Joy Packer
DIE REBEN VON DIEU DONNÉ
Roman
IM BERTELSMANN LESERING
Aus dem Englischen übertragen von Jutta und Theo...
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Joy Packer
DIE REBEN VON DIEU DONNÉ
Roman
IM BERTELSMANN LESERING
Aus dem Englischen übertragen von Jutta und Theodor Knust Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel The Valley of the Vines Lizenzausgabe für den Bertelsmann Lesering mit Genehmigung des Marion von Schröder Verlages, Hamburg
© by Joy Packer Einbandentwurf Ilse Ziemer Gesamtherstellung Mohn & Co GmbH, Gütersloh Printed in Germany • Buch Nr. 22
Erstes Kapitel DER WIND
Nirgendwo auf der Welt konnte es schöner sein als im Tal der Reben. Das bestritt niemand. Die blauen Samtberge umfingen die Weingärten in dem weiten Tal, und die Hänge mit den Reben blickten über die Kapebene zur Blinden Bucht hinüber, über der sich, blaß wie Rauch, Hottentots Hollands erhob. Die Sonne stieg über Hottentots Hollands und schien auf die farbigen Fischer herab, die ihre Netze durch den Indischen Ozean schleppten. Sie wanderte über die Ebene, verhüllte an den verfallenen Buden und Baracken hinter den mimosenbedeckten Dünen einen Augenblick lang schamvoll ihr Antlitz, blickte wohlwollend auf das Constantia-Tal – das Tal der Reben –, wo die jungen Trauben und das Obst in den Gärten reiften, und setzte dann den Weg über die Berggipfel fort bis zu ihrem prachtvollen Opfer im kalten Atlantik hinter der Waldbucht. Vom Tal aus sah man ihren Schein in der Constantia-Schlucht – feurig ritt sie in heidnischem Prunk auf dem Sattel zwischen den Bergspitzen. Die Leute an der Waldbucht waren sehr stolz auf diese ein drucksvollen Sonnenuntergänge. Wenn sie die Bewohner des Tales zum Abendbrot einluden, sagten sie: - Seid zeitig genug da, damit ihr den Sonnenuntergang seht! Doch die Leute aus dem Tal kamen immer ein wenig zu spät, weil es wirklich zuviel war – all die Pracht, die den Menschen an der Waldbucht gehörte: der Schildwacht-Ausläufer, der westlich vom Fischerhafen senkrecht ins Meer stürzte, die goldgebadeten Dünen, der lange Strand und der Bergwald mit
Sommerhäusern, die in dieser Zeit ein Vermögen wert waren – fast ebensoviel wie der Boden im Constantia-Tal! - Und dann haben wir hier natürlich keinen Wind, sagten sie – die Dichter und Maler, die an der Waldbucht wohnten. Wir kriegen den Südostwind hier nicht ab wie ihr. Doch die Bewohner des Tales lächelten nur. Sie wußten genau, daß es nirgendwo im Kapland – oder sonstwo auf der Welt – so schön war wie in Constantia, auch wenn der Sommerwind vom Meer heraufstürmte und sich in den Pappeln und den großen alten Eichen verfing, die wie Schildwachen vor den historischen Gutshäusern Alphen und Dieu Donné standen – Dieu Donné, Gottes Geschenk. Roxane, die elf Jahre alt war, liebte den Wind und trieb selbsterfundene Spiele mit ihm. Aber Roxane war freilich ein seltsames kleines Ding, eine Halbfranzösin und voller Phantastereien. 1939 war sie mit dem ersten Schiff evakuierter Kinder aus dem bedrohten England gekommen. Damals war sie vier. Im Tal glaubte man, Großmutter Constance de Valois habe Roxanes Mutter – eine junge französische Witwe, die bei Ausbruch des Krieges in einer Londoner Klosterschule unterrichtete und bald von der entsetzlichen Maschinerie des Secret Service aufgesogen wurde – gekannt. Bei ihrer Ankunft besaß Roxane nur wenige Habseligkeiten: dürftige Garderobe, die in einem kleinen Koffer Platz hatte, eine Miniatur ihrer Mutter, einen Rosenkranz, eine Porzellanstatuette der Heiligen Jungfrau mit dem Kinde, einen Teddybären, dem ein Auge fehlte, und einen reizend illustrierten Band französischer Märchen. Als bekanntwurde, daß Roxanes Mutter mit einem Fallschirm über dem besetzten Frankreich abgesprungen war, um der Widerstandsbewegung zu helfen, daß sie gefangen, gemartert und erschossen worden war, hatte Großmutter Constance das kleine Mädchen adoptiert, ihr den Namen de Valois gegeben und sie in der protestantischen Religion erzogen.
Roxane war glücklich zwischen den Weinbergen von Dieu Donné. Doch tief in ihrem Innern schlummerten noch die nebelhaften Schatten eines anderen Lebens – des Lebens mit Maman, den Parks und den Türmen in London. Wenn sie mit dem Südost spielte, redete sie sich ein, der Wind sei ein großer Zaubervogel, der die Macht habe, sie weit fortzutragen: nach London – nach Paris… Sie lief dem Wind entgegen, Wolf, den jungen Schäferhund, auf den Fersen. Sie kehrte dem Wind den Rücken zu und lehnte sich gegen ihn – sein mächtiger Atem hielt sie, das schmale, heimatlose Kind mit dem schwarzen Haar, den hohen Backenknochen und dem leidenschaftlichen Entzücken in den länglichen Augen. Und dann beschwor sie den Wind: Wind, Wind, heb mich auf! Nimm mich auf deine Schwingen und trag mich übers Meer nach England – nach Frankreich! Nein – oh – nein – oh – nein, pfiff der Wind und ließ sie los. Und der junge Hund bellte, hob den Kopf und sprang an ihr hoch. Du kannst nicht fort, bellte er. Tinus hat dich mir geschenkt, und nun gehörst du mir! Martinus Vos, Großmutter Constances Neffe und Verwalter von Dieu Donné, kam aus den Weingärten herauf und lachte Roxane zu. - Hallo, Roxie, führst du Wolf spazieren? Hübsche steife Ohren kriegt er schon. Er tätschelte den Hundekopf, und Roxane hörte durch den Wind seine freundliche, langsame Stimme: - Bist ein braves Tier, Wolf – paß gut auf sie auf! Sie tollte mit dem Hund davon, und Tinus sah ihnen mit seinem halben Lächeln nach und schob die schwarze Klappe über der leeren Höhle des linken Auges zurecht. Er und das Kind hatten eines gemeinsam: Der Krieg, der ihn als jungen verwundeten Soldaten ins Tal verschlagen hatte, brachte auch sie hierher – ein Blatt im Sturm, losgerissen vom mütterlichen
Baum und weit dahingefegt bis nach Constantia im Kapland, Meilen und Meilen von ihrer Heimat entfernt. Sie kletterte über einen niedrigen Zaun in den Blumengarten, wo ein uralter Farbiger zwischen den Rosen stand – alt wie Großmutter Constance, alt wie der liebe Gott. Sein graues Haar bedeckte ein Filzhut, und das karierte Hemd hing über die geflickten Hosen. - Was machst du da, Klaasje? Er antwortete ihr in der Taal, dem verderbten Afrikaans der Kaplandmischlinge. - De welken Blüten schneiden, Miß Roxie. Die armen Rosen! Jetzt haben sie keine Köpfe mehr! Sie preßte die Hände auf den Mund, weil ihr das Schreckliche wieder einfiel. Alle hatten ihr erzählt, Maman sei im Himmel – alle außer Merle. Doch Merle wußte es besser. Merle hatte gesagt: - Hör mal, du! Deine Maman war eine Spionin – eine Spionin in Frankreich –, und die Deutschen haben sie gefangen und ihr den Kopf abgehackt… Vielleicht auch nur erschossen. Schnippschnapp machte die Schere des Gärtners, und die welken Blumen fielen weich in den Bastkorb. Hör lieber auf mich! rief der Wind. Hör auf meine Stimme und auf meine Musik! Roxane blieb stehen. In den Eichen hörte sie Orgeltöne anschwellen, in den Magnolien Zimbeln schlagen und in den Weiden Geigen schluchzen, während sich unten am Bach aus dem Schilf ein flatterndes Lied erhob, süß wie der Klang der Bambusflöte, die sich der kleine braune Ben geschnitzt hatte. Und sieh doch, wie ich tanze! Roxanes Blick fiel auf die weißen Mauern von Dieu Donné, wo an dem geschnitzten Mittelgiebel über der Fensterrosette das Laub einen Schattentanz vollführte. Wie Elefantenohren lagen die gegitterten Tiekholzläden neben den Fenstern. Vor
der großen Veranda, in der dichten Einfassung von blauen Hortensien flüsterte und raunte es. Auf den weißen Mauern des Kellers, der im rechten Winkel an das Haus angebaut war, sah man den gleichen bizarren Tanz der Blätterschatten. Roxane kam ein wenig näher, ihm zuzusehen – aber nicht zu nahe, weil sie sich, ehrlich gesagt, vor dem Keller fürchtete.
In dem Augenblick sah sie Merle. Merle war Großmutter Constances Enkeltochter, die Letzte der de Valois und Erbin von Dieu Donné. Ihr Vater, Dirk de Valois, war in Nordafrika gefallen. Eines Tages würde dies alles hier Merle gehören: das Haus, der Keller, die Ländereien – und wenn Merle wollte, sogar Tinus. Aber Tinus wollte Merle nicht. Sie war immer gemein zu ihm. Ein fremder Wagen neben dem Keller verriet Roxane, daß Merle Leute herumgeführt hatte. Oft kam jemand nach Dieu Donné, um das Gut zu besichtigen, vor allem während der Weinkelterzeit. Doch Merle haßte es, jemand herumführen zu müssen. - Wenn ich den Fremdenführer spielen soll, muß ich auch da für bezahlt werden, beschwerte sie sich oft. Merle tat nichts gern umsonst. Gräßlich, immer dasselbe herunterzuleiern – Gewiß, Frau Snooks, Dieu Donné ist um siebzehnhundert erbaut worden, bald nachdem Gouverneur van der Stel die ersten Reben in Constantia angepflanzt hatte. Er übertrug das Land urkundlich seinem Freund Pierre de Valois, einem hugenottischen Winzer aus dem Rhonetal. Seitdem sitzen die de Valois ununterbrochen auf diesem Gut. Die Besucher kamen mit Merle aus dem Keller, und ein farbiger Boy stellte ihnen ein Fäßchen Wein in den Wagen. Als sie wegfuhren, stand Merle lächelnd da. Ihr goldenes Haar
leuchtete, und der Wind zeichnete die weichen Linien ihres Körpers unter dem dünnen Kleid. Aber Roxane wußte, daß das Lächeln nur auf ihrem Mund und nicht in den Augen stand, denn ihre Augen waren harte blaue Murmeln, und Murmeln lächeln nicht. Merle entdeckte Roxane. - Komm mal her, du! rief sie herrisch. Wenn eine Sechzehnjährige ruft, gehorcht eine Elfjährige. - Ja, sagte Roxane, hielt sich aber von der Kellertür fern. Sie roch den gärenden Saft, widerwärtig und sauer, und trotz dem Wind hörte sie das Gurgeln und Sprudeln in den riesigen Gärbottichen und das Platschen der Kelter, in deren klaffendes Maul die Boys über eine Rutschbahn die Trauben schaufelten. Um diese Jahreszeit lebte der Keller ein gieriges Eigenleben. Er wurde zum Hexenkessel. - Das ist der Rote, sagte Merle. Sie haben mit dem Constantia-Rotwein begonnen. Sie schob das Kind hinein in das säuerliche Dunkel, und Roxane stand mit starren Augen da. In die Kelter fielen die dicken blauen Trauben – kleine dünne Skelette wurden ausgespien, während die Kelter Blut und Fleisch zu Maische stampfte – Ströme von Blut liefen durch die Rinnen… - Nein! Nein! Sie schlug die Hände vor die Augen und rannte in den hellen stürmischen Tag hinaus, während Merles Lachen ihr folgte. - Angsthase! Das ist doch nur die Hefe in den Bottichen, die alles zum Schäumen und Gurgeln bringt! Doch Roxane wollte nichts hören. Vor den Bottichen fürchtete sie sich noch mehr als vor der Kelter. Wenn man in einen Bottich zwischen die Dopjes – die Beerenhäute – fiel, war man tot – sofort –, und Merle hatte ihr gedroht, sie hineinzuwerfen, wenn sie unartig war.
Sogar die ungeheuren Eichenfässer waren Gräber von Menschen. Roxane hatte gesehen, wie die Boys durch die Falltüren in die leeren Fässer gekrochen waren, um sie zu säubern und zu schwefeln, und Merle hatte gesagt: - Wenn ein Boy zu früh hineinklettert, kann er an den Dämpfen sterben! Das stimmte. Vor zweihundert Jahren war ein Sklave auf diese Weise ums Leben gekommen. Sein Geist ging noch im Keller um. Wenn Dieu Donné in Gefahr war, ließ er sich blicken, und die Farbigen jammerten, der Spuk sei gekommen: De Spuk! De Spuk! Hei is gekom! - He, Roxie, warum so eilig? Es war wieder Tinus, der in den Keller ging, Wolf neben ihm her. Doch jetzt sprang der Hund um das Kind. Roxane blieb stehen und sagte mit ihrer erwachsenen Stimme: - Der Rote! Sie haben mit dem Rotwein angefangen! Gut, sagte Tinus und schlenderte zum Keller weiter und zu seiner Kusine Merle. Ganz plötzlich hatte der Wind sich gelegt, und Roxane sah Merle in einem schrägen Strahl des Abendlichts mit dem goldenen Schein um den Kopf und dem hauchdünnen Kleid dort stehen. Tinus legte seine Hand unter ihren Ellbogen, um sie herumzudrehen, doch sie schüttelte sie ab und stampfte vor Wut mit dem Fuß. - Nimm deine ekelhafte Klaue weg! Es war tatsächlich eine Klaue. Nur zwei Finger und ein Daumen. Tinus hatte ein Auge und die beiden Finger seiner linken Hand irgendwo im Gebirge von Abessinien verloren. Langsam ging Roxane um das Haus herum. Die beiden Seitengiebel umgaben es wie die Flügel den warmen Körper eines Vogels, und das tief herabgezogene Dach war dunkel wie Großmutters beste Tafeltrauben.
Vor der Küchentür sammelte ein kleiner farbiger Junge Eicheln in einen Sack, den er hinter sich durch den Staub schleifte. - Was machst du, Ben? - Eicheln sammeln. Ich will sie Baas Tinus verkaufen. Er hatte dünne Beine und braune Arme. Der Wind spielte mit seinem dichten blauschwarzen Haar, blies es ihm in die Augen und wieder zurück. Seine Augen waren ungeheuer – feucht, schwarz und schimmernd wie der Körper einer Robbe auf bläulichweißem Sand. - Was willst du dir von dem Geld kaufen? - Wenn ich genug gespart habe, eine Gitarre. - Aber ich mag deine Bambusflöte auch gern. - Eine Gitarre ist besser – er kauft sich eine Gitarre, und dann spielt er, und wir tanzen immer. Saartje, das Kind, das bei Bens Mutter Lizzi lebte, war unversehens aufgetaucht. Saartje tauchte immer unversehens auf und verschwand ebenso. Es war die reinste Zauberei. Jetzt fing sie an, mit den Füßen im Staube zu stampfen und sich zu drehen. Ihr Hinterteilchen und die Arme schlängelten sich wie im Veitstanz. Ein kleines wildgewordenes Ding! Und Ben ließ seinen Eichelsack fallen, griff ihre Hände, und sie sprangen herum und schrien, lachten und sangen. Der Junge war dunkel wie die frischgeölten Tiekholztüren von Dieu Donné und Saartje hell wie Milchkaffee. Bens Nase und Mund waren breit und lustig und Saartjes klein wie Knöpfe. Aber ihre Augen waren gleich – nein, doch nicht wie nasse Robben, sondern wie feuchte schwarze Lakritze, die – weder bitter noch süß – einen Geschmack hat, den man nicht beschreiben noch vergessen kann. Roxane hätte gern mit ihnen getanzt. Aber Merle würde böse werden. Merle sagte: - Man soll nicht mit Niggern spielen. Aber wenn man’s schon muß – rührt man sie nicht an! Das Braune färbt ab! Das war
gelogen, gelogen war das! Es färbte nicht ab! Sie sang mit ihnen: - Hier kom de Alabama – de Ala-baa-maa… Und sie zog Wolf hoch, daß er auf den Hinterläufen stand, packte seine Vorderpfoten und tanzte mit ihm. Mit kleinen Niggern durfte man nicht tanzen, aber mit einem Hund ja… Die beiden farbigen Kinder begannen, spielerisch miteinander zu kämpfen – eins legte dem anderen die Hände auf die Schultern, dann stießen sie mit den Köpfen zusammen wie kleine Ziegenböcke. - Miß Roxie, Zeit zum Abendbrot! Lizzi stand hinter der Küchentür und rief durch die Fliegengaze. Sie war selbst fliegenhaft klein und flink und ihr krauses Haar wie Pfeffer und Salz. Roxane meinte, Lizzi sei Großmutter Constances Schatten – ein Schatten, der sich losgelöst hatte und nun sein eigenes Leben in Großmutter Constances Küche lebte. Doch er war recht handfest, dieser Schatten; geschmeidig wie ein Schambock, konnte Lizzi hart und unversehens zuschlagen. Josua, ihr Mann, und Saartje, ihre Nichte, rissen aus wie Schafleder, wenn Lizzi wütend wurde. Sogar die weißen Mitglieder des Haushalts gingen ihr dann aus dem Wege. Nur Ben machte sich nichts daraus; er war ihr Spätgeborener, und ihm sah sie alles nach. - Du verwöhnst ihn, hatte Großmutter Constance oft zu ihr gesagt. Und Lizzi hatte gelächelt und erwidert: - Meine Oumissus hat Master Dirk auch verwöhnt – aus demselben Grund. Ich und meine Oumissus, wir haben unsere Söhne zu spät geboren. - Zu spät und zu wenige, Lizzi. Unsere einzigen Söhne. Und meiner liegt tot in der Wüste. Für Dieu Donné ist nur seine Tochter geblieben – niemand sonst, nur Miß Merle… Und
dann tröstete Lizzi, wenn sie nicht gerade schlechter Laune war, voller Mitgefühl ihre Oumissus. - Miß Merle wird heiraten und uns Kinder für Duu Don schenken – wenn der liebe Gott es will. Den Herrn ließ Lizzi bei ihren Spekulationen nie aus dem Spiel, dazu hatte er sie allzuoft überrascht. Doch ihr Herz grämte sich um die Oumissus. Sie traute Merle nicht, sie war ihrer Ma zu ähnlich, und die war hart und kalt wie ein Eisschrank. Jetzt stand sie da, die Hände in die Hüften gestemmt, und beobachtete die umhertollenden Kinder. - Miß Roxie! rief sie wieder. Zeit zum Abendbrot! - Was gibt’s zum Abendbrot, Lizzi? Roxane stieß die Tür mit der Fliegengaze auf und schnupperte – den Hund auf den Fersen – in die Küche hinein. Der Hund schnupperte auch. - Eier und Rote Grütze von Maulbeeren. - Was für Eier? - Rühreier. - Au fein! Rührei und Rote Grütze mag ich gern. In einer weißen Schüssel lagen ein paar übriggebliebene Maulbeeren. Roxane nahm eine, aß sie und leckte den dunkelroten Saft von den Fingern. - Pasop! warnte Lizzi. Macht Flecke. Die beiden braunen Kinder hatten sich ebenfalls in die Küche gestohlen. Ihre Augen glänzten vor Gier und Übermut, als sie, so rasch es nur ging, ein paar Früchte in den Mund steckten. - Raus mit euch, raus! schalt Lizzi böse; plötzlich hatte sie sie alle satt. Voetsack, Hund! Voetsack, ihr kleinen braunen Skelme! Raus mit dir, Miß Roxie, und wasch dich: Lizzi hat zu tun. Sie sprangen hinaus in den Wind – die braunen Kinder zurück zu ihren Eicheln, während Roxane ums Haus zum
vorderen Eingang rannte. Dort stand Großmutter Constance oben auf der Freitreppe – stämmig und fest wie eine Statue der Queen Victoria, das weiße Haar unter dem Netz glatt an den Kopf gebürstet. Ihre Stimme klang kurz und abgehackt, als sie rief: - Mach dich fertig, Roxane! Es wird gleich gegessen. Doch das Kind blieb still stehen. Das war der Anfang. Immer war das der Anfang: Mach dich fertig, es wird gleich gegessen! Nach dem Abendbrot kam das Dunkel. Sie trödelte, suchte das letzte Gold am Himmel über dem Paß zur Waldbucht und betete tief im Innern: Laß bitte die Nacht nicht kommen! Nur dies eine Mal laß bitte die Nacht nicht kommen! Denn seit Merle ihr das Entsetzliche von Maman erzählt hatte, war die Nacht eine Schlange, die einem in die Brust kroch. Würgend und kalt wand sie sich, Windung um Windung, hinab in den Magen, hinauf in die Kehle, und züngelte giftig nach den Augen. Nacht war das Gebet, das nie erfüllt wurde. Selbst die Heilige Mutter in der Nische über dem Bett, in dem Kleid aus sternbesetztem Blau, das Kind in den Armen, konnte einen nur liebevoll und mit leidig anblicken und das sanfte Haupt schütteln. - Heilige Mutter Jesu, laß es nicht wahr sein! Mach, daß sie Maman nicht getötet haben! Mach, daß sie keine Spionin war, daß die Deutschen sie nicht gefangen und ermordet haben! Laß mich aufwachen und wissen, daß es nicht wahr ist! Heilige Mutter, laß mich aufwachen… Die Schmerzen waren größer als man selber. Es war die Schlange, die sich streckte – bis zum Hals hinauf und durch den ganzen Körper, während man sich in das Kissen preßte, das doch nicht Maman war. Und dann rief ein Schluchzen Lizzi aus der Küche herauf. - Mach, daß sie nicht getötet worden ist… Lizzi, Lizzi, mach, daß es nicht wahr ist!
Erstickte Worte und heftiges Weinen. Dann sprach Lizzi, und ihre Stimme war nicht mehr schrill, während sie sie im Arm hielt. - Deine Mammi ist ein Stern, Miß Roxie – oben in de Himmel. Sie ist ein Stern wie dort auf dem Kleid von Jungfrau Maria… Das heiße, nasse Gesicht und die geschwollenen Augen preßten sich an Lizzis Brust. Die braune Hand streichelte ihre Schulter, während ganz allmählich, Windung um Windung, die Schlange davonglitt und sich in der Nacht auflöste… Die Jungfrau im gestirnten Gewand beugte sich über sie und strich ihr übers Haar. - Schlaf nu, schlaf, Kin’, sagte sie. Und ihre Stimme war wie die von Lizzi, und ihre Hand war braun. Aber sie färbte nicht ab.
Zweites Kapitel DIE HOCHZEIT
In Dieu Donné sollte Hochzeit sein. Roxanes Augen bettelten: Merle, nimm mich als Brautjungfer, bitte, Merle, bitte! Roxane zählte fünfzehn, ihre Beine waren lang und schmal, und die kleinen Brüste stießen gegen die Bluse. Mit dem sonnenverbrannten Gesicht und dem schwarzen Haar war sie dunkel wie eine Zigeunerin. - Ich will eine blonde Hochzeit! sagte Merle. Nur Blonde! Und damit war Roxane ausgeschlossen. Großmutter Constance hielt nicht hinterm Berg mit ihrer Ansicht. - Blonde Zaunlatten – Alberei! Du solltest Roxane nehmen! - Die Braut hat doch wohl das Recht, sich die Brautjungfern selbst auszusuchen! - Herzloses Ding! Du spielst Katze und Maus mit dem Kind. Das hast du immer getan – der Himmel mag wissen, warum. Doch Merle warf nur die Locken zurück und lachte in ihrer unbekümmerten Art. Sie suchte sich zwei Brautjungfern in ihrem Alter und zwei Mädchen zum Blumenstreuen unter Roxanes Freundinnen. - Und Aletta Krikes Jantje soll die Schleppe tragen, sagte sie. - Ein Vierjähriger! Das kann schiefgehen, erwiderte Großmutter Constance. - Mit Jungen geht- es in jedem Alter schief – aber Jantje Krike sieht wenigstens aus wie ein vom Himmel gefallener Engel!
Miriam, die malaiische Schneiderin, kam jeden Tag mit zwei Gehilfinnen, schnitt zu, nähte und probierte an. Und Lizzi murrte: - Mit diesen Malaien, das is eine Plage! Die könn dies nich essen un das nich, bloß weil sie Moslems sin. Wär viel besser, Miriam kommt in Ramadan, wenn se fasten! Miriam hatte ein fremdes östliches Gesicht, trug dünne alpenveilchenfarbene Kopftücher über dem schwarzen Haar, benutzte petunienroten Lippenstift für den üppigen Mund und Antimonschwarz für die Augenlider. Ihre Finger waren flink, denn sie stammte aus einer Familie von Schneidern und Näherinnen. Es war November, der blaue Monat, da die Jakarandabäume, die Hortensien und Agapanthuslilien ihren blauvioletten Zauber über die Gärten am Kap warfen – es sollte eine blaue Hochzeit werden. Nur Merle, die Braut, würde Schneeweiß tragen. Das Tal feierte gern Hochzeit. Überall pulsierte lebendiges Interesse, und beim Tee oder Cocktail wurden die Köpfe zusammengesteckt. - Kennen Sie Guy Masterson, den Bräutigam? - Ein hochbegabter junger Architekt – aber einer von diesen ganz modernen… - Großmutter Constance hat Merle fünf Morgen Land auf Dieu Donné als Hochzeitsgeschenk übereignet, und Guy hat dort ein reizendes Häuschen gebaut, aber nicht ein bißchen modern. - Das hat die alte Dame so verlangt. Das Haus muß zum Charakter des Tales passen, sagte sie. - Das ist ihr gutes Recht. Schließlich hat sie ja die gesamten Baukosten bezahlt. Der Chor von Constantia summte überall. Man – das große anonyme Man – wußte alles.
- Haben Sie’s schon gehört, meine Liebe? In Dieu Donné soll wieder neues Leben einziehen! Das Klirren einer hingestellten Tasse, der Ton eines gespannten Atemzuges. - Großmutter Constance verlangt, daß Merle den Familiennamen de Valois weiterführt. Doch Merle hat den Kopf zurückgeworfen und gesagt: Mir genügt Masterson. Und die alte Dame wieder: Für dich mag’s genügen, aber nicht für Dieu Donné! - Ja, das ist ihre fixe Idee. Dieu Donné und de Valois darf kein Mann auseinanderbringen. - Natürlich, meine Liebe, natürlich nicht. Als sie Stephanus Vos heiratete, mußte der den Namen de Valois annehmen und den Hut in ihrer Diele aufhängen! Seine Konfession hat er auch gewechselt. Die Familie Vos ist holländisch-reformiert, doch als Stephanus Constance de Valois auf Dieu Donné heiratete, trat er zur anglikanischen Religion über, damit’s zu ihrem Gesangbuch paßte. - … und verschrieb sich Dieu Donné mit Leib und Seele! - Aber er hat sie geliebt. Das kann niemand bestreiten. - Königin Victoria liebte den Prinzgemahl auch – aber sie blieb dennoch Königin! Das stimmte: Großmutter Constance und ihren Mann verband eine tiefe Neigung, doch ihrer Ehe war nur ein einziges Kind entsprossen – Merles Vater, Dirk Vos de Valois, der im zweiten Weltkrieg fiel. Und Merles Mutter, die hübsche, impertinente Bella (geborene van der Walt, auch aus dem Tal), hatte rasch wieder geheiratet. Man sagte, sie habe Dirk wegen des Gutes Dieu Donné genommen und Solly Caine aus Johannesburg wegen seines Geldes. Liebe? Aber nein! Die van der Walts, hieß es, wußten genau zwischen Liebe und Ehe zu unterscheiden. Die Zungen waren spitz und scharf.
Am Tage vor der Hochzeit kamen Merles Mutter und Stiefvater von Johannesburg. Roxane sah den alten Josua im langen weißen Chauffeurmantel und der Schirmmütze mit dem großen Wagen warten. Sein Kraushaar war grau, aber sein Gesicht glatt und vollmondrund, und wenn Lizzi, seine Frau, ihn schlug, wie er es immer wieder beschwor, so konnte man an seinem Umfang doch sehen, daß sie ihn aus Großmutter Constances Speisekammer auch gut verpflegte. - Ich warte auf Miß Merle, sagte er. Wir fahr nach Kapstadt und hol Miß Merles Mammi un de Baas von Joburg. Wir kenn ja diesen Baas von Joburg nich, Miß Roxie, aber eins weiß ich genau: Miß Bella hat’n geheiratet, noch ehe Baas Dirk Zeit hatte, in seinem Wüstengrab kalt zu werden. Kommen mit dem Blauen Zug. Es lohnte, diesen Zug kennenzulernen: Für teures Geld brachte er die Reisenden von der Goldenen Stadt zum Veld herunter, durch die Gebirge zum Meer – sechzehnhundert Kilometer in einem Tag und einer Nacht! Der Blaue Zug zur blauen Hochzeit! Roxane schluckte den Kummer und das Gefühl der Überflüssigkeit hinunter, die ihr die letzten Tage so oft in der Kehle saßen. All diese wogenden Bahnen nebelblauen Organzas im Nähzimmer, wo die Malaiin Miriam die letzte Hand an die Kleider für die Braut und ihr Gefolge legte – nur für Roxane nicht. Seit Dirk gefallen war, hatte Merles Mutter Dieu Donné nicht wieder besucht. Elegant stieg sie aus dem Wagen und küßte irgendwo in der Nähe von Großmutter Constances welkem Gesicht die Luft. - Das ist also Roxane? sagte sie. Guten Tag, Roxane. Solly, komm, ich möchte dich Großmutter Constance vorstellen. Der Baas aus Joburg war dick und glänzend wie ein leckerer Rotbarsch. Er dampfte in der milden Novemberwärme, und Roxane war überzeugt, daß er immer so blank und glänzend wie ein Fisch sei und nie ganz trocken. Die Hand, die er
Großmutter Constance gab, war kalt und feucht, als er mit seiner weichen Stimme sagte: - Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. de Valois – und Dieu Donné zu sehen, das berühmte, unvergleichliche Juwel des Constantia-Tales. Er winkte mit seinen Flossen zum Tal und seinen Weinbergen hin, und seine freundlichen hervorquellenden Augen umfaßten den Rasen, die Gärten und das alte Haus in seinem Eichenhain. Wider Willen lächelte Großmutter Constance. - Das Haus ist zur Hochzeit neu gestrichen und die Türen und Fenster frisch geölt worden. Den Keller haben wir auch in Ordnung gebracht, ebenso das Häuschen nebenan, in dem mein Verwalter wohnt – Martinus Vos, der Neffe meines verstorbenen Mannes. - Es sieht alles sehr nett aus, sagte Merles Mutter, schaute aber überhaupt nicht hin. Meine Tasche, Solly – die kleine Tasche mit meiner Puderdose? - Die habe ich, sagte Merle. - Und der Hutkoffer? Den haben wir bestimmt auf dem Bahnsteig stehenlassen. - Hier ist er, Miß Bella. - Ach, danke, Josua. Es tut mir leid, daß ich dir soviel Mühe mache, Großmutter Constance, aber du weißt, wie vergeßlich ich bin. Immer verliere ich irgend etwas. Das Gesicht der alten Dame wurde hart! Ja, Bella, du hast meinen Sohn Dirk vergessen. Sehr rasch! Doch in ihre Gedanken klang Sollys Stimme. - Aber Bella verliert nie etwas, was nicht versichert ist. Nie! Er wandte sich zu Roxane. Und du bist sicher schrecklich aufgeregt wegen morgen, bestimmt erste Brautjungfer? Merles Mutter blieb auf der obersten Stufe stehen und legte zwei
Finger mit blutroten Nägeln an die Lippen. Roxane blickte zu Boden und schluckte. - N-nein – Merle wollte blonde Brautjungfern – nur blonde. - Nur blonde! Ah, das klingt wie ein Schönheitsmittel! Aber zeig mal her, was hast du denn da im Ohr? Er beugte sich ganz verblüfft zu ihr hinunter, und es raschelte leise, als er eine Pfundnote unter ihrem weichen dunklen Haar hervorzog. - Du hebst aber dein Geld an komischen Stellen auf! Roxane kicherte, doch Merles Mutter war nicht belustigt. - Wirft’s zum Fenster hinaus! sprach sie achselzuckend in die Luft. Holt’s aus den Wolken und wirft’s zum Fenster hinaus! - Sterne auch, bemerkte er gleichmütig, kleine blitzende Sterne – ein Vermögen wert. Zum Polterabend bereitete Lizzi ein wunderbares Diner. Guy Masterson saß da mit seinen raschen Bewegungen, dem roten Haar und dem ungläubigen Blick in den Augen; er schien vor Ungeduld zu zittern. Er sprach stoßweise, seine Worte hinkten immer hinter den beflügelten Gedanken her und vermochten sie nie einzuholen. Tinus saß Guy und Merle gegenüber und wünschte, daß er dieses eine Mal auf beiden Augen statt auf einem blind sei. Er liebte seine Kusine Merle, die schöner war als die Rosen auf dem runden polierten Tisch, strahlender als das Silber und berauschender als der Wein. Und heute abend schien sie, die immer so hart und selbstsicher war, bewegt und aufgeregt. Merles Mutter sagte: - Ach, übrigens, ich habe die Kriftis zur Hochzeit ein geladen. - Aber ich kann Mr. Krifti nicht leiden, erwiderte Großmutter Constance. Bella Caine zuckte die Achseln. - Seine Frau Louise ist meine Kusine, und wir sind oft mit ihnen zusammen gewesen, als sie noch in Johannesburg lebten. Außerdem wäre Tante Hanna van der Walt beleidigt, wenn du
ihre Tochter und deren Mann übergingst. Sie sind ja schließlich deine neuen Nachbarn, und man sollte gastfreundlich sein. Das waren zwei gutgezielte Hiebe, die Bella Großmutter Constance versetzte. Die alte Dame wurde kratzbürstig. Gastfreundschaft gehörte zu den Traditionen auf Dieu Donné, und Tante Hanna mochte sie auf eine etwas nörglige Art sehr gern. Beide waren Überlebende einer fast ausgestorbenen Generation. Aber Tante Hannas Schwiegersohn ging ihr trotzdem wider den Strich. Er hatte mit ihrem Tal der Reben nichts Gutes im Sinn. - Na schön, sagte sie schroff. Wenn du Louise mit ihrem merkwürdigen Mann eingeladen hast, dann ist es erledigt. Aber ich erinnere mich nicht, seinen Namen auf unserer Liste gesehen zu haben. Sie erhob sich, um die köstlich gebräunte Gans zu tranchieren, die Josua vor sie auf den Tisch stellte. Auf ihre Geschicklichkeit, Geflügel zu zerlegen, war sie fast ebenso stolz wie auf ihre Gastlichkeit. - Krifti hat in Johannesburg ein Vermögen mit Bodenspekulationen gemacht, sagte Solly Caine, während er sich von den jungen Erbsen auflegte. Hier wird er das gleiche versuchen, denkt an meine Worte. Für Dieu Donné würde er sicher einen Phantasiepreis zahlen. Er ist versessen darauf, hier in Constantia in einem echten, historischen Gutshaus zu wohnen. Das wäre für ihn der endgültige Beweis seines finanziellen, sozialen und kulturellen Erfolges, die Krone seiner prachtvollen Sammlung von Afrikana. Und ich glaube bestimmt, daß er versuchen wird, Sie um ein gutes Stück Ihres Grundbesitzes zu erleichtern. Merle stieß ein leicht hysterisches Kichern aus, als Großmutter Constance das Tranchierbesteck hinlegte. Das Gesicht der alten Dame hatte einen recht abweisenden
Ausdruck angenommen, und ihr Mund war schmal und verkniffen. - Ein Stück von Dieu Donné verkaufen? Es zerteilen wie diese Gans hier? Sie scheinen mich nicht zu kennen, Mr. Caine. - Um so schlimmer, sagte der tapfere Baas aus Joburg unerschrocken. Bella Caine warf ihrem Mann einen ärgerlichen Blick zu. Das sah ihm wieder ähnlich; immer trat er ins Fettnäpfchen! Manchmal glaubte sie, er tue das aus purer Bosheit. Geschickt wechselte sie das Thema, ehe sie, wie so oft an diesem Abend, ihren porzellanblauen Augen erlaubte, zu Roxanes jungem sensiblem Gesicht zurückzukehren. - Irgend jemand sieht das Kind ähnlich, sagte sie. Ich muß die ganze Zeit darüber nachdenken. Mir liegt der Name auf der Zunge, aber er fällt mir nicht ein. Wo habe ich sie nur schon mal gesehen, Großmutter Constance? Die Welt ist voller Ähnlichkeiten. Großmutter Constances Ton war trocken wie Papier. Die Königin Victoria und ich zum Beispiel. Guy betrachtete Roxane mit neu erwachtem Interesse. Er sah sie jetzt eigentlich zum erstenmal wirklich. - Sie ist dem Porträt von Sarah de Valois in der Diele nicht unähnlich. Beide haben sie den gleichen durchsichtigen Teint. Doch wenn ich genauer hinsehe, erinnert sie mich an eine Madonna der italienischen Renaissance… Merle lachte. - Guy hat immer Italien im Kopf! Und dauernd entdeckt er irgend etwas, was ihn an Italien erinnert. Seit die italienischen Bauern ihn nach seiner Flucht während des Krieges versteckt hielten, ist er auf Italien versessen.
- Das war gerade während der Weinlese, erwiderte Guy. Sechs Wochen hab ich nur von Trauben und Tomaten gelebt! Großmutter Constance lächelte ihm freundlich zu. - Trauben haben einen hohen Nährwert. - Und Reis! sagte Solly. Wenn man an die Millionen in China denkt, die ausschließlich von Reis leben… Reis! dachte Roxane – morgen werfen wir Konfetti und Reis. Wenn ich doch nur Brautjungfer hätte sein dürfen! Vielleicht geschieht ein Wunder! Es gibt Wunder! Großmutter Constance sprach gerade das Tischgebet, als das Telephon läutete. Josua kam herein und rief Miß Merle. Es war ein ganz abgeklappertes und verspätetes kleines Wunder. Aber es erfüllte seinen Zweck. Eine der Brautjungfern hatte Mumps.
- Wird’s so gehen, Großmutter Constance? Die alte Dame setzte einen grauen Seidenstrohhut gerade auf das glatte Haar und wandte sich von dem alternden Bild in dem altmodischen Frisierspiegel zu der kleinen blauen Wolke, die in ihr Schlafzimmer getanzt kam. - Augenblick! Wo ist denn mein Lorgnon wieder geblieben? Die Wolke wurde sichtbar – reizend und jung. Fünfzehn! Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten drangen in Großmutter Constances Herz wie kleine Dornen, die winzige Blutstropfen hervorrufen. Mit Fünfzehn besitzt man noch gar keinen Panzer. - Miriam hat’s enger gemacht, aber nur geheftet, damit’s für Marigold leicht wieder ausgelassen werden kann. - Reizend! Marigold hätte wie ein Klotz drin ausgesehen. Roxanes blaue Schuhe kreiselten über die Gelbholzdielen. Sie war so glücklich in ihrem ersten langen Kleid, wenn es auch nur für diesen einen Tag geliehen war. Sie fühlte sich leicht wie ein Vogel.
Von allen Seiten der Kaphalbinsel strömten die Wagen ins Tal. Von der Waldbucht kamen sie herüber und von der Blinden Bucht. Von Kapstadt folgten sie einander in langer Reihe über die prachtvolle Kurve der Tafelbucht, vorbei an den Springböcken und Wildebeesten, die im Naturschutzpark an der Teufelsspitze grasten. Sie fuhren durch die südlichen Vorstädte von Wynberg, wo die Wagen aus Simonstown und Muizenberg zu ihnen stießen. Die Verkehrspolizisten waren an der Ecke, wo die Landstraße sich gabelt und in die grünen Rebengelände führt, auf dem Posten. In ihren Uniformen sahen sie sehr militärisch aus, doch heute lächelten sie freundlich. Heute kamen sie nicht mit Stoppuhren auf ihren Motorrädern herangebraust und sagten: Aber Sie müssen doch wissen, daß die Höchstgeschwindigkeit auf der Kaphalbinsel fünfundvierzig Kilometer beträgt. Name und Anschrift, bitte? Dieu Donné stand am Eingang des Tales, um seine Gäste zu empfangen. Weiß leuchtete es unter dem jungen Laub der Eichen, und wie eine Brautschleppe breiteten sich die Rebenhänge zu seinen Füßen. Aber heute arbeitete niemand an den grünen buschigen Reben. Die Leute auf Dieu Donné hatten Feiertag – und dazu noch eine Gratifikation erhalten. Es schien weniger Merles Hochzeit als die von ganz Dieu Donné zu sein. Und man würde die Kinder, die danach geboren wurden, dazu anhalten, ihrer Erbschaft Ehre zu machen. Die Farbigen trugen ihre Sonntagskleider; die kleinen Jungen mit Krawatten, Mützen und Schuhen, die Mädchen in buntgestreiften Kleidern und Rüschenhüten. Und als Braut und Bräutigam die steinerne Kirche zwischen den Kiefern verließen, um zum Empfang nach Haus zu fahren, winkten all die braunen Hände, und lärmend riefen die Stimmen ihnen nach: - Viel Glück und Gottes Segen!
Dann standen Merle und Guy in Dieu Donné auf dem Rasen zwischen Wohnhaus und Keller, und alle zogen vorüber und flüsterten Glückwünsche, die das Brautpaar kaum hörte. - Sieht er nicht wirklich aus wie ein Engel, der kleine Schleppenträger? lächelten die Damen einander zu. Doch der Engel langweilte sich bald und machte sich auf und davon. Roxane sah ihn unter den Teetischen Verstecken spielen, bis – krach! – ein Damasttuch heruntergezogen und ein kleiner Junge unter belegten Broten, Kuchen, Konfekt, Porzellan, Glas und Silber begraben war. Der Schäferhund Wolf durchschnüffelte die Trümmer und zerrte das weinen de Kind an seinem blauseidenen Hosenboden hervor. - Natürlich Jantje! rief Aletta Krike und verabreichte ihrem Sohn mehr aus Gewohnheit als aus Entrüstung ein paar Klapse. Immer, wenn es Ärger gibt, ist Jantje schuld! Der große Hund fraß belegte Brote, und Roxane sagte zu dem Schleppenträger: - Hör auf zu weinen und guck zu! Die Braut will gerade die Hochzeitstorte anschneiden. Merle schnitt also die Torte mit ihrer Dekoration aus Marzipantrauben und winzigen Hochzeitsglocken an. - Kleine Sklavenglocken, murmelte Solly Caine mit einem Blick auf die große bronzene Sklavenglocke, die draußen in dem hohen weißen Bogen hing. Dann sprach Guy in seiner hastigen, fast stotternden Art: - Meine Frau und ich danken euch allen – wie habe ich es mir gewünscht, sagen zu können: meine Frau und ich…! Gläser wurden ins Licht der Sonne gehoben. - Auf Guy und Merle! - Der Sekt ist wunderbar! Die alte Tante Hanna van der Walt leckte sich die Lippen. Ich nehme noch ein Glas. - Ich auch, sagte Mr. Krifti. Tante Hanna fragte sich manchmal, wie ihre Tochter Louise dazu gekommen war, Mr. Krifti zu heiraten. Er war ein
merkwürdiger Kerl. Aber schließlich war er sehr reich, und Louise besaß wie ihre Kusine Bella den angemessenen Respekt vor dem Wert des Geldes. Louise sagte gern, die van der Walts seien zwar voller Stolz, doch ihre Börse sei immer leer. So waren Mr. Krifti und Mr. Caine in die Familie aufgenommen worden, um diese Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Warum auch nicht? Tante Hanna blickte auf ihr geblümtes Chiffonkleid, das sie in den letzten zehn Jahren bei jeder Hochzeit getragen hatte. Es war nicht mehr viel Staat damit zu machen, ebensowenig wie mit der schäbigen Pelzstola, die im ganzen Tal als ,Tante Hannas alte Katze’ bekannt war. Das einzige, was sie sich hin und wieder leistete, war ein neuer Hut! Sie warf den schneeweißen Kopf zurück, so daß sich die lockere Haut an ihrem Hals in Falten legte und die Federn ihres riesigen Hutes sich schamrot sträubten. Mr. Kriftis blasses, kummervolles Gesicht machte den Eindruck, als sei der Allmächtige sehr verschwenderisch mit der Haut und recht knauserig mit dem Blut umgegangen, als Er die Züge dieses Seines Geschöpfes formte. Doch in dem schwarzen Rock mit den gestreiften Hosen fand Tante Hanna ihren Schwiegersohn ziemlich elegant. Man konnte ihn fälschlich vielleicht für einen hervorragenden Chirurgen oder einen überaus vornehmen Beerdigungsunternehmer halten. In Wirklichkeit hieß es jedoch, er sei Finanzier, und sie hatte ihm kürzlich einen beträchtlichen Teil des Grundbesitzes der van der Walts verkauft. Im Tal verkauften die Leute dauernd Stücke ihres Bodens an Verwandte, so daß sich allenthalben in Constantia Sippen zusammenfanden. Neben ihrem Mann saß Louise, die alle angebotenen Leckerbissen ablehnte. - Fürchtest du für deine Figur? fragte ihre Mutter, während sie sich selbst ein Sahneröllchen auflegte.
- Ja, Mutter, erwiderte Louise und dachte dabei: Wenn sie das noch mal sagt, werfe ich ihr ein Brötchen an den Kopf! Tatsächlich bot Louise Krifti in ihrem modischen Kleid und den funkelnden Juwelen ein angenehmes Bild. Tante Hanna meinte, es werde ihr schon gelingen, Krifti in die Gesellschaft des Tales ,hineinzulancieren’. Ganz ohne Zweifel! Bei ihrer Herkunft und dem Vermögen ihres Mannes, dem schönen Haus und der unfehlbaren Köchin dürfte es ihr nicht schwerfallen. Sie hörte die merkwürdig erstickte Stimme ihres Schwiegersohnes, die klang, als sei ihm die Zunge beim Reden im Weg – sie schien, genau wie die Haut seines faltigen Gesichts, zu reichlich bemessen. - Ich würde Mrs. de Valois gar zu gern ein Angebot für ihr Gut machen. Dieu Donné würde Louise und mir außerordentlich zusagen. Großmutter Constance ein Angebot für ihr Dieu Donné machen! Sogar Louise, die es sich längst abgewöhnt hatte, über irgend etwas, was ihr Mann tat oder sagte, überrascht zu sein, hob die Augenbrauen. Die alte Tante Hanna schüttelte sich vor Lachen; die Federn ihres Hutes sträubten sich. - Mein lieber Krifti, die Vorstellung allein ist schon blasphemisch! Sie kennen unser Tal nicht – und ebensowenig seine Doyenne! Er hatte einen Rosenkranz aus Bernsteinperlen hervorgezogen und ließ ihn zärtlich durch seine kleine orientalische Hand gleiten – eine seiner seltsamen Gewohnheiten. - Warten wir ab, sagte er. Wir werden sehen.
Die Pressephotographen schoben sich zwischen den Tischen dahin, machten Bilder und Notizen.
- Dort drüben! sagte eine der Gesellschaftsreporterinnen zum Photographen. Knipsen Sie doch mal diese Gruppe, wenn’s geht! Das ist der berühmte englische Schriftsteller Adrian Fairmead mit seiner Frau und seinem Sohn. Sie sind bei den Eltern des Bräutigams zu Besuch und wollen sich, wie es heißt, im Kapland niederlassen. Die Reporterin drängte sich zu dem schlanken Schriftsteller durch. Er geht ziemlich steif, dachte sie – wie ein Kranich. Sie gehörte zu seinen glühendsten Bewunderern. - Dürfen wir hoffen, begann sie, daß Sie ganz hierherziehen? - Das ist schon möglich, erwiderte er mit einem fast sardonischen Lächeln. Aber ich werde kein Buch schreiben, das Afrikas Probleme löst – falls Sie das wissen wollten. - Dann sind Sie die einzige Ausnahme, lachte das Mädchen. Jeder schreibt Bücher über Afrika. Seine Frau trat heran. Direkt aus der Vogue, stellte die Reporterin fest. Etwa vierzig, intellektuell, mit einem anziehenden Gesicht und angriffslustigen Augen. Und diese. Figur! Hüften wie ein junges Mädchen! Und der Sohn, ein junger idealistischer Bursche mit den aggressiven Augen seiner Mutter; doch wenn ihre müde wirkten, so waren seine heiter und voller Erwartungen an das Leben. - Ja, sagte Mrs. Fairmead auf eine Frage der Reporterin. Morgen fahren wir nach England. Zu schade. Ich bin verliebt in das Kapland – es bezaubert mich… Ja, unser Sohn Hallam fährt mit uns auf dem gleichen Schiff, aber nicht in der gleichen Klasse – dieser Snob! Er besteht darauf, zweiter Klasse zu reisen – so ungesellig. Ihre Stimme war sehr eng lisch, laut und überbetont klar, als spräche sie auf der Bühne. - Ich vermute, Sie müssen Ihren Militärdienst ableisten? wandte sich die Reporterin an Hallam. - Ja, bestätigte der junge Mann kurz. Es war ihm unangenehm, mit Fremden über sich zu reden, obwohl er
zugeben mußte, daß das Fräulein ,Nachrichten aus der Gesellschaft’ hübsch und vergnügt aussah, wenn sie sich nicht gerade allzu geschäftsmäßig gab. - Und dann? drängte sie. Wollen Sie Schriftsteller werden wie Ihr Herr Vater? Er lachte zu ihr hinunter. - Mein Vater ist ein bedeutender Schriftsteller! Aber viel leicht bringe ich’s wenigstens im Journalismus zu etwas. Ich würde gern Kriegsberichterstatter werden. Mrs. Fairmead trat wieder zu ihnen. - Das glückliche Paar ist hineingegangen und zieht sich um. Eine reizende Braut, aber das ist ja typisch: Alle Bräute sind reizend. Und der Engel, der die Schleppe getragen hat, ein wahrer Cherub! - Ich fürchte, Ihr Cherub wird sich jeden Augenblick über geben, sagte die Reporterin. Er hat alles durcheinander gefuttert, was ihm unter die Finger kam, und als ich ihn zum letztenmal sah, kippte er gerade den Sekt seiner Mutter hinunter! Ein paar Sekunden später beobachtete Hallam Fairmead, wie sich die kleine dunkle Brautjungfer über den ,Cherub’ beugte, der merkwürdig grün aussah. Er wandte sich von seinen Eltern und dem Fräulein ,Nachrichten aus der Gesellschaft’ ab und trat in den Schatten der großen Eiche, wo das junge Mädchen, den Arm um den Vierjährigen gelegt, stand. - Kann ich helfen? Sie blickte überrascht auf und erkannte Hallam Fairmead; er war ihr zwar nicht vorgestellt worden, aber das Erscheinen des bekannten Schriftstellers, seiner Frau und seines Sohnes hatte genug Aufsehen erregt und war zum Gesprächsthema der andern Gäste geworden.
- Ach, ja, bitte! Würden Sie ihn vielleicht hineintragen? Ich wage’s nicht, weil er sich vielleicht übergibt und mein Kleid nur geliehen ist… - Und auf meinen Anzug kommt’s nicht an, lachte er, während er das Kind vorsichtig aufhob. Nun laß mal den Mund die nächste Minute zu, Kerlchen! Roxane führte ihn rasch die breiten Steinstufen in das kühle alte Haus hinauf, durch die hohe Diele, in der es nach Bienenwachs und Lavendel roch, und durch ein Schlafzimmer ins Bad. - Na also! sagte Hallam und hielt den Kopf des ,Cherubs’ dorthin, wo er keinen Schaden anrichten konnte. Jantje Krike verlor keine Zeit. - Die Reporterin hatte recht, grinste Hal dabei. Er hat gefuttert, was er konnte, und es mit Sekt runtergespült. - Sekt! Jantje? - Die Reporterin hat ihn dabei erwischt, als er aus dem Glas seiner Mutter pichelte, und ich möchte wetten, daß er das Glas seines Vaters auch nicht hat stehenlassen. Roxane wusch Jantje das Engelsgesicht mit dem Schwamm, und Hallam trug ihn in ihr Zimmer und legte ihn dort aufs Bett. - Wenn’s auch warm ist, sagte er, wir wollen ihn doch lieber zudecken, er fröstelt. Roxane legte eine leichte Decke über den Jungen, der, zwei Finger von Hallam fest umklammernd, sofort einschlief. - Jetzt ist er wieder in Ordnung, sagte Hal. Aber wir wollen es doch lieber seinen Eltern erzählen. Sie stimmte ihm zu. - Einen Augenblick noch, ich will mich nur schnell kämmen. Diese dummen Vergißmeinnicht sitzen ganz schief. Ich nehme den Kranz ab. Während sie sich zurechtmachte, blickte Hal sich im Zimmer um.
Es war sehr einfach und irgendwie ein bißchen rührend mit den schweren unmodernen Möbeln und dem Haufen Schulbüchern, die auf dem Pult lagen und davon sprachen, daß die Schularbeiten noch nicht fertig waren. Die Fenstertür ging in einen Obstgarten, der noch in Blüte stand. Neben Jantje auf dem Bett rekelte sich ein Teddybär, dem ein Auge fehlte, und auf dem kleinen Nachttisch lag ein Rosenkranz, die Miniatur einer jungen Frau mit den gleichen, ein wenig schrägen Goldaugen des Mädchens und ein schmaler Band von Rostands Cyrano de Bergerac, das französische Original. In einer Wandnische stand eine Statuette der Madonna mit dem Kinde. Die Bürste, die Roxane benutzte, gehörte zu einer elfenbeinernen Toilettengarnitur, in die der Name ,Anne’ eingraviert war. - Heißt du Anne? fragte er. - Nein, ich bin Roxane de Valois. Meine Mutter hieß Anne. - Ist das deine Mutter? Er nahm die Miniatur mit seiner freien Hand auf. Die andere hielt der ,Cherub’ noch immer umklammert. - Ach ja, das sieht man sofort – du bist ihr ganz ähnlich. Es ist ein ungewöhnliches Gesicht – stark und gleichzeitig schön. Ihr Herz schlug schneller. Er guckt nicht nur, dachte sie voller Erstaunen. Er sieht sie wirklich! Ich würde ihm gern von Maman erzählen – und daß ich auch dorthin möchte, woher sie stammt, um alles über sie zu erfahren. - Maman war Französin – aber ich kann mich gar nicht mehr auf sie entsinnen. Ich war erst so alt wie er – sie zeigte auf den ,Cherub’ –, als ich von ihr getrennt wurde, damals im Kriege, und dann zu Großmutter Constance geschickt wurde. Ich habe nur noch eine undeutliche Erinnerung an einen Menschen, der viel lachte und mich an sich drückte, wenn ich mir wehgetan hatte. Ich habe natürlich in meiner Vorstellung ein Bild von ihr, weil ich furchtbar viel an sie denke und einige Sachen von
ihr habe. Aber es ist nur wenig, was damals hergeschickt wurde, nachdem – nachdem sie… - Nachdem? fragte er. Sie saß auf dem Hocker am Frisiertisch, den Rücken zum Spiegel. Ihr ausgeprägtes kleines Kinn lag in ihrer Hand, als sie sagte: - Meine Mutter ist getötet worden. Sie sprach, als wären die Worte ohne jede Bedeutung, als hätte sie sie bei sich so oft ausgesprochen, daß sie nun leer waren – Papageienworte ohne Schmerz und Entsetzen. Hallam blickte sie mit einem Gefühl der Erschütterung an. Weshalb machte dieses Kind eine so schreckliche Feststellung? Getötet – gehörte Anne zu den Opfern der Luftangriffe? Oder? Sie hatte ihre Hände in den Schoß sinken lassen, und die Finger zerrten an einem Batisttaschentuch. - Mein Vater starb, ehe ich geboren war, und Maman unter richtete in London an einer Klosterschule, als der Krieg aus brach. Dann erhielt sie eine Aufgabe im Geheimdienst. Sie sprang mit dem Fallschirm über dem besetzten Frankreich ab – über ihrem Heimatland –, um der Widerstandsbewegung zu helfen. Die Feinde nahmen sie gefangen – und – folterten sie – und dann wurde sie erschossen. Sie hieß Anne Williams. Vielleicht haben Sie von ihr gehört. - Anne Williams! rief er aus. Anne Williams ist eine Legende. - wie Odette. - Nur, daß Odettes Geschichte einen glücklichen Ausgang hat. - Du darfst stolz sein, Roxane, sehr stolz. Sie nickte, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Der ,Cherub’ bewegte sich, und Hal löste vorsichtig seine Finger. - Er kommt wieder zu sich. Sollen wir seine Mutter suchen?
- Das ist nicht nötig. Hier ist sie schon! Aletta Krikes rundes anziehendes Gesicht und ihre kräftige Gestalt erschienen in der offenen Tür. Ich höre, Roxie und Hallam Falkmead hätten Jantje entführt. Was hat er denn wieder angestellt? - Zuviel gefuttert und zuviel – getrunken, sagte Roxane. Sekt! Aletta warf den hübschen Kopf zurück und lachte. - Da ist also mein Kribbelwasser geblieben! Jantje, du kleiner Teufel! Da sieht man wieder – die Erbsünde! Jantje öffnete ein Auge, blickte seine Mutter schief von unten an und lächelte entwaffnend. Aletta wandte sich Hallam zu. - Ich sprach eben mit Ihrer Frau Mutter. Sie war gerade dabei, die Zukunft ihres Sohnes zu ihrer vollsten Zufriedenheit auszuarbeiten. Sie werden Winzer in Constantia. Belustigt zog Hal eine Augenbraue hoch. - Wann hat sie sich dazu entschlossen? - Vor fünf Minuten. Sie hat praktisch schon das Stück Land, das an Dieu Donné stößt, von Mr. Krifti gekauft. Der glückliche Bräutigam Guy Masterson soll das Haus entwerfen, das Ihre Eltern bauen werden, wenn sie sich hier im Tal ansässig machen, und dann werden Sie hier bei Tinus Vos – Großmutter Constances Verwalter – in die Lehre gehen, und danach wird ein Weingut für Sie gesucht. Gefällt Ihnen die Idee? Hal grinste. - Mein Leben zu organisieren ist Mutters Steckenpferd. Leider muß ich jedesmal ihre Pläne wieder zerstören, damit sie Gelegenheit hat, sich etwas Neues auszudenken. Das ist eine Art Gesellschaftsspiel von uns beiden. - Ihr müßt heute abend zu unserem Braaivleis kommen, sagte Aletta. Tinus könnte ihm doch alte Hosen, Hemd und Pullover leihen, meinst du nicht, Roxie? Die Anzüge von meinem Karl würden ihm nicht passen. Der ist ja ein Riese.
- Braaivleis ist ein Fest im Freien, Hallam, bei dem wir Beefsteak und Koteletts draußen im offenen Feuer braten – eine Kapelle wird auch dasein, drei, vier Farbige, und dazu tanzen wir. - Lust hätte ich, sagte Hal. Aber ich muß nachher zurück nach Kapstadt. - Es sind genug Leute aus Kapstadt da. Mit denen können Sie zurückfahren. Roxie, sieh zu, daß Tinus ihn herausstaffiert. Und nun macht, daß ihr hier verschwindet; ich komme mit dem kleinen Übeltäter gleich nach. Die Kapelle von Constantia stimmt schon die Instrumente, das heißt, daß Guy und Merle bald aufbrechen werden. Auf dem Rasen sahen Hal und Roxane die Kapelle stehen, einige dreißig Spieler in Harlekinkostümen aus buntkariertem Satin. Geigen, Ziehharmonikas, Banjos und andere namenlose Instrumente erschütterten die weiche Sommerluft mit der Musik Afrikas – wild, traurig, quälend und heiter. Die Farbigen sangen und tanzten, jede Fiber gab den Rhythmus des Jazz oder ihrer lietjies nach, und die kleineren Jungen hüpften lustig zu beiden Seiten der Kapelle auf und ab. - Oh! rief Roxane aus. Kriegt man da nicht Lust zum Tanzen? Und Hal spürte, wie unter ihrer elfenbeinernen Haut das Blut durch die Adern sprang. Ihre Augen tanzten, und die blauen Pumps klopften auf den Kies. - Wir müssen hierbleiben. Merle und Guy werden jeden Augenblick aus dem Haus kommen. Sie waren zu der fröhlich lachenden Schar am Fuß der breiten roten Treppe getreten. In der Wärme und dem Gedränge der Menschen stand sie dicht neben Hal, und seine Nähe ließ sie auf eine seltsam unbekannte Weise erschauern. - Da kommen sie! Da kommen sie! Merle blieb auf der Veranda stehen und warf ein blaues Rüschenstrumpfband in die Menge. Plötzlich gab es eine
brandende Woge, als alle aufblickten und bei Merles Wurf vorwärts drängten. Roxane wurde gegen Hal gepreßt, der hochsprang und den blauen Flitter fing. Das gertenschlanke Mädchen, das so fest gegen ihn gedrückt stand, reichte ihm kaum bis ans Herz. - Vorsicht, Roxane! Schützend legte er einen Arm um sie, während er das Strumpfband in die Tasche gleiten ließ. Mein Andenken an Dieu Donné. Roxane schwieg, hielt den Atem an, spürte, wie ihre Wangen brannten und die Knie nachgaben. Sprich nicht, beweg dich nicht, brich diesen Zauber nicht! Nur noch einen Augenblick lang soll es so bleiben, eine Stunde, immer. So nahe ist er mir, daß ich sein Herz schlagen hören kann… Tinus hatte Merle über den niedrigen Schlag in Guys wartenden Sportwagen gehoben, irgendwer hatte zwei Koffer in den Gepäckraum geworfen und die Klappe geschlossen, und dann beugte Guy sich vor, um den Gang einzukuppeln – im nächsten Augenblick waren sie davon mit einem Aufheulen, einem Sprung fast unter einem Schauer von Reis und Konfetti; ein alter Schuh flog hinter ihnen her. Die Farbigen mit ihrer Kapelle folgten und sangen ,Henriettas Hochzeit’. Bald waren ihre bunten Kostüme im Grün der Weingärten verschwunden. Die Menge zerstreute sich. Hallams Arm glitt von Roxanes Schulter, und diese Bewegung war wie das Lied eines Vogels, das plötzlich und grundlos abbricht – ein Ende, kaum, daß es begonnen hatte. Schon rollten die Wagen heimwärts, nach Westen in das blendende Licht der Waldbucht, die ,Damenmeile’ hinunter nach Mäuseberg und um den langen Drachenrücken des Tafelberges herum nach Kapstadt. Und schließlich waren nur Roxane, Hal und Tinus bei Großmutter Constance, bei Merles Mutter und dem Baas aus Joburg geblieben. Sie standen auf dem Rasen zwischen den benutzten Gläsern und Tellern, den
leeren Flaschen und dem verstreuten Konfetti – kleinen Sternen, Monden und Papierherzen, die von den Füßen zertreten worden waren. - Kommen Sie mit hinüber in meine Wohnung, schlug Tinus Hallam vor. Dann will ich Sie schon mit altem Zeug für den Abend herausstaffieren. Als sie gegangen waren, warf Roxane einen betrübten Blick auf das blaue Organzakleid, das nun wieder für Marigold, die Mumps hatte, weiter gemacht werden sollte. - Jetzt muß ich es ausziehen. Es gehört mir nicht. - Doch Solly Caine sagte mit seinem gurgelnden Lachen: - Es gehört dir, Aschenbrödel! Ich habe mit Marigolds Mutter gesprochen, und es ist alles in Ordnung. Du behältst dieses Kleid, und Marigold bekommt ein anderes. - Es gehört mir! In entzückender Begeisterung wirbelte sie herum, warf Solly Caine die Arme um den Hals und drückte sich fest an ihn. Wie soll ich dir danken? - Das hast du schon getan, sagte er. Bewahre dir die Gabe, glücklich zu sein, bewahre sie dir dein ganzes Leben lang, Kind! Die ist mehr wert als blaue Kleider, mehr als alles andere auf der Welt! Großmutter Constance sagte zur Witwe ihres Sohnes, der Frau von Solly Caine: - Die letzte Hochzeit auf Dieu Donné war deine, Bella – deine und Dirks. Ich muß sagen, du warst eine reizende Braut – ebenso reizend wie Merle. Die Worte kamen zögernd heraus, so als ob irgendeine Notwendigkeit, die Wahrheit auszusprechen, sie ihr abzwang. - Und die davor war deine, sagte Bella. Und die nächste ist zweifellos, wenn Merle eine erwachsene Tochter hat. So gehen die Jahre dahin. Doch die kalte zerbrechliche Hand von Großmutter Constance strich Roxane über das Haar.
- Die nächste Braut auf Dieu Donné wird dieses Kind sein. Roxane gehört hierher. Dieu Donné ist ihre Heimat, und sie hat meinen Namen bekommen.
Drittes Kapitel VERLIEBT
Lang zog der Vollmond Hallams und Roxanes schwarze Schatten über den Rasen hinter dem Haus der Krikes. Man hätte die beiden im Mummenschanz der Schatten für zwei Burschen halten können, die Arm in Arm dahingingen, der eine lang und geschmeidig, der andere klein und schmal. Beide trugen Flanellhosen. An der weißen Brüstung, die den Garten von den Weinbergen trennte, blieben sie stehen. Weit hinter der Niederung sahen sie den schimmernden Indischen Ozean und den Zackenrand von Hottentots Hollands, von dem die Blinde Bucht eingeschlossen wurde. Die Berge schienen aus einer leuchtenden Substanz geschnitzt – wie der Hintergrund in einem Zauberspiel im Theater. In der Ferne blinkten und funkelten die Lichter der Fischerdörfer, während hinter Hal und Roxane undeutlich der ,Berg’ aufstieg, von seinen geisterhaften Plantagen flankiert. Von der Veranda, wo ein Dutzend Paare zur Musik der vierköpfigen Kapelle tanzte, hörte man das Gleiten der Füße. Hal blickte in den leuchtenden Himmel hinauf. - Wie können wir das Lied der Sterne hören, solange die Kapelle spielt? Als sollten seine Worte auf die Probe gestellt werden, legten die Farbigen oben vor dem Haus ihre Instrumente zur Seite, um etwas zu essen und ein Glas Bier zu trinken. Hal und Roxane lauschten in die Nacht hinaus. Von der Veranda kam Plaudern und Lachen durch die dunklen Schatten des Gartens; das Zirpen der Grillen begleitete die trompetenden Frösche im
Lilienteich, und weiter talabwärts klimperten Gitarren und Banjos ihre Melodie; irgendwo bellte ein Hund. - Die Sterne singen gar nicht, sagte Roxane und hob das blasse Gesicht. - Aber die Farbigen dort hinten! Was geht da vor? Er zeigte auf den Glutschein am weidenumstandenen Bach unter den Weinhängen. Der Geruch von Holzrauch mischte sich mit dem Duft der Trichterwinden und Tabakpflanzen. - Die feiern auch Braaivleis, erwiderte sie. Großmutter Constance hat ihnen Wein und ein Schaf für den Hochzeitsschmaus geschenkt. - Komm, wir sehen ihnen zu. - Wir können uns den Wagen von Tinus borgen. Er nimmt’s nicht übel. Er ist schrecklich gutmütig. Wenige Minuten später standen sie unter einem großen Nußbaum am Rande einer Lichtung vor dem Farbigen-Dorf. In den weißen, kistenähnlichen Häusern, von denen ein paar eine kleine Veranda besaßen, brannten Lampen, alte Leute saßen auf den Stufen oder Türschwellen und sahen den jüngeren zu, die im Schein des großen Holzfeuers tanzten. Das Mahl war vorüber, doch hier und da stritten sich ein paar Köter um den Besitz eines Knochens. Die Kapelle spielte mit wilder Hingabe, und in berauschtem Überschwang paßten sich die Tänzer ihr an. Männer griffen nach allen Partnern, die sie fanden, Mädchen, Jungen, sogar nach verwitterten alten Weibern, oder rissen einen Säugling vom Arm der kichernden Mutter und hielten ihn hoch, so daß der kleine schwarze Kopf schläfrig an der im Jitterbug zuckenden Schulter lehnte. - Die legen aber los! grinste Hal. Guck dir bloß mal die bei den da an, den stattlichen Burschen und das hübsche temperamentvolle Mädchen. Die scheinen ganz und gar verrückt geworden zu sein! Roxane lachte.
- Das sind Ben und Saartje. Ben ist der Sohn von unserm Butler und der Köchin, Josua und Lizzi. In der ConstantiaKapelle spielt er Gitarre, auf die er jahrelang gespart hat. Als kleiner Junge fing er schon damit an. Er sammelte Eicheln und verkaufte sie Tinus für die Schweine – oder Tannen zapfen für den Kamin. Er kann jeden Vogelruf nachmachen, und immer antwortet das Weibchen. Das Mädchen, Saartje, ist Lizzis Nichte. Sie wohnt bei ihr. Die Mutter war ein liederliches Ding, deshalb hat Lizzi das Kind zu sich genommen und ordentlich erzogen. - Das ist sehr anständig von ihr. - Ja, im allgemeinen sind die Farbigen gut zu überzähligen Kindern. Sie sind’s gewohnt. Er lächelte auf sie herunter. - Gibt’s hier so viele überzählige Kinder? Sie nickte. - Die Leute hier sind sehr wenig verantwortungsbewußt und ganz unmoralisch. Ihr erwachsener Ton und der leichte Klang von Überlegenheit belustigten ihn. - Wahrscheinlich haben sie sonst keine Zerstreuung – und auch nicht viel, wofür es zu arbeiten lohnt, warf er ein. - Sie leben nur für den Augenblick. Großmutter Constance sagt, deshalb seien sie glücklich. Sie lebt für die Vergangenheit und für die Zukunft – was in Dieu Donné gewesen ist und was aus dem Gut wird. Und dabei geht der Augenblick, der Tag mit all seinen schönen Dingen, dann häufig an ihr vorüber. Er legte den Arm um sie, und die Berührung ließ sie erschauern. - Der Tag mit all seinen schönen Dingen, wiederholte er. Sie schloß die Augen beim Klang seiner Stimme… - Du zitterst ja, Roxane! Sollen wir zurückfahren und ein bißchen tanzen, damit wir warm werden?
Als er Tinus’ Wagen unter den Eichen vor Krikes Haus geparkt und die Scheinwerfer ausgeschaltet hatte, zog er das Mädchen an sich. - Erzähl mir etwas! Wie alt bist du? Siebzehn vielleicht? Sie stieß einen Laut aus, den man für Zustimmung halten konnte. Bitte, Hal, dachte sie, glaub, ich sei siebzehn! Wenn ich dir sage, daß ich erst fünfzehn bin, würdest du mich für ein Kind halten, und das könnte ich nicht ertragen… - Und – du, wie alt bist du? flüsterte sie. - Achtzehn. Natürlich, achtzehn. Er sollte ja Soldat werden. - Bist du schon einmal geküßt worden, Roxane? - Südafrikaner küssen sich dauernd. Das ist so eine Angewohnheit – die sonderbarsten Leute küssen sich. - Ich bin kein Südafrikaner, und Küssen gehört nicht zu meinen Angewohnheiten. Und dann wiederholte er die Worte, die sie vorher gesprochen hatte: - Der Tag mit all seinen schönen Dingen – und du, das schönste davon. Als er das sagte, tanzten all die Myriaden Sterne zu ihrer eigenen seltsamen Musik rund um den Himmel – vielleicht war das die Sphärenmusik. Hallams Mund war weich, weich wie seine Stimme, doch seine Arme waren stark… Roxane schrak aus einem Zustand verzückter Selbstvergessenheit auf, als Hallams Ellenbogen an die Hupe am Lenkrad stieß. Verblüfft lauschte die Nacht dem lärmenden Ton, und aus dem Schatten der Bäume sah Roxane die erstaunten Gesichter von Tinus und Aletta auftauchen. - Wir haben uns das Auto geborgt – wir wollten uns das Braaivleis in Dieu Donné ansehen, erklärte sie. Du hast doch nichts dagegen, Tinus?
- Wir haben euch schon gesucht, sagte Aletta. Vor dem Hause gibt’s Suppe, und die Leute, die Hallam nach Kapstadt mitnehmen wollen, müssen fahren. Vergnügt stand Aletta, die mit ihren Kindern wie eine Katze mit ihren Jungen spielte, im Mondlicht. Sie wollte eine große Familie haben, und ein neues kleines Mitglied schien in nicht allzu ferner Zukunft erwartet zu werden. - Dann hörten wir Hallam um Hilfe hupen, setzte Tinus hinzu. Wo brennt’s denn, Mann? - Ach, ich singe nur manchmal, sagte Hal. Drüben vor dem Hause dampfte die heiße Suppe in einer riesigen Terrine. Karl Krike, blond und bärtig wie einer seiner Burenvorfahren, schöpfte sie in Tassen und reichte sie seinen Gästen. Für jeden hatte er dabei ein Scherzwort. Mit seinem patriarchalischen Aussehen, das so gut zu dem mütterlichen Charme seiner Frau paßte, und seiner einfühlsamen Klugheit war er ebenso wie Großmutter Constance ein echtes Produkt des Tales. Roxane hörte Hallam mit dem jungen Mann reden, der ihn nach Kapstadt mitnehmen wollte. - Ich muß bloß noch die Sachen von Tinus ausziehen und in meinen eigenen Anzug steigen. Es dauert keine Minute. Ich sehe ihn also nicht wieder, dachte sie. Ich kann’s nicht ertragen! Er fährt nach Kapstadt und morgen nach England. Ich werde ihn nie wiedersehen… Ehe er in den Wagen stieg, zog er sie einen Augenblick auf die Seite. Er faßte ihre Hände. - Komm morgen zum Lunch an Bord – bitte, Roxane! - Ich kann nicht, schluckte sie. Ich muß zur Schule. Ich bin noch gar nicht siebzehn, Hal, erst fünfzehn und arbeite gerade für die Prüfung. Sie sah, wie sich seine Augen vor Bestürzung verdunkelten, und hätte am liebsten gelacht und geweint – beides zugleich.
Sei nicht traurig, Hal! Ich bin so glücklich, daß du mich geküßt hast. Mein ganzes Leben werde ich glücklich darüber sein! - Dann leb wohl! sagte er. Sie spürte den festen Druck seiner Hände und sah das halbe Lächeln, bei dem sich die eine Augenbraue hob und zu sagen schien: Vergiß mich, Roxane! Es tut mir leid. Im nächsten Augenblick war er fort, und Tinus stand neben ihr. - Komm, Roxie, wir müssen fahren. Morgen ist ein Arbeitstag! Als sie neben ihm im Wagen saß, hielt sie Hemd, Hose und Pullover, die Sachen, die Hal sich von Tinus geliehen hatte, auf dem Schoß. Sie waren noch warm, und es verlangte sie danach, ihr Gesicht darein zu vergraben wie ein unglücklicher Hund in den Mantel seines Herrn. - Hast du deinen Schlüssel? fragte Tinus vor der Fenstertür ihres Schlafzimmers. Er nahm ihn ihr ab und steckte ihn ins Schloß. Der Mond war aufgegangen, doch die Apfelblüte schimmerte im Licht der Sterne. - Gut unterhalten, kleines Eichhörnchen? Sie drehte sich plötzlich um und drückte das Gesicht an seine breite Brust. - Ach, Tinus, ich bin so verliebt… und es tut so weh… Seine verunstaltete Hand strich ihr leise durchs Haar. - So geht’s uns beiden, Roxie. Sieht aus, als müßten wir uns gegenseitig trösten. Mein Mädchen ist mit einem rothaarigen Mann davon, und dein Junge fährt morgen… Ich will dir was sagen: Wenn du erwachsen bist, heiraten wir beide und leben glücklich bis ans Ende der Tage…
Im folgenden Jahr verkaufte Mr. Krifti dem Schriftsteller Adrian Fairmead ein großes Stück Land, das an Dieu Donné grenzte, und Guy Masterson entwarf das Haus, das darauf
gebaut werden sollte. Es war ungewöhnlich, wieviel Land und Einfluß Mr. Krifti am Kap erworben hatte. Sein Interesse erstreckte sich auf viele Gebiete, doch auf Constantia hatte er sein Hauptaugenmerk gerichtet. Auf dem südlichen Bergkamm entstand bereits eine neue Wohngegend, die er geplant und durch eine seiner vielen Gesellschaften finanziert hatte. Dort, wo einst die Trauben in der Sonne reiften, erhoben sich jetzt die Rohbauten neuer Häuser. Großmutter Constance hielt sie für Geschwüre an ihrem Tal, Aussatz, der nie wieder verschwinden würde und den sie Mr. Krifti zur Last legte – diesem abscheulichen Menschen, der die Stirn besessen hatte, ihr ein Angebot für Dieu Donné zu machen. Die Fairmeads nannten ihr neues Heim Farway, und das Tal hieß sie mit offenen Armen willkommen. Wenn Großmutter Constance sich auch nicht mit dem Haus befreunden konnte, das der Mann ihrer Enkelin entworfen hatte – dieses Turmstudio kam ihr zwischen den Weingärten immer vor wie ein verkrüppelter Finger – , so gefielen ihr die neuen Nachbarn doch sehr gut. Roxane war natürlich begeistert. Hallam leistete, wie sie wußte, seine Militärzeit in Malaya ab, doch wenn die vorüber war, würde er gewiß zu seinen Eltern ziehen, sich in Constantia niederlassen und den Weinbau lernen. So wollte es seine Mutter wenigstens, und Roxane hatte den Eindruck, daß Mrs. Fairmead gewohnt war, ihren Willen durchzusetzen. Die Aussicht, daß Hal nach Farway kommen würde, beschäftigte sie dauernd, wenn sie auch nie darüber sprach, nicht einmal mit Tinus. Den Abend von Merles Hochzeit, da Roxane den Kopf an Tinus’ Brust gelegt und gesagt hatte – Ich bin verliebt – es tut so weh, übergingen sie beide mit Stillschweigen. Auch sein Herz war an jenem Abend krank gewesen, weil es sich nach Merle sehnte, doch seine Leidenschaft war vergangen, während Roxanes Verliebtheit
für Hallam in der lebendigen Wärme ihrer Erinnerung an ihn nur noch wuchs. Und unbewußt ließ sie dieses Gefühl immer stärker in sich werden. Insgeheim sein Bild in sich heraufzubeschwören war eins ihrer ,Spiele’ geworden – wie sie es auch bei Maman tat. Abends im Bett, ehe sie einschlief, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, sich ihre kurze Begegnung ins Gedächtnis zurückzurufen und sie dabei weiter auszuspinnen. Wenn die Hupe damals nicht gerufen hätte… Als sie eines Abends von ihrem Spaziergang mit Wolf als Schutz und Begleiter zurückkam, traf sie Hallams Vater. Sie begegnete ihm in der Pappelallee, die Farway begrenzte. Mr. Fairmead ging seit seiner alten Kriegsverletzung ein wenig lahm und bewegte sich ziemlich steif, den Kopf geneigt und ein wenig zur Seite gebeugt – wie ein Sekretärvogel, der vorsichtig durch das lange Gras stelzt und nach Schlangen oder anderer Beute sucht. Überrascht betrachtete er die schmale, kleine Gestalt in Shorts und mit dem leichten Rucksack auf den Schultern. - Allein geklettert? fragte er. - Mit meinem Hund, lächelte sie. Wir steigen oft auf den Berg, ich nehme mein Vesperbrot mit und suche mir einen hübschen Platz, wo ich allein bin. Manchmal lese ich auch ein Buch – vielleicht eins von Ihnen. Von dem Schelm in ihren Augen bezaubert, lachte er. - Dann hast du die Freuden der Einsamkeit und Meditation ziemlich jung entdeckt, sagte er. Ich hätte geglaubt, du spieltest lieber Tennis. - Tennis mag ich auch, antwortete sie. Und ich bin gar nicht mehr so jung. Ich bin siebzehn. - Noch in der Schule? Sie schüttelte den Kopf. - Genaugenommen nicht. Ich besuche nur einen Kurs an der Handelsschule in Kapstadt.
- Kannst du schon tippen? - Ja, sehr gut. Ihr Selbstvertrauen amüsierte ihn, aber sie fuhr rasch fort: - Ich habe schon als ganz kleines Mädchen maschinegeschrieben. Ich hab’s mir selber beigebracht, aber richtig, blind. - Vielleicht hättest du Zeit, ein bißchen für mich zu schreiben, schlug er vor. Mal eine Kurzgeschichte. Begeistert klatschte sie in die Hände. Doch dann flüsterte sie: - Das wage ich kaum. - Oh, ich schreibe ganz leserlich. Meine Abkürzungen würdest du rasch lernen. Beim Sprechen öffnete und schloß er mehrmals die Hand, die oft an Schreibkrampf litt. Seine Hände waren wie die von Hallam, stark und empfindsam. Nie würde Roxane Jantje Krike vergessen, als er auf ihrem Bett schlief und Hallams Finger mit seiner schmutzigen kleinen Pfote umklammert hielt. - Dürfte ich erst mal eine der Geschichten lesen? - Gern. Wenn du Zeit hast, sofort. So folgte sie ihm die Wendeltreppe zum Arbeitszimmer im Turm hinauf. Er spürte, wie sie den Atem anhielt, als sie in dem Erkerfenster stand und über die leuchtendgrünen Weingärten aufs ferne Meer und die Berge dahinter blickte. - Ja, sagte er. Das ist eine begeisternde Aussicht. - Ich liebe dieses Tal so sehr! Kein Wunder, daß Großmutter Constance es nicht erträgt, wenn Mr. Krifti es aufteilt und es zu einer Vorstadt von Kapstadt machen will. - Für Großmutter Constance ist Land ein Erbe, sagte er, für Mr. Krifti eine Kapitalanlage. Sie wandte sich wieder zurück ins Zimmer, dessen Wände bis an die Decke hinauf mit Büchern bedeckt waren, viele davon seltene Ausgaben, die einem Gelehrten oder Historiker das Herz hätten höher schlagen lassen. Seine Manuskripte lagen
auf dem großen Nußbaumschreibtisch, und sie schlug eins davon ehrfürchtig auf.
Das war der Anfang. In den folgenden Monaten wurde Roxane Adrian Fairmeads Sekretärin, und nach einiger Zeit bat seine Frau Lavinia sie, ihr einige Briefe von Hal aus Malaya abzuschreiben. - Ich möchte Hallams Briefe an unsere Tochter schicken, die mit einem Diplomaten der UNO verheiratet ist. Es sind gute Briefe, das wirst du selbst zugeben, aber wenn ich Hilda die Originale schicke, sehe ich sie nie wieder. Roxane fand auch, daß es »gute Briefe’ seien. Wenn sie sie zum Abschreiben mit nach Hause nahm, las sie sie immer wieder. Sie sah ihn bei diesen seltsamen Versteckspiel kämpfen in der dampfenden grünen Hölle der Dschungelwälder, sie roch den süßen Duft der blühenden Gummi bäume und erfuhr von den Gefahren des Pflanzerlebens in der Hitze jener einsamen Ebenen, in denen der Schatten des Todes immer nahe war. Wenn Hal von Menschen schrieb, kannte man sie. Sie wurden lebendig. Und er selber auch. Seine Briefe waren er selber. Man spürte den Humor und die Menschlichkeit darin. Aus diesen Briefen lernte Roxane ihn immer besser kennen, und damit wuchs ihre Zuneigung zu ihm.
Während des zweiten Sommers, den die Fairmeads im Tal lebten, bauten sie ein Schwimmbecken, und ihre Nachbarn aus Dieu Donné benutzten es ausgiebig. Als Merle, Tinus und Roxane eines Abends gebadet hatten, trafen sie Mrs. Fairmead. Sie kam in ihrer raschen, anmutigen Art mit dem hocherhobenen Kopf, der auch für ihren Sohn so charakteristisch war, auf das Becken zu.
- Ich bin wütend, verkündete sie. Unser Sohn hat uns im Stich gelassen. Aber wenn aus ihrer Stimme auch Erbitterung klang, so leuchteten ihre grauen Augen doch vor Stolz. Merle nahm die Badekappe ab und schüttelte die Locken. - Was hat er denn verbrochen, Lavinia? - Kaum ist er vom Militär entlassen, da sichert er sich schon eine Stellung als Kriegsberichter für die. Weekly Post. Er wird viel herumreisen müssen, aber immer im Fernen Osten. Und wir hatten fest damit gerechnet, daß er in ein paar Wochen hierherkommt. Tinus sagte in seiner langsamen und leisen Art: - Dazu gehört bestimmt Unternehmungsgeist. Ich wußte gar nicht, daß er schreibt. - Er hat wohl ein Tagebuch geführt – natürlich mit Erlaubnis seiner Vorgesetzten. Das hat er nun an die Weekly Post geschickt, die es unter dem Titel ,Dschungel-Journal’ veröffentlicht. Auf dieses Tagebuch hin haben sie ihm den Posten angeboten, und er hatte nichts Eiligeres zu tun, als zuzugreifen. Roxane sagte nichts. Sie trocknete sich das Haar ab und verbarg dabei ihr Gesicht. Die Tränen der Enttäuschung brannten ihr in den Augen. Sie wußte nicht, daß Tinus sah, wie sich die Muskeln ihres Halses zusammen zogen, und daß er sich ihr voll instinktiven Mitleids rasch zugewandt hatte. Törichtes kleines Eichhörnchen! War es möglich, daß sie immer noch an diesen Jungen dachte, den sie nur ein einziges Mal gesehen hatte?
Das ,Dschungel-Journal’ hatte bemerkenswerten Erfolg. Adrian Fairmead las das Werk seines Sohnes mit väterlichem Stolz und dem kritischen Auge des erfahrenen Schriftstellers. Er fand, Hallams Stil funkle vor Lebendigkeit, stellenweise
grob und brutal, doch von einer natürlichen Güte, hin und wieder sogar von Zartheit durchleuchtet. - Es steckt was in ihm, sagte er zu seiner Frau. Manches ist roh und unausgeglichen, aber er hat dieses gewisse Etwas. Das spürt man sofort. Sie wußte, was er meinte. ,Dieses gewisse Etwas’ war der Ausdruck, den sie untereinander benutzten, um jene unfaßbare Eigenschaft zu bezeichnen, die das außergewöhnliche Talent von durchschnittlicher Begabung unterscheidet. Ihre Wurzeln lagen im menschlichen Verständnis und trieben in einer feinfühligen Interpretation des Lebens ihre Blüten. Nach einiger Zeit erschienen Hallams Berichte aus dem Fernen Osten nicht nur in der englischen Weekly Post, sondern auch in den südafrikanischen Zeitungen, und es dauerte nicht lange, bis der New Yorker auch den amerikanischen Stempel des Talents unter mehrere seiner Kurzgeschichten setzte. Niemals wird er hierherkommen und Bauer werden, dachte Roxane, als sie die mit seinem Namen gezeichneten Spalten las. Und das Herz tat ihr weh. Eines Tages im Herbst sprach Lavinia Fairmead mit Roxane über ihre Pläne, nach Hollywood zu fahren, wo Adrians bekanntester Roman Ballerina verfilmt werden sollte. - Zuerst besuchen wir unsere Tochter in Washington, und dann bleiben wir einige Monate in Hollywood, während der Film gedreht wird. Ich habe Hal geschrieben, er solle dafür sorgen, daß die Weekly Post ihn eine Zeitlang nach Hollywood versetzt. - Das ist anderer Dschungel, sagte Adrian. Aber genauso grausam, wie ich höre. - Ein Film von Ballerina! rief Roxane. Das wäre wunderbar! Und wer wird die Olga spielen? - Man spricht von Alexa Rome, sagte Lavinia.
- Alexa Rome! Zauberhaft! Ich hab sie in Legende und in der Kleinen Seejungfrau gesehen. Das wäre eine reizende Olga. Adrians Augen blickten nachdenklich durch die starken Gläser. - Olga war eine Frau – zu sehr Frau, sagte er. Sowohl in der Legende wie in der Kleinen Seejungfrau hat Alexa ein Geschöpf aus einer anderen Welt gespielt, und ich gebe zu, sie war hervorragend. Doch meine Ballerina Olga ist eine Frau von Fleisch und Blut mit einer Seele und einem Herzen, das bricht, als der Geliebte sie verläßt. Das ist etwas anderes. Und ich frage mich, ob Alexa wirklich all das besitzt, was man zu dieser Rolle braucht. Roxane überlegte. - Weshalb nicht? fragte sie schließlich. - Wie Olga muß doch auch Alexa ebenso Frau wie Tänzerin sein, eine Frau mit einer Seele und einem Herzen, das bricht, wenn… Bei seinem zynischen Lächeln zogen sich die Mundwinkel herab. Er beugte die langen Finger und blickte darauf hernieder wie auf einen Gewehrlauf. - Nicht unbedingt, erwiderte er. Für eine Primaballerina ist der Weg zum Gipfel hart, hart für Körper und Seele. Manch mal stirbt die Seele auf dem Wege dort hinauf… die Frau ist zerstört und nur Tänzerin geblieben. Roxane schauderte. Ob man es fühlte, wenn eine Saite sprang und die Seele herabfiel, um sich im Dunkel zu verlieren? Ob man die plötzliche Leere spürte, das erschütternde Gefühl des Verlustes, tiefste Verzweiflung? Oder tanzte man dann weiter, weiter hinauf zum Gipfel, wußte nichts, glaubte, man sei noch ganz, glaubte, man sei eine Frau mit einer Seele und einem Herzen, das brechen konnte? Lavinia sagte sachlich: - Alexa Rome ist eine große Künstlerin und die geborene Schauspielerin. Ob sie nun die Olga oder die kleine
Seejungfrau spielt, sie wird so spielen, daß man ihr die Rolle glaubt.
Viertes Kapitel DAS OMEN
Obwohl Roxane das Bild ihrer Mutter hegte und oft versuchte, sich den Engländer John Williams vorzustellen, der vor ihrer Geburt gestorben war, und trotz ihrer Träume von Frankreich und einem ziemlich phantastischen London, die sich auf Kinderbücher aus England stützten, sah sie doch das Tal als ihre selbstverständliche Heimat an und Großmutter Constance als höchste Autorität, als Vater und Mutter in einem. Sich selbst betrachtete sie als Südafrikanerin und die Familie de Valois als die ihre. Das Pfropfreis war angewachsen. Außerdem wußte Roxane, daß sie Großmutter Constances Herzen näherstand als die eigene Enkelin der alten Dame, doch Merles Rechte auf das Erbe waren nicht zu bezweifeln, und nie kam es einer von ihnen in den Sinn, die Tatsache in Frage zu ziehen, daß Dieu Donné eines Tages Merle gehören würde. Doch einstweilen gehörte es Großmutter Constance, und deshalb war es Roxanes Heimat. Roxane liebte Dieu Donné mit der Heftigkeit, die ihr ganzes Leben erfüllte. Alles auf dem Gut war ihr vertraut und teuer. Oft betrachtete sie eingehend die düsteren holländischen und flämischen Porträts von Großmutter Constances Vorfahren, eins davon zog sie besonders an. Es war ein Bild der dunkeläugigen Sarah de Valois, auf dem sie im Alter von siebzehn Jahren kurz vor ihrer Hochzeit vor fast zwei Jahrhunderten dargestellt war. Roxane malte sich gern aus, wie Sarah das feine Linnen ihrer Aussteuer in die geschnitzte Truhe aus Kampferholz packte oder ihre steifen Krinolinen in den großen Armoire mit dem
Giebel und dem bauchigen Unterteil hängte, dessen Silberhaspen ein längst vergessener malaiischer Handwerker geschmiedet hatte. Und manchmal war sie gerührt über die zärtliche Vision der jungen Sarah, die ihr erstes Kind in der schweren Tiekholzwiege schaukelte; jetzt lagen große Scheite in dieser Wiege, die neben dem Kamin in der Bibliothek stand. Sarahs Namen hatte sie in der riesigen, ledergebundenen Familienbibel mit ihren Berichten über Geburten, Sterbefälle und Hochzeiten gelesen und dabei gewünscht, daß auch ihre Geburt unter den Namen der de Valois von Dieu Donné verzeichnet stünde. Großmutter Constance hatte ihr zwar den Namen gegeben, doch das Blut der de Valois hatte nur Merle. Als Kind hatte sie oft die Bilder in der Bibel studiert und die bunten Initialen des Textes bewundert, doch sie zu lesen überstieg ihre Fähigkeiten, denn es war eine holländische Bibel, und diese Sprache unterschied sich erheblich von dem Afrikaans, das sie in der Schule lernte. Das Buch ruhte zwischen den ausgebreiteten Goldschwingen eines Adlers auf dem Chorpult. Darüber hing eine impressionistische Skizze, die Dirk Vos de Valois, Großmutter Constances gefallenen Sohn, darstellte. Es war das Antlitz eines Dichters, meinte Roxane, mit den geschwungenen schwarzen Brauen und den beweglichen Lippen. Die Augen waren dunkel und traurig. Merle sah ihrem Vater gar nicht ähnlich; sie schlug nach der Familie ihrer Mutter, den van der Walts, die blond und blauäugig waren. Oder vielleicht hatte sie die Blondheit von den Vos. Die echten de Valois waren dunkel und blaß wie Großmutter Constance. Selten nur dachte Roxane an jene Zeit, da Merle hier alles gehören und Großmutter Constance dort oben am Hang des Berges neben ihren Vorvätern und ihrem Gatten Vos liegen würde. An jene Zeit, da sie, Roxane, gehen mußte. Sie vermochte sich eigentlich gar nicht vorzustellen, daß
Großmutter Constance je sterben könne. Großmutter Constance und das Tal waren ihre Welt, und weil sie jung war, stellte der Zerfall dieser Welt eine Möglichkeit dar, die sie sich nicht klarzumachen vermochte. Doch als sie neunzehn war, begann diese ihre kleine Welt zu beben, wie in ihrer Kindheit die größere Welt um sie her gebebt hatte, und die ersten bedrohlichen Risse öffneten sich zu ihren Füßen. Eigentlich hatte alles damit angefangen, daß Lizzis Nichte Saartje den Geist sah. Saartje war zur Köchin im Häuschen des Verwalters befördert worden, und aus diesem Grunde nahm Tinus die meisten Mahlzeiten im Gutshaus ein. - Mit ihren Omeletts könntest du einen Ochsen erschlagen! berichtete er Großmutter Constance wehmütig. - Sie wird’s schon lernen, sagte die alte Dame. Sie konnte es sich leisten, Saartjes kulinarischen Mängeln mit Nachsicht zu begegnen, da sie nicht darunter zu leiden hatte. Lizzi soll sie sich noch einmal vornehmen und ihr etwas beibringen. Sie saßen nach Tisch auf der Veranda. Es war ein heißer Januarabend und Vollmond. Den ganzen Tag hatte ein böiger Bergwind die Luft im Tal in Bewegung gebracht, ohne sie abzukühlen. Schwarz standen die Eichen vor den Sternen, und das Licht aus der Diele leuchtete sanft durch die geschnitzten Fensterblenden und die offenstehende obere Hälfte der Vordertür, der traditionellen ,Stalltür’ vieler alter holländischer Gutshäuser. Hinter den Bäumen konnte man die Silhouette von Farways Turm eben noch erkennen, aber die Lampe des Schriftstellers brannte schon seit vielen Abenden nicht mehr. Fairmeads waren in Hollywood, und das Haus stand leer bis auf den Neger Elias und zwei Rhodesier. Roxane gefielen die schweren rahmfarbigen Löwenhunde, und sie beschäftigte sich oft mit ihnen, wenn sie mit Wolf dort vorüberkam. Er hatte
erlebt, wie die dicken Welpen zu massigen Tieren heranwuchsen, und gelernt, sie zu respektieren. Jetzt lag er träumend neben Großmutter Constances Stuhl, zuckte von Zeit zu Zeit zusammen und winselte. - Dies Jahr können wir früh mit dem Obstpflücken beginnen, bemerkte Tinus eben. Und – auf Holz geklopft – wir werden eine reiche Ernte haben. - Wir können sie brauchen, sagte Großmutter Constance. Seit die Reben den Brand hatten und die Regierung den Winzern von Constantia deshalb verboten hat, Zuchtpflanzen zu verkaufen, haben wir jährlich Tausende eingebüßt. Sie häkelte eifrig an einem Stück Spitze für einen Wohltätigkeitsbasar der Kirche – keiner würde was damit anzufangen wissen, dachte Roxane mit einem innerlichen Lächeln –, doch immer wieder einmal ließen die gichtigen Hände ihr Werk ärgerlich sinken. Großmutter Constance hätte viel lieber ein Babyjäckchen gehäkelt, blau, für einen Jungen. Aber Merle spottete schon bei diesem Gedanken. Alles zu seiner Zeit, sagte sie dann. Verschob sie es etwa absichtlich und betrog Dieu Donné sündhaft um einen Erben? Die jungen Leute heutzutage hatten gar kein Verantwortungsgefühl. Erst gestern hatte die alte Tante Hanna van der Walt ihr von jungen Männern und Mädchen aus diesem Tal, aus ihrem eigenen Tal, erzählt, die sich nichts dabei dachten, vor Tisch ein halbes Dutzend Schnäpse zu kippen, und bei dem guten Rot- oder Weißwein von Constantia kulturlos die Nase rümpften. ,Sie trinken, um sich zu betrinken’, hatte Tante Hanna geflüstert, ,wie ein farbiger Bursche mit seinem Mädel!’ Südafrika sollte ein Land sein, in dem Wein getrunken wird, aber diese Vorliebe für Schnaps war der Tod für den Gaumen – und für die Winzer. Großmutter Constance hatte noch andern Kummer. In letzter Zeit machte ihr schlimmes Bein ihr häufig Sorgen, und die Behandlung im Krankenhaus hatte wenig
genützt. Nicht nur die Schmerzen, sondern auch die beiden Stöcke, die sie immer zur Hand haben mußte, ließen sie dauernd in uneingestandener Furcht leben. Aus der Küche klang Lizzis Radio mit Tanzmusik aus Lourenco Marques. - Lizzi läßt das Ding viel zu laut spielen, brummte Großmutter Constance. Doch Roxane lachte und schlug mit den Fußspitzen den Takt auf die Dielen der Veranda. Weil sie glücklich war, hatte sie Lust zu tanzen, und sie war über die Nachricht glücklich, die sie am Nachmittag mit Luftpost aus Amerika erhalten hatte. Mrs. Fairmead hatte geschrieben. Sie hatte ihr gedankt, daß sie die Löwenhunde dressierte, und über Hollywood – und Hallam – berichtet.
