sollten weggehen und aufhören, sie anzustarren. Fast glaubte sie, die flüsternden Überlegungen in ihren Köpfen hören zu können, was ihr zugestoßen sein könnte und was man mit ihr angestellt hätte. Geht weg! dachte sie verbittert. Bitte, bitte, geht weg... Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich fort waren. Jenny war, praktisch wie immer, während der Polizeiaktion verschwunden und kam mit einer Tüte voller Lebensmittel zurück, als die Polizei gerade die Wohnung verließ. Nach zehn Tagen war natürlich nichts Eßbares mehr im Kühlschrank, Catherine hatte ohnehin selten für sich selbst gekocht. Sie ging gewöhnlich zum Essen aus, entweder mit Tom oder mit ihrem Vater oder mit einem der anderen Männer, mit denen sie gelegentlich ausging. Während sie jetzt immer noch in ihrem zerknautschten, geflickten Partykleid auf dem Bett lag, hörte sie, wie Jenny in dem anderen Zimmer leise mit ihrem Vater sprach, wie sie ihn taktvoll davon überzeugte, daß es wahrscheinlich das beste wäre, wenn er nach Hause ginge und ein bißchen Schlaf nachholen würde. »Ich bleibe hier bei ihr, falls sie heute nacht etwas brauchen sollte«, versicherte das hochgewachsene Mädchen, ihre leise Stimme war über den gedämpften Rauschen des Badewassers kaum zu hören. Es war fast Mitternacht. Catherine hatte ein Gefühl, als wäre sie wochenlang auf den Beinen gewesen, als wäre sie durch eine nicht enden wollende Hölle von Blicken gelaufen, die sie fixiert hatten. Die Tunnel - Vincent - die seltsame, dunkle Welt des Unten schien unendlich weit entfernt zu sein.
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»Cathy?« Sie blickt auf und sah ihren Vater im Türrahmen stehen. Es war dunkel im Zimmer. Wenn andere Menschen bei ihr waren, hatte sie im Gegensatz zu früher keine Angst mehr vor der Dunkelheit. Es ging ihr dann besser, sie fühlte sich sicherer, so wie sich Vincent in der Schattenwelt sicherer fühlte, das konnte sie instinktiv spüren. Das Licht, das durch die Glastüren hereinschien, ließ die Umrisse der kühlen, modernen Möbel erkennen, zwischen denen als besondere Akzent hier und da eine Antiquität aus dem achtzehnten Jahrhundert stand, und reduzierte die beiden großen sandsteinfarbenen abstrakten Bilder auf die Hell- Dunkel-Effekte ihrer Farbkompositionen. Ihr Vater war nur ein massiger Schatten, ein silbernes Glänzen auf weißem Haar. Seine Stimme klang zaudernd, hilflos. »Danke«, flüsterte sie und wußte genau, daß er immer noch Zuspruch brauchte, immer noch - ja, was eigentlich? - brauchte. Wollte er wissen, daß sie ihm verzieh, obwohl er sie nicht gerettet hatte? Weil er als Vater nicht gut genug gewesen war, um das alles zu verhindern? »Danke, daß du gekommen bist ... daß du hier warst.« Er hatte sich solche Mühe gegeben, auch wenn das zur Folge gehabt hatte, daß fremde Menschen sie angestarrt, verhört und sie gefragt hatten, wie es hatte geschehen können, daß man sie so zerschnitten und zusammengeschlagen hatte. Wie man sie aus dem Lieferwagen geworfen und ihrem Schicksal überlassen hatte. Wie seltsam, daß sie nicht nur die Kraft für sich, sondern auch noch für ihn gefunden hatte. Später lag sie gebadet und mit frisch gewaschenem Kopf in der kühlen Vertrautheit ihres eigenen Betts, spürte die Seide ihres Nachthemds auf der Haut und lauschte auf die Geräusche der City von New York. Im Wohnzimmer brannte ein rosarotes Licht, das würde auch die ganze Nacht über brennen, um sie zu beruhigen, falls sie wach werden sollte. Aber nachdem sie die erste Angst überwunden hatte, daß die Männer mit dem Lieferwagen wieder in der Nähe sein könnten, hatte sie keine Angst mehr vor der Dunkelheit. Das war sonderbar, denn als Kind hatte sie sich schon im Dunklen gefürchtet; selbst als erwachsene Frau hatte sie häufig mit einer brennenden Nachttischlampe geschlafen. Aber sie hatte die Finsternis der Blindheit und der Tunnel kennengelernt; es gab keine Dunkelheit, die damit zu vergleichen war. Obwohl das Fernsehgerät im Wohnzimmer leise gestellt war, empfand sie das Gemurmel nach der Stille der Tunnel irgendwie aufdringlich. Jenny saß dort und las den Haufen Kitsch, den sie aus dem Verlag mitgebracht hatte, und überließ sie ihrem Schlaf. Unten, im Central Park West, rumpelte der Verkehr unaufhörlich, fremdartig und irgendwie bedrohlich. Ihr eigenes Bett fühlte sich nach dem weichen Durcheinander von Vincents Steppdecken, Kissen und Fellen eigenartig ordentlich an. Sie stellte fest, daß ihr das leise Klopfen auf den Rohren fehlte, der tiefe angenehme Klang von Vincents Stimme, wenn er ihr laut die vielen Abenteuer von Pip und Estella, Herbert und Clara vorlas. Sie fragte sich, wo Vincent jetzt wohl war und was er gerade tat; ob er, so wie in jener Nacht, unter seiner geflickten Lederkapuze versteckt, im nassen Gras und in den schützenden Schatten des Parks spazierenging. Bei dem Gedanken schlief sie ein.
6 Catherine hatte Krankenhäuser immer schon gehaßt. Selbst die helle freundliche Kinderabteilung des New York Medical Center, in dem man ihr mit sieben Jahren die Mandeln herausgenommen hatte, hatte sie mit ihrem Geruch nach Desinfektionsmitteln nervös gemacht. Sie hatte immer das Gefühl, daß sie hinter den prächtigen Fassaden geheimnisvolle Dinge abspielten. Ein bestimmter Vorfall war völlig zusammenhanglos und isoliert in ihrem Gedächtnis gespeichert. Sie war mitten in der Nacht wach geworden, auf der Station war es dunkel, und sie hatte ein anderes Kind fürchterlich schreien hören, ohne daß sie wußte, wer es war oder wo. Aber am häufigsten erinnerte sie sich daran, wie sie in einen strahlendweißen Raum kam und ihre Mutter sah, die dünn und kreidebleich und schrecklich verändert in einem Bett lag, an ihren Armen, ihrem Mund und an ihrer Nase waren Schläuche befestigt. Nur das flachsblonde Haar auf dem Kopfkissen, heller als ihr eigenes und gewellt, war von der warmherzigen, liebevollen Person übriggeblieben, an die Catherine sich erinnern konnte, und ihr wunderschönes Lächeln, das an einen Sonnenaufgang erinnerte. Sie mußte sich überwinden, hinzuschauen und die zarte Hand zu berühren, an deren Rücken der Schlauch befestigt war, der aus einer großen Vene hervortrat. Sie hatte es dann aber doch getan und konnte sich nicht mehr daran erinnern, was sie beide gesagt hatten. Dann hatte eine Schwester sie mit nach draußen auf den Flur genommen, wo sie warten sollte. Sie war erst zehn gewesen und konnte sich heute noch an das karierte rote Kleid erinnern, das sie damals getragen hatte, und an die schwarze Samtjacke. Ein alter Mann ohne Beine war draußen gewesen, er war in einem Rollstuhl zur Toilette am Ende des Gangs geschoben worden. Catherine hatte die Augen geschlossen und sich
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mit dem Rücken fest an die Wand gepreßt, sie hatte das alles nicht sehen und nicht hier sein wollen. Nach einer Ewigkeit war ihr Vater zu ihr gekommen und hatte sie mit nach Hause genommen, er hatte kein Wort gesagt. Sie hatte ihre Mutter danach nie wieder gesehen. »Cathy«, sagte Dr. Sanderly in seinem freundlichsten Ton, »ich möchte, daß Sie von zehn rückwärts zählen.« Man hatte ihr vorher in ihrem Zimmer schon Valium gegeben, Das hatte dafür gesorgt, daß sie völlig entspannt im Vorraum das OP auf einer fahrbaren Trage lag, während man mit einem blauen antiseptischen Stift Kringel um die Narben in ihrem Gesicht machte. Wie in diesen fürchterlichen alten Comics aus den Vierzigern, dachte sie verträumt, in denen der Scharfrichter einen Stift herauszieht und eine gepunktete Linie um den Hals des Delinquenten zieht, bevor er ihn köpft. Mein Gott, wie konnte man Kindern nur solche grausigen Sachen zeigen! Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was für ein Comic-Strip das gewesen war - Betty Boop? Heckle and Jeckle? Der Versuch, sich daran zu erinnern, lenkte sie von dem flauen Gefühl in ihrem Magen und von dem fürchterlichen Geruch nach Desinfektionsmitteln, Äther und Alkohol um sie herum ab. Außerdem brauchte sie dann nicht auf das gedämpfte Murmeln der Anästhesisten und Operationsschwestern und das unheimliche Klappern ihrer kleinen Instrumente zu hören. Durch die Plastikmaske, die ihren Mund und ihre Nase bedeckte, murmelte sie »Zehn ... neun ... acht« und roch das Gas und hörte, wie es zischte. Sie schaffte es bis vier. Und dann war sie auf dem Flur vor dem Büro ihres Vaters, wieder einmal zu spät - die Sonne fiel durch die Fenster der Rezeption, und sie wußte, daß es etwa zwei, drei Uhr nachmittags war. Sie wankte auf das Büro zu und hielt mit den Händen die zerfetzten Teile ihres schwarzen Partykleides zusammen, ihr Gesicht hatte das alptraumhafte Aussehen, das sie zuerst in dem verzerrten Spiegelbild in Vincents Zimmer gesehen hatte. Sie mußte zu ihrem Vater, mußte ihm sagen, daß sie wieder zurück war. Aber du hast ihn doch angerufen ... ja,du hast ihn angerufen, obwohl du ihn eigentlich zuerst hättest anrufen müssen, aber das war egal, dann er wußte nicht, daß er nicht der erste gewesen war. Die Bürotür öffnete sich, und Charles Chandler kam heraus, tadellos frisiert wie immer, in einem grauen Anzug, mit seinen weißen Haaren, wie aus dem Ei gepellt. »Cathy!« sagte er mit einem fröhlichen Lächeln. »Endlich kommst du also! Wir haben uns alle Gedanken darüber gemacht, wo du wohl gewesen sein könntest Jamaica? Nassau?« Sie stand vor ihm, hielt ihr zerrissenes Kleid fest und starrte ihn an. Sie brachte kein Wort heraus, sie wußte, daß er sie kaum sah, weil er sie nicht sehen wollte - er wollte ihren Schmerz und ihre Häßlichkeit nicht sehen, wollte nicht sehen, was mit ihr geschehen war, weil es ein schlechtes Licht auf ihn als Vater warf. »Laß uns ein paar Leute zusammentrommeln«, empfahl er, eine seiner Lieblingsredensarten, »wir wollen eine Party feiern. In meinem Club, einverstanden? Wen sollen wir einladen?« Nein, dachte sie benommen, immer noch sprachlos. So war es nicht gewesen. Er ist nicht zusammengezuckt, als er mich gesehen hat - er hat höchstens eine Sekunde lang weggeblickt - er war besorgt, liebevoll ... er hat mich im Arm gehalten und wie ein Kind gewiegt. »Ich muß mich beeilen.« Er lächelte und sah sie immer noch nicht an. »Ich habe eine Besprechung.« Aus seiner Jackentasche zog er ein dickes Geldbündel. »Hier ... kauf dir ein neues Kleid - ist das genug?« Oder hat er gesagt, »Kauf dir ein neues Gesicht«? Er drückte ihr das Geld in die Hand. »Hier, nimm noch etwas mehr.« Dann schlug er ihr die Tür vor der Nase zu. Sie stand im Korridor, die Hände voller Geld und wußte nicht, wohin damit. »Dad«, flüsterte sie der geschlossenen Eichentür zu, »Dad ...« Als die Polizei weg war, hatte er mit ihr über plastische Chirurgie gesprochen; »Der Beste in seinem Fach«, hatte er gesagt, »Sie suchen die Männer, die das getan haben - sie werden ihnen nicht entwischen«, hatte er gesagt. »Liebes, ach mein Kleines«, immer diese verletzte, angsterfüllte Stimme. Er hatte sie nicht gefragt, ob sie noch Angst hätte; er hatte nicht gesagt: »Wenn du soweit bist.« Statt dessen hatte er sie gefragt, warum sie Captain Hermann nicht gesagt hätte, wo sie gewesen war und was ihr passiert war - warum sie es ihm nicht sagen wollte. Er hatte sie nicht gefragt: »Brauchst du irgend etwas?« Er hatte schon immer vorher gewußt, was sie brauchte, und hatte es besorgt, bevor sie auf den Gedanken kommen konnte, ihn darum zu bitten. Den Fleck wischen wir jetzt ganz schnell weg, Schätzchen, und dann bestelle ich dir eine neue Milch, wir tun einfach so, als ob nichts passiert wäre. Sie wankte weiter den Korridor entlang, es war ein endlos langer Flur, so endlos, wie Flure in Träumen immer waren, ihre Hände waren voll mit Geld, das hinter ihr auf den dicken beigefarbenen Teppich fiel und eine unregelmäßige Spur hinterließ. Angestellte, Sekretärinnen, junge Anwälte, alle liefen elegant gekleidet an ihr vorbei - warum hatte sie vorher nie bemerkt, wieviel Wert alle Leute im Büro auf sorgfältige Kleidung legten? Wie schick sie alle waren? Und wie sie sie alle auf eine bestimmte Art anlächelten wenn sie zu spät kam, und
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nichts sagten, weil sie Charles Chandlers Tochter war. »Hatten Sie schöne Ferien?« fragte einer von ihnen, der sie nach einem ersten unauffälligen Blick in ihr Gesicht nicht mehr ansah. »Sie sehen - hm - phantastisch aus.« »Wo sind sie gewesen?« »Wir haben Sie vermißt.« Und wie der Schaum im Kielwasser eines vorbeifahrenden Schiffes kräuselte sich das Flüstern: »Die Arme!« - »Wie ist das wohl passiert?« - »Und sie war einmal so hübsch.« - »Ob sie auch vergewaltigt worden ist?« Sie begann zu laufen. Plötzlich war sie nicht mehr auf einem Korridor, sondern in einer Seitengasse. Hinter ihr wurden Autoscheinwerfer eingeschaltet, dann hörte sie das dumpfe Geräusch von Reifen auf nassem Pflaster, sah den dunklen Schatten eines Lieferwagens, der die Straßenlaternen dahinter verdeckte. Ihre hohen Absätze bogen sich und wackelten auf dem brüchigen Asphalt, sie konnte nicht schnell genug laufen ... Panik erfaßte sie, sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus, sie versuchte zu fliehen, mußte aber erkennen, daß sie sich nur wie in Zeitlupe bewegen konnte, während der Lieferwagen hinter ihr immer größer und größer wurde. Die Tür wurde aufgeschoben - ein Mann sagte irgend etwas zu ihr, sie konnte sich nicht erinnern was - ein Messer blitzte in einer tätowierten Hand - sie wurde zu Boden geworfen ... Sie lag lang ausgestreckt auf dem Boden, aber es war nicht der metallende Boden des Lieferwagens. Es war der luxuriöse orangefarbene Teppichboden im Ballsaal des Barron-Hotels - wieso konnte sie sich daran erinnern, daß er orangefarben war? -, und sie stützte sich auf die Ellbogen und war von einem Meer von Beinen umgeben. Die leise Berieselungsmusik spielte eine stark verwässerte Version der »Kleinen Nachtmusik«; sie war von distanziertem Lachen umgeben wie von einem funkelnden Nebel; Kaviarlöffel klangen an Gläsern, und ein Kellner sagte etwas auf spanisch. Sie hörte Toms Stimme und rollte sich auf die andere Seite, um ihn sehen zu können. Er stand mit einem Glas in der Hand neben einer schönen blonden Frau in einem Hosenanzug aus Goldlam‚; sie lag in ihrem zerrissenen, schmutzigen Kleid, mit ihrem entstellten Gesicht und ungewaschenem Haar vor ihnen auf dem Boden, aber er sah sie nicht. »Sie tut mir leid«, sagte Tom gerade in einem Ton, an den sie sich erinnern konnte, diesen halb protestierenden, halb entschuldigenden Ton, den er für Bemerkungen reserviert hatte wie: »Nun, natürlich müssen die Obdachlosen irgendein Dach über dem Kopf haben. Aber was soll man machen? Das Leben geht weiter.« Das war eine Redensart, die er besonders gern benützte und die er gewöhnlich, so wie auch jetzt, mit einem jungenhaften Augenzwinkern und einem philosophischen Achselzucken unterstrich, wodurch das, was auch immer er gesagt hatte, als völlig nebensächlich abgetan wurde. Die Frau bewegte zustimmend ihren perfekt frisierten Kopf. »Sie war ein interessantes Mädchen, sehr vielversprechend, glaube ich. Aber es hat sich herausgestellt, daß sie die absolute Verliererin ist.« Er legte seinen Arm um die Hüfte der Frau, und ein Mann, in dem Catherine den Stadtbaurat erkannte, gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Hinter ihr fing jemand an zu lachen. Catherine blickte sich um und erstickte ein Schluchzen. Es ist nicht meine Schuld, wollte sie schreien, aber über ihre zerschnittenen Lippen drang kein Laut. Was mir passiert ist, ist nicht meine Schuld. Aber ob es nun ihre Schuld war oder nicht, sie war nicht mehr schön, nicht mehr perfekt ... nicht mehr zu akzeptieren. Sie war nur noch sie selbst. Noch jemand kicherte. Eine Frau zeigte mit einem mauvefarbenen lackierten Fingernagel auf sie, ein anderes Mitglied der Baukommission konnte sein Grinsen hinter dem Martiniglas, das er in der hand hielt, kaum verbergen. Das Gelächter wurde lauter, Männer und Frauen, ein paar von ihnen versuchten aus Mitleid, höflich zu sein, drehten sich um oder hielten sich die Hand vor den Mund, andere kicherten ganz offen und deuteten mit Fingern auf das zerlumpte häßliche Mädchen, das dort vor ihnen auf dem Boden lag. Sie fühlte sich schwach, so schwach, wie sie sich gefühlt hatte, als sie zum erstenmal wach geworden war, sie wußte irgendwie, daß sie nicht stehen konnte und daß sie auf Händen und Knien kriechen müßte, wenn sie fliehen wollte. Sie saß mit all ihren Qualen in der Falle, sie konnte sich nicht mehr wehren, sie blickt sich um und suchte verzweifelt einen Ausweg ... ... Da sah sie Vincent, stark und schön stand er am Eingang hinter der Menschenmenge. Der Schatten seiner Kapuze verdeckte sein seltsames nichtmenschliches Gesicht, aber in seinen Augen lag Sorge und Mitgefühl. Vincent saß allein in seinem Zimmer und hatte den Kopf über seine gefalteten Hände gebeugt. Vor ihm lag aufgeschlagen ein Shakespeare-Band, aber er hatte schon vor einer halben Stunde aufgehört zu lesen. Überall um ihn herum brannten Kerzen. Er wußte, daß es bald Mittag war. Er mußte sich bald auf den Weg machen, um sich gemeinsam mit einer Kindergruppe mit einem der Helfer zu treffen, der versprochen hatte, Lebensmittel hinunterzubringen - es war ein langer Marsch nach Harlem hinauf, durch Passagen, die weit von der bewohnten Welt und der Welt des Lichts entfernt waren.
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Jetzt aber, wo er allein mit der Stille war, konnte er das stumme Entsetzen in Catherines Träumen spüren. Er wußte, daß es ihre Träume waren, so wie er auch wußte, daß das leise Flüstern der Gefühle, das von weitem zu ihm drang, aus ihrem Herzen kam. Sie waren völlig unausgeformt, denn das Gehirn, das pflegte Vater immer zu sagen, hat keine Nervenenden: nur der Körper kann Schmerz und Freude empfinden. Als er die eisernen Leitersprossen von dem Tiefkeller unter Catherines Apartmenthaus am Central Park West hinuntergeklettert war, als er durch die finsteren Dampftunnel gegangen war, über die Schlucht und die lange Treppe hinunter, hatte er ihre Not und ihre Angst gespürt. Er hatte geglaubt, das wäre darauf zurückzuführen gewesen, daß er mit ihr zusammengewesen war, daß er wußte, was sie durchmachen würde, wenn sie wieder in ihre Welt zurückkehrte. Erst später war ihm klargeworden, daß das Band, das zwischen ihnen in diesem Zimmer geknüpft worden war, als er ihren Schlaf bewacht hatte, nicht zertrennt worden war. Früher am Tag hatte er ihre Anspannung gespürt, die unterdrückte Angst, etwas tun zu müssen - was? -, von dem sie wußte, daß es unausweichlich war. Und jetzt plötzlich dieser Ansturm eines Gefühls von Verletzung und Angst! Er konnte es irgendwie als Traum erkennen, und es wurde von leisen, von Drogen gedämpften Schmerzenslauten begleitet. Er schloß die Augen und flüsterte: »Ich bin bei dir, Catherine«, obwohl er wußte, daß sie ihn nicht hören konnte. In gewisser Weise würde er immer bei ihr sein, und diese Erkenntnis erfüllte ihn zugleich mit Freude und Verzweiflung. Denn als sie in dem Keller ihre Arme um ihn geschlungen hatte, war ihm bewußt klargeworden, daß er sie liebte. Es war nicht nur das Geräusch der Schritte aus der Oberwelt gewesen, das ihn vertrieben hatte, sondern auch die Einsicht, welche Folgen eine solche Liebe haben würde. Vincent liebte viele Menschen: seinen Vater, seine Freunde in den Tunnels, die Kinder, die er unterrichtete und auf die er aufpaßte. Aber es gab niemanden, dessen bloße Berührung ihn elektrisierte, niemanden, nach dem er sich so sehr sehnte; niemanden, mit dem er sich so eng verbunden fühlte, wie mit dieser schönen Frau, die seine Welt nur so kurz besucht hatte und dann wieder in die Stadt des Tageslichts in der Oberwelt zurückgekehrt war - in die sie zurückkehren mußte. Und er konnte nichts daran ändern. Er öffnete die Augen und betrachtet seine Hand, die vor ihm im Kerzenlicht ausgestreckt lag. Entweihet meine Hand verwegen dich ... hatte Romeo gesagt, als er die Hand ausstreckte, um die Finger der Frau zu berühren, von der er vom ersten Augenblick an gewußte hatte, daß sie die andere Hälfte seiner Seele war. Selbst der Vergleich enthielt eine Art von ironischen Witz. Er erinnerte sich daran, wie Catherines Finger zum erstenmal seine Hand berührt hatten und sie sie mit einem Schrei zurückgezogen hatte. Er drehte seine Hand um und betrachtete distanziert das lange rötliche Haar, die starken knotigen Finger, die wachsgelben Klauen und die rotbraunen Venen. Wirklich die Hand eines Ungeheuers. Auch daran konnte er nichts ändern. Er konnte offenbar nicht vergessen. In den letzten Tagen hatte er ein besonders scharfes Bewußtsein für die Liebe und für die Liebenden entwickelt. Er hatte mit diesem neugewonnenen Bewußtsein Bücher gelesen, und es kam ihm vor, als wäre unter dem eigentlichen Text noch ein weiterer verborgen gewesen, für den er vorher blind gewesen war, als wäre er mit unsichtbarer Tinte geschrieben worden, die aber jetzt plötzlich aufleuchtete. Die außergewöhnlich leidenschaftliche Liebe des Juri Schiwago zu Lara Antipowa oder die das Chevalier des Grieux zu Manon Lescaut waren ihm jetzt völlig verständlich, und obwohl er immer schon gewußt hatte, daß sein Vater eine tiefe Zuneigung zu Mary, der freundlichen Hebamme, empfand, entdeckte er jetzt, wenn die beiden zusammenarbeiteten, in den Blicken ,die sie sich zuwarfen und in den zufälligen Berührungen ihrer Hände eine völlig neue Welt. Als er später die rohen Bretterstufen zu der Abzweigung in der Nähe des Raums mit den vielen Rohren hinunterging, wo er sich mit der kleinen Harlemgruppe treffen sollte, wurde ihm bewußt, daß eins der ältesten Mädchen - eine unansehnliche, magere Sechzehnjährige namens Kirsten Ho - abseits von den anderen in ein leises Gespräch mit Luke vertieft war, einem der jungen Männer der Gemeinde. Nur wenige der fest zusammengewachsenen Familie von Leuten, die unten lebten, waren auch tatsächlich dort geboren worden. Nur Pascal, der die nie enden wollenden Nachrichten auf den Hauptrohren weiterleitete, und ein Junge namens Devin, mit dem Vincent aufgewachsen war und der für ihn wie ein Bruder war, bevor er nach oben gegangen war, um seine Träume dort zu verwirklichen. Der größte Teil derjenigen, aus denen die Gemeinde bestand, waren von oben nach unten gekommen, entweder als Erwachsene, wie Vater und die alte Elisabeth, die in den bemalten Tunneln lebte, oder als Kinder. Luke war einer von denen, ein stämmiger junger Mann, der von der Unterstadt im Alter von sechs oder sieben adoptiert worden war, als die einzigen Angehörigen, die er noch hatte, eine Tante und ein Helfer, an Krebs gestorben waren. Er hatte rote Haare, war unbeholfen und ein bißchen einfältig, aber unermüdlich und immer gutmütig. Er mußte jetzt neunzehn oder zwanzig sein, schätzte Vincent und betrachtet sein kantiges, ernstes Gesicht in dem Lichtschein, der aus dem Nebenraum fiel, während er mit Ho sprach.
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»Ich will dich nicht drängen«, sagte Luke in ruhigem Ton. »Du weißt, ich meine nicht jetzt. Aber ich mußte es dir sagen ... ich mußte mit dir reden.« Das Mädchen Ho seufzte und wandte ihr Gesicht ab, das breite Rechteck ihrer Lippen war zusammengepreßt und drückte Unschlüssigkeit und Kummer aus. Luke packte sie ungeduldig an der Schulter und zwang sie, sich umzudrehen. Er verlangte, daß sie sich das anhörte, was er zu sagen hatte. Aber was auch immer das war, es wurde durch die Kinder übertönt, die Vincent umringten. Jeder bot sich an, die Expedition sicher nach Harlem zu führen - ein langer Marsch, gemessen an den Verhältnissen in den Tunneln, und ein ziemlich komplizierter. »Kipper führt uns bis zu den Katakomben«, bestimmte Vincent, denn er traute dem Jungen zu, daß er genügend Erfahrung mit dieser speziellen Strecke hatte und sich nicht blamieren würde, indem er um Hilfe bitten mußte. Der dunkelhaarige Lausbub strahlte vor Freude. Die anderen nahmen die Kisten und Körbe auf den Schultern - ein Wechsel im Modetrend der Oberwelt hatte den Tunnelbewohnern eine große Anzahl von Körben aller Größen beschert -, und Ho ging schnell über den dunklen Zementboden des Raums und nahm das Zugseil eines leichten dreirädrigen Karrens. »Ich helfe dir«, bot sich Luke an und lief hinter ihr her, während sie sich mit einem Ausdruck verzweifelter Ungeduld zu ihm umdrehte. Ihre dunklen Augen blitzten gefährlich. »Wir würden uns über deine Hilfe freuen, Luke«, sagte Vincent in ruhigem Ton, noch bevor das Mädchen antworten konnte. »Aber Winslow hat mich gebeten, dir zu sagen, daß er bei der Arbeit an dem neuen Tor unter dem Stuyvesant-Platz deine Hilfe braucht. Hättest du dafür Zeit?« »Hm ...« Luke wich Hos wütendem Blick aus. »Klar, wir, hm, wir sehen uns dann später.« Und er lief weg, seine Füße machten in dem Rinnsal aus Grundwasser, das den Zementboden bedeckte, leise platschende Geräusche. »Warum muß er das tun?« seufzte Ho, als sie sich den Kindern anschloß und im Gleichschritt neben Vincent herging, der leise dem Trupp folgte. »Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?« Ihr schmales Gesicht, in dem sich unter einer Kappe aus feinem, eng geflochtenem Haar negroide und vietnamesische Züge mischten, hatte immer noch einen verschlossenen Ausdruck, voller Unsicherheit, aber nicht bereit, etwas preiszugeben. Ja, warum eigentlich, dachte Vincent, dem die streitlustige Zähigkeit des Mädchens gefiel und der zugleich Verständnis für Lukes Wunsch hatte. Er wollte einfach nur wissen, woran er war. »Er kennt dich womöglich schon dein halbes Leben lang.« Sie schnaufte nur verächtlich, eine Sechzehnjährige konnte man mit einem solchen Argument nicht beeindrucken. Vor ihnen tanzte der Schein von Kippers Lampe über des Gitterwerk der rostigen Eisenstäbe, die so gebogen waren, daß sie sich der Wölbung des alten Hauptkanals anpaßten, durch den sie gingen. Vincent kam nach vorn und schloß das Vorhängeschloß an der schweren Tür auf, stemmte sich mit der Schulter dagegen und drückte sie auf, wobei das Metall ein leises protestierendes Stöhnen von sich gab. In gewissen Abständen bastelte Mouse für das eine oder andere Tor automatische Apparaturen zusammen, aber wenn man davon absah, daß Mouse als wahrer Künstler etwas dagegen hatte, eine Sache zweimal auf dieselbe Weise zu machen, war es schwer an die Teile für solche Konstruktionen zu kommen, deshalb wurden die meisten Tore unten von Hand bedient. Sie stiegen über eine lange provisorische Rampe nach oben, die aus alten Balken und Sperrholz konstruiert war. Die Laternen warfen tanzende Schatten auf die gewölbten Betonwände der Tunnel und ließen die Rinnsale und Pfützen des durchsickernden Wassers auf dem Boden aufblitzen. An manchen Stellen waren die Schächte, die zu tieferliegenden Tunneln führten, mit Maschendraht bedeckt; an anderen Stellen waren diese Löcher offen und sahen wie trockene dunkle klaffende Mäuler aus. Hier und da waren Warnschilder aufgestellt worden. Die Kinder gingen schweigend und zählten die Eingänge und Abzweigungen, so wie Vincent und die anderen es ihnen beigebracht hatten. Hier draußen, weit entfernt von den bewohnten Teilen der Tunnels, war es gefährlich, mann konnte sich leicht verlaufen. Entlang der gewölbten Wand zu ihrer Linken gaben die Rohre in schnellem Rhythmus ihre flüsternden Geräusche von sich, und irgendwo unter ihnen hallte tropfendes Wasser in der Dunkelheit. Über ihren Köpfen brauste der Lexington Avenue Express wie ein unsichtbarer Sturm dahin. »Gibt es einen anderen?« fragte Vincent nach langem Schweigen. Er hatte die aufgestaute Verzweiflung und den Zorn des Mädchens neben sich gespürt, laut wie das Schlagen von Flügeln gegen die Gitterstäbe eines Käfigs. »Ich wünschte, es wäre so«, seufzte Ho. »Ich meine, das würde er verstehen. Aber es ist einfach so - ich mag ihn nicht, das heißt, ich mag ihn, aber ich mag ihn nicht. Nicht so, wie er es möchte. Und er will mich einfach nicht in Ruhe lassen.« Vincent seufzte, als er sich an die verzweifelte Bewunderung in Lukes Augen erinnerte. Es gab Schlimmeres, als jemanden zu lieben, den man nie wiedersehen würde, dachte er und versuchte, sich, so gut es ging, damit zu trösten. Catherine war wieder in ihre Welt zurückgekehrt - für ihn hatte es immer nur diese Welt hier gegeben,
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und daran würde sich auch nie etwas ändern. »Vincent?« Bevor sie versuchte, die Augen zu öffnen, hatte Catherine eine Sekunde lang die Illusion, wieder in der Geborgenheit von Vincents Zimmer zu sein. Das erste, was sie wahrnahm, war ein dumpfer Schmerz in ihrem Gesicht unter den Verbänden, ein plötzliches D‚j -vu-Gefühl, bevor der Geruch nach Desinfektionsmitteln - der sich mit dem süßlichen Geruch von Blumen vermischte - und der pulsierende Verkehrslärm, der von weitem an ihre Ohren drang, ihr sagten, wo sie war. »Cathy?« sagte eine Männerstimme. »Ich bin Dr. Sanderly.« Ihr Verstand, der noch von der Narkose und dem Phenobarbital benommen war, versuchte den Namen einzuordnen, und sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater gesagt hatte: »Sanderly ist der beste kosmetische Chirurg in der Branche. Ich lasse ihn aus Los Angeles einfliegen. Mach dir keine Sorgen. Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen.« Kauf die ein neues Kleid, flüsterte eine Stimme aus irgendeinem verborgenen Abgrund in der Tiefe ihrer Seele. Kauf dir eine neues Gesicht. Sie schob den Gedanken beiseite. Es war nicht seine Schuld, daß er zuerst instinktiv versuchte, so zu tun, als sei nichts passiert. Wenn es okay aussieht, dann ist es auch okay, stimmt's? Er wäre ein schlechter Vater, wenn es anders wäre. Wie Vincent konnte auch er nur der sein, der er war. Was er ihr gab, war alles, was er zu geben hatte. Ihr Mund fühlte sich an, als hätte sie ihn irgendwo billig gemietet und hätte nicht die richtige Größe. »Bin ich im Krankenhaus?« »Ja ... und es wird ihnen bald wieder gutgehen.« Er stand an ihrem Bett - sie konnte sein Rasierwasser riechen. Aramis. Dasselbe wie Tom. Sie erinnerte sich jetzt daran, daß sie ihn im Vorraum des OP gesehen hatte, als er mit einem Filzstift die schrecklichen kleinen Kringel auf ihr Gesicht gemalt hatte. Die trockene, kühle klimatisierte Luft war vom Duft der Blumen geschwängert. Rosen und ... was? Irgend etwas anderes. Wie absurd ihr Blumen zu schicken, die sie tagelang nicht sehen würde. Sie fragte sich, wie spät es wohl sein mochte. Ihr Vater hatte zweifellos eine Besprechung mit einem seiner wichtigsten Mandanten, aber er würde sofort kommen, wenn er frei war. »Sie müssen Schreckliches durchgemacht haben«, fuhr Sanderly fort und kam näher um ihre Hand zu tätscheln. »Aber was passiert ist, liegt jetzt endgültig hinter Ihnen - absolut.« Sie nahm an, das sollte heißen, daß alles wieder heil werden würde, daß sie, wenn die Fäden gezogen und die Schwellungen zurückgegangen wären, wieder so aussehen würde wie früher. Sie war todmüde, als Folge der Äthernarkose hatte sie ein flaues Gefühl im Magen außerdem machten die Schmerzmittel sie völlig benommen, ihr war alles egal, sie konnte nur noch eine abgrundtiefe Müdigkeit empfinden. Sie hatte es hinter sich; den entsetzten Blick ihres Vaters, als er durch die Wohnungstür gekommen war und sie gesehen hatte; die Art, in der der Fahrstuhlführer in ihrem Haus sie angestarrt und Miß Chandler! hervorgestoßen hatte; die Schwestern im Krankenhaus, die sie angestarrt hatten, als sie wie Vincent in einem Umhang mit einer Kapuze eingewickelt hereingebracht worden war, und sich dann schnell abgewandt hatten. Alle diese schrecklichen Kleinen Demütigungen, die sie, Gott sei Dank, weil ihr Vater reich war, nicht ihr ganzes Leben ertragen mußte, oder zumindest so lange, bis sie soviel Geld zusammengespart hätte, um die Narben operieren zu lassen. Aber sie würde nie wieder vergessen, was für ein Gefühl das gewesen war. Hinter ihr lagen auch die leisen Klopfgeräusche an den Rohren der Tunnel; Vincents starke Arme, die sie umschlungen hatten, als sie ihre entstellte Wange an seine Schulter gedrückt hatte; seine Stimme wie Granit und Samt. Und was lag vor ihr ...? Was? Sanderly redete weiter, er war ganz professionell und freundlich. »Wenn Sie mir irgend etwas sagen wollen, mit mir über irgend etwas sprechen wollen ... ganz gleich was, lassen Sie es mich wissen.« Er war bereits auf dem Weg, das Zimmer zu verlassen, und sie konnte seine Hand auf der Türklinke hören. Sie nahm an, daß er noch andere Patienten betreuen mußte. Aber er hatte es nur gut gemeint, und sie zwang sich dazu, »danke« zu sagen, obwohl ihr der Mund dabei weh tat. Sie hörte wie die Tür geöffnet wurde und sich dann wieder schloß. Dann war sie mit ihren Blumen allein. Wehmütig flüsterte sie: »Sie könnten mir das letzte Kapitel von Große Erwartungen vorlesen.«
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Monate vergingen. Das Leben ging weiter - wie Tom Gunther das ausgedrückt hätte, sowohl oben wie auch unten. Für Catherine war es eine Zeit der Veränderungen. Ihr Vater bot ihr an, sie könne verreisen, wohin sie wolle - Paris, auf die Bahamas, Cancun. Sie hatte ihm gedankt, wobei ihr Mund gelächelt hatte, was ihr Gesicht noch nicht konnte. Er hatte mit gefalteten Händen auf dem harten Plastikstuhl an ihrem Krankenbett gesessen, und hatte sich entschlossen in New York zu bleiben. Das war der Tag gewesen, an dem die Kriminalpolizei bei ihr gewesen war. Captain Hermann, der immer noch seinen zerknitterten Regenmantel trug, hatte ihr Fragen über Fragen gestellt und sie dabei mit dem stechenden Blick seiner blauen Augen beinahe durchbohrt: »Können sie den Lieferwagen beschreiben? Können Sie die Männer beschreiben? Was haben sie zu Ihnen gesagt? Was haben sie getan? Haben sie miteinander gesprochen? Haben sie irgendwelche Namen erwähnt? Konnten Sie das Nummernschild des Lieferwagens erkennen? Aus welchem Staat? Farbe des Nummernschilds? War die Tür auf der Seite oder hinten?« Ihr Vater war dabeigewesen, hatte das erschöpfte Zittern in ihrer Stimme gehört und schließlich gesagt: »Langsam, John«, Und Captain Hermann hatte ihm einen erstaunten Blick zugeworfen. Nach einer Pause hatte er gefragt: »Und was war mit diesen Leuten, die Sie im Park gefunden haben ...?« Catherine schüttelte den Kopf. »Ich habe nur - ich habe nur einen von ihnen gesehen«, sagte sie langsam. »Und auch nur in der Nacht, in der er mich nach New York zurückgebracht hat.« Ihr erster Impuls war gewesen, nichts zu sagen, absolut zu schweigen, aber da sie selbst Anwältin war, wußte sie, daß sie damit nicht durchkommen würde. Dadurch würde sie nur noch mehr Mißtrauen erzeugen, und Captain Hermann, der sich offensichtlich wie eine hartnäckige Bulldogge in den Fall festgebissen hatte, würde nie Ruhe geben, wenn sie ihm nicht wenigstens irgend etwas erzählte. Nachdem ihr Kopf nach der Narkose wieder klar war, hatte sie den größten Teil des Tages Zeit gehabt, sich eine Geschichte auszudenken, obwohl sie viel lieber einfach geschlafen hätte, um alles zu vergessen. Aber sie würde es nie vergessen können. Und sie schuldete Vincent und seiner Familie mehr, als sie jemals zurückzahlen konnte, es sei denn auf diese Weise. Sie hoffte nur, daß ihre Geschichte Hermann nicht auf eine falsche Fährte führen würde, wodurch dann irgendeine unschuldige Familie von Obdachlosen in Schwierigkeiten geraten würde, die zweifellos ohnehin schon genügend Probleme hatte. Sie erzählte vorsichtig weiter: »Es waren - es waren Leute ohne festen Wohnsitz, das haben sie jedenfalls gesagt. Sie konnten mich nicht ins Krankenhaus bringen, weil ich zu sehr geblutet habe, als sie mich fanden.« Das war der einzige Schnitt gewesen, der nicht in ihrem Gesicht gewesen war, eine große Vene am Unterarm in der Nähe des Ellbogens. »Schön, aber warum haben sie dich dann nicht später in ein Krankenhaus gebracht?« wollte Tom wissen, der auf der anderen Seite des Bettes saß. Es war seine Mittagspause - er sah aus wie ein Dressman. »Solche Leute sind schmutzig, die Wunden hätten sich infizieren können.« Catherine seufzte. »Ich weiß es nicht, aber sie hatten wahrscheinlich Angst, jemand könnte glauben, sie hätten das getan.« Das brachte ihn zum Schweigen, jedenfalls zunächst. Hermann war nicht zufrieden, als er ging. Catherine hatte absichtlich eine möglichst ungenaue Beschreibung ihrer Retter gegeben, sie hatte behauptet, keinen Namen gehört zu haben, und gab sich die größte Mühe, es so erscheinen zu lassen, als ob die ganze Rettungsaktion ein paar Autostunden von New York entfernt stattgefunden hätte, denn - das hatte sie sich überlegt - es hätte genausogut sein können, daß man sie irgendwo an einer einsamen Stelle in New Jersey aus dem Lieferwagen geworfen hätte statt im Central Park. Sie versuchte an alles zu denken, aber die Schmerzmittel, die sie bekam, machten das Denken zu einer Anstrengung - sie gab sich die größte Mühe. Hermann hatte an mehreren Stellen ihrer Geschichte Ungereimtheiten entdeckt und nachgehakt: Warum sie den Raum, in dem sie gelegen hatte, nicht besser beschreiben könne, warum sie kein Geräusch in der Umgebung gehört hatte; vor allem aber, wie es möglich gewesen sein, daß die Verletzungen in ihrem Gesicht so perfekt genäht und ihre gebrochenen Rippen so professionell fixiert worden seien. Der Polizist war noch nicht ganz zur Tür hinaus, da tobte Tom los. »Es lag einzig und allein an seiner Inkompetenz, daß man dich nicht früher gefunden hat. Dann wäre dir das alles erspart geblieben! Und ich bin außerdem absolut sicher, daß Hermann der Presse gegenüber nicht dichtgehalten hat.« »Tom ...« flüsterten Catherine flehentlich und ließ ihren Kopf auf das Kissen sinken. Die Befragung hatte sie an den Rand der Erschöpfung gebracht. Morgens hatte man den Verband von ihren Augen genommen, aber die empfindliche Haut war immer noch geschwollen und verfärbt, und der Kontakt mit der Luft bereitete ihr
