Gruselspannung pur!
Die Rache des gehenkten Riesen
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Odin, der König aller ge...
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Gruselspannung pur!
Die Rache des gehenkten Riesen
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Odin, der König aller germanischen Götter, saß auf seinem Lieblingsplatz und lachte. Mitten in Asgard, seiner mythischen Heimstätte. Hier lebten auch die anderen Aspen, wie die alten Götter des Nordens genannt wurden. Weit entfernt von der Welt der Menschen. Wenn sich der mächtige Odin amüsierte, wackelte sogar die Weltesche. Jetzt hatte er es sich auf seinem Hochsitz bequem gemacht und blickte in die Vergangenheit und die Zukunft. Das war für ihn so leicht, als würden wir uns durch die Fernsehprogramme zappen. Odin amüsierte sich über die Dummheit der Menschen und über ihre Leichtgläubigkeit. Es juckte ihn in den Fingern, mal wieder in der Gestalt eines einfachen Mannes unter sie zu treten. Und innen ein paar Streiche zu spielen. In seinem Heidenspaß übersah er die tödliche Gefahr… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
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Doch Odin war ein Gott. Er hatte unvorstellbare Fähigkeiten. Deshalb bemerkte er gerade noch rechtzeitig den großen, scharfgezackten Felsen, der auf ihn zuraste! Der Einäugige auf dem Prophezeiungs-Hochsitz hob seinen Schild. Er war von Elfen aus Bronze gefertigt worden. Mit ihren Tränen hatten sie das heiße Metall abgekühlt. Durch die Elfentränen war der Schild praktisch unzerstörbar geworden. Der Felsen zerbarst in tausend Stücke! Odin drehte sich um. »Was soll der Unfug, Kalpa? Warum wirfst du mit Kieselsteinen nach mir?« Seine Worte galten einem grauenerregenden Riesen, der plötzlich aus dem Schatten der Weltesche getreten war! * Vergangenheit Kaipas Anblick war entsetzlich. Der lauernde Blick seiner haßerfüllten Augen drang nur schwach durch die zusammengekniffenen Lider. Als ob er starker Sonneneinstrahlung ausgesetzt wäre. Dabei spielten die Gestirne hier in Asgard keine Rolle. Es war gleichzeitig Tag und Nacht. Es war sowohl heiß als auch kalt. Die Begriffe der Menschenwelt wollten hier nicht passen. Das war Kalpa egal. Er haßte die Menschen genauso wie die Götter. Sie waren die Erbfeinde der Riesen. Und ganz besonders dieser verdammte Odin, der ihm schon wieder Hörner aufgesetzt hatte! »Ich habe dich gewarnt!« brüllte Kalpa. Er fletschte seine schwarzen Zähne. Sein Zeigefinger war so lang und dick wie ein uralter Eichenast. Er richtete ihn drohend auf den Allvater der Äsen, der inzwischen von seinem Hochsitz heruntergesprungen war. »Wenn du meine Frau noch einmal anrührst, dann bist du fällig!« »Deine Frau? Lundis?« Odins Lachen war nun noch lauter als zuvor. Wenn das überhaupt möglich war. Er hielt sich mit beiden Händen den Bauch. Einige andere Götter schauten herüber. Tyr, Loki und Baldr. »Dein Weib Lundis ist wie eine läufige Hündin, Kalpa! Binde sie an, wenn du deine Ruhe haben willst!« 3
»Ich schlag dich tot, du Fehlgeburt einer Riesin!« brüllte Kalpa. Er schwang seine mächtige stachelbewehrte Keule und griff an. Odin war wirklich der Sohn der Riesin Bestla und des Bor. Doch trotz dieser Verwandtschaft zum Riesengeschlecht wollte er von diesen dumpfen Grobianen nichts wissen. Der oberste Germanengott hatte zwar selbst nichts gegen einen guten Kampf einzuwenden. Aber er liebte auch die Weisheit, das Dichten und natürlich die Frauen. Vor allem die Frauen. Das würde ihm eines Tages noch zum Verhängnis werden. Es schien fast so, als ob er nun den Bogen überspannt hätte. Denn Kalpa war ein furchtbarer Gegner. Obwohl Odin der mächtigste unter den Göttern war, überragte ihn der brutale Riese doch um einige Klafter. Kaipas Keule fuhr nieder. Ganz Asgard schien zu erbeben, als die Waffe auf dem Boden aufschlug. Odin hatte gerade noch im letzten Augenblick zur Seite springen können. Nun verfluchte der einäugige Allvater sich selbst. Nicht etwa dafür, daß er es mit dieser Lundis getrieben hatte. Das Riesenweib hatte Brüste wie Metfässer! Und Odin wäre nicht er selbst gewesen, wenn er da hätte widerstehen können. Nein, er machte sich Vorwürfe, weil er Gungnir nicht bei sich hatte, seinen magischen Speer, der nie das Ziel verfehlte. Aber Gungnir lag noch in Walhalla. Dem unvorstellbar großen Gebäude in Asgard, in dem die gefallenen Krieger lebten. Sie wurden dort von den schönen Walküren mit Met abgefüllt, um für den letzten Kampf gegen das Böse gestärkt zu sein. Und wo es Met gab, da war auch Odin nicht weit. Schließlich stellte das Gebräu seine einzige Nahrung dar. Der Einäugige wich nicht zurück vor dem Riesen. Jetzt stellte er sich zum Kampf. Auch ohne Waffen. Odin packte nun seinerseits einen Felsbrocken und warf ihn Kalpa entgegen. Doch der Riese röhrte nur auf und zerschmetterte das Gestein mit seiner Keule. Die anderen Götter hielten sich zurück. Auch Loki, Odins Blutsbruder. Das war eine Sache, die sich der Allvater selbst eingebrockt hatte. Und nun auch auslöffeln mußte. Nur die Wölfe Odins, Geri und Freki, warteten mit gefletschten Zähnen auf ein Zeichen ihres Herrn. Sie hatten es sich vor dem Prophezeiungs-Hochsitz gemütlich gemacht. Wie treue Hunde folgten sie ihrem Meister überall hin. »Verflucht will ich sein!« röhrte Kalpa. »Krepier endlich, du alter 4
Bock!« Seine Keule erwischte Odin an der Schulter. Ein Mensch wäre von diesem Schlag in Millionen Einzelteile zerfetzt worden. Doch der Einäugige war ein Gott. Aber wie alle anderen Wesen in der germanischen Mythologie war auch er verletzlich und sterblich. Odin steckte den Schlag weg, ohne zu jammern. Aber ihm wurde klar, daß er den vor Haß Tobenden nicht unterschätzen durfte. »Ausnahmsweise hast du Recht, Kalpa! Du bist verflucht! Und das werde ich dir gleich beweisen!« Der göttliche Allvater überschüttete seinen Gegner mit Hohn. Um ihn noch wütender zu machen. Und dadurch zu schwächen. Heute nannte man so etwas psychologische Kriegführung. Kalpa hatte sein Schlaginstrument mit beiden Händen gepackt. Und hieb damit wild um sich. Odin täuschte an, wich aus und verpaßte seinem Gegner einen Schulterstoß. Der Riese brüllte auf. Odin setzte nach. Die Faust des Gottes nagelte gegen die schwarzen Zähne des ungeheuren, stark behaarten, nackten Hünen. Kalpa mußte seine eigenen Beißerchen schlucken. Doch gleich darauf wuchsen sie wieder nach. Riesen verfügten zwar nicht über so starke magische Kräfte wie Götter, aber ganz ohne waren sie auch nicht. »War das alles?« höhnte nun der Koloß seinerseits. »Geh lieber zurück zu den Weibern, Odin!« Seine gräßliche Fratze verzerrte sich noch mehr, als er die stachelbewehrte Keule wie einen Rammpfahl gegen den Kopf des Gottes stieß. Der Einäugige konnte noch halbwegs ausweichen, doch das Schlaginstrument hatte sein Ohr zerfetzt. Nun wurde Odin langsam sauer. Aus seinen Pupillen schossen plötzlich haarfeine Lichtstrahlen. Sie waren kaum wahrnehmbar. Aber sie hatten eine überwältigende Wirkung. Brüllend faßte sich Kalpa mit beiden Pranken in die Augen, dabei ließ er seine Keule fallen. Odin hatte ihn geblendet! Diese Chance ließ sich der Allvater der Äsen nicht entgehen. Er packte das Schlagholz, das kein Mensch jemals hätte hochheben können. Und dann schlug er in rasender Wut auf seinen riesenhaften Gegner ein, bis dieser am Boden lag. 5
Odin mußte die Sache zuende bringen. Die uralten Gesetze verlangten es. Der Riese hatte es gewagt, sich gegen den obersten der Götter aufzulehnen. Und dafür gab es nur eine Strafe: den Tod durch den Strang! Der mächtige Einäugige gab seinen beiden Wölfen ein Zeichen. Geri und Freki hetzten los. Und kehrten gleich darauf mit einem mächtigen Tau in den Mäulern zurück. Odin nahm es von seinen wölfischen Gefährten entgegen. Und bevor Kalpa wußte, wie ihm geschah, hatte er eine Henkersschlinge um den Hals! Der Götterkönig warf das andere Ende des Taus über den höchsten Ast der Weltesche. Er würde Kalpa höchstpersönlich aufknüpfen. Wie es die ewigen Gesetze des Universums verlangten. »Weh dir!« würgte der Riese hervor, als er langsam in die Höhe gezogen wurde. Er zerrte mit beiden Fäusten an der Schlinge. Aber es nützte nichts. Odin verstand sein Handwerk. Nicht umsonst wurde er Herr des Galgens genannt. »Halt die Luft an!« entgegnete Odin trocken. »Solange du noch welche hast…« Und wirklich verschlossen sich die Lippen des Riesen, während der Götterkönig ihn höher und höher zog. Doch plötzlich schienen die geblendeten Augen des Hünen von einem bösen Glanz erfüllt zu werden. »Ich komme wieder, Odin! Mit Hilfe eines Einäugigen! Ich werde dich und deine Brut in den Staub treten! Und dann gibt es keine Gnade mehr! An der Spitze eines Riesenheeres vernichte ich Midgard, die Welt der Menschen. Und dann seid ihr an der Reihe. Asgard wird den Riesen gehören, wenn die Götter tot sind!« »Du spinnst wohl, Kalpa!« rief der Götterkönig, daß es nur so schallte. »Was für ein Einäugiger denn? Vielleicht ich selber? Glaubst du, ich vertreibe mich und die Meinen aus Asgard? Und überhaupt - für Prophezeiungen bin ich zuständig! Dafür brauche ich keine halbtoten Riesen…« Kalpa erwiderte nichts mehr. Nur noch ein nervenzerfetzendes Röcheln ertönte aus dem Gestrüpp seines wilden Bartes. Er schwang an seinem Tau an der Weltesche hin und her. Dann war sein Genick endgültig gebrochen. Odins Blick ruhte auf der hin und her pendelnden Leiche des Hünen. Die Weissagung mit dem Einäugigen beschäftigte ihn. Er selbst, Odin, hatte schließlich ein Auge geopfert, um einen Blick 6
in den Born der Weisheit tun zu dürfen. Und es hatte sich gelohnt. Desto rätselhafter erschienen ihm die letzten Worte des Riesen. Wahrscheinlich nur ein Trugbild des nahenden Todes, beruhigte sich der Göttervater selbst. Kalpa wollte mit Hilfe eines Einäugigen wiederkehren? Was für ein Unsinn! Er, Odin, würde ihm bestimmt nicht dazu verhelfen. Und einen anderen Einäugigen kannte er nicht hier in Asgard. Der Göttervater verschwendete keinen Gedanken mehr an Kalpa. Das war ein Fehler. Trotz seiner Weisheit fiel Odin nicht ein, daß der gehenkte Riese ja auch ein ganz anderes Wesen gemeint haben könnte, dem ein Auge fehlte. Ein besonders bösartiges Wesen. Aus einer höllischen Dimension. Eine Kreatur, die unter dem Namen Dracomar für Angst und Schrecken sorgte! * Gegenwart Dracomar. Der Name hatte sich in mein Gehirn gebrannt. Ich, Mark Hellmann, hatte schon einige erbarmungslose Kämpfe mit dem »Alten des Schreckens« ausgefochten. Der Mega-Vampir, der auch der »Blutdruide« genannt wurde. Genauer gesagt, hatte mit seinem ersten Erscheinen meine Mission begonnen (Siehe MH 1!). Meine Bestimmung, die mir in die Wiege gelegt worden war, als Kämpfer des Rings gegen die Mächte der Finsternis anzutreten. »Mark! Träumst du?« Diese Worte waren von Ulrich Hellmann gekommen, meinem Vater. So nannte ich ihn, obwohl er und seine Frau Lydia »nur« meine Adoptiveltern waren. Aber ich liebte den pensionierten Kripomann und seine warmherzige Frau wie meine richtigen Eltern, die ich nicht kannte. Ein Geheimnis umgab meine Herkunft. Und das war einer der Gründe, warum ich an diesem kühlen Frühlingstag in der dritten Märzwoche 1999 mit Ulrich in seinem Arbeitszimmer zusammensaß. Im elterlichen Reihenhaus, das in der Siedlung Landfried lag. Am Rande von Weimar, der Europäischen 7
Kulturstadt 1999. »Ich träume nicht, Vater«, sagte ich wehmütig lächelnd und fuhr durch mein blondes Haar. »Ich denke nur daran, wie alles anfing…« »Wer kann das schon sagen?« Ulrich zwirbelte seinen weißen Schnurrbart. »Dracomar ist 1998 erstmals in unser Leben getreten«, gab ich zu bedenken. »Ich habe gegen diesen Teufelsdiener gekämpft. Bei den Schreckenstagen von Weimar habe ich erfahren, welche Kräfte mein Ring hat…« Unwillkürlich deutete ich auf den Siegelring, den ich an der Hand trug. Mit ihm konnte ich in die Vergangenheit reisen, das Kleinod warnte mich vor dämonischem Einfluß und anderem mehr. Er war das einzige Stück aus meiner frühen Kindheit, das ich besaß. Dieser Ring war mit einem Lederband an meinem Hals befestigt gewesen, als ich in der Nacht nach Walpurgis 1980 gefunden wurde. Als Zehnjähriger. In der Weimarer Altstadt. Nackt und völlig orientierungslos. Der ehemalige Kripomann nickte wissend. Er hatte mich seinerzeit als sein Kind aufgenommen. Mich beschützt. Nicht nur vor dem sozialistischen Staat, der damals zu DDR-Zeiten mit meiner mangelnden Anpassungsfähigkeit arge Probleme hatte. Sondern auch vor den Mächten der Hölle. Einmal hatte Ulrich an meiner Stelle gegen Mephisto gekämpft, den Herrscher der Hölle. Meinen Erzfeind. Als ich noch zu jung war, um diese Aufgabe selbst erfüllen zu können. Seine Tapferkeit hatte der rüstige Pensionär mit einer bleibenden Behinderung bezahlt. Ein Fußgelenk und ein Handgelenk waren seitdem steif geblieben. »Da haben wir erstmals die widerwärtige Vampirfratze von Dracomar gesehen«, stimmte mir mein Vater zu. Er klopfte auf ein schweinsledergebundenes Buch aus dem 15. Jahrhundert. »Aber wer weiß, wie oft du den Blutdruiden schon vorher getroffen hast.« Damit spielte er auf die wie Erz klingende geheimnisvolle Stimme an, die mir von meiner Bestimmung erzählt hatte. Und davon, daß ich die letzte von unendlich vielen Wiedergeburten sei. Reinkarnationen eines Mannes, der gegen das Böse kämpft. Das war ich. Markus Nikolaus Hellmann. So hatten mich Ulrich und Lydia genannt. Mich, das namenlose 8
Kind mit der unbekannten Herkunft. Auf meine beiden Vornamen waren sie durch die Initialen auf dem Siegelring gekommen. Ein stilisiertes M und N. Umschlungen von einem herrlichen Drachen. Inzwischen hatten wir herausgefunden, wer den Siegelring hergestellt hatte. Es war Nostradamus gewesen, der legendäre französische Prophet aus dem 16. Jahrhundert (Siehe MH 31!). Das M und das N standen ursprünglich für Michel de Notre Dame, wie der Seher eigentlich hieß. Inzwischen hatte ich ihn, der durch Zeit und Raum reisen konnte, persönlich kennengelernt. Er war mein väterlicher Freund und Mentor geworden. Daher symbolisierten die beiden Buchstaben jetzt auch die Verbundenheit zwischen mir, Mark, und Nostradamus - M und N. »Dracomar ist auch als der Blutdruide bekannt«, dachte ich laut nach. »Vielleicht ist er erstmals in Erscheinung getreten, als die Macht der druidischen Priester ihren Höhepunkt erlangte…« Vater und ich hatten uns endlich einmal vorgenommen, dem Rätsel um die Herkunft dieser grauenvollen Gestalt auf den Grund zu gehen. Darum saßen wir an diesem frischen Frühlingstag in Ulrichs Arbeitszimmer zusammen. Ich bin normalerweise kein Stubenhocker. Mein durchtrainierter Körper braucht Bewegung. Seit ich kein aktiver Zehnkämpfer mehr bin, halte ich mich mit verschiedenen Kampfsportarten fit. Das viele Herumsitzen hatte mich schon an meinem Studium der Völkerkunde und Geschichte genervt. Aber zum Glück habe ich es schon vor einigen Jahren abgeschlossen. Meine Bestimmung als Kämpfer des Rings hätte mir wohl auch kaum Zeit für Seminare und Vorlesungen gelassen. Ich bin froh, wenn ich als freier Journalist ab und zu ein paar Mark verdiene. Es ist nicht mein Schicksal, reich zu werden. Doch dank der gelegentlichen Sachverständigenhonorare, den netten Sümmchen für meine Fernsehauftritte und des jüngst gezahlten Finderlohns komme ich doch immer wieder über die Runden. Und wenn der Kühlschrank leer ist, fahr ich halt zu Muttern. Hart wird dein Leben sein, karg und voller Gefahr. Das hatte mir die erzene Stimme prophezeit, als die Schreckenstage von Weimar begannen. Und bisher war diese Weissagung vollends eingetroffen… Ulrich Hellmann schlug das antike Buch auf, wobei ihm eine weitere Staubwolke entgegenkam. Seit mein Vater pensioniert ist, hat er ein umfangreiches Archiv zu okkulten und 9
unerklärlichen Ereignissen aufgebaut. Zu seiner Bibliothek kommen noch Geheimtexte, die er auf der Festplatte seines Computers gespeichert hat. Per Internet hält er Kontakt zu ernsthaften Okkultisten in aller Welt, die sich, ich eingeschlossen, in der sogenannten »Liga« locker zusammengeschlossen haben. »Dieses Werk über geheime Druidenzirkel wurde mir von Dr. Paul Abaringo geschickt, Mark.« Ich nickte. Der Parapsychologe lebte in Pretoria, in Südafrika, und war von zwergenhaftem Wuchs. Auch er wußte von unserem ständigen Kampf gegen Dracomar. Er schlug das Werk auf. Es war in altdeutschen Frakturbuchstaben gesetzt. »Von den Teuffelsdruyden« stand als Titel auf dem Vorsatzblatt. Und die Jahreszahl 1701. Ulrich und ich steckten die Köpfe zusammen. Und begannen, den Text Wort für Wort zu lesen. In alter Zeyt, als noch kaum ein Christenmensch in teutschen Landen ist gewest, haben die Priester von den Heiden allerlei grausam Spiel getrieben. Haben die Bäume angebetet wie den Heiland. Mensch und Tier seyn bey den Opfern für die Götzen gewesen. Blut ist geflossen wie der Regen bey der Sintflut. »Das ist nichts Neues«, meinte ich. »Als dieses Buch geschrieben wurde, hat man kein gutes Haar an der alten germanischen Religion gelassen. Daß die Bäume, besonders die Eichen, den alten Kelten und Germanen heilig waren, habe ich schon im zweiten Semester gelernt.« »Nicht so ungeduldig, Mark«, mahnte mein Vater. »Es geht doch noch weiter.« Bey all dem lästerlichen Treiben ist eine Teuffelsbrut gewest, die es am Schlimmsten getrieben. Eine Schande, bey der sich die Feder sträubt, wenn es geschrieben werden soll. Diese Teuffelsbrut seyn die Brutdruyden gewesen. Die Blutdruiden! Da stand es schwarz auf weiß. Dracomar war auch ein Blutdruide. Er hatte schließlich schon oft genug damit geprahlt. Seit einiger Zeit wußte ich, wie ich ihn zumindest zeitweise vertreiben konnte (Siehe MH 27!). Aber ich wollte ihn endgültig vernichten. Er war ein schwarzmagisches Wesen, das schon unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Dieser heimtückische Dämon war eine tödliche Bedrohung für die ganze Menschheit. 10
»Das Buch handelt also wirklich von Dracomar und seinen Artgenossen«, sagte ich. Inzwischen waren wir mit Lesen unten auf der Seite angekommen. Ich schlug das Blatt vorsichtig um. Vor ewiger Zeyt, als die Welt noch jung war, seyn gar schreckliche Wesen unter den Menschen gewest. Tiger, so gross wie Ochsen. Elefanten, riesig wie Kirchen und mit dickem Fell. Aber am schlimmsten seyn die Blutdruyden oder Teuffelsdruyden gewest… Gespannt wollten wir weiterlesen. Doch plötzlich verfärbten sich die Buchstaben auf dem alten Papier. Von schwarz zu rot. Sie schienen plötzlich aus Blut zu bestehen. Wie blutige Tränen rannen sie die Seiten hinunter! Mein Ring glomm schwach auf. »Vorsicht, Vater!« brüllte ich. Sprang gleichzeitig auf. Mein Stuhl kippte um. Einige der roten Tropfen fielen auf meine Hose. Ein eiskaltes Lachen verhöhnte uns. Es kam von Dracomar. Der Blutdruide schwebte direkt über unserem Tisch! Ich griff nach einem Kruzifix, das an der Wand hing. »Gib dir keine Mühe, Hellmann! Ich habe dir nur meinen Stellvertreter geschickt!« Dracomar hatte Recht. Was er mit »Stellvertreter« meinte, war sein feinstoffliches, geisterhaftes Trugbild. Der Alte des Schreckens konnte nämlich an zwei Orten und Zeiten oder Dimensionen gleichzeitig sein. Einmal mit seinem dämonischen, aber auch zerstörbaren Körper. Und einmal in der Variante der »Erscheinung«. Der Vorteil für uns war, daß er uns mit diesem Geistkörper nicht angreifen konnte. Darum hatte auch mein Ring nur so schwach reagiert. »Was willst du, Bestie?« blaffte ich. »Euch ärgern, was sonst? Schönes Buch habt ihr da, Hellmann senior und junior. Leider inzwischen etwas unleserlich.« Er lachte dreckig. »Aber was soll's? Grau, teurer Freund, ist alle Theorie. Und grün des Lebens goldner Baum. Das hat Goethe geschrieben. Vergeßt das Bücherwissen, wollte er damit sagen.« »Du bist ja ein Blutsauger mit Bildung!« höhnte ich. »Das Gedicht muß umgeschrieben werden«, erwiderte Dracomar heimtückisch, während seine Erscheinung immer mehr verblaßte. »Rot ist des Lebens Leichenbaum. Wie Hellmanns Blut - man glaubt es kaum. Mit Riesenschritten kommt der Tod bringt über Weimar Leid und Not.« 11