… Du wirst Dich sicher mit uns freuen’, hatte Lavinia geschrieben, ,daß die Weekly Post Hallam nach Hollywood schickt, damit er über die Arbeiten an dem Film Ballerina berichtet! Der Chefredakteur meint, wenn der eigene Sohn über die Verfilmung des Bestsellers seines Vaters schriebe, dann sei das an sich schon eine Sensation. Später wird er wenigstens für ein paar Wochen mit uns nach Südafrika kommen, um einige Artikel über die Union zu schreiben, über die man hier dauernd – wenn auch nicht immer Angenehmes – in der Presse liest. Adrian ist von seinem Star begeistert. An Alexa ist irgend etwas Besonderes – ich möchte fast sagen: Gequältes. Aber wir meinen alle, sie sei die ideale Darstellerin für die Olga. Wenn in diesem Brief etwas stand, was Roxane hätte beunruhigen können, wurde sie sich dessen jedoch nicht bewußt. Das einzige, was sie begriff, war, daß sie Hal sehr bald wiedersehen würde.
- Schenk Tinus noch eine Tasse Kaffee ein, Roxie! Du weißt doch, daß er immer zwei Tassen trinkt. Du träumst schon den ganzen Abend. - Entschuldige, Tinus. Reichst du mir deine Tasse? Tinus fand, an Roxie sei heute abend irgend etwas Neues, so wie sie sich bewegte und lächelte. Sie hatte sich anders frisiert, so daß ihre Ohren zu sehen waren, hübsche kleine Ohren wie die Perlmuttmuscheln, die man am Strand auf las; und ihre Augen, diese klaren, ein wenig schrägen Augen waren von einem erregenden Geheimnis ganz erfüllt. Was hatte sie nur? Wenn sie wollte, konnte sie ein schlaues kleines Eichhörnchen sein. Gerade in dem Augenblick, als Roxane ihm die Kaffeetasse hinstellte, hörten sie den Schrei.
Es war ein gellender, langgezogener Schrei, ebenso entsetzt wie entsetzenerregend. Wolf erhob sich mit gesträubtem Fell und knurrte. Roxane hielt sich die Ohren zu, die Tinus eben noch bewundert hatte. Großmutter Constance ließ ihr Häkelzeug fallen und umklammerte die Lehnen ihres Sessels. Die Schreie, die einem das Blut gerinnen ließen, kamen rasch näher und endeten in ersticktem Keuchen und Schlucken, als Saartje die Stufen heraufstolperte und sich stöhnend und schluchzend Großmutter Constance zu Füßen warf. Roxane knipste die Verandalampe an, und Tinus zog das farbige Mädchen hoch: - Hör auf! fuhr er sie an. Und erzähl, was los ist! Dir kann doch nichts passiert sein, sonst kämst du nicht ums Haus gestürmt wie ein Pavian, der eine Ladung Schrot ins Hinterteil gekriegt hat. Doch sie fiel nur wimmernd wieder in sich zusammen. Lizzi und Josua kamen aus der Küche gerannt, um zu sehen, was der
Lärm bedeutete. Nun versuchte Lizzi, ebenso vergeblich, ihre Nichte aufzuheben. - Ihre Beine sind schlapp wie gekochte Makkaroni! Lieber Gott, was is’n passiert? - Hol einen Eimer Wasser, Josua! sagte Tinus. Eine kleine Dusche wird sie zur Vernunft bringen. Doch als Josua mit zwei Wassereimern wiederkam, hob Saartje das aschfarbene Gesicht mit den rollenden Augen. - Es war de Spuk! murmelte sie. Josuas Mondgesicht wurde blaß, und Lizzi schrie laut auf: - Herr, erbarme Dich – erbarme Dich! Vor langer Zeit, lange bevor die Nachricht von Dirk de Valois’ Tod nach Dieu Donné gekommen war, hatte Lizzi selbst das Kellergespenst gesehen. Danach war viel Unglück über das Tal gekommen. Großmutter Constance blickte streng auf Saartje hinunter, die sich noch immer an ihren Röcken festklammerte und stöhnte. - Beruhige dich, Mädchen! befahl sie. Und erzähl, wo du diesen Spuk gesehen hast. Sie spottete nicht über Saartje und sagte auch nicht, ,es gibt keinen Spuk’. Sie wußte es besser. Allmählich konnte man die Geschichte aus dem zitternden Mädchen herausholen. Saartje hatte anscheinend Tinus’ Häuschen zur Nacht fertiggemacht und war wie gewöhnlich auf dem Heimweg zur Wohnung ihrer Tante. Sie war an der offenen Kellertür vorübergekommen und hatte aus Neugier hineingeblickt. - Un da, ganz hinten in de große dunkle Keller, seh ich was aus der Klappe von eim Faß krabbeln. Das is Ben, denk ich, will mir ‘n Possen spielen. Da kommt er raus un steht da im Schatten von ‘m großen Faß – ein kleiner Kerl, aber nich wie Ben… bleich… o so bleich! Un hinter mir her! Hinter mir her! Ich schrei un schrei un renn – bis ich hier bin…
- Woher weißt du, daß er hinter dir herkam? fragte Tinus. Du hast dich doch bestimmt nicht umgedreht. - Ich fall hin. Ich stolper un fall, weil de Beine mich nich tragen… un wie ich zurückguck, da is er unter de Eichen – ganz bleich in de schreckliche Dunkel! Roxane spürte, wie ihr trotz des heißen, drückenden Abends ein Schauer über den Rücken lief. Der Sklave, der ins Faß gestiegen war, um es zu säubern, und sofort von den Schwefeldämpfen getötet wurde, war zum Gegenstand mancher Gutssage geworden. Und er war nicht der einzige, der in jenen unbesonnenen alten Tagen so gestorben war. Auch andere Güter hatten ihren Spuk. Der heiße Wind vom Berg blies plötzlich in heftigen, springenden Böen und ließ die Blätter in den Bäumen rauschen. Die ganze Natur schien furchtsame Erregung ergriffen zu haben. Man hörte das Kriekiet, Kriekiet der Grillen, das Schnalzen der Frösche und das Bellen der Hunde unten im Farbigendorf. Irgendwo imitierte Lizzis Ben den Ruf der Nachtvögel, und die kleinen gefiederten Weibchen ließen sich täuschen und antworteten auf den Zauber seines Rufes. In dieser Nachtsymphonie erhielt Lizzis Stimme einen schicksalhaften Klang. - So hab ich de Spuk auch gesehn, Oumissus! Damals, er kam aus de Keller hinter mir her, er kam auch, wie Saartje sagt. Sie sagt de Wahrheit. Möge der liebe Gott uns allen helfen! - Bring sie ins Bett, Lizzi! sagte Großmutter Constance. Du kannst ihr einen Schluck Kognak geben. - Das war nicht richtig, flüsterte Tinus Roxane zu. Sie werden alle den Spuk sehen, wenn’s einen Schnaps dafür gibt. Die alte Köchin faßte ihre Nichte um die Schultern und führte sie weg, während Josua das Kaffeegeschirr abräumte. - Ich läute, wenn du abschließen kannst, Josua. Großmutter Constances Stimme war zuversichtlich und beruhigend, doch als der alte Butler im Haus verschwand, sagte sie:
- Das gefällt mir nicht. - Sie ist ein dummes Mädel. Sie kann sich’s eingebildet haben. Die Jungen laufen Saartje alle nach. Wenn der Spuk nicht Ben war, dann war’s ein anderer. - Du weißt genausogut wie ich, daß es keiner von den Jungen war, Tinus. Er stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. - Mach dir keine Sorgen, Großmutter Constance. Wir werden diesen Sommer die beste Ernte seit Jahren haben. Such doch nicht nach Schwierigkeiten. Dieser Aberglaube mit dem Spuk stammt doch nur von den Zauberdoktoren. Wir dürfen das nicht noch bestärken. Sie hob ihr runzliges Gesicht, und er küßte sie leise auf die Wange. Als er die Stufen hinab zu seinem Häuschen ging, sagte Roxane: - Er hat recht. Wir dürfen nichts auf das Gerede geben.
Fünftes Kapitel UNHEIL
Der Februar verstrich, und die Trauben reiften in der heißen Sonne. Der Frühlingsregen war ergiebig genug gewesen, und Tinus blickte voll Freude und Hoffnung in die Zukunft. Wenn sie auch nur ein wenig Glück hatten, würde das ein guter Jahrgang. Auch die Trauben für den Export rundeten sich zur Vollkommenheit. Er war froh, weil er wußte, daß das Gut seit dem Krieg und dem Rebenbrand mit Verlust arbeitete. Am ersten Freitagabend im März sagte er voller Befriedigung: – Nächste Woche beginnen wir mit der Lese. Obwohl die Zeit der Lese, des Packens und Kelterns die arbeitsreichste auf dem Gut war, freute Roxane sich immer darauf. Sie sah gern zu, wenn die Farbigen mit den flinken Fingern die Trauben pflückten und sie gewandt und vorsichtig in die großen, tiefen Körbe stapelten, ohne sie zu beschädigen. Eigentlich verstanden das nur die Farbigen richtig; sie waren zur Pflege der Trauben geboren und erzogen, diese freien Nachkommen der befreiten Sklaven von Dieu Donné. Doch Großmutter Constance murrte; zu viele von ihnen verließen in letzter Zeit das Land, um sich Arbeit in den Städten zu suchen. Sie hatten sich seit ihrer Jugend verändert, genau wie das Tal selbst sich verändert hatte: Neue Straßen durchzogen es, neue Häuser drängten sich an seinen Hängen, und neue Leute wie Mr. Krifti kauften Land auf und verhökerten es in kleinen Parzellen. Veränderungen verabscheute Großmutter Constance ebensosehr, wie sie Mr. Krifti verabscheute, denn in ihren Augen vertrat der große gelbliche Mann mit den schlaffen
Zügen und den orientalischen Händen, die dauernd mit einer Perlenkette spielten, die neue Ära in Constantia – die Ära der dahinschwindenden Weingärten und der anwachsenden Wohnviertel. ,Vernichte meinen Feind’, betete sie in der kleinen steinernen Kirche an jenem ersten Märzsonntag, und das Gesicht von Mr. Krifti mit seinen farblosen Fischaugen stieg vor ihr auf, ,und gewähre uns eine gute Ernte, damit wir unser Erbe erhalten können in diesem Deinem lieblichsten Tal…’ Neben ihr in dem vordersten Kirchstuhl beugte Roxane das dunkle Haupt. ,Laß ihn zurückkommen und gib, daß er mich nicht vergessen hat… Heilige Mutter, du hast das Herz einer Frau, bitte für mich, ich flehe dich an.’ Mr. Krifti, der zwischen seiner Frau Louise und seiner Schwiegermutter, Tante Hanna van der Walt, saß, beobachtete den schmalen Nacken Roxanes und ihre weichen Locken und seufzte um das, was man mit Gold nicht kaufen kann, das süße, vergängliche Geschenk der Jugend. Die Gemeinde erhob sich und sang einen Choral; hinten in der Kirche, wo die Farbigen in aller Demut standen, schwoll der Gesang gewaltig an. Sie beschämen uns, dachte Großmutter Constance mit einem feindlichen Blick auf den leeren Platz neben ihr. Merle und Guy waren gottlos wie alle jungen Intellektuellen auf der Halbinsel. - Die Farbigen sind’s, die ihren Schöpfer am lautesten rühmen, hatte sie einmal zu Tinus gesagt, sie, die am wenigsten haben, wofür sie ihm danken können. - Aber am meisten zu erbitten, hatte er gegrinst. Tinus ging zum Gottesdienst in die Holländische Reformierte Kirche, die immer gut besucht war. Während der Predigt wurden sie sich alle der plötzlichen Dunkelheit bewußt – eine seltsame, nicht in die Jahreszeit passende Eintrübung erstickte das Sonnenlicht, das in
Regenbogenstrahlen durch die bunten Fenster gefallen war. Als der Gottesdienst vorüber war, überzogen ungeheure schwarze Wolken das ganze Tal. Die farbigen Kinder in ihrem Sonntagsstaat rannten in den Schutz ihrer Hütten. Die kleinen Mädchen fürchteten um ihre Rüschenhüte und die leichten Kleider, doch die Älteren dachten weiter – es könnte die Ernte treffen. Als Roxane Großmutter Constance auf Dieu Donné aus dem Wagen half, kam Tinus aus seiner Wohnung. Er hatte sich bereits umgezogen und trug seinen Arbeitsanzug. Zwischen seinen blonden Brauen stand eine Falte, und er strich mit der verkrüppelten Hand durch sein dichtes krauses Haar wie immer, wenn er erregt war. - Das Wetter gefällt mir nicht! sagte er. Über dem Berg begann der Donner zu grollen, und hin und wieder fuhr schon ein Blitz die Schlucht hinab. In der großen Küche begoß die alte Lizzi den brutzelnden Sonntagsbraten. - Knips das Licht an! befahl sie Josua. Finster wie im Grab is es hier. Nun griff ein seltsames Schweigen nach dem Tal. Der Berg rückte näher und ragte indigofarben über dem Gutshaus von Dieu Donné. In den Plantagen hob sich jeder einzelne Baum deutlich ab. Über dem Berg schoben sich die Gewitterwolken zu einer ungeheuerlichen Invasion zusammen. Die abgekühlte Luft roch nach Regen, und das Gurren der Tauben hallte wie Stimmen, die man durch den Nebel vernimmt. Doch erst als Josua die Obsttorte vor Großmutter Constance auf den Tisch stellte, erhellte ein greller Blitz das Dunkel, und ein Donnerschlag zerschmetterte die Wolken und schüttelte ihre Last in einer Sintflut auf das Tal.
- Die Posaune des Gerichts! Die Augen des alten Butlers rollten in dem runden Gesicht nach oben und zeigten das erschrockene gelbliche Weiß. Die letzte Posaune! Tinus sprang auf. - Ein Wolkenbruch! Ausgerechnet jetzt, wo wir die Trauben pflücken wollen. Im Augenblick war er draußen im Sturzregen und rannte zu den Weingärten. Und schon folgten ihm Roxane und Großmutter Constance. Der Wolkenbruch hatte sich vom ganzen Kapland nur das Tal ausgesucht. Wie die Faust eines rachgierigen Verhängnisses fuhr er auf die reifen Reben hernieder. Innerhalb einer einzigen Stunde war jede Gosse, jeder Abflußkanal in den neuerrichteten Wohngebieten auf den Kämmen zu einem rasenden Strom geworden, der Wasserfluten, Schlamm und Schutt auf den niedriger gelegenen Ländereien ablud. Der Liesbeck-Fluß war über die Ufer getreten, und die Bauern sammelten ihre Kräfte gegen die anrückende Überschwemmung. Auf Dieu Donné gellte die alte Sklavenglocke und rief alle Hände zur Hilfe in der Not. Als die anfängliche Sintflut in steten Regen überging, gaben Tinus und Brink, der Hofmeister, ihre Anordnungen: Alle Entwässerungsgräben mußten vom Schlamm befreit und Sandsäcke gefüllt werden, um den Bruch im Flußufer abzudämmen. Männer, Frauen und Kinder mußten ihren Teil übernehmen. Für die Kinder war es eine ebenso lustige Sache wie die Bekämpfung von Waldbränden. Nur daß das Spielen mit Wasser noch mehr Spaß machte und nicht so gefährlich war. Sie standen unter der Führung von Lizzis raschem, intelligentem Ben. Der Sechzehnjährige war der Rattenfänger des Dorfes, der Musikant mit der magischen Flöte und der verzaubernden Gitarre, und wohin er auch kam, überall tollten
die Kinder tanzend und Unfug treibend hinter ihm her. Jetzt taten sie gern, was er sie hieß; eifrig füllten sie Sand in die Säcke und schaufelten den Schlamm aus den Wassergräben. Sie lachten, schrien und planschten, sie rutschten durch Dreck und Nässe und machten einen Karneval aus der Katastrophe. Großmutter Constance stützte sich auf ihre Stöcke und blickte mit steinernem Antlitz über die Verheerungen. Der Regen prasselte auf ihren Ölmantel und in das zerfurchte Gesicht. Als Roxane versuchte, sie mit einem Schirm vor dem Wetter zu schützen, fuhr sie sie an: – Geh mit dem Ding von meinem Kopf weg! Ich bin kein Sultan mit Schirmträger. Und außerdem läßt du mir nur alles in den Nacken tropfen. Da sie beim Gehen zwei Stöcke gebrauchte, war es ihr unmöglich, selber einen Schirm zu halten. Sie wurde gereizt, wenn man sie an ihre zunehmende Hilflosigkeit erinnerte. Dieser Wolkenbruch ist höhere Gewalt, dachte Roxane. Die Versicherung würde nicht zahlen. Sie sagte: - Das gilt wohl als höhere Gewalt? - Höhere Gewalt, ja, aber unermeßlich durch menschliche Gewalt verschlimmert – durch Mr. Krifti und seine Bundes genossen. Wütend zeigte Großmutter Constance mit dem Stock zu dem Schlamm hinüber, der sich in die Weingärten wälzte. Das da, dieser ganze Dreck, kommt von den hübschen neuen Wohngebieten auf dem Kamm herunter – aus Mr. Kriftis neuesten Kapitalanlagen in Constantia! Das Wasser, das früher dort oben gleich im Boden versickerte, strömt jetzt zu uns herunter, überschwemmt die Flüsse und wäscht den Boden weg. Hackt unsern Baumschutz ab und läßt alles zu Tode bluten! Was kümmert das den Mr. Krifti? Er findet schon einen Weg, seinen Profit aus diesem Unglück zu schlagen! Wart’s nur ab! Gegen Abend ließ das Unwetter nach, und Tinus kehrte ins Gutshaus zurück, erschöpft, doch nicht ohne Hoffnung. Er
fand Großmutter Constance und Roxane in der Bibliothek, wo ein Feuer aus Scheiten und Tannenzapfen im Kamin knisterte. Ein Feuer im März – es war verrückt! Er ließ sich schwer auf eine niedrige Bank fallen und streckte die Hände in die Wärme der Flammen, doch dann zog er die linke, als ärgere ihn ihre Verkrüppelung, zurück und ließ sie zwischen den Knien hängen. - Ich fürchte, die meisten Exporttrauben hat’s erwischt, sagte er. Sie sind durchweicht und zerschlagen. Wir sitzen alle im gleichen Boot – Karl Krike, die van der Walts, alle Nachbarn. Aber der Regen läßt ein wenig nach, und wenn der Wind sich nach Südosten dreht, kriegen wir trockenes, sonniges Wetter. Dann können wir unsere Weinernte retten. Großmutter Constance hatte die Lippen zusammengepreßt. Das war ihr eigensinniges Gesicht. - Ich verstehe, bemerkte sie bitter. Und die besten Tafeltrauben müssen wir an die Schnapsbrennerei verkaufen! - Ja, sagte er. So ist es wohl. Und nun müssen wir tüchtig um Sonne und Wind beten, damit die übrige Ernte trocknet. Er nahm ein Scheit aus der Tiekholz-Wiege und legte es sorgfältig auf das Feuer. Dann rollte er sich eine Zigarette. - Beten wie der Teufel! sagte er.
Tage verstrichen, und das helle Wetter, um das die Bauern beteten, kam nicht. Trotz der Jahreszeit hingen Nebel über dem Berg, und ein leichter Nieselregen hielt die Trauben feucht; der Mehltau würde kommen. Und wenn die Sonne sie nicht reifte, würde ihr Zuckergehalt für die Weinbereitung nicht genügen. In der kleinen grauen Steinkirche wurden Bittgottesdienste abgehalten, und unter den Farbigen lebte die Geschichte von Saartje und dem Spuk wieder auf. Der Spuk war in Duu Don erschienen, um das Tal zu warnen – die Hand des Herrn hatte
sich von ihm abgekehrt. Ebenso rasch, wie die Farbigen zu Heiterkeit und Frohsinn bereit waren, verzweifelten sie auch, und den Aberglauben sogen sie schon mit der Muttermilch ein. Nun verfielen sie in Trübsal. Tinus und Großmutter Constance gingen täglich in die Weinberge, um nachzusehen, ob die Trauben von einer der gefürchteten Pilzkrankheiten befallen seien. Oft mußte die alte Dame stehenbleiben, weil ihr die Schmerzen im Bein das Gehen fast unmöglich machten. Einmal glitt sie auf dem schlüpfrigen Weg aus und verletzte sich so sehr, daß sie mehrere Tage das Haus hüten mußte. Diese Untätigkeit quälte sie, denn es galt jetzt, Entscheidungen zu treffen. In gewisser Hinsicht war das Problem von Dieu Donné das aller Güter im Tal: ob man die Trauben lesen und mit schwerem Verlust an eine Schnapsbrennerei verkaufen oder ob man abwarten sollte, bis die Sonne sie vielleicht doch noch zur Reife brachte. Das Warten wiederum schloß die Gefahr der Pilzkrankheiten ein. Jeder Winzer löste dieses Problem nach seinem Gutdünken. Für Dieu Donné war es schwieriger. Dieu Donné kelterte selbst, und eine verdorbene Ernte bedeutete den Verlust eines ganzen Jahrgangs. Tinus kam in die Bibliothek, wo Großmutter Constance auf dem Sofa lag. Sein Gesicht war ernst. - Wir müssen eine Entscheidung treffen, Oumissus. Wenn er Sorgen hatte, sprach er sie oft mit dem Namen an, den die Farbigen ihr gegeben hatten. Nehmen wir den Verlust in Kauf und beginnen mit der Lese, oder sollen wir weiter auf anderes Wetter warten? Können wir es uns leisten, auf die Sonne zu rechnen? Großmutter Constances Gesicht wurde hart. - Ich kann es mir nicht leisten, nicht darauf zu rechnen, Tinus! Das Wetter ist für den März ganz und gar ungewöhnlich. Der Wind muß sich drehen!
Er schob die Hände tief in die Taschen seiner Manchesterhose und blickte zu ihr nieder, ein zäher junger Mann mit besorgtem Gesicht. - Oumissus, du weißt, was für ein Risiko wir damit ein gehen? Sie legte ihre Häkelarbeit weg und erwiderte trotzig seinen Blick. - Ich bin auf einem Weingut geboren und groß geworden, Tinus. Ich habe hier auf Dieu Donné schon Wein gemacht, als du noch in die Windeln machtest. Ja, mein lieber Neffe, ich weiß, was für ein Risiko wir damit eingehen. Zwei Tage später kam er wieder zu ihr. Sie war blaß und hatte dauernd Schmerzen. Merle war zu Besuch gekommen, und Roxane saß mit ihr beim Tee. - Auch eine Tasse, Tinus? - Ja, Roxie. Tüchtig heiß und sehr stark! Er setzte sich auf die Fußbank neben dem Sofa, und Großmutter Constance sah sein Profil – von der schwarzen Augenklappe maskiert. Er wollte sie also nicht ansehen, die alte kranke Frau, die bereit war, eine böse Nachricht zu hören. - Oumissus, sagte er schroff, wir haben unser Spiel verloren. - Pilzkrankheit? Welche? - Schwarzfleck. Roxane sah, wie die alte Dame zusammenzuckte, und Merle fuhr auf. Sie wußten alle, was der Schwarzfleck bedeutete – die Ernte vernichtet und die Reben im nächsten Jahr bedroht. Endlich sprach Großmutter Constance: - Wir hatten mit dem Risiko gerechnet, alles oder nichts. Tinus sah sie noch immer nicht an. - Ja, Oumissus, sagte er. Nun ist es nichts.
Höhnisch tobte, als es zu spät war, der ungestüme Südost vom sonnenglitzernden Meer das Tal herauf und blies die zähen Nebel weg. Heute würden die bunten Papierdrachen über den kahlen Weingärten aufsteigen. Roxane war auf dem Wege zu Merle, als sie Mr. Krifti begegnete. Er blieb stehen und sprach sie an. - Und wie geht es Mrs. de Valois? Ich fürchte, das Unglück hat sie schwer getroffen. - Es hat die meisten Leute hier in der Gegend getroffen, sagte Roxane mit der kalten, rührenden Würde der Jungen und Treuen. - Natürlich. Seine kummervollen Gesichtszüge verzogen sich zu trauernden Falten des Mitgefühls, und er blickte mit der Miene eines Bestattungsunternehmers, der eine Leiche für die Sarggröße abschätzte, über die Weingärten. Ich habe einer Anzahl von Winzern aushelfen können, Roxane. Ein kleines Darlehen, um sie über das nächste Jahr zu bringen. - Wir haben davon gehört. Er blickte auf das schmale, unnahbare Mädchen herab. Eine Idealistin, dachte er, und Neid und Bedauern bohrten in ihm. Die Trauer in ihren Augen und der seltsame Stolz in ihrer Haltung machten sie nur noch reizvoller. Sie besaß die Kraft und die Zartheit eines jungen Baumes, der sich im Sturm biegt. - Man hilft gern, wo man kann, fuhr er mit seiner sanften, belegten Stimme fort. Ich sagte Mrs. de Valois bereits, wenn ich irgend von Nutzen sein kann – finanziell oder auf andere Weise –, sie braucht mich nur anzurufen. Ich meine es, wie ich es sage. - Ich werde sie daran erinnern. - Ich habe gehört, daß sie sich bei der Überschwemmung das Bein verletzt hat. Hoffentlich ist es nicht schlimmer geworden. Plötzlich preßten sich ihre Hände fest zusammen.
- Wir machen uns große Sorgen darüber, Mr. Krifti… Sie brach ab und wandte sich weg. - Das tut mir außerordentlich leid. Bitte, empfehlen Sie mich Ihrer Frau Großmutter, und vergessen Sie meine Mitteilung nicht! Jederzeit und alles, was ich tun kann. Als sie zwischen den schlanken Pappeln der Allee hinabging, schien es ihr, als wiegten sich die silbrigen Bäume in dem zu spät gekommenen Südostwind hin und her wie jammernde Weiber, die vor Kummer außer sich waren. Merle schnitt Blumen im Garten. - Ich habe Angst um Großmutter Constance, sagte Roxane. Dr. Steyn will heute nachmittag einen zweiten Arzt hinzu ziehen. Merle runzelte die Stirn. - Und was soll ich daran tun? - Komm mit mir hinüber und bleib ein bißchen bei ihr! Sie ist sehr krank, Merle. Und sie hat Angst, wenn sie sich auch bemüht, es zu verbergen. Heut morgen hat Lizzi mir er zählt, sie habe die alte Familienbibel verlangt und wollte dann allein sein. Als Lizzi wieder zu ihr kam, weinte Großmutter Constance… Ich habe sie nie weinen sehen… - Na, dann komm! sagte Merle. Wir nehmen den Wagen. Auf Dieu Donné hörten sie von Josua, daß Dr. Steyn und der Facharzt bei Großmutter Constance seien. - Di sin schon lange bei de Oumissus. Josua schüttelte bekümmert das graue Haupt. Was wer’n die machen, Miß Merle? - Wir müssen hoffen, Josua, erwiderte Merle, und ihre blauen Augen waren ohne Ausdruck. Sollte die Last der Erbschaft schon jetzt auf sie fallen? Sie fürchtete sich ein wenig davor. Roxane schien es eine Ewigkeit, bis der Hausarzt und der Spezialist zu ihnen in die Bibliothek kamen. Als Dr. Steyn den Facharzt vorgestellt hatte, sagte Merle:
- Bitte, gießen Sie sich selbst etwas zu trinken ein – Zigaretten? Dr. Steyn nahm einen Brandy mit Soda, der Spezialist dankte. Er kam sofort zur Sache, wobei er sich an Merle wandte. - Es tut mir sehr leid, Mrs. Masterson, sagte er ernst. Ich fürchte, meine Ansicht wird Sie erschrecken, aber es gibt wirklich keinen anderen Weg mehr… Roxane schlug die Hände vors Gesicht, als er ihre Befürchtungen bestätigte. - Es ist keine Zeit zu verlieren, schloß er. Ihre Frau Großmutter muß noch heute abend ins Krankenhaus. Dr. Steyn wird alles Nötige veranlassen. Wir werden morgen operieren. - Weiß sie es? Merles Stimme klang ungläubig. Großmutter Constance! Das konnte man doch Großmutter Constance nicht antun! - Ja, sagte Dr. Steyn. Und sie hat es aufgenommen, wie wir erwarteten – wie eine Spartanerin. Der Spezialist setzte hinzu: - Nach den Schmerzen, die sie zu ertragen hatte, wird diese Entscheidung wahrscheinlich eine Art Erleichterung für sie gewesen sein. Ohne dieses Glied wird es ihr bessergehen. Für einen solchen Schlag trifft die Natur schon selbst ihre Vorbereitungen. Ja, dachte Roxane, mit unerträglichen Schmerzen! In ihrer Not hatte sie nur einen einzigen Gedanken: zu Großmutter Constance zu gehen. - Willst du mit zu ihr kommen? fragte sie Merle, als die beiden Mediziner sich verabschiedet hatten. Merle zögerte. - Lieber nicht, Roxie… Ich wüßte nicht, was ich sagen… oder was ich tun sollte. Geh du – und wenn sie mich sprechen will, dann kannst du mich ja rufen… So ging Roxane allein in
das große, hohe Schlafzimmer. Sie stand am Fußende des alten vierpfostigen Bettes. Das Gestell über dem kranken Bein bildete einen unheilverkündenden Hügel unter der Bettdecke. Das Gesicht auf den Kissen war von Schmerzen verzerrt, doch beim Anblick von Roxane leuchteten die trüben Augen auf, und die blassen Lippen zwangen sich zu einem Lächeln. - Haben sie’s dir erzählt, Kind? Roxane nickte und drängte die Bewegung zurück, die sie überwältigen wollte. Die letzten Sonnenstrahlen fielen schräg durch das offene Westfenster. Ihr Widerschein brach sich in den Kristalltropfen des antiken Kronleuchters und machte die Photographie von Dirk de Valois auf dem Nachttisch lebendig. O Dirk, wenn du doch nur hier wärest und deiner Mutter helfen könntest! dachte Roxane. Das Gesicht der alten Frau entspannte sich und erhielt einen Ausdruck seltener Güte, als sie die Hand ausstreckte. Das Mädchen ergriff die knochigen Finger und preßte sie an die Lippen. Sie kniete neben dem Bett nieder. - Großmutter Constance – sie können doch nicht… - Doch, Roxie, sie können. Ich weiß schon lange, daß das geschehen muß. Sie fühlte die warmen Tränen auf ihre um klammerten Finger fallen und strich mit der freien Hand über das weiche Haar des Mädchens. Nein, Kind, es ist gar nicht so schlimm. Ich bin ja eine alte Frau. - Du… du… versuchst mich zu trösten… Roxane blickte auf, und um ihren Mund zuckte es. Kann ich irgend etwas tun? Sag mir, bitte, wie ich dir helfen kann! Großmutter Constances Finger krampften sich in die Bett decke. - Ja, Kind, du kannst etwas tun. Ruf Mr. Krifti an und sag ihm, er soll herkommen – sofort! Sag ihm, ich hätte dringend mit ihm zu sprechen.
Die körperlichen und seelischen Nöte, die auf Großmutter Constances Operation folgten, verwirrten auf eine seltsam beharrliche Weise ihren Geist – eine Verwirrung, die nie wieder ganz verging. Ein Weinberg war ein Glied und das Haus von Dieu Donné das Herz. Dir wurden die Glieder genommen, Stück um Stück – wie deinem geliebten Tal –, und Mr. Krifti war der Scharfrichter. Heute das rechte Bein, morgen das linke, und übermorgen würde er sein Messer schleifen, um das Herz herauszuschneiden. Mochte es ein blutloses, verschrumpftes altes Herz sein, trocken wie eine Rosine, doch es schlug noch warm. Sie werden es gar nicht entbehren, Mrs. de Valois, wenn Sie sich erst daran gewöhnt haben, es nicht mehr zu haben. Es wird Ihnen wirklich viel bessergehen ohne Ihr Herz. Das wäre das Ende. Und Mr. Krifti hätte, was er sich am meisten auf der Welt wünschte: Dieu Donné, das Herz des Tales. Erst die Glieder, dann das Herz. Erst die Weinberge, dann das Gutshaus. Im Räderstuhl brachten sie sie zurück, eine kleine Königin Victoria am Ende ihrer Regierungszeit, doch noch immer königlich. - Ja, sagte sie zu Tinus und Roxane mit unglaublich altem und entschlossenem Gesicht, wenn es denn so sein soll, dann ist es besser, ich lerne recht schnell, mit Rädern fertig zu werden. Im Frühjahr kann ich mich draußen wieder kümmern, und ich werde rascher vorankönnen als früher. Dieu Donné und ich, wir werden mit unsern Schwierigkeiten schon zurechtkommen. Doch Lizzi, die Roxane bei der Sorge um Großmutter Constance mit einer ihrer hitzigen Natur fremden Geduld und Nachsicht half, war nicht zufrieden.
- Schwierigkeiten kommen immer zu dreien, Miß Roxie, sagte sie. Zwei haben wir gehabt – den schrecklichen Wolkenbruch und das Bein, das Oumissus verloren hat –, aber der Herr weiß, da is noch was im Anzug.
Das dritte Unglück kam gegen Ende des Winters und schlug nach Lizzis Herzen. Eine Massenepidemie lief durch das Tal, und auch Ben mußte sich legen. - Es sind Masern, Miß Roxie, sagte Saartje, die den Spuk längst vergessen hatte. Sie lachte, und ihre schwarzen Augen tanzten. Ich hab Ben gesagt, er is zu alt für Kinderkrankheiten. Roxane lächelte verständnisvoll. Sie ahnte, daß Saartje gute Gründe habe, ihren jungen Musikanten-Geliebten nicht mehr für ein Kind zu halten. Doch als der Rattenfänger des Tales sich erholte, folgten die Kinder nicht mehr dem Zauber seiner Flöte, und auch Saartje sang ihre Lietjes nicht mehr zur Musik seiner Gitarre. Ben war in die schweigende Welt der Tauben eingetreten. Wenn Roxane den Jungen brütend und einsam sah, tat ihr das Herz weh. Wie lange hielt die Erinnerung an ein Lied oder eine Tanzweise an? Wie bald schwand eine geliebte Stimme aus dem Gedächtnis? Vielleicht niemals. Hallams Stimme, die sie nur so kurze Zeit gehört hatte, klang ihr noch immer in den Ohren. Sie meinte, sie würde sich ihrer stets erinnern. Daß es doch bei Ben auch so wäre! Daß er seine Lietjes und die Vogelrufe bewahrte und sie hörte, wenn die andern sie nicht vernahmen! Daß er niemals die Musik verlöre, die ein Teil von ihm war! Doch Ben dachte daran, daß es ihm jetzt schwer werden würde, gutbezahlte Arbeit zu finden und Geld zu verdienen, um Saartje Geschenke zu machen und sie ins Kino zu führen. Er dachte, nun, da er sein Gehör verloren hatte, müsse er auch sein Mädchen verlieren.
Sechstes Kapitel DIE NACHRICHT
Der September ist im Kapland ein schöner Monat, ein Monat voller Hoffnungen und Versprechen. Der Saft steigt in den Bäumen, und die Akazien breiten ihren gelben Schleier über die schmutzigen Hüttendörfer der Kapniederung. Auf den Wiesen blühen wilde Blumen, und jede Brise trägt den berauschenden Duft der Wasserhyazinthen aus den Vleis herüber. Am Berghang schieben die Moose ihre schleimigen Kelche und Nadelkissen hervor, und die Keurbome werfen duftende blaßrosa Federschöpfe in den Wind. In Constantia erheben sich die beschnittenen Reben nackt und knorrig aus dem dunklen Blau der Lupinen, und die Haufen abgeschnittener Zweige liegen in der Sonne. An der Straße Damenmeile entlang stehen die farbigen und die malaiischen Kinder wie Wegelagerer und bieten den vorüberkommenden Autofahrern Bündel von Frühlingskarotten, Arme voll Lilien und buntem Klatschmohn an. Die Eichhörnchen jagen sich im jungen Laub, Singvögel flirten im Flug miteinander, und Tauben stolzieren in der feierlichen Pavane ihrer Werbung hinter ihren Weibchen her. Auf Dieu Donné bemühte sich Roxane, mit ihren Gedanken bei der Buchführung des Gutes zu bleiben, doch der Frühling steckte ihr mit all seiner Unruhe im Blut. Irgend etwas wird geschehen, dachte sie, irgend etwas Wunderbares! Das Büro, in dem sie saß, war ein unordentlicher kleiner Raum, ohne Sorgfalt an die Seite des Hauses angebaut. Es blickte über einen gepflasterten Hof auf die Seitentür des Kellers, und
rechtwinklig dazu stand ein kühler dunkler Schuppen, in dem ein großes Weinfaß lag: ein Schluck für die Arbeiter. Die Männer, die das Fünfuhr-Läuten der alten Sklavenglocke zusammengerufen hatte, lungerten im Schatten zweier Nußbäume und warteten, bis sie an der Reihe waren, den Zinnbecher in das Faß voll herben Rotweins zu tauchen, der für sie Nahrung und Getränk zugleich und der Hauptgrund für ihre Arbeit in den Weinbergen war. Roxane beobachtete sie müßig, eine Menge unbeantworteter Post lag in dem Korb auf ihrem Schreibtisch. Als sie Tinus’ ruhigen Schritt durch die Bibliothek zum Büro kommen hörte, drehte sie sich um. - Roxie, ich habe Nachrichten für dich! klang seine tiefe, singende Stimme. Gewöhnlich ist’s Tante Hanna, die den Klatsch nach Dieu Donné bringt, aber heute ist’s Tinus Vos. Er hielt ein Exemplar des Cape Argus in der Hand, setzte sich auf den Rand des Schreibtisches und fing an vorzulesen. Roxane sah nur seinen breiten Rücken und den kräftigen Hals, der aus dem Kragen seines Anzuges aufstieg – der Anzug war fast zu knapp für seinen muskulösen Körper und der Kragen ein wenig ausgefranst. Den muß ich mal heil machen, dachte sie, er braucht jemand, der sich um ihn kümmert… Und plötzlich hörte sie, was er las: - … kam Hal Fairmead nach Hollywood. Seine Zeitung beauftragte ihn, während der Verfilmung des berühmten Romans seines Vaters Ballerina über Alexa Rome zu berichten, und Hal Fairmead verliebte sich in den Gegenstand seiner Artikel. Das junge Paar wird seine Hochzeitsreise in das schöne Weinbaugebiet des Constantia-Tales in Südafrika unternehmen. Nach Weihnachten werden sie beide nach London zurückkehren, wo Alexa Rome mit den Proben für ihren neuen Ballettvertrag am Covent-Garden-Theater beginnen wird.
Tinus hielt inne, um die Bombe zu voller Wirkung kommen zu lassen. Draußen gingen die Farbigen wieder in die Weinberge, ihr Tagewerk dauerte vom Morgengrauen bis Sonnenuntergang. - Na? Er wandte sich zu Roxane. Wie findest du das? Hal… Hal verheiratet? Nein, nein! Das durfte nicht wahr sein. Lavinia Fairmead hätte sie benachrichtigt, hätte ihr etwas geschrieben, etwas angedeutet… nein, nein, nein… Ihre Handflächen waren kalt und feucht. Tinus drehte sich mit seiner verkrüppelten Linken eine Zigarette. Er zwang sie gern zu solchen kleinen Kunststücken. - Dreh mir auch eine! bat sie. Ihr Mund war trocken, und ihre Stimme schien von weit her zu kommen. Hinauslaufen, einen Vorwand finden, um hinauslaufen zu können, das war alles, was sie wollte, nur allein sein… Tinus sah sie mit der kleinen Falte zwischen den blonden Brauen an, während er ihr die Zigarette ansteckte. - Oh, Roxie, es tut mir leid. Aber ich wußte ja nicht – es ist doch schon so lange her… Sie zwang sich zum Lachen. - Lieber Tinus, du schmeichelst meiner Treue! Es ist vier Jahre her, seit ich Hal Fairmead gesehen habe, den ersten Jungen, der mich richtig geküßt hat! Sie nahm die Zeitung auf, die er hingelegt hatte. - Ich war nur verblüfft – einfach platt. Seine Mutter hatte mir gerade erst geschrieben und keinerlei Andeutung gemacht… Um Gottes willen, Tinus, laß mich allein, ehe ich mich verrate. Ich kann nicht länger schauspielern – geh, geh! Wie zur Erwiderung auf ihre unausgesprochene Bitte glitt er von der Schreibtischecke. - Ich muß weiter, Roxie. Ich habe mit Brink etwas zu besprechen. Er schließt gerade draußen den Schuppen ab, da kann ich ihn noch erwischen.
Sie nickte. In ihrem Innern lief eine Rolltreppe abwärts, immer abwärts und trug ein Heer von Träumen und törichten Schulmädchenhoffnungen hinunter ins Dunkel einer Rumpelkammer. Sie rief Wolf. - Ausgehen, alter Junge, ausgehen. Der große Schäferhund führte sich auf wie ein Welpe, wackelte mit dem Hinterteil, verdrehte den Kopf, zog Grimassen und stieß ein Freudengeheul aus. Sie schlich aus dem Haus, keiner sollte sie sehen oder aufhalten, und schon folgte sie dem Bachlauf den Berg hinauf in eine Schlucht, wo im unzugänglichen Schatten der Wasserfälle und Höhlen die rote Disa-Orchidee wuchs. Die letzten Sonnenstrahlen neigten sich eben über den Kamm des Gebirges, und die Luft wurde kühl. Der Bach tollte, stark angeschwollen seit den Frühlingsregen, über die glatten Felsblöcke, doch Roxane lief zum erstenmal blind an ihm entlang, ohne die kleinen reizenden Dinge um sich her zu beachten: die federigen Gräser, die riesigen Farne, den kühlen Geruch des Wassers, die Vögel und Libellen, die zwischen Blumen und Sträuchern dahinschossen und sonst ihre ganze Freude waren. Der Hund lief vor ihr her, hierhin und dorthin und wieder zurück an ihre Seite. Er kannte diesen Pfad und den Wasserlauf so gut, doch jeder Ausgang in den Busch erregte und begeisterte ihn von neuem. Dort, wo der Wasserfall über den moosigen Felshang herniederschäumte und seine Gischt tanzen ließ, warf sich Roxane in das junge Gras. Sie barg das Gesicht in den Händen, und ein Schluchzen schüttelte ihren Oberkörper. Als sie wieder aufstand, war die Sonne verschwunden. Nur das Glühen war geblieben, die unirdisch goldene Glut im Paß zur Waldbucht hinüber.
Sie fingerte über ihr Haar und versuchte zu lächeln. – Es ist schon gut, Wolf, alter Junge, sagte sie laut. Es ist nun vorbei, alles vorbei. Es war Kälberliebe, verstehst du, etwas, worüber man später lacht… Sie tauchte das Taschentuch in den eiskalten Bergbach, und während sie Gesicht und Augen netzte, erkannte sie, daß sie die letzte Spur einer unbegründeten Hoffnung abwusch. Für Hal war sie ein kleines Mädchen gewesen, nicht mehr wert als einen Kuß in einer mondhellen Nacht. Für sie war er die erste Liebe. Nun war es vorbei. Aus. Einige Augenblicke stand sie ganz still in der Freistätte der Natur, die seit langem ihre Zuflucht war. Hilf mir, sagte ihr Herz, hilf mir, erwachsen zu werden! Und sie überlegte, weshalb sie dieses einfache Gebet den Bäumen und dem Wasserfall, den Zehrwurzen, die bleich wie Wachsfäden im Dunkel standen, dem dämmernden Himmel und dem großen alten Berg zugeflüstert hatte und nicht der geliebten Madonna in der Nische über ihrem Bett.
Anfang November kamen also die Fairmeads mit Sohn und Schwiegertochter zurück ins Tal, und die ganze Kaphalbinsel war gespannt. Sie vergaßen, daß vor kurzem noch dem Vater ihr Hauptinteresse gegolten hatte, und stolperten nun vor Eifer übereinander, um in ihrer kleinen exklusiven Gesellschaft einen richtigen lebendigen Filmstar, eine Tänzerin, willkommen zu heißen. Doch Alexa hatte nicht das mindeste Verlangen danach, irgendeine Rolle im gesellschaftlichen Karussell des Kaplandes zu spielen. - Ich brauche nichts als Ruhe, sagte sie zu Lavinia. Halt sie mir bitte vom Leibe! Ich darf mich nicht mehr herum schieben
lassen. Ich muß ich sein, nicht das Liebchen von aller Welt, einfach ich. Ich muß mich erholen. Lavinia dachte, manchmal sehe Alexa schon beinah aus wie jene Dame, die zur Füchsin wurde, mit ihrem schmalen, keilförmigen Gesicht und den weit auseinanderstehenden Augen, die – außer wenn sie filmte oder tanzte – so wachsam und unpersönlich waren. - Du kannst nicht erwarten, daß wir nun alle deinetwegen den Witwenschleier tragen, Liebste! In Lavinias heller, deutlicher Stimme klang eine Spur von unbarmherziger Beharrlichkeit. Die Leute sind hier sehr freundlich und gesellig, Alexa. Es ist nur natürlich, daß sie dich kennenlernen und feiern möchten. Die Sonne schien auf die Terrasse und glitzerte auf dem Schwimmbecken dahinter. Man hörte Hal im Wasser plätschern. Alexa zuckte mit den Schultern und schlenderte zwischen den Blumenbeeten und Rasenflächen auf die Gruppe süßduftender Akazien zu. Ein Stück entfernt blieb sie stehen und wandte mit einem Schwung des weißblonden Haares den Kopf. - Laß mir wenigstens ein paar Tage Zeit! rief sie zurück. Lavinia sah ihr mit Mißfallen nach. So war Alexa nun. Entzog sich einfach ihrer Umgebung, ihren Verpflichtungen und verschwand – oder saß schweigend da, äußerlich entspannt, die Hände leicht zusammengelegt, die Augen hinter der dunklen Brille verborgen, ebenso unmenschlich und halb schlafend wie ein alter Karrengaul, der in der Sonne steht. Hal kam aus dem Schwimmbecken herauf. Sein gebräunter, muskulöser Körper sah aus, als sei er aus Eichenholz geschnitzt. Lavinia unterdrückte den Impuls, ihm über die jungen, glatten Schultern zu streichen. Der Sohn war zum Mann herangewachsen, da verboten sich mütterliche
Zärtlichkeiten von selbst. Er kam nicht mehr gelaufen und weinte. ,Küß es weg!’… oder stürmte in ihre geöffneten Arme, um das Gesicht an ihrer Brust zu bergen. Das Kind, das sich noch an den Rock der Mutter klammerte, war zum Mann geworden, der ängstlich über seine schwer errungene Unabhängigkeit wachte. Und dann, nach einer Weile, nahm eine andere Frau den Platz der Mutter ein – eine Frau mit dem Recht, ihn in den Armen zu halten… - Wo ist meine Frau? Hal rieb sich das zerzauste braune Haar mit dem Badetuch, die grauen Augen leuchteten vor Gesundheit – und Besitzerstolz. Jedesmal, wenn er ,meine Frau’ sagte, hätte er es triumphierend herausschreien und gleichzeitig über das Absurde ihres Verhältnisses lachen mögen. - Keine Heirat! hatte sie protestiert. Nur Liebe. Und er hatte erwidert: - Heirat oder gar nichts – du mußt einen rechtschaffenen Mann aus mir machen, Alexa! - Vor einer Minute war sie noch hier, sagte Lavinia. Aber es schien, als ob sie ,einsam und allein zu sein’ wünschte… - Armes Mädel. Sie braucht ein bißchen Einsamkeit, nachdem sie bei den Aufnahmen für Ballerina monatelang durchs Atelier und über die Bühne gehetzt worden ist. - Aber man kann nicht immer nur das tun, was man gern möchte, Lieber. Hallam schob ihre Füße auf dem Liegestuhl vorsichtig zur Seite, um sich zu ihr zu setzen. Nachdenklich sagte er: - Weißt du, Mum, ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, du verstehst Alexa nicht recht. Eine kleine Flamme züngelte nach ihrem Herzen, und ihre Stimme war nicht ohne Schärfe, als sie sagte: - Wie kommst du nur darauf?
- Du kritisierst sie. Innerlich kritisierst du sie immer. Verstimmt spürte sie seine Treue Alexa gegenüber. - Steht sie jenseits aller Kritik? Das Lachen, mit dem sie es sagte, diese Spur von Bosheit mißfiel ihm. - Alexa ist anders, verteidigte er sie. Sie ist eine Künstlerin. Du kannst an einen Menschen mit ihrem Genie nicht die üblichen Maßstäbe anlegen. Kühl erwiderte sie: - Das Leben wird die üblichen Maßstäbe anlegen, auch wenn ich es nicht tue. Er blieb bei dem, was er zu sagen hatte: - Könntest du nicht versuchen, ihr Bedürfnis, in Frieden gelassen zu werden, zu verstehen? Sie haßt es so, zur Schau gestellt zu werden. - Zur Schau gestellt! Das Wort gab Lavinia einen Stich. Ich habe nie vorgehabt, Alexa zur Schau zu stellen. Aber man hat gewisse Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber, in der man lebt, und ich muß zugeben, daß ich gern ein paar von unsern Nachbarn eingeladen hätte, damit sie meinen Sohn und seine berühmte Frau kennenlernen. - Wen zum Beispiel? - Zunächst einmal die jungen Mastersons. Guy hat unser Haus entworfen. - Und wir haben vor vier Jahren bei seinen Eltern gewohnt. Ich kann mich gut an Guy erinnern – und an seine Hochzeit drüben auf Dieu Donné… Er wies auf das alte Gutshaus hinüber, das ein Stück im Tal hinauf zwischen den alten Eichen leuchtete. - Guys Eltern sind gerade in Europa, sagte Lavinia, aber das junge Paar wohnt in dem hübschen strohgedeckten Häuschen einen Steinwurf von hier entfernt. Dann würde ich gern Merle
Mastersons Großmutter, die alte Constance de Valois, hierhaben, ein richtiges Unikum, eine in der Wolle gefärbte Traditionalistin, und ihr Mündel Roxane de Valois. Sie hielt mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck inne. Ich kann mir übrigens gar nicht vorstellen, warum Roxane noch nicht vorbeigekommen ist, um uns zu begrüßen. Wir sind doch schon vier Tage hier. Sie tippt viel für Vater und war früher alle Augenblicke im Haus oder im Garten. Und während wir weg waren, hat sie mir diese beiden Burschen abgerichtet… Sie zeigte auf die mächtigen Löwenhunde, die in der Sonne schliefen. Das kann ich einfach nicht verstehen. - Roxane de Valois… Hallams Gesicht wurde weich, als er sich lächelnd seiner Mutter zuwandte. Ist das etwa die kleine dunkle Brautjungfer mit den reizenden Augen, das Mädchen, dessen Mutter irgendwo in Frankreich von den Nazis als Spionin erschossen worden ist? - Du entsinnst dich ihrer noch? - Ja, natürlich. Sie war ganz reizend. Sicher ist sie jetzt schon erwachsen. - Neunzehn ungefähr. Die Jungen verlieben sich alle in sie, aber Roxane ist ein zurückhaltendes Persönchen. Sie spielt Tennis, tanzt und schwimmt mit den verschiedenen jungen Männern aus ihrem Kreis, aber keinem widmet sie sich besonders. - Und wen wolltest du sonst noch einladen? - Großmutter Constances Verwalter, Tinus Vos. Ein Afrikaner aus dem Freistaat und, wie die meisten Leute dort, ein Nationalist, der sein Land gern als Republik sähe. Aber er hat gewisse politische Schwächen. Er haßt die Engländer nicht. Im Gegenteil. Und für einen echten Vollblutafrikaner ist Toleranz wie eine schlechte Stelle in einem gesunden Zahn. Und Tinus ist tolerant. Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: Dann müßten wir die alte Tante Hanna van der Walt
einladen. Im Tal geschieht nichts, von dem sie nicht genauestens Bescheid weiß. - Deshalb muß sie auch von mir und Alexa erfahren und uns dann herumtragen? - Ganz gewiß. Und natürlich müssen wir auch ihre Tochter Louise und deren Mann, Mr. Krifti, dazubitten. Krifti hat uns unsern Bauplatz verkauft. Er hat viel Einfluß hier in der Gegend. Übrigens ein komischer Kauz mit mehr Geld als Freunden und einer prachtvollen Sammlung von Afrikana. Gegenstände von historischem Wert zu sammeln ist hier draußen eine wichtige Sache. Krifti würde seine Sammlung gern mit Dieu Donné krönen und hat einmal die Unbesonnenheit besessen, Großmutter Constance ein Angebot darauf zu machen. An dem Tage wäre ich gern einmal Maus im Zimmer gewesen. - Ich nehme an, sie ist auf das Angebot nicht eingegangen. Lavinia lachte. - Großmutter Constance, das ist Dieu Donné. Sie sitzt dort oben in ihrem Rollstuhl und hat vor, ihren geliebten Besitz genauso zu erhalten, wie er seit zweieinhalb Jahrhunderten steht und liegt. Sie kämpft gegen entsetzliche Schwierigkeiten, die die Vergangenheit ihr gebracht hat, während die Zukunft schon den Besitz frißt wie ein junger Hund eine Schüssel voll Fleisch. - Ich finde die alte Dame rührend. Und sind das alle? - Ja. Du siehst also, ich möchte nur die Leute einladen, die wirklich mit unserm neuen Heim Farway verbunden sind. Und diese paar Menschen sind es. Jeder von ihnen hat auf irgendeine Weise zu unserm Leben als Siedler in einem neuen Lande beigetragen. Und dich als Journalisten müßten sie interessieren. Dieses Tal mit seinem Sippensystem und seinen Konflikten hat dir eine Menge zu bieten.
- Vielleicht, gab er nachdenklich zu. Doch Alexa soll es nur Ruhe und Frieden bieten. Wir wollen den Zauber nicht zerstören. Wenn es auch nicht zu sehen war, spürte er doch, wie sie erstarrte. Seit seiner Ehe war es gefährlich, mit ihr zusammen zu sein. Ein paar Augenblicke schien es, als ständen sie wieder auf dem alten vertrauten Fuß miteinander, und dann befand er sich plötzlich ohne jeden wirklichen Grund auf dem unsicheren Boden irgendeiner femininen, kaum zu begreifenden Abneigung. Kühl sagte sie: - Als mein Gast schuldet mir deine Frau ein gewisses Maß von Höflichkeit. Sie brach ab und biß sich auf die Lippen; es war ihr bewußt geworden, daß ihre Feindseligkeit die aufgerichteten Schranken durchbrochen hatte. Hal stand auf und blickte mit den schmalen Augen, vor denen sie sich nun schon fürchtete, auf sie nieder. - Wenn das deine Einstellung ist… - Genau. - Dann arrangiere deine Gesellschaft. Ich will mein Bestes tun und Alexa vorführen, wenn du es wünschst. Laß mich nur wissen, wann du uns zur Besichtigung erwartest. Wieder wurde sie sich der Flamme des Unwillens bewußt. Wie Alexa ihn verändert hatte! Er war ja rein besessen von ihr! Aber wie sollte man auch erwarten, daß das gut ging, ein Zweiundzwanzigjähriger mit einer weltberühmten Tänzerin verheiratet! Für einen erfahrenen Weltmann wäre das nicht leicht gewesen, geschweige denn für Hal. Aus diesem Grunde hatte Lavinia auch gegen die Verbindung gekämpft, sobald sie merkte, was im Gange war. Doch sie hatte verloren, denn Hal war starrköpfig wie der Teufel, und von Adrian hatte sie wenig Hilfe gehabt. Sie hatte ihn angefleht, ein Machtwort zu sprechen.
- Wie kann ich das? hatte er in seiner vernünftigen Weise gesagt, die sie so oft zur Verzweiflung brachte. Hal ist mündig. Er ist zwei Jahre Soldat gewesen und hat sich bereits einen Namen als Kriegsberichterstatter gemacht. Und was Alexa angeht, sie hat sagenhafte Gagen. Was könnte ich also tun? Und wohin würde sie nun führen, diese unsinnige Ehe? Sie setzte sich auf und stützte das Kinn auf die Hände. Sie wollte es Hal erklären, wollte sagen: - Laß uns nicht streiten! Bitte, Lieber, laß diese junge Frau nicht so zwischen uns treten! Doch statt dessen sagte sie in einem so bitteren Ton, daß sie ihre eigene Stimme kaum wiedererkannte: - Vielen Dank für deine Mitwirkung. Aber du tätest gut daran, nicht zu vergessen, daß du ebenso eine Zukunft und einen Beruf hast wie Alexa! Du bist Journalist und kannst dich einfach nicht weigern, Menschen kennenzulernen und das Leben zu beobachten, nur weil deine Frau sich zufällig in einer asozialen Geistesverfassung befindet. Er antwortete ihr nicht, legte sich nur das Badetuch um den Nacken und ging in den Garten hinaus, dorthin, wo Alexa verschwunden war.
Siebentes Kapitel BALLERINA
Tante Hanna van der Walt setzte ihren abscheulichsten Hut auf und zog die langen Handschuhe an, die sie um die Jahrhundertwende auf einem Ball beim Ministerpräsidenten getragen hatte. Als sie ihr lange unbenutztes Besuchskartenetui aus ziseliertem Silber gefunden hatte, stieg sie in den Rücksitz ihres alten Chevrolet. Von ihrer Tochter Louise und Joel, dem kleinen verhutzelten Farbigen in weißer Jacke und Mütze, begleitet, ratterte sie durch das Tal nach Farway. - Besuch zu machen ist völlig unmodern, protestierte Louise ihrer festentschlossenen Mutter gegenüber. Heutzutage ruft man Neuangekommene einfach an und lädt sie zu einem Cocktail ein. Wenn du und dein Haus ihnen dann gefallen und wenn du selber sie auch magst, forderst du sie später auf, zum Essen zu kommen. - Diese Fairmeads sind Engländer, erwiderte die Mutter unbeugsam. Sie wissen, was sich schickt. Alle Engländer wissen das. - Die Engländer haben lange vergessen, was sich schickt – wie du’s ausdrückst. England hat seit deiner Zeit eine gesellschaftliche Revolution durchgemacht. Deshalb siedeln sie sich hier an, um aus ihren Löchern und aus ihren Steuern herauszukommen. Mögen sie zehnmal behaupten, das Klima am Kap reize sie und sie vertrügen die englische Kälte nicht – in Wirklichkeit ist es der neue englische Lebensstil, den sie nicht ertragen können.
- Arme Seelen! Die alte Tante Hanna war unfähig, sich das verwandelte England vorzustellen, doch Louise redete es ihr immer wieder ein, daß die reizenden Tage vorüber seien. Das klingt alles zu schrecklich! Daß Frauen von vornehmer Herkunft gezwungen sein sollen, zu kochen und zu scheuern! Da wundere ich mich gar nicht, wenn sie hierher kommen, um ein kultiviertes Dasein führen zu können! Elias, der Negerboy bei Fairmeads, symbolisierte dieses ,kultivierte Dasein’. Vielleicht ein sonderbares Symbol, aber im Hause von Abkömmlingen der Reichserbauer gar nicht so falsch am Platze. Elias war von nubischem Schwarz, und sein freundliches Lächeln entblößte, als er die Tür öffnete, ein auffallend weißes Gebiß vorstehender Zähne. Kannibalisch geradezu! dachte Tante Hanna. Das Weiße seiner intelligenten Augen war butterblumengelb und seine Stimme tief und hallend wie das Murren eines Löwen. Die gestärkte Dienerjacke betonte noch die Eingeborenenkraft. Er nahm ihre Karten auf einem Silbertablett entgegen. - Ich bedaure, meine Missus ist ausgefahren, grollte er in seinem sorgfältigen Englisch, das sich so sehr von der raschen, hohen Sprechweise der Kapmischlinge unterschied. Aber Tante Hanna ließ sich nicht so leicht abweisen. Der leuchtende Federputz auf ihrem Wagenrad von Hut zitterte, als sie sich vorbeugte, um eine vertrauliche Frage zu stellen. Elias beobachtete das fasziniert. Das war eine Kopfbedeckung, die eines Bantu-Häuptlings würdig war. Es bedürfte nur noch eines Affenschwanzes, um sie vollkommen zu machen. - Deine alte Missus ist vielleicht ausgegangen, sagte Tante Hanna, und Louise unterdrückte ein Lächeln: Lavinia Fairmead würde das ,alte Missus’ nicht recht gefallen. Aber ist deine junge Missus denn nicht da?
In gesellschaftlichen Flunkereien war Elias noch nicht erfahren, und Tante Hannas inquisitorische, wässerige Augen hatten eine Art, die Wahrheit zu erzwingen. - Junge gnädige Frau ist im Garten am Schwimmbecken. Junge gnädige Frau schläft. - Wir wollen sie nicht stören, sagte Louise hastig. In gar keinem Fall. - Unsinn! Sie kann um vier Uhr nachmittags nicht mehr bei der Siesta sein. Sie wird jetzt Tee trinken wollen. Ich könnte selbst auch ganz gut eine Tasse brauchen. - Mutter…! - Junge Missus trinkt keinen Tee, erklärte Elias. Junge Missus schläft und schläft in der Sonne. Er war lange müßige Palaver unter den Dornbäumen in seinem heimischen Veld gewohnt und stand immer noch unter dem Bann von Tante Hannas gefiedertem und fürstlichem Kopfputz. - Wo geht’s zum Teich, Boy? - Wenn du gehst, sagte Louise zu ihrer Mutter, setze ich mich in den Wagen und warte auf dich. - Laß dich nicht stören, stimmte Tante Hanna zu. Aber ich habe vor, hinüberzugehen und mich mit der jungen Frau bekannt zu machen. Sie wandte sich an den hypnotisierten Neger. Du brauchst nicht mitzukommen. Zeig mir nur den Weg! Als er das tat, zuckte Louise die Achseln und ging zum Wagen zurück. Wirklich, die alte Dame wurde langsam unerträglich mit ihrer Neugier! Joel öffnete Louise den Wagenschlag, und die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf. - Überall im Tal Neger, Miß Louise! In meinen jungen Tagen gab es nie einen eingeborenen Neger in der ganzen Gegend. Nu sin die überall mit ihren verrückten Pullovern, ihren großen
Niggerhüten und de gelben Schuhen. Das is schlimm, Miß Louise! - Das ist eure eigene Schuld, sagte sie ärgerlich. Die Farbigen gehen alle in die neuen Fabriken, was könnt ihr also anders erwarten? Sollen wir etwa unsere Hausarbeit selber machen wie die Engländer? Er nahm die Schirmmütze ab, um sich auf dem Kopf zu kratzen, und sein kleines verschrumpeltes Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an. Joel gehörte wie Josua von Dieu Donné zur alten Schule. Er gehörte ganz und gar zum Tal, war ein Nachkomme der Sklaven und vertrauter Diener einer der ersten Familien von Constantia. - Was Sie sagen, is richtig, Miß Louise. Eine von meinen Töchtern arbeitet in einer Fabrik. De Mädel wollen alle nich mehr in Dienst gehen. Die haben in de Fabrik mehr Geld un mehr freie Zeit. Ich sag ihr, besser sein gutes Haus un ein Halt, aber sie wirft den Kopf in den Nacken un lacht mich aus. - Dann seid ihr selbst schuld, wenn die Neger eure Plätze in den europäischen Haushalten einnehmen! Doch bei sich selbst setzte Louise hinzu: Oder die industrielle Revolution, die unser Land völlig umstürzt. Sie zog ihr Zigarettenetui heraus und bot es dem alten Mann an. Nimm dir eine, Joel. Du kannst sie ja wegtun, wenn die Oumissus sich blicken läßt. - Danke, Miß Louise. Ich steck sie lieber ein, weil ich meine Oumissus da um die Ecke kommen sehe. Na, dachte Louise, da muß ihr jemand sehr rasch den Kopf gewaschen haben! Doch das bizarre Gesicht ihrer Mutter leuchtete vor Wärme und stiller Belustigung. Elias stand höflich vor der Tür, um zu warten, bis sie abfuhr. Die herrlichen, begehrenswerten Federn nickten und winkten auf dem Hut, als der Wagen anzog. Alte Elefantenkuh, dachte er; in seiner Heimat war das ein Ausdruck von Verehrung und Respekt.
- Meine Liebe! Tante Hannas Stimme war gedämpft. Meine Liebe, wenn ich dir erzähle, was ich da gesehen habe! Sie lag auf so einer neumodischen Luftmatratze am Rande des Teiches und schlief fest, von Kopf bis Fuß mit Öl und praktisch sonst mit nichts bekleidet: ein Schurz in der Größe einer Briefmarke und ein Halter, der seinen Zweck ganz gewiß nicht erfüllte! - Einen Bikini meinst du? - Keine Ahnung, erklärte Tante Hanna, die sich hin und wieder gern ein bißchen burschikos ausdrückte. Aber ich dachte bei mir: Wenn nun der Gärtner so auf sie stieße – oder gar dieser große Hausbursche –, na, da könnte doch alles passieren! Es ist nicht recht. - Wie sieht sie denn aus? - Wie zwölf. Flach wie ‘n Brett, winziger Körper, kleines Gesicht und eine Masse weißblondes Haar. - Platin – wahrscheinlich gebleicht. - Keine Ahnung, aber ich muß schon sagen! Ihr modernen Mädel laßt die Natur nie in Frieden. Ihre Augen habe ich nicht gesehen. Sie hatte eine dunkle Brille auf und rührte sich nicht, während ich sie betrachtete, kein Muskel bewegte sich. Sie war tot für die Welt. - Tiere tun das auch, sagte Louise. Wenn sie Gefahr wittern, erstarren sie wie Eis. - Sie war nicht erstarrt, sie schmorte in der Sonne. Ein heißer Oktober dies Jahr! Tante Hanna beugte sich vor und sprach auf Joels Hinterkopf ein: - Nach Dieu Donné, Joel! Dort kriegen wir bestimmt eine Tasse Tee. - Ja, Oumissus. Louise stöhnte. Dann gab auch sie eine Anordnung: - Setz mich unterwegs vor meinem Haus ab! Zur Mutter sagte sie: Mit Großmutter Constance wirst du dich auch ohne mich gut unterhalten.
- Arme alte Constance! sagte Tante Hanna. In diesem entsetzlichen Stuhl festgebunden, unbeweglich für alle Zeiten. Ab und zu muß schon mal jemand zu ihr hinüberfahren und ihr ein bißchen Klatsch erzählen. - Ach, Liebste, der Klatsch wird ihr nie fehlen, solange du im Tal bist! Doch Louise lächelte dabei, und eine gewisse Zärtlichkeit machte ihre kalten, gemeißelten Züge weich. Schrecklich, wenn ich mir vorstelle, sie müßte ohne dich auskommen. Tante Hanna nahm die Dose aus der Handtasche, puderte sich die aristokratische Van-der-Walt-Nase und tupfte ein wenig Scharlach auf die von der Erosion der Jahre gerunzelten Lippen. Wenn sie Großmutter Constance besuchte, fühlte sie sich immer sehr jung und munter. - Es ist eigentlich gar keine Gesellschaft, hatte Lavinia er klärt, als sie ihre Einladungen aussprach. Alexa hat eine Abneigung gegen Gesellschaften, aber wir wollten gern, daß unsere allernächsten Nachbarn ganz ungezwungen abends zu einem Gläschen vorbeikämen. – Sie waren also da. Die alte Tante Hanna und die Kriftis kamen als erste, und als Elias sie durch die Halle auf die Terrasse hinausführte, bemerkte er voller Enttäuschung, daß die Elefantenkuh ihren Federschmuck nicht trug. Ohne ihn büßte sie ein wenig von ihrer Majestät ein. Tante Hanna hatte sich jedoch mit der neuen Blumen-Toque herausgeputzt, die sie eigens für diese bezaubernde Gelegenheit, die intime Gesellschaft, erstanden hatte. - In meinem Alter ist man nicht mehr ungezwungen, sagte sie zu ihrer Tochter. Man trägt einen Hut – und Handschuhe. Louise trug nichts von beiden. Ihr glattes schwarzes Haar mit den vorzeitig ergrauten Strähnen war gepflegt und gut frisiert, das Seidenkleid einfach und teuer. Ihr Mann betrachtete sie mit
Befriedigung. Sie war stets genau richtig angezogen. Mr. Krifti betrachtete Louise als eine seiner besten Investitionen. Als nächste kamen die Mastersons. Guy hatte in den vergangenen paar Jahren Sicherheit gewonnen, es war ihm gelungen, einige seiner springenden Gedanken einzuholen, doch eine Neigung, bisweilen zu stammeln, haftete ihm immer noch an. Er kam sehr gern nach Farway. Es war sein erstes wirklich gelungenes Haus, triumphierend modern, und die schöne und vornehme Einrichtung der Fairmeads ließ es doppelt zur Geltung kommen. Merle stand jetzt, Mitte Zwanzig, in der Blüte ihrer Schönheit und war sich dessen durchaus bewußt. Doch ebenso bewußt war sie sich auch der glühenden Eifersucht ihres rotköpfigen Mannes. Ein unbedachtes Wort oder ein Blick von ihr ließen Guy auflodern wie ein Streichholz. Aber seine heftige Eifersucht erregte sie und schmeichelte ihr immer wieder. Lavinia hatte für alle Gäste das rechte Wort, so daß jeder den Eindruck gewann, er sei der einzige, den sie wirklich gern hier in ihrem Hause sah – bis der nächste in ihr Magnetfeld trat. - Tante Hanna – was für ein himmlischer Hut! Liebe Louise und Krifti, reizend, euch mal wiederzusehen… Wie machte sie das nur? fragte sich Adrian Fairmead. Kein Mann würde es je fertigbringen, so vollendet Komödie zu spielen. Da fing sie wieder an: - Guy, mein Lieber, Sie müssen aber wirklich sehr nett zu Merle sein – niemals erblüht eine Frau ohne Grund zu solcher Schönheit! Adrian, Liebling, gieß doch Tante Hanna einen süßen Sherry ein, Louise nimmt von dem trockenen – ach, Hallam, bitte, Merle trinkt Gin mit Eis und Zitrone. Krifti, ihr Männer müßt euch selbst bedienen… Nein, bitte, fragen Sie mich nicht, wo Alexa ist! Meine Schwiegertochter kann nicht auf einen einzigen guten Auftritt verzichten. Sie sorgt stets
dafür, daß sie genausoviel zu spät kommt, wie es notwendig ist! Das war unklug – und überflüssig, dachte Adrian. Er sah, wie die Augen seines Sohnes sich verhärteten, während jeder Nerv sich in schweigender Verteidigung Alexas spannte. Doch in diesem Augenblick schob Lizzis tauber Ben in einem schneidigen weißen Anzug den Rollstuhl mit Großmutter Constance auf die Terrasse. Roxane und Tinus folgten zu beiden Seiten. Lavinia eilte ihnen entgegen. Warum trugen diese jungen Südafrikaner ihre Anzüge nur immer eine Nummer zu klein? Doch Roxane sah in ihrem blaßgelben Baumwollkleid mit der enganliegenden Taille, weißem Kragen und Manschetten aus wie der junge Frühling. - Liebste Großmutter Constance, wie wunderbar, daß Sie gekommen sind! rief Lavinia. Wir wagten es kaum zu hoffen – wir wissen ja, wie selten Sie in letzter Zeit aus gehen –, aber wir wollten so gern, daß Sie Alexa kennen lernen… Wo ist denn Alexa, Hallam? Großmutter Constance, Roxane und Tinus – Sie kennen Hallam ja schon – von Merles Hochzeit, nur daß er damals noch ein ganz junger Bursche war. Wie albern wir Engländer Leute miteinander bekannt machen! dachte Adrian, der heute dauernd in einer leise hysterischen Stimmung war. Wir sollten bei den Amerikanern in die Schule gehen, notfalls ein Namensschild anstecken. Er fragte Großmutter Constance: - Nun sagen Sie mir, was Sie gern möchten – Sherry, Gin oder vielleicht ein Glas vom süßen Constantia? Während er sich an seinen Ehrengast wandte, fiel sein Blick auf Hal, der eben mit Roxane sprach. Die eine Augenbraue war charakteristisch hochgezogen; er schien das Mädchen mit irgend etwas zu necken. Tinus stand dabei, und Adrian hörte sein tiefes Lachen, als er sagte:
- Nein, den alten Wagen hab ich verkauft. Jetzt hab ich einen mit besseren Manieren. Roxanes Lächeln war gezwungen, und sie sah blaß und verstört aus; die Hand, die die weiße Tasche umklammerte, zitterte, und Adrian fragte sich, ob sie krank sei. Doch als er Großmutter Constance ihr Glas Süßwein brachte, wurde er beruhigt. Roxane hatte den unangenehmen Augenblick überwunden; sie sagte etwas zu Hal und lachte mit den andern. Trotzdem blieb Adrian dieser Eindruck von Qual im Gedächtnis und fiel ihm später wieder ein. Er hörte die laute, helle Stimme seiner Frau. - Lieber, hier sind Karl und Aletta… Die Krikes waren im letzten Augenblick zu der Gesellschaft eingeladen worden, weil sie, wie Lavinia betonte, Nachbarn waren und man ruhig, wenn man sowieso schon ein Dutzend Leute da hatte, noch ein Paar dazunehmen konnte. Roxane hatte den Augenblick, da sie Hal wieder begegnen würde, ebenso gefürchtet wie herbeigesehnt. Sie hoffte, seine Anwesenheit würde durch irgendein Wunder sein Bild zerstören und sie enttäuschen. Es mußte – es mußte so sein! Daß er anders wäre, als sie ihn in der Erinnerung trug, nicht mehr so liebenswert! Und wenn das schon nicht sein sollte, dann mußte sie selbst so stark und kühl sein, daß keiner ahnte, was sie fühlte! Sie war Farway ferngeblieben, damit sie Hallam nicht zufällig allein traf und sich durch ein Wort oder einen Blick verriet. Sie wußte, das beste für sie wäre, ihn in Gegenwart anderer zu treffen, wo ihr der Stolz helfen würde. Doch als sie ihn nun sah, wie er sich bewegte und lächelte, als sie seine Hand berührte und seine Stimme hörte, zerbrach ihre kümmerliche Schutzwehr. Seine rauchgrauen spottlustigen Augen lachten sie unter den schmalen Brauen an.
- Oh, Roxane de Valois! Sie sind ganz erwachsen geworden – und noch hübscher als damals: das erste und letzte Mal, als wir uns begegneten und Sie mich völlig um den Verstand brachten. Er sagte es so leichthin, und es war so unwichtig und bedeutungslos. Er warf jenen Sommertag weg, jene Nacht der singenden Sterne – aus der Umarmung, die ihr ganzes Herz gefangen hatte, machte er einen kleinen Scherz zwischen ihnen, einen Scherz, an dem Tinus teilgenommen hatte, weil sein Wagen wie ein Esel schrie. Und da kamen Karl und Aletta Krike, begrüßten Hallam und erinnerten ihn an Merles Hochzeit und ihr Braaivleis. - Wir hatten gehofft, Sie würden zu uns ins Tal ziehen und Wein bauen, Karls tiefe Stimme paßte zu der massigen Gestalt und dem blonden Vollbart. Doch Hal schüttelte nur den Kopf und lächelte. - Noch nicht. Aber vielleicht später irgendwann einmal, wenn Alexa das Tanzen aufgibt. Roxane sah, wie seine Augen sich veränderten, weich und strahlend wurden, als ob in ihrer Tiefe eine Fackel angezündet würde. Hallam blickte in den Garten hinaus. Sie wandte sich, um seinem Blick zu folgen. Eine zerbrechliche Gestalt kam vom Rasen auf die Terrasse zu – ätherisch – unirdisch. - Ach, da bist du ja endlich, Alexa! rief Lavinia. Was hast du nur um diese Tageszeit am Schwimmbassin gemacht? Es fiel Lavinia schwer, ihren Unwillen zu verbergen. Warum in Himmels Namen war sie ausgerechnet im Garten, wenn die Gäste darauf warteten, sie kennenzulernen? – Ich liebe den Teich, sagte Alexa unbeirrbar. Sie überquerte den Rasen, stieg die Stufe zu der Mosaikpflasterung herauf, ohne Eile, in herrlicher Ausgewogenheit, die nackten Füße in flachen grünen Sandalen; ein hauchdünnes Gewebe umgab die glatten, gebräunten Schultern, und das silberweiße Haar bildete, vom Gold des Abends betupft, eine Aura um das kleine spitze
Gesicht. In Guy Masterson wurde bei diesem Anblick der Künstler wach. Und Merle dachte mit seltsamer Erleichterung: Sie ist ja gar nicht schön; ich hatte gefürchtet, sie sei schön! Ihre Augen sind also braun, merkte Tante Hanna an – ein merkwürdiger Kontrast zu dem hellen Haar… Mr. Krifti, der neben seiner Schwiegermutter stand, überlegte, was man Alexa Rome wohl für einen Film zahlen mochte. Wenn man ihr Einkommen mit dem ihres Mannes gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagte, wie es in England geschah, mußte sich eine unmögliche Situation ergeben. Sie täten viel besser, in Sünde miteinander zu leben. Louise Krifti stellte fest, daß sie sich unbändig nach einer Vorstellung im CoventGarden-Theater in London sehnte. Sie schwärmte für Ballett: Schwanengesang, Spectre de la Rose… Großmutter Constance schüttelte den Kopf. Sie standen unter einem eigenen Gesetz, diese Artisten, und der nette junge Mann, Hallam Fairmead, war den Schwierigkeiten, die sich aus so einer Ehe ergeben mochten, gewiß nicht gewachsen. Karl und Aletta Krike hatten zur selben Zeit den gleichen Gedanken. Der große Mann warf seiner junonischen Frau einen Blick zu. Sie wird ihm niemals Kinder schenken, sagte er. Tinus sah die Qual in Roxanes Gesicht, und als er die Ursache dafür in der zarten, fremden Gestalt unter ihnen fand, erfüllte ihn jähes Mitleid und eine seltsame Feindseligkeit. Roxie, mein Eichhörnchen, wenn man dich verletzt, blutest du. Aber dieses Märchengeschöpf ist doch nicht aus Fleisch und Blut! Wie kann sie die Frau eines Mannes sein – sein Weib? Der taube Ben hinter Großmutter Constances Rollstuhl hielt beim Anblick dieser kleinen Ballerina den Atem an. Er spürte in ihr den gleichen Rhythmus, der ein Teil seiner Saartje war. Nur daß Saartje immer mit ihrem ganzen Ich tanzte, Hüften, Schultern und Gesäß, während diese da ruhig war – wie aus einem Guß. Aber man wußte gleich, das Tanzen
steckte in ihr wie die Elektrizität in den dünnen Kupferdrähten. Seine Finger zupften die Saiten einer unsichtbaren Gitarre, während gespensterhafte Lietjies durch das Schweigen zogen, in dem es nie wieder singen oder lachen würde. Roxane beobachtete Alexa, die wie zu einer geheimen Musik die Stufen heraufstieg, und ihr Herz drehte sich um. Kein Wunder, daß Hal diese Frau liebte. Sie war mehr als schön, sie war ein Lied. Alexa sah Hal an und lächelte, und ihre Hände machten eine kleine unbewußte Bewegung zu ihm hin: wortlos redeten sie miteinander in der Sprache der Liebenden. Und in seinen Augen war immer noch das Leuchten. Jetzt wußte Roxane, was es bedeutete, wenn man sagte, ,Sie ist das Licht seiner Augen’ – ohne das geliebte Bild gab es nur Dunkel und Blindheit. Sie wußte es – wie gut sie es wußte! Das war also Alexa – seine Geliebte…! Zum zweitenmal beobachtete Adrian Fairmead das Mädchen Roxane. Was quälte dieses Kind? Schon stand er neben ihr und sagte ruhig: - Du hast gar nichts zu trinken, Roxie. Was möchtest du? - Irgend etwas ohne Alkohol, bitte – Tomatensaft, Zitrone, irgend etwas… Großmutter Constance beobachtete Tante Hanna, die auf Alexa zuschoß wie ein Fisch auf eine Fliege, und lächelte, als die kühlen dunklen Augen der Tänzerin vor der lüsternen Neugier in dem rot bemalten Gesicht zurückzuckten. Und dann sah sie Roxane mit dem Hausherrn zum Tisch am Rande der Terrasse gehen, auf dem verschiedene Getränke standen. Netter Mann, dieser englische Schriftsteller! dachte sie. Ein unduldsamer Intellektueller, hieß es, aber warum schließlich nicht. Ah, und da war ja auch Mr. Krifti! Großmutter Constance richtete sich auf, und ihre Finger griffen unbewußt nach der Trillerpfeife, die sie an einem Samtband um den Hals trug. Im
Geist blies sie schon Alarm, um auf der Hut zu sein vor dem Eindringling! Adrian Fairmead lächelte, als er den großen Mann zum Stuhl der alten Dame hinübergehen sah. Krifti hatte seine Perlenkette heute zu Hause gelassen, und seine Finger waren ohne sie unruhig. Es war eine alte levantinische Gewohnheit, mit einem Rosenkranz aus Elfenbein oder Bernstein zu spielen. Woher mochte dieser Krifti stammen? Von den östlichen Ufern des Mittelmeeres oder aus einer arabischen Wüste? Der Schriftsteller bemerkte, daß Mr. Krifti wie durch einen äußeren Zwang zu Großmutter Constance hingezogen wurde. Mit scharfem, feindseligem Blick sah sie zu ihm auf. Sie verstanden einander, diese beiden. Zwischen ihnen bestand das innige Verhältnis natürlicher Gegner. Und sie hatten gemeinsame Geheimnisse. Alexa und Guy fühlten sich mit der Witterung des einen Künstlers für den andern voneinander angezogen. Doch Lavinia war eine viel zu gewissenhafte Gastgeberin, als daß sie ihrer Löwin erlaubt hätte, sich nur für einen einzigen Menschen zu interessieren. Alexa mußte aufgeteilt werden, für jeden ein Häppchen. Jetzt war Tinus an der Reihe, sich zu bedienen. Was beim Himmel könnten diese beiden Gemeinsames finden? Adrian erkannte, daß er da zu Hilfe eilen mußte, ehe tödliches Schweigen seiner Frau die Gesellschaft verdarb. Tante Hanna hatte zwei Sherry und einen tüchtigen Happen von Alexa gehabt, deshalb konnte sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit nun Merle zuwenden. - Du bist zu dünn, meine Liebe – vom Standpunkt deiner Großmutter aus betrachtet, viel zu dünn, möchte ich sagen! Ihre forschenden alten Augen glitten über die mädchenhafte Gestalt der jungen Frau. Kein Urenkel unterwegs, an dem sich die alte Constance freuen könnte! Merle verstand, was sie meinte, und lachte.
- Wenn Guy genug verdient hat, wollen wir reisen – Italien, Europa… Die Kinder müssen warten. - Laß es nicht zu lange anstehen. Du hast Dieu Donné gegenüber Verpflichtungen, das weißt du. - Dieu Donné! kam es böse von Merles Lippen, die sich auf eine häßliche Art verzogen. Fast wie das Knurren eines Hundes! dachte Tante Hanna überrascht. Louise Krifti sagte gerade zu Roxane: - Es würde mich schrecklich interessieren, die Bibliothek unseres Hausherrn einmal zu sehen – oder wo er nun schreiben mag. - Er schreibt im Turmzimmer. Ich könnte dich hinaufführen. Komm, wir fragen ihn, ob er was dagegen hat, schlug Louise vor. Über Großmutter Constance wunderte man sich: Die alte Dame hielt Cercle; sie hatte darauf bestanden, daß Lavinia sich neben sie setzte. - Hören Sie auf, soviel herumzulaufen, meine Liebe! Setzen Sie sich hin und reden Sie ein bißchen mit mir. Aber Sie müssen sich hinsetzen, sonst kriege ich einen Krampf im Nacken vom Hochgucken. Adrian hatte sich auch einen Stuhl herangezogen, und Mr. Krifti hatte einen für Tante Hanna gebracht. Guy und Hallam schlenderten mit den Krikes durch den Garten, um eine passende Stelle für den Tennisplatz auszusuchen. Ben half Elias beim Servieren des kleinen Imbisses. - Diese Leckereien! rief Tante Hanna, als sie sich ein Perlhuhn-Pastetchen auflegte. Köstlich! Das mußt du probieren, Constance! In deinem Alter brauchst du dir ja keine Sorgen mehr um die Figur zu machen. Großmutter Constance schob die Lippen vor. - Ich esse nie zwischen den Mahlzeiten. - Dann sind Sie keine gute Südafrikanerin! lachte Lavinia.
- Mr. Fairmead… Das war Roxanes sanfte, fragende Stimme. Mrs. Krifti möchte Ihr Krähennest so gern einmal sehen. Darf ich sie hinaufführen? - Gern. Aber warte, ich gehe selbst. - Ich auch! schrie Tante Hanna. Und Tinus kommt mit! Adrian sagte zweifelnd: - Es ist eine Wendeltreppe und ziemlich steil. - Als ob mir das was ausmachte! Tante Hannas BlumenToque tanzte angreiferisch. Ich bin flink wie ein Frühlingsküken. Großmutter Constance blickte ihnen verlangend nach, doch ihre Stimme war ätzend, als sie sich Mr. Krifti zuwandte. - Ihre Schwiegermutter hat eine kindliche Leidenschaft, sich immer im besten Licht zu zeigen. - Ja, gab er zu. Ich finde es eigentlich reizend. Für eine Frau in ihrem Alter hat sie ein unersättliches Interesse am Leben. - Was es auch sei. Übrigens – mißfällt Ihnen dieses Haus immer noch, Guys Meisterstück? - Ich finde es unfertig, Mr. Krifti – wie unreifer Wein. - Sie haben recht. Es hat noch kein Bukett, keine Seele. - Ein Haus entwickelt in ein paar Jahren kein Bukett, keine Seele. Das braucht Jahrhunderte. Sie sprach mit einer gewissen Geringschätzung. - Viele Generationen müssen in einem Hause leben, sterben und lieben, ehe es seine Geister erzeugt, stimmte er ihr zu. Ein Geist ist ein unantastbarer Aktivposten, Mrs. de Valois, materiell gar nicht abzuschätzen. - Und doch haben Sie einen Preis für die Geister auf unserm Dieu Donné gemacht. Ihr Angebot für mein Haus – mit allen Geistern. Er beugte den schmalen Kopf mit den fettigen Strähnen dünn werdenden Haars.
- Van der Walts würden die Geister von Dieu Donné verstehen, sagte er. Louise wäre in Dieu Donné nicht fehl am Platz, Mrs. de Valois. - Das vielleicht nicht, erwiderte sie und starrte hinaus in das reizende Tal der Reben. Früher haben die Frauen der van der Walts Männer aus der Familie de Valois geheiratet. Aber der Name Krifti würde seltsam im Gutshaus klingen. Krifti ist in Constantia ein unbekannter Name. - Er wird bekannt werden, sagte er mit dem Lächeln, das ohne Freude war.
Oben im achteckigen Turmzimmer zeigte Adrian Fairmead seinen Gästen die prachtvolle Bibliothek. Der große unordentliche Schreibtisch stand in der Nische des Hauptfensters, das die Landschaft in ihrer ganzen Weite überblickte. Louise zog zwei, drei Bände aus den Regalen und schlug sie mit ehrfürchtiger Sorgfalt auf. - Die müssen Ihnen sehr kostbar sein, Adrian. Krifti würde für manche dieser Erstausgaben kein Opfer scheuen. - Krifti weiß, was gut ist, warf Tante Hanna voller Befriedigung ein. Drüben am Fenster standen Tinus und Roxane und blickten auf die Weinberge, die bereits im Dämmer verschwammen. Im Osten lagen topasfarben die Blinde Bucht und Hottentots Hollands im Widerschein des Sonnenuntergangs. Roxane sprach mit leiser, drängender Stimme: - Du hast mich neulich gefragt, Tinus, ob ich mit nach Tweefontein fahren wolle, wenn du in den nächsten Wochen deine Eltern besuchst. Ich wußte nicht genau, ob Großmutter Constance mich entbehren kann. - Sie kann. Ich hab sie gefragt.
- Dann nimm mich mit! Plötzlich brach ihre Stimme, und er sah, wie sie schluckte. Er legte seine Hand auf ihre, und sein langsamer, gleichmäßiger Ton beruhigte sie. - Meine Eltern haben dich eingeladen. Vor zwei Jahren warst du zum letztenmal in Tweefontein – das ist lange her. Und weißt du was? Wir fahren in Merles großem Wagen. Sie will ihre Mutter in Johannesburg besuchen, und Guy kann sich nicht frei machen; deshalb habe ich ihr versprochen, mit ihr beim Fahren abzuwechseln. Sie kann ein, zwei Tage bei uns in Tweefontein bleiben und dann nach Joburg weiterfahren. Auf dem Rückweg holt sie uns wieder ab. Das klappt ausgezeichnet. Während er sprach, erholte sie sich und lächelte zu ihm auf: - Du bist immer so nett zu mir, alter Tinus. Ich hab dich lieb. - Dann geht’s uns beiden gleich, sagte er. Und zum zweiten mal in ihrem Leben vertieften seine Worte das Gefühl ihrer Verlassenheit und machten sie traurig und leer.
