Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf
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Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf
Christina Holtz-Bacha (Hrsg.)
Die Massenmedien im Wahlkampf Das Wahljahr 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Barbara Emig-Roller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Jacob Leidenberger, Paris Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17414-3
Inhalt
Christina Holtz-Bacha Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? ...................................... 7 Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl oder doch eine europäische Kampagne ? ................................................. 22 Harald Schoen Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009. Eine Analyse auf der Basis einer Onlinebefragung ................................. 42 Eva-Maria Lessinger & Christina Holtz-Bacha "Wir haben mehr zu bieten". Die Plakatkampagnen zu Europa- und Bundestagswahl ..................................................................... 67 Melanie Leidecker Angreifende Plakatwerbung im Wahlkampf – effektiv oder riskant? Ein Experiment aus Anlass der SPD-Europawahlplakate 2009 ......... 117 Christina Holtz-Bacha & Eva-Maria Lessinger Auge in Auge mit Kandidatinnen und Kandidaten. Emotionale Reaktionen auf Politikerplakate .......................................... 140 Christina Holtz-Bacha Politik häppchenweise. Die Fernsehwahlwerbung der Parteien zur Europa- und Bundestagswahl ............................................................ 166
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Inhalt
Eva Schweitzer Normalisierung 2.0. Die Online-Wahlkämpfe deutscher Parteien zu den Bundestagswahlen 2002-2009 ...................................................... 189 Reimar Zeh Wie viele Fans hat Angela Merkel? Wahlkampf in Social Network Sites ........................................................ 245 Jörg-Uwe Nieland "Unterhaltend, nicht repräsentativ" – die Bundestagswahl 2009 als Politshow auf Pro7 ............................................................................... 258 Christoph Tapper & Thorsten Quandt "Ich beantworte die Fragen so, wie ich mir das vorgenommen habe...". Eine dialoganalytische Untersuchung der Fernseh-Duelle im Wahlkampf 2009 ................................................................................... 283 Winfried Schulz & Reimar Zeh Die Protagonisten in der Fernseharena. Merkel und Steinmeier in der Berichterstattung über den Wahlkampf 2009 ............................. 313 Jürgen Wilke & Melanie Leidecker Ein Wahlkampf, der keiner war? Die Presseberichterstattung zur Bundestagswahl 2009 im Langzeitvergleich .................................... 339 Autorinnen und Autoren ........................................................................... 373
Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? Christina Holtz-Bacha
Wo bitte geht's hier zum Wahlkampf? Diese Frage steckte in den vielen Klagen über die Langeweile des Bundestagswahlkampfes 2009. Vor einer Europawahl sind die Erwartungen an das Engagement der Parteien ohnehin nicht allzu groß, aber vor einer Bundestagswahl soll dann doch etwas los sein. Von "Kuschel-Kampagne" war die Rede (Reißmann, 2009), von Wahlkampf im "Stand-by-Modus" (Wittrock, 2009). Sogar die ausländische Presse nannte die Kampagne "zutiefst uninspiriert" (zitiert in: Wergin, 2009), "schläfrig", "langweilig" und die Kanzlerkandidaten "harmoniesüchtig" und "hölzern" (alle zitiert in: Friedrichs, 2009), schließlich auf die Spitze gebracht mit: "Yes, we gähn!" (So zerreißen..., 2009; Yes, we gähn!, 2009). Dass schließlich die Tigerente – ein possierliches Holztier mit Rollen, das andere Janosch-Tiere am Faden hinter sich her ziehen – im Bundestagswahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol eines Wahlkampfes sein, von dem offenbar viele den Eindruck hatten, dass er kaum einer war. Kein Parteitag mit Krönungsmesse. Kein Kanzlerkandidat, der öffentlich die Liebe zu seiner Frau beschwor. Das Fernsehduell eher ein Duett. Harmonie statt "Ich oder der". Was wir von Europawahlkampagnen schon kennen, dass nämlich eine unauffällige Vorstellung von Seiten der politischen Akteure bei den Medien nur wenig Resonanz zu erzielen vermag, zeigte sich nun auch beim Bundestagswahlkampf. In den Medien spiegelte sich die Unzufriedenheit mit einem Wahlkampf, dem die notwendigen Spannungsmomente fehlten. In der Qualitätspresse gab es 2009 nur halb so viele Beiträge zu den Kanzlerkandidaten wie 2002 und 2005 (vgl. Wilke & Leidecker, in diesem Band), und in den Fernsehnachrichten hatten Beiträge mit Bezug zur Bundestagswahl einen so geringen Anteil an der Berichterstattung über deutsche Politik wie seit 1990 nicht mehr (vgl. Schulz & Zeh, in diesem Band). In einem solchen Umfeld greifen die Medien dankbar auf, was ein bisschen Farbe in die beklagte Langeweile zu bringen verspricht.
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Hatte es in anderen Wahljahren Klagen über die allzu offensichtlichen Inszenierungen im Dienste des Stimmenfangs gegeben (vgl. Langenbucher, 1983), schien es, als fühlten sich Medien und Wählerschaft 2009 um einen anständigen Wahlkampf betrogen. Offenbar hat man sich nicht nur daran gewöhnt und betrachtet womöglich sogar mit einem gewissen Amüsement, dass im Wahlkampf alles nur Theater ist, sondern es wird geradezu erwartet, dass die Politikerinnen und Politiker auch etwas tun für die Wählerstimme: "Wer allzusehr über Langeweile klagt, muss sich fragen, ob er nicht in Wahrheit auf unterhaltsam-betrügerische Weise genasführt und belogen werden will." (Prantl, 2009). Dabei waren die Erwartungen an das Wahljahr 2009 groß gewesen. 2008 hatte die Kampagne von Barack Obama im US-Präsidentschaftswahlkampf Furore gemacht. Hierzulande verfestigte sich der Eindruck, Obama hätte seinen Erfolg vor allem dem Einsatz der so genannten neuen Medien und insbesondere des Web 2.0 und der social networks zu verdanken. "In den USA wirkt das Web bereits wahlentscheidend", vermeldete Spiegel online, nur um dann sogleich enttäuscht festzustellen: "In Deutschland ist die Politik noch nicht so weit" (pat/dpa). Allenthalben hatte man sich mehr erhofft vom neuartigen Netzwahlkampf. Auf der Kommunikationsplattform politikdigital zog Gievert (2009) Bilanz zum Webwahlkampf und befand: "[…], so mitreißend oder innovativ wie Barack Obamas Kampagne war er nicht". In der FAZ kam Tomik (2009) zu einem ähnlichen Befund: "CDU, SPD, Grüne, FDP und Linkspartei tun es ihm [Obama] nun nach – wenn auch gemächlicher und in geringerem Umfang". Die Verdrossenheit der Beobachter über den Online-Wahlkampf in Deutschland spiegelt zum einen, dass die Obama-Kampagne, deren Einsatz von Internet und social networks und erst recht die Wirksamkeit des online geführten Wahlkampfes geradezu zu einem Mythos geworden sind; zum anderen wird damit deutlich, dass sich die Überzeugung festgesetzt hat, die Art und Weise, wie in den USA Wahlkampf betrieben wird, müsse ein Vorbild für andere Länder sein und sei auch ohne weiteres zu übertragen. Seit Jahrzehnten schon ist in Deutschland die Rede von einer 'Amerikanisierung' der Wahlkämpfe (vgl. Holtz-Bacha, 2000b, S. 103), und in jedem Wahljahr finden die deutschen Medien erneut Anlass für die Frage, ob und wie weit sich die Kampagnen dem Beispiel der USA annähern würden. Umso größer war die Enttäuschung, als das Wahljahr 2009 nicht hielt, was sich viele davon versprochen hatten, und die
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Wahlkämpfe(r) allen Trends, die man in den letzten Jahren erkannt zu haben meinte, zu widersprechen schienen. Professionalisierung Amerikanisierung, Modernisierung, Professionalisierung – diese Schlagwörter beherrschten die Diskussion über die Entwicklung von Wahlkämpfen der letzten Jahre. Wenn es um die Organisation von Wahlkämpfen geht, hat sich insbesondere 'Amerikanisierung' als der Begriff hervorgetan, der vermutlich aufgrund seiner Assoziationskraft vor allem unter den Wahlkampfbeobachtern aus den Medien Popularität erlangt hat. Amerikanisierung ist geeignet, schnell Bilder zu wecken, die aus dem Fernsehen bekannt sind und US-Wahlkämpfe auszumachen scheinen: orchestrierte Kandidatenauftritte, durchgeplante Fernsehdebatten, Fähnchen schwenkende Parteitagsdelegierte, Babys küssende Kandidaten, der Einsatz aller Familienmitglieder, mächtige Kampagnenberater. Die Popularität des Begriffs, der die USA zum Maßstab auch für deutsche Wahlkampagnen macht, scheint ungebrochen. Das ignoriert indessen die wissenschaftliche Analyse der Begrifflichkeit bzw. der Organisation von Wahlkämpfen, die zum einen gezeigt hat, dass die Diagnose 'Amerikanisierung' keineswegs neu ist, sondern seit Jahrzehnten mit jedem Wahlkampf lediglich aufs Neue belebt wird, und zum anderen, dass 'Amerikanisierung' einen Kaugummi-Begriff darstellt, der – wenn überhaupt – ungenügend definiert ist und für alles passend gemacht wird, was von einem Jahr zum anderen in einem Wahlkampf als neu empfunden wird. Viele Kriterien sind genannt worden, die vermeintlich für eine Angleichung deutscher Wahlkämpfe an das US-amerikanische Vorbild stehen (vgl. Holtz-Bacha, 2000a, S. 43-44). Eine umfassende Definition und gar ein Instrument, mit dem sich Amerikanisierung, zumal in der Dynamik, die in dem Begriff enthalten ist, messen ließe, liegen jedenfalls nicht vor. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung von Wahlkämpfen – wie auch mit der Entwicklung von politischer Kommunikation unabhängig von Wahlen – vermeidet daher mittlerweile den Begriff Amerikanisierung und spricht bevorzugt von Professionalisierung. Allerdings gilt auch dann, dass 'Professionalisierung' oftmals als Schlagwort daherkommt und keine Definition erfährt,
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bzw. dass die Versuche, 'Professionalisierung' zu definieren, bislang nicht zu einer befriedigenden und allgemein akzeptierten Definition geführt haben. Es ist nicht klar, wann in der Kampagnenforschung erstmals von Professionalisierung die Rede war. Es liegt nahe, dass der Begriff in diesem Zusammenhang mit der zunehmenden Prominenz politischer Berater und der Untersuchung ihrer Rolle in Wahlkämpfen aufkam. Spätestens mit dem Buch "The selling of the president" des Journalisten Joe McGinnis (1969), das die Nixon-Kampagne von 1968 zum Gegenstand hat und im Anhang Notizen verschiedener Kampagnenmanager zu den Werbestrategien dokumentiert, zeigt sich in den USA, dass Wahlkampf zunehmend geschäftsmäßig betrieben wird. Ebenfalls auf den Wahlkampf 1968 bezieht sich Kampagnenberater Joe Napolitan (1972) in "The election game and how to win it" und vermittelt einen Blick hinter die Kulissen der Beratungsbranche. Er ist auch Initiator der American Association of Political Consultants, deren Gründung 1969 für die Etablierung eines neuen Berufszweiges steht, der den 'Verkauf' von Politik zum Geschäft macht. Wenn dann Larry Sabato in seinem Buch 1981 von "The rise of political consultants" spricht, hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass das Kampagnenmanagement einen Professionalisierungsprozess erlebt. Der Begriff 'Professionalisierung' verbreitete sich mit den Analysen des "modern publicity process" (Blumler, 1990) und der damit verbundenen Überzeugung, dass ein am amerikanischen Vorbild orientiertes Wahlkampfmanagement weltweit Verbreitung finden (Gurevitch & Blumler, 1990, S. 311) und so die Amerikanisierung vollzogen würde. Die Unzufriedenheit angesichts der heterogenen und unzureichenden Definitionen von Amerikanisierung und nicht zuletzt die Erkenntnis, dass der Begriff die Veränderungen der politischen Kommunikation unzutreffend fasste, startete die Suche nach einer besseren Bezeichnung und führte dazu, dass anstatt von Amerikanisierung nun oftmals von 'Modernisierung' und 'Professionalisierung' die Rede war (z. B. Holtz-Bacha, 2000a; 2004; Mancini & Swanson, 1996; Schulz, 1998). Ursprünglich stammt der Begriff Professionalisierung aus der Arbeitssoziologie und beschreibt, wie sich aus Tätigkeiten Professionen entwickeln. Nach Wilensky (1964) vollzieht sich dieser Prozess in mehreren Phasen, von der Entwicklung zur Vollzeittätigkeit über die Akademisierung, die Gründung von Berufsorganisationen, die Regelung der Berufszulassung bis zur Formulierung von professionellen Standards und deren Niederlegung in
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einem Ethikcode. Als wesentliche Merkmale von Professionen hebt Wilensky die Bedeutung eines spezifischen Fachwissens und das Dienstleistungsideal hervor. Zu den klassischen Professionen gehören Ärzte, Anwälte und das Militär. Als der Begriff in der Analyse moderner Wahlkämpfe auftauchte, blieb von dem soziologischen Konzept nicht viel übrig. Stattdessen diente 'Professionalisierung' oftmals der Beschreibung US-amerikanischer Wahlkämpfe, wo die Consultants längst die Regie von Kampagnen übernommen hatten, und machte diese damit zu einem Modell für die Wahlkampfführung in anderen Ländern. Als Margaret Scammell (1997) Mitte der neunziger Jahre die soziologischen Professionalisierungskriterien (kontrollierter Berufszugang, Standesethik; spezialisiertes Wissen, eine bestimmte Ausbildung mit entsprechendem Zertifikat; Vollzeitberuf; formale Organisation) auf Kampagnenberater in den USA anwandte, musste sie allerdings feststellen, dass es mit deren Professionalisierung nicht weit her war. Sie fand nur einige Anzeichen für Professionalisierung wie die Herausbildung einer gemeinsamen Identität, Fachwissen, die Entwicklung einer spezifischen Ausbildung und die Niederlegung eines Ethikcodes, folgerte aber, dass die Kampagnenberater ihre Tätigkeit eher als Kunst, denn als Wissenschaft verstünden und diese auf "folk wisdom" beruhte. Jedenfalls sah Scammell keinen Grund dafür, Professionalisierung als ein Kennzeichen moderner Wahlkampagnen nach dem Vorbild der USA und diese als Modell für professionalisiertes Wahlkampfmanagement zu betrachten. Rund 15 Jahre später kommt Grossmann nach einer Befragung von Kampagnenberatern in den USA zu dem Schluss, dass sie "closely match the self-image of an ideal-typical professional community" (2009, S. 100). Die Berater entwickeln ihre Kampagnenstrategien aufgrund von spezifischem Wissen, das Erfahrungen aus dem Marketing und politischen Strategien verbindet. Sie vertreten ein Dienstleistungsideal und sie streben bewusst nach einer Professionalisierung ihres Berufs. Dennoch, so gesteht auch Grossmann ein, fehlen den Kampagnenberatern manche Merkmale, die eine Profession ausmachen, und er bezweifelt, dass sich daran etwas ändern wird. Das soziologische Professionalisierungskonzept, auf das Scammell und Grossmann ihre Untersuchungen stützten, führt mehrere Kriterien ein, die erfüllt sein müssen, um von professionellem Handeln sprechen zu können. Häufiger noch ist Professionalisierung im Zusammenhang mit Wahlkämpfen jedoch geradezu schlagwortartig in einem einfachen, eindimensionalen
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Sinne gebraucht worden und bezeichnete dann lediglich den Trend, die Organisation von Wahlkämpfen in die Hände von externen Beratern zu legen. Diese Sichtweise setzt Professionalisierung wiederum mit der vermeintlichen Anpassung von Wahlkämpfen an das US-Modell gleich und behandelt Professionalisierung als Synonym für Amerikanisierung. Eine solche Herangehensweise macht Professionalisierung von Wahlkämpfen jedoch allein an dem Einsatz von Beratern aus der PR- und Werbebranche fest und setzt damit voraus, dass diese auch adäquate, den Anforderungen an einen modernen Wahlkampf entsprechende Instrumente mitbringen. Die Fokussierung auf die Kampagnenberater hat den Vorteil, dass sich auf sie das soziologische Professionalisierungskonzept anwenden lässt, verengt aber die Analyse von Veränderungen in der politischen Kommunikation auf den Einsatz gerade derjenigen, die nicht aus der Politik kommen, und blendet die "Hauptdarsteller" (Radunski, 1981, S. 31), das heißt die Politikerinnen und Politiker, aus. Erst neuerdings haben Gibson und Römmele (2009) ein elaboriertes und über die Fixierung auf die Berater hinausgehendes Instrument entwickelt, das es erlauben soll, die Professionalisierung von Wahlkampagnen zu messen und Unterschiede zwischen den Parteien zu erklären. Die Skala basiert auf ihrer parteizentrierten Theorie professioneller Wahlkampfführung (Gibson & Römmele, 2001), die Professionalisierung auf Veränderungen in den Parteien zurückführt und dann auch bei den Parteien ansetzt. Den Übergang zu professioneller Kampagnenführung erwarten sie entsprechend zuerst bei Parteien, die finanziell gut ausgestattet sind, auf die breite Wählerschaft zielen, eher im rechten Parteienspektrum anzufinden sind, über eine zentralisierte innere Machtstruktur verfügen und vor einiger Zeit eine schwere Wahlniederlage erlitten und/oder aus der Regierung ausgeschieden sind (Gibson & Römmele, 2001, S. 37). Zwar definieren sie Professionalisierung nicht, machen diese aber fest am Einsatz bestimmter moderner Strategien und Instrumente. Ihr 30 Punkte umfassender CAMPROF-Index beruht auf zwölf beobachtbaren Kampagnenpraktiken und kombiniert objektiv messbare und subjektiv festzustellende Variablen (Gibson & Römmele, 2009). Zu der ersten Gruppe gehören der Einsatz von Telemarketing, Direktwerbung und Email-Newsletters, die Einrichtung eines internen Kommunikationssystems (Intranet), der Aufbau einer externen Kampagnenzentrale sowie ein kontinuierlicher Wahlkampf, letzteres daran gemessen, ob eine Partei "was deploying the full range of professionalized campaign
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activities at a point in time well outside the official or 'hot' campaign period" (Gibson & Römmele, 2009, S. 271). Die subjektiv festzustellenden Variablen umfassen den Einsatz von PR- und Medienberatern, den Einsatz von elektronischen Datenbanken, Meinungsumfragen und Gegnerbeobachtung. Zehn dieser Kriterien gingen in eine Analyse der Bundestagswahlkampagnen 2005 von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ein, für die die Informationen vorrangig durch Telefoninterviews mit den Kampagnenmanagern der Parteien eingeholt wurden. Gemessen an den Kriterien des Indexes erwies sich die damalige SPD-Kampagne als die am stärksten professionalisierte, dicht gefolgt von der Union auf Rang zwei und schließlich der FDP an dritter Stelle, während die Kampagne der Grünen als die am wenigsten professionalisierte erschien (Gibson & Römmele, 2009, S. 284-295). Für eine Untersuchung der schwedischen Parlamentswahl im Jahr 2006 entwickelte Jesper Strömbäck (2009) eine weiter differenzierte Version des CAMPROF-Indexes, für die er einige Operationalisierungen modifizierte, um sie den schwedischen Gegebenheiten anzupassen, und unter den Professionalisierungsvariablen den Einsatz von Fokusgruppen sowie gewissermaßen als Gegenstück zur Gegnerbeobachtung die Analyse der eigenen Partei bzw. Kampagne anfügte. Seine Befunde unterstützen das Modell von Gibson und Römmele. So begrüßenswert der Versuch ist, Professionalisierung messbar zu machen, und ohne auf die im Einzelnen nicht unproblematische Operationalisierung einzugehen, kann dieser Zugang dennoch nur bedingt zu einem für politische Kommunikation passenden Konzept von Professionalisierung beitragen. Zum einen richtet sich der CAMPROF-Index lediglich auf Wahlkampagnen und ist nicht anwendbar auf politische Kommunikation generell. Zwar nehmen Gibson und Römmele auch nichts anderes in Anspruch für ihren Ansatz, aber damit bleibt offen, ob und wie sich die Professionalisierung von politischer Kommunikation außerhalb von Wahlkämpfen, etwa in der Regierungskommunikation, vollzieht. In dieser Hinsicht erweist sich die Fixierung auf Parteien ebenfalls als hinderlich, weil sie nicht die einzigen Kommunikatoren sind, die in der politischen Kommunikation auftreten und potenziell einem Professionalisierungsprozess unterliegen. Auch bezogen auf Wahlkämpfe ist fraglich, ob der parteienzentrierte Index zum Einsatz in kandidatenzentrierten Kampagnen bzw. Wahlsystemen geeignet ist. Zum anderen, und das erkennt auch Strömbäck (2009, S. 113), ist der Index, ins-
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besondere durch die Betonung der Online-Kommunikation, zeitgebunden, das heißt, er ist nicht geeignet, um Professionalisierung über Zeit zu verfolgen: Der Bundestagswahlkampf 2005 mag professionalisiert gewesen sein – der Bundestagswahlkampf 1998 konnte es demnach nicht sein, weil die in den CAMPROF-Index eingehenden Instrumente teilweise noch gar nicht zur Verfügung standen. Für 2009 ist vermutlich eine Revision notwendig, um den Einsatz der social networks zu berücksichtigen. Die für den Index verwendeten Indikatoren erlauben insofern keinen Vergleich über Zeit und können daher den Prozesscharakter von Professionalisierung nicht abbilden. Professionalisierung in diesem Sinne, verstanden als intensiver Einsatz einer Vielzahl von Kampagneninstrumenten, weist eine starke Ressourcenabhängigkeit auf, die sich damit womöglich als entscheidende Variable herausstellt und für kleinere und daher meist weniger finanzkräftige Parteien bedeutet, dass ihnen das Erreichen eines befriedigenden Ausmaßes an Professionalisierung kaum möglich ist. Die genannten Professionalisierungskonzepte, die einerseits bei den externen Kampagnenberatern und andererseits bei den Parteien ansetzen, vernachlässigen die aus der Politik stammenden Akteure, das heißt zum einen die Kampagnen- bzw. Kommunikationsexperten innerhalb der Parteien und andererseits die Kandidatinnen und Kandidaten bzw. die Politikerinnen und Politiker. Die Erfahrung auch der letzten Jahre zeigt, dass Wahlkämpfe in Deutschland der Vielzahl externer Berater zum Trotz nach wie vor zu großen Teilen aus den Parteien heraus organisiert werden. Deren 'Professionalisierungsgrad' lässt sich noch weniger als derjenige der externen Berater anhand der Indikatoren des aus der Berufssoziologie stammenden Professionalisierungskonzeptes messen. Noch 1996 hat Radunski in seinem Plädoyer für die Amerikanisierung auch der deutschen Wahlkampagnen angemahnt, die personellen Stäbe der Parteien ebenfalls den Erfordernissen eines professionellen Kommunikationsmanagements anzupassen: "Dieser letzte Schritt der Amerikanisierung im personellen Bereich von Wahlkampfkommunikation und Management steht in Deutschland noch bevor." (S. 52) Ebenso problematisch ist es, die zentralen Akteure eines Wahlkampfes nicht zu berücksichtigen. Die viel diskutierte Personalisierung im Zusammenhang mit Wahlkämpfen umfasst neben der entsprechenden Fokussierung der Medien sowie der Wählerschaft ebenso die Personenzentrierung der Kampagnen, wie sie zum Beispiel an den Werbematerialien der Parteien abzulesen ist. Die Konzentration der Wahlkampagnen auf die Spitzenkandi-
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daten, die diese " zugleich [zum] Hauptdarsteller und Regisseur seiner Kampagne" (Radunski, 1981, S. 31) macht, erfordert ebenfalls deren 'Professionalisierung', und zwar zuerst im Umgang mit den Medien: "Die Vielfalt und Unübersichtlichkeit des elektronischen Mediensystems hat nämlich längst dazu geführt, das man auch auf Seiten der Medien dankbar ist, wenn man professionell von seiten der Politikern[sic!] bedient wird, was ebenso Kosten wie Mühen und Energie sparen hilft." (Radunski, 1996, S. 51) Nicht umsonst haben sich die Spitzenkandidaten für die Kampagnen längst auch persönliche Berater zugelegt, die sie beim Impression Management und zur Pflege ihres Markenwertes unterstützen. Ein Konzept von Professionalisierung, das sich für Wahlkampagnen, erst recht aber für politische Kommunikation generell zur Anwendung bringen lässt, müsste also umfassender sein als die bisherigen Ansätze, und es müsste der Dynamik gerecht werden, die dem Begriff Professionalisierung inhärent ist. Nur dann wäre auch gewährleistet, dass ein solches Konzept die Zeit überdauert und den Vergleich über (Wahl-)Kampagnen hinweg erlaubt. Das bedeutet das Lösen von dem Konzept, wie es aus der Arbeitssoziologie übernommen wurde, weil sich dieses nur für die externen Consultants anwenden lässt, hier aber ebenso an Grenzen stößt, wie sich das auch im Journalismus gezeigt hat und daher nach einer kurzen Blütezeit dort ebenfalls kein Thema mehr ist (vgl. z. B. Kepplinger & Vohl, 1979). Ebenso fehlt aber einem nur an Parteien orientierten Ansatz, wie ihn Gibson und Römmele (2001, 2009) vorgelegt haben, die allgemeine, über parteienzentrierte Systeme, technologischen Wandel und Wahlkampagnen hinausreichende Anwendbarkeit. Die Lösung liegt daher wohl eher in einem Konzept von Professionalisierung, das die bisherigen Ansätze, Professionalisierung fassbar zu machen, integriert und ergänzt. Die Entwicklung von Parteien und Parteiensystem wäre dann jedoch nur eine Erklärung für Professionalisierung der politischen Kommunikation, fügt sich in den größeren Zusammenhang des gesellschaftlichen Wandels, der als Modernisierung bezeichnet wird, und steht neben den Herausforderungen, wie sie sich aus dem technologischen Wandel bzw. den Veränderungen des Mediensystems ergeben haben. Der Prozesscharakter von Professionalisierung liegt demzufolge in der bestmöglichen Anpassung an solche, sich weiterhin wandelnden Bedingungen für die politische Kommunikation. Dieser Anpassungsprozess erfordert auf Seiten der politischen Akteure den Einsatz aller strategischen und technologischen Instrumente, um in der Informationsflut sowie in der Konkurrenz zu attrak-
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tiveren (medialen) Angeboten zu bestehen und die in der Demokratie für politisches Handeln erforderliche Legitimation einzuholen. Es versteht sich von selbst, dass die Politik dafür 'professionelles' Know-how in Anspruch nimmt. Das ist jedoch keine ganz neue Entwicklung: Bereits für den Bundestagswahlkampf 1949 ließ sich die SPD von der Partei nahestehenden Werbefachleuten unterstützen (vgl. Holtz-Bacha, 2000b, S. 91). Im Laufe der Zeit differenzierten sich die Aufgaben, und die Parteien engagierten mehrere und spezialisierte Berater und Agenturen, die ihnen bei Werbe- und Mediakampagne, Direktmarketing, Event- und Personality-Management sowie Meinungsforschung zur Seite stehen. 2009 arbeitete nun auch die FDP mit einem "Kampagnenverbund" aus zehn Agenturen und baute auf die "Idee der 'wisdom of crowds'" (FDP startet..., 2009). Zusammen mit den Wahlkampfspezialisten innerhalb der Parteien konzipieren sie die Kampagne im war room, eigens eingerichteten Strategiezentralen wie 1998 die Kampa der SPD, die Arena der CDU für den Wahlkampf 2002 oder 2009 die Nordkurve der SPD. Mit ihrem Erfahrungswissen, aus der Marketing- und Marktforschungsbranche die einen, aus früheren Parteikampagnen die anderen, und unter Heranziehung der dort bewährten Instrumente bemühen sie sich um solche Strategien, die dem längerfristigen gesellschaftlichen, politischen und medialen Wandel gerecht werden und der Situation des jeweiligen Wahlkampfes gemäß sind (vgl. auch Holtz-Bacha, 2000a; ebenso Negrine, 2008, S. 2-3). Wichtiger Faktor dieser Planung sind die jeweiligen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten, auf die die Kampagnen mehr oder weniger zugeschnitten sind. Solange nicht Marketingaspekte die Kandidatenkür bestimmen und die Professionalisierung nicht zur Voraussetzung für die Auswahl von Topkandidatinnen und -kandidaten gemacht wird, sind diese gewissermaßen gesetzt, und die Kampagnenstrategen können nur versuchen, ihre Konzepte danach zu richten. Dieser Prozess betrifft nicht nur Wahlkämpfe, wiewohl sich die Professionalisierungsdiskussion bislang fast ausschließlich auf den Zusammenhang von Wahlen bezogen hat. Das ist insofern nicht überraschend, als es bei Wahlen um die Verteilung von Macht geht und politische Akteure daher ein besonderes Interesse an einer Kampagne nach allen Regeln der Kunst haben. Die Herausforderungen gelten jedoch in gleicher Weise für politische Kommunikation, die nicht im Dienste des Wahlkampfes steht. Schließlich stehen Parteien, Regierungen, Parlamente und andere Institutionen in der Demokratie unter ständigem Druck der Kommunikation zum Zwecke der
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Legitimation ihrer Entscheidungen. Es sieht allerdings so aus, als verliefe die Professionalisierung der Wahlkampfkommunikation schneller als im täglichen Routinegeschäft der politischen Kommunikation. Wahlkampf 2009 Vor dem Hintergrund der wiederkehrenden Diagnose 'Professionalisierung' in Bezug auf Wahlkämpfe stellt sich die Frage, ob der Bundestagswahlkampf 2009, über den viele klagten, er sei langweilig oder gar keiner gewesen, dieses Etikett verdient. Das bedeutet aber zugleich zu fragen, ob Professionalisierung einen andauernden und kontinuierlichen Prozess darstellt, oder ob es sich um einen diskontinuierlichen Prozess handelt, bei dem eben nicht von Wahljahr zu Wahljahr Steigerungen zu verzeichnen sind. Die Enttäuschung darüber, dass sich die deutschen Wahlkämpfer so wenig von der Obama-Kampagne abgeguckt hatten, ließe sich als ein Hinweis darauf verstehen, dass der Bundestagswahlkampf 2009 einen Professionalisierungsschritt verpasst hat. Zwar findet Wahlkampf in Deutschland längst auch online statt, und 2009 brachten Parteien und Kandidaten außerdem die social networks zum Einsatz, die Analysen (vgl. Schweitzer sowie Zeh, in diesem Band) zeigen aber, dass die Online-Kampagnen ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Hier gilt stattdessen, was wir auch aus anderen Wahlkämpfen und bezüglich anderer Kampagneninnovationen schon kennen: Dabei sein, darüber reden und (sich) als modern verkaufen, lautet die Strategie. Die Kampagnenorganisationen in den USA setzen die computervermittelte Kommunikation vorrangig für Email ein, um Fundraising zu betreiben sowie um freiwillige Helferinnen und Helfer zu mobilisieren. In deutschen Wahlkämpfen ist das bislang weniger wichtig, daher ist durchaus verständlich, dass die Parteien in diesen Bereichen nicht viel investieren. Der erfolgreiche Einsatz in den USA und zuletzt speziell in der Obama-Kampagne hat den Online-Wahlkampf geradezu zu einem Mythos werden, zugleich aber vergessen lassen, dass die klassischen Kampagnenkanäle damit keinesfalls ihre Bedeutung verlieren. Wenn also in deutschen Wahlkampagnen Zurückhaltung auszumachen ist, könnte das gerade auf der Erkenntnis beruhen, dass die deutsche Wählerschaft (noch) nicht so gut online zu anzusprechen ist bzw. sich der Online-Wahlkampf für solche Funktionen besonders eig-
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net, die in Deutschland weniger wichtig sind als in den USA. Als verzögerte Professionalisierung ließe sich das allerdings nicht bezeichnen. Damit richtet sich der Blick wiederum auf die Organisation der Kampagne und den Einsatz der herkömmlichen Kampagneninstrumente. Was 2005 nicht gefiel und gegenüber den Wahlkämpfen von 2002 und erst recht 1998 als wenig gekonnt erschienen war, hatte sich auf den unerwartet vorgezogenen Wahltermin und die kurze Kampagne zurückführen lassen. Es fehlte schlicht die Zeit für ein ausgeklügeltes Wahlkampfkonzept. Insbesondere in der Union hatte es nach der Wahl 2005 und angesichts des Wahlergebnisses Kritik an der Kampagne gegeben, die sich speziell auch auf Angela Merkel richtete. Ihr Beispiel unterstreicht dann auch, wie wichtig die Professionalisierung der Spitzenkandidaten für die Kampagne ist. 2005, in ihrem ersten Bundestagswahlkampf als Kanzlerkandidatin, musste Merkel gegen den medienversierten Gerhard Schröder antreten. Mittlerweile haben die Profis aus PR und Journalismus Merkel ebenfalls zur 'Medienkanzlerin' befördert (vgl. z. B. Küchen, 2006; Schwennicke, 2008). Geschickt bediente sie im Wahlkampf 2009 die Medienlogik, spielte in der Wahlwerbung mit Emotionen (vgl. Holtz-Bacha, Politik…, in diesem Band), gab nun auch Privates preis (Wittrock, 2009), und beharrte in Interviews ebenso wie im Fernsehduell auf ihrer eigenen Linie (vgl. auch Tapper & Quandt, in diesem Band). Das Wahljahr 2009 hat gezeigt, wie stark die kurzfristigen, situationsgebundenen Faktoren den Wahlkampf beeinflussen, und dafür sorgen, dass jeder Wahlkampf anders ausfällt und die Professionalität der Kampagne eines Jahres nicht unbedingt geeignet ist, daraus Prognosen für die nächste Kampagne abzuleiten. Der Europawahlkampf folgt ohnehin eigenen Gesetzen und droht in einem Jahr, in dem nur wenige Wochen später eine Bundestagswahl ansteht, erst recht in deren Schatten zu geraten, entweder indem er zum Übungsfeld für die Bundestagswahlkampagne wird oder die Parteien sich ihre Mittel für diejenige Wahl sparen, bei der sie wirklich etwas zu gewinnen haben. Die Medien, so kann man aus der Dauerklage über die Langeweile der Kampagne und die schwache Präsenz des Wahlkampfes in Presse und Fernsehnachrichten nur folgern, machen sich mit ihrer Berichterstattung auch bei einer Bundestagswahl abhängig davon, ob ihnen die Politik eine gute Show bietet. Die Bundestagswahlkampagne konnte indessen schwerlich so spannend ausfallen, wie es sich offenbar mancher gewünscht hatte. Die wichtigsten Player kamen aus einer großen Koalition
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und konnten sich kaum über die Aktivitäten der letzten vier Jahre angreifen und ebenso wenig im Kontrast dazu Versprechungen für die nächsten vier Jahre machen. Es fehlte die inhaltliche Polarisierung, die vor allem die 'großen' Parteien brauchen, um sich gegenüber der Wählerschaft als Alternativen zu präsentieren, und es fehlte ebenso die personelle Polarisierung, die bei kaum noch wahrgenommenen Differenzen in den Positionen wenigstens über die Kandidaten eine Unterscheidung hätte herbeiführen können; der populären Kanzlerin konnte der Vizekanzler nicht viel anhaben. Obendrein war den Parteien im Wahljahr 2009 die sonst strategisch betriebene Themensetzung aus der Hand genommen, weil die schwelende Finanzkrise das wichtigste Thema bereits gesetzt hatte. Kein Wunder, wenn dann der Wahlkampf allgemein als mau empfunden wurde, und den Medien das schwarzgelb gestreifte Spielzeug nur allzu gelegen kam, um ihm etwas Farbe einzuhauchen. Literatur Blumler, J. G. (1990). Elections, the media and the modern publicity process. In M. Ferguson (Hrsg.), Public communication. The new imperatives. Future directions for media research (S. 101113). London: Sage. FDP startet mit Kampagnenverbund in die Bundestagswahl 2009. Portal Liberal. Abgerufen am 1. September 2009 von http://www.liberale.de/FDP-startet-mit-Kampagnenverbund-in-die-Bundestagswahl-2009/2779c3751i1p42/index.html Friedrichs, H. (2009, 23. September). Zeit online. Abgerufen am 26. September 2009 von http://www.zeit.de/politik/deutschland/2009-09/wahlkampf-presseschau?page=all Gibson, R. K., & Römmele, A. (2001). A party-centered theory of professionalized campaigning. The Harvard Journal of Press/Politics, 6(4), 31-43. Gibson, R. K., & Römmele, A. (2009). Measuring the professionalization of political campaigning. Party Politics, 15, 265-293. Gievert, S. (2009). "Und alle so Yeaahh" – Die Webwahlkampfbilanz. politik-digital. Abgerufen am 1. Oktober 2009 von http://www.politik-digital.de/bundestagswahl-onlinewahlkampf-bilanz-2009 Grossmann, M. (2009). Going Pro? Political campaign consulting and the professional model. Journal of Political Marketing, 8, 81-104. Gurevitch, M., & Blumler, J. G. (1990) Comparative research: The extending frontier. In D. L. Swanson & D. Nimmo (Hrsg.), New directions in political communication. A resource book (S. 305-325). Newbury Park, CA: Sage.
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Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl oder doch eine europäische Kampagne? Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger
Als 1979 das Europäische Parlament zum ersten Mal direkt gewählt wurde, verband sich damit eine gewisse Euphorie: Europa würde für seine Bürgerinnen und Bürger greifbarer, und die Wahl könnte so zu einer stärkeren Integration der seinerzeit neun Mitgliedstaaten beitragen. Obwohl das Parlament im Vergleich zu Kommission und Ministerrat damals noch eine eher schwache Rolle im europäischen Entscheidungsprozess spielte, wurde es mit der Wahl zum ersten und bis heute einzigen Organ der Gemeinschaft, das eine echte demokratische Legitimation aufweist. Das Parlament konnte so nicht nur auf eine Steigerung seiner Bekanntheit, sondern zumindest auch auf eine symbolische Aufwertung hoffen. Seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments gilt aber auch die Klage, der Europawahlkampf sei wenig europäisch, sondern vielmehr national geprägt. Das ist ein Grund, warum sich die Hoffnung nicht erfüllt hat, dass die in allen EUMitgliedstaaten gleichzeitig abgehaltene Wahl des Europäischen Parlaments dem Zusammengehörigkeitsgefühl einen Schub geben würde. Das Reglement für die Europawahlen trägt dazu bei, dass es das Europäische an der Wahl so schwer hat. Auf ein einheitliches Verfahren für die Wahl haben sich die Mitgliedstaaten nicht einigen können. Es gibt lediglich einige gemeinsame Bestimmungen, dazu gehört die Festlegung auf eine Verhältniswahl. Ansonsten folgt jedes Land einem eigenen Wahlsystem. Es sind keine europäischen Parteien, die um Stimmen werben, sondern auf dem Wahlzettel stehen die von nationalen Urnengängen vertrauten Parteinamen. Ebenso entstammen die Kandidatinnen und Kandidaten der nationalen Politikerriege, internationale europäische Bewerber gibt es nicht. So stellt sich schließlich alle fünf Jahre die Frage, ob wenigstens die Themen des Wahlkampfes europäisch sind oder ob doch die nationale Agenda die Kampagne bestimmt. Nicht zuletzt, weil die Europawahl in Deutschland neben der Bundestagswahl die einzige andere nationale Wahl ist, wird ihr gerne der Charakter
Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl?
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eines Stimmungstests zugeschrieben. Das gilt erst recht in einem Jahr wie 2009, in dem die Europawahl nur 16 Wochen vor der Bundestagswahl stattfand. Liegt das Wahlergebnis vor, verweisen dann meist nur noch die Parteien, die gut abgeschnitten haben, auf den Testcharakter, während die anderen hervorheben, dass die Europawahl nicht zuletzt wegen der üblicherweise erheblich niedrigeren Wahlbeteiligung kaum geeignet sei, um die Stärke der Parteien etwa bei der nächsten Bundestagswahl vorherzusagen. Damit können sie sich allerdings gegenüber einer entsprechenden Kommentierung in den Medien nur schwer durchsetzen, so dass die Wahlverlierer die Zeichen fürchten müssen, die in das Ergebnis der Europawahl hineininterpretiert werden. Die Vertreter der Unionsparteien, wie CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla und der hessische Ministerpräsident Roland Koch, werteten das Wahlergebnis 2009 dann auch als ein deutliches Signal für die anstehende Bundestagswahl; schließlich gingen CDU und CSU mit annähernd 38 Prozent als stärkste Kraft aus der Europawahl hervor und inszenierten sich trotz ihres Verlustes von 6,6 Prozent der Wählerstimmen im Vergleich zur 2004 als Wahlsieger ("Das hätte ich...", 2009; Kanzlerin Merkel…, 2009). Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering hingegen trat gleich nach Verkündung der offiziellen Wahlergebnisse vor die Mikrofone und betonte, dass die Europawahl eben nicht als Testwahl missinterpretiert werden dürfte, und führte das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten insbesondere auf die geringe Wahlbeteiligung zurück ("Das Spiel ist...", 2009). Die Parteivorsitzende der Grünen, Claudia Roth, stellte am Abend der Europawahl ebenfalls fest: "Die Bundestagswahl ist am heutigen Tag definitiv nicht entschieden" ("Das hätte ich...", 2009). Auch die Medien selbst gaben sich in dieser Hinsicht ambivalent. So fanden sich beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Süddeutschen Zeitung Vermerke, die im Zusammenhang mit der Europawahl von einem "Stimmungstest" sprachen oder in den Ergebnissen einen bundespolitischen Trend abgebildet sahen (Freude bei der FDP…, 2009; Prantl, 2009). Mit ihrer Schlagzeile "Wer kriegt heute einen Denkzettel?" unterstrich auch die BILD (Thewalt, 2009), dass bei der Europawahl durchaus nationale Aspekte eine wichtige Rolle spielen, und stilisierte diese zu einer Art Abrechnung mit der Politik der jüngeren Vergangenheit hoch. Es fanden sich jedoch andererseits ebenso Hinweise, dass sich die Wahlergebnisse der bei der Europawahl angetretenen Parteien nicht einfach auf die Bundesebene übertragen lassen. Wenngleich die innenpoliti-
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sche Situation mitentscheidend für die Stimmabgabe war, so kam dennoch eine Reihe anderer Gründe für das Ergebnis der Europawahl hinzu, so das Fazit. Die geringe Wahlbeteiligung und die schwache Mobilisierung vor allem der SPD tauchten dabei als Hauptgründe auf, warum die Ergebnisse nicht die allgemeine Wählerstimmung abzubilden vermögen. Die zeitliche Nähe der beiden Wahlen ließ erwarten, dass die Bundestagswahl ihre Schatten vorauswerfen und die Strategien in der Europawahlkampagne beeinflussen würde. In Anbetracht dessen, dass für die Parteien bei einer Bundestagswahl erheblich mehr auf dem Spiel steht als bei der Wahl zum Europäischen Parlament, war 2009 zu vermuten, dass sie mit ihrem Einsatz für Europa eher zurückhaltend sein und mit ihren finanziellen und kreativen Kräften haushalten würden. Die Aussichten für einen engagierten und europäisch geprägten Wahlkampf waren also 2009 in Deutschland nicht besonders gut. Da der Urnengang bei Europawahlen noch weniger selbstverständlich ist als bei Bundestagswahlen und die Wahlbeteiligung im Laufe der Zeit deutlich zurückging, bedürfte es jedoch besonderer Anstrengungen auf Seiten der Politik – und der Medien, um die Wählerinnen und Wähler über die Wahl zu informieren und für die Stimmabgabe zu motivieren. 1
Wechselwirkungen
Seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament hat sich gezeigt, dass das Engagement von Politik, Medien und Wählerschaft in einem Wechselverhältnis steht. Bleibt die Politik zurückhaltend mit ihren Kampagnenbemühungen, sind auch die Wählerinnen und Wähler schwer zu motivieren. Um diese anzusprechen, ist die Politik weitgehend auf die Medien angewiesen. Deren Engagement bestimmt sich allerdings überwiegend durch den Input aus der Politik; die Medien berichten, wenn ihnen etwas geboten wird, und das im doppelten Wortsinne, denn die Medien berichten, was ihnen berichtenswert erscheint; der Input muss auch etwas hergeben, also den Aufmerksamkeitskriterien der Medien entsprechen. So hat sich gezeigt, dass die Berichterstattung über die Europawahlkampagne dort umfangreicher ausfällt, wo die EU-Politik umstritten ist und das Thema Europa Konfliktcharakter hat (vgl. de Vreese, Banducci, Semetko & Boomgarden, 2006).
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Aufgrund des Wechselverhältnisses von Politik, Medien und Wählerschaft tendieren Europawahlen dazu, mit einer low key campaign auch eine low key response zu prädestinieren (vgl. Holtz-Bacha, 2005). Als Wahlen dritter Ordnung (Reif, 1997), also nachrangige Wahlen, die keine Regierung hervorbringen, leiden Europawahlen darunter, dass für alle Beteiligten weniger auf dem Spiel steht als bei Wahlen erster Ordnung (less-at-stakeDimension). Europawahlen finden außerdem unter besonderen politischen und institutionellen Bedingungen statt (specific-arena-Dimension). Dazu gehört, dass das Europäische Parlament trotz Machtzuwachs immer noch eine im Verhältnis zu Kommission und Rat etwas schwächere Position innehat und 2009 in Deutschland obendrein die Bundestagswahl kurz bevor stand. Aus den genannten Gründen kommt bei solchen Wahlen den Kampagnenbemühungen (Kampagnen-Dimension) eine noch größere Bedeutung zu als bei Wahlen erster Ordnung. (Vgl. Reif & Schmitt, 1980) Die Sorge darüber, dass die Kampagnen zur Europawahl lediglich "second-rate" (de Vreese, 2009) ausfallen, besteht seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments. Brandts, van Praag und Nol-Aranda (1983), die das Engagement von politischen Akteuren und Rundfunkanstalten im Europawahlkampf 1979 untersuchten, stießen damals auf eine Mischung aus Verwirrung und Unsicherheit: Diese führten sie auf das Vorliegen gegenläufiger Einflüsse zurück, die sich aus den je professionellen Überzeugungen von Politikern und Medienvertretern einerseits und ihrem Common Sense andererseits ergaben. Das heißt, gerade bei der ersten Direktwahl war allen die Bedeutung dieses Ereignisses bewusst, und sie fühlten sich daher auch in der Pflicht, dafür etwas zu tun. Dem stand jedoch das Gefühl entgegen, dass sich nicht zuletzt in der Öffentlichkeit das Interesse an der Wahl in Grenzen halten würde (Brandts, van Praag, & Nol-Aranda, 1983, S. 140). Die Symbolkraft der ersten Direktwahl sorgte indessen dafür, dass das Fernsehen in den Mitgliedstaaten die Wahl überwiegend als ein europäisches Ereignis behandelte. Im Vergleich zu den Politikern fiel die Berichterstattung jedoch etwas stärker national orientiert aus, was wiederum den professionellen Produktionsroutinen der Journalisten geschuldet schien, die so meinten, dem Interesse ihres Publikums entgegenzukommen. (Vgl. Siune, 1983, S. 237239) Eine Analyse der zentralen Wahlkampfaussagen (Slogans) zur Europawahl des Jahres 1999 (Gerstlé, Semetko, Schoenbach & Villa, 2000), die rund neun Monate nach der Bundestagswahl stattfand und damit den Cha-
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rakter eines Stimmungstests für die 1998 neu gebildete rot-grüne Koalitionsregierung annahm, aber auch durch die Debatte zur Politik gegenüber dem Kosovo überschattet wurde, bescheinigte den Parteien insgesamt eine schwache Europäisierung. Während die Grünen eine wirklich europäische Kampagne organisierten, die die Europäische Union als eine Möglichkeit hinstellte, um übergreifende Probleme zu lösen, vermischte die SPD Innenund Europapolitik, und die Union rief zur Denkzettelwahl gegenüber der rot-grünen Regierung auf (S. 105-106 ). 2004 galt eine ähnliche Klage. Wüst und Roth (2005) nannten die Europawahl für alle Beteiligten eine "Pflichtübung", bei der Europathemen noch am ehesten in den Wahlprogrammen der Parteien zu finden sind, aber sogar in der Selbstdarstellung der Parteien in ihren Wahlspots weiter zurücktreten, weil sie diese für die Abrechnung mit der Regierung nutzen. Auch Niedermayer kam in seiner Untersuchung der heißen Wahlkampfphase 2004 zu dem Fazit, Europa sei für die Politik nur ein Randthema gewesen. Schuld daran wären jedoch auch die Medien, indem sie den Parteien einerseits vorwarfen, die Europawahlkampagne für ihre nationalen Interessen zu missbrauchen, aber andererseits durch den nationalen Fokus ihrer Berichterstattung selbst dazu beitrugen (Niedermayer, 2005, S. 74). Die Parteien müssten also besondere Anstrengungen unternehmen, um die Wählerinnen und Wähler für die Stimmabgabe zu motivieren. Mehr noch als bei einer Bundestags- oder Landtagswahl geht es bei der Europawahl darum, die Bedeutung dieser Wahl, bei der es scheinbar um nichts geht, herauszustellen und den Wahlberechtigten das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Stimme zählt. Zwar sind die Einstellungen zur Europäischen Union in Deutschland überwiegend positiv, aber die Bürgerinnen und Bürger sind wenig überzeugt, dort Gehör zu finden: Während 2008 64 Prozent der Deutschen die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU als "eine gute Sache" bezeichneten und 58 Prozent meinten, die Mitgliedschaft bringe Deutschland Vorteile, hatten lediglich 34 Prozent das Gefühl, dass ihre Stimme zählt in der EU, und gar nur 23 Prozent gaben sich überzeugt, dass ihre Meinung bei den Mitgliedern des Europäischen Parlaments Berücksichtigung findet (alle Zahlen: Hegewald & Schmitt, 2009, S. 15-17). Es wäre also Aufgabe der Kampagne, der Stimmabgabe einen Sinn im europäischen Kontext zu verleihen und die Wählerinnen und Wähler so für den Urnengang zu gewinnen: "[...] political actors, namely candidates, parties and EU officials have to put more effort into making it clear to the voter that voting makes a
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difference, and into informing and mobilizing them", bekräftigt dann auch Wessels (2007, S. 227) aufgrund einer Analyse der Einflussfaktoren auf die Beteiligung an der Europawahl 2004. Allerdings ist die Politik bei der Ansprache der Wählerschaft weitgehend auf die Medien angewiesen, muss also ihre Kampagnenbemühungen so einrichten, dass diese Resonanz in der Berichterstattung finden. Auch wenn die Medien, zumal in der politischen Berichterstattung, nicht nur auf den Input von Parteien und Kandidaten reagieren, scheinen sie sich im Fall der Europawahl doch vom Kampagnengeschehen abhängig zu machen. Sie verweisen auf das geringere Engagement der Politik und ziehen dieses zu ihrer Rechtfertigung für den eigenen Umgang mit der Europawahl heran. Das hat sich zuletzt wieder im Europawahlkampf 2004 bei einer Befragung von Rundfunkjournalisten bestätigt: Mehrheitlich erwarteten sie, dass das Interesse der Politiker an der Europawahl geringer sein würde als bei Bundestagswahlen. Außerdem glaubten die meisten auch, dass das schwächere Interesse der Politik Auswirkungen auf den Umgang der Medien mit dem Wahlkampf und den Umfang ihrer Berichterstattung haben würde (Urban, 2004; vgl. dazu auch: de Vreese, 2003). Für die Europawahl des Jahres 20091 bietet sich ein ähnliches Bild: In einer während des Europawahlkampfes 2009 durchgeführten Befragung von Europakorrespondenten bzw. solcher Journalistinnen und Journalisten, die in den Redaktionen von Rundfunk und Presse auf Europa spezialisiert sind, gingen annähernd alle Befragten (94%) von einem geringeren Engagement der Parteien bei den Europawahlen als bei der Bundestagswahl aus. Auch wenn wegen eines schlechten Rücklaufs bei der online durchgeführten Befragung nur 34 Fragebögen zu verwerten waren, so ist die starke Übereinstimmung in diesem Punkt dennoch auffallend. Weiterhin vermuteten etwas weniger als zwei Drittel der Befragten (62%), dass die Intensität der Berichterstattung von Engagement der Parteien abhängig ist. Für das Engagement der Medien sind aber wohl auch noch andere Faktoren ausschlaggebend. So zeigte sich, dass sich die Europakorrespondenten mehr Berichterstattung wünschen würden, als sie tatsächlich stattfindet. Auch hier lässt sich aus den Antworten ein starker Trend ablesen: Fast alle Befragten (94%) wünschten sich in den Medien eine starke Aufmerksamkeit für die Europawahl, aber weniger als ein Drittel (29%) glaubte, dass die Berichterstattung die Wahl 1
Die Autoren bedanken sich bei Robert Nehr für die Auswertung der Daten sowie bei Felix Stumpf und Stefan Wehner für die Erstellung des Online-Fragebogens
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entsprechend berücksichtigen würde. Offenbar kommen also die Europaspezialisten in ihren Redaktionen mit ihren Themen nicht so zum Zuge, wie sie es gerne hätten. Außerdem sehen sie die Europawahl auch nicht gerade als ein Thema, das auf Interesse bei ihrem Publikum stößt: Keiner der 34 Journalisten glaubte an ein sehr starkes oder starkes Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der Europawahl. Geradezu vernichtend ist das Urteil der Journalisten gar hinsichtlich des Wissens der Bevölkerung zu Europa: Alle 34 befragten Journalisten glaubten, dass es schlecht (29%) bis sehr schlecht (71%) um die Kenntnisse hinsichtlich der europäischen Institutionen steht. Tatsächlich ist das Wissen über Europa und Europawahl in Deutschland nicht besonders gut. In einer Eurobarometer-Umfrage im Herbst 2007 (Citizens' views..., 2007) wussten nur 47 Prozent der Deutschen, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments direkt gewählt werden. Lediglich 13 Prozent konnten korrekt angeben, wann die nächste Europawahl stattfinden sollte. Schließlich wiesen sie mit einem Anteil von 40 Prozent mehrheitlich dem Europäischen Parlament die größte Entscheidungsmacht zu, während 16 Prozent sie bei der Kommission und lediglich 10 Prozent beim Rat sahen. Auch das Interesse der Bevölkerung an der Wahl war nicht sehr ausgeprägt. Bei einer Eurobarometer-Umfrage im Herbst 2008 (Europeans and the..., 2008) sagten 54 Prozent der Deutschen, sie seien an der für Juni 2009 angesetzten Europawahl nicht interessiert. Zwar zeigten sich immerhin 45 Prozent der Befragten interessiert, allerdings erfolgte keine weitere Differenzierung nach der Intensität des Interesses. Es ist also davon auszugehen, dass insgesamt das Interesse an der Europawahl in der deutschen Bevölkerung eher schwach war. Die während des Europawahlkampfes 2009 befragten Journalistinnen und Journalisten sahen dann auch fast alle die Medien (88%) und noch mehr die Politik (94%) stark bis sehr stark in der Pflicht, die Kenntnisse der Bürgerinnen und Bürger über die europäischen Institutionen zu verbessern. Nach Meinung der Journalisten sollte die Europawahlberichterstattung nicht so sehr dazu dienen, eine Hilfestellung bei der Stimmabgabe zu geben (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 50%) oder über die Programme der antretenden Parteien zu informieren (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 56%), sondern vielmehr das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der Europawahl zu wecken (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 74%) sowie über das Funktionieren und den Aufbau der EU (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 80%) bzw. des Europäischen Parlaments und die Wahl im Allgemeinen (sehr wichtiges/wichtiges
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Ziel: 83%) aufzuklären. Etwas weniger als zwei Drittel der Journalisten (62%) sehen es auch als wichtige bis sehr wichtige Aufgabe der Medienberichterstattung an, ein europäisches Bewusstsein zu fördern. Bei diesen Ergebnissen ist allerdings in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei den befragten Journalisten um Europaspezialisten handelte, denen Europa auch ein besonderes Anliegen sein dürfte. Im Vorfeld der Europawahl 2004 befragte Rundfunkredakteure schätzten es zu 33 Prozent als sehr wichtig und zu 60 Prozent als wichtig ein, dass die Berichterstattung dazu beiträgt, ein europäisches Bewusstsein zu fördern (Urban, 2004, S. 61). In einer repräsentativen Befragung von (westdeutschen) Redakteuren im Jahr 1992 sagte fast die Hälfte, dass sie es nicht als ihre Aufgabe sehen, "dazu beizutragen, daß ein europäisches Gemeinschaftsgefühl entsteht" (Schönbach, 1995, S. 27). Europawahlkämpfe stehen also vor besonderen Herausforderungen, die sich aus ihrem Charakter als Nebenwahlen, die nicht mit einer Regierungsbildung verbunden sind, ergeben. Für Deutschland kommt hinzu, dass Europa gerade deshalb ein schwieriges Thema darstellt, weil es so wenig kontrovers ist: In einer Studie zu den Europawahlen des Jahres 2004 stellte de Vreese (2009) fest, dass die Kampagnenbemühungen der Parteien bei Nebenwahlen nicht nur weniger "professionell" ausfallen als bei Wahlen erster Ordnung, sondern auch dass die Wahlkämpfe in solchen Ländern, wo die EU nicht umstritten ist, länger und aktiver sind als in hinsichtlich der EU polarisierten Mitgliedstaaten. Das heißt, in konsensuellen Kontexten – dazu gehört auch Deutschland – muss die Politik mehr tun, um Aufmerksamkeit und Interesse für die Europawahl zu wecken und Medien sowie Wählerschaft zu mobilisieren. Mit der über die Jahre zurückgehenden Wahlbeteiligung ist diese Herausforderung eher noch gestiegen. Die Forschung indessen hat gezeigt, dass sich der Einsatz der Politik durchaus lohnt und Wahlkampagnen zur Mobilisierung der Wählerschaft beitragen können. So fanden Franklin, van der Eijk und Oppenhuis (1996) in einer Studie zu den Europawahlen des Jahres 1989, dass die Wahlbeteiligung nach den institutionellen Faktoren (wie Wahlpflicht und Wahlsystem) von individuellen Variablen der Wählerinnen und Wähler beeinflusst wird, und dazu gehört insbesondere die Kampagnenmobilisierung. Mobilisierung erweist sich sogar als die gegenüber Gewohnheit und Loyalität wichtigere Voraussetzung für die Beteiligung an Europawahlen (van der Eijk & Franklin, 1996, S. 394). Steinbrecher und Huber (2006, S. 26) gelangen in einer Untersuchung für die Wahlen 1994
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und 1999 ebenfalls zu dem Schluss, dass die Kampagne für die Wahlbeteiligung von Bedeutung ist und sogar von der einen Wahl zur nächsten noch zugenommen hatte. Ähnlich sieht auch der Befund von Weßels für den Europawahlkampf 2004 aus: "Mehr Wahlkampfanstrengungen bedeuten auch mehr Wähler an den Urnen." (2005, S. 103; vgl. auch Wessels, 2007). Den Medien wird gemeinhin ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, wenn es um Europa und Europawahlen geht, und damit die (Mit-)Schuld am viel diskutierten Öffentlichkeitsdefizit der EU gegeben (vgl. z. B. Brettschneider & Rettich, 2005). Europawahlkämpfe finden in den Medien wenig Aufmerksamkeit. Das Interesse der Medien an Europawahlen bleibt weit hinter dem an nationalen Wahlen zurück, das gilt für Deutschland ebenso wie für andere EU-Mitgliedstaaten (vgl. de Vreese, Banducci, Semetko, & Boomgarden, 2006; Kevin, 2001; Wilke & Reinemann, 2005; Zeh & HoltzBacha, 2005). 2
Wie europäisch war die Kampagne?
Wie sah es also 2009 aus mit dem Engagement der Parteien für Europa? Welche Akzente die Wahlkampagne setzte und ob die Parteien die Europawahl als ein europäisches oder doch eher als ein nationales Ereignis behandelten, lässt sich am besten an denjenigen Kampagnenmaterialien ablesen, die allein in der Verantwortung der Parteien stehen und nicht der medialen Verarbeitung unterliegen. Darunter fallen ihre Werbemittel wie Plakate, Anzeigen in den Printmedien, die Parteienspots in Radio und Fernsehen sowie ihre Online-Angebote. Plakate und die Werbespots, die die Parteien für die Ausstrahlung im Fernsehen produzierten, dienen im folgenden dazu, um zu prüfen, wie europäisch die Kampagne zur Europawahl 2009 konzipiert war, oder ob eher nationale Bezüge im Vordergrund standen. Das markanteste Element der Plakate sind die Slogans der Parteien. Slogans verdichten die Kampagne einer Partei zu einer zentralen Wahlkampfaussage; sie sollen Aufmerksamkeit für die Partei wecken und zur Mobilisierung der Wählerschaft beitragen (vgl. Toman-Banke, 1994, S. 47). Daher sollten die Bezüge zu Europa in den Slogans am deutlichsten hervortreten. Bilder der Kandidatinnen und Kandidaten für das Europäische Parlament sowie europäische Symbole können als weitere Indikatoren dafür dienen, wie europäisch die Kampagne ausfiel oder ob die Parteien die Europawahl
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doch mehr für den innerdeutschen Konkurrenzkampf einsetzten (für eine detaillierte Analyse der Plakate vgl. Lessinger & Holtz-Bacha, in diesem Band.) Eine eindeutig europäische Zielrichtung demonstrierten die Plakate der Grünen, die sich auch schon 2004 durch einen klaren Europabezug auszeichneten. Für die Europawahlkampagne 2004 hatten sich die Grünen mit ihren Schwesterparteien aus anderen Mitgliedstaaten zu einer einheitlichen Kampagne zusammengetan und die Plakate zeigten das auch, indem neben dem Logo der deutschen Grünen auch das Logo des europäischen Zusammenschlusses The Greens zu sehen war (vgl. Holtz-Bacha, 2007; Dillenburger, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005). Ihr Slogan "Mit Wums! für ein besseres Europa" blieb wohl für manche kryptisch, weil die Bedeutung des lautmalerischen Wums! (= Wirtschaft & Umwelt, menschlich & sozial) nur durch genaueres Studium der Plakate zu entschlüsseln war, zielte aber eindeutig und nur auf Europa. Zwei Kandidatenplakate zeigten die Spitzenkandidaten der Grünen für die Europawahl, Rebecca Harms und Reinhard Bütikofer. Alle anderen Plakate, die ein einheitliches Design aufwiesen, kombinierten Sachthemen mit dem Europa-Slogan. Klare Europareferenzen wiesen auch die Plakatkampagnen von FDP und CDU auf, die diese allerdings mit Bezügen zu Deutschland kombinierten. In der Plakatkampagne der FDP dominierte eine Serie, die die Europaabgeordnete und Spitzenkandidatin der FDP Silvana Koch-Mehrin mit dem Slogan "Für Deutschland in Europa" oder einem Sachthema und der Aufforderung "Wählen Sie Ihr Europa" abbildete. Die traditionellen Parteifarben der FDP, die mit gelb und blau zugleich die Farben Europas sind, machen es der Partei leicht, auch in der Farbsymbolik den Bezug zu Europa herzustellen. Entsprechend ihrem Slogan "Für Deutschland in Europa" ließen die Plakate zusätzlich die deutsche sowie die europäische Fahne erkennen. Noch stärker als die FDP balancierte die CDU zwischen Deutschland und Europa. Der beherrschende Slogan ihrer Plakate lautete "Wir in Europa", das durch themenbezogene Claims ergänzt wurde. Indem die CDU das "Wir" ihres Slogans mit den Nationalfarben unterlegte, setzte sie einen eindeutigen nationalen Akzent und bot so eine Identifikationsmöglichkeit für die Wählerinnen und Wähler. Eine Serie ihrer Plakate wies einen jeansblauen und ebenso strukturierten Hintergrund mit applizierten goldenen Sternen auf, eine weitere Serie umfasste ebenfalls Themenplakate, die jedoch visuell den Europabezug weniger deutlich herausstellten. Ein Plakat zeigte den
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ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments und CDU-Spitzenkandidaten Hans-Gert Pöttering in Kombination mit dem Slogan "Im deutschen Interesse: Ein starkes Europa", ein weiteres die Bundeskanzlerin, im Hintergrund die Europafahne und dazu der Claim "Wir haben eine Stimme in Europa". Obwohl Angela Merkel nicht Kandidatin bei der Europawahl war, instrumentalisierte die CDU nicht nur deren Popularität, sondern auch die europapolitische Präsenz der Kanzlerin und assoziierte sie mit dem Gewicht, das Deutschland in Europa zukommt; der Claim unterstrich einen auch in der Bevölkerung verbreiteten Eindruck: Im Frühjahr 2008 gaben sich 78 Prozent der Deutschen davon überzeugt, dass die Stimme Deutschlands in der EU zählt (Hegewald & Schmitt, 2009, S. 17). Die christlichsoziale Schwesterpartei dagegen suggerierte, bei der Europawahl stehe das Gewicht Bayerns in Europa auf dem Spiel. Eine Reihe von Textplakaten versprach: "Nur wer CSU wählt, gibt Bayern eine eigene Stimme in Europa". Derselbe Slogan fand sich auch auf Plakaten mit den Bildern des CSUSpitzenkandidaten Markus Ferber, dem damaligen Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer. Eine weitere Plakatserie der CSU verband den Claim "Beherzt handeln" mit Forderungen "Für ein bürgernahes Europa", "Für Arbeitsplätze in Bayern" sowie "Arbeitsplätze sichern in Bayern. Steuern runter in Deutschland. Klare Grenzen für Europa." Ungewöhnlich war die Strategie der SPD, die mit einer Negativkampagne CDU, FDP sowie Die Linke aufs Korn nahm. Sie verband diese dann zwar mit europabezogenen Forderungen, die Attacken gegen die anderen Parteien machten aber deutlich, dass sich die SPD bereits im Bundestagswahlkampf sah. Das gegen die Union gerichtete Plakat behauptete "Dumpinglöhne würden CDU wählen" und kombinierte den Claim mit der Forderung "Für ein Europa der fairen Löhne". Auf dem zweiten Plakat der Negativserie hieß es: "Finanzhaie würden FDP wählen. Für ein Europa, in dem klare Regeln gelten". Das dritte Plakat stellte fest: "Heiße Luft würde DIE LINKE wählen" und dazu: "Für ein Europa, in dem Verantwortung zählt". Der rote Würfel mit dem Parteilogo enthielt außerdem die Forderung "Mehr SPD für Europa". Ein weiteres Poster kombinierte das Bild des SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz mit dem Claim "Für ein soziales Europa"; zwei Plakate zeigten Martin Schulz zusammen mit dem SPDKanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier. Fast ganz ohne Europabezug
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kam Die Linke aus. Lediglich ein Plakat forderte "Mindestlöhne europaweit", und ein Kandidatenplakat stellte Spitzenkandidat Lothar Bisky vor. Im Vergleich der Parteien hatten die Grünen die europäischste Plakatkampagne konzipiert. Sie nehmen keinen Bezug zu Deutschland und deutscher Politik (wenn man von einem Bildbezug zu Wolfgang Schäuble und den Aufruf "Haltet den Datendieb" absieht), ihre Themen sind grenzüberschreitend, und sie bildeten keine Bundespolitiker der Partei, sondern nur ihre Spitzenkandidaten für die Europawahl ab. FDP und CDU, deren Plakate ebenfalls deutliche Europabezüge aufwiesen, arbeiteten jedoch mit Slogans, die außerdem Bezug auf Deutschland nahmen und damit suggerierten, bei der Europawahl ginge es um die Stärke der Vertretung Deutschlands – oder gar Bayerns, wie die CSU nahelegte – in Europa. Tatsächlich steht die Zahl der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament fest, vielmehr entscheidet die Europawahl über die Verteilung dieser Sitze auf die Parteien. Insofern trifft die Forderung "Mehr SPD für Europa" besser als die Slogans von FDP und CDU, was die Stimmabgabe bei der Europawahl leisten kann. Die Abbildung von Politikerinnen und Politikern, die bei der Europawahl nicht als Kandidaten antreten und nicht gewählt werden können, ist zwar eine gängige Sympathiestrategie, ist jedoch irreführend und demonstriert gleichzeitig den bundespolitischen Akzent der Europawahl. Einzig die FDP bekannte sich wie bereits im Jahre 2004 eindeutig zu ihrer Europa-Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin, was sicherlich auch aus dem Erfolg der damaligen Personalisierungsstrategie zurückzuführen ist: Während Koch-Mehrin zu Beginn des Wahlkampfes 2004 noch gänzlich unbekannt war, überholte sie laut einer Studie von Infratest Dimap "alle anderen Spitzenkandidaten mit Ausnahme von Daniel Cohn-Bendit im Bekanntheitsgrad" (Niedermayer, 2005, S. 70). Dies mag sicherlich mit ein Grund dafür sein, warum die Partei auch für die Europawahl von 2009 auf eine ganz ähnliche Werbestrategie setzte und erneut die mittlerweile bundesweit bekannte Spitzenkandidatin auf dem Gros der Wahlplakate zeigte (Parteichef Westerwelle tauchte hingegen auf nur einem Plakat auf). Einen weiteren Indikator für das Engagement der Parteien bei der Europawahl stellen die Werbespots dar, die diese für die Ausstrahlung im Fernsehen produzieren. Der Aufwand, den die Parteien für die Fernsehwerbung betrieben, hielt sich erwartungsgemäß in Grenzen. Zur Europawahl waren 32 Parteien zugelassen und hatten Anspruch auf Sendezeit bei ARD und ZDF, bis auf eine Partei haben alle davon Gebrauch gemacht. Nur CDU
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und die SPD kauften zusätzlich Werbezeit im kommerziellen Fernsehen ein. Die CDU setzte hier dann aber nur eine Kurzversion ihres für das öffentlich-rechtliche Fernsehen produzierten Spots ein. Als einzige Partei legte die SPD zwei unterschiedliche Kurzspots vor, die im kommerziellen Fernsehen zum Einsatz kamen; für die Ausstrahlung bei ARD und ZDF wurden diese beiden kurzen Spots einfach aneinandergehängt. Dieser geringe Aufwand für die Fernsehwerbung ließe sich als Indiz dafür nehmen, dass die Parteien im Europawahlkampf mit ihren Kräften sparten. Allerdings haben auch vergangene Bundestagswahlen schon gezeigt, dass den Parteien offensichtlich dieses Werbemittel nicht (mehr) so wichtig ist (vgl. Holtz-Bacha & Lessinger, 2006; Wir sind keine Erfüllungsgehilfen, 2002), so dass die niedrige Zahl der Spots nur bedingt geeignet ist, um Aussagen über das Engagement der Parteien bei der Europawahl zu machen. Die nachfolgend berichteten Befunde zu den Europabezügen der Fernsehwahlwerbung sind das Ergebnis einer Inhaltsanalyse, die den ganzen Spot als Analyseeinheit verwendet2. Damit lässt sich der thematische Schwerpunkt eines Werbespots sowie ein Gesamteindruck seines Tenors ermitteln; da dieses Vorgehen aber das visuelle Konstruktionsprinzip eines Spots, das auf der Kombination mehrerer Formate beruht, nicht nachvollzieht, lassen sich die verbalen und visuellen Strategien jedoch nicht erheben (vgl. aber: Lessinger & Holtz-Bacha, in diesem Band). Diese Analyse der Parteienspots macht deutlich, dass Europa 2009 eher ein Randthema darstellte. Inhaltlich spielte der Themenkomplex "Wirtschaft und Finanzen" die größte Rolle in den Fernsehspots, was in Anbetracht der schwelenden Finanzkrise nicht überraschend war. Auch die Wählerinnen und Wähler sowie die befragten Europakorrespondenten erwarteten eine Dominanz von wirtschaftlichen Themen im Europawahlkampf: Eine bereits im Frühjahr 2008 durchgeführte Eurobarometer-Studie zeigte, dass die Wählerinnen und Wähler in Deutschland die beiden Themenkomplexe "Arbeitslosigkeit" (59%) und "Inflation und Kaufkraft" (51%) als die prägenden Themen für den anstehenden Wahlkampf betrachteten (Die Europawahlen 2009, 2008). Für die Wählerinnen und Wähler in ganz Europa ergibt sich ein ganz ähnliches Bild: Hier landen sogar drei Wirtschaftsthemen auf den ersten drei Plätzen, nämlich "Arbeitslosigkeit" (47%), "Wirtschaftswachstum" (45%) sowie "Inflation und Kaufkraft" (41%). Eine ähnliche Einschätzung hin2
Die Autoren bedanken sich bei Stanislava Vardina für die Codierung und Inhaltsanalysedaten
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sichtlich der dominierenden Themen im Wahlkampf gaben auch die Europakorrespondenten ab, sie betrachteten "Wirtschaft und Finanzen" (79%) sowie "Arbeit und Arbeitsmarkt" (71%) weit vor "Umwelt" (35%) als die möglichen Top-Themen. In Anbetracht dieser Ergebnisse und der sich aufdrängenden Wirtschaftsthemen war es eine logische Konsequenz, dass mehr als die Hälfte (53%) der Spots ökonomische Sachverhalte als Hauptthema herausstellte, mit großem Abstand gefolgt von "Sozialpolitik" (12%). Im überwiegenden Teil der Spots, in denen einer dieser beiden Themenkomplexe als Hauptthema zu identifizieren war, ließ sich dann auch ein direkter Bezug zur Wirtschafts- und Finanzkrise sowie zu möglichen Wegen und Lösungsansätzen für ihre Überwindung feststellen. Da es sich bei der Wirtschaftskrise ohnehin um ein negatives Thema handelt, überrascht es wenig, dass in den Spots insgesamt kritische bzw. negative Bewertungen (56%) gegenüber positiven (9%) bei weitem überwogen. Insgesamt fanden sich genauso viele Spots mit rein innenpolitischer Behandlung des jeweiligen sachpolitischen Hauptthemas (21%) wie solche, in denen die Themenbehandlung rein europäisch (21%) war. Zählt man die Spots mit vorwiegend innenpolitischer bzw. vorwiegend europäischer Behandlung hinzu, ändert sich das Verhältnis nicht auffällig (38% mit innenpolitischer und 32% mit europäischer Perspektive). Neben der Identifizierung eines sachpolitischen Hauptthemas wurden die Spots zusätzlich auf europaspezifische Hauptthemen untersucht – allerdings ließ sich in über der Hälfte der Spots (56%) kein Europathema ausfindig zu machen. Diejenigen Spots, die ein Europathema aufwiesen, drehten sich um ein "Europa der Bürger" (16%), in dem sich die jeweiligen Parteien für mehr und weiterreichende Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger einsetzten, um den Vertrag von Lissabon (9%), die Rolle Deutschlands bzw. Bayerns in der EU (6%) sowie die Entwicklung oder Erweiterung der EU (6%). Auch hier überwog deutlich eine kritischnegative Themenbehandlung (86%). Weiterhin ist bezeichnend, dass nur 9 der insgesamt 31 Parteien in ihren Slogans durch Begriffe wie "Europa" oder "EU" überhaupt einen Europabezug herstellten. In zwei Dritteln der Spots waren außerdem keine visuellen Bezüge zu Europa zum Beispiel durch den Einsatz von Europa-Symbolen wie der europäischen Flagge oder Farben auszumachen. Ein weiteres Indiz dafür, wie stark die Parteien ihre Kampagne europäisch akzentuierten, liegt in der Häufigkeit, mit der die Europakandidaten
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oder andere Parteivertreter in den Wahlspots auftauchten. In 13 Spots (41%) war gar kein Parteivertreter zu sehen. Unter denjenigen Spots, die Parteivertreter zeigten, war in etwas mehr als der Hälfte (53%) der Spots ein Europakandidat zu sehen, aber nur in wenigen Fällen (16%) war dieser auch das (Haupt-)Thema des Wahlspots. Im Gegensatz zu den anderen Parteien zeigten die Grünen aus der eigenen Partei ausschließlich ihre beiden Spitzenkandidaten für die Europawahl, Rebecca Harms und Reinhard Bütikofer, jedoch tauchten beide Kandidaten nur für einen kurzen Moment am Ende des Spots auf und waren zudem aufgrund der kleinformatigen Darstellung kaum zu erkennen. Im Rahmen einer Negativstrategie kamen aber in dem Spot der Grünen außer der Bundeskanzlerin auch der britische Premier Gordon Brown, der französische Präsident Nicolas Sarkozy, der russische Präsident Medwedew sowie der russische Ministerpräsident Vladimir Putin ins Bild. SPD und FDP ließen ihren jeweiligen Europa-Spitzenkandidaten neben einem Spitzenpolitiker ihrer Partei auftreten. Doch während die SPD ihrem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier in etwa die gleiche Redezeit zur Verfügung stellte wie ihrem Europakandidaten Martin Schulz, tauchte der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle nur für einen kurzen Augenblick neben der Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin auf. Die beiden Unionsparteien dagegen hatten offenbar kein Vertrauen in die Bekanntheit ihrer Europaabgeordneten, obwohl zumindest die CDU mit dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, über einen relativ bekannten Spitzenkandidaten verfügte. Dennoch zeigten die beiden Unionsparteien in ihren Fernsehspots ausschließlich ihre beiden Parteivorsitzenden Angela Merkel und Horst Seehofer. 3
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Europa kommt vor, aber eine Kampagne, die dem Sinn der Europawahl gerecht wird, war das nicht. Dieser Befund ist nicht nur dadurch bedingt, dass 2009 die Bundestagswahl wenige Wochen nach der Europawahl anstand, sondern darin spiegeln sich eben auch deren "Konstruktionsprobleme". Diese liegen nicht nur darin, dass der Europawahl die üblichen Spannungsmomente einer Wahl fehlen, sondern sind auch dadurch bedingt, dass das Wahlverfahren bislang wenig europäisch angelegt ist und es außerdem besonderer Anstrengungen bedarf, um den Wahlberechtigten zu vermitteln,
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warum sie sich an der Wahl beteiligen sollten und welche Auswirkungen der Wahlausgang für sie hat. Dabei drängte sich den Parteien mit der Finanzund Wirtschaftskrise 2009 ein übernationales Thema auf, das sich für einen europäisch geprägten Wahlkampf eignete. Das Thema taucht auch prominent in den Werbekampagnen auf, wird jedoch kaum als ein Problem in den Wahlkampf eingebracht, das Europa als Ganzes betrifft und eines gemeinsamen Vorgehens bedarf. Stattdessen stellten sich die Parteien als Problemlöser vor: "Für den Weg aus der Krise" bot sich die CDU an, und die Grünen empfahlen: "Mit grünen Ideen aus der Krise", während die SPD "Finanzhaie", also für die Krise Verantwortliche und Profiteure, als Unterstützer der FDP ausmachte. Die Fernsehwerbung der Parteien fiel überraschend negativ aus: Europa taucht zwar in den Themen auf, jedoch sehr häufig mit einem äußerst europakritischen Bezug. Das führt dann auch zu einem generell eher negativen Gesamteindruck der Spots, der vorwiegend auf das Konto der Kleinparteien geht. Diese nutzten die ihnen zur Verfügung stehende Sendezeit vornehmlich, um mit den etablierten Parteien abzurechnen und diesen ihre misslungene Politik insbesondere in den Bereichen Wirtschaft und Soziales vorzuhalten. Eine genauere Betrachtung der Ergebnisse zeigt jedoch, dass sich auch bei den Spots der Linken, den Grünen und der SPD zahlreiche negative Elemente finden lassen. Besonders Die Linke inszenierte sich als Kritikerin der Regierungsparteien, und ihr Spot war ganz im Stile der Kleinparteien produziert. Während also einerseits viele kleine Parteien und auch die SPD, die Grünen und Die Linke auf die negativen Effekte der Finanzkrise und die ihrer Meinung nach für diese Krise Verantwortlichen in ihren Spots hinwiesen, gaben sich die Unionsparteien betont harmonisch, setzten auf das Prinzip "Hoffnung" und warben für das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler, dass die Wirtschaftskrise dank ihrer wirtschafspolitischen Kompetenz zu überwinden sei. CDU ebenso wie FDP suggerierten mit ihren Kampagnen zudem, es gehe bei der Wahl darum, in der EU deutsche Interessen zu vertreten und die Vertretung Deutschlands daher stark zu machen; die CSU warb gar für eine eigene Stimme Bayerns in Europa. Auch wenn strategisch diese Verbindung zwischen Deutschland und Europa durchaus geschickt ist, weil sie zur Identifikation einlädt und den Eindruck bestärkt, Deutschland könnte sich auch in der großen Gemeinschaft behaupten, täuschen die Slogans eine Funktion der Wahl vor, die gar nicht besteht.
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Dass die Parteien der Europawahl, wenn nicht Testwahlcharakter, so doch eine Signalwirkung für die Bundestagswahl zusprachen, spiegeln die Kandidatenplakate mit Prominenz aus der nationalen Politik. Die Spitzenpolitiker aus den Parteiführungen der Unionsparteien, von SPD und FDP sollen als Zugpferde für die meist wenig bekannten Europakandidaten dienen, stellen aber auch die Verbindung zum innerpolitischen Konkurrenzkampf und damit zur Bundestagswahl her. Mit ihrer Negativkampagne, die auf Plakaten und in den Fernsehspots Union, FDP und Linke attackierte, demonstriert die SPD erst recht den innerdeutschen Wettbewerb um die Wählerinnen und Wähler und stellt so ihre Beteuerungen, die Europawahl habe keine bundespolitische Bedeutung, selbst in Frage. Nur die Grünen und Die Linke haben darauf verzichtet, Kandidaten auf ihre Plakate zu bringen, die nicht zur Wahl standen. Wie schon bei früheren Europawahlen lässt sich auch 2009 den Grünen ein konsequent europäischer Wahlkampf bescheinigen. Ihre Themen ebenso wie ihre europa-affine Wählerklientel machen es der Partei ohnehin leicht, eine übernationale Kampagne zu führen. Die Grünen konzentrieren sich auf Europa, verzichten auf die Vermischung mit der Innenpolitik und lassen auch nur ihre Europakandidaten auftreten. Die Linke dagegen, die ebenfalls versucht, sich mit übernationalen Themen zu platzieren, unterlässt nicht nur den Bezug zur deutschen Politik, sondern stellt auch so gut wie keinen Europabezug her. Wenn es im Europawahlkampf also darum geht, die Wählerschaft zu mobilisieren und der Stimmabgabe einen Sinn zu verleihen, müssten die Parteien nicht nur in die Kampagne investieren, sondern diese auch europäisieren. 2009, wenige Monate vor der Bundestagswahl, ist davon nicht viel zu sehen gewesen. Da die Forschung gezeigt hat, dass der Politik im Dreieck mit Medien und Wählerschaft gerade im Europawahlkampf eine Schlüsselrolle zukommt, liegt es an ihr, durch stärkeres Engagement der Europawahl zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Literatur Brettschneider, F., & Rettich, M. (2005). Europa – (k)ein Thema für die Medien. In J. Tenscher (Hrsg.), Wahl-Kampf um Europa. Analysen aus Anlass der Wahlen zum Europäischen Parlament (S. 136-156). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009. Eine Analyse auf der Basis einer Onlinebefragung Harald Schoen
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Einleitung
Seit der Einführung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament nutzen deutlich weniger Deutsche ihr Wahlrecht auf europäischer als auf nationaler Ebene (z. B. Wüst &Tausendpfund, 2009). Auch vor der Europawahl 2009 zeichnete sich in Umfragen eine geringe Partizipationsrate ab (z. B. ZDFPolitbarometer, 2009) – und tatsächlich lag die Beteiligung in Deutschland mit 43,3 Prozent nur minimal über dem Wert der Wahl 2004, der den bisherigen partizipatorischen Tiefpunkt markiert. Die erwartete niedrige Wahlbeteiligung wurde von staatlichen Stellen, die offenbar niedrige Beteiligungsraten mit Legitimationsproblemen für das Europäische Parlament verbunden sehen, zum Anlass für Mobilisierungsbemühungen genommen, die zwar ungewöhnliche Wege beschritten, jedoch nicht sehr wirkungsvoll gewesen zu sein scheinen (Schoen & Faas, 2009). Daneben versuchten, wie vor jeder Wahl, politische Parteien in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse Wahlberechtigte zur Stimmabgabe zu motivieren. Wie etliche Arbeiten gezeigt haben, können gezielte Parteikampagnen einen Beitrag dazu leisten, Bürger zur Partizipation an Wahlen anzuregen (etwa Finkel, 1993; Gerber & Green, 2000; Green & Gerber, 2008; Hillygus, 2005; Imai, 2005; Lau & Pomper, 2002; Nickerson, 2008; Norris, Curtice, Sanders, Scammell, & Semetko, 1999). Auch haben Forscher Anhaltspunkte dafür gefunden, dass Wahlkampagnen vor Europawahlen mobilisierend wirken können (z. B. Franklin, van der Eijk, & Oppenhuis, 1996; Steinbrecher & Huber, 2006; Weßels, 2005, 2007). Die Chancen der Parteien, mit Wahlkampfanstrengungen Bürger zur Teilnahme an der Europawahl 2009 zu bewegen, scheinen daher recht günstig. Es kommt hinzu, dass bei einem niedrigen generellen Aktivierungsniveau wie vor der Wahl am 7. Juni 2009 ein vergleichsweise großes
Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009
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Mobilisierungspotential besteht, das es Parteien und Kandidaten recht leicht machen dürfte, mit geschickt gewählten Instrumenten die Beteiligungsrate zu steigern. Allerdings darf man eine Reihe von Gegenargumenten nicht übersehen. Europawahlen gelten als für Parteien nachrangige Wahlen, da der eigentliche Kampf um die politische Macht nach wie vor in der nationalen politischen Arena stattfinde. Daher führten die Parteien vor Europawahlen keine allzu aufwendigen Wahlkämpfe, sondern begnügten sich mit kurzen, wenig intensiven und von den Bürgern kaum wahrgenommenen Kampagnen (z. B. Esser, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005; Maier & Tenscher, 2006; Wüst &Roth, 2005). Mit unauffälligen oder schlecht orchestrierten Kampagnen dürften sich jedoch kaum durchschlagende Mobilisierungserfolge erzielen lassen. Mit Blick auf die Europawahl 2009 in Deutschland gewinnt dieser Einwand an Überzeugungskraft. Denn in einem Bundestagswahljahr dürften sich Parteien, vor die Wahl gestellt, im Zweifel dafür entschieden haben, ihre begrenzten Ressourcen beim Kampf um die Sitzverteilung im Bundestag und die Regierungsmacht im September 2009 einzusetzen, statt ihr Pulver bereits zur Europawahl zu verschießen. Im Einklang damit stehen Hinweise darauf, dass zur Europawahl 2009 eher sparsame Kampagnen geführt wurden. So wies beispielsweise Christina Holtz-Bacha darauf hin, dass die Plakatwerbung zur Europawahl eher langweilig denn sonderlich einfallsreich wirke (Parteien sollten sich..., 2009). Wenn aber die Wahlwerbung wenig ansprechend gestaltet war, dürfte sie nicht sehr effektiv bei der Mobilisierung von Wahlberechtigten gewesen sein. Es ist daher eine empirische Frage, ob die Kampagnen der Parteien die Beteiligung an der Europawahl 2009 tatsächlich förderten. Der vorliegende Beitrag geht daher der Frage nach, ob und inwieweit die Wahlkampfrezeption vor der Europawahl 2009 die Beteiligung an diesem Urnengang in Deutschland steigerte. Im Folgenden wird zunächst kurz der Forschungsstand zu den Determinanten der Europawahlbeteiligung skizziert, ehe daraus Hypothesen abgeleitet werden. Diese werden mit Hilfe von Daten aus einer Onlinebefragung zur Europawahl 2009 in Deutschland empirisch geprüft. Der Aufsatz schließt mit einer kurzen Zusammenfassung der zentralen Befunde und deren Diskussion.