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Schmerzen. Das übrige Gesicht war noch verbunden. »Also ehrlich, Catherine, ich kann mir diese Art der Publicity nicht leisten - genausowenig wie dein Vater! Der Himmel weiß, was er den Reportern noch erzählen wird.« »Tom, bitte.« Er hörte auf, beugte sich herunter, nahm ihre Hand und küßte sie. Seine Hände waren kräftig und glatt - wie ihre, sie hatten noch nie schwere körperliche Arbeit geleistet. »Es tut mir leid«, sagte er sanft. »Meine ritterlichen Instinkte haben mich überwältigt. Wenn ich irgend etwas für dich tun kann ...« Aber er sah ihr nicht in die Augen. Er ging bald darauf, weil er eine Besprechung mit einem Unternehmer hatte, der mit dem Bau des neuen Gebäudekomplexes beauftragt worden war. Als er ging, versicherte er ihr noch einmal, ein Wort von ihr würde genügen, und er würde ihr alles besorgen, was sie brauchte. Die Besprechung war von größter Wichtigkeit; man würde bald mit dem Ausschachten der Fundamente beginnen. Ihr Vater bleib so lange, bis sie eingeschlafen war. Ihr Gesicht heilte. Als sie sich im Spiegel der Damentoilette des Il Forno eines mondänen italienischen Restaurants auf der 43ten Straße, betrachtete, sah sie wieder aus wie früher: glatte helle Haut, volle rote Lippen und weitgestellte grüne Augen, eine zarte Schönheit. Nur ihr Blick hatte sich verändert. Ihr blondes Haar war so gekämmt, daß es ihre Ohren bedeckte und ihr Gesicht umrahmte. Sie streifte es zurück und betrachtet einen Augenblick die einzige Narbe vor ihrem linken Ohr, die man nicht hatte entfernen können. Der Schnitt war zu tief gewesen und zu dicht an den Venen und Nerven, als daß man die Folgen ohne eine zweite Operation hätte beseitigen können. Und dazu war sie nicht bereit gewesen. Die Narbe war immer noch häßlich rot, aber man hatte ihr versichert, daß sie mit der Zeit blasser werden würde, so blaß, daß sie sie unter ihrem Make-up verbergen konnte. Wenn sie zusammen waren, hatte Tom sein Verhältnis in subtiler Weise verändert - er küßte sie nicht mehr auf diese Seite. Sie runzelte die Stirn, verdrängte den Gedanken an Tom, nahm ihre Handtasche und ging wieder in das Restaurant zurück. Ihr Vater blickte von den zwei Cappuccinos hoch, die dampfend auf dem Tisch standen, und empfing sie lächelnd. »Ich würde gern einmal wissen, was in diesen Damentoiletten vorgeht«, sagte er, und Catherine lächelte zurück. »Die zweideutigen Parolen? Die zynischen Bemerkungen?« »Genau.« »So wie auf der Herrentoilette in deinem Club?« Er spielte den Entrüsteten. »Also, das ist doch wohl eine völlig andere Sache.« »Das habe ich doch schon einmal gehört.« Er lachte und war froh, daß sie bei ihm war. Er hatte sich offenbar immer noch nicht ganz erholt. Er war gealtert, sein Gesicht unter den buschigen weißen Haaren hatte mehr Falten bekommen. Obwohl er sich die größte Mühe gab, so zu tun, als ob dieser Vorfall, der inzwischen offiziell abgeschlossen worden war, nie stattgefunden hätte, hatte er, genau wie sie, am eigenen Leib erlebt, daß so etwas tatsächlich passieren konnte. Sie war das einzige, was ihm noch geblieben war. Das Geld, die Wohnung, die Reisen nach Europa, die Position in der Kanzlei und seine vorsichtigen Bemühungen, unter den jüngeren Geschäftsfreunden einen Mann zu finden, der genau ihren Erwartungen entsprach, das alles war der Preis, den er glaubte dafür zahlen zu müssen, daß sie bei ihm blieb. Um so schwerer war es für sie ihm das zu sagen, was sie sagen mußte. Sie trank ihren Cappuccino in kleinen Schlucken und hörte den kunstvollen Passagen des Klavierspielers zu, der auf der anderen Seite des Raums saß und dessen Spiel fast in dem gedämpften Stimmengewirr unterging. Die natürliche Freundlichkeit ihrer Eltern und ihr eigener Wunsch zu gefallen, hatten sie so weit gebracht, daß sie ihr ganzes Leben lang daran gearbeitet hatte, bei allem, was sie sagte, freundlich und taktvoll zu sein, Das hatte dazu geführt, daß sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie sie ein Gespräch beginnen sollte, von dem sie wußte, daß es ihren Vater, den sie liebte, verletzen würde. Nun, spring lieber mit einem Satz ins kalte Wasser, als händeringend am Ufer herumzustehen. »Dad«, begann sie, stellte ihre Tasse hin und sah ihm in die Augen, »ich werde nicht wieder in die Kanzlei zurücckommen.« Er legte seine Hand auf ihre, sie fühlte sich warm und stark an. »Natürlich kannst du dir noch Zeit lassen, Liebes. Du kannst dir soviel Zeit nehmen, wie du willst.« Sie hatte gewußt, daß er das sagen würde. Sie holte tief Luft. »Ich meine nie mehr.« Bevor er die Stirn runzeln konnte und die silberweißen Augenbrauen zusammenkniff, bevor die defensive Härte wie ein Schutzschild in seinen Augen auftauchte, konnte sie erkennen, daß er verletzt war. Sie sprach schnell weiter: »Dad, ich war nie gut im Gesellschaftsrecht.« »Unsinn!« fuhr er sie an. »Mit deinen Zensuren und deinem Kopf? Niemand ist gleich von Anfang an gut!«
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»Ich bin jetzt zwei Jahre dabei, und es ist eine Katastrophe. Das weißt du nur zu gut.« Er schüttelte störrisch den Kopf, und sie ahnte, daß er das tatsächlich nicht wußte - oder nicht wissen wollte und verärgert war, weil sie das Thema überhaupt angeschnitten hatte. »Du brauchst nur ein bißchen mehr Erfahrung Catherine.« »Nein.« Ihre Hand schloß sich um die seine, hielt sie fest, sie wollte, daß er ihr zuhörte und ihr glaubte. »Es hat sich viel geändert.« »Wieso?« fragte er und klang dabei wie Tom. »Was hat sich geändert?« »Ich«, sagte Catherine. »Das, was passiert ist, hat mich verändert.« Das war auch etwas, was er nicht wissen wollte. Ihr war klar, daß er nicht daran erinnert werden wollte, daß überhaupt etwas passiert war. Sie beugte sich vor und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Du mußt das akzeptieren.« Er schwieg und sah sie nur in verletztem Zorn an. Er gab sich die größte Mühe, diesen Zorn vor ihr zu verbergen, denn er befürchtete, daß sie durch unbedachte Äußerungen noch weiter von ihm weggetrieben würde. Sie sprach langsam weiter und versuchte, die Gedanken zu formulieren, die sie seit zwei Monaten, sei sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, bewegten. Sie versuchte, sie in Worte zu kleiden, die er verstehen konnte - die sie selbst verstehen konnte. »Wenn so etwas passiert, sieht man die Welt mit anderen Augen. Man sieht, wie Menschen leiden, sieht, wie Existenzen zerstört werden ... und das alles geschieht so beiläufig.« Sie schüttelte den Kopf - sie mußte den wunden Punkt berühren, das, was sie am meisten bei dem Überfall entsetzt hatte - diese an Geistesabwesenheit grenzende Art - fast als würde man einen Käfer töten. »Ich möchte helfen«, erklärte sie nach langen Zögern. »O ja, ich habe auch an das Friedenskorps oder an die Obdachlosenhilfe gedacht, aber ich habe bestimmte Fähigkeiten. Und was ich brauche, ist ein Engagement für eine konkrete Sache. Überall gibt es Ungerechtigkeit. Ich bin nicht die einzige Person, der so etwas passiert ist.« »Du reagierst jetzt nur so, weil du etwas Scheußliches erlebt hast«, sagte Charles Chandler, der wie immer schnell mit einer taktvollen Erklärung bei der Hand war, mit der er glaubte, alles wieder zudecken zu können wie mit einer neuen Farbschicht. »Ich kann das verstehen. Ehrlich, ich verstehe das.« Er nahm wieder ihre Hand und tätschelte sie so, wie er das getan hatte, als sie noch ein Teenager gewesen war. Er war verwirrt und unsicher, weil seine Tochter ihrem Leben einen anderen Sinn geben wollte. »Aber deshalb mußt du doch nicht gleich alles über Bord werfen. Überstürze nichts, Catherine.« »Ich weiß selbst, was mir fehlt.«, erwiderte sie. »Dad, ich kann nicht mehr so weitermachen wie bisher. Ich ich habe lange genug den Kopf in den Sand gesteckt, Und wenn ich jetzt nicht etwas Entscheidenes ändere, gelingt es mir nie mehr.« Auf der anderen Seite des Raums machte der Conf‚rencier eine geschickte Überleitung zu »Smoke Gests in Your Eyes«; Kellner in weißen Jacken kreuzten durch das Meer von Köpfen und Zigarettenqualm wie Segelboote durch kabbeliges Wasser vor einem Sturm. Charles Chandler versuchte langsam seine Hand wegzuziehen, aber sie hielt sie fest. »Und ich brauche dich, du mußt mir mut machen«, sagte sie leise. Lange saß er schweigend da und verarbeitete das, was sie ihm offenbart hatte - womöglich war er ihr sogar dankbar dafür, daß sie ihn letzten Endes wenigstens doch noch um etwas gebeten hatte, um etwas, was er ihr geben konnte. Er mußte sich einfach an den Gedanken gewöhnen, daß sie selbst und nicht er für ihr Glück verantwortlich war. Schließlich erwiderten seine Finger den Druck ihrer Hand. »Ich hatte gehofft ...«, er hob die Schultern. »aber das war wahrscheinlich dumm von mir. Ich hatte tatsächlich gehofft, daß du in der Firma bleiben würdest - daß du sie eines Tages übernehmen würdest. Jeder Mensch wünscht sich, daß sein Kind eines Tages da weitermacht, wo er aufgehört hat. Und ich dachte ... Das waren doch keine Phantastereien, oder?« Sie seufzte, sie liebte ihn und wünschte, sie könnte ihm irgendwie klarmachen, daß die Tatsache, daß sie ihr eigens Leben leben wollte, nicht bedeutete, daß sie aus seinem Leben verschwinden würde. Aber sie erwiderte nur: »Nein, damals waren es keine Phantastereien. Aber heute ist das anders.« Mit Tom hatte sie es nicht so leicht. »Sei nicht albern«, sagte er, als sie eines Abends nach dem Dinner über die 72nd Street zu Catherines Apartment in der Central Park West gingen und sie mit ihm darüber redete. Es war Anfang Juli, neun Uhr abends; die Stadt trug den Zauber der Dämmerung wie ein Gewand, das mit funkelnden Sternen übersät war. Obwohl Tom immer gewissenhaft in seinem Sportclub trainierte, bewegte er sich ziemlich steif, und wenn er gereizt war, wurden seine Bewegungen noch eckiger. Selbst seine Gesten waren jetzt abgehackt, und Cathy konnte im Halbdunkel erkennen, daß seine braunen Augen verächtlich blitzten. »Du willst also dein Apartment aufgeben und in eine Einzimmerwohnung ohne Fahrstuhl ziehen, nur weil du das für politisch korrekter hältst? Ich weiß, was du tust, aber ich hatte doch geglaubt, du hättest in deinem Alter endlich dieses Stadium überwunden. Du glaubst, du würdest diesen Landstreichern oder Zigeunern, oder wer sonst dich aufgesammelt hat, etwas schulden -«
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»Und wenn es so wäre?« fragte Catherine in ruhigem Ton und zog ihren mit Pailetten besetzten Schal fest um die Schultern, der Abendwind strich sanft über ihr Haar. »Nun komm schon«, sagte er verächtlich. »Sei realistisch.« Sie dachte an diese Leute, an die sie zuvor nie einen Gedanken verschwendet hatte, unbewußt hatte sie ihren Anblick immer vermieden: an die alte Negerin, die auf den Stufen der Post herumlungerte und die Passanten höflich um einen Vierteldollar bat; an die Männer in den U-Bahnhöfen, die auf alten Zeitungen lagen; an die Kinder, die sich nachts in den Hauseingängen am Times Square herumtrieben, weil das immer noch besser war, als nach Hause zu gehen. Sie dachte an die Menschen, die in einer Zeitung nur für blutrünstige Stories sorgten: Mann aus Brooklyn niedergeschlagen und beraubt; Teenager vergewaltigt; Mutter von drei Kindern vergewaltigt und ermordet; 81jähriger Zeitungsverkäufer ausgeraubt... »Wie realistisch willst du denn noch werden? Ich habe das Armsein ausprobiert, Cathy«, sagte er kühl. »Als ich jung war, mußte ich jeden Pfennig umdrehen. Das wird dir nicht gefallen.« Sie betrachtete das glattrasierte längliche Gesicht, diese schmalen Lippen, den eleganten Schnitt seines grauen Flanellanzugs und das blaßrosafarbene Seidenhemd, das er darunter trug. Gut genährt, gut frisiert, einfach perfekt, so wie auch sie immer nach Perfektion gestrebt hatte. Ja, er war in Armut großgeworden, hatte im Restaurant seines Vaters und als Angestellter in einem Spirituosengeschäft arbeiten müssen, um die Lehrbücher für das College bezahlen zu können, und er wollte nicht daran erinnert werden. »Ich suche nicht die Armut«, erklärte sie in ruhigem Ton. »Ich suche eine Möglichkeit, den Leuten zu helfen. Leute, die verletzt worden sind, die sich nicht selbst helfen können. Und eine Möglichkeit, wie man dafür sorgen kann, das so etwas möglichst nicht mehr passiert.« Er verdreht die Augen. »Und ich sage dir, daß die Leute, die die Hilfe verdient haben, gewöhnlich diejenigen sind, die sich aus eigenem Antrieb wieder ins Lot bringen, und nicht die Verlierertypen, die überall herumlungern und sich über ihr schweres Schicksal beklagen. In unserer Welt muß niemand verhungern, Cathy. Die Leute könnten sich selbst helfen, wenn sie sich nur Mühe geben würden.« »Wer ist denn jetzt unrealistisch?« Er gab ein leises Geräusch von sich - wie ein Lachen, legte seine Arme um sie und hielt sie einen Augenblick lang fest, beugte seinen Kopf ein wenig und blickte auf sie hinunter. Unwillkürlich stellte sie fest, daß er immer noch ihre rechte Seite bevorzugte, möglichst weit weg von der Narbe. »Ich möchte nur nicht, daß du mit dem Kopf gegen die Wand läufst«, sagte er sanft. »Und das wird geschehen, wenn du dir diese haarsträubenden Ideen von einer kostenlosen juristischen Beratungsstelle oder einem Job bei der Staatsanwaltschaft nicht aus dem Kopf schlägst. Du kannst deine Dienste nicht kostenlos anbieten, nur weil du in dieser Woche gerade für jemanden eine Schwäche hast. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber du kannst die Welt nicht verändern, Cathy.« Er beugte den Kopf, um sie ganz leicht auf die Wange zu küssen. Obwohl Catherine hin und wieder mit verschiedenen anderen Männern ausgegangen war - mit alten Freunden ins Theater und zum Abendessen oder mit Ed zum Tanzen -, war Tom bisher ihre einzige ernsthafte Beziehung, er war sicher der einzige, bei dem ihr der Gedanke ans Heiraten schon gekommen war. Ihr Vater wünschte sich das, dessen war sie sich bewußt - er mochte Tom. Aber seit sie wieder zurück war, hatten sie noch nicht ein einziges Mal miteinander geschlafen, obwohl Tom sofort wieder mir ihr ausgegangen war, nachdem ihre Wunden geheilt waren. Sie hatten nicht darüber gesprochen, aber Catherine konnte spüren, daß er grollend abwartete, und wußte, daß er überzeugt war, daß ihr Zögern mit irgend etwas zusammenhing, was sich in jenem mysteriösen zehn Tagen ereignet hatte. Tatsächlich war es der Streit im Barron gewesen, bei dem sich ihre Vorbehalte gegen die Beziehung mit Tom herauskristallisiert hatte - die besitzergreifende Art, mit der er über ihre Zeit verfügte, sein Wunsch, darüber entscheiden zu dürfen, wo ihre Prioritäten lagen. Manchmal kam ihr der Gedanke, daß er wahrscheinlich die Tochter eines wohlhabenden Anwalts für eine bessere Partie hielt als ein berufstätiges Mädchen. Für sein Prestige schien es besser zu sein, wenn sie ausschließlich Charles Chandlers Tochter war. Während der langen Tage im Dunkel der Tunnels hatte sie viel über Tom nachgedacht, obwohl ihr zu der Zeit schon klar war, daß sie zu keinem endgültigen Schluß kommen würde. Während der vierundzwanzig Stunden zwischen ihrer Rücckehr und ihrer Einlieferung in die plastische Chirurgie des Krankenhauses hatte sie ihn nicht sehen wollen. Sie hatte instinktiv gewußt, wie er auf ihr Aussehen reagieren würde und daß sie selbst mit dieser Reaktion nicht fertig werden könnte. Sie hatte ihm womöglich damit unrecht getan, dachte sie. Aber er war, aus welchen Gründen auch immer, erst gekommen, als die Operation vorbei war. Als er sie wieder zum Ausgehen einlud, nahm sie die Beziehung wieder auf, hauptsächlich weil sie den Wunsch hatte, wenigstens in irgendeiner Form das vertraute Leben weiter zuführen. Vielleicht würde die Beziehung sich jetzt, da sie kein Interesse mehr daran hatte, mit anderen Männern auszugehen, ja auch ändern, so wie sich andere Dinge in ihrem Leben geändert hatten. Aber obwohl er sich ihr gegenüber genauso verhielt wie vorher, sie umsorgte, ihr Geschenke machte und ihr
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jeden Wunsch von den Augen ablas, hatte sie kein Verlangen mehr danach, mit ihm ins Bett zu gehen. Es kam ihr heute sogar seltsam vor, daß sie das einmal getan hatte - beziehungsweise, daß sie unsicher genug gewesen war, um sich von ihm dazu überreden zu lassen. Es kam ihr vor, als wäre das alles vor vielen Jahren im Leben eines anderen Menschen geschehen. Was in gewisser Weise auch stimmte. Trotzdem fiel ihr kein guter Grund ein, warum sie die Beziehung abbrechen sollte. Er achtete offenbar sehr darauf, ihr keinen Grund zu geben. Also ließ sie den Dingen ihren Lauf. Er hielt sie immer noch fest - und sie ließ ihn gewähren, obwohl der Griff und die Kraft eines Männerarms bei ihr immer noch schlimme Verkrampfungen auslösten - und bedrängte sie: »Bestraf dich doch nicht für das, was dir passiert ist. Das Leben geht weiter.« Ein Lieferwagen sauste auf der 72nd Street vorbei, seine Scheinwerfer streiften sie, als er an der Ampel an der Ecke vorbeifuhr. Catherine zuckte leicht zusammen, aber es war nur ein alter, gelber Wagen, der mit bunten Blumen bemalt war wie diese Wagen der Hippies aus den Sechzigern. Sie trat vorsichtig einen Schritt zurück und befreite sich aus seinen Armen. »Das habe ich auch nicht vor.« Sie ging auf ihr Haus zu, ein hoher altmodischer weißer Bau, dessen Fenster mit den weiß- blauen Markisen auf den Park blickten. Tom hielt sie an den Armen fest. Er sah sie plötzlich mit seinen dunklen Augen ganz ernst an und sagte ruhig: »Du hast mit noch nie alles erzählt, was sie mit dir gemacht haben.« »Woher willst du wissen, ob das, was ich dir erzählt habe ›alles‹ war oder nicht?« Sein Griff wurde fester. »Haben sie dich vergewaltigt?« Sie erwiderte seinen Blick ganz ruhig. »Würde das für dich soviel ändern?« Sein Blick wich ihr aus. »Natürlich nicht.« Er nahm wieder ihre Hand und brachte sie zur Tür. »Das ist jetzt für dich nicht die richtige Zeit, Entscheidungen für das ganze Leben zu treffen, Cathy«, sagte er, bevor er sie auf den Mund küßte. »Tu nichts, was uns beiden leid tun würde.« »Und das Schlimmste daran ist, daß sie womöglich beide recht haben«, sagte sie am nächsten Tag, als sie mit Jenny über den schattigen Weg zum Bootshaus-Caf‚ im Park spazierte. Es war ein heißer Tag, ein typischer New Yorker Sommertag, feucht, windstill und irgendwie unwirklich. Die Sonne funkelte auf dem Wasser, das mit Paddelbooten und kleinen Segelbooten bedeckt war. Die große Terasse mit ihren gelb- und orangefarbenen Sonnenschirmen war überfüllt, auf dem Gras der kleinen Hügel rundherum lagen Paare auf Decken, Kinder und Hunde tobten auf der Wiese. Auf der anderen Seite einer Baumreihe schien die gesamte Bevölkerung der freien Welt in einem still vor sich hindampfenden Verkehrsstau auf der Fifth Avenue zu schwitzen. »Ich meine, es kann durchaus sein, daß ich unbewußt versuche, einen Ausgleich dafür zu schaffen, daß ich reich bin, daß ich die Häßlichkeit und Ungerechtigkeit der Welt um mich herum nicht sehen will. Einen Ausgleich dafür, daß ich die Tochter meines Vaters bin.« Sie steckte ihre Hände in die Taschen ihres leichten Blazers und sah ihre Freundin an. »Ich weiß, daß ich es in meinem Leben nach Möglichkeit immer vermieden habe, den häßlichen Dingen ins Auge zu schauen. Ich habe mir - genau wie mein Vater - immer gesagt, daß ich gegen Gewalt und Verbrechen ohnehin nichts ausrichten kann, warum sollte ich mich dann überhaupt damit befassen und darüber aufregen? Aber jetzt sehen ich das anders. Ich möchte helfen - ich möchte ... ich möchte dazu beitragen, daß anderen Leuten das erspart bleibt, was mir passiert ist. Andererseits ist es natürlich möglich, daß ich unbewußt das Gefühl habe, ich hätte es verdient. Das habe ich nun von diesen verdammten Psychologievorlesungen in Radcliff!« Jenny lachte. »Ich weiß. Jedesmal wenn ich so ein Selbsthilfebuch redigiere, frage ich mich, ob ich das nicht aus irgendeinem verborgenen Trieb heraus tue. Aber ist das nicht egal?« Sie warf ihr glattes schwarzes Haar nach hinten. »Wenn dir das, was du tust, Spaß macht oder dir zumindest eine Art von Befriedigung verschafft wenn du zum Beispiel Leuten hilfst -, ist es dann eigentlich nicht egal, warum du das tust? Schließlich ist es dein Leben. Du bist ihnen keine Rechenschaft schuldig.« »Ich weiß«, seufzte sie. »Die haben das noch nicht begriffen, aber ich.« Sie zuckte mit den Achseln. Weder Jenny noch Nancy - die sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus eine Woche lang besucht hatte - hatten sie je nach den ominösen zehn Tagen gefragt. Sie wußte nicht, ob sie die Geschichte aus zweiter Hand, von ihrem Vater, erfahren hatten oder nicht, aber sie vermutete, daß das der Fall war. Wenn es umgekehrt wäre, wüßte sie genau, daß sie neugierig sein würde. Aber sie war ihnen dankbar, daß sie das Thema nicht anschnitten. »Schluß jetzt mit dieser Seelenerforschung«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Kein Job ist für die Ewigkeit. Wenn es mir nicht gefällt, kann ich immer noch als Kellnerin Cocktails servieren.« »Nein, nein«, widersprach Jenny mit todernster Miene, »dann mußt du immer diese fürchterlichen Schuhe mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen tragen.« »Stimmt«, sagte Catherine, die noch nie in ihrem Leben, nicht einmal während der Zeit auf dem College, als Kellnerin gearbeitet hatte. »Dann eben in einem von diesen Lokalen, in denen man auf Rollschuhen bedient. Komm wir holen uns eine Limonade.«
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Eigenartig, dachte sie später, als sie am Parkrand entlang nach Hause gingen, wie wunderschön es war, einfach draußen zu sein, die Sonne und die Luft im Gesicht zu spüren. Vincent hatte darüber gesprochen ... daß er noch nie am Tag draußen gewesen war, daß er noch nie die Gänseblümchen im Park gesehen hatte, wenn sie sich in der Sonne geöffnet hatten. Seine Welt war eine Welt der Dämmerung und der Nacht. Eine Welt der Stille - es hatte Wochen gedauert, bis sie sich wieder an den ständigen Lärm der Stimmen und Telefone, an das Tosen und den Gestank der Autos und das Donnern der Flugzeuge gewöhnt hatte. Er lebte in einer Welt, deren Bewohner einem Menschen, den sie verletzt im Park fanden, ohne zu zögern, halfen, so wie der Durchschnittsbürger von New York, ohne zu zögern weiterging. Sie hatte allmählich begriffen, welches Geschenk Vincent und die Bewohner der Tunnels ihr gemacht hatte: das Geschenk des Vertrauens. Das Vertrauen bezog sich womöglich nicht auf alles - es war vielleicht nicht mehr das unbedarfte Vertrauen, das sie einmal gehabt hatte, die Annahme, daß alles in Ordnung wäre und auch immer in Ordnung sein würde ... aber es war ein Vertrauen in das Gute im Menschen, obwohl die Welt so war, wie sie war. Ihr angeborener Glaube an das Leben, ihre Fähigkeit, die Welt ohne Angst genießen zu können, war zwar verletzt, aber nicht vernichtet worden, weil Vincent so freundlich gewesen war. Sie mußte sehr oft an Vincent denken: er fehlte ihr sehr: sie wollte mit ihm reden und vermißte den Klang seiner Stimme und das Gefühl, daß er in ihrer Nähe war. In der zehn Tagen, in denen sie zusammen gewesen waren, war sie ihm nähergekommen als je zuvor einem Menschen, Mann oder Frau. Es war, als wären sie schon seit ewigen Zeiten Freunde. Ihm konnte sie alles sagen und sicher sein, daß er sie verstehen würde. Wochenlang hatte sie unbewußt Ausschau nach ihm gehalten, hatte immer halb damit gerechnet, ihn irgendwo zu sehen, obwohl sie sich sicher war, daß er niemals aus seiner unterirdischen Welt auftauchen würde, daß er das niemals wagen könnte. Auf einer von Toms kostspieligen Firmenpartys hatte sie gehört, wie eine Frau, auf der anderen Seite des Raums seinen Namen rief, und hatte sich schnell umgedreht. Aber es war natürlich nicht er, sondern nur ein gutaussehender italienischer Punk, Leibwächter eines zwielichtigen Bauunternehmers, mit dem Tom arbeitete. Und der Name Vincent war schließlich nicht selten. Aber der Vorfall hatte ihr doch einen wehmütigen Stich versetzt. Die Welt unter der Erde würde ihr immer verschlossen bleiben, so wie die Welt oben für ihn unerreichbar war. trotzdem überraschte sie sich selbst dabei, daß sie jedesmal aufmerksam hinsah, wenn sie an den großen zementierten Belüftungsschächten im Central Park vorbeikam. Sie erwartete immer ... sie wußte selbst nicht, was sie eigentlich erwartete. Und wenn sie im Sonnenschein durch die Stadt ging, sei es, daß sie zu dem braunen Sandsteinhaus ihres Vaters ging, um mit ihm im dämmerigen Zwielicht seines Zimmers Tee zu trinken, oder sich mit Freunden im Caf‚ an der Ecke traf, lächelte sie jedesmal, wenn sie an einem Kanalgitter vorbeikam.
8 »Ihre Referenzen sind ausgezeichnet.« Der Staatsanwalt von New York, John Moreno, blätterte in den sauber getippten Seiten des Lebenslaufs, der vor ihm auf dem Schreibtisch auf einem Stapel anderer Papiere lag. Es war ein kaum noch zu bewältigendes Durcheinander von schriftlichen Aussagen, Berichten von Verhaftungen, Akten, Kurzmitteilungen, eidesstattlichen Versicherungen, Protokollen, Durchschriften der Protokolle, Durchschriften der Durchschriften und einander widersprechende Aktennotizen über verschiedene Sachverhalte vom Bürgermeister und vom Chef der Polizei. Moreno war ein großer, blasser Mann mit dem leicht nervösen Ausdruck der Leute, die in größeren Städten bei der Justiz arbeiteten; er saß in Hemdsärmeln da, die Klimaanlage hatte zum fünftenmal sein Ostern ihren Geist aufgegeben. Als höherer Beamter der Stadt stand ihm in der überfüllten Justizabteilung ein geräumigeres Büro zu - und eine Sekretärin, obwohl die arme Frau die meiste Zeit damit zubringen mußte, Telefongespräche abzufangen und Termine zu vereinbaren - und wenn das Rechteck seines Fensters auch nicht auf das wunderschöne Betonkleeblatt der Auffahrt zur Brooklyn Bridge blickte, sondern auf den Bienenstock der Glaskabinen und auf die abgewetzten beigefarbenen Karteischränke, aus denen die Hauptabteilung bestand, sollte er sich etwa über die Unvollkommenheit der Welt beklagen? »Radcliff, Cornell Law, zweijährige Erfahrung im Gesellschaftsrecht.« Er blickte durch die geöffnete Minijalousie des Innenfensters auf die Bewerberin, die in dem winzigen Warteraum vor seinem Büro saß. Eine schlanke, blonde, atemberaubend schöne Frau in einem einfachen schwarzen Kostüm, das bestimmt nicht in Macy's Basement gekauft worden war, soviel konnte er sehen. »Sie will wirklich einen Job?« Joe Maxwell, der vor dem Schreibtisch saß, folgte seinem Blick. »Sie behauptet es. Wer weiß?« Er zuckte mit den Achseln. Joe war einer der jüngeren Assistenten der Abteilung. Er hatte gleich zu Anfang eine Art konfektionierten
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Zynismus mitgebracht und war inzwischen schnell durch die Fälle, die er bearbeitet hatte, zu einem eisenharten, abgebrühten Beamten geworden. Er saß auch in Hemdsärmeln da - Morenos Büro hatte wenigstens einen eigenen Deckenventilator, wenn die Klimaanlage kaputt war, die Büros der Assistenten kannten solchen Luxus nicht. Maxwell sprach weiter: »Sie ist die Tochter von irgendeinem reichen Typen ... ich glaube, sie sucht etwas Sinnvolles. Können Sie sich noch erinnern, sie war im Frühling einmal verschwunden. Freundin von Tom Gunther.« »Ach, tatsächlich?« Während der zehn Tage ihrer Abwesenheit war Gunther sowohl der Staatsanwaltschaft als auch der Polizei auf die Nerven gegangen. Er hatte getobt, gedroht und ständig herumgemeckert, weil angeblich nichts getan würde. Anschließend war er dann mit Schaum vor dem Mund wieder erschienen und hatte wissen wollen, wer aus dem Büro der Presse die Geschichte zugespielt hätte, als ob seine eigene Vorstellung nicht schon gereicht hätte, um die Geier in der Lobby auf die richtige Spur zu bringen. Moreno sah noch einmal hin. Die Einzelheiten des Falls waren schon lange aus seinem Gedächtnis verschwunden, falls er sie überhaupt je gekannt hatte. Dafür hatte zwei Monate angefüllt mit Morden, Vergewaltigungen, Rauschgifthandel in großem Stil und organisierte Diebesbanden gesorgt, aber die Frau sah aus, als lohnte sich ein solches Theater, um sie zurückzubekommen. Und wenn an dem Lebenslauf etwas dran war, dann war sie weit entfernt davon, eine dieser Lebedamen aus der feinen Gesellschaft zu sein, so wie er sie sich damals unbewußt vorgestellt hatte. »Ein Paar Hände mehr«, sagte er. »Ein zusätzliches Gehirn. Der Himmel weiß, wie gut wir jede Hilfe gebrauchen können.« Draußen vor seinem Büro wimmelten die Assistenten der Staatsanwaltschaft und die Angestellten wie Ameisen in einem Ameisenhaufen herum, immer einen Schritt von dem unerreichbaren Ziel entfernt, Gerechtigkeit für alle zu erreichen, wie es im Amtseid so schön heißt. Miß Chandler war hin und wieder einen Blick über ihre Schulter auf das ganze Durcheinander, aber sie schien ganz ruhig zu sein. Moreno fragte sich, ob sie tatsächlich einen so kühlen Kopf hatte oder ob sie sich dachte, das alles hätte nichts mit ihr zu tun. Sie sah nicht wie ein exzentrisches Mäuschen aus. Joe machte eine Geste, die offensichtlich bedeuten sollte: Das ist dein Bier, Kumpel. »Wo wollen Sie sie denn hinstecken?« »In den Außendienst«, sagte Moreno lapidar und griff nach einer Zigarette. Dann erinnerte er sich, daß heute der erste Tag in seinem neuen Leben war, und nahm sich statt dessen einen Zahnstocher und kaute darauf herum. Johnny, du mußt immer daran denken, sagte er zu sich selbst. »Untersuchungen, Nachforschungen, irgend so etwas. Sie soll sich erst einmal die Hacken ablaufen. Geben Sie ihr alles, was anfällt. Auf diese Weise werden wir schnell herausfinden, ob sie wirklich gut ist.« »In Ordnung.« Als er auf die Füße sprang, um die Tür zu öffnen, hatte Joes jungenhaftes Gesicht einen amüsierten Ausdruck. »Miß Chandler ... Staatsanwalt Moreno läßt bitten.« Die ersten zwei Wochen waren furchtbar. Obwohl Catherine eine sehr behütete Kindheit gehabt hatte, war sie doch nicht weltfremd. Als sie während ihrer Collegezeit ein Verhältnis mit dem linksradikalen Simon gehabt hatte, hatte sie eine Phase durchlebt, in der sie die Ungerechtigkeit der Welt studiert hatte. Sie mußte allerdings später zugeben, daß sie das hauptsächlich getan hatte, um mit Simon und seinen Freunden mithalten zu können. Aber selbst in dieser Zeit waren Armut und Verbrechen für sie akademische Begriffe gewesen, denn es ist natürlich nicht leicht, Zorn auf das kapitalistische System zu entwickeln, während man von dem lebt, was einem der Vater jeden Monat überweist. Nachdem sie mit Simon Schluß gemacht hatte, hatte sie zwar weiter pflichtbewußt die Zeitung gelesen, aber allmählich konzentrierte sie sich dabei immer mehr auf den Wirtschaftsteil, die Modeseiten und das Feuilleton. Dies hier war etwas anders, aber das war ihr von Anfang an klargewesen. Sie gehörte jetzt zum Personal. Sie wußte »aus eigenem Erleben«, wie ihr Professor für Strafrecht immer gesagt hatte, was es hieß, ein Opfer und anderen Menschen hilflos ausgeliefert zu sein - und zu erfahren, was die Stadt dagegen tun konnte. Dieses Wissen konnte sie nicht mehr verdrängen. Sie hatte überlebt, deshalb war es ihr unmöglich, die Menschen im Stich zu lassen, die genauso gelitten hatten wie sie. Aber erst als sie die isolierte Luxuswelt der Hochfinanz verlassen hatte, war ihr klargeworden, welche Folgen ihre Entscheidung für sie hatte. Sie wurde mit der Häßlichkeit, der Brutalität und Härte des Lebens konfrontiert, etwas das sie vorher kaum wahrgenommen hatte. Im Verlauf der Untersuchungen machte sie Erfahrungen mit ungeheizten Mietwohnungen, in denen die verrosteten Spülbecken mehr Kakerlaken als Wasser enthielten und die Toilettenspülung schon seit Jahrzehnten nicht mehr funktionierte. Die Kinder kontrollierten abends wegen der Ratten vor dem Zubettgehen ihre Zimmer routinemäßig mit einem Hammer; sie lernte Achtjährige kennen, die für hundert Dollar Kokain pro Tag verbrauchten und auf dem Schulhof mit Crack dealten, und sie lernte die Männer kennen, die sie belieferten. Beim Recherchieren erfuhr sie, wie leicht es war, die Gesetze zu umgehen, weil sie durch die Bürokratie und
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bestimmte technische Formalitäten behindert wurden. Eigentlich hatten diese Formalitäten den Sinn, die Unschuldigen zu schützen, in der Praxis wurden sie aber von den Schuldigen dazu benützt, mit Hilfe von cleveren Anwälten die Lücken in diesen Gesetzen aufzuspüren. Sie erlebte, daß es meistens die kleinen Gauner waren, die ins Gefängnis gesteckt wurden, während die schweren Jungs, die Drogenhändler und die Bosse des organisierten Verbrechens und die Bandenchefs frei ausgingen. Sie sah zum erstenmal in ihrem Leben ein Gefängnis von innen, den Zement und das stählerne Gitterwerk der zellen, die offenen Toiletten, den Mangel an Privatspähre, Menschenwürde und Ruhe, die gekritzelten Graffiti, und sie roch den schrecklichen Gestank nach Schweiß und Exkrementen und spürte überall Haß. Sie lernte, wie unschuldig der Schuldige mit dem biederen Gesicht erscheinen konnte und wie leicht es passierte, Angst als Schuldbekenntnis zu interpretieren. Sie mußte außerdem die Erfahrung machen, wieviel Büroarbeit von den Gesetzeshütern verlangt wurde: Berichte mußten so abgelegt werden, daß man sie auf Anhieb wiederfinden konnte, wenn der Beschuldigte endlich vor Gericht kam, das konnte manchmal Monate oder sogar Jahre dauern; Vernehmungsprotokolle, die vom Gericht für wertlos erklärt wurden, weil jemand vergessen hatte, den Menschen über seine Rechte zu informieren; Polizeiberichte, Berichte von Bewährungshelfern, vom Jugendamt - alles mußte überprüft, abgelegt, neu geschrieben, ergänzt oder irgend jemanden auf den Schreibtisch gelegt werden. Sie lernte die ganze kopflastige und unwirksame Gesetzesmaschinerie kennen und die Leute, die auf beiden Seiten des Gesetzes mit dieser Maschinerie in Berührung kamen. Sie lernte, wie man so sagt, alles von der Pike auf. Nachdem sie eine Woche lang vergeblich versucht hatte, einen Parkplatz zu bekommen - und feststellen mußte, daß ihre Sondergenehmigung ihr noch lange keinen Abstellplatz in der Garage garantierte -, fuhr sie mit dem Bus zur Arbeit und fing schon früh morgens an, weil sie immer einen Haufen Arbeit hatte und alles bis zum Mittag auf dem Schreibtisch des Staatsanwalts liegen mußte. Gewöhnlich wurde es abends spät, und wenn sie dann endlich nach Hause fuhr, hatte sie das Gefühl, eine Schlägerei hinter sich zu haben. Gleichzeitig hatte sie auch am Abend eines jeden Tages das Gefühl - ganz gleich in welcher Abteilung sie gearbeitet hatte -, daß ständig irgend jemand von ihr hatte wissen wollen, wo ein bestimmter Bericht oder ein bestimmtes Protokoll zu finden wäre. Wir müssen das morgen vorlegen, verstehen Sie? Die ständigen Telefonanrufe, die sie bei der Arbeit störten, machten alles noch schlimmer. An manchen Tagen konnte es passieren, daß der halbe Vormittag vorbeiging, ohne daß sie mehr als ein wundes Ohr vorweisen konnte, und dann stand plötzlich Joe Maxwell vor ihrem Schreibtisch und sagte: »Verdammt, Radcliffe, Sie haben die Zahlen doch schon seit Tagen.« Sie lernte, wie man sich morgens in dreißig Minuten duscht, anzieht und schminkt - früher hatte sie mindestens anderthalb Stunden dazu gebraucht, bevor sie mit dem Ergebnis zufrieden gewesen war. Sie sehnte sich danach, wieder einmal beim Frühstück in aller Ruhe die Zeitung lesen zu können oder wenigstens überhaupt in ihrem Apartment zu frühstücken. An dem meisten Tagen gab es nur ein Brötchen oder eine Kleinigkeit von dem Imbißwagen, der um zehn sein Geschäft an der Ecke des City Hall Park öffnete. Trotzdem hatte sie das Gefühl, immer zu spät zu kommen, ständig zuwenig getan zu haben, dann so sehr sie sich auch anstrengte, sie war nie gut genug. Ihr Vater hatte recht gehabt, dachte sie. Tom hatte recht gehabt. Eines Abends saß sie erschöpft in ihrer Kabine - eigentlich war es nur eine Ecke, die von Karteischränken und einer verglasten Trennwand vom Rest des Raums abgeteilt war -, und es wurde schon dunkel. Müde hörte sie, wie das Reinigungspersonal die Papierkörbe in die Müllbehälter ausleerte. Sie hatte ihr Leben in den Sand gesetzt, hatte auf allen Komfort und auf eine friedliche Zukunft verzichtet, und wozu das alles? Um hinter einem Traum herzurennen - und sie war dabei nicht einmal gut. Es war unerträglich heiß - die Klimaanlage funktionierte immer noch nicht - und roch nach kaltem Zigarettenrauch; sie war verschwitzt, sah fürchterlich aus, und der Kopf und die Beine taten ihr weh. Die Frau, die von ihrem Mann mißhandelt worden war, den man seit zwei Wochen vergeblich hatte vorladen wollen, hatte beschlossen, wieder zu ihm zurückzugehen. Der Dealer, der vor dem Tor der Abraham-Lincoln-Schule erwischt worden war, war wegen eines Formfehlers wieder freigelassen worden - morgen früh würde er wieder Crack verteilen. Der junge Mann, der gesehen hatte, wie ein Zuhälter ein sechzehnjähriges Mädchen mit einem Rasiermesser bearbeitet hatte, hatte beschlossen, im Zeugenstand seine Aussage zu widerrufen. Sie mußte noch sechs Berichte schreiben und war hundemüde. Jedenfalls verbessere ich mich, dachte sie. In Dads Büro habe ich zwei Jahre gebraucht, bis mir klar war, daß ich ein Versager bin. Jetzt habe ich dazu nur zwei Wochen gebraucht. Sie stützte ihren Kopf auf die Hände und seufzte. Eine Träne tropfte auf das Formular mit den drei Durchschlägen - gelb, rosa, hellgrün -, das vor ihr lag, und sie wischte sie unwillig weg. Verdammt, dachte sie. Ich will das hier tun, aber ich habe nie gelernt, wie man so etwas macht. An der eigentlichen Juristerei lag es nicht. Es lag an den Leuten, an dem Druck, an der Frustration, daß sie immer wieder um die Früchte ihre Arbeit gebracht wurde, manchmal noch während sie verzweifelt dabei war, sie zu erledigen.