Achtes Kapitel NACHTFAHRT
Doch dem Sturm in ihrem Herzen zu entfliehen war nicht so leicht, wie Roxane gehofft hatte. Irgendein ironischer Zufall hatte Merle veranlaßt, auch Hal und Alexa nach Johannesburg einzuladen. - Tinus’ Eltern, Ohm Jakob und Tante Petronella, werden uns alle für eine Nacht in Tweefontein aufnehmen – das ist ihr Gut bei Kimberley –, und meine Mutter und mein Stiefvater haben in Johannesburg ein großes Haus. Sie werden sich freuen, wenn ihr kommt. Wir brauchen nicht mehr als jeder einen Koffer und haben zu fünft in meinem Wagen bequem Platz. Hal hatte begeistert angenommen. Er war sehr interessiert, die Städte der Diamanten und des Goldes kennenzulernen, doch dann hatte er sich plötzlich voller Befürchtungen seiner Frau zugewandt. - Das wäre eine wunderbare Gelegenheit, das Land kennen zulernen, wenn wir mit Leuten fahren, die so gut Bescheid wissen, hatte er gesagt. Du kommst doch gern mit, nicht wahr? - Richte’s ein, wie du willst, Liebling, hatte Alexa mit einer Miene erhabener Gleichgültigkeit und Ergebung erwidert. Ganz wie du willst. - Wir fahren die Nacht durch, hatte Merle vorgeschlagen. Es ist Vollmond. Die Reifen werden nicht heiß, und wir können die Strecke durch die Karu geradezu fressen. Da durch gewinnen wir einen ganzen Tag. Spät am Nachmittag holte Merle Tinus und Roxane in Dieu Donné ab. Der Tag war mild, und die Frühlingsfrische ging
schon in sommerliche Schwüle über. Als sie in dem großen amerikanischen Tourenwagen nach Farway hinüberfuhren, dachte Roxane: Ich bin in eine Falle gegangen – während ich mich von Hal frei machen wollte, habe ich mich nur noch mehr verstrickt! Ihn so verliebt in Alexa zu sehen würde sehr weh tun… Doch als sie in Farway ankamen, wartete Hal allein auf sie. - Alexa will nicht mit, sagte er. Sie fühlt sich nicht recht wohl und meint, die Fahrt würde ihr vielleicht schlecht bekommen. Freude stieg in Roxane auf und verging wieder. Was machte es denn aus? Ob Alexa mitfuhr oder nicht – Hal gehörte ihr trotzdem. Als sie die Du-Toit-Kluft hoch im Gebirge über der Ebene von Paarl erreichten, ging die Sonne unter. Merle hielt den Wagen an. - Hier trinken wir einen Schluck und essen ein paar Brote. Ihr müßt zugeben, daß sich die Aussicht lohnt. Sie holte Becher heraus und Gin, schon mit Zitronensaft gemixt, und ein Paket belegte Brote. - Es ist auch Bier da, wenn das jemand mag, und für Roxie Tomatensaft. Sie liebt das Zeug. Die Kiefern- und Pappelstreifen zwischen den Rebenhängen und Obstgärten unter ihnen leuchteten golden, und weit in der Ferne sah man den Tafelberg und das Meer. Hier und da lag ein altes Gutshaus wie Dieu Donné, und unter dem Paarl-Berg träumte die kleine weiße Stadt Paarl – die Perle – zwischen den Gärten und Alleen. Hallam würde zugeben müssen, daß es ein schöner und beglückender Anblick sei, dachte Tinus, der den Engländer seines Berufes wegen mit einigem Mißtrauen betrachtete. Ausländische Journalisten waren gefährliche Tiere – oft bissen sie in die Hand, die sie fütterte. Das hatte er auch zu Merle
gesagt, als sie ihm erzählte, Hallam komme mit, weil er Stoff für Artikel suche. - Schlecht informierte, unverantwortliche Journalisten haben dem guten Namen unseres Landes in den letzten Jahren mehr geschadet als alles andere, hatte er hinzugesetzt. Sie hatte ihn nur ausgelacht und die Lippen verzogen, woran man immer merkte, daß sie gleich unangenehm werden würde. - Du vergißt unsere Regierung! hatte sie erwidert. Und nun saß sie hier, unbeeindruckt von der Aussicht, lächelte in einen kleinen Spiegel und zog sich die Lippen nach. Roxie suchte auch ihre Puderdose hervor. Darin waren Frauen wie Vögel: Griff eine nach der Puderquaste, dann flatterten sofort auch alle anderen auf. - Atemberaubend! sagte Hallam. Das erinnert mich an den Midi, die Weingegend von Avignon. Diese frühen Hugenotten müssen sich ganz zu Haus gefühlt haben, als sie in die afrikanische Wildnis kamen. - Meine hugenottischen Vorfahren stammen aus dem Rhonetal, erwiderte Merle. Wenn Guy nächstens mit mir nach Europa fährt, wollen wir uns das Land mal ansehen, aus dem sie gekommen sind. Ja, dachte Roxane, meine Vorfahren stammen auch aus Frankreich. Meine Mutter ist für dieses Land gestorben. Doch laut sagte sie: - Die Hugenotten gaben ihren neuen Heimstätten Namen der Verbannung – wie Dieu Donné, Bonfoi und La Gratitude, Rhone, Provence und Picardie… - Namen, die einem das Herz bewegen, erklärte Hal. Treue und Hoffnung liegen darin, Glaube an die Zukunft und Heimweh nach dem verlorenen Vaterlande. Seine Augen wurden von dem Mädchen angezogen, das sich erhoben hatte und ein wenig abseits auf dem Felshang des Gebirges stand. Der Abendwind blies ihr das dunkle Haar aus
dem Gesicht, einem schmalen Gesicht, das man schwer vergaß, mit eingefallenen Wangen und Mandelaugen, in denen der Blick einer Schwärmerin stand. Die dünne Seidenbluse zeichnete die weichen Rundungen der Brüste und die schmale Taille nach, und Hallam wurde von ihrer Jugend und Einsamkeit seltsam berührt. Sie schien sich von ihren Begleitern nicht nur körperlich, sondern auch geistig zurückgezogen zu haben, und plötzlich fielen ihm die Umstände ihrer traurigen Kindheit wieder ein. Auch sie hatte die Verbannung erlebt und war aus ihrem Boden gerissen worden, doch sie war in liebevolle Hände gekommen und nicht mehr heimatlos. Die gequälten, schrägäugigen Gesichter und ausgemergelten Körper der Kinder, die er im Fernen Osten gesehen hatte, verloren oder verwaist, stiegen vor seinem Auge auf. Weshalb lag es in der menschlichen Natur, die Mitmenschen zu hassen, zu töten und zu verfolgen? Tinus’ Stimme unterbrach Hallams Grübeln. - Die meisten Hugenotten haben sich in diesem Gebiet niedergelassen, aber ihre Landzuteilungen wurden absichtlich verstreut. Die Holländische Ostindien-Kompanie wollte nicht, daß hier eine französische Gemeinde mit eigener Sprache, Kirche und eigenen Bräuchen entstehe, eine Minderheit, die vielleicht eines Tages Schwierigkeiten machte. Sie wollte, daß sie aufgesogen wurde. Und das war der Fall. Innerhalb weniger Generationen hatte sie sich mit den holländischen Siedlern vermischt und ihre Sprache und Eigentümlichkeit verloren. - Es ist die einzige Möglichkeit bei neuen Siedlern, sagte Merle, sie zu absorbieren. Das langsame Lächeln glitt über Tinus’ Gesicht. - Nicht alle Siedler sind leicht zu absorbieren. Die Briten zum Beispiel bleiben ihr ganzes Leben Briten, und ihre Nachkommen ebenso. Hallam grinste.
- Diese kleine Insel hat eine starke Anziehungskraft für ihre Bewohner, doch in der Regel lieben sie sie am meisten, wenn sie weit fort von ihr sind. - Seinen Geburtsort zu lieben, was kann das für eine Geißel sein! sagte Merle ungeduldig. Es ist ein blinder, unvernünftiger Instinkt. Zum Beispiel Großmutter Constance. Das Kap ist voll von reizenden und historischen Weinbautälern, doch ihre Seele hängt an Constantia, nur weil Dieu Donné das Heim ihrer Vorfahren ist. Sie könnte ein Vermögen damit machen, wenn sie es aufteilte und in Parzellen verkaufte; statt dessen arbeitet sie sich kaputt, um es ganz zu erhalten. Sich für sein Land oder sein Heim zu opfern ist ein sentimentaler Luxus, den sich heutzutage kein Mensch mehr leisten kann. Die Vögel schwiegen nun, und das sommerliche Zirpen der Grillen hatte begonnen. Von unten stiegen die abendlichen Laute aus den Farbigen-Dörfern und der Stadt Paarl herauf. Ein kleiner Zug schnaufte durch die Ebene und zog seine Rauchfahne hinter sich her. Eine friedvolle, idyllische Szene. Als sie ihre Reise fortsetzten, übernahm Hal das Steuer. - Ich kann im Zwielicht nicht fahren, sagte Merle. Und Tinus ist mit seinem alten blinden Auge in der Dämmerung auch nicht viel nütze. Roxie, du bleibst hinten. Ich kann’s nicht leiden, wenn man im Fond so rumgeschleudert wird. Hier und da kamen sie an großen ausgebrannten Busch oder Gebirgswaldstellen vorüber. - Das passiert jeden Sommer, erklärte Tinus. Wenn das Land ausgetrocknet ist und der Südost bläst, haben wir unsere Brandzeit. Manchmal entstehen diese schrecklichen Feuer durch Zufall, aber sehr oft werden sie absichtlich von Feuerwanzen angelegt. - Aber warum? Das ist so ein sinnloses Verbrechen. Tinus hob die breiten Schultern.
- Es gibt verschiedene Gründe, und keiner erklärt’s. Manch mal hoffen sie auf eine Prämie bei der Bekämpfung, oder die Kommunisten sagen ihnen, es brächte der Regierung und dem weißen Mann neue Schwierigkeiten, oder sie lassen sich voll Schnaps laufen und sind von Dagga – dem Haschisch – berauscht, und dann haben sie den Teufel im Leib. Manchmal legt auch einer Feuer auf einer Farm an, weil er den Besitzer haßt – und wenn’s ein Weingut ist, kann’s sogar sein, daß er auf einen Extraschluck Wein für den Kampf gegen das Feuer rechnet. - Und wie wird das bestraft? - Gefängnis, wenn’s Absicht ist – möglicherweise Prügel, und bei Fahrlässigkeit eine schwere Geldbuße. - Sind die Strafen für Schwarz und Weiß gleich? Diese Journalisten! - Für einen Weißen würde die Buße wohl höher sein, weil er sie leichter aufbringen kann. Seien Sie also vorsichtig – voorkom bosbrande, verhütet Waldbrände! So lauten die Warnungstafeln überall im Lande in beiden Sprachen, Afrikaans und Englisch. Hal erkannte, daß er Tinus verstimmt hatte, auch wenn er es nicht zeigte. Wie leicht konnte man, ohne es zu wissen, etwas Falsches sagen! Und wie verborgen blieb einem der Geist eines Menschen hinter der Hülle seines Körpers. Als Alexa ihm das heute morgen erklärt hatte, hatte er widersprochen. Er sah sie wieder vor sich, wie sie in einem blauen SatinMorgenrock über dem hauchdünnen Nachthemd am Fußende seines Bettes gesessen hatte. - Würde es dir sehr viel ausmachen, Liebling, wenn ich mich an diesem Ausflug nicht beteiligte? - Sehr viel. Und das Herz tat ihm weh.
- Als wir uns dazu entschlossen, habe ich mir die Entfernung gar nicht vorgestellt – fast zweitausend Kilometer, und immer mit andern Leuten zusammen! Entschuldige, es tut mir leid. - Aber warum erst jetzt? Warum hast du dir das nicht früher überlegt? Leise begann der Ärger in ihm zu wühlen. - Es tut mir wirklich sehr leid. Aber es hatte ihr nicht leid getan. Sie hatte so ruhig gesprochen, die Hände leicht im Schoß zusammengelegt. Ihr kleines spitzes Gesicht war mit Coldcream bedeckt, und sie hatte ihm so ruhig mitgeteilt, daß sie ihn im Stich lassen wolle, als ob sie sagte: Ich bade jetzt. - Für deine Artikel ist es auch viel besser, wenn ich dich nicht ablenke. Niemand wird mich vermissen. - Alexa! Wie kannst du so etwas sagen – du? Wir werden dich alle vermissen, und ich am meisten! Ich kann es nicht ertragen, ohne dich zu sein, keine Stunde, keine Minute! Das weißt du doch. Sie hatte ihm mit der kleinen kühlen Hand über das zerraufte Haar gestrichen, aber ihre nächsten Worte hatten seine Stimmung nicht besänftigt. - Das ist es ja gerade. Du versuchst mich völlig zu besitzen, Hal. Ich kann und will von niemandem besessen werden. Ich bin ich, ich gehöre nur mir. Ein paar Tage Getrenntsein werden uns nicht schaden. Eine Art Furcht hatte ihn ergriffen. Sie war nicht mehr seine Frau, sie war Alexa Rome, die Primaballerina von Sadler’s Wells, Alexa Rome, die auf den gepolsterten Spitzen ihrer Ballettschuhe über die Bühne huschte, jeder zu glühenden Umarmung auswich, Liebe und Verlangen in eine Geste, das Abwenden der Wange, den reizenden Schwung des Halses verwandelte. Da hatte er etwas Törichtes getan. Er hatte diese zarten, ausdrucksvollen Arme gepackt, die schmalen Arme, die sich so
oft beim Tanz über den Kopf bogen wie der zerbrechliche Henkel eines Blumenkorbes aus Meißner Porzellan. - Aber hier handelt es sich um die Ehe – mit einem Menschen, der dich liebt, verheiratet zu sein heißt besitzen und besessen werden und im Wissen um diesen Besitz stolz zu sein. Sie hatte ihr bleiches Haar geschüttelt, als sie sich frei machte. - Wie jung du manchmal bist! Menschen sind immer allein. Wir sind alle einsam. Im Letzten müssen wir allein leben und allein sterben. - Das sind Worte, Papageienworte! Keine Wahrheiten! Das Herz lag ihm auf der Zunge, und er hatte leidenschaftlich gesprochen. Die Liebe durchbricht die Einsamkeit, ob es sich nun um den Geist oder um den Körper handelt! Wie kann es Einsamkeit geben, wo Liebe ist, Alexa? Er hatte die Augen fest geschlossen, während er die Bewegung, die zu verraten er sich fürchtete, zurückdrängte. Und es kam ihm vor, als sei sie in einer Reihe perfekter Pirouetten von ihm gegangen, in der schönen disziplinierten Form des Davonschwebens, in der raschen mechanischen Art des Balletts – eine reizende Puppe… Doch als er die Augen öffnete, war sie noch da, eine junge, sehr kleine, schmale Frau mit ernstem, ungeschminktem Gesicht und mitleidigen Augen. - Hal, Liebling, du weinst ja – das darfst du nicht! Es ist alles gut zwischen uns. Man darf mich nur nicht zu festhalten. Ich bin, wie ich bin. Nur meine Arbeit darf Forderungen stellen, denen ich immer gehorchen muß…
Der Vollmond ging auf, als Merle zu Hallam sagte: - Ein Stück weiter wollen wir anhalten und zu Abend essen.
Sie hatten das Autoradio angestellt, und von irgendeiner Station, Hunderte von Meilen entfernt, klang Tanzmusik in das Zirpen der Grillen und die Rufe der Nachtvögel auf den Weiden am Ufer eines ausgetrockneten Wasserlaufs, das Merle als Picknickplatz ausersehen hatte. Die Kapberge waren hinter ihnen zurückgeblieben, sie waren jetzt auf der ersten Hochebene des südlichen Afrikas. Der endlose kümmerliche Busch der Karu dehnte sich bis zum fernen Horizont, durch die dunklen Umrisse von Hügeln unterbrochen, deren Gipfel wie vom Hieb eines ungeheuren Messers abgeflacht waren. Sie fuhren jetzt in eine leere, geheimnisvolle Welt ein, den Meeresboden vergangener Jahrtausende. Dörfer und Gehöfte waren in dieser dürren Öde, wo nur Schafe und die kleinen Tiere des Busches – Skunks und Meerkatzen – gediehen, selten. Am weiten Dom des Himmels funkelten die Sternbilder und die kleinen Sterne der Milchstraße; das Kreuz des Südens träumte mit ausgebreiteten Adlerflügeln in die Nacht. Es könnte herabfallen, dachte Roxane, ich könnte es auffangen, ich könnte es tragen wie Großmutter Constance ihre Brosche mit den schrägen Balken und den fünf Diamanten. Tief atmete sie die reine, kalte Luft ein. - Wir machen kein richtiges Picknick, sagte Merle, kein Feuer und so etwas. Wir haben’s eilig. Nur ein kleiner Imbiß. Imbiß war ein bescheidenes Wort: kaltes Huhn, selbstgemachte Würstchen, kalte neue Kartoffeln, grüner und Tomatensalat, würzige Käsepastetchen, Butterbrote und Biskuit, Kuchen, Obst und Kaffee – und eine Flasche vom besten Rotwein aus Dieu Donné. Hal verstand ebensogut zu reden wie zuzuhören. Es war sein Beruf, nach außen zu denken, zu beobachten, zu lernen, zu fragen und alles herauszufinden, was es in diesem großen Land mit seinen Schwierigkeiten gab. Und Südafrikaner waren immer gern bereit, über ihr Land zu reden und seine
Lebensweise zu verteidigen. Selbst Tinus Vos, der ruhige kriegsbeschädigte Afrikaner, bot seine Ansicht auf eine so bedächtige Weise dar, daß man wenig Gelegenheit zu einem Kompromiß hatte. Er war ziemlich gemäßigt, besaß aber wie die meisten seiner Landsleute den unbedingten Glauben an die Zukunft der Union und den Erfolg des einzigartigen Experiments, eine kleine weiße Hegemonie in einem fernen Winkel des dunklen Kontinents zu bewahren. – Eine weiße Kultur, die Lebensart des weißen Mannes. Es ist ein Land des weißen Mannes, und wir wollen es als ein solches erhalten. Viele von Ihren britischen Kolonien sind das nicht, und dort, wo der weiße Mann nicht vorhat, seine Heimat aufzubauen, muß er den größeren Teil seiner Rechte abtreten. Das Wort Heimat, Hallam, ist wichtig. Unsere Kritiker vergessen, wie wichtig es ist und was es für uns hier bedeutet… Heimat! Ja, es war ein Wort, das in die Tiefe des menschlichen Gefühls hinabreichte. Und so, wie Tinus es sagte, war es einfach und aufrichtig. Und nun erkannte Hallam, daß das, was dieser Afrikaner für sein Land empfand, eine Kraft war, eine ungemeine Kraft, noch verstärkt durch die Tatsache, daß sie jetzt nordwärts in das Gebiet reisten, das seine Vorfahren mit ihren Trecks unter Leiden, Entbehrungen und ernsten Gefahren vor kaum mehr als einem Jahrhundert erschlossen hatten. Sein Volk hatte eine sehr junge Geschichte. Man vergaß das. Als ob er den Gedanken noch betonen wolle, sagte Tinus: - Euch Briten ist euer Land eine Selbstverständlichkeit. Kein Wunder. Es wird euch seit über tausend Jahren vererbt. Bei euch sind die Verhältnisse ganz einfach. Aber unser Land – jenseits der früheren Grenzen der alten Kapkolonie – haben uns unsere Großväter und Großmütter vermacht, und es hat sie Blut und Leben gekostet. Es ist noch jung und schön – und
gefährlich. Und ihr würdet vielleicht sagen, wir seien in unser Land verliebt. Er zögerte lächelnd, und Hal wartete, ob man ihm da vielleicht den Schlüssel für die Auffassungen einer Nation vorsichtig, aber fest in die Hand drückte. Tinus fuhr fort: - Ihr habt für eure kleine Insel überall auf der Welt gekämpft und jahrhundertelang ihre Besitzungen erweitert. Uns habt ihr auch dazugenommen. Teile von Südafrika fielen euch durch die Arglist und Unternehmungslust von Männern wie Cecil Rhodes zu, andere, wie die burischen Zwillingsrepubliken, habt ihr erobert. Jetzt schrumpft euer Reich zusammen und zerbricht… - Das ist nur natürlich, warf Hal rasch ein. Es ist das Ergebnis unserer Politik – die rückständigen Gebiete zur Selbstregierung zu erziehen. Doch wir hoffen, sie als Freunde zu behalten – innerhalb des Commonwealth. - Mag sein, erwiderte Tinus vorsichtig. Doch was auch geschieht, auf den Kern kommt es an. Ihr habt ein Lied dar über – ,Immer wird’s ein England geben’. Dessen können wir hier nicht sicher sein. Wir haben Konflikte innerhalb unserer Grenzen, die es bei euch nicht gibt. Merles helle Stimme mischte sich ein. - Und meistens ist’s unsere eigene Schuld. Wenn die Afrikaner und die Briten in Südafrika nicht zusammengehen wollen, ist eins gewiß: Die Südafrikanische Union wird bald vom einen Ende bis zum andern ein Bantuland sein! Tinus’ Stimme klang eigensinnig. - Unser Land ist unser Erbe – und das werden wir halten. - Es ist nicht leicht, die Zukunft vorherzusagen, entgegnete Hal. Selbst ihr Südafrikaner könnt es nicht mit Sicherheit, wenigstens nicht über die nächsten fünfzig Jahre hinaus. Doch ich meine, ihr steht hier gegen Kräfte, die sich nicht aufhalten lassen. Die Emanzipation ist ein starker Strom, der sich
besonders nach Kriegen kaum eindämmen läßt. Die Sklavenbefreier haben ihre Sache gewonnen, die Suffragetten ebenso – und jene Kraft, die ihr zu beherrschen und zu lenken sucht, jene Bewegung, die Gleichheit fordert, wird weitergehen! Schließlich werdet ihr gezwungen sein, einen Kompromiß zu finden. Die Tage der Herrenvölker auf der Welt sind vorüber – ganz gleich, wie weise oder aufgeklärt ein solches Herrenvolk sein mag. Tinus wandte ihm sein von der schwarzen Klappe maskiertes Profil zu, und plötzlich hatte Hallam das Gefühl, er spreche nicht nur zu seiner blinden, sondern auch zu einer tauben Seite. Es gab keine Möglichkeiten der Verständigung.
Es war lange nach Mitternacht, und Tinus fuhr den Wagen. Merle saß weit abgerückt neben ihm auf dem Vordersitz. Ihr blonder Kopf ruhte auf einem Kissen, das zwischen Seitenfenster und Rückenlehne geklemmt war. Sie schlief. Der große Wagen fraß die Kilometer der schnurgeraden Autostraße durch die Halbwüste der Karu so sanft und ruhig, daß sie fast nie wachgerüttelt wurde. Das Radio hatte ihnen gute Nacht gesagt, und danach hatten sie sich nicht mehr unterhalten. - Müde? sagte Hal zu Roxane. - Sehr. - Wenn Ihnen eine Schulter etwas nützen kann, steht sie Ihnen gern zur Verfügung. Sie lachte schläfrig, zog die Beine auf den Sitz und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. - Bequem so? - Mmm. Er legte den Arm um sie und verlor das Gefühl der Abgesondertheit und Enttäuschung, das ihn den ganzen Tag verfolgt hatte. Wie weich und dunkel ihr Haar war, fast wie bei
einem Kind. Alexas Haar wäre auch so, wenn sie es in Hollywood nicht zu Cellophan verwandelt hätten. Der saubere, frische Duft rief eine Erinnerung in ihm wach. Natürlich, er hatte Roxane schon einmal in den Armen gehalten – in Tinus’ altem Wagen in jener mondverzauberten Nacht in Constantia. Er hatte ihr Kinn gehoben und sie auf die Lippen geküßt. Damals war sie sehr jung gewesen – zu jung –, doch sie hatte wie eine liebende Frau erwidert. Ob sie jetzt schlief? Tinus bog leicht zur Seite, um einem kleinen Tier auszuweichen, das im hellen Licht der Scheinwerfer lief, und die Bewegung schob Roxane näher an Hallam. Wünsche erwachten in ihm, die seltsam durcheinandergingen. Tinus warf einen Blick aufs Instrumentenbrett: hundertzwanzig – hundertdreißig – hundertvierzig Stundenkilometer. Wie ruhig der Motor summte! Nachts liefen die Wagen immer am besten. Die Karu war ganz flach geworden, und die Straße führte schnurgerade nordwärts durch das offene Veld. Tinus wandte Merle die blinde Seite zu, dadurch war es ihm, als sei er allein, abgeschnitten von den andern. Merkwürdig, daß Merles Nähe ihn nicht mehr schmerzte. Sie war seine Kusine; früher hatte er das unter dem Eindruck ihrer halb verächtlichen Zuneigung oft vergessen. Die Sterne verblichen, und die grenzenlose Landschaft breitete sich kalt und gespensterhaft bis zu dem fernen Hügelkamm aus. Hier und da stand ein blechgedecktes Farmhaus unter dem Schutz seiner Eukalyptusbäume, und die hohen stählernen Windräder hielten wie Postenskelette Schildwache gegen den ständigen Feind, die Dürre. Tinus beobachtete, daß das Wasser niedrig in den Pumpenteichen stand, südlich vom Transvaal waren die Frühlingsregen noch nicht gefallen. Ein Stück weiter sah er eine Springbockherde, die zu dem weidenumsäumten Teichufer zog. Die Springböcke grasten und tranken oft zusammen mit dem Vieh. Bei Sonnenaufgang würden sie in Tweefontein sein. Tinus
überlegte, weshalb sein Vater ihn wohl sprechen wollte. Gewöhnlich nahm er im Winter Urlaub, wenn auf Dieu Donné nicht soviel zu tun war. Sein Oubaas mußte einen besonderen Grund haben, ihn jetzt kommen zu lassen. Über das lohfarbene Grasland glitt der rosige Hauch der Dämmerung. Blaugraue Perlhühner schossen am Straßenrand hin und her, Witwenvögel schleppten ihre langen Schwänze durch das betaute Gras, Rot- und Goldfinken stiegen in Schwärmen über den Bächen auf. Tinus fühlte sich glücklich und beschwingt, als er von der Autostraße nach Kimberley abbog, um die Grenze zum Orange-Freistaat zu überqueren. Ja, das Kap war sanft und schön, aber dieses offene Land hier bewegte ihn tiefer. Er war im Veld aufgewachsen und kehrte nie ohne ein Gefühl der Befreiung dorthin zurück. Anders als Guy Masterson und viele seiner Kriegskameraden, die am Italienfeldzug teilgenommen hatten, war er nie in einem andern Erdteil als Afrika gewesen. Er war zu früh verwundet worden, und manchmal bedauerte er es, Europa nicht zu kennen, doch im allgemeinen verspürte er keine große Lust zu reisen. Ihm genügte die Heimat. Merle gähnte und streckte sich wie eine Katze. Roxane erwartete fast, sie werde den Hals krümmen und versuchen, sich die Schlüsselbeine zu belecken. Das Frühlicht bildete einen Hof um ihre zerrauften Locken, und ihr Gesicht war rosig vom Schlaf. Sie drehte sich um. - Wacht auf, ihr beide! Wir sind gleich da. - Wir sind seit Stunden wach, lachte Roxane, und haben zu gesehen, wie der Tag anbrach. Was du alles verpaßt hast! Springböcke, Perlhühner… Merle nahm die Puderdose aus ihrer Handtasche und fing an, Gesicht und Haar in Ordnung zu bringen.
- Da ist Tweefontein! sagte Roxane. Dort auf dem Hügel, Hal, da, zwischen den Bäumen! Sie können sicher sein, wenn Sie irgendwo Bäume im Veld sehen, finden Sie ein Haus. Oft hatte sie die Winterferien bei Ohm Jakobus und Tante Petronella in Tweefontein verbracht, doch seit ihrem letzten Besuch waren zwei Jahre vergangen, und sie war glücklich und aufgeregt, die alten Leute wiederzusehen. - Maakoop die hek, asseblief, Roxie! rief Tinus, während er auf ein kleines Viehgatter im Drahtzaun zufuhr. Afrikaans war die Sprache seiner Heimat, in die er unbewußt verfallen war, erst in Gedanken und nun auch beim Reden. Hal und Roxane stiegen aus. Sie waren froh, die Beine strecken zu können, während sie das grobe Drahtgestell zur Seite schoben, um den Wagen durchzulassen. - Jetzt sind wir auf dem Boden von Tweefontein, sagte sie. Vor Frühstück und Bad stehen nur noch zwei Gatter. Hal hörte das Vieh brüllen, das ein kleiner, bis auf den Schamschurz splitternackter Negerjunge auf die Weide trieb. Er sah die Ziegen im frischen Laub des Gestrüpps am Hang des nahen Koppje weiden. Am Horizont pflügte ein Gespann von sechzehn Ochsen. Eine Allee von Blaugummi bäumen führte zu einem weißen, einstöckigen Haus mit einem grün galvanisierten Eisendach hinauf. Die Flügel des Windrades drehten sich träge in der Morgenbrise und blitzten im Schein der Sonne auf. Er hörte Merle sagen: - Ich habe Hunger wie ein Wolf. Gib Gas, Tinus! Oben vor dem Gebäude rief Tante Petronella ihrem NegerHausburschen in Afrikaans etwas zu. - Sag Sixpence, er soll die Eier in die Pfanne schlagen und den Kaffee aufbrühen. Unsere Gäste kommen! Sie stand auf der Veranda und beobachtete die rote Staubwolke auf dem Gutsweg und das Gleißen des großen Tourenwagens in der Sonne. Ohm Jakobus trat neben sie und
legte ihr den Arm um die Schulter. Er war ein hagerer alter Riese mit schneeweißem Patriarchenbart, der in seiner besten Zeit gelb wie reifer Weizen gewesen war. - Ich freue mich so, sagte sie, und ihr breites mütterliches Gesicht glühte. Unser jüngster Sohn kommt heim, wenn’s auch nur für ein paar Tage ist. Ohm Jakob schüttelte gewichtig den Kopf. - Unser jüngster Sohn ist lange über dreißig, Mammi, es wird höchste Zeit, daß er uns eine Braut bringt.
Neuntes Kapitel VERWANDTE IM NORDEN
Nach einem ausgiebigen Frühstück wollten Merle und Roxane schlafen, während Tinus und Hal vorhatten, mit Ohm Jakob in seinem alten Ford durch die Gegend zu fahren. Tante Petronella führte die Mädchen in ihr Zimmer. - Es tut mir leid, aber ihr beiden müßt euch schon mit einem Raum behelfen. Hier sollten eigentlich Mr. Fairmead und seine Frau schlafen. Und Tinus auf der Veranda. Nun ist es aber richtiger, Tinus sein eigenes Zimmer nicht wegzunehmen. Es ist ja schließlich nur für eine Nacht. Während Merle ihren Koffer öffnete, sagte sie: - Diese Leute vom Theater sind schrecklich verwöhnt, Tante Petronella. Im letzten Augenblick hat Alexa sich entschlossen, nicht mitzukommen. Sie denken immer nur an ihre eigene Bequemlichkeit. Zu Roxane gewandt, setzte sie hinzu: Ich bade zuerst, Roxie, und lasse das Wasser für dich drin. Wir müssen sparsam sein, weil die Männer auch noch baden wollen, wenn sie kommen. Ich kenne den Ofen, er hat nie genug heißes Wasser. Als Merle ins Badezimmer ging, sagte Tante Petronella trocken: - Nicht nur die Leute vom Theater sind verwöhnt. Unsere Merle hat sich auch in der Ehe nicht geändert – ich bade zuerst! Aber du, Roxie, hast dich sehr herausgemacht! Als du das letzte Mal hier warst, sahst du noch aus wie ein Schulmädel, bloß Beine und Augen! - Ich bin neunzehn, Tante Petronella.
- Ja, im heiratsfähigen Alter. Als ich neunzehn war, erwartete ich meinen ersten… Und jetzt ist Tinus, unser Jüngster, schon über dreißig. Wir sähen ihn gern verheiratet… - Verheiratet? Tinus… - Ja, gewiß. Hier ist eine, die würde ihn noch heute nehmen. - Cornelia Bothma – die Witwe? - Ja. Tante Petronella nickte. - Aber wenn er Cornelia heiratet, müßte er ja Dieu Donné verlassen… - Wäre das so schlimm? - Ich wüßte gar nicht, wie wir’s ohne ihn schaffen sollten! Großmutter Constance, wir alle… Tinus ist doch nicht nur Verwalter, er gehört zur Familie – zu unserm Leben. Das Gesicht der alten Dame wurde weich, sie kam schwerfällig durchs Zimmer und legte dem Mädchen impulsiv den Arm um die Schulter. - Magst du Tinus, Roxie? - Er ist wie mein Bruder. Tante Petronella seufzte. Armes Kind! Keinen Menschen, nur Großmutter Constance und Tinus als Familie. - Ich muß mich jetzt um den Haushalt kümmern, sagte sie. Wir treffen uns alle um elf zum zweiten Frühstück. - Dann können wir zwei Stunden schlafen, erwiderte Roxane. Nachher fahren Hal, Merle und ich nach Kimberley. Hal möchte gern die Diamantengewinnung im Bergwerk sehen, die Eingeborenenviertel und alles. Wir wollen erst am Abend zurückkommen. - Fährt Tinus mit? Tante Petronella blieb an der Tür stehen. Roxane lächelte. - Nein, Tinus nicht, Liebe. Den lassen wir dir und Ohm Jakob.
Ohm Jakob hatte seinem Sohn viel zu sagen, aber er war kein Mann, der mit der Tür ins Haus fiel. Er nahm sich gern Zeit, redete ruhig über dies und das, über Vieh und Ernte und über das Bohrloch, das er neulich hatte anlegen lassen. Er liebte es, sich bei seiner Pfeife die Gedanken erst durch den Kopf gehen zu lassen, ehe er ihnen Ausdruck verlieh, und auch dann noch hin und wieder innezuhalten, denn wenn die Gedanken des Menschen einen steilen Berg hinaufsteigen, tut es not, ab und an zu verschnaufen. Seine Frau wurde manchmal ungeduldig dabei und versuchte seine Rede anzutreiben – aber Frauen sind wie gackernde Hennen und haben keinen Sinn für den Wert des Schweigens, dachte Ohm Jakob. Die beiden Mädchen waren mit dem Engländer nach Kimberley gefahren, der eingeborene Hausbursche hatte das Frühstücksgeschirr abgeräumt, und die Vormittagssonne wärmte die geschlossene Veranda an der Seite des Hauses. Tante Petronella saß, den Flickkorb neben sich, im Schaukelstuhl, während Tinus und sein Vater, behaglich in zwei abgewetzte Ledersessel gelehnt, Neuigkeiten über Tweefontein und Dieu Donné austauschten. Sie sprachen Afrikaans – nicht die Taal der Kapmischlinge, sondern eine Sprache mit eigener Anmut und Kultur, die außerdem für landwirtschaftliche Angelegenheiten besonders gut geeignet war. In Ohm Jakobs Stimme klang immer eine Spur von Mißbilligung, wenn er über Dieu Donné redete, denn in seinen Augen konnte die Atmosphäre auf einem Weingut nur gottlos sein. Trotzdem mußte er zugeben, daß die alte Constance de Valois seinem Bruder Stephanus, Gott sei seiner Seele gnädig, ein gutes und treues Weib gewesen war, obwohl sie ihm leider nur einen Sohn spät in der Ehe geboren hatte – und der war gefallen und hinterließ niemand als diese Merle mit dem Vogelverstand als Erbin für das alte Gut. Doch zweifellos hatte
der Allmächtige Seine Gründe, dem Stolz der de Valois und Dieu Donné, wo man Rauschmittel braute, einen Schlag zu versetzen. Wie hieß es im Guten Buch? Wo ist Weh? wo ist Leid? wo ist Zank? wo ist Klagen? wo sind Wunden ohne Ursache? wo sind trübe Augen? Wo man beim Wein liegt und kommt auskaufen, was eingeschenkt ist… Aber danach beißt er wie eine Schlange und sticht wie eine Otter. – Dieser neue friesische Bulle, Pa – für den mußt du wohl tief in die Tasche gegriffen haben. Tinus’ Stimme riß den alten Mann zu den Angelegenheiten von Tweefontein zurück. - Achthundert Pfund, gab er zu. Aber wir haben an der Wollhausse ganz hübsch verdient, und ich pflüge meine Gewinne immer wieder in das Land – außer gewissen Beträgen – gewissen besonderen Beträgen… Langsam und bedächtig leerte Ohm Jakob seine Meerschaumpfeife, dann drückte er den rhodesischen Tabak mit dem hornigen Daumen hinein und bedeckte sie mit einer Kappe, die aussah wie ein winziges Teesieb. Ohm Jakob kannte die Gefahr. Er wollte es nicht auf ein Buschfeuer in seinem wallenden Bart ankommen lassen. In dem folgenden Schweigen, das Tante Petronella mit ungewöhnlicher Geduld ertrug, hörte man das feine Klappern der Nadeln in ihrem polierten Stopfei, wenn sie es unter den zerlöcherten Hacken der großen handgestrickten Socken ihres Mannes hin und her wendete. Als ihre Kinder noch klein waren, hatten sie dieses Stopfei alle geliebt. Jedes hatte es als Klapper benutzt. Wie oft hatte es der kleine Tinus in seinen winzigen Händchen geschüttelt mit hellem Entzücken in den Augen – zwei starken kleinen Händen, zwei leuchtenden Augen! Und nun seht ihn euch jetzt an! Eine Schande war’s, daß Männer gegeneinander kämpfen mußten! Ohm Jakob räusperte sich, und Tinus wartete. Was der Oubaas auch auf dem Herzen haben mochte, jetzt kam es.
- Wir haben eine gute Regierung, begann Ohm Jakob, der fast ebenso überzeugt an die Redlichkeit der Nationalistischen Partei glaubte wie an die der Holländischen Reformierten Kirche. Doch gut oder schlecht, keine Regierung soll mir und den Meinen mehr von meinem Vermögen rauben, als ich unbedingt dulden muß. Weder durch Steuern noch durch Erbschaftsabgaben. Tante Petronella nickte mit dem glatten weißen Kopf, und Tinus machte eine zustimmende Bewegung. Das war eine gesunde Einstellung. - Deshalb habe ich mich nach langen Überlegungen entschlossen, jedem meiner Kinder eine gewisse Summe auszuzahlen und ihnen das übrige in Anteilen zu geben – die Dividenden dafür sollen mir, solange ich lebe, ausgezahlt werden, danach eurer Ma. Das letzte ist ein Gentleman’s Agreement, aber ich verlasse mich auf meine Kinder, wenn ich mich zu ihrem zukünftigen Besten buchstäblich ausziehe. - Es geht vorwärts bei uns, sagte Tante Petronella, und die Zeit ist gekommen, unser Haus in Ordnung zu bringen. - Wenn ich abtrete, fuhr Ohm Jakob fort, soll dieser Guts hof unter meine drei Söhne aufgeteilt werden, und es ist möglich, daß der eine oder andere einen Weg findet, seines Bruders Anteil zu kaufen oder gegen Hypothek zu über nehmen, aber das geht mich dann nichts mehr an. Er kicherte behaglich. Ohm Jakob hatte keine Furcht vor dem Tode und keinen Widerwillen dagegen, über sein Ableben nachzudenken. Er war ein Mann von geregelten Gewohnheiten und dachte zuallererst an seine Familie. Er zog seine Söhne ganz selbstverständlich ins Vertrauen. Es kam ihm auch nicht in den Sinn, daß solch eine Unterhaltung seine Ouvrou erregen könne. Im Gegenteil, er beschäftigte sich mit ihrem Ende genauso wie mit seinem.
- Wer von euch nun in diesem Hause leben mag, der wird für Ma sorgen, bis sie sich zu mir auf das Koppje legt, setzte er hinzu. Tinus drehte sich eine Zigarette und steckte sie an. Tante Petronella ließ ihre Stopferei in den geräumigen Schoß fallen und nahm die Brille ab, um ihren Mann anzusehen. Was kam jetzt? Beiläufig, ohne überflüssige Betonung, nannte der alte Mann die Summe, die jedes seiner Kinder unverzüglich erhalten sollte. Tinus stieß einen erstaunten Ruf aus, und Tante Petronella begann leise zu lachen, ihr Matronengesicht faltete sich vor Vergnügen und Befriedigung. - Wir dachten uns schon, daß dich das überraschen würde. - Das tut es wirklich, sagte ihr Sohn. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Pa. Ohm Jakob fegte den Dank zur Seite. Er sagte: - Du bist also in der Lage zu heiraten. Du kannst nun ernst haft daran denken, dir ein Weib zu nehmen. - Ja, stimmte der junge Mann langsam zu. Das kann ich tun. Tante Petronella, die Augen wieder auf ihr Stopfzeug gerichtet, fragte: - Hast du schon eine im Sinn? - Vielleicht, erwiderte Tinus vorsichtig. In meinem Alter denkt man schon mal dran. Ohm Jakob starrte mit den harten blauen Augen, die so ein auffallender Zug der Familie Vos waren, hinaus übers Veld. Seine Hand deutete eine unbestimmte Richtung an. - Cornelia Bothma würde sofort ja sagen, und wir würden sie hier willkommen heißen. Tante Petronella öffnete den Mund, um etwas zu bemerken, doch er brachte sie mit einer Handbewegung und einem Stirnrunzeln zum Schweigen. Die Ländereien der Bothmas stoßen an die von Tweefontein, und seit Jan Bothmas Tod hat seine Witwe das Gut sehr tüchtig
geführt. Sie ist jung, glatt und hübsch wie eine Jersey-Kalbe und hat einen Sohn von Bothma. Du bist also sicher, keine unfruchtbare Frau zu heiraten. Frag sie, mein Junge, unsern Segen hast du. - Das kommt ein bißchen plötzlich, Pa. - Ein guter Handel kommt nie zu plötzlich. Aber meinet wegen überleg es dir! Du warst ja nie für überstürzte Entschlüsse. - Du hast mir viel gegeben, worüber ich nachdenken und dankbar sein muß, erwiderte Tinus. Ich mache einen kleinen Spaziergang, um das alles zu verdauen. Tinus lenkte seine Schritte nach dem kleinen Koppje hinter dem Haus. Über dem heißen Nachmittag lag ein seltsames Schweigen, als ob selbst die Vögel Siesta hielten. Ein paar Ziegen knabberten am jungen Laub. Zwei Neger hockten an einem schattigen Fleckchen und spielten mit Steinen irgendein Spiel. Die Haut ihrer nackten braunen Körper und der angeschwollenen Bäuchlein war hart und staubig wie Schokolade, die zu lange in einer Schublade gelegen hat. Am Hang des Koppje neigte sich ein Fels über eine kleine flache Lichtung. In dem Felsen waren Höhlen, Dassjes wohnten darin – fette sandfarbene Felskaninchen mit angreiferisch vorstehenden Zähnen und dem Bau von Meerschweinchen. Die Lichtung war heiliger Boden, die letzte Ruhestätte der Familie Vos. Tinus setzte sich auf die Bank unter einem großen Dornbaum und betrachtete die Gräber seiner Vorfahren. Oupa und Ouma Vos waren Staub vom Staube dieses freien Staates, ihre Namen waren in grobe Steinblöcke gemeißelt, die aus dem Koppje geschlagen waren. Kletterrosen und Geißblatt verbreiteten ihren Duft über diesen einfachen Friedhof. Kinder lagen hier, die kaum das Säuglingsalter überlebt hatten, und die Asche von Großonkeln und Tanten war in diese Erde gebettet.
Tinus hatte keine Furcht vor dem Ort. Seit frühester Kindheit war er seine Zuflucht gewesen, wenn er das Bedürfnis verspürt hatte, mit einem Kummer oder einem Problem allein zu sein. Pa und Ma wurden alt. Bald würden auch sie hier liegen und doch immer noch zu dem Gut gehören, das sie liebten. Ein schönes Gut. Fünftausend Morgen pflügbarer Boden. Und der Anteil, der an Tinus fiel, grenzte an Cornelia Bothmas Eigentum. Schlau war Pa. Er hatte es absichtlich so eingerichtet, fast als hoffe er, den jungen Mann damit vom Ruf seines Herzens wegzulocken. Aber der Oubaas kennt ja den Ruf meines Herzens gar nicht, dachte Tinus. Er weiß nur, daß ich das Land liebe und die Witwe gern habe. Tatsächlich besaß Tinus das starke Gefühl aller Afrikaner für den Boden. Er wünschte sich das Land nicht auf die Art, wie es Mr. Krifti tat, wegen des Wertes zur Spekulation oder wegen der Mineralien, die vielleicht unter der Oberfläche lagen. Er liebte es um seiner selbst willen, wegen des Viehs, das es nährte, und der Ernten, die es gab. Tweefontein liebte er besonders, und die Farm der Bothmas war die natürliche Erweiterung. Doch seit kurzem wußte er, daß er Cornelia Bothma nicht heiraten würde, so gut sie ihm auch in mancher Hinsicht gefiel. Sie war blond und sanft und hatte Grübchen, aber sie konnte auch dumm und störrisch sein – wirklich wie eine JerseyKalbe. Nein, sein Herz hatte sich einer andern zugewandt, und er wußte, daß er zum erstenmal in seinem Leben tief und echt liebte. Früher hatte der Gedanke an Merle oder Cornelia ihn schwindlig gemacht. Aber in diesem Gefühl war keine Zärtlichkeit gewesen. Und er wußte, Liebe ohne Zärtlichkeit war nur Lust. Doch vor dieser neuen Liebe, die er erst so spät entdeckt hatte, fürchtete er sich. Er fürchtete sich, sie auszusprechen, damit die segensvolle Sicherheit eines Verhältnisses, das zu
einem Teil seines Daseins geworden war, sich nicht änderte. Wie konnte er ihr Gefühl für ihn von Gewohnheit und Zuneigung in die leidenschaftliche Glut verwandeln, die zwischen Mann und Frau brennt, wenn sie zur Ehe bereit sind? Er hatte sie aufwachsen sehen, sie war ihm selbstverständlich wie eine kleine Schwester gewesen, und dann plötzlich hatte er gesehen, daß sie kein Kind mehr war, sondern die Frau, die er sich als Weib wünschte. Wann hatte er diese Entdeckung gemacht? Er meinte, es sei der Abend gewesen, als Saartje den Spuk sah. Vieles hatte an jenem Abend begonnen. Er nahm die schwarze Augenklappe ab und schob sie in die Tasche seines Buschhemds. Er hob das Gesicht der Sonne entgegen und spürte, wie ihre Wärme die leere Höhle füllte. Das tat er selten; nur Roxane hatte ihn einmal so gesehen, als sie in sein Häuschen kam und ihn zufällig so fand, und es hatte sie nicht erschüttert. Plötzlich wirbelten die Staubteufel des Velds über die Gräber seiner Großeltern, kleine Spiralen feinen roten Sandes tanzten in der windlosen Hitze. Während er sie beobachtete, verspürte er einen krampfhaften Umschwung. Warum war er ausgerechnet hierher gekommen! Hier, in die Bastion jener kalvinistischen Toten, um über seine junge Liebe zu der Tochter einer Papistin nachzugrübeln? Schon atmeten die Alten unter der Erde laut auf und ließen ihren Protest in diesen unheimlichen Spiralen empörten Staubes deutlich werden! Sein Oupa, dieser strenge, unnachgiebige Mann, und Ouma, seine fromme Frau, drehten sich im Grabe um. Wenn er die kleine Roxie nach Tweefontein heimführte, würden sie gewiß aufstehen und vom Koppje herabkommen, um sie zurückzuweisen. Sogar Pa und Ma, die das Mädchen liebten, würden traurig sein. Was wissen wir von ihr? würden sie sagen. Ja, es ist wahr, ihre Mutter war eine brave Frau, aber römisch-katholisch, und das Kind selbst ist im anglikanischen
Glauben erzogen. Doch Cornelia Bothma ist ein gutes Mitglied unserer reformierten Kirche. Ich kann tun, was das Herz befiehlt, sprach er zu sich. Ich bin mein eigener Herr. Doch er hatte gehört, daß es jahrelang böses Blut zwischen seinem Vater und Onkel Stephanus gegeben hatte, weil Onkel Stephanus, als er Constance de Valois heiratete, seinen Glauben aufgegeben und an den Gottesdiensten in ihrer Kirche teilgenommen hatte. Und doch: Stephanus war mit seiner anglikanischen Frau glücklich gewesen. Er hatte sich gegen die enge Einstellung der Familie Vos gewehrt und sich eine eigene Lebensbahn gewählt. Tinus beabsichtigte, das gleiche zu tun. Und gewiß konnte er sich auf Großmutter Constances Unterstützung verlassen. Dieser Gedanke tröstete ihn und bestärkte ihn in seinem Entschluß.
Als Tante Petronella Hal am Abend fragte, wie ihm Kimberley gefallen habe, zögerte er mit der Antwort. Merle lachte. - Hal war von dem Hotel, wo wir zu Mittag gegessen haben, nicht sehr beeindruckt – die ganze Stadt der Diamanten kommt ihm ein bißchen unzivilisiert vor! - Das nicht, sagte er. Sie scheint nur noch nicht ganz er wachsen zu sein, obwohl sie vielleicht gerade das interessant macht. Sie hat eine Atmosphäre der Vergangenheit – man muß immer an Cecil John Rhodes und an den Aufstieg der de Beers denken. - Ohm Jakob könnte Ihnen eine Menge über die alten Tage erzählen, erwiderte Tante Petronella. Er stammt aus dieser Gegend, ist hier aufgewachsen und hat Kimberley wachsen sehen – und was Sie auch davon halten mögen, mein Junge, es ist gewachsen. Ohm Jakob war ganz und gar nicht abgeneigt, von früheren Zeiten zu sprechen, und Roxane beobachtete Hallam, während
der alte Herr erzählte. Sie sah, daß er die bildhaft biblische Ausdrucksweise von Tinus’ Vater notierte, und lächelte bei sich, weil sie wußte, daß Ohm Jakob das Leben nur als eine Widerspiegelung des Guten Buches ansah – hell oder dunkel, wie der Fall nun gerade lag. Es war das einzige Buch, das er überhaupt las, und wann immer seine Frau, die Familie und die Dienerschaft zum Zuhören bereit waren, las er ihnen daraus vor. Sie saßen auf der geschlossenen Veranda, und obwohl der Nachtglanz des Sonnenuntergangs schon verblich, kam niemand auf den Gedanken, die Vorhänge zuzuziehen und das dunkel werdende Veld auszuschließen. - Ich habe heute niemand zum Abendbrot eingeladen, sagte Tante Petronella nach einer Weile. Wir dachten, daß ihr nach der langen Fahrt und dem Tag in Kimberley zu müde seid. Aber morgen kommen Cornelia Bothma und ein paar Gäste. - Oh, das tut mir leid, Tante Petronella, warf Merle rasch ein. Aber Hal und ich müssen morgen früh aufbrechen. Mutter erwartet uns zum Essen. Und wie ist’s mit Roxie? Roxie ist noch nie in Joburg gewesen. Warum nimmst du sie nicht auch mit, Merle? Tinus warf seiner Mutter einen Blick zu und runzelte die Stirn. Was machte Ma da? Sie sah genau aus wie immer, wenn sie etwas im Schilde führte. Man erkannte es sofort an den Winkeln der Augen und des Mundes. Ihm gefiel es gar nicht, daß Roxie mit Merle und Hal nach Joburg fahren sollte. Sie stand sicher immer noch ein wenig unter dem Eindruck dieses gutaussehenden Rooinek. Er benutzte in Gedanken den afrikanischen Schimpfnamen für die Engländer. - Dann müßt ihr alle auf dem Rückweg ein paar Tage hier bei uns verbringen. Ohm Jakob und Tinus könnten dafür sorgen, daß unser englischer Gast, wenn er zurückkommt, auf die Jagd gehen kann.
- Das wäre wunderbar! Hallams Begeisterung machte seiner Gastgeberin das Herz warm. Und kommen Sie doch wirklich mit nach Johannesburg, Roxane! Es würde mich interessieren, welchen Eindruck die Goldstadt auf eine Frau macht, die sie zum erstenmal sieht. - Die Stadt des Goldes ist die Wurzel vieler Übel, erklärte Ohm Jakob mit seiner sonoren Stimme. Der dreijährige Krieg zwischen Ihrem und meinem Volk – die Eroberung des Burenlandes durch Britannien und all der Haß, der daraus entsprang – wurde an dem Tage geboren, als man unter dem Witwatersrand Gold entdeckte. Joburg ist eine böse Stadt, mein Junge, voller Hader und Gier. Sie ist der Tempel des Goldenen Kalbes, und eines Tages wird sie von den Flammen verzehrt und zu Staub zermalmt werden. Jeder Mann dort wird seinen Bruder, seinen Nachbarn und seinen Freund erschlagen. Es ist die Stadt des Satans. Doch trotz dem müssen Sie sie sehen. Sie ist ein bedeutender Teil von Südafrika, ebenso wie das Böse in uns ein Teil unserer Sterblichkeit ist. In seinem Gastgeber begriff Hal den Geist des Alten Testaments, als Jehovas Zorn und strenge Gerechtigkeit die Stämme beherrschte. Und er überlegte, ob Ohm Jakob wohl auch den letzten, kleineren Teil der Bibel studiert hatte, der den Lehren des Sohnes gewidmet ist und in dem das Evangelium der Gnade, Duldsamkeit und Liebe die Botschaft des Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn ersetzt. - Es wäre wirklich besser, wenn du mitkämst, Roxie, sagte Merle. Mutter macht es gar nichts aus, zumal sie ja sowieso mit Alexa gerechnet hatte. Der Klang des großen Messinggongs übertönte Roxanes Antwort, doch Tinus bemerkte die Röte auf ihren Wangen und das Leuchten ihrer Augen und wußte, daß er sie für einige Tage verloren hatte. Die tiefe Enttäuschung wurde von einem
plötzlichen Mißtrauen noch verstärkt. Als Merle am Abend die Nachttischlampe ausknipste, sagte sie zu Roxane: - Hast du Tante Petronellas Manöver durchschaut? - Welches Manöver? fragte Roxane schläfrig. - Daß sie dich mit mir und Hal nach Johannesburg abschob. Roxanes Augen öffneten sich, und ihr Herz tat einen schmerzenden Sprung! Dann packte sie heißer Zorn. - Mich abschob! Warum mußt du die Menschen nur immer so kränken, Merle? Das tust du absichtlich, bloß um zu sehen, wie weh es ihnen tut! Du hättest das Licht anlassen sollen, dann hättest du mehr davon gehabt! - Na hör mal! Wir sind wohl sehr temperamentvoll? Merle setzte sich im Bett auf. Was hast du denn für Kummer? Doch Roxane drehte sich um und vergrub das Gesicht im Kissen. - Ach du lieber Gott, Roxie, ich wollte dich nicht ärgern. Offen gesagt bin ich sogar froh, daß du mitkommst. Guy ist so eifersüchtig auf Mann, Frau, Kind oder Hund, wenn es um mich geht, daß er’s wahrscheinlich gar nicht gern sähe, wenn ich allein mit Hal nach Johannesburg führe. Du wirst zugeben, Hal hat so etwas – oder ist dir das nicht auf gefallen? Der dunkle Kopf auf dem lavendelduftenden Kissen rührte sich nicht. Im offenen Fenster glitzerten die Sterne, und der Wind rauschte in den Bäumen, die das Haus schützten. Merle gähnte und ließ sich wieder zurücksinken, die Hände unter dem Kopf. - Ich wollte nur sagen, daß Tante Petronella dich meiner Meinung nach an uns abschob, um Tinus die Hände für diese Witwe frei zu machen, für diese Cornelia Bothma – beleidigen wollte ich dich weiß Gott nicht. Aber vielleicht bist du ja an Tinus nicht stärker interessiert als an Hal. Gute Nacht – und angenehme Träume!
Zehntes Kapitel DER TEMPEL DES GOLDENEN KALBES
Als sie die Vororte von Johannesburg erreichten, übernahm Merle das Steuer. Nach der Fahrt durch das offene Veld mit seinen staubigen Dörfern, die in der Sonne träumten, durch die häßlichen Riffstädte im Schatten der pastellfarbenen Abraumhalden und durch die schmutzigen Barackenvororte waren sowohl Roxane als auch Hallam von der weitläufigen Pracht der Stadt selbst überrascht. Ihre phantastisch kubistische Silhouette schwang sich in die dünne reine Luft zweitausend Meter über dem Meeresspiegel. Es war die Jahreszeit der Jakarandabäume, und die großartigen Wohnviertel auf den Kämmen rund um Johannesburg wurden von Alleen voll malvenblauer Blüten durchzogen, während Parks und Gärten in exotischen Farbflecken loderten. - Hier läßt sich’s wohnen! Merles Augen glänzten in einer Erregung, die Roxane selten in ihnen gesehen hatte. Eine phantastische Stadt! Durch und durch Symbol unseres Zeit alters: heftig erregend und von unglaublicher Lebendigkeit… Roxane saß auf dem breiten Vordersitz zwischen Merle und Hallam. - Und im Vergleich dazu findest du das Tal – tot? - Völlig tot! Und da sitzt nun die arme alte Großmutter Constance, einen Fuß – nein, ein ganzes Bein bereits im Grabe, und weigert sich einzusehen, daß ihre geliebten Weinberge zum Untergang verurteilt sind, daß eines nicht allzu fernen Tages Dieu Donné und ganz Constantia ein Teil des größeren Kapstadt sein wird, ein Teil dieser faulen, hungrigen alten
Stadt, die sich ausstreckt wie ein Oktopus, um die schöne grüne Halbinsel zu verschlingen. - Hör auf, Merle, bitte! – Es schaudert mich, wenn du redest, als ob du diese Aussicht genössest! Merle lachte, und zu Hal gewandt sagte sie: - Es gibt so vieles, wovor Roxie schaudert. Als Kind machte es richtig Spaß, sie zu erschrecken und zu beobachten, wie sie weiß wurde und die Hände zusammenschlug wie eine dünne kleine Gottesanbeterin. Roxane schwieg bei der Erinnerung an Merles Quälereien. ,Deine Maman war eine Spionin – sie haben sie gemartert – gemartert – und dann getötet.’ Es hatte Merle immer Spaß gemacht, einem weh zu tun. Der Wagen bog in eine lange Auffahrt mit blaßrosa Beauhinien ein und fuhr vor einem auffallenden Haus im spanischen Stil vor. Ein Eingeborener nahm ihnen das Gepäck ab, und ein anderer fuhr den Wagen ums Haus in die Garage. - Das ist ein neuer Hausboy, bemerkte Merle. Meine Mutter versteht es nicht mit den Dienstboten. Sie behält sie nie lange. Solly Caine und Merles Mutter erwarteten sie in der Halle, die Hallam an Hollywood erinnerte. Sie war eine Kombination aus bunter Behaglichkeit und Originalität, und doch unpersönlich, das Werk irgendeines modernen Innenarchitekten von Ruf. Ungeheure Glasschiebetüren führten in einen gepflasterten Patio inmitten eines Orangenhaines. Dahinter lag das Veld, und in der Ferne sah man die Türme und Spitzen der Goldstadt. Hal bemerkte, das die Glasscheiben alle mit enggemusterten schmiedeeisernen Gittern versehen waren und so das Eindringen eines menschlichen Körpers unmöglich machten. Der Duft der Orangenblüten erfüllte den Raum, und eine riesige Persianerkatze saß auf der Schwelle und wusch sich träge das Gesicht.
- In letzter Minute war es Alexa unmöglich, uns zu begleiten, erklärte Merle, als sie Hallam ihrer Mutter und ihrem Stiefvater vorgestellt hatte. Deshalb haben wir Roxane statt ihrer mitgebracht. Bella Caine starrte den unerwarteten Gast mit dem blauen forschenden Blick an, den Roxane in all den Jahren nicht vergessen hatte. In diesem Blick war weder Willkommen noch Wärme. Und plötzlich dachte das Mädchen: Sie haßt mich! Aber warum? Warum sollte Merles Mutter sie hassen? Der Gedanke war verrückt, reine Phantasie, und nun lächelten Bellas Lippen, während sie sagte: - Es tut mir leid um Ihre Frau, Hal. Ich darf Sie doch Hal nennen, nicht wahr? Aber hübsch, daß Roxane uns einmal besucht. Im nächsten Augenblick hatte der ,Baas aus Joburg’ ihre beiden Hände ergriffen. - Das ist eine freudige Überraschung, Kind! Du bist zu einer reizenden jungen Frau herangewachsen! Aber die Augen sind immer noch drei Nummern zu groß für dein Gesicht! Er war kahler und dicker, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber er strahlte noch immer vor Güte und ähnelte genau wie damals einem sauberen feuchten Rotbarsch. Seine Freude, sie wiederzusehen, war so spontan, daß sie den kühlen Empfang seiner Frau ausglich. - Wo ist denn Pudi? fragte Merle. Sonst kommt er immer gleich und begrüßt mich. Sie wandte sich zu Hallam. Mutter hat einen herrlichen schokoladenbraunen Pudel, einen sehr klugen und tüchtigen Wachhund. Bella runzelte die Stirn unter dem metallisch schimmernden Haar. - Seit gestern ist er weg. Ich kann mich nicht genau erinnern, wann ich ihn das letzte Mal gesehen habe; du weißt ja, wie schnell ich Einzelheiten vergesse, aber bestimmt hat er vorige
Nacht nicht in meinem Zimmer geschlafen, und ich mache mir Sorgen um ihn. An Sollys gurgelndem Lachen hörte man, wie leicht er diese Sorgen nahm. - Pudi ist Bellas Abgott. Er widerspricht ihr nie, und mit jedem Blick sagt er ihr, wie wunderbar sie ist. Doch selbst Pudi hat Interessen außerhalb des Hauses. Gegenüber lebt eine reizende kleine Dackelin – Mädchen sind Mädchen, und dann sind Männer eben Männer. - Ich glaube nicht, daß es das ist, beharrte sie. Und selbst wenn, müßte er inzwischen längst zurück sein. - Wie ein guter Ehemann. Man tyrannisiert ihn zwar, aber wenn man ihn von der Leine läßt, vertraut man darauf, daß er bald wieder nach Hause kommt. Bella überhörte das. - Ihr Mädel werdet sicher ruhen und euch umziehen wollen, sagte sie. Um acht Uhr wird gegessen, aber kommt ein bißchen früher herunter, damit wir noch Zeit für einen Cocktail haben. Solly mixt einen köstlichen trockenen Martini. Nach dem Essen tranken sie im Freien Kaffee. Bella hatte sich eine Nerzstola um die Schultern gelegt, und die Mädchen hatten Mäntel angezogen; der Frühlingsabend war frisch. Eine dicht mit Glyzinien bewachsene Pergola über dachte den kleinen Patio. Hinter dem niedrigen Geländer mit Rankengewächs sah man die Orangenbäume vor dem dunklen kahlen Veld und weiter weg die Lichter der Stadt. Am Horizont blitzten in Abständen Leuchtzeichen auf, als sende die Macht irgendeiner anderen Welt Signale aus, die dringende, aber unverständliche Nachrichten unablässig wiederholten. - Für morgen habe ich eine Einfahrt ins Bergwerk arrangiert, sagte Solly zu Hallam. Roxie kann mitkommen, wenn sie Lust hat. Merle will ja nicht. Sie kriegt unter Tage fast ebensolche
Platzangst wie im Tal. Abends führen dann die Eingeborenen der Mine ihre Kriegstänze vor. - Ich will lieber ein paar Besorgungen machen, sagte Merle. Hier bekommt man alles, anders als in dem verschlafenen Kapstadt. Solly sog zufrieden an einer Havanna und trank seinen französischen Kognak. Das Diner war ausgezeichnet gewesen, und er fühlte sich sanftmütig und im Frieden mit seinen Mitmenschen. Dann sagte er: - Samstag abend spielt Bella Poker, deshalb habe ich vier Plätze im Theater bestellt, hinterher gehen wir in den Klub zur ,Blauen Donau’ und tanzen ein bißchen. Dort ist eine gute Zigeunerkapelle und ein erstklassiger ungarischer Küchenchef. Ein Glück, daß Roxie mitgekommen ist, sonst wäre ich bei meiner eigenen Gesellschaft fünftes Rad am Wagen gewesen. Roxanes Augen leuchteten vor Freude, doch dann machte sie ein bedrücktes Gesicht. - Aber ich habe kein Abendkleid mit. Ich bin nur auf ein paar Tage im Bauernhof eingerichtet. Johannesburg kam völlig überraschend. - Dann werde ich mir die Freude machen, dir eins zu kaufen. Solly überhörte das gereizte. Aufatmen über der Nerzstola. An diesem Abend bot er energisch allem Trotz, weil es schön war, zu sehen, wie reizend seine kleine Freundin aus Dieu Donné geworden war. Roxane stieß einen kleinen Schrei aus. - Aber das hast du doch schon mal getan, Solly! Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr, aber ich! Mein erstes langes Kleid, und du hast es mir geschenkt! - So was wird leicht zur Gewohnheit. Frag nur Bella! Und wenn sie mit ihren flotten Freunden Poker spielt, ist Solly Caine von der Leine los – genau wie Pudi.
Durch die Rauchringe beobachtete er Roxane. Er hatte keineswegs vergessen, daß er ihr das blaue Brautjungfernkleid geschenkt hatte. Er war kein Mann, der seine Geschenke vergaß, wenn er auch schon lange nicht mehr damit rechnete, daß die Empfänger sich ihrer erinnerten, und als er jetzt in das eifrige erhobene Gesicht blickte, fiel ihm das kleine Mädchen wieder ein, das sich auf der hohen steinernen Veranda in einer entzückten Pirouette gedreht hatte. Irgend etwas an Großmutter Constances Kriegswaise hatte ihn tief bewegt, vielleicht ihre Fähigkeit, glücklich zu sein, die Freude und Dankbarkeit für die kleinen Barmherzigkeiten, die in den bitteren Wassern des Unglücks wallten, Blasen warfen und sie süß machten. Wieder spürte er, wie er ihrem besonderen Zauber verfiel. Sie glücklich zu machen bereicherte einen selbst. Ihre Freude wurde zurückgeworfen und wärmte den Gebenden. Die Jahre mit Bella hatten Solly Caine nicht an Dankbarkeit gewöhnt. Sie nahm, was er zu bieten hatte, und auch ihre Tochter forderte materiellen Tribut an ihre Schönheit als Selbstverständlichkeit ein. Als Bella und die Mädchen ins Bett gegangen waren, saßen Solly und Hal bis tief in die Nacht plaudernd zusammen. Dem Hausherrn gefiel der junge Mann, der so sehr an der Union und ihren Problemen interessiert war. Seine Beobachtungen waren genau und vernünftig. Er bewies Phantasie und eine Fähigkeit, sich in die Gedankengänge eines andern zu versetzen. Endlich sagte Solly bedauernd: - Ein paar Stunden muß ich Sie ja schlafen lassen, da es morgen ein anstrengender Tag für Sie werden wird. Ich muß nur noch rasch feststellen, ob alles verschlossen und verriegelt ist. - Die dekorativen Gitter? lächelte Hal. Sind sie wirklich notwendig? Solly zögerte, und Hal spürte sofort den leisen Wandel der Atmosphäre. In dem kleinen Augenblick des Schweigens
richtete der Südafrikaner seine Abwehr auf, denn Hallams Frage hatte indirekt das besondere Problem der Union berührt, die Bedrohung durch die Schwarzen, der sich der weiße Mann ständig ausgesetzt sah, und die Abneigung, sie einem Fremden gegenüber zuzugeben. Die Südafrikaner lebten in dauernder Furcht vor der Zukunft, ängstlich suchten sie nach Bundesgenossen, und dennoch waren sie innerhalb ihrer europäischen Gesellschaft noch uneins. - Jede Stadt hat ihre Verbrecher, sagte Solly Caine nach einer Pause. Und jeder vernünftige Haushalt trifft Vorsorge gegen sie. Sie brauchen nur Ihre englischen Sonntagszeitungen zu lesen, um zu wissen, wie die Welt aussieht. In England haben Sie jugendliche Gangster, die auf die Polizei schießen, in Amerika gibt es Mörder, die ihre Opfer tot schlagen, weil sie den ,Anblick’ von Blut lieben, während wir hier Parteienkämpfe zwischen den Angehörigen der verschiedenen Negerstämme in den Bergwerken haben. Sie haben Ihre Verbrecher und wir die unsern. Es besteht nicht viel Unterschied zwischen ihnen. Er schloß Kognak und Whisky ein und versteckte den Schlüssel. - Und zweifellos haben unsere Dienstboten und Ihre – falls Sie überhaupt welche bekommen – die gleichen Schwächen, fuhr er leichthin fort. Leider muß ich sagen, daß unsere ein geborenen Boys nichts lieber tun, als sich an meinem Schnaps zu beteiligen; deshalb tue ich, was ich kann, um sie nicht in Versuchung zu führen. Er ging mit Hal in den Garten hinaus und pfiff noch einmal nach dem verschwundenen Pudel. Doch nur die große Persianerkatze kam aus dem Dunkel und rieb sich an seinen Beinen. - Ich wünschte, dieser verdammte Hund käme zurück, sagte er. Bellas wegen nehm’ ich’s nicht so tragisch, nur – es gibt
hier drei Dinge, die wir nicht gern verlieren: ein Messer, eine Schußwaffe und einen Wachhund. Wenn Autos und Frauen verschwinden, ist’s weniger ernst. Die Wagen sind ja schließlich versichert.
Als Merles Mutter am nächsten Abend nach der Abfahrt der andern ins Theater allein war, ging sie in Roxanes Zimmer. Schuldbewußt schloß sie die Tür hinter sich. Ah, da war es! Auf dem Nachttisch lag ein Rosenkranz und daneben eine Miniatur. Bella nahm den Rosenkranz auf und ließ ihn durch die Finger gleiten. Die Perlen klirrten an ihren Ringen. Ob Roxane ihre Gebete an dieser Schnur zählte wie Krifti zweifellos seine Aktien an der seinen? Und worum mochte sie beten? Um die Zuneigung von Großmutter Constance, dieser kindischen Närrin, die den Kuckuck im Nest mehr als ihre eigene Enkelin liebte! Oder um ihren seltsamen, unbegreiflichen Charme, diese Nepperin, die aus einem nüchternen Geschäftsmann wie Solly einen Esel machen konnte. Wozu, zum Teufel, wollte er ihr ein Kleid kaufen? Sie hätte ihr eins leihen können… Wütend ließ sie den Rosenkranz fallen und hörte das kleine Kreuz auf das polierte Holz schlagen. Dann nahm sie die Miniatur auf, knipste die Lampen zu beiden Seiten des Frisierspiegels an und begann das winzige Porträt mit Neugier und Sorgfalt zu untersuchen. Erstaunlich, diese Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter! Besonders Stirn und Augen. Die gleichen mandelförmigen Bernsteinaugen wie bei einer Katze. Aber in Katzenaugen war nichts, und in Roxanes spiegelte sich jede Bewegung. Ihr Herz schwamm unter der Oberfläche dieser leuchtenden Augen umher wie ein dummer Goldfisch in einem sonnigen Teich, der darauf wartete, vom nächsten Kind mit einem Stück Bindfaden und einer krummgebogenen
Stecknadel herausgeangelt zu werden. Keine guten Augen für Geheimnisse. Doch die Mutter hatte ihre Geheimnisse gut gehütet – selbst unter der Folter. Was hatten sie dieser jungen Frau angetan, deren Bild so ruhig aus dem schmalen Goldrahmen blickte? Sie hatten da so besondere Methoden… Bella schauderte. Zuletzt hatte es einen Schuß in den Hinterkopf gegeben, in diesen hübschen Kopf auf dem langen schmalen Hals. Die Tochter hatte die gleiche anmutige Kopfhaltung. Nur der Mund war anders als der ihrer Mutter, weicher, voller und lebhaft geschwungen, fast wollüstig. Der Mund des Vaters, den das Mädchen nie gekannt hatte. Ein Windstoß blähte die Vorhänge hinter Bella Caine, und sie blickte auf, sah jedoch nur ihr eigenes Bild im Spiegel. Es war niemand sonst im Zimmer, doch was sie erblickte, erschreckte sie. Sie hörte das Geräusch splitternden Glases, als die Miniatur auf den Frisiertisch fiel. Und dann verbargen ihre Hände das Gesicht vor dem eigenen Blick.
Solly Caine hatte ein Kleid aus knisterndem Moire für Roxane ausgesucht. - Das paßt zu dir. Es hat die Farbe der aufgehenden Sonne. Auch ohne den Blick in Hallams Augen wußte Roxane, wie gut es ihr stand. Als sie in den Nachtklub zur ,Blauen Donau’ eintraten, spielte die Zigeunerkapelle eine jener alten heimwehkranken Melodien. - Wollen wir tanzen? sagte Hallam. In seinem Arm war sie ein Teil von ihm, und er das singende Herz in ihrer Brust. - Sie tanzen zauberhaft, murmelte er, als der Primas mit dem schwermütigen Gesicht auf den Saiten seiner Geige schließlich das Pausenzeichen zupfte.
Merle sah zu Hallam auf, als er Roxane an den Tisch zurückführte. - Sie tanzen sehr sicher, sagte sie. Gibt Ihnen Alexa Unterricht? Die eine Augenbraue hob sich ausdrucksvoll, und sein Blick war spöttisch. - Alexa hat für Gesellschaftstanz gar nichts übrig. Sie findet ihn – anstößig. Solly Caines Kichern gurgelte, als puste man durch einen Strohhalm in ein Goldfischglas. - Das ist er auch! Wir haben eben ein paar Tänzer beobachtet, die da Wange an Wange tanzten! Und was könnte eine Primaballerina, die gewohnt ist, die ganze Covent-GardenBühne allein für sich zu haben, schließlich auch an diesem Gedränge finden? Ah, da ist unser Krabbencocktail und der Sekt! Nach Mitternacht kam der Zigeunergeiger an ihren Tisch, um für Mr. Caines reizende Damen zu spielen. Eine Locke blauschwarzen Haars fiel ihm in die Stirn, als er sich zu ihnen hinunterbeugte. Seine melancholischen Slawenaugen hatten schwere Lider und waren düster, während sein Bogen den Saiten ein leidenschaftliches rumänisches Liebeslied entlockte. Roxane spürte, wie es ihr heiß in der Kehle aufstieg. Als der Geiger zu Ende war, verbeugte er sich, und Solly Caine schob ihm eine Pfundnote in die bereitwillig geöffnete Hand. Roxane lachte ein wenig brüchig. - Oh, Solly, du hättest ihm den Schein aus dem Ohr ziehen sollen. - Vielleicht, Roxie. Magst du mit mir tanzen? Seine kalte, feuchte Hand hielt sie umschlossen. Frauen wie du haben es nicht leicht, sagte er. Ihr müßt für das Glück einen hohen Preis zahlen. Dieser Zigeuner riß dir mit seinem Liebeslied fast das Herz aus dem Leib. - Du siehst zuviel, Solly.
- Du mußt dir eine dicke Haut anschaffen wie dein alter Onkel Solly Caine, die Haut eines Prügelknaben, damit die Schambockschläge des Lebens nicht so weh tun. Merkwürdig, seine Erkenntnis und seine Bitterkeit.
Zwischen halb zwei und zwei lenkte Solly den englischen Sportwagen in die letzte Kurve der Auffahrt. Dabei blickte er stirnrunzelnd an der Front seines Hauses empor, wo ein einzelnes Licht brannte. - Seltsam! Bella ist von ihren Pokerpartien nicht oft vor dem Milchmann zu Haus. Wenn sie gewinnt, will sie mehr, und wenn sie verliert, will sie’s zurückhaben. - Ja, das ist ihr Zimmer, sagte Merle, die auf dem Rücksitz saß. Doch während sie noch sprach, erlosch das Licht, und das schöne Haus starrte sie im Sternenschein aus blinden Augen an. Die Räder bremsten auf dem Ziegelhof, als Solly vor der Tür hielt. - Hier ist der Schlüssel, Hal. Lassen Sie die Mädchen hinein, während ich den Wagen ins Bett bringe! - Geben Sie mir den Schlüssel, Hal. Ich weiß mit dem Schloß Bescheid, sagte Merle. Wie leichtsinnig von Mutter! Sie hat die Tür nicht abgeschlossen. Als sie ins Haus gingen, schalteten sie das Licht in der Halle ein. Der Flur oben lag im Dunkel, zu dem sich die anmutige Wölbung der geschnitzten Eichentreppe in elegantem Bogen hinaufschwang. - Halt mal! Merles Flüstern war gespannt wie ihr plötzlicher Griff nach Hallams Arm. Ich rieche Nigger. In der Wärme des abgeschlossenen Hauses kam es auf sie zu. Wie ein lebendiges Tier kroch es die Treppen herab: der
beißende Geruch von Eingeborenenhaut, durch Schweiß und Furcht verstärkt. Roxanes Herz hämmerte. Dann hörte man Hallams Stimme, sehr leise und ruhig. - Gibt es eine Hintertreppe, Merle? - Nein. Er muß hier heraus, oder er bricht sich den Hals, wenn er aus dem Fenster springt. Ihr Flüstern klang ruhig. Wie kaltblütig sie ist! dachte Hal und sagte: - Rufen Sie die Polizei an, rasch! Und Sie, Roxane, holen mir den Feuerhaken vom Kamin! Er hielt am Fuße der Treppe Wache und blickte nach oben in das Dunkel. Dort über der letzten Stufe ballte sich die Bedrohung zusammen, von dort kam der Atem und der üble Tiergeruch, der Merle gewarnt hatte. Als Merle den Notruf wählte, sagte sie zu Hal: - Passen Sie auf! Die haben immer ein Messer bei sich! Roxane schob ihm den Feuerhaken in die Hand. - Knipsen Sie die Flurlampe oben an! sagte er. Es muß der Schalter zu Ihrer Rechten sein. Sie tat es und sollte die nächsten paar Minuten nie in ihrem Leben vergessen. Plötzlich flutete Licht über die Treppe. Oben auf dem Absatz, den Rücken an der weißen Wand, blickte eine riesige schwarze Gestalt sie an. Die großen Hände preßten sich breit gegen die Mauer – als ob sie dort angenagelt wären. Der Kopf war zurückgeworfen und ließ den Bullenhals sehen. Ein scharfer Atemzug stieß durch die geweiteten Nüstern, und die starken weißen Zähne standen barbarisch entblößt zwischen den dicken Lippen. Eine Sekunde behielt der Einbrecher noch die Haltung eines Gekreuzigten bei, dann stürzte er sich mit einem Aufschrei die Treppe herab. Roxane sah eine Klinge in der schwarzen Faust aufblitzen und Hallams erhobenen Arm, der den Feuerhaken schwang. Dann hörte sie ein Stöhnen, einen
dumpfen Aufschlag und sah, wie sich ein roter Fleck über Hallams weißes Hemd ausbreitete. Als Solly Caine die Haustür öffnete, sprang der Neger hinaus in die Nacht. Solly starrte ihm mit vorquellenden Augen und aufgesperrtem Munde nach. Merle erklärte später immer, ihr Stiefvater habe den Einbrecher hinauskomplimentiert.
Als Hallam im Krankenhaus wieder zu Bewußtsein kam, bemerkte er undeutlich eine junge Schwester, die neben seinem Bett stand. Ihre kühlen Finger lagen auf seinem Puls. - In ein paar Minuten wird er soweit sein, sagte sie zu dem großen Kriminalsergeanten, der geduldig neben ihr wartete. Hal war in einem Flugzeug, das blind durch dichten Nebel flog; doch alle Augenblicke zerrissen die Nebelschleier, und er stürzte schmerzhaft auf die Erde. Es war unmöglich, sich zu bewegen, und das Atmen bereitete Qualen. Er war froh, in das wirbelnde Dunkel des Halbbewußtseins zurückzusinken. Immer wieder zeigte ihm ein Riß in den Wolken seltsame Bilder, mit Scharlach gesprenkelt, und irgendwo zwischen ihnen beugte sich das weiße Gesicht eines Mädchens über ihn – Roxane. Er sank zurück in die Nebel, die umherquirlten, dicht wurden und wieder zerrissen. - Nehmen Sie das! Es wird Ihnen helfen. Die Stimme der Schwester klang wie bei einem Ferngespräch. Er spürte, wie sein Kopf angehoben wurde. Das Zeug, das sie ihm an die Lippen hielt, schmeckte bitter. Jetzt konnte er den uniformierten Mann deutlicher sehen. - Nun, Sir, können Sie sich jetzt erinnern, was passiert ist? Auch diese Stimme klang fremd, schien aber beträchtlich näher. Sie zerrte an seinem flatternden Geist und versetzte ihn in die Gegenwart. Ach ja… Hal strengte sich sehr an. Als er
seine Aussage unterschrieben hatte, wandte er den hämmernden Kopf auf dem Kissen. - Aber warum habe ich geglaubt, Roxane sei hier bei mir? Die Schwester lächelte. Sie hatte ein rotes, gesundes Gesicht und Augenbrauen, die wie ein schwarzer Balken quer über der Stirn lagen. Hal war von diesen Augenbrauen gefesselt. - Ihre Freundin ist mit Ihnen hergekommen. Sie schläft im Augenblick. Sie haben Glück, daß das Messer an einer Rippe abgeglitten ist. Deshalb also, das war es. Aber weshalb Roxane? Es war zu schwierig. Er sank in die treibenden Wolken zurück und schlief erschöpft ein. Als der Kriminalsergeant Roxane nach Hause brachte, fand sie Solly und Merle, die mit dem Polizisten Beyers, einem stämmigen jungen Afrikaner, zusammen warteten. Nach der Erschöpfung fühlte Roxane sich irgendwie leicht und gehoben. Hallam würde gesund werden. Der Arzt hatte es gesagt. Solly rauchte eine Zigarre und trug einen kastanienfarbenen Morgenrock über dem weißen Hemd und den schwarzen Hosen, während Merle noch das metallisch blaue Abendkleid anhatte, das ihre Augen noch leuchtender machte. Sie schien eher erregt als müde zu sein, als ob sie ein starkes Stimulans genommen hätte. Sensationen bekommen ihr gut, dachte Roxane, deshalb haßt sie das Tal. Gleichzeitig erkannte sie, daß auch ihre eigene Stimmung ungewöhnlich war. Hirn und Körper waren nicht mehr vorhanden. Sie war nichts, gar nichts als ein hochempfindliches Meßinstrument. Sie fühlte Solly Caines Arm kaum, als er sie, hilfsbereit wie immer, zu einem Stuhl führte. - Setz dich, Kind! Das war zuviel für dich. Und jetzt kriegst du einen Schnaps, ob du ihn magst oder nicht. Während der Sergeant und der Schutzmann mit Solly verhandelten, saß Merle auf der Armlehne von Roxanes Stuhl und redete auf sie
ein. Ihre Stimme war schärfer und lauter, und Roxane hatte den Eindruck, daß Merles ganzes Nerven system von den Ereignissen der Nacht angeregt sei. - Mutter kam quietschvergnügt mit einem dicken Gewinn in der Tasche nach Haus, doch als sie hörte, was geschehen war, kriegte sie sofort hysterische Anfälle. Ich glaube, der Bericht über ihren Pudel, den man tot im Komposthaufen vergraben fand, hat sie mehr bewegt als Hallams Verletzung! Bestimmt war Zulu, unser Gärtner, der Einbrecher. Und der neue Hausboy vermutlich sein Komplice. Sie müssen Pudi vergiftet haben, damit er keinen Lärm schlagen konnte. Wir sind genau zehn Minuten zu früh nach Hause gekommen. Ziemliches Pech für Zulu. Roxane sagte: - Aber deine arme Mutter… - Als meine Mutter sich zusammennahm, handelten ihre ersten verständlichen Worte von der Versicherungspolice für ihren Schmuck! Der Einbrecher hatte alles mitgenommen, was sie nicht gerade trug, und ein ordentliches Bündel Banknoten dazu. Sie steckte sich eine Zigarette an. Trink das Zeug, Roxie! Es wird dich aufmuntern. Du brauchst gar nicht so ‘n Gesicht dabei zu ziehen, es ist sehr anständiger Kognak. Solly trat zu ihnen. - Ihr braucht euch nicht aufhalten zu lassen. Geht und versucht zu schlafen. Der Hausboy ist weggeschafft, der Koch ist vernommen worden und hat das Messer als Zulus Eigentum erkannt. Die ganze Sache ist ziemlich erledigt. Schutzmann Beyers wird heute nacht hier wachen; wir haben also keinen Grund, ängstlich zu sein. Traurig ist nur, daß der arme Hallam bei dieser Dummheit verletzt worden ist. Und sogar das hätte schlimmer kommen können. Merle folgte Roxane in ihr Zimmer hinauf.
- Ich bin zu aufgeregt, um schlafen zu können, sagte sie. Ich hol mir noch eine Schlaftablette von Solly, und wie steht’s mit dir? - Ich bin todmüde, erwiderte Roxane. Die dunklen Ringe unter ihren Augen und die Blässe bestätigten ihre Worte. Allein zu sein, war alles, was sie wollte. Sie ließ sich auf den Schemel vor dem Frisiertisch fallen. Plötzlich erstarrte sie und schrie auf. - Oh, Merle, hier ist er auch gewesen! Da – die Glasplatte ist zerschlagen, und das… Sie hob die Miniatur von Anne Williams auf. Merle nahm sie ihr aus der Hand und starrte verwirrt auf das gesprungene Glas, das wie ein Spinnennetz über dem kleinen Porträt lag. - Merkwürdig! Wir hatten doch gerade vorhin nachgesehen, ob hier auch Spuren von ihm seien. Aber es standen keine Schubladen offen, alles war an Ort und Stelle. Sicher hat er hier am Frisiertisch nach Schmucksachen gesucht. - Aber das lag gar nicht auf dem Frisiertisch, als ich weg ging! Es lag auf dem Nachttisch. Merle stellte die Miniatur wieder hin und knipste die kleine Lampe an. Das goldene Kreuz des Rosenkranzes leuchtete auf. Sie berührte ihn achtlos mit den Fingerspitzen. - Man sollte meinen, daß er den für sein Mädel mitgenommen hätte. Alle Eingeborenen lieben Perlen, ganz gleich, was für welche. Das Kreuz hätte er ja wegwerfen können. Aber unser Freund Zulu ist offensichtlich nicht hinter Tinnef her. Er ist gerissen und sucht nur Sachen von wirklichem Wert.
Elftes Kapitel MR. KRIFTI STRECKT DIE FÜHLER AUS
Als Merle verreist war, benutzte Mr. Krifti die Gelegenheit, Guy Masterson in seinem Büro in Kapstadt aufzusuchen und ihm einen kleinen Vorschlag zu machen. Eigentlich konnte man es noch nicht einmal Vorschlag nennen. Er wollte nur seine Fühler ausstrecken – einige Andeutungen und Winke fallenlassen. Mr. Krifti lächelte in sich hinein, als er vor Guys Büro läutete. Es war wirklich ein ungeheurer Glücksfall, daß der junge Masterson nicht nur ein hochbegabter und überaus ehrgeiziger junger Architekt, sondern überdies der Ehemann der Erbin von Großmutter Constance de Valois war. Doch nach Mr. Kriftis Erfahrungen geschahen solche Dinge häufig. Wenn man sich etwas stark genug wünschte, Augen und Ohren offenhielt und nicht denkfaul war, führte das Schicksal einem die Hand. - Bitte, kommen Sie herein, Mr. Krifti! Wollen Sie im Büro warten? Mr. Masterson ist im Augenblick wieder da. Mr. Krifti fand, Guy habe bei der Wahl seiner Sekretärin, eines heiteren, frisch aussehenden blonden Mädchens, einen guten Griff getan. Seine eigene war dunkel und trübsinnig. Aber schließlich war sie tüchtig und mischte sich nie mit unerwünschten Ratschlägen ein, und das war ihm mehr wert als ein freundliches Lächeln und der Teint eines Schulmädchens. Guy Mastersons Räume lagen im obersten Stock eines hübschen, modernen Gebäudes, das die altmodischen
Geschäftsund Bürohäuser der Adderley-Straße überragte. Mr. Krifti blickte auf die knospenden Bäume des Botanischen Gartens und die Eichen des Regierungs-Boulevards hinab und bewunderte das zitternde Frühlingsgrün vor den violetten Steilhängen des Tafelberges. Westlich, auf den Signalhügel zu, sah er das alte Malaienviertel, das sich abwehrend im Sonnenschein zusammendrängte; es war unwiderruflich dem Tode geweiht, wie nach einem rechtskräftigen Urteil. Eines Tages würde es weggefegt werden, und die orientalischen Bewohner der flachdachigen rosa Häuser würden ein neues Gebiet suchen müssen, in dem sie ihren alten mohammedanischen Traditionen leben konnten. Vielleicht fiel dabei etwas ab, wenn die Zeit kam. Man mußte nur vorausschauen. Mr. Krifti schlenderte zum Zeichentisch hinüber, der an der längsten Wand des Zimmers stand. Die Pläne für ein Privathaus waren aufgezweckt. Als er sie prüfte, spielten seine Finger mit dem Rosenkranz, den er aus der Tasche genommen hatte. Ja, das war Guys unnachahmlicher Stil: die Einfachheit, der Sinn für Weite und Freiheit, geschickt mit praktischer Raumausnutzung gepaart. Ein Haus, leicht zu bewirtschaften, die ideale Wohnung der Zukunft. Mr. Krifti erkannte Begabungen; doch in Guy steckte noch mehr. Er war genial, und Genialität verehrte Mr. Krifti. Mal sehen, wo dieses Haus liegen sollte! In der Senke des neuen Südkreuz-Viertels, das immer mehr zu den Weingärten des alten Constantia-Tales vorstieß. Die Perlen seines Rosenkranzes glitten rascher durch die schmalen Finger. Bald würden die Weinberge ganz verschwinden und nur einige historische Gutshäuser und ein paar Morgen Land übrigbleiben und an jene Tage erinnern, da die Weine aus Constantia an der Tafel von Kaisern und Königen gereicht wurden. Und er, Krifti, würde die schönste Reliquie besitzen, er würde in Dieu Donné leben und die
zusammengeschrumpften Weingärten bestellen. Dieu Donné würde die Krone seiner bemerkenswerten Sammlung von Afrikana sein. - Krifti! Hoffentlich haben Sie nicht zu lange warten müssen! Die Verabredung zum Lunch hat mich länger aufgehalten, als ich glaubte. Leicht stammelnd wie immer, versuchte Guy seine dahinstürmenden Gedanken einzuholen. - Oh, es brennt nicht. Keine Eile. Mr. Krifti zeigte auf den Plan, der an den Zeichentisch gezweckt war. Was ist das wert? Kleine Sache von zehn-, zwölftausend Pfund? Guy nannte ihm die Kosten. Krifti zuckte mit den abfallenden Schultern und schob die feuchte Unterlippe vor. - Bagatellen, mein Lieber! Ich könnte Ihnen einen Vor schlag machen, bei dem wirklich etwas abfällt. Er setzte sich dem Architekten gegenüber an den Mahagonischreibtisch. - Täuschen Sie sich nicht! Diese Stadt ist von Weltbedeutung. In Friedenszeiten ist Kapstadt das Tor nach Afrika, in Kriegszeiten die Tür nach dem Osten. Die weiten Küsten strecken, die jetzt urbar gemacht werden, sind nur eine Vorahnung der künftigen Ausdehnung. An der Straße nach Norden schießen die Industrieunternehmen wie Pilze aus dem Boden, und nach wie vor ist die Halbinsel das Herz des Reisegebiets. Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht an diese Privathäuser mit den kleinen Honoraren – außer als Steckenpferd, kleine Schmuckstücke zur eignen Freude –, und bereiten Sie sich auf die großen Sachen vor! Guy schob sich ruhelos hin und her. Ein geduldiger Zuhörer war er nie gewesen, ebensowenig wie er für berufliche Schmeicheleien empfänglich war; denn sooft er auch an sich zweifeln mochte, an seinen Fähigkeiten als Architekt zweifelte er nie. Ja, er besaß Phantasie und Glauben. Nur die
Möglichkeiten fehlten ihm. Die Welt war noch nicht bereit für die Pläne des Jahres 2000 – doch Guy Masterson war bereit. Er kritzelte auf dem Löschblatt, während die Bedeutung von Mr. Kriftis Worten in sein Gehirn eindrang. Immer wieder glitt Merles Gesicht von der Spitze seines weichen Bleistifts, Merles Lippen, ihre Augen, ihre Ohren, hier, da, überall, doch nie in dem normalen Nebeneinander. - Sie müssen sich auf die großen Sachen vorbereiten, begann Mr. Krifti wieder. Er nahm eine Karte vom Constantia-Tal aus der Aktentasche und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Sie bedeckte ein Stück von Merles Nase, die auf das Schlüsselbein gerutscht war. Hier sehen Sie, wie die neue Hauptstraße durch die südlichen Vororte verlaufen wird. Genau vor Ihrem eigenen Gartentor und dann weiter den natürlichsten Weg an der Grenze des Gutes Dieu Donné entlang. Er nahm einen Rotstift aus dem Ständer und zeichnete um Guys Häuschen und etwa vierzig Morgen der Weingärten von Dieu Donné, die daran stießen, einen Kreis. - Sehen Sie sich’s an! Hier haben wir ein ausgezeichnetes Gelände mit Morgensonne – die ideale Lage für ein Luxus hotel. Wir könnten ein prachtvolles Gebäude errichten, mit Quartieren für die eingeborenen Angestellten, Tennisplätzen, Schwimmbecken, Reisebüro, einer exklusiven Ladenstraße und einer Farm für den Eigenbedarf. - Aber… Mr. Krifti brachte Guy mit einer Geste zum Schweigen. - Das wäre das schönste Hotel in Südafrika, und Sie könnten es bauen. Merken Sie sich, ich sage nicht, Sie werden es bauen. Doch wenn Sie mit meiner Gesellschaft zusammenarbeiten wollen, dann könnten Sie der Mann sein, der Hotel Constantia entwirft. In diesem Projekt stecken Ruhm und Vermögen, und wenn uns das, was Sie da schaffen, gefällt, er öffnen sich großartige Aussichten bei unsern ausgedehnten
neuen Industrieunternehmen. Sie werden freie Hand haben und in der Lage sein, Ihre Vorstellung von der Zukunft zu verwirklichen. Mr. Krifti wußte, daß wenigstens seine Worte registriert worden waren und daß sie diesem begabten und ehrgeizigen jungen Architekten nicht wieder aus dem Kopf gehen würden. Er vermochte die Träume fast zu sehen, die über die Filmleinwand von Guys Gehirn schossen: Hotels, Ladenstraßen, Fabriken, Krankenhäuser, Stadtviertel, Großstädte… - Meine Gesellschaft würde zunächst Ihr Häuschen kaufen. Guy lachte laut. - Unser Häuschen, Krifti? Fünf Morgen? Wie können Ihnen die helfen, wenn Sie an vierzig, fünfzig Morgen denken? - Ihr Häuschen ist eine reizende kleine Enklave in dem Ge biet, das ich vor Augen habe. Es würde ein entzückendes Wohnhaus für den Direktor abgeben. - Aber zum Teufel, Krifti! Ihr Plan bedeutet ja den Ruin für Dieu Donné. So ein verdammtes riesenhaftes Touristenzentrum genau vor Großmutter Constances Tür! Ein paar hundert Eingeborenenboys auf das Tal losgelassen – Sie wissen, was das bedeutet! Die wollen Schnaps und Weiber! Und wer wird sie damit versorgen? Unsere Farbigen hier! Es gibt schon genug Laster bei uns im Tal, und die Leute sind keine Heiligen! Lieber Gott, Großmutter Constance wird denken, das sei der Anfang vom Ende. - Ja, sagte Mr. Krifti, und seine Zunge war mit Samt gepolstert und mit Honig bestrichen. Aber das Ende von Großmutter Constances Welt ist der Anfang Ihrer Welt, Guy Masterson. Großmutter Constances Vorfahren haben dem Tal ihr Siegel aufgeprägt, und das Gutshaus von Dieu Donné mit seinen Kellereien, seinen historischen Berichten und einem begrenzten Landbesitz wird immer erhalten bleiben. Es wird
das Andenken an das alte Constantia sein. Doch wir leben in einer neuen Zeit, in der Zeit, Guy Masterson, da Sie dem Tal Ihren Stempel aufprägen! Guy spürte, wie seine Schädelhaut sich spannte. Was, zum Teufel, hatte Krifti da vor? Wollte er ihn auf einen hohen Berg führen, um ihm die Städte der Welt anzubieten? Ruhm, Vermögen, Schmuck und Pelze für eine schöne Merle, die Reisen, die sie machen wollten – Italien, Griechenland… Verdammter Kerl! Er drückte sich auf eine marternde Weise aus. Das war das orientalische Blut, die blumige Rede, die Schmeichelei, die irgendeine tödliche Absicht verbarg, der Früchtekorb mit der Natter unter dem Laub. ,Die Zeit, da Sie dem Tal Ihren Stempel aufprägen’, hatte Krifti gesagt. Gewiß, Guy hatte die Absicht, sein ,Masterson’ quer über seine Stadt und seine Zeit zu schreiben – aber würde es ihn wirklich stolz machen, über Großmutter Constances leuchtenden Grüngürtel seinen Namen in Beton und Glas zu schreiben? - Für einen Plan, wie Sie ihn da vorschlagen, brauchen Sie Genehmigung, sagte er, plötzlich ärgerlich, weil er nervös war und seine Unabhängigkeit, ja vielleicht mehr: seine persönliche Integrität bedroht fühlte. - Wenn Sie unsern Plan vernünftig betrachten, mein Lieber, werden Sie zugeben, daß er das Tal aufblühen lassen wird – allerdings eine Blüte neuer Art. (Unser Plan! War er bereits in den Handel einbezogen?) Jedenfalls habe ich nie irgend welche Schwierigkeiten mit Genehmigungen für die Vor haben meiner Gesellschaft gehabt. Es kommt nur darauf an, sie dem richtigen Mann auf die richtige Weise vorzutragen. So wie er es zweifellos im Augenblick tat! All die Irrwege der Durchstechereien mußten Krifti gut bekannt sein – Schmiergelder, Schmeichelei, Ehrgeiz der Beamten, vielleicht durchschnüffelte er auch deren Vergangenheit, denn
Bestechung und Erpressung waren Geschwister vom gleichen üblen Stamm. Guy sagte: - Ich sehe immer noch nicht ein, was unser Häuschen damit zu tun hat. - Es soll der Brückenkopf zu meinem kleinen Hinterland werden… Der junge Architekt sprang auf und schlug nervös auf die Karte des Tals. - Sie sprechen in Rätseln, Krifti! Legen Sie Ihre Trümpfe auf den Tisch – welche Karten es auch sein mögen! Krifti hob die Augenbrauen. - Da, das Meßtischblatt vom Constantia-Tal spricht doch wohl für sich selbst. - Hören Sie, Krifti, Sie glauben also, wenn Sie unser Häuschen und diese fünf Morgen haben, die, wie Sie es zu nennen belieben, einen Keil in ihr Hinterland treiben, wären Sie in der Lage, Großmutter Constance zu überreden, Ihnen die nötigen vierzig Morgen zu verkaufen. Dazu will ich Ihnen eins sagen: Sie haben nicht die mindeste Aussicht, beim Teufel, nicht die mindeste! Die alte Dame ist von Dieu Donné geradezu besessen. Auch nicht einen Fuß bekommen Sie auf Ihrem – Hinterland! Sie müssen den Verstand verloren haben, wenn Sie sich vorstellen, Großmutter Constance würde Ihnen auch nur einen einzigen von diesen Weinbergen verkaufen – geschweige denn vierzig Morgen. Eher stirbt sie! Das müssen Sie doch wissen? Mr. Krifti faltete die Landkarte zusammen und steckte sie sorgfältig wieder in die Aktentasche. - Ich besitze eine Hypothek auf diese Weinberge und Obst gärten, sagte er sanft. Auf vierzig Morgen. Wenn ich Sie brauche, werde ich sie haben. Die Zinsen sind schon lange nicht mehr bezahlt…
Guy schauderte, als der große Mann sein Büro verlassen hatte. Was für eine feineingefädelte Bestechung mochte das sein? Krifti bot ihm einen erstaunlichen Vertrag an, der ihm viele Tausende und beträchtlichen Ruhm einbringen würde, und stellte ihm weitere in Aussicht, wenn er Merle überredete, sich von ihrem Häuschen zu trennen und damit dem Feind eine Bresche in die Verteidigung von Dieu Donné zu schlagen. Und er hatte keine Unklarheit darüber gelassen, daß Verträge mit den Krifti-Gesellschaften von seiner Bereitwilligkeit abhingen, sich an Kriftis Spiel zu beteiligen. Falls Merle sich weigerte, ihre fünf Morgen und das Häuschen zu verkaufen, wäre diese Hypothek für Kriftis Vorhaben praktisch wertlos. Merle konnte Großmutter Constances Gegner abwehren. Sie konnte ihm den Zugang zu seinem – Hintertürchen verweigern. Was würde Merle sagen – und tun? Das Telephon klingelte, und er hörte, wie seine Sekretärin sich meldete. Er nahm den Hörer ab. - Mr. Masterson – ein Gespräch aus Johannesburg. Und dann sprach Merle. Ihre Stimme füllte den Raum, als ob sie neben ihm säße. Merle schrie immer ins Telephon, und sein Hörer war sowieso wie ein Lautsprecher. Und heute war Merles Stimme noch lauter als sonst, fast schrill. Es war eine lange Unterhaltung, und die Sekretärin im Nebenzimmer hätte gar zu gern mitgehört. Sie hörte Mr. Mastersons entsetzte Ausrufe. Was mochte da nur geschehen sein? Als Guy endlich auflegte, erklärte er es ihr. - Im Hause meiner Schwiegermutter in Johannesburg ist eingebrochen worden. Mr. Hal Fairmead ist schwer verletzt… Nein, keine Lebensgefahr mehr. Er hat großes Glück gehabt, die Messerspitze ist durch eine Rippe vom Herzen abgelenkt worden. Doch meine Frau möchte, daß ich es seiner Familie mitteile, ehe sie es in den Zeitungen lesen. Was für Verabredungen habe ich heute noch?