»Mit deinen Kloversen kannst du noch nicht mal kleine Kinder erschrecken!« brüllte ich ihm hinterher. Doch der Spuk war im wahrsten Sinne des Wortes vorbei. Mein Ring war abgekühlt. Er prickelte auch nicht mehr. Die dämonische Aktivität hatte aufgehört. Ulrich blätterte mit zusammengezogenen Augenbrauen in dem antiken Buch. Es war jetzt völlig wertlos. Dracomar hatte durch seinen Zauber alle Buchstaben in flüssiges Blut verwandelt. »Was sollte wohl dieses Gastspiel des Blutsaugers, Mark?« Ich zuckte mit den Achseln. »Er wollte seine Spielchen mit uns treiben. Darin unterscheidet er sich kaum von seinem Herrn und Meister Mephisto. Dracomar läßt die Muskeln spielen. Er will uns zeigen, daß er uns jederzeit und überall ans Leder kann. Aber diesmal hat er sich verrechnet.« »Wieso?« wollte Ulrich wissen. »Ich glaube, Dracomar hat das Buch aus einem bestimmten Grund vernichtet. Weil wir auf der richtigen Spur gewesen sind. Weil er Angst hat, daß wir das Geheimnis seiner Herkunft erfahren könnten. Es gibt also einen schwachen Punkt bei ihm. Den müssen wir finden. Und dann…« Ich machte eine Geste, als wenn ich einen Pflock in das Herz eines Vampirs hämmern wollte. Das hatte ich bei Dracomar schon einmal versucht. Leider war ich damals noch zu unerfahren gewesen. Ich hatte nicht gewußt, daß man mit dieser Methode zwar »normalen« Vampiren beikommen kann. Nicht aber diesem Blutdruiden. Es mußte einen anderen Weg geben, seine untote Existenz zu beenden. Ich wollte noch mehr sagen, aber da schlug mein Handy an. Sofort aktivierte ich das Mobiltelefon. »Hellmann!« »Mark, hier ist Pit.« Peter Langenbrach. Hauptkommissar bei der Weimarer Kripo und mein bester Freund. Obwohl wir in diesem Moment telefonierten, glaubte ich förmlich vor mir zu sehen, wie sich sein imposanter Schnurrbart sträubte. Mit mir zusammen hat Pit schon so manches Abenteuer gegen schwarzmagische Unholde bestanden. »Was gibt's Neues, Pit?« »Du mußt sofort herkommen. Ein junger Mann wird vermißt…« »Ich will ja nicht kleinkariert sein. Aber du arbeitest bei der Polizei, nicht ich. Ihr müßt doch die Vermißten suchen, die…« 12
»Normalerweise schon«, fiel mir der Hauptkommissar ins Wort. »Aber diesmal liegt der Fall anders. Dieser Vermißte wurde von einem Riesen verschleppt!« * Dracomar rieb sich zufrieden seine widerwärtigen Vampirkrallen. Während sein »Stellvertreter« in der Menschenwelt Mark Hellmann und den alten Knacker ärgerte, blieb der »wahre« Blutdruide in der Hölle nicht untätig. Immer wieder suchte er nach Möglichkeiten, um seine Machtposition in der Welt der Menschen auszubauen. Hellmann war dabei immer noch sein Haupthindernis Nummer eins. Aber es gab auch andere, die dem Einfluß des Bösen zu widerstehen versuchten. Dracomar war also ständig auf der Suche nach neuen Verbündeten. Und jetzt hatte er einen sehr vielversprechenden Schurken gefunden. Kalpa! Zeit und Raum spielten keine Rolle für den Blutdruiden. Deshalb hatte Dracomar es auch sofort spitzgekriegt, als Odin seinen Gegner gehenkt hatte. Und während Kalpa noch an seinem Strick krepierte, war der Blutdruide als Geist bereits in ihn gefahren. Und hatte ihm die Prophezeiungen ins Ohr geflüstert, mit denen sich der Hüne dann aus dem Leben verabschiedet hatte. Er selbst, Dracomar, war der Einäugige, der Kalpa helfen würde! Natürlich nicht uneigennützig. Der Alte des Schreckens dachte immer an den eigenen Vorteil zuerst. Durch den Vampirbiß des Blutdruiden erwachte der Riese in der Hölle wieder zu untotem Leben. Sein ohnehin schon starker Körper erschien jetzt praktisch unbesiegbar. Sein neuer Riesenkörper, der eine exakte Kopie des alten darstellte. Denn Kaipas ursprünglicher Leib hing immer noch an der Weltesche. Und wurde dort von den Raben gefressen. Der Riese staunte daher nicht schlecht, als er plötzlich zwischen all den haushohen Flammen und den Entsetzensschreien der Sünder in der Hölle wieder zu sich kam. Und über seinen kräftigen Riesenkörper verfügen konnte! »Du bist der Einäugige!« sagte er zu Dracomar, als er ihn erblickte. 13
Der Blutdruide nickte huldvoll. Er war wie immer in seinen schwarzen Umhang gehüllt, der mit roter Seide gefüttert war. Sein Gesicht war grauenvoll entstellt. Mark Hellmann hatte seine Visage einst mit Weihwasser bespritzt. Auf den Dämon hatte diese Flüssigkeit dieselbe Wirkung wie Säurefraß bei einem normalen Sterblichen. Dadurch hatte er auch sein Auge verloren. »Warum bist du einäugig?« fragte Kalpa neugierig. »Das geht dich nichts an!« schnauzte der Blutdruide. Doch gleich darauf wurde er wieder freundlich. Er grinste gewinnend. Seine dolchspitzen Eckzähne waren zu erkennen. Schließlich brauchte er Kalpa. Und dessen titanenhafte Kräfte… »Warum hast du mir meinen Körper zurückgegeben?« Mißtrauisch bückte sich Kalpa um. Er packte ein rotglühendes Stück Höllengestein und ließ es auf seinen Fuß fallen. Er wollte sich vergewissern, daß sein Leib echt war. Das war er. Es tat nämlich gemein weh. Auf jaulend packte der Riese seine Zehen mit beiden Händen. Dracomar hätte am liebsten die Augen verdreht, angesichts der Dummheit seines Bundesgenossen. Statt dessen zog er ihn in einen Bereich, wo die Schreie der Verdammten nicht ganz so laut waren. Vorbei an kleinen Unterdämonen, die ihre Opfer abwechselnd in glühende Lava und in Eiswasser tauchten. Wieder und wieder. Bis in alle Ewigkeit. Anbiedernd legte er seine Vampirklaue auf die behaarte Schulter des Titanen. »Du und ich, wir werden unsere Rache gemeinsam vollenden. Odin überlasse ich dir…« »Odin!« Der Name genügte, um das Feuer des Hasses in dem primitiven Gesicht des Kolosses auflodern zu lassen. »Ich werde diese Götterwanze zerquetschen!« Der Blutdruide lachte meckernd. »Sehr gut. Und wenn du Odin vernichtet hast, wirst du die Welt der Menschen stürmen…« »Die Welt der Menschen? Midgard meinst du?« Zweifelnd fuhr sich Kalpa über seine niedrige Stirn. »Die Menschen sind Würmer. Aber es gibt einige, die sich auf den weißen Zauber verstehen… Und Blutsauger wie dich mögen sie gar nicht!« Kalpa war zwar nicht der Hellste, aber er hatte erkannt, daß Dracomar ein Vampir war. Der Riese kannte Götter und Geister ebenso wie Trolle, Feen und Tiermenschen. Und natürlich Blutsauger. »Um die weißen Magier kümmere ich mich«, wischte der 14
Blutdruide den Einwand vom Tisch. »Ich werde dafür sorgen, daß du Unterstützung kriegst. Aus deiner Heimat, aus Utgard.« Das war die Welt der Riesen. »Wirklich?« Langsam schlich sich so etwas wie Respekt in die Stimme des Titanen. »Und wie willst du das machen?« »Ich habe da so meine Methoden.« Dracomar rieb seine Krallen gegeneinander. »Ein paar Menschenopfer, und schon bricht das Grauen über Midgard herein.« Er grinste teuflisch. »Wenn du deine Riesenkameraden um dich versammelt hast, greifst du die Menschenwelt an, klar? Sie können dir nichts entgegensetzen.« »Und was ist mit Odin?« Kalpa hatte noch nicht vergessen, wem er seinen Tod verdankte. »Odin kannst du dir meinetwegen als ersten vorknöpfen.« »Aber der Dreckskerl ist ein Gott!« wandte der Riese nun. etwas kleinlauter ein. Er knirschte vor Erbitterung mit den. schwarzen Zähnen. »Ich hasse ihn mehr als alles zwischen Asgard und Utgard. Aber er hat besondere Kräfte…« »Im Moment nicht so sehr«, bemerkte Dracomar betont beiläufig. Und er zog etwas unter seinem Umhang hervor. »Odins magische Stäbchen!« Unwillkürlich schreckte der Riese zurück. Er konnte es im ersten Moment nicht glauben, daß jemand es gewagt hatte, dem Götterkönig sein wichtigstes Werkzeug zu stehlen. Aber dieser einäugige Blutsauger hatte es getan. Nun erst war Kalpa wirklich davon überzeugt, in Dracomar einen Verbündeten gefunden zu haben. Der Blutdruide spürte die böse Energie, die nun in dem Riesen vibrierte. Mit Hilfe der Titanenarmee wollte sich Dracomar die Erde Untertan machen. Den weißmagischen Widerstand ausradieren. Und eine Weltherrschaft der Blutsauger ausrufen. Eine neue Vampirrasse würde den Blauen Planeten regieren. Eine Rasse, die er, Dracomar, zeugen wollte! »Geh!« stachelte der Blutdruide Kalpa auf. »Geh und reiß Odin in Stücke!« * Hastig verabschiedete ich mich von meinen Eltern und sprang in meinen stahlblauen BMW, den ich vor der Haustür geparkt hatte. Meinen Einsatzkoffer hatte ich bei mir. Ersatzmunition für meine 15
SIG Sauer P 6 befindet sich stets darin, Flakons mit Weihwasser, Holzkreuze, Pflöcke zum Pfählen von Vampiren, mein geheimnisvoller armenischen Silberdolch sowie ein altes Beschwörungsbuch über Schwarze Magie. Ich legte den Gang ein und machte mich auf den Weg. Der Hauptkommissar hatte mir noch eine kurze Routenbeschreibung durchgegeben. Dem Entführten war an einem Moor bei Oberdorla aufgelauert worden. Also lenkte ich den BMW erst mal Richtung Eisenach. Außenstehende hätten sich vielleicht gewundert, warum Pit als Weimarer Kripobeamter dort in der thüringischen Provinz ermittelte. Aber durch unsere gemeinsamen Abenteuer hatte es sich bei seinem Dienstherrn die Meinung durchgesetzt, daß Pit Langenbach der Mann für die unerklärlichen Fälle war. Und zu diesen zählte die Entführung durch einen Riesen zweifellos. Es war ein schöner Tag. Abends wollte ich mit meiner Freundin Tessa Hayden ins Kino gehen. Die attraktive brünette 31jährige arbeitet ebenfalls im Dezernat für Gewaltverbrechen. Als Fahnderin ist sie die direkte Untergebene von Pit Langenbach. Trotz meiner gelegentlichen Seitensprünge in der Vergangenheit liebte ich sie heiß und innig. Ob wir an diesem Abend wohl Robin Williams' Späße als Patch Adams auf der Filmleinwand sehen würden? Ich hatte die dumpfe Vorahnung, daß dämonische Mächte mir die Freizeit verderben würden… Das Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Wenig später bog ich kurz vor Mühlhausen rechts nach Niederdorla ab. In diesen kleinen thüringischen Bauernschaften schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich in die Epoche der Bauernkriege zurückzuversetzen. Der BMW krachte in ein Schlagloch. Die Stoßdämpfer protestierten ächzend. Zum Glück hatte ich nicht allzu viel Speed drauf. Ich stieg in die Eisen und lenkte gegen, als der Wagen auszubrechen drohte. Gleich darauf hatte ich ihn zum Stehen gebracht. Die Strecke schien wie ausgestorben. Kein anderer Wagen weit und breit. Ich konnte die bedrückende, unheimliche Atmosphäre förmlich mit Händen greifen. Wie auf Bestellung zogen nun auch Wolkenbänke herauf, die wie Leichentücher wirkten. Als ich ausstieg, zerrte ein scharfer Wind an meinem Jackett und meiner 16
Jeans. Sogar die Natur schien sich gegen mich verschworen zu haben. Ich wollte checken, was mit diesen Schlaglöchern los war. Meine Fahrt hätte übel enden können. Ich ging am Rand der asphaltierten Straße zurück. Beobachtete dabei genau meine Umgebung. Neben dem Weg nach Niederdorla standen nur einige einzelne Bäume herum. Ihre Äste schienen wie Totenfinger in den Himmel zu weisen. Mein Ring glomm nur schwach auf, doch sofort schrillten in meinem Inneren die Alarmsirenen. Ich legte meine Rechte auf den Kolben der SIG, die ich mir sicherheitshalber schon ins Gürtelhalfter gesteckt hatte. Aber auch ohne die Warnung durch mein magisches Kleinod war klar, daß hier etwas oberfaul war. Denn die Schlaglöcher waren nicht durch Frost oder Panzerfahrzeuge entstanden. Genaugenommen waren es überhaupt keine Schlaglöcher. Sondern Fußabdrücke eines Riesen! * Pascal Groß starb fast vor Angst. Der Achtzehnjährige zitterte am ganzen Körper. Seine Schulkumpels hatten ihn schon oft mit seinem unpassenden Nachnamen aufgezogen. Denn Groß war eher klein. Klein und schmächtig. Hinzu kam, daß er ständig über seine eigenen Füße stolperte. Kein Wunder, daß er immer der letzte war, wenn die Mannschaftskapitäne beim Fußball die Teams aufteilten. Wer Pech hatte, mußte Pascal Groß nehmen. Und stellte ihn dann an eine Position, wo er möglichst wenig Schaden anrichten konnte. Der Hänfling haßte Fußball. Und der Fußball wiederum schien auch ihn zu hassen. Ständig krachte das Leder gegen seinen Kopf, um ihm die Brille von der Nase zu fegen. Doch in diesem Moment hätte Pascal Groß liebend gerne gekickt. Er hätte alles darum gegeben, sich auf dem Spielfeld von seinen Kameraden beschimpfen und verhöhnen lassen zu dürfen. Das alles wäre noch bedeutend besser gewesen, als in der Gewalt des Riesen zu sein! Nichtsahnend war der Schmächtige durch die Landschaft gestreift. Am Moor bei Oberdorla entlang. Dort gab es einen kleinen See. Da hatte er eine Verabredung. Sein Herz klopfte bis 17
zum Hals, während er an das Mädchen dachte. Pascal Groß war zum ersten Mal richtig verliebt. Seine Träumereien hatten ihn wie eine Käseglocke umhüllt. Darum hatte er nicht die tödliche Gefahr gespürt, der er genau in die Arme gelaufen war! Plötzlich war der Riese aus dem Schilfgürtel hervorgebrochen. Wie ein Geysir aus Fleisch und Haaren und Zähnen hatte er sich direkt vor dem Jungen zu seiner vollen Größe erhoben. Der Gigant überragte Pascal Groß mindestens um die vierfache Länge! Danach war alles ganz schnell gegangen. Der Hüne mit den schwarzen Zähnen hatte triumphierend geblökt, daß die Bäume zu zittern schienen. Er hatte Pascal mit seinen Pranken gepackt und gequetscht. Aber er hatte ihn nicht töten wollen. Noch nicht. Dann hatte der Riese den Schmächtigen am Genick gepackt und weggeschleppt. Wie ein Brathühnchen, das auf die Schlachtbank soll. Pascal Groß zitterte am ganzen Körper vor Angst. Er konnte in diesem Moment nicht ahnen, daß er Glück im Unglück hatte. Aufmerksame Augen hatten aus sicherer Entfernung und Deckung seine Entführung beobachtet. Die Augen des Mädchens, mit dem er verabredet war. Mechthild Schaumburg-Klöten. Ein achtzehnjähriges, grünhaariges Girl auf einem Mountain Bike. In ganz Weimar besser bekannt unter ihrem Spitznamen Struppy. * Hauptkommissar Peter Pit Langenbrach lehnte sein breites Kreuz gegen den Holm des Zivilfahrzeugs, mit dem er nach Oberdorla gekommen war. Soeben hatte er bei Mark Hellmann angerufen. Es würde nicht lange dauern, bis sein Freund, der Dämonenjäger, auf der Bildfläche erschien. Pit fuhr durch sein kurzes, braunes Haar und zündete sich ein Zigarillo an. Nachdem Struppy ihn alarmiert hatte, war er direkt nach Oberdorla aufgebrochen. Aber momentan wirkte dieser Flecken Natur völlig harmlos. Das Moor mit dem Schilfgürtel und dem kleinen See war sogar von einer wildromantischen Schönheit. »Was ist los?« fragte der Hauptkommissar das grünhaarige Girl, 18
das vor Aufregung zu vibrieren schien. »Warum hast du gerade mich angerufen?« Sie blickte zu ihm auf. Mit seinen Einsneunzig war er genauso groß wie Mark Hellmann. »Ich hätte natürlich auch die 110 wählen können, Meister Langenbrach! Und erzählen, daß ein nackter Riese aus dem Moor aufgetaucht ist und einen Jungen geraubt hat! Und daß ich mich gerade noch hinter einer Buchsbaumhecke verstecken konnte, als der Gruseltyp erschienen ist. Dann wäre ich jetzt allerdings nicht hier, sondern bereits in die Klapsmühle eingeliefert worden!« Der Hauptkommissar konnte ihr nicht widersprechen. Mit ihrem schrillen Outfit wirkte Struppy sowieso nicht gerade vertrauenerweckend. Heute trug sie einen schwarzen Gymnastikanzug. Dazu ein rosa Ballettröckchen. Irgendwie erinnerte sie an Minnie Maus aus den Walt-Disney-Comics. Pit hatte immer noch Vorbehalte gegen Struppy, weil sie einmal als Babysitterin in den Verdacht geraten war, seine Tochter Floh entführt zu haben (Siehe MH 32!). Immerhin wußte die magere Grünhaarige seit dieser Begegnung, daß Langenbach als Polizist mit unerklärlichen Fällen zu tun hatte. Wie zum Beispiel einem Riesen als Kidnapper… Der Beamte linste auf die Armbanduhr. Es würde noch etwas dauern, bis Mark Hellmanns BMW aus Richtung Niederdorla angebraust kam. Untätig herumzustehen lag dem Hauptkommissar überhaupt nicht. Deshalb war er auch sofort gekommen, als Struppy Alarm geschlagen hatte. Ihrer Stimme war anzuhören gewesen, wie aufgeregt sie war. »Kannst du mir zeigen, wo genau der Riese erschienen ist?« »Logo! Kommen Sie!« Struppy führte Pit Langenbach über eine feuchte Wiese. Währenddessen plapperte sie ununterbrochen darüber, wie sie den Entführten Pascal Groß kennengelernt hatte. Daß er in sie verknallt sei. Und wie sie sich mit ihm verabredet hatte. »Wieso eigentlich hier, mitten im Nirgendwo?« forschte der Polizist. »Zu meiner Zeit hat man sich zum ersten Beschnuppern im Eiscafe getroffen…« Die Grünhaarige schüttelte den Kopf. »Nicht Pascal. Pascal ist so ein Naturfreak. Er wollte mir die alte Gerichtseiche der Germanen zeigen. Die steht noch heute. Dieses knorrige Monsterding da hinten…« 19
Sie deutete auf einen einsamen Baum, der auf einer leichten Anhöhe beim See stand. Zwei Raben zogen krächzend ihre Kreise. Pit und Struppy erschraken. Die uralte Gerichtseiche begann plötzlich zu bluten! * Ich bin nicht gerade ein kleinfüßiger Tänzer. Aber neben den Spuren des Riesen wirkte mein rechter Schuh geradezu winzig. Dieser Hüne mußte wahre Quadratlatschen haben! An Untergewicht würde er ebenfalls nicht leiden. Wenn seine Füße solche Löcher in den Asphalt der Straße getrieben hatten, mußte der Riese ein wahres Prachtexemplar sein. Obwohl ich nicht Winnetou war, fiel es nicht schwer, dieser Fährte zu folgen. Ich griff zu meinem Handy. Wollte Pit Bescheid geben, damit wir uns an die Monster-Fersen des Entführers heften konnten. Aber dazu kam es nicht mehr. Bevor ich den Riesen entdeckt hatte, war ich ihm unter die Augen gekommen. Das wurde mir klar, als mein Ring von einem Wimpernschlag zum nächsten wild aufglühte und zu prickeln begann. Dann schien die Erde zu beben. Der Hüne stürmte auf mich los. Während ich herumwirbelte, fragte ich mich, wo er sich verborgen hatte. Östlich von der Straße führte ein Pfad hinunter zu einem Gehöft. Dort gab es eine Bodensenke, hinter der sich ein solcher Fleischberg tarnen konnte. Vielleicht hatte ihn ja mein BMW beim Mittagsnickerchen gestört. Das war mir nun herzlich egal. Ich zog meine SIG Sauer. Der Koloß fletschte seine schwarzen Zähne. Der Kerl wirkte nur entfernt menschenähnlich. Seine Körperbehaarung erinnerte eher an einen Gorilla. Und der Blick seiner gelben Augen war so leer und hinterhältig wie der eines Vampirs. Eine Gestalt wie dieser Riese brauchte keine Waffe. Er würde mich mit bloßen Händen in Stücke reißen können. Trotzdem hielt er eine junge Birke in der rechten Faust. Er hatte sie offenbar einfach ausgerissen. Mit dem Baum drosch er auf mich los. Mit einem gewaltigen Sprung brachte ich mich aus der Gefahrenzone. Ich schoß, 20
während ich noch in der Luft war. Zweimal wummerte die SIG Sauer los. Beide Geschosse verfehlten das Ungetüm. Ich fluchte still in mich hinein. Dann war der Riese bei mir. Durch seine Größe konnte er Entfernungen viel schneller überbrücken als jeder Mensch. Das wurde mir nun schmerzlich bewußt. Der Birkenstamm prellte gegen meine Waffenhand. Es tat so weh, daß mir für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Die Pistole mit den geweihten Silberkugeln klapperte auf den Asphalt. Verdammt! Der Riese packte mich wie eine Spielzeugpuppe. Sein Gestank war überwältigend. Nun bekam ich seine schwarzen Zähne aus nächster Nähe zu sehen. Seine böse Fratze verzerrte sich triumphierend. Aber eine Waffe hatte ich noch. Den armenischen Dolch. Ich fingerte ihn mit der Linken blitzschnell aus meinem Hosenbund. Noch bevor der Hüne reagieren konnte, hatte ich ihm die silberne Klinge in den kleinen Finger gestochen. Es blitzte und sprühte Funken, als ob eine riesige Wunderkerze brennen würde. Das Ungetüm röhrte auf. Der Finger schrumpfte zusammen - und fiel ab. Der Riese ließ mich los wie eine heiße Kartoffel. Ich knallte aus mindestens acht Metern Höhe auf den Boden. Zum Glück neben der Fahrbahn. Und ich habe beim Judo gelernt, wie man fällt, ohne sich zu verletzen. Sonst hätte ich jetzt alt ausgesehen. Der Riese brüllte noch etwas und war mit drei, vier Sprüngen verschwunden. Benommen glotzte ich hinter ihm her. Für meinen Geschmack hatte er etwas zu schnell aufgegeben. Aber in diesem Moment war mir das ganz recht. Denn er hatte mich auf dem falschen Fuß erwischt. Das hätte für mich übel enden können. * Kalpa raste vor Wut. Als er den blonden Mann auf der Straße erblickte, hatte er ihn sich gleich greifen wollen. Zwei Menschenopfer waren besser als eins. Sein neuer Freund Dracomar brauchte sie für seine magischen 21
