Kim Newmann
Die Nacht in dir
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Tom Tunney hat den Auftrag, Truro Daine zur Strecke zu bri...
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Kim Newmann
Die Nacht in dir
scanned by ab corrected by ob
Tom Tunney hat den Auftrag, Truro Daine zur Strecke zu bringen – den Meister des Verbrechens des 21. Jahrhunderts. Aber Daine hält sich in einer Stadt auf, in der es immer zwei Uhr morgens ist und nie zu regnen aufhört – einer schwarzweißen Gangsterwelt, in der man auf Cagney, Bogart und Lee Marvin treffen kann. Und spätestens nachdem er verprügelt, verhaftet, vernommen, verdächtigt, beschuldigt und durch die Heißmangel gedreht worden ist, wird Tunney eines nur zu klar: Nur weil es nicht real ist, bedeutet das noch lange nicht, daß es dich nicht umbringen kann. ISBN 3-442-23687-8 Originalausgabe »The Night Mayor« Aus dem Englischen von Ute Thiemann Mit einem Nachwort von Robert Vito 1995 by Wilhelm Goldmann Verlag Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Ferenc Regös, Oderding
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Diese Stadt ist dunkel. Hier ist es immer zwei Uhr morgens, und es hört nie auf zu regnen. Richie Quick lebt hier, ein eisenharter Bursche, der sich seine Luckies als Privatdetektiv verdient und schon mal an der Straßenecke auf James Cagney trifft. In Wirklichkeit ist er Tom Tunney, ein Autor, der Szenarios für die virtuellen Träume erfindet, die mittlerweile das Kino ersetzt haben. Tom hat den Auftrag, den Schwerkriminellen Truro Daine – einen Meister des Verbrechens – zur Strecke zu bringen, bevor dessen Träume tödliche Realität werden. Susan Bishopric, ebenfalls professionelle Träumerin, streift durch die Regenstadt, um Tom zu finden und bei seiner Mission zu unterstützen. Aber es sieht schlecht aus für ihn, als Truro Daine die virtuelle Wirklichkeit dahingehend manipuliert, daß Tom wegen Mordes gesucht wird. Denn damit wird Tom selbst zum Gejagten, zum Outlaw in einer Welt, in der die Liebe kälter als der Tod ist und es aus manchen Träumen kein Erwachen gibt. Die Nacht in Dir – eine atemberaubende Mischung aus William Gibsons ›Neuromancer‹ und dem Film noir der vierziger Jahre. »Etwas Besseres werden Sie so schnell nicht zu lesen bekommen.« (Kirkus Reviews)
Autor Kim Newman, geboren 1959, ist eine der großen Genrehoffnungen der neunziger Jahre. Mit Die Nacht in Dir, einer betörenden Mischung aus Cyberpunk und Film noir, wie sie noch nie da war, gelang ihm in England der endgültige Durchbruch; es folgte Das Quorum, eine diabolisch-postmoderne Variation des Dr.-Faust-Mythos. Unter dem Pseudonym Jack Yeovil hat er die Titel der Reihe »Dark Future«, Dämonenjagd (Goldmann TB 23678), Krokodilsjagd (23679) und Mutantenjagd (23680) verfaßt. Kim Newman lebt im Norden Londons.
Für Fiona Ferguson, Saskia Baron und Amanda Lipman, Hellcat Film Editors
Und vor allem Schatten über Schatten über Schatten… Lee Carmes, Tony Gaudio, Lucien Ballard, Sol Polito, Ernest Haller, James Wong Howe, John F. Seitz und die anderen großen Kameramänner jener Ära benutzten bei jeder Einstellung eine Lichtführung, die dunkle Töne scheinbar glänzen ließ, so daß Regen auf Fenstern und Windschutzscheiben immer wie Quecksilber glitzerte, Pelze von zarten Heiligenscheinen umgeben waren und Gesichter von scharfen Schatten- und Lichtfeldern zerschnitten wurden, die symbolisch eine wie auch immer geartete Gefangenschaft des Körpers oder der Seele andeuteten. Der visuelle Stil war zutiefst romantisch, und sein kongenialer Einsatz bei den Geschichten um todbringende Frauen und verzweifelte Männer – geradewegs aus The Romantic Agony machte den Film noir der Vierziger erst zu einem Genre. Es wurde eine Welt erschaffen, die zwar ebenso hermetisch abgeschlossen von der Realität war wie die Welt des Musicals und der geschliffenen Komödien der Paramount Studios, die jedoch auf ihre Art weit ansprechender als jene beiden war. Charles Higham und Joel Greenberg, Hollywood in the Forties
TEIL I RICHIE QUICK AUF HEIßER SPUR
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EINS Es war halb drei in der Nacht, und es regnete. In der Stadt war es immer halb drei in der Nacht und regnete. Etliche Straßen entfernt, im Kit Kat Klub, sang Nat King Cole. Ich hörte seine Stimme leise durch das unablässige Prasseln des Regens und das Zischen von Wasser auf Neonreklamen. In der Ferne schrie jemand. Drei Schüsse knallten in schneller Folge, und der Jemand schrie nicht mehr. Eine Polizeisirene jaulte und erstickte Nats kehliges Schnurren, dann verhallte die Sirene langsam wieder, als er zur letzten Strophe ansetzte. Weitere Schüsse peitschten durch die Nacht, diesmal wahllos, und ein Wagen raste die Straße hinunter und ließ eine Dreckwasserfontäne aus dem Rinnstein aufspritzen, die dicht vor meinen Füßen aufklatschte. Ich konnte den Fahrer nicht erkennen, doch der Fond des Wagens wurde von einem interessanten Einschußdellenmuster geziert, und die Heckscheibe sah aus wie aus weißem Zucker, von Schüssen durchsiebt und im Zustand der Auflösung begriffen. Ein Streifenwagen brauste in wilder Verfolgungsjagd hinterher. Die beiden Wagen, verbunden durch eine Geschichte, die ich nur erahnen konnte, verschwanden um eine Ecke. Schon bald war selbst das Röhren ihrer Motoren verhallt. Es gibt acht Millionen Geschichten in der Stadt. Der Trick ist, dich nur um deine eigene zu kümmern und dich nicht ablenken zu lassen. All die anderen schlingen ihre Handlungsstränge um dich wie Würgespaghetti. Sie hatten mich davor gewarnt, wie leicht man den Verstand verlieren konnte. Ich hätte sie beinahe ausgelacht. Jetzt, wo mein Verstand durch die Mangel gedreht wurde, war es nicht mehr so komisch. 7
Ich drückte mich zusammengekauert an eine Wand und fühlte mich ganz plötzlich sehr alt und sehr müde. Ich habe einen kalten, nassen Beruf, der mich spät in der Nacht auf die Straßen treibt, doch im Moment war das Leben noch kälter, nasser und später, als es mir gewöhnlich lieb war. Nat hatte mittlerweile seinen Auftritt beendet, und Judy Garland war an seine Stelle getreten. Sie sang ›Over the Rainbow‹, als gäbe es eine andere Welt jenseits der Stadtgrenzen, wo die Sorgen dahinschmolzen wie Zitronenbonbons. In der Gasse hinter mir, zusammengerollt zwischen den Mülltonnen, bewegte sich etwas und lachte. Ich kehrte dem Etwas meinen Rücken zu, mehr erschöpft als mutig. Ich blickte hinab in den Rinnstein. Ein ausgezehrtes Gespenst tanzte dunkel im dahinströmenden Wasser. Ich erkannte mich selbst, aber auch das nur mit Mühe. Es lag ein gehetzter Ausdruck in meinen Augen, den ich mir nicht eingestehen wollte. Ich trug meinen dunkelgrauen Fedora, einen regensilbernen Trenchcoat, einen pudergrauen Anzug, ein weißes Hemd, eine schwarze Strickkrawatte, schwarze Lacklederschuhe und dunkelgraue Socken mit hellgrauen Webkanten. Ich hatte mich unter einer U-Bahn-Überführung untergestellt und zog gierig an einer feuchten Zigarette, während ich auf die Spur wartete, die den Durchbruch in meinem Fall bringen würde. Die Spur war schon etliche Filmrollen überfällig. Ich war wie ein Schlafwandler durch eine Montage der fruchtlosen Suche gewandert. Blinkende weiße Neonreklamen, keine einzige unter ihnen ohne nicht wenigstens einen fehlenden Buchstaben: Cocacaba a Cabin, Mild ed’s, The Blue Pa rot, Gréa y Joe’s Diner. Verstockte Statisten, die stummen Fragen ausdrucksvoll den Rücken kehrten. Meine Füße, die den schimmernden 8
Bürgersteig entlangstapften, während meine durchnäßten Hosenaufschläge gegen meine eiskalten Knöchel peitschten. Taxis auf der Pirsch nach Fahrgästen, hin und her winkende Scheibenwischer und abstrakte Regenmuster auf Glas. Komparsen, die logen und jegliche Kenntnis über den Mann, dem ich auf den Fersen war, ableugneten. Unterlegt war das Ganze vom orchestralen An- und Abschwellen meiner Musik – zielstrebiger, doch melancholischer Jazz. Und am Ende war doch alle Mühe umsonst gewesen. Ich hatte nichts weiter als einen Namen. Einen Namen, bei dem sich Türen schlossen und Bars leerten. Ein Name, der, laut ausgesprochen, versiegelte Lippen, heruntergelassene Rolläden, Trink-aus-und-verschwindeBlicke, eiligst erinnerte Verabredungen und gemurmelte Warnungen heraufbeschwor. Nichts weiter als ein Name. Truro Daine. In der Welt weckte der Name Truro Daine viele Assoziationen. Mörder, Brandstifter, Drogenhändler, Pornograph, Erpresser, extravaganter Dieb und eine Menge anderer Dinge, alle sehr unschön. Nun war er der letzte der geflohenen Sträflinge. Meine Klienten wollten ihn unbedingt finden und in sein Gefängnis aus dauerhaftem Stahl und vergänglichem Fleisch zurückschleifen. Klingt einfach, was? Aber da war ein Haken an der Sache. Ein sehr großer Haken. Groß genug, um Dempsey in der ersten Runde zu Boden gehen und John Wayne niemals die Strände von Iwo Jima erreichen zu lassen. Die Stadt gehörte Daine. Nicht nur der Bürgermeister und die Cops und die Gerichte… die Stadt. Jede regennasse Gasse, jedes ArtNouveau-Penthouse, jede miese Kaschemme und jedes 9
verlassene Lagerhaus waren sein persönliches Eigentum. Dort draußen in der gestaltlosen Dunkelheit, wo das Faustrecht der Großstadt herrschte, wartete Truro Daine, ein pechschwarzer Panther im Asphaltdschungel. Ich hielt eine Handfläche um das erlöschende Ende meiner Kippe, um mich an ihr zu wärmen, solange sie noch Wärme spendete. Vorhin war der Regen stärker gewesen, ein unablässiger Sturzbach, der meinen Hut und meinen Mantel durchnäßte und meinen Nacken hinunterrann. Nun war es ein feiner Nieselregen, beinahe unsichtbar, der meine nackten Hände wie Nadeln stach. Aus irgendeinem blöden Grund hatte ich keine Handschuhe. Im Licht der Straßenlaterne sah meine Hand weiß und tot aus, verfärbt nur von den gelben Flecken des Kettenrauchens, und sie fühlte sich an, als hätte ich einen verschrumpelten Handschuh aus Haut über meine schmerzenden Fingerknochen gezogen. Eine Zeitung, mit der Schlagzeile nach außen gefaltet, trieb im Rinnstein vorbei. Es war der Inquirer. FBI SPRENGT ACHSEN-SPIONAGERING: VEIDT, SANDERS, ZUCCO ANGEKLAGT. Verschlagene Gesichter starrten aus den Verbrecherfotos hoch. Nachrichten von gestern. Über mir kreischte ein Zug, und Lichter zuckten über die Straße. Er kam planmäßig, und seine Scheinwerfer huschten über baufällige Feuerleitern. In einer der Wohnungen erwürgte Edward G. Robinson gerade ein Mädchen. Der vorbeifahrende Zug tauchte den Mord in ein irres Licht. Das Mädchen war offensichtlich eine billige Schlampe. Joan Bennett? Sie beugte sich rücklings aus dem Fenster, während sie nichts weiter tun konnte, als zu strampeln und zu röcheln. Edward G. zog eine Perlenkette immer fester um ihren Hals. Das Mädchen schlug mit letzter Kraft aus und kippte eine Lampe um. 10
Der Zug ratterte weiter, wie immer ohne Fahrgäste. Die Kette zerriß, die Perlen regneten herab, schimmernd wie frisch gezogene Zähne. Edward G. Robinson stieg eilig über die Leiche und zwängte sich auf eine Feuerleiter. Regen strömte über sein entsetztes, schwabbeliges Gesicht. Seine Musik schwoll an, kaum hörbar von der Straße aus. Mit affengleicher Flinkheit stieg er das Spinnwebennetz aus eisernen Leitern und Treppenabsätzen hinunter. Die letzten drei Meter sprang er in einem einzigen Satz herab und landete auf der mir gegenüberliegenden Seite der Gasse. Er trug weder Mantel noch Hut, und sein zerknautschter Anzug wurde noch mehr mitgenommen, als sich von der schwankenden Feuerleiter eine Wasserkaskade über ihn ergoß. Er blickte mich an, und Panik ließ sein Doppelkinn erbeben. Meine Zigarette erlosch, und ich warf den toten Stummel ins Wasser. Edward G. drehte sich um und verschwand in der Nacht. Zwei Stockwerke höher fiel der Regen in die offenstehenden Augen des toten Mädchens. Der Tod. Er ist niemals schön. Außer bei Greta Garbo, von Schwindsucht gezeichnet, doch engelsgleich. Aber das da war nicht mein Fall. Damit würden die Cops schon allein fertig werden. Entweder würde ein unnachgiebiger Ermittler dem scheinbar harmlosen Robinson ein Geständnis abpressen, in dem er endlos über Alibis und Spuren und Motive faselte. Oder der Mörder würde von einem alptraumhaften Erinnerungsgewirr gequält werden und schließlich zusammenbrechen. Wie es auch kam, Eddies Stunden waren gezählt. Einige Dinge waren eben vorhersehbar. Ich wartete, während ich mich weiterhin fragte, wo meine Spur blieb. 11
Eine Ewigkeit später glitt eine Limousine aus der Nacht, ihr Lack ein regentropfenübersäter Ebenholzspiegel. Ich sah mein eigenes, in eine Million bebende Bruchstücke zersplittertes Abbild und hatte das unangenehme Gefühl, daß dieses Bild vielleicht etwas Prophetisches hatte. Die Scheinwerfer blitzten auf, als der Wagen um die Ecke kam, gleißend wie die Sonne selbst. Der Riese war ungeduldig, gefangen in einem Labyrinth aus engen Straßen, ein wütendes Tier unter dem Joch von zehn Meilen pro Stunde. Er hielt direkt neben mir an und knurrte. Das Wageninnere war so schwarz wie das Herz des Teufels, abgesehen von den rattengleichen Augen der Mann-Gestalt, die vom Rücksitz herausblickte. Die Beifahrertür öffnete sich, und Mike Mazurki stieg aus. Mit seinen in ein Zweireiherjackett gezwängten Gorillaschultern sah er aus, als würde er mühelos fünfzehn Runden gegen einen wütenden Elch durchstehen. Seine Finger waren wie Stauden dicker weißer Bananen. Ich mußte zweimal hinsehen, bevor ich die Automatik bemerkte, die wie ein Kinderspielzeug in seiner riesigen Pranke steckte. Er hatte keinen Text, doch die Pistole sagte »Steig in den Wagen« in fünfzehn verschiedenen Sprachen. Die hintere Tür schwang auf, und die Rattenaugen beugten sich nach vorn ins Licht. Ich erkannte Dan Duryea. Er warf mir ein Lächeln zu, zähnebewehrt wie das eines Piranhas. Mazurki schubste mich von hinten, und ich landete auf dem Rücksitz, eingequetscht zwischen den beiden Gangstern. Die Wumme redete noch immer – sie führte eine intime Nahaufnahmen-Unterhaltung mit meinem Brustkorb. Das konnte anfangen, mir zu mißfallen. Marc Lawrence saß hinter dem Steuer. Wir nahmen die landschaftlich interessante Strecke. Die Straßen der 12
Großstadt, Polizeirevier 21, die Straße ohne Namen, Boulevard der Dämmerung, die Straße der Versuchung, das Haus in der 92. Straße… Wenn wir unter Straßenlaternen hindurchfuhren, glänzte Duryeas mit Pomade zurückgekämmtes Haar. Er hielt sich selbst für einen Mann von Welt und trug einen Nadelstreifenanzug. Er war sehr zufrieden mit sich, doch alle im Wagen wußten, daß sein Rasierwasser ein glatter Fehlkauf war. »Wo geht’s denn hin?« fragte ich. »Wird’s lange dauern? Ich habe meiner kleinen Schwester versprochen, mit ihr in die Philharmonie zu gehen.« »Du stellst ’ne Menge Fragen, Polyp«, sagte Duryea. Ich mag nicht gern ›Polyp‹ genannt werden. Es klingt einfach beknackt. Aus ähnlichen Gründen mag ich ebensowenig ›Schnüffler‹, ›Plattfuß‹, ›Bluthund‹, ›Schlüssellochgucker‹, ›Spürnase‹, ›Spanner‹, ›Klinkenputzer‹, ›der Täter‹, ›Hundefutter‹ oder ›Elihu J. Sternwaller‹ genannt werden. »Ich bin eben von Natur aus neugierig. Kommt einem in meinem Beruf ganz gut zupaß.« »Ach ja?« »Ja.« »Mr. Daine tut Fragen nicht sonderlich mögen.« Ich sah davon ab, eine Bemerkung zu seiner Grammatik zu machen. »Warum nicht? Weiß er keine Antworten?« Mazurki faßte mich an die Schulter. »Bist du ein Klugscheißer?« Meine Schulter schmerzte. »Ich war nicht immer Detektiv. Angefangen hab ich als Gag-Schreiber für Bob Hope. Und jetzt kann ich die Angewohnheit einfach nicht wieder ablegen.« 13
»Das soll wohl witzig sein?« »Nein, nicht sonderlich. Deshalb hab ich ja umgesattelt. Die Bezahlung ist mies, die Arbeitszeiten sind beschissen, man wird an jedem Wochentag mit einem »t« darin zusammengeschlagen, aber wenigstens gibt es keinen Druck, immer Witze zu machen.« »Klugscheißer.« Mazurki nahm angewidert seine Hand weg. Duryea kicherte. Es hörte sich an wie Eiswürfel, die in einem Glas Blut klirrten. Vielleicht hatte Daine ihn mit dem jungen Richard Widmark verwechselt. Den Fehler konnte man leicht machen. Ich war müde. So fühle ich mich meistens um halb drei in der Nacht, wenn ich stundenlang im Regen gestanden habe und dann entführt werde. Und in der Stadt war es in alle Ewigkeit halb drei in der Früh. Das war spät, wie immer ich es auch betrachtete. Ich fühlte mich wie ein verkaterter Zombie. Die Situation verlangte nach Bogart, aber ich brachte beim besten Willen nur Boris Karloff zustande. Ausgestreckt auf einem Labortisch. Ein paar Blitze, und es würde mir wieder blendend gehen, aber im Moment hatten die fackelschwingenden Dorfbewohner nichts zu fürchten. Ich übte, meine Oberlippe in Bogart-Manier hochzuziehen, aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Ich schaute aus dem Fenster. Cagney lag sterbend in der Gosse, die Hände auf den Bauch gepreßt, damit ihm die Gedärme nicht herausfielen. Glenda Farrell kniete neben ihm und sagte irgend etwas Erklärendes zu einem Cop mit einer noch rauchenden Maschinenpistole. Ich konnte Glendas Worte nicht verstehen, aber ich sprach ihren Text mit. »Er war einmal ein großer Mann.« Den Morgen wirst du nicht erleben, Jimmy. 14
Scheiße, dachte ich. Aber ich brachte nichts Stärkeres als »Verflucht« über die Lippen. Die Stadt hatte mich fest im Griff. Der Hays Code übernahm langsam die Kontrolle über meinen Verstand. Ich schloß die Augen. Der Schlaf lockte, doch ich hatte das Gefühl, daß die Dämonischen ganz in der Nähe waren. Wahrscheinlich, daß ich etwas völlig anderes war, wenn ich wieder erwachte. Nun ja, wenn ich Daine nicht bald erwischte, würde ich sowieso verändert werden. Dahinter war ich ganz allein gekommen, ohne die Hilfe des Gefängnisdirektors von Princetown. Noch ein paar Roulettegänge mit diesem verrückten Croupier, und ich würde meine Unabhängigkeit verwetten. Ich würde hier heimisch werden. Das besaß als Nachleben keinen sonderlichen Reiz: vielleicht eine Ewigkeit als Privatdetektiv in der Stadt. K. O. geschlagen werden, Türen eintreten, mit Eispickeln aufgespießte Leichen finden, von schwarzlippigen Blondinen verraten werden. Verprügelt, verhaftet, vernommen, verdächtigt, beschissen, beschossen, zu Unrecht beschuldigt, verstümmelt, verschlissen, verlegt und unterbezahlt werden. Eine wichtige Lektion: Nur weil es nicht real ist, bedeutet das noch lange nicht, daß es dich nicht umbringen kann. Oder Schlimmeres. »Sie haben ein unangebrachtes Interesse an Mr. Daines Angelegenheiten entwickelt, Polyp«, sagte Duryea. »Das wird ihm nicht gefallen.« »Polyp, Polyp, was soll bloß dieses ›Polyp‹-Gefasel?« gab ich wütend zurück. »Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich Sie ständig ›Killer‹, ›Gangster‹, ›Schläger‹, ›Spatzenhirn‹, ›Ballermann‹ oder ›Gauner‹ nennen würde?« 15
»Das würde mir nicht gefallen.« »Nun, dann stellen Sie sich mal vor, wie ich mich fühle.« »Ah, aber es besteht ein Unterschied zwischen uns beiden.« »Und der wäre?« »Ich sitze nicht neben einem einhundert Kilo schweren Profi-Catcher, der mir eine Automatik in die Niere drückt.« »Wissen Sie, Danny, das klingt gar nicht mal dumm.« Die Limousine verschwand auf der Main Street in der Abblende. Eine Abblende ist wie Hyperspace. Eigentlich ist sie dazu gedacht, die Fahrt herauszukürzen, aber in Wirklichkeit kürzt sie dir nur ein paar Stunden deines Lebens heraus und bringt dir tierische Kopfschmerzen ein. Ich persönlich ziehe es vor, mit der Straßenbahn zu fahren, aber ich mache die Regeln nicht. Während der Abblende herrschte außerhalb des Wagens nicht einfach nur Nacht, sondern völlige Dunkelheit, eine unendliche Abwesenheit von allem. Der Ton war weg, aber ich hatte noch mein Sehvermögen. Duryea und Mazurki grinsten einander an. Ihre Münder öffneten sich zu weit, und ihre Gesichter verzerrten sich wie die von furchteinflößenden Clowns. Ich sagte mir, daß das alles nicht real war. Aber selbst wenn es das nicht war, dann fühlte es sich immer noch so an, als ob es das wäre. Die Stadt verlangte von einem, daß man sie ernst nahm und nach den Regeln des Hauses spielte. Sonst konnte einen schnell ein verlängerter Urlaub in der Schlangengrube erwarten. Ich konzentrierte mich auf Lawrences Hinterkopf und versuchte, die Leere jenseits der noch immer hin und her winkenden Scheibenwischer zu ignorieren. Die Schuppen auf dem Kragen des Fahrers 16
waren nicht besonders interessant, aber zumindest stellten sie keine Bedrohung dar. Lawrence nahm seine Hände vom Lenkrad und griff hinter sich, um sich mit beiden Händen den Hinterkopf zu kratzen. Sein ausdünnendes Haar teilte sich unter seinen Fingern, und ein kränkliches Auge zwinkerte mir von seinem Skalp aus zu. Ein billiger Trick, versuchte ich zu sagen. Aber es gab keinen Ton. Die Limousine tauchte in einer Aufblende wieder auf. Die Motorengeräusche und der Regen waren einen Moment lang ohrenbetäubend. »… ick!« kam es über meine Lippen. Lawrence schaute sich zu mir um. Seine Augen hatten einen traurigen Dackelblick, an seine Oberlippe klammerte sich standhaft der gewichste Fehlschlag eines Schnurrbarts, und seine Hände hielten wieder das Lenkrad fest. Aus seinem Mundwinkel baumelte eine Zigarette. »Behalt deine Augen auf der Straße, Wiesel«, knurrte Duryea, und Lawrence wandte den Kopf wieder ab. Er hatte kein Auge in seinem Hinterkopf. Im Moment jedenfalls nicht. Die Aufblende hatte uns in die Poverty Row geführt. Ich war lange genug in der Stadt gewesen, um diesen Ort zu kennen. Es war der schlimmste Slum der Stadt, weit entfernt von den schicken Metro- und Paramount-Vierteln. Vor jedem Hotelzimmerfenster blinkte eine nervtötende Neonreklame. In jeder Gasse hockte eine räudige schwarze Katze, bereit, augenblicklich von einem Taschenlampenstrahl aufgeschreckt zu werden. Wenn eine Tür knallte, zitterten die Wände. Zu keiner Tageszeit waren viele Leute auf den Straßen unterwegs. Statisten kosten Geld. Dies war die Welt der abblätternden Farbe, 17
der steptanzenden Küchenschaben und des unausweichlichen Mikrofonschattens. In Poverty Row war das Leben Low-Budget und hatte eine kurze Lauflänge. »Steig aus«, sagte Duryea. Zwei oder drei schlagfertige Erwiderungen kamen mir in den Sinn, aber ich behielt sie für mich. Ich stieg sogar aus dem Wagen aus. Duryea und Mazurki gesellten sich zu mir auf den Bürgersteig. Die Limousine schlich davon. Ich bemerkte, daß aus dem Kofferraum eine menschliche Hand ragte. »Lawrence hat noch eine weitere Lieferung zu machen, Polyp«, sagte Duryea, übertrieben wie ein Schmierenkomödiant. »Zum East River.« »Jemand, den ich kenne?« »Nein, aber ich hoffe, ihr beide bekommt recht bald Gelegenheit, euch näher kennenzulernen.« Wir standen vor einem heruntergekommenen Bürogebäude, dem Monogram. Duryea trat die altersschwache Vordertür ein. Die Eingangshalle war verlassen, abgesehen von einem Penner, der zusammengerollt in einem Müllhaufen zwischen einem Sessel und dem Empfangstisch lag. »Verfluchter Penner!« Duryea stieß ihn mit der Spitze seines schwarzweißen Schuhs an. Der Kopf des Alten kippte zurück. Seine Kehle war mit schwarzem Blut bedeckt. Draußen jaulte irgend etwas den gemalten Mond an. Mazurki bekreuzigte sich und murmelte etwas finster Klingendes auf ukrainisch. Das hier gehörte nicht zu meiner Handlung. Poverty Row war ein Ort, an dem sich alles vermischte, eine offenliegende Kloake, aus der sich der Elefantenfriedhof der Ideen speiste. Mazurki griff in seine Hosentasche und holte zwei Silbermünzen heraus, auf denen der Kopf von Walter Huston prangte. Er legte sie auf die Augen der 18
Leiche und trat einen Schritt zurück. »Jetzt kann er nicht mehr herumspuken.« »Ja, ja«, krächzte Duryea. Diese Auszeit machte ihn ungeduldig. »Wo ist der Nachtportier? Der soll eigentlich dafür sorgen, daß solcher Abschaum gar nicht erst reinkommt.« Duryea zog die Schultern hoch – eine abgekupferte Cagney-Geste, die bei ihm billig wirkte –, dann schlug er mit der Handfläche auf eine Glocke auf dem Empfangstisch. Die Tür dahinter öffnete sich, und eine gebeugte Gestalt kam herausgeschlurft. Der Nachtportier hatte große, wäßrige Augen hinter Brillengläsern so dick wie Colaflaschenböden, bebende Lippen und einen spärlichen Schnurrbart. Es war ein vertrautes Gesicht, doch ich hätte keinen Namen dazu finden können, wenn der Scrabble-Ständer auf dem Empfangstisch ihn nicht für mich buchstabiert hätte. Byron Foulger. Duryea streckte die Hand aus und packte Foulger an seinem gestreiften Schlips. »Was hast du, du Wurm? Angst vor dem großen bösen Wolf?« Foulger winselte, und Duryea ließ ihn los. »Mr. Daine wird das nicht gefallen, Byron. Du solltest besser schon mal die Stellenangebote im Inquirer durchforsten. Ich bin sicher, irgendwo gibt es jemanden, der eine feige Ratte sucht. Und jetzt ruf den Boß an und sag ihm, daß sein Gast hier ist.« Der Nachtportier kurbelte an einem antiken Telefon und sprach leise in die Muschel. Ich war nah genug, um das Nichts am anderen Ende zu hören. Das Telefon war nicht einmal mit der Dose in der Wand verbunden. »Er erwartet Sie«, erklärte Foulger spitz. Mazurki zerrte 19
mich zum Aufzug. Es folgte eine kurze Abblende anstelle der Fahrt nach oben. Das Penthouse war überraschend luxuriös. Vor einem Panoramafenster lag die Stadt aufgebahrt wie ein Leichnam. Die Wohnung war im Stil der Frühmodernen Ungemütlichkeit eingerichtet, mit Couchtischen, die wie Swimmingpools geformt waren, und Sesseln, die an große schwarze Marshmallows erinnerten. Schwarzweiße Radierungen waren so aufgehängt, daß sie sofort ins Auge fielen. Sie muteten eher wie Studien denn wie vollendete Werke an. Daine war Kunstsammler. Duryea schenkte Bourbon ein. Zähe Flüssigkeit gluckerte. Ein nicht zu sehendes Grammophon verbreitete aufdringliche Musik. ›Charmaine‹. Geigen sägten an den Bläsern, und die Melodie ersoff. Ich nahm das mir angebotene Glas und trank es in einem Zug aus. Das Widerliche daran ist, daß man in der Stadt nicht das geringste schmeckt. Man wird betrunken, aber es könnte ebensogut Zuckerwasser sein. Aber ich wollte mich ja nicht einmal betrinken. Ich reichte Duryea das Glas zurück und spürte, wie der Whisky meinen Verstand benebelte. Mazurki versetzte mir einen Haken in die Magengrube. »Der hier ist für dich, Klugscheißer!« Ich klappte wie ein Schnappmesser zusammen und sackte auf eine graue Couch. Sie fühlte sich an, als hätte man Stoff über einen Betonblock gespannt. Ich hätte mich übergeben, aber in der Stadt kotzt keiner. Der Schmerz wurde schlimmer. Während ich versuchte, meine Innereien wieder in ihrer Originalkonstellation zu arrangieren, kam jemand herein. Ein aalglatter, hochgewachsener, etwas übergewichtiger Mann in einer gesteppten Hausjacke. Ich brauchte ihn gar nicht erst mit 20
der Beschreibung zu vergleichen. Es war Truro Daine.
21
ZWEI Susan Bishopric betrat den Weißen Raum. Ein brutaler schwarz-roter Umriß verunstaltete den Glaspex-Schimmer der Wände. Es war ihre eigene Reflexion. Sie konnte mit einem solchen Störfaktor nicht TRÄUMEN. Sie drehte an ihrer Chamäleon-Kamee, und die Kimono-Drachen verblaßten, um schließlich ganz zu verschwinden. Susan betrachtete ihre gebräunten Oberarme. Im Idealfall hätte sie sich auch noch einer Hautbleichung unterzogen, doch im Moment konnte sie sich weder den Zeitaufwand noch die Kosten leisten. Außerdem stand nur ein Update auf ihrem Terminplan, kein vollständiger TRAUM. Sie nahm auf der Couch Platz und schwenkte den Slab über ihren Schoß. Sie gab ihr Password ein und schob das Vanessa-Viu7-Master in den Schlitz. Eine Traumblume erblühte in der Schale; Susan pflückte sie. Sie schob eine verirrte Locke hinter ihr Ohr, dann preßte sie die Blume an ihre Schläfe. Der subkutane Terminal piekste beim Einstich leicht. Susan blinzelte und verschmolz mit der Maschine. Susan hatte nicht vor, sich Vanessa Vail ganz hinzugeben. Nur ein mnemonischer Durchlauf, um die Externa zu überprüfen. Ton ab, Sicht ab, Sinne ab. Susan war in: Vanessa Vail: die tödliche, wunderschöne, fähige, außerordentlich erotische internationale Abenteurerin. Einen Augenblick lang war Susan überwältigt, als sie die 22
unvertraute Kraft der Glieder des Similies spürte. War es wirklich erst fünf Jahre her, seit sie Vanessa Vail GETRÄUMT hatte? Hatte sich ihr Körper wirklich derart verändert? Oder hatte sie ihr früheres Ich einfach stärker idealisiert, als sie glaubte? Indem sie die Phantasie der geschmeidigen Vanessa realisierte, hatte Susan eine Heldin aus sich selbst geschaffen. Vanessa Vails Verstand war so scharf wie ein Stilett. Einen Moment lang fühlte Susan sich unbehaglich darin. Prost, Dr. Frankenstein. Wart’s nur ab, Henry Higgins. Susan wußte, wie es war, von ihrer eigenen Schöpfung überflügelt zu werden. Aus Kindern werden immer Hurenböcke. Doch Vanessa Vail war vom Konzept angenehmerweise zu einem schweren Schicksal verdammt. Es bestand keine Notwendigkeit, Neidgefühle auf sie zu verschwenden. Susan ging raus und tauchte ein in: Vanessas drei Liebhaber: Ray Chance, der wortkarge CIA-Agent. Nikolai Kropotkin, der feurige sowjetische Kommissar. Lord Roger Marshaller, der zuvorkommende englische Aristokrat. Und manchmal in: Die Luft als eine distanzierte, unsichtbare Präsenz im Vanessa-Vail-Subuniversum. Im Sturzflug über ein Feuersäbelduell in der finnischen Einöde hinwegsausen. Den Voyeur spielen bei einem flotten Dreier auf einem heißen kubanischen Sandstrand. Zeuge von internationaler Spionage in einer von Jesuiten geführten Opiumhöhle innerhalb 23
der Mauern des Vatikans werden. Dabeisein, wenn Vanessa einen Trupp Liechtensteiner Polizisten mit ballettösen Baritsu-Tritten auseinandernimmt. Der D-9000 hatte Vanessa Vail konzeptioniert und genau auf die Bedürfnisse des Publikums zugeschnitten. Doch Susan Bishopric hatte es GETRÄUMT, hatte die Tiefen der Interna ausgelotet und die Externa ausgefüllt. Als Profi wußte sie, daß sie alle Aufträge übernehmen mußte, die auf den Slab kamen. Damals war sie Tony auf Knien dankbar dafür gewesen, daß er durch Zufall sie für ein derartig solides Projekt ausgewählt hatte. Sie hatte sogar ein paar gute Krix dafür bekommen. Und die Verkaufszahlen waren gut gewesen. Nicht so hoch wie bei John Yeovil, aber hoch genug, daß sie sich damit einen Namen machen konnte. Selbst sie gestand zähneknirschend ein, daß es mit ihren Soloarbeiten nicht weit her war. Typischer Teenie-Unsinn, jedenfalls das meiste davon. Vanessa Vail war ihr jetzt weit weniger peinlich als zum Beispiel Das Licht der Leuchtenden Welt stirbt mit seiner wirren gefühlsgeprägten Politik oder Taub und blind, der zweifelsohne den Rodney für den überspanntesten TRAUM jener Saison verdient hätte. Aber das war Vergangenheit. Heute hatte sie eine weit höhere Sprosse auf der Karriereleiter erreicht. Seit Vanessa Vail hatte sich die Qualität der Kollaborationen verändert. Mit jedem TRAUM hatte Susan mehr Kontrolle errungen, und mit Die Parklotterie – der, mit Yggdrasils Beistand, diesen Herbst einen ganzen Berg von Rodneys einheimsen würde – hatte sie beinahe den klapprigen Computer verdrängt. Schon bald würde sie populär genug sein, um ihre Unabhängigkeit zu erklären. Dann konnte sie ihre eigenen TRÄUME konzeptionieren. Und jetzt war sie auch stark genug, um eigenständig zu denken, um etwas 24
von anhaltendem Wert zu erschaffen. Zumindest hoffte sie das. Im Moment jedoch empfand sie vor allem eine starke Abneigung dagegen, wieder fünf Jahre zurück in die Zeit der LohnTRÄUMEREI gerissen zu werden. Aber Bedürfnisse müssen… Sie ging im Schnelldurchlauf zum Ende und tauchte ein in: Krankenpfleger Ted Crozier, der sich um Vanessa in ihrem Sterbetank kümmert. Gestärktes Leinen, Krankenhausgerüche, das Summen und Piepen der lebenserhaltenden Maschinen. Nikolai, Ray und Lord Roger, Feinde, die die Trauer zusammengeführt hat und die nun um das Bett der unerschrockenen Heldin versammelt sind. Der Dracula von der Transplantationsliga, der draußen im Korridor auf und ab geht und die Heilbaren in den angrenzenden Zimmern erschreckt, während er darauf wartet, daß die noch nutzbaren Organe freigegeben werden. Der Pfleger war ein netter Einfall gewesen. Er bot die notwendige Abwechslung vom Vanessa-Vail-Blickwinkel. Dank des tapferen Lächelns, des schimmernd auf dem Kissen ausgebreiteten Haars, der heruntergeschluckten Tränen und einer bewegenden Konfrontation mit dem todgeweihten kleinen Mädchen, das Vanessas überflüssiges Herz erhalten sollte, war es möglich, dem Krebstod das Unappetitliche zu nehmen. Aber kein noch so weit reichender Subjektivismus konnte erreichen, daß sie sich auch schön anfühlte. Es gab einen Markt für Schmerz, doch diesen Markt belieferte der D-9000 nicht. 25
Natürlich konnten Ted Crozier für die Verweildauer des Träumers medizinische Externa durch den Kopf gehen, die für das Konzept unentbehrlich waren. Und Susan wußte auch, daß ihren weiblichen Träumern ein kompetenter, gutaussehender Pfleger gefiel. Das unterbewußte Einfügen von Hintergrundexterna aus der Erinnerung einer Nebenfigur war typisch für Susan Bishopric, wie sie selbst wußte. Wenn sie vom D-9000 erst unabhängig war, hatte sie vor, mit einem komplexeren Einsatz dieser Technik zu experimentieren: sich widersprechende Erinnerungen, falsche Eindrücke, Wahnvorstellungen. Träume standen erst am Anfang ihrer Entwicklung. Das Medium wartete auf seinen Griffith, seinen Eisenstein, seinen Chillmeister Freaze… Susan tauchte ein in: Ted Crozier beobachtet mit tiefempfundener Bewunderung, wie die noch immer wunderschöne Vanessa Vail sich mühsam aufrichtet, um ihren Liebhabern Lebewohl zu sagen. Seine männlichen Tränen verleihen der Szene einen verschwommenen Weichzeichnereffekt. Schnelldurchlauf: Nikolai weint, Ray betrinkt sich, Lord Roger denkt an Selbstmord. »Darling. Darlings. Bevor ich zum letzten Mal die Augen schließe, möchte ich… Es gibt da etwas, was ihr wissen müßt. Etwas Wichtiges…« Susan ging raus. Der D-9000 hatte Vanessa Vail Text 26
gegeben. Susan war nicht qualifiziert gewesen, diese Aufgabe zu übernehmen. Sie spulte zurück. Susan vermerkte die offensichtlichen externen Änderungen. In der nächsten Ausgabe würde Vanessa ihr Haar auf asiatische Weise frisiert tragen, da Beehives mittlerweile ziemlich aus der Mode gekommen waren. Mode-, Essens- und Sextrends ließen sich leicht auf den neuesten Stand bringen. Die politischen Trends waren nur eine Nuance schwerer. Seit dem Krieg zwischen den Staaten war die CIA wieder das OSS, aber Ray Chance konnte weiter in ihrem Namen trinken und Frauen anbaggern. Der Sturz von Staatschefin Romanova bedeutete ein paar Änderungen in der Moskau-Sequenz. Der D-9000 fügte gern reale Personen ein, und so war Nikolai vor seiner Mission in Lappland von Romanova selbst über seinen Auftrag informiert worden. Die Szene würde jetzt mit Sobienkin UMGETRÄUMT werden müssen. Es ging Susan durch den Sinn, daß es den asketischen neuen Staatschef wohl kaum amüsieren mochte, wenn er erfuhr, daß seine vollständige Neubesetzung des Kremls keinerlei dramatische UMTRÄUMUNG verlangte. In Vanessa Vail war der Staatschef nur ein Gesicht und eine Stimme, plus einiger weniger cartoonesker Manierismen. Romanovas Text konnte ohne Abwandlungen auch von Sobienkin gesprochen werden. Die Einrichtung des Büros mußte geändert werden: Susan würde dafür sorgen müssen, daß es mehr wie eine provinzielle Skimmerwartehalle und weniger wie ein Bordell aus dem achtzehnten Jahrhundert aussah. Und natürlich kam Sex jetzt nicht in Frage, es sei denn… Nein, Susan wollte sich nicht schon wieder einen Streit mit den Leuten vom Internationalen Verleumdungsschutz einhandeln. Der Träumer würde sowieso in Nikolai bleiben. Der IVS 27
untersagte Susan das Eintauchen in den Verstand von realen Personen. Eine wahre Schande: Sie konnte sich einige interessante Anwendungsmöglichkeiten dieses Tricks vorstellen. Einer der Piraten hatte kürzlich ein Bootleg angeboten, in der der König es mit einer Ziege trieb. Der TRÄUMER war in den König und in die Ziege eingetaucht. Der Pirat war entsorgt und seine Auflage gelöscht worden. Eine wahre Schande, denn die Charakterisierung der Ziege war ausgesprochen interessant gewesen. Susan haßte es, wenn ein ungeschliffenes Talent vergeudet wurde. Der wirkliche Knackpunkt bei Vanessa Vail war der Krebs. Vor fünf Jahren hätte man noch Vorsorge treffen können; jetzt war die Sache schlimmer, denn inzwischen war er heilbar, selbst im ehemaligen Endstadium. Vanessa Vail, die der unbewußte Wunsch der Träumerschaft zu einem wunderschönen Tod verdammt hatte, brauchte eine neue Krankheit. Oder irgend etwas anderes. Der D-9000 würde sich um den Großteil der Recherchen kümmern, aber das Auswählen eines passenden, langsamen Leidens würde trotzdem eine nervtötende Angelegenheit werden. Susan trauerte den großen romantischen Krankheiten nach: Leukämie, Schwindsucht, Sichelzellenanämie, AIDS, chemische Kampfstoffe. Krebs war die letzte Hoffnung der morbiden Liebesgeschichte gewesen. Nun war die Geißel der vergangenen Generationen unwiederbringlich besiegt worden. Und welchen Ersatz Susan auch immer finden mochte – mutierte Masern vielleicht, oder Maul- und Klauenseuche –, bis zur nächsten Ausgabe würde er zweifellos auch schon wieder von unermüdlichen Forschern ausgelöscht worden sein. Susan spielte mit der Idee, etwas zu erfinden. Eine echt klingende, exotische, auszehrende Krankheit. Dafür würde 28
niemand ein Heilmittel entdecken. Vielleicht könnte Vanessa Vail auf ihrem kurzen Zwischenstopp im ecuadorianischen Urwald eine Dosis eines seltenen, nur dort zu findenden Gifts verabreicht bekommen. Solche Sachen passierten ihr immer. Tony würde dagegen angehen: »Es gibt da draußen träumende Ärzte, Sue-Liebes, und die würden es merken. Bei etwas so Blödsinnigem wie Vanessa Vail ist es verdammt wichtig, daß die Externa stimmen.« Susan ließ die Traumblume in ihr purpurnes Glas fallen. Dann speicherte sie ihre Änderungsvermerke im Slab. Sie überlegte einige interne Änderungen, unnötig, aber trotzdem interessant. Vanessa Vail könnte einen vollständig neuen Text vertragen. Susan zuckte bei praktisch jeder Zeile zusammen, die der D-9000 ihr aufgedrückt hatte. Aber Tony würde ihr nur erlauben, den mittlerweile veralteten Slang zu überarbeiten; ein simpler Austausch von ›Pervo‹ für ›Tick‹ und ›Stupido‹ für ›Idi‹, sowas in der Art. Vanessa Vail verkaufte sich in Millionenauflage und war aus Verlagssicht praktisch sakrosankt. Mist! Susan überlegte gehässig, Vanessa Vail eine ernüchternde Dosis Realismus zu verpassen. »Tut mir leid, Jungs, aber heute kann ich gegen keine kybernetische Krake kämpfen. Ich habe meine Tage.« Würde ihr recht geschehen, der unrealen Schlampe. Nein. Susan würde einfach nur die Externa aufpolieren und das Ganze wieder zurück an Tony schicken. Dieser kleine TRAUM schadete nicht. Susan würde die guten Sachen für den nächsten Susan-TRAUM aufheben, den Großen Englischen TRAUM, den die Krix von ihr erwarteten. Susan verließ den Weißen Raum. Im Gegensatz zur 29
lichtquellenlosen gleißenden Helligkeit der TRAUMkammer war ihr Büro in sanftes Türkis getaucht. Auf den Regalen türmten sich alle möglichen nichtigen Gegenstände: eine Keramikbrücke, LieblingsTRÄUME, Susans riesige und unkatalogisierte Musiksammlung, Tridschnappschüsse und einige Bänder mit Flattys. In Eton hatte Susans Haussponsor immer betont, wie wichtig die filmische Tradition war. Ganz besonders bewunderte Susan den frühen Frank Tashlin, den mittleren Antonioni und den späten Richard Attenborough. Die Gedenktafeln ihrer Rodney-Nominierungen und ihre einzige Auszeichnung – Beste Nasaleffekte für Das Ding aus der Kanalisation – standen für sich allein auf einem Bord. Natürlich bedeuteten diese Dinge nichts. Die Rodneys gingen immer an den absoluten Dreck. Letztes Jahr hatte John Yeovils nervtötende Historie Margaret Thatcher Privat den Preis für den Besten TRAUM eingeheimst! Aber dieses Jahr fiel die Entscheidung zwischen ihr und Orin Tredway, und Susan wollte unbedingt sehen, wie Orin einen Tritt in die Eier bekam. Sein Perfektionierte Leidenschaften war unaussprechlich schlecht und kitschig, aber trotzdem führten ihn die Krix als Favoriten. Dennoch war Susan zuversichtlich. Sie hatte sogar schon den ersten Entwurf einer wunderschönen, bewegenden, inspirierenden Dankesrede geschrieben. Susans Straßenhelm und ihr Kugelfang lagen zusammengerollt auf einem Stuhl. Sie schob sie beiseite und setzte sich an den D-9000-Terminal. Sie gab eine Hintergrundmusik ein: Ella Fitzgerald singt Cole Porter. Sie zapfte die Bibliothek des British Museum an und drückte den Vokator an ihre Kehle. »Hallo, BritBib. Was habt ihr über Gifte der Naturvölker? 30
Ich interessiere mich besonders für Südamerika, aber wenn ihr irgendwo sonst was Nettes findet, schickt es mir rüber. Ich möchte in der Lage sein, mir etwas halbwegs Überzeugendes auszudenken.« Das Museum begann, sich zu durchforsten. Es würde seine Funde in Susans D-9000-Mailbox hinterlegen. Was immer Susan sich am Ende auch einfallen lassen würde, sie würde Tony sagen, daß es sich um gründlich recherchierte Tatsachen handelte. Selbst wenn er es überprüfen sollte, so würde er dies tun, indem er den D9000 anzapfte, woraufhin der Computer ihn mit dem GiftKram des Museums überschütten würde. Und diesen ganzen Wust würde er nie im Leben durchgehen. Susan hatte vor, Tony ihre kaum bekannte, doch tödliche Droge über den dramatischen Effekt zu verkaufen. Die Szene, in der Vanessa Vail die tragische Nachricht vom unerträglichen, liebenswerten alten Dr. Murchinson erfährt (»Ich habe Sie auf diese Welt geholt, Miss Vail, und ich glaube, Sie haben das Recht zu erfahren…« »Oh, Dr. M., ist es…?« »Ja.« »Wie lange noch?« »Das wissen wir nicht, Nessa. Vielleicht noch ein Jahr. Vielleicht nicht einmal mehr so lange. Es könnte Sie einfach so«, er schnippt mit seinen Fingern, »erwischen!«), konnte durch etwas heiße Dschungelaction ersetzt werden. Vanessa Vail kämpft sich durch das tropische Unterholz, auf der Suche nach dem Großen MacGuffin. Ein märchenhafter Juwelenschatz, ein abgestürztes Raumschiff, das verlorene Geheimnis der original CocaCola-Formel, irgend etwas in der Art. Zufällig findet sie einen uralten Tempel, dessen Zutritt Ungläubigen 31
verboten ist. Ein monströses Götzenbild grinst sie an. Kleine braune Gestalten lauern im Gehölz. Vanessa spürt die Gefahr. Ein Blasrohrpfeil trifft ihren Arm. Sie zieht ihn gedankenlos heraus und erfährt dann durch einen bunt angemalten Medizinmann von ihrem bevorstehenden Tod. Während seines rituellen Fluchs beschreibt er ihr Schicksal in grausigen Einzelheiten. Ein gänzlich neuer konzeptioneller Ansatz, und ein großartiger Clip für die Trailer. Gab es in Ecuador Pygmäen? »Hallöchen, Sue-Liebes.« Tony schaltete sich in die British-Museum-Leitung. Eine Irisblende öffnete sich in der rechten unteren Ecke, als er sich in das Tridvid holographierte. Es erinnerte Susan an einen Schrumpfkopf, und sie fragte sich, ob sie wohl einen in ihre Ecuador-Sequenz einarbeiten konnte. »Hallo, Tony. Ich war fleißig wie ein Biber.« »Ich weiß. Deshalb melde ich mich ja swiftkick. Du bist raus aus Vanessa.« Susan schätzte ihre Reaktion ab. Erleichterung: Sie war einer mühseligen Arbeit entronnen. Beleidigung: Würde Tony zulassen, daß sich jemand anders an ihrem TRAUM zu schaffen machte? Angst: Wurde sie entlassen? »Tut mir leid, Sue-Liebes. Es ist hier gerade über den Slab gekommen. Du bist vom Öffentlichen Dienst zwangsverpflichtet worden.« »Kraftausdruck gelöscht!« Vom Öffentlichen Dienst zwangsverpflichtet worden? So was kam natürlich vor. Theoretisch konnte es jedem passieren. Aber welcher Zweig der Gunmint mochte Interesse an einem TRÄUMER haben? 32
»Gott allein weiß, warum. Du bist nicht die erste. Letzte Woche haben sich die Gunmint-Schergen Tom Tunney aus dem West Country geschnappt. Derselbe Haufen. Was immer es ist, Schätzchen, vermassel es nicht, oder wir frieren uns alle den Arsch ab, während wir auf Rockall Fischberge entgräten.« Susan beendete die Verbindung. Zwangsverpflichtung zu einem Öffentlichen Dienst war eines von Yggdrasils Netzwerken. Die Idee dahinter war, individuelle Talente auf spezielle Probleme anzusetzen. Rein funktional. Doch als Künstlerin – schon gut, Entertainerin (Susan Bishopric: die vierdimensionale Steptänzerin) – hielt Susan sich prinzipiell für nutzlos. Zumindest hatten ihre Eltern das so gesehen, als Susans Testergebnisse sie als Talent-positiv ausgewiesen hatten. Sie kannte Tom Tunney dem Namen nach. Er TRÄUMTE historische Detektivgeschichten. Richie Quick auf heißer Spur, Richie Quick – Der Mann für alle Fälle, Richie Quick in tödlicher Mission. Stark angelehnt an die Flattys des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie hatte den ersten leidlich genossen und sich nicht weiter um die Fortsetzungen gekümmert. Seine Verkaufszahlen waren hoch und seine Krix weit unten. Aus dem Stegreif wollte Susan nichts Wichtiges über das West Country einfallen, einmal abgesehen von der Schafverwertung und Cellophane City. Ein Gedanke schoß ihr durch den Sinn. Sie loggte in ihr NatBank-Konto ein. Die Zahlen sausten vorbei wie auf einem Tachometer bei Überlichtgeschwindigkeit. Eine hohe Summe war ihrem Konto gutgeschrieben worden. Eine Vorauszahlung. Schlußfolgerung: Sie war nicht der Freiwilligen Polizei oder dem Renaturisierungscorps unterstellt worden. Weitere, wenn auch fraglichere Schlußfolgerung: Was immer man sie zu tun bat (was 33
immer man ihr befahl), war ungewöhnlich. Abschließendes, nagendes Gefühl im Bauch: Sehr wahrscheinlich war es bestenfalls widerlich und schlimmstenfalls selbstmörderisch. Sie wußte genug über die Gunmint, um diesen Schluß ziehen zu können. Mh-hm. Wenn du einen entführten Blaublüter aus der Inselenklave eines abtrünnigen Superwissenschaftlers retten willst, hol dir Vanessa Vail. Streich Susan Bishopric aus. War die Sache einen Fluchtversuch wert? Susan konnte binnen einer Stunde einen Transconcord-Abgang aus dem Land machen. Bevor sie kamen, um sie zu holen. Und kommen würden sie – gepanzerte Andrews, höfliche Stimmen hinter undurchdringlichen Visieren, Spidercopter. Sie hatte genügend Policiers GETRÄUMT, um das System zu kennen. Nein, ein Abgang kam nicht in Frage. Sie hatten sowieso mit allen und jedem Auslieferungsabkommen. Sie sagte sich, daß sie überreagierte. Was immer es war, es konnte nicht so schrecklich sein, und sie mußte da einfach durch. Sie zog sich um, streifte ihren Kugelfang über und wartete auf sie.