- Nur Mr. Burger wegen des Bankgebäudes in Wynberg. Sie hatte weit offene, entsetzte Augen. Hoffentlich ist Ihrer Gattin nichts geschehen… Er blickte auf und grinste plötzlich. - Meine Frau genießt die Erregung in jeder Form. Ihr Nervensystem braucht sie wie das tägliche Brot! Meine Schwiegermutter hat etwas von ihrem Schmuck verloren, aber der ist gut versichert, und Mr. Caine ist ein Packen Banknoten gestohlen worden, aber ganz gewiß hat er genug behalten. Das einzig Unangenehme ist Mr. Fairmeads Verletzung, armer Kerl! Nun bringen Sie mir bitte die Mappe über das Bankgebäude, und sowie ich Mr. Burger gesprochen habe, fahre ich nach Farway. Er kritzelte wieder auf dem Löschpapier: eine Hand, die ein Messer umklammerte. Merle hatte gesagt: ,Hal will kein Aufsehen. Er wird bald aus dem Krankenhaus entlassen, dann bleibt er noch ein paar Tage hier bei uns, und sobald es ihm einigermaßen geht, fliegt er nach Hause. Roxie und ich bleiben bei unserm Plan; wir fahren mit dem Wagen zurück und holen unterwegs Tinus ab. Aber vergiß nicht, Hal möchte in keinem Fall, daß Alexa hier angesetzt kommt, um ihren Mann am Totenbett zu besuchen. Und in keinem Fall will er, daß es Schlagzeilen in der Presse darüber gibt. Er liegt nicht auf dem Sterbebett! In acht bis zehn Tagen ist er „wieder ganz auf der Höhe.’ Guy war in Farway, ehe die Abendzeitung oder die Rundfunknachrichten ihre Lesart von der Angelegenheit bringen konnten. Es gab keinerlei Aufsehen. Hallams Eltern nahmen die Nachricht in einer Weise auf, die Guy insgeheim als ,sehr englisch’ bezeichnete. Und Alexa machte keinerlei Andeutungen, daß sie an die Seite ihres verletzten Gatten eilen wolle. Sie sagte lediglich: ,Gott sei Dank, daß er gerettet ist!’ Und dann, im gleichen Augenblick, sank ihr schmaler
Oberkörper über die Armlehne ihres Sessels. Grünlichblaß wie eine Mondblume hing sie da. Sofort war Adrian Fairmead an ihrer Seite. Und Lavinia dachte, daß Adrian auch ein bißchen in sie verliebt sei. O Hal, mein armer Junge, Hal…
Zwölftes Kapitel ALEXA WÜNSCHT ES SO
Hal erholte sich schnell von seiner Wunde und kehrte auf dem Luftwege ans Kap zurück. Sehr bald konnte er wieder reiten, schwimmen und auf die nahen Gebirge klettern, doch immer, wenn er Alexa bat, ihm dabei Gesellschaft zu leisten, hatte sie etwas anderes vor. - Alexa, willst du denn niemals mit mir reiten oder schwimmen oder Spazierengehen? Sie sang in ihrem leichten Kontraalt: - Madame, willst du Spazierengehen, willst du mit mir Spazierengehen…? Hal, Liebling, ich kann nicht. Simonoff kommt zur Probe herüber. Wir üben das Rosenadagio aus Schlafende Schönheit. - Verdammte Schlafende Schönheit – und Simonoff dazu! Sie lachte und zupfte an seinem Ohrläppchen, doch er schüttelte ihre Hände ab wie ein gereizter Hund. - Du hast deine Arbeit und ich meine, erklärte sie geduldig. Du mußt Stoff für deine Artikel sammeln, und ich muß im Training bleiben. Ich darf nicht einrosten. Nimm dir das Mädel von nebenan als Spielkameraden. Reit mit ihr, geh mit ihr spazieren! Sie kennt die Halbinsel von innen und außen, und sie ginge gern mit dir. Ich glaube, sie ist ein bißchen verschossen… - Und du machst dir nichts daraus! Er zog sie an sich. Wie dunkel und verschlossen braune Augen sein konnten! Nie wußte man, was dahinter lag.
- Warum sollte ich mir etwas daraus machen? Du liebst mich doch. - Ja, bei Gott! Während seiner kurzen Abwesenheit im Norden des Landes hatte sich die ganze Situation in Farway verändert. Lavinia hatte das Eindringen der ,ungewöhnlichen Bekannten’ ihrer Schwiegertochter mit Widerwillen und Ärger beobachtet. Denn Alexa, die sich so hartnäckig geweigert hatte, am gesellschaftlichen Leben der Kaphalbinsel teilzunehmen, war rasch und vergnügt zu einem Teil der örtlichen Ballettwelt geworden. Sie war gleich vertraut mit diesen schmalen kleinen Frauen und athletischen, langhaarigen jungen Männern, die ihre Sprache sprachen und sie mit dem einer Gottheit schuldigen Respekt behandelten. Besondere Abneigung empfand Lavinia gegen Simonoff, den Charaktertänzer des südafrikanischen Balletts, der nicht mehr verlangte, als Alexa in jeder Rolle, die sie zu üben wünschte, als Partner zu dienen. Lavinia nannte ihn ,den tanzenden Pudel’. Hallam versuchte, über ihren Widerwillen hinwegzulachen. - Alexa muß mit einem Partner trainieren, Mutter. Selbst sie ist nicht fähig, sich automatisch in die Luft zu erheben! - Und was bleibt für dich? fragte sie. Es fällt mir auf, daß deine Frau sehr wenig Zeit für dich hat. - Unglücklicherweise bin ich kein – tanzender Pudel. Ich bin genauso tolpatschig wie eine dänische Dogge. - Ja, sagte sie böse. So ungefähr ist es. Du bist die große dänische Dogge und hast deine Hütte im Hof – der Hund für draußen! Adrian machte seiner Frau unter vier Augen Vorhaltungen. - Das ist nicht richtig, Lavinia. Deine Bemerkungen fliegen herum wie vergiftete Pfeile. Versuchst du etwa, diese Ehe zu zerstören?
- Hast du irgendwelche Hoffnung, daß sie eines Tages doch noch gut wird? - Bestimmt nicht, wenn du deine Sabotage fortsetzt. Plötzlich verzog sich ihr Gesicht, und er sah, daß sie sich schämte. - Entschuldige, Adrian. Aber ich kann es nicht mit ansehen, daß sie Hal so ausschließt. Und Roxane gegenüber ist es auch nicht recht. Alexa stößt ihn diesem Kind geradezu in die Arme – und sie ist jung und empfänglich. Adrian runzelte die Stirn. Er hatte selber schon böse Befürchtungen, weil sein Sohn Roxane so oft sah – wenn auch nicht um Hallams, sondern um des Mädchens willen. - Hal hat für niemand Augen als für Alexa, sagte er langsam. - Genau wie Simonoff, setzte sie scharf hinzu. - Der bedeutet ihr nichts. Sie braucht ihn aber beruflich. Du mußt versuchen, sie zu verstehen, Lavinia. Unsere Schwiegertochter hat das Zeug dazu, eine der ganz großen Tänzerinnen zu werden, eine prima ballerina assoluta wie die Pawlowa, die Karsawina oder die Fonteyn. Sie hat das Ge sicht und die Gestalt, das Empfinden und die Ausdauer, Pathos, Humor, Intelligenz, also alles, was es braucht, eine wirklich große Künstlerin zu schaffen. Und der Ehrgeiz fehlt auch nicht, aber sie hat einen falschen Schritt getan. Sie hat sich in einen jungen Mann verliebt, der nicht vom Ballett ist. Sie bemüht sich, ihren Beruf und Hal miteinander in Einklang zu bringen. Das ist nicht leicht für sie. - Spaltung der Persönlichkeit! sagte Lavinia, und ihr Lachen klang wie ein Aufschluchzen. Wahrscheinlich erwartest du, daß ich Alexa bedauere. - Vielleicht. - Es würde mich nicht überraschen, wenn ich feststellte, daß du auch in sie verliebt bist – Pygmalion und Galatea! Adrian sagte: - Manchmal möchte ich dich schütteln!
Aber er wußte, es lag ein Körnchen Wahrheit in ihrer Beschuldigung. Alexa war wirklich seine Galatea. Ihre Darstellung der Olga in ,Ballerina’ – der zwischen Liebe und Beruf hin und her gerissenen Tänzerin – hatte seiner Heldin für Millionen von Filmbesuchern Leben und Substanz verliehen. Sein Gefühl für die Frau seines Sohnes war vielfältig zusammengesetzt: aus Mitleid, Zuneigung und tiefer Bewunderung für ihre künstlerischen Fähigkeiten. Er genoß es, ihr beim Üben mit andern Tänzern zuzusehen: ein Juwel in angemessener Fassung. Unter ihnen vibrierte sie vor Leben: sie flog dahin, glitt, schwebte, ein Geschöpf aus Licht und Luft. Doch wenn sie gegangen waren, ruhte ihr ganzes Wesen. Sie ‚schaltete ab’. Auch Hal wußte um diese Gewohnheit. Er sah, wie seine Frau aus dem Kreis des Familienlebens, der Unterhaltung fortglitt und für sich dasaß, die Augen hinter der dunklen Brille verborgen, die Hände im Schoß – eine in der gebeugten Fläche der anderen –, und er spürte, daß sie in dieser Leblosigkeit unverletzlich war. Selbst die scharfgezielten Bemerkungen seiner Mutter vermochten sie nicht zu treffen. Alexa war einfach nicht da. Sie braucht diese Entspannung, sagte er sich, sie muß sich von ihrer Umgebung loslösen können. Doch manchmal beunruhigte es ihn, daß sie sich so häufig auf diese Weise zurückzog. Selten war sie bereit, sich Zeit für ihn zu nehmen – und es verlangte ihn nach ihr. Herrgott, wie es ihn nach ihr verlangte! Einmal hatte sie ihm auf seine Vorwürfe erwidert: - Hast du schon mal an meinen Stundenplan gedacht, wenn ich wieder richtig arbeite? Dann hatte sie ihm einen ungefähren Plan für Training, Proben und Vorstellungen gegeben. Da schien keine Zeit zu bleiben. Er hatte gesagt: – Unser gemeinsames Leben wird schon zu seinem Recht kommen. Es muß – weil wir es beide aufrichtig wollen! Und
darauf kommt es doch an, nicht wahr, auf den Willen, uns anzupassen, uns zu lieben, weil wir einander brauchen? Aber brauchte sie ihn denn? Oder war er mit seiner fordern den körperlichen Liebe und seinen Bemühungen, ihr Herz und ihren Geist zu erforschen, um die ihm fremde berufliche Seite ihres Lebens zu verstehen, in ihren Augen eine Last? Alexa war durchaus ein realer Mensch, eine unermüdliche Arbeiterin, eine Frau voller Ideen und Intelligenz, eine überragende Künstlerin; und doch war sie manchmal so fern – wie auf einer anderen Welt –, daß es ihm schien, als sei er mit Andersens kleiner Seejungfrau verheiratet. Wenn wir erst unsere eigene Wohnung haben, dachte er, wird sich alles einrichten, so wie es in Florida war, als sie ihre Arbeit beiseite schob, als nichts und niemand zwischen uns treten durfte. Damals war es so einfach gewesen: nur ein Mann und eine Frau und ihre Liebe.
Immer häufiger folgte er Alexas lachendem Rat und nahm das ,Mädchen von nebenan’ mit auf seine Ausflüge. Er galoppierte mit Roxane über die sandige Niederung und durch die breiten Feuerschneisen der Weinpflanzungen. Er fuhr mit ihr zu dem reizenden kleinen Fischerhafen in der Waldbucht. Bei Ebbe sammelten sie Muscheln in den klaren Felstümpeln und nahmen sie mit nach Farway, wo Lavinias eingeborener Koch moules marinières nach einem südafrikanischen Rezept bereitete. Manchmal schwammen sie in der Brandung oder kletterten ins Gebirge. Nur zu ihrem Lieblingsplatz am Wasserfall nahm Roxane Hal nicht mit. Dorthin führte sie niemand. Bald entdeckte Hal, daß die Interessen seiner jungen Gefährtin weit und vielseitig und manche davon ernst zu nehmen waren. Sie fuhr mit ihm ins Parlament und übersetzte ihm die leidenschaftlichen Forderungen der afrikanischen Abgeordneten. Sie zeigte ihm die Suppenküchen und
Krankenhäuser zwischen den schmutzigen Pondoks in der Niederung, wo eingeborene und farbige Familien weit unter dem Existenzminimum in Hütten lebten, die aus alten Kisten und Keksbüchsen zusammengeschlagen waren, wo es keine sanitären Einrichtungen gab und die Straßenreinigung ausschließlich den Schweinen überlassen wurde und wo Ordnung und Recht der Autorität eines Sicherheitsausschusses oblagen, den diese erbärmlichen Gemeinden aus ihrer Mitte wählten. Sie führte ihn zur Universitätsklinik. - Einer der Assistenzärzte ist ein Freund von mir, erklärte sie. Die Säle für Nichteuropäer werden Sie interessieren. Wir freuen uns, wenn britische Journalisten eine Vorstellung davon bekommen, was hier zum Besten der braunen Menschen getan wird. Ihre Augen tanzten und neckten ihn. Den ganzen Nachmittag war sie fröhlich und voller Mutwillen, und Hal fragte sich schon, ob der junge Chirurg ihr etwas bedeuten mochte. Daß sie ihn anzog, wurde ganz deutlich. Und es mißfiel Hallam, wenn er sich auch albern dabei vorkam. Sie führte ihn in das Heim für verkrüppelte Kinder, ein prächtiges modernes Krankenhaus, das – wie der größte Teil des nichteuropäischen Wohlfahrtswesens – im wesentlichen von Spenden der Kapbürger und der unentgeltlichen Arbeit der Ärzte unterhalten wurde. Als sie durch die großen hellen Säle gingen, folgten ihnen die dunklen Augen in den Gesichtern der Eingeborenen, der Inder, Malaien und Mischlinge. Wie traurig diese Augen waren, bis das scheue Lächeln durchbrach! - Sie wollen Ihnen etwas vorsingen, sagte Roxane. Sie singen sehr schön. Er lauschte mit geschlossenen Augen, um das Bild der fehlenden Glieder und der kleinen verrenkten Körper in den Gipsbetten auszusperren. Die hellen reinen Kinderstimmen
entflohen den Fesseln der Krankheit und stiegen auf wie Vogelstimmen. Sie sangen Kirchengesänge und Lietjies auf afrikaans und englisch, und sie sangen von Freiheit und Glück. In der Dunkelheit hinter den geschlossenen Lidern vergaß Hal, daß diese Sänger kindliche Gefangene waren, zu Monaten und Jahren Leid, einer Folge der Vererbung und Unterernährung, verurteilt. Und als sie zu Ende waren, als ihre großen Augen auf das gewohnte Lob warteten, fiel ihm das Sprechen schwer. Seine Stimme klang rauh, als er ihnen dankte, und Roxane schob impulsiv die Hand in seinen Arm. - Ich weiß, sagte sie. Man kann nicht anders… Die Industrialisierung der Südafrikanischen Union und die daraus erwachsenden Probleme studierte Hallam auf eigene Faust. Er lernte Professoren, Verwaltungsbeamte und Geschäftsleute kennen, die in der Lage waren, ihm einen Überblick über die besonderen Schwierigkeiten dieses südlichsten Winkels des afrikanischen Kontinents zu geben – des weißen Afrika! Er wurde in die großen neuen Industriegebiete mitgenommen und begann sich eine Vorstellung von ihrem raschen Anwachsen zu machen. Der Wohnungsbau vermochte nicht mit ihnen Schritt zu halten, und der Regierung fiel es schwer, das Einströmen von Arbeitskräften aus den Eingeborenenreservaten zu überwachen. Hal sprach mit dem Staatssekretär im Ministerium für Eingeborenenfragen, und es wurde verabredet, daß er diese Eingeborenenreservate im Transkei besuchen sollte, um sich selbst ein Bild von den bemerkenswerten Ergebnissen der Verwaltung zu machen. Die Fahrt war für den November geplant. Doch obwohl er zuhörte und beobachtete und dicke Mappen mit Notizen anlegte, gab es Zeiten, in denen ihn die Ergebnisse seiner Untersuchungen weder freuten noch veranlaßten,
zielbewußt weiter daran zu arbeiten. Sein Konzentrationsvermögen hatte nachgelassen, und er fand die Ursache nicht. War sie körperlicher Natur, vielleicht auf die Verletzung in Johannesburg zurückzuführen? Oder lagen die Schwierigkeiten tiefer? Manchmal erwachte er nachts mit dem Gefühl einer unerklärlichen Bedrohung. Neben ihm atmete Alexa so ruhig, daß er sich einen quälenden Augenblick lang fragte, ob sie wirklich lebendig dasei; dann hämmerte das Klopfen seines Herzens durchs Zimmer. Er durfte Alexa nicht wecken, aber es verlangte ihn danach, sie heil und gesund in den Armen zu spüren. Doch der Raum zwischen ihnen weitete sich zu einem ungeheuren Abgrund, breiter als das ganze Tal, so breit, daß sie nicht einmal seine Stimme hörte, wenn er rief. Dann packte ihn die Angst, und der kalte Schweiß brach ihm aus. ,Ich bin noch krank’, sagte er zu sich und drückte die Hand auf die kürzlich verheilte Wunde über dem Herzen, um den Schmerz zu bezwingen – doch der saß viel tiefer. Roxane hatte ihre Bücher zur Seite gelegt und ein frisches Baumwollkleid angezogen. Während sie ihre Wanderschuhe zuschnürte, sang sie. In den letzten Wochen hatte sie nur von einem Tag zum andern gelebt und sich nicht um die Zukunft gekümmert. Sie lachte, als sie Wolf über den Kopf strich, so wie Tinus es tat. ,Ausgehen, alter Junge, ausgehen!’ Sie hatte ihr Schlafzimmer schon durch die Fenstertür verlassen, ehe sie Großmutter Constances Rollstuhl unter den Apfelbäumen sah. Diese Begegnung hätte sie gern vermieden. - Wohin? fragte die alte Dame. Roxane wollte schon Ausflüchte machen. Dann zuckte sie die Achseln und sagte die Wahrheit. - Zum Berg hinauf. - Allein? - Mit Hal. - Und seine Frau?
- Die übt vermutlich mit Simonoff den Pas de deux. Und im übrigen geht es mich ja wohl nichts an. Auch in den vergangenen Jahren hatte es manchmal Differenzen zwischen Roxane und Großmutter Constance gegeben, und die alte Dame kannte den gefährlichen Ton in der Stimme des Mädchens und das rasche Heben des Kopfes. Aber sie gehörte nicht zu den Leuten, die jeder Meinungsverschiedenheit aus dem Wege gingen. - Ich denke doch, sagte sie nicht eben freundlich. Wann fährt der junge Mann mit seiner Frau nach England zurück? - Wahrscheinlich gleich nach Neujahr. - Das ist noch sehr lange. - Was willst du damit sagen, Großmutter Constance? Roxane wurde böse. - Du bist zuviel mit Hal zusammen, viel zuviel! Das gibt nichts Gutes! Roxanes Gesicht flammte auf, und ihre Hände ballten sich. Man fing also an zu klatschen. Die Periode der schweigenden Mißbilligung war vorüber! - Es gibt immerhin so etwas wie Freundschaft! sagte sie. - Dummes Zeug! fuhr Großmutter Constance auf. Ich bin vielleicht eine alte Frau, aber ich hab doch mein Gedächtnis nicht verloren! Wenn ein hübsches Mädchen und ein gut aussehender junger Mann dauernd zusammenstecken, verändert die Freundschaft bald ihr Gesicht. Ihr Ton wurde sanft. Ich möchte nicht, daß du es einmal bezahlen mußt, Roxie. Hallam ist verheiratet. - Hat Tante Hanna dir das in den Kopf gesetzt? Diese alten Leute! Immer vermuteten sie gleich das Ärgste! Sie hatten so viele Augen wie eine Spinne, sie umspannen einen mit dem Netz ihrer Klatschereien, guckten zu, wie man zappelte, und dann fraßen sie einen auf! Die zusammenekrampften Hände und die Röte ihrer Wangen
sagten Großmutter Constance mehr als die aufgebrachte Stimme, mit der sie fortfuhr: Wenn sie das nämlich getan hat, kann ich dir verraten, daß sie an die falsche Adresse gekommen ist. Hal Fairmead reitet und wandert gern mit mir, weil ich hier in der Gegend jeden Weg und Steg kenne – und vielleicht gefällt ihm sogar meine Gesellschaft! Und damit ist’s aus, soweit sich’s um ihn handelt. - Und soweit sich’s um dich handelt? fragte Großmutter Constance ziemlich unvorsichtig. Das Mädchen zuckte zusammen. - Bitte, sag doch Tante Hanna, sie soll ihre Nase nicht in meine Angelegenheiten stecken, bitte! Ich muß jetzt gehen, ich habe mich so schon verspätet. Schlägt den Sack und meint den Esel! dachte Großmutter Constance, während sie der davoneilenden schlanken Gestalt nachsah. Auf Tante Hannas Rücken war es diesmal ausgetragen worden. Doch in Wirklichkeit hatte Roxane Großmutter Constance aufgefordert, sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Das ist meine Angelegenheit… Wenn du wüßtest, was ich weiß, mein Mädchen… Eine große Gestalt hatte sich zu der kleineren gesellt, und sie bogen jetzt durch den Obstgarten. Ihre Schritte paßten sich einander an wie bei Leuten, die viel zusammen sind. Zwischen ihnen herrschte Harmonie, Baß und Melodie der gleichen Musik. Heute war Guy-Fawkes-Tag, und seit dem Morgen schleppten die farbigen Kinder ihre Strohpuppen durch die Weinberge von Constantia. Als Hal und Roxane sich jetzt dem Berg zuwandten, begegneten sie einer dieser Gruppen, die nach Dieu Donné hinunterstolzierten. Die fadenscheinigen Hosen der Buben waren ausgestopft, und von den ausladenden Hinterteilen wackelten lustig kleine Tauschwänze. Die Gesichter hatten sie sich mit Farbe und Kalk beschmiert, und die kleinen Mädchen trugen große Schleifen im Haar.
Zwischen sich schleppten sie die Strohpuppe in einer Seifenkiste auf Rädern, eine zerlumpte Vogelscheuche mit einem alten Zylinderhut auf dem Kopf. Als die Kinder den jungen Mann und das Mädchen erblickten, begannen ihre nackten Füße zu tanzen, und sie sangen ein Bettellied. - Penny for de Guy! Penny for de Guy! riefen sie, und Hal warf dem pfauenhaft herausstaffierten Führer der Gruppe einen Taler zu. - Das war eine großzügige Spende! lachte Roxane. Mehr als einen Groschen erwarten sie eigentlich nicht. Sie blieben stehen und beobachteten, wie die Kinder zwischen den Apfelbäumen verschwanden. Mit lauten Schreien tollten sie fröhlich davon. Zwischen ihnen nickte und schwankte ihr zerlumptes Opfer auf dem selbstgebauten Karren und holperte dem Abend und seinem lärmenden Autodafe entgegen. - Wenn sie überall Geld gesammelt haben, gehen sie zum griechischen oder indischen Kaufmann und besorgen Feuerwerkskörper. Und dann ist heute abend was los! - Lustige kleine Affen! Sie wissen, wie man sich amüsiert! - Dann warten Sie erst mal Neujahr und den FarbigenKarneval ab… Das kann ich nicht, warf Hal ein. Neujahr sind wir nicht mehr hier. Nächste Woche fliegen wir zurück nach England. In Roxanes Brust stieg es wirbelnd hoch und versank; ihre Knie wollten nachgeben. - Aber wieso? stammelte sie. Ich dachte… - Ja, ich weiß. Seine Stimme war hart geworden. Sie dach ten, wir blieben bis Neujahr, und ich führe noch durch die Eingeborenenreservate. Aber nun muß das alles warten, bis wir – bis ich später einmal wiederkomme. - Das ist ein so plötzlicher Entschluß… Warum nur, Hal?
- Alexa wünscht es so. Roxane sah sein verbissenes Gesicht und die Müdigkeit um seine Augen. Er hat nicht geschlafen, dachte sie. Was mag da vorgefallen sein? Hatte Alexa Streit mit Lavinia gehabt? Das war durchaus möglich. Und dann ergriff sie plötzlich Furcht, als sie sich des kleinen Waffenganges mit Großmutter Constance erinnerte. War es möglich, daß Alexa argwöhnte, es sei ,etwas zwischen’ Hal und ihr? Doch Hal sagte: - Alexa meint, sie müsse nach London zurück. Sie fürchtet, daß sie die Verbindung verliert – hier, so weit von ihrem Berufsmilieu entfernt… Wie lahm das klang! Das war die Ausrede, zu der sie sich entschlossen hatten – die einzige, die überhaupt irgendwie glaubhaft klang. Die Wahrheit war noch zu neu für ihn, als daß er sie ohne Entsetzen betrachten konnte. Nie würde er die vergangene Nacht vergessen – das blasse schweigende Gesicht Alexas beim Abendbrot und danach im Schlafzimmer den Ausbruch. - Ich bin heute nachmittag bei Merles Arzt gewesen. Ich wollte dir nichts sagen. Ich befürchtete schon etwas, aber ich konnte es nicht glauben. Wie sollte ich auch! Keine Übelkeit, keins von den üblichen Anzeichen… O Gott, mir, ausgerechnet mir muß das passieren! Der hysterische Ton klang ihm noch immer im Ohr. Oh, Hal, ich habe ihn gebeten, mir zu helfen – angefleht habe ich ihn… Aber er sagte, Gesetz sei Gesetz und ich eine gesunde junge Frau, und überdies sei es seiner Ansicht nach zu spät… Dann war das entsetzliche tränenlose Weinen gekommen, das ihren kleinen Körper erschütterte, als er sie mit seinen Armen liebevoll umfing. - Du hättest es mir sagen sollen, Alexa! Ich wäre mit dir gegangen. Gemeinsam hätten wir es ertragen können, hätten uns darüber gefreut. Könntest du dich nicht ein bißchen freuen, Alexa?
Und dann war die Anklage gekommen: - Du bist schuld daran! Du! Ich bin dir in die Falle gegangen! Jetzt sieh zu, wie du mich wieder herausholst! Wir müssen nach Hause fliegen, morgen, gleich, sofort, damit ich jemand finde… Er hatte versucht, vernünftig mit ihr zu reden. - Aber Alexa, wir können uns ein Kind leisten, weiß Gott, und die beste Kinderschwester der Welt. Und wenn du eine Saison das Ballett versäumst, was macht das aus? Da war sie herumgefahren, das fremde kleine Gesicht wild und verzerrt. - Du Narr! Was weißt du vom Leben einer Tänzerin und vom Körper einer Tänzerin! Wie kann ich ein Jahr meiner Jugend vor die Hunde gehen lassen, daß die andern mich überrunden! Große Tänzerinnen haben keine Heime und Familien wie andere Frauen, sie bürden sich keinen Mann auf und lassen ihren Körper nicht von Geburten entstellen und erschlaffen…! Roxane sah, wie Hal tief Luft holte und die Hand auf die Wunde über dem Herzen preßte. Diese Bewegung hatte sie noch nie bei ihm gesehen. Sein Gesicht war schmal geworden, und die Narbe auf der Wange lag weiß über den angespannten Muskeln. Sie vergaß ihre eigene Not, ihn zu verlieren, vor Sorge um ihn. - Sind Sie krank, Hal? Er schüttelte den Kopf und beschleunigte den Schritt. Keiner von beiden ächtete auf den Weg, bis das Lied des Wasserfalls sich in ihr Schweigen mischte. Sie hörten, wie Wolf und die beiden Löwenhunde sich zwischen den Büschen jagten und aufbellten, wenn sie einen Vogel verscheuchten oder wenn ein Eichhörnchen durch die Zweige tollte. Ich habe ihn zu meinem Geheimplatz geführt! dachte Roxane. Vielleicht war sie Wolf, ohne nachzudenken, gefolgt, vielleicht hatte sie auch nur dem alten Instinkt gehorcht, der sie
immer hierher an ihre Zufluchtsstätte führte, wenn sie in Kummer oder Freude das Verlangen nach Einsamkeit verspürte. Sie sagte: - Manchmal komme ich hierher, um allein zu sein. Die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt, und er vermochte ihr zuzulächeln. - Bleiben Sie einmal stehen und lauschen Sie dem Schweigen! Blühende Zweige wiegten sich zart vor dem Himmel, die Spitzen der Silberbäume blitzten wie winzige Messer, und die blasse Bergmimose duftete süß zwischen dem dunklen Grün von Kiefer und Pinie. Riesenfarne und Orchideen wuchsen im kühlen Schatten des Wasserfalls, und die Luft war mit Flügeln, Vögeln, Schmetterlingen und dahinschwebenden Libellen belebt. Der saubere Ton des schäumenden Wassers, der Flötenruf eines Singvogels und das träge Summen einer Hummel. Hal fühlte, wie der Aufruhr in seinem Innern nachließ. Er atmete tief und fand bei der Anwesenheit seiner Begleiterin Trost. Sie saß auf einem von der Sonne erwärmten Felsblock, und er lehnte neben ihr, das Gesicht abgewendet. Das Elend der vergangenen Nacht verblich, und es gab nur noch diesen stillen schönen Platz und das Mädchen, das sich vorbeugte, die Hände um die Knie gefaltet. - Sie werden mir fehlen, sagte sie. In ihrem Haar spielte die Sonne. Er ließ seine Hand darüber hingleiten – weich, seidig und frisch fühlte es sich an. Er entsann sich des Gefühls, als er es mit den Lippen berührt hatte. Es war nicht spröde wie das von Alexa, nicht aus Cellophan. Dieses Mädchen war natürlich, unkompliziert, sie war ganz sie selbst. Alexa war so häufig eine andere. Der Gedanke traf ihn, daß auch er Roxane vermissen würde. Er hob ihr Kinn, um sie anzuschauen, und es schien ihm, daß in ihrem
Gesicht eine große Trauer und Entsagung stehe. Eine vergessene Illusion fiel ihm wieder ein, und er sagte: - Damals in Johannesburg im Krankenhaus, als ich fast verblutete, hatte ich einen merkwürdigen Traum… - Was für einen Traum? Der Gedankensprung überraschte sie nicht. - Er handelte von unserer ersten Begegnung am Tage von Merles Hochzeit. - Ja? Nun lächelte er. - Es klingt albern, aber ich habe geträumt, ich sei der kleine kranke Junge in Ihrem Zimmer und Sie die Madonna in der Nische über dem Bett… Sie hatte Ihr Gesicht, Roxane, Ihre sanften Augen… Auch das überraschte sie nicht. - Meine Madonna verändert sich, Hal. Als ich ein Kind war und nachts weinte, kam die alte Lizzi zu mir herauf und tröstete mich. Und damals hatte die Madonna Lizzis Augen – oder vielleicht hatte Lizzi ihre. Meine Madonna ist gut… - Ja, aber ich bin nicht so vertraut mit ihr wie Sie. Vergessen Sie nicht, daß ich sie nur dieses eine Mal gesehen habe! Sie schwieg. Dann sagte sie: - In jener Nacht, von der Sie sprechen, habe ich die ganze Zeit zu ihr gebetet. Deshalb ist sie zu Ihnen gekommen. Er blickte sie erstaunt an. Glaubte sie an Magie, an Wunder und die mystische Kraft der Heiligen? Er war gerührt, daß sie für ihn gebetet hatte. - Sind Sie katholisch? fragte er. - Meine Mutter war’s. Der Rosenkranz, den ich immer neben meinem Bett habe, und die kleine Statue der Heiligen Jungfrau mit dem Kind haben ihr gehört. Doch als ich noch sehr klein war, kam ich zu Großmutter Constance nach Dieu Donné und wurde protestantisch erzogen. Sie lächelte. Aber ich muß
zugeben, ich habe einige katholische Gewohnheiten, ich bete gern zur Heiligen Mutter. - Was erbitten Sie? Was erwarten Sie vom Leben, Roxane? Dich! erwiderte ihr Herz. Das einzige, was verboten ist! Laut sagte sie: - Ach, so viel! Ich möchte nach Europa, nach London, wo wir vor dem Kriege lebten, nach Frankreich, der Heimat meiner Mutter, und auch nach Deutschland, wo sie – getötet worden ist… eine Art Pilgerfahrt also. - Ich verstehe. Und nach Ihrer Pilgerfahrt? Sie schüttelte mutwillig den Kopf. - Lassen wir lieber das Nachher! - Erzählen Sie doch! Ich möchte’s gern wissen. - Sie wären sehr enttäuscht. An meinem Lebensziel ist nichts Aufregendes oder Glänzendes. Kein großer Ehrgeiz, nicht einmal hohe Ideale. - Erzählen Sie’s mir doch! - Also gut. Alles, was ich vom Leben eines Tages verlange oder erwarte, ist ein eigenes Heim mit einem Garten und einem Kinderzimmer und das Meer und die Rebenhänge zum Anschauen. - In diesem Bild muß aber auch ein Mann noch Platz finden. Sie lachte. - Der ist unbedingt wichtig! Ohne ihn gäbe es ja kein Kinderzimmer! Plötzlich umfingen seine Hände ihre Hüften, starke Hände, die sie vom Boden aufhoben. Sie lag in seinen Armen, seine Lippen auf ihren. Die Blätter der Bäume zitterten, das Gras unter ihren Füßen bebte, die letzten Strahlen der untergehenden Sonne umgaben sie, und der Bach sang ein neues Lied. - Unser Lebwohl, sagte er endlich. Das ist unser Lebwohl, Roxane.
Sie öffnete die Augen und sah die Zärtlichkeit in seinem Gesicht, die jenen andern gefährlichen Blick vertrieb. Er weiß, daß ich ihn liebe, dachte sie. Er weiß es… Aber was hilft es nun, da alles vorbei ist und das der Abschied war? - Dann – leb wohl, Hal! Das kleine Wort hing traurig in der Luft, nachdem es ihre Lippen geöffnet hatte, so daß er sie noch einmal küssen mußte. Sag, daß du mich liebst, Hal… doch nein, das wirst du niemals sagen, weil du Alexa liebst – nur Alexa…
Dreizehntes Kapitel ULTIMATUM
Während der arbeitsreichen Sommermonate, die auf Hallams und Alexas Abreise folgten, hatte auf Dieu Donné niemand viel Zeit, über persönlichen Kummer nachzugrübeln. Und doch bestand für die meisten Mitglieder des Haushalts Grund genug, die Schlaflosigkeit in den dunklen Nachtstunden zu fürchten. Großmutter Constance wußte, daß ein bestimmter Termin nahte, und bei dem Gedanken daran zuckte und zerrte ihr fehlendes Bein, dieses Trugbild, das die wunden Nervenenden erzeugten. Morgens war sie oft erschöpft und zerschlagen, da die Vorstellung, wie Mr. Krifti den Weg zwischen den Pappeln heraufgeschlendert kam, sie die ganze Nacht verfolgt hatte. Aber auch Guy Masterson tat manchmal kaum ein Auge zu. - Was ist denn, Guy? fragte Merle. Kannst du nicht schlafen? - Die Pläne zu diesem neuen Hotel für Krifti gehen mir nicht aus dem Kopf. Gib mir eine Schlaftablette, Merle!… Es gefällt mir gar nicht, was wir da tun… es ist, als wenn man… die Stellung aufgäbe… - Sei doch nicht so verflucht melodramatisch, Liebling! Die Stellung aufgeben! Ich muß schon sagen! Denk an die Zukunft! Ruhm, Reichtum, Reisen … diese Fahrt nach Italien… Und in jedem Fall weißt du, daß ich diese Abtretung nicht unterschreibe, solange Krifti nicht wirklich im Besitz der verpfändeten vierzig Morgen ist. Und dann lag sie warm und begehrenswert in seinen Armen, und das Vergessen kam.
Wenn nachts der Südostwind an den Fenstern von Josuas und Lizzis Häuschen rasselte, schlich sich Lizzi auf Zehenspitzen in die Kammer, in der ihr tauber Sohn schlief. Wenn sein Bett leer war, starrte sie mit bekümmerten Augen hinaus in die Nacht. Da war wieder ein Feuer, dort in der Schlucht zur Waldbucht hinüber, und Ben war gewiß im Gebirge, um bei seiner Bekämpfung zu helfen. In einem Umkreis, den man mit dem Fahrrad erreichen konnte, gab es nie ein Feuer, das Ben nicht witterte und bei dem er sich nicht als Hilfe zur Verfügung stellte. Er versäumte viele Tage ungefährlicher, gutbezahlter Arbeit auf Dieu Donné, um hinter der Erregung und dem Entsetzen dieser Sommerbrände herzujagen, die durch das Kapland liefen. Seine Taubheit machte ihn waghalsig, weil er weder das Brüllen der Flammen noch die Anordnungen der Leiter hörte. - Lieber Gott, beschütze ihn! betete Lizzi und setzte hinzu: Und gib, daß Saartje ein gutes Mädchen wird… Lizzi machte sich oft Sorgen, daß Saartje den Weg ihrer leichtsinnigen Mutter ging. Saartje hatte sich in letzter Zeit Kleider und Wäsche gekauft, die sich kein Mädchen in ihrer Stellung leisten konnte, und Lizzi, die Ehrbarkeit über alle andern Tugenden stellte, fand Saartjes Benehmen ebenso ärgerlich wie einen ausgefransten Rand an der Wäsche. Auch Roxane fand keine Ruhe. Es war Mitte März, fast Vollmond, und sie lag da und lauschte dem trockenen Sommerwind, der das Tal herauftobte. Die Großvateruhr in der Diele schlug die halbe Stunde – halb zwei –, und der Schlaf war eine Fata Morgana. Auf die helle Wand dem Fenster gegenüber fielen die Schatten der Blätter, die im Mondlicht ihr stürmisches Ballett tanzten, das Ballett des Südostwinds! Musik war im Wind, eine große brausende Symphonie, und die dunklen, hin und her gerüttelten Bäume waren die Tänzer… der dort, dieser wilde, schlanke
Zweig – die Primaballerina… das war Alexa… Alexa… Roxane warf die Bettdecke zurück und lief zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen und das Schattenballett auszusperren, doch sie vermochte es nicht. Der Mondzauber der Nacht lähmte sie. Im Garten sah sie die reifen Äpfel vom Wüten des Windes zu Boden fallen. Eine Katze strich geduckt am Zaun entlang, ab und an blieb sie stehen, den Kopf erhoben. Was für Beute suchte sie – eine Feldmaus, einen jungen Maulwurf, einen schlafenden Vogel? Oder suchte sie einen Partner? Irgendeinen? Über den Bäumen sah sie den weißen Turm mit Adrians Arbeitszimmer aufragen. Normalerweise hätte dort noch Licht gebrannt, denn der Schriftsteller arbeitete nachts am liebsten, doch Adrian und Lavinia waren vor einer Woche nach England gefahren, und Farway lag verwaist. Roxane preßte die Hände über die Ohren. Sei still, Wind! Hör auf zu heulen und zu toben, und laß mich nachdenken! Sie starrte zu den Sternen hinauf, die fern und fühllos am Firmament standen. Fünf Monate waren vergangen, seit Hal fort war, und bestimmt hatte er sie inzwischen zum zweitenmal vergessen. Und sie hatte vergeblich versucht, ihn aus Herz und Sinn zu vertreiben. Was will ich eigentlich? fragte sie sich. Was erwarte ich vom Leben? Das gleiche wie die meisten Frauen: einen Mann, ein Heim und Kinder. Wenn eine Frau den Mann, den sie sich wünscht, nicht haben kann, muß sie einen andern finden. So ist das Leben. Alles im Leben ist das Zweitbeste. Ich hatte keine Mutter, und Großmutter Constance trat an ihre Stelle. Ich hatte kein Zuhause, und da war Dieu Donné. Großmutter und Dieu Donné haben mir Glück geschenkt. Es kann wieder so werden. Der Wind hielt den Atem an, wie er es manchmal tat, um seine mächtigen Lungen zum nächsten wütenden Stoß auszudehnen. Und in diesem Schweigen sagte ihr Herz: Da ist Tinus. Er wird mir Liebe und Kameradschaft,
ein Heim und Kinder schenken. Er wird mich vor mir selber und vor diesem törichten einsamen Leben schützen. Eins, zwei, schlug die Großvateruhr. Tinus würde jetzt im Keller sein und Max Immelmann, den Kellermeister, ablösen. Jetzt war die Geburtszeit des neuen Jahrgangs. Tag und Nacht wurden die Mammutthermometer alle zwei Stunden in die Gärbottiche getaucht. Wenn sie zuviel anzeigten, mußte die Maische durch die Kühlung laufen, zeigten sie zuwenig, wurde rasch etwas Hefe zugesetzt. In dieser Zeit durfte man nichts dem Zufall überlassen. Es waren Wochen schlafloser Nächte für Tinus, für Max Immelmann und für Brink, den Hofmeister, die sich abwechselten. Roxane sprang vom Fensterbrett und streifte das Nachthemd ab. Sie nahm Hosen, Sandalen und Hemdbluse aus dem Schrank. Doch ehe sie sich anzog, sah sie für einen Augenblick ihre schlanke Mädchengestalt im blassen Glanz des Spiegels. Eines Tages könnte dieser Körper unerfüllt verwelken, wenn sie in ihrem Irrsinn beharrte, der sie mit unbarmherzigen, unsichtbaren Fesseln hielt. Sie öffnete die Fenstertür und trat ins Mondlicht hinaus. Plötzlich rannte sie, wie sie es als Kind so oft getan hatte, mit wehenden Haaren in den Wind hinein. Sie kehrte ihm den Rücken und lehnte sich gegen ihn. Wind, Wind, blas ihn mir aus dem Herzen und laß mich frei sein! Die ersten trockenen Blätter des nahenden Herbstes wirbelten aus den Eichen und flogen wie eine Wolke winziger Zugvögel an ihr vorüber. Sie verließen die Bäume nicht, um in die Sommerländer zu ziehen. Sie kehrten nicht wie Vögel im Frühling zurück. Sie vermochten umherzutollen, solange der Wind währte, doch dann taumelten sie traurig zu Boden und lagen als weicher Teppich in der Tiefe der Wälder und an den Wegrändern, tot wie der Sommer, tot wie die erste Liebe. Langsam ging sie um die Rückseite des Kellers zum Eingang und stand dort vor der offenen Tiekholztür. Ihr ganzes Leben
lang hatte sie sich vor dem Keller zu dieser Jahreszeit gefürchtet, wenn er auf seine eigene böse Weise zum Leben erwachte, und jetzt griff die kindische Angst abermals nach ihr. Doch sie zwang sich, die Schwelle zu überschreiten und durch die Gasse der großen Fässer in den Gärraum zu gehen. Doch schon ehe sie in diesen Teil des Kellers kam, hörte sie den unfertigen Wein in seinen Wehen; in der heftigen Bewegung des neuen Lebens gurgelte und schäumte er. Ihre Nasenflügel zogen sich vor dem vertrauten widerlichen Geruch der mit Hefe versetzten Maische zusammen, und sie starrte gebannt in das Dunkel wie auf eine Szene aus Plutos Reich. Außer einigen nackten Birnen, die in weiten Abständen an der hohen Gelbholzdecke hingen, lag der Keller im Dunkel. Der Separator und die Mühle schienen in ihren Ecken zu hocken und nach des Tages Arbeit zu schlafen. Doch aus den Betonbottichen an der langen, mit Saft und Schalen bespritzten Wand stiegen Wellen sauer riechenden Schaumes auf. In einem Vorraum murmelten die geschlossenen Behälter der Weißweine ihre bacchantischen Beschwörungen. An den Brüstungen der offenen Bottiche standen dunkle Gestalten und rührten mit langen gezinkten Holzstangen in dem Hexengebräu. Unermeßlich groß schienen sie, und die gesichtslosen Köpfe ragten fast an die Dachsparren. An der Wand bewegten sich ihre grotesk verlängerten Schatten rhythmisch aufeinander zu und voneinander weg, während sie die Stangen handhabten. Sie arbeiteten schweigend gleich Schlafwandlern, und Roxane betrachtete sie wie die grimmigen Gondolieri Charons, die ihre stygische Fracht zur Unterwelt stakten. Sie wagte sich weiter vor. Auf Zehenspitzen bestieg sie eine kleine Holzleiter, um in den Bottich zu blicken. Sie schauderte. Hier lagen Leben und Tod in furchtbarem Aufruhr, das wilde, explosive Leben nach dem Tode der zerstampften Trauben;
hier stiegen die Dämpfe auf, die jeden sofort töten würden, der in diese murrende Brühe fiel. - Roxie! Was machst du denn hier? Sie sprang herab, als Tinus aus dem Gang zwischen dem Keller und dem Labor des Kellermeisters auftauchte. In dem fahlen Licht war sein gesundes, sonnengebräuntes Gesicht totenblaß. Er hatte die Augenklappe abgenommen, und die leere Höhle lag dunkel und eingesunken über dem Wangenknochen. Sein Haar war noch vom Schlaf zerzaust. In der Hand hielt er das ungeheure Thermometer. - Ich konnte nicht schlafen, sagte sie mit erhobener Stimme, um den Chor der gärenden Trauben zu übertönen. Und da wollte ich dir eine Weile Gesellschaft leisten. - Das ist fein! rief er. Wenn ich den Patienten die Temperatur gemessen habe, trinken wir Kaffee. Die gespenstischen Gondolieri zogen ihre Ruder ein und kletterten von den Bottichwänden herab. Plötzlich lächelte Roxane, weil sie sah, daß es ja doch nur kleine verschlafene Farbige waren, zu müde zum Lachen und Scherzen. Irgendwie hatte die Anwesenheit von Tinus den Charakter des Kellers verändert. Es war nicht mehr die Teufelsküche der menschlichen Vernichtung, sondern einfach die Fabrik der Dieu-Donné-Weine, der besten und berühmtesten Weine von Constantia. Tinus tauchte das Thermometer in den Bottich und zog es wieder heraus. Er nickte. - Es geht gut. Als er alle Temperaturen im ,Saal’ gemessen hatte, führte er Roxane den Gang zum Labor hinunter. Roxane schüttelte die Decken und Kissen des Feldbetts auf, das dort während der Kelterzeit stand, und setzte sich mit hochgezogenen Beinen darauf, während Tinus sich vor dem fleckigen alten Spiegel über dem kleinen Waschständer in der Ecke kämmte. Er nahm die schwarze Augenklappe aus der
Tasche und streifte sie wieder über. Dann goß er Kaffee aus einer Thermosflasche in zwei Emaillebecher und nahm das Papier von einem Teller mit belegten Broten. - Schinken, sagte er. Genau das Richtige für halb drei Uhr morgens. - Störe ich sehr? fragte sie, während sie sich ein Brot nahm. Er grinste ihr zu. - Sagen wir mal: Du überraschst. Der erste Schluck Kaffee, der erste Biß machten ihr Appetit. - Ich glaube, ich bin vor dem drohenden nächtlichen Hungertod aufgewacht. - Wie man’s auch nimmt, das ist gar kein so seltenes Leiden. Sie zog ihm eine Grimasse, und ihm fiel auf, daß sie mit dem ungekämmten Haar und dem ungemalten Mund ziemlich zigeunerhaft aussah. Sein Made] hatte mancherlei Stimmungen und viele Gesichter. - Ich denke, du fürchtest dich vor dem Keller, Roxie? - Nicht, wenn du in der Nähe bist. - Soll ich das als Kompliment auffassen – oder als das Gegenteil? - Nimm’s so, wie’s dich am glücklichsten macht. Er zuckte mit den breiten Schultern und setzte sich rittlings auf einen alten Stuhl. - Treu, alter Hund – das ist Tinus Vos. - Treu…! Eigentlich ein schöner Name. - Vor allem eine gute Sache. Manche sind’s, manche nicht. Er drehte sich eine Zigarette, und sie sah eine Falte zwischen seinen Brauen. Das grelle Licht spiegelte in seinem krausen, strohblonden Haar, als er den Kopf beugte und ein Streichholz anzündete. - Wen meinst du…? - Guy. - Guy Masterson!
- Und Merle auch. Sie beugte sich mit großen Augen vor. - Was meinst du? - Ich muß ein bißchen weiter ausholen, sagte er. Ich hatte vor, an meiner Wohnung einiges ändern zu lassen – natürlich auf meine Kosten. Doch ehe ich mit Großmutter Constance sprach, wollte ich mit Guy über die ungefähren Kosten und so etwas reden… - Ich wußte gar nicht… - Geh nicht gleich hoch, Roxie! Ich hätte dich schon um Rat gefragt. Jedenfalls war ich heute morgen in der Stadt, und da ich ganz in der Nähe von Guys Büro zu tun hatte, dachte ich, schaust mal rein. Sicher hätte ich mich besser telephonisch anmelden sollen, aber ich bin gar nicht böse, daß es so kam. - Was war denn los? Erzähl doch schon! - Langsam, hab Geduld! Also, Guy war nicht da, als ich hinaufkam, und diese Sekretärin mit dem netten Lächeln führte mich in sein Zimmer. Ich sollte dort auf ihn warten. Auf seinem Zeichentisch war ein riesiger Plan, und als ich so hin und her ging, blieb ich stehen, um ihn mir anzusehen. PLAN HOTEL CONSTANTIA stand darauf. Es schien mir ein ziemlich großes Unternehmen zu sein, etwa acht Stock hoch mit Quartieren für das Personal, Restaurants, einer Ladenstraße, Tennisplätzen, Schwimmbassins, Schönheitssalons und weiß Gott was noch allem… - Und was stört dich daran? Das kann überall hinkommen, Südkreuz, Hohenort. - Es könnte, aber es war anders. Es lag auf dem Boden von Dieu Donné. - Wie willst du das wissen, Tinus? - Der Eingang zu diesem Hotel Constantia liegt auf der neuen Verbindungsstraße, die an der Grenze von Dieu Donné vorüberführen soll. Und in einer Ecke des Plans war ein
deutlicher Beweis, ein Häuschen. Es sah Merles Haus sehr ähnlich. Es stand aber ,Direktorenwohnung’ dran. - Du kannst dich auch täuschen, Tinus. Er zog an seiner Zigarette und kippte auf dem kleinen Stuhl hin und her. - Als Guy hereinkommt, zeige ich auf den Plan und sage: ,Was ist das?’ Er wird rot bis in das rote Haar hinauf und sagt: ,Was, zum Teufel, führt dich denn her?’ Dann guckt er mich an und sieht, daß er sich, verraten hat. Er fängt an, Aus flüchte zu machen, er sei überarbeitet und habe es eilig – und da klingelt das Telephon. Du kennst doch das Telephon in Guys Büro? - Ja, warum? - Das ist so eins, das wie ein Lautsprecher durch das ganze verdammte Zimmer schreit. Man muß einfach mithören, was am andern Ende gesagt wird. - Und wer war am andern Ende? - Krifti. - Erzähl weiter! - Und ich höre seine schleimige Stimme: ,Der Kaufvertrag ist fertig, Merle braucht nur noch zu unterschreiben.’ Doch Guy wirft ein: ,Hören Sie, Krifti, ich kann jetzt nicht sprechen. Ich habe einen Klienten hier. Tinus Vos – geschäftlich. Rufen Sie doch später noch mal an!’ Und er legt auf – höllisch nervös. Ich stehe also auf und sage, ich käme ein andermal, wenn er nicht soviel um die Ohren habe. - Was für ein Kaufvertrag könnte das sein? - Was hat sie denn zu verkaufen? Dieu Donné gehört ihr nicht – noch nicht! Alles, was ihr gehört, ist das Häuschen und die fünf Morgen, die Großmutter Constance ihr als Hochzeitsgeschenk übereignet hat. - Ich verstehe immer noch nicht… Wenn Krifti ein Hotel bauen will, braucht er mehr als Merles Grundstück, besonders
wenn’s so groß werden soll. Und von Großmutter Constance kriegt er nicht einen einzigen Quadratmeter! - Das ist es ja gerade, was mir so rätselhaft daran ist. Irgend was ist da im Gange, wovon wir nichts wissen – und das gefällt mir nicht. Er drückte die Zigarette aus, als zermalme er Mr. Kriftis graues trauriges Gesicht im Aschenbecher. Dann stand er auf, ergriff Roxanes Hände und zog sie hoch. - Du bist ‘n mooi meisje, Roxie, sagte er. Aber deine Schönheit kann es sich nicht leisten, noch mehr Schlaf einzubüßen. Ich bring dich zurück ins Haus. Einen Augenblick war die Atmosphäre zwischen ihnen mit Spannung geladen, als sie allein in Max Immelmanns Zauberbude nebeneinander standen, zwischen den Reagenzgläsern und Retorten, den Bunsenbrennern und den Gerüchen von Schimmel und Schwefel. Die nackte Birne beleuchtete ihre gespannten Züge, und hinter ihnen umrahmte das kleine offene Fenster die Nacht – dunkel jetzt, da der Mond untergegangen war. Im Garten hatte ein Froschchor eine kakophone Kapelle aufgezogen, und im Keller stöhnte und rauschte der Traubensaft in Wehen. Plötzlich spürte Roxane, daß der Wind sich gelegt hatte. Nein, dachte sie, nein – nicht hier! Ihre Augen, die zu Tinus aufsahen, begannen spöttisch zu lachen. Sei kein Narr! sagten diese Augen. Nicht hier und nicht jetzt! Alles hat seine Zeit. Tinus ließ ihre kleinen Hände los. Gewiß, sie hatte recht. Alles hat seine Zeit… eine Zeit, zu pflanzen, und eine Zeit, zu ernten, was man gepflanzt hatte… eine Zeit, zu umarmen, und eine Zeit, darauf zu verzichten… Nun, und jetzt war die Zeit, darauf zu verzichten, denn das hier war wirklich der am wenigsten geeignete Platz für einen Mann, ein Mädchen zu fragen, ob es seine Frau werden wolle! Das halbe Lächeln vertrieb das heiße Drängen aus seinem zähen, einäugigen Piratengesicht, und er strich ihr leise mit der starken, verkrüppelten Hand durchs Haar.
- Du… du… meine Roxie. In den nächsten Tagen muß ich dir erzählen, warum es mir so eilt, mein Häuschen um zubauen und schöner zu machen. Sie glitt ein Stück zurück, und er hörte sie sagen: - Ja, Tinus, und ich werde dir dabei helfen. Aber jetzt bin ich müde – Himmel, was bin ich müde!
Auch Mr. Krifti hatte ein Gefühl für den rechten Zeitpunkt. Er wußte genau, es gab ,eine Zeit, um niederzureißen, und eine Zeit, um aufzubauen’… ,eine Zeit, um Steine wegzuwerfen, und eine Zeit, Steine zu sammeln…’ Und die Zeit, die er gewählt hatte, um Großmutter Constances Widerstand zu brechen, war der erste April, denn auf seine Art hatte Mr. Krifti einen gewissen ironischen Sinn für Humor. Er fand Großmutter Constance gegen Abend in ihrem Rosengarten. Sie saß im Rollstuhl zwischen den Blumen, schnitt Blüten für das Haus und stutzte die Sträucher. Überrascht blickte sie auf, als der lange Abendschatten des großen Mannes über ihren Schoß fiel und die Blütenblätter ihrer bevorzugten Talisman-Rosen verdunkelte. - Welch ein Glück, Sie hier zu finden, Mrs. de Valois. - Wieso, Mr. Krifti? Ich verlasse meinen Besitz in letzter Zeit fast nie. Ihren schrumpfenden Besitz, dachte er und lächelte. - Die Rosen sind in diesem Jahr ungewöhnlich schön, sagte er. - Es ist in jeder Hinsicht ein gutes Jahr gewesen. Für Dieu Donné wird es einen guten Weinjahrgang geben. In vier Jahren, wenn der Wein in den Fässern reif ist, werden wir die Vorteile ernten.
Sie sprach tapfer, doch ihr altes Herz flatterte in der Brust wie ein Vogel, der, schon flügellahm geschossen, nur noch auf den Gnadenschuß des Jägers wartet. - Vier Jahre sind eine lange Zeit. - Wirklich? sagte sie leise. In meinem Alter scheinen sie kurz wie die Lebensspanne dieser schönen Blumen. Aber Sie mögen recht haben, Mr. Krifti. Vier Jahre können die ganze Ewigkeit sein. Er hatte einen Rosenkranz aus der Tasche gezogen und ließ ihn durch die schmalen gepolsterten Fingerspitzen gleiten. Es war ein seltsamer Rosenkranz, wie ihn Großmutter Constance noch nie gesehen hatte, und Krifti hielt die Hände nicht wie sonst auf dem Rücken, während er mit den Perlen spielte. - Es ist ein neuer Rosenkranz, sagte er. Ein Freund hat ihn mir aus Istanbul geschickt. Sie nahm ihn aus seiner ausgestreckten Hand, und ein leiser Schauer überlief sie, als sie sah, daß jede Perle ein winziger Totenschädel war. - Ein Freund hat ihn geschickt? Er nickte langsam. - Sogar ich habe Freunde, Mrs. de Valois. Und dieser kennt meinen ziemlich exzentrischen Geschmack. Die Perlen sind interessant anzufassen. Sie starrte ihn fasziniert an, während er die Sinnbilder des Todes zwischen seinen geschmeidigen, nervösen Fingern hin und her gleiten ließ. - In vier Jahren kann viel geschehen. Kein Sterblicher kennt sein Schicksal. Großmutter Constance war es, als sprächen die winzigen Schädel, die wie der Sand im Stundenglas durch seine Finger liefen, seinen Gedanken zu Ende. In vier Jahren würde ihr müdes welkes Fleisch Staub sein und ihre Knochen auf dem Berg ruhen – ein kleines altes Skelett, von der Zeit und der Säge des Arztes verstümmelt, wie ihr geliebtes Dieu Donné
von Mr. Kriftis unbarmherzigen Absichten verstümmelt werden sollte. Die geschnittenen Rosen lagen ungeordnet in ihrem Schoß, und sie bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen und die eiskalten Hände still zu halten. - Weshalb sind Sie gekommen, Mr. Krifti? - Ich meine, Sie müßten es wissen. Vor drei Monaten habe ich Ihnen geschrieben. - Sie wollen meine Weinberge. Die Worte waren fast unhörbar, das leise Echo ihrer Furcht. Er machte eine melancholisch abwehrende Geste. - Ich möchte mein Geld. Seit über drei Monaten habe ich für mein Darlehen keine Zinsen erhalten, und leider kann ich es mir nicht leisten, Philanthrop zu sein. - Ich verstehe. - Ich habe gekündigt, Mrs. de Valois. Und nun ist es Zeit, mein Pfand einzuordnen. Sie haben ein großes Gut und werden die paar Morgen kaum vermissen… - Fünfzig Morgen Rieslingtrauben und meine besten Exporttrauben – meine Birnengärten… Unter der leichten Decke schossen Nadeln durch das Glied, das nicht mehr da war. Sie werden die paar Morgen nicht vermissen. Sie werden das Glied nicht vermissen! Machen Sie einen Krüppel aus Dieu Donné, Mr. Krifti, zerschneiden Sie meine geliebten Ländereien, bedecken Sie meinen grünen Teppich mit ihren verhaßten Gebäuden! - Was wollen Sie mit meinen Weinbergen anfangen? fragte sie. Seine Schultern rundeten sich und zuckten, und die schweren Lippen schoben sich vor. - Ich habe meine Pläne. - Großmutter Constance! Es wird kühl. Du mußt herein kommen! Roxane lief über den Rasen in den Blumengarten.
Ah, Mr. Krifti… wenn Sie mit Großmutter Constance reden wollen, kommen Sie herein und trinken Sie eine Tasse Tee. Sie lächelte ihm zu, und er dachte, daß sie in ihrer exotischen Art immer reizvoller würde. Er fand in ihrer Schönheit etwas Östliches, die Zartheit der Jugend. Aber sie stammte nicht aus dem Osten und würde nie dick und plump werden. Das Leben durchströmte sie wie eine Flamme, verzehrte sie fast. Doch als sie jetzt auf die kleine alte Gestalt im Rollstuhl blickte, erstarb die Heiterkeit in ihren Augen. - Was ist denn geschehen, Großmutter Constance? Du siehst krank aus. - Ich bin nicht krank, Roxane, ich habe nur Sorgen. Mr. Krifti ist gekommen, um mir zu sagen, er sei gezwungen, die Hypothek einzutreiben, die er auf vierzig Morgen meines Landes hat – auf die Weinberge und Obstgärten, die an Merles Haus stoßen. - Was ist das für eine Hypothek? - Als ich nach dem Wolkenbruch krank wurde, da kam alles auf einmal, Roxie. Ich mußte mich um finanzielle Hilfe an Mr. Krifti wenden. Nun kann ich die Zinsen für sein Darlehen nicht mehr zahlen, und er will seine Sicherheit… - Nein! rief Roxane. Nein! Großmutter Constances Worte und die Bedrohung durch Mr. Kriftis Schweigen hatten die Sorgen verwirklicht, die sie seit jener Nacht im Keller bedrückten, als Tinus ihr von seinem Besuch bei Guy erzählt hatte. Das war es also! Der Kauf von Merles Haus war, wie sie sich gleich gedacht hatten, nur der erste Schritt zu einem größeren Plan gewesen. Und wo würde es enden? Wo würde Mr. Kriftis Einkreisungspolitik enden? Roxane hatte die Hände zusammengepreßt, als sie auf die bedrohten Weinberge blickte. Die letzten Büschel Herbstlaub hingen an den aufgebundenen Reben, und die gelockerte Erde war schon dem Unkraut und den Lupinen überlassen, die sie
vor dem Winterregen schützen sollten. Das tief herabgezogene Strohdach von Merles Häuschen wurde hinter dem Skelett einer großen Platane sichtbar, ein Dach so glatt wie das Gefieder einer Ringeltaube und weich wie der Pelz eines Eichhörnchens – und dahinter träumten die Hottentots Hollands ihre Topasträume über die Blinde Bucht. Und wenn Mr. Krifti tun konnte, was er wollte, dann würde dieses Bild gegen ein ungeheures Betongebäude im Herzen eines Touristenzentrums von Läden und Schönheitssalons und Garagen vertauscht. Massen von Eingeborenen würden in den kleinen kistenförmigen Wohnungen der Farbigen herumschnüffeln oder durch die Wälder streifen und auf die braunen Mädchen aus dem Tal warten. Sogar für die weißen Mädchen würde es eine Gefahr werden, denn schon jetzt rauchte man im Tal Dagga, und mit Dagga und Schnaps im Leibe wurde der Mann zum Tier, voll roher Gewalt, ein Schänder und Mörder. Und für die Weinberge, die Großmutter Constance noch blieben, würden immer schwerer Arbeitskräfte zu bekommen sein, sie würden vom Hotel Constantia angezogen werden – und Mr. Krifti und seine Partner würden reich werden und sich mästen, während Dieu Donné zusammenschrumpfte und starb. Als sie sich rasch umwandte, war Mr. Krifti über Roxanes Aussehen erschrocken. Das war doch nicht das zarte Mädchen, das er von Jugend auf gekannt und bewundert hatte! Im Licht der untergehenden Sonne funkelten ihre Augen wie goldener Schmuck, die Pupillen hatten sich zusammengezogen und waren hart und klar wie die einer Katze, einer wütenden, erschreckten Katze. Einen Augenblick spürte er, wie er lächelte, weil er sie im Geist zu einem kleinen fauchenden Kätzchen verkleinerte, das sich mit gekrümmtem Rücken und gesträubtem Fell verzweifelt wehrte. – Was schuldet Ihnen Großmutter Constance, Mr. Krifti? Welche Summe müssen
wir Ihnen zahlen? Die genaue Summe! Sie hatte sich auf eine Weise mit der alten Dame identifiziert, die töricht und rührend war. Er nannte ihr den Betrag und fügte bekümmert die Zinsen hinzu, die nicht bezahlt worden waren. Er sah die Farbe auf ihrem Gesicht verblassen und die Finger sich ineinander verkrampfen, so daß die Sehnen auf den nackten Unterarmen hart und zäh hervorsprangen. - O mein Gott! flüsterte sie. O mein Gott… Aber sie hatte sich rasch gefaßt. Wann muß dieses Geld bezahlt sein? - Es ist heute fällig, Roxane. - Wie lange Frist bewilligen Sie uns, es aufzutreiben? - Ihre Frau Großmutter hatte bereits drei Monate Zeit. - Wollen Sie uns noch einen Monat geben? Bekümmert schüttelte er den Kopf. - Ganz unmöglich, meine Liebe. Ich habe schon sehr viel Geduld bewiesen. - Ein wenig Zeit müssen Sie uns geben, Mr. Krifti! Er blickte von dem flehenden Mädchen zu der alten Dame, deren Gesicht sich eigensinnig verzogen hatte. Diesem Eigensinn war er bei ihr schon einmal begegnet – der Mund mit schmalen Lippen zusammengepreßt, als ob die Kiefer sich ineinandergekrampft hätten. Die Abwehr des Mädchens hatte ihr neues Leben verliehen. Wie, zum Teufel, hatte die alte Frau es fertiggebracht, in ihrer Kriegswaise solch leidenschaftliche Treue zu erwecken? Mr. Krifti war von ihrer Glut überrascht. Theoretisch wußte er etwas von dieser sonderbaren Eigenschaft, die man Treue nannte, doch in der Praxis war er ihr selten begegnet. Er selbst war unfähig, sie zu erwecken. Sie ließ sich nicht mit Bargeld kaufen – und um Hunde hatte er sich nie gekümmert. Vielleicht, dachte er, ist Treue nur den Jungen eigen, einer so blühenden, emotionellen Natur wie Roxane. Das Mädchen hatte Feuer! Wenn sie diese innige Hingabe an ein altes Bildnis wie Großmutter Constance
verschwenden konnte, was würde sie erst als Geliebte oder als Mutter schenken… Roxanes Stimme unterbrach seine Überlegungen. - Sie antworten mir nicht! Wie lange Frist wollen Sie uns geben, um die geforderte Summe aufzutreiben? Er räusperte sich. - Die geschuldete Summe, verbesserte er. Ernst blickte er sie an. An wen könnte sie sich um finanzielle Hilfe wenden, dieses Kind aus dem Nirgendwo? Auf welche Quelle hoffte sie? Mr. Krifti glaubte nicht an Wunder. Er wußte, daß er völlig sicherging, wenn er sich das Vergnügen gestattete, diesem reizenden Mädchen ein Zugeständnis zu machen, natürlich nur ein kleines, eine reine Geste. Doch er genoß es immer, großzügige Gesten zu machen, die ihn nichts kosteten. - Ich will Ihnen eine Woche Zeit geben, Roxane – eine Woche, von heute an gerechnet – von dieser Stunde! Er zog eine flache goldene Uhr aus der Westentasche und studierte sie sorgfältig. Sagen wir also: am siebten April fünf Uhr dreißig. Ich werde mich pünktlich auf Dieu Donné ein stellen. Als er die Uhr einsteckte, blitzte die goldene Kette im abnehmenden Licht. Er lüftete den weichen Filzhut und bot ihnen guten Abend, und sie blickten seinem langen Rücken und den fallenden Schultern nach, während er auf die Weinberge zuging, die bald ihm gehören würden.
Vierzehntes Kapitel RENDEZVOUS
Solly Caine stapfte vor der Schranke des Flughafens auf und ab. Es war nach halb neun, und die Maschine aus Kapstadt mußte jeden Augenblick kommen. Die Abendluft war kühl und frisch, und die Sterne glitzerten wie Eiszapfen. Solly Caine war besorgt und ungeduldig; seine Neugier, zu erfahren, weshalb Roxane ihn am Morgen aus Kapstadt angerufen hatte, war nicht gering. - Solly, ich bin in Verlegenheit. Ich kann’s am Telephon nicht erklären. Darf ich zu dir kommen? - Kommen? Aber Roxie, das ist ein weiter Weg, mehr als anderthalbtausend Kilometer! Kannst du nicht schreiben? - Soviel Zeit ist nicht mehr, Solly. Die Sache ist zu eilig. Ich komme mit dem Abendflugzeug, könntest du mir ein Hotelzimmer bestellen, ein billiges, nur für eine Nacht? Und hättest du Zeit, mit mir zu sprechen? - Natürlich… Aber kannst du denn nicht bei uns wohnen? Bella würde sich… - Nein! Das geht nicht. Bitte, niemand darf wissen, daß ich zu dir komme – zuallerletzt Merles Mutter… - Hast du denn einen Platz im Flugzeug bekommen? - Tinus hat dafür gesorgt. Er bezahlt auch die Flugkarte. - Dann komm! Ich bin am Flughafen. Aber aus welchem Grunde konnte die kleine Roxane in solcher Verlegenheit sein? Und warum die Heimlichkeit? Hatte dieser zuverlässig aussehende Bursche, dieser Tinus Vos, sie etwa in Schwierigkeiten gebracht? Bei diesen Stillen
konnte man nie wissen… Und sie hatte gesagt, er bezahle ihr die Flugkarte. Die Bemerkung ärgerte Solly. Den ganzen Tag beschäftigte ihn der Argwohn. Roxie war durch einen Mann in Schwierigkeiten gekommen und verließ sich jetzt auf seine Erfahrung. Solly Caine besaß viel Phantasie, und als die Maschine gelandet war, hatte er sich in eine ziemliche Erregung hineingesteigert. Er hatte diesen einäugigen Piraten Vos zerschmettert und war über die verzweifelte Roxane fast zu Tränen gerührt. Und als er sie dann aussteigen sah, tauchten die schlimmsten Befürchtungen in ihm auf. Sie kam die Treppe herab zur Schranke, den kleinen Koffer und eine Zeitschrift in der Hand. Der Kamelhaarmantel hing ihr lose über den Schultern. Sie sah klein und verlassen aus, und Solly konnte es kaum erwarten, ihr die Hände zu drücken und ihr zu erklären, wie sehr er sich freue, sie zu sehen, worum es sich auch handeln möge. Er betrachtete die Gesichter der andern Passagiere und war froh, keine Bekannten darunter zu finden, denn er hatte Bella erzählt, er habe eine geschäftliche Verabredung – und es war erstaunlich, wie in diesem Prachtdorf Johannesburg alles durchsickerte. - Ich habe in einem kleinen ruhigen Hotel eine Suite für dich bestellt, ganz behaglich. Ich dachte mir, es sei besser, du hättest ein Wohnzimmer, damit wir ganz ungestört sprechen können. Es stellte sich heraus, daß es ein sehr gemütliches Zimmer war. Im Kamin brannte ein offenes Feuer, auf dem Sims standen Blumen und vor dem Feuer eine Karaffe Rotwein zum Wärmen. Auf einem kleinen Tisch eine Platte mit Sandwiches. Als sie sich umblickte, stritten Freude und Bestürzung miteinander in ihr. Er sah den Blick und lachte. - Du bist mein Gast. Aber warum wolltest du nicht in unsere Wohnung kommen?
- Verzeih! sagte sie. Ich weiß, ich mache es dir dadurch nur schwerer, aber ich erkläre es dir gleich. Du hast dir soviel Mühe gemacht und bist immer so gut zu mir… Sie nahm den Mantel ab und warf ihn aufs Bett. Durch die offene Schlafzimmertür sah Solly, wie sie sich dem kleinen überflüssigen Ritual, Puder und Lippenstift zu benutzen, unterzog. Sie fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar, dann war sie wieder bei ihm, und er hielt sie auf Armlänge von sich ab und blickte sie an. - Laß dich ansehen, Roxie! Ich möchte es wissen, ob die paar Monate dich verändert haben. Was er sah, entzückte ihn, wenn es ihn auch nicht beruhigte. Die Gruben unter den Wangenknochen waren tiefer geworden, die Lippen noch immer so üppig und zart geschwungen, wie er sie im Gedächtnis hatte – seltsam, wie lebendig ihr Bild in ihm geblieben war –, und die schrägen Mandelaugen leuchteten noch immer voller vertrauender Hoffnung, die er mit ihrer Gabe, glücklich zu sein, in Verbindung brachte. Doch in ihrem Gesicht war ein neuer Zug, den er noch nicht kannte. - Du bist erwachsen geworden, sagte er. Wie alt bist du? - Ich werde zwanzig. - Noch einmal zwanzig zu sein… Er seufzte und winkte mit der gut manikürten Fischflosse in einer abwehrenden Bewegung, als schwimme er vor einer so verwirrenden Aus sicht davon. Nein, meine Roxie! Zwanzig ist das Alter der Verzauberung, aber auch das Alter des Leidens. Mit zwanzig ist alles wichtig – dann kommen die Weisheitszähne durch, und man schafft sich eine dicke Haut für das Herz an. Mit zwanzig scheint die Sonne heiß, doch der Wind bläst kalt. Gott verhüte, daß ein Mensch die Qualen dieses Alters zweimal durchmacht! Bist du verliebt, Kind? Die Frage folgte dem Monolog so plötzlich auf den Fersen, daß sie einen Augenblick nicht auf der Hut war und er die Qual
in ihren Augen sah. Doch sie gab keine Antwort. Sie saß auf dem Sofa und hielt die ringlosen Hände ins tanzende Licht des Feuers. Ihr Haar war nach vorn gefallen und beschattete ihr Gesicht. Dann sagte sie: - Ich wollte nicht meinetwegen mit dir sprechen. Es handelt sich um etwas wirklich Wichtiges – um Großmutter Constance und… Dieu Donné… Er holte die Rotweinkaraffe vom Kamin, goß den Wein in die Gläser und stellte die Brote auf den Tisch neben dem Sofa. Sie war also nicht ihretwegen gekommen. Komisch, das hätte er eigentlich wissen können. Sie war anders als Bella oder Merle, die nur für sich selbst Gefälligkeiten erbaten. - Erzähl mir alles! sagte er. Nimm dir Zeit dabei. Als sie geendet hatte, saß Solly schweigend und nachdenklich da. Endlich sagte er: - Wir wollen die Situation mal zusammenfassen: Soweit ich es verstehe, sind da folgende Hauptpunkte: Die unglückliche Überschwemmung und die Krankheit trafen Großmutter Constance gleichzeitig und stürzten sie in erhebliche Schulden. Deshalb mußte sie sich von unserm Freund Krifti gegen die Sicherheit eines wertvollen Stückes Grundbesitz von Dieu Donné Geld leihen. Nun ist sie nicht in der Lage, die Zinsen zu zahlen; das bedeutet, daß die Hypothek nicht leicht zu übertragen ist. - In diesem Jahr ist die Ernte ausgezeichnet, warf Roxane schnell ein. Großmutter Constance hofft, daß das Gut sich erholt… - Schsch… Er winkte ab. Nicht unterbrechen, Mädchen! Tatsache ist, daß Großmutter Constance weder Zinsen zahlen noch das Kapital aufbringen kann – also wird sie gepfändet. Das ist Punkt eins. Nun nehmen wir Punkt zwei: Tinus Vos hat Grund zu der Annahme, daß Krifti den Wert und Reiz von Dieu Donné dadurch zu verringern sucht, daß er diesen
Grüngürtel bebaut. Und daß er Merle und Guy in der Tasche hat. Er hielt inne, um seine Zigarre wieder anzuzünden und nachdenklich an ihr zu ziehen. - Tinus kann durchaus recht haben, aber seine Vermutung kann nicht als vollgültiger Beweis betrachtet werden. Wenn wir jedoch annehmen, er hätte recht und Merle wäre bereit, ihr Erbe aus materiellen Gründen zu entwerten, dann fällt mir ein dritter Punkt ein – und der ist ziemlich betrüblich. Es sieht aus, als ob meine schöne Stieftochter ins Lager des Feindes übergelaufen und ihr die Erhaltung ihres Geburtsrechts keine Schüssel Linsen wert sei. Plötzlich fuhr er herum und drehte sich Roxane zu. - Und wenn das der Fall ist, warum solltest dann ausgerechnet du, Roxie, mit aller Kraft darum kämpfen, es zu erhalten? Was hast du denn davon? Du hast, soweit Dieu Donné in Betracht kommt, nichts zu erwarten – oder doch? Als die volle Bedeutung seiner Worte ihr aufging, errötete sie. - Wie kannst du das sagen, Solly! Ihre Stimme war spröde wie Glas. Du weißt sehr gut, daß ich nichts von Großmutter Constance zu erwarten habe, keinerlei Rechte auf irgend etwas, was ihr gehört! Ich habe etwas gelernt und kann selbst für meinen Unterhalt sorgen. - Stimmt genau. Warum bist du also so interessiert daran? Es war, als ob sie in einem Alptraum läge – die Vergeblichkeit von Worten entsetzte sie. - Ich kann dir keine rechte Antwort geben, sagte sie. Nur daß ich Großmutter Constance und Dieu Donné von ganzem Herzen liebe – vielleicht hat mich das töricht gemacht. Großmutter Constance hat mir Vater und Mutter ersetzt – und Dieu Donné ist die einzige Heimat, die ich je kennengelernt habe…
Die Stimme versagte ihr, und sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. - Kannst du mich denn nicht verstehen, Solly? Ich möchte, daß sie die kurze Zeit, die ihr noch bleibt, glücklich ist. Sie darf nicht wissen, was Merle ihrem Tal antun will! Dieu Donné ist ihr Leben und ihr Glaube, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. So aufrichtig hat sie darum gekämpft und dabei immer nur an das Gute gedacht. Kannst du das nicht verstehen, Solly? Sie hörte, wie er sagte: - Hast du Großmutter Constance erzählt, daß du vermutest, Merle wolle ihre fünf Morgen an Krifti verkaufen? Sie schüttelte den Kopf. - Das würde ihr das Herz brechen. Merle versteht wohl nicht, was Dieu Donné für Großmutter Constance bedeutet… - Es wäre ihr auch gleichgültig. Wegen des gebrochenen Herzens einer alten Dame hätte Bellas Tochter nicht eine einzige schlaflose Nacht. Meine Damen haben harte goldene Köpfe auf den reizenden Schultern und Steine in ihrer süßen weichen Brust. Gefühle überlassen sie solchen Narren wie Solly Caine. Er stand auf und warf den Zigarrenstummel in den Kamin, dann fing er an, leise vor sich hin zu lachen. - Eine Sicherheit, die Mr. Krifti genügt, sollte für Solly Caine wirklich ausreichend sein – und auf die Zinsen kommt’s nicht an. Nur schade, daß ich nicht dabeisein kann, um Kriftis Gesicht zu sehen, wenn Großmutter Constance ihn auszahlt! - Solly! Du willst helfen? - Ja, Roxie. Aber nicht aus edlen Motiven. Mit unserm Freund Krifti habe ich noch ein paar persönliche Rechnungen zu begleichen, und mein Herzchen von Stieftochter ist nie mein Lieblingsmädel gewesen. Doch zwei Dinge muß ich noch ganz deutlich machen: Erstens bleibt meine Rolle in der
Angelegenheit anonym. Dafür wird mein Rechtsvertreter sorgen. Und zweitens muß die Sache – das wirst du verstehen – in einem Jahr überprüft werden. Ich mache keine Geschenke, ich will nur helfen, die Zeit zu überbrücken – mehr nicht. Und nun sag mir mal, ob Großmutter Constance weiß, daß du den ganzen Weg hierhergekommen bist, um mich zu bitten? Weiß es irgend jemand? - Nur Tinus. Großmutter Constance glaubt, ich sei die Nacht bei Aletta Krike. Ich schlafe oft dort, wenn ich abends auf die Kinder achte. - Dann mußt du mir versprechen, daß die alte Dame weder von dir noch von Tinus etwas erfährt und daß niemand unsern Plan spitzkriegt. Dieses Rendezvous und alles, was wir besprochen haben, muß unser Geheimnis bleiben. Die technischen Einzelheiten werden arrangiert. Großmutter Constances Rechtsvertreter stand rasch auf und schob das unterschriebene Papier in die Aktentasche. Die Wandlampen der Bibliothek von Dieu Donné schienen auf seinen kahlen Schädel und den kleinen Ziegenbart. Guter Gott! dachte Großmutter Constance, er wird ganz weiß! Und gestern habe ich ihn noch auf dem Knie geschaukelt, was war er für ein dickes Baby – und jetzt? Ein mageres kleines Frettchen von fast sechzig! Sie hörte die scharfe Stimme, die sich an Mr. Krifti wandte: - Ich denke, damit ist alles geordnet, Mr. Krifti. Die Hypothekenübertragung wird auf dem üblichen Wege erfolgen, und es ist dafür gesorgt, daß Mrs. de Valois’ Scheck morgen honoriert wird. Mr. Kriftis Gesicht war ohne jeden Ausdruck, als er sich verbeugte. Er zeigte es nicht, wie die Fragen ihm durch den Kopf schossen. Wer war dieser Klient des Anwalts, der bereit war, eine Hypothek auf vierzig Morgen Land von Dieu Donné zu übernehmen, bei der kaum Zinsen heraussprangen? Was
hatte Roxane in den wenigen Tagen angestellt, daß sie den Spieß so umdrehen konnte? Großmutter Constance war ebenso verwirrt wie Mr. Krifti. Die flüchtigen Erklärungen ihres Anwalts hatten die Situation um nichts klarer gemacht. Sein Klient wünsche anonym zu bleiben und sei aus Gründen der Einkommensteuer in der Lage, auf höhere Zinsen zu verzichten. So ungefähr hatte er es dargestellt. Der Anwalt machte Großmutter Constance mit seiner gönnerhaften Art oft wütend, wenn er sagte: - Überlassen Sie nur alles mir, meine Liebe, Sie sind viel zu alt, sich mit solchen geschäftlichen Dingen abzumühen. Seien Sie ruhig dankbar, daß Sie sich ganz auf mich verlassen können! Gewöhnlich las sie ihm dann die Leviten und bewies, daß sie ihren Verstand noch längst nicht verloren und ihre fünf Sinne durchaus beieinander habe – sie deutete dann sogar an, daß es eine Ehre für ihn sei, die geschäftlichen Dinge für ein so berühmtes Gut wie Dieu Donné erledigen zu dürfen, auch wenn es nicht mehr soviel abwarf wie früher. Heute jedoch hatte sie keine Anstrengungen gemacht, ihm Einzelheiten zu entlocken. Diesmal schien die Vorsehung im Spiel zu sein, etwas, was sie hinnehmen wollte, ohne Gefahr zu laufen, verborgene Verpflichtungen zu entdecken. Sie hatte gar nicht das Verlangen, den Namen ihres Wohltäters zu erfahren. Sie wollte ruhig glauben, es sei irgendein reicher Finanzmann. So nahm, zur Erleichterung des Anwalts, die rechthaberische alte Klientin seine ziemlich verschwommenen Erklärungen einmal ohne Frage und ohne Bemerkung hin. - Vermutlich kann ich Sie nicht dazu überreden, ein Schöppchen Wein zu nehmen, ehe Sie gehen? - Nein, vielen Dank. Ich habe meine Lebensgewohnheiten noch nicht geändert, ich bin nach wie vor Antialkoholiker. Er sah ihren mißbilligenden Blick und lachte.
- Ja, ich weiß, diese Einstellung sollte man auf Dieu Donné nicht gerade betonen, aber ich darf Sie daran erinnern, daß ich Obst sehr gern mag, vor allem Trauben und Birnen von Dieu Donné. Sie setzte die Trillerpfeife an die Lippen und rief Josua mit einem schrillen Pfiff. - Führ Mr. Jordan hinaus, Josua, und bring Weinbrand und Soda für Mr. Krifti und einen Sherry für mich. Niemals bot Großmutter Constance Whisky an. Der Preis war ungeheuerlich, und sie ging nicht von der Gewohnheit ab, ihren Gästen nur Weine und Spirituosen aus Dieu Donné vorzusetzen. Aber nachdem ihr nun diese alte Sorge abgenommen war, fühlte sie sich fast ein wenig leichtsinnig – wenigstens eine Zeitlang. Vielleicht war es ein Traum. Sie hatte schon manchmal von einer solchen Befreiung geträumt, und dann war das Erwachen eine Qual gewesen. Josua stellte das Tablett auf den Tisch und goß seiner Oumissus einen Sherry ein. - Sie bedienen sich gewiß lieber selbst, Mr. Krifti, er munterte sie. Starke Getränke gehörten nicht zu Mr. Kriftis Gewohnheiten, doch an diesem Abend verspürte er das Bedürfnis nach einer Anregung. Er schenkte sich einen tüchtigen Schuß Weinbrand und nur ein paar Tropfen Wasser ein. Großmutter Constance saß auf dem Sofa am Kamin. Der Kaschmirschal bedeckte ihren Schoß, denn der Herbstabend war kühl. Der Rollstuhl stand dicht neben ihr, aber sie war immer froh, wenn sie einmal auf ihn verzichten konnte. Mit großem Genuß trank sie ihren Sherry und sah Roxies lachendes Gesicht schon vor sich, wenn sie ihr die Geschichte von Mr. Kriftis Niederlage erzählen würde. Roxie und Tinus mußten bald von ihrem Ausritt zurückkommen. Sie waren die letzte Zeit viel zusammen – zu viel. Sie hörte Mr. Kriftis belegte Stimme.
- Weiß Merle, daß meine Hypothek abgelöst worden ist? - Bestimmt nicht! Merle weiß überhaupt nichts von dieser Hypothek – von mir nicht. Warum auch? Es ist nicht ihre Sache – noch nicht. Jetzt vielleicht noch nicht, aber doch bald. Mr. Krifti tröstete sich mit dieser Überlegung. Wenn Dieu Donné erst in Merles Händen war, konnte er ziemlich sicher mit ihrer Bereitwilligkeit rechnen, das Gut im ganzen zu verkaufen, obwohl sie zu klug war, irgend etwas von dieser Absicht zu verraten. Er mußte zwar ein wenig länger warten – aber das war auch alles. Bis dahin war es ihm ganz recht, wenn Merle im unklaren über die Wendung der Dinge blieb. - Übrigens, fuhr Großmutter Constance mit einer Spur von Arroganz fort, habe ich Roxane verboten, mit irgendjemand über diese Angelegenheit zu sprechen. Meine Geschäftsbeziehungen sind privat und vertraulich. Er warf ihr einen verstohlenen Blick zu. In den alten Augen leuchtete Triumph. Das war schon eine Heimliche, diese Großmutter Constance! Irgendwo hatte sie einen Knüppel gefunden, den sie ihm zwischen die Beine werfen konnte. Aber wo? Die Frage quälte und folterte ihn. Und dennoch konnte sie damit das Endergebnis höchstens verzögern. Er zog den Bernsteinrosenkranz aus der Tasche und verfiel nach dieser kleinen Enttäuschung in orientalischen Fatalismus. Glatt rannen die Perlen durch seine Finger, und im Innern hatte Krifti die Gewißheit, daß es nur eine Frage der Zeit sei, seine Pläne reifen zu lassen. Wie schon so oft überlegte er, wie alt Großmutter Constance sein mochte. Wenn man das wüßte, wäre es leichter, zu schätzen, wieviel Jahre sie noch vor sich haben konnte. Ihre Geburtsurkunde? Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Es war ganz einfach, festzustellen, was er wissen wollte! Warum war ihm das nicht früher eingefallen! Er stand auf, um sich zu verabschieden.