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Harald Schoen Forschungsstand und Hypothesen
Die Beteiligung an einer Wahl lässt sich als Ergebnis eines Entscheidungsprozesses auffassen, in dem begünstigende und hemmende Faktoren zusammenwirken (Blondel, Sinnott, & Svensson, 1998; Milbrath & Goel, 1977). Eine beteiligungsförderliche Wirkung kann daraus resultieren, dass die – materiellen oder immateriellen – Kosten der Wahlteilnahme sinken. Dazu können institutionelle Faktoren wie der Wahltermin und die Organisation von Wahlen, aber auch individuelle Faktoren wie freie Zeit und kognitive Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit Politik beitragen. Neben diesen Faktoren, die es Wahlberechtigten erleichtern, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen, gibt es Faktoren, die Bürger zur Stimmabgabe motivieren. Derart mobilisierend können stabile politische Prädispositionen wie Parteibindungen und das Wahlpflichtgefühl wirken, aber auch kurzfristige kandidaten-, parteien- oder sachfragenbezogene Orientierungen. Auf gesellschaftlicher Ebene sind Kampagnen von Parteien und Kandidaten als wesentliche Mobilisierungsfaktoren zu betrachten (Steinbrecher & Huber, 2006, S. 21). Wendet man dieses Schema auf Wahlen zum Europäischen Parlament an, erscheinen die Voraussetzungen für hohe Beteiligungsraten nicht allzu günstig. Seit ihrer ersten Auflage 1979 gelten Europawahlen als Nebenwahlen (Reif & Schmitt, 1980). Dieser Charakterisierung liegt die Annahme zugrunde, für politische Akteure und Bürger stelle die nationale Arena die politische Hauptarena dar und sie orientierten sich vor allem an der Verteilung der Regierungsmacht auf dieser Ebene. Bei Europawahlen gehe es für sie daher um vergleichsweise wenig. Dies führe dazu, dass Wahlberechtigte Europawahlen als relativ unwichtig beurteilten – und deshalb einen geringeren Anreiz sähen, an einer solchen Wahl teilzunehmen. Zugleich würden die Parteien Europawahlen wegen deren geringer Bedeutung für die nationale Machtverteilung wenig Aufmerksamkeit schenken. Im Vergleich zu Bundestagswahlkampagnen würden Wahlkämpfe zu Europawahlen mit deutlich geringerem Aufwand geführt. Das führt zum einen dazu, dass die Kampagne wenig dazu beitragen kann, Bürgern den Eindruck zu vermitteln, bei der Europawahl stehe viel auf dem Spiel. Zum anderen können mit halber Kraft betriebene Kampagnen Bürger – unabhängig von der wahrgenommenen Wichtigkeit des Europäischen Parlaments – kaum zur Stimmabgabe bewegen. Denn eine solche Kampagne wird nur wenige Bürger direkt erreichen
Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009
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und kaum die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf sich ziehen, die wiederum Bürger zur Stimmabgabe motivieren könnten. Diese Beschreibung spricht für schwach ausgeprägte mobilisierende Faktoren bei Europawahlen, weshalb es nur konsequent erscheint, dass eine niedrige Wahlbeteiligung als Charakteristikum von Europawahlen gilt. Soweit Parteien und Kandidaten Wahlkampf führten, so weiter die Nebenwahlthese, behandle er nicht europapolitische Fragen, sondern ziele auf das Geschehen in der nationalen politischen Arena. Damit korrespondierend wird davon ausgegangen, dass die individuelle Wahlentscheidung bei Europawahlen ganz erheblich von Faktoren auf der nationalen Hauptebene beeinflusst wird. So wurde etwa hervorgehoben, dass Europawahlen Bürgern nicht zuletzt dazu dienten, ihrer Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung Ausdruck zu verleihen. Dies könne sich darin äußern, dass enttäuschte Bürger, die sich bei der letzten Hauptwahl für eine Regierungspartei entschieden haben, nun der Wahl fernblieben oder aber für eine Oppositionspartei votierten. Europaspezifische Faktoren sollten bei einer reinen nationalen Nebenwahl die individuelle Wahlentscheidung praktisch unberührt lassen. Was die Determinanten der individuellen Beteiligungsentscheidung angeht, ist der Forschungsstand nicht eindeutig. Einige Arbeiten finden (praktisch) keine Anhaltspunkte dafür, dass europapolitische Orientierungen die Teilnahme an Europawahlen beeinflussen; und soweit derartige Effekte auftreten, fielen sie deutlich weniger ins Gewicht als andere, auf die nationale politische Arena gerichtete Faktoren (Schmitt & Mannheimer, 1991; Schmitt & van der Eijk, 2007, 2008; Schmitt, Sanz, & Braun, 2009; Steinbrecher & Huber, 2006). Dementsprechend dürfe die geringe Beteiligung an Europawahlen nicht vorwiegend als Hinweis auf verbreitete Europaskepsis gewertet werden. Umgekehrt betrachtet impliziert diese Deutung, dass Werbung für das europäische Einigungswerk die Beteiligung an Europawahlen kaum steigern dürfte. Gegen diese Sichtweise wandten sich recht früh Blondel, Sinnott und Svensson (1998), die als ein wesentliches Motiv für die Enthaltung bei Europawahlen europaskeptische Orientierungen ausmachten. Da sie sich in ihren Analysen jedoch fragwürdiger Methoden bedienten, konnte ihre Position in der Forschung zunächst keinen großen Einfluss gewinnen. Erst Schmitt (2005a, b) machte bei der Europawahl 2004 in Deutschland und wenigen anderen EU-Staaten Indizien dafür aus, dass europaskeptische
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Harald Schoen
Dispositionen zur Stimmenthaltung beigetragen haben könnten. In einer umfassenderen Analyse zeigten Hobolt, Spoon und Tilley (2009), dass nicht nur 2004, sondern bereits 1999 europaskeptische Bürger, offenbar weil sie kein zu ihren europapolitischen Orientierungen passendes Parteiangebot vorfanden, vermehrt der Wahlurne fernblieben. Wenn man bedenkt, dass europapolitische Fragen in der Zwischenzeit in nationalen Wahlen verschiedener EU-Mitgliedstaaten das Wahlverhalten beeinflussen (z. B. de Vries, 2007; Schoen, 2009), erscheint dieser Befund weniger erstaunlich als im Lichte der Nebenwahlthese. In anderer Hinsicht steht die empirische Evidenz klarer in Einklang mit der hier grob skizzierten Nebenwahlthese. So wird immer wieder nachgewiesen, dass die Bürger dem Europaparlament und den Wahlen dazu eine vergleichsweise geringe Bedeutung zuschreiben (Kornelius & Roth, 2005). Auf der Angebotsseite am politischen Markt fällt auf, dass Europawahlkämpfe mit vergleichsweise kleinen Budgets geführt werden (z. B. Tenscher, 2005) und für keine europapolitische Polarisierung zwischen den Parteien sorgen (Weber, 2007). Es kommt hinzu, dass auch die Medienberichterstattung – gemessen an nationalen Wahlkämpfen – gering ausfällt (Brettschneider & Rettich, 2005; de Vreese et al., 2007; Wilke & Reinemann, 2007; Zeh & Holtz-Bacha, 2005). Zur mobilisierenden Wirkung dieser mit halber Kraft geführten Europawahl-Kampagnen von Parteien und Kandidaten liegen vergleichsweise wenige Arbeiten vor, die jedoch eine einhellig positive Antwort geben. So leiten Steinbrecher und Huber (2006, S. 27) aus ihrem Befund, dass die Kampagnenrezeption die Beteiligung an der Europawahl 2004 in Deutschland beeinflusst habe, ein Plädoyer für intensivere Kampagnen ab. Ebenso findet Weßels (2005, 2007) Anhaltspunkte dafür, dass für die niedrigen Partizipationsraten ein Mobilisierungsdefizit verantwortlich sei. Hobolt, Spoon und Tilley (2009) schließlich stellen fest, dass die massenmediale Kampagnenberichterstattung die Beteiligungswahrscheinlichkeit und die Motive der Wahlentscheidung beeinflussen. Ein negativer Tenor lässt demnach die Wahlenthaltung wahrscheinlicher werden und steigert den Einfluss von Europaskepsis auf die Partizipationsentscheidung. Niedrige Beteiligungsraten und geringe Kampagnenintensität scheinen demnach bei Europawahlen nicht zufällig zusammenzutreffen. Vielmehr scheinen erstere auch durch letztere verursacht zu sein. Dieser Befund erscheint theoretisch plausibel, da Wahlkampfkommunikation auf verschiede-
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ne Weise zur Teilnahme an einer Wahl beitragen kann. Wahlberechtigte können auf direkte Aufforderungen zur Stimmabgabe reagieren. Darüber hinaus kann die Wahlkampfkommunikation das Interesse an der Wahl wecken oder Partizipations- oder Parteinormen aktivieren, die ihrerseits die Beteiligung fördern. Diese Effekte sollten auch 2009 aufgetreten sein. Daher soll die Hypothese untersucht werden, dass die Rezeption von Wahlkampfkommunikation die Teilnahme an der Europawahl 2009 in Deutschland begünstigte. Zugleich ist anzunehmen, dass Kampagnen nicht in allen Segmenten des Elektorats gleichermaßen wirkungsvoll sind. Die Wirksamkeit einer Kampagne dürfte unter anderem von der politischen Involvierung der Wahlberechtigten abhängen (Franklin, van der Eijk, & Oppenhuis, 1996; Steinbrecher & Huber, 2006, S. 24-25). Denn zum einen ist davon auszugehen, dass sich politisch wenig involvierte Personen generell in ihren Orientierungen und Verhaltensweisen vergleichsweise stark von Kampagnenbotschaften beeinflussen lassen, so sie denn von diesen erreicht werden (Converse, 1962; Zaller, 1992). Zum anderen ist in diesem Segment des Elektorats das Mobilisierungspotential am größten, da mit zunehmender Involvierung die kampagnenunabhängige Partizipationswahrscheinlichkeit ansteigt. Die Mobilisierungseffekte sollten also mit wachsender politischer Involvierung abnehmen; womöglich sind sie sogar auf politisch wenig involvierte Personen begrenzt. 3
Daten und Methoden
Die empirische Analyse stützt sich auf Daten aus einer Befragung von 1.072 Mitgliedern eines Online-Access-Panels1. Bei der Auswahl der Befragten wurde darauf geachtet, dass sich die Zusammensetzung der Stichprobe im Hinblick auf Alter, Geschlecht und formale Bildung nicht wesentlich von 1
Die Daten, die in diesem Beitrag verwendet werden, wurden von GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften zugänglich gemacht. Die Daten der Online-Umfrage wurden im Vorfeld der German Longitudinal Election Study (Komponente X: Vorwahl-Online-Tracking) erhoben von Prof. Dr. Hans Rattinger (GESIS und Universität Mannheim), Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher (Universität Frankfurt), Prof. Dr. Rüdiger Schmitt-Beck (Universität Mannheim) und PD Dr. Bernhard Weßels (Wissenschaftszentrum Berlin). Sie wurden von GESIS für die Analyse aufbereitet und dokumentiert. Weder die genannten Personen noch die Institute tragen Verantwortung für die Analyse oder Interpretation der Daten in diesem Beitrag.
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Harald Schoen
der Gesamtbevölkerung unterscheidet. Die Erhebung im Rahmen der German Longitudinal Election Study (DGfW, 2009) wurde von SRU-BACES an der Universität Bamberg vom 27. Mai bis zum 5. Juni 2009, also in den beiden Wochen vor der Europawahl, durchgeführt. Die Wahlbeteiligung wurde ordinal mit einer fünfstufigen Antwortvorgabe gemessen. Die Befragten konnten angeben, ob sie bestimmt, wahrscheinlich, vielleicht, wahrscheinlich nicht oder bestimmt nicht zur Wahl gehen würden. Über 50 Prozent der Befragten mit gültigen Antworten gaben an, bestimmt an der Wahl teilzunehmen oder bereits von der Möglichkeit zur Briefwahl Gebrauch gemacht zu haben. Weitere 20 Prozent wollten wahrscheinlich ihre Stimme abgeben. Wie häufig in Umfragen wurde damit die Wahlbeteiligung merklich überschätzt. Allerdings können wir an dieser Stelle nicht klären, inwieweit dazu Messfehlerprobleme, also Overreporting, und bei Onlinebefragungen verschärfte Stichprobenprobleme beigetragen haben.2 Um die Wahlkampfrezeption zu messen, wurden die Respondenten zunächst gefragt, ob sie in der letzten Zeit von den Parteien Informationen über die bevorstehende Europawahl erhalten hätten. Anschließend wurden sie zu elf Wahlkampfinstrumenten befragt. Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, gab je rund ein Fünftel der Befragten an, Parteibroschüren erhalten, Wahlwerbung im Fernsehen oder Wahlplakate gesehen zu haben. Jeweils etwa ein Zehntel nannte Wahlanzeigen in Zeitungen oder Wahlwerbung im Radio. Ziemlich selten besuchten Befragte Webseiten von Parteien oder Kandidaten, Wahlveranstaltungen oder Wahlkampfstände. Auch erhielten nur sehr wenige Respondenten E-Mails oder SMS von Parteien, Telefonanrufe von Wahlhelfern oder wurden von diesen besucht. Auch wenn die internetgestützten Formen der Wahlkampfführung in der Befragung nicht sehr häufig genannt wurden, könnte ihre relative Bedeutung dadurch überschätzt werden, dass die Befragten einem Online-Panel entstammen und daher vergleichsweise internetaffin sein dürften. Aus diesen Informationen wurden zwei Kontaktmaße entwickelt. Zum einen wird mit Hilfe der Antworten auf die Eingangsfrage die Wahlkampfrezeption dichotom gemessen. Zum anderen fasst ein Zählindex zusammen, wie viele der elf Kampagnenformen Befragte tatsächlich nannten. Dies ermöglicht es zu prüfen, ob die kumulative Rezeption von Wahl2
Betrachtet man die Personen, die "weiß nicht" antworteten, als Nichtwähler, führt die Analyse zu den substantiell gleichen Ergebnissen wie die Auswertung ohne diese Respondenten.
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kampfkommunikation die Beteiligungswahrscheinlichkeit steigert. Der Zählindex zeigt, dass zwei Drittel der Respondenten keinerlei Kontakte angaben. Die Anteile für ein bis vier Kontakte bewegen sich zwischen fünf und neun Prozent. Vier Prozent der Befragten brachten es auf fünf Kontakte. Lediglich ein verschwindend kleiner Bruchteil gab mehr als fünf Kontakte an. Gemessen an den Angaben dieser Online-Befragten, scheint der Wahlkampf zur Europawahl 2009 somit nicht allzu viele Bürger erreicht zu haben.3 Tabelle 1: Rezeption des Europawahlkampfes 2009 in Deutschland (Angaben in Prozent) Häufigkeit Informationen von Parteien erhalten
33,3
Einzelne Wahlkampfinstrumente Flugblätter, Broschüren oder Postwurfsendungen Wahlwerbung im Fernsehen gesehen Wahlplakate gesehen Wahlanzeigen in Zeitungen gesehen Wahlwerbung im Radio gehört Website einer Partei oder eines Kandidaten besucht Besuch von Wahlveranstaltungen E-Mails oder SMS von Parteien oder Kandidaten Wahlkampfstand besucht Besuch von Wahlhelfern Telefonanrufe von Wahlhelfern
22,6 21,9 19,9 11,3 08,6 03,7 02,6 02,2 02,2 00,4 00,1
N
1071
Beide Rezeptionsmaße basieren auf Selbstauskünften der Befragten, die fehleranfällig sind. Im vorliegenden Fall wiegt der Messfehlerverdacht umso schwerer, als nicht ausgeschlossen werden kann, dass Messfehler den gemessenen Kampagneneffekt übertreiben. Dafür sprechen zwei Überlegun3
Im Laufe der Feldzeit zeichnet sich kein deutlich steigender Trend ab.
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gen. Zum einen neigen Befragte dazu, die Rezeption von Kampagneninhalten und die Wahlbeteiligung zu übertreiben, und beide Messfehler dürften – vermittelt durch die politische Involvierung, Parteibindungen und das Wahlpflichtgefühl – korreliert sein. Folglich könnte ein Zusammenhang zwischen beiden Selbstauskünften gemessen werden, obwohl keine substantielle Assoziation besteht (Vavreck, 2007). Zum anderen könnte der Fehler bei der Messung der Kampagnenrezeption mit der politischen Involvierung zusammenhängen, von der bekannt ist, dass sie die Wahlbeteiligung begünstigt (Caballero, 2005). So könnten sich beispielsweise politisch involvierte Personen überdurchschnittlich gut an derartige Kontakte erinnern oder mehr Wert darauf legen, sie zu berichten.4 Um die Gefahr zu mindern, Methodenartefakte als Effekte der Kampagnenrezeption zu interpretieren, ist es zwingend erforderlich, die politische Involvierung der Respondenten statistisch zu kontrollieren. Daher bezieht die Analyse die Selbstauskünfte über das generelle politische Interesse, das Interesse an der europäischen Politik, das Interesse am Europawahlkampf und die Stärke der Parteibindung ein. Sie berücksichtigt darüber hinaus als objektives Maß für die politische Aufmerksamkeit einen Index politischen Wissens. Diese Kontrollvariablen tragen dazu bei, die Fehlschlussgefahr zu mindern. Allerdings können sie diese vollständig beseitigen, solange nicht sichergestellt ist, dass die Indikatoren das Konzept politische Involvierung umfassend und unverzerrt messen. Die Analyse nimmt daneben weitere potentielle Einflussgrößen in die Analyse auf. Dazu gehört eine Reihe soziodemographischer Merkmale, denen eine Wirkung auf die Beteiligungsentscheidung zugeschrieben wird. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Merkmale: Kirchenbindung, formale Bildung, subjektive Schichtzugehörigkeit, Erwerbstätigkeit. Um die gesellschaftliche Integration und potentiell partizipationsstimulierende Kontakte (Brady, Verba, & Schlozman, 1995) zu kontrollieren, wird die Mitgliedschaft in Vereinen und Verbänden einbezogen. Darüber hinaus werden Prädiktoren eingeführt, die Argumente aus der Diskussion über die Europawahl als nationale Nebenwahl oder genuin europäische Wahl aufgreifen. Da das Ziel des vorliegenden Aufsatzes nicht darin besteht, differentielle Wirkungen und kausale (Wechsel-) Beziehungen 4
Es kommt hinzu, dass die Rezeption bestimmter Wahlkampfformen, etwa der Besuch von Wahlveranstaltungen, eine gewisse Motivation und damit politische Involvierung voraussetzt. Selbst wenn diese Instrumente valide mäßen, würden sie politische Involvierung miterfassen.
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zwischen entsprechenden Orientierungen zu analysieren (z. B. Schmitt & van der Eijk, 2007), beschränkt sich die Liste der einbezogenen Merkmale auf einige wenige.5 Mit Blick auf die Nebenwahlthese dient die Zufriedenheit mit der Bundesregierung als Indikator. Um zu messen, inwieweit der Eindruck, das europäische Parlament sei politisch machtlos (und daher die Stimmabgabe nutzlos), die Wahlbeteiligung beeinflusst, wird ein Indikator verwendet, der erfasst, welche Bedeutung der Befragte den Entscheidungen des Europäischen Parlaments auf die Politik in Deutschland zuschreibt. Zudem wird die Haltung des Respondenten zur Europäischen Integration in die Analyse einbezogen, und zwar gemessen mit Hilfe der Frage, ob die Europäische Integration bereits viel zu weit fortgeschritten sei oder weiter vorangetrieben werden solle. Da die Bundestagsparteien mit kleinen Abstrichen die EU-Integration im Grundsatz befürworten, dürften europaskeptische Personen keine angemessene Vertretung ihrer europapolitischen Haltung finden, weshalb Europaskepsis die Wahlenthaltung begünstigen sollte. Im ersten Analyseschritt ist zu prüfen, ob und inwieweit die Kampagnenrezeption die Beteiligungsentscheidung begünstigte. Da die Wahlbeteiligung als abhängige Variable ordinal skaliert ist, werden Ordered Logit-Modelle gerechnet, in die neben den Kontrollvariablen je eines der beiden Wahlkampfmaße als zentrale unabhängige Variable einbezogen wird. Im zweiten Schritt ist zu klären, ob die Wirkung der Wahlkampfrezeption in Abhängigkeit von der politischen Involvierung der Befragten variiert. Als Maß für die politische Involvierung dient das politische Wissen (Zaller, 1992). Um die Frage zu klären, werden Interaktionsterme aus der Involvierung und der Kampagnenrezeption in die Analyse einbezogen. Es ist zu erwarten, dass der Kampagneneffekt mit zunehmender Involvierung nachlässt. 4
Empirische Befunde
In der Analyse soll zunächst der Frage nachgegangen werden, ob von der Kampagnenrezeption unter Kontrolle einschlägiger Prädiktoren bei der Europawahl 2009 eine mobilisierende Wirkung ausging. Die zentrale unabhängige Variable ist einmal die dichotom gemessene Wahlkampfrezeption, in der zweiten Analyse die metrische Variante der Rezeptionsvariablen. Die 5
Die Berücksichtigung weiterer einschlägiger Prädiktoren lässt die zentralen Schlussfolgerungen dieser Analyse unberührt.
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Ergebnisse der entsprechenden Ordered-Logit-Modelle6 sind in Tabelle 2 zusammengestellt. Die empirische Evidenz zeigt, dass soziodemographische Merkmale der Befragten, wie Alter, formale Bildung und subjektive Schichtzugehörigkeit, wenig zur Erklärung der Beteiligungsentscheidung beizutragen vermögen. Dies kann nicht erstaunen, da Wirkungen soziodemographischer Merkmale auf politisches Verhalten in der Regel über attitudinale Merkmale vermittelt sind. Gleichwohl lässt sich erkennen, dass unter Kontrolle derartiger Merkmale Frauen einen (tendenziell) höheren Wahleifer an den Tag legen, während Arbeitslosigkeit der Tendenz nach partizipationshemmend wirkt. Auch unter Kontrolle der übrigen potentiellen Einflussgrößen erweist sich die Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Vereinigungen als beteiligungsfördernd. Dieses bemerkenswerte Ergebnis kann auf verschiedene Weise gedeutet werden. Zum einen kann man den Mitgliedschaftseffekt als Hinweis darauf werden, dass die Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Vereinigungen partizipationsförderliche Kontakte mit sich bringt. Zum anderen könnten mit der Mitgliedschaft persönliche Dispositionen gemessen werden, die sowohl die gesellschaftliche Aktivität als auch die Beteiligung an der Europawahl begünstigen. Die Stärke der Parteiidentifikation und das subjektive politische Interesse scheitern in den vorgestellten Modellen an der konventionellen Signifikanzschwelle. Diese Nicht-Effekte sind darauf zurückzuführen, dass die europaspezifische politische Involvierung kontrolliert wird. Selbst unter Berücksichtung dieser Kontrollvariablen entfaltet das politische Wissen als objektiver Indikator der Aufmerksamkeit für Politik auch unter Kontrolle der Indikatoren für europabezogene politische Involvierung eine statistisch signifikante Wirkung auf die Wahlbeteiligung. Eine ganz erhebliche Rolle spielt europaspezifische politische Involvierung für die Entscheidung, an dem Urnengang im Juni 2009 teilzunehmen. Personen, die generell an der EU interessiert sind, beteiligen sich mit überdurchschnittlicher Wahrscheinlichkeit an dieser Wahl. Noch stärker ist der positive Effekt des Interesses am Europawahlkampf 2009. Beide, vor allem aber der erste Effekt, deuten darauf hin, dass Europawahlen bevorzugt von Mitglie6
Die Bedingung paralleler Regressionssteigungen für die verschiedenen Ausprägungen der abhängigen Variablen ist in zwei Fällen nicht erfüllt. Weiterführende Analyse mit multinomialen logistischen Modellen zeigen jedoch, dass die Schlussfolgerungen dieses Aufsatzes nicht von der Wahl des statistischen Verfahrens abhängen.
Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009
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dern eines europapolitischen Themenpublikums genutzt werden, um an der Wahlurne ihre politischen Präferenzen zu artikulieren. Allerdings kann an dieser Stelle nicht entschieden werden, inwieweit das kurz vor der Europawahl 2009 gemessene Interesse allein kontextunabhängige Aufmerksamkeit für europapolitische Fragen, durch eliten- oder medieninitiierte wahlbezogene Kampagnen stimulierte Interessiertheit oder gar eine Tendenz zu sozial erwünschten Antworten widerspiegelt. Je schwerer die beiden zuletzt genannten Komponenten ins Gewicht fallen, um so mehr ist die Issue-publicInterpretation zu relativieren. Unzufriedenheit mit der Bundesregierung entfaltet in den multivariaten Analysen nicht negative, sondern positive Effekte auf die Beteiligungswahrscheinlichkeit. Dieses bemerkenswerte Ergebnis resultiert ebenfalls, wenn man die Analyse auf die Personen beschränkt, die angaben, bei der Bundestagswahl 2005 für CDU/CSU oder SPD gestimmt zu haben.7 Der vorgefundene Effekt beruht somit nicht auf einer Fehlspezifikation des Modells. Folglich scheint die Europawahl 2009 nicht im Sinne der klassischen Nebenwahlthese genutzt worden zu sein, um Unzufriedenheit mit der Bundesregierung durch Wahlabstinenz zum Ausdruck zu bringen.8 Eine skeptische Haltung zur Europäischen Integration lässt die Bereitschaft zur Stimmabgabe tendenziell sinken. Diesen Befund könnte man als Indiz dafür werten, dass eine Partei, die sich Europaskepsis auf die Fahne schriebe, mit ihrem programmatischen Angebot dazu beitragen könnte, die Beteiligung an Europawahlen in Deutschland zu steigern.9 Handelt es sich hierbei nur um Tendenzen, lässt die Wahrnehmung, das Europaparlament übe erheblichen Einfluss auf die deutsche Politik aus, die Beteiligungswahrscheinlichkeit merklich anwachsen. Dieser Effekt spricht dafür, dass das aus der Nebenwahl-Diskussion wohlbekannte Argument, bei
7
Da diese Frage in der vorliegenden Analyse keine zentrale Rolle spielt, kann darauf verzichtet werden, Validitiätsprobleme der Rückerinnerungsfrage und deren Implikationen eingehend zu erörtern.
8
Auch von der relativen Nähe zu einer Partei auf der Links-Rechts-Dimension geht kein Einfluss auf die Partizipationsentscheidung aus.
9
Eine ergänzende Analyse mit einem Indikator, der die relative Distanz der Befragten zu den Parteien in Bezug auf die Europäische Integration erfasst, unterstützt diese Interpretation.
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Harald Schoen
Tabelle 2: Determinanten der Beteiligung an der Europawahl 2009 in Deutschland (Ordered-Logit-Modelle)
Geschlecht Alter Mittlere Reife Fachhochschulreife und höher Kirchenbindung Arbeiterschicht Untere Mittelschicht Mittelschicht Arbeitslos Vereinsmitglied Politisches Interesse Politisches Wissen Stärke der Parteibindung Zufriedenheit mit Bundesregierung Interesse EU Interesse Europawahlkampf Einfluss des Europaparlaments Haltung zu EU-Integration Kampagnenrezeption (dichotom) Kampagnenrezeption (metrisch)
Modell 1
Modell 2
Modell 3
Modell 4
(0.31) (0.17) (0.01) (0.01) -0.28 (0.18) (0.28) (0.22) -0.18 (0.29) -0.33 (0.31) -0.30 (0.30) -0.07 (0.26) -0.45 (0.27) (0.40** (0.16) (0.46) (0.37) (0.90** (0.28) (0.47 (0.26) -0.81* (0.32) (1.19** (0.40) (2.93** (0.39) (0.84* (0.37) -0.27 (0.27) (0.48** (0.17)
(0.31) (0.17) (0.01 (0.01) -0.29 (0.18) (0.24 (0.23) -0.17 (0.29) -0.30 (0.31) -0.30 (0.30) -0.04 (0.26) -0.45 (0.27) (0.38* (0.16) (0.48 (0.37) (0.88** (0.29) (0.48 (0.26) -0.81* (0.32) (1.21** (0.40) (2.89** (0.39) (0.86* (0.37) -0.28 (0.27)
(0.34* (0.17) (0.01 (0.01) -0.30 (0.18) (0.25 (0.22) -0.21 (0.29) -0.35 (0.31) -0.31 (0.30) -0.07 (0.26) -0.42 (0.27) (0.41** (0.16) (0.45 (0.37) (1.16** (0.33) (0.47 (0.26) -0.85** (0.32) (1.24** (0.40) (2.94** (0.39) (0.86* (0.37) -0.29 (0.27) (0.85** (0.29)
(0.33* (0.17) (0.01 (0.01) -0.33 (0.18) (0.21 (0.23) -0.20 (0.29) -0.31 (0.31) -0.29 (0.30) -0.04 (0.26) -0.42 (0.27) (0.40** (0.16) (0.50 (0.37) (1.14** (0.32) (0.49 (0.26) -0.85** (0.32) (1.27** (0.40) (2.90** (0.39) (0.89* (0.37) -0.30 (0.27)
(1.79** (0.54)
(3.42** (1.0)
Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009 Politisches Wissen × Kampagnenrezeption (dichotom)
11-0.81 11(0.52)
Politisches Wissen × Kampagnenrezeption (metrisch) Cut
55
00-3.36* 11(1.68) 1110.29
1110.29
1110.41
1110.44
1111.23*
1111.23*
1111.36**
1111.39**
1112.12**
1112.12**
1112.25**
1112.28**
1113.17**
1113.18**
1113.30**
1113.34**
-2LL (Nullmodell)
1970.2
1970.2
1970.2
1970.2
korr. Pseudo-R²
1110.11
1110.11
1110.11
1110.12
111772
111772
111772
111772
N
Angegeben sind unstandardisierte Logitkoeffizienten mit Standardfehlern in Klammer. Signifikanzniveaus: ** p<0.01, * p<0.05
Europawahlen gehe es um zu wenig, als dass es Wahlberechtigte der Mühe wert erachteten, an ihnen teilzunehmen, offenbar auch 2009 die Partizipationsentscheidung beeinflusste. Damit ist allerdings nicht gesagt, ob diese Wahrnehmung ein objektives Kompetenzdefizit, tiefsitzende Vorurteile oder Schwächen in der politischen Kommunikation widerspiegelt. Wie schneiden nun die Indikatoren für Rezeption von Parteien- und Kandidatenkampagnen ab? Unabhängig davon, ob man den dichotomen Indikator oder den Zählindex betrachtet, ist in Tabelle 2 ein statistisch signifikanter Koeffizient zu erkennen. Dieser Befund spricht dafür, dass derartige Kontakte die Partizipationswahrscheinlichkeit steigern. Da es sich dabei um die zentrale Frage dieses Beitrages handelt, ist der Zusammenhang ein wenig genauer zu betrachten. Dazu wurden auf der Basis der Koeffizienten in Tabelle 2 Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten der fünf Ausprägungen der abhängigen Variable in Abhängigkeit von der Aus-prägung der Rezeptionsvariablen ermittelt. Die Ergebnisse dieser Berechnungen, bei denen die übrigen Prädiktoren in der Regressions-gleichung auf den dem jeweiligen Skalenniveau angemessenen Mittelwert gesetzt wurden, sind in Tabelle 3 und Abbildung 1 zusammengestellt. Wie die Evidenz zum dichotomen Indikator in Tabelle 3 zeigt, steigern Kontakte die Wahrscheinlichkeit einer sicheren Teilnahme von 50 Prozent auf über 60 Prozent. Allerdings sind beide Wahrscheinlichkeiten unter Be-
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rücksichtigung des Stichprobenfehlers nicht voneinander zu unterscheiden. Die anderen Ausprägungen der Beteiligungsvariablen werden infolge von Parteikontakten weniger wahrscheinlich. Doch auch in diesen Fällen erreichen die Differenzen nicht konventionelle Niveaus statistischer Signifikanz. Obwohl also ein statistisch signifikanter Logitkoeffizient resultiert, kann somit in Bezug auf die eigentlich interessierenden Beteiligungswahrscheinlichkeiten nicht von einem Effekt gesprochen werden. Tabelle 3: Wahrscheinlichkeit der fünf Ausprägungen der Beteiligungsvariable in Abhängigkeit von der dichotom gemessenen Wahlkampfrezeption (in Prozent) Kein Kontakt
Kontakt
Werde teilnehmen … bestimmt
40,3
50,2
60,0
51,8
62,0
72,1
wahrscheinlich
20,0
24,1
28,2
15,6
20,4
25,2
vielleicht
9,3
13,2
17,2
6,1
9,5
13,0
wahrscheinlich nicht
4,4
7,2
10,1
2,6
4,8
6,9
bestimmt nicht
2,9
5,3
7,6
1,7
3,3
5,0
Angaben: Punktschätzungen mit Unter- und Obergrenzen des 95-Prozent-Konfidenzintervalls.
Auf den ersten Blick stellt sich die Sachlage zur metrischen Kontaktvariable anders dar. Die Befunde in Abbildung 1 zeigen, dass sich die Befragten bei zunehmender Rezeptionshäufigkeit (tendenziell) seltener dafür entscheiden, im Interview zu antworten, sie nähmen bestimmt oder wahrscheinlich nicht, vielleicht oder wahrscheinlich an der Europawahl teil. Komplementär dazu wählen sie häufiger die Angabe, sie gäben bestimmt ihre Stimme ab. Die entsprechende Wahrscheinlichkeit steigt von etwa 50 Prozent bei minimaler Wahlkampfrezeption auf über 80 Prozent. Ein genauerer Blick auf die Abbildung zeigt, dass die Werte an beiden Enden der Verteilung unter Berücksichtigung der jeweiligen 95-Prozent-Konfidenzintervalle verschieden sind. Soweit spricht die Analyse für die Wirksamkeit der Kampagnen. Auf den zweiten Blick wachsen jedoch die Zweifel an dieser Schlussfolgerung. Ein Blick auf die Verteilung der Wahlkampfrezeption zeigt, dass diese Variable schief verteilt ist. Die gesamte Verteilung ist praktisch konzentriert auf den Wertebereich zwischen 0 und 0,4; höhere Rezeptionshäufigkeiten kommen
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empirisch kaum vor. Um eine realistische Aussage über die Wirksamkeit von Kampagnenaktivitäten zu treffen, sollte man daher nicht die Beteiligungswahrscheinlichkeit bei minimaler und maximaler Rezeption betrachten. Angemessener erscheint es, die untere und obere Grenze des Intervalls von 0 bis 0,4 in den Blick zu nehmen. Hier zeigt sich, dass die Beteiligungswahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung des Stichproben-fehlers nicht variiert. Geht man von den Extremwerten zu realitätsnäheren Kontakthäufigkeiten über, scheinen parteien- und kandidateninitiierte Mobilisierungsbemühungen bei der Europawahl 2009 somit ohne merkliche Wirkung zu bleiben. Mit anderen Worten, die Tatsache, dass kein Effekt nachgewiesen werden kann, hat ihren Grund unter anderem darin, dass der Europawahlkampf 2009 so wenig intensiv geführt wurde. Unter sonst gleichen Bedingungen wäre bei einer Bundestagswahl vermutlich ein Effekt festzustellen gewesen. Der Befund, dass in der gesamten Stichprobe die Kampagne ohne praktische Wirkung auf die Beteiligung an der Europawahl 2009 blieb, schließt nicht aus, dass in Subgruppen doch Mobilisierungseffekte auftraten. Insbesondere könnten von Parteien und Kandidaten geführte Kampagnen in politisch wenig involvierten Segmenten des Elektorats mobilisierend gewirkt und so Involvierungsdefizite kompensiert haben. Um das zu prüfen, wurden in die Analyse Interaktionsterme aus politischem Wissen und den Wahlkampfvariablen einbezogen. Die entsprechenden Ergebnisse sind in den beiden letzten Spalten in Tabelle 2 berichtet. Dabei ist zu beachten, dass die Einführung von Interaktionstermen auch die Interpretation der linearen Terme der in die Interaktion einbezogenen Variablen tangiert. Im vorliegenden Fall geben die Koeffizienten der Wahlkampfvariablen den Effekt von Kontakten bei Personen ohne jegliches Wissen an. Der Interaktionsterm indiziert, wie stark der Effekt der Wahlkampfrezeption in Abhängigkeit vom politischen Wissen variiert. Daher lässt sich der Effekt der Kampagnenrezeption bei maximalem Wissen mittels Addition der Koeffizienten des Interaktionsterms und des linearen Kontaktterms errechnen. Um diese Sachverhalte leichter nachvollziehbar zu machen, sind in Abbildung 2 und 3 die logistischen Regressionskoeffizienten der beiden Rezeptionsvariablen in Abhängigkeit vom politischen Wissen der Befragten abgetragen.
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Abbildung 1: Wahrscheinlichkeit der fünf Ausprägungen der Beteiligungsvariable in Abhängigkeit von der metrischen Wahlkampfrezeption (in Prozent) 100 90 80
in Prozent
70 60 50 40 30 20 10 0 minimal
maximal Wahlkampfrezeption
Betrachten wir zunächst wieder den Effekt des dichotomen Rezeptionsmaßes. Abbildung 2 verdeutlicht, dass bei fehlendem Wissen für die Kampagnenrezeption ein positiver Regressionskoeffizient resultiert, der auf dem 95Prozent-Niveau von null verschieden ist. Mit wachsendem Wissen schwächt sich der Koeffizient ab und büßt bei leicht überdurch-schnittlichem Wissen seine statistische Signifikanz ein. Im Sinne der Erwartungen scheinen Kampagneninstrumente bei politisch wenig involvierten Bürgern also mobilisierend zu wirken, nicht jedoch bei ohnehin involvierten Personen. Gegen diese Lesart sprechen jedoch die Ergebnisse eines weiteren Analyseschritts. Dazu wurde die Wahrscheinlichkeit, dass ein Befragter ohne politisches Wissen angibt, bestimmt an der Europawahl teilzunehmen, in Abhängigkeit von der Kampagnenrezeption ermittelt. Demnach wollten Personen ohne Kampagnenrezeption zu 36 Prozent bestimmt teilnehmen, mit Kontakt beträgt der Wert 47 Prozent (weder tabellarisch noch graphisch ausgewiesen). Es ist also ein Anstieg zu beobachten. Berücksichtigt man jedoch den Stichprobenfehler, sind beide Werte nicht mehr zu unterschei-
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den. Folglich wirkt die schiere Tatsache der Kampagnenrezeption nicht einmal bei minimalem Wissen mobilisierend.10 Abbildung 2: Logistischer Regressionskoeffizient dichotom gemessener Wahlkampfrezeption in Abhängigkeit vom politischen Wissen (Punktschätzung mit Unter- und Obergrenze des 95-Prozent-Konfidenzintervalls)
Regressionskoeffizient (Wahlkampfrezeption)
2
1,5
1
0,5
0 minimal
maximal
-0,5
-1 Politisches Wissen
Wie wir bei der dichotomen Kampagnenvariable gesehen haben, kann sich eine allein auf die Regressionskoeffizienten gestützte Betrachtung als trügerisch erweisen. Daher soll auch hier abschließend die Wahrscheinlichkeit, dass Befragte äußern, bestimmt an der Europawahl teilzunehmen, in Abhängigkeit von der Wahlkampfrezeption bei unterschiedlichem Wissensgrad betrachtet werden. Die entsprechenden Ergebnisse in Abbildung 3 zeigen, dass bei mittlerem politischem Wissen die Kampagnenrezeption die Wahrscheinlichkeit, bestimmt an der Europawahl teilzunehmen, von rund 36 Prozent auf rund 76 Prozent steigert. In dem Wertebereich der metrischen Kontaktvariable, der in der Stichprobe bedeutsam ist, also von 0 bis rund 10
Für die anderen Ausprägungen der Beteiligungsvariablen resultieren ebenfalls keine signifikanten Differenzen.
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0,4, ist der Anstieg der Partizipationswahrscheinlichkeit jedoch so klein, dass er unter Berücksichtigung des Konfidenzintervalls11 nicht von null verschieden ist. Bei Personen ohne politisches Wissen verläuft die Kurve in Abbildung 3 deutlich steiler. Im Ergebnis führt dies dazu, dass selbst im empirisch relevanten Wertebereich der Kampagnenvariablen auch unter Berücksichtigung des Stichprobenfehlers die Wahrscheinlichkeit einer sicheren Wahlteilnahme ansteigt. Bei Personen mit sehr geringem politischen Wissen scheint die Kampagnenrezeption bei der Europawahl 2009 also tatsächlich mobilisierend gewirkt zu haben.12 Abbildung 3: Logistischer Regressionskoeffizient metrisch gemessener Wahlkampfrezeption in Abhängigkeit vom politischen Wissen (Punktschätzung mit Unter- und Obergrenze des 95-Prozent-Konfidenzintervalls)
Regressionskoeffizient (Wahlkampfrezeption)
6 5 4 3 2 1 0 minimal
maximal
-1 -2 -3 Politisches Wissen
11
12
Um Abbildung 3 übersichtlich zu gestalten, wurden die Konfidenzintervalle weggelassen.
Weiterführende Analysen zeigen, dass dieser Effekt verschwindet, wenn die Wissensvariable einen Wert von rund 0,2 erreicht.
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Insgesamt hat die Analyse somit gezeigt, dass Kampagnen von Parteien und Kandidaten zur Europawahl 2009 nicht sonderlich mobilisierend wirkten. Soweit Effekte auftraten, waren sie auf ein relativ kleines Segment des Elektorats begrenzt, nämlich auf die politisch (sehr) wenig involvierten Bürger. In dieser Gruppe konnte die Kampagnenrezeption die geringe kontextunabhängige Partizipationsneigung kompensieren. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die schiere Tatsache der Kampagnenrezeption ohne Wirkung bleibt. Effekte scheinen also erst dann aufzutreten, wenn man die Kumulation verschiedener Wahlkampfformen betrachtet.13 5
Schlussbemerkungen
Der vorliegende Beitrag ging der Frage nach, ob die Wahlkampfrezeption die Beteiligung an der Europawahl 2009 in Deutschland steigerte. Die Analyse hat zunächst gezeigt, dass sich keine mobilisierende Wirkung der Wahlkampfrezeption auf die Partizipationswahrscheinlichkeit nachweisen lassen, wenn man die gesamte Stichprobe betrachtet. Im Segment der politisch wenig informierten und involvierten Personen entfaltete die kumulative Kampagnenrezeption jedoch die erwarteten positiven Effekte auf die Beteiligung an der Europawahl am 7. Juni 2009. Wahlkampfinstrumente scheinen also mobilisierend zu wirken, doch ist diese Wirkung weniger selbstverständlich, als man annehmen könnte. Denn Effekte treten erst bei kumulativer Rezeption verschiedener Kampagneninstrumente auf, zudem sind sie auf das Segment politisch wenig involvierter Bürger mit geringer kontextunabhängiger Beteiligungs-bereitschaft begrenzt. Unter dem Gesichtspunkt der Chancen auf gleiche politische Teilhabe betrachtet, kann man die Mobilisierungseffekte in diesem Segment insofern begrüßen, als diese bedeuten, dass Bürger, die andernfalls kaum den Weg an die Wahlurne fänden, zur Stimmabgabe bewegt werden können. Allerdings ist es eine vergleichsweise anspruchsvolle Aufgabe, politisch kaum involvierte Personen mit Kampagnenbotschaften zu erreichen.
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Ergänzende Analysen belegen, dass die vorgestellten Effekte nicht auf Wirkung einer bestimmten Kontaktform zurückgeführt werden können. Das schließt allerdings nicht aus, dass die Ergebnisse von der Kumulation der vor der Europawahl 2009 häufig auftretenden Kontaktformen abhängen. Mit den vorliegenden Daten lässt sich diese Vermutung allerdings nicht prüfen.
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Die empirischen Befunde fügen sich ein in die Reihe von Belegen für die Wirkung von Wahlkampfbemühungen auf die Partizipation an Wahlen. Zugleich liefert die Analyse weitere Hinweise darauf, wie irreführend es sein kann, von Kampagnenwirkungen auf "die" Wahlberechtigten auszugehen. Wesentlich angemessener scheint es, davon auszugehen, dass Bürger mit unterschiedlichen kognitiven, affektiven und emotionalen Voraussetzungen eine Wahlkampagne erleben und diese Unterschiede Konsequenzen für Rezeption und Wirkungsmöglichkeiten von Wahlkämpfen haben. Daher sollte die Wahlkampfwirkungsforschung künftig so selbstverständlich von einem heterogenen Elektorat ausgehen, wie sie lange Zeit die Homogenitätsannahme traf. Bei der Interpretation der Analysen ist zu bedenken, dass Spezifika der Datenerhebung Konsequenzen für die Aussagekraft der Ergebnisse haben könnten. Die Daten wurden mit Hilfe einer Online-Befragung von Mitgliedern eines Access-Panels gewonnen. Zwar wurde bei der Auswahl der Respondenten darauf geachtet, dass sie sich im Hinblick auf Alters-, Geschlechts- und Bildungszusammensetzung nicht drastisch von der Gesamtbevölkerung unterscheiden. Damit ist jedoch nicht sichergestellt, dass Personen, die Mitglied eines Access-Panels sind, in allen relevanten Hinsichten den übrigen Wahlberechtigten hinreichend ähnlich sind. Sofern sie beispielsweise in ihren politischen Orientierungen und Verhaltensabsichten überdurchschnittlich stark festgelegt sind, könnten sich einige der vorgestellten negativen Befunde bei entsprechender Prüfung als methodische Artefakte erweisen. Zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Kampagneneffekte könnte auch die Tatsache beitragen, dass die Wahlbeteiligung in der Stichprobe deutlich höher lag als in der Gesamtbevölkerung und daher das Potential für eine wahlkampfbedingte Steigerung der Partizipationsrate kleiner gewesen sein dürfte, als es bei Europawahlen tatsächlich ist. Zugleich könnten die Befragungsteilnehmer die Wahlkampagne überdurchschnittlich intensiv verfolgt haben. Sollte das zutreffen, könnte der empirisch relevante Wertebereich der Kampagnenvariablen in der Gesamtbevölkerung noch kleiner sein als in der vorgestellten Analyse, mit der Konsequenz, dass kein einziger Effekt die Signifikanzschwelle überwinden könnte. Darüber hinaus konnten in der Analyse mangels geeigneter Daten nicht alle potentiellen Determinanten der Wahlbeteiligung berücksichtigt werden, so etwa das Wahlpflichtgefühl und politische Wirksamkeitsgefühl. Dieses Defizit fällt insofern besonders ins Gewicht, als einige dieser Faktoren, etwa das Wahl-
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pflichtgefühl, für eine rein methodenbedingte Korrelation zwischen Kampagnenrezeption und Wahlbeteiligung sorgen und damit zu einer Überschätzung der Mobilisierungseffekte führen könnten. Selbst wenn man von der internen Validität der vorgestellten Befunde ausgehen könnte, ist damit nicht gesagt, dass sie sich auf beliebige andere Wahlen übertragen lassen. Die Mobilisierungsbemühungen von Parteien und Kandidaten vor der Europawahl 2009 könnten sich quantitativ und qualitativ von entsprechenden Versuchen bei anderen Europawahlen unterscheiden, erst recht aber von Kampagnen vor Wahlen anderen Typs. Sollten zum Beispiel Kandidaten, Themen und Slogans bei der Europawahl 2009 vergleichsweise wenig zugkräftig gewesen sein, könnte man erwarten, dass bei anderen Urnengängen stärkere Mobilisierungseffekte auftreten, möglicherweise sogar in den politisch involvierten Segmenten des Elektorats. Auch könnten die vorgestellten Befunde von der Position der Europawahl 2009 im deutschen Bundestagswahlzyklus abhängen. Um diese Vermutungen zu prüfen, bedarf es vergleichender Analysen innerhalb und über Typen von Wahlen hinweg. Schließlich hat die vorliegende Analyse auf eine Reihe von Unterscheidungen verzichtet, die wichtige Erkenntnisse erbringen könnten. Erstens wurden nicht die Wirkungen verschiedener Kampagneninstrumente unterschieden, obgleich es in der Literatur zur Wahlkampfforschung Hinweise auf differentielle Effekte gibt. Zweitens wurde nicht danach gefragt, ob sich Mobilisierungseffekte in Abhängigkeit vom Urheber einer Kampagnenbotschaft unterscheiden. Beispielsweise könnte man vermuten, dass Kampagnenkontakte mit einer nahe stehenden Partei anders wirken als die Rezeption von Botschaften einer anderen Partei. Drittens blieb ausgeblendet, inwieweit etwaige Kampagneneffekte die parteipolitischen Kräfteverhältnisse beeinflussten, was bei Wahlen gewiss keine unwichtige Frage ist. Viertens schließlich wurde im vorliegenden Aufsatz nicht darauf eingegangen, über welche Prozesse und intervenierenden Variablen Wirkungen der Kampagneninstrumente vermittelt werden. Diese und verwandte Fragen verdienen die Aufmerksamkeit künftiger Analysen, die dazu beitragen könnten, unser Wissen über Möglichkeiten und Grenzen von Wahlkampagnen zu erweitern.
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"Wir haben mehr zu bieten". Die Plakatkampagnen zu Europa- und Bundestagswahl Eva-Maria Lessinger & Christina Holtz-Bacha
Die Wahlplakate von heute, so Manfred Hagen (1984, S. 49), seien "nur blasse Nachkommen einer fast ein Jahrhundert lang blühenden, äußerst mannigfaltigen und oft aussagestarken Propagandaform". Ganz Unrecht hat er mit dieser Einschätzung sicher nicht. Nicht zufällig werden Zeitungsanzeigen oder Fernsehspots von politischen Parteien eher selten gesammelt, während Wahlplakate nicht nur aus dokumentarischen, sondern auch aus ästhetischen Gründen restauriert, in Archiven aufbewahrt, in Geschichtsbüchern abgedruckt und in Museen ausgestellt werden. Was man Wahlwerbeanzeigen und -spots wohl kaum zugestehen würde, erscheint im Hinblick auf Wahlplakate fast selbstverständlich: Sie sind nicht einfach nur eine persuasive Kommunikationsform, die Politiker oder Ideen 'verkaufen' will, sondern mehr als jedes andere politische Werbemittel zugleich (Gebrauchs-) Kunst. Dabei ist die besondere Auffälligkeit dieses Mediums zum Teil aus der Not geboren. Um sich im alltäglichen Kampf um Aufmerksamkeit durchzusetzen, muss das Plakat als ein durchschnittlich nur wenige Sekunden beachtetes Medium des 'Schnelldialogs' effizienter als jedes andere Wahlwerbemittel mit auffälligen Blickfängen und einer unmittelbar verständlichen Aussage operieren, was nur durch eine graphische Schlüsselidee, Vereinfachungen, Wiederholungen oder aber durch radikale Übertreibungen und bis an Zynismus grenzenden Humor zu erreichen ist (vgl. Prakke, 1963, S. 31). Ältere Analysen politischer Plakate konzentrieren sich deshalb viel stärker auf künstlerisch-ästhetische und historische als auf funktionale Aspekte des Mediums Plakat (vgl. z. B. Arnold, 1979; Bohrmann, 1984; Hagen, 1978, 1984; Hundhausen, 1975; Kämpfer, 1985; Langguth, 1995; Malhorta 1984, 1988; Ronneberger, 1975; Staeck & Karst, 1973; Wasmund, 1986). Angesichts der beachtlichen visuellen Variabilität, die den öffentlichen Anschlägen an Wänden und Litfaßsäulen in diesen Publikationen attestiert
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wird, muss es schon verwundern, wie wenig die deutschen Parteien im 21. Jahrhundert von diesen Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch machen (wollen). Vergleicht man die Plakatkampagnen der jeweils im Bundestag vertretenen Parteien anlässlich der Bundestagswahl 2002, der Europawahl 2004 und der Bundestagswahl 2005 (vgl. Dillenburger, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005; Holtz-Bacha & Lessinger, 2006; Lessinger, Moke, & Holtz-Bacha, 2003), so offenbart sich eine bemerkenswerte Gleichförmigkeit, die auch im Superwahljahr 2009 ungebrochen blieb. Sicherlich resultieren einige dieser Wahlen und Parteien übergreifenden inhaltlichen und gestalterischen Ähnlichkeiten der Plakate aus typischen Wahlkampfzielen. So werben die meisten Parteien in westlichen Demokratien nicht nur für ihre politischen Positionen, sondern auch für ihr politisches Personal, so dass sich die übliche Aufteilung in die beiden großen Gruppen der Themen- und Kandidaten-Plakate nahezu zwangsläufig ergibt. Warum die Visualisierung dieser beiden Wahlkampfstrategien jedoch in immer gleiche Porträt-Plakate, Alltagsmotive, Symbole und Slogans bzw. Claims münden muss, ist nicht unmittelbar einsichtig. Denn wie die ikonographisch-ikonologischen Analysen der Parteiplakate von den Bundestagswahlen 2002 und 2005 sowie aus der Europawahl 2004 demonstrieren, bedienen sich die politischen Parteien in allen Wahlkämpfen aufs Neue alter Motivgruppen. Jederzeit und allseits beliebte Plakatmotive sind die Köpfe von meist einzelnen, manchmal zwei und ganz selten mehreren Kandidaten. Ebenfalls zu den Standardmotiven zählen Szenen aus dem Alltagsleben, der metaphorische Einsatz von politischen Symbolen, Tieren und Alltagsgegenständen sowie das scheinbar schlichte Textplakat. All diesen Plakat-Serien gemeinsam ist ihre je spezifische Eignung, den Betrachter positiv zu emotionalisieren, und zwar nicht nur bestimmte Zielgruppen, sondern möglichst viele Rezipienten. So wie die drastischen, zynischen und polarisierenden Poster der zwanziger Jahre die Wähler emotional aufwühlen wollten, so versuchen im 21. Jahrhundert die von den Plakaten lächelnden Kandidaten, glücklichen Arbeiter und Angestellten, die putzigen Kinder und lustigen Tiere oder die politischen Symbole, das Elektorat emotional einzuwickeln. Nur selten brechen einzelne Parteien aus der allumfassenden Harmonie aus
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und bemühen sich, mit mehr oder minder geglücktem Humor um die emotionale Ansprache ihrer Zielgruppe. Dieses strategische Repertoire ließ sich an den Plakaten der im Bundestag vertretenen Parteien im Wahljahr 2009 erneut beobachten.1 1
Europawahlkampf 2009
Die meisten Parteien begannen ihre Plakatierung Ende April, also sechs Wochen vor dem Wahltermin am 7. Juni. Die Großflächen werden jeweils für Dekaden gebucht, was die Konzeption der Plakatkampagne in drei Phasen nahelegt. Während die Großflächenplakate bundesweit einheitlich sind, sind Plakatdichte und -motive von den Entscheidungen der Ortsverbände abhängig, die die Streuplakate von der Parteizentrale beziehen. Befragt, welchen Stellenwert sie der Plakatkampagne beimessen, betonen alle Parteien2 nach wie vor die hohe Relevanz dieses Instruments. Als Begründung dafür wird nicht nur die allseitige Präsenz auf den Straßen angeführt, die gleichzeitig die Werbekraft einer Partei demonstriert, sondern auch die relativ geringen Kosten. Im Folgenden werden die Ergebnisse einer Analyse der Europawahlplakate dargestellt, die die spezifische Kommunikationslogik des Bildermediums Plakat berücksichtigt. Wie schon frühere Untersuchungen zu den Plakaten aus den Bundestagswahlkämpfen 2002 und 2005 sowie dem Europawahlkampf 2004 folgt auch diese Analyse der ikonographisch-ikonologischen Methode zur Erfassung des Bildgehalts (vgl. insbesondere auch für eine ausführliche Beschreibung des Vorgehens: Dillenburger, HoltzBacha, & Lessinger, 2005; Holtz-Bacha & Lessinger, 2006; Lessinger, Moke, & Holtz-Bacha, 2003; generell: Müller, 1997). Die Analyse nimmt im ersten Schritt eine Einteilung der Plakate in Serien vor, die aufgrund von gemeinsamen Merkmalen in der Gestaltung erfolgt. Diese Einordnung ist unabhängig von etwaigen Phaseneinteilungen des Plakatwahlkampfes. Das heißt, es ist also möglich, dass die einer Serie zugeordneten Motive in verschiede1
Die Autorinnen bedanken sich bei Melanie Radue für die Unterstützung bei der Materialsammlung sowie bei Janine Bunzeck für die Vorarbeiten zu den Serienbeschreibungen. Finanzielle Unterstützung leistete die Hans Frisch Stiftung, FB Wirtschaftswissenschaften der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
2
Dank geht an alle Parteien für ihre freundliche Auskunftsbereitschaft zu den Werbekampagnen.
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nen Phasen des heißen Wahlkampfes plakatiert waren; in den meisten Fällen, vor allem bei den Themenplakaten, erscheinen die Plakate einer Serie auch zur gleichen Zeit auf den Straßen. Für die weitere Analyse wird pro Serie ein charakteristischer Prototyp ausgewählt und nach bestimmten Kategorien beschrieben. Zusammengenommen ergibt sich so ein Bild von der Selbstdarstellung der Parteien und der Art und Weise, wie sich Politik gegenüber der Wählerschaft präsentiert. CDU Die CDU3 arbeitete bei ihrer Europawahlkampagne mit den relativ jungen Agenturen Kolle Rebbe und Shipyard, letztere war auch im Bundestagswahlkampf 2005 schon an der Kampagne der Partei beteiligt. Die gesamte Plakatauflage der CDU lag bei über 400.000 Exemplaren, darunter mehr als 12.000 Großflächenplakate. Das Schlussmotiv mit Angela Merkel erreichte die höchste Auflage. Serie 1: Blaue Alltagsszenen-Serie Luftig-leichte helle Blautöne charakterisieren die Farbfotografien dieser Plakatserie, auf denen Menschen in typischen Alltagssituationen gezeigt werden, sei es eine junge, blonde Mutter an der Supermarktkasse, deren braungelockter kleiner Sohn im Einkaufswagen sitzt und den Betrachter mit großen braunen Augen anflirtet, oder seien es die beiden Arbeitskollegen, die sich harmonisch am Schreibtisch gegenübersitzen, während er konzentriert arbeitet und sie telefoniert. Obgleich die Motive Geschichten aus dem Alltag erzählen, sind es nicht die Menschen, die das Bild beherrschen. Auffällig oft werden die Personen auf den Plakaten nur in Rückenansicht präsentiert oder halten sich sprichwörtlich im Hintergrund, der auf allen Plakaten bewusst unscharf gestaltet ist, so dass die Motive langsam mit den Blautönen verschmelzen.
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Sofern nicht anders angegeben, gehen die Angaben zu den Plakaten auf Informationen aus den Parteizentralen zurück, die auf einen schriftlichen Fragebogen antworteten.
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Auf allen Plakaten sticht ein meist im linken Vordergrund übergroß positionierter Alltagsgegenstand (z. B. ein PC-Bildschirm) mit den Deutschlandfarben hervor, auf dem das Wort "Wir" platziert ist, das den Slogan "Wir in Europa" einleitet, der sich in riesigen Lettern über die gesamte Breite der Poster zieht. In erheblich kleinerer Schrifttype befinden sich in der oberen Bildhälfte die jeweils wechselnden Claims. Die weißen Buchstaben fallen auf, ohne die ätherische Wellness-Atmosphäre dieser Poster-Serie zu konterkarieren. In der rechten unteren Bildecke schließlich befindet sich jeweils ein weißer Block mit Goldrand, auf dem in Rot der Schriftzug CDU zu lesen ist. Der Prototyp dieser Serie zeigt eine weitläufige Container-Hafenlandschaft mit beladenen Schiffen, Kränen und Gerüsten. Im Vordergrund der unteren Bildhälfte stehen mit dem Rücken zum Betrachter zwei große, breitschultrige Männer in blauen Arbeitsanzügen mit gelben Schutzhelmen, die mit in die Hüften gestemmten Armen von einem erhöhten Standpunkt aus über die Hafenanlage hinweg auf das offene Meer bis zum Horizont schauen. Abbildung 1: Für den Weg aus der Krise
Der Herrscherduktus ihrer Körperhaltung strahlt Tatkraft aus, und ihr Blick in die Ferne suggeriert Optimismus. Es scheint, als beobachteten die Männer einen riesigen blauen Container, der in der oberen Bildhälfte an vier Stahlseilen über ihren Köpfen schwebt. Auf der Breitseite des Containers prangen die Deutschlandfarben, auf denen das "Wir" des Slogans "Wir in Europa" zu lesen ist, das sich auch auf diesem Poster über die ganze Bild-
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breite erstreckt. Im strahlend blauen Himmel stimmt der Claim den Betrachter "Für den Weg aus der Krise" ein. Noch variationsreicher als auf den anderen Plakaten wird auf dem Prototypen die Farbe Blau – vom Himmel über das Meer und den in der Luft schwebenden Container bis hin zu den Blaumännern der Arbeiter – als Symbol der Hoffnung inszeniert. Der blaue Kokon konnotiert eine Leichtigkeit und Reinheit, die in krassem Gegensatz zu den konkreten Bedrohungen des Alltagslebens vieler Menschen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise stehen. Saubere Industrie- und Bürolandschaften mit kraftvoll zupackenden Arbeitern und fleißigen Büroangestellten signalisieren dem Wähler jene wirtschaftliche Stärke und persönliche Sicherheit, die die junge Mutter mit Kind sich wünscht, um beim Einkauf sorglos zu konsumieren. Nicht ohne emotionsstrategischen Hintersinn sind es genau diese Alltagsstereotype, die die CDU den Rezipienten ihrer Plakate als Identifikationspotential anbietet. Denn die Darstellung vermeintlich authentischer Alltagspersonen in normativ wünschenswerten Lebenswelten zählt zu den ältesten emotionalen Strategien der Produktwerbung und kommt deshalb auch in der politischen Werbung traditionell zum Einsatz. Die optische Aufmachung der Blauen Alltagsszenen-Serie erinnert denn auch frappierend an eine Plakat-Serie der CDU aus dem Wahlkampf zur Europawahl 2004 (vgl. Dillenburger, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005, S. 43-44). Einen inhaltlichen oder auch nur emotionalen Europabezug sucht man allerdings auch in dieser Alltagsserie 2009 vergebens. Serie 2: Blaue Symbol-Serie Stilistisch aus der Blauen Alltagsszenen-Serie abgeleitet, kalkuliert die Blaue Symbol-Serie ausschließlich mit der integrierenden emotionalen Wirkung von National- und Europasymbolen. Der Hintergrund des querformatigen Prototypen und zugleich einzigem Plakat dieser Serie besteht aus der Weite des blauen Himmels, der durch die angedeuteten Wölkchen eher aufgelockert als bedeckt wird. Im Grunde handelt es sich um ein halbes Textplakat, denn die gesamte obere Bildhälfte besteht lediglich aus dem in riesigen Buchstaben präsentierten Claim und Slogan "Für Freiheit und Sicherheit: Wir in Europa". Das eigentliche Motiv – eine aus der Froschperspektive aufgenommene Europafahne – flattert nur relativ klein in der unteren rechten Bildhälfte im Wind und wird dabei noch von dem auf einem weißen Rechteck mit Goldrand plat-
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zierten Parteilogo angeschnitten. Was zählt, ist auch in dieser Plakatserie die emotionale Anmutung einer in Watte gepackten Welt. Serie 3: Bluejeans-Serie Eine gänzlich andere Anmutung nimmt die Farbe Blau auf den Plakaten der Bluejeans-Themen-Serie an. Da die blaue Hintergrund-Farbe nicht richtig deckt, sondern ungleichmäßig weiß gesprenkelt ist, so dass der Farbton zur Mitte des Plakates hin heller wird, entsteht der Eindruck, es handele sich um ein stellenweise ausgebleichtes Stück Jeans-Stoff, auf das vier goldene Sterne aufgenäht sind. Die kreisförmige Anordnung der Sterne, die vom oberen und unteren Bildrand angeschnitten werden, weckt die Assoziation der Europa-Fahne. Ob im Quer- oder Hochformat, alle Plakate dieser Serie bestehen aus den gleichen Elementen: (1) dem großen weißen, stets im Bildmittelpunkt platzierten Schriftzug "Wir in Europa", wobei das "Wir" mit den Deutschlandfarben unterlegt ist, (2) den thematisch wechselnden, in kleineren weißen Buchstaben gedruckten Claims oberhalb des Slogans, (3) dem CDU-Logo in einem weißen Rechteck mit Goldrand in der rechten unteren Plakatecke sowie (4) links daneben der Hinweis auf den Wahltermin "Am 7. Juni ist Europawahl". Einzig die optische Anspielung auf die Jeans als ein Kleidungsstück, das ähnlich wie der Turnschuh seit Generationen für Jugendlichkeit, Unkonventionalität und Dynamik steht, unterscheidet diese Plakat-Serie von schlichten Textplakaten. Obgleich hier Europa- und Nationalsymbole miteinander verwoben werden, stechen die Deutschlandfarben, die auch direkt mit dem identitätsstiftenden "Wir" verknüpft sind, deutlich hervor. So konnotiert die Textaussage zwar sowohl die Identifikation mit Deutschland als auch mit Europa, aber durch den Farbeinsatz entsteht eine Hierarchisierung, die dem deutschen Nationalgefühl eindeutig Vorrang verleiht: Der Begriff "Wir" meint wohl eher 'Wir Deutsche' in Europa als 'Wir Europäer'. Wenn der Prototyp dieser Serie also mit dem Claim "Für den Weg aus der Krise" wirbt, bleibt offen, ob 'Wir Deutschen' oder 'Wir Europäer' diesen Weg gemeinsam suchen sollen.
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Abbildung 2: Wir in Europa
Serie 4: Spitzenkandidat-Porträt-Serie Ganz in Blau gehalten sind auch die Köpfe-Plakate der CDU, wobei die Politiker-Poster ihre besondere Ausstrahlung nicht dem alltäglichen Himmelsblau, sondern dem ehrwürdigen, politisch-symbolischen Blau der Europa-Fahne verdanken. So sitzt der in ein schwarzes Jackett mit hellblauem Hemd und blau getupfter dunkelroter Krawatte gehüllte CDU-Spitzenkandidat zur Europawahl 2009, Hans-Gert Pöttering, auf dem querformatigen Prototypen der Porträt-Serie vor einer leicht unscharf aufgenommenen, an zwei goldenen Sternen am oberen und unteren Bildrand identifizierbaren, tiefblauen Europafahne, die fast die gesamte Plakatfläche einnimmt. Stark angeschnitten vom linken Bildrand erkennt man eine ebenfalls bewusst verschwommen fotografierte Deutschlandfahne. Die vertikale Mittellinie teilt das Plakat in zwei Hälften: Links verkünden große weiße Druckbuchstaben: "Im deutschen Interesse: Ein starkes Europa". Nicht nur, wer auf der rechten Bildhälfte zu sehen ist, sondern auch welche Funktion diese Person bekleidet, erklärt ein kleinerer,
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weißer Schriftzug am linken unteren Bildrand: Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlaments. Aus gutem Grund präsentiert die gesamte rechte Hälfte des Posters den CDU-Spitzenkandidaten nicht in einer Groß-, sondern in einer Nahaufnahme, die auch noch die Gestik der abgebildeten Person erkennen lässt. Denn entscheidend für die staatsmännische Anmutung des Politikers ist nicht allein der gerade Blick, mit dem Pöttering den Betrachter ruhig und gütig durch seine braun geränderte Brille ansieht und ihn dabei mit leichten geöffneten Lippen freundlich anzusprechen scheint, sondern vor allem seine wie zur Erklärung eines Sachverhaltes erhobene rechte Hand, die überproportional groß im Vordergrund der rechten Bildhälfte platziert ist. Diese 'majestätische' Gestik verleiht Pöttering den Nimbus eines Politikers in der Rolle des 'Vaters der Nation', der im Kontext der Europawahl sogar zum symbolischen 'Vater der Europäischen Union' avanciert. Mit Hilfe dieser Kombination aus dem präsidialen Habitus ihres Spitzenkandidaten und dessen Amtsbezeichnung als Präsident des Europäischen Parlaments gelingt der CDU mit diesen Kandidaten-Plakaten eine Amtsinhaber-Strategie, obgleich Hans-Gert Pöttering lediglich als CDU-Vertreter für das Europa-Parlament und nicht etwa als Parlamentspräsident zur Wahl stand. Das Logo seiner Partei befindet sich wie auf allen anderen Plakaten der CDU zur Europawahl 2009 in roter Schrift in einem weißen Kasten im Goldrand in der rechten unteren Ecke des Posters. Serie 5: Blaue Kanzlerin-Serie Sei es als indirekter Auftakt zur Bundestagswahl oder sei es, weil sich die Kanzlerin auch im politischen Alltagsgeschäft gern international gibt – prinzipiell sind viele Gründe denkbar, warum die CDU schon im Europawahlkampf 2009 nicht auf die Zugkraft ihrer populärsten Parteivertreterin Angela Merkel verzichten wollte. Der formale Aufbau der Blauen Kanzlerin-Serie entspricht im Wesentlichen der optischen Präsentation der CDU-Spitzenkandidaten Hans-Gert Pöttering. Im Hintergrund des Prototypen flattert eine maritimblaue Europafahne, die lediglich in der oberen linken Bildecke ein Stück des (natürlich) blauen Himmels freigibt. Links von der vertikalen Mittellinie füllt der Claim "Wir haben eine starke Stimme in Europa" in weißen Buchstaben den Bildraum, wobei das "Wir" wie auf allen anderen CDU-Plakaten mit den Deutschlandfarben unterlegt ist. Ob diese "starke
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Stimme" der gesamten Nation, der Kanzlerin, ihrem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier oder gar den Europaabgeordneten der CDU gehören soll, wird zwar nicht expliziert, aber da die ganze rechte Bildhälfte von Angela Merkels Porträt eingenommen wird, assoziiert das zumindest eine Schlüsselrolle der deutschen Regierungschefin in Europa. Abbildung 3: Wir haben eine starke Stimme in Europa
Verglichen mit der Darstellung von Politikerinnen anderer Parteien – allen voran der bewusst natürlich inszenierten FDP-Kandidatin Silvana KochMehrin – wirkt die Nahaufnahme von Angela Merkel ungemein steif. Geradezu undurchdringlich lächelt die Kanzlerin den Betrachter mit fest geschlossenen, dezent geschminkten Lippen und etwas zu strahlend blauen Augen an, das Gesicht umrahmt von einer bis auf das Haar genau drapierten Beton-Frisur. Am unteren Bildrand erkennt man noch die rechte Schulter und den Kragen ihres dunkelblauen Jacketts, während der Hals und die rechte Schulter von dem CDU-Logo auf weißem Grund mit Goldrand verdeckt werden. Alles in allem soll dieses Bild der Kanzlerin Sicherheit suggerieren und Vertrauen wecken. Welche europapolitischen Ideen sich hinter diesem freundlichen, sanften Lächeln verbergen, bleibt indes der Imagination des Wählers überlassen.
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CSU Die Wahlkampagne der CSU stand in mehrfacher Hinsicht unter Druck. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit bei der Landtagswahl im Herbst 2008 bot die Europawahl für die CSU die Gelegenheit zum Stimmungstest. Allerdings hatten die Freien Wähler ihre Kandidatur angekündigt, für die das ehemalige CSU-Mitglied und die auch als CSU-Rebellin titulierte Gabriele Pauli als Spitzenkandidatin antrat. Die CSU musste befürchten, dass abermals ein Teil ihrer Wählerinnen und Wähler für die Freien Wähler stimmen würde. Außerdem fiel der Wahltermin in die bayerischen Pfingstferien, so dass die Mobilisierung der Wählerschaft hier eine besondere Herausforderung darstellte, zumal die Partei bei Europawahlen eine bundesweite Fünf-Prozent-Schwelle überwinden muss, um Abgeordnete ins Europäische Parlament entsenden zu können. Die CSU konzipierte ihren Europawahlkampf 2009 diesmal mit der Agentur mit McCann Erickson in München. Auffällig an der Plakatkampagne ist die hervorragende Rolle, die dem CSU-Parteivorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer sowie dem Shootingstar KarlTheodor zu Guttenberg zukommt, wiewohl beide für das Europäische Parlament nicht zur Wahl standen. Serie 1: Beherzte Serie Eine in ihrer ästhetischen Schlichtheit wahrhaft 'beherzte' Plakatserie produzierte die CSU für die Europawahl 2009. Gestalterisch ebenso stark reduziert wie in früheren Wahlkämpfen oft nur die Plakate der Linken beschränkte sich die bayerische Unionspartei in dieser Serie hoch- und querformatiger Plakate auf einen blütenweißen Hintergrund mit raumfüllenden, linksbündig angeordneten, hellblauen und -grünen Druckbuchstaben, jeweils kombiniert mit dem CSU- und einem Europawahl-Logo. Auf den meisten Plakaten der Serie ist das obere Drittel des Bildes mit dem hellblauen Slogan "Beherzt handeln." ausgefüllt, unter dem dann in grünen Lettern der jeweils wechselnde Claim den Rest der weißen Freifläche bedeckt. In stilistisch identischer Weise präsentieren einige der Poster auch Zitate des Parteivorsitzenden Horst Seehofer, die stets mit dem hellblau gedruckten Halbsatz "Nur wer CSU wählt,…" beginnen und dann in hellgrünen Buch-
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staben mit den Worten "gibt Bayern eine eigene Stimme in Europa" weitergeführt werden. Zwei weitere Plakate dieser Serie rufen lediglich zur Wahl auf. Diese Motiv-Abstinenz entspricht nicht gerade den Empfehlungen der Werbelehre, denn Bilder, so Kroeber-Riel (1993, S. 15), werden früher und länger betrachtet als Texte. Zwar können auch Farbe und Größe als physisch intensive Reize Aufmerksamkeit beim Betrachter erregen, aber dieser positive Werbeeffekt wird im Falle der 'beherzten' CSU-Plakate durch die mangelhafte Bildkomposition vermutlich konterkariert (vgl. Kroeber, Riel, 1993, S. 102, 114). Wie eine Headline betitelt die babyblaue Aufforderung "Beherzt handeln" den Prototypen, der mit hellgrünen Großbuchstaben "Für ein bürgernahes Europa" wirbt. Der untere Rand des Wahlplakates wird durch einen dreieckigen blauen Streifen mit Rautenmuster abgetrennt, unter dem sich links die Internetadresse der Partei und rechts das CSU-Logo mit dem goldenen Wappen des bayerischen Löwen und einem hellgrünen Schwung befindet. Da sich die Blautöne 'beißen', fügt sich der dunkelblaue Kasten mit dem kleinen angeschnittenen Europa-Sternenkreis und mit der Aufschrift "Europawahl 7. Juni" in der oberen rechten Plakatecke nicht harmonisch in das Gesamtbild. Das aus der Werbung für Waschmittel und Haushaltsreiniger lang vertraute Weiß in Kombination mit den unaufdringlichen Pastelltönen könnte zwar prinzipiell Reinheit, Offenheit und Freundlichkeit konnotieren, vermittelt aber angesichts des lieblos dilettantischen Designs dieser Plakatserie lediglich das Gefühl großer Leere. In dieser kalten Atmosphäre bleibt die verbal explizierte emotionale Aufforderung an den Wähler, doch "beherzt" zu handeln, ohne optische Entsprechung und vermittelt daher womöglich den sicherlich nicht intendierten Eindruck, es bedürfe besonderen Mutes, die CSU zu wählen. Denn von den drei wichtigsten Funktionen eines Werbeplakats – auffallen, informieren und emotionale Erlebnisse vermitteln (vgl. Kroeber-Riel, 1993, S. 12) – erfüllen reine Textplakate wie diese bestenfalls die ersten beiden. Serie 2: Briefkasten-Serie Einen ungleich höheren Unterhaltungswert im Vergleich zur Einfallslosigkeit der Beherzten Serie bietet die Postkasten-Serie, mit der die CSU auf die Möglichkeit der Briefwahl aufmerksam machen wollte. Auffällig ist der horizontale
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Bruch, der durch die Kombination von zwei komplett unterschiedlichen Gestaltungsweisen entsteht. So präsentiert die obere Hälfte des querformatigen Prototyps auf der linken Seite den Kopf eines leuchtend gelben Briefkastens inmitten von romantischem Laubwerk, durch dessen Äste und Blattgrün von hinten die Lichtreflexionen eines Sonnenstrahls dringen. Auf dem Briefschlitz steht "Briefwahl 2009" und die Vorderfront des Kastens verkündet, dass diese Urne 7 Tage pro Woche 24 Stunden für den Betrachter lang geöffnet sei. Auf der rechten Hälfte der Fotografie wird der Betrachter auf einem kreisrunden blauen Aufkleber, der wie ein Störer auf dem Gebüsch-Bildausschnitt platziert ist, mit einem weißen Schriftzug gefragt: "Am 7. Juni verhindert? Dann nutzen Sie die Briefwahl!" Darunter befindet sich ein Wahlkreuz. Farblich irritiert das dunkelblaue Europawahl-Logo in der rechten oberen Ecke des Fotos nicht ganz so stark wie auf den Postern der anderen Serien. Im unteren Viertel des Plakates wird dann wiederum der Stil der Beherzten Serie aufgegriffen: Ebenfalls abgetrennt durch einen dreieckigen blauen Streifen mit Rautenmuster ist auf weißem Grund der blau-grüne Slogan "Nur wer CSU wählt, gibt Bayern eine eigene Stimme in Europa" zu lesen, kombiniert mit dem vom Löwen bewehrten CSU-Logo in der rechten unteren Bildecke. Serie 3: Team-Serie Auch die CSU wollte sich im Europawahlkampf 2009 offenbar nicht allein auf ihren Spitzenkandidaten Markus Ferber verlassen, sondern setzte auf den Landesvater Horst Seehofer. Im Ergebnis entstanden die in politischen Plakatkampagnen häufiger anzutreffenden Team-Plakate, auf denen zwei oder mehr Parteivertreter zu sehen sind. Auf dem Prototypen sieht man Ferber in der linken und Horst Seehofer in der rechten oberen Bildhälfte Seite an Seite frontal abgelichtet. Obgleich beide Männer in Großaufnahme gezeigt werden, so dass man ihre dunklen Sakkos, weißen Hemden und roten Krawatten so gerade noch erkennen kann, wirkt der bayerische Ministerpräsident schon deshalb mächtiger und raumgreifender, weil er einen halben Kopf größer ist als sein Parteikollege – mithin ein optischer Größenunterschied, der einem positiven Image des CSU-Europakandidaten Ferber nicht gerade zuträglich ist. Seehofers erdrückende Präsenz wird durch sein glänzend schwarzes (im Vergleich zu Ferbers mausgrauem) Sakko noch unterstrichen. Beide Politiker lachen den Betrachter mit perlweißen Zähnen
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und strahlenden Augen aufmunternd ins Gesicht. Der bewusst unscharf abgelichtete Hintergrund ist nicht zu identifizieren. Alle weiteren Gestaltungsmittel von dem dunkelblauen Europawahl-Logo in der oberen rechten Bildecke bis hin zur horizontalen Zweiteilung des Posters entsprechen dem Gesamtkonzept der CSU-Plakatkampagne. Während die obere Hälfte des Plakates aus dem Porträtfoto der beiden Parteivertreter besteht, folgt auch hier unter einem dicken blauen Strich mit Rautenmuster eine weiße Plakatfläche mit dem blau-grünen Slogan: "Nur wer CSU wählt, gibt Bayern eine eigene Stimme in Europa", und auch das CSU-Logo mit dem kleinen goldenen Löwen in der rechten unteren Bildecke fehlt nicht. Seehofers visuelle Dominanz auf Ferbers Wahlplakaten personalisiert eine CSU, die sich scheinbar schon vor der Europawahl im Bundestagswahlkampf befand, was auch die Kandidaten-Porträt-Serie nahelegt. Serie 4: Kandidaten-Porträt-Serie Wahlweise mit einem bis zur völligen Unschärfe verwischten Motiv oder einem strahlend blauen Himmel mit vereinzelten Wölkchen im Hintergrund präsentiert die Kandidaten-Porträt-Serie die prominentesten Köpfe der CSU wie Ministerpräsident Horst Seehofer und den damaligen Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, die indes gar nicht wählbar waren. Alle Plakate dieser Serie folgen dem gleichen Prinzip: Die obere Bildhälfte der Poster füllt eine Großaufnahme des jeweiligen Politikers, der Zähne zeigend in die Kamera lacht und dabei den Blickkontakt zum Betrachter sucht. Der Haarschopf wird stets vom oberen Bildrand angeschnitten, und der Oberkörper endet kurz unterhalb des Krawattenknotens. Wie bei allen anderen CSU-Plakaten trennt auch in dieser Serie ein blauer asymmetrischer Streifen das Foto von der unteren weißen Plakatfläche mit der blau-grünen Behauptung "Nur wer CSU wählt, gibt Bayern eine eigene Stimme in Europa" und dem Partei-Logo. In dieser Aussage erschöpft sich auch schon der Europabezug der gesamten Serie. Der Prototyp präsentiert Horst Seehofer, der wie auf allen Plakaten in dunklem Anzug, weißem Hemd und roter Krawatte frontal in die Kamera strahlt. Dieser um Vertrauen werbende Habitus des "netten Herrn von nebenan" korrespondiert mit dem freundlichen hellblauen Himmel im Hintergrund, der ähnlich wie auf den CDU-Plakaten auch hier für räumliche Weite und eine positive Zukunft
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steht. Schließlich zeigt der Prototyp einen blauen Kreis, auf dem der Rezipient in weißer Schrift dazu aufgefordert wird: "Am 7. Juni CSU wählen". Obgleich es vor Europawahlen durchaus üblich ist, dass die Parteien nicht ausschließlich mit ihren in der Öffentlichkeit meist weniger bekannten Europapolitikern werben, ist die überproportionale Präsenz von Horst Seehofer in der Europawahlkampagne der CSU ungewöhnlich und lässt daher den Rückschluss zu, dass der CSU-Parteivorsitzende scheinbar den besonderen Bedarf sah, sich öffentlich zu inszenieren. SPD Die SPD engagierte für ihren Europawahlkampf die Agentur Butter, mit der sie schon früher zusammengearbeitet hatte. Die Plakatierung begann rund sechs Wochen vor dem Wahltermin und folgte drei Phasen, die erste unter dem Motto "Anpacken. Für unser Land." und die zweite versprach "Soziales Europa. Starkes Europa." Die Gesamtauflage der Plakate lag bei rund 175.000 Plakaten, davon etwa 8.800 Großflächen- und 600 Sondergroßflächenplakate. Die höchste Auflage erreichte ein Plakat der Angriffsserie mit dem Claim "Finanzhaie würden FDP wählen". Nicht für die bundesweite Plakatierung waren zwei Sondermotive gedacht. Eines warb für den Fortbestand der Sparkassen und wurde in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen, dem Saarland und in Bayern geklebt; das zweite plädierte für den Erhalt des VW-Gesetzes und kam nur in Niedersachsen und Hessen-Nord zum Einsatz, wo es Produktionsstandorte von VW gibt. Serie 1: Arbeitswelt-Serie Ähnlich wie die CDU in der Blauen Alltagsszenen-Serie setzt auch die SPD in der Arbeitswelt-Serie auf eine altbewährte Strategie der Wahlwerbung: Sie lässt Alltagsmenschen für sich sprechen. Denn Bildmotive mit Personen erhöhen die Beachtungszeit (vgl. Kroeber-Riel, 1993, S. 10). Bei den hoch- und querformatigen Postern handelt es sich durchgehend um sorgsam inszenierte und produzierte Farbfotografien, die aus halbtotaler Perspektive Menschen in verschiedenen Arbeitssituationen zeigen wie zum Beispiel ein Zimmermäd-
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chen beim Bettenmachen, einen Schlosser an der Werkbank oder einen Ingenieur in der Automobilindustrie, der gerade einen Neuwagen prüft. Im Gegensatz zu der entsprechenden CDU-Plakat-Serie stellen die SPD-Plakate jedoch nicht Arbeits- oder Lebenswelt fotografisch in den Mittelpunkt, sondern ganz im Gegenteil den arbeitenden Menschen. Während auf den CDUPostern die Personen nur von hinten, am Bildrand oder unscharf zu erkennen sind, fokussiert die Kamera bei den SPD-Plakaten auf die Menschen, die überwiegend in der Halbtotalen gezeigt werden. Dabei konzentrieren sich die dargestellten Figuren voll auf ihre Tätigkeit und blicken nicht in die Kamera, sondern auf die Gegenstände in ihren Händen. Jeweils im oberen linken oder rechten Bereich des Plakates ist ein Störer in das Bild integriert, und zwar in Form eines scheinbar in Weiß handschriftlich eingefügten Claims, der sich auf die Arbeits- und Lebenssituation der dargestellten Person bezieht. Optisch unterstützt wird dieser Bezug durch einen ebenfalls handschriftlich gezeichneten Pfeil, der auf die Person zeigt. Die Arbeitsumgebung und die Gegenstände, wie eine Werkbank, Zeitung, Motorhaube oder Solarzellen, präsentieren die SPD-Plakate anders als die CDU-Plakate nur im unteren Drittel des Posters als diffus beleuchteten unscharfen Hintergrund für die im Vordergrund befindlichen drei Elemente: Slogan, Claim und Partei-Logo. Der Slogan "Am 7. Juni: Mehr SPD für Europa" und die wechselnden Claims befinden sich auf einem weißen Balken mit blauer Schrift bzw. umgekehrt auf einem blauen Balken mit weißer Schrift. Das Partei-Logo – ein dreidimensionaler roter Würfel mit dem weißen Schriftzug SPD – findet sich stets in der unteren rechten Bildecke. Der hochformatige Prototyp dieser Arbeitswelt-Serie wird graphisch beherrscht von einer Diagonalen, die sich aus zwei Sonnenkollektoren ergibt, die in der linken Bildhälfte abgebildet sind. Rechts daneben steht ein junger Mann in rotkariertem Hemd und Blaumann, der eine Kappe auf dem Kopf trägt und entlang der Kollektoren nach oben schaut. Im Hintergrund erkennt man verschwommen mehrere Bäume und den Himmel, wo schließlich am oberen Bildrand der handschriftliche Störer mit dem Satz "Damit er weiter an der Zukunft bauen kann" integriert ist. Der Pfeil zeigt auf den jungen Mann. Auf dem unteren der beiden Sonnenkollektoren befindet sich in Kombination mit dem Slogan der Claim "Neue Energie für gute Arbeit" und am rechten unteren Bildband leuchtet der rote SPD-Würfel.