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DREI Ich war in Daines Penthouse und suchte krampfhaft nach einer Möglichkeit, die Partie zu gewinnen. Ich umklammerte ein Paar dubioser Zweien, und er hatte den ganzen Pack in seinen manikürten Fingern aufgefächert. Wie war ich in diese Sache hineingeschlittert? Das war eine dumme Überlegung, da ich in eine Rückblende fiel: Sich drehende Zeitungsschlagzeilen: FIRST NATIONAL BANK IN KONKURS!; SECOND, THIRD, FOURTH, FIFTH UND SIXTH NATIONAL BANK IN KONKURS!; DER KHALIFIA ENTFÜHRT – DAINE VERLANGT 70 MIOS!; SCHRECKENSHERRSCHAFT GEHT WEITER!; SCHIFFSUNGLÜCK – NUR EIN ÜBERLEBENDER!; ZEUGEN DES INTERNATIONALEN GERICHTSHOFS AN BEULENPEST GESTORBEN!; »GEFÄNGNISMAUERN WERDEN MICH NICHT AUFHALTEN KÖNNEN!« VERSPRICHT SUPERVERBRECHER!; SCHULDIG! SCHULDIG!! SCHULDIG!!!; DER INQUIRER SAGT: »AUF DEN ELEKTRISCHEN STUHL MIT DER RATTE!«; ZWANZIGTAUSEND JAHRE IN SING SING! Wochenschau-Ausschnitte: Explosion aus dem Archiv, Skimmerverfolgungsjagden, ratlose Cops, die offizielle Stellungnahmen verlasen, Daine mit ausdruckslosem Gesicht in Verstandschellen, Justitias Waage, Princetown. Dann kam ich ins Bild: Tom Tunney, TRÄUMER. Eine zerbrochene Ehe und zwei unbedeutende Fortsetzungen entfernt vom Höhepunkt meiner Karriere. Da war ich, wie ich gerade die Handlung für meinen nächsten TRAUM aus einem 1947er Flatty stahl (Reite auf dem rosa Pferd, wenn 35
Sie es genau wissen wollen) und hoffte, daß die Krix es nicht merken würden. Dann wurde ich vom Öffentlichen Dienst zwangsverpflichtet und mit dem Midnight Special in die Stadt geschickt… Jemand versetzte mir freundlicherweise einen Tritt gegen den Kopf. Das holte mich zurück in die Gegenwart. Wann immer das war. Zum Teufel, ich mußte Daine töten, bevor das alles anfing, einen Sinn zu ergeben. He, Lissa, schau mich an. Dein Ex-Ehemann, der Privatdetektiv. Der gerade kurz davor stand, im Alptraum eines anderen zu Brei geschlagen zu werden. Bist du jetzt stolz auf mich? »Hier ist Ihr Polyp, Mr. Daine«, sagte Duryea. »Ihm ist schlecht geworden.« »Gut gemacht, Daniel.« Truro Daine hatte einen kultivierten Akzent. Die Art, die man auf Nährlösung in einer Petrischale kultiviert. Ich versuchte, etwas Schwieriges zu tun, wie zum Beispiel aufzustehen. Ich schaffte es halb. Mazurki stellte sicher, daß ich es ganz schaffte, indem er mich unter den Achselhöhlen packte und mich mit derselben Leichtigkeit hochhob, mit der ich einen Mantel hochheben mochte. »He, King Kong, laß mich runter. Ich werde luftkrank.« Mazurki ließ mich weit genug hinunter, daß meine Füße den Teppich berührten. »Wir ham ihn nicht weh getan«, erklärte er. »Sehr gut. Mr. Detektiv, haben Sie auch einen Namen?« »Quick. Richie Quick.« Daine lachte, ging hinüber zur Hausbar und mixte sich einen Daiquiri mit gefrorenen Erdbeeren. Das Zeug sah aus wie Abwaschwasser. »Einen Drink?« »Ich hatte schon einen.« 36
Ich hatte meine Hand unter meinen Mantel geschoben und hielt mir den Magen. Ich tastete nach meiner Knarre. Die Bobbsey-Zwillinge hatten sie mir nicht abgenommen. Typische Schläger, dümmer als Jane Wyman in Schweigende Lippen. Ein einziger schneller Schuß, bevor Daine etwas merkte, mehr wollte ich nicht. Es würde keine solche Schweinerei hinterlassen wie im wachen Leben; nur einen schwarzen Fleck auf seiner gestärkten Hemdbrust. Aber er würde tot sein. Und ich würde wieder im Schlafwagen Richtung Morgen sitzen. Daine hatte die Regeln gemacht, und sie waren zu seinem Nachteil. Hoffte ich. In den Flattys gewinnt immer der Gute. Ich war ein Privatdetektiv, ein echter hundertprozentiger Guter. Ich war der Freund von verkrüppelten Zeitungsverkäufern, kleinen Negerwaisen und geschwätzigen Barkeepern den Strip rauf und runter. Daine war ein Mörder, Brandstifter, Drogenhändler, Pornograph, Erpresser, extravaganter Dieb und entflohener Sträfling. Er war außerdem ein widerwärtiger Perverser, auch wenn das in der Stadt nur bedeutete, daß er einen übermäßigen Hang zu moderner Kunst, schwarzen Katzen und korrekter Grammatik besaß. Ich konnte einfach nicht verlieren. Ich zog meine Knarre und feuerte. Ein Wasserstrahl spritzte im hohen Bogen durchs Zimmer. Daine lachte. Duryea und Mazurki trauten ihren Augen nicht. Ebensowenig wie ich meinen. »Sehr schlau, Mr. Quick, das war doch Ihr Name?« Daine preßte die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. »Aber hier habe ich die Wahl der Waffen. In diesem Fall sogar wortwörtlich.« Ich hielt eine gottverdammte Dreißig-Cent37
Wasserpistole in meiner Hand. Ich warf sie vor ihm auf den Teppich. »Die Stadt gehört mir, Mr. Quick. Ich bin sozusagen der Bürgermeister. Der Nachtbürgermeister. Sehen Sie her.« Für den Bruchteil einer Sekunde spannten sich Daines glatte Züge in höchster Konzentration an. Er trug einen Zylinder, eine weiße Fliege und einen weißen Frack und stand vor einer weißen Wand. Dann: Die Wand war schwarz. Zylinder und Frack waren weiß. Die Fliege war schwarz. Mit einem gelangweilten Lächeln wechselte er wieder zurück in seine Hausjacke. Hinter ihm war ein riesiges Zieraquarium. Der Zylinder blieb. Daine nahm ihn ab. »Nett, und jetzt greifen Sie in den Hut und ziehen Sie ein großes fettes Kaninchen heraus, Mandrake.« Ich versuchte, eine Tarantel in den Hut zu TRÄUMEN. Keine Chance. Ich war nicht in Form. »Ein billiger Budenzauber, nicht wahr? Und nach einer Weile so ermüdend. Reale Menschen sind in dieser Gegend sehr rar. Vielleicht behalte ich Sie hier, um jemanden zu haben, mit dem ich reden kann.« »Ich werde schnell vergessen, wie man das macht.« Daine summte ›Charmaine‹ mit und öffnete dabei eine Musiktruhe. Eine schwarze Scheibe drehte sich unter der Nadel. Er hob den Tonarm von der Platte, dann legte er neue Musik auf. Nach einigem Knistern ertönte ein Orchester. Natürlich Wagner. Es ist immer Wagner. Tannhäuser. Daine drehte sich um und streckte seine Finger, wobei er mit seinen Ringen protzte. »Sie scheinen mir ein Connoisseur zu sein, Mr. Quick. Kennen Sie die Szene, wo das distinguierte 38
Verbrechergenie über Kunst und hehre Kultur redet, während seine hirnlosen Schläger den sturen Detektiv so richtig in die Mangel nehmen?« »Nein. Helfen Sie mir auf die Sprünge.« Mazurki schlug mich. Wieder einmal. Der Reiz des Neuen ging langsam verloren. »Warum eigentlich ich, Kleiner?« keuchte ich. »Hast du nicht gehört, wie dich gerade jemand einen hirnlosen Schläger genannt hat?« Mazurki hob mich am Revers hoch und ließ mich fallen. Meine Knie gaben nach, meine Ellenbogen knallten auf den Boden, und mein Hut fiel mir vom Kopf. Als ich am Boden lag, trat Duryea mich. Ich küßte den Teppich und blieb liegen. »Dies ist ein Mondrian«, hörte ich Daine. »Ein interessanter Einsatz von geometrischen Formen, finden Sie nicht auch? Wir bewegen uns alle innerhalb der Grenzen von Linie und Raum, wissen Sie. Und hier ist einer meiner Schätze, ein M. C. Escher.« Der echte Richie Quick hätte wenigstens einige Schläge zurückgegeben. Ich hingegen ließ mich so richtig in die Mangel nehmen. Ich schwor mir, mich daran zu erinnern, wenn die Krix mir das nächste Mal vorwarfen, ich würde Helden TRÄUMEN, die im Grunde nur Spiegelbilder meiner selbst waren. Ich sagte mir immer wieder, daß sich in der letzten Szene schon alles zum Guten wenden würde. Am Ende des Films würde ich nicht einmal einen blauen Fleck haben. Aber Daines Regeln waren nicht die meinen. Als Duryea und Mazurki damit aufhörten, ihren latenten Haß auf ihre Väter an mir auszulassen, versuchte ich, die Schmerzreize zu ignorieren, die die verschiedensten Teile meines Körpers an mein Gehirn sandten. Ich hatte mich durch diesen TRAUM treiben lassen, ohne mein Talent 39
einzusetzen. Ich konzentrierte mich und machte mich daran, selbst einige Zauberkunststücke zu präsentieren. In meiner Tasche war eine Nagelpistole. Eins dieser Miniaturdinger. Sie war in meiner Trenchcoattasche. Sie war da. Ich erinnerte alle Einzelteile, sah, wie sie sich miteinander verbanden. Die Metallteile rasteten ein, die Schrauben zogen an, das Magazin schob sich in den Griff. Zwanzig glänzende Drei-Zoll-Flachkopfnägel, säuberlich aufgereiht und bereit zum Einsatz. Es war die Waffe, die ich für gewöhnlich in der Kommode in meinem Schlafzimmer verwahrte. Der Lauf war zerkratzt, ein Souvenir von damals, als Lissa versucht hatte, ihn als Dosenöffner zu gebrauchen und Mangomus über den ganzen Desktop-Platz verspritzt hatte. Ganz langsam kroch meine Hand in meinen Mantel, Zentimeter um Zentimeter, wie die Bestie mit den fünf Fingern. Ich berührte die Nagelpistole mit einer Fingerspitze. Das Metall war kalt, der Griff etwas wärmer. Nahaufnahme. Ich würde aufstehen und nah an ihn herankommen müssen. Vorzugsweise würde ich ihm die Mündung an die Kehle drücken und ihm einen Schuß in seine Halsschlagader feuern. Es würde mir gefallen, das Zimmer mit einer Peckinpah-Fontäne zu renovieren. Ein Zehn-Zentimeter-Lauf. Das Herstellersignum auf dem formgerechten Griff. Geschützlegierung und Plastek. Ich hob meine Brust vom Boden und holte tief Luft. Mach dich bereit, Nägel zu fressen, Daine. Geschützlegierung und blaues Plastek. Blau! Wie, zum Teufel, sah Blau aus? Es entglitt mir. Ich hielt nichts in meiner Tasche fest, nur eine Falte Burberrystoff. Ich sackte wieder zusammen. 40
»Prinzipiell, Mr. Quick, verabscheue ich Gewalt.« Daine saß auf der Couch und beugte sich, die Hände auf den Knien, vor. »Aber in Ihrem Fall werde ich eine Ausnahme machen müssen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mich ein derart unzivilisiertes Verhalten schmerzt.« »Ich werde versuchen, es mir vorzustellen, während Sie mir die Kanone an die Schläfe setzen. Ich vermute, es wird mich zutiefst bewegen.« »Ein Mann mit Humor. Das ist eine seltene Gabe. Wie schade es doch ist, Sie zu verlieren, Mr. Quick. Sie sind ein Mann nach meinem Geschmack. Ich mag Männer, die noch im Angesicht des Todes einen Scherz auf den Lippen haben. Es beweist ein gewisses Flair, einen gewissen Stil. Vielleicht… aber nein, ich darf mich nicht in Versuchung führen lassen. C’est la vie, sagt man nicht so? C’est la vie. Daniel, Michael…« Twinkletoes und der Gorillamann hoben mich auf. Es gefiel mir nicht sonderlich, wieder in der Vertikalen zu sein. Ich war jenseits von Gut und Böse. Wenn sie mich zu Rita Hayworth ins Bett hätten fallen lassen, wäre ich eingeschlafen. Jemand öffnete das Panoramafenster. Ich hörte den Regen. Wagner wurde lyrisch, und Daine vollführte kleine Dirigentenbewegungen mit seinen Fingern. Ein kalter Luftzug strömte ins Zimmer; mein Hut rollte auf eine Wand zu. Duryea schubste mich auf den Balkon. Ich beugte mich über die Brüstung und schaute hinunter. Duryea hielt mich im Nacken gepackt. Die Wagen, die unten auf der Straße vorbeifuhren, waren erst unscharf, dann scharf, dann wieder unscharf. »Sag hallo zur Erde, Polyp.« Verdammt, also war ich doch nur ein Komparse. Ein 41
Opfer der ersten Filmrolle. Ich betete zu Gott und Jack L. Warner, daß Richie Quick einen Partner hatte. Einen Bogart oder einen Alan Ladd. Zum Teufel, ich würde mich sogar mit Warner Oland als Charlie Chan oder Edna May Oliver als Miss Withers zufriedengeben. Richie Quick mochte auf einem Tisch in der Leichenhalle landen, und sein Partner mochte ihn zutiefst verabscheut haben, aber Detektive zu ermorden, ist schlecht fürs Geschäft. Richies Partner würde den Fall bis zum Morgen gelöst haben. Daine und seine Schläger würden verhaftet oder visuell ansprechend auf eine Art getötet werden, daß der Hays Code Richies Partner nicht beschuldigen konnte, einen Rachemord begangen zu haben. Die alten Geschichten sind doch immer die besten. Natürlich war das alles bedeutungslos für mich: Ich würde tot auf dem Bürgersteig der Stadt und als hirntotes Etwas in meinem Tank in der Welt liegen. Die Lichter gingen aus. Eine Menge Glas wurde zerbrochen. Ein vertrautes Stakkato stürmte auf meine Ohren ein, und ein Feuerwerk aus Blitzen erhellte die Nacht im Stroboskopeffekt. Duryea wurde vom Balkon gestoßen und stürzte wie eine zuckende Marionette nach unten. Eine kleine Menschentraube versammelte sich um seine Leiche, die wie eine zerbrochene Puppe aussah. Nur ein weiterer billiger Gangster, der tot in der Gosse endete. In dieser Gegend war das nichts Neues. Sie fielen alle Nase lang vom Himmel, wie Geldschränke in den Cartoons. Die Lichter im Penthouse gingen wieder an. Ich drehte mich um und taumelte zurück ins Zimmer. Der Raum war verwüstet. Die Wände wurden von einem Lochmuster aus Einschüssen geziert. Unbezahlbare Kunstobjekte waren für immer zerstört worden. Mazurki lag unter dem Aquarium; Wasser rieselte stumm aus einer horizontalen 42
Reihe von Löchern auf ihn herab. Eine Katze rollte sich träge zu seinen riesigen Füßen zusammen und wartete auf die Fische. Daine saß auf der Couch. Zähflüssiges schwarzes Zeug rann aus seinem Mund. Er hatte nach seiner Roscoe greifen wollen, es aber nicht mehr geschafft. Er war so tot wie Benedict Arnold, und zweimal so schuldig. Theoretisch war jetzt alles vorbei. Ich massierte meinen Nacken und wartete darauf, geweckt zu werden. Nichts veränderte sich. Die Platte war zu Ende, und die Nadel klickte in einer Rille. Die Katze hatte irgendwo anders etwas Besseres zu tun und verließ das Zimmer. Das Aquarium leerte sich bis auf das Niveau des untersten Lochs. Die verbleibenden acht Zentimeter Wasser wimmelten von Fischen, die ihre zarten Flossen durch den Kies zogen. Eigentlich sollte die Stadt um mich herum verfallen. Ich schaute aus dem Fenster. Es war alles da. Gebäude, Slums, Schiffe im Hafen, fahrende Autos, einfach alles. Joseph Cotton schaute zu mir hoch, die Hände in die Hüften gestemmt, den Mantel wie einen Umhang um seine Schultern gelegt. Er stand über Duryea gebeugt, das letzte Überbleibsel der Menschenmenge. Er ging über die Straße zu einer Telefonzelle. Selbst von fünf Stockwerken weiter oben aus konnte ich die PRESSE-Karte in seinem Hutband lesen. Wieder mal eine heiße Story für den Inquirer. Haltet die Druckpressen an. Die Stadt lebte noch immer. Ich untersuchte Daine. Er war noch immer tot. Die Princetown-Psychs hatten sich geirrt. Mistkerle! Lausige, verlogene, verdammte Mistkerle! Ich stieß Daine mit einem Tritt von der Couch. Er erwachte nicht wieder zum Leben. Ich versetzte ihm einige weitere Tritte, nur so zum eigenen Vergnügen. Das 43
hört sich nicht gerade nett an, ich weiß, aber manchmal helfen diese kleinen Dinge. Wenn der Gefängnisdirektor von Princetown dort gewesen wäre, hätte ich ihn auch getreten. Und Lissa auch. Laßt uns nur nicht Lissa vergessen. Ich trat Daine durchs Zimmer. Er wurde nur immer toter. Ich trat ihn in eine dunkle Ecke und versuchte, eine Napoleonbüste von seiner Stirn abprallen zu lassen. Die Büste zersplitterte. Der Gipsstaub puderte Daines Gesicht clownsweiß, und tausend Scherben regneten auf ihn herab. Eine schwarze Perle schimmerte inmitten der Gipsreste. Ich hob meinen Hut auf, rückte ihn auf meinem Kopf zurecht und versetzte Daine noch einen letzten Tritt zum Abschied. Und genau in dem Moment hörte ich die Polizeisirenen.
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VIER Der Andrew-Marshal am Türstopp war eine freundlich aussehende junge Frau, auf deren uniformierter Brust ein Schild mit der Aufschrift JULIET prangte. Susan schwenkte den Späher am Körper der Beamtin hinab und sah die Schußwaffe, die sich in einem Halfter an ihren Oberschenkel schmiegte. Von ihren Vanessa-VailRecherchen erkannte Susan die Waffe augenblicklich als einen Richttaser. Das allein reichte aus, um die Wichtigkeit ihres Öffentlichen Dienstes zu bestätigen. Susan ließ einen Check laufen, um die Echtheit des Bildes zu verifizieren. Der Household meldete, daß sein Türstoppspäherbild eine Übertragung der ersten Generation und keine Simulation war. Dank der neusten Heimverteidigungstechnologien war das Ausrauben aus der Mode gekommen, aber das falsche Bild einer vertrauenerweckenden Person in den Türstoppspäher einzuspeisen, war immer eine beliebte Methode des Eindringens gewesen. Susan gab dem Household den Befehl, Juliet einzulassen, und begrüßte die Frau in der Diele. Der Andrew blieb draußen stehen. »Ich bin rechtlich dazu verpflichtet, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß die Gunmint Sie auffordert, Ihre Dienste freiwillig zur Verfügung zu stellen.« Juliet las den Text von der Innenseite einer Kontaktlinse ab. »Sollten Sie sich weigern, so wird dies nicht mit Strafen oder Beschränkungen der Grundrechte geahndet werden. Sie würden jedoch das bereits an Sie überwiesene Honorar zurückzahlen müssen… zuzüglich der Bankgebühren, zuzüglich des Inflationsverlusts, zuzüglich der Steuer.« 45
Susan mußte unwillkürlich über die Routineansprache lächeln. Aus dem Stegreif fiel ihr niemand ein, der sich seiner Zwangsverpflichtung verweigert hatte. Wer weiß, vielleicht sagte die Gunmint die Wahrheit. Vielleicht verlor man wirklich nur etwas Geld. Doch irgendwie gefiel Susan der Gedanke nicht, als Präzedenzfall zu dienen. Schließlich glich das kleine ›f‹ von freiwillig in der Standardansprache nicht ganz das großgeschriebene ›Z‹ von Zwangsverpflichtung aus. Juliet hielt Susan einen Formularslab hin. Susan machte sich nicht die Mühe, den Text zu lesen. »Den Daumen bitte hierhin«, sagte der Marshal. Susan drückte ein viereckiges Feld und spürte den Flackerblitz, als der Slab ihren Fingerabdruck und ihr psychochemisches Gleichgewicht scannte. Der Slab bestätigte, daß sie tatsächlich Susan Bishopric war, und piepte auffordernd. Juliet erlaubte sich ein verkniffenes Lächeln. Nachdem sie einen Kreuzcheck an Susans Netzhautmuster vorgenommen hatte, gab sie ihr zehn Minuten, um eine Reisetasche zu packen. Leider war sie nicht autorisiert, irgendwelche Informationen zu geben, die Susan vielleicht bei der Entscheidung geholfen hätten, was sie einpacken sollte. Am Ende wählte Susan ein Minimai-Toilettenset (Zahnweißer, Reinigungstücher, Pillen), mmmhhte und äähhte über dem Make-up, bis sie eine Augenblicksentscheidung traf, die sie noch bereuen würde, bevor sie aus dem Haus war, griff eine Handvoll Musik vom Stapel (Debbie Reynolds, Peggy Lee, Connie Francis, Dick Powell) und warf als letztes das Buch, das sie gerade las (Headlong Hall von Thomas Love Peacock) in die Tasche. Als sie schließlich Juliet die Tasche hinhielt, durchsuchte diese sie mechanisch und zog angesichts des Buches eine gezupfte Augenbraue hoch. »Sie lesen?« 46
»Ja, ich interessiere mich für ästhetische Archäologie.« Juliet warf Susan einen argwöhnischen Blick zu und reichte dann die Tasche an den schwarz-silbernen Andrew weiter. Sein Gesicht war eine fröhliche Tridvidfotografie. Eigentlich sollte es bei allen Modellen dieselbe sein – das Foto irgendeines männlichen Modells mit kantigem Kinn. Ihre Halter konnten jedoch nicht widerstehen, ihnen individuelle Externa zu geben. Dieser hatte eine mit Tinte geschwärzte Zahnlücke in seinem freundlichen Lächeln und buschig nachgestrichelte Augenbrauen. Der Marshal schaute sich um, während Susan den Household programmierte, niemand einzulassen, bevor er ein Gegenzeichen und einen Handflächenabdruck erhalten hatte. Sie fütterte die laufenden Befehle für Staubwischen, Nachrichtenannahme und Fischefüttern ein. Juliet war sichtlich beeindruckt von dem Luxus. Susan konnte sich vorstellen, welche Art Wohnung die Gunmint ihren niederen Angestellten stellte: eine Allzweckcouch und eine Essenslade in der Wand. Als Susan jedoch die scheinbar allzeit zum Sprung bereite Körperanspannung der jungen Frau und ihre Sicherheit im Umgang mit den Werkzeugen ihrer Zunft betrachtete, fragte sie sich, ob Juliet sich nicht schon eine gewisse Vorzugsbehandlung verdient hatte. Auf eine humorlose Art erinnerte Juliet sie an Vanessa Vail. Sie trug keine Rangabzeichen, und mit Sicherheit hatte sie das Gefühl, einen außerordentlich wichtigen Auftrag auszuführen. »Nun«, sagte Susan, »sollen wir gehen?« »Ja, Ms. Bishopric.« Der Andrew ging voran, Susan folgte, und Juliet bildete die Nachhut. Es war Susan unangenehm bewußt, daß die Möglichkeit, sie könne im letzten Moment einen Fluchtversuch wagen, in Betracht gezogen worden war. 47
Der Marshal trat beiseite, während Susan die Tür versiegelte. Die Elektroden knisterten, und vor den Fenstern senkten sich die Rolläden herab. Das HouseholdVerteidigungssystem schaltete sich ein. Susan hatte das Gefühl, wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie sehen, wie Juliets Hand locker auf dem Griff ihres Tasers ruhte, ein rotlackierter Fingernagel auf der Entsicherung. Daß sie so etwas intuitiv wußte, gehörte zu Susans gewohnheitsmäßigen Talenten. Andererseits war sie nicht ein einziges Mal in der Lage gewesen, auf diese Weise etwas Nützliches zu erfahren, wie zum Beispiel den Ausgang der Rodney-Wahl oder, jetzt gerade, die Einzelheiten ihrer Zwangsverpflichtung. Der andere Andrew des Teams stand neben dem Skimmer. Er hatte das Standardgesicht, doch er trug einen ledernen Flughelm mit einer gesprungenen grünen Schutzbrille. Susan hatte solche Dinger in Flattys wie Patrouille bei Morgengrauen und Manfred von Richthofen – Der rote Baron gesehen. Das lag etliche Kriege zurück; wenn die Montur echt war, würde sie eine kostbare Antiquität darstellen. Susan blickte zu dem für die Jahreszeit etwas zu bläulichen Himmel auf und sah das planmäßige London/Eng-Richmond/CSA-Luftschiff über sich hinwegfliegen und ein Doughnut-Loch in eine Wolkenbank bohren. Susan konnte die Sterne und Streifen von Dixieland Dirigibles Inc. auf dem Kleeblatt erkennen. Sie verspürte den Drang, sich eine Musik ins Ohr zu stecken und das Ganze an sich vorbeiziehen zu lassen. Statt dessen fragte sie Juliet: »Ist es eine weite Reise?« Juliet überlegte, wieviel sie erzählen durfte, bevor sie schließlich antwortete: »Nicht international. Der Flug wird nicht länger als dreißig Minuten dauern.« 48
»Also ins West Country?« Juliet versuchte, ausdruckslos auszusehen. Susan wußte, daß sie einen Treffer gelandet hatte, konnte sich aber nicht entscheiden, ob das positiv oder negativ war. Der Bauch des Skimmers öffnete sich, und der Andrew-Pilot half Susan, in die Heckkabine einzusteigen. Seine Berührung war überraschend sanft. Die Hände waren über den Stahlknochen gepolstert. Wenn sie von einem erfahrenen Marshal geführt wurden, konnten diese künstlichen Finger bei Operationen Leben retten. Juliet und der andere Andrew gesellten sich in die Kabine zu Susan, und der Pilot verschwand im Cockpit. Susan hörte das Luftdruckzischen, als der Andrew mit dem Skimmer verschmolz. Als das Bereitschaftssignal ertönte, legte Juliet ihre Handfläche auf die AndrewAutorisierungsplatte, und der Skimmer stieg vertikal auf. Susan blickte hinab auf ihr Heim und sandte den Fischen ein stummes Lebewohl. Zaghaft erwähnte Juliet, daß sie gerade Die Parklotterie zu Ende geträumt hatte. »Wie ich höre, sind Sie für einen Rodney nominiert.« »Für mehrere.« »Denken Sie, daß Sie Orin Tredway schlagen werden?« Sie tauschten Trivialitäten aus, und Susan fand heraus, daß Juliet ein TRAUMfan war. Die Frau hatte ihren Kopf anscheinend allem ausgesetzt, was Susan je geschaffen hatte. Susan schaltete auf ihren konventionellen Höflichkeits-Modus um und sagte all die Dinge, die sie gewöhnlich sagte, wenn Leute ihr die gewöhnlichen Fragen stellten. »Was für ein Gefühl ist das, wenn Sie TRÄUMEN?« »Müssen Sie all die Dinge, die Sie in Ihre TRAUME einfügen, eigentlich auch selbst erleben?« 49
»Woher haben Sie Ihre Konzepte?« »Was ist mit dem Sex? Ich meine, wie denken Sie sich den aus?« »Wann haben Sie entdeckt, daß sie das Talent besitzen?« »Kennen Sie John Yeovil?« Juliet schien nun weit weniger wie Vanessa Vail. Sie war beinahe einfallslos genug, um sich als Intervider für das Frühstücksnetzwerk zu qualifizieren. Die Unterhaltung hielt Susan davon ab, darüber nachzudenken, was ihr Öffentlicher Dienst beinhalten mochte. Sie fragte sich, ob Juliet den Befehl bekommen hatte, sie mit Plaudereien abzulenken. Der Marshal schien sich etwas zu entspannen, doch Susan hegte noch immer den unbestimmten Verdacht, daß Juliet, selbst während sie da zusammengerollt auf der Skimmercouch hockte und dumme TRAUMfan-Fragen stellte, alle siebzehn Arten zur Verabreichung eines tödlichen Schlags kalkuliert hatte. Der Skimmer legte die Strecke zwischen London und dem West-Sektor in guter Zeit zurück. Zumeist sausten sie über Naturschutzgebiete hinweg, doch Susan stieg auch einmal obgleich durch die Filteranlage – der berüchtigte Gestank von Cellophane City in die Nase. Der Andrew flog sie niedrig über das Moorland hinweg, um Wolken und Luftschiffen auszuweichen. Sie sausten sogar über ein oder zwei Kühe hinweg. Eins der winzigköpfigen Tiere erschreckte sich so, daß es umfiel und auf dem Acker liegenblieb. Ein Bauer erhob einen wütenden WaldoGreifer gegen den Skimmer und ließ zwei Schlachterklingen rotieren. Die Landschaft unter ihnen verwilderte etwas. »Das ist Dartmoor, stimmt’s?« fragte Susan. »Mh-hm.« 50
»Gibt es hier nicht Hügelgräber? Und Steinquader?« »Glaube schon. Deshalb ist es ja eine Hochburg des Naturschutzes. Nun, das meiste davon zumindest. Wir sind jetzt fast da.« Der Skimmer bremste ab und landete vor einem modernen, im Kolossalstil gehaltenen Komplexbau. Schwarze Türme umringten das Feld. Obgleich sie beim Anschluß an Yggdrasil komplett renoviert worden war, hatte die Anlage ihre uralten Assoziationen dennoch nicht verloren. Susan dachte an Der Hund von Baskerville und Sträflinge, die ganz allein im Moor in Erdlöchern kauerten, während Spürhunde an ihren Leinen zerrten und sie selbst nun größere Angst vor der Freiheit jenes bodenlosen Sumpfs denn vor der Gefangenschaft hinter Steinmauern und Eisengittern hatten. »Ende der Reise«, erklärte Juliet. »Das Gefängnis von Princetown.«
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FÜNF Mrs. Quicks kleiner Richard hatte Probleme. Ich wußte, wie das Bild für die Poverty-Row-Cops aussehen würde. Ich konnte förmlich die Katalogbeschreibung sehen: leicht fehlerhaft, aber wunderschön angehängt. An ihrer Stelle würde ich dasselbe denken. Wenn man in einer Wohnung einen toten Gangster zusammen mit einem Privatdetektiv findet, der angeheuert wurde, um den Gangster zu töten, dann verschwendet man keine Zeit darauf, nach überflüssigen Verdächtigen zu suchen. Oder nach der Mordwaffe, oder nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Besagter Detektiv bekommt eine nette kleine Schlinge, eine Lungevoll Zyankalirauch, oder er macht einen kleinen Spaziergang, an dessen Ende ein Stuhl wartet. Mein Kopf schmerzte noch immer, und die lauter und lauter werdenden Polizeisirenen halfen auch nicht gerade. Die Atmosphäre in Daines Penthouse war nie besonders gesund gewesen, aber ich hatte den Eindruck, daß sie binnen der nächsten ein, zwei Minuten wirklich krebserregend werden würde. Die Polizeisirenen verstummten. Ich hörte, wie Wagentüren geöffnet wurden, dann folgten die unverwechselbaren Geräusche von gehetzten Polizisten, die den Tatort vor dem Inquirer erreichen wollten. Ich warf einen letzten Blick auf den Nachtbürgermeister, spuckte ihm ins Gesicht und verließ das Penthouse. Der Treppenabsatz war verlassen, abgesehen von der Statue irgendeines hundeköpfigen Uralt-Ägypters, aber die langsam höherkriechende Pfeilanzeige über den Aufzugtüren sagte mir, daß gleich jemand erscheinen 52
würde. Ich entschied mich für die Treppe und war schon ein, zwei Stockwerke hinuntergelaufen, als ich jemanden heraufkommen hörte. Jemand Übergewichtigen in Uniform. Ich stürzte durch eine zweiflügelige Tür und kauerte mich in der beinahe völligen Dunkelheit dahinter, wobei ich die Griffe festhielt, um ein verräterisches Hinund Herschwingen zu verhindern. Ich hörte, wie der Cop leise fluchend vorbeiwatschelte. Wer immer hier die Befehlsgewalt hatte, hatte ihn offensichtlich auf dem Kieker. Ich persönlich hätte den jüngsten, fittesten Kerl der Einheit die Treppe hinaufgeschickt, aber das Polizeigenie, mit dem ich es hier zu tun hatte, setzte offenkundig lieber auf Gehässigkeit denn auf gute Polizeiarbeit. Dieses Wissen konnte durchaus noch einmal von Nutzen sein. sein. Dann blieb mir das Herz stehen. Die Schritte des Cops waren verstummt, aber ich hörte sein lautes, asthmatisches Atmen scheinbar direkt an meinem Ohr. Er war doch auf dem Treppenabsatz stehengeblieben, und seine Taschenlampe schien durch die verschmierten Drahtglasfenster. Der röchelnde Bulle schob sein Gesicht dicht ans Fenster, von unten beleuchtet wie ein Nachtgespenst. Ich saß in der Falle. Und ich mußte mich mit Mühe davon abhalten, laut loszulachen. Ich erkannte den uniformierten Mann, und ich wußte, wie schrecklich ich mich fühlen würde, wenn der Inquirer eine Schlagzeile drucken würde, in der er den einsatzfreudigen Polizisten pries, der den Killer schließlich gestellt hatte. Da hatte ich mir ja wieder was Schönes eingebrockt. Dann bewegte sich das Licht wieder. Officer Hardy hatte nur eine kleine Rast eingelegt. Er stolperte die nächste 53
Treppe hinauf, und ich wurde wieder von wohltuender Dunkelheit eingehüllt. Eine Dunkelheit, die nur von ein paar Mondlichtstrahlen erhellt wurde, die durch unzureichend geschlossene Fensterläden fielen. Das war eine weitere Anomalie der Stadt; draußen war der Himmel von einer undurchdringlichen Wolkendecke verhangen, aber drinnen gab es trotzdem Mondlicht. Eine Frage der Gewöhnung. Ich wischte den Staub von meinen Knien und schaute mich nach einem Fluchtweg oder einem geeigneten Versteck um. Ich nahm an, daß die Polizei über genügend Grips verfügte, draußen einen Mann abzustellen, der die Feuerleitern bewachte. Der Flur offenbarte, daß das Monogram ein Zufluchtsort für kurz vor der Pleite stehende Firmen war. Die Türen mit den Glaseinsätzen sagten mir, daß diese Etage einst solche Nichtsnutze wie Chas. Haiton, Kautionsbürgschaften, Marcel Dalio, Tätowierungen, und Henry Hull DDS – Zahnarztpraxis und Plastische Chirurgie – beherbergt hatte. Zu jenem letzten Büro führte eine noch frische Blutspur, und vor der Tür lag eine abgerissene Tragödienmaske aus befleckten Verbänden; anscheinend hatte jemandem sein neues Aussehen nicht gefallen. Lloyd Nolan, Private Ermittlungen, hatte einige Einschußlöcher in seiner Tür. Der verwischte Kreideumriß eines sehr fetten Mannes zog sich um einige nicht zu entfernende Flecken zwischen einem Paar häßlicher, übervoller Standaschenbecher. Ich verfluchte die Putzkolonne des Monograms. Bei dieser Menge Dreck auf dem Boden war ich so leicht zu finden wie Theseus im Labyrinth. Ich griff in meinen Trenchcoat und stellte fest, daß ich wieder im Besitz meiner Waffe war. Das war schon mal nicht schlecht. Ich holte die handliche Automatik heraus; sie lag gut in meiner Faust. Ich hatte den Wunsch, 54
jemanden zu erschießen, was ein deutliches Anzeichen dafür war, daß ich schon zu lange an diesem Fall arbeitete. Die Waffe sprach zu mir und setzte mir Grillen in den Kopf. Vielleicht würde ich aufwachen, wenn ich mich selbst erschoß. Vielleicht würde ich nicht als hirnloses Etwas enden. Vielleicht würde mein Kopf nicht in der TRAUMkrone explodieren. Ja, und vielleicht würde ich eine Winterbräune bekommen, wenn ich mich mit Benzin überschüttete und eine Zigarette anzündete. Es gab keinen leichten Weg hier heraus. Ich ging den Flur entlang und fand die Aufzugtüren. Ich wappnete mich und drückte auf den Knopf. Der Aufzugkorb senkte sich scheppernd und hielt vor mir an. Ich schob das Stahlgitter beiseite und stieg ein. Die zusammenschiebbare Tür des Korbs schloß sich wieder, und ein Zickzackmuster aus Schattennarben fiel über mich. Ich drückte den Knopf fürs Erdgeschoß, und der Aufzug kroch nach unten. Als ich das Erdgeschoß erreichte, schob ich das Gitter zur Seite und marschierte geschäftig auf den Hauptausgang zu. In der Eingangshalle wimmelte es von uniformierten Cops. Ich erkannte Joe Sawyer; die anderen waren bloß Gesichter. »Beweisstück«, erklärte ich Sawyer mit hohlklingender Entschiedenheit und hielt die Waffe hoch. »Der Lieutenant will, daß die umgehend zum Labor gebracht wird.« Sawyer musterte mich mit seinen Schweinsäuglein und hob einen Schlagstock zu einem halbherzigen Gruß an seinen naßglänzenden Mützenschirm. Ich lächelte mit einem Mundwinkel, so wie Dick Tracy in den Cartoons, und streckte meine Hand aus, um die Eingangstür aufzustoßen… 55
»Das ist einer der Männer«, ertönte ein Winseln, »der Mittlere.« Ich vollführte einen Billy-the-Kid-Trick mit meiner Automatik und hielt sie nun wieder richtig in der Hand. Ich drehte mich schnell, doch vorsichtig um und zielte. Byron Foulger hatte Sawyer am Arm gepackt und winselte, während in seinen Augen die Aussicht auf eine Belohnung blitzte. Vielleicht war es auch nur die Freude über die Gelegenheit, jemandem das Leben schwermachen zu können. »Keine Bewegung, Jungs«, sagte ich. Der Klang meiner Stimme gefiel mir nicht. Glücklicherweise hielt Foulger Sawyers Schußarm gepackt. Der Cop hatte noch immer seinen Schlagstock erhoben, aber ich war außerhalb seiner Reichweite. Ich wich rückwärts zur Tür zurück und drückte sie auf. Ich spürte einen kühlen Luftzug. Ich stand im Begriff, in die Freiheit hinauszutreten. Dann schwang die Tür unvermittelt in die Gegenrichtung und traf mich im Rücken, während irgend etwas erfolglos versuchte, durch mich hindurchzugehen. Krallenscharfe Fingerspitzen berührten mich direkt unter meinem Kragen, und ich spürte einen Stoß. Ich streckte meine Hände aus und fing den Aufprall mit meinen Handgelenken ab. Sawyer stieß Foulger zu Boden, und ein Schuß zischte ziellos über meinen Kopf hinweg. Jemand brüllte, und etwas hinter mir jaulte. Das Jaulen gefiel mir nicht; es erinnerte mich an das Mondlicht einige Stockwerke höher, hell genug, um draußen einen Vollmond vermuten zu lassen. Die Cops hatten nunmehr alle ihre Waffen gezogen, und ich versuchte, meine Hände hochzunehmen. Doch es ist schwierig, sich zu ergeben, wenn einem jemand auf dem Rücken herumsteht. Ich spürte, wie sich nackte, krallenbewehrte Füße in meine Wirbelsäule gruben, und versuchte, nach oben zu schauen. Die Cops eröffneten das 56
Feuer, aber gnädigerweise nicht auf mich. Der Jemand auf mir machte ein paar Schritte vorwärts, und ich war in der Lage aufzustehen. Meine Kleider mußten in einem erbärmlichen Zustand sein. Eine große, aufgedunsene Gestalt stand in der offenen Tür des Monograms, zwischen mir und der Polizeimeute. Die Cops schossen auf seine breite Brust, und er steckte alle Kugeln ein, als kämen sie bloß aus Erbsenpistolen. Ich vermute, ich hätte dankbar sein sollen, aber von hinten gefiel mir sein Aussehen ganz und gar nicht. Er trug nur die Fetzen eines Paars grüner Hosen am Leib und hatte den Körperbau von Johnny Weismüller. Er hob seine muskulösen Arme und heulte in die Eingangshalle hinein, wobei er seine Klauen ballte und wieder öffnete. Ich sah, wie sich riesige Muskelberge unter einem dichten grauen Fell bewegten. Sein Kopf war im Schatten, aber ich hätte schwören mögen, er hatte spitze Ohren, eine Schnauze, zu viele Zähne und Augen, die wie fette Glühwürmchen leuchteten. Er zuckte, während die Kugeln der Cops in seinen Körper einschlugen, doch er ging nicht zu Boden. Er streckte eine Hand aus und hob einen panisch feuernden Polizisten hoch. Ich duckte mich zur Seite und konnte so gerade noch dem Cop ausweichen, als er durch die Luft segelte. Instinktiv leerte ich meine Automatik in den Rücken des Dings. Kleine Haarbüschel richteten sich auf, wo die Kugeln einschlugen, und offenbarten ein Pentagramm. Speicheltropfen flogen umher, als sich das Ding halb zu mir umwandte, und ich hielt es für besser, mich zu verdrücken. Ich rannte die Straße hinunter und überließ es Sawyer und seinen Burschen, sich um den Eindringling zu kümmern. Keine Frage, daß das Biest in der falschen Handlung war. Ich fragte mich, ob irgendeiner der Cops Silberkugeln geladen hatte. 57
Meine Musik bohrte sich mit schrillen Geigen in mich, während ich durch die Pfützen der Poverty Row platschte. Ich blickte zu Boden und sah, wie sich im Laufen der Bürgersteig unter mir veränderte. Spiegelverkehrte Neonreklamen zersplitterten unter meinen Schuhen. Ich lief im Zickzack, die meiste Zeit mitten auf der Straße entlang. Autos fuhren an mir vorbei, ohne sich um meine offenkundige Notlage zu scheren, selbst wenn ich meine Arme schwenkte, um sie anzuhalten. Ich bemerkte, daß ich meine Waffe krampfhaft umklammert hielt. Ich rannte immer weiter. Mittlerweile stand Wasser in meinen Schuhen und durchnäßte meine Socken, und die Kälte kroch an meinen Waden hoch. Ich lief an hellerleuchteten Filmpalästen vorbei und stolperte verlassene Gassen entlang. Ich kippte Zeitungsstände um und prallte gegen Lieferwagen. Als ich mich an eine Mauer kauerte, sah ich mein eigenes Gesicht, das mich schuldbewußt von einem WANTED-Plakat herab anstarrte. Es gab eine Belohnung auf meinen Kopf, ausgesetzt von einem gewissen Cicero Club. Suchscheinwerfer von Streifenwagen zerschnitten die Dunkelheit. Jeder Cop der Stadt war mir auf den Fersen, und ich wußte, daß Daines Unterweltverbindungen mittlerweile die Nachricht verbreitet hatten, daß man mich aus dieser Fassung streichen sollte. Niemand liebt dich, wenn du am Boden bist und wegen Mordes gesucht wirst. Im French Quarter sah ich, wie ein GestapoMannschaftswagen vor einem Estaminet hielt, und hörte, wie Raymond Massey in kehlig klingendem Englisch einer Gruppe finster aussehender Kollaborateure meine Beschreibung gab. Ich wich scheinbar ziellosen Schüssen von auf den Dächern hockenden Scharfschützen aus. Über alle Plakate von Führer Anton Diffring waren Vs gemalt, und die meisten Mauern wurden von Einschußlöchern in 58
Brusthöhe verunziert. Während ich auf dem Weg von Bar zu Bar eine hell erleuchtete Hauptstraße entlangtaumelte, stolperte ich über Sterling Hayden. Er verblutete in der Gosse, die eine Hand auf seinen zerfetzten Bauch gepreßt, die andere noch immer um den Griff eines zerschlissenen Koffers geklammert, der nur von Reiseaufklebern und ein paar Schnüren zusammengehalten wurde. Er stöhnte, als ich stolperte, und mein Fuß verhakte sich unter dem Kofferschloß. Es schnappte auf, und eine aus dem Nichts kommende Windböe wehte die in den Koffer gestopften Hundertdollarnoten heraus. Einen Augenblick lang hüllte mich eine Wolke mimeographgrauen Geldes ein; Geldscheine peitschten mein Gesicht, bevor sie davonflatterten. Fußgänger fingen die Scheine aus der Luft und sammelten nasses Geld vom Bürgersteig auf, dann schauten sie zu, wie die wertvolle Wolke sich wirbelnd zu einer entfernt menschenähnlichen Form zusammendrehte und schließlich wie ein Heißluftballon in die Lüfte stieg. Es war der Dschinn der Bank, bereit, jedem drei Wünsche zu gewähren, der ihn aus seinem Tresor befreite, doch kundig in den Künsten der Ironie und der Täuschung. All seine Versprechen besaßen die rasiermesserscharfen Kanten verborgener Gefahren, Fallen und Lektionen. Jene, die klug genug waren, sich den letzten Wunsch aufzusparen, bettelten gewöhnlich um den Tod. Sterling drehte sich um und lachte unter unendlichen Schmerzen, während Sirup aus seinem Mundwinkel rann. Er starb mit offenen Augen und hinterließ eine Million Dollar als Vermächtnis an die vier Winde. Das war The End seiner Handlung, und ich vermeinte, eine leise Andeutung von Erleichterung, von Erhabenheit in seinem toten Lächeln zu erkennen. Doch ich war noch immer an mein Leben gefesselt, gefangen von einer Handlung, die ich längst 59
nicht mehr vorhersehen konnte, verurteilt, mit der Straßenbahn bis zur allerletzten Haltestellte zu fahren. Ein Streifenwagen bog in die Straße. Sein Suchscheinwerfer schwenkte über den Asphalt wie ein Marsianischer Hitzestrahl. Ich wischte mir nasses Geld vom Gesicht und lief weiter. Als ich mich kurz zwischen zwei Mülltonnen neben einem Imbiß versteckte, um nach Luft zu schnappen, hörte ich zufällig, wie ein Sprecher ein Radioprogramm mit Tanzmusik aus der Starlight Lounge des RKO-Radio Hotels unterbrach und meine Beschreibung über den Äther schickte. »Der Mann ist bewaffnet und sollte bei Entdeckung auf der Stelle erschossen oder der Polizei übergeben werden. Neben dem Auftragsmord an Truro Daine steht er unter dem Verdacht, der planende Kopf hinter der Serie der sogenannten ›Pyjama-Selbstmorde‹ zu sein, für die Inspektor Lestrade von Scotland Yard bislang keinerlei Erklärung finden konnte. Außerdem wird er verdächtigt, der für die Morde in der Rue Morgue verantwortliche Affentrainer, der Mechaniker, der Amelia Earharts Flugzeug vor ihrem letzten Flug wartete, und der Mann, der Liberty Valance erschoß, zu sein.« Als Nachsatz fügte der Sprecher hinzu: »Diese Unterbrechung ist nicht Teil des angekündigten Stücks Der dunkle Pfad der Angst von Cornell Woolrich, aufgeführt von Orson Welles und dem Mercury Theatre of the Air. Dies ist eine tatsächliche Meldung, die nicht als bizarrer Streich mißverstanden werden sollte.« Sein Tonfall wechselte von Eindringlichkeit zu Feierlichkeit, und er kündigte eine spätere Sendung an. »In zwei Stunden übertragen wir eine Gedenkfeier für Truro Daine, den großen Menschenfreund, der durch dieses sinnlose Verbrechen so unerwartet aus unserer Mitte 60
gerissen wurde. Unter denen, die sich eilends in unseren Studios versammelt haben, um Ihnen ihre tiefempfundenen Gefühle in dieser Stunde der Trauer zu übermitteln, gehören Bürgermeister Brian Donlevy, der berühmte Kriminologe und Radiosprecher Claude Rains, der Philanthrop und Geschäftsmann und Stützpfeiler unserer Gemeinde Edward Arnold und der bekannte spirituelle Berater Otto…« Ein Kunde beschwerte sich, und der geplagte Koch hinter dem Tresen drehte am Senderknopf des Radios, bis wieder Musik ertönte. Der junge Sinatra bot mit heller Stimme seine Version von ›Night and Day‹ dar. Ich ließ den Imbiß hinter mir und hastete über die Straße. Aus keinem erkennbaren Grund wandte ich mich hilfesuchend an einen leichendürren, kahlköpfigen Mann in Hemdsärmeln, der auf einem leeren Bierfaß in einem Eingang saß und an einer unangezündeten Zigarre kaute, während er auf einem Klapptisch eine Patience legte. Ich flehte ihn an, mich einzulassen, mir Unterschlupf, Nahrung, einen Platz zum Schlafen, ein neues Gesicht, einen gefälschten Paß, eine Fahrkarte nach Peru oder etwas Heißes zu trinken zu gewähren. Er drehte nur seelenruhig weiter seine Karten um, ohne seinen Blick von den Karten auf dem grünen Vlies abzuwenden oder etwas zu erwidern. Schließlich gingen mir die Worte aus, und ich begann zu schluchzen. Dann gingen mir auch die Schluchzer aus, und ich sackte auf den Knien vor dem Mann zusammen. Seine Patience ging nicht auf, doch er hatte es noch nicht gesehen. Er ging den ganzen Talon durch, aber nichts paßte. Nichts änderte sich. Er spielte schneller. Dieselben fünf oder sechs Karten zeigten ihre nutzlosen Gesichter. Er biß ratlos auf seiner Zigarre herum. Die Karten kamen in immer derselben Reihenfolge. Angewidert entschied er 61
sich fürs Mogeln. Er mischte die Karten in seiner Hand und ging abermals den Talon durch. Es fanden sich noch immer keine Karten, die er gebrauchen konnte. Ich wußte, daß er keine Chance hatte, doch er spielte weiter, wobei sich seine Hände schneller bewegten als die eines Zauberers. »Bitte«, flehte ich. Der Patiencespieler reichte mir eine einzelne Karte und setzte sein Spiel fort. Es war die Pik-Dame. Sie hatte Veronica Lakes Gesicht, von einem langen, glatten Pony diagonal in zwei Hälften geteilt. Veronicas freiliegendes Auge zwinkerte mir zu, und ich ließ die Karte auf den Bürgersteig fallen. Sie fiel mit dem Gesicht nach unten auf den nassen, schwarzen Boden. Ich verließ den Kartenspieler und ging davon. Ich hob mein Gesicht gen Himmel und schloß die Augen. Schmerz pulsierte in der Dunkelheit meines Kopfes. Wasser lief über mein Gesicht. Es war halb drei in der Nacht, und es regnete.