- Bitte nicht! sagte er, als sie die Pfeife an dem Samtband hob. Rufen Sie Josua nicht erst. Es ist wirklich unnötig. Ich finde den Weg auch allein. Sie lächelte spöttisch. - Wenn Sie allein hinausgehen wollen, Mr. Krifti, dann leben Sie wohl! Als er sie verließ, starrte sie ins Kaminfeuer, und das kleine seltsame Lächeln lag noch auf ihren Lippen. Mr. Krifti nahm seinen Mantel von der Bank in der Diele und zog ihn an. In dieser Jahreszeit war das Wetter gefährlich. Er tauchte die Hände in das große gehämmerte Kupferbecken mit wohlriechenden Kräutern und sog den Duft vergessener Sommer ein. Er hatte keine Eile. Seine Augen wanderten von der hohen Gelbholzdecke zu der schweren Tiekholzzwischenwand, die vor fast drei Jahrhunderten geschnitzt worden war. Erbstücke von unschätzbarem Wert zogen seinen Blick an: der prachtvolle Armoire, die Kampferholztruhe, Porzellan aus dem Osten, antike Spiegel aus Frankreich und alte Meister aus den Niederlanden, die in den Tagen der Holländischen Ostindien-Kompanie herübergekommen waren. Diese Dinge waren nicht unbelebt. Sie gehörten hierher wie die alte Dame selbst. Sie lebten, sie atmeten. Aber sie würden weiter dableiben, an Wert und Schönheit zunehmen, wenn die Herrin von Dieu Donné lange Staub war. Die unergründlichen Augen der Männer und Frauen der de Valois folgten Mr. Krifti von den Bildern, als er langsam zu dem Chorpult hinüberging, auf dem die große Familienbibel zwischen vergoldeten Adlerschwingen ruhte. Hier mußten die Geburten, Heiraten und Todesfälle der de Valois verzeichnet stehen. Hier würde er finden, was er suchte. An der Wand über dem Lesepult hing ein modernes Porträt von Dirk de Valois. Es war kühn, impressionistisch und von
großer Lebendigkeit. Die dunklen Augen lagen tief wie bei seiner Mutter, aber der Mund verriet eine gewisse Schwäche, er war zu stark geschwungen und zu gefühlsbetont. Ein Gesicht, das leiden konnte. Als das Bild gemalt wurde, trug Dirk de Valois Uniform – kurz vor seinem Tode. Seltsam, wie du und ich die Plätze getauscht haben, mein Freund! sagte Mr. Krifti im Innern. Die Mißgeschicke des Krieges trugen dich nach Norden, während sie mich nach Süden verschlugen. Im Treibsand der Wüste, die mein Volk gebar, fandest du dein Grab, während ich die Absicht habe, meine Tage unter dem Dach zu beenden, das deine Vorfahren beschützt hat… Nun strichen seine empfindsamen Finger über den glatten Ledereinband der massigen Bibel, prüften die Messingschlösser und die rauhen Ecken der dicken vergilbten Blätter. Berühren – welch heimliches Entzücken, zu berühren, was schön und kostbar war: altes Holz, kostbare Gewebe, Bernstein, Jade, Elfenbein, die feste Haut eines jungen Mädchens oder diese alte Bibel, die in den frommen Händen patriarchalischer Buren und Hugenotten geruht hatte, als ihr Glaube sie in die Verbannung trieb. Das Gute Buch schlug auf, die Deckel ruhten auf den vergoldeten Schwingen. Hier war die Seite, die er suchte. Mr. Krifti starrte sie an. - Wie können Sie es wagen! Beim Klang der Stimme fuhr er herum. Er hatte weder die Räder gehört noch den Stuhl in der Tür zwischen Bibliothek und Diele bemerkt. Er hatte gar nicht gewußt, daß sie allein in den Rollstuhl kommen konnte. Großmutter Constance saß kerzengerade aufgerichtet, die knotigen Finger umklammerten die Lehnen, als ob sie sich allein durch Willenskraft erheben wollte. Der Zorn ließ ihre Augen leuchten, und ihr vom Alter und Ärger scharfes Gesicht schien auf ihn zuzuschießen. - Wie können Sie es wagen, Mr. Krifti!
Er entschuldigte sich nicht – noch versuchte er seine Neugier zu erklären. Er schloß das Buch nicht einmal. Doch seine flachen, blassen Augen betrachteten sie mit einem gewissen Respekt, und die Mundwinkel verzogen sich zu einem merkwürdigen Lächeln, das von einer neuen Vertrautheit zwischen ihm und seiner bejahrten Gegnerin sprach. - Eine Frau läßt es sich viel kosten, ihr Alter zu verbergen, Mrs. de Valois, sehr viel. Warum auch nicht? Wir alle haben unsere Geheimnisse, die kleinen eitlen und die großen drückenden… Sie blieb unbeweglich sitzen und sprach kein Wort, während seine gedämpfte Stimme mit einem Zucken seiner Schultern erstarb. Sie wartete, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, dann schob sie sich zu dem Lesepult. Großmutter Constance griff hinauf und fühlte nach der bedeckten Seite mit den schweren Wachssiegeln, in die sie das Familienwappen eingedrückt hatte – vier, an jeder Ecke eins. Die Siegel hielten ein loses Blatt an seinem Platz – ein Blatt, das sorgfältig über die Berichte der de Valois gebreitet war und die Geburts-, Heirats- und Sterbedaten verbarg. Auf diesem Deckblatt aus starkem, undurchsichtigem Papier standen in der eckigen Handschrift von Großmutter Constance die letzten Anweisungen: Diese Siegel sollen nach meinem Tode von Maria Merle Masterson und Roxane de Valois erbrochen werden. gezeichnet Constance Henrietta Vos de Valois Dieu Donné Constantia.
Sie erinnerte sich des Datums am Fuß dieser Seite. Es war der Tag, an dem sie den Tod gefürchtet hatte, der Tag, an dem sie die alte Lizzi gebeten hatte, ihr die Bibel, Wachs und ihr Siegel zu bringen. Am nächsten Tag hatte man sie zum Krüppel gemacht. Ja, Mr. Krifti, dachte sie grimmig. Wir alle haben unsere Geheimnisse. Sie die Ihren und ich die meinen – und manche sind wirklich drückend.
Fünfzehntes Kapitel DAS GEBURTSTAGSGESCHENK
Zweimal im Jahr, zum Geburtstag und zu Weihnachten, erhielt Roxane von ihrem englischen Patenonkel, General Sir Christopher Williams, ein Geschenk. Sie hatte keine rechte Erinnerung an ,Onkel Christopher’, doch seine kurzen förmlichen Briefe und die Regelmäßigkeit, mit der er ihrer gedachte, überzeugten Roxane davon, daß er gütig und rücksichtsvoll sei. Überdies hatte er in ihrer Phantasie den Platz des Vaters, den sie nie gekannt hatte, eingenommen. Sie hatte sich angewöhnt, ihm für seine Geschenke lange Briefe zu schreiben, in denen sie von ihrem Leben im Tal berichtete. Roxane schrieb, wie sie redete und dachte – eifrig und ungezwungen. Und jedesmal, wenn der General in seinem kleinen Haus in Chelsea einen ihrer Briefe erhielt, wurde er unruhig und bekümmert, und seine gesitteten Gedanken wurden vom Atem der Jugend und den Stürmen der Erinnerung hierhin und dorthin getrieben. Manchmal schickte Roxane ihm Aufnahmen, und so hatte er das wuschelköpfige Kind zu einem jungen Mädchen heranwachsen sehen, dessen Gesicht und Gestalt ihn wegen der immer größeren Ähnlichkeit mit ihrer Mutter verfolgten. Allmählich hatte sich eine überaus revolutionäre Idee in seinem Kopf festgesetzt, die, wenn er sie ausführte, seine jahrelangen Gewohnheiten stören und die alten Wunden wieder aufreißen würde. General Williams war kein impulsiver Mensch; deshalb überraschte es ihn selber, als er sich eines Tages zu seiner
Wirtschafterin, Mrs. Maydew, sagen hörte: – Würden Sie es sehr töricht finden, wenn ich meine südafrikanische Patentochter einlüde, uns auf ein paar Monate zu besuchen? Er lächelte schüchtern. - Allerdings bin ich kaum der passende Gesellschafter für ein Mädchen von zwanzig – noch dazu für ein lebhaftes, wenn man ihren Briefen glauben darf. Mrs. Maydew lächelte auf ihre freundliche Weise. Sie hatte viele erwachsene Kinder und kleine Enkel und betrachtete den General gern als eine Art Kuckuck in ihrem Nest – ein anspruchsvolles fremdes Kind, viel älter und schwieriger als ihre eigenen. Denn selbst Lucy, die immer so nervös gewesen war, bis sie Ned, den Polizisten, heiratete, hatte ihr nie soviel zu schaffen gemacht wie der General. ,Man muß ihn von sich selber wegbringen’, hatte sie oft zu Lucy gesagt. ,Er wächst richtig ein – wie ein Zehennagel. Und das ist schädlich.’ Und Lucy hatte erwidert: ,Was kannst du von einem Mann, dessen Frau zwanzig Jahre lang geisteskrank war, ehe sie starb, anders erwarten?’ Deshalb zögerte Mrs. Maydew keinen Augenblick mit ihrer Antwort. - Das Haus ist groß genug, Sir, und wir könnten so ein junges Ding brauchen, das uns ein bißchen aufheitert. Viel leicht bringt sie Sie sogar ein wenig aus sich selber heraus. Er dachte: Ich bin jahrelang außer mir gewesen – oder wie man das nun nennen will. Ich fürchte viel eher, daß ich zurückgehe, wieder in mich hinein… Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb den Brief. Von ihrem Platz über dem Kamin sah Anne Williams ihm zu. Es war ein sehr schönes Porträt mit Roxanes Augen. ‚ … ich finde, es wird höchste Zeit, daß wir uns kennenlernen. Ich bezahle die Fahrt, und mein Haus steht Dir zur Verfügung, solange Du hier bleiben magst. Wir wollen auch auf ein paar
Tage nach Frankreich fahren, und vielleicht gelingt es uns gemeinsam, etwas über Deine Mutter – über Anne – zu entdecken…’ Roxane las die Worte auf ihrem Lieblingsplatz. Der Wasserfall schäumte nach den Aprilregen über die Steine. Das matte Gold des Herbstes tanzte auf seiner Oberfläche – trockene Blätter von den Eichen, Pappeln und Weiden und die Samen der Gebirgssträucher. Die Riesenfarne hingen schon welk herab, aber das Moos war leuchtend grün, und die Erde duftete vor Fruchtbarkeit. Roxane umklammerte glücklich den blassen, schlanken Stamm eines jungen Eukalyptusbaumes. Nun durfte sie auf die Pilgerfahrt gehen, von der sie seit ihrer Kindheit geträumt hatte. Sie durfte Maman suchen – Anne, ihre Mutter. Sie brauchte nicht mehr geizig zu sparen, um die Überfahrt und den Aufenthalt in London und Frankreich bezahlen zu können. Onkel Christophers Einladung, die da aus dem Blauen gekommen war, sorgte für all das, und was sie selber schon auf die Seite gelegt hatte, würde für das andere reichen. Aber wie lange konnte Großmutter Constance sie entbehren? Drei, vier, fünf Monate… Und wer würde für die Buchführung sorgen, wenn sie fort war? Früher hatte die Nichte des Hofmeisters manchmal geholfen. Ja, Amanda Brink konnte ihren Platz im Büro übernehmen. Jetzt mußte alles rasch geordnet werden. ,Komm, sobald Du kannst!’ hatte ihr Patenonkel geschrieben. ,Je eher, desto besser.’ In England war jetzt Frühling: In den Wäldern blühten Glockenblumen und Primeln. Und in London: Blüten wie Spitze überall in Kensington Gardens und all die Vögel auf der Serpentine… Sie hörte Wolf und die Hunde von Farway in den Büschen und rief nach ihnen; ihre Stimme klang hoch vor Erregung: - Nach Haus, nach Haus! Ich muß mit Großmutter Constance, mit Tinus und Amanda Brink sprechen – und eine Fahrkarte
bestellen… Oh, Wolf und ihr beiden Löwenhunde – ich fahre fort! Dieu Donné war voller Aufregung über Roxanes Reise. - Was fängst du ohne das Kind an? fragte Tante Hanna Großmutter Constance. Und Großmutter Constance er widerte barsch: - Ich bin ja schließlich noch nicht hilflos, nicht wahr? Ich werde ausgezeichnet fertig. Und außerdem ist’s nicht für lange. Merle sagte mit dem entstellenden Hochziehen der Oberlippe: - Ich hab ja gewußt, daß du ausbrichst. Leute wie du tun das früher oder später. Die Mädel gehen übers Meer wie die Eingeborenen aus ihren Reservaten in die Bergwerke. Aber die Jüngere lachte nur, weil sie wußte, daß Merle noch nicht in Europa gewesen war. Krieg und Heirat hatten die Gelegenheit für sie verzögert. Natürlich war Merle neidisch auf Roxane. Aletta Krike hatte sie fest in den Arm genommen. - Wie ich mich für dich freue, Roxie! Aber du wirst uns hier allen fehlen. Wer wird sich um meine Kinder kümmern und Jantje den Teufel austreiben, wenn ich nicht mehr mit ihm fertig werde? Ich kann mir Dieu Donné ohne dich gar nicht vorstellen. Zwinkernd setzte sie hinzu: Und was sagt Tinus dazu? Roxane hatte gelächelt, ohne zu antworten, und den Kopf auf die seidigen Locken des Jüngsten von Alettas Kinderschar gesenkt. - Wie weich Babys sind… flüsterte sie. Und wie süß sie riechen… - Ebensooft sauer wie süß, erwiderte Aletta und kam gleich wieder auf ihr Thema zurück: Wenn ich du wäre, würde ich Tinus heiraten und mir eigene anschaffen. Er ist ein guter Mensch, Roxie. Das klingt vielleicht ein bißchen albern, aber
genau das braucht eine Frau – einen Mann, dem sie vertrauen kann. Alter Hund Treu – das ist Tinus Vos. Er hatte es selbst gesagt, ziemlich kläglich, damals nachts im Keller, damals, als er den Verdacht hatte, daß Krifti mit Merle und Guy Pläne schmiedete, Dieu Donné zu zerschlagen. Ihre Augen bewölkten sich für Sekunden. Vielleicht hatte Aletta recht, vielleicht sollte man Ehe und jene andere Liebe nicht durcheinanderbringen. Vielleicht waren die guten Ehen auf Treue und Vertrauen und nicht auf Leidenschaft gegründet. Und doch spürte sie, daß Alettas eigene Ehe auf mehr als Treue und Ergebenheit aufgebaut war. Der große Karl Krike mit den heißen blauen Augen und dem goldenen Bart war ebenso ihr Herr wie ihr Partner, und auch ihre Kinder waren in Ekstase empfangen. Vielleicht mußte eine Frau hingerissen und auf einer Sturmflut atemloser, ungestümer Unterwerfung davongetragen werden. Doch bei diesem Gedanken tauchte Hallams Gesicht vor ihr auf – die hochgezogene Braue, die Narbe auf der Wange, die grauen spöttischen und angriffslustigen Augen, die doch so zärtlich werden konnten, die starken Arme, die nicht für sie, sondern für Alexa da waren. Sie strich sich mit der Hand über die Augen… Laß mich in Frieden, Hal – laß mir meine Ruhe! Die unberechenbaren Apriltage flogen dahin – das Ende des Sommers und die ersten Zeichen des Winters. Sonne und Regen kamen zu gleicher Zeit, und die Kinder schrien einander zu, daß nun die ,Mönchshochzeit’ gefeiert werde. Die Rosen waren fast verblüht, und der alte Klaas brachte Stunden in Großmutters Garten damit zu, die herbstlichen Büsche zu verschneiden. Lizzis tauber Ben half Klaas in den Gärten. Auf Dieu Donné gab es immer Arbeit für ihn, und nun, da die Jahreszeit der Waldbrände vorüber war, schien der Bursche wieder
vernünftig geworden zu sein. Er ließ sein Tagewerk nicht mehr im Stich, um nachts den düsteren Erregungen des Feuers zu folgen. Doch bisweilen fiel es Roxane auf, daß sein hübsches dunkles Gesicht sich unheilvoll verändert hatte. Seit die Welt ihn nicht mehr mit ihren mannigfaltigen Stimmen rief, hatte er sich von ihr zurückgezogen. Früher hatten seine leuchtenden, klugen Augen auf jede Anregung von außen reagiert, doch jetzt hatte Roxane, wenn sie ihn leicht an der Schulter berührte, um ihm etwas von Großmutter Constance auszurichten, das Gefühl, er trage seine dunkle Haut wie eine Maske. Wenn man in diesen Tagen in Bens Augen schaute, war es, als blicke man in einen dunklen Raum – und in dieser Dunkelheit lauerte irgendeine unnennbare Gefahr. Miriam, die Malaiin, kam nach Dieu Donné, um ein paar neue Kleider für Roxane zu nähen; dazu wurde der Rat von Louise eingeholt, denn Mrs. Krifti war tonangebend in Fragen weiblicher Eleganz. Großmutter Constance und Roxane hatten ihre Abneigung gegen Mr. Krifti niemals auf seine Frau ausgedehnt. In ihren Augen blieb sie in erster Linie die Tochter von Tante Hanna van der Walt; diese Einstellung wurde von ihr selbst sehr unterstützt, da sie sich auf merkwürdige Weise von den Tätigkeiten ihres Mannes distanzierte. Falls Louise überhaupt ahnte, daß Mr. Krifti finanziellen Druck auf die Herrin von Dieu Donné ausgeübt hatte, ließ sie sich doch nicht das mindeste davon anmerken, und Großmutter Constance stimmte stillschweigend mit Roxane darin überein, daß Louise im tiefsten erschüttert wäre, falls sie es erführe. Jetzt suchte sie Schnittmuster und Stoffe mit Roxane aus, um Roxane für die Reise und den englischen Sommer auszustatten. Wenn Saartje mit ihrer Arbeit in der Wohnung des Verwalters fertig war, kam sie manchmal ins Gutshaus herüber, um Miriam beim Nähen zu helfen; denn sowenig das
farbige Mädchen vom Kochen verstand, so geschickt wußte es mit der Nadel umzugehen. Endlich war alles bereit, und Saartje legte mit Roxane die hübschen neuen Kleider und Blusen zusammen. - Glückliche Miß Roxie! seufzte die junge Farbige. Ich würde alles darum geben, wenn ich nach England könnte! Roxane, die auf dem Bett saß und ihre Strümpfe sortierte, blickte überrascht auf. - Warum willst du denn nach England, Saartje? - Ich möchte zum Theater. Ich kann tanzen, Miß Roxie – und singen auch… - Ja, das weiß ich. Aber auch in England ist es nicht leicht, am Theater anzukommen – das glaube ich wenigstens. Das hübsche hellfarbige Gesicht des Mädchens zeigte die Verstimmung, und die großen dunklen Augen funkelten. - In der Gruppe finden sie mich recht gut. Plötzlich stellte Roxane fest, daß sie Saartje als eigene Persönlichkeit betrachtete – nicht mehr als Lizzis Nichte oder Tinus’ Köchin, die einen Teil der Szenerie von Dieu Donné bildete wie die Tauben und Eichhörnchen. Sie könnte fast als Weiße durchgehen, dachte Roxane. Auf der Bühne bestimmt. Sie hatte Saartje in Operetten, die von der Theatervereinigung aller Farbigen aufgeführt wurden, tanzen und singen sehen; bei diesen Vorstellungen war die Stadthalle von Kapstadt von einem gemischten Publikum überfüllt, das von der unverwüstlichen Vitalität der Mitwirkenden wie gebannt war. War es schließlich so erstaunlich, daß sie sich nach einer Gelegenheit sehnte, sich in Übersee einen Namen zu machen – nicht als Mitglied einer Gruppe, die die kulturellen Fortschritte der farbigen Bevölkerung verkörperte, sondern als Individuum, das die sich in der weißen Welt bietenden Gelegenheiten wahrnehmen wollte; hier in der Südafrikanischen Union waren sie den Mischlingen ja völlig versperrt.
- In England kann man es bis zum Gipfel des Ruhmes bringen, fuhr Saartje fort. Roxane spürte, wie sie gereizt wurde. Nur, wenn man es verdient! Der Gipfel ist ein kleiner, hoher Platz. Es ist schwer, hinaufzusteigen – und noch schwerer, oben zu bleiben. Davon könnte dir Alexa ein Lied singen, dachte sie. Und es ist ein einsamer Platz. Einsam für einen selbst und noch einsamer für die, die versuchen, einen zu begleiten. Ihr Geist ging seine eigenen Wege. Im Augenblick vermochte sie kein Interesse mehr für Saartjes Ehrgeiz aufzubringen. Auch Saartjes Gedanken waren abgeschweift. Sie wußte, daß Miß Roxie sie beiseite schob, wie die Weißen das immer taten. Natürlich war Platz genug auf dem Gipfel – überall auf der Welt außer in der Südafrikanischen Union. Meine Güte! Wie sie ihr bei der letzten Aufführung der Gruppe zugeklatscht hatten! Über ihren exzentrischen Tanz stand im Argus ein ganzer Absatz. Und wenn das kein Ruhm war – was war’s dann? Mit ihrem Talent brauchte man nicht viel zu proben, man tanzte einfach, und das Publikum lag einem zu Füßen… Roxane sagte: - Eine gute farbige Tänzerin kann auch hier berühmt werden… - In der Gruppe, gab Saartje verachtungsvoll zu. Was hat man davon? Mit geschickten, schlanken Fingern legte sie ein weißes Abendkleid zusammen. Roxane hatte noch nie bemerkt, wie schön die Hände des Mädchens mit den langen blassen Nägeln waren. Auch die anmutige Linie des Halses fiel ihr auf, wie sie sich da so über die Arbeit beugte. Im Nacken schimmerte die Haut dunkler, mit einem Hauch wie auf blauen Trauben. Ihr Haar war nicht kraus, sondern weich und wellig und umrahmte in langen Locken das schmale Gesicht. Roxane dachte: Wie sie sich verändert hat, seit sie vor zwei Jahren in die
Theatervereinigung eintrat! Sie redete auch nicht mehr in der Taal – außer mit Leuten, die sie für geringer hielt –, sondern bemühte sich um eine sorgfältige englische Aussprache. Man macht sich nicht die Mühe, andere Menschen kennenzulernen, dachte Roxane, und sich in ihre Lage zu versetzen. Man übersieht einfach ihre Träume. - Ich gehe nächstens doch nach England, Miß Roxie. Warten Sie’s nur ab! Roxane erinnerte sich Saartjes und Bens als Kinder – der Junge mit der Bambusflöte an den Lippen und das Mädchen mit den ruhelosen Füßen und dem wilden Lachen, das mit Kopf und Füßen, mit Brüsten und Hüften tanzte, toll und herausfordernd, ein Stück vom Rhythmus Afrikas. Saartje war immer ein Irrwisch gewesen – bald hier, bald dort –, das Licht, das lockt. In der Nacht nach Merles Hochzeit hatte sie mit Ben wie eine Irre getanzt – rund um das Feuer vor dem Farbigendorf. Das war die Nacht, in der Roxane und Hal sich von Krikes Braaivleis davongestohlen, um der Feier des Volkje zuzusehen – die Nacht, seit der Roxane Hallam liebte. Seltsam, wie schließlich alles wieder zu Hal zurücklief. Ob sie ihn in England sehen würde? Saartje richtete sich auf, doch als sie sich nach dem weißen Mädchen umwandte, das noch immer Strümpfe sortierte, sah sie, daß Miß Roxane weit weg war. - Da, sagte sie freundlich. Das letzte Kleid ist eingepackt. Nun sind nur noch die Kleinigkeiten. Roxane blickte auf und lächelte. - Danke, Saartje. Das ist einstweilen alles. Den Rest lege ich morgen in den Koffer. Es war Roxanes letzte Nacht zu Hause. Großmutter Constance war zu Bett gegangen, und Tinus hatte Roxane überredet, noch einmal mit ihm über den Paß zur Waldbucht hinüberzufahren.
Die Straße schlängelte sich zwischen aufgetürmten Spitzen zur wilden Atlantikküste hinunter, und immer wieder tauchte der Wagen in einen dunklen Tunnel von Eichen, der das Leuchten der Sterne auslöschte. Bald sahen sie die weißen Dünen, die den Waldbuchtberg säumten, dann sprang das strenge Profil der ,Schildwache’ steil von dem westlichen Bogen der Bucht auf und wurde von Zeit zu Zeit vom aufzuckenden Lichtstrahl des Slangkop-Leuchtturms erhellt. Auf der Klippenstraße hielt Tinus den Wagen an. - Du wirst niemals etwas Schöneres sehen, sagte er. Trag es neben den Bildern vom Tal im Gedächtnis. Vergiß es nicht – und komm zurück zu diesen Orten, die du liebst… und zu den Menschen, die dich lieben, Roxie! - Das ist heute ein merkwürdiger Abend, sagte sie. Für die Malaien beginnt der Ramadan – der Monat des Fastens und Betens. Miriam hat mir davon erzählt. Überall auf der Halbinsel sind Wächter aufgestellt, um nach dem neuen Mond Ausschau zu halten. Er ging auf ihre Stimmung – die Zurückhaltung in allen persönlichen Dingen – ein. - Wie die Feuerwächter während der trockenen Jahreszeit – auf jedem Gipfel ein Posten? Sie nickte. - Und sobald sie ihn sehen, melden sie es dem Oberpriester und den Leuten, die an der Moschee warten. Miriams Vater ist einer von den Wächtern. Er ist mit seinem Gebetsteppich zum Strand an der Seespitze gegangen. Sobald er und die andern Wächter die Mondsichel erblicken, beginnen sie mit ihren Gebeten. - Dann beten sie jetzt, sagte Tinus. Über dem östlichen Bergrücken stieg die schmale Silbersichel in den kalten Sternhimmel hinauf. Sie schwiegen und lauschten der Nacht – den Wellen, die gegen die Klippen
schäumten, und dem Wind, der im dunklen Walde hinter ihnen rauschte. Sie wünschte, daß ihre Religion den Gläubigen auch eine Zeit des Fastens und der Beschaulichkeit auferlege – nicht nur ein paar Stunden oder Tage der Abstinenz – sondern etwas wie Ramadan – wirkliche Zucht. Das Vorgefühl einer großen Veränderung erfüllte sie. Morgen begann ein neuer Abschnitt ihres Lebens – die Pilgerfahrt. Ob dann, wenn sie zurückkehrte, noch alles ganz dasselbe war? Sie hörte Tinus’ Stimme. - Aufgeregt, mein Eichhörnchen? - Schlimmer – Reisefieber – und eigentlich noch mehr. Ich hoffe, etwas über die Eltern zu erfahren. Ich habe schon immer mehr über sie wissen wollen. Seine Eltern zu kennen – sie zu sehen, bei ihnen zu sein – muß einem helfen, sich selber kennenzulernen… Er sagte langsam: - Sich selbst zu kennen ist sehr viel, Roxie. Wer von uns kennt sich schon selbst? - Von dem Kontakt mit Vater und Mutter lernt man, welche Möglichkeiten in einem stecken – gute wie schlechte. Du, Tinus, kannst dich sicher fühlen, weil Ohm Jakob und Tante Petronella gute Menschen sind. - Ja, stimmte er zu. Das ist richtig. Tatsächlich hatte er oft gefühlt, daß der Geist seines Vaters sich in ihm rührte – besonders in Tweefontein –, und dies Gefühl war stark gewesen. In dem Wissen und der Achtung vor dem eigenen Blut lagen Sicherheit und Beständigkeit. - Deine Mutter war eine tapfere Frau – und nach dem kleinen Bild von ihr – der Miniatur – bist du ihr sehr ähnlich, sagte er. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und spürte den Schauder, der sie durchrann, als fürchte sie doch irgendeine Enttäuschung. Sie war eben doch ein Pfropfreis auf Dieu Donné, dachte er, fremd trotz all ihrer Vertrautheit. Und das
war gut für Dieu Donné – und für ihn. Die heimische Rebe muß auf die fremden Stecklinge gepfropft werden, wenn sie den Feinden im eigenen Boden widerstehen und Vollkommenheit erreichen soll. Zögernd wandte er den Wagen, und sie fuhren schweigend heimwärts, bis das Auto unter den Eichen vor seinem Häuschen anhielt. - Komm für einen Augenblick herein, Roxie. Es ist noch nicht zehn. Sie zögerte, von der körperlichen und seelischen Erschöpfung dieses letzten Tages zu Hause überwältigt. Sie fürchtete sich vor dem, was er ihr sagen – was er sie vielleicht fragen könnte. Sie hatte keine Antwort für ihn. – Komm… Er zog sie in das helle Wohnzimmer neben der Veranda, und sie sah sofort, daß er Vorbereitungen getroffen hatte, sie hier zu empfangen. Im offenen Kamin knisterte ein Feuer, auf dem Tisch standen Blumen, belegte Brote und Kaffee in einer Thermosflasche. Sie kannte jedes Möbelstück in diesem Häuschen, das er immer ,verschönern’ wollte – von den abgewetzten Ledersesseln bis zu der altmodischen Kredenz, in der er die Getränke aufbewahrte. Er schaltete den Rundfunkapparat ein, und leise Musik strömte durch das Zimmer. - Das letzte Mal, als wir miteinander plauderten, war’s im Keller um Mitternacht. Erinnerst du dich? - Hmm… Sie lehnte sich im Sessel zurück, während er Kaffee eingoß und eine Tasse vor sie hinstellte. Erst vor ein paar Wochen – und doch ist’s, als wären Jahre seitdem vergangen. Das war die Nacht, in der du mir von deinem Be such in Guys Büro erzähltest – über den Plan für das Hotel Constantia – Kriftis Plan. - Ich habe dir mehr erzählt. Ich sagte auch, warum ich Guy besucht habe. Ich möchte aus diesem Häuschen eine richtige Wohnung machen – ein Heim.
- Aber das ist es doch – gerade richtig für einen Junggesellen! Mir gefällt’s so. Er saß auf der Armlehne ihres Sessels, das unverletzte Profil ihr zugekehrt. Er warf die Zigarette, die er geraucht hatte, ins Feuer und sagte: - Für einen Junggesellen mag es gerade richtig sein, aber so will ich es eben nicht. Ich will ein richtiges Heim mit einer Frau, mit Kindern. Ich will dich, Roxie. Das wußtest du damals, und du weißt es heute. Vielleicht hast du es immer gewußt – daß ich dich mehr als alles auf der Welt liebe… Roxie, willst du mich heiraten? Nun war es ausgesprochen, und sie hatte keine Antwort. Sie spürte seinen Arm auf den Schultern und schloß die Augen. Die Müdigkeit überwältigte sie. Sie war ohne Widerstand, überhaupt ohne jedes Gefühl. Es war damals in der Nacht im Keller nicht die geeignete Zeit, davon zu sprechen, dachte sie. Und jetzt ist es auch nicht recht. Vielleicht gibt es nie eine rechte Zeit für dich und mich, alter Tinus… wie lieb du mir auch bist… Und dann war es seltsam: Er kniete zu ihren Füßen und umklammerte ihre Hüften. Sie roch das Haar, als er den Kopf an ihrer Brust barg, und nun merkte sie, wie sie es streichelte. Die Wärme seiner Lippen brannte durch ihre dünne Bluse, und sie überlegte, ob er das Mitleid in ihrer Brust spüre. Seit sie sich erinnern konnte, seit sie als kleines Kind nach Dieu Donné gekommen war, hatte sie seiner Liebe sicher sein können. Er war so gut gewesen – ihr Freund und ihr Bruder… Sie bestand jetzt aus zwei Lebewesen. Die Müdigkeit hatte sie aufgespalten. Oder vielleicht verdoppelt – sie auf irgendeine seltsame Weise gespiegelt, so daß sie sich zu beobachten vermochte, nicht nur ihr körperliches Ich, sondern auch das andere, tief verborgene Wesen, dessen sie sich bewußt war, wie man von Vögeln weiß, die im Busch versteckt
sind. Wie der afrikanische Kuckuck, den man Piet-my-vrouw nennt, dachte sie: Man hört seinen Ruf aus den Zweigen oder das Schwirren seiner Flügel, aber er zeigt sich selten… So sah sie nun die junge Gestalt in Tinus’ Armen und das leere Herz; und sie weinte um beide – um den Mann und das Mädchen. Es war wie ein Gebet: Laß mich fühlen, laß mich fühlen! Laß mich leiden, wenn du es willst, aber nicht diese Leere… Die Musik hatte aufgehört, und der Ansager sprach die Nachrichten in das schweigende Zimmer. - Die Schlagzeilen… Tinus hörte es kaum. Für ihn gab es nur Roxane – die feste kleine Brust, seine eigenen Wünsche und ihr Schweigen. Dann plötzlich spürte er, wie ein Zittern durch ihren Körper lief – wie das Vibrieren eines Drahtzaunes, auf den irgendwo ein Stock geschlagen hat. Die Worte des Ansagers und ihre Bedeutung drangen in sein Bewußtsein. - … wurde die Tänzerin und Schauspielerin Alexa Rome in einer Londoner Klinik von einer Tochter entbunden… Er sprang auf und schaltete den Apparat ab. Auch Roxane hatte sich erhoben und war von erschreckender Blässe. - Tinus, lieber Tinus – ich weiß nicht, ob ich dich heiraten kann. Wenn ich zurückkomme, kann ich dir vielleicht meine Antwort geben. Ihre Stimme stockte. Ich verstehe mich selbst nicht – ich… - Armes kleines Eichhörnchen – armes kleines Herz. Er sprach Afrikaans und zog sie noch einmal in die Arme. Sie war wieder ein Kind und ließ sich trösten von diesem Menschen, der soviel zu geben hatte. Sie hob den Kopf und bot ihm die Lippen, und ein schwaches Feuer wärmte sie. Wenn ich Hal vergessen könnte, würde es gut mit Tinus, dachte sie. Laß mich vergessen – laß mich lernen zu vergessen…
Sechzehntes Kapitel PREMIERE IN LONDON
Roxane war von dem kleinen Haus in Chelsea begeistert. Es stand am Ende einer kurzen Seitenstraße der King’s Road, und über der Haustür lauerte eine weiße Steinkatze einer Steintaube mit der unvergänglichen Anmut dieser Jägerinnen auf, die ständig im Banne der Jagd sind. In einem winzigen Garten voll bunter Blumen nickte purpurroter spanischer Flieder zwischen hohem Holunder und gelbem Goldregen. Aus dem Fenster der Halle starrten die Bernsteinaugen einer blauen Katze mit zweideutiger Langeweile auf das unstete Leben der kleinen Seitenstraße – Frauen mit seidenen Kopftüchern, die kleine Körbe auf Rädern vor sich herschoben, gummibereifte Kinderwagen, zu Füßen des Babys Pakete aufgetürmt, bärtige, langhaarige Künstler mit den klugen, unruhigen Augen der Pseudo-Bohemiens und Mädchen in Hosen und Sandalen, das Einkaufsnetz am Arm. Vom Fluß flogen Möwen herauf und leuchteten vor dem Himmel, der nicht so blau war wie in Afrika. Im Staub pickten eifrig die Spatzen und putzten sich das zerzauste Gefieder. Überall sah man die aufgeräumten Ruinen des Luftkrieges und die Zeichen des Wiederaufbaues. Neue Häuser wuchsen aus der vor mehr als zehn Jahren geschaffenen Verwüstung. Und lustige gelbe, blaue und violette kleine Türen führten in Wohnungen, die sich bereits von den Verlusten und Verheerungen des Krieges erholt hatten. Roxane wurde diese neue und faszinierende Umgebung rasch vertraut. Sie war von ihr ebenso entzückt wie von der
Aufnahme, die sie bei ihrem Gastgeber gefunden hatte. Sie durfte kommen und gehen, wie es ihr gefiel. – Du bist hier nicht zu Besuch, sagte General Williams, du bist zu Hause. Mrs. Maydew, die Haushälterin, gab die günstigsten Berichte über den Neuling. - Man muß sie einfach gern haben, erklärte sie Lucy und Lucys Mann Ned. Gar keine Vornehmtuerei, ganz natürlich. Der General hat sich schon neue bunte Hemden und Schlipse gekauft, seit sie da ist! Ned, der Polizist, gab zu, daß das was zu bedeuten habe. - Genau als ob ihr Frauen euch ‘ne andere Frisur zulegt – das heißt immer, es ist ein neuer Mann im Spiel. - Und gestern morgen hörte ich ihn im Badezimmer singen – singen, stellt euch das vor – den General. - Nein, so was! sagte Lucy, die den General als einen ruhigen Mann kannte, dessen lautestes Geräusch das Ziehen an der Pfeife war. - Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten – das Bild über dem Kamin. Mrs. Maydew senkte die Stimme. Ganz unter uns, ich habe oft überlegt, was Anne Williams dem General bedeutet hat – ein Mann hängt das Bild einer toten Frau nicht jahrelang ins Arbeitszimmer, wenn sie in seinem Leben keine Rolle gespielt hat. - Eher vergräbt er sie im Keller, gab der Polizist zu, und Lucy kicherte. - Hör dir das an! sagte sie atemlos. Immer im Dienst! - Na ja, erklärte Mrs. Maydew, ich ziehe so meine Schlüsse daraus. - Echt Frau! merkte Ned an. Nie achten sie auf Beweise. - In diesem Fall gibt’s keine. - Und wie steht’s mit Miß Roxane? sagte Ned. Das muß doch sein, als hätte man eine Tochter im Haus!
Das Porträt im Herrenzimmer beseitigte die letzte Gezwungenheit zwischen Roxane und ihrem Patenonkel. Es war, als blicke Anne Williams auf sie herab. Lernt euch kennen! schien sie zu sagen. Ihr seid beide Leute, bei denen es sich lohnt. Sie sprachen oft von ihr, und sie wurde das lebendige Bindeglied zwischen ihnen. - Ich war ja erst vier, als ich von ihr getrennt wurde, sagte Roxane. Deshalb kann ich mich eigentlich gar nicht an sie erinnern. Ich habe mir ein Bild von ihr gemacht aus allem, was ich von ihr hörte – aber das war so wenig. Schade, daß man sich der Zeiten nicht erinnern kann, wenn man vier ist. - Manche Menschen können das. - Ich nicht. Übrigens Merle auch nicht. Sie hatte eine französische Gouvernante, als sie vier war, und kann sich auch nicht mehr an sie erinnern. - Das ist bei den Menschen verschieden, gab er zu. Oft stellt man sich das, was einem über frühere Ereignisse und Menschen erzählt wird, vor und hält es dann für wirkliche Erinnerungen. Er lächelte. Eine Phantasie wie die deine könnte große Gebäude auf den unzulänglichsten Grundlagen errichten. In dieser Hinsicht bist du ganz anders als Anne. Sie war glücklich, wenig Phantasie zu besitzen. Kühle Voraussicht, ja. Die brauchte sie für ihre Arbeit. In seinem Äußeren war General Sir Christopher Williams der traditionelle englische Gardeoffizier – groß und schlank, mit einem kurzgeschnittenen Schnurrbart. Das dünn werdende Haar war fast weiß. Seine natürliche, respekteinflößende Art wurde noch durch den Ausdruck der hellgrünen, oft abwesenden Augen verstärkt, die manchmal durchdringend zu blicken vermochten; als ob sie einen durchbohren wollten, dachte Roxane. Diese Augen möchte man für, nicht gegen sich haben! Doch sie waren ganz gewiß ,für’ Roxane und
erwiderten warm ihre offensichtliche Begeisterung, dauernd mit einem Menschen zusammen sein zu können, der ihre Mutter gekannt und für sie gesorgt hatte. Obwohl der General gut sprach, war er durch Veranlagung und Gewöhnung in erster Linie Zuhörer und Beobachter – selten brachte ihn Schweigen in Verlegenheit. Wenn er in nachdenklicher Stimmung seine Pfeife rauchte, kauerte sich Roxane oft in den Sessel ihm gegenüber; die große blaue Katze schnurrte zufrieden auf ihrem Schoß, während das Mädchen irgendein Buch las, aus dem sie etwas über London oder Frankreich lernen konnte. Zu andern Zeiten plauderte sie glücklich über die Abenteuer und Entdeckungen des Tages. General Williams gehörte dem Aufsichtsrat mehrerer Konzerne an. Seine Aufgaben führten ihn oft in andere Städte, und stets lud er Roxane ein, ihn zu begleiten. Sie genoß diese Fahrten, staunte über die Würde manch alter Herrenhäuser in den Parks und über die üppige Schönheit von Rhododendronbüschen, deren Blüten ebenso exotisch waren wie tropische Orchideen. Sie war entzückt von den kauzigen Dörfchen und den kleinen efeubedeckten Kirchen und freute sich an Kricket-Wettspielen auf dem Dorfplatz in der langen Dämmerung, die sich von dem raschen Hereinbrechen des Abends in Afrika so sehr unterschied. Über die Dauer ihres Aufenthaltes wurde nie gesprochen. Stillschweigend wurde vorausgesetzt, daß sie Weihnachten in dem kleinen Haus in Chelsea verleben und vielleicht noch länger bleiben würde. Doch im Innersten wußte sie, daß viel von den Nachrichten aus Dieu Donné abhängen würde. Wenn Großmutter Constance sie brauchte, mußte sie heimfahren. Wie die meisten vornehmen Witwer eines bestimmten Alters hatte der General einige ältere Freundinnen, die ihn als ihren besonderen Schützling betrachteten. Diese erboten sich nun,
seinen jungen Gast in die Londoner Gesellschaft einzuführen. Begeistert nahm Roxane das Anerbieten an. - Wie gefallen dir die jungen Männer bei uns? fragte der General eines Abends, als sie in dem winzigen Garten saßen. - Soll ich höflich oder ehrlich sein? - Muß ich danach fragen? - Nein. Ehrlich, natürlich. Nun – sie kommen mir nicht ganz real vor. - Nicht zäh genug? Sie überlegte. Nein, das eigentlich nicht. Es ist nur alles so oberflächlich. Es sind nicht genug junge Männer da, und nun veranstalten die Mädchen förmlich Jagd auf sie. Alles ist auf den Kopf gestellt. Die Mädchen – oder ihre Mütter – kaufen die Eintrittskarten für die großen Wohltätigkeitsbälle, und dann gibt’s eine furchtbare Balgerei um die Tänzer, so daß selbst nicht sehr anziehende junge Männer den Eindruck gewinnen müssen, wunderbar zu sein. - Du findest sie also verwöhnt? Sie lachte. - Ich glaub schon. - Seit unsere junge Königin auf dem Thron ist, hat das Londoner Gesellschaftsleben wieder Auftrieb bekommen, sagte er. Der Wunsch nach Pracht ist vorhanden. Doch das Geld ist noch knapp. Diese Burschen im Schwimmbassin der Gesellschaft können sich die Diners und Nachtklubs, die Taxen und Trinkgelder nicht leisten. Wenn die Mädchen also Begleiter haben wollen, müssen sie sich auch an der Rechnung beteiligen. Ich bin ein altmodischer Mann. Für mich ist diese Vorstellung abstoßend. Doch es ist eine rein wirtschaftliche Notwendigkeit. Und man muß wohl mit der Zeit gehen. - Zu Hause haben wir in der Beziehung mehr Spaß, erwiderte sie. Wenn ein Bursche und ein Mädchen zusammen ausgehen, können sie prachtvolle Stunden verleben – für beinah nichts – meist im Freien. Man hat so reizende Gelegenheiten zum
Spazierengehen, zum Baden, zum Bergsteigen – und Tanzveranstaltungen, die nicht alle Welt kosten, gibt’s in Mengen. - Wenn ein Bursche und ein Mädchen gemeinsame Inter essen haben – und sich sympathisch sind –, können sie überall prachtvolle Stunden verleben, Roxane. Und es braucht auch nicht teuer zu sein. Diese alte Stadt schenkt ihre Reize sogar dem, der im Oberstock der Omnibusse auf die Suche geht. Gärten und Parks, Museen und Gemäldegalerien kosten keinen hohen Eintritt – da ist der Fluß, das Leben auf dem Fluß. Anne und ich haben viel von London gesehen – auf billige Weise. - War das nach dem Tode meines Vaters? Er schüttelte den Kopf und sog an seiner Pfeife. Der blaue Rauch ringelte sich in die stille Abendluft. Er starrte mit seinen merkwürdig hellen Augen hinaus, als müsse er seine Erinnerungen aus dem Äther holen und sie – erst im Gedächtnis, dann auf der Zunge – sammeln. Mit Worten war er sparsam, selten gebrauchte er zwei, wenn eins genügte. - Das war damals, als deine Mutter zum erstenmal nach Eng land kam, um die Sprache zu lernen – noch bevor sie deinen Vater kennengelernt hatte. - Meinen Vater, Onkel Christopher… erzähl mir etwas von ihm! Doch er antwortete nur kurz. - Ich kannte ihn kaum. Es tut mir leid, Roxane. Ich könnte dir nur sehr wenig von ihm erzählen – im Grunde überhaupt nichts. Gegen diese Wand war sie schon früher gestoßen – bei Großmutter Constance. Das gleiche verschlossene Gesicht, das Wegblicken. Doch irgend etwas an ihrem Patenonkel warnte sie und bestärkte sie in einer Überzeugung, die sie sich bereits gebildet hatte.
Sie sah, daß die starken, gelblichen Zähne auf die Pfeife bissen, und sie fragte sich – wie auch schon Mrs. Maydew –, was Anne Williams für diesen Mann bedeutet haben mochte. Er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, aus dessen Schubfach er zwei Karten holte. - Ach, sagte er, ich hatte vergessen, dir zu sagen, daß ich Plätze für die Premiere des Films Ballerina genommen habe. Es fiel mir ein, daß Adrian Fairmead, der Autor des Buches, ein Nachbar von euch in Constantia ist. Ich dachte, es würde dir vielleicht Freude machen. Er hatte den Verlauf der Unterhaltung wirksamer geändert, als er ahnte. - Wie lieb von dir, Onkel Christopher! Ihre Stimme war plötzlich brüchig geworden. Du denkst auch an alles. Diesen Film möchte ich sehr gern sehen. Alexa Rome war auch eine Zeitlang bei uns im Tal. - Hast du sie tanzen sehen? - Nur im Film. In der Kleinen Seejungfrau und in der Legende. Sie läßt einen nicht los. - Sie ist eine der wenigen großen Tänzerinnen unserer Zeit. In ihr steckt eine neue Fonteyn. - Liebst du Ballett? - Es ist für mich die schönste Erholung. Während des Krieges, bei den Luftangriffen, habe ich mir das Ballett geradezu angewöhnt. Damals gastierte hier ein hervorragendes polnisches Ensemble. Ich ging oft nach der Arbeit hin und vergaß während dieser Stunde alles. Auge und Ohr waren beschäftigt, und der Geist vermochte zu ruhen. Er wurde in eine andere – harmonischere – Sphäre entführt. Er sprach selten vom Krieg – weder von seiner eigenen Tätigkeit während dieser Zeit noch von ihrer Mutter –, doch Roxane wußte, daß er es einmal tun würde. Irgendein Instinkt sagte ihr, daß sie sich erst sein Vertrauen erwerben mußte. Das
Verständnis zwischen ihnen wuchs schnell. Bald würde er ihr erzählen, was sie von Anne Williams wissen mußte. Manchmal dachte sie, daß er seine Agenten und Agentinnen ebenso geprüft haben mochte wie jetzt sie – wie weit durfte man ihnen trauen? Sie blickte zum Porträt ihrer Mutter hinauf. In die ruhigen Bernsteinaugen zu schauen, die schräg und weit voneinander entfernt unter schmalen Brauen standen, war wie ein Blick in den Spiegel. Aber meine Mutter hatte einen anderen Gesichtsausdruck, dachte sie, einen stärkeren Mund und ein festeres Kinn. Ein Gesicht, das das Leben schon gereift hatte. Es war ein schönes Porträt – ziemlich dunkel und verschattet im alten niederländischen Stil. Und dann flog Roxanes Geist aus irgendeinem seltsamen Grund zurück nach Dieu Donné mit seinen düsteren Ahnenporträts und zu dem ihrer ,Freundin’ Sarah de Valois, der jungen Braut aus dem achtzehnten Jahrhundert mit den sanften dunklen Augen und den hingebungsvollen Lippen. General Williams wartete im Herrenzimmer auf Roxane, im Smoking, eine weiße Nelke im Knopfloch. Das Fenster stand weit offen, und der sommerliche Abend roch nach Großstadt und Flieder – Duft und Lärm vermengten sich in der Luft. Den Hintergrund des Lebens hier bildete das Dröhnen des Verkehrs auf der King’s Road; Roxane war schon so daran gewöhnt, daß sie manchmal von der Stille der Nacht aufwachte, um dem kurzen Schweigen zu lauschen, das erst bei Sonnenaufgang wieder verging. Die langen englischen Dämmerstunden waren eine ständige Freude für sie, obwohl sie es ziemlich komisch fand, am hellichten Tage ein Abendkleid anzuziehen. Heute abend war sie nervös. Bei der Premiere mußte sie der Familie Fairmead begegnen, wenn auch keiner sie in der Menge bemerken oder auch nur ahnen konnte, daß sie hier sei. Wie sollten ihre Nachbarn aus dem Tal wissen, daß sie nicht
auf Dieu Donné war und die Löwenhunde mit dem alten Wolf zusammen spazierenführte? Die Königinmutter und Prinzessin Margaret sollten der Vorführung ebenfalls beiwohnen, und alle Welt würde Alexas Triumph in der Titelrolle miterleben. Wie stolz Hal auf seine Frau sein mußte! Roxane besaß keinen Pelz, doch ein hübscher Schal bedeckte ihre nackten Schultern, und das einfach geschnittene Kleid aus den geschickten Händen von Miriam, der Malaiin, betonte die Zartheit ihrer Figur und den sanften Schwung ihres Halses. Als sie ins Zimmer trat, dachte der General, Annes Tochter sei aus dem gleichen Alabaster geschnitzt wie ihre Mutter. Ihre Augen leuchteten vor Erregung, in der er einen Hauch von Besorgnis spürte. Doch vielleicht war das Einbildung. - Du siehst reizend aus! sagte er. Ich bin stolz, mich mit dir sehen zu lassen. Es war Roxanes erste Premiere in London, und sie war nicht auf die Menschenmengen vorbereitet, die sich um das große Kino am Marble Arch drängten. - Solch ein Gedränge wie in London gibt es nirgends, sagte der General, als er die Taxe bezahlte und Roxane durch die schmale Gasse führte, die ein Kordon riesiger, gutgelaunter Polizisten offenhielt. Die Leute lieben solche Aufzüge – ganz gleich, wem sie gelten, einem Filmstar oder der königlichen Familie. Sie nehmen am Leben ihrer Berühmtheiten auf eine ganz unkritische Weise teil, die es kaum anderswo gibt. Im Augenblick genießen sie dich! Wahrscheinlich halten sie dich für eine der Schauspielerinnen des Films. Sie lachte fröstelnd und hängte sich fester an seinen Arm, als ihr die plötzliche Wärme des Massenbeifalls bewußt wurde – die freundlich lächelnden Gesichter, die sie betrachteten –, und zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie eine Ahnung davon, was die Schmeichelei der Menge für einen Star bedeuten mußte – ein mächtigeres Stimulans als Wein, Rauschmittel oder der
leuchtende Blick eines Geliebten. Im Foyer wogten Männer und Frauen in Abendkleidung um eine kleine Gruppe unter dem grellen Licht der Bogenlampen. Photographen warteten mit gezückten Kameras, und Platzanweiser drängten die Leute, ihre Plätze vor dem Eintreffen der Fürstlichkeiten einzunehmen. Roxane blieb das Herz stehen, als sie Adrian Fairmeads grauen Kopf in diesem blendenden Licht sah – daneben den von Hallam, zurückgeworfen, lächelnd, gespannt. Die mörderischen Lampen hoben diese Gespanntheit heraus und betonten sie noch. Und Roxane dachte gequält: Hal, du bist soviel älter geworden! Was ist geschehen, daß du so verändert bist? Und dann klingelte es, und der General sagte: - Ich glaube, wir gehen hinein…
Als Hallam seinen Eltern und Alexa zu den Plätzen in der ersten Rangreihe folgte, dachte er: Mutter und ich gehören nicht dazu. Der heutige Abend gilt Adrian Fairmead, dem Autor der ,Ballerina\ und Alexa Rome, dem Star. Niemals stellte er sich seine Frau als Alexa Fairmead vor. Sie war Alexa Rome, Star des Sadler’s Wells-Balletts und des sagenhaften Filmhimmels von Hollywood. Die Blumen auf dem Balkon rochen wie bei einer Beerdigung, und Hallam verzog angewidert die Nase. Einige Plätze weiter sah er die Mitglieder der königlichen Familie – das anmutige Lächeln der Königinmutter und die herbe Schönheit von Prinzessin Margaret. Er spürte, wie Alexa neben ihm bebte. Wo blieb nur ihre Fähigkeit, sich zu entspannen, Muskeln und Nerven zu beherrschen? Es trieb ihn, ihre Hand zu ergreifen und zu flüstern: ,Mach dir keine Sorgen, Liebste! Erst kommen ja all die andern Dinge – Wochenschau und Lustspiel. Dann die Pause und erst danach dein Film! Und
dann wirst du sehen, wie gut du bist – wie wunderbar –, deine Spannung wird vergehen – und es wird nichts bleiben als das alte vertraute Vibrieren des Erfolgs…’ Doch seine Hand suchte die ihre nicht, es war sein Vater, der sich zu ihr beugte und etwas sagte, worauf sie ihm dankbar zulächelte. Ihre Finger im Schoß lösten sich, locker lagen die kühlen Hände nun ineinander, wie die Disziplin von Jahren es sie gelehrt hatte. Endlich waren die kurzen und doch endlosen Präliminarien vorüber, und die Geschichte der Ballerina rollte in Farben ab. Hallam spürte, wie die Frau an seiner Seite ihn verließ. Ach, Alexa, wie gut ich diese besondere Form der Einsamkeit kenne! Du bist jetzt dort auf der breiten Leinwand wirklicher als im Leben. Du bist Olga, die Primaballerina, die sich in einen Mann aus einer andern Welt verliebt – du versuchst zwei unvereinbare Elemente in deinem strengen Leben miteinander zu verbinden: Liebe und Ehrgeiz. Du bist Olga, der große Star, und verlierst deinen Mann an ein gewöhnliches Mädchen, weil er es nicht ertragen kann, wie ein Hund auf deiner Schwelle zu existieren. Du bereitest dich darauf vor, dich selbst zu töten, weil du zu spät erkannt hast, daß Erfolg ohne Liebe Staub ist – der Staub des Grabes. Doch Hal spürte, daß sein Geist sich gegen die Lösung der Geschichte auflehnte. Nein, sagte er zu sich – und seine Augen blieben trocken, während das Publikum Tränen vergoß. Nein – Alexa würde niemals um der Liebe willen sterben. Ballerinen sind nicht aus diesem Holz geschnitzt. Sie sind hart wie getemperter Stahl, nur ihrer Kunst geweiht. Ballerinen sterben nicht aus Liebe. Adrian und Alexa hatten ihre Plätze auf dem Rang verlassen. Sie waren mit dem grauhaarigen, habichtnasigen Filmregisseur nach vorn gegangen, um sich dem Publikum vorzustellen. Hallam rückte auf den leeren Sitz neben seiner Mutter, als der Beifallssturm losbrach. Eben
stellte der Regisseur Alexa vor. Wie winzig und ätherisch sie dort unten im Scheinwerferlicht aussah – sie hatte den träumerischen Blick einer Studie von Degas. Ach, und jetzt kam sie, die bombensicher wirkende, rührselige Geschichte: - … stelle ich Ihnen unsern Star, Alexa Rome, vor, die es – anders als die Heldin Olga mit ihrem tragischen Schicksal – verstanden hat, Ehe und Mutterschaft erfolgreich mit ihrem Beruf zu vereinigen… Langanhaltender Beifall, Alexa bewegte die anmutig beredten Hände und warf ihren unbeständigen Freunden – ihrem Publikum, ihren Fans – Küsse zu. Die Geburt der kleinen Alessandra hatte sie ihnen noch teurer gemacht. Sie hatten es gern, wenn ihre Sterne menschlich waren… und wir hoffen, Alexa sehr bald wieder bei uns auf der Bühne des Covent-Garden-Theaters zu haben – als Königin des Sadler’s Wells-Balletts! Donnernder Applaus für Alexa – Rufe für den Autor, den Schwiegervater des Stars. O ja, es war eine sehr gute Geschichte, und nachher würden sich die Köpfe nach ihm umdrehen – nach ihm, dem Ehemann. Seine Lippen verzerrte das Lächeln, mit dem er sich selbst verspottete, als Adrian auf der Bühne erschien, unglaublich vornehm die große schlanke Gestalt mit dem leichten Hinken, dem grauen Kopf und dem arroganten, adlerhaften Aussehen eines mythischen Vogels aus Alt-Ägypten. Hal fühlte, wie die eiskalte Hand der Mutter nach seiner griff. Er hörte sie aufatmen, als Autor, Regisseur und Star abermals mit Beifall überschüttet wurden. - Erfolg! murmelte Hal. Triumph, Mutter! Das ist das Lebensblut eines Künstlers – Erfolg! - Erfolg von der Art, wie sie ihn braucht! Er hörte die Bitterkeit in ihrem zischenden Flüstern. Und Adrian nimmt daran teil – es gefällt ihm! Als er so plötzlich ihre Eifersucht erkannte, war er erschüttert.
Endlich war die Bühne leer, und die Königinmutter und Prinzessin Margaret verließen ihre Plätze. In diesem Augenblick, während das übrige Publikum respektvoll wartete – das Licht war voll eingeschaltet, das quälende Thema der Ballerina spielte leise weiter –, sah Hallam Roxane. Sie stand neben einem gutaussehenden älteren Herrn, dessen Gesicht ihm bekannt war. Sie hatten in der Reihe unmittelbar hinter der königlichen Gesellschaft gesessen und erreichten fast gleichzeitig mit Hallam und Lavinia das Foyer. Er hörte den Ausruf seiner Mutter. - Oh, General Williams! Und Roxane – wie kommst du denn… Ach natürlich, sie ist ja Ihre Patentochter. Trotz dem glaubte ich, sie sei in Constantia! Kennen Sie Hallam schon, unsern Sohn? Doch sicher… Das war Lavinia mit ihrer ganzen Überschwenglichkeit und ihrem Charme, sie erwartete Gratulationen – und empfing sie. Hallam sagte: - Roxane – ich kann’s gar nicht glauben – warum habe ich nicht erfahren, daß Sie hier sind? Sie antwortete ihm nicht. Statt dessen sagte sie: - Es war wundervoll – ganz wundervoll! Alexa war so reizend, so herzzerbrechend – ich habe weinen müssen… Ihre Stimme wurde ein wenig heiser, und Hallam spürte, wie die Tränen wieder in ihrer Kehle würgten. Die freudige Überraschung, sie zu sehen, hatte ihn mit unerwarteter Stärke getroffen. Sie war hier, er durfte sie nicht aus dem Auge verlieren. Im Augenblick würde sie fort sein, vom Gedränge verschluckt, und er würde sie nicht wiederfinden können. Das rote Neonschild AUSGANG trennte sie von ihm, wenn er zu dem Sonderzimmer ging, wo die Filmfirma einen Empfang gab. Und er hatte nicht einmal das Recht, sie dazu einzuladen. Der heutige Abend war nicht seine Sache.
Er spürte sie neben sich, von dem Gewühl der Menge gegen ihn gedrängt, und es verlangte ihn danach, ihr Kinn anzuheben und sie genauer anzusehen, in diese klaren Augen zu schauen, die so voller Freude oder Zärtlichkeit sein konnten – aber auch so bekümmert. - Werden Sie uns besuchen? fragte er rasch und drängend. Wir stehen nicht im Telephonbuch, aber rufen Sie mich in meiner Redaktion an – Weekly Post. Bitte, Roxane – versprechen Sie’s mir! Doch sie blickte weder auf noch gab sie eine Antwort, und er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn gehört hatte. Im nächsten Augenblick waren sie voneinander getrennt – Hal und Lavinia auf dem Wege zum Empfang in den Räumen des Direktors; Roxane und ihr Patenonkel im wirbelnden Strom der Oxford Street, wo Alexas Fans noch immer warteten – und weiter warten würden in der Hoffnung auf einen Blick der kleinen Ballerina, ihres Lieblings vom Tage – Alexa Rome.
Siebzehntes Kapitel PARISER ZWISCHENSPIEL
Es war Ende Juni. Juni in Paris! Roxane vermochte es kaum zu glauben. Doch sie war wirklich mit Onkel Christopher hier in dieser schönsten Stadt, die sie gemeinsam studiert und erforscht hatten; denn Onkel Christopher kannte Paris ebensogut wie London. Roxane war von den breiten Boulevards, den Parks und Gärten, den Restaurants mit den kleinen Tischen und Stühlen draußen auf dem Bürgersteig unter lustigen Schirmen bezaubert. Man konnte da in der frischen Luft sitzen, Kaffee oder ein Glas Wein trinken, den Vorübergehenden zusehen und dem hysterischen Hupen der Taxen, dem geschäftigen Durcheinander der Stadt lauschen, die mit ihrer Würde und Frivolität ebenso feminin wie London maskulin war. Gern hörte sie dem tadellosen Französisch ihres Patenonkels zu. - Dir antwortet niemand englisch! sagte sie lächelnd. Sie aßen im Garten eines kleinen Restaurants in Montparnasse zu Abend, wo der General offensichtlich wohlbekannter und geehrter Gast war. - Dafür müßtest du deine Großmutter – Annes Mutter – loben, sagte er. Während der Zeit, da ich als Sprachstudent in ihrem Hause lebte, war mir ausdrücklich verboten, auch nur ein einziges englisches Wort zu sprechen! Und mit meinem Akzent hat sie sich besonders große Mühe gegeben. Sie pflegte zu sagen, wer ein Ohr für Musik habe, könne leicht eine fremde Sprache lernen. ,Der Schwung macht’s, die Melodie und der Rhythmus.’
Am Vormittag hatten sie vor dem altmodischen Mietshaus in Montparnasse gestanden, wo Maman lebte, als Christopher Williams sie kennenlernte. Fünfzehn war sie damals gewesen, ein hübsches frühreifes Mädchen, das Lehrerin werden wollte. - Obwohl Annes Mutter englische Sprachstudenten vom Heer und von der Marine aufnahm, lebte doch nie mehr als einer zur gleichen Zeit in ihrer Familie, hatte Onkel Christopher erklärt. Sie meinte, nichts könne zwei Engländer davon abhalten, in Augenblicken der Entspannung in ihrer Muttersprache miteinander zu reden. ,Sie müssen französisch denken!’ sagte sie immer. Und dabei wies er auf die Fenster der Wohnung, in der Maman mit ihrer verwitweten Mutter und zwei Brüdern gelebt hatte – beide waren in der Widerstandsbewegung und wurden bei dem gleichen Angriff getötet. - Dort im dritten Stock, hatte er gesagt, die mit dem Balkon. Luxus gab es in diesem Heim nicht, Roxane, aber Glück. Sie hatte seinen Seufzer eher gefühlt als gehört. Während der letzten Tage wurde ihre Zuneigung für Onkel Christopher immer stärker. Sie waren im Wagen bis Newhaven hinunter und dann auf dem Fährboot nach Dieppe hinüber gefahren. Von dort aus ging es an der Normandie-Küste entlang durch die Städte und Dörfer, in denen Anne Williams ihre schwere und gefährliche Mission ausgeführt hatte. Sie suchten auch die Stelle auf, wo sie hingerichtet worden war. Die düsteren Baracken, in denen einst die Opfer und Feinde der Nazis gefangengehalten wurden, waren inzwischen niedergerissen worden, und eine Herde Milchkühe graste an diesem Hügelhang. Nur ein grobes Steinkreuz mit einer einfachen Inschrift gedachte jener, die in einem Lager gestorben waren, dessen Name Folter und Erniedrigung bedeutete.
Als sie dort im silbernen Mittagslicht gestanden hatten, klang das Angelusläuten von den Glocken der nahen Küstenstadt – einer kleinen Stadt, die sich bemühte, alle Erinnerungen an die Tragödien auf den Hügeln über ihren Dächern zu tilgen. Onkel Christopher hatte den weißen Kopf entblößt, und Roxane erinnerte sich, daß er wie ihre Mutter katholisch war. Sie hatte gesagt: - Macht es dir etwas aus, wenn ich ein Stück gehe – allein? Und er lächelte ihr dankbar zu. So hatte sie ihn allein dort gelassen und war den Hügel zu dem kleinen Wald auf seinem Gipfel hinangestiegen. Ihr Verlangen nach Bäumen war ebenso groß wie das von Onkel Christopher nach Einsamkeit an diesem Ort, wo Anne gestorben war. Als Roxane unter den Silberbirken stand, wußte sie, daß ihr Mitleid weniger Maman galt als diesem Mann, der sie so tief geliebt hatte.
Gaston, der kleine alte, von Rheumatismus verkrüppelte Kellner, kam an ihren Tisch gehinkt. Roxane wußte, daß auch er eine Rolle in der Resistance gespielt hatte. - Ist mon général zufrieden? - Die Küken waren hervorragend, Gaston – wie immer. Und nun können Sie uns Filterkaffee und Likör bringen – einen Double fine für mich und Créme de Menthe frappée für Mademoiselle. Gaston verneigte sich, doch Roxane sah den verwirrten Blick, den er ihr unter den struppigen Brauen zuwarf, und lächelte vor sich hin, weil sie ahnte, daß seine Verwirrung von ihrer Ähnlichkeit mit jener jungen Frau, ihrer Mutter, hervorgerufen wurde, die diesen englischen Offizier früher so oft hierher begleitet hatte.
Heute abend war Onkel Christopher in mitteilsamer Stimmung. In Annes Heimatstadt zu sein, ihre Wohnung wiedergesehen zu haben, hatte ihn ihr sehr nahegebracht. Die Flut der Erinnerungen begann zu strömen. Er vermochte mit einer neu gewonnenen Freiheit und Ruhe über sie zu sprechen. Die Dämme des Schweigens waren gebrochen, und der Geist der Vergangenheit flutete in die leeren Räume seines Herzens, und er war wieder bei Anne. - Deine Großmutter starb, als Anne etwa zwanzig war, sagte er. Danach kam sie nach England, um Englisch zu lernen und Französisch zu unterrichten. Mittlerweile hatte ich geheiratet, und meine Frau und ich taten alles, um ihr behilflich zu sein. Eines Tages erhielt sie ein Angebot nach Südafrika, um dort ein Kind zu unterrichten, und griff begeistert zu. Neue Abenteuer begrüßte sie stets… Doch während Roxane ihn betrachtete, überlegte sie, ob Anne die Gelegenheit in Südafrika nicht vielleicht deshalb ergriffen hatte, weil sie einer Liebschaft mit einem verheirateten Mann entfliehen wollte. Schmerz durchzuckte sie. Sie kannte die Qualen verbotener Liebe… und Maman war Katholikin gewesen. Falls sie Christopher Williams geliebt hatte, gab es für keinen von beiden einen Ausweg… Plötzlich lächelte der General Roxane zu. - Und ich will dir gleich sagen, meine Liebe, es ist nicht gut, mich nach ihrer Zeit in Südafrika zu fragen! Ich war nicht dabei. Alles, was ich dir sagen kann, ist, daß sie innerhalb eines Jahres zurückkam. Selbst bei denen, die man am besten kennt, gibt es leere Räume – die Lücken in unserm Wissen voneinander. Achte sie, Roxane! Versuche nie, zu tief in das Leben eines andern einzudringen. Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, würde deine Mutter zweifellos noch an der Klosterschule in Kensington unterrichten, wo die Nonnen und die Schülerinnen sie so sehr liebten – doch er kam, kaum drei
Jahre nach ihrer Rückkehr aus Afrika… Er begann von Annes Tätigkeit als Geheimagentin zu er zählen – den Gefahren, den Zeiten der Langeweile, der schrecklichen Isolierung. - Anne konnte das ertragen. Sie war von Natur zurück haltend – sogar verschlossen –, und trotz ihrer Schönheit vermochte sie sich unauffällig zu machen. Sie hatte eher Temperament als Phantasie. Zuviel Phantasie wäre bei ihrer Aufgabe verhängnisvoll gewesen. Sie war eine Frau, die nie mit dem Herzen dachte – wie du es tust, Roxane –, sie dachte mit ihrem kühlen, klaren Hirn. Selbst dort, wo ihr Herz ganz beteiligt war, traf sie ihre Entscheidungen mit dem Kopf. Er hielt inne. Seine merkwürdig hellen Augen schienen auf ein fernes Bild gerichtet, und Roxane hatte das Gefühl, er blicke in die Vergangenheit zurück. - Als der Krieg kam – und sie die Mission übernahm, von der sie wohl wußte, wie sie ausgehen konnte –, entschloß sie sich, dich zu Mrs. de Valois auf Dieu Donné zu schicken. Sie hatte die alte Dame während ihres Aufenthalts in Südafrika kennengelernt und schätzte sie sehr. Es brach ihr fast das Herz, sich von dir zu trennen, doch sie glaubte richtig zu handeln, wenn sie für deine Sicherheit sorgte – dich zu einem Menschen schickte, der dich lieben würde. Und wie ich schon sagte, sie war eine Frau, die bereit war, für ihre Überzeugung die eigenen Gefühle in den Staub zu treten. Der General hob seinen Kognak ins Licht. Er war klar, von warmem Gold – wie Annes Augen oder Roxanes. Es bekümmerte ihn, daß sich kein Weg fand, diesem Mädchen die Mutter – anders als in Worten – nahezubringen, diese Mutter, die das Schicksal ihr entrissen hatte. Und Worte waren so wenig. Er schüttelte den Kopf in einer Geste der Verzweiflung. Roxanes Finger spielten mit dem Strohhalm in ihrer Créme de Menthe frappé. Wie hübsch die grüne Flüssigkeit in ihrem Eisbett lag! Wenn sie nur den Mut finden würde, Onkel
Christopher nach dem zu fragen, was sie so brennend gern wissen wollte! Es war dunkel geworden, und eine Kette feenhafter Lichter erhellte den Garten. Über die Mauer schien grell eine Straßenlaterne, und ihr Strahl spiegelte sich in der Zinnkanne mit dem Filterkaffee, die zwischen ihnen auf dem bunten Tischtuch stand. Der schwarze Kaffee dampfte aromatisch in den kleinen Tassen. Schließlich sagte Roxane: - Onkel Christopher – wie kam es, daß meine Mutter den Namen Williams trug? Er hielt die zerbrechliche Kognakschale zwischen den Handflächen. Eine dünne Rauchspirale stieg von seiner Zigarette im Aschenbecher auf. Eine Weile verging, und ihre Frage blieb unbeantwortet. Doch sie wollte es nicht dabei bewenden lassen. - Meine Mutter ist nie verheiratet gewesen, drängte sie. Es gab keinen John Williams. Ich glaube, das weiß ich im Innersten schon lange. Sie hat deinen Namen angenommen. - Ein kunstgerechtes Verhör, sagte er. Den Sachverhalt vor auszusetzen. Sein schmerzliches Lächeln gab ihrer Vermutung recht. Gestehen wir also ein, daß es keinen John Williams gab. Deine Mutter nahm meinen Namen an – leider nicht durch eine Ehe, doch trotzdem gesetzlich. Das verlieh mir ein gewisses Recht, sie zu schützen – das Privileg einer vorgeblichen Verwandtschaft. - Sie war ebensowenig eine Williams, wie ich eine de Valois bin… Er schien sie nicht zu hören. Er hing seinen Gedanken nach. - Als der Krieg kam, sorgte ich dafür, daß du nach Südafrika fahren konntest. Anne kannte die alte Mrs. de Valois, und als sie dich ihrer Obhut empfahl, schickte sie einen Brief mit, der gewisse Dinge erklärte. Dieser Brief wird dir über geben, wenn du mündig bist.
- Kennst du seinen Inhalt? Sie hatte das seltsame Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein. Sie spielte in einem Theaterstück. Es war diese Empfindung, zwiefach vorhanden zu sein, gleichzeitig zu beobachten und beobachtet zu werden, die sie so oft in Augenblicken der Erschöpfung und emotionellen Spannung ergriff. Doch jetzt gab es keine Erschöpfung, nur ungemeine Erregung. Das Mädchen, das sie beobachtete, stand vor einer lebenswichtigen Erkenntnis. Die Beobachterin hielt den Atem an. - Ja, sagte er langsam. Ich kenne seinen Inhalt. Doch du wirst dich damit abfinden müssen zu warten. Du sollst den Sachverhalt von ihr selbst – und zu der von ihr festgesetzten Zeit erfahren. Die Worte kosteten ihn Anstrengung, und die Erinnerungen, die sie heraufbeschworen, waren schmerzlich. Er kehrte sich von Roxane ab und zerdrückte die Zigarette, die er gar nicht geraucht hatte. Dann fuhr er fort: - Du weißt, daß meine Frau, ehe sie starb, viele Jahre in einem Irrenhaus war. Als ich frei wurde, war es zu spät. Er winkte dem alten Kellner und zahlte. - Es ist seltsam, mon général, sagte der kleine gebückte Mann in seinem raschen verschleifenden Französisch. Nach all den Jahren bringen Sie Madame wieder hierher zurück – und sie ist immer noch jung –, während wir andern der Zeit zum Opfer fallen… General Williams erwiderte: - Nein, Gaston – selbst Madame hätte die Uhr nicht an halten können. Die faltigen Züge des Kellners erhellten sich, und ein Lächeln brach durch. - Aber natürlich, mon général, die neue Generation tritt an unsern Platz – Ihr Fräulein Tochter…
- Meine Patentochter, Gaston. Morgen fahren wir nach England zurück. Aber wir kommen einmal wieder, und dann servieren Sie uns genau wie heute Ihre köstlichen Küken. - Warten Sie nicht zu lange damit! Ich höre bald auf zu arbeiten. Man ist alt geworden – während der Besatzungszeit. Er zuckte die Achseln. - Das ist ein großartiger kleiner Bursche, sagte der General, während sie zum Wagen gingen. Er war während der Besatzung einer unserer zuverlässigsten Verbindungsmänner. Der nüchterne Ton seiner Stimme – die Endgültigkeit darin – war wie das Achselzucken des Kellners: Er schob diese Zeiten der Not und Erniedrigung beiseite. Denn auch der General hatte mit gewissen Erinnerungen fertig werden müssen. Er hatte die Tür zur Vergangenheit zugeschlagen, und Roxane wußte, daß Onkel Christopher ihr alles erzählt hatte, was sie wissen sollte. Während der nächsten Tage fuhren sie durch die schönen Weintäler der Loire und Rhone und sahen die smaragdenen Weinberge in der Sonne leuchten. Roxane sehnte sich bei diesem Anblick nach Dieu Donné. Sie stellte keine Fragen mehr nach Maman. Statt dessen plauderte sie vom ConstantiaTal, von ihrer Kindheit auf dem Gut, das ein hugenottischer Winzer gegründet, als er in einer Zeit religiöser Verfolgungen aus seiner französischen Heimat hatte in die Verbannung gehen müssen. Ehe sie nach England zurückkehrten, sagte ihr der General, was er an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag vorhabe. - Ich schicke dir einen Scheck über tausend Pfund. Tu damit, was du magst! Es wird keine Auflage damit verbunden sein.
Es war August, die ,stumpf sinnige Saison’, da das vornehme London nach Frankreich, Spanien oder an die Seen Italiens
oder Österreichs reist, während die kleinen Leute sich nach Brighton oder Blackpool drängen. Mrs. Maydew hatte ihren vierzehntägigen Jahresurlaub angetreten, und ihre Tochter Lucy half ein wenig aus. - Meine Lucy kann nicht den ganzen Tag abkommen, hatte Mrs. Maydew Roxane erklärt. Ihrem Ned wäre das nicht recht – besonders jetzt, weil doch das Kleine schon bald kommt. Aber sie kann aufräumen, Gemüse putzen und so. Vielleicht können Sie die Besorgungen und das Abendbrot machen. - Ja, natürlich, gern. Ich freu mich schon darauf. - Nur gut, daß es nicht ein paar Monate früher ist! Damals hätte meine Lucy das Frühstück nicht machen können. Ihr war morgens immer schrecklich übel. Aber wenn das Baby erst da ist, gleicht’s den ganzen Ärger wieder aus. In unserer Familie sind die Babys König und Königin. Wir sind alle ganz verrückt danach. Roxane machte es tatsächlich Freude, in der Küche schalten und walten zu können und die Einkäufe zu besorgen. Die King’s Road interessierte und begeisterte sie immer wieder, angefangen von den Antiquitätenläden, in denen sich Möbel und alles mögliche andere türmten, bis zu den ChelseaPensionären, die in der Sonne einherhumpelten und sehr stolz auf ihre schneidigen scharlachroten Uniformen waren. Doch heute hatte sie das Gefühl, in einem Vakuum zu leben. Der General war zu einer Sitzung in Liverpool gefahren und würde erst spätabends zurückkommen; Lucy war mit der verletzbaren Würde ihres Zustandes in die Seitenstraße eingebogen, Roxane hatte ihr vom Schlafzimmerfenster aus nachgesehen und überlegt, wie jene andere Welt beschaffen sein mochte, in die die junge Frau eben zurückging – die enge Welt ihres eigenen Heims, wo die Nachbarn Wand an Wand lebten und die Kinder sich ungebunden, ruppig und dreist wie Spatzen auf den Straßen und in den Gossen tummelten. Das war so reizvoll an
Chelsea: alte Gäßchen, große Blocks mit Luxusetagen und noch größere Mietskasernen gingen ineinander über. Hier gab es kein vornehmes Viertel. Die gleichen Verkehrsstraßen und die gleichen Läden dienten den Bewohnern der Villen und der billigen Mietswohnungen. Roxane hörte den Postboten einen Schlager pfeifen, als er die Post in den Briefkasten warf, dann schnappte die Messingklappe. Warum waren die englischen Briefträger und Milchmänner immer so guter Laune? Und die Polizisten auch. Ob das am Beruf liegen mochte? Sie lief die kleine Treppe hinab. Vielleicht Briefe von zu Hause? Gib, daß Briefe von zu Hause dabei sind! Ja – drei sogar. Herrlich! Plötzlich war der Tag hell – ein singender Tag, mit Gold betupft. Obwohl niemand im Haus war, zog sie sich in die Geborgenheit ihres Schlafzimmers zurück, um die kostbaren Briefe zu öffnen. Sie saß auf dem breiten Fensterbrett, und die Nachmittagssonne fiel mit einem Netz aus violetten und gelben Strahlen auf ihren gesenkten Kopf. Ein dicker Luftpostbrief von Großmutter Constance, einer von Tinus und eine Briefkarte von Merle. Erst den von Großmutter Constance! Sie sah, wie die große graublaue Katze unten im Garten wählerisch an dem Beet vor der sonnenbeschienenen Mauer entlangschnupperte und ihre Schnurrhaare gegen Rittersporn und Dahlien stieß, und wurde von einer fast unerträglichen Sehnsucht nach Wolf ergriffen – nach seinem rauhen Fell und den spitzen Ohren. Vor dem offenen Fenster der Fliederbaum beugte sich unter der Last seiner dunklen Blüten. In der Sonne glühten die Dolden wie die Tokay-Trauben auf Dieu Donné, und die Stimme der Großstadt von King’s Road war wie der Donner des Ozeans an der felsumbrandeten Küste der Kaphalbinsel. In der letzten Zeit war Roxane das Tal ferner gerückt, sie hatte sich mit ihrer ganzen brennenden Natur in die Suche nach
Anne gestürzt. Doch sie wußte, daß das Tal sie nun wieder gefangennehmen würde. Eine kurze Spanne Zeit war sie vor ihren eigenen Problemen in die Schattenwelt von Mamans Vergangenheit geflüchtet, aber nun konnte sie ihre Entscheidungen nicht mehr hinausschieben. Sie strich die dünnen blauen Blätter mit Großmutter Constances eckiger Schrift glatt, und sofort beschwor das geschriebene Wort seine Bilder herauf. Großmutter Constance im Rollstuhl im winterlichen Garten; der Regen, der die kahlen Bäume peitschte und durch das Dach leckte; das knisternde Feuer im Kamin der Bibliothek, und Tinus, der auf der niedrigen Bank davor saß und die Sportnachrichten in der Abendzeitung las, während Großmutter Constance in einem hochlehnigen Sessel an ihrer scheußlichen Häkelspitze arbeitete. Josua, der sanft und grauhaarig mit dem Kaffeetablett hereinkam… Doch warte, Josua und Lizzi hatten Kummer mit Ben: … und wir befürchten, daß er Dagga raucht. Manchmal ist er matt und träge wie ein Tier, und oft ist er jetzt tagelang verschwunden. Ich nehme auf seine Taubheit Rücksicht – aber Josua ist böse auf ihn, und wir wissen, daß sie sich geschlagen haben. Einmal fand Josua eine Fahrradkette bei ihm, wie sie die Einbrecher benutzen. Tinus macht sich auch Sorgen um ihn. Tinus ist in letzter Zeit sehr still. Wir beide vermissen Dein Plaudern und das Leben, das Du in unser altes Haus gebracht hast, aber brich Deinen Urlaub ja nicht ab, um nach Haus zu kommen. Wir werden schon fertig. Amanda Brink stellt sich bei der Buchführung gar nicht so dumm an, und die Arbeit macht ihr Freude. Keinerlei Anzeichen, daß ich einen Urenkel bekommen könnte. Ich glaube, Merle will’s gar nicht! Sie spricht viel von einer Reise nach Europa – vor allem nach Italien. Ich nehme an, daß Deine Fahrt ihren Wunsch noch verstärkt hat – und für so etwas sind kleine Kinder natürlich störend. Da ich gerade an unerwünschte Kinder denke: Ich
höre, Lavinia Fairmead bringt Alexas Töchterchen mit hierher – im Leben einer Tänzerin und eines reisenden Journalisten scheint kein Platz für ein Kind zu sein.’ Roxane lächelte und seufzte. Dieser bissige Ton gefiel ihr. Sie hörte die alte rostige Stimme richtig zuschnappen. ,Louise Krifti hat mir diese Nachricht gebracht. Ohne Tante Hanna ist es still und traurig im Tal – wie im Sommer ohne den Südostwind. Alles irgendwie verkehrt. Und jetzt setzt Mr. Krifti sein Messer an Tante Hannas Grundbesitz. Kauft ihn von den Erben und teilt ihn auf! Scheußlich!’ Roxane legte Großmutter Constances Brief zur Seite und riß den von Merle auf. ,Guy hat verschiedene bedeutende Aufträge – ein, zwei wirklich große Sachen –, und wir wollen eine Europareise machen, ehe er damit beginnt. Doch im Augenblick ist es schwierig, Dieu Donné zu verlassen. Großmutter Constance hat sich Tante Hannas Tod so sehr zu Herzen genommen. Ich möchte sagen, er hat sie erschreckt, weil sie erkannt hat, daß sie selber ja auch nicht ewig leben wird. Seit Deiner Abreise geht es mit ihr bergab. Wär’s nicht Zeit, daß Du Dein Faulenzerleben abbrächest und zurückkämst? Oder hat Dein wohltätiger Patenonkel sich entschlossen, Dich für die Dauer an seiner Seite zu behalten und Dir sein Vermögen zu hinterlassen, wenn er stirbt?’ Zeit, zurückzufahren? Seit sie die Nachricht erhalten hatte, daß Tante Hanna an einem Schlaganfall gestorben sei, fragte sie sich schon, ob sie nicht heimkehren solle. Sie hatte geahnt, was es für Großmutter Constance bedeuten mußte – der persönliche Verlust und die Besorgnis, von der Merle schrieb. ,Tinus kommt gelegentlich zum Essen zu uns herüber’, fuhr Merle fort. ,Diese kleine Schlampe, die für ihn sorgt – Lizzis Nichte Saartje –, probt wieder einmal für eine Veranstaltung der Farbigen-Vereinigung und vernachlässigt den Haushalt auf
eine empörende Weise. Weshalb er sich mit ihr zufriedengibt, kann ich mir nicht vorstellen. Lavinia Fairmead hat Aletta Krike gebeten, noch ein Dienstmädchen für sie zu suchen – eins, das mit Kindern umgehen kann –, da sie ihre kleine Enkelin mit hierherbringt. Töricht von Alexa, so wenig aufzupassen! Wie kann jemand wie sie sich Kinder anschaffen…’ Für Hallams Kind war also kein Platz in Alexas Leben – nicht einmal in Hallams Leben. Armes kleines Ding, ebensogut könnte es eine Waise sein – wie sie selber. Doch so schlecht war es nicht, in Fairway aufzuwachsen – fast so gut wie auf Dieu Donné. Den Brief von Tinus hielt Roxane einen Augenblick in der Hand, ehe sie ihn öffnete. In diesen wenigen Wochen in England hatte sie noch nie einen Brief von ihm bekommen, und es war merkwürdig und angenehm, wie einfach seine Persönlichkeit sich darin zeigte – solide und gesund. Schon seine kräftige, senkrechte Schrift schien ihn selber ins Zimmer hereinzubringen. Als sie sie betrachtete, sah sie den braunen kräftigen Hals aus dem offenen Khakihemd aufsteigen, die feinen goldenen Haare auf den muskulösen nackten Unterarmen, die dichten hellen Wimpern, dunkel an den Wurzeln, und die struppigen blonden Brauen. Sie schloß die Augen und versuchte sich sein trockenes, drahtiges Haar vorzustellen. Sie lauschte dem Nachhall seiner Stimme – langsam und tief in ihrem afrikanischen Tonfall – und seines Lachens, das plötzlich ziemlich hoch war. Und dann drang die andere Stimme durch das dünne Gewebe ihres Traums – samtwarm, mit dem leichten Klang von Spott oder Zärtlichkeit –, die Stimme Hallams, die ihren Seelenfrieden störte. Sie strich sich mit der Hand über die Augen und riß den Brief auf. ,Roxie, Liebling, mein kleines Eichhörnchen, was stellst Du an, wann kommst Du wieder?’ Dann kurze Nachrichten über
das Gut, über Tante Hannas Grundbesitz und Guys Interesse daran. ,Man sagt, Krifti werde Louise überreden, ihren Anteil an den Grundstücken zu parzellieren. In geschäftlichen Dingen überläßt sie ihm doch alles, und sie besitzt nicht unsere Liebe zum Tal. Natürlich bedeutet das für Guy mehr Aufträge. Krifti schiebt ihm alles zu, was er kann. Großmutter Constance ist nicht recht wohl. Sie vergißt in letzter Zeit viel und macht sich darüber Sorgen. Sie vermißt Dich – wie wir alle. Wolf begleitet mich auf meinen Spaziergängen und -ritten. Er ist einsam und ich auch. Komm bald wieder! Die Stürme sind diesen Winter besonders schlimm gewesen; um das Kap hat es viele Erdrutsche gegeben. Und da ich gerade vom Kap spreche: die Paviane im Naturschutzgebiet werden zu einer richtigen Bedrohung der Besucher. Manhaar, der alte Wächteraffe, hat einen sechsjährigen Jungen zu packen gekriegt und ihn so durcheinandergeschüttelt, daß man es für richtiger hält, den wilden alten Burschen zu erschießen. Vielleicht bringen sie sogar die ganze Herde um. Wenn Du die alten häßlichen Paviane also noch einmal sehen willst, mußt Du Dich beeilen!’ Über Lavinia Fairmead und Alexas Töchterchen schrieb er nichts und erkundigte sich auch nicht, ob sie die Fairmeads in London getroffen habe. Das gab ihr zu denken. Vielleicht wußte er instinktiv, daß man gewisse menschliche Beziehungen nicht aus der Ferne erörtern konnte. Worte ohne den Blick der Augen oder den Ton der Stimme, die ihre Bedeutung vertieften oder veränderten, konnten trennen, wo sie einigen sollten. Die Stimmung des Schreibenden war durch Zeit und Raum von der des Lesenden geschieden, und das Verstehen war unter solchen Umständen nicht leicht. Deshalb ließ Tinus die heiklen Dinge einstweilen lieber beiseite und beschränkte sich auf die alltäglichen Mitteilungen – über Dieu Donné und seine Bewohner, über all das, was ihr lieb und vertraut war.
Und wenn ich ihn heirate, was dann? fragte Roxane den Fliederbaum mit den Dolden von leuchtenden Trauben. Erst das Verwalterhäuschen auf Dieu Donné. Dann, wenn Ohm Jakob stirbt, ein Haus auf Tweefontein. Sie preßte die Hände gegen die Lider – da war das Bild. Ein einstöckiges Haus in dem lohfarbenen Veld. Eine Veranda, ein Wellblechdach – die Hitze glühte darunter, oder der Hagel trommelte darauf. Doch auch helle klare Wintertage mit Frost. Eine Allee von staubigen Blaugummibäumen, Weiden auf dem Bewässerungsdamm, an dem das Vieh trank und über den bei Sonnenuntergang wilde Enten flogen. Ausgedehnte Wiesen und ein ferner Horizont, Pferde, Hunde, das metallene Klappern eines Windrades, der Sturm, der über das kahle Veld heulte, den feinen roten Staub vor sich hertrieb und ins Haus schüttete, wie man Paprika in eine malaiische Curry-Schüssel schüttet. Am Abend, wenn die Kinder schliefen und sie mit Tinus beim Radio saß – Nachrichten vom Viehmarkt, Maispreise, landwirtschaftliche Erzeugnisse und Sport, natürlich Sport, besonders Rugby. Tinus war wie die meisten Südafrikaner toll auf Rugby. Auf ihrem Schoß lag das Strickzeug – irgend etwas Nützliches, ein Pullover für Tinus oder ein Jäckchen für eins der Kinder –, und ihre Gedanken waren weit fort, während sie ihm zusah, wie er sich mit der verkrüppelten Linken die unvermeidliche Zigarette drehte oder sich zu dem Hund niederbeugte, der vor dem Kamin lag, zuckte und im Traum jagte. Die Finger preßten sich fester gegen die Lider, bis die Sterne der Nacht hinter ihnen tanzten. Dann würden sie ins Bett gehen, und die Liebe war zur Routine geworden. In seinem tiefen Bauernschlaf – den ganzen Tag war er im Veld draußen gewesen – schnarchte er vielleicht. Schnarchte Tinus? Wie wenig sie, die ihn so gut kannte, von ihm wußte! Vielleicht verlangte er von seiner Frau ,Unterwerfung’.
Albernes Wort mit dem Beigeschmack victorianischer Prüderie. Was dann? Würde sie sich dann im Dunkeln einreden, ihr Liebhaber sei ein anderer – sanft und zärtlich? Doch nein, die Lippen von Tinus konnten fest und wild sein… Wenn sie Tinus zum Mann nahm, mußte sie ihn auch wünschen und lieben. Keinen andern! Er war nicht der Mann, den man im Geist mit einem andern teilte. Sie überlegte, welche Entscheidung ihre Mutter unter den gleichen Umständen getroffen hätte. Was würdest du an meiner Stelle tun, Maman? Du, die ihren eigenen tapferen und gefährlichen Weg zu jenem Hügelhang ging, wo Marter und Tod dir begegneten. Hättest du einen teuren Freund geheiratet – von seiner Hingabe und der Stärke seines Willens bezwungen – und von deinem eigenen Herzen, das sich nach einem Heim und Kindern sehnte und nach Sicherheit? Du hast nie die Sicherheit gesucht, nicht wahr, Maman? Du hast dich nie vor der Zukunft gefürchtet – eigentlich vor gar nichts. Ich weiß jetzt, daß du deinen Geliebten nahmst und sein Kind gebarst. Ich weiß auch, daß an deiner Liebe nichts Leichtsinniges war – so ein Mensch bist du nicht gewesen. Doch wer war dein Geliebter? Ist Onkel Christopher mein Vater? Gehören wir „wirklich so eng zusammen, wie ich manchmal meine? Oder hat es in deinem Leben einen andern Mann gegeben – irgendeinen mit einer furchtbaren Anziehungskraft, der du dich nicht entziehen konntest? Wenn es so war, wirst du deine Tochter verstehen, die sich einen Mann wünscht – der einer andern gehört? Sag es mir! flehte sie in ihrem Innern. Sag mir, was du getan hättest! In leerem Schweigen wartete sie auf die Antwort – doch als sie dann kam, kam sie aus der schmerzenden Wunde ihres eigenen Herzens. Die irrsinnige Sehnsucht nach Hal war ein Splitter, der nicht herausgezogen worden war, der immer noch schwärte
und weiter schwären würde, bis das letzte törichte Verlangen ausgerottet sein würde. Sie erwachte aus ihren Träumen und sah den Brief von Tinus neben den beiden andern auf dem Fensterbrett liegen. Sie faltete ihn zusammen und legte sie in den kleinen Schreibschrank. Als sie die Schublade schloß, dachte sie: Ich bin eine Närrin – was ich tun will, ist verrückt – und es wäre besser, ich ließe es – aber ich tue es trotzdem! Die Sonne war nach Westen gewandert, und das Zimmer war nicht mehr strahlend hell. Roxane sah nach der Uhr. Sechs durch. Um die Zeit war er bestimmt nicht mehr da – vielleicht war er auch beruflich unterwegs. Es konnte nichts geschehen, wenn sie anrief. Das Schicksal würde schon dafür sorgen. Irgend jemand würde ihren Anruf entgegennehmen und sagen: ,Mr. Hallam Fairmead? Tut mir leid, er ist fort – es wird Monate dauern, ehe er zurückkommt…’ Trotzdem stieg Erregung in ihr auf, als sie die Treppe zur kleinen Diele hinunterging, wo das Telephon in einer Ecke stand. Sie nahm das Verzeichnis auf und suchte die Nummer der Weekly Post. Sie fing an zu wählen.
Achtzehntes Kapitel AUSHILFSSEKRETÄRIN
Sie hatte Furcht, er könne ihr rasches Atmen im Telephon hören und die nervöse Erregung spüren, die sie einen Augenblick fast veranlaßt hätte, den Hörer aufzulegen, noch bevor sie mit seinem Apparat verbunden wurde. Dann kam seine Stimme – und der leblose Klang dämpfte ihre Bewegung. Ihr Herz hörte auf zu hämmern, und ihr Ton klang völlig ruhig, als sie sagte: - Sie baten mich damals anzurufen. Aber jetzt habe ich das Gefühl, es ist irgend etwas nicht in Ordnung mit Ihnen. Nichts ist für das Ohr so aufschlußreich, wie eine vertraute Stimme, die sich gehenläßt, im Telephon zu hören. Sie ist nackt, nicht von den Listen des Blicks und der Gesten bekleidet. Erschöpfung, Krankheit, Lächeln, eine Ausflucht, alles enthüllt sich sofort in der körperlichen Stimme, die über weite Entfernungen klingt. Hal erwiderte: - Nichts als Mitleid mit mir selber, meine reizende Roxane. Doch der Humor war nur ein Sonnenschimmer in lauter Nebel. - Hallam Fairmead ist seine kleine Welt unter den Füßen weggerutscht. Hat sich völlig verflüchtigt. Eben gerade, in den letzten paar Stunden. - Können Sie es mir nicht sagen? - Natürlich. Es ist nicht mal dramatisch! Der übliche Verlauf der Ereignisse für Leute, die so leben wie wir – Alexa und ich. Roxanes Mund war trocken, und sie schauderte. Hatten sie sich getrennt? Konnte es aus sein zwischen Hal und Alexa?