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Abbildung 4: Neue Energie für gute Arbeit
Obgleich die Plakat-Serie durchdacht produziert ist und den Menschen in den Mittelpunkt rückt, missglückt ein wenig die emotionale Ansprache. Anders als der emotional positiv besetzte 'Alltag auf Wolken' der CDUPlakate haftet den Hochglanzplakaten der SPD durch die bedeckteren Farben und die ernste Introvertiertheit der dargestellten Menschen eine triste, leicht bedrückende Atmosphäre an. Das steht in deutlichem Widerspruch zum Diktum der Werbelehre, dem Rezipienten einen möglichst positiven sozialen und emotionalen Zusatznutzen zu bescheren. Serie 2: Die Assoziative Plakat-Serie Auf den ersten Blick scheint der hochformatige Prototyp der Assoziativen Plakat-Serie nur aus einer diffusen schlammgrauen Fläche mit schwarzem Punkt zu bestehen. Erst nach längerem Hinsehen erkennt man, dass es sich um die Detailaufnahme eines Wales handelt, und erst in Verbindung mit dem in weißen Buchstaben auf blauem Grund gedruckten Claim am linken
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oberen Bildrand "Wahl per Post." wird endgültig klar, dass dieses SPDPlakat zur Briefwahl animieren möchte. Humorvoll verstärkt wird die verklausulierte Aussage durch einen Störer in Form einer kleinen blauen Briefmarke mit europäischem Sternenkreis, die mit dem Stempelaufdruck "Briefwahl. 07. Juli 2009" versehen ist und absurderweise links neben dem Wal-Auge klebt. Unten rechts im Bild ist der Slogan "Am 7. Juni zur Europawahl" in blauen Druckbuchstaben auf weißem Untergrund positioniert und direkt darunter sticht der rote SPD-Kubus aus dem Bild hervor. Mit dieser freien Bildassoziation, bei der zunächst keine sinnvolle Beziehung zwischen dem Bildmotiv und dem Text besteht, setzt die SPD auf den so genannten "dritten Effekt" (Kroeber-Riel, 1993, S. 128), bei dem zwei inhaltlich voneinander unabhängige Bildelemente eine neue Vorstellung erzeugen sollen, mithin eine Strategie, die vor allem in der emotionalen Werbung zum Einsatz kommt. Gemessen daran, dass Wahlplakate schnell wahrgenommen und begriffen werden müssen, scheint diese Assoziationskette vom abstrakten Bildeindruck über die 'tierische' Bildmetapher bis hin zur konkreten Aussage allerdings bedenklich lang, um tatsächlich 'im Vorbeigehen' angemessen gewürdigt zu werden. Außerdem besteht die Gefahr, dass solche assoziative Blickfänge von der eigentlichen Werbebotschaft ablenken (vgl. Kroeber-Riel, 1993, S. 118). Parteiübergreifend interessant ist, dass selbst bei der CSU das Briefwahlplakat durch seine phantasievolle Gestaltung in der ansonsten langweiligen CSU-Plakatkampagne heraussticht. Serie 3: Comic Angriffs-Serie Ein Hai, ein Fön und ein 50 Cent-Stück, allesamt fein angezogen in weißem Hemd mit violettem Schlips, bevölkern die SPD-Poster der Comic-AngriffsSerie (vgl. Leidecker, in diesem Band, Abb. 1). Der Bildaufbau persifliert die typischen Köpfe-Plakate: Auf hellblauem Hintergrund erscheinen die Figuren in klassischer Großaufnahme, das heißt bis zur 'Schulter', so dass das 'Hemd' und 'Krawattenknoten' noch gerade sichtbar sind. Als 'Kopf' fungieren die erwähnten Alltagsgegenstände. Erst durch die oberhalb der ComicFiguren auf etwas dunklerem blauen Untergrund in weißen Druckbuchstaben platzierten Claims konstituiert sich die Bedeutung dieser metaphorischen Angriffe auf gegnerische Parteien. So wird der Fön kombiniert mit der Aussage "Heiße Luft würde Die Linke wählen" und das 50-Cent-Stück
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mit der Attacke "Dumpinglöhne würden CDU wählen". Auf allen Postern dieser Serie findet sich am rechten unteren Plakatrand auf weißem Hintergrund in roter Schrift der Hinweis "Am 7. Juni:" und weiter in hellblauen Buchstaben ein erklärender Zusatz zum Claim wie zum Beispiel "Für ein Europa, in dem Verantwortung zählt." beim Fön oder "Für ein Europa der fairen Löhne." beim 50-Cent-Stück. Unterhalb dieser Erläuterung sticht der dreidimensionale rote SPD-Kubus mit dem weißen Slogan "Mehr SPD für Europa" optisch hervor. Prototyp dieser Serie ist der Hai. Unter dem auf dunkelblauem Grund platzierten weißen Claim "Finanzhaie würden FDP wählen" präsentiert das Plakat einen ebenso breit wie hinterhältig grinsenden Hai-Kopf. Die keck nach oben ragende Kopf-Flosse erinnert an die Frisuren-Mode jungdynamisch aufstrebender Karrieristen. Die aufgerissenen Stielaugen des Raubfisches starren den Betrachter dumm und gierig an, und die gebleckten scharfkantigen spitzen Zähne persiflieren das strahlende Zahnpasta-Lächeln, mit dem Politiker aller Parteien seit jeher versuchen, das Herz und die Stimme ihrer Wähler zu gewinnen. Trotz aller dämonischen Züge dieser Tier-Metapher verwandelt der humorvolle Zeichentrickstil dieser Wahlwerbung den gefährlichen Meeresbewohner in ein possierliches, gar nicht mal unsympathisches Wesen, das eben nicht nur an gewissenlose Finanzhaie, sondern auch an den vegetarischen Hai namens Bruce aus dem KinderKinohit Finding Nemo erinnert. Die angegriffene FDP konterte im Internet umgehend mit dem Bild eines Geiers und dem entsprechenden Claim "Pleitegeier würden SPD wählen". Serie 4: Team-Serie Ähnlich wie die CSU präsentiert auch die SPD ihren Wählern eine TeamSerie, auf der der SPD-Europaspitzenkandidat Martin Schulz, wohl schon mit Blick auf die Bundestagswahl im Herbst, vom SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier flankiert wird. Auf den hoch- und querformatigen Plakaten sieht man die beiden Politiker in dunklen Anzügen mit weißen Hemden und überwiegend roten bzw. rot-weiß gestreiften Krawatten, während sie nebeneinander im Sessel sitzen oder einen Asphaltweg entlang schlendern. Auf allen Plakaten dieser Serie erkennt man zwar im Hintergrund grüne Büsche und Bäume, aber dennoch bleiben die Lokalitäten foto-
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grafisch verschwommen, mit regelrecht deplatzierten Elementen, wie zum Beispiel einem hohen Metallzaum ohne erkennbare Funktion. Nach dem Prinzip der Arbeitswelt-Serie enthalten alle Team-Plakate einen Störer: Als seien sie mit einem schwarzen Filzstift handschriftlich auf dem Poster vermerkt, stehen im oberen Drittel der Plakate verschiedene Claims (z. B. "Damit sie das soziale Europa stärken"), die durch einen Pfeil mit den beiden SPD-Politikern assoziiert werden. Im unteren linken Drittel des Bildes sind stets in weißen Buchstaben auf hellblauem Hintergrund die Namen Martin Schulz und Frank-Walter Steinmeier vermerkt und direkt darunter in hellblauer Schrift auf weißem Grund der Slogan "Am 7. Juni: Mehr SPD für Europa". Der dreidimensionale rote Würfel mit dem SPD-Logo ist wie auf allen SPD-Plakat-Serien in der rechten unteren Ecke. Besonderes Kennzeichen dieser Team-Serie ist die Art der Interaktion zwischen den dargestellten Personen. Anders als auf den CSU-Team-Plakaten, auf denen die Politiker frontal abgelichtet sind und direkten Blickkontakt zum Betrachter suchen, sind die beiden SPD-Politiker konzentriert ins Gespräch vertieft, wenngleich nicht auf gleicher Augenhöhe. So zeigt der querformatige Prototyp der Serie Martin Schulz zwar im Bildmittelpunkt. Doch der im Halbprofil gezeigte Europakandidat hängt in dieser Szene förmlich wie ein Schuljunge an den Lippen des (vom Betrachter aus gesehen) rechts neben ihm sitzenden Frank-Walter Steinmeier, dessen Gestik einen dozierenden Eindruck hinterlässt. Im Hintergrund der beiden in amerikanischer Einstellung aufgenommenen, nebeneinander sitzenden SPD-Politiker erkennt man durch eine Glasscheibe hindurch die für diese Plakatserie typischen unscharf aufgenommenen Bäume und Büsche. Links oben im Bild verkündet ein handschriftlicher Vermerk, der dem Hinweis eine ebenso authentische wie persönliche Note verleiht, in schwarzer Schrift "Damit sie für den Frieden arbeiten könnten" und weist mit dem Pfeil auf Martin Schulz. Alle anderen Elemente wie die Namen der beiden Politiker, der Slogan und das ParteiLogo sind in gleicher Weise angeordnet wie auf den anderen Postern dieser Serie. Fotografisch und stilistisch ist die Team-Serie der SPD zwar erheblich professioneller und ansprechender gestaltet als jene der CSU, aber die Unterschiede der politischen Bildstrategien sind minimal. In beiden Fällen vertrauen die Parteien nicht allein auf ihre Europakandidaten, sondern ordnen sie den Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl optisch unter.
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Serie 5: Spitzenkandidat-Porträt-Serie Obgleich die SPD ihren Europa-Spitzenkandidaten auf den Team-Plakaten neben dem SPD-Vorsitzenden Frank-Walter Steinmeier verblassen lässt, gab es immerhin eine Kandidaten-Serie mit so genannten Kopf-Plakaten von Martin Schulz. Gerade im Vergleich mit den Team-Plakaten ist das Porträtbild des Europapolitikers allerdings sehr einfach gestrickt. Auf hellblauem Grund bietet der Prototyp ein Passfoto von Martin Schulz, der mit strahlenden blauen Augen und weißen Zähnen frontal in die Kamera lacht. Die obere Hälfte des Plakates zeigt den Kopf und die untere Hälfte den Oberkörper des Kandidaten, der ein blaugraues Sakko mit weißem Hemd und weiß getupfter blauer Krawatte trägt. Insgesamt mutet diese Inszenierung als freundlicher Politiker mit Halbglatze, Vollbart und zeitloser Brille bodenständig solide an. Direkt oberhalb der linken Schulter ist der rote Würfel mit dem SPD-Logo ins Bild integriert und am unteren Rand des Plakates steht in blauer Schrift auf weißem Grund der Claim "Für ein soziales Europa am 7. Juni:", gefolgt von dem Namen des werbenden Politikers in weißer Schrift auf blauem Grund. Zumindest ästhetisch fällt dieses Werbeplakat nichtssagend und beliebig aus. FDP Wie auch schon im letzten Europawahlkampf arbeitete die FDP 2009 mit der Agentur von Mannstein, was dann auch die Konstanten der Plakatwerbung erklärt. Die drei Phasen der sechswöchigen FDP-Plakatkampagne verfolgten ein dreifaches Ziel: "Informieren, Motivieren, Mobilisieren". Die Auflage der Plakate in den Größen A0/A1 lag bei 110.000; drei Motive wurden als Großflächenplakate mit einer Auflage von zusammen 7.000 Stück verteilt. Für die Werbung an Litfaßsäulen standen 500 Plakate zur Verfügung und für Dreiecksständer bzw. Laternenanhänger rund 10.000 Exemplare. Das Gesamtbudget für den Plakatwahlkampf betrug bei der FDP 450.000 Euro.
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Serie 1: Puzzle-Serie Dass die FDP zur Europawahl 2009 einen absolut personalisierten Wahlkampf führte, illustriert am signifikantesten die einzige Themen-Plakat-Serie, die bezeichnenderweise nur aus einem einzigen Text-Plakat besteht. Wäre am oberen Bildrand nicht noch ein Hauch schwarzer und roter Farbe zu sehen, hätte man annehmen können, die kanariengelbe Farbe des Plakates beziehe sich nur auf die Parteifarben der FDP. So aber spielt der Hintergrund auch dezent auf die deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold an. In Anbetracht der übergroßen, fett gedruckten, hellblauen Buchstaben sticht das Wort "Stark" besonders hervor und mündet in dem Claim "Stark vor Ort". Direkt darunter befinden sich leicht schräg gestellt zwei PuzzleStücke, die glatt ineinandergreifen und die gesamte Breite des Posters ausfüllen. Das linke, gelbe Puzzle-Stück ziert die mit wenigen blauen Strichen skizzierten Umrisse eines Kirchturms und mehrerer Häuser, während das rechte Puzzle-Stück blau und mit dem europäischen Sternenkreis versehen ist. Unterhalb des Puzzles ist der Slogan "Stark für Deutschland in Europa" in blauen Lettern auf gelbem Grund zu sehen. Am unteren Bildrand folgt dann nur noch in blauer Schrift die Aufforderung "FDP wählen!", die auf das schlichte FDP-Logo in der rechten unteren Bildecke zuläuft. Als besonders informativ oder auch nur unterhaltend ist dieses Wahlplakat jedenfalls nicht zu bezeichnen. Serie 2: Spitzenkandidatin-Porträt-Serie Wie bereits bei der Europawahl 2004 bestand die FDP-Kampagne auch im Jahr 2009 primär aus einem Motiv: dem Porträt der Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin (vgl. Abbildung 1 in Holtz-Bacha & Lessinger, in diesem Band). Würde die blonde Politikerin nicht fünf Jahre später schwarze Spitze unter einer weißen Jacke, sondern erneut eine weiße Bluse mit schwarzem Blazer tragen, so wären zwischen den Plakaten aus den Jahren 2004 und 2009 schwerlich Unterschiede zu bemerken. Wieder ist der Hintergrund der Porträt-Fotos einheitlich in FDP-Gelb gehalten. Wie bei der Puzzle-Serie appellieren die schwarze und rote Farbe am oberen Bildrand in Kombination mit dem gelben Hintergrund dezent an das Nationalgefühl der deutschen Wähler, und in der rechten unteren Ecke des Plakates lugt hinter der Figur
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der Spitzenkandidatin eine kleine Ecke der blauen Europafahne mit gelben Sternen hervor. Dominiert werden die mehrheitlich hochformatigen Poster dieser Serie von Großaufnahmen der Kandidatin, die durch den linken Bildrand leicht angeschnitten sind. Die rechte Plakathälfte präsentiert nur Textbotschaften in blauen Buchstaben auf gelbem Grund, angefangen mit dem FPD-Schriftzug in der rechten oberen Bildecke, der unter durch einen blauen Balken mit der gelben Aufschrift "Die Liberalen" begrenzt wird. Ungefähr auf Kopfhöhe der Kandidatin folgen die wechselnden Claims. Der Prototyp der Serie wird mit der Aufforderung "Wählen Sie Ihr Europa!", wobei die Unterstreichung des Wortes "Ihr" die direkte Ansprache des Wählers betont. Auf Schulterhöhe schließlich folgt auf allen Postern der Namen der Kandidatin verbunden mit dem Slogan "Für Deutschland in Europa" und schließlich sehr klein darunter die URL ihrer persönlichen Homepage. Auffällig an der Typographie ist hier, dass dem Namen zwar der eigentlich distanzierende akademische Titel "Dr." vorangestellt wird, der Vorname Silvana dann aber erheblich größer gesetzt ist als der Nachname. Prominente in den Medien beim Vornamen zu nennen, soll in der Regel soziale Nähe zum Rezipienten simulieren. Dass die Spitzenkandidatin der FDP die Betrachter möglichst persönlich ansprechen soll, signalisiert auch die Art der Porträt-Aufnahme. Anders als starre Mimik von Angela Merkel auf den CDU-Europawahl-Plakaten wird Silvana Koch-Mehrin betont locker inszeniert. Auf dem Prototypen dieser Porträt-Serie lächelt die Spitzenkandidatin ihre Wähler nicht, wie ansonsten in der politischen Plakatwerbung üblich, besonders breit, sondern vielmehr ein wenig kokett an. Dabei schaut Silvana Koch-Mehrin den Betrachter mit offenem Blick direkt an. Das blonde halblange Haar umfließt in lockeren Strähnen ihr Gesicht und verleiht ihr dadurch eine sympathisch natürliche Ausstrahlung. Ohne Zweifel liegt der Schwerpunkt der FDP-Werbekampagne zur Europawahl 2009 auf der optischen Inszenierung ihrer Spitzenkandidatin. Serie 3: Parteivertreter-Porträt-Serie Obgleich die FDP mit Silvana Koch-Mehrin vermutlich die bekannteste, weil medienpräsenteste Spitzenkandidatin in den Europawahlkampf schicken konnte, verzichten die Liberalen dennoch nicht auf Plakate mit ihrem Parteivorsitzenden Guido Westerwelle. Im formalen Aufbau vollkommen identisch
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mit den Porträt-Plakaten der Europakandidatin gibt sich Guido Westerwelle auf den Postern zwar auch freundlich, aber weniger locker als Silvana KochMehrin. Den Mund beim Lächeln fest geschlossen blickt der mit weißem Hemd, blau-weißer Krawatte und dunkelblauem Sakko bekleidete FDPPolitiker leicht gezwungen durch seine randlose Brille in die Kamera. Unterhalb des Partei-Logos rechts oben prangt in der Mitte des Posters der Claim "Arbeit muss sich wieder lohnen". Wie auf den Postern von Silvana KochMehrin schließt sich etwas weiter unten der Name an, dies allerdings mit einem kleinen, aber feinen Unterschied zu seiner Parteikollegin. Denn statt des Vornamens bei Silvana Koch-Mehrin wird bei Guido Westerwelle der Nachname groß und fett gedruckt. Mit dem Abschied an den Spaßpolitiker möchte der FDP-Vorsitzende für das Wahlvolk offenbar nicht mehr nur der 'Guido' sein. Lediglich auf diesem Plakat findet sich denn auch am unteren Rand mit gelber Schrift der Slogan "Deutschland kann es besser". Bündnis 90/Die Grünen Die Grünen vertrauten auch 2009 wieder auf die bewährte Zusammenarbeit mit der Agentur Zum goldenen Hirschen. Wie schon in früheren Wahlkämpfen entstand daraus für die Europawahl eine homogene Werbestrategie, die damit fast zu einem Markenzeichen der Grünen-Kampagnen geworden ist. Die Plakatierung begann wie bei den anderen Parteien Ende April. Die begrenzten finanziellen Möglichkeiten einer kleineren Partei zeigen sich darin, dass nur 1.200 Großflächenplakate eingesetzt und auch erst in den letzten zwei Wochen vor dem Wahltermin geklebt wurden. Serie 1: WUMS! -Themen-Serie Wenn grüne Wahlwerbung als unterhaltsam empfunden wird, dann vielleicht auch deshalb, weil sich der Rezipient darüber freut, die Idee (endlich) verstanden zu haben. "WUMS!" – diese Kombination aus Großbuchstaben liefert den Blickfang aller Themen-Plakate von Bündnis 90/Die Grünen zur Europawahl 2009. Doch dass diese Abkürzung für "Wirtschaft & Umwelt, Menschlich & Sozial!" stehen soll, enthüllt erst eine Fußnote in der linken unteren Ecke des Plakates. Von einem 'Medium des Schnelldialogs' kann
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angesichts dieser umständlichen Entschlüsselung also schwerlich die Rede sein. Wichtigster Wiedererkennungswert ist das satt leuchtende Grün der gesamten Plakatfläche, wobei der Farbverlauf in der linken oberen Ecke dunkelgrün beginnt und bis zur rechten unteren Ecke sukzessive heller wird. Unter allen Parteien haben Bündnis 90/Die Grünen zweifellos den raffiniertesten Umgang mit der eigenen Parteifarbe. Jeweils oberhalb des pastellgrünen, leicht schräg gestellten, dynamischen Slogans "Mit WUMS! Für ein besseres Europa" stehen in weißen Buchstaben und etwas kleinerer Schriftgröße die unterschiedlichen Claims wie zum Beispiel "Mindestlohn ist ja wohl das Mindeste", "Klimaschutz kennt keine Grenzen" oder "Gib GenFood keine Chance", die dann mal ernsthaft, mal humorvoll von illustrierenden oder metaphorischen Grafiken wie einer Europakarte, einem rauchenden Schlot oder einem Maiskolben mit Mafioso-Sonnenbrille und Halstuch als Hauptbildmotiv begleitet werden. Unten rechts im Bild findet sich auf allen Plakaten das Logo: der mit einem blauen Balken unterstrichene weiße Schriftzug Bündnis 90/Die Grünen, der rechts von einer halben stilisierten Sonnenblumenblüte umrahmt wird. Abbildung 5: WUMS
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Der hochformatige Prototyp dieser Serie plädiert dafür, "Mit grünen Ideen aus der Krise" zu kommen. Visualisiert wird diese Devise durch fünf graphisch dargestellte, unterschiedlich große, schräg liegende Zahnräder, deren Metalloberflächen hell glänzen und die alle ineinander greifen. Inmitten dieser Metallzahnräder leuchtet eine gelbe Sonnenblume, die sich nahtlos in das technoide Räderwerk einpasst. Dieses Motiv lässt gleich vier verschiedene inhaltliche Assoziationen zu: (1) die harmonische Verbindung von Technik (Metallzahnräder) und Natur (Sonnenblume), (2) die erfolgreiche Anwendung alter Techniken auf neue Problemstellungen, (3) die funktionierende Kooperation unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen innerhalb einer Nation und (4) schließlich die Kooperation mehrerer kleiner und großer Länder in einem Staatenbund wie der EU. So oder so werden die Aussichten für die Zukunft positiv besetzt. Serie 2: WUMS!-Angriffs-Serie Nach dem gleichen Schema wie die WUMS!-Themen-Serie ist auch die WUMS!-Angriffs-Serie konzipiert: Der sattgrüne Hintergrund der Plakate wird von links oben nach rechts unten langsam heller; die obere Hälfte der Plakate wird vollständig vom leicht schrägen hellgrünen WUMS! beherrscht; direkt darüber verkündet der weiße Claim das jeweilige Thema; die rechte untere Bildhälfte füllt das Bildmotiv aus, und am unteren Plakatrand findet sich ebenfalls in weißer Schrift links die Fußnote zur Erläuterung der Abkürzung WUMS! und rechts daneben das mit einem hellblauen Balken unterstrichene Partei-Logo umkränzt von der angeschnittenen Sonnenblumenblüte. Anders als die grüne Themen-Serie zielen die Poster der WUMS!-AngriffsSerie auf den politischen Gegner. So lautet der Claim auf dem Prototypen "Gegen neue Atom-Mutationen", während das Motiv aus einem gelben schmutzigen Ölfass mit schwarzem Atommüll-Giftzeichen besteht. Die Tonne ist von Schwefelrauch umgeben, und über ihren Rand quillt eine amorphe, schleimige, gelbgrüne Schaummasse, aus der wie in einem Horrorfilm drei Puppenköpfe hervorspringen, deren Gesichter die Züge von drei international bekannten Persönlichkeiten zeigen: Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und Silvio Berlusconi. Die drei lachenden und schmunzelnden Figuren scheinen sich in dem Atommüll prächtig zu amüsieren. Freilich ohne konkrete Informationen über die deutsche, französische und italienische Atompolitik zu vermit-
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teln, bieten die Grünen eine zynisch-humorvolle Kritik an den Regierungschefs, die mit solcher Absurdität ins Bild gesetzt ist, dass die normalerweise mit negativer Wahlwerbung verbundene Gefahr eines Boomerang-Effekts hier allein aufgrund der geschickten Gestaltung ausbleiben könnte. Serie 3: Kandidaten-Porträt-Serie So frech, modern und jugendlich wie die WUMS!-Plakate geraten sind, so seriös, solide und etwas altbacken erscheinen mittlerweile die grünen Kandidaten auf ihren Wahlplakaten. Der Hintergrund besteht auch in dieser Serie von Köpfe-Plakaten aus dem kräftigen, sich im Farbton leicht verändernden Grün. Zwei Drittel der Plakatfläche nehmen die rechts platzierten Großaufnahmen der KandidatInnen ein, deren Name in weißer Schrift am linken oberen Bildrand vorgestellt wird. In der unteren Bildhälfte auf der rechten Schulter der abgebildeten Personen steht in weißen Blockbuchstaben – ohne die Abkürzung WUMS! – der Slogan "Wirtschaft & Umwelt, Menschlich & Sozial" mit dem typographisch viel kleineren Zusatz "Für ein besseres Europa". Der untere Bildrand schließlich bietet in der linken und rechten Ecke Platz für die URL der Website der Grünen und das Partei-Logo. Der Prototyp der Serie präsentiert den Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer, der mit seinem weißen Hemd, seiner hellgrünen, weiß gepunkteten Krawatte und dem schwarzen Nadelstreifen-Sakko alles andere als rebellisch gekleidet ist. Das Gros der Plakatfläche nimmt der ordentlich frisierte Kopf des Kandidaten ein. Ähnlich wie Westerwelle blickt auch Bütikofer zwar freundlich durch seine randlose Brille in die Kamera, aber das sanfte Lächeln mit geschlossenem Mund wirkt doch insgesamt etwas angestrengt. An die expressive, Wähler mobilisierende Mimik von Joschka Fischer auf den "It's Yourope"-Plakaten des Europawahlkampfes 2004 schließen diese grünen Köpfe-Plakate stilistisch jedenfalls nicht an. Die Linke Die Linke setzte auch 2009 die Zusammenarbeit mit der Berliner Agenturgemeinschaft DIG/Trialon fort; die PDS hatte bereits seit 1994 mit Trialon kooperiert. Nur die Großflächenplakatierung erfolgte in drei Wellen, während
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die anderen Plakate über die sechswöchige Kampagne gleich blieben. Die Gesamtauflage betrug 214.000 Stück, zuzüglich 6.500 Großflächenplakate. Das Budget für den Plakatwahlkampf gab die Partei mit 240.000 Euro an. Serie 1: Blaue Themen-Serie "Konsequent sozial" – dieser Schriftzug prangt in riesigen weißen Lettern auf dem kobaltblauen Hintergrund eines querformatigen Plakats und verkündet in jedem Fall eine ästhetische Botschaft, nämlich eine gewisse gestalterische Konsequenz. Wie schon ihre Vorgängerin PDS im Bundestagswahlkampf 2002 und im Europawahlkampf 2004 reduzierte auch Die Linke bereits im Bundestagswahlkampf 2005 die Gestaltung mindestens einer Plakatserie auf zwei Elemente: Farbe und Schrift. Dass diese Textplakatserien der PDS bzw. der Partei Die Linke über die verschiedenen Wahlen hinweg überhaupt noch minimale Unterschiede aufweisen, ist bemerkenswert. Die Blaue Themen-Serie zur Europawahl 2009 besteht bis auf das oben genannte Querformat durchgängig aus hochformatigen, leuchtend blauen Postern, deren obere Hälfte mit sehr knappen, schlagwortartigen Forderungen wie "Mindestlohn europaweit", "Gleicher Lohn für Frauen", "Raus aus Afghanistan" oder auch nur mit politischen Symbolwörtern wie "Freiheit, Gleichheit" ausgefüllt ist. Wiewohl diese in weißen Blockbuchstaben gehaltenen Parolen in der unteren Bildhälfte stichwortartig konkretisiert werden, zielen solche politisch-symbolischen Botschaften traditionell darauf, dass jeder Betrachter seine höchst subjektiven Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit damit assoziieren kann. Wie ein Störer ragt unten rechts und leicht schiefgestellt eine weiße rechteckige Fläche mit dem Namen der Partei in den blauen Hintergrund. Dabei verleiht der rote, als kleiner Pfeil nach links gestaltete "i"-Punkt dem in schwarzen Druckbuchstaben gehaltenen Parteinamen Die Linke einen optisch auffälligen Farbakzent. Links unten befindet sich auf allen Plakaten dieser Serie ein skizzierter Stern umringt von einem Sternenkreis und gefolgt von dem Hinweis auf die "Europäische Linke". Passend zur Finanzkrise wirbt der Prototyp dieser Serie mit dem Claim "Millionäre zur Kasse" und fordert eine "Millionärs- und Börsenumsatzsteuer" sowie "kontrollierte Finanzmärkte und Banken". Für all diejenigen, die sich über die puristischen Plakate hinaus informieren möchten, wird eine Internetadresse angegeben.
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Abbildung 6: Millionäre zur Kasse
Serie 2: Kandidaten-Porträt-Serie Ein Bücherregal, mag es auch noch so verschwommen aufgenommen sein, als Hintergrund eines Kandidaten-Porträts, ziert heutzutage nur noch selten Wahlplakate. Auf den Kopf-Plakaten des Wissenschaftlers Lothar Bisky aber macht dieses Interieur wahlstrategischen Sinn, umgibt es den Europakandidaten der Linken doch mit einer gewissen intellektuellen Aura, ganz so wie die Doktortitel der FDP-KandidatInnen Silvana Koch-Mehrin und Guido Westerwelle. Trotz der Bildungsattitüde präsentiert sich der Linke-Kandidat Bisky erheblich legerer als Politiker anderer Parteien. Lediglich ein hellblaues, Falten werfendes Hemd ganz ohne Krawatte trägt Bisky auf dem Prototypen, derweil er den Betrachter mit einem altersmilden Lächeln direkt adressiert. Da die Schulterlinie seines dunkelbraunen Nadelstreifen-Sakkos das hochformatige Bild fast exakt teilt, wird die obere Plakathälfte vollkommen vom Gesicht des freundlichen, grauhaarigen Politikers eingenommen. Wie ein Namensschild klebt ein blauer Kasten mit dem weißen Claim "Lothar Bisky. Für einen kon-
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sequenten Politikwechsel" auf der linken Brust des Kandidaten, wobei dieser blaue Kasten am unteren Rand durch das weiße Rechteck des Parteilogos in schwarzer Schrift mit rotem Pfeil gestört wird. Wie auf den Themenplakaten findet sich auch in der Kandidaten-Porträt-Serie am linken unteren Bildrand der Hinweis auf die "Europäische Linke". 2
Bundestagswahlkampf 2009
Die wahlübergreifende Gleichförmigkeit deutscher Wahlplakate setzt sich auch bei der Bundestagswahl im Herbst des Superwahljahres 2009 konsequent fort. Denn was die visuelle Gestaltung betrifft, unterscheiden sich die Plakate von Europa- und Bundestagswahl 2009 nur wenig. Die folgende Darstellung konzentriert sich daher auf die Unterschiede zwischen den Europa- und Bundestagswahlplakaten 2009. CDU Wie schon bei der Europawahl kooperierte die CDU im Bundestagswahlkampf mit Kolle Rebbe und Shipyard, als Mediaagentur setzte sie außerdem Carat ein. Die sechswöchige Plakatierung erfolgte bei den Großflächen in drei Phasen. Die Gesamtauflage aller Plakate betrug 492.699 Stück. Gebucht wurden fast 1.500 Großflächen sowie 4771 Megalights. Schwerpunkte der Plakatierung gab es in den Bundesländern, in denen gleichzeitig Landtagswahlkämpfe stattfanden. Serie 1: Blaue Textplakat-Serie Verglichen mit der Europawahl kehrt sich das Verhältnis zwischen Themenund Kopfplakaten bei der CDU anlässlich der Bundestagswahl 2009 förmlich um: Zog die Unionspartei im Frühjahr noch mit drei unterschiedlichen Themen- und nur zwei Kandidaten-Serien in den Kampf um Wählerstimmen, so produzierte sie im Herbst lediglich eine Themen-Serie mit farbauffälligen Textplakaten. Für optische Attraktivität sorgt erneut die Treue der CDU zur Hintergrundfarbe Blau, die auf allen Postern in diagonalen, fließend ineinan-
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der übergehenden, hellen und dunklen Streifen verläuft. Im oberen Drittel der Textplakate finden sich die nur aus zwei Begriffen komponierten Claims, wobei die Großbuchstaben des oberen Wortes jeweils in kräftigem Orange gestaltet sind. Der Prototyp der Serie wirbt mit der doch sehr allgemeinen Forderung "Arbeit sichern". Wie schon bei der Europawahl findet sich auf fast allen CDU-Postern zur Bundestagwahl 2009 das mit den deutschen Nationalfarben unterlegte Personalpronomen "Wir", nur leitet es statt "Wir in Europa" nun den Slogan "Wir haben die Kraft" ein. Obgleich das in dieser Themen-Serie jeweils am rechten unteren Bildrand positionierte Parteilogo auch diesmal aus einem weißen Kasten mit dem roten CDU-Schriftzug besteht, fehlt bei der Bundestagswahl die in den Nationalfarben gehaltene Bordüre, die diesen Kasten auf den Europawahlplakaten ziert. Serie 2: Merkel-Standard-Serie Betrachtet man die Kopf-Plakate von Angela Merkel zur Bundestagswahl 2005 sowie zur Europa- und Bundestagwahl 2009, so kann man von einem nahezu standardisierten Bildaufbau der Porträts sprechen. Stets sieht man in der rechten Bildhälfte eine Frontal- oder Halbprofilaufnahme von Angela Merkel, deren Haar gern akkurat hinter das linke Ohr gelegt wird, während die linke Plakathälfte dem jeweiligen Text vorbehalten bleibt. Lediglich ein komplementäres Plakat aus dem Bundestagswahlkampf 2009 platziert eine offen lachende Angela Merkel im Profil auf der linken Bildhälfte, bedient sich aber im Prinzip identischer Gestaltungsideen. Auf dem Prototypen der MerkelStandard-Serie zur Bundestagswahl 2009 lächelt die in weiches Licht gehüllte CDU-Vorsitzende den Betrachter entspannt und leicht verschmitzt aus den Augenwinkeln an, ohne ihn jedoch direkt anzusehen (vgl. Abbildung 3 in Holtz-Bacha & Lessinger, in diesem Band). Zu den unveränderlichen Kennzeichen der Merkel-Kopf-Plakate zählt auch der nur am Kragen erkennbare, diesmal in modischem Violett gehaltene Blazer. Das bis zur Unkenntlichkeit unscharf abgelichtete Hintergrund-Motiv auf der linken Bildhälfte wird überlagert von dem Claim "Klug aus der Krise", wobei nur das Wort "Klug" in der CDU-Parteifarbe Orange gedruckt ist. Direkt darunter befindet sich in etwas kleinerer Typographie der Slogan "Wir haben die Kraft". Auch hier ist das "Wir" wieder mit den Nationalfarben unterlegt, die auf dem Parteilogo am rechten unteren Bildrand fehlen. Durch die leicht oberhalb der horizontalen
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Mittellinie platzierte Bildassoziation des Wortes "Klug" mit den Augen der Kanzlerin avanciert die CDU-Spitzenkandidatin zur kompetenten Krisenmanagerin, die die Nation in eine bessere Zukunft zu führen verspricht. Serie: 3: Merkel-Jackett-Serie Aus nur zwei Plakaten besteht diese Porträt-Serie der Amtsinhaberin, und für den signifikantesten Unterschied zwischen beiden sorgt die Farbe des Jacketts: hoffnungsvolles Grasgrün versus konservativ-modernes Violett. Abbildung 8: Wir wählen die Zuversicht
Wie aufgeklebt wirkt die Silhouette der frontal fotografierten Kanzlerin vor dem tiefschwarzen Hintergrund, der die Sakko-Farben noch kräftiger leuchten lässt. Die obere Bildhälfte gehört jeweils Kopf und Kragen der Kandidatin, die den Betrachter ebenso auffordernd wie begeistert anstrahlt. Auf der Mittellinie proklamiert der linksbündige Slogan des Prototyps "Wir wählen die Kanzlerin", und wie üblich nennt rechts unten im Bild ein weißer rechteckiger Kasten den Parteinamen in roten Lettern. Der Prototyp zeigt die typische Handhaltung von Angela Merkel und damit einen etwas größeren Bildausschnitt als die anderen Porträt-Plakate, die die Kanzlerin in aller Regel nur vom Schopf bis zum Hals präsentieren. Offenbar um sich selber
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Mut zu machen, tauschte die Partei bei gleichbleibendem Merkel-Motiv den Slogan in der nächsten Werbewelle gegen "Wir wählen Zuversicht" aus. Serie 4: American-Style-Merkel-Serie Gemessen an der bisherigen Analyse von Merkel-Postern ist die AmericanStyle-Merkel-Serie eine Ausnahme und besteht tatsächlich auch nur aus einem einzigen Plakat. Ganz im Stil des US-Präsidenten Barack Obama inszeniert sich die Kanzlerin an einem Rednerpult kreisförmig umringt von einer dichten Menschenmasse, die ihr andächtig zuzuhören scheinen. Ungewöhnlich für deutsche Wahlwerbung ist vor allem die Kameraperspektive, denn die extreme Obersicht der Aufnahme lässt die abgebildeten Personen winzig erscheinen, und das gilt gemeinhin als unvorteilhaft. Doch Angela Merkel ragt gleich in dreifacher Hinsicht optisch aus der Masse hervor: Erstens bietet ihr das Rednerpult einen erhöhten Standpunkt, zweitens befindet sich ihre Figur nahezu im Bildmittelpunkt, und drittens sticht ihre grasgrüne Jacke farblich markant hervor. Der weiße Claim "Gemeinsam für unser Land", bei dem das nur Wort "Gemeinsam" mit der CDU-Parteifarbe Orange ausgefüllt ist, verleiht der abgelichteten Menschenansammlung einen tieferen Sinn: Mit der Kanzlerin an der Spitze der Bewegung, so die symbolische Botschaft, eint die Union ganz Deutschland. Die sachpolitische Zielsetzung dieser 'Gemeinsamkeit' überlässt das Plakat indes der Phantasie des Betrachters. Der riesige Claim und das Parteilogo in der rechten unteren Bildecke, verbunden mit dem Hinweis auf den Wahltermin "am 27. September", nehmen räumlich die gesamte untere Plakathälfte in Anspruch. Serie 5: Kandidaten-Kompetenz-Serie Die Großaufnahme eines prominenten Parteivertreters vor einem diffusen Hintergrund, der mit den Nationalfarben dekorierte Slogan "Wir haben die Kraft", verschiedene Claims in überdimensionierten Blockbuchstaben, bei denen der erste Begriff durchgängig im CDU-Orange präsentiert wird und schließlich der Parteiname in roter Schrift auf weißem Grund in der rechten unteren Bildecke – all diese Bildelemente, mit denen die Union zur Bundestagswahl 2009 ihre Kanzlerin werbewirksam in Szene setzen wollte, kommen
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auch in einer Plakat-Serie für die CDU/CSU-MinisterInnen zum Einsatz. Die PolitikerInnen-Köpfe zieren mal die rechte und mal die linke Bildhälfte und werden visuell nur äußerst zaghaft mit ihrem Arbeitsfeld assoziiert. So sieht man beispielsweise Ex-Familienministerin Ursula von der Leyen im Gespräch mit einem Mann und einem kleinen Mädchen, die offenbar Vater und Tochter darstellen sollen, oder den Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung mit strengem Blick auf einen undefinierbaren Uniformträger. Prototypisch ist daher eher der vollends verschwommene Hintergrund auf dem Plakat des CSU-Shootingstars und damaligem Wirtschaftsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, der in dunkelblauem Blazer mit weißem Hemd und hellblauer Krawatte frontal in die Kamera strahlt und dabei eine weiße Zahnreihe aufblitzen lässt. Die korrekte Kleidung, unterstützt durch die Brille und die adrette Gelfrisur, vermittelt genau jenen glatten Eindruck, den der Slogan "Wirtschaft mit Vernunft" auch politisch versprechen möchte. CSU Ebenso wie die anderen Parteien verpflichtete die CSU für den Bundestagswahlkampf mit McCann Erickson wiederum die Agentur, die sie auch schon zur Europawahl unterstützt hatte. Die Kampagne verlief in drei Phasen und sah für die letzten 72 Stunden eine Schlussoffensive vor. Die Plakatkampagne bestand aus rund 20 Großflächen- und Streuplakatmotiven. Serie 1: Schlichte Themen-Serie So gut wie keine visuellen Modifikationen nahm die CSU zwischen der Europa- und der Bundestagswahl 2009 an ihrer Plakatkampagne vor. Lediglich die Schlagworte wurden ausgetauscht. So verwandelte sich der EuropawahlSlogan "Beherzt handeln" zwar kurzerhand in ein "Was unser Land jetzt braucht", aber der bundestagswahlspezifische Claim der Schlichten Themen-Serie beschränkt sich auf "Eine starke CSU in Berlin". Alle weiteren Aussagen bestehen aus symbolpolitischen Allgemeinplätzen wie "Wachstum und Arbeitsplätze" oder "Zukunft und Familie", unter denen sich jeder Wähler etwas anderes vorstellen darf. Optisch blieb von der Bildaufteilung über die Farben, Typographie und Raute bis hin zum Parteilogo alles erhal-
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ten. Einzig ein kleiner weißer Kasten mit den Nationalfarben und dem Hinweis auf den Wahltermin am 27. September wurde auf allen Bundestagswahlplakaten in der rechten oberen Ecke ergänzt. Serie 2: Briefwahl-Serie Anders als im Europawahlkampf, aber deshalb keineswegs ästhetisch ausgefeilter informiert die CSU ihre Wähler über die Modalitäten der Wahl. Während die Fotografie der postgelben "Briefkasten-Serie" im Europawahlkampf noch eine gewisse Strahlkraft für sich reklamieren konnte, wirkt das Poster der Zweitstimmen-Kampagne zur Bundestagswahl 2009 höchst unaufgeräumt. Das Gros der weißen Plakatfläche wird eingenommen von einem angeschnittenen Stimmzettel mit einem grünen Stempel, der die Erst-und Zweitstimmvergabe an die CSU bewirbt. Wie auf allen CSU-Plakaten des Jahres trennt auch hier eine blaue Raute den für das Parteilogo vorgesehenen Streifen am unteren Bildrand ab, und zumindest auf allen Bundestagswahlplakaten erzeugt der kleine weiße Kasten mit den Nationalfarben und den Wahltermin in der oberen rechten Plakatecke einen seltsamen optischen Bruch. Serie 3: Kandidaten-Serie Vollkommen identisch mit den Europawahlplakaten ist dann schließlich die CSU-Kandidaten-Serie zur Bundestagswahl. Wieder begegnen dem Rezipienten frontale Großaufnahmen von diversen CSU-Politikern wie vom Parteivorsitzenden Horst Seehofer, den MinisterInnen Karl-Theodor zu Guttenberg (vgl. Abbildung 5 in Holtz-Bacha & Lessinger, in diesem Band) und Ilse Aigner oder dem damaligen Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Peter Ramsauer, aber auch Kanzlerin Angela Merkel, die allesamt in das blau-weiße, bayerische Himmelszelt montiert sind. Die hell-dunkelblaue Raute trennt das jeweilige Kandidatenporträt von dem Slogan "Was unser Land jetzt braucht" und dem jeweiligen Claim wie zum Beispiel im Falle von Horst Seehofer "Ein starkes Bayern in Berlin". Wie immer befinden sich in der rechten unteren bzw. rechten oberen Plakatecke das CSU-Logo bzw. die Deutschlandfarben mit dem Wahltermin.
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SPD Die SPD engagierte für ihre Werbekampagne wiederum die Agentur Butter. Wie bei den anderen Parteien startete die Plakatierung sechs Wochen vor dem Wahltermin. Die Gesamtauflage der Plakate betrug 278.000 Stück, 15.500 Großflächen wurden gebucht. Neben den traditionellen Straßenplakaten warb die SPD diesmal auch mit Plakaten, die nur für die Werbung im Internet konzipiert wurden. Serie 1: Testimonial-Serie Farblich dominiert in der gesamten SPD-Kampagne ein leuchtendes Rot. Mehr als in allen vorherigen Wahlkämpfen rückt damit die SPD-Parteifarbe wieder in den Blickpunkt. Ähnlich wie die CDU setzt auch die SPD bei ihrer Plakatgestaltung stark auf Hochglanzfotos. Anders als in der betont dokumentarischen Arbeitswelt-Serie der SPD zur Europawahl kommen in der für Großflächen produzierten Testimonial-Serie die Bürger scheinbar selbst zu Wort und erklären, warum sie die SPD wählen werden. Abbildung 8: Und deshalb wähle ich SPD
So zeigt der querformatige Prototyp in der linken Bildhälfte eine sympathische junge Studentin mit langen blonden Haaren, die in einem leeren Hör-
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saal sitzt, den Kopf auf ihren rechten Arm stützt und den Betrachter vielwissend anlächelt, während ein großer leuchtend roter Kasten mit der weiß gedruckten Aufschrift "Bildung darf nicht vom Konto der Eltern abhängen" die leeren Sitzreihen in der rechten Bildhälfte verdeckt. Im unteren Drittel wird der rote Kasten durch eine weiße Zeile durchbrochen, auf der in roten Buchstaben steht: "Und deshalb wähle ich SPD". Diese Kombination aus Fotos von attraktiven, vorwiegend jüngeren, sympathischen Zeitgenossen, die in einem roten Kasten scheinbar persönliche Ansichten zur Arbeits-, Sozial-, Gesundheits- und Umweltpolitik verkünden und damit eine Wahlempfehlung für die SPD verbinden, kennzeichnet alle Poster dieser Serie. Serie 2: Schlichte Themen-Serie Aufmerksamkeit verschafft die Farbe Rot auch den Textplakaten der Schlichten Themen-Serie. Auf hellblauem Hintergrund liefert der Prototyp in gigantischen grauen Lettern einen Grund, die SPD zu wählen – nämlich "Weil Wirtschaft Maß und Regeln braucht." – und hebt die Schlussfolgerung "Deshalb SPD" dadurch besonders auffällig hervor, dass dieses weiße Statement im roten Kasten das komplette untere Viertel des Plakates bedeckt. Aufgegriffen wird dieses Farbspiel von dem SPD-Würfel, der etwas unmotiviert in der rechten oberen Plakatecke hängt. Serie 3: Briefwahl-Serie Übertrieben rot wird die Plakatkampagne schließlich in der aus nur einem Plakat bestehenden Briefwahl-Serie, denn hier hebt sich der rote SPDParteilogo-Würfel in der rechten unteren Ecke nur noch vom ebenfalls roten Plakathintergrund ab, weil sich die beiden Rottöne unangenehm beißen. Im Mittelpunkt des für Plakatständer konzipierten hoch-formatigen Posters befindet sich ein weißer, gestempelter Umschlag, auf dem der Wahltermin und die Internetadresse www.briefwahlinfo.de zu lesen ist, die auch am linken unteren Bildrand in kleiner weißer Typographie nochmal wiederholt wird. Wie eine Überschrift mit kleinerer Unterzeile steht die doppeldeutige Aufforderung "Geschickt wählen! Am 27. September zur Bundestagswahl" auf einem weißen Balken linksbündig am oberen Rand des Plakates.
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Serie 4: Kanzlerkandidaten-Porträt-Serie Wie die meisten Politiker anderer Parteien zieht auch der SPD-Kanzlerkandidat mit einem klassischen Kopf-Plakat in den Bundestagswahlkampf 2009, das in den letzten zwei Wochen vor dem Wahltermin auf Großflächen plakatiert war. Was die SPD- und CDU-Köpfe-Plakate jedoch von den Passfotos anderer Parteien sichtbar unterscheidet, ist die gestalterische und produktionstechnische Qualität. So fabrizieren beide Volksparteien querformatige Großaufnahmen ihrer Kandidaten, auf denen der Hintergrund unscharf verwischt, um die Aufmerksamkeit des Betrachters nicht von der Person abzulenken. Denn je eindeutiger sich die Figur vom Grund abhebt, desto besser bleibt sie Gedächtnis. Dabei operiert die SPD geschickter als die CDU mit diesem aus der Wahrnehmungspychologie bekannten Gestaltgesetz der Figur-Grund-Beziehung, indem sie ihren Kanzlerkandidaten auf dem Prototypen dieser Plakat-Serie vor sattgrün verschwommenem Blattwerk ablichtet. Denn erstens vermittelt das natürliche, mit Lichtreflexen durchsetzte Dunkelgrün eine beruhigende Atmosphäre, und zweitens wird der Betrachter nicht dadurch von der Werbebotschaft abgelenkt, dass er – wie im Falle der CDU-Plakate – womöglich rätselt, welches Motiv dort als verschwommener Hintergrund gedient haben mag. Zudem blickt der frontal abgelichtete Frank-Walter Steinmeier seine potentiellen Wähler nicht nur direkt an, sondern es gelingt dem sonst so steifen Politiker sogar ein süffisant-charmantes Schmunzeln, das ihm in Kombination mit dem rechts im Bild befindlichen, weiß gedruckten Claim "Unser Land kann mehr" die souveräne Aura des Vielwissenden verleiht. Dank dieser Mimik, gepaart mit dem akkuraten weißen Hemd- und grauen Sakkokragen am unteren und den einzelnen, in die Stirn ragenden, kecken, weißen Haarsträhnen am oberen Plakatrand, gelingt Steinmeier die schwierige Image-Gratwanderung zwischen dem distanziert korrekten Staatsdiener und dem hintergründighumorvollen Menschen wie du und ich. Doch nicht alle Plakatabbildungen des SPD-Kanzlerkandidaten sind werbeästhetisch so gelungen. Im typischen Passbild-Format blickt FrankWalter Steinmeier auf einem Porträt-Plakat aus der Anfangsphase des Plakatwahlkampfes freundlich, aber verhaltend lächelnd direkt in die Kamera. Solche uninspirierten Porträtaufnahmen mit starrer Kopfhaltung, exakt gescheiteltem Haar, unauffälliger Brille, dunkelblauem Jackett, weißem Hemd und unprätentiöser, orangefarbener Krawatte mit grauen Streifen
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erscheinen für die im Wahlkampf favorisierte emotionale Wähleransprache eher ungeeignet. Serie 5: Bürgernahe Kanzlerkandidaten-Serie Wie schon in der Testimonial-Serie setzt die SPD auch in ihrer am aufwändigsten produzierten Kanzlerkandidaten-Serie ganz auf Bürgernähe. Wo immer sich Steinmeier auf diesen für Großflächen produzierten Plakaten auch befinden mag – ob im Kreise von Rentnern, im Gespräch mit Jugendlichen oder unter Stahlarbeitern, stets wird der SPD-Kanzlerkandidat als guter Zuhörer visualisiert, der die Anliegen der Menschen ernst nimmt. Doch trotz aller Detailfreude muten diese stark inszenierten Fotografien wenig authentisch an. Steif gebügelt wie ein Business-Anzug wirkt der graue Arbeitskittel, den Frank-Walter Steinmeier bei seinem vermeintlichen Besuch in einem Stahlwerk trägt und den er obendrein mit einem weißen Hemd und einer gepunkteten Krawatte kombiniert. Angesichts solcher Stilbrüche hilft es nur noch wenig, den Kandidaten mit einem weißen Arbeitsschutzhelm auszustatten. Aber auch die Stahlarbeiter, die dem SPDKanzlerkandidaten ihre Arbeitswelt erläutern, anonymisiert das querformatige prototypische Plakat dieser Serie, wenn die Blaumänner nur verschwommen am linken Bildrand oder in Rückenansicht in der rechten Bildhälfte zu sehen sind. Individuell erkennbar ist nur der bodenständig und zupackend wirken wollende Kandidat im Bildmittelpunkt, der einem der Arbeiter altväterlich seine rechte Hand auf den Arm legt. Perspektivisch geschickt arrangiert ist jedoch, dass der betreffende Arbeiter mit seinen erklärenden Gesten nicht nur auf den heißen flüssigen Stahl, sondern zugleich auch auf das in die rechte obere Plakatecke gepackte SPD-WürfelLogo zeigt. Im unteren Drittel des Posters legt sich fast über die ganze Breite ein weißer Balken mit dem Slogan "So respektiert man gute Arbeit: Anständige Löhne für die Menschen." und direkt darunter in weißer Schrift auf rotem Grund der Slogan "Unser Land kann mehr" (vgl. Abbildung 4 in Holtz-Bacha & Lessinger, in diesem Band).
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FDP Für ihre Bundestagswahlkampagne arbeitete die FDP mit einem "Kampagnenverbund" aus zehn Agenturen und orientierte sich damit, wie die Partei es selbst nannte, "an der Idee der 'wisdom of crowds'" (FDP startet..., 2009). Für die Werbekampagne setze die FDP allerdings wiederum auf die Beratung der Agentur von Mannstein. Serie 1: Gelbe Themen-Serie Was für die CSU gilt, trifft in noch erheblich stärkerem Maße auf die FDP zu: Die grellgelben FDP-Plakate, die in der linken oberen Ecke mit den Farben Schwarz und Rot nationale Assoziationen wecken wollen und das Parteilogo prinzipiell in die rechte obere Ecke packen, unterscheiden sich in nichts von den Europawahlplakaten der Partei, auf denen die EuropaSpitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin und der Parteivorsitzende Guido Westerwelle ebenfalls mit dem Claim "Arbeit muss sich wieder lohnen" die Werbetrommel für sich rührten. Wie die Köpfe-Plakate zur Bundestagswahl belegen, kaprizierte sich die gesamte FDP-Werbung im Superwahljahr 2009 tatsächlich auf dieses eine vage Postulat, das auf den Textplakaten zur Bundestagswahl mit Aussagen wie "Mehr Netto vom Brutto" wenigstens verbal noch zaghaft variiert wurde. Serie 2: Kandidaten-Porträt-Serie Als Prototyp der FDP-Kandidaten-Porträt-Serie bietet sich das Plakat des Parteivorsitzenden Westerwelle an, weil es tatsächlich identisch mit dem Plakat zur Europawahl ist. Zwar verbinden sich andere FDP-Kandidaten mit anderen Claims wie "Leistung wählen" (Dirk Niebel), "Die Mitte wählen" (Rainer Brüderle), "Bessere Bildung wählen" (Cornelia Pieper) oder "Faire Steuern wählen" (Hermann Otto Solms), verweilen dabei aber thematisch auf demselben plakativen Niveau und geben ihren Porträt-Plakaten keinerlei eigenständige stilistische Prägung. Die Köpfe auf den KandidatenPlakaten der FDP sind im Superwahljahr 2009 praktisch austauschbar.
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Serie 3: Idol-Westerwelle-Serie Ebenso wie Angela Merkel auf ihrem American-Style-Poster inszeniert sich auch Guido Westerwelle auf einem einzigen Plakat wie ein Popstar im Kreise seiner Fans. Umringt von unzähligen Menschen aller Altersklassen, die ihn von unten bewundernd anzulachen scheinen, thront der strahlende FDP-Vorsitzende in weißem Hemd und mit quergestreifter blau-weißer Krawatte, aber ganz lässig ohne Sakko. Allerdings hat Westerwelles fotografisches Bad in der Menge einen gravierenden werbeästhetischen Schönheitsfehler: Da alle Figuren ganz offensichtlich in das Bild montiert sind und nicht einmal alle auch auf Westerwelle schauen, wirkt die Begeisterung der vermeintlichen Westerwelle-Fans wenig authentisch. Im linken oberen Bildhintergrund ahmen die Farben Schwarz-Rot-Gold die Anmutung einer Deutschlandfahne nach, und in der unteren rechten Ecke des Plakates befindet sich ein breites FDP-gelbes Rechteck mit dem Slogan blauen "Deutschland kann es besser" und dem Parteilogo in der rechten Ecke. Da im linken oberen Winkel des gelben Balkens noch die Farben Schwarz und Rot zu sehen sind, wird das FDP-Gelb mit dem Gold der deutschen Nationalfarben assoziiert. Abbildung 10: Deutschland kann es besser
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Bündnis 90/Die Grünen Die Grünen setzten bei ihrer Bundestagswahlkampagne wie gewohnt auf die Agentur Zum goldenen Hirschen. Bundesweit fand eine einheitliche Plakatierung statt, die Plakate der Direktkandidaten variierten, sollten jedoch mit den gleichen Rahmenplakaten gestaltet werden. Eine Unterscheidung in verschiedene Kampagnenphasen gab es nicht. Serie 1: Grüne Themen-Serie Wie bei den meisten Wahlen nutzen Bündnis 90/Die Grünen die Leuchtkraft ihrer Parteifarbe in Verbindung mit doppeldeutigen Motiven, um Aufmerksamkeit zu erregen. Doch während im Europawahlkampf Hochglanz-Poster mit klar konturierten Motiven und Worträtseln wie WUMS zum Einsatz kamen, nutzen die Plakate zur Bundestagswahl 2009 zwar dieselben Grünschattierungen im Hintergrund, aber die Motive simulieren schablonenartig aufgesprühte Graffiti-Neonfarben. Wie das "Bio, Baby!", das gleichermaßen als Bildtitel und Aufforderung zu verstehen ist, dienen die Slogans in den großen weißen Druckbuchstaben auf allen Plakaten dieser Serie als Headline für die motivischen Anspielungen. Am unteren Bildrand aller Plakate steht der Slogan "Aus der Krise hilft nur Grün" und in der rechten unteren Ecke steckt das Sonnenblumen-Logo der Partei. Auffällig ist diese grüne Plakatserie allemal, doch ob sie auch verständlich und eingängig ist, wird vermutlich sehr stark vom einzelnen Rezipienten abhängig sein, was für den Effekt eines Werbemediums eher ungünstig ist. Serie 2: Grüne Angriffs-Serie Noch deutlicher tritt der schablonenhafte Graffiti-Stil in der Grünen Angriffs-Serie hervor, auf deren Prototyp sich die neonblaue Silhouette von Ex-Innenminister Wolfgang Schäuble scharf vor dem grünen Plakathintergrund abzeichnet. Die gesprühte Schäuble-Karikatur schaut verbissen aus und deutet mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Betrachter, während die darunter stehende Textzeile dem CDU-Politiker den Satz "Du bist verdächtig" in den Mund legt. Unter diese implizite Kritik am Überwachungs-
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Abbildung 10: Aus der Krise hilft nur grün
staat platziert die Partei im linken unteren Bildrand wieder den Slogan "Aus der Krise hilft nur Grün." und gegenüber das Parteilogo mit leuchtend gelb stilisierten Sonnenblume. Im Unterschied zur Grünen Themen-Serie verleiht der Graffiti-Stil in Verbindung mit den skizzenhaft übertriebenen Motiven den Postern der Angriffs-Serie eine selbstironische jugendliche Note, die eventuell den bei Negativattacken drohenden Boomerang- oder Backlash-Effekt kompensieren könnte. Serie 3: Kandidaten-Porträt-Serie Kaum stilistische Unterschiede lassen sich indes zwischen den grünen Köpfe-Plakaten zur Europa- und Bundestagswahl feststellen. Wie die Parteivorsitzende Claudia Roth auf dem Prototypen der Serie strahlen alle in Großaufnahme vor den typischen Grünschattierungen abgebildeten KandidatIn-
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nen mehr oder weniger Zähne zeigend frontal in die Kamera. Auf allen Postern schmückt das Parteilogo die obere rechte Ecke, und auch der Slogan "Aus der Krise hilft nur Grün" bleibt überall gleich. Was wechselt, sind lediglich die PolitikerInnen und ihre Namen. Die Linke Die Linke, die für ihre Werbekampagne die Agentur DIG/Plus engagierte, ging mit einer Gesamtauflage von 400.000 Plakaten in den Bundestagswahlkampf. Die Plakate mit den beiden Spitzenkandidaten erreichten die höchste Auflage. Insgesamt produzierte Die Linke 19 Personenplakate für die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten und stellte auf Wunsch etwa 40 weitere Personenplakate zur Verfügung. Nur auf den mehr 2.064 Großflächen wurden drei Wellen unterschieden, wobei die zwei Motive mit den Spitzenkandidaten in der ersten Dekade erschienen. Das Budget für die Großflächenplakatierung und das gesamte Printmaterial betrug rund zwei Millionen Euro. Serie 1: Rote Themen-Serie Bei der Partei Die Linke mögen zwar die Farben wechseln, aber die Themen bleiben: Während anlässlich der Europawahl 2009 noch mit leuchtend blauen Plakaten für den Mindestlohn geworben wurde, erscheint dieselbe Forderung wenige Monate später anlässlich der Bundestagswahl in tiefem Rot. In beiden Fällen aber beherrscht nichts anderes als Sprache die Wahlplakate. "Mindestlohn gerade jetzt!", heißt es in schwarzen Großbuchstaben auf weißem Grund im oberen Drittel des Posters. Auf dem monochrom roten Feld der unteren Plakathälfte folgen dann in weißer, deutlich kleinerer Schrift weitere Forderungen wie zum Beispiel "2 Millionen neue Arbeitsplätze". Näheres zur Erreichung dieser Ziele verspricht das Linke-Plakat unter der Internetadresse www.fuer-gerechtigkeit.de. In einem weißen, schräg von rechts oben nach links unten in die Plakatfläche eindringenden Feld ist das Parteienlogo untergebracht.
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Serie 2: Rote Kandidaten-Serie Rot ist die optisch beherrschende Farbe auf diesen Kandidaten-Plakaten, die Linke-Politiker in vergleichsweise dynamischen Großaufnahmen zeigen. Auf dem Prototypen der Serie spricht Gregor Gysi mit so ausladenden Gesten in die Kamera, dass seine Hand im rechten Bildvordergrund unscharf ist. Während der Kopf des Politikers die linke Plakathälfte einnimmt, unterstützt der weiße Text auf rotem Grund die soziale Chancengleichheit. Knapp unter dem Gregor Gysi zugeordneten Statement steht der Name der Partei in einem weißen Kasten. Abbildung 11: Mindestlohn gerade jetzt!
Serie 3: Weiße Kandidaten-Serie Im Prinzip ebenso gestaltet wie die rote ist auch die weiße Kandidatenserie. Die Plakate zeigen die Politiker in Nahaufnahme, wie sie vor weißem Hin-
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tergrund frontal in die Kamera lächeln. Der Prototyp zeigt Oskar Lafontaine im dunklen Sakko mit hellblauem Hemd und Krawatte, dessen Oberkörper zum Teil von einem roten Kasten mit dem Claim "Damit es im Land gerecht zugeht" verdeckt wird. Leicht schräg über dem roten Kasten befindet sich ein weißer Balken mit der Aufschrift Die Linke. 3
Fazit
Plakate gehören zu den ältesten Kampagneninstrumenten überhaupt, und in Deutschland haben sie ihren Platz neben den vermeintlich moderneren Wahlkampfkanälen gewahrt. In den letzten Wochen vor dem Wahltermin besetzen Plakate den öffentlichen Raum, keinem anderen Werbemittel lässt sich so wenig ausweichen wie den Wahlplakaten. Sie begleiten die Wählerinnen und Wähler noch bis zum Wahllokal und stellen daher gewissermaßen die letzte Erinnerung an Parteien und Kandidaten vor der Stimmabgabe dar. Folgen Plakate den aus der Werbeforschung bekannten Aufmerksamkeitskriterien, zwingen sie geradezu zur Auseinandersetzung mit Bild und Slogan, auch wenn diese in der Regel nur wenige Sekunden umfasst. Die Analysen von Plakaten der letzten Wahljahre haben allerdings gezeigt, dass sich die Parteien bzw. die von ihnen beauftragten Agenturen nur mehr wenig Mühe geben mit der Gestaltung ihrer Plakate. Nicht nur die immer gleichen und deshalb auch häufig kritisierten Kandidatenposter für die Wahlkreise, auch die für die bundesweite Kampagne verbreiteten Motive folgen einer Routine, die kaum für Kreativität spricht, so dass die Wahlplakate hinter ihren Wirkungsmöglichkeiten zurückbleiben. Gerade die Konfrontation der Plakatkampagnen von zwei nationalen Wahlen innerhalb eines Jahres hat deutlich gezeigt, wie wenig die Parteien und ihre Berater in die Gestaltung dieses für deutsche Wahlkämpfe geradezu charakteristischen Wahlkampfinstruments investieren, obwohl sie hier mit einer Werbeform zu tun haben, die ihnen die direkte Ansprache der Wählerschaft ohne das Risiko von Veränderungen durch redaktionelle Selektion erlaubt. Insofern unterstreichen auch die Plakate die 2009 viel beklagte Langeweile des Bundestagswahlkampfes. Nicht nur dass die bundesweiten Plakatkampagnen eher in ihrer Einfallslosigkeit als mit ihrer Kreativität Diskussionsstoff boten, auch die in einigen Jahren so erfolgreichen Presseposter sind verschwunden. Gemeint sind
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solche Plakate, die in nur kleiner Auflage produziert und selektiv geklebt werden und dazu dienen, die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen und ihre Wirkung durch deren Berichterstattung zu erzielen. Mit solchen Plakaten und subtil-humorvollen Motiven hatte die SPD im Bundestagswahlkampf 1998 Helmut Kohl angegriffen und 2002 die Kanzlerkandidatur von Edmund Stoiber aufs Korn genommen (vgl. Lessinger, Moke, & HoltzBacha, 2003) und damit gezeigt, dass Plakate durchaus effektiv einzusetzen sind. Dass aus der Reihe fallende Motive breite und sogar internationale Aufmerksamkeit generieren können, bewiesen im Wahljahr 2009 ausgerechnet Plakate aus den Wahlkreisen. Die CDU-Abgeordnete Vera Lengsfeld verwendete ein "Dekolleté-Foto" von Angela Merkel, das im April 2008, als die Bundeskanzlerin mit einem tiefen Ausschnitt zur Eröffnung der neuen Oper in Oslo erschien, bereits für Furore gesorgt hatte. Lengsfeld ließ ein ähnliches Foto von sich neben die Kanzlerin montieren und versprach der Wählerschaft doppeldeutig: "Wir haben mehr zu bieten". Lengsfeld kandidierte in Berlin im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg und Prenzlauer Berg, in dem bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 der Grüne HansChristian Ströbele ein Direktmandat gewonnen hatte und der insofern für die Kandidatin eine schwierige Konkurrenzsituation darstellte. Auch wenn Lengsfelds Wahlwerbung umstritten war, folgte sie mit dem Plakatmotiv den Aufmerksamkeitsregeln und demonstrierte, dass Plakate nach wie vor effektiv sein können. Nicht nur in diesem Zusammenhang fand auch Ströbele mit einem für seine Erststimmenkampagne von dem Zeichner Gerhard Seyfried gestalteten Plakat bundesweit Beachtung. Darauf reagierte schließlich auch die Kandidatin der Linken in dem umkämpften Wahlkreis, Halina Wawzyniak. Sie warb mit einem Plakat, das den Torso der Kandidatin von hinten zeigte: Bekleidet mit Jeans, das Hinterteil halb überdeckt von einem roten Kasten mit der weißen Aufschrift "Direkt: Halina Wawzyniak! Mit Arsch in der Hose in den Bundestag. www.die-linke.de", darunter das weißgrundige Parteilogo. Das T-Shirt über der Jeans ist hochgezogen, auf dem dazwischen sichtbaren Hautstreifen eintätowiert das Wort 'Socialist', auf dem 'i' der kleine, nach links weisende rote Pfeil aus dem Parteilogo der Linken. Eine Besonderheit gab es indessen bei den bundesweiten Plakatkampagnen im Wahljahr 2009: die Comic Angriffs-Serie der SPD im Europawahlkampf. Mit ihr wandelte die SPD zugleich auf ungewöhnlichen und traditionellen Pfaden, denn gezeichnete Figuren sind seit Mitte letzten Jahrhunderts
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fast vollständig aus der politischen Werbe-Mode geraten, gehörten aber bis dahin aber zu den stilistischen Klassikern. Ob auf Plakaten oder in Spots: In der jungen Bundesrepublik Deutschland wurden die Politiker der ersten Stunde ebenso wie ihre Ideen und ihre potentiellen Wähler – oft auch allegorisch – karikiert. Allerdings kam die Negativkampagne der SPD 2009, die mit zynischem Humor die anderen Parteien direkt angriff, offenbar nicht so gut an. Wenigstens bei jungen Leuten, die zu den Europawahlplakaten befragt wurden (vgl. Holtz-Bacha & Lessinger, in diesem Band), rief das Plakat mit dem breit grinsenden Hai neben dem Claim "Finanzhaie würden FDP wählen" ambivalente Reaktionen hervor. Zwar sagten 40 Prozent "Bringt mich zum Lachen" und 36 Prozent "Überrascht mich", aber 28 Prozent sagten auch "Stößt mich ab" und immerhin 21 Prozent "Ärgert mich". Direkt danach gefragt, ob sie solche Form der Wahlwerbung eher sympathisch oder eher unsympathisch" finden, antwortete mehr als die Hälfte (53%) "eher unsympathisch" und ein knappes Drittel (31%) "eher sympathisch". Unter denjenigen, die diese Werbung sympathisch fanden, meinten dann allerdings nur 38 Prozent, dass ihnen dieses Plakat auch die SPD sympathischer machen würde, 47 Prozent übertrugen die Anmutung des Plakats dagegen nicht auf die Partei. Umgekehrt sagten von denen, die das Plakat unsympathisch genannt hatten, zwei Drittel, dass ihnen das auch die SPD unsympathischer machen würde. Schließlich konnten die meisten Befragten auch dem Claim wenig Glauben schenken. 62 Prozent erwarteten nicht, dass sich die SPD nach der Europawahl für klare Regeln auf den Finanzmärkten einsetzen werde. (Vgl. dazu auch: Leidecker, in diesem Band) Die Kampagne der SPD, die ihre Entsprechung auch bei den Fernsehspots der Partei fand, bestätigt nicht nur einmal mehr das Risiko, das mit Negative Campaigning verbunden ist, sondern auch die offenbar ungenügende Beratung der Parteien bzw. fehlende Tests vor dem Einsatz der Werbemittel in der Öffentlichkeit. Obwohl hohe Summen in die Wahlkämpfe investiert werden, scheint allzu viel dem Prinzip von Versuch und Irrtum bzw. dem Bauchgefühl überlassen zu bleiben oder aber dem Motto zu folgen: 'Das haben wir schon immer so gemacht'. Es sieht so aus, als ob die Parteien in der Euphorie über Internet und Web2.0 die Lust an den traditionellen Werbemitteln verloren haben. Eine neue Idee indessen ist aus dem Wahljahr 2009 zu vermelden, die zu einem "Überraschungserfolg" (König, 2009) wurde. Nachdem die Grünen das Modell im bayerischen Landtagswahlkampf 2008 aufgebracht hatten,
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boten nun alle Parteien ihren Unterstützern online die Möglichkeit zur Plakatspende: Die Anhänger konnten sich ein Motiv auswählen, den Standort bestimmen und übernahmen die Kosten für die Miete der Plakatflächen. Das führt zwar nicht zu neuer Kreativität in der Gestaltung, erweitert aber die Durchschlagskraft der Kampagne und unterstreicht die Bedeutung, die die Parteien dem alten Wahlkampfmedium Plakat dennoch zuweisen, und haben dann vielleicht in Zukunft auch wieder mehr zu bieten. Literatur Arnold, F. (Hrsg.) (1979). Anschläge. Politische Plakate in Deutschland 1900–1970. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg. Bohrmann, H. (Hrsg.) (1984). Politische Plakate. Dortmund: Harenberg. Dillenburger, M., Holtz-Bacha, C., & Lessinger, E.-M. (2005). It's Yourope! Die Plakatkampagnen der Partei im Europawahlkampf 2004. In C. Holtz-Bacha (Hrsg.), Europawahl 2004. Die Massenmedien im Europawahlkampf (S. 35-64). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. FDP startet mit Kampagnenverbund in die Bundestagswahl 2009. Portal Liberal. Abgerufen am 1. September 2009 von http://www.liberale.de/FDP-startet-mit-Kampagnenverbund-in-die-Bundestagswahl-2009/2779c3751i1p42/index.html Hagen, M. (1978). Das politische Plakat als zeitgeschichtliche Quelle. Geschichte und Gesellschaft, 4, 412-436. Hagen, M. (1984). Werbung und Angriff – Politische Plakate im Wandel von hundert Jahren. In H. Bohrmann (Hrsg.), Politische Plakate (S. 49-69). Dortmund: Harenberg. Holtz-Bacha, C., & Lessinger, E.-M. (2006). Politische Farbenlehre: Plakatwahlkampf 2005. In C. Holtz-Bacha (Hrsg.), Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2005 (S. 80125). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hundhausen, F. (1975). Über das politische Plakat. In pro plakat e.V. (Hrsg.), Politische Kommunikation durch das Plakat (S. 11-44). Bonn: Hohwacht. Kämpfer, F. (1985). Der rote Keil. Das politische Plakat. Theorie und Geschichte. Berlin: Mann. König, M. (2009, 26. August). Wähle deine Wand. Süddeutsche Zeitung. Abgerufen am 1. September 2009 von http://www.sueddeutsche.de/politik/971/485398/text/print.html Kroeber-Riel, W. (1993). Bildkommunikation. Imagerystrategien für die Werbung. München: Vahlen. Langguth, G. (Hrsg.) (1995). Politik und Plakat. Fünfzig Jahre Plakatgeschichte am Beispiel der CDU. Bonn: Bouvier Verlag. Lessinger, E.-M., Moke M., & Holtz-Bacha, C. (2003). "Edmund, Essen ist fertig". Plakatwahlkampf 2002 – Motive und Strategien. In C. Holtz-Bacha (Hrsg.), Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2002 (S. 216- 243). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
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Malhorta, R. (1984). Künstler und politisches Plakat. In H. Bohrmann (Hrsg.), Politische Plakate (S. 11-48). Dortmund: Harenberg. Malhorta, R. (Bearb.) (1988). Politische Plakate 1914–1945. Hamburg: Hartung. Müller, M. (1997). Politische Bildstrategien im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1828–1996. Berlin: Akademie-Verlag. Prakke, H. J. (1963). Bild und Plakat. Zwei Studien. Assen: Van Gorcum. Ronneberger, F. (1975). Leistungen und Fehlleistungen der Massenkommunikation, insbesondere bei politischen Plakaten. In pro plakat e.V. (Hrsg.), Politische Kommunikation durch das Plakat (S. 97-126). Bonn: Hohwacht. Staeck, K., & Karst, I. (Hrsg.) (1973). Plakate abreißen verboten! Politische Plakate im Bundestagswahlkampf 1972. Göttingen: Steidl. Wasmund, K. (1986). Politische Plakate aus dem Nachkriegsdeutschland. Zwischen Kapitulation und Staatsgründung 1945–1949. Frankfurt am Main: Fischer.
Angreifende Plakatwerbung im Wahlkampf – effektiv oder riskant? Ein Experiment aus Anlass der SPD-Europawahlplakate 2009 Melanie Leidecker
"Finanzhaie würden FDP wählen", "Dumpinglöhne würden CDU wählen" und "Heiße Luft würde DIE LINKE wählen": Die SPD setzte mit ihren Wahlplakaten zur Europawahl 2009 auf (humorige) Angriffswerbung1 (siehe Abbildung 1). Die Bezeichnung der SPD-Wahlplakate als "humorig" muss allerdings in Klammern gesetzt werden, denn: Als lustig empfanden die angegriffenen Parteien die forschen Plakate nicht. So äußerte sich beispielsweise der FDP-Abgeordnete Patrick Döring empört: "Die SPD hat immer wieder gesagt, dass es im Prinzip keine Gründe gegen eine Ampelkoalition gibt […]. Noch so ein paar Plakate und es gäbe gute Gründe." (Döring, zitiert nach Schultz, 2009) Auch auf Seiten der CDU reagierte man brüskiert. Entsprechend äußerte sich ein CDU-Sprecher: "Wir brauchen keine Mätzchen im Wahlkampf, sondern Politik, die die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nimmt" (zitiert nach Schultz, 2009, 25. April). Auch Hendrik Wüst, Generalsekretär der CDU in Nordrhein-Westfalen, sprach sich gegen die attackierenden SPD-Plakate aus: "Die Buchstaben SPD stehen heute offensichtlich für Schimpfen, Pöbeln und Dreckwerfen" (Wüst, zitiert nach Voogt, 2009). Die SPD hingegen schien mit ihrer Wahlkampagne zufrieden zu sein. So äußerte sich SPD-Wahlkampfmacher Kajo Wasserhövel: "Wir führen keinen säuselnden Europawahlkampf. Wir zeigen klar, wofür wir und wofür Union, FDP und die Linke stehen. Witzig und auch ein wenig provozierend." (Wasserhövel, 2009) Wie aber ist angreifende (oder auch: negative) Wahlwerbung aus Sicht der Kommunikationswissenschaft zu bewerten?
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Eine detaillierte Plakatanalyse (unter anderem der SPD-Europawahlplakate 2009) findet sich bei Lessinger und Holtz-Bacha, in diesem Band.
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Abbildung 1: SPD-Wahlplakate zur Europawahl 2009
Quelle: http://www.wahlkampf09.de/2009/4/finanzhaie-wrden-fdp-whlen (abgerufen am 28. Oktober 2009)
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Forschungsstand
In Deutschland existieren bisher relativ wenige Studien, die sich mit negativer Wahlwerbung beschäftigen, so dass das Wissen um deren Wirkung noch immer gering ist. Der US-amerikanische Forschungsstand zum "Negative Campaigning" ist im Vergleich hierzu wesentlich umfangreicher. Die Befunde der US-amerikanischen Studien können allerdings nicht ohne weiteres auf den deutschen Kontext übertragen werden, denn in den USA herrscht "eindeutig eine andere Kommunikationskultur – gerade in Form und Inhalt negativer Wahlwerbung" (Klimmt, Netta, & Vorderer, 2007, S. 393). 1.1 Negativität amerikanischer und deutscher Wahlkämpfe Die amerikanischen Studien beschäftigen sich hauptsächlich mit der Frage, ob und wie man Negativwahlwerbung strategisch in den Wahlkampf einbauen kann und welche Wirkungen sie erzeugt (Holtz-Bacha, 2001, S. 670). Dass in den USA mehr Studien zum Negative Campaigning existieren, hängt damit zusammen, dass in amerikanischen Wahlkämpfen negative Wahlwerbung auch eine wesentlich bedeutendere Rolle spielt als in deutschen (Holtz-Bacha, 2001, S. 677): "Der Angriff auf den politischen Gegner hat sich dort als wichtige Strategie etabliert, um die heute keine Kampagne herumkommt." (Holtz-Bacha, 2001, S. 669) In deutschen Wahlkampagnen kommt Negativität zwar durchaus vor, dominiert werden sie jedoch eindeutig
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von nicht-angreifender Wahlwerbung (Holtz-Bacha, 2001, S. 674). Wahlwerbung in Deutschland bietet "eher das Bild einer schönen und harmonischen Welt" (Holtz-Bacha, 2001, S. 674); es wird vielmehr auf Erfolge verwiesen als persönliche Angriffe zu tätigen (Holtz-Bacha, 2001, S. 674). In einer Langzeitstudie zu deutschen Wahlwerbespots seit 1957 kann Holtz-Bacha zeigen, dass sich kritische Stellungnahmen in den Spots der beiden großen Parteien besonders selten finden: Zwischen 1957 und 1998 haben CDU und SPD lediglich in maximal 23 Prozent der Sequenzen ihrer Wahlwerbespots Kritik am politischen Gegner ausgedrückt (Holtz-Bacha, 2000, S. 182). Kaid hingegen beschreibt für die amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfe aus den Jahren 1992 und 1996, dass negative Wahlwerbung mehr als die Hälfte der Wahlwerbeinhalte ausmachte (Kaid, 2004, S. 163). Ein weiterer Unterschied zum Negative Campaigning in amerika-nischen Wahlkämpfen ist, dass negative Wahlwerbung in Deutschland in der Regel nicht auf die Persönlichkeit eines Politikers zielt, sondern "eher auf die Politik, die dieser macht" (Podschuweit, 2007, S. 22), also vorrangig auf politische Positionen und Themen – im Gegensatz zu angreifender Wahlwerbung in den USA, bei der persönliche Angriffe stärker verbreitet sind (Holtz-Bacha, 2001, S. 674). 1.2 Befunde – Pros und Contras negativer Wahlwerbung 1.2.1 US-amerikanische Studien Die Ergebnisse der US-amerikanischen Studien zur Wirkung von Negative Campaigning sind sehr uneinheitlich. Garramone (1984), Hill (1989) sowie Hitchon und Chang (1995) beispielsweise zeigen – und dies scheint das Hauptargument gegen die Verwendung negativer Wahlwerbung zu sein –, dass diese beim Publikum unbeliebt ist, insbesondere, wenn ein Kandidat persönlich angegriffen wird (Roddy & Garramone, 1988). Lau, Sigelman, Heldman und Babbitt (1999) hingegen schildern, dass angreifende Wahlwerbung nicht signifikant weniger beliebt ist als nicht-angreifende, sondern dass Wahlwerbung im Allgemeinen relativ unbeliebt sei (Lau, Sigelman, Heldman, & Babbitt, 1999, S. 857, 859). Gleichzeitig kommen die Autoren in einer Meta-Analyse 52 amerikanischer Wirkungsstudien zu negativer Wahl-
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werbung2 zu dem Ergebnis, dass diese insgesamt nicht effektiver ist als positive (Lau et al., 1999, S. 851, 857, 859). Unter "effektiv" verstehen die Autoren, dass die Werbung positive Konsequenzen für die Werbetreibenden und negative für den politischen Gegner hat3. Andere Studien aber kommen zu dem Ergebnis, dass negative Wahlwerbung als informativ wahrgenommen (Surlin & Gordon, 1977) und besser erinnert wird (Newhagen & Reeves, 1991) als positive. Auch hierzu finden sich wiederum Studien mit konträren Befunden (zum Beispiel Basil, Schooler, & Reeves, 1991). Ebenso gibt es Untersuchungen, die negativer Wahlwerbung einen positiven Effekt auf die Bewertung der angreifenden und einen negativen Effekt auf die Beurteilung der angegriffenen Partei beziehungsweise Kandidaten bescheinigen (z. B. Kaid, 1997) sowie Studien, die das Gegenteil zeigen (beispielsweise Hill, 1989; Hitchon & Chang, 1995). Wie dieser uneinheitliche Forschungsstand verdeutlicht, ist die Unsicherheit über die Wirkung negativer Wahlwerbung groß (Holtz-Bacha, 2000, S. 51). 1.2.2 Attraktivität des Einsatzes negativer Wahlwerbung Positive Aspekte, die beispielsweise Holtz-Bacha negativer Wahlwerbung (verschiedene Studien zusammenfassend) zuschreibt, sind, dass diese aufmerksamkeitssteigernd wirken und von anderen unerwünschten Diskussionen ablenken kann (Holtz-Bacha, 2001, S. 671, 677; Klimmt, Netta, & Vorderer, 2007, S. 391). Gerade der Aspekt der Aufmerksamkeitssteigerung ist möglicherweise ein bedeutendes Motiv dafür, dass in amerikanischen Wahlkämpfen negative Wahlwerbung sehr häufig verwendet wird. Denn eine Wirkung können die Wahlplakate natürlich nur dann erzielen, wenn sie auch wahrgenommen werden. Und negative Informationen über den politischen Gegner steigern offenbar die Aufmerksamkeit (Podschuweit, 2007, S. 22). Eine Erklärung für die aufmerksamkeitssteigernde Wirkung von negativer 2
Bei Lau, Sigelman, Heldman und Babbitt (1999) findet sich ein guter Überblick über US-amerikanische Studien zur Wirkung negativer Wahlwerbung.
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Übertragen auf negative Wahlwerbung heißt dies: "negative messages should be more memorable than positive ones; they should cause affect for the opponent to decline; they should, at the very least, not greatly deflate affect for the sponsor; they should have a net positive effect on evaluations of the sponsor relative to those of the opponent; and, most important, they should increase the probability of voting for the sponsor rather than the opponent." (Lau et al., 1999, S. 857)
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Wahlwerbung könnte sein, dass die Mechanismen selektiver Wahrnehmung, die bei positiven Aussagen wirksam sind, bei negativen Botschaften in der Regel nicht zur Anwendung kommen4 (Donsbach, 1991, S. 204, 208). "Selektive Wahrnehmung" bezeichnet die Tendenz der Rezipienten Botschaften zu vermeiden, die ihren eigenen Einstellungen widersprechen. Auf den Fall negativer Wahlwerbung übersetzt bedeutet dies, dass Angriffe auf einen politischen Gegner auch von den Anhängern des Angegriffenen wahrgenommen werden. Ein weiterer Punkt, der den Einsatz von Negativwerbung attraktiv macht, ist, dass diese "eingängiger" (Holtz-Bacha, 2001, S. 671) als nicht-angreifende Wahlwerbung zu sein scheint. Potentiellen negativen Wirkungen angreifender Wahlwerbung stehen demnach potentielle positive Wirkungen gegenüber. "Wann welche Negativstrategie aber wie wirkt, ist nur sehr differenziert zu beantworten" (HoltzBacha, 2001, S. 671) und im Vorfeld nicht recht kalkulierbar (Holtz-Bacha & Lessinger, 2006, S. 124). Da verschiedene Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Wirkung negativer Wahlwerbung kommen, ist davon auszugehen, dass – neben dem Angriff an sich – viele weitere unabhängige Variablen beziehungsweise Randbedingungen (wie beispielsweise die eigene Parteibindung), die Art des Angriffs (persönlicher Angriff oder Angriff der politischen Position) und dessen Intensität, die empfundene Fairness beziehungsweise Unfairness der Attacke und so weiter) einen Einfluss darauf haben, wie negative Wahlwerbung auf den Rezipienten wirkt (Klimmt, Netta, & Vorderer, 2007, S. 392). 1.2.3 Deutsche Studien Dem Negative Campaigning in deutschen Wahlwerbespots schreibt die Forschung insgesamt gesehen "keine überragende Bedeutung zu und sieht sein Gewicht auch nicht stetig wachsen" (Schoen, 2005, S. 510). Eine deutsche Studie, die sich mit den Wirkungen negativer Wahlwerbespots beschäftigt, stammt von Maier und Maier (2007). Sie untersuchten die Wahrnehmung und Beurteilung der beiden angreifenden Wahlwerbespots von CDU und SPD mit dem Titel "Die Kugel" aus dem Wahljahr 2005. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Rezipienten diese Spots im Durchschnitt deutlich 4
Donsbach (1991) untersuchte speziell die selektive Zuwendung zu Zeitungsinhalten.
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negativ bewerteten und insbesondere deren angreifende Sequenzen abschätzig beurteilten. Im Gegensatz dazu bewerteten sie die Passagen, in denen eine Partei die eigenen Ziele und Pläne (in nicht-angreifender Weise) darstellt, deutlich positiv (Maier & Maier, 2007, S. 336, 342). Die Erklärung von Maier und Maier ist simpel: Da deutsche Wahlwerbespots insgesamt vorwiegend nicht angreifend sind, sind die Deutschen mit Negative Campaigning nicht vertraut (Maier & Maier, 2007, S. 342); "there is no culture of negative or comparative advertising in Germany." (Maier & Maier, 2007, S. 336) Dabei verweisen sie nicht allein auf die Kultur politischer Wahlwerbung, sondern auch auf die Konsumgüterwerbung und die Tatsache, dass vergleichende Werbung in Deutschland bis 1997 gesetzlich verboten war und als ethisch verwerflich beurteilt wurde. Auch in der Praxis der Konsumgüterwerbung zeigte sich, dass erste Versuche, ein Produkt mit komparativen, negativen Spots zu bewerben, bei der deutschen Bevölkerung lediglich negative Reaktionen hervorriefen, woraufhin derartige Spots kaum weitere Verwendung fanden (Maier & Maier, 2007, S. 336). Eine andere Studie, die darauf hindeutet, dass Angriffe auf den politischen Gegner von deutschen Rezipienten nicht goutiert werden, stammt von Reinemann und Maurer (2007). Sie stellen in ihrer Studie zum Fernsehduell 2005 zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel fest, dass Aussagen der Kandidaten, die ihren jeweiligen Kontrahenten attackierten, zum einen bei den Anhängern des Attackierten, aber zum anderen auch bei den ungebundenen Wählern auf Ablehnung stießen (Reinemann & Maurer, 2007, S. 55-56). Deutlich positiver kamen bei den Sehern des Fernsehduells selbstbezogene Aussagen an, also Aussagen, in denen die Kandidaten über ihre eigenen Prioritäten und Ziele sprachen (Reinemann & Maurer, 2007, S. 84). Besonders interessant ist der Befund von Reinemann und Maurer, dass attackierende Aussagen auch bei ungebundenen Wählern auf Ablehnung stießen, wenn man sich das Ziel, das Parteien mit negativer Wahlwerbung verfolgen, vergegenwärtigt: Laut Klimmt, Netta und Vorderer dienen negative oder angreifende Werbebotschaften nicht dazu, diejenigen Wähler, die ohnehin eine stabil-positive Einstellung zur angegriffenen Partei beziehungsweise deren Personal haben, auf die Seite des Angreifers zu ziehen. Angreifende Werbung will "primär unentschlossene und/oder wenig informierte Wähler/innen beeinflussen" (Klimmt, Netta, & Vorderer, 2007, S. 391).