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Womöglich bestand ihre einzige Qualifikation darin, daß sie Daddys kleines Mädchen war - Verzeihung, daß sie Charles Chandlers Tochter war. Sich immer schön an allen Schwierigkeiten vorbeimogeln; sich gut anziehen, schön sein, auf Partys gehen und Mandanten beeindrucken; saubere kleine Rechtsfälle von Mandanten bearbeiten, die nicht plötzlich ihre Meinung änderten oder verschwanden oder wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet wurden. Sie wäre dabei zwar nicht viel glücklicher, aber sie könnte wenigstens hin und wieder einmal während der Bürozeit schlafen. Ein Schatten erschien an ihrer Tür. »Sind Sie immer noch hier, Radcliffe?« Sie wischte sich schnell mit einem Finger über die Augen und stammelte. »Ich war gerade dabei zu gehen.« »Ich würde sagen, um halb acht wird es aber auch langsam Zeit.« Joe Maxwell trat einen Schritt näher und blinzelte sie im gelblichen Schein der Schreibtischlampe an. Ohne Jacke und Krawatte, die hatte er in die Tasche gesteckt, und mit seinem zerzausten dunklen Haar sah er bedeutend weniger imposant aus als während der Arbeitszeit. »Haben sie schon gegessen?« Sie schüttelte den Kopf - sie hatte nicht einmal zu Mittag gegessen, das fiel ihr jetzt erst ein. Kein Wunder, daß sie Kopfschmerzen hatte. »Kommen Sie«, sagte er. »Holen wir uns einen Hamburger. Sie sehen so aus, als ob ihr Blutzuckerspiegel im Keller wäre.« »Daran liegt es nicht«, gestand sie, als sie sich zehn Minuten später auf das türkisfarbene Plastikpolster im Tummy Time, einem billigen Laden auf der Reade Street, fallen ließ. »Es hängt damit zusammen, daß ich offenbar nichts richtig machen kann. Ich habe kaum Zeit, die Berichte hinzuschmieren - sie sind dann nie vollständig -, ich komme immer zu spät zu Zeugenvernehmungen - irgend jemand muß meine Arbeit immer kontrollieren, weil ich etwas übersehen oder vergessen habe ... ich verlege Sachen. Ich war früher nie so.« Letzte Nacht hatte sie von Vincent geträumt: Im Traum hatte sie mit ihm im Dunkel des Tiefkellers gestanden, den Druck seines starken Arms um ihre Taille gespürt, die rauhe Weichheit seines Mantels an ihrer Wange gefühlt. Es hatte zwei Türen gegeben, die aus diesem Keller hinausführten, nicht eine, und sie mußte sich entscheiden, durch welche sie gehen wollte, ohne zu wissen, wohin die beiden Türen führten. Sie hatte ihn immer wieder gefragt: Welche soll ich nehmen? Und er hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: Du weißt, wohin du gehen mußt. Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Joe nahm eine Papierserviette aus dem Blechbehälter, der auf dem Tisch stand, und gab sie ihr. Sie schämte sich, weil sie schwach geworden war. »Radcliffe«, sagte Joe einen Augenblick später, »ich werde Ihnen einmal ein hypothetisches Beispiel geben.« Seine Stimme klang so kühl und zynisch wie immer, aber nicht ungeduldig. »Stellen Sie sich einmal vor«, fuhr Joe fort, und seine Stimme bekam automatisch den gleichen Ton, den sie vor Gericht hatte, »Sämtliche Abfälle des Schlachthofs von Chicago würden auf einen Haufen aufgeschichtet, der eine Meile hoch wäre, und Sie, ich und die anderen Assistenten der Abteilung müßten das alles bis zum Beginn der nächsten Woche weggeschafft haben. Jeden Morgen um sieben kämen wieder Hunderte von Müllwagen, um neue Abfälle abzuladen und das Problem zu vergrößern.« Er beugte sich vor, seine dunklen Augen blickten ernst, und er gestikulierte mit einem Teelöffel. »Glauben Sie unter diesen Umständen würde jemand ernsthaft daran denken, ihre Schaufelmethode zu kritisieren?« Catherine versuchte, ihr Lachen hinter der Hand zu verbergen. »Seien Sie wieder fröhlich, Radcliffe.« Joe lächelte. »Sie machen Ihre Sache wirklich gut.« Der Weg war lang gewesen. Es gab immer noch Dinge, die sie störten, die sie überraschten, wenn sie gar nicht mit ihnen rechnete, die ihr klarmachten, daß sie doch in viel stärkeren Maße ein verwöhntes Prinzeßchen gewesen war, als sie es damals vermutet hatte: ihr konstanter Widerwille gegen die schwarze Brühe, die man im Büro Kaffee nannte, zum Beispiel. Zu Hause hatte sie sich immer eine besonders delikate Kaffeesorte gekauft und die Bohnen selbst gemahlen, weil der Kaffee auf diese Weise aromatischer war. Sie fühlte sich auf den Schlips getreten, als man ihr sagte, daß sie nicht wie die anderen im August Urlaub bekommen würde, weil sie erst im Juli angefangen hatte. Statt dessen saß sie in ihrem Büro, in dem es nicht einmal einen Ventilator gab, und mußte das doppelte Arbeitspensum erledigen, während alle anderen sich am Strand amüsierten. An diesem, glühendheißen Wochenende kam ihr Vater vom Landhaus der Familie auf Gloucester Island in die Stadt und lud sie, Tom und Kim Baskerville, die Witwe eines alten Freundes, zum Dinner und anschließend zu einem Chopinkonzert ein. Er brachte damit ein großes Opfer, das war Catherine klar, denn sie wußte, wie sehr er New York im Sommer haßte. »Dein Vater will es zwar nicht zugeben«, sagte Kim, als sie neben Catherine die Stufen in die schwüle Nacht hinunterging, »aber er ist stolz auf dich.« Catherine sah sie überrascht an. Kim war eine hübsche Frau mit einem gesunden, sonnengebräunten Gesicht, das sich von dem schlichten silberdurchwirkten schwarzen Stoff ihres Kleides und dem schneeweißen Haar absetzte. Nach einer kurzen Pause gestand Cathy: »Ich dachte ... ich hatte Angst, er wäre mir böse.«
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»O ja, das war er auch.« Kim lächelte. »Und er vermißt dich abends nach dem Büro beim Dinner oder bei einem Drink. Er ist ... er ist ein wenig verletzt. Das hat er mir gesagt.« Jetzt, wo sie daran dachte und der älteren Frau in das liebe Gesicht blickte, wurde Catherine bewußt, daß ihr Vater in ihren letzten Gesprächen häufig von Kim gesprochen hatte. Sie war eine alte Freundin der Familie, und Catherine war schon über zwanzig gewesen, bevor sie es über sich hatte bringen können, sie nicht mehr »Mrs. Baskerville« zu nennen. Erst mußte Kim ihr drohen, ihr auf die Finger klopfen, wenn sie sie noch einmal so anreden würde. Sie war eine Frau aus der Welt ihres Vaters, viel mehr als es Catherine in diesem Moment war. Sie wußte immer die letzten Neuigkeiten über Freunde, welche Töchter gerade ihren Debütantinnenball hatte oder heirateten, und sie kannte den ganzen Country-Club-Klatsch. Ihr kam plötzlich der gedanke, daß es für ihn womöglich genauso wichtig gewesen war, von seiner Vaterrolle befreit zu werden, wie es für sie wichtig gewesen war, ihre Tochterrolle loszuwerden. Ihre Blick kreuzten sich, und Kim zwinkerte ihr zu. Einen Augenblick lang sahen sich die beiden Frauen an, und ihre Blicke drückten inniges gegenseitiges Verstehen und eine Art Komplizenschaft aus. Dann nahm Catherine Kims Hand und drückte sie lächelnd. »Aber weißt du«, fuhr Kim leise fort, »diesen Sommer in Gloucester« - Catherine wußte, daß sie das Haus ihres Mannes behalten hatte, sie waren sowohl Nachbarn im Sommer als auch Freunde in der Stadt gewesen »sprach er von seiner Tochter im Büro des Staatsanwalts. Oder er sagt: ›Oh, sie arbeitet zuviel - mehr als sie je für mich gearbeitet hat.‹ Aber wenn er das sagt, wird er gradezu ein Stückchen größer - du weißt, wie er das macht -, und dann glänzen seine Augen. Jeder kann sein Kind beschützen und versorgen, weißt du, aber noch lange nicht jeder kann es so erziehen, daß es stark ist.« Ihr Vater half Kim auf den Rücksitz von Toms Mercury, und Catherine setzte sich auf den Vordersitz neben Tom. Tom lächelte sie an. Er hatte ihr Blumen ins Büro geschickt, der einzige Lichtblick in dem ansonsten schaurigen Kampf gegen eine Lawine von Arbeit, die durch die Hitze noch mühseliger wurde. Während sich der Wagen langsam in den leuchtenden Strom des Verkehrs einordnete, hörte Catherine die leise Stimme ihres Vaters auf dem Rücksitz. Er unterhielt sich mit Kim über das Konzert und über die Rückfahrt zum Landhaus, die für den nächsten Tag geplant war, Catherine blickte aus dem Fenster und lächelte. So war das also, wenn man wieder ins Leben zurückkehrte. Trotzdem fragte sie sich plötzlich, als sie an den dunklen Bäumen des Central Park vorbeikamen, wo Vincent jetzt wohl war und was er gerade tat, ob er glücklich oder traurig war. Das Konzert hätte ihm sicher gut gefallen, dachte sie - er hatte ihr einmal gesagt, daß Chopin einer seiner Lieblingskomponisten wäre und daß es in den Tunnels niemanden gäbe, der Chopin richtig spielen könnte. Und es war ihr, als ob irgendeine leere Stelle in ihrem Herzen vom Flüstern seines Namens widerhallte. Im Keller des Faber Mutual Trust auf der Wallstreet schob ein puertoricanischer Hausmeister einen Müllbehälter in den Fahrstuhl und drückte den Knopf der zwanzigsten Etage. Der Fahrstuhlmotor lief sofort mit einem kraftvollen Summen an. Am Boden des darunterliegenden Tiefkellerschachts drehten sich gutgeschmierte Räder, Stahlkabel bewegten sich leicht und hoben die Kabine fast unmerklich den engen Schacht empor. Die Maschinerie war so konstruiert, daß sie außer dem Gewicht der Kabine noch zwei Tonnen zusätzlicher Last tragen konnte; die Gestalt, die an den Kabeln einen Meter unter dem Boden der Kabine hing, war keine Überbelastung. Vincent kannte sich mit Fahrstühlen aus. Der schwindelerregende schwarze Abgrund unter seinen Füßen machte ihm nichts aus, denn genau wie der Mechanismus des Fahrstuhls waren auch seine Hände und Schultern stark genug, ein Vielfaches seines eigenen Körpergewichts tragen zu können. Kleine Quadrate aus Licht huschten über sein Gesicht und über die dunklen Flicken seines Mantels, funkelten auf dem Metall seines Gürtels und in seinen aquamarinblauen Augen. Er war den ganzen Tag über durch die Tunnel patrouilliert, hatte sich immer weiter von den bewohnten Gebieten entfernt und alles erforscht, wohin auch immer er gekommen war. Wie die meisten jungen Männer der Gemeinde, die auf Patrouille waren, achtete auch er auf undichte Stellen, durch die Wasser sickerte oder auf den unterirdischen Fließsand, der an manchen Stellen von Manhattan vorkam. Er achtete auf ungewöhnliche Risse, die den Bewohnern der unterirdischen Welt gefährlich werden könnten, und auf Probleme an den eisernen Toren und Türen. Da alles provisorisch war, alle Materialien aus dritter Hand stammten, Dinge waren, die niemand mehr haben wollte und deshalb ständig kurz vor dem Zusammenbruch standen, mußten die Bewohner der Tunnels ständig wachsam sein. Er hatte an der dunklen Schwelle des Abgrunds gestanden, wo endlose Wendeltreppen ins Nichts hinunterführten; im riesigen Raum der Winde in diesem stillen Tempel mit den Säulen, zweihundert Meter unter der Oberfläche der Stadt, wo die alte Voodoo-Hexe Narcissa mit ihren Dämonen und ihrem Zauber wohnte; im wunderschönen bemalten Tunnel, in dem die alte Elisabeth im Kerzenschein arbeitete und alle nackten Wände bunt bemalte. Ein unendliches Reich, dessen Beschützer und Kind er war. Später am Abend, wenn er sicher sein konnte, daß niemand ihn sehen würde, würde er unter seiner Kapuze
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versteckt in den Central Park gehen. Da war seine einzige Möglichkeit, etwas von dem Glanz und dem farbigen Leben der Stadt zu erleben, die köstliche Nachtluft am Wasser und unter den Bäumen zu genießen. Aber dafür war es noch zu früh. Trotzdem ließ die laue Sommernacht ihn ruhelos werden. Er hatte einfach kommen müssen. Der Fahrstuhl hielt an. Vincent hielt sich immer noch mit einer starken Pfote an den Kabeln fest, beugte sich vor und betätigte den Notschalter, der in einer Nische des Schachts angebracht war und von den Reparaturleuten benützt wurde. Die Türen der neunzehnten Etage öffneten sich, und er schwang sich ohne Schwierigkeiten über den Abgrund auf die Türschwelle und trat dann in einen Versorgungskorridor. Die Büros in der neunzehnten Etage waren zu dieser nächtlichen Stunde verlassen - ein Umstand, der ihm nach monatelanger Beobachtung bekannt war, so wie er auch alles andere in der nächtlichen Stadt aufmerksam beobachtete -, und seine weichen Stiefel machten auf dem Betonboden kein Geräusch, sein weiter schwarzer Umhang streifte fast lautlos einen Fensterrahmen. Das Faber Trust war ein altes Gebäude, es war in den dreißiger Jahren gebaut und seitdem mehrfach modernisiert worden. Es erinnerte im Gegensatz zu den modernen glatten, schwarzen Wolkenkratzern eher an den Turm in Babel. Seine Wände waren ein klippenähnliches Labyrinth von Vorsprüngen, Spalten, Wasserspeiern und Ornamenten. Die Tauben, die auf der dreieckigen ebenen Fläche hinter einem der Auswüchse der Steinmetzkunst ihre Nester gebaut hatten, kannten Vincent so gut, daß sie nicht einmal ihre Köpfe aus den Flügeln streckten. Vincent lehnte sich mit seinen breiten Schultern an die hochragende Mauer hinter sich und stützte seine Ellbogen auf die Knie. Vor ihm lag die Stadt, eine üppige Juwelenschachtel voller Licht. Genau wie Mohammed auf dem Berg über Damaskus konnte auch er nur schauen. Er wußte, daß diese fremdartige Schönheit ihm verschlossen bleiben würde. Zu seiner Linken, fast glaubte er sie anfassen zu können, erhoben sich die Doppeltürme des World Trade Center hoch über seinen Kopf, obwohl er selbst schon in luftiger Höhe thronte. Sie sahen aus wie Türme aus Obsidian, die in elektrischen Flammen getaucht waren. Hinter der chaotischen Farbenpracht der Village und der Chinatown konnte er die goldbestickte Nadel des Empire State Building, die dekorative Extravaganz des Chrysler-Gebäudes und die Perlenkette aus Licht, den Broadway, ausmachen. Dante hatte eine solche Szene beschrieben, erinnerte er sich; auf dem Rücken eines Ungeheuers durch das Dunkel auf den samtenen Flammenteppich des Bodens der Hölle herabzusinken. Ob das wohl so ausgesehen hatte? Oder war es weniger schön gewesen? Ihre Welt. Die Geräusche der Stadt drangen zu ihm herauf, die Entfernung verwandelte sie in ein tosendes Rauschen wie die See, die in Vaters Büchern beschrieben war. Für Vincents hochempfindliche Sinne war die Nacht voller Leben, der beißende Geruch der Auspuffgase stieg übelriechend von den schimmernden Strömen feuriger Obsidiane auf beiden Seiten der flammenden Insel auf, und wild war der schwindelerregende Zauber der Luft. Sie war irgendwo da unten glücklich, dachte er, und versuchte sie mit seinem Herzen zu erreichen. Er spürte ihre Zufriedenheit und ihr Wohlbefinden wie den Widerhall einer entfernten Musik. Die größte Liebe, hat Plato gesagt, ist die, die das Glück der geliebten Person um ihrer selbst willen wünscht. Das war alles, was er für sie tun konnte. Als sie durch jene Tür gegangen war, in die Säule des von oben herabscheinenden Lichts getreten war, hatte sie seine Welt verlassen. Jetzt hatte sie keine Möglichkeit mehr, jemals wieder Kontakt mit seiner Welt aufzunehmen. Sie hatte von ihrem eigenen Vater erzählt, einem liebevollen Mann von großer Herzensgüte, und von Freunden, an denen ihr etwas lag. Die Zeitungsartikel, die Vater ihm gezeigt hatte, erwähnten auch einen Freund. Sie war zu ihnen zurückgekehrt, zurück in diese Welt dieser leuchtenden, frenetischen Schönheit - zurück ins Land des Lichts -, um wieder zu sich selbst zu finden. Er wußte, daß er eigentlich froh darüber ein sollte. Aber er hatte sich in seinem Leben noch nie einsamer gefühlt als jetzt, da er die funkelnde Pracht der Lichterstadt betrachtete.
9 Isaac Stubbs Academy of Streetfighting lag in einem der eher anrüchigen Viertel der East Side, nicht zu weit vom Stadtkern und der Staatsgrenze im Süden entfernt. Dieses Viertel wurde von manchen seiner Bewohner abfällig als entmilitarisierte Zone bezeichnet. Catherine bezahlte den Taxifahrer und warf noch einmal einen Blick auf den Zettel mit der Adresse, betrachtete dann die schmutzigen Lagerhäuser aus braunen Ziegelsteinen, die mit alten Zeitungen und Glasscherben gefüllte Gosse, die aufgerissenen, verdreckten Bürgersteige. Selbst zu
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dieser frühen Stunde sah der Ort nicht sehr einladend aus. Sie wollte lieber nicht daran denken, wie es hier in der Nacht aussah. Auf der anderen Straßenseite reparierte jemand in einer offenbar umgebauten Feuerwache einen verbeulten Ambulanzwagen; zu ihrer Rechten wurden auf einem verschmierten Schild Zimmer ausschließlich für alleinstehende Männer angeboten; auf einem Fenster weiter unten war in verblichener Schrift zu lesen S. Pliskin: New York Tours. Im offenen Vestibül des Gebäudes schlief ein in Lumpen gekleideter Mann den Schlaf der Gerechten. Mißtrauisch stieg Catherine die Treppen zum Speicher der zweiten Etage hinauf und trat ein. »Mr. Stubbs?« rief sie. In dem Speicher war es ziemlich dunkel, die Fenster blickten nach Westen und Norden, so daß die Morgensonne nicht hereinscheinen konnte. Ein Teil war als Wohnraum eingerichtet, spartanisch, aber in eigenartiger Weise kultiviert: eine verschlissene graue Couch, die einmal sehr teuer gewesen sein mußte, ein niedriger Tisch aus Apfelsinenkisten und Glasscheiben, eine Lampe aus Stahl. Die Tunnelbewohner waren offenbar nicht die einzigen Menschen in New York, die von dem lebten, was die Reichen wegwarfen. Zwei Dinge waren nicht aus zweiter Hand: die gekreuzten Katanas, die eine Wand schmückten, die abstrakte kleine Bronzefigur eines weiblichen Torsos, deren Preis Cathys geschultes Auge auf gut über zweitausend Dollar schätzte, was nicht nur etwas über den Geschmack des Eigentümers aussagte, sondern auch über seine Prioritäten. Von irgendwoher war Musik zu hören, eine Trompete, Jazz, sparsam, sanft und cool. »Ist hier jemand?« Sie ging ganz in den Speicher hinein. Im Dämmerlicht unter den Stählernen Industrielampen, die nicht brannten unter den nackten Eisenträgern wirkte er wie eine Höhle. Der Boden war mit Matten bedeckt, einige aus Sackleinen, andere aus Reisstroh, das in der traditionellen Art der japanischen Tatmis geknüpft war. In einer Ecke lagen auf einer Stellage eine Reihe von Hanteln, die ordentlich nach ihrem Gewicht abgelegt waren. An einer anderen Stelle wurden an einer lebensgroßen Figur die tödlichen Angriffspunkte des menschlichen Körpers demonstriert. Lederne Punchingbälle und verschiedene Trainingspuppen hingen an Ketten von der Decke herab und schaukelten leicht in dem Zug, den die offene Tür verursachte, und verliehen dem Raum in gespenstischer Weise einen bewohnten Charakter. »Nun, wir wissen, daß Sie hier sind«, sagte eine leise Stimme hinter ihr. Catherine wirbelte herum, für einen Sekundenbruchteil war sie wieder in dem Seitenweg und sah sich den Männern aus dem Lieferwagen gegenüber. Der Arm eines untersetzten Mannes kam aus dem Schatten einer der Trainingspuppen hervor und zog an einer Schnur, worauf die Deckenbeleuchtung anging. Wenn Catherine ihm vor einem Jahr auf der Straße begegnet wäre, hätte sie einen großen Bogen um ihn gemacht, wäre schneller gegangen und hätte ihre Handtasche festgehalten. Er sah gefährlich aus, bis man sein Lächeln gesehen hatte. »Sie sollten immer wissen, was hinter ihnen passiert«, ermahnte er sie freundlich, und sie spürte, wie seine warmen braunen Augen einen schnellen Blick auf sie warfen und dabei alle Einzelheiten registrierten, wie sie das oft bei Polizisten beobachtet hatte: Er schätzte den Preis ihres Kleides, ihrer Schuhe, Ohrringe und ihre Handtasche, aber nicht wie ein Dieb, sondern wie jemand, der möglichst viele Informationen sammeln will. Dann wurde sein Lächeln breiter. »Also sind es diesmal gute Neuigkeiten.« Er streckt die Hand aus, sie war rauh und voller Schwielen, wie ein Stück genarbtes Leder, aber sauber. »Mein Name ist Isaac - Isaac Stubbs.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Catherine Chandler.« Er hatte eine Menge halbmondförmiger Narben um die Augen herum und auf seinen breiten Wangenknochen. Wenn er lächelte, konnte man sehen, daß ihm ein paar Zähne fehlten. Sein kurzgeschnittenes wolliges Haar war an den Schläfen grau. Er war ein Mann, der schon die andere, die dunkle Seite der Welt kennengelernt hatte. Er legte den Kopf auf die Seite und betrachtete sie. »Sie wollen also lernen, sich selbst zu helfen.« »So ist es.« Die dunklen Augen glitten über ihren Körper und musterten jedes Detail. Obwohl sie ihr Haar nach vorn gekämmt hatte, bemerkte er ihre Narbe, interessierte sich aber nicht übermäßig dafür. Für ihn war sie weniger wichtig als das, was er in ihren Augen sah. »Weil ihnen etwas Schlimmes widerfahren ist.« Das war keine Frage, keine Vermutung, aber sie nickte und bestätigte damit nur etwas, was er ohnehin schon wußte. »Und Sie möchten nicht, daß Ihnen so etwas noch einmal passiert.« In ruhigem Ton sagte Sie: »Nie wieder.« Sie hatte in dieser Woche wieder Außendienst und mußte Ermittlungen durchführen: Befragungen, Zeugen hinterherjagen, Tatsachen sammeln - und das ganz allein. In den billigen Kaschemmen, schmutzigen Läden und in dunklen Korridoren, in denen es nach Urin und Ratten stank, war ihre Angst wieder aufgeflackert. Aber dieses Mal war es nicht die lähmende alptraumhafte Angst, die sie manchmal überfiel, wenn sie durch die Straßen ging
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und ein Lieferwagen an ihr vorbeifuhr. Diesmal, das wußte sie, ängstigte sie die Tatsache, daß sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was sie tun sollte, wenn einer dieser unrasierten Männer mit den glänzenden Augen, an denen sie in den Korridoren der Wohnungen vorbeiging, ihr begegnete. Das Erlebnis vor dem Barron Hotel hatte sie eins gelehrt, und sie würde das nie vergessen: Die Hände eines Mannes waren erstaunlich stark und brutal. Sie war klein, sie war hübsch, und wenn sie bei der Staatsanwaltschaft blieb, dann würde sie in Zukunft noch viele Ermittlungen auf der Straße durchführen müssen. Es war an der Zeit, dachte sie, und gab damit dem Wunsch, der sich schon lange herauskristallisiert hatte, seit sie die Tunnels verlassen hatte, sich eine handfeste Qualifikation für ihren Job anzueignen. »Okay«, sagte Isaac und las all das und noch mehr in ihren Augen. Er wich dem Sandsack mit einer so graziösen Bewegung aus, als wäre er ein Ballettänzer. »Ich unterrichte allerdings nicht dieses fernöstliche Zeugs«; warnte er sie. »Kein Kung Fu, kein Egg Foo Yung. Ich stamme aus New York City, und was ich den Leuten beibringe, ist New York City Streetfighting, schmutzig und hinterhältig. Die einzige Philosophie, die hier gilt, besagt, daß man sich brutal verhalten muß, um zu überleben. Dazu benützt man alles, was einem gerade zur Verfügung steht ... zeigen Sie mir einmal Ihren Schuh.« Überrascht hielt Catherine sich an dem nächsten Sandsack fest und zog ihren hochhackigen Schuh aus. Sie war so angezogen, wie sie zum Dienst ging, denn sie hatte ihre Mittagspause etwas vorverlegt, um hierherkommen zu können. Schon jetzt stellte sie keine Aufforderung dieses Mannes, ganz gleich wie bizarr sie ihr auch erscheinen mochte, in Frage. »Sie können einen Mann mit Ihrem Schuh töten«, bemerkte Isaac, machte, ohne hinzuschauen, mit seinem Arm eine blitzschnelle Bewegung nach hinten und schlug der Trainingspuppe, die ein paar Schritte hinter ihm hing, den acht Zentimeter langen spitzen Absatz gegen die Schläfe. Er drang leicht durch den Stoff. Die Plastikkügelchen, mit denen die Puppe gefüllt war, rieselten langsam heraus und fielen auf die Matte, die darunter lag. »Das ist nicht die feine Art«, gab Isaac sanft zu und reichte ihr die Waffe zurück, »und es ist auch nicht hübsch anzusehen, aber es funktioniert ... wenn sie den Nerv dazu haben.« Dad würde einen Schlaganfall bekommen, dachte Catherine und beobachtete schaudernd und zugleich fasziniert, wie die Plastikkügelchen langsam aus dem seitlich abgeknickten Kopf der Puppe rieselten. Nein, Dad würde nicht einmal begreifen, was das alles sollte. Und Tom ... Sie holte tief Luft. »Wann fangen wir an?« Und Isaac, der sah, daß er sie richtig eingeschätzt hatte, lächelte. Verdammt, ich will nicht schon wieder zu spät kommen, dachte Catherine grimmig und lief schneller durch das geschäftige Treiben im Computerzentrum des NYPD, es ist mir egal, daß die Frau ewig lange für ihre Aussage gebracht hat. Und ich habe immer noch - ja was eigentlich? - wie viele Spuren, die in dem Perez-Fall noch verfolgt werden müssen? Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß sie noch genügend Zeit hatte, sich hier das zu holen, was sie brauchte, und dann um zwei Uhr wieder in Morenos Büro sein könnte. Die Frau an dem BIF-System bringt mich um, wenn ich schon wieder mit einer eiligen Sache komme. Das Computerzentrum nahm eine komplette Etage des Polizeipräsidiums ein und schien eine andere Welt zu sein, weit weg von den primitiven Räumen der anderen Abteilungen darüber und darunter. Vielleicht, dachte Catherine, hängt das damit zusammen, daß die Apparaturen hier moderner sind als in den restlichen Büros oder daß die Atmosphäre hier irgendwie an Science-fiction erinnerte - womöglich hing es aber auch nur damit zusammen, daß Computer saubergehalten werden mußten, um einwandfrei arbeiten zu können. Es war andererseits hier genauso voll und ein ähnlicher Betrieb wie in den anderen Abteilungen, aber es war ruhiger. Gelegentlich konnte man über dem gedämpften Geräusch der Stimmen die hohen Töne eines Druckers hören. Der verzweifelte Kampf gegen die Papierflut tobte hier wie überall; nur war hier der größte Teil des Papiers unsichtbar. Sie fand das Terminal, das sie brauchte. Die Frau, die davorsaß, blickte auf. Sie war ein paar Jahre jünger als Catherine und nicht so gut, aber bedeutend modischer angezogen. Ihr dunkles afrikanisches Haar war in viele kleine Zöpfe geflochten. Ihre bronzefarbenen Lippen wurden vor Ärger ganz schmal, als sie Catherine erkannte. »Edie«, sagte Catherine, »hast du schon die Adressen für mich?« »Ja.« Edie nahm einen langen Computerausdruck aus dem Korb, auf dem »Ausgänge« stand. »Hier sind sie.« Sie streckte sie ihr entgegen. »Nimm sie mit.« »Danke.« Catherine faltete sie zusammen und steckte sie in die Aktentasche, in der, abgesehen von ihren Papieren, ein zusammengefalteter Trainingsanzug lag, den sie trug, wann sie es einmal zu Isaac schaffte, was nicht oft vorkam. Sie war die ganze Woche über noch nicht dort gewesen, und es sah in Anbetracht des PerezFalls auch nicht so aus, als ob sie bald zu ihm gehen könnte, es sei denn, sie würde morgens um fünf aufstehen. »Ich bin dir sehr dankbar.«
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»Ja, das kannst du auch sein«, erwiderte Edie. »Ich erledige schließlich die ganze Arbeit für dich.« Catherine blieb stehen und wurde durch den unüberhörbaren Zorn in Edies Stimme aus ihren eigenen Gedanken gerissen. Verdammt, dachte sie, bin ich schon wieder jemandem auf die Füße getreten? »Tut mir leid«, sagte sie und sah das dunkelhäutige Mädchen an, das hinter dem kühlen Plastikblock des Monitors saß. »Der Staatsanwalt hat mich echt am Wickel. Die wollen mich testen.« »Du machst mir Spaß.« Edie sah sie von oben bis unten an, und ihr Blick wirkte verächtlich. »Ich weiß, wie ihr feinen Mädchen operiert. Ihr kommt hier angerauscht, vergießt ein paar Tränen um die Menschheit ... und geht dann wieder einkaufen.« Offensichtlich hatte sie, ähnlich wie Joe Maxwell, in ihrem kurzen Leben schon viele verwöhnte »höhere Töchter« kennengelernt. Catherine mußte zugeben, daß dieser Vorwurf während ihre radikale Phase auf dem College - die ganze drei Monate gedauert hatte - wahrscheinlich berechtigt gewesen wäre. Aber der Gedanke an die Hamburger, die sie abends um sieben an ihrem überfüllten Schreibtisch herunterschlang, und an das furchterregende Ausmaß, in dem sich die schmutzige Wäsche in ihrer Wohnung angesammelt hatte, weil sie in der letzten Woche nicht einmal eine halbe Stunde Zeit für so etwas gehabt hatte, ließ sie unwillkürlich lachen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal soviel Zeit gehabt hatte, auch nur einen Liter Milch einzukaufen. »Das stimmt nicht.« »Stimmt nicht, he?« Edies Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. »Catherine Chandler.« Sie starrte auf Catherines Namensschild. »Dann wollen wir dich einmal überprüfen.« »Die meisten Leute nennen mich Cathy«, erklärte Catherine ruhig, während Edie sich zu ihrem Terminal drehte und die Tastatur ihres Computers bearbeitete. Das BIF-Programm war ein Suchsystem, durch das man nach Eingabe des Namens erste Informationen bekommen konnte. Wenn man mehr Einzelheiten wissen wollte, mußte man in der entsprechenden Akte nachsehen - oder, was noch häufiger vorkam, ein großes Laufpensum hinter sich bringen. Da Catherine wußte, mit welcher Geschwindigkeit die Leute arbeiteten, die die Computer fütterten - sie schwankte zwischen der eines Eisbergs und der einer Schnecke -, bezweifelte sie, daß die Daten, die mit ihrer Anstellung bei der Staatsanwaltschaft zusammenhingen, schon im System gespeichert waren. Wahrscheinlich war das auch egal, dachte sie, denn es war genau die Personalakte, die eine reiche, verwöhnte höhere Tochter haben würde. Aber schließlich gab der Speicher des Computers doch etwas von sich. Name des Opfers - Catherine Chandler Datum des Vorfalls - 12. April 1986 Zustand des Opfers - schwere Gesichtsverletzungen durch Messer oder Rasiermesser, Schläge und Tritte gegen Kopf und Körper. Wurde gegen 23.30 Uhr in bewußtlosem Zustand von drei weißen Männern im Central Park liegengelassen. Aktenzeichen - ADRX 71423 Der Bildschirm flackerte, das Bild löste sich auf, ein Schachbrettmuster aus schwarzen, weißen und grauen Farbtönen erschien kurz und formierte sich schließlich zu einem digitalisierten Telefaxbild des Fotos, das sie Polizei am ersten Abend in ihrem Apartment aufgenommen hatte. Für die Akten Edie hielt den Atem an. »Du lieber Himmel.« Sie sah Catherine an, und man erkannte das Entsetzen und Mitleid in ihren zimtfarbenen Augen. Sie schämte sich fürchterlich, weil sie etwas aus den anonymen Eingeweiden des Computersystems ans Licht gezerrt hatte. »O Cathy, es tut mir so leid ...« Catherine hatte das Bild vierundzwanzig Stunden pro Tag im Spiegel sehen können, deshalb konnte sie das Foto leidenschaftslos betrachten, aber sie mußte zugeben, daß es ziemlich schlimm war. »Das braucht dir nicht leid zu tun«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln, »das ist ein altes Bild.« Aber später ließ sie sich die Akte heraussuchen. Teils war es krankhafte Neugier, als ob sie die Kritik eines Stücks lesen würde, in dem sie mitgewirkt hatte, oder einen alten Liebesbrief von jemandem, der ihr nichts mehr bedeutete. Sie hatte vorher nicht gewußt, wie sie vorgehen mußte, aber sie hatte sich die Nummer gemerkt, die auf dem Bildschirm gestanden hatte. Als Mitglied der Staatsanwaltschaft, das sagte sie sich, war sie in jedem Fall berechtigt, die Akte einzusehen. Nachdem sie an diesem Abend, mit Ausnahme von einem, alle Berichte für den nächsten Tag fertig hatte, nahm sie die Akte aus ihrer Schublade - sie warf einen Blick auf die Uhr und stieß einen Seufzer aus, morgen würde sie noch früher kommen müssen, um den letzten Bericht zu schreiben. Das Foto in der Akte war genauso scheußlich wie das auf dem Bildschirm von Edies Computer. 43
Sie legte es beiseite und blätterte die Berichte durch. Toms Darstellung der Party im Barron, die Beschreibung ihrer Person und ihrer Lebensgewohnheiten durch ihren Vater, Mitschriften ihrer drei Gespräche mit Captain Hermann und seine kurzen, fast unleserlichen Notizen dazu. Sie suchte bestimmte Informationen, deshalb hatte sie die Akte heraussuchen lassen: Sie wollte wissen, ob man irgend etwas über die Tunnel in Erfahrung gebracht hatte und ob es noch weitere Untersuchungen geben würde. Das Opfer war in seinen Äußerungen über die Nichtansässigen, die sich angeblich nach dem Vorfall um sie gekümmert hatten, bewußt unbestimmt und wenig hilfreich. Das Opfer weigerte sich, den Ort zu identifizieren, an dem sie die zehn Tage nach dem Unfall verbracht hatte, konnte keine genaue Beschreibung liefern; angeblich waren ihre Augen bis zu ihrer Rückkehr nach New York verbunden gewesen, wo sie in der Nähe ihrer Wohnung am Central Park West freigelassen worden ist. Es war offensichtlich - und es war ihr schon völlig klar gewesen, als Hermann sie im Krankenhaus befragt hatte -, daß ihm ihre Geschichte verdächtig dünn vorgekommen war. Aber es war genauso klar, daß er keine Schlüsse gezogen hatte, wo sie denn nun wirklich gewesen war. Sie hatte nichts verraten, was ihn oder jemand anderen zu der stillen Welt der Dunkelheit und den leise klingenden Rohre hätte führen können. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und das Geheimnis des Lebens dieser Menschen nicht preisgegeben. Sie klappte den Aktenordner zu und hatte vor, ihn in irgendeinen Ablagekorb zu legen, damit die Büroboten ihn am nächsten Morgen wieder in einem der großen Karteischränke verschwinden lassen würden. Während sie das tat, fiel ihr Blick auf die letzte Seite. Ungenügende Beweise. Status: Fall ruht. Fall ruht. Das bedeutete, dachte sie, als sie von der Bushaltestelle an der Columbus Avenue zu ihrem Haus ging, daß das, was mit ihr geschehen war und ihr Leben in zwei Teile zerrissen hatte, unter der simplen Rubrik lief »so etwas passierthalt immer wieder«. Das bedeutete, daß sie die drei Männer nie erwischt hatten, die ihr Gesicht zu dem gemacht hatten, was auf dem Foto zu sehen war. Sie wurden nicht einmal mehr gesucht! Sie dachte an das Foto, als sie eine Stunde später mit gewaschenem Gesicht und geputzten Zähnen an ihrem Frisiertisch saß. Die kühlen Farben des Zimmer waren im Schatten des Lampenlichts verschwunden. Die Glastüren zur Terasse standen offen, und Cathy hoffte, daß die Abendbrise eine leichte Abkühlung bringen würde, aber die weißen Gardinen bewegten sich nicht. Von unten stieg der Lärm des Verkehrs nach oben, der unauflösbar mit New York verbunden war. Sie raffte die Seide des Kimonos um ihre Schultern und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Das blonde Haar, das jetzt leicht zurückgekämmt und an den Seiten feucht war; die weit auseinanderliegenden grünen Augen. Die fünf Zentimeter lange Narbe vor ihrem Ohr hob sich rot und häßlich ab. Sie berührte sie mit der Fingerspitze, etwas das sie erst seit kurzer Zeit fertigbrachte. Es tat immer noch ein wenig weh, wenn sie darauf drückte. Auch diese Narbe gehörte inzwischen zu ihr, war ein Teil von ihr. Für die Akten hatten sie gesagt. Damit hatten sie andeuten wollen, daß niemand dieses scheußliche Foto je wieder zu Gesicht bekommen würde, und nicht, das es sich jedermann im Computerzentrum des NYPD nach Herzenslust anschauen könnte. Im Grunde ihres Herzens war es Catherine egal. Es gehörte der Vergangenheit an. Damals, dachte sie, in den furchtbaren vierundzwanzig Stunden zwischen ihrer Rückkehr und der Einlieferung ins Krankenhaus, hätte ihr das etwas ausgemacht, da hätte ihr das sogar ungeheuer viel ausgemacht. Da war die Verletzung und die Demütigung noch frisch gewesen, und es war ihr damals so vorgekommen, als ob sich das auch bis zu ihrem Lebensende nicht mehr ändern würde. Man konnte es auf dem Foto an ihren Augen erkennen: Sie wirkten müde und erschöpft, sie hatte das alles nur ausgehalten, weil sie mußte. Sie haben überlebt. Was Sie durchmachen mußten, wird Sie nur stärker machen und besser ... Woher hatte er das gewußt? Sie wollte ihr wiedersehen und ihm zeigen, daß er recht gehabt hatte. Sie wußte, daß er sich freuen würde zu sehen, daß sie gesund, stark und glücklich war. Sie sehnte sich danach, seine Hand zu berühren und ihm zuzuhören, wie er über die Welt der Tunnel sprach, über seine Freunde, über sein Leben. Sie wollte ihm vom Büro des Staatsanwalts erzählen und von Isaac; wollte mit ihm über die erstaunlichen und beunruhigenden Erkenntnisse reden, die sie hatte, während sie die Technik der Selbstverteidigung lernte, wollte wissen, was er dazu zu sagen hatte. Ich kenne Sie, hatte er gesagt. Manchmal hatte sie das Gefühl, daß er der einzige in ihrem Leben war, der sie wirklich kannte. Als sich der stickige, strapaziöse Sommer dem Herbst entgegenneigte, hatte sie Angst gehabt, die Erinnerung an ihn würde verblassen und daß sie unter dem Ansturm der neuen Eindrücke allmählich alles vergessen würde,
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was sie mit ihm erlebt hatte. Aber das war nicht geschehen. Manchmal genügte es ihr zu wissen, daß Vincent da war, daß er in derselben Stadt lebte wie sie. Alles, was sie in der Stadt wahrnahm, wurde auch von ihren Erlebnissen in den Tunneln beeinflußt, und ihre Welt erhielt so eine zusätzliche Dimension. Manchmal war das nicht genug. Zur Zeit führte sie ein ausgesprochen hektisches Leben. Das war natürlich auch vorher schon so gewesen, aber damals war sie selbst schuld an den langweiligen Partys, den langen Nächten und den verschlafenen Vormittagen gewesen, sie war vor bestimmten Gedanken geflohen, aus denen sie damals keine Schlüsse hatte ziehen können, die sie nicht einmal hatte artikulieren können. Wie sie Edie erklärt hatte, wurde sie immer noch getestet - manchmal war sie von den Ergebnissen dieser Tests genauso überrascht wie Moreno -, und außerdem prüfte sie sich auch noch selbst. Obwohl sie allmählich mehr Selbstvertrauen gewonnen hatte, was ihre Fähigkeiten anbetraf, gute Arbeit zu leisten, und nicht mehr deprimiert war und sich elend fühlte, weil sie nicht in der Lage war, den Augiasstall der Justiz mit der linken Hand auszumisten, fühlte sie sich doch wie gerädert, wenn sie abends nach Hause kam. Sie konnte sich dann nur noch das Gesicht waschen und ins Bett fallen. Ihr wurde klar, daß sie seit Tagen nicht mehr dazu gekommen war, ihren Vater anzurufen. Oder Tom, fügte sie schuldbewußt hinzu. Aber immer, wenn sie einmal Ruhe hatte, war es ihr, als bliebe sie stehen und würde die Stecke des Weges betrachten, der hinter ihr lag ... sie blickte zurück und sah sich um. Und wenn sie friedlich in der rosafarbenen Stille ihres Zimmers lag und nur den Herzschlag der Stadt unter ihr zuhörte, wurde ihr bewußt, daß ihre Tage zwar immer extrem ausgefüllt waren, daß ihr aber trotzdem etwas fehlte: mehr als Muße, mehr als Ruhe, mehr als seelische Erholung. Vincent fehlte ihr.