- Was wollen Sie damit sagen? - Nur, daß meine Frau eben nach Australien abgeflogen ist – Tournee der Sadler’s Wells-Gesellschaft. Und meine Eltern haben die Zeit genau abgepaßt: Gestern sind sie mit meinem Töchterchen und der Kinderfrau nach Südafrika gefahren. Es hat also keinen Sinn, nach Haus zu gehen – es gibt übrigens sowieso kein Zuhause mehr, weil wir unser Haus vermietet haben und ich in einer Junggesellen-Pension lebe, bis die Familie wieder zusammen ist. Deshalb finden Sie mich hier – an der Arbeit. - Wie schrecklich für Sie, Hal – so öde! - Öde ist genau der richtige Ausdruck. Wo sind Sie im Augenblick? - In Onkel Christophers Haus – General Williams. Er ist mein Patenonkel, und ich bin bei ihm zu Besuch – hier in Chelsea. - Aber dort habe ich Sie doch angerufen – zweimal. Und es hat sich niemand gemeldet… - Wir waren vierzehn Tage verreist – in Frankreich –, und die Haushälterin, Mrs. Maydew, wird wohl gerade Besorgungen gemacht haben, als Sie anriefen. - Heute abend wollte ich’s noch einmal versuchen. Die telepathischen Wellen müssen Sie ans Telephon gezogen haben! Was haben Sie denn vor? Könnten Sie nicht mit mir aus gehen – heute abend? - Onkel Christopher ist verreist, und ich bin allein. Ich hätte große Lust. - Dann kommen Sie doch gleich in die Redaktion. Wir essen irgendwo einen Bissen… - Wie komme ich zur Fleet Street? Nicht mit der Taxe. Ich habe nicht genug Geld für Taxen, und außerdem liebe ich die Londoner Omnibusse. - Sind Sie in der Nähe der King’s Road? - Einen Steinwurf entfernt.
- Dann nehmen Sie den Bus Nummer elf und sagen Sie dem Schaffner, er soll Ihnen an der Shoe Lane Bescheid sagen. Von dort gehen Sie die Gasse hinauf, die gleich an dem schwarzen Glasgebäude des Daily Express abbiegt. Dann ist’s links das vierte Haus, ein hohes Gebäude; mein Büro ist ganz oben. An der Front steht Weekly Post. - Muß ich was Besonderes anziehen? - Um Himmels willen! Kommen Sie, wie Sie sind! Sie kicherte. - Das geht nun auch wieder nicht. Ihr Glück tanzte über die Leitung, schlug winzige Funken und gab seiner Antwort neues Leben. - Mir ist es gleich, was Sie anhaben oder wie Sie aussehen. Ich weiß nur, daß ich vor Verlangen, Sie wiederzusehen, sterbe. Als sie den Hörer hinlegte, brannten ihr die Wangen. Nichts war mehr wichtig. Narrheit und Freude waren ein und dasselbe. Wie toll rannte sie hinauf, um sich ein frisches Sommerkleid anzuziehen. Keinen Hut, keine Handtasche, keine Strümpfe! London war während der Augusthitze ebenso ungezwungen wie das Kapland. Um diese Jahreszeit waren die Parks und Gärten voll junger Leute, die unter den Bäumen – diesen prachtvollen, weitverzweigten englischen Bäumen – dahinschlenderten, auf dem Rasen lagen, in der Serpentine badeten oder zwischen den Weiden darauf ruderten, gleichgültig von den Perlenaugen der Vögel betrachtet. Das war jenes Stück London, das ihr am besten gefiel. Sie goß der Katze ein Schüsselchen Milch ein und verschloß das Haus. Es war fast sieben, als sie in dem großen roten Omnibus aufs Verdeck stieg. In ihren Augen war London sehr schön – traulicher als Paris. London gehörte seinen eigenen Bewohnern, während Paris mit der ganzen Welt flirtete. Paris bedeutete allen Menschen die
verschiedensten Dinge. London war London. Mit plötzlicher Trauer sah sie, daß die Blätter auf den schattigen Schmuckplätzen schon gelb wurden und die lustigen kleinen Blumenkästen in Whitehall unordentlich und von Unkraut überwuchert waren. Auf dem Trafalgar Square wirbelten die Tauben rund um die Nelsonsäule. Nur sie allein kannten die Züge des großen kleinen Seemanns dort oben, der auf die schön geschwungenen Bogen der Admiralität hinüberblickte. Nelson, auf einem Auge blind wie Tinus – und ihm fehlten nicht nur zwei Finger, sondern ein ganzer Arm –, war das Symbol dieser Inselrasse. Zu seinen Füßen kauerten die steinernen Löwen stolz und schützend. Roxane überlegte, wie es aussehen mochte, wenn Schneeflocken um den großen Christbaum, der Weihnachten immer auf diesem Platz aufgestellt wurde, tanzten, wenn dann die Springbrunnen spielten und alles vom Licht der Scheinwerfer übergossen war. Plötzlich wollte sie noch nicht ins Tal zurück. Sie wünschte alle Jahreszeiten hier zu erleben. Doch die Stimmen des Tales riefen, und Roxane wurde hierhin und dorthin gerissen. Der große rote Omnibus ratterte über den Strand, am Temple vorüber, und nun tauchten die Zeitungsgebäude der Fleet Street vor ihnen auf. Der Schaffner kam die kleine Treppe herauf und rief Roxane zu: - Sie sind da, Miß. Die Shoe Lane ist dort links. Sie ging an dem schwarzen Glaspalast der Daily News vorbei die enge Gasse hinauf und blickte zu einem schmalen hohen Gebäude empor – Weekly Post. Im Eingang blieb sie stehen; sie fürchtete sich, und die Kehle wurde ihr eng. Sie hörte das Murren der Druckerpressen – das Rollen der Walzen verkündete die Schlagzeilen von morgen. Sie roch die ungeheuren Ballen gedruckter Neuigkeiten. Doch selbst hier, wo das Lebensblut einer Großstadt durch die Hauptschlagader der Fleet Street brandete, dröhnten ihr die fieberhaften Schläge
des eigenen Herzens in den Ohren. Roxane strich sich übers Haar und warf einen raschen Blick in den kleinen Spiegel ihrer Puderdose; dann fuhr sie ein kurz angebundener Liftboy zum obersten Stock hinauf. - Mr. Fairmead? In seinem Büro am Ende des Ganges. Sie hörte, wie er den Stuhl zurückschob, als sie an die Tür klopfte. Sie stand vor ihm und hielt seine beiden Hände. - Roxane! Wie ich mich freue, Sie zu sehen! - Ich auch… Ihre Stimme war wieder ein wenig brüchig. Wie gut er sich dessen entsann! Er hätte sie in den Arm nehmen und das Gesicht in ihr Haar drücken mögen. Er sehnte sich nach ihrer Wärme und Kameradschaft als Befreiung aus der leeren, schmerzenden Einsamkeit und der Enttäuschung, die auf ihm lastete. Statt dessen ließ er ihre Hände los und sagte: - Setzen Sie sich einen Augenblick, während ich hier schnell Ordnung mache! Dann gehen wir. - Machen Sie ruhig Ihre Arbeit erst fertig, erwiderte sie. Ich sehe mir London an. Als sie zum Fenster hinüberging, zitterten ihr die Knie. Im Osten konnte sie die Kuppel von St. Paul im Abendlicht schimmern sehen; und im Westen senkten sich Dächer und Schornsteine zum Strand und zum Fluß hinab. Tauben, Sperlinge, sogar Möwen flogen um sie her. Während sie Hallam den Rücken kehrte, vermochte sie sich allmählich zu sammeln. Sie hörte ihn sprechen. - Es tut mir leid, daß ich Sie warten lasse. Ich bin ein bißchen in Verlegenheit. Meine Sekretärin hat Urlaub – im August haben alle Urlaub –, und ihre Vertreterin ging gestern mit Blinddarmentzündung ins Krankenhaus. Es ist wirklich so, als ob alles auf einmal kommen mußte. - Kann ich Ihnen helfen? Ich bin selber eine ganz brauchbare Sekretärin. Ihr Herr Vater würde mir gewiß eine Empfehlung geben.
Er blickte ihr in die lachenden Augen. - Das wäre wirklich die Rettung! Können Sie den Posten für drei Wochen übernehmen? In ihrem Innern blitzten die roten Gefahrenzeichen auf, doch sie erwiderte: - Warum nicht? - Von morgen an? - Wenn Sie wollen, von morgen an. Sie sind ein großartiges Mädel, Roxane. Ich habe da eine Theorie: Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt. Die eine, die Schwierigkeiten macht, und die andere, die Schwierigkeiten behebt. Sie gehören Gott sei Dank zur zweiten Sorte. Sie kam zum Schreibtisch und stand neben seinem Stuhl. - Also fangen wir an… - Nein – jetzt nicht. Jetzt gehen wir aus. Am Fluß ist ein kleines Lokal, wo wir essen können – gerade recht für einen heißen Abend. Etwa eine halbe Stunde zu fahren. Ein verstanden? - Ausgezeichnet. - Dann zieh ich mir die Jacke an und wasche mir die Hände.
Grün senkten sich die Uferbänke und Wiesen der altenglischen Gastwirtschaft zum Fluß hinab. Hal und Roxane saßen in dem kleinen Bauerngarten mit den großen Kastanienbäumen. Eine Blutbuche glühte wie dunkler Wein, und die grünen Blätter der Birken zeigten die ersten Spuren von Gold und Bernstein. Man hörte das Plätschern der springenden Fische und sah Wolken von Mücken über dem Wasser. Aus den Booten und Kähnen klangen leise Stimmen auf – manchmal ein Kichern. Vogeltriller zitterten durch das Laub der Bäume am Flußufer.
- Unsere Vögel singen anders als Ihre, sagte Roxane. Sie rufen und pfeifen, aber vor allem reden sie – gewöhnlich Afrikaans –, ,Piet my vrouw’ sagen sie oder ,werk stadig, werk stadig. Die Kaptauben rufen das den ganzen Tag: ,Werk staaadig – arbeite langsam!’ Als ob in Afrika irgend jemand anders arbeitete! Er lächelte und faßte ihre Hand. - Es macht Freude, Sie hier zu haben – ein Hauch aus Ihrem reizenden Tal. Lächelnd zog sie die Hand zurück. - Und Ihre Bäume, fuhr sie fort. Wir bilden uns sonst was auf unsere Eichenbüsche und Silverbome und Proteen ein, aber schauen Sie sich Ihre Kastanien an! Und die Rhododendren wie Orchideen – und Azaleen wie Schmetterlinge… - Warten Sie bis zum Herbst! Dann fahre ich Sie durch die Birkenwälder in Chiltern. Dann wechseln sie die Farbe – am schönsten werden sie sein, wenn ich von meiner nächsten Reise zurückkomme. Im Herbst bin ich nicht mehr hier, dachte sie, sagte aber: - Wohin geht Ihre nächste Reise? Das Lachen machte seine Augen hell, und die eine Braue hob sich. - In drei, vier Wochen fahre ich nach Westindien, um den Ursprung der – na, sagen wir mal – der farbigen Invasion in Großbritannien zu untersuchen. - Farbige Invasion? Auch sie lachte. Sie meinen die vielen Schwarzen in London? Ihretwegen fühle ich mich hier ganz zu Hause. - Sie sind nicht nur in London. Sie finden sie in allen unsern Industriegebieten. Tausende erhalten dort Arbeitsplätze, aber soundsoviele gehen leer aus und leben von der Arbeitslosenunterstützung – der Steuerzahler ist allmählich verstimmt darüber. Meist kommen sie von den Karibischen
Inseln, doch es gibt auch eine große Zahl von Afrikanern in unserm kleinen Land. - Die Engländer lassen sich irgendwo in sonnigeren Ländern nieder, um den hohen Steuern zu entgehen, und die Schwarzen kommen nach Europa! Nächstens haben Sie hier auch noch Rassenprobleme. - Die haben wir schon, sagte er. In der Industrie hält man es bereits für verkehrt, einen Schwarzen einzustellen, wenn ein Weißer zur Verfügung steht, und bei einer Produktionseinschränkung, heißt es, müsse man zuerst die Schwarzen entlassen – außerdem paßt es den weißen Arbeitern nicht, plötzlich Schwarze als Aufseher zu haben. Kennen Sie diese Symptome? Seine Belustigung spiegelte sich in ihren Augen, als sie erwiderte: - Die Symptome einer milden Form von Rassentrennung. - Und gerade die Leute, die über die Rassentrennung bei Ihnen zu Hause am lautesten schreien, möchten sie nun in unsrer Industrie am ersten angewandt sehen. So geht das eben. Wer selber keine Rassenprobleme hat, weiß die der andern Länder am besten zu lösen. - Eins verstehe ich nicht, sagte sie. Wie kann diese kleine Insel die vielen neuen – Ansiedler erhalten? Im Grunde genommen sind es ja neue Ansiedler. Sie haben doch gewiß Einwanderungsgesetze für so etwas? - England ist immer noch die alte Mutterhenne, liebe Roxane. Solange unsere Gesetze nicht geändert werden, haben die Bewohner der Dominien und Kolonien hier ebenso viele Rechte wie die Engländer. Der von den englischen Steuerzahlern getragene Wohlfahrtsstaat ist ihre Märchenfee. Und die Burschen in Jamaika haben das genau erkannt. Sie verdienen hier mit der halben Arbeitszeit doppelt soviel wie zu Hause – und sind sie arbeitslos, kriegen sie das Nichtstun
bezahlt. Kein Wunder, daß der Pilgerstrom ins ,Alte Land’ immer stärker wird. - Das mag die Engländer hart ankommen, meinte sie. - Dieser Gedanke ist den Engländern jetzt auch gekommen, stimmte er zu. Deshalb schickt mich meine Zeitung zu den Karibischen Inseln. Ich suche mir irgendein malerisches Wesen und verfolge seine Abenteuer von den Zuckerrohrplantagen seines Landes bis zu seinem ruhmreichen Aufstieg in unsern englischen Fabriken. Armer Kerl! sagte sie. Ich glaube, er tut mir jetzt schon leid! Sie waren zum Fluß hinuntergeschlendert. - Macht Ihnen das Reisen wirklich Freude, Hal? fragte sie. Immer in einem andern Land auf der Suche nach neuen Geschichten? - Es ist eine gute Übung, sagte er und wich einer Antwort aus. Ich erfahre etwas über das Leben, über Menschen und Länder, ich lerne, über sie zu schreiben und die uralten, immer gleichbleibenden menschlichen Dramen in den dauernd wechselnden neuen Bedingungen zu erkennen. Sehen Sie, eines Tages möchte ich mich irgendwo festsetzen und wirklich schreiben – Romane. Ich möchte Land haben – Bauer sein. In der Familie meiner Mutter waren alle Gutsbesitzer, daher habe ich diese Liebe. Aber jetzt noch nicht. Ich habe noch nicht genug erlebt. Wenn ein Mensch gut schreiben soll, muß er erst erleben… - Erleben? Sie haben noch nicht genug erlebt? Sie, der das Dschungel-Journal geschrieben hat und diese bemerkenswerten – diese erfolgreichen satirischen Kalifornischen Tagebücher! Sie sind Soldat gewesen und Journalist, Sie haben für die Weekly Post die ganze Welt durchstreift und Bücher veröffentlicht, die alle Welt liest. Sie haben einen Namen und einen Ruf. Wie können Sie sagen, Sie
hätten noch nicht genug erlebt? Sie brach ab und biß sich auf die Lippen. Und… Sie begann und brach wieder ab. - Und, drängte er. Was noch? Ihre Worte überstürzten sich: - Wenn die Ehe mit einer der größten Tänzerinnen der Welt nicht Erlebnis ist, was wäre es dann? Zynisch verzog sich sein Mund, und plötzlich erschien er ihr wie Adrian. - Es heißt immer, jeder junge Autor schreibt seinen ersten Roman über sich selbst – eine uneingestandene seelendurchforschende Biographie. Das habe ich nicht vor. Ich will weder meine Seele noch meine Ehe sezieren. Wenn in der Ehe mit einem Filmstar besondere Probleme liegen sollten, überlasse ich es gern irgendeinem andern braven Tölpel, sie auf Papier auszuschlachten. Was ich durch die Ehe vom Leben gelernt habe, wird auf Umwegen in meine Arbeit eingehen müssen – aber später, viel später, wenn ich noch mehr vom Leben erfahren habe. Er hakte sie unter und führte sie vom Fluß zu der erleuchteten Gastwirtschaft zurück. - Ich habe Hunger, sagte er. Sie auch? Die Bitterkeit in seiner Stimme erschreckte sie, und sie war froh, als sie an einem Tisch in dem holzgetäfelten Speisezimmer saßen. Sie blickte sich in der alten Posthalterei um: geschwärzte Balken, unebene Dielen, ein großer offener Herd, von rosigem Kupferschimmer und blauem Zinnglanz umgeben – Behaglichkeit, Gemütlichkeit, Geschichte und ein Gefühl vergangener Zeiten. Vor diesen Dingen sah sie Hal – diesen neuen, angespannten Hal, dessen Haut zu dünn war. Ein englischer Kellner bediente sie ohne Unterwürfigkeit und mit weniger Interesse für die servierten Gerichte als für die letzten Fußballergebnisse, die er ernsthaft mit Hal erörterte. Ganz anders als der alte Gaston in dem Restaurant auf dem Montparnasse, in dem sie mit Onkel Christopher gegessen
hatte! Sie erzählte Hal von Gaston, von der Reise mit ihrem Patenonkel und von Anne und ihrer Tätigkeit. Nach einer Weile begann sie aus Hallams Bemerkungen zu erkennen, wie beträchtlich der Einfluß ihres Onkels auf den Ausgang des Krieges gewesen war. - Sir Christopher Williams hat einen ungeheuren Ruf, sagte er. Als er im Krieg den Secret Service übernahm, hat er Wunder vollbracht. Unsere Zeitung ist erst neulich an ihn herangetreten, ihr seine Memoiren zu überlassen, doch er schwört, er habe nie welche geschrieben. - Das hat er auch nicht, erwiderte sie. Er erklärt, die wesentlichen Dinge vermöge er aus Gründen, die auf der Hand lägen, nicht zu Papier zu bringen, und das übrige könne ein anderer ebensogut, wenn nicht besser schreiben. - Er soll ein ziemlich unangenehmes Original sein! Sie lächelte. - Nur bis man ihn kennt. Zuerst war ich auch sehr eingeschüchtert von ihm. Aber jetzt nicht mehr. Er spricht nie, ehe er nicht etwas Wesentliches zu sagen hat. Ich möchte annehmen, seine Stellung hat ihn daran gewöhnt, den Mund zu halten. - Ich würde eher glauben, seine Gewohnheit, den Mund zu halten, hat ihm seine Stellung eingetragen! Nicht jedem liegt es, zu plaudern, Roxane. Mir auch nicht. Eigentlich ist er gar nicht so hart und schweigsam. Während sie über ihn nachdachte, faltete sich ihre Stirn – wieviel Zeit er für sie hatte, wie er sich bemühte, sie zu interessieren! Für Geschichte hat er sehr viel übrig. Er macht die alten Dinge richtig lebendig, wenn er sie in ihrem Zusammenhang erklärt! Ich war ganz begeistert, als er mich zum Tower und zum Palast in Greenwich, nach Westminster und zum Hampton Court mitnahm. O Hal, die Westminster Abbey! Wochen könnte ich dort zubringen und die Geschichte Englands lernen. Alles ist
da – die Krieger und Dichter, die Könige und Königinnen… Ach, und in der Paulskirche sind wir gewesen! Ich glaube fest, daß Nelsons Geist sie während der Luftangriffe beschützt hat. Onkel Christopher ist auch nach Portsmouth mit mir gefahren… Überall gibt es so viel zu sehen und zu tun – und meine Zeit fliegt vorüber… - Wann fahren Sie zurück? - Ich hatte gehofft, bis Weihnachten bleiben zu können, aber ich sehe keine Möglichkeit. Nach den Briefen von daheim werde ich auf Dieu Donné gebraucht. Vielleicht noch ein paar Wochen… Es war fast Mitternacht, als Hal mit seinem Wagen vor dem kleinen Haus in Chelsea hielt. Im Arbeitszimmer brannte Licht. - Onkel Christopher ist zurück, sagte Roxane. Wollen Sie mit hereinkommen? - Ja, sagte er. Nur für eine Minute, um mich zu vergewissern, daß es auch wirklich Ihr Onkel Christopher ist. Wir sind schon einmal auf Licht in einem leeren Haus hereingefallen. Erinnern Sie sich, damals in Johannesburg? – Aber das ist jetzt unser ,Gute Nacht’. Als er sie in die Arme zog und ihre Lippen küßte, wehrte sie sich nicht. - Keine Sorgen, Liebste! flüsterte er. Das ist alles – nur ein einziger kleiner Kuß. Schönen Dank, daß Sie mit mir ausgegangen sind. Ich bin so froh, daß Sie hier sind, daß ich heute abend mit Ihnen zusammen war, und noch viel froher, weil ich Sie morgen wiedersehe – und jeden Tag, bis ich fahre…
Niemals nahm General Williams Stellung zu Roxanes Tätigkeit bei Hal Fairmead. Ebensowenig hielt er sie davon ab,
eine Schiffskarte nach Südafrika zu bestellen. – Es tut mir leid, meine Liebe, sagte er. Ich habe mich sehr an den Geist der Jugend in diesem Junggesellenheim gewöhnt, und es wird mir nicht leichtfallen, mich wieder mit der alten Stille abzufinden. Doch ich will schon zufrieden sein, wenn du dieses Haus als deine zweite Heimat betrachtest. In den nächsten drei Wochen sah der General sein Patenkind nur selten, und vielleicht ahnte er, daß ihre Platzbestellung für das Schiff das Amulett gegen eine Gefahr war, die er nur mutmaßen konnte. Manchmal kam Hallam in das kleine Haus in Chelsea, über dessen Tür die weiße Steinkatze der Steintaube auflauerte, ohne daß die eine sich je bewegte oder die andere je davonflatterte. Der alte Herr bemerkte, daß der junge Journalist nie unaufgefordert über seine berühmte Frau sprach, sich jedoch in Gedanken viel mit seiner kleinen Tochter, die bei der Großmutter in Südafrika lebte, zu beschäftigen schien. Er bemerkte den neuen Rhythmus in Roxanes Bewegungen, den glücklichen Ton in ihrer Stimme, den Schwung der schmalen Hüften und das Leuchten der Augen. Und es beunruhigte ihn merkwürdig, daß Alexa Romes Ehemann in der kleinen Alessandra eine so kostbare Geisel besaß. Roxane und dieser junge Mann werden sich gegenseitig sehr weh tun, dachte er und spürte dabei den Stilettstich der Eifersucht. Er vermochte es nicht zu ändern – jeder empfing die eigenen Wunden der Liebe. Roxane wußte, daß Hallam verheiratet war – noch dazu mit einer Frau von seltenen Gaben –, wie hätte er also warnen können? Nimm dein Herz an die Kandare, meine Kleine, denn dir fehlt die stolze Unabhängigkeit jener anderen, die den Folgen ihrer Taten ins Auge zu schauen vermochte, ob sie nun Leben oder Tod mit sich brachten… Roxane genoß es voller Entzücken, wie eng und einfach das Verhältnis zwischen ihr und Hallam trotz manchen unausgesprochenen Vorbehalten geworden war. Der
August war der ruhigste Monat in der Redaktion, und Hal konnte sich oft Zeit nehmen, London mit Roxane zu entdecken. Genau wie sie seine Führerin im schönen Kapland gewesen war, so führte er sie jetzt durch diese großartige Stadt. Sie gingen auf die Märkte und Docks, fuhren mit dem Ausflugsdampfer den Fluß hinab, und Hal erzählte ihr von den alten Handwerkerinnungen der Stadt und von der Romantik des Überseehandels. Er führte sie ins Parlament in Westminster, zeigte ihr die Geländer, an denen sich die ersten kämpferischen Suffragetten selbst angekettet hatten, und die berühmten Krankenhäuser, die sich so heftig gegen die Aufnahme von Medizinstudentinnen gewehrt hatten. - Ihrem Geschlecht schlossen damals Vorurteil und Unduldsamkeit jede Tür, sagte er. Die frühen Suffragetten und die ersten Medizinstudentinnen wurden gesteinigt und verachtet – und wie ist es jetzt? Ärztinnen, Anwältinnen, sogar Frauen als Minister! Sie lachte. - Soll ich mir das anziehen? - Wie Sie wollen, meine kleine Südafrikanerin. Vergessen Sie es nicht – man kann die Woge des Fortschritts nicht für immer hemmen, die Emanzipation der Menschen. Früher oder später brechen die Deiche. An warmen Tagen gingen sie in den Parks spazieren, segelten oder fuhren hinaus in die kleine Gastwirtschaft am Flußufer. Roxane nahm die zeitliche Beschränkung von Hallams Gesellschaft mit Philosophie hin. Schon war das Ende der Freude in Sicht, doch sie würde sich ihrer immer erinnern dürfen. Wie klug Onkel Christopher gewesen war, als er sagte, die einfache Weise, London zu genießen, sei die beste. Täglich erfuhr sie, wie wahr das sei. Hallams Sekretärin kam aus dem Urlaub zurück, eine dunkle, männlich aussehende junge Frau, von Sonne und Meer
gebräunt; ihre Rückkehr ins Büro erschien Roxane als der letzte Meilenstein vor dem endgültigen Abschied. Doch immer noch sah sie Hallam oft, denn ihr Beisammensein war sein Haupttrost in der Verlassenheit der Gegenwart und der Furcht vor der Zukunft. Der September kam, die Waschkleider wurden im Koffer verstaut und die Kostüme hervorgeholt. Gelbes Laub tanzte über die Straßen, und in den Schaufenstern der Blumenläden hoben die gelockten Chrysanthemen ihre Köpfe. Daheim im Tal der Reben würde der leichte Tritt des Frühlings jetzt seine blühenden Fußspuren hinterlassen und der Berg mit Silber und Gold überhaucht sein. Hal und Roxane schlenderten nach Whitehall zu. - Das Alte gefällt mir am meisten, sagte sie. Wohin man auch geht, was man auch tut, überall begleitet einen die Vergangenheit. Die Geschichte Ihrer Insel lebt überall mit Ihnen – von Stonehenge bis zu den Glasfenstern in der Abbey für die Soldaten des letzten Krieges. - Ich kann verstehen, daß Sie das stark anspricht, stimmte er ihr zu. In der Geschichte Afrikas gibt es so große dunkle Lücken. Sie haben ihre Vorgeschichte, die Entdeckung der Vor- und Frühmenschen – und dann die junge Geschichte der weißen Besiedlung… - Und wie jung die ist! Kaum älter als Dieu Donné! Sie blieben stehen, um die schwerfälligen Lastkähne zu beobachten, die von der Flut stromauf getragen wurden. Der Abend war voller Altweibersommer und von zarter Aprikosenfarbe. Hallam sprach von Afrika und spürte seine Lockung im Blut. - Jahrtausende voller Geheimnisse, Roxane – dann erkundeten die frühen portugiesischen Seefahrer die Küsten, um fuhren das Kap auf dem Wege nach Ostindien – später die
Errichtung einer Handelsstation der Holländischen OstindienKompanie und die erste Besiedlung Südafrikas. - Das waren die Holländer, sagte sie, die burischen Viehzüchter, die die Schiffe mit Fleisch versorgten. - Ja, jene Grenzbewohner, die die Gesetze nicht erreichten. Können Sie sich ihr Leben vorstellen? Nomaden, die dem grasenden Vieh folgten wie die Kaffernhirten, ihre Feinde. Die Buren bewegten sich nach Norden, die Kaffern nach Süden… Der einzige Kultureinfluß in ihrem Leben waren die Bibel, der Wanderlehrer, der jüdische Händler mit dem Eselwagen und ein gelegentlicher Treck nach Kapstadt. Kein Wunder, daß diese alten Grenzburen ein dickköpfiges Geschlecht erzeugten. Die Krempe seines weichen Hutes beschattete die Augen, und die Narbe auf seiner Wange erinnerte sie daran, daß auch er das Leben außerhalb des Gesetzes kennengelernt hatte. - Immer versuchen Sie, sich in die andern hineinzuversetzen, sagte sie. Das ist das Besondere an Ihnen – die Toleranz… Er blickte sie an und lächelte. - Ich bin Journalist – Auslandskorrespondent. Wenn man die heutigen Probleme eines fremden Landes verstehen will, muß man schon ein wenig von dem lernen, was dazu geführt hat. Schließlich ist die Geschichte eines Landes die Geschichte seiner Menschen. Sie gingen ostwärts am Fluß dahin, und als sie an zwei afrikanischen Studenten vorbeikamen, sagte Roxane: - Diese Männer sind dunkler als unsere Eingeborenen – negroider. Die beiden jungen Männer trugen Bücher unter dem Arm. Ihre dunklen Gesichter glänzten unter den breitkrempigen hellen Hüten wie exotische Masken. Beide hatten Brillen auf, und Roxane fragte sich, ob sie sie wirklich brauchten oder ob sie sie nur trugen, um ihren akademischen Stand zu betonen.
- Westafrikaner von der Londoner Universität, möchte ich annehmen, sagte Hal. Vielleicht Staatsmänner der Zukunft. Endlich erreichten Hal und Roxane einen großen Block kleiner Wohnungen, die nach Whitehall und zur Themse hinausgingen. Die Dämmerung war gekommen und die Luft über ihren Köpfen von einem stählernen, unirdischen Pfeifen erfüllt. Es war die Stunde der Stare. - Hören Sie! sagte Roxane, als sie vor dem Eingang stehen blieben. Ein verrückter Ton – man fröstelt dabei. - Ich wollte, wir wären sie los, erwiderte er. Es ist fast wie der Lärm einer Cocktail-Party – man darf gar nicht darüber nachdenken, sonst wird man verrückt. - Wir haben Stare mit roten Flügeln im Tal – die Sprus – , und wenn sie in Scharen auf einer Kiefer sitzen, machen sie auch diesen Lärm. Doch einzeln haben sie einen traurigen Ruf – ein Klagelied in Moll. - Erinnern Sie sich noch des Eingeborenentanzes, den wir in Johannesburg gesehen haben? fragte Hallam. Dieses Kriegstanzes auf der Mine? Sie nickte. - Dann hören Sie noch einmal zu! Dieses Pfeifen der Stare ist wie der wilde Kriegsschrei der Eingeborenen. Sie sah mit großen Augen zu ihm auf. - Wie seltsam, daß Sie sich dessen hier erinnern – im Herzen von London! Aber Sie haben recht.
Sie war schon vorher manchmal in seiner Wohnung gewesen. Doch an diesem Abend war es anders. Morgen sollte er nach Westindien fliegen, und wenn er zurückkam, war sie abgereist. Seine kleine Wohnung im achten Stock ging auf den Fluß hinaus. Die Möbel im Stil der Jahrhundertwende wirkten solide und gemütlich. Er hatte ein Wohnzimmer, ein
Schlafzimmer und ein Bad. Keine Küche; die Mieter konnten entweder unten im Restaurant essen oder sich etwas heraufschicken lassen. Diese Atmosphäre empfand Roxane als seelenlos und unpersönlich. Außer einer Zigarettendose, die aus dem Fernen Osten stammte, und einer gerahmten Aufnahme seiner Frau und Tochter hatte Hallam nichts in diese zeitweilige Behausung mitgebracht. Ihr eigenes elegantes Haus in Westminster war auf sechs Monate möbliert vermietet. Dies hier war ein bloßer Notbehelf. Roxane stand am Fenster und schaute auf die Bäume und die ersten Lampen hinunter, deren Schein sich im dunkel werdenden Wasser der Themse spiegelte. Eine Stadt am Strom – wie schön das war! Ein Bild, das man bewahren mußte, um es mit ins Tal zu nehmen. - Was haben Sie nach den Karibischen Inseln vor? fragte sie. Hinter sich hörte sie das Klirren von Gläsern, während er Whisky und Gin aus dem Schrank nahm. - Leider habe ich keinen Tomatensaft, Sie werden sich mit Gin und Selterswasser begnügen müssen… Er schenkte ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Nach den Karibischen Inseln – etwas ganz Interessantes. Erst hierher zurück, dann im Oktober nach Nigeria, Goldküste, durch den Kongo, Kenya, die neue Rhodesische Föderation und Weih nachten in Südafrika. Sie sind Weihnachten in unserm Tal? Sie ahnte nicht, wie der Bruch in ihrer Stimme sie verriet. - Ich habe es eben erfahren. Meine Zeitung war so anständig, mir diese Möglichkeit zu geben. Aber wir hatten schon darauf gehofft. Alexas Truppe besucht Südafrika nach der Tournee in Australien und Neuseeland. Wenn die Fahrpläne stimmen, werden wir Weihnachten alle zusammen am Kap sein. - Deshalb hat Ihre Frau Mutter Alessandra auch mitgenommen? - Teils.
Da sie die Augen geschlossen hatte, hörte sie den Ton seiner Stimme sehr deutlich – als sei ein Draht durch das Gewebe gezogen, um es zu stützen. - Das wird für Ihre Eltern sehr schön sein – für Sie alle. Er antwortete nicht. Er stand neben ihr und starrte hinunter auf die Themse. Er wollte mit ihr sprechen – ihr alles erzählen –, er wollte sagen: ,Ich fürchte mich davor, ich fürchte mich vor Weihnachten!’ Alexa und ich, wir müssen uns dann entscheiden – so kann es nicht weitergehen. Wir müssen dann zusammenkommen – wirklich zusammenkommen – oder…’ Sie war zur Seite getreten und hatte die gerahmte Photographie aufgenommen. - Alexa mit einem Baby – irgendwie erscheint das seltsam. Ich sehe sie immer vor mir wie in der Ballerina – ihr vollendetes Tanzen… Es war kein gutes Bild. Das bleiche Haar fiel der Tänzerin ins Gesicht, eine dünne Hand umklammerte den Rücken eines winzigen Bündels. Sie schienen völlig anonym – nicht Alexa Rome oder Alexa Fairmead und Alessandra, Hallams Tochter, sondern einfach: Frau mit Säugling. - Ich finde dieses Bild bedrückend, sagte sie. Man möchte darum herumgehen – es aus einem anderen Winkel sehen… - Aus welchem Winkel? - So, daß man ihr Gesicht sieht – wie sie ihr Kind anblickt– den Ausdruck. Langsam wiederholte er: - Den Ausdruck… Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, als er daran dachte, wie Alexa das Kind Alessandra angeblickt hatte – die bewölkten Augen, die Mischung von Abscheu und Verlegenheit, die Übertragung des Abscheus auf ihn. Alexa versteht nicht viel von Säuglingen, hörte er sich sagen. Nicht einmal von diesem. Sie ist zuerst und
ausschließlich Tänzerin. Wenn dieses kleine Wesen Anlagen zur Tänzerin zeigt, wird Alexa sie verstehen – und lieben. Dann wird Alessandras Dasein entschuldigt werden. Sein Lächeln war verzerrt, eher traurig als zynisch, und seine Augen waren voller Mitleid, als sie die Photographie auf den Tisch zurückstellte. Roxane dachte: Er will Alexa entschuldigen, er versucht, sich in ihre Lage zu versetzen, in ihre Art zu denken und zu fühlen, weil das seine Stärke ist und weil er es immer tut. Das macht ihn so liebenswert – aber ist es wirklich eine Stärke, oder ist es eine Schwäche? - Wird Alexa lange fort sein? fragte sie. - Ich sagte schon. Wir hoffen uns am Kap zu treffen. Es könnte sogar sein, daß wir gemeinsam hierher zurückkommen – obwohl das noch nicht sicher ist. - Sie leben sehr am Rande Ihres Lebens, sagte Roxane. Er hob die Augenbraue. - Es geht mir gar nicht so schlecht, wie Sie vielleicht glauben. Ich habe ja Alessandra. - Ja, Sie haben Alessandra. Verstehen Sie denn etwas von Säuglingen – mehr als Alexa? Verstehen Sie diese Kleine? Sie warf einen Blick auf die Photographie. - Das bezweifle ich. Jedenfalls, unsere Kinderfrau ist noch aus der alten Schule – ein Drache. Wenn es um Alessandra geht, haben wir nichts zu sagen. Was denken Sie gerade – Sie lächeln so in sich hinein? - Ich denke an den Tag, als ich Sie kennenlernte – als Sie so nett zu dem kleinen Jantje Krike waren, dem beschwipsten Schleppenträger, und daran, wie er sich an Ihren Finger klammerte – als ob er ein Rettungsring wäre. - Das ist eine ganze Weile her. - Erst fünf Jahre.
- Eine Ewigkeit. Wir treffen uns in langen Abständen, Sie und ich, und gehen jedesmal auseinander, wenn wir gerade anfangen, uns kennenzulernen. Durch die offene Schlafzimmertür sah sie, daß seine Koffer bereits gepackt waren. Die Flugkarte, das wußte sie, steckte in seiner Brieftasche. Der Abschied war sehr nah. Er fragte: - Was werden Sie tun, wenn Sie nach Hause kommen, Roxane? Sie verzog das Gesicht. - Heiraten… Kinder haben… - Haben Sie den glücklichen Vater schon ausgesucht? - Ja, das habe ich getan. Schweigen lastete im Zimmer und ließ sie beide frösteln. Der Straßenlärm stieg herauf. In dem Halbdunkel, den Rücken am offenen Fenster, war Roxane sehr blau. Der Druck unausgesprochener Worte und Gedanken hing um sie beide wie ein Echo des wilden Starenpfeifens und zog sie zueinander. - Nein! All die aufgestaute Spannung der vergangenen drei Wochen, in denen die uneingestandenen Wünsche ihnen dauernd wie ein Schatten an den Fersen hingen, löste sich plötzlich in seinem Aufschrei. Güte, Leichtigkeit und Spott hatten ihn verlassen – wie sie die Hilflosigkeit angesichts dieser immer neuen, alten Narrheit. Zorn und Abwehr kamen ihr zu Hilfe. - Warum nicht? Was kann Ihnen das bedeuten? Er nahm sie in den Arm und spürte, wie die Feindseligkeit sie erstarren ließ. - Du nicht – du nicht, meine Süße… heirate nicht ohne Liebe – nicht ohne das Echte… - Das Echte – das Echte! Sie riß sich los und stand keuchend ans Fensterbrett gelehnt.
- Wie kann jemand wissen, was das Echte ist? Haben Sie es denn gewußt? Weiß es denn irgend jemand? Zu Hause ist ein Mann, der mich liebt – und auf mich wartet. Ich bedeute ihm am meisten auf der Welt. Für ihn bin ich die erste! Ist das nicht genug – für einen Menschen das Wichtigste zu sein? - Es ist nicht genug. Wenn es nicht auch das Wichtigste für Sie ist. - Einer dem andern das Wichtigste zu sein… wäre das Wunder, das einem nur einmal im Leben geschieht. Einen Augenblick schwankte sie wie ein Rohr im Sturm, dann barg sie das Gesicht in den Händen. Die Dunkelheit hinter ihren Handflächen war von Rot und Gold durch zogen, die Dinge, die sie sagen wollte, stiegen in ihr auf und zerstreuten sich unausgesprochen, winzige Funken, die aus dem Feuer tief in ihrem Innern sprangen, aufflogen und erstarben. Einer dem andern alles zu sein – das wäre wirklich das Wunder! So war es einmal für Hal und Alexa gewesen – vielleicht noch immer. Doch nein, sie erriet nun, daß er jetzt nur noch allein liebte – daß er um Alexa litt, so wie sie, Roxane, um ihn litt. Das Dunkel um sie her wurde dichter, und doch spürte sie Hallam mit jedem Nerv – seinen leichten Schritt, seine Nähe, seinen rauchigen lederähnlichen Geruch und seine zähe Kraft, als er sie aufhob und durchs Zimmer zu der breiten Couch trug. - Trinken Sie einen Schluck! sagte er. Sie versuchte, ihm zuzulächeln, doch ihre Lippen zitterten. Das Zimmer war fast dunkel, und sie war dankbar, daß er sie nicht richtig sehen konnte. Dann hielt Hallam ihre beiden kalten Hände in seinen. - Was fangen wir an, Roxane? Wir sehnen uns so nach einander… Sehnen – nicht lieben! Er würde niemals sagen: lieben. Die Liebe gehörte Alexa. Das andere aber vergaß Herz und Seele. - Wir sagen Lebwohl. Mehr nicht.
Hatte sie es gesagt – oder nur gedacht? Das Zimmer war voller Gefahr. Der Magnetismus seiner Berührung machte sie schwach, und sie schämte sich seiner Gewalt über sie. Der Zorn war ihre einzige Waffe. - Lassen Sie mich los! Doch der Aufschrei war kaum mehr als ein Flüstern. Laß mich los, Hal! Für dich mag es genug sein, am Rande des Lebens eines andern Menschen zu stehen, es nie ganz zu teilen, zu nehmen, was übrigbleibt, und dankbar dafür zu sein… für dich und Alexa mag es reichen… aber ich bin nicht bereit, der Hund auf deiner Schwelle zu sein, den man hereinläßt, wenn’s einem paßt, und mit einem Tritt wieder hinausbefördert… Er legte ihr die Hand auf den Mund. - So darfst du nicht sprechen! Du darfst nicht hart und bitter sein… Meine Mutter, meine Frau, die können das vielleicht, aber du nicht, Roxane! Der Ausbruch von Schmerz und Furcht hatte sie zitternd und erschöpft zurückgelassen. Und als die Hand, die ihre Lippen bedeckt hatte, ihr die Wange streichelte und das Haar aus der Stirn strich, wußte sie, daß sie sich nicht mehr wehren konnte. Mit geschlossenen Augen wartete sie auf seinen Mund. Im Innern rief sie: ,Ich liebe dich!’ Doch sie wußte, daß sie es nie aussprechen würde, ehe er es gesagt hatte. Und sie wußte auch, daß diese Worte von ihm nicht für sie bestimmt waren – nur für Alexa.
Neunzehntes Kapitel HEIMKEHR
Der Tag der Heimkehr begann bei Morgendämmerung mit der prächtigen Majestät der Zwölf Apostel, Wolkenfetzen als Heiligenschein um ihre finsteren grauen Häupter. Dann glitt der massige Tafelberg zwischen dem Teufelspiek und dem Löwenkopf ins Blickfeld, und schließlich kauerte der lange lohfarbene Rumpf des ,Löwen’ über den neuen weißen Mietshäusern am Strand. Roxane war um fünf aufgewacht und hatte die dunklen Umrisse der Küste durch ihr Kabinenfenster gesehen. Sie hatte den Mantel über das Nachthemd gezogen und war auf das verlassene Deck hinaufgestiegen, um das traumhafte Rot des Sonnenaufgangs zu beobachten, wie es seine Wunder auf Piek und Wälder und auf die funkelnde See ausübte. Mein – dachte sie –, dies alles ist mein! Hierher gehöre ich – nicht nach London oder Paris, wie sehr ich diese Städte auch liebe, sondern hierher, wo ich inmitten solcher Schönheit aufgewachsen bin. Um halb acht machten sie am Kai fest, und Tinus war der erste an Bord. Roxane stand im Rauchsalon und wartete darauf, daß der Beamte ihren Paß prüfte. Sie sah die vertraute Gestalt nicht in der Tür. Wie sie verändert ist, dachte er, ganz erwachsen! Sie ist schön auf ihre fremde Weise. Hinter ihr stand ein junger Mann, aus dessen Blick Tinus las, daß auch er sie schön fand. Primitive Eifersucht durchzuckte ihn, doch als Roxane sich zu dem jungen Mann umwandte und mit ihm sprach, ließ die
Spannung in Tinus nach. In ihren Augen war nicht mehr als ein freundliches Lächeln. Der Paßbeamte blickte zu ihr auf, um die Photographie mit den lebendigen Zügen zu vergleichen; auch dieser dienstliche Blick, der unbewußt eine Sekunde auf ihr verweilte, entging dem Beobachter an der Tür nicht. Und dann kam sie auf ihn zu. Sie sah ihn, und ihr Gesicht wurde hell vor Freude, als sie sich bei ihm einhängte. Er drückte ihren Arm fest an sich und lauschte ihrem leisen, freudigen Lachen. - Tinus – alter Tinus –, ich wollte gar nicht aus England fort, aber jetzt ist es wunderbar, wieder hier zu sein. - Roxie, es war die Hölle ohne dich – Gott, wie wir dich alle vermißt haben – wir alle! Sie frühstückten zusammen, und er erzählte ihr, was sich zugetragen hatte. Mit Großmutter Constance ging es seit Tante Hannas Tod bergab. Sie entbehrte ihr ziemlich zänkisches Verhältnis mehr, als die Leute glaubten. Und sie war wütend darüber, wie Krifti es fertiggebracht hatte, den größten Teil des Grundbesitzes seiner Schwiegermutter an sich zu bringen. Weinberge aufgeteilt, weitere Parzellen zu verkaufen! - Das geschieht jedesmal, wenn einer der Alten stirbt, sagte er. So geht es heute eben im Tal – aber Großmutter Constance macht es immer noch toll. Sie kann sich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß es Dieu Donné ebenso gehen wird, wenn sie einmal nicht mehr ist. Er runzelte die Stirn. Krifti ist häufiger als je mit Guy und Merle zusammen. - Sie wollen nach Europa… - Ja, das hörte ich. Er wechselte das Thema. Mit Ben hatten wir Schwierigkeiten. Er hat Dagga in die Finger gekriegt. Im ganzen Tal wird viel mehr Dagga geraucht als früher, und die Polizei ist fest entschlossen, die Schmuggler zu finden. Ich habe so meinen Verdacht… - Jemand aus Dieu Donné?
Er gab zu, daß er das befürchte, und plauderte dann über die kleineren Ereignisse. Aletta Krike erwartete wieder etwas Kleines, und Jantje hatte in der Schule Prügel bekommen, weil er dem Lehrer eine Schlange ins Pult gesteckt hatte. Der Lehrer – ein Engländer – hatte sich albern benommen, und die Disziplin hatte gelitten. Er war neu hier – der arme Kerl! – und kannte den Unterschied zwischen einer harmlosen Natter und einer Kobra noch nicht! Lavinia Fairmead ging ganz in dem Baby auf; sie hatte geschworen, es den Eltern niemals zurückzugeben. Adrian schrieb einen Roman über das Tal, und alle waren mit ihm nervös – aus Furcht, er könnte sie in das Buch bringen. Roxane lachte. - Wie in einem Käfig! - Und zur Schau stellen! grinste Tinus. Vielleicht gerade dann, wenn man nicht am besten aussieht. Über Roxanes Erlebnisse in England sprachen sie nicht. Das wäre ein zu weites Thema gewesen. Das konnte bis später warten. Tinus hatte Geduld. Sie sagte zu sich: Er ist gut – und ich bin glücklich, wieder bei ihm zu sein. Aber sie betonte es zu sehr. - Dein Kaffee, Roxie. Du hast ja deinen Kaffee gar nicht angerührt! Und willst du deine Spiegeleier nicht essen? Sie schob den Teller zurück und schüttelte den Kopf. - Ich bin zu aufgeregt. Wenn du satt bist, laß uns fahren! Ich möchte nach Hause. Er folgte ihr zur Zollbaracke. Er hatte den sicheren leichten Schwung der Hüften und die anmutige Linie des Halses fast vergessen. Roxie, wann willst du mir deine Antwort geben? Heute – morgen? Ich muß es wissen. Wir müssen bald heiraten. Doch das Herz war ihm schwer – da waren dunkle geheime Gedanken, die er zur Seite zu schieben versuchte.
Die üppigen grünen Wiesen am Südhang des Teufelspieks waren dicht mit kleinen Frühlingsblumen übersät, und die Springböcke und Wildebeester des Naturschutzgebietes grasten dicht am Rande der Straße. Unter den Eichen waren Teppiche von sahnefarbiger Zehrwurz ausgebreitet. Am Fuße des Wynberg-Hügels sahen sie die ersten Weinberge, noch ohne Laub, aber schön gesäubert und gehackt. Hier waren die Reben aufgebunden. Die knotigen grauen Stämme, verzerrt wie auf der Folterbank, breiteten die Arme am Draht aus – jede Pflanze das kleine Abbild des Kruzifixes. Bald würden die Smaragdflügel des ersten Laubes aus den Schultern wachsen und im neuen Jahr die schweren Tafeltrauben von diesen grauen Armen hängen. Rasch hatten sie die Weinberge von Constantia mit ihren buschigen Reben erreicht, die vor den dunklen Kiefernwäldern an den Sonnenhängen des schützenden Gebirges standen. Hinter der Niederung blinkte das Meer. - Alles ist voller Leuchten! sagte Roxane, und plötzlich: Tinus, das hast du mir ja noch gar nicht gesagt! Du hast das Haus malen lassen! Dieu Donné leuchtete in seinem neuen Anstrich unter den Eichen. Seit Merles Hochzeit hatte es noch nie so schön ausgesehen. - Es sollte eine Überraschung sein. Nach den stattlichen Häusern in England glaubten wir, nun auch unser Bestes tun zu müssen. Er strahlte. Außerdem war es wirklich nötig. Sie dachte an die Parklandschaften und anmutigen Herren sitze der grünen Insel, die sie verlassen hatte, und es schien ihr, als mangelte es ihnen trotz all ihren förmlichen Reizen an der gemütlichen Würde dieser alten Kapgüter. Nur sie waren wirklich eine ,Heimstatt’. Großmutter Constances Rollstuhl stand auf der hohen roten Veranda, und Ben wartete auf Roxanes Gepäck. Als Josua den
Wagen kommen sah, pfiff er nach Wolf, und der große Schäferhund wurde beim Anblick seiner jungen Herrin toll vor Freude. - Er hat sich richtig gehärmt, sagte Tinus. Nicht wahr, alter Junge? - Wenn er nur sprechen könnte! Sie lachte und drückte den großen Hund in seiner wilden Begeisterung an sich. Und wirklich sprach er zu ihr, mit Winseln und Heulen, mit Zunge, Schwanz, Augen und Pfoten, mit all den verrückten Bewegungen des mächtigen Körpers. - Lizzi! Roxane griff nach den Händen der alten Köchin, die die Stufen herabgeeilt kam. - Miß Roxie zu lange weggewesen! De Oumissus krank vor Sehnsucht nach Miß Roxie geworden. Und dann kniete Roxane neben Großmutter Constances Stuhl. Sie hatte den kleinen blauen Filzhut abgenommen, und die kalte Hand der alten Dame strich mit glücklicher Ungläubigkeit durch das wirre Haar. - Du bist wieder da… du bist zu uns zurückgekommen… Tinus wandte sich rasch ab und winkte Ben, das Gepäck in Roxanes Zimmer zu tragen, und Lizzis Augen mit dem bläulichen Schimmer eines alten erblindeten Hundes füllten sich mit Tränen. - Ja, Großmutter, ich bin zu Hause – hast du gezweifelt, daß ich wiederkommen würde? Ich gehöre doch hierher. Sie ergriff die schwache Hand, die vom Rheumatismus knotig wie ein alter Rebstock war, und drückte sie an die Wange. Sie ist kleiner geworden, dachte das Mädchen, sie schwindet dahin. Laß mich stark sein, wenn sie mich braucht – stark und treu! Im Laufe des Tages verarbeitete ihr Bewußtsein die Eindrücke.
Lizzi schien – genau wie Großmutter Constance – kleiner geworden; aber sie hantierte noch immer geschäftig in der großen Küche. Auch Josua war alt. Sein früher graues Haar lag nun wie ein verwittertes Strohdach über dem Mondgesicht. Und die kleinen Augen verschwanden fast in Säcken purpurnen Fleisches. Wie alt sie alle waren! Wie alt! Sie hatte ganz vergessen, daß sie so alt waren. Und Ben, der Sohn von Lizzis Herzen, das Kind ihrer späten Jahre – auch er war verändert. Doch bei ihm erkannte Roxane, daß die Veränderung allmählich vor sich gegangen war und daß sie nun mit Augen, von der langen Abwesenheit geschärft, den Höhepunkt eines bösen Zaubers erblickte, den ein grausames Schicksal über ihn geworfen hatte. Vor Jahren schon hatte es begonnen, als die Taubheit ihn zum allmählichen widerstrebenden Rückzug aus dem normalen Leben zwang – wie ein freies Tier in einen Käfig getrieben wird, Schritt für Schritt von der unbarmherzigen Peitsche eines mitleidlosen Herrn. Einmal hatte es in seinem Leben Saartje und Lieder gegeben – den Glanz des Farbigen-Karnevals. Und was war ihm geblieben? Hatte er Saartje noch? Sie erinnerte sich, wie häufig seine Augen mit hungernder Eifersucht an dem hübschen Mädchen hingen. Diese schwarzen Augen in dem reinen Weiß! Jetzt war dieses Weiß blutunterlaufen und verfärbt. Rot vom Dagga – rot: Gefahr! Auch seine Züge waren grob und häßlich geworden und erinnerten kaum noch an den hübschen kleinen Burschen im Harlekinkostüm. - Wie geht’s Saartje? Ich hab sie noch gar nicht gesehen. Roxane saß auf dem sauber gescheuerten Küchentisch und schlenkerte mit den Beinen, während Lizzi den Kuchenteig rührte. Sie fuhr mit der Fingerspitze am Schüsselrand entlang, als Lizzi den Teig in die Backform gegossen hatte. Hmm, gut! machte sie.
Lizzi lachte. - Miß Roxie hat immer gern Schokoladenkuchen gegessen – un de Schüssel ausgeleckt! Sie schob die Form in den Backofen und schloß die Klappe. Saartje kommt rüber, bügelt Miß Roxie de Kleider un hilft auspacken, wenn se de Arbeit bei Baas Tinus fertig hat. Lizzi folgte immer noch dem alt modischen Brauch, Höherstehende in der dritten Person an zureden. - Ja, aber ich meine die Theatervereinigung und ihr Spielen und Tanzen. Lizzis Gesicht verdunkelte sich. Es war, als ziehe sich die Nacht auf ihrer Haut zusammen. - Se is verrückt, Miß Roxie. Se will nach England un berühmt werden! Was für Albernheiten! - In England gibt es jetzt Tausende von Farbigen, Lizzi. Sie scheinen alle zu glauben, drüben liege das Gold auf der Straße. - Se macht sich ni gut. Steckt zuviel von de Mutter in dem Mädel! Und da war Saartje – sie stand in der Tür. Sie hatten ihren Schritt nicht gehört und wußten nicht, wie lange sie dort schon stand. Sie war einfach aufgetaucht in ihrer seltsamen Art. - Willkommen zu Hause, Miß Roxie. - Danke, Saartje! Es ist schön, wieder hier zu sein. - Ich könnte jetzt beim Auspacken helfen. - Dann gehen wir in mein Zimmer. Roxane beobachtete, wie die Hände des Mädchens mit den rosigen Handflächen und den bläulichen, haselnußförmigen Nägeln ein Kleid oder einen Rock aufschüttelten, während Saartje in den Strahlen der Vormittags sonne im Zimmer hin und her ging. Von Zeit zu Zeit fielen die blauschwarzen Locken über die olivfarbenen Wangen, wenn sie sich über den offenen Koffer beugte. Beim Auspacken stellte sie Fragen, und
Roxane erkannte, daß ihre Entschlossenheit, ihr Glück auf den Londoner Bühnen zu machen, nicht geringer geworden war. Ob Miß Roxie die farbigen Sänger und Tänzer in London gesehen habe? Im Nachtklub oder im Variete? Ob es wahr sei, daß drüben braune und weiße Menschen sich heirateten und niemand etwas dabei fand? Roxane bemühte sich, all diese Fragen objektiv und wahrheitsgetreu zu beantworten, ohne dem Mädchen ein Utopia für Farbige vorzuspiegeln. Doch es war deutlich, daß Saartje auf ihr Ziel zuschritt und entschlossen war, sich durch nichts aufhalten zu lassen. - In unserer Theatervereinigung hilft uns manchmal ein englischer Schauspieler, sagte sie. Er will mir Empfehlungen für Bühnenagenten mitgeben. Ich werde drüben Arbeit finden. - Hast du Geld für die Überfahrt – und zum Leben, wenn du nach England kommst? - Ich arbeite die Überfahrt ab. Es gibt immer Leute, die ein Mädchen für die Kinder brauchen. Und ich habe Geld gespart… Roxane warf ihr einen scharfen Blick zu. Saartje hatte irgend etwas zu verbergen. Sie hatte impulsiv geredet, um auf Roxane Eindruck zu machen – und diesen Impuls sofort bedauert. - Das muß gebügelt werden. Sie nahm einen Armvoll Kleider auf, und die Tür schloß sich leise hinter ihr. Roxane hörte ihre hohen Hacken flott über den Gang klappern. Saartje war unergründlich. Sie hatte sich fest entschlossen, nach England zu gehen, und sich genau informiert. Sie könnte Erfolg haben, dachte Roxane – mit diesem drängenden Selbstvertrauen und dem Ehrgeiz könnte sie durchaus Erfolg haben.
Als Großmutter Constance von ihrem Nachmittagsschläfchen in der Bibliothek erwachte, sah sie Roxane auf dem Sofa die
Zeitung lesen. Die alte Dame lächelte, streckte die Hand mit einer kleinen zärtlichen Bewegung aus und ließ sie dann in den Schoß sinken. Sie hatte in ihrem hochlehnigen Lieblingssessel geschlummert, den Rollstuhl – wie immer – dicht neben sich. Wenn sie den Kopf ein wenig wandte, sah sie das veränderliche Muster des Eichenlaubs durch die hohen Fenster. Die Hortensien in den großen Kübeln standen noch nicht in Blüte, doch die Knospen schwollen unter dem üppigen Blattwerk an. Hier und da turnte ein Eichhörnchen auf einem Ast, und die Tauben gurrten monoton. - Fein, daß du wach bist, sagte Roxane. Ich habe so viel zu erzählen. - Wenn man unterbrochen worden ist, muß man es stückchenweise nachholen. Großmutter Constance hielt inne. Da war ein Gedanke, der ihr entglitt. Das geschah ihr in der letzten Zeit öfters – Gedanken und Worte entfielen ihr. Roxane richtete sich auf und beugte sich vor. - Großmutter, ich möchte von meiner Mutter – von Maman – erzählen. - Natürlich, Kind. Doch das alte Gesicht hatte sich verschlossen, vor den Augen lag ein Visier, die Stimme war beherrscht. Roxane begann zu reden – und als sie erst begonnen hatte, war es leicht, weiterzusprechen. Gegen ihren Willen erwachte die Aufmerksamkeit der alten Dame und blieb gefesselt, während sie der eifrigen Beschreibung des Mädchens lauschte – von dem Porträt über Onkel Christophers Kamin, von der Reise nach Paris, Mamans Geburtsort, und von ihrem Tod… von dem Angelusläuten, das über die ruhigen Wiesen klang und bei dem Onkel Christopher mit gesenktem Haupt im silbernen Licht stand. Sie erklärte Annes Tätigkeit und sprach endlich von ihrem Mut.
- Sie hat keinen verraten. Selbst bei der Folter hat sie nichts gesagt. Roxanes Wangen waren gerötet, und ihre Augen glänzten. Während sie Annes Geschichte nacherzählte – das wenige, was sie davon wußte –, hatte sie ihr eigenes Erlebnis wachgerufen, die schmerzliche Erregung, ihre Mutter zu entdecken. Sie sprach leidenschaftlich, und es war zu spüren, daß sie sich in diese unbekannte Frau hineinversetzte, in diese Frau, die sie geboren hatte, die gelitten hatte und bis zum Ende standhaft geblieben war, weil ihr Geist stärker war als jene, die sie marterten. - Ich kann sie so gut verstehen, sagte Roxane. In ihrer Stärke und – ihrer Schwäche… - Schwäche? - Ja – Schwäche. Es gibt Dinge um Maman, die ich weiß, ohne daß sie mir gesagt worden sind. Ich weiß jetzt, daß sie nie verheiratet war. Sie fühlte, wie die alte Dame erstarrte, doch sie fuhr fort: - Manchmal habe ich gedacht, Onkel Christopher sei mein Vater… und doch… doch glaube ich nicht, daß er der Mann im Leben meiner Mutter war, wenn ich auch ahne, daß sie die Frau in dem seinen war… Sie hielt inne, weil ihr aufging, daß da immer diese Ungleichheit – diese Einseitigkeit – in der Liebe war. II y a toujours un qui aime et l’autre qui tend la joue. - Aber vielleicht irre ich mich… - Hast du ihn gefragt? - Ja. Aber ich erhielt keine Antwort. Er sagte, du habest einen Brief, den Maman dir geschrieben hat, als sie mich zu dir schickte, und den du mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geben würdest. - So hat sie es gewünscht. So werde ich es halten. - Du weißt die Wahrheit? – Ja.
- Dann sag sie mir jetzt! Weshalb soll ich warten? - Weil sie es so gewünscht hat. Lehne dich nicht gegen ihren Willen auf! Versuche nicht, mich zu überreden! Denk daran, Roxie, auch ich kann meine Geheimnisse bewahren und verrate den nicht, der mir vertraut. Sie schwiegen, und jeder hing den eigenen Erinnerungen nach. Endlich sagte Roxane: - Sie muß sehr stark gewesen sein… Du und Onkel Christopher – ihr nehmt ihre Entscheidung hin und beugt euch ihren Wünschen… - Sie war sehr stark, mein Kind, Sie ist es noch. Vielleicht sonderbar, so etwas zu sagen, dachte die alte Dame. Doch seit kurzem war ihr Annes Macht seltsam bewußt geworden – sie fühlte sich der Frau, deren Kind ihrer Obhut anvertraut war, merkwürdig nahe. Vielleicht, weil Roxanes einundzwanzigster Geburtstag bevorstand – oder vielleicht, weil… - Großmutter Constance, ist es so eine furchtbare Sünde, zu lieben, wenn kein Recht zu heiraten besteht? Die Stimme des Mädchens war so leise, daß Großmutter Constance sich anstrengen mußte, die Worte zu verstehen. Eine Weile glaubte Roxane, sie habe sie nicht gehört. Doch sie wiederholte die Frage nicht – sie saß nur da und wartete. Auch die Bibliothek schien still zu werden und zu lauschen. Selbst die Tauben draußen vor dem Fenster schwiegen, während die alte Dame sprach. - Es heißt, alles verstehen sei alles verzeihen. Es steht uns nicht zu, uns zu überheben. Nur Gott vermag das Herz eines Menschen ganz zu erkennen – und zu richten. - Und zu strafen, sagte Annes Tochter. Gott möge mir vergeben, aber Er vergißt nicht, zu strafen.
Gerade zum Tee wurden Mr. Krifti und Louise angemeldet, und Roxane meinte, Krifti habe viel besser ausgesehen, als sie ihn das letztemal sah – weniger gelb und nicht so verschwollen um die Augen. Phantastisch erschien es ihr, daß er kürzlich das Gut von Tante Hanna van der Walt aufgeteilt hatte. Er nährte sich, der Vampir des Tales! - Wir mußten dich sehen, sagte Louise. Wir wissen, was es für Großmutter Constance bedeutet, dich wiederzuhaben. - Wir hatten gehofft, Sie würden einen englischen Lord mit bringen, sagte Mr. Krifti. Roxane lachte. - Pech gehabt! Ich habe alles versucht, aber ich fand keinen Lord, der mir geglaubt hätte, ich sei eine südafrikanische Erbin! Josua erschien strahlend auf der Schwelle. - Mehr Besuch für Miß Roxie: Missus Fairmead und Missus Krike. Lavinia Fairmead begrüßte Roxane mit erfreuter Zurückhaltung, doch Aletta Krike warf dem jungen Mädchen die Arme um den Hals und drückte sie fest an sich. - Du bist schlanker denn je, Liebste! Und nun guck mich an. Doch es war deutlich zu sehen, daß Alettas erhöhtes Ge wicht eine Ursache hatte, die sie nicht bedauerte. - Wahrscheinlich Zwillinge! O Roxie, du mußt Lavinias kleine Alessandra sehen – sie ist ein Herzchen, eine Rosen knospe -; ich habe zu Karl gesagt: ,Wenn du diesmal nicht dafür gesorgt hast, daß es ein Mädchen wird, spreche ich nie wieder ein Wort mit dir!’ - Sie müssen bald kommen und Alessandras Bekanntschaft machen, warf Lavinia ein. Und Adrian jammert nach Ihnen, weil Sie seinen neuen Roman tippen sollen. - Den über das Tal?
- Den über das Tal. Er hat gerade eine Versicherung gegen Verleumdungsstrafen abgeschlossen. - Gern. Das zu tippen wird richtig aufregend werden. - Sobald Sie zur Ruhe gekommen sind… - Ich bin schon zur Ruhe gekommen. Ich bin zu Hause. Alles ist genau, als wäre ich nie fort gewesen. Das ist nicht wahr, dachte sie. Nur an der Oberfläche scheint alles gleich. In Wirklichkeit ist alles verändert, weil ich mich verändert habe. - Ich komme morgen, fuhr sie fort. Ich brenne darauf, Alessandra zu sehen. Das stimmte. Sie sehnte und fürchtete sich zugleich, das Glied aus Fleisch und Blut zu sehen, das Hal und Alexa enger als je aneinander band. Sie saßen alle auf der Veranda, als Karl Krike seine Frau abholte. Wie riesig er war – wie sehr er seinen holländischen Vorfahren, den treckenden Buren, ähnelte! Mit seinem Flachsbart und den großen Händen, die Rodin modelliert haben könnte – eher die Hände eines Denkers als die eines Bauern, die Hände eines Grundbesitzers, der andere anweist, die manuelle Arbeit zu tun –, war Karl das Urbild des Patriarchen. Selbst in Chelsea, dachte Roxane, wo ungewöhnliche Gestalten noch so häufig waren, oder in Paris mit seinen Typen aller Art würde Karl Aufmerksamkeit und Respekt einflößen. Aber im Ausland mag man uns nicht, überlegte sie betrübt. Wenn sie dort feststellen, daß Karl Südafrikaner ist, würden sie vermutlich davon überzeugt sein, er schlüge die armen unterdrückten Schwarzen! Als über Roxanes Reise und das Interesse an Südafrika mit allen Vorurteilen gegen das Land gesprochen wurde, sagte Lavinia: - Pure Ignoranz! Die Mehrzahl der Engländer weiß nur das von Afrika, was man ihnen vorredet – und das ist nicht nur wenig, sondern häufig noch verdreht. Wenn sie erst einmal in
der Südafrikanischen Union gewesen sind, fangen sie an, die besonderen Probleme hier und die erhebliche Arbeit zu begreifen, die für die eingeborene und die Mischlingsbevölkerung getan worden ist. Doch wie viele sehen es schon mit eignen Augen! Ich wünschte wirklich, Hallam bliebe ein paar Monate hier und entschlösse sich, über Südafrika zu schreiben. Vielleicht tut er es – später einmal. Aletta fragte, was die Damen in London und Paris trügen. - Wir sind hier immer ein halbes Jahr hinter der Mode zu rück, und im Herbst bin ich so weit, daß ich mir ein paar neue Kleider kaufen muß. Guck mich nicht so an, Karl! Ich habe das Gefühl, wir kriegen dieses Jahr eine Rekordernte. - Wenn Aletta auf neuen Babys besteht, können wir uns nicht auch noch neue Kleider leisten. Das sage ich ihr jedesmal, aber sie glaubt’s einfach nicht. Sag mal, Roxie, hast du die Autoausstellung gesehen? Wie sehen die neuen Modelle aus? Welche Wagen fährt man am meisten? Während sie so plauderten, wurden die Erlebnisse der letzten Monate plötzlich in Roxane lebendig und drängten sich in die Schatten von Dieu Donné, wie sich die Erinnerungen an das Tal manchmal in das kleine Haus in Chelsea eingeschlichen hatten. Bei dem Schwatzen und Lachen fühlte sie sich klug und reif: Alles, was einem geschah, jeder Mensch, der einem etwas bedeutete, jeder Ort, den man kennen- und liebenlernte, wurde in das Gewebe der Seele aufgenommen. Die Erinnerung begleitete einen als ständige Mahnerin. Aletta hier im Tal mit ihrem breiten, reizvollen Gesicht und ihrer beglückenden Würde erinnerte sie an Mrs. Maydews Lucy, die, den Einkaufskorb am Arm, nach der Hausarbeit zu den Läden auf der King’s Road stapfte. Und Lavinia Fairmeads angriffslustige graue Augen und ihre stolze Kopfhaltung rissen nur wieder die unverheilte Wunde der verbotenen Liebe in Roxane auf. Am Ende kam alles wieder auf Hal zurück. So
war es immer. Vielleicht gelang es Tinus unbewußt, diesen quälenden Kreislauf ihrer Gedanken und Empfindungen zu zerbrechen. Sie blickte zu Tinus hinüber, den sie so gut kannte. Und plötzlich fragte sie sich, ob auch er verborgene Räume im Herzen habe, von denen sie, die ihm näherstand als eine Schwester, nichts ahnte. Er saß neben Aletta auf der Steinbank am Ende der Veranda, und das Eichenlaub spielte über ihren beiden blonden Köpfen. Die maskierte Seite seines Gesichts war Roxane zugewandt, und wenn sie auch sah, wie er über einen Scherz Alettas lächelte, wurde sie sich plötzlich bewußt, daß man von einem blinden Profil wenig erfahren konnte. Die Augen waren die Fenster, und wenn der Vorhang zugezogen war, schloß er einen Teil des inneren Wesens ab. Aber vielleicht gab es das gar nicht: einen andern Menschen kennen? Selbst ein Kind konnte man nie ganz verstehen – wenigstens von dem Augenblick an nicht mehr, da es den ersten selbständigen Gedanken gebar. - Roxane ist noch immer zehntausend Kilometer weit weg… Mr. Kriftis leise Stimme rief sie zurück. Und dann hörte sie Karl sprechen. - Komm, Mammi – es wird Zeit, daß wir nach Hause fahren. Er faßte seine Frau bei den Händen und zog sie hoch, und plötzlich war sie klein neben seiner mächtigen Größe. - Auf Wiedersehen, Großmutter Constance! sagte er. Es ist schön, daß das kleine Meisje wieder da ist. Du wirst heute nacht besser schlafen, weil sie zurück ist. - Dann bis morgen, Roxie, sagte Lavinia. Morgen vor mittag. Der Besuch hatte sie gewärmt. Sie spürte, daß sie gebraucht wurde, und war dankbar dafür. Tinus begleitete die Gäste zu den Wagen und kam dann zur Veranda zurück.
- Heute ist ein großer Tag. Ich ziehe meinen Smoking an! Guy und Merle kommen zum Essen herüber. Das ist eine feierliche Gelegenheit. Merle und Guy kamen früh, auch sie hießen Roxane stürmisch willkommen. Doch das Mädchen spürte deutlich die Erleichterung heraus, nun die Sorge für Großmutter Constance abwälzen und in Ruhe die Vorbereitungen für die Reise treffen zu können. Merles glänzendblaue Augen leuchteten vor innerer Erregung – ähnlich wie damals, als sie in die Stadt Johannesburg einfuhren. Guys Stammeln war schlimmer geworden, und die Art, wie er Merle von Zeit zu Zeit ansah, verwirrte Roxane. Das war nicht mehr der Blick des Mannes, der seine Frau liebt und ihrer Liebe sicher ist, es lag eher ein Flehen um Unterstützung bei irgendwelchen geheimen Plänen darin. Sie ahnte, daß die Partner die Plätze getauscht hatten: Die Führung, die einst eindeutig in Guys Händen lag, hatte nun Merle übernommen. Ich komme nach Hause, dachte Roxane, und jetzt sehe ich die Menschen wirklich. Großmutter Constance saß ihr am Tisch gegenüber. Wie zerbrechlich sie aussah! Zeit und Schmerzen hatten ihre Züge zerfurcht und ihre Gestalt zusammenschrumpfen lassen. Jahre des Mitleids für Großmutter Constance hatten den Charakter von Roxanes Zuneigung zu der alten Dame verändert, sie aus einer Schutzbefohlenen zur Beschützerin gemacht. Und heute abend schmolzen die letzten Spuren ihrer Furcht aus der Kinderzeit und der häufigen Gereiztheit ihrer Mädchenjahre dahin – zurück blieb reine Liebe… das Mitleiden. Großmutter Constance erhob sich nicht, um den Braten vorzuschneiden. Die Zeiten waren vorüber, seit sie ihr Bein verloren hatte. Tinus schnitt den Lammnierenbraten auf – die Gabel fest in der linken Hand mit den fehlenden Fingern.
- Ich habe Glück, sagte er oft. Der Daumen ist mir geblieben. Ein paar von den andern Fingern kann ein Mann entbehren. Doch Roxane wußte, wie er die verletzte Hand haßte, seit Merle sie Klaue genannt hatte. Wenn sie Tinus nun heiratete, würde er am Kopf des Tisches sitzen, den Braten vorschneiden und den Wein aussuchen, er würde das Tischgebet sprechen, und seine Kinder würden die Köpfe beugen. Eines Tages würden sie das Tal der Reben verlassen und auf Tinus’ Anteil von Tweefontein leben, und dort, im Freistaat, würde Afrikaans allmählich immer mehr ihre Sprache werden und das Englische verdrängen, das Blut der Vos und die holländischreformierte Erziehung würden das Übergewicht geben. Man würde keinen Wein mehr auf den Tisch bringen, denn gewiß würde Ohm Jakobs Geist auch auf seinen Sohn übergehen. Konnte sie sich mit alldem abfinden? Wenn Großmutter Constance auf dem Berge ruhte und Merle die Herrin von Dieu Donné war – dann ja. Tinus lächelte ihr zu. - Heute abend wirst du verwöhnt, Roxie. Ich weiß, du magst die krossen Bissen gern – du bekommst das schönste Randstück. - Vielen Dank, erwiderte sie. Du denkst auch an alles. Hinter ihm stand Saartje, die Josua beim Servieren half. Als sie sich vorbeugte, um Tinus die Platte abzunehmen, kam ihr Gesicht in den Kreis des sanften Kerzenscheins. Auf ihren vollen Lippen lag ein leises Lächeln, als sie in der Taal flüsterte: - Sie mögen die braunen Bissen auch gern, Baas Tinus. Er gab durch kein Zeichen zu erkennen, daß er sich ihrer Anwesenheit bewußt war, und sie nahm ihm die Platte mit ungeduldigen Fingern ab.
Zwanzigstes Kapitel DER ENTSCHLUSS
Alessandra erwachte und lächelte Roxane an. Im Schlaf war ihr Gesicht blaß gewesen, doch nun stieg die Apfelblütenröte in ihre Wangen, und die seidigen Wimpern öffneten sich über großen, klaren Augen. Vielleicht wurden sie später haselnußbraun oder grau, doch jetzt waren sie noch von dem reinen, teichdunklen Blau der frühesten Kindheit. Die Nase schien nicht mehr als ein Knopf, doch das breite Lächeln zeigte den rosigen Bogen des Oberkiefers, dessen Fleisch schon von den ersten Milchzähnen gespannt war. Das Baby gurrte wie eine junge Taube, die winzigen Finger öffneten sich und griffen nach den Sonnenstrahlen, die durch das Laub der großen Platane in den Kinderwagen fielen. Kleine nackte Füße strampelten die Kaninchenfelldecke weg und fingen an, sich zu üben. Entzückt beobachtete Roxane das Kind. Waren das die Miniaturfüße einer Tänzerin – die biegsamen Zehen hatten alle fast die gleiche Länge. - Ku – ku – ku, gurgelte Alessandra durch einen Film von Speichelbläschen. Die Finger griffen nach den Zehen wie Pflanzenranken, die einen Halt suchen. Roxane beugte sich über den Wagen und berührte den blonden Flaum des kleinen runden Kopfes. Wie weich diese flaumigen Locken waren – wie warm die Haut! Sie streichelte die Beine und holte tief Luft: Dieses neue Leben, aus der Liebe von Hal und Alexa geboren – und so schnell der Sorge anderer überlassen…
Es verlangte sie danach, das Kind aus dem Wagen zu nehmen und diese lebendige Wärme in ihren Armen zu halten. - Ist sie aufgewacht? Beim Klang von Lavinias Stimme fuhr Roxane zusammen. Sie war zu vertieft gewesen, als daß sie ihre Schritte gehört hätte. - Ich wollte zum Turm hinauf, sagte sie. Und da hörte ich sie gurren. Ich konnte nicht widerstehen, sie anzuschauen. Sie ist so reizend! - Ja, sagte Lavinia mit ungewöhnlicher Sanftheit. Genau wie meine Tochter Hilda in ihrem Alter – die in Washington verheiratet ist. Sie schlägt in unsere Familie. Sie hat kaum etwas von Alexa. - Das kann sich ändern. Vielleicht bekommt sie die Tanzfüße ihrer Mutter… - Ich hoffe aufrichtig, daß das nicht geschieht! Ich sähe es lieber, sie wüchse zu einer glücklichen Ehefrau und Mutter heran als zur berühmten Tänzerin. Roxane erkannte den bissigen Ton in Lavinias Stimme wieder – die Abneigung gegen die Schwiegertochter, die sie nun nicht mehr verbarg. - Hallam hat mir erzählt, daß sie alle zu Weihnachten hier sein würden. Sie müssen doch schon ganz aufgeregt darüber sein. - Die Sadler’s Wells-Gesellschaft macht eine Tournee durch Südafrika, sagte Lavinia schroff. Das wird Alexas Plänen zustatten kommen – und zweifellos auch denen von Simonoff, da er Südafrikaner ist. - Simonoff? Ich wußte gar nicht, daß er zu dieser Gesellschaft gehört. - O doch, meine Liebe. Er ist der Erste Tänzer dort. Alexa hat ihn überredet, nach London zu gehen. Sie hat ihn gemanagt, ihn bei den richtigen Leuten eingeführt, so daß er rasch einen
Namen bekam. Und man muß zugeben, daß er sich gut gemacht hat – buchstäblich sprungweise in die Höhe gekommen. Ihr lautes Bühnenlachen klang bitter. Simonoff gehörte keineswegs zu Lavinias Lieblingen. - Sie erinnern sich doch gewiß noch, wie er hier einher stolzierte – und Alexas Partner in ihren verschiedenen Rollen spielte. Na, unsre kleine Alessandra hat dem allen zunächst mal einen Riegel vorgeschoben – hast du das nicht getan, mein Herzchen, meine Rosenknospe, meine kleine Perle? Großmütterlich klopfte sie dem Säugling aufs Hinterteilchen. - Trinken, mein Süßes! Roxane, wenn Sie jetzt hineingehen, rufen Sie doch bitte nach der Kinderfrau – sagen Sie, Baby sei hellwach und naß wie ein Fisch! Doch als Roxane auf den Turm zuging, traf sie die Kinderfrau schon, die mit zielbewußtem Schritt über den Rasen kam. Hallams Beschreibung fiel ihr ein: eine von der alten Schule – ein Drache! Aber sie sah wie ein sehr gütiger Drache aus.
- Ich hoffe, Sie bewundern unsere Enkelin, sagte Adrian, als er Roxane begrüßt hatte. Sie standen am Fenster und blickten auf den schattigen Rasenplatz hinab. Der Säugling krabbelte nun auf einer Decke, die über das Gras gebreitet war. - Mit sechs Monaten krabbeln – nicht schlecht, wie? - Ja, sie ist wunderbar kräftig, sagte Roxane. Bevor sie heraufkam, hatte Adrian geschrieben, und nun bewegte er dauernd die verkrampften Finger der rechten Hand. - Ich wünschte, ich könnte mit der Maschine schreiben, sagte er. Aber es geht nicht – und diktieren kann ich auch nicht.
Er hatte die Brille abgenommen, und seine Augen sahen matt und nackt aus. - Haben Sie Hal in London oft gesehen? fragte er plötzlich. - Ja, sagte sie. Als Alexa und Sie alle weggefahren waren, fühlte er sich sehr einsam. - Er hat seine Arbeit – und Freunde. Vielleicht braucht er die. Wie sah er aus, als Sie abreisten? - Zu schmal. Kurz bevor ich abfuhr, flog er nach Westindien. Und bald kommt Afrika. Er wartet schon auf den Auftrag. Es wäre wundervoll für ihn, sich hier auf Farway mit Alexa zu treffen. Adrian unterdrückte einen Seufzer. - Ich hoffe, daß er gut ausgeht – dieser kombinierte Besuch bei uns. Lavinia macht es Alexa nicht ganz leicht. Sie bemüht sich nicht genügend, ihre Schwiegertochter zu verstehen. - Vielleicht fürchtet sie, Alexa bemühe sich nicht, Hal glücklich zu machen. Adrian fuhr überrascht herum und starrte Roxane an. Ihr Gesicht war seltsam ausdruckslos, doch als sie seine Augen auf sich gerichtet fühlte, wandte sie sich ab. Er runzelte die Stirn, während er nach etwas suchte – nach irgendeiner nicht zu fassenden Erinnerung. Irgendwo in seinem aufnahmefähigen Schriftstellergehirn hatte er eine Notiz über dieses Mädchen und Hal verstaut. Lange her. Jetzt suchte er diese Notiz und fand sie: eine seltsam lebendige Erinnerung an das blasse Gesicht und die zusammengekrampften Hände Roxanes, als Alexa aus dem Garten zur Terrasse heraufgekommen war – hier auf Farway – an dem Abend der Gesellschaft, als das Mädchen Hallams junge Frau zum erstenmal gesehen hatte. Merkwürdig, wie der bittere Ausdruck auf dem Gesicht dieses Kindes sich in ihm erhalten hatte – die Verletztheit und Enttäuschung…
- Glauben Sie das denn? fragte er. Meinen Sie, Alexa messe ihrer Ehe nicht genug Bedeutung zu? Er sah, wie die abgewandte Wange des Mädchens sich rötete und wieder blaß wurde und wie ihre Hände sich falteten. Es tat ihm leid, sie verletzt zu haben. Armes Kind, warum mußte sie sich gerade in diesem Netz fangen? - Er spricht sehr selten von Alexa, sagte sie ruhig. Doch wenn er es tut, dann stets mit unbedingter Treue. Ich bin überzeugt, er liebt sie… Ihre Kehle zog sich zusammen, aber sie fuhr trotzdem fort:… ist in sie verliebt… von ihrer Seite dagegen – wer kann das sagen? Ich kenne Alexa kaum. Wer kennt sie denn wirklich? Aber da es mein Beruf ist, Situationen, Emotionen, Motive – wenn Sie wollen: Menschen – zu analysieren, stelle ich fest, daß ich meinen Sohn und seine Frau oft auf völlig unparteiische Weise studiere. Und vielleicht macht mich die Tatsache, daß Lavinia in gewisser Hinsicht so unduldsam ist, doch zum Parteigänger. Ich versuche, diese Ehe von Alexas Standpunkt aus zu sehen. Natürlich hat sich Hal in sie verliebt. Er lächelte mit herabgezogenen Mundwinkeln. Ich hätte es auch getan, wenn ich ein paar Jahre jünger gewesen wäre… Alexa besaß alles – Charme, Ruhm, Empfindsamkeit und jene unbegreifliche Qualität, durch die sich Genie vom bloßen Talent oder technischer Vollkommenheit unterscheidet. Aber weshalb hat sie sich verliebt? Das erklären Sie mir! Er erwartete eigentlich keine Antwort. Für den Augenblick hatte er den zweiten Schmetterling im Netz vergessen – die weniger wichtigen Flügel, die gegen die unsichtbare Gaze schlugen. Sie saß auf der Kante seines Schreibtisches, während er noch am Fensterbrett lehnte. Müßig betrachtete er seine Finger, und dann wurde sein Blick von Roxanes Augen gefangen, und das Mädchen beantwortete die Frage, die er ins Blaue hinein gestellt hatte – die er eigentlich selbst beantworten wollte.
- Das könnte verschiedene Gründe haben – ganz abgesehen davon, daß er auch viel Charme besitzt und Erfolg hat – für sein Alter sogar ganz ungewöhnlichen Erfolg! Er ist ein guter Schriftsteller. Er hat die gleiche Gabe wie Sie selbst, unter die Oberfläche zu blicken. Doch was ihn besonders liebenswert macht, daß er nach dem Guten aus schaut – den freundlichen Dingen – und sie so häufig an ganz unerwarteten Stellen findet… - Wie Dämon Runyon, murmelte er, oder Thomas Burke… Sie ließ sich nicht unterbrechen. - Hallam findet die blühende Orchidee auf dem Abfallhaufen, und er bringt einen dazu, selber daran zu glauben, daß sie da ist, wirklich da ist – nicht nur die Illusion eines Narren. Das ist seine besondere Qualität – seine Art zu denken – zu leben – und zu lieben. Ihre Augen waren unerschrocken auf seine geheftet. Was für herrlich fremde Augen sie hatte! Die schmalen Fingerglieder ihrer gefalteten Hände waren weiß geworden. Tu’s nicht! wollte er sagen. Schenk nicht soviel von dir weg – liebe meinen Sohn nicht, dessen ganzes Wesen auf Alexa gerichtet ist wie die Kompaßnadel auf den Polarstern! - Das sind Gründe, sagte er. Überzeugende Gründe. Sie zeigen, daß auch Sie sich in einen Menschen zu versetzen vermögen. Sie sind eine gute Beobachterin, Roxane. Auch Sie blicken unter die Oberfläche. Er sah, daß die Hände in ihrem Schoß sich voneinander lösten. Und als sie sich ab wandte und zu Boden blickte, war die Linie ihres Halses die eines entmutigten Kindes. Aber das waren nicht Alexas Gründe. Alexa fühlt zuallererst mit Körper und Nerven. Ihr ganzes Leben lang, von der frühesten Kindheit an, war ihr Körper dem Tanz geweiht. Dann kam Hallam. Und plötzlich war dieser Körper ihrer Kontrolle entglitten – berauscht und krank vor Liebe. Es war der uralte Magnetismus, der sie in die Ehe
lockte, jene Kraft, die keiner von uns leugnen, der keiner von uns entgehen kann. Er kam zum Schreibtisch herüber. Seine langen Finger zogen die Blätter des Manuskripts auf sich zu. - Aber das Ende der Geschichte, Roxane… Ich sehe das Ende der Geschichte nicht. Wie lange vermag die Brücke der körperlichen Liebe – selbst bei gegenseitiger Achtung – zwei Welten zu verbinden, zwei so verschiedene Welten? - Es gibt noch eine Brücke, erwiderte sie. Alessandra.
Großmutter Constance blickte das Mädchen und den Mann, die nebeneinander auf dem Sofa der Bibliothek saßen, ernst an. Das hatte sie erwartet – unter andern Umständen hätte sie es begrüßt. Doch es gab mehr als einen Grund, an der Ratsamkeit dieser Ehe zu zweifeln. Sie suchte nach irgendeinem Ausdruck für ihre Befürchtungen, der keinen von beiden verletzte; denn beide waren ihr teuer. Doch in letzter Zeit wollten ihr die Gedanken nicht mehr so leicht gehorchen. Der harte Wille hetzte sie wie ein getreuer Schäferhund, doch immer wieder vermochten einige auszubrechen. Deshalb bedeutete es für sie eine erhebliche geistige Anstrengung, als sie Tinus und Roxane jetzt anredete. Ihre Augen blickten schlau, und die Stimme hatte wieder etwas von ihrem harten Staccato. – Ich habe es geahnt, daß ihr zwei mir diese Nachricht bringen würdet, sagte sie. Aber ich bin eine alte Frau und habe ein paar Einwände – wenn auch nur, damit wir sie erörtern. Sie saß sehr gerade in ihrem hochlehnigen Stuhl dem Kamin gegenüber. In Tinus’ Gesicht sah sie eine ruhige Freude, die sie rührte und weich stimmte. Ihr eigener toter Mann hatte manchmal genauso ausgesehen. Diese treuen, braungebrannten, gottesfürchtigen Männer der Familie Vos konnten ihre Frauen glücklich machen. Sie waren vielleicht nicht erregend, aber sie
waren dazu geboren, Familienväter zu sein und Land zu besitzen. Sie waren es gewohnt, Verantwortung zu übernehmen und Autorität auszuüben. Aber in Roxanes Augen war ein Blick, der der alten Dame ans Herz griff. Entschlossenheit lag darin, aber wo war ihr Strahlen geblieben? Doch über das Gesicht des Mädchens hatte sich Frieden gebreitet. Sie ist durch unergründliche Gewässer gekommen, von denen ich nichts weiß, dachte Großmutter Constance. Ist das nun ihr Hafen? Als Roxane zu Tinus hinüberblickte, sah sie sein starkes, unverletztes Profil und die heile Hand, die ihre hin und wieder berührte. Eine Woche war seit ihrer Rückkehr vergangen, und diese Woche war voll inneren Aufruhrs, voller Anspannung gewesen. Lange Stunden hatte sie an ihrem geheimen Zufluchtsort am Wasserfall zugebracht, und nachts hatte sie um Führung zur Heiligen Mutter gebetet, die das Herz jeder Frau kennen mußte. Manchmal besaß die Gestalt über ihrem Bett das Aussehen von Maman – von Anne, der es nie an Mut gefehlt und die für die Abenteuer des Lebens und Sterbens eine eigene Philosophie gehabt hatte. Was würde Anne ihr raten? Würde sie mit ihrer großen Selbstgenügsamkeit gesagt haben: ,Du mußt dir dein Leben allein aufbauen und zu deiner Entscheidung stehen! Das Wunder – daß jeder dem andern alles bedeutet – ist nicht für dich bestimmt. Nimm das Zweitbeste und mach das Beste daraus! Du wirst geliebt. Sei dankbar, Roxane…’ Würde Maman so sprechen? Roxane glaubte es. Die ganze Woche hatte sie diesen Kampf gekämpft und Selbstachtung und Vernunft gegen die verbotene Liebe aufgerufen. Auch der Stolz hatte ihr geholfen: Nicht ein einziges Mal hat Hal gesagt, daß er dich liebe. Er hat nach dir verlangt, wie ein einsamer Mann nach einer begehrenswerten Frau verlangt. Obwohl er kaum einmal von Alexa sprach, stand sie doch
ständig zwischen euch – die einzige, die er wirklich liebt und nicht vergessen kann, die Sonne, die den Schatten wirft. Betrüg dich nicht selbst, Roxane! Du hast den Film ,Ballerina’ gesehen und Alexas Können bewundert. Und die Stimme der Vernunft sagte: ,Du hängst dich an seinen Rockschoß, und manchmal drückt er dich ans Herz wie ein bebendes kleines Tier. Aber du bist kein bemitleidenswertes Tier, du bist eine Frau mit eigenem Willen und mit Geist! Wenn du dich weiter dort anhängst, wohin du nicht gehörst, wirst du Beulen bekommen, wenn man dich abschüttelt. Du stehst jetzt am Kreuzweg, Roxane. Geh mit Tinus und sieh dich nicht mehr um! Er wird dich zufrieden machen.’ Es kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß sie Tinus als Schutz gegen eine Gefühlsverwirrung benutzte, von der nur sie wußte. Denn ihre Zuneigung zu ihm war nicht zu bezweifeln, und sie hatte die Absicht, alles zu tun, was sie konnte, um ihn glücklich zu machen. Sie hörte Großmutter Constance sagen: - Roxie, ich weiß, daß dir dieser Entschluß nicht leichtgefallen ist. Tinus ebensowenig. In unserer Familie entschließt man sich nicht überstürzt zu einer Ehe. Wir halten unsere Eheversprechen heilig. Wenn ihr zwei heiratet, wird einer für den andern dasein, bis der Tod euch scheidet. Die Feierlichkeit in der alten rostigen Stimme rief in beiden ein Bild von Tweefontein hervor, wo Ohm Jakob aus der Bibel die Weisheit zitierte, nach der er sein Leben führte. Großmutter Constances nächste Worte machten das Bild noch deutlicher. - Doch ihr gehört nicht dem gleichen Glauben an. Tinus gehört zur holländisch-reformierten Konfession, und du, Roxie, wurdest als kleines Kind in meine Kirche aufgenommen. Wenn ihr eigene Kinder habt, kann es Schwierigkeiten geben.
Tinus’ leise, langsame Antwort ließ sie an ihre eigenen längst vergangenen Probleme und ihre Lösung denken. - Roxie und ich haben das besprochen, Großmutter Constance. Wir dienen demselben Gott, selbst wenn wir Ihn nicht in der gleichen Kirche verehrt oder in der gleichen Sprache zu Ihm gebetet haben. Wir sind übereingekommen, daß unsere Kinder, da die Mutter die Kleinen hauptsächlich erzieht und versorgt, in Roxies – und deinem – Glauben aufwachsen sollen. Wir sind schließlich beide Protestanten. Du und mein Onkel habt es auch so gehalten, in eurem Hause herrschte Toleranz, und in unserm soll es ebenso sein. - Deine Eltern werden nicht mit dir übereinstimmen. Sie sprach schroff, da sie sich der jahrelangen Entfremdung zwischen Stephanus und seinem Bruder Jakobus erinnerte. Er zuckte mit den breiten Schultern. - Sie haben Zeit gehabt, aus euerm Beispiel zu lernen. - Hoffentlich hast du recht. Die alte Dame runzelte die Stirn, während sie die schwierigen, ihr entgleitenden Gedanken und Einwände, die hervorgebracht werden mußten, sammelte. - Habt ihr an den Altersunterschied gedacht? Mehr als vier zehn Jahre sind viel. Er lächelte. - Ich habe schon die Pumps zum Tanzen aus dem Schrank gesucht. Roxane lachte. Wenn Tinus mit siebzig noch so frisch wie Ohm Jakob ist, werde ich über diese vierzehn Jahre nur froh sein! - Ich gebe zu, daß alles gut gehen kann – wenn Tinus der rechte Mann für dich ist, Roxie, sagte Großmutter Constance. Aber du mußt ganz sicher sein, daß er das ist. Du mußt auch mit dem Verstand denken, mein Kind, nicht nur mit dem Herzen. Ein wenig traurig erwiderte Roxane:
- Das habe ich getan, Großmutter Constance. Aber mein Herz nimmt keine Vernunft an, dachte sie. Die alte Dame fuhr hartnäckig fort: - Tinus war immer da. Diese Nähe ist eine gefährliche Sache. Wenn junge Leute dauernd zusammenstecken, glauben sie leicht, sie liebten sich… Sie brach ab, weil sie wußte, daß ihre Argumente recht lahm klangen. - Wir kennen uns gut, sagte Roxane. Doch als diese Worte ihre Lippen verließen, hörte sie im Geist Onkel Christophers Stimme: ,Selbst bei denen, die man am besten kennt, gibt es leere Räume… Achte sie… Versuche nie, allzu tief in das Leben eines anderen einzudringen!’ In ihr gab es Dinge, von denen Tinus niemals etwas ahnen würde – und zweifellos waren auch in seiner Seele dunkle Winkel. Doch mit der Würde, die so wenig zu ihrer Jugend paßte, fuhr sie fort: - Wir achten einander, Großmutter Constance. Sie zögerte und sagte dann mit einem ernsten Lächeln zu Tinus: - Ich glaube, wir werden uns nie absichtlich weh tun. Die Art, wie sie das sagte – so als löse sie sich von irgendwelchen Träumen –, trieb Großmutter Constance Tränen in die Augen. Diese Worte, ,Ich glaube, wir werden uns nie absichtlich weh tun’, entsprangen nicht den Gefühlen der Jugend. Tinus’ Stimme unterbrach das Schweigen. - Ich liebe Roxie. Ich liebe sie, seit sie als Kind hierherkam. Sie ist ein Teil von mir geworden. Großmutter Constance hatte sich wieder gefaßt. Nun stellte sie eine Bedingung. - Als Roxies Vormund muß ich eins verlangen. Wartet, bis sie einundzwanzig ist, ehe ihr eure Verlobung veröffentlicht.