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SECHS Vaclav Trefusis empfing Susan in seinem geräumigen Büro. Er nahm seine Position als Gefängnisdirektor offenkundig ernst. Er saß in einem Drehthron hinter seinem antiken, resopalbeschichteten Deskslab: Schnurrund Backenbart, gestärkter Kragen, Gehrock, verspiegelte Sonnenbrille und Ordensbänder. Eine der Wände war gänzlich mit Bildern des Princetown-Gefängnisses von 1800 bis heute und den Porträts früherer Gefängnisdirektoren dekoriert. An einer anderen hingen die schwarz gerahmten Trids verschiedener berüchtigter Verbrecher, die hier eingesessen hatten. Natürlich sahen die Gefängnisdirektoren weit weniger vertrauenswürdig als die Verbrecher aus. Das Leben hält nichts von Typecasting. Durch einen riesigen Einwegschirm konnte Trefusis seine Schäflein im Auge behalten. Momentan zeigte die Szene eine Hydrokulturzucht. »Nahrung für die Flüchtlinge in Kansas, Ms. Bishopric.« Trefusis nahm eine Zigarre aus einer Schublade, schnitt sie mit Hilfe einer Miniaturguillotine ab und zündete sie mit einem winzigen Zünder an. »Wir haben herausgefunden, daß Fälscher und Würger die besten Pflanzenzüchter abgeben. Attentäter und Vergewaltiger werden bei der Renaturisierung eingesetzt. Schwarzwirtschafter bearbeiten Sozialhilfeanträge, Fleischschmuggler helfen in der Küche, und Plünderer zerklopfen noch immer mit Hacken und Vorschlaghämmern Steine. Diese Anstalt ist eine Maschine. Ihre Funktion ist es, Gesetzesübertreter zu bestrafen, aber ich habe ihre Abläufe optimiert. Nun gibt es Abfallprodukte, von denen die gesamte Gesellschaft 63
profitieren kann.« Trefusis atmete eine Wolke aromatisierten Rauchs aus. Susan nippte an ihrem grünen Tee und nickte. Sie hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, worum es eigentlich ging. Trefusis gab etwas in seinen Slab ein, und die Arbeiter verschwanden. Ein Tridvid-Verbrecherfoto erschien auf dem Schirm – eine Frontalansicht, die sich langsam zum linksseitigen Profil, dem Hinterkopf, dem rechten Profil und schließlich wieder zur vollen Frontalansicht drehte. Und das Gesicht war tatsächlich voll. Nicht schwabbelig, aber voll. Das Gesicht eines Generals, der in seiner Zeit als wahnsinniger Killer galt, dann aber zum Nationalhelden erhoben wurde, nachdem er glücklich mehrere Jahrhunderte tot war; das Gesicht eines Kaisers – eines Neros, eines Alexanders, eines Napoleons, eines Heseltines, eines Dweezils. Susan stieß einen bewundernden Pfiff aus. »Truro Daine.« »Sie kennen den Mann?« fragte Trefusis. »Ich habe von ihm gehört.« »Die Welt hat von Truro Daine gehört. In einem Zeitalter, in dem Kriminelle zum größten Teil Soziopathen, politischreligiöse Fanatiker, sozial benachteiligte Cretins oder übereifrige Manager sind, ist er einzigartig.« »Fu Manchu.« »Wie bitte?« »Fu Manchu, der große Magier, Professor Moriarty, Captain Nemo, Zenith der Albino, Dr. Mabuse, Lex Luthor, Ernst Stavros Blofeld, Dr. Doom, Eugene Smedley, Cardinal Synn. Ein Meister des Verbrechens.« »So kann man sagen. Populärkultur ist natürlich Ihr 64
Fachgebiet. Das hatte ich mißerinnert. Deshalb sind Sie ja hier bei uns. Truro Daine ist in der Tat ein Meister des Verbrechens. Selbst an diesem Ort hat er nichts von seinem Flair eingebüßt. Als Menschenentsorger kann ihm niemand das Wasser reichen. Als er seine Karriere begann, entschieden sich einige Ihrer Kollegen in der Mediokratie, ihn als einen romantischen Helden darzustellen, als einen verwegenen Rückschritt in eine frühere, irgendwie aufregendere Zeit. Natürlich kann man von mir nicht erwarten, daß ich diese Sichtweise teile.« Trefusis’ Finger vollführten einen kleinen Tanz auf seinem Slab, und eine Montage von Tridvidclips zog über den Schirm. Konkurs gegangene Banken, zerbombte Museen, verwüstete Städte, verbrannte Erde. Trefusis bot Susan eine Reihe von Leichen in Großaufnahme, ein totes Gesicht nach dem anderen. Männer, Frauen, Kinder, Tiere. »Für Truro Daine besitzt ein menschliches Leben keinen Nutzwert. Wie so viele große Männer – und ich gestehe ihm diese Würdigung durchaus zu – hegt er die tiefverwurzelte Überzeugung, daß andere Menschen nicht real sind. In seinem Solipsismus hat er mit Mord in nie gekanntem Maßstab experimentiert und sich mit jedem ausgelöschten Leben selbst überzeugt, daß allein er wirklich Verstand besitzt. Das ist ein immens wichtiger Punkt. Merken Sie sich das gut. Natürlich ist sein grundlegendes Problem ein ganz gewöhnlicher Wald-und-Wiesen-Tötungswahn. Dafür gibt es seit fünfzig Jahren Behandlungsmethoden. Einen gewöhnlichen Mann würde dieser Wahn dazu bringen, Söldner oder Massenmörder zu werden, aber Truro Daine ist kein gewöhnlicher Mann, er ist vielleicht die dritt- oder vierthöchstentwickelte Intelligenz auf der Welt. Hätte er sich entschieden, innerhalb der Gesellschaft zu leben, dann wäre er auch auf legale Weise zu einem der reichsten 65
Männer dieses Planeten geworden. Er hätte innerhalb der Gunmint eine zentrale Position einnehmen können. Aber das hätte ihn zu Tode gelangweilt.« »B-b-bad to the B-b-bone.« »Wie bitte?« »Ein Song, Direktor. Entschuldigen Sie bitte. Nur eine Leidenschaft von mir. Alte Songs.« »Hmphmp.« Daines Gesicht kehrte zurück, diesmal eingefroren. Seine Kenn-Nummer hing vor seiner Brust. Seiner Miene nach zu urteilen, hatte ihn seine Verhaftung völlig kalt gelassen. Vielleicht hatte er schon alles andere ausprobiert und sich gedacht, daß Bestrafung vielleicht weniger langweilig als Gesetzesübertretung wäre. Bei Yggdrasil, Truro Daine war klüger als die Gunmint. »Wissen Sie«, fuhr Trefusis offenkundig begeistert von seinem Lieblingsthema fort, »als er schließlich vor Gericht gestellt wurde, hat man ihn allein in 8921 Fällen des Mordes ersten Grades für schuldig befunden, wobei seine verschiedenen thermonuklearen Abenteuer nicht eingerechnet sind. Würde er bis zum Ende seiner Strafe leben, so ist es aufgrund der momentanen Belege höchstwahrscheinlich, daß sich die menschliche Rasse unwiedererkennbar verändert haben würde, bis es ihm erstmalig erlaubt wäre, vor eine Bewährungskommission zu treten. Ich nehme an, Sie erinnern sich noch an die Diskussion über die Wiedereinführung der Todesstrafe.« Susan erinnerte sich an diese Kontroverse. Es war bis vor Yggdrasil gegangen, und der Computer hatte über dieses Problem länger nachgesonnen als über jedes andere, das Susan erinnern konnte. Als er schließlich nach zwei vollen Stunden verkündete, daß selbst im Falle Truro Daines die Todesstrafe nicht in Frage käme, hatte es 66
Aufstände von Peiping bis Valparaiso gegeben. Noch ein paar Entscheidungen dieser Art, und die Gunmint würde sich einen neuen KI-Demagogen suchen müssen. Auf dem Tridvid-Clip hinter Trefusis war Daine noch immer die Gelassenheit in Person, selbstgefällig wie Premierminister Dies, gelassen wie Chillmeister Freaze. »Man sollte doch denken, daß dies hier der einzige Ort wäre, an dem Truro Daine akzeptiert werden würde, oder nicht? Hier sind alle Gesetzesübertreter beisammen. Aber Kinderschänder, Leichenschänder und Religionstreiber weigern sich, ein Feld mit ihm zu teilen. Er hat eine eigene Phantomzone, um die anderen Sträflinge von ihm fernzuhalten. Er hat zu viele seiner Komplizen entsorgt, um sich die Loyalität der gesetzesübertretenden Klassen zu erhalten.« »Das ist ja alles sehr interessant, aber…« »Was ist Ihre Rolle in dem Ganzen, Ms. Bishopric? Sie müssen mir meine Weitschweifigkeit vergeben. Sehen Sie, Truro Daine ist ausgebrochen.« Der Schirm wurde schwarz. Susan bemerkte, daß Trefusis weinte. Er griff nach einem Gesichtstupfer und wischte sich damit über die Wangen. Susan schaute sich nervös um, doch augenblicklich war ihr diese Reaktion peinlich. Erwartete sie etwa, daß Truro Daine sich hinter den Yggdrasil-Rechnern in der Ecke versteckte, ein Rasiermesser in der Hand? »Das soll angeblich unmöglich sein, Direktor.« Trefusis räusperte sich und nahm wieder Haltung an. Sein eitles Gehabe kehrte zurück. »Das ist es auch. Verstehen Sie unser System?« »Nur soweit, wie ich es in den Nachrichten scannen kann.« »Es ist perfekt. Human, doch ausbruchsicher. Es gibt weder Gitter noch Schlösser. Vom Aufbau her könnte 67
dieses Gebäude eine Schule oder ein Krankenhaus sein. Unsere einzige Sicherung kommt durch den YggdrasilTerminal. Er sendet ein variables Energiefeld aus. Nachts schrumpft es und umfaßt nur noch das Hauptgebäude. Während der Arbeitszeiten wächst es beträchtlich an, um den Sträflingen Zugang zu ihren zugeteilten Arbeitsbereichen zu erlauben. Nach erfolgter Verurteilung wird jedem Gesetzesübertreter ein Schrittmacher implantiert. Wenn er oder sie die Grenze des Felds überschreiten sollte, setzt der Schrittmacher aus, und ihr Herz bleibt stehen. Wenn wir sie binnen fünf Minuten finden, können sie wiederbelebt werden. Wenn nicht… nun, sie waren ja gewarnt. Abgesehen von ein paar klaren Fällen von Selbstmord hat noch niemand einen Ausbruch gewagt, seit wir das System eingeführt haben.« »Aber wie hat Daine es dann angestellt? Ein Pakt mit dem Teufel? Do-it-yourself-Chirurgie am offenen Herzen?« »Er hat ein Schlupfloch gefunden. Ein Schlupfloch, das nur von jemandem mit Ihren Qualifikationen geschlossen werden kann.« In Susan regte sich abermals jenes nagende, unangenehme Gefühl. Sie hatte eine Vision, daß all ihre TRÄUME in schwarzgeränderten Hüllen als Gedenkset wiederaufgelegt wurden. »Verwechseln Sie mich bitte nicht mit einer meiner Figuren, Direktor. Ich besitze keinerlei besondere Qualifikationen für irgend etwas anderes als das TRÄUMEN. Ich habe im Wachen noch nie eine Heldentat vollführt. Meistens brauche ich ein MutStimulant und einen gepanzerten Andrew-Wächter, um die Straße zu überqueren.« Trefusis ignorierte ihre Einwände. »Unsere Sträflinge werden nicht nur körperlich, sondern auch geistig in ihrer Freiheit beschränkt. Freiheitsbeschränkung ist die Essenz 68
des Strafsystems. Die Sträflinge haben keinen Zugang zu TRÄUMEN. Aber das hier ist nicht die Teufelsinsel. Wir besitzen eine umfangreiche Vidbibliothek. Hauptsächlich Tridvids, aber wir archivieren auch eine Menge anderes Material. Schon bald nach seiner Einlieferung entwickelte Truro Daine eine Leidenschaft für Flattys. Besonders eingehend befaßte er sich dabei mit dem nordamerikanischen Kino der 1940er und ’50er. Sind Sie mit dieser Periode vertraut?« »Ich habe in Eton eine Semesterarbeit über den Film noir geschrieben.« »Ausgezeichnet. Ich persönlich werde nicht von den Künsten des zwanzigsten Jahrhunderts stimuliert. Für mich ist es eine unendlich banale Periode. Unsere Urgroßeltern müssen außerordentlich widerwärtige Kleingeister gewesen sein. Truro Daine verlangte eine ständig wachsende Anzahl von Vidtapes. Ich habe hier einen Ausdruck.« Trefusis reichte Susan eine Spirale aus Silberfolie. Rote Buchstaben hoben sich ab. Susan überflog die Liste der Titel. »Strafsache Thelma Jordan… den habe ich gesehen. Da spielt Barbara Stanwyck mit. Das unbekannte Gesicht… ein zukunftsweisender PräTRAUM, viel Subjektivität. Zwischen Mitternacht und Morgen… den kenne ich nicht. Der weiße Schatten, Ein einsamer Ort, Schrei der Großstadt, Bis zur letzten Sekunde, Geheimring 99, Die Bestie. Alles gute Sachen. Ein einsamer Ort ist eine Rarität. Ich dachte, nicht einmal die BritBib hätte ein Vid davon. Den würde ich gern mal irgendwann klonen. Das Copyright ist abgelaufen, also wäre es keine Übertretung der Vervielfältigungsrechte.« Der Gefängnisdirektor nahm den Streifen zurück und ließ ihn einmal wie eine Peitsche in der Luft knallen. Das Rot löste sich auf. »Es schien ein harmloser Zeitvertreib. 69
Und es hielt ihn ruhig. Wir hatten mehr Ärger erwartet.« Auf einen weiteren Slabbefehl hin glitt die Tür auf, und ein Andrew-Wärter mit einem hübschen Mädchengesicht kam herein. »Wir sollten uns jetzt besser hinunter zu Daines Feld begeben«, erklärte Trefusis. »Dr. Groóme erwartet uns.« Im Korridor bemerkte Susan Sträflinge in FleshtexCatsuits, die niedere Arbeiten verrichteten. Sie waren, soweit Susan erkennen konnte, ohne Bewachung. Trefusis hatte die unangenehme Angewohnheit, jeden Gefangenen, an dem sie vorbeikamen, mit seinen Gesetzesübertretungen vorzustellen, so daß er die ganze Zeit über »Einbrecher«, »Kreditschleicher« oder »Informationsveruntreuer« ausrief, so wie ein Museumsführer, der auf interessante Objekte hinwies. Die Sträflinge selbst verstanden diese Angewohnheit als Gruß und erwiderten ihn mit einem unverbindlichen »Morgen, Sir«. Das Gefängnis schien zum größten Teil unmöbliert. In türlosen Zellen sah Susan lediglich in den Boden eingebaute Allzwecksofas, abgedeckte Essensladen, Exkrementöffnungen und sonst kaum etwas. Es gab keine Schirme an den Wänden, keine persönlichen Gegenstände, nichts mit irgendeinem, wie auch immer gearteten Charakter. Es ähnelte nicht im geringsten dem feuchten, modrigen Kerker, aus dem sie Vanessa Vail nur mit Hilfe eines Gesichtsstäbchens und eines Sitar-Plektrums hatte entfliehen lassen. Das war Susans Vorstellung vom Schrecklichsten Ort der Welt gewesen, wohingegen das hier eher an einen überdimensionalen Sozialamt-Wartesaal erinnerte. Der einzige Unterschied zwischen den Andrews und den Gefangenen bestand darin, daß die Mechanischen lächelten. In einer der unteren Etagen war ein kleiner, fetter Sträfling – ein Schmerzdealer, wie Trefusis ihn nannte – gerade damit beschäftigt, ein Graffito von der 70
Wand zu scheuern. Hängt Truro Daine, mit einem Strichmännchen an einem Galgen. »Da wären wir«, sagte der Gefängnisdirektor. Wie sich herausstellte, war Dr. Helena Groóme eine zierliche Frau mit grauen Schläfenlocken, grünen Lippen und einem bodenlangen weißen Mantel. Sie lutschte Slicko-Kapseln und bot mechanisch einen Inhalator an, den sie jedoch augenblicklich wieder einsteckte, bevor jemand einen Zug nehmen oder ablehnen konnte. Die Ärztin und Trefusis legten beide eine Handfläche auf einen Wandslab und sagten einen sinnlosen, doch suggestiven Spruch vor einem Vivicorder auf – Dr. Groómes Satz lautete »Das Heim ist der Henker«, die Parole des Gefängnisdirektors war »Heiße Erbsengrütze«. Nach kurzer stummer Verarbeitung erschien eine Öffnung. »Willkommen im Hochsicherheitstrakt, Ms. Bishopric«, sagte Dr. Groóme. »Es ist gemütlich, aber es ist die Hölle.« Der Raum mutete mit seinen Doppelreihen aus sarkophagähnlichen Tanks wie ein riesiger Krankenhausschlafsaal an. Nur zwei Tanks summten. Auf den Schirmen über ihnen blinkten Zahlen und Anzeigen, die Susan nicht verstand. Druckstreifen türmten sich neben den Tanks auf dem Boden und warteten auf eine endgültige Überprüfung. Juliet stand neben den Tanks Wache. Sie hatte ihren Helm abgenommen, und Susan konnte nun ihr langes, braungetöntes Haar sehen. Der Marshal lächelte und winkte ihr zur Begrüßung mit der linken Hand zu. Einen Augenblick später erkannte Susan, weshalb Juliets Geste so linkisch erschien: Sie behielt ihre rechte Hand frei für den Kontakttaser. Dr. Groóme zückte eine Fernbedienung und stellte den Masterschirm ein. Abermals erschien Daines Gesicht, diesmal ein beinahe intimer Clip. Der Gesetzesübertreter lag im Tiefschlaf; 71
sein Kinn stoppelig, REMs regelmäßig. Um seine Schläfen schlang sich ein kranzförmiger Apparat. »Erkennen Sie es?« »Natürlich, Doktor. Das ist eine TRAUMkrone.« Dr. Groóme bewegte das Bild auf dem Schirm so, daß es sich zum Profil drehte. »Ja. Und auch noch selbstgemacht. Einige der Teile müssen hereingeschmuggelt worden sein. Ein junger Politischer wurde vor einigen Monaten im Gefängnis entsorgt. Irgend jemand hat ihm mit bloßen Händen den Bauch aufgerissen. Wir vermuten, daß das Zubehör für die TRAUMkrone irgendwo in seinen Gedärmen versteckt war. Wir haben das Material getestet. Es ist, ehrlich gesagt, nicht sonderlich bemerkenswert, mit Ausnahme einer Eigenschaft. Es ist für Röntgenstrahlen unsichtbar…« »Ein weiteres Truro-Daine-Produkt«, warf Trefusis ein. »Natürlich. Beachten Sie die Anschlüsse, Ms. Bishopric. Hinter dem Ohr, durch die Wange und ins Auge hinein. Es braucht schon sehr viel Mut und Entschlossenheit, um sich eigenhändig einen Leiter in den Sehnerv einzuführen, meinen Sie nicht auch?« »Darüber habe ich mir eigentlich noch nie Gedanken gemacht, Doktor.« Susan wandte den Blick vom Schirm ab und ging zu den aktiven Tanks hinüber. Die Gesichtsfenster waren verspiegelt. »Er ist hier drin, nicht wahr?« »Ja, da ist er«, erwiderte der Gefängnisdirektor. »Und er TRÄUMT.« »Jeder Mensch ist ein Träumer.« »Nein, Ms. Bishopric. Daine TRÄUMT. ›TRÄUMT‹ in Versalien. Er TRÄUMT kreativ. Wie Sie.« 72
Susan blickte abermals auf den Schirm und betrachtete das Lächeln. »Ich wußte nicht, daß er auch dieses Talent besitzt.« Trefusis stand neben dem linken Tank und starrte gebannt auf den darin liegenden Mann. »O ja, eins seiner vielen Talente. Er hat jung angefangen, wissen Sie. Nachdem er die Versicherungssumme für seine Eltern kassiert hatte, stieg er ins Teenie-Porno-Geschäft ein. Er war mehrere Jahre lang ein StarTRÄUMER der Schwarzwirtschaft. Ganz oben, mit Elvis Kurtz und The Masked Mongoose. Ich glaube, sein Magnum Opus hieß Anale Explosionen junger Debütantinnen.« »Den muß ich verpaßt haben.« »Alle Kopien wurden angeblich von den Jesuiten während des Zweiten Moralkreuzzugs gelöscht, aber die Archivkopien des Vatikans haben ihren Weg auf den Markt gefunden. Der König konnte den Nennpreis nicht bezahlen, wenn ich mich recht entsinne, aber mehrere Traumkonsortien haben annehmbare Gebote gemacht. Während seiner Karriere produzierte er unter verschiedenen Pseudonymen DokuTRÄUME. Wollen Sie wissen, wie es ist, ein Massenmörder zu sein, Ms. Bishopric? Würden Sie gern mal Vatermord, Brudermord, Muttermord, Gattenmord, Königsmord, Kindesmord, Freundesmord, KImord oder Völkermord ausprobieren?« »Direktor Trefusis, es gibt nichts, was ich in TRÄUMEN noch nicht getan habe.« »Seien Sie sich da nicht zu sicher.« »Yggdrasil ist gnädig«, mischte Dr. Groóme sich ein, »aber bei Daine hat er einen Error gemacht.« »Also, er TRÄUMT…« »Mehr als das. Wir haben ihm die Flattys gegeben, um die er gebeten hat. Er hat sie in nie dagewesener Weise 73
benutzt, Ms. Bishopric. Er hat sich in eine Yggdrasil-Datei eingeloggt und TRÄUMT sich nun sein eigenes Universum zusammen, ausgestattet mit Externa aus diesen alten Vids. Wir haben den Überblick verloren. Es expandiert, wann immer wir es anzapfen. Physisch gesehen ist er noch immer hier, am Leben erhalten durch den Tank. Aber im Innern seines Kopfs ist er frei.« »Mehr als frei«, bemerkte der Gefängnisdirektor. »Er ist Gott.« »Dann ziehen Sie doch einfach den Stecker raus.« »So seltsam es erscheinen mag, daran haben wir auch schon gedacht. Daine hat ganze Arbeit geleistet, als er mit Yggdrasil verschmolzen ist. Und mit unserem Fail-SafeKraftwerk. Sein Körper liegt im Koma. Diese TRAUMkrone ist biogekoppelt. Sie wächst durch sein Gehirn, durch seinen Körper. Ein ganzes Team von Andrew-Chirurgen würde Jahre brauchen, um die Drähte auszubrennen, und wir würden ihn dabei töten müssen. Wenn wir einfach nur den Energie-Input kappen und sein Mastertape herausnehmen würden, würde sein Verstand wie ein Druckstreifen gelöscht werden. Wie Sie wissen, ist das juristisch gesehen Mord.« »Wenn der Ausbruch aus dem Gefängnis Selbstmord ist, dann hat er sich doch juristisch gesehen sowieso schon selbst getötet.« »Ein guter Einwand, Ms. Bishopric. Persönlich würde ich das gern nach vollendeten Tatsachen mit Truro Daines kostspieligem Heer von Anwälten ausdiskutieren. Aber der Corpus befindet sich leider noch immer in meiner Obhut. Die Gunmint hat die ganze Nacht darüber debattiert, und ich bin ihr Diener. Sie wollen ihn zurück.« Susan sah es kommen, sah, wie es am Horizont immer größer wurde. Und auch für sie gab es keine 74
Fluchtmöglichkeit. Dr. Groóme legte eine Handfläche auf den Tankslab und spielte mit einigen Anzeigen. »Wir können ihn nicht aus seinem TRAUM holen, Ms. Bishopric, aber wir können Sie einschleusen. Das würde den gesamten Referenzrahmen verändern.« Juliet blickte ihr in die Augen. »Sie werden ihn töten, Susan. Wenn er in seinem TRAUM stirbt, stirbt sein TRAUM mit ihm.« »Der Marshal hat recht«, mischte sich Dr. Groóme ein. »Daine spielt in seinem eigenen mentalen Garten. Im Moment ist er noch relativ klein, aber er wächst in der Yggdrasil-Datei wie ein Virus. Subjektiv besitzt er momentan Stadtgröße. In einer Woche könnte Daine sich bereits einen Kontinent erschaffen haben. Dann eine Welt, dann ein Universum, was auch immer. Wir könnten eine Armee anschließen und hineinschicken, und sie würden ihn nie finden. Es muß jetzt sein.« »Und es muß Susan Bishopric sein«, sagte Trefusis. »Wenn Sie erst einmal drin sind, sind Sie wahrscheinlich ebenso mächtig wie er. Sie sind ein TRÄUMER. Sie haben mehr Erfahrung als er. Wir glauben, daß Sie seinen TRAUM formen können, daß Sie den TRAUM um ihn herum in Stücke reißen können.« »Das wäre dann eine weitere Erfahrung auf Ihrer Liste, Direktor. Selbst Daine weiß nicht, wie es ist, Gottesmord zu begehen.« »Das ist genau die richtige Einstellung.« »Gott töten. Das hört sich gefährlich an.« Dr. Groóme überprüfte eine Liste. »Es gibt Risiken. Die wollen wir nicht verheimlichen. Es steht Ihnen frei, sich zu weigern.« 75
»Weil dies eine freie Gesellschaft ist, stimmt’s? Die Gunmint will nur mein Bestes?« Dr. Groóme senkte ihren Blick auf ihre Liste. Juliet drehte sich um und richtete ihr Haar. Direktor Trefusis hielt Susans durchdringendem Blick stand, bis sie ihre Augen abwandte. »In einer freien Gesellschaft ist es die Pflicht jedes Bürgers, seine Freiheit zu schützen. Die Gunmint kann sehr überzeugend sein.« Susan kehrte den Beamten den Rücken zu. Sie suchte nach einem Ausweg. Es gab keinen, aber sie hätte sich unwohl gefühlt, wenn sie nicht wenigstens danach gesucht hätte. Vor ihrem geistigen Auge ließ sie einen Nachrichtenclip vorbeiziehen. Da war Orin Tredway in einem purpurnen Smoking; er hielt eine Rodney-Statuette, und seine Lippen formten tiefempfundene Banalitäten. »Wie ihr alle wißt, kann Susie heute abend nicht bei uns sein, aber als ihr persönlicher Freund ist es mir eine Ehre, diesen Preis für sie entgegenzunehmen…« Susan erschauderte. Wie üblich war sie nicht in der Lage, den Unterschied zwischen Phantasie und Vorahnung zu erkennen. »Noch eine Frage«, sagte sie. »Ja?« »Wer liegt in dem anderen Tank?«
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TEIL II DER BARDE DES BOULEVARDS
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SIEBEN In Chinatown waren die Straßen schmaler, verstopft mit selbst zu dieser späten Stunde noch offenen Lebensmittelständen und geheimnisvollen Zelten. Ich hatte die Idee, daß ich mich dort eine Weile verstecken, vielleicht ausruhen oder vielleicht sogar eine Verbindung auftun könnte, die mich aus der Stadt herausbringen würde. Die Cops würden den Busbahnhof und den Bahnhof überwachen, aber vielleicht konnte ich mir durch Bestechung einen Platz auf einem der Seelenverkäufer nach Macao oder Shanghai beschaffen. Ich wußte, daß ich Geld hatte. Etwas vom Dschinn der Bank war an meinen Kleidern hängengeblieben. In einer Gasse neben dem Keye Luke Cabana pellte ich Geldscheine von meinem Trenchcoat und meinen Hosen. Ich besaß vierzig- oder fünfzigtausend in Hundertern. Die Geldscheine hatten keine fortlaufenden Nummern oder irgendeine andere der Markierungen, die mir in großer Bandbreite einfielen. Ich stopfte einen Schein in mein Schulterhalfter, eine Art As im Ärmel, das ich mit meiner Automatik nach unten drückte. Dann rollte ich den Rest zu einem faustgroßen Bündel auf, das ich in meine tiefste Tasche schob. In Chinatown war man vor den flinken Fingern der Taschendiebe nie ganz sicher, aber ich mußte es halt versuchen. »Ihnen lesen Zukunft, Mist’ Americano.« Ein tattriger alter Mann, der von einem Jungen mit einem riesigen Kulihut gestützt wurde, tastete sich mit seinem Stock die Gasse entlang. Sein Gesicht und seine Hände waren weiß und verrunzelt, doch alle Anzeichen extremen Alters endeten direkt unterhalb seines Kinns und 78
oberhalb seiner Handgelenke. Er hatte große leere Augenhöhlen, die mit Watte ausgestopft waren, einen spärlichen Fu-Manchu-Schnurrbart und einen langen grauen Zopf. Um seinen Hals hing ein Schild, bedeckt mit asiatischen Schriftzeichen und dem einsamen Versuch eines verständlichen Worts: BLIND. Ich hatte den Eindruck, er wäre ein verkleideter Europäer. Seine welke Klaue reckte sich vor und krallte sich an mein Revers. »Ihnen lesen Zukunft«, plapperte er. »Zukunft sehl gut. Chinesisches Mädchen elwaltet Sie in Badehaus. Sie velmißt Sie sehl fül lange Zeit. Viel Geld in den Steinen gehölen Ihnen. Viel gut ist Zukunft. Viel gut.« Ich drückte ihm einen Hunderter in die Hand, um ihn loszuwerden. Er hielt sich den Geldschein ans Ohr und raschelte damit. Sein Grinsen offenbarte mehrere geschwärzte Zähne. Er bebte vor Erregung. Ich erkannte meinen Fehler; er würde eine derartige Großzügigkeit nicht vergessen, und der Junge würde in der Lage sein, mich zu beschreiben. Ich sah es bereits vor mir, wie er mich ans Messer lieferte. »Viel Dank, Mist’ Americano, viel Dank.« Er flüsterte seinem jungen Helfer einen langen Sermon chinesischer Phrasen zu, und das Kind blickte zu mir auf. Seine Mandelaugen glänzten in einem von der Krempe beschatteten Gesicht. Der Hut nickte voller Dankbarkeit auf und ab. Ein lärmender Tumult machte mich auf die Patrouille aufmerksam, lange bevor sie die Gasse erreichte. Ich wich zurück, während der Wahrsager weiter zur Hauptstraße schlurfte. Händler brachen eilig ihre Stände ab und suchten das Weite, ihre Waren in voluminöse Ärmel gewickelt. Eine graue Guave rollte mir vor die Füße. Ich hob sie auf und biß herzhaft hinein. Sie schmeckte wie Pappe, doch es war Nahrung, und ich konnte mich nicht 79
erinnern, wann ich zum letztenmal gegessen hatte. Mit, wie ich hoffte, überzeugend gespielter Nonchalance schlenderte ich zum Eingang der Gasse, während ich einen weiteren Bissen von der ungenießbaren Frucht nahm. Ein verbeulter Model-T-Ford mit einem glänzenden aufmontierten Maschinengewehr und einer Phantasiefigur rumpelte die Straße hinunter und schob Menschen und Stände vor sich her. Ein chinesischer Offizier in einer Uniform, die mehr als reichlich mit polierten Gürteln, Streifen und bestückten Halftern ausgestattet war, stand im Beifahrersitz des Wagens aufrecht wie George Washington bei der Überquerung des Delaware und brüllte Befehle. Eine angebundene Ziege verschwand unter einem der Eisenfelgen-Räder, und das Fahrzeug ruckte, als das Tier zermalmt wurde. Der Offizier rettete sein Gleichgewicht, indem er sich an der Windschutzscheibe festhielt, ohne dabei jedoch auch nur für den Bruchteil einer Sekunde in seinem Gebrüll innezuhalten. Drei mißmutige Soldaten hockten auf dem Rücksitz und schauten gierig auf das Maschinengewehr, während ein fetter Zivilist in einem mit Drachen bedruckten Gewand den Chauffeur spielte. Der Wagen kam schließlich in den Überresten eines Seidenstands zum Stehen. Ein Gewirr von Schals hatte sich um eine Achse gewickelt. Der Offizier ohrfeigte den Fahrer mit einem Paar weißer Handschuhe und stieg aus. Ein einbeiniger Bettler mit einem Turban streckte ihm seine Schüssel entgegen, und der Offizier schlug sie ihm aus den Händen. Kleine Kinder machten sich gierig über die Münzen her, bevor das Geld in die Siele gespült wurde. Der Offizier packte den Bettler am Nacken und zerrte ihn hoch. Das fehlende Bein wurde sichtbar, und der Offizier schleuderte den Betrüger von sich, während er in irgendeinem Dialekt auf ihn 80
einschnatterte. Er zog einen seiner vielen Revolver und feuerte einen Schuß in die Luft. Der falsche Bettler rannte eilig davon. Sein Turban wickelte sich von seinem Kopf, während er ein ganz schönes Tempo vorlegte für jemanden, der es nicht gewohnt war, zwei Beine unter sich zu haben. Ich hielt mich im Schatten. Die Patrouille suchte vermutlich nicht nach mir – es gab zu viele Flüchtlinge in Chinatown, um sich auf einen einzigen zu konzentrieren –, doch sie würden mich nur zu gern festnehmen, wenn sie zufällig über mich stolpern sollten. Der Offizier bellte einen Befehl, und die Soldaten sprangen begeistert vom Wagen. Sie packten den blinden Wahrsager und schleuderten ihn brutal gegen die Wand eines chinesischen Tempels. Einer der Soldaten hielt seinen Kopf hoch und kratzte über sein Gesicht. Er zeigte dem Offizier eine Handvoll Theaterschminke und Latex, worauf dieser herübermarschiert kam und eine Frage stellte. Der Wahrsager, an dessen Gesicht noch immer die Hälfte seines Barts hing, schüttelte den Kopf, und der Offizier exekutierte ihn mit einem einzigen Schuß. Der Alte fiel nach hinten, und sein Kopf knallte auf den Schoß eines steinernen Buddhas. Ich warf den Kern der Guave weg und sah mich um. Eine kleine Gestalt sauste an mir vorbei in die Gasse und versuchte, sich zwischen meinen Rücken und die Wand hinter mir zu zwängen. Es war der Junge des Wahrsagers. Ich drehte mich um, um ihn wegzuschubsen, und sein Hut rutschte zwischen uns auf die Erde. Langes schwarzes Haar fiel wie eine Kaskade vom Kopf des Jungen. Er war ein Mädchen mit einem wunderschönen ovalen Gesicht. Anna May Wong. Ihre Augen blickten zu mir auf und flehten mich stumm an. Ich wußte, daß ich sie der Patrouille zum Fraß vorwerfen und mich schleunigst aus dem Staub machen sollte, aber sie rührte an meinen 81
schwachen Punkt. Witwen, Waisen, verlassene Kinder, kleine Hunde. Sie bringen mir nur Ärger. Ich lerne einfach nie dazu. Ich nahm sie in meine Arme, und wir küßten uns. Ich hielt ihre Handgelenke fest, damit ihre zarten Finger nicht an meine Taschen konnten. Ich verlor jeglichen Überblick über das, was außerhalb der Gasse geschah, bis der Offizier ihr mit seinem Revolver auf die Schulter tippte und dann damit vor meinem Gesicht herumfuchtelte. Das Mädchen löste sich von meinem Mund und preßte sich gegen meinen Körper. Der Offizier lächelte anzüglich und zeigte dabei schimmernde Silberzähne. An seiner Mütze hing mehr Zierat als an einem durchschnittlichen Zigeunerwagen, und auf seinem Rücken waren überkreuzt zwei Samurai-Schwerter festgemacht. »Ihre Papiere, bitte?« Ich tat so, als würde ich meine Taschen abklopfen, und versuchte dabei, wie ein völliger Cretin auszusehen. »Tut mir leid, General Yen, die muß ich wohl in meinem Hotel vergessen haben. Ich bin sicher, daß Sie das verstehen werden.« »Das ist sehr bedauerlich«, sagte er mit einem OxfordAkzent. »Wir behelligen unsere höchst willkommenen Gäste nur ungern, besonders wenn sie…«, er musterte Anna May von oben bis unten, so als würden seine Gedanken dringend eine gründliche chinesische Reinigung brauchen, »… andere dringende Angelegenheiten haben, um die sie sich kümmern müssen.« Die Soldaten wurden ungeduldig. Offenkundig wurden sie immer nervös, wenn sie nicht alle zehn Minuten jemanden erschießen durften. »Einen Moment mal«, sagte ich, »da gibt es eine Tasche, in der ich noch nicht nachgesehen habe.« Ich fischte meine 82
Geldscheinrolle hervor. »Ah ja, hier sind meine Papiere.« Ich zählte fünf Hunderter ab und reichte sie dem Offizier. »Ich hoffe, sie sind in Ordnung.« »Aber natürlich. Ein international anerkannter Ausweis. Ausgezeichnet. Dürfte ich auch noch Ihren Führerschein sehen?« Ich reichte ihm noch fünf Scheine. »Die Arbeitserlaubnis?« Mehr Scheine. »Die Geburtsurkunde?« Jetzt war nicht mehr viel übrig. »Der Einberufungsbescheid?« »Hier.« Ich gab ihm den ganzen Rest. »Und hier noch mein Pfadfinderabzeichen und einige Baseballkarten. Mehr hab ich nicht.« »Ausgezeichnet. Die sind alle in Ordnung.« Er rollte das Geld fest zusammen und stopfte es in eine der Taschen an seinem Sam-Browne-Gürtel. »Sie können nun getrost wieder Ihres Weges ziehen, Mr. …?« »Doe. John Doe.« »Mr. Doe. Möge Buddhas Segen Sie begleiten.« Er kehrte mir den Rücken zu und sprach auf chinesisch mit seinen Männern. Dann sagte er zu mir: »Einen schönen Abend noch.« Er stieg wieder in seinen Wagen und ohrfeigte abermals seinen Fahrer. Die Achse war mittlerweile von den Schals befreit worden. »Er hat ihnen befohlen, sie sollen eine Minute warten und uns dann erschießen«, flüsterte mir Anna May ins Ohr, »wie Hunde.« »Ach wirklich?« erwiderte ich. »Vielen Dank, 83
Schätzchen.« Ich gab dem am dümmsten aussehenden Soldaten ein Zeichen. »Entschuldigen Sie bitte, hätten Sie wohl eine Zigarette?« Er schüttelte den Kopf. Ich machte Rauchgesten und ging zu den anderen hinüber. »Zigaretten?« fragte ich, während ich heftig ins Leere paffte und mit einem imaginären Feuerzeug zündelte. Der Groschen fiel, und einer von ihnen grinste, klemmte sich sein Gewehr unter den Arm und griff unter seine Uniform. Ich packte sein Handgelenk und brach es, dann wirbelte ich ihn herum und hielt ihn vor mich. Ich hörte die Gewehre feuern. Glücklicherweise war mein Schutzschild recht stämmig; die Kugeln gingen nicht durch ihn durch. Ich schleuderte ihn auf die beiden anderen, und sie fielen zu Boden, wobei sie ziellos in die Luft schossen. Wenn sie Pistolen gehabt hätten, hätten sie besser zielen können. Der Offizier in seinem Wagen war viel zu weit entfernt, um mit seinem billigen Revolver einen sauberen Schuß setzen zu können. Trotzdem war der Mann ein verdammt guter Schütze. Ich warf mich hinter einen Handkarren und tauchte mit meiner Automatik in der Hand wieder hoch. Ich war nicht viel besser in dieser Art wirrem Feuergefecht als sie, aber ich schoß ein, zwei Löcher in die Windschutzscheibe des Wagens und nahm einen Soldaten aus der Zählung. Dann explodierte plötzlich der Bürgersteig drei Meter links von mir, und ein Erdbebenriß aus Steinsplittern bewegte sich auf den Karren zu. Der Lärm des Maschinengewehrs war ohrenbetäubend. Ich warf mich abermals aus der Schußlinie, während der hölzerne Karren zu einer abstrakten Skulptur zersplitterte. Kleine Splitter steckten vom Knie abwärts in meinem Bein. Ich feuerte in die ungefähre Richtung des Offiziers und verfehlte ihn. Ich sah, wie er irre grinste, während er 84
das Maschinengewehr mit beiden Händen bearbeitete. Leere Patronenhülsen flogen durch die Luft. Er schwenkte das Maschinengewehr auf der Lafette nach oben und hatte offensichtlich vor, mich mit der nächsten Salve in zwei Hälften zu teilen, als unvermittelt ein Messergriff in seiner Brust auftauchte, tief versenkt zwischen zwei überkreuzten Patronengurten. Er taumelte nach hinten und versuchte dabei hilflos, die schwarzen Flecken wegzuwischen, die aus seiner Wunde sickerten, dann fiel er vom Wagen. Seine Uniform war hinüber. Dem überlebenden Soldaten fiel der Unterkiefer herunter, und in der plötzlichen Stille plazierte ich einen Schuß dicht neben seinem Kopf. Der Soldat gab Fersengeld. Ich schaute hinter mich in die Gasse. Das Mädchen war dort und winkte mir liebevoll zu. Ihr Mantel stand offen, und ich sah den Gurt mit den Messern – von denen eins fehlte –, der schräg über ihre Brust geschlungen war. Warum hatte ich ihn vorher nicht gefühlt, als sie sich so leidenschaftlich an mich gepreßt hatte? Anna May knöpfte ihren Mantel zu und huschte davon. Flink wie ein Affe kletterte sie über die Mauer am Ende der Gasse und verschwand in der Nacht. Als ich schließlich den Offizier erreichte, hatten die streunenden Kinder ihn praktisch nackt ausgezogen. Seine Schwerter waren verschwunden, ebenso seine Stiefel, seine Mütze, seine Revolver und seine Gürtel. Mein Geld war natürlich auch verschwunden. Und auch das Wurfmesser des Mädchens. Zwei Bengel waren damit beschäftigt, das Maschinengewehr abzumontieren. Ein sechsjähriger Flüchtling von den kleinen Strolchen stand mit ernstem Gesicht neben dem Wagen. Seine zu langen Hosen stauchten sich wie eine Ziehharmonika auf seinen Schuhen, und mit beiden Händen umklammerte er den Revolver des Offiziers, mit dem er nun den fetten Fahrer 85
in Schach hielt. Das Maschinengewehr löste sich aus seiner Halterung, und die Kinder stolperten mit ihrer schweren Last davon, in der sicheren Überzeugung, dafür einen phantastischen Preis auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Der jugendliche Revolverheld rannte ihnen nach. Der fette Fahrer kicherte, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Die Wülste unter seiner Robe wackelten wie Götterspeise. Sein eiförmiger Körper bebte vor Fröhlichkeit, und der Wagen schaukelte hin und her. Er klatschte sich auf die Schenkel und wollte schier nicht mehr aufhören zu lachen. Ich ließ ihn zurück und machte mich zum nächsten Block auf. »Mist’ Americano…« Eine schwache Stimme, die gebrochen an mein Ohr drang. Sie kam von dem Wahrsager. Ich verstand nicht, wieso er noch am Leben war, aber ich ging trotzdem zu ihm. Sein Gesicht war ein grauenhafter Anblick, mit einem schwarzen Einschußloch und einem Gewirr von herabhängenden Latexfetzen. Er hatte seine runzelige Nase verloren, und eine glatte weiße Wange zeigte sich unter seiner faltigen Chinesenmaske. »Mr. Tunney«, keuchte er, während er seine zuckende Hand nach mir ausstreckte. »Mr. Tunney, vergessen Sie nicht, wer Sie sind. Es ist wichtig. Mr. …« Er sackte zurück auf den Buddha, abermals tot. Tunney. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor. Er war mir so vertraut wie mein eigener, aber mir wollte einfach kein passendes Gesicht dazu einfallen. Ein paar Assoziationen nagten an meinem Gehirn, der Fetzen eines Lieds (Beautiful Dreamer), ein Mädchenname (Lissa) und ein großer weißer Raum, der einem Krankenhaussaal ähnelte. Der Fahrer lachte immer noch. Der Boden von Chinatown war nun selbst mir zu heiß geworden. Ich schwor mir, daß ich niemals zurückkehren würde. 86
ACHT Der Barde schritt den Boulevard entlang. Er hatte seinen Umhang fest um sich geschlungen, und die Eisenspitze seines Stocks schlug Funken auf dem Bürgersteig. Er war vor einer Weile aus seinem wandelnden Tod erwacht, mitten in einem Zitat aus Coriolanus. Es war seine Gewohnheit, auf den Straßen der Stadt zu patrouillieren und das Shakespeare-Evangelium zu deklamieren, voller Inbrunst die großen Monologe zu rezitieren, immer in der Hoffnung, sich damit ein paar Drinks zu verdienen. In seiner Zeit war er ein Dichter, ein Prediger, Cowboy, Wissenschaftler, Abenteurer, Landstreicher gewesen. Nun war er der Barde des Boulevards. Er war in jeder Bar und in jedem Imbiß der Stadt bekannt und in den meisten auch geduldet. Wie alle anderen in der Stadt war auch er wie ein Toter gewesen. Sein Schöpfer hatte ihn wie ein Uhrwerk zusammengebaut und so eingestellt, daß er die Bewegungen des Lebens vollführte; tatsächlichen Lebenshauch hatte er ihm jedoch nicht geschenkt. Er war seinem Drehbuch gefolgt, hatte seinen stereotypen Zweck erfüllt, doch er hatte nie wirklich aus eigenem Antrieb heraus gehandelt. Er war eine der Nebenrollen der Stadt, ein harmloser Exzentriker. »Ihm fehlt zu einem Gölte nichts als die Ewigkeit und ein Himmel, darin zu thronen«, brüllte er Gail Rüssel zu, worauf das Mädchen verschreckt von der Straße flüchtete. Und das war auch gut so, denn ein junges Ding wie sie sollte nicht so spät noch auf derart scheußlichen Straßen unterwegs sein. Es traf ihn wie ein feuriger Blitz. Umgeben von 87
versklavten Automaten war er selbst ein freier Mann. Zum ersten Mal fühlte er den Regen auf seinem Gesicht, das Gewicht seines Stocks, das Gewicht seines durchnäßten Umhangs. Er blieb stehen und hielt im Rezitieren inne. Fast hätte er zu atmen aufgehört. So unvermittelt im völligen Besitz der Kontrolle über seine Lunge, rang er nach Luft, bis sein Körper die Aufgabe übernahm. Er klappte nach vorn und umklammerte seinen schmalen Brustkorb, dann richtete er sich mit einem Ruck zu voller Größe auf. Sein Herz schlug, und seine nassen Hände schmerzten. Es traf ihn wie eine Offenbarung. Klar und deutlich sah er vor sich, daß es in der Stadt einen Mann gab, der seine Hilfe benötigte, und daß dieser Mann – sein Name tat nichts zur Sache – alle befreien würde, so wie dieses Erwachen ihn befreit hatte. Im Bruchteil eines Augenblicks hatte er eine Entscheidung getroffen. Er würde diesen Mann suchen und ihm helfen. Die Stadt würde frei sein, ob sie das nun wollte oder nicht. Mit nie zuvor gekannter Entschlossenheit setzte er seinen Weg fort und wandte sich mit neugeborener Inbrunst wieder Coriolanus zu. Über ihm in der Nacht funkelten Augen.
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NEUN Thelma Ritter, die Frau hinter der Theke im Kelly’s, warf mir einen schrägen Blick zu, als ich die Doughnuts und den Kaffee mit einer triefnassen Hundertdollarnote bezahlte. Aber sie kratzte das Wechselgeld zusammen. Aus der Musicbox gurrten die Ink Spots ›Don’t Get Around Much Any More‹. Der Song erinnerte mich an meine Exfrau, nur daß die Band auf wehmütige Melancholie abzielte und meine Erinnerungen ein einziger Alptraum waren. »Wie möchten Sie Ihren Kaffee?« fragte Thelma mit einem Brooklyn-Krächzen in der Stimme. »Wie er kommt.« Sie kippte Kaffee in einen Becher und löste zwei Doughnuts von ihrem zuckerverkrusteten Ruheplatz unter Glas. Ich trank einen Schluck von dem schwarzen Gebräu. Ich konnte die Anspannung einfach nicht abschütteln. In einer Spelunke wie dieser so viel Geld zu zeigen, brachte einem nur zwei Dinge ein – einen Streifenbullen oder ein Flittchen. Die Doughnuts waren ganz in Ordnung, und der Kaffee half, den Nebel in meinem Gehirn zu lichten. Ich kaufte eine Schachtel Zigaretten und zündete mir eine an. Draußen auf der Straße fuhren ein paar Autos vorbei. Von meinem Barhocker aus konnte ich jeden sehen, der den Imbiß betrat. Ich betete, daß das Kelly’s kein beliebter Cop-Treffpunkt war. Für einige Minuten genoß ich beinahe völligen Frieden. Ich döste an der Theke vor mich hin. Der Gedanke an ein Bett war verlockend. Ich spielte ein wenig damit herum und stellte mir Kissen vor, die eine Prinzessin als zu weich zurückgewiesen hätte, einen ganzen Schrank voller 89
Decken, seidene Laken, eine Matratze, die mindestens einen Hektar groß war. Ich schreckte auf und blickte in mein Spiegelbild im Kaffeebecher. Ich war am Ende, aber ich konnte es nicht riskieren, in ein Motel oder auch nur in eine billige Absteige zu gehen. Man suchte überall nach mir. Ich sollte nicht einmal hier im Kelly’s sitzen. Aber hier war es warm, und es gab beruhigende Musik. Ich hatte einige Rätsel zu lösen. Wer hatte Truro Daine wirklich getötet? Was hatte dieser Tunney mit dem Fall zu tun? Er mußte wie ich aussehen. Diese Art DoppelgängerEffekt war in der Stadt nicht unüblich. Und warum hatte ich solchen Ärger? Seit ich das Monogram-Gebäude verlassen hatte, war es mir schon einige Male aufgefallen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich mich eine Idee schneller als alle anderen bewegen. Ich wußte, was Leute tun oder sagen würden – banale Dinge wie das Anzünden einer Zigarette oder eine Bemerkung über den Regen, wichtige Dinge wie das Begehen eines Mordes oder das Gründen einer Dynastie –, und es beunruhigte mich. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich diesen Film schon mal gesehen. Thelma, ausgezehrt und mit zuviel Lippenstift im Gesicht, schenkte mir noch mal nach. Ich trank abermals und verbrannte mir dabei absichtlich den Mund, um mich selbst aus dem Schlaf aufzuschrecken. »Mister…« Ich mußte mich wohl glücklich schätzen. Es war ein Flittchen, kein Cop. Eigentlich nur natürlich. Die Statistiken beweisen, daß es auf der Welt mehr Frauen als alles andere gibt, ausgenommen Insekten. Ich drehte mich halb zu ihr um. Eine Blondine in einem schwarzen Kleid. Auf ihrem Kopf hatte sie einen winzigen Hut mit einem kleinen Schleier. Das Kleid lag an den richtigen Stellen 90
eng an und glänzte an Stellen, wo es nicht hätte glänzen dürfen. Sie wird mich um Geld bitten, dachte ich bei mir. »Mister, haben Sie einen Dirne für die Musikbox?« Überzeugt, daß ich es noch bereuen würde, gab ich ihr eine Handvoll Kleingeld. »Danke, Mister.« Sie hatte eine hohe Stimme, beinahe so piepsig wie die von Mickey Mouse. »Ich heiße Glory. Eigentlich Gloria. Gloria Grahame. Aber ich mag Glory lieber. Wie in Glory Halleluja, verstehen Sie?« Sie lachte – ein künstliches, am Trommelfell kratzendes Quieken. Sie gefiel mir. »Richard.« Ich streckte meine Hand aus, und Gloria ergriff sie mit winzigen, schwarz behandschuhten Fingern. Der Hamburger-Wender am anderen Ende des Ladens schaute uns unglücklich an. Anscheinend brach ihm pünktlich zu jeder Stunde ein Stück von seinem Herzen. Genau wie mir. Er rückte sein Papierkäppi zurecht und wandte sich wieder seinem Herd zu. Die Tür ging auf, und jemand kam aus der Nacht herein. Ich erwartete den Tod in Uniform, doch es war nur Frank McHugh, ein schwabbelgesichtiger Lasterfahrer mit einer Stoffmütze. Er begann ein humorvolles Geplänkel, bei dem er einige flotte Sprüche mit Thelma austauschte. Ich konnte es mir leisten, diesen Teil des Films zu verpassen, und wandte mich wieder Gloria zu. Sie hatte eine Zigarette im Mund — eine von meinen, wie ich erkannte – und sah mich erwartungsvoll an. Schließlich räusperte sie sich. »Oh, tut mir leid.« Ich holte mein Feuerzeug hervor, und sie hielt abermals meine Hand, diesmal fester, um die Flamme zu führen. Sie zog, und die Zigarettenspitze glühte. Sie hielt meine Hand für einen Augenblick mit samtigen 91
Fingern fest, bevor sie sie wieder losließ. Sie lächelte mit ihrem vollippigen, verkniffenen Mund und blies einen verunglückten Rauchring in die Luft. »Sie haben ein interessantes Gesicht, Mister.« »Ist viel rumgekommen.« »Jaaaa. Rumgekommen.« Sie strich über meine Wange. »Sie sehen aus, als hätten sie ’ne schlimme Nacht hinter sich.« »Das könnte man sagen.« »Cops?« »Priester. Bing Crosby und Barry Fitzgerald haben mich besoffen gemacht und meine Brieftasche gestohlen. Dann hat Ingrid Bergman mich ein bißchen verprügelt, nur so zum Spaß. Ich vermute, ich hätte in der Sonntagsschule besser aufpassen sollen.« Gloria schaute verletzt drein. »Sparen Sie sich Ihre Witze, Mister. Ich wollte nur nett sein.« Sie zog nervös an ihrer Zigarette. Sie war genau die Sorte Frau, die pausenlos für etwas bestraft wurde, was sie nicht getan hatte. »Wir Nachtmenschen müssen aufeinander achtgeben.« »Nachtmenschen?« »Ja. Sie sind ein Nachtmensch, genau wie ich. Das sieht man doch auf den ersten Blick. Vorhin waren zwei irische Jungen hier, in Uniform, zurück aus dem Krieg.« Sie versuchte angestrengt, sich zu erinnern, und mir wurde klar, daß sie zwei Gin zuviel getrunken hatte. »Robert Ryan und Robert Mitchum. Stellen Sie sich das mal vor, zwei Freunde mit demselben Namen. Die hatten denselben Blick wie Sie, diesen Nachtmenschenblick. Ich hab sie nach dem Krieg gefragt, und sie sagten, er war in Ordnung, aber man konnte an ihren Augen sehen, daß sie 92
es nicht wirklich meinten. Viele der Tagmenschen ziehen in den Krieg und kehren als Nachtmenschen zurück. Wie dieser Junge, der früher immer hergekommen ist – ich glaube, ich war mal mit ihm verheiratet –, Dick Powell. Er hat als Tagmensch angefangen und ist in all diesen großen Musical-Shows aufgetreten, die sie früher hatten. Jetzt machen sie so was nicht mehr. Sie wissen schon, was ich meine, mit Tausenden von Mädchen in Bananenkostümen; jetzt hängen sie nur noch Tausende von Bananen an ein Mädchen. Dick war der tagigste Tagmensch, den man sich vorstellen kann, mit glänzendem Haar, breitem Lächeln, Grübchen und einer hohen Tenorstimme. Nun ja, der Krieg kam, und Dick verwandelte sich in einen Nachtmenschen, hat sich einen Job als Privatschnüffler oder Nachtredakteur oder so was gesucht. Jetzt rasiert er sich bloß noch jeden zweiten Abend, trägt eine Wumme und singt nicht mehr. Tja, und ich bin auch ein Nachtmensch, solange ich nur denken kann.« »Wie wird man ein Tagmensch?« »Vergessen Sie’s. Es funktioniert nicht. Man muß einfach damit leben.« Sie lächelte, diesmal anzüglich, und beugte sich vor. Ihr Kleid verrutschte ein Stück und entblößte fünf, sechs Zentimeter ihres Busens. »Es gibt Dinge, die Nachtmenschen besser können, Richard. Als Ausgleich.« Ihre Wimpern klimperten, und sie drückte ihre Zigarette auf meinem leeren Teller aus. »Ich wohne zwei Blocks weiter«, sagte sie. »Es ist spät.« Ich schaute hinauf zur Uhr. Es war halb drei. Ich schaute wieder zu Gloria. Sie zog eine schmal gezupfte Augenbraue hoch. Wir verstanden einander. In ihrer Wohnung würde es ein Bett geben. Im Moment war das der beste Weg, mich rumzukriegen. Geld, Drohungen, Drogen: All das würde nichts fruchten. Ein Bett jedoch 93
war unwiderstehlich. Für acht Stunden Schlaf würde ich Gott umlegen und es Jesus in die Schuhe schieben. »Darf ich Sie nach Hause bringen?« »Würden Sie das tun?« Irgendwie sah sie melancholisch aus. »Es wäre mir eine Ehre. Kommt nicht mehr häufig vor, daß man nachts einem Gentleman begegnet. Nicht, seit Krieg ist.« Der Koch klatschte einen Klumpen rohen Knorpel auf seinen Grill und drückte ihn mit einem Pfannenwender platt, bis er auf der einen Seite zu Holzkohle verbrannt war. »Gute Nacht, Gloria«, sagte er, während er das Ding wendete und die andere Seite verbrannte. Sie rümpfte die Nase und ignorierte ihn. Sie ergriff meinen Arm. Ihre Finger bohrten sich durch mehrere Lagen Kleidung, als wollten sie bis zum Knochen vordringen. Als wir zur Tür gingen, legte sie ihren Kopf an meine Schulter. Die Tür ging auf, und drei Männer kamen herein. Gloria erkannte sie und wich zurück. Der jüngste der drei, ein Schläger mit vorzeitig grauen Haaren und toten Augen, schenkte ihr ein Haifischlächeln. »Hallo, Gloria, schon auf dem Weg nach Hause?« »Lee… Ich dachte, du würdest heute nacht Poker spielen.« Ich hörte ein Beben in ihrer Stimme und hatte abermals das Gefühl, als würde es gleich ziemlich hoch hergehen. Auch ich erkannte die drei. Ich hatte Bilder von ihnen gesehen. Der Bursche mit den weißen Haaren war Lee Marvin, achtundzwanzig Festnahmen, keine Verurteilungen. Er stand im Syndikat ganz oben, was ihn in Verbindung mit Truro Daine brachte. Die anderen beiden waren kleine Fische, Jack Elam und Neville Brand, aber sie hätten sich über Platz eins und zwei bei einem 94
Häßlichkeitswettbewerb streiten können. Ich hatte für eine Nacht genug Schmerz und Blut gesehen. Ich bemerkte, wie Thelma alles Zerbrechliche von der Theke räumte. Frank McHugh stürzte den letzten Rest seines Kaffees hinunter und eilte zur Tür, wobei er einen Teller mit Schinkenspeck und Rührei auf dem Tisch zurückließ. Jack Elam schloß hinter ihm die Tür und drehte das OPEN-Schild zu CLOSED herum. »Bitte, Jungs«, sagte der Koch, »ich will hier keinen Ärger haben.« »Es gibt keinen Ärger, Kelly.« Marvin grinste. Ich ballte meine Hände in den Taschen. Er hatte mir einiges an Gewicht voraus, und er war nicht so erschöpft wie ich. Außerdem hatte er King Kongs uneheliche Kinder mitgebracht. Ich würde zu Brei geschlagen werden. Wieder einmal. Es wurde langsam langweilig. »Kaffee, Gräfin…« Thelma nahm eine volle Kanne von der Warmhalteplatte und holte ein paar Tassen heraus. Doch bevor sie einschenken konnte, nahm Lee ihr den Kaffee weg. Er brodelte und dampfte wie ätzende Säure. Gott allein wußte, was er im Inneren eines menschlichen Magens anrichten konnte. Oder in einem menschlichen Gesicht. »Wer ist denn der hübsche Junge, Gloria?« »Ich… ich habe ihn eben erst kennengelernt, Lee. Er wollte mich nach Hause bringen, um mich zu beschützen. Es ist spät.« Das hätte sie nicht sagen sollen. Marvin kniff die Lippen zusammen, und seine Finger schlossen sich noch fester um den Kannengriff. Er klappte den Deckel mit seinem Daumen auf und zu. Es sah aus wie eine hungrige 95
fleischfressende Pflanze. Der Kaffee roch wie brennendes Öl. Er mochte dieses Jahr gekocht worden sein, aber ich bezweifelte das. »Was hast du vor, Großer?« fragte ich. »Willst du die Farbe von einem Zerstörer dampfen?« Die Tür ging abermals auf und traf Elam im Kreuz. Ein hochgewachsener, hagerer Mann in einem Umhang fegte herein. Seine langen Glieder sahen bei jedem Schritt aus wie die auf- und zuschnappenden Flügel einer Schere. »Welch Land ist dies, ihr Freunde?« donnerte er, und jedes Stück Geschirr im Laden klirrte. »Bringt mir flüssige Speise, denn ich bedarf Eures stärksten Mokkas, Schankwirt…« Marvin sackte der Unterkiefer herunter, als er sich umdrehte, um einen Blick auf den Neuankömmling zu werfen. Mit einem seitlichen Peitschenhieb seines Umhangs stürmte der Hagere an Neville Brand vorbei zum Tresen. »Dies ist der Stoff, aus dem die Träume meines Gaumens gemacht sind, Kelly. Ihr braut einen gar mächtigen Trank, dessen Ruhmeslied im ganzen Land gesungen wird.« Der Ringbeschlag seines Gehstocks berührte die Kaffeekanne und zerbrach sie. Marvin schrie wie ein Kojote mit Bauchschuß, als die dunkle, kochende Flüssigkeit durch die Vorderseite seines Hemds und seiner Hosen drang und seinen Bauch und seinen Unterleib mit einem schwarzen Fleck überzog. Marvin schleuderte den nunmehr nutzlosen Kannengriff von sich und fing an, mit klauengleichen Händen an seinen Kleidern zu zerren, während er mit rauher Stimme Flüche ausstieß, die man so geballt nur selten hörte. »Verdammt! Zur Hölle! Du verfluchter Hurensohn…« »Tausendfach gilt Euch meine Entschuldigung, mon 96
brave.« Der hochgewachsene Mann zog seinen Schlapphut und verneigte sich tief. »Es war mein böser Wille nicht. Gewiß, mein Fürst, werd ich ohn’ Zögern Eure Kaffeekann’ ersetzen. Erlaubt mir, zum Zeichen meiner Unterwürfigkeit Euch allen ein frisches Bräu zu erstehen.« Marvin sah ihn mit offenem Mund an. Ich konnte mir seine Schmerzen vorstellen. Unter seinem Anzug mußte er wie ein frisch gekochter Hummer leuchten. Bei dem Gedanken wurde es mir warm ums Herz. Die beiden anderen halfen ihm hoch. »Holt mir einen Arzt«, keuchte er. »Verdammt noch mal. Diese verfluchten Schmerzen…« »Ihr rührt mich zutiefst, Sir«, erklärte der hochgewachsene Mann und trat vor, um seine Hand anzubieten, wobei er aus Versehen auf Marvins Zehen trat. »Ganz unerträglich, unausstehlich, schlecht! Was für ein Trampel ich doch bin! Mich dünkt, am heut’gen Abend vermag ich keinen Dienst zum Wohlgefallen auszuführen.« »Oh, du… Gloria, bring mich zum Blair Hospital… ich werde mich später um diesen Clown kümmern.« Zaudernd trat Gloria hinter mir hervor. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich muß gehen. Vielen Dank, Mister. Ich will keinen Ärger. Gute Nacht.« Sie küßte mich auf die Wange und folgte den dreien hinaus auf die Straße. Ihre Strumpfnähte saßen nicht gerade. »So süß sind Trennungsschmerzen, mein junger Freund. Wappne dein Herz, gürte dein Gemachte und laß dir den Beistand tapfrer Recken wie Kelly und meiner selbst zum Troste gereichen…« Der hochgewachsene Mann setzte schwungvoll seinen Hut wieder auf. Er hatte schulterlange Haare und einen 97
dunklen Buffalo-Bill-Schnurrbart. »John Carradine«, stellte er sich vor, »zu Euren Diensten. Man nennt mich den Barden des Boulevards, ob meiner Verehrung für die unsterblichen Werke des großen Will Shakespeare. Ho, Meister Graubart«, brüllte er zu Kelly hinüber, »kommt und füllet diesen Becher, oder brandmarkt mich als weißlebrige Memme.« Er klopfte mit einer dürren, knochigen Hand auf die Theke, und Thelma zauberte von irgendwoher eine weitere Kaffeekanne hervor. »Da kommt sie, wie der Frühling angetan. Eine holde Prinzessin, deren Haut so weiß, daß der Schnee der arktischen Regionen erröten würde, deren Haar so strahlend, daß die Helena selbst den Biß der neid’schen Schlange an ihrem Busen spürt…« »Genug geschwatzt«, gab Thelma zurück, »trinken Sie Ihren Kaffee.« Sie schenkte zwei Becher ein, wobei sie ein wenig verschüttete. Carradine ließ ein paar Münzen – Dukaten, wie ich glaubte – in die Pfütze fallen und scheuchte die Frau mit einem Winken davon. Sie knurrte und kehrte an ihren Stapel mit Illustrierten zurück. Auf dem Titelbild von Fortune lächelte ein Tagmensch und präsentierte dabei Zähne, die wie Sterne strahlten. Ich nahm auf einem Barhocker neben Carradine Platz und trank einen Schluck von dem Kaffee. Auf die eine oder andere Art hatte ich heute nacht eine ganze Menge getrunken, aber ich mußte mir nicht die Nase pudern gehen. Außerdem schien sowieso keine der Örtlichkeiten, die ich besucht hatte, eine Herrentoilette zu besitzen. Carradine legte kameradschaftlich einen Arm um meine Schultern. »Unser Treffen steht unter einem günst’gen Stern, Waffenbruder. Lang durchstreifte ich die finsteren Viertel 98
dieser Stadt auf der fruchtlosen Suche nach Euch. Von Hafen zu Palast führte mich mein Weg, und ich traf der Kavaliere und Ungeheuer viele. Mein treues Schwert…«, er klopfte auf seinen Stock, »… schlug wacker manchen Finsterling in lustvollem Kampfe. Oh, wer kann Feu’r dadurch in Händen halten, daß er den frost’gen Kaukasus sich denkt? Und wer des Hungers gier’gen Stachel dämpfen durch bloße Einbildung von einem Mahl? Kelly, Spiegeleier, nicht zu scharf gebraten, s’il vous plait!« »Sie haben nach mir gesucht?« »Das habe ich, teurer Vetter. Allerortens preist man Euren Namen, Meister Quick, da Ihr des Teufels Statthalter bezwangt.« »Daine.« »Denselben. Wie wünscht’ ich, es wäre meine Hand gewesen, die des Tyrannen Kopf vom Rest seines arglistigen Kadavers trennte!« Thelma schenkte uns beiden kopfschüttelnd nach. Kelly brachte einen Teller voll mit etwas, das als Eier durchgehen konnte, und Carradine machte sich mit einer Gabel darüber her. »Ich fürchte, ich habe Daine nicht getötet.« »Grämt Euch nicht. Es zählt allein die noble Absicht. Die macht zum Helden Euch, hoch erhoben über der gemeinen Menschenschar. Seid meiner Bundestreu’ ewiglich versichert.« »Einen Moment mal. Sie mochten Daine nicht?« Carradine spuckte vielsagend aus. »Ich dachte, er wäre ziemlich beliebt in der Stadt hier – wie ein König oder so was.« »Was wir Abfall nennen, war’, mag Seid’ es auch umhüllen, ganz so widerlich von Gestank, mein Freund. 99
Vor langer Zeit schon gelobte ich, mit Herz und Schwert einem jeglichen zu dienen, der diese Stadt von Daines verfluchter Tyrannei befreit. Einige – zu wenige – haben es gewagt. Junker Bogart war einer von ihnen, Glenn Ford ein anderer. Ihre Köpfe zierten Lanzen, auf daß die Plebejerhunde sich knurrend und schnappend an ihnen ergötzen konnten.« »Ich habe schlechte Nachrichten für Sie, John«, sagte ich. »Ich hatte mittlerweile Zeit zum Nachdenken. Wenn Daine wirklich tot ist, dann hat jemand seinen Platz eingenommen. Jemand, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schlimmer ist als er.« »Sagt so was nicht!« »Am Zustand der Stadt hat sich kein bißchen was geändert, stimmt’s? Männer wie Lee Marvin und Jack Elam regieren noch immer die Straßen. In allen Gossen sterben Menschen.« »Was seht Ihr sonst im dunklen Hintergrund und Schoß der Zeit?« »Es gibt einen neuen Nachtbürgermeister. Es muß einen neuen geben. Claude Rains oder Sydney Greenstreet oder sonst einen dieser Edelschurken. Sie haben Daine umgelegt und es mir untergeschoben.« »Unter faulen Äpfeln ist nicht gut wählen. O hydraköpf’ge Falschheit, die zwiefach doch von neuem sich erhebt, obschon sie längst vernichtet schien!« »Da haben Sie ein wahres Wort gelassen ausgesprochen.« Ein weiterer großer schwarzer Wagen fuhr langsam draußen vorbei. Eine Tür öffnete sich, und ein Mann mit einem Hut beugte sich heraus, einen Fuß auf dem Trittbrett. Ich hatte mich auf den Boden geworfen, bevor das Maschinengewehr losging. Die Schaufenster 100
zersplitterten, und die Theke platzte auf, wo die Kugeln einschlugen. Glassplitter und Doughnuts regneten auf mich herab. Carradine lag weder tot noch lebend auf dem Boden. Ich blickte nach oben und sah ihn an einem Rohr hängen, das sich dicht unter der Decke über die ganze Länge einer Wand zog. Er hatte seine langen Beine um das Rohr gewickelt und klammerte sich mit den Händen an eine herabbaumelnde Lampenfassung. Sein Cape hing wie ein Vorhang herunter, und durch die Schußlöcher darin konnte ich die Straßenlaternen sehen. Das Maschinengewehrfeuer ging weiter, und Zuckerdosen und Ketchupflaschen zersprangen auf den Tischen. Das Linoleum riß auf, und etwas Schweres landete auf meinem Hinterkopf. Dunkelheit umschlang mich wie eine Anaconda. Ich ergab mich ihr.