10 »Sie kann dich nur unglücklich machen!« »Dann werde ich eben unglücklich.« Im goldbraunen Schatten seiner Mähne reflektierten Vincents Augen das Licht der Kerzen, die das Arbeitszimmer beleuchteten. Sie waren zornerfüllt - kein Zorn, der sich gegen ihn richtete, dachte sein Vater. Er war zornig, weil das Schicksal ihn zu dem gemacht hatte, was er war, und weil diese Welt ihn unweigerlich fangen und als Monstrum einsperren würde, um ihn zu Studienzwecke zu benützen. Ängstliche Menschen würden ihn vielleicht sogar töten, falls sie ihn oben sehen sollten. Als er aufstand, drückte die Haltung seiner kräftigen Schultern und seines Rückens in jeder Bewegung diesen Zorn und diese Bitterkeit aus. Er lief auf und ab und hielt immer noch den in Leder gebundenen Band Große Erwartungen in seiner Klauenhand. Dann drehte er sich um, er sah groß und wild aus in diesem Licht, das wie geschmolzenes Gold war. »Aber ich kann sie nicht vergessen. Wir sind immer noch aneinander gebunden.« Vater schwieg. Er hatte das befürchtet. Den ganzen Sommer und Herbst über hatte er gesehen, wie unglücklich Vincent war, und er wußte genau, daß diese Frau mit Namen Catherine daran schuld war; die Tochter eines reichen Mannes - auch er hatte einmal so eine Frau geliebt. Wenn es darum ging, ihre Kinder zu beschützen, waren die Reichen auch nicht skrupelloser als die Armen, aber sie hatten bedeutend mehr Macht. Diese bittere Erfahrung hatte er selbst machen müssen. Das war auch die Ursache für seine Angst gewesen, als das Mädchen in den Tunnel gekommen war, und er hatte deshalb auch darauf bestanden, daß sie so schnell wie möglich wieder wegging. Trotzdem konnte er sich an das Mitleid erinnern, das er für sie empfunden hatte, und er hatte sein Bestes getan, um die Schnitte in ihrem verwüsteten Gesicht zusammenzuflicken. Er konnte sich auch an seinen Zorn erinnern, weil es Menschen gab, die so etwas fertigbrachten. Vor dieser Welt und allem, was sie für ihn bedeutete, hatte er Angst. Um sich, um Vincent, seinen ungewöhnlichen Adoptivsohn, um alle, die hier unten lebten. »Ich empfinde genau dasselbe, was sie empfindet«, fuhr Vincent fort. »Ich weiß, was sie denkt, wann sie Angst hat, wann sie glücklich oder traurig ist. Sie ist ein Teil von mir.« Und an der Trauer in seiner Stimme konnte Vater erkennen, daß es mehr war als das. »Vincent«, sagte er, und sein Herz brach fast vor Mitleid, »deine Sinne und deine Sensibilität sind außerordentlich entwickelt. Das ist deine Begabung. Und diese Kräfte sind durch die Sorge und durch die Liebe, die du empfindest, auch noch verstärkt worden.« Vincent warf ihm einen schnellen Blick zu, als er das Wort Liebe aussprach, und er begriff, daß sein Vater Bescheid wußte. Es entstand ein kurzes Schweigen, nur die Rohre klopften leise, und die Untergrundbahn vibrierte fast lautlos über ihnen. Die Kerzen warfen diffuse Schatten auf die Bücher, die auf den Tischen und den
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Sideboards aufgestapelt waren, auf die Marmorgesichter der alten Statuen, auf die obskuren alten medizinischen Messinginstrumente und die alten Sextanten, die Vater gesammelt hatte - der verschlissene Abfall einer Stadt, die genausowenig Zeit und Geduld für die schönen Dinge der Vergangenheit hatte, wie sie Zeit und Geduld für Menschen ihrer Art hatte. »Du mußt aufpassen, daß deine Gefühle dich nicht zerstören.« Sie würden ihn zerstören, dachte Vater verzweifelt, wenn sie ihn so weit bringen würden, die Tunnel zu verlassen, und wenn es auch nur für eine Nacht wäre. Selbst wenn sie ihn nicht fangen würden - diese namenlosen schrecklichen Menschen, die oben lebten -, es würde genügen, daß sie wußten, daß es ihn gibt, denn dann würden sie anfangen zu suchen, und der Schlimmste von ihnen würde am hartnäckigsten suchen. Als Vater Vincent in die Augen blickte, konnte er erkennen, daß seinem Sohn all das und noch vieles mehr klar war. Aber da er selbst einmal eine große Liebe erlebt hatte, konnte er auch erkennen, daß es Vincent so ging wie einem Menschen, der zum ersten Mal das Licht entdeckt hat und der das nie wieder vergessen und sich nie mehr mit der Dunkelheit zufriedengeben kann. Er kannte den Stoff, aus dem Tragödien gemacht wurden, und sein Herz tat ihm weh. Mouse wartete in dem Tunnel vor Vaters Räumen. »Vincent, ich brauche deine Hilfe«, sagte er kurz und ging neben seinem hochgewachsenen Freund her. »Hilfst du mir?« Mouse redete nie lange um eine Sache herum. Vincent fiel es schwer zu lächeln, und seine Stimme zitterte, als er sagte: »Wenn ich kann.« »Du kannst«, bestätigte Mouse zuversichtlich. Er war ein kleiner, ziemlich untersetzter Junge von etwa sechzehn, siebzehn Jahren. Niemand, am allerwenigsten Mouse selbst, kannte sein genaues Alter. In einem runden Gesicht mit einer Stupsnase unter einer sandfarbenen Topffrisur drückten seine Augen ständig eine naive Arglosigkeit aus, die im Widerspruch zu seiner unberechenbaren Intelligenz stand, einer Intelligenz, mit der er instinktiv jeden Mechanismus sofort analysieren konnte, indem er ihn nur ansah. Wenn man ihm auch nur das geringste bißchen an Werkzeugen und Ausrüstung gab, konnte er alles nachbauen, reparieren oder verbessern. Niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung, wo Mouse herkam. Vor acht Jahren hatte Vincent ihn zum erstenmal gesehen, eine scheue Gestalt im Dunkel der Tunnel, die immer dann auftauchte, wenn es etwas zu essen gab. Fast anderthalb Jahre war er geduldig hinter dem verwilderten Kind hergewesen und war wie eine riesige Katze durch jede abgelegene Spalte der unterirdischen Welt gekrochen. Sechs Leute waren schließlich nötig gewesen, um den Jungen zu stellen. Er schrie, biß und schlug in panischer Angst um sich. Aber Vincent hatte ihn beruhigen können, hatte ihn gezähmt; mit unendlicher Geduld und Liebe hatte er ihm das Sprechen beigebracht und ihn dann in die Gemeinde der Tunnelbewohner gebracht. Die Mühe, die Vincent sich bei dieser schwierigen Aufgabe gegeben hatte, bei der ein anderer den Verstand verloren hätte, hatte sich gelohnt. Sie verdankten es Mouse, daß in ein oder zwei Gebieten der Tunnel Leitungen gezogen worden waren, durch die in Notfällen elektrischer Strom fließen konnte, daß ein System installiert worden war, mit dem das Wasser, das sie aus dem städtischen Netz zapften, erhitzt werden konnte. Er hatte versteckte Türen konstruiert, die die oberen Ebenen vor zufälligen Eindringlingen von »oben« schützten. Mouse hatte Möglichkeiten entdeckt, wie man Strecken im Nachrichtennetz der Rohre abkürzen konnte, er veränderte und rekonstruierte Apparaturen, mit deren Hilfe die endlose Schwerarbeit in den Tunneln erleichtert wurde: eine primitive Waschmaschine, Verbesserungen des Brennstoffs und der Öfen. Leider war Mouse genauso genial, wenn es darum ging, Drucktöpfe zu entwickeln, die dann explodierten und die Speisen über Hunderte von Quadratmetern verteilten. Oder er erfand ein Kühlsystem, das zu einem Kurzschluß in fünfundzwanzig Häuserblocks der Stadt führte. »Die Wasserpumpe im Old Main muß überholt werden«, erklärte er, während er neben Vincent herging und mit seinen hellen graublauen Augen zu ihm hochblickte. »Sie ist alt - ein langer Weg, das Wasser nach oben zu bekommen, wo die Leute sind. Der Druck im Hauptrohr ist jetzt höher ... weiß nicht warum.« »Wahrscheinlich, weil die Bevölkerungszahl der Stadt größer geworden ist, seit die Pumpe eingebaut worden ist«, vermutet Vincent. Mouse zuckte mit den Achseln und streckte dabei seine behandschuhten Hände in einer extravaganten Geste nach vorn. Die Stadt über ihnen interessierte ihn herzlich wenig, außer daß sie als Versorgungsquelle für seine Projekte diente. »Ich weiß, wo ich Teile kriegen kann, um das zu reparieren, um das zu verbessern - alles. Pumpt dann zweimal soviel Wasser. Aber ich brauche Hilfe, um sie zu beschaffen.« Vincent blieb stehen, er konnte sich schon denken, was als nächstes kommen würde. »Und wo sind diese Ersatzteile?« »Oben!« sagte Mouse und fuchtelte dabei ungeduldig mit den Armen herum, weil Vincent so begriffsstutzig war. »Ganz unten an der Nassau Street - gute Teile! Besser als gut! Aber ich brauche Hilfe. Drei, vier Mann. Bitte deinen Vater.« Vincent legte den Kopf etwas zur Seite und betrachtete seinen Freund im Schatten der Petroleumlampe, die
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neben ihnen an der Felswand hing. Sein Herz tat ihm weh, und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das ihn zu seinem Vater geführt hatte, erfüllte ihn noch immer, aber Mouse brachte es fertig, jeden, der in Kontakt mit ihm kam, für seine Pläne zu begeistern. »Und wieso glaubst du, daß Vater zustimmen wird, wenn ich ihn an deiner Stelle bitte?« »Du kannst besser bitten«, sagte der schlaue Mouse. Vincent seufzte. Er hatte das Gefühl, Mouse wußte, daß Vater diesem Beutezug nicht zustimmen würde, und er kannte Mouse gut genug, daß der sich denken konnte, warum nicht. Trotzdem versprach er ihm: »Ich werde morgen früh mit ihm darüber reden«, und Mouse strahlte. »Gut. Besser als gut!« Er blickte zu Vincent hoch. »Du gehst spazieren?« Vincent nickte. »Soll ich mitkommen?« Vincent wußte, daß Mouse nicht im geringsten beleidigt wäre, wenn er einfach nein sagen würde, für ihn bedeutete eine solche Ablehnung nichts anderes, als daß der andere im Augenblick etwas gegen Gesellschaft hatte. Aber er nickte, und der junge Mann ging weiter neben ihm her, während sie durch die Tunnel wanderten. Wenn man schon an gebrochenem Herzen litt, dachte Vincent, dann ließ sich das in der Gesellschaft eines Freundes besser ertragen. Mouse machte es genausoviel Spaß, durch die Tunnel zu streifen, wie ihm, und er war der einzige unter all den Bewohnern, der sich darin noch besser auskannte als er selbst. Mouse war ein angenehmer Gesellschafter, manchmal sprach er über Maschinen, die er bei seinen heimlichen Ausflügen nach oben gesehen hatte, oder über Projekte, an denen er gerade herumbastelte, dabei ging er mit seinen dicken, über Kreuz geschnürten Stiefeln genauso leise wie Vincent. Nur wenige der unterirdischen Bewohner waren zu dieser nächtlichen Stunde unterwegs, denn aus praktischen Gründen hatten sie ihren Lebensrhytmus weitgehend an den der Leute oben angepaßt. Die beiden Freunde wanderten eine Zeitlang durch die unteren Ebenen, wo die Höhlen durch stillgelegte Abwässerkanäle und uralte Dampftunnel miteinander verbunden waren - Manchmal waren es völlig isolierte Nischen oder verschlungene Tunnel im Felsgestein. Gelegentlich kamen sie an einem Tor vorbei, an dem Warnschilder angebracht worden waren, um die Kinder - und die Erwachsenen, die sich in den Tunnels nicht so gut auskannten - vor den gefährlichen Gebieten zu warnen. Vincent konnte sich erinnern, daß er sie als Kind nicht beachtet hatte. Er machte sich manchmal Sorgen, daß die anderen Kinder womöglich auch so von ihren Fähigkeiten überzeugt waren wie er damals. Aber als sie zu der Metalltür hinaufgingen, die zu dem großen Abflußrohr im Central Park führte, verabschiedete sich Mouse und wünschte ihm eine gute Nacht. Mouse hatte nichts für frische Luft übrig; eine Landschaft, die ausschließlich aus Gras und Bäumen bestand, langweilte ihn. »Gras ist Gras«, war sein Argument, als Vincent seinen Arm ausstreckte und in den Verteilerkasten griff, um den Schalter umzulegen, der die Stahltür öffnete. Dahinter war ein verrostetes eisernes Gittertor, das dem Druck seiner Schulter nur widerwillig nachgab. »Bäume sind Bäume. Tunnel ...«, seine blauen Augen bekamen dabei einen verträumten Ausdruck, Vincent hatte bei seinem Freund selten einen solchen Ausdruck ästhetischer Bewunderung gesehen. »Tunnel sind immer anders, immer wieder neu.« Vincents Augen lächelten, während er die Kapuze seines Umhangs überstreifte, um sein Gesicht zu verdecken. »Die Welt in einem Sandkorn entdecken«, zitierte er leise, »und den Himmel in einer Wildblume.« Mouse machte eine ungeduldige Geste. »Nasses Gras!« sagte er grinsend und war verschwunden. Die Unendlichkeit auf der Fläche einer Hand zu halten, dachte Vincent, als er in die schwüle Nacht hinausging, und die Ewigkeit in einer einzigen Stunde. Obwohl die Nacht heiß und feucht war, berauschte sie ihn. Der Park war um diese Zeit menschenleer. Vincents Augen, die im Dunkeln sehen konnten, und sein scharfes Gehör, das durch die eingeschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten in den Tunneln noch schärfer geworden war, würde ihn in jedem Fall früh genug warnen, wenn sich jemand nähern sollte, noch bevor derjenige ihn sehen könnte. Dann würde er im Dunkel hinter den Bäumen Schutz suchen. Er wußte, daß Vater für diese nächtlichen Ausflüge nichts übrig hatte, aber er hatte es ihm nie verboten. Sie waren seine einzige Möglichkeit, Kontakt mit einer Welt zu bekommen, die nie seine werden würde, auch wenn dieser Kontakt noch so kurz war. Alles, was er aus den Zeitungen und Büchern, die er gelesen hatte, und von den Menschen, die sich in den Schutz der Tunnel geflüchtet hatten, über diese Welt erfahren hatte, ließ ihn daran zweifeln, ob das überhaupt jemals seine Welt sein könnte. Aber früher war er nur traurig gewesen, weil es ihm nie vergönnt sein würde, die grauen Gewölbe von Notre-Dame de Paris zu betreten oder ein Theaterstück zu sehen, das etwas anspruchsvoller war als die kleinen Produktionen, die im Rahmen der Feiern im Tunnel aufgeführt wurden, und weil er nie Gelegenheit haben würde, im Meer zu schwimmen. All das war jetzt anders. Von dem Wäldchen am Ramble aus konnte er das Haus sehen, in dem Catherine wohnte. Mouse konnte jede Adresse in dem fünf Stadtteilen aus der Lage der Dampftunnel bestimmen, die darunter herliefen. Vincent, der in
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diesem Punkt kaum weniger geschickt war, konnte zusätzlich oben mit unten im Beziehung setzen. Seine Fähigkeit, jeden Punkt der Stadt zu bestimmen und zu erreichen, und das manchmal innerhalb von Minuten, wenn die Untergrundbahn günstig fuhr, war unwahrscheinlich. Die Eckterasse, in deren Hintergrund apricotfarbenes Licht sanft das Fenster und die Glastüren mit den vielen kleinen Scheiben umrahmte ... Er blickte hinüber und ahnte instinktiv, daß sie dort wohnte. Warum mutete er sich das zu? fragte er sich. Vater hatte zweifellos recht. Aber es war trotzdem ausgeschlossen, daß sie ihm jemals Unglück bringen könnte ... zumindest würde das Unglück nie die Freude aufwiegen können, sie gekannt zu haben. In Gedanken deklamierte er Verse von Donne und fand in ihnen den Widerhall seines eigenen Schmerzes. Ich frage mich bei meiner Seel, was du und ich getan, bevor wir liebten? Waren wir da noch nicht von der Mutter Brust entwöhnt? Nein, dachte er. Ihm war klargeworden, daß sein Leben in der Unterwelt unvollständig gewesen war. Er hatte sich schon vor langer Zeit damit abgefunden, daß es nicht anders sein konnte. Aber jetzt erkannte er, daß ihm, wie einem Kind - wie den Liebenden in Donnes Gedicht -, ein Teil der Wirklichkeit gefehlt hatte, von dessen Existenz er früher nichts geahnt hatte. Und so groß sein Schmerz auch sein mochte, war er doch weder bereit noch in der Lage, wieder in diesen Zustand der Ignoranz zurückzukehren. Wenn jemals eine Schönheit ich geschaut, die ich ersehnte und die mein wurde, dann war es nur ein Traum von dir. Über der weißen Balustrade der Terasse ging das Licht aus. Also war sie schlafen gegangen. Er drehte sich um und hoffte, daß sie friedliche Träume haben würde. »Mouse, das kommt überhaupt nicht in Frage«, seufzte Vater in dem resignierten Ton, den Vincent oft bei ihm bemerkt hatte, wenn der alte Mann mit Mouse zu tun hatte. »Ich habe dir schon oft gesagt, daß ich es nicht dulden kann, wenn du stiehlst.« »Nicht stehlen«, argumentierte Mouse mit einer frustrierten Geste - den gleichen Streit hatte er schon einmal gehabt. »Nehmen.« »Von wem nehmen?« »Oben.« Mit einer Handbewegung machte er klar, daß für ihn die gesamte Welt des Tageslichts eine einzige große Müllkippe war, auf der man die Dinge, die man nötig hatte, nur aufzusammeln brauchte. Winslow saß zwischen Mary und Pascal auf den runden Granitstufen, die zu Vaters Obergeschoß führten, und rollte mit den Augen. Er hatte auch schon versucht, mit Mouse zu diskutieren. Mouse redete eifrig weiter. »Gute Stelle, großes Haus voll mit Sachen; Kabel, Motoren, Röhren. Ich brauche nicht alles auseinanderzunehmen, muß nicht neue Zähne schleifen, Dreck abwischen.« Mouse runzelte die Stirn, wie er das häufig tat, wenn er versuchte, Vater etwas klarzumachen. »Stehlen kann man nur von Leuten.« Vater seufzte und rieb sich die Augen. Vincent hatte wie versprochen mit Vater über Mouses Vorschlag gesprochen, einen Beutezug zu machen, um Ersatzteile für die Reparatur der Pumpe auf der Ebene sechs zu beschaffen. Nebenbei hatte er erwähnt, daß Mouse drei oder vier Männer mitnehmen wollte, die ihm helfen sollten, die Sachen zu tragen. Das war an sich schon sehr verdächtig, obwohl er und Vater ohnehin keine Zweifel gehabt hatten. Normalerweise waren es ein halbes Dutzend heimliche Ausflüge in alle möglichen Gegenden der Stadt nötig, um die erforderlichen Teile zusammenzubekommen, die für eine dieser komplizierten Maschinen benötigt wurden, die Mouse oder Winslow zusammenbasteln wollten. Weil die Pumpe so wichtig war, war ein halbes Dutzend Erwachsene zu einer inoffiziellen Konferenz zusammengetrommelt worden, aber das Ergebnis stand schon von vorneherein fest. »Nein.« »Die Pumpe ist verdammt alt«, warf Winslow in die Diskussion und stützte sich auf die Ellbogen. »Ich glaube, Mouse hat recht; irgend etwas muß damit geschehen. Der Motor läuft nicht mehr rund, und wenn er seinen Geist aufgibt, müssen wir nicht nur das Wasser mit der Hand hier raufschleppen, sondern der Druck in der Hauptleitung wird dann auch gefährlich ansteigen. Dann werden wir wahrscheinlich in der ganzen Gegend undichte Stellen bekommen.« Vater runzelte die Stirn. »Warum das?« »Die Hauptleitung ist eine der ältesten in der ganzen Stadt«, erklärte Pascal und begleitete seine Erklärung mit einer Bewegung seiner behandschuhten Hände. Es war ungewöhnlich für ihn, nicht im Raum der Rohre zu
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sein, aber in dem vorliegenden Fall konnte man auf die Meinung des ältesten Mitglieds der Gemeinde, des Menschen, der von allen am längsten unter der Erde lebte, nicht verzichten. Während seiner Abwesenheit im Raum der Rohre hatte das Klopfen und Klappern nicht aufgehört; es hatte sich eher noch vervielfacht, da die Nachrichtenübermittlung ohne ihn bedeutend schlechter funktionierte. »Einzelne Teile müssen noch aus der Zeit von Aaron Burr stammen«, fuhr er fort. »Diese Pumpe ist schon so lange hier, wie ich hier unten bin. Mit ihr zapfen wir die städtische Wasserversorgung an, und sie hat bisher dafür gesorgt, daß der Druck der Hauptleitung nicht zu hoch wurde, obwohl die Wassermenge inzwischen größer geworden ist.« Er machte eine kurze Pause, als er ein Klopfen in den Rohren hörte, und legte unbewußt den Kopf zur Seite, um zuzuhören. »Verzeihung.« Er stand schnell auf, lief die Stufen zum Obergeschoß hinauf, suchte sich zwischen den Bücherstapeln einen Weg zu den Rohren, die an der Wand hinaufliefen. Dann nahm er einen kleinen Schraubenschlüssel aus einer Innentasche seines voluminösen grünen Umhangs und klopfte einen Schwall von Worten auf das Rohr, machte eine Pause, lauschte und ging dann an seinen Platz zurück. »Es tut mit leid ... Einer der Helfer hatte versucht, Sara im Kerzenladen zu erreichen, und hatte das falsche Rohr erwischt ... Wenn die Pumpe ihren Geist aufgibt, wird der Wasserdruck steigen.« »Besteht die Gefahr einer Überschwemmung?«, fragte Vater schnell. »Die alte Hauptleitung liegt nicht weit unter den unteren Teilen der bewohnten Tunnel.« Ho und zwei ältere Mädchen - Jamie und Laura -, die auch mit Mouse befreundet waren, saßen direkt unter der Treppe und sahen sich im flackernden Schein der Kerzen ängstlich an. Pascal runzelte die Stirn und sah Winslow fragend an, der aber schüttelte unverbindlich den Kopf. »Als sie das letzte Mal außer Betrieb war, war ich noch ein Kind, da ist es unten ganz schön matschig geworden«, sagte er langsam. »Jede Menge Schlamm - das war vielleicht eine Schweinerei, wir mußten das alles wieder saubermachen -, aber es war keine Katastrophe. Aber heutzutage ist der Druck in der Hauptleitung höher, da weiß ich offen gestanden nicht, wie sich das auswirken würde.« Vater wandte sich wieder an Mouse. »Kannst du uns eine Liste von den Teilen machen, die du brauchst, Mouse?« fragte er. »Damit wir eine Vorstellung davon haben, was du benötigst, um die Pumpe zu reparieren.« Mouse nickte heftig. »Vier Mann.« Er dachte einen Augenblick nach, ergänzte dann: »Mit Säcken. Brauche Säcke, um das Zeugs wegzuschleppen.« Vater wandte sich an die anderen. »Wir können die Helfer informieren; mal sehen, was wir finden können oder was wir Stück für Stück auf legale Weise zusammenkriegen. Ist das annehmbar?« »Das dauert lange«, bemerkte Winslow und faltete seine großen, schwieligen Hände auf den Knien. »Diese Hauptleitung ist eine unserer wichtigsten Wasserquellen. Wenn die Pumpe verreckt, können wir eine Menge Wassereimer schleppen.« »Besteht eine unmittelbare Gefahr, daß das passiert?« Der Schmied dachte einen Augenblick darüber nach und schüttelte dann den Kopf. »Meine Meinung nach nicht. Aber es wird nicht mehr lange dauern, und man weiß nie, wann eine so alte Maschine ihren Geist aufgibt.« »Und die Helfer können uns nicht viel geben«, fügte Mary, die unterhalb von Winslow saß, ruhig hinzu. »Lebensmittel und Decken, Nähgarn, Medizin und Brennstoff sind eine Sache. Maschinenteile sind etwas ganz anderes. Sie sind teuer, und es kann lange dauern, sie zu beschaffen. Aber im Augenblick fällt mir auch keine andere Lösung ein.« Als die Teilnehmer der inoffiziellen Beratung das Arbeitszimmer verließen, blieb Ho zurück und wartete, während Mouse, Laura und Jamie gemeinsam im Dunkel verschwanden. Dann ging sie zum Schreibtisch zurück, an dem Vater saß, Vincent stand schweigend neben ihm. »Vater«, sagte sie mit ruhiger Stimme, »Ich will nicht unverschämt erscheinen, aber ... warum machen wir es nicht so, wie Mouse gesagt hat?« »Weil«, sagte Vater sanft, »wir keine Gemeinde von Dieben sind.« »Nun, nach dem, was Mouse mir erzählt hat, hört sich das so an, als ob es sich bei der Stelle, die er ins Auge gefaßt hat, um eine Art Schrottplatz in Brooklyn handelt. Es ist ja nicht so, daß die Sache neu sind und er sie aus einem Laden herausholen will.« »Trotzdem würde er etwas nehmen, was anderen Leuten gehört und wofür sie Geld bezahlt haben, und wenn es nur der Schrottpreis ist«, erklärte Vater. »Er würde etwas mitnehmen, von dem ein andere Mensch leben könnte.« Ihre Lippen wurden schmal, ein Ausdruck von Zorn stieg in ihre schwarzen Mandelaugen. »Schulden wir denen solche Überlegungen?« Mit einer kleinen Bewegung ihres Kopfes wies sie nach oben. Vater faltete seine Hände und betrachtete das magere Mädchen mit ihrem unförmigen Pullover, mit der Weste, die aus dem gesteppten Stoff von Umzugsdecken genäht war, mit ihren geflickten ausgebeulten Jeans. »Wir schulden uns das selbst«, erklärte er. »Diebstahl hat eine Tendenz zu eskalieren, Ho, so ist das mit jedem Laster. Was klein anfängt, endet in gefährlichen Exzessen.«
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Ihre hagere Gestalt bewegte sich hin und her, als wolle sie dem ausweichen, was er sagte. »Ich weiß das«, sagte sie und fühlte sich nicht wohl dabei. »Aber wir brauchen das Zeug. Du weißt genausogut wie ich, daß die meisten Helfer Leute sind, die nicht viel haben und uns nur wenig abgeben können. Die haben nicht die Zeit herumzulaufen und sechs Dreiachtelzoll-Muffen oder fünf Meter Dreiviertelzoll-Messingrohr oder was weiß ich sonst noch zu suchen. Und die Hälfte der Sachen, die sie uns besorgen würden, könnten wir nicht gebrauchen. Das ist immer so. Wenn die Pumpe aussetzt, bevor Mouse sie repariert hat, habe zumindest ich keine große Lust, Wassereimer zu schleppen, wenn ich einmal baden will.« Vater schüttelte den Kopf. »Wir auch nicht. Und wir werden uns dann alle abwechseln, bis etwas anderes montiert werden kann.« »Warum können wir nicht einfach ... es ist doch eine Art Notfall.« Der alte Mann seufzte. »Ein Notfall kann eine sehr gute Ausrede sein, aber es bleibt eine Ausrede, und Ausreden haben eine Art, mit der Zeit immer weniger dringend zu werden. Wir können das nicht machen, Ho. Unsere Welt ist sehr empfindlich, und wir können sie nur unter bestimmten Bedingungen bewohnen. Aber wir können diese Bedingungen - die Heimlichkeit, die uns Geborgenheit gibt, die Helfer, die uns verbergen, die Tunnel, die es uns möglich machen, zu kommen und zu gehen, ohne von denen oben gesehen zu werden - nicht gefährden, indem wir unsere eigenen Gesetze übertreten.« Er warf einen Blick auf Vincent, der schweigend neben ihm stand, und Vincent wußte genau, daß er jetzt nicht nur Ho, sondern auch ihn meinte, als er hinzufügte: »Wir gehören in diese Welt. Wir können nicht beides haben.« Das Mädchen ließ die Schultern hängen, nickte aber widerstrebend. »In Ordnung«, sagte sie, drehte sich um und verließ den Raum. »Es ist schwer für sie«, sagte Vincent leise, als sie weg war. Sein Vater sah ihn einen Augenblick lang ruhig und fest an, dann seufzte er und rieb sich erschöpft die Augen. »Es ist für uns alle schwer.«
11 Es war noch dunkel, als Catherine die Stufen zum Polizeipräsidium hinaufging, die vom Regen der letzten Nacht noch feucht waren. Trotz der frühen Morgenstunde waren die Straßen schon mit Autos verstopft. Die Park Row, die in östlicher Richtung auf den Fluß zulief, wirkte wie ein Windkanal, durch den der bitterkalte Dezemberwind fegte. Ich muß verrückt sein, dachte sie und zog ihren hellen Dufflecoat enger um sich. Noch vor einem Jahr hatte sie nicht einmal gewußt, daß es so etwas wie sechs Uhr morgens überhaupt gab. Aber verdammt, wenn ich es jetzt nicht tue, wann soll ich es dann machen? Die Besprechung mit Moreno über den Winthrop-Fall ist um vier, und die wird bestimmt bis sieben dauern. Wenn die Berichte über den Bajeer-Fall reinkommen, sitze ich heute mittag während der Pause auch noch am Schreibtisch ... wieder einmal. Sie seufzte und schüttelte den Kopf, während sie mit dem Fahrstuhl zum Computerzentrum hinauffuhr. Kein Wunder, daß Joe von Keksen und Süßigkeiten lebte - das war das einzig Eßbare, daß man hier mit Sicherheit bekommen konnte. Für ihre übermüdeten Augen wirkte das weiße Neonlicht des Computerraums irgendwie aufdringlich, wie ein Restaurant, in dem man nach Feierabend alle Lampen angemacht hat. Ohne die geschäftige Menge der Programmierer und Systemanalytiker hallte der Raum. Hier und da saß eine einsame Gestalt und hackte an einem Terminal herum. Niemand hob den Kopf, als Catherine sich einen Weg durch die Kabinen suchte. An manchen Trennwänden hingen kleine Weihnachtsgirlanden, an anderen Weihnachtskarten - irgend jemand hatte einen riesigen blauweißen Davidstern an ein Schwarzes Brett gehaftet. Man würde eine Party feiern, das wußte Catherine, Weihnachten - ein Feiertag, den die meisten Juden und Moslems in der Abteilung gegen das PassahFest und Ramadan eingetauscht hatten - aber das NYPD machte an dem Tag nicht zu. Sie war in der letzten Nacht mit einer seltsamen Unruhe wach geworden, sie hatte das Gefühl gehabt, als ob sie irgend etwas vergessen hätte, irgend etwas sehr Wichtiges. Sie hatte auch das Gefühl, etwas geträumt zu haben ... Ja. Sie hatte von Captain Hermann geträumt. Sie hatte an ihrem Schreibtisch gesessen und in einem Bericht geblättert, und er und Tom hatten ihr gegenüber gesessen. Sie hatte sie angesehen und gesagt: »Was soll das bedeuten: ruht? Sie können doch diesen Fall nicht einfach abschließen.« Der Bericht, so hatte sie im Traum erkennen können, war der von ihrem
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Überfall. Hermann, dick mit rotem Gesicht und zerknautscht wie immer, hatte mit den Achseln gezuckt. »Was soll ich tun, wenn das Mädchen mit nichts erzählen will? Sie muß gelogen haben.« »Natürlich hat sie gelogen«, erwiderte Tom indigniert, und seine braunen Augen bekamen einen harten Ausdruck. »Ich weiß, daß man sie vergewaltigt hat, das kann gar nicht anders sein. Sie war selbst schuld - sie hätte bei mir bleiben sollen, wie ich es ihr gesagt habe, anstatt wegzugehen. Sie hätte das tun sollen, was ich ihr gesagt habe. Und offen gestanden hätte sie uns meiner Meinung nach alles erzählen müssen, dann hätten wir die ganze Angelegenheit regeln können, und alles wäre wieder so wie früher geworden. Aber sie will einfach nichts sagen.« Und dann saß Catherine plötzlich selbst auf der anderen Seite des Schreibtisches. Ihr gegenüber saß das geprügelte, verdreckte Mädchen in dem zerrissenen schwarzen Kleid mit dem alptraumhaften Gesicht mit den vielen Nähten; sie blickte in ihre eigenen grünen Augen. Freundlich sagte sie zu sich selbst. »Was ist denn nun passiert?« »Ich möchte nicht darüber reden«, sagte die andere Catherine. »Ich möchte nicht daran denken, ich möchte das nicht alles noch einmal durchmachen müssen. Es war nicht meine Schuld. Niemand war schuld daran. Es ist einfach passiert.« »Nein«, sagte Catherine ruhig. »Das gibt es nicht, so etwas ›passiert‹ nicht einfach.« Das geprügelte Mädchen hatte keine Antwort gegeben, aber Tränen waren in ihre verquollenen Augen gestiegen. Catherine hatte sich das Vernehmungsformular angesehen, das vor ihr lag, und die Fragen für sie beantwortet, damit ihr anderes Ich, dieses verletzte und gebrochene Ich, nicht noch einmal all diese Qualen durchleben mußte. Sie wollte sie beruhigen, wollte ihr sagen, daß der Schmerz und das Entsetzen vorübergehen würden, aber da sie ja selbst dort saß, wußte sie genau, daß sie ihr nicht glauben würde. Statt dessen konzentrierte sie sich darauf, die Lücken in dem Vernehmungsprotokoll auszufüllen, ihre eigene ordentliche Handschrift fuhr an der Stelle fort, an der Hermanns Kritzeleien aufhörten. Captain Hermann, stellte sie fest - und das hatte sie auch schon im Wachzustand festgestellt, als sie die Akte eingesehen hatte -, brachte seine Berichte noch hastiger und schlampiger zu Papier als sie selbst. Drei Männer warteten in einem Lieferwagen in einem Seitenweg. Der erste Mann sagte: »Gehst du heute abend allein nach Hause, Carol?« Sie runzelte die Stirn, als sie die Worte schrieb. Sie hatte sich nur an die Worte »Gehst du heute abend allein nach Hause« erinnern können. Nur an einen Alptraum von Schmerzen und panischer Angst, den sie nicht noch einmal träumen wollte und der hinter den dunklen verriegelten Pforten ihres Bewußtseins lag. Aber sie hatten »Carol« gesagt. Und Catherine schrieb, als ob die andere Catherine, das Mädchen, das in sich zusammengesunken auf der anderen Seite des Schreibtischs saß, ihr diktieren würde: Der untersetzte Mann sagte so etwas wie: »Kleine Mädchen mit einem großen Mund.« Das läßt darauf schließen, daß der Überfall geplant war und nicht eine spontane Gewalttat oder ein persönlicher Racheakt gewesen war. Vorgeschlagene Verfahrensweise ... Und dann hatte sie die Augen geöffnet und lange auf das sanft erleuchtete Muster der Quadrate gestarrt, das die Reflektionen der Straßenlaternen durch die Scheiben der Glastüren an die Decke ihres Schlafzimmer warfen, bis der Himmel draußen sich langsam im Morgengrauen blaß verfärbte. Edie saß vor ihrem Computer und war so in das Programm vertieft, an dem sie gerade arbeitete, daß sie erst aufblickte, als Catherine schon fast neben ihr stand. Dann grinste sie, und ihr ausdrucksvolles Gesicht mimte Erstaunen. »Also, was willst du denn schon hier um sechs Uhr morgens, Kind? Kommst wohl gerade aus der Disco?« In ihrer Stimme lag keine Feindseligkeit mehr, und Catherine lachte. Wenn Edie sie auf den Arm nahm und als verwöhntes, reiches Mädchen oder als Salonkommunistin bezeichnete, dann wußte sie inzwischen beide, daß das nicht wirklich stimmte, Catherine zog ihren Mantel aus. »Mein Gott, ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal in einer Disco gewesen bin.« »Was du nicht sagst.« Edie tippte einen Programmabschluß ein, und Catherine nahm sich einen Stuhl direkt neben einem Tisch, auf dem ein Drucker, ein 2400 Baud Modem, eine Telefaxmaschine und eine Steinguttasse mit noch leicht dampfendem Tee standen. Edie stieß einen übertriebenen Seufzer aus und tätschelte liebevoll den Computer. »Weißt du, Biff hier ist die längste Beziehung, die ich je hatte, seit ich in der sechsten Klasse war. Er versteht mich.« Catherine nickt verständnisvoll. »Das könnte der neue Trend werden.« Seit einiger Zeit war Edie dabei, sie in die Geheimnisse der Computer einzuweihen, sie nützte dazu jede Minute aus, in der sie zufällig beide Zeit hatten; Catherine, die immer noch wenig Ahnung von Computern hatte, nährte zumindest jetzt nicht mehr in ihrem Unbewußten die Vision, daß die Computer planten, eines Tages die
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Weltherrschaft zu übernehmen, und das verdankte sie Edie. »Hör zu«, sagte Catherine, nachdem sie den üblichen Bürotratsch hinter sich hatten und über ihr hektisches Leben gejammert hatten. »Ich brauche deine Hilfe, und die Angelegenheit ist ein bißchen kompliziert. Eine Frau ist mit einer anderen verwechselt und überfallen worden ... von drei Männern. Ich möchte wissen, ob die drei Männer das Opfer erwischt haben, hinter dem sie eigentlich her waren.« Edie drehte sich wieder zu ihrem Bildschirm um. Catherine wußte, daß es für Edie nichts Schöneres gab, als »im System herumzublättern«, wie sie das nannte. Das heißt alle möglichen Speicher anzuzapfen und neue Möglichkeiten zu finden, mit diesem herrlichen Spielzeug herumzuspielen. »Weißt du das Datum des irrtümlichen Überfalls?« »Der 12. April dieses Jahres«, sagte Catherine ohne zu zögern, und obwohl Edie ganz darauf konzentriert war, das Programm abzurufen, bemerkte sie doch irgend etwas in Catherines Stimme und drehte sich um. Mach kurzen Zögern fragte sie: »Schwerer Überfall?« Catherine nickte. Blaßblau auf dunklem Grund füllte sich der Bildschirm mit Namen, hinter denen das Datum des 12. April stand, dann rollte das Bild weiter, und der Bildschirm füllte sich zum zweitenmal ... und zum drittenmal ... »Da schlagen verdammt viele Typen verdammt viele Frauen zusammen«, sagte Edie trocken. Catherine glaubte ihren eigenen Namen auf der ersten Liste bei den C's gesehen zu haben, aber sie war sich nicht sicher. »Können wir das nicht ein wenig eingrenzen? Wo ist es passiert, im Haus auf der Straße ...?« »In einem Lieferwagen«, erklärte Catherine langsam und erinnerte sich zum hundertstenmal, wie die Scheinwerfer plötzlich aus dem nebligen Dunkel der Seitenstraße hinter ihr auf sie zugekommen waren. Oder war das nur eine Erinnerung an ihren Traum? An diesen schrecklichen Traum, in dem sie nur im Zeitlupentempo laufen konnte und nicht in der Lage war zu fliehen. »Das Frabrikat weiß ich nicht.« Die Programmiererin machte sich anscheinend ihre eigenen Gedanken, denn ihre Stimme zögerte, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie sagte nur: »Und wie wär's mit dem Namen des eigentlichen Opfers?« Gehst du heute abend allein nach Hause, Carol? Und dann diese fürchterliche, eisenharte Hand um ihre Hüfte. Sie konnte sich jetzt wieder an alles erinnern. Ich heiße nicht Carol, hatte sie keuchend gesagt und die Männer angefleht, aber sie hatten ihr gar nicht zugehört. »Versuchs mit Carol.« Mit zusammengepreßten Lippen gab Edie die neuen Daten ein. »Okay, hier sind die Carols. Schauen wir uns die Datei mal an.« Die erste Carol, die die am 12. April überfallen worden war, war dreiundsechzig Jahre alt. Catherine hatte sich nicht einmal nach fünf Monaten bei der Staatsanwaltschaft an so etwas gewöhnen können. »Probier die nächste«, sagte sie und versuchte, den Zorn in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Es müßte eine Frau zwischen zwanzig und vierzig sein.« Name des Opfers - Felway, Carol Datum des Vorfalls - 12. April 1986 Haar - schwarz, Augen - braun Größe - 170 cm, Gewicht - 65 kg Geschlecht - weiblich, Geb. Datum 17.5.64 Status - wird observiert Aktenzeichen - ADRX 73856 Nach einem kurzen Flimmern in Grau und Schwarz dann das digitalisierte Foto. Nur für die Akten ... Catherine hörte immer noch, wie der Polizist das sagte und das Blitzlicht ihre schmerzenden Augen blendete. Eine junge schwarze Frau mit einem geschwollenen Kiefer. »Nein«, sagte sie leise. »Versuch die nächste.« Name des Opfers - Stabler, Carol Datum des Vorfalls - 12. April 1986 Haar - hellbraun, Augen - Grün Größe - 165 cm, Gewicht 48 kg Geschlecht - weiblich Status - nicht in Haft Aktenzeichen ADRX 78315
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Trotz der Schürfwunden und Prellungen - und sie war schlimm zugerichtet worden - war die Ähnlichkeit, die das Mädchen auf dem Foto mit Catherine hatte direkt unheimlich. Eine Welle von Gefühlen, über die sie sich keine Rechenschaft geben konnte, überflutete Catherine, und sie schloß die Augen. Sie hatte gewußt, daß es so gewesen sein mußte, aber es zu wissen und dann tatsächlich das Gesicht der anderen Frau zu sehen, als würde sie ihr eigenes schreckliches Spiegelbild sehen, waren zwei ganz verschiedene Dinge. Dann kam ihre Wut zurück, Wut und zugleich die kühle nüchterne Erkenntnis, daß sie tatsächlich etwas daran ändern konnte. »Das könnte sie sein«, sagte sie, blickte Edie an und erkannte in den Augen der anderen Frau, daß ihr dämmerte, um was es hier ging. »Holen wir uns die Akte.« Die Adresse, die sie in Carol Stablers Akte gefunden hatte, lag nicht weit vom Madison Square Garden. Es war ein schäbiges Apartmenthaus, dessen beige gestrichenen Korridore irgendwie nach schmutzigen Teppichen rochen; außerdem kochte offenbar irgend jemand Spaghetti. Um diese Tageszeit, am Abend war das quäkende Geräusch der Fernsehgeräte hinter den geschlossenen braunen Türen nicht zu überhören; irgendwo schrie ein kleines Kind, um das sich offenbar niemand kümmerte. Catherine fand die Tür, klopfte, aber niemand rührte sich. In der Wohnung lief kein Fernseher, statt dessen war Musik zu hören, die angenehm klingende Stimme einer Frau mit einem melodischen Country-and-WesternAkzent. Das Stück war zu Ende, und ein neues begann ... also kein Radio, sondern eine Platte. Das bedeutete, daß jemand zu Hause sein mußte. Cathy klopfte noch einmal. »Wer ist da?« Die Stimme hinter der Tür klang ängstlich. »Carol?« Es war ein komisches Gefühl, jemanden so anzusprechen, den sie gar nicht kannte. Sie konnte fast spüren, daß sie dicht hinter der Tür stand, diese Frau mit dem hellbraunen Haar, die man in einer dunklen Straße, im Schatten der Lichter hinter dem Hotel so leicht mit ihr verwechseln konnte. Die Stimme war jetzt lauter und hatte einen gespielt mutigen Klang. »Was wollen Sie?« »Ich heiße Catherine Chandler. Ich möchte mit Ihnen reden.« Langes Zögern. Catherine erinnerte sich makabrer Weise an den alten Gag aus der Saturday Night LiveShow: »Hier ist der Telegrammbote ... der Installateur ... Blumen ...« Sie fragte sich, wie die Männer Carol wohl gefunden hatten, wie sie sie woanders hingelockt hatten, um sie dann in ihre Gewalt zu bringen. Sie erinnerte sich daran, daß der Würger von Boston sich gewöhnlich als Installateur ausgegeben hatte, um seine Opfer dazu zu bringen, die Tür zu öffnen. In ihrer Aussage bei der Polizei hatte Carol sich geweigert, etwas darüber zu erzählen. Dann hörte sie das Klicken der Riegel und das Rasseln der Sicherheitskette. Es waren zwei Riegel. Einer, das konnte Catherine an der Tür sehen, war ein paar Jahre alt, der andere war neu. Seit April, vermutete sie. Sie konnte das Gefühl verstehen. Im ersten Monat hatte sie sich überwinden müssen, nicht jeden Abend sämtliche Türen zu verbarrikadieren. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt, die Sicherheitskette war noch eingerastet, und durch den schmalen Spalt blickten sie zwei ängstliche grüne Augen an. Wie Catherine war auch sie einmal sehr schön gewesen. Zur Zeit des Überfalls war in ihrer Akte als Beruf »Schauspielerin« angegeben - das hatte in New York allerdings nicht viel zu bedeuten -, aber Catherine bezweifelte, daß sie zur Zeit diese Lüge noch aufrechterhalten konnte. Sie war offenbar nicht mit einem Messer verletzt worden, aber ihr linkes Augenlid hing schlaff herunter, und die gesamte linke Gesichtshälfte hatte die eigenartig tote Unbeweglichkeit, die man bei Nervenschädigung beobachten kann. Catherine schauderte. Erst in dem Augenblick wurde ihr so recht bewußt, was sie ihrem Vater zu verdanken hatte. Carols Stimme klang hart, sie war jetzt mutiger, weil sie sah, daß Catherine allein war. »Was ist los? Sind Sie von der Polizei?« »Ich arbeite im Büro des Staatsanwalts.« Sie zeigte der anderen Frau ihre Karte, aber Carol gab sie ihr ärgerlich zurück. »Hören Sie zu, ich habe euch doch gesagt, ihr sollt mich in Ruhe lassen!« Ihre Stimme zitterte vor Angst, sie war fast hysterisch. »Ihr habt mir genug Schwierigkeiten gemacht, ich habe nichts zu sagen.« Sie zog ihren Kopf zurück und wollte die Tür wieder schließen. Fast instinktiv streckte Catherine ihre Hand aus und stemmte sich gegen die schmutzige Täfelung der Tür. »Carol, Sie sind nicht die einzige, die von diesen Männern verletzt worden ist!« Einen Augenblick lang ließ der Druck gegen die Tür nicht nach. Dann wurde er schwächer. Carols mageres, halbgelähmtes Gesicht, das von einem zarten Haarschopf umgeben war, der den gleichen blonden Farbton hatte wie Catherines, erschien wieder an der Kante des Türrahmens. »Wovon reden Sie?« »Sie haben mich mit Ihnen verwechselt.« Sie trat näher in den gelben Lichtkegel, der durch den Türspalt fiel,
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und strich ihr Haar zurück, das sonst nach vorn gekämmt war und die Narbe verbarg. Obwohl sie mit Schminke bedeckt war, war die rote Narbe aus der Nähe gut zu erkennen. »Carol, ich glaube, das war für Sie bestimmt.« Carol bedeckte den Mund mit ihrer schmalen Hand, um das plötzliche Zittern ihrer Lippen zu verbergen, und starrte die Narbe an. Einen Augenblick lang sagte sie nichts. Dann schrie sie mit einer Stimme, die sich vor Wut fast überschlug: »Gehen Sie!« Sie knallte die Tür zu. Catherine hörte, wie auf der anderen Seite die Riegel vorgeschoben wurden,und gleichzeitig ertönte Carols gedämpftes Schluchzen. Carols Geburtsdatum hatte in der Akte gestanden. Wie alt war sie? Zweiundzwanzig? Dreiundzwanzig? In der Akte wurde keine Familie in New York erwähnt, kein fester Freund, und Catherine hatte aus dem Aktenstudium nicht den Eindruck gewonnen, daß es in Carols Umgebung jemanden gab, der ihr in dieser Krise geholfen hätte. Nicht einmal einen Arzt. Sie mußte an ihr eigenes Elend und ihre panische Angst nach dem Überfall denken, an Vincents ruhige feste Stimme, an sie selbstverständliche Unterstützung ihres Vaters, als sie diese lange Zeit nach der Gesichtsoperation im Krankenhaus gelegen hatte. Der Akte nach hatte Carol ihre Prellungen in der Notaufnahme des NYE Medical Center behandeln lassen und war nach Hause gegangen. Nach Hause, wo die Angst lauerte, daß so etwas noch einmal passieren könnte. Selbst nach acht Monaten war es offensichtlich, daß die Angst immer noch lebendig war. Catherine wartete lange und schob dann ihre Karte unter der Tür durch. »Wenn Sie mit jemandem reden wollen, der ihre Gefühle versteht«, sagte sie in ruhigem Ton und hob ihre Stimme etwas, damit Carol sie hinter der Tür verstehen konnte, »dann rufen Sie mich an.« Sie bekam keine Antwort, aber sie vernahm ein Schluchzen. Dann weinte die Frau, die in ihrer Wohnung wie in einem Gefängnis eingesperrt war, herzzerreißend. Catherine litt mit ihr, während sie den Korridor hinunterging. Eisenharte Arme umklammerten sie; mit ungeheurer Kraft wurde sie hochgehoben. Sie strampelte, wehrte sich, trat, keuchte vor Anstrengung, und eine Männerstimme flüsterte ihr mit heißem Atem und belegter Stimme ins Ohr: »Jetzt kannst du nichts mehr machen, nicht wahr? Jetzt solltest du dir etwas einfallen lassen.« Kalte Januarluft erfüllte den Speicher. Verzweifelt versuchte Catherine, sich aus Isaacs Umklammerung zu lösen, sie ließ ihr ganzes Gewicht gegen ihn fallen, wand sich hin und her und versuchte, mit ihren Ellbogen gegen die hart gerippten Schutzpolster zu stoßen, mit denen er seine Brust, seinen Bauch und seine Weichteile schützte. Trotz des Schweißbands, das sie um den Kopf trug, hingen ihr die Haare in die Augen. Er wandte seine ganze Kraft auf, um sie festzuhalten, so wie das ein Angreifer auch tun würde, und er war fürchterlich stark. »Na, was willst du jetzt machen?«, reizte er sie, seine unrasiertes Kinn kitzelte sie hinter den Ohr. »Nun komm schon, was willst du jetzt tun?« Einen kurzen Augenblick lang überkam sie so etwas wie Verzweiflung, und sie hätte am liebsten aufgehört und gefragt: Was kann ich denn tun? Er war größer als sie und schwerer. Aber ihr Instinkt sagte ihr, daß er diesmal nicht aufhören würde. Verdammt, dachte sie, das ist nicht fair, ich bin noch nicht so weit. Als die Männer aus dem Lieferwagen sie überfallen hatten, war sie auch noch nicht so weit gewesen. Diesem Gedanken folgten andere; an die Gewalt der Kerle und an ihre eigene entsetzliche Hilflosigkeit. Es war mehr als eine bloße Erinnerung. Sie erlebte wieder jene Nacht, sie roch den Regen, den Auspuff und den Dampf, den Schweiß das Mannes und sein Haaröl, sie war wieder dort auf dem Bürgersteig, und vor ihr wurde die Tür des Lieferwagens aufgerissen. Sie war wieder hilflos, voller Angst, und sie wußte, was als nächstes passieren würde - und genau wie das Mädchen in dem zerrissenen Kleid flüsterte sie: »So etwas passiert nun mal.« Die Schale, mit der sie diese Erinnerungen umgeben hatte zerbrach. Die Mauer, hinter denen sie sie versteckt hatte, um sich vor ihrer Intensität zu schützen, stürzte ein, und sie konnte das Gefühl förmlich in ihrer Brust spüren. Wilde Angst überschwemmte sie und verwandelte sich dann in pure Mordlust. Mit einem Schrei, der an ein wildes Tier erinnerte, trat sie mit dem Fuß gegen Isaacs Knie. Das Gelenk gab nach, und als ihr anderer Fuß den Boden berührte, warf sie sich mit aller Kraft auf ihn. Er verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Catherine benützte ihren ganzen Körper als Waffe und stürzte sich auf ihn. Sein Griff löste sich, und sie fielen auf die Matte. Mit einem Schrei, den sie selbst nicht wahrnahm, war sie wieder auf den Beinen, und als er aufstehen und wieder auf sie losgehen wollte, trat sie ihn, so fest sie konnte. Und dann trat sie ihn noch einmal, während er immer noch auf dem Boden lag. Tief in ihrem Inneren war ein Feuer entfacht worden und hatte ihr ganzes Wesen erfaßt. Als er gerade versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, griff sie noch der nächstbesten Waffe, einem Baseballschläger, den sie in der letzten Stunde vor drei Tagen benützt hatten. Kein Mann, der Hand an sie legte, würde jemals wieder auf die Beine kommen, wenn sie ihn erst einmal am Boden hatte ...