Es ist jetzt Oktober, nur noch ein paar Monate bis Ende März. Wenn ihr dann noch der gleichen Ansicht seid, will ich keine Schwierigkeiten mehr machen, und ihr sollt meinen Segen haben. Tinus erhob sich und trat zu der alten Dame. - Wenn du es wünschst, werden wir bis zu Roxies Geburtstag warten. Es ist nicht wichtig, ob die andern Leute es wissen oder nicht. Es kam uns nur darauf an, daß du es weißt. - Und deine Eltern? - Wenn ich nach Hause fahre, wird Roxie mitkommen. Wir werden es ihnen zusammen sagen. Wir fahren, wenn die Kelterzeit vorüber ist – Ende März.
Einundzwanzigstes Kapitel DAS WIRD SIE TEUER ZU STEHEN KOMMEN, BAAS TINUS
Wenn Tinus später über die Art und Weise von Saartjes Verhaftung nachdachte, wurde ihm fast übel. Und er dachte oft darüber nach. Er träumte sogar davon. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er zum erstenmal bemerkt hatte, daß sie Dagga im Tal verkaufte – sie schmuggelte es aus irgendeiner harmlos aussehenden Schusterwerkstatt oder einem scheinbar respektablen Laden, versteckte und verkaufte es dann. Und das Versteck war seine eigene Wohnung gewesen! An jenem Juniabend hatte er bestimmt nicht geahnt, was vor sich ging. Der Argwohn war viel später gekommen, und der Beweis hatte sich erst nach Roxanes Rückkehr aus Europa ergeben. Aber dieser Abend im Juni verfolgte ihn im Schlaf. Die Erinnerung daran lag wie ein böses Reptil zusammengerollt in seinem Unterbewußtsein. Wenn er es nur herausholen und totschlagen könnte! Es ins Vergessen hinunterschleudern! Doch ein Mensch und seine Taten, ein Mensch und seine Erinnerungen sind unzertrennlich, und Tinus wußte, daß er sich nie ganz von seiner Schuld würde freisprechen können. Immer wieder beschäftigte ihn dieses Erlebnis, und er verabscheute sich selbst. Das Rugbywettspiel stand lange unentschieden, und der letzte Durchbruch – kaum eine Minute vor Spielschluß – hatte der Mannschaft des Kaplandes den Sieg gebracht, mit wilder
Erregung der Massen auf dem Sportplatz bejubelt. Nachher war Tinus mit Freunden in einem Restaurant gewesen, um den Sieg der eigenen Mannschaft zu feiern. Als er nach Dieu Donné zurückfuhr, fühlte er sich leicht schwindlig, und es dröhnte ihm in den Ohren. Er war vorsichtig gefahren, weil es regnete und die Straßen im Constantia-Tal dunkel waren. Überdies gab es Samstag abends immer Farbige auf den Straßen, manche von ihnen ziemlich betrunken, und Tinus war vernünftig genug, sich zu sagen, daß es ihm bei einem Unfall schwerfallen würde, den Polizeiarzt von seiner eigenen Nüchternheit zu überzeugen. Er hatte seinen Wagen in die Garage gebracht und nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen mit dem Hausschlüssel seine Wohnung geöffnet. Im Schlafzimmer brannte Licht, und im Innern verfluchte er Saartje wegen ihrer Vergeßlichkeit. Er goß sich einen Weinbrand mit Soda ein und schaltete den Rundfunkapparat an. Es war zehn Uhr fünfzehn, und er hoffte, die Reportage über den ausgezeichneten Wettkampf, den er gesehen hatte, zu hören. Es interessierte ihn, festzustellen, was der Sportkommentator dazu zu sagen hatte. Er persönlich war der Ansicht, daß die Verteidigung der Kapmannschaft mit ihren wunderbaren Weitergaben den Sieg davongetragen hatte. Er drehte sich eine Zigarette und versuchte, sie anzuzünden. Verdammt. Kein Benzin im Feuerzeug. Er sah sich nach einer Streichholzschachtel um. Keine zu finden. Saartje, das verdammte Mädel, ließ doch nie welche in der Diele liegen. Und wenn er sich beschwerte, sagte sie regelmäßig in ihrer frechen Art: ,Sie stecken sie immer in die Tasche, Baas Tinus – oder Ihre Freunde!’ Jetzt hatte er jedenfalls keine in der Tasche. Vielleicht fand er im Schlafzimmer eine Schachtel. Als er die Tür öffnete, sah er Saartje. Sie wandte ihm den Rücken zu und legte ihm einen Schlafanzug zurecht.
- Warum so spät? fragte er. Sonst bist du doch immer gegen sechs hier fertig. - Ich bin weg gewesen, erwiderte sie. Außer ihrer Anwesenheit in der Wohnung um diese Zeit ärgerte und verwunderte ihn etwas an ihrem Gehaben. Sie trug nicht, wie sonst, ihren lila Arbeitskittel. Sie hatte einen Rock an, der ihre runden Hüften eng umspannte, und eine dünne Bluse. Bei der raschen Bewegung des Kopfes fielen ihr die blauschwarzen Locken über die Schulter. Das Licht machte die Regentropfen in ihrem Haar zu winzigen Kristallen, während in den glänzendschwarzen Augen eine Mischung von Erregung und einem andern Gefühl flackerte, das Angst sein konnte. Ihr Atem ging rasch, als sei sie gerannt, und ihr ganzer Körper keuchte. Er verspürte einen verrückten Drang, die Hand auf ihre herausfordernde Brust zu legen und das Hämmern ihres Herzens zu spüren. - Du hast Angst. Seine Stimme klang heiser. Wovor fürchtest du dich? Sie trat einen Schritt näher und sagte leise: - Vielleicht fürchte ich mich vor Ihnen, mein kleiner Baas. Die Feuchtigkeit auf ihrer Haut und ihrem Haar verstärkte den Duft von Vanille – und von etwas anderem –, ein Geruch, der sein Blut erregte. Tinus sah die weißen Zähne zwischen den vollen halbgeöffneten Lippen leuchten, und mit einer raschen Bewegung faßte er zu. Die blaßbraunen Brüste – von der Farbe herbstlichen Farnkrauts – drängten sich ihm entgegen, und das Dröhnen in seinen Ohren schwoll so an, daß er den Sportbericht aus dem Nebenzimmer gar nicht hörte. - Nein! rief er. Nein! An diesem Punkt in seiner Erinnerung bedeckte er stets das Gesicht und stöhnte in einer seelischen Qual, die verzweifelter war als jeder körperliche Schmerz, laut auf. Gab es Sünden, fragte er sich, die nur den Sünder allein angingen? Die Stimme
seines Vaters schien über das meilenweite leere Veld und die Ketten der Gebirge zu rollen – ,Sie liegt auf der Lauer wie ein Raubtier und vermehret die Zahl der Frechen unter den Männern.’ Mehrmals noch traf er sie in seiner Wohnung, als ihre Arbeitszeit längst vorüber war – immer mit der heißen Erregung, die er, wie Männer so oft, mißverstanden hatte. Und dann fand er eines Tages die Spur – die trockenen Daggablätter auf dem Boden vor seinem Bett. Er hatte die alte Bettstelle zur Seite gerückt und sah die lose Dielenplanke. Hier war also das Versteck für dieses Unkraut – unter seinem Bett! Und irgendwer, der etwas von Zimmermannsarbeiten verstand, hatte es schlau verborgen. Ben natürlich – Ben hatte geschickte Hände und war gewohnt, den malaiischen Böttchern beim Reparieren der großen Fässer im Keller zu helfen. In seinen Ärger, von Saartje übertölpelt worden zu sein, mischten sich Scham und Ekel; in diesem Augenblick der völligen Erkenntnis hätte er sie umbringen mögen. Er hatte sich kaum Zeit zum Nachdenken genommen. Heiß vor Wut war er zur Polizei gegangen. Doch schon während er die Anzeige erstattete, bedrückte ihn ein Schuldgefühl, denn auch er hatte das Gesetz seines Landes gebrochen und gegen die Lehren seiner Kirche verstoßen. Sie ist jung, redete er sich ein; sie wird diesmal nur in die Besserungsanstalt kommen, nicht ins Gefängnis. Aber er wußte, daß die Strafen für Daggaschmuggel hart waren. - Sie wollen mich also loswerden! hatte sie gerufen. Warten Sie! Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Baas Tinus! Der Fall fand starkes Interesse in der Öffentlichkeit. Die Angeklagte war eine Tänzerin, die sich in der bekannten Theatervereinigung der Farbigen einen Ruf erworben hatte. Dazu das berühmte Weingut Dieu Donné. Und das Dagga war in der Wohnung des Verwalters versteckt worden. Tinus mußte
sich manche Neckerei von seinen Freunden gefallen lassen. Und dann war die ganze Geschichte vergessen. Sie ging in der tiefen Senkgrube des Kapklatsches unter, und aktuellere Skandale warfen ihre Blasen. Doch Roxane machte sich Sorgen. - Es gefällt mir nicht, Tinus. Ben ist so finster, seit Saartje fort ist. Er brütet richtig. Und wenn er dich ansieht – wirklich, sein Gesichtsausdruck macht mir Angst. Sie saßen auf einem ausrangierten Destillierapparat in der Sonne. Das aus weißem Stein gemauerte Fundament war von den Schatten der Magnolienblätter gefleckt, und daneben hoben die blauen Agapanthuslilien ihre Köpfe aus dem Beet. An dem kleinen Bach, der vor dem Rosengarten entlangfloß, wuchsen Zehrwurz, Schwert-, Taglilien und Farne. Von der Pergola dufteten süß die Glyzinien in der heißen Sonne. - Ben war daran gewöhnt, von Saartje Dagga zu bekommen, sagte Tinus leichthin. Jetzt ist das aus. Und ich bin schuld daran, weil ich das Mädchen habe verhaften lassen. Er hat schon Grund, wütend auf mich zu sein. - Es ist noch mehr. Ihr nachdenklicher Blick folgte dem Bach zu den Weiden rund um den Teich. Nenn es Intuition, wenn du willst, aber ich habe das Gefühl, es reicht tiefer. Tinus wußte, daß sie recht hatte. Der junge Ben war sein ganzes Leben lang Saartjes Sklave gewesen. Und seit er sein Gehör verloren hatte, war er immer eifersüchtiger geworden. Wie ein Schatten hatte er sie verfolgt, und sie hatte es ihm erlaubt, wenn sie ihn auch nicht mehr beachtete als einen Hund. Er hatte es mit der Demut eines Menschen hin genommen, der sich seines körperlichen Mangels genau bewußt ist. Es gab nur sehr wenig, was Ben nicht von Saartje wußte. Roxane fuhr fort: - Ben tut mir leid, aber um dich mache ich mir Sorgen. Er lachte und griff nach ihrer schmalen gebräunten Hand. - Ich kann schon auf mich aufpassen.
- Ein Mensch macht einen Fehler, und so viele leiden darunter, sagte Roxane. Denk nur an die arme alte Lizzi. Sie hat sich so große Mühe gegeben, Saartje ordentlich zu er ziehen. Daß ihre Nichte in der Besserungsanstalt ist, verletzt sie bis ins Innerste. Seither ist sie so still – nicht einmal Josua schreit sie mehr an. - Dann hab ich doch wenigstens einem Menschen einen guten Dienst geleistet – Josua. Sie lächelte, drückte seine Hand, doch ihr Geist war weit fort. - Saartje tut mir sehr leid, sagte sie. Ich weiß nämlich, warum sie das getan hat. Erstaunt blickte er sie an. - Natürlich um Geld zu kriegen. - Ja. Aber ich weiß, wozu sie das Geld brauchte – und ich kann sie verstehen. Sie ist ganz verrückt darauf, nach Eng land zu fahren und dort am Theater berühmt zu werden. Sie hat oft mit mir darüber gesprochen. Sie glaubt wirklich, sie könne es zu etwas bringen – es ist nicht einmal unmöglich. Sie hat die nötige Dreistigkeit, einen besonderen Charme – und ist eine Persönlichkeit… - Ja, sagte er bitter. Das habe ich bemerkt. Dieses Gespräch über Saartje beunruhigte ihn. Roxane leuchtete mit der unschuldigen Fackel ihres Mitleids und Verständnisses in einen dunklen Raum, in dem die Gründe für seine Furcht und seinen Abscheu versteckt lagen. Zorn flammte in ihm auf. - Wieso könnte ihr verrückter Ehrgeiz eine Sache wie Daggaschmuggel entschuldigen? - Vielleicht nicht entschuldigen – aber doch erklären. Auf welche Weise könnte ein Mädchen in ihrer Lage sonst – außer vielleicht durch Diebstahl – das Geld zusammen bringen, das sie braucht, um sich die Kleider und das Flitterzeug für die
Verhandlungen mit Agenten und Theaterdirektoren zu besorgen? Man muß sich einmal in ihre Situation versetzen. Jedenfalls konnte sie nicht erkennen, daß es wirklich schlecht ist, Dagga zu schmuggeln und zu verkaufen. Die Männer ihres Volkes haben es immer geraucht, wenn sie es nur bekommen konnten… - Das ist wirklich eine überzeugende Begründung! fuhr er auf. Und außerdem albern. Nur Gesindel raucht dieses Zeug! Doch Roxane blieb bei ihrer Meinung. - Auf jeden Fall ist sie überzeugt, daß viele Männer es tun. Sie hat sich einfach gesagt, wenn sie es ihnen nicht verkauft, tut es ein anderer. Denk nur an eure Diamantenschmuggler in Kimberly. Die machen ein Vermögen mit ihren ungesetzlichen Diamantenkäufen. - Das ist etwas ganz anderes, warf er heftig ein. Ungeschnittene Diamanten zu kaufen – und zu verkaufen – tut niemand weh und schadet niemand außer dem Narren, der sich erwischen läßt und in den Kerker geht. Aber Dagga ist indischer Hanf – das Rauschgift, das man den Assassinen, den Haschischmördern, gab, ehe sie ihre Morde begingen –, ein Gift, das seine Opfer zum Amok bringt. In Amerika nennt man es Marihuana, und schon Schüler und Schülerinnen rauchen dieses verdammte Gift – und bei uns fangen die weißen Jungen und Mädchen ebenfalls damit an. Das muß ausgerottet werden – und die Polizei wird dafür sorgen! Sie schüttelte eigensinnig den Kopf. - Wir wissen, daß Dagga und alles, was man damit tut, böse ist. Aber bei vielen von den Farbigen ist das anders. Für sie ist es der einzige Weg in einen Traumzustand, in dem der arme alte Nicht-Weiße für eine Nacht zum Giganten werden kann – genausoviel wert wie du – seiner Meinung nach. Nie hat Saartje sich vorgestellt, daß sie Menschen verführt…
- Verdammt noch mal, das hätte sie aber tun müssen! Sie hat genug von dem Elend gesehen, das von Dagga hervor gerufen worden ist, besonders wenn ein Mann getrunken hat! Sie hat ihr ganzes Leben hier im Tal zugebracht und kennt all seine Laster. Sie hat gesehen, wie Männer ihre Frauen zum Krüppel geschlagen haben, wenn sie das Zeug geraucht hatten, und sie weiß, daß der Bruder vom alten Klaas im Daggarausch einen Mann beim Streit um ein Mädel erschlagen hat. Sie weiß, daß die Hälfte der Verbrechen, die hier begangen werden, Vergewaltigung und Totschlag, auf den Einfluß von Schnaps und Dagga zurück zuführen sind. Sie weiß das alles, deshalb gibt es keine Entschuldigung für sie! - Eben hast du wie Ohm Jakob gesprochen, sagte Roxane. Jeden Augenblick dachte ich, du würdest die Bibel zitieren. Sie blickte ihn mit weit geöffneten Augen an. - Roxie, sagte er und fror plötzlich bis ins Mark, ich glaube, jetzt streiten wir uns gar – zum erstenmal im Leben? - Ja, erwiderte sie, und ihre Stimme hatte einen neuen, fernen Klang. Sieh mal, alter Tinus, das ist etwas, was du nicht verstehst. Aber ich versteh’s. Saartje hatte ihre Träume – gewiß, sie waren vielleicht verrückt, aber sie glaubte daran. Und sie tat etwas Böses, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist ihr nicht gelungen, und all ihre Träume sind zerbrochen. Mir tut es weh, wenn ich sehe, wie Träume zerbrechen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Die winzigen schimmernden Splitter zerschlagener Träume schienen wie leuchtende Sonnenstäubchen durch die Dunkelheit hinter ihre geschlossenen Lider zu fallen. Sie spürte, wie Tinus sie umschlang und an sich zog. - Nicht! bat er. Zwischen dir und mir darf es nie Mißverständnisse geben. Ich weiß, ich bin unduldsam. Ich bemühe mich, dagegen anzugehen. Und mit dir wird es mir
gelingen. Die Erziehung ist bei uns Buren schwer zu überwinden. - Es ist schon gut, sagte sie. Ich weiß. Sie sah ihn mit einer seltsam mütterlichen Güte an. Und da wußte sie, daß sie mit diesem Mann immer fertig werden würde, genau wie Tante Petronella mit Ohm Jakobus. Der Mann hielt sich für den Herrn im Hause – und das sollte er auch in allen praktischen Dingen sein –, aber in dem, was wirklich zählte, hatte die Frau die Zügel in der Hand, sanft, aber mit Kraft… So war es in den meisten afrikanischen Häusern, so würde es auch in dem ihren sein. Sein Seufzer war fast wie ein Stöhnen. - Roxie, Roxie… ich liebe dich so sehr… zu sehr… - Ich bin froh, flüsterte sie. Es ist schön, geliebt zu werden – und zu lieben.
Roxane klopfte an die Tür zum Arbeitszimmer im Turm und trat ein. Adrian wandte sich vom Schreibtisch um und erhob sich, sie zu begrüßen. Sie meinte, er sehe verzweifelt müde – oder krank aus. - Sie arbeiten zuviel, sagte sie. Sie haben Ihre Augen über anstrengt. Die Augen hinter der Brille waren tatsächlich matter und röter als sonst, und sein übliches Begrüßungslächeln fehlte. - Setzen Sie sich, Roxane! sagte er. Und auch die Stimme klang erschöpft. Wir haben schlechte Nachrichten. Ich will es Ihnen lieber gleich erzählen. Sie legte ihre Abschriften auf den großen Nußbaumschreibtisch und setzte sich dann ruhig auf die Fensterbank. Er hinkte zu ihr hinüber – seine Glieder bewegten sich schwer wie unter bleiernen Gewichten – und blickte
hinaus über das Tal, das Meer und die blauen Berge. Die Finger seiner rechten Hand streckten und krümmten sich nervös, während er schweigend auf die jungen grünen Reben im Morgenlicht starrte. Die feinen, durchscheinenden Blätter der Pappeln zitterten und funkelten, gelbe und blaue Lupinen und hohe rote Watsonien breiteten bunte Teppiche über die welligen Hänge. Überall lagen große Reisighaufen. Es war Ende Oktober, der Höhepunkt der Blütezeit. Adrians Blick sah nichts als Schönheit, doch er fand keine Freude daran. - Hal hat heute früh aus London angerufen. Alexa… Er strich sich mit der Hand über die Stirn, und Roxane sah, wie sein Adamsapfel arbeitete. Alexa… ist tot… in Neusee land… in Wellington… vorige Nacht. Sie starrte ihn an, die Farbe wich aus ihrem Gesicht. - Alexa – tot? Sie schüttelte langsam den Kopf. - Nein… Sie hat eine Überdosis Schlaftabletten genommen – eins dieser neuen Mittel, die zu dem unnatürlichen Zeitalter gehören, in dem wir leben. Warum die Ärzte so gefährliche Dinge verschreiben, weiß Gott allein. Man spürte den Schmerz in seiner Stimme; auf seine Art hatte Adrian die Frau seines Sohnes geliebt. Oder vielleicht war es Alexa, die Tänzerin, die er geliebt hatte, die Schauspielerin, die seiner Lieblingsgestalt Olga – seiner Galatea – Leben verliehen hatte. - Hal ist fassungslos, fuhr er fort. Er schien ganz von Sinnen. Aus irgendeinem Grund macht er sich bittere Vorwürfe. Ich konnte den Grund nicht feststellen – er sagte es nicht ausdrücklich, aber er scheint sich verantwortlich dafür zu fühlen… - Aber warum? rief sie. Wie könnte Hal dafür verantwortlich sein?
Er hob den Kopf und blickte sie an. Ihr Gesicht war totenblaß, und ihre Augen forderten Antwort auf ihre Frage. Er machte eine hilflose Bewegung. - Lavinia erklärt, Alexa sei irgendwie von dem Gedanken besessen gewesen, daß ein Kind sie als Tänzerin ruinieren würde. Sie wollte Alessandra nicht – aber Hal. Und auf irgendeine tragische Weise verwirklichte sich ihre Furcht. Sie glaubte, sie versage nun… Er hielt inne, nahm die Brille ab und putzte sie, als habe sich ein Nebel vor seinen Blick gelegt. Dann fuhr er in ruhigerem Ton fort: Und zu dieser Tournee verpflichtete sie sich nur, um Gelegenheit zu haben, ihre frühere Vollkommenheit durch Übung zurückzugewinnen – in Australien und hier ist das Publikum nicht allzu kritisch und verwöhnt, es vermag nicht die jetzige Alexa mit jener zu vergleichen, die nur der Fonteyn nachstand. Doch selbst das gelang ihr nicht. Sie hatte schwache Kritiken, und schließlich stritt sie sich mit Simonoff, sagte, er unterstütze sie nicht gut, bringe sie nicht genügend in den Vordergrund, sondern tanze egoistisch, um den Applaus für sich selber zu gewinnen. Nach diesen enttäuschenden Vorstellungen, diesen Szenen mit Simonoff konnte sie nicht schlafen. Und… und ja… das Ende wissen wir schon. Er wiederholte das Wort ,Ende’, als wolle er sich diese Tatsache einprägen. Roxane erhob sich – eine erwachsene junge Frau. Das Licht fiel voll auf ihr erschüttertes, ungläubiges Gesicht. - Das mag alles sein. Aber das ist doch kein Grund für Hal, sich für ihren… Tod verantwortlich zu fühlen. Da ist noch etwas anderes, Adrian – irgend etwas, was er Ihnen nicht erzählt hat. Es muß etwas anderes sein.
Zweiundzwanzigstes Kapitel DAS CONSTANTIA-FEST
Ende November – die Jahreszeit der Wohltätigkeitsbasare und Buschfeuer. In der geräumigen Küche von Dieu Donné waren Lizzi und Roxane eifrig beim Kuchenbacken. Morgen sollte das Kinderfest des Tales auf Großmutter Constances Grundstück gefeiert werden. Lizzi war müde und reizbar nach einer schlaflosen Nacht. - Ben macht mir Sorge, Miß Roxie, gestand sie. Wird immer schlimmer mit ihm – ewig jagt er hinter de Feuer im Gebirge her. Ich weiß gar nich mehr, was in seim Kopf vorgeht… Die alten Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, sie wandte sich schroff ab und schob eine Kuchenform in den Herd. Roxane war es, als könne sie Lizzi die unausgesprochene Furcht vom Rücken ablesen: War der Brandwächter zum Brandstifter geworden? War Ben eine Feuerwalze? Doch sie sagte nur leise: - Es ist so schrecklich, daß ausgerechnet Ben taub werden mußte! Deshalb muß man Nachsicht mit ihm haben, Lizzi. Er hat die Musik so sehr geliebt. Bei allem war er immer vorneweg. Die alte Köchin seufzte. - Das stimmt. De Vögel hat er aus de Bäume gerufen… Morgen spielt de Constantia-Kapelle hier. Er is immer ganz aufgestört, wenn er de Musikanten sieht un nich hören kann. Roxane versuchte, Lizzi von Ben abzulenken.
- Morgen werden eine ganze Menge guter Vorführungen sein. Wir müssen den Daumen halten, daß es schönes Wetter gibt – keinen Wind. Voriges Jahr brachte das Fest über tausend Pfund für unsere Kinder ein. Wir müssen den Betrag dieses Jahr übertreffen. - Es heißt, berühmte Schriftsteller komm auch und schreiben ihren Namen in de Bücher für einen Taler. Wird Mr. Fairmead auch komm, Miß Roxie? Sie zögerte. - Ich glaube. Schließlich ist’s schon sechs Wochen her, seit… Lizzis blanke Knopfaugen fuhren von der Teigschüssel hoch. - Hat Miß Alexa die Tabletten absichtlich genomm? Sogar hier – dachte Roxane –, sogar in unserer Küche wird die Frage gestellt! Die Umstände von Alexa Romes Tod hatten dem Klatsch wochenlang den gierigen Rachen gestopft. Das war ein Mahl! Der Untersuchungsrichter hatte ,Tod durch Unglücksfall’ bescheinigt und eine Klausel angefügt, die das Publikum vor dem leichtfertigen Gebrauch von Barbitursäure-Präparaten warnen sollte. Doch das Geheimnis blieb bestehen. Und viele behaupteten, sie wüßten es besser als der Richter. Die allmächtigen SIE des Tales flüsterten, Alexa habe sich nicht allzugut mit ihrem Ehemann vertragen und – schlimmer noch – ihre Anziehungskraft als Tänzerin verloren. Nur der Gipfel sei gut genug für Alexa gewesen, und für Ehe und Kinder sei auf der Spitze des Ruhmes kein Raum. Seht euch die Fonteyn an – nichts und niemand durfte der bei ihrer Kunst dazwischenkommen! Die Shearer hatte geheiratet und ein Kind bekommen, und dann hatte sie – nach einem blendenden Comeback – erklärt, sie wolle sich auf die Schauspielbühne beschränken. SIE sagten, Alexa habe diese Möglichkeit nicht besessen, sie habe keine Texte lernen können, sie habe nur aus Musik und Bewegung gelebt, in der Welt des Mimus, nicht in der der Sprache. SIE deuteten an, Alexa habe sich – wie die
Olga in der Ballerina – selbst das Leben genommen, wenn auch aus anderen Gründen. Olga hatte sich getötet, weil ihr Geliebter sie um einer andern Frau willen verlassen hatte. Sie wollte das Leben ohne ihn nicht ertragen. Alexa dagegen hatte dem Leben den Rücken gekehrt, als sie feststellte, daß ihr Genius sie verlassen hatte. Roxane sagte: - Alexa Rome konnte während der Tournee nie richtig schlafen. Deshalb hatte sie sich die Schlaftabletten angewöhnt. Sie hat die Menge zu sehr gesteigert. Das war alles. - Wird viel gered, erwiderte Lizzi. - Das ist immer so. Roxanes Ton war scharf. Schieb die Formen in den Ofen, Lizzi! Ich mache einen Spaziergang. Ich bringe den Enten ein paar Brotrinden. - Zu heiß, jetzt auszugehen, Miß Roxie. - Unten am Teich ist’s kühl. - Setzen Sie wenigstens ‘n Hut auf! - Mach keine Geschichten, Lizzi! Ich kann schon auf mich selber achtgeben. - Nur mit de Hilfe des Herrn! sagte Lizzi streng. Aber sie gab Roxane ein paar Rinden für die Enten. Die Sommerhitze glastete über Rasen und Beeten, und der Duft vom Geißblatt und Rosen hing schwer in der Wärme des windlosen Mittags. Roxane schlenderte zum Teich hinunter und streute den Enten die Brotkrumen aufs Wasser – malerische Vögel, wie Kinderspielzeug. Sie glaubte nicht, daß Alexa Selbstmord begangen hatte. Sie hatte gewiß nur Ruhe gesucht – Schlaf, nicht Tod. Und doch konnte sie Adrians Worte nicht vergessen. - Hal ist fassungslos – er scheint sich Vorwürfe zu machen. Warum? Aus welchem Grunde sollte Hal sich Vorwürfe machen? Sie setzte sich auf die kleine Bank unter der Platane. Hier hatte Tinus ihr die Zukunft vor Augen gestellt – einen Tag,
nachdem die Nachricht allgemein bekanntgeworden war. Er hatte neben ihr gesessen, die blinde Seite ihr zugekehrt, stoisch und ausdruckslos. Sie wußte, daß er litt und entschlossen war, es ihr nicht zu zeigen. - Roxie, hatte er gesagt. Ich muß die Wahrheit wissen. Diese neue – Situation – ändert sie etwas zwischen dir und mir? Jener Druck, der während der vergangenen Wochen, seit sie ihm ihr Jawort gegeben hatte, auf seinem Wesen gelastet hatte, war gewichen. - Weshalb sollte Alexas Tod irgend etwas zwischen dir und mir ändern? hatte sie ruhig gefragt. - Als junges Mädchen hast du Hal Fairmead geliebt. Soweit ich weiß, liebst du ihn noch immer. - Ich bin mit dir verlobt, hatte sie erwidert. Und in jedem Fall hat Hal Fairmead mich niemals geliebt. Er wird es auch nie tun. Alexa war der einzige Mensch, der ihm etwas bedeutet hat. Sie sah, wie sich ein Muskel an seinem Mundwinkel spannte. Sie hatte ihre frühere Betörung nicht geleugnet – nicht einmal für die Gegenwart. - Alexa ist tot, hatte Tinus gesagt. Hal Fairmead ist ein freier Mann – er kann dich heiraten. Darauf hatte sie mit mehr Bitterkeit gelacht, als sie ahnte. - Wenn Hal die Freiheit gewünscht hätte, um mich – oder sonst jemand – zu heiraten, so hätte er sie leicht haben können. Alexa hätte ihn nicht gehalten. Von allen Menschen der Welt war sie der unabhängigste. Sie hatte nicht vor, jemand gegen seinen Willen zu besitzen – und wollte selbst keinem gehören! - Weißt du das? - Ich weiß es genau – wenn ich auch nicht sagen kann, woher und wieso. Roxane hatte innegehalten, während ihr der Gedanke kam: Wenn Hal jemals gesagt hätte, ,Ich liebe dich’, oder ,Ich
wünschte, ich könnte dich heiraten’, würde ihre Antwort für Tinus anders lauten. Sie hätte gesagt, ,Diese neue Situation ändert alles zwischen dir und mir von Grund aus, Tinus’. Statt dessen hatte sie ihm gesagt, was sie für die volle und endgültige Wahrheit hielt: - Mehr als alles auf der Welt hat Hal sein Glück mit Alexa gewünscht. Er wird sie nie vergessen. Sie ist ein Teil von ihm geworden. - Und du bist ein Teil von mir, Roxie, hatte er erwidert und ihr endlich sein Gesicht zugekehrt. Der Teil, der gut und heil ist. Ohne dich gibt es nichts. Die einfache Aufrichtigkeit seiner Worte hatte sie tief bewegt. Sie wollte dem Weg folgen, den sie selbst gewählt hatte. In ihrer Ehe würde es Kinder geben. Die große Freude für sie würde eines Tages in den Kindern liegen.
Der Morgen des Festtages auf Dieu Donné war ruhig und warm. Kein Blatt bewegte sich. Um sieben Uhr flossen die Stände bereits über von Obst, Gemüse, Geflügel, Eingemachtem und Aletta Krikes berühmter Burenwurst. Louise Krifti brachte Eimer voll Gladiolen und Bärenklau, und gleich nach dem Frühstück richtete Merle ihren Handarbeitsstand ein. - Reizende Sachen, sagte Roxane, die ihr beim Ausbreiten der Waren half. Die werden im Handumdrehen verkauft sein. - Ja, alle, außer Großmutter Constances Machwerken, grinste Merle. Die werde ich wahrscheinlich selber kaufen müssen. Karl Krike hatte den Aufbau der Verkaufsstände am Vorabend überwacht, und Tinus und Brink, der Hofmeister, hatten Führungen durch die berühmten Weinkeller von Dieu Donné festgelegt.
Um zehn Uhr war das Gut bereits übervölkert, und als der gütige, lahme Bischof von Kapstadt humorvoll und streitbar von seinem Podium herabblickte, um seine Eröffnungsansprache zu halten, sah er in die glücklichen, emporgewandten Gesichter eines Heeres von Kindern, Eltern und Großeltern. Freude erfüllte sein altes Herz. Das hier war etwas Gutes! Das wurde ein Familientag, und alle würden ihren Spaß dabei haben – die Weißen wie die Farbigen. So sollte es sein. Ben im weißen Anzug schob Großmutter Constances Rollstuhl von Stand zu Stand. Im Augenblick hielt er an, damit sie ein Wort mit dem alten Klaas, dem Gärtner, reden konnte. Klaas warf ängstliche Blicke auf das lebendige Mosaik seiner Blumenbeete. Bis zum Abend würden viele seiner Blumen von unachtsamen Füßen zertreten oder von ungezogenen Händen abgerissen worden sein. Klaas hatte für Feste auf Dieu Donné gar nichts übrig. - Manchmal ist es gut, unsern Segen zu teilen, Klaas, sagte Großmutter Constance. - Ja, Oumissus, stimmte er zu. Aber Kinder sin wie junge Tiere im Garten. Man muß sie anbinden. Sie lachte, hatte jedoch ein gewisses Mitgefühl für ihn. Morgen würde er viel im Garten aufzuräumen haben. Roxanes Aufgabenbereich war die Verpflegung, und die alte Dame sah die schlanke Gestalt zwischen der Küche und den kleinen Tischen unter den Eichen hin und her eilen. In einem ruhigen Winkel des Parks fand Großmutter Constance den ,Zoo’, wo Jantje Krike mit seinen Freunden eine recht gemischte Sammlung der Fauna ausgestellt hatte. Da gab es Kaninchen der verschiedensten Rassen, unerwünschte Kätzchen und junge Hunde, einen kleinen zahmen Springbock und ein roh zusammengeschlagenes Vogelhaus mit geflügelten Bewohnern.
- Und dann kommen noch ein paar Kanarienvögel, sagte Jantje. Wenn jemand Sperlingspapageien haben will, fangen wir sie aus dem Aviarium und setzen sie in Käfige. Käfige haben wir genügend gebaut. Großmutter Constance ließ sich nicht zu nahe an Jantje heranfahren. Es war allgemein bekannt, daß man ihn selten ohne die Taschen voller Schlangen traf. Alle waren eifrig bei der Arbeit. Aus dem Lautsprecher erklang Musik, von Zeit zu Zeit durch Ankündigungen unterbrochen, und die Luft war voller Vogelrufe und glücklicher Kinderstimmen. Großmutter Constance seufzte. Von Dieu Donné sollten auch schon welche darunter sein. Doch Merle lachte noch immer und sagte: - Nächstens – wenn wir unsere Europareise hinter uns haben – dann vielleicht… Großmutter Constance wandte den Kopf und machte Ben ein Zeichen. - Laß mich hier! sagten ihre Lippen schweigend. Sie zeigte ihm die Uhr und gab ihm durch Gesten zu verstehen: Hol mich in einer halben Stunde ab! Er nickte und verschwand unter den Bäumen. Der Platz, den Großmutter Constance sich ausgesucht hatte, lag im Schatten eines großen Nußbaums und überblickte die Gärten und Wiesen, obwohl er außerhalb des Lärms der fröhlichen Menge Tag. Sie konnte zusehen, ohne gesehen zu werden. Doch Mr. Krifti hatte sie beobachtet und folgte ihr, um mit ihr zu reden. - Ein reizender Tag, Mrs. de Valois – und, wie es aussieht, auch ein erfolgreicher! Am Tor sind schon viele hundert eingenommen. - Das hörte ich, Mr. Krifti. Hoffentlich lohnt es sich für den Kinderfonds.
- Leider richtet so etwas immer viel Schaden auf dem Grundstück an. Er wies auf die Blumenbeete. Die Kleinen werden sich schon bedienen. - Das glaube ich nicht, erwiderte sie. In jedem Fall ist es, wie ich Klaas schon sagte, eine Freude, die Schönheit von Dieu Donné hin und wieder einmal mit andern zu teilen. - Weshalb wollen Sie nicht dauernd teilen – mit einem stattlichen Profit für Sie? Das Land, auf das ich bis zum Frühjahr eine Hypothek hatte, würde ich gern kaufen. Ich würde ein sehr gutes Angebot machen. Angesichts seiner Beharrlichkeit fühlte sie sich alt und müde. Verliere ich schon den Mut? fragte sie sich. Immer ist er hier – immer versucht er, mir meine Weinberge abzunehmen – mit anständigen und unanständigen Mitteln. - Wozu brauchen Sie es? fragte sie erschöpft. - Ich möchte sehr vielen Menschen sehr viel Freude machen – wie Sie es heute tun. Ich würde gern auf diesem Teil Ihres Besitzes ein Hotel errichten – das nach der Art eines Landklubs geführt wird. Er balancierte auf dem Jagdstock, den er bei sich hatte, die Hände hingen zwischen den Knien, und sie sah den Rosenkranz aus den kleinen Elfenbeinschädeln zwischen seinen Fingern. - Ich würde Guy den Auftrag geben, den Komplex zu entwerfen. Ihm würde das viel bedeuten… Über seinem Kopf spielten die Blätter. Er war fast kahl. Nur wenige Haarsträhnen bedeckten den gelblichen Schädel. Er wird alt, dachte sie. Er muß seine Pläne bald ausführen – oder es wird zu spät. Jetzt bot er ihr also nicht nur Geld, sondern machte auch Versprechungen zu Guys Nutzen. Plötzlich rastete irgendeine Feder in ihrem Gehirn ein: Als Merle neulich über die bevorstehende Europareise gesprochen hatte, sagte sie:
- Guy hat nächstens ein paar große Aufträge. Deshalb möchten wir erst reisen… Was für große Aufträge konnte Merle gemeint haben? Um ihr Herz schien sich eine Faust zu schließen und zuzudrücken. Einen Augenblick lang war das warme Grün und Gold des Vormittags grau und winterkalt geworden. Sie faßte sich. - Mr. Krifti, ich verkaufe meine Weinberge nicht – nicht einen einzigen! Doch ihre Stimme war schwach. - Lohnt es sich denn, sie zu halten… eine Weile hinaus zuschieben – was doch unvermeidlich ist? Das fand sie ungewöhnlich – die Fähigkeit, Furcht und Zweifel einzuflößen – bei diesem Mann, dessen Benehmen so zurückhaltend und dessen Stimme immer weich und leise war. - Sie müssen sich schon deutlicher erklären, sagte sie. - Wünschen Sie das wirklich? Sie zögerte, weil sie sich vor dem fürchtete, was er vielleicht sagen könnte. Dann raffte sie sich auf. - Ja, Mr. Krifti, ich wünsche es. - Dann hören Sie gut zu, Mrs. de Valois. Die Weinberge, auf die ich eine Hypothek hatte, brauche ich notwendig für meine Pläne, das Hotel Constantia zu bauen. Es ist ein großes Unternehmen – es brächte Geld ins Tal. Sie haben die Hypothek abgelöst, und mein Plan hat sich zerschlagen – für den Augenblick. Doch ich möchte diesen Boden noch immer kaufen. Nun schneidet, wie Sie wissen, Merles Besitz in diesen Teil Ihres Gutes ein. Wenn ich meine Absichten ausführen will, brauche ich auch Ihr Stück. Großmutter Constance lächelte dünn. - Ich kann mir nicht vorstellen, daß meine Enkelin ihr Haus und Land verkaufen würde, ohne mir ein Wort zu sagen. Die kleinen Schädel rannen durch Kriftis Finger – rasch wie Sand im Stundenglas.
- Sie täuschen sich, Mrs. de Valois. Ihre Enkelin ist ein vor ausschauender Mensch – und die Zukunft ihres Mannes liegt ihr am Herzen. - Welchen Grund haben Sie zu der Annahme, daß Merle ihren Besitz an Sie verkaufen würde? - Ich habe eine Option darauf. Wenn es Ihnen nicht gelungen wäre, Ihre Hypothek abzulösen, hätte Merle mir ihr Haus in dem Augenblick verkauft, in dem Ihre Weinberge mir gehörten. Dann wären die Bulldozer inzwischen schon dabei, den Boden zu planieren. Wieder preßte sich diese grausame Faust um ihr Herz. Und nun liefen ihre Gedanken – wie verlorene Schafe – durcheinander, doch sie brachte sie mit Hilfe des Hundes Willen zurück in die Hürde. - Wozu erzählen Sie mir das? Was könnte es Ihnen oder mir nützen? - Ich versuche Sie davon zu überzeugen, daß es keinesfalls Sinn haben kann, ein Stück Boden festzuhalten, das eines Tages doch für Dieu Donné verloren ist. Krifti wußte, daß er damit ein Risiko einging. Aber er war auf seine eigene, sonderbare Art ein Spieler. In kurzer Zeit würde die neue große Ausfallstraße durch die südlichen Vorstädte von Kapstadt an dem Gut Dieu Donné vorbeiführen. Und wenn das geschah, würde der Wert des Bodens scharf ansteigen. Er hatte nicht die Absicht, auf diese Werterhöhung zu warten, wenn er jetzt kaufen konnte. Er brauchte diese Weinberge – und er wollte sie bald haben! Er meinte, die alte Dame würde es sich vielleicht anders überlegen, wenn sie annehmen mußte, daß Merle bereit war, Dieu Donné stückweise zu verkaufen, sobald sie die Augen geschlossen hatte. Deshalb wagte er, das Risiko einzugehen, da er wußte, der Gedanke, ihr eigen Fleisch und Blut zu enterben, würde ihr nicht in den Sinn kommen. Sie
würde sich auf ihren Fetisch verlassen: das Blut der de Valois auf dem Erbe der de Valois. In einem Ton, der vernünftig und überredend zugleich war, sagte er: - Sie haben heute die Welt hier willkommen geheißen – und es macht Sie glücklich, die Freude zu sehen, die Sie andern schenken. Weshalb wollen Sie Ihren Besitz nicht um ein paar Morgen verkleinern und diese Außenwelt ein wenig näher kommen lassen? Was würde es schaden? Sie behielten immer noch das Hauptstück – das eigentliche Herz des Tales. Begnügen Sie sich damit! Hinterlassen Sie Merle dieses Kernstück ohne Schulden, so daß sie ihm gerecht zu werden vermag. Und vergessen Sie eins nicht: Wenn Sie mein Angebot auf Ihr Land annehmen, werden Sie in der Lage sein, auch Roxanes Zukunft zu sichern. Als sie schweigend im Rollstuhl saß und die Niederlage schon zu spüren schien, holte er zum letzten Angriff aus. - Opfern Sie nicht die Substanz der Gegenwart den Schatten der Vergangenheit auf – die Interessen der Lebenden einer falschen Treue gegen die Toten! Ich bin alt, dachte sie, ich bin sehr alt und möchte tun, was das beste ist und was recht ist. Vielleicht hatte ich die ganzen Jahre unrecht – vielleicht war ich zu stolz und unbeugsam in meinem Entschluß, das Gut ungeschmälert zu erhalten. Aber ein Hotel – Touristen – Gesellschaftsomnibusse – eingeborene Boys, die hinter Mädchen und Schnaps her sind… Sie schloß die Augen, und die Bilder, die in ihrem Geist aufstiegen, zerstörten allen Frieden. Sie öffnete sie und betrachtete das schöne Bild, das ihr Erbe bot. Gärten und Weinberge, Meer und Gebirge. Mußte ihre antike Heiterkeit von modernen Gebäuden zerstört werden, die die Natur verdrängten, die sich lärmend in das friedliche Bild der welligen Rebenhänge fraßen? Sie hörte Kinderstimmen,
mahnende Rufe der Eltern, dazwischen das Blöken des Lautsprechers. An diesem Geräusch starb die ganze Freude des Tages. Während Großmutter Constance lauschte, spürte sie, daß sie ihrer nicht mehr sicher war, daß nichts mehr gewiß war. Irgendwo in ihr tauchte ein Gedanke auf – wie ein schwarzes Schaf, das sie nicht gesucht hatte und das doch ungerufen wiederkam –, der traurige, übelkeiterregende Gedanke an Merle. Während der ganzen Zeit, in der sie um Dieu Donné kämpfte, hatte Merle sich nicht gekümmert – sie war der heimliche Feind innerhalb der Tore, der auf seine Zeit wartete, die Festung zu verraten. Mr. Krifti hatte sich erhoben und zeichnete mit der Spitze seines Jagdstocks Muster in den Kies. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, und sein Schatten fiel über ihren Stuhl – der Schatten des Geiers, der das Herannahen des Todes wittert. - Mr. Krifti, sagte sie endlich, ich will über das, was Sie mir gesagt haben, nachdenken. Als er sich umdrehte, sah sie die Befriedigung in seinen Augen. Sie wußte, daß in ihren Worten der Keim der Kapitulation enthalten war. Zum erstenmal hatte er eine ernste Bresche in ihre Abwehr geschlagen. Und der Verrat war aus Dieu Donné selbst gekommen – von ihrer eigenen Enkelin.
Die Musikanten in den seidenen Harlekinkostümen waren die Auffahrt hinunterstolziert, die Farbigenkinder singend hinter ihnen her. Die letzten Festteilnehmer hatten sich in ihre Wagen gedrängt und waren davongefahren. Tinus stand mit Roxane an dem Geländer vor dem Rosengarten. Im Westen sahen sie die goldene Glut des Waldbuchtpasses. Der Südost begann zu wehen, und das Laub der Eichen flüsterte. Wolkenfetzen fegten über den Berg – die ausgefransten Enden des großen
weißen ,Tischtuchs’, das inzwischen den Gipfel des Tafelberges bedeckte. - Gut, daß der Wind nicht früher kam! sagte Roxane mit einem leichten Gähnen. Sie war müde, aber es war ein schöner Tag mit hohen Einnahmen gewesen. - Hast du Ben gesehen? fragte Tinus. Er sollte beim Sauber machen die Aufsicht führen. - Er muß irgendwohin gegangen sein, erwiderte sie. Großmutter Constance brauchte ihn nach dem Tee, da war er nicht zu finden. Bald nachdem die Musikanten gekommen waren, verschwand er. Er kann’s nicht ertragen, sie zu sehen – und ich verstehe das. - Ja, mein Eichhörnchen, du verstehst das. Du wanderst durch den Geist der andern Menschen wie Klaas durch diesen Rosengarten. Du siehst das Gute und das Böse, die Blüten und die Dornen – und den Mehltau, der zerstört. Aber ich muß dir trotzdem sagen, daß ich mir um Ben Sorgen mache. - Hast du einen besonderen Grund? Er schaute hinüber zu den Tokay-Wäldern, die weich und verhängt in der sinkenden Dämmerung standen, und auf den Buschwald im Gebirge hinter Dieu Donné. - Wenn sich der Wind erhebt, beginnen die Brände, sagte er. In diesem Jahr hat es hier in der Gegend ein paar unangenehme Feuer gegeben, Roxie – sie waren Dieu Donné sehr nahe, und das gefällt mir nicht! - Ich weiß, erwiderte sie. Vielleicht ist Ben deshalb weg. Er ist immer der erste am Ort. - Ja, Roxie, das ist er. Und mir ist der Gedanke gekommen, daß er vielleicht gar nicht weggeht, um einen Brand zu bekämpfen, sondern um einen anzulegen. Voll Bestürzung blickte sie ihn an, und plötzlich erinnerte sie sich an Lizzis versorgtes Gesicht und die Tränen, die sie zu
verbergen trachtete. Vermutete auch Lizzi, daß Ben eine Feuerwanze sei? - Möglich wäre es, sagte sie langsam. Ben macht Lizzi schon halb irrsinnig damit, daß er ausgerechnet diese Art der Erregung sucht. Und er ist erregend – der Anblick eines Waldbrandes – besonders bei Nacht, wenn der Sturm das Feuer hochjagt. Und Ben ist so sehr auf das Sehen und Fühlen angewiesen… Er lachte und küßte ihr Haar, in dem der stärker werdende Wind spielte. - Willst du niemals aufhören, für alle Menschen Entschuldigungen zu suchen? - Ich suche keine Entschuldigungen, erwiderte sie langsam. Ich überlege nur, warum die Menschen das tun, was sie tun. - Und die Gründe sind oft so böse, sagte er. Sie können einen Narren aus einem Menschen machen – oder schlimmer – einen Verbrecher! Ein paar Schnäpse zuviel, und er tut etwas, was er sich sein Leben lang nicht verzeiht… Sie hörte den unerwarteten Unterton seiner Worte wohl, doch innerlich war sie zu sehr mit Ben beschäftigt. - Wenn Ben getrunken und Dagga geraucht hat und wenn du recht haben solltest und er wirklich ein Brandstifter wäre, dann ist er gefährlich, sagte sie. Und noch etwas machte ihr Sorge: der tierische Haß im Gesicht des Burschen, jedesmal wenn er Tinus ansah. - Er ist so merkwürdig gegen dich eingestellt, fügte sie hinzu. Er zuckte die Achseln. - Das hat seine Gründe. Ich habe ihm klargemacht, daß ich ihn der Polizei melde, wenn ich ihn beim Daggarauchen erwische oder irgend etwas Verdächtiges bei den Bränden merke. - Was hat er darauf geantwortet?
- Die Antwort lag mehr im Blick als in den Worten. Tinus sagte Roxane nicht, daß der Bursche gemurmelt hatte: - Mich wollen Sie also auch aus dem Wege haben, Baas Tinus! Und er sagte ihr auch nicht, daß diese Worte an seinem Gewissen nagten.
Dreiundzwanzigstes Kapitel SOLLY CAINE MACHT EINEN VORSCHLAG
Seit kurzer Zeit ging Tinus mit Großmutter Constance und Roxane zusammen zur Kirche. Die alte Dame brachte immer noch die Kraft auf, den Gottesdienst zu besuchen, und ihr Rollstuhl im Gang neben der ersten Bankreihe war ebenso zur ständigen Einrichtung geworden wie der große Krug mit Blumen am Fuße der Kanzel. Tinus ging gern mit Roxane zur Kirche. Er liebte es, ihren geraden Rücken und das gesenkte Haupt zu betrachten, wenn sie zum Gebet niederkniete, und ihren reinen Sopran zu hören, wenn sie die Kirchenlieder mitsang. Diese Nachgiebigkeit hatte ihm die strenge Mißbilligung seines Predikanten eingetragen. Doch er machte sich nichts daraus. Daß er die kleine anglikanische Kirche besuchte, war in gewisser Weise ein öffentliches Geständnis seiner Liebe zu Roxane. Und es war nicht unbemerkt geblieben. Krifti sagte zu Louise: - Der junge Mann hat seinen Entschluß gefaßt, und er wird kriegen, was er haben will. Doch sie hatte in ihrer zerstreu ten Art nur erwidert: - Liebe kann man nicht erzwingen – ebensowenig wie man sie kaufen kann. Auch Roxane wußte, daß Tinus mit dieser Geste – die so bedeutungsvoll für ihn war – das Band zwischen ihnen tatsächlich in einer Weise verstärkte, die ihr eine erhebliche Verantwortung auferlegte. Sie erkannte auch, daß es eine Angelegenheit war, die ihren Bekannten Stoff zum Nachdenken gab – daß manche es als eine feine Methode der
Veröffentlichung einer Verlobung betrachteten. Und wenn ihr das auch schmeichelte, so beunruhigte es sie doch. Ich bin noch nicht bereit, dachte sie. Doch wofür sie nicht bereit war, wußte sie kaum. Am Sonntag vor Weibnachten blieben Guy und Merle in der Vorhalle der kleinen grauen Steinkirche stehen, um mit Großmutter Constance zu sprechen. Meine Mutter und Solly kommen über Weihnachten, sagte Merle. Mutter braucht Luftveränderung und ein wenig Ausspannung. Sie hat sich übernommen – und ich schrieb, dafür gebe es nichts Besseres als das Tal. - Für Bella wird es nett sein, dich einmal wiederzusehen, sagte Großmutter Constance brüsk, vor allem wenn ihr im April nach Europa fahrt. Wie lange wollen sie bleiben? - Solly muß nach vierzehn Tagen wieder zurück, aber Mutter wird wahrscheinlich noch einen Monat zugeben. Louise Krifti und ihr Mann traten zu ihnen. - Krifti und ich, wir würden uns freuen, wenn Bella zu uns käme, sobald sie dich satt hat, Merle. Ich will’s ihr schreiben. Merle lachte. - Das tu ruhig, Louise! Mutter und ich, wir gehen uns immer bald auf die Nerven. Adrian Fairmead hinkte auf Roxane zu. - Könnten Sie heute vormittag herüberkommen? Ich habe etwas für Sie zu arbeiten. Oder soll ich’s nach Dieu Donné hinüberschicken? - Nein, entgegnete sie. Tun Sie das nicht! Ich hole es mir gern ab, weil ich dann einen Grund habe, Alessandra zu sehen. Er lächelte ihr zu. - Ihr Frauen! Wenn Alessandra lacht, scheint die Sonne… - Wundert dich das? warf Lavinia ein. Alessandra ist jetzt im reizendsten Alter. Ich versichere dir, sie läuft und redet, ehe sie ein Jahr alt ist.
- Natürlich ein Phänomen! Und jedes Alter ist das reizendste, das man nicht verpassen darf. Adrian blickte seine Frau mit freundschaftlicher Nachsicht an. Roxane hörte Tinus’ langsame, warme Stimme. - Wann kommt Hal seine Tochter besuchen? Wird er Weihnachten hier sein? - Nein – leider nicht. Lavinias Stimme klang sehr enttäuscht. Er ist in Westafrika länger aufgehalten worden, als er erwartet hatte. Über Weihnachten und Neujahr wird er in Kenya sein. Wenn wir ihn im Februar sehen, können wir von Glück sagen. Roxane verspürte den alten, vertrauten Schmerz und die Enttäuschung, doch nun kam ein Gefühl der Erleichterung dazu. Seltsam, wie der Schmerz anhält, dachte sie – wie bei dem Bein von Großmutter Constance! Man schneidet es ab, aber das Phantom zuckt und brennt immer noch, obwohl nichts mehr da ist. Die alte Dame rief: - Wir müssen fahren, Roxie. Guy, willst du Tinus bei meinem Stuhl helfen? Sei so freundlich! Auf Wiedersehen, Adrian und Lavinia… Ja, Louise, ich komme gern nächste Woche einmal zum Tee. Ruf an und mach’s mit Roxie aus! Du weißt ja, ich liebe es nicht, zu telephonieren. Leben Sie wohl, Mr. Krifti. Krifti verbeugte sich in seiner überhöflichen, ziemlich orientalischen Art. Roxane dachte, wie seltsam es sei, daß er überhaupt hier unter den Kiefern vor dieser kleinen Kirche stand. Tinus, ja, das war schon in Ordnung – aber Mr. Krifti würde sich gewiß ohne Schuhe in einer Moschee, wo man die Responsorien des Islam sang, behaglicher fühlen. Seine flachen Augen mit den schweren Lidern lagen mit einem Blick geheimen Einverständnisses auf Großmutter Constance, den Roxane nicht begriff. Er hat wieder etwas vor, dachte sie. Was mag es nur diesmal sein?
Auf Dieu Donné war Weihnachten weniger ein Tag der Familie als der Farbigen, aber alle hatten die gleiche Freude daran. Das Tal stand im Dezember auf dem Gipfel seiner sommerlichen Fruchtbarkeit. Die Trauben für den Wein würden noch ein paar Wochen bis zur Lese brauchen, doch die Spaliere mit den frühen Tafeltrauben bogen sich unter ihrer süßen Last, während die rotgelben Pfirsiche, Pflaumen und Aprikosen im Überfluß auf den Bäumen hingen. Vor den Wirtschaftsgebäuden auf dem Gutshof lagen Berge von glatten grünen Wassermelonen neben kleinen rauhschaligen Spanspeks mit ihrem festen lachsfarbenen Fleisch und dem starken exotischen Duft. Die Hortensien und das Blumenrohr leuchteten in schönster Blüte, und die Bougainvillen breiteten ihre Purpur- und Scharlachvorhänge über weiße Wände und Zäune. Allenthalben wurde der Smaragdteppich der Weinberge von der lodernden Üppigkeit blühender Eukalyptusbäume oder der zarten Schmetterlingsschönheit einheimischer Bäume in voller Blüte unterbrochen, während sich hinter ihnen das Gebirge ätherisch in die tanzende Hitze erhob. Im Osten rief das Meer mit schaumgekrönten Wellen, die sich gegen den glitzernden Strand warfen. Am ersten Feiertag gegen Mittag kamen die Weinbergarbeiter mit ihren Familien zum Gutshaus herauf, um sich ihr Schöppchen Wein und die Weihnachtsgeschenke abzuholen. Ihr Sprecher, ein kleiner verhutzelter Greis mit dem gelben Dreiecksgesicht der Hottentotten, hielt eine Ansprache, um der Oumissus für ihre Güte in allen Dingen zu danken. Kein Volkje habe einen so guten Baas wie die Oumissus von Duu Don. Großmutter Constance war tief bewegt. Während der vergangenen Jahre hatte sie jedesmal geglaubt, dies sei ihr
letztes Weihnachtsfest auf Dieu Donné – und in diesem Jahr war die Ahnung, daß sie ihre Leute nie wieder so würde empfangen können, stärker denn je. Und der kleine gelbhäutige Mann, der zu seiner alten Herrin auf der hohen Veranda aufblickte, schien ihre Ansicht zu teilen. Er sprach mit der naiven Offenheit seines Volkes. – Oumissus ist Duu Don, sagte er. Und wenn Oumissus geht, hört das Herz des Tales auf zu schlagen. Die Tränen standen ihr in den Augen, als sie den Leuten für die Arbeit des Jahres dankte und ihnen ihren Segen gab. Lizzis Diner war hervorragend, und danach suchte sich jeder ein Plätzchen für die Siesta. Großmutter Constance zog sich ins Schlafzimmer zurück, um in ihrem Lieblingssessel ein Schläfchen zu machen. Merle und Guy stellten sich Liegestühle in einem geschützten Winkel unter den Eichen auf. Bella Caine lag im Fremdenzimmer, dessen Vorhänge sie gegen Hitze und Licht zugezogen hatte, während Solly es sich auf der überdachten Gartenschaukel bequem machte, von der aus er Tinus und Roxane bei den letzten Vorbereitungen für die Kindergesellschaft beobachten konnte. Das war das größte Ereignis für die farbigen Kinder auf dem Gut. Auf der Diele stand ein Christbaum, mit Lametta und bunten Kugeln geschmückt, daneben riesige Zuber voll süßer Getränke – der eine für Jungen, der andere für Mädchen. Draußen auf dem Rasen waren große Tafeln mit Keks und Süßigkeiten gedeckt. Später am Nachmittag würde es Spiele und Wettrennen mit Preisen geben, und Schaukeln, Wippen und Rutschbahnen waren aufgestellt. Solly lächelte, als die ersten Kinder ankamen, alle hübsch wie Puppen herausgeputzt. Bald hüpften überall schwarze Locken und Schmetterlingsschleifen, Rüschenröckchen flogen, als die kleinen Mädchen auf dem Karussell fuhren. Bald hatten die Jungen ihre Lackschuhe ausgezogen, damit sie unbehindert ihre Wettläufe auf dem weichen Rasen ausfechten konnten.
Das war feudal, dachte Solly. Kein Wunder, daß die alte Dame das liebte! Gott allein wußte, wieviel Jahre sie hier schon Oumissus war, und dieses Gut und die Leute waren der ganze Inhalt ihres Daseins. Roxie gefiel es auch. Wie sie da zwischen den Kindern stand und dafür sorgte, daß keines zu kurz kam! Und wie sie sich alle amüsierten! Roxane gehörte zu Dieu Donné, als ob sie hier geboren wäre – das bewies wieder einmal, was die Umgebung für einen Menschen bedeuten konnte! Zugegeben, für Merle war nicht viel dabei herausgekommen – außer ihrer Abneigung –, aber schließlich war Merle Bellas Tochter und hegte keine Sympathie für dies verträumte Tal der Reben. Und Verpflichtungen und Verantwortlichkeit hatte Merle nie geschätzt. Sie nahm lieber, als sie gab – und solch ein Gut brauchte einen Menschen, der geben konnte. Es brauchte Roxane. Er hörte das schläfrige Summen einer großen samtigen Hummel und das ewige ,Werk stadig – werk stadig’ der Tauben. Hin und wieder tollte ein Eichhörnchen durch das Laub. Die Kinderstimmen, die einander laut und glücklich zuriefen, schrillten vom Rasen her wie das Echo ferner Dudelsackpfeifen. Ein Gedanke, der Solly Caine schon lange beschäftigte, begann jetzt endgültige Gestalt anzunehmen. Während er hier am Kap war, wollte er ihn endlich mit Großmutter Constance besprechen. Dieser Teil war der schwierigste. Er mußte erst bei allen andern Stellen anklopfen – mit Fairmead sprechen, den ganzen Plan mit Roxane erörtern und dann zum Angriff vorgehen! Aber dieser Teil würde ihm nicht ganz leichtfallen. Wie, zum Teufel, forderte man die kleine alte Königin des Tales auf, abzudanken? Gleich nach Neujahr trat Solly an Großmutter Constance heran.
- Sprich morgens mit ihr! hatte Roxane ihm geraten. Dann fühlt sie sich immer am wohlsten. Im Laufe des Tages wird sie müde – und ist dann oft verwirrt. Also trank er mit ihr in der Bibliothek eine Tasse Tee. Josua hatte die geschnitzten Teakholzläden halb geschlossen, um die große Hitze auszuschließen, die, wie so oft, dem Südost gefolgt war. Der hohe Raum war kühl und dämmerig und roch angenehm nach Wachs und Rosen. Die alte Dame saß in ihrem gewohnten Sessel mit der hohen Lehne, den Rollstuhl neben sich. Sie war blaß wie faltiges Pergament, aber sie goß den Tee mit fester Hand ein. Sie mochte Solly gern und freute sich über seine Gesellschaft. Er ist zu gut für Bella, dachte sie. Zu gutmütig. Auf Solly konnte man sich verlassen. Diesem dicken strahlenden Mann mit den gütigen vorquellenden Augen hatte sie viel zu erzählen. Manchmal drückten ihre Geheimnisse sie ebenso schwer wie ihre Schulden, und manchmal glaubte sie, das abgenutzte Netz ihres Geistes sei zu brüchig, sie zu tragen. Wenn sie ihr langes Leben überblickte, war die Landschaft hier und da von Nebel verdunkelt. Dann brach die Sonne durch, und der Nebel löste sich auf: Was verborgen gewesen war, wurde wieder klar. Doch in der letzten Zeit breitete sich der Nebel häufiger aus, und die Sonne brauchte länger, ihn zu zerstreuen. Wenn sie nur Merles sicher sein könnte – wenn sie Merle nur trauen dürfte – dann wäre sie stärker, das fühlte sie, dem ins Auge zu blicken, was die Zukunft für sie im Schoße hatte. Sie hätte Solly gern von ihrem Alpdruck gesprochen. Kürzlich war er schlimmer geworden. Nacht um Nacht kam er wieder – Krifti, der Chirurg, der darauf wartete, ihr das gebliebene Bein abzunehmen, darauf wartete, ihr das Herz herauszuschneiden – und nun war Merle seine Assistentin. Merle trug die Tracht einer Operationsschwester, ihre harten blauen Augen starrten über die weiße Maske, und ihre festen kalten Finger hielten Großmutter Constances Puls.
- Da, sagte sie dann immer zu Krifti, dem Chirurgen, jetzt ist’s zu Ende mit ihr! Wir können schneiden! Die ganze letzte Nacht war Großmutter Constance von diesem Traum gequält worden, und jetzt war sie erschöpft. - Das ist die Hitze, sagte sie, als Solly freundlich bemerkte, sie sehe müde aus. Ich spür sie jetzt mehr als früher. Aber er wußte, es war nicht die Hitze, unter der sie litt. Sie sprachen über Dieu Donné und die kommende Ernte, und bald kam die Unterhaltung auf Roxane. - Ich mache mir Sorgen um sie, sagte die alte Dame. Ich werde alt, und wenn ich nicht mehr bin – wenn Merle das Gut hat –, was wird dann aus Roxie? Ich kann ihr so wenig hinterlassen. Dieu Donné hat alles genommen – mehr, als ich besitze… - Sie wird Tinus heiraten, erwiderte er. Sie seufzte. - Das macht mir auch Sorgen. Tinus hat ein hübsches Ein kommen und eines Tages seinen Anteil an Tweefontein, aber… Sie schüttelte den Kopf. Glücklich bin ich nicht über die Sache mit Tinus und Roxie. - Haben Sie einen triftigen Grund dafür? Doch da schob sich der Vorhang über ihre Augen, und sie schürzte die Lippen. Solly wußte, daß sie nichts mehr sagen würde. - Sie dürfen sich den Kopf über Roxie nicht zermartern, fuhr er fort. Wenn sie einundzwanzig ist, erhält sie ein kleines Erbe von ihrer Mutter, und ihr Patenonkel schenkt ihr tausend Pfund. Außerdem ist sie durchaus in der Lage, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen. - Sie wissen viel, Solly. - Das ist mein Geschäft – wenigstens gelegentlich. - Und warum bei dieser Gelegenheit? - Weil ich mir einen Plan ausgedacht habe, der Sie und Dieu Donné und – Roxie betrifft.
Erschöpft dachte sie: Es gibt keinen Plan, der Dieu Donné mit seinen Schulden und Hypotheken retten könnte. Noch eine kleine Weile, und das Gut geht den gleichen Weg wie so viele in unserm schönen Tal. Es kommt unter den Hammer des Auktionators. Gott gebe, daß der Vorhang zwischen hier und dem Jenseits dick ist – zu dick für die Augen der Geister! Gott gebe, daß die Geister nicht mehr fühlen und leiden! Solly sagte: - Ich möchte Sie bitten, zu einem Vorschlag Stellung zu nehmen – im Prinzip. Die Einzelheiten habe ich bisher noch nicht ausgearbeitet. Doch wenn Sie im Prinzip einverstanden wären, würde alles übrige folgen. Sie hörte ihm aufmerksam zu. - Dieses Gut steht auf wackligen Füßen, Großmutter Constance. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr es wackelt. Und die Krücken, die man ihm gegeben hat, damit es überhaupt noch stehen kann, helfen nur für eine Zeit. Das gleiche hatte ihr Mr. Krifti am Tage des Kinderfestes gesagt. Aber Mr. Krifti war ihr Feind und Solly ihr Freund. Plötzlich wußte sie, wer der anonyme Klient ihres Anwalts gewesen war – der Mann, mit dessen Darlehen sie Kriftis Hypothek ablösen konnte. Sie sagte nichts – streckte nur die Hand aus in einer kleinen dankbaren Geste: lieber Solly. Er fuhr fort: - Dieu Donné könnte als GmbH geführt werden. Die Gesellschafter könnten vielleicht sein: Sie selbst, Adrian Fairmead, Roxie und ich. Wir sind alle am Wohlergehen von Dieu Donné interessiert, wir lieben es und möchten es unversehrt erhalten sehen. Wir möchten aber auch, daß es einen Überschuß abwirft. Sie würden an die GmbH verkaufen und dort nur Ihren Anteil behalten – einen großen Anteil. Roxie könnte sich mit ein wenig Geld beteiligen, wenn sie einundzwanzig ist – das Erbe ihrer Mutter und das Geschenk von ihrem Paten –, und ich würde ihr zum Geburtstag auch
einen Anteil geben. Ich habe selbst keine Kinder. Wenn ich Roxane ein Geschenk machen will, kann mich niemand daran hindern! In seiner Stimme klang Trotz, und Großmutter Constance lächelte, weil sie wußte, daß das gegen Bella gezielt war. Die Bildung einer Gesellschaft braucht die Führung des Gutes nicht zu ändern, fuhr er fort. Der einzige Unterschied ist der, daß Kapital für Verbesserungen dasein würde. Und Ihre autokratische Macht, liebe Großmutter Constance, würde ein wenig beschnitten werden. Tinus, dessen bin ich sicher, würde als Verwalter willkommen sein, und sein Gehalt ließe sich zweifellos erhöhen. Und Sie selbst – Sie würden auf Lebenszeit hier auf dem Gut bleiben. Danach wäre es die Pflicht der Direktoren, zu entscheiden, wer das Haus bewohnt und unter welchen Bedingungen. In jedem Fall würden wir uns feierlich verpflichten, es zu erhalten, nicht nur als Privathaus, sondern als wertvolles afrikanisches Kulturdenkmal – das älteste, historischste und reizendste Gutshaus im ersten Winzertal des Kaplandes. Die alte Dame fragte ruhig: - Wo ist Merles Platz in diesem Plan? Solly setzte sich auf und beugte sich ihr zu, die Hände auf den Knien, die vorquellenden Augen ebenso hart, wie die von Merle manchmal sein konnten. - Nirgends. Wenigstens im Augenblick. Das ist meine einzige Bedingung. Wenn Sie Merle Ihren eigenen Gesellschafteranteil testamentarisch hinterlassen wollen, dann ist dagegen nichts einzuwenden. Aber sie wird nicht in der Lage sein, ihn auf dem offenen Markt zu verkaufen. Wenn sie ihn abstoßen will, muß sie ihn zuerst uns – den Direktoren – anbieten. Wenn wir ihn nicht wollen, kann sie verkaufen – mit unserer Zustimmung. Wir werden einen gerechten Preis festsetzen. Das gleiche gilt für alle Gesellschafter der GmbH. Er hatte jeden Punkt an einem seiner dicken Finger aufgezählt; als das geschehen war, schlugen die Hände auf die Knie zurück.
Großmutter Constance fühlte, daß die Last und Verwirrung der vergangenen Monate leichter zu werden begannen. Die Mittagssonne von Sollys Anwesenheit vertrieb den langen Abendschatten von Mr. Krifti. Merle würde es nicht erlaubt werden, an Krifti zu verkaufen. Doch noch ein Punkt verbitterte ihr diese Lösung ihrer Schwierigkeiten. - Das Erbe der de Valois… murmelte sie. Wo waren die Kinder aus Merles Blut – die Zukunft, die die Vergangenheit fortsetzte? Er sagte – und die Güte lag wieder auf seinem Gesicht: - Wenn Merle den Anteil behält, den Sie ihr im Testament vermachen, und Kinder für Dieu Donné gebiert, und wenn sie dem Gut ihr Leben widmen will – wer sollte sie wohl daran hindern? - Aber wird Merle das wollen? Ach, Großmutter Constance – da haben wir’s! Dieu Donné ist nie Merles Paradies gewesen. Sie hat es immer mehr als ihr Gefängnis betrachtet. Aber Roxie – Roxie gehört mit ihrem ganzen weiten Herzen hierher! Gibt der Gedanke Ihnen denn gar keinen Trost? Sie begrub das Gesicht in den Händen, und er sah die jämmerlich geschwollenen Knöchel, die bläulichen Nägel und das dünne, glatte weiße Haar auf ihrem gesenkten Haupt. Er ging zu ihr hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. - Aber, aber – ich wollte Ihnen nicht weh tun. Natürlich ist es nicht ganz das gleiche. Roxie gehört nur durch Adoption zu Ihrer Familie – aber das ist doch auch etwas. Sie blickte zu ihm auf, die alten tränenlosen Augen ernst und mit neuem Mut gefüllt. - Es ist sehr viel, Solly. Sie wissen nicht, wieviel! Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Plan – und für Ihr Verständnis. Ich nehme Ihren Vorschlag an… im Prinzip… und auch Ihre Vorbehalte.
Am Tag, bevor Solly nach Johannesburg zurückfuhr, aßen er, Bella und die Mastersons auf Dieu Donné. Als Tinus und Roxane am Fuß der roten Verandastufen gute Nacht sagten, nahm Solly Roxanes Hände. - Sobald Bella wieder in Johannesburg ist, kommst du und besuchst uns, ja? Unser Haus wird dir immer offenstehen. Sie erwiderte: - Ich würde sehr gern kommen. Doch sie spürte, wie Bella Caine neben Solly zusammenzuckte, und sie bemerkte das vielsagende Schweigen, das ihrer Antwort folgte. Bella gab sich nicht die Mühe, die Einladung zu wiederholen, und ihre Stimme war beim Abschied kalt wie Stahl. Sie schnitt die Wärme aus Sollys Aufforderung und vernichtete jeden Gedanken, dort willkommen zu sein. In ihrem Schlafzimmer in Merles Häuschen wandte sich Solly – der sonst so duldsam und ruhig war – wütend an Bella. - Wie konntest du dich so aufführen? Warum mußt du so gemein und grausam sein? - Du hast dir zuviel vorgenommen. Wenn du für deine jungen Freundinnen offenes Haus halten willst, würde ich vor schlagen, du berietest dich vorher mit mir. Sie bürstete sich das Haar – messingglänzendes Kastanienbraun, bei dem das Grau an den Wurzeln durchschimmerte. Ich werde nachlässig, dachte sie; ich lasse mich gehen. Sie sah die verzogenen Lippen, die sie ihrer Tochter Merle so ähnlich machten, und die dunklen Ringe unter den strahlenden Augen. Ihre Oberarme waren schlaff, und zwischen dem Büstenhalter und dem Gürtel wulstete sich eine dicke Falte. Die verdarb den Sitz ihres teuren, knapp
sitzenden Kleides. Alt zu werden war verdammenswert. Und nirgends irgendein Ersatz. - Du haßt Roxane, sagte er und starrte das Bild mit den fest geschlossenen Lippen im Spiegel an. Du hast sie immer gehaßt – schon als Kind. Das verstehe ich nicht… - Vielleicht gefällt es mir nicht, zu sehen, wie du dich mit einem Mädel, das deine Tochter sein könnte, zum Narren machst. Vielleicht widert mich dieses ganze Weihnachtsmanngetue an! Er machte eine verächtliche Bewegung. - Du weißt, daß ich nicht zu dieser Sorte von Männern gehöre. - Jeder Mann gehört zu der Sorte – wenn er die Gelegenheit dazu hat –, und ganz besonders ein Mann, dem seine Frau körperlich nicht mehr reizvoll genug ist. Wie um ihre Worte zu unterstreichen, hatte sie angefangen, ihr Gesicht »abzunehmen’ und die Falten des beginnenden Alters zu enthüllen, die schlaffen Zeichen aus Jahren der Genußsucht. Er beobachtete sie mit hilflosem Widerwillen. Warum mußte sie all diese Dinge tun? Es war ihr immer gelungen, ihn anzuziehen – sie konnte es noch, wenn sie wollte! Weshalb hätte er sie sonst geheiratet – eine harte, schlaue Frau unter der Maske des Charmes – einer Maske, die sie bei der geringsten Herausforderung abstreifte. Er ging im Zimmer hin und her, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt. - Hör auf! sagte sie. Du machst mich schwindlig! Er blieb stehen. - Weshalb verdrehst du absichtlich alles? Sein Kinn war vorgestreckt, und seine Augen schienen aus den Höhlen springen zu wollen. Sie dachte, er sieht aus wie ein wütender Fisch. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht und
verschwand, als ihr einfiel, daß gewisse Fische gefährlicher als Löwen sein konnten. - Tue ich das? Willst du mir einreden, du seiest nicht in Roxane de Valois verliebt? Seine Fäuste ballten sich. - Diese Verdrehung eines guten Gefühls! Kannst du mir denn eine anständige Zuneigung nicht glauben? Kannst du nicht begreifen, was Roxane mir bedeutet? Sie ist die Tochter, die ich nie gehabt habe – die Tochter, die ich mir so wünschte… Sie fuhr herum und rief mit erstickter Stimme: - Merle ist dir also nicht gut genug! - Laß Merle hier aus dem Spiel! Merle ist durch und durch deine Tochter. Trotz der Hitze fröstelte sie. - Und Roxane? - Roxie ist sie selber – liebenswert, selbstlos, spontan, ein Mensch, der gibt, nicht nimmt… - Merle ist also ein Mensch, der nimmt? - Das habe ich nicht gesagt. Sie preßte die Hände über die Ohren, als ob sie die Bedeutung seiner Worte nicht hören wollte – oder ein Echo, das in ihrem eigenen Kopf hallte. - Vielleicht ist auch Roxane ein Mensch, der nimmt, sagte sie. Vielleicht nimmt sie Liebe weg, auf die sie kein Recht hat… Einen Augenblick glaubte sie, er würde sie schlagen. - Also gut, sagte sie, als er sich von ihr abwandte, um sich zu beherrschen. Ich gebe es zu. Ich hasse Roxane wirklich. Alle Hitze hatte sie verlassen. Ihr Gesicht und ihre Stimme waren kalt wie Eis. Und ich will dir den Grund sagen: Ich bin betrogen worden. Überall bin ich betrogen worden. Sie redete. Lange Zeit redete sie. Und während sie sprach, sah er ihre Seele ebenso nackt wie ihr ungemaltes Gesicht –
und gewann es über sich, sie im Herzen zu bemitleiden. Sie mochte ihre räuberischen Hände mit Diamanten bedecken, sich das Haar färben, das Gesicht anheben lassen und ihre Figur einzwängen – aber es gab nichts, was sie tun konnte, um ihre niedrige und liebeleere Seele zu ändern oder zu bewahren. Er schlang die Arme um sie. - Meine arme Bella – meine arme Bella… Und ihre Armut war es, die ihn rührte – die Armut der Seele, die auch sein großes Vermögen nicht reicher zu machen vermochte.
Vierundzwanzigstes Kapitel DAS CHINESISCHE SPIEL
Die große Hitze im Dezember und Januar hatte die Trauben zeitig gereift, und Mitte März war die Kelterperiode vorüber. Tinus sagte: - Jetzt können wir endlich daran denken, nach Tweefontein zu fahren, Roxie. Wir fahren für zwei, drei Tage und holen uns den Segen meiner alten Herrschaften für unsere Verlobung. Schließlich sind es nur noch vierzehn Tage bis zu deinem Geburtstag. Es verschlug ihr den Atem. Einen Augenblick war es ihr, als stehe sie auf einem schmalen Sims, unter dem der steile Absturz des Tafelberges lag. Jetzt mußte sie sich fallen lassen – oder zurücktreten… Wenn sie sich fallen ließ, würde sie dann hinabschweben wie das ,Tafeltuch’ des Südostwindes – so weit und nicht weiter, in der weißen sonnenhellen Wolke über den Sattel hinabgleiten und sich leicht über den windzerzausten Gärten der Stadt erheben? Oder würde sie am Fuß des Abgrundes zerschmettern – ein zerbrochenes Ding? Sie standen an der Tür des Kellers auf der Schwelle zwischen zwei Welten – auf der einen Seite die kühle dämmerige Welt alter Eichenfässer und des jungen gärenden Weines, der um diese Zeit vom geräuschvollen, blasenschlagenden Leben des Gottes Bacchus schäumte; und auf der andern die Sommerwelt des Tales mit seinem Sonnenschein, vom Laub der Bäume gefiltert, das seine Schattenmuster auf die weißen Mauern und Giebel warf. Und diese beiden Welten, die eine dunkel und gefährlich, die andere hell und froh, gehörten zu dem gleichen
Bild – dem Lebenszyklus der Traube, den der Mensch geschaffen hatte mit allem Guten und Bösen, allen Freuden und Bedrohungen. Als sie auf seinen Vorschlag nicht sofort antwortete, warf Tinus ihr einen langen, fragenden Blick zu. Ungeduldig wartete er auf ihre Erwiderung. Kühl und fern sah sie aus – in ihrem leinenen Reithemd, den Kordhosen, als sie da mit der dünnen Quittengerte leicht gegen ihre Wildlederstiefel schlug. Die Sonne warf goldene und violette Lichter in ihr Haar. Die gesenkten Wimpern waren dicht und seidig – und verbargen die Augen. Plötzlich fühlte er sich unsicher, sein ganzer Körper war angefüllt mit Zweifeln, die keinen Platz für Luft ließen. Er atmete tief und wartete, daß sie spräche. - Ja – wenn du es willst, sagte sie endlich. Wenn sie mich aufnehmen, wenn Ohm Jakob und Tante Petronella mich willkommen heißen, dachte sie, dann ist die letzte Tür geschlossen. - Es wird deine Eltern hart ankommen, setzte sie hinzu. Sie wollen bestimmt keine Schwiegertochter, die nicht zu ihrer Kirche gehört. - Dich werden sie wollen. - Das kannst du nicht wissen. - Ja, mein Herz – ich weiß es. Vor ein paar Tagen habe ich ihnen geschrieben, und heute morgen erhielt ich die Antwort. Sie verstehen es, und sie sind’s zufrieden. Sie blickte scharf auf. - Aber du hattest mir ja gar nicht gesagt, daß du geschrieben hast, Tinus? - Ich wollte erst die Antwort haben. - Hattest du Furcht, sie würde mich verletzen? - Das dachte ich, mein Eichhörnchen – freut es dich, Roxie, daß sie dich wollen?
Ich müßte so froh sein, dachte sie. Ich müßte es aussprechen und ihm voll Freude die Arme um den Hals legen. Aber in ihrer Kehle war kein Platz für Worte, und er sah die Tränen auf ihren Wimpern. Sein Arm umfing sie, als sie mit bebender Stimme sagte: - Es freut mich, lieber Tinus … ich bin … sehr stolz… Als sie ihre Absicht, nach Tweefontein zu fahren, äußerten, sagte Großmutter Constance: - Es tut mir leid, Kinder, aber ihr müßt noch ein paar Tage warten. Ich habe eben ein Telegramm von Solly Caine erhalten. Er kommt heute mit dem Flugzeug von Johannesburg. Die Verträge über die GmbH Dieu Donné sind fertig und sollen unterschrieben werden. Deshalb muß ich Roxie hierbehalten, bis alles geregelt ist, weil es sie auch betrifft. Danach könnt ihr eure Vorbereitungen treffen. - Dann wird er Wirklichkeit – dieser Plan? Roxanes Stimme klang ungläubig. Eigentlich hatte sie nie daran geglaubt, daß Großmutter Constance wirklich die Zügel aus der Hand geben würde, und als sie die alte Dame anblickte, sah sie, daß ihr die Entscheidung nicht leichtgefallen war. Sie hat ihr barsches Gesicht aufgesetzt, sagte sie zu sich, zusammengefaltet und zugeschlossen. Tinus, der ursprünglich auch um seine Meinung über den Plan befragt worden war, sagte: - Die Königin unterzeichnet also ihre Abdankungsurkunde… - Ich habe meine Entscheidung getroffen und bleibe dabei, erklärte Großmutter Constance. Tinus machte eine Bewegung, die sein Bedauern und zugleich seine Bewunderung ausdrückte. - Dann ist nichts mehr dazu zu sagen. Willst du, daß Josua zum Flugplatz fährt?
- Nein, Solly geht in Kapstadt sofort zu meinem Anwalt. Er ißt in der Stadt und kommt am späten Nachmittag mit einer Taxe heraus. - Zeit verschwendet er nie, lächelte Roxane. Sie sah nach der Uhr. Halb elf. Solly war schon unterwegs. Großmutter Constance nickte. - Ich nehme nicht an, daß er lange hierbleibt – höchstens ein paar Tage –, und dann könnt ihr ins Veld hinauffahren. Ihre Augen hatten sich umwölkt. Sie blickte Roxane an und dachte: Ehe sie nach Tweefontein fährt, muß ich ihr noch etwas sagen – es ist meine Pflicht, und sie muß es wissen. Sie seufzte. Die vielen Dinge, die im Leben nicht zueinander paßten… so viele waren es… und sie ließen sich so schwer ausgleichen, wenn man alt und schwach war und der Geist nicht mehr flink und kühn. Merkwürdig, daß Jakob zu dem Wunsch seines Sohnes, die Tochter einer Papistin zu heiraten, kein finsteres Gesicht gezogen hatte. Vielleicht hatte sie das selbst veranlaßt, weil sie Stephanus die vielen Jahre lang glücklich gemacht hatte. Wie bitter anfänglich die Fehde gewesen war: Jakobus weigerte sich, mit seinem Bruder zu sprechen, weil Stephanus bereit gewesen war, eine Frau aus der Kirche Englands zu heiraten! Doch die Zeit und das vorsichtige Eingreifen von Petronella hatten ihren gütigen Zauber ausgeübt, und Jakob hatte endlich eingesehen, daß die Liebe Gottes keinen Unterschied zwischen den Kindern der einen und der anderen Kirche macht. Die Menschen werden auf verschiedene Weise alt. Bei manchen blühte die Duldsamkeit in dem dünnen, trockenen Boden der nahenden Auflösung – bei andern welkte sie und starb. Jakob wurde auf die bessere Art alt. Sie würde ihn gern einmal wiedersehen – und Petronella auch, die gute mütterliche Petronella. Sie mußte sie einladen, zu Besuch hierherzukommen.
Roxanes Stimme weckte sie aus ihrem Sinnen. – Dann machen wir unsere Pläne, wenn Solly wieder abgereist ist, Tinus. Sie sprang von der Sessellehne auf, auf der sie gekauert hatte. Schade, daß ich heute vormittag ohne dich reiten muß, aber Rooinek braucht seinen Galopp. Und nachher gehe ich nach Farway hinüber, um rasch vor dem Essen noch ein paar Züge zu schwimmen.
Allein ritt sie durch die Plantagen von Tokay – der große Fuchswallach galoppierte durch die breiten Brandschneisen. Ein paar Wolkenfetzen segelten über den Berg, und sie wußte, am Abend würde der Südost stürmen. Der Ritt rötete ihr die Wangen, und die Hufe von Rooinek schlugen den Rhythmus der Frage, die in ihrem Hirn hämmerte: ,Tue ich recht? Tue ich recht? Tue ich recht?’ Am Nachmittag wollte sie zu ihrem Geheimplatz gehen, um zur Ruhe zu kommen. Es war immer noch ihr Geheimplatz – geheim für alle, sogar für Tinus. Für alle, außer Hal… Als das große Pferd in Trab fiel, sah Roxane, ohne es doch recht zu bemerken, eine Gestalt zwischen den Bäumen – eine Gestalt, die irgendwie bekannt war und sich beim Nahen der Reiterin an einen Kiefernstamm preßte. Doch Roxane war zu sehr mit sich selbst beschäftigt und beachtete die lauernde Gestalt gar nicht. Sie blieb ein Phantom in ihrem Bewußtsein, bedeutungsvoll, doch unbemerkt. Sie beugte sich vor, um das Pferd auf den Widerrist zu klopfen. Schweiß schäumte auf seinem glänzenden Fell, und ihr eigenes Haar klebte feucht an der Stirn. Der Sommer war lang und heiß gewesen. Sie wandte Rooineks Kopf Farway zu. Wunderbar, sich jetzt in das Schwimmbecken stürzen zu können! Und die kleine Alessandra sollte auch mit ins Wasser. Das Mädchen würde genauso schnell schwimmen wie laufen lernen.
Auf Farway nahm ihr ein Boy das Pferd ab, lockerte ihm den Sattelgurt und führte es in den Stall. Auf dem Rasen vor dem Becken kam ihr Elias entgegen. Sein schwarzes Gesicht glänzte in der glühenden Hitze, doch seine weiße Tunika und die flotte Kappe waren frisch gestärkt wie immer, und die scharlachrote Schärpe leuchtete in der Sonne. Wie die meisten eingeborenen Hausboys war Elias ein Stutzer, ganz gleich ob bei der Arbeit oder Freizeit. – Miß Roxie, dröhnte er. Madame ist ausgefahren – aber Kinderfrau bringen Miß Alessandra gleich zum Baden. Das Wasser war lidoblau und einladend transparent. Roxane stand bereits in dem flachen Teil des Beckens, als die Kinderfrau mit dem goldbraunen Baby in einem winzigen roten Bikini kam. Mit elf Monaten war Alessandra ein Kind von ungewöhnlicher Stärke und Aktivität – klein, weder dick noch dünn, aber ,ungemein konzentriert’, wie Lavinia es ausdrückte. Als die Kleine Roxane sah, krähte sie, streckte die Ärmchen aus und zappelte. - Da, sagte die Kinderfrau, während sie sich niederbeugte. Da haben Sie Ihr Wasserbaby, Miß Roxane. Die winzigen Händchen klammerten sich an Roxanes Finger, und schon strampelte Alessandra vergnügt durch das sonnenwarme Wasser. - Nun ist’s genug, sagte Roxane endlich. Der kleine nasse Körper ruhte an ihrer Brust, die Ärmchen umklammerten ihren Hals, die weiche Wange lag an ihrer. Sie küßte die feuchten Locken. - Du Liebling! sagte sie laut. Du wonniges Piccaninny! - Reich mir die junge Dame mal herauf! Roxane umklammerte das Kind, einen Augenblick schien das Schwimmbecken wild durch den Raum zu schwingen, ehe es in seine normale Lage zurückkehrte. - Du! keuchte sie. Wie ist es denn möglich, daß du hier bist?
In seinem Lachen klang frohe Erregung – eine wilde Freude, die sie noch nie darin gehört hatte. - Wenn du sie mir nicht gleich gibst, komme ich sie mir holen! Hal – schlank, sonnengebräunt, nur Muskeln, Knochen und Sehnen – sprang ins Wasser. Seine nach dem Kind ausgestreckten Arme umringen das Mädchen mit. - Roxane – Roxane! Wunderbar, dich zu sehen – dich und diese Kleine! Ist das wirklich Alessandra?’ Sie stammelte: - Aber wann… wie? Niemand hat dich hier, zu dieser Zeit, erwartet… - Ich konnte niemand mitteilen, daß ich käme. Ich wußte es nicht einmal selbst – erst, als heute morgen in Johannesburg plötzlich ein Platz im Flugzeug frei wurde. Und was glaubst du, wer mit mir in der Maschine saß? Solly Caine! - Ich weiß, sagte sie. Aber du… - Ich komme aus Rhodesia – gestern abend war ich in Johannesburg und hab auf dem Flugplatz geschlafen… Ach, ist ja alles so unwichtig! Elias sagt, Dad und Mummy seien ausgefahren und du badest mit Alessandra. Ich also das Badezeug aus dem Koffer – und hier bin ich… - Alessandra wird kalt, sagte sie mit einem Lachen, das den Tränen nah war. Ich muß sie erst anziehen. - Da kommt die Kinderfrau. Nannie, ich hab Sie seit diesem scheußlichen Tag, als alle abfuhren, nicht mehr gesehen. Er war aus dem Becken gesprungen und hob seine Tochter hoch über den Kopf, bis sie sich vor gurgelnder Begeisterung nicht mehr zu helfen wußte. - Oh, Mr. Fairmead! Elias sagt, Sie seien hier. Ich begriff ihn erst gar nicht – manchmal ist er so schwer zu verstehen –, aber es ist wahr!
- Es ist wirklich wahr. Und dieses prächtige Ding ist Alessandra – das winzige Bündel, das Sie vor so langer Zeit mit genommen haben! - Ja, hübsch ist sie, sagte Nannie selbstzufrieden. Aber jetzt ist’s höchste Zeit, daß sie angezogen wird. Und frühstücken muß sie auch, dabei darf nichts und niemand sie stören. Widerstrebend reichte er der Kinderfrau seine Tochter. - Wenn sie geschlafen hat, können Sie mit ihr spielen, willigte Nannie ein. Dann ist sie am nettesten. Sie blickten der Kinderfrau, die mit langen Schritten zum Haus hinüberging, und dem kleinen blonden Kopf nach, den man gerade über ihrer Schulter sah. - Eine gute Seele, sagte Roxane. Aber den Stundenplan darf nichts durcheinanderbringen. Weder ein Erdbeben – noch deine Rückkehr. Sie saßen am Rand des Beckens, die Füße im Wasser. - Ich hab dir soviel zu erzählen, sagte er. Schrecklich wichtige Sachen. Wann können wir allein zusammen sein? - Wir sind doch allein. - Ja, vielleicht fünf Minuten! Roxane, ich bin so rasch wie möglich hergekommen, um dich zu sprechen… Ich habe Simonoff in Rhodesia getroffen – die Sadler’s WellsGesellschaft tritt jetzt in Salisbury auf – und da sind gewisse Dinge, über die wir reden müssen, du und ich – wir müssen sie klarmachen. Er war von einer Vitalität, die sie erschreckte. Die flimmernde Luft um ihn her schien zu vibrieren. Er sah zäh und hart aus. Und älter. Die Narbe aus Malaya lag straff auf seiner Wange, und der Messerstich in Johannesburg hatte ein kleines rundes Loch über seinem Herzen hinterlassen. Nur eine schmale Rippe hatte dem Tode gewehrt. Sie wünschte sich, die Rippe zu berühren, die ihn gerettet hatte… Aber sie mußte ihm
jetzt sofort sagen, daß sie Tinus heiraten würde. Doch ihre Lippen formten ganz andere Worte. - Ich mache heut abend einen Spaziergang. Warte oben am Baumgarten auf mich – hinter Dieu Donné, wo wir uns früher getroffen haben – gegen halb sechs. Er nickte – dann sprang er auf, als Lavinia über den Rasen eilte, den kleinen klugen Kopf hoch erhoben und in der Sonne silbern schimmernd. Einige Schritte hinter ihr kam Adrian, grau und lahm. Hal rannte ihnen mit den langen Sprungschritten des Sportlers entgegen. Roxane sah, wie er sich bei seiner Mutter einhängte, dann wandte sie sich um und ging in die Kabine, um sich anzuziehen. Ich hätte’s ihm sagen müssen, dachte sie, während sie das Reithemd überstreifte. Welche Tollheit hat mich abgehalten, es ihm zu sagen? Was er mir auch erzählen mag, nichts kann es mehr ändern. Ohm Jakob und Tante Petronella haben ihr Siegel unter die Zukunft gesetzt – die Zukunft für Tinus und mich. Hal ist zu spät zurückgekommen.
Roxane eilte den Pfad am Obstgarten entlang – eine kleine rasche Gestalt mit fliegendem Haar und einem dünnen Baumwollkleid, das die erste Brise des Südostwindes gegen ihre Beine preßte. Wolf, der Schäferhund, trottete nebenher. Oft waren sie Hal so entgegengekommen, das Mädchen und der Hund, wenn Alexa ihm ihre Gesellschaft verweigert hatte. Schon damals fragte er sich, ob ein Mann zwei Frauen zur gleichen Zeit lieben könne – noch dazu zwei so verschiedene. Dann kam London – und seine Verlassenheit in dem Wissen, daß seine Ehe an Alexas anderer Treue – der Treue zu ihrem Beruf – zerbrochen war. Und in dem Augenblick war Roxane abermals in sein Leben getreten – in einem Augenblick, der für sie beide voller Spannungen und Gefahren war.