Beschwörungen. Aber wer hätte ahnen können, daß dieser Blonde seinerseits Zauberwaffen besaß! Als Kalpa den Dolchstich des Menschen weggesteckt hatte, war er geflohen. Er wollte nicht riskieren, von dem Blonden vielleicht schwer verletzt oder gar getötet zu werden. Odin! Der Riese würde alles tun, um seine Rache zu vollenden. Und wenn es nur ein Menschenopfer gab - nun, dann würde sich Dracomar eben damit begnügen müssen! Kalpa glaubte, die Nähe des verhaßten Germanengottes förmlich spüren zu können. Nicht mehr lange, dann würde Odin es sein, der an der Weltesche hing! Der Hüne kehrte zu seinem Gefangenen zurück. Er hatte einfach einen schweren Stein auf Pascal Groß gelegt. Den schmächtigen Jungen damit fast zerquetscht. Aber das war dem Riesen egal. Dieses Menschlein sollte sowieso bald sterben. Kalpa packte den leise wimmernden Achtzehnjährigen und setzte seinen Weg fort. Zu der schwarzmagischen Opferstätte, die Dracomar ihm genannt hatte. Doch auf dem Weg dorthin kam ihm etwas entgegen, das ihm in der Welt der Menschen noch nie begegnet war. Ein Ungetüm aus Eisen. Es röhrte lauter als eine Schar Riesen. Und lief auf Ketten rumpelnd direkt auf ihn zu! * Nachdem ich ihn angeklingelt hatte, kam Pit Langenbach sofort von dem See bei Oberdorla zu mir herüber. Ohnehin war er keinen ganzen Kilometer von mir entfernt gewesen. Wir beschlossen, die Verfolgung des Titanen aufzunehmen. »Ich werde Verstärkung anfordern«, meinte der Hauptkommissar. »Das bringt nichts, Pit. Deine Kollegen riskieren den Hals für nichts und wieder nichts. Mit normalen Waffen kommt man dem Lulatsch nicht bei. Der ist so schwarzmagisch wie Mephisto höchstpersönlich!« »Aber ich werde…«, begann Struppy. »Du wirst dich im Hintergrund halten«, bestimmte ich und wies mit dem Zeigefinger auf sie. »Weil du nämlich auch keine Waffe 22
hast. Wenn dir der Riese zu nahe kommt, besprühe ihn damit.« Ich drückte ihr einen Weihwasserflakon in die Hand. »Der kann eine Dusche dringend brauchen.« Struppy zog einen Flunsch. »Du bist ein Macho, Mark Hellmann. Frauen können auch kämpfen!« »Das weiß Mark«, mischte sich Pit ein. »Tessa kämpft jeden Morgen darum, daß Mark die Brötchen holen gehen muß. Und gewinnt!« Ich knuffte ihm in die Seite. »Du als Ehegeschädigter mußt es ja wissen.« »Ich will ja eure Männergespräche nicht stören«, raunte Struppy, »aber wir werden schon seit ein paar Minuten beobachtet!« * Wir hatten die Autos - den BMW und Pits Dienst-Omega - am Straßenrand abgestellt. Nun folgten wir den unverkennbaren Spuren des Riesen. Querfeldein. Wir liefen gerade über eine Grünbrache. Weit vor uns befand sich ein Bauernhaus. Unmöglich zu sagen, ob es noch bewohnt war. Über uns kreisten zwei Raben. »Diese Viecher waren vorhin schon da«, bemerkte Struppy. »Als der Baum blutete…« »Der Baum blutete?« echote ich. Pit berichtete mit knappen Worten von der Eiche. Ich konnte immer noch nicht erkennen, wer uns im Blickfeld hatte. Von dem Riesen war weit und breit nichts zu sehen. Plötzlich fiel mir das dämliche Gedicht von Dracomar wieder ein. Rot ist des Lebens Leichenbaum, wie Hellmanns Blut, man glaubt es kaum. Mit Riesenschritten kommt der Tod, bringt über Weimar Leid und Not. Genau wie sein satanischer Meister Mephisto liebte es der Blutdruide, mit seinen Opfern zu spielen. Ich war mir sicher, daß der Alte des Schreckens in seinem Vers einen Hinweis auf seine Teufeleien versteckt hatte. Sie mußten nur richtig gedeutet werden. Rot ist des Lebens Leichenbaum. Das paßte zu der blutenden 23
Eiche. Warum sie den Lebenssaft von sich gegeben hatte, würden wir noch herausfinden müssen. Daß er, Dracomar, mein Blut wollte, war ebenfalls klar. Mit Riesenschritten kommt der Tod. Das konnte sich natürlich auf den Titanen beziehen, gegen den ich gerade so unrühmlich gekämpft hatte. Sollte es einem Zusammenhang zwischen dem Blutdruiden und dem Riesen geben? Alles deutete darauf hin. Und über Weimar Leid und Not bringen - das hatte auch schon Mephisto mehrfach gewollt. Was für ein Triumph würde es für Dracomar sein, wenn er schaffte, was dem Höllenherrscher nicht gelungen war! Aber trotz dieser Überlegungen wußte ich immer noch nicht, wer uns beschattete. Und das wurmte mich gewaltig. Auch mein Siegelring war keine Hilfe. Er zeigte mir keine schwarzmagische Aktivität. Allerdings waren mächtige Dämonen auch in der Lage, ihn zu täuschen. Wir schritten weiter über die Grünbrache. Was blieb uns auch sonst übrig? Die Raben kreisten nun direkt über uns. »Plage dich nicht länger mit der Suche, Mark Hellmann«, sagte Tessa. »Du hast gut reden«, begann ich mit der Erwiderung. Da durchzuckte mich ein eisiger Schreck! Pit, Struppy und ich waren allein auf dem Feld gewesen. Woher kam meine Freundin so plötzlich - wie aus dem Boden gewachsen? Tessa spazierte neben mir her. Ihre freche Kurzhaarfrisur, das schöne Gesicht, die braunen Pupillen, die sie manchmal mit grünen Kontaktlinsen tarnte. All das war Tessa. Sogar ihr aktuelles Parfüm stimmte. Und doch war sie es nicht. Konnte es nicht sein! Enttäuscht starrte ich meinen Siegelring an. Er ließ keinen Rückschluß auf das Werk des Bösen zu. Ich packte diese Tessa an den Schultern. »Was für ein Spiel treibst du, Dämon?« Der Körper der schönen Frau schmolz, als wäre er aus Knetgummi. Verwandelte sich in den sehnigen, hageren Körper eines Mannes von undefinierbarem Alter. Nur sein langer, grauer Bart, der ihm auf die Brust wallte, ließ auf seine Betagtheit schließen. Aber seine Muskelpakete, die unter dem blauen Mantel hervorlugten, waren stark und trainiert. Aus unergründlichen Augen starrte er mich an. Schob seinen Schlapphut ins Genick 24
und richtete sich stolz auf. »Ich bin kein Dämon, Mark Hellmann. Ganz im Gegenteil.« »Wer bist du, verdammt?« »Ich bin Odin, der höchste Gott von Asgard.« In diesem Moment schwebten die beiden Raben heran und setzten sich auf die Schultern des Geheimnisvollen. »Und das sind Hugin und Munin, meine Kundschafter.« * Der Gefreite Uwe Mandels traute seinen Augen nicht. In den vergangenen Wochen hatte er bei den Frühjahrsmanövern seiner Panzereinheit einiges erlebt. Jede Menge Streß, Drill für den Ernstfall. Immerhin konnte der Fahrer inzwischen mit seinem Leopard-II-Panzer wie im Schlaf umgehen. Es war, als ob er mit der High-Tech-Maschine verwachsen wäre. In ihren Manöverkämpfen »Blau« gegen »Rot« mußte Uwe Mandels Leo an diesem Märzmorgen einen unübersichtlichen Teil der »blauen« Flanke sichern. Der Panzerfahrer rieb sich die Augen. Er war zwar hundemüde, doch Bier oder Schnaps waren schon seit Tagen nicht mehr durch seine Kehle geflossen. Wieso sah er plötzlich einen nackten Riesen vor sich? »Fahrer an Kommandant«, keuchte der Gefreite über Bordfunk, »unbekannte - äh - Person nähert sich aus Richtung elf Uhr!« Person war nicht gerade der richtige Ausdruck für das röhrende und wild mit den Füßen stampfende Ungeheuer Kalpa, das drohend mit einem ausgerissenen Baum herumfuchtelte. Aber etwas Besseres fiel Uwe Mandels nicht ein. »Sind Sie besoffen, Mandels?« schnarrte die Stimme von Leutnant Gruber. »Himmelkreuzsakrament! Wos is jetzt dös?« Der Gefreite grinste. Immer, wenn sein Kommandant nervös wurde, fiel er unwillkürlich in seinen heimatlichen Dialekt zurück. Gruber kam aus Oberbayern. Und offenbar hatte Leutnant Gruber nun auch einen Blick auf den sich mit großen Schritten nähernden Titanen werfen können. »Ha… Halten Sie auf das Objekt zu, Mandels!« Der Befehl des Kommandanten war eindeutig gewesen. Die schweren Ketten des Leo II setzten sich in Bewegung. Vermutlich hielt der Offizier den Riesen für eine irgendwie produzierte 25
Sinnestäuschung. Von der »roten« Seite verwendet, um den Manövergegner zu verwirren und zu beunruhigen. Ein verhängnisvoller Irrtum. Wie sich gleich zeigen sollte! Der Leopard-Panzer glitt rumpelnd und quietschend über ein freies Feld auf Kalpa zu. Aber der Hüne aus Utgard lachte nur über das Spitzenprodukt der Rüstungsindustrie. Wie eine Comicfigur sprang der Riese zur Seite. Drehte sich auf einem Bein. Und warf dann seinen Baumstamm wie einen Speer nach dem Panzer. Ein Geräusch, wie von einem riesigen Gong, dröhnte über den Landstrich. Die Besatzung des Leo II wurde kräftig durchgeschüttelt. Leutnant Gruber knallte mit dem Schädel gegen die Armaturen vor ihm. »Herrschaftszeiten…« Der Aufprall des Baumes war so heftig gewesen, daß Uwe Mandels unwillkürlich seitlich ausgewichen war. Jetzt hörten die entsetzten Soldaten noch etwas anderes. Ein schauriger Ton, der sich wie das Heulen eines Höllenhundes anhörte. Kalpa lachte. Leutnant Grub er setzte einen Funkspruch ab. »Wiesel 3 an blaues HQ! Wiesel 3 an blaues HQ! Werden von unbekanntem…«, er geriet ins Stocken, »… Objekt angegriffen!« »Handeln Sie nach Ermessen«, kam die Standardantwort aus dem Hauptquartier. Der Bayer zerbiß einen Fluch. Was war mit diesen Stabsärschen los? Sollte das vielleicht ein Befehl sein? Andererseits hätte er vielleicht deutlicher unterstreichen sollen, daß ein gottverdammter Riese hinter ihnen her war. Ein Ungetüm, dem bestimmt nicht durch eine Luftspiegelung Leben eingehaucht worden war! Der Richtschütze, ein Rothaariger namens Kramer, ließ einen schrillen Angstschrei hören. Leutnant Gruber riß die Augen auf. Während er mit dem Hauptquartier palavert hatte, war das Monster seitwärts herangekommen. Die Männer im Geschützturm wurden nach links geworfen. Das Geräusch der Ketten hörte sich plötzlich so seltsam an. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Auch wenn sie der Besatzung überhaupt nicht gefiel. Der Riese hatte das stählerne Monstrum hochgehoben! Kaipas Muskeln spannten sich, während er den Leopard II 26
stemmte. Von weitem hätte man ihn für einen Kraftsportler beim Training halten können. Mit triumphierendem Geheul schleuderte der Riese den Panzer etliche Meter vor sich auf den Acker. Diese Bestätigung brauchte er. Nachdem ihn der weißmagische Mensch mit seinem Dolch verletzt hatte, war sich der Titan wie ein Feigling vorgekommen. Er mußte sich jetzt selbst beweisen, was für ein harter Kämpfer er war. Sein Instinkt sagte ihm, daß in dieser Eisenkiste Menschen saßen. Noch mehr Menschen, die er opfern konnte. Für Dracomars Zeremonie. Damit die Riesenarmee schon bald auf Midgard, die Menschenwelt, marschieren konnte… Im Inneren des Leo II war die Hölle los. Die empfindliche Elektronik spuckte eine Fehlermeldung nach der anderen aus. Überall blinkten rote Lampen mit dem Wort MALFUNCTION auf. Die Soldaten hielten sich ihre blutenden Schädel. Wohl keiner von ihnen hatte den entsetzlichen Aufprall unverletzt überstanden. Leutnant Gruber fletschte die Zähne. Was hatten die Geistesakrobaten im HQ noch gesagt? Handeln nach Ermessen? Das konnten sie haben! »Kampfbereitschaft!« schnarrte er seine Leute an. »Ladeschütze und Richtschütze! Nehmt das nackerte Urviech ins Visier, das damische! Scharfe Munition!« Die Angesprochenen schluckten trocken. Aber dann machten sie sich mit tausendmal eingeübten Griffen ans Werk. Für einen gräßlichen Moment schien es, als ob sich der Geschützturm nicht mehr drehen würde. Aber dann nahm die Mechanik ächzend wieder ihre Arbeit auf. Die Kanone schwenkte in Kaipas Richtung. Er kam langsam näher. Schien die Situation zu genießen. Sein Maul mit den schwarzen Zähnen war weit geöffnet. »Geschütz feuerbereit, Herr Leutnant!« »Feuer!!!« Mit einem trockenen Knall entließ die Mündung der Kanone eine todbringende Granate. Mit solchen Explosivkörpern konnte man zwar ganze Häuser in Schutt und Asche legen, aber nicht einen solchen Riesen besiegen. Der Unhold aus Utgard lachte nur, als die Granate an seiner breiten Brust zerbarst. Er wußte nicht, womit diese Menschen dort nach ihm geworfen hatten. Er wußte nur eins. Es war Menschenwerk. Und mit Menschenwerk konnte man einen Riesen wie ihn nicht besiegen. Es bedurfte einer starken Magie, um ihm, Kalpa, ans Leder zu wollen. Selbst Odin hatte es nur mit Ach und 27
Krach geschafft. Und ein zweites Mal sollte es dem Göttervater nicht gelingen. Das hatte sich der rachedurstige Hüne geschworen. Kalpa stapfte weiter auf den Leopard II zu. Die Besatzung war nun völlig demoralisiert. Der Stahlkörper schwenkte noch einmal herum. In einem verzweifelten Versuch zu fliehen. Vergeblich. Der Riese griff sich den Panzer und zog ihn wie ein Spielzeug hinter sich her. Unterwegs hob er noch Pascal Groß auf, der vor Entsetzen wie gelähmt den Kampf verfolgt hatte. Der Schmächtige hatte seine einmalige Chance zur Flucht versäumt. Nun wurde er von Kalpa vorsichtig auf den Panzer gesetzt. Der Riese fand, daß er nun genug Menschen beisammen hatte, um Dracomars Forderung zu erfüllen. Gutgelaunt machte sich die unheimliche Kreatur auf den Weg dorthin, wo der Blutdruide ihn schon erwartete. Zur Opferstätte. * Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich den Mann an, der sich als Odin vorgestellt hatte. Ich war hin- und hergerissen zwischen Mißtrauen und Faszination. In meinem Gedächtnis purzelten die wichtigsten Informationen durcheinander, die ich im Studium über diesen Germanengott erhalten hatte. Odin war als Allvater des Göttergeschlechts der Äsen sicher die schillerndste Figur in der Vorstellungswelt unserer Vorfahren. Er galt als der Gott der Krieger, der Wahrsagerei und der Dichtung. Er sollte auch die Runen erfunden haben. Indirekt verdankte ich ihm also auch die Nutzung meines magischen Rings, dessen Kräfte sich erst durch bestimmte Worte in Runenschrift voll entfalteten. Aber Odin war eine zwiespältige Figur. Er galt auch als Unheilstifter, der sich in Verkleidung zwischen die Menschen mischte. Dazu paßte seine momentane Erscheinung. Wie in den uralten Legenden trat er als Wanderer mit blauem Mantel und Schlapphut auf. »Ich spüre deine Zweifel, Mark Hellmann. Gerne würde ich dir mehr erzählen. Aber jetzt ist keine Zeit. Wir müssen zusammenhalten, um Kalpa zu stoppen. Er will deinen Freund« 28
er deutete auf Struppy -»und einige Krieger deines Landes opfern. Mit ihrem Blut soll dein Erzfeind Dracomar das Unheil heraufbeschwören!« »Wer ist Kalpa? Und was weißt du von mir und Dracomar?« »Eine Menge«, erwiderte Odin knapp und beschleunigte seine Schritte. »Kommt ihr jetzt? Oder wollt ihr zusehen, wie dieser Riese Kalpa mit seinen Gefährten eure Welt zerstört? Auf Dracomars Geheiß?« Pit Langenbach, Struppy und ich hasteten hinter dem Gott in Verkleidung her, der mit großen Schritten zum See von Oberdorla zurückzueilen schien. Odin zeigte mit seinem knorrigen Finger auf den Hauptkommissar und das grünhaarige Girl. »Ich war es übrigens auch, der die Eiche hat bluten lassen. Eine kleine Warnung, damit ihr euch vor Kalpa in Acht nehmt. Er ist ein widerlicher Geselle. Ich habe ihn schon einmal gehenkt. Aber dieser Bursche ist einfach nicht totzukriegen.« »Wenn du Odin bist«, begann ich, »warum nimmst du den Riesen nicht einfach mit nach Asgard und rechnest dort mit ihm ab?« »Würde ich gerne«, erwiderte der einäugige Gott trocken, »aber das geht im Moment nicht.« »Warum nicht?« »Dracomar hat meine magischen Stäbchen gestohlen. Ohne sie sind meine Fähigkeiten etwas eingeschränkt. Ich muß in eurer Welt bleiben, wenn ich sie nicht zurückbekomme.« Während wir diese Worte wechselten, hatten sich die Raben Hugin und Munin wieder in die Lüfte erhoben. Sie flogen uns voraus. Ihr Krächzen schallte durch die wie ausgestorben wirkende Landschaft. Plötzlich erklang ein lauter Knall. Wie ein Kanonenschuß. »Wir müssen uns beeilen«, keuchte Odin. »Die Krieger kommen nicht gegen Kalpa an, wie ich es vorausgesehen habe. Er wird sie schlachten, wenn wir zu spät kommen!« »Wenn du wirklich Odin bist - warum fliegst du dann nicht zu diesem Kalpa?« »Mit meinen Stäbchen wäre das eine Kleinigkeit, Mark Hellmann. Ich war unaufmerksam. Da konnte Dracomar sie mir entwenden.« Ein ironisches Lächeln erschien auf meinen Lippen. Odin fuhr mich wütend an. »Du bist auch nicht besser, Mark 29
Hellmann! Du hast geglaubt, den Blutdruiden getötet zu haben! Als du deinen Irrtum bemerktest, hätte es dich und den König aus dem Berg beinahe das Leben gekostet (Siehe MH27!) Ich pfiff durch die Zähne. Dieser einäugige Wanderer wußte, wirklich verdammt viel aus meinem Leben. Aber ich war immer noch nicht ganz davon überzeugt, daß er wirklich Odin war. »Ich verstehe trotzdem nicht, wie Dracomar dir deine Stäbchen klauen konnte, Odin. Ein Gott mit unvorstellbaren Fähigkeiten…« »Ich war in meiner Menschenverkleidung unterwegs«, meinte der Göttervater und knuffte mir mit dem Ellenbogen in die Rippen. »Außerdem war ich gerade bei einer Frau im Bett. Dafür müßtest du doch auch Verständnis haben, Mark Hellmann!« Struppy kicherte, und unter Pits Schnurrbart erschien ein breites Grinsen. Auch ich mußte lachen. Doch gleich darauf verging uns die Heiterkeit gründlich. Von dem See her drangen entsetzliche Todesschreie an unsere Ohren! * Dracomar wartete schon. Der Blutdruide hatte mit Hilfe von schwarzmagischen Geheimformeln ein Stück Land zwischen See und Moor in einen Vampirischen Ritualraum verwandelt. In eine Pfählerstätte! Zwei Dutzend angespitzte Baumstämme hatte der Alte des Schreckens in das Erdreich getrieben. Dicht an dicht standen sie nun in dem Areal, das von der dämonischen Energie förmlich zu vibrieren schien. Die Hölzer waren mit Zaubersprüchen versehen, um die Kraft des Guten fernzuhalten. Mit einem gemeinen Grinsen rieb Dracomar seine Blutsaugerkrallen gegeneinander. Die Pfählerstätte war fertig. Sie mußte nur noch eingeweiht werden. Bald würde es soweit sein. Der Blutdruide erkannte seinen Helfershelfer Kalpa, der sich über eine Grünbrache näherte. Der Riese war wirklich nicht zu übersehen. »Was hast du da?« Dracomar war nicht so leicht zu verblüffen. Aber als er nun Kalpa einen Panzer hinter sich herziehen sah, staunte er doch. 30
»Menschlein!« sagte der Hüne und lachte. »Menschlein für dein Opfer, Blutsauger! Ich habe gleich einen ganzen Eisenwagen voll mit ihnen gefangen!« Und er warf Pascal Groß vor die Füße des Blutdruiden. Der Schmächtige hatte sich auf der Oberfläche des Leo II festgeklammert. Kalpa betrachtete neugierig die Mechanik des stählernen Ungetüms. Gleich darauf hatte er anscheinend begriffen, wie man es öffnen mußte. Jedenfalls schraubte er den Deckel des Turms auf und kippte den Panzer um. Ächzend und stöhnend fielen die Soldaten auf den Moorboden. Einige von ihnen schrien in Panik auf, als sie Kalpa so aus nächster Nähe erblickten. Ganz zu schweigen von dem entstellten Gesicht des Blutdruiden, der einladend seine Fangzähne gefletscht hatte! Leutnant Gruber riß seine Dienstwaffe heraus, wollte auf Dracomar feuern. Doch der Alte des Schreckens prellte sie ihm mit einem Hohnlachen aus der Hand. »Du wirst als erster dran glauben, mein tapferer Soldat!« brüllte der Blutdruide. Mit seinen übermenschlichen Kräften hob er den Offizier an. Warf ihn weit hoch in die Luft. Der Bayer ruderte verzweifelt mit Armen und Beinen. Aber es half nichts. Er fiel wieder herunter. Mitten hinein in die Pfählerstätte. Seine Kameraden mußten sich abwenden, als die angespitzten Baumstämme an fünf oder sechs Stellen durch seinen Körper schlugen! Der Rest der Panzerbesatzung versuchte nun zu fliehen. Aber es war vergebens. Kalpa packte den Richtschützen Kramer. Fragend schielte der Titan zu Dracomar hin. Der Alte des Schreckens nickte ihm sadistisch grinsend zu. Nun warf der Riese sein Opfer in den Todeswald der Pfählerstätte. Genausowenig wie Leutnant Gruber hatte Kramer eine Chance. Seine Todesschreie hallten schaurig über das Moor. Dracomar sprach laut Zauberformeln in der uralten Sprache der Valusianer. Diese Rasse von Haarsternwesen, aus der auch Mephisto stammte, war durch und durch böse. Die Valusianer würden die Kraft haben, eine Brücke zwischen der Riesenwelt Utgard und der Menschenwelt Midgard zu schlagen. Das wußte der Blutdruide. Mit seinen Menschenopfern wollte er sie gnädig stimmen. Nun packte Kalpa den vor Angst schlotternden Pascal Groß. 31