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»Stop!« Eine Sekunde lang lag Angst in seiner Stimme. Sie hielt inne, als hätte er sie zwischen die Augen getroffen. Den Baseballschläger hielt sie noch immer in der erhobenen Hand. Sie hatte ein rauhes heiseres Gefühl im Hals - hatte sie so laut geschrien? War ihre bisher immer so sanfte, kultivierte Stimme zu so etwas fähig gewesen? Ihre Arme, mit denen sie versucht hatte, sich aus der Umklammerung zu lösen, schmerzten, die Haare hingen vor ihren Augen wie bei einer Wahnsinnigen, ihr grauer Trainingsanzug hatte große Schweißflecken, und ihr ganzer Körper schmerzte von dem harten Aufprall auf den Boden. Eine Augenblick lag sah Isaac sie überrascht und verwirrt an. »Waren Sie das?« Er lachte gequält wie ein Mann, der gerade eine Fahrt mit der Achterbahn hinter sich hat - oder wahrscheinlich, weil er in der angespannten, wilden Gestalt vor sich die elegante junge Dame wiedererkannte, die im Herbst mit hochhackigen Schuhen und einem eleganten Kostüm zu ihm gekommen war. »Waren Sie das wirklich?« Sie ließ den Baseballschläger sinken. Sie war außer Atem und keuchte, aber jede Zelle ihres Körpers glühte. Genau wie er hatte sie das Gefühl, eine Fahrt auf der Achterbahn hinter sich zu haben. Sie wollte sagen: Ich glaube schon, aber sie war nicht in der Lage dazu - abgesehen davon, daß sie auch gar nicht sicher war, ob sie das tatsächlich gewesen war. Sie konnte nur lachen, triumphierend und wie in einem Rausch.
12 Es waren die Träume, die Vincent weckten, lange bevor Pascal den Alarm auf den Rohren trommelte. Es waren düstere, unheilschwangere Träume gewesen. Wasser, dachte er. Tiefes, kaltes Wasser, das schnell durch die schwarzen Felsritzen strömte und gegen die Wände klatschte. Wasser, das die eisernen Sprossen der Leitern in den Schächten umspülte und über die Ziegelstufen schwappte. Mit seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, im Dunkeln sehen zu können, sah er, wie es aus allen möglichen Spalten und Rissen in der Wölbung eines großen grauen Rohrs spritzte. Bestimmt war es die alte Hauptleitung, die unter der untersten bewohnten Ebene lief. Es strömte außerdem aus den Muffen anderer Verbindungsrohre, sprudelte über den Boden, nachdem die Pumpe ihren Geist aufgegeben hatte und der Druck eine unerträgliche Höhe erreicht hatte. Dann barst die alte Hauptleitung an vielen Stellen. Als er die Augen öffnete, war es absolut dunkel. Normalerweise drang immer ein wenig Licht durch das große fächerförmige Fenster mit dem apricotfarbenen Glas, das auf den langen Raum blickte, eine Art rechteckiger Gemeinschaftsraum, in den ein halbes Dutzend der wichtigsten bewohnten Tunnel mündeten. Er wurde zu allen Tageszeiten von Petroleumlampen und Kerzen beleuchtet, aber jetzt zitterte das Licht, wurde schwach und unruhig, weil jeder versuchte, die nächstbeste Lampe zu ergreifen. Er stand auf und zog sich im Dunkeln Hemd und Hose an, als der Alarm auf den Rohren ertönte: Mayday, Mayday Mayday! Überschwemmung - Großalarm - Evakuierung vorbereiten ... ein wildes, hektisches Geräusch. Wenn er wollte, konnte Vincent sich so schnell bewegen wie eine Katze; er hatte seine Stiefel an und war die Stufen zum Hauptraum hinaufgelaufen, noch bevor der erste Teil der Alarmnachricht zu Ende war. Er wußte, daß das Wasser die Tunnel überflutet hatte, die mit der alten Hauptleitung verbunden waren. »Ich hab's euch gesagt! Ich hab's euch gesagt!« keuchte Mouse, der mit einer kleinen Gruppe von Männern und Frauen auf dem obersten Absatz der langen Wendeltreppe stand, die zu den unteren Teilen der bewohnten Gebiete der Tunnel führte. Ein paar von ihnen - Vater und Winslow, nur halb angezogen und mit zerzaustem Haar - hatten Laternen. Mouse hatte einen Taschenlampe mit einer Halogenbirne, deren grelles bläuliches Licht harte Schatten auf ihre Gesichter warf und von dem wogenden dunklen Wasser reflektiert wurde, das weit unten in dem Treppenschacht zu erkennen war. »Die Pumpe hat ausgesetzt - der Druck in der Hauptleitung ist zu hoch.« »Ich hätte nicht gedacht, daß der Druck so hoch ansteigen würde«, gestand Winslow. »Es muß in dem gesamten alten Abschnitt geborsten sein.« »Wie weit kann sich die Überschwemmung ausdehnen?« wollte Vater wissen. »Was glaubst du, wie hoch das Wasser steigen wird?« Er hatte im Lauf der Jahre eine Reihe von Karten der unterirdischen Welt angefertigt, deren Höhlen und Tunnel weit auseinandergezogen waren, aber trotz der Hilfe von Experten wie Vincent oder Mouse waren sie noch lange nicht vollständig. Außerdem hatte Mouse die Angewohnheit zu vergessen, ihm über alle Passagen und Tunnel zu berichten, die er kannte. »Ich weiß es nicht«, sagte Winslow. »Bestimmt bis zu den Ziegelsteintreppen.«
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»Sind die Leute, die da unten leben, evakuiert worden?« »Einige«, keuchte Mary, die mit einer Laterne angelaufen kam und sich hinter ihn stellte. »Ein Teil ist durch die überfluteten Sektionen abgeschnitten worden.« »Ho wohnt da unten!« schrie Luke, der sich von hinten vorgedrängt hatte. »Sie hat eins der tiefsten Zimmer in der Nähe der South Pockets ... mein Gott!« Er drehte sich um und fing an, sich den alten grünen Deckenstoffmantel vom Leib zu reißen. Vincent und Vater fielen ihm in den Arm. »Sei kein Narr, Mann!« sagte Vater, und der junge Mann hielt inne und starrte ihn an, sein breites Gesicht war blaß vor Schock. Vater wandte sich an Vincent und Mouse. »Kann man auf irgendeine andere Weise da unten herauskommen, abgesehen von der Treppe?« »Luftschacht«, erklärte Mouse kurz, und seine ausdrucksvollen Hände zeichneten ein Quadrat von ungefähr fünfundzwanzig Zentimetern Seitenlänge. »Zu eng, um durchzukriechen.« Ein schnelles Stakkatoklopfen auf den Rohren. Vater legte den Kopf zur Seite und lauschte, die anderen standen still um ihn herum. Bernardo und Zena in Sicherheit ... Sarah, Dustin, Quinn abgeschnitten. »Verdammt«, flüsterte Vater verzweifelt. »Über dem dritten Raum hinter dem Kerzenraum ist ein Dachzimmer«, berichtete Vincent schnell. »Wenn sie abgeschnitten sind, müßten sie eigentlich dort vor dem steigenden Wasser sicher sein.« Vater richtete einen fragenden Blick auf Mouse, der nickte und sagte. »Okay, gut.« Mary drehte sich sofort um, und holte eine langen Schlüssel aus der Tasche und begann, die Nachricht auf das nächste Rohr zu klopfen: Dritte Kammer von unten, Dachkammer sicher ... »Was ist mit Regan und ihren Kindern?« fragte Vater und sah Mary wieder an. »Sie wohnen in einem der unteren Räume, und wir haben noch nichts von ihnen gehört. Sie sind womöglich von der Flutwelle abgeschnitten worden und in ihrer Not in die South Pockets zurückgelaufen.« »Aus den South Pockets gibt es keinen Ausweg«, sagte Vincent besorgt. »Ich bin nicht sicher, ob Regan das weiß. Es gibt dort unten eine Menge Passagen; wenn das Wasser aus einer bestimmten Richtung gekommen ist, könnte sie es unter Umständen riskieren.« Vincent drehte sich um und starrte in den riesigen Schacht der Großen Wendeltreppe hinunter bis zu dem Eingang, der zu den unteren bewohnten Gebieten führte, die schon halb von dem schwarzen Wasser überspült waren. Luke packte ihn am Arm und sah ihn flehentlich an. »Ho ist da unten ...« flüsterte der junge Mann, und Vincent ließ vor seinem inneren Auge die Korridore und Abzweigungen des Gebiets Revue passieren, in dem Regan und ihre Kinder wohnten, und die abgelegene und ziemlich isolierte Passage dahinter, in der Ho ihre Wohnung eingerichtet hatte. Der Boden war dort nicht eben, sondern unterschiedlich hoch. Teile davon waren inzwischen mit Sicherheit völlig überflutet. Wenn Regan und ihre Kinder vom Wasser zurückgedrängt worden waren ... »Es sieht so aus, als ob mir nichts anders übrigbleibt«, sagte Vincent und begann, seine Schnürsenkel aufzuknüpfen. Dann war wieder das dringliche Klopfen auf den Rohren zu hören, als Pascal die Notrufe im Raum der Rohre sammelte, Informationen weitergab, welche Strecken für die Evakuierung noch frei waren, wer sich schon gemeldet hatte und wer nicht. Vincent konnte sich den kleinen Mann lebhaft vorstellen, so wie er ihn schon oft im Schein der Kerzen in der riesigen Höhle gesehen hatte. Er benützte die beiden Schraubenschlüssel wie ein Paar Trommelstöcke und trommelte damit auf dem Eisen herum, das ihn wie das Netz einer Spinne umgab. Laura ist in den South Pockets, lautete die Nachricht. Wasser reicht bis zu der Ziegelsteintreppe. Fließsand. »Wenn die Ziegelsteintreppe überflutet ist, heißt das, daß das Wasser auch von der anderen Seite kommt«, sagte Vater leise. »Das bedeutet, daß der Abschnitt in der Näher der Steinbrücke, wo Benjamin wohnt, womöglich auch evakuiert erden muß.« »Tunnel der Rohre, zwei Kammern weiter«, schlug Mouse kurz angebunden vor. »Leiter rauf - aber überall Stellen mit Fließsand.« Vincent blickte in den dunklen Luftschacht hinab und dachte darüber nach, wie der sich ohne Licht im Labyrinth der South Pockets zurechtfinden sollte. »Mouse«, sagte er ganz ruhig, »wenn du woanders nicht gebraucht wirst, könntest du dann mit Pascal in den Raum der Rohre gehen? Es kann sein, daß ich Anweisungen von dir brauche, wenn ich unten bin.« »Okay, gut«, nickte der kleine Mann, stellte seine Lampe hin und verschwand in der Dunkelheit. Jemand aus der kleinen Gruppe auf dem Treppenabsatz hatte ein Seil geholt. Vincent knüpfte schnell einen Schlippstek um seinen Gürtel, einen Knoten, der fest war, im Notfall aber leicht zu lösen sein würde. »Laß es stetig abrollen«, instruierte er Luke, der die Schlingen des Seils um seinen Arm wickelte. »Teile des Korridors sind unter Umständen überflutet, bis wir wieder herauskommen. Wir brauchen eine Führung.« Luke nickte zitternd. Er hatte sich damit abgefunden, daß andere geeigneter als er waren, die Frau zu retten, die er liebte. Vincent ging die ersten Stufen der Treppe hinunter. Der zerfurchte Kalksandstein fühlte sich unter seinen nackten Füßen eiskalt an. Die Treppe war uralt wie so vieles in den Tunneln, sie war vor weiß Gott wie
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langer Zeit gebaut worden und schwang sich in einer langen Spirale um die offene Finsternis in der Mitte des Schachts. Aus dieser Finsternis drang das bedrohliche Geräusch des flutenden Wassers nach oben. Über sich hörte er Vaters Stimme, die in schneller Folge Befehle gab, die sich auf Rettungsaktionen und Evakuierungspläne bezogen, und alles wurde von dem Geräusch der Rohre übertönt, die einen lauten und dringenden Klang hatten. Mayday - Evakuation aller Kammern in der Nähe der Steinbrücke vorbereiten - alles in Bereitschaft ... Vincent stieg in die Dunkelheit hinab. Die Eingangstür, die zu den bewohnten Korridoren führte und in ziemlich unpassender Weise mit einem Bild verziert war, das Apollo mit den Gracchen darstellte, stammte aus einem längst vergessenen herrschaftlichen Haus in der Bleecker Street. Jetzt war die Tür bis in die Höhe von Vincents Brust unter Wasser. Eine starke Strömung war nach innen gerichtet und zerrte an seinem Leinenhemd, das ihm an den Schultern und am Rücken klebte. Auf dem Wasser trieben kleinere Haushaltsgegenstände: zwei oder drei Körbe, eine alte Kiste, wie sie die Kinder auf ihren Beutezügen Mitnahmen, wenn sie Lebensmittel suchten, ein Fächer aus Stroh und eine kleine Schüssel. Dieser Abschnitt gehörte zur unteren Erweiterung der bewohnten Tunnelgebiete. Etwa ein Dutzend Familien oder Gruppen wohnten hier unten. Vom Rest der Gemeinde über ihnen waren sie nur durch eine verhältnismäßig geringen Entfernung getrennt. Ein Stück weiter lagen Hos Räume, etwas abseits von den anderen - aber nicht im entferntesten so abgelegen wie die Wohnungen von solchen Freigeistern wie Mouse und Narcissa - und noch weiter dahinter lagen die South Pockets, ein natürliches Höhlensystem, das - so wie auch dieser Teil der Tunnel - teilweise ausgeschachtet und irgendwann im Laufe der Stadtgeschichte in das Gesamtsystem integriert worden war - von wem und zu welchem Zweck konnte heute niemand mehr sagen. Es gab unter der Stadt New York viele solcher geheimnisvollen Ausschachtungen und Tunnelsysteme, die noch unterhalb der tiefsten Tiefkeller lagen. Einige von ihnen, wie zum Beispiel das komplexe Labyrinth mit den vielen Treppen unterhalb von Chinatown, waren zum Teil von ihren Erbauern aufgegeben und später von den Tunnelbewohnern übernommen worden. Mindestens eins dieser Systeme unter einem Schneiderladen in den East Forties wurde allerdings noch benutzt Vater vermutete, daß es einem Geheimdienst der Regierung als Unterschlupf diente -, das war eine der Stellen, an denen Mouse am besten Elektrizität klauen konnte. Anderswo waren es einfach nur Schächte, die aus den Tiefkellern von Häusern auf der Park Avenue hinuntergetrieben worden waren, die inzwischen längst abgerissen und durch Wohnblocks ersetzt worden waren. Manche kleinere Kammern waren früher einmal der untere Teil von Fahrstuhlschächten gewesen. Dann gab es versteckte Räume, die aus dem Fels herausgehauen worden waren - niemand wußte mehr, aus welchem Grund -, dann alte Schmugglertunnel, die bis auf die Tage der Revolution oder auf noch frühere Zeiten zurückgingen. Der Tunnel machte eine Biegung. Boden und Decke senkten sich, das Wasser reichte jetzt bis zu Vincents Schultern. Trotz der Absenkung des Bodens hätte das Wasser hier nicht so tief sein dürfen. Es stieg immer noch. Bis er zurückkam, dachte er und warf einen Blick hinter sich auf das freie Rechteck and er Oberkante der Eingangstür, würde der Durchgang womöglich völlig überflutet sein. Vor ihm berührte die plätschernde schwarze Oberfläche des Wassers schon die Decke. Es war eine Strecke von ungefähr zwanzig Metern bis zu der Kreuzung, an der der Schacht abzweigte, der zu Hos Räumen führte, und dann noch einmal etwas zehn Meter, die er schwimmend zurücklegen mußte. Die Abzweigung war die zweite auf der rechten Seite - er würde sich mit einer Hand an der Wand entlangtasten müssen. Vorsichtig zog er an dem Seil, das hinter ihm schwamm, bis er ungefähr fünfundzwanzig Meter locker hinter sich liegen hatte. Die Gefahr, daß es sich verwickelte, war nicht so groß wie die, daß Luke es nicht schnell genug abwickeln konnte, wenn er einmal losgeschwommen war, und ihn dann zurückhalten würde. Er schwamm und tastete sich mit der Hand an der rechten Wand entlang. Die Decke senkte sich immer mehr über seinem Kopf. Nach sieben Metern hatte er das Ende der Luftblase erreicht. Sie war kleiner gewesen, als er vermutet hatte. Das Wasser stieg immer noch. Er holte tief Luft und tauchte unter. In der absoluten Finsternis war es schwer für ihn, die Entfernung abzuschätzen. Entweder hatte er die erste Abzweigung verpaßt, oder seine Einschätzung der Zeit, die er unter Wasser geschwommen war, war völlig falsch gewesen. Er glitt durch das dunkle Wasser wie ein Hai, schnell und geschickt, seine Hand tastete sich an der Felswand entlang ... Zu lange, er mußte die erste Abzweigung verpaßt haben. Als die Wand unter seinen Fingerspitzen nach unten wegglitt, drehte er um und erinnerte sich beunruhigt, daß der erste Tunnel nach fünfzehn Metern nach unten ging. Wenn er sich verschätzt hatte, dann war es jetzt viel zu spät, umzukehren und einen neuen Versuch zu starten. Seine Lungen taten ihm jetzt schon weh. Er schwamm nach oben, sein Kopf berührte die Decke. Er stieß sich noch einmal ab, ließ seinen Körper nach vorn treiben und spürte, wie die obere Kante eines aufsteigenden Schachts sein Haar streifte. Sein Kopf kam an die Wasseroberfläche, und als er die Augen öffnete, sah er das trübe Flackern eines Lichts am oberen Ende des
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Schachts. Irgendwo in der Dunkelheit hörte er das verzweifelte Klopfen der Rohre. »Ho!« rief er und trat einen Augenblick lang Wasser, um Luft zu holen. »Regan, Laura ...!« Aber alles war still. Rechts über ihm wurde das Rechteck einer Tür vom schwachen Schimmer einer Kerze erhellt. Er konnte die Eisensprossen der Leiter, die vom ihr herunterführten, mehr ahnen als erkennen und schwamm zu dem Schacht. Die Tür lag ungefähr in fünf Meter Höhe; er zog vorsichtig an dem Führungsseil, bis er sicher war, daß es bis oben reichen würde, kletterte dann hinauf, löste das Seil von seinem Gürtel und band es an die oberste Sprosse. Er sagte sich, wenn er die Leute, die in den Pockets Schutz gesucht hatten, nicht schnell genug finden und hierhin zurückbringen würde, bevor das Wasser noch höher gestiegen war, dann würden sie alle große Probleme haben und wüßten dann nicht, wie sie da je wieder herauskommen sollten. Er stapfte den kurzen, mit Ziegelsteinen gepflasterten Korridor entlang auf das Licht zu. Wie er vermutet hatte, kam das Licht aus Hos Zimmer. Normalerweise lebten die Kinder, die von oben kamen - nachdem sie genau wie die Erwachsenen erst auf ihre Vertrauenswürdigkeit hin überprüft worden waren -, in einem Labyrinth von Zellen rund um Marys Zimmer. Dort wurden sie von der sanften, mütterlichen Frau umsorgt, die, wie Vincent wußte, ihre eigenen Kinder verloren hatte. Aber im Alter von etwa elf, zwölf Jahren suchten sich die meisten Kinder eine eigene Bleibe. Im großen und ganzen lebten die Bewohner der unterirdischen Welt ziemlich nah beieinander, aber es gab auch abgelegenere Kammern und Räume. Häufig offenbarten die ersten Wohnungen, die sich jemand aussuchte, die Schwäche seines Bewohners fürs Dramatische, Pompöse: ein Raum, der Kathedrale bei den Katakomben genannt wurde, war zunächst sehr beliebt, bis seine Bewohner feststellen mußten - und das war ausnahmslos der Fall -, wie weit sie von der Wärme der Dampfrohre entfernt waren und wie schlecht das Wasser aus der einzigen in der Nähe liegenden Quelle schmeckte. Hos Zimmer lag am äußeren Rand der South Pockets. Von den Räumen, die am Rand der bewohnten Gebiete lagen, war er am weitesten entfernt. Sie hatte das Zimmer von einer Frau namens Esther sozusagen geerbt, die eine der ältesten Einwohnerinnen der Gemeinde gewesen war und die zerlumpte, verbitterte kleine Siebenjährige in ihr Herz geschlossen hatte, als sie damals nach unten gekommen war. Esther war gestorben, als Ho neun oder zehn war, und viele von ihren Sachen befanden sich immer noch in dem runden, kuppelförmigen Raum in den South Pockets. Zu den klobigen Sesseln und dem schmalen Bett, das - wie Vincent sich erinnerte - Pascals Vater geschnitzt hatte, hatte das Mädchen seine eigene Sammlung schmuddeliger Bücher hinzugefügt und außerdem die Ergebnisse von Malversuchen unter der Anleitung von Elisabeth in den bemalten Tunneln, dazu einige Werkzeuge, die an den Felswänden zwischen Gottesaugen und Glücksbringern hingen, die die alte Priesterin Narcissa Ho geschenkt hatte, als sie ihr beim Wasserholen und Kräutermischen geholfen hatte. An einem besonderen Ehrenplatz auf einem Regal stand ein Bild, das Esther gemalt hatte. Darauf waren ihr Vater und ihre Brüder vor einer Synagoge in Lodz zu sehen, seltsame steife Gestalten in Schwarz mit lächelnden Augen. Zwei brennende Kerzen stecken in Weinflaschen, die von dem heruntergetropften Wachs ganz buntscheckig waren. Auf dem verschlissenen Sofa lag ein Stapel Decken, als ob jemand dort geschlafen hätte - vermutlich Laura, eine von Hos engsten Freundinnen, die hin und wieder hier übernachtete. Eine kurze Suche bestätigte die Vermutung - Vincent erkannte das Eigentum von jedem, der in den Tunneln lebte, auf den ersten Blick. All das stellte Vincent fest, während er einen schnellen Blick in das Zimmer warf. Dann ging er wieder in den Korridor zurück, nahm eine der Kerzen mit und bückte sich, um den Boden zu betrachten. Er bestand hier aus rohem Fels, trocken und ohne einen Riß. Schnell stapfte er bis zum Ende, wo eine kleine Treppe zu einem langen Durchgang hinunterführte, der mit Ziegelsteinen gepflastert war. Er rief noch einmal: »Regan! Ho!« und konnte hören, wie das vielfache Echo seine Worte verschluckte. Keine Antwort. Wenn die Flut höher als die Ziegelsteintreppe steigen sollte - und selbst hier konnte er das Wasser aus der Richtung schon riechen -, wären Ho, Laura, Regan und ihre Kinder von beiden Seiten abgeschnitten. Das bedeutete, daß sie nach innen gegangen sein mußten, in das Labyrinth der winzigen Gänge und engen Kammern, die nur wenige Leute kannten. Vincent lief schnell die Treppe zu den Ziegelsteinräumen hinauf, um sich zu vergewissern. Die eigenartige Anordnung von gemauerten Kammern, die wie die Trasse einer Eisenbahn an einer uralten Rohrleitung entlangliefen, enthielten nur ein paar von Regans Habseligkeiten und Spielzeug der Kinder. Er nahm ein kleines Modell des Empire State Building, ein Souvenir aus Kupfer, das mit Goldfarbe bemalt war, von einem Regal - er besaß selbst eins und wußte deshalb, wie gut man es zum Klopfen gebrauchen konnte -, ging zu der Rohrleitung und klopfte eine Nachricht an Pascal. Nachricht von Regan/Laura/Ho? Er wartete. Die South Pockets waren tief, sie lagen weit unter dem verzweigten System der Hauptleitungen. Trotzdem konnte er die gedämpften Vibrationen der anderen Nachrichten über sich und um sich herum in der Dunkelheit hören. Manche konnte er leicht entziffern, er konnte Pascal schnellen, abgekürzten Code sofort von den schwerfälligeren Morse- und Pseudomorsezeichen der weniger erfahreneren Absender unterscheiden. Dann ganz deutlich: Keine Nachricht. Wo?
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Ziegelsteinräume. Wasser bis zum Hauptschacht. Suche weiter. Glück, lautete Pascals Antwort. Vincent lächelte; Pascal kürzte jedes Wort, so gut er konnte, ab. Es sah ihm ähnlich, daß er seinem begrenzten Vokabular einen Glückwunsch hinzugefügt hatte. Und, dachte Vincent, als der die Kerze in die Hand nahm und sich wieder in die Dunkelheit begab, er würde es brauchen können.
13 Sie sind bestimmt nicht nach unten gegangen, dachte Vincent und blieb in dem kalten Durchgang des natürlichen Luftschachts stehen, in den man vor langer Zeit eine Leiter aus rostigen Ketten gehängt hatte. Sie werden versuchen, nach oben zu gehen. Er beugte sich über den Schacht und hielt seine Kerze hoch. Seine Augen erblickten nichts als Dunkelheit - der Schacht verengte sich nach etwa zwanzig Metern so sehr, daß nicht einmal ein Kind dort hinunterkriechen könnte. An der Stelle war ein Haken in die Wand gehauen worden, an dem die Leiter hing. Nach unten ging der Schacht ins Bodenlose. Als Kinder hatten Vincent und Devin unzählige brennenden Kerzen und alte Blechbüchsen hinuntergeworfen, um zu sehen, wie tief sie fallen würden, und um den Aufprall zu hören. Der Durchzug, der den Schacht hinaufwehte, hatte die Kerzen ausgeblasen; und sie hatten nie gehört, wie die Büchsen unten angekommen waren. Trotzdem rief er, so laut er konnte: »Ho! Regan!«, machte dann eine Pause, wartete, bis das Echo vorbei war, und lauschte. Er glaubte, sich erinnern zu können, daß aus dem oberen Teil des Schachts ein Gang abzweigte, der dann irgendwo in einer Sackgasse endete. Womöglich waren sie dorthingegangen, weil einer von ihnen diesen Gang kannte und glaubte, er würde irgendwo hinführen. Er ging allerdings davon aus, daß Regan und ihre Kinder mit Ho und Laura zusammen waren - daß er also nur eine Gruppe suchen mußte und nicht zwei. Er schätzte, daß das Wasser in dem Schacht der Wendeltreppe pro Minute etwa fünfzehn Zentimeter stieg. Das hieß, er hätte ungefähr zwanzig Minuten Zeit, bevor die Situation kritisch würde und die Entfernung, die er unter Wasser schwimmen mußte, das heißt durch den Schach in den Haupttunnel und von dort bis zur Treppe, zu lang werden würde, als daß man sie mit einer Lungenfüllung Luft durchtauchen könnte. Während er sich weiter an den engen Felswänden entlang in Richtung auf einen anderen, wenig benützten Tunnel zubewegte, den Ho und Regan womöglich für einen Notausgang hielten, wurde ihm klar, daß er sich an diesem Punkt entscheiden mußte, ob er seine Suche nach der kleinen Gruppe aufgeben oder mit ihnen umkommen wollte. Er ging schnell weiter und bog, ohne lange zu überlegen, ab. Das schwache Licht seiner Kerze flackerte und warf seinen Schatten auf die feuchten Felswände, es sah aus, als würde sich der riesige schwarze Geist eines Löwen von hinten an ihn heranpirschen. Die Tunnels der South Pockets wurden enger und verschlungener, sie wanden sich in eigenartiger Weise spiralförmig nach oben und unten. Hier und da sickerte Wasser durch die Wände und durch den Boden. Und dann entdeckte Vincent endlich eine Fußspur. Es war der halbe Abdruck eines Kinderschuhs. Eine Zeitlang blieb er die einzige Spur. Dann, als der unebene Felsboden durch Lehm ersetzt wurde, sah er noch zwei Abdrücke. Ein schmaler Fuß in einem weichen Stiefel, das war Regans, und das komplizierte Kreismuster eines Turnschuhs, der Ho gehörte. Also waren sie zusammen. Er atmete erleichtert auf. Der Tunnel, den er für eine wahrscheinliche Möglichkeit gehalten hatte - weil er so aussah, als ob er irgendwo hinführen würde, was nicht der Fall war -, war blockiert. Wasser sickerte langsam aus seiner dunklen Öffnung, es war mit einem schmutzig-grauen Schwemmsand vermischt. Vincent bückte sich, berührte ihn und wischte sich dann die Hände an seinem nassen Hemdsärmel ab. Fließsand. Die Hauptleitung mußte in einer nahe gelegenen Höhle geborsten sein, und das ausströmende Wasser hatte den Sand in das Flöz geschwemmt. Er hob die Kerze hoch und blickte in den dunklen Korridor; er konnte die Stelle erkennen, an der der Sand durch die Wand gekommen war. Eine dicker Schwall war von oben gekommen und hatte die Passage blockiert. Vincent bückte sich noch einmal und hielt die Kerze dicht an den Boden. Wenn sie hier entlanggelaufen waren, dann hatte das Wasser alle Spuren verwischt. Er ging vorsichtig bis zu dem Sandberg und behielt dabei die Tunnelwand im Auge, ihm war bewußt, daß aus der tödlichen Höhle noch mehr Sand gedrückt wurde, dann rief er laut: »Ho! Regan!« So sehr er sich auch anstrengte und lauschte - und er hatte ausgezeichnete Ohren -, niemand antwortete. Wo sonst? Er verließ den Tunnel, so schnell er konnte, denn unterirdischer Fließsand gehörte zu den größten Gefahren seiner Welt: Der Durchbruch einer Tunnelwand in der Nähe eines solchen Hohlraums konnte einen Menschen in Minutenschnelle einschließen und erdrücken. Die South Pockets hatten gefährlich viele, kaum
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erforschte Tunnel und Passagen, die für diejenigen vielversprechend aussahen, die sie nicht kannten. Ihm fiel ein, daß es in der Nähe der Ziegelstufen noch einen Schacht gab, der nach oben führte. Wenn Regan den auch kannte, dann hatten sie vielleicht versucht, durch ihn zu fliehen. Plötzlich hörte er direkt neben sich, daß auf dem Rohr deutlich sein Name geklopft wurde. Er ging zu den drei Rohren, die am oberen Teil der Wand entlangliefen, und klopfte mit dem kleinen Empire State Building, das er immer noch in der Tasche trug, auf das Rohr, um seinen Standort zu melden. Geortet. Geortet Wo? Verirrt. Eine lange Pause; er hörte das Echo von Pascals fragendem Klopfen in den anderen Rohren und er vernahm eine schwache Antwort. Dann noch eine lange Pause, und im Geist sah er Pascal und Mouse im Raum der Rohre sitzen, wie sie mit leiser Stimme miteinander konferierten; und er sah auch, wie das schwarze Wasser in dem Tunnel, der ihn wieder in die Sicherheit führen würde unerbittlich stieg. Wieder ein schnelles Klopfen, die Schwingungen waren nur zu ahnen. Pascal saß jetzt mit geschlossenen Augen vor dem Rohr und lauschte mit seinem Stethoskop. Sein kahler Kopf war gebeugt, und seine Hände in den verschlissenen Handschuhen berührten den dünnen Stahlzylinder so behutsam wie die Hände eines Chirurgen. Der Rohrtelegrafist liebte seine Arbeit mit einer Leidenschaft, wie man sie in der Welt oben nur selten finden konnte. Er konnte stundenlang über die Geschichte der Rohre reden, welche Strecken wann verlegt worden waren, welche Metallegierungen der Hersteller verwendet hatte und wo die kleinsten Leitungen in den Labyrinthen der endlosen Dunkelheit lagen. Manchmal ging Vincent in den ruhigen Nachtstunden, in denen er seine ständigen Patrouillengänge durch die Tunnel machte, zum Raum der Rohre und ließ sich von dem freundlichen kleinen Mann Geschichten darüber erzählen, wer welchen Code erfunden hatte, wer ihn benützt hatte und warum und warum er geändert worden war; manche Geschichten waren sehr seltsam, so zum Beispiel die Geschichte von Esther, die sich jahrelang über die Rohrtelegrafie mit einem unterirdischen Bewohner auf jiddisch unterhalten hatte, den niemand jemals zu Gesicht bekommen hat, oder die Episode, wie Pascal zufällig auf eine Möglichkeit gestoßen war, mit einem Mann in den Tombs in Kontakt zu treten, der schon seit Jahren in den Tunneln gelebt hatte. Schnell und scharf akzentuiert ertönte das nächste Klopfen, Mouse sagt, hinunter zu Spiralhöhlen, zweiter Tunnel. Das war der, der durch den Fließsand blockiert war. Im Grunde seines Herzens hatte Vincent das schon die ganze Zeit gewußt. Er klopfte zurück. Sicher? Wenig Zeit. Keine Zeit, dachte er bei sich - das würde sehr knapp werden, einen Irrtum konnten sie sich jetzt nicht mehr leisten, dann würden sie alle ertrinken. Wieder eine Pause, während Mouse und Pascal im Schein des Kerzenwaldes unter dem Gewirr der vielen Rohre miteinander konferierten. Dann: Sie wissen es selbst nicht genau, aber das Rohr klingt so, als wären Kupferbeimischungen in der Legierung, typisch für die dreißiger Jahre, Mouse sagt, ein solches Rohr läge in dem Gebiet. Sicher. Vincent mußte grinsen. Auf Pascal konnte man sich verlassen. Er klopfte zurück: Bin unterwegs. Glück. Der Fließsand war weiter in den Tunnel geströmt und reichte inzwischen fast bis zum Eingang. Mit grimmiger Miene watete Vincent in den schmutzigen Berg hinein, der sich langsam bewegte, griff mit seinen kräftigen Armen in die Mauer aus faulig riechendem Brei, die sich vor ihm auftürmte. Glücklicherweise konnte er ihn wegschieben, aber er wußte genau, daß er schnell wieder zurückfließen würde. Außerdem konnte man nicht sagen, ob der Sand an einer anderen Stelle ähnlich leicht nachgeben würde, wenn er erst einmal an dem ersten Haufen vorbei war. Er kämpfte sich wie ein riesiger Maulwurf weiter vor, bis er die Blockade überwunden hatte und in den Tunnel dahinter gehen konnte. Wie er es befürchtet hatte, war der Boden knöcheltief mit Sickerwasser überflutet, was darauf schließen ließ, daß die Wände auch an anderen Stellen nachgegeben hatten. Er hatte die Kerze vor dem Graben ausgemacht. Als er sie zusammen mit den sorgfältig verpackten Streichhölzern, die alle Tunnelbewohner immer bei sich hatten, wieder aus der Tasche zog, spürte er, daß der Wachsstummel kurz geworden war. In dem flackernden Licht des Streichholzes sah er mit Besorgnis, wie stark das Wasser von der Decke tropfte, wie die Rohrleitung an der Wand an der Stelle durchhing, an der sie vom Druck der Felsverschiebungen völlig verbogen worden war. Er lief schnell weiter, und seine nackten Füße machten in dem Brei ein klatschendes Geräusch. »Regan!« rief er. »Ho!« »Vincent!« Er rannte los. Sie saßen zusammengekauert an einer Biegung nicht weit vom Haupttunnel: Ho und Laura, Regan und ihre
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beiden kleinen Kinder und ein alter Mann namens Anzac, von dem Vincent nicht einmal gewußt hatte, daß er in der Nähe der South Pockets wohnte. Er war ein komischer alter Kauz, dessen einziges Bein durch einen Holzstumpf verlängert wurde. Der alte Mann grinste, als er Vincent sah, und sagte: »Also mein Daddy hat mir immer etwas von einer riesigen, drei Meter großen Ratte erzählt, die in der Kanalisation von London lebt, und jetzt bist du hier mein Junge!« Vincent warf einen Blick auf sein Hemd und seine Hosen, alles war von dem Fließsand und dem Schleim grau gefärbt, und er lachte lese. Seine Mähne und die langen Haare auf seinem Handrücken waren voll davon; die Augen in seinem schmutzigen Gesicht warfen das Kerzenlicht wie bernsteinfarbene Spiegel zurück. »Als ich durch das Labyrinth gekrochen bin, habe ich mich beinahe so gefühlt. Beeilt euch ... das Wasser steigt schnell, aber ich habe draußen eine Leine, die zur Wendeltreppe führt.« Noch während er mit Anzac scherzte, liefen sie schon durch den Tunnel. Regan, eine schöne, rothaarige Frau, deren Gesicht von den Entbehrungen vergangener Jahre gezeichnet war, trug ihre dreijährige Tochter Jeanne auf dem Arm; die fünfzehnjährige Laura, ein stämmiges dunkelhaariges Mädchen, trug den sechsjährigen Alex. Während sie hinter Vincent hermaschierten, übersetzte Ho Vincents Worte für Laura, die taub war, in schnelle Handbewegungen, dann wandte sie sich an Vincent und sagte: »Wir haben auch geglaubt, wir könnten hier herauskommen, aber er ist völlig blockiert.« »Ihr hättet keine Chance gehabt«, sagte Vincent, »der Tunnel führt nämlich nach unten.« Ihr spitzen kleines Gesicht war dreckverschmiert und unter all dem Schmutz hoben sich die Sommersprossen dunkel von ihrem vor Erschöpfung und Angst bleichen Gesicht ab. »Verdammt, jeder Tunnel, den wir ausprobiert haben ...« »Ich habe euch doch gesagt, der einzige Weg aus diesem Bienenstock führt über die Wendeltreppe oder die Ziegeltreppe«, sagte Anzac, der neben dem dürren Mädchen herhumpelte. Seine Jacke, die aus einer zerfetzten, unbeschreiblich alten Lederjacke gemacht worden war, flatterte um ihn herum; seine behandschuhte Hand bewegte sich geschickt und schlangenartig auf dem Griff seiner Krücke. »Ja, aber du hast mit auch weismachen wollen, Australien wäre eine unabhängige Nation und hätte nichts mit der Queen zu tun.« »Also, wenn er nicht so ist, dann sollte es so sein, Süße.« »Selber Süßer.« »Bitte ein bißchen mehr Respekt vor einem alten Mann, sonst laß ich dich über meinen Stock fallen.« Der Fließsand hatte den Tunnel noch weiter zugeschüttet, und Vincent kämpfte sich wild und mit verzweifelter Verbissenheit hindurch. Der Sand war inzwischen feuchter und fließender geworden, weil immer mehr Sickerwasser durch die Wände drang, er strömte beim Graben dickflüssig um ihn herum. Hinter sich hört er, wie der kleine Alec flüsterte: »Mama, ist das Fließsand?« Regans beruhigende Antwort lautete: »Nur Schlamm, mein Schatz.« »Schnell«, keuchte Vincent und streckte seinen Arm nach hinten durch das enge Wurmloch, das er in die träge fließende Masse gebohrt hatte. Die Arme waren gerade lang genug, daß er die kleinen Hände des Jungen greifen konnte, den Regan ihm entgegenstreckte; als Vincent ihn durchzog, rutschten Schlamm und Wasser von dem großen Haufen nach. Er setzte den Jungen hinter sich auf den Boden und streckte seine Arme wieder durch die breiige Masse, wobei er ständig kratzte und schaufelte, weil immer neuer Schlamm die Öffnung verstopfte. Als er Jeanne durchzog, hörte er, wie Alec hinter ihm leise sagte: »Vincent ...« Er drehte sich aus seiner Position auf dem glitschigen Berg halb um und sah, warum die Stimme des Jungen so ängstlich geklungen hatte. Der Tunnel hinter ihnen war von einem feinen Wasserfilm überzogen. Grabend, kratzend und schaufelnd zog er die anderen mit letzter Kraft durch den Fließsand, dann nahm er Alec auf den Arm, während Regan ihre Tochter wieder hochhob, und rannte mit ihnen zu Hos Zimmer zurück. Als sie dort ankamen, stand der Raum schon fast knietief unter Wasser. Er war völlig verschlammt, alles war aufgeweicht. Ho wandte sich bei dem Anblick mit einem Ausdruck des Entsetzens und des Ekels ab. »Schnell«, befahl Vincents, watete durch den Raum zu der Tür, die zu dem Korridor auf der anderen Seite führte. »Ein Seil ist an der obersten Sprosse der Leiter festgemacht; ihr könnt euch daran bis zur Wendeltreppe hangeln. Aber es ist eine lange Strecke.« Während er sprach, überschlug er schnell die Kräfte der einzelnen Personen. »Regan, du nimmst Jeanne. Mach deinen Gürtel an ihrem Gürtel fest. Ho, du nimmst Alex. Ich kümmere mich um Anzac.« »Das wirst du nicht tun, verdammt noch mal«, blaffte der alte Mann ihn an. »Ich bin vierzig Jahre lang mit meinem Stock und meiner Krücke herumgehüpft - ich habe baumstarke Arme. Die Kinder können nicht schnell genug an dem Seil ziehen um durchzukommen.« Vincent öffnete seinen Mund, um zu protestieren. »Um du hörst auf, dich mit mir herumzustreiten, du verschwendest nur kostbare Zeit. Los, Mädchen, ab mit euch! Auf geht's!« Ho und Laura sahen sich an - Vincent nickte. Er wußte, daß der alte Soldat recht hatte. »Geht, folgt der Leine