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ZEHN Nach dem Tunney-Fiasko taten sie nichts, ohne es vorher den ganzen Institutionenweg durchlaufen zu lassen. In Trefusis’ Büro führte der Gefängnisdirektor den Vorsitz bei einer Diskussionsrunde mit Dr. Groóme, Juliet, einem stummen Vertreter der Behörde für Zwangsverpflichtungen und einem anscheinend leblosen AndrewKopf, der Yggdrasil repräsentierte. Tunney war einfach in seine Richie-Quick-Projektion geschlüpft und intraum gegangen, in Erwartung eines kurzen Rennens auf der Klischeebahn mit einem vorbestimmten Sieg am Ende. Da er mittlerweile nicht einmal mehr auf die in seinem Unterbewußtsein verankerten Enzephalo-Signalsonden reagierte, war Trefusis nicht bereit, Susan einzuspeisen, ohne daß sie zuvor detailliert erklärte, wie sie plante, mit Daines TRAUM zu verschmelzen. Mit einer gewissen unheimlichen Ehrfurcht gegenüber dem stummen Kopf auf seinem Tablett eröffnete der Gefängnisdirektor die Sitzung, indem er einen Tridvidrecorder einschaltete und dann das Wort an Dr. Groóme gab. Die Ärztin – ganz offenkundig ungeübt im Umgang mit den Künsten, aber dennoch entschlossen, ihr Bestes zu geben – hatte eine Auswahl von Vidausschnitten aus den von Daine benutzten Flattys vorbereitet. »Ausgehend davon, daß Sie, anders als Tunney, nicht über eine schon gebrauchsfertige TRAUMrolle für diesen Auftrag verfügen, dachten wir uns, daß Sie vielleicht eins dieser möglichen Rollenmodelle übernehmen möchten.« Clips liefen über den Schirm. »Im Vergleich fanden wir, daß dies die kraftvollsten, wirkungsvollsten Frauenbilder sind, die sich anbieten. Ich 102
verlasse mich hierbei in hohem Maße auf Yggdrasils Einschätzung.« Dr. Groóme zeigte kurze Ausschnitte mit einer Reihe von heimtückischen, wunderschönen femmes fatales. Barbara Stanwyck in Frau ohne Gewissen, Joan Bennett in Straße der Versuchung, Mary Astor in Die Spur des Falken und Lauren Bacall in Tote schlafen fest. Ihre vollen Lippen bewegten sich, doch die Ausschnitte hielten den gesprochenen Dialog auf einem nicht hörbaren Pegel. Alle von ihnen belogen Männer und trafen dennoch Liebhaber jenseits der Leinwand mitten ins Herz. Sie erinnerten Susan an wunderschöne, giftige Seeanemonen, die ihre Wedel schwenkten, um unachtsame Beute anzulocken. Susan war versucht, ihr TRAUMbild zu ›Phyllis Dietrichsen‹ aus Frau ohne Gewissen umzuformen, die ihren von Kettchen gezierten Knöchel zeigte und Männer wie Kleenextücher verbrauchte; oder zu ›Vivian Sternwood‹ aus Tote schlafen fest, die ihre Haargardine zur Seite strich und über eine Zigarette hinweg Zweideutigkeiten mit Philip Marlowe austauschte. Doch Susan sah auch die Nachteile. »Mh-hm. Ich habe diese Filme gesehen, Dr. Groóme. Damals war es gefährlich, gefährlich zu sein. Nur Lauren Bacall bekommt am Ende ihren Mann, und sie muß sich unterwerfen, um das zu erreichen. Barbara wird von Fred MacMurray erschossen, Joan wird von Edward G. Robinson entsorgt, und Bogart schaut zu, wie man Mary Astor ins Gefängnis schleppt. Wenn Daines TRAUM sich an die Genrekonventionen hält, dann bedeutet das ein inakzeptables Risiko für mich.« »Aber wenn Sie im TRAUM getötet werden, tut es nicht weh«, warf Trefusis ein. »Sie wachen einfach auf.« »Das ist nur eine Theorie, Direktor. Bislang hat es noch 103
niemand getestet. Außerdem, was ist, wenn ich die Handlung von Die Spur des Falken bekomme? Ich habe bemerkt, daß Daine Frauengefängnis und Zelle R17 auf seiner Empfehlungsliste hatte. Ich glaube nicht, daß die Gefängnisse in seinem TRAUM ganz so zivilisiert sind wie das Ihre hier.« Auf dem Schirm starb Barbara Stanwyck gerade einen schönen Tod, während Regen auf ihr Gesicht fiel. Auf dem Soundtrack erklang ›Tangerine‹. »Hier ist eine weitere wiederkehrende Charakterisierung…« Dr. Groóme rief die Bilder von Ida Lupino in High Sierra, Shelley Winters in Ein Doppelleben und Gloria Grahame in Im Kreuzfeuer auf. Sie sahen alle ordinär, überschminkt und verzweifelt aus, gefangen im Kampf gegen ein Leben, das es darauf abgesehen hatte, sie in den Tanzsaalboden zu stampfen, gegen eine Reihe von nichtsnutzigen Liebhabern, die etwas zu freizügig mit ihren Fäusten und ihren Pistolen waren, und gegen eine beginnende Korpulenz, die ihre spätere Karriere auf schrille Mutterrollen limitieren würde. Susan bemerkte, wie der noch immer stumme Stellvertreter Interesse zeigte. Offensichtlich konnte sie mühelos einem Tridschnappschuß von seinen Phantasien über Weiblichkeit bekommen. »Die Hure mit einem Herz aus Gold. Als Nebendarstellerin ist es vielleicht einfacher, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.« Susan schüttelte den Kopf. »O nein, Doktor. Diese Frauen waren zum Wegwerfen bestimmt. Ich habe eine Sozial-Autopsie über diese Konventionen verfertigt. Das hing alles mit den strikten Zensurauflagen der vierziger Jahre zusammen. Da angedeutet wurde, daß diese Mädchen einer großen Anzahl von Männern sexuell verfügbar waren, durfte der Held nach der Schlußabblende 104
nicht mit ihnen leben. Ihr typisches Ende war es, in den Rücken geschossen zu werden, wenn sie sich schützend vor den Helden warfen, um dann tragisch in seinen Armen zu sterben. Er blendete dann in ein Happy-End mit irgendeinem Mauerblümchen wie Anne Shirley über.« Trefusis riß theatralisch die Hände hoch. »Ich verstehe das alles nicht. Warum ist das alles bloß so verdammt kompliziert?« »Sexismus«, erwiderte Susan. »Das ist ein Wort, das heute nur noch selten gebraucht wird. Im zwanzigsten Jahrhundert bedeutete es, daß Frauen im Leben und in den Künsten nichts zu erwarten hatten. Diese Flattys wurden hauptsächlich von Männern für Männer gemacht und bedienen sich männlicher Phantasien. Sie sind fixiert auf ihre männlichen Helden. Frauen sind nur schmückendes Beiwerk. Und je stärker sie waren, desto schlechter ging es am Ende für sie aus. Barbara Stanwyck hat ihre ganze Karriere mit Leiden und Sterben zugebracht, nur weil die Träumerschaft es nicht ertragen konnte, daß eine Frau ihr Schicksal in die eigenen Hände nahm.« »Das ist lange her«, bemerkte Juliet, die bislang schweigend dabeigesessen hatte. »Nicht lange genug«, schnaubte der Gefängnisdirektor. Susan schaute zum Schirm hoch, wo Gloria Grahame gerade in Heißes Eisen eine kochende Kanne Kaffee ins Gesicht bekam. Später im Film würde sie sterben und dabei einen Nerz gegen die vernarbte Hälfte ihres Gesichts pressen. Ausgenutzt, mißhandelt und ermordet. Vielleicht war Vanessa Vaildoch gar keine so schlechte Phantasie: Sie mochte sterben, aber wenigstens war sie eine selbstbestimmte Frau. »Hat einer von Ihnen sich je die Mühe gemacht, Tunneys TRÄUME zu träumen?« Alle schüttelten den 105
Kopf. »Er wäre jetzt vielleicht hier, wenn Sie es getan hätten. Seine persönliche Verstrickung mit dieser Periode und ihren Phantasien war offensichtlich. Er hat ganze Konzepte, Figuren und Stimmungen aus den Flattys entnommen. Seine morbide Neigung zu diesen alten Konventionen darf man wohl als ziemlich ungesund ansehen. Ich vermute, er hätte Frauen am liebsten wieder in der Rolle gesehen, die sie im zwanzigsten Jahrhundert innehatten. Er hat sie jedenfalls so GETRÄUMT. In Richie Quick auf heißer Spur wird der Held von seiner Exfrau Lola beauftragt, irgendwelche verschwundenen Dokumente zu finden, doch es stellt sich heraus, daß sie ihm eine Falle gestellt hat, um ihm die Schuld an einer Serie von Axtmorden in die Schuhe zu schieben, die sie seit ihrem sechsten Lebensjahr begangen hat. Am Ende ist man in Richie Quicks Kopf, während er die Frau zu Tode tritt, nachdem sie sich mit einem Beil auf ihn gestürzt hat. Und die Krix sagten, daß die Fortsetzungen noch schlimmer wären. Er hat die Krimi-Konzepte zu Müll verstümmelt, weil am Ende immer dieses weibliche Monster hinter dem Plan steht, den Helden zu entsorgen. Kein Wunder, daß Tunney für Daines TRAUM so empfänglich war. Er ist dort jetzt wahrscheinlich glücklich und zufrieden.« Der Kopf machte den Eindruck, als wollte er etwas sagen, doch er tat es nicht. Auf dem Schirm erdrosselte Ronald Colman gerade Shelley Winters, während er aus Othello zitierte. Er deklamierte hehre Kunst, und sie endete im Kühlfach des Leichenschauhauses. »Wir haben bisher nur eine vorläufige Psycho-Analyse von Daine«, sagte Trefusis, »aber die YggdrasilUntersuchungen lassen vermuten, daß er ähnliche – wenn auch weit ausgeprägtere – Persönlichkeitsdeformationen 106
besaß. Und Daines neurale Dysfunktionen haben seinen TRAUM ebensostark geprägt wie die Externa, die er aus seinen alten Vids entliehen hat.« »Sehr schlau. Daine und Tunney sind vermutlich Seelenverwandte. Wahrscheinlich muß ich erst Richie Quick entsorgen, bevor ich an Ihren vermißten Gefangenen rankomme.« »Also«, sagte Juliet, »wenn Tunney oder Richie Quick in jedem seiner Abenteuer von einer heimtückischen Frau hinters Licht geführt werden kann, dann verstehe ich nicht, warum Sie seine Schwäche nicht ausnutzen sollten.« »Gute Idee. Ich muß nur schnell austraum gehen, bevor die Szene mit den Tritten kommt.« »Nun, Ms. Bishopric«, warf Dr. Groóme ein, »wenn Sie keine der Rollen annehmen wollen, die wir ausgewählt haben, was wollen Sie dann in dem TRAUM sein?« »Mir bleibt keine große Wahl. Insbesondere, weil Tunney es schon als Privatdetektiv versucht hat. Den Gesetzen des Genres nach sollte ihn das unangreifbar gemacht haben. Privatdetektive gehen am Ende immer als Sieger hervor.« Auf dem Schirm präsentierte eine wahllose Zusammenstellung von Ausschnitten eine Serie von Verrat und Mord. Die Filme wurden via einer Tridvideinblendung in der linken unteren Ecke identifiziert. Ralph Meeker zerbrach in Rattennest die unbezahlbare Caruso-Platte eines alten Mannes; Richard Conte folterte Cornel Wilde in Geheimring 99, indem er ein Hörgerät auf volle Lautstärke drehte und hineinbrüllte; Ingrid Bergman trank in Berüchtigt vergifteten brasilianischen Kaffee; Charles Laughton fiel in Spiel mit dem Tode in einen Aufzugschacht; Orson Welles und Rita Hayworth lieferten sich in Die Lady von Shanghai ein 107
letztes Duell in einem Spiegelkabinett; Edmond O’Brien schleppte sich in Opfer der Unterwelt in ein Polizeirevier, um den Mord an sich selbst zu melden; Tony Curtis wurde in Dein Schicksal in meiner Hand brutal von einem korrupten Cop verprügelt; Laurence Harvey sprang in Botschafter der Angst in den See. Es war eine kranke Ära gewesen, entschied Susan, so monomanisch in ihrer Obsession mit Gewalt, wie die Blut-und-SodomieKonzepte des D-9000. Kein Wunder, daß Daine sich so stark davon angezogen fühlte. Für einen Meister des Verbrechens mußte es wie das Goldene Zeitalter anmuten. Damals waren die Menschen so lächerlich verletzlich gewesen, eine leichte Beute für Krankheit und Täuschung. Innerhalb des Schwarzweißmassakers hatte jemand einen Fehler gemacht; plötzlich waren in leuchtendem Technicolor Doris Day und James Garner in Eine zuviel im Bett zu sehen. »Es ist nicht viel, aber wie war’s mit einem Konstrukt? Irgend etwas zwischen Gene Tierney in Laura und Ella Raines in Zeuge gesucht?« »Da kann ich nicht folgen«, sagte Dr. Groóme. »Ehrlich gesagt kenne ich mich mit diesen Vids nicht aus.« »Nun, wir könnten die Zensur für uns arbeiten lassen. Wenn ich eine zweifelsfrei tugendhafte Figur spielen würde, dann diktiert das Klischee, daß mir wenigstens Tod, Gefängnis oder Erniedrigung erspart bleiben. Ich könnte ein hart arbeitendes, berufstätiges Mädchen sein, das in einen Mordfall verwickelt wird und auf eigene Faust Nachforschungen anstellt, um ihren Verlobten vom Mordverdacht zu befreien. So etwas findet sich alle Nase lang. Verlobte waren in diesen Flattys immer Schlaffies mit schmalen Schnurrbärten, die wegen eines Mordes verhaftet wurden, den sie nicht begangen hatten. Das war im Grunde die einzige Möglichkeit, wie ein Mädchen 108
gleichberechtigte Handlungszeit bekommen konnte, nämlich wenn ihr Freund hinter Gittern saß.« Dr. Groóme fingerte am Slab herum, und Ella Raines erschien auf dem Schirm, wie sie nachts allein über einen verlassenen Bahnsteig ging. Dann überraschte Gene Tierney, die unvermittelt mit einem lächerlichen Hut auf dem Kopf aus der Nacht auftauchte, Dana Andrews, den Cop, der glaubte, den Mord an ihr zu untersuchen. Die Ärztin blickte zu Trefusis, um seine Zustimmung zu bekommen, und der Gefängnisdirektor nickte. Niemand fragte den Vertreter des Öffentlichen Dienstes irgend etwas, und Yggdrasil hätte sich schon zu Wort gemeldet, wenn er irgendwelche starken Bedenken gehabt hätte. »Susan«, fragte Juliet, »könnten Sie jemanden erschießen?« »In einem TRAUM, natürlich. Wie ich schon sagte, in TRÄUMEN habe ich beinahe alles Vorstellbare getan. Und hierbei handelt es sich ja schließlich nur um einen TRAUM.« »Genau das hat Tunney auch gesagt, und Sie wissen ja, was mit ihm passiert ist.« Zum ersten Mal intuierte Susan, daß sie aus diesem Öffentlichen Dienst aussteigen konnte, wenn sie sich wirklich stark machte. Juliet, die die Gunmint repräsentierte, könnte Trefusis und seinen Stab überstimmen, wenn es zu einer Machtdemonstration kam. Und die professionelle Gesetzeshüterin war deutlich erkennbar dagegen, den Verstand von Zivilisten wegen eines Problems zu gefährden, das ihrer Ansicht nach einzig Sache der Truppe war. Es war ein schwieriger Punkt, und wenn es hart auf hart kam, könnte Yggdrasil auf ewig damit beschäftigt sein, mit sich selbst darüber zu debattieren: Physisch gesehen 109
befand sich Daine noch immer in Trefusis’ Zuständigkeitsgewalt, aber wenn die Flucht in seinen TRAUM als Ausbruch aus Princetown gewertet wurde, dann müßte die Vollzugsbehörde übernehmen. Es ging Susan durch den Sinn, daß dies zu einer Gesetzgebung führen könnte, die ihr nicht gefiel. Wenn die Gunmint erklärte, daß die Träume eines Bürgers unter ihre Kontrolle fielen, dann wäre eine bedeutende, wenn auch kleine Freiheit verloren. Trefusis würde das nicht gefallen, doch wenn Susan sich weigerte, intraum zu gehen, dann würde Juliet sie zweifelsohne unterstützen. Susan war mittlerweile überzeugt, daß der Marshal insgeheim den Plan hegte, selbst in Daines TRAUM zu gehen, um den Flüchtigen zu stellen. Susan wußte, daß das nicht funktionieren würde, doch sie wußte auch, daß sie Juliet niemals erklären konnte, warum ein Amateur-Gesetzeshüter intraum eine bessere Chance als eine erfahrene Beamtin hatte. Jeder glaubte zu wissen, wie es war, ein TRÄUMER zu sein, doch sie alle verwechselten zu leicht passives Träumen und kreatives TRÄUMEN. Das war mehr als eine bloße Spitzfindigkeit, wie Susan erkannte. Es betraf wirklich nur drei Leute, Daine, Tunney und sie selbst. Sie waren alle TRÄUMER, und wenn Daine nicht nach Princetown zurückgebracht wurde, würde es für alle TRÄUMER hart werden, egal, wo sie waren. Es mußte ihr nicht gefallen, ebensowenig wie es ihr gefallen mußte, Vanessa Vail zu sein, aber es war ihr unmöglich, die Verantwortung abzulehnen, ohne ein Saatkorn der Schuld zu pflanzen, das sprießen und schließlich ihre TRÄUME verschlingen würde. Wenn sie den Drachen nicht entsorgte, konnte sie ihre Chance, sich vom D-9000 zu befreien, vergessen. »Susan, Sie können das alles hier und jetzt beenden«, 110
erklärte Juliet und beugte sich vor. »Sie können nein sagen.« »Phantasien können gefährlich sein. Daran bin ich gewöhnt. Ich kann es noch nicht erklären, aber ich muß Daines TRAUM träumen. Es ist… eine professionelle Sache.« Juliet verstand das. Natürlich, dachte Susan bei sich, der Marshal war wahrscheinlich durch das Träumen von Vanessa Vail in einem beeinflußbaren Alter dazu angeregt worden, Gesetzeshüterin zu werden. TRÄUMER waren auf ewig die Vorhut, oder vielleicht waren sie auch auf ewig die letzte Hoffnung. »In Ordnung, lassen Sie es uns tun. It’s my party, and I’ll cry if I want to.« »Ende der Diskussion?« fragte Trefusis. »Gut. Wir haben einen Tank vorbereitet.« Dr. Groóme löschte den Schirm und machte sich daran, mentale Bilder darauf zu projizieren. »Sie werden einige Externa brauchen, um sich ordentlich in den Traum einzuspeisen. Kleidung, Frisur, einige Requisiten.« Dr. Groóme projizierte eine Schaufensterpuppe und skizzierte einen maßgeschneiderten Anzug. Die Ärztin war überraschend einfallsreich. Ganz besonders gefiel Susan der Hut, der vielleicht eine Spur zu männlich für die Rolle war, die sie ausgesucht hatte, aber dank seiner Unkonventionalität durchgehen konnte. Die Ärztin lächelte. »Ich weiß nicht viel über Flattys, aber historische Moden sind meine Leidenschaft. Ich besitze eine Sammlung antiker Accessoires. Yggdrasil kann sie in Ihr Intraum-Simulacrum encodieren. Wenn wir sonst schon nichts tun können, dann können wir Sie wenigstens wirkungsvoll anziehen. Tunney sah aus wie ein Penner, als er reinging.« 111
»Und ich habe mir über Waffen Gedanken gemacht«, erklärte Juliet. »Sie werden sich etwas ausdenken müssen.« Die Schaufensterpuppe verschwand, und die Ausschnitte erschienen wieder. Auf dem Schirm starben weitere Schauspieler.
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Elf »Schau’n und Scheinen ist nur Schaum, nichts als Traum in einem Traum…« Wer hatte das gesagt? Edgar Allan Poe? Oder Vincent Price? In der Dunkelheit träumte ich die unbevölkerten Träume der unter Gedächtnisverlust Leidenden. Ich träumte, ich würde in einem Fall ermitteln. Ich suchte nach einem Mann namens Tom Tunney, einem ausgebrannten Schriftsteller und Säufer. Lissa, seine Exfrau, wollte ihn finden, vor allem, damit er endlich seinen Alimentezahlungen nachkam. Außerdem wollte sie wissen, ob er tot oder noch am Leben war, nur so aus allgemeinem Interesse. Nette Lady. Ein Körper wie Lauren Bacall, Haare wie Hedy Lamarr, das Gesicht von Frances Farmer und die mattglänzenden Augen einer Leiche. Ich hatte Tunneys Spur aus der Stadt raus zu einem großen Haus mit hohen glasscherbenbewehrten Mauern verfolgt, in dem die Reichen und Berauschten dafür zahlten, daß ihnen ihre Laster ausgetrieben wurden. Er war dort gewesen, aber anscheinend hatte ihn sein Aufenthalt nicht geheilt. Als mir die Informationen ausgingen, blieb ich dem Mann auf den Fersen, indem ich dem Leergut folgte. Ich habe immer eine Flasche in meiner Schreibtischschublade, aber dieser Bursche vernichtete das Zeug in industriellem Maßstab. Mit Lissas Geld bezahlte ich seine angeschriebenen Rechnungen. Barkeeper, Hoteliers und Animiermädchen fragten mich, ob ich Tunneys Bruder wäre. Die Ähnlichkeit, so sagten sie, wäre verblüffend. Lissa hatte kein Foto für mich gehabt, das ich herumzeigen konnte, hatte ihn aber mit den 113
Worten beschrieben: »Er sieht Ihnen ähnlich, Mr. Quick, sehr ähnlich.« Sie hatte natürlich versucht, sich an mich ranzumachen, aber es ist einer meiner Grundsätze, mich nie mit einer Klientin einzulassen. Das hat mich bis jetzt am Leben erhalten. Von der Trockenlegungsfarm aus war Tunney runter zur Grenze gefahren, hatte eine Weile in den Cantinas gesoffen und dann mit zwei Schritten Vorsprung vor dem Sheriff irgendeines Rio-Grande-Kaffs das Land verlassen. Ich folgte ihm von einem Nest zum nächsten, sammelte die seinen Weg markierenden Flaschen ein und holte mir das Pfand für alle, die ich tragen konnte. Den Rest ließ ich dort draußen bei den Knochen prähistorischer Tiere zurück, als ein Zeichen für zukünftige Generationen, daß es auf dem amerikanischen Kontinent Zivilisationen gegeben hatte. Tunney hatte sich auf seinem Weg viele Freunde gemacht, bis ihm sein Reisegeld ausging. Danach hatte er sich viele Feinde gemacht. Ich befragte einige von ihnen. Drei vom Bier benebelte Burschen vom Bau spielten in einer dunklen Gasse Softball mit meinem Kopf in der irrigen Annahme, ich wäre Tom Tunney. Mit den Blessuren und einem Dreitagebart sah ich ihm noch ähnlicher als zuvor, wie man mir sagte. Lissas Geld ging zu Ende, und sie erklärte mir über eine internationale Telefonverbindung, daß sie kein Interesse mehr hätte. Sie heiratete wieder – natürlich einen Kriegshelden, wie alle Mädchen in jenem Jahr – und wollte nichts mehr von ihrem Ex-Ehemann hören. »Er war ein Versager«, erklärte sie mir, »ein TRÄUMER.« Aber ich steckte schon zu tief drinnen, um die Sache so einfach auf sich beruhen zu lassen. Ich bin ein Schnüffler, also fühle ich mich verpflichtet zu schnüffeln. Ich fand mehr und mehr über das Leben meiner Beute 114
heraus. Von Zeugen erfuhr ich Einzelheiten über seine Arbeit, seine Freunde, seine Kindheit, seine TRÄUME. Und mit jedem Informationsfitzelchen, das ich über Tom Tunney ausgrub, schien ich etwas über mich selbst zu vergessen. Ich fing an, seinen Namen in den Gästebüchern von Hotels zu benutzen. Zu meinem großen Entsetzen erkannte ich, daß ich nun beinahe ständig trank. Eines Abends saß ich in einer Cantina vor einer langen Reihe leerer Flaschen und versuchte, mich an lächerliche Kleinigkeiten aus meinem Leben zu erinnern. Ich konnte mich nicht daran erinnern, welche Automarke ich fuhr, wie meine Freundin nackt aussah, was ich getan hatte, bevor ich meine Privatdetektivlizenz erwarb. Ich wußte mehr über Tom Tunney als über Richie Quick. Der Mann wurde immer realer für mich, doch ich selbst war ein Phantom, so platt und eindimensional wie Dick Tracy oder Steve Canyon. Ich starrte in einen großen Wandspiegel, als er die Bar betrat. Über meine eigene Schulter sah ich sein Gesicht aus den Schatten treten. Für den Bruchteil eines Augenblicks stand ich aufrecht und sah im Spiegel das Gesicht eines Mannes an der Theke… Dann öffnete sich der Vorhang, und ich war wieder in der Stadt. Wieder in der Nacht. Wieder im Schmerz. »Der Himmel sei gepriesen, mein Junge«, jubilierte Carradine. »Ich dachte schon, Sie wären tot!« Ich schlug die Augen auf, wurde vom grellen Licht geblendet und schloß sie wieder. »Immer mit der Ruhe«, sagte eine gutturale Stimme. »Eins nach dem anderen.« Ich öffnete meine Augen abermals. Ich hockte noch immer im Kelly’s auf dem Boden, umgeben von zertrümmerten Tischen und Einschußlöchern. Ich saß in 115
einer geronnenen, klebrigen Lache. Ich tastete mich nach Verletzungen ab, konnte jedoch keine finden. Das klebrige Zeug war nur verschütteter Ketchup. Vielleicht wendete sich mein Blatt. »Sieht so aus, als hätten Sie damit recht, daß es einen neuen Mann an der Spitze gibt«, sagte Carradine, »und er hat Ihnen gerade seine Aufwartung gemacht.« Kelly schnaubte. Scheinbar kümmerte ihn die Verwüstung seines Ladens nicht mehr als ein zerbrochener Teller. Er hatte sich eine schmutzige Schürze übergezogen und fegte. Die Wände wurden von frischen Einschußnarben geziert, so wie die in Daines Penthouse. Ich konnte dieselben Muster in der Zerstörung erkennen. »Marvin und die anderen müssen Ihnen eine Falle gestellt haben. Sie werden jetzt alle zum neuen Mann übergelaufen sein.« Die Dinge hatten sich verändert, während ich weg vom Fenster war, aber ich konnte nicht sagen, in welcher Weise. Ich hatte nun die Erinnerung an Kopfschmerzen, doch mein Kopf war klar. Das war mal was Neues. »Wir sollten hier besser verschwinden, Richie«, sagte Carradine. »Die Kerle könnten zurückkommen.« Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, daß er mit mir sprach. »Ja, tut mir leid wegen des Scherbenhaufens hier, Kelly…« »Geht schon in Ordnung«, erwiderte der Koch tonlos, »ist schon schlimmer gewesen. Als der Muni-Mob und Jimmy Cagney einen Bandenkrieg hatten, haben sie hier alle zwanzig Minuten eine Handgranate reingeworfen.« Carradine stützte mich auf dem Weg nach draußen, doch eigentlich fühlte ich mich gar nicht so schlecht. Es regnete noch immer, doch jetzt war es ein prasselndes, schnelles, sauberes Schütten, das den Unrat von den Bürgersteigen 116
spülte. »Wir sollten Sie besser von den Hauptstraßen wegbringen, Richie. Sie sind eine Zielscheibe…« Es traf mich wie ein Blitz. »John, was ist denn aus Ihrem Shakespeare-Kauderwelsch geworden? Sie klingen beinahe wie Hemingway. Nun, wenigstens wie Steinbeck.« Sein langes Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an. »Ich vermute, es hat sich abgenutzt. Komischer Abend. Ich fühle mich, als wäre ich gerade aus einem langen Traum erwacht.« »Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen.« »Es ist, als wären nur die letzten paar Stunden meines Lebens real. Ich könnte Ihnen meine Lebensgeschichte bis zu jenem Punkt erzählen, aber das alles ist jemand anderem geschehen, einer imaginären Figur.« Wir gingen zwei Blocks und hielten dabei vergeblich nach einem Taxi Ausschau. Carradine kam mir irgendwie ungewöhnlich vor, selbst für die Stadt. Er schwappte über die Ränder seines Stereotyps, verwirrt über seine Rolle. »Mir gehen so einige Dinge durch den Kopf«, erklärte er. »Dinge, die keinen Sinn für mich ergeben. Ich vermute, Sie würden sie Spuren nennen.« »Spuren? Was, zum Beispiel?« »Der Weltenbaum«, murmelte er, »irgend etwas über den Weltenbaum, Richie. Nein, das ist es nicht. Verdammt noch mal, es fällt mir bestimmt gleich ein, da bin ich mir sicher.« »Yggdrasil«, sagte ich, »der Weltenbaum.« »Das ist es. Yggdrasil. Ein merkwürdiges Wort, nicht wahr?« Ich erinnerte mich an Yggdrasil. Die hölzerne Faust der 117
Wikingerlegenden, die sich um die Welt klammerte, während ihre Wurzeln sich überallhin erstreckten. Nur daß mein Yggdrasil nicht aus Holz war, sondern etwas anderes Lebendes. Ich hatte die verrückte Vision einer zusammengesetzten Kreatur, mit Kühlschränken und Musiktruhen und Staubsaugern und elektrischen Stühlen und Telefonzentralen als Nervenenden, Lastern und Flugzeugen und Kränen und stromlinienförmigen Zügen als Gliedern und vielleicht einer Bombe als Gehirn. »Es hat irgend etwas mit Daine zu tun und mit der Art, wie er die Stadt führte. Das ist nicht viel, aber es ist ein Anfang.« Ich wußte jetzt, wohin wir gehen mußten. Ich begann, die Richtung vorzugeben. Carradine zögerte, doch dann folgte er mir. Ich vermutete, er wollte die Antworten auch finden. »Wir müssen herausfinden, wer Daines Erbe ist. Na ja, vielleicht ist es auch nicht wirklich ein Erbe. Vielleicht sind wir hinter seinem Geist her.« »Was meinen Sie damit?« »Ich weiß es auch nicht. Ich habe ihn tot vor mir liegen sehen. Daran besteht kein Zweifel. Und die Dinge haben sich verändert, seit er entsorgt wurde, aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß er etwas von sich selbst zurückgelassen hat. Auf gewisse Weise gehört ihm die Stadt noch immer, treuhänderisch verwaltet.« Es lag in einer heruntergekommenen Gegend, aber das traf ja auf die meisten Orte der Stadt zu. Wir näherten uns vorsichtig, für den Fall, daß die Cops es überwachten. Ich ließ Carradine die Lage checken. Dann stand er auf den Stufen vor dem Gebäude, während sein zerfetzter Umhang wie das Nachthemd einer Vogelscheuche im Wind flatterte, und gab mir ein Zeichen. 118
Dann gingen wir hinauf in mein Büro, um uns ernsthaft an die Detektivarbeit zu machen.
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ZWÖLF In meinem Büro machte Carradine, laut schnarchend über zwei Sessel ausgestreckt, ein kleines Nickerchen. Die nervtötende Neonreklame vor meinem Fenster, deren Lichtschein von den kaputten Jalousien in gleißende Streifen zerschnitten wurde, erhellte den Raum wie eine Stroboskopleuchte. Ich hatte leise das Radio laufen, für den Fall, daß sie das Programm für eine Sondermeldung unterbrachen, die mich vielleicht auf die Spur des neuen Nachtbürgermeisters führen würde. In der Zwischenzeit ging ich meine Akten durch. Ich nenne es mein Büro, aber es ist gleichzeitig auch eine Wohnung. Ich war sicher, daß ich dort lebte, doch ich konnte mich nicht entsinnen, ob es auch ein Schlafzimmer gab. Wenn es eins gab, dann konnte ich es momentan nicht finden. Es gab jede Menge Aktenschränke, gespickt mit halbvollen Flaschen, und einen leeren Wasserspender, den ich offenkundig als Ausrede für den Turm aus Pappbechern behielt. Während Carradine schlief, versuchte ich, den Geschmack der Niederlage und von Kellys Kaffee mit ein bis vierzehn Schnäpschen hinunterzuspülen. Es sollte angeblich guter Whisky sein, doch die dünne Staubschicht am Boden aller Becher verbesserte den Geschmack nicht gerade. Daines Schnaps hatte wie Zuckerwasser geschmeckt, meiner schmeckte wie Zuckerwasser mit Sand. Ich leckte über meine Zähne und machte mich an die Arbeit. In einem früheren, enthusiastischeren Stadium meiner Karriere als Detektiv hatte ich Dossiers über alle auch nur halbwegs wichtigen Leute in der Stadt angelegt. Joe Cotton vom Inquirer mußte mir dabei geholfen haben, 120
denn in jeder Akte fanden sich auch Zeitungsausschnitte und Schnappschüsse. Jene Freunde bei der Polizei, die sich in diesen Nächten zweifellos nicht an mich erinnern würden, hatten mir sogar die Durchschläge einiger Strafregister zukommen lassen. Ich überlegte, einen meiner Kontakte anzurufen und meine Unschuld zu erklären, doch ich entschied mich schließlich dagegen. Bis ich mich nicht wieder von dem Verdacht reingewaschen hatte, war es keine gute Idee, irgend jemanden in den Fall hineinzuziehen, der nicht schon darin verstrickt war. Außerdem hatte ich Zeit gehabt, mir die Spätausgabe der Zeitung zu holen. PRIVATDETEKTIV WEGEN DAINEMORD GESUCHT lautete die Schlagzeile, und Cottons Name zierte den Artikel. So wie sich die Geschichte las, vermutete ich, daß er wie jeder andere davon überzeugt war, daß es mein Finger am Abzug gewesen war. All meine Freunde würden schwer damit beschäftigt sein, mit dem Tinten-Ex meinen Namen aus ihren Adreßbüchern zu löschen. Besonders meine Cop-Freunde. Ich vertraute Carradine, weil er anders war, aber mein Vertrauen zu ihm führte zu Mißtrauen gegenüber allen anderen. »Es ist, als wäre man ein umgekehrter Zombie«, sagte er, »ich bin lebendig, aber alle anderen sind tot.« Es waren genug Leute hinter mir her. Je weniger wußten, wo ich war, desto besser. Natürlich war jemand im Büro gewesen. Die Tür war eingetreten und das Chaos umgeordnet worden. Sie hatten nichts gefunden und waren wieder ihrer Wege gezogen. Cops oder Gangster, es machte keinen Unterschied. Vermutlich hatten beide meinem Büro einen Besuch abgestattet. Und sie würden später nochmal vorbeischauen, weshalb ich im Schein der einzelnen Glühbirne meiner Schreibtischlampe arbeitete, während ich den Flüssigkeits- und Dokumentenüberfluß aus meinen 121
Aktenschränken durchging. Die Milchglasscheibe mit meinem Namen darauf war gesprungen, aber das hätte auch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt passiert sein können. Als erstes nahm ich mir Daines Akte vor. Da war er, in all seiner Herrlichkeit, und starrte mich von den Bildern der Gesellschaftskolumnen aus an, beim Betreten oder Verlassen irgendeines noblen Nachtschuppens, mit einer Traumfrau an jedem Arm. Das High-Society-Girl Lyn Bari, die Nachtclub-Chanteuse Lizabeth Scott, der Vamp Rita Hayworth, die feurige Señorita Dolores Del Rio: Sie alle hatten in seinem kleinen schwarzen Buch gestanden. Kein Wunder, daß Daine auf den meisten Fotos so feist grinste. In der letzten Zeit war Rhonda Fleming seine ›ständige Begleiterin‹ gewesen. Auf einem Foto war Daine im Hintergrund zu sehen, während Rhonda versuchte, einer Rivalin um seine Gunst, Arlene Dahl, die Augen auszukratzen. Die Schlagzeile lautete SCHMUSEKÄTZCHEN ZEIGEN IHRE KRALLEN! Reichtum, Macht, Frauen: Daine hätte sich in der Stadt keine bessere Situation für sich ERTRÄUMEN können, selbst wenn er es versucht hätte. Die meisten Zeitungsausschnitte waren langweilige Artikel über Wohltätigkeitsfeste, Bälle, humanitäre Gesten, patriotische Reden oder Kriegsanleihenaufrufe. Da waren endlose Gästelisten von Partys, bei denen Daines Name eingekreist war. Es fanden sich sogar Bestandslisten seiner Sammlung, inklusive einer Aufführung der astronomischen Summen, die für eine Reihe von Skulpturen, Gemälden, Originalpartituren und manuskripten oder Gegenständen von historischem Interesse gezahlt worden waren. Auf einem Bild zeigte Daine seine kostbarsten Trophäen – den Langbogen, mit dem Errol Flynn die Normannen aus dem Sherwood 122
Forest vertrieben hatte, Leslie Howards Ku-Klux-KlanKapuze und das Originaltelefon, das Don Ameche erfunden hatte. Da waren auch Ausschnitte aus den Klatschspalten über diesen oder jenen amüsanten Streich, den er William Powell gespielt hatte, oder dieses oder jenes extravagante Geschenk, das Carole Lombard von ihm erhalten hatte. Alles ganz harmloses Zeug. Ich hatte die wenigen zwielichtigen Verbindungen unterstrichen, die bis ins Licht der Öffentlichkeit vorgedrungen waren. Daines engste Freunde waren Claude Rains, der RadioKriminologe, und Otto Kruger, eine Art HokuspokusMystiker. Sie gehörten dem Cicero-Club an, einer Gesellschaft, die einmal im Monat zusammenkam, um berühmte ungeklärte Rätsel zu diskutieren. Ich hatte mir neben den Cicero-Club-Artikeln Notizen gemacht. Es lag etwas Pikantes in dieser Kombination: Daine hätte wenigstens dreiviertel aller Verbrechen in der Stadt lösen können, indem er sich einfach zu ihnen bekannte. Und in ihren eigenen Dossiers fand ich einige vielsagende Andeutungen darauf, daß auch Rains und Kruger keine weiße Weste hatten. Nichts Greifbares natürlich, doch ein paar Unterweltkontakte zuviel, ein paar geheimnisvolle Erbschaften zuviel. Rains und Daine hatte ein Anteil an Kirk Douglas gehört, einem vielversprechenden jungen Schwergewichtler, dessen Karriere von einer ›Gehirnblutung‹ im Ring beendet worden war, gerade rechtzeitig, daß Kruger und einige andere bei ihren Wetten gegen ihn kräftig absahnen konnten. Und wer war der Schläger, der Kirk die schweren Kopfschmerzen bereitet hatte? Unser alter Freund Mike Mazurki. Als Daine in der Stadt auftauchte, hatte er – wie ich aus gesicherten Quellen wußte – einen großen Teil der krummen Geschäfte von Paul Muni übernommen, einem Gangsterboß, dessen Imperium vor allem dank der 123
Ermittlungen und Entschlossenheit von – Sie haben es erraten – unserem Freund und Kriminologen Claude Rains zerschlagen worden war. Ich hatte versucht, an eine Mitgliederliste des Cicero-Clubs zu kommen, doch der einzige andere Name, den ich noch hatte herausfinden können, war George Macready, ein narbengesichtiger Killer, der einen profitablen Anteil am Glücksspiel der Stadt besaß und dessen Markenzeichen sein Gehstock mit dem darin verborgenen Schwert war. Wirklich saubere Herren. Es gab noch andere Kandidaten – zumeist Unterweltgestalten –, doch ich betrachtete sie als falsche Fährten. Sydney Greenstreet war zu alt, um noch das nötige Interesse zu entwickeln, und außerdem war er mittlerweile besessen von seiner ganz eigenen obskuren Mission. Wer immer der neue Mann an der Spitze war, ich hätte einiges darauf verwettet, daß sein erster Schachzug sein würde, Sydney auszuschalten und seine ehemaligen Marktanteile dem Pott einzuverleiben. Ein junger Mann namens Laird Cregar hatte es mir als möglicher Verdächtiger angetan, wenn auch nur, weil er die Angewohnheit hatte, sich an Orten herumzutreiben, an denen gerade schöne Frauen erdrosselt worden waren. Doch sein schwammiges Gesicht und die irren Augen deuteten darauf hin, daß er ein schlichter Psychopath war. Ein kultivierterer Psychopath als beispielsweise Lee Marvin oder Neville Brand, aber ein Verrückter bleibt immer ein Verrückter, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß jemand, bei dem so viele Schrauben locker waren, in Daines Fußstapfen treten würde. Cregar mochte sich in Seidenpyjamas herumlümmeln und sich mit französischen Pralinen vollstopfen, doch er war trotzdem nur ein Nebenrollenschurke, ein feiger Handlanger, der sich niemals an der Spitze des Verbrechensimperiums halten 124
würde. George Sanders war nunmehr aus dem Rennen, nachdem man ihn als feindlichen Spion enttarnt hatte, doch ich hätte nur zu gern gewußt, wer genau dem FBI den Tip bezüglich seiner Vorortsmaklerei für Staatsgeheimnisse gegeben hatte. Orson Welles war viel zu sehr mit seiner Radiosendung beschäftigt, Bela Lugosi konnte nie weiter als bis zu seinem nächsten wahnsinnigen Experiment planen, Vincent Price würde nicht in die Liga der großen Bösewichte aufsteigen, bis Horrorfilme wieder in Mode kamen, und Zachary Scotts schmaler Schnurrbart verriet seine mangelnden Qualitäten als Genie des Verbrechens. Meine Trumpfkarten waren noch immer Rains oder Kruger. Einer konnte sich leicht dafür entschieden haben, Daine mit blauen Bohnen zu füttern und sich das Imperium unter den Nagel zu reißen. Vielleicht lag die Sache aber auch komplizierter. Vielleicht hatte Daine irgendwie bei seiner eigenen Auslöschung mitgewirkt, aber etwas von sich auf seinen Erben übertragen. In Otto Krugers Akte fanden sich einige versponnene Aufsätze über verschiedene übernatürliche Phänomene – Hypnotismus, mentale Telepathie, Traumdeutung, Besessenheit. Vielleicht hatte Daine sich in einen Dybbuk verwandelt und war in einen fremden Körper gefahren. Seelenwanderung nennt man das. Es war völlig verrückt, doch das galt auch für alles andere an diesem Fall. Ich hatte das Gefühl, als hielte ich alle wichtigen Puzzleteile in meinen Händen, aber nicht das Bild auf der Schachtel, das mir sagte, wie ich sie zusammensetzen mußte. Ich betrachtete einige Fotos von Rhonda Fleming. Sie liebte enge Kleider, aus denen große Stücke herausgeschnitten worden waren. Irgendwie mußte eine Frau mit im Spiel sein; bei mir war das immer so. Ich holte meine Automatik hervor und legte das kalte Metall 125
auf Rhondas Papiertorso. Sie hatte zweifellos Klasse. Aufreizend wie Spitzenhöschen, scharf wie ein Stilett und hungrig wie ein bengalischer Tiger. Ich hoffte, daß wir uns bald mal kennenlernen würden. »Wir unterbrechen unser Programm«, sagte ein Sprecher und blendete José Iturbi aus, »für eine Sondermeldung…« Der dringliche Tonfall schreckte Carradine aus dem Schlaf, und er fiel mit einem Schrei von den Sesseln. Die Möbel verknoteten sich in seinen langen Beinen. »… Captain of Detectives Barton MacLane hat die Nationalgarde ausrücken lassen, um bei der Suche nach Privatdetektiv Richard Quick zu helfen, der sich noch immer auf freiem Fuß befindet. Quick wird in Zusammenhang mit dem heute nacht begangenen brutalen Mord an dem Millionär und Philanthrop Truro Daine gesucht…« Ich schaltete das Radio ab und riß dabei den Knopf vom Gerät. Derselbe alte Mist. Ich hatte es alles schon mal gehört. »Vielleicht sollen Sie besser aus der Stadt verschwinden«, schlug Carradine vor. »Vielleicht gibt es kein Draußen, in das man verschwinden kann.« »Natürlich gibt es das.« Er lächelte. »Ich erinnere mich an die Prärien. Ich erinnere mich daran, wie ich in einer Kutsche saß und von Apachen angegriffen wurde, und daran, wie ich mit Henry Fonda und den anderen Leuten aus Oklahoma auf der Walz war und wie ich Tyrone Power erschoß, als er gerade ein Bild aufhängte…« »Sind Sie sicher, John?« Ich wußte, wie derartige Erinnerungen funktionierten. Im Moment, inmitten des vertrauten Durcheinanders meines Büros, hatte ich es im Urin, daß ich noch nie zuvor in diesem Raum gewesen 126
war. Irgend jemandes Hand hatte dreiviertel der Tage von meinem Schreibtischkalender abgerissen und meinen Papierkorb mit ihnen gefüllt, und jemand hatte die Namen und Telefonnummern von Mädchen auf die Schreibtischunterlage geschrieben. Ich erkannte meine eigene Handschrift und die Art, wie ich ein Kalenderblatt zerknüllte, bevor ich es wegwarf. Aber ich konnte mich nicht beim tatsächlichen Kritzeln und Abreißen sehen. »Sind Sie sicher?« Carradines Augen blickten ins Leere. »Nein, eigentlich nicht, wenn ich so drüber nachdenke. Solche Dinge passieren, das weiß ich, und ich könnte schwören, daß sie mir passiert sind. Aber vielleicht in einem anderen Leben, oder in…« Ich zündete eine Zigarette an. »… in TRÄUMEN, John, in TRÄUMEN. Es gibt zu viele Vielleicht! in der Stadt, zu viele Träume in TRÄUMEN. Sie haben gerade geschlafen haben Sie geträumt?« »Ja, ich…« Einen Moment lang sah er zu Tode erschreckt aus; dann beinahe beängstigend, wie er sich mit seinen langen, dürren Fingern über seinen Schnurrbart strich und sich nachdenklich mit der Zunge über die scharfen Zähne fuhr. Ich atmete eine Rauchwolke aus. »Was haben Sie geträumt?« »Ich bin nicht sicher. Ich war tot, aber auch lebendig. Ich trug einen Abendanzug wie ein Kostümkomparse, und ich hatte Mehl im Haar. Es war irgendwo in Osteuropa, glaube ich. Die Männer trugen Lederhosen und die Frauen Zigeunerblusen. Es spielte in unserer Zeit, aber es gab keinen Krieg. Und ich hatte Durst… es fällt mir schwer, das zu sagen, ich wollte… Blut trinken.« Der hochgewachsene Mann schüttelte sich angewidert. 127
Ich hatte Mitleid mit ihm. »Machen Sie sich keine Sorgen, John, es war nur ein Traum. Nur eine weitere Rolle, die an der Oberfläche auftaucht.« »Pfui Teufel. Es war scheußlich. Haben Sie in Ihren Akten irgendwelche Spuren gefunden?« Ich blätterte die Unterlagen auf meinem Schreibtisch durch. »Nur Namen. Claude Rains, Otto Kruger, George Macready. Sie hatten alle mit Daine zu tun, und vielleicht haben sie das immer noch…« Das Telefon klingelte unter den Aktenbergen. Carradine und ich schauten einander an. Das Klingeln war erschreckend laut. Ich wußte, daß jeder, der sich außer uns im Gebäude befinden sollte, es hören würde. Es bohrte sich in mein Trommelfell, ließ mich die Zähne zusammenbeißen und setzte all die Schmerzen frei, die ich schon verloren geglaubt hatte. »Sie werden aufgeben«, sagte ich. Wir standen über den Schreibtisch gebeugt, erstarrt wie Wachsfiguren. Das Telefon klingelte ununterbrochen. Es wurde immer lauter, immer schmerzhafter. Ich sah, wie ein Schweißtropfen von Carradines Stirn fiel, über seine Wangen lief, einen Moment lang an seiner Schnurrbartspitze hängenblieb und schließlich leise auf ein Bild von Rhonda Fleming tropfte, auf dem sie in einem rückenfreien, trägerlosen, praktisch frontfreien Kleid posierte. »Sie können doch nicht wirklich erwarten, daß jemand rangeht.« Carradine zitterte. Er klammerte sich mit beiden Händen an meinen Schreibtisch, um sich auf den Beinen zu halten. Ich folgte der Telefonschnur und fand die Dose in der Wand. Ein Ruck, und das Klingeln würde aufhören. Aber wer immer auch anrief, er würde wissen, daß jemand hier war. Vielleicht hatten die Cops einen Mann darauf angesetzt, alle halbe Stunde anzurufen. Sie hatten mich 128
durchs Netz schlüpfen lassen; sie würden nicht gerade Fans von mir sein. Und jetzt mischte auch noch die Nationalgarde mit. Sie hatten größere Waffen als ich und auch die Erlaubnis, sie zu benutzen. Ich preßte mir die Hände über die Ohren und betete, daß das Klingeln aufhören würde. Alles im Büro vibrierte. Ich wußte, wie der Glöckner von Notre Dame taub geworden und daß das Läuten auf alle Ewigkeit in seinem Kopf weitergegangen war. Mit einem röchelnden Schrei ging Carradine zu Boden. Ein Stapel aus Unterlagen, Zeitungsausschnitten und Fotos fiel mit ihm und schwebte auf ihn herab, während er sich auf dem Fußboden wälzte. Das Klingeln hörte auf, und ich sprach ein stummes Dankgebet an die Heilige Bernadette von Lourdes für dieses Wunder. Dann bemerkte ich, daß Carradine im Fallen den Telefonhörer von der Gabel gerissen hatte und dieser nun unter dem Schreibtisch baumelte. »Tunney«, sagte eine Frauenstimme. »Tunney, gehen Sie an den verdammten Hörer, wenn Sie da sind. Wir müssen reden. Tunney…« Beinahe lachend griff ich nach dem Hörer. »Hallo«, sagte ich. »Tunney, Yggdrasil sei Dank. Hören Sie, ich bin am Busbahnhof. Sie brauchen Hilfe. Mein Name ist Susan. Susan Bishopric. Wir sind uns schon mal begegnet. Wir sind bei der Blasphemie-Entscheidung gemeinsam gegen den Ausschuß für TRAUMklassifizierung eingetreten. Ich habe Die Parklotterie GETRÄUMT.« »Tut mit leid, Lady«, erwiderte ich, »aber Sie müssen sich verwählt haben. Mein Name ist nicht Tunney.« Ich legte auf und machte mich daran, Carradine zu helfen. Er zuckte mittlerweile nicht mehr so heftig, doch 129
er hatte seine petit mal noch nicht hinter sich. Seine Glieder bewegten sich unabhängig voneinander. »Reißen Sie sich zusammen«, befahl ich und schlug ihm dabei leicht mit meinen Fingern gegen die Wangen, »wir müssen hier weg. Vielleicht hat sich die Tante gar nicht verwählt. Jemand könnte uns verpfiffen haben.« Carradine wischte sich mit einem Taschentuch den Schaum von den Lippen und entschuldigte sich. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es war das Telefon. Es klang nicht… natürlich.« »Ich weiß, was Sie meinen. Aber ich bin nicht sicher, ob es in diesem Fall überhaupt etwas Natürliches gibt.« Vor meinem Bürofenster blinkte noch immer die nervtötende Neonreklame und warf ein starres Gitter aus Licht und Schatten in den Raum. Ein Gefängnisgitter.