»Dich schleppe ich ja schon am längsten mit mir rum!« brüllte er, obwohl das Menschlein die Riesensprache gewiß nicht verstehen konnte. »Jetzt bist du an der Reihe!« Das Ungetüm nahm Schwung, um den Jungen in die Pfählerstätte zu schleudern. »Halt ein!« Der Kopf des Riesen fuhr herum. Die Stimme kam ihm nur allzu bekannt vor. Im nächsten Moment traf ein Felsbrocken seine Nase! * Ich spürte die massive Kraft des Bösen, als wir so schnell wie möglich auf das Seeufer zurasten. Auch ohne die Warnung meines Ringes wäre mir klargewesen, daß hier satanische Mächte am Werk waren. Odin sprang über einen großen Findling. Plötzlich schien ihm eine Idee zu kommen. Er hastete noch einmal zurück. Und wuchtete den massiven Felsen aus dem Erdreich. »Mit solchen Kieseln kann man Kalpa gut die Birne weichklopfen!« Meine Zweifel an seiner Identität zerstreuten sich. Selbst ich als ehemaliger Zehnkämpfer und aktiver Kampfsportler wäre nicht in der Lage gewesen, diesen Findling auch nur um einen Zentimeter zu verrücken. Kein Mensch konnte das. Aber der Einäugige in dem blauen Mantel. Nun erblickte ich den Riesen. Er hielt einen Menschen in seinen Klauen. Neben ihm stand Dracomar, die sehnigen Blutsaugerarme beschwörend ausgebreitet. Und hinter ihm erkannte ich die gräßliche Pfählerstätte. Bereits zwei Körper waren dort auf die Holzstämme gespießt worden. »Paß auf!« rief Odin neben mir. »Jetzt kommt ein Wurf, der eines Gottes würdig ist!« Und bevor ich den Mund aufmachen konnte, hatte der graubärtige Muskelmann den Findling erhoben und auf den Hünen geschleudert. Das Ungetüm drehte sich gerade rechtzeitig herum. Der Felsen krachte gegen seine Nase. Schwarzes Blut spritzte heraus. Dämonenblut. Grollend ließ der Riese, den Odin Kalpa genannt hatte, sein menschliches Opfer fallen. 32
»Pascal!« kreischte Struppy auf. »Nimm du dir Dracomar vor, Mark!« rief Odin. »Ich kümmere mich um diesen haarigen Fleischkloß!« Ich konnte nur nicken. Dann ging der Kampf auch schon los. Pit und ich versuchten, Dracomar in die Zange zu nehmen. Bisher hatte ich noch kein Mittel gefunden, um den mächtigen Blutdruiden zu vernichten. Die Frage war bloß, ob ihm das klar war. Die Erde erbebte, als sich Kalpa auf Odin stürzte. Der Germanengott sprang hoch in die Luft und ließ einen silbrigen Blitz aus seinem Zeigefinger fahren. Der Koloß wurde wie von einem Stromschlag getroffen. Seine zahlreichen Haare an Haupt und Körper stellten sich plötzlich auf. Struppy flitzte wie ein Kobold furchtlos zwischen den Beinen des Hünen hindurch, um ihren Freund aus der Gefahrenzone zu bringen. Pit Langenbach hatte seine Dienstwaffe im Beidhandanschlag. Er zog den Stecher durch. Ich nahm an, daß er ein Magazin mit geweihten Silberkugeln eingeschoben hatte. Mit normalen Kugeln kam man dem Alten des Schreckens nicht bei. »Pit! Neeeiiiiinnn!« kreischte der Blutdruide in höchsten Tönen. Und verwandelte sich gleichzeitig in Susanne, die Frau des Hauptkommissars! Pit mußte klar sein, daß Dracomar sein böses Spiel mit ihm trieb. Trotzdem wurde er kreidebleich. »Susanne Langenbach« sank auf den morastigen Boden. Von drei Kugeln tödlich in den Kopf und die Brust getroffen. Ihr schönes Gesicht war blutüberströmt. Ich blieb natürlich nicht untätig, während der Blutdruide seine grausame Komödie mit meinem Freund spielte. Durch die starken dämonischen Kräfte an diesem grausamen Ort glühte mein Ring wie ein Stein in der Sahara. Ich berührte mit dem Kleinod mein siebenzackiges Muttermal, das sich auf meiner linken Brusthälfte befindet. Es ist absolut schmerzunempfindlich. In früheren Zeiten bezeichnete man so etwas als Hexenmal. Kaum berührte der Siegelring die sternförmige Hautverfärbung, als ein blauer Lichtstrahl, einem Laser gleich, aus dem Metall schoß. Mit diesem Licht schrieb ich das uralte keltische Wort DAIRTHECH auf den Boden neben der angeblichen Leiche von Susanne Langenbach. 33
DAIRTHECH bedeutet soviel wie »Heiliger Hain«. Die guten Druiden der Keltenzeit schützten sich und ihre Anhänger an ihren Heiligen Hainen durch Weiße Magie vor den Kräften des Bösen. Pit taumelte auf den leblosen Körper zu. War er verrückt geworden? Er wußte doch, daß Dracomar jede Gestalt annehmen konnte? Es war irrsinnig anzunehmen, daß dort wirklich seine Frau liegen würde! Ich spürte, wie sich die Macht des Guten langsam aufbaute. Aber würde es reichen? »Komm zurück, Pit!« brüllte ich. Aber er hörte nicht auf mich. Nun war er nur noch fünf Schritte von der blonden »Frauenleiche« entfernt. Mit einem verzweifelten Sprung riß ich ihn von den Beinen und hielt ihn fest. Mein Freund ist alles andere als ein Schwächling. Er machte sich los und kroch noch ein Stück auf die angebliche Susanne zu. Hohnlachend erhob sich die »Tote« wieder. Verwandelte sich in eine entsetzlich stinkende Riesenraupe. Instinktiv zuckte der Hauptkommissar zurück. Dann nahm das Unwesen wieder seine eigentliche Gestalt an. Dracomar. »Zu schade!« höhnte der Vampir. »Wie gerne hätte ich den Herrn Hauptkommissar mit in die Hölle genommen!« Er riskierte die große Lippe. Aber er wurde schon schwächer. Das spürte ich ganz deutlich. Mit der Beschwörung des Heiligen Hains konnte ich Dracomar wenn schon nicht vernichten, dann wenigstens für eine Zeit vertreiben. Das hatte ich durch Zufall einmal herausgefunden (Siehe MH 27!). »Wir sehen uns wieder, Hellmann und Langenbach!« drohte der Blutdruide. »Schon sehr bald. Denk an mein Gedicht, Mark Hellmann!« Dann war er verschwunden. Pit Langenbach schlug die Augen nieder. »Entschuldige, Mark. Ich hätte uns beinahe ins Verderben gerissen. Aber als ich Susanne dort liegen sah, hätte ich wissen müssen, daß er es war. Diese Bestie! Ich war wie blockiert!« Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Ist ja noch mal gutgegangen. Wollen mal sehen, ob unser Freund Odin unsere Hilfe braucht.« Es sah ganz danach aus. Denn Kalpa hatte den Einäugigen mit dem blauen Mantel inzwischen in die Pfählerstätte getrieben!
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* Odin war immer noch stärker als jeder Mensch. Er verfügte über Zauberkräfte, die nicht zu begreifen waren. Aber ohne seine magischen Stäbchen kam er sich vor wie eine halbe Portion. Vielleicht war das der Grund, warum er in diesem Kampf gegen Kalpa den kürzeren zu ziehen drohte. Der Riese machte nicht viel Federlesens. Während ihm das schwarze Blut aus der Nase lief, riß er einfach einen von den angespitzten Bäumen aus der Pfählerstätte und stach damit auf Odin ein. Den meisten Angriffen seines massiven Gegners konnte der Gott in Menschengestalt ausweichen. Aber Kalpa drängte ihn in das Feld der Gepfählten, wo seine Bewegungsfreiheit ziemlich eingeschränkt war. Odin konnte die Pfähle zwar umwerfen, aber das kostete ihn Zeit. Inzwischen war ihm der Riese schon ziemlich nahe auf die Pelle gerückt. Der Götterkönig sandte seine silbrigen Blitze gegen den Koloß aus. Aber Kalpa war schlauer geworden. Und schneller. Er wehrte nun die Attacken mit seinem angespitzten Baum ab. Die meisten Blitze verfehlten den mächtigen Körper. »Jetzt bist du fällig, Odin! Diesmal wirst du hängen, verfluchter Bock!« Der Graubart packte eines der Hölzer mit beiden Fäusten, um die niederkrachende Waffe seines Feindes abzublocken. Doch die Kraft des Riesen war zu stark. Odins Baumstamm zerbarst. Triumphierend bleckte Kalpa seine schwarzen Zähne. Er packte den Gott in Menschengestalt mit beiden Pranken. In diesem Augenblick bellten zwei Pistolen auf. Ein Streifschuß erwischte den Riesen am Oberschenkel. Aufbrüllend mußte Kalpa erleben, wie ihm ein Stück Fleisch aus dem Körper gerissen wurde. Im nächsten Moment löste sich die massige Gestalt in Luft auf. Odin schien für einen Moment hoch in der Luft zu schweben. Gleich würde er wie ein Stein auf die Pfählerstätte stürzen und von einem halben Dutzend angespitzter Bäumen durchbohrt werden. Doch wie aus dem Nichts tauchten nun seine Zauberraben Hugin und Munin auf. Der Götterkönig klammerte sich an ihre Beine. Sie trugen ihn sicher auf die Morastwiese neben der grausigen Opferstätte. 35
»Den haarigen Klops müssen wir voll erwischt haben«, sagte ich, die rauchende SIG Sauer noch in der Hand. Odin schüttelte sein graues Haupt. »Du irrst, Mark Hellmann. Er ist entkommen. Es ist nicht vorbei. Im Gegenteil. Es fängt gerade erst an…« * »Wieso hast du das getan?« Kalpa war außer sich vor Wut. Er hätte am liebsten die ganze Hölle in Trümmer geschlagen. Die Säureseen ausgesoffen. Die Unterteufel in Stücke gerissen. Auf Mephistos Thron gepinkelt. Das wäre ihm schlecht bekommen. Aber der Riese war an dem gehindert worden, was ihm am wichtigsten war. Seiner Rache. Und daran war nur einer schuld. Dracomar. »Wieso ich dich da rausgeholt habe, fragst du?« Der Blutdruide ließ seinen verschlagen-arroganten Blick auf dem nackten Muskelpaket ruhen. »Weil du höllisches Glück gehabt hast. Hellmanns geweihte Kugel hat dich nur gestreift. Aber der nächste Schuß hätte dich womöglich ins Herz getroffen. Das wäre dein Ende gewesen!« »Ha! Menschenwerk! Gegen Menschenwerk bin ich unverwundbar!« tönte Kalpa. Trotzdem war die Lücke nicht zu übersehen, wo das weißmagische Geschoß ein Stück des Körpers aus dem Oberschenkel gerissen hatte. »Du hast doch keine Ahnung!« stellte der Blutdruide fest. Du Vollidiot, fügte er im Geist hinzu. »Wir haben jetzt erreicht, was wir wollten. Die Valusianer sind uns wohlgesonnen. Die Verbindung zwischen Utgard und Midgard steht.« Man spürte förmlich, wie Kalpa mitzudenken versuchte. »Das heißt…« »Das heißt«, vollendete Dracomar den Satz ungeduldig, »daß du schon bald an der Spitze einer Riesenarmee die Menschenwelt erobern wirst. Und danach kommt Asgard an die Reihe!« Der Blutdruide rieb sich seine Krallen. Er sah sich selbst schon in Walhalla residieren, nachdem die ursprünglichen Bewohner in den Tod geschickt wurden. Das wäre ein Herrscherhaus, das ihm gefallen könnte. Sein Herr und Meister Mephisto würde platzen 36
vor Neid! Ein Herrschersitz, phantasierte Dracomar weiter, mit einer Leibgarde aus Vampirischen Riesen. Dann wollen wir doch mal sehen, wer hier der mächtigste Dämon in der Hölle ist! * Pit Langenbach hatte in Oberdorla das Kommando übernommen. Per Handy dirigierte der Hauptkommissar seine Einsatzkräfte. Uniformierte Polizisten aus den umliegenden Ortschaften. Rettungswagen. Ein Spurensicherungsteam. Sie alle rückten an. Auch die Bundeswehr ließ sich in Form einer Feldjägerpatrouille blicken. Beinahe wären wir alle verhaftet worden, als die aufgespießten toten Soldaten entdeckt wurden. Aber die Zeugenaussagen der überlebenden Männer aus dem Leo II retteten uns. Sie berichteten aufgeregt von dem Riesen und dem Vampir… Ich spürte allerdings, daß die Feldjäger dadurch noch unruhiger wurden. Also mußten Pit und ich ihnen ein Märchen auftischen, das glaubhaft erschien. Beim Kampf gegen die Mächte der Hölle würden sie uns ohnehin nicht helfen können. Da war auch die stärkste Armee der Welt machtlos. »Massenhypnose«, redete der Hauptkommissar dem FeldjägerLeutnant ein. »Ein wahnsinniger Mörder, der seine Opfer manipuliert, um nicht erkannt zu werden. Er gaukelt ihnen Bilder von Riesen oder Vampiren vor. Wir sind schon länger hinter ihm her.« Damit gab sich der Offizier zufrieden. Odin, Struppy und ich machten uns aus dem Staub, bevor noch jemand auf die Idee kam, die Papiere des Götterkönigs zu kontrollieren… Das grünhaarige Girl hatte sich vorbildlich um die Verletzten gekümmert, bevor die Rettungskräfte eingetroffen waren. Trotzdem hatte man ihr nicht erlaubt, ihren Freund auf dem Weg in die Hufeland-Kliniken zu begleiten. Pascal Groß hatte einen schweren Schock erlitten. Trübsinnig starrte sie vor sich hin. »Woher kennst du dich so gut mit Erster Hilfe aus, Struppy?« fragte ich, um sie abzulenken. »Pfadfinder«, antwortete sie lapidar. »Was wohl mit Pascal 37
wird…?« Tränen standen in ihren Augen. So kannte ich das stets gutgelaunte Plappermäulchen überhaupt nicht. »Sei nicht traurig, junges Weib«, meinte Odin und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Sieh mal!« Und er deutete auf eine Pfütze vor uns am Rand der asphaltierten Straße. Murmelte ein paar Worte. Das Wasser kräuselte sich leicht. »Was ist das?« fragte die Grünhaarige mit den wasserblauen Hans-Albers-Augen. »Die Zukunft.« Plötzlich formte sich auf der Oberfläche der Pfütze ein Bild. Man erkannte Struppy, die auf einem Biedermeiersofa saß. »Das bin ja ich! Zu Hause, am Steinhügelweg!« In dieser Weimarer Straße lebte die Achtzehnjährige zusammen mit ihrer Großtante, der Gräfin Irmgard von Schaumburg-Klöten. Nun konnte man auf dem Bild in der Pfütze auch eine zweite Person erkennen. Pascal Groß. Er hatte am linken Unteram eine Gipsschiene, schien aber ansonsten in Ordnung zu sein. Jedenfalls legte er plötzlich einen Arm um die Struppy, die bei der magischen Vision zu erkennen war. Leidenschaftlich erwiderte das Mädchen mit der gepiercten Nase seine Umarmung. Das Paar sank nach hinten. Pascals Rechte glitt unter Struppys Plisseeröckchen. Sie nestelte an seiner Hose. Das Bild verschwamm. »Es geht noch weiter«, bemerkte Odin grinsend. »Jedenfalls wird es deinem Freund schon bald bessergehen. Du hast einen Blick in die nahe Zukunft getan, junges Weib.« Struppy war knallrot geworden, was irgendwie hübsch mit ihren grünen Haaren kontrastierte. »Hätte nie gedacht, daß ich mal bei mir selbst zur Spannerin werden würde. Trotzdem vielen Dank, großer Meister.« Odin nickte huldvoll. Wir drei stiegen in meinen BMW und fuhren nach Weimar. Struppy setzten wir an den HufelandKliniken ab. Dort wollte sie noch einmal versuchen, zu ihrem verletzten Freund vorzudringen. Der göttliche Graubart und ich steuerten meine Wohnung in der Florian-Geyer-Straße an. Pit Langenbach würde noch länger in Oberoral zu tun haben, wollte sich aber später melden. »Ich staune immer wieder über dein Wissen, Odin.« 38
»Ich habe den Born der Erkenntnis gesehen, Mark Hellmann. Ein Auge mußte ich dafür opfern. Aber das war es wert.« Plötzlich fiel mir etwas ein. »Dann weißt du gewiß auch, woher Dracomar stammt. Kennst das Geheimnis seiner Herkunft.« »Sicher«, erwiderte Odin selbstbewußt. »Ich kenne den Blutdruiden, als wenn er mein ältester Gefährte wäre.« Ich fühlte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Würde ich mit Hilfe des Götterkönigs endlich einen Weg finden, meinen Erzfeind zu besiegen? Ich konnte es kaum erwarten, das Thema weiter zu vertiefen. Doch nachdem ich vor dem Haus eingeparkt hatte und die Eingangstür aufsperrte, kam mein Vermieter aus seiner ParterreWohnung geschossen. »Herr Hellmann!« blökte der kleinwüchsige Sachse. Von all seinen Mietern verabscheute er mich am meisten. »Was für Subjekte schleppen Sie denn in unser Haus?« Mit vor Empörung zitternder Hand deutete er auf Odin, der mit seinem langen Graubart, dem einen Auge und dem blauen Mantel nicht gerade besonders bürgerlich wirkte. »Das ist ein Freund von mir. Was dagegen?« »Ihr Freund ist ein Penner, ein Obdachloser!« schnarrte Stubenrauch, der immer noch der DDR nachtrauerte. »Bei Honecker hätte es das nicht gegeben! Wie der schon rumläuft. Der ist bestimmt völlig verlaust! Bringt uns Ungeziefer ins Haus!« Ich wollte schon wütend werden, aber Odin legte mir eine Hand auf den Unterarm. Einen Lidschlag lang starrte er Artur Stubenrauch an. Als ob er bis auf den Grund von dessen Spießbürgerseele schauen würde. Dann verwandelte sich der Göttervater. Es ging so schnell, daß mir schwindlig wurde. Gleich darauf stand jedenfalls nicht mehr ein Alter im blauen Mantel neben mir. Sondern ein schneidiger Offizier der ehemaligen DDR-Volkspolizei. Die Rangabzeichen wiesen ihn als Major aus. Auf seinem blanken Mützenschirm war nicht das geringste Stäubchen zu erkennen. »Stubenrauch!« brüllte Odin mit seiner Götterstimme. Aber das war nicht nötig. Mein Vermieter hatte schon Haltung angenommen. Er hätte wohl auch die Hacken zusammengeschlagen. Aber in seinen Filzpantoffeln war das schlecht möglich. »Herr Major!« Vorschriftsmäßig starrte Artur Stubenrauch an 39
seinem Gegenüber vorbei. Gelernt ist gelernt. »Weggetreten!« Wie in Trance machte der kleine Sachse eine mustergültige Kehrtwendung, marschierte in seine Wohnung hinein und knallte zackig die Tür hinter sich zu. Auf dem Weg zu meiner Dachgeschoßwohnung nahm Odin wieder seine normale Wanderergestalt an. »So fühle ich mich am wohlsten, wenn ich schon in einen Menschenkörper schlüpfe.« »Und wie siehst du als Gott aus?« »Ehrfurchterregend.« »Hätte ich mir denken können.« Ich schloß meine Wohnungstür auf. Mir lag die Frage auf der Zunge, wo denn seine Raben Hugin und Munin abgeblieben waren. Heftiges Flügelschlagen empfing uns. Die beiden schwarzen Vögel flatterten durch die Zimmer. Begrüßten ihren Herrn und Meister mit begeistertem Krächzen. Ich hätte schwören können, daß ich alle Fenster geschlossen gehabt hatte. Andererseits stellen Glasscheiben für Götterraben sicherlich keine Hindernisse dar. Meine Ungeduld war mir anzumerken. Der Einäugige klopfte mir beruhigend auf die Schulter. »Gleich werde ich dir einige Geheimnisse verraten, Mark. Aber erst mal brauche ich ein Bier. Der Kampf mit Kalpa hat mich durstig gemacht!« Ich erinnerte mich an halbvergessene Völkerkunde-Seminare über den germanischen Götterhimmel. Odin war demnach eine Gestalt gewesen, die sich ausschließlich von Met ernährte. Nun, dieses antike Gebräu konnte ich ihm nicht bieten. Aber unser thüringischer Gerstensaft schien ihm auch zu schmecken. Jedenfalls leerte er die erste Flasche, die ich ihm anbot, in einem Zug. »Bring doch gleich die ganze Packung!« rief er mir in die Küche hinüber. Der Einäugige hatte es sich auf meinem Sofa bequem gemacht. Ich tat, was mein Gast wünschte. Schließlich wollte ich endlich erfahren, was hier gespielt wurde. Odin köpfte die zweite Flasche, trank und leckte sich genüßlich den Schaum aus seinem grauen Bart. »Ah, so läßt es sich aushalten - als Menschlein!« Ich verschränkte die Hände ineinander. »Odin, was Dracomar anbelangt…« »Ah, ja. Diese Bestie muß unbedingt vernichtet werden. Und du 40
bist dafür auserwählt, Mark Hellmann.« »Woher weißt du das?« »Woher, woher! Ich bin ein Gott, schon vergessen? Ich weiß alles. Na ja, jedenfalls fast alles. Ich habe zum Beispiel noch nie herausgefunden, warum ihr Menschen Bier in diese gräßlichen Blechbüchsen pressen müßt. Aus der Flasche schmeckt es doch viel besser.« Und wie zur Bestätigung setzte er sich das Pils wieder an den Hals. »Ich werde Dracomar sofort vernichten«, brummte ich mit wachsender Ungeduld. »Wenn ich bloß wüßte, wie.« »Ich kann es dir sagen, Mark.« Mein Adrenalinspiegel stieg spürbar an. Seit Monaten focht ich nun schon einen verzweifelten Kampf gegen den Blutdruiden aus. Nun war die Lösung meiner Probleme zum Greifen nah. »Dann sag es mir bitte, Odin.« »Erst mußt du mir einen Gefallen tun.« Der Götterkönig kniff listig sein Auge zusammen. Dort, wo das andere gewesen war, befand sich nur noch eine gähnende schwarze Höhle. »Und was?« »Reise in die Welt der Riesen und hole mir meine magischen Stäbchen zurück. Damit ich alle meine Kräfte zurückgewinne.« »Sagtest du nicht, Dracomar hätte die Stäbchen geklaut?« »Stimmt. Aber er hat sie in Utgard versteckt, in der Welt der Riesen. Weil er hofft, daß ich sie dort nicht finde. Aber du wirst sie bekommen, Mark. Ich habe volles Vertrauen in einen tapferen Recken wie dich.« Mein Herz stand fast still, bevor ich die nächste Frage stellte. Odin öffnete inzwischen die dritte Bierflasche mit den Zähnen, daß es knirschte. Götter brauchen keine Flaschenöffner. »Was weißt du über mich, großer Odin?« »Oh, du bist etwas ganz Besonderes, Mark. Aber das hast du ja gewiß schon selbst bemerkt. Ein tapferer Krieger, der sich dem Bösen in den Weg stellt. Es ist deine Bestimmung, gegen die Mächte der Finsternis zu kämpfen. Das kannst du tun, indem du mir meine magischen Stäbchen zurückbringst.« Daß ich eine besondere Bestimmung hatte, wußte ich selbst. Ich hatte das Gefühl, von Odin hingehalten zu werden. Meine nächste Frage war sehr direkt. »Wer sind meine Eltern?« »Du bist jetzt sehr aufgeregt, Mark«, wich der Graubart mir aus. »Wir sollten uns lieber auf die Aufgabe konzentrieren, die vor 41