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- es ist eine lange Strecke unter Wasser, also beeilt euch. Wartet. Gebt mit eure Gürtel!« Anzac klopfte mit seiner Krücke eine Nachricht auf das Rohr: Alle in Sicherheit, wir kommen jetzt rauf. Ho warf noch einen Blick auf ihr Zimmer. All ihre Schätze, die sie in ihrem Leben je gehabt hatte, waren vom Wasser bedeckt, verschlammt, verdorben und brachen auseinander. Neben ihr stand Laura und betrachtete ihr Gesicht, und ihre eigenen dunklen Augen füllten sich mit Tränen vor hilflosem Mitleid mit der Freundin. Das Bild der alten Esther schaukelte einen Augenblick lang auf dem Wasser und ging dann unter. Voller Bitterkeit zuckte Ho mit den Achseln, drehte sich abrupt um und sah Laura an. Gemeinsam wateten die beiden Mädchen mit leeren Händen in die Dunkelheit. Vincent kniete sich vor die Kinder hin und gab Regan ein Zeichen, den beiden Mädchen zu folgen. »Alec, Jeannie«, sagte er freundlich. »Wie lange könnt ihr unter Wasser die Luft anhalten?« Während er sprach, schlang er Lauras dicken Ledergürtel um den Gürtel des winzigen Mädchens und um den ihres Bruders wie das Glied einer Kette, dann befestigte er Hos Gürtel an Alecs und an seinem. »Lange?« »Eine Stunde«, behauptete Alec zuversichtlich. »Gut.« Seine Fingerklauen befestigten die Schnallen in Windeseile. »Jeannie?« »Zwei Stunden«, sagte sie, ohne richtig verstanden zu haben, aber sie ließ sich das nicht anmerken. »Sehr gut.« Die Kinder blickte mit angsterfüllten Augen um sich, während das schmutzige Wasser um sie herum stieg. Die wenigen flackernden Kerzen, die noch in Hos Zimmer standen, betonten eher die Finsternis. Um sie herum war das Klingen der Rohre jetzt viel deutlicher zu hören, wie Maschinengewehrfeuer umrissen die Nachrichten die Krisen, die Probleme, die Lösungen: Überschwemmung in der Mooshöhle, Überschwemmung in der Hollandkanalisation; Randolph, Zach und William abgeschnitten ... Er ließ seine Stimme bewußt ruhig klingen. »Holt jetzt tief Luft«, instruierte er sie. »Jetzt wieder ausatmen ... und noch einmal ... ganz tief ... gut.« Er hörte, wie sich die Schritte des alten Anzac entfernten, dann einen unterdrückten Fluch und das klatschende Geräusch, als ob jemand ins Wasser springt. »Jetzt wird es Zeit«, sagte Vincent. Er nahm ein Kind unter jeden Arm und rannte durch den Tunnel, das Wasser reichte ihm bis zu den Knöcheln. Dann reichte es ihm plötzlich bis über den Kopf, und er mußte Wasser treten, die Kinder hüpften wie zwei Korken neben ihm an die Oberfläche. Während er unter Wasser nach der Leine suchte, verfolgten ihre Augen nervös gespannt jede seiner Bewegungen. »Vincent.« Er machte eine Pause, schüttelte seine nasse Mähne nach hinten und sah Alec fragend an, der wie ein Hund neben ihm an der Wasseroberfläche paddelte. »Glaubst du ... daß es Haie hier in dem Wasser gibt?« »Wenn es welche gibt«, sagte er todernst, »dann hören sie dich nur, wann du deine Luft herausläßt, also sind wir alle sicher. Also jetzt, tief einatmen ... eins ... zwei ... jetzt!« Kleine Hände klammerten sich an seinen Gürtel, als er untertauchte. Die Körper der Kinder bremsten ihn, während er sich and dem Seil entlangzog. er war ungewöhnlich kräftig, trotzdem hatte er das Gefühl, als bewege er sich durch einen Fluß aus kalter zäher Melasse. Der Tunneleingang schien ihm zweimal so tief unter ihm zu liegen wie auf dem Hinweg, der Tunnel selbst wirkte unendlich lang. Er durfte jetzt an nichts anderes denken. Seine Lungen brannten wie Feuer, als er die Ecke unter Wasser gefunden hatte. Wie schlimm muß das für Alex und Jeanne sein? Wie lang waren zwanzig Meter? Wie weit war es noch bis zur Wendeltreppe? Hatten die anderen es geschafft? Und wenn der Eingang mit Schutt und Trümmern versperrt war? Was passierte, wenn ein Loch in der Tunnelwand war und irgendwo Fließsand durchkam? Der Eingang mußte in jedem Fall völlig unter Wasser liegen, und wer konnte sagen, wie hoch das Wasser schon auf der Treppe stand? ... Seine Arme peitschten durch das Wasser, sie zogen seinen Körper und die der Kinder. Er konzentrierte alle seine Sinne auf einen Punkt, schließlich bestand die Welt nur noch aus dem Schmerz der rauhen Leine an seinen Händen und dem Stechen in seiner Brust. Dann berührte sein Kopf eine Steinwand. Die Leine pulste nach oben. Er drehte sich unter Wasser, um sich durch die überflutete Tür in den Treppenhausschacht ziehen zu können, kämpfte sich nach oben ... Mit einem gequälten Keuchen kam er an die Oberfläche, ließ die Leine los und packte mit jeder Hand ein Kind und zog die beiden neben sich aus dem Wasser. Alec würgte und hustete; Jeanne klammerte sich an sein Handgelenk und schluchzte. »Mama«, flüsterte sie, und Vincent hielt sie fest, als ihre Hände schlaff wurden und sie die Besinnung verlor. »Kommt.« Mit einer Schwimmbewegung war Vincent an der Treppe. Oben konnte man Lichter erkennen, die sich hin und her bewegten; jemand rief: »Da sind sie!« Und er hörte Jubelrufe. Alec hatte sich an seinen Rücken geklammert, und seine kleinen Hände krallten sich in die Mähne. Vincent heilt Jeanne unter einem Arm, klettere aus der dunklen Flut heraus und stolperte die Treppe hinauf. Regan, Ho und Laura standen oben in Decken gehüllt und wurden im trüben Licht einer Petroleumlampe, die auf dem Boden stand, von einer Gruppe von Leuten umringt. Mary war bei ihnen, ihr Kleid war bis zu den Knien naß, und ihre Hände bluteten aus einer Wunde, die sie sich, ohne es zu merken, bei den Rettungsarbeiten
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zugezogen hatte. Sie wartete darauf, Regan und ihre Kinder in die Steppdecken und Strickdecken einwickeln zu können, die sie so unermüdlich herstellte. Hinter ihr lagen die Tunnel in absoluter Finsternis, nur hier und da flackerte einmal ein Licht auf, wenn wieder jemand auf eine Rettungsexpedition ging. Um sie herum hörte man das Stakkato der Rohre ... Im gleichen Augenblick, als Vincent in Sicherheit war, ließ Luke an seinem Ende das Seil fallen und rannte zu Ho. Sie saß zusammengekauert unter einer Decke, ihre schwarzen Zöpfe waren triefend naß und hingen herunter, und ihr Kleid klebte an ihrem dürren Körper. Als er schützend seine Arme um sie legen wollte, schob sie ihn ungeduldig weg. Verletzt und verwirrt zog er sich zurück. Ho hatte ihre Arme um sich geschlungen und saß unbeweglich wie eine kleiner rechteckiger Stein da. Regan und Mary umarmten die Kinder, beide schluchzten vor Erleichterung. Laura ging auf Vincent zu, sie schleppte Teile von Marys Bettdecken hinter sich her und nahm ihn in den Arm, dann drehte sie sich um und ging zu Ho. Vincent blickte fragend in die Dunkelheit des Tunnels. »Anzac?« Als Ho den Namen des alten Mannes hörte, sah sie ihn an, wandte sich dann voller Bitterkeit ab, und ihre Lippen wurden schmal. Vincent musterte Laura. Das taube Mädchen schüttelte nur den Kopf, ihr Gesicht war voller Kummer. »Ich hab' euch gewarnt.« Mouse warf einen Blick auf das Tunnelvolk, das sich im langen Raum versammelt hatte. Das Flackern der hundert Kerzen und Lampen wurde noch durch den Schein von zwei qualmenden Feuern verstärkt, die man in offenen Zinnbottichen angezündet hatte. Das Wasser hatte den größten Teil der unteren Abschnitte der bewohnten Tunnel überflutet. Zahllose Leute waren aus ihren Zimmern vertrieben worden, andere, die in Luftschächte und isolierte Hohlräume weiter oben gekletterte waren, waren abgeschnitten worden. In vielen dieser Abschnitte gab es nur noch einen Fluchtweg: nach oben durch die Kanalisationsschächte und Tiefkeller in die Oberwelt. Vier oder fünf kleine Gruppen hatten diesen Fluchtweg gewählt. Sie waren Pascals Klopfzeichen gefolgt, waren in finsterer Nacht durch den kalten Wind und über halbgefrorene schmale Gassen der Stadt zu anderen Einstiegen oder zu den Häusern der Helfer gerannt, die sie dann durch Geheimtüren und verborgene Keller wieder in die unterirdische Welt eingeschleust hatten. Andere Stellen, die zum Teil sogar noch tiefer lagen, der Raum der Winde zum Beispiel oder Narcissas verborgene Domäne, hatten keine Verbindung mit den überschwemmten Gebieten und waren völlig unberührt geblieben. In der Nähe der Mooshöhle war eine Gruppe immer nach abgeschnitten, sowohl von oben als auch von unten. Sie hatten Lebensmittel und Luft und standen über die Rohre mit den anderen in Verbindung, aber es mußte schnell etwas geschehen, um sie dort herauszuholen; Vater und Winslow waren schon dabei, Pläne auszuarbeiten. Der alte Anzac war das einzige Opfer gewesen. Eine genaue Überprüfung, die Vater durchführte, zeigte, daß alle anderen überlebt hatten, auch wenn viele, so wie Ho, ihre ganze Habe verloren hatten. Für viele waren solche Besitztümer die einzige emotionale Verbindung zum Leben in der Oberwelt. In den Ecken des langen Raumes markierten ein paar alte Decken und verschiedene Kochutensilien die Stellen, an denen zwei oder drei Gruppen kampierten, während sie anderswo in den Tunneln neue Quartiere suchten oder darauf warteten, ob etwas gegen das Wasser, das ihre Wohnungen überschwemmt hatte, getan werden konnte. Mouse wandte sich an Vater, der auf dem schmiedeeisernen viktorianischen Bogen der Treppe saß, die zu dem Balkon hinaufführte, der in halber Höhe an den zehn Meter hohen Wänden des langen Raums entlanglief, und wedelte dabei mit seinen Armen. »Okay, gut, schön - bekomme ich jetzt Ersatzteile von oben?« »Die Sorgen, die du über den Zustand der Pumpe zum Ausdruck gebracht hast«, antwortete der alte Mann trocken, »können Diebstahl jetzt genausowenig rechtfertigen wie vor drei Monaten.« »Kein Diebstahl« »Nein?« Ho, die am Fuß der Treppe saß und ihre Arme um die Knie verschränkt hatte, wandte sich um und blickte Vater an. Ihre orientalischen Augen waren schmal und hatten einen müden Ausdruck. Sie hatten alle bei den Rettungsarbeiten mitgeholfen; keiner hatte sich ausruhen können. »Vater, wir haben den Helfern schon vor drei Monaten Bescheid gegeben, und was haben wir bekommen? Knapp hundert Meter PVC-Rohr, zwei Verteiler, die die falsche Größe haben, einen Eimer voll Muttern und Schrauben und ein Schwungrad, an dem Winslow schon die ganze Zeit arbeitet, um es in Ordnung zu bringen. Wir wollen schließlich keinen bewaffneten Überfall auf den Schrottplatz machen. Vielleicht müssen wir hier endlich einmal über Tatsachen reden statt über Theorien.« Seit ihr alter Freund gestorben war und sie den einzigen Platz verloren hatte, an dem sie sich zum erstenmal nach langer Zeit zu Hause gefühlt hatte, war ihr Gesicht gealtert. »Du möchtest Tatsachen?« Winslow lehnte sich mit den Schultern gegen eine eiserne Treppenstütze. Auch er sah in dem trüben Licht der Fackeln erschöpft aus, denn er hatte an den Rettungsarbeiten teilgenommen, hatte
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die alte Hauptleitung in ihrer gesamten Länge und dazu noch alle Rohre, die mit ihr verbunden waren, nach weiteren Schäden abgesucht und sie so gut wie möglich repariert. bevor an anderen Stellen Wasser austreten konnte. Vincent hatte die Tunnel bis zu ihren äußersten Enden kontrolliert und wußte, daß die Arbeit kaum zur Hälfte geschafft war. »Ich erzähle dir mal etwas über Tatsachen. Tatsache ist, daß wir nicht mehr wissen wo wir hingehen sollen, wenn die oben erst einmal angefangen haben, uns zu jagen, weil wir gestohlen haben, zumal die eine Hälfte der Tunnel von der anderen abgeschnitten ist.« Ho stand auf und fuchtelte in ohnmächtiger Wut mit ihren Armen. »Gerade weil die eine Hälfte der Tunnel von der anderen abgeschnitten ist, brauchen wir eine Pumpe! Inzwischen sogar mehrere Pumpen.« »Und Generator«, fügte Mouse hinzu. »Kann leicht Generator bauen, brauche nur -« »Nicht jetzt, Mouse!« Hos Handbewegung ließ ihn verstummen, sie wirkte wie ein unausgesprochener Fluch. Dann wandte sie sich wieder an Vater, der auf den Stufen saß. Vincent stand zu ebener Erde neben ihm. »Versteht ihr das nicht?« Sie fuhr herum und blickte auf die Männer, Frauen und Kinder, die dichtgedrängt um sie herum im goldenen Schatten der Kerzen saßen oder standen, das leise Donnern der Untergrundbahn über ihnen hallte in dem großen gewölbten Raum wieder. »Das Zeug sollte für uns das wichtigste sein.« »Nein«, sagte Vater ruhig. »An erster Stelle steht für uns die Einsicht, daß wir in einer Welt leben wollen, die nicht so ist wie die, vor der wir hier Schutz gesucht haben. Es tut mir leid, es tut mir wirklich leid, aber die Alternative die du vorschlägst, ist für uns nicht zu verwirklichen. Mary, sorg dafür, daß die Helfer über unsere Situation informiert werden ...« Mit einem erdrückten Laut, der ihre Enttäuschung ausdrückte, wirbelte das Mädchen herum, und ihr finsterer Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen, von Winslow zu Jamie und Laura. Sie hoffte, bei einem von ihnen ein Zeichen von Unterstützung zu erkennen. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich schließlich an Luke, der stumm und hilflos vor der Menge stand, Vincent sah, wie sich ihrer Blicke trafen. Dann senkte Luke den Kopf. Vater hatte sich zu Mary umgedreht und lauschte ihren Vorschlägen, die Ersatzteile zu beschaffen, um die Pumpen zu reparieren. Winslow empfahl, ein paar der anderen Pumpen in den Tunneln dazu zu benützen, um einen Teil des Wassers aus den unteren Ebenen abzupumpen. Aber Vincent, dem die begrenzten Möglichkeiten dieser Zufluchtswelt genauso bewußt waren wie Ho, folgte dem Mädchen, das sich schweigend und mit gesenkten Kopf einen Weg durch die Menge bahnte. Sie ließ die trüben Lichter der Petroleumlampen und Kerzen hinter sich und ging in die kalte Dunkelheit der Tunnel hinaus. Luke schlich ein paar Schritte hinter ihr her, streckte hilflos eine Hand aus, aber sie war für ihn unerreichbar. Er blieb stehen, ihr Name erstarb auf seinen Lippen, er konnte nur zusehen, wie sie sich von ihm entfernte.
14 Vincent? Das Echo in den Galerien und Haupttunneln warf seinen Namen mehrfach zurück. Obwohl das Gebiet hier in der Nähe des großen Wasserfalls und der Schlucht bedeutend tiefer lag als der alte Hauptkanal, war das Wasser nicht bis hierher gedrungen - das Geräusch der Untergrundbahn lag weit hinter ihm, und selbst das Klopfen auf den Rohren drang nur ganz schwach durch die pechschwarze Finsternis. Vincent blieb stehen und lauschte. Das Echo machte es sehr schwer die Richtung zu bestimmen, aus der das Flüstern kam, zumal es weit entfernt war. Wahrscheinlich kam es von der Stelle, an der die Eisentreppe in den Raum der Winde hinabführte. Aber er glaubte, eine Mädchenstimme zu erkennen. Einen Augenblick lang hörte er nur das Tropfen des Wassers und das Flüstern der unterirdischen Winde. Dann das leise Echo von Schritten. Weil er auf einem Kontrollgang war, um Schäden und Wassereinbrüche zu überprüfen - man konnte nicht wissen, wie weit das Wasser aus den überfluteten Bereichen durchgesickert war oder ob es sich nicht womöglich wieder in Fließsandhohlräumen angesammelt hatte -, hatte Vincent Kerzen und eine kleine Laterne bei sich, aber er hatte sie bisher noch nicht angezündet. Selbst in dieser pechschwarzen Finsternis konnten seine Nachtsichtaugen Veränderungen erkennen, die Gefahr bedeuten könnten, und er orientierte sich in den Tunneln auch durch seinen Tastsinn, seine Nase und seine Ohren. Er war jedenfalls viel weniger von seinen Augen abhängig als Leute, die nur über gewöhnliche menschliche Sinne verfügten, aber jedes Licht beeinträchtigte seine Fähigkeit im Dunkeln zu sehen, noch Minuten, nachdem es wieder erloschen war. Wie eine riesige Katze schlich er mit leisen Schritten durch die Tunnel zurück und achtete dabei auf jeden Lichtreflex, der sich an den dunklen Wänden zeigen könnte. Derjenige, der ihn suchte, würde ein Licht bei sich
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haben. Auf dem obersten Absatz eines aus Ziegelsteinen gemauerten Leiterschachts blieb er stehen und rief: »Bleib, wo du bist!« ... du bist ... du bist ... bist ... bist ... Das Echo leitete seinen Ruf wie eine Geisterstafette weiter. »Vincent?« Jetzt war es deutlicher, näher - es war Jamies Stimme. »Ich komme zu dir. Sprich weiter!« Eine lange Pause. Dann: »Nun ward der Winter unseres Mißvergnügens glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks.« Vincent ging lautlos auf die Stimme zu und mußte lächeln. Die kleine, abgeschlossene Gemeinde des Tunnelvolks schätzte Bücher und Poesie, und wenn sie nicht lasen oder die kleinen Theateraufführungen im Winterfest besuchten, konnte fast jeder von ihnen lange Passagen auswendig rezitieren. Vater wäre allerdings enttäuscht dachte Vincent, wenn er wüßte, daß eins der größten Werke seines verehrten Helden zu einem so banalen Zweck benützt wurde. Alle Kinder machten das so, wenn sie sich in den Galerien verlaufen hatten. »Nun zieren unsre Brauen Siegeskränze - Die schart'gen Waffen hängen als Trophäen - Aus rauhem Feldlärm wurden muntre Feste.« Das Echo war jetzt weniger verwirrend, die Zeit des Nachhalls wurde immer kürzer, je näher er kam. Vor sich sah er den schwefelgelben Schein einer Petroleumlampe vor eine feuchten Felswand. »Und statt zu ... zu ... reiten das geharnschte Roß - um drohnder Gegner Seelen zu erschrecken - hüpft er behend in einer Dame Zimmer - nach üppigem Gefallen einer Laute.« Während Vincent sich dem Licht und Jamies unsicherer Stimme näherte, beendete er in Gedanken lächelnd den Monolog. Sie hatte natürlich vergessen, wie er zu Ende ging. Die meisten Kinder kamen nicht über die ersten zwölf Zeilen hinaus. Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt - von der Natur um Bildung falsch betrogen. Er bog um eine Ecke und fand sie mit einer Laterne in der Hand an der Einmündung eines langen Flözes, dessen Gewölbe aus Ziegelsteinen gemauert war und an dessen Wänden das Wasser träge herabsickerte. Sie war bei dem Eingangsmonolog Richards III. steckengeblieben und betrachtete die drohenden Schatten, die sie zu bedrängen schienen. Sie war ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen von etwa sechzehn, siebzehn Jahren, hübsch, mit blauen Augen und in der üblichen Kombination von Steppweste und Hosen mit Lederflicken gekleidet, ihre weichen Stiefel waren voller Schlamm und Schmutz. Aus dem Dunkel heraus zitierte er mit todernster Stimme eine Zeile aus Hamlet: »Steht und gebt euch kund«, und sie drehte sich um und lachte, weil das Zitat so gut paßte. Dann wurde ihr ovales Gesicht aber wieder ernst, und sie lief zu ihm hin. »O Vincent, ich bin so froh, daß ich dich gefunden habe!« »Was ist passiert?« Verzweifelt verzog sie das Gesicht. »Es ist Mouse. Er ist nach oben gegangen, um Ersatzteile für die Pumpe zu besorgen.« Es gab Zeiten, da hätte Vincent seinen Freund am liebsten so lange durchgeschüttelt, bis seine Zähne klapperten, obwohl eine solche Aktivität bestimmt auch nichts genützt hätte. »Ich dachte er braucht Männer, die ihm helfen.« »Ho ist bei ihm.« Vincent senkte den Kopf, nicht vor Überraschung, sondern aus Resignation und tiefen Bedauern. Er fragte nur: »Kennst du den Weg?« Die Nassau-Street-Linie fuhr nach acht Uhr abends nicht mehr, deshalb mußten Vincent und Jamie zur Haltestelle der 14th-Street-Canarsie-Linie, die die ganze Nacht über fuhr. Als sie noch ein paar Blocks von der Station in der First Avenue entfernt waren, löschten sie ihre Laternen und versteckten sich. Dann kletterte Jamie nach Vincents geflüsterten Anweisungen in eine engen Schacht, von dem er wußte, daß er in die Dampftunnel unter dem Beth Israel Medical Center führte. Von da aus konnte sie in einer Seitenstraße der 17th Street an die Oberfläche gehen. Obwohl niemand in den Tunneln Geld benützte, sammelten die Kinder gewöhnlich Untergrundbahnmünzen und tauschten dafür Kleinigkeiten untereinander aus. Abgesehen davon waren sie alle große Meister im Schnorren von Freifahrten. Vincent selbst nahm einen Reparaturtunnel zu einem Ausgang direkt hinter der Station im eigentlichen UBahn-Tunnel und wartete so nahe wie möglichen an dem Lichtkegel der elektrischen Lampen, die den Bahnsteig beleuchteten. Durch den erleuchteten Rundbogen konnte er die vielen Menschen, die dort standen, hören und riechen. Es war elf Uhr abends, und der Bahnsteig war voll. Der Zigarettengeruch, der Gestank der Kleidung eines Landstreichers, das Parfüm einer Hure, das unaufhörliche Stimmengewirr und der ohrenbetäubende Verkehrslärm an der Oberfläche, all das wirbelte um ihn herum wie ein schmutziger Fluß, während er auf das dumpfe Donnern des Zuges wartete. Er wußte, daß die Kinder, mit denen er in den Tunneln großgeworden war - Mitch, Devin, Scott und die
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anderen - trotz Vaters Ermahnungen alle irgendwann schon einmal auf die U-Bahn aufgesprungen waren. Er selbst mit seiner Kraft und seinem animalischen Zeitgefühl war darin immer schon gut gewesen, obwohl er als Kind zusehen mußte, wie ein Junge dabei ums Leben gekommen war. Es war ein sehr schneller Tod gewesen. Die Dunkelheit um ihn herum zitterte, als der Zug sich näherte. Vincent, der sich hinter einem Betonvorsprung versteckt hatte, konnte am anderen Ende der langen U-Bahn-Station das feurige weiße Auge des Zugscheinwerfers erkennen, als er in die Station einfuhr. Er hielt mit einem heftigen Zischen seiner Druckluftbremsen an. Der Geruch nach heißem Metall und Öl stieg beißend in Vincents Nase, und der Gestank der vielen Menschen wurde plötzlich intensiver, als sie sich durch die offenen Türen in den Zug drängten und vorübergehend mit der Welle der Aussteigenden zusammenstießen. Er hoffte, daß Jamie brutal und kräftig genug war, um in einen der Wagen zu kommen. Andernfalls würde es eine Verzögerung geben, die für Ho und Mouse unter Umständen fatal sein könnte. Er zog allerdings auch nicht einen Augenblick lang in Betracht, daß Jamie mit ihm oben auf dem Wagen fahren würde. Die Bremsen zischten noch einmal, und Vincent stellte sich in Position. Die Wagen hatten eine teuflische Beschleunigung. In derselben Sekunde, als der Scheinwerfer an ihm vorbei war, verließ er seine Deckung und rannte über den schmalen Steg neben den Gleisen. Als der Zug anfing zu beschleunigen, sprang er auf und bekam mit seinen mächtigen Klauen die Dachkante zu fassen. Wie eine Katze, die sich auf eine Fensterbank schwingt, zog er sich auf das Dach des Wagens und legte sich flach, mit ausgebreiteten Armen, hin, seine Klauen gruben sich dabei in die zerklüfteten Fugen. Über seinem Kopf knisterte die Dunkelheit und erfüllte die Luft mit dem Geruch nach Elektrizität; der Wind zerzauste sein Haar und ließ seinen Umhang flattern, und der dumpfe Donner des rasenden Zuges ließ seine Knochen vibrieren. Vater war jedesmal entsetzt gewesen, aber Vincent hatte diese Fahrten immer sehr genossen. Als der Zug vor der Bedford Street abbremste, sprang Vincent ein gutes Stück vor dem hellerleuchteten Bahnsteig ab, und seine Knie federten den Sprung weich ab. Er ging sofort wieder in Deckung und machte sich auf den Weg zum nächsten Reparaturschacht und von da aus wieder in die Dampftunnel. Dort wartete er in der Nähe des Kanalschachteingangs in der Berry Street. Hier wollte er sich mit Jamie treffen. Sie tauchte ein paar Minuten später auf, die Hände hatte sie tief in die Taschen ihrer Jeans gesteckt und ihre Stiefel klatschten in das schmutzige Wasser, das sich nach dem letzten Regen in dem Tunnel angesammelt hatte. »Irgendein Idiot wollte mich in der U-Bahn-Station anmachen«, schimpfte sie, als sie nähre kam. »Ich weiß nicht, wie man überhaupt hier oben leben kann.« Sie folgten einem Dampftunnel, der parallel zur Berry Street verlief, stiegen über eine verlassene, verfallene, gewundene Steintreppe zu einem älteren Flöz hinab, das unter Tiefkellern und Wasserrohren entlanglief. Sie befanden sich in der Nähe eines Flusses, und die Feuchtigkeit, die sich an den Wänden angesammelt hatte und auf dem Boden Pfützen bildete, stank nach Kloake. Es gab hier kein Licht, aber Jamie hatte, wie alle Mitglieder der Tunnelgemeinde, immer eine Kerze und Streichhölzer bei sich. Im sanften goldenen Licht der Kerze konnte Vincent leicht Hos und Mouses Spuren im Schlamm entdecken. Im Keller eines ehemaligen Lagerhaus an der Kent Avenue stiegen sie an die Oberfläche. Der schmuddelige Lichterglanz der Großstadt leuchtete durch die Dachsparren, die noch die verkohlten Spuren eines Brandes aufwiesen, der den Bau vor zehn Jahren heimgesucht hatte, und blendete Vincents Augen. Um diese Tageszeit war das Viertel in der Nähe der alten Docks fast völlig verlassen, selbst die Obdachlosen suchten sich woanders eine Schlafstelle, an der sie vor der schneidenen Januarkälte geschützt waren. Vincent und Jamies Atem dampfte, als sie sich über den schmutzigen Betonboden schlichen, auf dem zwischen den Pfützen immer noch rußiger Schutt lag, dazu der Abfall, der sich immer in einem verlassenen Gebäude ansammelte, sei es vom Ungeziefer oder von Landstreichern. Dann traten sie durch eine kaputte Tür auf eine kleine Seitenstraße, die rechts und links von Wellblech begrenzt war. Vincent zog eine Kapuze über das Gesicht, er fühlte sich über der Erde immer außerordentlich unwohl, lauschte, beobachtete alles genau und nahm den Geruch der Luft wahr. Irgendwo tutete eine Schiffssirene. Eine verwilderte Katze huschte wie ein Gespenst an den Mülltonnen vorbei. Kräne ragten wie bizarre mechanische Vögel in den Himmel. Dahinter ein paar nicht mehr benützte Landestege, die vermodert und verrostet vor sich hin knarrte und wie eine Barrikade aus Schrott vor dem von feurigem Licht umsäumten schwarzen Spiegel des Flusses kauerten. Und hinter dieser Barrikade, hinter dem Fluß, erhob sich strahlend New York wie eine triumphale Lichterwand. Ihre Welt, dachte Vincent, dem der Anblick eine Stich ins Herz versetzte. Das war sie - eine Frau, die in diesen Lichttürmen lebte. Aber der Gedanke, von dem er erwartet hatte, daß er ihn von ihr abbringen würde, der ihm die Unmöglichkeit seines Traums vor Augen führen würde, erinnerte ihn nur daran, wie freundlich sie zu ihm gewesen war, an ihren Sinn für Humor und Ironie, der manchmal sogar während der Zeit ihrer Qualen und ihres Unglücks aufgeblitzt war; er dachte daran, wie ihre Hand die seine berührt hatte. Er konnte ihr nichts biete, er konnte ihr nichts geben. Darin hatte Vater absolut recht. Aber jetzt, da
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er in der verdreckten schmalen Gasse stand, wußte er genau, daß er sofort ins Wasser gehen und zu ihr schwimmen würde, wenn sie am anderen Ufer des East River ihre Hand nach ihm ausstrecken würde. Es kostete ihn Mühe sich umzudrehen. »Hier«, hauchte Jamie. Auf dem Schild über dem Tor stand Stans Laden - Hier können Sie alles kaufen, alles mieten, alles verkaufen. Hinter einem Zaun stand eine Baracke. Der Platz war eine Art Friedhof, vollgepackt mit ausgedienten Maschinen: Gabelstapler, Elektrokarren, Zementmischer, eine Räumschaufel, die wie ein schlafender Dinosaurier aussah, und eine unendliche Zahl von alten Ölfässern und Reifen. Ein paar Lampen, die auf hohen Masten montiert waren, warfen ein gelbliches Licht auf alles und verliehen dem Lagerhaus, das in der Mitte stand, und dem baufälligen, verrosteten alten Pier dahinter ein bedeutsames Aussehen. Dahinter war die leuchtende Kulisse New Yorks zu sehen, sie wirkte wie ein mit Juwelen besetzter Schal, auf den jemand, ohne Rücksicht zu nehmen, einen verrosteten Vergaser gestellt hatte. Vincent schlich sich am Zaun entlang, bis er eine Stelle gefunden hatte, an der der Stacheldraht, der an der Oberkante des Zauns angebracht war, von Mouses Drahtschere fein säuberlich durchgeschnitten worden war. »Warte hier auf mich«, flüsterte er Jamie zu. »Pfeife, wenn du jemanden siehst. Wenn dich jemand sieht, verschwinde. Wenn -« In der Nähe des Lagerhauses blitzte eine Taschenlampe auf und leuchtete in ihre Richtung, so daß sie sich beide ducken mußten. Ein Mann rief: »Stehenbleiben, du kleiner - verdammt!« Dann das Krachen von Metall und das Geräusch laufender Füße. »Danny?« schrie eine andere Stimme, und Vincent hörte die schweren Schritte des Mannes, der zwischen den Schrotthaufen ging, die seine Sicht blockierten. »Kannst du etwas sehen?« »Da!« Wieder das Geräusch fliehender Schritte, dann ein Schuß, ein Querschläger prallte mit singendem Ton vom einem Eisenträger ab. Vincent und Jamie duckten sich an der Ecke der schmalen Gasse, Vincent lauschte angestrengt und versuchte, aus dem keuchenden Atem des schwergewichtigen Wachmanns, aus dem Knarren seines zu engen Gürtels und dem Klapper der Metallteile die Richtung der Verfolgung zu bestimmen. Der andere Wachmann fluchte noch einmal, und ein zweiter Schuß wurde abgefeuert. Einen Augenblick später hörte Vincent das metallische Quietschen und Rumpeln einer Lagerhaustür, die geschlossen wurde, dann das Schnappen eines Riegels. »Martin! Ich habe einen von ihnen erwischt!« Das dumpfe Geräusch der Schritte der Verfolger hatte aufgehört. Einen Augenblick später hörte Vincent Martins keuchende Stimme, die verkündete: »Er ist mit entwischt.« »Der andere ist im Lagerhaus eingeschlossen. Ruf die Polizei an. Der Mistkerl ist womöglich bewaffnet - laß die das regeln.« »Da kannst du Gift drauf nehmen. Hast du ein Vorhängeschloß? Der kleine Ganove hatte eine Drahtschere. Danke. Der andere Könnte zurückkommen.« »Wetten, daß nicht? Der kleine Nigger läuft wahrscheinlich immer noch.« Hinter sich am Zaun hörte Vincent ein leises Geräusch. Er richtete sich lautlos auf und sah, wie Ho sich unter dem Zaun durchzwängte. Er stand über ihr, noch bevor sie sich wieder aufgerichtet hatte. »Vincent!« Im ersten Augenblick drückte ihr Gesicht nur erschöpfte Dankbarkeit aus - am liebsten hätte sie sich wie ein Kind in seine Arme geworfen, wenn sie nicht daran gedacht hätte, wo sie sich befanden. Sie hielt sich zurück und senkte den Kopf. Vincent streckte seine Hand aus und drückte sie schnell an sich, um sie zu beruhigen. Es hatte in diesem Augenblick wenig Sinn, ihr Vorhaltungen zu machen. Die dünnen Arme drückten ihn dankbar. Dann trat sie beschämt und ängstlich einen Schritt zurück. Es gab vieles, was nicht gesagt werden mußte. Sie wußte es auch so; an ihrem Gesichtsausdruck und an ihren hängenden Schultern konnte er das erkennen. Deshalb sagte er nur: »Gibt es noch eine andere Möglichkeit, aus dem Lagerhaus herauszukommen?« Sie schüttelte den Kopf. »Mouse hat das vorher überprüft.« Das war also keine Möglichkeit. Wenn Mouse keinen Ausgang finden konnte, dann gab es keinen. »Kannst du die Stromleitungen zu den Hoflampen unterbrechen? Aber schnell, bevor die Polizei kommt.« Durch das Fenster der Baracke konnten sie Martin, den fetten Wachmann mit dem roten Gesicht und der schlampigen, zerknautschten Uniform, erkennen. Er telefonierte bereits. Ho nickte. Sie zitterte, im trüben Schein der Hoflampen sah ihr Atem wie eine Dampfwolke aus. Ihre Sommersprossen hoben sich von ihrem bleichen Gesicht ab, aus dem die letzte Farbe gewichen war. Aber sie zog eine auf primitiver Weise isolierte Kombizange aus ihrem Lederwams und glitt wortlos unter dem Zaun durch.
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Vincent schlich schnell zu dem Loch im Zaun zurück, an dem Jamie auf ihn wartete, und zog seinen dicken Mantel aus. Seine Stimme war nur ein Hauch: »Warte hier auf mich. Wenn es Schwierigkeiten gibt, lauf zu dem abgebrannten Lagerhaus zurück.« Mehr Zeit hatte er nicht. Ohne Vorwarnung gingen die Lampen auf den hohen Masten aus; ebenso wie das trübe bläuliche Licht im Fenster der Baracke der Wachmänner. Mit einem Satz war Vincent oben auf dem Zaun und ließ sich auf der anderen Seite hinunterfallen. Er lief zwischen den verrosteten Traktoren und Hilfsaggregaten hindurch, noch bevor Jamie Luft holen konnte, um ihm zu antworten. Aus der Baracke war ein lautes Fluchen zu hören. Der Riegel an der Tür des Lagerhauses war schwer und mit einem Vorhängeschloß gesichert. Vincents Klaue hackte in das Holz, riß und zerrte, und mit einem splitternden Geräusch löste sich der Riegel. Im gleichen Augenblick hörte er das Auf- und Abschwellen der Polizeisirenen, rote und blaue Lichter flackerten auf den Silhouetten der Maschinen. Die Polizei war da wie bei einem Großeinsatz. Er warf sich mit der Schulter gegen die Tür und schob sie auf. »Mouse!« rief er in die Dunkelheit hinein, in der es nach Öl roch. Drinnen hörte er Schritte. Hinter ihm schreiende, protestierende, fluchende Stimmen. Eine Kugel prallte mit pfeifendem Geräusch in der Nähe seines Kopfes von dem Beton ab, eine Stimme rief: »Kannst du etwas sehen?« Mouse tauchte plötzlich keuchend, bleich und zitternd vor Angst auf. Der weiße Lichtkegel eines Scheinwerfers huschte über die Wand. Vincent und Mouse duckten sich und gingen hinter dem nächstbesten Gabelstapler in Deckung. Vincent kam sich ohne seine Kapuze schrecklich nackt vor. Es gab wenig Dinge, vor denen er Angst hatte - es lag nicht in seinem Wesen, sich Gedanken über körperliche Bedrohungen zu machen, aber der Gedanke daran, daß man ihn fangen könnte, ließ ihn erschauern. Allein die Tatsache, daß er von Fremden gesehen werden könnte, bereitete ihm große Sorgen. Er fürchtete sich nicht nur vor den Schrecken der Gefangenschaft, sondern er wußte vor allem, daß seine bloße Existenz der schwache Punkt im Sicherheitssystem der Tunnel war: Die Fragen nach seinem Ursprung, wo er großgeworden war, wer ihn genährt und gekleidet hatte, würden jedem unweigerlich sofort in den Sinn kommen, der mit ihm konfrontiert werden würde. Und das wäre das Ende von Vaters hart erkämpfter und unter vielen Mühen geheimgehaltener Zuflucht. Überall am Zaun standen Männer in blauen Uniformen. »Ich kann sie sehen!« rief plötzlich jemand, der an einer Stelle stand, von der aus er sie unmöglich sehen konnte, und ein anderer rief: »Stehenbleiben!« Noch ein Schuß durchpflügte den ölgetränkten Boden, und Mouse und Vincent flohen um die Ecke des Lagerhausgebäudes, wobei Vincents feines Gehör die Richtung bestimmte, in die die Verfolger liefen. Sie befanden sich in einem schwarzen, übelriechenden Chaos, in dem alles, was nicht demontiert, wieder zusammengesetzt und verkauft oder wieder benutzt werden konnte, wahllos aufeinandergestapelt war; ausgeschlachtete Chassis, verbeulte Armaturenbretter und Motorblöcke, denen man die Eingeweide herausgerissen hatte. Öllappen und vergilbte Zeitungen lagen zwischen den schwarzen labyrinthähnlichen Stapeln auf dem Boden herum; der Kloakengeruch des Flusses, die alten Lappen, der Gestank nach Fischabfällen, nach menschlichen Exkrementen und toten, verwesten Tieren erfüllte die Luft wie ein schmieriger Schleim. Vincent und Mouse trennten sich, und jeder suchte sich einen Weg zu dem knarrenden Gerüst des Piers. Die Lichter verfolgten sie. Vincent wich einem Scheinwerfer aus und kroch auf der Erde hinter die Ruine eines 63er Impala, der halb voll war mit alten Zeitungen und Ölbüchsen. Er sah, wie ein Polizist vorbeilief, der eine schwarze, sechzig Zentimeter lange Taschenlampe wie eine Keule in der Hand hielt. Es war eine bitterkalte Nacht, der Wind, der vom Fluß herüberwehte, war nach der Stille der unterirdischen Welt schneidend und drang wie ein Rasiermesser durch das verschlissene Leinen von Vincents Hemdsärmeln und durch seine Steppweste mit dem dicken Lederbesatz. Ganz leise ging er weiter, schlich sich um den kleinen Berg ausgeschlachteter Kühlschränke und Waschmaschinen herum und entfernte sich immer weiter von den Stimmen und von dem Licht. Die Polizisten - sechs oder acht, dem Geräusch nach zu urteilen - hatten eine Kette gebildet und bewegte sich mit gezogenen Revolvern über den Schrottplatz. Sie schwenkten ihre Taschenlampen hin und her. Vincent glaubte, ein Geräusch an dem Maschendrahtzaun unten an der Anlegestelle zu hören, und hoffte, daß es Mouse war und nicht irgendein armer Landstreicher, den das Chaos in Angst und Schrecken versetzt hatte. Vorsichtig ging er weiter auf die Anlegestelle zu. In ihrem Schatten könnte er es bis zum Flußufer schaffen, leise eine Strecke flußabwärts schwimmen und dann weiter unten an Land gehen, um noch vor Tagesanbruch den nächsten Einstieg in die Unterwelt zu erreichen. Aber daran hatten sie offensichtlich auch gedacht. Ein Mann stocherte bereits in der Dunkelheit an den glitschigen Pfeilern herum, der Lichtkegel seiner Taschenlampe glänzte auf dem fauligen Schleim, dort, wo der Fluß das Ufer berührte. Vincent kauerte sich in den Schatten, hörte das Knirschen der Uniformschuhe auf dem Kies hinter sich, das Geräusch von Stimmen. Er mußte warten, bis der Mann sich umdrehte, und dann schnell handeln ...
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Plötzlich eine Bewegung in der Dunkelheit hinter dem Zaun, den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Stein, den der kleine Mann geworfen hatte, in das Wasser hinter dem Rücken des Polizisten klatschte, sah er daß es Mouse war. Der Polizist, ein vierschrötiger, weißhaariger Mann, fuhr herum, seine Taschenlampe beleuchtete Tausende von gelblichen Wassertropfen und im gleichen Augenblick sprang Vincent mit einem Satz über den Zaun auf die Stützpfähle des Landungsstegs. Zu seinem Entsetzen gaben die Pfähle unter seinem Gewicht nach, der ganze Landungssteg schwankte über ihm hin und her. Er war völlig verrottet und drohte jeden Augenblick einzustürzen. Die Lichtkegel verschiedener Taschenlampen durchbrachen das Dunkel, beleuchteten den weißen Ärmel seines Hemdes und seine wehende blonde Mähne. Er lief weiter und versuchte, wieder in der Dunkelheit unterzutauchen. Um ihn herum knarrten die Verbindungsstreben und schwankten wie ein Espenhain im Sturm. Das Licht fiel auf die Pfähle und warf bizarre Schatten auf die schwankenden Verstrebungen. Eine Stimme rief vom Ufer: »Wir können dich sehen da oben! Komm runter, oder wir schießen!« Eine Strebe brach und gab unter ihm nach; er zog den Fuß schnell wieder zurück, wand sich um eine Pfahl herum und versuchte es noch einmal. Er durfte sich nicht in die Enge trieben lassen. Er durfte nicht einmal gesehen werden. Jetzt befand er sich weit über dem Wasser, aber zwischen den Pfeiler war die Gefahr zu groß, daß er bei seinem Sprung auf irgend etwas aufschlagen und sich auf diese Weise selbst ausschalten würde - oder, was noch schlimmer wäre, er könnte in dem Labyrinth von Verstrebungen hängenbleiben, die unter ihm waren. Er schätzte die Entfernung bis zum vorderen Rand ab, versuchte zwischen den wie irre hin und her tanzenden Schatten herauszufinden, ob die Streben sein Gewicht tragen würden. Die Gefahr, daß die Lampen der Polizisten ihn dort erwischen würden, war groß, aber von da aus würde er springen können. Er verlagerte sein Gewicht und brachte dadurch die ganze Konstruktion ins Schwanken, die Balken hoben sich und preßten sich gegen seine Körper, so daß er sich an einer Strebe festklammern mußte, um abzuwarten, bis sich alles wieder beruhigt hatte. »Riggs, Byrne«, sagte eine Stimme am Ufer. »Geht hin und seht, was ihr tun könnt.« Zwei blau gekleidete Figuren verschwanden in der Dunkelheit und kletterten an den Pfählen hoch. Vincent wußte, daß er jetzt springen mußte. Als er sich nach vorn zum Rand hin bewegte, verlor der erste Polizist das Gleichgewicht, taumelte gegen einen Pfosten neben sich und versetzte dadurch den ganzen Landungssteg in ein seitliches Schwingen. Holz splitterte, ein Mann fluchte. Vincent ergriff den schwankenden Pfosten neben sich und versuchte, den richtigen Moment abzupassen. In dem Augenblick verlor auch der zweite Polizist das Gleichgewicht und stürzte ab. Mit einem schrecklichen, splitternden Geräusch legte sich der Landungssteg auf die Seite, brach in der Mitte durch, so daß es verrottete Balken, Metallkrampen und zersplitterte Planken regnete. Vincent ließ sich fallen und tauchte in ein Wasser ein, das wie eine Kloake stank. Er schwamm verzweifelt, um in Sicherheit zu kommen. Irgend etwas traf ihn im Rücken mit dem Gewicht und der Wucht eines umstürzenden Baumes. Er hielt die Luft an, als sein Kopf unter Wasser gedrückt wurde, sein Körper war gefühllos geworden, er rang um Atem. Catherine, dachte er, Catherine steht am anderen Ufer und streckt mir die Hände entgegen ... Er kam erneut an die Oberfläche, das Wasser strömte aus seiner Mähne und über seine Augen, er versuchte zu schwimmen. Aber irgend etwas hatte sich an ihm festgehakt und zog ihn wieder nach unten: Ich werde sterben, dachte er, und sie wird es nie erfahren. Vater wird man es natürlich sagen, aber nicht ihr. Und er hätte verpaßt, was mit ihr war, was mit ihr hätte sein können. Er hätte alles verpaßt. Er trat gegen das Hindernis und befreite sich, schwamm verzweifelt nach oben. Genau in dem Augenblick, als er auftauchte und nach Luft schnappte, gab der Rest des Landungsstegs nach, der sich wie eine hängende Ruine vor dem dunkelblauen Himmel abhob. Das letzte, was er sah, war die leuchtenden Silhouette von New York, der Stadt der tausend Lichter. Dann ergoß sich ein Sturzbach von Planken, Metallteilen und zerreißenden Kabeln über seinen Kopf, und er versank wie ein Stein.
