Geister-
Krimi � Nr. 46 � 46
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Die Rache des � toten Samurai �
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Geister-
Krimi � Nr. 46 � 46
Gerald Morphy �
Die Rache des � toten Samurai �
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Die bleichen Strahlenfinger des Mondes tasteten sich durch das Filigranwerk blühender Kirschbaumzweige und glitzerten auf dem stillen Wasser des Chuzenji-Sees wie flüssiges Silber. Wind harfte durch ausgedehnte Schilffelder. Das gelbe Ruderboot dümpelte am Westufer im Schatten der rotlackierten Brücke. Das Paar lag flach am Boden, starrte in den nachtblauen Himmel und hielt sich an den Händen. Die beiden träumten von einer gemeinsamen Zukunft. Es war Vollmondnacht am Chuzenji, eine Zeit, da Einheimische sich nach Einbruch der Nacht nicht mehr aufs Wasser wagten. Denn einer alten Legende gemäß erhob sich in diesen Stunden Meguro, der Samurai aus der Tokugawa-Zeit, um sich an denen zu rächen, die ihn vor mehr als dreihundert Jahren hier ermordet hatten. Wie das ewige Kommen und Gehen der Gezeiten, der Rhythmus der Mondphasen, wiederholte sich der letzte Waffengang des japanischen Ritters, der am Chuzenji-See von seinen Vasallen angegriffen und ertränkt worden war. Die Fischer hatten Meguro damals ein Netz übergeworfen und ihn in die Fluten gezerrt. Gepanzert und gespornt, war der Samurai elend ertrunken, das lange, gebogene Schwert in der Faust und auf seinem Lederschild das seidengestickte Glückssymbol des roten Drachen. Suisho, die mandeläugige Schönheit aus dem Tokio-Stadtbezirk Bunkyo, fröstelte unter der Kühle des Abendwindes. »Lass uns gehen, Sango«, bat die Kleine. »Ich könnte stundenlang hier liegen«, seufzte Sango, der ein Träumer war und in seiner Firma als nicht besonders tüchtig galt. »Es wird kühl«, flüsterte Suisho. »Nimm meine Jacke«, sagte Sango, der seine schwarzen Haare 3 �
ziemlich lang trug. Sie bedeckten die Ohren und reichten im Nacken bis auf den Kragen des Sporthemdes. Sie richteten sich auf. In diesem Augenblick bemerkte Suisho die ringförmige Bewegung im tintenschwarzen Wasser, so, als hätte ein Spiegelkarpfen die stumpfe Schnauze aus dem See gestreckt. Diese Wellen aber verliefen sich nicht, sie wurden stärker. Suisho schrie und schlug gleichzeitig die ringgeschmückte Hand auf den Mund. Aus angstgeweiteten Augen starrte sie auf den Helm, der sich ins Freie hob. Es folgte der grinsende Totenschädel. Der breite Kinnriemen hielt bleiche Kieferknochen. Die gepanzerte Schulter schob sich aus dem nassen Element. Die Erscheinung wuchs und wuchs. Wasser stürzte aus einem Kettenhemd zurück in den See. Algen hingen tropfnass vom schwarzen Griff eines langen, leicht gebogenen Schwertes. Handkorb und Stiel waren mit schwarzer Rohseide umwickelt. Der goldene Griff des Harakiri Dolches hob sich deutlich ab, symbolisierte den ehernen Grundsatz des japanischen Ritters: Sieg oder Tod. Meguro aber war durch die hinterlistigen Fischer des ChuzenjiSees um die Ehre betrogen worden. Er hatte nie eine Wahl gehabt. Daher fand er seinen Seelenfrieden nicht. In Vollmondnächten kehrte er zurück, um den Kampf noch einmal aufzunehmen, der ihn Leben und Ehre gekostet hatte. Wie es hieß, verdankte er diese ständig erneuerte Chance einem geheimnisvollen Zauber. Seine Mutter war eine bekannte Hexe gewesen. Ihre Kunst hatte sie berühmt gemacht. Ihr Ruf war bis an den Kaiserhof gedrungen, der damals noch in Westjapan, in Kyoto, lag. Die Alte, so behaupteten Eingeweihte, habe ihre Seele für den Sohn verpfändet. Ihren Leib habe der Teufel verschmäht. Ein Yasha-Dämon sei in die leere Hülle gefahren 4 �
und mache in Gestalt der bösen alten Frau die Gegend um den nahen Nantai-Berg unsicher. Samurai und Dämon würden nur zusammen oder niemals erlöst. Suisho und Sango hatten diese Geschichte nicht gehört. Der stumme Samurai verschwand im Nebel. »Nichts wie weg!« hauchte Suisho. Wie angewurzelt blieb Suisho stehen. Sie deutete nach vorn. Sango atmete hörbar aus. Vor der Brücke, die sie auf ihrer Flucht passieren mußten, war ein heißer Kampf entbrannt. Meguro, der Samurai, hing im Gewirr eines Fischernetzes. Wütend suchte er sich mit dem flachen Schwert zu befreien Eine Horde vergreister Männer umringte das Opfer. Zahnlose Münder artikulierten Triumphschreie, die niemals hörbar wurden. Weiße Haupthaare und Barte flatterten, wenn die Schemen vorrückten, mit Holzknüppeln auf den gefangenen Ritter eindroschen. Dann kam der Samurai zu Fall. Blitzschnell sprang ein schmächtiger Bursche vor. Er hielt eine Heugabel und spießte den Unglücklichen auf, der unter dem Netz zappelte. Knirschend bohrten sich die eisernen Zinken durch den Koller. Wütend gaben die Chimären dem Ritter den Rest. Holzgeschnitzte Tempelwächter an den Pfosten der Brücke weinten blutige Tränen. Der Mond verhüllte sein Antlitz. Und aus den Spalten des Nantai-Berges erklang ein abgrundtiefes Seufzen, geisterte über Felswände und schroffe Pfade. Die Fischer, in Holzpantoffeln, die Gesichter durch Tücher verhüllt, auf denen spitzkegelige Hüte aus Reisstroh thronten, mit blauen zerrissenen Jacken und knielangen Hosen, geiferten und tobten, zerrissen den Samurai förmlich, ohne einen Tropfen Blut 5 �
zu vergießen. Als die erste Wut verraucht war, packten sie ihn wie ein gefangenes Tier, hängten das Netz an zwei schwere Bambusstangen und trugen den Erschlagenen zum See. Sie warfen den Samurai zurück in das Element, dem er für wenige Minuten bei Vollmond entstiegen war, um sein unglückliches Schicksal zu korrigieren und seine Ehre wiederherzustellen. Spurlos versank die stumme Gestalt. Das Dutzend entfesselter Mörder, die ihrem Herrn an der Brücke aufgelauert hatten, aber schwärmte aus. Spitze Münder pfiffen lautlos. Feueraugen rollten. Hämisches Grinsen lag auf bleichen Fratzen. Krallenhände angelten nach neuen Opfern. Blutdurst malte sich auf Mördervisagen. Geifer spritzte aus Mundwinkeln. Mit einem Schrei riß sich Suisho los. Sie rannte auf die Brücke zu, während schon die Meute die Verfolgung aufnahm. Das Mädchen lief, was die Beine hergaben. Zu langsam noch für die Geisterschar. Magere Stelzen griffen mächtig aus. Klapperdürre Gestalten hetzten durch sumpfige Wiesen. Klauen streckten sich verlangend aus, erwischten das Mädchen. Suisho schrie entsetzlich auf. Sango hielt sich die Ohren zu. Wie erstarrt harrte er aus, verborgen durch die breiten Zweige einer buschigen Kiefer. Sein Herz raste. Er schloß die Augen. Er wollte nichts mehr sehen. Er ahnte, welch kannibalischen Genüssen sich die entfesselten Dämonen hingaben. Langsam sank Sango zu Boden. Nie hatte er sich schlimmer geängstigt als in dieser Nacht. * Die entfesselte Horde schwärmte aus. Bluttriefende Mäuler in � 6 �
kalkig weißen Gesichtern. Gierige Augen suchten ein neues Opfer. Nasen nahmen Witterung auf. Sango schoß hoch. Der Japaner war ein mittelgroßer, kräftiger Mann. Laufen gehörte allerdings nicht zu seinen Stärken. In dieser Nacht aber übertraf er sich selbst. Sango verließ sein unvollkommenes Versteck. Die Meute entdeckte ihn sofort. Kein Alarmruf zerriss die Stille der Nacht. Und doch ruckten ein Dutzend Schädel herum, wie an einer Schnur gezogen. Feueraugen musterten die Beute. Dürre Beine griffen aus. Krallenhände hoben sich. Die Dämonenschar jagte über die Wiese. Der Wind trug ein paar Fetzen von Suishos Bluse davon. Teile ihrer Wäsche flatterte von kahlen Ästen. Sango aber rannte um sein Leben. Er wurde von der Brücke fortgetrieben. Die Jäger, die ausgeschwärmt waren, setzten ihm lautlos nach. Er hörte kein Geräusch hinter sich. In seinen Ohren sang nur das eigene Blut. Er hörte seinen eigenen Atem. So schnell er auch lief, getrieben von panischer Angst, die unheimlichen Verfolger hielten mühelos Schritt. Der Mond beleuchtete die verzweifelte Flucht des jungen Sango. Die bleiche Scheibe ritt auf der höchsten Spitze einer Bergzeder. Der silbrige Schein wurde tausendfach gefächert durch ein Dach von Zweigen über Sangos Kopf. Sango rannte durch einen Kiefernwald. Seine Füße mahlten durch feinen goldgelben Sand. Die Strecke stieg leicht an. Den Tempel hatte Sango weit hinter sich gelassen. Sango hetzte in Richtung Wasserfall. Das Rauschen und Donnern wurde immer lauter. Gelbbraunes Gras peitschte die Beine des Fliehenden. Mehrmals stolperte der junge Mann. In letzter Sekunde verhinderte er jedes Mal mit rudernden Armen den verhängnisvollen Sturz. Er 7 �
wußte, daß er nie wieder aufstehen würde. Die mordgierige Schar würde über ihn herfallen wie über die unglückliche Suisho. Sango gelangte an eine steil abfallende Klippe. Einhundertzehn Meter fiel der nackte Fels senkrecht ab. Hier und da vegetierten grüne Büsche in Felsspalten. Der Lift, der tagsüber Touristen heraufbrachte, lag still und verlassen im Mondlicht. Die eiserne Pforte war verschlossen. Sango war allein. Die sonst belebten Iroha-Steigen, eine Kette von achtundvierzig Kurven, verrieten kein Anzeichen von Verkehr. Nirgends gab es ein Auto, das Sango aufnehmen konnte. Verzweifelt setzte er seine sinnlose Flucht fort. Er wagte sich in das reißende eiskalte Wasser. Er tastete sich von Stein zu Stein. Die Felsbrocken waren schlüpfrig und von Algen bedeckt. Aber es gab keinen anderen Weg. Hatte Sango zunächst noch gehofft, die Dämonen auf diese Weise abzuschütteln, so sah er sich grausam getäuscht. Im Gegenteil. Auf diesem Terrain erwiesen sich die Mordgespenster als völlig überlegen. Sie schwebten von Hindernis zu Hindernis. Der Abstand zu den Verfolgern schmolz. Nur mühsam kam Sango voran ausgepumpt, total erledigt. Sein hilfloser Blick suchte die Gegend ab. Er war allein, ausgeliefert diesen Geschöpfen der Nacht. Völlig erschöpft sackte Sango zusammen. Mit dem Rücken lehnte er an einem Felsblock. Das Wasser zerrte an ihm. Sangos Hand krampfte sich um das Amulett, das von seinem Hals baumelte und ihn sicher nicht schützen konnte vor diesen blutgierigen Teufeln, die in Vollmondnächten Meguro, den Samurai, ermordeten und alle Zeugen beseitigten, als fürchteten sie noch immer ein Gericht. Für alle Beteiligten schien das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Eine geheimnisvolle magische Kraft zwang die Akteure zu einem endlosen 8 �
Dakapo. Niemals könnte der Samurai den Ausgang des Kampfes korrigieren, so tapfer er auch focht. Immer blieben die hinterlistigen Fischer Sieger, abtrünnige Vasallen, die ihrem Lehnsherren aufgelauert hatten, weil dessen Tributforderungen sie an den Bettelstab zu bringen drohten. Sango starrte aus weit aufgerissenen Augen auf seine Mörder, die sich lautlos einfanden. Sie kreisten das Opfer ein. Von Panik geschüttelt beobachtete der junge Mann die grauen Chimären, die sich in eine Tracht längst vergangener Zeit gehüllt um ihn scharten, ihn schweigend umzingelten, ihn einkreisten. Der Mond trat gerade hinter einer Wolkenbank hervor. Er überschüttete den gischtsprühenden Kegon-Wasserfall mit einer Lichtflut und leuchtete hart und unbarmherzig die Szene aus. Schweigend, stumm umschloß der Wall der Chimärenleiber den vor Schreck erstarrten jungen Mann. Keuchend vor Angst fiel Sango auf die Knie. Seine Hände erhoben sich, flehten um Gnade. Sango stammelte wirres Zeug. Hohle Gesichter mit rötlich glühenden Augen wandten sich ihm zu. Hohn verzerrte grausame Fratzen und blutleere Lippen, die wie Messerkerben unter Hakennasen saßen. Dünne Ziegenbärte flatterten im kühlen Nachtwind. Wie ein mittelalterliches Femegericht umschlossen die Verfolger den Hilflosen. Der Alte mit den buschigen Augenbrauen wies plötzlich auf Sango. Sein dürrer Finger deutete auf die Brust des Verurteilten. Unter den Nägeln des Alten erkannte Sango schaudernd Hautfetzen und blutige Fleischreste, Überbleibsel des vorausgegangenen Schlachtopfers. Nadelspitze Zähne wurden gebleckt, bereit, sich in den Hals des Opfers zu schlagen und die Schlagader anzuritzen. Taumelnd wich Sango zurück. Da fielen sie über ihn her wie die Wahnsinnigen. Die unheimli9 �
che Stille zerriss jäh. Das Schreien, Fauchen und Toben, das irre Kreischen und gellende Hohngelächter der Dämonen übertönte sogar das Rauschen des Kegon-Wasserfalles. Klauen streckten sich aus, Zähne packten Sango. Fast bewusstlos vor Angst und Schmerz, stürzte Sango rücklings in das Wasser. Die Flut riß ihn mit sich. Er stieß mehrmals gegen Steine, die breit, klobig und tiefschwarz im hellen Wasser lagen. Sango verlor das Bewußtsein. Er stürzte in die Tiefe. Fledermäuse flatterten über ihm. Die Dämonen selbst entfalteten ihre Flügel, taten es dem ekligen Nachtgetier gleich, zirkelten über der Absturzstelle, schrien enttäuscht durcheinander. Wie ein Kork tanzte Sango auf den Wellen. Das Wasser spielte mit seinem Haar. Die Arme hatte er ausgebreitet. Er trieb auf dem Gesicht am Fuße des einhundertzehn Meter hohen Wasserfalles. Hier hatte sich ein tiefes Becken gebildet, eine Auffangschale. Der Strom trieb den leblosen Mann umher. Er hörte nicht mehr die grellen Schreie seiner Jäger, die langsam herunterschwebten, auf nachtschwarzen Schwingen. Gierige Augen funkelten. Einer nach dem anderen landete am Fuße des Felsens. Münder schnappten nach Sango. Klauen angelten nach seinem Leib. Der Tote wurde in ruhigeres Wasser gezerrt. Wie Geier fielen die Chimären über Sango her. Die Reste des schaurigen Mahles blieben zurück. Satt und zufrieden erhob sich die Schar der Dämonen, blutsaugende Teufel, Produkte einer magischen Kraft, die alles überstieg, was wahrlich nicht zimperliche japanische Köpfe sich bislang auszumalen imstande gewesen waren. Die Wirklichkeit schlug jede Phantasie um Längen. Höllische Kräfte bedrohten das Leben harmloser Menschen, die in den Nationalpark gekommen waren, um sich zu amüsieren. Der Spuk des Meguro und 10 �
seiner Erzfeinde, der Dämonen-Fischer, ergriff Besitz von dem Land. Was wispernde Münder sich hinter vorgehaltenen Händen zugeraunt hatten, wurde schreckliche Wirklichkeit. Zweifler wurden widerlegt durch die Reste des Totenmahles. Zwei Menschen waren den rasenden Dämonen zum Opfer gefallen. Da blieb nur noch eins: der Kraft der Mandragora zu vertrauen, jener geheimnisvollen Alraune, die Geister abwehrte und Gespenster bannte, wenn sie am richtigen Ort zur richtigen Zeit im Schoß der Erde geerntet worden war. Man mußte sie an das Fensterkreuz nageln, um den Blut-Dämonen den Zutritt zu verwehren. Was bislang als Aberglaube gegolten hatte, wurde zu zwingender Notwendigkeit. Die Hölle selbst hatte sich aufgetan und ihre entsetzlichsten Geschöpfe ausgespien, um die Menschen zu verderben. Suisho und Sango konnten nur die ersten Opfer sein. * Fassungslos stand der Ingenieur Eno Atami vor dem menschlichen Torso, der im Wasser am Fuße des Kegon-Wasserfalles trieb. Atami hatte eine besonders reizvolle Perspektive gesucht. Er war begeisterter Schmalfilmamateur. Nun stand der Mann vor der Leiche, unfähig, ein Wort zu sprechen. Das breite, gutmütige Gesicht Atamis wirkte wie aus Stein gemeißelt. Die Augen hinter der dicken Hornbrille hatte er weit aufgerissen. Der Mund stand ein wenig offen. Atamis Frau Seido, langsamer als ihr Gatte, arbeitete sich vorsichtig weiter vor. Sie balancierte auf hochhackigen Schuhen über mächtige Steine, die feucht und rutschig waren. Feine Vor11 �
hänge aus zahllosen winzigen Wassertröpfchen trieben wie Schleier in der Luft, überschütteten das Ufer des Auffangbeckens und die Betrachter des Kegon. Seido rief ihrem Mann etwas zu, aber er wandte nicht einmal den Kopf. Vielleicht hatte er nichts gehört. Der Wasserfall rauschte unaufhörlich, stark, monoton. Die zierliche Frau in dem reizenden Kimono erreichte Eno Atami, beunruhigt, folgte dem starren Blick seiner entsetzten Augen. Die Frau schrie auf. Eno Atami erwachte aus seiner Erstarrung. »Ein Mord!« stöhnte er. »Wir müssen die Polizei holen.« »Sie werden eine Menge Fragen stellen«, jammerte Seido. »Dein Chef wird es nicht begrüßen, wenn dein Name in den Zeitungen genannt wird. Gerade jetzt, wo du Aussicht hast, Abteilungsleiter zu werden. Lass uns gehen.« »Unmöglich.« Eno schüttelte den Kopf. »Man wird herausfinden, wer die ersten Besucher waren an diesem Tag, sobald die Leiche gefunden wird. Hier bleibt nichts geheim. Man wird uns ermitteln. Dann gibt es einen häßlichen Verdacht und peinliche Verhöre. Das wollen wir lieber vermeiden. Lauf los und hole Hilfe!« Seido Atami nickte schaudernd. Die Frau in dem farbenprächtigen Kimono machte sich auf den beschwerlichen Weg. Vielleicht gab es in der Kabine des Wächters, der den Lift betreute, eine Möglichkeit, zu telefonieren. Die zarten Farbtöne des seidenen Gewandes der Frau Atami hoben sich deutlich gegen das Grün der Wasserpflanzen und den Grauton der Felsen ab. Der Ingenieur Eno Atami beobachtete die Leiche, die im Wasser trieb. Der Körper wurde von einer schnelleren Strömung erfasst, herumgewirbelt. Vielleicht hatten die Zehenspitzen felsigen Grund berührt. Der Tote hob sich ein wenig aus dem grünen 12 �
Wasser. Langsam drehte sich der Leichnam. Atami schrie auf. Er starrte in ein zerschundenes Gesicht und wandte sich zitternd ab. Welche Bestie hatte hier gehaust? War der Unbekannte einem Lustmörder in die Hände gefallen oder das Opfer einer Blutrache geworden? Warum hatten die Gangster sich den stillen Nikko-Nationalpark ausgesucht, um den verhaßten Feind zu liquidieren? Hatte Eno Atami noch wenige Sekunden vorher mit dem Gedanken gespielt, die Leiche aus dem Wasser zu ziehen, so begnügte er sich jetzt damit, seinen grausigen Fund zu bewachen, aus gebührender Entfernung, außer Sichtweite. Mehrmals tauchten Besucher auf. Die meisten kamen mit dem Eilzug der Tobu-Bahn über Nikko, wo sie in einen Omnibus umgestiegen waren. Der Kegon-Wasserfall ist der Ausfluss des Chuzenji-Sees und Beginn des Daiya-Flusses, der auch durch die Stadt Nikko mit ihrem gewaltigen Tempelbezirk fließt. Ein japanisches Sprichwort behauptet: Sage nie kekko (wunderbar), wenn du nicht Nikko gesehen hast. Vor dem Lift, der die Touristen in etwa 1270 Meter Höhe beförderte, wo sie entlang des Sees Spazierengehen konnten, stauten sich die Besucher. Der Andrang war nur schwer zu bewältigen. Der Zweitausender des Nantai-Berges überragte und krönte das Panorama mit seinem schneebedeckten Gipfel. Der ehemalige Vulkan ist noch heute Zentrum eines Bergkultes. Für Japaner ist die Natur nicht seelenlos, sondern erfüllt von dem Wirken guter und böser Dämonen, den Einfluß seiner Ahnen und den Göttern, die zahlreich sind und alle ihren Schrein im Tempel beanspruchen dürfen. Seido Atami kämpfte sich an der Schlange der Wartenden ent13 �
lang. Ein uniformierter Wärter wollte sie zurechtweisen, aber ein Blick in das verstörte Gesicht der Frau ließ ihn verstummen. Mit fliegender Hast berichtete Seido. Der Uniformierte erstarrte. Schnell zog er die Unglücksbotin in seine hölzerne Kabine. Nicht jeder brauchte zu hören, was vorgefallen war. Das verunsicherte am Ende noch die zahlenden Gäste. Aufmerksam lauschte Hongu dem atemlosen Bericht. Wiederholt nickte der Uniformierte ernst, kratzte sich einmal mit bedenklichem Gesicht hinter dem rechten Ohr und rückte anschließend die blaue Uniformmütze wieder zurecht. »Ich rufe an. Das ist ein Fall für die Polizei. Wir hatten in vergangenen Jahren schon eine Reihe unaufgeklärter Morde. Sie können sich vorstellen, wie die Opfer ausgesehen haben. Einmal muß es Kommissar Futara ja glücken, den Täter zu ermitteln. Eine Bestie in Menschengestalt vermutlich. Es ist wirklich schrecklich. Der Kommissar leitet eine Sonderkommission, die seit Jahren nichts anderes tut, als die Morde im Nikko-Park zu untersuchen. Einmal aber wird es klappen. Jeder Täter hinterlässt Spuren.« »So rufen Sie doch endlich die Polizei an!« bat Seido Atami. Der Uniformierte verbeugte sich pausenlos. Die Frau mochte auch nicht zurückstehen. Sie zog sich unter zahlreichen Verbeugungen Richtung Tür zurück. Sie beging nicht die Unhöflichkeit, dem Mann den Rücken zuzukehren. Seido lief an den Wartenden vorbei, die ungeduldig auf einen Platz im Aufzug lauerten. Die Frau trabte bergab, lief in weitem Bogen zum Fuß des Kegon-Wasserfalles und stieß dort auf ihren Mann. Aufatmend setzte sich Seido neben ihn. »Ich hatte plötzlich furchtbare Angst«, bekannte die Frau mit leiser Stimme. Sie trug die lackschwarzen Haare zu einer altmo14 �
dischen Frisur getürmt. Goldene Nadeln waren hindurch gestoßen. »Ich fürchtete, zu spät zu kommen und dich in dem gleichen Zustand wieder zu finden wie diesen armen Burschen, der im Wasser treibt.« Seido zog ein Taschentuch und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Sie lächelte zaghaft. Der Ingenieur rauchte hastig und nervös. »Du hättest den Burschen sehen sollen, als ihn die Strömung herumwirbelte und er mir das Gesicht zuwandte. Was heißt, das Gesicht? Es ist nur noch eine blutige Masse. Die Augen sind verschwunden. Der Tote sieht aus, als habe er Kannibalen als Mahlzeit gedient.« »Der Wärter am Aufzug behauptet, es gebe jedes Jahr Tote im Park«, erzählte Frau Atami. Sie spielte mit dem Seidentuch in ihren schmalen Händen, deren Fingernägel überzüchtet waren und tiefrot lackiert. »Warum muß ausgerechnet mir so etwas passieren?« klagte Eno Atami. Er hatte inzwischen seine teure Kamera in die Ledertasche gesteckt. Er war ziemlich bepackt mit Zubehör und Filmmaterial. In seiner Tokioer Wohnung gab er zweimal die Woche Filmabende für seine Freunde. Er war Mitglied zweier Clubs. So war es kein Wunder, daß nach und nach seine Vorliebe für farbige Bildchen siegte. Mit der Zeit schwand des Ingenieurs Abneigung gegen den Anblick des verstümmelten männlichen Leichnams, und er filmte munter drauflos, fand immer neue Einstellungen und stellte zu seiner Freude fest, daß die Lichtverhältnisse im Schatten des Wasserfalls ausreichten, um brauchbare Aufnahmen zu ermöglichen. Eno Atami legte sich flach auf den Bauch, kniete, stand und hockte, die Kamera am Auge, schwenkte, fuhr die Gummilinse 15 �
aus und schoß immer wieder die wild umher treibende Leiche, die wie Strandgut in einer wirbelnden Brandung wirkte. Seido Atami erlaubte sich nur einen kurzen, schüchternen Blick, dann zog sie sich mit blassem Gesicht zurück, rang sichtlich nach Fassung. Zu schrecklich war der Tote entstellt. »Wo bleibt nur die Polizei?« fragte Seido Atami. »Nur Geduld«, sagte der Ingenieur. In der Nähe tauchte eine Reihe von ernst dreinschauenden Männern auf, die von einer Schar uniformierter Polizisten begleitet wurden. Der vorderste Mann war klein, krummbeinig und wohlbeleibt. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein. Die Haare hatte er glatt über den Kopf zurückgekämmt. Unter buschigen Brauen saßen zwei dunkelbraune Augen, die ernst und forschend dem wartenden Ehepaar entgegenblickten. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und einen silbergrauen Schlips. Irgendwie erinnerte er an einen Leichenbestatter. Er schien der Führer der Gruppe zu sein. Ehrerbietig hielten sich die anderen zurück. Sie halfen dem Chef bisweilen an besonders schwierigen Stellen des Geländes. »Guten Tag«, knurrte der Dicke, der ziemlich außer Atem war. »Ich bin Kommissar Futara. Wo ist der Tote?« * Itsu Sato stammte aus einem uralten Adelsgeschlecht, das seit Menschengedenken am Chuzenji-See lebte. Die junge Dame hatte nicht schlecht davon profitiert, daß die Gegend zu einer beliebten Sommerfrische geworden war. Der See lag mehr als tausend Meter hoch, hatte einen Umfang von einundzwanzig Kilometern, und die milde Temperatur von niemals mehr als siebenundzwanzig Grad lockte pausenlos begüterte Gäste aus dem 16 �
feuchtheißen Tokio in die zauberhafte Welt am heiligen NantaiBerg. Itsu Sato beschäftigte einen Stab von Dienern, bewohnte eine Prachtvilla und vermietete mehrere Dutzend Sommerhäuser, die den Grundstock ihres beträchtlichen Vermögens darstellten. Ein düsteres Geheimnis umgab die hübsche, begehrte Frau. Sie hatte angeblich ein Gelübde abgelegt, niemals zu heiraten. Sie vergrub sich in der Einsamkeit ihres Landsitzes und erlaubte sich als eine der wenigen Abwechslungen einen ausgedehnten morgendlichen Spaziergang, begleitet von zwei berittenen Knechten und drei Zofen, deren Kimonos nicht annähernd so kostbar waren wie der ihrer Herrin. Das gleiche galt für die farbenprächtigen Schirme, die sie trugen, um sich gegen die lästige Sonne zu schützen. Der bunte Zug passierte die rotlackierte Brücke am Tempel. Die Mägde plauderten und kicherten leise. Sie waren ein wenig zurückgeblieben und wollten ihre Herrin nicht stören. Itsu Sato schritt gedankenverloren über den grünen Teppich des Rasens. Sie hatte den Weg längst aufgegeben. Ihr Gesicht war gekennzeichnet durch: eine Melancholie, die merkwürdigerweise besonders heftig nach Vollmondnächten auftrat. Für gewöhnlich blieb dann Itsu Sato tagelang in ihrem Zimmer, aß nichts, trank nichts und schien auch nicht zu schlafen. Ruhelos wanderte sie in dem einzigen Raum umher, den sie allein für sich beanspruchte und der im Gegensatz zu allen anderen im weitläufigen Haus so spärlich gehalten war wie die Zelle einer Nonne. Aus den Ritzen des verdunkelten Fensters und unter dem Türspalt drang der Rauch von geweihten Kerzen. Dumpfe Beschwörungen wurden gemurmelt. Die Gerüchte, die im Haus umliefen, überschlugen sich. Angestellte dachten an Kündigung, und 17 �
nur die Aussicht, dann für den Rest ihres Lebens arbeitslos zu sein, hielt sie davon zurück, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Zumal alles vergessen war, wenn Itsu Sato wieder auftauchte, lächelnd, sichtlich guter Laune, wenngleich ein wenig blaß, was wohl dem Mangel an Nahrung und frischer Luft zuzuschreiben war. Die Köchin pflegte zu behaupten, die Hausherrin benutze die Zeit völliger Isolierung zu geheimnisvollen Verjüngungskuren. Sie gab bisweilen Einzelheiten zum besten, von denen niemand wußte, ob sie einer Geheimlehre entstammten oder nur der überschäumenden Phantasie der Erzählerin. Tatsache war, daß Itsu Sato nicht zu altern schien. Ihre Haut war immer makellos, immer gepflegt. Keine Falte zeigte sich. Diesmal nun hatte sich Itsu Sato bei Beginn des Vollmondes wie üblich selbst eingesperrt, zurückgezogen aus der engen Hausgemeinschaft. Sie hatte sich in ihre Büßerzelle geflüchtet, um aber bereits am nächsten Morgen wieder aufzutauchen, als wäre nichts geschehen, und darauf zu bestehen, daß der Morgenspaziergang pünktlich stattfinden solle. In aller Eile hatten die überraschten Angestellten ihre Vorbereitungen getroffen. Nach dem kurzen Frühstück war die Gesellschaft aufgebrochen und spazierte nun am Ufer des Sees Chuzenji entlang. Fräulein Sato genoß die Morgensonne. Noch war die Gegend nicht heimgesucht von zahllosen Neugierigen. Itsu Sato stockte. Entsetzt schrie sie auf. Die Pferde der berittenen Knechte scheuten. Die Mägde eilten herbei, gesellten sich zu ihrer Herrin und teilten deren Schrecken. Denn in den Zweigen eines Busches hingen Kleiderfetzen. Und unter den Zweigen, im geheimnisvollen Halbdunkel, hoben sich Knochen ab gegen dunklen moorigen Untergrund. Zweifellos 18 �
handelte es sich um die Leiche einer Frau. Die Unglückliche befand sich in einem furchtbaren Zustand. »Das waren die Dämonen-Fischer«, flüsterte Fräulein Sato. »Die arme Frau«, murmelte Shingu, eine stämmige junge Magd mit einem stumpfen, breitflächigen Gesicht und einer kunstlosen Frisur. Es ging das Gerücht, die gnädige Frau habe die Kleine in Korea gekauft und nach Japan gebracht. Die Frauen wichen zitternd zurück, mit allen Zeichen des Schreckens. Die Knechte räumten die Sättel und näherten sich zögernd dem grausigen Fund, der die friedliche Stimmung des Morgenspaziergangs so jäh zerrissen hatte. »Ich habe es geahnt«, hauchte Itsu Sato. »Diese Teufel. Diese Höllenbrut. Sie sind nicht eher zufrieden, als bis sie ein Opfer gefunden haben. Sie verschonen selbst Unbeteiligte nicht. Wer ihnen in einer Vollmondnacht begegnet, ist rettungslos verloren.« Die Knechte suchten zusammen, was von der unglücklichen Frau übrig geblieben war, die ihr Leben unter den Klauen der Dämonen verloren hatte. Itsu Sato aber kehrte mit dem Rest ihres Gefolges schleunigst zurück in ihr elegantes Landhaus, inmitten eines alten Parks mit prächtigen Bäumen. Ein Springbrunnen plätscherte leise. Ein Drache spie einen Wasserstrahl aus seinem grässlichen Maul in eine Auffangschale. Und als Shingu nachschaute, da kam Blut aus dem Rachen des Untieres, das geflügelt war und drohend aufgerichtet den Betrachter anstierte, die Tatze zum Schlag erhoben. Die Koreanerin brach in Tränen aus. Sie lief in das Haus zurück und warf sich ihrer Herrin zu 19 �
Füßen. Mittlerweile ritten die Knechte auf den Hof, eine Decke zwischen sich, in der die sterblichen Überreste der unglücklichen Suisho lagen. Sie legte den traurigen Fund ab. »Ruf die Polizei, Shinju!« befahl Itsu Sato mit leiser Stimme. Sie stand am Fenster und starrte auf die blühenden Mandelbäume. Die Frau wußte, was sich nachts ereignet hatte. Sie litt darunter, als wäre sie dabei gewesen. Es war jedes Mal das gleiche. Aber einmal mußten die Dämonen-Fischer verlieren. * Kommissar Futara stand am Fuße des donnernden Wasserfalls und wies seine Leute an, die mit Stangen den Toten ans Ufer bugsierten. Ein Ambulanzwagen war so dicht wie möglich an den Fundort der Leiche herangefahren. Zwei Sanitäter warteten mit einer Trage. Der Polizeiarzt hielt sich bereit, um den Toten einer ersten Untersuchung zu unterziehen. Vielleicht ließ sich die Todesursache auf Anhieb feststellen. Der Polizeifotograf schoß Bilder aus allen Lagen. Interessiert prüfte der Ingenieur Eno Atami die Ausrüstung des Mannes, um befriedigt festzustellen, daß er mit ihm Schritt halten konnte. Seine Kamera stand der anderen in nichts nach. »Ich habe Filmaufnahmen gemacht«, erzählte Atami. »Würden Sie uns eine Kopie überlassen?« fragte Futara. Der bullige Kommissar hatte schwere Tränensäcke unter den Augen. Sein spärliches, glatt zurückgekämmtes Haar glänzte vor Pomade. 20 �
Futara, Leiter der Sonderkommission Nikko, arbeitete verbissen an der Lösung der undankbaren Aufgabe, die ihm gestellt worden war. Er kam keinen Schritt weiter. Denn Futara weigerte sich hartnäckig, an die Legenden, Märchen und Geschichten zu glauben, die sich die Einheimischen zuflüsterten. Futara stand unbewegt wie ein Fels in dem Durcheinander. Nichts entging seinen rehbraunen Augen. Er hatte bereits das Ehepaar verhört, das die Leiche entdeckt hatte. Weder Eno Atami noch seine Frau Seido hatten zur Aufklärung des scheußlichen Verbrechens beitragen können. Futara entließ seine Gesprächspartner, nachdem er sich vergewissert hatte, daß ihre Personalangaben von der Sekretärin festgehalten und von Sergeant Hakaido überprüft worden waren. Erleichtert zogen der Ingenieur und seine Frau davon. In diesem Augenblick rannte ein Uniformierter, der den Fundort der Leiche absperrte, zu Kommissar Futara und meldete atemlos, es gäbe noch einen Toten: eine Frau. Sie wäre gerade gefunden worden. Es folgte die Beschreibung des Ortes und der Namen jener, die den grausigen Fund gemacht hatten. Dann salutierte der Berichterstatter. Nachdenklich kaute Futara auf seiner Unterlippe herum. Wenn der Chef so still blieb, konnte das nur die Ruhe vor dem Sturm sein. Seine Leute kannten das bereits und zogen die Köpfe ein. Am Wasserfall entstand Hektik. Jeder ging irgendwelchen unaufschiebbaren Geschäften nach. Jeder mied die Nähe des explosiven Kommissars, der jede Sekunde in die Luft gehen konnte. Diesmal aber übertraf sich Futara selbst. Seine geballte Rechte landete klatschend in der geöffneten Linken. Dann schrie er nach seinem Chauffeur. Der Mann ließ den Comic fallen, in dem er gelesen hatte, sprang aus dem Wagen, baute sich in strammer Haltung auf und 21 �
meldete sich mit der ganzen Kraft seiner Lungen. Futara ließ seine Mitarbeiter im unklaren darüber, was er zu unternehmen gedachte. Er stampfte einfach davon. Der mittelgroße, untersetzte Kommissar, der japanischer Meister im Kugelstoßen gewesen war und Träger des schwarzen Gürtels, ließ sich schwer in die Polster des Toyota fallen. »Fahren Sie mich zu Fräulein Sato!« befahl Futara. »Sie hat während eines Morgenspazierganges die Leiche entdeckt. Ich möchte sie verhören. Sie kam mir schon bei unserer ersten Überprüfung aller Leute, die am oder in der Nähe des Sees wohnen, seltsam vor. Ich kann das nicht erklären. Aber ich habe jedes Mal ein ungutes Gefühl, wenn ich ihr gegenüberstehe.« »Das kommt daher, daß du Junggeselle bist«, bemerkte der Fahrer grinsend. Chuo, ein grauhaariger Veteran, war der einzige Mensch in Japan, der von sich behaupten konnte, ein Freund des Kommissars zu sein. Die beiden kannten sich seit dem letzten Krieg. Sie hatten in der gleichen Einheit gedient und sich bei mehreren Gelegenheiten wechselweise das Leben gerettet. In der Öffentlichkeit benahmen sie sich zwar genau wie Vorgesetzter und Untergebener, denn die Bräuche waren hart in Japan. Und besonders in der Polizeitruppe. Aber unter vier Augen schenkten sie sich jede überflüssige Floskel. »Was hältst du eigentlich von der Sache?« forschte Futara. Chuo warf einen besorgten Blick in den Rückspiegel. »Im Gegensatz zu dir glaube ich an übernatürliche Kräfte, an den Teufel, Dämonen und Hexen. Und die haben die Morde auf dem Gewissen, die uns so viel Kopfzerbrechen bereiten. Ehe du das nicht einsiehst, wirst du keinen Schritt weiterkommen. Du suchst dauernd einen oder mehrere handfeste, ganz normale Killer. Als ob du damit Erfolg haben könntest. Siehst du nicht, daß ganz andere Wesen mitmischen? Erinnere dich daran, wie du 22 �
dich weigertest, deinen Talisman mitzunehmen, als du auf Spähtrupp gingst. Prompt wurdest du verwundet. Wenn ich so etwas nicht geahnt hätte, würdest du jetzt auf Guam verfaulen. Glaube mir wenigstens diesmal.« »Das sind doch alberne Zufälle«, erklärte Futara empört. »Soll ich mir etwa die Karten legen lassen? Oder aus dem Kaffeesatz die Namen der oder des Mörders lesen?« »Spotte nur«, seufzte Chuo. »Und diese Itsu Sato ist eine Hexe. Sie hat das Kainsmal. Achte darauf. Sie hat eine Warze hinter dem linken Ohrläppchen. Ich habe dich damals darauf aufmerksam gemacht. Du wolltest nicht hören. Bist du mit deiner aufgeklärten Methode weitergekommen? Nein. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Toten, keinen Hinweis auf einen natürlichen Mörder. Es waren niemals Ritual- oder Raubmorde. Du trittst auf der Stelle.« »Was soll ich deiner Meinung nach tun?« brummte Futara. Langsam verzweifelte selbst er, den man für den hartnäckigsten Beamten Tokios hielt. Jahrelang suchte er schon nach einem Phantom, einem Schemen. Regelmäßig in Mondnächten starb im Nationalpark ein Mensch. Mindestens einer. Und das, obwohl sich sowohl Futara als auch eine Reihe von Polizisten auf die Lauer gelegt hatten. Inzwischen geriet selbst Futara in Versuchung, an den Einfluß des Übernatürlichen und Übersinnlichen zu glauben. »Wir brauchen den Beistand eines Shinto-Priesters. Ohne ihn schaffen wir es nie«, versicherte Chuo hartnäckig. * Der Zug marschierte gemessenen Schrittes den Nantai-Berg hinauf. Es führte ein riesiger Bursche, der eine Fahne mit roter Aufschrift trug. Der Gebetsspruch lautete: »Heil dem wundersamen � 23 �
Gesetz des Lotus-Sutra!« Mehr als ein Dutzend Pilger folgten. Sie gehörten zur NichirenSekte, einer der vielen Glaubensrichtungen, in die der Buddhismus in Japan zerfällt. Die Sekte war im 13. Jahrhundert von dem Priester gleichen Namens gegründet worden. Hinter der Fahne ging ein gebückter Alter, der eine Handtrommel schlug. Die Gruppe war ausnahmslos weiß gekleidet. An jeder Station des Weges rezitierten die Leute Gebete. Der Pfad wand sich an der zernarbten Flanke des Zweitausenders empor und endete auf dem Gipfel, der durch ein Kreuz gekennzeichnet war. Es ging ein leichter Wind. Er trug Steinstaub und Sandkörner vor sich her und zwang die Pilger, den Kopf herunterzunehmen. Ältere Leute überwogen. Das führte nachher zu der Meinung, die Dinge hätten sich nicht so abgespielt, wie die wenigen Überlebenden berichteten. Ganz Aufgeklärte sprachen von religiösem Wahn, Zwangsvorstellungen, Halluzinationen und Trugbildern. Tatsächlich aber geschah folgendes: Auf halber Strecke erhob sich der Wind zum Sturm, blies kräftig aus Nordost und jagte Wolken vor sich her, die die Sonne verdeckten. Ein Gewitter schien zu drohen. Der Himmel färbte sich schwefelgelb. Die Luft war schwül und für diese Höhe unerträglich feucht. Es gab keinen anderen Unterschlupf als eine Felshöhle. Die meisten der Pilger kannten sie. Viele der Frommen gingen den Weg auf den Nantai nicht zum ersten Mal. Die Menschen flüchteten, der Zug löste sich auf. Die ersten Regentropfen fielen, Blitze züngelten über das Firmament. Yokosu, ein Bauer aus der Provinz Edo, dessen Vorfahren samt und sonders Vasallen des Shogun (Reichsfeldherrn) gewesen waren, aber widerstand der Versuchung, die Prozession abzu24 �
brechen. Er nahm seine Sache viel zu ernst und überredete auch seine Schwiegertochter Meiji, bei ihm zu bleiben. »Diese jungen Leute sind verweichlicht«, nörgelte der alte Herr, der ziemlich gebückt ging, weil ihm Rheumatismus zu allen vier Jahreszeiten zu schaffen machte. Das Unwetter wurde immer schlimmer. Hier oben war die Hölle los, während weiter unten, am See, das herrlichste Sommerwetter herrschte, ein Gegensatz, der bei Meiji Erstaunen und Kopfschütteln auslöste. Yokosu dagegen hatte es in einem langen Leben gelernt, Widersprüche gelassen aufzunehmen und zu verkraften. Eifrig murmelte er die vorgeschriebenen Gebete. Seine schmale, magere Gestalt stemmte sich schräg gegen Wind und Regen. Ein verächtliches Lächeln spielte um seinen zahnlosen Mund. Meiji, die auch lieber das Unwetter in einer trockenen Höhle in Gesellschaft der anderen verbracht hätte, wagte nicht zu widersprechen. Sie schaute sich anfangs noch ein paar Mal um, aber als niemand folgte, schritt sie brav an der Seite des alten Mannes weiter. Nach der nächsten Wegebiegung war die Prozession für beide beendet. Aus rabenschwarzer Nacht erhob sich ein seltsames Heulen und Pfeifen. Das konnte nicht mehr der Wind sein, sondern Yasha, der Dämon, der einsamen Wanderern auflauerte und Pilger daran hinderte, Gebete auf dem Gipfel des Nantai zu sprechen. Ängstlich blickte sich Meiji um. Selbst Yokosu stockte. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er in Regen und Sturm. Die Hand Meijis klammerte sich an dem Arm des Alten fest. Unwillig machte sich Yokosu frei. »Da hilft nichts als ein frommes Gebet. Ich kann dich nicht 25 �
schützen«, schrie der Mann. Sie lehnten sich an eine blanke Felswand, die rechts des elenden Pfades himmelan strebte. Meijis Lippen bebten. Sie zitterte vor Angst. Lichtpunkte glühten im Zwielicht. Ein heiseres Knurren und Fauchen ertönte. Drohend murmelte eine Stimme unverständliche Worte. Gegenstände flogen durch die Luft. Ein Steinschlag ging nieder. Zitternd drückten sich die beiden Menschen an die Felswand. Eine alte Frau schlurfte vorbei. Sie trug die Tracht einer längst vergangenen Zeit. Sie wandte ihr großes ernstes Gesicht. Die blutleeren Lippen verzogen sich. Ein heiseres Miauen erklang. Meiji fuhr zurück. Die Frau wandte sich zur Flucht, rannte die spitzen Kehren und Haarnadelkurven des Pfades entlang, taumelte unter den Stößen des Sturmes und wagte nicht, sich umzudrehen. Erfüllt von Furcht, erreichte sie den Punkt des Weges, an dem sie sich von dem Rest der Gruppe getrennt hatte. Steine und Grasbüschel sausten durch die Luft. Ein schwerer Schlag traf Meiji an der Schulter. Die Frau schrie auf. Sie suchte die rettende Höhle. Sie hatte es fast geschafft, als die alte Frau wie aus dem Nichts auftauchte und ihr Opfer erwartete. Die Kralle der Alten hob sich. Spitze Fingernägel führten gewisse magische Striche aus. Es war, als wiche alles Blut aus dem Leib des armen Mädchens. Ein abscheuliches grünliches Phosphoreszieren trat auf Meijis Lippen. Die Frau spürte Raffzähne an ihrem Hals, die ihre Ader anritzten. Dann schwanden Meiji die Sinne. Sie versank in einen Schlaf, aus dem es kein Erwachen gab. Das letzte, was sie spürte, war eine wohlige Leere und Schwäche, die ihr Bewußtsein umspülte wie eine Woge. 26 �
Der Yasha-Dämon ließ erst von seinem Opfer ab, als es nichts mehr hergab. Wie eine leere Plastiktüte wurde Meiji vom Sturm davongetragen und in den Abgrund geweht. Die Alte kicherte lautlos, wischte sich mit dem Handrücken über das gierige Maul. Ohne Mühe wechselte sie den Schauplatz, während ihre irdische Hülle auf dem Pfad verharrte. Der Dämon begab sich in die Höhle. Dort warteten noch mehr Opfer. * »Wäre es nicht besser, du würdest mich begleiten?« fragte Kommissar Futara grinsend. »Am Ende fall ich noch auf irgendwelchen Zauber herein und löse mich in Luft auf.« Chuo, der Fahrer, bekreuzigte sich erschrocken. Shinju, die Koreanerin, stand auf der Freitreppe und verbeugte sich pausenlos. Sie trug einen leuchtenden Kimono. Futara erwiderte jede Höflichkeit. Er versuchte sogar, die Begrüßung zu überbieten. Bis schließlich die Dienerin flüsterte: »Meine Herrin, die ehrenwerte Frau Sato, erwartet Sie, Herr Kommissar.« Die beiden gingen in das Haus. An der Tür schlüpfte Futara aus seinen Schuhen. Shinju öffnete verschiedene Schiebetüren vor dem Gast, verbeugte sich jedes Mal artig und schloß die Tür hinter ihm. Die Herrin des Hauses hockte auf einem Seidenkissen vor einem kostbaren Ahnenschrein. Jadefiguren, blassgrün, standen darauf. Räucherkerzen verströmten einen durchdringenden süßlichen Geruch. Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln und Verbeugungen nahm Futara Platz. Er empfing die Teeschale aus den zarten Händen der Gastgeberin, die wenigen, aber um so kostbareren 27 �
Schmuck trug. Sie tranken sich zu, unterhielten sich über Nichtigkeiten, tauschten Komplimente aus. »Ich bedaure sehr, daß Ihr Spaziergang eine so unangenehme Unterbrechung gefunden hat und danke tausendmal für die Hilfe, die Sie uns geleistet haben«, eröffnete Futara das Duell. Dabei versuchte er, das Kainsmal der Hexen an der Dame zu entdecken, von dem sein Fahrer Chuo gesprochen hatte. Itsu Sato hielt ihren Kopf aber immer so, daß der Kommissar nur ihre Schokoladenseite zu Gesicht bekam. Außerdem hatte sie dafür gesorgt, daß die Beleuchtung richtig stand. »Ich bitte Sie.« Itsu Sato lächelte. »Es war doch klar, daß ich unverzüglich die Polizei benachrichtigen mußte. Schließlich handelte es sich um einen scheußlichen Mord.« »Sie haben das sofort erkannt?« »Ich konnte keinen anderen Schluß ziehen aus dem, was ich gesehen habe. In einem solchen Zustand befindet sich kein Selbstmörder, es sei denn, er sprengt sich selbst in die Luft.« »Nein, Dynamit war nicht im Spiel. Um die Wahrheit zu sagen: wir haben überhaupt keine Spuren gefunden, nicht einen einzigen Anhaltspunkt«, seufzte der Kommissar und nippte an seinem Tee. »Möchten Sie einen Reisschnaps?« »Gern.« »Und was ist mit der Leiche am Fuße des Kegon-Falles?« erkundigte sich Itsu Sato, biss sich aber sofort auf ihre Lippen. In ihrem Bestreben, das Gespräch in Gang zu halten, hatte sie sich verplappert. Kommissar Futara hakte sofort nach. »Sie können noch nichts davon wissen«, stellte er lauernd fest. »Beide Leichen wurden etwa zur gleichen Zeit gefunden.« »Eine Freundin rief mich an. Sie war zufällig mit Freunden in 28 �
der Nähe des Kegon, als die Polizei eintraf.« »Sie können mir Namen und Adresse der Dame nennen?« forschte Futara unbewegt und ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. Diese Frau war überdurchschnittlich klug und reagierte blitzschnell. Man mußte schon gröberes Geschütz auffahren, um sie zu übertölpeln. Itsu Sato gewann Zeit, indem sie dem Kommissar nachschenkte. Unvermeidlich folgte eine Reihe von Verbeugungen. Futara konnte die Gesetze der Höflichkeit nicht verletzen. Dazu war er zu sehr Japaner und der Tradition verhaftet. »Was ist das dahinter Ihrem Ohr?« fragte der Kommissar scharf. »Haben Sie sich verletzt?« »Wo?« Die Frau langte natürlich zur falschen Seite, wurde aber sofort von dem wachsamen Polizisten korrigiert. »Eine Warze«, räumte Itsu Sato ein. Sie schaute jetzt gallebitter drein. Die höfliche Maske war wie weggewischt. Heftiger hätte der Teufel nicht reagieren können, wenn ihn jemand auf seinen Pferdehuf aufmerksam gemacht hätte. Ihre Blicke saugten sich an dem Mann fest. In diesem Moment wußte der Kommissar, daß er seiner Todfeindin gegenübersaß. Diese Frau würde nichts unversucht lassen, ihn zu töten. Ihr Hass sprengte alle Grenzen. Futara nahm sich vor, ganz besonders achtsam zu sein. Fast bedauerte er es, keinen Shinto-Priester neben sich zu wissen, der über alle Mittel verfügte, den unheilvollen Einfluß böser Geister zu brechen oder wenigstens zu neutralisieren. Futara betrat Neuland. Er hatte es bislang immer mit sehr irdischen Tätern zu tun gehabt, die aus sehr handfesten Gründen geraubt und gemordet hatten. »Ich habe mich ein wenig mit der Geschichte Ihrer ehrenwerten 29 �
Familie befasst«, wechselte der Kommissar schleunigst das Thema, »und bin dabei auf eine sehr interessante Figur gestoßen. Ich meine Meguro, den Samurai, der auf so unglückliche Weise in einen Hinterhalt geriet und von seinen Vasallen getötet wurde.« »Was ist mit ihm?« fragte Itsu Sato und bemühte sich nicht einmal mehr, die Maske der Höflichkeit zu wahren. Ihr Gesicht verfiel zusehends unter der Aufregung. »Die Leute hier am See meinen, daß seine Mutter, die übrigens Hakaido hieß«, fuhr Futara ungerührt fort, »ihre Seele dem Teufel verschrieben hat, um ihrem Sohn helfen zu können. Sie soll als Lohn vom Satan ein Leben bekommen haben, das erst endet, wenn Meguro seine Ehre wiederhergestellt hat. Bislang habe ich solche Märchen gern gehört, aber niemals geglaubt. Ich denke, ich muß meine Meinung revidieren. Es scheint doch etwas daran zu sein.« »Vielleicht bin ich ja die Mutter des Meguro«, zischte Itsu Sato und sah den Polizisten lauernd an. Futara stutzte. Dann lachte er, daß sein dicker Bauch wackelte. »Ich fürchte, jetzt überfordern Sie meine Bereitschaft, die Motive für die Mordserie im Bereich des Okkulten zu suchen. Ich finde, dafür, daß Sie ein paar Jahrhunderte alt sind, haben Sie sich recht gut gehalten.« Durch nichts hätte Itsu Sato jeden Verdacht besser zerstreuen können als dadurch, daß sie den vagen Verdacht des Kommissars ins Groteske übersteigerte und ihm dadurch den Wind aus den Segeln nahm. Hatte Futara nach dem Gespräch mit seinem Chauffeur Chuo fast angenommen, er müsse nur den Landsitz der reichen Dame durchsuchen, um auf die lasterhaftesten Verstecke und Grotten zu stoßen, auf Kerzen aus Leichenfett, Totenschädel, die knirschend die Zeit ansagten, oder Vampire, Ghouls und Untote, so 30 �
glaubte er sich nunmehr auf einer falschen Spur. Er befragte Itsu Sato gründlich nach den näheren Umständen, die zur Auffindung der Leiche geführt hatten und verabschiedete sich bald. Itsu Sato aber blieb am Fenster stehen und blickte dem bulligen Kommissar nach. Ihr hübsches Gesicht, eine Larve, die selten ein positives Gefühl zur Schau stellte, verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. Ihre Hände krallten sich in einen Vorhang. Ihre Augen schlossen sich zu schmalen Schlitzen. Blutleere Lippen flüsterten hasserfüllt die schaurige Verdammungsformel. Es war, als alterte die Sato unter dem Einfluß der ungeheuren Konzentration, mit der sie das Unglück auf das Haupt Futaras herabflehte. Ihre Haut schlug Falten. Runzeln liefen über ihr Gesicht. Die Gestalt krümmte sich. Das hübsche Gesicht wurde mager und spitz. Tief lagen die fanatisch glühenden Augen in ihren Höhlen. Lautlos trat Shinju ein, die stämmige Koreanerin. »Komm her!« krächzte die Herrin heiser. Ihr Atem ging rasselnd und schwer. Nach jeder Silbe erklang ein Schnaufen und Röcheln. »Komm her, sage ich dir! Ich brauche dein Blut. Ich muß stark sein. Ein schwerer Kampf steht mir bevor.« Der Schädel der Alten zuckte herum. Vampirzähne schoben sich über verkniffene Lippen, ragten wie Dolche aus dem strengen Mund. Rötliche Augen leuchteten in einem verzehrenden Feuer. Atem strich heiß und schwül über den Hals der gehorsamen Dienerin, der die Male unzähliger Bisse trug. Itsu Sato hieb ihre Hauer in das weiße Fleisch und trank saugend und schmatzend. Und abermals verwandelte sich die Frau. Sie blühte förmlich auf. Die Gestalt straffte sich. Die Krallen entspannten sich. Die Haut wurde wieder glatt und ansehnlich. Ächzend hielt Itsu Sato inne. 31 �
»Das ist gut«, murmelte sie. »Das ist gut. Ich fühle wieder die Kraft, die ich brauche. Ich werde diesen Kommissar schlagen. Das bin ich mir und meinem Sohn schuldig. Ich werde dafür sorgen, daß Meguro siegt. Ich werde den Zauber des Yasha-Dämonen zerbrechen, der verhindert, daß Meguro siegreich bleibt. Und dann mag der Satan mich holen, dem ich versprochen bin.« Shingu taumelte. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie war bleich wie die Wand. »Ruhe dich jetzt aus, mein Täubchen«, raunte Itsu Sato. »Damit du wieder prall und voller Blut bist, wenn ich dich brauche.« * Dicht gedrängt hockten die weißgekleideten Pilger in der Felshöhle und warteten auf das Nachlassen des Unwetters. »Sind Meiji und Yosoku etwa weitergezogen?« fragte ein ziegenbärtiger Alter mit einer weißen Mönchkappe auf dem Hinterkopf. »Dieser Yosoku ist ein dickschädeliger Narr«, sagte ein junger Mann. Er hielt die Handtrommel auf dem Schoß. In diesem Augenblick erklangen schlurfende Schritte. »Bist du es, Yosoku?« fragte der Fahnenträger. Als er keine Antwort erhielt, sprang er auf, weil er dem schmalen Gang am nächsten saß, der ins Freie mündete, einzige Verbindung zur Außenwelt. Aus dem Halbdunkel des Ganges schälte sich die Gestalt einer alten Frau, die gebückt herangehinkt kam. »Woher kommt die denn?« fragte der Fahnenträger verblüfft. Gleichzeitig fiel ihm auf, daß die Alte nicht nass war, obwohl es draußen in Strömen goss. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Eine bange Ahnung durchzuckte den Mann. Da aber war es bereits zu spät. 32 �
Mit einem höhnischen Lachen verwandelte sich die alte Hexe. Em Yasha-Dämon sprang fauchend und knurrend unter die erschreckten Pilger, die aufgescheucht wurden wie Hühner beim Angriff des Habichts. Schreiend ergriffen die Menschen die Flucht. Aber nur einer schaffte es, die magische Linie zu überschreiten, die der Yasha vor den Eingang zur Höhle gezogen hatte. Ein vierzehnjähriges Mädchen ließ das Inferno hinter sich. Das Unwetter hatte sich beruhigt. Aus der Höhle aber erklang ein wahnsinniges Kreischen, Winseln und Heulen. Schreie der Not und Verzweiflung brachen jäh ab, wenn der rasende Dämon erneut zuschlug. Die Kleine rannte zähneklappernd bergab, wimmernd vor Angst. Ihre Füße brachen kleine Steine los, die hüpfend und kollernd den Steilhang hinuntersegelten. Ueno rannte um ihr Leben und erreichte den Fuß des Berges. Da hörte sie ein Rauschen in der Luft und schaute nach oben. Entsetzt schrie das Mädchen auf. Da ruderte mit den schwarzen Schwingen des Todes ein Wesen vorbei, dessen Existenz Ueno niemals für möglich gehalten hätte. Ueno sah eine Frau in einem wallenden weißen Gewand, die mit Hilfe mächtiger Schwingen dem Gipfel des Nantai entgegen flog. Zitternd drückte sich Ueno unter einen vorhängenden Fels. Ratlos blickte das Mädchen sich um. Sicher gab es hier irgendwo Hilfe. Aber Ueno kannte sich nicht aus. Sie war zum ersten Mal von ihrem Großvater auf diese Wallfahrt mitgenommen worden. Ueno überzeugte sich, daß die Gefahr vorüber war, die Hexe weitergezogen, einem dunklen Ziel entgegen. Vielleicht wollte sie sich auf dem Nantai mit dem Teufel treffen. Ueno erhob sich und lief weiter, so schnell ihre Füße sie tragen 33 �
konnten. Sie rannte auf ein Licht zu und erreichte einen Landsitz. Zögernd schellte Ueno und mußte eine ganze Weile warten, bis eine stämmige Dienerin öffnete. Die Person sah müde aus und krank. Sie hatte einen fürchterlichen Akzent, der verriet, daß sie keine Japanerin war. An ihrem Hals hatte sie eine merkwürdige Wunde. Sie nannte sich Shingu und lächelte freundlich. »Du kannst dich eine Weile hier ausruhen«, sagte Shingu. »Aber du darfst nicht bleiben. Es wäre nicht gut für mich. Meine Herrin kann jeden Augenblick zurück sein. Sie mag Kinder nicht. Komm, ich gebe dir etwas zu trinken! Dann rufe ich die Polizei.« »Machen Sie bitte schnell!« bat Ueno verzweifelt. »Dort oben geht etwas Schreckliches vor sich. Ich habe einen Dämon gesehen und eine Hexe, die durch die Luft flog.« Shingu zuckte unmerklich zusammen, aber sie beherrschte sich meisterhaft. Sie sagte freundlich: »Ich fürchte, daß die Polizei mir so etwas nicht glauben wird. Ich werde also sagen, es habe ein Unglück gegeben. Und das ist nicht gelogen.« »Ja, richtig.« Ueno, die sich in eine wärmende Decke gehüllt hatte, nickte. »Wenn Sie meinen…« Ueno kämpfte mit der Müdigkeit. Langsam kippte sie hintenüber. Sie schlief ein, völlig erschöpft. Shingu rief den Polizeiposten an. »Auf dem Nantai?« fragte der diensttuende Beamte ungläubig. »Wie sollen wir denn da hinaufkommen?« »Das Unwetter ist vorbei.« »Aber die Straße ist unterbrochen. Unser Fahrzeug würde stecken bleiben. Nein, das hat wirklich keinen Sinn. Und eine Patrouille zu Fuß wäre auch sinnlos. Es würde zu lange dauern. Außerdem bleiben Pilger nicht das erstemal dort oben. Die haben immer reichlich Proviant mit. Ich wette, die sehen wir 34 �
morgen früh alle wohlbehalten wieder. Woher wissen Sie überhaupt von dem angeblichen Unglück auf dem Berg? Was ist genau vorgefallen?« Shingu zögerte eine Sekunde. Gerade wollte sie sprechen, da schob sich eine ringgeschmückte Hand zur Gabel und drückte sie nieder. Die Verbindung war unterbrochen. Mit einem unterdrückten Schrei wirbelte Shingu herum. Itsu Sato lächelte grausam. »Wo ist das Kind?« fragte sie. »Die Kleine schläft auf dem Sofa im Blauen Salon«, gab Shingu ängstlich Antwort. Das Gesicht der Herrin verriet ihr, daß sie einen Fehler begangen hatte. Itsu Sato konnte Ungehorsam und Eigenmächtigkeit nicht leiden. Ihre Strafen waren grausam. »Wir werden das Kind hier behalten«, ordnete Itsu Sato an. »Oben auf dem Berg lebt niemand mehr. Ich habe mich überzeugt. Und der Yasha-Dämon ist stärker als je zuvor. Ich hätte ihn nicht bezwingen können. Daher bin ich umgekehrt.« »Wird man das Mädchen nicht vermissen und suchen?« gab Shingu schüchtern zu bedenken. »Wir werden sie notfalls im Keller verstecken. Denn ich brauche die Kleine«, entschied Itsu Sato. »Und jetzt stelle keinen dummen Fragen. Seit wann muß ich mich vor dir rechtfertigen?« Die Frau winkte herrisch. Shingu gehorchte stumm. Sie wußte, daß die Sato nur über einen sehr geringen Vorrat an Geduld verfügte. Itsu Sato sank in einen bequemen Sessel. Ein Plan reifte in ihr, skrupelloser und grausamer als alles, was sich ihr Hirn bislang zur Rettung ihres Sohnes ausgedacht hatte. Ueno, die Kleine, kam der Sato gerade recht. Ueno mochte als Blutspenderin dienen, die Itsu Sato brauchte, um ihr verruchtes Leben zu verlängern. 35 �
Shingu aber mußte geopfert werden. Die Koreanerin sollte in eine Ritterrüstung gesteckt werden und die Rolle Meguros übernehmen. Sobald sie gestorben war, hatte Meguro überlebt und gesiegt. Vielleicht aber siegte auch Shingu. Sie war nicht verdammt wie Meguro. Itsu Sato, die sich auf schwarze Magie verstand, wollte durch Zauber und Beschwörung schon dafür sorgen, daß den Dämonen-Fischern der Sieg nicht zu leicht fiel. * Die Vorfälle in der Höhle und der Tod der Pilger machten Schlagzeilen in der japanischen Presse. Man schrieb von einer Vampirsekte, die am Nantai-Berg ihr Unwesen trieb. Niemand kam auf die Idee, einen Einzigen als Urheber des Massakers anzunehmen. Diesmal wurde Kommissar Futara die Hölle heiß gemacht. Zumal er während einer Pressekonferenz einräumen mußte, da er noch immer im dunkeln tappe. Die Journalisten ließen kein gutes Haar an ihm. Hinzu kamen die Interessenverbände derjenigen, die am Chuzenji-See ihren Verdienst schwinden sahen: Fremdenverkehrsverein, Hotelbesitzer, Vermieter von Sommerhäuschen und Ferienwohnungen. Hals über Kopf räumten Gäste die Quartiere. Angekündigte Besucher ließen sich nicht mehr blicken. Die Verantwortlichen im Polizeipräsidium in Tokio bekamen den Druck der öffentlichen Meinung zu spüren und gaben ihn weiter, bis die Last der Verantwortung auf Kommissar Futaras Schultern lag. »Besorge diesen Shinto-Priester«, bat Futara verzweifelt seinen Chauffeur Chuo. »Ich weiß nicht mehr weiter. Dies ist kein nor36 �
maler Kriminalfall, sonst hätte ich bereits Spuren gefunden. Ich glaube langsam an Dämonen und Geister.« »Ich muß dich noch auf einen Umstand aufmerksam machen«, erwiderte Chuo nachdenklich. »Vielleicht ist dir aufgefallen, daß sämtliche Morde etwas gemeinsam haben.« »Es ist vom Blut der Toten getrunken worden.« »Das meine ich nicht.« Futaras Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Die Morde geschahen ausnahmslos in Vollmondnächten«, erklärte Chuo. »Ich wollte dich gleich darauf aufmerksam machen, aber ich fürchtete, du würdest mich auslachen. Damals warst du noch nicht reif für die Einsicht, daß hier böse Mächte ihr Spiel treiben.« »Und was soll ich deiner Meinung nach tun?« fragte Futara lammfromm. Denn er war mit seinem Latein am Ende und bereit, jedem Fingerzeig nachzugehen und jeden Rat anzunehmen. »Verstecke dich dort, wo nachweislich elf von vierzehn Spuren begonnen haben«, riet Chuo. »Am See? An der Brücke?« Chuo nickte ernst. »Ich werde mich um den Shinto-Priester kümmern. Wir kommen her«, versprach der Chauffeur. Sie parkten auf der Seestraße. Die Dunkelheit senkte sich über das Land. Der Himmel färbte sich intensiv blau. Er war ziemlich klar. Vollmond war angesagt. Futara verließ den Wagen. »Ich werde mich beeilen«, versprach Chuo und fuhr davon. Das Geräusch des davonfahrenden Wagens war noch nicht verklungen, da hatte Futara bereits Posten bezogen. Er wußte selbst nicht, worauf er wartete. Irgendeine dumpfe Hoffnung hielt ihn hier am See. Es war sein letzter Versuch, die Ermittlungen wieder in Gang zu bringen, die sich restlos festgefahren hat37 �
ten, weil es keine Zeugen gab, keine Fingerabdrücke, keine Motive. Futara hockte auf einem morschen Baumstamm im Schutz einer Reihe von Rhododendronbüschen. Mondlicht lag auf den dicken grünen Blättern. Nebelschwaden stiegen aus den Schilffeldern. Natürlich hatte sich der Kommissar irgendwann in seinem Leben bereits mit Begriffen wie Schwarzer Magie, Okkultismus, Hexerei und Parapsychologie befasst. Aber er hätte niemals geglaubt, daß er solchen Dingen diese Bedeutung zumessen würde, wie er es im Augenblick tat. Futara war froh, daß ihn kein Vorgesetzter bei seinem nächtlichen Treiben beobachten konnte. Langeweile plagte den Polizisten. Er ließ die Reihe Verdächtiger Revue passieren und zählte in Gedanken alles auf, was gegen sie sprach. Er blieb immer wieder bei einer Person: Itsu Sato. Das aber setzte voraus, daß er sich noch weiter in das Labyrinth des Übersinnlichen verrannte und ganz einfach voraussetzte, daß die Frau tatsächlich über magische Kräfte verfügte, die sie aus irgendwelchen Gründen rücksichtslos einsetzte, um ein dunkles Ziel zu verfolgen. Die Stunden verstrichen. Natürlich konnte Chuo noch nicht zurück sein. Schon gar nicht mit einem Shinto-Priester. Diejenigen, die sich an solche delikaten Aufgaben heranwagten, waren reichlich dünn gesät. Selbst Chuo, ein Experte auf dem Gebiete des Okkultismus, des Dämonenglaubens und der Hexenjagd, kannte nur drei Namen. Einer dieser Männer gehörte zum Stammpersonal des Rinnoji-Tempels im Bezirk Nikko. Er hieß Dai Ichi und war weitläufig verwandt mit Chuo. Der Mond stand hoch am Himmel. Die Nebel hatten sich teilweise verflüchtigt. Irgendwo schlug eine Turmuhr Mitternacht. 38 �
Futara kämpfte mit seinem Verlangen nach Schlaf. Ruhe und Frieden der Landschaft am Chuzenji hatten ihn überwältigt. Wenn sich in dieser Nacht nichts ereignen würde, so hatte er immerhin eine zauberhafte Zeit gehabt an dem verträumten See. Und Futara war dankbar dafür. Jedenfalls bis zu dem Augenblick, als sich die Oberfläche kräuselte. Es erklang ein Platschen und Rauschen, als watete jemand durch das seichte Wasser dem Ufer entgegen. Schilfhalme brachen vernehmlich. Eine dunkle Gestalt schob sich näher. Futara hielt den Atem an. Er mußte glauben, was ihm seine weit geöffneten Augen meldeten: Er sah einen Samurai in voller Rüstung. Er erkannte das Schwert in der Knochenhand. Das Mondlicht spiegelte sich in der breiten Klinge. Futara sah die gepanzerte Faust, das Kettenhemd und den Helm. Darunter stak ein bleicher Schädel mit toten Augenhöhlen. Der Kommissar erkannte den gestickten Drachen, das Glückssymbol des Hauses, auf dem Lederschild. Das Untier trug einen zappelnden Mann im Maul. Feuerstrahlen schossen aus den geblähten Nüstern. Und schon wurde es lebendig zwischen den Hecken und Büschen, brachen dürre Gestalten aus dem Unterholz. Sie umringten den stummen Ritter, warfen ihm ein Netz über. Unwillkürlich griff Kommissar Futara nach seiner Dienstpistole, ehe er sich klarmachte, daß eine solche Waffe kaum etwas ausrichten konnte gegen die Boten des Jenseits, die fleischlos und schweigsam den Samurai töteten. Zwei der Gespenster holten starke Bambusstangen. Sie hängten den gepanzerten Ritter wie ein erlegtes Wild daran und schleppten ihn im Triumphzug Richtung Wasser. Futara taumelte hoch, ungläubig, entsetzt. 39 �
Auf diese Szenen war er nicht gefaßt gewesen. Sie sprengten sein Vorstellungsvermögen. Er hätte niemandem geglaubt, der ihm ähnliche Vorfälle gemeldet hätte. Aber er hatte alles mit eigenen Augen angesehen. Zweifel waren nicht möglich. Futara ergriff die Flucht. Denn er wußte, warum diese häßlichen Chimären ausschwärmten, herumschnüffelten wie Jagdhunde. Sie suchten Beute. Ihnen waren die Unglücklichen in die Quere gekommen, die seit Jahren am Chuzenji-See auf schauerliche Weise umgekommen waren, verendet unter spitzen Krallen und geifernden Mäulern. Der Kommissar hastete im Schutz einer Gruppe Magnolienbäume davon. Auf halbem Wege aber mußte ihn jemand entdeckt haben. Einer aus dem mordgierigen Rudel alarmierte lautlos die anderen. Die Dämonen-Fischer machten die Beute aus. Futara rannte um sein Leben, strebte der Brücke zu, die sich über einen Bach spannte. Er schaffte es knapp. Seine Füße weckten ein dumpfes Echo, als er über die Bohlen lief. Da er nichts hinter sich hörte, drehte er sich um, warf einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, wo die Verfolger blieben, diese entsetzlichen Ausgeburten der Hölle mit ihren triefenden, blutunterlaufenen Augen und den wehenden grauen Haaren. Kein Laut erklang hinter dem Kommissar. Geräuschlos passierten die Unirdischen die Brücke, jagten weiter. Panik ergriff Futara. Schon langten eiskalte Hände nach ihm, versuchten ihn zu halten. Da kam er zu Fall. Hart schlug Futara auf den Boden, kegelte herum, sicher, daß er verloren war. Und um ihn schloß sich der Kreis. Lautlos kichernde Münder grinsten ihm entgegen. Knochenarme langten nach ihm. Halb wahnsinnig vor Angst kroch der 40 �
Kommissar auf Händen und Füßen rückwärts, bewegte sich im Krebsgang fort von den unheimlichen Jägern. Futara stieß gegen knochige Glieder, die umhüllt waren von Fetzen aus Segeltuch. Er erstarrte. Der Kreis hatte sich geschlossen. Es gab kein Entkommen. Ein riesiger Bursche mit Augenklappe stieß gebieterisch die Knochenhand nach vorn, deutete auf den Hilflosen zu seinen Füßen. Futara schloß die Augen. Er war darauf gefaßt, angegriffen zu werden. Es gab keine Gegenwehr gegen diese Übermacht. Als nichts geschah, wagte Futara einen kurzen Blick und fuhr erstaunt hoch. Etwas Rätselhaftes geschah. Am Himmel kreiselte ein merkwürdig strahlendes Licht, eine mattgelbe Scheibe von ungeheurem Ausmaß. Das Ding stieß herunter, breitete sich aus, zuckte wieder zurück und schrumpfte auf Tassengröße, um sofort wieder anzuschwellen. Diese merkwürdige Himmelserscheinung aber erzielte eine gewaltige Wirkung auf die Burschen, die Kommissar Futara bedrängten. Die Mordgespenster krümmten sich. In einer ungeheuren Anstrengung reckten sie bittend knochige Glieder empor. Sie wanden sich unter unsäglichen Schmerzen am Boden. Kein Laut ließ sich hören. Die verzweifelt schnappenden Münder blieben stumm. Das Licht aber kreiste unbewegt, kalt, gnadenlos. Von ausgemergelten Skeletten fielen Kleiderfetzen. Knochen wurden weich wie Butter, schmolzen dahin. Gesichter zerflossen in einem grausigen Prozess der Auflösung. Gleichzeitig verbreitete sich ein Geruch von Verwesung, der unerträglich wurde. Der ganze Spuk verschwand in knapp drei Minuten. Die Dämonen-Fischer verdampften förmlich, zerfielen zu 41 �
Staub, lösten sich auf, als hätten sie nie existiert. Das rätselhafte Licht aber erlosch wie eine ausgeknipste Lampe, verlor sich in den Weiten des tiefblauen Himmels. Futara kroch auf allen vieren herum, suchte Reste der Wesen, die ihn bedrängt hatten. Er fand nichts. Die Dämonen-Fischer waren verschwunden, hatten sich in Nichts aufgelöst. Auch der entsetzliche Gestank, der ihren Zerfall begleitet hatte, verlor sich. Zurück blieb eine zauberhafte Landschaft unter dem Vollmond, ein romantischer See. Der Kommissar taumelte hoch. Er war versucht, sich selbst zu kneifen, um sich zu überzeugen, daß er nicht besonders lebhaft geträumt hatte. Aber es gab keinen Zweifel. Er spürte die Kühle der Nacht, die ihn frösteln ließ. Er bemerkte, daß Tau das Gras netzte und seine Schuhe durchweichte. Langsam zog Futara ein riesiges Taschentuch und trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn, wischte sich über den Stiernacken und ächzte leise. Futara fühlte sich überfordert. Nichts ging hier mit rechten Dingen zu. Das war ein Fall für einen Geisterbeschwörer. Nicht für einen Kommissar der Kriminalpolizei, der alle Gangstergrößen Tokios kannte und über eine Aufklärungsquote verfügte, die sich sehen lassen konnte. Futara war bereit, das Handtuch zu werfen. * Chuo fuhr wie der Teufel. Er wollte so schnell wie möglich den Tempelbezirk von Nikko erreichen, um dem neuen Verbündeten, dem Shinto-Priester Dai Ichi, grünes Licht zu geben. Chuo glaubte an übernatürliche Kräfte, Geister und Dämonen. Er war überzeugt, daß Kommissar Futara diese Nacht am Chu42 �
zenji nicht überlebte, wenn er Chuo nicht rechtzeitig Dai Ichi alarmierte. An der Shinkyo, der Heiligen Brücke, verließ Chuo den Wagen. Er rannte hinüber, überquerte den Daiya-Fluß und betrat den Tempelbezirk. Die Brücke war einunddreißig Meter lang. Chuo hetzte die Zedernallee entlang. Rechter Hand führte eine Steintreppe zum ältesten Schrein von Nikko, der zusammen mit dem Futaarasan und dem Chugushi das Zentrum des Kults um den Nantai-Berg bildete. Chuo kam am Shihonryuji-Tempel vorbei. Die ganze Anlage strahlte eine erfrischende Ruhe und tiefen Frieden aus. Am Rinnoji-Tempels, einer Gründung des Priesters Shodo, schlug Chuo den Gong. Wie Donner rollte der Widerhall durch den stillen Park, der überragt wurde von einem hohen Bronzepfeiler, der zur Abwehr böser Einflüsse errichtet worden war. Chuo wartete ungeduldig. Endlich erschien ein Mönch in einer gelben Toga, mit kahlrasierten Schädel. Er trug Strohsandalen. Das Gesicht des Asketen blieb unbewegt, während Chuo hastig den Grund seines ungewöhnlichen Besuches nannte. Die beiden Männer verbeugten sich. Der Novize verschwand im Dunkel der Tempelanlage. Chuo warf einen besorgten Blick zum Mond. Es mußte stark auf Mitternacht gehen. Es wurde höchste Zeit, daß etwas geschah, sollte der Kommissar das Abenteuer am Chuzenji überleben. Nach einer endlosen Pause erschien derselbe Mönch wieder und winkte dem späten Besucher. Chuo folgte dem Führer. Er kannte sich hier allerdings schon aus. Er war bereits zweimal im Tempelbezirk von Nikko gewesen. Chuo gelangte in eine Zelle, deren eine Wand aus einem viel43 �
fach durchbrochenen Holzschnitzwerk bestand. Dai Ichi war ein hagerer junger Mann. Er hockte mit gekreuzten Beinen auf einer Bastmatte. Räucherkerzen brannten und verbreiteten einen betäubenden, süßlichen Geruch. Der Eremit schien in einem Buch gelesen zu haben. Chuo übergab seine Geschenke, plauderte unverbindlich, ehe er auf den Kern seines Anliegens kam. Dai Ichi hörte gelassen zu. Er trug eine Randlose Brille. Seine braunen sanften Augen schauten Chuo an, als wisse der Mönch bereits alles und wolle sich seine Vermutung nur noch einmal bestätigen lassen. Dai Ichi signalisierte weder Zustimmung noch Ablehnung. Als Chuo schwieg, erhob sich der Einsiedler, der seit Jahren seine Zelle nicht mehr verlassen hatte, und warf sich vor einem Hausaltar auf das Gesicht. Er verharrte in Meditation. Nach einer langen Zeit erhob sich Dai Ichi. Er zog ein Pendel. Die Kugel aus Silber schwang vor und zurück. Dai Ichi schien in Trance zu versinken. Er ließ das Silberpendel sinken. Seine Hände ruhten auf den Knien. Er regulierte auf eine ganz bestimmte Art seine Atmung. Dann langte er nach einem Palmzweig. Er begann, sich damit rhythmisch zu peitschen. Seine Augen zeigten das Weiße. Der nackte Oberkörper glänzte vor Schweiß. Stumm und mit Ausdauer versetzte sich der Mönch in die rechte Stimmung für sein telepathisches Experiment. Chuo murmelte sämtliche ihm bekannten Texte der heiligen Sutras. Er konnte nicht teilhaben an dem, was der Seher erlebte. Aber er war zutiefst beeindruckt. Er hatte von diesen Praktiken der Mönche gehört, die sich so steigerten, daß Seele und Körper nicht mehr eins waren, sondern sich auch räumlich trennten. Sie vermochten dann Dinge zu erkennen und zu erleben, die an ganz anderen Orten, oft Hunderte von Meilen entfernt, gescha44 �
hen. Dai Ichi bewegte die Lippen, flüsterte heisere Worte, berichtete von Dingen, die nur ihm sichtbar wurden. Der Mann focht einen verzweifelten Kampf mit einem unsichtbaren Gegner, der ihm schwer zusetzte. Der nackte Oberkörper des Mönches wippte vor und zurück. Schaum stand vor seinem Mund. Er murmelte Beschwörungen. Sein Schädel schien in Flammen zu stehen. Er konnte seine Gesichtsmuskel nicht mehr unter Kontrolle halten. Irgendwie wirkte er wie ein tollwütiger Hund, außer Rand und Band. Aber er bemühte sich wohl immer noch, dem Kommissar zu helfen. Er richtete so etwas wie einen telepathischen Schutzschirm auf. Dai Ichis Kopf zuckte vor und zurück. Seine Augenlider flatterten. Manchmal kippten sie hoch. Die Augäpfel zeigten das Weiße. Der Höhepunkt der Ekstase war erreicht. Der Mönch schien zu lauschen. Er reckte das Kinn vor und hielt den kahlrasierten Schädel ein wenig zur Seite geneigt. Er schien einer für Chuo unhörbaren Stimme zu gehorchen. Wahrscheinlich drangen keine Worte an sein Ohr, sondern er verständigte sich mit irgend etwas, was nicht im Raum weilte, auf die Art, in der Geister miteinander sprechen. Eine besondere Form der stummen Kommunikation. Dai Ichi hockte noch immer im Lotussitz. Er begann sich jetzt in einem wilden fremden Rhythmus zu bewegen, wiegte seinen Oberkörper. Er drehte sich, stöhnte und zuckte wie unter elektrischen Stromstößen. Auf seiner hohen Stirn und dem mageren, aber muskulösen Körper brach Schweiß aus. Chuo wartete ungeduldig auf das Ende des Beschwörungszeremoniells. Er verstand nicht viel, aber was er sah, genügte ihm. Dai Ichi brauchte seine ganze Kraft, um die Zeit durchzuhalten, die notwendig war, um das Böse zu bannen und das Unheil abzuwehren. Und er hatte sich nicht einmal ein Stück vom per45 �
sönlichen Besitz des Kommissars geben lassen, wie andere das taten, weil sie dann besser Verbindung aufnehmen konnten zum Geist dessen, den sie schützen sollten. Dai Ichi schaffte es so. Der Mönch mußte Jahre verbracht haben mit dem Studium okkulter Geheimlehren und deren Praktiken. Später erholte sich Dai Ichi. Seine Erregung klang ab. Er wirkte entsetzlich erschöpft. Aber er meinte, der Kommissar sei gerettet. »Was bin ich schuldig?« fragte Chuo, sichtlich beeindruckt. Der Mönch lächelte nur. »Die Kräfte des Bösen wirken weiter«, verkündete er gelassen. »Ich werde zum ersten Mal seit zehn Jahren meine Zelle verlassen, um dich zu begleiten, Chuo. Ich muß euch helfen. Sonst werdet ihr die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht überleben.« * Itsu Sato schlich wie ein hungriger Wolf durch ihre Villa. Sie wußte, daß sie Blut brauchte, eines der Geheimnisse ihrer ewigen Jugend und Schönheit. Aber sie durfte Shingu, die Koreanerin, nicht mehr anrühren. Diese sollte die Rolle Meguros übernehmen in dem Zweikampf, der ständig bei Neumond ausgefochten immer den gleichen Verlauf nahm. Itsu Sato wollte ihre magischen Kräfte und Fähigkeiten dazu benutzen, endlich einmal das Ergebnis zu korrigieren. Itsu Sato benutzte die Glocke, die auf einem Tisch stand, um Shingu zu rufen. Die Koreanerin erschien auf der Stelle, gewohnt, Tag und Nacht Befehle zu empfangen und auszuführen. Shingu war nicht sonderlich hübsch, aber mittelgroß und sehr kräftig. Sie hatte ein volles, breitflächiges Gesicht mit Olivenau46 �
gen, dunkel und ziemlich klein. Sie litt unter der schweren Mongolenfalte, die ihre Augen verunzierte. Sie trug das Haar weniger kunstvoll aufgesteckt als ihre Herrin. Sie begnügte sich mit einem sehr strengen, fast männlichen Haarschnitt. Shingu war eigentlich eine ziemlich reizlose Person. Itsu Sato duldete das Mädchen, das sie gekauft hatte, nur, weil es treu und verschwiegen war und geduldig das Zeremoniell der Blut Übertragung erduldete, das für das Wohlergehen der Herrin unerlässlich war. »Komm, Shingu!« Itsu Sato lächelte mit falscher Freundlichkeit. »Ich will dich heute in einige Geheimnisse einweihen, die du noch nicht kennst. Du sollst einmal so mächtig werden wie ich.« Es schien, als wäre die Koreanerin erschrocken, aber sie wußte sich zu beherrschen und senkte demütig den Kopf. Itsu Sato nahm Shingu liebevoll in den Arm und ging mit ihr zu einer Falltür, die unter einer Tami-Matte versteckt lag. Shingu öffnete die Tür, in die ein eiserner Ring eingelassen war. Eine schmale, steile Holztreppe wurde sichtbar. Itsu Sato winkte ungeduldig. Ihre Augen glitzerten. Zum ersten Mal verspürte Shingu in diesem Augenblick den Wunsch, sich zu widersetzen, eigene Entscheidungen zu fällen. Dann siegte die Gewohnheit und die Tatsache, daß sie über kein Bargeld verfügte. Sie hätte im Falle einer Entlassung nicht gewußt, wo sie bleiben sollte. Es gibt auf dieser Welt keinen Ort, an dem man umsonst beköstigt wird oder schlafen darf, ohne zu zahlen. Die Koreanerin stieg in die Tiefe, gefolgt von der leichtfüßigen Itsu Sato, die zierlich einen Fuß vor den anderen setzte. Die beiden Frauen verschwanden in einer Kammer, in der die Gefangene am Boden hockte, festgekettet. Verzweifelt starrte das Mädchen auf den Besuch. Vor der Kleinen standen eine Schüssel mit Trinkwasser und ein Napf mit Reis und Fisch. Die Kette war gerade lang genug, um Ueno zu erlauben, die Speisen zu errei47 �
chen. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich lasse dich bald laufen und belohne dich fürstlich. Du wirst sehen«, versprach Itsu Sato. »Es geschieht dir nichts. Ich schwöre es dir.« Hoffnung flackerte im ängstlichen Blick der Gefangenen, die noch unter dem Schock dessen stand, was sie auf dem NantaiBerg erlebt hatte. Ueno wagte ein scheues Lächeln, Itsu Sato wies ihre Dienerin an, weiterzugehen. Ängstlich folgte die Koreanerin der Aufforderung, blieb vor der schwarzen Tür stehen und fragte zitternd: »Ich soll wirklich da hinein?« »Stell dich nicht so albern an«, fauchte die Herrin. »Du hast oft genug versucht, mich zu belauschen. Woher also diese Skrupel? Hier ist der Schlüssel.« Aus den Weiten ihres rohseidenen Kimonos, der in zarten Farben gehalten war, tauchte Itsu Satos schmale Hand auf und reichte der koreanischen Dienerin einen Schlüssel. Zitternd schloß Shingu auf. Die knarrende Tür glitt zurück. Es bedurfte eines Stoßes in den Rücken, um die furchtsame Dienerin über die Schwelle zu bugsieren. Mit schreckgeweiteten Augen schaute sich Shingu um. Zwischen Staub und Spinnweben lagen dickleibige Bücher. An einem rostigen Nagel hingen Rezepte, auf denen von Affenköpfen und Katzenhirnen die Rede war, von Wieselauge und Rattenschwanz, vom Schaum aus dem Maul eines tollwütigen Hundes und Grabtüchern, geschwängert von Todesdämpfen. An einer Schnur baumelte ein Schrumpfkopf mit vernähten Lippen, flankiert von acht Kerzen aus Leichenfett. In einem offenen Sarg lag die Mumie eines Mannes, den man auf dem Gesicht liegend beigesetzt hatte. Ein Hexenmeister also. »Was…«, stammelte Shingu. »Ich möchte hier weg.« Itsu Sato kicherte höhnisch. 48 �
»Zu spät«, krächzte sie. »Die magische Falle ist zugeschnappt. Du kommst hier nicht mehr lebend heraus.« »Was habe ich getan?« Die Koreanerin wich ängstlich zurück. Dabei stieß sie an eine verkohlte Ruhmeshand, eine gekrümmte Klaue wie die eines Vogels, die von einem Teufelsanbeter stammte. Itsu Sato zündete Kerzen an, die ein unruhiges Licht spendeten. Riesengroß fielen die Schatten der beiden Frauen auf das in den blanken Fels gehauene Gewölbe, das unter der Villa der Itsu Sato lag und nur einen Zugang besaß. Shingu sank auf die Knie und rang die Hände. Tränen strömten aus ihren schmalen Augen und kollerten über die hervorstehenden Backenknochen, verloren sich irgendwo im Ausschnitt des weiten grauen Flanellkleides, in das sich die Dienerin gehüllt hatte. »Du siehst das völlig falsch.« Itsu Sato schüttelte den Kopf. »Du kommst dir vor wie ein kleines dummes Schlachtopfer. Dabei habe ich dir gesagt, daß nur du Meguro erlösen kannst. Du mußt es natürlich wollen. Ich zwinge dich nicht. Aber ehe du ablehnst, sieh dir meinen Sohn an. Du wirst mir recht geben.« Aus dem blanken Fels schälte sich eine farbenprächtige Gestalt in einer wertvollen Samurairüstung. Das edel geschnittene Gesicht unter dem hochgeklappten Visier des Helms war ausgesprochen hübsch und verriet den Adel der Abstammung. Überhaupt wirkte die ganze Erscheinung anziehend, männlich, überwältigend. Shingu schmolz dahin wie Wachs. Sie träumte seit langem von einem Prinzen dieser Art, der kommen sollte, um sie zu erlösen. Der Ritter stolzierte durch den Raum wie ein Mannequin. Die Hand ruhte auf dem Knauf des Schwertes, das in einer Holzscheide steckte. Dann ruhte der Blick der forschenden, blitzenden Augen den 49 �
Bruchteil einer Sekunde auf der Koreanerin. Ein Lächeln spielte um den Mund des Samurai. Er zwirbelte unternehmungslustig seinen schwarzen Schnauzbart. Er war rührend jung. Ein Feuer speiender Drache zierte den Lederschild, den der Kämpfer auf dem Rücken trug, gehalten durch eine geflochtene Kordel. Die Hand des Ritters fuhr über Shingus Kopf. Sie erschauerte unter der zärtlichen Berührung. In diesem Augenblick war sie entschlossen, alles für den jungen Samurai zu opfern. Voller Vertrauen und Hoffnung blickte der Ritter auf Shingu, während er langsam zurückfuhr, in der Wand verschwand, nachdem er noch einmal verlangend und bittend die Hand ausgestreckt hatte. »Du bist bereit?« überzeugte sich Itsu Sato. Shingu seufzte tief, ziemlich mitgenommen. Sie war so gerührt, daß sie alle Gesetze der Logik vergaß. Zum ersten Mal hatte sie in ihrem Leben das Gefühl, wirklich benötigt zu werden. Da rechnete jemand mit ihr, der sie womöglich nicht als Dienerin sah, als lebendes Inventar, sondern als Retterin und Erlöserin. »Ich bin bereit«, flüsterte Shingu. »Dann sieh her!« befahl Itsu Sato. Sie hielt der Koreanerin eine Kristallkugel vor. »Schaue immer auf diese Kugel!« Itsu sprach leise auf die Dienerin ein, versetzte sie in einen hypnotischen Tiefschlaf. Nach einer Weile nahm die Japanerin eine lange Nadel aus ihrem lackschwarzen Haar. »Du spürst keinen Schmerz. Du bist völlig unempfindlich. Was auch geschieht, du bemerkst es nicht einmal, denn du schläfst tief. So tief, daß dich nichts aufwecken kann.« Itsu Sato stieß die Nadel unter den Fingernagel der Dienerin. Wohl zuckte Shingu in einem Reflex, der außerhalb der Kontrolle ihres Willens stand, zusammen, aber sie verriet keinen Schmerz, schrie nicht und versuchte nicht, die Hand zu verber50 �
gen. Langsam tropfte Blut aus der Wunde, aber die Koreanerin lächelte. »Gut«, stellte Itsu Sato fest. »Beginnen wir.« Aus einem Buch las sie alles vor, was jemand wissen mußte, der die Waffen eines Samurai beherrschen wollte. Sie schilderte mit leisen, eindringlichen Worten die Kunst des Schwertkampfes. Das Buch verriet alle gängigen Tricks einer jahrhundertealten Schule. Shingu, die Koreanerin, nahm im hypnotischen Tiefschlaf Dinge auf, die sie sonst weder interessiert noch genügend gefesselt hätten, um sie jemals anwenden zu können. Diese Kampfestechnik lag völlig außerhalb ihrer Vorstellungswelt. Aber auf dem Umweg über das Unterbewusstsein nahm die Dienerin alles auf wie eine Offenbarung, lernte schneller und gründlicher, als es ihr im wachen Zustand nie geglückt war. Shingu verriet durch nichts, daß sie alles begriffen hatte, aber Itsu Sato hegte keinen Zweifel daran, daß sie keineswegs tauben Ohren predigte. Und als sie später die Koreanerin gegen einen eingebildeten kampfstarken Feind antreten ließ, führte Shingu das scharfgeschliffene Zweihandschwert aus der TokugawaZeit, als hätte sie nie etwas anderes getan. Die Rüstung, in die Itsu Sato ihr Faktotum gezwungen hatte, hinderte Shingu nicht. »Jetzt kleide dich wieder um und lege dich schlafen! Du bist müde. Du mußt dich ausruhen, damit du fit bist, wenn ich dich rufe. Dann wirst du gegen die Dämonen-Fischer kämpfen. Du hast keine Angst vor ihnen. Du wirst sie besiegen. Kein unglückbringender Fluch lastet auf dir wie auf Meguro, meinem armen Kind. Du kannst völlig unbelastet antreten und wirst siegen oder sterben. Eine andere Wahl hast du nicht.« »Natürlich nicht«, murmelte das Medium leise und gehorsam. Langsam befreite sich Shingu von dem Harnisch, dem Helm und dem Kettenhemd, band die Stiefel mit den hohen Knie51 �
schützern aus schwarzem Lackleder ab und legte alles bereit. Sie sank erschöpft auf eine Couch, unberührt von den scheußlichen Requisiten der Schwarzen Magie, die das unterirdische Gemach zierten. Itsu Sato nickte befriedigt und zog sich leise zurück. Sie verschloss sorgfältig das schwere Bronzetor. Dann zog sie einen gelbseidenen Vorhang zu, der den Zugang verhüllte und tarnte. Itsu Sato blickte in einen Spiegel an der Wand. Ihr Gesicht schien um Jahrzehnte gealtert. Runzeln und Falten hatten die dicke Schicht Reispuder gesprengt. Der Hals sah entsetzlich aus. Aus hohlen Augen starrte die Japanerin auf ihr Spiegelbild. Dann drehte sie sich um und schlurfte davon gebeugt, erschöpft. Sie wußte, was ihr fehlte. Sie kannte das Rezept, das half, ihr eine ans Wunderbare grenzende Frische und Jugendlichkeit zu schenken. Die Japanerin betrat den Raum, in dem Ueno auf dem Boden lag, festgekettet wie ein Sträfling. Ueno richtete sich gespannt auf. Sie erkannte Itsu Sato nicht. Erst der Gang und gewisse Gebärden machten sie stutzig. Daran merkte sie, daß die Besucherin ihr nicht fremd sein konnte. »Was ist passiert?« fragte das Mädchen erschrocken. Itsu Sato hatte sich sehr zu ihrem Nachteil verändert. Sie war innerhalb weniger Stunden entsetzlich gealtert. Die Frau antwortete nicht. Ihre Augen glühten in einem merkwürdigen Feuer. Sie wollte etwas krächzen. Dabei entblößte sie zwei lange weiß-gelbe Hauer, die plötzlich weit über die Unterlippe hinausragten und das einst so liebliche Gesicht der Itsu Sato in eine mordgierige Dämonenmaske verwandelte. Das stark gepuderte kalkweiße Gesicht tat ein übriges. Gellend schrie Ueno auf, versuchte zu fliehen. Aber es gab kein Entrinnen. Die Kette hinderte das Mädchen an der Flucht. Itsu Sato fing die Widerstrebende ein. 52 �
Die Frau kicherte leise. Dann schlugen die Raffzähne zu. Ueno wurde ohnmächtig. Leblos, mit baumelnden Armen hing sie in den Krallen der Unersättlichen. Itsu Sato spürte, wie neue Kraft durch ihre Adern rollte, wie ihre Haut sich glättete. Sie glich einem Ballon, in den Luft gepumpt wird. Zufrieden richtete sich Itsu Sato auf. * »Sie sind meine letzte Hoffnung«, schnaufte Kommissar Futara. »Ich weiß nicht mehr weiter. Ich habe eingesehen, daß dies kein gewöhnlicher Kriminalfall ist. Und von Okkultismus verstehe ich nicht viel. Ich kenne ein paar Grundbegriffe, aber nichts von den Feinheiten. Vor allem könnte ich nicht sagen, wie man Täter stellen soll, die nicht von dieser Welt sind. Sie können das sicher besser. Es ist Ihr Spezialgebiet.« Dai Ichi verbeugte sich lächelnd. Vielleicht schmeichelte es ihm, die völlige Kapitulation des bekannten Kommissars entgegenzunehmen, die um so rätselhafter war, da Futara angeblich niemals aufgab. Wenn er die weiße Flagge hisste, mußte allerhand geschehen sein. Einen Teil der Vorfälle kannte der Mönch bereits. Chuo hatte ihm ausführlich über das gespenstische Treiben am Chuzenji berichtet. »Ich werde mein Bestes geben«, versicherte der Shinto-Priester. »Das ist gerade genug in einem solchen Fall wie diesem«, sagte Futara befriedigt. »Was haben Sie vor?« »Ich muß erst einmal die Kräfte lokalisieren, die hier am Werk sind«, erklärte Dai Ichi.« Da ist der Dämon Yasha. E soll im Körper einer alten Frau stecken, die vermutlich eine Hexe war. Das ist bekannt. Wo aber steckt die Seele der Hexe? In welchen Körper ist sie gefahren? Sie muß in irgendeiner Verkleidung unter uns weilen. Haben wir sie gefunden, ist schon ein Teil des Spuks 53 �
beseitigt, der uns so zu schaffen macht.« »Das ist richtig«, bestätigte der Kommissar. »Ich verstehe nichts davon. Wahrscheinlich werden Sie eine große Geisterbeschwörung veranstalten. Das ist wohl angebracht. Sagen Sie mir Bescheid, sobald greifbare Ergebnisse vorliegen.« »Ich werde sofort beginnen«, versprach der Mönch. Chuo stand die ganze Zeit daneben und hörte gespannt zu. Er glaubte im Gegensatz zum Kommissar an alle diese Dinge und hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Nur die Neugier überwog noch die Angst. »Das Gebiet am Nantai-Berg habe ich; sperren lassen«, erläuterte Futara die eigenen Maßnahmen. »Ein zweites Massaker kann ich mir nicht leisten. Die Presse zerreißt mich in der Luft. Wir haben mehr, als ein Dutzend Opfer.« In diesem Augenblick trat ein uniformierter Polizist ein. Er salutierte stramm und wartete geduldig, daß ihm der Kommissar das Wort erteilte. Es war ein junger Mann mit dichtem schwarzem Haar und einer Menge Orden auf der Brust. Er war allerdings niemals in einem Krieg gewesen. Was er mit sich herumschleppte, bewies nur, daß er ein sehr sportlicher Bursche war. »Was gibt es?« erkundigte sich Futara gereizt. »Die Opfer der Katastrophe am Nantai sind alle identifiziert«, meldete der Polizist. »Wir haben die Angehörigen geholt. In der alten Schule ist der Teufel los. Die Verwandten gebärden sich wie toll.« »Sie sollen mir keinen Stimmungsbericht liefern, sondern sich an die Tatsachen halten«, knurrte der vierschrötige Kommissar. »Was liegt noch an? Sie sind doch nicht den weiten Weg hierher gerannt, um mir nur das zu melden?« Bei dieser scharfen Zurechtweisung zuckte der junge Uniformierte zurück. Er war ehrgeizig und stolz darauf, zu dem 54 �
berühmten Kommissar geschickt worden zu sein. Deshalb traf ihn der Tadel doppelt. »Ein Mädchen wird noch vermisst, Futara-san«, stammelte der Uniformierte. »Wir konnten es nicht finden.« Futara fuhr hoch. »Was soll das heißen?« schrie er. Er bewies dadurch, daß er noch Nerven hatte und am Rande seiner Kraft angelangt war. Schlechte Neuigkeiten vertrug er nicht mehr. Es hatte schon genug Rückschläge gegeben. Er trat auf der Stelle. Langsam erregte er das Missfallen sämtlicher Vorgesetzter. Das und die Kompliziertheit des Falles, die niemand wirklich würdigte, brachten den Kommissar nachts bereits um den Schlaf. Der junge Polizist knallte die Hacken zusammen. »Was soll das heißen?« wiederholte Futara etwas ruhiger. »Ein vierzehnjähriges Mädchen befindet sich nicht unter den Toten«, erklärte der Uniformierte, als hätte er diese Tatsache persönlich zu verantworten. »Die Kleine heißt Ueno. Sie ist die Tochter eines Garkochs aus Kamakura, und dies war ihr erster Pilgerzug auf den Heiligen Berg. Wir konnten keine Spur von ihr entdecken.« Futara krauste seine Stirn und dachte angestrengt nach. Vergeblich suchte er nach einer natürlichen Erklärung für dieses Phänomen. Sämtliche Wallfahrer waren erwischt worden, dort oben in der Höhle. Bis auf Yokosu und eine gewisse Meiji, seine Schwiegertochter. Ihre Leichname hatte man immerhin in einer Schlucht gefunden, leergeblutet und mit merkwürdigen Bisswunden an den schlaffen Hälsen. Aber was war mit Ueno? Sie konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Jedes Opfer war gefunden und identifiziert worden tot. Die Angehörigen drängten sich weinend um die weißlackierten Särge. Ehe sich der Kommissar von seiner Überraschung erholt hatte, 55 �
schaltete sich Dai Ichi ein, der Shinto-Priester, der in vollkommener Ruhe und Konzentration gewartet hatte. »Das ist ein wichtiger Fingerzeig«, sagte der Mönch. »Wenn Ueno verschwunden ist, so bedeutet das zunächst, daß sie sich im Zustand der vollkommenen Unschuld befand. Die magischen Fallen des Yasha-Dämons konnten ihr also nichts anhaben. Nun ist sie verschwunden. Sie wird so vermute ich bei der sein, die wir suchen, dieser Zauberfrau und Hexe. Es sind Fälle überliefert, in denen sich Hexen vom Blut der Reinen genährt haben. Aus einem einfachen Grunde: sie gehörten zur Gilde der Blutsauger, die den schrecklichen Ghouls nahe steht, die durch Märchen, Sagen und Legenden aller Völker spuken und sich von Scheintoten ernähren, Leuten, die irrtümlich begraben wurden und denen in hellen Vollmondnächten ein merkwürdig grünes Phosphoreszieren auf die Lippen tritt, weil sie nicht faulen können wie normale Sterbliche, sondern sich gegen ihr entsetzliches Schicksal sträuben, eine Gnadenfrist bewilligt bekommen und dann meistens Opfer der Blutsauger und Leichenfresser werden, die sich auf die leichte Beute stürzen. Der Begriff des klinischen Todes ist scheinbar geklärt, stimmt aber meist nicht überein mit dem tatsächlichen Zeitpunkt des wirklichen und unwiderruflichen Todes. Personen, die medizinisch als tot gelten, leben oft weiter. Sie können sich nicht rühren, sind aber bei Bewußtsein. Sie registrieren alles um sich her, ohne sich selbst helfen zu können. Sie werden bei vollem Bewußtsein beerdigt. Ein schauerliches Missgeschick, das besonders Verstorbenen in tropischen Ländern häufig widerfährt. Das Klima verlangt eine schnelle und unziemlich hastige Bestattung. Mit dem Erfolg, daß sich die abartigen Dämonen und Geister der Friedhöfe auf die Unglücklichen stürzen. Es scheint, als ob hier eine fürchterliche Gerechtigkeit waltet, die alle Dimensionen menschlicher Vorstellungskraft sprengt.« Dai Ichi schwieg. 56 �
Betroffen starrte ihn Kommissar Futara an. Er fröstelte. Er war kein Feigling. Aber er schreckte zurück vor diesem Gedanken. Das bedeutete, daß man auf Gnade angewiesen war. Gerade zu dem Zeitpunkt, da für vernünftige und angeblich aufgeklärte Menschen alles vorbei schien, schlug das Schicksal zu, grauenhafter, als ein menschliches Hirn es sich auszudenken vermochte. »Die wirkliche Herrschaft der Gespenster und Geister, der Hexen und Magier«, erläuterte der Mönch Ichi, der aufgrund jahrelanger Meditation alle Stufen der Vollkommenheit erstiegen hatte, »beginnt nämlich genau in dem Augenblick, da das irdische Leben vollendet scheint. Der Mensch mit all seinen Möglichkeiten wird bestraft, wenn er sie nicht nutzt. Die Rechnung wird auf eine schauerliche Art präsentiert. Genau dann, wenn es keine Hilfe mehr zu geben scheint, kein Entkommen, keine Hoffnung und kein Morgen. Wohl dem, der seine Zeit genutzt hat. Die Hölle, wie sie in christlicher Sicht die gerechte Strafe ist oder die ewige Wiedergeburt der Hindus als Strafe und erneute Chance, die Vollkommenheit zu erreichen und als Lohn im Nirwana einzuziehen – sind ein lächerlicher Abklatsch dessen, was wirklich geschieht.« Dai Ichi lächelte milde. Er sprach ohne jede Hast, ohne jede Absicht, anderen seine Meinung aufzuzwingen. Er verkündete einfach. Selbst ohne die Eitelkeit, sich im Besitz der Wahrheit zu wähnen. Chuo lauschte mit Angstschweiß auf der Stirn. »Das widerspricht jeder Logik«, protestierte der Kommissar. »Was ist Logik?« fragte der Mönch scharf. »Etwa dieser Fetzen Bewußtsein, der den Menschen auszeichnet vor allen Lebewesen dieser Erde? Meinen Sie das? Ich schenke Ihnen mein Bewußtsein. Verdoppeln Sie das Ihre. Ich behaupte, nur kontemplatives Denken führt zum Ziel. Das ist meine Antwort auf den Schrei 57 �
des Abendlandes nach mehr Vernunft, mehr Rationalität. Und ich gestehe, es ist meine Antwort. Nicht Ihre und nicht deine, Chuo. Jeder muß sich selbst bemühen. Es gibt keine fertigen Programme, keine einfachen Lösungen, die man gierig hineinschlingen kann, um dann wieder beruhigt den Geschäften des Alltags nachzujagen. Es gibt nur einen Weg dorthin. Die Ankunft selbst ist das Ziel. Dann löst sich der Mensch von seiner erbärmlichen Hülle. Sein Geist wird wirklich frei. Er vereinigt sich mit dem, was ist, was war und was immer da sein wird. Was sich nicht mitteilen kann, weder in Stimmen aus einem Dornbusch, noch durch Offenbarungen über einige bevorzugte Exemplare der menschlichen Gattung, noch durch Wunder.« Futara spürte, wie ernst der Mönch es meinte, der nicht einmal seine Stimme gehoben hatte. Der dastand in seiner Toga, mit dem kahlgeschorenen Kopf und so wenig den Idealfiguren ähnelte, die in den Hirnen einer manipulierten Masse herumspukten. Und der doch etwas zu sagen hatte ruhig, freundlich, ohne jede Nebenabsicht, ohne Werbung und Tamtam. Und der Kommissar begriff, daß nur Dai Ichi ihm helfen konnte. Und daß nur der Mönch alle die bezwingen konnte, die den Chuzenji-See unsicher machten. Diese Mordgespenster, die ruhelos in Vollmondnächten neue Opfer suchten. Die sich am liebsten selbst vernichtet hätten. Die von einer Raserei in die andere fielen, Sendboten einer gescheiterten Existenz, ruhelose Spukgestalten verpfuschter menschlicher Wesen. * Kommissar Futara ließ Itsu Sato mit einem Polizeijeep in sein provisorisches Hauptquartier im Kanaya-Hotel holen. Dahinter steckte die Absicht, die Frau zu provozieren, auf die sich der Verdacht konzentrierte. Und in diesem Punkt buchte der Beamte 58 �
einen Erfolg. Die schöne Itsu Sato sprühte vor Zorn und beschwerte sich bitterlich über die ungerechtfertigte Diskriminierung, vor den Augen aller Nachbarn am helllichten Tage festgenommen zu werden. Futara verbeugte sich höflich und wies die Frau darauf hin, daß es sich nur um ein Routineverhör handele, nichts anderes. Der Kommissar trug ebenfalls einen Kimono, den er bevorzugte, wenn er sich innerhalb der eigenen vier Wände aufhielt. Itsu Sato fächelte sich mit einem Taschentuch Kühlung zu. »Wenn Sie eine Tatsache bedenken, die ich nicht ändern kann«, sagte Futara listig, »so werden Sie mir sofort recht geben. Sie wohnen so, daß jeder, der vom Nantai-Berg kommt und Hilfe braucht, zuerst an Ihre Tür klopfen wird.« »Na und?« Die Frau ließ ihre Augenbraue in die Höhe schnellen. »Wir haben festgestellt, daß ein Mädchen nicht unter den Opfern ist. Wäre es möglich, daß die Kleine sie heißt Ueno bei Ihnen Zuflucht gefunden hat?« Futara spielte seine Rolle meisterhaft. Chuo, der am Fenster stand und in den Garten schaute, während er jedes Wort mitbekam, das hinter seinem Rücken fiel, mußte grinsen. Er kannte die Taktik des Kommissars. »Nein!« rief Itsu Sato schrill. »Ich kenne das Kind nicht. Ich habe es nicht gesehen.« »Das ist eine Behauptung. Können Sie die beweisen?« Futara lächelte freundlich, während seine Miene deutlich Unglauben zur Schau stellte. Er saß jetzt in einem bequemen Sessel. Das Hotel war mit westlichen Möbeln voll gestopft, den zahllosen Touristen zuliebe, die hier in der Saison übernachteten. »Ich brauche es nicht«, konterte die Frau erregt. »Wenn hier jemand jemandem etwas beweisen muß, so sind doch wohl Sie 59 �
an der Reihe. Ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten beschweren.« »Ich bin untröstlich. Aber ich gehe davon aus, daß die Kleine zu Ihnen gekommen ist. Denn woanders ist Ueno nicht aufgetaucht. Weder in einem der Häuser am See noch in diesem Hotel noch als Leiche irgendwo am Nantai. Meine Leute haben jeden Fußbreit genau abgesucht. Sie arbeiten sehr gründlich.« »Und welchen Grund sollte ich haben, dieses Mädchen gefangen zu halten oder zu verstecken ganz, wie Sie wollen?« erkundigte sich Itsu Sato höhnisch. Der Kommissar zuckte nur mit der Schulter. »Sind Sie einverstanden, daß ich Ihr Haus durchsuche?« fragte Futara harmlos. »Natürlich nicht.« Der Kommissar hatte mit einer Ablehnung gerechnet. Daß sie so heftig ausfallen würde, hatte er allerdings nicht geglaubt. »Ich muß mir dann in Tokio einen Haussuchungsbefehl ausstellen lassen«, sagte Futara mit Bedauern. Er warf einen Blick auf die Uhr. »Leider ist es dafür heute zu spät. Vor morgen früh wird er nicht hier sein. Ich komme also morgen zu der gewöhnlichen Besuchszeit.« Itsu Satos Augenlider zuckten. Sie hatte die Warnung verstanden. Und sie war klug genug, um zu erkennen, daß der Kommissar sich nicht verplappert hatte. Er rechnete offensichtlich damit, daß Ueno irgendwo in dem Haus der einsamen Frau verborgen gehalten wurde. Wenn er eine Durchsuchung ankündigte, dann nur, um seine Gegnerin zu einer Unvorsichtigkeit zu verleiten. Wahrscheinlich hatte er bereits Posten rund um die Villa aufgestellt. Und ein paar Beamte steckten im Garten, um jeden Schritt Itsu Satos zu belauern. Die Frau lächelte hochmütig. 60 �
Diese Narren ahnten nicht, über welche Möglichkeiten sie verfügte. »Es wäre besser, Kommissar, wenn Sie mich aus dem Spiel ließen«, warnte Itsu Sato. Chuo drehte sich erstaunt um. Eine solch unverhüllte Drohung hätte er nicht erwartet. Er blickte in das Gesicht der Frau und las darin das Schicksal, das sie dem Kommissar zu bereiten gedachte. Futara zeigte sich weniger beeindruckt. »Darf ich jetzt gehen?« fragte Itsu Sato eisig. Futara nickte zerstreut. Die Frau rauschte aus dem Zimmer. »Was hältst du davon, Chuo?« erkundigte sich Futara. »Du bist doch der Sachverständige für Hexen und Magier. Was wird die Frau gegen mich unternehmen?« »Du hättest sie nicht reizen dürfen«, tadelte Chuo. »Jetzt führt sie etwas im Schilde. Das ist klar. Und wir sind in Gefahr.« »Zumindest ich«, korrigierte der Kommissar. »Aber Gefahr ist mein Beruf. Und irgendwie muß ich dafür sorgen, daß die Dinge vorangetrieben werden. Ich habe keine Beweise, also muß ich dafür sorgen, daß uns Itsu Sato selbst Gründe liefert, gegen sie einzuschreiten.« Chuo schüttelte traurig den Kopf. »Du hast immer noch nicht begriffen«, sagte der Fahrer traurig. »Wenn sie das ist, wofür wir sie halten, wird sie Mittel und Wege finden, uns zu verderben.« »Dafür ist der Shinto-Priester zuständig«, wandte der Kommissar lächelnd ein. »Dai Ichi wird den bösen Einfluß zunichte machen und jeden Bann abfangen, den sie gegen uns schleudert. Außerdem kommen mir von Zeit zu Zeit immer noch Zweifel an unserer Theorie. Es widerstrebt mir, der ich nur mit Fakten rechne, etwas in meine Überlegungen einbeziehen, das übersinn61 �
lich genannt werden könnte. Ich kann nicht aus meiner Haut.« Futara erhob sich. »Du kannst Dai Ichi vorwarnen. Wo steckt er eigentlich?« »Er ist auf dem Nantai, um den Yasha-Dämon zu vernichten«, erklärte Chuo todernst. »Er wird erst morgen zurückkehren oder niemals.« »Dann müssen wir allein mit der Sache fertig werden«, sagte Futara. »Ich werde es schon schaffen. Und du solltest dir auch nicht den Kopf über Dinge zerbrechen, von denen du nichts verstehst.« »Ich habe viel über Magie gelesen«, protestierte Chuo. »Aber du bist nie aktiv gewesen. Also vergiß den ganzen Unsinn«, entgegnete Futara gereizt. »Und mache mich nicht nervös. Ich werde jedenfalls ruhig schlafen.« Futara öffnete die Verbindungstür, die die beiden Räume trennte, in denen die Polizisten schliefen. »Bis morgen.« Futara gähnte und mußte lachen, weil Chuo so skeptisch dreinschaute, als bezweifelte er, daß der Kommissar den nächsten Tag noch erleben würde. Tatsächlich starb Chuo in dieser Nacht. Als er gefunden wurde, lag er steif und; schwarz auf dem Teppich, als hätte er in Todesangst das Bett verlassen, um Hilfe zu holen. Seine gekrümmte Hand wies auf den Griff der Verbindungstür, die er nicht mehr erreicht hatte. Es gab keine sichtbare Wunde. Erschüttert schloß Futara seinem Freund die weit aufgerissenen Augen und, faltete ihm die Hände über der Brust. Dabei entdeckte er einen winzigen roten Punkt am Handgelenk des Toten. Er schlug die Manschette von Chuos Hemd zurück und fand drei weitere winzige Einstiche, die demnach nicht von einer Nadel herrühren konnten. Der Kommissar stand vor einem weiteren Rätsel. 62 �
Er ließ den Polizeiarzt und die Mordkommission aus Tokio holen. Die Leute vom Spurensicherungsdienst schwärmten aus und suchten den Raum Zoll für Zoll ab, ohne eine Spur zu finden. Das Fenster war verschlossen, die Tür zum Korridor ebenfalls. Der Schlüssel steckte noch von innen. Niemand konnte auf, diesem Wege das Hotelzimmer betreten haben. Wie aber war der mysteriöse Mörder in den Raum gelangt? Denn daß Chuo eines natürlichen Todes gestorben sein könnte, nahm Futara nicht an. Eine bange Ahnung beschlich ihn. Wieder einmal war er dicht davor, die übernatürlichen Kräfte der Itsu Sato nicht länger zu bezweifeln und ihr die Schuld zu geben. Einer der Beamten fand ein Armband in Form einer stilisierten Schlange. Das Schmuckstück war aus einem unbekannten Metall gefertigt und glänzte dunkelbraun. Jede Schuppe auf dem Leib des Tieres war mit ungeheurer Präzision gearbeitet. Die Knopfaugen bestanden aus zwei wertvollen schwarzen Diamanten. Die Schlange hielt das Maul leicht geöffnet. Die starre rosa Zunge, gegabelt, lag unbeweglich zwischen täuschend nachgeahmten Giftzähnen. Futara zeigte sich wenig überrascht, als der Arzt feststellte, Chuo sei an einem unbekannten Gift gestorben. »Er hat dieses Armband gefunden. Itsu Sato hat es absichtlich zurückgelassen«, kombinierte der Kommissar. »Aus Neugier hat Chuo den Kopf des Tieres untersucht, die Giftzähne der Viper berührt und ist elend umgekommen.« Der Arzt sah den Kommissar forschend an. Dann legte der weißhaarige Mediziner sanft Widerspruch ein. »Das kann nicht stimmen«, führte er aus. »Erstens sind die Zähne der Schlange nicht präpariert. Ich habe mich darum bereits gekümmert und lege meine Hand dafür ins Feuer. Außerdem würde das nicht die vier Einstiche erklären. Es gäbe höchstens einen. Das hätte ausgereicht, wenn Chuo an der 63 �
Berührung dieses Armreifes gestorben wäre. Nein, hier hat tatsächlich ein Tier zugebissen.« »Unmöglich!« widersprach ein Mann vom Spurensicherungsdienst. »Wir haben jeden Quadratzentimeter unter die Lupe genommen. Es gibt nicht den winzigsten Spalt, die kleinste Ritze. Nicht mal unter der Tür hätte das winzigste Reptil durchkriechen können. Im Zimmer hat sich keine Viper angefunden. Wenn wir nicht gerade annehmen wollen, das Ding hier sei plötzlich zum Leben erwacht, müssen wir die Segel streichen. Es gibt im Augenblick keine einleuchtende Erklärung für diesen Fall. Wir lösen das Rätsel nicht.« In diesem Moment erschien ein Bote, der einen Brief von Itsu Sato brachte. Futara riß den Umschlag auf und las, die Frau vermisse ihren wertvollen Armreif, ein Familienerbstück. Sollte er sich im Hotel anfinden, bitte sie um Rückgabe. Der Verlust wäre unersetzlich. Nachdenklich wog der Kommissar das außergewöhnliche Schmuckstück in der Hand und murmelte: »Es muß einen Mechanismus geben. Wenn man ihn auslöst, beißt diese Schlange zu.« Futara ging mit Feuereifer an die Arbeit. Schuppe für Schuppe berührte er, versuchte den Kopf zu drehen, drückte trotz der Warnung des Arztes auf die Giftzähne, einzeln und auf alle vier gleichzeitig. Nichts tat sich. Futara erlitt keineswegs das gleiche Schicksal wie sein unglücklicher Fahrer. Kopfschüttelnd gestand er, daß nichts Geheimnisvolles an diesem Gegenstand war. Verschiedene andere Beamte versuchten ihr Glück vergeblich. Es gab keine verborgene Giftnadel, kein unbekanntes Präparat, dessen Kontakt den Tod brachte. Das Schmuckstück blieb ein Schmuckstück. Futara resignierte und händigte dem Boten den Armreif aus. 64 �
Der steckte die stilisierte Schlange sorglos in die Tasche und lief davon, weil er auf ein fürstliches Trinkgeld der Verliererin hoffen konnte. Futara ließ den Leichnam wegbringen. Der Arzt versprach einen eingehenden Bericht und eine besonders sorgfältige Untersuchung. * Dai Ichi stieg gemessenen Schrittes bergan. Er war der erste Mensch, der nach den schrecklichen Vorfällen in der Höhle am Nantai den Zweitausender erklomm. Der Pfad wand sich in Serpentinen die vernarbte Flanke des Berges entlang. Tief unten glitzerte die weite Fläche des Chuzenji-Sees. Bald sahen die Holzhäuser der Einheimischen aus wie Spielzeugbauten. Der Shinto-Priester trug ein weißes Gewand und eine Stirnbinde wie ein Kamikatse-Flieger. Darauf stand in roten Buchstaben ein Spruch, der gegen böse Geister und Dämonen gerichtet war und Abwehrkräfte besaß, wie alte Quellen berichteten. Dai Ichis Gesicht war ungewöhnlich ernst. Er wußte, worauf er sich einließ. Dies war nicht seine erste Teufelsaustreibung. Der böse Geist fuhr beliebig in die Menschen, benutzte ihre Leiber als Behausung und Tarnung. Mal suchte er Kinder heim, mal Greise. Er verschonte weder Mann noch Weib. Und die armen Besessenen waren nicht mehr Herren ihrer selbst, erlagen dem unheilvollen Einfluß ihres unheimlichen Gastes. Sie taten die rätselhaftesten Dinge, für die selten eine logische Antwort gefunden werden konnte. Sie bellten und miauten, sprachen mit ausgefallenen Tierstimmen und konnten sich in Zeiten der Raserei nicht verständlich machen. Sie erlitten schwere Anfälle und 65 �
schäumten vor Wut, wenn sie mit geweihten Dingen in Berührung kamen. Dai Ichi führte eine Reihe von Requisiten mit sich, die für eine Geisterbeschwörung unerlässlich waren. Sie staken in einem Tuch, das er sich auf dem Rücken festgeknotet hatte. Der einsame Mann verharrte an jeder Gebetsstation und brachte die vorgeschriebenen Opfer, gedachte der Ahnen und stärkte sich durch Meditation. Gegen Mittag erreichte Dai Ichi die Höhle, in der die Pilger ein schreckliches Ende gefunden hatten. Es war, als wäre der Ort verflucht für alle Zeiten. Eine unheimliche Stille breitete sich aus. Es gab hier nur nackten Stein. Kein Leben regte sich. Der Mönch betrat die Höhle. Halbdunkel empfing ihn. Überall entdeckte er Spuren der mörderischen Angriffe des YashaDämonen. Eine Gebetsfahne mit zerbrochenem Stiel lag neben dem Eingang. An den Wänden klebten Blutspritzer. Dai Ichi entzündete die elf magischen Kerzen und ordnete sie zu einem Halbkreis an. Er stellte Schüsseln mit Opfergaben für die Götter der vier Winde, der Berge und der Schluchten auf. Mit unbewegtem Gesicht bereitete der Shinto-Priester die Teufelsaustreibung vor. Er schlug das dickleibige Buch auf, das die heilige Schrift enthielt, das Lotus-Sutra. Mit monotoner Stimme rief Dai Ichi die höchste Gottheit an, Amaterasu Omikami. Der herrschte über die acht Millionen Götter, die so genannten Kami. Unter zahllosen Verbeugungen betete der Shinto-Priester. Der Schatten des halbnackten Mannes fiel auf die Felswände, ins Ungeheure vergrößert, eine bewegliche Silhouette. Stunden verbrachte der Exorzist so. Dann versank er in Meditation. Das Schweigen hüllte ihn ein wie ein Mantel. Unbeweglich, mit gekreuzten Beinen und die Arme in einer bestimmten 66 �
Haltung, hockte Dai Ichi in der Felshöhle. Er hatte gefastet und spürte weder Müdigkeit noch Kälte. Er versank beinahe in Trance, einem Zustand, der die Schwere seines irdischen Daseins aufhob. Ihm war, als öffnete sich die Höhle, als wichen die beengenden Wände geräuschlos zurück. Er sah ein wunderbares Licht, das schrumpfte, sich verkleinerte, bis es die Größe eines Stecknadelkopfes hatte. Und dann erschien der Yasha-Dämon in Gestalt einer alten Frau. Die Alte geiferte und keifte, schüttelte die Fäuste und drohte mit wilden Verwünschungen, wich aber vor der magischen Linie zurück, die Dai Ichi am Eingang der Felsenhöhle mit geweihtem Sake gezogen hatte. Mit einemmal durchlief das Geschöpf eine rätselhafte Metamorphose. Es schien sich aufzulösen. Aus wabernden Konturen schälte sich eine Teufelsmaske, die in der Luft schwebte. Mit mächtigen Eckzähnen, einem satanischen Grinsen im Gesicht und boshaft gelben Augen. Klauen fuhren aus rotem Nebel, griffen nach dem einsamen Mann auf der Strohmatte, der sich schweigend konzentrierte. Anders als bei den europäischen Teufelsaustreibern, die sich nach dem berühmt-berüchtigten Rituale romanorum richten, lag hier die ganze Aktivität bei der Gegenpartei. Der Yasha-Dämon tobte und spuckte Gift und Galle. Herbeibeschworen durch die ungeheure geistige Energie des Shinto-Priesters, gebannt durch die Kraft seines Gebetes, umkreiste und belauerte der Dämon fauchend und kreischend den winzigen Lichtpunkt, der nur dem inneren Auge des Shinto-Priesters sichtbar war. Der Höllengestank des Widerparts drang nicht einmal in das Bewußtsein Dai Ichis. Äußere Ereignisse erreichten ihn nicht. Hier wurde ein Duell ausgetragen, das mit der Vernichtung eines der beiden Kontrahenten enden mußte. Einziges sichtbares Zeichen der ungeheuren Anstrengung des Mönches waren win67 �
zige Schweißperlen auf seiner Oberlippe. Er kontrollierte seinen Atem und steuerte sein vegetatives Nervensystem. Die Dualität zwischen Materie und Geist war aufgehoben. Dai Ichi glich einem Bündel Energie, einer unangreifbaren Festung, einem konzentrierten Willen, der auf die Vernichtung des YashaDämons abzielte. Der Unirdische aber zog alle Register seiner teuflischen Kunst. Wieder machte er eine Wandlung durch. Er dematerialisierte sich. Ein Meer von Funken in allen Farben des Spektrums umgaukelte Dai Ichi. Diese rätselhafte Erscheinung überwand mühelos die Trennlinie zwischen Gut und Böse, näherte sich form- und gestaltlos dem Shinto-Priester, der seine letzten Reserven mobilisieren mußte. Aus der Tiefe der Erde aber erklang ein höllischer Chor. Es war als beklagten die Seelen Verdammter ihr unabänderliches Schicksal. Der Zweikampf dauerte Stunden. Und je wilder sich der Yasha gebärdete, desto ruhiger wurde Dai Ichi, und gegen Abend hatte er es geschafft. Das Funkeln und Glitzern, das Blinken und Schillern, der geisterhafte Lichtspuk verschwand langsam. Gleichzeitig erhob sich ein Wind. Eiseskälte machte sich breit. Wie ein Sog zerrte es an dem Mönch, als sollte er in den Schoß der Erde hinab gezogen werden. Der Fels tat sich auf, und mit einem schauerlichen Schrei verschwand die Erscheinung des Yasha. Zurück blieb die sterbliche Hülle der alten Frau, Knochen und Haut und das Gewand aus alten Zeiten. Unendlich langsam kehrte Dai Ichi zurück aus weiter Ferne. Sein Atem wurde tiefer, kräftiger. Seine Gesichtshaut wurde durchblutet. Er bewegte sich unmerklich. Die muskulöse Gestalt mit dem nackten Oberkörper entspannte sich. Plötzlich spürte 68 �
Dai Ichi die Kühle der Nacht und erhob sich. Die Kerzen im magischen Zirkel waren niedergebrannt. Hier und da flackerte noch ein Rest, mischte sich mit dem Zwielicht des dämmernden Morgens. Opferschalen waren umgestoßen. Ein widerlicher Gestank verpestete die Luft in der Höhle. An den Wänden saß graugrün ein schleimiges Sekret, das langsam austrocknete, in sich zusammensank und zu einer Art Pulver wurde. Der Wind trug die letzten Spuren des Yasha-Dämons fort. Sichtbar blieb nur der Spalt im Fels, eine merkwürdige bizarre Linie, die sich nur dem kundigen Auge als ein fünfzackiger Stern offenbarte. Und als die Sonne heraufstieg und die ersten Strahlenfinger in die Höhle tasteten, zerfiel die Hülle der alten Frau zu Staub. Er bildete die Form eines auf dem Kopf stehenden Kruzifix. Dai Ichi stupste den Palmwedel in die Kruke, die geweihten Sake enthielt, und sprengte damit den Boden. Er tilgte wie durch ein Wunder mühelos die Spuren seines Abenteuers. Der Shinto-Priester brachte das große Dankopfer. Dai Ichi war zu Tode erschöpft. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und glänzten fiebrig. Er hatte sichtbar an Gewicht verloren, war noch hagerer als zuvor. Er fror und hüllte sich in eine gelbe Toga, ehe er sich in alle vier Himmelsrichtungen verneigte. Dann versank er abermals im Gebet. Er weihte die Stätte, um dem Dämon die Rückkehr zu verbauen. Und unter einem Beschwörungen und genau vorgeschriebenen Handbewegungen lösten ich die Blutspuren an den Wänden auf, die von den unglücklichen Opfern des YashaDämons stammten. Dai Ichi trat aus der Höhle. Stumm stand er auf der Höhe, mit ausgebreiteten Armen und betrachtete das Land zu seinen Füßen. Kein Triumpfgefühl 69 �
erfüllte ihn. Nur unsagbare Müdigkeit und Leere. * Itsu Sato ließ sich beim Kommissar melden. Diesmal war sie katzenfreundlich. Sie bedankte sich überschwänglich für die Rückgabe ihres Armreifs und erzählte eine lange Geschichte über die kunstvolle, täuschend echte Arbeit, die sie auch diesmal trug. Sie betonte den generellen Wert dieses Schmuckstücks, das schon seit Generationen im Besitz der Familie sei. Futara hörte geduldig zu. In diesem Augenblick glaubte er nicht daran, daß in solch reizendes Wesen eine Hexe sein konnte. Itsu Sato war eine ausgezeichnete Gesellschafterin, wenn sie wollte. Der Kommissar bewahrte nur mit Mühe seine Ruhe. Ihm dauerte das Gespräch schon zu lange. Schließlich hatte er andere Sorgen. Endlich verabschiedete sich die Frau, ohne daß Futara unhöflich zu werden brauchte. Itsu Sato sprach dem Polizisten noch ihr Beileid aus. Sie habe von dem schrecklichen Ende Chuos gehört und bedaure den Vorfall zutiefst. Es geschehe so viel am Chuzenji – vor allem in der letzten Zeit –, daß sie ernsthaft überlege, ob sie ihren Besitz nicht verkaufen solle. »Ich werde dafür sorgen, daß es bald ruhiger wird«, versprach Futara grimmig. »Ich habe noch einige Eisen im Feuer.« Er dachte an Dai Ichi, den Shinto-Priester, der irgendwo oben am Nantai-Berg mit dem Yasha-Dämon rang. Futara geleitete seinen unerwarteten Besuch an die Tür, verabschiedete sich mit zahllosen Verbeugungen und kehrte in das Hotelzimmer zurück, das ihm als Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmer gleichzeitig diente. Er vertiefte sich in das Studium von Akten. Ein Bote hatte den Bericht aus dem medizinischen Labor des Polizeipräsidiums gebracht. Danach war Chuo an einem unbekannten 70 �
Schlangengift gestorben, das binnen kürzester Zeit die Nerven lähmte. Futara kratzte sich nachdenklich am Kopf. Hier passten aber auch nicht zwei Dinge zusammen. Der Fall wurde immer mysteriöser und undurchsichtiger. Futara blätterte den Schnellhefter durch. Die Aufnahmen, die ein Polizeifotograf mit einer Polaroidkamera geschossen hatte, waren sauber eingeklebt. Der Kommissar stöhnte. Chuo war sein bester Freund gewesen. Diesmal hatte er ihn nicht retten können. Zu heimtückisch war der Angriff erfolgt, unerwartet. Oder hatte der Anschlag gar nicht dem Fahrer gegolten? Fragen über Fragen. Am schlimmsten aber litt der Kommissar darunter, daß sein Vertrauter das Opfer war. Er, Futara, konnte nicht mit der nötigen Ruhe an die Lösung des Falles herangehen. Er war nicht mehr distanziert genug, sondern voreingenommen. Das würde die weitere Arbeit belasten. Futara kannte das. Die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern stand halb offen. Der Kommissar hatte Itsu Sato im Nebenraum empfangen, dort, wo Chuo elend umgekommen war. Vielleicht hatte er sich davon Hinweise erhofft. Aber die Frau hatte sich nicht verraten. Unbeweglich, ohne sichtliche Gemütsbewegung hatte sie mit dem Beamten gesprochen. Ihrem Verhalten nach konnte sie jedenfalls nicht die Mörderin sein. Oder sie war eine ausgezeichnete Schauspielerin mit einer eisernen Selbstdisziplin. Futara wagte das nicht zu entschieden. Ruhelos ging der Kommissar auf und ab. Schließlich betrat er den angrenzenden Raum. Die Habseligkeiten Chuos waren verschwunden. Sein Bett war verwaist. Nichts in diesem Raum erinnerte mehr an ihn. 71 �
Plötzlich stutzte Futara. In einer Ecke des Sessels, auf dem Itsu Sato gesessen hatte, lag der Armreif. Er war halb an der Seite verschwunden und ragte nur eine Kleinigkeit am unteren Ende der Armlehne hervor. Deutlich hob sich der goldene Kopf der Schlange mit der gespaltenen Zunge gegen das Resedagrün des Möbelbezuges ab. Futara verstand die Welt nicht mehr. Wenn dieses Schmuckstück der Itsu Sato wirklich so viel bedeutete, warum ging sie dann so leichtfertig damit um? Sie verlor den Armreif zum zweiten Mal innerhalb von achtundvierzig Stunden. Das gab doch zu denken. Futara mochte nicht an Zufall glauben. Dahinter steckte eine Kriegslist. Eine böse Ahnung beschlich den Polizisten. Er kannte sich in derlei Dingen wenig aus, aber er spürte, daß die Angelegenheit in ihre entscheidende Phase trat. Angenommen, Itsu Sato steckte hinter allem und wollte jetzt auch den Kommissar töten. Dann hatte mit Sicherheit die goldene Schlange damit zu tun. Natürlich kannte auch Futara als jemand, der sich nicht für Magie, weder weiße noch schwarze, interessierte, die Vorfälle um verschiedene Edelsteine, die ihren Besitzern Unglück gebracht hatten. Er glaubte wie die meisten seiner Landsleute fest an den Einfluß der Gestirne auf das menschliche Schicksal. Er hatte mit Interesse in alten Zeitungen über den Fluch der Hohepriester gelesen, der jeden traf, der sich an den ägyptischen Königsgräbern vergriff. Er hatte ein oder zwei Bücher über den Voodoo-Kult gelesen, den Totenkult der mittelalterlichen Gnostiker, aber niemals geglaubt, so etwas könne wirklich und wahrhaftig geschehen. Noch dazu vor seinen Augen. Aber er konnte die Sache nicht mehr anders erklären. Zumal ihn sein Gefühl in dem Verdacht bestärkte, irgend etwas gehe hier nicht mit rechten Dingen zu. Er hätte beschwören können, daß dieser Raum 72 �
nicht mehr der gleiche war wie der vor dem Besuch der Itsu Sato. Futara zog sich einen Stuhl heran. Er setzte sich so, daß er die goldene Schlange im Auge behielt. Aber er hütete sich davor, sie zu berühren. Futara hatte den kostbaren Armreif bereits einmal in der Hand gehabt und nichts Verdächtiges entdecken können. Auch die anderen Beamten nicht. Aber in diesem Augenblick hätte sich der Kommissar lieber den Arm abhacken lassen, als noch einmal das Schmuckstück zu berühren. Schließlich wollte er kein Risiko eingehen. Und doch sagte ihm irgendein Instinkt, daß dieses Ding nicht ganz ungefährlich war. Er beschloß, einfach zu warten, was geschehen würde. Es vergingen Stunden. Zwischendurch verschwand Futara, um seine Mahlzeiten einzunehmen. Und als er zurückkehrte, lag der goldene Armring noch genau an der gleichen Stelle. Merkwürdigerweise hatte sich Itsu Sato noch nicht gemeldet, ganz so, als hätte sie den Verlust überhaupt nicht bemerkt. Und das wiederum bestärkte Futara in seiner vagen Vermutung, daß die goldene Schlange nicht rein zufällig zurückgeblieben war. Die Hexe suchte ein neues Opfer. Die Nacht brach herein. Der Kommissar wartete immer noch. Er hatte kein Licht eingeschaltet. Erst hatte er vorgehabt, die Stehlampe am Fenster anzuknipsen und schon die Hand ausgestreckt, als er lachen mußte. Wie, wenn nur das beabsichtigt war? Dann hätte er eine prächtige Zielscheibe abgegeben. Und solche Praktiken waren Futara natürlich aus seiner Zeit in Tokio vertraut. Dann hätte die Schlange tatsächlich ihren Zweck erfüllt. Allerdings auf eine ganz andere Art, als angenommen. Jetzt schien die Reihe an Futara zu sein. Zum ersten Mal griff er 73 �
nicht ein, wenn das Unglück bereits geschehen war. Diesmal würde er selbst der Gegenstand einer eingehenden polizeilichen Untersuchung sein. Vorausgesetzt, die Schlange hatte wirklich etwas zu bedeuten und war auch am Tode Chuos schuldig. Futara machte es sich im Sessel bequem. Die Entfernung zwischen ihm und dem Armreif betrug gut zwei Meter, eine Distanz, auf die alles gut zu beobachten war, während sie gleichzeitig genügend Sicherheit für den Betrachter bot. Das glaubte jedenfalls Futara. Der Mond schob sich von links ins Bild. Seine bleichen Strahlenfinger schlugen erste Breschen in die Finsternis des Raumes. Futara erstarrte. Er schloß die Augen und riß sie gleich darauf weit auf, weil er für einen Moment zu träumen glaubte. Dabei wußte er ganz genau, daß er sich etwas vormachte. Die Schlange hatte sich tatsächlich bewegt! Sie lag nicht mehr dort, wo sie hingehörte. Sie hatte sich bis zur Hälfte ihres goldschimmernden Leibes aus dem Versteck geschoben. Der Kopf ruckte hin und her. Als Futara sich vorbeugte, erkannte er die züngelnde Gabel im häßlichen Maul und die tückischen Knopfaugen des Reptils, die plötzlich voller Leben waren. So angestrengt starrte der Kommissar auf die Schlange, daß alles vor seinen Augen verschwamm. Er atmete angestrengt und legte sich zurück, um zu verschnaufen. Merkwürdigerweise dachte er nicht an Flucht. Es war, als wäre er schon in den Bann des goldenen Reptils geraten. Der Tod Chuos hätte ihm eine Warnung sein müssen. Hier half keine Tapferkeit. Magie war im Spiel, Schwarze Magie. Eine der Finstersten Mächte, die es auf dieser Welt ab. Dem Kommissar brach der kalte Schweiß aus, als das Vieh mit einer gleitenden Bewegung aus dem Versteck glitt und sich über 74 �
die breite Sitzfläche des Sessels schlängelte. Futara bäumte sich auf wie jemand, der auf dem elektrischen Stuhl gelandet ist. Seine Hände krallten sich in die Armlehnen des eigenen Sessels. Er atmete ganz flach und spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Ihm war, als striche jemand mit einem Eiszapfen über sein Rückgrat. Dann wieder wurde ihm glühend heiß. Eine Hitzewelle schoß durch seinen Körper. Ein Zeichen, daß die Nieren funktionierten und genügend Adrenalin ausschütteten, um Futaras Puls hochzujagen. Angst schüttelte ihn. Futara dachte an seine Dienstwaffe. Sie lag in Griffnähe. Aber plötzlich erschien es ihm lächerlich, eine solch winzige Viper mit einem einzigen Schuß erledigen zu wollen. Futara war ein durchschnittlicher Schütze. Er machte sich keine Hoffnung. Das Biest bewegte sich wieder. Ein leises Zischen ertönte. In nichts unterschied sich das Schmuckstück von einer lebenden Schlange. Und sicher funktionierten auch die nadelscharfen Giftzähne vorzüglich, die im Oberkiefer saßen. Futara wußte nun, wie Chuo umgekommen war. Itsu Sato ließ jeweils diesen rätselhaften Armreif zurück und hielt sich ganz woanders auf, wenn das Opfer qualvoll unter dem Biss der Viper starb. Da konnte nur schwer ein Verdacht auf die wahre Urheberin des Unglücks fallen. Sie konnte sich sogar am nächsten Tag ohne Bedenken ihren Armreif wiederholen, ohne daß jemand Verdacht geschöpft hätte. Futara hockte wie versteinert da und hatte entsetzliche Angst. Aber es war, als wäre Sein Hirn blockiert. Die Todesfurcht führte nicht zum richtigen Verhalten: aufspringen und weglaufen, ehe das Vieh nahe genug war, um einen abzufangen. Der Kommissar zwang sich, tief durchzuatmen. Dabei entspannte sich sein Zwerchfell. Einen Augenblick milderte sich 75 �
seine Angst. Er benutzte die Gelegenheit, um vorsichtig aufzustehen. Dabei nahm er den Blick nicht von der Schlange. Das Tier kümmerte sich scheinbar überhaupt nicht um Futara. Es ließ sich vom Sessel auf den Boden fallen, verharrte kurz. Dann setzte es sich wieder zielsicher in Bewegung, kroch auf den Kommissar zu. Der eklige Kopf war ein wenig erhoben. Futara griff behutsam nach dem schweren Aschenbecher auf dem Schreibtisch. Er warf ihn nach dem Reptil und verfehlte es knapp. Er versuchte es noch einmal, diesmal mit der Schreibtischlampe. Er hob sie mit ihrem Messingfuß hoch über seinen Kopf. Er war genügend zurückgegangen, um nicht von dem Tier angesprungen zu werden. Futara war sicher, daß er sie diesmal erwischen würde. Das Gewicht mußte ihr das Rückgrat brechen. Dann konnte er die Viper mit dem Revolver erledigen. Die Verletzung hätte die goldene Schlange bewegungsunfähig gemacht. Da geschah etwas Seltsames. Plötzlich glaubte Futara, der ein kräftiger, untersetzter Mann war, einen Felsblock von etlichen Tonnen hochstemmen zu müssen. Er taumelte unter dem Gewicht. Mit letzter Anstrengung versuchte Futara, die Sache zu Ende zu bringen. Er war bereit, das Tier zu zerschmettern, das unaufhaltsam näher kam leise, gefährlich, widerlich. Aber Futara kam nicht zum Ziel. Es war wie verhext. Plötzlich verschwamm alles vor seinen Augen. Er sah die Schlange nicht mehr. Er warf aufs Geratewohl. Danach ging es ihm besser. Er konnte wieder sehen und stellte befriedigt fest, daß die goldene Schlange verschwunden war. Der Krach, den die hart aufschlagende Lampe verursachte, weckte das halbe Hotel auf. Türen klappten, Schritte er klangen. Stimmen flüsterten vor der verschlossenen Tür auf dem Korridor. 76 �
Futara atmete erleichtert auf. Wahrscheinlich lag das Untier unter den Trümmern der ziemlich großen und schweren Schreibtischlampe. Das Ziel war ja auch wirklich nicht zu verfehlen gewesen. Befriedigt beschloß der Kommissar, genauer nachzuschauen. Eine Ecke des Schreibtisches versperrte ihm ein wenig die Sicht. Mitten in der Bewegung erstarrte Futara. Er spürte eine kalte Berührung am linken Bein. Etwas wie Metall war ihm ins Hosenbein geschlüpft. Der Kommissar wagte nicht, sich zu bewegen. Er konnte den Weg der Schlange verfolgen. Sie umklammerte sein Bein kühl und eklig, während sie sich in die Höhe schob, sich nach oben quälte. Der Gürtel bereitete ihr Schwierigkeiten. Aber sie drückte und schob hartnäckig, und plötzlich tauchte der tückische breite und flache Kopf auf, schob sich an der Brust hoch. Futara prickelte die Kopfhaut. Er wußte, daß er so oder so verloren war. Sobald er sich bewegte, mußte die Bestie zustoßen. Wartete er zu lange damit, so gelangte sie an die Stelle, die sie sich ausgesucht hatte, um den Mann mit absoluter Sicherheit zu töten. Wahrscheinlich biss sie ihn in den Hals. Von dort gelangte das Blut sehr schnell in den Kreislauf und zum Herzen. Dann war es aus. Futara mußte unsinnigerweise an Chuo denken, der steif und kalt, mit einem grässlichen schwarzen Gesicht in diesem Zimmer gelegen hatte. Morgen finden sie auch mich in diesem Zustand, dachte der Kommissar. Und niemand wird darauf kommen, daß sich ein Armreif bewegen kann. Steif aufgerichtet schielte Futara nach dem Reptil. Ein Geräusch im Nebenzimmer ließ den Beamten neue Hoffnung schöpfen. Er wagte nicht zu rufen, aber er hörte, wie sich Schritte der Verbindungstür näherten. 77 �
»Sie brauchen mir nichts zu sagen, Futara-san«, erklang die Stimme Dai Ichis. »Ich habe es in Ihrem Horoskop gelesen.« Futara antwortete nicht. Wie ein Ladestock stand er im Raum, im selben Zimmer, in dem Chuo gestorben war. Und er hatte diese eklige Schlange am Hals, die den Kopf ruckartig vor- und zurückschnellen ließ, als wolle sie die Qual des Opfers verlängern. Wenn sie zustieß… Der Shinto-Priester rettete die Situation. Er riß sein Schlangenamulett hervor, das er an einem Lederband um den Hals trug. Es handelte sich um ein in Sardonix geschnittenes, weit geöffnetes Auge, umgeben von den nach chaldäischer Astrologie die Wochentage beherrschenden Zeichen, alle vereinigt, um die Kraft des bösen Angreifers unwirksam zu machen, der durch eine Schlange dargestellt war, die merkwürdig steif, in atypischer Haltung, außerhalb des geschlossenen Kreises zu sehen war. Dai Ichi murmelte Beschwörungen, deren Sinn dunkel waren, deren Wortlaut Futara in seiner Angst auch nur unvollkommen mitbekam. Der Kommissar merkte nur, daß ein deutlicher Wechsel im Verhalten der Schlange eintrat. Sie schien den Halt zu verlieren, glitt ab und landete am Boden. Mit einem Satz brachte sich Futara in Sicherheit. Er starrte fassungslos auf die Schlange. Das Tier verwandelte sich zurück in das, was es immer gewesen war: ein Armreif. Lächelnd hob der Shinto-Priester das Schmuckstück auf und reichte es Futara. Aber der Kommissar weigerte sich, das Ding auch nur zu berühren. Er wischte sich erst einmal den Schweiß von der Stirn. »Vermutlich halten Sie mich jetzt für überspannt?« schnaufte der Polizist und schob sein großkariertes Taschentuch in die Seitentasche seines Kimono. 78 �
»Keineswegs«, antwortete der Shinto-Priester kopfschüttelnd. »Ich erlebe das nicht zum ersten Mal. Itsu Sato ist nicht die einzige, die auf seltsame Weise, aber sehr wirksam, die Kräfte des Bösen beschwört und deren Geist dann in den Körper der schrecklichen Vertrauten fährt, um Unheil zu stiften. Ich habe das einmal direkt miterlebt. Es gehört eine ungeheure seelische Energie dazu. Meist hat der Beschwörer am Ende eine Art epileptischen Anfall. Mit Schaum vor dem Mund, völlig außer sich, wälzt er sich am Boden. Und bei jedem dieser Anfälle wird ein Teil der grauen Zellen vernichtet, die er braucht, um im gewöhnlichen Leben in seiner Menschengestalt existieren zu können. Das Ganze endet nicht selten im Wahnsinn. Tatsächlich sind die paradoxen Vorstellungen Geisteskranker in gewissen Fällen nichts anderes als Rückerinnerungen an vergangene Abenteuer im Reich der Schwarzen Magie. Nicht immer gelingt es, einfache geistige Defekte nachzuweisen.« Futara schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich muß noch viel lernen. Ich habe dieses Gebiet zugunsten der Naturwissenschaft sträflich vernachlässigt und unseren technischen Hilfsmitteln so sehr vertraut, daß ich jetzt ohne Verbündete dastehe. Ich wäre völlig hilflos, hätte ich Sie nicht. Wahrscheinlich wäre ich jetzt nicht mehr am Leben.« Futara verbeugte sich zahllose Male vor seinem Retter. Dai Ichi erwiderte ernst diese höflichen Gesten. »Warum haben Sie diese Schlange nicht gleich getötet?« fragte der Kommissar. »Wenn Sie das getan hätten, wäre Itsu Sato jetzt ohne die Vertraute, die sie für ihr verdammtes Spiel braucht. So aber kann sie den Anschlag beliebig oft wiederholen.« Der Shinto-Priester verneinte das. »Itsu Sato und die böse Vertraute halten ständig Verbindung. Es ist die seelische Energie dieser Frau, die der Schlange Leben einhaucht. Itsu Sato hat alles mitbekommen. Sie weiß, daß ihr 79 �
teuflisches Spiel durchschaut ist. Sie wird sich etwas Neues einfallen lassen. Aber ich werde ihre Pläne abermals durchkreuzen. Ich will, daß diese Frau ihrer gerechten Strafe zugeführt wird. Hätte ich die Schlange zertreten, gerade, als Itsu Satos Seele in ihr steckte, wäre die Frau gestorben.« »Können wir eine solche Frau überhaupt in einem Gefängnis halten?« fragte der Kommissar, dessen Glaube an die irdische Gerechtigkeit zum ersten Mal erschüttert wurde. »Mit ihren magischen Kräften kann sie ja bereits das Gericht beeinflussen.« »Richtig.« Dai Ichi nickte. »Daher wird sie sich vor einem besonderen Gericht verantworten müssen: in unserem Kloster. Alles andere wäre Unfug. Dort wird ihr die Strafe zuteil, die sie verdient.« »Und warum bin ich hier?« erkundigte sich Futara verblüfft. »Sie lösen eher den Fall, als ich begriffen habe, worum es geht.« »Das ist kein Wunder«, bestätigte Dai Ichi. »Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit diesen Dingen und habe daher einen gewaltigen Vorsprung. Auf dem Gebiete der Kriminologie mögen Sie mir überlegen sein. Das ist leicht erklärlich. Niemand kann heute mehr alle Gebiete des Wissens erfassen und durchdringen, er muß sich spezialisieren. Es ist kein Wunder, daß sich die meisten dabei auf das konzentrieren, was mit dem technischen Fortschritt zusammenhängt. Er bringt einen unmittelbaren Nutzen und Gewinn. Es ist uns vorbehalten, uns um die alten, fast vergessenen Weisheiten vergangener Epochen zu kümmern.« »Was werden Sie nun unternehmen?« fragte der Kommissar. »Ich kümmere mich um die Dämonen-Fischer«, erwiderte Dai Ichi. »Der nächste Termin des ewigen Zweikampfes rückt näher. Bald ist Vollmondnacht. Ich werde Meguro von seinen Mördern befreien.« Dai Ichi verbeugte sich und sagte: »Erlauben Sie, daß ich meine 80 �
Vorbereitungen treffe, Kommissar? Der Kampf mit dem YashaDämon hat mich mehr Kraft gekostet, als ich dachte. Der Überlieferung nach sollte Meguro zusammen mit dem Yasha-Dämon erlöst werden. Ich habe das unwissentlich durchkreuzt. Ich muß meinen Fehler korrigieren.« »Was ist mit dem Armband?« fragte Kommissar Futara ein wenig erschrocken. »Das kann doch nicht einfach hier liegen bleiben.« »Es wird seine Gestalt und sein Wesen behalten für alle Zeiten«, erläuterte der Shinto-Priester. »Diese Schlange ist nicht länger die böse Vertraute der Itsu Sato. Das Geheimnis ist gelüftet. Niemals mehr wird die seelische Energie der Frau wieder in diesen Gegenstand fahren, um ihn zu beleben. Sie wird sich aber eine neue Vertraute suchen. Das muß nicht eine Katze sein oder ein Rabe oder sonst etwas. Es gibt tausend Möglichkeiten. Wie Sie sehen, sind auch scheinbar tote Materialien gebräuchlich. Dazu gehört zwar eine besondere Intensität der Willensausstrahlung, aber es ist möglich.« »Hoffentlich behalten Sie recht«, seufzte Kommissar Futara und schielte besorgt auf den Armreif, der kalt und metallisch glitzernd auf dem Tisch lag, absolut ohne Leben, aber doch gefährlich, wenn er zu dunklen Zwecken missbraucht wurde. Futara schloß die Tür zwischen seinem und dem anderen Zimmer sehr sorgfältig ab und überzeugte sich, daß keine Ritze übrig blieb, durch die ein Tier wie diese goldene Schlange eindringen konnte. Denn so ganz traute er der Sache noch nicht. Dai Ichi, sichtlich erschöpft und abgehetzt, empfahl sich sogleich. Er bewohnte ein Zimmer im Hotel. Er wollte sich aber nicht schlafen legen, sondern unverzüglich seine Vorbereitungen für den nächsten Schachzug treffen. Am Ende des Spiels mit dem Tod sollten Meguro erlöst, Itsu Sato bestraft und die Dämonen-Fischer vernichtet werden. 81 �
*
Vollmondnacht am Chuzenji-See. In den Zweigen piepsten ängstlich die Vögel. Es war, als rebellierte die Natur, und selbst die Tiere waren von einer unerklärlichen Unruhe gepackt. Rehe gingen erschreckt ab, obwohl keine Gefahr sichtbar drohte. Nichts war wie sonst an dem stillen Gewässer im Nationalpark von Nikko. Nur die Fledermäuse, Sendboten einer anderen Welt, fühlten sich in ihrem Element. Sie segelten vor dem Mond Geschöpfe der Nacht. Ihre wehrhaften Mäuler mit den scharfen Zähnen öffneten sich, stießen unhörbare Schreie aus. Die plumpen Schnauzen witterten Blut. Keine Menschenseele ließ sich blicken. Und doch hielten sich Dai Ichi und Kommissar Futara in der Nähe versteckt, gespickt mit Amuletten und Talismanen, umgeben von magischen Linien, die der Shinto-Priester in der großen Geisterbeschwörung gezogen hatte, um das Böse abzuwehren. Gespannt warteten die beiden auf das, was kommen sollte. Dies war die Stunde Meguros, des beklagenswerten Samurai. Kein Wort fiel. Die Geduld der beiden Beobachter wurde nicht gerade auf eine harte Probe gestellt. Denn Dai Ichi, aus unbekannten Quellen schöpfend, hatte die Stunde genau ermittelt, in der es geschehen würde. Und dann schlug es Mitternacht. Die hohlen, dumpfen Schläge der nahen Turmuhr waren noch nicht verhallt, da zeigte sich eine Bewegung auf dem ruhigen Wasser. Meguro stieg aus den Fluten, kehrte für wenige Minuten zurück in die Welt, die er verlassen mußte, ohne jemals Ruhe zu 82 �
finden. Futara starrte auf den Totenkopf unter dem breiten Helm. Die Fledermäuse gebärdeten sich wie toll. Spione des Teufels, umzirkelten sie die Knochengestalt des toten Ritters. Es zeigte sich, daß Dai Ichi genau den richtigen Posten bezogen hatte. Der Ort war geschickt und mit viel Sachverstand gewählt. Wie aus dem Nichts tauchten die Dämonen-Fischer auf, mit Netzen und Heugabeln bewehrt, mit Hellebarden und Morgensternen, mit Dreschflegeln und langen Holzknüppeln. Es war ein schauriges Aufgebot, das sich dort in den Büschen verbarg, auf das ewige Opfer wartete, den toten Samurai, den sie vor unendlicher Zeit überfallen und ermordet hatten, um in Vollmondnächten die unselige Tat wiederholen zu müssen. Ein Heer von Verdammten. Futara sah einen Kerl mit einer dunklen Augenklappe. Offenbar der Rädelsführer. Der scheußliche Typ erteilte stumme Befehle, wies seine Truppe ein, während Meguro scheinbar ahnungslos, obwohl er das schon x-mal durchgemacht hatte über die Wiese stapfte. Und da brach von der Seite her, aus einem lichten Zedernwäldchen, ein zweiter Samurai hervor. Der Ritter stürzte sich urplötzlich mit geschlossenem Visier auf die Dämonen-Fischer. Sein Schwert pfiff durch die Luft und richtete großes Unheil an. Die Überraschten wandten sich gegen den unerwarteten Helfer Meguros. Die Rollenverteilung, die so lange festgestanden hatte, wurde restlos über den Haufen geworfen. Niemand kümmerte sich um Meguro, der plötzlich, wie unter einem unerbittlichen Zwang, stehen geblieben war. Seine Knochenhand stützte sich auf den Schwertknauf. Gelassen schaute er dem Kampfgetümmel zu, ohne einzugreifen. Als einmal die wilde Horde Meguro zu nahe kam, sprühte ein 83 �
Schutzschild bläulicher Funken auf, und die Dämonen-Fischer prallten davon ab wie Gummibälle. Dai Ichi nickte befriedigt. Er hatte es nicht anders erwartet. Itsu Sato hatte endlich in das Geschehen eingegriffen. Sie war auf einen Trick verfallen, um die Dämonen-Fischer zu täuschen und von Meguro abzulenken. Warum sie das erst jetzt tat, blieb ihr Geheimnis. Welche Ereignisse und Konstellationen ermöglichten ihr das? Hatte sie den Pakt mit dem Satan erneuert? Was mußte sie dem Teufel versprechen, um ihn dazu zu bringen? Selbst der Shinto-Priester wußte auf diese Fragen keine Antwort. Der fremde Samurai focht verbissen und mit unglaublicher Härte. Aber er konnte nicht gewinnen. Sobald er einen Dämonen-Fischer ausgeschaltet hatte, löste der sich völlig auf, um gleich darauf wie ein Puzzle von einer unbekannten Macht wieder zusammengesetzt zu werden und sich erneut in die Schlacht zu werfen. Ein Morgenstern beschädigte das Visier des Samurai. Futara hielt den Atem an. Er sah ein breites Frauengesicht und lange schwarze Haare und erinnerte sich an die Dienerin Itsu Satos. Dort kämpfte Shingu, die Koreanerin, durch irgendwelche Hexenkünste gefügig gemacht. Shingu hielt sich tapfer, aber ihr Schicksal war von vornherein besiegelt. Zwar hatten die überraschten Dämonen-Fischer ihr bislang noch nicht das Netz übergeworfen, aber das war nur eine Frage der Zeit. Ständig schlichen zwei der Burschen, das Netz zwischen sich, um die Gestalt in der Rüstung herum. Währenddessen lenkte der Rest der Meute den Gepanzerten ab. Das Zweihandschwert des Samurai schlug immer wieder zu. Dann kam der Augenblick, wo der Samurai in die Fallen 84 �
tappte. Das Netz flog durch die Luft, ein dunkles Knäuel, entfaltete sich und legte sich wie ein Tischtuch über den Samurai. Triumphgeheul ertönte. Spitze Münder lachten hämisch. Drei, vier Dämonen-Fischer zogen die Fesseln straffer, während die anderen bereits den Gefangenen attackierten. Diesmal aber floß wirklich Blut. Shingu schrie auf, als eine Heugabel zwischen die Schulterblätter fuhr. Ein Morgenstern fegte ihr den Helm vom Kopf, dessen Kinnriemen geplatzt war. Shingu ging in die Knie. »Unternehmen Sie doch was, verdammt!« klagte Kommissar Futara. Es war nicht seine Art, einem Mord ruhig zuzusehen. Er erhob sich, wollte eingreifen. Dai Ichi hielt ihn am Arm fest. »Shingu ist nicht freiwillig hier, sie wurde hypnotisiert und ist ohnehin verloren«, flüsterte der Shinto-Priester. »Wenn wir das Land für alle Zeiten erlösen wollen, dürfen wir keinen Fehler begehen, nicht leichtsinnig werden. Noch können wir nichts gegen die Dämonen-Fischer unternehmen. Sie würden uns zerreißen, sobald wir uns aus dem magischen Kreis wagten. Es hat wirklich keinen Zweck.« Mit zusammengebissenen Zähnen verfolgte der Kommissar das Geschehen. Er hatte vorher versprechen müssen, nicht eigenmächtig zu handeln, und er wußte genau, daß er sich auf unbekanntes Territorium gewagt hatte. Er mußte seinem Führer in das Reich der Geister und Dämonen vertrauen. In Tokio jedenfalls war ihm Ähnliches noch nie widerfahren. Da waren Tat und Täter handgreiflicher. Meguro stand etwa sechs Schritt von dem Versteck der beiden Beobachter entfernt und rührte sich nicht vom Fleck. Vielleicht nahm er nichts von dem wahr, was um ihn herum vorging. Jedenfalls hielt ihn irgendein Bann an seinem Platz. 85 �
Shingu starb unter Qualen. Die Dämonen-Fischer waren in einem Blutrausch verfallen und nicht in der Lage festzustellen, daß sie einen anderen erwischt hatten als Meguro. Sie hassten den Samurai nicht persönlich. Sie kämpften gegen den, der in Vollmondnächten aus dem Chuzenji aufstieg, um das Schicksal zu korrigieren. Mehr nicht. Sie wüteten wie die Berserker. Graue Haare flatterten im leichten Wind. Blutunterlaufene Augen weideten sich am Opfer. Krallenhände gaben der Unglücklichen den Rest. Im Triumph trugen die Dämonen-Fischer die Tote fort, in das Netz gehüllt, das an starken Bambusstangen hing. Sie zogen zum See, versenkten ihr Opfer. Aber Shingu verschwand nicht unter der Oberfläche des Wassers. Sie trieb mit ausgebreiteten Armen auf dem Wasser, ohne Helm, aber noch im Kettenhemd. Das Gewicht genügte offenbar nicht, um sie in die Tiefe zu ziehen. Langsam trieb die Tote davon, ein dunkler Fleck auf der silbrig glänzenden Fläche. Die Dämonen-Fischer schwärmten aus. Ihr Blutdurst war noch nicht gestillt. Mit sicherem Instinkt liefen sie dorthin, wo noch mehr Blut wartete. Sie fanden mit ungeahnter Schnelligkeit die beiden stummen Zeugen des grausigen Geschehens. Futara erschrak, als die Meute über die taufeuchte Wiese zog, ihm entgegen, ein Wall bedrohlicher Schemen. Er riß die Pistole aus dem Halfter. Dai Ichi ließ ihn gewähren. Er hatte eine andere Waffe bereitgelegt. Die würde mehr ausrichten als die moderne Schußwaffe des Kommissars, der das Feuer eröffnete. Feuerzungen leckten durch die Nacht. Detonationen hallten über den See, Kugeln pfiffen durch die Luft. Keines der Projektile verfehlte das Ziel, aber nichts geschah. Unbeirrt zog die Meute der gespenstischen Angreifer weiter. Futara merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er hatte sich 86 �
verschossen und nichts erreicht. Erschrocken wandte sich der Beamte an den Shinto-Priester. Dai Ichi, der eine gelbe Toga trug und dessen Kopf kahlgeschoren war, lächelte tröstend. Er konzentrierte sich ganz auf die Dämonen-Fischer, die gerade die magische Linie erreichten. Die Chimären zuckten zurück wie unter einem Stromschlag. Sie stießen vor, prallten zurück und gingen wieder zum Angriff über unermüdlich, verbissen, sinnlos. Sie kreischten und tobten, drohten und schrien, ohne die Festung nehmen zu können. Ruhig legte Dai Ichi den ersten Pfeil ein. Er spannte die Armbrust und legte an. Der Silberpfeil schnellte von der Sehne, zog eine helle, glitzernde Bahn durch das Mondlicht und schlug rasselnd in ein Knochengerippe. Die Wirkung war fürchterlich. Ein entsetzlicher Schrei ertönte. Das Wesen dort schien sich aufzulösen, sank zu Boden und verweste unter entsetzlichem Gestank auf der Stelle. Spurlos war der erste Dämonen-Fischer verschwunden. Der Rest aber handelte völlig unlogisch. Nicht in der Lage, zu begreifen, daß allen der Untergang drohte, griffen sie wie besessen an. Sie rieben sich wund an der magischen Linie, die der Shinto-Priester gezogen hatte und die sie nicht überqueren konnten. Einer nach dem anderen starb, getroffen von einem silbernen Pfeil Dai Ichis, der einen ganzen Köcher voll mitgebracht hatte. »Unglaublich«, murmelte Futara und schob nach einem verächtlichen Blick auf seine Waffe die Pistole ins Halfter. Die Kugeln waren durch die Dämonen-Fischer hindurchgegangen, ohne sie im geringsten zu beeindrucken. Die silbernen Pfeile aber verrichteten ganze Arbeit. Das Geheul und Zähneklappern riß nicht ab. Die satanischen Angreifer, blind vor Wut, starben unter Seufzern und Klagen. Sie verschwanden von der Erdober87 �
fläche wie weggeblasen. Die einzige Spur, die sie hinterließen, war ein winziger Brandfleck im feuchten Gras der Wiese. Es war ein sehr einseitiger Kampf, dank der überlegenen magischen Kraft des Shinto-Priesters. »Soll ich auch mal?« fragte der Kommissar neugierig. Er hatte sich beruhigt. Von den Dämonen-Fischern drohte keine Gefahr mehr. Dai Ichi hatte die Jäger zu Gejagten degradiert. Der Mönch schüttelte den Kopf. »Noch sind einige übrig«, erklärte er. »Ich muß die Zeit nutzen. Wenn eine Stunde herum ist, verschwinden die Dämonen. Sie würden erneut Unheil stiften. Das möchte ich vermeiden. Uns bleibt nur diese eine Stunde, um unser Werk zu vollenden. Da können wir uns keine Experimente leisten, Kommissar.« Wieder hob Dai Ichi die Armbrust, visierte sorgfältig an und drückte ab. Die Sehne schwirrte. Der Pfeil zischte aus dem Lager und schlug sicher im Ziel ein. Die Dämonen-Fischer so schrecklich sie anzusehen waren bildeten nur Zielscheiben, ohne sich revanchieren zu können. Sango und Suisho hatten keine Chance gegen die Unirdischen gehabt und waren elend umgekommen. Nunmehr waren die Unirdischen an der Reihe. Die überlegenen Waffen des Mönches räumten auf und lichteten die Reihen. Die Pfeile, besonders zubereitet, gesalbt und geölt, in endloser Zeremonie ihrem einmaligen Zweck geweiht, verrichteten ganze Arbeit. Dann schlug es ein Uhr. Seufzend ließ Dai Ichi den Bogen sinken. »Geschafft«, murmelte er erschöpft. In dem schwarz lackierten Köcher aus Bambus, der an einer Seidenschnur auf dem Rücken hing, steckte noch ein einziger Pfeil. Den hatte Dai Ichi Meguro zugedacht, um ihn von seiner Qual zu erlösen. 88 �
Aber sie waren zu spät gekommen. Die Stunde war verstrichen und Meguro, der Samurai, spurlos verschwunden. »Was wird er machen, jetzt, wo die Dämonen-Fischer erledigt sind?« fragte Kommissar Futara. »Wissen Sie was, ich glaube, jetzt kann er niemals mehr erlöst werden. Ist doch logisch. Nicht er hat den Feind bezwungen, seine Ehre wiederhergestellt. Das haben Sie für ihn erledigt, das zählt nicht. Meguro wird für immer am Chuzenji spuken. Da bin ich nur froh, daß er nicht ein solcher Teufel ist wie seine Mutter Itsu Sato.« »Was heißt logisch, Kommissar?« entgegnete Dai Ichi vorwurfsvoll. »Begreifen Sie endlich, daß es eine Welt hinter der gibt, in der wir leben, die eben keineswegs logisch aufgebaut ist. Und was den zweiten Teil Ihrer Behauptung angeht, Meguro sei harmloser als Itsu Sato, so muß ich Sie auch hier korrigieren. Sie übersehen, daß der Ritter seine Feinde nicht bezwungen hat. Die Arbeit haben wir dem Samurai abgenommen. Er kann das Ergebnis nicht abändern. Er wird nie mehr erlöst werden. Das macht diese Art von Geister unberechenbar und bösartig. Ich fürchte, wir können uns auf etwas gefaßt machen.« Der Mönch erhob sich. Sie verließen das magische Dreieck, in dem sie so sicher überlebt hatten wie in Abrahams Schoß, und verließen die nebelverhangene Wiese am Chuzenji, um heimzukehren. * Meguro, der tote Samurai, stakste wie ein Roboter durch die Nacht. Ein grünlicher Schimmer lag auf seinem Skelett, ein geheimnisvolles Leuchten. Die fleischlosen Kiefer mahlten in höchster Erregung. Meguro war gewissermaßen heimatlos. Die Dämonen-Fischer hatten ihn nicht wieder im Chuzenji versenkt. Der Teufelskreis 89 �
war durchbrochen, aber nicht zur Zufriedenheit des Samurai. Es war, als ahnte der Knochenmann sein fürchterliches Schicksal. Denn nichts ist entsetzlicher als das Schicksal eines Geistes, der nicht die ewige Ruhe findet, sondern bösartig wie ein Kettenhund versucht, die Welt der Lebenden durcheinander zu bringen, ihre Wege zu durchkreuzen, sich an ihnen, die viel besser dran sind, zu rächen. Auf eine so schauerliche Art, wie es nur Mordgespenstern möglich ist. Meguro gehörte fortan zu ihnen. Sein Fall wurde seinerzeit berühmt unter allen Okkultisten Japans, weil er der erste war, der dort vorkam, während von Europa, speziell Großbritannien, eine Menge derartiger Vorkommnisse gemeldet worden waren. Insofern war Meguro, der tote Samurai, eine Novität auf der Insel. Während in den Schlössern Schottlands Geister spukten, die sich häufig nur durch Klopfgeräusche bemerkbar machten, die Lebenden auf ihr grauenvolles Schicksal aufmerksam zu machen suchten, sich nur in sehr seltenen Fällen nachweislich materialisierten, in die Körper naher Verwandter schlüpften oder sonst wie zu einer sichtbaren Existenz gelangten, marschierte Meguro von Anfang an in voller Lebensgröße, gestiefelt und gespornt, durch die Nacht. Er folgte keinem Befehl, er kannte kein Ziel. Es war nur, als hätte das Böse von ihm Besitz ergriffen, jetzt, da der Eingriff der Menschen ihm die Möglichkeit verbaute, sein unglückliches Schicksal zu ändern, seine Ehre wiederherzustellen. Nicht, daß Meguro Rachegedanken hegte. Er konnte nicht denken. Nicht, daß er Hass spürte. Gefühle waren ihm völlig fremd. Nein, es schien, als wäre er ab sofort das Böse schlechthin, der Teufel persönlich, der sich in einem mumifizierten Ritter vergangener Zeiten personifiziert hatte, um die Menschen heimzusuchen und zu verderben. Meguro, der Samurai, steuerte auf ein Haus in einem weiten 90 �
gepflegten Park zu. Lichter hinter dem Fenster zogen ihn an, erregten seine Aufmerksamkeit. Er überquerte einen künstlich angelegten Wasserlauf, der von einer Brücke aus Bambus überspannt wurde. Dumpf dröhnten die Schritte des Unirdischen. Irgendwo schlug ein Hund an. Das heisere Gebell ging über in ein klägliches Winseln. Im Haus zeigte sich Leben. Ein Mann in einem herrlichen Kimono, eine Zigarre im Mundwinkel, stieß ein Fenster auf und blickte hinaus. Ein Rauschen in den Büschen vor ihm ließ ihn aufmerken. »Wer ist da?« rief der Hausherr. Seine Stimme klang belegt. Schon die törichte Frage bewies, daß er vor Angst nicht mehr Herr seiner Sinne sein konnte. Meguro trat ins Freie. Dem Mann blieb die Sprache weg. Unfähig zu reden, mit bibbernden Lippen, schaute der kahlköpfige, etwa fünfzig Jahre alte Mann auf die ungewöhnliche Erscheinung. Einen Augenblick mochte er an einen Scherz glauben, an einen unangebrachten Studentenulk seines Sohnes oder was auch immer. Aber er kam nicht mehr dazu, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Das Zweihandschwert pfiff durch die Luft und traf ihn tödlich. Der Körper hing halb aus dem Fenster. »Was ist, Vater?« erklang eine feine Stimme. Ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren betrat den Raum, sichtlich aus dem Schlaf geschreckt. Die Haare ihrer aufgelösten Frisur hingen ihr bis auf die Schultern. Sie trug einen blaugrünen Morgenmantel, den sie mit einer Hand vor der Brust zuhielt. »Hast du etwas entdeckt?« erkundigte sich die Kleine. »Warum antwortest du nicht?« Die Kleine drängte sich neben die massige Gestalt ihres Vaters, 91 �
um zu sehen, was sein Interesse geweckt hatte. Dann schrie sie gellend auf. Der Schrei zerfetzte die Stille der Nacht. Klagend und winselnd antwortete der Hund, der die Stimme erkannte, brach jäh ab, als schnürte ihm etwas die Kehle zu. Das Mädchen starrte fassungslos auf das Haupt des Vaters, das vom Schwert getroffen worden war. Und Meguro walzte los wie ein Roboter, schleuderte die entsetzliche Trophäe zur Seite. Das Mädchen war ohnmächtig zusammengesackt, lag verkrümmt auf dem Teppich, hatte den kopflosen Mann im Fall mitgerissen, als sie halb wahnsinnig vor Angst nach einem Halt griff. Meguro stieg durch das Fenster. Er stand breitbeinig über dem hübschen Mädchen, hob das Schwert und tötete auch die Kleine. Dann setzte er seinen Weg fort, gelangte auf den Korridor. Im Nebenraum, der nur eine Wand aus Ölpapier hatte, wurde eine Nachttischlampe angeknipst. Wie ein Scherenschnitt zeichnete sich die dunkle Silhouette einer Frau ab, die erschreckt hochgefahren war und wohl glaubte, besonders lebhaft geträumt zu haben. »Bist du das, Motaka?« erklang die weibliche Stimme, die noch etwas verschlafen wirkte. »Mach doch endlich Schluß. Auch ein Professor muß mal schlafen. Nun komm schon!« Meguro schlitzte einfach die dünne Wand auf, brach in den Raum ein. Stumm starrte die Totenfratze das Opfer an. Wimmernd kroch die Frau zurück, streckte abwehrend einen Arm aus, halb verrückt vor Angst, unfähig, einen anderen Laut von sich zu geben als ein fast ersticktes Winseln. Ungerührt setzte der Samurai nach. Das Schwert pfiff durch die Luft. 92 �
Die Frau starb auf der Stelle. Es war, als hätte Meguro eine besondere Antenne für die Ausstrahlungen eines lebenden Körpers. Denn obwohl die Bedienstete in einem benachbarten Gesindehaus das Drama verschlafen hatte, spürte der tote Samurai sie auf und wütete wie ein Wolf in der Schafherde. Niemand im Hause des Professors entging dem Massaker. Die Räume sahen verheerend aus. Nichts blieb an seinem Platz. Als wäre ein Taifun durch die Zimmer gezogen, so sah die Stätte aus, nachdem Meguro, der tote Samurai, sein blutiges Werk vollendet hatte verbissen, voller Sadismus, ungerührt. Meguro verließ das Gebäude und durchquerte den Garten. Am Tor stieß er auf den Hund, der jaulend in seiner Hütte lag, gehalten von einer fingerdicken Kette. Meguro langte in das dunkle Innere. Es schien, als wäre jeder Lebensfunke ein rotes Tuch für ihn, ob menschlich oder tierisch. Die Knochenhand grabschte das Halsband der bedauernswerten Kreatur. Der Hund sträubte sich vergeblich. Seine Läufe kratzten über den Holzboden. Mit einem Ruck holte Meguro das Tier ins Freie. Er beutelte den Hund, hob ihn hoch, schlug ihn mehrmals mit aller Kraft auf die Erde, ohne ihn loszubinden. Das klägliche Winseln des Hundes erstarb. Meguro schleuderte den Kadaver zur Seite. Der Samurai verließ das Grundstück. Sein Blutdurst war keineswegs gestillt. Seine Raserei hatte sich nur erschöpft aus Mangel an Gelegenheit. Er hätte ewig so weiter gemacht, eine seelenlose Mordmaschine, wenn es noch mehr Bewohner im Hause des Professors gegeben hätte. Meguro folgte einem Pfad, gelangte auf eine Straße, die er entlang marschierte. Ganz in der Ferne glitzerten die Lichter des Hotels. 93 �
Meguro marschierte darauf zu. Der Samurai schien keine Eile zu kennen. Ohne nach links oder rechts zu schauen, folgte er dem einmal eingeschlagenen Weg: Der Helm auf seinem Kopf wippte bei jedem Schritt. Die Nacht war hell und sternenklar. Später tauchte ein weiteres Licht auf. Zwei Dämonenaugen schnitten die Dunkelheit in Streifen, kamen schnell näher. Das dumpfe Brummen eines schweren Motors erklang. Meguro kannte die Gefahr nicht. Er setzte einfach seinen Weg fort. Das Auto schoß aus der Kurve. Der einsame Fahrer schien Gefallen zu finden am Singen der Reifen. Er schnitt die Kurve, schlidderte in die Gerade und erschrak, riß ungläubig die Augen auf, vergaß das Lenkrad. Der Wagen machte sich selbständig. Blech knirschte, die Lichter verloschen. Das Auto landete mit den Rädern nach oben im Graben. Glas splitterte. Aus dem Wrack kroch völlig verstört, aber nur leicht verletzt, der Fahrer, ein junger Mann, gekleidet nach westlicher Mode. Der Bursche versuchte, auf allen vieren zu entkommen, geschockt von dem ungewöhnlichen Anblick. Meguro stapfte hinterher, holte den Unglücklichen mühelos ein und hob das Zweihandschwert hoch über den Totenschädel. Ein einziger Streich brachte dem Mann den Tod. Meguro kehrte auf die Straße zurück, ohne einen Blick an das merkwürdige, ihm völlig unbekannte Gefährt zu verschwenden, das Feuer gefangen hatte. Flammen zuckten in der Nacht, beleuchteten den Schauplatz des außergewöhnlichen und blutigen Verbrechens. Meguro aber strebte dem Hotel zu. Es war, als wüsste er um die reiche Beute, die dort zu machen war. Der Entfesselte hatte sein Schwert in die Scheide gerammt, und der Handballen der gepanzerten Faust ruhte auf dem Knauf 94 �
der Waffe. Bei jedem Schritt schlug das Ende der Scheide gegen den Stiefel des toten Samurai, ein monotones Geräusch, während er vorwärtsstrebte wie eine aufgezogene Uhr. Sein Mechanismus schnurrte ab nach einem unbekannten, unheilschwangeren Gesetz, das jeder Physik Hohn sprach. Aber Meguro schien sich zuviel vorgenommen zu haben. Ehe er das Hotel erreichte, dämmerte der Morgen. Die Fledermäuse verschwanden, und mit ihnen suchte Meguro einen Schlupfwinkel, um sich zu verbergen vor der Sonne, die sein Feind war wie das Leben, das Gefühl, die Menschlichkeit. Und wieder funktionierte jener grauenvolle Mechanismus, der ihn lenkte, die Magie des Bösen, die ihn beseelte und führte. Mit sicherem Instinkt gelangte Meguro zum Friedhof der Gemeinde, einem geweihten Platz voller Zedern und Kamelienbäume. Leer und verlassen lag das Gräberfeld unter dem fahlen Licht des heraufdämmernden Morgens. Nebel umspülte die bleichen Kreuze und Ahnentafeln. Neben Buddhisten lagen hier auch Christen, die in Japan eine kleine Minderheit stellten. Das grünliche Phosphorizieren der bleichen Knochen war fast verschwunden, als habe sich eine unsichtbare Batterie erschöpft. Meguro taumelte, landete schließlich auf allen vieren, kroch müde einem schwarzen Mausoleum entgegen, das zwischen Gräbern aufragte. Meguro fand die eiserne Pforte unverschlossen. Hinter Glas brannte ein ewiges Licht. Der Wind bewegte eine Gebetstrommel. Unaufhörlich spielte die Walze die gleiche Melodie. »Om mani padme hum«, ertönte es auf mechanische, stark verzerrte Weise. Meguro kroch auf einen mächtigen Sarg zu, der fast den ganzen Raum einnahm. Er beherbergte einen Adligen aus der Toku95 �
gawa-Zeit, einen Lehnsherren und Landesfürsten, der despotisch über diesen Teil des Reiches geherrscht hatte. Sein einziger Sohn war von aufrührerischen Vasallen am Chuzenji ermordet worden. Meguro schien für den Bruchteil von Sekunden von neuer Kraft beseelt. Seine Knochenhände schoben sich unter eine Wulst des Sargdeckels. Langsam hob sich die schwere Marmorplatte. Sie lief wie an Scharnieren. Ein Bündel trockener Knochen wurde sichtbar, ein paar Grabbeigaben. Der Tote war in voller Rüstung beigesetzt worden. Den Helm trug er unter dem mumifizierten Arm. Spinnen huschten davon, die zwischen fleischlosen Rippen ihre Netze gesponnen hatten. Sie flohen auf haarigen Beinen in kaum sichtbare Ritzen und Spalten im Stein, turnten an der Außenwand des Katafalks herum, ließen sich an Fäden herunter. Ungerührt stieg Meguro in das Innere. Meguro bettete sich zur Ruhe. Er legte sich an die Seite des Grabinhabers, an den Platz, der für Itsu Sato bestimmt gewesen war, der Hexe, die den Tod überlistet hatte und durch eine geheimnisvolle Seelenwanderung, deren Kurs sie mit Hilfe magischer Tricks selbst bestimmte. Ein leises Seufzen drang aus der Knochenbrust Meguros. Er nahm die gleiche Haltung ein wie sein Vater. Dann erstarrte er, nachdem er mit sicherer Hand sein Versteck geschlossen hatte. Er verfiel in den Zustand eines Scheintoten, aus dem ihn erst der Vollmond wieder erlösen würde. * Itsu Sato saß vor dem Spiegel und betrachtete den Verfall ihres � hübschen Gesichtes. Die Pfirsichhaut schrumpfte zusehends, � warf Falten wie ein Apfel, der zu lange in der Bratröhre gelegen � 96 �
hatte. Die Haut der Hände schien sich in Pergament zu verwandeln. Blau schimmerten die Adern durch. Itsu Sato seufzte. Sie hatte alles mitbekommen, ohne eingreifen zu können. Der Zauber des erfahrenen Shinto-Priesters war zu stark gewesen. Sie hatte zunächst versucht, den Spieß umzukehren, aber alle Künste ihrer Schwarzen Magie waren diesmal wirkungslos verpufft. Später hatte Itsu Sato mit Genugtuung festgestellt, daß der kahlköpfige Mönch ihr unbewußt in die Hände arbeitete. Schon der Yasha-Dämon, dessen Schicksal untrennbar mit der Erlösung Meguros gekoppelt war, hatte von dem Shinto-Priester nicht erlöst, sondern nur vernichtet werden können. Jetzt hatte Meguro den Kampf am Chuzenji unbeschadet überstanden. Das bedeutete, daß auch Itsu Sato leben durfte. Ihr Pakt mit dem Teufel schrieb ihr vor, so lange wirken und leben zu dürfen, wie ihr Sohn nicht erlöst war. Fast schien es so, als würde Meguro niemals gerettet. Der Mönch hatte das ganze fein gesponnene Netz gegenseitiger Abhängigkeiten zerstört und ungeheuer durcheinander gebracht. Es galt, das beste daraus zu machen. Itsu Sato betrachtete sich im Spiegel und erhob sich, um sich zu erfrischen. Sie ging in den Keller. Die Einstiegsluke war unter einer Strohmatte verborgen. Itsu Sato trug eine Laterne, während sie die engen, schlüpfrigen Stiegen hinunter schritt. Modrige Luft schlug ihr entgegen. Dieser unterirdische Raum war nicht belüftet. Ueno lag auf einer Schütte Stroh, an die Wand gekettet. Sie vegetierte wie ein Tier in ihrem Gefängnis und hatte längst jede Hoffnung aufgegeben, noch einmal das Sonnenlicht wieder zu sehen. 97 �
Ueno richtete sich erschrocken auf, als sie Schritte hörte. Die Ketten an ihren Händen und Füßen klirrten. Das Haar des Mädchens war strubbelig und verfilzt. Niemand sorgte hier für Hygiene. Gerade, daß Itsu Sato Essen brachte. Es war, als weidete sich die Frau an der Hässlichkeit der Gefangenen, deren hübsches Aussehen sie systematisch vernichtet hatte durch die Bedingungen, unter denen sie Ueno wie ein Tier hielt. Mechanisch entblößte Ueno den Hals. Willenlos ließ sie alles über sich ergehen. Apathisch duldete sie ohne Gegenwehr, daß Itsu Sato ihr Blut trank. Erfrischt erhob sich die Frau. Ihre Augen blitzten unternehmungslustig. Die schrecklichen Raffzähne schienen sich in den Mund zurückzuziehen. Die Haut des weiblichen Vampirs war wieder prall und gesund. Genießerisch leckte die Zunge über rote Lippen. Itsu Sato kehrte in das obere Stockwerk zurück. Sorgfältig tarnte sie den Einstieg zum Keller. Ihr Geheimnis mußte gehütet werden. Ohne Blutübertragung war Itsu Sato nicht lebensfähig. Die Frau verschwand mit beschwingtem Gang in ihrem Zimmer. Sie entzündete Räucherkerzen, kniete nieder. Ein süßlicher, betäubender Geruch machte sich im Raum breit, tränkte das Bewußtsein wie eine Droge. Itsu Sato zog die Schildpattkämme aus ihrem langen schwarzen Haar, das herunterfiel und ihr bis an die Schulterblätter reichte. Die Frau kniete immer noch. Langsam begann sie den Kopf zu werfen, vor und zurück. Die Flut ihrer Haare peitschte den Boden und den Rücken. Der Oberkörper pendelte in einem monotonen Rhythmus. Langsam geriet Itsu Sato in Schweiß. 98 �
Die wippende Bewegung schlug um in eine kreisförmige. Schweiß glitzerte auf dem feingeschnittenen Gesicht. Wie das Rad eines Pfaus stand die schwarze Haarkrone in der Luft, während der Schädel immer schneller wirbelte, der üppige Oberkörper mitpendelte. Bis zur Hüfte arbeitete der Körper angestrengt mit, während die Hände starr und steif auf den Oberschenkeln lagen. Itsu Sato praktizierte eine uralte Methode der Bewusstseinserweiterung, die unter persischen Derwischen zu einem solchen Laster geworden war, daß die Regierung um die Jahrhundertwende bereits mit einem Verbot einschreiten mußte und die fanatischen Mönche zwang, ihr Haar stutzen zu lassen. Die Folge dieses Treibens war nämlich unabwendbar ein Trancezustand, der unkontrollierbar den Ausübenden überflutete. Mal führte er zu erstaunlichen Weissagungen, schuf bei besonders Begabten das, was man das »zweite Gesicht« nannte. Mal aber stieß er den Praktikanten in einen Mordtaumel, eine gefährliche Raserei, in der er Dinge tat, an die er sich später nicht mehr erinnern konnte. Itsu Sato wurde es schwer, ihre Atmung zu kontrollieren. Schaum trat ihr vor den Mund. Die Augbälle kippten um und zeigten das Weiße. Die Frau geriet in Ekstase. Lichträder wirbelten vor ihrem geistigen Augen allen Farben des Spektrums. Es gab nichts als diese Kreise, die ineinander liefen, sich zu einem einzigen, überirdisch funkelnden Fleck vereinigten, der die orangefarbene Tönung einer Aura annahm, die nur Eingeweihte jemals zu Gesicht bekamen. Und aus dem Nebel schälte sich Meguro, der Samurai. Itsu Sato war erschöpft zusammengebrochen. Die Glieder waren ihr außer Kontrolle geraten. Sie zuckte unter Konvulsionen, die den ganzen Körper erfasst hatten. Ihr Bewußtsein war 99 �
ausgeschaltet. Aber wie in einem Traum sah sie das, was sie erfahren wollte. Sie erkannte das Versteck Meguros. Sie sah ihn an der Seite seines Vaters ruhen. Itsu Sato stöhnte zufrieden. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Ihr Puls beruhigte sich. Sie atmete langsamer. Unter unsäglicher Mühe richtete sie sich auf, fiel wieder zurück kraftlos, total ausgelaugt. Lange ruhte sie, flach auf dem Rücken, mit leerem Blick die Decke anstarrend. Sie war unfähig, zu registrieren, was um sie herum vorging. Ihr Bewußtsein war ausgeschaltet wie eine elektrische Kochplatte. Nur langsam kehrte es in Fetzen zurück an den angestammten Platz, ergriff die Herrschaft über den Körper, funkte Befehle, die Itsu Sato in die Wirklichkeit zurückführten. Die Frau erhob sich. Sie nahm ein Bad und kleidete sich an. Danach fühlte sie sich wesentlich besser. Sie machte sich sorgfältig zurecht. Der Morgen zog gerade herauf, als Itsu Sato ihr Haus verließ. Sie hatte zwei Diener geweckt, die ihre Sänfte trugen. Itsu Sato hatte sich nie abgewöhnen können, auf diese Art ihrer Vorfahren zurückzugreifen, wenn sie sich von einem Ort zum anderen bewegen wollte. Das hatte sie zur Zielscheibe ständiger Kritik einiger fortschrittlicher Nachbarn gemacht, aber Itsu Sato war keinen Millimeter von ihren Auffassungen abgewichen. Und die beiden Lakaien waren von dem beneidenswert einfältigen und primitiven Typ, der mehr darauf achtete, daß er arbeitete und weniger darauf, wie er sein Geld verdiente. Da aber Itsu Sato über unbeschränkte Geldmengen zu verfügen schien und sich ihren Spleen etwas kosten ließ, gab es immer wieder Subjekte, die sich ihr zur Verfügung stellten. Die Sänftenträger rannten im Dauerlauf Richtung Friedhof. An einer versteckten Seitenpforte ließ Itsu Sato halten und nahm einen verrosteten Schlüssel aus ihrer Handtasche. 100 �
Früher war es ein Privileg der Adeligen gewesen, diese Pforte zu benutzen und nicht das Haupttor, durch das die gewöhnlichen Sterblichen den Friedhof erreichten. Es sprach für die Wachsamkeit der beiden Lakaien, daß sie nicht einmal aufmerksam wurden, als Itsu Sato sich eines Vorrechtes bediente, das längst durch die geschichtliche Entwicklung abgeschafft worden war. Dabei hielten eben nur die Adeligen diese Schlüssel in Händen, deren Anzahl bekannt war. Sie war nie wieder aufgetaucht, verschwunden mit den Großgrundbesitzern und Lehnsherren. Die beiden Diener jedenfalls stellten keine Fragen, stumpfe, grobschlächtige Burschen, die sie waren, immer darauf aus, sich den Bauch vollzuschlagen und den Genüssen nachzujagen, die ihren primitiven Seelenregungen angemessen waren. Sie tranken Sake, hockten auf den Trageholmen der reich verzierten Sänfte und dösten vor sich hin. Itsu Sato schritt inzwischen mit zierlichen, trippelnden Bewegungen einen Kiesweg entlang, der sie zum schwarzen Mausoleum brachte. Die Frau triumphierte. Sie wußte, daß sie in wenigen Augenblicken ihren Sohn sehen würde. Und sie verfügte über eine Reihe von Kunstgriffen, um Meguro so herzurichten, daß er durchaus ein menschenähnliches Leben aufnehmen konnte, ohne allzu sehr aufzufallen. Itsu Sato betrat das Gewölbe mit dem Marmorkatafalk. Ihre Blicke schienen den kalten Stein wie Röntgenstrahlen zu durchdringen. Ihr ganzer Wille konzentrierte sich augenscheinlich auf einen Punkt. Itsu Sato umkreiste den Sarg in der vorgeschriebenen Richtung. Sie murmelte Beschwörungen, Sprüche aus dem Totenbuch, die sie auswendig kannte, weil sie sich länger als ein Menschenleben auf diesen Moment vorbereitet hatte, gewissenhaft, 101 �
mit der ganzen Kraft ihrer verderbten Seele und ihres bösen Willens. Aus ihrer Handtasche kramte Itsu Sato die scheußlichen Requisiten ihres Kults. Sie befand sich nicht zum ersten Mal in einem Beinhaus. Sie hatte ihre Kunst an anderen ausprobiert, lange bevor sie geplant hatte, ihrem Sohn zu helfen. Die scheußlichen Produkte ihrer sündhaften Experimente hatten nicht lange überlebt, weil sie sich von ihnen abgewandt hatte. Es bedurfte gewisser Kunstgriffe, um das Werk am Leben zu erhalten. Aber Itsu Sato war es nie darum gegangen. Sämtlichen Belebungsriten, die sie bislang praktiziert hatte, waren Vorstufen gewesen zu einem großen Zweck. Nun war es soweit. Das Werk mußte gelingen. Und da war niemand, der Itsu Sato half. Sie entzündete die Kerzen aus Leichenfett, die sie in einem bestimmten Abstand zu einer vorgeschriebenen Figur aufbaute, flackernde Lichter, die im Mausoleum ein gespenstisches Eigenleben entwickelten. Zwei schwarze Ruhmeshände hängte die Frau an seidenen Fäden auf. Die abstoßenden Gegenstände pendelten leicht hin und her. Ihre Schatten fielen riesengroß an die Decke des Gewölbes. Es roch nach Moder und Verwesung, dem Staub der Jahrhunderte. Unbeirrt fuhr Itsu Sato fort, unbeeindruckt von dem unheimlichen Ort, an dem sie ihren magischen Künsten nachging. Kein Sonnenlicht drang hier ein. Welke Blätter des vorjährigen Laubes raschelten unter den Füßen der Magierin, während sie den Katafalk umrundete. Dabei streute sie ein graues Pulver umher. Es stammte von einer Alraune, die im Volksmund auch ›Galgenmann‹ genannt wird. Alte Berichte wollen wissen, daß diese wunderbare Wurzel wie folgt gewonnen wurde: Sie wachse nur unter dem Gal102 �
gen und müsse dort von einem schwarzen Hund, an dessen Schwanz sie gebunden werde, bei Vollmond aus der Erde gerissen werden. Dabei stoße die Pflanze einen grässlichen Schrei aus. Der Hund falle tot um. Erst dann könne Menschenhand die Mandragora berühren. Sie wirke Wunder. Tatsächlich wurde die Alraune zu allen Zeiten zu horrenden Preisen gehandelt. Man unterschied männliche Wurzeln (Morion) und weibliche (Thridacias), die beide ihr spezifisches Wirken entfalteten. Die Alraunengraber selbst haben sich stets die Ohren mit Wachs verstopft, um das Geschrei der Wurzel zu überleben. Mittlerweile ist dieses Mittel wie so viele unter dem Einfluß bedingungslos fortschreitender Wissenschaft nicht mehr im Gebrauch. Nur einige wenige Eingeweihte wissen sich die Kraft der Mandragora noch zunutze zu machen. Itsu Sato gehörte zu ihnen. Sie hatte nämlich alle Quellen studiert, und nicht nur asiatische. Sie kannte die einschlägigen Werke der europäischen Gnostiker und der hebräischen Magier und Kabbala-Anhänger. Sie wußte um die Macht der Druden und Kelten, der Indianer Nordamerikas und der Ureinwohner Australiens, die den Zauber der großen grünen Ameise beherrschen, der allen Feinden den Tod bringt. Schweigend und sehr konzentriert arbeitete Itsu Sato. Sie zog ein kleines Federmesser, ritzte sich die Ader an und tunkte ihren Finger in das eigene Blut. Sie malte mit diesem besonderen Saft magische Linien auf den Marmorsarg. Sie murmelte Gebete, die aus dem Buch der Schwarzen Messe stammten, Werk eines Häretikers aus dem mittelalterlichen Frankreich. Sie betete die Anrufung der finsteren Mächte, die sie im Buch eines Tibetaners gefunden hatte, der als Eremit im Himalaja gelebt hatte. Dabei warf sie sich immer wieder auf das Gesicht, 103 �
verneigte sich in eine bestimmte Richtung. Ihre Stimme hallte wider in dem Gewölbe. Und plötzlich alles war nur geschehen, um ihren ungeheuren Willen zu stimulieren sprühten bläuliche Lichterbögen auf. Die scheußlichen Ruhmeshände an der Decke krümmten sich, als wäre Leben in sie gefahren. Wie von selbst hob sich der Deckel des Totenschreins. Meguro richtete sich auf, von einer unbekannten Macht bewegt, stumm, verständnislos. Aber er bewegte sich. Itsu Sato wandte sich um, schritt voraus. Meguro aber folgte ihr wie ferngesteuert. Die Frau wußte, daß sie einen großen Sieg errungen hatte. Aber das schwerste lag noch vor ihr. Meguro erweckt zu haben, war das eine. Jetzt galt es, ihm zu einer menschenähnlichen Existenz zu verhelfen. Er mußte sich tarnen wie seine Mutter selbst, die Generationen der Irdischen überlebt hatte, ohne jemals entdeckt zu werden, die unangefochten zwischen ihnen lebte, mit ihnen sprach und sie für ihre dunklen Zwecke missbrauchte. Der Shinto-Priester und Kommissar Futara waren tatsächlich die ersten, die sich für Itsu Sato interessiert hatten und das auf die einzig richtige Art. »Verdammt, was ist das?« brüllte einer der Lakaien, als Itsu Sato mit ihrem merkwürdigen Gefährten auftauchte. Der Diener sprang auf, wandte sich zur Flucht. Aber Itsu Sato streckte die Hand aus und bannte ihn, wie auch seinen Leidensgenossen. Es war verblüffend. Die Männer wirkten wie chloroformiert, stellten keine Fragen mehr. Sie wunderten sich nicht über den schrecklichen Reisenden, der kalt und bleich in der Sänfte Platz nahm, der sich neben Itsu Sato zwängte. Die Frau zog die Vorhänge zu. 104 �
»Nach Hause!« befahl sie stolz und mit einem triumphierenden Klang in der Stimme. Der Erfolg schien nahe. Die Diener gehorchten widerspruchslos. Sie entwickelten plötzlich Kräfte, die sie vorher nicht gehabt hatten. Sie spürten nicht die doppelte Last, rannten wie die Windhunde. Nebelschwaden flatterten wie Leichentücher um dunkle Grabkreuze. Das Gras war feucht vom Tau. Aus einem Turm stießen krächzend Dohlen, umflatterten das unheimliche Gefährt wie Sendboten der ewigen Verdammnis, Vertraute des Teufels. Wie Kohlenbrocken wirbelten die Tiere durch die Luft. Sie hackten nach den Augen der Sänftenträger, als wollten sie diesen Transport verhindern. Itsu Sato spähte durch einen Spalt nach draußen, in das gespenstische Spiel von Nebel und Mondlicht, Rabenvögeln, die wütend angriffen und Trägern, die so schnell rannten wie sie konnten. Da war ein ständiges Krächzen in der Nacht, ertönte das Rauschen von schwarzen Fittichen. Meguro aber lehnte in der Sänfte, ohne von dem Notiz zu nehmen, was um ihn passierte. Bar jeder Gefühle kannte er auch keine Angst. Knochenhände stützten sich auf fleischlose Knie. Das Gerippe schwankte bei jeder Bewegung der Sänfte. Itsu Sato besann sich wütend auf ihre übernatürlichen Kräfte. Sie bannte die schwarzen Vögel. Die Dohlen stürzten ab wie Steinklumpen, schlugen hart auf den Boden. Der Wind blies in ihr Gefieder, entblößte die gelblichen Bälge. Und aus der Ferne erklang ein Höllengelächter, ein höhnisches Meckern. Eiseshauch strich durch die Sänfte. Die Träger begannen zu keuchen. Lange konnten sie dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Schon jetzt erschien es rätselhaft, woher sie die Ausdauer nahmen. Die nackten Beine wirbel105 �
ten in einem bewundernswerten Stakkato. Schweiß glänzte auf Nacken, in denen sich die Haare sträubten. »Lauft, meine Pferdchen!« zischte Itsu Sato mit funkelnden Augen. »Nichts soll euch beirren. Rennt um euer Leben! Ihr werdet niemals aufgeben. Und wenn ich es befehle, werdet ihr die Beine schwingen, bis ihr tot zusammenbrecht. Denn ich will es.« Die Sänfte folgte den Schleifen, Biegungen und Windungen eines schmalen Pfades, der durch eine Fläche gelbbraunen Grases führte. Diese Route bedeutete eine Abkürzung. Und Itsu Sato wußte, das Eile geboten war. Hier, auf freier Strecke, wirkten die Verderben bringenden Mächte stärker als daheim, wenn sie geschützt durch erprobte Zaubermittel sich in ihrer Hexenklause verschanzen konnte. Es war, als gönnte jemand ihr nicht den Erfolg im Kampf um Meguro. Der Feind zeigte sich nicht. Er schickte seine Kreaturen. Nun, da die wild angreifenden Dohlenschwärme vom Himmel gefallen waren, erschienen neue Verderber. Aus dem Gras schoben sich Schlangen. Tausende von ekligen, glitschigen Leibern wimmelten heran. Böse zischend hoben sich Köpfe, bereit, zuzustoßen. Zungen spielten. Vipernaugen fixierten die Beute. Der Pfad verwandelte sich in einen schlüpfrigen Weg. Die Träger strauchelten und fielen fast. Sie kamen nicht mehr vorwärts. Ehe Itsu Sato es verhindern konnte, gruben sich winzige todbringende Zähne in nackte Beine. Die Sänfte kam zum Halten. Hart saß der Kasten, der mit Seidenpolstern ausgeschlagen war und auf beiden Seiten hellblaue Vorhänge besaß, auf. Die Träger wanden sich im Todeskampf. Ein scheußlicher Anblick. Über die zuckenden Körper schoben sich Legionen von Vipern. Die weit aufgerissenen Münder der Unglücklichen, die ihren Tod nahen fühlten und verzweifelt dagegen ankämpften, 106 �
schnappten nach Luft. Dann kamen die beiden zur Ruhe. Das Gift hatte sehr schnell gewirkt. Itsu Sato aber hob ihren Stab, einen knorrigen Stock aus Rotdorn, mit merkwürdigen Zeichen und Symbolen geschmückt. Sie gebot der Horde Einhalt, die bereits die Sänfte erreicht hatte. Die Töne, die aus dem Mund der Hexe kamen, schwoll an zu einem infernalischen Kreischen. Sie schleuderte den Schlangen ihre Bannformel entgegen wie ein Fluch. Das Wunder geschah. Das windende Heer erstarrte. Wie über einen Teppich aus Reisigstöcken stieg Itsu Sato und trat ins Freie. Wacholderbüsche im Nebel entwickelten ein gespenstisches Eigenleben. Irgendwo schrie ein Vogel. Meguro erhob sich wie auf ein geheimes, unhörbares Kommando. Er stakste hinter der Frau her, die vorausging unbeirrt, scheinbar furchtlos. Aus den Büschen, die ihren Weg säumten, aber erklang ein infernalisches Gelächter, schrill, spöttisch. * Dai Ichi machte eine abwehrende Handbewegung. »Besondere Verhältnisse rechtfertigen besondere Maßnahmen«, erklärte der kahlköpfige Mönch. »Wenn Sie aber glauben, Sie könnten es nicht mit dem Gewissen eines Polizisten vereinbaren, in dieses Haus einzudringen, so werde ich das selbst besorgen.« Sie standen vor der prachtvollen Villa der Itsu Sato. »Wenn Sie etwas entdecken, kann ich ja nachkommen«, sagte Futara. Er hasste jeden Anschein der Illegalität. »Sie müssen wissen, daß ich zur Zeit in der Presse sehr angegriffen werde. Und 107 �
das alles nur, weil ich ahnungslos einen Fall übernommen habe, bei dem es nicht mit rechten Dingen zugeht. Ohne Sie wäre ich bereits mit Schimpf und Schande davongejagt worden. Nur auf Ihre Fürsprache hin hat mir der Polizeichef die Ermittlungen nicht aus der Hand genommen.« Futara zückte ein großkariertes Taschentuch und wischte sich damit über Gesicht und Nacken. Er neigte in letzter Zeit zu Schweißausbrüchen wie ein schlecht trainierter Boxer. Er schien angeschlagen. Die Ereignisse hatten ihn eine Menge Nerven gekostet. Der Professor samt Familie und Dienerschaft war auf so grauenvolle Weise ermordet worden, daß sich der Kommissar bei dem bloßen Gedanken der Magen umdrehte. Und dann dieser junge Autofahrer, der in zwei Hälften im Wald neben der Straße gefunden worden war. Futara bewunderte die Kraft des Mönches. Der Mann schien keine Nerven zu haben. Er bestand nur aus eisernem Willen. Aus welchen geheimen Quellen schöpfte er seine Kraft? Dai Ichi hielt sich immer im Hintergrund, war da, wenn man ihn brauchte, erkannte immer eine Lösung des Problems und war nie auf Dank oder gar Ehre aus. Futara verstand die Welt nicht mehr. »Viel Glück«, murmelte der Polizist, als der Mönch über die Mauer kletterte, die Itsu Satos Anwesen umschloß. Der Shinto-Priester sprang auf der anderen Seite in eine Blumenrabatte und durchquerte den Park, ohne bemerkt zu werden. Sämtliche Vorhänge waren zugezogen. Späher hatten berichtet, daß Itsu Sato außer einem Friedhofsbesuch nichts unternommen hatte. Sie verließ das Haus nicht mehr. Ihre Diener hatte sie beurlaubt. Dai Ichi wußte nicht, was dahintersteckte. Selbst er konnte sich keinen Reim darauf machen. Ebenso war Meguro wie vom Erd108 �
boden verschluckt. Bedeutete das nur, daß er bis zum nächsten Vollmond Ruhe hielt, oder war er erledigt, hatte sich der Spuk aufgelöst? Dai Ichi wußte, daß die Antwort auf alle Fragen in dieser Villa zu finden war. Er scheute sich nicht davor, einzudringen. Zu viele Dinge standen auf dem Spiel. Diese gewissenlose Frau, die alle Künste der Schwarzen Magie beherrschte wie ein anderer Lesen und Schreiben, mußte endlich unschädlich gemacht werden. Ihr unheilvoller Einfluß lag wie ein Schatten über dem Land am Chuzenji. Dai Ichi pirschte von Deckung zu Deckung. Er kam am helllichten Tage, weil er nicht wußte, welche magischen Fallen nach Einbruch der Dunkelheit wirksam wurden. Sicher war, daß Itsu Sato ihr Landhaus nicht auf alltägliche Art abgesichert hatte. Die Wahrscheinlichkeit, in hellem Sonnenlicht in einen Hinterhalt zu laufen, schien dem ungebetenen Besucher wesentlich geringer. Dai Ichi nutzte jede Deckung aus, legte lange Beobachtungshalte ein. Er kannte keine Eile. Er wußte, daß er vorsichtig sein mußte, sollte es für ihn eine Rückkehr geben. Dai Ichi führte keine Waffen herkömmlicher Art mit. Er trug auf dem Rücken die Armbrust und im Köcher einen einzigen Silberpfeil. Die Herstellung dieser Munition erforderte so schwierige Vorbereitungen, daß sie nicht beliebig oft und schnell durchgeführt werden konnte. Aber es war sicher besser, eine Ausfertigung dieser Spezialmunition mitzuführen, als der Ränkeschmiedin mit leeren Händen gegenüberzustehen. Dai Ichi näherte sich dem Haus, das aus edelsten japanischen Hölzern gefertigt war, selbst die Schindeln auf dem roten Dach. Dai Ichi suchte eine Möglichkeit, unbemerkt in das Haus einzudringen. Aber er fand alle Türen hermetisch verriegelt. Da versuchte er es mit Gewalt. 109 �
Er umwickelte seine Faust mit einem Zipfel seiner gelben Toga und stieß eine kleine gelbe Butzenscheibe ein. Er langte hindurch und öffnete den Riegel des Fensters. Der Weg ins Innere des Gebäudes war frei. Kein Laut drang an das Ohr des Mönches. Dai Ichi sicherte lange, ehe er den entscheidenden Schritt wagte. Er schlüpfte durch die Bresche, landete lautlos auf einem dicken chinesischen Teppich, der mit Drachensymbolen übersät war. Ein Feuer speiender Lindwurm hielt einen schlitzäugigen Mann im Maul, der sich zappelnd zu befreien suchte. Dai Ichi schob eine Tür zur Seite. Niemand ließ sich blicken. Die Ruhe im Haus war beängstigend. Der Shinto-Priester durchquerte den Raum, bei dem es sich offenbar um das Wohnzimmer handelte. Nichts erregte seine gespannte Aufmerksamkeit. Leer und verlassen schien diese Stätte. Da ließ ein schnarrendes Geräusch Dai Ichi herumwirbeln. Längst hielt er die gespannte Armbrust in den Händen und richtete sie automatisch auf die Quelle des undeutlichen Geräusches. Erleichtert ließ Dai Ichi die Waffe sinken. An einer Art Kuckucksuhr war eine Klappe aufgegangen. Eine bläuliche Zunge erschien und sagte unbeholfen und röchelnd die Zeit an. Der Mönch erstarrte. Denn er erkannte die besonderen Materialien, aus denen die beiden Gewichte der Uhr gefertigt waren. Menschliche Fingernägel bildeten zwei makabre Tannenzapfen, die an silbernen Ketten baumelten. Dai Ichi riß sich gewaltsam von dem scheußlichen Anblick los und setzte seinen Erkundungsgang fort. Er entdeckte hinter einem Schreibtisch eine Falltür. Aus der Tiefe der Erde erklangen murmelnde Laute. 110 �
Behutsam setzte Dai Ichi einen Fuß vor den anderen, sorgsam bedacht, die Stufen nicht knarren zu lassen. Er schlich in den Keller. Eine Tür, bedeckt mit magischen Zeichen, mit Bocksgehörn und Krötensymbolen, stand halb offen. Dai Ichi sah die Gesuchte. Itsu Sato kniete vor einem merkwürdigen Wesen, das schlapp in einem Ledersessel lag. Der Mönch erschrak. Der Kerl, der mit der Frau sprach, hatte die Stimme eines Mädchens. Dai Ichi erinnerte sich an Ueno, die niemals gefunden worden war. Das mochten ihre Stimme sein, ihr Fleisch, ihre Nervenstränge, ihre Augen und ihr Mund, die da auf dem Knochengerüst des Samurais saßen. Welche Höllenmächte hatten Pate gestanden bei diesem Monstrum, dessen frische Operationsnarben glühten wie Feuerstränge? Der Kerl wirkte wie ein Flickenteppich. Das Material hatte nicht ausgereicht. Die Haut spannte an allen Ecken und Enden. Kein Zweifel: das war Uenos Haar. Es fiel dünn und strähnig bis auf den Kragen des modernen Hemdes. Der Unhold trug nicht länger die Montur eines Samurai. Er war westlich gekleidet. Die elegante Schale verdreifachte die abstoßende Hässlichkeit dieses Unwesens. Itsu Sato aber schien glücklich zu sein. Sie erzählte ihrem Geschöpf von Blutorgien, die neues Leben spenden sollten, von Reichtümern und Genüssen, die jeden Lauscher erschrecken ließen. Und im Hintergrund lagen zwischen Strohresten die abgeschabten Knochenreste eines Menschen, dessen Einzelteile jetzt ihre Funktion im monströsen Körper des Samurai erfüllten. 111 �
Langsam hob Dai Ichi die Waffe. Er wußte, daß Itsu Sato ungleich gefährlicher war als das Wesen, das sie dem Grab entrissen hatte. Die Frau kehrte dem Mönch ahnungslos den Rücken zu. Sorgfältig visierte Dai Ichi die Schulterblätter an. Das Scheusal auf dem Ledersessel aber wendete ruckartig den klobigen Schädel. Seelenlose Augen glotzten auf den unerwarteten Besucher. Blutleere Lippen öffneten sich. Eine kehlige, tiefe Stimme formulierte mühsam Worte. Itsu Sato war gewarnt. Sie sprang auf, wirbelte herum, fixierte den Angreifer. Ihre Krallen hoben sich, ihre Augen sprühten. Mit fremder Stimme, mit dem Organ des Yasha-Dämons, den Dai Ichi glaubte bezwungen zu haben, kreischte das Weib obszöne Verwünschungen, düstere Flüche. Die schrille Stimme überschlug sich. Es war nur noch ein Miauen zu hören. Da drückte Dai Ichi ungerührt ab. Der Silberpfeil schnellte von der Sehne, zischte durch die Luft und bohrte sich knirschend in die Brust der Frau. Der gefiederte Schaft wippte nach, während Itsu Sato mit einem entsetzlichen Schrei leblos zu Boden sank, sich dann aber in Krämpfen wand. »Rette dich, Meguro!« kreischte die Sterbende. »Räche mich! Wie du dich immer rächen wolltest an allen, die dir dieses Schicksal aufgezwungen haben. Beeile dich, ehe es zu spät ist!« Itsu Sato alterte zusehends. Sie verwandelte sich in eine hässliche Vettel, dürr und mager, nahm wieder die ursprüngliche Gestalt an. Vielleicht rettete die Tatsache, daß Itsu Sato lange kein Blut getrunken hatte, dem Mönch das Leben. Jedenfalls schien sie nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte zu sein. Itsu Sato wälzte sich mit letzter Anstrengung herum. Ihre verkrampfte Hand angelte nach einem Fetisch, der von der Decke 112 �
herunterbaumelte, an einer Schnur aus Katzendärmen. Vergeblich versuchte sie, das Medium zu erreichen, das möglicherweise ihre magische Gewalt neu entfesselt hätte. Mit einem Schritt war Dai Ichi bei ihr, trat ihr brutal auf die Hand. So verhinderte er den Anschlag und schaute gelassen zu, wie Itsu Sato ihr frevlerisches Leben beendete. Dabei überzeugte sich der Mönch nebenbei, daß keine Gefahr drohte. Aber er hielt den sicheren Tod der Magierin für so wichtig, daß er nicht von ihrer Seite wich, selbst als Meguro floh. Erst nach dem sicheren Tod der alten Frau nahm der Mönch die Verfolgung auf. Er rannte durch die Geheimtür und folgte einem unterirdischen Gang. * Futara musste eine Anhöhe erklimmen, um wenigstens einen Blick auf das Landhaus zu erhaschen, das ruhig und wie verlassen im Nieselregen zwischen Bäumen lag. Ein Geräusch in seiner Nähe ließ Kommissar Futara aufmerken. Das klang wie ein Kratzen an der Mauer. Futara erschrak. Hatte der Mönch den okkulten Zweikampf verloren? War Itsu Sato Siegerin geblieben? Kehrte jetzt ein weidwunder Dai Ichi zurück? Nur, um auf der Straße zu sterben? Nervös marschierte Kommissar Futara vor dem Landsitz auf und ab. Die Zeit verstrich, ohne daß Dai Ichi zurückkehrte. Die hohe Mauer versperrte dem Beamten den Blick auf das Haus, von dem er nur das Dach sehen konnte. Wolken kamen auf, bedeckten schnell den ganzen Himmel. Die Sonne verdüsterte sich. Wind rauschte in alten Bäumen. Futara schlug den Mantelkragen hoch. 113 �
Unruhe erfasste ihn, Vorahnung kommenden Unheils. Er verfluchte den Tag, an dem er dieses Kommando übernommen hatte. Das Unternehmen hatte ihm nichts als Ärger eingebracht. Futara kämpfte mit der Versuchung, dem Mönch zu folgen, sich Gewissheit zu verschaffen. Schließlich konnte kein Mensch es aushalten, beliebig lange auf die Folter gespannt zu werden. Nur das Pflichtbewusstsein hielt Futara von diesem letzten verzweifelten Schritt zurück. Die Folgen wären nicht auszudenken gewesen, wenn man ihn, den Kommissar der Tokioer Kriminalpolizei, bei einem Einbruch erwischte. Futara rauchte hastig und nervös. Es begann zu regnen. In einer Pfütze, die sich zu Füßen des Wartenden gebildet hatte, schwamm bald ein halbes Dutzend Kippen. Futara hatte den Mantel seines Trenchcoats hochgeschlagen. Zweimal schon hatte er es versucht, die Mauer zu. Das hörte sich zweifellos an, als suchte jemand die Mauer zu ersteigen, dem es an Kraft oder Geschicklichkeit mangelte. »Ich komme«, rief Kommissar Futara. Die Aufregung ließ seinen Mund trocken werden wie die Wüste Gobi. Er schluckte krampfhaft, während er vergeblich versuchte, wirksam Hilfestellung zu leisten. Es gab da eine Unebenheit in der Mauer, die Futara ausnutzte. Aber er war nicht groß genug, konnte nicht über das Hindernis schauen. Da streckte er die Hand aus. »Halten Sie sich fest, Dai Ichi!« rief der Kommissar. »Ich ziehe Sie herüber. Nur Mut.« Futara fühlte eine Berührung. Er achtete im Augenblick nicht darauf, daß die Hand eiskalt war, die sich da in seine schob. Er zerrte und zog vielmehr mit Leibeskräften, unterstützte den, der offenbar nicht mehr viel leisten konnte und wie ein Zentnergewicht am ausgestreckten Arm 114 �
des gewiß nicht schwachen Polizisten hing. Schuhe scharrten über Mörtel. Langsam gewann der Bursche Höhe. Mit einem Ruck legte sich Futara ins Zeug, zerrte wie wild. Über die Mauer schob sich ein Mann, den Futara noch nie gesehen hatte. Er hielt entsetzt inne, starrte auf scheußliche Operationsnarben und Nähte. Das Monstrum machte sich gewaltsam los und ritt auf der Mauerkrone. Futara schrie auf. In diesem Augenblick war er sicher, daß er Dai Ichi nie wieder sehen würde. Der Mönch war der alten Hexe ins Messer gelaufen. Daran gab es keinen Zweifel. Jetzt sandte die alte Vettel mit dem zeitweise glatten und hübschen Äußeren ihre Mordgespenster aus, um auch den Kommissar zu beseitigen. Futara wich zurück, wandte sich zur Flucht. Einer Gewohnheit folgend, griff er in diesem Augenblick der Gefahr zu seiner Dienstwaffe, die schon bei den DämonenFischern schändlich versagt hatte. Er gab sich keine Rechenschaft über diese reflexartige Handlung. Es war seine Art, zu kämpfen. Die Art eines im Dienst ergrauten Kriminalkommissars, der zum ersten Mal in seinem Leben einem Gegner gegenüberstand, der nicht von dieser Welt war. Kein Wesen aus Fleisch und Blut, kein gewöhnlicher Krimineller, sondern eine Schreckensfigur aus den tiefsten Tiefen der Hölle. Der Schlitten der Pistole glitt hin und her. Die erste Patrone landete in der Kammer, Der Kommissar feuerte mit verbissenem Gesicht. Das Monstrum auf der Mauer seufzte. Dickes weißliches Blut trat aus der Brustwunde. Das Sekret, die Plastikmilch, tropfte auf die Erde. Wo es traf, verbrannte jede Pflanze, erlosch jedes Leben. Aber der Unhold ließ sich nicht stoppen. Mit dem piepsigen Wutgebrüll, diesmal wieder einer Mäd115 �
chenstimme, die in jeder anderen Situation lächerlich geklungen hätte, sprang das Scheusal von der hohen Warte. Der Boden erbebte unter dem Aufprall des schweren Körpers. Arme sausten wie Dreschflegel durch die Luft, unkontrolliert, aber tödlich. Zweimal schoß der entsetzte Kommissar, ohne Wirkung zu erzielen. Er wich dabei immer mehr zurück, kam schließlich zu Fall. Dann war der gräßliche Kerl heran, warf sich knurrend auf sein Opfer. Er begrub Futara unter sich. Faulige Zähne klafften. Sie strömten einen widerlichen Verwesungsgeruch aus. Futara schrie in höchster Not. Er kannte kein Gegenmittel. Jeder Judogriff versagte kläglich. Dieses Scheusal war kaum zu besiegen. Futara bemerkte mit verschwimmenden Augen einen Schatten, der von rückwärts auf das Ungeheuer zuglitt. Dai Ichi hatte den Kampfplatz erreicht, griff beherzt ein, um das Leben des Kommissars zu retten. Meguro ahnte die Gefahr. Er ließ den Polizisten fahren, löste seinen schrecklichen Würgegriff. Knurrend warf sich das Ungeheuer herum. Diese Bewegung rettete Meguro die geisterhafte Existenz. Dai Ichi verfehlte knapp den Gegner. Seine Hand führte eine merkwürdige Waffe, mit der er dem Unhold den Rest geben wollte. Es handelte sich um einen Dolch, der aus einem menschlichen Hüftknochen gefertigt und über und über mit magischen Symbolen bedeckt war, die in seltsamen Farben schimmerten. Meguro rannte davon. Der riesige Kerl hastete durch Gestrüpp, erreichte einen Pfad und fiel in einen ausdauernden Trab, der gleichwohl in jeder einzelnen Bewegung etwas Roboterhaftes hatte. 116 �
Futara aber raffte sich auf. Er wollte Meguro verfolgen. Dai Ichi hielt den Freund und Kampfgefährten zurück. »Wir erwischen ihn. Er wird Sich ein Versteck suchen. Dort spüren wir ihn auf und töten ihn«, sagte der Mönch. Futara blickte ihn voller Zweifel an. »Er wird inzwischen allerhand Unheil anrichten«, entgegnete der Kommissar. »Das kann ich nicht dulden.« »Vor dem nächsten Vollmond wird er nicht mehr aktiv«, versicherte Dai Ichi. »Er steht mit allen Mächten der Hölle im Bund. Aber wir werden ihn aufspüren und vernichten. Ich schwöre es. Es wird ein hartes Stück Arbeit sein, aber ich schaffe es.« »Nun, gegen eine kleine Verschnaufpause hätte ich nichts einzuwenden«, fügte sich Futara in das Unvermeidliche. »Zumal ich einen gewissen Erfolg melden kann. Itsu Sato ist tot. Sie war die Urheberin der grausigen Geschehnisse. Ihr Geschöpf ist frei. Mann, Mann, wenn ich das alles in meinem Bericht erwähne, lande ich in der Irrenanstalt.« * Kommissar Futara arbeitete angestrengt bis spät in die Nacht. Aufatmend schloß er den Bericht ab, den er zweifach erstellt hatte. Ein Kurier stand bereit. Der Präsident der Polizei hatte ihn geschickt. Er hatte seinem erprobten Kommissar ein Ultimatum gestellt, das abgelaufen war. Er wollte endlich der Presse Erfolge melden können, Fakten an die Hand geben. Seine Geduld war zu Ende. Futara versiegelte das Kuvert. Der Kommissar hatte versucht, die ohnehin strapazierten Nerven seines Vorgesetzten nach Möglichkeit zu schonen. Was er aber zu Papier gebracht hatte, mußte jedem Außenstehenden so 117 �
phantastisch erscheinen, daß er es nicht ohne weiteres glauben konnte. Es war Futara zu Beginn der Ermittlungen nicht anders ergangen. Inzwischen hatte er aber genug gesehen, um die Existenz jener Wesen, die das Leben am Chuzenji zur Hölle machten, nicht mehr schlechtweg zu leugnen. Die Tatsachen hatten ihn gezwungen, zu glauben. Ob aber der Chef der Polizei in Tokio bereit war, seinem Kommissar auf diesem Wege zu folgen, schien zweifelhaft. Der Kurier verwahrte den Umschlag in einer schwarzen Aktentasche, die er sorgfältig verschloss. Sie war mit einer Kette an seinem Handgelenk befestigt. Der Mann trug Uniform. Der Bote salutierte stramm, legte eine zackige Kehrtwendung hin und marschierte hinaus, ging zu seinem Motorrad. Futara stand am Fenster und beobachtete die Abfahrt. Der Polizist startete seine schwere Maschine, donnerte davon. Er brauchte bis Tokio bei diesen Verkehrsverhältnissen eine knappe Stunde. Wahrscheinlich wartete der Polizeigewaltige bereits ungeduldig auf Erfolgsnachrichten. Seufzend wandte sich Futara ab und legte sich auf sein Bett. Das Kanaya-Hotel war nach westlicher Mode eingerichtet. Futara wußte das zu schätzen. Er mochte diese Art von Möbeln. Er war ein fortschrittlicher Mensch. Und doch hatte er hier am Chuzenji Dinge erlebt, die nicht zu den letzten Erkenntnisse der Naturwissenschaften passen wollten. Futara, der einen bequemen Kimono trug, fand keine Ruhe. Er stand auf, schaute wieder aus dem Fenster. Der Tempelbezirk, Tore und Schreine und Pagoden lagen vor ihm. Ein Reich, in dem sich Auserwählte mit Dingen beschäftigten, die auch nicht von dieser Welt waren. Noch vor wenigen Tagen hätte Futara alles geleugnet, was er nicht sehen, anfassen, hören, riechen und schmecken konnte. Er hätte energisch bestritten, daß etwas Gültigkeit haben könnte außerhalb der Naturgesetze. Daß es eine 118 �
Metaphysik gab, eine Form des Lebens hinter diesem Leben. Jetzt war Futara seiner Sache nicht mehr so sicher. Die Ereignisse hatten ihm zwingend das Gegenteil bewiesen. Es gab tatsächlich mehr zwischen Himmel und Erde, als sich die Schulweisheit der normalen Sterblichen träumen ließ. Futara hörte im Nebenraum die gemurmelten Gebete des unermüdlichen Dai Ichi. Dieser Mann hatte immer mehr gewußt als andere. Er hatte nie gezweifelt. Er hatte sich rechtzeitig gewappnet gegen den Überfall des Übernatürlichen und Übersinnlichen. Er hatte Waffen geschmiedet, während andere sich damit begnügt hatten, höhnisch zu lächeln. Jetzt wäre Dai Ichi an der Reihe gewesen, über seine Mitmenschen zu spotten, die unbelehrbar ihren Alltagsgeschäften nachgegangen waren. Er tat es nicht. Das zeichnete ihn vor allen anderen aus. Futara duschte und ging dann zu Bett. Er hatte einen schweren Tag hinter sich und ein Recht auf einen ungestörten Schlaf, etwa, was der Polizeichef von Tokio offenbar nicht unbedingt anerkannte. Denn er kam im Morgengrauen, mit einem großen Gefolge, das in die Hotelhalle einbrach wie eine fremde Besatzungsmacht. Dr. Sai Nido ließ Kommissar Futara aus dem Schlaf reißen. Wie ein gereizter Tiger rannte der Polizeigewaltige herum, während er erregt darauf wartete, daß der »Delinquent« erschien. Futara hätte sich noch so beeilen können, er hätte trotzdem keine Gnade erhoffen dürfen. »Sie haben reichlich lange gebraucht«, tadelte Sai Nido. Er war für einen Japaner ungewöhnlich groß und kräftig. Lebhafte Augen, dunkel wie Oliven, funkelten unter eisgrauen Brauen. »Sie brauchen in der letzten Zeit überhaupt für alles ein wenig 119 �
lange. Sie doktern nun schon Wochen an der Mordserie am Chuzenji herum, ohne greifbare Ergebnisse.« »Sie haben meinen Bericht. Darin steht, daß…«, begann Futara vorsichtig. »… Sie unmittelbar vor dem letzten Akt stehen«, unterbrach der Polizeichef wütend. »Ich lache mich kaputt. Sie finden den Mörder nicht und weichen aus auf ein Gebiet, das jedem ernsthaften Kriminalisten nun einmal verschlossen bleibt, weil er sich mit sehr realen Dingen abplagen muß. Ihm geht es um sehr handgreifliche Verbrechen und deren Aufklärung. Alles andere ist schlimmer als Handlesen und Sternedeuten.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung… Ich war es jedenfalls«, antwortete Kommissar Futara, der von einer großen Zahl von Leuten beobachtet wurde. Sämtliche Begleiter des Polizeichefs schauten auf Futara. Sie bildeten einen Halbkreis wie Treiber, die ein Wild in die Enge jagen wollen. Es waren verschiedene Wissenschaftler darunter, angefangen bei Chemikern über Physikern, drei Psychologen und selbst der Polizeiarzt. Futara vermißte nur die großen, kräftig gebauten Männer mit der obligaten Zwangsjacke. »Ich verstehe Ihre Situation, Kommissar«, schnarrte Sai Nido. »Ich leide auch tausend Qualen, weil es hier bei Ihnen nicht weitergeht und die Presse mich dauernd anschießt. Aber deshalb flüchte ich mich doch nicht in okkulte Dinge. Wenn Sie sich krank fühlen, Futara…« »Nein, nein«, wehrte der Kommissar ab. »Vielleicht etwas müde.« »Seit wann?« hakte sofort der Polizeiarzt nach. »Es ist in den letzten Tagen viel geschehen. Sicher bin ich erschöpft, aber im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte«, seufzte 120 �
Futara. »Natürlich, natürlich«, murmelte der Arzt begütigend. »Sie hören sicher Stimmen, nicht wahr? Träumen Sie lebhafter als sonst?« »Nein.« »Aha.« Das Urteil stand fest. Der Arzt flüsterte es dem Polizeichef hinter vorgehaltener Hand zu. »Er verdrängt seine Träume. Daher kann er sich an nichts erinnern. Das ist symptomatisch.« Der Polizeigewaltige blickte sehr irritiert. Er wurde zusehends freundlicher. Einem Kranken kann man schlecht böse sein. Er bot seinem bewährten Kommissar einen Platz an. Prompt sank das Gefolge in die Sessel. »Es war gut, daß Sie mir das Zeug hier geschickt haben. Wenn es in die Hände der Presse geraten wäre, müßten wir unseren Hut nehmen«, erläuterte Sai Nido. »Diese Burschen sind helle, sie halten sich an Fakten, an nichts anderes. Wir können eine Menge von ihnen lernen. Meinen Sie nicht auch?« »Die wissen gar nichts«, entrüstete sich Futara. Ein leises Raunen erklang. Bei aller Objektivität wollten die Sachverständigen doch nicht verhehlen, wie ernst es um den Kommissar stand. »Aber Sie kennen sich da aus, wie?« fragte Sai Nido belustigt. »Ich habe es gelernt von Dai Ichi.« Das Gesicht des Polizeichefs war ein einziges Fragezeichen. Er kannte alle wichtigen Politiker des Landes und jeden, der in Tokio über einen gewissen Einfluß verfügte. Ein Dai Ichi war nicht darunter. »Ein Shinto-Priester. Ohne ihn säße ich nicht hier. Er hat Itsu Sato besiegt und Meguro in die Flucht geschlagen.« »Fangen Sie schon wieder davon an?« stöhnte der Gesprächs121 �
partner des Kommissars. »Wissen Sie, was ich mit dem Zeug da mache? Ich jage es durch den Papierwolf. Es ist keinen Pfifferling wert.« Verächtlich klatschte Sai Nido das umfangreiche Schreiben des Kommissars auf den Marmortisch. Geschulte Kellner, vom Empfangschef alarmiert, servierten dem hohen Besuch Tee und Reiswein. »Gibt es diesen Dai Ichi wirklich, oder existiert er auch nur in Ihrer Phantasie?« fragte der Polizeichef mit drohend gerunzelter Stirn. Fast bereute er es, den weiten Weg zum Chuzenji gemacht zu haben, nur um sich das Gestammel eines offenbar geistig Verwirrten anzuhören, der mit typischer Beharrlichkeit an seinen Ansichten festhielt und seine fixe Idee verteidigte wie ein Löwe. »Ich bin Dai Ichi«, erklang eine leise Stimme. Die Leute drehten sich ruckartig um. Vor der offenen Tür des Lifts stand ein unscheinbarer Mann mit einer Nickelbrille. Sein Körper war in eine gelbe Toga gehüllt. Er trug Sandalen. Der Schädel war kahl geschoren. »Interessant«, schnarrte der Polizeichef. Er winkte den Mönch heran. Dai Ichi kam nicht ohne Würde. Er setzte sich gegenüber Sai Nido. »Wenn Sie dieses Zeug hier gelesen hätten, würden Sie zugeben, daß Kommissar Futara dringend zur Kur muß«, schnaubte Sai Nido. »Ich hätte das nicht anders geschrieben. Er hat niemals gelogen. Es stimmt jedes Wort.« Sai Nido machte ein Gesicht, als hätte er Sand zwischen den Zähnen. Er wirkte so hilflos, daß ihm flugs zwei, drei Wissenschaftler beisprangen. Sie verteidigten ihn mit sehr rationalen Gründen und Argumenten. »Überzeugen Sie sich selbst«, bat der Mönch gelassen.« Ich 122 �
habe das Versteck Meguros gefunden. In zwei mal vierundzwanzig Stunden ist Vollmond, dann wissen wir mehr. Warum wollen wir uns vorher streiten?« »Und Sie sind überzeugt…?« murmelte der Polizeichef. »Ich weiß es«, bestätigte Dai Ichi ungerührt. »Es hat nichts mit Aberglauben zu tun. Die Welt, von der Kommissar Futara berichtet hat, ist ebenso real wie die, in der wir leben. Sie kennt nur andere Erscheinungsformen, gehorcht anderen, nicht etwa den rein physikalischen Gesetzen. Was ist schon dabei?« * Vollmondnacht am Chuzenji. Vom Hotel, nahe dem Tempelbezirk, brach eine merkwürdige Prozession auf. Flankiert von bewaffneten Polizisten in Uniform, schritt der Polizeichef von Tokio mit seinem Gefolge durch die Nacht. Dai Ichi führte die Gruppe. Der Mönch war ungewöhnlich ernst. »Ich würde es bedauern, wenn bei dieser Demonstration jemand zu Schaden käme«, erklärte Dai Ichi. »Diese Dinge vertragen die Behandlung nicht, die wir ihnen angedeihen lassen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich allein gegangen wäre, um Meguro unschädlich zu machen. Ich habe die Dinge sogar auf die Spitze getrieben. Ich habe bis jetzt gewartet, weil zu dieser Stunde Meguro sich erheben wird wie unter einem unheimlichen Zwang. Dann erst werde ich ihn töten, damit er keinen Schaden mehr anrichten kann. Alles andere, fürchte ich, würde Sie nicht überzeugen.« Sai Nido grinste schief. Er glaubte auch jetzt noch nicht an die Worte des Mönches. Er erwartete irgend etwas in der Art, wie es spiritistische Sitzungen zu einem makabren Vergnügen überspannter Geister werden 123 �
läßt. »Wohin gehen wir?« fragte der Polizeichef. Aber Dai Ichi antwortete nicht. Der Mönch schien in Gedanken versunken. Seine Lippen bewegten sich in einem stummen Gebet. Die Männer, die den Chef begleiteten, unterhielten sich ungeniert. Sie machten sich lustig über den nächtlichen Ausflug, und ihr Verhalten grenzte schon an Alberei. Kommissar Futara hielt sich ziemlich am Ende des Zuges. Niemand wollte mit ihm sprechen. Es hatte sich ein Vakuum um ihn gebildet, als wäre er von einer ansteckenden Krankheit befallen. Das Urteil der Experten über diesen Mann stand fest. Er hatte seine Meriten erworben. Aber jetzt wurde es Zeit, daß er einem jüngeren Platz machte. Kommissar Futara mußte nach dieser leidigen Affäre am Chuzenji pensioniert werden. Er hatte den Höhepunkt seiner Schaffenskraft hinter sich. Polizeichef Sai Nido zögerte vor dem schmiedeeisernen Tor des Friedhofs. Er trug braune Reitstiefel und Breecheshosen. Dazu einen Lodenponcho und einen ledernen Hut. Er hatte sich auf einen Nachtmarsch vorbereitet, aber nicht auf einen Friedhofsbesuch. »Das geht zu weit«, murmelte Sai Nido. Seine Gefolgsleute nickten zustimmend. »Scharlatanerie«, fällte ein Diplompsychologe das Urteil, das allen auf der Zunge lag. »Es ist ganz unmöglich, daß es auch nur eine Spur von dem gibt, was uns hier weisgemacht werden soll. Eigentlich ist es Zeitverschwendung, diesem Hokuspokus beizuwohnen. Er wird wahrscheinlich ein Feuer anzünden und geheimnisvolle Kräuter verbrennen. Dann gibt es verschieden gefärbte Flammen, und der Mönch behauptet, der Dämon sei verschwunden, in die Lüfte gefahren.« Ein Chemiker lachte beifällig. 124 �
Allein der Polizeiarzt schwieg beharrlich. Er hatte Zeit gehabt, nachzudenken. Und er besann sich auf alte Rezepturen, die auf der Naturheilmethode beruhten. Sie hatten die gleichen und manchmal erstaunlichere Heilerfolge gebracht wie moderne Pillen und Kapseln, Tabletten und Zäpfchen. Er selbst war sich nicht mehr völlig sicher. Es gab Grenzgebiete, die von einer modernen Wissenschaft über die Schulter angesehen wurden und doch vorhanden waren. Es war eben etwas anderes, nachweisen zu wollen, daß 2 x 2 genau vier war oder die Existenz von Geistern nachzuprüfen. Nicht alles auf dieser Welt ist so klar wie die Mathematik. Gab es deswegen nur die Mathematik? Konnte die Psychologie etwa das Innenleben des Menschen auf eine Handvoll klarer, allgemein verständlicher Formeln bringen? Arbeiteten nicht auch diese Wissenschaftler mit vagen Begriffen wie »erster Eindruck!« Gab es nicht in der Fachliteratur allein neunzig verschiedene Definitionen des Begriffes ›Charakter‹? Dai Ichi jedenfalls ging unbeirrt weiter. Er kümmerte sich nicht darum, ob ihm überhaupt einer folgte. Ihm ging es nicht nur um das Spektakel einer Geistererscheinung. Er zweifelte nicht, er wußte. Und ihm kam es darauf an, am Chuzenji den Frieden wiederherzustellen. Er wollte Meguro daran hindern, auf ewig als Mordgespenst die Gegend unsicher zu machen. Trotz aller Schandtaten hatte der Samurai das nicht verdient. Wirklich bösartig war er erst geworden, als Itsu Sato eingegriffen hatte. Sie erst hatte den Ablauf der Dinge durcheinandergebracht. Jetzt war es für Meguro unmöglich, erlöst zu werden. Er konnte seine Erzfeinde, die Dämonen-Fischer, nie mehr besiegen und seine Ehre wiederherstellen. Jetzt erst war er bösartig wie ein Kettenhund. Mißmutig lief Sai Nido hinter dem gelbgewandeten Mönch her, der hoch aufgerichtet zwischen Grabkreuzen einherschritt, 125 �
als wäre er nicht beeindruckt von der unheimlichen Atmosphäre auf dem Todesacker. Hier lagen Angehörige aller Glaubensgemeinschaften und auch der starken christlichen Fraktionen, die auf Grabhügel und Kränze Wert legten. Dinge, die den Buddhisten fremd waren. In der Ferne brannte wie eine Opferschale voller Blut das ewige Licht. Dai Ichi näherte sich dem Mausoleum. Quietschend öffnete sich die Pforte. Am Eingang lagen die welken Blätter des vorjährigen Laubes, wimmelnd vor kleinen Lebewesen, die auf hurtigen haarigen Beinen davonhuschten. »Licht!« befahl Sai Nido gepresst. Obwohl er sich für einen sehr aufgeklärten Menschen hielt, der nichts für bare Münze nahm, was er nicht logisch erfassen konnte, vermochte er sich der düsteren Atmosphäre des Grabgewölbes nicht ganz zu entziehen. Keinem in seinem Gefolge erging es anders. Alle starrten auf den Katafalk aus schwarzem kaltem Marmor. Die Kommission fand kaum genügend Platz in der Gruft. Es roch modrig. Feucht schimmerten die Wände. Irgendwo schlug eine Turmuhr Mitternacht. Stille trat ein. Das Scharren von Füßen verstummte. Alle beobachteten das Mondlicht, das in einem breiten Streifen über den Boden wanderte, gerade den Fußpunkt des Steinsarges erfasste und daran heraufkroch. Dai Ichi kniete längst am Boden, murmelte Gebete eindringlich, monoton, aber inbrünstig. Er hatte Räucherkerzen entzündet, um sich zu stimulieren. Er trug Pfeil und Bogen auf dem Rücken. Zwei Geschosse hatte er mitgebracht. Im Gürtel steckte der Dolch aus menschlichem Gebein. In diesem Augenblick erreichten die bleichen Strahlenfinger des Mondes den marmornen Katafalk. Ein abgrundtiefes Seufzen ertönte. 126 �
Sai Nido und seine Getreuen entzogen sich mit Leichtigkeit dem ersten Schrecken. Damit konnte man hier niemanden überzeugen. Wer garantierte, daß Dai Ichi nicht Bauchredner war und die Töne selbst erzeugte? Ja, im Sarg konnte vor der Zeit ein Vertrauter Platz genommen haben, der genau wußte, worauf es ankam. Mühelos fanden geschulte Kriminalistengehirne plausible Erklärungen. Da hob sich langsam, mit übermenschlicher Kraft bewegt, der riesige Stein. Eine Hand wurde sichtbar. Die ersten drängten zurück. Langsam aber erhob sich Meguro, der tote Samurai. Nichts als Rache bewegte ihn, Verlangen nach Blut. Seiner wahren Ziele beraubt, blieb von Meguro nur noch das Böse. Raffzähne schimmerten im Halbdunkel des Gewölbes. Die Leute, die Scheinwerfer auf die Szene gerichtet hatten, gaben zuerst auf. Sie ließen die Apparate fallen und stürmten ins Freie. Die anderen, ihrer Verantwortung bewußt, hielten eine Spur länger aus, obwohl die Nerven streikten. Meguro hatte sich zu voller Größe aufgerichtet. Tiefliegende Augen musterten die erstarrte Versammlung. Ein satanisches Grinsen verzerrte den Mund des Mörders. Meguro trug wieder seine Samurairüstung. Dai Ichi aber legte den Bogen an. Er visierte sorgfältig die gepanzerte Brust des toten Samurai an. Meguro kam langsam näher, zückte sein Schwert, holte zum Schlag aus. Die Klinge pfiff durch die Luft. Da schoß der Polizeichef. Alle verfolgten den Einschlag der Kugel. Sai Nido war kein Stümper. Er galt als bester Pistolenschütze unter seinen Männern. 127 �
Zwischen den Gliedern des Panzerhemdes aber quoll ein weißliches Sekret hervor. Mehr Wirkung erzielte das Geschoß, das sonst auf diese Entfernung jeden Menschen tötete, nicht. Meguro aber warf knirschend den Schädel ins Genick. Er lachte schauerlich. Dann setzte er sich erneut in Bewegung. Dai Ichi wurde angestoßen durch einen Beamten, der blindlings die Flucht ergriff, als das Ungeheuer sich in Bewegung setzte. Der silberne Pfeil schwirrte harmlos über die Schulter des Mordgespenstes und klirrte gegen die Wand des Mausoleums. Ungerührt wich der Mönch aus, legte das zweite Geschoß auf die Sehne, während Sai Nido das Magazin in rasender Schnelligkeit leerte. Jeder sah die Projektile, die sich knirschend durch das Kettenhemd bohrten und vom Leib des Unirdischen wie von einem Schwamm aufgesogen wurden. Die Phalanx der Leiber geriet in Bewegung, weil Meguro heranstapfte. Die Männer behinderten sich gegenseitig. Einer kam zum Schluß aus dem Gleichgewicht, als er die kleine Treppe nehmen wollte, die hinaufführte in das Reich der Toten und Gräber. Er ruderte mit den Armen. Dai Ichi, der sich ebenfalls zurückgezogen hatte, wollte ihm zur Hilfe eilen. Aber der Mönch griff daneben. Der Unglückliche war bereits mit einem gellenden Schrei hintenüber gestürzt und landete vor den Füßen des Gepanzerten. Meguro quiekte vor Entzücken. Todesmutig sprang Dai Ichi vor. Er hörte nicht den warnenden Schrei inzwischen überzeugter Zuschauer, die zitternd hinter Grabkreuzen knieten. Entschlossen führte der Mönch den Knochendolch. Die Waffe fand ihren Weg, aber sie richtete keinen Schaden an. Unwillig schüttelte Meguro das zottige Haupt, sah sich um 128 �
sein Vergnügen gebracht. Es war, als wäre der unbeschreibliche Blutdurst seiner Mutter über ihn gekommen. Meguro wandte das bleiche Gesicht mit dem grässlichen Maul. Ein heiserer Wutschrei schlug dem Mönch entgegen. Welch geheimnisvoller Zauber machte Meguro immun gegen alle Waffen, die gegen ihn ins Feld geführt wurden? Nichts wirkte, was vorher unfehlbar gewesen schien. Es sah fast so aus, als hätte das personifizierte Böse an Kraft und Einfluß gewonnen. Dai Ichi brachte sich im letzten Augenblick in Sicherheit. »Wir brauchen gepanzerte Fahrzeuge«, brüllte der Polizeichef. »Und Flammenwerfer. Das ist die richtige Medizin für diesen Unhold.« Der Mönch lächelte wissend. »Wir ziehen uns zurück«, befahl er mit der Autorität dessen, der um diese Dinge wußte. »Wir können nichts machen, sondern nur hoffen, daß Meguro in dieser einen Stunde, die ihm vom Teufel gewährt worden ist, nicht allzu viel Unheil anrichtet. Danach kehrt er in den Sarg zurück. Ich weiß noch ein Mittel, um ihn sicher zu erledigen. Wenn auch das versagt, gebe ich auf.« Meguro stampfte die Stufen herauf, mit eckigen Bewegungen. Sein blutverschmiertes Gesicht, bleich, blieb völlig unbewegt. »Wir müssen den Kerl hier beschäftigen«, warnte der Mönch. »Sonst sucht er in den Häusern neue Opfer.« Es wurde die längste Stunde im Leben des Polizeichefs und seines erhabenen Gefolges. Dai Ichi, wäre er eine andere Natur gewesen, hätte Gefallen gefunden an der Vorstellung. Die Wissenschaftler katzbalgten sich plötzlich mit etwas, was sie noch kurz vorher geleugnet hatten. Meguro, den sie ins Reich der Phantasie verbannt hatten, war leibhaftig hinter ihnen her. Er ließ sich durch nichts aufhalten. Er war so real wie ein Auto, eine 129 �
Dampfwalze. Kaum aber schlug es ein Uhr, da schien alles Leben aus Meguro zu entweichen. Er alterte zusehends. Müde schleppte er sich in sein Versteck. Er schien mit letzter Kraft seinen makabren Zufluchtsort zu erreichen, sank in die Gruft und schloß die Deckelplatte hinter sich. »Unglaublich«, murmelte Sai Nido. Dai Ichi aber bat die Herren, ihm zu helfen. Er selbst konnte die schwere Steinplatte nicht bewegen. Mit vereinten Kräften schoben die Männer den Deckel zur Seite. Es sprach für den Polizeichef, daß er mit anfasste. Mehrmals entschuldigte er sich bei Kommissar Futara. »Ich habe zunächst auch nicht daran glauben wollen«, sagte der Kommissar. »Jetzt überrascht mich schon gar nichts mehr.« Dai Ichi malte magische Linien auf die Brust des Unwesens, das friedlich in seiner Gruft lag. Die Augen standen weit offen. Aber die Pupillen starrten unbewegt geradeaus, waren in unbekannte Fernen gerichtet. Das Gesicht war wieder bleich und eingefallen. Nur die Vampirzähne ragten deutlich heraus. Dai Ichi nahm den senkrechten Balken des geweihten Kreuzes. Er hatte das Holz sorgfältig angespitzt. Mit aller Kraft holte der Mönch aus und stieß den Pflock in das gekennzeichnete Herz des Ungeheuers. Ein entsetzlicher Schrei ließ das Mausoleum erbeben. Blut schoß aus der furchtbaren Wunde. Und plötzlich flatterte eine Fledermaus über den Köpfen der erschrockenen Männer. Das pelzige Tier zirkelte durch die Gruft. Weit öffnete sich das hässliche Maul, stieß unhörbar klagende Schreie aus. Dann fand das Untier einen Ausweg und huschte aus dem Mausoleum, flog dem Mond entgegen, der still und unbewegt seine Bahn zog. 130 �
Meguro aber verfiel zusehends. Er schrumpfte und was blieb, war ein Bündel morscher Knochen, blutleeres, mumifiziertes Gewebe, ein Kettenhemd, ein Helm, in dem der Totenschädel ruhte, und ein Schwert aus der Tokugawa-Zeit, um dessen Knauf sich eine fleischlose Hand krampfte, die entfernt an eine Vogelklaue erinnerte und deren Anblick jedem Betrachter einen Schauer über den Rücken jagte. Dai Ichi richtete sich auf. Sein Körper entspannte sich. Er verbeugte sich stumm vor dem Polizeichef und zog sich zurück. Noch in der gleichen Nacht aber kehrte er in sein Kloster zurück, um sich weiter seinen okkulten Studien zu widmen. Kommissar Futara aber genoß wieder die Gnadensonne, die seine Vorgesetzten über ihm leuchten ließen. Ihm winkte Beförderung. »Am besten übernehmen Sie gleich die fällige Pressekonferenz. Sie verstehen sicher viel mehr von diesen Dingen und können sie den Journalisten entsprechend plastisch schildern«, sagte der Polizeichef grinsend. Seine Hofleute lachten schadenfroh. Der Alltag war zurückgekehrt. Es wurden wieder die alten Intrigen gesponnen. Der Chef schob anderen unangenehme Aufgaben zu. »Ich reiche meine Entlassung ein«, erklärte Futara mit fester Stimme, »ich weiß, daß auf diesem Gebiet noch zahllose Probleme der Lösung harren.« ENDE
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