uns liegt.« Ich wurde sauer. »Kannst du denn nur an deine verdammten Stäbchen denken, während ich…« Odins Zeigefinger sauste wie eine Schwertklinge auf mich zu. »Jetzt werde ich dir mal was sagen, junger Mann! Wenn du glaubst, ich brauchte die magischen Stäbchen nur zur Belustigung, dann irrst du dich! Ich kenne Dracomars Pläne. Weißt du, was er vorhat?« Ich schüttelte störrisch den Kopf. »Aber ich weiß es, Mark! Er hat diese Menschenopfer gebracht, um die Kräfte der Valusianer für sich einzusetzen. Mit der Beschwörung wurde ein Zauber geschaffen, um die Riesen aus Utgard zu holen. Nicht nur Kalpa, sondern eine ganze Armee von ihnen!« Ich erschrak. Odin sah es mir an. »Schon bald wird hier in Weimar eine Riesenarmee eintreffen, die niemand auf deiner Welt aufhalten kann. Dracomar benutzt sie, um sein Blutsaugerreich zu errichten. Nachdem er deine Welt, Midgard, erobert hat, will er sich Asgard vornehmen, das Heim der Götter.« Ich war wie vom Donner gerührt. Eine Armee von Riesen! Mir liefen eiskalte Schauer über den Rücken bei diesem Gedanken. »Wenn du mir meine Stäbchen bringst, kann ich euch helfen«, fuhr Odin fort. »Ich will selber diesen Riesen zeigen, wo ihr Platz ist. Es sind böse Bestien. Aber im Moment bin ich zu schwach…« Er nahm einen großen Schluck Bier. Schwach und durstig, dachte ich wütend. Aber die Aussichten waren wirklich ziemlich trübe. Ich hatte erst vor kurzem erlebt, wozu ein Riese wie Kalpa in der Lage war. Wenn ich mir vorstellte, es mit tausenden seiner Sorte zu tun zu bekommen… Nachdenklich legte ich die Stirn in Falten. »Wie soll ich nach Utgard gelangen, Odin? Mit meinem Ring kann ich in die Vergangenheit reisen, wie du sicher weißt. Aber in eine andere Dimension…« Der Graubart rülpste. »Kein Problem. Dein Ring kann viel mehr Dinge tun, als du bisher erfahren hast. Schreib einfach das Wort UTGARD in Runen auf den Teppich. Ich muß es wissen. Ich habe die Runen schließlich erfunden.« »Aber um meinen Ring zu aktivieren, brauche ich dämonische Aktivität…« 42
»Wenn's weiter nichts ist.« Odin schnippte mit dem Finger. Gab einem seiner Raben ein Zeichen. Ich wußte nie, wer Hugin und wer Munin war. Für mich sahen sie beide gleich aus. Eines der Tiere flog jedenfalls durch die geschlossene Fensterscheibe. »Du kannst dich schon mal ausziehen, Mark, wenn du deine Klamotten geordnet zurücklassen möchtest«, meinte der Einäugige und griff zu einem weiteren Bier. »Mein Sendbote ist gleich wieder da.« Odin wußte also auch, daß ich nur nackt durch Zeiten und Dimensionen reisen konnte. Das erstaunte mich nun allerdings nicht mehr. Ich hängte mein Jackett über einen Stuhl und zog das Hemd aus. Als ich gerade meine Jeans öffnen wollte, knarrte ein Schlüssel im Türschloß. Meine Freundin Tessa war im Anmarsch. »Was ist denn hier los?« fragte sie. Die Fahnderin sah wieder einmal zum Anbeißen aus. Ein Supermini ließ viel von ihren langen Beinen sehen. Bedeckte ihren knackigen Po entsprechend knapp. Sie trug kniehohe, schwarze Stiefel und einen engen Rollkragenpulli. Der Graubart prostete ihr zu. »Komm und setz dich, Tessa! Es ist noch genug Bier da. Ich bin übrigens Odin, der Gott der Dichtkunst, der Beschützer der Krieger und der Herr des Galgens.« »Das habe ich mir gedacht«, bemerkte meine Freundin trocken. Mit einem vielsagenden Blick auf die leere Flaschenbatterie vor meinem Gast. Ich begrüßte sie mit einem Kuß und teilte ihr kurz mit, was in Oberoral geschehen war. Und daß ich mich wieder zu einer Expedition ins Unbekannte aufmachen mußte. Tessa kannte das aus leidvoller eigener Erfahrung. Sie war schließlich erst vor kurzem von einem Leichenvogel in die Wikingerzeit entführt worden (Siehe MH 40!). Während wir sprachen, hatte ich die letzten Hüllen fallen lassen. In Tessas Augen glomm es auf. Es gefiel ihr offenbar immer noch, mich nackt zu sehen. Ich hätte mich jetzt auch lieber mit ihr im Bett vergnügt. Aber eine andere Pflicht rief. Ich kannte die Heimtücke von Dracomar zur Genüge. Vielleicht stand die Armee der Riesen ja schon vor den Toren unserer Stadt. Das Gedicht des Blutdruiden fiel mir wieder ein. Der zweite Teil davon. Mit Riesenschritten kommt der Tod, 43
bringt über Weimar Leid und Not. Alles paßte. Aber trotzdem würde ich bis zum letzten Atemzug versuchen, die teuflischen Pläne des Blutdruiden zu verhindern. Odins Rabe kehrte zurück. Er warf einen Klumpen auf den Teppich vor meine Füße. »Igitt!« würgte Tessa hervor. »Was ist das denn?« Ich hatte keine Lust, ihr zu sagen, daß es ein Stück Oberschenkel eines Riesen war. Der Anblick war auch so unappetitlich genug. Immerhin speicherte dieses Stück Fleisch, das Hugin oder Munin aus Oberdorla geholt haben mußte, noch genug dämonische Kraft, um meinen Ring zu aktivieren. »Ich kehre so schnell wie möglich zurück!« sagte ich. »Ich passe derweil auf Tessa auf!« kündigte Odin an. Die Art, wie er meine Freundin dabei lüstern anschielte, gefiel mir überhaupt nicht. Umso mehr Gründe, schnell die magischen Stäbchen zurückzuholen. Ich preßte den Siegelring gegen mein Hexenmal. Als der blaue Strahl, aus dem Kleinod schoß, schrieb ich damit das Wort UTGARD in Runenbuchstaben aus dem Futhark-Alphabet auf den Teppich. Der stilisierte Drache auf meinem Ring schien ins Unendliche anzuwachsen. Und dann fiel ich wieder in einen Tunnel aus Zeit und Raum und Höllenvisionen, wie ich sie meinem schlimmsten Feind nicht wünsche… Sphärenklänge dröhnten in meinen Ohren. Rasend schnell stürzten schemenhafte Wesen und Unwesen an mir vorbei. * Tessa Hayden war genervt. Wieder einmal zweifelte sie an ihrer Beziehung zu Mark Hellmann. Konnte sie denn nicht einmal einen normalen Abend mit ihm verbringen? Andere Paare gingen wirklich ins Kino, wenn sie sich das vorgenommen hatten. Und Mark und sie? Mark reiste in die Riesenwelt, während sie, Tessa, in Marks Wohnzimmersessel einem biertrinkenden Wesen aus der Mythologie gegenübersaß, das permanent ihre Beine anstarrte. »Was glotzen Sie so?« fauchte die Fahnderin. »Haben Sie noch nie einen Minirock gesehen?« 44
Odin leerte das letzte Bier der Sechserpackung und rülpste so laut wie eine Schleppersirene. »Natürlich habe ich das, schöne Tessa. Ich bin öfter in der Menschenwelt zu Gast. Aber kaum ein Weib hat so schöne Beine wie du!« Die Brünette rümpfte die Nase und richtete ihren Blick auf eine leere Zimmerecke. »Ich weiß, was du denkst, Tessa«, fuhr Odin fort. »Du magst mich nicht. Du bist enttäuscht, weil du den Abend mit Mark verbringen wolltest. Du glaubst, ich hätte dir alles kaputtgemacht. Aber ich kann nichts dafür. Es ist Marks Bestimmung, gegen Dracomar und dessen Schergen zu kämpfen. Laß mich dir wenigstens den Abend versüßen.« Seine einschmeichelnden Worte berührten Tessa. Sie wandte sich wieder dem Gott auf dem Sofa zu. Und erschrak! Odin hatte sich verwandelt. Auf dem Sofa hockte nicht mehr ein graubärtiger Einäugiger in einem blauen Mantel. Sondern ein Bild von einem Mann. Ein Dreißigjähriger, der auf eine männliche Art attraktiv wirkte. Groß und muskulös. Sein geschmeidiger Körper war in ein weißes Hemd und Jackett gehüllt. An den Füßen trug er Mokassins. Das kurzgeschnittene Haar war haselnußbraun, die Augen blau. Er entsprach in jedem Detail genau dem Phantasiebild von einem Traummann, das Tessa seit ihrer Mädchenzeit immer gehabt hatte. Und sie mußte sich eingestehen, daß sie diesen Odin wesentlich anziehender fand als ihren Freund Mark Hellmann. * Die Sonde Voyager hat Bilder von der Oberfläche des Mars aufgenommen. Daher kam mir die Umgebung nicht ganz unbekannt vor, als ich in Utgard landete. Gleichzeitig war mir klar, daß ich mich natürlich nicht auf einem fremden Planeten befand. Sondern in einer völlig anderen Dimension. Ein rötlicher Staub schien über allem zu liegen. Es gab keine Sonne. Sondern ein dumpfes Licht, das aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. Gebirgszüge zeichneten sich links 45
und rechts von mir ab. Wild gezacktes, schwärzliches Gestein. Es war völlig unmöglich, die Entfernungen abzuschätzen. Ich erhob mich stöhnend vom Boden. Nach einer Zeitreise war ich immer ziemlich fertig und brauchte eine Ruhepause, um wieder einsatzfähig zu sein. Nun war ich zwar nicht in die Vergangenheit, sondern nach Utgard gesprungen. Aber dadurch hatte sich auch nichts geändert. Meine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Rasende Kopfschmerzen quälten mich. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich diese verdammten magischen Stäbchen finden sollte. Miese Aussichten also. Aus der Ferne vernahm ich einen dumpfen Rhythmus. Das war immerhin schon mal etwas. Wo Geräusche gemacht wurden, gab es Leben. Dämonisches Leben von Riesen, hier in Utgard. So schnell mich mein geschwächter Körper trug, lief ich in die Richtung, aus der die Töne in der Luft dröhnten. Ich keuchte. Da diese Welt von Titanen bewohnt wurde, waren natürlich auch alle Entfernungen riesenhaft. Nach einer Weile begannen meine Oberschenkelmuskeln zu schmerzen. Vor mir türmte sich himmelhoch ein Gebirge auf. Etwas höher als die Ebene, auf der ich mich befand, gab es eine Art Plateau. Dort schienen Löcher in den Fels gehauen worden zu sein. Und ich erblickte Rauch. Schwarzen Rauch. Vorsichtig arbeitete ich mich zwischen den Felsen hindurch. Nutzte dabei jede Deckung. Durch meine Dimensionsreise war ich ja immer noch nackt und hatte keine Waffen bei mir. Nur den Ring, mit dessen Hilfe ich normale Gegenstände in weißmagische Waffen verwandeln konnte. Wenn es irgendwie möglich war, wollte ich allerdings einen Kampf vermeiden. Ich mußte meine Kräfte aufsparen, um die magischen Stäbchen zu finden. Der Rauch wehte nun in meine Richtung. Der beißende Gestank quälte meine Lungen. Ich mußte mich stark beherrschen, um nicht zu husten. Aber trotz der schwarzen Qualmfetzen konnte ich nun etwas erkennen. Riesen standen um ein Feuer. Mein Ring glomm auf, begann zu prickeln. Es war eindeutig, daß ich einem schwarzmagischen Ritual beiwohnte. Jetzt erkannte ich auch Kalpa. Er befand sich mitten im Kreis seiner Artgenossen. Er hatte rote Streifen in seine primitive Visage gemalt. Wahrscheinlich Blut. Die anderen Hünen folgten seinem Beispiel. 46
Ich schluckte trocken. Mindestens hundert Titanen umstanden das knisternde Lagerfeuer. Es war so mächtig, daß es bis in den trüben Himmel zu flackern schien. Was da verbrannt wurde, konnte ich nicht sagen. Es roch jedenfalls schauderhaft. Kalpa stimmte einen Singsang in einer unheimlich klingenden Sprache an. Dabei schwang er einen Speer. Der Schaft dieser Waffe war so dick wie ein uralter Eichenstamm. Die Eisenspitze hielt er in die Flam men. Die anderen Riesen taten es ihm nach. Wahrscheinlich war ich der erste Mensch, der ihr bedrohliches Ritual miterleben konnte. Aber das war mir egal. Ich wollte nur die magischen Stäbchen. Irgendwo mußte dieses haarige Monstrum sie versteckt haben. Kalpa war nackt. Am Körper konnte er also Odins Kraftquelle nicht versteckt haben. Blieben nur die düsteren Felslöcher, in denen die Riesen zu wohnen schienen. Aber welches davon gehörte Kalpa? Es waren mindestens fünfzig. Wenn ich sie alle durchsuchen wollte, würde das Wochen dauern. Bis dahin hatte die Riesenarmee längst unsere Heimat überrannt… Da kam mir ein Zufall zu Hilfe. Eine etwas hellere Hünenstimme rief Kalpa beim Namen. Dann erschien sogar der Kopf einer Riesin in einem der Höhleneingänge. Sie wiederholte ihren Schrei. Der Titan unterbrach unwillig sein Ritual. Gab ihr eine barsche Antwort. Und vollführte dann weiterhin mit seinem Speer geheimnisvolle Bewegungen. Ich atmete tief durch. Die Riesenfrau mußte Lundis sein, Kaipas Weib. Ich hatte von Odin zwischendurch die ganze Wahrheit erfahren. Nur weil der Götterkönig mit Lundis ins Bett oder besser gesagt ins Heu gegangen war, hatte sich Kalpa an Odin rächen wollen. Für einen Moment verfluchte ich den Einäugigen und seine ungezügelten Triebe. Aber dann gestand ich mir ein, daß ich auch nicht gerade ein Unschuldsengel war, was Seitensprünge betraf. Natürlich blieb ich nicht untätig, während mir diese Gedanken durch den Kopf schossen. Jede Deckung ausnutzend robbte ich zu der Höhle hin, aus der Lundis nach ihrem Mann gegrölt hatte. Das mußte Kaipas Behausung sein. Die Alptraumlandschaft von Utgard war durch und durch böse. Mein Ring befand sich sozusagen in dauernder Alarmbereitschaft. 47
Ich näherte mich der Riesenschar, die immer noch mit ihrem Ritual beschäftigt war. Dann schlug ich einen Bogen und glitt hinter scharfkantigen Felsen auf Kaipas Höhle zu. Drinnen war es schummerig. Nur eine einsame Fackel erhellte die Szenerie. So oder ähnlich mußten die Steinzeitmenschen gelebt haben. Nur waren sie wesentlich kleiner gewesen als diese haarigen Monster. Es gab nichts, was die Bezeichnung Möbel verdient hätte. Immerhin konnte ich mir auf diese Weise einen guten Überblick verschaffen. Inmitten der Höhle befand sich ein natürlicher Sims. Und auf diesem lagen Odins magische Stäbchen! Mein Herzschlag beschleunigte sich. Das mußten sie sein. Diese in allen Regenbogenfarben schillernden Hölzer, deren Schäfte mit geheimnisvollen Runen bedeckt waren. Der Götterkönig hatte sie mir genau beschrieben. Ich duckte mich in eine möglichst dunkle Ecke. Lundis machte sich in einem anderen Teil der langen, schlauchförmigen Grotte zu schaffen. Ob sie das Essen vorbereitete? Ich wollte lieber gar nicht wissen, was sich diese widerwärtigen Kreaturen zwischen ihre Kauleisten schoben. Ich verstand nur, daß ich jetzt eine einmalige Chance hatte. Die so schnell nicht wiederkommen würde! Auf Zehenspitzen schnellte ich mit sieben oder acht weiten Sprüngen zu dem Sims. Bemühte mich, keine Geräusche zu verursachen. Dann stand ich an der Höhlenwand. Mit meinen Einsneunzig bin ich selbst nicht gerade ein Zwerg. Aber dieser verdammte Felsvorsprung war zu hoch für mich. Selbst wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte. Ich linste über die Schulter. Jeden Moment konnte sich Lundis umdrehen. Das würde mein Ende sein. Egal. Jetzt war ich so weit gegangen, da mußte ich die Sache auch zuende führen. Ein Stück weit neben mir lag ein Stein. Ziemlich groß und ziemlich schwer. Wenn ich ihn herumwuchten konnte… Ich ging tief in die Knie wie ein Gewichtheber. Mit beiden Armen packte ich den Felsen. Meine Muskeln traten hervor, so sehr strengte ich mich an. In diesem Augenblick war ich dankbar für jede schweißtreibende Stunde, die ich im Polizeisportverein Weimar beim Eisenpumpen verbracht hatte. Obwohl sicher keine der dortigen Hanteln das Gewicht dieses Steins aufwies… Mit einem Ruck riß ich den Fels hoch. Vorsichtig, um meine 48
Sehnen nicht zu verletzen, setzte ich ihn um. Ich hatte mit dieser verfluchten Last nur zwei Schritte weit zurückzulegen. Aber sie kamen mir vor wie zwanzig Kilometer bergauf mit Marschgepäck. Eine unsterbliche Erinnerung an meine Bundeswehrzeit. Dann hatte ich es geschafft. Es gelang mir sogar, den Brocken halbwegs leise wieder abzusetzen. Der Schweiß lief mir über den Körper. Für eine Sekunde verschnaufte ich. Schwang mich danach auf den Felsen. Nun erreichte ich mit den Händen Odins magische Stäbchen. Ich spürte förmlich die gute Kraft, die von ihnen ausging. Fest umklammerten meine Finger das Zauberwerk und hoben es von dem Sims. Da packte mich eine mächtige Pranke im Nacken! * Tessa Hayden war wie in Trance. Der Abend senkte sich über die Innenstadt von Weimar. Die junge Fahnderin schlenderte an der Seite des gutaussehenden Traummannes über den Rollplatz, vorbei an der beliebten Brasserie Central. Odin hatte wie selbstverständlich einen muskulösen Arm um ihre Schulter gelegt. In dem Cafe saßen einige ehemalige Schulkameradinnen der Weimarerin. Tuschelnd steckten sie die Köpfe zusammen: Hatte Tessa nun endlich mit Mark Hellmann Schluß gemacht? Und wer war dieser skandinavisch wirkende Wahnsinnstyp an ihrer Seite? Keine von ihnen hatte ihn jemals zuvor gesehen… Die Freundin des Dämonenjägers bemerkte weder die Freundinnen in der Brasserie Central. Noch sonst irgend etwas um sie herum. Odin hatte ihr völlig den Kopf verdreht. Es hatte sie noch schlimmer erwischt als bei ihrem Ex-Liebhaber Dr. Dr. Paul Armadur. Die Affäre mit ihm war ja nur eine Trotzreaktion auf Mark Hellmanns dauernde Seitensprünge gewesen. Aber Odin - so wie er jetzt an ihrer Seite ging, war er die Verkörperung ihrer geheimsten Wünsche. »Ich bin durstig«, erklärte der Götterkönig gerade. »Laß uns in eine Schenke einkehren, Tessa.« Die Brünette nickte nur stumm. Sie betraten eine urige Kneipe, wo sich Odin erst mal ein paar Weizenbiere einverleibte. Der 49
Alkohol schien bei ihm keine Wirkung zu zeigen. Aber mit menschlichen Maßstäben konnte man ihn sowieso nicht messen. Am anderen Ende der Theke stand Vincent van Euyen. Mark Hellmanns rundlicher Reporterfreund sperrte wie immer die Ohren nach neuesten Gerüchten auf. Als er Tessa in Begleitung des Besuchers aus Asgard sah, fiel ihm fast die Pfeife aus dem Mund. Obwohl er winkte, starrte die Fahnderin glatt durch ihn hindurch. Sie hatte nur noch Augen für Odin, der seine Hände eifrig auf ihrem lechzenden Körper auf Erkundungsreise schickte. Vincent van Euyen fuhr sich durch seinen blonden Haarschopf und schob sich eine große Ladung Katzenpfötchen-Lakritz in den Mund. Dann wandte er dem Paar diskret den breiten Rücken zu. Wenn Tessa ihn nicht kennen wollte, dann war das ihr Problem. »Gehen wir zu dir?« fragte der Götterkönig leise. Wieder konnte Tessa nur stumm nicken. Sie wohnte ganz in der Nähe, noch im Zentrum von Weimar. Dort hatte Mark sie einmal mit Dr. Dr. Paul Armadur erwischt (Siehe MH 20!). Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Oder sie konnte es nicht. Die Fahnderin bezahlte die Zeche für sich und Odin. Sie traten hinaus auf die enge kopfsteingepflasterte Gasse. Odins Rechte strich über ihre Pobacken. Sie hätte ihm eins auf die Finger geben sollen. Aber Tessa konnte nicht. Und sie war sich auch nicht sicher, ob sie das überhaupt wollte. Auch Odin schien angesichts des aufregenden Körpers der Polizistin das Gehirn zwischen die Beine gerutscht zu sein. Sonst hätte er vielleicht die drei Riesen früher bemerkt, die nun links und rechts von dem Paar in der schmalen Gasse auftauchten! * Ich warf den Kopf zur Seite. Lundis, das Riesenweib, hielt mich in einem unbarmherzigen Klammergriff. Wie eine Spielzeugpuppe schwebte ich in der Luft. Die Hünin war nicht ganz so groß wie ihr behaarter Gatte. Aber mich überragte sie immer noch um Längen. Ihr Körper war ziemlich glatt und wohlgeformt. Ihre Brüste hatten allerdings beängstigende Ausmaße. Groß wie Einmannzelte waren sie. Dieser Riesenbusen wurde nun in wellenartige Schwingungen 50
versetzt. Denn Lundis warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Du diebisches Menschlein! Wenn du wüßtest, wie dumm du aussiehst!« Ich mußte wahrscheinlich wirklich ziemlich dämlich dreingeschaut haben. Odins magische Stäbe hielt ich mit beiden Händen umklammert. Lundis' Worte hatte ich genau verstanden. Durch die Magie meines Ringes konnte ich bei meinen Zeit- und Dimensionsreisen die Sprache des Ortes immer verstehen und selber sprechen. Kaipas Singsang vorhin war mir allerdings ein Rätsel geblieben. Warum das so war, wußte ich nicht. »Laß mich runter!« Ich spannte meine Muskeln an. Trat wild um mich. Aber das schien Lundis nur noch mehr zu erheitern. Die übelsten Flüche kamen von meinen Lippen. Ich war so nahe dran gewesen, mit dem Zauberwerk zu entkommen… Plötzlich stellte ich fest, daß Lundis mich von oben bis unten musterte. Ein Blick, wie er mir von Frauen bekannt vorkam. So, als ob sie mich mit den Augen ausziehen wollte. Aber ich war ja schon nackt. Oder spielte mir jetzt meine Phantasie einen Streich? »Du bist ja ein bißchen klein, Menschlein. Aber trotzdem. Vielleicht lasse ich dich laufen. Vielleicht. Wenn du nett zu mir bist…« Daß ich angeblich klein war, hatte noch keine Frau zu mir gesagt. Wie alles im Leben war auch die Größe nur eine Frage des Maßstabs, philosophierte ich. Aber gleich darauf vergingen mir alle hochgeistigen Gedanken. Denn Lundis zog mich langsam, aber stetig zu sich heran. Ihre mächtigen Brüste hingen direkt vor mir. Es war pure Neugierde, daß ich meine linke Hand ausstreckte und ihre Haut berührte. Sogleich erbebte der Hünenkörper. Ich umfaßte ihre dunkelrote Brustwarze, die augenblicklich auf das Doppelte ihrer ohnehin schon beachtlichen Größe anschwoll. Rauhe Laute drangen aus Lundis' Mund. Auch ich keuchte nun auf. Aber nicht vor Lust. Denn zwischen diesen wahrhaftigen Riesenbrüsten kriegte ich kaum noch Luft! »Was ist hier los?« Wie ein Donnerschlag dröhnte Kaipas Stimme vom Höhleneingang her. Mühsam drehte ich zwischen den angenehm weichen Fleischmassen meinen Kopf. Der Riese stand breitbeinig 51