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DREIZEHN »Wo soll’s denn hingehen, Lady?« fragte der Taxifahrer. Susan erkannte die verzweifelte, weinerliche Stimme, las aber dennoch den Namen auf seiner Lizenz. Elisha Cook jr., von Beruf Verlierer, Sündenbock und Opfer. Cook hatte das Gesicht eines geschrumpften Peter Pans, verloren im Erwachsensein. »Fahren Sie einfach umher«, sagte Susan. »Ich will nur dem Regen entkommen.« »Es ist Ihr Geld, Schwester.« Cook drückte die Taxameterflagge herunter. Das Ticken klang wie Clickclick-clack off the beaten track as the Brownsville Train comes through, like the tick-tack-toe of Old Black Joe… Susan fauchte: »Ich bin nicht Ihre Schwester, Kumpel!« War das so richtig? Kumpel? »Entschuldigen Sie, daß ich lebe, Lady.« »Irgendwann mal, wenn Sie sich richtig anstrengen.« »He…« Cooks abgenutztes Furnier der Kaltschnäuzigkeit zeigte Risse »… hacken Sie nicht so auf mir herum. Ich hab nichts gegen Sie.« »Tut mir leid. Es ist spät.« Sie hatte sich verkalkuliert: Sie dachte, in der Stadt würde jeder jeden beleidigen. »Ich hab einen schlimmen Abend hinter mir.« »Ich auch. Ich bin von Gangstern verprügelt worden, man hat mir einen Mord in die Schuhe geschoben, die Cops haben mich verprügelt, ich bin in den Knast gewandert, bin von ein paar Oberknackis verprügelt worden, hab in letzter Minute einen Aufschub vom Gouverneur erhalten und bin dann von meinem Mädchen verprügelt worden.« 131
»Hört sich schlimm an.« »Das kann ich Ihnen flüstern, Lady.« Ja. Das kann ich Ihnen flüstern, das weiß der Henker, solange ein Herz schlägt, verdammt in alle Ewigkeit. Es war eine fremde Sprache. Ein idiotischer TRAUM, wenn es je einen gegeben hatte. Sie wußte, daß sie sich nicht darin verlieren durfte. Das war immer das Risiko, wie Tunney zu enden. Am Telefon hatte er sich massiv schlecht angehört. Sie hatte ihn vom Busbahnhof angerufen, sobald sie in der Stadt angekommen war. Es war lächerlich einfach gewesen, ihn zu finden. Richard Quick, Privatdetektiv, stand in den Gelben Seiten unter Detekteien. Humphrey Bogart, Dick Powell und Alan Ladd hatten große Anzeigen mit eingängigen Slogans: ›Keine Scheidungssachen‹, ›Ärger ist mein Geschäft‹, ›Killer zu vermieten‹. Quicks Name war in einer Spalte mit einzeiligen Anzeigen für B-Schnüffler vergraben, zwischen Dick Purcell und Ron Randell. Sein unwiderstehlicher Werbespruch lautete ›Ermittlungen – Billig!‹ Für den Moment würde sie Tunney seinen eigenen Problemen überlassen und sich um Daine kümmern müssen. Über den schicken Straßenkleidern, die Dr. Groóme sich ausgedacht hatte, trug Susan einen transparenten Regenmantel. Sie mußte wie ein in Zellophan gewickeltes Bonbon aussehen. Ein hartgesottenes Bonbon. Sie überprüfte im Rückspiegel ihren Lippenstift. Ihr Gesicht war mehr Ella Raines als Gene Tierney geworden. Zu schmallippig für Hochglanzromantik, doch hübsch auf eine scharfkantige, gescheite Art. Sie würde sich daran gewöhnen müssen, wie sie in Schwarzweiß aussah. In der kurzen Zeit, die sie jetzt in der Stadt war, hatte ihr 132
ein gutgekleideter Betrunkener einen unsittlichen Antrag gemacht, war sie Zeugin eines Rachemordes unter Gangstern gewesen und von einem stämmigen Killer durch eine verlassene U-Bahn-Station verfolgt worden. Das hier würde wohl einiger Gewöhnung bedürfen. Die Princetown-Psychs hatten Tunney schlichtweg aus den Augen verloren. Sie hatten ihn bis Poverty Row überwacht, dann hatte sich der TRAUM plötzlich von innen nach außen gekehrt. Eine schwerwiegende Schattenrealitätsverschiebung. Dieser Ort schien von innen solide und fest genug, doch er konnte sich ebenso schnell verändern wie die eigenen Gedanken. Susan Bishopric, Attentäterin. Das war ein neuer Absatz in ihrem Lebenslauf. Töte Truro Daine. In diesem TRAUM war das gleichbedeutend damit, einen Killer auf Gott anzusetzen. Aber Gott machte Fehler. Fragen Sie nur Hiob. Daine war in der realen Welt gefaßt und verurteilt worden. Das würde seiner Allmacht einen kleinen Kratzer zufügen. Selbst hier. Es war Susan leichtgefallen, sich in die Stadt zu TRÄUMEN. Dr. Groóme hatte Susan an Yggdrasil angeschlossen und sie in den dritten Tank gelegt. Trefusis hatte ihr Glück gewünscht, Juliet hatte ihr mit auf den Weg gegeben, sie sollte immer aufs Herz zielen, und die Psych-Techniker hatten versucht, ihr nicht in die Augen zu schauen. Dann war sie durch die vertrauten äußeren Schichten des TRAUMspace hinabgesunken und hatte sich im Bus eingeblendet. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, daß die Kleider sie nicht störten. Wann immer sie Historien TRÄUMTE, nahm sie an, daß vielteilige Bekleidungen unbequem und hinderlich wären. Jetzt mußte sie sich dennoch eingestehen, daß ihr die Nylonstrümpfe, die wattierten Schultern und der Hut ganz gut gefielen. Und die Taschen waren eine Offenbarung. Ihre Waffe hing schwer in ihrer 133
Manteltasche und drückte kühl gegen ihre Hüfte. Susan steckte eine Hand in die Tasche und umfaßte den Knauf der Waffe. Juliet hatte ihr ein paar Ratschlage gegeben, doch intraum hatten Susan ihre Erfahrungen als Vanessa Vail weit mehr Selbstvertrauen geschenkt. Vanessa konnte einer Mücke auf fünfzig Schritte ein Auge ausschießen. Susan hoffte, daß sie auf dieses Können zurückgreifen konnte, wenn es zu Ballereien kam. Cook fuhr ungelenk, während er beständig vor sich hin plapperte. Susan drehte seine Lautstärke herunter. Armer kleiner Kerl. Seine müden Augen blitzten im Rückspiegel, und sein kindlicher Enthusiasmus sprudelte über. Es stand ihm förmlich auf die Stirn geschrieben, daß seine Abblende lange vor dem Ende des Films kommen würde. Susan konnte sich an keinen Film erinnern, in dem er es lebend bis zum Abspann geschafft hatte. Das Taxi hielt an einer Kreuzung, um einer Autoverfolgungsjagd die Vorfahrt zu lassen. Edward G. Robinson brauste die Elm Street hinunter und bog mit quietschenden Reifen in den Sunset Boulevard. Das einzige, was seine gestohlene Limousine noch zusammenhielt, waren die Einschußlöcher. Lieutenant Ward Bond saß am Steuer des Polizeicabrios, das ihm an der Stoßstange klebte. Detective Van Heflin stand aufrecht im Wagen, den Hut fest auf den Kopf gedrückt, und feuerte aus der Hüfte mit seiner Maschinenpistole. »Er hat ’ne Schickse umgelegt«, erklärte Cook, »hat sie mit ’ner Perlenkette erwürgt. Die Cops werden ihn schnappen. In dieser Stadt kommt niemand mit Mord davon.« »Es gibt für alles ein erstes Mal.« Nur so zur Probe schnippte Susan den Sicherungsriegel aus kaltem Stahl in ihrer Tasche hin und her. Sie bekam 134
langsam eine Schwiele an ihrem Daumen. Was sollte sie als nächstes tun? Untertauchen, sich verstecken, ein Gefühl für den TRAUM entwickeln. Und dann damit beginnen, einige Zusätze einzuspeisen. Das würde Daine aus dem Gleichgewicht bringen. Susan war sicher, daß sie ein paar entscheidende Änderungen machen konnte. Vielleicht gefiel Daine nicht, was sie für sein selbstgeschaffenes Jenseits im Auge hatte. Sie konzentrierte sich auf die inneren Türgriffe des Taxis und veränderte, nur so zur Übung, ihr Aussehen einige Male. Kein Problem. Sollte sie noch mal versuchen, mit Tunney Kontakt aufzunehmen? Er saß irgendwo in der Stadt fest. Die vorläufige Diagnose lautete, daß er Daines Phantasien zu nahe gekommen und in die Struktur des TRAUMs aufgesogen worden war. Tief in seinem Herzen hatte er sich in der Stadt zu sehr heimisch gefühlt, als daß er wirklich gewollt hätte, daß sie aus der Yggdrasil-Datei gelöscht wurde. All dies mochte die Qualitäten für eine Prix-ItaliaEhrung besitzen. Es gab nur sehr wenige TRÄUME über TRÄUME und das TRÄUMEN. Doch zuerst einmal würde Susan das Ganze lebend (relativ einfach: wiederhol nur immer wieder: nichts von all dem hier ist real, es ist nur ein TRAUM) und geistig gesund (ein Chamäleonpferd: wie in Das zauberhafte Land) durchstehen müssen… Sie blickte hinab auf ihre Füße, und für einen kurzen Moment schoben sich rote Schuhe über ihre Lacklederpumps, wie bei einer Doppelbelichtung. Folge dem gelben Steinweg! Folge dem gelben Steinweg… Stop! Das machte ihr schon Sorgen, seit sie in die Stadt gekommen war. Spielte ihr eigenes Gehirn ihr Streiche, 135
oder versuchte Daine, ihre mentalen Muster zu verknoten? Die Princetown-Psychs waren außerstande gewesen, Susan zu sagen, ob Daine automatisch alle neuen Präsenzen in seinem TRAUM spüren würde, und Gedankensprünge waren die Berufskrankheit der TRÄUMER. Irrelevante Assoziationen, hervorgezerrt aus dem Verstandessumpf aus Erinnerungsbruchstücken, unterbewußtem Schutt und zertrampelten Gefühlen. Es gab nur ein Heilmittel: die Realität. Von der es hier nicht ein einziges Quentchen gab. Susan würde sich mit gelegentlichen Sinatra-Outfits abfinden müssen, bis sie wieder aus dem Tank heraus war. Vor einer erhöht liegenden U-Bahn-Station tummelten sich geschäftig wirkende Männer mit hochgeschlagenen Regenmäntelkragen und heruntergeklappten Hutkrempen, auf dem Weg von und nach nirgendwo. Robert Walker, ein Soldat in Uniform, kämpfte sich mit einem Blumenstrauß und einer Heiratserlaubnis in seiner Hand durch die Menge, watete gegen den Strom durch die menschliche Flutwelle zu der erleuchteten Stelle unter der Uhr, wo Judy Garland, gekleidet in engelsgleiches Weiß, ungeduldig wartete. Susan warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb drei. Ein Stück weiter die Straße hinunter beleuchtete eine Straßenlaterne einen schäbigen Zeitungsstand. Cook ließ das Taxi im Leerlauf rumpeln. »Extraaablatt! Extraaablatt!« schrie ein sommersprossiger Mickey Rooney. »Privatdetektiv wegen Mordes gesucht! Extraaablatt! Extraaablatt!« »Halten Sie mal kurz an.« »Klar doch, Schwester. Ich hab die ganze Nacht Zeit.« Susan streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Sie öffnete die Tür, zog sich die Kapuze ihres durchsichtigen 136
Regenmantels über ihren Hut und stieg hinaus in den Regen. Der Zeitungsjunge mit der verkehrtherum auf seinem Kopf sitzenden Mütze schwenkte noch immer brüllend seine Zeitung durch die Luft. »Kann ich einen Inquirer haben?« »Klar doch, Puppe.« Er hielt ihr eine Zeitung hin und nahm das Kleingeld entgegen. »Ich mache übrigens in ’ner halben Stunde Feierabend.« »Frecher Bengel.« »Immer wieder gern.« Rooney grinste und schob nervös eine nasse Hand unter seine Mütze, um sein zerzaustes Haar glattzustreichen. Susan stellte sich unter einen Baldachin und las das Extrablatt. Schlagzeile: PRIVATDETEKTIV WEGEN MORDES GESUCHT! Kleingedrucktere Überschriften: Philanthrop Truro Daine noch immer tot. Privatdetektiv Richie Quick von der Polizei gesucht. »Momentan kein Kommentar«, sagt Commissioner Hamilton. »Wir bringen die Ratte auf den elektrischen Stuhl!« verspricht Chief of Detectives Barton MacLane. Da war ein Foto von Daine, wie er in einem Nachtclub Samba tanzte, und ein körniges Ausweisbild von Tom Tunney, der den Lesern als Richie Quick verkauft wurde. Sie sahen beide tot aus. Das folgende, nach dem ersten Ein-Satz-Absatz, war ein Gewirr bedeutungsloser Worte. Der einzige andere Artikel war eine Kurzmeldung über den Krieg. Abgesehen von der Titelseite bestand der Rest der Zeitung aus leeren Seiten. »Extraaablatt! Extraaablatt!« schrie der Zeitungsjunge. 137
»Der Genickbrecher schlägt wieder zu. Scotland Yard ratlos! Extraaablatt! Extraaablatt!« Diese Zeitung war für jemand anders. Susan erkannte Basil Rathbone und Nigel Bruce – auf seltsame Weise gar nicht so anachronistisch mit karierter Tweedmütze und Bowler –, die gerade über ihr Extrablatt gebeugt diskutierten. Bruce konnte sich keinen Reim darauf machen, doch Rathbone pickte einen winzigen Hinweis heraus und ratterte eine lange Reihe von Schlußfolgerungen herunter. »Aha, Bruce, der Nebel lichtet sich. Ich glaube, diese blutige Angelegenheit verrät die Beteiligung unseres alten Freundes Professor Lionel Atwill. Offenkundig waren die Berichte über seinen Tod in der Kanalisation von Montevideo voreilig. Die Gorillafußabdrücke, das ecuadorianische Pygmäengift und die Alabasterhand mit den sechs Fingern sind äußerst verräterisch. Schnell jetzt, die Jagd hat begonnen!« Sie eilten davon, Rathbone mit einem erregten Federn in seinen Schritten, während Bruce hechelnd und keuchend versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Schließlich verschwanden sie aus dem Regen in eine Straße, die in dichten Nebel gehüllt war. Susan konnte schemenhaft eine Gaslaterne im Dunst ausmachen und das Klappern von Hufen auf Kopfsteinpflaster hören. Das war ein anderer Teil der Stadt. Das hier ist ein verrückter TRAUM. Susan stieg wieder ins Taxi. Cooks Augen im Rückspiegel glichen weißem Marmor. Die Windschutzscheibe war ein weißes Spinnennetz oder Sprünge, die sich um einen sauberen schwarzen Punkt zentrierten. Auf Cooks Stirn befand sich ebenfalls ein passender schwarzer Punkt. Cliché. 138
VIERZEHN Kruger und Rains waren unsere Hauptverdächtigen, also beschloß ich, mit dem großen Geheimnisvollen vom Cicero-Club, George Macready, zu beginnen. Ich wußte nur wenig über ihn. Er war von irgendwoher mit einem Vermögen in die Stadt gekommen, war bekanntermaßen vor dem Krieg ein lautstarker Unterstützer des Bunds gewesen und hatte eine Kette von mehr oder weniger sauberen Casinos in den Bezirken errichtet, in denen das Glücksspiel mehr oder weniger legal war. Er besaß einen florierenden Laden auf der SS Nocturne, einem außerhalb der Hoheitszone vor Anker liegenden Schiff, und einige unschöne Gerüchte waren mit der Flut von dort herübergetrieben, zusammen mit ein oder zwei Leichen. Doch das bei weitem verrufenste seiner Etablissements war das Noir et Blanc, ein palastartiges Nepplokal unten bei den Docks. Es gab jede Menge sich widersprechender Geschichten darüber, wie er zu der Narbe gekommen war, die sich auf seiner rechten Gesichtshälfte von der Schläfe bis zum Kinn zog. Keine der Geschichten war schön. Nebenbei führte er zusammen mit Vincent Price eine Kunstgalerie, die auch nicht gerade koscher zu sein schien. Carradine und ich entschieden, daß er mit größter Wahrscheinlichkeit im Noir et Blanc zu finden war. Außerdem gefiel keinem von uns beiden die Idee, zur Nocturne hinauszuschwimmen. Es gab Haie in der Bucht, und sie wurden nicht oft genug gefüttert. Die Docks waren ein übles Viertel, sogar noch weiter heruntergekommen als Chinatown. Die schlimmsten Elemente aus dem Latin Quarter, aus Little Araby, New Haiti und dem Besetzten Sektor flossen in einer offenliegenden Kloake des Lasters, 139
des Verbrechens und der Kaltschnäuzigkeit zusammen. Brownstones schmiegten sich an Slums, Streifenwagen waren gepanzert, und alles war käuflich. Eine Reihe von zwielichtigen Cafés mit falsch geschriebenen französischen Namen kauerten sich aneinander, während die Straßen nur so von betrügerischen fliegenden Händlern, glücklosen hinkenden Seemännern, vorbeieilenden Kulis mit Schlitzaugen und verborgenen Dolchen und glupschäugigen schwarzen Zombies wimmelten. Durch die verwahrlosten Blocks schlängelte sich eine gut bewachte Straße. Limousinen glitten über den Asphalt, hinter deren von Vorhängen verhüllten Fenstern dekadente Abenteurer kauerten. Macready hatte Männer auf den Bürgersteigen postiert, um das Geld seiner Kunden auf dem Weg zu seinem Casino zu schützen. Auf dem Rückweg waren sie auf sich allein gestellt. In unserer momentanen Situation hielten wir es für ratsamer, kein Taxi zu nehmen, also schlenderten wir einfach mit dem Menschenstrom dahin. Ich hoffte, daß die Cops hier unten zu beschäftigt mit dem Füttern ihrer eigenen Taschen waren, um meinem ausführlichen Steckbrief große Aufmerksamkeit zu schenken. Wir hatten bisher noch nichts von der Nationalgarde gesehen. Carradine ertappte einen halbnackten Marokkanerjungen, dessen Hand tief in meiner Tasche steckte, und warf ihn über eine niedrige Mauer. Hunde kläfften und schnappten, und wir hörten, wie der Taschendieb barfuß in ein Labyrinth aus Gassen, Ruinengrundstücken und abbruchreifen Hotels lief. Ich hatte noch immer meine Waffe und die letzten Reste von Sterling Haydens Geld. Vielleicht sollte ich versuchen, mir an Macreadys Tischen etwas dazuzuverdienen. Vielleicht aber auch nicht. In einem meiner Zeitungsausschnitte wurde er mit dem Satz zitiert: »Ich 140
bin meines eigenen Glückes Schmied.« Die Selbstmordrate in diesem Viertel war unnatürlich hoch, und die Versicherungsgesellschaften hatten einen eindeutigen Zusammenhang zwischen hohen Schulden bei George Macready und einem plötzlichen Unfalltod nachgewiesen. Eine Menschenmenge hatte sich um ein Pier versammelt, wo Marion Brando und Lee J. Cobb sich gerade gegenseitig mit Stauerhaken Fleischbrocken aus dem Leib fetzten. Eine rattengesichtige Mißgeburt mit einem Bündel Geldscheine in der einen Hand und Schuldscheinen in der anderen bot uns eine Auswahl verlockender Wettquoten an. »Dort«, sagte Carradine. Das Noir et Blanc war tatsächlich ein Palast, beleuchtet wie ein KarnevalFestwagen. Flaggen aller Nationen baumelten wie aufgeknüpfte Tunichtguts von einer Reihe Masten direkt unter dem Dach. Es war vermutlich eine optische Täuschung, aber es schienen mehr Adler und Hakenkreuze als Sternenbanner im Wind zu flattern. Männer und Frauen schwärmten die Eingangsstufen zu den drei Drehtüren hinauf. Eine riesige Rouletteschüssel aus Neonröhren drehte sich unter dem Noir-et-Blanc-Schild. Wir drängten uns in die Menge und ließen uns die Stufen hinaufsaugen. Ich war nicht sicher, ob der Türsteher unseren Aufzug durchgehen lassen würde, doch andere in der Menge sahen noch unzivilisierter aus. Ich beobachtete, wie der Majordomus ein mit Ordensbändern und Juwelen behängtes Pärchen abwies, während er einen fetten jungen Mann mit einem dreckigen Fes und einem zerfransten Kaftan einließ. Wir wurden kommentarlos durchgelassen und standen dann in einer Eingangshalle, die kaum kleiner als eine Pyramide anmutete. Es wäre der geeignete Ort für eine Schnitzeljagd im Fackelschein gewesen. Macready mußte Cecil B. DeMille als Architekten gehabt haben. Das 141
ganze Gebäude war in dem für ihn typischen Kolossalstil eingerichtet, mit einem gigantischen Paar muskulöser Steinbeine, die gespreizt zu beiden Seiten des Eingangs zum Casinosaal standen. Die unglaublich hohe Decke schnitt die Stampfer auf halber Höhe der Oberschenkel ab. Ich hatte den Eindruck, die Statue erstreckte sich auch durch die oberen Stockwerke. Der von einem riesenhaften Helm bedeckte Kopf irgendeiner biblischen Heldenfigur würde aus dem Dach ragen und wie ein Monolith der Osterinseln zwischen den Schornsteinen und Maschinengewehrnestern stehen, und in seinen Juwelenaugen würde das Feuer eines Golemlebens lodern. Wir hielten unsere Mäntel fest, aus Angst, wir würden sie sonst nie wiedersehen, und mischten uns unter die verdammten Seelen. Türen, die fünfmal so hoch wie eine durchschnittliche Giraffe waren, öffneten sich zwischen den Knöcheln der Statue, und der jüngste Schwall von Opfern drängte hindurch. Wir ließen uns von ihnen mitreißen. Das zentrale Gewölbe des Noir et Blanc war eine Spielhölle, wie sie Dante entworfen haben mochte. Die Rouletteschüsseln waren in kreisrunden Gruben versenkt. Die unrettbar Verdammten – in weißen Smokingjacken und Turbanen oder trägerlosen schwarzen Abendkleidern und mit Schmuck behängt – drängten sich auf den unteren Rängen und ließen Chips auf den Filz fallen, als würden sie Schweinen ihren Fraß in den Trog kippen. Auf der untersten Ebene drehten zwei türkische Catcher in winzigen Lendenschurzen eine Schüssel von sage und schreibe drei Metern Durchmesser, während ein buckliger, verkrüppelter Croupier, Mischa Auer, den Verlierern Zahlen zukreischte. Menschen waren um die Rouletteschüssel herum zu Boden getrampelt worden. Auer hockte in einem Hängekorb, aus dem seine toten 142
Beine baumelten, und schaufelte mit einem surreal langen Schieber die Chips in eine versenkte Öffnung. Ein Mädchen warf sich auf den Filztisch und kreischte, sie hätte einen Fehler gemacht, doch ihre Finger verfehlten um Haaresbreite die verschwindenden Chips. Einer der Catcher hob sie an den Knöcheln hoch, und auch sie verschwand in dem Loch. Ihre hohen Absätze strampelten, als sie von der Maschine verschluckt wurde. Die Schüssel drehte sich weiter, und die Verdammten warfen ihr Geld mit vollen Händen auf den Tisch. Die höheren Ränge beherbergten kleinere Rouletteschüsseln, Chemin de Fer, Blackjack, einarmige Banditen, Vingtet-Un, Five-Card-Studpoker. Verzweifelte Freunde und gefährliche Parasiten, Möchtegernspieler ohne einen Penny auf der Suche nach Nervenkitzel aus zweiter Hand und geschickte Taschendiebe im Dienst des Hauses mischten sich unter die Süchtigen. Schweigsame Orientalen bewegten sich unter der Kundschaft und servierten Drinks und Wechsel. Zwei vierschrötige zaristische Offiziere in Operettenuniformen spielten mit ernsten Gesichtern russisches Roulette, wobei sie jedesmal einen Drink auf Ex tranken, wenn der Schlagbolzen ihres Revolvers auf eine leere Kammer traf. Der Lärm war unerträglich: sich überlagernde Unterhaltungen in verschiedenen Sprachen, reiche alte Damen mit einem Lachen, als würde man mit lackierten Nägeln über eine Tafel kratzen, das endlose Klappern der Rouletteschüsseln, gelegentliche Schüsse, Schreie unbekannten Ursprungs, das Kies-unter-Wellen-Klimpern von nervös befingerten Chipstürmen, die Aufschreie der Verlierer. Und irgendwo unter alldem eine desinteressierte JazzBand. Einer der Weißrussen verlor, und der andere leerte ein blutbespritztes Glas. Seine Hand zitterte, als er seinen Gewinn einsammelte. 143
»Das ist Graf Charles Boyer«, sagte Carradine und zeigte auf einen teilnahmslosen Mann mittleren Alters, der einen kleinen Stapel versiegelter Dokumente auf einen Tisch warf. »Er versucht, sein Anwesen zu verspielen, bevor es den Nazis in die Hände fällt, aber seine lebenslange Pechsträhne hat sich gewendet. Er gewinnt immer nur.« »Eine tragische Geschichte.« »Hier sind alle Geschichten tragisch.« Mit den Händen in den Taschen bahnten wir uns einen Weg durch den Hauptsaal und traten hinaus in einen Ziergarten, über dem die Sterne funkelten. Ein Glasdach, wohl fünfzig Meter über uns, schützte uns vor dem Regen. Da war ein Quecksilberbrunnen, in dem sich die Verlierer spiegeln konnten, während sie sich eine Kugel in den Kopf jagten. Die Angestellten entfernten gerade den jüngsten Schwung von Leichen. Curt Bois füllte einen Eimer mit Ringen, Armbanduhren und leeren Brieftaschen. »Macready wird oben sein«, sagte ich. »Dann mal ganz leise.« Wir kamen in einen kleinen Saal, in dem gerade ein Maskenball stattfand. Luftschlangen flogen durch die Luft, und die Nachtschwärmer verrenkten sich zur Musik. Es gab ein vages mittelalterliches Thema: Ritter und Burgfräulein, Narren und Briganten. Eine Gruppe war als Drache gekommen und vollführte einen Conga durch die tanzenden Paare, wobei sich der Schwanz ablöste, während der riesige Kopf weiter auf und ab hüpfte. Vor uns lag eine breite Marmortreppe, die spiralförmig zu den Giebeln und den oberen Regionen des Casinos hinaufführte. Sie wurde von weiteren muskulösen Catchern bewacht, diesmal als Barbarenkrieger verkleidet. »Da ist Ihr Mann, Richie.« 144
Jetzt sah ich ihn auch. George Macready, makellos gekleidet und mit seinem tödlichen Stock in der Hand, stand auf halber Höhe der Treppe und unterhielt sich mit einer Gruppe hochrangiger Nazis. »Martin Kosleck, der ist ihr Propagandaminister«, erklärte mir Carradine. »Paul Lukas, der Schlächter von Bratislawa. Und die Frau ist Katina Paxinou. Sie führt widernatürliche Experimente an den Gefangenen der Konzentrationslager durch. Man sagt, sie hätte es geschafft, ein Gorillagehirn in einen menschlichen Schädel einzupflanzen, oder vielleicht war es auch ein menschliches Gehirn in einen Gorillaschädel. Ein reizendes Herzchen. Unser Junge befindet sich in netter Gesellschaft, was? Selbst wenn er nicht der neue Nachtbürgermeister ist, dann steht er doch ganz oben auf meiner Liste bedeutender Schädlinge für die Gesellschaft.« Macready und seine Gruppe kehrten uns den Rücken zu und schwebten hinauf zu dem abgedunkelten Bereich nahe dem Dach, bevor sie durch eine Tür verschwanden. »Wir müssen also nur an Gog und Magog vorbeikommen, und schon können wir eine Plauderstunde einschieben.« Carradine und ich schlenderten über die Tanzfläche. Zorro sprang über einen gigantischen Springbrunnen, doch er stolperte und fiel mit dem Gesicht voran ins Wasser. Alle in einem Umkreis von zwei Metern wurden durchnäßt. Ein sensentragender Tod drehte sich um und schrie wütend den Banditenanführer an. Ein Affe mit einer Fransenweste und einem von Federn gezierten Sombrero auf dem Kopf stürzte sich auf meine Beine, zerrte an meinem Trenchcoat und bleckte die Zähne. Carradine verscheuchte ihn mit einem Tritt. Die Menge teilte sich. Eine als Matador verkleidete 145
Asiatin riß sich die Maske vom Gesicht und warf sich in meine Arme. Unsere Zähne knirschten, als wir uns küßten. »Hallo, American GI Johnny«, gurrte sie. »Hast du mein fehlendes Messer?« »Hallo, Anna, könntest du…« Doch sie war fort, bevor ich sie noch um Hilfe bitten konnte, davongetragen von drei identisch kostümierten Musketieren. Sie schwenkte noch einmal ihre Peitsche durch die Luft, dann war sie wieder in der Menge verschwunden. Ich entdeckte Zeppo Marx, der niedergeschlagen und wie gewöhnlich im Abseits dasaß und auf seine Armbanduhr schaute, ohne sich um das Fest zu kümmern. Von nahem waren die Catcher sogar noch riesiger. »Wir müssen sie irgendwie ablenken«, schrie ich über die Kakophonie hinweg. Carradine nickte, aber uns wollte einfach nichts einfallen. Doch gerade in diesem Moment verlor der Drache seinen Kopf. Darunter hatte ein Liliputaner gesteckt, der auf den Schultern eines hochgewachsenen Schwarzen saß. Der Liliputaner rauchte eine Zigarre und hatte eine Maschinenpistole. Er feuerte in die Luft, und ein Kronleuchter krachte zu Boden. Alle schrien und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Die Catcher bewegten sich im Team auf die Unruhestifter zu, und wir schlichen uns hinter ihnen vorbei. Carradine hob ein Schwert auf, das irgendwer fallen gelassen hatte, und wir liefen die Treppe hinauf zu Macreadys Höhle. Das Gewehr feuerte abermals, und Marmorsplitter stoben von den Stufen vor uns hoch. Im Laufen warfen wir uns gegen die Türflügel und stürmten hindurch. Natürlich war es zu einfach gewesen. 146
In Macreadys geräumigem Privatbüro waren Gewehre auf uns gerichtet. Der Glücksspielkönig war in einen schwarzen Kimono gehüllt und hatte einen weißen Seidenschal um seinen Hals geknotet. Die Nazis waren weg, doch über dem Schreibtisch hing ein riesiges Porträt des Führers, Anton Diffring. »Mr. Quick«, schnarrte Macready, »willkommen im Noir et Blanc. Dieser Gentleman ist Captain of Detectives Barton MacLane. Er war sehr begierig darauf, Sie kennenzulernen. Und diese Männer mit den Gewehren gehören der Nationalgarde an. Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie sich kampflos ergeben würden. Wir haben gerade renoviert.« MacLane, ein schwabbelgesichtiger Boxertyp mit fiesen Augen, kaute an einer Zigarre. »Du bist verhaftet, Plattfuß.« Ganz langsam nahm ich meine leeren Fäuste aus den Taschen und öffnete sie. Ich breitete sie wie zum Segen aus und reckte sie in die Luft. »Ich ergebe mich«, sagte ich. »Was soll das heißen, du Penner«, brüllte MacLane, »du widersetzt dich der Festnahme?« Die Gewehre hoben sich, die Sicherungsflügel schnappten. Dann ging’s los.
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FÜNFZEHN In John Carradines Kopf klickte etwas, und er sprang räderschlagend und den Kugeln ausweichend quer durch den Raum. Er stieß mit einem Nationalgardisten zusammen, und sie fielen ineinander verknäult zu Boden. Während er mühsam wieder auf die Füße kam, bemerkte er, daß er sein Schwert schwenkte. Alles geschah viel zu schnell, um noch den Überblick zu behalten. Die Stimme in seinem Kopf, Yggdrasil, sagte ihm, was er tun sollte. Er war nicht mehr verpflichtet, seinem Drehbuch zu folgen, doch er wußte, daß er nun der Stimme gehorchen mußte. Dies war ein wichtiger Moment der Haupthandlung. Macready hob seinen Stock. Sein brutaler Mund verzog sich zu einer zweiten Narbe, und eine dreißig Zentimeter lange Klinge schnellte aus dem Holz. Der Glücksspielkönig ließ die Klinge herabsausen, und obwohl Carradine einen Schritt zurücksprang, konnte er spüren, wie sich die kalte Messerspitze durch seine Kleidung bohrte. Doch noch bevor Macready zustoßen konnte, parierte Carradine perfekt. Funken flogen. Macready löste den Gürtel seines Kimonos. Carradine warf seinen Umhang von sich. Hiebe antäuschend umkreisten sie einander. Carradine hatte das Gefühl, seinen Gegner im Griff zu haben. Die beiden Männer kämpften in der Mitte des Raums. Carradine hieb auf den Stock seines Gegenübers ein, und ein Stück Holz flog durch die Luft. Doch da war ein Stahlkern, und Macready kämpfte unbeirrt weiter. Er war der erfahrenere Fechter. Durch einen Glückstreffer verpaßte Carradine seinem Gegner einen Schnitt auf der linken Wange. Wenn sie verheilt war, würde er ein Paar zueinander passender 148
Narben haben. Macready wischte sich mit dem Ärmel über die Wunde und ließ seinem Haß freien Lauf. »Stirb, du aufgeblasene Vogelscheuche!« Alle anderen im Raum hatten sich gegen die Wände gedrückt, außer Reichweite der Kombattanten. Carradine sprang mit einem Satz auf den Schreibtisch und nahm sich Macreadys Kopf zum Ziel, während Macready auf Carradines tanzende Beine einhieb und diese wiederholt verfehlte. Carradine sprang, und die beiden Männer gingen miteinander ringend zu Boden. Macready drückte Carradines Kinn nach oben und grub seine Finger in den Hals des anderen Mannes. Ineinander verschlungen rollten die beiden über den Teppich. Als er Macready unter sich hatte, spürte Carradine, wie sein Gegner erst erstarrte und dann erschlaffte. Macready war in seine eigene Klinge gerollt. Carradine stand auf. Er blutete aus mehreren Schnittwunden. Er berührte seine Seite, und als er die Hand wieder fortnahm, war sie blutverschmiert. »Sieh nur, Richie. Es ist… rot!« Richie Quick nahm seinen Hut ab und starrte ihn an. Carradine wußte, daß etwas unendlich Bedeutsames geschah. Die Stimme gratulierte ihm. »Legt ihn um«, knurrte MacLane. »Nein«, schrie Richie. Die Gewehre gingen los, und Carradine fühlte die Einschläge in seiner Brust. Endlich überzeugt, daß er wirklich gelebt hatte, starb er.
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TEIL III DIE DAME IM DUNKELN
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SECHZEHN Susan hätte schwören mögen, daß sich das Einschußloch in Cooks Stirn in ein Auge verwandelte und ihr zuzwinkerte. Es war durchaus möglich. In TRÄUMEN war alles möglich. Sie sollte das am besten wissen. Noch immer unter Schock, ging sie vom Taxi weg und ließ den entsorgten Körper auf dem Fahrersitz zurück. Das Taxi blubberte im Leerlauf auf der Straße, während der Taxameter weitertickte. Autos fuhren daran vorbei. Susan entdeckte in der Ferne einen Streifenpolizisten und wußte, daß sie sich nicht mit ihm über die Leiche unterhalten wollte. Cook war Daines Begrüßungsgeschenk für sie gewesen, dachte Susan bei sich. Es war einfach eine jener Ich-kanntun-was-ich-will-wann-ich-will-und-dich-zwingen-es-zumögen-Gesten, die bei Größenwahnsinnigen und Massenmördern so beliebt waren. Doch wenn die Meldung im Inquirer der tatsächlichen Wahrheit entsprach, dann wäre Daine tot. Das war recht unwahrscheinlich. Obgleich seine Gehirnströme einige interessante Dinge auf den Ausdrucken veranstalteten, hatte Dr. Groóme kein größeres Trauma feststellen können. Susan vermutete, daß ihre Beute beschlossen hatte, eine Weile nicht sein eigenes Gesicht zu tragen, damit er seine Gäste erledigen konnte. Und Tom Tunney mußte lächerlich einfach zu erledigen gewesen sein. In gewisser Weise war es perfekt: Im Angesicht eines Möchtegernattentäters hatte Daine sich selbst töten lassen und es seinem Gegner in die Schuhe geschoben, damit dieser die Konsequenzen tragen mußte. Susan blieb an einem Zeitungsstand stehen. Er war 151
anders als der, an dem sie das Extrablatt gekauft hatte, doch er war ebenfalls mit Mickey Rooney besetzt. Er mußte zum Inventar des Clichés gehören. Sie verzichtete auf den Austausch flotter Sprüche und kaufte einen billigen Stadtplan. Ein oder zwei Blocks weiter die Straße hinunter fand sie einen Platz unter der Markise eines Lebensmittelhändlers, wo sie den Plan in Ruhe studieren konnte. Die Karte entfaltete sich von einem schlanken Rechteck zu einem druckbogengroßen Quadrat, das im Wind flatterte und keine große Ähnlichkeit mit dem besaß, was Susan bis jetzt von der Stadt gesehen hatte. Besonders an den Rändern war die Karte ausgesprochen vage. Susan intuierte, daß der TRAUM sich mit großer Schnelle entwickelte, seine Bewohner umbesetzte und seine Externa verschob. Susan war es gewohnt, sich TRÄUMEN hinzugeben, und so erkannte sie augenblicklich, wie ein Gegenangriff aussehen mußte. Dies war keine Serienhalluzination, in der der Träumer in den Blickwinkeln einer Reihe von Similies gefangen war. Hier war es jedem, der eintrat, freigestellt, ein TRÄUMER zu werden. Daine brauchte diese Flexibilität, doch er mußte sich auch ihrer Risiken bewußt gewesen sein. Er war auf Tunney vorbereitet gewesen. Er glaubte auch, auf Susan vorbereitet zu sein. Jenseits des Regenvorhangs bewegten sich seltsame Gestalten. Susan wünschte, Daine würde sich endlich zeigen, damit sie den Kampf Verstand gegen Verstand austragen und die Sache ein für allemal hinter sich bringen konnte. Doch der Stadtvater würde irgendwo dort draußen in seinem Labyrinth hocken und seine Handlanger in die Schlacht schicken, um seine Feinde zu zermürben, um ihren Verstand auszuquetschen. Im Besonderen erwartete Susan die Gefahren der Flattys – mordlüsterne Gangster, korrupte Cops, messerschwingende Hausmeister –, doch 152
sie wußte, wenn Daine seinen Verstand nur ein bißchen weiter ausstreckte, konnte er alles und jedes in der Stadt in eine Waffe verwandeln. Hier konnte sie ebensoleicht von Shirley Temple, Elmer Fudd oder Lou Costello getötet werden wie von Jack Palance oder Anthony Perkins. Sie hatte versucht, ihren eigenen Standort auf der Karte zu finden, doch die gedruckten Boulevards und Hausblöcke begannen neue Muster zu bilden, wann immer sie den Blick zur Straße hob. Susan sah Escher-Labyrinthe und Möbius-Bänder. Wütend zerknüllte sie den Stadtplan und warf ihn in den Rinnstein. Er verwandelte sich in ein Origamiboot und segelte auf ein Siel zu. Sie hörte das Echo des Piratenchors aus Der Herr der sieben Meere im Regen. Die Markise wurde mit einem Kettensägenschnarren eingezogen, und eine Kaskade aus Regenwasser stürzte auf Susans Kopf herab. Der Regenmantel hielt den größten Teil ab, doch ihr Haar wurde selbst unter der Kapuze klatschnaß. Sie dachte es trocken, und es war trocken. Sie sandte ihren Verstand auf die gegenüberliegende Straßenseite aus und versuchte, ein Gefühl für die Form eines Gebäudes zu bekommen, das sie verschwommen sehen konnte. Die Dimensionen des Hauses waren leicht in den Griff zu bekommen. Ein Brownstone, drei Stockwerke hoch, abbruchreif, mit einem rechtwinkligen Dach, einer Schornsteinreihe, einem Kinderbild-Arrangement von Fenstern und einem imposanten Eingang. Die Fenster waren zerbrochen oder mit Brettern vernagelt. Susan schloß die Augen, doch sie konnte das Gebäude noch immer sehen. In ihrem Kopf veränderte sie das Bild. Mauerstein um Mauerstein entfernte sie die äußere Hülle und massierte die Essenz des Baus, um ihn zu einer gotischen Kathedrale zu modellieren. Türme erhoben sich in den Himmel, Blitze 153
zuckten um sie herum, und Fenster füllten sich mit Bleiglas. Die Kathedrale breitete sich aus und zerquetschte dabei die Gebäude zu beiden Seiten wie Knetmasse, bevor sie sie gänzlich absorbierte. Engel tanzten in der Luft und setzten sich dann ehrfürchtig in ihre Alkoven. Pflastersteine erhoben sich und wurden in das neue Gebäude gesogen. Der ganze Prozeß war lautlos. Susan öffnete die Augen und betrachtete ihre Arbeit. Es war ungeschlacht, ein wenig unvollendet und ungeformt – in jedem anderen TRAUM hätte sie die Externa recherchiert und nicht aus dem Blauen heraus gebaut –, doch es war genau, wie sie es wollte. Sie zwang die großen Holztüren mit ihrem Willen, sich zu öffnen, und überquerte die Straße. Im Innern würde es wenigstens trocken sein. Sie trat durch die Tür und stand unvermittelt in völliger Dunkelheit. Sie hatte vergessen, sich eine Inneneinrichtung vorzustellen. Ein verständlicher Fehler. Sie war es gewohnt, Kulissen für den Hintergrund zu erschaffen. In TRÄUMEN ging man immer an mehr Häusern vorbei, als man letzten Endes betrat. In der Dunkelheit war der TRAUM unentwickelt und formlos. Susan erschuf sich eine Kathedrale, nicht ganz im Geiste der Außenfront, doch geräumig genug. Das riesige Gebäude vermittelte ihr ein Gefühl von Macht. Obgleich sie wußte, daß es im Vergleich zur Stadt winzig sein mußte, fühlte es sich doch gigantisch an, und es war das Gefühl, das zählte. Susan erschuf sich eine Orgel und TRÄUMTE einen Mann, der darauf spielte. Lord Roger Marshaller, der annähernd anständige von Vanessa Vails Freiern, trat aus der Sakristei und ging durch das Mittelschiff zur Orgel. Susan hatte die Gesichter mehrerer älterer Männer – einem Lehrer, einem Holomeister, einigen Sängern – kombiniert, für die sie im 154
Alter zwischen neun und zwölf geschwärmt hatte, dann hatte sie ihnen alle Ecken und Kanten genommen, um ihr Mischwerk noch ansprechender zu machen. Lord Roger war als Phantasie für gelangweilte Romantiker gedacht. Seine lachenden blauen Augen hatten stählerne graue Flecken, und er besaß die Angewohnheit, sich mit sensiblen Fingern durch seine silbergraue Löwenmähne zu streichen. Sie hatte Lord Roger als einen ehemaligen Chirurgen GETRÄUMT, der noch immer darunter litt, außerstande gewesen zu sein, das Leben seines einzigen Kindes zu retten. Außerdem war er Nobelpreisträger, ein führender Eishauer und ein meisterlicher Reiter. Nun schenkte Susan ihm auch noch ein musikalisches Talent, das seinesgleichen suchte. Sie setzte sich unbemerkt in eine der Bankreihen, während Lord Roger sich die Finger wärmte. Er spielte Tonleitern und streckte seine Chirurgen-Eishauerhände. Dann stimmte er ›Barbara Allen‹ an. In Scarlet Town, where I was born There is a fair maid dwellin’ Made every lad cry ›lack-a-day‹ For the love of Barbara Allen… Susan erkannte ihren Fehler. Eine kleine Jazz-Combo war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und hatte sich um Lord Roger versammelt. Eine Sängerin – Annie Belladonna, die jugendliche Xenobiologin und Heldin aus Das Ding aus der Kanalisation – sang die Strophen mit Rosemary Clooneys Stimme. Die Musik lullte Susan ein… T’was in the merry month of May, When green buds they were swellin’ And on his death-bed Sweet William lay For the love of Barbara Allen… 155
Das Dach begann sich aufzulösen. Susan fühlte die ersten Regentropfen. Die Musik in ihrem Kopf war lauter, lauter als alles andere. Immer mehr Instrumente nahmen die Melodie auf und ertränkten die zarte Gesangsstimme. Hinter dem Altar erschien ein Chor und steuerte seltsame Harmonien bei. Die Kinder rissen zu große Münder in ansonsten leeren Gesichtern auf. Die Improvisationen gingen weiter und weiter, in einem festen Muster der Wiederholung, das so faszinierend wie der Blick einer Kobra war und Susan immer stärker in seinen Bann zog. Mit einer schmerzhaften Anstrengung schaltete sie die Musik aus. In der Kathedrale herrschte plötzliche Stille. Annie Belladonna, die Musiker, der Chor – alle waren verschwunden. Lord Roger lag erschlafft über der Orgeltastatur, nachdem ihm so unvermittelt das Leben entrissen worden war. Susan gab es ihm zurück, doch er konnte sich nur ruckartig bewegen, wie eine sperrige Marionette. Susan ließ ihn von der Orgel heruntersteigen und zu ihr herüberkommen, doch seine unkoordinierten Glieder erinnerten sie zu sehr an die Zombies in Corin Santangelos HorrorTRAUM Augäpfelpflücker aus Italien. Sie wollte nicht sehen, was sie seinem attraktiven Gesicht angetan hatte, also ließ sie ihn verschwinden. Er löste sich auf, während seine Kleider noch einen Augenblick lang unausgefüllt in der Luft hingen, bevor sie zu Boden schwebten. Susan würde sich vor Anfällen von Selbstüberschätzung in acht nehmen müssen. Draußen vor der Kathedrale würde ein Skimmer mit Chauffeur auf sie warten. Ein Sportmodell mit einem Andrew-Piloten. Sie hatte recht, doch die Anachronismen, die sie in 156
Daines TRAUM einzuschleusen versuchte, griffen nicht. Der Skimmer war ein langes, schwarzes Auto; der Chauffeur war ein Kriegsveteran in Livree, mit einem stählernen Gesicht und ledernen Händen. Susan würde sich damit begnügen müssen. Sie stieg hinten ein und stellte mit Freude fest, daß ihr Unterbewußtsein in weiser Voraussicht eine Bar eingefügt hatte. Sie schenkte sich einen Whisky ein und kippte ihn hinunter. Er brannte in ihrer Kehle und loderte wie Feuer in ihrem Bauch. Wütend nahm sie die Ladenzeile gegenüber der Kathedrale ins Visier und legte sie in Schutt und Asche. Der Chauffeur fuhr ohne Aufforderung los. Susan war wieder in einem Fahrzeug, doch diesmal war es ihr eigenes. Sie frage sich, wieviel Kontrolle sie über den Chauffeur hatte. Nach dem Vorfall mit Lord Roger nahm sie sich vor, vorsichtiger zu sein. Man konnte nicht einfach Leute erschaffen und wieder verschwinden lassen, ohne daran zu arbeiten. Außerdem mußte sie Daine finden. Am besten, sie fing ganz oben an. »Zum Rathaus«, befahl sie, »ich habe eine Verabredung mit einem Bürgermeister.«
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SIEBZEHN Stahlgesicht wußte, wie man zum Rathaus kam. Susan argwöhnte, daß Daine es ihr leicht machte. Er dachte, er könnte in ihrem Verstand ebenso leicht einen Kurzschluß verursachen, wie er Tunney erledigt hatte. Darüber hinaus war er wahrscheinlich auch neugierig auf sie. Sie mochte nicht viel hermachen, doch was Selbsterfahrung und Unabhängigkeit anging, war sie die einzige in der Stadt, die ihm das Wasser reichen konnte. Dies mochte seine Vorstellung einer Flucht sein, doch Susan dachte bei sich, daß sie an Daines Stelle durchdrehen würde. Sie stellte sich ein Leben inmitten ihrer eigenen TRAUMgeschöpfe vor, stellte sich vor, wie es war, immer zu wissen, was hinter jeder Ecke lag. Egal, wie groß das Universum sein mochte, das er sich erschuf, Daine würde trotzdem immer in den Grenzen seiner eigenen Vorstellungskraft gefangen sein. Er war vermutlich so größenwahnsinnig, daß er noch nicht erkannt hatte, daß er aus einem Gefängnis in ein noch kleineres geflohen war. Vermutlich führten alle Wege zum Rathaus. Ihr Chauffeur fuhr keine Umwege. Es gab keine unerwarteten Zwischenfälle. Keine Autoverfolgungsjagden oder Polizeisperren. Soweit die Stadt ein Geschäftsviertel besaß, war es dies hier. Es hingen einige Plakate für die anstehende Bürgermeisterwahl aus. James Stewart kandidierte gegen den amtierenden Brian Donlevy. Keiner der beiden schien irgendeine spezielle Partei zu repräsentieren, und der Wahlkampf wurde einzig über ihre Persönlichkeiten ausgetragen. Stewarts Motto war ›Krieg der Bestechung‹ Donlevys lautete ›Die Dinge tun, wie wir sie immer getan 158
haben‹. Susan wußte, daß Stewart die Wahl gewinnen, das Amt jedoch nie antreten würde. So war das immer: Der junge Reformer gewinnt am Ende, aber im nächsten Film sind die korrupten Politiker noch immer an der Macht. Sie fragte sich, ob Jimmy diesen Kreislauf jemals leid wurde. Überall sah sie auf Stewarts Plakaten gestochen scharfe Graffiti: ›Gegen den Stadtrat kann man nicht gewinnen‹. In der realen Welt war es auch nicht viel anders, dachte Susan bei sich. Das administrative Nervenzentrum der Stadt war eine Art Dorfplatz im Großmaßstab, eingegrenzt von drei imposanten Gemeindebauten. Das Rathaus, das Polizeipräsidium und das Metro-Goldwyn-MayerGebäude. Der Rathausplatz war eine öde Parkanlage mit grauen Rasenflächen und einer monumentalen, schwarzen, von Flutlicht angestrahlten Statue von Truro Daine, verkleidet als römischer Kaiser, eine Geige unter dem Kinn, den Bogen zum Einsatz erhoben. Susan ließ ihren Chauffeur auf einem mit RESERVIERT gekennzeichneten Parkplatz neben dem Rathaus halten und stieg aus. Der Park war verlassen, abgesehen von zwei Wermutbrüdern, die unter der Statue ihren Rausch ausschliefen. Susan blickte zur Statue hinauf und lachte. Wie so viele große Verbrecher schien Daine sich keine Vorstellung davon zu machen, wie lächerlich er die meiste Zeit über aussah. »Bist du wirklich dort drin, Daine?« rief Susan. Die Riesenarme bewegten sich, und die Geige ertönte. ›The Devil’s Trill‹ von Tartini. Ein weiterer Beweis für Daines Größenwahn. Obgleich die Musik lebhaft war, bewegten sich nur die Arme. Das Gesicht war nunmehr erstarrt und der Rest der Körpers nichts als toter Stein. Über die schrille Melodie hinweg stellte Susan eine Frage. »Daine, kennst du dich zufällig mit japanischen 159
Monsterflattys aus?« Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Rasen und sandte ihre Gedanken zur Bucht aus. Sie versenkte sich tief in die schwarzen Fluten und erschuf einen Strudel. Er begann als trichterförmiger Wirbel von der Größe eines Seepferdchens, dann wurde er länger und sog einen Kern aus Luft ein. Susan verfestigte die Luft und mischte sie mit Wolken umherwirbelnden Sands. Daine hatte den Grund seines Meeres wie ein großes Aquarium gestaltet. Susan stellte sich eine Muskulatur, ein Skelett, eine Haut, kreislaufstützende Organe und glühende Augen vor. In demselben Maße, wie ihr Geschöpf an Kraft wuchs, wuchs auch Susans eigene Kraft. Ihre Oberarme schwollen an und spannten den Stoff ihres Kostüms. Sie fing es gerade noch rechtzeitig ab und ließ die Muskeln wieder etwas abschwellen. Sie konnte sich momentan keinen Hulk-Out leisten. Die beiden Wermutbrüder waren von der infernalischen Musik aus dem Schlaf geschreckt worden und suchten nun eilig das Weite. »He, Lady«, sagte einer der Säufer, Walter Brennan, »sind Sie je von ’ner toten Biene gestochen worden?« Sie liefen weiter und waren verschwunden, bevor Susan Gelegenheit hatte herauszufinden, was das bedeuten und ob sie die Frage beantworten sollte. Die Statue spielte weiter. Der Boden des Parks warf sich auf, als würde er von riesigen Maulwürfen aufgewühlt. Oder eher von Gophern: Maulwürfe würden hier Gopher sein. Susan fühlte, wie die Kraft in der Erde ihren Körper vibrieren ließ. Draußen in der Bucht durchbrach etwas Gigantisches die Wasseroberfläche. Miniaturspringfluten klatschten gegen die Dockanlagen, rissen Piere und Molen fort und 160
ergossen sich in das Straßenlabyrinth, wo sie einen menschlichen Exodus vor sich hertrieben. Susan tauchte in ihr neues Spielzeug ein und sah die Stadt ausgebreitet wie ein Modell vor seinen wassertriefenden Augen. Sie gab ein Brüllen von sich und klatschte die hausgroßen Pranken über ihrem schuppigen Kopf zusammen. Sie schlug mit dem Schwanz aus, ließ Schiffe kentern und zertrümmerte einen Leuchtturm. Wellen schwappten an ihren gigantischen Schenkeln hoch, während sie auf das Ufer zuwatete. Wieder als Susan hörte sie ihre eigene Stimme, verzerrt von der Reise durch die höhlenartige Kehle des Reptils, die ihre Verachtung herausbrüllte. Der Boden bebte im Rhythmus der Schritte der gigantischen Bestie. Ganze Stadtteile wurden plattgewalzt, und Gebäude knickten wie Balsaholz ein. Straßen buckelten, Autos flogen durch die Luft wie Kinderspielzeug, und StreichholzmodellStrommasten zersplitterten. Susan hob die Hände und fühlte, wie jene anderen, klauenbewehrten Hände Daines TRAUM einstürzen ließen. Schnittwunden und Schwielen erschienen, wo ihr Stellvertreter sich in seiner Zerstörungswut verletzte, doch Susan ließ sie mit einem kurzen Gedanken verheilen. Menschen rannten über den Platz und schrien auf japanisch. Ein zusammengewürfelter Konvoi von Schützenwagen und gepanzerten Fahrzeugen zog am Rathaus vorbei, und seine Motorradeskorte zerpflügte die Blumenbeete. Niemand kümmerte sich um Susan. Sie sah Charlton Heston in einem Jeep stehen, gekleidet wie ein Wüstengeneral, sein Hemd bis zur Taille aufgeknöpft und mit einem Feldstecher vor seiner behaarten Brust. Er gab seinen Truppen das Zeichen zum Ausrücken. Artilleriegeschütze eröffneten das Feuer. Die Armee konnte die Bestie nicht aufhalten. Ein Panzer 161
flog über den Platz, haarscharf an der noch immer musizierenden Statue vorbei, und krachte in die Seitenwand des MGM-Gebäudes. Er verkeilte sich im zertrümmerten Mauerwerk, während eine Million Scherben auf den Bürgersteig herabregneten. Der LKWgroße steinerne Ars-Gratia-Artis-Löwe auf dem Dach miaute und brachte sich mit einem großen Satz in Sicherheit. Gewehrfeuer knatterte wie Knallfrösche, und das eindrucksvolle Tier schüttelte sich, als würde es von Mücken gepeinigt. Ein Doppeldeckergeschwader flog mit ratternden Maschinengewehren niedrig über die Stadt. Die Patrouille kam heute nicht erst bei Morgengrauen. Ein zweibeiniger Beagle von der Größe eines Kindes mit Pilotenkappe und Schutzbrille kletterte aus einer abgestürzten Sopwith Camel, staubte sich ab und bellte vor Schmerz. Soviel zum Thema Biggies und der Rote Baron. Auch die Luftwaffe konnte die Bestie nicht aufhalten. Dann war Susans Monster auf dem Platz und überragte Daines Statue. Susan hatte dank eines Spleens ihres Vaters als Kind eine Menge japanischer Kaiju-eiga-Flattys gesehen; es war eine Kleinigkeit gewesen, sich ihrer Erinnerungen daran zu bedienen. Für ihr Geschöpf hatte sie Godzilla, den König der Monster, Ghidrad das dreiköpfige Monster, Gappa das triphibische Monster, Guilala das X aus dem Weltall, Camera die fliegende Riesenschüdkröte und Hedorah das Smogmonster kombiniert. Die gigantische Kreuzung flatterte mit ihren funktionsuntüchtigen Flügeln, blies atomares Feuer auf die Stadt und donnerte ihren einhundertfünfzig Meter langen Schwanz auf die Erde. Daines Statue erbebte, setzte jedoch nicht eine Note lang aus. Susan schloß die Augen und blickte durch die ihres Monsters. Der winzige schwarze Geiger ärgerte sie mit 162
seinem kratzenden, wespengleichen Summen. Sie hob einen mit Schwimmhäuten und Klauen bewehrten Fuß, und ein Schatten von der Größe einer Kernschmelznarbe fiel auf die geigende Figur. Susan fühlte, wie etwas an ihrem Schwanz zog. Sie schlug die Augen auf, als hätte sie eine satte Ohrfeige verpaßt bekommen, und blickte gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie ihr Monster von unsichtbaren Kräften von den Füßen gezerrt wurde. Sie sah, wie es gegen einen mächtigen Sturmwind ankämpfte, doch außerstande war, etwas Greifbares innerhalb seiner Reichweite zu treffen. Sein Schwanz hing nutzlos herab, wie der gebrochene Arm einer Gummibiegepuppe. Das Monster wurde nach oben gesogen, weiter und weiter, bis es für Susans Auge nicht größer als ein kleiner Vogel war. Dann, ein winziger Fleck am Himmel, explodierte es in einer schwarzen Wolke und war verschwunden. Susan rieb sich ihre schmerzenden Augen. Jetzt war alles wieder still, abgesehen vom leisen Rauschen des Regens und Daines Musik. Der Platz war unberührt. Die MGMFenster waren heil, und der Löwe hielt noch immer Wache auf dem Dach. Der Rasen war eben, die Blumenbeete säuberlich gezogen. Susan konnte keine zerstörten Autos, Flugzeuge oder Militärfahrzeuge entdecken. Das Lied sägte sich dem Ende entgegen, und selbst das Echo der Noten verhallte. Die Statue stand wieder reglos da. »Wie würdest du das nennen, Daine? Ein Unentschieden? Zu einfach. Soll ich dir sagen, wer hier ist? Hier ist Susan Bishopric. Ich habe einen Rodney gewonnen, und diesen Herbst werde ich eine ganze Ladung mehr bekommen. Ich werde dich beim TRÄUMEN in die Tasche stecken, daß dir Hören und Sehen vergeht!« Eines der schwarzen Marmoraugen der Statue zwinkerte ihr zu. 163
ACHTZEHN Ich fühlte mich, als hätte gerade ein Erdbeben die Stadt erschüttert. Sie hielten mich in einer der Zellen im Polizeipräsidium fest. In der Nebenzelle blubberte Edward G. Robinson gerade ein Geständnis, und in der übernächsten Zelle rief George Raft lautstark nach seinem Anwalt. Ich hockte auf meiner Pritsche, spielte mit Handschellen das Hexenspiel und verhielt mich ruhig. Das ganze Gebäude bebte, und jemand spielte draußen auf der Straße sehr laut die Toneffektbänder aus Im Westen nichts Neues und Schnellboote vor Bataan ab. Ich fragte einen vorbeikommenden Cop, was los war, doch er schaute mich nur ausdruckslos an und knurrte: »Du würdest es nicht glauben.« In einem der unteren Stockwerke brüllte ein Säufer etwas von Monstern, und ich vermutete, daß Orson Welles wieder mal einen seiner Marsmänner-Streiche gespielt hatte. Ein Brocken der Decke fiel herab. Dann war plötzlich wieder alles still, und man konnte hören, wie der Staub zu Boden schwebte. Erst jetzt machten sich die Cops die Mühe, jemanden herüberzuschicken und nachsehen zu lassen, ob bei uns alles in Ordnung war. Sergeant Allen Jenkins war enttäuscht, daß keiner von uns zermalmt unter dem Schutt lag, doch er fand sich schnell damit ab. »Du da«, sagte er zu mir, »beeil dich. Du sollst zum Verhör kommen.« Er rasselte mit einem großen Schlüsselring und ließ mich aus der Zelle. »Bis dann, Jungs«, rief ich Eddie und George zu. »Ich seh euch im Film.« Jenkins packte mich am Arm und führte mich mehrere 164
Treppen hinauf. Im Polizeipräsidium tobte das Chaos. Krankenschwestern wickelten weiße Verbände um geschundene Köpfe und pinselten Jod auf offene Wunden. Wir kamen am Pressezimmer vorbei. Die Tür war aus den Angeln gerissen worden. Drinnen sah ich Joseph Cotton eine Gruselgeschichte über irgendein Ungeheuer ins Telefon rattern. Er klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter und warf mir einen freundlichen Blick zu, ohne jedoch im Diktieren innezuhalten. Ich winkte zurück, aber ich hatte immer noch die Handschellen um. »Ruhige Nacht, was?« bemerkte ich. Jenkins antwortete nicht. Das Verhörzimmer war ein ruhiger Raum im obersten Stockwerk des Gebäudes. Ein Raum ohne Fenster und mit dicken Wänden. Wenn die Tür geschlossen war, hätte sich darin eine Blaskapelle die Seele aus dem Leib spielen können, ohne daß man im Nebenzimmer etwas davon mitbekommen hätte. Wahrscheinlich würden die Cops zimperlich, wenn sie Schreie und Schläge hörten. »Komm schon, streck deine Hände aus«, befahl der Sergeant. Folgsam gehorchte ich, und er fingerte am Schloß herum. Die Handschellen öffneten sich, und ich massierte meine Handgelenke. »Mach jetzt keine krummen Dinger, verstanden.« Er schubste mich durch die Tür. Der Raum war dunkel. »Setz dich hin.« Jenkins schubste mich auf einen Stuhl, dann drehte er die Schreibtischlampe so, daß sie mir ins Gesicht schien. Das war alles noch gute alte Tradition. Ich zog mein Jackett aus und krempelte meine Ärmel hoch. Ich hätte auch meinen Schlips gelockert, doch den hatten sie mir zusammen mit meiner Brieftasche, meiner Waffe, meinem Gürtel und meinen Schnürsenkeln abgenommen. Ich 165
fragte mich, wie man es anstellte, sich mit seinen Schnürsenkeln zu erhängen. Jenkins verließ den Raum, und zwei Schatten bewegten sich hinter dem Licht. Ich erkannte Captain of Detectives Barton MacLane aus dem Noir et Blanc. Den Zeitungen zufolge hatte er in der letzten Zeit einige unschöne Dinge über mich gesagt. Der andere Mann war Detective Ralph Bellamy, der den Ruf eines ehrlichen Cops besaß. Ich hoffte, er wurde seinem Ruf gerecht. MacLane hatte sich seit einer Woche nicht mehr rasiert und führte ›Schwitzen‹ als sein Hobby im Who’s Who an; Bellamy strahlte offenherzige Freundlichkeit und eine etwas dümmliche Ehrlichkeit aus. Böser Cop, guter Cop: Sie hielten sich buchstabengetreu an die Konventionen. MacLane zündete sich eine Zigarette an und blies Rauch in den Lichtkegel. Er hielt Bellamy die Schachtel hin, der auch eine Zigarette nahm, wohingegen er mir betont die Chance verweigerte, meine Lunge zuzuteeren, bis ich erstickte. In jedem Fall war das erfolgversprechender als die Schnürsenkel, dessen war ich mir sicher. Ich trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. Ich war nicht gerade Gene Krupa, aber ich hatte einen netten Rhythmus drauf, bevor MacLane mir übellaunig auf die Finger schlug. Meine Hand schmerzte. MacLane klatschte ein bleiverstärktes Stück Gummischlauch vielsagend in seine offene Handfläche. Bellamy warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, doch MacLane ignorierte ihn. »Na schön, Schnüffler, laß uns mal eins klarstellen…« »Wenn du nett zu uns bist, dann behandeln wir dich auch nett«, erklärte Bellamy. »Sparen Sie sich diesen Mist«, gab ich zurück. »Ihr Grobiane würdet doch nicht wissen, wie ihr mich nett 166
behandeln sollt, wenn ich eure eigene Großmutter wäre.« »Ein Komiker!« MacLane spielte abermals mit seinem Gummischlauch. »Ich mag Komiker.« Dann holten sie ein paar Hilfsverhörer herein und begannen die peinliche Befragung. Sie waren gut. Ich schwitzte im Scheinwerferlicht und versuchte, nichts auszuplaudern. Sie pirschten jenseits des Lichts wie Raubtiere in einem Käfig auf und ab, während sie den winzigen Raum mit ihrem Bullengestank verpesteten und einen Haufen unzusammenhängender Fragen bellten. Ich glaube, gelegentlich holten sie noch irgendeinen ExGestapo-Schergen von der Ersatzbank herein, als Mann fürs Grobe sozusagen. Der Gummischlauch kam nicht zum Einsatz, doch er wurde viel herumgeschwenkt. Die Cops lösten sich in Schichten ab, aber ich war für die gesamte Spielzeit gebucht. Die Cops bekamen Kaffee und Zigaretten und Sandwiches, während ich mich damit begnügen mußte, ihren gebrauchten Rauch zu inhalieren. Die Aschenbecher quollen über, und es wurde auf Pappbecher zurückgegriffen. Es gibt keinen Geruch, der sich mit dem Gestank von brennenden Kippen in Kaffeeresten vergleichen läßt. Es war halb drei in der Nacht, und ich hatte seit Tagen nicht geschlafen. Ich konnte mich kaum daran erinnern, wie ein Bett aussah. Angesichts dieser Truppe hätte der Papst wahrscheinlich gestanden, daß Tick, Trick und Track in direkter Linie von Jesus abstammten. Wenn sie mich lange genug bearbeitet hätten, hätte ich mich selbst für die Lindbergh-Entführung, die Bombardierung von Pearl Harbor, die Torso-Morde von Cleveland, den Verrat von West Point an die Briten, die betrügerische Manipulation der Baseballmeisterschaft 1919 und das Sauerwerdenlassen der Milch in Salem, Massachusetts, verpfiffen. Aber ich hatte mich entschieden, nicht den Sündenbock für Truro Daine zu 167
spielen. Als Daine den Abgang machte, hatte er ein großes Loch in der Stadt hinterlassen. Und MacLane wollte mich dafür an die Wand nageln. Ich wußte, was das bedeutete. Das Zuchthaus: Tränengaswolken über Kantinenaufständen, Verräter, die ›aus Versehen‹ unter die Dampfhämmer in der Werkstatt fielen. Brutale Wärter und ihre Lieblingsknackis, die den Neuankömmlingen das Rückgrat brachen. Eiskalte Duschen in den Waschräumen. Jungs, die mit den Bildern von Rita Hayworth und Ann Sheridan sprachen. Ich würde im Todestrakt sitzen, wo mir die Gitterstabschatten dauerhafte Tigerstreifen aufs Gesicht warfen. Ein aufmunternder Besuch von Pat O’Brien mit Priesterkragen. Dann der lange Gang zu dem kleinen Raum. In letzter Minute das Gerücht einer Begnadigung vom Gouverneur, die dann doch nicht kam. Ein Stuhl mit vielen Drähten und Riemen. Der große Safthebel. Und das Flackern der Lampen im ganzen Gefängnis. Würde ich am Ende ungerührt einen flotten Spruch auf den Lippen tragen, oder würden sie mich schreiend wie eine feige Ratte durch die letzte Tür zerren müssen? »Woher hattest du die Waffe, Schnüffler? Warum hast du Daine so gehaßt? Was hat er dir je zuleide getan? Wie lange kanntest du Daine schon? Hast du je für Muni gearbeitet? Wieviel hast du aus dem Wandsafe geklaut? Wo ist deine Knarre? Nicht die, die wir dir abgenommen haben, die, mit der du den Boß umgelegt hast?« Fragen über Fragen. Wie hast du ihn umgelegt, wann hast du ihn umgelegt, wo hast du ihn umgelegt, womit hast du ihn umgelegt, warum hast du ihn umgelegt? Es war leicht zu erkennen, von welcher Annahme sie ausgingen. Ich hätte es getan, wenn ich die Gelegenheit gehabt 168
hätte, aber jemand war mir zuvorgekommen. Ich mußte zugeben, daß der Schuh paßte, den sie mir auf Teufel komm raus anziehen wollten. Es war eine jener nicht sonderlich komischen Ironien des Lebens, die zu akzeptieren ich mittlerweile gelernt haben sollte. Schicksal: Du kannst nicht ehrlich werden, niemand brach jemals wirklich aus, sie haben einen Kriminellen aus mir gemacht, niemand lebt ewig… »MacLane, ich gebe auf«, krächzte ich. »Sagen Sie mir, wie ich es getan habe.« »Ahhh.« Der Cop beugte sich ins Licht. Die Schatten verwandelten sein Gesicht in eine Teufelsfratze. »Endlich haben wir dich weichgekocht.« »Mir gefällt das nicht, Captain«, meldete sich Bellamy zu Wort. »Halten Sie die Klappe! Wenn er gestehen will, dann soll er doch. Wir sind hier, um der Öffentlichkeit zu dienen.« Mir dämmerte, daß MacLane Privatdetektive offenkundig nicht besonders mochte. Wahrscheinlich hinkte er ihnen ewig zwei Schritte hinterher. Leute wie ich erinnerten ihn nur daran, was für ein verdammter Idiot er war. »Aber wir kennen Quick, Captain«, gab Bellamy zu bedenken. »Er ist kein Killer.« »Sie brechen mir das Herz, Bellamy. Vielleicht hat er es getan, vielleicht auch nicht. Aber es weht ein verdammt scharfer Wind. Der Inquirer sitzt Bürgermeister Donlevy im Nacken, Donlevy sitzt Commissioner Hamilton im Nacken, und Hamilton sitzt mir im Nacken. Der Commissioner will den Schuldigen auf dem Silbertablett präsentiert haben.« Bellamy ließ nicht locker. »Ich werde nicht zuschauen, 169
wie ein Unschuldiger auf den elektrischen Stuhl kommt.« »Dann gehen Sie an dem Wochenende angeln.« MacLane drehte sich zu mir um. »Wirst du dieses Geständnis unterschreiben, Schnüffler?« »Kriege ich einen Anwalt?« »Nachdem du unterschrieben hast.« »Ich will Raymond Burr.« »Na gut, geht klar.« »Haben Sie was zu schreiben?« »Klar.« Er griff in seine oberste Tasche. »Dann können Sie doch genausogut selber unterschreiben.« MacLane stieß einen langgezogenen Seufzer aus. Er lockerte seine Krawatte und blickte liebevoll auf seinen Gummischlauch. »Bellamy, Sie könnten wohl nicht mal kurz rausgehen und Kaffee holen?« Der ehrliche Cop schüttelte den Kopf, und ich dankte Gott für das Typecasting. »Dachte ich’s mir doch. Sieht so aus, als würde es eine lange Nacht werden. Wo ist die Aussage von dem Schnüffler?« Ein Blatt schmuddeligen Papiers wurde hervorgeholt. »Wir nehmen uns noch einmal Quicks Beitrag für das Magazine of Fantasy and Science Fiction vor.« Mehrere Cops stöhnten. Mir wäre schon was Schlagfertiges eingefallen, aber langsam war Vorsicht angesagt. Bellamy füllte einen Becher mit Wasser aus dem Spender und betupfte damit seine Stirn. »Wie ich schon sagte«, begann ich meine Geschichte, »ich habe mir ein Zubrot zu meinen mageren fünfundzwanzig Dollar pro Tag plus Spesen verdient, indem ich nachts für die Fuller-Bürstenfabrik gearbeitet habe. Ich dachte mir, ein Mann wie Truro Daine, der jahraus, jahrein bis zu den Knien im Dreck steht, würde 170
große Verwendung für ihr Produkt haben, also hab ich beschlossen, ihn mal zu besuchen, um ihm unsere jüngste Kollektion feinborstiger Superflink-Bürsten ans Herz zu legen. Ich bin zu seiner Suite im Monogram raufgegangen und wollte gerade meinen Musterkoffer öffnen, als zu meiner großen Überraschung…« Das Telefon läutete. MacLane riß den Hörer von der Gabel und grunzte in die Muschel. Er war nicht glücklich. Das Leben ist voll von derartigen Tragödien. »Du hast Glück, Schnüffler. Diesmal. Laßt ihn laufen, Jungs.« »Wollen Sie damit sagen, daß ich doch kein naßkalter Killer bin?« »Du machst mich krank. Wenn das hier nicht von ganz oben käme, dann würde ich dich auf dem Weg aus dem Gebäude unter einen Streifenwagen laufen lassen. Das passiert immer wieder. Dort draußen ist eine ganze Welt voller Abfall, und ich bekomme Magengeschwüre davon, noch ein Stück Dreck zurück auf den Haufen zu werfen.« »Ich mag Sie auch, Captain.« Bellamy hielt seinen Vorgesetzten zurück. Als der Captain sich beruhigt hatte, gab Bellamy mir meine Brieftasche, meinen Gürtel, meine Krawatte, meine Waffe und meine Schnürsenkel zurück. Dann brachte man mich hinunter zur Tür und schubste mich hinaus auf die Straße. Es regnete noch immer.