Angreifende Plakatwerbung im Wahlkampf
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1.2.4 Risiko: Backlash-Effekt Das wohl größte Risiko beim Einsatz angreifender Wahlwerbung ist der so genannte Backlash-Effekt (Holtz-Bacha, 2001, S. 672; Maier & Maier, 2007, S. 330). Dieser bezeichnet "das Phänomen, dass die Rezipient/inn/en der werbenden Partei den Angriff übel nehmen" (Klimmt, Netta, & Vorderer, 2007, S. 392) und daraufhin die Angreifenden selbst negativ bewerten beziehungsweise sich mit den Angegriffenen solidarisieren. Die Ursache dafür liegt vermutlich in der wahrgenommenen Unfairness des Angriffs. Ob ein BacklashEffekt eintritt, hängt unter anderem davon ab, ob die angreifende Wahlwerbung als wahr oder unwahr empfunden wird, ob ein persönlicher Angriff getätigt wurde, und davon, wer als Urheber des Angriffs identifizierbar ist. Wird die negative Wahlwerbung als unwahr beurteilt, als persönliche Attacke angesehen und tritt ein Kandidat selbst als Urheber des Angriffs auf (anstelle beispielsweise eines vermeintlich unabhängigen Political Action Commitees), so steigt die Gefahr, dass die Werbung auf den Angreifer selbst negativ zurückwirkt (Holtz-Bacha, 2000, S. 51-52; Holtz-Bacha, 2001, S. 672). Ob die SPD-Europawahlplakate einen Backlash-Effekt ausgelöst haben, kann im Nachhinein nicht mehr überprüft werden, doch eines haben sie auf jeden Fall: die Angegriffenen zu Gegenangriffen motiviert. So kursierten im Netz Repliken der SPD-Plakate, die wiederum die SPD angriffen (Schultz, 2009). Die FDP beispielsweise konterte mit einem Plakat "Pleitegeier würden SPD wählen". Auch die Variante "Wer Vollpfosten will, muss SPD wählen" ist im Internet zu finden (Schultz, 2009; Voogt, 2009). Diese Strategie wird als "instant rebuttal" – sofortiges Zurückschlagen – bezeichnet. Damit soll vermieden werden, dass ein bloßes Ignorieren des Angriffs der angegriffenen Partei als Schwäche oder gar Eingeständnis ausgelegt wird (Holtz-Bacha, 2001, S. 672-673). 2
Experiment zur Beurteilung negativer Wahlplakate
Wie (deutsche) Rezipienten diese und ähnliche angreifende Plakatwerbung beurteilen, ist unklar. Noch immer herrscht Unsicherheit über die Wirkung einzelner Angriffe (Holtz-Bacha, 2001, S. 672). Die zuvor geschilderten Befunde aus Studien zur Wirkung negativer Fernsehwahlwerbespots oder dem Fernsehduell können nur bedingt auf Printmotive wie Wahlplakate
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übertragen werden (Klimmt, Netta, & Vorderer, 2007, S. 298-299). Die Wirkung negativer Wahlplakate wurde nur in wenigen (deutschen) Untersuchungen geprüft (Lessinger & Moke, 2000, S. 245-246, 248), weshalb diesbezüglich weiterhin Forschungsbedarf besteht. Dabei ist das Wahlplakat für die Partei ein nicht zu unterschätzendes Werbemedium – "Plakate haben ihren festen Platz in der deutschen Kampagnenkultur". (Holtz-Bacha & Lessinger, 2006, S. 82) Von Mannstein bezeichnet das Plakat sogar als Kern des Wahlkampfs und schreibt ihm eine herausragende Rolle zu (von Mannstein, 2004, S. 232-233). Das Plakat taucht – im Gegensatz zu Fernseh- oder Hörfunkspots sowie Anzeigen – im öffentlichen Raum auf, dort, wo jeder sich bewegt (Lessinger & Moke, 2000, S. 245), und ist somit das öffentlichste Werbemittel (von Mannstein, 2004, S. 233). "Ihre Ubiquität auf den Straßen macht die Plakate zu einem aufdringlichen Medium, das sich kaum ignorieren lässt. […] Kein anderes Werbemittel signalisiert so deutlich: Es ist Wahlkampf und in ein paar Wochen ist Wahltermin."5 (Dillenburger, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005, S. 35). Um auf die zuvor aufgeworfenen Fragen eine empirische Antwort zu geben, wurde im Juli 2009 ein Experiment durchgeführt. Den Rahmen dazu bildete ein universitärer Methodenkurs6. 2.1 Hypothesen Ziel des Experiments ist zu prüfen, wie Rezipienten angreifende Wahlplakate (in verschiedenen Versionen) beurteilen. Die beiden Hypothesen dieser Studie leiten sich aus der generellen Vermutung ab, dass deutsche Rezipienten angreifende Wahlwerbung grundsätzlich negativer beurteilen als nichtangreifende – darauf deuten unter anderem die Forschungsarbeiten von Maier und Maier (2007) sowie Reinemann und Maurer (2007) hin. Die Haupt-Hypothese des vorliegenden Experiments lautet daher:
5
Auch Lessinger und Moke konstatieren, "daß Wahlplakate keineswegs ein anachronistisches Medium der Wahlwerbung sind, sondern daß sie ihre wichtigste Funktion im Sinne des Wahlkampfmanagements, nämlich Aufmerksamkeit zu erzeugen, durchaus erfüllen." (Lessinger & Moke, 2000, S. 261-262)
6
Ein besonderer Dank gilt den Studierenden Maike Dickhaus, Melanie Homberg, Patrick Jucha, Helena Knatz, Sarah Schmidt, Nadine Seidu Muhammed und Lena Voelz, die mit viel Eifer und Sorgfalt einen Großteil der Planung und Durchführung des Experiments übernommen haben.
Angreifende Plakatwerbung im Wahlkampf
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H1: Sowohl das Wahlplakat selbst als auch die darauf werbende Partei werden von den Rezipienten negativer beurteilt, wenn auf dem Plakat eine gegnerische Partei angegriffen wird, als ein Wahlplakat und die darauf werbende Partei, die keinen Angriff tätigen. In dieser Hypothese geht es zunächst einmal um einen allgemeinen Vergleich zwischen nicht-angreifender und angreifender Wahlwerbung – völlig gleich, in welcher Form der Angriff präsentiert wird. Hypothese zwei ist lediglich ein Zusatz, der sich etwas spezieller auf einen Vergleich zwischen verschiedenen Formen, in denen ein Angriff präsentiert werden kann, bezieht. Sie lässt sich aus den Befunden von Maier und Maier (2007) entwickeln. Diese zeigen in ihrer Studie zu den angreifenden Wahlwerbespots aus dem Jahr 2005, dass Rezipienten diejenigen Passagen der Spots, in denen eine Partei ihre eigenen Pläne und Ziele darstellte, deutlich positiver beurteilten als die angreifenden Sequenzen (Maier & Maier, 2007, S. 336, 342). Demzufolge war in Erwägung zu ziehen, dass ein Angriff auf einem Wahlplakat womöglich weniger negativ beurteilt wird, wenn der Attacke eine explizite Darstellung der eigenen Position der angreifenden Partei folgt (dies entspricht im weitesten Sinne dem rhetorischen Stilmittel der Antithese). Vereinfacht ausgedrückt heißt dies, dass ein Angriff, der lediglich die gegnerische Partei "schlecht macht", ohne konkret zu sagen, was die eigene Partei besser machen möchte, beziehungsweise wofür diese eigentlich steht, besonders negativ beurteilt wird. Die zweite Hypothese lautet demnach: H2: Sowohl ein Wahlplakat als auch die darauf werbende Partei werden negativer beurteilt, wenn sie lediglich einen Angriff auf die gegnerische Partei tätigen (ohne die eigene Position der angreifenden Partei darzustellen), als ein Plakat und die darauf werbende Partei, die sowohl einen Angriff der gegnerischen Partei als auch die Darstellung der Position des Angreifers selbst präsentieren; (das Plakat und die darauf werbende Partei werden aber negativer beurteilt als ein Plakat und die werbende Partei, die überhaupt keinen Angriff tätigen).
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2.2 Methode 2.2.1 Experimentelles Design und Stichprobe Als empirischer Beitrag zur Überprüfung der Beurteilung angreifender Wahlplakate in Deutschland wurde ein Experiment mit n = 90 Versuchspersonen7 durchgeführt. Diese 90 Probanden wurden zufällig auf drei experimentelle Gruppen zu je 30 Personen aufgeteilt, denen jeweils unterschiedliche – fiktive – Wahlplakatversionen präsentiert wurden (zum Untersuchungsdesign: siehe Tabelle 1). Eine Experimentalgruppe bekam ein Plakat ohne Angriff auf einen politischen Gegner gezeigt. Es stellt lediglich die eigene Position der werbenden Partei dar (kurz: die "positive" Version). Einer weiteren Gruppe wurde ein Plakat präsentiert, das ausschließlich einen Angriff auf eine konkurrierende Partei enthält. Der eigene Standpunkt der angreifenden Partei wurde nicht explizit erwähnt (kurz: die "negative" Version). Die dritte Gruppe bekam ein Plakat zu sehen, auf dem eine gegnerische Partei angegriffen und auf dem gleichzeitig die Position der angreifenden Partei (zur Kontrastierung) explizit dargestellt wird (kurz: die "Mischversion") 8. Alle optischen Elemente der Plakate blieben konstant, lediglich die Aussagentexte unterschieden sich zwischen den Versionen (siehe Abbildung 2). Nach der Präsentation einer der drei Plakatversionen füllten die Versuchspersonen einen Fragebogen aus, der die Beurteilung sowohl des jeweiligen Wahlplakats selbst als auch der werbenden (und gegebenenfalls angegriffenen) Partei messen sollte.
7
8
Bei den Versuchspersonen handelt es sich um Studierende der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Genau genommen handelt es sich bei der Aufteilung in drei Gruppen um ein unvollständiges 2x2Design, denn: Das Experiment testet den Einfluss zweier unabhängiger Variablen, die jeweils in zwei Abstufungen vorliegen: Angriff auf den politischen Gegner (mit den Abstufungen: "Angriff" und "kein Angriff") und Darstellung der eigenen Position (mit den Abstufungen: "Darstellung" und "keine Darstellung"). Es fehlt eine vierte experimentelle Gruppe, der eine Plakatversion ohne Angriff und ohne Darstellung der eigenen Position präsentiert wird. Da diese Version jedoch ein völlig inhaltsleeres Plakat darstellen würde – was bei den Probanden als unglaubwürdig erscheinen könnte –, wurde auf diese Version verzichtet. Dieser Versuchsaufbau ist bei der Auswertung der Daten zu berücksichtigen – anstelle einer mehrfaktoriellen kann lediglich eine einfaktorielle Varianzanalyse angewendet werden und Interaktionseffekte zwischen den beiden unabhängigen Variablen sind nicht eindeutig statistisch zu belegen.
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Tabelle 1: Darstellung des Untersuchungsdesigns Experimentelle Gruppe
Zeitpunkt t1: Unabhängige Variable (UV)
Zeitpunkt t2: Abhängige Variablen (AV)
1: "positive" Wahlwerbung
Vorführung des rein "posi- Messung der Beurteilung des tiven" Wahlplakats (AnWahlplakats und der wergriff: nein; eigene Position: benden Partei ja)
2: "negative" Wahlwerbung
Vorführung des rein "negativen" Wahlplakats (Angriff: ja; eigene Position: nein)
3: "Mischversion"
Vorführung der „MischMessung der Wahrnehmung version“ (Angriff: ja; eigene des Wahlplakats und der Position: ja) angreifenden Partei (sowie der angegriffenen Partei)
Messung der Beurteilung des Wahlplakats und der angreifenden Partei (sowie der angegriffenen Partei)
2.2.2 Stimulusmaterial, unabhängige und abhängige Variablen Die drei bereits erwähnten Wahlplakate bilden das Stimulusmaterial der Studie (siehe Tabelle 1). Zwar sind diese Plakatversionen rein fiktiv – es wurde also kein bereits existierendes Wahlplakat als Ausgangsbasis verwendet –, doch sie behandeln ein im Wahlkampfjahr 2009 aktuelles politisches Thema, nämlich die Diskussion um die Einführung von Mindestlöhnen. Die erstellten Plakate enthalten keinerlei persönliche Angriffe, sondern stellen klar themebezogene Plakate dar (ebenso wie die Plakate der SPD im Europawahlkampf 2009). Allerdings liegt durchaus eine direkte Attacke vor, denn die Angriffe in der "Mischversion" und in der "negativen" Version der Stimulusplakate "richten sich unmittelbar auf den politischen Gegner" (Holtz-Bacha, 2001, S. 671). Die angreifende Partei ist im vorliegenden Experiment die SPD – wie im Europawahlkampf 2009 –, die sich positiv für das Thema Mindestlohn ausspricht; der angegriffene politische Gegner ist die CDU, die eine ablehnende
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Abbildung 2: Stimulusmaterial für die experimentelle Studie (von links nach rechts: "positive" Plakatversion, "negative" Plakatversion, "Mischversion"
"positive" Wahlwerbung
"negative" Wahlwerbung
"Mischversion"
Haltung gegenüber dem Thema bezieht. Die potentiellen Störvariablen Parteidisposition und Geschlecht der Versuchsteilnehmer wurden durch Randomisierung kontrolliert. Die Voreinstellungen der Probanden gegenüber der SPD und der CDU wurden am Ende des Fragebogens mit einer Frage zur Parteineigung der Versuchspersonen erfasst. Eine Überprüfung der Parteidispositionen der Probanden in den drei Versuchsgruppen ergab eine annähernde Gleichverteilung (siehe Tabelle 2), so dass die Vergleichbarkeit der Gruppen gewährleistet ist. Auch hinsichtlich der Geschlechterverteilung unterscheiden sich die drei Gruppen nur minimal voneinander: Während in der Experimental-gruppe mit der "positiven" Wahlwerbung 15 Frauen und 15 Männer vertreten waren, enthielten die beiden Gruppen, die ein angreifendes Plakat präsentiert bekamen, jeweils 17 weibliche und 13 männliche Versuchsteilnehmer9.
9
Bei der Ergebnisberechnung wurde zusätzlich durch eine Kovarianzanalyse überprüft, ob die Gleichverteilung der potentiellen Störvariablen in den Gruppen gelungen ist, damit eventuelle von diesen ausgehende Störeinflüsse tatsächlich statistisch ausgeschlossen werden können.
Angreifende Plakatwerbung im Wahlkampf
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Tabelle 2: Parteineigung der Versuchspersonen
CDU/ CSU
FDP
SPD
Grüne
Experimentalgruppe 1: "positive" Wahlwerbung
8
5
5
5
Experimentalgruppe 2: "negative" Wahlwerbung
10
3
6
Experimentalgruppe 3: "Mischversion"
8
5
Summe
26
13
Linke
sonstige Partei
keiner Partei
Summe
0
1
6
30
2
3
1
5
30
5
5
0
0
7
30
16
12
3
2
18
90
Basis: n = 90 Versuchspersonen. Ausgewiesen sind absolute Häufigkeiten. Die Frage lautete: "Viele Menschen in der Bundesrepublik neigen längere Zeit einer bestimmten politischen Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, welcher?"
Um Unterschiede zwischen den Experimentalgruppen ausschließlich auf die unabhängige Variable zurückführen zu können, ist es unbedingt notwendig, dass sich die drei Plakatversionen ausschließlich in dieser voneinander unterscheiden. In diesem Experiment stellt lediglich die inhaltliche Gestaltung der Wahlplakate – "liegt ein Angriff vor (ja oder nein)?" sowie "wird die eigene Position der werbenden Partei dargestellt (ja oder nein)?" – die unabhängige Variable dar. Die optische Gestaltung der Plakate ist in allen drei Versionen konstant gehalten; auch die Formulierungen auf den Plakaten sind sprachlich möglichst ähnlich gestaltet, um Konfundierungen zu vermeiden. Die abhängigen Variablen stellen zum einen die Wahrnehmung und Beurteilung des Wahlplakats selbst, zum anderen die Wahrnehmung der angreifenden Partei dar. Ihre Messung erfolgt mittels des bereits erwähnten standardisierten Fragebogens, den die Versuchspersonen ausfüllten, nachdem sie eines der Stimulusplakate gesehen hatten. Bei den relevanten Fragen zur Messung der Beurteilung des Plakats und der werbenden Partei standen
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den Probanden verschiedene Antwortmöglichkeiten zur Verfügung, denen sie auf einer fünfstufigen Skala jeweils einen Wert zwischen "trifft überhaupt nicht zu" und "trifft voll und ganz zu" zuordnen konnten (Näheres dazu im folgenden Ergebnisteil). 2.3 Ergebnisse 2.3.1 Beurteilung des Wahlplakats Die Bewertung des Wahlplakats wurde zunächst durch eine einfaktorielle Varianzanalyse überprüft. Hier zeigen sich signifikante Unterschiede (bei einem Signifikanzniveau von p < 0,05) zwischen den Plakatversionen bei der Einstufung der drei Stimulusplakate als unseriös (p = 0,002), aggressiv und unsympathisch (p = jeweils 0,006). Betrachtet man von den signifikanten Aspekten ausgehend, inwiefern sich diesbezüglich die einzelnen Plakatversionen voneinander unterschieden (also: welche Version wird beispielsweise am seriösesten empfunden?), ergibt sich folgendes Bild: Das nichtangreifende ("positive") Wahlplakat wird durchweg am positivsten von allen drei Plakatversionen beurteilt (siehe Abbildung 5): Die Untersuchungspersonen nehmen es als am seriösesten (Mittelwert = 3,72), sympathischsten (Mittelwert = 3,57) und als am wenigsten aggressiv (Mittelwert = 1,93) wahr. Den "zweiten Platz" in Bezug auf die Wertungen in den Bereichen Seriosität (Mittelwert = 3,60), Sympathie (Mittelwert = 3,30) und geringer Aggressivität (Mittelwert = 2,66) erhält immer die "Mischversion" des Plakats. Das Schlusslicht bildet durchweg die "negative" (also: angreifende) Version des Plakats: Es wird somit als am wenigsten seriös (Mittelwert = 2,73), am wenigsten sympathisch (Mittelwert = 2,50) und als am aggressivsten (Mittelwert = 3,00) eingestuft. Diese Ergebnisse stimmen mit den Befunden von Reinemann und Maurer aus der TV-Duell-Studie überein, wonach Aussagen, in denen die Kandidaten über ihre eigenen Prioritäten und Ziele sprachen, deutlich besser ankamen als Angriffe auf den Gegner (Reinemann & Maurer, 2007, S. 84). Ein Einzelgruppenvergleich mit Hilfe eines Post-Hoc-Tests mit BonferroniKorrektur schlüsselt auf, zwischen welchen der drei Plakatversionen genau signifikante Unterschiede in der Beurteilung bestehen. Im Hinblick auf die Seriosität wird die rein "positive" Plakatversion signifikant seriöser als die "negative"
Angreifende Plakatwerbung im Wahlkampf
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(p = 0,004) und ebenso die "Mischversion" signifikant seriöser als die "negative" Version bewertet (p = 0,130). Bei den Items Aggressivität und Sympathie zeigen sich signifikante Unterschiede lediglich zwischen der "positiven" und der "negativen" Plakatversion (p = jeweils 0,006) – nicht aber zwischen der "Mischversion" und der "negativen" Version (bei der Einschätzung der Sympathie zeigt sich jedoch mit einem Wert von p = 0,055 zumindest eine deutliche Tendenz in diese Richtung). Abbildung 3: Mittelwerte der Beurteilung der Wahlplakate nach Gruppen
Basis: n = 90 Versuchspersonen. Dargestellt sind die Mittelwerte der drei experimentellen Gruppen. Die Verbindungslinien über den Balken geben an, zwischen welchen Gruppen signifikante Bewertungsunterschiede existieren. Die Frage, die gestellt wurde, lautet: "Nun noch einige Fragen zu dem präsentierten Plakat. Wie beurteilen Sie dieses Plakat hinsichtlich folgender Punkte? Bitte benutzen Sie dabei eine Skala von 'trifft überhaupt nicht zu' (Skalenwert = 1) bis 'trifft voll und ganz zu' (Skalenwert = 5). Das vorliegende Plakat wirkt…"
Hinsichtlich der Gestaltungsmerkmale zeigen sich bei der Beurteilung der Plakate hingegen keinerlei signifikante Unterschiede – alle drei Stimulusplakate werden als gleich ansprechend, grafisch gut gestaltet, auffällig, glaubhaft, kreativ, unterhaltsam beziehungsweise langweilig empfunden. Die feststellbaren Gruppenunterschiede sind daher nicht auf sonstige Merkmale der Plakate (die nichts mit der eigentlichen Manipulation der unabhängigen
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Variablen zu tun haben), sondern lediglich auf die inhaltlichen Unterschiede zurückzuführen. Zusammenfassend bedeutet dies: Nicht-angreifende ("positive") Wahlwerbung wird insgesamt positiver bewertet als angreifende (sowohl im Vergleich zur "negativen" Wahlwerbung als auch zur "Mischform"). Angreifende Wahlwerbung empfinden die deutschen Rezipienten als unseriöser, aggressiver und unsympathischer als nicht-angreifende. Ist dem Angriff (wie in der "Mischversion" der Stimulusplakate) eine explizite Nennung der eigenen Positionen und Ziele der werbenden Partei bei Seite gestellt, wird die negative Beurteilung des Angriffs ein wenig abgedämpft. Die "Mischversion" erhält zwar eine nicht ganz so positive Bewertung wie die nicht-angreifende Plakatversion, aber immerhin positiver als die rein angreifende Version (ohne explizite Nennung der eigenen Ziele) und nimmt somit also auch hinsichtlich der Beurteilung durch die Probanden eine Mittelposition ein. Darüber hinaus wird die rein angreifende Wahlwerbung nicht als beispielsweise unterhaltsamer oder auffälliger empfunden als nicht-angreifende Wahlwerbung oder die „Mischversion“. Auch diesbezüglich scheint nach den Befunden dieses Experiments das Negative Campaigning keinerlei positive Effekte zu generieren. 2.3.2 Beurteilung der werbenden Partei Zur Hypothesenprüfung bezüglich der Beurteilung der werbenden Partei – in diesem Fall: der SPD – diente zunächst ebenfalls eine einfaktorielle Varianzanalyse. Dabei zeigen sich signifikante Unterschiede in der Einschätzung der Probanden, für wie provozierend oder aggressiv (p = jeweils 0,000) und für wie rücksichtslos (p = 0,012) sie die werbende Partei einschätzen. Alle drei Items stellen eher negative Beurteilungen dar. Deutlich mehr positive Beurteilungen hingegen scheint keine der drei Plakatversionen im Vergleich zu einer anderen für die werbende Partei zu generieren: In keiner der präsentierten Versionen wird die werbende Partei als signifikant sympathischer, kompetenter, überzeugender, glaubhafter, tatkräftiger, authentischer, aktiver, vertrauenswürdiger oder stärker empfunden als in einer anderen Version. Ein Blick auf die Durchschnittswerte in der Beurteilung der werbenden Partei nach der Präsentation der verschiedenen Plakatversionen zeigt, wel-
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che Plakatversion zu den besten und welche zu den schlechtesten Bewertungen der werbenden Partei führt. Bei der Einstufung der Partei als provozierend, aggressiv sowie rücksichtslos zeichnet sich das gleiche Muster ab wie bei der Bewertung des Wahlplakats (siehe Abbildung 4): Nach der Präsentation des "positiven" (nicht-angreifenden) Stimulusplakats wird die werbende Partei als am wenigsten rücksichtslos (Mittelwert = 1,97), am wenigsten provozierend (Mittelwert = 1,96) und als am wenigsten aggressiv (Mittelwert = 1,83) wahrgenommen – dies macht inhaltlich Sinn, denn es wurde kein Angriff vorgenommen. Diese Unterschiede, die das nicht-angreifende Plakat im Vergleich zu den beiden angreifenden Plakatversionen hervorruft, sind im Falle der Bewertungsdimensionen Aggressivität und Provokation hoch signifikant (p < 0,002) und im Falle des Items Rücksichtslosigkeit als (nahezu) signifikant zu bezeichnen (p < 0,053). Die Präsentation der beiden Plakatversionen, die einen Angriff des politischen Gegners enthalten, führt dazu, dass die werbende Partei jeweils als deutlich rücksichtsloser, provozierender und aggressiver empfunden wird, als in der nicht-angreifenden Version. Die Unterschiede, die dabei von den beiden angreifenden Plakaten ("negative" Version und "Mischversion") hervorgerufen werden, sind zwischen diesen beiden jeweils relativ gering und nicht signifikant. Zusammenfassend bedeutet dies: Die werbende Partei wird als provozierender, aggressiver und rücksichtsloser empfunden, wenn sie eine andere Partei angreift, als wenn sie lediglich ihre eigenen Ziele und Positionen auf dem Wahlplakat vertritt. Gleichzeitig führt ein angreifendes Wahlplakat nicht dazu, dass die werbende Partei sympathischer, kompetenter, überzeugender, authentischer, glaubhafter, tatkräftiger, aktiver, stärker oder vertrauenswürdiger wirkt, als wenn sie mit einem nicht-angreifenden Wahlplakat wirbt. Die Negativwerbung scheint demnach keinerlei positive Effekte für die werbende Partei zu generieren. Abschließend soll in aller Kürze ein weiterer Aspekt angesprochen werden, der zwar nicht explizit die Fragestellung des vorliegenden Experiments behandelt, der jedoch zur Beschreibung der Wirkung angreifender Wahlwerbung eine zusätzliche – jedoch lediglich tendenzielle – Einschätzung zulässt. Der Fragebogen, den die Versuchspersonen ausfüllten, enthält bei den beiden Experimentalgruppen, die zuvor ein angreifendes Plakat gesehen
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Abbildung 4: Mittelwerte der Beurteilung der werbenden Partei nach Gruppen
Basis: n = 90 Versuchspersonen. Dargestellt sind die Mittelwerte der drei experimentellen Gruppen. Die Verbindungslinien über den Balken geben an, zwischen welchen Gruppen signifikante Bewertungsunterschiede existieren. Die Frage, die gestellt wurde, lautet: "Nun kommen wir noch einmal zu dem anfangs präsentierten Plakat zurück! Wie beurteilen Sie die auf diesem Plakat werbende Partei? Bitte geben Sie dies auf einer Skala von 'trifft überhaupt nicht zu' (Skalenwert = 1) bis 'trifft voll und ganz zu' (Skalenwert = 5) an. Die Partei wirkt…"
haben, Fragen zur Beurteilung der angegriffenen Partei10 (ebenfalls auf einer fünfstufigen Skala). Die durchschnittlichen Bewertungen der angegriffenen Partei (nach der Präsentation angreifender Wahlplakate) hinsichtlich ihrer Sympathie, Kompetenz, Vertrauenswürdigkeit, Verantwortungsbewusstseins und Tatkräftigkeit bewegen sich allesamt um die Mitte der fünfstufigen Skala. Das heißt, ein Angriff scheint keine deutlichen Auswirkungen auf die Beurteilung der angegriffenen Partei zu haben – sie wirkt dadurch nicht besonders unsympathisch, inkompetent, vertrauensunwürdig, verantwortungslos oder untätig. Daher scheint eines der Ziele angreifender Wahlwer10
Diese Fragen wurden nach der Präsentation des Wahlplakats, das keinen Angriff auf eine andere Partei enthält, nicht gestellt, weshalb ein Gruppenvergleich hier nicht möglich und die Auswirkungen der unabhängigen Variablen nicht exakt bestimmbar sind. Bei einer Wiederholung des Experiments sollte dies auf jeden Fall beachtet werden.
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bung, nämlich den Angegriffenen "in einem schlechten Licht dastehen zu lassen", nicht erreicht zu werden (jedoch fehlen zur genaueren Interpretation der Befunde als Vergleichsbasis die durchschnittlichen Beurteilungswerte nach dem Ansehen der nicht-angreifenden Plakatversion, weshalb diese Ergebnisse hier nicht einer zusätzlichen Signifikanzprüfung unterzogen werden können). 3
Fazit und Diskussion
Die dargestellten Befunde bestätigen die Haupt-Hypothese der Studie vollständig: Sowohl das Wahlplakat als auch die darauf werbende Partei werden von den Rezipienten am negativsten beurteilt, wenn auf dem Plakat eine gegnerische Partei angegriffen wird, ohne die eigene Position der angreifenden Partei darzustellen. Sowohl bei der Beurteilung des Wahlplakats als auch der werbenden Partei fallen die negativen Bewertungen nach dem Ansehen der "positiven" (nicht-angreifenden) Plakatversion geringer aus als nach dem Ansehen einer der beiden Plakatversionen, die einen Angriff des politischen Gegners enthalten. Dieses Ergebnis stimmt mit den Befunden anderer Studien, wie zum Beispiel von Maier und Maier (2007) oder Reinemann und Maurer (2007), überein. Die Zusatz-Hypothese ließ sich nur eingeschränkt bestätigen: Wird zwar eine gegnerische Partei angegriffen, gleichzeitig aber eine eigene Gegenposition aufgezeigt, wird zwar das Plakat etwas positiver beurteilt, die angreifende Partei hingegen nicht. Die Plakatversion, die einen Angriff sowie eine Darstellung der eigenen Position des Angreifers enthält, erhält bei den Beurteilungsdimensionen Seriosität, Sympathie und (geringer) Aggressivität durchweg eine bessere Beurteilung als die rein angreifende Version des Plakats (ohne die Darstellung der eigenen Position der werbenden Partei). Allerdings sind die Unterschiede zwischen diesen beiden Plakatversionen lediglich in Bezug auf die Einschätzung der Seriosität signifikant. Bei den Bewertungsdimensionen Aggressivität und Sympathie deuten die Befunde lediglich in diese Richtung. Nicht zu bestätigen ist die zweite Hypothese in Bezug auf die Bewertung der werbenden Partei als rücksichtslos, provozierend und aggressiv. Die Unterschiede, die die "Mischversion" des Plakats (sowohl ein Angriff als auch die Darstellung der eigenen Position liegen vor) im Vergleich zur rein angreifenden Version erzeugt (ohne Darstellung der eigenen Position), sind relativ
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gering und nicht signifikant. Die besten Bewertungen erhalten das Plakat und die werbende Partei, wenn ausschließlich die eigene Position der werbenden Partei dargestellt wird – wenn sie also auf Angriffe auf eine Konkurrenzpartei verzichtet. Die Befunde legen nahe, dass negative Wahlwerbung in Deutschland Backlash-Effekte nach sich zieht. Bezüglich der Bewertung der angegriffenen Partei weisen die Befunde in die gleiche Richtung wie auch die Ergebnisse von Maier und Maier (2007), nämlich dass sich ein Angriff der gegnerischen Partei kaum auf deren Beurteilung auswirkt. Maier und Maier konnten in ihrer Untersuchung lediglich einen geringen, in der Regel nicht-signifikanten Einfluss der von ihnen untersuchten angreifenden Fernsehwahlwerbespots auf die Ein-stellungen der Rezipienten gegenüber den angegriffenen Parteien und Kandidaten feststellen. Das vorwiegende Ziel der Spots, nämlich das Image des politischen Gegners zu beschädigen, konnte nicht erreicht werden. Das Gegenteil ist eher der Fall – die Produzenten der negativen Spots schädigten durch diese ihr eigenes Image: Der aggressive Spot der CDU schädigte das Renommee der Christdemokraten und Angela Merkels; ebenso führte der angreifende SPD-Spot zu einem negativerem Bild sowohl der Sozialdemo-kraten im Allgemeinen als auch Schröder im Speziellen (Maier & Maier, 2007, S. 330, 339-340, 343). Was tragen diese Befunde zu der Diskussion um die angreifenden SPDWahlplakate im Europawahlkampf 2009 bei? Es konnte klar gezeigt werden, dass angreifende Plakatwerbung bei deutschen Rezipienten schlechter ankommt als nicht-angreifende. Insgesamt gesehen, erzeugt negative Wahlwerbung offenbar negative Beurteilungen – sowohl bezüglich der Bewertung des Wahlplakats als auch der angreifenden Partei. Attackierende Plakatwerbung wird darüber hinaus nicht als unterhaltsamer oder auffälliger empfunden als nicht-angreifende. Dass die angreifenden Europawahlplakate der SPD 2009 so viel Aufmerksamkeit erzeugt haben, mag somit eventuell nicht an ihrem angreifenden Inhalt allein, sondern womöglich an ihrer auffälligen Gestaltung gelegen haben (vgl. auch Lessinger & HoltzBacha, in diesem Band). Vor dem Hintergrund dieses Experiments erscheint es also fraglich, ob die Angriffe auf den SPD-Wahlplakaten im Europawahlkampf 2009 als effektiv und hilfreich bezeichnet werden können. Allerdings können die Ergebnisse des hier präsentierten Experiments nur bedingt auf die SPD-Europawahlplakate übertragen werden. Zum einen sind die verwendeten Stimulusplakate nicht mit den Original-Plakaten der
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SPD identisch11. Zum anderen misst das Experiment lediglich kurzfristige Effekte – wie solche oder ähnliche angreifende Wahlplakate langfristig wirken, lässt sich mit den Befunden dieser Studie nicht vorhersagen. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse wird darüber hinaus durch die Gruppe der Befragten eingeschränkt. Es handelt sich bei diesen ausnahmslos um hoch gebildete, junge Menschen. Wie ältere und niedriger gebildete Personen die Plakate beurteilen, wurde nicht überprüft. Zukünftige Studien, die sich mit der Wirkung negativer Wahlwerbung beschäftigen, könnten zusätzlich die Effekte, die angreifende Wahlwerbung auf die angegriffene Partei hat, erfassen. Durch die Verwendung eines Vorher-Nachher-Designs wäre darüber hinaus das genaue Ausmaß der Veränderung in der Parteienbewertung zu bestimmen. Auch wenn die experimentellen Befunde nur eingeschränkt auf die SPDEuropawahlplakate übertragbar sind, bleibt abschließend festzuhalten, dass die Ergebnisse anderer deutscher Studien in die gleiche Richtung weisen. Maier und Maier beispielsweise fällen ein eindeutiges Urteil über angreifende Wahlwerbespots in Deutschland: "The last thing what a campaign spot in Germany should do is to be provokingly aggressive, or to attack the political opponent." (Maier & Maier, 2007, S. 337) Angreifende Wahlwerbung scheint komplex und nicht eindeutig vorhersehbar zu sein und ist daher für die angreifende Partei riskant.
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Die SPD-Europawahlplakate weisen unter anderem – im Gegensatz zu den im vorliegenden Experiment kreierten Plakaten – eine humorvolle Komponente auf. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die scherzhaften Elemente bedeutsame Wirkungen hervorgerufen haben. Hierzu sei auf die bereits zitierte Studie von Klimmt, Netta und Vorderer (2007) verwiesen, die den Einfluss von Humor auf die Wirkung negativer Wahlplakate untersuchen. Insgesamt zeigt diese Studie, dass Humor in angreifender Wahlplakatwerbung zwar wirkt, allerdings nur sehr schwach (Klimmt, Netta, & Vorderer, 2007, S. 404) und dazu vornehmlich auf die Anhänger des eigenen Lagers. "Die heftig umworbene Wählergruppe ohne eindeutige Parteidisposition dagegen zeigt sich relativ träge, weil sie beim Einsatz von Humor nur geringfügige Veränderungen in den kurzfristigen Werbewirkungen erkennen lässt." (Klimmt, Netta, & Vorderer, 2007, S. 406) Zudem sei kritisch auf das von Klimmt, Netta und Vorderer verwendete Stimulusmaterial hingewiesen: Die Plakatversionen sind zwar inhaltlich relativ identisch, unterscheiden sich jedoch sehr deutlich hinsichtlich ihrer grafischen Gestaltung (siehe Klimmt, Netta, & Vorderer, 2007, S. 399) – die humorvolle Plakatversion ist wesentlich bildlastiger und wirkt optisch ansprechender. Dies stellt eine nicht zu unterschätzende Störvariable dar. Eventuell sind die schwachen Effekte, die die humorvolle Plakatversion bewirkt, nicht (alleine) auf den humoristischen Charakter des Plakats zurückzuführen.
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Auge in Auge mit Kandidatinnen und Kandidaten. Emotionale Reaktionen auf Politikerplakate Christina Holtz-Bacha & Eva-Maria Lessinger
Der Politiker "ist zugleich Hauptdarsteller und Regisseur seiner Kampagne", er ist "das wichtigste Angebot seiner Partei an die Wähler", schreibt Wahlkampfprofi Peter Radunski 1981 (S. 31) in einem Beitrag über neuen Strategien der Wahlkampfführung in den achtziger Jahren. Als "Hauptdarsteller" verkörpern Kandidaten einen zwar auch damals nicht neuen, aber, wie Radunski ausführt, neuartigen Trend zur Personalisierung; als Regisseur bringt der Kandidat diejenigen Wahlkampftechniken zum Einsatz, die notwendig sind, um den Herausforderungen zu begegnen, die sich insbesondere dadurch stellen, dass das Fernsehen zum wichtigsten Medium der Kampagne geworden ist (vgl. auch Radunski, 1986). Radunski, der auch der Amerikanisierung deutscher Wahlkämpfe das Wort redete (1999, S. 33), hat sich für seine Kampagnenberatung viel aus den USA abgeguckt, wo sich die Kandidatenzentrierung aus dem politischen bzw. dem Wahlsystem ergibt. Nicht erst seitdem ist aber auch in der deutschen Politik die Rede von Personalisierung gängig, wenn auch nicht immer mit einem so positiven Ton, wie er bei Radunski mitschwingt (vgl. auch Holtz-Bacha, 2003). In Anlehnung an entsprechende Marketingkonzepte ist seit einiger Zeit gar der Markenwert von Politikern in die Diskussion gekommen (vgl. Schneider, 2004). In der Forschung spiegelt sich die wachsende Aufmerksamkeit für die Rolle der Kandidatinnen und Kandidaten in der Politikvermittlung ebenso wie in der Selbstdarstellung der Politik. Analysen der Medienberichterstattung untersuchen die Resonanz, die die Kandidaten zu Wahlzeiten in den Medien finden (vgl. z. B. Kindelmann, 1994; Schulz & Zeh, 2003, 2004, 2006 sowie in diesem Band; Wilke & Leidecker, in diesem Band; Wilke & Reinemann, 2000, 2003, 2006; Zeh, 2005). Während solche Studien Befunde darüber liefern, wie intensiv die Kandidatenzentrierung der Medien ausfällt, können Untersuchungen, die die Selbstdarstellung der Parteien zum Gegenstand haben, Aussagen darüber machen, welche Bedeutung den Kandidaten in der Präsentation von Politik für Medien und Wählerschaft zukommt.
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Obwohl gerade in Wahlkämpfen die Spitzenkandidaten eine herausgehobene Position einnehmen und manche Kampagnen ganz auf die Kanzlerkandidaten zugeschnitten scheinen, gibt es dazu indessen bislang kaum systematische Studien (vgl. aber Holtz-Bacha, 2000). Die Ergebnisse von Inhaltsanalysen der medialen Berichterstattung können aber zumindest als ein Indikator dafür dienen, wie kandidatenzentriert das Angebot der Parteien gewesen ist. Was die Relevanz der Bilder angeht, die sich die Wählerinnen und Wähler von den Kandidaten machen, lässt sich in Bezug auf das Wahlverhalten zunächst das sozialpsychologische Modell der Wahlentscheidung heranziehen (vgl. Schoen & Weins, 2005, insbes. S. 236-240). Dieses betrachtet die Kandidatenorientierung neben der Issueorientierung und der Parteiidentifikation als entscheidenden Einflussfaktor. Während vor allem Parteiidentifikation als ein langfristig stabiler Faktor konzipiert war, können Kandidatenimages kürzerfristigen Veränderungen unterliegen. Etwa seit den achtziger Jahren hat sich die Forschung verstärkt damit befasst, wie die Images der Kandidaten entstehen, und dazu verschiedene Modelle vorgelegt. Diese unterscheiden sich darin, inwieweit die Informationsverarbeitung eingefahrenen, für alle Wahlen bzw. Kandidaten relativ stabilen Bewertungskriterien unterliegt, oder ob und inwieweit spezifische Charakteristika der Kandidaten eine Rolle spielen. Ungeachtet der verschiedenen Konzepte ist klar, dass bei der Imagebildung affektive und kognitive Faktoren Einfluss nehmen, die Kandidatenimages aber immer auch mit Parteianhängerschaft und Issueorientierungen interagieren. Das sozial-kognitive Modell der Kandidatenbewertung (candidate appraisal) von Rahn, Aldrich, Borgida und Sullivan (1999) geht davon aus, dass die Eindrucksbildung gegenüber Kandidaten in ähnlicher Weise erfolgt wie in alltäglichen persönlichen Begegnungen und affektiv geprägt ist. Allerdings erfahren Politiker zusätzlich Zuschreibungen, die sich aus ihren politischen Aufgaben ableiten und auf ihre persönliche und professionelle Kompetenz beziehen. Kepplinger und Maurer stellen hinsichtlich der Kandidaten fest, "dass in der Praxis Persönlichkeitseigenschaften den Gesamteindruck wesentlich stärker prägen als Sachkompetenzen" (2005, S. 70), wobei die vom Fernsehen aktivierte Sympathie oder Antipathie gegenüber einem Kandidaten sich als wirkungsvoller für den Gesamteindruck erweist als der Eindruck von deren Problemlösungskompetenz. Für die Kandidatenbewertung spielen visuelle und verbale Informationen eine Rolle, die Befunde von Kepplinger und Maurer in ihrer Untersu-
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chung zu den Bundestagswahlkämpfen 1998 und 2002 sind allerdings nicht ganz einheitlich, was den relativen Beitrag visuell und verbal vermittelter Eindrücke angeht (2005, S. 78-79). Kandidaten zur emotionalen Ansprache der Wählerschaft Politische Werbung – die Spots im Fernsehen ebenso wie Plakate – auch im deutschen auf die Parteien konzentrierten System baut in beträchtlichem Umfang auf Kandidaten, wobei sich allerdings gezeigt hat, dass die pauschal mit Personalisierung benannte Kandidatenorientierung nicht kontinuierlich zunimmt, sondern von Wahlkampf zu Wahlkampf variiert, und dass dabei offensichtlich die Person des Kandidaten oder der Kandidatin eine einflussreiche Rolle spielt (vgl. Holtz-Bacha, 2000, S. 188-191; 2006). Wer als politischer Akteur seine sachpolitischen Vorstellungen erfolgreich personalisieren möchte, muss "kommunikative und visuell-darstellerische Kompetenz" (Gleich, 1999, S. 162) beweisen. Aber nicht erst seit dem Siegeszug des Fernsehens spielten in der Selbstdarstellung von Politikern neben rhetorischen Fähigkeiten die äußere Erscheinung, Mimik und Gestik von Personen eine nicht zu unterschätzende Rolle; ihre emotionale Wirkung hängt in nicht unerheblichem Maße von der optischen Erscheinung bzw. der medialen Visualisierung ab. Wie Emotionen bei der Rezeption von in den Medien auftretenden Personen entstehen, ist deshalb bislang vorwiegend im Kontext der audiovisuellen Medien untersucht worden, da das Fernsehen dank seiner Verbindung von Bild, Ton und Text die Zuschauer besonders stark emotionalisieren kann. Mittlerweile besteht jedoch kein Zweifel mehr, dass Personen in medialen Kontexten aller Art – vom Plakat über die Printmedien und den Hörfunk bis hin zum Handy oder Email – Emotionen beim Rezipienten hervorrufen können (vgl. Schenk, 2007, S. 196; Scherer, 1998, S. 277). Die Frage ist vielmehr, in welcher Weise die Emotionalisierung medienspezifisch variiert. Angesichts unzähliger disziplinspezifischer Emotionsbegriffe und -theorien ist die Erforschung von Emotionen im Kontext von Massenmedien jedoch alles andere als trivial. Immerhin existiert mit der Appraisaltheorie ('Bewertungskonzept') ein Ansatz, der sich nicht nur in mehreren emotionspsychologischen Studien empirisch bestätigt hat, sondern der auch auf Medieninhalte anwendbar ist (vgl. Schenk, 2007, S. 197). Zu den in der Kom-
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munikationswissenschaft häufig bemühten Instrumenten der Appraisaltheorie zählt der 'Stimulus Evaluation Check' (Stimulus-Bewertungscheck), mit dem Klaus R. Scherer (2001) Emotionen als Resultat schrittweiser Bewertung von Ereignissen konzipiert, wobei die Bewertung von folgenden Faktoren abhängt: (1) "relevance", das heißt, wie relevant ist das Ereignis für mich?; (2) "implications", das heißt, welche Konsequenzen hat es für mein eigenes Wohlbefinden und meine (aktuellen wie langfristigen) Ziele?, (3) "coping potential", das heißt, wie gut komme ich mit dem Ereignis klar?; und (4) "normative significance", welche Bedeutung hat das Ereignis für mein Selbstbild, meine persönlichen Normen und Werte? (vgl. Scherer, 2001, S. 94). Indem Scherer diesen 'Stimulus Evaluation Check' auf Personendarstellungen in den Massenmedien überträgt, gelangt er zu folgenden Emotionalisierungsstufen: 1. Bewertungsprozess ('Induktion'), 2. stellvertretendes Mitfühlen ('Empathie') und 3. emotionale Ansteckung ('Kommotion') (vgl. Scherer, 1998, S. 280-284). Der Bewertungsprozess hängt davon ab, inwieweit der Rezipient von dem Ereignis, das die Emotion der medial dargestellten Person auslöst, selbst betroffen ist. Bei der Rezeption von Wahlplakaten ist also auf der ersten Stufe (Induktionsebene) zunächst zu unterscheiden, ob die emotionale Reaktion eines Betrachters der politischen Botschaft oder dem abgebildeten politischen Akteur gilt. Ist ein Rezipient politisch stark engagiert, so wird die Bewertung des Plakats ebenso wie die Wahlentscheidung vermutlich unabhängig von der Personendarstellung fallen. Ist der beworbene Kandidat bereits bekannt, beeinflusst das früher gefällte Urteil die Wahrnehmung der Person. Je geringer das Involvement und je unbekannter ein Kandidat, desto größer ist indessen die Chance, dass die medial beobachtete emotionale Reaktion des Medienakteurs beim Rezipienten Emotionen auslöst, indem sich zum Beispiel (positive oder negative) Empathie für die Medienperson entwickelt, der Rezipient also die Situation der Medienperson stellvertretend 'mitfühlt', ohne selbst betroffen zu sein. Mit anderen Worten: Der Rezipient entwickelt so genannte 'Kommotionen' oder 'Mit-Emotionen' (Scherer, 1998, S. 280, 282). Auf der Empathiestufe müssten die "emotional-expressiven Äußerungen" des Senders der Beobachtung des Empfängers nicht einmal zugänglich sein, so Scherer (1998, S. 282), sondern es reiche aus, wenn sich der Rezipient die entsprechende emotionale Bewertung des Protagonisten vorstellen könne. Das würde erklären, warum Negativattacken gegen Politiker selbst auf Wahlplakaten in einem Boomerang-Effekt Mitleid und/oder Ärger beim
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Betrachter auslösen können, obwohl der Rezipient die Reaktion des angegriffenen Politikers gar nicht beobachten kann. Andererseits quittieren manche Wähler solche Angriffe durchaus mit einer gewissen Häme. Folgt man nämlich der 'Affective Disposition Theory' (affektive Dispositionstheorie) von Dolf Zillmann (1991, 2004), so ist davon auszugehen, dass Sympathie mit dem Medienakteur zu symmetrischen Kommotionen (Mitgefühl) führt, während Abneigung oder gar Feindseligkeit gegenüber der Medienfigur asymmetrische Kommotionen (Schadenfreude) hervorruft. Das heißt, der Bewertungsprozess beeinflusst das stellvertretende Mitfühlen: Bei großem politischen Engagement und grundsätzlich positiver Bewertung des Kandidaten 'fiebert' (fühlt) der Anhänger (Rezipient) mit seinem Kandidaten (Medienakteur) und begeistert sich für dessen Darstellung in der Werbung. Bei starkem politischem Interesse und grundsätzlich negativer Bewertung des Kandidaten gönnt der Anhänger der gegnerischen Partei dem Kandidaten das Scheitern und reagiert entsprechend ablehnend auf dessen werbliche Präsentation. Der Rezipient gönnt oder missgönnt dem Kandidaten den Wahlsieg. Noch relevanter sind allerdings die politisch Unentschiedenen bzw. politisch weniger Interessierten, weil sie stärker durch Wahlwerbung beeinflussbar sind und sich insofern durch die dargestellten Emotionen eher emotional anstecken lassen. Darin besteht dann auch die dritte Möglichkeit der Emotionsentstehung (Kommotionsstufe), nämlich dass die Rezipienten sich von der dargestellten Emotion anstecken lassen. Im Falle von Wahlwerbung hieße das beispielsweise, dass gut aussehende, freundlich lächelnde Kandidatinnen und Kandidaten ihren Optimismus auf den Rezipienten übertragen bzw. Kopf-Plakate mit misslungenen Porträts den Rezipienten nicht nur langweilen, sondern sogar demotivieren und abschrecken könnten. Zwischen Freund und Feind: Parasoziale Interaktion bei KöpfePlakaten von PolitikerInnen Dieses 'empathische Mitfühlen' entsteht in einem Prozess der Rollenübernahme, wie ihn die Theorie des Symbolischen Interaktionismus beschreibt, die ihrerseits eine wesentliche Grundlage für das Konzept der parasozialen Interaktion bildet (vgl. zuletzt Baeßler, 2009, S. 22-25). Dieses bereits in den fünfziger Jahren von Horton und Wohl (1956) entwickelte Konzept geht
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davon aus, dass das Fernsehen die Illusion einer Face-to-Face-Interaktion zwischen Zuschauern und Medienfiguren ermöglicht, wobei diese imaginären Interaktionen dazu führen, dass der Fernsehzuschauer affektive und emotionale Beziehungen zu Medienpersonen aufbaut (vgl. Schenk, 2007, S. 741). Während soziale Interaktionen im Alltag dadurch gekennzeichnet sind, dass das Verhalten eines Menschen als Reaktion auf das vorangegangene Verhalten eines anderen Menschen erfolgt, bleibt diese wechselseitige Koorientierung beim PSI zwangsläufig aus, weil die Medienfigur(en) (genannt Persona/Personae) ihr Verhalten unabhängig von den Zuschauern ausrichten und der Zuschauer zwar vom Verhalten der Persona beeinflusst werden kann, aber aufgrund des fehlenden Rückkanals keinen Einfluss auf die Medienfigur hat. Obgleich es sich also um eine asymmetrische Interaktionsform handelt, fühlt sich der Rezipient durch Schlüsselreize adressiert, die ihm aus realen Interaktionssituationen bekannt sind. Dazu zählen (1) die dargestellte räumliche Distanz der Person, (2) non-verbale Bezugnahme und (3) verbale Bezugnahme (vgl. Schramm, 2006, S. 250). Je näher sich Menschen räumlich kommen, desto stärker fühlen sie sich vom (kommunikativen) Verhalten eines Anderen adressiert. Durch viele gängige fotografische bzw. filmische Mittel (Großaufnahme, Zoom) begegnen Medienpersonae dem Rezipienten auf Fotografien oder in audiovisuellen Medien oft unangemessen 'distanzlos', weil eine ähnlich große Nähe im Alltag nur zwischen Personen besteht, die sich sehr gut bzw. intim kennen. Insofern stellen etwa Köpfe-Plakate eine ungewohnte Nähe zwischen Kandidaten und Wählern her. Die non-verbale Bezugnahme zwischen Medienpersona und Rezipient wird in der Regel körpersprachlich und mimisch hergestellt, beispielsweise wenn ein auf einem Wahlplakat abgebildeter Politiker den Betrachter direkt ansieht. Die verbale Adressierung vollzieht sich in der Wahlwerbung durch direkte Ansprache (Liebe Wählerinnen und Wähler) oder indirekte Ansprache, zum Beispiel in Form von Imperativen oder Kausalaussagen (Wählt grün! oder Wer grün wählt,…). In der PSI-Forschung gilt: "Je eindeutiger und damit höher die Adressierung, desto ausgeprägter und tiefer gehend dürfte die parasoziale Auseinandersetzung mit der Persona sein" (Schramm, 2006, S. 251). Da die Illusion einer Face-to-Face-Interaktion in audiovisuellen Medien realitätsnäher und intensiver als in Printmedien ist, konzentriert sich die PSI-Forschung auf Fernsehfiguren aus Unterhaltungsformaten. Das bedeutet jedoch nicht, dass durch Personendarstellungen in Printmedien, wie etwa
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auf Plakaten, keine parasozialen Beziehungen entstehen können. Im Gegenteil: Nach Hartmann, Schramm und Klimmt (2004, S. 30) kann man "mit einer 'anwesenden' Medienperson nicht nicht parasozial interagieren" [H.v.O.]. Explizit in Bezug auf politische Akteure konstatiert auch Maier auf Basis einer empirischen Studie, dass die "Plastizität audiovisueller Medien" nicht als "notwendige Bedingung für das Zustandekommen parasozialer Phänomene zu Politiker/inne/n verstanden werden" dürfe, sondern dass auch Rezipienten, die bevorzugt Zeitungen und Zeitschriften lesen, ähnlich "subjektiv bedeutsame Beziehungen" entwickeln würden (2005, S. 107). Allerdings unterscheidet die PSI-Forschung nach dem jeweiligen Grad der Intensität zwischen einer oberflächlich-schwachen (Low-Level-PSI) und einer intensiv-starken Auseinandersetzung mit einer Medienperson (HighLevel-PSI). Vor allem letztere münden unter Umständen in eine parasoziale Bindung (PSB), also eine über die einzelne Begegnung hinausgehende Bindung des Rezipienten an die Medienperson (vgl. Schramm, 2006, S. 252). Auch wenn man in Bezug auf die Rezeption von Wahlplakaten grundsätzlich eher von einer schwachen Beschäftigung mit dem abgebildeten Politiker und damit von einer para-sozialen Interaktion auf niedrigem Niveau ausgehen muss, erfüllt die Wahlwerbung in der heißen Wahlkampfphase durchaus zwei Voraussetzungen des High-Level-PSI: Zumindest für diesen Zeitraum ist Wahlwerbung obstrusiv und persistent, das heißt, sie fällt auf, und das anhaltend. Aus der psychologischen Theorie der Personenwahrnehmung und Personenbeurteilung ist bekannt, dass die ersten Eindrücke von einer Medienperson und die damit verbundenen ersten Bewertungen zu einer modellhaften Vorstellung über die Eigenschaften und Fähigkeiten dieser Person führen (vgl. Kanning, 1999; auch: Hartmann, Schramm, & Klimmt, 2004, S. 2630). Die erste Eindrucksbildung basiert auf einer raschen Urteilsbildung, die typischerweise durch automatisierte und unbewusste Prozesse zustande kommt, bei denen der Wahrnehmende auf schnell zugängliche und leicht erfassbare Merkmale zurückgreift. Dabei handelt es sich primär um visuelle Merkmale, wie die physische Erscheinung (Gesichtszüge, Körpermaße, Kleidung etc.), leicht interpretierbare Mimik und Körpersprache und verbale Zuordnungen (z. B. Name des Kandidaten, der Partei). Dabei gilt für Politiker ebenso wie für andere Medienpersonen, dass die wahrgenommene physische Attraktivität eine Schlüsselrolle einnimmt. Ob eine Person im Zuge
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der ersten Eindrucksbildung als attraktiv oder unattraktiv wahrgenommen wird, kann die nachfolgenden Bewertungen stark beeinflussen. In ihrem Zwei-Ebenen-Modell parasozialer Interaktion unterscheiden Hartmann, Schramm und Klimmt (2004, S. 30) in Anlehnung an psychologische Einteilungen zwischen (1) perzeptiv-kognitiver PSI, (2) affektiver PSI und (3) konativer PSI. Zu den perzeptiv-kognitiven PSI-Prozessen zählen Aspekte der Wahrnehmung, des Denkens, Bewertens und Erinnerns, wie zum Beispiel die "personenbezogene Aufmerksamkeitsallokation", die "Rekonstruktion bzw. das Bemühen um das Verständnis der Lage der Persona, ihrer Ziele, Gedanken, Wünsche, Handlungen und Aussagen", "Anknüpfung der beobachteten persona-bezogenen Informationen an Gedächtnisinhalte", "Bewertungen der Persona" hinsichtlich moralischer Aspekte bzw. der Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen und schließlich der soziale Vergleich mit der Medienperson (vgl. Hartmann, Schramm, & Klimmt, 2004, S. 32, 33). Hinsichtlich der affektiven PSI-Teilprozesse sind zwei emotionale Reaktionen zu unterscheiden: (1) jene, die auf die Medienpersona gerichtet sind und (2) jene, die durch die Medienpersona verursacht sind. Was den ersten Fall betrifft, so betonen Hartmann, Schramm und Klimmt (2004, S. 34) ähnlich wie Scherer (1998) oder Zillmann (1991, 2004), dass die auf eine Medienperson gerichteten emotionalen Reaktionen positiv oder negativ sein und Sympathie/Antipathie sowie Empathie/Counterempathie auslösen können (vgl. Schramm, 2006, S. 256). Darüber hinaus können durch die Medienperson aber auch Gefühle hervorgerufen werden, die sich nicht direkt auf sie beziehen, sondern auf einen Sachverhalt, der mit der Person in Verbindung steht. Unter Low-Level-Bedingungen, wie sie im Fall von Wahlwerbung anzunehmen sind, fallen die affektiven PSI-Teilprozesse – "empathische Anteilnahme", "persona-induzierte eigene Emotionen" und "Stimmungs-'Ansteckung'" – nach Einschätzung von Hartmann, Schramm und Klimmt (2004, S. 35) schwächer aus. Die konative PSI, mit der von außen beobachtbare, auf die Medienperson gerichtete Verhaltensäußerungen der Rezipienten gemeint sind (z. B. Zurufe an Fußballspieler auf dem Bildschirm), spielen bei der Rezeption von Wahlwerbung vermutlich seltener eine Rolle; allerdings wäre denkbar, dass unsympathische, abgelehnte Politiker derartige Reaktionen hervorrufen (vgl. Maier, 2005, S. 100). Da die PSI fast ausschließlich im Kontext von Unterhaltungsformaten im Fernsehen untersucht worden ist, sind etwaige parasoziale Beziehungen zu Politikern empirisch bislang nicht erforscht (vgl. Gleich, 1999, S. 151). In
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Anbetracht der Funktionen, die PSI für den Rezipienten erfüllt, erscheint PSI zu Politikern jedoch nicht abwegig. Abgesehen davon, dass das 'Zusammensein' mit sympathischen Medienakteuren "als angenehm und emotional zufriedenstellend erlebt" wird, befriedigen Rezipienten mit PSI nämlich auch ihr soziales Orientierungsbedürfnis (vgl. Gleich, 1999, S. 157-158). Ähnliche Gründe für eine PSI mit Politikern listet Maier (2005, S. 101-102) auf. Auch in der Personalisierung von Politik und der starken medialen Präsenz von Politikern in Wahlkampfzeiten gekoppelt mit der Visualisierung der Kandidaten im Fernsehen (aber eben nicht nur dort) sieht Gleich (1999, S. 161) probate Voraussetzungen für die Entwicklung von PSI zwischen Kandidat und Wähler. Denn die visuelle Medienpräsenz der politischen Akteure befördere die Realitätsanmutung, Glaubwürdigkeit, Aktualität, Intimität und Emotionalität und damit also Faktoren, die auch im Prozess der PSI wirksam werden. Hinzu käme, dass Politiker immer häufiger in Unterhaltungskontexten (wie z. B. in Talk- und Unterhaltungsshows oder in Soap Operas) aufträten, was ihnen ermögliche, "verschiedene Facetten ihrer Persönlichkeit (z. B. Humor, Witz, Ironie, Privates, nichtpolitische Themen) zu präsentieren" (Gleich, 1999, S. 162), die stark mit den spezifischen Gratifikationserwartungen der Rezipienten bei PSI-Prozessen korrelierten. Unter diesen massenmedialen Bedingungen müssten Politiker aber "kommunikative und visuell-darstellerische Kompetenzen (Aussehen, Stimme, Mimik)" entwickeln, die dem Darstellungstalent von Schauspielern entsprächen (vgl. Gleich, 1999, S. 163). "Prozeßorientierte Gratifikationen, wie sie in parasozialen Beziehungen entstehen (i. S. v. 'ich fühle mich wohl mit diesem oder jenem[…]') können somit neben den eigentlichen Inhalten (i. S. v. politischen Informationen) zur Grundlage für Glaubwürdigkeit, Bewertung und 'Übernahme' von politischen Statements werden." (Gleich, 1999, S. 165). Dass die parasoziale Interaktion mit Politikern nicht zu unterschätzen ist, illustrieren auch die Ergebnisse einer Rezeptionsstudie von Berit Baeßler (2009): Bei immerhin sieben Prozent der von den Teilnehmern einer quantitativen Telefonbefragung genannten Lieblingspersonen handelte es sich um Politiker (vgl. Baeßler, 2009, S. 206). Dabei entsprachen die Persönlichkeitseigenschaften, die fast allen dieser 27 Politiker attribuiert wurden, dem Persona-Typ des "distanzierten Profis", der vor allem durch "Professionalität", "Vielseitigkeit", "Ersthaftigkeit" und "Distanz" geprägt ist (vgl. Baeßler, 2009, S. 296).
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Reaktionen auf Politikerplakate im Europa- und im Bundestagswahlkampf 2009 Die frühere Forschung zu emotionalen Strategien in der (politischen) Werbung sowie die aus der PSI-Forschung vorliegenden Erkenntnisse leiteten die Formulierung von Fragebatterien zur Wahrnehmung von Wahlplakaten und insbesondere die Rezeption von auf den Plakaten präsentierten Kandidatinnen und Kandidaten. Diese kamen in zwei Online-Umfragen zum Einsatz, die während des Europa- und des Bundestagswahlkampfes stattfanden. In den Fragebögen waren jeweils Abbildungen von Plakaten verschiedener Parteien aus dem laufenden Wahlkampf enthalten. Die Befragung im Vorfeld der Europawahl richtete sich ausschließlich an Studierende, die Befragung während des Bundestagswahlkampfes zielte auf die breitere Bevölkerung. Da es sich in beiden Fällen um Online-Befragungen handelte, gelten die bei diesem Vorgehen üblichen Einschränkungen. Während Studierende online gut anzusprechen sind, ist es schwierig, einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt zu erreichen. Andererseits erlaubt ein Online-Fragebogen die Integration von Bildmaterial in Farbe und guter Qualität, was wiederum dem Untersuchungsziel entgegenkam. An der Befragung zur Europawahl, die vom 27. Mai bis zum 6. Juni im Feld war, beteiligten sich 227 Studierende (157 Frauen, 70 Männer). Auch die Befragung zur Bundestagswahl, die in den letzten zwei Wochen vor dem Wahltermin online war, erreichte fast nur junge Leute mit überdurchschnittlicher Bildung (je 50% Frauen und Männer).1 Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sind die Reaktionen auf diejenigen Plakate, die Kandidatinnen und Kandidaten abbildeten. Im Europawahlkampf stellte die FDP wie schon fünf Jahre (vgl. Dillenburger, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005) zuvor ihre Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin in den Mittelpunkt ihrer Kampagne und präsentierte sie auf mehreren Plakaten, von denen eines in die Befragung aufgenommen wurde. Die CSU bildete den Parteivorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer nicht nur gemeinsam mit dem CSU-EuropaSpitzenkandidaten Markus Ferber auf Plakaten ab, sondern produzierte sogar eigens Porträt-Plakate von Seehofer, auf denen er – da selbst kein 1
Finanzielle Unterstützung für diese Studie leistete die die Hans Frisch Stiftung, FB Wirtschaftswissenschaften der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Für die Mitarbeit in verschiedenen Phasen dieser Studie sei gedankt: Philipp Feichtenbeiner, Jacob Leidenberger, Matthias Malo, Susanne Merkle, Melanie Radue und Stefan Wehner.
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Kandidat für das Europäische Parlament – ganz allgemein für ein starkes Bayern in Europa warb. Eines dieser Plakate war ebenfalls Gegenstand der Befragung. (Für eine ausführliche Beschreibung aller Plakate vgl. Lessinger & Holtz-Bacha, in diesem Band) Das Wahlplakat mit der FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin, die bereits seit 2004 im Europäischen Parlament sitzt, kam bei den Befragten außerordentlich gut an. Vier Fünftel (80%) empfanden Koch-Mehrin als eine attraktive Frau und führten ihre Attraktivität vor allem auf ihre Ausstrahlung (68%) und ihre Haare (57%) zurück. Ihr Lächeln, das knapp zwei Fünftel (39%) der Befragten für ihre Attraktivität verantwortlich machten, fanden aber nur die wenigsten (15%) ansteckend. Das Urteil über die Attraktivität der Kandidatin allgemein fällt bei weiblichen und männlichen Befragten ähnlich aus, wohl aber zeigen sich signifikante Unterschiede darin, was sie für die Attraktivität verantwortlich machen: Männer nennen zu einem deutlich höheren Anteil als Frauen die Haare und die Augen von Koch-Mehrin. Abbildung 1: Silvana Koch-Mehrin: Für Deutschland in Europa
In den Fragenbatterien, die zu den Kandidatenplakaten PSI-Prozesse ermitteln sollten, fand sich immer auch die Aussage "Bei der Wahl geht es doch nicht um die Kandidaten, sondern um politische Probleme" sowie die Aussage "Die Kandidaten sehen doch alle gleich aus". Beide Items erlaubten den Befragten, ihre allgemeine Einstellung zu Kandidatenplakaten auszudrücken. Insbesondere die erstgenannte Aussage dürfte obendrein stark anfällig für soziale Erwünschtheit sein; tatsächlich stimmte ihr jeweils auch ein beträchtlicher Teil der Befragten zu, und zwar Männer tendenziell und
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zum Teil signifikant stärker als Frauen. Bei dem in der Befragung getesteten FDP-Plakat und der Frage "Was fällt Ihnen ein, wenn Sie sich Silvana Koch-Mehrin auf diesem Plakat ansehen?" entfiel dann auch die höchste Zustimmung (40%) auf diese Aussage, während nur 15 Prozent sagten, die Kandidaten sähen doch alle gleich aus. Immerhin 30 Prozent sagten hier: "Ich überlege mir, was Silvana Koch-Mehrin zu bestimmten politischen Themen sagen würde.", und gut ein Fünftel (22%) der Befragten stimmte der Aussage zu: "Obwohl Silvana Koch-Mehrin eine prominente Politikerin ist, sehe ich in ihr eine ganz normale Person wie 'du und ich'." Vertrauensbildend wirkte das Plakat allerdings auf nur relativ wenige Befragte. Lediglich 16 Prozent äußerten das Gefühl, dass Koch-Mehrin eine Politikerin ist, der man vertrauen kann, und Frauen waren davon signifikant häufiger überzeugt als Männer. Nur wenige Befragte würden Koch-Mehrin "gerne mal persönlich treffen und mit ihr über Politik diskutieren", allerdings zeigt sich in diesem Punkt ebenfalls ein signifikanter Unterschied nach Geschlecht, denn die männlichen Befragten sagen zu einem weit höheren Anteil als Frauen, dass sie die Kandidatin gerne persönlich treffen würden. Das CSU-Plakat bzw. der abgebildete Horst Seehofer kam im Vergleich dazu längst nicht so gut an. Einen attraktiven Mann nannten Seehofer lediglich elf Prozent der Befragten und diese führten die Attraktivität überwiegend auf sein Lächeln zurück. Den meisten (37%) ging beim Ansehen des Plakates dann auch durch den Kopf: "Solche Kandidatenplakate finde ich aufdringlich." Frauen stimmten dieser Aussage zu einem signifikant höheren Anteil zu als Männer. Nicht viel weniger Befragte (32%) betonten, bei der Wahl ginge es nicht um Personen, sondern um politische Probleme. Unter den direkt auf Seehofer bezogenen Items fand "Horst Seehofer drängt sich immer in den Mittelpunkt" die höchste Zustimmung (27%). Noch weniger als Koch-Mehrin konnte der auf dem Plakat abgebildete Seehofer bei den Betrachtern Vertrauen auslösen (6%), und dass er Bayern in Europa Gehör verschaffen würde, glaubten lediglich elf Prozent. Nur wenige Befragte würden dann auch den bayerischen Ministerpräsidenten gerne einmal persönlich treffen, um mit ihm über Politik zu diskutieren. Aber ebenso wie im Fall Koch-Mehrin sind es bei Seehofer ebenfalls signifikant mehr männliche als weibliche Befragte, die mit ihm gerne einmal persönlich über Politik sprechen würden.
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Abbildung 2: Horst Seehofer: Nur wer CSU wählt, gibt Bayern eine eigene Stimme in Europa
In der Umfrage während des Bundestagswahlkampfes wurden Kandidatenplakate mit Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier, Guido Westerwelle sowie Karl-Theodor zu Guttenberg präsentiert und dazu jeweils ähnliche Fragen gestellt, wie sie sich bereits in der Befragung zur Europawahl bewährt hatten. Das Plakat mit Angela Merkel stammte aus der MerkelStandard-Serie, auf der das Gesicht der CDU-Politikerin – wie schon auf ganz ähnlich gestalteten Plakaten zur Bundestagswahl 2005 und zur Europaund Bundestagwahl 2009 – sanft lächelnd im Halbprofil, aber ohne Blickkontakt zum Betrachter und in Kombination mit dem Claim "Klug aus der Krise" gezeigt wird. Immerhin 72 Prozent der Befragten fanden, dass Merkel auf diesem Plakat sympathisch aussieht, was sie bei Nachfrage überwiegend auf ihr Lächeln (60%), etwas weniger auf ihre strahlenden Augen und ihre "souveräne Ausstrahlung" (je 42%) zurückführten. Diejenigen, denen Merkel auf dem Plakat eher nicht sympathisch erschien, führten das auf "ihre Selbstgefälligkeit" (51%) und "ihr schnippisches Lächeln" zurück, mehr als ein Drittel (36%) missfiel auch "der vom Betrachter abgewendete Blick". Allerdings glaubte nur knapp ein Drittel der Befragten (31%), dass Merkel "uns klug aus der Krise" führen kann, wie es der Claim versprach.
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Die Gewähr dafür sahen die meisten in ihrer Kompetenz (72%), ihrer Klugheit (67%) und ihrer Führungsstärke (58%). Beinahe jeder zweite Befragte (48%) dagegen wollte dem Claim nicht glauben; die meisten machten dafür die Abhängigkeit von der eigenen Partei (67%) und beinahe jeder zweite ihre Entscheidungsschwäche (49%) verantwortlich. Zu ihren Reaktionen beim Anschauen des Plakates befragt, betonten wiederum gut zwei Fünftel (41%), es ginge bei der Wahl nicht um Personen, sondern um politische Probleme. Unter den Items, die sich direkt auf Merkel bezogen, erhielt "Obwohl Angela Merkel die Kanzlerin ist, sehe ich in ihr eine ganz normale Person wie 'du und ich'" die höchste Zustimmung (28%), direkt gefolgt von "Ich habe das Gefühl, dass Angela Merkel eine Politikerin ist, der man vertrauen kann" (26%). Abbildung 3: Angela Merkel: Klug aus der Krise
Bei den Aussagen zum Plakat mit Angela Merkel zeigen sich zahlreiche deutliche Unterschiede im Urteil zwischen weiblichen und männlichen Befragten. Von insgesamt 50 konkreten Aussagen zum Plakat und der abgebildeten Kanzlerkandidatin gibt es bei 19 Aussagen (38%) signifikant unterschiedliche Urteile nach Geschlecht. Frauen ist Merkel sympathischer als Männern, sie führen das bei dem Plakat eher auf "ihre strahlenden Augen" zurück, während Männer eher auf "ihr kokettes Lächeln" verweisen. Die weiblichen Befragten sind auch eher bereit zu glauben, dass Angela Merkel uns "klug aus der Krise" führen kann, wie es der Claim verspricht. Unter den Eigenschaften, die sie zu einer "klugen Krisenmanagerin" machen, nennen Frauen zu einem deutlich höheren Anteil Merkels Kooperationsbereit-
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schaft mit den anderen Parteien und ihre Freundlichkeit, Männer dagegen ihre Weltgewandtheit. Gefragt, was dagegen spricht, dass uns Angela Merkel "klug aus der Krise" führt, verweisen Frauen häufiger auf Merkels Abhängigkeit von der eigenen Partei, Männer dagegen auf ihre "Führungsschwäche" bzw. "mangelnde Führungsstärke". Unterschiede zeigten sich auch in den Reaktionen auf das Plakat mit der Kanzlerin. Männliche Befragte nennen Merkel hier signifikant häufiger "zu selbstgefällig", weibliche Befragte empfinden Merkel zu einem größeren Anteil als eine normale Person wie 'du und ich', sind deutlich häufiger als Männer bereit, ihr zu vertrauen und würden auch eher alles lesen, was die Presse über Merkel schreibt. Wie bei Koch-Mehrin und Seehofer sagten auch bei Merkel mehr männliche als weibliche Befragte, sie würden die Kanzlerin gerne einmal persönlich treffen und mit ihr über Politik diskutieren. Da sich dieser Befund bei Steinmeier, Westerwelle und Guttenberg wiederholt, haben wir hier offenbar mit einem durchgängigen Phänomen zu tun, das Männer gegenüber als politiknäher ausweist. Frank-Walter Steinmeier war auf dem in der Umfrage eingesetzten SPDPlakat in einem Stahlwerk zu sehen, wo er einem Arbeiter jovial die Hand auf den Arm legt und aufmerksam zuzuhören scheint. Obgleich (oder vielleicht gerade weil) dieses Poster hochwertig produziert und minutiös inszeniert ist, wirkt der SPD-Kanzlerkandidat in der körperlich harten Arbeitswelt deplatziert und seine kumpelhafte Gestik alles andere als authentisch. Tatsächlich fanden lediglich 31 Prozent der Befragten den SPD-Kanzlerkandidaten hier sympathisch, wobei die meisten ihren Eindruck damit begründeten, "dass er dem Arbeiter die Hand auf den Arm legt" (62%) und "dass er dem Arbeiter aufmerksam zuhört" (58%). Dagegen erschien 55 Prozent Steinmeier auf dem Plakat eher nicht sympathisch, wobei gut zwei Drittel ihr Urteil darauf zurückführten, "dass er hier eher wie ein Fremdkörper wirkt". Bei der Frage danach, was ihnen beim Anschauen des Plakates durch den Kopf geht, gab es mit 61 Prozent die größte Zustimmung zu der Aussage "Frank-Walter Steinmeier 'menschelt' mir zu unaufrichtig", und 38 Prozent bestätigten: "Wenn ich sehe, wie Frank-Walter Steinmeier mit seiner Krawatte in der Fabrik steht, denke ich mir, so ein Bürokrat weiß doch gar nicht, wie es im echten Leben zugeht". Diese Eindrücke dürften dann auch dazu beigetragen haben, dass ein Viertel der Befragten hier sagt, solche Kandidatenplakate seien aufdringlich. Beim SPD-Kanzlerkandidaten zeigen sich in den Reaktionen auf Plakat und Person nur vergleichsweise wenige
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Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Ein Ergebnis sticht dabei hervor: Bezogen auf das Plakat fanden Frauen zu einem signifikant höheren Anteil, dass Steinmeier hier zu unaufrichtig menschelt; bei ihnen kam also offenbar die demonstrierte Nähe des Kandidaten zu dem Arbeiter nicht gut an. Abbildung 4: Frank-Walter Steinmeier: Unser Land kann mehr
Eher ambivalent waren die Reaktionen auf die Plakate mit Guido Westerwelle und mit Karl-Theodor zu Guttenberg. Auf dem für die Umfrage ausgewählten FDP-Plakat nimmt Guido Westerwelle scheinbar ein 'Bad in der Menge', das heißt, der FDP-Vorsitzende inszeniert sich umringt von begeisterten Menschen aller Altersklassen (vgl. Abbildung 9 in Lessinger & HoltzBacha, in diesem Band). Problematisch an diesem eigentlich klassisch symbolpolitischen Motiv ist jedoch, dass der FDP-Spitzenkandidat so offensichtlich in den Kreis seiner vermeintlichen Anhänger hineinmontiert wurde, dass die Bewunderung schwerlich authentisch wirken kann. Ganz anders hingegen ist das in der Umfrage verwendete Hochglanzplakat von KarlTheodor zu Guttenberg produziert, das den CSU-Politiker vor einem diffusen, farblich perfekt auf das Porträt abgestimmten Hintergrund in betont offener, aber auch extrem glatter Pose zeigt. Westerwelle nannten 47 Prozent hier sympathisch, und zwar Männer signifikant häufiger als Frauen. Wer den FDP-Politiker auf dem Plakat sympathisch fand, machte dafür vor allem "sein fröhliches Lachen" (82%) verantwortlich, jeder zweite auch "seine gesellige Ausstrahlung". Männern sagte Westerwelles "formelle und trotzdem lässige Kleidung" mehr zu als Frauen. Diejenigen, die ihn hier als eher nicht sympathisch beurteilten, nannten als
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Grund fast alle "Es wirkt alles so gestellt" (91%), und zwei Drittel führten ihre Reaktion darauf zurück, "dass er sich scheinbar von den Leuten um ihn herum anhimmeln lässt". Konsistent damit ist, dass als häufigste Reaktion beim Ansehen des Plakates angegeben wurde: "Guido Westerwelle drängt sich immer in den Mittelpunkt" (45%). Männliche Befragte hatten eine bessere Meinung von Westerwelle als Frauen. Sie hielten ihn signifikant häufiger für besser als andere Politiker und führten das eher auf seine Kompetenz zurück. Männer gaben sich auch mehr als Frauen davon überzeugt, dass man ihm vertrauen kann. Das Bild von Karl-Theodor zu Guttenberg bezeichneten jeweils 44 Prozent als sympathisch und eher nicht sympathisch. Ebenso wie Guido Westerwelle kam Guttenberg auf dem Plakat besser an als bei Frauen. Zur Sympathie trugen generell "seine Ausstrahlung" (66%), "seine freundlichen Augen" (50%) sowie "sein strahlend weißes Lachen" (44%) bei, den gegenteiligen Eindruck riefen "seine Glattheit" (78%), "seine geschniegelte Frisur" (54%) sowie "sein Blick von oben herab" (53%) hervor. Männliche Befragte gaben sich signifikant häufiger als Frauen davon überzeugt, dass Guttenberg ein starker Politiker ist und führten das auch häufiger auf seine Konfliktfähigkeit, seine Unabhängigkeit von der eigenen Partei sowie seine Geradlinigkeit zurück. Abbildung 5: Karl-Theodor zu Guttenberg: Eine starke CSU in Berlin
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Zu den geteilten Reaktionen auf Plakat und Kandidat passt, dass einerseits die Aussage "Karl-Theodor zu Guttenberg ist mir zu nassforsch und arrogant" die größte Zustimmung (37%) bekam und andererseits gut ein Viertel der Befragten (26%) bekräftigte: "Ich habe das Gefühl, dass Karl-Theodor zu Guttenberg endlich mal frischen Wind in die Politik bringt". Die letztgenannte Aussage findet unter männlichen Befragten signifikant mehr Unterstützung als bei Frauen. Dass Guttenberg bei Männern offenbar besser ankommt als bei Frauen, spiegelt sich auch in signifikanten Unterschieden in den Antworten darauf, was den Befragten beim Anschauen des CSUPlakates durch den Kopf geht. Mehr Männer als Frauen stimmten den folgenden Aussagen zu: "Beim Anschauen des Plakates habe ich den Eindruck, Karl-Theodor zu Guttenberg würde sich direkt an mich wenden und mit mir sprechen", "Obwohl Karl-Theodor zu Guttenberg ein politischer Shooting Star ist, sehe ich in ihm eine ganz normale Person wie 'du und ich'", "Ich habe das Gefühl, dass Karl-Theodor zu Guttenberg ein Politiker ist, dem man vertrauen kann". Die Items, die für die Beurteilung der auf den Plakaten gezeigten Politiker zur Verfügung standen, testeten jeweils auch das PSI-Potential der Bilder bzw. der abgebildeten Politiker. Zu allen Politikern konnten die Befragten angeben, ob sie den Eindruck haben, die Politikerin/der Politiker spräche direkt zum Betrachter; ob sie in ihnen eine Person wie du und ich sehen; ob sie sich überlegen, was die Politikerin/der Politiker zu bestimmten Themen sagen würde; ob sie die Politikerin/der Politiker gerne einmal persönlich treffen und über die Politik reden würden; ob es sie berührt, wenn die Politikerin/der Politiker in der Öffentlichkeit kritisiert wird, und ob sie in Zeitungen und Zeitschriften etwas über die Politikerin/der Politiker auf jeden Fall lesen würden. Für einige dieser Aussagen gab es durchaus eine nennenswerte Anzahl von Nennungen, und es zeigten sich Unterschiede zwischen den Plakaten bzw. den abgebildeten Politikern. Einige dieser Befunde präsentiert Tabelle 1 noch einmal im Überblick, wobei die Kandidatenplakate aus der Europa- und der Bundestagswahl nebeneinander gestellt sind, aber zu berücksichtigen ist, dass die Ergebnisse auf zwei verschiedene Befragungen zurückgehen.
158 Tabelle 1:
Christina Holtz-Bacha & Eva-Maria Lessinger Reaktionen auf die Kandidat(inn)en
Ich überlege mir, was [Name] zu bestimmten politischen Themen sagen würde Obwohl Angela Merkel die Kanzlerin/[Name] ein/e promi-nente/r Politiker/in ist, sehe ich in ihr/ihm eine ganz normale Person wie 'du und ich'*)**) Wenn in Zeitungen und Zeitschriften etwas über [Name] zu finden ist, würde ich es auf jeden Fall lesen Ich habe das Gefühl, dass [Name] ein/e Politiker/in ist, der/dem man vertrauen kann**) Beim Anschauen des Plakates habe ich den Eindruck, [Name] würde mir zuzwinkern/würde sich direkt an mich wenden und mit mir sprechen*) Ich würde [Name] gerne mal persönlich treffen und mit ihr/ ihm über Politik diskutieren**) Mich berührt es, wenn [Name] in der Öffentlichkeit kritisiert wird n=
KochMehrin %
Seehofer %
Merkel %
Steinmeier %
Westerwelle %
Gutten berg %
30
16
15
15
15
15
22
11
28
13
16
11
16
7
11
9
10
10
16
6
26
11
10
13
11
4
6
--
19
9
9
9
20
17
18
16
x
1
6
2
2
2
227
227
680
669
663
657
X= weniger als 0.5%; -- = nicht gefragt *) Die Frageformulierungen waren für die Kanzlerin bzw. das Merkel-Plakat angepasst. **) Die Frageformulierungen waren entsprechend dem Geschlecht der Kandidaten variiert.
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Die Befunde demonstrieren, dass eine nennenswerte Zahl der Befragten auf die abgebildeten Kandidaten bzw. die Plakatdarstellungen anspricht, Nähe zum Ausdruck bringen und in einem gewissen Umfang offenbar auch empathische Anteilnahme stattfindet. Auffällig sind insbesondere die Werte für die Plakate mit Silvana Koch-Mehrin, Angela Merkel und Guido Westerwelle. Mehr als die männlichen Kandidaten werden die beiden Politikerinnen als Personen 'wie du und ich' wahrgenommen, mit denen man sich auch gedanklich auseinandersetzt. Die Kanzlerin wirkt dabei offenbar so vertraut, dass man sie sogar gerne mal persönlich treffen und mit ihr über Politik diskutieren würde; ihr hohes Amt scheint da keine Barriere darzustellen. Dem Plakat mit Angela Merkel gelingt es indessen nicht, den direkten Kontakt mit dem Betrachter herzustellen. Zwar wirkt sie auf dem Plakat freundlich, und es war auch das Lächeln, auf das die Befragten in erster Linie den sympathischen Eindruck zurückführten, aber ihr Blick ist nicht zur Kamera und damit zum Betrachter gerichtet, was das Gefühl, persönlich von der Kanzlerin angesprochen zu werden, behindert. Das gelingt bei KochMehrin, die direkt zum Betrachter schaut, etwas besser, aber mehr noch bei dem FDP-Plakat zur Bundestagswahl, auf dem Guido Westerwelle zu sehen ist. Die vergleichsweise hohe Zustimmung zu der Aussage: "Beim Anschauen des Plakates habe ich den Eindruck, Guido Westerwelle würde sich direkt an mich wenden und mit mir sprechen" weist darauf hin, dass hier die Kontaktaufnahme mit dem Betrachter nicht nur durch den Blick gelingt, sondern auch die Situation mit dem von 'Fans' umringten Kandidaten dazu beiträgt, dass sich viele von Westerwelle angesprochen fühlen. Obwohl auch Guttenberg direkt in die Kamera blickt, leistet ein solches Porträt des Kandidaten, zumal in der formalen Kleidung, offenbar weniger als die Szene mit Westerwelle, der obendrein zwar mit Krawatte, aber ohne Jackett und damit weniger streng auftritt. Das ist dann auch der Kandidat, mit dem man sich gerne mal persönlich treffen und mit ihm über Politik diskutieren würde. Allerdings kann Westerwelle relativ wenig Vertrauen erwecken. In diesem Punkt erreicht wiederum Angela Merkel den höchsten Wert, und KochMehrin schneidet da ebenfalls besser ab als die männlichen Kollegen. Woraus genau dieser Vertrauensvorschuss für die beiden Politikerinnen erwächst, lässt sich nur mutmaßen. Wenn es etwas mit dem Geschlecht zu tun hat, könnte es sein, dass man Frauen, die generell in der Politik und auch auf hohen politischen Ämtern vergleichsweise neu sind, (noch) nicht die Inszenierungen und Ränkespiele des Männergeschäfts zutraut, so dass
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die Wählerinnen und Wähler von ihnen vielleicht eher das zu bekommen meinen, was sie öffentlich sehen. Im speziellen Fall von Silvana KochMehrin und Angela Merkel mögen auch Image-Aspekte eine Rolle spielen, die außerhalb von Wahlkampfzeiten von den Medien konstruiert bzw. von den Kandidatinnen selbst bedient werden. So ließ die FDP-Europapolitikerin zeitweilig keine massenmediale Möglichkeit aus, sich selbst als schöne Blondine, liebende Partnerin und fürsorgliche Mutter zu thematisieren und deckte damit sämtliche Bereiche ab, in denen die junge Frau von heute erfolgreich sein muss. Angela Merkel hingegen mag das zwar auf den ersten Blick despektierlich klingende, von den Medien eher bissig propagierte, emotional aber eventuell beim Elektorat höchst wohlige Gefühl der Geborgenheit weckende Etikett der 'Mutti' zum Vorteil gereichen. Tatsächlich attestierte ihr kurz vor dem Wahltermin der Marktforscher Stephan Grünewald, dass Merkel alle "kümmernden und ausbalancierenden Eigenschaften verkörpert", die "Schutz unter Muttis Rock" versprechen, und bekräftigte anerkennend: "Merkel inszeniert sich meisterhaft als Engel" ("Merkel inszeniert sich…", 2009). Roger-Gérard Schwartzenberg, der neuerdings neben die von ihm früher entwickelten Politikertypen auch eine weibliche Typologie gestellt hat, nennt Merkel als Beispiel für den Politikerinnentyp "la dirigeante proche" (2009, S. 163) und damit als weibliches Gegenstück zum 'common man'. Merkel kultiviere die Nähe und spiele die Karte der Einfachheit (S. 165). Da sich auch bei den ablehnenden Reaktionen zu den Kandidatenplakaten Unterschiede zeigen, ist darauf zu schließen, dass hier nicht eine generell negative Haltung gegenüber solchen Plakaten zum Ausdruck kommt, sondern die Kandidatinnen und Kandidaten sowie die Art und Weise ihrer Präsentation unterschiedliche Empfindungen hervorrufen. Die Vorgaben, die den Befragten zur Verfügung standen, um ihre Reaktionen auf die einzelnen Kandidatenplakate anzugeben, enthielten auch die Aussage "Solche Kandidatenplakate finde ich aufdringlich". Da diese Aussage in der Item-Batterie zu jedem einzelnen Plakat enthalten war und nicht als allgemeine Einstellung zu Wahlplakaten abgefragt wurde, dürfte die Zustimmung hier mit dem jeweils dargestellten Kandidaten, dem Foto bzw. der gezeigten Szene zusammenhängen (vgl. Tabelle 2). Ebenfalls in den Vorgaben enthalten war jeweils die Aussage "Die Kandidaten sehen doch alle gleich aus", die mehr auf die allgemeine Einstellung zu Kandidatenplakaten zielte, aber dadurch, dass sie zu den einzelnen Motiven abgefragt wurde, durchaus unter dem
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Eindruck des jeweils dargestellten Kandidaten stehen könnte. Das gilt ebenso für die Aussage "Bei der Wahl geht es doch nicht um die Kandidaten, sondern um politische Probleme". Während die Aussage, die Kandidaten sähen doch alle gleich aus, ein häufig gehörtes Urteil insbesondere zu den Plakaten von Wahlkreiskandidaten wiedergibt, bei den bekannteren Gesichtern zumal von Spitzenpolitikerinnen und -politikern der Bundesebene aber weniger zum Tragen kommen dürfte, erlaubt die zweite Aussage den Befragten die Distanzierung von der personalisierten Wahlwerbung, wobei soziale Erwünschtheit eine große Rolle spielen dürfte. Tabelle 2: Ablehnende Reaktionen auf die Kandidatenplakate KochMehrin %
Seehofer %
Merkel
16
37
Die Kandidaten sehen doch alle gleich aus
15
Bei der Wahl geht es doch nicht um die Kandidaten, sondern um politische Probleme n=
Solche Kandidatenplakate finde ich aufdringlich
%
Steinmeier %
Westerwelle %
Guttenberg %
24
25
32
25
23
8
6
6
8
40
32
41
33
32
33
227
227
680
669
663
657
Beim Europawahlplakat der FDP mit Silvana Koch-Mehrin, auf die die Befragten insgesamt am positivsten reagiert hatten, sagen die wenigsten, sie hielten solche Kandidatenplakate für aufdringlich. Andererseits gibt es aber auch einen beträchtlichen Anteil von Befragten, die beim Blick auf das Plakat meinen, die Kandidaten sähen doch alle gleich aus, und erst recht betonen, es ginge bei der Wahl um Probleme und nicht um Personen. Während bei den Plakaten zur Bundestagswahl nur wenige die Kandidaten für austauschbar halten und mindestens ein Drittel der Befragten die Personalisierung der Wahl ablehnt, findet das Urteil über die Aufdringlichkeit der Plakate in unterschiedlichem Umfang Zustimmung. Bemerkenswert sind hier insbesondere die Reaktionen auf Guido Westerwelle und Horst Seehofer. Das Westerwelle-Plakat hatte vergleichsweise positive Reaktionen erfahren,
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wird aber dennoch von vielen als aufdringlich empfunden. Möglicherweise spielt eine Rolle, dass die Plakatszene mit den vom Kandidaten scheinbar begeisterten Gesichtern letztlich doch gestellt wirkt. Die deutlichste Ablehnung erfährt hier wiederum das Europawahlplakat mit dem CSUVorsitzenden Horst Seehofer, der auch als Person am wenigsten gut angekommen war. Fazit In der Wahlwerbung dienen Kandidatinnen und Kandidaten der Sympathiewerbung, die insbesondere auf die Ansprache von Emotionen zielt. Das gelingt am besten mit Bildern, die visuellen Medien sind dabei im Vorteil. Allerdings gibt es bislang nur wenig Forschung dazu, wie die emotionale Ansprache der Wählerschaft durch die Kandidaten verläuft. Diese Studie widmete sich der Rezeption von Kandidatinnen und Kandidaten auf Wahlplakaten und testete dabei auch, inwieweit das Konzept der parasozialen Interaktion 1. bei Politikerinnen und Politikern und 2. bei gedruckten Medien Anwendung findet. Die Befunde sind mit aller Vorsicht zu interpretieren, da sie aus zwei Online-Befragungen stammen, die ausschließlich bzw. überwiegend junge Leute mit einem hohen Ausbildungsniveau erreichten. Bei allen damit einhergehenden Beschränkungen lassen die Ergebnisse dennoch erkennen, dass es bei der Betrachtung von Kandidatenplakaten durchaus zu Reaktionen kommt, die der parasozialen Interaktion entsprechen. In dieser Untersuchung traf das mehr für die Politikerinnen zu als für ihre männlichen Kollegen. Mit der wachsenden Zahl von Frauen auf den höheren Ebenen der Politik, wo sie dann auch Gegenstand der Wahlwerbung sind, liegt es nicht nur in deren Interesse zu erfahren, ob die Rezipienten unterschiedlich auf in der Werbung dargestellte Kandidatinnen und Kandidaten reagieren. Darüber hinaus haben sich hier Hinweise auf Unterschiede in den Reaktionen zwischen Frauen und Männern auf die Kandidatenwerbung ergeben. Dem ist ebenfalls weiter nachzugehen, wobei zu prüfen ist, inwieweit solche Unterschiede auf die präsentierten Kandidatinnen und Kandidaten zurückgehen oder ob sich hier – außerdem – ein unterschiedlicher Umgang mit Werbung im Allgemeinen und politischer Werbung im Besonderen spiegelt.