Als er sie jetzt sah, spürte er, wie ihm das Herz leicht wurde, und er mußte sich bezwingen, sie nicht auf der Stelle an sich zu reißen. Doch als sie näher kam und zu ihm aufblickte, las er in ihren Augen eine Nachricht, die für eine Sekunde das drängende Leben in ihm erstarren ließ. Er ging neben ihr am Bach entlang zum Wasserfall hinauf. Wolf und die Löwenhunde von Farway trotteten vor ihnen her. Sie sprachen über unpersönliche Dinge – ein Vorspiel zu dem, was sie sich zu sagen hatten. Er erzählte von seiner Reise durch Afrika. Er fand es interessant, die zunehmende Gärung zu beobachten, in der der Afrikaner trotz seiner primitiven Wesenszüge – fetischistischer Aberglaube, unbewußte Grausamkeit und ein uraltes Verhaftetsein an die Sklaverei – zur politischen Reife strebte. - Er macht noch seine eigenen Leute zu Sklaven oder verkauft sie den Fluß hinunter, genau wie er es getan hat, als der weiße Mann ,Schwarzes Elfenbein’ in Afrika kaufte. Im dunklen Herzen dieses Kontinents gehen Dinge vor sich, die du niemals glauben würdest, Roxane! In den beiden Rhodesien, die sich in dem neuen Zusammenschluß mit Nyassaland nicht ganz behaglich fühlten, hatte er Gelegenheit zu faszinierenden Studien gefunden. - Zwischen Nord und Süd herrscht Zwietracht, und in dem Gebiet der Kupferminen nimmt der Kommunismus rasch zu. Aber das wird sich geben, weil Rhodesia jung und fortschrittlich ist – die Menschen glauben fest an die Zukunft. Rhodesia… In Salisbury, der Hauptstadt der neuen Föderation, hatte er Simonoff getroffen… Sie hatten die Lichtung erreicht. Der Wasserfall war fast versiegt und der Bach schmal und seicht. Die Bäume trugen bereits herbstliche Farben, und das Moos verdorrte auf den sonnenheißen Felsbrocken.
Im Schatten ließen sie sich aufs Gras nieder. Sie strich sich die feuchte Haarsträhne aus der Stirn, während er die Hände über den Knien faltete. - Als ich dich heute morgen sah, stand die Welt still. Roxane – willst du mich heiraten? Sie zitterte. Und dann sah er, wie müde ihre Augen waren, als sie sich bemühte, die Fassung wiederzugewinnen. Er dachte: Sie liebt mich doch – ich weiß, daß sie mich liebt – sie muß ja sagen! Doch sie erwiderte: - Du brauchst keine Mutter für Alessandra zu suchen. Lavinia liebt sie sehr. Sie würde sich nie von ihr trennen. - Ich bitte dich, meine Frau zu sein. In seiner Stimme klang Verletztheit und Zorn, und sie hatte ihre Festigkeit verloren, als er fortfuhr: Ich liebe dich, Roxane – ich glaube, ich habe dich immer geliebt… Er hörte sie seufzen, als er sich ihr zuwandte und ihre Hände faßte. - Das hast du noch nie gesagt, Hal. - Wie konnte ich das? Ich war nicht frei, es zu sagen… - Du wünschtest auch nie, frei zu sein, um es zu sagen! - Das ist nicht wahr! - Es ist wahr. Und jetzt ist es zu spät. Ich heirate Tinus. Kalt und schlaff lagen ihre Hände in den seinen. Eine Flamme war in ihr erloschen. - Es ist alles abgemacht, fuhr sie in dem leblosen Ton fort, den er kaum an ihr kannte. Es läßt sich nicht mehr ändern… - Das ist doch Wahnsinn! Der Zorn in ihm gewann die Oberhand. Du gehörst zu mir. Du weißt es seit jener Nacht bei dem Braaivleis, als du noch zur Schule gingst – du wußtest es an jenem Tage, als wir uns hier verabschiedeten – und du wußtest es an jenem Abend in London in meiner Wohnung! Du weißt es auch jetzt! Ich konnte nicht früher zu dir kommen. Irgend etwas stand mir im Wege, etwas, was mich verfolgt hat
– mich wahnsinnig gemacht hat. Erst jetzt ist dieser Bann gebrochen – erst jetzt fühle ich mich wirklich frei. Ich mußte warten. Solange dieser schreckliche Alpdruck auf mir lag, durfte ich nicht kommen und nach Glück fragen… Ruhig hatte sie die Hände aus seinen zurückgezogen, und er hatte sie losgelassen. Sie lehnte sich zurück und sah ihn an. - Was für ein Alpdruck, Hal? Daß du Alexa liebst? Dieser Alpdruck wird dich immer verfolgen. Er schüttelte den Kopf. - Du verstehst mich nicht, Liebste – wie könntest du das auch verstehen? Alexa und ich haben einander weh getan, über alles erträgliche Maß hinaus. Er hielt inne, und sie sah seine grauen Augen dunkel werden. - Die Chinesen haben ein Spiel, Roxane, fuhr er fort. Ein grausames Spiel! Und Alexa und ich waren die Opfer eines solchen Spiels. - Was für ein Spiel? - Die Chinesen sind so freundlich – wie sie grausam sind. Das Spiel, von dem ich spreche, ist eine ihrer Grausamkeiten. Aber es bringt sie zum Lachen – so wie vielleicht die Götter über Alexa und mich gelacht haben… - Erzähl mir davon, Hal! - Sie fangen zwei wilde Vögel und binden sie zusammen. Nicht eng. Der Faden, der die Vögel hält, ist dünn, aber lang und fest – so lang, daß sie glauben, sie seien frei, wenn sie in die Luft geworfen werden. Es dauert ein paar Sekunden, ehe sie den Ruck, den Schmerz und die panische Angst verspüren. Und was für ein Spaß ist es dann für die Zuschauer! Ergötzlich! Die Vögel flattern, rasend vor Schreck und Entsetzen, wild hierhin und dorthin, der Stärkere zerrt den Schwächeren mit. Federn fliegen von ihren verletzten Schwingen und Körpern herab, Blut tropft aus der Luft. Vielleicht verwickelt sich der Faden in den Zweigen eines
Baumes, oder er schlingt sich um die Vögel, sie sind toll vor Angst – gefangen von dem Band, das sie zusammenhält. Man spürt die kleinen Herzen unter den weichen zerfetzten Federn hämmern und hört ihre Schreie. Vielleicht kämpfen sie gegen das Band, das sie fesselt, vielleicht gegeneinander; oder sie zerschlagen sich an den Zweigen. Aber es gibt kein Entrinnen. Einer stirbt – oder beide –, ehe das Spiel vorüber ist… Er bedeckte das Gesicht mit den Händen – den langen, starken Händen, die sie so gut kannte. Dann sagte er: - Alexa und ich waren wie diese Vögel in dem chinesischen Spiel. Und es war meine Schuld, daß wir gefangen wurden. Ich bestand darauf, daß man uns zusammenband – daß wir heirateten. Und nachher glaubte ich, ich hätte sie getötet. Das war mein Alpdruck. Voller Mitgefühl berührte sie seinen Arm. - Armer Hal! Du hast nie mit mir über Alexa und dich gesprochen. Tu es jetzt! Es soll alles gesagt sein. - Du erinnerst dich des Tages, an dem du mich hierher führ test – des letzten Tages, ehe Alexa und ich Farway verließen und ganz plötzlich nach England zurückfuhren? - Du warst an diesem Tage traurig und bekümmert – aber du sagtest mir nicht, weshalb. - An diesem Tage hatte ich den ersten Ruck gespürt – den ersten bestürzenden Zug an dem Faden, der uns aneinander band. Arme Alexa – für sie war es schlimmer… Sie hatte festgestellt, daß sie ein Kind erwartete. Das war für sie die Gefangenschaft… der Anfang des Todes. In gewisser Hinsicht war es das! Ich verstand ihre Einstellung nicht. Ich war glücklich und stolz über das Kind – über Alessandra… Er brach ab und machte eine hilflose Bewegung mit den Schultern. Sie sagte leise: - Sie fuhr also so plötzlich nach Haus, weil sie hoffte, jemand zu finden, der ihr – half?
Er nickte. - Zuerst war sie verzweifelt – entschlossen, es nicht auszutragen. Doch es war schon zu weit vorgeschritten – und man überredete sie, das Kind zu behalten. Aber mir konnte sie nicht vergeben. Als Roxane ihn beobachtete – das Gesicht von den Erinnerungen verzerrt –, war es ihr, als sähe sie zwei wilde weiße Vögel an dem Faden zerren, der sie fesselte – auf Flügeln kämpfen – bluten und sterben. - An dem Abend bei der Premiere der Ballerina – du erinnerst dich des großen grauhaarigen Mannes, des Regisseurs, der nach dem Film auf der Bühne stand, mit Alexa und meinem Vater? Erinnerst du dich seiner Ansprache, als er sie vorstellte? Er sagte, Alexa Rome habe – anders als die unglückliche Heldin Olga – es verstanden, Ehe, Mutterschaft und ihren Beruf erfolgreich miteinander zu verbin den. Ich hätte ihn erschießen mögen! Diese Travestie! Er wandte sich ihr zu. - Roxane, damals wußte ich, daß es aus sei zwischen Alexa und mir – aber ich weigerte mich noch, es einzugestehen. Wenn man stolz ist, gibt man seine Niederlage nicht so leicht zu. Ich hoffte immer noch, daß Alexa nach ihrer Australientournee Alessandra vielleicht liebgewinnen würde – daß wir irgendeine Basis für unsere Ehe fänden. Natürlich war alles nutzlos… Er lehnte sich an den warmen Stamm eines toten Baumes, und als er jetzt ihre Hand ergriff, ließ sie sie ihm. Er berührte ihre Finger, als sei er blind – als vermöge er ihre feinen, schlanken Formen nur mit dem Tastsinn zu erkennen. - Es war so merkwürdig, daß du da warst – an dem Premierenabend. Ob ich je vergessen werde, wie ich dich dort sah? Die Vorführung war vorüber und die Bühne leer – und als ich mich umdrehte, warst du da.
Die Sonne stand niedrig über dem Bergrücken, und die Schatten wurden länger. Der Busch war erfüllt vom Zwitschern und Rufen der Vögel. Frische Kühle stieg vom Bach auf, und Hal spürte, wie Roxane ihm näher rückte. Schweigend erinnerten sie sich der kurzen glücklichen Zeit, da sie seine Sekretärin und seine ständige Begleiterin war. Sie sagte: - Hör die Vögel, Hal! Sie erzählen sich ihre Geschichten vorm Einschlafen – das ist ihre lebhafteste Stunde. Er legte den Arm um sie, und ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. - Die Stare! murmelte sie. Die Stare in Whitehall an dem Abend, bevor du abreistest – und die Möwen, die über den Fluß flogen, das letzte Licht des Abends auf den Schwingen… Ihm klangen die Worte wie ein Liebeslied. - Die Möwen, die über den Fluß flogen, wiederholte er, und du… Von diesem Abend ist mir alles ganz deutlich im Gedächtnis geblieben. Das war der Abend, an dem ich dich wirklich liebte – nur dich! Nachdem ich dich nach Haus gebracht hatte, kam ich in diese leere Wohnung zurück – Herr Gott, wie leer sie war ohne dich! – und schrieb an Alexa. Ich sagte ihr, daß ich dich liebte, Roxane, daß ich meine Freiheit wolle, um dich zu heiraten. Ich wollte auch Alessandra – ich wollte alles, was ein Mann nur vom Leben verlangen kann: meine Geliebte und mein Kind… Wenn sie das gewußt hätte! Wenn sie das doch nur gewußt hätte! - Erst hinterher erfuhr ich, was für schlechte Kritiken Alexa in Australien und Neuseeland bekam. Irgend etwas fehlte an ihrem Tanzen – an ihr selbst –, und das warf sie mir vor – mir – und Alessandra. Der Weg zum Gipfel – der steile Weg, Roxane! Ein paar Monate verloren, und man ist tief abgeglitten. Alexa hatte solche Angst davor, an Boden zu
verlieren. Und dann bewiesen ihr die schlechten Kritiken, daß sie ihr Publikum enttäuschte. Plötzlich wußte Roxane, was er ihr zu erklären versuchte – was sein Alpdruck gewesen war. Sie saß wieder in der Premiere der Ballerina, sie sah den tragischen letzten Akt, als Olga entdeckte, daß sie ihren Gatten an eine andere Frau verloren hatte – als sie erkannte, daß ohne ihn das Leben nicht mehr lebenswert war. Hatte Alexa den Brief von Hal im Augenblick ihrer Niederlage erhalten? War dieser Brief der letzte Stoß gewesen? Hatte sie erkannt, daß es nun nichts mehr gab – weder Ruhm noch Liebe? Hal fuhr fort: - Als ich das Telegramm mit der Nachricht über Alexa er hielt, glaubte ich fest, daß ich schuld sei – daß mein Brief nach all ihren Befürchtungen und Sorgen ihr den letzten Stoß gegeben habe. Das konnte ich nicht ertragen – ich verabscheute mich selbst, weil ich sie gerade in dem Augen blick als Frau aufgegeben hatte, da sie als Tänzerin erledigt war. - Es war nicht deine Schuld! rief sie erregt. Niemand weiß, was wirklich geschehen ist – es kann ein Unglücksfall gewesen sein –, man sagt doch, es sei einer gewesen! - Niemand weiß es, gab er zu. Und dennoch, es blieb ein Alpdruck für mich: die Überzeugung, mein Brief habe sie zu dem Glauben gebracht, völlig verlassen zu sein… Als sie den Kopf bewegte, streifte ihr Haar seine Wange. Wie weich und frisch es war! - In Rhodesia traf ich dann Simonoff – es ist erst drei Tage her, aber mir erscheint es wie viele Jahre… Roxane, er gab mir diesen Brief zurück, den ich an Alexa geschrieben hatte. Er war nicht geöffnet – sie bat ihn gar nicht gelesen! Er war erst nach ihrem Tode angekommen. Simonoff wußte, daß er von mir war, und schickte ihn nicht mit der Post zurück, damit er mich nicht verfehle – das wäre sehr leicht möglich gewesen,
weil ich bald nach Afrika abreiste – kurz nachdem die… Nachricht mich erreicht hatte. Ich glaube, er hat geahnt, was in dem Brief stand. Er ist ein merkwürdiger, halb femininer Bursche, ein Mensch von starker Intuition. Wir redeten – stundenlang redeten wir über Alexa… Simonoff machte sich bittere Vorwürfe, weil er sie ihren Abstieg hatte spüren lassen. Er drückte es auf seine Art aus. Er sagte, Alexa sei als Nachfolgerin der Fonteyn erledigt gewesen. Ihre Quelle sei versiegt – weniger in ihrem Tanz als in ihr selbst –, der Brunnen ihrer Inspiration schien vertrocknet zu sein und damit ihr Selbstvertrauen. Wenn er ihr geholfen hätte, das Selbstvertrauen zurückzugewinnen, hätte sie vielleicht ihre technische Vollkommenheit wieder… - Technische Vollkommenheit? Alexa? Nein, Hal, die hätte ihr niemals genügt. Sie hatte soviel mehr. Zwischen technischer Vollkommenheit und dem Genius, der Alexa bei ihrem Tanz begleitete, liegt der ganze Unterschied der Welt – der Unterschied zwischen Atmen und Leben! Als Roxane sprach, hörte sie wieder Adrians Stimme und sah ihn vor sich wie an jenem Tage im Turmzimmer: nachdenklich-analytisch, während er sich bemühte, das Wesen seiner Schwiegertochter zu erklären… ,Seit frühester Kindheit war ihr Körper dem Tanz geweiht… dann kam Hal, und ihr Körper wurde toll und krank vor Liebe. Es war der uralte Magnetismus, der sie täuschte und zur Ehe verführte – jene Macht, die keiner von uns leugnen, der keiner von uns entrinnen kann… Und der Körper der Tänzerin hatte den Preis für die Erfüllung der Frau gezahlt…’ - Vielleicht hast du recht, sagte Hal traurig. Ich glaube, es war das Schicksal, das jenes chinesische Spiel mit Alexa und mir spielte – zwei wilde Vögel, an den Enden eines Fadens festgebunden und in die Luft geworfen – und Alexa war der Vogel, der starb.
Die Sonne war hinter dem Berg untergegangen, und die Vögel riefen jetzt schläfrig wie Kinder beim Einschlafen. Über dem Himmel am Waldbuchtpaß fegten Wolken, rot gerandet gleich einer Schar Flamingos, die aus der Vlei aufsteigt. Das Laub rauschte, und die langen Glockengräser klingelten leise und beugten sich, blaß und welk, im Atem des Windes einander zu. - Wenn ich das nur gewußt hätte! sagte Roxane. Wenn du mir gesagt hättest, daß du um meinetwillen deine Freiheit wolltest – dann wäre jetzt alles anders. Nun ist es zu spät. - Es ist nicht zu spät, sagte er. Das kannst du nicht bekämpfen, meine kleine Geliebte… Er zog sie an sich und spürte, wie das Leben in ihren Körper zurückströmte, die eisige Starre schmolz. Und als er ihre Augen küßte, schmeckte er ihre Tränen. - Du weißt, daß du mir gehörst, Roxane – immer und nur mir. Sie klammerte sich an ihn. Das war es also – das Wunder! Das bedeutete es, einer dem andern alles zu sein – einer den andern mit gleicher Stärke zu lieben, einander mit Geist und Körper zu wünschen! Und doch sang ihr Herz nicht. Sie sah nur das blinde gütige Gesicht von Tinus vor sich, das auf den Schlag wartete – den Schlag, der sein Glück zerstörte.
Als sie den Pfad am Berghang zwischen Farway und Dieu Donné hinanschritten, sprang Wolf mit leisem Freudenwinseln vor den beiden Löwenhunden her. Tinus sagte: - Hallo, alter Junge! Er nahm den schönen Kopf zwischen beide Hände und streichelte ihn zärtlich. Bist du mir entgegengelaufen, ja? In der Dämmerung sah er sie näher kommen – den gleichen Rhythmus, der in ihren Schritten schwang, die leuchtenden
Gesichter –, zwei Menschen, die zueinander gehörten. Es wurde ihm schwer, Hal zu begrüßen, ein Lächeln und Worte durch die Kehle zu bringen, die der Schmerz verschloß. - Da bist du ja wieder, Hal, zwang er sich zu sagen. Ich habe gerade mit deiner Mutter gesprochen; sie ist sehr glücklich. Hal ergriff seine Hand. - Es ist schön, wieder im Tal zu sein, Tinus. Ich möchte mich eine Weile hier zur Ruhe setzen – vielleicht für dauernd – ein Gut kaufen und ein Heim daraus machen. Tinus ging neben ihnen, und Roxane sah, wie seine Lippen sich bei Hallams Worten zusammenpreßten; doch sonst blieb ihr sein Gesichtsausdruck durch die Augenklappe verborgen. Gewöhnlich ging er auf ihrer anderen Seite, so daß sie einander sehen konnten. Was mochte er denken? Was befürchtete er? - Ich habe dich gesucht, Roxie, sagte er. Solly ist vor einiger Zeit angekommen, und da ist manches zu besprechen. Er war schon in Farway – nach Tisch kommt Adrian herüber, um die Verträge über Dieu Donné zu unterschreiben. Er wandte sich Hal zu. Dein Vater hat großes Interesse an einem neuen Plan, nach dem Dieu Donné als GmbH bewirtschaftet werden soll. Wir hatten nie geglaubt, daß sich Großmutter Constance dazu entschließen würde, die Leitung des Gutes aus der Hand zu geben. Aber seit du zum letztenmal hier warst, ist sie sehr alt geworden. Wie alt, weiß übrigens niemand von uns – aber man merkt, daß sie ihre Jahre spürt –, sie ist müde geworden. An dem Türchen im Zaun blieben sie stehen. Die hohen grünen Häupter der Pappeln bogen sich hin und wider, und in den Ästen klagte der Wind. - Ich komme nach dem Essen mit Vater nach Dieu Donné herüber, sagte Hal. Ich möchte Großmutter Constance meine Aufwartung machen. Übrigens hörte ich von Solly Caine
schon einiges über den neuen Plan. Wir flogen von Johannesburg im selben Flugzeug. - Dann sehen wir dich ja noch. In dem schwindenden Licht war Roxanes Lächeln wie das einer Träumenden. Als sie zum Gutshaus hinüberschlenderten, nahm Tinus ihren Arm. - Wie spät ist es? fragte sie. - Gleich halb acht – Essenszeit. - Zu spät zum Umziehen. - Ist es wirklich zu spät? Ich weiß es nicht. Hal kommt zurück, Roxie, und sofort bist du weg – ich suche dich – und du bist weg… Sie verstand die tiefere Bedeutung hinter seinen Worten, doch sie strich an ihr vorüber wie der Flügel eines Nachtvogels – wie der kühle unheilvolle Atem des aufkommenden Windes.
Fünfundzwanzigstes Kapitel ABDANKUNG
In dem Schweigen, das entstand, als Großmutter Constance den Federhalter hinlegte, hörte man das Heulen des Südoststurms. Während der beiden Stunden seit Sonnenuntergang war der Wind rasch stärker geworden, und die großen Eichen wankten unter seiner Wut. Auf der Veranda flüsterten die Hortensien – jetzt am Ende ihrer Blütezeit standen sie nicht mehr saftig und schwer, sondern leicht wie Papier in ihren Kübeln; und in der Bibliothek bewegten sich die Damastvorhänge bei jedem Windstoß, unter dem die Teakholzläden klapperten. Adrian Fairmead fand diesen Augenblick des Schweigens überaus eindrucksvoll. Die Atmosphäre war gespannt. Er hatte das Gefühl, sie sei mit mehr als der Zukunft von Dieu Donné beladen, obwohl das allein die Situation schon dramatisch machte. Großmutter Constance saß in ihrem Sessel mit der hohen Lehne, einen leichten Schal über dem Knie. Sie trug ihr bestes schwarzes Nachmittagskleid, und ihr Haar war noch sorgfältiger frisiert als gewöhnlich. Im Licht der Wandlampe glänzte es silbern, und ihr Gesicht war so blaß wie die Kameenbrosche an ihrer Brust, fein geschnitten, würdig und so alt, daß es zeitlos schien. Sie blickte auf, als Solly Caine ihr die Papiere abnahm. - Hoffentlich habe ich das Rechte getan, sagte sie. Von ganzem Herzen hoffe ich, daß ich das Beste für die Erhaltung von Dieu Donné tue.
Leise erwiderte er: - Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen! Und jetzt wollen wir Tinus und Hallam bitten, Ihre Unterschrift zu beglaubigen. Er legte das Dokument auf den Schreibtisch. Adrian sah die beiden Männer darauf zugehen – Tinus, stämmig und blond, ein treu aussehender Bursche, dessen Gesicht von dieser Maske seltsam ausdruckslos wurde, und Hal, größer und viel jünger, mit der arroganten Kopfhaltung, die der seiner Mutter so ähnlich war. - Hier müssen Sie unterschreiben, sagte Solly. Adrians Blick suchte die sechste Gestalt im Zimmer. Roxane stand in dem einfachen Sommerkleid, das sie schon am Nachmittag angehabt hatte, mit dem Rücken zum leeren Kamin. Sie sah aus wie ein Reh, gespannt und bereit, bei der ersten Bewegung des Jägers davonzuspringen. Die Hände lagen auf dem Rücken, und Adrian ahnte, daß sie sie zusammenpreßte. Es hieß im Tal, sie werde Tinus sehr bald heiraten; Großmutter Constance würde sie also auf Dieu Donné behalten. Und sie gehörte hierher – dieses schlanke, dunkle Mädchen mit den seltsamen Augen. Adrian sah, daß sie sich auf die Oberlippe biß, als Hal sich niederbeugte, um zu unterschreiben, und daß Tinus sich ihr zukehrte, ihr zulächelte und daß ihre Erwiderung unsicher war – ein Lächeln, den Tränen nahe. Solly löschte die feuchte Tinte ab. - Sie werden es nie zu bedauern brauchen, Großmutter Constance, sagte er. Das versprechen wir Ihnen – wir alle, die wir uns mit dieser Angelegenheit befassen. - Danke, erwiderte sie, doch ihre Stimme bebte. In diesem Augenblick stürzte Josua mit aschgrauem Gesicht ins Zimmer. - Baas Tinus! Kommen Sie schnell! De Tokay-Wälder brennen, un de Wind steht hier herüber!
Sie liefen hinaus auf die große Veranda. Von dort konnten sie das Feuer sehen. Der Südoster raste vom Meer das Tal herauf und trieb aus den Kiefern- und Fichtenschonungen im Nordwesten eine lodernde Flammenzunge vor sich her, auf Dieu Donné zu. Die Nacht war mondlos, und der gespenstische Feuerkeil malte ein Bild von infernalischer Schönheit vor die dunkle Sichel der Gebirge. Auf den Gipfeln dieser Berge waren im Sommer und Herbst Tag und Nacht Wächter postiert, die das erste Rauchoder Flammenzeichen an die Feuerwehr der Kaphalbinsel meldeten, und schon hatte der Kampf zwischen Mensch und Flammen begonnen. Tankwagen und Autos voll erfahrener Feuerwehrmänner waren zur Stelle, die dauernd in Funkverbindung mit der Hauptwache standen. Die Beobachter auf Dieu Donné sahen die winzigen, ameisenhaften Silhouetten der Männer gegen die Flanken des Feuers vorrücken. - Tinus, sagte Roxane mühsam, dort drüben bin ich heute vormittag entlanggeritten. Ich könnte schwören, daß ich Ben da gesehen habe. Jetzt kehrte die Erinnerung zurück – eine Gestalt, die sie erblickt, aber nicht beachtet hatte, als sie auf Rooinek durch die breite Brandschneise galoppierte. Es war Ben. Sie hätte sofort zurückreiten und Tinus warnen müssen. Ben stand im Verdacht, Brandstifter zu sein, und trotzdem war ihr seine Anwesenheit dort nicht aufgefallen. Sie war zu sehr mit ihren eigenen Problemen und Gefühlen beschäftigt gewesen. Und noch ein anderer Gedanke kam ihr. Seit ihrer Rückkehr aus Europa hatte sie bemerkt, daß Wolf sich Ben gegenüber anders als den übrigen Leuten auf Dieu Donné verhielt. Der große Schäferhund behandelte den tauben Burschen mit Argwohn, und manchmal hoben sich seine Lefzen, und er knurrte Ben bedrohlich an. Das hatte sie Tinus mitgeteilt, und er hatte entgegnet:
- Wolf wittert den Daggageruch – und er weiß, das ist schlecht! Wenn Ben geraucht hat, mißtraut der Hund ihm. Noch gestern hatte Wolf Ben angeknurrt. Die Gefahrenzeichen waren dagewesen, sie hätte sie verstehen können – das Knurren eines Hundes, Wolkenfetzen, die den Südoster ankündigten, und der taube Bursche in den Pflanzungen –, aber sie hatte nicht achtgegeben. Bestimmt hätte sie die Vorbereitungen der Feuerwanze entdeckt, wenn sie nur gesucht hätte – die Büchse mit der Kerze darin, das Paraffin… - Ich hätte es ahnen können! Der verfluchte Junge! Tinus machte ihr keinen Vorwurf! Er hatte andere Sorgen. Es war entsetzlich, die Schonungen brennen zu sehen, doch die Feuerwehr und das Forstamt würden Hilfe genug haben. Nur die Bedrohung für Dieu Donné war seine Sache. - Das Feuer ist keine fünf Kilometer entfernt, sagte er. In einer halben Stunde sind wir hier in ernster Gefahr. Er drehte sich um und rief Josua, der am Fuße der Verandatreppe neben Lizzi und einer Gruppe von Gutsarbeitern stand, zu: - Läute die Sklavenglocke! Schaff alle Leute heran, die du findest! In wenigen Augenblicken hallten die Schläge der alten Glocke durch die Weingärten, doch schon eilten die Leute aus dem Farbigendorf – Männer, Frauen und Kinder – nach Dieu Donné. Die meisten hatten große Zweige zum Schlagen, andere Spaten oder lange Stöcke mit Säcken, die am Ende festgebunden waren. Von Kindheit an waren sie gewohnt, bei Busch- und Waldbränden zu helfen, und wußten, was von ihnen erwartet wurde. Adrian Fairmead erkannte sofort, daß die Bedrohung Dieu Donnés auch Farway galt, da die beiden Grundstücke nebeneinander lagen. Doch Dieu Donné befand sich direkt in der Linie des Feuers und sein eigenes Haus erst
dahinter. Er gab keine Ratschläge, sondern erkannte, ohne zu fragen, Tinus als Führer an, der offensichtlich die Situation abschätzte, um die wirksamsten Maßnahmen ergreifen zu können. Roxane stand neben Großmutter Constances Stuhl. Hal und Solly warteten auf Instruktionen. Hofmeister Brink war mit dem Küfer Max Immelmann auf die Veranda gekommen, und beide besprachen sich mit Tinus. Roxane hörte, wie Tinus zu Immelmann sagte: - Sie gehen mit Pumpe und Schläuchen zum Teich hin unter. Brink behalte ich bei mir für das andere. Welches andere? Tinus kam zu Großmutter Constance. In dem grellen Licht auf der Veranda sah Roxane, wie der Wind sein helles Haar zurückblies und wie seine Gesichtszüge die Falten fester Entschlossenheit trugen. Zum erstenmal wurde sie sich bewußt, daß er viel älter war als sie – hoch in den Dreißig; seine Jugend war auf dem Schlachtfeld geblieben. Und bald muß ich ihn auch noch verletzen. Werde ich das fertigbringen? Die alte Dame blickte zu ihm auf, ein paar Strähnen ihres dünnen, silbernen Haars fielen über die durchsichtige Schläfe. Unbarmherzig zeigte der weiße Kreis des Lichtes die tausend kleinen Linien ihres Gesichts, und Roxane dachte, wie schon so oft: der Strand – der Strand, wenn die Ebbe weit hinausgelaufen ist und die kleinen Vögel den Sand kreuz und quer zerfurcht haben… kalt würde sie sein, wenn man sie anrührte, diese zarte Haut, kalt vom Alter, vom Untergang der Sonne und dem Zurückebben des Wassers. Die feinen Spuren, von den Vögeln des Lebens gezeichnet – den frohen und den grausamen –, waren deutlich eingegraben, als ihre alten Augen das Gesicht des Neffen suchten. - Großmutter Constance, sagte er in seiner leisen, langsamen Art, Immelmann und einige Männer sind zum Teich gegangen
und legen Schläuche aus. Wir wollen das Stroh dach naßhalten. Sie nickte. - Und sonst? - Das Sicherste ist das Gefährlichste, sagte er. Dieser Wald brand ist unangenehm. Er breitet sich rasch vor dem Winde aus. Wir müssen dagegen angehen. - Ein Gegenfeuer? - Ja, Oumissus – ein Gegenfeuer. Dort am Hang müssen wir es anlegen. Großmutter Constance spürte eine lange vergessene Energie durch die müden Adern strömen. Unter dem mächtigen Reizmittel der Gefahr für Dieu Donné schlossen sich die Fetzen ihres Geistes zusammen und pulsten voll neuen Lebens. Ihre scharfe Staccato-Stimme war von Autorität und Kraft erfüllt, als sie erwiderte: - Bei diesem Wind, Tinus? Wie glaubst du dein Gegenfeuer in der Hand zu behalten? Wie kannst du seinen Lauf bestimmen? Vielleicht bläst es der Sturm gerade zu uns her über. - Das werden Brink und ich mit unseren Helfern schon verhindern. Der große nördliche Weinberg liegt zwischen dem Gutshaus und dem Feuer – sollte er in Brand geraten, wird man mit ihm fertig. Durch einen Weingarten rast das Feuer nicht. Die Stelle ist von uns hier noch fast zwei Kilometer entfernt… Scharf unterbrach sie ihn. - Auf diese Entfernung könnte ein Funke in unser Stroh dach fliegen! - Das ist ein Risiko, das wir auf uns nehmen müssen. Und, vergiß nicht, das Dach wird gut unter Wasser gesetzt. Immelmann und Adrian werde ich zur Aufsicht hierlassen. Sie werden Feuereimer und Löschgeräte bereithalten. Glücklicherweise hat der Teich noch eine Menge Wasser.
Adrians Augen leuchteten hinter der Brille auf, und der graue Haarschopf hob sich im Wind, als er sich dem Jüngeren zukehrte. Er erinnerte sich der gefährlichen Jahre in London – Luftschutzwachen auf dem Dach, während feindliche Bomber über die geliebte Stadt dröhnten –, und die alte Flinkheit wurde wieder lebendig. Hier war Not am Mann, an ihm würde’s nicht fehlen. - Ein bißchen Erfahrung in der Feuerbekämpfung hab ich ja schon, sagte er sanft, noch vom Kriege. - Das ist gut. Tinus blickte noch einmal auf die alte Dame im Rollstuhl nieder. Können wir also unser Gegenfeuer an zünden, Oumissus? - Zünd’s an, Tinus! sagte sie. Roxane holte tief Luft. Es würde also der waghalsige Weg sein, der gefährliche Weg – die einzige Möglichkeit, Dieu Donné vor den Flammen zu retten, die auf den Schwingen des Südoststurms bereits auf sie zurasten! Nach der Überschwemmung hatte Großmutter das große Risiko gewählt – und es war fehlgeschlagen. Nun entschloß sie sich wieder dazu. Heilige Mutter – laß es diesmal gelingen! Tinus drückte die zerbrechlichen Schultern voll Bewunderung und Zuneigung an sich. Dann kehrte er sich Roxane zu. - Du, Roxie, mußt zwei Telephongespräche führen! Zuerst Karl Krike. Sein Gut liegt hinter dem Wind und ist sicher. Sag ihm, wir stecken hier ein Gegenfeuer an und brauchen seine Hilfe – mit allen Arbeitern, die er auftreiben kann. Dann den Bürgermeister von Wynberg, den alten Jaap Pienaar. Sag ihm, Dieu Donné sei in großer Gefahr, und wir müßten vielleicht die Feuerwehr zu Hilfe rufen. Ohne seine Erlaubnis würden sie nicht wagen, auch nur einen Finger zu rühren. - Wartet! warf die alte Dame ein. Roxane kann Karl an rufen, aber mit Jaap Pienaar spreche ich selber. Mir sagt er nicht nein. Er wird Dieu Donné nicht verbrennen lassen. Roxane wußte,
daß Großmutter Constances Abneigung gegen das Telephonieren schon einer Manie glich. Seit ihrer Amputation hatte sie sich geweigert, den Apparat anzurühren, und stets Roxane oder Lizzi als Vermittlerin benutzt. Jetzt hatte die Liebe die Furcht besiegt – die Liebe zu Dieu Donné! Sie wußte auch, daß Dieu Donné keinen Anspruch auf das Eingreifen der Feuerwehr hatte; das Tal lag außer halb des Stadtgebietes. Aber Dieu Donné war Geschichte, es war das alte Kap – und der Bürgermeister von Wynberg war Traditionalist. - Ich verbinde dich mit Mr. Pienaar, Großmutter Constance, sagte das Mädchen. Und du sprichst mit ihm. Als sie den Stuhl zur Tür schob, sah sie Hal vortreten, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Für einen Augenblick hatte sie Hal vergessen. Tinus hatte die Szene beherrscht. Und jetzt wandte sich der junge Mann auch an Tinus. - Sag mir, wie ich helfen kann! Roxane blieb stehen. Sie konnte es nicht ändern. Wie eine Feder war eine neue Spannung aufgesprungen. Sie konnte den Widerwillen, der in Tinus aufstieg, beinah fühlen. Es war, als sei sie selbst für einen Augenblick Tinus. Hallams ruhige Stimme, die beantwortet werden mußte; seine Gestalt, stark und geschmeidig; Roxanes kurzes Zögern – das alles wirkte gleichzeitig auf Tinus ein. Wut wallte in ihm auf, heiß wie das Feuer, das das Gutshaus gefährdete, denn dieser junge Mann bedrohte alles, was ihm teuer war – seine Liebe und damit sein ganzes Leben. Und er wußte, daß es zwischen Hallam und ihm keinen Kompromiß geben konnte. Einer von ihnen mußte das Tal verlassen – mit oder ohne Roxane. Worte drängten sich ihm auf die Lippen: Für dich ist hier kein Platz! Geh und laß uns allein retten, was uns gehört! Fahr zurück nach deiner englischen Insel und zu deinen englischen Frauen und laß mir dieses Mädchen, das meine ganze Welt ist! Doch sein Geist schätzte kühl das Paar Hände ab, das für Dieu Donné kämpfen
konnte – ein ausgebildeter Soldat, der seine Befehle entgegennehmen und ausführen würde, ein Mann mit Mut und Initiative. Und dieser Geist antwortete Hallam. - Dieser Brand ist das Werk von Feuerwanzen, und ich habe Grund zu der Annahme, daß er gegen Dieu Donné gerichtet ist. Wenn ein Feuer auf dem Höhepunkt ist, wird eine Feuerwanze stets ein anderes anzünden. Du mußt die Augen offenhalten. Wenn du irgendwo Rauch oder Flammen siehst, nimm ein paar Schläger und geh hin! Wir lassen einige Arbeiter für diesen Notfall hier. Und dann schick mir durch Roxane Bescheid zum Gegenfeuer am Hang! Sein Blick streifte den eleganten grauen Anzug des jungen Mannes. - Komm aber erst mal mit in meine Wohnung! Ich leih dir einen Overall. Es ist nicht das erste Mal, daß ich dir was Derberes zum Anziehen gebe. Tinus’ Lächeln war bitter, als er neben Hallam in seine Wohnung hinübereilte. Roxane ließ Lizzi bei Großmutter Constance und lief in ihr Zimmer, um Hosen und ein altes Reithemd anzuziehen. Aus einer Schublade zog sie ein großes Tuch, das sie sich übers Haar binden wollte, wenn es nötig war. Über die Nachrichten, die sie von Karl Krike am Telephon erhalten hatte, war sie voll froher Erregung. – Von dem Feuer in den Tokay-Schonungen weiß ich bereits, hatte er gesagt, und wäre schon lange bei euch auf Dieu Donné, wenn mir Aletta nicht gerade eine Tochter geschenkt hätte – ja, vor einer halben Stunde!… Ja, beide prächtig… Also hör zu, Roxie! Ich bin im Augenblick bei euch drüben… Karls Glück war wie ein Zeichen der Unbesiegbarkeit über den Draht gekommen. Sie hatten sich ein Mädchen gewünscht. Roxane wußte, wie froh Aletta war. Großmutter Constances Gespräch war weniger befriedigend verlaufen. Der
Bürgermeister von Wynberg bedauerte, daß die Spritzen bereits unterwegs seien – Mrs. de Valois wisse ja, wie es um diese Jahreszeit mit den Bränden überall auf der Halbinsel sei –, aber er gebe der Feuerwehr gern die Erlaubnis, auf Dieu Donné zu helfen – vorausgesetzt natürlich, daß sie bis dahin zurück sei. Als Roxane aus ihrem Zimmer kam, traf sie Merle und Guy und die Kriftis, die alle sehen wollten, ob sie etwas tun könnten. Sie trugen derbe Kleider, und Roxane mußte trotz der Sorgen des Augenblicks lächeln, als sie Mr. Krifti sah. Er wirkte wie ein ältlicher Schauspieler, der sich aus dem Garderobenlager ein abgetragenes Jagdjackett geholt hat. Merles Augen funkelten vor lästerlicher Erregung genau wie an dem Abend in Johannesburg, als Hallam von dem Neger gestochen worden war. Endlich – sagten Merles Augen –, endlich ist dieses schläfrige Tal doch aufgewacht und kämpft um sein Leben! In kürzester Zeit war Karl Krike mit einem Lastwagen voll Arbeitern angekommen und bereit, sich zu Tinus und Brink am Hang zu gesellen. Inzwischen hatten die langen flachen Segeltuchschläuche vom Teich das Gutshaus erreicht. Roxane sah, wie das Wasser sie schwellen ließ, und bald spritzte ihr Strahl auf das Stroh des Kellerdaches. Oben am Hang leckten im weiten Halbkreis die Flammen des Gegenfeuers und begannen sich langsam zu dem wütenden Inferno hinunterzuarbeiten, das die jungen harzreichen Kiefern und Fichten der Tokay-Wälder auffraß. Dort drüben fochten die Männer einen tödlichen Kampf in den beißenden Rauchschwaden. Wenn sie den Kopf nur einen Augenblick verloren, waren sie verirrt, eingekreist und abgeschnitten – winzig kleine Menschlein, Braune und Weiße, die auf den Saum eines ungeheuren Flammenvorhangs schlugen, der sich mehr als zwanzig Meter hoch in die stürmische,
aschebeladene, rauchgeschwärzte Luft erhob. Das dunkle Himmelsgewölbe war von einem treibenden Funkenregen erhellt. Jeder einzelne dieser Leuchtkäfer, in den Wind hinaufgetragen, konnte das Unheil für Dieu Donné bedeuten. Fing der Keller Feuer, dann würden die großen Holzfässer mit ihrem brennbaren Inhalt in teuflischer Brunst auflodern – und das anstoßende Gutshaus war verloren. Roxane sah, daß Merle sich dieser Gefahr durchaus bewußt war und daß sie sie bis ins tiefste erregte. Woran dachte sie jetzt – Merle, die sich stets gegen die Ansprüche von Dieu Donné auf sie gewehrt hatte? In Wahrheit waren Merles Empfindungen sehr gemischter Art. Sollte die Verpflichtung ihres Erbes hier vor ihren Augen zerstört werden? Würde ihr diese Katastrophe, die Großmutter Constance das Herz brach, Befreiung bringen? Die Situation wirkte so stark auf sie, daß sie sie geradezu wie eine sexuelle Erregung empfand – wie den Moment, in dem man nichts anderes tun konnte, als sich fallen zu lassen. Roxane schauderte und verbarg das Gesicht. In diesem Augenblick berührte Mr. Krifti ihren Arm und wies auf den Berg. Unter dem dunklen Rücken des Gebirges, fast einen Kilometer näher und höher als das Hauptfeuer, züngelte eine schmale goldene Schlange. Guy und Hal hatten sie auch gesehen und kamen rasch zu der kleinen Gruppe, die Großmutter Constances Stuhl umstand. - Wir gehen mit ein paar Helfern zu dem neuen Feuer hin auf, sagte Guy. Und, Krifti, ich schlage vor, Sie, Merle und Louise beginnen damit, die wertvollen Dinge aus dem Hause zu schaffen. Die Boys hier können die schweren Möbel tragen. Inzwischen hatten sich die Hausboys von Farway, aus Merles und Kriftis Wohnungen versammelt, und Elias übernahm das Kommando über diese Aushilfsspediteure. - Guy, sagte Merle, ich komme mit zum Feuer.
- Auf keinen Fall! fuhr er sie an. Du tust, was ich anordne, und bleibst hier. Es ist dein Erbe, das auf dem Spiel steht, und Großmutter Constance könnte dich vielleicht brauchen. Der Trotz hob ihr Kinn, doch dann, als sie Guys Mund und Augen sah, zog sie sich zurück und gab seiner Autorität nach. Diese herrische Seite von Guy hatte sie vergessen, und es reizte sie, seine Überlegenheit wieder einmal zu spüren. - Laß mich doch mit! rief sie hinter ihm her. Aber er suchte sich bereits seine Männer aus. Und Solly Caine sagte zu ihr: - Deine Pflicht liegt hier im Gutshaus. Sie fuhr herum. - Solly! Was, zum Teufel, machst du denn hier? Ich hatte keine Ahnung… - Das weiß ich, grinste er. Ich bin geschäftlich unterwegs. Jetzt komm und hilf, die Sachen herauszuschaffen!
Roxane ging ein Stück mit Hal und Guy, dann trennte sie sich von ihnen, um Tinus beim Gegenfeuer am Hang Bescheid zu sagen. - Liebste – wirst du auch vorsichtig sein? Einen Augenblick blieb Hallam hinter Guy und den Arbeitern zurück. Ich lasse dich ungern aus den Augen! Seine Arme hatten sie umfangen, und seine Lippen preßten sich auf die ihren. - Schon gut! lachte sie atemlos, als er sie losließ. Ich bin im Tal groß geworden und weiß ebensoviel von dieser Art Feuerbekämpfung wie du. Er blickte ihr nach, als sie auf den lodernden Buschkeil hinter dem Weingarten zuging, dann wandte er sich und hastete den steilen Bergpfad hinan, hinter Guy her. Roxane hatte das große Halstuch feucht gemacht und legte es nun, während sie durch den Weingarten lief, über das Haar als Schutz vor den umherfliegenden Funken. Die Augen schmerzten sie, und der
beißende Rauch der brennenden Sträucher ließ sie keuchen. Der Aschenregen blendete sie. Wolf sprang hinter ihr her. Der große Schäferhund war auf Hilfe bei Buschbränden dressiert, das Heulen und die Hitze der Flammen schreckten ihn nicht. Plötzlich blies ein Windstoß eine Rauchsäule zur Seite, und Karl Krikes mächtige Gestalt, die kräftig auf das brennende Unterholz einhieb, wurde sichtbar. - Karl! schrie das Mädchen gegen den Lärm von Wind und Feuer an. Wo ist Tinus? Ein neues Feuer – oben auf dem Berg! - Wir haben es schon gesehen. Tinus ist gerade mit ein paar Männern hinaufgegangen. Rauch wälzte sich zwischen sie, und als er sich wieder zerteilte, war Roxane fort. Fester band sie das nasse Tuch um den Kopf, während sie, den Hund neben sich, den Berg hinaufklomm. Sie sah, daß das neue Feuer parallel mit dem Gebirgspfad lief, eine weite brennende Woge, die sich zur Schlucht und zum Wasserfall hinzog – gerade ihr Versteck suchte sie sich aus! Immer wieder trug der Wind einen brennenden Zweig oder Strauch wie eine Fackel dahin und warf ihn in die Nacht hinaus, um ein neues Feuer anzuzünden. Roxane blieb stehen, um Atem zu schöpfen. Als sie den Berg hinaufblickte, erkannte sie, daß dieses Feuer den Weg bereits überquert hatte und daß die Männer ihre Kräfte auf den unteren Rand konzentrierten. Wenn die Welle weiter ihrem jetzigen Lauf folgte, würde sie von dem Bach aufgehalten werden. Die höhere Flanke würde auf der breiten Brandschneise oben am Berg zum Erlöschen kommen. Inzwischen wollten die Männer offenbar verhindern, daß das Feuer in die Kiefernwälder und Obstgärten hinter Dieu Donné hinunterraste. Als der Sturm die Rauchwolken zerriß, erhaschte sie einen Blick auf die Feuerkämpfer. Hal – dort drüben ganz links, das war Hal. Und in der Mitte Guy – drüben, zur Rechten, durch den Pfad von den andern getrennt, arbeitete Tinus. Dann sah
Roxane flüchtig die Umrisse einer Gestalt vor den lodernden Flammen. Sie kroch aus dem grünen, unberührten Busch auf Tinus zu. Wolf stand aufmerksam witternd neben ihr, das Fell auf dem mächtigen Rücken gesträubt. Hinter Tinus’ stämmiger Gestalt richtete sich plötzlich der taube Ben auf, sprang vor und hob den Arm. Roxane erwartete, seinen Löschknüppel auf die Flammenzungen herabfallen zu sehen. Doch da war kein Knüppel in der mörderisch erhobenen Hand – nur ein kurzes Bleirohr, gegen das rauchgeblendete Haupt von Tinus gerichtet. Ihr warnender Schrei ging ungehört im Wüten der Nacht unter, während sich Wolfs mächtiger Körper durch die Luft warf. Hund und Bursche sanken gemeinsam nieder, und Ben spürte die tödlichen Zähne in seinem Nacken. Tinus fuhr herum. Roxane rannte ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Doch in diesem Augenblick übertönte ein neuer entsetzlicher Laut den Tumult des Sturmes und der Flammen. Der Busch, der den Berghang hielt, war weggebrannt, und eine Lawine von Erde und Steinbrocken rollte hernieder. Durch die Flammenmauer donnerte der Erdrutsch – den Pfad herab, auf die schlanke Gestalt des Mädchens zu, dessen schmerzerstickter Schrei ,Tinus!’ sich in dem Bersten des herannahenden Todes verlor.
Sechsundzwanzigstes Kapitel ENTHÜLLUNGEN
Es war nach Mitternacht. In den Küchen von Dieu Donné und Farway strichen Lizzi und Elias belegte Brote und brühten Kaffee und Tee. Gleich würden die müden Feuerkämpfer zu einer Erholungspause und einer kleinen Erfrischung hereinkommen, während Verstärkungen ihren Platz einnahmen. Draußen, in einiger Entfernung vom Haus, waren die wertvollsten Stücke des Gutes aufgestapelt, einschließlich des großen Armoire, der Truhe und der Familienporträts. Mr. Krifti stand dabei – ein Wächter aus eigenem Entschluß – und schätzte mit Interesse und Respekt den beträchtlichen Wert. Großmutter Constance hatte sich von Merle einen Weinbrand mit Soda bringen lassen, denn die Erschöpfung überkam sie wie eine Ohnmacht. Wenn sie sich nur wie die anderen bewegen könnte – irgend etwas tun, statt hilflos und verkrüppelt hier herumzusitzen! Wo war Roxie? - Merle, sagte sie, hast du Roxie gesehen? - Roxie? Die ist vor einiger Zeit weggegangen. Zum Gegenfeuer hinauf, um Tinus zu suchen. Wahrscheinlich hilft sie den Feuerschlägern. In Merles Stimme klang Neid. Sie wäre viel lieber dort oben am Hang mit dabeigewesen. Großmutter Constance packte Furcht. Gott, beschütze Roxane! Ihre alten Augen hefteten sich ängstlich auf die Enkelin. - Wo ist die Bibel – unsere Familienbibel? Bringe sie her! Ich will sie auf dem Schoß haben. Ich will aus ihrem Gewicht
Kraft und Trost schöpfen! Die Nerven ihres fehlenden Beines zuckten. Die Bibel würde sich auf sie pressen und sie ruhig halten. - Ich werde sie suchen, sagte Merle. Sie fand Mr. Krifti bei den Möbeln und Teppichen, dem kostbaren Porzellan und alten Silber unter einer weit verzweigten Eiche, die noch voll belaubt war. Auf der Erde stand eine Sturmlaterne. - Wo in diesem Gerümpel mag nur die Familienbibel sein? fragte sie ihn. Ich hab nicht die mindeste Ahnung, und Großmutter Constance will sie haben. Er sah sie seltsam an. Ihre blonden Locken waren grau von den leichten Ablagerungen der Flugasche, das aufwärts fallende Licht der Laterne beschien ihr reizendes Gesicht und ließ die Augen leuchten. Er bückte sich und schlug einen Perserteppich zurück, der über Bilder und seltene Bücher geworfen war. Unter ihm lag das Porträt der jungen Sarah de Valois – mit zarten, dunklen Zügen, rätselvoll in dieser merkwürdigen Umgebung. Daneben die Bibel. Mr. Krifti hob sie auf. Dabei öffnete sich der schwere Lederdeckel, und man sah das Vorsatzblatt mit den vier Siegeln, die den verhüllten Papierbogen hielten. - Gott im Himmel! Was ist denn das? Merle nahm ihm die Bibel ab und setzte sich auf die Bank, die aus der Diele hierhergebracht worden war. Sie las die Aufschrift in der eckigen Schrift ihrer Großmutter. Diese Siegel sollen nach meinem Tode von Maria Merle Masterson und Roxane de Valois erbrochen werden. gezeichnet Constance Henrietta Vos de Valois Dieu Donné Constantia.
Merle starrte zu Mr. Krifti hinauf, erstaunt und neugierig. - Was halten Sie davon? - Das zu wissen wäre vielleicht ganz interessant. Seine Stimme war sanft und verlockend. - Das wäre es wohl, gab sie zu, schob den langen Nagel ihres Zeigefingers unter zwei von den Siegeln und erbrach sie. - Holen Sie doch mal die Laterne! bat sie. Stellen Sie sie hier auf den Tisch! Mr. Krifti tat, was sie verlangte, und gemeinsam prüften sie die Seite, auf der die Geburts-, Sterbe- und Heiratsdaten der de Valois auf Dieu Donné verzeichnet waren. Adrian Fairmead wandte sich seiner Frau zu. - Hier können wir im Augenblick wirklich nichts mehr tun. Das Strohdach ist durch und durch naß, und die wertvollen Sachen sind draußen in Sicherheit. Solly Caine und Krifti bleiben beide hier, und glücklicherweise legt sich der Wind. Ich schlage vor, wir sehen uns mal das Gegenfeuer an, das Tinus angelegt hat. - Aber Hallam ist oben bei dem neuen Feuer, sagte sie und blickte zu dem Flammenring empor, der den Berg um gürtete. Er nahm sie sanft am Arm. - Das ist viel zu steil für uns. Du würdest es nicht schaffen, und ich mit meinem lahmen Bein ebensowenig. Weiter als bis zum ersten Hang kommen wir nie. Laß uns gehen, Lavinia! Über die Weinbergpfade gingen sie auf den leuchtenden Feuerschein der brennenden Schonungen von Tokay zu. Der Wind hatte sich gelegt, und das Gegenfeuer lief nun schneller voran. Mit einem weiten Umweg gelangten sie in seine Flanke. Vor ihnen hing der ungeheure, über zwanzig Meter hohe Flammenvorhang des Waldbrandes. Adrian zog ein Tuch aus der Tasche und gab es Lavinia, damit es ihr Haar vor dem Baldachin über ihnen aus Rauch, Asche und Funken schütze.
- Hier! rief er durch das Heulen der Flammen und das Krachen der stürzenden Kiefern. Hier wollen wir warten! Sie klammerte sich an seinen Arm, und er dachte, daß er ihr viele Jahre lang nie so nahe gewesen sei. Schweigend beobachteten sie, wie die beiden Feuer einander näher rückten – den steil hochjagenden Waldbrand, der triumphierend vorwärts sprang, den breiten Schutzstreifen überquerte und sich dem kleineren Buschfeuer zu einer lodernden, elementaren Umarmung entgegenwarf. In diesem Augenblick infernalischer Vereinigung schien es Adrian, als hätten sie der Hölle selbst ins Herz geblickt. Dann duckten sich die hungrigen Flammen, die nur noch Asche zu fressen fanden, und erstarben allmählich, während die kleinen Menschengestalten auf die verebbenden Zinnoberwellen einschlugen, bis sie zusammenfielen und auf der geschwärzten Erde erloschen. Adrian erwiderte den langen Seufzer seiner Frau. Welch kurze und verheerende Vereinigung – welch jämmerliches Ende! Jahrelang würden hier nur die purpurnen Feuerkräuter gedeihen, wo noch vor wenigen Stunden hohe Bäume sich im Wind gewiegt und Vögel zwischen blühenden Sträuchern gezwitschert hatten. Adrian dachte an seinen Sohn. So war die Ehe zwischen Hal und Alexa gewesen – eine Flamme, die sich mit der andern paarte –, kurz, ekstatisch und zerstörend. Er spürte, daß Lavinia sich an ihn lehnte, und sah ihr aufwärts gewandtes Gesicht im Licht der sterbenden Flammen. Er beugte sich, um ihre Lippen zu küssen, von einer Kraft bewegt, die außer ihm lag, von der Majestät und dem Entsetzen dessen, was sie erblickt hatten.
Merle legte ihrer Großmutter die geöffnete Bibel auf den Schoß.
- Ich habe die Siegel erbrochen, sagte sie. Ich bin froh, daß ich es getan habe! Weiß Roxane das? Zorn verdunkelte das Gesicht der alten Dame. - Du hattest meinen Wunsch auf dem versiegelten Blatt gelesen – nach meinem Tode! Merle überhörte die Worte. - Wenn du es Roxie nicht sagst, tue ich es. Und dann fügte sie hinzu: - Ich überlege gerade, was sich dadurch ändert – für all dies hier – für Dieu Donné – für mich… - Dieu Donné kann ich nicht mehr vererben – falls du das meinst. Das Gut ist heute eine GmbH geworden, deren Direktoren es lieben und erhalten werden. - Und das ohne mein Wissen! Die alten Augen blitzten auf. - Du warst bereit, Dieu Donné ohne mein Wissen zu verschachern! An Mr. Krifti! Das sollte ich nie erfahren, nicht wahr? - Wer hat dir das gesagt? - Mr. Krifti! Er versuchte, mir fünfzig Morgen von meinem Land abzukaufen. Er sagte, er bekomme es doch, sobald du dein Erbe angetreten hättest – es sei schon so gut wie sein. Er wolle nur nicht länger warten. Er hoffte mich zu über reden, es ihm selbst zu verkaufen – und bei dem Handel zu profitieren. Sie hielt inne und umklammerte die Armlehnen ihres Stuhles fester. Tacktack – tack machte ihr Herz, tacktack – tack. Die Pause zwischen den Schlägen verursachte ein Gefühl der Ohnmacht und des Schwindels in ihr. Sie zwang sich weiterzusprechen. - Zum erstenmal in meinem Leben war ich Mr. Krifti dank bar… Was ich von ihm erfuhr, zeigte mir deutlich meine Pflicht – Dieu Donné – dir – und Roxane gegenüber. Der Krampf war vorüber, und sie hatte sich wieder ein wenig erholt. Streng fuhr sie fort:
- Ich habe mein Testament entsprechend geändert. Du und Roxane, ihr erhaltet mein Eigentum zu gleichen Teilen. Doch du wirst niemals allein die Verantwortung für Dieu Donné tragen, Merle. Du wirst nie in die Lage kommen, das Gut zu zerstören und zu plündern, wie es dir paßt! Merle hörte den vertrauten kämpferischen Klang in der eingerosteten Stimme und erkannte, daß die alte Kriegerin im Rollstuhl noch nicht geschlagen war. - Was hast du getan, Großmutter Constance? fragte sie leise. Was hast du mit Dieu Donné gemacht? - Frag deinen Stiefvater! sagte die alte Dame. Es war sein Plan – und er ist gut. - Solly? Das war also sein Geschäft hier in Dieu Donné – mich zu betrügen! Und ich wette, Roxane profitiert von seinem Plan… Ihr schien ein neuer Gedanke gekommen zu sein. - Meine Mutter… sagte sie halb zu sich selbst, so daß Großmutter Constance die Worte nicht hören konnte. Kein Wunder, daß meine Mutter Roxie haßt! Sie muß es erraten haben. Ja, sie muß es längst erraten haben… Und Großmutter Constance wußte es die ganze Zeit und hat nie einen Ton gesagt! Wütend kehrte sie sich ab. Betrogen – betrogen von dieser schlauen alten Hexe, die jede Gefahr für Dieu Donné witterte wie ein Zauberdoktor seine Opfer. Gefahr für Dieu Donné… Ihre Augen suchten den anmutig geschwungenen Giebel über dem teakholzgeschnitzten Fensterbogen und der offenen Tür. Die Lampen brannten in dem leeren Haus und verliehen ihm ein trügerisches Aussehen von normaler Gast- und Häuslichkeit. Doch als sie es betrachtete, sah sie das leise schwelende Dach und die erste dünne Flammenzunge. - Da schau hin!
Sie drehte den Rollstuhl der alten Dame auf das Haus zu, und in ihrer Stimme klang bitterer Triumph. - Nicht ich bin’s, die Dieu Donné zerstören und plündern will! Sieh dir das Dach an! - Ruf Solly – rasch! Ruf Adrian – und Josua! Großmutter Constances Aufschrei war voller Angst. Sie setzte die Trillerpfeife an ihre trockenen, bebenden Lippen und blies und blies. Der uralte, immer noch wache Instinkt des primitiven Jägers, den Feind im Rücken zu spüren, hatte Tinus herumfahren lassen, als Ben das Bleirohr mit der Absicht hob, ihn zu betäuben und die Flammen das übrige erledigen zu lassen. Im selben Augenblick sah er den springenden Hund den Burschen zu Boden reißen. Hinter den beiden kam die geliebte Gestalt Roxanes mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. Und dann hörte er das Poltern sich lösender Felsbrocken – ungleichmäßig und bedrohlich über dem Brüllen von Sturm und Feuer – und wußte, daß die größte Gefahr bei der Feuerbekämpfung im Gebirge sie überrascht hatte. Er nahm sich keine Zeit zum Denken. Er ließ den Zweig, mit dem er gelöscht hatte, fallen und sprang den Hang hinab dem Mädchen entgegen, hob sie auf und warf sich mit ihr in die grünen Büsche an der Seite des Weges – die vom Feuer unberührten Büsche, aus denen Ben gekrochen war. Er deckte ihren leichten Körper mit dem seinen und spürte den Hagel von Steinen und Kies, der auf seinen breiten Rücken hämmerte, als der Erdrutsch an ihnen vorüberdonnerte. Glücklicherweise hatte die Hauptmasse den bequemeren Weg den Pfad hinunter genommen, und nur kleinere Brocken und Erde prasselten auf sie hernieder. Doch plötzlich stöhnte Tinus auf, als ein schwerer Felsbrocken durch das Strauchwerk brach, seine Schulter traf und Fleisch und Knochen zerschmetterte.
Für ein paar Sekunden machte ihn die Gewalt des Schlages bewußtlos. Hal und Guy, in Rauch und Staub unsichtbar, waren außer Reichweite der vollen Kraft des Erdrutsches und merkten nichts von dem menschlichen Drama, dessen gewaltsamer Schluß soeben abgelaufen war. Sie wußten, daß Tinus auf dieser Seite des Feuers gewesen war, und fragten sich voller Entsetzen, ob die Erdmassen ihn gefaßt hätten. Als der Staub sich verzog, vermochten sie zu sehen, laß Sand und Steine einen Teil des Feuers abgedeckt hatten. Ein Nachlassen des Windes erlaubte ihnen einen Augenblick willkommener Ruhe. Guy signalisierte den farbigen Schlägern, sie sollten weitermachen, während er Hallam winkte, ihm zu folgen. Sie kletterten durch den Busch zum Pfad hinab, der jetzt von lockerer Erde und Gesteinsbrocken bedeckt war, und in dem roten Licht, das auf der andern Seite des Weges die Dunkelheit erhellte, unterschieden sie die Gestalt eines Mannes, der sich mühte, auf die Füße zu kommen, wobei ihm ein Mädchen half. Sie bahnten sich den Weg durch den Schutt und erkannten Tinus und Roxane mit zerrissenen Kleidern und zerschrammten, blutenden Gesichtern. Tinus’ Khakihemd war von Blut durchnäßt, eine Schulter und ein Arm hingen schlaff herab. Seine Augenklappe war abgerissen, und die leere, eingefallene Höhle verlieh ihm ein makabres, totenhaftes Aussehen. - Du bist ja verletzt, Mann! Guy lief hilfsbereit auf ihn zu, um ihn zu stützen, während Hal schon an Roxanes Seite gesprungen war. - Bist du verwundet, Roxane? Ist dir etwas geschehen? - Nein, erwiderte sie unsicher. Aber Tinus. Tinus stieß einen gewaltigen Fluch auf afrikaans aus, während er mit der rechten Hand nach dem linken Arm griff, der hilflos an seiner Seite baumelte. Er hatte keine Ahnung von
dem Ausmaß seiner Verletzung und spürte im Augenblick, von dem Schock betäubt, kaum Schmerzen. - Kümmert euch nicht um mich! sagte er grob. Holt sie raus! Grabt sie aus – den Jungen und den Hund! Der Erd rutsch hat sie erwischt. - Ben und Wolf, erklärte Roxane und kletterte zu dem Fleck, wo sie überrascht worden waren. Hier irgendwo. Hal und Guy hatten Spaten zur Feuerbekämpfung benutzt und machten sich nun daran, den Erdhaufen an der Stelle, die Roxane anwies, abzutragen. Bald fanden sie, was sie suchten. - O mein Gott! Guy hatte Kopf und Schultern des Burschen und des Hundes freigelegt. Die Zähne des großen Schäferhundes waren noch in die dunkle Haut des Nackens gegraben, und die Hand des Toten hielt noch immer das Bleirohr. Vorsichtig löste Hal die verkrampften Finger. - Was wollte er damit? fragte Guy grimmig. Das eignet sich besser für einen Verbrecher als für einen Feuerkämpfer! Einen Augenblick lang hörte man nur die Laute der wüten den Nacht – das Krachen der Flammen und die Rufe von einem Arbeiter zum anderen. Die Hitze war ungeheuer, und der Rauch stieg senkrecht in die Luft empor, die jetzt wind still war. In einem Blitz seltener Erkenntnis sah Tinus das schwarze Bild von Lizzi, die diesen ihren tauben Sohn angebetet hatte, und die olivfarbene Schönheit von Saartje, dem Mädchen, das Ben geliebt hatte, und plötzlich waren ihm viele Dinge klar. Einen Herzschlag lang besaß er das wahre Wissen um Gut und Böse, und mit ihm kamen Verständnis und Mitleid. Und so erzählte er die Halbwahrheit, die einer alten farbigen Frau den Seelenfrieden schenken würde. - Der Hund griff Ben an, sagte er. Ich habe es gesehen. Er versuchte sich mit diesem Ding zur Wehr zu setzen – aber es blieb ihm keine Zeit.
- Armer Teufel! murmelte Hal. - Holt den alten Klaas, daß er ihn zu Lizzi hinunterträgt. Er ist nicht schwer. - Und was wird mit dir? fragte Hal. Kann ich dir behilflich sein? Du mußt zum Arzt. - Zum Teufel, Mensch! Ich habe doch meine Beine. Du machst hier mit Guy beim Feuer weiter, bis wir euch Ablösung schicken. Roxie kann mit mir hinuntergehen. Als Roxane neben Tinus durch den dichten Busch am Rande des verschütteten Pfades hinabstolperte, hörte sie ihn stöhnen. Der Schmerz begann in den zerschmetterten Nervenenden, zerrissenen Sehnen und zerschlagenen Knochen zu erwachen. Einmal blieb er für ein paar Minuten stehen. - Kannst du noch, Tinus? - Ja, murmelte er. Es geht schon. Warum weinst du, Roxie? - Ach, Tinus… der arme Ben… und mein armer schöner Wolf – den du mir geschenkt hast –, mehr mein Freund als mein Hund… - Er hat mir das Leben gerettet, Roxie. - Du hast denen oben nicht gesagt, was Ben tun wollte – ich habe es gesehen. Ich weiß es. Er versuchte, dich zu töten. - Ja, ich habe es auch gesehen. Aber Roxie, versteh mich recht, ich kann es ihm nachfühlen. Ich habe sein Mädchen ins Gefängnis gebracht – und noch mehr als das… ich weiß, wie ihm zumute war. Heute, vor ein paar Stunden, hätte ich auch einen Menschen töten können. Sie brauchte nicht zu fragen, was er meine, als sie da neben ihm stand, schweigend und erschöpft. Weich wirbelte Asche auf sie nieder – das dunkle, warme Gegenstück des Schnees –, und der Busch rund um sie her war still in der seltsamen Erschöpfung der Natur, die auf den Sturm folgt. Traurigkeit erfüllte sie – Nachwehen – lauter
Nachwehen! Sterbende Feuer, sterbender Sturm, sterbende Liebe… - Ich gehe fort, Roxie, sagte er. Zurück nach Tweefontein, wohin ich gehöre. Hier werde ich nicht gebraucht. Brink ist ein ebenso guter Verwalter wie ich – er hätte schon vor Jahren solch eine Stellung annehmen können, aber er wollte bleiben –, und Hal ist ein besserer Mann… - Tinus… bat sie flüsternd. - Es ist so, sagte er und stöhnte auf, als Roxane leise seine verletzte Hand berührte. Sie spürte, wie er vor Schmerzen schauderte, und zog sich voller Elend zurück. - Ich will nach Tweefontein, wiederholte er. Eine große Sehnsucht nach Tweefontein war in ihm erwacht und überdeckte die Woge des Schmerzes. Es verlangte ihn nach dem hohen Himmel und dem offenen Veld, nach dem frischen reinen Duft des goldenen Graslandes. Nur dort würde er den Makel jener Juninacht auslöschen können… Es schien ihm, als schließe sich das Tal mit seinen verbrannten Bergen und zerstörten Wäldern eng um ihn und als lägen all diese Sorgen allein auf ihm. - Hör zu, Roxie! Seine Stimme war heiser von dem Schmerz, der in seiner Schulter pochte. Ich weiß über dich und Hal Bescheid. Du brauchst es mir nicht mehr beizubringen… Als er mit mir in meiner Wohnung war, um sich umzuziehen, fragte ich ihn… Ich sagte: ‚Liebst du sie?’ Und die Antwort war: ,Ja.’ Ich fragte, ob du ihn liebtest, und die Antwort darauf war ebenfalls ,Ja’… Also ist alles gesagt, mein kleines Eichhörnchen – die Wunde ist schon da – tief hier drinnen… Seine Hand bedeckte das Herz. Aber sie wird heilen… wie die andere… wie der Arm. Komm, Roxie… Blind vor Tränen folgte sie ihm. Sie liefen ihr über die Wangen und zogen ihre salzige Spur durch Staub, Asche und
Spuren von Blut. Ein Vogel rief seine Gefährtin, rief noch einmal, doch kam keine Antwort. Schließlich traten sie in den Hain oberhalb des alten weißen Hauses, und dort blieben sie stehen. - Da! sagte Tinus. Sie sahen die Spritzenwagen, die hohen Leitern, die kleinen Gestalten und Wasserstrahlen, die über das Gutshaus spielten. - Sie sind gekommen, hauchte Roxane. O Tinus – sie sind gekommen! Dieu Donné wird gerettet!
Siebenundzwanzigstes Kapitel NACHLESE
- Na, sagte Merle, jetzt hast du Großmutter Constance gesehen. Was hat sie dir gesagt? Das kalte Licht der Morgendämmerung sickerte durch das offene Fenster von Roxanes Schlafzimmer, und die beiden jungen Frauen saßen gebadet und erfrischt auf der breiten gepolsterten Fensterbank und starrten hinaus auf den Berg. Die Feuerwehr der Waldbucht hatte den Kampf übernommen, und die letzten Leute von Dieu Donné riefen Lizzi, die sie mit Kaffee und belegten Broten bewirtet hatte, totsiens und dankje zu. Bis jetzt wußten Lizzi und Josua nichts von der traurigen Bürde, die der alte Klaas den Berghang heruntergetragen und in ihre kleine Wohnung gelegt hatte. Bald würde er es ihnen sagen. Das Hauptfeuer, das jetzt Dieu Donné und die Güter im Constantia-Tal nicht mehr bedrohte, brannte noch immer auf den Höhen und zog sich zum Waldbucht-Paß hin. Die Waldbuchtarbeiter von Tokay hatten es gut unter Kontrolle, und wenn sich der Wind nicht wieder erhob, würde es innerhalb einiger Stunden harmlos erlöschen. Großmutter Constance hatte den Bürgermeister von Wynberg und seine Feuerwehr voller Dankbarkeit verabschiedet, denn ohne ihre rechtzeitige Hilfe wäre das Gutshaus niedergebrannt. Jetzt lag sie in ihrem großen Vierpfostenbett und bemühte sich, den ungleichmäßigen Schlag des Herzens mit der häßlichen Pause, die von Zeit zu Zeit die Lebenskraft anhalten wollte, und die Ankündigung des nahenden Todes zu überhören.
Heute nacht hatte sie zum erstenmal in ihrem Leben eine Art Sympathie ihrer Enkelin gespürt – eine Gefühlsregung, die aus dem schnellen heftigen Streit zwischen ihnen und aus ihrer großen Verschiedenheit entstanden war. Als Merles erste Wut verraucht war, trat Respekt vor Großmutter Constances Entschluß an ihre Stelle – und damit etwas wie Erleichterung. Merle und ich – heute nacht haben wir einander kennengelernt, dachte sie, wir haben uns wirklich verstanden. Sie sagte, ich hätte recht getan – sie sagte, sie sei froh… Ein Gefühl des Friedens durchdrang Großmutter Constance, ein tiefer Wunsch, nach dieser Nacht mit ihren Aufregungen schlafen zu dürfen. Für das Schicksal von Dieu Donné waren jetzt Adrian Fairmead und Solly Caine ihre Gefährten, und sie vertraute beiden. Geld würde hereinkommen, statt wie Lebensblut davonzuströmen. Und Roxane hatte teil an diesem neuen Anfang – gute Roxane, die Dieu Donné liebte, als gehöre es ihr. Vielleicht würde es eines Tages so kommen, denn Hallam Fairmead hatte vor, sich im Tal niederzulassen… Schläfrig lächelte Großmutter Constance. Erst vor wenigen Augenblicken war Roxane bei ihr gewesen – seltsam groß sah sie in ihrem langen bauschigen Morgenrock aus. Sie hatte, wie schon so oft, neben diesem großen alten Bett gekniet und den Kopf gebeugt, damit die alte Dame durch das feuchte Haar, aus dem sie Erde und Asche gewaschen hatte, streichen konnte. - Es ist nicht Tinus, hatte sie geflüstert. Es ist Hal, den ich liebe und immer lieben werde. Ich liebe ihn schon lange, schon als ich ihn das erstemal sah – doch dann kam Alexa – aber jetzt… Tinus hat mir verziehen… Roxanes blasses, erschöpftes Gesicht hatte sich ihr zugewandt, und die alte Dame hatte in die ruhigen, liebevollen Augen geblickt, die vom Rauch der Nacht gerötet waren, und darin die große leuchtende Freude der liebenden Frau gesehen, die ihrer Zukunft sicher ist.
- Möge Gott dich segnen, mein Kind! Hallam ist der Mann für dich. Ich habe es auch gewußt, und du hast mir leid getan. Nun bin ich um deinetwillen – um unser aller willen – glücklich. - Er will hier leben – ein Gut bewirtschaften und schreiben-, hier im Tal. Dann werden wir auch noch bei dir sein, wenn wir verheiratet sind. Großmutter Constance hatte den Kopf geschüttelt, doch über ihre Lippen war ein Lächeln geflogen, das fast schelmisch wirkte. - Wir sind bald am Scheideweg, meine Roxie. Doch ich werde dir immer nahe sein, wo du auch bist… - Du bist so gut zu mir gewesen – mein alles auf der Welt – Mutter und Vater… - Du bist mein liebes Kind. Ein paar Minuten hatte Roxane geglaubt, Großmutter schlafe. Dann klang die Stimme wieder. - Morgen mußt du zu meinem Anwalt gehen. Sag ihm, er soll dir den Brief aus meinem Panzerschrank geben. Er weiß schon, welchen… Es ist der Brief, den deine Mutter schrieb, als sie dich in meine Obhut gab. Er ist ebenso für dich wie für mich bestimmt gewesen… du solltest ihn an deinem einundzwanzigsten Geburtstag – im Notfall früher lesen. Der Notfall ist eingetreten… - Ich werde tun, wie du sagst. - Noch eins, mein Kind. Wenn Gott dir einen Sohn schenkt, nenne ihn Dirk – um meinet-, um meines Sohnes willen… - Wir werden ihn Dirk de Valois nennen. Gott wird uns gewiß um deinetwillen einen Sohn schenken, Großmutter. Laß es so geschehen, Heilige Mutter! - Nun geh, Roxie… ich bin sehr müde… Der Schlaf steht schon an meinem Bett…
Die Lippen des Mädchens berührten die zerfurchte Stirn, dann war sie fort. Großmutter hob im Willkommen die Hand nach der Gestalt, die die Maske des Schlafes trug. Komm! bedeuteten ihre kalten Finger. Du hast Flügel, zusammengefaltete Flügel. Breite sie aus. Doch die Gestalt in dem schwachen Licht der trügerischen Dämmerung rührte sich nicht. Großmutter Constance seufzte. Nicht mein Wille, o Herr, sondern Dein Wille geschehe… Sie schloß die Augen und lauschte wieder dem ungleichen Schlag des erschöpften alten Herzens. Tacktack – tack – tack… Die lange Vergangenheit strömte durch sie hin wie die Ebbe, die Schätze und Strandgut davonträgt. Bilder der einst Geliebten und Gehegten stiegen auf und verblichen. Stephanus – ihre Lippen formten seinen Namen – Dirk, dessen Staub in der fernen Wüste lag – aber jetzt bist du mir nahe, Dirk, mein lieber Junge… und Roxie, die ihr teurer war als alle andern lebenden Wesen – Roxie, die Dieu Donné liebte, die ihr geholfen hatte, ihre Kämpfe durchzustehen, und das immer tun würde… Tacktack – tack, tacktack – tack… Sie hob die schweren Lider und suchte das offene Fenster. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und trotzdem war es sehr dunkel im Zimmer. Das war die Weise der Natur – die trügerische Dämmerung, das Zurücksinken in die Nacht und die Pracht des Sonnenaufgangs. Die Gestalt in der Maske des Schlafes trat im zunehmenden Dunkel näher. Großmutter Constance lächelte schwach. Ach, Schlaf, kommst du endlich zu mir! Deine Flügel sind jetzt ausgebreitet. Ach, Schlaf, wie mächtig sind deine Flügel!
- Was hat sie gesagt? wiederholte Merle. Roxane zog den Morgenrock fester um sich; in der Kühle der Dämmerung fröstelte sie. - Nicht viel. Sie war sehr müde. - Arme, liebe alte Großmutter – fast wäre ihr geliebtes Dieu Donné verbrannt! Roxane betrachtete Merle erstaunt. - Du bist so verändert, sagte sie. Was ist denn geschehen? In dem zunehmenden Licht sah sie Merles Lächeln. - Kann man sich über Nacht verändern? - Es gibt Dinge, die einen verändern. - Vielleicht, sagte Merle. Roxie, hat Großmutter Constance dir erzählt, wer du bist? - Wer ich bin? Verblüfft blickte sie auf. Und die alte Angst aus ihrer Kindheit riß an den Nerven. Merle hatte ihr schreckliche Dinge erzählt… Sie haben deine Mutter totgemacht – als Spionin erschossen. Merle beugte sich vor, und ihr Blick ruhte mit einem forschenden Ausdruck, der teils ärgerlich, teils herzlich war, auf Roxane. - Wer du bist, steht in der Familienbibel, sagte sie. Ich habe Großmutter Constance heute nacht die Bibel bringen müssen. Sie verlangte danach. Wußtest du, daß sie ein Blatt Papier auf die erste Seite gesiegelt hatte – auf die mit den Daten der de Valois? - Ja, das habe ich schon vor langen Jahren bemerkt. Ich habe mir nie den Kopf darüber zerbrochen. Sie wollte nicht gern, daß jemand ihr Alter erführe. - Ihr Alter! Es war nicht ihr Alter, was sie verheimlichen wollte, Roxie – wenn es dich vielleicht auch interessiert, daß sie näher an neunzig als an achtzig ist. O nein, meine Liebe, es war nicht ihr Alter, was sie verheimlichte! Ich habe die Siegel
selbst erbrochen. Und dann brachte ich ihr die Bibel und sagte, was ich getan hatte. - Was hast du erfahren, Merle? Sie stellte die Frage wider Willen und wartete ängstlich auf die Antwort. Merle lachte leise, wandte sich ab und blickte hinaus in das frische rote Licht des Sonnenaufgangs. Dann kehrte sie sich der Jüngeren wieder zu, die zögernde Herzlichkeit noch in den Augen. - Du, Roxane de Valois, und ich, wir sind die Töchter des selben Vaters! Wir beide sind die Kinder von Großmutter Constances Sohn – Dirk de Valois. Nach den Gesetzen der Natur gehörst du – genausogut wie ich – hierher nach Dieu Donné! In Roxanes Kopf wirbelte es. Dirk des Valois? Unglaube und Verlegenheit jagten durch ihren Geist hinter einer innigen, ungläubigen Freude. Deshalb hatte Christopher Williams also… Sie grub das Gesicht in die Hände, um diese neue erstaunliche Enthüllung zu fassen. Dann ging es ihr auf, kühl wie der erste Hauch des Winters, daß Christopher Williams Maman ebenso geliebt hatte, wie Tinus sie – Roxane – liebte. Er war der Beschützer gewesen, vielleicht sogar der anerkannte Liebhaber – doch niemals der Geliebte. Dirk de Valois – ja. Dirk mit den dunklen, tiefliegenden Augen und dem Dichtermund – einem Mund, der ihrem eigenen so ähnlich war –, Dirk war der verbotene Geliebte gewesen. Hier lag die Wahrheit! Und Bella Caine hatte diese Wahrheit längst erraten. Plötzlich erinnerte Roxane sich des Abends vor Merles Hochzeit – Kerzenlicht und Sekt, Großmutter Constance tranchierte die fette braune Gans, und Bellas Augen lagen auf ihr, Roxane, brachten sie in Verwirrung und suchten nach einer nicht zu fassenden Ähnlichkeit. Mit Anne? Mit Dirk? Und
plötzlich sagte Guy, sie gleiche dem Porträt der jungen Sarah de Valois aus dem achtzehnten Jahrhundert. Sie erinnerte sich der Erregung, die sie bei diesen Worten gespürt hatte, weil sie sich schon immer auf eine seltsame Weise dieser unbekannten Braut der de Valois verwandt gefühlt hatte. Ihr Blut und meines ist das der de Valois! dachte Roxane jetzt. Und Großmutter Constance ist wirklich meine Großmutter – und Dieu Donné meine wahre Heimat! Vielleicht nicht nach dem Gesetz, aber von Natur. - Verzeih, Merle, sagte sie stockend. Ich glaube dir – aber ich verstehe nicht… - Großmutter Constance hat mir alles erzählt, erklärte Merle und wiederholte die Geschichte, wie sie sie gehört hatte. - Anscheinend vertrugen sich mein Vater und meine Mutter nicht – ist das verwunderlich? Dirk war sensibel und heißblütig, und meine Mutter ist wie Eis. Sie denkt nur an sich. Dirk war damals Verwalter auf einem Gut in Pretoria – um sich die Erfahrung für die Übernahme Dieu Donnés anzueignen –, und meine Mutter langweilte sich dort furchtbar. Sie entschloß sich, nach Europa zu reisen, damit eine Trennung von einigen Monaten die Eheschwierigkeiten beilegte. Ich war damals drei oder vier. Mutter wollte immer, daß ich Sprachen lerne, und hatte von einer französischen Lehrerin gehört, die nach Südafrika wollte. So kam Anne in unser Haus. Sie kümmerte sich um mich und führte meinem Vater die Wirtschaft, während Mutter weg war – und Mutter dehnte ihren Urlaub auf ein ganzes Jahr aus… Merle zuckte die Achseln, und ihre Oberlippe verzog sich. Wundert dich das Ergebnis? Wenn Mutter auch nur einmal an Dirk gedacht hätte, wäre ihr klargeworden, wie wahnwitzig es war, ihn so lange zu verlassen – Anne im Haus, schön und reizvoll. Doch Mutter hat niemals einen Gedanken an irgend jemand außer Bella
verschwendet – Bella de Valois – Bella Caine… Ich wünschte, ich könnte mich an deine Mutter erinnern, Roxie, aber ich kann’s nicht. Ich war zu klein. Sie schwiegen und versuchten, das französische Mädchen, das Dirk liebte, aus der Vergangenheit heraufzubeschwören. Nach einer Weile fuhr Merle fort: - Sie war verschwiegen, Roxie. Mein Vater hat nie etwas von deiner Existenz erfahren – auch Großmutter Constance nicht –, erst als du im Kriege hierherkamst. Anne verließ dieses Gut in Pretoria, als meine Mutter zurückkehrte, und sagte keinem Menschen, daß sie ein Kind erwartete. Nur ein einziger wußte das. Dein Patenonkel, Christopher Williams. Er hatte sie seit Jahren geliebt und ihr auf jede nur mögliche Weise geholfen. - Er war verheiratet, sagte Roxane. Seine Frau war – krank. - Sie war in einem Irrenhaus, setzte Merle brutal hinzu. Er konnte deine Mutter nicht heiraten, weil er, ebenso wie sie, katholisch ist. Aber er gab dir seinen Namen. Als der Krieg kam, ermöglichte er es, dich hierherzuschicken. Da erst schrieb sie und erzählte Großmutter Constance alles. Sie wußte nicht, daß Dirk gefallen war. Sie bat Großmutter Constance, gut zu dir zu sein – und dich zu lieben –, aber das Geheimnis deiner Herkunft um Dirks willen – und um seines legitimen Kindes willen – zu bewahren… Merles Stimme brach, und sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Schließlich sagte sie: - Deine Mutter muß eine gute Frau gewesen sein – und auch eine tapfere, eine sehr tapfere… Ich wünschte… sie wäre meine Mutter… Roxane bewegte tief bewegt ihre Hand, doch Merle schüttelte sie ab und stand auf – ärgerlich, weil sie ihren Gefühlen nachgegeben hatte. - Natürlich solltest du die Tatsachen erfahren, wenn du alt genug wärest, sie zu verstehen. Und als Dirk gefallen und
meine Mutter wieder verheiratet war, entschloß sich Großmutter Constance, deine Geburtsdaten in die Familienbibel einzutragen. Ach, das ist alles lange her – eine alte Ge schichte, eine Liebesgeschichte, die nicht sehr gut auslief –, und nichts ist davon geblieben… außer dir, meine kleine Schwester – und vielleicht Großmutter Constances Wunsch, daß du, und nicht ich, Dieu Donné erben könntest! - Davon hat sie niemals das geringste angedeutet! - Aber gewünscht hat sie es doch. Und jetzt wissen wir, weshalb. Aber ich war die gesetzliche Erbin, und für Menschen ihrer Art bedeutet das viel. Jedenfalls hat sich seit gestern alles geändert – seit ihrem Vertrag mit Solly und Adrian Fairmead. Mir ist’s gleich. Im ganzen bin ich sogar froh. Ich hasse das Tal – ich hab’s immer gehaßt. Hätte ich das Gut geerbt, dann hätte ich’s Krifti schon am nächsten Tag verkauft – und mein Leben lang tödliche Angst vor dem Spuk der Oumissus gehabt! Wie es jetzt steht, bekomme ich meinen Anteil in bar und einen Anteil in der Gesellschaft – und keine Verantwortung… und keine Schuld. Es ist alles wunderbar so! - Mr. Krifti ist böse! sagte Roxane. Er wird wütend sein, wenn er erfährt, daß er Dieu Donné – oder einen Teil davon – niemals kriegen wird. Merle lachte kurz auf. - Der weiß sich schon zu helfen. Die Kriftis kenne ich. Die Kriftis auf dieser Welt kämpfen keine aussichtslosen Schlachten – die nicht! Sie ergeben sich und gehen zum Feind über. Wenn Krifti erfährt, daß er Dieu Donné um keinen Preis und unter keinen Umständen erhält, findet er ein anderes Objekt. Es gibt Täler, die ebenso schön sind wie dieses – und andere Gutshäuser… Wild umklammerte Roxane Merles Handgelenk. - Keins ist so schön! Wage nicht, das zu sagen!
Das war das vertraute Streitthema. Sie sahen sich in dem zunehmenden Licht an und lächelten. Meine Halbschwester, dachte Roxane. Wie seltsam! Langsam sagte sie: - Also ist Tinus mein Vetter? - Ja, erwiderte Merle. Tinus scheint sich nur in seine Kusinen zu verlieben. Einst war ich’s – erinnerst du dich? Und Großmutter Constance hält nichts von Vetterehen – und sie wird Einwände machen, wenn er um deine Hand anhält. Wart’s nur ab! Roxane sagte: - Tinus hat mir heute nacht das Leben gerettet. - Er ist zäh, entgegnete Merle. Das sind alle – die ganze Familie Vos. Ach Roxie, ich hab ja ganz vergessen, daß Guy vom Krankenhaus angerufen hat, als du bei Großmutter Constance warst. Die zerschmetterte Schulter von Tinus wird ohne Schaden heilen. Mach dir also nicht allzuviel Sorgen um ihn. Doch Roxane dachte: Das war es also, deshalb wollte Großmutter Constance nicht gern, daß sie Tinus heiratete, obwohl sie sie beide liebte. Er stand ihr zu nahe – der Vetter, den sie inniger als einen Bruder geliebt hatte. Als das Morgenlicht das ganze Zimmer durchflutete, war es Roxane, als klärten sich die verschwommenen Umrisse ihrer Stellung auf Dieu Donné. Bald würde sie zu ihrem Lieblingsplatz gehen – vorüber am Schauplatz der nächtlichen Katastrophe –, und dort würde das Bild Zug um Zug klar werden. Der Südoststurm hatte seine Kraft endlich erschöpft, und der heiße, windstille Tag neigte sich seinem Ende zu. Roxane stand mit Hal auf dem ausgebrannten Hang oberhalb von Dieu Donné. Im Tal der Reben schien alles Leben erstorben. Die Weingärten, deren Trauben gelesen und zermahlen waren, ruhten zwischen den schützenden Pappeln und Blaugummibäumen, und ihre versengten, dünner gewordenen
Blätter taumelten zur Erde, wo das Unkraut bald üppig sprießen und die Wurzeln der Stöcke vor dem Ausspülen durch die Winterregen schützen würde. Der Turm von Farway ragte nackt über die Giebel von Dieu Donné und sein beschädigtes Dach. Hier oben sprachen die geschwärzten Wälder und Büsche von der Verheerung der Nacht. Unten zwischen den Eichen waren Kummer und Trauer. In Lizzis kleinem Haus lag der tote Junge. – Immer im Kampf gegen diese schrecklichen Brände, klagte sie neben Josua, so tapfer, mein Ben, immer im Kampf gegen diese Brände. Und keiner hatte ihr die Illusion genommen.
In der alten vierpfostigen Bettstelle, in der viele Generationen der de Valois geboren worden waren und ihren letzten Atemzug getan hatten, ruhte Großmutter Constance; und die tausend Furchen ihres Gesichts waren von der weißen Hand des ewigen Friedens geglättet, aber nicht ausgelöscht worden. Die Farbigen von Dieu Donné blickten einander mit verstörten schwarzen Augen an. Die Oumissus war gegangen. Das war das Ende eines Zeitalters. Doch schon begannen die Legenden. Die Alten, die sie noch in ihrer fernen Jugend gekannt hatten, berichteten von ihren Taten und ihren Aussprüchen. Den Kindern erzählten sie von den wilden Pferden, die sie zugeritten, den Überschwemmungen und Feuersbrünsten, die sie besiegt, von Hilfe und Trost, die sie ihrem Volkje in der Not gegeben hatte, und von der Art, mit der sie ihren eigenen schweren Unglücksschlägen begegnet war. Sie flüsterten von de Spuk, der Baas Dirks Tod, eine vernichtete Ernte und den Verlust ihres Beines verkündet hatte. Doch selbst verkrüppelt war sie noch im Rollstuhl in ihre Weinberge und in die kleine
Steinkirche gefahren, in der die Bewohner von Constantia – ob braun, ob weiß – Gottesdienst hielten. Sie sagten, vielleicht würden sich die neuen Häuser von Mr. Kriftis Baugesellschaft noch näher an das Gut herandrängen, aber der Geist der Oumissus werde sie in sicherer Entfernung von Duu Don halten. Ihr Geist würde immer zwischen den geliebten Reben wandeln und sie segnen. Denn hier war ihre Heimat, die Heimat ihrer Vorfahren und ihrer Nachkommen. Traurig, daß es Miß Merle nicht auf Duu Don gefiel, aber der Herr hatte für sie Miß Roxane geschickt. Der Herr hatte ein kleines Kind aus den Flammen des Krieges gehoben und es hier in diesem grünen Tal niedergesetzt, wohin es von Rechts wegen gehörte. Ja, unten im Farbigendorf, über den Kochtöpfen und auf den sonnigen Türschwellen, wuchsen die Legenden.
Hallams Arm legte sich fester um Roxanes Schulter. – Liebste… Sie blickte auf die verbrannte Erde und hinab auf den Hain alter Eichen, die das Gutshaus mit den geschlossenen Fensterläden beschatteten, und ihr Herz weinte still. Dann hob sie die Augen zu Karl Krikes Haus, das höher am Berghang stand. In der vergangenen Nacht war neues Leben dort eingezogen. Wenn meine Zeit kommt, dachte sie, dann laß mich sein wie Aletta, furchtlos und froh, meine Kinder zu tragen! Heiß stieg es in ihr auf, und im ganzen Körper pochte das junge Leben und warf sie dem Geliebten in die Arme. Die Löwenhunde von Farway vermißten Wolf. Sie streiften durch die zerstörten Wälder, zwischen den gestürzten und vernichteten Bäumen. Ein Eichhörnchen zeigte das freche, scheltende Gesicht und den zitternden Schwanz, und klar klang das Didibi, Didibi des Würgers durch den Abend, männlich
und aggressiv. Vor der goldenen kreisten zwei Adler, dunkel und Donné hallten die Schläge der Sonnenuntergang und das Ende melden.
Glut des Waldbuchtpasses zielbewußt, und von Dieu alten Sklavenglocke, den des langen Tagewerks zu
BEMERKUNG DER VERFASSERIN
Alle Charaktere in diesem Roman sind frei erfunden, mit Ausnahme des Kellergespenstes – des Spuks –, das zu der Natte-Valleij-Wein-Farm im Paarl-Tal gehört und das ich mir für mein Dieu Donné in Constantia mit freundlicher Erlaubnis der jetzigen Besitzer, Mr. und Mrs. Kiarnander, ausgeliehen habe.
JOY PACKER
läßt ihre Romane fast ausschließlich in den heimatlichen Landschaften Südafrikas spielen, wo sie am 11. 2. 1905 in Kapstadt geboren wurde. Schon früh entdeckte die beliebte Erzählerin ihre Neigung zum Schreiben. Die ersten erfolgreichen Versuche machte sie mit autobiographischen Romanen über die Abenteuer ihrer ersten Ehejahre (1925 heiratete Joy Packer den Korvettenkapitän A. H. Packer, der heute als Admiral eine Gruppe der Nato-Seestreitkräfte befehligt). Daß diese Romane in den angelsächsischen Ländern gleich zu Bestsellern wurden, konnte die junge Autorin nur ermuntern, den nun einmal eingeschlagenen Weg des Schriftstellers mit frischem Mut weiterzugehen. Auf zahlreichen Reisen, die sie um die halbe Welt führten, sammelte Joy Packer genügend Eindrücke von Land und Leuten, um sie mit reifenden Romanideen zu verschmelzen. In Deutschland erschienen »Das hohe Dach«, »Die Reben von Dieu Donné«, »Die reißenden Wasser von Velaba« und »Wie eine gläserne Wand«. Allen Romanen gemeinsam ist die leuchtende Landschaft Südafrikas, ist der farbige spannungsreiche Hintergrund, der teilweise zwar in das europäische Milieu übergreift, aber eben durch den lebendigen Wechsel von ursprünglicher Gebundenheit und Internationalität die feine Einfühlungsgabe und umfassende Menschenkenntnis der Erzählerin widerspiegelt.