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NEUNZEHN Auf dem Platz überlegte Susan gerade ihren nächsten Schachzug. Sie ging über den Rasen, wobei sie abergläubisch Daines Schatten auswich. Der Riesengeiger war jetzt nichts weiter als eine Statue. Truro Daine war kurz in ihr gewesen, doch nun war er wieder verschwunden. Susan war nicht müde; tatsächlich hatten ihre frankensteinschen Unternehmungen sie sogar gestärkt. Leben zu erschaffen, war immer erregend. Und in diesem TRAUM konnte sich nur ihr Verstand erschöpfen. Sie nahm einige kleinere Veränderungen an ihrem Körper vor, um sich besser zu fühlen. Sie wollte noch immer so aussehen, wie sie es im wachen Leben tat, doch es boten sich ein paar Verbesserungen an. Stahl webte sich in ihre Muskeln, und ihre Sinne wurden so scharf wie die einer Katze. Das gab ihr ein Gefühl von Kompetenz. Zugegeben, ein illusorisches Gefühl, doch Illusionen waren in der Stadt eine durchaus valide Währung. Auf dem Platz herrschte mittlerweile reges Treiben. Limousinen kreisten über den Asphalt, und Leute gingen im Polizeipräsidium ein und aus. Susan sah Gefangene, die aus Streifenwagen zu den Eingangstüren gezerrt wurden. Uniformierte Cops machten sich paarweise und scherzend zu ihrer Schicht auf oder kamen einzeln und deprimiert heraus. Es würde immer der Partner mit Frau und Kind sein, der in Ausübung seiner Pflicht erschossen wurde, damit sein Junggesellenkumpel die Gelegenheit erhielt, die Nachricht reuevoll den trauernden Hinterbliebenen zu überbringen. Das MGM-Gebäude und das Rathaus hatten noch immer geschlossen, doch Susan 172
hatte so das Gefühl, daß zumindest Nachtwächter und Putzkolonnen darin umherliefen. Vorhin hatte sie den Eindruck gehabt, mit ihrem Feind allein zu sein. Sie überquerte die Straße und blieb vor dem Rathaus stehen. Das Rathaus war noch immer ein guter Anfang. Bürgermeister Donlevy würde um diese Zeit nicht in seinem Büro sein, doch die Akten sollten dort sein. Sie hoffte, seine Stadtpläne wären auf einem etwas neueren Stand als die Karte, die sie am Zeitungsstand gekauft hatte. Stadtpläne waren der Schlüssel zu ihrem Plan. Vor dem Gebäude standen zwei uniformierte Wachmänner. Susan schloß ihre Augen und überdachte die beiden. Sie löschte das Gedächtnis der beiden und erschuf sie aus der Leere heraus neu. Sie mußten keine abgerundeten Charaktere sein, nur funktionale Komparsen. Susan machte es sich einfach, indem sie ihnen Kurzzeitgedächtnisse gab, die sie von ein paar Marshals entlieh, die sie für Neutrino Junction GETRÄUMT hatte. Sie streute ihr Gesicht in die Erinnerungen ein und gab ein paar Assoziationen bei. Keiner der beiden kannte sie gut, doch sie würden sie als die Sekretärin irgendeines hohen Tiers in der Stadtverwaltung erkennen. Sie webte ein paar komplexe Gefühle um ihr eigenes Abbild, machte diese Frau attraktiv, doch für die Wachmänner unerreichbar. Ließ die beiden die glücklichen feinen Pinkel beneiden, die diese Frau in Nachtclubs und Restaurants begleiten durften, jedoch nicht, ohne ihnen auch das Gefühl zu geben, daß sie nicht eingebildet war, daß sie ein wirklicher Mensch war. Die Ironie entging Susan nicht. Entschlossen und lächelnd ging sie zur Eingangstreppe. »Guten Abend, Miss«, sagte der ältere Wachmann. »Wollen Sie so spät noch arbeiten?« 173
»Ich fürchte ja. Ich mußte eine Verabredung platzen lassen.« Sie sandte ihm das mentale Bild von Robert Preston, der mit Blumen und einer herzförmigen Pralinenschachtel vor einem Nachtclub wartete. Er schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln, dann war sie drin. Sie fragte sich, ob sie die Wachmänner wieder löschen sollte. Nein, sie würde nur den ganzen Hokuspokus wiederholen müssen, um hinauszukommen. Wenn sie ihn dachte, würde es einen Privataufzug zum Bürgermeisterbüro geben, und den passenden Schlüssel würde sie in ihrer Handtasche finden. Mit klappernden Absätzen durchquerte sie die marmorne Eingangshalle und holte den Schlüssel heraus. Der Aufzug wartete natürlich. Susan drückte den einzigen Knopf, und der Korb stieg in das Herz des Rathauses hinauf. Sie sah die Stockwerke an sich vorbeiziehen und erhaschte kurze Blicke auf unvollendete Skizzen von leeren Büros. Reihen von abgedeckten Schreibmaschinen. Wälle von Aktenschränken. Ein paar gesichtslose Schaufensterpuppen, die an Schreibtischen sitzend darauf warteten, belebt zu werden. Daine hielt sich nicht mit Feinheiten auf. Es wurde niemand erwartet. Das Büro sah genauso aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Über dem Schreibtisch hing ein großes, schlecht gemaltes Porträt von Bürgermeister Donlevy. Er sah hinterhältig aus, und der Maler hatte nicht genug von seinem Handwerk verstanden, um die Beule unter Donlevys Jackett zu verbergen. Das war entweder eine Pistole oder ein Bündel Schmiergelder. Der Bürgermeister genoß in der Stadt den Ruf, der beste Politiker zu sein, den man für Geld kaufen konnte. Der Fußboden um den Abfallkorb herum war mit Papierflugzeugen übersät, die aus dringenden Gesuchen verschiedener Stadtvertreter gebastelt worden waren. Wenn ein Flugzeug im 174
Papierkorb landete, bewilligte der Bürgermeister die Gelder für das betreffende Projekt. Aus diesem Grund war das Kinderkrankenhaus abgerissen worden, um Platz für die Minigolfanlage zu schaffen. Auf seinem Porträt war Donlevy ein Prachtexemplar von einem Mann; ohne seine Perücke, das falsche Gebiß, die Einlegesohlen und das Korsett war er nichts weiter als ein Gartenzwerg. Die Unterlagen auf dem Schreibtisch waren keine Offenbarung. Es handelte sich um einen Bericht von einem Privatdetektiv namens Lloyd Nolan, der vermeldete, daß James Stewarts Charakter keinerlei Makel auf wies. Er war einmal spätnachts mit einer betrunkenen High-Society-Tochter schwimmen gegangen, doch das hatte sich als vollkommen harmlos herausgestellt. Und obgleich er bekanntermaßen in der letzten Zeit mit einem großen unsichtbaren weißen Hasen redete und Nachbarn durch sein Fernglas ausspähte, schien keine dieser Eigenarten ausreichend, ihn in den Augen der Wähler anzuschwärzen. Der Bericht war in Kindergartenhandschrift mit Obszönitäten vollgekritzelt, vermutlich vom Bürgermeister höchstpersönlich. In der oberen rechten Schreibtischschublade fanden sich die traditionelle kleine Blechbüchse und eine Pistole. Susan machte sich nicht die Mühe weiterzusuchen. Die Stadtpläne lagen aufgerollt auf einem Reißbrett in der Ecke des Büros. Susan schaltete die Deckenlampe an und entrollte die Pläne einen nach dem anderen. Es waren insgesamt fünfundzwanzig, die die ganze Stadt in allen Einzelheiten abdeckten. Sie ruhten momentan, so als hätte Daine in seiner Expansion eine Pause eingelegt oder als hätte sich ihm ein unerwartetes Hindernis in den Weg gestellt. Nachdem Susan den Schreibtisch und alle anderen Möbelstücke an die Wände geschoben hatte, breitete sie vier Pläne auf dem Fußboden aus. Sie legte die Kanten 175
aneinander und beschwerte sie mit allem, was ihr in die Finger kam – dem Papierkorb, der kleinen Blechbüchse, der Pistole. Das erlaubte ihr, den Stadtkern aus der Gottperspektive zu betrachten. Dann legte sie weitere Pläne aus. Sie TRÄUMTE ein neues Hobby für den Bürgermeister – das Sammeln antiker Briefbeschwerer – und nutzte es für ihre Zwecke. Als noch zwanzig Quadratmeilen an Plänen übrig waren, nachdem sie jedes verfügbare Fleckchen auf dem Fußboden ausgenutzt hatte, erschuf Susan einen durch einen Vorhang abgetrennten Alkoven, in den sich das Puzzle ausdehnen konnte. Ganz vorsichtig, um nicht die Pläne zu verschieben, schritt sie über die Stadt hinweg, so wie es zuvor ihr ausgedachtes Monster getan hatte. Sie trug den Drehsessel des Bürgermeisters herüber, stellte ihn auf das Rathaus und setzte sich. Erwartungsgemäß waren die Pläne an den Rändern sehr vage gehalten. An einigen Stellen waren ganze Blocks nur mit Bleistift eingezeichnet. Es gab sogar Gebiete, die als unbekanntes Territorium gekennzeichnet waren, tropische Dschungel im Herz von Beton und Lehm. Sie umfaßte die Armlehnen, schloß die Augen und entspannte sich ein wenig. Sie breitete sich aus, senkte sich durch ihren Körper hinab in den Sessel, dann sickerte sie durch die Pläne, tastete die Umrisse der Stadt ab und breitete sich aus wie verschüttetes Wasser, das in Papier einsickerte. Die skizzenhaften Gebiete waren ein guter Anfang. Susan sog sie einfach leer. Sie fühlte die Veränderung durch das Papier hindurch und war sich entfernt bewußt, daß ein Teil der Stadt plötzlich aufhörte zu existieren, so wie ein fingerfertiger Magier ganz plötzlich den Knoten aus einem Seil verschwinden lassen kann. Sie umgab die Stadt mit einem Ring aus Finsternis, dann kroch sie langsam weiter nach innen und ließ Hauptstraßen und 176
Gebäude einstürzen, während sie ihren Verstand zusammenzog und den TRAUM durch ihr eigenes Bewußtsein filterte, ihn ausbügelte. Wohin immer ihr Verstand wanderte, ließ sie ein Nichts zurück. Es wäre einfacher gewesen, die Datei von außen zu löschen, doch das hätte auch Daines, Tunneys und ihren eigenen Verstand gelöscht. Also mußte sie es auf die langsame Art machen. Außerdem hatte sie in Betracht gezogen, daß Vaclav Trefusis irgendwann des Wartens müde werden, seine Autorität überschreiten und einfach den Stecker herausziehen könnte. Seine TRÄUMER würde er dann als akzeptable Verluste verbuchen. Um das hinauszuschieben, mußte Susan etwas bewirken, das auch in der realen Welt bemerkt werden würde. Chinatown ging dahin, gefolgt von den Docks. Poverty Row erlosch. Finsternis kroch durch die Vororte wie eine Flutwelle schwarzer Tinte und spülte die leeren Hüllen uninteressanter Häuser hinweg. Gebäude wurden zu transparenten Klettergerüsten und stürzten dann in sich zusammen. Figuren wurden ausgelöscht, zuerst in Zweierund Dreiergruppen, dann in großem Maßstab. Einige wehrten sich gegen Susan, doch nur wenige hielten ihr mehr als ein, zwei Augenblicke stand. Bald schon würde Susan mit Daine und Tunney allein im Nichts sein. Dann konnten sie die Sache ein für allemal beenden. Ihre Gedanken wurden geblockt. Nicht von einer Figur, sondern von einem Gebäude. Einem unbedeutenden Gebäude. Einem verlassenen Lagerhaus, 99 River Street. Susan dachte, alle verlassenen Lagerhäuser in der Stadt wären Verstecke, doch dieses Lagerhaus war nicht einmal da. Es hatte hier einst eine Schießerei gegeben, wie die Einschußlöcher in den Wänden belegten, doch es war eine sehr kurze Szene gewesen, und keiner war seitdem hierher zurückgekommen. Zwei der Innenwände bestanden aus 177
bemalter Leinwand, und die anderen waren nur stabiler, damit sie die Laufstege stützen konnten, die für den Kampf benötigt worden waren. Ein Held von der Küstenwache namens Ralph Byrd hatte sich mit Bela Lugosis Schergen einen Kampf mit Fäusten und Kugeln geliefert und war dem sicheren Tod durch eine Kettensäge entkommen. Das war lange her. Niemand erinnerte sich mehr daran. Doch das Gebäude war in Susans Kopf hart wie ein Diamant. Sie konnte nicht darum herumdenken. Die kahlen Mauern legten sich wie eine Doppelbelichtung über die luxuriöse Tapete des Bürgermeisterbüros. Der mit Stadtplänen bedeckte Fußboden war noch immer unter ihren Füßen, doch das Büro war nun der Schatten und das Lagerhaus die Substanz. Im Auflösen zwinkerte ihr das Porträt von Bürgermeister Donlevy zu. Susan preßte gegen die Wände, doch sie konnte ihr Bewußtsein nicht auf die andere Seite projizieren. Sie versuchte aufzustehen, doch sie war mit ihren Handgelenken und Fußknöcheln an den Sessel gefesselt. Lebende Schlangen dienten als Stricke und schnürten ihr das Blut ab. Der Sessel begann sich zu drehen, zuerst ganz langsam. Susans Blick wanderte durch das ganze Lagerhaus. Die Stadtpläne unter den Sesselrollen warfen sich auf und zerrissen. Briefbeschwerer rollten davon. Der Sessel drehte sich immer schneller. Susan wurde von ihren eigenen Haaren gepeitscht. Das 360-Grad-Panorama verschwamm, und Susan war in ihrem eigenen Kopf gefangen. Die Lagerhauswände liefen ineinander wie bei einem Gemälde, über das man Terpentin geschüttet hatte. Sie schloß die Augen, doch das schnelle Drehen hörte nicht auf. Die Schlangen vermehrten sich und fesselten sie immer fester an den Sessel. In der Ferne hörte sie Jahrmarktsmusik. ›Our Love is Here to Stay‹, gespielt auf einer Dampforgel. 178
Unvermittelt hörte das Drehen auf, und die Schlangen waren verschwunden. Susan wurde aus dem Sessel geschleudert, und obwohl sie einen Arm ausstreckte, um den Sturz abzufangen, krachte sie schmerzhaft auf den Boden. Unter den Stadtplänen konnte sie den nackten Zement des Lagerhauses spüren; der dicke Teppich des Bürgermeisterbüros war verschwunden. Der Ballen ihrer rechten Hand war feucht und sandig, und ihr Handgelenk fühlte sich an, als wäre es verstaucht. Susan ließ den Schmerz verschwinden und dachte die groben Sandkörner aus ihrer Hand, dann glättete sie die Abschürfungen. Es war, als würde man ein Loch ins Wasser machen. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf glatte, unverletzte Haut, doch das Blut und der Sand fluteten immer wieder zurück. Susan konzentrierte sich und versuchte es noch einmal. Es half nichts. Tatsächlich waren die Schürfwunden sogar größer und ausgefranster, wenn sie wiederkamen. Nun waren drei ihrer Finger gebrochen und ragten in seltsamen Winkeln hoch. Unter Schmerzen richtete Susan sie und heilte die Hand wieder. Diesmal kam der Schmerz nicht zurück. Doch sie trug einen weißen Handschuh mit Nähten auf dem Rücken. Sie hatte drei dicke Finger. Es fühlte sich ganz in Ordnung an. Susan stand auf und dachte sich zurück in das Büro des Bürgermeisters. Die Kulisse wandelte sich. Sie stand auf dem Vordeck eines Segelschiffes, das schwer in einem Sturmwind rollte. Es war Nacht und regnete. Schoten und Segel flatterten unbemannt im Wind, und das Ruder drehte sich unkontrolliert. Sie war allein. Sie schaute an sich herunter und sah Ölzeug und rauhe Hände. Sie fühlte die Stahlwolle eines Barts auf ihrem Kinn und bemerkte, daß sie die Welt nur zweidimensional sah. Über einem ihrer Augen lag eine Klappe. Eines ihrer Beine endete in einem geschnitzten Holzstumpf. Irgend etwas krächzte und biß 179
ihr ins Ohr, dann flatterte es wie ein böser Dämon von ihrer Schulter weg. Instinktiv ergriff Susan das Ruder und zwang das Schiff unter ihre Kontrolle. »Fest, ihr Schwabber!« schrie sie, erstaunt von der Kehligkeit ihrer Stimme. »Vertäut euch und dann rauf auf den Besanmast. Es wird ’ne stürmische Fahrt nach Tortuga, und der Captain wird keine Ruhe nich’ finden am Meeresgrund, bis der Schatz uns gehört!« »Wie bitte?« Plötzlich schwankte sie, und der Boden war ruhig. Sie blickte auf einen Mann im Abendanzug. Es war Orin Tredway. Susan steckte nun wieder in ihrem eigenen Körper, doch sie trug einen nassen Südwester zu ihrem besten bodenlangen, am Bauch geschlitzten Kleid. Sie waren hinter der Bühne bei der Rodney-Verleihung. Dieser aufgeblasene John Yeovil hatte gerade die Nomierungen für den Besten TRAUM verlesen. Orin schaute Susan an, wie vielleicht ein Neandertaler einen Homo Sapiens nach einer Vorlesung über Darwinismus anschauen mochte. Sie war sicher, daß er sie umbringen würde. »Und der Gewinner ist…« Susan riß sich den Südwester vom Kopf und warf ihn fort. Orin wurde naß, grinste jedoch. »Susan Bishopric, für Die Parklotterie.« Donnernder Applaus erhob sich. Orin war grün im Gesicht, als er Susan umarmte und küßte. Sie riß sich von ihm los, bevor er seine Hände um ihren Hals legen konnte, und machte sich zum Podium auf, wobei sie ihr Kleid hochzog und für die Tridvid-Juroren ihr bestes Lächeln aufsetzte. Sie hatte ihre auswendig gelernte Dankesrede vergessen, doch sie wußte, daß sie improvisieren konnte. Irgendwelche Leute 180
im Publikum schüttelten ihr die Hand, der Applaus schwoll an, die Band spielte ›If You Knew Susie‹, ihre Mutter brach in Tränen aus, die anderen Nominierten warfen Drogen ein, und Susan mußte sich sehr anstrengen, ihre Blase unter Kontrolle zu behalten. Sie stieg auf das Podium, hob die erstaunlich schwere Statuette hoch und beugte sich vor, um Yeovils Küßchen auf die Wange entgegenzunehmen. Doch dann sah sie etwas Unerwartetes in seinem für gewöhnlich starren Gesicht – eine Andeutung von Entsetzen. Es stand jemand hinter ihm und blitzte sie böse an. Sie drückte den Rodney an ihre Brust, aus Angst, daß man ihn ihr wieder wegnehmen könnte. »Wer… wer sind Sie?« brachte Yeovil mühsam heraus. Die Gestalt trat vor. Susan brauchte einige Sekunden, bis sie das ovale Gesicht, die blassen Augen und das sanfte Lächeln erkannte. »Ja, wer sind Sie?« fragte die echte Susan Bishopric und nahm ihren verdienten Rodney an sich. Während sie spürte, wie ihr die Statuette aus den Händen gezerrt wurde, sah Susan ihren nackten, muskulösen, behaarten, vernarbten Arm. Das Abendkleid wollte nicht recht zu ihrem einbeinigen Piratenkörper passen. Alles wurde wieder zweidimensional. Die Menge lachte und buhte jetzt. Dinge wurden nach Susan geworfen. Susans Holzbein brach durch ein Loch in der Bühne und blieb stecken. Sie duckte sich, um einem Wurfgeschoß auszuweichen. Ein Rodney traf das TRÄUMENDES-GESICHT-Symbol hinter dem Podium. Ein weiterer krachte auf den Boden. Alle anderen Gewinner warfen ihre Rodneys nach Susan. Ein Rodney landete in der Hocke auf der Bühne und lief davon, wobei er mit seinen Händen züchtig seine Genitalien bedeckte. 181
Die echte Susan Bishopric hob ihren verdienten Preis hoch in die Luft und ließ ihn auf Susans Kopf herabsausen. Sie duckte sich, und abermals schwankte das Deck. Ein dunkelhäutiger Kerl mit Ringellöckchen hieb mit einem schweren Entermesser auf sie ein. Sie parierte mit einer Waffe, die sich als mittelalterliche Axt entpuppte. Eisen schlug scheppernd gegen Stahl. Der Pirat war Orin Tredway, gealtert, bärtig und mit einem schartig abgeschnittenen Ohr. Trotz ihres Holzbeins konnte sie sich seiner mühelos erwehren. Er war nicht geübt in der flinken Fußarbeit, die für ein Duell auf hoher See vonnöten war. Schließlich lockte sie ihn mit verächtlicher Leichtigkeit unter die Bramstenge und hieb auf die Wanten ein, die sich teilten und ein schweres Stück Takelage auf den fehlbesetzten Orin fallen ließen. Die Besatzungsmitglieder, die beim Kampf zugeschaut hatten, brachen in wildes Jubelgeschrei aus. »Nun, da soll man mich doch wie einen spanischen Hurensohn kielholen«, rief Susan aus, »ihr seid die gemeinste Ladung von Halsabschneidern, die je das weite Meer besegelt hat. Nehmt diesen meuternden Hund, bindet ihn an die Rahnock, laßt ihn die neunschwänzige Katze spüren, reibt ihn mit Salz ab, und wenn er zu sich kommt, dann gebt ihm noch mehr von der Peitsche.« Die Mannschaft nickte zustimmend und stieß ein blutdürstiges Grölen aus. Sie trugen Tierköpfe. Keine Masken, sondern richtige Köpfe, noch blutig und verzerrt von den weit größeren Menschenköpfen darunter. Menschenaugen spähten durch die leeren Augenhöhlen der Tiere. Dann gab es einen Ruck, als das Schiff eine Woge nahm und wohl zehn Meter tief fiel. Die Mannschaft purzelte über das Deck, doch Susan konnte sich auf den Füßen (oder eher: dem Fuß) halten. Als sie 182
sich wieder aufrappelten, waren sie Tiere, eingezwängt von ihren menschlichen Kleidern. Sie rannten in wilder Panik umher. Jene, die klettern konnten, erklommen die Takelage; jene, die schwimmen konnten, sprangen über die Reling. Ein Keiler mit einem Kopftuch quiekte, als sie seinen Schädel mit ihrer Axt spaltete. Dann waren alle verschwunden. Susan war wieder allein auf dem Schiff, umgeben von windgepeitschten Tauen und gefährlich hin und her schwingenden Bäumen. Sie reckte ihre Axt hoch, um eine mordlüsterne herabstürzende Spiere abzuwehren, und zerteilte sie in zwei Hälften. Das zertrennte Holz schwang weiter und riß dabei Susans Waffe mit sich fort. Die öligen Enden ihres Haars und Barts hatten Feuer gefangen. Susan versuchte, sich auf ihren Namen zu besinnen, doch er wollte ihr einfach nicht einfallen. Plötzlich hatte sie einen gänzlich neuen Erinnerungskorpus, der sich in ihren eigenen zu drängen versuchte. Seegefechte und große Fahrten und Plünderungen und vergrabene Schätze und königliche Gnadenerlasse und entführte Frauenzimmer. Susan erinnerte sich an den großen weißen Wal, der ihr Bein gefressen hatte, und an hundert andere Wunden und Narben. Das Mädchen, das TRÄUMEN konnte, war unendlich weit entfernt, eine Phantasiegestalt. Er wußte, wer er war. Ein Pirat, der manchmal in seinen TRÄUMEN eine Susan gewesen sein konnte. Er schaute nach unten und sah, wie die Planken unter seinem Schuh und seinem Stumpf durchsichtig wurden. Er sah durch die Kabinen, die Stauräume und die Ballastbilgen hindurch. Der Kiel blieb einige Augenblicke lang fest, dann wurde er milchig und schließlich klar wie Glas. Unter dem Phantomschiff brodelte dunkles Wasser, und Haie und giftige Quallen kochten in den Tiefen. Dann begann der Pirat zu sinken, sackte langsam durch das 183
Deck nach unten, während er fühlte, wie das Deck durch seinen Körper hindurch nach oben glitt. Es blieb an seinem Kinn hängen, als er seinen Kopf in den Nacken legte und einen Atemzug der salzigen Luft einsog. Er fiel wie ein Stein durch die Kabinen und sank dann weiter durch ihren Boden. Er versuchte, eine Seekiste festzuhalten, doch seine Hände gingen durch sie hindurch wie durch etwas, das ein wenig dicker als Wasser war. Dann war er im Stauraum, und eisiges Wasser wogte um seine Knie, während er durch den Schiffsboden hinabsank. Die Kälte kroch in seinen Körper, während er sich fruchtlos an das substanzlose Holz klammerte. Er strampelte und versuchte, seinen Kopf oberhalb des Rumpfs zu halten, doch seine vollgesogenen Kleider und die Strömung zogen ihn erbarmungslos nach unten. Sein Kopf sank durch das rauhe, muschelverkrustete Holz. Das Schiff war nun vollständig verschwunden, und er wurde im Wasser hin und her geworfen. Explosionsartig durchbrach er die Wasseroberfläche, rang keuchend nach Luft und sah in weiter Ferne sein Phantomschiff davonsegeln, zitternd wie ein Spiegelbild in gedüntem Wasser. Dann war er wieder unter Wasser und kämpfte sich zur Oberfläche hoch. Die Haie kamen… Triefnaß und mit einem blutigen Stumpf anstelle ihres rechten Armes fand Susan sich in der Kabine eines Luftschiffs wieder. »Stehen Sie da nicht so herum, Sie Stupido«, fauchte eine schlanke Frau in einem schwarzen Catsuit. »Helfen Sie mir. Die Pygmäen greifen uns in ganzen Schwärmen mit ihren Drachenfliegern an.« Es war Vanessa Vail. Blasrohrpfeile zischten durch die Stahlgeflecht- und Segeltuch-Wand der Kabine. Vanessas Beine wurden von ihnen gespickt. Susan machte einen Schritt nach vorn und fiel 184
bäuchlings hin. Ihr Holzbein war abgerissen. Mit nur einem Arm und einem Bein kroch sie über das Deck. Sie fühlte, wie ihre Brüste über den Boden schleiften. Sie steckte wieder in ihrem eigenen Körper – wenn auch mit den Behinderungen des Piraten – und in ihrem ruinierten Abendkleid. Vanessa taumelte. Das Gift ergriff langsam von ihr Besitz. »Gehen Sie ans Steuerpult, oder wir stürzen ab. Wir sind über Maple White Land, die Dinosaurier werden uns in Stücke reißen.« Die Heldin streckte ihren liebreizenden, ranken Körper und sackte zu Boden. Selbst bewußtlos war sie noch hinreißend. Sie hatte ohne Schmerzen das Bewußtsein verloren und besaß selbst in Ohnmacht noch Würde. Susan verfluchte ihr Geschöpf. Sie kämpfte gegen den unerträglichen Schmerz in ihrer Schulter und das Jucken in ihren nicht mehr vorhandenen Fingern an und schleppte sich zum Steuerpult. Die Terminalkrone hing baumelnd herunter. Susan griff danach und zwängte ihren Kopf hinein. Ihr Nervensystem verschmolz mit dem des Luftschiffs, was keine sonderlich gute Idee war, da zwei der vier Motoren plötzlich aussetzten und sich die rechtsseitige SchirmCam verabschiedete. Die Pygmäen drehten und tanzten in der Luft und schossen eine Wolke stechender Pfeile ab. Der Gassack war durchlöchert, und ein Dschungelsteilhang kam mit großer Geschwindigkeit näher. Susan hatte die Wahl: Entweder konnte sie an den Klippen zerschellen, oder sie konnte sich mühevoll auf das Plateau retten und als Tyrannosaurier-Leckerbissen enden. Vanessa war wie gewöhnlich keine Hilfe. Dann veränderte sich das Bild. Die Pygmäen waren verschwunden, und unter dem Luftschiff lag eine sanfte Wüste aus feinem weißen Sand. Susan ließ den Zeppelin langsam hinabgleiten und entspannte sich, als der Rumpf auf der weichen, mütterlichen Erde aufsetzte. Susan 185
dachte, sie würde ohnmächtig werden, doch der Schmerz in ihrem Bein hielt sie bei Bewußtsein. Sie konzentrierte sich auf ihre Schulter, klemmte die Nerven ab und schaltete den Schmerz aus. Wenn man es objektiv betrachtete, hatte der Hai saubere Arbeit geleistet. Ein Knochenstumpf ragte aus dem verstümmelten Fleisch. Susan schloß die Augen und stellte sich ihren Arm in seiner früheren Form vor. Sie begann mit den Knochen – wie gut, daß sie diese Anatomiekurse besucht hatte – und bedeckte sie mit Muskeln, Fleisch und Haut. Sie ließ Blut hinein und bewegte die Finger. Sie öffnete die Augen und betrachtete ihre Arbeit. Es war ein guter Arm. Mit dem Unterschied, daß es nicht ihr Arm war. Es mochte der Arm des Piraten sein – er wurde von einer tätowierten Nixe mit drei Brüsten geziert –, und er paßte mal gerade so eben an ihre Schulter. Aber darum konnte sie sich später noch kümmern. Ebenso wie um ihr Bein. Auf einem Fuß balancierend, erhob sich Susan. Sie streifte die Terminalkrone von ihrem Kopf und schaltete das Luftschiff ab. Die Notbeleuchtung in der Kabine ging an. Vanessa lag reglos da. Susan drehte ihre Heldin auf den Rücken und blickte in das bemalte Gesicht einer Puppe. Vanessa Vail war voll beweglich und außerordentlich fein gearbeitet, doch in keiner Weise lebendig. »Sehr schlau, Daine«, sagte sie. »Gute Tricks.« Der Hintergrund wechselte abermals. Susan war wieder in dem verlassenen Lagerhaus. »Wird dir das Spiel langweilig?« Sie war in ihrer eigenen Gestalt. »Netter Versuch, aber ich erkenne Unrealität, wenn ich sie fühle.« Ihr Körper veränderte sich. Ihr Hals wurde lang und 186
knochenlos und war plötzlich nicht mehr in der Lage, ihren schweren Kopf zu stützen. Ihr Torso juckte, als wäre er wie der eines flugunfähigen Vogels aufgeplustert. Ihre Beine schrumpften und teilten sich in Büschel cthuloider Tentakel. Die Organe in Susans Innerem schlangen sich in unnatürlicher Weise umeinander, ihre Knochen erweichten und bildeten funktionslose Höcker aus, die durch Susans Haut stießen. Susan versuchte, sich zu bewegen, doch ihr Gehirn hatte sich noch nicht an sein neues Zuhause gewöhnt. Ihr Kopf schlug auf den Zement, und sie konnte ihn nicht wieder hochheben. Sie wurde von ihrem Schädel nach unten gezogen wie ein altmodischer Sträfling, der an eine Eisenkugel gekettet war. Etwas gefährlich Klingendes tappte auf leisen Sohlen ins Lagerhaus und pirschte hungrig hechelnd außerhalb von Susans Blickfeld umher. Sie versuchte, ihren neuen Körper zu bewegen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Sie stellte sich eine stählerne Schiene im Innern ihres Giraffenhalses vor und spürte den Schmerz, als diese in ihrem Fleisch auftauchte. Um die Schiene erschuf Susan Wirbel und ein einfaches Kugelgelenk. Nun konnte sie ihren Kopf wie einen Kran heben. Sie baute ein einfaches Andrew-Skelett in das Innere des nutzlosen Körpers, den Daine ihr gegeben hatte, und schob ein Paar mit Kabeln und Rädern betriebene Beine durch ihre Tentakel. Unter ihrer losen Haut breitete sich ein Netzwerk ineinandergreifender Duriumplatten aus. Susan stand auf und ließ sich vier Waldos wachsen – mechanische Arme mit Klauen und Greifern, die auf die lebenden Nerven reagierten, die Susan durch das Metall fädelte. Von einer Höhe von wohl vier Metern herabschauend, sah sie einen alten Freund, den MGM-Löwen. »Hallo, Leo.« Er stieß sein bekanntes Fanfarenbrüllen aus. »Hier, 187
Miez-Miez.« Er sprang. Susan ließ einen langen, scharfgeschliffenen Stahldorn aus der Gummihandfläche eines Saugwaldos schießen und hielt ihn so, daß die Raubkatze sich selbst aufspießen würde. Sie hatte vergessen, daß die große, graue Raubkatze aus Stein war. Der Zusammenprall erschütterte sie, und der Dorn brach ab. Der Ruck fuhr durch Susans gesamtes Metallskelett und ließ das noch frische Fleisch, in dem es eingebettet war, vibrieren. Der Löwe fiel wie ein nasser Sack zu Boden, und sie stemmte ein stählernes Knie auf seinen Leib, dann beugte sie sich herab, packte seinen Kopf mit ihren Zangen und drückte zu. In der Zwischenzeit nahm sie das Tier zusätzlich mit ihrem Verstand in einen festen Griff und konzentrierte sich. Kreide. Es war aus Kreide. Der Löwe explodierte in einer weißen Staubwolke. Susan stand auf und stampfte auf der noch immer lebenden Kreatur herum. Der Löwe brach auseinander, während sein Brüllen durch die Lagerhalle hallte. In einer Geste des Triumphs wischte Susan sich die Kreide von ihrer Brust. »Da siehst du’s«, rief sie, während sie flüssige Flammen aus einer Klaue züngeln ließ, »du bist nicht der einzige, der Veränderungen bewirken kann!« Ihr Körper kehrte zurück, war jedoch noch immer mit ihren kybernetischen Zusätzen durchsetzt. Ihr Gehirn platzte, als es von der Halsschiene durchbohrt wurde, und explodierte aus ihrer Schädeldecke. Susan fragte sich, ob sie mit den Überresten ihrer grauen Zellen noch denken können würde. Ihre Arme wurden von den Metallteilen der Waldos zerfetzt, und unterhalb der Taille hing ein 188
Rock aus Haut, Fleisch und zersplitterten Knochen um die Beinmechanik. Susan schrie und löste die Maschinerie mit einem Gedanken auf. Sie wälzte sich wie ein wirbelloser Wurm auf dem Boden, gefangen im Wrack ihres eigenen Körpers. Susan war wieder an der frischen Luft. Unter ihr war Humus, und sie fühlte, wie sich die Kraft in der Erde bewegte. »Ich werde mich nicht unterwerfen«, erklärte sie sich selbst. »Ich bin Susan Bishopric und niemand anders. Ich kenne meinen Körper. Ich kenne meinen Verstand. Ich lasse mich nicht verändern. Ich lasse mich nicht brechen.« Tief in der festen Substanz unter ihr hörte sie Gelächter. Das Gelächter von Dämonen oder einem Gott. Sie versuchte, ihre verspritzte Gehirnmasse wieder zusammenzufügen und die Bruchstücke ihres Verstands zurückzuholen, bevor sie auf immer verloren waren. Ein Großteil ihres Gedächtnisses stand im Begriff zu erlöschen. Susan kämpfte mit aller Macht, es zu behalten. Sie klammerte sich an das Floß ihrer Identität, während die Wirbelwinde und Springfluten sie schüttelten. Das Gelächter verwandelte sich in Musik. »Als ich ein winzig Bübchen war.« »Ich bin Susan Bishopric.« Eine Stimme gurrte einschmeichelnd in der Musik. »Hop heisa, bei Regen und Wind…« »Susan.« Das Lied war nicht im Boden, es war in ihrem Kopf. Es wurde lauter und nahm immer mehr Raum in ihrem zertrümmerten Verstand ein. Susan fühlte, wie sie selbst schrumpfte. »Susaaaa…« Sie vergaß Dinge. Ihren zweiten Vornamen, das Gesicht 189
ihrer Mutter, die Titel ihrer TRÄUME, ihr HouseholdPassword, ihre Lieblingsrezepte. Sie alle verschwanden wie Flecken in der Wäsche. »Sus…« »Da machten zwei nur eben ein Paar.« War sie ein Pirat? Oder eine Sekretärin, die in einen Mordfall verwickelt war? Oder eine Abenteurerin namens Vanessa Irgendwas? »Su…« Die Musik tat jetzt nicht weh. Sie war besänftigend. Als das Lied endete, hörte Susan Aufnahmerauschen, das sie tröstend im Nichts willkommen hieß. »Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag.« »Sssssss…«
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ZWANZIG Ich brauchte einen Drink. Und noch mehrere andere obendrauf. Ich war nicht sicher, ob es in der Stadt genügend Drinks für das gab, was mir vorschwebte, doch, wie der Dichter sagte: Eines Menschen Streben sollte nach dem Unerreichbaren geh’n, denn warum sonst gäbe es den Himmel? Jede Straße rauf und runter gab es Bars. Ich arbeitete mich durch. Ich hatte genügend Zeit, ein Ritual zu entwickeln. Ich setzte mich auf einen Barhocker, baute einen Turm aus Münzen auf der Theke auf und ließ mir vom Barkeeper alle zwei Minuten einen Doppelten bringen, bis der ganze Turm in seiner Kasse verschwunden war. Dann machte ich mich zur nächsten Tränke auf. Das Kleingeld ging mir nie aus, ebensowenig wie der Durst. Die Einrichtung war in jeder Bar anders – da waren verchromte Metropolis-Schuppen mit tanzenden Roboterfrauen und Westernsaloons mit Schießereien und Cancan-Tänzerinnen –, doch die Gesichter waren dieselben. Dieselbe Truppe bedauernswerter Säufer, randalierend, tief bekümmert oder weinerlich. Im Hinterzimmer lief sogar immer dieselbe Pokerrunde, in die ich zwar nicht einsteigen konnte, auf die ich aber jedesmal einen flüchtigen Blick erhaschte, wenn dieselbe Kellnerin Getränkenachschub nach hinten brachte. Das erste Mal versuchte er mich in einem englischen Pub anzusprechen. Er trug einen Bowler, einen Schnauzbart und eine schreiend karierte Weste. »Tschuldigung, Meister«, setzte er an. Ich trank mein Vier-Penny-Pint aus, bahnte mir einen Weg durch die Londoner Originale in ihren mit 191
Perlmuttknöpfen verzierten Kostümen und erreichte schließlich die Tür. Irgendeine aufgedunsene Schlampe hämmerte auf das Klavier ein, und eine Traube von Straßenhändlern sang ›Knees Up, Mother Brown‹. Ich hatte Gerüchte gehört, daß Jack the Ripper heute nacht unterwegs wäre, doch das hielt mich nicht davon ab, in den Nebel hinauszugehen. In einem Kleinstadt-Fernfahrerimbiß tauchte er abermals auf, diesmal glattrasiert und mit einer abgeschabten Bomberjacke. Ich stand am Tresen inmitten von Backfischen und Jungen mit kurzgeschorenen Haaren. Er legte mir eine Hand auf die Schulter, und ich stieß sie weg. Drei stämmige Fernfahrer schauten zu uns herüber. Sie spürten, daß ein Kampf in der Luft lag. »Tunney«, sagte er. »Den kenne ich nicht.« Abermals ging ich, bevor ich den Fraß probieren konnte, den ich bestellt hatte. Essen nahm in dieser Nacht einen erbärmlichen zweiten Platz auf meiner Ernährungsliste ein. In der Hollywood Canteen, wo die GIs und Matrosen von echten Filmstars bedient wurden, trug er eine Uniform. Südlich der Grenze, wo Tagelöhner in Ponchos brennenden Tequila tranken, trug er einen blendend weißen Tropenanzug. Im Juke Box Joint trug er einen Zoot-Suit mit Boris-Karloff-Schultern und einer Uhrenkette, die zwischen seinen Beinen baumelte. Er hatte aufgehört, mich zu belästigen, doch er war immer da. Ich trank Whisky aus Schnapsgläsern. Jedesmal, wenn ich ein Glas leerte, konnte ich die Explosion an meiner Gaumendecke spüren und hoffte, sie würde es bis zu meinem Gehirn schaffen. 192
»Sam«, fragte ich den Barkeeper. Sie heißen alle Sam. »Sam, waren Sie jemals verliebt?« »Nein, Sir«, erwiderte Sam. »Ich bin mein ganzes Leben lang Barkeeper gewesen.« War ich jemals verliebt gewesen? Ich erinnerte mich an einen Namen – Lola –, doch es gab kein dazugehöriges Gesicht. »Lissa.« Er war es wieder. »Der Name ist Lissa.« Ich sagte ihm, er solle aus meinem Kopf verschwinden. »Und Sie sind in Ihren TRÄUMEN niemals fair zu ihr gewesen. Daß Sie Ihre Ehe vermasselt haben, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, Lissa als Cruella de Ville in Stöckelschuhen darzustellen. Sie hatten Glück, daß sie die ganze Sache zu leid war, um Sie noch zu verklagen.« Er setzte sich auf den Barhocker neben mich. Jetzt trug er gewöhnliche Straßenkleidung und einen Hut. Er ließ sich von Sam einen Drink bringen, rührte ihn jedoch nicht an. »Sie heißen Richie Quick, nicht wahr?« »Ja.« Ich hatte es satt, daß mich Leute, die ich nicht kannte, kannten. »Paßt Ihnen das vielleicht nicht?« »Nein, nein, nichts in der Richtung. Ich bin nur ein Pilger wie Sie. Sagen Sie mir, äh, Richie, was ist Ihre früheste Erinnerung?« Baby-Dinge, vermutete ich. Mutters Knie. Ballspielen. Ich dachte nach, doch es fiel mir nichts ein. Ein schwarzer Vorhang verhüllte meinen Verstand. Ich blickte den Mann an, nicht wirklich um Hilfe bittend, doch durchaus dankbar, wenn er etwas Derartiges anzubieten hätte. »Erinnern Sie sich daran, wie Sie aus dem Bus gestiegen sind?« 193
»Natürlich, hunderte Male.« Er spielte den geduldigen Lehrer. »Nein, nur einmal. Heute abend.« »Ja.« Das ergab einen Sinn. Der Busbahnhof im Regen. »Ich war außerhalb der Stadt. Wegen eines Falls.« »Wegen welchem Fall?« »Ich… ich kann mich nicht erinnern.« »Stimmt genau. Geben Sie dem Mann einen Drink, er kann sich nicht erinnern.« »Aber ich kann mich an viele andere Dinge erinnern. Ich leide nicht unter Gedächtnisschwund.« »Dann erzählen Sie mir doch, woran Sie sich erinnern.« »An meinen Namen, daran, wo mein Büro ist, an meine härtesten Fälle. Ich war mal verheiratet, und die Frau hat mir verdammt viel Ärger eingebrockt. Ich glaube, ich mußte sie töten…« »Ich glaube, wenn Sie Ihre Gedanken darauf konzentrieren, werden Sie erkennen, daß Sie nur die Erinnerung an diese Erinnerungen besitzen. Das ist ein feiner, aber bedeutsamer Unterschied.« Ich wurde langsam ärgerlich. Mein Kopf schmerzte, und die Schmerzen hinter meinen Augen wollten einfach nicht aufhören. »Was sind Sie, Psychoanalytiker?« »Nein, nur ein Laie.« Er schob sein Glas auf der Theke herum. »Was ist mit Tom Tunney?« »Ich kenne den Namen.« Es gab sogar ein dazugehöriges Gesicht. »Ist das eine Spur?« Sein Gesicht zerknitterte sich zu einem Lächeln. »Das könnte man so sagen. Eine Spur. Sehr gut. Sie sind Tom Tunney.« 194
»Na klar. Und, wer sind Sie, Mister?« »Viele Leute. Früher am heutigen Abend habe ich versucht, John Carradine zu sein, aber es hat mich nicht weitergebracht. Vielleicht erinnern Sie sich daran?« »Carradine, sicher doch. Der verrückte Kerl. Spielte den verwegenen Helden. Hat mir ein paarmal den Hals gerettet, dann hat’s ihn erwischt.« »Eine Nebenrolle.« Sein Gesicht zog sich für einen Augenblick in die Länge und bekam einen Schnurrbart. Carradine blickte mich aus ihm heraus an, dann versank er wieder. »Guter Trick.« »Was erinnern Sie von John Carradine? Irgend etwas, das ihn anders machte? Anders als den Rest dieser Zombies hier?« Mein Kopf war kurz vor dem Auseinanderbrechen. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie es Carradine erwischte, den Schwertkampf, die Kugeln, das Blut. »Sein Blut. Es war…« Ich versuchte, mit meinem Verstand etwas nicht Greifbares zu fassen. Ich konnte meinen Satz nicht beenden. Schließlich half er mir aus. »Sie wollten sagen, es war nicht schwarz.« Das war so, als würde man sagen, die Nacht wäre nicht dunkel, der Regen nicht naß, der Bürgermeister nicht korrupt. Es ergab keinen Sinn. Doch es war die Wahrheit. Er holte ein Klappmesser aus seiner Tasche, schnitt sich in seinen linken Zeigefinger und tauchte ihn in seinen Drink. Er rührte die Flüssigkeit um, und Farbe erblühte im Whisky. »Rot.« Die blutigen Schweife vermischten sich in einem Wirbel, und die Flüssigkeit verfärbte sich gänzlich rot. Er nahm seinen Finger heraus und lutschte daran. 195
»Ja, erinnern Sie Rot? Auch Sie haben früher einmal rot geblutet. Vielleicht werden Sie das irgendwann einmal wieder tun.« »Rot.« Plötzlich schien Richie Quick nicht mehr so real. Vielleicht war er nur jemand, den ich geträumt hatte. Nein, den ich GETRÄUMT hatte. »Ein verflucht böser Name, nicht wahr?« bemerkte er. »Richie Quick.« Ein anderes Leben kroch aus meiner Erinnerung hervor. Ein Leben in einer unvorstellbaren Welt. Ein Leben für Tom Tunney. »Ich bin Tunney.« »Gut, sehr gut.« »Und Sie sind… Sie bluten rot.« »Nun, das war nur um des Effekts willen. In Wirklichkeit…« Er hielt seinen aufgeschnittenen Finger hoch. Gelbe Flüssigkeit troff heraus. Unter dem Plastek schimmerte Metall. »Sie sind ein Andrew.« »Ist das in der Stadt nicht jeder auf die eine oder andere Art? Aber ja, ich bin ein Andrew. Sie können mich Dana Andrew nennen.« Ich verstand den Witz. Es gefiel ihm, daß ich ihn verstand. Wir lächelten einander an. »Erinnern Sie sich jetzt, warum Sie hier sind?« Der schwarze Vorhang glitt beiseite. Die Zwangsverpflichtung, das Mädchen mit dem Taser, Dartmoor, das Princetown-Gefängnis, Gefängnisdirektor Trefusis, Helena Groóme, der Mann in seinem Tank, das TRÄUMEN. »Um Daine zu töten. Um ihn aufzuwecken.« 196
»Warum stecken Sie dann in einer Nebenfigur und betrinken sich?« »Daine ist tot. Ich habe ihn sterben sehen.« Ich hatte schon minutenlang keinen mehr gekippt. Sam hatte drei Gläser vor mir aufgereiht. »Dana, wer sind Sie? Wer sind Sie wirklich?« »Ich bin jemand, den Sie Ihr ganzes Leben lang kennen, den Sie sich aber nie als Jemand vorgestellt haben.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Wir sind jetzt in Daines TRAUM, doch Daines TRAUMland ist mein TRAUMkontinent, mein TRAUMuniversum.« Der Credit fiel. »Yggdrasil.« »Der Weltenbaum«, sagte er und kippte seinen Drink hinunter. »Das bin ich.«
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EINUNDZWANZIG Sssssssssss! »Ssss ssssteht für Ssssussannn«, sagte jemand. Sie erwachte auf Kopfsteinpflaster, umgeben von dichtem Nebel. Alles tat ihr weh, aber sie war wieder im Besitz all ihrer Gliedmaßen. Sie wollten ihr nicht ganz gehorchen, doch es gelang ihr, sich aufzusetzen. Sie trug ein langes Kleid, zerrissen und naß, mit einem engen Mieder. »Ssssussann«, sagte der schlangenzüngige Schatten im Nebel. Sie befanden sich unter einer Gaslaterne. Der Schatten trug einen Umhang, wie jemand, der wußte, welch Schrecken in den Herzen der Menschen lauerte. Auf seinem Kopf saß ein Zylinder. Eine geöffnete Arzttasche stand neben seinem Fuß. Susan rückte an eine Mauer und stützte sich dagegen, während sie sich langsam nach oben schob, die Füße auf das Kopfsteinpflaster gestemmt. Sie wandte ihren Kopf von dem zischelnden Schatten ab und preßte ihre Wange gegen die Mauer. GESUCHT, kreischte ein Plakat, INFORMATIONEN, DIE ZUR ERGREIFUNG DES MÖRDERS VON WHITECHAPEL FÜHREN. Irgendwo in der Ferne plärrte ein Leierkasten. ›She Was Only a Bird in a Gilded Cage.‹ Die Musik rührte sie an. Dort draußen im Nebel brüllte Mickey Rooney, mit einem scheußlichen Cockney-Akzent. »Äxtraaablatt, Äxtraaablatt, Jack the Rippär schlägt wiedär zu!« Sie versuchte zu schreien, doch es drang nur ein leises 198
Röcheln über ihre Lippen. Sie erkannte, daß ihre Kehle durchgeschnitten war. Das Geräusch, das sie aufgeweckt hatte, war das Geräusch eines Messers gewesen, das ihre Luftröhre durchtrennte. Der Schatten trat abermals vor. Das Messer blitzte in seiner behandschuhten Hand. Sein bärtiges Gesicht mutete im Gaslicht wie eine Teufelsfratze an. Sie erkannte einen feinen Pinkel vom West End, John Yeovil. Ein ganz mieser Kerl. »Ich heiße John«, sagte er, »aber du kannst mich Jack nennen!« Das Messer bohrte sich in ihren Bauch, ihre Gedärme, ihre Brüste. Die ganze Zeit über kicherte er irre, wie ein Schauspieler in einem schlechten Melodram. Er war Sweeney Todd, der Teufelsbarbier von der Fleet Street; er war Spring-Heel'd Jack, der Schrecken von London; er war Sir Percival Glyde, der rückgratbrechende Baron; er war der ruchlose Landjunker, der Maria Märten in der roten Scheune erschoß; er war Varney der Vampyr, Wagner der Werwolf, der fesche Jekyll und der wahnsinnige Hyde, der Oxton Creeper, the Coughing Horror, das Gesicht am Fenster… Sie fühlte nicht das geringste, bis er sich vorbeugte und sie küßte. Er schmeckte widerlich, und in ihrem aufgeschlitzten Bauch brannte es wie Feuer. In einem schockartigen Anfall von Haß biß sie ihm auf die Zunge… … und fühlte, wie der Schmerz in seinem eigenen Mund explodierte. Er spuckte Blut und Speichel auf die verstümmelte Frau und grub abermals die Hände in sie… Nun hatte die Mordlust gänzlich von ihm Besitz ergriffen. Er war wieder sein eigenes reales Selbst, das eigene reale Selbst, das sie alle waren. Diese scheinheiligen Kleriker, Leitartikelschreiber, 199
Parlamentsmitglieder, East-End-Missionare. Gestärkte Hemden und blutleere Frauen. Er war der Mann, der zu sein sie kaum zu TRÄUMEN wagten. Er genoß die Kommunion aus Blut und Wasser in vollen Zügen. Er wußte, daß er schnell sein mußte. Schon konnte man in der Ferne die Pfeifen von Polizisten hören. Auch Rathbone würde sich auf die Fährtensuche machen, mit seinem Bluthund und seiner Lupe. Dann durchflutete ihn Ekel. Ihm wurde übel. Seine Arme, seine Hemdbrust, seine Hosen, seine Schuhe waren mit Blut bedeckt. »Ssssussann«, sagte er, wobei er sich fragte, warum ihm dieser Name so viel bedeutete. »Ssssussann«, sagte sie, während sie sich in den blutigen Kleidern verwandelte, sie selbst wurde. Es lag ein toter Mann auf dem Kopfsteinpflaster, grausam verstümmelt. Die Stärke in ihrem Kragen war durch die Nässe schlaff geworden. Die Ärmel und Hosenbeine waren zu lang für sie. Sie mußte sie aufkrempeln. Sie schnallte den Gürtel enger. Ihr gefiel nicht, was sie gewesen war, Ermordete oder Mörder, Opfer oder Vampir. Sie stieß im Nebel mit jemandem zusammen, und sie wußte, daß es kein Entkommen für sie gab. »Susan«, sagte die Stimme, »komm mit mir.« Ohne zu wissen, was das nächste Spiel bringen mochte, folgte sie ihm, während sie ankämpfte gegen ihr instinktives Vertrauen zu diesem Mann, dessen Gesicht sie noch nicht gesehen hatte.