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Politik häppchenweise. Die Fernsehwahlwerbung der Parteien zu Europa- und Bundestagswahl Christina Holtz-Bacha
Nicht erst seit der US-Präsidentschaftswahl 2008 und der allenthalben gefeierten Kampagne von Barack Obama, die scheinbar Zeichen gesetzt hatte bei der Nutzung aller Möglichkeiten der Online-Kommunikation, stellt sich die Frage, welcher Stellenwert den klassischen Werbemitteln in Wahlkämpfen überhaupt noch zukommt. Wahlspots im Fernsehen gehören in Deutschland seit 1957 zum Repertoire der Kampagneninstrumente, haben aber hierzulande nie die Bedeutung erreicht, wie es in den USA bis heute der Fall ist. Zwar nutzen fast alle Parteien jeweils die ihnen bei ARD und ZDF kostenfrei zur Verfügung gestellte Sendezeit; der Aufwand, den sie für ihre Fernsehwahlwerbung betreiben, ist allerdings sehr unterschiedlich. Schon früher hatte sich gezeigt, dass die kreative und finanzielle Investition in die Fernsehspots mit der Größe bzw. Bedeutung einer Partei – und das heißt gleichzeitig: mit ihrer Finanzkraft – zusammenhängt. Dieser Zusammenhang trat erst recht hervor, als ab Ende der achtziger Jahre das privat-kommerzielle Fernsehen für die Wahlwerbung geöffnet wurde und die Parteien nun zusätzlich zu der Sendezeit bei den öffentlich-rechtlichen Sendern Werbezeit ankaufen konnten. Nur die großen Parteien erwerben regelmäßig für ihre Wahlkampagnen auch Werbezeit im privaten Fernsehen und können so die besseren Werbemöglichkeiten (d. h. Entscheidung über die Platzierung und damit ggf. Zielgruppenansprache) nutzen, die die privaten Sender bieten. Dennoch sieht es bereits seit einigen Jahren so aus, als ob fast alle Parteien nur noch wenig in ihre Fernsehspots investieren. Indikator dafür ist, neben dem Produktionsaufwand, der sich inhaltsanalytisch erfassen lässt, die Zahl der unterschiedlichen Spots, die eine Partei für ihre Sendezeiten produziert. Allen Parteien stehen bei ARD und ZDF mindestens je zwei Sendeplätze à 90 Sekunden zur Verfügung. Da in Deutschland die Vergabe von Sendezeit bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten nach einem abgestuften
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Verfahren erfolgt, das sich vor allem an der Zahl der bei der vorangegangenen Wahl erreichten und der bei der kommenden Wahl zu erwartenden Stimmen orientiert, erhalten die im Bundestag vertretenen Parteien mehr Sendeplätze als diejenigen Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind. SPD und CDU kamen zuletzt jeweils auf sieben oder acht Sendeplätze bei der ARD und beim ZDF; wenn sie also für ihre 12 bis 16 Ausstrahlungen etwa nur einen Spot produzieren, der dann entsprechend häufig ausgestrahlt wird, spricht das nicht gerade für ein besonderes Werbeengagement. Auch bei der letzten Bundestagswahl war den Parteien in dieser Hinsicht nur "Lustlosigkeit" (Holtz-Bacha & Lessinger, 2006) zu bescheinigen, die damals lediglich von den Grünen durchbrochen wurde; und bei der Europawahl 2004 demonstrierten die Parteien bei ihrer Fernsehwerbung ebenfalls Sparsamkeit (vgl. Esser, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005). Zumindest für die Europawahl 2009, die ohnehin im Schatten der nur wenige Wochen später angesetzten Bundestagswahl stand, war also nicht zu erwarten, dass die Parteien viel in ihre Werbekampagne im Fernsehen investieren würden. Mit der Online-Kommunikation hat sich mittlerweile zudem ein neuer Kampagnenkanal entwickelt, wo die Parteien ebenfalls Spots zum Einsatz bringen können. Zwar haben sie die Gestaltung der Radio- und Fernsehspots ebenfalls komplett in eigener Hand, aber die Ankündigungen der Fernsehanstalten, mit denen diese sich von der Wahlwerbung distanzieren und geradezu nahelegen, nun wegzusehen oder umzuschalten, sind dem erhofften Werbeerfolg abträglich. Die Platzierung von Spots – oder anderer Werbung – im Internet erscheint daher reizvoll, weil die Parteien hier freier sind als im Fernsehen. 1
Europawahlkampagne 2009
Die Spots wurden bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten ab dem 11. Mai ausgestrahlt, also während der letzten vier Wochen vor dem Wahltermin am 7. Juni; am Tag vor der Wahl gab es keine Spots mehr. Nur die CDU erhielt diesmal bei ARD und ZDF je acht Sendeplätze, während die schlechten Aussichten für das Wahlergebnis der SPD dazu führten, dass der Partei nur je sechs Sendeplätze zur Verfügung standen. Da die anderen ebenfalls im Bundestag vertretenen Parteien aufgrund einer Regelung des Parteiengesetzes Anspruch auf mindestens die Hälfte der maximal vergebenen Werbezeit
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Christina Holtz-Bacha
haben, kamen FDP, Bündnis 90/Die Grünen, CSU und Die Linke auf je vier Sendeplätze auf den öffentlich-rechtlichen Kanälen. Alle anderen zur Europawahl zugelassenen Parteien und politischen Vereinigungen mussten sich mit dem vorgeschriebenen Minimum von je zwei Ausstrahlungsterminen bei ARD und ZDF begnügen. 32 Parteien waren für die Europawahl zugelassen, nur eine Partei hat die ihr zustehende Sendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht genutzt. Auf die 31 Parteien, die Werbespots bei ARD und ZDF zur Ausstrahlung brachten, entfielen 32 unterschiedliche Spots; das heißt, nur eine Partei, und zwar die Gruppierung "Für Volksentscheide", hat unterschiedliche Spots produziert, alle anderen Parteien haben sich auf einen Werbespot beschränkt. Nur CDU und die SPD machten von der Möglichkeit Gebrauch, zusätzlich Werbezeit im kommerziellen Fernsehen einzukaufen. Allerdings setzte die CDU hier lediglich eine Kurzversion ihres für das öffentlichrechtliche Fernsehen produzierten Spots ein. Als einzige Partei produzierte die SPD zwei unterschiedliche Kurzspots, die im kommerziellen Fernsehen zum Einsatz kamen; für die Ausstrahlung bei ARD und ZDF klebte sie diese beiden kurzen Spots einfach aneinander. Aufmerksamkeit gab es vor allem für einen Spot der SPD. Das lag zum einen an seinem Comic-Stil, mehr aber wohl noch an den direkten Angriffen auf andere Parteien, die in dieser Form ungewöhnlich sind für die Wahlwerbung im Fernsehen. Die SPD setzte dafür die Figuren ihrer Angriffs-Serie unter den Plakaten ein (vgl. Lessinger & Holtz-Bacha, in diesem Band). Zum Schlagen einer Kirchturmuhr fährt der breit grinsende Hai in einem dicken Schlitten vor einem Wahllokal vor, lässt ein höhnisches Lachen ertönen, eine mahnende Stimme warnt im Hintergrund: "Überlassen Sie Europa nicht den anderen", dazu wird wie auf dem Plakat eingeblendet "Finanzhaie würden FDP wählen". Gleich darauf schreitet die Figur mit dem 50-CentStück als Kopf im John-Wayne-Gang siegesgewiss trällernd und zu einem Geräusch wie klimperndes Kleingeld auf das Wahllokal zu, dazu erfolgt die Einblendung von "Dumpinglöhne würden CDU/CSU wählen". Aus dem Hintergrund rauscht auf der Straße, viel Staub aufwirbelnd, die Fön-Figur heran; hier erscheint die Einblendung "Heiße Luft würde DIE LINKE wählen". Schließlich sitzen alle drei Figuren gut gelaunt auf den Stufen vor dem Wahllokal, der Hintergrundsprecher verlangt "Wir brauchen klare Regeln für Europa", während "Klare Regeln für Europa." als Einblendung vor den Figuren erscheint und den Hai verschwinden lässt. Die nächste Forderung
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"Faire Löhne für die Menschen." bringt das 50-Cent-Stück und schließlich "Mehr Verantwortung für Europa." den Fön zum Verschwinden. Im Bild erscheint stattdessen der SPD-Würfel mit der Aufschrift "Mehr SPD für Europa", während der Sprecher gleichzeitig auffordert: "Am 7. Juni: Mehr SPD für Europa". Dieser 30-Sekunden-Spot lief als einer von zweien, die die SPD für die Ausstrahlung im privat-kommerziellen Fernsehen produzierte. So ungewöhnlich seine Machart im Vergleich zu den sonst vorherrschenden Landschafts- und Kandidatenbildern erscheint, knüpfte die Partei damit doch an die Zeichentrickgeschichten an, die in den fünfziger und sechziger Jahren zum Repertoire der Wahlwerbung in Fernsehen und Kino gehörten. Der zweite Kurzspot der SPD war dagegen eher konventioneller Machart mit schönen Bildern von Berlin, London und Paris und von Menschen verschiedener sozialer Gruppen, in deren Interesse die Partei soziale Gerechtigkeit für Europa, die Verhinderung von Dumpinglöhnen, neue Energie für neue Arbeit sowie klare Regeln für die Finanzmärkte fordert. Im letzten Teil des Spots treten Europa-Spitzenkandidat Martin Schulz und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier mit Statements auf. Der 90Sekunden-Spot für das öffentlich-rechtliche Fernsehen entstand aus der einfachen Aneinanderreihung der beiden Kurzspots, so dass sich durch die unterschiedliche Gestaltung ein auffälliger stilistischer Bruch ergibt. Die Produzenten haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Packshot, der dem Zuschauer normalerweise den Abschluss eines Werbespots signalisiert, am Ende des computeranimierten Streifens herauszuschneiden. Zudem wiederholen sich Forderungen bzw. Einblendungen aus dem ersten im zweiten Teil des Spots. Kreativität bewiesen die Grünen, die in einem computeranimierten Film den Dominoeffekt der Finanzkrise vom Crash des Immobilienmarktes in den USA, dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, das Überschwappen nach Japan, China und Russland und schließlich Europa und Deutschland demonstrierten. Der Spot ist mit sich in Geschwindigkeit und Musikstil ändernden Banjoklängen unterlegt, kommt ganz ohne Text aus und wäre daher auch im internationalen Einsatz verständlich gewesen. Lediglich am Schluss des Filmes, wenn – gewissermaßen als Angebot zur Problemlösung – das 'WUMS!' der grünen Europawahlkampagne erscheint, empfiehlt eine Stimme aus dem Hintergrund: "Wirtschaft und Umwelt – menschlich und sozial. Am 7.6. – grün wählen".
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Den nachfolgend berichteten Ergebnissen zur formalen und inhaltlichen Gestaltung der Europawahlspots liegt eine quantitative Inhaltsanalyse1 zugrunde, die auf zwei Ebenen erfolgt, nämlich auf der Ebene des gesamten Spots sowie auf der Ebene von Sequenzen. Eine Sequenz ist definiert als eine Einheit, die durch Kontinuum von Ort, Zeit, Handlung oder Figuren charakterisiert ist. Eine neue Sequenz beginnt, wenn diese inhaltliche und/oder formale Klammer wechselt. Die Bestimmung einer Sequenz orientiert sich vorrangig am Bild und berücksichtigt, dass innerhalb eines Spots oftmals die Präsentationsform (das Format) wechselt. Die Sequenz ist daher eng an die Präsentationsform gekoppelt (vgl. dazu ausführlich: Holtz-Bacha, 2000, S. 151-153; Holtz-Bacha & Lessinger, 2006, S. 171-172). Für den gesamten Spot werden lediglich einige wenige formale Daten erhoben, alle inhaltlichen Kategorien kommen auf der Sequenzebene zur Anwendung.2 Die Europawahlspots waren im Durchschnitt etwas mehr als 80 Sekunden lang. Die Spots, die bei den kommerziellen Sendern ausgestrahlt werden, sind ohnehin in der Regel kürzer als die 90 Sekunden, die ARD und ZDF pro Ausstrahlungstermin zur Verfügung stellen. Obendrein haben nicht alle Parteien die 90 Sekunden bei den öffentlich-rechtlichen Sendern voll ausgenutzt, was den niedrigen Durchschnittswert erklärt. Auf den einzelnen Spot entfielen durchschnittlich gut fünf Sequenzen und mehr als 18 Schnitte, was bei der relativen Kürze der Spots für erhebliche Unruhe spricht. Rund 70 Prozent der insgesamt 189 Sequenzen bieten Präsentationsformen ohne den Auftritt eines Parteivertreters. Unter ihnen ist neben dem Packshot (34%), der in der Regel als letzte Einstellung eines Spots den Blick auf das "Produkt", meist den Parteinamen oder das Parteilogo, bietet sowie den plakativen Einstellungen (17%), die meist als Einzelbild der visuellen Trennung von verschiedenen Sequenzen dienen, ist die Montage mit einem Anteil von 28 Prozent die am häufigsten eingesetzte Präsentationsform ohne Parteivertreter. Erwähnenswerte Anteile erreichten mit je acht Prozent Testimonials von Bürgerinnen und Bürgern sowie metaphorische 1
Die Codierung sowohl der Europawahl- wie auch der Bundestagswahlspots besorgte Stanislava Vardina. Die Materialsammlung übernahm Melanie Radue. Bei der Auswertung der Daten half Susanne Merkle. Ihnen allen sei für ihren zuverlässigen Einsatz herzlich gedankt. Finanzielle Unterstützung für die Analyse der Spots kam von der Hans Frisch Stiftung, FB Wirtschaftswissenschaften der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
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Hier berichtete Ergebnisse können von denjenigen in dem Beitrag von Holtz-Bacha & Leidenberger geringfügig abweichen, weil dort lediglich auf der Ebene des gesamten Spots codiert wurde.
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Präsentationen und Analogien. Dass die letztgenannte Kategorie unter den Formaten relativ häufig vorkommt, ergibt sich insbesondere aus den Spots von SPD und Grünen. Einen oder mehrere Parteivertreter zeigten lediglich etwa 30 Prozent der Sequenzen, wovon wiederum 60 Prozent auf Statements entfielen. Weitere jeweils 15 Prozent der Präsentationsformen mit Parteivertretern stellten diese in Interviews oder als Testimonials dar. Dass die Wahlspots keinen besonders hohen Personalisierungsgrad aufweisen, wenn man das Auftreten eines Parteivertreters dafür als Indikator nimmt, ist nicht zuletzt bei einer Europawahl kein überraschendes Ergebnis. Politikerinnen und Politiker der werbenden Partei treten meist nur dann in der Wahlwerbung auf, wenn sie auch bekannt sind. Daher setzen kleinere Parteien ihre Kandidaten oft gar nicht oder wenigstens nur in geringem Umfang in ihren Fernsehspots ein. Das kann insbesondere bei Europawahlen gelten, da die Kandidatinnen und Kandidaten für das Europäische Parlament in der Wählerschaft meist weniger gut bekannt sind. Da zur Europawahl 2009 in Deutschland mehr als 30 Parteien zur Wahl antraten, gab es neben den bekannten, im Bundestag vertretenen Parteien entsprechend eine hohe Zahl von kleinen Parteien und Gruppierungen, die auf Personalisierung verzichteten und den Schnitt entsprechend drücken. Der Auftritt eines Parteivertreters in einem Spot bezieht sich hier nur auf die Präsenz im Bild. Das Vorhandensein eines Kandidaten im Bild allein sagt aber nur bedingt etwas aus über Personalisierung, daher erfasst diese Analyse, ob die/der Kandidat/in im Spot auch zum Thema gemacht wird. Das kann bedeuten, dass ein Kandidat über sich selbst spricht, etwa über seine Biographie, oder von anderen zum Beispiel in seinen Charaktereigenschaften beschrieben wird. Denn solange ein Kandidat im Bild präsent ist, aber über ein politisches Problem spricht, kann der Politik nicht unbedingt Ablenkung von Sachfragen vorgeworfen werden. Ersetzt indessen ein Kandidat die Behandlung eines politischen Problems und wird selbst zum Thema, womöglich sogar durch Betonung politikferner Eigenschaften oder von Informationen aus seinem Privatleben, ist von einer die Sachpolitik verdrängenden Personalisierung zu sprechen. Der Blick auf die in den Fernsehspots zur Europawahl 2009 zum Einsatz gebrachten Formate hatte bereits gezeigt, dass Parteivertreter ohnehin nur eine geringe Präsenz hatten. In den rund 30 Prozent der Sequenzen, in denen Parteivertreter vorkamen, bedeutete das in fast allen Fällen auch nur
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eine visuelle Präsenz, häufig verbunden mit einem Statement direkt in die Kamera; zum Thema wurden die Kandidaten aber in nicht einmal einem Prozent der Sequenzen. Wenn Parteivertreter auftraten, handelte es sich in beinahe 75 Prozent der Fälle um die Spitzenkandidaten der Parteien für die Europawahl. In etwa der Hälfte aller Sequenzen der Europawahlspots ließ sich ein sachpolitisches Thema identifizieren. Die auf den ersten Blick hohe Zahl der Sequenzen ohne ein sachpolitisches Thema erklärt sich damit, dass zum Beispiel alle Sequenzen mit "Packshots" dafür entfallen. Wo Sachpolitik auszumachen war, ging es vor allem um Themen der Finanz- und Wirtschaftspolitik (47%), gefolgt von sozialpolitischen Fragen (26%); andere Themenkomplexe spielten nur eine untergeordnete Rolle. Dabei überwog die kritische (47%) gegenüber der neutralen (35%) oder positiven (16%) Behandlung der Themen. In gut einem Viertel der Fälle (27%) ließ sich keinerlei Europabezug feststellen, weitere neun Prozent handelten die Themen überwiegend unter einer innenpolitischen Perspektive ab und ließen nur wenige europäische Bezüge erkennen. Das heißt also, die Parteien nutzten die Spots zu einem erheblichen Teil zur innenpolitischen Diskussion, was allerdings bei dem der Europawahl von vielen zugewiesenen Testcharakter und der nur wenige Wochen später anstehenden Bundestagswahl wenig überraschend ist. Wo sich das Hauptthema einer Sequenz als ein EU-Thema identifizieren ließ, stand das "Europa der Bürger" im Vordergrund. In Anbetracht der Schwierigkeiten, bei Europawahlen die Wählerschaft für den Urnengang zu motivieren, erscheint eine solche Argumentationslinie, die das europäische Projekt in das Interesse aller Bürgerinnen und Bürger stellt, naheliegend. Ebenso wie bei den sachpolitischen Themen insgesamt überwog auch bei den Europabezügen der kritische Ton. Die werbenden Parteien scheinen sich indessen ihres Einsatzes und ihrer Erfolge für Europa nicht so ganz sicher zu sein. Dafür spricht jedenfalls, dass weit überwiegend zukunftsbezogen und nur selten mit Bezug auf die Vergangenheit argumentiert wird. Obendrein finden sich häufig Plädoyers für Reformen, kaum eine Partei betont Bewährtes. Dass die Parteien ihre Werbung bevorzugt mit Plausibilitäten oder bloßen Behauptungen betreiben und meist einseitig argumentieren, ist indessen bei Wahlwerbung wenig überraschend.
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Auf die emotionale Qualität von Musik verzichtet kaum ein Spot. 63 Prozent aller Sequenzen enthalten Musik; dabei handelt es sich überwiegend um eine Untermalung durch undefinierbare Instrumentalmusik mit langsamem oder mäßigem Tempo. Ebenso wie bei Bundestagswahlen die Nationalhymne spielt auch die Europahymne bei der Europawahlwerbung eine zu vernachlässigende Rolle. Andere Töne und Geräusche, die wie zum Beispiel Naturgeräusche ebenfalls der emotionalen Ansprache des Publikums dienen könnten, kommen nur selten zum Einsatz; dann aber häufiger in negativer als in positiver Funktion. Charakteristisch für Produktwerbung ist, dass sie ausklammert, was die Attraktivität eines Produkts beeinträchtigen könnte – Schmidt und Spieß nennen das die "Ausblendungsregel" (1994, S. 18). Werbung produziert daher "ausschließlich positive Botschaften" (Schmidt & Spieß, 1994, S. 18). Stellt die Werbung Probleme und negative Sachverhalte dar, bietet sie gleich folgend die Lösung, in der Regel durch das beworbene Produkt. Das gilt auch in der Wahlwerbung. Schöne Bilder, sympathische Menschen und erfolgreiche Politik sollen der werbenden Partei Wohlwollen und Stimmen einbringen. Allerdings ist in der Wahlwerbung durchaus auch Negativwerbung gängig: Die Kritik trifft die bisherige Politik und deren Auswirkungen, die gegnerischen Parteien oder auch deren Kandidatinnen und Kandidaten. Bisherige Analysen haben gezeigt, dass Negativwerbung in Wahlspots zwar vorkommt, aber längst nicht so häufig, wie das etwa in den USA der Fall ist (vgl. Holtz-Bacha, 2001). Kritik kommt meist eher von den kleineren Parteien, gerade auch von denen, die in den Parlamenten nicht vertreten sind. Nicht selten sind in der deutschen Wahlwerbung Angriffe auf andere Parteien oder Kandidaten humorvoll verpackt, was als ein Versuch zu werten ist, den Risiken von Negativwerbung entgegenzuwirken. Vor diesem Hintergrund war es überraschend, dass die SPD im Europawahlkampf sowohl mit ihren Plakaten wie auch mit den Spots auf Konfrontationskurs mit Union, FDP und Der Linken ging. Riskant war die Negativkampagne nicht nur wegen der üblichen Gefahr des Backlash-Effektes (vgl. dazu auch Leidecker, in diesem Band), sondern auch durch den Versuch der humorvoll-ironischen Verpackung ihrer Angriffe. Ironie ist eine schwierige, nicht unbedingt allseits und schnell verständliche Form des Humors, die sich womöglich nicht allen Zuschauern gleich eröffnet und daher vielleicht nicht ausreicht, um die unerwünschte Rück-Wirkung auf die werbende Partei zu vermeiden. Dass die Negativkampagne der SPD viele Wahlberechtigte
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eher abstieß, zeigte sich in der Beurteilung des Hai-Plakates ebenso wie in Reaktionen auf den Fernsehspot. In Gruppendiskussionen3, in denen mehrheitlich Studierende verschiedene Wahlspots des laufenden Europawahlkampfes, darunter auch den SPD-Spot aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen sahen und beurteilten, gaben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zwar zu, dass sie sich an den Comic-Teil des Spots besser erinnern konnten, während das Konzept der Negativwerbung eher auf Unverständnis und Ablehnung stieß. Das heißt, es gelang der SPD zwar, Aufmerksamkeit zu erregen, es glückte ihr aber nicht, negative Gefühle auf die angegriffenen Parteien zu lenken, sondern sie lief vielmehr Gefahr, dass die Negativwerbung auf sie selbst zurückwirkte. Die erfahrungsgemäß vergleichsweise schlechte Wahlbeteiligung bei Europawahlen führt dazu, dass sich die Parteien neben ihrer Stimmenwerbung auch besonders um die Mobilisierung der Wählerschaft bemühen. Dazu gibt es außerdem Wahlaufrufe verschiedener Institutionen für politische Bildung sowie aus der EU selbst. In einer internationalen Kampagne warb das Europäische Parlament unter dem Motto "Europawahl – Deine Entscheidung" mit Fernsehspots, Plakaten und auf anderen Kampagnenkanälen für die Beteiligung an der Wahl. In den für die Kampagne in Deutschland produzierten Spots traten unter anderem der ehemalige Torhüter der Fußballnationalmannschaft Oliver Kahn, die Sängerin und Moderatorin Inka Bause, der Fernsehmoderator Elton sowie der Schauspieler Dietmar Bär auf, die zur Stimmabgabe zu animieren versuchten: "Wie die Nachrichten von morgen aussehen, das entscheiden Sie. Bei der Europawahl am 7. Juni." (Bär) Auffällig in diesem Zusammenhang war auch ein Fernsehspot der CSU, in dem der Parteivorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, der indessen für das Europäische Parlament gar nicht zur Wahl stand, zur Stimmabgabe und Stärkung Bayerns in Europa aufrief. Dass die CSU sich besonders um die Wahlbeteiligung bemühte, erklärt sich aus der Sorge der Partei, nicht zuletzt wegen der Kandidatur der Freien Wähler nicht die für den Einzug ins Europäische Parlament notwendigen fünf Prozent Stimmenanteil bundesweit zu erreichen, zumal in Bayern am Wahltag noch Pfingstferien waren.
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Dank geht an Matthias Malo für die Auswertung der Gruppendiskussionen.
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Bundestagswahl 2009
Zur Bundestagswahl 2009 waren 28 Parteien zugelassen, 26 nutzten ihre kostenfrei im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ab dem 31. August zur Verfügung stehende Werbezeit. Die SPD erhielt bei ARD und ZDF je acht, die CDU je sieben Ausstrahlungstermine; die kleineren Bundestagsparteien kamen auf je vier und alle anderen, nicht im Bundestag vertretenen Parteien auf je zwei Sendetermine. Neben CDU und SPD kauften nun auch die CSU, die Grünen sowie die Piratenpartei Werbezeit bei privaten Sendern ein. CDU und CSU kauften rund 400, die SPD lediglich 235 Sendeplätze.4 Wie üblich wurden am letzten Tag vor dem Wahltermin keine Spots mehr ausgestrahlt. Insgesamt gab es lediglich 34 verschiedene Spots, außer CDU und SPD produzierten nur Bündnis 90/Die Grünen und die Piratenpartei mehrere Spots, wobei es sich zum Teil nur um für die Privatsender gekürzte Fassungen der im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlten Versionen handelte. Da ein Zusammenschnitt auf 30 Sekunden einen anderen Eindruck vermittelt als die ursprüngliche 90-Sekunden-Version, zählen auch solche gekürzten Fassungen hier als ein 'neuer' Spot, auch wenn damit eine größere Variabilität vorgetäuscht wird als tatsächlich besteht. Während ARD und ZDF aufgrund gesetzlicher Verpflichtung die Sendezeit für die Wahlwerbung kostenfrei zur Verfügung stellen, müssen die Parteien bei den privat-kommerziellen Sendern für den Ankauf von Werbezeit zahlen. Hier gelten allerdings nicht die üblichen Werbepreise, im Rundfunkstaatsvertrag ist von "Erstattung der Selbstkosten" die Rede. Die Preise für die Wahlwerbung liegen dann auch deutlich unter den Tarifen für die Produktwerbung (vgl. Holtz-Bacha, 2000b, S. 74). Wie aus der präzisen Aufstellung der Piratenpartei für 2009 hervorgeht, bieten die privatkommerziellen Sender den Parteien sogar unterschiedliche Konditionen für ihre Wahlwerbung. Die Piraten, die sich die Werbezeit im privaten Fernsehen durch Spenden finanzieren ließen, bekamen bei IP, dem Werbevermarkter der RTL-Gruppe, einen Rabatt von 55 Prozent auf den Bruttopreis und bei SevenOneMedia einen Rabatt von 75 Prozent (Bundestagswahl 2009/Mediaplanung, 2009). Auf die 34 Spots entfallen 137 Sequenzen, also im Schnitt etwa vier Sequenzen pro Spot. Die durchschnittliche Länge der Sequenzen beträgt 4
Die in diesem Abschnitt genannten Zahlen gehen zum Teil auf Angaben der Parteien sowie der Rundfunkanstalten zurück bzw. lassen sich aus den AGF/GFK-Berichten entnehmen.
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knapp 20 Sekunden, und pro Sequenz gab es durchschnittlich 3.67 Schnitte. Die Spots – mit 90 Sekunden im öffentlich-rechtlichen und einer gängigen Länge von 30 Sekunden im privaten Fernsehen für die Politikvermittlung ohnehin knapp bemessen – sind also in der Regel aus mehreren kurzen und durch Schnitte nochmals unterbrochenen Einheiten zusammengesetzt; das alles sorgt für Unruhe und Häppchenpolitik. Mit 72 Prozent kamen fast drei Viertel der Sequenzen ohne einen Parteivertreter aus. Davon entfallen 21 Prozent auf Einzelbildmontagen und rund 16 Prozent auf Testimonials von Bürgerinnen und Bürgern. Unter den Präsentationsformen mit Parteivertretern finden sich 60 Prozent mit Statements und 21 Prozent mit Testimonials von Parteivertretern. Das heißt, wenn Parteivertreter auftauchen, sprechen sie in den meisten Fällen in die Kamera, sprechen also über ein Thema oder über sich selbst, oder sie geben eine Empfehlung für die Partei oder einen Kandidaten ab. Ein sachpolitisches Hauptthema ließ sich in gut zwei Drittel aller Sequenzen identifizieren, also erheblich mehr als im Europawahlkampf. Davon bezogen sich 23 Prozent auf den Themenbereich der Finanz- und Wirtschaftspolitik, zuzüglich sechs Prozent, die "die Krise" thematisierten. Auf die Sozialpolitik nahmen 20 Prozent der Sequenzen Bezug und 10 Prozent auf innenpolitische Themen. Direkt wahl- oder wahlkampfbezogen waren 13 Prozent, darunter allgemeine, nicht die werbende Partei betreffende Wahlaufrufe und Hinweise auf die Bedeutung der Beteiligung an der Wahl. Wo ein sachpolitisches Thema auszumachen ist, überwiegt die kritische Behandlung: Fast die Hälfte der Sequenzen weist einen kritischen Ton oder eine negative Bewertung auf, neutral dagegen nur 16 Prozent, und positiv fielen 35 Prozent aus. Wie auch schon bei der Europawahl erfolgte die Argumentation mehr zukunfts- als vergangenheitsbezogen und betonte die Absicht zu Reformen mit weit überwiegend einseitigen Plädoyers. Dabei zielt die Ansprache der Wählerschaft auch verbal häufig auf die Emotionen, allerdings in vielen Fällen eher auf negative Gefühle wie Ärger, Angst und Furcht und selten auf positive Empfindungen. In Anbetracht der Diskussionen über "Personalisierung" und im Vergleich mit entsprechenden Analysen der Wahlkampfberichterstattung in Presse (vgl. Wilke & Leidecker, in diesem Band; Wilke & Reinemann, 2000, 2003, 2006) und Nachrichtensendungen des Fernsehens (vgl. Schulz & Zeh, 2003, 2004, 2006 sowie in diesem Band; Zeh, 2005), die jedoch nur Personalisierungsstrategien von Seiten der Medien feststellen können, ist interessant
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zu prüfen, inwiefern die Parteien in ihrer Selbstdarstellung auf die Vermittlung von Politik durch Personen setzen (vgl. auch: Holtz-Bacha, Lessinger, & Hettesheimer, 1998). Ebenso wie in den Analysen der Berichterstattung lässt sich Fokussierung auf Personen, zumal im Langzeitvergleich, am besten an der Präsentation der Kanzlerkandidaten verfolgen, das heißt also, inwieweit Kanzlerkandidat oder -kandidatin in den Wahlspots auftreten oder sogar zum Thema gemacht werden. In der Betrachtung über Zeit, zurück bis zur Bundestagswahl 1957, als das Fernsehen zum ersten Mal Wahlwerbung der Parteien, ausstrahlte, hat sich ebenso wie bei der Presseberichterstattung gezeigt, dass es keinen kontinuierlichen Trend zur "Personalisierung" gibt, sondern die Fokussierung auf die Kanzlerkandidaten offenbar von der spezifischen Situation eines Wahlkampfes und auch von den Kandidaten – ihrer Persönlichkeit sowie ihrer Popularität in der Wählerschaft und in der Partei – abhängt (vgl. Holtz-Bacha, 2000a, S. 183-193, 2006). Dass wahrscheinlich mehrere Variable den Personalisierungsgrad einer Kampagne beeinflussen, lässt sich besonders gut dort ablesen, wo derselbe Kandidat in mehreren Wahlen antrat. Instruktiv in dieser Hinsicht sind vor allem die Wahlkämpfe mit Helmut Kohl, der jeweils einer sehr unterschiedlich starken Personalisierung unterlag. Abbildung 1 und 2 zeigen für CDU und SPD im Zeitverlauf seit 1957, in welchem Umfang die jeweiligen Kanzlerkandidaten erstens (im Bild) präsent waren, und zweitens, ob die Kanzlerkandidaten zum Thema gemacht wurden. Bei der Bundestagswahl 2009 spiegelt sich der Wechsel in der Strategie bei der (Selbst-)Darstellung von Angela Merkel. In den CDU-Spots 2005 war sie zwar zu sehen, aber wurde nicht zum Thema gemacht. Ganz anders 2009, als Merkel in einem Fernsehspot über sich selbst spricht. Merkel war nach dem Bundestagswahlkampf 2005 vorgeworfen worden, ihre Kampagne sei eine "eiskalte Polarexpedition" (Spreng, 2006) gewesen und zu wenig ans Herz gegangen. Damals war die Union mit einem Negativspot, dem so genannten Kugel-Spot, in den Wahlkampf gegangen, in dem Merkel lediglich in einem Aufsager am Schluss zu sehen war und mit einem verkrampften Lächeln in der letzten Einstellung den Eindruck vermittelte, als habe sie jemand gerade noch rechtzeitig zum Lächeln aufgefordert. Inzwischen hat die Kanzlerin erkannt, dass Wahlkampf immer auch die emotionale Ansprache der Wählerschaft bedeutet, und gab im Wahlkampf "so viel Privates preis wie nie" (Wittrock, 2009).
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Abbildung 1:
Präsenz der CDU-Kanzlerkandidaten
Abbildung 2:
Präsenz der SPD-Kanzlerkandidaten
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Der Spot, in dem die Kanzlerin sich der Wählerschaft präsentiert und scheinbar so dicht an sich heranlässt, ist im Stil eines "introspection ad" produziert, "where the candidate speaks for him- or herself, reflecting on issue positions or personal feelings" (Johnston, 1991, S. 61). Merkel spricht zunächst kurz über ihre Biographie und geht dann auf ihre politischen Ziele ein. Anders als 2005, als der Kugel-Spot die Politik der rot-grünen Koalition geißelte und mit der Kritik eine typische Herausfordererstrategie anwendete, folgte der Kanzlerin-Spot 2009 einer geradezu präsidentiellen Amtsinhaberstrategie (vgl. Trent & Friedenberg, 2008, S. 86-105), die die Niederungen des politischen Auseinandersetzung meidet und die Opposition ignoriert. Der Spot ist allein zukunftsbezogen, denn der Hinweis auf politische Erfolge ihrer Regierung hätte nach einer Amtsperiode in der Großen Koalition die SPD einbezogen. Stattdessen verknüpft Merkel ihre politische Karriere mit Bildern vom Fall der Mauer und der Vereinigung. Der Spot ist im Kanzleramt, größtenteils in Merkels Büro, gedreht und macht sich damit alle Möglichkeiten der Amtsinhaberstrategie zunutze: Die Räumlichkeiten stehen für die Bedeutung und Macht des höchsten Regierungsamtes; das Amt an sich steht für Legitimität, "the person who holds the office is perceived as the natural and logical leader" (Trent & Friedenberg, 2008, S. 89). Das hohe Amt macht es einfach, einen Eindruck von Kompetenz zu vermitteln. Geschickt setzt der Spot Bilder ein, die die Emotionen des Publikums ansprechen: symbolische Gebäude wie den Reichstag, das Brandenburger Tor und die Berliner Mauer; Deutschland-Fahne und -farben; historische Momente wie den Fall der Mauer, die Fußball-WM 2006 oder die Vereidigung der ersten Frau und Ostdeutschen als Kanzlerin; kleine Kinder. Toneinblendungen aus der Zeit der Wende, Merkels Amtseid mit dem Zusatz "So wahr mir Gott helfe", Applaus bei der Fußball-WM sowie Merkels Text mit positiv besetzten Begriffen wie 'Einheit', 'Glücksmoment' und 'Deutschland dienen' unterstützen ebenfalls die emotionale Ansprache der Zuschauer (für Text und Bilderfolge des Merkel-Spots vgl. Tabelle 1). Der Merkel-Spot umfasste in der Ausstrahlung bei den öffentlich-rechtlichen Sendern 90 Sekunden, bei den privaten Sendern lief eine gekürzte Fassung.
180 Tabelle 1
Christina Holtz-Bacha Der Merkel-Spot im Bundestagswahlkampf
Bild
Audio [durchgehend Instrumentalmusik im Hintergrund]
Spiegelbild Merkel, Reichstag
Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren.
Spiegelbild Merkel, Mauerkletterer [Ton: Wir sind das Volk] Spiegelbild Merkel, Mauerkletterer, Brandenburger Tor
Aber dann kam einer der größten Glücksmomente unseres Landes. Die Einheit.
Merkel von hinten, blickt aus dem Fenster; Radfahrer auf der Mauer, Brandenburger Tor
Ich wollte Deutschland dienen.
Ich wurde Ministerin, verhandelte den ersten weltweiten Klimapakt, wurde Parteichefin, schließlich Bundeskanzlerin. Linke Bildhälfte: Merkel angeschnittenes Porträt; rechte Bildhälfte: Vereidigung Merkel im Bundestag [Applaus, O-Ton Merkel: So wahr mir Gott helfe] Merkel von hinten, blickt aus dem Fenster auf das Reichstagsgebäude Merkel dreht sich, linke Bildhälfte Säugling
Wir haben gezeigt, dass wir die Zahl der Arbeitslosen senken, Familien stärken,
Totale, Merkel im Kanzlerbüro am Fenster von hinten, rechte Bildhälfte Schüler und mathematische Formeln
Bildung und Forschung voranbringen können.
Spiegelbild Merkel, Blick aus dem Fenster
Jeden Tag lerne ich etwas dazu. Das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen.
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Kopf Merkel, schelmisch und amüsiert lächelnd, leichtes Kopfschütteln
Wie wichtig eine Frisur sein kann.
Merkel von hinten, Blick aus dem Fenster
Nicht jede Aufregung mitzumachen.
Einblendung Zuschauer mit Deutschland-Fahnen bei der Fußball-WM Spiegelbild Merkel, Einblendung Merkel, Arme hochreißend, bei der FußballWM 2006 [Applaus]
Aber es gibt auch Ausnahmen.
Merkel von hinten im Kanzlerbüro am Fenster, dreht sich zu Mitarbeitern; Einblendung Aufnahmen von Arbeitern mit Helmen
Die Zeiten fordern uns. Unser Land braucht Arbeit. Dafür brauchen wir Wachstum.
Merkel geht auf Mitarbeiter zu, schaut in Unterlagen; Einblendung Industrieanlage
Unsere soziale Marktwirtschaft muss in der ganzen Welt verankert werden. Die Starken sollen etwas leisten können,
Merkel im Kanzleramt, im Hintergrund eine Besuchergruppe; Einblendung Bein eines Säuglings
aber die Schwachen brauchen Schutz.
Besuchergruppe im Kanzleramt; ein kleines Mädchen winkt
Unsere Kinder verdienen die beste Zukunft.
Merkel von der Seite, fröhlich lächelnd; Mädchen schaut interessiert-freundlich in die Kamera
Wir müssen Deutschland zu einer Bildungsrepublik machen.
Gegenlichtaufnahme auf die Besuchergruppe im Kanzleramt, Einblendung von Blumenblüten, die zu rotieren beginnen
Und wir müssen die Schöpfung bewahren.
Merkel von vorne im Kanzleramt, kommt auf die Kamera zu; Einblendung von Köpfen von mehreren Menschen, beginnen zu lächeln
Das Wichtigste aber ist der Zusammenhalt im Land.
182 Merkel direkt in die Kamera; Einblendung mit Deutschlandfarben unterlegtes 'Wir'
Christina Holtz-Bacha Gemeinsam können wir viel erreichen. Wir alle zusammen.
Einblendung: Wir [mit Deutschlandfarben unterlegt] haben die Kraft; zusätzliche Einblendung: Logo CDU
Die SPD dagegen brachte ihren Kanzlerkandidaten zwar ins Bild, machte ihn aber nicht zum Thema, was auch eine Abkehr von den Selbstdarstellungsstrategien der Wahlkämpfe mit Gerhard Schröder darstellte. Der Spot, der in Langfassung bei ARD und ZDF und in gekürzten Versionen bei den privaten Sendern lief, macht Frank-Walter Steinmeier zum Vertreter des Parteiprogramms, unternimmt aber keine Anstrengungen, ihn auch als Person herauszustellen. Wenn Steinmeier in die Kamera spricht, wirkt er ernst und fast steif; lediglich am Schluss, als Bilder vom SPD-Parteitag eingeblendet werden, wo Steinmeier mit seiner Frau zu sehen ist, sieht man ihn entspannt lachen. Die Werbekampagne der SPD litt auch darunter, dass sie sich die üblichen Strategien eines Herausforderers (vgl. Trent & Friedenberg, 2008, S. 105-117) nicht zunutze machen konnte. Die gemeinsame Verantwortung von Union und SPD für die Politik der letzten vier Jahre schloss es aus, die Entscheidungen der Amtsinhaberin anzugreifen. Der Aufruf zum Wandel war deshalb auch nur bedingt möglich und konnte lediglich für eine andere Koalition werben. Der SPD setzte daher auf ihre Themen, die in einem vergleichsweise konventionellen Spot abgearbeitet wurden. Dass Personalisierung der Wahlwerbung sich nicht auf die Parteien beschränkt, die auch einen Kanzlerkandidaten benennen, beweisen die Spots von FDP, CSU und den Linken. Die FDP setzte in ihrem von der (Partei-) Farbe Gelb dominierten Spot ganz auf Zukunft und Zuversicht (Deutschland kann … inspirieren, … etwas leisten, … anpacken, … optimistisch sein,… innovativ sein, … Hoffnung wecken, … erfolgreich sein, … stolz sein, … sich auf die Zukunft freuen) und versprach dazu mit ihrem Slogan "Deutschland kann es besser". Immer wieder taucht Guido Westerwelle auf; außerdem sind in kurzen Einblendungen und eher als Staffage für Westerwelle andere Politikerinnen und Politiker der FDP zu sehen, darunter die Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin, die für den Stimmenzuwachs für die FDP bei der Europawahl steht, indessen bei der Bundestagswahl nicht
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kandidierte, sowie in einem visuellen Bezug zu erfolgreichen Zeiten der Partei die ehemaligen Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff. Den das bayerische bzw. CSU-Blau betonenden Spot der CSU, der durch die vielen Bierkrüge im Bild zugleich Werbung für Bier zu machen scheint, rahmen Auftritte ihres Parteivorsitzenden Horst Seehofer ein, der ebenso wie bei der Europawahl auch bei der Bundestagswahl nicht als Kandidat antrat; zwischendrin Szenen mit der Berliner CSU-Prominenz (Peter Ramsauer, Ilse Aigner und Karl-Theodor zu Guttenberg) im Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern. Der Spot der Linken, wie schon traditionell von der Farbe Rot, diesmal aber auch mit viel Grün durchzogen, hebt zwar mit Ausschnitten aus ihren Reden die Partei- und Fraktionsvorsitzenden Oskar Lafontaine und Gregor Gysi hervor, führt aber mit kurzen Einblendungen weitere Vertreterinnen und Vertreter ihres Spitzenpersonals vor. Die Grünen, die in den letzten Bundestagswahlkämpfen durch kreative und auch witzige Fernsehspots aufgefallen waren, mit denen sie die sonst dominierende Langeweile durchbrochen hatten, mussten diesmal auf Naturtalent Joschka Fischer verzichten und sahen von den personalisierten Werbefilmen ihrer letzten Kampagnen ab. Sie brachten statt dessen einen Spot, der an die frühe Werbung der Grünen erinnerte, als Laiendarsteller in etwas verkrampft gestellten Spielszenen auftraten. 2009 sprechen sich Frauen und Männer verschiedenen Alters für die Themen und Positionen der Grünen aus. Nur kurz vor Schluss sind die Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Renate Künast und Jürgen Trittin, zu sehen, die – beinahe ebenso verkrampft – das mehrfach im Spot wiederholte Ziel, Jobs zu schaffen, aufgreifen. 3
Vom Fernsehen ins Internet
Längst haben die Parteien auch das Internet für ihre Spotwerbung entdeckt und bieten diese und andere Videoclips auf ihren Wahlkampfseiten und in ihrem Parteifernsehen auf YouTube an. Online sind nun auch Werbespots der Wahlkreiskandidaten möglich, die sonst keine Chance haben, in der Wahlwerbung ihrer Parteien aufzutauchen oder gar eigene Werbezeit im Fernsehen zu kaufen. Sofern solche Wahlspots auf den Seiten von Parteien und Kandidaten stehen, fehlt ihnen allerdings das Überraschungsmoment und das Programmumfeld, die die Quoten der Spots im Fernsehen beflü-
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gelt. Ein Vorteil des Internets ist indessen, dass die Parteien hier unabhängig sind von festen Sendezeiten wie bei ARD und ZDF und von den Buchungsfristen der privat-kommerziellen Fernsehsender. Die Parteien sehen das Internet vor allem als eine Möglichkeit, um junge Leute für die Wahl zu gewinnen, und geben sich dort auch mal frecher als im Fernsehen, wo sie eher an ein breiteres Publikum denken müssen. Ärger handelte sich im Bundestagswahlkampf 2009 allerdings die CDU mit einem Internetspot ein, in dem ein junger Mann an einer Tankstelle plump für Steuersenkungen argumentierte. Dass in dem Spot das Shell-Logo prominent platziert war, ließ manche Betrachter nach den Sponsoren fragen, und die Firma selbst reagierte irritiert. Die CDU zog den Spot zwar zurück, da aber schnell eine Parodie, die Material des Spots verwendete, auftauchte, demonstrierte der Fall zugleich die Gefahren der Internetwerbung: Was einmal im Netz ist, lässt sich der Öffentlichkeit nur schwer wieder entziehen (vgl. Klenz, 2009). Auch die SPD bekam die Probleme der Internetwerbung zu spüren: Auf YouTube erschien anonym ein Video, das für die SPD warb und dafür den Rap-Hit "Was geht ab" verwendete, in dem es dann statt "Wir feiern die ganze Nacht" hieß "Wir erobern die Kanzlerschaft" (vgl. Klenz, 2009). Die SPD war hier nicht unglücklich über die Werbung; der Fall, bei dem auch Musikrechte verletzt wurden, demonstriert jedoch, dass die Urheberschaft bei Internetclips eben nicht immer zu identifizieren ist und durch falsche Vermutungen Schaden anrichten kann. Im Wahljahr 2009 diente das Internet auch mehreren Kampagnen, die für die Beteiligung an der Wahl werben wollten. Eine heftige (Medien-)Debatte entspann sich um einen von Friedrich Küppersbusch produzierten Spot, hinter dem die Kommunikationsplattform politik-digital stand und dessen erste Folge unter dem Motto 'Wählt nicht' stand. Hier bekannten Prominente wie der Tagesschau-Sprecher Jan Hofer, Talkshowmoderatorin Sandra Maischberger, Komiker Mike Krüger oder der Schauspieler Detlev Buck, dass sie nicht zur Wahl gehen würden. Die Ironie des von einem Vorbild aus den USA inspirierten Spots eröffnete sich wohl nicht allen Zuschauern; ein zweiter Spot etwa eine Woche später klärte die Unsicherheit über die vermeintliche Werbung fürs Nichtwählen mit der Botschaft "Geh wählen" (vgl. Anger, 2009a, b).
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Fazit
Nach wie vor gilt, dass die Parteien mit ihrer Wahlwerbung im Fernsehen ein großes Publikum erreichen. In den vier Wochen vor der Europa- bzw. der Bundestagswahl kamen die Spots nur sehr selten auf weniger als eine Million, aber häufig auf mehr als zwei Millionen Zuschauer (alle Zahlen: AGF/GfK Fernsehforschung, 2009a-h). Die Uhrzeit der Ausstrahlung hat einen gewissen Einfluss auf die Reichweite. Ein Sendeplatz im Vorabendprogramm ebenso wie spät am Abend ist offenbar etwas weniger günstig. Wichtiger aber ist das davor oder danach ausgestrahlte Programm: Gleich nach den Nachrichten, im Umfeld von populären Serien und Filmen oder gar Fußball sind vorteilhafte Ausstrahlungstermine, wo dann auch mal mehr als drei Millionen Zuschauer erreicht werden. Zwar sind die Zuschauerzahlen der Spots für die meisten Privatsender nicht ausgewiesen, es sieht jedoch so aus, als ob sich der Ankauf von Werbezeit für die Parteien durchaus lohnt, wenn sie sich einen günstigen Sendeplatz buchen. Die Platzierung eines Spots bei RTL gleich nach "Wer wird Millionär?" sorgt zum Beispiel für eine 'Traumquote': Zwei Tage vor dem Wahltermin erreichte hier ein Spot der SPD 6.61 Millionen Zuschauer (ab 14 Jahre), das entsprach einem Marktanteil von 26.1 Prozent. Ähnlich gut sah es für einen CDU-Spot aus, der ein paar Tage vorher nach der Quizsendung zur Ausstrahlung kam: 5.58 Millionen Zuschauer (ab 14 Jahre) und ein Marktanteil von 18.4 Prozent. Was im kommerziellen Fernsehen eine Frage der versierten Mediaplanung ist, lässt sich mit ein bisschen Glück auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erreichen: In der Woche vor dem Wahltermin brachte es ein Spot der Rentnerinnen und Rentner Partei (RRP) bei der ARD auf gut fünf Millionen Zuschauer, was einem Marktanteil von über 17 Prozent entsprach. Angesichts solcher Reichweiten bleibt die Fernsehwerbung für die Parteien interessant, auch wenn sie die distanzierenden Ansagen der Anstalten mit dem Hinweis auf Wahlwerbung und die Verantwortlichkeit der Parteien in Kauf nehmen müssen. Zwar ist eine hohe Einschaltquote keineswegs mit irgendeiner Wirkung gleichzusetzen, eine Wirkungschance aber ist es allemal. Allerdings bestätigen sich weiterhin die ungleichen Bedingungen für größere und kleinere, etablierte und neuere Parteien. Das Prinzip der abgestuften Vergabe von Sendeplätzen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist rechtlich abgesichert; beim privat-kommerziellen Fernsehen beweist sich indessen die unterschiedliche Finanzkraft der Parteien. Lediglich Union und
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SPD sind in der Lage, die Vorteile der zielgruppenspezifischen Platzierung ihrer Werbung in Anspruch zu nehmen und obendrein den Werbedruck aufzubauen, der sich als entscheidend für die Aufmerksamkeit gegenüber der Parteienwerbung in Wahlkämpfen erwiesen hat (vgl. Podschuweit & Dahlem, 2007). Um so unverständlicher ist, dass die Parteien so wenig Kreativität auf die Gestaltung der Spots verwenden und in vielen Fällen den Eindruck erwecken, sie produzierten Spots, weil es eben sein muss, aber nicht mit der Überzeugung, sie könnten mit den Spots bei den Wählerinnen und Wählern etwas für sich erreichen. Es liegt am Format, dass ein substantieller politischer Diskurs in den Fernsehspots nicht zu erwarten ist: Parteienwerbung in maximal 90 Sekunden, und als eine Form der strategischen Kommunikation auch behaftet mit einem Glaubwürdigkeitsproblem, will und kann nicht argumentativ überzeugen, sondern muss eher emotional verführen. Umso mehr wären Ideen gefordert, um nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Sympathie für Themen und Kandidaten zu schaffen. Literatur AGF/GfK Fernsehforschung. (2009a). Fernsehzuschauerforschung in Deutschland. Basisinformationen Fernsehnutzung. 20. Kalenderwoche 2009, 11.05.-17.05.2009. o.O.: AGFGeschäftsstelle. AGF/GfK Fernsehforschung. (2009b). Fernsehzuschauerforschung in Deutschland. Basisinformationen Fernsehnutzung. 21. Kalenderwoche 2009, 18.05.-24.05.2009. o.O.: AGFGeschäftsstelle. AGF/GfK Fernsehforschung. (2009c). Fernsehzuschauerforschung in Deutschland. Basisinformationen Fernsehnutzung. 22. Kalenderwoche 2009, 25.05.-31.05.2009. o.O.: AGFGeschäftsstelle. AGF/GfK Fernsehforschung. (2009d). Fernsehzuschauerforschung in Deutschland. Basisinformationen Fernsehnutzung. 23. Kalenderwoche 2009, 01.06.-07.06.2009. o.O.: AGFGeschäftsstelle. AGF/GfK Fernsehforschung. (2009e). Fernsehzuschauerforschung in Deutschland. Basisinformationen Fernsehnutzung. 36. Kalenderwoche 2009, 31.08.-06.09.2009. o.O.: AGFGeschäftsstelle. AGF/GfK Fernsehforschung. (2009f). Fernsehzuschauerforschung in Deutschland. Basisinformationen Fernsehnutzung. 37. Kalenderwoche 2009, 07.09.-13.09.2009. o.O.: AGFGeschäftsstelle.
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"Polit-Generation 2.0" (Thies, 2009), "Twittern im Obama-Rausch" (Volkery, 2008), "Digitaler Dialog statt Parteiwerbung" (Kolbrück, 2009) und E-Campaigning "bis zum Exzess" (Tillmann, 2009, S. 10) – noch nie stand der deutsche Internetwahlkampf so sehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses wie zur Bundestagswahl 2009: Journalisten verschiedenster Medien überschlugen sich bereits ein Jahr vor dem Wahltermin mit Reportagen, Kolumnen und Leitartikeln zur "Stimmenjagd im Netz" (Fischer & Voß, 2009). Kampagnenmanager sprachen vom World Wide Web als "Startrampe" (Pofalla zit. n. Bialek, 2009), "Herzstück" (Wasserhövel zit. n. Pfannenmüller, 2009, S. 28) und "zentrale[m] Bestandteil" (Heinrich zit. n. Biermann, 2009) der politischen Mobilisierung, mit dem erstmals auch Werbemittel des Offline-Wahlkampfes in größerem Umfang geplant wurden.1 Und Verbände (vgl. z. B. BITKOM, 2009) ebenso wie Agenturen (vgl. z. B. Fittkau & Maaß Consulting, 2009) lancierten schließlich unzählige Meinungsumfragen, Projektberichte und digitale Beobachtungsplattformen, die die Bedeutung und Entwicklung des hiesigen E-Campaigning in der heißen Kampagnenphase dokumentieren sollten (vgl. z.B. www.wahl.de; www.wahlgetwitter.de; www.wahlradar.de; www.partei-gefluester.de; Stand: September 2009). Die politische Online-Kommunikation hatte zwar auch in vorangegangenen Bundestagswahlen durchaus Resonanz in der Öffentlichkeit gefunden (vgl. Schweitzer, 2006). Das Ausmaß des im Jahr 2009 einsetzenden "Medi1
Die SPD fand das Namenslogo für Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier über einen Ideenwettbewerb in der Online-Community "jovoto" (vgl. Weißmüller, 2009, S. 6). Bei der FDP wandte man mehr finanzielle Mittel zur Dialogkommunikation als für die traditionelle Plakatierung auf (Beerfeltz zit. n. Haerder, 2008, S. 4) und bestimmte den Wahlslogan "Leistung muss sich lohnen" durch ein Internetvotum (vgl. Knobloch, 2009b). In den Reihen der CDU konnten Anhänger einen Remix des offiziellen Wahlkampfsongs per Upload veröffentlichen (vgl. Roleff, 2009), während die Piratenpartei einen usergenerierten und von anderen Unterstützern ausgewählten Wahlwerbespot im Fernsehen ausstrahlen ließ (vgl. Knobloch, 2009a).
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enhypes" (vgl. Vasterman, 2005) um die Chancen der virtuellen Wähleransprache sprengte jedoch die Dimensionen früherer Kampagnenberichte bei Weitem. Hierfür verantwortlich waren vor allem drei Faktoren, die den Verlauf des zurückliegenden Bundestagswahlkampfes und seine gesellschaftliche Wahrnehmung nachhaltig prägten: (1) die Debatte um die Einführung von Internetsperren und das Aufkommen der online-affinen Piratenpartei, die mit ungewöhnlichen Flashmob-Aktionen auch im Straßenwahlkampf auf sich aufmerksam machte und den Belangen der Netzpolitik zu größerem Gehör verhalf (vgl. Hanke, 2009); (2) das Hinzutreten neuer Formate wie YouTube, Twitter und soziale Netzwerkseiten (etwa Facebook, MySpace oder StudiVZ), die in der Bevölkerung verstärkt genutzt werden (vgl. van Eimeren & Frees, 2009) und erstmals im politischen Kontext Anwendung fanden; sowie (3) die zeitliche Nähe zur US-Präsidentschaftswahl 2008, in der Barack Obama internationale Maßstäbe für das moderne E-Campaigning etabliert und nachfolgende Wahlkämpfe damit unter erheblichen Innovationsdruck gesetzt hatte. Dieser Ereignishintergrund veranlasste zahlreiche Wahlbeobachter zu der Frage, ob deutsche Parteien in der Lage wären, mit aktuellen Entwicklungen im Online-Bereich Schritt zu halten und dem amerikanischen Vorbild nachzueifern (vgl. z. B. Bialek, 2009; Schneider, 2009; Watzlawek, 2008). Die strategische Relevanz des Internetwahlkampfes wurde dabei nicht bezweifelt. Widersprüchlich gestalteten sich allein die Werturteile, die Journalisten über die Qualität hiesiger Netzkampagnen formulierten: Während manche von der "Macht des Internets" (Reichart, 2009) sprachen, eine "Blogisierung" (Vitzthum, 2008) und "'Web 2.0-fizierung'" (Brauckmann, 2009) der Politik postulierten und das World Wide Web gar als neues "Leitmedium" des Wahlkampfes ansahen (vgl. Laufer, 2009, S. 24; Pfannenmüller, 2009, S. 28), konstatierten andere eine prinzipielle "Internetlüge" (Tillmann, 2009, S. 10), "'digitale Strohfeuer'" (Bay, 2008, S. 54) und "Irrtümer" (Rybarczyk, 2009). Deutsche Parteien befänden sich einerseits im "Twitterwahn" (te Koning, 2009) und würden "Gruscheln wie Obama" (Schneider, 2009), andererseits seien sie jedoch "Schnarchnasen" (Hanke, 2009), die im Cyberspace "Nachholbedarf" hätten (Haerder, 2008), vom Web 2.0 "noch Lichtjahre entfernt" wären (Patalong, 2009) und überhaupt Online-Auftritte pflegten, die eher einem "Blick in die 'Apothekenumschau'" glichen (Prohlmann & Sagatz, 2009, S. 5): "Siegen wie Obama? – No we can't…" (Gillmann, 2009).
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Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist die Widersprüchlichkeit dieser Thesen kaum überraschend: Aktualitäts-, Selektions- und Präsentationszwänge nötigen Journalisten zu Verkürzungen, Vereinfachungen oder Verallgemeinerungen, die dem Differenzierungsgrad empirisch-analytischer Erhebungen deutlich entgegenstehen. In ihrer Darstellung orientieren sich Medienschaffende zumeist an den thematischen Trends ihrer Kollegen (vgl. Reinemann, 2003), wobei gängige Nachrichtenfaktoren wie Neuheit, Negativismus oder Personalisierung die Berichterstattung überformen (vgl. im Überblick Schulz, 1990). Die Beiträge argumentieren anhand subjektiv ausgewählter Einzelfälle anstelle von statistisch repräsentativen Daten (vgl. z. B. Daschmann & Brosius, 1997), nutzen sprachliche Steigerungsformen und Superlative, um Interesse zu erzeugen (vgl. z. B. Brosius, Breinker, & Esser, 1991) und konzentrieren sich nicht zuletzt auf singuläre Erscheinungen, die zu technikzentrierten, ahistorischen und dekontextualisierenden Schlussfolgerungen verleiten (vgl. z. B. Rössler, 2001). In der Konsequenz entstehen oft heterogene mediale Kommentierungen, deren Vergleichs- und Bewertungsmaßstäbe ebenso im Unklaren verbleiben wie die epistemologischen Grenzen, die jenen essayistischen Beobachtungen zugrunde liegen. Mit Ausnahme der Piratenpartei ging beispielsweise kaum ein Beitrag zum Online-Wahlkampf 2009 über das Spektrum der im Bundestag vertretenen politischen Akteure hinaus. Inhaltliche Aspekte des E-Campaigning wurden zumeist zugunsten formaler Fragen vernachlässigt, wobei punktuelle Betrachtungen zu Web 2.0-Angeboten dominierten. Die Gesamtheit der digitalen Kampagneninstrumente und das Zusammenspiel alter und neuer Formate wurde hier weder thematisiert, noch erfolgte ein systematischer Vergleich mit früheren Bundestagswahlen, um Aufschluss über die tatsächlichen Veränderungen der Internetauftritte zu erhalten. Schließlich fehlte es an Auseinandersetzungen mit den allgemeinen Gestaltungstendenzen im weltweiten E-Campaigning, die abseits der Obama-"Hysterie" (Bialek, 2009) eine realistische Einordnung des deutschen Online-Wahlkampfes erlauben. Auf der Grundlage dieser Medienberichte ließ sich folglich ein vollständiges und angemessenes Urteil über die Qualität hiesiger Webkampagnen nicht gewinnen. Der vorliegende Beitrag möchte die Beschränkungen jener journalistischen Kommentierungen nun überwinden, indem er die faktische Entwicklung der computervermittelten politischen Kommunikation anhand einer empirischen Studie nachzeichnet. Diese greift auf eine Untersuchungsreihe
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der Autorin zurück, die mit der Bundestagswahl 2002 begann (vgl. Schweitzer, 2003) und seither zu Landtags-, Bundestags- und Europawahlen fortgesetzt wurde (vgl. u. a. Schweitzer, 2005, 2008, 2010a). Im Mittelpunkt der aktuellen Auswertung steht eine quantitative Inhalts- und Strukturanalyse der nationalen Partei-Websites und der mit ihnen assoziierten Kampagnenplattformen zu den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009. Ihr Längsschnittvergleich erlaubt zuverlässige Rückschlüsse hinsichtlich der formalen Anmutung des E-Campaigning, seiner funktionalen Beschaffenheit und kommunikationsstrategischen Ausrichtung im Zeitverlauf. Die Studie schließt dabei sowohl die Internetauftritte der parlamentarischen als auch der nicht-parlamentarischen Akteure mit ein und berücksichtigt argumentative ebenso wie technische Aspekte der Netzkampagnen. In ihrer Gesamtanlage stellt die vorliegende Erhebung damit die bislang umfassendste Datenbasis zur Ausgestaltung des Online-Wahlkampfes in Deutschland dar. Die empirische Analyse wird im Einzelnen von sechs Forschungsfragen zur vermuteten Entwicklung des ECampaigning geleitet, die sich aus der nachfolgenden Diskussion des internationalen Kenntnisstandes zur Computer-Mediated Political Communication (CMPC) ergeben (Abschnitt 1). Diese strukturieren den methodischen Aufbau der Untersuchung (Abschnitt 2) sowie die spätere Ergebnisdarstellung (Abschnitte 3 und 4). Ein abschließendes Fazit fasst die zentralen Befunde zusammen und bilanziert diese mit Blick auf die zuvor formulierten theoretischen Erwartungen (Abschnitt 5). 1
Online-Wahlkämpfe im internationalen Vergleich: Funktionale, relationale und inhaltliche Normalisierung
Seit Mitte der neunziger Jahre bilden Online-Wahlkämpfe einen beliebten Forschungsgegenstand in der Kommunikations- und Politikwissenschaft. Die Zahl der hierzu publizierten Studien hat sich dabei kontinuierlich im Laufe der Zeit erhöht (vgl. Chadwick & Howard, 2009, S. 2). Das zunehmende Interesse an den verschiedenen Formen und Inhalten der digitalen Kampagnenführung ist mit der gesellschaftlichen Bedeutung zu begründen, die die webbasierte Wähleransprache weltweit erlangt hat. Dies lässt sich an vier Indikatoren illustrieren: (1) an der sukzessiven Ausbreitung und wachsenden Binnendifferenzierung von politischen Internetangeboten (vgl. Howard & Chadwick, 2009, S. 433); (2) an steigenden Nutzungsraten innerhalb
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der Bevölkerung (vgl. z. B. die referierten nationalen Statistiken in Ward, Owen, Davis, & Taras, 2008); (3) an der Entstehung einer eigenen Beratungs- und Gestaltungsindustrie zur Umsetzung entsprechender OnlineAuftritte (vgl. Filzmaier & Plasser, 2001, S. 165ff.); sowie (4) an der strategischen Wertschätzung, die politische Netzaktivitäten in Befragungen unter Kampagnenmanagern, Parteien und Politikern erfahren (vgl. z. B. Gellner & Strohmeier, 2002). Der globale Aufstieg des E-Campaigning wird gemeinhin auf die spezifischen Präsentations- und Vermittlungsqualitäten des Internets (u. a. Aktualität, Hypertextualität, Informationskapazität, Interaktivität, Multimedialität, Ubiquität) sowie auf seinen Symbolcharakter und seine Kosteneffizienz zurückgeführt (vgl. im Überblick Bimber & Davis, 2003, S. 43ff.). Politische Akteure erkennen hierin entscheidende Wettbewerbsvorteile gegenüber traditionellen Wahlkampfkanälen, wie Plakate, TV-Spots oder Medienberichte ("free media"), die es ihnen ermöglichen, administrative und logistische Kampagnenvorgänge zu beschleunigen, klassische mediale Selektionsfilter zu umgehen und neue Zielgruppen zu erschließen. Das Internet wird daher auch als Kernelement der postmodernen Wahlkampfführung charakterisiert (vgl. z. B. Blumler & Kavanagh, 1999, S. 222), mit dem Parteien und Kandidaten im Zuge der Professionalisierung ihrer politischen Kommunikation auf die Unwägbarkeiten und Herausforderungen des heutigen Wählermarktes zu reagieren suchen, etwa auf die Folgen der gesellschaftlichen Individualisierung, auf die Fragmentierung der Öffentlichkeit oder die wachsende politische Volatilität in der Bevölkerung (vgl. im Überblick Chadwick, 2006, S. 145ff.). Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Entwicklung mit der Frage verbunden, ob die Politikvermittlung im Internet tatsächlich neuen inhaltlichen und strukturellen Gesetzmäßigkeiten folgt (Innovationsthese) oder ob sie umgekehrt von klassischen Darstellungs- und Wettbewerbsmustern des Offline-Wahlkampfes überformt wird (Normalisierungsthese) (vgl. im Überblick Schweitzer, 2008). Diese Fragestellung greift die allgemeine theoretische Diskussion um die demokratischen Potenziale neuer Informationstechnologien auf (vgl. z. B. Weare, 2002) und sucht diese anhand quantitativer Indikatoren empirisch zu fundieren. Im Mittelpunkt stehen vor allem drei Aspekte (vgl. auch Gibson, Lusoli, & Ward, 2007, S. 16ff.): (a) das Ausmaß, in dem die medienspezifischen Präsentationsmöglichkeiten des World Wide Web faktisch im Wahlkampf realisiert werden (funktionale
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Dimension); (b) das Konkurrenzverhältnis zwischen politisch zentralen und peripheren bzw. ressourcenstarken und -schwachen Akteuren im Internet, das sich an individuellen Leistungsunterschieden in der digitalen Kampagnengestaltung bemisst (relationale Dimension); sowie (c) der Grad der diskursiven Konvergenz zwischen Online- und Offline-Wahlkämpfen, die durch die Übernahme klassischer Argumentations- und Selbstdarstellungspraktiken im Cyberspace angezeigt wird (inhaltliche Dimension). Quantitative Inhalts- und Strukturanalysen von Partei- bzw. Kandidaten-Homepages2 greifen auf diese Dimensionen zurück, um die Gültigkeit der Innovations- und Normalisierungsthese für verschiedene Wahlkämpfe zu überprüfen (zur Methodik vgl. im Überblick Schweitzer, 2010b; zu den Motiven der Fokussierung auf politische Homepages vgl. Abschnitt 2). Weltweit liegen hierzu nun mehr als 100 Studien vor, die sich schwerpunktmäßig auf Nordamerika, Westeuropa und Australien erstrecken (vgl. Schweitzer, 2010b). In den letzten Jahren mehren sich zudem komparative Erhebungen, die die Wesensmerkmale und Besonderheiten des OnlineWahlkampfes im unmittelbaren Zeit-, Länder-, Wahlebenen- und Medienvergleich analysieren (vgl. z. B. Carlson & Strandberg, 2008; Kluver, Jankowski, Foot, & Schneider, 2007). Die Befunde dieser Untersuchungen sind erstaunlich einheitlich und bestätigen überwiegend die Normalisierungsthese: Entgegen aller demokratietheoretischen Hoffnungen spiegelt das ECampaigning eher traditionelle Darstellungs- und Wettbewerbsmuster der Offline-Kampagnen wider, wodurch die eigentlichen, medienspezifischen Potenziale der webbasierten Wähleransprache häufig überlagert werden (vgl. im Überblick Davis, Owen, Taras, & Ward, 2008). Dies gilt für die funktionale und relationale Dimension der Internetauftritte ebenso wie für deren inhaltliche Schwerpunktsetzung. Die entsprechenden internationalen Befunde sollen im Folgenden näher bilanziert werden, um auf der Grundlage der Normalisierungsthese sechs Forschungsfragen formulieren zu können, die den angestrebten Längsschnittvergleich der deutschen Partei-Websites zwischen 2002 und 2009 leiten.
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Die Begriffe Website und Homepage werden im Folgenden synonym verwendet.
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1.1 Funktionale Normalisierung Für die funktionale Dimension des Online-Wahlkampfes zeigen bisherige Ergebnisse eine kontinuierliche technische Weiterentwicklung in den Netzkampagnen von Parteien und Kandidaten: Im Zeitverlauf integrieren diese mehr Informationen, unterbreiten vielfältigere Partizipations- und Mobilisationsangebote (z. B. über Feedback- und Unterstützungsmöglichkeiten) und gewinnen auch in der formalen Präsentation des Webauftritts an Qualität (z. B. über den verstärkten Einsatz von Audio- und Videostreams, Text- und Bildarchiven sowie Navigations- und Orientierungshilfen) (vgl. z. B. Druckman, Kifer, & Parkin, 2007b; Greer & LaPointe, 2004). In diesem Fortschritt spiegelt sich die allgemeine Professionalisierung der modernen Wahlkampfkommunikation wider, die auch für andere Instrumente der Kampagnenführung beobachtet werden kann (vgl. z. B. Holtz-Bacha, 2000b). Parteien und Kandidaten suchen auf diese Weise Aufmerksamkeit (auch in der Medienberichterstattung) zu erzeugen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, sich in der Öffentlichkeit gegenüber Konkurrenten zu profilieren und den zunehmenden gesellschaftlichen Erwartungen an eine gelungene Internetpräsenz gerecht zu werden. Verstärkt wird jene Tendenz ferner durch die internationale Koorientierung an erfolgreichen Netzkampagnen, durch die Zusammenarbeit und den weltweiten Austausch entsprechender Berater, die parallele Diffusion technischer Innovationen und die wachsende Expertise in der Planung und Umsetzung von politischen Online-Auftritten (vgl. u. a. Foot, Xenos, Schneider, Kluver, & Jankowski, 2009, S. 44ff.). Diese Entwicklung scheint unabhängig von wahlspezifischen oder kulturellen Merkmalen zu sein und konnte bereits in verschiedenen Ländern nachgewiesen werden (vgl. z. B. Carlson & Strandberg, 2008; Gulati & Williams, 2007). Auch in Deutschland zeigen erste Längsschnittbefunde zu den Bundestagswahlen 2002 und 2005, dass das nationale E-Campaigning einer formalen Professionalisierung unterliegt, die auf alle Funktionsbereiche des Internetwahlkampfes ausstrahlt (vgl. Schweitzer, 2006). In technischer Hinsicht verläuft die Evolution der computervermittelten Wähleransprache allerdings nicht gleichförmig: Trotz einer Steigerung der digitalen Gesamtleistung bleiben im Zeitverlauf ursprüngliche Ungleichgewichte und Defizite in der politischen Online-Kommunikation bestehen, die aus einer Übernahme traditioneller Wahlkampfmuster auf das World Wide Web resultieren. So dominiert in der Bundesrepublik (vgl. Schweitzer,
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2003, 2005, 2006) ebenso wie in anderen Ländern (vgl. die einzelnen Studien in Kluver, Jankowski, Foot, & Schneider, 2007 und Ward, Owen, Davis, & Taras, 2008) weiterhin ein Top-down-Verständnis in der webbasierten Kampagnenführung, bei dem statische und textorientierte Website-Optionen zur Unterrichtung der Öffentlichkeit eindeutig im Vordergrund stehen. Genuin interaktive Elemente, wie Chats, Blogs oder Foren, die das eigentliche Bottom-up-Prinzip des digitalen Austausches verkörpern, werden nach wie vor nur selten von politischen Akteuren eingesetzt. Der Online-Wahlkampf schöpft im internationalen Vergleich damit die medien-spezifischen Möglichkeiten des Internets kaum aus, sondern perpetuiert vielmehr eine funktionale Disparität zwischen informativen und partizipativen Komponenten. Begründet wird diese Unverhältnismäßigkeit einerseits mit dem Bemühen insbesondere kleiner Parteien um eine Reduktion des finanziellen, zeitlichen und personellen Betreuungsaufwandes (vgl. u.a. Margolis, Resnick, & Levy, 2003, S. 58) sowie andererseits mit der Furcht vor einem strategischen Kontrollverlust über die eigenen Botschaften (vgl. u. a. Stromer-Galley, 2000). Die Tendenz zur Zentralisierung der Kampagnenführung, die in gleicher Weise die Anlage des Offline-Wahlkampfes bestimmt (vgl. z. B. Farrell, 2002, S. 81), scheint hier einer umfassenden kommunikativen Öffnung der Parteien entgegenzustehen. So resümiert auch Norris (2001, S. 237) am Ende ihrer komparativen Studie: "Most mainstream political organizations have sought to communicate via digital channels much as they would through the conventional mass media, changing the channel but not the nature of communications, rather than radically rethinking their strategic information and communications functions in the light of the interactive capacities in digital technologies." Ob sich dies auch für den deutschen Online-Wahlkampf im Jahr 2009 bewahrheitet, soll nachfolgend anhand des Längsschnittvergleichs geprüft werden. Dazu formulieren wir mit Blick auf die bisherigen Befunde zur funktionalen Normalisierung im E-Campaigning zwei Forschungsfragen: F 1: Lässt sich zwischen den Bundestagswahlen 2002 und 2009 eine formale Professionalisierung des nationalen Online-Wahlkampfes feststellen? F 2: Dominiert auch im Wahljahr 2009 eine Top-down-Orientierung in der technischen Anlage der Internetauftritte?
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1.2 Relationale Normalisierung Aufbauend auf den Analysen zur funktionalen Gestaltung des E-Campaigning setzt sich die relationale Dimension der Normalisierungsthese mit dem Wettbewerbsverhältnis von politisch zentralen und peripheren Akteuren im Cyberspace auseinander. Im Mittelpunkt steht die Vermutung, dass sich reale Ressourcen- und Machtunterschiede von parlamentarischen und nichtparlamentarischen Parteien im Internetwahlkampf fortsetzen und hier zu Qualitätsdifferenzen in der Beschaffenheit der Online-Kampagnen beitragen. Diese Annahme wird durch die bisherigen Befunde weithin bestätigt: Aussichtsreiche Kandidaten und etablierte politische Organisationen weisen durchgehend die höchsten Ausschöpfungsraten in der Verwendung diverser Website-Elemente auf (vgl. z. B. Lusoli, Ward, & Gibson, 2002; Margolis, Resnick, & Levy, 2003). Sie integrieren technische Neuerungen schneller als ihre Konkurrenten und sind aufgrund ihrer überlegenen finanziellen und personellen Ausstattung eher bereit, die Netzkampagne durch interaktive Angebote zu ergänzen (partielle Innovation). Ihre Online-Leistung liegt sowohl insgesamt als auch in einzelnen Funktionsbereichen der Homepage (z. B. Information, Interaktivität, Mobilisation etc.) weit über dem Durchschnitt der nicht-parlamentarischen Akteure. Dieses strukturelle Ungleichgewicht scheint im Zeitverlauf stabil zu sein, auch wenn sich das Gesamtniveau der Webkampagnen im Zuge einer formalen Professionalisierung sukzessive erhöht (vgl. z. B. Carlson & Strandberg, 2008; Gulati & Williams, 2007). Hieraus erwachsen anhaltende digitale Klüfte im Internetwahlkampf, die den ursprünglichen Hoffnungen auf eine Demokratisierung des politischen Wettbewerbs entgegenstehen (vgl. im Überblick z. B. Gibson & Ward, 2000). Dies konnte bereits für zahlreiche Länder belegt werden (vgl. z. B. Strandberg, 2008). Auch für die Bundestagswahl 2005 war eine deutliche Leistungsdifferenz zwischen großen und kleinen Parteien feststellbar (vgl. Schweitzer, 2006). Unklar ist hierzulande jedoch, ob die bisherige Kluft zwischen beiden Gruppen weiterhin zu- oder abnimmt. Damit verbunden ist die Frage, ob die beobachtete Internet-Überlegenheit der parlamentarischen Akteure auch im neu hinzugekommenen "Web 2.0" gilt. Dieser Terminus wird gemeinhin Tim O'Reilly zugeschrieben (vgl. Schmidt, 2009, S. 11), der damit alle freizugänglichen, kollaborativen, userzentrierten und non-hierarchischen Online-Anwendungen bezeichnet, die eine "'architecture of participation'" (O'Reilly, 2005) aufspannen. Obwohl die De-
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finition und Abgrenzung des Begriffs "Web 2.0" nicht unumstritten ist (vgl. z. B. Cormode & Krishnamurthy, 2008), werden in diversen Klassifikationsvorschlägen recht ähnliche Formate hierunter subsumiert (vgl. z. B. Kalnes, 2009, S. 253f.; Pascu, Osimo, Ulbrich, Turlea, & Burgelman, 2007; Schmidt, 2009, S. 22ff.). Dazu zählen etwa Wikis, Blogs, Twitter-Accounts und soziale Netzwerkseiten (z. B. Facebook, MySpace, StudiVZ) ebenso wie multimediale Content- bzw. File Sharing-Plattfomen (z. B. YouTube, Flickr, Picasa) und Dienste des Informationsmanagements (etwa Web-Feeds oder Social-Bookmarking-Dienste wie Delicious, Digg oder Mister Wong). Diese ermöglichen die kollektive Verarbeitung, Verbreitung, Ergänzung, Kategorisierung und Bewertung verschiedener Inhalte und Kontakte im World Wide Web (vgl. u. a. Cormode & Krishnamurthy, 2008). Aufgrund ihrer prinzipiell dezentral angelegten Struktur, der sich selbst erhaltenden Organisation und der geringen Vorleistungen, die Nutzer zu ihrem Betreiben benötigen, schienen die Anwendungen des Web 2.0 in besonderer Weise geeignet, die demokratische Beteiligung der Bevölkerung zu fördern und politische Umwälzungen zu bestärken (vgl. z. B. Weinberger, 2007). Die so genannte "e-ruption thesis" (Pascu, Osimo, Ulbrich, Turlea, & Burgelman 2007; zur empirischen Anwendung s. a. Kalnes, 2009) spezifizierte diesen Gedanken für den Wahlkampf, indem sie die Hoffnung formulierte, dass die Implementierung des Web 2.0 den kommunikativen Wandel von Parteien beschleunigen und damit eine Egalisierung der bisherigen Wettbewerbsunterschiede zwischen einflussreichen und -armen Akteuren bewirken könnte. Diese Hoffnung hat sich bislang jedoch nicht bewahrheitet. Erste Analysen aus den USA und einigen europäischen Ländern zeigen vielmehr, dass die Überlegenheit ressourcenstarker Parteien und Kandidaten auch im Web 2.0 anhält: Sie greifen häufiger auf soziale Netzwerke zurück, nutzen Formate wie Twitter, Blogs und YouTube intensiver, aktualisieren ihre Profile bzw. Einträge in regelmäßigeren Abständen und bieten dort zudem vielfältigere und formal ansprechendere Inhalte (vgl. Jackson & Lilleker, 2009; Kalnes, 2009; Williams & Gulati, 2009a, 2009b). Williams & Gulati (2009a, S. 17) bilanzieren dementsprechend in ihrer Studie zur Verwendung von YouTube in der US-Kongresswahl 2008 "that the medium has not changed the underlying campaign dynamic: the best financed candidates utilize and have more of every resource, including video sharing" und Jackson & Lilleker (2009, S. 248) kommen in ihrer Erhebung zum parteigebundenen E-Campaigning in Großbritannien gar zu der Schlussfolge-
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rung, dass dort – wenn überhaupt – nur eine halbherzige "Web 1.5"-Ära begonnen habe. Die Normalisierungsthese zur Ausgestaltung des OnlineWahlkampfes scheint damit in ihrer relationalen Komponente auch auf das neue Web 2.0 zuzutreffen. Für den angestrebten Längsschnittvergleich der deutschen Partei-Websites ergeben sich hierdurch folgende Forschungsfragen: F 3: Wie hat sich die digitale Kluft zwischen parlamentarischen und nicht-parlamentarischen Parteien im Wahljahr 2009 entwickelt? F 4: Setzt sich die Online-Überlegenheit der parlamentarischen Parteien im Web 2.0 fort? 1.3
Inhaltliche Normalisierung
Während sich die Befunde zur funktionalen und relationalen Normalisierung ausschließlich auf die formale Gesamtstruktur der Internetauftritte im Zeit- und Akteursvergleich beziehen, konzentriert sich die inhaltliche Dimension auf die kommunikationsstrategische Ausrichtung der Netzkampagnen. Dies umfasst dem wissenschaftlichen Konsens zufolge alle sprachbzw. schriftbasierten Angebote der Webpräsenz, die eine eigenständige sowie zeitlich überdauernde Sinneinheit konstituieren und von den politischen Akteuren selbst verantwortet werden. Dazu zählen etwa die Themensektionen der Homepages, die auf der Startseite platzierten Online-Nachrichten oder ergänzende Hintergrundmaterialien. Im Mittelpunkt der Auswertung steht die Frage, ob klassische Diskurs- und Persuasionsstrategien der OfflineKampagnenführung in der computervermittelten politischen Kommunikation Anwendung finden. Hierfür werden die Themen-, Akteurs- und Argumentstrukturen jener Botschaften betrachtet, die Aufschluss geben sollen über (a) die inhaltliche Ausgewogenheit und Vielfalt der Website (Metakommunikation vs. sachpolitische Themen), (b) den Grad der erreichten Personalisierung (Fokussierung auf die Spitzenkandidaten vs. Pluralisierung der Handlungsträger) oder (c) das strategische Angriffsverhalten der beteiligten Akteure (Negative Campaigning vs. positive Selbstdarstellung). Jene Kategorien werden auch in Untersuchungen zu traditionellen Wahlkampfformaten verwendet (z. B. Fernsehspots, TV-Duelle, Pressemitteilungen, Anzeigen), um die kommunikative Positionierung von Parteien und Kandidaten bestimmen zu können (vgl.