in der Tür, seinen Speer mit der rotglühenden Spitze in der Faust. Mit einem Blick hatte er die Situation erfaßt. Lundis kreischte auf. Ihre Pranken ließen mich los. Ich glitt an ihrem üppigen Körper hinunter und landete unsanft auf dem Boden. Immerhin hatte ich die magischen Stäbchen nicht losgelassen. Fragte sich nur, ob mir das noch was nützen würde. »Du…!« Der nicht gerade besonders clever wirkende Titan schien nach Worten zu suchen. Offenbar war er mit der Faust und dem Speer besser als mit der Zunge. Aber dann klickte es doch in seinem Denkkasten. »Ich kenne dich! Du bist ein Waffengefährte von Odin! Und genauso ein geiler Bock wie dieser Schuft aus Asgard!« Ich erwiderte nichts, weil es nichts zu sagen gab. Und weil der Speer genau auf meine Brust gerichtet war. Der Boden dröhnte unter Kaipas Fußtritten. Er warf die Lanze! Ich knickte in den Knien ein und bog den Oberkörper seitwärts. Die Stichwaffe zischte nur um Haaresbreite an mir vorbei. Verzweifelt klammerte ich mich an Odins Zauberwerk. Traute mich nicht, es zur Seite zu legen. Sonst wäre ja meine ganze Mission umsonst gewesen. Aber war sie das nicht sowieso? Zwischen mir und dem Höhlenausgang stand Kalpa. Und er würde mir wohl kaum den Weg freiräumen. Der Riese setzte mir nach. Da, wo ich zehn Schritte machen mußte, kam er mit einem aus. Das machte es für mich auch nicht einfacher. Kalpa packte wieder seinen Speer, der gegen eine der Höhlenwände geklappert war. Ich hechtete zur Seite. Versuchte, an ihm vorbeizukommen. Aber es war sinnlos. Das Ungetüm mochte dumm sein. Aber daß ich aus seiner Höhle fliehen wollte, mußte sogar Kalpa kapiert haben. Nun änderte er seine Taktik. Er faßte den Speer am Schaft und schlug damit nach mir. In weitem Bogen flirrte die Eisenspitze durch die Luft. Ich spürte ihren heißen Hauch, wenn ich ihr auswich. Es grenzte fast an ein Wunder, daß er mich noch nicht erwischt hatte. Die sich dauernd hin und her bewegende Lanze war wie ein tödlicher Eisenriegel vor dem Grottenausgang. Wie sollte ich daran vorbeikommen? Es war auch nicht daran zu denken, in diesem Moment meinen Ring für die Rückreise zu aktivieren. Kalpa würde mir niemals die Pause gewähren, die ich dafür 52
brauchte. Ich sprang hin und her wie ein Stehaufmännchen. Es war schon traurig, daß ich noch nicht mal eine Waffe hatte, um mich zu wehren! Plötzlich wurde ich wieder von hinten gepackt! Lundis! Sie hatte ich ganz vergessen. Sie schien sich nun auf die Seite ihres Riesengatten geschlagen zu haben. Vielleicht, um den drohenden Ehezwist abzuwenden. »Ich habe ihn!« keuchte sie. »Mach ihn fertig, Kalpa!« Und wirklich - ich konnte mich aus dem Griff ihrer Pranken nicht lösen. Wie schon zuvor kapitulierte ich vor den Riesenkräften. Ich hatte einfach keine Chance, war hoffnungslos unterlegen. Kalpa fletschte genüßlich seine schwarzen Zähne. Die Lanzenspitze zeigte direkt auf mein Herz. Diesmal würde ich nicht ausweichen können. Ich sah dem Tod ins Auge. Plötzlich flimmerte die Luft neben Kaipas mächtigem Schädel. Und eine feinstoffliche Gestalt erschien, mit der ich in dieser bösen Welt Utgard niemals gerechnet hätte. Nostradamus. Der französische Prophet aus dem 16. Jahrhundert. Mein väterlicher Freund und Mentor. * Als die Riesen angriffen reagierte Odin prombt. Von einem Augenblick zum nächsten war sein Liebesgesäusel vergessen. Der größte Frauenheld von Asgard wurde wieder zum Beschützer der Krieger. Zum Herr des Speers. Zum Siegesgott. Odin war eben eine vielschichtige und widersprüchliche Figur. Er sprang hoch und donnerte einem der Hünen seine Mokassins mit einem Doppeltritt ins Gesicht. »Lauf weg, Tessa!« brüllte er. Die Fahnderin blickte sich gehetzt um. Das war leichter gesagt, als getan. Erstens trug sie hohe Absätze. Und zweitens schien keiner der drei Riesen sie oder Odin entkommen lassen zu wollen. Einer der Kolosse grabschte nach ihr. Seine Pranke schoß vor. Tessa duckte sich weg und rollte ab. Die Finger krachten gegen eine Mauer. Putz bröckelte. Der Riese schien allerdings ceine 53
Schmerzen zu verspüren. Seine beiden Freunde versuchten inzwischen, Odin in die Zange zu nehmen. Beide waren mit mächtigen Keulen bewaffnet. Jeden Menschen hätten sie damit totschlagen können. Aber obwohl der Götterkönig eine menschliche Gestalt angenommen hatte, verfügte er immer noch über außergewöhnliche Fähigkeiten. Das bemerkte Tessa, während sie ihre eigene Haut zu retten versuchte. Odin hielt eine herabsausende Keule mit seiner Hand fest. Und drückte mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung dagegen. Der Riese wurde gegen eine Litfaßsäule geschleudert, als ob er einen Stromschlag bekommen hätte. Der Stoß mußte von unglaublicher Gewalt gewesen sein. Jedenfalls fiel die steinerne Litfaßsäule einfach um und begrub den Titanen unter sich! Die anderen beiden Ungetüme waren nun vorsichtiger. Sie ließen Tessa in Ruhe und konzentrierten sich auf Odin. Mit einem weiten Sprung schnellte der Einäugige zu einer gußeisernen Straßenlaterne. Er packte sie mit beiden Fäusten und riß sie aus der Verankerung! Funken sprühten. Aber nun hatte Odin ein gutes Schlaginstrument, um sich gegen die Keulen zu wehren. Die Riesen nahmen ihn in die Zange. Odin lachte wild. Seine Augen blitzten. In der Gestalt des gutaussehenden Mannes war er nicht einäugig. Und dann begann er zu singen, während er das größere der beiden behaarten und muskelbepackten Monster angriff. Weltsturm, wehe! Donner, verschmähe Das Brüllen der blöden Riesentoren Ich hau ihnen gründlich was auf die Ohren Immer, wenn ich die Trottel nur sehe! Trotz der gefährlichen Situation mußte Tessa grinsen. Sie wußte nicht viel über die Götterwelt der Germanen. Aber ihr fiel ein, daß Odin auch der Gott der Dichtkunst war. Angeblich sollte das Met die Quelle seiner lyrischen Ergüsse sein… Der Riese und Odin hieben mit der Keule und der Laterne wild aufeinander ein. Aber inzwischen hatte sich der zweite Hüne von hinten an den Götterkönig herangeschlichen. Er hob sein Schlaginstrument, um Odin den Schädel zu spalten. Tessa öffnete den Mund, um einen Warnschrei auszustoßen. Aber dazu kam es nicht mehr. Plötzlich bellte eine Waffe auf, deren Geräusch der Polizistin sehr bekannt vorkam. Eine SIG 54
Sauer. Die Freundin des Dämonenjägers warf den Kopf herum. Für einen Moment glaubte sie, ihr Freund wäre schon von seiner Reise nach Utgard zurück. Aber dann erkannte sie, daß eine andere wohlbekannte Person geschossen hatte. Pit Langenbach! Der Hauptkommissar war am Eingang der Gasse aufgetaucht. Breitbeinig stand er da. Hielt seine Dienstwaffe in beiden Fäusten. Und jagte drei oder vier Kugeln in den Schädel des einen Hünen. Die Wirkung war überwältigend. Gute und böse Energien prallten erbarmungslos aufeinander. Anstatt Odin von hinten zu erschlagen, ließ der Riese seine Keule fallen. Und griff sich aufheulend mit beiden Pranken an den Kopf. Gleich darauf zerplatzte dieser mit einem dumpfen Ton in tausend Stücke! Der Monsterkörper erschlaffte und fiel auf das Straßenpflaster. Die Luft schien noch ein wenig zu schwirren. Aber ansonsten war es vorbei mit dieser dämonischen Existenz. Mit dem dritten und letzten Riesen wurde Odin allein fertig. Der Götterkönig führte seine Eisenlaterne wie einen Speer. Wehrte damit die Keulenschläge elegant, aber kraftvoll ab. Das Ungetüm fluchte in einer unbekannten Sprache. Odin brüllte seinem Gegner ein paar altnordische Sätze entgegen. Für einen Augenblick wirkte sein Menschenkörper fast doppelt so groß wie bisher. Tessa rieb sich verwundert die Augen. Der behaarte Titan konnte es ebenfalls kaum glauben. Er verfiel in eine Erstarrung. Das nutzte der einäugige Gott aus. Er packte die Laterne mit beiden Fäusten. Und wickelte sie um den Nacken des Riesen, als wäre sie aus Gummi! Die Fahnderin wandte sich ab, als Odin die Enden der Eisenstange aufeinander zubog. Es gab ein häßliches Knacken. Dann fiel der Kopf des Kolosses auf die Seite. Auch aus diesem Fleischbrocken verschwand der Keim des Bösen. Odin stieß ein Triumphgeheul aus, wie es in grauer Vorzeit im Norden nach dem Kampf üblich gewesen war. Seine geballte Faust stieß er Richtung Himmel. »Ich danke dir, tapferer Recke!« sagte der Götterkönig huldvoll zu dem Hauptkommissar. »Allerdings wäre ich mit diesen drei Witzfiguren auch allein fertig geworden!« »Wie Sie meinen«, knurrte Pit Langenbach. »Wer sind Sie überhaupt?« Er hatte ja Odin in seiner Gestalt als Tessas 55
Traumtyp noch nicht gesehen. Statt einer Antwort verwandelte sich der Besucher aus Asgard für eine halbe Minute in den einäugigen graubärtigen Wanderer, den Pit in Oberdorla kennengelernt hatte. Der Hauptkommissar pfiff durch die Zähne. »Hätte ich mir ja denken können, daß wieder etwas Magisches im Spiel ist…« »Wieso bist du eigentlich gerade im richtigen Moment aufgetaucht, Pit?« Tessa hatte die Frage an ihren Dienstvorgesetzten gerichtet. Aber beantwortet wurde sie von jemand anderem. »Ich habe nur zwei und zwei zusammengezählt.« Die dickliche Gestalt von Vincent van Euyen schob sich ins Bild. Der Reporter hatte von der Kneipen-Eingangstür aus den Kampf beobachtet. »Ich konnte meine Neugier nicht bezähmen, Tessa. Als ich dich mit diesem gutaussehenden jungen Mann« - er deutete auf Odin, der sich inzwischen wieder in den Traumtyp verwandelt hatte - »sah, habe ich euch frech hinterhergelinst. Und gemerkt, wie euch diese drei Gruselgestalten angegriffen haben. Normalerweise wäre das ein Fall für Mark Hellmann. Aber den wollte ich nicht anrufen, Tessa. Ich brauche wohl nicht zu betonen, warum. Hehehe… Also habe ich Pit alarmiert. Dein Kollege war gerade im Auto. Auf der Rückfahrt von Oberdorla. Was ist denn da Interessantes passiert?« Van Euyen reckte seinen Kopf vor wie ein übergewichtiger Geier. Automatisch hatte er zu seinem Notizblock gegriffen. Mit einigen Sätzen berichtete Pit Langenbach von Dracomars Pfählerstätte und dem Entsetzen, das Kalpa verbreitet hatte. Inzwischen starrte Tessa Hayden geistesabwesend auf die toten Riesen. Odin legte ihr eine Hand auf die Schulter. Aber sie machte sich von ihm los. Vincent van Euyens Anspielung hatte ihr die Augen geöffnet. Sie war drauf und dran gewesen, ihren Freund zu betrügen! Warum eigentlich? Weil Odin in seiner jetzigen Menschengestalt ihrem Traummann entsprach. Und warum war das so? Weil Odin ein Gott war - und in ihrer Seele lesen konnte wie in einem offenen Buch! Sie hob ihren Kopf, um den Besucher aus Asgard zu taxieren. »Gehen wir jetzt endlich zu dir, Tessa?« Ihre Stimme klirrte wie Eis, als sie antwortete. »Du magst der Gott der Dichtkunst und der Krieger sein, Odin. Vielleicht bist du sogar ein ganz ausgebuffter Weiberheld. Aber von Frauen 56
verstehst du trotzdem nichts. Wir werden jetzt in einem Hotel ein Zimmer für dich buchen. Falls du als Gott überhaupt Schlaf brauchst. Und dann gehe ich in meine Wohnung. Allein.« Mit diesen Worten ließ Tessa Hayden Odin stehen. Und ging hinüber zu ihren Freunden. Und verpatzte die wahrscheinlich einzige Chance ihres Lebens, mit einem Gott ins Bett zu steigen. Odin war beleidigt. In seiner Eitelkeit gekränkt. Er hörte kaum auf Pit Langenbach, der mit ihm die Lage besprechen wollte. »Ich habe einiges herausgefunden. Dieses Moor mit dem kleinen See gilt als eines der größten germanischen Seeheiligtümer in Deutschland. Es war schon zu DDR-Zeiten von Vorgeschichtlern und anderen Wissenschaftlern förmlich überlaufen. Also eine Stätte mit sehr starken überirdischen Kräften, an der sich Dracomar…« »Ja, sicher.« Odin schien gar nicht zugehört zu haben. »Hat Tessa öfter solche Launen?« Pit tat, als ob er die Bemerkung nicht gehört hatte. »Was meinst du, Odin - diese drei Riesen, die euch aufgelauert haben. War das eine Vorhut der Titanenarmee? Warum ist Kalpa nicht selber wieder zurückgekehrt?« »Was weiß ich!« fauchte der Götterkönig. Er hatte sich auf eine Liebesnacht mit Tessa gefreut! Und nun mußte er sich mit diesem Menschlein über die Riesentölpel unterhalten. Was für eine Nacht! »Kalpa ist durch und durch böse, aber auch feige. Gut möglich, daß er seine Kameraden erst mal vorgeschickt hat. Um uns zu verwirren und uns Angst einzujagen. Ich kann zwar in die Zukunft blicken. Aber was in der Riesenwelt Utgard abläuft, ist mir im Moment nicht klar. Um das sagen zu können, brauchte ich meine magischen Stäbchen. Ich hoffe, daß Mark Hellmann sie mir bald bringt!« * Nostradamus war gekleidet wie bei unserer allerersten Begegnung (Siehe MH 31!). Einen vorne offenen Gelehrtentalar, darunter Kniehosen. An den Waden trug er Gamaschen. Seine Schuhe waren über dem Rist offen, wie es der Mode des 16. Jahrhunderts entsprach. Der Geist hielt sich nicht lange mit Einleitungen oder 57
Höflichkeiten auf. Dafür war auch nicht die Zeit. »Die Stäbchen, Mark! Schlag mit den Stäbchen zu! Mit Odins Namen auf den Lippen!« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Nostradamus war mir auf jeden Fall wohlgesonnen. Außerdem hatte ich nichts mehr zu verlieren. Ich brüllte den Namen des Götterkönigs und drosch mit den regenbogenfarbenen Stäbchen auf Lundis' rechte Pranke ein. Das Riesenweib hielt mich immer noch gepackt. Im nächsten Moment nicht mehr. Ein Sternenregen entstand, als ob in dem Zauberwerk eine kleine Galaxie wohnte. Vielleicht war das ja auch so. Lundis schrie wie am Spieß. Sie ließ mich los, als würde ich unter Starkstrom stehen. »Hä?« Das plötzliche Erscheinen von Nostradamus direkt neben seinem Kopf hatte auch Kalpa aus dem Konzept gebracht. Der Riese riß sein schwarzes Riesenmaul noch weiter auf. Und stocherte dann mit seiner Lanze in dem Trugbild des französischen Propheten herum. Natürlich brachte das nichts. Nostradamus weilte nur als Geistwesen unter uns. Kalpa konnte ihn nicht verletzen. Aber die Ablenkung gab mir den Moment Zeit, den ich brauchte! Ich stürmte vor. Auf den Hünen los. Kalpa merkte nun, daß ich fliehen wollte. Reaktionsschnell stach er mit dem Speer nach mir. Ich sprang hoch wie seinerzeit beim Hürdenlauf. Die immer noch heiße Eisenspitze raste knapp unter meinen Fußsohlen vorbei. Wieder schrie ich »Odin!« und schlug mit dem Zauberwerk auf den Speerschaft. Kalpa ächzte. Dann geschah etwas, was ich nie zu hoffen gewagt hätte. Die Waffe wurde ihm aus der Hand geprellt! Nun stand er mit leeren Pranken vor mir. Aber immer noch versperrte sein massiger Körper den Ausgang. Und er könnte mich auch ohne seine Waffe wie eine Wanze zerquetschen. Nur meine Schnelligkeit konnte mich noch retten. Rasend vor Wut stürmte der Riese auf mich los. Ich schlug in letzter Sekunde einen Haken. Und hieb mit den magischen Stäbchen auf seine Finger, die nach mir griffen. »Odin! Odin! Odin!« Kalpa wurde für Sekunden von Milliarden winziger Sternchen eingehüllt. Was sie genau mit ihm machten, konnte ich nur vermuten. Aber es reichte auf jeden Fall aus, um ihn gegen die 58
Höhlenwand zu schmettern wie einen Papierflieger im Wirbelsturm. Der Weg nach draußen war frei! Ich rannte, was meine Beine und Lungen hergaben. Das feinstoffliche Bild von Nostradamus schwebte direkt neben mir. »Dies ist ein sehr böser Ort, Mark. Du solltest ihn so schnell wie möglich wieder verlassen!« »Ich danke dir sehr, edler Nostradamus! Aber - woher wußtest du…?« »Ich wache über dich, Kämpfer des Rings. Ich bin zwar nicht dein leiblicher Vater. Aber du bist wie ein Sohn für mich. Wir stehen beide auf derselben Seite. Auf der Seite des Guten und der Gerechtigkeit. Die Mächte hier sind zu stark. Ich muß wieder verschwinden. Paß gut auf dich auf, mein Junge…« Noch während er sprach, war seine Stimme leiser und sein Bild blasser geworden. Hinter mir ertönte ein wildes Gebrüll. Kalpa war also durch die magischen Stäbchen doch nicht völlig erledigt geworden. Das wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Ich mußte mich jetzt schleunigst wieder in meine Welt befördern. Da fiel mir etwas ein. Außer meinem Ring konnte ich ja nichts mitnehmen! Also auch Odins Zauberwerk nicht. Zumindest war das bei meinen Zeitreisen so. Ob das auch für Dimensionsreisen galt? Sollte dann mein ganzes Abenteuer in Utgard völlig sinnlos gewesen sein? Darüber konnte ich mir später Gedanken machen. Wenn es ein Später gab. Denn im Moment war die ganze verdammte Riesenhorde am Feuer alarmiert durch Kaipas Gezeter. Sie machten Front gegen mich. Die ersten warfen schon ihre Speere nach mir. Zweien davon wich ich aus. Wie eine Gemse sprang ich über kleine Felsnasen eine Steilwand hoch. Hier würden mir die Riesen nicht folgen können. Mit ihren Quadratlatschen konnten sie nicht auf die kleinen Vorsprünge treten. Aber ihre Lanzenspitzen wurden mir immer noch gefährlich. Daß ich noch nicht getroffen worden war, lag wohl nur daran, daß ich so »klein« war. Verbissen arbeitete ich mich hoch. Nun warfen sie auch mit Felsbrocken nach mir. Einer davon löste eine kleine Lawine aus. Im letzten Moment konnte ich mich ein Stückchen weiter bewegen, um dem Steinschlag auszuweichen. 59
Aber ich war entmutigt. Was hatte das alles noch für einen Sinn? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die magischen Stäbchen bei mir blieben, wenn ich auf die Reise durch Zeit und Raum ging. Da hörte ich einen Stimmenchor in meinem Inneren. »Du hast uns gerettet, Mark Hellmann. Jetzt, wo wir nicht mehr in den Klauen des Bösen sind, finden wir von selbst zu unserem Herrn zurück.« Verblüfft starrte ich auf das Bündel in meiner linken Faust. Sollte das Zauberwerk zu mir gesprochen haben? In dieser Welt war wirklich nichts unmöglich! Ich riskierte einen Blick nach unten. Die Riesen kamen nicht weiter. Drohend fuchtelten sie mit ihren Wurfspeeren. Aber ich war jetzt aus der Gefahrenzone. Andererseits verströmten die Unholde immer noch genügend böse Energie, um meinen Ring zu aktivieren. Das mußte ich ausnutzen. Ich berührte mit dem magischen Kleinod das rot-blau-goldene »Hexenmal« an meiner linken Brustseite. Kraftvoll strömte der blaue Lichtstrahl aus dem Ring. Ich richtete ihn auf den schmalen Felsvorsprung zu meinen Füßen. Schrieb damit die Runen. Nun mußte ich mich darauf verlassen, daß wirklich die magischen Stäbchen zu mir gesprochen hatten. Und nicht irgendeine schwarzmagische Macht, die mich im letzten Moment noch hereinlegen wollte… * Dracomar tobte. Sein widerliches, vom Weihwasser zerfressenes Gesicht war vom Haß verzerrt, als er von Mark Hellmanns Eindringen in Utgard erfuhr. »Ihr Vollidioten!« herrschte er die Riesentruppe an. »Ihr würdet euch auch den Sessel unter dem Arsch klauen lassen, was?« Die Hünen glotzten sich gegenseitig verständnislos an. Der Blutdruide zitterte vor Zorn. Es war sinnlos. Diese Trottel wußten ja noch nicht mal, was ein Stuhl war. Von einem Sessel ganz zu schweigen. Sie konnten eigentlich nur eins: nämlich Terror verbreiten und töten. Die Unholde von Utgard waren sozusagen die natürlichen Feinde der Menschen und der Götter von Asgard. 60
Wenn diese auch nicht immer reine Unschuldsengel waren… »Das Menschlein hat uns überrumpelt!« verteidigte sich Kalpa störrisch. »Ich habe drei Freunde in die Menschenwelt geschickt, damit sie sich Odin vornehmen! Damit wir leichtes Spiel haben bei unserem Angriff!« »Deine drei Freunde hat der große Odin zum Frühstück verspeist!« schnarrte der Blutdruide. »Wenn er jetzt wirklich seine verdammten Stäbchen zurückbekommt, gibt es nur eins. Wir müssen angreifen. Und zwar sofort!« Diese Sprache verstanden die Riesen. Die Erde von Utgard dröhnte, als ein vielstimmiger Hünenchor den Schlachtruf der Riesen anstimmte. Doch Dracomar fragte sich insgeheim, ob er sich mit diesen Dummbacken als Verbündeten nicht ein Kuckucksei ins Nest gelegt hatte. Doch für eine Änderung der Taktik war es nun zu spät. Die Ereignisse würden ihren Lauf nehmen. * Ich knallte auf den Fußboden vor dem Badezimmer. Wieder einmal war ich völlig erledigt. Nach der Reise durch seltsame Welten und Äonen von Jahren kam ich in meiner eigenen Wohnung im Jahre 1999 wieder zu mir. Ein gutes Gefühl. Es war anders gewesen als auf meinen Trips durch die Zeit. Ich hatte nicht nur die düstere »außerirdische« Welt von Utgard gesehen, sondern auch die mächtige Midgardschlange, die im Urozean ihre Bahnen zog. Sogar einen Blick in die Götterwelt von Asgard hatte ich werfen können, während mich die Kräfte des Universums dorthin zurückgeschleudert hatten, wohin ich gehörte. Keuchend kam ich wieder zu Atem. Meine Muskeln waren schwer wie Blei. Ich fühlte mich wie jemand, der nach Monaten im Krankenhausbett erstmals wieder aufstehen soll. Immerhin schaffte ich es, den Kopf zu heben. Meine Gedanken sprangen zu dem zurück, was ich gerade erlebt hatte. Was wohl mit Odins magischen Stäbchen geschehen war? Ob ich einer List der bösen Mächte auf den Leim gegangen war? Oder befand sich das Zauberwerk in Sicherheit? Und wenn ja, wo, zum Henker, war es dann? Oder Nostradamus. 61