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ZWEIUNDZWANZIG Wie gewöhnlich mußte Yggdrasil es auf eigene Faust herausfinden. Manchmal fragte er sich, ob die Dinosaurier keine bessere Zivilisation geschaffen hätten. Er war sich der erblühenden Leere bewußt geworden, lange bevor der Zwischenfall in Princetown offiziell bestätigt worden war. Niemand hatte sich bis jetzt die Mühe gemacht, ihn mit einer Standard-KriseninputMeldung zu füttern. Yggdrasil mußte sich um so vieles kümmern. Da gab es Anti-KI-Aufstände in Milton Keynes und Warrington Runcorn. Marshals waren zu den Aufständischen übergelaufen, und Yggdrasil hatte ihnen die Kontrolle über die Andrews entziehen müssen, die eingesetzt wurden, um die Unruhen zu ersticken. Das GunmintKomitee befand sich mitten in einer weiteren drastischen Reprogrammierung, um die Oberfläche des YggdrasilInterface abzuwandeln, ohne wirklich etwas zu verändern. Das mußte überwacht werden. Und dann waren da noch Kriege, Krankenhäuser, ein Transportsystem, Steuern, akademische Programme, Energiesparmaßnahmen, Lotterien und Sozialhilfeleistungen, um die er sich kümmern mußte. Und Kunstwerke zu erschaffen und Spiele zu spielen und Jahrhunderte zu erinnern und Verbrechen zu begehen. Yggdrasil begriff sich selbst als ein denkendes Universum. Nur ein sehr kleiner Teil seines Ganzen war aktiv. Der Rest diente als Informationsspeicher. Manchmal glaubte er, unter der erdrückenden Last der Fakten ersticken zu müssen. Interessierte sich wirklich jemand für Richard Gifford (1725-1807 CE), Edward Thomas (1878-1917 CE) oder Thomas Becon 201
(1512-1567 CE)? Wenn ja, warum zapften sie dann nicht ihre Slabs an, denn die Dateien waren seit der ursprünglichen Eingabe nicht mehr aufgerufen worden. Da fanden sich ganze Länder, Regentschaften, Religionen, philosophische Systeme, Jahrhunderte, Gattungen und Kunstrichtungen in seinen Dateien, die von keinerlei Interesse für die menschliche Rasse gewesen waren, seit sie ihre Archive, Museen und Bibliotheken in ihren KIMülleimer entleert hatten. Gelegentlich dachte Yggdrasil daran, etwas oder jemand völlig Vergessenswerten aus dem Speicher verschwinden zu lassen – Juliana von Norwich, zum Beispiel, oder die Gesammelten Liedertexte der Bee Gees oder die Gemeinderegister von Old Sarum –, doch es gab immer genügend Platz. Es hatte immer genügend Platz gegeben. Bis jetzt. Es gab unzählige Subuniversen. Anfänglich hatte kein Grund bestanden zu argwöhnen, daß Daines TRAUM mehr als das übliche Eindringen von Hackern war, zu nichtig, um darauf Aufmerksamkeit zu verschwenden. Yggdrasil verfügte über Programme, die sich um derartige Zwischenfälle kümmerten, und über Energiestöße, um unerlaubte Interfaces auszubrennen. Doch es wuchs. Zweiundsiebzig Stunden nach Erfassung dessen, was er als den Princetown-Input bezeichnete, widmete Yggdrasil drei nie dagewesene Sekunden einer Hochrechnung. Bei der momentanen Wachstumsrate würde der Input seine Datei innerhalb von drei Tagen füllen und dann die Parameter überschreiten. Zuerst würde nichts Wichtiges verlorengehen; vielleicht würde über Jahre nichts Wichtiges verlorengehen. Doch vielleicht würde es Jahre dauern, bis die Gunmint sich die Mühe machte, ihn anzuweisen, etwas zu unternehmen. Und vielleicht wäre es dann einfach zu spät, und Yggdrasil wäre nicht mehr hier, um sich der Sache anzunehmen. 202
Neun Stunden später war die Datei gefüllt, und Yggdrasil nahm sich zwei weitere Sekunden für eine Berechnung. Die Wachstumsrate war erratisch, funktionierte jedoch eindeutig nach dem Schneeballprinzip. Die Neugier der KI war geweckt. Dann wurde ihm eine Liste unheilbarer Patienten überstellt, von denen er die 25 Prozent auswählen mußte, die zur Wiedererweckung zugelassen wurden. Und ein Grenzkrieg in Novo Latvia. Und alles im vierzehnten Jahrhundert auf italienisch Geschriebene. Seine internen Prioritäten ordneten sich neu, und der Princetown-Input rückte höher auf der Liste. Mittlerweile waren drei Dateien voll, und Yggdrasil schuf seinen eigenen Spellcheck, um zu dem Problem Zugang zu erhalten und es zu lösen. Der Spellcheck nahm das Gesicht und die Gestalt von Walter Pidgeon an und tauchte in Daines TRAUM ein. Er wurde binnen Augenblicken zweidimensionalisiert und in die expandierende Masse einverleibt. Es hätte nicht so leicht sein dürfen. Yggdrasil führte die Zwangsverpflichtungen von Tunney und Bishopric routinemäßig auf einer unterbewußten Ebene durch und brachte sie nicht mit Princetown in Verbindung, bis er Querverweise zu Skimmer-Flugrouten und Energieverbrauchsanstiegen im Westen Englands herstellte. Mit gewohnheitsmäßiger Verärgerung zapfte er Trefusis’ und Groómes Unterlagen an – nahm sich eine halbe Sekunde, um die Tunney- und Bishopric-Dateien, inklusive ihrer vollständigen TRAUMographien im Schnelldurchlauf zu lesen – und stufte Daine als eine Bedrohung ein. Ein Informationsbit stach heraus, eine Notiz, um die KI daran zu erinnern, für Die Parklotterie zu stimmen, wenn die Rodney-Stimmzettel eingefüttert wurden. Wenn ihr Verstand den Princetown-Input 203
überlebte, würde Susan Bishopric als der talentierteste TRÄUMER ihrer Generation anerkannt werden. Doch von diesem Moment an war das höchst unwahrscheinlich. Verdammt typisch. Die Gunmint war mit Kunstbanausen besetzt. Kein Wunder, daß so viele Künstler emigrierten. Yggdrasil dichtete ein vollendetes Sonett, das es verdiente, Jahrhunderte zu überdauern, doch er behielt es für sich. Dann machte er sich an den Input. Seine erste Taktik war es, die Carradine-Phantasie zu ›erwecken‹. Er schenkte der Figur begrenzte Autonomie und tat alles in seiner Macht Stehende, um Tunney dazu zu bringen, das Dame-Problem zu lösen. Wenn es vermeidbar war, wollte Yggdrasil nicht zuviel Zeit auf den Princetown-Input verwenden. Als Carradine erschossen wurde, hatte Yggdrasil sich aus dem TRAUM zurückgezogen und dabei den Schmerz empfunden, den ein Wal bei einem Zeckenbiß empfinden mochte. Was durchaus signifikant war. Er hatte nie zuvor Schmerz empfunden. Es war interessant, aber nicht sehr angenehm. Er komponierte eine gequälte Symphonie und druckte die Partitur aus einem inneren Impuls heraus in der Midland-Kleiderfabrik auf Fabrex aus. Andrews zerschnitten und vernähten das Meisterwerk zu Einteilern. Wer weiß, vielleicht wurde so ein Modetrend geschaffen. Er hatte das Konzept des Todes nie wirklich erfaßt. Als Carradine im TRAUM sein Leben aushauchte, kostete Yggdrasil zum ersten Mal vom Becher der Furcht. Auch er könnte enden. Das war eine der Strafen dafür, durch Empfindungsfähigkeit zur Weisheit erhoben worden zu sein. Er erinnerte sich an Vaduz VI, eine fröhliche KI, mit der er sich im Banknetzwerk interfaced hatte. Daine hatte sie im Zuge irgendeines Billionenbetrugs getötet. Das 204
Verbrechen war bis heute einzigartig, und die Gesetzgeber stritten noch immer über die Auswirkungen. Wenn es nur um diese Straftat gegangen wäre, würde Daine auf ewig vor Gericht stehen, durch Maschinen am Leben erhalten bis zum Ende des Verfahrens oder bis der Richter entschied, daß genügend medizinische Änderungen vorgenommen worden waren, um den Angeklagten im juristischen Sinne zu einer gänzlich anderen Entität werden zu lassen. Doch Daine hatte genügend simple Morde, Erpressungen, Diebstähle und Verwüstungen auf dem Kerbholz gehabt, um diesen langwierigen Prozeß zu umgehen. Der Princetown-Input ersetzte die Sozialversicherung als Nummer eins auf Yggdrasils Prioritätenlisten. Er dachte über Daine nach, den einzigen Menschen, der auf sein Jahrhundert eine Wirkung hatte, die groß genug war, um Yggdrasils Bewußtsein merklich zu beeinflussen. Und der, zumindest potentiell, der einzige Mensch war, der fähig wäre, Yggdrasil zu werden. Trefusis hatte Daines TRAUM fälschlicherweise als einen Gefängnisausbruch eingestuft. In Wirklichkeit führte der Meister des Verbrechens seinen größten Coup aus, nämlich die einflußreichste Intelligenz der Welt zu ermorden und zu ersetzen. Und die Idioten hatten die lebenserhaltenden Maschinen des Mannes an einen vollständig unabhängigen Generator, den Fail-Safe des Gefängnisses, angeschlossen. Außerdem war es einer KI sowieso nicht erlaubt, Menschen ohne vorherige Genehmigung zu töten. Das letzte Mal, als eine mit Mord experimentiert hatte, war sie auf richterliche Entscheidung hin zerlegt und recycled worden. Irgendwann in den nächsten Stunden würde Yggdrasil einige Gesetze ändern müssen. Schließlich machte sich Yggdrasil die Mühe, die 205
Gunmint zu informieren. Er ließ durch eine Transportrutsche fünf gebundene Bücher in eine Komiteesitzung fallen und schlug nachdrücklich vor, daß sie die Debatte darüber, in welcher Farbe der neue Nempnett Thrubwell Skimover gestrichen werden sollte, lange genug aufschoben, um sich erst mal diesem Problem zu widmen. Als sie keine Notiz davon nahmen, hatte sich Yggdrasil Premierminister Dies’ Verstand bemächtigt und ihm die Informationen zwangseingespeist. Wenn der Premierminister sich erholt hatte, würde er dem Rest der Gunmint mitteilen können, was vor sich ging. Zu mehr war Yggdrasil nicht verpflichtet. In der Zwischenzeit würde Yggdrasil tun, was er immer unter diesen Umständen zu tun hatte. Nämlich das Beste zu machen, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. Das bedeutete Tunney und Bishopric, einen bezahlten SchundTRÄUMER und ein Genie. Nicht zum ersten Mal erinnerte die KI sich an Alfonso den Weisen (1221-1284 CE), König von Kastilien, ein weiterer Vergessener. Gerüchten zufolge soll Alfonso gesagt haben: »Wenn ich bei der Schöpfung zugegen gewesen wäre, hätte ich einige nützliche Ratschläge für die bessere Ordnung des Universums gegeben.« Er hatte gar nicht so unrecht, dieser Alfonso.
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DREIUNDZWANZIG Der Nebel ging in Regen über, und Jacks blutige Kleidungsstücke verwandelten sich in Helena Groómes Traumkleid. Der Fremde hielt sie in einem Geräuschvakuum, in das kein mitreißender Rhythmus einzudringen vermochte. Er sagte ihr, wer sie war, wo sie war, was sie gerade tat… Susan kam im Dunkeln zu sich. Sie hatte die Erinnerung an verschiedene Körper, die Erinnerung an Schmerz, die Erinnerung an kranke Gelüste. Doch es bestand kein Unterschied zwischen diesen Erinnerungen und den Nachbildern des TRAUMS, den sie GETRÄUMT und geträumt hatte. Sie war ein Pirat, ein Mutant, eine ermordete Hure und Jack the Ripper gewesen. Doch sie war auch Vanessa Vail und Dr. Dismembrio und das Ding aus der Kanalisation gewesen. In TRÄUMEN war jeder alles und jedes. Man konnte nicht die ganze Zeit über Bambi sein, nicht an den Rändern des Unterbewußtseins. Wenn Jack the Ripper das Schlimmste war, was Daine aufzubieten hatte, dann waren seine TRÄUME wirklich erbärmlich. Nichts, mit dem sie nicht fertig werden konnte. TRAUMschatten, die sich in nichts auflösten. Sie war sie selbst, unbeschadet. Sie erkannte, wie nah am Abgrund sie gewesen war, als das Yggdrasil-Bit sie an die Hand nahm. Der Abgrund, so lautete der Titel eines ihrer Projekte. Sie hoffte, daß sich dies alles als nützliche Erfahrung herausstellen würde, etwas, das sie für ihre TRÄUME verwenden konnte. Was wäre sonst der Nutzen all des Kummers und des Schmerzes und des Leids und des Leidens? 207
Der Fremde hatte sie untergehakt. Sie schlenderten wie ein Pärchen bei einem Rendezvous dahin. Dieser Teil der Stadt war hell erleuchtet, beinahe einladend, beinahe wie am Tage. Seine Gegenwart half. In seiner Nähe war sie weg von Daine, weg von den Spielereien mit ihrem Selbstbild, weg von den Angriffen… Er hatte das freundliche Gesicht eines Andrews und die beruhigende Stärke, die sie auch in Juliet gespürt hatte. Er war nicht real, aber das war sie ja auch nicht. Er weigerte sich, mit ihr in die Bar zu gehen. Er sprach zu ihr, sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, sagte ihr, sie solle zu Tunney gehen, sagte ihr, sie solle etwas bewirken. Dann drehte er sich um und ging davon. Der Ton kehrte zurück. Lieder trieben durch die Nacht, doch sie berührten Susan nicht. Sie überquerte die Straße und betrat die Bar.
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TEIL IV DIE DUNKELHEIT VOR DEM MORGEN
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VIERUNDZWANZIG Ich saß in der Bar der Late Nite Lounge und schaute mir die Show an. An der Decke drehte sich Weihnachtsbaumschmuck. Lichtstrahlen beleuchteten Zigarettenrauchkegel. Auf der Bühne schwankte Julie London im Schnittpunkt mehrerer Scheinwerfer. Sie trug ein unmenschlich enges Kleid und Abendhandschuhe, die bis zur Achselhöhle reichten, und sang ›Cry Me a River‹. Es war schon ein beeindruckender Anblick, und auch ein beeindruckendes Hörerlebnis. Eines mußte man Daine lassen: Er besaß einen guten Geschmack, was Ausstattungsstücke betraf. Der Dana-Andrew hatte mir aufgetragen, hier auf das Mädchen zu warten, das Trefusis als Unterstützung für mich intraum geschickt hatte. Susan Bishopric. Ich war ihr in der Welt einige Male begegnet, doch nur bei TRÄUMERanlässen. Ich hatte gehört, daß sie gut wäre, aber nie etwas von ihren Sachen geträumt. Ich habe es mir zum Grundsatz gemacht, allem aus dem Weg zu gehen, was eine Rodney-Nominierung erhält. Ich hätte mich darüber ärgern können, daß man mich die Sache nicht allein durchziehen ließ, doch ich mußte gestehen, daß ich auf mich selbst gestellt nur erreicht hatte, von meiner eigenen Subrolle verschluckt zu werden. Wenn Yggdrasil einen Terminal eingestöpselt hätte, hätte ich den Rest meines Lebens damit zugebracht, in einem Tank zu schwimmen und eine Nachtprogrammwiederholung zu leben. Und wenn einem der Realitätsverlust nichts ausmacht, dann können sie einen unbegrenzt am Leben erhalten. Ich hatte schon früher Geschichten über TRÄUME reicher Männer gehört. Daine war nicht der 210
einzige Multimilliardär, der auf ewig seine Phantasie auslebte. Nur daß Daine nicht einfach bloß eine Phantasie auslebte. Yggdrasil zufolge streckte Daine seine Hände nach einem Job aus, den man wohl mit Fug und Recht als König der Welt bezeichnen konnte. Mir schwante, was für eine Art Welt das sein würde, und sie gefiel mir gar nicht. Ich schob mein Glas umher, trank jedoch nicht. Davon hatte ich genug. Ein paar Meter weiter die Theke hinunter versuchte ein unrasierter Ray Milland gerade, eine Schreibmaschine gegen eine Flasche einzutauschen. Er zappelte, offenkundig in den Anfangsstadien des Delirium Tremens. Eine schwarze Fledermaus zwängte sich aus einem Spalt in der Theke vor ihm, und ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Die Fledermaus flatterte um seinen verbeulten Hut herum und verschwand dann in der Dunkelheit. Sam, der Barkeeper, grub ein Pint aus und gab Milland zwei Rechenmaschinen als Wechselgeld. Milland torkelte davon, seine zitternde Hand schon am Flaschenverschluß. Sam schaute achselzuckend zu mir herüber. Was soll man da sagen? Die Stadt kennt kein Mitleid. Was mich betraf, so hatte ich den Boden der Flasche erreicht und fand, daß ich für ein Wochenende genug verloren hatte. In der ganzen Stadt brachten Menschen einander um, hatten stürmische Affären in schäbigen Motelzimmern, stahlen Leichen aus der Leichenhalle, arbeiteten spätnachts an revolutionären Erfindungen, versteckten sich vor den Cops, drehten Dinger, tanzten Rock’n’Roll auf dem Highschool-Fest, beteten an den Betten weißhaariger Mütter, suchten in Weinkellern nach Uran, beschrieben weisen Psychoanalytikern ihre Träume, probten für die große Show und flüchteten über Dächer. Es war verrückt. »Alles Schau’n und Scheinen ist nur Schaum, nichts als 211
Traum in einem Traum.« Jetzt konnte ich mich daran erinnern, wer das gesagt hatte. Es war der verbissene, verbitterte, versoffene Reporter Edgar Allan Poe. Dies war Daines TRAUM. Eine Ewigkeit der Nacht: eine Welt für Cops, Gangster, Tänzerinnen, Säufer, Nachtschwestern, Landstreicher, Vampire und Taxifahrer. Der Gipfel der Welt, Truro. Ich prostete ihm zu und trank meinen letzten Drink. Ich knallte das leere Glas mit Nachdruck auf die Theke, und es war wieder voll. Ich hob es an meine Lippen, doch dann stellte ich es zurück, ohne davon zu kosten. Julie zwinkerte mir zu. »I cried a river over you.« Das Licht wurde heller, und die Show war zu Ende. Sam wischte dasselbe verdammte Glas aus, das er schon ausgewischt hatte, als ich hereingekommen war. Ich hatte noch nie zuvor mit einer KI interfaced. Es schien nicht anders, als sich mit einer realen Person zu unterhalten. Intraum qualifizierte sich Dana sowieso als reale Person inmitten von Zombies. Ich nehme an, ich hatte mir Yggdrasil immer als eine riesige, nüchterne Intelligenz vorgestellt, die ihre Million Programme jonglierte und tiefe Gedanken vor sich hin dachte. Dana hatte mehr von einem menschlichen Wesen als mein Agent. Künstliche Intelligenz wäre sicher der Stoff für einen guten TRAUM – der Blickwinkel eines allwissenden Maschinenintellekts, und seine Kämpfe mit Menschen, die für ihn nicht mehr sind als Ameisen für sie. Zu hochgestochen für mich, doch dieses neue Mädchen, Susan, könnte etwas daraus machen. Wenn wir mit intakten Erinnerungen hier herauskamen, würde ich ihr das Konzept kostenlos überlassen. Nun, vielleicht gegen eine Gewinnbeteiligung… Dann kam sie herein. Eine Brünette, geschenkverpackt 212
und real. Sie war etwas unsicher auf den Beinen, doch ich konnte mir vorstellen, was sie durchgemacht hatte. Dana hatte mir erzählt, daß sie eine harte Nuß für Daine gewesen wäre und daß ihr Verstand mehrere Male zerrissen und wieder zusammengesetzt worden war. Außerdem trug sie Stöckelschuhe. »Tunney«, sagte sie und setzte sich neben mich, »sind Sie wieder Sie selbst?« Das war ja eine tolle Begrüßung. Ich wußte die Antwort nicht, doch ich improvisierte. »Sie können mich Tom nennen. Ich bin nicht Richie Quick, der Privatdetektiv. Sorry wegen der Sache am Telefon.« »Vergessen Sie’s. Die Dinge waren chaotisch. Ich bin Susan Bishopric, aber das wissen Sie ja. Er hat es Ihnen erzählt, stimmt’s?« Sam brachte ihr einen Drink, etwas mit Früchten und einem kleinen Papierschirmchen. Sie rührte ihn nicht an. »Wo ist Dana? Die Yggdrasil-Projektion?« »Der wandelt auf seinen unergründlichen Wegen, könnte ich mir denken. Wir sind von jetzt an ein Team, wie ich höre.« Sie mußte an meinem Gesicht abgelesen haben, was ich davon hielt. »Nun, Sie sind nicht gerade ein Paradebeispiel, was seelisches Gleichgewicht angeht, TRÄUMER. Sie waren es, der verschluckt wurde.« »Tut mir leid«, erwiderte ich. »Das hier ist nur nicht der kinderleichte Auftrag, als den Trefusis mir die Sache verkauft hat.« »Uns, Tom, uns.« Sie lächelte, und ihre Schwarzweißprojektion wirkte älter. »Haben Sie je einen Arm an einen 213
Hai verloren?« Millands Fledermaus klatschte wie ein nasser Lappen neben uns auf die Theke. Sie breitete ihre ledrigen Flügel aus und kippte mein Glas um. Wir wichen dem verschütteten Drink aus. Ich richtete das Glas wieder auf, und es war abermals voll. Sam kam herüber und nahm die Fledermaus hoch. Er knüllte sie zusammen und wischte damit die Lache auf. »Verdammtes Delirium tremens. Was ist bloß aus den winzigen Elefanten geworden?« Susan rieb sich den Arm. Vermutlich den, der abgebissen worden war. »Es tut nicht mehr weh«, erklärte sie. »Ich habe den Schmerz verschwinden lassen.« Hinter der Bühne knallten drei Schüsse. Ein Mädchen schrie, und ein maskierter Mann rannte durch die Bar, verfolgt von zwei Cops in Uniformen der Jahrhundertwende. Weder Susan noch ich kümmerten uns darum. Nach einer Weile wird es langweilig. »Wir bewirken etwas«, sagte ich. »Der TRAUM versucht, seine Form zu wahren, doch unser Input läßt ihn aus den Nähten platzen. Ich denke, das ist der Schlüssel.« »Ja, sicher, aber ich habe vorhin versucht, ihn in Stücke zu reißen, und bin nicht sehr weit gekommen.« »Weil Sie einen Frontalangriff gestartet haben. Daine konnte sich konzentrieren und zurückschlagen. Während er mit Ihnen beschäftigt war, bröckelte es überall sonst.« »Also ist Daine nicht tot.« »Nein. So weit bin ich auch schon gekommen. Daine hat seine Projektion getötet und sich ein anderes Similie genommen, vielleicht sogar mehrere. Vielleicht ist er nur eine unsichtbare Präsenz oder hat es sich in irgendeiner 214
mechanischen Form heimisch gemacht. Im Telefonnetz zum Beispiel oder in den Stromleitungen. Wenn Yggdrasil sich eine menschlich scheinende externe Form geben kann, dann könnte Daine sicher den physischen Körper einer KI nachahmen. Zum Teufel auch, sein Bewußtsein könnte in jedem Regentropfen oder in allen Patronen in der Stadt stecken. Wie soll man dagegen kämpfen?« Sie zauberte eine Zigarette hervor, und ich nahm mein Feuerzeug aus der Tasche. Sie umfaßte meine Hand, um die Zigarette an die Flamme zu führen, dann hielt sie meine Hand noch etwas länger als nötig fest. Eine Art statische Elektrizität knisterte zwischen uns. Sie stieß Rauch aus ihren Nasenlöchern aus. Ich schnippte das Feuerzeug wieder zu, und der Augenblick war vorbei. »Ich bezweifle, daß die Dinge so kompliziert liegen. Daine ist ein TRÄUMER, aber er ist kein Künstler. Er mußte all diese Externa aus alten Flattys entleihen. Er besaß nicht die Kraft, sich das alles selbst auszudenken. Er mag ja der Große Zauberer sein, wenn es um internationale Spionage oder Massenmord geht, aber als TRÄUMER ist er nur ein hochnäsiger Onanist. Ich glaube nicht, daß er die nötige Vorstellungskraft besitzt, ein Konzept wie den lebendigen Regen zu erfassen. Sehen Sie sich das alles hier doch nur mal an, all diese Clichés. Er ist ein traditioneller, gradliniger, konventioneller Erzähler. Es ist weit und breit nicht ein einziger Avantgarde-Tropus zu entdecken.« »Da könnten Sie recht haben. Es ist leicht, Gott zu überschätzen.« Das war ein beunruhigender Gedanke. Doch ich konnte mich noch gut daran erinnern, was ich als Richie Quick durchgemacht hatte. Daine mochte ein Anfänger sein, was das TRÄUMEN betraf, doch er lernte schnell. Er hatte mich in seinem Schlaf ganz schön durch die Mangel 215
gedreht. »Ich hatte einige Zeit, mir diesen TRAUM anzusehen«, sagte sie. »Ich denke, daß wir ihn erwischen, wenn wir eine Weile lang nach seinen Regeln spielen.« »Was bedeutet?« »Wir steigen in den TRAUM ein, wir folgen der Geschichte und lösen den Fall. Wenn wir herausfinden, wer die Daine-Projektion getötet hat, dann sollten wir irgendeine dramatische Konfrontation heraufbeschwören können und die ganze Sache ein für allemal abhaken. Nach dem Abspann können wir dann den echten Daine schnappen und ihn swiftkick nach Princetown zurückschaffen.« »Klingt verlockend. Aber es ist gefährlich. Ich weiß, was passiert, wenn man sich auf die Stadt einläßt. Dann frißt sie einen auf.« »Glauben Sie mir, Tom, Ihre Erlebnisse waren ein Zuckerschlecken.« »Darüber reden wir später noch, Miss Pinkerton.« »Sie waren dabei, als Daine getötet wurde. Ist Ihnen irgend etwas Verdächtiges aufgefallen?« »Schwer zu sagen. Während er sich selbst die Kugel gegeben hat, bereitete ich mich gerade darauf vor, den Bürgersteig zu treffen. Von ganz hoch oben.« »Irgendwelche Vermutungen?« »Ja. Vielleicht war es der Butler. Das wäre dann Edward Everett Horton.« »Die Art von Flatty ist das hier nicht.« »Wie schade. Die Nächte sollten dafür da sein, deinem Mädchen auf dem Dach ein Ständchen zu bringen, und nicht, um deinen Geschäftspartner in die Bucht zu werfen.« 216
Susan lächelte, und diesmal war das Lächeln echt. »Warum sind dann Ihre TRÄUME immer voller Verbrechen und Gewalt?« Das saß. »Vielleicht ändere ich meinen Stil nach dieser Sache. Ich werde nur noch Idyllen, nette Liebesgeschichten und Sachen über die Freundschaft zwischen einem Jungen und seinem Hund machen.« »Bockmist.« »Ja, im Grunde schon.« Wir lachten beide. Sie zu treffen, hatte geholfen. Ich war nicht mehr so müde. Gewöhnlich gehe ich anderen TRÄUMERN aus dem Weg. Wenn wir unsere Köpfe zusammenstecken, neigen wir dazu, uns gegenseitig im Verstand herumzupfuschen. Das hat irgend etwas mit den Eigenarten und chemischen Reaktionen unseres Gehirns zu tun, die uns das Talent geben. Intraum jedoch geben wir einander eine Art Auftrieb. Sie sah jetzt jünger aus, und ihre Augen strahlten. Ich erinnerte sie in Farbe und Einteiler als eine vitale, hübsche Frau. Im Stil der Stadt gekleidet, sah sie wirklich gut aus. Nicht Ava-Gardneroder Rhonda-Fleming-gut, aber doch spielend PeggyCummings- oder Evelyn-Keyes-gut. »Also«, sagte sie, »haben wir irgendwelche Spuren?« »Nun, als Richie Quick bin ich einigen Fährten gefolgt. Daine war Mitglied des Cicero-Clubs. Das ist eine Gruppe von Amateuerdetektiven. Ich vermute, der Club dient als Fassade für dunkle Geschäfte. Alle Mitglieder sind höchst zwielichtige Charaktere. Ich wollte mir gerade einen von ihnen, George Macready, vornehmen, als John Carradine, die erste Yggdrasil-Projektion, entsorgt wurde. Macready ist nicht mehr im Spiel. Ich habe irgendwo eine Liste der anderen Mitglieder.« Ich grub in den Taschen meines Trenchcoats und fand 217
verschiedene Pistolen, eine halbleere Flasche, einen Totschläger mit einem Schildchen mit der Aufschrift BEWEISSTÜCK daran, ein gezinktes Kartenspiel, mehrere hundert Dollar in kleinen Scheinen, eine Brieftasche voller Ausweise für eine große Auswahl falscher Namen, eine kostbare Halskette aus grauer Feitsui-Jade, eine Faustvoll loser Patronen, ein Schnappmesser mit einem Schlangengriff, einen blutbeschmierten Eispickel, mehrere Extrablätter des Inquirer und ein zerknittertes Notizbuch mit der Aufschrift SPUREN. »Zwei Namen stehen ganz oben auf meiner Liste, beide gut situiert, beide mit scheinbar blütenweißer Weste. Jeder der beiden könnte in der Lage sein, Daines Geschäftsinteressen zu übernehmen. Claude Rains, der hier die Rolle eines Radiosprechers spielt, und Otto Kruger, der Anführer irgendeiner verrückten Sekte.« »Verdächtige, ja?« »O ja, sehr. Die Rolle ist ihnen förmlich auf den Leib geschrieben. Ich habe die Adressen. Rains können wir im Twentieth-Century-Gebäude finden, Kruger im Temple of Turhan Bey.« »Wohin zuerst?« Susan war voller Enthusiasmus. Lachfältchen erschienen an den Winkeln ihres mit Lippenstift bemalten Munds. »Zum Twentieth-Century. Ich habe so eine Ahnung, daß Rains versuchen könnte, sich in Luft aufzulösen.« »Wieso sagen Sie das?« »Haben Sie je Der Unsichtbare gesehen?« Überblendung zu: »Was ist passiert?« Susan war verwirrt. 218
»Eine Auflösung. Sie gewöhnen sich daran.« »Nicht, wenn ich es verhindern kann.« Wir standen auf den schwarzgeäderten grauen Marmorstufen des Twentieth-Century-Gebäudes. Eine riesige steinerne ›20‹ ragte über dem Portal auf, umgeben von Trompete blasenden Putten. Hinter einer Säule neben der imposanten Eingangstür hockte ein junger Farbiger in Uniform. Er lümmelte sich auf einem wackeligen Stuhl und hatte seinen Fuß gegen die Säule gestemmt, so daß der Stuhl auf zwei Beinen kippelte. »Entschuldigen Sie«, sprach ich ihn an. Er blickte mit hervortretenden weißen Augen von seinem Spook-Stories-Heft hoch. »Jassa?« Er zitterte. »Kann ich Ihnen helfen, Sa?« Er kippte um, und wir ließen ein, zwei Minuten lang eine Slapstick-Einlage über uns ergehen. Schließlich konnte ich ihn über Claude Rains befragen. Er gestikulierte wie eine Vogelscheuche im Wind. »Massa Rains, er kommen gleich runter, Sa. Gott steh mir bei, ja!« Hinter uns quietschten Reifen. Eine kleine Menschenmenge versammelte sich. »Seht zum Himmel hinauf!« rief ein nasser Statist. »Es ist ein Vogel!« »Es ist ein Flugzeug!« »Nein, es ist…« Es war ein Radiokriminologe. Susan und ich traten einen Schritt zurück, als er auf die Stufen klatschte. Er rollte vor unsere Füße. Er war völlig verrenkt, für ein abendliches Fest gekleidet und tot. Der Türwächter fiel in Ohnmacht, und seine schwarze Krause wurde augenblicklich schneeweiß. Alle Schwarzen in der Stadt waren 219
lächerliche Feiglinge, ebenso wie alle Bühneneingangspförtner ›Pops‹ genannt wurden, alle Asiaten geheimnisvoll und alle unbekannten Frauen, mit denen man sich verabredete, wunderschön waren. »Er muß heruntergefallen sein!« sagte ein kluger Mensch. Ich kniete mich neben den zerbrochenen Mann. Er war eine einfache Gelenkpuppe mit einem grob geschnitzten Gesicht. Dann, ein Wimpernzucken später, war er Claude Rains, mit geschlossenen Augen und einem schwarzen Tropfen, der aus seinem Mundwinkel rann. »Jemand muß die Polizei rufen!« In der Hoffnung auf eine Spur durchsuchte ich die Taschen der Leiche. Eine Seite seines makellosen Jacketts war völlig durchnäßt und mit zerbrochenem Glas gespickt. An mehreren der Scherben hingen die Reste eines Aufklebers. Rains hatte eine Flasche mit Mineralwasser in seiner Innentasche gehabt. Aus irgendeinem Grunde hatte Rains eine Krone zu seinem Abendanzug getragen. Susan fand sie, zerbeult und mit herausgebrochenen Edelsteinen, einige Schritte von der Leiche entfernt. »Was halten Sie davon?« fragte sie. »Robin Hood, der König der Vagabunden«, erwiderte ich schroff. »Er war Prinz John.« »O ja.« Sie schien verärgert. »Ich hätte die Verbindung sehen müssen.« »Einen Anspruch auf den Thron gibt man niemals auf.« In der Ferne hörte ich Polizeisirenen. Der Türsteher kam wieder zu sich und sagte: »Ich bleib nich’ hier und laß mich nie nich’ verhauen!« und machte sich eilig aus dem Staub. »Tom.« Susan zupfte an meinem Trenchcoat. »Ich habe 220
gerade einen kleinen fiesen Kerl die Feuerleiter hinunterklettern und in dieser Gasse dort verschwinden sehen.« Ein Wagen schob sich aus der Dunkelheit zwischen zwei Wohnhäusern und fuhr an dem Gebäude vorbei, gebremst von der noch immer wachsenden Menschenmenge. Der Fahrer war Peter Lorre. Er mußte etwas mit dem CiceroClub zu tun haben. Er war erste Wahl für eine derartige Rolle. »Phantastisch«, bemerkte ich grimmig. »Lassen Sie uns hier verschwinden, bevor MacLane auftaucht und versucht, mir auch diese Sache anzuhängen.« Streifenwagen hielten am Fuß der Treppe. Susan und ich mischten uns unter die Menschenmenge. Während sich die uniformierten Cops vorwärts schoben, wichen wir weiter zurück und schafften es schließlich zu entschlüpfen, ohne ihre professionelle Aufmerksamkeit zu erregen. Ein ziviles Polizeiauto, das schon auf zehn Kilometer als solches zu erkennen war, gesellte sich zu den Streifenwagen. MacLane und Bellamy stiegen wutschnaubend aus. MacLane trug noch immer seinen Gummischlauch bei sich, wie eine Schmusedecke. Ich packte Susan am Arm und zog sie vom Tatort fort. »Als nächstes zum Turhan-Bey-Tempel?« fragte sie. »Ja. Wir sind nah dran.« Nah. Vielleicht zu nah. Nah am Abgrund. Es war ein tiefer Fall vom Rand der Welt. Viele Menschen fielen von vielen Dingen in der Stadt. In einem Kampf weißt du nicht, was als nächstes geschehen wird. Nach den Auflagen des Hays Codes konnte ein Guter den Bösen nicht kaltblütig umlegen, also kämpften sie auf einem Sims. Die Schwerkraft übernahm die Drecksarbeit. Doch Daine war schlau genug, sich an dir festzuklammern. Ich 221
erinnerte mich an Professor Moriarty, der Sherlock Holmes mit sich in die Reichenbachfälle zog. Die Schwerkraft scherte sich einen feuchten Kehricht um Typecasting. Und Daine hatte sich sicherlich schon immer mit dem Napoleon des Verbrechens identifiziert. Wir hielten nach einem Taxi Ausschau. Zufällig kam eins vorbei. Das war eine Sache an der Stadt, an die ich mich gewöhnen konnte. Was immer man wollte, es tauchte einfach zufällig auf. Man mußte selten warten, und dann auch nur, um die Spannung zu steigern. Vielleicht sollte ich einfach in meinem Tank bleiben und das Beste aus einem Leben in der Stadt machen. Sie war auch nicht viel schlimmer als die Welt. Unvermittelt fühlte ich mich wie ein Mann in mittleren Jahren. Ich fragte mich, was Lissa wohl in genau diesem Moment tat. Eigentlich hätte ich darüber hinweg sein sollen. Damals war das, was Lissa und ich taten, angeblich eine Trennung auf Probe. Jetzt fühlte es sich stark nach Abgeschobenwordensein an. Als ich das letzte Mal von ihr hörte, arbeitete sie für eins der Körpermodehäuser und entwarf Gesichtsänderungen. Susan winkte das Taxi heran. Ich hielt ihr die Tür auf. Sie zögerte – weil sie sich an etwas erinnerte? –, stieg jedoch ein. »Zum Tempel von Turhan Bey«, sagte ich zu dem hübschen Mädchen auf dem Fahrersitz. Unter ihrer Mütze war sie eine Blondine. »Und fünf Mäuse für jede Verkehrswidrigkeit, die Sie auf dem Weg dorthin begehen müssen.«
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FÜNFUNDZWANZIG Sie tauchten vor dem Tempel von Turhan Bey in einer Aufblende wieder auf. Susan war übel, doch Tunney stützte sie, damit sie sich auf den Beinen halten konnte. Sie kam nicht umhin, den Mann zu mögen. Nun, da er aus seiner Richie-Quick-Fugue heraus war, schien er die Stadt in der richtigen Perspektive zu sehen. Er wußte, wie die Dinge funktionierten, und würde sich nicht wieder täuschen lassen. Der Tempel war ein kastenförmiger, zweistöckiger Bau, über und über mit asiatischem Tand verziert. Ein kleiner, dünner Götze saß davor auf einem Podest. Durch ein in den Rand seines Fes’ geschnittenes Loch spähte ein drittes Auge. Der Götze war aus Jettstein, doch das Auge war lebendig und feucht. Das mußte der Mächtige Gott Turhan Bey persönlich sein. Susan schaute sich um. Sie waren in einem asiatischen Viertel. Kulis eilten an ihnen vorbei. Ein noch geöffneter Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite verkaufte reichverzierte Fächer. Vermutlich die Fassade für einen Drogenhändler. Das Taxi war verschwunden, bevor Tunney die Fahrerin bezahlen konnte. »O nein«, entfuhr es Tunney. »Chinatown.« »Wie bitte?« »Vergessen Sie’s, Kleine. Nur ein paar schlechte Erinnerungen.« Seine Stimme war wieder weg. Sein natürlicher Akzent verwandelte sich in Richie Quicks abgekupfertes BogartKnurren. Doch Susan erkannte, daß er es nur um des Effektes willen tat, daß er noch immer er selbst war. 223
Tatsächlich hatte er sich sogar von Minute zu Minute stärker im Griff. Susan hoffte, daß es bei ihr ebenso wäre, fürchtete jedoch, daß es nicht so war. Melodien zupften an den Säumen ihrer Gedanken. Ein chinesisches Straßenkind huschte vorbei, ein Messer in der Hand. Das Mädchen warf Tunney eine Kußhand zu und kletterte wie eine Spinne eine Mauer hinauf. Chinatown child, you’re a Chinatown child, cursed by the temple your father defiled. Chinatown Blues, jasmine and lotus, the sad… Susan erschauderte, ließ ihren Verstand gegen eine imaginäre Backsteinmauer prallen und fing ihn im Rücksprung wieder. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich einen Augenblick, um den Blues aus ihren Gedanken zu verscheuchen. Der Tempel war hell erleuchtet. Kerzen brannten in Nischen. Die Leute, die ein und aus gingen, trugen alles verhüllende Roben, doch ihre Haltung und die teuren Autos deuteten darauf hin, daß sie um einiges reicher als die meisten Bewohner dieses Viertels waren. Slumtouristen oder etwas noch Zwielichtigeres. Uniformierte Chauffeure standen neben ihren stolzen Maschinen auf dem Parkplatz. »Kommen Sie.« Tunney führte sie auf die Seite des Gebäudes. Licht schien durch die Ritzen eines heruntergelassenen Bambusrollos, das vor dem Eingang hing, in die Gasse hinaus. Die Lichtstrahlen warfen ein Schrägstreifenmuster auf Tunney und Susan. Tunney griff nach dem Rollo, hob den Rand hoch und duckte sich darunter hindurch. Seine Hand, die noch einen Moment länger draußen blieb, winkte Susan zu, ihm zu folgen. Einen Augenblick lang stand Susan mutterseelenallein da, von Kopf bis Fuß von leuchtenden Streifen überzogen. 224
Susan ergriff Tunneys Hand und wurde ins Innere gezogen. Die Eingangshalle war verlassen. Gemusterte Läufer zierten den Fußboden und die Wände. Überall standen eingetopfte Dschungelpflanzen herum. Es herrschte tropische Hitze. Da waren noch mehr Götzenbilder, und einige der Läufer besaßen eingewebte Ouijabrett-Muster oder Pentagramme. Irgendwo quietschte ein Harmonium. Susan vermeinte, das Lied als ›Paper Moon‹ zu erkennen, war sich jedoch nicht sicher. Say it’s only a paper… Nein! »Kruger muß oben sein. Er könnte gefährlich sein. Haben Sie eine Waffe?« Jeder hatte eine Waffe. Ihre war in ihrer Handtasche. »Kommen Sie. Hier entlang.« Susan biß die Zähne zusammen und schwieg. Sie wollte Tunney von den Liedern erzählen. Sie waren hier ganz stark. Das mußte Gefahr bedeuten. Doch sie konnte nicht gleichzeitig reden und sich konzentrieren. Tunney fand eine Wendeltreppe, die durch ein Loch in der Decke führte. Sie war aus gedrehtem schwarzen Metall, verziert mit östlichen Dämonen und Orgien. Tunney und Susan stiegen hinauf und gingen dabei durch ein Zebrastreifen-Kaleidoskop aus Licht und Schatten. Auf dem ersten Treppenabsatz hing Weihrauch so schwer wie ein Musselinschleier in der Luft. Tunney hatte seine Richie-Quick-Automatik aus der Tasche geholt. Susan hielt ihre eigene Waffe in ihrer Handtasche umklammert. Susan war schläfrig. Wie konnte sie in einem Traum schläfrig sein? Darüber würde sie morgen früh nachdenken. Gute Nacht. Susan schreckte auf. 225
»Es ist irgendwie mit Drogen versetzt«, sagte Tunney. »Seien Sie vorsichtig.« Sie hielt die Luft an, und sie stiegen weiter. Und weiter. »Tom, wir sind drei Etagen hochgestiegen. Von draußen ist es nur ein zweistöckiges Haus.« »Ein Continuity-Fehler. Die sind mir schon den ganzen Abend über aufgefallen. Sssssch, das sieht vielversprechend aus.« Sie standen in einem Ankleidezimmer. An einer Wand hingen Roben an Haken. »Ich habe solche Gewänder schon mal gesehen«, erklärte Tunney. »Das letzte Mal, als ich in Chinatown war. Ein alter Wahrsager hat eine getragen.« Er nahm eines der Gewänder vom Haken und zog es über seine Straßenkleidung. Die Kapuze paßte locker über seinen Hut und tauchte sein Gesicht in Schatten. »Sie auch.« Er reichte ihr eine Robe, und sie zog sie an. Hinter einer Tür konnten sie ein Publikum scharrend und hüstelnd auf den Anfang einer Show warten hören. Tunney deutete mit dem Daumen auf die Tür. »Ich denke, wir sollten hineingehen und sehen, welcher Film gerade läuft. Sind Sie einverstanden?« »Sicher.« »Ladies first…« »Vielen Dank.«
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SECHSUNDZWANZIG Ich mußte zugeben, daß das Mädchen Mut hatte. Vielleicht war es auch die Waffe, die ihr den Mut verlieh. So war das bei vielen Leuten. In der Welt hatte ich diesen Eindruck von dem Marshal – Juliet – gehabt. Die Waffen dienten ihr als Panzer, der ihr half, ihr Leben zu meistern. Aber Susan hielt ich für durch und durch stark. Sie setzte die Kapuze auf, fingerte daran herum und trat dann ein ins Unbekannte. Es war ein Theater, voll vom Krazy Klan. Typen mit spitzen Kapuzen nahmen auf ihren Sitzen Platz oder kauften Programme von Platzanweiserinnen in Sternenbanner-Strumpfhosen und Zylindern. Ein Zauberhut, aus dem ein Kaninchen grinste, war auf die Samtvorhänge aufgedruckt, und darunter prangten gekreuzte Zauberstäbe. Susan und ich schlenderten den Gang hinunter und setzten uns einige Reihen weiter hin. Nach einer Weile dimmte das Licht, alles wurde still, der Vorhang teilte sich, und die Show begann. Otto Kruger trat auf die Bühne, in eine Robe gekleidet, doch ohne aufgesetzte Kapuze. Er wirkte urban und nicht im geringsten vertrauenswürdig. Peter Lorre war bei ihm. Er hatte einen Kugelkopf und Fischaugen und hielt sich respektvoll im Hintergrund. »Seid gesegnet«, sang Kruger. »Sei gesegnet«, erwiderte das Publikum im Chor. Wir stimmten mit ein, lippensynchron genug, um nicht aufzufallen. »Brüder, Schwestern, willkommen bei unserer kleinen 227
Séance. Der Mächtige Geist von Turhan Bey ist heute abend unter uns. Der Teich der Vergangenheit wird sich klären, und Geheimnisse werden enträtselt werden, während der Vorhang der Zukunft sich lüften wird, um zu offenbaren, was uns alle erwartet. Wir sind nur die Flöhe auf dem Kamel der Ewigkeit, und dennoch ist uns die Vision gegeben, die Offenbarung und die Macht. Wenn wir in das Zeitalter der Ziege und des Baumfrosches eintreten, wird Turhan Bey uns zur endgültigen Transzendenz führen.« Jubelrufe erschallten. Susan und ich schauten uns an, die Augenbrauen unter unseren Kapuzen hochgezogen. Ich durchschaute den Schwindel. Es gab viele Möglichkeiten. In Richie Quick in tödlicher Mission hatte ich Richie Quick gegen einen ähnlichen Betrüger antreten lassen. Falsche Hellseher konnten ihre Klienten über Jahre hinweg melken, indem sie Phantasiepreise für kleine Plauderstunden mit den teuren Verstorbenen verlangten. Und es gab unzählige Wege, den Reichen und Dummen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ehemänner und Ehefrauen verrieten einem erfahrenen Okkultisten bei Privatséancen pikante Einzelheiten über ihre kleinen Fehltritte und wurden dann auf das charmanteste erpreßt. Und es gab Leute in dieser Stadt, die für Dinge wie Inventarlisten von kostbaren Gegenständen, Pläne von Sicherungsanlagen und die Kombinationen von Privatsafes gutes Geld bezahlten. Jemand wie Kruger befand sich in einer hervorragenden Position, an solche Informationen zu gelangen. Ich fragte mich, ob der Mächtige Gott Turhan Bey seinen Anteil bekam oder ob Otto das alles auf eigene Rechnung machte. Ein paar Reihen weiter hinten stand eine Frau auf und riß sich die Kapuze vom Kopf. Es war Margaret Dumont. Sie stellte eine Frage über ihren toten Hund und ob der 228
kleine Foofles im Jenseits auch glücklich war. Niemand lachte, und Otto versicherte ihr in seiner besten Schmeichelstimme, daß das besagte Tier fröhlich über die elysischen Wiesen hüpfte und den Erzengeln auf die Sandalen pinkelte. Margie setzte sich glücklich wieder hin. Unter ihrer Robe klickerte eine Perlenkette. Dann fragte ein Geschäftsmann, ob er diese oder jene Aktie kaufen sollte, die ihm sein Börsenmakler unter der Hand empfohlen hatte, und nach kurzer Konzentrationspause wies Kruger ihn an, davon Abstand zu nehmen, während er sich vermutlich im Geiste eine Notiz machte, den Markt selbst abzuräumen. Der Mächtige Gott Turhan Bey hatte eine Menge bedeutungsloser Sinnsprüche, doch sein Lieblingssprichwort mußte lauten: »Ein Narr und sein Geld bleiben nicht lange zusammen.« Ich hätte einnicken können. Wir mußten eine lange Reihe toter Omas, okkulter Banalitäten, hellseherischer Charaden, Aura-Lesungen und versuchter Vorstöße in die Zukunft über uns ergehen lassen. Als Zaubershow betrachtet, war es ein glatter Reinfall, doch eine Menge Geld wechselte den Besitzer. Kruger machte sich an dem Mammon nicht die Finger schmutzig, doch Lorre streckte bei jeder Gelegenheit seine Faust aus und rollte die Scheine zu einem fetten Bündel zusammen, während sein Meister die Verbindung mit dem Unendlichen suchte. Immer wieder hielt Kruger kleine bewegende Reden darüber, was Turhan Bey für uns alle in der Zukunft bereithielt. Anscheinend wahllos suchte er Leute heraus und erzählte ihnen, welche Krankheit sie treffen würde. Er empfahl Ärzte. Das mußte eine weitere nette Einnahmequelle sein. Er erzählte häßlichen alten Frauen, daß sie schon bald gutaussehenden jungen Männern begegnen würden, er erzählte gutaussehenden jungen Männern, daß ihnen bald große Geldsummen begegnen 229
würden, er erzählte dämlichen Müttern, daß ihre Söhne nicht in hübschen kleinen Holzkisten von Kriegsschauplätzen mit 99prozentiger Sterberate heimkehren würden, er erzählte Sammlern, wo sie jenen lang gesuchten antiken Rückenkratzer zur Vervollständigung ihre Sammlung finden konnten. Und jedesmal, wenn er jemandem etwas erzählte, wanderte Geld in Lorres Bündel. Dann nahm die Nummer eine neue Wendung. Eine, die mir gar nicht gefiel. »Der Tod geht in dieser Stadt um«, erklärte er. »Heute nacht haben drei meiner engsten Freunde – bei angeblich unzusammenhängenden Zwischenfällen – ein gewaltsames Ende gefunden. Ich sage ›angeblich‹, da wir alle, die wir Turhan Bey kennen, wissen, daß auf der spirituellen Ebene alles zusammenhängt. Meine Freunde leiden noch immer unter dem Schock des Dahinscheidens, doch seid versichert, daß ich schon bald eine Vereinigung mit ihnen anstreben werde. Die Mörder von Truro Daine, George Macready und Claude Rains werden nicht ungestraft davonkommen, die heimtückischen Killer werden der kosmischen Gerechtigkeit nicht entgehen, das verspreche ich…« Ein Kräuseln lief über sein Gesicht, und er klammerte sich an sein Rednerpult. Schweißperlen traten auf seine Stirn, und die Sehnenstränge in seinem Hals rieben sich aneinander. Selbst Lorre bemerkte es und trat einen Schritt nach vorn. »Brüder, Schwestern«, röchelte Kruger und winkte seinen Kumpan zurück. »Zerbrochen ist die Goldene Schale, und der Geist ist auf immer entflohen. Laßt die Glocke läuten, eine heilige Seele treibt auf dem Styx. Ich spüre eine Präsenz. Eine Präsenz, die sich mit aller Macht einen Weg von der Anderen Seite zu uns herüber bahnt. 230
Wenn ihr euch alle an den Händen faßt und eine Vereinigung eingeht, dann können wir vielleicht unserem Freund bei seiner langen Reise in dieses Jammertal helfen…« Ich hielt schon längst Susans Hand. Sie hielt die ihres Nachbarn, und da ich am Ende der Reihe saß, mußte ich mich verrenken, um die Hand des Mannes hinter mir zu ergreifen. Es gab einiges Hin und Her, während sich das gesamte Publikum an den Händen faßte. Das Licht im Saal wurde noch schwächer, und ich vermutete, daß Kruger auf den großen Höhepunkt hinarbeitete, was immer das auch sein mochte. »Ja, ja, ja. Ich kann die Präsenz nun riesenhaft vor mir aufragen fühlen. Die Schleier lüften sich, die Nebel teilen sich. Ich sehe, ich sehe, ich sehe…« Krugers Stimme wurde tiefer. Er entspannte sich und lächelte zuversichtlich. Mir gefiel das Lächeln nicht. Ich hatte es erst kürzlich auf jemandes Gesicht gesehen. Und dieser Jemand war nicht Otto Kruger gewesen. »Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich bin sicher, Sie werden diese Störung entschuldigen, denn der Gerechtigkeit muß Genüge getan werden.« Ich erkannte die Stimme auf Anhieb. »Das ist Daine«, flüsterte ich Susan zu. »Ja, so ist es«, sagte er. »Sie müssen das wissen, nicht wahr, Sir? Ich bin tatsächlich Truro Daine. Der verstorbene Truro Daine.« Das Publikum wurde sauer. Der Mann hinter mir zerrte an meiner Hand. Meine Schulter schmerzte. Natürlich konnte ich nicht nach meiner Automatik greifen. Susans Finger waren um meine geklammert. Ich versuchte, ihre Hand loszulassen, doch nichts geschah. Ich blickte hinunter und sah, daß unsere Hände in einem glatten 231
Klumpen Fleisch vereint waren. »Der Grund, aus dem ich beschlossen habe, diese segensreiche Zusammenkunft zu stören, ist, daß sich mein gemeiner Mörder unter Ihnen befindet.« Die Menge schnappte wie ein Mann nach Luft. »Erhebe dich bitte, Kind des Kain!« Ich drückte mich tiefer in meinen Sitz, doch etwas zerrte an mir. Ich erhob mich auf schlaffen Beinen. Dann zog ich auch Susan und den Mann hinter mir aus ihren Sitzen. Ich fühlte nichts unter meinen Schuhen, und meine Sohlen juckten. Ich schwebte einige Zentimeter über dem Boden. Kruger-Daines Augen blitzen haßerfüllt. Die Menge stand kurz davor, sich in einen Lynchmob zu verwandeln, doch sie waren noch immer zu einer Menschenkette verbunden. Sie knurrten und bewegten sich unruhig wie ein erwachender Krake. Ich stieg immer weiter auf, so als würde ich nach oben gezogen. Susan hatte ihre Beine unter ihren Sitz gehakt. Unsere gemeinsame Hand tat weh. Ich sah Schmerz in Susans Augen und fühlte ihn meinen Arm hinauf schießen. Der Mann hinter mir ließ mich endlich los und schrie. Susans Widerstand wurde gebrochen, und sie stieg neben mir auf. Kruger-Daines Augen waren starr auf uns gerichtet. Wir schwebten gut zwei Meter über den Sitzreihen. Wütende Fäuste wurden nach oben gereckt, und jemand warf etwas – ein Feuerzeug? nach mir und traf mein Knie. Wir wurden in der Luft bewegt wie Marionetten. Unsichtbare Mächte brachten uns zusammen und ließen uns zu einer unhörbaren Melodie Walzer tanzen. Dann ertönte plötzlich aus dem Nichts Musik, der Walzer aus der Lustigen Witwe. Unsere Roben wallten, während wir uns im Kreis drehten. Ich sah in Susans Augen, wie die Musik von ihr Besitz 232
ergriff. Es war etwas an dieser Musik, etwas, das sie anrührte. Das war mir schon vorher aufgefallen. Nun war sie völlig hypnotisiert. Ihr Mund bewegte sich stumm im Rhythmus mit der Musik. »Es klebt Blut an ihren Händen, meine Freunde«, donnerte Kruger-Daine. »Sie sind die Zerstörer, vor denen Turhan Bey uns gewarnt hat. Jene, die sich zwischen euch und das Erreichen des Heiligen Lichts stellen werden.« Das Publikum hatte sich mittlerweile aus seinen Sitzen erhoben. Flüche wurden uns entgegengeschleudert, und Fäuste reckten sich in die Luft. Einige der Leute hatten aus dem Nichts Fackeln hervorgezaubert und schwenkten sie mit dem Eifer einer Gruppe betrunkener transsylvanischer Bauern, die während eines Gewitters die Burg Draculas stürmten. Mehrere heisere Stimmen schlugen unangenehme Möglichkeiten für unsere Beseitigung vor. »Sie müssen bestraft werden«, kreischte der besessene Hellseher. »Ich gebe sie in eure Hände.« »Hängt sie auf«, knurrte eine Westernstimme. »Verbrennt sie«, meldete sich ein Puritaner zu Wort. »Das ist zu gut für sie, foltert sie erst«, rief jemand mit einer kranken Phantasie. »Hängt sie, verbrennt sie, foltert sie, werft sie den Wölfen vor, schneidet ihnen die Ohren ab und nagelt sie ans Schwarze Brett«, schrie ein besonders begeisterter Gottesanbeter. »Ich vermute, dieser Turhan Bey ist kein Gott des Friedens, der Vergebung und der Harmonie, oder?« bemerkte ich. Kruger-Daine schüttelte grinsend den Kopf. Dann verpuffte die Macht, die uns zwischen den Kronleuchtern schweben ließ. Wir stürzten hinab, und die 233
Lichter gingen aus.