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im Überblick z. B. Kaid, 2004, S. 160ff.). Die Forschung zum E-Campaigning greift diese Indikatoren auf, um anhand ihrer verhältnismäßigen Ausprägung ablesen zu können, inwieweit Online- und Offline-Wahlkämpfe inhaltlich konvergieren. Gegenwärtig liegen zu dieser Dimension der Normalisierungsthese nur wenige Erkenntnisse aus den USA und Deutschland vor. Die meisten Studien konzentrieren sich nach wie vor ausschließlich auf die formale Struktur von Partei- oder Kandidaten-Websites (vgl. auch Schweitzer, 2008), während kommunikationsstrategische Aspekte zumeist vernachlässigt werden. Darüber hinaus variieren die Befunde zu den genannten Merkmalskategorien untereinander, wodurch die Schlussfolgerungen der Inhaltsanalysen insgesamt widersprüchlicher erscheinen als dies für die Untersuchungen der funktionalen oder relationalen Ebene bislang zu beobachten war. In ihrer Summe sprechen die jeweiligen Ergebnisse jedoch auch hier für eine Normalisierungstendenz im Online-Wahlkampf. Dies gilt insbesondere für das nationale E-Campaigning in vorangegangenen Landtags-, Bundestags- und Europawahlen (vgl. Schweitzer, 2005, 2006, 2010a). 1.3.1 Themenebene: Metakommunikation Für die Themenstruktur der Homepages konnte festgestellt werden, dass sich deutsche Parteien primär auf eine selbstreferenzielle Auseinandersetzung mit dem Kampagnenverlauf konzentrieren (Metakommunikation). Dies geschieht in Form von Beiträgen zu diversen Wahlkampfveranstaltungen, zu den Ergebnissen aktueller Meinungsumfragen oder den Medienauftritten der Spitzenkandidaten. Sachpolitische Diskussionen treten demgegenüber vollkommen in den Hintergrund (für Kandidaten-Websites in den USA vgl. z. B. Souley & Wicks, 2005). Diese Schwerpunktsetzung war bislang in Landtagsund Bundestagswahlen für alle Parteien unabhängig von ihrer programmatischen Ausrichtung zu beobachten (vgl. Schweitzer, 2010a). Darüber hinaus nahm der Umfang der Kampagnenthematisierung zwischen den Bundestagswahlen 2002 und 2005 nochmals deutlich zu (vgl. Schweitzer, 2006). Die Hinwendung zur Schilderung der eigenen Wahlkampfaktivitäten und die damit verbundene Entideologisierung der politischen Kommunikation gelten als typische Merkmale der postmodernen Kampagne (vgl. Swanson & Mancini, 1996, S. 257). Hierdurch soll strategische Professionalität doku-
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mentiert, von unliebsamen Sachthemen abgelenkt und eine inhaltliche Vorfestlegung in der Öffentlichkeit vermieden werden, die ihrerseits potenzielle Wähler verprellen könnte. Die Metakommunikation findet sich daher auch in anderen Formaten der politischen Selbstdarstellung, z. B. in den Pressemitteilungen der Parteien (vgl. Donsbach, 2000, S. 149) oder in ihren Wahlwerbespots (vgl. Holtz-Bacha, 2000b, S. 176). Sie kann ferner als eine Reaktion auf das wachsende journalistische Interesse an den Bedingungen und Formen der Kampagnenführung verstanden werden, das sich in einer verstärkten Wahl- und Metaberichterstattung klassischer Medien konkretisiert (vgl. z. B. Esser, 2004; Wilke & Reinemann, 2006). Für die thematische Schwerpunktsetzung des nationalen Online-Wahlkampfes ist damit ein deutliches Indiz zugunsten einer inhaltlichen Normalisierung gegeben. 1.3.2 Akteursebene: Personalisierung Für den Indikator der Personalisierung trifft dies hingegen nicht zu. Die Fokussierung auf die Spitzenkandidaten und deren Stilisierung als "Deutungsmuster komplexer politischer Tatbestände" (zuerst Kaltefleiter, 1981, S. 296, Herv. i. O.) gilt im Offline-Wahlkampf als zentrale Kommunikationsstrategie, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, die Wähleransprache zu vereinfachen bzw. zu verkürzen und politisch ungebundene oder desinteressierte Bürger zu involvieren (vgl. Swanson & Mancini, 1996, S. 249). Auch die traditionelle Wahlberichterstattung weist eine verstärkte Personalisierungstendenz in den letzten Jahren auf (vgl. auf der internationalen Ebene: Kaid & Strömbäck, 2008, S. 430), die hierzulande mit der Einführung der TV-Duelle einherging (vgl. Wilke & Reinemann, 2006). Im Internetwahlkampf lässt sich eine gleichartige Entwicklung auf der Akteursebene allerdings nicht beobachten: Inhaltsanalysen von deutschen Partei-Websites zeigen vielmehr, dass die jeweiligen Spitzenkandidaten nur äußerst selten als Hauptthemen in den OnlineMeldungen aufgegriffen werden (vgl. Schweitzer, 2003, 2005, 2006). Sie treten kaum als Urheber der Beitragsaussagen in Erscheinung und werden auch als Gegenstand jener Äußerungen nur in wenigen Fällen angesprochen. Als Akteure dominieren stattdessen andere Parteimitglieder, mitunter aus der zweiten oder dritten Reihe, sowie Journalisten und Meinungsforscher, die sich in ihren Stellungnahmen umgekehrt primär auf die Parteien als soziale Kollektive und seltener auf einzelne Kandidaten beziehen. Der politische
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Online-Diskurs auf den Websites scheint damit weiterhin organisationszentriert zu sein. Dieser Befund erwies sich in Deutschland im Wahlebenenund Zeitvergleich als stabil (vgl. Schweitzer, 2006, 2010a). Auch in den USA zeichnet sich bislang keine Tendenz zu einer verstärkten Personalisierung der Internetauftritte ab (vgl. z. B. Greer & LaPointe, 2004), die der beobachteten Kandidatenorientierung des Offline-Bereichs entsprechen würde. Diese Ergebnisse stehen den ursprünglichen Annahmen der Normalisierungsthese entgegen und deuten eher auf "Genre-Effekte" im E-Campaigning hin (vgl. Schneider, Kluver, Jankowski, & Foot, 2007, S. 263), die die klassischen Kommunikationsmuster im Wahlkampf punktuell durchbrechen können. Dies scheint gegenwärtig allerdings nur für die Akteursstruktur der politischen Online-Kommunikation zu gelten. 1.3.3 Argumentebene: Negative Campaigning Auf der Argumentebene der Internetkampagnen lassen sich umgekehrt weitere Indizien für eine inhaltliche Normalisierung finden. In diesem Bereich interessiert insbesondere das digitale Angriffsverhalten von Parteien und Kandidaten in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Üblicherweise wird zwischen der positiven Selbstdarstellung des eigenen Lagers ("acclaims") und der verbalen Diskreditierung des Konkurrenten ("attacks") im politischen oder persönlichen Kontext unterschieden (vgl. z. B. Benoit, 2007). Attacken gelten im demokratischen Wettbewerb zwar als riskant, da sie auf den jeweiligen Urheber nachteilig zurückfallen können (Bumerangoder Backlash-Effekt; vgl. Jasperson & Fan, 2002) und im Verdacht stehen, Wahlmüdigkeit und Politikverdrossenheit in der Öffentlichkeit zu schüren (vgl. z. B. Ansolabehere & Iyengar, 1995). In der Praxis des OfflineWahlkampfes wird Negative Campaigning jedoch nach wie vor als eine effektive Kommunikationsstrategie beschrieben (vgl. z. B. Perloff & Kinsey, 1992): Angriffe auf den Kontrahenten besitzen einen hohen Nachrichtenwert (vgl. z. B. Ridout & Smith, 2008), überwinden die individuellen Selektionsbarrieren der Rezipienten (vgl. z. B. Lau, 1982), können von diesen leicht erinnert werden (vgl. z. B. Basil, Schooler, & Reeves, 1991) und vereinfachen mithin die Deutung der politischen Realität (vgl. z. B. Garramone, Atkin, Pinkleton, & Cole, 1990). Aus diesem Grund wird Negative Campaigning als grundlegender Bestandteil der heutigen Kampagnenfüh-
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rung angesehen (vgl. u. a. Farrell, 2002, S. 81; Holtz-Bacha, 2000a, S. 47), der in den USA alle Kanäle des Offline-Wahlkampfes bestimmt (vgl. u. a. Benoit, 2007). Auch in der politischen Online-Kommunikation hat sich die Gegnerkritik in den vergangenen Jahren zu einer zentralen Strategie entwickelt: Nachdem das Internet Mitte der neunziger Jahre noch als "positive spin medium" galt (vgl. Klotz, 1997), in dem Bezüge auf die Mitbewerber vermieden und die eigene Regierungsbilanz in den Vordergrund gerückt wurde, dominiert dort nun ebenfalls die Angriffs-führung auf den Kontrahenten. Dies zeigt sich für alle Plattformen der Netzkampagne sowie auf allen Ebenen des politischen Systems unabhängig von der ideologischen Ausrichtung der beteiligten Akteure (vgl. z. B. Souley & Wicks, 2005; Williams & Trammell, 2005). Das Ausmaß der webbasierten Attacken hat sich zudem systematisch in den letzten Jahren erhöht (vgl. z. B. Druckman, Kifer, & Parkin, 2007a; Greer & LaPointe, 2004) und entspricht nun den Negativismusanteilen, die bislang für amerikanische Wahlwerbespots beobachtet wurden (vgl. im Überblick Geer, 2006). Auch in Deutschland dokumentieren bisherige Inhaltsanalysen von Partei-Websites, dass die Offline-Praktik des Negative Campaigning auf das Internet übertragen wird (vgl. Schweitzer, 2010a): Sowohl in Landtags- und Bundestagswahlen als auch in Europawahlen rangiert der Angriff auf den Mitbewerber vor der positiven Selbstdarstellung. Hierbei stehen allerdings nicht einzelne Politiker, sondern zumeist die Parteien als politische Organisationen im Mittelpunkt, die primär mit Blick auf rollennahe Eigenschaften, wie Kompetenz oder Führungsstärke, attackiert werden (vgl. für die Angriffsdimensionen in den USA z. B. Souley & Wicks, 2005). Darüber hinaus gelten traditionelle Differenzen in der Häufigkeit der Angriffe zwischen Amtsinhabern und Herausforderern, die auch im Offline-Wahlkampf festzustellen sind (vgl. Benoit, 2007): Angehörige der Opposition tendieren hier eher zur Kritik des Gegners, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, die Bekanntheit des eigenen Lagers zu steigern, Zweifel an der Befähigung der Regierung zu wecken und Bürger zu einem Politikwechsel zu animieren. Dabei lassen sich für die Urheber des Negative Campaigning klassische Sponsorship-Effekte beobachten, die auch außerhalb des World Wide Web dazu beitragen, dass die Diskreditierung des Kontrahenten nicht von den Spitzenkandidaten selbst, sondern von anderen Parteimitgliedern oder gar dritten Quellen betrieben wird. Hierdurch soll das Ansehen des eigenen Füh-
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rungspersonals gewahrt bleiben (vgl. im Überblick Schweitzer, 2010a). Insgesamt lassen sich für das Ausmaß des Negative Campaigning, seine Angriffsziele, Inhalte und Urheber damit deutliche Spuren einer Annäherung an den Offline-Wahlkampf erkennen. Dies widerspricht den ursprünglichen demokratietheoretischen Hoffnungen auf einen responsiven, sachlichen und provokationsfreien Wahlkampfstil im World Wide Web, der mit den medialen Darstellungsfreiheiten des Internets und der Abwesenheit journalistischer Inszenierungszwänge erwartet wurde (vgl. z. B. Blumler & Gurevitch, 2001, S. 7). Stattdessen muss für die inhaltliche Dimension der Netzkampagnen nun eine überwiegende Normalisierung angenommen werden, die sich in unterschiedlicher Stärke (siehe oben) auf der Themen-, Akteurs- und Argumentebene der Internetauftritte konkretisiert. Für das Wahljahr 2009 wäre daher zu prüfen, inwieweit jene diskursive Konvergenz zwischen Online- und Offline-Wahlkampf in gleicher Intensität und in denselben Teilbereichen (Metakommunikation, Personalisierung, Negative Campaigning) anhält. Dazu werden mit Blick auf die bisherigen Befunde zwei abschließende Forschungsfragen formuliert, die den angestrebten Längsschnittvergleich der deutschen Partei-Websites abrunden: F 5: Welche traditionellen Kommunikationsstrategien des OfflineWahlkampfes lassen sich im Wahljahr 2009 auf der Themen-, Akteurs- und Argumentebene des E-Campaigning beobachten? F 6: Ist die inhaltliche Konvergenz mit dem Offline-Wahlkampf im Zeitverlauf stärker oder schwächer geworden? 2
Anlage der Untersuchung
Um die Entwicklung der politischen Online-Kommunikation anhand der obigen Forschungsfragen nachzeichnen zu können, soll ein Längsschnittvergleich der Internetauftritte zu den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009 unternommen werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die jeweils eingesetzten Partei-Websites sowie die mit ihnen assoziierten Kampagnenplattformen im World Wide Web. Die Fokussierung auf die Gattung der politischen Websites (vgl. auch Schweitzer, 2010b) entspricht einerseits der methodischen Schwerpunktsetzung in der internationalen CMPC-Forschung, die hier als Bezugsrahmen zur Beschreibung des empirischen Kenntnisstandes zugrun-
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de gelegt wurde. Zum anderen lässt sich die Präferenz für die Homepages der Parteien mit ihrer Zentralität im Gesamtgeflecht des E-Campaigning erklären: Politische Websites bündeln alle begleitenden und offiziell autorisierten Online-Aktivitäten von Parteien und Kandidaten im Rahmen einer "virtuellen Visitenkarte" (Bieber, 1996, S. 150). Sie geben damit einen unmittelbaren, einheitlichen und vollständigen Überblick über die Summe aller parallel initiierten, digitalen Kampagneninstrumente (z. B. Blogs, Twitter oder Profile bei sozialen Netzwerkseiten) und erlauben als ursprünglichstes und ältestes Format des Internetwahlkampfes zudem Längsschnittbetrachtungen zur zeitlichen Entwicklung der computervermittelten Bürgeransprache. Ein Großteil der auf politischen Websites zu findenden Inhalte wird dabei häufig für andere Online-Angebote erneut verwertet oder dort adaptiert. Schließlich erzielen Partei- und Kandidaten-Homepages weiterhin die höchsten Nutzungsraten unter Journalisten und Wählern (vgl. BITKOM, 2009, S. 2; Machill & Beiler, 2008, S. 519f.) und werden nicht zuletzt aus diesem Grund auch von politischen Vertretern nach wie vor als das wichtigste Instrument des heutigen E-Campaigning eingestuft (vgl. Zittel, 2009, S. 306). Ihre inhaltliche und formale Analyse erlaubt somit am besten Rückschlüsse sowohl auf die individuelle Online-Leistung eines einzelnen Akteurs (vgl. Gellner & Strohmeier, 2002, S. 191) als auch auf die allgemeine Netzkultur eines Landes (vgl. Foot & Schneider, 2008, S. 831). Diese Vorteile sollen für die hiesige Studie genutzt werden. Zur Fortschreibung der im Jahr 2002 begonnenen Untersuchungsreihe wurden dabei die Websites aller zur Bundestagswahl 2009 antretenden Parteien (N=28)3 in den letzten vier Wochen vor dem Wahltermin abgespeichert und einer quantitativen Inhalts- und Strukturanalyse unterzogen. Analog zu den Erhebungen in früheren Wahlkämpfen konzentrierte sich die Strukturanalyse auf die formale und funktionale Beschaffenheit der Internetauftritte, während die Inhaltsanalyse die Themen-, Akteurs- und Argumentkonstellationen der Websites eruierte. Damit werden alle beschriebenen Dimensionen der Normalisierungsthese in einer Untersuchung methodisch abgedeckt.
3
Zur Bundestagswahl wurden insgesamt 29 Parteien zugelassen. Die "Demokratische Volkspartei Deutschland (DVD)" war zum Zeitpunkt der Studie jedoch nicht mit einer eigenen Online-Präsenz im World Wide Web vertreten, so dass sie aus der Stichprobe ausgeschlossen wurde.
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2.1 Aufbau der Strukturanalyse Die Strukturanalyse umfasste die Websites aller parlamentarischen und nicht-parlamentarischen Parteien, die zu den zurückliegenden drei Bundestagswahlen antraten. Allein bei der Pilotuntersuchung zur Bundestagswahl 2002 wurden ausschließlich die Homepages von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP betrachtet, so dass sich der aktuelle Längsschnittvergleich für die nicht-parlamentarischen Parteien auf die Wahljahre 2005 und 2009 erstreckt. Die Internetauftritte und die mit ihnen verlinkten, externen Kampagnenplattformen wurden manuell auf die An- oder Abwesenheit diverser Website-Elemente geprüft.4 Als Grundlage diente hierzu das in vorangegangenen Wahlen verwendete Codierschema der Autorin, das für die Bundestagswahl 2009 vollständig überarbeitet und mit Blick auf aktuelle technische Entwicklungen erweitert wurde. Die zu den Bundestagswahlen 2002 und 2005 ermittelten Daten wurden entsprechend recodiert. In der aktuellen Fassung beinhaltet das Inventar der Strukturanalyse insgesamt 78 Website-Elemente in den vier Funktionsbereichen Information, Mobilisation, Partizipation und Präsentation, die sich ihrerseits nochmals nach ihrer Zielrichtung und technischen Qualität differenzieren lassen (vgl. Tabelle A1 im Anhang). Der Bereich Information umfasst alle Komponenten des Internetauftritts, die der textbasierten Unterrichtung der Öffentlichkeit über das politische System, die jeweilige Organisation und ihre Aktivitäten dienen (z. B. Informationen über Parteitage, Kandidaten und Wahlveranstaltungen). Die Kategorie Mobilisation umschreibt demgegenüber jene WebsiteAngebote, die auf eine einseitige, symbolische, personelle oder finanzielle Stärkung des Kampagnenapparates zielen (z. B. durch Online-Spenden, Online-Mitgliedschaften, die Bereitstellung von Werbematerial etc.). Hiervon grenzen sich die Elemente der Partizipation ab, die einen zweiseitigen, interaktiven Austausch unter Parteiangehörigen und Bürgern ermöglichen (z. B. über Foren, Chats, Blogs oder Meinungsumfragen). Im Rahmen der Präsentation werden schließlich jene Homepage-Optionen erfasst, die die Anmutungs- und Nutzungsqualität des Internetauftritts betreffen (z. B. Sitemaps, Suchmaschinen, Audio- und Videostreams, Archive etc.).
4
Um die Zuverlässigkeit der Strukturanalyse zu bestimmen, wurden drei zufällig ausgewählte ParteiWebsites des Jahres 2009 erneut durch die Autorin codiert. Die Ergebnisse der beiden Erhebungen waren deckungsgleich.
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Die Auswahl und Zuordnung dieser Komponenten erfolgte sowohl induktiv über eine Sichtung des aktuellen Untersuchungsmaterials als auch deduktiv durch eine Anlehnung an bereits bestehende Klassifikationssysteme und Codierschemata der internationalen Forschungsliteratur. Darüber hinaus wurde eine funktionsübergreifende Gruppierung in Web 1.0- und Web 2.0-Elemente vorgenommen, die sich an vorliegenden sozialwissenschaftlichen Definitionen (vgl. Cormode & Krishnamurthy, 2008; Schmidt, 2009) und ersten empirischen Systematiken orientiert (vgl. Jackson & Lilleker, 2009; Kalnes, 2009). Zur Gegenüberstellung der Website-Leistung wurde wie in vorangegangenen Untersuchungen ein quantitativer Indexwert für jede Funktionskategorie ermittelt. Dieser ergibt sich aus der Division der pro Website aufgefundenen Elemente einer Klasse und der in jener Kategorie generell erreichbaren Zahl an Homepage-Optionen. Der hieraus resultierende Quotient nimmt eine Ausprägung zwischen 0 (keine Präsenz der WebsiteElemente in einer Kategorie) und 1 (vollständige Präsenz der Elemente) an und erlaubt hierdurch einen übersichtlichen Website-Vergleich über mehrere Zeitpunkte, Akteursgruppen und Funktionsbereiche bei variierenden Klassenstärken. Diese Vorgehensweise hat sich in der internationalen CMPC-Forschung inzwischen als methodischer Standard durchgesetzt (vgl. im Überblick auch Schweitzer, 2010b). Neben den absoluten Indexmaßzahlen und ihren jeweiligen Mittelwerten wurden ferner prozentuale Ausschöpfungs- und Verbreitungsraten berechnet, die sich aus der Multiplikation der Indexwerte mit dem Faktor 100 ergeben. Die Prozentangaben beziehen sich je nach Basis entweder auf die Zahl der pro Funktionskategorie aufgefundenen Elemente einer Website (Funktionsausschöpfung), auf die Gesamtzahl der pro Homepage beobachteten Optionen (Gesamtausschöpfung) oder auf die Zahl derjenigen Parteien, die einzelne Website-Komponenten im ECampaigning nutzten (Verbreitungsrate). Vergleicht man diese Ausschöpfungs- und Verbreitungsquoten zwischen verschiedenen Messzeitpunkten und Akteursgruppen, so lassen sich ferner prozentuale Zuwachs- bzw. Verlustraten zwischen 2005 und 2009 sowie Differenzraten zwischen Parlaments- und Nicht-Parlaments-parteien bestimmen. Diese erlauben eine systematische Gegenüberstellung der quantitativen Schwerpunkte und Verschiebungen in der funktionalen und relationalen Dimension des Online-Wahlkampfes.
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2.2 Aufbau der Inhaltsanalyse Während sich die Strukturanalyse allein auf den formalen Aufbau der Websites konzentrierte, setzte sich die Inhaltsanalyse mit der diskursiven Ausrichtung der Netzkampagnen auseinander. Hierzu betrachtete die Studie wie in vorangegangenen Erhebungen die eigenverantwortlich produzierten OnlineNachrichten, die in den letzten vier Wochen vor dem Wahltermin auf den Startseiten der parlamentarischen Parteien erschienen.5 Diese wurden täglich als Printnachweise bzw. Screenshots gesichert und später einer manuellen Codierung auf Beitrags- und Aussagenebene zugeführt.6 Im Mittelpunkt standen die Themen-, Akteurs- und Argumentstrukturen der Meldungen, die Aufschluss geben über die Prävalenz traditioneller Kommunikationsstrategien im Internetwahlkampf. Darüber hinaus wurden zahlreiche formale Kennzeichen der Online-Nachrichten erfasst, die in Ergänzung zur Strukturanalyse Einblicke in die gestalterische Qualität des Webauftritts geben (etwa Autor, Stilform, Verweildauer auf der Homepage, Verwendung von Begleitmaterialen wie PDFs, Audio- und Videozusätze etc.). Pro Textbeitrag konnten maximal acht Aussagen samt Urheber codiert werden. Bei Videobotschaften erfolgte nur eine Codierung auf Beitragsebene. Die erfassten Äußerungen in den Website-Meldungen wurden erneut in positive und negative Stellungnahmen unterschieden. Positive Äußerungen beinhalten alle eigenständig formulierten oder zitierten Sinneinheiten, die sich ausschließlich auf Vertreter des eigenen Lagers bzw. ihre Unterstützer beziehen und deren Stärken sowie Fähigkeiten hervorheben. Negative Äußerungen adressieren demgegenüber explizit die politischen Kontrahenten und ihre Verbündeten und betonen deren Schwächen bzw. Defizite. Zur Auswertung 5 Die Fokussierung der Inhaltsanalyse auf die Gruppe der im Bundestag vertretenen Parteien lässt sich nicht nur mit forschungsökonomischen Erwägungen und der Wahrung der methodischen Kontinuität erklären. Aufgrund ihrer Zentralität im politischen System werden die Parlamentsfraktionen auch in anderen Wahlkampfstudien als vorrangiges Untersuchungsobjekt behandelt (vgl. Abschnitt 1.3). Erhebungen zur Kampagnenführung der außerparlamentarischen Organisationen finden sich demgegenüber nur äußerst selten. Die Überprüfung der inhaltlichen Normalisierungsthese setzt jedoch abgesicherte Erkenntnisse über das traditionelle Kommunikationsverhalten der Parteien im Offline-Wahlkampf voraus, um die diskursiven Strategien des E-Campaigning hiermit in Beziehung setzen zu können. Diese Prämisse ist bislang allein für die Gruppe der Parlamentsfraktionen erfüllt, deren konventionelle Kampagnenpraktiken bereits hinlänglich in empirischen Studien beschrieben wurden. 6
Zur Berechnung der Intracoderreliabilität wertete die Autorin eine Zufallsstichprobe von 5% des Untersuchungsmaterials erneut aus. Für die formalen Kategorien lag der Übereinstimmungs-koeffizient bei .97 nach Holsti, für die inhaltlichen Kategorien bei .81.
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wurden alle positiven und negativen Stellungnahmen nochmals nach ihrem Aussageninhalt, das heißt nach dem jeweiligen Gegenstand und seiner Bewertung, klassifiziert. Die Grundlage hierfür bildeten fünf Image-Dimensionen, die auch in der internationalen Forschungsliteratur zur Kategorisierung von politischen Selbst- und Fremdbeschreibungen verwendet werden (vgl. im Überblick Brettschneider, 2002). Im Einzelnen handelt es sich um die Eigenschaftsbereiche der sachlichen Kompetenz (u. a. Qualifikation, Kenntnisse, politische Bilanz), der Führungsstärke (u. a. Durchsetzungskraft, Belastbarkeit, Managementfähigkeiten), Integrität (u. a. Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Loyalität), sozialen Empathie (u. a. Einfühlungsvermögen, Responsivität, Warmherzigkeit) und des persönlichen Charismas (u. a. Auftreten, Aussehen, Popularität). Die Bündelung der Beitragsaussagen anhand jener Dimensionen erlaubt im Rahmen der nachfolgenden Ergebnispräsentation eine übersichtliche Kontrastierung der diskursiven Strategien im deutschen Online-Wahlkampf. 3
Ergebnisse der Strukturanalyse7
3.1 Funktionale Dimension: Top-down-Orientierung trotz formaler Professionalisierung Die funktionale Dimension der Normalisierungsthese setzt sich mit der formalen Ausgestaltung der Internetauftritte auseinander. Im Mittelpunkt der zugehörigen Forschungsfragen standen die technische Entwicklung der ParteiWebsites im Zeitverlauf (F 1) sowie ihre strukturelle Schwer-punktsetzung im Wahljahr 2009 (F 2). Entsprechend der internationalen Forschungsbefunde zur CMPC wurde hierbei einerseits eine formale Professionalisierung der Homepages erwartet sowie andererseits eine anhaltende Fokussierung auf Top-downElemente der Kategorien Information und Präsentation. Beide Vermutungen lassen sich im Rahmen der Strukturanalyse bestätigen (vgl. Abbildung 1). Zwischen 2002 und 2009 hat sich das technische Leistungsniveau der deutschen Online-Kampagnen kontinuierlich erhöht. Dies gilt für alle Funktionsbereiche der Internetauftritte sowie für alle Parteien unabhängig von 7 Zur Bundestagswahl 2009 wurde ein vollständig überarbeitetes und erweitertes Codierschema eingesetzt (vgl. Tabelle A1 im Anhang), das im Rahmen einer Recodierung auch auf das Datenmaterial der Bundestagswahlen 2002 und 2005 angewendet wurde. In der Auswertung der Strukturanalyse können hierdurch geringfügige Abweichungen zu den Indexwerten in früheren Publikationen der Autorin entstehen.
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ihrem Parlamentsstatus oder ihrer ideologischen Orientierung. Der durchschnittliche Gesamtindexwert für die antretenden politischen Organisationen zu den Bundestagswahlen 2005 und 2009 stieg von 0,33 auf 0,44 (Parlamentsparteien: 0,71; Nicht-Parlamentsparteien: 0,36). Dies entspricht einer Abbildung 1: Entwicklung der Partei-Websites 2002-2009 Information
Präsentation
Mobilisation
Partizipation
0,8 Alle Parlamentsparteien
Index
0,6
0,4
CDU, SPD, FDP, Grüne
Gesamt NichtParlamentsparteien
0,2
0 2002 (N=4)
2005 (N=32)
2009 (N=28)
Wachstumsrate von 33,5 Prozent. Im Einzelnen konnten für 29 WebsiteElemente (=37,2% aller codierten Homepage-Optionen) genuine Zunahmen8 in ihrer Verbreitung festgestellt werden, wobei die prozentualen Zu8
Von diesen Zunahmen sind vermeintliche Steigerungen in der prozentualen Verbreitung zu unterscheiden, die sich rechnerisch allein durch die kleinere Basis von 28 Parteien im Wahljahr 2009 ergeben. Da zur Bundestagswahl 2005 insgesamt 32 politische Organisationen mit eigenen Homepages antraten, kann eine gleichbleibende absolute Häufigkeit verschiedener Website-Elemente in beiden Wahlzyklen prozentual als eine Steigerung zwischen 2005 und 2009 erscheinen. Dies gilt für alle Homepage-Optionen mit Wachstumsraten von weniger als 14,3 Prozent. Zur Interpretation der Befunde wurden jene Fälle (N=33 in 2009) von der obigen Betrachtung ausgenommen. Bei den restlichen Website-Komponenten war entweder ein rechnerisches Nullwachstum zu beobachten (N=2) oder eine geringfügige prozentuale Abnahme in ihrer bisherigen Verbreitung (N=14; siehe auch Tabelle A1 im Anhang). Insgesamt lässt sich damit für 62 von 78 Strukturelementen (=79,5%) eine stabile oder verstärkte Nutzung durch die Parteien zwischen 2005 und 2009 konstatieren.
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gewinne jeweils zwischen +14,3 Prozent (Aktuelle Partei-Nachrichten, Hinweise zu den Kandidaten vor Ort) und +71,4 Prozent (YouTube) schwankten (zur Häufigkeit verschiedener Website-Elemente in den Bundestagswahlen 2005 und 2009 vgl. auch die Prozentangaben in Tabelle A1 im Anhang). Die stärksten Zuwachsraten ergeben sich sowohl für die Implementierung diverser Web 2.0-Optionen (YouTube, Twitter [+42,9%], Social Networks [+39,3%], Web-Feeds [+38,3%], Social Bookmarking [+28,6%] und externe Bildgalerien [+28,6%]) als auch für die verbesserte Informationslage über die Parteistruktur (+41,5%) und den Datenschutz auf den Homepages (+46,9%) sowie für die Verwendung von Suchmaschinen (+37,5%), Videosequenzen (+35,3%) oder die Einwerbung von OnlineSpenden (+29%). Damit lässt sich eine formale Professionalisierung im Zeitverlauf postulieren, die den internationalen Entwicklungstrends in der computervermittelten politischen Kommunikation entspricht. Das Ausmaß dieser Professionalisierung variiert allerdings in Abhängigkeit zur Akteursgruppe und dem jeweiligen Funktionsbereich: So lassen sich für die Nicht-Parlamentsparteien weitaus höhere Steigerungsraten zwischen 2005 und 2009 in der Gestaltung ihrer Internetauftritte feststellen (+44,8%) als für die Gruppe der parlamentarischen Fraktionen (+7,5%). Die Divergenz gilt in der Gesamtbetrachtung der Online-Kampagnen ebenso wie für die verschiedenen funktionalen Teildimensionen der Partei-Websites. Bei CDU, SPD, FDP und Grünen kann darüber hinaus eine sukzessive Abflachung der Zuwachsraten in den letzten drei Wahlzyklen konstatiert werden (von +21,1% zwischen 2002 und 2005 auf +7,5% zwischen 2005 und 2009; siehe auch Abbildung 1). Diese resultiert vermutlich aus einem Deckeneffekt in der formalen Professionalisierung der Online-Kampagnen: Bereits im Wahljahr 2002 setzten die parlamentarischen Parteien durchschnittlich mehr als die Hälfte aller codierten Strukturelemente auf ihren Websites ein. Im Zeitverlauf ergeben sich für sie nur minimale Steigerungsmöglichkeiten in der Homepage-Leistung, wie sie etwa durch neu hinzutretende technische Innovationen entstehen. Der bereits fortgeschrittene Grundaufbau der Internetauftritte wird hierdurch jedoch kaum mehr verändert (vgl. auch Schweitzer, 2006). Anders gestaltet sich dies für die Gruppe der nicht-parlamentarischen Parteien: Ihre Website-Leistung liegt von Beginn an weit unter dem Durchschnitt der Bundestagsfraktionen, so dass sich für sie größere Spielräume und folglich auch höhere Zuwachsraten in der Verbesserung ihrer OnlineKampagnen ergeben (siehe hierzu auch Abschnitt 3.2). Dass sie diese Mög-
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lichkeiten im Zeitverlauf ausschöpfen, um ihre digitale Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und sich an das Niveau der Parlamentsparteien allmählich anzunähern, entspricht den ursprünglichen Hoffnungen der Innovationsthese auf eine potenzielle Einebnung der Wettbewerbsverhältnisse im World Wide Web (vgl. Schweitzer, 2008). Dieser idealtypische Endzustand ist in Deutschland jedoch bislang noch nicht erreicht (siehe auch Abschnitt 3.2). Neben der beschriebenen akteursbezogenen Disparität in der Professionalisierung der Internetauftritte lässt sich ferner auch eine funktionsspezifische Variation in der zeitlichen Entwicklung der Online-Kampagnen erkennen. Zwischen 2005 und 2009 liegen die Zuwachsraten für die Bereiche Partizipation (+55,8%) und Präsentation (+39,5%) deutlich über den jeweiligen Steigerungsquoten für die Gruppe der Informations- (+26%) und Mobilisationselemente (+21,2%). Dies gilt sowohl für die Parlamentsparteien (Partizipation: +42,9%; Präsentation: +13,9%; Information: -2,8%; Mobilisation: 0%) als auch für die nicht-parlamentarischen Organisationen (Partizipation: +57,0%; Präsentation: +50,2%; Information: +38,6%; Mobilisation: +29,4%). Die stärkere Fokussierung auf den Ausbau der partizipativen und präsentationsorientierten Website-Strukturen lässt sich einerseits mit der Einbindung neuer Web 2.0-Applikationen erklären, die technisch den Bereichen "Partizipation" und "Präsentation" zugeordnet wurden (vgl. Tabelle A1 im Anhang). Andererseits zeigen sich für beide Akteursgruppen auch hier Deckeneffekte in funktionaler Hinsicht: Klassische Komponenten der Information und Mobilisation wurden bereits in frühen Bundestagswahlen von den meisten Internetauftritten verwendet. Zuwächse sind dementsprechend nur in geringfügigem Ausmaß und hier insbesondere unter den nichtparlamentarischen Parteien zu beobachten. Dies gilt beispielsweise für die Option der Online-Mitgliedschaft, für die Darbietung von Wahlwerbespots, Plakaten und Broschüren sowie für Informationsangebote der Parteien zu ihren Führungspersönlichkeiten, Themenschwerpunkten und Wahlprogrammen (vgl. auch die Prozentangaben in Tabelle A1 im Anhang). Diese Elemente erlauben es politischen Organisationen einerseits, die Schlagkraft ihrer (Offline-)Kampagne logistisch zu erhöhen, zum Beispiel durch die kostengünstige und schnelle Online-Distribution von Werbemitteln oder die Vergrößerung der beitragszahlenden Anhängerbasis, sowie andererseits mediale Selektionsfilter in ihrer Selbstdarstellung zu umgehen. Diese strategischen Vorzüge führten bislang auch auf der internationalen Ebene dazu, dass Aspekte der Information und Mobilisation zunächst stärkere Beachtung in der
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Gestaltung der Online-Kampagnen erfuhren und präsentationsbezogene oder interaktive Optionen eher zögerlich adaptiert wurden (siehe unten). Dementsprechend fand sich in der Anfangsphase des E-Campaigning häufig der Ausdruck der "electronic broschures" (Kamarck, 2002, S. 89) oder des "'digitale[n] Glanzpapier[s]'" (Bieber, 2002, S. 555), um die statische Fixierung der Websites zu beschreiben. Die höheren Steigerungsraten, die sich im deutschen OnlineWahlkampf nun für die zuletzt genannten Funktionsbereiche ergeben, deuten darauf hin, dass sich hiesige Parteien im Zuge ihrer Homepage-Relaunches langsam von dieser Ursprungsform ablösen und zu ganzheitlichen "[p]olitischen Web-Portalen" (Bieber, 2002, S. 555) tendieren. Als vorläufige Endstufe im so genannten "Life Cycle"-Modell der Internetkampagnen (vgl. Williams & Gulati, 2006, S. 26) integrieren sie interaktive oder präsentationstechnische Finessen tendenziell häufiger als ihre Vorgänger, um mit den öffentlichen Nutzeransprüchen an einen modernen Online-Auftritt Schritt zu halten, sich von konkurrierenden politischen Angeboten im Netz abzugrenzen und wiederholte WebsiteBesuche zu motivieren (vgl. auch Kent & Taylor, 1998, S. 326ff.). Diese formale Professionalisierung in den Bereichen Partizipation und Präsentation hat bislang allerdings nicht dazu geführt, dass die traditionelle Gesamtstruktur der Online-Kampagnen aufgegeben würde, wie sie weltweit (siehe Abschnitt 1.1) und auch in Deutschland in vergangenen Wahlen zu beobachten war (vgl. Schweitzer, 2003, 2006). Entsprechend der in Forschungsfrage 2 vermuteten funktionalen Fokussierung auf den Top-downBereich der Internetauftritte dominieren auch im Wahljahr 2009 zentralinformierende anstelle genuin interaktiver Optionen (siehe Abbildung 1). So liegen die Gesamtindexwerte für die Kategorien Information (0,53) und Präsentation (0,46) weiterhin deutlich über den jeweiligen Maßzahlen für die Klassen der mobilisierenden (0,41) und partizipativen Elemente (0,28). Im Zeitverlauf hat sich damit zwar das Spektrum der auf den Homepages genutzten Komponenten insgesamt erweitert, die ursprüngliche funktionale Schwerpunktsetzung im Bereich Information und Präsentation wird hierdurch jedoch nicht angetastet. So werden einzelne Elemente dieser Gruppen nach wie vor doppelt so oft verwendet wie Applikationen aus der Kategorie Partizipation. Allein unter den 25 häufigsten Website-Optionen, die jeweils von mehr als der Hälfte aller Parteien zur Bundestagswahl 2009 eingesetzt wurden, finden sich 20 Elemente (=80% der Top 25), die diesem Topdown-Verständnis zugerechnet werden können (vgl. auch Tabelle A1 im Anhang). Dazu zählen neben Fotos (96,4%), Graphiken (100%), Newslet-
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tern (57,1%) und Pressemitteilungen (60,7%) auch Textarchive (60,7%), Informationen zur Parteigeschichte (57,1%) oder Impressumsvermerke (100%). Gästebücher (7,1%), Wikis (3,6%), Chatrooms (3,6%) oder OnlineUmfragen (10,7%) werden demgegenüber nur sporadisch realisiert. Diese Schwerpunktsetzung zeigt sich für die Parlamentsfraktionen ebenso wie für die nicht-parlamentarischen Gruppierungen und ist unabhängig von der ideologischen Ausrichtung der Organisationen. Allein im individuellen Partei-Vergleich können drei Ausnahmen beobachtet werden, die sich von diesem Muster abheben (vgl. Abbildung 2)9: Bei den Grünen, FDP und Piratenpartei liegen die Ausschöpfungsraten im Bereich Mobilisation bzw. Partizipation zum Teil deutlich über den jeweiligen Kennwerten für die Klasse der Informations- und Präsentationsoptionen. Sie durchbrechen damit die klassische Top-down-Orientierung des Online-Wahlkampfes und bemühen sich stärker als ihre Konkurrenten um eine kommunikative Öffnung ihrer Webauftritte. Diese Sonderstellung lässt sich sowohl mit der hohen Internetaffinität unter den jeweiligen Parteianhängern sowie mit ihrem Engagement für Belange der Netzpolitik und den eher dezentral angelegten Organisationsstrukturen (insbesondere bei Grünen und Piratenpartei) erklären. Diese Faktoren gelten auch in der internationalen CMPCForschung als förderliche Momente in der Ausprägung interaktiver Kampagnen (vgl. z. B. Gulati & Williams, 2007, S. 444ff.; Lusoli, Ward & Gibson, 2002, S. 102ff.). Die Beispiele von Grünen, FDP und Piratenpartei zeigen damit, dass politische Internetauftritte im Sinne der Innovationsthese sehr wohl von klassischen Mustern der Offline-Kampagnen-führung abweichen und die medienspezifischen Möglichkeiten des E-Campaigning ausschöpfen können. Bislang geschieht dies jedoch nur in Einzelfällen, während das Gros der zur Bundestagswahl antretenden Gruppierungen weiterhin einem Top-down-Verständnis in der computervermittelten politischen Kommunikation verhaftet bleibt. Mit Blick auf die zuvor referierten Befunde zur technischen Evolution des deutschen Online-Wahlkampfes zwischen 2002 und 2009 lässt sich damit eine umfassende Bestätigung der Normalisierungsthese in ihrer funktionalen Dimension konstatieren. Inwieweit dies auch für die relationale Ebene gilt, soll nachfolgend geprüft werden. 9
Auch bei den Republikanern zeigte sich ein leichtes Übergewicht der mobilisierenden Elemente (0,53) gegenüber den informations- (0,5) und präsentationsspezifischen Homepage-Optionen (0,42). Die Geringfügigkeit dieser Differenz und die deutliche Unterentwicklung der interaktiven Strukturmerkmale (0,3) spricht im Folgenden jedoch gegen eine Gleichsetzung der Website-Leistung mit den genannten Ausnahmen.
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Abbildung 2: Funktionale Struktur der Partei-Websites zur Bundestagswahl 2009 Information
Präsentation
Mobilisation
Partizipation
1
0,8
Index
0,6 Mittelwert
0,4
0,2
0 CDU
CSU
SPD
FDP
Grüne
Linke
Piraten
Andere (Mw., N=21)
3.2 Relationale Dimension: Digitale Klüfte zwischen großen und kleinen Parteien in Web 1.0 und Web 2.0 Die relationale Dimension der Normalisierungsthese setzt sich mit dem Wettbewerbsverhältnis von parlamentarischen und nicht-parlamentarischen Parteien im E-Campaigning auseinander. Im Mittelpunkt steht die Erwartung, dass sich klassische Status- und Machtunterschiede zwischen politisch einflussreichen und -armen Akteuren im Internet fortsetzen und damit zu digitalen Professionalitätsklüften in der Anlage der Webkampagnen beitragen. Für die vorliegende Untersuchung sollte festgestellt werden, ob bisherige Qualitätsunterschiede in der formalen Gestaltung der Internetauftritte im Wahljahr 2009 fortbestehen (F 3) und ob diese auch auf die Nutzung von Web 2.0-Applikationen im Online-Wahlkampf zutreffen (F 4). In beiden Fällen bestätigt sich die Vermutung, dass die Internetkampagnen hiesiger Parteien durch eine relationale Normalisierung gekennzeichnet sind, die sich
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in anhaltenden digitalen Klüften zwischen parlamentarischen und nichtparlamentarischen Akteuren in Web 1.0 und Web 2.0 manifestiert (vgl. Abbildung 3). Abbildung 3: Parlamentsparteien vs. Nicht-Parlamentsparteien im OnlineWahlkampf 2009 Parlamentsparteien
Nicht-Parlamentsparteien
Piratenpartei
1
0,8
Index
0,6 Mittelwert
0,4
0,2
0 Information Präsentation Mobilisation Partizipation
Gesamt
Web 1.0
Web 2.0
Das Leistungsgefälle zwischen beiden Parteigruppen hat sich zwar durch die höheren Steigerungsraten der nicht-parlamentarischen Organisationen im Zeitverlauf verringert (vgl. Abbildung 1). Die ursprünglichen NiveauUnterschiede im E-Campaigning bleiben jedoch weiterhin existent. Sowohl insgesamt als auch in der Betrachtung der einzelnen Funktionsbereiche liegen die Indexwerte der parlamentarischen Parteien im Jahr 2009 deutlich über den entsprechenden Kennzahlen der außerparlamentarischen Gruppierungen. Im Vergleich der verschiedenen Strukturelemente lassen sich bei 64 von insgesamt 78 Website-Optionen (=82,1%) niedrigere Verbreitungsraten unter den nicht-parlamentarischen Parteien feststellen. Die größten Disparitäten ergeben sich dabei in den Bereichen Mobilisation (Indexwerte: 0,68 vs. 0,34) und Präsentation (0,75 vs. 0,38), z.B. bei der Einrichtung eines Online-
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Vertriebsservices/E-Shops für Werbemittel (prozentuale Verbreitung in beiden Gruppen: 100% vs. 18,2%), bei der Nutzung von Intranets (100% vs. 68,2%), den Registrierungsoptionen für Wahlkampfhelfer (83,3% vs. 22,7%) sowie bei der Einbindung von Bildgalerien (100% vs. 13,6%), Videostreams und Newslettern (jeweils 100% vs. 45,5%). Kleinere Parteien bleiben damit nach wie vor im funktionalen Aufbau ihrer Internetauftritte weit hinter den medialen Möglichkeiten der Online-Kommunikation zurück, obwohl gerade sie von den administrativen und logistischen Vorzügen moderner Informationstechnologien besonders profitieren könnten, etwa um bisherige Publizitätsdefizite oder fehlende Offline-Infrastrukturen im Wahlkampf auszugleichen. Die einzige Ausnahme bildet hier die Piratenpartei, die in allen Bereichen der Internetkampagne zu den parlamentarischen Fraktionen aufschließen und diese bei der Implementierung partizipativer Elemente sogar übertreffen konnte. So setzte sie als einzige politische Organisation fast alle zur Verfügung stehenden interaktiven Optionen in ihrer Kampagne ein (z. B. Chatroom, Foren, Weblogs, Wiki), um sich mit Unterstützern, Mitgliedern und interessierten Wählern auszutauschen und den Offline-Wahlkampf zu koordinieren. Das Beispiel der Piratenpartei demonstriert, dass kleinere politische Verbände mit kurzer Organisationsgeschichte das Internet durchaus effektiv nutzen und damit bestehende strukturelle Wettbewerbsunterschiede zu großen Parteien kompensieren können. Dass es sich hierbei um einen Einzelfall handelt und die Mehrzahl der außerparlamentarischen Gruppierungen diesem Maßstab nicht nachzufolgen vermag, verdeutlicht allerdings die Berechtigung der Normalisierungsthese: Fehlendes Fachwissen oder Interesse unter den Kampagnenverantwortlichen, mangelnde IT-Kompetenzen, geringe personelle oder finanzielle Ressourcen sowie rigide Führungsstrukturen insbesondere in konservativen Parteien mit hohem Durchschnittsalter und geringer Internetaffinität unter den Anhängern scheinen einer umfassenden Ausschöpfung der webbasierten Kommunikationsmöglichkeiten weiterhin entgegenzustehen (vgl. auch Gulati & Williams, 2007, S. 444ff.; Lusoli, Ward, & Gibson, 2002, S. 102ff.). Ursprüngliche Chancenungleichheiten zwischen einflussreichen und armen Akteuren werden daher nicht im Internet aufgehoben, sondern dort vielmehr fortgeschrieben. Dies gilt auch und in besonderer Weise für das Web 2.0: Im Widerspruch zu den Hoffnungen auf einen demokratischen Wandel der Wettbewerbsverhältnisse, der mit der Implementierung der dezentralen, kollaborativen und
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non-hierarchischen Strukturen des Social Webs einhergehen sollte ("e-ruption thesis"; s.o.), verschärfen sich hier die digitalen Klüfte zwischen parlamentarischen und nicht-parlamentarischen Organisationen nochmals deutlich (vgl. Abbildung 3). Die Leistungsdifferenz zwischen beiden Gruppen ist im Web 2.0 wesentlich größer als im bisherigen Web 1.0. So wurden die seit der Bundestagswahl 2005 hinzugetretenen technischen Innovationen von CDU, CSU, SPD, FDP, Grünen und Linke nahezu vollständig im Wahljahr 2009 integriert, während die außerparlamentarischen Parteien hiervon kaum Gebrauch machten. Am häufigsten setzten sie noch einen eigenen Videokanal bei YouTube ein (Parlamentsparteien: 100%; Nicht-Parlamentsparteien: 63,6%), um kleine Redebeiträge, Aufzeichnungen von Kampagnenveranstaltungen oder ihre Wahlwerbespots zu präsentieren. Andere Instrumente des Web 2.0, die einer kontinuierlichen Pflege und Aktualisierung bedürfen, wurden hingegen nur sporadisch genutzt, wie zum Beispiel Twitter (27,3%), Blogs (9,1%), soziale Netzwerkseiten (22,7%), Social Bookmarking-Dienste (18,2%) oder auch Web-Feeds (45,5%) und externe Bildgalerien (etwa Picasa oder Flickr; 13,6%). Die einzige Ausnahme bildete hier wiederum die Piratenpartei, die auch im Social Web zu den Parlamentsfraktionen aufschließen und diese dort in der Einbindung diverser Applikationen übertreffen konnte. Diese Sonderstellung und die verschärfte Kluft zwischen großen und kleinen Parteien in der Hinwendung zum Web 2.0 zeigt sich auch in einer abschließenden Clusteranalyse der Internetauftritte für das Wahljahr 2009 (vgl. Tabelle 1). Hierbei entsteht eine empirisch fundierte Typologie der politischen Organisationen auf der Basis ihrer jeweiligen Online-Leistungen.10 Für die vergangene Bundestagswahl lassen sich drei separate Parteigruppen unterscheiden: Die "Vorreiter" der Parlamentsfraktionen und der Piratenpartei, die mehr als die Hälfte aller codierten Website-Elemente in den jeweiligen Funktionsbereichen ausschöpfen und insbesondere die technischen Innovationen des Web 2.0 aufgreifen; die große Gruppe des außerparlamentarischen "Mittelfeldes", das sich vor allem auf die informativen und präsentationsbezogenen Top-down-Strukturen des Internetauftritts konzentriert und Optionen des Web 2.0 nur punktuell nutzt (insbesondere YouTube und Web-Feeds); sowie die ebenfalls außerparlamentarische
10
Eine hierarchische Clusteranalyse ermittelte zunächst die Zahl der statistisch sinnvoll voneinander zu trennenden Parteigruppen. Diese Größe wurde dann einer weiterführenden Cluster-zentrenanalyse zugrunde gelegt.
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Tabelle 1: Partei-Typologie im Online-Wahlkampf 2009 Cluster 1 "Vorreiter"
Cluster 2 "Mittelfeld"
Cluster 3 "Rückständige"
CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne, Linke, Piraten
ADM, BP, BüSo, Die Violetten, DKP, DVU, FamilienPartei, MLPD, NPD, ödp, PBC, PSG, Rep, RRP, Tierschutzpartei
Ab jetzt, Christliche Mitte, Freie Union, Freie Wähler, Rentner-Partei, Zentrum
7
15
6
Gesamt
0,69
0,41
0,23
Information
0,74
0,50
0,36
Präsentation
0,73
0,40
0,27
Mobilisation
0,65
0,41
0,13
Partizipation
0,54
0,20
0,18
Web 1.0 Web 2.0
0,68 0,80
0,42 0,29
0,28 0,04
Parteien
N
Gruppe der "Rückständigen", die in nahezu allen Funktionsbereichen des ECampaigning kaum mehr als ein Drittel der verfügbaren Komponenten realisieren und mit einer Ausnahme nicht im Web 2.0 vertreten sind. Zu dieser letzten Kategorie zählen insbesondere stark konservative sowie kleinere Ein-Themen-Parteien, die aufgrund ihrer Organisationsstruktur bislang nur wenig Ambitionen zu einem systematischen Ausbau ihrer OnlinePräsenzen erkennen lassen. Welche zusätzlichen Hemmfaktoren hier einer Professionalisierung des Internetwahlkampfes entgegenstehen, wäre in weiteren Studien, zum Beispiel in Form von Leitfadeninterviews mit Kampagnenverantwortlichen oder in Befragungen unter Mitgliedern, zu beleuchten. Zudem sind Längsschnittbetrachtungen auch auf anderen Wahlebenen notwendig, die die zeitliche Stabilität und systemische Konstanz dieser Typologie validieren können. Zum jetzigen Zeitpunkt unterstreicht die in beiden Webarenen beobachtete Kluft zwischen Parlaments- und NichtParlamentsparteien jedoch die in Forschungsfrage 3 und 4 angelegten Er-
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wartungen an die Ausgestaltung der deutschen Online-Kampagnen: Die Normalisierungsthese kann auch in ihrer relationalen Dimension Gültigkeit für die Bundestagswahl 2009 beanspruchen. Inwieweit dies ferner für die inhaltliche Komponente des E-Campaigning gilt, soll in einem letzten Analyseschritt geprüft werden. 4
Ergebnisse der Inhaltsanalyse
Während sich die bisherigen Befunde ausschließlich auf den formalen Aufbau der Homepages und ihre Entwicklung im Zeit- und Parteivergleich konzentrierten, setzt sich die Inhaltsanalyse nun mit den Themen-, Akteursund Argumentstrukturen im Online-Wahlkampf auseinander. Im Mittelpunkt stehen die Textnachrichten, die CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne und Linke in den letzten vier Wochen vor dem Wahltermin auf den Startseiten ihrer Internetauftritte veröffentlichten. Diese erlauben anhand einer Codierung auf Beitrags- und Aussagenebene Rückschlüsse auf die diskursiven Positionierungen der Parteien in der heißen Wahlkampfphase. Entsprechend des internationalen Forschungsstandes zur CMPC wurde eine inhaltliche Normalisierung des E-Campaigning erwartet, die sich in einer Übernahme traditioneller Kommunikationsstrategien zeigen sollte. Hierzu wurden drei Indikatoren zugrunde gelegt: das Ausmaß der selbstreferenziellen Wahlkampfthematisierung (Metakommunikation), der Grad der Fokussierung auf die Spitzenkandidaten als Themen, Aussagengegenstände und Urheber (Personalisierung) sowie die Intensität der politischen und persönlichen Angriffe auf die Kontrahenten (Negative Campaigning). Für alle drei Aspekte sollte sowohl die individuelle Ausprägung im Wahljahr 2009 (F 5) als auch der verhältnismäßige Trend im Zeitverlauf (F 6) ermittelt werden. Bei zwei Indikatoren (Metakommunikation und Negative Campaigning) lassen sich dabei in der Tat Anzeichen einer fortgesetzten inhaltlichen Normalisierung im deutschen Internetwahlkampf erkennen, auch wenn die jeweiligen Anteilswerte zwischen 2005 und 2009 leicht variieren. Bevor die entsprechenden Befunde hierzu näher referiert werden, blicken wir zunächst auf die formale Entwicklung der Online-Nachrichten, um zu überprüfen, inwieweit die beobachtete Professionalisierung des E-Campaigning auf der Ebene der Gesamtwebsite auch für die Gestaltung der einzelnen Homepage-Meldungen gilt.
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4.1 Formalia der Online-Meldungen: Professionalisierung und Mediatisierung auf Beitragsebene Für die Bundestagswahl 2009 wurden insgesamt 370 Online-Nachrichten auf den Partei-Websites von CDU, CSU, SPD, FDP, Grünen und Linke codiert (im Einzelnen: 337 Textbeiträge=91,1%; 33 Videobotschaften=8,9%). Der Großteil der Meldungen ging hier wie im Jahr 2002 auf die FDP zurück (N=95; 25,7%), während die Grünen die wenigsten Beiträge publizierten (N=16; 4,3%). Letztere verringerten ihre Artikelproduktion im Vergleich zu den Vorjahren deutlich (2002: 81=23,1%; 2005: 70=15,5%) und setzten ähnlich wie die CDU (N=29; 36,7% aller Parteimeldungen) erstmals in größerem Umfang Videobotschaften anstelle von Textnachrichten ein (N=4; 25% aller Parteimeldungen). Auch insgesamt hat sich die Zahl der publizierten Beiträge erheblich unter den Parlamentsfraktionen reduziert (2005: 451 Beiträge; -18%). Diese werden darüber hinaus seltener auf den jeweiligen Websites aktualisiert. So stieg die durchschnittliche Verweildauer der Artikel von einst drei Tagen im Jahr 2002 auf rund fünf Tage im Jahr 2009 an, wobei die Beiträge der CSU die geringste (durchschnittlich zwei Tage) und die Meldungen der SPD die größte zeitliche Persistenz (durchschnittlich zehn Tage) aufwiesen. Auf der anderen Seite sind die Online-Nachrichten jedoch auch eindeutig kürzer, multimedial ansprechender und stilistisch vielfältiger geworden: Der durchschnittliche Umfang hat von ursprünglich 349 Wörtern im Jahr 2005 auf 280 im Jahr 2009 abgenommen und erreicht damit fast wieder das Ausgangsniveau von 286 Wörtern in der Bundestagswahl 2002. Die Beiträge sind nun nahezu vollständig bebildert (94,1% der Beiträge; 2005: 66,3%; 2002: 48,6%) – wenn auch seltener mit Graphiken versehen (6,2%; 2005: 22,2%; 2002: 18,6%) – und werden häufiger als in vorangegangenen Wahlkämpfen von weiterführenden Hyperlinks (61,7%; 2005: 53,3%) und Zusatzmaterialien begleitet (25,5%; 2005: 23,9%). Hierbei stehen insbesondere integrierte Video- (13,4%; 2005: 7,1%) oder Audioaufnahmen (5,6%; 2005: 3,1%) im Vordergrund. Die multimediale Ausstattung der Textbeiträge nimmt zudem innerhalb des Untersuchungszeitraumes von der ersten bis zur letzten Woche kontinuierlich zu und erreicht damit kurz vor dem Wahltermin das absolute Maximum (von 0,3 Zusatzmaterialen pro Beitrag in Woche 1 auf 0,43 in Woche 4).
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Die Parteien greifen auch öfter auf alternative Stilformen zurück. Zwar dominierte im Jahr 2009 weiterhin der journalistisch anmutende Bericht (N=229, 61,9%; 2005: 66,7%; 2002: 77%), der primär von den Internetredaktionen der Parteien produziert wurde (82,2%; 2005: 72,2%; 2002: 79%). Andere Darstellungsweisen haben im Zeitverlauf jedoch an Bedeutung gewonnen: Die Meldungen werden häufiger als direkte Stellungnahmen einzelner Politiker (N=89, 24,1%; 2005: 16,9%) oder als wiedergegebene Interviews (N=19, 5,1%) präsentiert. Bei den Linken überwiegt sogar der Anteil der persönlichen Kommentare von Parteimitgliedern (75,4%), wie dies auch in der Bundestagswahl 2005 zu beobachten war (65,6%). Insgesamt ist damit eine formale Professionalisierung auf der Beitragsebene des OnlineWahlkampfes eingetreten, die der technischen Entwicklung der Internetauftritte im Rahmen der funktionalen Strukturanalyse entspricht (siehe oben). Darüber hinaus lässt sich eine wachsende Mediatisierung der Parteimeldungen feststellen: Diese gehen häufiger auf journalistisch induzierte oder medial überformte Berichterstattungsanlässe, wie Interviews, Umfragen oder Wahlveranstaltungen, zurück (41,9%; 2005: 33,3%). Nur rund ein Viertel aller Beiträge (25,7%) wird noch durch genuine Ereignisse, wie außenbzw. innenpolitische Entwicklungen oder gesellschaftliche Vorkommnisse ausgelöst. Eine unabhängige, kontinuierliche Themendiskussion findet kaum mehr in den Online-Nachrichten der Parteien statt (0,8%; 2005: 12,2%). Die Hinwendung zu teil- bzw. vollmediatisierten Beitragsanlässen war vor allem bei CDU (von 54,4% auf 55,9%), FDP (von 27,5% auf 52,6%), CSU (von 27,3% auf 38,8%) und SPD (von 28,1% auf 34,2%) zu beobachten, während die Berichterstattungspraxis auf den Homepages von Grünen und Linken eher durch faktische Geschehnisse (Grüne: 50%; Linke: 36,8%), zum Beispiel den Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe, bestimmt blieb. Diese Befunde deuten darauf hin, dass auch der Internetwahlkampf nicht den journalistischen Selektions- und Präsentationsregeln der Offline-Medien gänzlich entgeht. Vielmehr scheinen deutsche Parteien im Sinne einer instrumentellen Inszenierung (vgl. Kepplinger, 1989, S. 11) besonders jene Ereignisse als Grundlage ihrer individuellen Online-Nachrichtengebung zu bevorzugen, die einen entsprechenden Nachhall in der klassischen Berichterstattung erwarten lassen und damit zur eigenen Publizitätssteigerung beitragen können. Die Meldungen der Websites dienen folglich primär der medialen Verstärkung der eigenen Kampagne und der Durchsetzung zweckdienlicher Ereignisdeutungen, die beispielsweise über etwaige Inter-
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netrecherchen von Journalisten Eingang in den regulären Pressetenor finden können (vgl. Machill & Beiler, 2008). Damit stellen die Homepages eine moderne Form der so genannten Spin Alley dar. Auch die Themen-, Akteursund Argumentstrukturen des E-Campaigning lassen zum Teil eine deutliche Orientierung an der Medienlogik erkennen, die die inhaltliche Konvergenz zwischen Online- und Offline-Wahlkämpfen weiterhin befördert. 4.2 Themen-, Akteurs- und Argumentstrukturen der Online-Meldungen: Inhaltliche Normalisierung Zur Prüfung der vermuteten inhaltlichen Normalisierung wurde die Schwerpunktsetzung der Parteimeldungen, ihre Konzentration auf die Spitzenkandidaten und das Angriffsverhalten gegenüber dem politischen Kontrahenten untersucht. Der Vergleich dieser Indikatoren zwischen 2002 und 2009 zeigt für die Metakommunikation und den Anteil des Negative Campaigning eine überwiegende Orientierung an klassischen Kommunikationsstrategien des OfflineWahlkampfes (vgl. Abbildung 4). Abbildung 4: Inhaltliche Entwicklung des Online-Wahlkampfes 80
2002
2005
2009
Anteil in %
60
40
20
0 Wahlkampf als Hauptthema
Negative Campaigning
Spitzenkandidaten als Urheber
Personalisierung
Spitzenkandidaten als Aussagengegenstände
Personalisierung
Spitzenkandidaten als Beitragsthemen
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Allein im Bereich der Personalisierung ist eine deutliche Abweichung gegenüber bisherigen Mustern der Kampagnenführung festzustellen, indem die Spitzenkandidaten nur selten im Themen-, Aussagen-, und Urheberfokus der Beiträge stehen und im Zeitverlauf zudem auf allen drei Ebenen an Bedeutung verloren haben. Die entsprechenden Befunde sollen nachfolgend im Detail beleuchtet werden. 4.2.1 Wahlkampf statt Sachpolitik Zur Bundestagswahl 2009 setzte sich erneut die Mehrzahl der Beiträge mit dem Wahlkampf als Hauptthema auseinander (N=200; 54,1%). Sachpolitische Fragen traten demgegenüber in den Hintergrund. Dies galt für alle Parteien unabhängig von ihrer politischen Orientierung oder ihrem Regierungsstatus sowie für alle Wochen des Untersuchungszeitraumes. Im Verlauf der heißen Wahlkampfphase ließ sich ähnlich wie im Jahr 2005 sogar eine Verstärkung der Metakommunikation feststellen, in deren Zuge der Anteil der Wahlkampfthematisierung auf 77,3 Prozent in der letzten Woche vor dem Wahltermin anwuchs (2005: 64,9%). Im Mittelpunkt dieser selbstreferenziellen Beiträge standen vor allem die Wahlversprechen der parlamentarischen Fraktionen (11,5% aller Wahlkampfbeiträge bzw. 6,2% aller Beiträge), die Medienauftritte verschiedener Parteivertreter (8,5% bzw. 4,6%) und ihre Kampagnenveranstaltungen (8% bzw. 4,3%). Der Internetwahlkampf wurde trotz seiner verstärkten öffentlichen Wahrnehmung im Jahr 2009 nur selten von den politischen Organisationen thematisiert (2,5% bzw. 1,4%). Dies entspricht den Befunden aus früheren Bundestagswahlen (2005: 3,3% aller Wahlkampfbeiträge). Interessanterweise hat sich im Zeitverlauf auch der Anteil derjenigen Beiträge sukzessive halbiert, die sich mit dem Format des TV-Duells auseinandersetzen: Während in der Bundestagswahl 2002 noch 14 Prozent aller Wahlkampfbeiträge die Vorbereitungen, den Verlauf und den Ausgang der Fernsehdebatte schilderten, widmeten sich in der Bundestagswahl 2005 nur noch 7,4 Prozent und in der Bundestagswahl 2009 schließlich nur noch 3,5 Prozent der Artikel dem direkten Schlagabtausch der Kandidaten. Die nachlassende Homepage-Berichterstattung über das Fernsehduell dürfte auf drei Gründe zurückzuführen sein: auf einen allgemeinen Gewöhnungseffekt an das nicht mehr unvertraute Genre, das nun einer geringeren parteiinternen Kommentierung unterliegt; auf die zahlen-
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mäßige Reduktion der Begegnungen von ursprünglich zwei Konfrontationen auf eine Debatte und auf die Auslagerung der digitalen Duellbegleitung auf separate Kampagnenplattformen im Netz. Der Anteil der websiteeigenen Beiträge könnte hierdurch komplementär gesunken sein. Im Gesamtvergleich scheint zudem das Ausmaß der Metakommunikation (54,1%) leicht gegenüber dem Wahljahr 2005 (59,6%) abgenommen zu haben. Berücksichtigt man neben den reinen Kampagnenbeiträgen zur Bundestagswahl 2009 jedoch auch jene Meldungen, die sich mit den parallel ablaufenden Wahlkämpfen auf der Landesebene auseinandersetzten (N=21; 5,7% aller Beiträge), so wird jener Befund relativiert. In diesem Fall steigt der Anteil der Metakommunikation unter den Parlamentsparteien sogar auf ein vorläufiges Rekordhoch von 59,8 Prozent und liegt damit mehr als zehn Prozentpunkte über der beobachteten Wahlkampfthematisierung zur Bundestagswahl 2002 (49%). Andere Belange, die unter dem Eindruck der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise oder dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan hätten politisch in den Vordergrund rücken können, wurden demgegenüber kaum verstärkt in den Online-Meldungen aufgegriffen (Wirtschaftspolitik: 8,9%; 2005: 4,9%; Außenpolitik: 5,9%; 2005: 8,4%). Dies galt für alle Parteien und für den gesamten Untersuchungszeitraum. Allein bei den zweithäufigsten Themen ließen sich wie im Wahljahr 2005 sachpolitische Differenzierungen zwischen den Parlamentsfraktionen feststellen, die dem Prinzip der so genannten Issue Ownership folgen: Um sich wahltaktisch zu profilieren, greifen die Akteure in ihrer Kampagnenkommunikation primär auf diejenigen Politikfelder zurück, für die sie öffentlich die größte Kompetenz zugeschrieben bekommen (vgl. im Überblick Petrocik, Benoit, & Hansen, 2003). Die SPD konzentrierte sich in den Meldungen zur Bundestagswahl 2009 stärker auf die Bereiche Bildung und Soziales (jeweils 13,2% aller SPD-Beiträge), während CDU/CSU und FDP wirtschaftschaftspolitische Themen in den Vordergrund rückten (9,8% aller Unions-Beiträge; 9,5% der FDP-Beiträge) und die Grünen häufiger auf ökologische Aspekte eingingen (31,3% der Grünen-Beiträge). Allein bei den Linken fanden sich mehr Artikel zur Außen- als zur Sozialpolitik (14% vs. 8,8% der Linken-Beiträge). Dies war vor allem der umfangreichen friedenspolitischen Diskussion zum deutschen Afghanistaneinsatz und seiner scharfen Ablehnung in den eigenen Parteireihen geschuldet. Das Issue Ownership-Prinzip lässt sich hier also indirekt anwenden.
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Diese sachpolitische Differenzierung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gros der Online-Meldungen weiterhin den Wahlkampf als Hauptthema aufgreift. Damit spiegelt sich im deutschen E-Campaigning jenes Ausmaß an Metakommunikation wider, das bereits in früheren Internetkampagnen sowie für traditionelle Wahlkampfformate und die klassische Medienberichterstattung beobachtet werden konnte. Dieser Befund spricht für eine ausgeprägte inhaltliche Normalisierung auf der Themenebene. 4.2.2 Sinkende Personalisierung auf Themen-, Aussagen- und Urheberebene Für die Akteurskonstellation in den untersuchten Parteimeldungen lässt sich eine derartige Schlussfolgerung hingegen nicht formulieren. Ähnlich wie in vorangegangenen Online-Wahlkämpfen konzentrierten sich die WebsiteNachrichten primär auf die Parteien als soziale Kollektive, während die Spitzenkandidaten auf allen Analyseebenen fast vollständig ausgeblendet wurden. Dies gilt im Wahljahr 2009 noch stärker als in den letzten beiden Bundestagswahlen: Die Führungspersonen wurden allein in einem Drittel (34,3%; 2005: 38,4%) der Meldungen namentlich erwähnt und nur in rund einem Viertel (24,9%; 2005: 31,6%) aller beitragsbegleitenden Fotos gezeigt. Als Hauptthemen fanden sich die Spitzenkandidaten in kaum mehr als zehn Artikeln (1,1% aller Meldungen; 2005: 3,3%; 2002: 3,9%), wobei Bezüge auf ihr Privatleben, das heißt auf ihre Herkunft, Familie und Freizeitinteressen, fast vollständig unterblieben (nur in 2,7% der Artikel). Die meisten Beitragsaussagen (siehe auch Abschnitt 4.2.3) richteten sich zudem erneut auf die Parteien in ihrer Gesamtheit (N=898, 84,2%; 2005: 75,7%; 2002: 76%) und hier insbesondere auf SPD (N=263; 29,3%) und CDU (N=194; 21,6%), während die Spitzenpolitiker in weniger als einem Fünftel der Äußerungen im Wahljahr 2009 adressiert wurden (N=169, 15,8%; 2005: 18,9%; 2002: 24%). Letztere traten zudem noch seltener als Urheber der zitierten Stellungnahmen auf (16%; 2005: 28,3%; 2002: 26,7%). Den Großteil der Aussagen formulierten weiterhin andere Parteiangehörige und Mitglieder der jeweiligen Internetredaktionen (82,1%; 2005: 64,1%; 2002: 55,5), die ihrerseits primär auf gegnerische Parteien in ihrer Gänze Bezug nahmen. Als häufigster Einzelurheber trat hierbei der damalige CDU-
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Generalsekretär Ronald Pofalla in Erscheinung (N=95; 8,9% aller Aussagen). Betrachtet man ausschließlich den Kreis der Spitzenkandidaten, so wird in diesem Zusammenhang ferner deutlich, dass Angela Merkel nur einen bedingten Amtsbonus im Online-Wahlkampf 2009 besaß: Zwar wurde sie am häufigsten von allen anderen Politikern in den Beiträgen genannt (29,5%) und in den meisten kandidatenorientierten Stellungnahmen persönlich adressiert (N=84; 49,7% aller kandidatenbezogenen Aussagen), sie selbst kam jedoch nur in rund einem Drittel der Aussagen zu Wort (N= 50; 29,2%). Guido Westerwelle konnte indessen mehr als die Hälfte aller Kandidatenäußerungen auf sich als Urheber vereinen (N=92; 53,8%) und wurde zudem am häufigsten in den beitragsbegleitenden Fotos porträtiert (42,9% aller Kandidatenfotos bzw. 10,7% aller Personenaufnahmen; Angela Merkel: 34,5% bzw. 8,6%). Im Gesamtverhältnis war damit die Personalisierungstendenz auf der FDP-Website noch am stärksten ausgeprägt. Frank-Walter Steinmeier fand als SPD-Kanzlerkandidat hingegen deutlich weniger Beachtung als Gerhard Schröder im Jahr 2005: Er wurde kaum in den Artikeln erwähnt (18,8%) oder auf Fotos abgelichtet (6% aller Kandidatenfotos; 1,7% aller Personenaufnahmen) und trat nur äußerst selten als Aussagenquelle auf (4,1% aller Kandidatenaussagen). Seine Popularität schien hier nicht groß genug zu sein, um ihn als alleiniges Zugpferd der Kampagne zu positionieren. Insgesamt lässt sich daher für das Wahljahr 2009 eine geringe Personalisierung auf der Themen-, Aussagen- und Urheberebene belegen, die zudem im Zeitverlauf weiter abgenommen hat. Diese Tendenz gilt für alle Parlamentsparteien unabhängig von ihrer Regierungsposition und ihrer ideologischen Orientierung. Der deutsche Internetwahlkampf steht folglich in auffallendem Kontrast zu den Personalisierungstrends, die in anderen Werbemitteln der Offline-Kampagne und in der nationalen Print- und Fernsehberichterstattung zu beobachten sind. Erklären lässt sich dieser überraschende Befund vor allem mit der Ausdifferenzierung des E-Campaigning und den hiermit verbundenen "Genre-Effekten" in der politischen Anwendung diverser Online-Formate. So bieten persönliche Homepages und insbesondere Profile bei sozialen Netzwerkseiten weitaus umfassendere und effektivere Möglichkeiten zur Selbstdarstellung der Kandidaten. Die Personenwerbung wird daher zunehmend auf andere Kampagnenplattformen im Netz ausgelagert, wodurch die Partei-Websites entlastet und verstärkt an den pluralisti-
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schen Belangen der Organisation ausgerichtet werden können. Dass sich dies auch in den jeweiligen Online-Meldungen der Parlamentsfraktionen niederschlägt, obwohl diese Zeichen der Mediatisierung und der thematischen Kampagnenzentrierung tragen (s. o.), spricht für die größeren Freiheitsgrade in der computervermittelten politischen Kommunikation, wie sie theoretisch von der Innovationsthese angenommen werden (siehe Abschnitt 1). Auf der Akteursebene der untersuchten Internetauftritte ist somit keine Tendenz zu einer inhaltlichen Normalisierung festzustellen. 4.2.3 Negative Campaigning: Ausmaß, Angriffsziele, Urheber und Inhalte Für die Argumentebene des E-Campaigning muss hingegen eine weitere Annäherung an den Offline-Wahlkampf postuliert werden. Im Mittelpunkt steht hierbei das Angriffsverhalten der politischen Akteure, das sich in den untersuchten Homepage-Meldungen an vier Teilindikatoren bemisst: dem Verhältnis zwischen positiven und negativen Stellungnahmen (Ausmaß des Negative Campaigning), den Adressaten und Quellen dieser Äußerungen (Angriffsziele und Urheber: Parteien vs. Kandidaten) sowie an den angesprochenen Bewertungs- bzw. Image-Dimensionen (Angriffsinhalte: Kompetenz, Führungsstärke, Integrität, Empathie, Charisma). Die Analyse der Argumentebene basiert auf insgesamt 1.067 Beitragsaussagen, die in der Bundestagwahl 2009 codiert wurden (Mittelwert: 2,9 Aussagen pro Beitrag). Diese Zahl liegt leicht unter dem Referenzwert für die Bundestagswahl 2005 (N=1.289; Mittelwert: 2,9). Der Großteil der Stellungnahmen ging hier auf die FDP zurück (N=259; 24,3%), die auch die meisten Online-Meldungen in der heißen Wahlkampfphase publizierte. Für alle Teilindikatoren des Negative Campaigning können dabei im Zeitvergleich deutliche Normalisierungstendenzen nachgewiesen werden: Ausmaß: Wie in den vorangegangenen Jahren überwog auch 2009 der Anteil derjenigen Aussagen, die die Konkurrenten explizit in politischer oder persönlicher Hinsicht diskreditierten (N=544; 51%). Die Häufigkeit der Attacken nahm allerdings in den vier Wochen vor dem Wahltermin sukzessive ab (von 52,3% in der 1. Woche auf 45% in der 4. Woche). Allein bei der SPD war mit zunehmender Kampagnendauer eine Steigerung der Angriffsintensität festzustellen, die vermutlich in Parallelität zu den sinkenden Umfragewerten für die Sozialdemokraten zu sehen ist (von 1,9 Angrif-
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fen pro Beitrag in der 1. Woche auf 3,6 in der 4. Woche). Insgesamt dominiert im deutschen Internetwahlkampf jedoch weiterhin das Negative Campaigning vor der positiven Selbstdarstellung (vgl. ebenso Schweitzer, 2010a), auch wenn sich der Umfang der gegnerischen Angriffe im Vergleich zur Bundestagswahl 2005 (56,6%) leicht verringert hat (vgl. auch Abbildung 4). Diese Entwicklung ist vor allem der Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD im Wahljahr 2009 geschuldet. Die gemeinsam getragene Regierungsverantwortung erschwert hier die wechselseitige Kritik am politischen Kontrahenten, wie sie in den Vorjahren zu beobachten war. Dies wird im Partei- und Zeitvergleich besonders deutlich (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2: Negative Campaigning im Parteivergleich 2002-2009 (in %)
Partei CDU CSU SPD
2002 67,8
FDP Grüne Linke
57,5 52,7
30,1
2005 45,5 52,3 65,1
2009 40,0 28,2 52,7
Tendenz seit 2005 -
55,1 59,5 58,1
61,8 59,6 63,2
+ + +
Mit dem Eintritt in die Große Koalition im Jahr 2005 sinkt der Anteil der Angriffe von CDU, CSU und SPD erheblich ab, während die Parteien der Opposition (FDP, Grüne und Linke) die Intensität ihrer Attacken kontinuierlich steigern. Damit entsteht im Wahljahr 2009 wieder eine klassische Disparität zwischen Amtsinhabern und Herausforderern in der Häufigkeit des Negative Campaigning, die auch für andere Wahlebenen im deutschen Online-Wahlkampf gilt (vgl. Schweitzer, 2010a). Nur 2005 wurde dieses Muster kurzfristig durch die besondere Konstellation einer vorgezogenen Neuwahl durchbrochen, als CDU/CSU und SPD eine Kampagne mit vertauschten Rollen führten und mehr Attacken auf der Seite der rot-grünen Regierungskoalition ermittelt wurden als im bürgerlichen Oppositionslager (vgl. Schweitzer, 2006, S. 207). Im Jahr 2009 hat sich dieses Verhältnis jedoch wieder normalisiert. Dem entspricht ferner, dass der Anteil des Negative Campaigning bei der SPD über den jeweiligen Vergleichswerten für CDU und CSU liegt. Im Bundestagswahlkampf suchten die Sozialdemokra-
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ten nicht nur die Große Koalition zu beenden, sondern auch Angela Merkel im Kanzleramt abzulösen. Damit nahm die SPD faktisch eine Herausfordererposition ein, die sich in einer höheren Angriffsrate im Rahmen ihrer Website-Meldungen niederschlug (siehe oben). Das persönliche Bemühen um einen Kanzlerwechsel hatte hier allerdings keine Verschiebungen in den bisherigen Angriffszielen zur Folge. Angriffsziele: Die Mehrzahl der Attacken richtete sich weiterhin kaum auf einzelne Kandidaten (N=80; 14,7%), sondern hauptsächlich auf andere Parteien als soziale Kollektive (N=464; 85,3%), insbesondere auf CDU/CSU und SPD (jeweils 35,1% aller Angriffe; 41,2% aller parteibezogenen Angriffe). Diese Organisationszentrierung im deutschen Negative Campaigning entspricht einerseits der politischen Kultur des Landes und dient andererseits der strategischen Vermeidung eines Backlash-Effektes, der bei persönlichen Attacken als besonders wahrscheinlich gilt. Die Konfrontationslinien verlaufen daher in Deutschland entlang der ideologischen Lager (vgl. Schweitzer, 2010a). Allein die Linke bildete hier eine Ausnahme, indem sie nicht die ihr entgegenstehenden bürgerlichen Parteien attackierte, sondern überwiegend Angehörige der SPD angriff (N=46; 22,9% aller Attacken der Linken; 43,4% aller parteigebundenen Attacken der Linken). Dieses Sonderverhalten zur persönlichen Abgrenzung und Profilbildung war im linken politischen Spektrum bereits auf anderen Wahlebenen im deutschen E-Campaigning sichtbar (vgl. Schweitzer, 2010a). Auch für andere Befunde gilt dabei das Prinzip der empirischen Kontinuität. Urheber: Im Wahljahr 2009 zeigte sich mit dem Sponsorship-Effekt erneut ein klassisches Kommunikationsmuster der Offline-Kampagne, das sowohl in den USA als auch in Deutschland Eingang in den Internetwahlkampf gefunden hat (vgl. für andere Wahlebenen: Schweitzer, 2010a). Attacken auf den politischen Konkurrenten werden nicht von den Spitzenkandidaten selbst (N=91; 16,7%), sondern von Parteimitgliedern der zweiten oder dritten Reihe (N=445; 81,8%) bzw. von anderweitigen Quellen (N=8; 1,5%) geäußert. Auf diese Weise soll das Ansehen des eigenen Führungspersonals gewahrt und die Reputation des Gegners gleichwohl beschädigt werden (vgl. ebd.). Diese Strategie war für alle Parlamentsparteien in der Bundestagswahl 2009 nachweisbar, wobei die jeweiligen NegativismusAnteile der Kandidaten zwischen 0 (Grüne) und maximal 31,3 Prozent (FDP) schwankten. Darüber hinaus blieben ebenso die Angriffsinhalte im E-Campaigning stabil.
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Inhalte: So richtete sich die Gegnerkritik im Online-Wahlkampf weiterhin auf rollen- bzw. amtsnahe Eigenschaften der Parteien, wie Führungsschwäche (34% aller Angriffe) oder fehlende Kompetenz (25,2%), insbesondere in wirtschaftspolitischen Zusammenhängen (25,5% aller kompetenzbezogenen Attacken). Einzelne Kandidaten wurden demgegenüber eher mit Blick auf ihre Integrität beurteilt (27,5% der kandidatenbezogenen Angriffe), auch wenn hier insgesamt Vorwürfe zur fehlenden Durchsetzungskraft der Bewerber dominierten (40%). Persönlich diskreditierende oder gar beleidigende Äußerungen mit Blick auf das Aussehen, die Sympathie oder Ausstrahlungsstärke einzelner Politiker traten indessen kaum auf (3,8%). Dies konnte in gleicher Weise bereits für vergangene Landtags-, Bundestags- und Europawahlen nachgewiesen werden (vgl. Schweitzer, 2010a). Leichte Variationen in den inhaltlichen Schwerpunkten des Negative Campaigning ergaben sich für die Bundestagswahl 2009 allein bei den zweit- bzw. dritthäufigsten Kritikpunkten unter den Parteien. Hier findet das Issue Ownership-Prinzip ebenso seinen Niederschlag wie die Konstellation einer gemeinsamen Regierung von CDU/CSU und SPD und die fortwährende Debatte um mögliche Koalitionen nach der Wahl: Demnach kritisierten die Grünen andere Organisationen häufiger mit Blick auf ihre ökologische Kompetenz (22,6% aller Grünen-Attacken), während die Linke zumeist die Bürgerferne und soziale Kälte der Konkurrenten bemängelte (13,2%). Hierbei wurde insbesondere der FDP fehlende Empathiefähigkeit als wirtschaftsliberale Kraft vorgeworfen (37,9% aller Attacken auf die FDP). Die Angriffe auf CDU/CSU und SPD konzentrierten sich demgegenüber stärker auf die wahrgenommene Profillosigkeit und Untätigkeit beider Parteien innerhalb der Großen Koalition (33,2% der Kritik an CDU/CSU und SPD). Angela Merkel war von diesen Attacken zum Teil mit betroffen, indem man ihr öfter als allen anderen Kandidaten persönliche Unentschlossenheit und Inkonsequenz im politischen Handeln unterstellte (41% aller Angriffe auf Angela Merkel). FrankWalter Steinmeier stand hingegen mit Blick auf seine Ehrlichkeit und Verlässlichkeit in der Kritik (41,2% aller Angriffe auf Frank-Walter Steinmeier). Sein Ausschluss eines Linksbündnisses auf der Bundesebene galt vielen Mitbewerbern als unglaubwürdig. Interessanterweise suchten die Parteien in ihrer Selbstdarstellung auch auf jene Vorwürfe einzugehen und sie zum Teil in Vorzüge umzudeuten: CDU, CSU und FDP betonten beispielsweise häufiger als in den Vorjahren ihre Verlässlichkeit als Koalitionspartner (CDU: 20% aller parteibezogenen
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Aussagen; CSU: 16,5%; FDP: 17,4%) und ihr Bemühen um eine bürgernahe Politik (CDU: 18,2%; CSU: 16,5%; FDP: 13%), während die Grünen ihre Reformorientierung (21,7%) und ihre wirtschaftspolitische Kompetenz in Zeiten der Finanzkrise unterstrichen (13%) und die Linke ebenso wie die SPD ihre Durchsetzungskraft (Linke: 22,2%; SPD: 12,7%) und ihr sozialpolitisches Augenmaß (Linke: 36,1%; SPD: 25,4%) propagierte. Sowohl in der Darstellung der eigenen Ziele (69%) als auch bei der Kritik am Kontrahenten (66,1%) dominierten allerdings parteiübergreifend Allgemeinplätze, das heißt Äußerungen ohne konkrete Beispiele, Evidenzen oder Belege, die die jeweiligen Aussagen hätten untermauern können. Ein substantieller politischer Diskurs blieb damit erneut auf den Websites aus. Diese rhetorische Präferenz für unverfängliche Stellungnahmen und Pauschalvorwürfe an den jeweiligen Gegner konnte bislang auch für das Argumentationsverhalten der Parteien in ihren Wahlwerbespots (vgl. Maurer, 2008) sowie für den Verlauf der nationalen Fernsehduelle nachgewiesen werden (vgl. z. B. Maurer, 2007). Damit ergeben sich sowohl für das Ausmaß des Negative Campaigning als auch für seine Angriffsziele, Urheber und Inhalte deutliche Belege zugunsten einer Normalisierung auf der Aussagenebene der Internetauftritte. Gemeinsam mit den bisherigen Ergebnissen zur Themen- und Akteursebene der Homepages sprechen folglich zwei von drei Indikatoren (Metakommunikation, Negative Campaigning) für eine diskursive Angleichung zwischen Online- und Offline-Wahlkämpfen. Dabei werden typische und als erfolgreich erachtete Persuasionsstrategien der politischen Kommunikation (vgl. Abschnitt 1.3) auf das World Wide Web übertragen, um in der Orientierung am gängigen Kampagnenmodell (journalistische) Aufmerksamkeit zu erzeugen, potenzielle Wähler zu bestärken, die individuelle Deutungshoheit in der Selbstdarstellung zu unterstreichen und einen einheitlichen Werbestil zu wahren. Dieser Befund harmoniert mit den Erkenntnissen der Strukturanalyse, die für den funktionalen und relationalen Bereich der Online-Auftritte ebenfalls eine Konvergenz zu den Darstellungs- und Wettbewerbsmustern der traditionellen Wahlkampfführung feststellen konnte. Welche Implikationen sich hieraus für die Evolution und internationale Einordnung des deutschen E-Campaigning ergeben, soll abschließend in einem resümierenden Fazit diskutiert werden.
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Zusammenfassung und Fazit
Wie hat sich der nationale Online-Wahlkampf zwischen den Bundestagswahlen 2002 und 2009 entwickelt? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer quantitativen Inhalts- und Strukturanalyse, die sowohl die Websites der parlamentarischen und nicht-parlamentarischen Parteien als auch die mit ihnen assoziierten Kampagnenplattformen im Längsschnitt untersuchte. Geleitet wurde die Studie durch die so genannte Normalisierungsthese, die in der internationalen Forschungsliteratur zur computervermittelten politischen Kommunikation als zentraler theoretischer Zugang gilt. Sie postuliert eine Angleichung zwischen Online- und Offline-Wahlkämpfen in der formalen Entwicklung und Gestaltung der Internetauftritte (funktionale Dimension), im Wettbewerbsverhältnis zwischen politisch einflussreichen und -armen Akteuren (relationale Dimension) sowie in den diskursiven Kommunikationsstrategien, die dem E-Campaigning auf der Themen-, Aussagen- und Urheberebene zugrunde liegen (inhaltliche Dimension). Basierend auf den weltweiten Erkenntnissen zur Normalisierungsthese wurden sechs Forschungsfragen für die hiesige Auswertung formuliert, die einen Erwartungshorizont für die angenommene Entwicklung des deutschen OnlineWahlkampfes aufspannten und die zugehörige Ergebnisdarstellung strukturierten. Die Befunde der Untersuchung belegen dabei mehrheitlich die vermutete funktionale, relationale und inhaltliche Normalisierung der hiesigen Webkampagnen, die im Zeitverlauf zudem eine punktuelle Verstärkung erfährt. Zwischen 2002 und 2009 lässt sich sowohl bei den Parlaments- als auch bei den Nicht-Parlamentsparteien eine formale Professionalisierung ihrer Internetauftritte feststellen, die für den Gesamtaufbau der Homepage ebenso gilt wie für die Gestaltung einzelner Online-Beiträge auf der Startseite (F 1): Die Websites gewinnen an Informations-, Mobilisations- und Partizipationsmöglichkeiten hinzu und werden auch in der stilistischen Präsentation vielfältiger (u. a. Multimedialität und Navigationsoptionen; Darstellungsrepertoire, Verlinkung und Zusatzmaterialien der Textnachrichten). Die ursprüngliche Top-down-Fokussierung der Webpräsenzen wird hierbei jedoch nicht aufgegeben. Vielmehr dominieren weiterhin statisch-zentrale Homepage-Strukturen, während genuin interaktive Elemente nur zögerlich eingesetzt werden (F 2).