15 Catherine brauchte ihn. In seine Träumen streifte Vincent durch die Tunnel, lief in sein Zimmer neben dem langen Raum zurück, seine weichen Stiefel waren auf dem Steinboden kaum zu hören, der dunkel Umhang wehte wie eine Sturmwolke hinter ihm her, er hastete durch die Schattenwelt, um dorthin zu kommen, wo sie lag. Sie war verletzt worden, ihr Glaube und ihr Lebensmut zerstört; sie brauchte seine Hilfe, seine Liebe. Er konnte sie auf dem weichen Durcheinander der dunklen Felle und Steppdecken liegen sehen, die Mary genäht und gestickt hatte. Sie weinte, so wie sie geweint hatte, als er sie gefunden hatte, so wie sie geweint hatte, als sie den
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Reflektor nach ihm geworfen hatte, als sie ihn zum erstenmal gesehen hatte. Er strecke sein Hand aus, um sie zu trösten ... Entweihet mein Hand verwegen dich ... Aber sie war nicht da. Wieder ging er, dieses Mal in der Oberwelt. Es war gerade Nacht geworden, und die hellerleuchteten Straßen um ihn herum waren voll mit Menschen, die im Tageslicht lebten. In seinem Traum wandelte Vincent unbekümmert unter ihnen und lauschte auf ihre Stimme. Er wußte, wo sie wohnte - das weiße Gebäude gegenüber vom Park mit den Terassentüren mit den gitterförmigen Fenstern, durch die das sanfte apricotfarbene Licht schien - er lief, so schnell er konnte, um nicht zu spät zu kommen. Männer und Frauen in schönen Kleidern wichen vor ihm zurück; ein Hund, der von einem uniformierten Boten an der Leine geführt wurde, bellte wütend; Autos hielten mit quietschenden Bremsen am Bordstein an. Aber das alles machte ihm nichts aus. Er mußte sie finden, mußte sie bald finden und ihr sagen ... Was mußte er ihr sagen? Sie rief seinen Namen. Er wußte es, selbst als die Stimme sich veränderte und es plötzlich Jamies Stimme war und der Traum sich auflöste und nur noch der ekelerregende Geschmack des schleimigen Wassers in seinem Mund und die Mark und Bein durchdringende Kälte der Nacht in der Oberwelt übrigblieben. Eine Schiffssirene stöhnte. Irgendwo fuhr ein Polizeiauto mit gellender Hupe vorbei und verfolgte einen anderen, der in dieser Nacht auf der Flucht war. »Vincent«, flehte Jamies Stimme. »Vincent ...«, flüsterte Mouse, und eine Hand rüttelte ihn an der Schulter. »Vincent, nicht sterben. Bitte, bitte, nicht sterben.« »Wenn ich das nicht tue«, sagte Vincent und versuchte, sich auf einen Ellbogen aufzustützen, er gab den Versuch sofort wieder auf, als jeder Muskel seines Rücken sich protestierend verkrampfte, »Dann nicht, weil mir die Unterstützung meiner Freunde, dieses Ziel zu erreichen, gefehlt hätte.« Er schlug die Augen auf und blinzelte durch seine zerzauste, verdreckte Mähne. Er sah Ho, Mouse und Jamie, die in dem düsteren Tiefkeller unter dem abgebrannten Lagerhaus um ihn herumknieten. Mit einem unartikulierten Freudenschrei warf Mouse seine Arme um ihn, ohne auf die Prellungen und Hautabschürfungen zu achten, die Vincents Rücken und Schultern bedeckten. Trotz seine Schmerzen erwiderte Vincent die Umarmung aus vollem Herzen, er war heilfroh, sie alle gesund wiederzusehen. Dann versuchte er sich vorsichtig aufzurichten. Sein Umhang lag wie eine Decke auf ihm, ohne ihn wäre er mit Sicherheit erfroren, denn die Januarnacht war eiskalt, der Atem der drei Teenager war ein blasser Dunst in dem diffusen Licht, das durch die zerbrochene Luke von oben drang. Alle drei waren klatschnaß und zitterten, die langen Haare hingen den Mädchen in Strähnen vor den Augen. Sie mußten hinter ihm in den Fluß gesprungen sein - sogar Mouse, der kaum schwimmen konnte -, um ihn unter den herumschwimmenden Trümmern herauszufischen. Er zog den Umhang über die Schultern und nahm die beiden Mädchen mit darunter, um sie zu wärmen. »Kommt«, sagte er leise. »Es ist Zeit zurückzugehen.« »Kannst du denn gehen?« Ho sah ihn besorgt an. »Du bist ziemlich schlimm zugerichtet.« Eine Untertreibung, dachte Vincent und schob sich die Strähnen seiner Mähne aus den Augen. Er konnte halb angetrocknetes Blut an seinem Hemd spüren und an dem kurzgeschorenen Fell auf seinen Schultern und auf dem Rücken. »Habe ich eine andere Wahl?« Sie sah unglücklich weg. Mouse, das wußte Vincent, hatte in seiner unbefangenen, amoralischen Unschuld gehandelt, aber Ho hatte gewußt, daß sie etwas Unrechtes getan hatten. Den ganzen Weg über, durch die tiefen, abgeschlossenen Flöze weit unter dem Fluß - Vincent wußte, daß keiner von ihnen in der Lage gewesen wäre, auf einen fahrenden U-Bahn-Wagen zu springen -, sagte keiner ein Wort, und als Vincent in seinem Zimmer war, fiel er ins Bett und schlief sofort wie tot. Er wachte auf, blieb im Bett liegen und dachte an Catherine. Das war nichts Neues. Seit sie gegangen war, hatte er oft in der ruhigen gelassenen Stimmung, die den Träumen folgt, an sie gedacht. Aber jetzt dachte er daran, wie er fast in dem schwarzen Wasser des Flusses unter dieser juwelenbesetzten Lichterwand ertrunken wäre, und daran, daß er fast gestorben wäre, ohne sie je wiedergesehen zu haben. Hätten wir nur genügend Welt und Zeit, hatte der Dichter Marvell an eine Lady geschrieben, die ihn nicht in ihren Armen und in ihrem Bett empfangen wollte. Genügend Welt und Zeit. Nicht um zu verführen, dachte Vincent, sondern um sie von dem Teil seiner Person verführen zu lassen, der sagte: Ich will das, was sein kann. Ihm war durchaus bewußt, in welcher verzweifelten Position er sich befand, genau wie ihm bewußt war, welche Sorgen sich sein Vater um seine Sicherheit und um die Sicherheit der ganzen zerbrechlichen unterirdischen Welt machte. Aber keiner hatte genügend Welt oder genügend Zeit. Aber es gab da draußen etwas, und er wäre fast
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gestorben ohne es je berührt zu haben. »Vincent?« Er hatte Hos leichte und doch festen Schritte auf der Treppe vor dem Zimmer gehört. Als er seinen Kopf drehte und »Komm herein« sagte, zuckte er zusammen, weil ein verkrampfter Muskel seines Rückens Schmerzen durch seinen Körper jagte. Aber er verspürte keine Kopfschmerzen und hatte auch keine Sehstörungen. Also keine Gehirnerschütterung. Ho kam leise die Stufen in sein Zimmer herunter. Sie stellte sich neben sein Bett und sah ihn einen Augenblick lang an, ein mageres, unansehnliches Mädchen mit einem scharfgeschnitteten kleinen Gesicht und orientalischen Augen, und er sah wieder das zerlumpte Straßenkind, das Jamie eines Nachts von oben mitgebracht hatte, verängstigt, dreckig und verwildert. Sie atmete tief ein und seufzte dann. »Danke«, sagte sie einfach. »Danke, daß du uns gerettet hast. Ich habe Vater alles erzählt.« Vincent strich sein Haar zurück, das wie rotbraunes Gold auf dem zerfetzten Leinen seines Hemdes lag. »Das wäre nicht nötig gewesen.« »Ich hatte Angst, du hättest eine Gehirnerschütterung. Er muß doch wissen, wie schwer du verletzt bist. Und außerdem«, fügte sie hinzu, »wollte ich nicht ... ich wollte, daß er es weiß. Ich habe gesagt, ich wäre allein gegangen. Mouse kann ihm erzählen, was er damit zu tun hatte, oder auch nicht, das muß er selbst entscheiden. Aber ich wollte nicht lügen.« Vincent nickte. Wenn Vater wütend war, konnte seine beißende Logik jeden, der Regeln der Gemeinde verletzt hatte, ziemlich fertigmachen. Man mußte schon viel Mut haben, um sich dem auszusetzen. »Und ich habe nachgedacht«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Ich weiß jetzt, wo wir die Ersatzteile bekommen können. Ich meine, ohne sie zu stehlen. Nur ›nehmen‹, wie Mouse das nennen würde.« Sie lächelte schwach und amüsiert über die Naivität ihres Freundes. »In der Gegend von Brooklyn und Jersey City muß es tausend Schrottplätze geben, die alle mit ausgeschlachteten Autos und kaputten Waschmaschinen vollgepackt sind, die dort verrotten. Es wird eine Weile dauern, aber wir können hingehen und die Teile dort holen. Ich konnte einen Wagen kurzschließen, da war ich gerade acht - mein Stiefbruder konnte von einem Auto, das auf der Straße geparkt war, in sechzig Sekunden alles abmontieren, was nicht niet- und nagelfest war. Aber selbst in den Sachen, die sie auf den Schrottplätzen wegwerfen, sind noch viele Maschinenteile.« »Wenn du meinst«, sagte Vincent, dem es schwerfiel sich eine Gesellschaft vorzustellen, die so verschwenderisch war, daß sie Dinge wegwarf, die wiederverwendet werden konnte. »Hast du mit Vater darüber gesprochen?« »Ja.« Sie nickte und holte wieder tief Luft. »Ich habe gesagt, ich würde die Teile besorgen. Ich weiß, wonach ich suchen muß. Wahrscheinlich komme ich ohne Mouse aus, denn ich habe keine Lust, mich oben auf einem Schrottplatz wieder auf den ›Nehmen-und-nicht-Stehlen-Streit‹ mit ihm einzulassen. Er begreift das einfach nicht.« Sie zuckte mit den Achseln. »Und wenn das erledigt ist ... dann verlasse ich die Tunnel, Vincent.« Er schwieg, faltete seine Hände mit den Klauen und sah ihr in die Augen. »Ich kann nicht ... ich kann nicht so weiterleben«, erklärte sie, und in ihrer Stimme schwang Verzweiflung mit. »Diese Welt ... ist gut, ist sicher, ist freundlich, aber ich brauche etwas, das sie mir nicht geben kann.« Die ausladende Bewegung ihres dünnen Arms schloß den von Kerzen erleuchteten Raum mit der geschnitzten Tür, die Tiffanylampen, die Galerien draußen, auf denen die letzten Gruppen der Überschwemmungsopfer an ihren Lagerfeuern kampierten, und das ganze versteckte System von Katakomben, Dampfrohren, Hauptkanälen, Flözen, Treppen, Tunneln und die dunkel Abgründe der Nacht mit ein. »Vincent, ich möchte nicht mein ganzes Leben damit zubringen, Lebensmittel und Kleidung zu suchen, Schrottplätze zu durchstöbern, um meinen Freunden damit zu helfen. Ich möchte nicht zusehen müssen, wie Leute, die mir etwas bedeuten, in einer Katastrophe ums Leben kommen, die vermieden worden wäre, wenn wir zur richtigen Zeit die richtigen Sachen gehabt hätten.« Sie schüttelte den Kopf, und die Stimme versagte ihr einen Augenblick lang vor Bitterkeit. Vincent konnte sich daran erinnern, daß sein Freund Devin so ziemlich das gleiche gesagt hatte - Devins Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und obwohl er sie nie gekannt hatte, gab Devin doch dem primitiven Leben in den Tunneln die Schuld dafür. Wieder holte Ho tief Luft und fuhr fort: »Und ich will auch nicht am Ende Luke oder Scott oder einen von den anderen Jungs heiraten, nur weil sie die einzigen Typen sind, die ich kenne. Ich habe das Gefühl, daß es draußen Dinge gibt, die ich kennenlernen möchte, Ich kann jetzt da oben etwas tun, ich weiß, daß ich es kann ich weiß nur noch nicht, was! Aber ich möchte es herausfinden.« »Was willst du tun?« fragte er leise und mußte an die anderen denken, die er gekannte hatte - an Devin und an den wütenden Mitch mit den dunkeln Augenbrauen -, die genau wie Ho ihre völlig unterschiedlichen Träume vom Land des Lichts jenseits der Dunkelheit gehabt hatten. Da er seine Welt und die Leute, die darin lebten, liebte, war er sich nicht sicher, was qualvoller war, wählen zu können oder wie er keine andere Wahl zu haben.
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Ho rieb ihre Hände, sie trug wie immer Handschuhe gegen die Kälte der Tunnel. »Zu Anfang werde ich bei einem der Helfer unterkommen, in die Abendschule gehen, Teilzeitarbeit machen oder, wenn es sein muß, Hamburger braten oder sonst irgend etwas tun, um meinen Unterhalt zu verdienen. Ich muß wissen, was da draußen los ist, Vincent. Als ich hier heruntergekommen bin, war ich ein Kind. Ich kannte nur die Straße. Ich war klein, ich war verletzt worden, und ich brauchte einen sicheren Platz, um ... um wieder heil zu werden. Und die Tunnel haben mir das gegeben. Aber jetzt habe ich hier alles kennengelernt, jede noch so kleine Kleinigkeit, Vaters Bücher, Elisabeths Bilder, Marys Kindergarten und Mouses und Winslows kleine Bastelmaschinen ... und ich muß mehr lernen. Ich muß meinen Platz finden.« Sie kam zu ihm und nahm sein Hände, sah ihn mit ihren dunklen Augen an, die zum erstenmal nicht diesen Ausdruck von mißtrauischer Wachsamkeit hatte und ihn anflehten, sie doch zu verstehen. »Weißt du, ich habe letzte Nacht am anderen Ufer des Flusses die Welt gesehen, diese riesigen Häuser voller Licht, und ich habe gedacht: ›Ich muß das haben. Was auch immer es sein mag, es ist dort draußen. Nicht unten.‹ Vielleicht ist da draußen jemand, jemand, den ich kennenlernen muß. Verstehst du?« »Ja«, sagte Vincent leise. »Ich verstehe dich.« »Ich kann nicht auf halbem Wege stehen bleiben, Vincent. Ich kann es riechen, schmecken, aber ich kann es nicht in meinen Händen halten.« »Nein«, stimmte er zu. Tränen standen in den dunklen Augen, die vorher selten einmal feucht gewesen waren. Sie beugte sich schnell über ihn und drückte ihn an sich, ihre harten knochigen Finger bohrten sich dabei durch den gesteppten Stoff und das Leder seiner Weste in seine Schultern. Dann richtete sie sich auf und war verschwunden. Vincent hörte, wie ihre Schritte sich durch das Vestibül und die Treppe hinunter entfernten. Die Rohre klangen leise, Pascal übermittelte seine ständigen Nachrichten von einem Teil der Tunnel zum anderen; über ihm sauste eine Untergrundbahn mit leisem Rumpeln vorbei. »Du hat mir heute abend überhaupt nicht zugehört.« Tom, der gerade ihre Haustür aufschließen wollte, sah sie mit hochgezogenen Brauen überrascht an. Wenn sie diesen »Wer? Ich?«-Ausdruck nicht schon tausendmal gesehen hätte - wenn sie ihn nicht schon in besserer Ausführung bei fünfzehnjährigen Straßenjungen gesehen hätte, die sich mit Beweisen ihrer Aktivitäten konfrontiert sahen, die von Lügen der Polizei gegenüber bis zu Mord aus einem fahrenden Auto heraus reichten , hätte sie ihm diesen überraschten, leicht verletzten Ausdruck abgekauft, der ihr den Eindruck vermitteln sollte: »Ich wußte nicht, daß ich etwas Unrechtes getan habe, wieso machst du mir einen Vorwurf?« »Was?« sagte er. »Daß du deine Arbeit ernst nimmst? Das kann ich verstehen. Ich nehme meine Arbeit auch ernst. Das heißt aber nicht, daß wir uns nicht mehr sehen können.« Dann beugte er sich vor und küßte ihre Lippen. Sie drehte ihr Gesicht etwas zur Seite und hielt ihre Lippen geschlossen. Er versuchte es noch einmal und zog sich dann zurück. Dabei betrachtete er sie in einer Weise, an die sie sich noch gut erinnern konnte. Genauso hatte er sie vor acht Monaten im Barron angesehen: eine verletzte Betroffenheit, die kaum den darunterliegenden Ärger verbergen konnte. Theoretisch war Tom das geworden, was er war, weil er sich im Leben nie hatte abweisen lassen: ein wohlhabender junger Immobilienmakler, der eine steile Karriere gemacht hatte, während sein Vater es nur zu einem kleinen, schäbigen Schnitzelrestaurant in Calumet City gebracht hatte. Praktisch bedeutete das aber, daß man in dem Augenblick, in dem man ihm etwas sagte, was er nicht hören wollte, auf Ausflüchte vorbereitet sein mußte und nicht aufgeben durfte, und das konnte einen manchmal zum Wahnsinn treiben. Aber in den letzten Monaten hatte sie viel Erfahrung mit Leuten gesammelt, die nicht reden wollten. Noch vor einem Jahr wäre sie von einem solchen Abend wie heute begeistert gewesen. Sie hatten Michael Dorsey in The Iceman Cometh gesehen und dann im Alcazar, einem exclusiven spanischen Restaurant in der vornehmeren Gegend der Village, gegessen. Nach Wochen, in denen sie immer nur hastig einen Hamburger oder ein gummiartiges Rührei im Tummy Time herutergewürgt hatte, wußte sie jetzt die gediegene Eleganz eines guten Restaurants besonders zu schätzen, etwas, das früher für sie selbstverständlich gewesen war. Tom hatte sich schon die ganzen Feiertage über vorbildlich benommen: Zu Weihnachten hatte er ihr eine geschmackvolle Goldkette und eine kleine Flasche Parfüm geschenkt. Erst als Catherine sich während das Abendessens entschlossen hatte, mit ihm über ihre Beziehung zu reden, die schon so lange in unangenehmer Weise gewissermaßen auf »Warteposition« stand, bemerkte sie, wie geschickt er jedes auch nur annähernd persönliche Thema vermied. Sie seufzte. er war in vielerlei Hinsicht gut zu ihr gewesen, und sie wollte ihn nicht verletzen. »Tom, manche Dinge ändern sich.« Er schüttelte den Kopf und lächelte dabei auf eine Art, die sie neuerdings aufregte. Er hatte dabei so einen Ausdruck, der besagte »Ich bin alt und Weise« und »Du wirst mir später noch einmal dankbar sein«. »Ich glaube, du übertreibst es ein wenig mit dieser neuen Ernsthaftigkeit.« Er legte seine Hände auf ihre Schultern,
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und sie merkte jetzt, daß sich hinter der liebevollen Festigkeit seiner Stimme nur seine Entschlossenheit verbarg, etwas festzuhalten, was er nicht verlierten wollte. »Schau, wir können doch nicht nur Freunde sein, das würde nie funktionieren. Das ist einfach zuwenig.« Ihre Blicke trafen sich. »Es muß aber sein«, beharrte sie. Er runzelte die Stirn, als könne er sie nicht verstehen. »Cathy«, sagte er wie ein Vater zu seinem dickköpfigen Kind, »jetzt mach aber eine Punkt. Du arbeitest zuviel. Laß uns am Wochenende verreisen, ein bißchen Sonne tanken. Antigua ... Jamaica ...« An einem Wochenende auf den Bahamas hatte ihre Liebesbeziehung begonnen, an einem Strand unter einem leuchtenden Vollmond. Mehr Regen war vorhergesagt worden, und der Wind, der um die Ecke des Gebäudes fegte, war eiskalt. Noch vor einem Jahr hätte sie eine solche Gelegenheit sofort beim Schopf ergriffen, um mitten im Januar so schnell wie möglich aus New York herauszukommen. Spontane Reisen hatten sie immer begeistern können - das angenehme desorientierte Gefühl, wenn man in der heißen Sonne Jamaicas einkaufen ging, wo man vorher noch während des Frühstücks in New York dem Rauschen des Regens zugehört hatte. Sie erinnerte sich, daß sie diese Angewohnheit von ihrem Vater übernommen hatte. Wo war sie nicht überall hingeflogen, um sich ohne Sinn und Verstand ein wenig zu amüsieren, wenn es im College etwas schwierig geworden war? Alle diese kleine Tricks, die Tom anwandte - erst die Witze, dann die Schuldgefühle, dann die Bestechung, dann die bestimmende Art ... Waren die schon immer so offensichtlich gewesen? Sie befreite sich sanft von ihm und trat einen Schritt zurück. »Gute Nacht, Tom.« Er hielt ihre Hände fest. »Ich lass' dich nicht einfach gehen«, sagte er leise. »Ich lasse das nicht zu.« Er zog sie wieder an sich und küßte sie, heftig, fordernd. Eigenartig, dachte sie, daß jemand, mit dem sie so vertraut gewesen war, mit dem sie geschlafen hatte, ein so völlig Fremder werden konnte. Vielleicht war er immer schon ein Fremder gewesen. Er spürte ihre Gleichgültigkeit und ließ sie los. Freundlich, weil sie ihn auch jetzt nicht verletzen wollte denn es war nicht seine Schuld, daß er der war, der er war; sie hatte sich verändert, nicht er -, sagte sie: »Gute Nacht, Tom«, und drehte sich um, öffnete selbst die dicken Glastüren der Haustür und ging hinein. Tom blieb noch einen langen Augenblick stehen, ging dann die fünf Granitstufen hinunter zu der silbergrauen Limusine, die am Bordstein auf ihn wartete, und fuhr weg. In ihrer Wohnung zog Catherine sich langsam aus und streifte ihr Nachthemd und den Kimono mit den schwarzen und pfirsichfarbenen Blumen über, den ihr Vater ihr aus Hongkong mitgebracht hatte, wusch ihr Gesicht und bürstete ihr Haar, das vom Spray ganz steif war. Nach allen Maßstäben von früher war es ein wunderschöner Abend gewesen. Sie konnte sich an die Zeit erinnern, als sie Tom dankbar dafür gewesen wäre, wenn er die Konversation so geschickt von den unangenehmen und verletzenden Themen abgewendet hätte, damals hätte sie das taktvoll genannt. Warum war es dann heute so tot gewesen? Hatte sie sich wirklich so sehr verändert? Nicht wirklich, dachte sie, als sie wieder ins Schlafzimmer zurückkam, denn ich habe mich von Tom überreden lassen, eine Beziehung acht Monate lang am Leben zu halten, die nur noch eine leere Hülse ist. Im Grunde ihres Herzens wußte sie, daß das, was einmal zwischen ihnen gewesen war, in dem Augenblick zu Ende gewesen war, als sie den Ballsaal des Barron verlassen hatte. Der Überfall, ihr Verschwinden und die Folgen, die sich daraus ergeben hatten, waren nebensächlich und hatten Tom nur als Ausrede für sich selbst und für sie gedient. Und das tat er immer noch, vermutete sie. Er brauchte einen Grund, um keine Schuld auf sich nehmen zu müssen. Einen Grund, warum ihre Wünsche in der augenblicklichen Situation nicht so berechtigt waren wie seine. Und wenn sie selbst an de schöne Dame in ihrem schwarzen Kleid mit den Brillanten zurückdachte, wie sie auf ihren hohen Absätzen herumgestolpert war, um ein Taxi anzuhalten, fragte sie sich, ob sie auch dann den Nerv gehabt hätte, mit Tom am nächsten Morgen Schluß zu machen, wenn sie in der Nacht sicher zu Hause angekommen wäre. Oder hätte sie sich einfach gesagt: »Ich habe wohl etwas übertrieben reagiert«, so wie sie das schon oft in der Vergangenheit getan hatte? Sie seufzte und mußte über sich selbst den Kopf schütteln. Wahrscheinlich. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, da hatte sie geglaubt, daß ihre Liebe zu Tom wieder zum Leben erweckt werden könnte. Heute schien Tom vergessen zu haben, daß er nie ihr einziger gewesen war, ganz gleich, wie monogam sie beide sexuell gewesen waren. Oder war er einfach davon ausgegangen, daß sie bei ihren Flirts mit anderen Männern etwas anderes gesucht hatte, etwas anderes als ihn? Eine Heirat, die damals einmal möglich gewesen wäre - ihr Vater hatte das sicher gehofft -, erschien ihr jetzt nur als eine bizarre Vorstellung. Sie schüttelte den Kopf. Aber wie dem auch sei, es war zu Ende. Schöne Restaurants, gutes Theater und ein Abend, an dem sie sich schön und umsorgt fühlte, waren eine Beziehung, deren Asche eindeutig tot und kalt war, nichts wert. Nicht der
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Mühe wert, würde Edie sagen und mit ihren wunderschönen Augen rollen und mit den Achseln zucken. Und damit wäre die Sache für Edie erledigt. Es war spät, aber der Espresso im Alcazar war stark gewesen, und morgen war Sonntag. Catherine war klug genug, nicht gleich ins Bett zu gehen, um sich dann die ganze Nacht in einer Serie von frustrierenden Träumen mit Tom weiterzustreiten. Statt dessen nahm sie ihre Aktentasche, die an ihrem gewohnten Platz unter dem Sekretär stand, einer kostbaren Antiquität, die ihr zur Zeit als ein ziemlich vollgepacktes Büro diente. Sie zog eine Stapel Gerichtsprotokolle heraus. Der Roman, den sie gerade las, würde nicht mit Toms störender Präsenz in ihrem Kopf konkurrieren Können, aber es gab nichts Besseres als so einen richtig schönen Rechtsstreit, der bis Montag durchgearbeitet werden mußte, um die Gedanken an persönliche Dinge zu unterdrücken. Sie nahm die Protokolle mit ins Schlafzimmer, setzte sich im Schneidersitz auf die seidene Überdecke und begann zu lesen. Pflichtverteidiger: Und um wieviel Uhr haben Sie gesehen, wie der Angeklagte den Holiday Saloon in der East 54th Street betrat und sagte: Ich werde das Arschloch umbringen? Zeuge: Ungefähr um vier Uhr dreißig nachmittags. Pflichtverteidiger: Und wie lange waren sie zu der Zeit schon im Holiday Saloon gewesen? Zeuge: Keine Ahnung - seit er geöffnet war. Pflichtverteidiger: Und um wieviel Uhr macht der Holiday Saloon in der East 54th Street auf? Zeuge: Morgens um sechs. Wunderbar, dachte Catherine, das wird den Geschworenen gefallen. Sie hielt inne. Irgend etwas in ihr erstarrte. Sie hatte ein Geräusch auf der Terasse gehört. Seit dem Überfall hatte Catherine ihren festen Sinn für ungewöhnliche Geräusche nicht verloren, Und Isaacs Training hatte aus der ursprünglichen Nervosität einen Spürsinn gemacht, mit dem sie unterscheiden konnte, was gefährlich war und was harmlos sein könnte. Sie knipste die Nachttischlampe aus; die Terassentüren hoben sich mit ihren gitterförmigen Fenstern von dem Licht ab, das die Stadt auf die Wolken warf. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, einen Schatten gesehen zu haben, der sich bewegte. Das Licht im Wohnzimmer brannte immer noch, und in seinem Schein öffnete sie die Schublade des Nachttischs und nahm die 38er heraus, die sie sich gekauft hatte, nachdem sie mit dem Selbstverteidigungstraining begonnen hatte. Auf dem Schießstand war sie in der Lage, Zielfiguren abzuschlachten, und sie zweifelte im Grunde ihres Herzens nicht daran, daß sie in der Lage wäre, einen Mann zu töten, falls er sie angreifen würde. Sie fragte sich, ob die Männer, die ihr Gesicht zerschnitten hatten, auf irgendeine Weise erfahren hatten, daß sie Carol Stabler besucht hatte. Carol hatte mit Sicherheit Angst vor irgend etwas gehabt. Schieß zweimal, dachte sie und wiederholte die Anweisung ihres Lehrers auf dem Schießstand, während sie von dem Bett glitt und sich leise zu den Terassentüren schlich, den Revolver hielt sie mit beiden Händen. Erst tief halten, der Rückstoß reißt dann die Waffe für den Kopfschuß hoch. Früh am Morgen hatte es geregnet, aber jetzt waren die Fliesen der Terasse trocken. Als sie die Türen öffnete, sah sie direkt davor ein Paket, das in einen geblümten Seidenschal gewickelt war. Alte Seide, schwer und verblichen mit Fransen aus den dreißiger Jahren. Sie warf einen schnellen Blick auf die Terasse, aber außer Schatten war nichts zu sehen. Sie bückte sich, zog den Schal zur Seite ... Es war Vincents in Leder gebundene Ausgabe der Großen Erwartungen. Ihr Herz klopfte plötzlich wie rasend, und sie stand auf, Revolver in der einen Hand, Buch und Schal in der anderen, und sah sich noch einmal um. Und da stand er, im Schatten der Pflanzen am Ende der Terasse, eine massige dunkle Gestalt mit einer Kapuze, unter der die Augen einer Katze leuchteten. »Vincent!« Sie sah das Glitzern seiner Gürtelschnalle, als er von dem kleinen Absatz heruntertrat, auf dem die Pflanzen standen, und das Licht von der Straße glänzte schwach auf dem Leder und dem Metall. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, begann er. »Es tut mir leid.« Mit drei schnellen Schritten war sie bei ihm und lag in seinen Armen, noch bevor es ihr richtig bewußt wurde. Die Kraft und Wärme seiner Umarmung, seine Stimme ...»Nein«, hauchte sie und vergrub ihr Gesicht halb in seinem weichen rauhen Umhang, der nach Kerzen und Rauch roch. »Nein, ich bin so froh, daß du hier bist.« Froh war so wenig das richtige Wort wie Teich die Tiefen des Crater Lake beschreiben konnte, aber es würde reichen müssen. Seine Arme schlossen sich um sie. Die Zeit blieb stehen, und es gab nichts außer dem Gefühl, daß er bei ihr 74
war. Nach Minuten trat er einen Schritt zurück und blickte sie im Schein der Wohnzimmerlampe an, der durch die gitterförmigen Fenster der Terassentür fiel. Es war kalt auf der Terasse, aber nicht unerträglich kalt, denn die Ecke des Gebäudes und die Bäume in den Kübeln boten ihnen Schutz. »Dein Gesicht ...« Zögernd hob er eine Hand, um ihre weiche Wange zu berühren, aber er ließ sie auf halbem Wege wieder sinken. Sie hatte vergessen, daß er sie nie ohne die Verletzungen gesehen hatte. »Das hat man wieder repariert«, erklärte sie verlegen. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob sie wegen ihres entstellten Gesichts für ihn womöglich weniger bedrohlich gewesen war, eher zugänglich, aber sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Selbst wenn Vincent nicht der wäre, der er war, gehörte er doch zu den Menschen, für die äußerlicher Schönheit völlig unerheblich war. Und genauso plötzlich wurde ihr klar, daß aus tausend Bemerkungen in den letzten Jahren zu erkennen war, daß es bei Tom nicht so war. Vincent flüsterte: »Ja«, und sah sie immer noch fragend an. Sie nahm ihn bei der Hand. »Komm herein.« »Nein.« Er schüttelte den Kopf und wich von ihr zurück. »Ich muß gehen.« »Nein!« Ihre Griff wurde fester. »Nein ... noch nicht.« Er drehte sich um und blickte auf die juwelenbesetzte Dunkelheit der Stadt, sie hörte, wie er tief einatmete. Einen Augenblick lang schwieg er. Als er dann sprach, lag eine leidenschaftliche Bitterkeit in seiner Stimme. »Ich hätte nicht hereinkommen dürfen.« »Ich bin so froh, daß du gekommen bist.« Er blickte hinter sich und sah sie an, seine massige Gestalt hob sich dunkel von de funkelnden Kulisse der Stadt ab, jede Linie seiner Schultern und seines Rückens drückten Kummer aus. Sie legte das Buch auf die Brüstung - was sie mit dem Revolver und dem Schal gemacht hatte, wußte sie überhaupt nicht mehr, obwohl sie beides später auf der Terasse in der Nähe der Türen fand - und setzte sich auf den kleine Absatz neben den Pflanzen in einer windgeschützten Ecke. »Komm her«, forderte sie leise. »Setz dich.« Er zögerte einen Augenblick, und sie hatte Angst, er würde tatsächlich plötzlich in der Nacht verschwinden, aus der er gekommen war - um nie mehr zurückzukehren -, aber dann setzte er sich neben sie. »Ich wollte dich sehen«, gestand er leise. »Es gibt Dinge, die ich dir erzählen muß ...« »Ich auch«, sagte sie und sah ihn an. »So viele Dinge.« »Ich weiß.« »Es war schwer, Vincent ...« Sie fragte sich jetzt, wie sie es überhaupt geschaffte hatte, die acht Monate ohne ihn zu überstehen. »Ja.« Sie hörte den Kummer in seiner Stimme. Ihm hatte es auch weh getan. Sie lächelte schwach. »Ich habe gelernt, stark zu sein.« »Ich weiß.« Und als sie in seine Augen sah, die die Farbe von Edelsteinen hatten, wußte sie, daß das die Wahrheit war. »Catherine, ich fühle zur selben Zeit das, was du fühlst.« Verwirrt flüsterte sie: »Wie meinst du das?« »Das ist einfach so ... dein Schmerz ist mein Schmerz. Manchmal ist es so, als wären wir eine Person.« Das war etwas, dachte sie, was sie auch von Anfang an gespürt hatte, und als er es aussprach, war sie nicht überrascht. Seine Hand suchte die ihre, zog sich dann wieder zurück, so als hätte er Angst vor der Berührung oder vor dem, was die Berührung bedeuten könnte. Einen Augenblick später sprach er weiter: »Ich bin hergekommen, weil ich dich ein letztes Mal sehen wollte.« Der Schmerz, der Schock war wie eiskaltes Wasser in ihren Adern. »Ich werde dich nie wiedersehen?« Einen Augenblick lang schwieg er und dachte mit gesenktem Kopf darüber nach. Seine lange Mähne verbarg sein Gesicht. Dann sagte er: »Ich kenne deine Welt. In ihr ist für mich kein Platz.« Er sah sie wieder an, und seine Augen funkelten in der Dunkelheit wie geschmolzenes Gold. »Ich weiß, was ich bin. Deine Welt ist voll von ängstlichen Leuten. Und ich erinnere sie an das, wovor sie die meiste Angst haben.« »Vor ihrer eigenen Ignoranz«, sagte Catherine leise und dachte an ihre eigene erste Reaktion beim Anblick dieses schönen, fremdartigen Gesichts. Er schüttelte den Kopf: »Vor ihrer eigenen Einsamkeit.« Ja, dachte sie. Vincent war zu anders, als daß Leute mit ihm umgehen könnten, deren Hauptziel es war, sich selbst und jedem anderen zu beweisen, daß sie in die Kategorie wir gehörten und nicht in die mit der Aufschrift die da. »Ja«, murmelte sie. »Und jetzt«, fuhr er fort, »habe ich angefangen zu vergessen.« »Mich vergessen?« Sie konnte das verstehen, denn sonst würde er niemals seinen Seelenfrieden
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wiederfinden können. Aber der Gedanke daran war so, als müsse sie zuschauen, wie ihr letzter Gefährte auf einer verlassenen Straße in der Nacht verschwand und sie allein in der Dunkelheit und in der Kälte zurücklassen würde. »Nein«, sagte er einfach. »Ich werde dich nie vergessen. Aber ich muß den Traum vergessen, ein Stück von dir zu sein.« Er stand vor ihr, sein schwerer Umhang bewegte sich im Wind, und sie sah seine gebeugten Schultern, als laste das Gewicht der kommenden Jahre auf ihnen. »Finde jemanden, von dem du ein Stück werden kannst«, sagte er. »werde glücklich.« Er drehte sich zu der Brüstung um und wandte sich einem Geheimnis zu, das ganz tief in seinem Inneren verborgen war und ihn für immer in seine Welt zurückbringen würde. »Leb wohl.« »Warte ...« Sie streckte den Arm aus und hielt ihn am Ärmel fest. »Noch nicht. Wir haben noch Zeit, es ist noch dunkel ...« Er drehte sich um, und in seinen Augen sah sie die Qual der Unentschlossenheit, die Qual der Wahl. Sie wußte, daß er recht hatte, was sie und ihn anbetraf. Eine Freundschaft mit ihr war für ihn absolut unmöglich, ja sogar gefährlich und, das hatte sie erst jetzt begriffen, quälend; außerdem bekam sie Angst vor der Intensität der Gefühle, die sie für ihn empfand, sie hatten sie bis ins Mark erschüttert. Sie wußte, daß sie eigentlich auch leb wohl sagen und so wie er lernen sollte zu vergessen. Statt dessen bat sie: »Geh nicht fort.« Er blieb fast bis zum Morgengrauen. Es war eigentlich schon viel zu spät, um noch sicher zu sein; sie wußten das beide. Aber irgendwie gab es immer wieder etwas zu sagen oder ein anderes Kapitel zu lesen, während sie dort in der windgeschützten Ecke saßen. Sie hatten sich Vincents Umhang um die Schultern gelegt, um sich vor der Kälte zu schützen. Das schwarze Gewicht des Himmels wurde grau wie Holzkohle und war dann, während sie noch lasen, in zinnfarbenes Licht getaucht; und dann schienen die nackten Bäume und die gezackten Silhouetten der Hochhäuser an der Fifth Avenue in diesem blaß schimmernden Licht zu einer völlig anderen Stadt zu gehören. »Und so wie sich die Morgennebel, schon lange bevor ich die Schmiede verlassen hatte, gelichtet hatten«, las sie ihm vor, »stiegen jetzt die Abendnebel empor, und in all dem ruhigen Licht, das sie mir boten, sah ich nicht den Schatten eines anderen, der sie verlassen hätte.«
16 »Da wartet jemand auf Sie«, rief einer der Angestellten als Catherine ins Büro kam. Sie sah automatisch auf die Uhr und erwartete fast, daß sie wieder einmal zu spät kam und daß der Besucher, wer immer das auch sein mochte, schon seit einer halben Stunde nervös mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte. Aber es war erst fünf vor acht. Das würde mal wieder ein ruhiger Tag werden. Das Chaos im Büro der Staatsanwaltschaft war so wie es Montag morgens immer war: Angestellte quetschten sich zwischen den Schreibtischen durch, die mit Aktenstapeln, Notizen und handgeschriebenen Protokollen vollgepackt waren, Telefone, die schon geklingelt hatten, waren ausgehängt. Ein uniformierter Polizist hatte Joe Maxwell in einer Ecke erwischt - der arme Joe sah aus, als hätte er heute seine erste Kaffeetransfusion noch nicht gehabt - und erklärte ihm irgend etwas sehr ausführlich; Joe nickte ernsthaft. Ein großer, adlig aussehender Engländer, den Catherine irgendwoher kannte, er war einer von den hunderten von Privatdetektiven von New York, wartete gemeinsam mit zwei weiteren Polizisten darauf, daß Moreno ins Büro kam. Alle drei sahen aus, als wären sie die ganze Nacht nicht ins Bett gekommen. Trotzdem hatte alles sich verändert. Sie hatte den halben Sonntag verschlafen und anschließend eine geruhsamen Spaziergang im Park gemacht und versucht eine gewisse Ordnung in ihre Gefühle zu bringen. Was sie empfand, war Liebe, daran zweifelte sie keinen Augenblick, aber eine Liebe, wie sie sie bisher noch nie erlebt hatte: eine Liebe, die so stark war, daß es weh tat, und ein Frieden, der das Innerste ihrer Seele erfüllte. Sie hatte nicht das unruhige, drängende Gefühl, das sie bei anderen Affären erlebt hatte, sie grübelte nicht, ob und wie intensiv er wohl an sie dachte oder ob das Gefühl wohl von Dauer sein würde. Es wäre in ihren Augen genauso unvernünftig gewesen, sich Gedanken darüber zu machen, ob ihr linker Arm nächste Woche noch da wäre. Er war zu ihr zurückgekommen. Gegen alle Vernunft, gegen alle Prinzipien seiner und ihrer Welt, war er gekommen. Und deshalb war heute morgen die Welt wie neu. Sie bog um die Ecke einer Reihe von Aktenschränken, um in ihre Kabine zu kommen, und blieb überrascht stehen. Carol Stabler saß neben ihrem Schreibtisch.