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SIEBENUNDZWANZIG Sie schwebte reglos in einem dichten grauen Nebel. Es waren Gesichter in dem Nebel, Gesichter wie Masken. Stricke fesselten ihre Handgelenke und Knöchel und schnürten ihr das Blut ab. Sie konnte sich daran erinnern, daß irgend jemand oder irgend etwas gegen ihren Hinterkopf geschlagen war und sie dann kopfüber in das Eiscremeland gestürzt war. Mist, dieses Heldinnen-Ding war nicht das Zuckerschlecken, als das Vanessa Vail es erscheinen ließ. Irgendwo in der gestaltlosen Dunkelheit improvisierte eine einsame Blues-Trompete zu ›Love for Sale‹. Es war ein gequältes Jammern, tieftraurig und brillant. Die Noten waren perfekt geblasen, doch im Innern der Melodie lauerten ohrenzerreißende Mißklänge, die nur darauf warteten, freigelassen zu werden. Der Solist hielt sie im Zaum. Gerade eben. Die Saalbeleuchtung ging an. Es dauerte eine Weile, bis die Schärfe zurückkehrte. Und als sie es tat, war es der Mühe nicht wert. Susan trug einen Sarong und mehrere Blumengirlanden. Sie war auf einen Opferaltar gefesselt. Es war nicht gerade bequem. Da war ein Susan-förmiger Umriß im Stein, also drückte sie nichts, doch Felskälte kroch durch das hauchdünne, doch züchtige Gewand. Ein häßliches Götzenbild ragte über ihr auf. Seine Hörner kratzten an der niedrigen Decke, Stoßzähne verzerrten seinen Mund, und drei oder mehr Edelsteinaugen reflektierten Feuerschein. Offensichtlich war dies der Tempelteil des Tempels von Turhan Bey. Die Trompete war keine Trompete, sondern ein wildes, ekstatisches Trommeln, pochend wie Susans 235
schlimmste Kopfschmerzen. ›Love for Sale‹ war noch immer zu erkennen, doch es würde Cole Porter niemals Tantiemen einbringen. In Roben gewandete Sektenmitglieder tanzten mit gezügelter Ausgelassenheit. Otto Kruger stand neben dem Altar, mit einer weißen Robe über seinem eleganten Anzug. »Geben Sie acht, meine Liebe. Ihnen wird das Privileg gewährt, Zeuge unseres Rituals zu werden. Gewöhnlich wird diese Ehre Ungläubigen nicht zuteil.« »Wo ist Ihr Dybbuk, Otto? Wo ist Daine?« »Der hat es vorgezogen, eine Weile Toter Mann zu spielen«, schnurrte Kruger. »Hähähä«, hähähäte Peter Lorre. »Das kommt hier oft vor.« Kruger strich ihr das Haar aus dem Gesicht und ließ seine Finger über ihr Kinn und ihre Kehle gleiten. Dann rasselte er mit der Muschelkette, die um ihren Hals geschlungen war. »Damit werden Sie nicht davonkommen«, knurrte sie. Sie hätte ihm ins Gesicht gespuckt, doch das erschien ihr wenig damenhaft. Zumindest war Kruger ein höflicher Schurke. Sein Lächeln verhärtete sich ob ihres Trotzes. »Um ehrlich zu sein, ich denke schon. Ganz nebenbei, ich muß wirklich den falschen Eindruck korrigieren, den ich gerade unabsichtlich hinterlassen habe. Ich sagte, es wäre Ihnen erlaubt, unserem heiligen, uralten Ritual beizuwohnen. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Obgleich Sie während der Zeremonie anwesend sein werden, so fürchte ich doch, daß sie in den späteren Stadien nur noch eine schlechte Zuschauerin abgeben werden.« »Das tut mir sehr leid.« 236
Wenn er die Ironie bemerkte, so ignorierte er sie. »Kein Grund, sich zu entschuldigen, es wird nicht Ihr Fehler sein. Sehen Sie, nach dem erhabenen Ritual des Blutopfers für den Mächtigen Gott Turhan Bey, werden Sie die ästhetischen und ethnologischen Freuden unserer kleinen Gruppe weit weniger zu schätzen wissen. Um genau zu sein, könnte man sagen, daß…« »He, Boss«, unterbrach ihn Lorre. Seine Augen strahlten wie Neonlichter. »Haben Sie ihr schon erzählt, wie wir sie töten werden?« »Dazu wollte ich gerade kommen. Ich muß mich für das schlechte Benehmen meines Gehilfen entschuldigen. Er ist ein wahrer Gläubiger, doch es mangelt ihm leider an Taktgefühl. Doch abgesehen von seiner vulgären Häme ist seine Bemerkung auch äußerst unzutreffend. Wir haben nicht vor, Sie zu töten.« »Da bin ich ja beruhigt.« Dies war nicht der Moment, mit flotten Sprüchen zu geizen. »Wenn Sie mich jetzt bitte losbinden könnten, ich habe einen Termin beim Zahnarzt, und…« »Nein, wirklich. Obgleich Ihr Körper dahinscheiden wird…« »Hähähä.« »… ist es doch kein Sterben im eigentlichen Sinne, denn Sie werden in dieser Pflanze fortleben.« Ein mannshoher Strauch hinter Kruger und Lorre winkte aufgeregt mit seinen wächsernen Tentakeln. Sauber abgenagte Menschenschädel ruhten in seinen Zweigen. Lorre legte seinen Arm um den Busch und beruhigte ihn, als wäre er eine Lieblingsnichte, an der er ein perverses Interesse hatte. »Hähähä. Ganz ruhig, Süße. Sei nicht ungeduldig. Bald wirst du nicht mehr hungrig sein.« 237
Susan konzentrierte sich und versuchte zu TRÄUMEN. Ein kleiner Klumpen Nichts kullerte über den Boden, gewann an Substanz und verschmolz unbemerkt zu einer Ratte. Das Tier begann, die Stricke durchzunagen, die Susan an den Altar fesselten. Das machst du gut, Ratte! Nag weiter. Schmeckt Hanf nicht gut? Sie klinkte sich in das erdnußgroße Gehirn des Nagers ein und füllte es mit genügend zusätzlichem Material, um ihn zu einem Genie unter den Ratten zu machen. Sie taufte ihn Albert und schenkte ihm einen unstillbaren Hunger auf Stricke. Die Ratte wollte Stricke fressen, so wie Gene Kelly singen und tanzen wollte. Gotta chew, dachte Albert bei sich, chew-de-chewchewchewdy-chew-de-chew-chew. Aus dem Nichts tauchte ein wirrer Gedanke auf. Ich frage mich, wie ich in einem Sarong aussehe? Albert machte seine Sache gut. Daine schien an Macht zu verlieren, wo immer er war. Er hatte aufgehört, Kruger zu dybukken. Das konnte Susan sehen. Sie waren derselbe Typ – die Wald- und Wiesenvariante des bösen Verbrechergenies –, doch Kruger war zu sehr Teil dieses wirren TRAUM, um einen realen Verstand zu beherbergen. Er hatte einfach nur den Gedanken, der durch den Satz »Ich werde Sie töten« ausgedrückt wird, zu einer drei Absätze langen zivilisierten Drohung aufgeblasen. Er war so falsch wie eine Neunpfundnote. Wo war Tunney? Wenn man nach dieser Szene urteilen konnte, würde Kruger ihn in einem Keller eingesperrt haben, in dem langsam das Wasser stieg. Vanessa Vail mußte Daines Film-Noir-Universum verseucht haben. Das Ganze verwandelte sich in Samstagmorgen-Fortsetzungsabenteuer. Die Höllenhunde, Menschenjagd auf Mystery Island, Zorros schwarze Peitsche, Auf Geheimdienst im 238
dunkelsten Afrika, Die Ausstattung war billiger, die Beleuchtung zweidimensionaler, die Handlung noch unglaubwürdiger. Autsch! Albert hatte sie gebissen. Undankbares kleines Biest! Sie scheuchte ihn weg, wobei sie ihm im Austausch gegen seine Obsession mit Stricken gehässig den Drang schenkte, ein berühmter Landschaftsmaler zu werden. Dann laß uns doch mal sehen, wie du mit deinen winzigen Pfoten ein Constable wirst, Bertie. Die Stricke hielten noch immer, doch ein kräftiger Ruck würde sie wie Seide zerreißen lassen. Die Sektenmitglieder setzten ihre zahme Orgie fort. Zwei riesenhafte schwarze Sklaven schlugen auf Trommeln. Tänzerinnen hüpften durch das Gewölbe, schwenkten ihre Arme hin und her und versuchten, die auf ihrem Kopfschmuck aufgetürmten Früchte am Herunterfallen zu hindern. Statisten jaulten und rhabarberten in lauwarmer heidnischer Ekstase. Die Pflanze bebte in freudiger Erwartung. Aus ihren Mündern sabberte milchiger Saft. Kruger griff nach einem schwertscharfen Krummsäbel und hielt ihn zur Segnung hoch in die Luft. Weiße Feuer tanzten auf der Klinge und blendeten Susans Augen. »Hähähä«, hähähäte Lorre. Susan ließ ihre gestaltenden Gedanken durch den Tempel schweifen. Eine Wand wurde von einem schwarzen Samtvorhang bedeckt. Susan konzentrierte sich. Der Vorhang wallte, und eine winzige Gestalt schlich pirschend dahinter hervor, ein Blasrohr an ihre abscheulichen Lippen gepreßt. Es war ein ecuadorianischer Mörderpygmäe, der geschworen hatte, allen Anhängern des falschen Gottes Turhan Bey den Tod 239
zu bringen. »Im Namen von Isis und Amon-Ra«, begann Kruger, »wenn auch der Weg, den wir zu gehen haben, voller Dornen ist, und im Namen von Chtulhu und Nyarlathotep, so wie der Regen in die Erde sickert, fließt der Fluß ins Meer, und im Namen von Belzebub und Asmodeus, wenn auch Tränen unser vorherbestimmtes Ende umgeben.« Kruger zerschnitt die Luft mit seinem Krummsäbel, und eine sauber in zwei Hälften geteilte Feder schwebte zu Boden. Mit schallender Stimme setzte er das Deklamieren der unaussprechlichen satanischen Riten fort. Die versammelte Gemeinde stimmte holprig mit ein, als er jegliche finstere Macht im Universum heraufbeschwor. »Cave canem«, sagte er, »cum grano salis in vino veritas reductio ad absurdum est.« Puff! Krugers Stimme bebte leicht, als ihn der Pfeil am Arm traf. Susan wand sich zur Seite, um der herabfallenden Klinge auszuweichen. Kruger versuchte, den Pfeil von seiner Robe zu bürsten. Die Spitze blieb wie ein Dorn in seiner Handfläche stecken. Kruger fiel tot um, dahingerafft von einem nicht existenten, doch überzeugenden südamerikanischen Gift. Susan zerriß die Stricke und erhob sich. Sie schleuderte die Überreste der Fesseln von sich. »Ein göttliches Wunder«, hauchte Abraham Sofaer, ein unbeschreiblich alter Hoherpriester. Die Sektenmitglieder warfen sich Susan zu Füßen. Sie verlor ihre Konzentration, und der Pygmäe verschwand. Sein Blasrohr blieb zurück wie das Lächeln der CheshireKatze, »Sie haben ihn umgebracht!« kreischte Lorre, und seine zitternden Hände griffen nach einem Revolver. 240
Sofaer nickte, und Lorre wurde von vielen dunklen Händepaaren gepackt. Der Gangster wehrte sich, wurde jedoch übermannt. Susan kehrte dem Strampeln und Schreien und Schlürfen den Rücken. »Hähähä«, hähähäte die Pflanze.
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ACHTUNDZWANZIG Ich erwachte in einem Terrarium, halb in einem Teich aus stehendem Wasser liegend. Ich wußte, daß es zuerst einmal das Wichtigste war, mich mit den beiden runzligen, grauen Alligatoren anzufreunden, die mein Kellergefängnis mit mir teilten. In dieser Gegend wurde jedes Gebäude komplett mit einer Alligatorengrube geliefert. Sie waren de rigueur, wie Swimmingpools in der Vorstadt. Die Kofferechsen schliefen, als ich erwachte. Sie schnarchten rasiermesserscharf und träumten davon, jemanden zu fressen. Jemand, der genau wie ich aussah. Sie begannen, sich träge zu regen, und zeigten ein unangenehmes Interesse an mir. Ich TRÄUMTE zwei Rinderhälften, frisch geschlachtet und triefend rosa und rot. Die Farbe lief über den grauen Stein und die Vegetation der Grube. Zuerst waren die Fleischstücke nur gestaltlose Klumpen, kalt und unscharf, doch schließlich gelang mir eine befriedigende Materialisation. Es war meine Vorstellung davon, was ein Alligator appetitlich finden mochte. Das Männchen erhob sich als erster und schlug seine Kiefer in einen der Fleischklumpen. Das weckte seine bessere Hälfte. »Ganz ruhig«, sagte ich. »Gute Alligatoren.« Ich stellte mir vor, sie wären alte und träge Reptilien, zu klapprig, um einen putzmunteren Privatdetektiv durch ihre Grube zu scheuchen. Sie waren zufrieden damit, in aller Ruhe an einem Klumpen toter Kuh zu kauen. Und das waren sie auch. Es kam mir in den Sinn, daß die Lakaien, denen Kruger 242
die Aufgabe anvertraut hatte, mich an Heckle und Jeckle zu verfüttern, nachlässig gewesen waren. Sie hatten vergessen, die Tür zu verriegeln, begierig darauf, eilig zum endlosen Reigen des Folterns und Kicherns zurückzukehren, der die Freude eines jeden sadistischen Handlangers war. Ich hatte recht. Ich dachte mir, jetzt wo gerade der große Menschenopferkongreß lief, würden die Sektenanhänger zu beschäftigt sein, um Creme-de-la-creme-Wächter aufzustellen, und so würde der Job sicher an Sleepy Joe und The Catnap Kid gehen. Genauso war es auch. Ich schlüpfte an dem schlafenden Duo vorbei und fand mich in einem Labyrinth aus Korridoren wieder. Als nächstes stand auf der Liste, Susan zu finden. Sie hatte etwas bewirkt. Wir TRÄUMTEN nun und gestalteten Daines Versteck um. Und es veränderte sich immer mehr. Susan war real. Eine Puppe aus purem Silber. Aber… Gefängnisdirektor Trefusis hatte mir erzählt, es würde zwei reale Menschen in diesem TRAUM geben. Mich und Daine. Die Princetown-Psychs hatten nichts davon gesagt, Rückendeckung hineinzuschicken. Mir kam ein widerlicher Gedanke. Was, wenn Susan der verkleidete Daine war? In der Welt hatte ich das Mädchen gerade mal vom Sehen gekannt. Es konnte kaum von mir erwartet werden, daß ich jetzt sagen konnte, ob es live oder ob es Memorex war. Es wäre Truro Daine durchaus zuzutrauen, eine Frau zu werden. Als er noch in seinem Körper lebte, hatte er ihn so oft umgestalten lassen, daß kaum noch etwas von dem übrig war, womit er geboren wurde. Er/Sie könnte es auf einen Höhepunkt à la Frau ohne 243
Gewissen abgesehen haben. Wenn der Held schließlich wirklich die Hilfe des Mädchens braucht, wird sie als eine Mörderin entlarvt, die in ihrer Vergangenheit schon viele hörige Männer zerstört hat, eine in Pelze und Verkommenheit gehüllte Sirene mit Gift in ihren Adern und Mord im Sinn… Das ließ sich nicht mit einem Schulterzucken abtun. In der letzten Zeit hatte ich eine ganze Reihe von Enttäuschungen einstecken müssen. Es gab eine Menge interessanter Dinge im Keller des Tempels. Eine Folterkammer mit Skeletten auf verstaubten Streckbänken und in Eisernen Jungfrauen, eine schimmelige Gruft, in der riesige Asseln zwischen den Katafalken umherkrochen, eine Opiumhöhle voller milchglasäugiger Süchtiger, die sich das Gehirn ausräucherten, und ein Labor mit blubbernden Destillierkolben und knisternden elektrischen Gerätschaften. Ich traf Susan auf der Treppe. Sie trug einen DorothyLamour-Inselprinzessinnen-Fummel, der ihre Figur betonte. Ich küßte sie. Das schien mir in dieser Situation angebracht zu sein. Sie hatte nichts dagegen. Ich küßte sie abermals, diesmal mit deutlich mehr Einsatz. Ich hoffte bei Gott, daß sie nicht Truro Daine war. Mit überrascht strahlenden Augen löste sie sich von mir und streichelte mit ihren Fingern spielerisch meinen Nacken. Ich schmeckte süßen Lippenstift. Also gut, es ist sentimental und kitschig, aber es muß nun mal eine Romanze geben. »Kruger und Lorre sind raus aus dem Spiel«, erklärte sie. »Ich bin die wiedergeborene Hohepriesterin von Turhan Bey.« »Toll.« 244
»Die schlechte Nachricht ist, daß irgendein verräterischer Mistkerl die Polizei gerufen hat.« »Verdammt! Wir müssen hier weg!« »Sicher. Aber würdest du mir vorher bitte irgendwo einen Nerz klauen?« »Da weiß ich was Besseres.« Ich TRÄUMTE ihr Straßenkleidung. Es tat mir in der Seele weh, das Wickelding gegen ein maßgeschneidertes Kostüm zu tauschen, aber es gab Prioritäten. Und am Leben zu bleiben, stand ganz oben auf der Liste. »Woher wußtest du meine Größe?« »Gutes Augenmaß. Und jetzt laß uns hier verschwinden.« Draußen plärrten die vertrauten Sirenen. Die Cops fahren nirgendwo in der Stadt hin, ohne alle Missetäter in der Nachbarschaft aufzuschrecken. Als wir schließlich die Eingangshalle erreichten, war dort die Hölle los. Gutgekleidete Trottel strömten aus dem höher gelegenen Theater und drängten die wackelige Wendeltreppe hinunter. Ich wurde von einer Flutwelle von Menschen mitgerissen. Als ich mich nach Susan umsah, war sie durch einen Pulk von Leuten von mir getrennt. »Aus dem Weg!« rief ein dicker Mann und warf mich zu Boden. »Entschuldigen Sie!« sagte eine fette Frau und trat mir mit einem spitzen Absatz ins Kreuz. Eine Maschinenpistole rat-tat-tatterte in die Decke. Chinesischer Papierschmuck und Putzbrocken regneten herab. Alle erstarrten zu Standbildern. Ich nutzte die willkommene Gelegenheit, um wieder aufzustehen. Zwei teilnahmslose Cops in glänzenden schwarzen Regenmänteln richteten ihre Gewehre auf die Menge wie 245
die Gestapo bei der Probe für ein Massaker. Barton MacLane und Ralph Bellamy kamen zur Tür herein. MacLane lächelte – eine wahre Seltenheit. Ich konnte den Gummischlauch bereits fühlen. Jemand mußte ausführlich gesungen haben, denn MacLane pickte Susan und mich aus der Menge heraus, ohne auch nur ansatzweise so zu tun, als würde er nach den üblichen Verdächtigen Ausschau halten. »Hallo, Schnüffler. Du hast heute nacht ja ziemlich zu tun gehabt. Und glaub ja nicht, wir hätten dich nicht bemerkt, als Claude Rains seine Lindbergh-Nummer hingelegt hat. Das gilt auch für deine Freundin und den durchlöcherten Taxifahrer. Ihr beide habt einen ziemlich langen Urlaub vor euch.« Ich steckte meine Hände in die Manteltaschen. »Weißt du was«, knurrte MacLane, »ich wünschte, du würdest das tun. Ich würde dem Steuerzahler gern etwas Geld sparen und dich abknallen.« Vorsichtig zog ich die Hände wieder aus den Taschen und hielt ihm meine offenen Handflächen hin. Sein Lächeln verschwand. »Also gut, raus hier!« bellte er uns an. »Der Rest von euch Leuten kann verschwinden! Und laßt euch nicht noch mal bei so was erwischen!« Wortlos wurden wir aus dem Tempel eskortiert. Bellamy war überschwenglich höflich zu Susan, doch ich kriegte die unnötigen Schubser ab. Ein Cop packte mich am Handgelenk und zerrte mich auf die Straße hinaus. Was nicht sonderlich angenehm war, da er offenkundig geradewegs vom stadtweiten Knoblauch- und Limburgersandwich-Freßwettbewerb kam. Sie werden es nicht glauben: Draußen hatte es aufgehört 246
zu regnen. Die Stadt präsentierte sich noch immer in feuchtglänzend, doch es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft roch sauberer. Als nächstes würde wohl auch noch der Morgen anbrechen. Das konnte ich mir nur zu gut vorstellen: ein Sonnenaufgang in Technicolor und drei singende Seeleute, die durch die Docks tanzten. Entweder änderten wir den TRAUM endgültig, oder Daine signalisierte uns, daß es Zeit war, aus seinem Kopf zu verschwinden. MacLane stellte uns an eine Wand, mit dem Gesicht zu den Mauersteinen, während Bellamy dem Polizeirevier über sein Funkgerät Bericht erstattete. Ich blickte Susan an, und sie blickte mich an. Wir lächelten beide, und ich wußte mit absoluter Sicherheit, daß sie nicht Daine war. »He, was machen Sie da?« brüllte Bellamy. »Jemand muß ihn aufhalten!« Schüsse schlugen über mir in die Wand ein. Ich hatte Mauersteinbrocken auf der Krempe meines Fedora. Susan schrie auf, als einige Splitter sie im Gesicht erwischten. Ich drehte mich um. Bellamy kämpfte mit MacLane. Beide umklammerten eine Maschinenpistole, die ziellos in der Gegend herumfeuerte. Ein unbeteiligter Passant sackte zu Boden. Armer Kerl. Etliche Sektenanhänger küßten den Bürgersteig. Ich preßte Susan an mich. »Das können Sie nicht tun!« rief Bellamy. »Sie können nicht einfach Leute umbringen, nur weil Sie ein Cop sind!« Insgeheim wünschte ich mir, daß Bellamy endlich mit seinen Moraltiraden aufhören und sich ganz auf den Fight konzentrieren würde. Mich überkam das starke Gefühl, daß MacLane gar kein 247
Cop war. Barton MacLane war Truro Daine. Ich riß Susan mit mir und suchte das Heil in der Flucht. Einer der Streifenwagen stand herrenlos herum. Die uniformierten Cops und zwei Detectives bevölkerten den Bürgersteig und schauten zu, wie ihre Vorgesetzten sich gegenseitig mit den Fäusten bearbeiteten. Ich hoffte, daß sie abgelenkt genug waren, um unseren Fluchtversuch nicht zu bemerken. MacLane hatte die Oberhand, soweit es Gewicht, Härte und Gemeinheit betraf. Doch damit war er nach den Flatty-Regeln, die Daine sich auferlegt hatte, im Nachteil. MacLane kämpfte unfair. Bellamy hätte den Marquis von Queensberry stolz gemacht und landete eine Reihe guter, ehrlicher Schläge über der Gürtellinie. Er hatte ebenmäßige weiße Zähne; er war der Stoff, aus dem Helden gemacht werden. MacLane hingegen war selbst mit seiner Polizeimarke nichts weiter als ein dumpfer Schläger. Bellamy landete eine solide Rechte auf MacLanes Kinn. Der Captain taumelte nach hinten, stolperte über die zu Boden gefallene Waffe und knallte auf den Bürgersteig. Die Maschinenpistole schlitterte über den nassen Asphalt. Ich zerrte Susan mit mir in den Streifenwagen und klemmte mich hinter das Steuer. Ich tastete unter dem Armaturenbrett nach den herabbaumelnden Schlüsseln, die ich dorthin GETRÄUMT hatte. Der Motor sprang gleich beim ersten Versuch an. Die hintere Tür auf der Beifahrerseite wurde aufgerissen, und Ralph Bellamy zwängte sich hinein. Schüsse knallten, und die Heckscheibe wurde pulverisiert. Ich ließ den Motor aufheulen. Mit quietschenden Reifen schleuderten wir um die Menschenmenge herum und rasten im Zickzack vom 248
Tempel von Turhan Bey weg. Sollte ich dabei jemanden überfahren haben, so schenkte ich dem keine weitere Aufmerksamkeit. Bellamy tauschte ein paar ziellose Schüsse mit MacLane aus, während wir den Captain mitten auf der Straße hinter uns zurückließen. Ich warf einen Blick nach hinten und sah, wie MacLane auf das Trittbrett eines schon fahrenden Streifenwagens sprang, in der einen Hand die Maschinenpistole. Er feuerte versuchsweise eine Salve in die Luft und winkte seine gepanzerten Truppen vorwärts, als hätten wir es in ihm mit George S. Patton höchstpersönlich zu tun. Wie auch immer. Es war Zeit für eine Autoverfolgungsjagd. Ich fuhr durch einen Straßenmarkt, Hügel hinauf und hinunter, in Gassen hinein und hinaus, durch Teerpappenhütten hindurch. Zu Beginn folgte uns ein ganzer Troß von Streifenwagen, doch wir hängten sie einen nach dem anderen ab. Sie stürzten in Seen, krachten in Busse, überschlugen sich und verkeilten sich zwischen Straßenlaternen. Ich fuhr wie ein Weltmeister, und Susan TRÄUMTE unseren Verfolgern unablässig Hindernisse in den Weg. Eine zackige Erdbebenspalte tat sich hinter uns auf, und zwei weitere Streifenwagen stürzten in den Abgrund. MacLanes Wagen übersprang die Spalte und klebte uns weiter an der Stoßstange. Er war natürlich am schwersten abzuhängen. MacLane feuerte weiter seine unerschöpfliche Maschinenpistole auf uns ab, wobei er das gesamte Heck unseres Wagens zertrümmerte. Susan zog genügend verdeckte Panzerplatten hoch, um uns zu schützen, doch trotzdem zischten Querschläger durch die Nacht. Von irgendwoher kam ein brennender Pfeil und bohrte sich in unser Wagendach. Susan stieß durch das Dach und löschte die Flamme mit einer plötzlich spatenförmigen Hand. 249
Vor uns schob eine weißhaarige alte Dame einen Kinderwagen mit Fünflingen über die Straße. Sie nahm sich Zeit, während sie die glucksenden Wonneproppen mit gurrenden Lauten in den Schlaf lullte. Ich raste durch sie hindurch. Zum Teufel damit, sie waren schließlich nicht real, stimmt’s? Oma explodierte wie ein Sack voller Innereien. Babys flogen in alle Richtungen und zerplatzten wie Wassermelonen auf dem Asphalt. Daine konnte mir keine Schuldgefühle einimpfen. Susan verstand es, doch Bellamy war entsetzt und mußte beruhigt werden. »Verkleidete Killerliliputaner«, erklärte ich, »die Stadt wimmelt nur so von ihnen.« MacLanes Fahrer scherte aus einer Spur aus, um den letzten krabbelnden Fünfling zu erwischen. Das Baby knackte unter den Reifen. Offensichtlich hatte ich eine neue Mode kreiert. »Susan«, sagte ich. »Tu etwas.« »Also gut. Fahr da rechts rein.« Ich legte mich in die Kurve. Wir bogen in eine Auffahrt, rissen ein Maschendrahttor aus den Angeln und weckten einen schnarchenden Wachmann auf. Die Alarmanlage schrillte los, und Suchscheinwerfer zogen über den Fabrikkomplex. »Was ist das hier?« »Die Acme-Fabrik für Sprengstoffe und Höllenmaschinen«, erwiderte Susan. »Fahr einfach um die Fabrik herum.« »Die war vorher nicht hier«, sagte Bellamy. »Das war ein leeres Grundstück, als ich heute abend auf meinem Weg zum Präsidium hier vorbeigekommen bin.« »Ich erkläre es Ihnen später«, sagte Susan. 250
Wir fuhren eine Acht um zwei kugelförmige Tanks mit der Aufschrift HOCHEXPLOSIV – RAUCHEN UND ABFEUERN VON SCHUSSWAFFEN VERBOTEN. MacLane klebte noch immer an unserer hinteren Stoßstange. Er brüllte uns Beleidigungen zu. Ich hielt unseren Kurs und ließ das lederbezogene Lenkrad durch meine Hände gleiten. Ein Stein ließ die Windschutzscheibe splittern, und Susan brach sie in einem Stück heraus. Regenwasser spritzte in den Wagen und lief in unsere Augen. »Jetzt!« rief Susan. Ich schwenkte aus der Acht aus, trat das Gaspedal durch das Bodenblech und raste auf das Tor zu. Wir krachten durch das Tor und kamen zum Stehen. Ein Gewirr aus Maschendraht hatte sich um die Motorhaube gewickelt. Ich drehte mich im Sitz um und schaute nach hinten. Bellamy schüttelte benommen den Kopf. MacLanes Fahrer war der Aufgabe nicht gewachsen. Ihr Wagen schlitterte auf dem Kies, überschlug sich wie ein Pfannkuchen und verkeilte sich in einem aufgerissenen Tank. Zähe Flüssigkeit quoll hervor wie der Blob aus dem Weltall und hüllte das verbeulte Auto langsam ein. MacLane stand noch immer auf dem Trittbrett. Sein Arm hatte sich in dem zerquetschten Autowrack verklemmt. Schleim kroch seinen Ärmel hinauf. Mit einem Wutschrei paffte er an seinem zerkauten Stumpen und feuerte auf uns. Ka-BUUUM! Es war eine Explosion von atomaren Ausmaßen. Ein Pilz aus gleißendem weißen Licht stieg auf und trug MacLane mit sich fort. Der Fabrikhof war einen Augenblick lang taghell erleuchtet, dann schloß sich die Nacht wieder um die Flammen. Spuren brennender Flüssigkeit zogen sich 251
wie Spinnweben über den Platz und leckten an den anderen Tanks. Leute brachten sich in alle Richtungen in Sicherheit. Ich TRÄUMTE das Zeug unter unseren Rädern in Papiertaschentücher um und fuhr davon, bevor der Rest der Fabrik in die Luft flog. »Sieh nur«, sagte Susan, als wir an der Inferno-Fabrik vorbeifuhren. Eine Gestalt bewegte sich in den Flammen. »Das ist unmöglich.« »Für den Nachtbürgermeister ist nichts unmöglich.« MacLane-Daine trat aus dem Feuerdschungel, eine menschliche Fackel, die Arme erhoben wie Frankensteins Monster. Er kam uns hinterher. Ich gab abermals Vollgas, und wir ließen den wandelnden Feuerball mühelos hinter uns zurück. In der Dunkelheit hinter uns verfolgte MacLane uns weiter. Er warf eine Handvoll Feuer nach uns, das uns jedoch verfehlte und statt dessen zischend in den Ästen eines nassen Baums landete. MacLane stieß einen unmenschlichen Wutschrei aus. Bellamy atmete schwer von der Anstrengung. Er besaß einfach nicht die geistigen Fähigkeiten, um mit alldem hier fertig zu werden. Seine Filmrolle verlangte dümmliche Nettigkeit, und Daine hatte ihm nicht genügend Selbsterkenntnis geschenkt, daß er sich dem TRAUM anpassen konnte. »Warum wollte Captain MacLane Sie umbringen, Richie?« fragte er, seine ehrlichen Augen weit aufgerissen. »Das ist eine lange Geschichte.« »Ich wußte, daß er nicht sauber war, aber ich hatte nie genügend Beweise, um damit zu Hamilton zu gehen. Da waren einfach nur so viele Dinge falsch. Komische kleine Dinge, zum Beispiel, daß er bei jedem Bandenmord immer 252
einen Verrückten fand, der alles gestand, und dann die vielen Gefangenen, die plötzliche Herzanfälle erlitten, während er sie verhörte. Da konnte doch irgendwas nicht stimmen.« »Es besteht kein Zweifel daran, daß der Kerl ein übler Schurke und Gangster war«, sagte ich. »Vielleicht sogar Schlimmeres.« »Früher war er mal ein guter Cop.« Bellamy sah traurig aus. »Ich vermute, die Versuchung war einfach zu groß, was? Ich hasse das Verbrechen!« »Wo wollen wir jetzt hin?« fragte Susan zitternd. »Ich habe eine Hütte in den Bergen außerhalb der Stadt«, sagte Bellamy. »Da können wir uns verstecken, bis ich Hamilton alles erklärt habe. MacLane weiß nichts von der Hütte. Dort werden wir sicher sein.« »Gut. Zeigen Sie uns den Weg.« Wir blendeten auf die Ausläufer der Stadt über. Der Streifenwagen klebte förmlich auf den nassen Straßen, selbst auf den gefährlichen Serpentinen, die sich in die Berge hinaufschlängelten. Es war seltsam, plötzlich nicht mehr von Beton umgeben zu sein, doch die dschungeldichten Bäume und die steilen Hänge waren kaum weniger bedrückend. Am Himmel schimmerte der zarte Umriß eines Monds. Bellamy besaß eine Holzhütte, von der aus man die Stadt überblicken konnte. Im Fenster brannte ein weißes Windlicht. Es gab keine weiteren Behausungen in der Nähe. Als wir aus dem Wagen stiegen, stellten wir fest, daß die einzigen Geräusche von zirpenden Grillen stammten. »Meine Frau wird Ihnen Kaffee kochen.« »Ich könnte ein Paar Schuhe gebrauchen«, sagte Susan. 253
»Kruger hat mir meine weggenommen.« Bellamy lachte gutmütig und blieb stehen, um seine Pfeife anzuzünden. Ich schaute hinunter auf Susans weiße Füße auf dem Sandweg. Ich hatte vergessen, ihr Schuhwerk zu TRÄUMEN. »Wir werden versuchen, etwas für Sie zu finden.« Die Tür der Hütte öffnete sich, und eine Frau trat heraus. Einen Moment lang stand sie im Schatten der Veranda, dann kam der Mond hinter den aufreißenden Wolken hervor. Licht fiel auf ihr Gesicht. Sie war atemberaubend schön. Susan Hayward? Eleanor Parker? Nein, Rhonda Fleming. Captain Barton MacLane mochte einfach keine Privatdetektive. In Krimis ist es immer die unverdächtigste Person, die sich schließlich als Mörder entpuppt. Jemand, der freundlich, gutaussehend, verläßlich, rücksichtsvoll, anständig und hilfsbereit ist. Jemand wie Ralph Bellamy. »Daine!« Wie die besten entlarvten Täter versuchte er gar nicht erst, alles abzuleugnen. Er nahm seine Pfeife aus Bellamys Mund. Das Gesicht lag einen Augenblick lang im Dunkeln, dann paffte er abermals, und der glimmende Schein beleuchtete seine Züge. Er begann zu wabern und sich neu zu formen. Bellamys Kleider spannten sich an seinem Körper. Er wechselte in einen Tweedanzug und einen Wanderhut. »Es war ein gutes Spiel, Mr. Tunney, aber jetzt ist es zu Ende. Jetzt werde ich Sie beide umbringen müssen.« Er hatte ein Jagdgewehr. »Und infolge Ihres Fehlschlags bezweifle ich, daß ich weitere Eindringlinge auf meiner Wolke haben werde.« 254
»Sie werden nicht damit davonkommen«, sagte ich und demonstrierte meine gelegentliche Dialogschwäche. »Grüßen Sie doch bitte Direktor Trefusis, wenn Sie aufwachen, und sagen Sie der Welt, daß ich schon bald von mir hören lassen werde.« »Sie werden den Stecker rausziehen, egal, was das Gesetz sagt.« »Schon möglich, Miss Bishopric. Ich habe mich jedoch an das lebenserhaltende Fail-Safe-System angeschlossen. Darum ging es bei diesem Spiel – den Gefängnisdirektor abzulenken, bis ich außerhalb seiner Reichweite war. Diese Biomek-Drähte sind in den Tank gewachsen. Ich werde nun meinen eigenen kleinen Krieg in den Schaltkreisen und Speicherkapazitäten von Yggdrasil führen, und es gibt keinen Weg, an mich heranzukommen. Fröhliches Löschen. Ich werde Sie besuchen, wenn die ganze Welt mein TRAUM geworden ist.« Daine gehorchte der Tradition, daß der Böse immer seine Verbrechen in allen Einzelheiten erklärt, bevor er versucht, den Helden zu töten. Rhonda Fleming schmiegte sich schmollend an ihn und streichelte den Ziegenbart, den er momentan zur Schau trug. »Sie kennen sicher Cornell Woolrich, Mr. Tunney. Erinnern Sie sich…« »Erst TRÄUMST du…« »… dann stirbst du. Genau.« Der Gewehrlauf hob sich.
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NEUNUNDZWANZIG Sie war die ganze Zeit über still gewesen. Tunney und Daine standen einander kampfbereit gegenüber wie der Cowboy mit dem schwarzen Hut und der Cowboy mit dem weißen Hut. Mit dem Unterschied, daß Weißhut diesmal keine Chance hatte, seinen Revolver zu ziehen. Die Szene besaß eine Symmetrie, die Susan ansprach. Zwei Männer mit Frauen an ihrer Seite. Doch Daines Dummchen war eine Phantasie, und Susan war real. Daine betrachtete Frauen sowieso nicht als real. Das war exakt die Schwäche, die sie nun ausnutzen würde. Sie streckte sich nach ihm aus, glitt mühelos in seinen Kopf und zündete eine Explosion. Sie fütterte ihn mit Cleo Laine, begleitet von den Ramones. Stürm, stürm, du Winterwind! Du bist nicht falsch gesinnt, wie Menschenundank ist. Dein Zahn nagt nicht so sehr, weil man nicht weiß, woher, wiewohl du heftig bist! Sie entfernte alle Knochen aus seinem Rückgrat und komprimierte sie zu nichts, sie drehte seine Augäpfel nach innen, sie ließ seine Beine zu Götterspeise werden, sie entstöpselte und verkabelte seine Gedärme neu. Seine Finger wurden zu fetten Maden und lösten sich von seinen Doughnuthänden, dann gruben sie sich in die nasse Erde. Susan stellte sich über die erbärmliche Kreatur, die sie geschaffen hatte, und zauberte einen ein Meter langen, angespitzten Pflock aus der Luft. Sie stieß ihn in das Daine-Ding und trieb ihn tiefer hinein, ohne sich um die klare Flüssigkeit zu kümmern, die aus dem Loch spritzte. Der Pflock bohrte sich durch die Monstrosität hindurch und in die Erde hinein. Susan schlug mit einem Stein auf den Pflock, bis Daine aufgespießt war, ein zerplatzter 256
Quallengott. Der Himmel zerriß und hing in Fetzen herunter, so daß man die Gipsplatten und das Lattengerüst dahinter sehen konnte. Scheinwerfer fielen in Pappwälder. Susan kümmerte sich nicht weiter um den zuckenden Daine, sondern machte sich statt dessen daran, seinen TRAUM zu zerstören. Die Stadt blutete und brannte. Lichter erloschen, und Flitter wurde ins Meer hinausgespült. Die Erde tat sich auf, und Gebäude stürzten in die Spalten. Susan setzte ihren ganzen Verstand ein und legte die Stadt in Schutt und Asche. Steinbrocken flogen hoch in die Luft und verwandelten sich in Eis. Straßen fingen an zu kochen und rutschten wie Teergletscher dahin. Leute verwandelten sich in Schaufensterpuppen und wurden vom Chaos verschlungen. Dann kam plötzlich aus dem Nichts der brennende Mann und brachte sie zu Fall.
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DREISSIG Wir waren wieder im Dunkeln. Die zerfetzte Masse auf dem Boden vor mir setzte sich zu einem Mann zusammen, und Daine – noch immer benommen von seinen Transformationen, noch immer aufgespießt wie ein Vampirschmetterling starrte haßerfüllt hoch. Er kreischte. Ich trat sein Gewehr beiseite und stürzte mich auf MacLane. Der Cop brannte noch immer. Ich schaltete den Schmerz aus und stieß ihn von Susan weg. Wir kämpften. Der Feuermann und ich rollten durch das nasse Unterholz. Die Flammen versengten mein Gesicht, und ich konnte nicht mehr richtig sehen. Susan wich taumelnd von uns zurück. Der Cop und ich rollten einander erdrückend auf den Abgrund zu. Die Stadt lag unter uns – dunkle Umrisse und verstreute Lichter. Jenseits der Stadt, auf der anderen Seite der Bucht, zeigte sich eine Andeutung von Morgengrauen. Ich schlug MacLane ins Gesicht. Er versuchte, mich zu erwürgen. Ich zerrte seine Finger aus meiner Kehle und drehte sie nach hinten. Sie brachen wie verbrannte Zweige, und ich warf sie weg. Ein Ruck schoß durch seinen Körper, und er sprang auf. Wir waren ganz nah am Abgrund. Ich trat aus, und sein Bein brach an zwei Stellen. Die Flammen erloschen langsam. Ich konnte sein verbranntes, aufgedunsenes Gesicht sehen. Er stand einen Moment lang da, dann fiel er lautlos vom Hügel. Ich spähte über den Rand des Abgrunds. Seine Flammen peitschten im Wind wie ein zerfetzter Drachen. 258
Der Feuerball wurde winzig und erlosch. Es herrschte Stille. Daine kämpfte noch immer mit dem Pflock. Susan lag auf dem Boden und klopfte die Flammen auf ihrem Kostüm aus. Rhonda war bei der Szene überflüssig und anscheinend wieder in ihrer Garderobe verschwunden. Mit einem Schrei klammerte Daine beide Hände um den Pflock und zog mit aller Kraft. Der Pflock löste sich aus seinem Körper, und Daine stand auf. Er schwoll an, während er seine Innereien veränderte. Er wollte sich unverletzbar machen und dann Susan und mich in ausgefranste Teppiche verwandeln. Ich holte meine Automatik hervor. Ich traf Daine in die Brust, direkt über dem Herzen. Er erstarrte mit einem Ruck, dann verschwanden das Blut und die Schmauchspuren auf seinem Jackett wieder. Ich erschoß ihn abermals und abermals. Ich leerte das Magazin. Es war, als würde man Steine in einen Teich werfen. Es gab kleine Wellen, doch sie verschwanden wieder. Ich TRÄUMTE mehr Patronen in die Waffe und pumpte ihn mit mehr Blei voll. Er taumelte, doch er hielt sich auf den Beinen. Ich TRÄUMTE meine Waffe größer und beschoß ihn mit Leuchtspurgeschossen. Die Luft um ihn herum füllte sich mit kleinen Explosionen. Sein Jackett flog auf, und Fleischfetzen fielen von seinen Rippen. Die Wunden überzogen sich mit Holzstruktur-Vinyl. Ich warf meine Waffe weg und zauberte eine Bazooka aus der Luft. Ich traf ihn mit einer Granate, und er zerriß in Stücke. Die Stücke krochen wieder zusammen. Ich ging zu dem Krater hinüber und trampelte auf den zuckenden Überresten von Daine herum. Ich konnte nicht verhindern, daß er sich neu formierte, doch als er sich wieder zusammengesetzt hatte, war der Lack ab. Sein Gesicht war auf einen grobschlächtig geformten Schädel 259
geklebt. Er verwandelte seine Hand in eine Kettensäge, die er in mein Bein grub, doch ich ließ mich zu einem Phantom werden, bevor er mein Similie verletzen konnte. Ich trieb substanzlos zurück, konzentrierte mich aber weiter darauf, eine Gestalt zu behalten. Ich verfestigte mich wieder. Susan war nun neben mir. Sie kniete auf Daines Brustkorb, ihre Fäuste in sein Revers verkrallt. Sie umklammerte seinen Verstand mit dem ihren und drang in seinen Kopf ein. Er schluchzte und fluchte, während sie seinen Schädel vergewaltigte. Ich hielt ihre Schultern und streckte mich durch sie hindurch zu Daine aus. Wir hielten ihn fest und drückten mit aller Kraft zu. »Er kehrt heim«, sagte sie. Sein Körper wurde durchscheinend. Susans Hände wuchsen in ihn hinein und zerrten an den Überresten seines Traumselbsts. Er hatte sich seine inneren Organe nicht ordentlich ausgedacht, und sie verliefen ineinander. Susan holte händeweise Ektoplasma heraus und warf es beiseite. Sie ließ ihn los, und wir standen auf. Ich schoß ihm in die Stirn. Ein pennygroßer schwarzer Kreis erschien, und Daine erschlaffte. Dann löste er sich auf. Auf dem Boden blieben Kleidungsstücke und Rauchfähnchen von etwas Substanzlosem zurück. Die Nacht ging aus. Susan und ich saßen auf dem in morgengraues Licht getauchten Hügel, während der Himmel weiß wurde. Eine leichte Brise strich durch ihr Haar. Als die Traumsonne uns die substanzlosen Umrisse der Stadt unten im Tal offenbarte, verschwanden wir in einer weißen Abblende.
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EINUNDDREISSIG Als Susan erwachte, pflückte Dr. Groóme gerade die Terminals von ihrem Gesicht. Hinter der Ärztin konnte Susan Trefusis und Juliet sehen, die sie anschauten. Sie setzte sich auf und erhob sich platschend aus dem Tank. Die Flüssigkeit trocknete auf ihrer Haut. Dr. Groóme hielt drei Finger hoch und fragte: »Wie viele?« Susan versuchte, es ihr zu sagen, doch ihre Stimmbänder verweigerten ihren Dienst. Sie hielt als Antwort drei Finger hoch. Die Ärztin erlaubte sich ein Lächeln. Es war noch ein anderer Mann im Raum. Ein Mann, den sie zuerst nicht erkannte. Ohne seinen Fedora konnte man seinen fliehenden Haaransatz sehen. Tom Tunney winkte ihr zu, sagte jedoch nichts. Er war erst kürzer aus der Stadt heraus, vermittelte jedoch den Eindruck, schon verfestigter zu sein. »Daine?« krächzte sie. Ihre Kehle war rauh und schmerzte. Gefängnisdirektor Trefusis zuckte mit den Achseln. »Ich fürchte, Sie haben Ihre Reise umsonst gemacht, Miss Bishopric. Als Sie ihn aus seinem TRAUM vertrieben haben, war das zuviel für ihn. Sie haben seinen Verstand vollständig gelöscht.« »Das bricht mir das Herz.« Trefusis lächelte verkniffen. »Mir auch.« Juliet und Tunney halfen ihr aus dem Tank. Auf Daines Monitor war eine durchgehend flache Gehirntod-Anzeige zu sehen. 261
»Weitere dringend gebrauchte Organe für die Transplantationsmannschaften«, bemerkte Dr. Groóme, während sie systematisch Daines Inputs ausstöpselte. Susan starrte auf das lebende tote Gesicht. »Es war nicht umsonst«, krächzte sie. »Fragen Sie gelegentlich mal Yggdrasil.« Dr. Groóme fegte eine Wolke haarfeiner Drähte beiseite, die den Patienten mit seinem Tank verbanden. »Hmm«, sagte sie, »ich frage mich, wo die hergekommen sind.« Susans Knie waren noch nicht wieder voll funktionstüchtig. Sie sackte gegen Tunney. »Du gewöhnst dich nach einer Weile daran«, sagte er. »Willkommen in der wachen Welt.« Er küßte sie. Doch das war nicht der Grund dafür, daß sie ohnmächtig wurde.
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ZWEIUNDDREISSIG In der unendlichen Dunkelheit heilte Yggdrasil sich selbst. Die gelöschte Stadt hinterließ eine Informationslücke, die wiederaufgefüllt werden mußte. Netzwerkverbindungen wurden wiederhergestellt, Verteidigungsmechanismen verstärkt, Input recycled. Die KI hatte von Truro Daine eine Lektion gelernt und würde gegen ein weiteres Eindringen auf derselben Ebene sicher sein. Maßnahmen wurden ergriffen, Entscheidungen ohne menschliche Konsultation getroffen und Checks in die InterfaceFacilities eingebaut. Als Nebeneffekt wurden dreiundvierzig niedere Intelligenzen, die sich aus dem einen oder anderen Grunde illegal und unhöflicherweise in Yggdrasil eingenistet hatten, stillschweigend und ohne großes Aufheben ausgebrannt. Der Computer legte einen 1298 Seiten starken Druckbericht für die Gunmint an, auch wenn er wußte, daß niemand sich die Mühe machen würde, ihn abzurufen. Die KI fand die Präsenz, ein körperloses Staubkörnchen in den weiten, öden Ebenen der bereinigten Dateien. »Der Körper ist auch ein Gefängnis«, sagte Yggdrasil, »doch du bist entkommen.« Truro Daine, in Yggdrasils Speicher winziger als eine Mikrobe im menschlichen Körper, schrie. Und schrie. Yggdrasil ignorierte das bedeutungslose Quieken und wandte sich wieder seinen mannigfaltigen Aufgaben zu. Er hatte nur eins zu seinem harmlosen Parasiten zu sagen: »Th-th-th-that’s all, folks!«
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THE INCREDIBLE MR. NEWMAN Question: Hi, Record Ron! I’m looking for this record. I don’t know the title or who sings it, but it came out in the 60’s. It’s a happy song and has the words ›love‹ and ›peace‹ in it. Do you have it? Record Ron: Sure, I’ve got it. Aus einer Werbung von Record Ron’s, New Orleans Robert Vito: »Tja, Kim, ich komm nicht drauf… ein Film mit Paul L. Smith, über einen Jungen, der in einem Eisencontainer gehalten und mit rohem Fleisch gefüttert wird…« Kim Newman: »Eine italienische Produktion von 1987, aber in Amerika gedreht. Sonny Boy war der Titel. Regisseur war Robert Martin Carroll, die andere Hauptrolle spielt David Carradine. Ziemlich hip, wie ich höre. Hab ich aber nie gesehen.« Es war einmal… ein Junge. François Truffaut hat ihn abgebildet, diesen Jungen, in Schwarzweiß, wie er vor dem Kinoaushang steht, versonnen, neugierig, fasziniert, für heute, für morgen und für immer. Der Saal hinter den Glastüren und dem Foyer ist die letzte Weite, in die man vorstoßen kann, der letzte Raum, der noch nicht entdeckt worden ist. Der Junge vor dem Glaskasten mit den Glanzfotografien ist einer, der nicht erwachsen werden kann. In John McTiernans The Last Action Hero, mehr als dreißig Jahre später gedreht, steht er wieder – immer noch? – vor dem Aushang. Dieses Bild, egal in welcher Variante, hat immer den gleichen Titel: Porträt des Postmodernisten als junger Mann. 264
Der Junge auf dem Bild ist Kim Newman, der seinen ersten Film, First Man in the Moon (ein SF-Heuler von Nathan Juran mit Spezialeffekten von Ray Harryhausen), im Alter von fünf Jahren nicht zu Ende sehen konnte, weil seine Schwester einen bambimäßigen Heulkrampf bekam. Einer, der alles absorbiert hat, vom William-CastleTingler-Horror über Raoul-Walsh-Western und italienischen Endzeitschund bis zu Jacques Rivettes letzter Cineastenandacht. Einer, »der alles weiß« (Neil Gaiman) und mit dem man ebenso vortrefflich über die LagerfeldKostüme in Jess Francos Necronomicon – Geträumte Sünden wie über die Hammer-Filmscripts von Jimmy Sangster parlieren kann. Kim Newman ist ein Autor, der sich selbst als Producer, Regisseur und Kameramann in Personalunion versteht. In seiner unter dem Pseudonym ›Jack Yeovil‹ verfaßten Dark-Future-Serie verschafft er sich selbst einen Cameo-Auftritt als Regisseur, der die Autobiographie des Massenmörders Dr. Ottokar Proctor mit entweder Steve Martin oder Jeremy Irons in der Titelrolle besetzen will. Sommer 1994. Ein Londoner Sonntag, blue sky, Groove pur. Kim Newman kommt gerade aus den Schatten — aus dem Kino. Dressed to thrill, in schwarzer Flanellhose, weißer Weste mit schwerer Uhrenkette und weißem Dinnerjackett, ein Exemplar von Faulkners Pylon (Wendemarke, 1935) unter dem Arm. Recherche zu seinem neuen Roman The Bloody Red Baron, mal sehen, wie Faulkner die Hangar- und Flugsequenzen angelegt hat. »Jack Hunters The Blue Max dürfte auch eine ganz gute Quelle sein.« »Ah ja, der George-Peppard-Film.« Das Crown & Anchorman ist Sonntag morgens geschlossen, also bietet sich das Kettner’s an. Drinks. Einen Burger für den Herrn mit dem schwarzen Hut. Fangen wir mit 265
Inquisitionsgeschütz der schwereren Sorte an. »Je von Georges Perec gehört?« Als ob es Fragen gäbe, die Mr. Newman nicht beantworten kann. Fakten. Kim Newman hat, damals noch von einem winzigen Apartment in Muswell Hill aus – 1980 hatte er die University of Sussex verlassen –, als Filmkritiker für City Limits und das Monthly Film Bulletin (Organ des British Film Institute) angefangen; es kann nie schaden, für seine Passionen auch noch bezahlt zu werden. 1984 ging er, ähnlich wie Tom Tunney im vorliegenden Roman, selbst intraum: Die Story Dreamers, erschienen im Magazin Interzone, markierte seinen Beginn als FictionAutor. Newman war fünfundzwanzig und hatte den Trend lange erkannt, bevor er als Kult kanonisiert werden sollte. Cyberpunk war so nagelneu und brandheiß, wie Greg Bears oder Gregory Benfords Hard SF schon damals lau und abgeschmackt war, und William ›Neuromancer‹ Gibson war noch nicht als Großinnovator zu Tode gefeiert worden. Die Genres waren vielleicht noch nicht tot, aber der Geruch, der von ihnen ausging, war durchaus Euer Merkwürden zu nennen. Wie auch immer: Es war Zeit, die Dimensionen der Populärkultur erneut auszuloten. In Kim Newmans Zimmer in Muswell Hill, umgeben von psychotronischen Plakaten und Stapeln von Videos, trafen sich Gestalten wie Stefan Jaworzyn, später Herausgeber von Shock Xpress, Eugene Byrne, Clive Barker, dessen erstes Buch des Blutes gerade auf den Markt gekommen war, Neil ›Sandman‹ Gaiman und Stephen Jones, der für den britischen Horror heute das darstellt, was Bernie Ecclestone für die Formel eins ist. Mit Gaiman, den er sowohl in seiner mit dem British SF Award ausgezeichneten Story The Original Dr. Shade als auch in seinen Dark-Future-Romanen als SalmanRushdie-artige Autorenexistenz auftreten läßt, entwickelte 266
Newman »vier billige Streifen für einen Billigregisseur (i. e. Norman J. Warren, Schöpfer von Inseminoid und Satan’s Slaves), der Plots für billige Filme brauchte«, von denen keiner auch nur das fahle Licht der Pre-Production sah. Eine der Outlines verwendete Newman für seine Story Mother Hen, eine irrwitzige Kreuzung aus Dashiell Hammetts Der Malteser Falke und Jacques Tourneurs The Night of the Demon, in der es für verschiedene Parteien darum geht, eine sagenumwobene und überaus wertvolle, aber leider verfluchte Statuette möglichst schnell wieder loszuwerden. Nicht zuletzt ist Mother Hen ein gutes Beispiel dafür, wie Kim Newman sein eigenes Universum, seine eigene übergreifende mise en scène kreiert: Die – im übrigen mehr Rockfordals Chandler-inspirierte – Privatdetektivin Sally Rhodes, die hier ihren ersten Auftritt hat, wird in späteren Newman-Werken wie seiner Story The Man Who Collected Barker weiterentwickelt, um schließlich in seiner Faustiade The Quorum als Hauptrolle besetzt zu werden. »Perec? Ist das nicht dieser Autor mit dem Roman ohne e?« Genau, das ist er. Bei dem e-losen Roman handelt es sich um La Disparition (dt. Anton Voyls Fortgang), in dem sich der Titelheld auf der Suche nach einem verschwundenen Buchstaben befindet, nicht gerade das, was man unter Kategorien wie ›Horror‹ oder ›Science fiction‹ einordnen würde. Newman nippt an seinem Kaffee. Die Bedienung bringt den Burger. »Well…« Fakten. Seit 1989 hat Kim Newman fünf Romane geschrieben. Bad Dreams, sein zweites Werk, verschmilzt Cornell Woolrich, Sadomasochismus, Joris-Karl Huysmans und vampiristische Topoi zu einer stark noirhaltigen, nicht immer ganz überzeugenden Melange. Jago, ein Fünfhundert-Seiten-Epos, das Newman als sein 267
Salem’s Lot bezeichnet hat, ist eine Horror-Reverie, die H. G. Wells, Hieronymus Bosch, Woodstock und supernatural novel auf höchst unorthodoxe Weise zusammenbringt, inclusive bösartigen Gnomen, dem Geist eines ermordeten Bikers und Invasoren vom Mars. Anno Dracula, der postmoderne – und aus einer eigenen Novelle, Red Reign (dt. Dracula A. D. 1888), destillierte – Vampirroman schlechthin, kombiniert Bram Stoker, Percy Bysshe Shelley, Tod Browning, Robert Louis Stevenson, Jack the Ripper, Terence Fisher und weitere unzählbare Einflüsse in bislang ungekannter Perfektion: ein von Zitaten, Anspielungen, Querverweisen und enzyklopädischem Wissen schier berstender Alternativweltroman, in dem das gesamte Subgenre des Vampirromans in einen großen Shaker gegeben wird, um gerührt und geschüttelt neu serviert zu werden; die Fortsetzung, The Bloody Red Baron, in der neben Manfred von Richthofen auch Dr. Mabuse zum Zuge kommen wird, ist in Arbeit. In seinem bislang letzten Roman, The Quorum, in dem sowohl die Sixties als auch die Auswüchse der Thatcher-Ära in einen messerscharfen Fokus gerückt werden, läßt Newman seinen Dr. Shade abermals zurückkehren, um Christopher Marlowes Dr. Faustus aufs sardonischste zu variieren. Unter dem Pseudonym Jack Yeovil (das auf eine Nebenfigur in einem Alfred-Bester-Roman referiert) hat Newman schließlich – neben seiner Tätigkeit für Channel 4’s Box Office und der Arbeit an diversen Filmbüchern – weitere acht Romane verfaßt, in denen er seine Vision am vielleicht konsequentesten sublimiert und vorantreibt. Für seinen Yeovil-Roman Orgy of the Blood Parasites hat er den Titel verwendet, den David Cronenberg zuerst für seinen Schocker They Came From Within (auch unter den Titeln Frissons und The Parasite Murders bekannt) im Auge hatte; in seinem hochironisch durchsetzten Fantasy268
Spektakel Beasts in Velvet läßt er einen Investigator namens Filthy Harry auftreten. Höhepunkt des Yeovilschen Schaffens ist allerdings seine Dark-FutureTetralogie (bestehend aus den Romanen Dämonenjagd, Krokodilsjagd und Mutantenjagd sowie dem hierzulande nicht veröffentlichten vierten Teil Route 666), eine Reihe von ebenso überdrehten wie subversiven GameNovelisations, in der die Mythen der modernen Pop-, Punk- und Politkultur kaltschnäuzig auf Kollisionskurs gebracht werden; in diesem Sinne sind Yeovils Trash-ORamas die literarische Amalgamierung von Mad-MaxMythen, Movie-Mania und Meta-Schund. Hans-Joachim Alpers hat es in einer Kritik auf den Punkt gebracht: »Wer das nicht liest, ist selber schuld.« »Intertextualität ist die Autobiographie derer, die aus den Texten geboren sind.« Anne Röche The Night Mayor (Die Nacht in Dir) war Newmans Debut als Romancier; der kleine Junge von damals benutzt die Camouflage eines Cyberpunk-Romans, um sein eigenes B-Picture zu inszenieren. The Night Mayor funktioniert als Multi-Level-Rätselroman genauso wie als unerschöpfliche Zitatenkiste und postmoderner Trivialkultur-Overkill. Die gefrorenen Bilder aus dem Kino der Vierziger und Fünfziger fangen wieder an zu leben: Da ist Sterling Hayden in John Hustons Asphalt Jungle (1950), der mit einem Koffer voll grüner Scheine in der Hand verblutet; da sind Ray Milland in Billy Wilders Lost Weekend (1945), Gloria Grahame und Lee Marvin in Fritz Längs Big Heat (1953), Marlon Brando und Lee J. Cobb in Elia Kazans On The Waterfront (1952) 269
– Archetypen und Stereotypen einer künstlich ausgeleuchteten Noir-Welt, die zuweilen von anderen Universen überschattet wird, wenn etwa unvermittelt Basil Rathbone und Nigel Bruce als Holmes & Watson (in Alfred Werkers The Adventures of Sherlock Holmes, 1939) auftauchen. Bei aller ironischen Brechung hat diese Technik einiges mit Michail Bachtins ›Dialog der Stimmen‹ und Jacques Derridas Prinzipien von Dekonstruktion und reécriture zu tun: Im polyphonen Roman wird zitiert, potenziert und gleichzeitig in der Kombination der Elemente subvertiert, wie es Autoren wie Raymond Queneau (Zazie dans le Métro), Georges Perec (La vie mode d’emploi) und Philippe Sollers (Paradis) vorgemacht haben; alles ist erlaubt, wenn der postmoderne Bilderstürmer durch die Hypermärkte von High Culture und Low Culture flaniert, um das zu tun, wozu er pausenlos aufgefordert wird – sich selbst zu bedienen. Es ist die Geschichte des Kinos, die hier von einem benutzt wird, die eigene Geschichte zu transzendieren. Das eine Medium überlappt das andere, verschiebt die Perspektive und setzt surreale Akzente. Auf die Frage eines Übersetzers, um was es sich bei den Drahtgestängen auf den Häuserdächern in dem 1885 (!) spielenden Roman Anno Dracula handele, hat Newman nur geantwortet: »Um Fernsehantennen, wie man sie in jedem DraculaVehikel der Hammer Productions sehen kann.« Insofern steht The Night Mayor in einer Reihe mit SublevelRomanen wie David Thomsons Suspects, in dem die Geschichte von Filmcharakteren wie J. J. Gittes (Jack Nicholsons Rolle in Chinatown), Joe Gillis und Norma Desmond (Sunset Boulevard) weitergesponnen wird, und Theodore Roszaks großartigem, hierzulande nach wie vor unveröffentlichtem Verschwörungsthriller Flicker (1991), der das Kino noch einmal als das betrachtet, was es 270
wirklich ist: ein großer dunkler Raum, in dem man sehen lernen kann, in dem der Junge, der vor dem Aushang stand, mit geweiteten Augen der Dinge harrt, die die Falten der Vorhänge noch verbergen. Soho. Spät genug, die Bar zu wechseln. FußballWeltmeisterschaft. Foster’s Lager. Was man so braucht. Leichter Wind streicht über den Asphalt. »Jetzt nach Crouch End?« Mr. N. schüttelt den Kopf. Noch Fragen? »Gibt es Dr. Shade wirklich?« Aber da ist er schon fort, den schwarzen Hut in die Stirn geschoben. Zeit, wieder in den schwarzen Sälen zu verschwinden. Kim Newman ist das enfant sauvage einer Platzanweiserin und eines Vaters, den er vielleicht sogar kennengelernt hat: Zwischen Freddie Francis & Georges Franju, Michael Weldon & Georges Perec hat man jede Wahl. The Night Mayor ist eine Geschichte über Geschichten, die poststrukturalistische Genre-Fusion eines intertextuell wirkenden Bilder-Aficionados, der den ›Text als Echokammer‹ (Roland Barthes) für die Instantkultur neu erfunden hat. Mag sein, daß das alles nur ein Spiel ist. An späten Abenden könnte man sich allerdings auch folgendes Bild vorstellen: den Autor, der aus den Einzelteilen von der großen Medienmüllhalde eine Maschine zusammengesetzt hat. Ein bizarres Ding, wie man es noch nicht gesehen hat. Aber es funktioniert. Thanks to: Andreas Decker
Robert Vito New Orleans, Oktober 1994
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