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Zudem bleibt die digitale Kluft zwischen Parlaments- und Nicht-Parlamentsparteien in der Professionalität ihrer Internetauftritte bestehen (F 3) und verschärft sich mit der Implementierung so genannter Web 2.0Applikationen, wie Social Networks, YouTube oder Twitter (F 4). Nichtparlamentarische Organisationen nutzen diese Optionen bislang weitaus seltener als die Parteien des Bundestages, die mit der umfassenden Einbindung jener Innovationen im Wahljahr 2009 und ihrer generell überlegenen Website-Leistung weiterhin eine Vorreiterrolle im deutschen OnlineWahlkampf einnehmen. Eine Sonderstellung kommt allein der Piratenpartei zu, die als einzige außerparlamentarische Gruppierung nicht nur in den verschiedenen Teilbereichen ihrer Internetkampagne zu den führenden Parlamentsparteien aufschließen, sondern diese sogar in der Anwendung partizipativer Elemente (z. B. Blogs, Chats, Wikis etc.) übertreffen konnte. Damit zeigt sich, dass traditionelle Wettbewerbs- und Statusunterschiede zwischen diversen Akteursgruppen durchaus in der computervermittelten politischen Kommunikation egalisiert werden können. Der Großteil der außerparlamentarischen Parteien nimmt diese Möglichkeit bislang jedoch nicht in Anspruch. Vielmehr setzen sich typische Muster und Ungleichgewichte des Offline-Wahlkampfes im Internet fort. Dies gilt ebenso für die inhaltliche Dimension des E-Campaigning (F 5 und F 6): Die Online-Meldungen der Parteien sind zwar von einer geringfügigen und weiterhin nachlassenden Fokussierung auf die Spitzenkandidaten gekennzeichnet, die in deutlichem Kontrast steht zu den Personalisierungstendenzen in anderen Kampagnenkanälen. Auf der Themen- und Aussagenebene der Beiträge spiegeln sich jedoch klassische Kommunikationsstrategien wider: So konzentrieren sich die Partei-Nachrichten mehrheitlich auf den Wahlkampfverlauf an sich, während sachpolitische Erörterungen in den Hintergrund treten (Metakommunikation). Berücksichtigt man hierbei auch die Auseinandersetzung mit den parallel zur Bundestagswahl stattfindenden Landtagswahlkämpfen, so hat sich die thematische Kampagnenzentrierung zwischen 2002 und 2009 zudem kontinuierlich erhöht. Die Meldungen werden darüber hinaus häufiger durch journalistisch initiierte oder medial überformte Anlässe ausgelöst (z. B. Interviews, Umfragen, Wahlkampfveranstaltungen), die eine wachsende Mediatisierung des E-Campaigning erkennen lassen. Dabei rangiert im deutschen Online-Wahlkampf weiterhin der Angriff auf den politischen Kontrahenten (Negative Campaigning) vor der positiven Selbstdarstellung, auch wenn die Zahl der Attacken unter dem
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Eindruck der Großen Koalition leicht gegenüber den Vorjahren gesunken ist. Bei den Angriffszielen, Urhebern und Inhalten der Gegnerkritik bleiben bisherige Kampagnenmuster jedoch bestehen bzw. werden nach der Ausnahmesituation einer vorgezogenen Neuwahl im Jahr 2005 wiederhergestellt. Dies betrifft insbesondere die größere Angriffsneigung auf der Seite der Herausforderer. Insgesamt belegen die Befunde für den nationalen Online-Wahlkampf damit eine anhaltende (F 1-3; F 5-6: Negative Campaigning) bzw. verstärkte Normalisierung (F 4; F 5-6: Metakommunikation), die sich sowohl auf der funktionalen und relationalen als auch auf der inhaltlichen Ebene des ECampaigning nachweisen lässt. Entgegen zahlreicher demokratietheoretischer und technikdeterministischer Erwartungen werden die Internetauftritte deutscher Parteien weiterhin durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, strategischen Kalküle und medialen Inszenierungszwänge moderner OfflineKampagnen überformt. Dies äußert sich derzeit am stärksten in der technischen Ausgestaltung und akteursspezifischen Professionalität der OnlinePräsenzen sowie mit Einschränkungen in ihrer diskursiven Anlage. Die Webaktivitäten hiesiger Parteien stehen in dieser Hinsicht den politischen Netzangeboten in anderen Ländern nicht nach. Abstrahiert man von den Einzelfällen, Ausnahmeerscheinungen und Pauschalisierungen, die die journalistischen Kommentare zum Online-Wahlkampf 2009 prägten, so zeigt sich vielmehr, dass die Evolution des E-Campaigning in der Bundesrepublik jenen allgemeinen Entwicklungstrends und globalen Standardisierungsmustern folgt, die die internationale Forschung bisher für die computervermittelte politische Kommunikation herausarbeiten konnte (vgl. im Überblick Foot, Xenos, Schneider, Kluver, & Jankowski, 2009). Weltweit unterliegen Internetkampagnen demnach einer Angleichungsbewegung an die Praktiken des Offline-Wahlkampfes, so dass die eigentlichen Potenziale der digitalen Bürgeransprache nur selten völlig ausgeschöpft werden. Dies gilt aktuell für das Web 1.0 ebenso wie für die viel beschworene "Polit-Generation 2.0".
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Normalisierung 2.0
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Normalisierung 2.0
243
Tabelle A1: Codierte Website-Elemente (N=78) und funktionale Kategorisierung im Rahmen der Strukturanalyse Anmerkungen: Fettgedruckte Website-Elemente (N=8) sind dem Web 2.0-Bereich zugeordnet. Die Prozentzahlen in Klammern geben die jeweilige Verbreitung in der Bundestagswahl 2009 und 2005 an.
Information (N=22)
Mobilisation (N=15)
Systeminformationen
Externe Mobilisierung von Ressourcen
- Allgemeine Informationen zum politischen System (3,6%; 0%) - Allgemeine Informationen zum Wahlverfahren (25%; 25%)
-
Organisationsinformationen
Externe Mobilisierung von Aktionen
-
- Mitglieder werben/Friendraising (14,3%; 6,3%) - Online-Petitionen/Protestmails (17,9%; 6,3%) - E-Cards (10,7%; 12,5%)
-
zur Parteigeschichte (57,1%; 59,4%) zur Parteistruktur (82,1%; 40,6%) zu Parteipersonen (89,3%; 78,1%) zu Parteitagen (35,7%; 12,5%) zu Nachwuchsgruppen (10,7%; 15,6%) zu Stiftungen/Projekten (39,3%; 21,9%) Infos für Zielgruppen (14,3%; 6,3%) Parteidokumente (92,9%; 78,1%) Aktuelle Partei-Nachrichten (89,3%; 75%) Themenschwerpunkte (82,1%; 62,5%) Pressespiegel (42,9%; 25%) Eventkalender/Termine (64,3%; 59,4%) Impressum (100%; 84,4%) Datenschutz (75%; 28,1%)
Wahlkampfinformationen -
zum Wahlprogramm (100%; 90,6%) zur Wahlkampftour (32,1%; 25%) zu Medienauftritten (17,9%; 15,6%) Kandidaten vor Ort (64,3%; 50%) Sendezeiten der Wahlspots (32,1%; 43,8%) - Wahlkampfstrategie u. -organisation (25%; 21,9%)
Stellenangebote (10,7%; 9,4%) Online-Spenden (82,1%; 53,1%) Online-Mitgliedschaft (89,3%; 81,3%) Online-Wahlkampfhelfer (35,7%; 25%)
Bereitstellung von Kampagnenmaterial - Ansicht/Download: Plakate (57,1%; 46,9%) - Ansicht/Download: Wahlwerbespots (82,1%; 59,4%) - Ansicht/Download: Logos, Banner, Bildschirmschoner, Druckvorlagen (42,9%; 56,3%) - Ansicht/Download: Flyer, Broschüren (82,1%; 78,1%) - E-Shop/Vertriebsservice (35,7%; 31,3%)
Interne Mobilisierung - Intranet (46,4%; 34,4%)
Unterhaltung - Steuerrechner/PolitSimulation/Wissenstest (10,7%; 3,1%) - Unpolitische Computerspiele/Gimmicks (3,6%; 6,3%)
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Eva Johanna Schweitzer Partizipation (N=10)
Präsentation (N=31)
asynchron, one-to-one
Multimedialität
- E-Mail-Adresse/Kontaktformular (100%; 100%) - Feedback-Möglichkeit (bei Artikeln) (21,4%; 3,1%)
- Audiostreams (ohne Spots) (42,9%; 28,1%) - Videostreams (ohne Spots) (57,1%; 21,8%) - Animierte Icons/Banner (35,7%; 37,5%) - Graphiken (100%; 96,9%) - Fotos (96,4%; 87,5%)
asynchron, one-to-many - Online-Umfragen/Web-Ted (10,7%; 9,4%)
Navigation asynchron, many-to-many - Diskussionsforen (35,7%; 37,5%) - Schwarzes Brett/Gästebuch (7,1%; 12,5%) - Wiki (3,6%; 0%) - Weblog (21,4%; 15,6%) - Twitter (42,9%; 0%) - Social Networks (39,3%; 0%)
synchron, many-to-many - Chatroom (3,6%; 3,1%)
-
Aufwärtspfeil (35,7%; 46,9%) Zurückpfeil (28,6%; 43,8%) Fixierte Menüleiste (100%; 90,6%) Homepage-Icon (100%; 81,3%) Suchmaschine (75%; 37,5%) Info-Tour/FAQ/Hilfe (21,4%; 12,5%) Sitemap/Index (39,3%; 18,8%) Download-Option: Artikel (17,9%; 0%) Druck-Option: Artikel (46,4%; 21,9%) E-Mail-Option: Artikel (39,3%; 12,5%) Textversion der Website (3,6%; 15,6%) Englisch-Version (21,4%; 18,8%) Zusätzliche Software (14,3%; 18,8%)
Serviceleistungen -
Newsletter (57,1%; 40,6%) Web-Feeds (57,1%; 18,8%) Social Bookmarking (28,6%; 0%) SMS-Service/Mobildienste (10,7%; 6,3%) Hotline (92,3%; 100%) Pressemitteilungen (60,7%; 59,4%) Presseakkreditierung (14,3%; 12,5%) Textarchiv (60,7%; 59,4%) Bildarchiv (auf der Seite) (32,1%; 15,6%) Externe Bildgalerie (z.B. Flickr, Picasa) (28,6%; 0%) Video-Archiv (auf der Seite) (14,3%; 6,3%) Audio-Archiv (auf der Seite) (10,7%; 6,3%) YouTube-Kanal (71,4%; 0%)
Wie viele Fans hat Angela Merkel? Wahlkampf in Social Network Sites1 Reimar Zeh
Obamas beeindruckender Erfolg bei der Präsidentschaftswahl 2008 wird in der öffentlichen Wahrnehmung mit seinem Onlinewahlkampf in Verbindung gebracht. Vor allem Dienste des Web2.0 wurden für die Mobilisierung genutzt. Dem konnten und wollten sich die deutschen Parteien im Superwahljahr 2009 nicht entziehen. Neben den bereits etablierten Formen des Onlinewahlkampfs über die Parteiwebseite engagierten sich viele Parteien in den Sozialen Webs wie Facebook, MySpace, StudiVZ oder MeinVZ, stellten Videos bei YouTube ein und Fotos bei Flickr, zudem nutzten sie den Kurznachrichtendienst Twitter. Damit reagierten sie auf technische Neuerungen sowie Veränderungen im Kommunikationsverhalten der Bevölkerung. Obwohl die Fernsehnutzung in Deutschland ungebrochen hoch ist, werden zunehmend junge und gut gebildete Bürger durch das Internet gut erreicht. Es ist also nur konsequent, diese neuen Kommunikationskanäle in die Wahlkampfkommunikation zu integrieren. Vieles spricht jedoch dafür, dass die Strategie Obamas nicht einfach auf europäische geschweige denn deutsche Verhältnisse zu kopieren ist. Obama hat durch die Internetdienste vor allem Fundraising betrieben und freiwillige Aktivisten rekrutiert. Beides spielt im deutschen Wahlkampf eine untergeordnete Rolle: Die Parteien finanzieren den Wahlkampf überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen und der Wahlkampfkostenrückerstattung – also aus Steuermitteln. Im Gegensatz zu amerikanischen Parteien und Politiker können sie immer noch auf ihre Mitglieder als Wahlkampfhelfer zurückgreifen. Daher verfolgt dieser Beitrag das Ziel, die Wahlkampfaktivitäten der deutschen Parteien im Web2.0 zu beleuchten. Referenzpunkt ist dabei weniger die US-amerikanische Kampagnenführung sondern vielmehr andere Formen der Wahlkommunikationen. Es wird dargestellt, welche Möglichkei1
Mein Dank gilt insbesondere Martin Sonntagbauer, der freundlicherweise Screenshots aus seiner Diplomarbeit für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt hat (Sonntagbauer, 2010).
246
Reimar Zeh
ten die Sozialen Webs für Parteien im Wahlkampf bieten und wie diese genutzt wurden. Bisher fehlen systematische Untersuchungen zur politischen computervermittelten Kommunikation weitgehend. Daher werden hier in erster Linie Ansatzpunkte für mögliche Forschungsfragen aufgezeigt, es wird eine "Bedienungsanleitung" für Wahlkampfkommunikation in Social Media geliefert.
1
Web 2.0, Social Media, Social Network Sites
Der Begriff Web2.0 erfreut sich großer Beliebtheit, eignet sich aber für die wissenschaftliche Analyse kaum, ist er doch recht unscharf. Ursprünglich bezieht er sich auch eher auf die kommerzielle Erschließung des Internets und weniger auf Phänomene des so genannten user-generated contents. In der englischsprachigen Literatur haben sich zwei Begriffe eingebürgert, die mit dem Alltagsphänomen Web2.0 in enger Verbindung stehen: Social Media und Social Network Sites, kurz SNS. Social Media oder auch Social Software bezeichnet letztlich Dienste oder Applikationen, die computervermittelte Kommunikation ermöglichen, also auch Email oder die sog. Bulletin Boards. Internet und Social Media sind also von jeher eng miteinander verwoben. Social Media oder Software ist in diesem Sinn also nicht neues, sondern eine digitale Technologie, die Menschen (bzw. User) zusätzliche Möglichkeiten bietet miteinander in Beziehung zu treten, miteinander zu kommunizieren. Der Terminus Web2.0 unterstellt, dass dies etwas Neues sei – und in der Tat, das Phänomen beschreibt eigentlich keine neue Technologie im engeren Sinne, sondern vielmehr eine neuartige Verschmelzung von Diensten oder Applikationen: Eigene Texte konnten online gestellt werden, bevor dies als Blogging bezeichnet wurde. Multimediadateien wurden über das Internet veröffentlicht, bevor dies Podcasting hieß. Auch ohne Flickr, Picasa oder YouTube konnten Fotos und Filme Freunden und Bekannten zugänglich gemacht werden. Neu ist die Einfachheit, mit der dies heute möglich ist, große technische Vorkenntnisse sind nicht mehr erforderlich. Die Hürden für den user-generated content sind durch die neuen Dienste herabgesetzt worden – allerdings um den Preis, dass dies in einer bestimmten Struktur erfolgt, die das jeweilige Angebot vorgibt. Social Network Sites ermöglichen ihren Nutzern, ein eigenes Profil zu erstellen und sich mit anderen Nutzer des Angebots als "Freunde" zu ver-
Wie viele Fans hat Angela Merkel?
247
binden (Boyd & Ellison, 2007; Thelwall & Wilkinson, 2010). Diese Verbindung basiert auf beiderseitigem Einverständnis, das heißt, Freundschaftsanfragen müssen in der Regel bestätigt werden. Meist nutzen die Teilnehmer diese Angebote nicht, um neue Kontakte zu knüpfen, sondern um bestehende Offline-Bekanntschaften zu pflegen. Die Bezeichnung "Freund", die von vielen dieser Angebote genutzt wird, ist dabei irreführend, da sich dahinter zum Teil auch nur sehr lose Bekanntschaften verbergen. International bekannt sind vor allem die Angebote Facebook und MySpace.com. Daneben existieren zahlreiche Nischenangebote, die sich geografisch, thematisch oder auch ethnisch spezialisiert haben (vgl. dazu Boyd & Ellison, 2007).
2
Social Webs in Deutschland
Im deutschen Sprachraum sind neben Facebook und MySpace vor allem die Angebote der VZ-Gruppe, wer-kennt-wen.de und lokalisten.de sowie das Business-Netzwerk xing.de zu nennen. Rechnet man die drei VZ-Angebote (SchülerVZ, StudiVZ und MeinVZ)2 zusammen, so sind diese in Deutschland auch heute noch die erfolgreichsten Social Webs, gleichwohl Facebook in den letzten Monaten beachtlich an Nutzern dazu gewonnen hat. Zum Teil erklärt sich der Erfolg von VZ dadurch, dass Facebook erst 2008 eine deutschsprachige Oberfläche eingeführt hat. Aufgrund der Angebotsstruktur und den hohen Nutzerzahlen konzentriert sich dieser Beitrag auf die VZ-Angebote und Facebook. Obwohl Angebote wie YouTube, Flickr oder der Kurznachrichtendienst twitter.com häufig als Web2.0 oder Social Media-Angebote bezeichnet werden, sind sie im engeren Sinn nicht als Social Network Sites zu verstehen. Da sie aber zum Teil mit diesen in Verbindung stehen, finden sie an geeigneter Stelle Erwähnung. Verlässliche Zahlen über die Nutzung der Social Network Sites gibt es nicht. Im Internet kursieren diverse Statistiken hierzu, die bestenfalls eine Tendenz angeben können. Die deutschen Angebote sind zwar bei der IVW ausgewiesen, jedoch fehlen hier vergleichbare Zahlen für internationale Angebote, die nicht auf Servern in Deutschland gehostet werden. Zudem gibt es noch keine einheitliche Währung, mit der die Zahl der Nutzer gemessen wird. Verwendet werden dabei oft zwei unterschiedliche Größen: aktive 2
Nutzer von SchülerVZ sind in der Regel unter 18 Jahre alt, daher gab es dort keine politischen Inhalte, zumindest von Parteien und Politikern.
248
Reimar Zeh
Nutzer und Unique Visitors. Letztere setzt keine Mitgliedschaft bei dem Angebot voraus und kann daher deutlich über der Zahl der aktiven Nutzer liegen (Wiese & Roth, 2010). Eine Studie, die im Auftrag des Branchenverbandes BITKOM im Herbst 2009 durchgeführt wurde, weist für die VZ-Gruppe 14,6 Millionen Nutzer aus, Facebook kommt damals schon auf immerhin 5,6 Millionen Nutzer im Monat (BITKOM, 2009). Ähnliche Zahlen liefert auch das Tool Google Ad Planer. Selbst wenn man hinter diesen Zahlen ein Fragezeichen anbringen muss und in Rechnung stellt, dass viele Nutzer bei mehreren Anbietern angemeldet sind, wird deutlich, dass sich hier ein beachtliches Wählerpotenzial auftut. Laut Ergebnissen der ARD/ZDF-Onlinestudie verbringen die 14bis 19-Jährigen mehr Zeit im Internet als vor dem Fernseher (van Eimeren & Frees, 2009, S. 348). Bereits bei der vergangenen Bundestagswahl nan nten die Erstwähler das Internet fast genau so oft als das wichtigste Medium wie das Fernsehen (Geese, Zubayr, & Gerhard, 2009, S. 638). Vor diesem Hintergrund sind die Aktivitäten der Parteien 2009 zu sehen. 2.1 Informationselemente in Social Network Sites Letztlich gleichen sich die beiden Angebote, StudiVZ/MeinVZ und Facebook, in ihrer Struktur. Kernelement ist das Nutzerprofil, in dem persönliche Informationen, Kontaktdaten, Vorlieben, aber auch Multimediadateien bereitgestellt werden können. Dieses sind dann – je nach Konfiguration der eigenen Privatsphäre – zumindest den "Freunden" zugänglich. Auf ihren Profilen können die Nutzer über ihre aktuelle Befindlichkeit Auskunft geben, Freunde können dies wiederum kommentieren. Organisationen, aber auch Prominente haben die Möglichkeit, Seiten (Facebook) oder Edelprofile (StudiVZ/MeinVZ) einzurichten, die es den Nutzern erlaubt, sich als Fan oder Unterstützer zu erklären, ohne dass dabei die Zustimmung des Initiators der Seite oder des Edelprofils erforderlich ist. Zudem können Nutzer auch thematisch zentrierte Gruppen einrichten, denen andere Nutzer wiederum beitreten können, wenn sie sich mit dem Thema oder Anliegen identifizieren. Alle Aktivitäten der Nutzer, ob es nun neue Freundschaften, Statusaktualisierungen oder neue Gruppenmitgliedschaften sind, werden auf seinem Profil bzw. Pinnwand dokumentiert. Im Unterschied zum StudiVZ/MeinVZ-Angebot werden die Kontakte des Nutzers über einen Newsfeed automatisch über diese Aktivitäten in Kenntnis gesetzt, in dem
Wie viele Fans hat Angela Merkel?
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eine Meldung auf der eigenen Profilseite erscheint. Erklärt sich Nutzer X beispielsweise zum "Fan" von Angela Merkel, so erscheint dies als Meldung auf den Startseiten aller seiner Freunde. Die können dies nun kommentieren oder auch per Klick "gut finden". Für die politische Kommunikation bieten sich in diesen Plattformen prinzipiell drei Ansatzpunkte: Zunächst können Politiker eigene Profile einrichten und dann Freunde sammeln. Diese werden dann beispielsweise über den Newsfeed mit Informationen versorgt. Zweitens können Parteien Seiten oder Edelprofile anlegen, die in ihrer Funktionalität dem Nutzerprofil recht ähnlich sind. Informationen können blogähnlich auf dem Profil gepostet, Fotos und Videos können hochgeladen werden. Die Nutzer können sich zu Fans bzw. Unterstützer dieser Seite erklären und werden so ebenfalls über alle Aktivitäten auf der Seite informiert und können diese selber wieder kommentieren. Die dritte Möglichkeit besteht im dem Anlegen von thematisch fokussierten Gruppen, denen gleichgesinnte Nutzer beitreten können. Über Gruppenaktivitäten werden die Mitglieder wiederum über ihr eigenes Profil informiert. Abbildung 1
Angela Merkel "gut finden" bei MeinVZ
(abgerufen am 29.4.2010)
250
Reimar Zeh
Individuelle Profile und Seiten bzw. Edel-Profile unterscheiden sich in erster Linie durch ihre öffentliche Sichtbarkeit. Seiten sind prinzipiell öffentlich sichtbar, zum Teil ist dafür nicht einmal eine Mitgliedschaft in dem Angebot erforderlich. Sobald sich der Nutzer als Fan erklärt hat, ist er in den Informationsfluss eingebunden. Individuelle Profile lassen sich in Bezug auf ihre Sichtbarkeit über Privatsphäreneinstellungen konfigurieren, aber erst wenn der Profilinhaber eine Freundschaftsanfrage bestätigt, wird der Informationsfluss initiiert. Gruppen können ebenfalls von jedem Nutzer gegründet werden, haben aber stärker forenartigen Charakter. Während also der Informationsfluss bei Profilen und Seiten ausgeht, kommunizieren Gruppenmitglieder untereinander. Sowohl Facebook als auch die StudiVZ/MeinVZ-Angebote ermöglichen über entsprechende Informationsschnittstellen eine leichte Anbindung an andere Dienste. So lassen sich YouTube-Videos oder Flickr-Fotos in die drei genannten Formate einbinden. Statusaktualisierungen können in beiden Netzwerken auch über den Dienst twitter.com erfolgen. Abbildung 2
CDU und SPD bei VZ und Facebook
(abgerufen im September 2009)
Wie viele Fans hat Angela Merkel?
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Zentral für den Informationsaustausch ist die "Pinnwand". Hier können die Inhaber der jeweiligen Seiten über ihre Befindlichkeiten und Gedanken informieren. Besucher des Profils oder der Seite haben die Möglichkeit, diese zu kommentieren. Facebook ist in dieser Hinsicht flexibler als das deutsche Pendant der VZ-Gruppe. Pinnwandeinträge können hier nicht direkt kommentiert werden; reagieren andere Nutzer auf einen Eintrag, so erfolgt das nur über einen neuen Kommentar, wobei der Bezug zur ursprünglichen Einlassung unter Umständen nicht deutlich wird. Ebenso lassen sich keine Multimediainhalte direkt in die Pinnwand einbinden. StudiVZ/MeinVZSeiten und Profile sind generell statistischer aufgebaut als die entsprechenden Angebote bei Facebook (s. Abbildung 2). Da bei Facebook die Pinnwand ganz oben steht, wirkt die Seite wesentlich dynamischer – sofern deren Inhalte regelmäßig aktualisiert werden. In beiden Angeboten lassen sich Multimediadateien einbinden. Die Parteien haben dabei meist Fotos und Videos bei anderen Plattformen wie YouTube oder Flickr verlinkt, obwohl Bilder und Filme auch direkt auf die Seite im Social Network zu laden sind. Die Nutzung solcher von den Parteien erstellten Videos fällt aber eher gering aus, selbst wenn man die Gesamtnutzung auf YouTube in Betracht zieht (Bachl, 2010). Gruppen und Seiten sind von angemeldeten Benutzern leicht anzulegen. Jedoch ist je nach Anbieter ein Unterschied in der Transparenz der Urheberschaft festzustellen. Die VZ-Gruppe überprüft die Urheberschaft der so genannten Edelprofile, die sich Politiker und Parteien dort haben anlegen lassen; so wird die Authentizität quasi vom Anbieter garantiert. Bei Facebook ist es im jedem Nutzer möglich, eine Seite anzulegen, ohne dass die Urheberschaft erkennbar werden muss. So spricht einiges dafür, dass die CDU-Seite (www.facebook.com/cdu) auf Facebook nicht von der Partei selber eingerichtet wurde – wenngleich sie wohl die Duldung der Parteizentrale erfährt. Wie andere Inhalte wurde sie offenbar im Frühjahr 2009 erstellt und bedient sich im Wesentlichen der Corporate Identity der Partei. Postings, die über die Seite veröffentlicht werden, deuten ebenso auf eine inhaltliche Nähe zur Partei hin. Anders als andere Social Network-Auftritte ist diese Seite aber von außen nicht verlinkt, das wiederum bedeutet, dass andere, offizielle Angebote der CDU nicht auf diese Facebook-Seite verlinken. Angela Merkels Facebook-Seite und auch die Seite ihre Unterstützerorganisation teAM Deutschland sind beispielsweise mit dem Webauftritt Merkels (www.angela-merkel.de) verbunden.
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Reimar Zeh
2.2 Social Network Sites im Bundestagswahlkampf 2009 Social Network Sites bieten zunächst einmal ungefilterte Kommunikationskanäle zu potenziellen Wählern und Unterstützern. Kein journalistischer Gatekeeper wählt Themen und Ereignisse für die Verbreitung aus. Anhänger werden nicht nur zu aktuellen Themen im Wahlkampf informiert, sondern auch auf Parteiveranstaltungen und Wahlkampfauftritte von Politikern aufmerksam gemacht. Veranstaltungen wurden zusätzlich in einer Art Kalender angekündigt. Sie bieten den Fans und Unterstützern zudem die Möglichkeit, die Teilnahme an dem jeweiligen Event zu erklären. Parteien und Kandidaten nutzten die Pinnwand jedoch nur recht zaghaft. Oft wurden für Pinnwandeinträge Pressemeldungen verwendet. Die etablierten Parteien und Spitzenkandidaten setzen hier also kaum eigene Inhalte ein. Bis zum Wahltermin schafften es nur Steinmeier und die Grünen, die Marke von 200 Pinnwandeinträgen bei Facebook zu überschreiten. Berücksichtigt man, dass die Piratenpartei erst Anfang September eine Parteiseite auf Facebook einrichtete, war sie die aktivste Partei. Tabelle 1
Pinnwandeinträge von Parteien und Kandidaten bei Facebook Insgesamt teAM Deutschland (CDU) 80 Merkel 122 SPD 161 Steinmeier 208 FDP 83 Westerwelle 101 Die Linke 142 Gysi Lafontaine Die Grünen 226 Trittin 23 Künast 29 Piratenpartei 97 (Sonntagbauer, 2010)
Social Network Sites bieten hier einen zumindest theoretisch leistungsfähigen Rückkanal, der nicht nur den politischen Akteuren ermöglicht, sich
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Meinungsbilder einzuholen, sondern auch in direkten Dialog zu den potenziellen Wählern zu treten. Abbildung verdeutlicht dies an Pinnwandeinträgen auf den Seiten der Piratenpartei und von Renate Künast. Besucher der Seiten können die Pinnwandeinträge kommentieren oder selber Pinnwandeinträge vornehmen. Die Beispiele der Abbildung sind nicht zufällig gewählt, denn es ist schwer, entsprechende Reaktionen der Seiteninhaber tatsächlich auf den Seiten zu finden. Die Kommunikationsmöglichkeiten, die Social Network Sites bieten, wurden im Wahlkampf 2009 nicht ausgeschöpft. Dominierend bleibt auch hier der Weg vom politischen Akteur zum potenziellen Wähler. Abbildung 3: Dialog mit den Wählern
(abgerufen im September 2009)
Bis zum Wahltermin sammelten in den VZ-Netzen vertretene Parteien gut 76.000 Unterstützer, die Mehrheit davon Unterstützer der Piratenpartei. Für Angela Merkel konnte man rund 18.000 Fans bei Facebook zählen, von denen einige auch aus dem Ausland kamen. Gemessen an den Nutzerzahlen der Social Media-Angebote ist diese Resonanz ernüchternd. Auch wenn man bedenkt, dass Postings der Unterstützer und Fans auf den politischen Seiten automatisch unter deren Freunden verbreitet werden, ist die Reichweite dieser Kommunikationsaktivitäten gering. 3
Die Sicht der Nutzer
Die etablierten Parteien in Deutschland konnten im Wahljahr 2009 im Web2.0 kaum punkten. Auf direktem Wege erreichten sie kaum neue Wähler-
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schichten. Offen bleibt, ob dies an den Informationsangeboten der Parteien liegt oder ob dies auch andere Ursachen hat. Denkbar ist, dass die Nutzer politische Kommunikation in Social Networks gar nicht wünschen. Zu dieser Frage greifen wir auf die Ergebnisse einer Onlineumfrage zurück, die im Juni 2009 am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt wurde. Die Befragten stellen die Kernnutzerschaft der Social Network Sites dar. Die Umfrage bildet die soziodemografische Struktur der Studierenden des Fachbereichs gut ab, gleichwohl sind die Befunde darüber hinaus schwer zu verallgemeinern. Die folgende Abbildung fasst die Aussagen zum Web2.0 Wahlkampf aus Sicht der befragten Studierenden zusammen. Die vorgenommene Differenzierung zwischen den Plattformen fördert keine nennenswerten Unterschiede zu Tage. Einzig in Bezug auf die Möglichkeit mit den Politikern in Dialog treten zu können, unterscheiden sich StudiVZ und Facebook, dies spiegelt die oben erwähnte unterschiedliche Funktionalität der Pinnwand wider. Mehrheitlich beurteilen die Studierenden die Kommunikationsangebote kritisch. Sie sind vor allem der Meinung, dass es "nur" um neue Wählerstimmen geht und dass die Auftritte gekünstelt wirken. Nur gut die Hälfte der Befragten kann dem Auftritt der Politik in den Social Network Sites etwas Positives abgewinnen, die andere Hälfte findet sie lächerlich. Das negative Urteil der Befragten drückt vermutlich zweierlei aus: Zum einen spiegelt sich hier die generelle Distanz dieser Altersgruppe zur Politik. Zum anderen sehen sich die Befragten in ihrer virtuellen Privatsphäre durch die Politik gestört. Politik spielt in ihrem Alltag und in ihren Alltagsgesprächen keine große Rolle und soll dies in der digitalen Fortsetzung der alltäglichen Kommunikation auch nicht tun. Die Befunde sollten nicht überinterpretiert werden, da sie kaum verallgemeinerbar sind; jedoch deuten die Ergebnisse daraufhin, dass die Nutzer der Social Networks kein oder nur ein geringes Interesse an dieser Form politischer Kommunikation haben. Die Plattformen erfüllen für sie andere Funktionen, bei der Nutzung von Facebook & Co. steht der Kontakt zu Freunden im Vordergrund und nicht die Nutzung (politischer) Informationsangebote (Ancu & Cozma, 2009; Hall, 2009).
Wie viele Fans hat Angela Merkel?
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Abbildung 4: Web2.0 Wahlkampf aus Nutzersicht Parteien nutzen solche Plattformen nur, um neue Wähler zu gewinnen Es wirkt sehr inszeniert und künstlich Ich finde es gut, wenn Politiker dort sind, wo auch die Wähler sind Ich finde es ein bisschen lächerlich Das zeigt, dass die Politiker auf der Höhe der Zeit sind Indem ich Anhänger werde, kann ich anderen meinen eigenen Standpunkt deutlich machen Parteien und Politiker haben hier nichts zu suchen Man kann so leichter in den Dialog mit der Politik treten So kann man sich schnell ein Bild über sie machen
StudiVZ (n=221) Ich habe mich schon mal gewundert, wenn ein Mitglied aus meinem Netzwerk sich hier zu einer…
0
Facebook (n=111) 20
40
in %
60
80
100
Basis: 277 Befragte des FB-Wirtschaftswissenschaften an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. 235 Befragte waren in SNS aktiv.
4
Fazit
Das Jahr 2009 brachte sicher den Durchbruch für Social Network Sites in Deutschland – gut die Hälfte der deutschen Onliner haben ein SNSAccount. Ob es auch ein Durchbruch für die politische Kommunikation war, darf bezweifelt werden, zumindest wenn man die quantitative Betrachtung wählt. Alle etablierten Parteien richteten noch vor der Europawahl Angebote in den gängigen Plattformen ein, sie legten Seiten und Profile bei Facebook und StudiVZ bzw. MeinVZ an. Sie richteten YouTube-Kanäle ein und luden Fotos bei Flickr hoch – und getwittert wurde auch noch. Junge
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Wähler nutzten das Internet ausgiebig, um sich über die Wahl zu informieren. Dabei landeten sie jedoch selten auf den Social Media-Seiten der etablierten Parteien. Die Informationsnutzung im Internet wird immer noch dominiert von den dort verfügbaren Angeboten der klassischen Medien. Die klassischen Medien wiederum haben den neuen Kampagnenkanal kaum beachtet. Wenn es Ziel der Parteien war, durch ihr Web2.0-Engagement Modernität zu symbolisieren, so ist das nicht gelungen. Auch die direkte Kommunikation mit dem Wähler ist hier nur ansatzweise realisiert worden. Einerseits, weil die Parteien das Potenzial der Social Network Sites nicht ausgenutzt haben, andererseits, weil sich die Nutzer mit den neuen Bewohnern der virtuellen Welt schwer tun. Dennoch tut sich hier ein interessantes Forschungsfeld auf, dass die Daten fast frei Haus liefert. Postings auf den Seiten der Parteien und Politiker lassen sich gut für Inhaltsanalysen erfassen, sie liefern zudem Resonanzdaten über die Kommentierungen der Nutzer gleich mit. Marketing- und Werbeagenturen haben diesen Trend bereits erkannt, sie begleiteten die Onlinewahlkampf mit Monitoring-Angeboten (Albers, 2009, p. S. 36) Derzeit nutzt nur eine Handvoll Wähler die Web2.0-Angebote, es werden sicher mehr; offen bleibt jedoch, ob dies die Qualität zwischen der Kommunikation zwischen Politik und Bürger nachhaltig verändert, oder ob sich hier nur ein weiterer Verbreitungskanal auftut, über den wie 2009 im wesentlichen Pressemeldungen verbreitet werden. Literatur Albers, H. (2009). Onlinewahlkampf 2009 Aus Politik und Zeitgeschichte, (51), 33-38. Ancu, M., & Cozma, R. (2009). MySpace politics: Uses and gratifications of befriending candidates. Journal of Broadcasting & Electronic Media, 53, 567-583. Bachl, M. (2010, Mai). Erfolgsfaktoren politischer YouTube-Videos. Eine explorative Studie zur Resonanz der Nutzer auf den Einsatz von YouTube-Videos durch die Parteien im Bundestagswahlkampf 2009. Vortrag auf der 55. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Ilmenau. BITKOM. (2009). 26 Millionen Aktive bei sozialen Netzwerken. Abgerufen am 28. Oktober 2009 von http://www.bitkom.org/de/presse/62013_61531.aspx Boyd, D. M., & Ellison, N. B. (2007). Social network sites: Definition, history, and scholarship. Journal of Computer-Mediated Communication, 13, 210-230.
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Geese, S., Zubayr, C., & Gerhard, H. (2009). Berichterstattung zur Bundestagswahl 2009 aus Sicht der Zuschauer. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung und der AGF/GfK Fernsehforschung. Media Perspektiven, 637-650. Hall, A. (2009, Mai). College students' motives for using social network sites and their relationships to users' personality traits. Vortrag auf der 59. Jahrestagung der International Communication Association, Chicago, IL. Sonntagbauer, M. (2010). Deutscher Bundestagswahlkampf 2009 im Internet: Einsatz von OnlineApplikationen für die direkte Kommunikation zwischen Parteien und Wählern. Nürnberg: Diplomarbeit, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Thelwall, M., & Wilkinson, D. (2010). Public dialogs in social network sites: What is their purpose? Journal of the American Society for Information Science and Technology, 6, 392-404. van Eimeren, B., & Frees, B. (2009). Der Internetnutzer 2009 – multimedial und total vernetzt? Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2009. Media Perspektiven, 334-348. Wiese, J., & Roth, P. (2010). Nutzerzahlen FAQ. Abgerufen am 9. Mai 2010 von http://facebookmarketing.de/zahlen_fakten/nutzerzahlen-faq
"Unterhaltend, nicht repräsentativ" – die Bundestagswahl 2009 als Politshow auf Pro7 Jörg-Uwe Nieland
"Warum wurde die Demokratie erfunden? Damit jeder mitmachen kann!" (Slomka, 2009, S. 10/11)
Die Appelle, die 62.168.500 Wahlberechtigten bei der letzten Bundestagswahl an die Urnen oder zur Briefwahl zu bringen, haben kaum gefruchtet. Die Wahlbeteiligung sank auf den tiefsten Wert seit Gründung der Bundesrepublik, mit 70,8 Prozent lag sie nochmals 6,9 Prozentpunkte unter dem Wert von 2005. Wahlenthaltung scheint der neue Trend zu sein, denn mit Ausnahme der Bundestagswahlen haben sich seit der Jahrtausendwende meist mehr Wahlberechtigte enthalten als für die jeweils stärkste Partei entschieden. Da die politischen Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen "als Gradmesser für die zukünftige Entwicklung der Demokratie" (Roller, Brettschneider, & van Deth, 2006a, S. 7) gelten, ist an dem Ergebnis der Bundestagswahl 2009 bemerkenswert, dass von den knapp sechs Millionen Wahlberechtigten unter 25 Jahren nur 3.583.300 Menschen wählen gingen. Nicht nur die Parteien und die politische Bildung, sondern auch die Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit den Gründen dieser Entwicklung. Dabei schenkt die politik- und kommunikationswissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren dem Zusammenhang zwischen Medienangeboten, Mediennutzung und politischen Einstellungen sowie politischem Verhalten von Jugendlichen verstärkte Aufmerksamkeit. Zahlreiche Lehrbücher und Illustrationen versuchen Kindern und Jugendlichen "die Politik" zu erklären (vgl. z. B. Breit & Massing, 2005). Da "wohnt der Kanzler im Swimmingpool" (Schröder-Köpf & Brodersen, 2001) oder "liebt Gummistiefel" (Slomka, 2009), in der Kinderserie "Politbongo" werden Außerirdische für die parlamentarische Demokratie begeistert (Nieland, 2003). Auch die bei den Jüngsten so beliebten Figuren Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg vermitteln eine Vielzahl politischer und
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gesellschaftlicher "Botschaften" (Strohmeier, 2005). Die genannten Beispiele bemühen sich um die Zusammenführung von informativer Unterhaltung und unterhaltender Information. Dörner (2001) hat diese Form der Politikvermittlung als "Politainment" bezeichnet. Kennzeichen der unterhaltenden Politikvermittlung sind Abwechslung, Personalisierung und Emotionalisierung, die dosierte Mischung von Spannung und Entspannung, Stimulation und Vermeidung von Langeweile (vgl. Bosshart, 1991, S. 3; vgl. auch Meyer, 2005; Nieland, 2004). Im Ergebnis verhindern Medien und Medienkonsum nicht den Zugang zu politischen Informationen und damit die Teilnahme am Meinungs- und Willensbildungsprozess, vielmehr können Unterhaltungsangebote die Politikvermittlung für Jugendliche "übernehmen" (vgl. z. B. Dörner, 2000; Göttlich & Nieland, 1997; Holtz-Bacha, 2001 sowie die Beiträge in Schorb & Theunert, 2000). Weil gerade unterhaltende Angebote als Reservoir für die individuelle Orientierung und Sinngebung genutzt werden, befinden sich in den letzten Jahren Politainment-Sendungen auf dem Vormarsch. Sie versorgen die Zuschauer mit Orientierungswissen, Serviceinformationen und vergnüglichen Geschichten (vgl. Eggert & Lauber, 2004; Holtz-Bacha, 2000; Kamps & Nieland, 2004).1 Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der folgende Beitrag exemplarisch mit einem Unterhaltungsangebot, das sich an Jugendliche und junge Erwachsene richtet und während des Bundestagswahlkampfs 2009 ausgestrahlt wurde. Die Sendung TV total Bundestagswahl 2009 wartete am Vorabend der Wahl sowohl mit einer Debatte zwischen Spitzenvertretern der sechs im Bundestag vertretenen Parteien als auch mit einer Wahlumfrage unter den Zuschauern auf. Die qualitative Betrachtung der Sendung steht in Kontinuität der Arbeiten, die die Harald Schmidt Show zur Bundestagswahl 2002 sowie die TV total Bundestagswahl 2005 (Nieland & Lovric, 2004; 2008) analysierten. Es wird die Frage gestellt, wie der vergnügliche Umgang mit der Wahl aussah und ob das Telefonvoting zu einer aussagekräftigen Prognose gelangte. Der Beitrag beschäftigt sich zunächst mit den Befunden der Einstellungs- und Wahlforschung, hebt im zweiten Schritt auf den Zuwachs von unterhaltender Politikvermittlung ab, bevor im dritten Schritt die TV total Bundestagswahl 2009 analysiert wird.
1
Vor diesem Hintergrund sind Politainment-Angebote im Sinne von Karl Rohe (1987) als Bestandteil und Motor der politischen Kultur anzusehen.
260 1
Jörg-Uwe Nieland Politikferne Jugendliche? Befunde zu Einstellungen und dem Wahlverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Die politikwissenschaftliche Jugendforschung hat zur politischen Einstellung von Jugendlichen in den letzten Jahren zahlreiche – zum Teil widersprüchliche – Befunde vorgelegt (vgl. z. B. Burdewick, 2003; Gille, SardeiBiermann, Gaiser, & de Rijke, 2006; Roller, Brettschneider, & van Deth, 2006b).2 Herauszuheben sind dabei einerseits die Shell-Jugendstudie, die den Jugendlichen ein weiter rückläufiges Interesse an der Politik attestiert (Deutsche Shell, 2003, S. 21), und andererseits DJI-Jugend-Surveys, die das Verhältnis von Jugend und Politik als "voll normal" bezeichnen (vgl. Gille & Krüger, 2002; Gille, Sardei-Biermann, Gaiser, & de Rijke, 2006). Die ShellJugendstudie diagnostiziert bei den Jugendlichen den Rückgang postmaterialistischer Werte bei gleichzeitiger Zunahme pragmatischer Haltungen (Deutsche Shell, 2003, S. 18f.). Angesichts einer hohen Akzeptanz der Demokratie sollte zwar weniger von einer generellen Politikverdrossenheit3 als vielmehr einer Parteienverdrossenheit gesprochen werden (S. 24). Insgesamt stützen die Shell-Studien die These vom langfristigen Rückgang sozialen Engagements und vor allem der zunehmenden Parteienabstinenz bei Jugendlichen.4 Im Unterschied dazu ermitteln die DJI-Jugend-Surveys zwischen den Jahren 1992 und 2003 keine massiven Rückgänge beim politischen Interesse und bei der subjektiven politischen Kompetenz (Gille, Sardei-Biermann, Gaiser, & de Rijke, 2006), sondern vielmehr eine andersartige Beteiligungskultur, die sich in veränderten Repertoires gesellschaftlichen Engagements ausdrückt (de Rijke, 2009, S. 221). Gestützt auf die Daten der DJI-Jugend-Surveys sind bei den politischen Einstellungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sechs Tendenzen auszumachen (Roller, Brettschneider, & van Deth, 2006a, S. 9ff.). Erstens können Unterschiede bei fast allen politischen Einstellungen und Verhaltensweisen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen festgestellt werden (wenngleich diese Unterschiede jeweils verschieden stark ausgeprägt sind). Zweitens entwickeln sich 2
Vgl. grundlegend auch Schäfers & Scherr 2005, Kap. VIII.
3
Vgl. zur Diskussion über die These der "Politikverdrossenheit" im Zusammenhang von Medienkonsum und politischen Einstellungen die Studien von Holtz-Bacha, 1990; Wolling, 1998 sowie Maurer, 2003.
4
Vgl. mit einer differenzierten Betrachtung des Verhältnisses von Parteien und jungen Wählern: Niedermayer, 2006.
"Unterhaltend, nicht repräsentativ"
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bei den Jugendlichen und den jungen Erwachsenen die politischen Einstellungen und Verhaltensweisen parallel, was bedeutet, dass beide Gruppen ähnlich auf politische Ereignisse und Entwicklungen reagieren und von sozialen Prozessen wie der Individualisierung betroffen sind. Es existieren drittens "jugendspezifische Entwicklungsmuster" in dem Sinne, dass einige negative Trends bei den Jugendlichen stärker ausgeprägt sind, aber gleichzeitig seit den 1990er Jahren die politische Unterstützung der Demokratie und des Parteiensystems bei den Jugendlichen größer ist als bei den Erwachsenen. Viertens besitzen Jugendliche heute gegenüber jenen, die in den 1970er und 1980er Jahren zu den Jugendlichen zählten, eine höhere politische Kompetenz und sind in größerem Ausmaß materialistisch orientiert. Fünftens fällt im Vergleich die geringere Wahlbeteiligung der Jugendlichen auf. Die sinkende Wahlbeteiligung erklärt sich über Kohorteneffekte. Und schließlich hat sechstens die Ost-West-Differenz auch bei der jüngeren Generation Bestand. Entgegen der Entwicklung in den 1960er und 1970er Jahren tritt die heutige Jugend nicht als politische Avantgarde in Erscheinung und engagiert sich weniger in den etablierten Institutionen und Parteien. Vielmehr gleicht sie sich in ihren zentralen politischen Einstellungsbereichen an die Erwachsenen an. Dabei ist die in den 1960er und 1970er Jahren entstandene Kluft zwischen Jung und Alt nahezu verschwunden (vgl. Abold & Juhasz, 2006, S. 78). Die von Abold und Juhasz (2006, S. 95f.) als "Rückkehr der Jugend in den Mainstream" bezeichnete Tendenz lässt sich dabei weniger auf Einstellungsänderungen bei der Jugend als vielmehr auf die kritischere Haltung der Älteren zurückführen. Grundsätzlich gilt, dass für Jugendliche eher flexible, zeitlich begrenzte und im Zusammenhang mit besonderen Anlässen stehende Organisationsformen attraktiv sind bzw. geworden sind. Die inzwischen entstandene Vielfalt und Spezifik der politischen Partizipation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen kann mit Hilfe von drei Faktorenbereichen (nämlich Ressourcen und Kompetenzen, Motivationen und Interessen sowie Netzwerke) erhoben werden. Hinzu treten drei sozio-demographische Merkmale, nämlich "Geschlecht", "Migrationshintergrund" und "Religiosität" (de Rijke, 2009, S. 222). Vor diesem Hintergrund werden die politischen Partizipationsformen von Jugendlichen sehr breit konzipiert. Im Ergebnis gilt sowohl für die konventionelle Partizipation – also die wahl- und parteibezogenen Aktivitäten – als auch für die unkonventionelle Partizipation – gemeint sind hier legale Protestaktivitäten – der höhere Bildungsabschluss als deutlichster
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Einflussfaktor. Insbesondere politisch aktive Freunde spielen für die politische Partizipation eine wichtige Rolle (de Rijke, 2009, S. 226). Schließlich kann im "politischen Konsum" eine Erweiterung des Repertoires der politischen Partizipation gesehen werden. Ähnlich wie bei den politischen Einstellungen räumt die aktuelle Forschung auch mit einigen Mythen zum Wahlverhalten von Jugendlichen auf. Denn inzwischen liegen belastbare Daten dazu vor, dass das Lebensalter das Wahlverhalten allenfalls moderat beeinflusst. Zwar erweist sich innerhalb des Lebenszyklus der Übergang zum Erwachsenenleben als für die Wahlentscheidung vergleichsweise wichtiger Schritt, aber seine Wirkung auf das Wahlergebnis ist von eher bescheidenem Umfang. Die parteipolitische Richtung des Jugendeffekts schwankt wahlspezifisch – dabei schwächt sich der Jugendbonus zugunsten von Bündnis '90/Die Grünen zunehmend ab (vgl. Schoen, 2006, S. 400). Auch korrespondiert die zunehmende Zurückhaltung der Jugendlichen bei Wahlen mit der grundsätzlichen Tendenz, dass die Wahlteilnahme immer weniger als Bürgerpflicht empfunden wird (Eilfort, 2006, S. 60).5 Ob bzw. inwieweit die Teilnahme an Wahlen als Bürgerpflicht angesehen wird – und somit konstituierend für die politische Kultur eines Landes ist – hängt in entscheidendem Maße von der Medienberichterstattung ab (vgl. z. B. Dörner, 2001).6 Deshalb wird im nächsten Abschnitt ein Blick auf die Veränderung der Berichterstattung in der Mediendemokratie geworfen. 2
Auf dem Weg zur Stimmungs- und Showdemokratie?
Die US-amerikanischen Wahlkämpfe sind seit längerem von der so genannten "Horserace-Berichterstattung" geprägt. Die Fragen: Wer liegt vorne?, wer liegt zurück?, wer holt auf? und wer macht das Rennen? bestimmen die Berichterstattung. Der Begriff Horserace-Berichterstattung verdeutlicht, dass die Berichterstattung Politik auf Zahlen verkürzt und der politische 5
Gleichwohl hat die Differenz zwischen den Extremgruppen, den wahlfaulen 21- bis 24-Jährigen nach dem verflogenen Reiz des Neuen und den höchst regen über 60-Jährigen seit den 1970er Jahren zugenommen. Eilfort (2006, S. 62) erklärt dieses Phänomen mit dem "Lebenszyklus-Modell", "nach dem das Wahlverhalten des Einzelnen stark von seiner Stellung im Lebenszyklus abhängt."
6
Vgl. zu diesem Aspekt die Studien zum Zusammenhang von Medienberichterstattung und politischer Orientierung: Holtz-Bacha, 1990; Wolling, 1999.
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Journalismus eher dem Sportjournalismus ähnelt. In der Konsequenz werden komplexe gesellschaftliche Themen, Meinungen und Stimmungen auf das Niveau von Sporttabellen und Ergebnistafeln reduziert (vgl. Hohlfeld, 2003, S. 119). Die Berichterstattung über das Stimmungsbild und die Wahlaussichten der einzelnen Parteien hat inzwischen auch in der Bundesrepublik außerhalb der Wahlkampfphasen Einzug gehalten. Das ZDF (Politbarometer) und die ARD (Deutschlandtrend) sowie n-tv (n-tv forsa) kommentieren kontinuierlich die Meinungslage.7 Während des Wahlkampfes informieren nicht nur diese Sendungen über die politische Stimmung im Lande. Langzeituntersuchungen können zeigen, dass die Zahl der in den Massenmedien veröffentlichten Wahlumfragen seit den achtziger Jahren enorm gestiegen ist (Brettschneider, 2005, S. 22; Gallus, 2002, S. 29f.). Zwar nehmen Umfragen seit jeher für die Planung und Positionierung der Politiker und Parteien einen wichtigen Platz ein, neu an der Entwicklung seit dem Wahlkampfjahr 2002 sind aber das Interesse der Medienmacher und ihre massive Vermarktung. In den Augen vieler Beobachter bewegen wir uns damit in Richtung einer "Stimmungsdemokratie" (Korte, 2005). Problematisch ist diese Entwicklung, wenn Umfragen nicht auf ihre Gültigkeit und Verwertbarkeit hin überprüft werden, sondern lediglich dazu dienen, "Stimmung zu machen". Dieser Gefahr sind insbesondere Wahlumfragen in Unterhaltungssendungen ausgesetzt. Denn auch auf diesem Gebiet setzte seit 2002 eine stärkere Beschäftigung mit Umfragen ein. Um das Publikum anzusprechen, ließ Harald Schmidt in seiner Late-Night-Show 2002 neun Monate lang die Wahlabsicht bei seinem Studiopublikum und seinem Team erheben (vgl. Nieland & Lovric, 2004). Mit der Kommentierung der Umfrageergebnisse in Verbindung mit den jeweiligen politischen Konjunkturen sowie einer Einordnung der Politikangebote der Parteien – unter anderem unter Zuhilfenahme des "Wahl-OMat" konnte der Entertainer das Potenzial eines spielerischen Umgangs mit Umfrageergebnissen für die Zuschauer (und somit auch die Wähler) zeigen. Unterhaltende Politikvermittlung durch Harald Schmidt konnte bereits im 1998er-Wahlkampf beobachtet werden, als beispielsweise Franz Münte7
Vgl. mit einer Analyse der Horserace-Berichterstattung in der Süddeutschen Zeitung und Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den Jahren 1976 und 2005: Faßbinder, 2009. In der Studie konnte ermittelt werden, dass der "Horserace-Anteil" an der Wahlkampfberichterstattung in den Qualitätszeitungen von geringer Quantität, aber hoher Qualität ist.
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fering am Abend des Leipziger Parteitages, auf dem Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidat "gekürt" wurde, in der Show erschien (vgl. Göttlich & Nieland, 1999). In den USA ist diese Entwicklung bereits seit längerem bekannt: (Spitzen-)Politiker sind regelmäßig zu Gast bei Jay Leno oder David Letterman – beispielsweise kündigte Arnold Schwarzenegger seine Kandidatur für den Gouverneursposten in Kalifornien in der Late-Night-Show von Jay Leno an (vgl. Kamps & Nieland, 2004). Im Bundestagswahlkampf 2002 forcierten vor allem die Spitzenkandidaten der kleineren Parteien den Gang in die Unterhaltungsshows, denn ihnen war der Zugang zu den beiden Fernsehduellen versperrt, und so waren sie darauf angewiesen, sich und ihre Positionen an anderer Stelle zu präsentieren (vgl. Nieland & Lovric, 2004). So hielt Stefan Raab im Bundestagswahlkampf 2002 in seiner Sendung TV total eine "Mückenrunde" mit den Vertretern der kleinen Parteien ab. In diesem Zusammenhang bemerkenswert sind die Auftritte von FDPPolitikern. Insbesondere Guido Westerwelle drängte in den letzten Jahren massiv in Unterhaltungssendungen (vgl. Nieland, 2006). Wen erreichte Westerwelle mit dieser Strategie? Die Wahlanalysen zeigten, dass der Erfolg der Liberalen bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 weniger auf der Erschließung neuer Wählerschichten basierte, vielmehr ging die FDP-Zweitstimmenkampagne zu Lasten der Union. Als Gründe für das taktische Wahlverhalten der FDP-Wähler nennen Rattinger und Juhasz (2006, S. 19), dass die Anhänger der CDU/CSU mit ihrem Votum für die FDP erstens der Union einen starken Koalitionspartner zur Mehrheitsbildung an die Seite stellen und zweitens einen noch entschiedeneren Reformkurs der erhofften schwarz-gelben Bundesregierung forcieren wollten. Letztendlich können Zahlen aber nicht die Motive preisgeben, die zur Wahlentscheidung beigetragen haben. Sowohl der Bildungsstand, also auch das familiäre/freundschaftliche Umfeld, sowie das eigene Interesse an politischen Themen und der Umgang mit politischen Angeboten in der Schule/Ausbildung spielen für die Parteipräferenz eine erhebliche Rolle. Gerade in Wahlkampfzeiten prägen Medien das Bild von Jugendlichen. Das Fernsehen dient als das (Leit-)Medium und als zugängliche Informationsquelle. Anhand von ausgewählten Beispielen soll im nächsten Schritt aufgezeigt werden, wie über ein unterhaltendes Medienformat auch politische Inhalte transportiert werden (können). Wie bereits erwähnt, tendieren gerade Spitzenpolitiker kleinerer Parteien dazu, einen medialen Wahlkampf zu führen. Dies wird gut sichtbar an zahlreichen Auftritten von Guido Westerwelle in Unterhaltungssendun-
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gen. Zwei Tage nach dem vieldiskutierten Big Brother-Auftritt (am 14. Oktober 2000) besuchte Guido Westerwelle die Sendung TV total auf Pro7.8 Von seiner Strategie, die Unterhaltungsformate zu besuchen, zehrte Westerwelle gleichwohl nur kurze Zeit – konkret 2000 und Anfang 2001. Danach traten die Inszenierungsschwierigkeiten offen zu Tage. Trotz des Gangs in die Unterhaltungssendungen, der "Guidomobil-Fahrten" über die Campingplätze während des Wahlkampfes 2002 und der gewährten Homestories verfügt Guido Westerwelle über eine "perfekt verborgene Persönlichkeit" (Lütjen & Walter, 2002, S. 402). Westerwelle lässt den Totalausverkauf seiner Persönlichkeit nicht zu, vielmehr ist "ein gewaltiger Stilisierungsdruck" spürbar, eine "ungeheure Wachsamkeit, die ihn davor bewahrt, ein wirklich intimes Verhältnis zu ihm und seinen Zuschauern, jedenfalls an den Bildschirmen, auszubauen" (Lütjen & Walter, 2002, S. 402).9 Westerwelle erzielt Aufmerksamkeit, weckt aber kein Interesse an seiner Person. Dies ist in der "Popgesellschaft" ein Widerspruch, denn hier lebt jede Inszenierung vom Image der Person (Doebeling & Wilander, 2001). Vor diesem Hintergrund werden die Politikerauftritte im der TV total Bundestagswahl 2009 beleuchtet. 3
Die Bundestagswahl 2009 bei Pro7
Die Ausgangssituation für die Bundestagswahl 2009 war besonders. Untypisch und ohne Beispiel war zum einen, dass die Wahl vor dem Hintergrund einer Weltwirtschaftskrise stattfand. Zum anderen wurde der Wahlkampf von den Volksparteien aus der Großen Koalition heraus geführt. Beides veränderte sowohl die Art des Wahlkampfes als auch die Medienberichterstattung darüber. Davon profitierten die "kleineren" Parteien FDP, Grüne und die Linkspartei. Ihnen gelang es, mit einem jeweils klaren Themenprofil Wählerinnen und Wähler für sich zu gewinnen. Deutlich schwerer taten sich 8 Die Sendung vereint Elemente von Oliver Kalkofes Mattscheibe (Anfang der 1990 unverschlüsselt auf Premiere, in den letzten Jahren wurden neue Staffeln auf Pro7 ausgestrahlt) und einer Late Night Show. Von Montag bis Donnerstag beschäftigt sich die Sendung mit aktuellen popkulturellen Elementen. Es werden skurrile und peinliche Momente von Medienauftritten kommentierend präsentiert. Als Gäste werden dann die Protagonisten dieser Ausschnitte sowie Musiker oder Comedians eingeladen. 9
Diese Einschätzung lässt sich auch nach Westerwelles Eintritt in das Amt des Außenministers aufrecht erhalten.
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die Volksparteien, wobei vor allem SPD und CSU zahlreiche Fehler begingen, die Wählerstimmen kosteten (Brettschneider & Bachl, 2009, S. 48).10 Gegenüber früheren Wahlkämpfen lassen sich auch deutliche Unterschiede in der Berichterstattung der Massenmedien feststellen: Das sonst übliche Auf und Ab in der Bewertung der Parteien fehlt, stattdessen war die Berichterstattung durch eine außergewöhnliche Konstanz geprägt (Brettschneider & Bachl, 2009, S. 48). Die Bewertungen der Volksparteien unterschieden sich nicht gravierend voneinander und sie änderten sich auch über die Zeit hinweg kaum. Tatsächlich gelang es auch während des Wahlkampfes keiner Partei, eine gegenüber dem politischen Gegner deutlich positivere Berichterstattung zu generieren (Brettschneider & Bachl, 2009, S. 48).11 Nach dem Urteil zahlreicher Beobachter erlebten wir deshalb 2009 die langweiligste Bundestagswahl aller Zeiten (vgl. stellvertretend Kuzmany, 2009). Vor diesem Hintergrund interessiert, ob die Unterhaltungsshow von Stefan Raab gegen diese Langeweile ankämpfte. 3.1 Die TV total Bundestagswahl 2009 – das Konzept Wie am Vorabend der vorgezogenen Wahlen 2005 lud Stefan Raab auch 2009 Spitzenpolitiker in seine Sendung und führte eine Wahlumfrage unter den Zuschauern durch. Den (Fernseh-)Zuschauern sollte eine Politik- und Wahlshow als Samstagabendunterhaltung präsentiert werden. Die Szenerie erinnerte stark an die Deutschland sucht den Superstar-Sendung, und entsprechend startete Raab mit der fast wörtlichen Übernahme des Gags der Sendung von vor vier Jahren: Er zog dem Vergleich zur Castingshow auf RTL (über die er sich in seiner Sendung TV total oftmals genüsslich auslässt) und meinte, dass er sich fühle "wie im Tigerentenclub".12 Diesmal hätte der Spruch sogar gepasst, denn im Fernsehduell hatte Maybrit Illner die schwarz-gelbe Koalition als "Tigerentenkoalition" bezeichnet – dies war Raab aber offenbar nicht präsent. 10
An dieser Stelle kann nicht der Frage nach der Zukunft der Volksparteien nachgegangen werden, vgl. Lösche, 2009 sowie die Beiträge in Rüttgers, 2009.
11
Gestützt werden diese Befunde von Brettschneider und Bachl durch die Medienbeobachtung des Instituts Medientenor.
12
Vgl. mit einer Betrachtung der Sendung TV total Bundestagswahl 2005 Nieland & Lovric, 2008, S. 287ff.
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Dafür verwies er darauf, dass Pro7 am Wahlabend selbst den Teil 3 der Star Wars-Saga im Programm hatte. Raab versprach zu Beginn, dass seine Sendung spannender werden würde als das Kanzlerduell. Als nächsten Gag erwähnte der Entertainer, dass sich hinter der Bühne Westerwelle und zu Guttenberg um das Haargel streiten würden. Als Ziel der Sendung gab Raab aus, die größte Telefonumfrage in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland abzuliefern. Angesichts dieses Anspruches, scherzte Raab, hätte der Bundeswahlleiter ihm gesagt: "Wenn es gut läuft, können wir uns die Wahl am Sonntag sparen". Die heitere Reaktion des Publikums ergänzte der Entertainer: "War nur ein Scherz! Sie müssen wählen gehen." Auf diese Botschaft folgte gleich die nächste Pointe: "Morgen schließen die Wahllokale um 18 Uhr. Das heißt für Ossis: früh aufstehen." Im Gegensatz zu seinen anderen Gags kam dieser Spruch nicht so gut an; es gab Pfiffe und eine Einblendung des mit dieser Bemerkung unzufriedenen CDU-Fanblocks. Daraufhin schritt Raab zur Vorstellung des "TV total-Wahlstudios". Die Aufgabe, die Zahlen der Telefonumfrage zu präsentieren, wurde Matthias Opdenhövel übertragen. Er ist eine feste Größe in den Shows von Raab, da er insbesondere bei der Samstagabendshow Schlag den Raab! sowie bei den Shows zur Ermittlung des deutschen Vertreters für den Eurovison Song Contest (Gran Prix) in Oslo die Moderation übernahm und in anderen Formaten als Interviewer auftritt. Im kurzen Gespräch betonten Raab und Opdenhövel, wie nah das in der letzten TV total Bundestagswahl-Sendung per Telefonumfrage ermittelte Ergebnis am tatsächlichen Ergebnis gelegen hatte (Raab: "Von der Tendenz sehr nah dran"). Einen Vergleich zu den (weitgehend missglückten Vorhersagen der Meinungsforschungsinstitute) aber lieferten sie nicht. Die Trefferquote lag im Vergleich zu den anderen Meinungsforschungsinstituten tatsächlich nur bezogen auf die Union höher, darüber hinaus bildete die TV total-Wahlumfrage die Zugewinne der kleinen Parteien besser als die Institute ab.13 Hingewiesen wurde vor allem darauf, dass in der Sendung 2005 die Große Koalition vorhergesagt wurde. Damit hat Raab den Anspruch bestimmt: "Das wird heute Abend sehr aussagekräftig". Als Begründung gaben Raab und Opdenhövel an: Nun liegen Vergleichszahlen vor, und es gäbe nun einen Koeffizienten, mit dem das Ergebnis der Telefonumfrage zu einer Prognose errechnet würde. Als Erweiterung zur Sen13
Vgl. mit einer Gegenüberstellung der Prognosen der großen Meinungsforschungsinstitute: Nieland & Lovric, 2008, S. 288.
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dung 2005 war Klaus-Peter Schöppner, der Leiter des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid, als Experte geladen. In seiner Bewertung von Anspruch und Möglichkeiten der Sendung gab er zu bedenken, dass 500x soviele Menschen abstimmen würden als bei den repräsentativen Umfragen der Institute. Auch wenn die Stichprobe nicht ganz vergleichbar sei, so ging auch Schöppner in seinem Eingangsstatement davon aus, dass die TV totalBundestagswahlumfrage "ganz nah dran" sein werde am Wahlergebnis. Tabelle 1: Vergleich TV total- Wahlumfrage und Bundestagswahlergebnis 2005 Wahlergebnis
Wahlbeteiligung CDU/CSU SPD FDP Linkspartei/PDS B90/Die Grünen Andere
TV totalWahlumfrage
Wahlergebnis 2005
Differenz
– 31,6 38,0 13,9 07,4 09,1 –
77,7 35,2 34,2 09,8 08,7 08,1 03,9
– -- 3,6 + 3,8 + 4,1 -- 1,3 + 1,0 –
Eigene Darstellung nach: Nieland & Lovric, 2008, S. 292
3.2 Die politische Debatte in der TV total Bundestagswahl 2009-Sendung Nachdem 2005 die Vertreter von fünf Parteien eingeladen wurden, erschienen dieses Mal sechs Politiker zur Diskussionsrunde. Hatte sich die Redaktion 2005 noch entschieden, die Linkspartei/PDS wieder auszuladen, da ihnen die Politikerin Katja Kipping nicht genügend Prominenz versprach (Nieland & Lovric, 2008)14, gab es nun eine umfangreiche Diskussion, ob
14
Teilnehmer 2005 waren Günther Beckstein (CSU), Christian Wulff (CDU), Franz Müntefering (SPD), Jürgen Trittin (Grüne/B'90) und Guido Westerwelle (FPD).
"Unterhaltend, nicht repräsentativ"
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nicht neben den sechs im Bundestag vertretenen Parteien auch die Piratenpartei an der Diskussion teilnehmen sollte.15 Wiederum wurde, um der Sendung Seriosität zu verleihen, Stefan Raab von N24-Moderator Peter Limbourg unterstützt. Als eingespieltes Team traten die beiden aber auch diesmal nicht auf.16 Mehrmals erwähnte der Nachrichtenjournalist Limbourg, dass es sich bei der TV total Bundestagswahl 2009-Sendung um eine Spaßveranstaltung handele. Vorgestellt wurde Limbourg als Chefredakteur; er habe, so Raab, das Kanzlerduell "zum Feuerwerk moderiert". Auch Limbourg erinnerte an das Fernsehduell; ihn freute, dass heute mehr Politiker als Moderatoren diskutieren würden, und ihm gefiel an der TV total Bundestagswahl 2009-Sendung, dass die Politiker vor Publikum debattierten. Nach dem gleichen Muster wie bei der Sendung 2005 erfolgte der Einzug der Politiker: Gregor Gysi (Die Linke) trat zu "Go west" von den Pet Shop Boys auf. Als es Rufe: "Linke raus" gab, forderte Limbourg "ein wenig demokratische Kultur". Franz Müntefering (SPD) fühlte sich sichtlich unwohl; er reagierte angestrengt und wenig spontan – auch auf die lautstarken Aktionen der SPD-Anhänger im Publikum. Guido Westerwelle17 dagegen nahm immer wieder Blickkontakt mit dem FDP-Fanblock auf. KarlTheodor zu Guttenberg wurde mit ACDC-Musik ("Highway to hell") begrüßt – eine Anspielung darauf, dass er wiederholt erklärt hat, die Musik der australischen Hardrock-Band zu mögen und auch ihre Konzerte zu besuchen. Die Musikauswahl und auch die Reaktionen der Politiker auf die Showelemente wurden nicht erklärt oder kommentiert. Keine Erwähnung fand auch, dass die Politiker in Lagern – also Die Linke, die Grünen und die SPD auf der linken Seite sowie CDU, FDP und CSU auf der rechten Seite – in der Diskussionsrunde Platz nahmen. Vielmehr ließ sich Raab im Modus von TV total zu einer fast beleidigenden Bemerkung gegenüber Gysi hinrei-
15
Vgl. den offenen Brief an Stefan Raab: http://piratig.de/2009/09/03/offener-brief-an-stefan-raab [abgerufen zuletzt am 30.10.2009] oder den twitter-Eintrag: http://twitter.com/piratenpartei/status/ 3457935207 [zuletzt abgerufen am 22.1.2010]
16
So schien die Auszeichnung von Peter Limbourg und Stefan Raab mit dem Goldenen Prometheus in der Kategorie "Coup des Jahres" im Jahr 2005 nur schwer nachvollziehbar; vgl. Nieland & Lovric, 2008, S. 291.
17 Als Westerwelle die Showtreppe herunter ging, wurde das Stück "Sexy Motherfucker" von der TV total-Band angespielt.
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ßen18 und er beschrieb den SPD-Vorsitzenden als jemanden, der "sich in der Vergangenheit intensiv mit der Jugend beschäftigt hat".19 Den Einstieg in die Debatte bildete die Frage von Limbourg: "Hat der Kanzlerkandidat schon aufgegeben?" Müntefering versuchte zu kontern, indem er darauf verwies, dass Frau Merkel auch fehle und außerdem Steinmeier am Abend vor 6.500 Leuten auftrete; angesichts der Reichweite der Pro7-Samstagsabendshow eine wenig gelungene Antwort. Exemplarisch legten die Statements Münteferings das Dilemma des SPD-Wahlkampfs offen: Es war kaum zu erkennen, ob die SPD eine Angriffsstrategie gegenüber der Union und der schwarz-gelben Koalition verfolgte oder einen "Leistungsbilanzwahlkampf" favorisierte. An dieser Stelle ist Brettschneider und Bachl (2009, S. 49) zuzustimmen, dass nämlich Negative Campaigning in Zeiten der Wirtschaftskrise für eine Volkspartei kein probates Mittel darstellt und auch das "plumpe Warnen vor Schwarz-Gelb" unglaubwürdig wirken musste, da die SPD kein alternatives Bündnis bewerben konnte oder wollte. Der Bundestagswahlkampf 2009 offenbarte, dass die Mehrheit der Wähler in Krisenzeiten die Politiker erwarten, die Zuversicht vermitteln, dass Vertrautes und Bewährtes mehr Unterstützer findet als der Ruf nach einem radikalen Wandel20 und schließlich eine die Kooperation der Parteien besser ankommt als die Konfrontation (Brettschneider & Bachl, 2009, S. 51). Während Müntefering die falsche bzw. fehlende Strategie in der Sendung verkörperte, stand der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff für die Erfolgsstrategie von Kanzlerin Merkel. In seinen Augen sei Merkel einzigartig, würde Profil zeigen und "wunderbar sachlich" auftreten (vgl. Kuzmany, 2009; Thieme, 2009).21 Mehr brauchte Wulff nicht zu sagen, so wurde der "Nicht-Wahlkampf" bis wenige Stunden vor Öffnung der Wahllokale getragen. Da drang auch Jürgen Trittin, der Fraktionsvorsitzende der Grünen, nicht durch, der meinte, die Regierungskoalition hätte sich der Opposition entzogen. Auch Trittins Versuch, eine Gemeinsamkeit der Op18
Konkret zu seiner Körpergröße: "Bei Ihnen fällt es eh nicht auf, ob sie sitzen oder stehen".
19
Was eine Anspielung auf seine Beziehung zur 29jährigen Genossin Michelle Schumann war.
20
Es sei denn, die Regierung wird für die Krise verantwortlich gemacht, was aber für die Wirtschaftskrise 2008 und 2009 nicht der Fall war; vgl. Brettschneider & Bachl, 2009, S. 51. 21 Nur einmal verlies Wulff diese Argumentationslinie und seine Zurückhaltung, indem er einwarf "Sozialisten sind bislang gescheitert".
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position herzustellen, scheiterte,22 da der FDP-Vorsitzende Westerwelle demonstrativ staatstragend betonte: "Es geht ums Land". Westerwelle äußerte sich zu den Programmpunkten der FDP – nämlich Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Stärkung des Mittelstandes und Koalitionsaussage zugunsten der Union. Sein klares thematisches Profil und die Betonung von Verlässlichkeit hinterließen auch in der TV total-Sendung einen positiven Eindruck (vgl. Kalle, 2009; Thieme, 2009). Gregor Gysi dagegen sorgte für Zündstoff, nach dem Motto "entweder man mag mich oder man mag mich nicht" verkündete er, er wolle nicht "so ein lauwarmer Typ sein". Irgendwie nahm das Müntefering zu ernst und ging zornig auf Gysi los. Er warf Gysi vor, doppelzüngig zu sein und sich "die Füße an den Arbeitslosen abzutreten". Der Ausbruch Münteferings offenbarte noch einmal, dass es der Linkspartei im Wahlkampf gelungen war, im Themenbereich Soziale Gerechtigkeit die SPD unter Druck zu setzen.23 Diskussionsleiter Limbourg versuchte Gysi mit der Frage nach dem Slogan "Reichtum für alle" zu provozieren. Der Fraktionsvorsitzende fragte zurück: "Wer entscheidet, wer reich sein darf?" und gab zu verstehen, dass "Reichtum nicht immer materiell" gesehen werden darf. Der einzige gehaltvolle Beitrag von Raab bezog sich auf die "Piraten": Er fragte die Diskussionsteilnehmer, ob sie nicht die Entwicklung verschlafen hätten. Verteidigungsminister zu Guttenberg wollte wohl witzig sein, als er meinte "mit Somalia, das sollten die mal lassen". Der Gag kam nicht an und deshalb wirkte das Statement zur CSU-Position "Schutz der Privatsphäre" sehr unglücklich (vgl. Kalle, 2009). Trittin äußerte Verständnis für die Anliegen der Piratenpartei, nutzte aber die Chance darauf zu verweisen, dass der Gründer der Piratenpartei aus Schweden empfiehlt, in Deutschland die Grünen zu wählen. Westerwelle versprach, dass die Bürgerrechte durch die FDP wieder gestärkt würden. Insgesamt war sich die Runde einig, dass die neue Partei an der 5%-Hürde scheitern würde. Müntefering, Wulff, Trittin und Westerwelle hatten schon 2005 die TV total-Wahlsondersendung besucht (vgl. Nieland & Lovric, 2008), sie spulten 22
Weder im Wahlkampf noch in der TV total-Sendung konnten die Grünen mit den Themen Atommüll, Mindestlohn mit Vermögensabgabe, Verantwortung bei der Endlagerung und Schutz des privaten Raums oder dem Schlagwort vom "Green New Deal" die Wähler erreichen; vgl. zur WahlkampfStrategie der Grünen z. B. Brettschneider & Bachl, 2009, S. 51
23
Zudem präsentierte sie sich als einzige Partei eindeutig gegen Bundeswehreinsätze in Afghanistan; vgl. Brettschneider & Bachl, 2009, S. 51.
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ihren Auftritt mit großer Talkshowroutine ab. Insgesamt drehte sich die Debatte um die gängigen Wahlkampfthemen wie Mindestlohn, Steuern und Bildung. Die Wortwechsel waren zum Teil heftig und die Diskussion keineswegs unpolitisch. Aber insbesondere Raab outete sich mit seinen Respektlosigkeiten und Oberflächlichkeiten als jemand, dem es um den Effekt und nicht den politischen Inhalt oder die politische Diskussion geht. Die meisten Argumente gingen im Geschrei des Publikums unter. Besonders skurril waren die Einspieler mit Erstwählern, die weder Erich Honecker noch Angela Merkel erkannten. Es war wie beim Grand Prix oder einer der zahlreichen Castingshows. Schon um zwanzig Minuten vor zehn Uhr war die eigentliche Show, das Vorsingen, vorbei. 3.3 Die Wahlumfrage in der TV total Bundestagswahl 2009-Sendung Die Bundestagswahl wird als Wahl der Überraschungen und Rekorde in Erinnerung bleiben. Wie eingangs erwähnt, ist hier an erster Stelle die niedrige Wahlbeteiligung, die mit 70,8 Prozent nochmals 6,9 Prozentpunkte unter dem bis dahin niedrigsten Wert von 2005 lag, herauszuheben. Das Abschneiden der SPD mit 23,0 Prozent bedeutete den Verlust von etwa einem Drittel ihrer Wählerschaft von 2005. Aber auch die Union musste mit 33,8 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 verkraften. Als Sieger der Wahl müssen zum wiederholten Mal die "kleinen" Parteien, die gar nicht mehr so klein sind, gelten.24 Die sonstigen Parteien legten auf sechs Prozent zu, wobei jeweils zwei Prozent auf die rechten Parteien sowie auf die erstmals angetretene Piratenpartei entfielen.25 Im Zusammenhang mit der Sendungsanalyse TV total Bundestagswahl 2009 interessieren die Vorwahlumfragen. Diese signalisierten spätestens seit Januar 2009 für die Union und die FDP klare Mehrheiten, dennoch wurde es am 27. September für die beiden Parteien enger als erwartet. Im Gegen24
Die FDP mit 14,6 Prozent, die Linke mit 11,9 Prozent und die Grünen mit 10,7 Prozent verbuchten mit zweistelligen Resultaten ihre jeweils größten Erfolge bei einer Bundestagswahl.
25
In fast drei Viertel aller 299 Wahlkreise in Deutschland erzielte die Union (218 Direktmandate) den höchsten Erststimmenanteil, die SPD (64 Direktmandate) verlor dagegen mehr als die Hälfte ihrer Wahlkreise von 2005. 16 Direktmandate und damit 13 mehr als vor vier Jahren gingen an die Linke, eines, wie 2005, an die Grünen; vgl. Jung, Schroth, & Wolf, 2009, S. 15.
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satz zu 2005 gab es nur vergleichsweise geringe Abweichungen zwischen den letzten veröffentlichten Umfragen vor der Wahl und dem tatsächlichen Ergebnis. Weil die Prognosefähigkeit der Vorwahlumfragen in den letzten Jahren abgenommen hat und intensiv diskutiert wurde (vgl. Gallus, 2005; Jung, 2009), kann die Nähe der Umfragen zum Endergebnis 2009 im Gegensatz zu 2005 als ein Indiz dafür gelesen werden, dass der Wahlkampf in den letzten Wochen und Tagen nicht mehr viel bewegt hatte (Jung, 2009, S. 24). Tabelle 2 bildet die jeweils letzte Veröffentlichung der Vorwahlbefragung der großen Institute ab. Tabelle 2: Prognosen
Veröffentlichung CDU/CSU SPD FDP Die Linke B'90/Die Grünen Sonstige
FG Wahlen
GMS
Infratest / Dimap
Allensbach
Emnid
Forsa
22.9.09
17.9.09
23.9.09
18.9.09
18.9.09
17.9.09
35,0 24,0 13,5 11,5
35,0 25,0 13,0 12,0
36,0 26,0 13,0 10,0
36,0 25,0 13,0 11,0
36,0 25,0 13,0 11,0
35,0 26,0 14 11,0
11,0
11,0
11,0
10,0
11,0
10,0
5,0
4,0
5,0
5,0
4,0
4,0
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten von: http://sites.google.com/site/ wasgeheich2009waehlen/home/prognose-institute/prognosen-btw-09 [zuletzt abgerufen 15.1.2010]
Für die Wahlentscheidung eine entscheidende und im sich verändernden Parteiensystem noch an Bedeutung gewinnende Größe ist Koalitionspriorität. Gegenüber der Bundestagswahl 2005 hatte sich die Bevölkerungsmeinung verändert. Die vor vier Jahren von 36 Prozent der Befragten favorisierte Große Koalition wollten vor der Wahl 2009 nur mehr 14 Prozent. Klarer Favorit war mit 38 Prozent nun eine schwarz-gelbe Koalition, die vor vier Jahren mit 29 Prozent noch zweite Präferenz war (Jung, 2009, S. 25). Vor dem Hintergrund der im Vergleich zu den Meinungsforschungsinstituten guten Prognose bei der TV total-Wahlsondersendung 2005 wollte
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sich Raab mit dem Telefonvoting in der TV total Bundestagswahl 2009Sendung ein aussagekräftiges Stimmungsbild am Vorabend der Wahl abgeben. Per Telefon konnte jede Person wählen, ob minderjährig oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft – auch war es möglich, seine Stimme mehrmals abzugeben. Die Ergebnisse wurden von Matthias Opdenhövel nach Bundesländern präsentiert. Die Informationen, die Opdenhövel gab, blieben jedoch an der Oberfläche. Neben den Gewinn- und Verlustrechnungen gegenüber dem Telefonvoting aus der Sendung 2005 wurden Allgemeinplätze wie: "Niedersachsen, das ist die Heimat von Gasprom-Gerhard", "Niedersachsen, das ist die Heimat von Kanzlerkandidat Steinmeier" verbreitet. Ähnlich dürftig waren auch die Interpretationen der Zahlen. Beispielsweise wurde bei der Hansestadt Bremen – wo die SPD von 41,7 Prozent auf 21,6 Prozent fiel – von Opdenhövel gesagt: "Kein Heimspiel mehr für die SPD". Bezüge zur aktuellen politischen Situation in den einzelnen Ländern waren spärlich und gingen in dem Zahlenmeer unter. So wurde gesagt, dass die Koalitionsfrage im Saarland offen sei und es sich um "Oskarland" handele. Immer wieder wurde der Meinungsforscher Schöppner zu den Zahlen des Telefonvotings gefragt. Er versuchte die Pro7-Zahlen mit den Trends der Meinungsforschung zu vergleichen. Als Gemeinsamkeit gab er an, dass "die Großen klein werden und die Kleinen groß werden". Schöppner führte dies darauf zurück, dass die Kleinen einen Markenkern hätten und gerade die SPD mit einem Mobilisierungsproblem zu kämpfen hätte (nur 55 Prozent der SPD-Wähler von der Bundestagswahl 2005 wären entschlossen zur Bundestagswahl 2009 zu gehen). Die Umfrageergebnisse der einzelnen Bundesländer wiesen eine Reihe von extremen Ausreißern auf. In Mecklenburg-Vorpommern erreichte die Linke über 46 Prozent, in Sachsen-Anhalt über 50 Prozent. Laut Schöppner sei die Zustimmung zur Partei Die Linke darauf zurückzuführen, dass sie "den Nerv der Zeit treffen" – weder der Meinungsforscher noch der Journalist Limbourg kamen bei der Interpretation des Telefonvotings auf die Idee, dass die Performance von Gregor Gysi für dieses Abstimmungsverhalten gesorgt haben könnte. Dann wurde Rheinland-Pfalz als besonders repräsentativ vorgestellt; die Ergebnisse der Umfrage: 23,8 Prozent für die CDU, 19 Prozent für die SPD, 23,1 Prozent für die FDP, 13 Prozent für die Grünen sowie 21,1 Prozent für die Linke aber waren es keineswegs. Gleich in sieben Bundesländern wurde die Linke stärkste Partei, die Liberalen waren in Hamburg, Sachsen und Baden-Württemberg Spitze.
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Auch wenn das Wahlergebnis nicht diese extremen Ausschläge auswies, so lassen sich in einigen Bundesländern ähnliche Trends aufspüren. Die SPD musste in West- und Ostdeutschland zweistellige Verluste hinnehmen. Die kleinen Parteien konnten hingegen in allen Regionen zulegen. Die CDU konnte in den ostdeutschen Bundesländern entgegen dem Trend prozentual Zugewinne verzeichnen, während die Union im Süden erhebliche Anteile einbüßte. Im Osten fiel die SPD sogar nach überdurchschnittlich hohen Verlusten auf knapp 18 Prozent auf Platz drei hinter die Linken zurück, die mit 28,5 Prozent im Osten nur noch knapp hinter der CDU (29,8 Prozent) lagen. Die Stärke der FDP und der Grünen war vor allem auf überdurchschnittliche Ergebnisse im Westen zurückzuführen. Während sich der Trend zu kleinen und mehr Parteien sowie zunehmende Wahlenthaltung und Apathie der Wähler bei dieser Bundestagswahl damit erklären lassen, dass die Profile zwischen Union und SPD in vier Jahren Großer Koalition zunehmend unscharf geworden waren und beide Parteien als immer ähnlicher und austauschbarer wahrgenommen wurden (vgl. Brettschneider & Bachl, 2009; Jung, Schroth, & Wolf, 2009), muss bei der Telefonumfrage von Stefan Raab auch das Auftreten der Politiker in der Sendung und die Mobilisierungsfähigkeit der Parteien bei den Zuschauern beachtet werden. Im Gegensatz zu 2005 beteiligten sich die Anhänger der SPD und der Grünen nicht so zahlreich, während die FDP und vor allem die Linke mobilisieren konnten. Als sich diese Entwicklung Bundesland für Bundesland bestätigte, wurde dem Journalisten Limbourg zunehmend unwohl: "Das kann nicht repräsentativ sein, was wir hier machen". Er meinte wohl: Das darf nicht repräsentativ sein (vgl. Kuzmany, 2009). Tatsächlich drehte sich angesichts der Umfragewerte der Anspruch der Sendung. Wurde anfangs noch verkündigt, TV total Bundestagswahl 2009 würde "auch" Politik machen, war es jetzt "nur" Unterhaltung. Und als Raab anmerkte, auch vor vier Jahren hätten viele die TV total-Prognose nicht ernst genommen, aber am nächsten Tag habe niemand mehr gelacht, flehte Limbourg: "Aber wir wollen am nächsten Tag auch noch lachen, das muss man, glaube ich, dazu sagen." (Zit. n. Kuzmany, 2009) Da half es auch wenig, dass dem Telefonvotingergebnis für die TV total-Prognose der aus der Differenz von TV total-Umfrage 2005 und Wahlergebnis 2005 errechnete Koeffizient berücksichtigt wurde. Im Gegenteil: Der Erdrutschverlust der SPD fiel in der Prognose, wo die Sozialdemokraten lediglich auf 16,6 Prozent kamen, noch
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einmal deutlicher ins Gewicht. Die Linke und die FDP waren die Gewinner der Wahl bei Pro7. Tabelle 3: Vergleich der Wahlumfrage bei TV total mit dem Wahlergebnis 2009 Wahlergebnis
TV Total Umfrage
TV total Prognose
Wahlergebnis 2009
Wahlbeteiligung CDU/CSU SPD FDP Die Linke Grünen/B90 Sonstige
26,6 17,7 19,9 20,5 15,4 -
31,5 16,6 14,5 16,8 14,4 -
70,8 33,8 23,0 14,6 11,9 10,7 06,0
Differenz TV total – Wahlergebnis -- 2,3 -- 6,4 -- 0,1 + 6,9 + 3,7 -
Weil die Zuschauer die Linke so stark und Union und SPD so schwach sahen, reichte es am Samstagabend weder für Schwarz-Gelb noch für eine Große Koalition. Damit hatte niemand gerechnet. Limbourg wirkte verzweifelt, Raab amüsiert. Nach dem Wahlmarathon war inzwischen aber auch die Spannung der Sendung verflogen. Da die Sitzverteilungsgrafik nicht funktionierte, konnten die einzelnen Koalitionsmöglichkeiten nicht durchgespielt werden. TV total Bundestagswahl 2009 zeigte noch deutlicher als die Wahlsendung vier Jahre zuvor, dass die Bekanntgabe von Zahlen – quasi als "nackte" Horserace-Berichterstattung – ohne jegliche Kontextualisierung äußerst geringen Informations- und auch Unterhaltungswert hat. Es gab keine Rückkopplung zu den Statements der Politiker in der Sendung oder im Wahlkampf, auch die Perspektiven auf mögliche Koalitionen wurden kaum thematisiert. Festzuhalten ist, dass – wie bereits 2005 – eine Chance vergeben wurde, die Dimensionen politischen Handelns (also der Wahlbeteiligung) unterhaltend zu vermitteln.