Wieso hatte die Gestalt des Sehers aus dem 16. Jahrhundert gerade in dem Moment eingreifen können, als mich Kaipas Speer zu durchbohren drohte? Agierte der Prophet als eine Art Schutzengel aus der Vergangenheit für mich? Mehr Fragen als Antworten. Ich kümmerte mich erst einmal um das Nächstliegende. Vorsichtig zog ich die Beine an und stand langsam auf. Ich war noch ganz schön wacklig in den Knien, aber es ging. Die Leuchtziffern meines Radioweckers zeigten 2.37 Uhr nachts an. Durch die offenstehende Tür konnte ich es deutlich erkennen. Im Wohnzimmer und in der Küche knipste ich Licht an. Offenbar war ich allein in der Wohnung. Wo war Odin? Wo war Tessa? Darum würde ich mich gleich kümmern. Inzwischen hatte ich einen Kohldampf, der sich kaum noch bezwingen ließ. Zum Glück war noch eine Pizza im Eisschrank. Ich warf sie in die Mikrowelle und schaltete das Gerät an. Auf dem Couchtisch standen immer noch die Bierflaschen, deren Inhalt durch Odins durstige Götterkehle geflossen war. Wo der einäugige Graubart wohl steckte? Die Mikrowelle zeigte mit einem hellen Glockenton an, daß meine Mahlzeit fertig war. Ich verspeiste den heißen Käsefladen im Rekordtempo und spülte ihn mit Orangensaft hinunter. Den hatte der Besucher aus Asgard verschmäht. Als Nachtisch fand ich sogar noch einen Schokoladenpudding. Ich machte mich gerade darüber her, als das Telefon läutete. Ich raste hin. »Hellmann!« »Oh, Gottseidank! Du bist wieder da!« Tessas Stimme. »Ist alles in Ordnung, Mark?« Sie klang fast panisch. Das kannte ich überhaupt nicht von meiner Freundin. »Ja, ich bin okay.« »Hast du die magischen Stäbchen?« »Ich weiß nicht…« »Du weißt es nicht, Mark? Was soll das heißen?« Ich erklärte ihr mit knappen Worten, was bei meiner Abreise aus Utgard geschehen war. »Verdammte Scheiße!« fluchte die Fahnderin nicht gerade damenhaft. »Odin, dieser Mistkerl, hat immer wieder herumgetönt, wie dringend er die Stäbchen braucht, um die Riesen aufhalten zu können. Und jetzt weißt du nicht, ob du sie mitgebracht hast? Oh, verdammte…« 62
»Was ist los, Tessa? Was ist hier passiert, während ich weg war?« »Das würde jetzt zu weit führen!« wich sie mir aus. »Nur soviel: Die Riesen marschieren auf Weimar zu!« »Was?!« Ich hätte beinahe den Telefonhörer fallen lassen. »Tatsache. Pit bekam eine Meldung herein. Von der Polizeidirektion. Eine Nachtstreife hat in der Nähe von Apolda Temposündern aufgelauert. Da haben sie plötzlich eine unübersehbare Menge von nackten Ungetümen mit Speeren, Schildern und Keulen gesichtet…« »Wie viele?« Meine Stimme glich in diesem Augenblick wahrscheinlich einem Krächzen. »Es müssen tausende sein, Mark! Zum Glück hatten die Kollegen genug Verstand, um die Flucht zu ergreifen. Bevor sie bemerkt wurden. Einem von ihnen fiel ein, daß Pit Langenbach bei uns in der Direktion der Mann für Unerklärliches ist. Durch ihn habe ich die Nachricht bekommen.« »Wo bist du jetzt, Tessa?« »In der Polizeidirektion. Was sollen wir tun, Mark? Es dauert keine Stunde mehr, bis die Riesen Weimar erreicht haben. Und dann?« »Wo ist Odin?« »Ich habe ihn im Hotel Russischer Hof untergebracht.« »Wieso das denn, Tessa?« »Erzähle ich dir später, Mark…« »Okay. Dann treffen wir uns gleich dort, im Hotel. Tschüs.« Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Wir hatten keine Zeit mehr zu verlieren. Jede Minute zählte. Schnell schlüpfte ich in Unterwäsche, Jeans und Sweatshirt. Dann zog ich Turnschuhe mit Klettverschluß an. Packte meinen Einsatzkoffer. Und warf die Tür hinter mir ins Schloß. Ich raste die Treppe hinunter. Nahm immer drei Stufen auf einmal. Wutentbrannt steckte Artur Stubenrauch den Kopf aus seiner Wohnungstür. »Herr Hellmann! Es ist mitten in der Nacht. Können Sie nicht leise die Treppe runtergehen?« »Nein!« schnappte ich, sperrte die Haustür auf und sprang in meinen BMW. Der kleine Sachse konnte sie ja wieder zuschließen. Wenn Kalpa und seine Mörderhorden in Weimar einfielen, würde sie auch keine abgeschlossene Haustür mehr aufhalten. 63
Ich raste durch die nächtliche Stadt zum Goetheplatz. Dort befindet sich der Russische Hof in einem klassizistischen Gebäude. Seit der Eröffnung im Jahre 1805 haben dort Promis wie der russische Dichter Iwan Turgenjew und der Komponist Franz Liszt genächtigt. Nun hatten sie sogar einen leibhaftigen germanischen Gott unter ihren Gästen. Schade nur, daß sie damit nie würden werben können… Ich hätte grinsen müssen, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Als ich am Goetheplatz 2 in die Eisen stieg, wartete schon ein Streifenwagen mit rotierenden Blaulichtern. Tessa und Pit stiegen gerade aus. Ich umarmte meine Freundin kurz, dann stürmten wir in das Hotelfoyer. »Tessa Hayden, Kripo Weimar!« Tess präsentierte dem Nachtportier ihren Dienstausweis. »Wir müssen sofort einen Ihrer Gäste sprechen. Ein großer Skandinavier. Ich war vorhin mit ihm hier, um das Zimmer zu buchen.« »Ach, der!« Mit unnachahmlicher Arroganz dehnte der Angestellte seine Worte. »Herr Odin Odinsson. Herr Odinsson hat sich noch nicht zur Ruhe begeben. Er weilt in der Hotelbar!« Und sein Arm wies in die linke Richtung. Wir eilten dorthin. Helles Frauenlachen wies uns den Weg. Ich stieß eine Schwingtür aus Rauchglas auf. Odin saß an der Theke. Obwohl ich ihn in diesem Menschenkörper eines jungen gutaussehenden Mannes noch nicht gesehen hatte, wußte ich sofort, daß er es war. Er mußte es einfach sein. Ich spürte seine Aura, die nicht von dieser Welt war. Außerdem hatte er ungefähr dreißig Bierflaschen vor sich aufgereiht, ohne Anzeichen von Trunkenheit zu zeigen. Links und rechts von ihm saßen eine Blondine und eine Schwarzhaarige mit übereinandergeschlagenen Beinen auf Barhockern. Man hätte nicht sagen können, bei welchem der beiden Mädchen der Minirock höher gerutscht war. Als er uns wahrnahm, erschien ein siegessicheres Grinsen auf seinem männlich-schönen Gesicht. »Ah, Mark! Trink ein Bier mit mir, mein Freund! Bei eurem Thüringer Gebräu könnte ich mir glatt mein geliebtes Met abgewöhnen.« Die beiden Schnallen kicherten, als ob er einen unglaublich guten Witz gerissen hätte. Aber ich war einfach nur sauer. 64
»Wir müssen etwas unternehmen, Odin! Die Riesenarmee von Kalpa marschiert auf unsere Stadt zu!« Die Mädchen fielen vor Lachen fast von den Barhockern. Tessa wollte sie gerade zusammenstauchen, doch ich hielt sie gerade noch zurück. »Deine magischen Stäbchen…«, wollte ich fortfahren. »Ah ja, meine Stäbchen! Vielen Dank, Mark Hellmann! Ich wußte, daß du es schaffen würdest!« »Du hast sie?« Ich muß ziemlich verblüfft ausgesehen haben. »Aber natürlich!« Odin murmelte ein paar Worte, öffnete die linke Hand. Und die magischen Stäbchen kamen aus dem Nichts in seine Finger geflogen. Sie leuchteten in den schönsten Regenbogenfarben. Genau wie drüben in Utgard, als ich mein Leben für ihre Rettung riskiert hatte. Die Barmiezen starrten Odin an, als hätte er sich plötzlich in Claudia Schlüpfers Oberzauberer verwandelt. Eine Mischung aus Erleichterung und Wut tobte in meinem Inneren. »Dann - dann sollten wir jetzt endlich was unternehmen! Die Riesen werden wohl kaum warten!« »Hast recht.« Odin glitt von seinem Barhocker. Warf den beiden Mädels Kußhände zu und schritt dann zum Ausgang. »Bezahl mal eben für mich, Mark. In Ordnung?« * Die Riesen waren in Siegerstimmung. Wie im Rausch waren die Unholde über die breite Brücke gestapft, die Dracomar aus Vampirischer Energie über den Urozean geschlagen hatte. Dieses Gewässer markierte die Grenze zwischen der sichtbaren Welt der Menschen und den unfaßbaren Dimensionen um sie herum. Wie zum Beispiel Utgard und Asgard. Der Blutdruide war erschöpft. Er hatte unglaublich viel von seiner bösen Kraft opfern müssen, um diese titanischen Halsabschneider nach Weimar zu schaffen. Denn dort sollte ihr Feldzug den Anfang nehmen. Wenn erst Hellmann und Odin erledigt waren, so rechnete sich Dracomar eiskalt aus, würde es kaum noch ernstzunehmende Gegner geben… Die Kolosse rückten vor! Auf breiter Front! Die Sterne über 65
ihnen schienen wie Messer zu stechen. Doch die Hünen fühlten sich unverwundbar. Menschliche Kräfte konnten ihnen nichts wirklich anhaben. Und normale Waffen, von Menschenhand geschaffen, würden an ihnen abprallen. Kalpa lief voran. Er war zu dumm, um jemals das Zählen gelernt zu haben. Sonst hätte er gewußt, daß er mindestens tausend seiner Artgenossen hinter sich versammelt hatte. Sie stampften Heuschober, Bäume und Traktoren nieder. Mit ihren Speeren schlugen sie auf die Schilde. Stimmten einen heiseren Schlachtgesang an. Nichts schien sie aufhalten zu können… * Pit Langenbachs Gesicht war sorgendurchfurcht. Bei Tessa und mir sah es nicht besser aus. Wir hatten alle erlebt, wozu diese Kolosse in der Lage waren. Gewiß, Pit hatte einen von ihnen mit seinen Silberkugeln erledigen können, wie ich inzwischen erfahren hatte. Odin hatte zwei weitere mit seinen verbliebenen übermenschlichen Fähigkeiten ausgeschaltet. Aber mit dieser Armee konnten sie uns schon allein durch ihre große Übermacht zerquetschen! »Ich muß die Stadt evakuieren lassen«, preßte der Hauptkommissar hervor. »Kann sein, daß es mich meinen Job kostet. Oder der Bürgermeister läßt mich ins Irrenhaus sperren. Aber wenn ich mir vorstelle, daß diese Monster über Weimar herfallen…« Er brauchte nicht weiterzusprechen. Pit Langenbach hatte Familie. Und er sorgte sich um alle anderen Bürger der Stadt mindestens genauso wie um seine Frau und seine Tochter. Nur Odin strahlte wie ein Lebkuchenpferd, während wir in dem Streifenwagen auf den östlichen Ortsausgang zurasten. Die B 7, die hier noch Jenaer Straße hieß. »Das wird ein feines Kämpfchen geben, ihr Recken! Schon lange her, daß der alte Odin solch einen Spaß hatte!« Pit Langenbach warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Schließlich ging es hier um Menschenleben. »Du bist ein Gott, Odin! Du kannst dich nach Asgard verziehen, wenn es brenzlig wird! Wenn 66
die Riesen unsere Welt vernichten, kann dir das egal sein.« »Nach Asgard verziehen?« Nun wurde der Götterkönig böse. »Nennst du mich feige, du kleines Menschlein mit dem großen Schnurrbart? Das Gegenteil ist der Fall!« Er stieß seinen Zeigefinger wie eine Waffe gegen Pits Brust. Er saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Tessa und ich hockten auf dem Rücksitz. »Ihr werdet euch aus dem Kampf raushalten. Das ist nichts für Menschen! Das ist eine Sache zwischen Göttern und Riesen. Nur Mark Hellmann nehme ich mit! Denn er ist ein Auserwählter!« »Ihr beide?« brauste nun meine Freundin auf. »Ihr beide allein gegen tausende von Riesen?« »Habe ich das gesagt, schöne Frau?« Ironisch grinsend wandte sich Odin um. Seine magischen Stäbchen ruhten locker auf seinem Schoß. »Ich glaube, ihr unterschätzt mich immer noch.« Er machte eine kaum merkliche Bewegung mit dem rechten Zeigefinger. Plötzlich soff der Motor ab. Der Opel Omega mit der grün-weißen Polizeilackierung rollte noch ein paar Meter und stoppte. »Was soll der Mist?« schrie Pit. Aber Odin hörte nicht auf ihn. Er stieß die Beifahrertür auf und stieg aus. Ich folgte ihm. Was hatte er vor, dieser Gott der Dichtkunst und des Mets, dieser Intrigant und Kämpfer, Hellseher und Frauenheld? Der Streifenwagen stand jenseits der Bahnlinie in der Parkvorstadt. Links von uns befand sich die Oberförsterei. Es war sehr still in diesem Teil Weimars. Über uns erklang ein Krächzen. »Hugin und Munin. Meine Boten lassen mich nicht im Stich. Die Riesenarmee ist auf dem Vormarsch. Sie werden bald hier sein. Es wird Zeit, daß ich meine Truppen herbeirufe.« Odin breitete seine magischen Stäbchen fächerförmig vor sich aus. Er hielt sie zwischen den einzelnen Fingern, so daß sie wie lange Stacheln nach außen zeigten. Dann rief er einige kehlige Sätze in einer unbekannten Sprache. Grinsend blickte der Götterkönig in den Nachthimmel hinauf. Währenddessen verwandelte er sich in einen germanischen Krieger mit Helm, Kettenpanzer und Bärenfell. Der lange Bart wallte wieder auf seine Brust. Und seine leere Augenhöhle wirkte im Dunkeln doppelt unheimlich. »Da kommen sie.« Ich war seinem Beispiel gefolgt und beobachtete ebenfalls die 67
Schwärze über uns, in der Millionen Sterne glitzerten. Einige Wolkenbänke teilten sich. Ja, da kamen sie wirklich. Eine unendlich erscheinende Schar von Geisterkriegern, die durch den Himmel ritt. Sie schwangen ihre Streitäxte und Hämmer, ihre Schwerter und Speere. Und begleitet wurden sie von Donnern und Blitzen, wie ich sie so massiv in der Natur noch nie bemerkt hatte. Diese Kriegerschar aus Asgard war unseren Vorfahren in unzähligen Sagen und Mythen vertraut gewesen. Die Wilde Jagd. * Die Schlachtrösser schienen aus Nebel zu bestehen. Obwohl es stockfinster war, zeichneten sich ihre Konturen deutlich gegen die Dunkelheit ab. Und auch die Reiter, feinstoffliche Wesen, waren genau zu erkennen. Sie alle waren gekleidet wie germanische Krieger und Freibauern aus ferner Vorzeit. Die Wilde Jagd bestand aus den Geistern toter Krieger, die an der Ehrentafel in Walhalla Platz genommen hatten. Sie fochten an der Seite der Götter gegen das Böse, wenn es nötig war. Stolz hatte Odin seine Fäuste in die Hüften gestemmt. »Nun, Mark Hellmann? Wie gefällt dir meine Streitmacht?« Ich nickte nur. Daß ich beeindruckt war, merkte man mir gewiß an. Der Götterkönig gab ein Zeichen. Plötzlich löste sich ein reiterloses Pferd aus der Truppe in den Wolken. Kam in Windeseile zu uns herabgebraust. »Das ist Sleipnir, mein Pferd.« Odin warf sich in den Sattel. Daß es kein Reittier für einen normalen Sterblichen war, hätte ich mir denken können. Denn Sleipnir hatte acht Beine. Ein zweites gesatteltes Pferd schwebte nun vom Himmel herab. Es wirkte fast wie ein normales Tier. Nur daß es eben nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus sustanzlosem Nebel zu bestehen schien. »Willst du mit uns reiten, Mark? Noch ist es Zeit, umzukehren.« Ich hatte mich längst entschieden. Als Kämpfer des Rings war es meine Pflicht, die schwarzmagische Bedrohung von Weimar abzuwenden. Außerdem hatte ich die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, daß Odin mir etwas über Dracomar und dessen 68
Herkunft und Schwächen verraten würde. »Worauf warten wir noch, Odin?« Der germanische Gott reichte mir die Zügel des Nebelpferdes. Ich schwang mich in den Sattel. Odin drückte mir einen Speer in die Hand. Mein Ring begann zu prickeln. Aber nicht durch die Nähe der Wilden Jagd. Denn das waren ja gute Geister. Sondern weil sich die Riesen der Jenaer Straße näherten. Man konnte ihre dumpfen Schritte schon lange hören, bevor man sie sah. Schnell aktivierte ich meinen Ring und schrieb das keltische Wort für Waffe auf meinen Speer. Nun war ich bereit. Keine Sekunde zu früh. Denn nun hatten Kalpa und seine Artgenossen unsere Anwesenheit gewittert Sie griffen an! * Mein Nebelroß schien schlachterprobt zu sein. Jedenfalls ließ es sich weder durch die entsetzlichen Schreie der Riesen erschrecken. Noch durch die Speere, die uns jetzt entgegengeschleudert wurden. Auch ich brüllte nun, was meine Lungen hergaben. Gleichzeitig kam ich mir vor, als würde ich mich in einem verrückten Traum befinden. Ich ritt inmitten von tausenden von Geisterkriegern eine Attacke gegen ein Heer von Riesen! Odins Krieger schwangen drohend ihre Waffen. Es klirrte, als wenn riesige Stahlbleche aufeinander geworfen würden. Man konnte es für Donnerrollen halten, wenn die Männer aus Walhalla ihre Speere durch die Luft schwangen. Und wenn die Bogenschützen ihre Pfeile abfeuerten, schienen Blitze durch den Nachthimmel zu schießen. Die Wilde Jagd machte ihrem Namen alle Ehre. Von so etwas wie einer Schlachtordnung oder gar Taktik konnte keine Rede sein. Odin schien so etwas für Zeitverschwendung zu halten. Er befand sich dicht an meiner Seite. Die acht Hufen von Sleipnir donnerten ihr Stakkato in den Wolken. Der Bart des Einäugigen wehte über seine Schulter. Drohend fuchtelte er mit seinem Speer Gungnir, der angeblich nie sein Ziel verfehlte. Tief unter uns erkannte ich nun die Kreuzung Jenaer Straße/BodelschwinghStraße. Und die Titanen-Streitmacht, die sich uns stellte. 69
Die Blitzpfeile der Wilden Jagd lichteten die Reihen der Riesen. Unsere Mannen waren größer als normale Menschen, aber immer noch wesentlich kleiner als die Eindringlinge aus Utgard. Ich faßte meinen Speer fester. Denn nun hatte ich Kalpa entdeckt. »Der ist für mich!« röhrte mir Odin ins Ohr. »Das Schicksal muß sich endlich erfüllen!« Frontal prallten die Heere aus Asgard und aus Utgard aufeinander. Und ich, Mark Hellmann, befand mich mittendrin. Eine Lanze raste direkt auf mich zu. Ich wehrte sie mit meinem weißmagischen Speer ab. Die Riesen stürzten sich mit der ganzen Grausamkeit dämonischer Kreaturen auf ihre Gegner. Aber auch die Geisterreiter waren kampferprobte Recken. Mir war nicht ganz klar, ob sie von den Hünen überhaupt vernichtet werden konnten. Der einzige, dem es hier wirklich an den Kragen gehen konnte, war ich! Meine Muskeln schmerzten, als ich im Nahkampf immer wieder Speerspitzen abgleiten lassen mußte, die mich zu durchbohren drohten. Mein Nebelpferd war flink und wendig. Es reagierte auf meinen Schenkeldruck. Und im Gegensatz zu einem Tier aus Fleisch und Blut konnte ihm offenbar nichts passieren. Mehrfach hatten Riesen schon mit ihren Keulen oder Speeren das brave Roß getroffen. Doch es gab keine Verletzungen. Ich trieb mein Roß durch die Nachtluft scharf nach links, um einem Speer auszuweichen. Dadurch bot mir ein Riese seine ungeschützte Flanke. Ich stieß mit beiden Fäusten zu. Trieb den weißmagischen Speer weit in seinen Oberkörper. Es prasselte, als ob man uraltes Holz ins Kaminfeuer geworfen hätte. Der mächtige Leib erschlaffte. Seine dämonische Existenz wurde beendet. Doch gleich darauf wurde die Lücke in den Riesenreihen durch zwei weitere Ungetüme geschlossen, die mir ebenfalls ans Leder wollten. Ich setzte alles auf eine Karte. Nur Schnelligkeit konnte mir helfen. Zum Glück war ich mit dem Nebelroß wie verwachsen. Es schien intuitiv zu spüren, was ich vorhatte. Wie der Blitz galoppierte es zwischen den beiden Unholden hindurch. Die Lücke war so klein, als ob man sich im Motorradsattel auf der Autobahn zwischen zwei LKW hindurchmogeln wollte. Ich ließ die Zügel los und packte meinen Speer mit beiden 70
Fäusten am unteren Ende des Schaftes. Dann ließ ich ihn um meinen Kopf kreisen wie ein Lasso. Es klappte. Die Spitze drang in die Armmuskeln beider Hünen. Wie ein tödliches Gift fraß sich die Magie des Guten in diese dämonischen Fleischberge. Einer nach dem anderen ging zu Boden. Mir fiel auf, daß die anderen Riesen leichter zu vernichten waren als Kalpa. Vielleicht lag es ja daran, daß Dracomar ihm mit einem höllischen Trick zu einem zweiten Körper verholfen hatte. Dracomar! Wo war dieser hinterhältige Blutdruide überhaupt? Offenbar zog er es vor, die Fäden aus dem Hintergrund zu ziehen. Jedenfalls konnte ich ihn auf dem Schlachtfeld nirgends entdecken… * Der Alte des Schreckens verfolgte von einem Nebengebäude der Oberförsterei das Kampfgeschehen zwischen Himmel und Erdboden. Seine Fratze war haßverzerrt. Nun war das eingetreten, was er am meisten gefürchtet hatte. Mit Hilfe der magischen Stäbchen war es Odin gelungen, seine »Hausmacht« herbeizurufen. Diese verdammte Wilde Jagd. Der Ausgang des Kampfes war nun zumindest zweifelhaft. Denn diese Riesen waren zwar brutal, aber doch ziemlich dumm… Da kam dem Blutdruiden eine satanische Racheidee. Es war ihm nicht entgangen, daß Tessa Hayden und Pit Langenbach dort unten an der Jenaer Straße ebenfalls das Aufeinanderprallen von Gut und Böse verfolgten. Dracomars verdorrte Zunge glitt über seine zerfetzten Lippen. Seine Fangzähne leuchteten im fahlen Schein der Laternen, als er die Jenaer Straße erreicht hatte. Gleichzeitig fühlte er die Gier in sich aufsteigen. Ich sauge deine Freundin aus, Mark Hellmann. Wie findest du das? Wenn der Recke vom Schlachtfeld zurückkehrt, ist seine Geliebte zu einem Geschöpf der Nacht geworden… Hehehe… Und ich kann endlich meinen Durst stillen! Wie ein böser Schatten glitt der Blutdruide über die Fahrbahn auf den geparkten Streifenwagen zu.