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Die jüngere Frau sah verhärmt aus und machte einen nervösen Eindruck. Sie saß auf der Kante das Plastikstuhls, als versuche sie, sich unsichtbar zu machen, und sah sich ängstlich um. Irgend jemand wahrscheinlich Larry, ein Büroangestellter, hatte ihr einen Styroporbecher mit Kaffee gegeben. Sie hatte die Hälfte getrunken und war jetzt damit beschäftigt, kleine Stücke vom Rand des Bechers abzupflücken. Jetzt wurde Catherine plötzlich überraschend klar, daß sie sie schon früher einmal gesehen hatte. Sie hatte ein Gefühl, als ob jemand die letzten Teile in ein Puzzle einsetzte, sie erinnerte sich an Toms Party im Barron wie unendlich lange das schon her war. Dieses Mädchen war auch dort gewesen. Catherine erinnerte sich genau an sie, so wie sie sich auch alle anderen Einzelheiten dieses Abends in den qualvollen dunklen Tagen nach dem Überfall immer wieder ins Gedächtnis gerufen hatte. Sie hatte ein rotes Lam‚kleid getragen, das kaum eine andere Frau hätte tragen können. Sie war während das Streits, den Catherine mit Tom hatte, die gewundene Treppe mit der Holzvertäfelung zum Ballsaal heruntergekommen. Damals war sie sehr schön gewesen. Selbst jetzt war sie trotz der offensichtlichen Verletzungen ihrer Gesichtsnerven noch hübsch, ihr blondes, etwas zerzaust wirkendes Haar war leicht toupiert, ihre grünen Augen und ihre frische Haut sorgfältig geschminkt. Große silberne Ohrringe betonten die zarte Linie ihre Wangenknochen. Aber ihre Kleidung wirkte alt und ein wenig schäbig, der weiße Pullover war ausgebeult, die adretten schwarzen Hosen an Saum ausgefranst, als wäre sie im letzten halben Jahr knapp bei Kasse gewesen. Und ihr Gesicht hatte im Ruhezustand einen erschöpften, resignierten Ausdruck, der sich in zitternde Entschlossenheit verwandelte, als Catherine in der Tür erschien. »Carol ... Sie habe ich hier am allerwenigsten erwartet.« »Tja, nun ...« Das Mädchen verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Ich habe auch nicht gedacht, daß ich hierherkommen würde.« Sie schob den Kaffeebecher zur Seite, als sich Catherine hinter ihren Schreibtisch setzte, und betrachtete sie abschätzend. Es war so, als wolle sie ähnlich wie Catherine den kurzen Blick durch den Türspalt in dem dunklen Flur mit dem vergleichen, was sie jetzt sah. Vielleicht erinnerte sich Carol auch an die Party und an Catherine. In guter Beleuchtung war die Ähnlichkeit zwischen ihnen nicht so auffallend, aber andererseits sehen für manche Männer alle kleine Blondinen gleich aus. Zögernd fuhr Carol fort: »Was sie mit Ihnen gemacht haben, tut mir leid. Als Sie an dem Abend weg waren, mußte ... mußte sich immer an Sie denken.« Ihr weicher rosafarbener Mund wurde schmal. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Eine Frau ohne viel Mut, dachte Catherine voller Mitgefühl, den hatte sie nicht einmal gehabt, bevor man sie zusammengeschlagen und verstümmelt hatte. Die Wut über das, was man ihr angetan hatte, hatte sie nicht dazu bewegen könne, an Vergeltung zu denken. Aber, das hatte Catherine auch feststellen müssen, die Tatsache, daß man so etwas auch mit einer anderen Frau gemacht hatte, veränderte die Situation. Sie waren an jenem Abend ganz dicht aneinander vorübergegangen. In Carols Akte stand, daß der Überfall etwa zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens stattgefunden hatte. Wahrscheinlich hatten die Männer, die Catherine überfallen hatten, ihren Irrtum erst bemerkt, als sie in ihrer Handtasche nach Geld gesucht hatten. Sie mußten dann wieder zum Barron zurückgefahren sein und hatten sie dann entweder in den Lieferwagen gezogen oder waren ihr nach Hause gefolgt. Bei dem Gedanken, diese Männer hinter Gitter zu bringen, hatte sie das gleiche Gefühl, als ob sie einen harte Treffer durch Isaacs Deckung landen würde. Behutsam fragte sie: »Möchten Sie mir erzählen, wie es passiert ist?« Carol schluckte und griff nach dem halbzerbröckelten Styroporbecher, dann faltete sie ihre Hände wieder, Ihre Fingernägel waren in einem zarten Pink lackiert und sehr gepflegt. Sie war eine Frau, die ihren Stolz noch nicht verloren hatte. Als sie sprach, blickte sie Catherine fest in die Augen. »Ich habe für eine Modellagentur gearbeitet«, erklärte sie freimütig. »Sie nennt sich Mayfair; sie haben einen ziemlich guten Kundenstamm. Sie wissen schon ... Geschäftsleute von außerhalb, so in der Art.« Catherine wußte Bescheid. In New York gab es wahrscheinlich mehr sogenannte Modellagenturen als in jeder anderen Stadt des Landes, angefangen von den miesesten Nutten bis zu den Produkten der Schulen an der Ostküste, die mit ihren perfekten Frisuren keinem Firmendirektor Schande machen würden, der eine Gefährtin zum Dinner im Ritz suchte. Es war klar, daß einer aus der Planungskommission, einer der großen Bauunternehmer oder einer der Investoren sie für den Abend engagiert hatte. Das erklärte nicht nur, was Carol auf Toms Party getan hatte, sondern auch, warum die Männer sie dort gesucht hatten. Kein WUnder, daß der untersetzte Ganove sie zuerst gefragt hatte Gehst du heute abend allein nach Hause? Als Catherine an das schöne Mädchen in dem roten Kleid dachte, spürte sie, wie eine bittere Wut auf die Männer in ihr hochkam, die die eine Hälfte ihres Gesichts zerstört hatten und für diese schreckliche Angst in
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ihren Augen verantwortlich waren. Sie fragte sich, ob die Frau immer noch für eine solche Agentur arbeitete, für eine, deren Klienten nicht so wählerisch waren, weil sie nur zwanzig Dollar für eine schnelle Nummer in einem Stundenhotel bezahlten. Da sie die billigeren Vermittlungsagenturen kennengelernt hatte, hoffte sie für Carol, daß das nicht der Fall war. Aber selbst eine Frau, die auf den Strich geht, möchte nicht als Prostituierte bezeichnet werden, also drückte Catherine sich vorsichtig aus. »Sie gehen mit ihnen aus.« Carol nickte und warf ihr eine schnellen Blick aus ihren klugen grünen Augen zu. »Ja, mehr oder weniger. Aber Mayfair wird von einem gewissen Marty Belmont geleitet, und das ist ein wirklich schlimmer Typ.« Jetzt, wo sie einmal angefangen hatte zu reden, sprudelten die Worte aus ihr heraus, und ihre Hände hörten auf, etwas zu suchen, mit denen sie sich beschäftigen konnten. Sie war wahrscheinlich so ruhig, weil sie wußte, daß sie jetzt, wo sei einmal A gesagt hatte, auch B sagen mußte. Womöglich hatte sie auch ihr altes Selbstbewußtsein wiedergefunden. »Nun«, seufzte sie, »er hat dann angefangen, die Agentur dazu benützen, die Kunden zu erpressen. Manchmal hatten die Mädchen Tondbandgeräte bei sich ...« Ihr Mund verzog sich verächtlich. »Manchmal machte Marty Filmaufnahmen.« Catherine zuckte zurück, als wäre ihr ein ekelerregender Geruch in die Nase gestiegen. dabei war das an sich nichts Ungewöhnliches. Während ihrer Monate bei der Staatsanwaltschaft war die Hälfte der schmutzigen Wäsche von New York über ihren Schreibtisch gegangen, obwohl sie diese besondere Schwäche der männlichen Natur nicht verstehen konnte. Wieso fanden die Männer bei einer schnellen Nummer mit einer gemieteten Lady etwas, das so völlig anders war als das, was ihre Ehe ihnen bieten konnte? Sie wußte, daß es diese Einstellung gab, und sie wußte auch, daß sie nicht die Qualifikation hatte, die Männer zu verurteilen, die so etwas taten. Aber eine so albernen Sache aufzuzeichnen, sie zu filmen und dann das Opfer mit seinen geheimen Bedürfnissen zu konfrontieren widerte sie an. »Wie sind sie in die Schwierigkeiten geraten?« Carol seufzte und machte eine kleine Handbewegung. »Ich wollte nicht mitmachen«, sagte sie einfach. »Belmont war überzeugt davon, daß ich den Bullen alles erzählen würde.« Ja, dachte Catherine. Selbst das kleinste Zeichen von Redlichkeit würde einem solchen Mann Angst einjagen. »Deshalb hat er seine Leute auf Sie gehetzt ... und auf mich.« »Die Männer , die Sie überfallen haben ... und mich - das waren Belmonts Leute?« Carol zuckte mit den Achseln. »Wer sonst?« Die fatalistische Art des Mädchens erstaunte sie. Sie selbst spürte, wie sie hinter ihrer besonnenen Logik wieder von einem Gefühl kalter, entschlossener Wut übermannt wurde. Sie waren beide ganz beiläufig verstümmelt worden, fast nebenbei, sie waren nur eine Nebensache im Betrugsmanöver eines Hochkarätigen Gangsters gewesen. So etwas kommt halt vor. Selbst ihr Vater hatte wutentbrannt verlangt, daß die Männer gefaßt werden sollten, die seinem kleinen Mädchen das angetan hatten. Die kleinen Mädchen anderer Väter spielten dabei keine Rolle, einfach weil das nicht seine Art war zu denken. »Werden Sie mit mir zusammen vor Gericht gegen sie aussagen?« Carol schwieg lange. Dann sagte sie leise: »Ja, ich werde aussagen.« Wie immer hatte Catherine noch verschieden andere dringende Projekte in Arbeit, so ging das jedem im Büro. Aber mit ein bißchen Organisation konnte sie die drei wichtigsten Termine auf den Nachmittag verlegen, eine Besprechung mit Schumacher von Special Investigations verschob sie auf später. Dann besorgte sie sich eine Verbrecherkartei. Carol identifizierte Marty Belmont, einen schlanken Mann, der wie ein Wiesel aussah, mit schwarzem Haar und einem Mund, der so schmal wie ein Messerschnitt war. »Die Sache ist die«, erklärte sie, schob sich eine flachsblonde Haarlocke aus der Stirn, und ihr gesicht drückte dabei Besorgnis aus, »ich glaube, daß er sich meinetwegen immer noch Sorgen macht. Er hat mich einmal angerufen. Manchmal dachte ich, ich hätte seine Leute in meiner Gegend gesehen.« Catherine erinnerte sich and die Kette vor der Tür, an die ängstliche Stimme. Ob Carols Angst berechtigt war oder nicht, spielte kaum eine Rolle. Als sie selbst aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie sich vor jedem schwarzen Lieferwagen gefürchtet, der vorbeifuhr. »Im Augenblick versuche ich nur genug Kohle zusammenzubekommen, um mich dünnmachen zu können.« Sie fragte sich wieder, wovon Carol lebte, stellte ihr aber diesbezüglich keine Frage. Was auch immer sie machte, sie würde nicht viel dabei verdienen. Die Mieten waren in New York, selbst für so ein schäbiges Studio in Chelsea, so hoch, daß das meiste Geld allein dafür draufging. und alles würde um so teurer, je länger sie hierbleiben mußte, um auszusagen. Carol wählte auch dasselbe Foto aus, das Catherine vor acht Monaten identifiziert hatte, auch wenn sie nicht
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ganz sicher gewesen war. Es zeigte den untersetzten Mann mit der Bomberjacke, der sie in den Lieferwagen geworfen hatte. »Ich weiß nicht, wer das ist«, sagte sie und drehte das Album um, damit Catherine das Foto sehen konnte. »Aber das seit einer von Belmonts Leuten.« »Das habe ich auch geglaubt«, stimmte Catherine ihr zu. »Ich würde seine Stimme jederzeit wiedererkennen, aber es war so dunkel, und ich habe ihn ja auch nur ganz kurz gesehen.« Carol schnauft ironisch: »Und er hat Sie auch nur ganz kurz gesehen.« Danach war es leicht. Ein Telefonanruf setzte die Mühlen der Justiz in Bewegung, Vorladungen und Haftbefehle wurden ausgestellt, die am nächsten Morgen einem gewissen Martin Belmont von der MayfairModellagentur in der West 52 Street 232 vorgelegt werden würden. Anklage: Betrug, Erpressung und schwerer Überfall. »... und das ist nur der Anfang«, sagte Catherine mit einer gewissen Genugtuung. »Ich habe die eidesstattliche Versicherung einer Zeugin.« Moreno war äußerst zufrieden. »Uns liegen schon seit einiger Zeit Beschwerden über die MayfairModellagentur vor«, sagte er, als Catherine auf dem Weg zu Carol, die am Empfang wartete, kurz in sein Büro kam. »Aber alles war anonym oder so wage, daß wir nicht wußten, wo wir ansetzen sollten. Die Männer hatten Angst, weil sie damit rechnen mußten, daß ihre Ehefrauen ein Paket mit Fotos in ihrer Post finden würden - oder daß man die Aufnahmen an ihre Chefs schicken würde.« Er hob seine breiten Schultern, die in einem dunklen Nadelstreifenanzug steckten, und kaute auf einem Zahnstocher ... »Wissen Sie, die Jagt auf diese Modellagenturen hat bei uns keine besondere Priorität«, fuhr er fort. »Von mir aus können sich die Geschäftsleute, die in unsere Stadt kommen, um Sinn und Verstand bumsen, das ist mir scheißegal. Die tun keinem etwas, und ich selbst weiß bei Gott, wie man sich fühlt, wenn man in einer fremden Stadt in einem Hotel absteigt. Aber wenn man die Kunden erpreßt oder die Mädchen verprügelt, dann werde ich wild. Sie bekommen Ihre Haftbefehle morgen früh, Chandler.« Es war schon Spätnachmittag - man hatte Sandwiches geholt, während Catherine die eidesstattliche Versicherung aufgenommen hatte, aber als sie in den warteraum zurückkam, hatte Carol wieder diesen gejagten, verhärmten Ausdruck. Sie sah schnell auf, als Catherine zu ihr kam. »Okay«, sagte Catherine in forschem Ton, »Jetzt ist alles vorbereitet. Sie werden nicht in ihr Apartment zurückgehen.« Sie hatte auch zu diesem Zweck ein paar Telefongespräche geführt. Carol war sichtlich erleichtert. »Wo gehe ich hin?« »Eine Freundin von mir renoviert in der Village ein Haus.« Sie zog einen Zettel aus der Tasche ihrer blau grauen Jacke, auf dem sie sich die Adresse notiert hatte. »Es ist noch nicht viel in der Wohnung, aber es ist dort bedeutend sicherer. Es erwartet Sie dort jemand mit dem Schlüssel.« Ihre alte Radcliffe-Kommilitonin hatte am Telefon gesagt: »Mein Gott, glaubst du, jemand würde da einbrechen und etwas von dem Trödel stehlen? Das würde mir den Weg zur Müllkippe sparen!« Die gute alte Nell. Obwohl Catherine mit ihr nicht so eng befreundet war wie mit Nancy oder Jenny, war Nell doch die einzige, die wohlhabend genug war, daß sie mehr besaß als nur ein winziges Apartment in New York. »Was wird aus meinen Sachen?« »Wir holen Ihre Sachen morgen an«, beruhigte Catherine sie. »Was Sie für heute nacht brauchen, werde ich Ihnen bringen.« »Okay.« Sie klang unsicher - sie hatte Zeit gehabt, über alles noch einmal nachzudenken, und hatte Angst bekommen. Larry erschien hinter ihr, der junge schwarze Angestellte, der Catherine am Morgen mit der Nachricht begrüßt hatte, daß jemand auf sie warten würde. Es kam ihr vor, als läge das schon Tage zurück. Catherine nickte ihm zu. »Larry wird Sie hinfahren, Rufen Sie mich an, wenn Sie dort sind.« Carol nickte und nahm ihren weißen imitierten Pelzmantel. Sie holte tief Luft. »Ich nehme an, es gibt kein Zurück mehr, oder?« Die beiden Frauen sahen sich einen Augenblick lang schweigend an, beide ähnelten einander in seltsamer Weise: blond und hübsch und entschlossen, sich auf legale Weise dafür zu rächen, was ihnen angetan worden war. Catherine sagte: »Carol, ist ihnen klar, wie groß das Risiko ist? Tun Sie es nicht für mich, Ich möchte nicht, daß Sie irgend etwas tun, wobei Sie kein gutes Gefühl haben.« Carol schüttelte den Kopf. In ihren sanften grünen Augen spiegelte sich Catherines Kraft. »Ich tue das für mich.« Catherine lächelte, trat zu ihr und umarmte sie schnell. »Wir sehen uns heute abend.« Der guterzogene Larry half ihr in den Mantel, und Catherine ging mit ihnen durch des überfüllte Großraumbüro auf die Doppeltüren es Ausgangs zu, der zu den Fahrstühlen, zur Eingangshalle und schließlich nach draußen führte. Catherine blickte hinter ihnen her und kehrte dann langsam zu ihrem Schreibtisch und dem Rest ihrer komprimierten Nachmittagsarbeit zurück. Carol hatte viel Mühe haben müssen um zu ihr zu kommen, vor allem,
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weil Marty Belmont, wie sie gesagt hatte, sie mehr oder weniger unter ständiger Kontrolle hatte. Sie hatte gesagt, er hätte sie einmal angerufen ... Ob das alles gewesen war? Catherine konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, daß die Haftbefehle erst morgen früh hinausgehen würden und daß Marty Belmont und seine Leute bis dahin frei herumliefen.
17 »Ich weiß nicht, welche masochistischen Impulse mich dazu veranlaßt haben, dir Schach beizubringen.« Vater runzelte die Stirn und blickte durch die Lesebrille mit den viereckigen Gläsern auf das Brett, das zwischen ihnen auf der zernarbten alten Holzplatte des achteckigen Tischs lag, und versuchte herauszubekommen, auf welchen Läufer er am ehesten verzichten könnte. »Vielleicht, damit dich irgend etwas von deinem Rheuma ablenkt?« schlug Vincent tröstend vor. »Oder damit deine Arterien trainiert werden, weil dein Blutdruck dabei steigt?« Ohne eine Gemütsbewegung zu zeigen, sah er zu, wie Vater eine Figur in Sicherheit brachte, ignorierte dann den einen Läufer und nahm Vaters Dame mit einem unbewachten Springer. »Meine Arterien sind völlig in Ordnung«, brummte Vater, und einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke über dem Brett, Vincent zwinkerte spitzbübisch, »Da kannst du aber selbst nichts dafür.« Leise Geräusche drangen aus dem langen Raum zu ihnen, in dem Regan und Sarah das gemeinschaftliche Abendessen für die Arbeiter vorbereiteten, die vom ersten erfolgreichen Probelauf von Mouses neuer Pumpe zurückkamen. Durch den Türeingang, hinter der Biegung des Felsflözes, der in diesen Raum führte, konnte Vincent das Flackern der Petroleumlampen sehen, die auf dem zentralen Platz der Tunnelgemeinde brannten die schrillen Stimmen der Kinder, die mit Rollbrettern Fangen spielten, hoben sich deutlich von den anderen Geräuschen ab. Langsam kehrte wieder Normalität in die Tunnel zurück. Vater hatte die Nachricht von Vincents Besuch bei Catherine gelassen aufgenommen. Als er diesmal, so wie beim erstenmal, sagte: »Vincent, wie konntest du?« klang seine Stimme eher erschöpft und resigniert als zornig, denn er hatte schon die ganze Zeit befürchtet, daß es so weit kommen würde. »Vater, wie konnte es anders sein?« hatte Vincent geantwortet. Vater seufzte nur. Er war sehr zornig gewesen, Vincent wußte das, aber es wäre ihm trotzdem nie in den Sinn gekommen, seinem Vater etwas zu verheimlichen. Nicht nur, daß ihre Welt ständig bedroht war und es deshalb zu gefährlich gewesen wäre, ein so potentielles Risiko zu verheimlichen, konnte Vincent sich überhaupt nicht vorstellen, seinen Vater oder irgendeinen anderen Menschen zu belügen, und sei es auch nur, indem er etwas verschwieg. Vaters letzter Kommentar war: »Ich möchte nicht, daß du verletzt wirst - und ich bete zu Gott, daß du, wenn etwas schiefgehen sollte, nur verletzt wirst.« Der alte Mann sah im Augenblick verhärmt und sehr müde aus. Er hatte den ganzen Tag mit den anderen in den unteren Ebenen gearbeitet, die Verbindungstunnel und Wohnräume von dem Schlamm und Schutt befreit, den die Flut zurückgelassen hatte. Nach Mouses Ansicht würden manche Gebiete dort unten überflutet bleiben, andere Tunnel würden lage Zeit von Schlamm und Fließsand blockiert bleiben. Aber die Schäden an der alten Hauptleitung waren weitgehend beseitigt worden. Regan und ihre Kinder und alle anderen würden nächste Woche wieder in ihre alten Quartiere zurückkehren. Man hatte sich nicht die Mühe gemacht, auch Hos Zimmer freizulegen. Hos Habe war zum größten Teil zerstört. Aber das wäre gut so, hatte sie bei ihrem letzten Gespräch mit Vincent im Keller des Apartmenthauses eines Helfers in Harlem erklärt. Sie hätte das meiste davon in der Welt oben ohnehin nicht gebrauchen können. Als er Vater jetzt im flackernden Licht der Kerzen, die auf dem Tisch standen, besorgt betrachtete und sah, wie grau sein Haar geworden war, wie viele Falten in seinem Gesicht waren, dachte Vincent, daß Ho in gewisser Weise recht gehabt hatte, als sie davon sprach, was die unterirdische Welt geben konnte und was nicht. Aber wenn diese Welt auch kalt und feucht war, war sie doch sicher. Und für Vincent war diese Qualität der Geborgenheit, genau wie für Vater und so viele andere - auch für Catherine, als sie diese Sicherheit brauchte das entscheidene Kriterium. »Da«, sagte Vater und zog mit seinem Springer. »Den kannst du dir an den Hut stecken.« Vincent legte den Kopf zur Seite und studierte das Brett, er war mißtrauisch, weil Vater dadurch seinem Turm freie Bahn geschaffen hatte. Er streckte seine Hand nach seinem Damenbauern aus, um mit ihm die Gefahr abzublocken .. Und dann hatte er das Gefühl, es hätte ihn jemand mit einem Hammer auf die Brust geschlagen. Catherine?!?
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Angst durchfuhr ihn wie die Klinge eines Rasiermessers. Angst und die Gewißheit des Todes. Er war auf den Beinen und aus dem Zimmer, bevor Vater Luft holen konnte. Das Sandsteinhaus von Catherines Freundin Nell lag direkt an der Christopher Street, einer aus einem Gewirr von kleinen Straßen und Gassen, die um den Sheridan Square herum lagen. Der bedeckte Himmel wurde schon dunkel, als Catherines Taxi um halb fünf vor dem Haus hielt. Sie hatte sich früher freigenommen, um Lebensmittel, Kaffee und eine Flasche Wein einzukaufen. Sie hatte die Absicht, Carol Gesellschaft zu leisten und unter Umständen die Nacht dort zu verbringen, falls sie in der Wohnung zwischen dem von Mäusen angenagten Trödel etwas finden würde, was als zweites Bett dienen könnte. Sie erinnerte sich, daß Vincent von »Helfern« gesprochen hatte: Leute, die den Tunnelbewohnern ihre alten Kleider gaben, die sie dann auseinandertrennten, um sich etwas Neues daraus zu schneidern, manchmal auch Lebensmittel, Möbelstücke, Geschirr, Seife ... alles, was sie entbehren konnten. Als sie den Taxifahrer bezahlt hatte und mit ihren Einkaufstüten im Arm über die Straße ging, fragte sie sich, ob sie es irgendwie arrangieren könnte, daß diese Helfer alles, was sie von dem Trödel aus der Wohnung gebrauchen könnten, der nach Jennys Aussage schon dort lag, seit der liebe Gott nach Detroit umgezogen war, abholen würden. Nell hatte sich seit Monaten darum bemüht, einen Lastwagen zu mieten, sich einen freien Tag zu nehmen und die nötigen Freunde zusammenzutrommeln, um alles auf den städtischen Müll zu bringen, aber bisher hatte sie das noch nicht geschafft. Sie würde mit Vincent darüber reden müssen, wenn sie ihn das nächste Mal sah, und mit Nell. Es dämmerte ihr, daß sie auf dem besten Weg war, selbst ein Helfer zu werden. Dabei mußte sie an Vincent denken, und sie lächelte. Samstag nacht hatte sie ihn unter anderen gefragt, woher er gewußt hätte, daß sie Kraft und Mut besaß. Er hatte mit einem schwachen Lächeln seinen Kopf ein wenig gesenkt. »Als du mich zum erstenmal gesehen hast«, hatte er gesagt, und ihr war bei der Erinnerung an ihr eigenes Entsetzen die Schamröte ins Gesicht gestiegen ..., »war dein erster Impuls, nicht wegzulaufen oder dich zu verstecken ... sondern mir mit deiner ganzen Kraft etwas an den Kopf zu werfen. Da wußte ich Bescheid.« Sie hatte gelacht und ihre Wange an seine starken Schultern gelegt. Die Treppe, die zum Hauseingang führte, war hoch und gab dem Haus ein hochmütiges Flair. Verwelkte Pflanzen standen in Zementkübeln links und rechts von der Haustür mit ihren stumpfen Messingschildern und dem altmodischen Türgriff. Catherine drehte die antike Klingel und hörte irgendwo in der hohen Diele den gedämpften Klang einer Glocke. Aber drinnen auf der Treppe waren keine Schritte zu hören. Sie blickte die Straße, die in trüben Licht lag, hinauf und hinunter. Womöglich war Carol gerade zu dem Geschäft an der Ecke gegangen, um sich Zigaretten zu holen - in dieser Gegend wäre das schließlich nicht gefährlich. Nur - rauchte Carol überhaupt? Im Büro war sie sehr nervös gewesen, aber sie hatte sich keine Zigarette angezündet Catherine runzelte die Stirn und suchte in ihrer Manteltasche nach dem Reserveschlüssel, den Nell Larry mitgegeben hatte, und schloß auf. »Carol?« Ihre Stimme hallte in den Winkeln des mit Holzpaneelen verkleideten Treppenschachts, der von der Diele nach oben führte. Hier unten wirkte er wie ein aschgrauer Schatten. Die Vertäfelung war herausgerissen und zum Teil wieder erneuert worden, obwohl der verschossene Putz an den Wänden noch nicht gestrichen worden war. Der größte Teil von Nells Freunden, einschließlich Jenny und Catherine, hatten derart hektische Jobs, daß sie höchstens gelegentlich einmal an einem Wochenende oder an einem Abend in der Woche dort etwas tun konnten. Direkt unter der Treppe - das wußte Catherine - führte eine Tür, die jetzt verschlossen war, in den Keller. Dahinter lag die riesige Diele, ein unheimliches düsteres Labyrinth voller geschlossener Türen. Der Lärm des Verkehrs auf dem Sheridan Square klang laut in der Stille. Es war Hauptverkehrszeit. Als sie die Treppe hinaufblickte, konnte Catherine auf der zweiten Etage das bläuliche Licht eines Fernsehbildschirms erkennen und hörte das gedämpfte. murmelnde Stakkato der Stimmen. Ob sie vor dem Fernseher eingeschlafen ist? fragte sie sich und mußte dann an Carols extreme Nervosität denken - sie wäre sicherlich beim leisesten Geräusch wach geworden. Wahrscheinlicher war, daß sie es angelassen hatte, als sie gegangen war. Viele Leute taten das. Aber irgend etwas in dem düsteren Haus zerrte an Catherines Nerven. Sie stellte die Tüten mit den Lebensmitteln auf die unterste Treppenstufe und ging vorsichtig und leise hinauf, wobei sie auf jedes ungewöhnliche Geräusch achtete. Carol war im Schlafzimmer. Ein Fernseher flackerte, in dem ein Film über hochstilisierten Ehebruch und Drogensucht in einem eleganten Milieu lief. Sie war tot. Catherine wußte es schon, als sie zu ihr lief und sich neben sie auf den fleckigen, verdreckten Teppich kniete. Sie wurde von panischen Schuldgefühlen erfaßt - sie hatte geglaubt, Carol aus ihrem Apartment hier in
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Sicherheit zu bringen, aber sie hatte nicht damit gerechnet, daß Belmont das Mädchen beschatten lassen würde. Sie drehte sie um. Das blonde Haar fiel von ihrem Gesicht. Es war aufgedunsen und violett gefärbt. Die grünen Augen starrten sie an, ihre Zunge hing etwas aus ihren geschwollenen Lippen heraus. Sie war erwürgt worden. Die Finger des Mörders hatten auf ihrem Hals unter dem weißen Kragen ihres Pullovers rote Striemen zurückgelassen. Catherine war froh, daß sie letzten Sommer im Verlauf verschiedener Untersuchungen öfter im Leichenschauhaus gewesen war - zumindest konnte sie der bloße Anblick eines toten Menschen nicht mehr aus der Fassung bringen. Manche von Isaacs Trainingsmethoden hatten das Ihre dazu beigetragen. Aber die Toten im Leichenschauhaus waren Menschen gewesen, die sie nicht gekannt hatte. Hier lag eine Frau, die sie noch vor drei Stunden zum Abschied in den Arm genommen hatte. Der Körper war noch nicht einmal kalt. Sie fühlte den Puls, obwohl sie wußte, daß sie keinen finden würde. Aber sie mußte es versuchen. »Gib dir keine Mühe«, sagte eine Stimme hinter ihr, dieselbe Stimme, die sie in den letzten acht Monaten in Hunderten von Alpträumen gehört hatte ... Gehst du allein nach Hause, Carol? Catherine fuhr herum, ihr Herz schlug ihr im Hals, und ein Adrenalinstoß und Angst durchfuhren sie wie ein Messer. Der untersetzte Mann, der sie in den Lieferwagen geworfen hatte, stand im Türeingang, er hatte die hellgraue Bomberjacke an, das einziger Kleidungsstück, an das sie sich erinnern konnte. Neben ihm stand ein Mann, den sie aus dem Verbrecheralbum kannte, Marty Belmont. »Sie ist tot«, erklärte der untersetzte Mann. Er hob seine Hand und hatte wie durch einen Zauber plötzlich ein Klappmesser darin, der kalte Stahl der Klinge blitzte in dem bläulichen Licht des Fernsehers. Belmont fügte hinzu: »Und du auch.« Dann kamen sie auf sie zu. Catherines Reaktion, das hatte ihr Isaac in dem endlosen Drill eingebleut, war automatisch und instinktiv. Sie ergriff den Fuß der Stehlampe, die neben dem Fernseher stand, während ihr gleichzeitig der Gedanke durch den Kopf schoß, daß es klüger von ihnen gewesen wäre, sie gleichzeitig von zwei Seiten anzugreifen. Die fast zwei Meter lange Messingstange, an der noch die Schnur hing, war lang genug, daß sie sie beiden gegen die Brust schmettern konnte, so daß sie durch die Wucht ihres Sprungs aus dem Gleichgewichts geworfen wurden. Der untersetzte Typ, der auf sein entsprechend umfangreiches Hinterteil gefallen war, griff vergeblich nach ihr, als sie sich an ihm vorbei mit einem Hechtsprung durch die Tür fallen ließ. Belmont schrie etwas hinter Catherine her, als sie die Treppe hinunterrannte. Unter war plötzlich das Poltern von Füßen zu hören; als sie über das Geländer blickt, sah sie, wie das trübe Licht von oben auf einen behaarten Arm fiel, auf den ein Drache tätowiert war, und dahinter kam noch eine dunkle Gestalt angerufen, wahrscheinlich der Fahrer des Lieferwagens. Sie drehte sich um und hastete die Treppe wieder hinauf in den stockfinsteren Flur auf der ersten Etage mit seinem alptraumhaften Labyrinth von Türen. Der hintere Teil des Hauses war sicherer als der vordere, dachte sie. Sie würden die Türen öffnen, wenn sie an ihnen vorbeikamen, dadurch konnte sie Zeit gewinnen, eine Waffe zu finden. Catherine trug keine Pfennigabsätze mehr ... Sie hatten sicher nicht nur ein Messer. Das Zimmer, in das sie sich geflüchtet hatte, war früher einmal ein Schlafzimmer gewesen, verschiedene Türen führten in andere Schlafzimmer, Bäder und Ankleidezimmer, die alle mit den dreckigen alten Möbel vollgepackt waren, über die sich Nell im Herbst so beschwert hatte: Polstersessel, aus denen die Sprungfedern herausgequollen, aufgeschlitzte Sofas, verrottete Pappkartons voll mit alten Zeitungen, alten Flaschen und Magazinen. Ein Bilderrahmen? Nein - zu leicht, den könnten sie durchschlagen oder zur Seite stoßen, und er verschaffte ihr nicht genügend Distanz. Was sie brauchte, was ein Stuhl ... ein hölzerner Küchenstuhl, nicht solche Plüschsachen, wie sie hier in jeder Ecke herumstanden. Schreien - half nichts. Sie war in New York, und jedes Geräusch würde Belmont und seine Kumpanen schneller zu ihr führen, als Hilfe kommen konnte. Sie fragte sich, ob Carol wohl geschrien hatte. Sie duckte sich, gab keinen Laut von sich und lauschte. Draußen auf dem Flur konnte sie Stimmen und Türenschlagen hören. Ihr Herz schlug ihr vor Angst im Hals. »Wo ist sie hingelaufen?« - »Versuch es da einmal.« - »Sie muß in einem dieser Zimmer sein.« Direkt an ihrer rechten Seite wurde eine Tür aufgerissen, da sie sich nach innen öffnete, wurde sie von ihr verdeckt, so daß der Mann, wer auch immer es war, sie nicht sehen konnte. Sie wurde wieder zugeschlagen. Wenn sie doch bloß aufgeben würden, wenn sie bloß glauben würden, sie wäre schon weg ... »Sie ist hier irgendwo.« Sie fielen nicht darauf herein; sie würden so lange suchen, bis sie sie gefunden hatten. Sie blickte zum Fenster. Sie brauchte ein Brecheisen, um das Schiebefenster aufzustemmen. Vielleicht würde ihr das gelingen, aber dann war es immer noch möglich, daß sie sich bei dem Sprung ein Bein brechen würden. Trotzdem ... Sie nahm einen Stuhl mit spindeldürren Beinen und schlich auf Zehenspitzen durch das Zimmer. Das Fenster
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blickte auf eine schmale Seitengasse hinter dem Haus. Soweit sie das aus ihrer Position sehen konnte, war darunter ein tiefer liegender Durchgang, dadurch würde sie noch ein halbes Stockwerk tiefer springen müssen und hatte eine gute Chance, sich an irgendeinem Stahlgeländer oder an irgend etwas anderem das Genick zu brechen. Schritte auf dem Flur. Sie trat zurück, suchte eine Deckung und blieb mit ihrem Absatz an einem Karton voller Parfümflaschen hängen, die mit einem verhängnisvollen Krach umstürzten. Die Tür wurde aufgerissen, und Catherine trat einen großen Schritt auf sie zu und schmetterte den Stuhl mit all ihrer Kraft auf die Männer, die hereinkamen. Es waren der untersetzte Gangster und der Mann mit der Tätowierung. Sie waren völlig überrascht und taumelten rückwärts. Catherine schlug einen Haken wie ein Hase und raste durch die andere Tür in ein altes Ankleidezimmer und das Schlafzimmer dahinter und dann wieder auf den Flur und auf die Treppe zu. Sie hatte die untere Tür nicht abgeschlossen. Wenn sie es bis dorthin schaffen würde ... Ein anderer Mann, den sie nicht erkennen konnte - wahrscheinlich der Fahrer des Lieferwagens - stellte sich ihr in den Weg, aber inzwischen war Catherine alles egal. Als er sie packen wollte, rammte sie ihm ihr Knie mit voller Wucht in den Unterleib und den Ellbogen ins Gesicht, fluchend ging er zu Boden, und sie stürzte sich auf ihn. Er packte ihr Fußgelenke, und sie fiel hart auf die Holzstufen, verletzte sich an den Händen und Armen, ohne etwas davon zu merken, während sie versuchte, ihre Fußgelenke aus der schrecklichen Umklammerung zu befreien. Sie schaffte es nicht - er hatte sie, hielt sie fest, zog sie zurück. Sie wand sich und griff nach dem Hals der Weinflasche, die in ihrer Einkaufstüte auf der untersten Stufe steckte. Das kühle Glas rutschte ihr aus den Fingern; sie versuchte es noch einmal, leistete seiner schrecklichen Kraft Widerstand und hob ihre provisorische Waffe. »Schluß jetzt.« Belmont stand auf dem oberen Treppenabsatz. Er hatte einen Revolver. Catherine wußte, daß sie verloren hatte. Langsam kam er die Treppe herunter, sein Revolver war auf sie gerichtet. Hinter ihm leckte sich der tätowierte Ganove seine Wunden, ein überraschendes Sammelsurium von Kratzwunden und Prellungen, wo die Stuhlbeine ihn getroffen hatte. Hinter ihm stand der untersetzte Mann mit der Bomberjacke und dem Klappmesser. Catherine lag keuchend auf der Treppe. Sie sah, wie sie die Treppe herunterkamen, wartete, schätzte die Entfernung für einen letzten Versuch ab, falls sie das noch schaffen sollte, und wußte genau, daß sie nie Erfolg haben konnte. Belmont blieb über ihr stehen und richtete den Revolver auf ihren Kopf. Er lächelte. »Sag gute Nacht«, höhnte er. Und tief unten, in den Eingeweiden des Hauses, war plötzlich ein anderes Geräusch zu hören. Ein splitterndes Krachen, das Geräusch von fallenden Ziegelsteinen und ein Schrei - ein Röhren -, ein elementares Brüllen voller Verzweiflung und animalischer Wut. Belmont verschlug es den Atem. »Was zum -«. Er wollte sich gerade aufrichten, als die Eichentür explosionsartig zerbarst, als sei sie aus Balsaholz, und irgend etwas Riesiges, Goldgelbes, Schreckliches kam aus der unterirdischen Finsternis und stürzte sich wie ein Todesengel auf ihn. Belmont stieß einen Schrei aus, als ihm der Revolver und mit ihm Teile seiner Hand weggerissen wurden. Catherine starrte entsetzt und wie gelähmt nach oben und sah, daß Vincent den Mann mit einer teuflisch schnellen Bewegung zur Seite fegte, so wie ein Katze eine Kakerlake tötet. Er brüllte wie ein Dämon, seine Fänge blitzten im trüben Licht der Straßenbeleuchtung, die von draußen hereinschien. Als der untersetzte Mann mit dem Klappmesser ausholte, fuhr Vincent herum; mit seinem Klauen schlug er den Mann ins Gesicht, dann gegen die Brust und gegen den Hals. Wild und tödlich wirkte er wie eine goldgelbe Wolke der Wut. Es war, als ob der tätowierte Ganove und der Fahrer genau wüßten, daß er sie nie entkommen lassen würde, denn sie stürzten sich auf ihn, auf diese unbekannte Bestie mit dem dunklen Umhang und den blitzenden Augen. Seine Kraft verbreitete Entsetzen und noch mehr seine Geschwindigkeit - er kämpfte wie ein Tier, ohne zu zögern, ohne Gedanken, nur von seinem Instinkt und seinem Zorn Gesteuert. Catherine, die sich unten an den Treppenpfosten gelehnt hatte, hatte in keinem Augenblick Zweifel, wie der Kampf ausgehen würde; der eine Ganove wurde wie eine Stoffpuppe hochgehoben und mit gebrochene Genick zur Seite geworfen, der Fahrer, der sich jetzt endlich umdrehte und fliehen wollte, wurde zu Boden geschlagen und erledigt, bevor er noch zwei Schritte tun konnte. Es war fast schon vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. Catherine atmete langsam aus - sie bemerkte erst jetzt, daß sei die Luft in der Sekunde angehalten hatte, als Vincent durch die zersplitternde Kellertür gestürmt war, und sie hatte seitdem nicht wieder ausgeatmet ... Vincent ließ plötzlich von der Leiche des Fahrers ab. Seine Klauen, sein Umhang und die Spitzen seiner honigfarbenen Mähne waren voller Blut; auch der nackte Putz der Wände war blutbefleckt. Er senkte den Kopf, und Catherine konnte sein Gesicht erkennen - das Gesicht einer Bestie, das verzerrt war, weil dem Menschen bewußt geworden war, was er getan hat.
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Aber die wilde Wut in ihm war wie ihre eigene gewesen, an jenem Nachmittag, an dem sie auf dem Speicher ihre Angst überwunden und sich auf Isaac gestürzt hatte - und heute, als sie um ihr Leben kämpfen mußte. Und wenn Vincent etwas anderes war als ein Mensch, was waren Belmont und seine Männer dann gewesen? Von weitem waren Polizeisirenen zu hören Catherine rappelte sich schnell auf. Die Knie zitterten ihr, als sie über die unbeweglichen Körper stieg. Auch ihre Hände zitterten vor Schock, als sie Vincents blutige Hand ergriff. Er blickte schnell zu ihr auf, und einen Augenblick lang sah sie in seinen Augen Scham und Unsicherheit, als fragte er sich, ob sie sich ihm überhaupt noch nähern könne, nachdem sie seine andere, die dunkle unmenschliche Seite kennengelernte hatte. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke, und er konnte in ihren Augen sein eigenes Spiegelbild sehen und ihr Verständnis. Catherine wurde sich bewußt, das sie Yang und Ying waren: Aber wer von ihnen beiden das Feuer war und wer die Nacht, konnte sie nicht sagen. »Hier können wir nicht bleiben«, flüsterte sie und half ihm aufzustehen, so wie er ihr einmal geholfen hatte. In der Kellerwand war ein Loch, das er gerissen hatte, die Ziegelsteine waren buchstäblich von innen mit den Klauen herausgerissen worden. Durch den gezackten Spalt konnte man die Wölbungen eines alten zementierten Kanals sehen, der sich in der pechschwarzen Finsternis der unterirdischen Welt verlor. Das Fleisch auf Vincents Hand war aufgerissen und abgeschürft, sein dunkler Umhang war zerrissen und voller Mörtelstaub und Schmutz. Er hatte das getan, dachte sie. Er hatte das getan, als er ihre Angst gespürt hatte. Sie nahm seine Hand; gemeinsam gingen sie in die Dunkelheit. Der Lokalteil der Times brachte am nächsten Morgen einen kurzen Bericht über den Tod von Martin Belmont und drei anderen im Untergeschoß eines Stadthauses in Greenwich Village, das einer gewissen Miss Elinor Fletcher gehörte. Die Kürze des Berichts ließ den Schuß zu, daß die vier für die Allgemeinheit keinen großen Verlust darstellten. Außerdem wurde erwähnt, daß die Leiche einer gewissen Carol Stabler in der oberen Etage gefunden worden wäre. Im großen und ganzen hatten Staatsanwalt Moreno und Joe Maxwell dafür gesorgt, daß die ganze Sache nicht an die große Glocke gehängt wurde. Es ist möglich, daß eine Anzahl von Männern im TriState Gebiet - und ebenso manche Frau - an diesem Tag beruhigter an ihre Arbeit gehen konnten. Der Artikel erwähnte nebenbei ein Loch im Keller, das zu einem alten Dampftunnel führte, den man mit einem Eisengitter verschlossen vorgefunden hatte; es wurde nichts davon berichtet, daß jemand versucht hatte, das Gittertor aufzubrechen, um zu sehen, was dahinter lag. Miss Stabler, das stand in dem Artikel, eine Zeugin der Staatsanwaltschaft, war erwürgt worden. Die vier Männer schienen von einem Löwen angefallen und getötet worden zu sein, so unwahrscheinlich das auch mitten in New York erscheinen mußte. »Ich verdanke dir ... alles«, sagte Catherine leise. Vincent schüttelte den Kopf. »Du schuldest mit nichts.« Sie waren an de ersten großen Schlucht angelangt, durch die die inneren Ebenen geschützt wurden. Sie wurde durch drei uralte gewölbte Brücken überspannt. Provisorisch montierte Lampe erfüllten den weiten Raum mit einem geheimnisvollen, gelblichen Zwielicht, und in der riesigen Höhle hallte leise das Klopfen der Rohre, der Herzschlag der unterirdischen Welt. Hinter ihr, das wußte Catherine, wand sich die lange Metalltreppe bis zu dem Abflußkanal im Central Park. Von da aus war es nur ein kurzes Stück bis zu ihrer Wohnung. »Ich bin ein Stück von dir, Catherine«, sagte er, »So wie du ein Stück von mit bist. Wo du auch hingehst, wo auch immer ich bin - ich bin bei dir.« Einen Augenblick lang sah sie ihn in dem schwefelgelben Dämmerlicht an. Ich bin bei dir ... Sie trat einen Schritt auf ihn zu, direkt in seine Arme. Catherine wußte nicht, wie lange sie so gestanden hatten. Es war ein gutes Gefühl, seine warme Nähe zu fühlen und die Muskeln seiner Schultern unter dem schäbigen Gewand zu spüren. Sie wußte nicht, wie es enden sollte, wußte nicht, wohin es sie führen würde. Sie wußte nur, daß sie beide miteinander verbunden waren, sie und diese seltsame, schöne Seele, und der Gedanke brachte ihr kein Gefühl der Unsicherheit, sondern Frieden. Vincent trat einen Schritt zurück, die rauhe Schönheit seiner Stimme hallte sanft in der Dunkelheit, während er bereits auf dem schmalen Steg aus Ziegelsteinen zuging, der die Schlucht zwischen ihrer Welt und der seinen überbrückte. »Leb wohl«, sagte er. Catherine blieb stehen und drehte sich an der Treppe, die hinauf ins Licht führte, noch einmal um, »Vorläufig«, sagte sie und fügte Estellas letzte Zeile an Pip am Ende der Großen Erwartungen hinzu: »› Und werden auch getrennt Freunde bleiben.‹« Er drehte sich noch einmal einen Augenblick lang um, und sie sah ihn lächeln.
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