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* Pit Langenbach paffte nervös einen Zigarillo. Er war ein Mann der Tat. Es paßte ihm überhaupt nicht, wie ein Zinnsoldat oder Statist in der Gegend herumstehen zu müssen. Gleichzeitig gestand er sich ein, daß es Selbstmord gewesen wäre, in das Gefecht zwischen den Riesen und der Wilden Jagd einzugreifen. Um die Stadt noch evakuieren zu lassen, war es sowieso zu spät. Der Aufmarsch der Riesen hatte jeden Schnelligkeitsrekord gebrochen. Der Hauptkommissar konnte nichts weiter tun, als Mark Hellmann und Odins Leuten bei dieser mörderischen Schlacht die Daumen zu drücken. Und das gefiel ihm überhaupt nicht. Hinzu kam dieses miese Gefühl einer nicht greifbaren Bedrohung. Etwas, das sie bei ihren Überlegungen völlig vergessen hatten. Tessa schien ebenfalls nicht gerade im Glück zu schwelgen. Auch ihr war die Nervosität anzumerken. Sie öffnete ihre Umhängetasche. Wollte sich eine Zigarette ins Gesicht stecken. »Wo ist mein verdammtes Feuerzeug? Hast du Feuer, Pit?« »Sicher.« Der Hauptkommissar griff in seine Hosentasche. Drehte sich halb um. Doch dann zuckte seine Rechte zu der SIG Sauer, die er im Gürtelhalfter trug. Denn er hatte die grauenhafte Gestalt erkannt, die in diesem Augenblick Tessa Hayden von hinten ansprang! »Vorsicht, Tessa!« Die Reaktionen der Fahnderin waren so erstklassig, wie man es von einer Polizistin im Außendienst erwarten konnte. Sie knickte das linke Bein ein, sicherte ihren Körper auf dem ausgestreckten rechten und rammte gleichzeitig beide Ellenbogen nach hinten. Eine Technik, die bei menschlichen Angreifern Wirkung gezeigt hätte. Aber nicht bei einem Blutdruiden! »Nicht so stürmisch, kleine Tessa!« höhnte der Alte des Schreckens, als ihre Oberarme gegen seinen halb verwesten Vampirkörper prallten. »Der Onkel Dracomar kommt dich ja schon holen!« Mark Hellmanns Freundin erstarrte. Schon einmal war sie im 72
Bann dieses Unheimlichen in dem schwarzen Mantel und mit dem typischen Schlapphut gewesen. So trat er jedenfalls in dieser Nacht auf. Ansonsten konnte sich Dracomar in jedes beliebige Wesen verwandeln. Pit Langenbach hatte die SIG im Beidhandanschlag. Er wußte, daß er selbst mit geweihten Silberkugeln nichts gegen einen so mächtigen Höllendämonen wie Dracomar ausrichten konnte. Aber er mußte es wenigstens versuchen. Nicht auszudenken, wenn Tessa gebissen würde! Die Fahnderin ahnte instinktiv, was ihr Chef vorhatte. Sie machte sich schwer und versuchte sich fallenzulassen. Aber Tessa war wie eine Puppe in Dracomars Armen. Schon zogen seine widerwärtigen Klauen sie näher zu sich heran. Schon näherten sich seine scharfen Fangzähne unbarmherzig ihrer Halsschlagader. Pit kniff die Augen zusammen. Er mußte es riskieren, bevor die Situation noch aussichtsloser wurde. Dreimal hintereinander bellte die Dienstwaffe trocken auf. Dracomar wurde getroffen. An seinem entstellten Schädel, an der Brust und am Oberarm. Und dann geschah das Unfaßbare. Der Blutdruide brach in die Knie! Er ließ Tessa los! Die Polizistin rollte sich reaktionsschnell ab und kam sofort wieder auf die Beine. Ging in Abwehrstellung. Pit Langenbach jagte noch eine Kugel in Dracomars Bauch. Sollte das geschehen sein, was sie sich alle gewünscht hatten? Wurde die Welt von dieser mordgierigen Blutbestie erlöst? Für einen Moment schien es so. Doch der Hauptkommissar hatte einfach nur den passenden Zeitpunkt erwischt. Dracomar war durch seine verausgabte Energie so erschöpft wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Darum hatten ihn die geweihten Silbergeschosse zurückgetrieben. Aber mehr auch nicht. Trotzdem war dadurch sein schwarzmagisches Kraftzentrum weiter geschwächt worden. Mehr, als er riskieren konnte. »Ihr Narren!« brüllte er gellend auf und warf sich seinen mit roter Seide gefütterten Umhang über die Schulter. »Ihr werdet noch den Tag eurer Geburt verfluchen! Meine Rache wird furchtbar sein!« Im nächsten Moment war er wie vom Erdboden verschluckt. Er 73
hatte sich vermutlich in höllische Gefilde abgesetzt. Tessa fiel Pit um den Hals. »Das war knapp. Um ein Haar wäre ich wieder zur Vampirbraut geworden. Wie damals in unserem ersten Abenteuer.« Der Hauptkommissar nickte nur vor sich hin. Sein Drang nach einem Zigarillo war stärker denn je. »Ich glaube, von diesem Blutdruiden haben wir noch jede Menge Ärger zu erwarten.« Und damit sollte er recht behalten. * Kalpa und Odin umkreisten sich. Lauernd wie zwei Raubtiere. Sleipnir galoppierte eine Mannshöhe über dem Boden durch die Luft. Dadurch waren die Köpfe der Gegner fast auf gleicher Höhe. »Wo ist jetzt dein einäugiger Freund?« verspottete der Götterkönig den Riesen. »Hat er die Hosen voll?« Kalpa erwiderte nichts. Wie ein Rammbock aus Fleisch stieß er vor. Sein baumdicker Speer raste auf Odins Brustpanzer zu. Der Gebieter von Walhalla parierte mit seiner magischen Waffe. Blitze zuckten aus dem Auge des Gottes. Der Riese brüllte, daß noch am weiter entfernten Marie-Seebach-Stift die Fensterscheiben zersprangen. Und dann fuhr Odins Lanze nieder. Sie hieß Gungnir. Und verfehlte nie ihr Ziel. Der Schild des Hünen zerbarst unter dem Ansturm. Kalpa senkte seinen mächtigen Schädel. Er hätte dem Schlachtroß mit einem einzigen Biß seiner schwarzen Zähne den Kopf abreißen können. Doch Sleipnir war ein Zauberpferd. Als Kaipas Kiefer zusammenklappten, verwandelte sich das Reittier schlagartig in einen stachelbewehrten Saurier! An der Panzerechse biß sich der rasende Unhold die Zähne aus. Mit Schaum vor dem Maul wollte er sie mit seinen enormen Kräften umstoßen. Doch da hatte der Speer Gungnir seinen »Ausflug« durch die Nachtluft beendet und kehrte wie ein Bumerang in Odins Hand zurück. »Stirb, Diener eines Blutsaugers!« brüllte der Götterkönig. Gungnir drang so heftig in die Brust des Riesen, daß er am Rücken wieder austrat. Schwarzes Blut wurde auf der Jenaer Straße vergossen. Der Führer des Riesenheeres schlug im Todeskampf wild um sich. Odins Auge schleuderte einen Blitz 74
nach dem anderen in den Körper seines schwer angeschlagenen Feindes. Feuersäulen stiegen auf. Die magischen Kräfte von Asgard und Utgard rangen schwer miteinander. Plötzlich schien Kalpa von innen her zu leuchten. Die Götter trugen den Sieg davon. Der Koloß brach in die Knie. Sein Körper löste sich in einem Funkenregen auf. Ein infernalisches Kreischen setzte ein. Es wurde so hell, daß Tessa und Pit ihre Augen abwenden mußten. Als der Lärm endlich abebbte, senkte sich auch wieder Dunkelheit über den Stadtrand von Weimar. In der Schlachtreihe der Titanen klaffte eine große Lücke. Der Speer Gungnir lag dort in einer Pfütze von undefinierbarer Farbe. Aber dann erhob er sich wieder ruckend. Und schwirrte zu seinem Herrn und Meister zurück. Und Odin stürzte sich an der Spitze der Wilden Jagd auf die verbliebenen Riesen! * Mein Nebelpferd galoppierte mitten zwischen die angreifenden Unholde. Speere zuckten, Keulen fielen auf mich herab; riesige Pranken griffen nach mir. Ich stach und hieb mit meinem weißmagischen Speer um mich. Von der Stirn sickerte mir Blut in die Augen. Aber ich kniff sie zusammen und kämpfte weiter. Wir waren die einzigen, die diese Titanen aufhalten konnten. Wie tödliche Nebelschwaden flogen die Männer der Wilden Jagd auf ihre Gegner zu. Altnordische Hornbläser gaben Signale, die ich nicht zu deuten verstand. Ich war ohnehin schon halb taub vom Brüllen der Riesen und dem Geklirr der Waffen. Dracomar war nirgends zu erkennen. Mir schwante Übles. Und als hätte er meine Gedanken gelesen, war der Alte des Schreckens plötzlich da. Er saß hinter mir auf dem Pferd! Seine Vampirkrallen umklammerten mich, als wäre er eine Auspuffmieze, die bei ihrem Rockerfreund auf dem Soziussitz hängt. Seine Fangzähne schienen nur Zentimeter von meiner Halsschlagader entfernt sein! Ein schauriges Lachen übertönte den Schlachtlärm. Da wurde 75
mir klar, daß er mich wieder einmal an der Nase herumgeführt hatte. Hinter mir saß nur sein »Doppelgänger«, sein feinstoffliches Trugbild. Es konnte mir nichts anhaben. »Heute hast du Glück gehabt, Hellmännchen. Wer hätte ahnen können, daß sich diese Riesentölpel gegenseitig auf die Füße treten? Aber du bist fällig. Wir haben in der Hölle schon einen Logenplatz für dich reserviert. Und deine Eltern…« »Was weißt du von meinen Eltern?« brüllte ich. Gerne hätte ich den Vampirischen Quälgeist mit Hilfe meines Rings vertrieben. Aber dafür war keine Zeit. Ich mußte mich immer noch mit dem weißmagischen Speer gegen die Riesen wehren. »Das interessiert dich, nicht wahr? Also gut. Als einen kleinen Vorgeschmack auf deine kommenden Höllenqualen. Deine Eltern sind…« In diesem Moment raste ein Speer auf mich zu! Riesig, blitzschnell, nicht aufzuhalten. Doch wie eine ferngelenkte Rakete traf er im letzten Moment nicht mich, sondern fuhr durch das Dracomar-Trugbild hinter mir hindurch. Die letzten Worte des Blutdruiden verklangen. Gingen in einem unverständlichen Gemurmel unter. Und der Speer flog einen weiten Bogen und kehrte zu seinem Besitzer zurück. Zu Odin. * Nicht lange nach der Vernichtung von Kalpa war der Kampf entschieden. Ohne ihren Anführer waren die Riesen noch planloser als vorher. Sie flüchteten vor den nachsetzenden Krieger der Wilden Jagd. Und plötzlich waren alle toten und lebenden Titanen verschwunden, als hätten sie nie existiert. Auch Odins »schnelle Eingreiftruppe« löste sich auf wie Morgennebel in einer steifen Brise. Nur der Götterkönig selbst blieb bei uns. Gerne hätte ich mich noch von meinem treuen Schlachtroß verabschiedet. Doch sobald es mich wieder neben dem Streifenwagen abgesetzt hatte, wurde auch das Nebelpferd unsichtbar. Tessa fiel mir um den Hals und bedeckte mein blutiges Gesicht mit Küssen. Mir taten alle Knochen weh. Aber ich lebte. Schien 76
keine schweren Verletzungen zu haben. Und das Wichtigste: Wir hatte die Bedrohung von Weimar abgewendet. »Die Riesen sind weg«, sagte Pit Langenbach, als würde er aus einer tiefen Trance erwachen. »Aber wie erklären wir den Bürgern die Zerstörungen?« »Wirbelsturm, Windhose«, schlug ich vor. »In den USA passiert so was dauernd. Gerade wieder in Oklahoma. Unvorstellbare Zerstörungen hat es dort gegeben.« »Wir sind hier in Thüringen!« Ich hob die Schultern. »Bin ich vielleicht ein Meteorologe oder Klimaforscher? Sollen sich doch die Wissenschaftler damit rumärgern. Die bilden eine Expertenkommission. Und frühestens in drei Jahren liegt dann das erste Gutachten vor.« Tessa, Pit und ich stimmten ein befreiendes Lachen an. Hauptsache, daß es keine Verluste an Menschenleben gegeben hatte. Und danach sah es im Moment nicht aus. Odin wirkte ein wenig beleidigt. Ich ging auf ihn zu und drückte ihm fest die Hand. Er hatte immer noch die Gestalt des einäugigen Graubartes. »Ich danke dir, großer Odin. Ohne dich und deine Mannen wäre Weimar wahrscheinlich völlig zerstört worden.« »Darauf kannst du einen lassen!« erwiderte der Götterkönig in seiner derben germanischen Art. »Ich kämpfe gerne überall gegen die Kräfte des Bösen, der Unterwelt und dämonischer Sphären. Wenn man meine Qualitäten auch nicht überall zu schätzen weiß…« Bei seinen letzten Worten warf er einen giftigen Seitenblick auf Tessa. Ich hob die Augenbrauen, sagte aber nichts dazu. Mir lag etwas ganz anderes im Magen. »Ich habe dir deine magischen Stäbchen zurückgeholt, Odin. Du hast mir versprochen, im Gegenzug die Herkunft von Dracomar zu verraten…« Auffordernd blickte ich ihm in sein Auge. Das andere hatte er geopfert, um in den Born der Weisheit zu sehen. Wenn es jemanden gab, der das Geheimnis um den Blutdruiden lüften konnte, dann war es Odin. Aber er grinste nur spöttisch. »So, habe ich das versprochen? Nein, Mark Hellmann. Ich bin ein Gott und kein Auskunftsbüro - oder wie ihr Menschen das nennt. Ich habe mit meinen Kriegern deine Stadt gerettet. Reicht 77
das nicht für heute? Vielleicht verrate ich dir irgendwann in Zukunft mal etwas über Dracomar. Wenn ich Lust dazu habe. Denn ich bin sicher, daß wir uns einmal wiedersehen werden!« Mit diesen Worten verschwand der Götterkönig von Asgard, als ob er nie existiert hätte. * Ich legte den Telefonhörer auf. »Wer war das?« wollte Tessa wissen. Sie trat aus der Küche meiner Dachwohnung an der Florian-Geyer-Straße. Zwei Kaffeebecher in den Händen balancierend. Ein paar Tage nach der Schlacht gegen Kaipas Riesen hatten sich die Dinge in Weimar wieder normalisiert. Außer einem beträchtlichen Sachschaden hatten die Hünen keine Spuren hinterlassen. Nun, dafür würden die Versicherungen aufkommen. Zum Glück hatte es keine Außenstehenden als Augenzeugen für die Kämpfe gegeben. Bei der Polizei waren nur unzählige Beschwerden wegen nächtlicher Ruhestörung eingegangen. Aber da die Riesen und die Wilde Jagd spurlos verschwunden waren, ließ sich auch hier kein Schuldiger ausmachen. »Struppy«, erwiderte ich die Frage meiner Freundin. »Sie ist total happy. Ihr Freund Pascal ist aus den Hufeland-Kliniken entlassen worden.« Tessa kam zu mir aufs Sofa und schmiegte sich an mich. Es war später Nachmittag. Sie hatte an diesem Tag bei der Polizei ausnahmsweise keine Überstunden machen müssen und war nach Feierabend direkt zu mir gekommen. Ihr Baumwollpullover war für März vielleicht noch etwas dünn. Jedenfalls gewährte er mir tiefe Einblicke. Ich schluckte. »Was machen eigentlich deine Wunden?« fragte Tessa unschuldig. Ich war nach meinem Kampf mit den Hünen nur ambulant behandelt worden. Außerdem konnte ich mit Hilfe meines Ringes selbst die schlimmsten Wunden im Handumdrehen selber heilen. Die Frage nach meinen Blessuren war also nur ein Vorwand. Aber ich ging gerne auf ihr Spielchen ein. »Soll ich mein Hemd ausziehen?« fragte ich ebenso unschuldig zurück. 78
Sie nickte mit dem Eifer einer Krankenschwester im ersten Berufsjahr. Ich warf mein Hemd auf einen Sessel. Tessas kühle Hände strichen über meinen Rücken und über meine Brust. »Tut das weh?« Ich schüttelte nur stumm den Kopf. »Und das?« Ihre Hände glitten tiefer. Öffneten meinen Gürtel. Es dauerte keine fünf Minuten, bis wir beide den nackten Körper des anderen erkundeten. Wie wir es schon unzählige Male zuvor getan hatten. Und trotzdem nie genug davon bekamen… Wir. fanden den gleichen Rhythmus. Ich kniete hinter meiner Freundin und liebte sie mit der Mischung aus Leidenschaft und Zärtlichkeit, die Tessa immer wieder völlig aus dem Häuschen brachte. Bis sich die langsam aufgebaute erotische Spannung in einer gigantischen, gleichzeitigen, Explosion löste. Engumschlungen lagen wir danach eine Viertelstunde auf dem Boden. Fanden langsam in die Realität zurück. »Ich habe eine Überraschung für dich«, keuchte Tessa. »Noch eine?« »Wieso? Daß ich dich vernaschen will, ist doch keine Überraschung, Mark. Oder?« Wir grinsten. »Da hast du auch wieder recht.« Die Fahnderin angelte nach ihrer Umhängetasche. Fischte ein Flugblatt heraus. »Hier. Da können wir heute abend hingehen.« Stirnrunzelnd überflog ich das Papier. Eine Werbesendung für eine neue Pizzeria. Sie warben mit einem »All you can eat«Abend. »Du bezahlst einen Pauschalpreis«, erklärte Tessa. »Und dann mampfst du soviel, bis nichts mehr reingeht. Kapiert?« »Kapiert. Aber begeistert bin ich trotzdem nicht.« »Wieso?« Ich deutete auf ein groß geschriebenes Wort auf dem Werbeblatt. »RIESENPORTIONEN. Ich kann nichts mehr hören, was mit den Brüdern zu tun hat.« Wir lachten. Dann schmiegte Tessa sich erneut an mich heran. »Na gut, dann bleiben wir eben hier und kochen Spaghetti. Aber auch in deinen vier Wänden gibt es riesenhafte Dinge, Mark Hellmann!« Bei diesen Worten glitt ihre Hand erneut zwischen meine Schenkel. 79
»Wenn du es sagst, wird es schon stimmen«, meinte ich achselzuckend…
ENDE »Zu Tode gefoltert?« Karin Strack legte den Kopf in den Nacken. Ihr Blick glitt am ehrwürdigen Turm der tambertikirche hoch. Die junge Studentin aus Magdeburg interessierte sich nicht besonders für alte Gemäuer. Aber ihr waren die drei Käfige aufgefallen, die über der riesigen Uhr der Lambertikirche an der Fassade hingen. Ihre Mitstudentin Meike Hamm legte ihr die Hand auf die Schulter. Meike stammte aus Münster. War in dieser westfälischen Stadt geboren und aufgewachsen. Und kannte darum auch die Geschichten, die sich um die drei Käfige am Lambertikirchturm rankten. »Wenn ich es dir sage, Karin. Münster war nicht immer so nett und friedlich wie jetzt. Im 16. Jahrhundert hat es hier ein wahres Blutbad gegeben. Die Rädelsführer der Wiedertäufer wurden zu Tode gefoltert und in diesen Käfigen zur Schau gestellt. Und wie du siehst, hängen ihre Gefängnisse noch heute dort.«
Wiedertäufer -Vampire In Mark Hellmann Band 44 schlagen sie zu! Wieder ein Gruselknüller von C.W. Bach!
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