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Ausblick: Politainment in der Spaßfalle
Die Betrachtung der historisch niedrigen Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2009 zeigt bemerkenswerte Unterschiede zwischen den "neuen" und "alten" Bundesländern. Die Wahlbeteiligung war im Westen mit 72,2 Prozent leicht überdurchschnittlich. Im Osten lag sie bei nur 64,7 Prozent. Auch gingen prozentuale Zugewinne für die Parteien im Osten nicht automatisch mit Zugewinnen an absoluten Stimmen einher. Da die SPD nur in ihren Kernregionen (Ruhrgebiet, Nordhessen/Südost-Niedersachsen) relative Zweitstimmenmehrheiten halten konnte, fielen insbesondere in Brandenburg, dem südlichen Sachsen-Anhalt und Südthüringen Wahlkreise von der SPD an die Linke. Diese Entwicklung gilt auch für die Erststimmen. Bei den Erststimmen wurden zudem kaum noch absolute Mehrheiten erzielt, und auch bei den Zweitstimmen sind die Unionsmehrheiten vor allem im Süden geschrumpft. Die Verluste von SPD und Union sind vor allem dem Umstand geschuldet, dass sie aus der Großen Koalition heraus Wahlkampf führten. Die kommenden Landtags- und Bundestagswahlen werden unter anderen, "gewohnten bzw. gewöhnlichen" Vorzeichen stattfinden. Die Parteien werden sich angesichts der niedrigen Wahlbeteiligung 2009 mit neuen bzw. anderen Mobilisierungsstrategien an die zunehmend größer werdende Zahl der parteipolitisch ungebundenen Wählerinnen und Wähler wenden und die Anhänger des gegnerischen Lagers zu demobilisieren. Der Treibstoff dafür sind die Themen. Und Themen werden in erster Linie über die Medienberichterstattung vermittelt. Durch die Häufigkeit, die Platzierung und die Aufmachung der Berichterstattung bestimmen die Massenmedien mit, welche Themen von den Menschen als wichtig und lösungsbedürftig angesehen werden und welche nicht (Brettschneider & Bachl, 2009, S. 53). Parteien und Medienmacher haben neben den politischen Themen und der Wahlbeteiligung auch auf die Bedeutung des "politischen Interesses" zu achten. Hier liegt der Grundstein für politisches Engagement, welches das Lebenselixier für die Demokratie darstellt. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, was von der knapp drei Stunden Liveshow von Pro7 bleibt? Die TV total Bundestagswahl 2009-Sendung wollte eine "Politikschlacht" präsentieren und sollte eine Werbung für das Wählen selbst sein. Gezeigt wurden aber "viel Klamauk, scharfe Wortsalven und viele Publikumsreaktionen am Vorabend der Wahl" (Gäbler, 2009). Mit dem grölenden Publikum
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kam der Journalist Limbourg – der sich ja zu Beginn der Sendung auf Publikumsreaktionen gefreut hatte – weniger gut zurecht als die Politiker. Das mehrmalige "Erstwähler-Bashing" wiederum störte die Politiker. Zu Recht. Denn es führt jene vor, die wenig (oder gar nichts) von Politik wissen und sich eigentlich auch kaum für Politik interessieren. Genau diese Gruppe aber kann unterhaltende Politikvermittlung erreichen und zur Meinungs- und Willensbildung anregen. Raabs Fragen an die Spitzenpolitiker sollten direkte Lacher erzeugen, politische Inhalte wurden nicht diskutiert und die Politikerimages verkürzt zur Schau gestellt. Die TV total Bundestagswahl 2009 verfing sich in der Spaßfalle. Und als die Umfrageergebnisse und die sich daraus ergebenden (Koalitions-) Optionen nicht interpretiert wurden, drohte sogar Langeweile. Gedacht als Abschluss eines der langweiligsten Bundestagswahlkämpfe in der Geschichte der Republik, hat die unterhaltende Politikvermittlung ihre Potenziale verspielt. Denn nicht Unterhaltung ist das Gegenteil von Überzeugen (Geißler, 2003), sondern Langeweile. Eingedenk der oben referierten Zusammenhänge zwischen politischem Interesse und Wahlbeteiligung hätte das Ziel lauten müssen: "Alle sollen mitmachen". Verdient haben Pro7 und die Telekommunikationsanbieter – verloren haben die Zuschauer. Literatur Abold, R., & Juhász, Z. (2006). Rückkehr in den Mainstream? Einstellungswandel der Jugend zu Demokratie und Parteiensystem. In E. Roller, F. Brettschneider & J. W. van Deth (Hrsg.), Jugend und Politik: "Voll normal!" (S. 77-97). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Arzheimer, K. (2006). Jung, dynamisch, Nichtwähler? Der Einfluss von Lebensalter und Kohortenzugehörigkeit auf die Wahlbereitschaft. In E. Roller, F. Brettschneider & J. W. van Deth (Hrsg.), Jugend und Politik: "Voll normal!" (S. 317-335). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bosshart, L. (1991). Infotainment im Spannungsfeld von Information und Unterhaltung. Medienwissenschaft Schweiz, (2), 1-4. Breit, G., & Massing, P. (Hrsg.) (2003). Jugend und Politik. Jugenddebatten, Jugendforschung, Jugendpolitik. Schwalbach/Ts.: Wochenschauverlag. Brettschneider, F. (2002). Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz – Parteien. Ein internationaler Vergleich. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Brettschneider, F. (2005). Bundestagswahlkampf und Medienberichterstattung. Aus Politik und Zeitgeschichte, (51-52), 19-26.
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"Ich beantworte die Fragen so, wie ich mir das vorgenommen habe...". Eine dialoganalytische Untersuchung des FernsehDuells im Wahlkampf 2009 Christoph Tapper & Thorsten Quandt
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Die Fernsehduelle: Eine Geschichte enttäuschter Erwartungen?
Als spannungsloses "Duett" (Kilz, 2009; Lau, 2009) wurde das Fernsehduell zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler und Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Wahlkampf 2009 von Kritikern gegeißelt. Und auch bei den Zuschauern stieß das Streitgespräch der beiden Kandidaten für die Kanzlerschaft auf ein nur verhaltenes Echo: Während die Einschaltquote des Duells Merkel vs. Schröder im Jahr 2005 fast 21 Millionen Zuschauer fand, konnten sich nur etwas mehr als 14 Millionen im Jahr 2009 für das auf den Sendern ARD, ZDF, RTL, Sat.1 und Phoenix parallel ausgestrahlte Duell erwärmen (Maue Quote, 2009). Die "maue Quote" (Maute Quote, 2009) war allerdings ein Ergebnis mit Ansage: Als Spitzenvertreter der Koalitionsparteien CDU und SPD standen Merkel und Steinmeier vor dem Problem, sich vom politischen Partner abzugrenzen, ohne die eigene Arbeit der vergangenen vier Jahre in ein negatives Licht zu rücken. Die Schwierigkeit, nicht aggressiv gegen den Gesprächspartner vorgehen zu können, war bereits im Vorfeld der Sendung diskutiert worden, und so wunderte es auch nicht, dass Kommentare von einem Duell "Steinmerkel gegen Merkelmeier" (Grimberg, 2009) sprachen. Die Bewertung als langweiliges Gespräch kaum noch unterscheidbarer Spitzenpolitiker einer großen Koalition passte in das politische Klima, diese Koalition als 'verbraucht' und 'konzeptlos' zu markieren. Freilich gilt zu bedenken, dass auch die Bewertungen der vorangegangenen Fernsehduelle zwiespältig ausgefallen waren: Die beiden ersten 'Kandidaten-Duelle' zwischen Herausforderer Edmund Stoiber und Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2002 waren durch Gesprächs- und Verhaltensre-
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geln in ein so enges Korsett gezwungen worden, dass ein freies Streitgespräch kaum möglich war (vgl. Tapper & Quandt, 2003). Beobachter sprachen angesichts der als steif empfundenen Gesprächsform auch von einem "gescheiterten Experiment" (Schwennicke, 2002). Dennoch kam es zur Neuauflage, bei der man sich bemühte, einige der Probleme der ersten Duelle nicht zu wiederholen: So war beim Duell Merkel vs. Schröder 2005 zumindest ein "gestärktes diskursive[s] Element" mit stärkeren Auseinandersetzungen der Kandidaten zu bemerken, doch lieferte es in vielen Rahmenparametern ein "more of the same" (Tapper & Quandt, 2006, S. 272). Insbesondere die zurückgenommene Rolle der Journalisten, die weitgehend auf Stichwortgeben und Zeitkontrolle reduziert war, konnte die Erwartungen nicht erfüllen: Nachhaken und aktive Formen der Gesprächsführung waren eher Mangelware (vgl. Tapper & Quandt, 2006, S. 273f.). Das wenig begeisterte Echo auf die Umsetzung der bisherigen Kandidaten-Duelle ist durchaus bemerkenswert: Im Vorfeld der ersten beiden Sendungen war nämlich noch von Entertainisierung und Amerikanisierung des Wahlkampfs gesprochen worden; man erwartete eine fernsehgerechte Inszenierung speziell des 'Medienkanzlers' Schröder, und befürchtete eine 'Medienshow', die das Politische in den Hintergrund rückt (vgl. Tapper & Quandt, 2003, S. 243). Tatsächlich sind die Vorbilder für die im Fernsehen übertragenen Streitgespräche der Spitzenkandidaten in den USA zu suchen: Bei der Erstauflage standen die TV-Debatten der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Pate, die seit den vier "Great Debates" zwischen dem damaligen republikanischen Vizepräsidenten Richard M. Nixon und dem demokratischen Kandidaten John F. Kennedy im Jahr 1960 zu den Traditionen des US-amerikanischen Wahlkampfes gehören. Der eigentlich weniger chancenreiche Kennedy habe die nachfolgende Wahl vor allem wegen seines hervorragenden Auftretens in den Fernsehsendungen für sich entscheiden können, so eine weit verbreitete Analyse. Diese ist jedoch nicht unumstritten: So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass nicht die Sendungen, sondern die nachfolgende positive Berichterstattung Kennedy den Weg geebnet habe (vgl. Kraus, 1962a, b). Während also noch zu Beginn der Fernsehform eher ein Zuviel an Show und Entertainment befürchtet worden war, ging die Kritik bei den dann erfolgten Sendungen eher in die gegenteilige Richtung: Zu wenig fernsehund diskussionsgerechte Umsetzung lautete auch das wissenschaftliche Verdikt (Tapper & Quandt, 2003, 2006). Allerdings perlte die Kritik bei den
"Ich beantworte die Fragen so…"
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Machern nicht gänzlich ab: Die als zu eng empfundene Form des Gesprächs wurde aufgelockert – freilich auch dadurch, dass bei dem einzigen Duell 2005 vier Journalisten beteiligt waren (im Gegensatz zu den ersten Duellen, wo es jeweils zwei Journalisten waren). Und auch die Kandidaten lernten auf Basis der vorangegangenen Gespräche, grobe Fehler in der Gesprächsführung und Selbstdarstellung zu vermeiden (vgl. Tapper & Quandt, 2006). Wissenschaftlich ist allerdings noch zu prüfen, inwieweit es auch in der Neuauflage 2009 zu Veränderungen gekommen ist. Insbesondere wäre in diesem Zusammenhang auch zu klären, ob das negative Presseecho gerechtfertigt ist – und ob die neuerlich enttäuschten Erwartungen auf das Verhalten der Kandidaten oder das Agieren der Journalisten zurückzuführen ist. Als probates Mittel zur Analyse der Duell-Performance und der Interaktion aller beteiligten Akteure hat sich bereits in der Vergangenheit ein dialoganalytisches Vorgehen (Quandt & Tapper, 2002) bewährt. Es konnte sowohl beim Duell 2005 (Tapper & Quandt, 2006) als auch bei den beiden Streitgesprächen 2002 (Tapper & Quandt, 2003) angewendet werden. Zudem wurden auf vergleichbare Weise schon die journalistischen Kandidateninterviews der vorherigen Wahlkämpfe analysiert (Moke, Quandt, & Tapper, 1999; Tapper, 1998), so dass auch Betrachtungen im zeitlichen Verlauf bzw. zwischen den einzelnen Wahlkämpfen möglich sind. Natürlich gibt es auch alternative Verfahren: So können die Publikumsreaktionen auf die Interviews mittels Befragung erfasst werden. Solche Studien werden standardmäßig von einschlägigen Markt- und Medienforschungsunternehmen kurz nach den Interviews und sowie mit etwas zeitlichem Abstand vorgenommen. So will man den kurzfristigen Eindruck nach den Interviews erfassen, aber auch langfristige Effekte der nachgelagerten Berichterstattung. Eine weitere Möglichkeit sind 'Real Times Response'Messungen (vgl. Maurer & Reinemann, 2003; Maurer, Reinemann, Maier, & Maier, 2007), bei denen mittels Eingabegeräten die Reaktionen und Bewertungen der Aussagen direkt während des Duells gemessen werden können: Dabei muss ein Testpublikum seine jeweiligen Einschätzungen des Geschehens zum Beispiel mittels eines Drehreglers zeitsynchron eingeben. Die publikumszentrierten Analysen haben den Vorteil, kurz- und langfristige Effekte auf die Wähler zu erfassen – wenngleich es schwierig ist, hier direkte Kausalitäten in Bezug auf die Duell-Performance der Kandidaten ausmachen zu können (da z. B. zwischengelagerte Einflussfaktoren, aber auch zufallsbedingte Scheinzusammenhänge eine Rolle spielen können). Eine weitere Schwierigkeit
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Christoph Tapper & Thorsten Quandt
liegt darin begründet, dass man die Duelle selbst nur als auslösenden Reiz betrachtet, der über die Publikumsreaktionen vermittelt erst qualifiziert wird: Das heißt, das Publikum reagiert positiv oder negativ, und diese Reaktion wird einer Passage des Interviews zugeordnet. Ebenso bedeutungsvoll kann aber auch das Ausbleiben von Reaktionen sein: Eine neutrale Publikumsreaktion wird dabei einer Passage zugeordnet, die vom Forscher als potenziell 'reaktionsauslösend' angesehen wird. Allerdings geht es hier stets nur um Zusammenhänge zwischen isoliertem Ereignis und der direkten Publikums-reaktion. Insofern wird das Duell nicht als echtes, dynamisches 'Gespräch' zwischen mehreren Personen verstanden: Die Eigenschaften der Gesprächszüge und die Interaktionsstruktur werden zumeist gar nicht einer eigenständigen Analyse unterzogen. Hier kann die Dialoganalyse – ergänzend und als eigenständiges Verfahren – ihre Stärken ausspielen. Mit ihr kann das konkrete Vorgehen der Journalisten und der Politiker direkt auf Basis des Gesprächsmaterials analysiert werden, aber im Gegensatz zu klassischen Inhaltsanalysen des gesprochenen Worts bei politischen Interviews (vgl. u. a. Baker, Norpoth, & Schönbach, 1981; Lipp, 1983; Merten, 1991; Schrott, 1990; Weiß, 1976) noch mehr: nämlich die dynamische Interaktion der Akteure (vgl. Quandt & Tapper, 2002). Zu den analysierten Aspekten gehören dann neben formalen Rahmendaten und der Themenstruktur zum Beispiel auch das dialogische Verhalten, Störungen, die Hartnäckigkeit der Diskutanten bei ungenauen Antworten des Gegenübers und die Genauigkeit der Antworten. Zwar ist hier wiederum der Schluss auf die mögliche Rezeption nur ein indirekter (weswegen im Folgenden nur sehr vorsichtige plausible Annahmen über mögliche Effekte geäußert werden), doch folgt die Analyse des Gesprächsmaterials klar dokumentierten, intersubjektiv nachvollziehbaren Regeln. Da das genannte Vorgehen bereits andernorts ausführlich dokumentiert wurde (u. a. bei Tapper & Quandt, 2003, 2006; prinzipieller bei Quandt & Tapper, 2002), werden im folgenden nur die Grundzüge des Vorgehens bei der neuerlichen Anwendung auf das Duell 2009 vorgestellt (Abschnitt 2). Dem folgt eine ausführlichere Darstellung und Analyse der Ergebnisse (Abschnitt 3) sowie eine Diskussion, inwieweit auf Basis der dialoganalytischen Auswertungen – und auch im Vergleich mit den vorherigen Streitgesprächen 2002 und 2005 – die Kritik am Duell 2009 gerechtfertigt ist (Abschnitt 4).
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Methodisches Vorgehen
Grundlage der Analyse ist zum einen die Aufzeichnung des TV-Duells selbst und zum anderen ein Transkript der Sendung. Zur Erhebung bestimmter formaler Daten wie zum Beispiel Sprechanteile wurde direkt aus der Aufzeichnung des Duells kodiert. Die weitergehende dialoganalytische Auswertung basiert auf einem detaillierten Transkript. Dieses umfasst neben einer vollständigen Übertragung des gesprochenen Textes auch zahlreiche weiterführende Kodierungen wie Überschneidungen von Redebeiträgen und Störungen, auffällige Modulationen und Pausen oder auch Beschreibungen der Szenerie. Insofern ist bereits die Anfertigung des Transkripts als erster Kodierschritt einer Dialoganalyse zu sehen. Die Arbeit mit einem solchen Transkript birgt eine Reihe von Vorteilen: So lassen sich einzelne Gesprächszüge direkt in ihrem Verhältnis zu vorangegangenen bzw. folgenden Sequenzen bewerten. Vor allem aber lassen sich auch komplexere Phänomene wie gleichzeitiges Sprechen etc. auf diese Weise genauer erfassen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, die Gesprächssteuerung und die Rollenausübung der beteiligten Akteure (Interviewer, Kandidaten) analysieren zu können. Denn die beteiligten Akteure an Politikerinterviews orientieren sich auf der einen Seite prinzipiell an den impliziten Konventionen eines Frage-Antwort-Spiels mit festgelegten Rollen (vgl. z. B. Greatbatch, 1988; Holly, 1992a, b, 1993), auf der anderen Seite versuchen sie, durch bestimmte Strategien (Unterbrechungen, Themenabweichungen etc.) das Rederecht oder die thematische Steuerung zu beeinflussen. Da Dialektfärbungen oder sprachliche Ungenauigkeiten für die hier vorliegende Analyse keine Rolle spielen, wurde auf eine lautsprachliche Transkribierung verzichtet. Auf dieser Materialbasis wurden die folgenden Daten erhoben und entsprechend der bereits in den Untersuchungen zu den TV-Duellen 2002 und 2005 eingesetzten Methode analysiert. 2.1 Formaldaten der Gespräche Hierzu gehören die Gesamtredezeit des Duells, die zeitlichen Gesprächsanteile der beteiligten Akteure sowie die Anzahl und durchschnittliche Länge
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der Turns1 für Politiker und Journalisten. Von Turns zu unterscheiden sind Reaktionen der Kandidaten, die nicht mit den Turns übereinstimmen müssen, da ein Turn auch mehrere Reaktionen enthalten kann.2 2.2 Themen In politischen TV-Diskussionen ist es üblich, dass unterschiedliche Themen miteinander vermischt werden. So hängen zum Beispiel Ausgaben im Sozialbereich oder für Forschung immer auch mit der Einnahmeseite, also dem Finanz- und Steuerbereich, zusammen. Daneben gibt es zahlreiche Themen, die spontan im Gespräch entwickelt werden oder die als Spezialthemen eines Wahlkampfs auftauchen wie etwa das Thema "Paul Kirchhof" im TVDuell 2005 (vgl. Tapper & Quandt, 2006). Aus diesem Grund ist es wenig sinnvoll, a priori Themenkategorien (z. B. in Form von "klassischen" Politikfeldern oder Wahlkampfthemen) festzulegen. Stattdessen wurden auch diesmal thematisch konsistente Aussagenblöcke identifiziert und anschließend zu Themenkategorien zusammengefasst. 2.3 Strukturen Die Struktur des Gesprächs wird durch unterschiedliche Parameter beschrieben. Dazu gehören Steuerungsaktionen der Journalisten wie Fragen oder Aufforderungen an die Kandidaten sowie die entsprechenden Reaktionen der Politiker und die Genauigkeit ihrer Antworten. Daneben wurden auch gegenseitige Störungen und Unterbrechungen der beteiligten Akteure erhoben. All diese Merkmale lassen Rückschlüsse auf die Gesprächsstrategien der Diskussionsteilnehmer zu, mit denen diese versuchen, das Duell in ihrem jeweiligen Sinne zu steuern. Natürlich bestehen TV-Duelle nicht ausschließlich aus so genannten Adjacency Pairs, also einfachen Frage-Antwort- oder Vorwurf-Ent1
Ein Turn oder Gesprächszug ist die inhaltlich kohärente Äußerung, die ein Akteur im Duell äußert, wenn er 'an der Reihe' ist; insofern gehören reine Hörersignale (vgl. Schwitalla, 1979) wie "oh", "mhm" usf. oder erfolglose Sprechversuche (vgl. Quandt & Tapper, 2002) nicht hierzu.
2
So kann ein Kandidat zum Beispiel während eines durchgehenden Turns auf mehrere eingeworfene Fragen reagieren, ohne sich unterbrechen zu lassen.
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gegnungs-Sequenzen. Daher wurden wie schon bei früheren Duell-Analysen auch komplexere Abläufe zwischen den beteiligten Akteuren analysiert und qualitativ beschrieben. Da solche Interaktionsmuster in der Regel nur wenige Male oder nur als Einzelfälle auftreten, wurde dabei auf eine Quantifizierung verzichtet.
3
Ergebnisse
3.1 Formaldaten des Untersuchungsmaterials Die dritte Auflage des Formats "Kandidaten-Duell" im Jahr 2009 folgte in wesentlichen Punkten dem Streitgespräch des Jahres 2005. Auch das Duell mit Steinmeier und Merkel fand im Fernsehstudio von Studio-Berlin in Adlershof statt, einer ehemaligen Einrichtung des DDR-Fernsehens in Berlin – wie schon alle vorangegangenen Duelle. Das Setting folgte ebenfalls jenem von 2005: Die Kandidaten standen bzw. lehnten an Stehpulten, ihnen gegenüber vier Moderatoren. Da das Duell zeitgleich auf mehreren Programmen zu sehen war, hatte man sich für die hohe Zahl an Journalisten entschieden, um von jedem Sender eine Person stellen zu können und so eine Ausgewogenheit in der Besetzung zu erreichen. Zum Einsatz kamen 2009 Maybrit Illner (ZDF), Peter Kloeppel (RTL), Peter Limbourg (Sat.1) und Frank Plasberg (ARD). Nur für Plasberg war das Duell 'Neuland': Illner und Kloeppel hatten bereits in den Jahren 2002 und 2005 Fragen gestellt, während Limbourg zusammen mit Kloeppel den journalistischen Part des allerersten Duells 2002 übernommen hatte (vgl. Tapper & Quandt, 2003, 2006). Um ein Gespräch von so vielen Interaktionspartnern zu strukturieren, wurden bereits vorab Regeln für die Diskussion festgelegt. Diese waren vorab von den beteiligten Sendern und den Beratern der Kandidaten in einem längeren Prozess ausgehandelt worden. In ihren Grundzügen wurden die Regeln im Vorfeld unter anderem über eine dpa-Meldung verbreitet (Die TV-Duell-Regeln, 2009) und vielfach in der Presse besprochen. Letztlich entsprach das Reglement der Neuauflage in allen wesentlichen Parametern jenem der vorangegangenen Sendung 2005. So wurden aufgrund der hohen Zahl an Journalisten Moderatoren-'Paare' gebildet, die sich jeweils einzelnen Themenkomplexen abwechselnd widmen sollten. Illner und Kloeppel bildeten das eine, Limbourg und Plasberg das
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andere Team. Letztlich war diese Zusammenfassung in Moderatoren-Paare eine Notwendigkeit, die 2005 eingeführt worden war, um überhaupt eine sinnvolle Gesprächsführung ohne größere Koordinationsprobleme zu ermöglichen. Weitere Festlegungen betrafen unter anderem die Dauer des Duells, die Länge der Antworten und die Themenkomplexe. Die Regeln sahen dabei folgende Rahmenbedingungen vor:
Die geplante Gesamtlänge der Sendung beträgt 90 Minuten. Die generellen Themenkomplexe wurden den Kandidaten vorab mitgeteilt, nicht aber die einzelnen Fragen. Ein Moderatoren-Paar übernimmt abwechselnd einen Themenblock nach einer vorab festgelegten Reihenfolge. Die erste Frage geht an Steinmeier, während Merkel das Schlussstatement hat. Mit den jeweiligen Schlussstatements können sich die Kandidaten direkt an das Fernsehpublikum wenden. Die Antworten sollten eine maximale Länge von 90 Sekunden haben. Die Redezeit wird in einem Redezeitkonto festgehalten, das von den Moderatoren zu festgelegten Zeitpunkten thematisiert werden soll. Das Konto soll am Ende der Sendung weitgehend ausgeglichen sein, mit einem maximalen Redezeit-Unterschied von einer Minute.
Allerdings war vorab schon bekannt gegeben worden, dass "weniger verbissen" (Die TV-Duell-Regeln, 2009) auf die Einhaltung der Regeln geachtet werden sollte als bei den Vorgänger-Sendungen. Die Rigidität der Regeln hatte insbesondere 2002 zu großer Kritik geführt – bei den damaligen Interviews schien vor allem das "Zeitkonto" (Tapper & Quandt, 2003, S. 243) und weniger die Qualität der Diskussion im Vordergrund zu stehen. Ein erster Blick auf die formalen Daten des Duells ist bereits aufschlussreich (vgl. Tabelle 1). Die Gesamtgesprächsdauer des Duells liegt minimal über den für die Sendung vorgesehenen 90 Minuten, aber etwas unter jener des Duells 2005 (damals waren es 5.578 Sekunden). Für Merkel sind 46 Gesprächszüge (Turns) zu verbuchen, während Steinmeier auf 66 kommt. Die Redezeit der beiden politischen Akteure ist aber bis auf die Sekunde identisch. Dies bedeutet, dass die Turns von Merkel im Schnitt deutlich länger sind als jene von Steinmeier. Die Kanzlerin lässt sich prinzipiell seltener als Steinmeier unterbrechen und behält auch bei Unterbrechungsversu-
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chen stoisch das Wort (vgl. auch Abschnitt 3.3). Die Diskrepanz zwischen den Turns von Merkel und Steinmeier von durchschnittlich 12 Sekunden ist allerdings ins Verhältnis zu den Ergebnissen des vorangegangenen Duells zu sehen: Damals kam Merkel auf noch weniger Turns (39), die aber im Schnitt fast 59,7 Sekunden dauerten. Schröder äußerte sich in 78 Turns bei einer durchschnittlichen Länge des Gesprächszugs von 30,8 Sekunden. Das heißt, während Steinmeier in Bezug auf die Turn-Länge ähnlich agiert wie Schröder 2005 (wenngleich Schröder etwas häufiger das Wort ergreift), sind bei Merkels Turns deutliche Unterschiede zum Vorgänger-Duell zu erkennen. Die Gesprächszüge der Kanzlerin sind weniger ausufernd als noch beim Vorgänger-Duell, wo Merkel zum Teil monologisierte. Insofern gehen die Unterschiede zwischen den Kandidaten zwar immer noch in dieselbe Richtung wie 2005, doch sind sich die beiden Akteure 2009 auf dieser noch sehr allgemeinen Ebene wegen des modifizierten Stils der Kanzlerin etwas ähnlicher als noch Schröder und Merkel im vorangegangenen Wahlkampf. Die Politiker-Daten machen allerdings nur eine Seite der Medaille aus, denn die Entfaltung der jeweiligen Diskussions-Stilistiken ist einerseits vom politischen Gegenüber, andererseits aber auch und vor allem von den Journalisten abhängig. Da ihnen die Gesprächsleitung und -steuerung obliegt, kommt ihnen als aktivierender, koordinierender und sanktionierender Instanz hohe Bedeutung zu. Vergleicht man die Anteile an der Gesamtdauer, so wird deutlich, dass der Gesprächsanteil der Politiker im aktuellen Duell zugunsten des Anteils der Journalisten geschrumpft ist: Entfielen auf die Politiker 2005 noch 43,1 Prozent (Schröder) und 41,7 Prozent (Merkel) der Gesamtdauer, so waren es 2009 jeweils 38,7 Prozent. Demgegenüber lagen die Journalisten im Duell 2005 zwischen 4,1 und 5,6 Prozent, 2009 aber zwischen 5,2 und 7,2 Prozent. Neben der quantitativen Verschiebung in der Zusammensetzung der Gesamtdauer wird durch die Daten aber auch ein prinzipiell anderes Gesprächshandeln als noch 2005 deutlich: Es sind erheblich mehr Turns bei gleichzeitig geringerer Durchschnittslänge (2009: 8,9 s; 2005: 9,9 s) zu verzeichnen. Das heißt, schon anhand der sehr allgemeinen Formaldaten wird deutlich: Die Journalisten sind insgesamt aktiver, und die vielen Turns könnten ein erster Hinweis auf eine konfrontativere Haltung sein.
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Christoph Tapper & Thorsten Quandt
Tabelle 1: Formale Daten der Sendungen
Gesamtgesprächsdauer3: 5469 s Kategorie Redezeit der Akteure: Summe Redezeit: Anteil an Gesamtdauer: Turns Anzahl der Turns: Mittlere Länge der Turns:
Merkel Steinmeier
2115 s
Kloeppel
Illner
Limbourg
Plasberg
2115 s
282 s
396 s
289 s
347 s
38,7 % 38,7 %
5,2 %
7,2 %
5,3 %
6,3 %
46
66
31
43
29
44
46,0s
32,0 s
9,1 s
9,2 s
10,0 s
7,9 s
3.2 Themen des Duells In den vorangegangenen Fernsehduellen wie auch den Interviewsendungen mit Kandidaten im Wahlkampf wird für gewöhnlich ein Mix aus zentralen innenpolitischen Themen und einigen aktuellen 'Sonderthemen' diskutiert. Die Langzeitanalysen der Autoren (Moke, Quandt, & Tapper, 1999; Tapper, 1998; Tapper & Quandt, 2003, 2005) zeigen, dass zu den politischen Kernthemen solcher Gespräche die Arbeitsmarktlage, Finanzen und Wirtschaft und Steuern eine wichtige Rolle spielen. Zu den 'Sonderthemen' gehörte 1994 die 'RoteSocken-Kampagne' der CDU bzw. der Umgang mit der PDS und der DDRVergangenheit politischer Akteure. 1998 wurden außenpolitische Themen stärker diskutiert, zum Beispiel die Finanzhilfen für Russland und eine erneut heraufziehende Balkan-Krise. In den Duellen 2002 standen der Irak-Konflikt und die Folgen der Hochwasserkatastrophe im Fokus der Aufmerksamkeit, während im Duell 2005 stärker die schwierige wirtschaftliche Lage in Deutschland thematisiert wurde. Zu den 'Standardthemen' und den 'Sonderthemen' kommt 3
Dies ist die Zeit beginnend mit dem ersten und endend mit dem letzten gesprochenen Wort in der jeweiligen Sendung. Sie entspricht damit nicht der Summe der einzelnen Akteurs-Redezeiten.
"Ich beantworte die Fragen so…"
293
als weiterer Block der Wahlkampf selbst hinzu. Diskutiert werden hier die jeweilige politische Konstellation, die Koalitionsmöglichkeiten sowie die Siegchancen der Kandidaten. Auch im Duell 2009 finden sich in der Diskussion entsprechende Themenbereiche (vgl. Tabelle 2), wobei natürlich stets Einzelthemen miteinander verwoben sind. Die Trennung der Themen im Rahmen der Untersuchung ist somit immer eine analytische; die Durchdringung der Themenblöcke und die verbindenden Elemente sind hierbei immer mit zu bedenken. Als generelles Leitthema 2009 kann man sicherlich die Wirtschafts- und Finanzkrise ausmachen, die sich als roter Faden durch mehrere Themenblöcke zieht. Besprochen werden die Ursachen, die Auswirkungen, aber auch die zu ziehenden Konsequenzen. Betrachtet man die einzelnen Themenkategorien, so lassen sich einige der am längsten diskutierten Bereiche dem Leitthema 'Finanz- und Wirtschaftskrise' zuordnen: So hängen zum Beispiel Fragen der Opelkrise bzw. Opelrettung (5,6% der Gesamtgesprächsdauer), der Finanzmarktregulierung (8,1%), der Managergehälter und ihrer Reglementierung (10,2%), der wirtschaftspolitischen Prinzipien im Lichte der Finanzkrise (6,4%) sowie Wege aus der Krise (12,6%) immer auch mit diesem Leitthema zusammen. Zusammengenommen kommt man so auf einen Gesprächsanteil der mit der Krise verwobenen Themenaspekte von fast 43 Prozent. Eine solche Dominanz eines Oberthemas ist bemerkenswert. Der thematische Schwerpunkt wird schon zu Anfang des Duells in der Anmoderation Illners angedeutet: [1] TV-Duell 2009 1 Illner: Guten Abend aus Berlin, liebe Zuschauerinnen und Zuschauerinnen ((sic!)), zu diesem Duell 2009, natürlich auch im Namen meiner Kollegen. Dieses Duell ist ein besonderes Duell. In 14 Tagen findet die Bundestagswahl statt, wir sind im Jahr eins der größten Welt- und Finanzkrise seit dem Krieg, und wir werden regiert von einer großen Koalition. 4
4
Aus Gründen der Lesbarkeit sind Beispiele aus den Duellen hier in vereinfachter Transkription dargestellt. Transkriptionszeichen: "[" und "]" kennzeichnen Anfang und Ende simultanen Sprechens; "=" steht für das Fehlen einer Pause "~" steht für das Abbrechen einer Formulierung; ein Punkt"." wird gesetzt beim Absenken der Stimme wie an Satzenden; Doppelklammern "(( ))" enthalten Transkriptionskommentare. Vorangestellt: Turn-Nummer.
294
Christoph Tapper & Thorsten Quandt
Tabelle 2: Themen der TV-Duelle (prozentualer Anteil an der Gesamtgesprächs dauer) Thema Wege aus der Krise in der Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt und bei den Staatsschulden Managergehälter und deren Reglementierung
12,6 10,2
Zukünftige Regelungen für die Finanzmärkte
8,1
Bilanz der Großen Koalition, Gründe für und gegen eine Fortsetzung Wirtschaftspolitische Prinzipien und Finanzkrise
8,0
Mindestlöhne
6,3
Gesundheitspolitik, Zweiklassenmedizin
5,8
Wahlchancen, Koalitionsmöglichkeiten jenseits von großer Koalition und Rot-Rot Opelkrise, Opelrettung
5,7
Afghanistan-Einsatz
5,3
Soziale Gerechtigkeit in Deutschland
5,3
6,4
5,6
Kernenergie und Umwelt
5,0
Verhältnis Rot-Rot und eine mögliche Koalition
3,9
Dienstwagenaffäre Ulla Schmidt
3,0
Moderation, Kontostände, Begrüßung und Verabschiedung
2,5
Duell-Charakter des Duells und das Verhältnis MerkelSteinmeier Sind SPD und CDU/CSU noch Volksparteien?
2,5
Verdienste der rot-grünen Bundesregierung
1,3
Familie und Bildung
0,6
Franz Josef Jung und seine Zukunft als Verteidigungsminister
0,3
Gesamt5
5
Anteil
Abweichungen von 100,0% ergeben sich durch Rundungen der Einzelwerte.
1,7
100,1
"Ich beantworte die Fragen so…"
295
Insgesamt fällt das Wort "Krise" (auch als Wortbestandteil) im Duell 42mal: 10-mal bei den Journalisten, 15-mal bei Merkel und 17-mal bei Steinmeier. Dabei zieht Merkel zum Beispiel die Krise heran, um zu erläutern, warum die CDU stärker im nächsten Bundestag vertreten sein muss: [2] TV-Duell 2009 11 Merkel: … ich sage ganz einfach, die Große Koalition hat gute Arbeit gemacht, und jetzt brauchen wir in der schwersten Krise seit ähm den 30er-Jahren wirklich eine entschiedene Politik für mehr Arbeit, und da braucht es noch mehr Union in der Bundesregierung.
Auch Steinmeier bemüht die Krise für seine Argumentation, warum die SPD wieder die Regierung führen muss. Beispiel hierfür ist sein Schlussstatement: [3] TV-Duell 2009 323 Steinmeier: Ja, liebe Bürgerinnen und Bürger, ich will ehrlich sein, wir sind mitten in der Krise, und wir sind noch nicht über den Berg, ich bin fest davon überzeugt, wir können aus dieser Krise herauskommen, unsere Volkswirtschaft ist stark, und die Menschen werden helfen, dass wir diese Krise überwinden. Die Frage ist nur, welche Richtung nehmen wir. Bei dem Weg aus dieser Krise, und dazu werden Sie eine Entscheidung treffen am 27. September, eine Entscheidung, nicht eine Schicksalswahl für die Parteien. Aber eine Wahl, eine Entscheidung über die Richtung von Politik, die Zukunft des Landes und Ihre persönliche Zukunft. Die eine Richtung ist die von Schwarz-Gelb, Schwarz-Gelb wird bedeuten, dass diejenigen, die zu den Verursachern der Krise gehören, nicht für die Folgekosten zur Verantwortung gezogen werden...
Die – von den Journalisten wie den Kandidaten beförderte – Fokussierung auf die Finanzkrise ist zwar angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung des Themas verständlich, allerdings ergibt sich dadurch auch ein grundlegendes Problem für den 'Duell-Charakter' des Gesprächs: Beide Kontrahenten mussten im Rahmen der Großen Koalition bereits gemeinsame Maßnahmen zur Krisenbekämpfung ergreifen und politisch vertreten. Insofern bietet sich hier nur wenig Abgrenzungspotenzial – das erfolgte Handeln ist schlussendlich identisch, und will man sich davon nicht distanzieren (was wiederum so gelesen werden könnte, dass das bisherige politische Handeln in der Regierung ohne Überzeugung und aus reinem Opportunismus erfolgte), kann man nur in den darauf aufbauenden Zukunftsversprechen marginale Differenzen erzeugen (die aber ebenfalls nicht groß sein können, will man mit dem vorheri-
296
Christoph Tapper & Thorsten Quandt
gen politischen Handeln konsistent sein). Wer sich von dem Duell versprochen hat, etwas über die Differenzen der beiden Parteien und programmatische Unterschiede zu erfahren, wurde daher enttäuscht. Und dieser Fakt lag eben nicht (nur) an der von den Journalisten während des Duells wiederholt betonten vermeintlichen Einigkeit zwischen Merkel und Steinmeier. Seine Ursache lag auch und vor allem an der Themensteuerung durch die Journalisten, die sich auf die Krise konzentrierten. Besonders deutlich wird dies beim Thema 'Opelkrise' bzw. den – zum Zeitpunkt des Duells diskutierten – Aufkauf Opels durch den Autozulieferer Magna. Von journalistischer Seite wird diese Lösung kritisch hinterfragt. Von Merkel genauso wie von Steinmeier wird sie hingegen verteidigt. Dieses Thema ist ein typischer Fall, wo es um eine Entscheidung der Großen Koalition geht, die Merkel und Steinmeier gleichermaßen zu verantworten haben und daher auch nicht wirklich darüber streiten können. Steinmeier versucht trotzdem, das Thema wahltaktisch zu nutzen, indem er darauf hinweist, dass bei einer Bundesregierung mit FDP-Beteiligung Opel bereits "mausetot" wäre, was Merkel natürlich prompt zurückweist. Durch die inhaltliche Übereinstimmung der beiden Kontrahenten hinsichtlich der Opelfrage kommt es schließlich auch zu einem – für ein Duell eigentlich unüblichen – Fall, dass Merkel Steinmeier beipflichtet und eine Aussage von ihm nicht erwidert, sondern ergänzt: [4] TV-Duell 2009 75a Steinmeier: …Herr Limbourg, was meinen Sie eigentlich, was es den Steuerzahler gekostet hätte, wenn wir die Pleite von Opel einfach hingenommen hätten. Unsere Fachleute haben ausgerechnet im Arbeits- und Sozialministerium, dass uns in den ersten Jahren eine Pleite von Opel mit Wegfall der Betriebe, mit den negativen Wirkungen auf die Zulieferbetriebe für Opel, das hätte uns in den ersten Jahren 2 Milliarden Euro pro Jahr gekostet! Und zwar wirklich gekos[tet. Hier haben wir gebürgt] [mit~ mit der Er] wartung~ mit der= 76 Plasberg: Danke schön für diese Ergänzung. Mhm ((ja)) 77 Merkel: Ja, u~ und wenn ich das~ 75b Steinmeier: =Erwartung, dass die Bürgschaft nicht in Anspruch genommen wird. 78a Merkel: =Und wenn ich das ergänzen darf: Es hätte nicht nur für den Steuerzahler gekostet. Es hätte die Unternehmen, mittelständische Unternehmen und Ähnliches, über den Pensions-Siche[rungs-Verein] riesige Kosten äh verursacht, die= 79 Plasberg: Ist das nicht schön. 78b Merkel: =unsere mittelständische Wirtschaft belastet hätten, und das wär jetzt in der Krise genau das Falsche gewe[sen.
"Ich beantworte die Fragen so…"
297
Die Journalisten arbeiten anschließend nicht die Differenzen zwischen zwei Kandidaten um die Kanzlerschaft heraus, sondern scheinen eher darauf aus zu sein, die kaum noch gegebene Unterscheidbarkeit der beiden aufgrund ihrer Zeit in der Großen Koalition zu belegen. Es geht also nicht darum, den Zuschauern die Wahl durch das Markieren von Unterschieden zu erleichtern, sondern in gewisser Weise um das genaue Gegenteil. [5] TV-Duell 2009 80 Plasberg: Ist] das nicht schön, wie Sie Doppelpass spielen? Sie sind aber immer noch im Wahl[((S))kampf, ([((M)) auch zur Er]((S))innerung) 81 Steinmeier: Na was heißt~ 82 Merkel: Aber das]((S)) haben Sie ja]((P)) gewusst bei dem Thema Opel![((S)) Das [((P))ist doch vollkommen klar!]((S)) 83 Steinmeier: Was heißt Doppelpass.=()~
Auch wenn das Thema "Verhältnis Merkel-Steinmeier/Duell oder Duett?" insgesamt einen nur geringen Zeitanteil auf sich verbuchen kann, gibt es doch in gewisser Weise die Tonalität und den Charakter des Gespräch vor – unterstreicht es doch die vermeintlich fehlende Rivalität und den fehlenden Konflikt zwischen den politischen Akteuren. Immer wieder eingestreute Bemerkungen aktualisieren diese Darstellung der beiden Kandidaten. [6] TV-Duell 2009 10 Limbourg: Aber Frau Merkel, das klingt mehr nach] Duett als nach Duell (...). [7] TV-Duell 2009 12 Illner: Frau Merkel, wenn es nicht das Duell wäre, könnte man denken, wir sind bei Ehen vor Gericht, steht zu erwarten, dass wir in den nächsten 90 Minuten lauter Argumente geliefert bekommen, warum diese Vernunftehe an ein hoffnungsloses Ende geraten ist? 16 Illner: (...) natürlich zielte diese Frage darauf ab, noch mal zu erfahren, was wir eigentlich tun, wenn der Zuschauer nach diesen 90 Minuten sagt, im Grunde passen die klasse zusammen, die sollen mal weitermachen. [8] TV-Duell 2009 19 Kloeppel: Okay, bevor wir dazu kommen, ganz kurze Frage, Herr Steinmeier.=Sie haben vier Jahre jetzt mit Angela Merkel am Kabinettstisch gesessen, duzen Sie sich eigentlich inzwischen?
298
Christoph Tapper & Thorsten Quandt
[9] TV-Duell 2009 259 Limbourg: ...Wenn wir Sie beide so hier sehen, dann hat man schon den Eindruck, äh dass Sie wirken wie ein älteres Ehepaar, das zusammen in einer Beziehung ist und sich zwar jetzt gelegentlich zankt hier, [aber sich nicht so viel zu sagen hat. 260 Steinmeier: Herr Limbourg, was~ was erwarten Sie.] Dass wir uns völlig distanzieren von dem, was ich [getan haben? Kann ich nicht. So, und] was die... 261 Limbourg: Ja, aber Sie sind doch sehr harmonisch...
Die hier durchscheinende Strategie der Journalisten, die beiden Kandidaten als zu harmonisch (oder sogar austauschbar) darzustellen, kann letztlich nicht aufgehen, jedenfalls nicht für das Publikum: Für die Zuschauer wird dadurch der Unterschied zwischen den Positionen der Kandidaten nicht transparent, und der Duell-Charakter – in Hinblick auf die Auseinandersetzung der politischen Akteure – geht verloren. Zudem geraten durch die extreme Fokussierung auf die Finanzkrise andere, programmatischere Themenaspekte ins Hintertreffen. Über die Gründe der thematischen Fokussierung lässt sich trefflich spekulieren; deutlich ist aber, dass diese bestimmten Eigenschaften eines Streitgesprächs abträglich ist. Dies wird auch durch die strukturbezogenen Auswertungen im nächsten Abschnitt nochmals unterstrichen. 3.3 Struktur der Diskussion 3.3.1 Fragen, Steuerungsaktionen und Reaktionen Zwischen den ersten Duellen 2002 und der 2005er-Auflage bestanden erhebliche Unterschiede in den Gesprächsregeln (vgl. Tapper & Quandt, 2005). Kurz gefasst, waren die ersten Duelle in ein sehr enges Korsett an möglichen Aussagen und Reaktionen gezwängt worden, was später als abträglich für eine lebendige Diskussion angesehen wurde – so "blieben die Veranstaltungen im Kern fast PR-Auftritte" (Tapper & Quandt, 2005, S. 264), bei denen weitgehend vorgefertigte Aussagen dem Publikum präsentiert werden konnten. Die geänderten Regeln 2005 erlaubten hingegen "eine direkte Bezugnahme der Kandidaten" mit dem "Ziel einer freieren Diskussion, bei der die Kandidaten im Mittelpunkt des Interesses stehen" (Tapper & Quandt, 2005, S. 264).
"Ich beantworte die Fragen so…"
299
Die Regeln des neuerlichen Duells 2009 entsprachen – nach den bekannt gewordenen Rahmenparametern – weitgehend jenen des vorhergehenden Streitgesprächs aus dem Jahr 2005 (siehe hierzu auch Abschnitt 3.1). Allerdings sind die formalen Vorgaben von der tatsächlichen Ausgestaltung zu trennen: Hier zeigen sich auch dieses Mal Abweichungen vom vorangegangenen Duell. Die Veränderungen in der Gesprächsführung machte auch eine Modifikation der ursprünglichen Codierung von "Initialaktionen" (also Fragen, Erlaubnis zur Replik oder Aufforderungen zum Schluss-Statement) notwendig, da im Interview 2009 das Spektrum solcher Gesprächszüge weiter ist. So geben die Journalisten beispielsweise mehrfach "Ordnungshinweise", etwa dass ein Thema, das der Kandidat anspricht, später noch behandelt wird, oder dass der Politiker sich möglichst kurz fassen sollte. Es handelt sich also insgesamt um Steuerungsaktionen, die auch Initialaktionen beinhalten (vgl. Tabelle 3). Zu den Steuerungsaktionen zählen auch Kommentierungen von Aussagen der Politiker. Sie werden in Bezug auf Turns beider Kandidaten geäußert, wobei Steinmeier häufiger Ziel von Fragen und Kommentierungen ist (insgeamt 59 Steuerungsaktionen in Bezug auf Steinmeier, hingegen 49 in Bezug auf Merkel). Hier gilt aber zu bedenken, dass Steinmeier auch häufiger spricht; das heißt, hier spiegelt sich auch in Teilen die höhere Zahl an Turns des Kandidaten. Ein Beispiel für eine Kommentierung findet sich bei Steinmeiers Hinweis auf das im Vergleich zur SPD höhere Spendenaufkommen von CDU und FDP (Anm.: Kommentierung kursiv). [10] TV-Duell 2009 118a Steinmeier: ...wenn ich das richtig in Erinnerung habe, FDP und CDU zusammen aus dem Bereichen Banken, Unternehmen ungefähr 3 Millionen Spendenaufkommen haben und die SPD dagegen mal gerade 200.000. Insofern scheint die Bankenwelt ä auch ein biss[chen auf die schwarz-gelbe] Diskussion= 119 K: Nur keine neue Neiddebatte, bitte. ((lacht)) 118b S: =zu setzen.
Die Gesamtzahl der Kommentierungen ist auf den ersten Blick nicht erheblich. Zu bedenken gilt allerdings, dass auch zielgerichtete, 'echte' Fragen eine Kommentarfunktion haben können; mitunter zielen Fragen auch nur
300
Christoph Tapper & Thorsten Quandt
Tabelle 3: Steuerungsaktionen (Anzahl und Anteile an den Aktionen) Kategorie Frage an Merkel Aufforderung an Merkel zur Replik auf Steinmeier Themen-Hinweis an Merkel Kommentierung einer Aussage von Merkel ohne Frage Aufforderung an Merkel zum SchlussStatement Frage an Steinmeier Aufforderung an Steinmeier zur Replik auf Merkel Erlaubnis für Steinmeier zur Replik auf Merkel Themen-Hinweis an Steinmeier Zeit-Hinweis an Steinmeier Kommentierung einer Aussage Steinmeiers ohne Frage Aufforderung an Steinmeier zum Schluss-Statement Kommentierung von Aussagen beider Politiker ohne Frage Alle Aktionen
Kloeppel
Illner
Plasberg Limbourg gesamt
8 (7,3%) 11 (10,0%) x (0,0%) 1 (0,9%)
10 (9,1%) x (0,0%)
13 (11,8%) 42 (38,2%) x (0,0%) 1 (0,9%)
1 (0,9%)
x (0,0%)
2 (1,8%)
x (0,0%)
3 (2,7%)
x (0,0%)
2 (1,8%)
x (0,0%)
x (0,0%)
2 (1,8%)
1 (0,9%)
x (0,0%)
x (0,0%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
12 (10,9%) 11 (10,0%)
16 (14,5%)
7 (6,4%) 46 (41,8%)
x (0,0%)
x (0,0%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
1 (0,9%)
x (0,0%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
x (0,0%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
1 (0,9%)
1 (0,9%)
3 (2,7%)
3 (2,7%)
2 (1,8%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
6 (5,4%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
x (0,0%)
x (0,0%)
1 (0,9%)
x (0,0%)
x (0,0%)
2 (1,8%)
x (0,0%)
2 (1,8%)
25 (22,7%)
29 (26,3%)
33 (30,0%)
23 (20,9%)
110 (100%)
"Ich beantworte die Fragen so…"
301
auf eine Kommentierung ab. Insgesamt lässt sich in dem Gespräch ein etwas kritischerer, manchmal aber auch lockerer formulierter Umgang mit den Kandidaten feststellen – ein Stil, den man in Teilen als fast schon 'schnodderig' bezeichnen könnte. [11] TV-Duell 2009 145 Illner: …Da empfiehlt die SPD was sehr Putziges, nämlich einen sogenannten Kreditmediator, + wie darf man sich das vorstellen?=Ist das so ne [Art Super-Nanny für bockige Banker? 271 Plasberg: Wir reden doch oft in diesem Land über Nachhaltigkeit. Wäre es für die SPD nicht wirklich eine tolle Chance, sich in der Opposition zu re~ reanimieren… 317 Plasberg: Ich habe ein neues Wort gelernt, und zwar Tigerentenkoalition.=Wer ist denn der Tiger und die Ente, überlege ich mir die ganze Zeit da. [12] TV-Duell 2009 11 Merkel: Ähm, ich beantworte ((lächelt)) die Fragen so, wie ich mir das vorgenommen habe...
Tabelle 4: Nachfragen bei ungenauer oder fehlender Antwort Ungenaue/fehlende Antworten
Nachfragen der Journalisten
(Anzahl; Anteil an den Antworten)
(Anzahl; Anteil an den Fragen des Journalisten an diesen Kandidaten)
Merkel
31 (73,8 %)
Kloeppel: Plasberg:
1 (12,5 %) 2 (20,0 %)
Illner: 2 (18,2 %) Limbourg: 2 (40,0 %)
Steinmeier
17 (37,0 %)
Kloeppel:
3 (25,0 %)
Illner:
Plasberg:
2 (12,5 %)
Limbourg: 3 (23,1 %)
3 (27,3 %)
Wie gehen die Journalisten nun mit den Kandidaten um – haken sie nach oder lassen sie das Gespräch laufen? – Auch hier zeigen sich Diskrepanzen, abhängig vom Kandidaten: Die 31 ungenauen und fehlenden Antworten Merkels führen zu 8 Nachfragen (d. h. auf rund ein Viertel der Antworten wird nachgehakt), während die 17 ungenauen und fehlenden Antworten bei Steinmeier ebenfalls 8 Nachfragen evozieren (d. h. hier wird in fast der Hälfte der Fälle nachgehakt). Sieht man von dieser Ungleichbehandlung ab – die aber, wie gesagt, auch von den Kommunikationsstilen der beiden Kandidaten selbst beeinflusst ist – und betrachtet den generellen Anteil an Nachfrage bei ungenauen oder fehlenden Antworten, so muss man konstatieren:
302
Christoph Tapper & Thorsten Quandt
Prinzipiell lassen die vier Journalisten den Kandidaten evasives Antwortverhalten häufig durchgehen. Das überrascht insofern, dass der Eindruck des Interviews ein anderer ist – denn grundsätzlich wirken die Journalisten durchaus streitbar; dies wurde auch in der Pressenachberichterstattung so thematisiert (vgl. z. B. Jakobs, 2009; Kilz, 2009). Allerdings schließen sich ein 'konfrontativer Charakter' und geringes Beharren der Journalisten auf genauer Beantwortung von Fragen nicht aus. Oft werden beispielsweise Fragen gestellt, die gar nicht auf Beantwortung ausgerichtet sind, sondern nur Reaktionen der Kandidaten hervorrufen sollen. Die Reaktionen der Kandidaten wurden ebenfalls en detail analysiert (vgl. Tabelle 5). Hier zeigt sich zunächst nochmal, wie gering die Menge genauer Antworten bei Merkel ist: Nur ein Fünftel der Antworten trifft den Kern einer Frage. Steinmeier hat offenbar eine andere Strategie als Merkel: Er reagiert stärker auf die Journalisten. So entwickelt sich an mehreren Stellen der Diskussion ein Duell "Steinmeier vs. Journalisten", was unter anderem dadurch deutlich wird, dass Steinmeier in immerhin neun Fällen auf Journalistenaussagen reagiert, ohne dass eine explizite Frage vorliegen würde, und auch in drei Fällen eine Nachfrage an die Journalisten zur Klärung von Unklarheiten (z. B. in der Frageformulierung) richtet. Merkel tut letzteres überhaupt nie, und nur in zwei Fällen reagiert sie auf die Journalisten ohne Vorliegen einer Frage. Durch Steinmeiers Vorgehen – und den Umgang der Journalisten damit – entsteht teilweise erst der konfrontative Charakter (der bei der Interaktion zwischen Merkel und den Journalisten geringer ist): [13] TV-Duell 2009 183 Plasberg: Neuer Themenbereich, es geht um Gesundheit, wer in Deutschland[ krank wird~ 184 Steinmeier: Aber dann müssen Sie] mich noch ein Wort dazu sagen lassen.=Weil~ weil Frau, fr~ Frau Illner hatte ja sozusagen~ 185 Plasberg: Geht von Ihrem Konto ab. 186a Steinmeier: Weil Frau Illner hat ja unterstellt,[ das wir~ dass] wir die~ die= 187 Illner: Wenn Sie's kurz machen? 186b Steinmeier: =Neuverschuldung sozusagen in unverantwortlicher Weise in die Höhe getrieben hätten. Frau Illner, ich will Ihnen nur sagen, wenn man nichts getan hätte...
"Ich beantworte die Fragen so…"
303
Tabelle 5: Reaktionen der Kandidaten Reaktion
Merkel
Steinmeier
Genaue Antwort Eher ungenaue Antwort
11 (21,6 %) 14 (27,5 %)
29 (44,6 %) 9 (13,8 %)
Nichtbeantwortung
17 (33,3 %)
8 (12,3 %)
Antworten insgesamt
42 (82,4 %)
46 (70,8 %)
Erwiderung auf Gegner ohne Aufforderung
4 (7,8 %)
5 (7,7 %)
Erwiderung auf Gegner nach Aufforderung
1 (2,0 %)
1 (1,5 %)
Ergänzung einer Aussage des Gegners
1 (2,0 %)
x
Erwiderung auf Journalisten, ohne dass eine Frage vorliegt Nachfrage an Journalisten zur Klärung
2 (3,9 %)
9 (13,8 %)
x
3 (4,6 %)
Schluss-Statement Gesamt
1 (2,0 %)
1 (1,5 %)
51 (100,0 %)
65 (100,0 %)
Wert 1: Anzahl der Reaktionen; Wert 2: Anteil an allen Reaktionen des Kandidaten
Ein weiteres Beispiel verdeutlicht die stärker konfrontative Strategie Steinmeiers ebenso wie die entsprechende Reaktion der Journalisten: [14] TV-Duell 2009 231e Kloeppel: …Vor wenigen Tagen haben Sie noch gesagt, wer einen konkreten Abzugstermin der deutschen Bundeswehrsoldaten nennt, spielt den Taliban in die Hände.=Jetzt lesen wir in der Zeitung, dass man im Außenministerium auf einen Abzug im Jahre zweitausenddreizehn abzielt. [Das lässt mich sehr an Ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln, ist das ein~] darf ich= 236 Steinmeier: Nein, ich glaube, das~ Herr Kloeppel, ich glaube, das haben Sie nicht~ 231f Kloeppel: =erst ausreden? Das lässt mich schon [an Ih]rer= 237 Steinmeier: Ungern 231g Kloeppel: =Glaubwürdigkeit äh zweifeln, weil wenn Sie vor ein paar Tagen noch sagen, wir wollen denen nicht in die Hände spielen, jetzt sagen Sie, 2013 …
Dass die beiden Kandidaten sich mehr mit den Journalisten als mit dem Gegner befassen, zeigt sich bei einem Blick auf die Adressaten der Kandidatenreaktionen (vgl. Tabelle 6). Adressaten sind in 80 Prozent (Steinmeier) bzw. 84,3 Prozent (Merkel) der Fälle die Journalisten. In jeweils gut zehn
304
Christoph Tapper & Thorsten Quandt
Prozent der Reaktionen richteten sich diese sowohl an den Gegner als auch die Journalisten. Reaktionen, in denen ausschließlich der Gegner Adressat ist, gibt es bei Merkel gar nicht, bei Steinmeier immerhin 5-mal. Dieser Befund ist von den Ergebnissen aus dem Jahr 2005 grundverschieden: An die Journalisten richteten sich nur 44,7 Prozent (Schröder) bzw. 52,5 Prozent (Merkel) der Kandidatenreaktionen. Am Verhalten Merkels zeigt sich auch hier wieder ihre Grundstrategie: Als Amtsinhaberin versucht sie, Autonomie in der Gesprächsführung zu demonstrieren. Sie bestimmt, wie sie antwortet, und wertet ihren Herausforderer nicht durch zusätzliche Aufmerksamkeit auf – anders als Steinmeier, der das Gespräch stärker diskursiv angeht. Tabelle 6: Adressaten der Kandidatenreaktionen Adressat Journalisten sowohl Journalisten als auch Gegner Gegner Publikum Gesamt
Merkel
Steinmeier
43 (84,3 %) 7 (13,7 %)
52 (80,0 %) 7 (10,8 %)
x
5 (7,7 %)
1 (2,0 %)
1 (1,5 %)
51 (100,0 %)
65 (100,0 %)
Wert 1: Anzahl der Reaktionen; Wert 2: Anteil an allen Reaktionen des Kandidaten
3.3.2 Unterbrechungen, Störungen, erfolglose Sprechversuche Neben den vollständigen Gesprächszügen und ihrer Abfolge sind auch unvollständige Turns, also zum Beispiel erfolglose Sprechversuche, sowie Unterbrechungen und Störungen aufschlussreich. Diese Formen der Gesprächsbeteiligung sind meist deutliche Hinweise auf den Charakter des Gesprächs und das sprachliche Handeln der Akteure. So können Einwürfe und andere Formen sprachlicher Störungen gezielt dazu genutzt werden, einen laufenden Turn des Gegenübers zu unterbrechen oder zumindest den jeweils anderen aus dem Konzept zu bringen. Auch lassen sich so Argumentationslinien des 'Gegners' unterbrechen, und man kann gegebenenfalls sogar das Rederecht erlangen. Andererseits können ständige Störungen auch aggressive sprachliche Entgegnungen hervorrufen – je nach Situation zum Nutzen des Störers (wenn z. B. der Gegner dadurch schlecht da steht), aber
"Ich beantworte die Fragen so…"
305
auch mit dem Risiko, selbst als Störer negativ aufzufallen (bei den Gesprächspartnern oder auch dem Publikum). Bei den Kanzlerduellen kann man wohl davon ausgehen, dass sich alle Beteiligten der Möglichkeiten und Risiken von Unterbrechungen und Störungen bewusst sind – gehören solche Formen der Gesprächsbeteiligung doch letztlich sowohl zum Alltag der Journalisten als auch der Kandidaten. Dementsprechend muss man auch annehmen, dass sowohl das aktive Eingreifen durch Unterbrechungen und Störungen als auch das Reagieren auf solche Formen zumindest partiell strategisch und Elemente des professionellen Handelns der Akteure sind. Sicherlich sind nicht alle Aktionen und Reaktionen stets vorbereitet und planvoll gesteuert – ist doch mitunter sehr wenig Zeit, in schwer vorhersehbaren Situationen zu reagieren –, doch wird der Anteil des rein impulsiven sprachlichen Handelns im Gegensatz zu Alltagsgesprächen sehr gering sein. Insofern lassen Unterbrechungen und Störungen sehr interessante Schlüsse bezüglich der jeweiligen Strategien der Akteure zu. Im Duell 2005 konnten die Verfasser noch den "aggressiven Gesprächsstil Schröders" nachweisen, im Gegensatz zu einem "zurückgenommenen Diskussionsstil Merkels" (Tapper & Quandt, 2006, S. 269). Knapp 44 Prozent der Turns von Schröder waren damals Unterbrechungen und Störungen von Merkel, etwas weniger als ein Drittel seiner Turns nutze er dazu, den Journalisten ins Wort zu fallen. Merkel hingegen agierte zurückhaltend – auf Unterbrechungen und Störungen Schröders entfielen nur rund fünf Prozent ihrer Turns, die Journalisten wurden nur in knapp 13 Prozent der Fälle Ziel ihrer Störungen und Unterbrechungen. Etwas mehr als ein Drittel der Journalistenturns entfielen auf Störungen und Unterbrechungen Schröders, knapp 20 Prozent auf entsprechende Aktionen gegenüber Merkel. Betrachtet man die aktuellen Zahlen (vgl. Tabelle 7), fällt auf den ersten Blick auf, dass die damaligen Werte Schröders deutlich über jenen von Merkel und Steinmeier 2009 liegen. Die beiden aktuellen Kandidaten agieren in Bezug auf den jeweiligen Gegner sehr zurückhaltend: Merkel geht bei ihrem Kontrahenten so gut wie nie dazwischen, umgekehrt stört auch Steinmeier nur moderat. Merkel geht bei den Journalisten häufiger als 2005 dazwischen, allerdings nicht im selben Maß wie Steinmeier, der immerhin pro fünf Minuten Redezeit im Schnitt eine Aktion 'gegen' die Journalisten startet. Die deutliche Zurückhaltung gegenüber dem politischen Gegner erklärt sich einerseits aus der Zusammenarbeit in der Großen Koalition: Wie be-
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Christoph Tapper & Thorsten Quandt
reits erwähnt, kann die gemeinsame politische Wegstrecke eine gewisse 'Beißhemmung' im Gespräch evoziert haben. Die deutlich höheren Unterbrechungs- und Störungswerte gegenüber den Journalisten erklären sich natürlich in Teilen darüber, dass diese das Gespräch zu lenken versuchen und gegebenenfalls auch kritische Fragen stellen – hier agieren die Kandidaten naturgemäß dagegen. Allerdings gibt es auch noch einen zweiten Aspekt: Die Journalisten sind 2009 sehr konfrontativ eingestellt, und zwar deutlicher als 2005. Dies wird durch die prozentualen Anteile an den Turns nur bedingt deutlich (da diese als relativer Wert in Bezugnahme auf die Gesprächszüge davon abhängen, wie häufig überhaupt Turns gestartet werden). Betrachtet man die Zahl der Unterbrechungen und Störungen bezogen auf fünf Minuten der Gesamtredezeit, so wird der aggressive Diskussionsstil der Journalisten deutlich: Schröder wurde 2005 während fünf Minuten Gesamtredezeit im Schnitt genau zwei Mal unterbrochen bzw. gestört, bei Merkel lag der Wert bei 1,1. Im Jahr 2009 liegen die Werte deutlich darüber, wobei die Journalisten vor allem Steinmeier ins Wort fallen. Man kann dies auch in absoluten Zahlen ausdrücken: Die Journalisten stören oder unterbrechen Steinmeier während des Duells insgesamt 50-mal. Zum Vergleich: Merkel tut dies gerade ein Mal. Insofern wird hier sehr deutlich, dass es sich 2009 weniger um ein Duell 'Merkel gegen Steinmeier' handelt, sondern eher um eines 'Journalisten gegen Kandidaten', oder noch spezifischer: 'Journalisten gegen Steinmeier'. Tabelle 7: Unterbrechungen und Störungen durch Merkel durch Steinmeier durch die Journalisten
bei Steinmeier
1
0,1
2,2 %
bei den Journalisten
10
0,5
21,7 %
bei Merkel
5
0,3
7,6 %
bei den Journalisten
18
1,0
27,3 %
bei Merkel
33
1,8
22,4 %
bei Steinmeier
50
2,7
34,0 %
Wert 1: absolute Anzahl; Wert 2: Anzahl pro 5 min der Gesamtredezeit; Wert 3: Anteil an den Turns der Störenden
Wie gehen die Kandidaten – und auch die Journalisten – mit den wechselseitigen Unterbrechungen und Störungen um? Die Reaktionen lassen Rück-
"Ich beantworte die Fragen so…"
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schlüsse auf die Duell-Strategie zu: Lässt man den anderen dazwischen reden, oder führt man seinen Turn ungerührt zu Ende? Auch hierzu ist ein Blick in die dialoganalytischen Auswertungen aufschlussreich – es zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Akteuren. Die geringe Zahl an Störungen des jeweils anderen Kandidaten ist zunächst der Grund dafür, dass sowohl Merkel als auch Steinmeier in keinem einzigen Fall einen Turn wegen der Störung durch den politischen Gegner nicht zu Ende führen können (vgl. Tabelle 8). Anders sieht es bei den Gesprächszügen aus, in die Journalisten involviert sind – vor allem als aktiv störende Akteure. Allerdings gibt es Unterschiede bezüglich der 'Zielpersonen' der Störungen: Die Kanzlerin kann lediglich drei ihrer Turns nicht zu Ende führen, da sie von Journalisten unterbrochen wird. Letztlich ist dies ein geringer Wert, der einerseits mit der bereits besprochenen Strategie Merkels zusammenhängt, stoisch den Turn zu Ende zu bringen, andererseits aber auch darauf zurückzuführen ist, dass sie weniger im Fokus der journalistischen 'Angriffe' steht als Steinmeier. Dieser wird nicht nur, wie oben dargelegt, häufig gestört, sondern auch effektiv an der Vollendung seines Turns gehindert: Immerhin 18-mal kann Steinmeier einen Gesprächszug nicht zu Ende führen. Bei Steinmeiers abgebrochenen Turns gehen allein zehn Störungen auf das Konto von Frank Plasberg. [15] TV-Duell 2009 213a S: ... Herr Plasberg, über was reden wir eigentlich.=Reden wir über eine Sache, die rechtlich in Ordnung war, über die man persönlich, politisch anders entscheiden kann, und [äh Frau Schmidt auch gesagt hat,] in Zukunft= 214 P: Hätten Sie sich das gewünscht? Hätten Sie sich das gewünscht? 213b S: =anders entschei[den wird, insofern ist das~ 215 P: Hätten Sie sich das gewünscht?, Herr Stein]meier? 216 S: Ja, gut, ich meine, die Diskussion hat uns nicht geholfen, insofern hab ich sie mir bestimmt nicht gewünscht...
In umgekehrter Richtung ist weitaus weniger konfrontatives Potenzial zu erkennen: Merkel stört die Journalisten nur ein einziges Mal während eines laufenden Gesprächszugs, Steinmeier tut dies vier Mal.
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Christoph Tapper & Thorsten Quandt
Tabelle 8: Den eigenen Turn wegen Störung nicht zu Ende führen Merkel
durch Störung von Steinmeier
x
x
0%
durch Störung der Journalisten
3
0,2
6,5 %
Steinmeier
durch Störung von Merkel
x
x
0%
durch Störung der Journalisten
18
1,0
27,3 %
durch Störung von Merkel
1
0,1
0,7 %
durch Störung von Steinmeier
4
0,2
2,7 %
Journalisten
Wert 1: absolute Anzahl; Wert 2: Anzahl pro 5 min der Gesamtredezeit; Wert 3: Anteil an den Turns des Gestörten
Die Störungen und Abbrüche von Turns belegen bereits deutlich, dass die eigentliche Duell-Richtung nicht zwischen den Kandidaten, sondern vor allem zwischen den Journalisten und Steinmeier verläuft. Allerdings ist dies auch in gewissem Maße dem geschuldet, dass sich der Vizekanzler wesentlich stärker als Merkel auf eine Auseinandersetzung einlässt. Die Kanzlerin beendet Gesprächszüge meist ungerührt, beantwortet – wie dargelegt – Fragen nur bedingt und versucht statt dessen, ihre eigenen Inhalte zu transportieren. Das Duell ist entsprechend dieser Strategie eher ein Vehikel, um Statements zu platzieren, als ein Raum für dialogische Auseinandersetzung. Tabelle 9: Erfolglose Sprechversuche Versuch von Merkel Steinmeier Journalisten
während eines Turns von
absolute Anzahl
pro 5 min Gesamtredezeit
Steinmeier
1
0,1
Journalisten
4
0,2
Merkel
2
0,1
Journalisten
8
0,4
Merkel
9
0,5
Steinmeier
5
0,3
Deutlich wird dies auch in der letzten Auswertung, die sich auf erfolglose Sprechversuche bezieht (vgl. Tabelle 9): Steinmeier setzt doppelt so häufig wie Merkel zum Reden an und bricht dann ab. Immerhin in acht Fällen
"Ich beantworte die Fragen so…"
309
versucht der Vizekanzler während der Journalisten-Turns vergeblich, einen Gesprächszug zu starten. Die Kanzlerin ist hingegen in ihrer stoischen Art, Turns weiterzuführen, kaum zu unterbrechen. Die Journalisten versuchen in neun Fällen erfolglos, während eines Redebeitrags von Merkel dazwischen zu gehen. Die vergeblichen Sprechversuche während eines Gesprächszugs von Steinmeier liegen bei lediglich fünf abgebrochenen Turns.
4
Diskussion
War das 'Kandidaten-Duell' 2009 tatsächlich ein 'Duett', dem es an Konfrontation mangelte? Verhinderte die gemeinsame politische Verantwortung während der Großen Koalition eine Auseinandersetzung zwischen den Kandidaten? Die mediale Kritik war hier eindeutig: Das Duell 2009 sei spannungsarm und wenig aufschlussreich gewesen. Die dialoganalytische Auswertung der Sendung kann diese Bewertung zumindest in Teilen mit entsprechenden Analyseergebnissen unterfüttern. Die beiden Kontrahenten Merkel und Steinmeier gehen ausnehmend vorsichtig miteinander um. Anders noch als im vorhergehenden Duell 2005 stören sich die beiden politischen Akteure kaum. Auch argumentativ richten sich ihre Redebeiträge nur selten direkt gegen den jeweils anderen. Dieser Umstand ist wohl tatsächlich der gemeinsamen Zeit in der Großen Koalition geschuldet. Ob dabei ein Teil der Zurückhaltung auf dem persönlichen Respekt vor dem langjährigen Partner in der Regierung basiert, ist freilich spekulativ; plausibel erscheint aber, dass sich nur wenig Angriffsfläche für Kritik bietet, wenn die vorangegangenen vier Jahre politischen Handelns der beiden Kontrahenten letztlich aufs Engste verbunden sind. Dennoch unterscheiden sich Merkel und Steinmeier – zumindest in ihren Redestrategien – deutlich. Während sich der Vizekanzler auf die Dialogund Diskussionssituation weitgehend einlässt und zumindest die Auseinandersetzung mit den Journalisten sucht, bleibt Merkel bei ihrer schon 2005 gezeigten Linie, Redebeiträge mit hohem Beharrungsvermögen zu Ende zu bringen. Auf das jeweilige Gegenüber, ob Journalist oder politischer Kontrahent, geht sie nur in dem Maße ein, wie es die Gesprächssituation unbedingt notwendig macht. Fragen dienen als Aufhänger für eigene Statements, Einwürfe übergeht sie stoisch.
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Christoph Tapper & Thorsten Quandt
Auffälliger als das Verhalten der beiden politischen Kontrahenten ist jedoch das Agieren der Journalisten. Ihr konfrontatives Vorgehen prägt das Gespräch stärker als die (fehlende) Auseinandersetzung der Kandidaten. Mit häufigen Unterbrechungen, Störungen und Kommentierungen tun sie sich als 'aktive' Diskussionspartner hervor. Allerdings scheint es des Öfteren eher um den Effekt denn um die konstruktive Gesprächsführung zu gehen: Bei ungenauen Antworten fragen die Journalisten selten nach, und ihr Handeln scheint weniger auf die Inhalte denn auf den formalen Charakter eines 'Streitgesprächs' abzuzielen. Viele provozierende Aussagen – beispielsweise zum allzu harmonischen Umgang der Kandidaten miteinander – dienen nicht dazu, Unterschiede zwischen den politischen Positionen von Merkel und Steinmeier herauszuarbeiten, sondern eher den Eindruck von 'Konflikt' zu erwecken. Dieser Konflikt ist aber nicht zwischen den Kandidaten, sondern den Journalisten und den politischen Akteuren angesiedelt. Zudem gibt es einen deutlichen Bias im Umgang mit den Kandidaten: Steinmeier ist deutlich häufiger Ziel journalistischer Einsprüche. Dies ist in Teilen Folge der stärker an der Debatte orientierten Strategie Steinmeiers, wohl aber auch auf das Handeln der Journalisten selbst zurückzuführen. So wirkt das Duell an mehreren Stellen als jenes zwischen Steinmeier und den Journalisten. Für die Sendeform 'Kandidatenduell' ist die Auflage 2009 in mancherlei Hinsicht ein Rückschritt: Bei weitgehend identischen Regeln und ähnlicher journalistischer Besetzung wie 2005 ist es in geringerem Maße gelungen, eine echte Auseinandersetzung zwischen den Kandidaten zu befördern und politische Positionen für den Zuschauer herauszuarbeiten. Sicherlich war hierzu die politische Situation mit einer vorangegangenen großen Koalition nicht ideal geeignet, und die beiden Kandidaten haben mit ihrem zurückhaltenden Vorgehen gegenüber dem jeweiligen politischen Gegner ihr weiteres dazu getan. Dennoch sind einige Chancen, größere politische Tiefenschärfe herzustellen, im Duell nicht genutzt worden, da man seitens der Journalisten mitunter eher auf den Außendarstellungseffekt aggressiven verbalen Handelns gesetzt hat: Weniger die Funktion, sondern die Form scheint hier entscheidend gewesen zu sein. Allerdings kann man davon ausgehen, dass einige der Schwierigkeiten des Duells 2009 in der kommenden Auflage des Kandidaten-Duells nicht mehr auftreten werden: Die Grundsituation "große Koalition" mit den entsprechenden Begleiterscheinungen trifft für die kommende Wahl nicht zu. Denkbar auch, dass veränderte Mehrheitsverhältnisse zukünftig ein ganz
"Ich beantworte die Fragen so…"
311
anderes Format als das klassische Zweier-Duell notwendig machen. Insofern wird es bei der nächsten Auflage sicherlich wieder spannend(er) werden. Literatur Baker, K. L., Norpoth, H., & Schönbach, K. (1981). Die Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten vor den Bundestagswahlen 1972 und 1976. Form, Inhalt und das Urteil des Publikums. Publizistik, 29, 530-544. Die TV-Duell-Regeln. (2009, 11. September). (dpa-Pressemeldung) dpa. Greatbatch, D. (1988). A turn-taking system for British news interviews. Language in Society, 17, 401-430. Grimberg, S. (2009, 16. September). Steinmerkel gegen Merkelmeier. taz. Abgerufen am 24. Februar 2010 von http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/merkelmeiergegen-steinmerkel/ Holly, W. (1992a). Holistische Dialoganalyse. Anmerkung zur "Methode" pragmatischer Textanalyse. In S. Stati & E. Weigand (Hrsg.), Methodologie der Dialoganalyse (S. 15-40). Tübingen: Niemeyer. Holly, W. (1992b). Was kann Kohl, was Krenz nicht konnte? Deutsch-deutsche Unterschiede politischer Dialogrhetorik in zwei Fernsehinterviews. In J. Dyck, W. Jens & G. Ueding (Hrsg.), Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch: Bd. 11. Rhetorik und Politik (S. 33-50). Tübingen: Niemeyer. Holly, W. (1993). Zur Inszenierung von Konfrontation in politischen Fernsehinterviews. In A. Grewenig (Hrsg.), Inszenierte Information: Politik und strategische Kommunikation in den Medien (S. 164-197). Opladen: Westdeutscher Verlag. Jakobs, H.-J. (2009, 13. September). Gemein fragen, schön lächeln. Sueddeutsche Zeitung. Abgerufen am 24. Februar 2010 von http://www.sueddeutsche.de/politik/ 54/487459/text/ Kilz, H. W. (2009, 13. September). Duett statt Duell. Sueddeutsche Zeitung. Abgerufen am 24. Februar 2010 von http://www.sueddeutsche.de/politik/62/487467/text/ Kraus, S. (Hrsg.) (1962 a). The great debates. Kennedy vs. Nixon, 1960. Bloomington, IN: Indiana University Press. Kraus, S. (Hrsg.) (1962b). The great debates. Background – perspective – effects. Bloomington, IN: Indiana University Press. Lau, M. (2009, 14. September). Merkel trifft Steinmeier: Mehr Duett als Duell. Die Welt, S. 2. Lipp, M. (1983). Journalistische Wahlkampfvermittlung. Eine Analyse der politischen Diskussionssendungen im Fernsehen. In W. Schulz & K. Schönbach (Hrsg.), Massenmedien und Wahlen (S. 238-259). München: Ölschläger.
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Christoph Tapper & Thorsten Quandt
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Die Protagonisten in der Fernseharena. Merkel und Steinmeier in der Berichterstattung über den Wahlkampf 2009 Winfried Schulz & Reimar Zeh
Von den verschiedenen Arenen, in denen der Wahlkampf stattfindet, gehört das Fernsehen nach wie vor zu den bedeutendsten. Hier sitzen die meisten Zuschauer, vor allem wenn Nachrichten gegeben werden. Hier finden die Akteure auch Wähler, die über andere Arenen und Maßnahmen – wie Kundgebungen, Straßenwahlkampf, Wahlwerbung – nicht anzusprechen sind. Sie können sogar Personen erreichen, die nicht am Wahlkampf und womöglich nicht einmal an Politik interessiert sind. Fernsehnachrichten können diese Zuschauer gleichsam überrumpeln (Noelle-Neumann, 1971; vgl. auch Schoenbach & Lauf, 2004). Die Bedeutung der Fernsehnachrichten als Wahlkampfarena macht es besonders interessant und relevant, dieses Medienangebot während der Wochen vor dem Wahltag genauer zu untersuchen. Immer noch ist das Fernsehen die wichtigste Informationsquelle der Wähler, um sich über das aktuelle Wahlkampfgeschehen auf dem Laufenden zu halten. Auf die Frage, wo sie sich hauptsächlich über den Bundestagswahlkampf informiert haben, nannten die Wähler auch 2009 mit Abstand an erster Stelle das Fernsehen (vgl. Geese, Zubayr, & Gerhard, 2009, S. 638). Selbst im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008, der als Prototyp einer modernen Internet-basierten Kampagne gilt, war das Fernsehen die wichtigste Informationsquelle der Wähler (Smith, 2009, S. 41). Wenngleich vor allem jüngere Zuschauer inzwischen das Internet für die aktuelle Information bevorzugen, wenden sie sich dort oft den Angeboten der herkömmlichen Medien zu (Eimeren & Frees, 2009). Es liegt daher nahe anzunehmen, dass die Fernsehberichterstattung das Bild der Wähler vom Wahlkampf und mittelbar ihr Wahlverhalten beeinflusst. Dafür gibt es inzwischen eine Vielzahl empirischer Belege (vgl. etwa Iyengar & Simon, 2000; Kepplinger, Brosius, & Dahlem, 1994; Norris, 2006;
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Winfried Schulz & Reimar Zeh
Schmitt-Beck, 2000; Sheafer & Weimann, 2005). Dass Kandidaten–Images und Kandidatenpräferenzen der Wähler vom Fernsehimage geprägt werden, ist ebenfalls gut belegt (Brettschneider, 2005; Kepplinger & Maurer, 2005, S. 129ff.). Analysen der Wahlberichterstattung des Fernsehens bieten daher Anhaltspunkte zur Erklärung des Wählerverhaltens. Aus einem ähnlichen Grund sind sie auch für die politischen Parteien und insbesondere deren Kampagnenmanager relevant. Für sie ist es wichtig zu sehen, ob ihre Themen und Kandidaten in angemessenem Umfang und in einer für den Wahlerfolg vorteilhaften Weise in den Nachrichten dargestellt werden. Eine Analyse der Wahlberichterstattung kann auch als Erfolgskontrolle der Kampagnen gelesen werden. Die Auftritte der Akteure, die Ereignisse, in denen sie auftreten, das thematische Framing und andere Merkmale der fernsehspezifischen Darbietung sind die wesentlichen Ingredienzien, aus denen die Nachrichtenredaktionen die Fernsehrealität des Wahlkampfs konstruieren. Wie weit dies nach ähnlichen oder unterschiedlichen Prinzipien geschieht, interessiert in Deutschland vor allem im Vergleich zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Kanälen. Analysen von Fernsehnachrichten dokumentieren daher regelmäßig auch Unterschiede zwischen den Sendersystemen und forschen nach Angleichungstendenzen in der Langzeitperspektive (vgl. etwa Krüger, Müller-Sachse, & Zapf-Schramm, 2005; Maier, 2002). Darüber hinaus stellen sich Fragen nach der Nachrichtenpräsenz und -darstellung von Parteien und Kandidaten auch im Hinblick auf das normative Gebot, dass Berichterstattung und Informationssendungen "unabhängig und sachlich" sein müssen, wie es im Rundfunkstaatsvertrag heißt (§ 10 RStV). Dort ist allen Programmen zudem ausdrücklich aufgetragen, Berichterstattung und Kommentar zu trennen. Darüber hinaus gilt für die öffentlich-rechtlichen Programme, dass sie "die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen" haben (§ 11 RStV). Wie die Nachrichtenredaktionen der verschiedenen Programme diesen Ansprüchen im Wahlkampf gerecht werden, ist nicht nur medienpolitisch relevant. Schließlich ist es unter systemtheoretischen Aspekten von Bedeutung, den Beitrag des Fernsehens zur Herstellung politischer Öffentlichkeit und zur Vermittlung unterschiedlicher Positionen im Wahlkampf zu untersuchen. Dies zeigt sich unter anderem an der Fernsehpräsenz der politischen Akteure. Aussagefähig ist insbesondere auch die Art ihrer Darstellung, ob
Die Protagonisten in der Fernseharena
315
sie zum Beispiel im Bild gezeigt und als Sprecher selbst zu Wort kommen, ob ihre Aktivitäten neutral berichtet oder auch beurteilt werden. Schließlich ist es wichtig zu wissen, welche Ereignisse den Akteuren zu Nachrichtenpräsenz verhelfen und welches thematische Framing die Programme den Auftritten geben. Der Blick richtet sich dabei vor allem auf die Protagonisten, die als Anwärter für das höchste Regierungsamt ins Rennen geschickt werden, in Deutschland auf die Kanzlerkandidaten. 1
Akteurseinflüsse auf die Nachrichtenpräsenz
Die Nachrichtenpräsenz politischer Akteure ist zeitlich variabel, abhängig von der wechselnden Ereignislage, von den vorherrschenden Themen auf der Policy Agenda und in der öffentlichen Meinung. Das politische Geschehen ist aber nur scheinbar "gegebener" Anlass und Hintergrund der Nachrichtenberichterstattung. Politische Akteure haben Möglichkeiten, Art und Umfang ihrer Beteiligung am Geschehen zu beeinflussen. Erfolgreich ist, wer sich im Ereigniskontext in Szene setzen, Themenkompetenz und issue ownership reklamieren und Themen "besetzen" kann. Hohe Nachrichtenpräsenz haben üblicherweise Angehörige der politischen Exekutive, die qua Amt auf politisches Geschehen einwirken und Themen auf die politische Agenda setzen können (Bennett, 1990; Tresch, 2009). Im Hinblick auf die Nachrichtenpräsenz ist dabei nicht allein der Ereignis- bzw. Themenbezug wichtig. Entscheidend ist vielmehr, dass es sich um Ereignisse mit hohem Nachrichtenwert bzw. um Themen mit hohem Rang auf der politischen Agenda handelt. Einen politischen Vorteil haben Akteure vor allem dann, wenn ihre Beteiligung in einem günstigen Licht erscheint bzw. positiv bewertet wird. Ist ein Politiker in Skandale verwickelt, werden ihm Fehlverhalten zur Last gelegt oder Fehlentwicklungen zugeschrieben, ist Medienpräsenz alles andere als vorteilhaft (Kepplinger, Eps, & Augustin, 1995). Anlässe für Nachrichtenpräsenz ist nicht nur "genuines" Geschehen wie Kriege und Katastrophen, politische Missstände oder soziale Probleme. In den Wochen vor der Wahl sind es auch die Wahlkampfaktivitäten der Parteien und Kandidaten. Diese haben ein verständliches Interesse daran, dass sie in der Berichterstattung berücksichtigt werden. Daher richtet sich ein erheblicher Teil des Wahlkampfgeschehens nicht direkt an die Wähler, son-
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Winfried Schulz & Reimar Zeh
dern zunächst an die Massenmedien, um über deren Vermittlung möglichst viele Wähler zu erreichen. Der Erfolg dieser Strategie hängt nicht nur von der politischen Relevanz der Programme und Themen ab, die von den Parteien und Kandidaten vorgetragen werden. Mindestens ebenso wichtig ist die mediengerechte Zurichtung oder Inszenierung von Wahlkampfereignissen. Diese müssen zur Berichterstattung passfähig sein, den Auswahlkriterien journalistischer Gatekeeper entsprechen. Diese Anforderungen zu erfüllen, bemüht sich eine zunehmend professionalisierte Wahlkampfführung (Negrine, 2008). Medienpräsenz und speziell Fernsehpräsenz wurde zu einem vorrangigen Ziel der Kampagnenstrategie (Radunski, 2003). Die Parteien, Kandidaten und ihre Berater setzen dazu auf die Beeinflussung der journalistischen Themen- und Ereignisselektion, teils auf dessen Framing und teils auf die Fernsehtauglichkeit der Protagonisten. Unterstützt wird das durch eine inzwischen weitgehend kommerzialisierte Beratungsszene (Plasser, 2002). 2
Gatekeeper-Entscheidungen
Auch wenn die aktuelle Ereignislage das Nachrichtenbild der Politik bestimmt, entscheiden doch letztlich die Gatekeeper, die Redakteure, Reporter, Moderatoren des Fernsehens, welche Ereignisse nachrichtenwürdig und in welchem thematischen Rahmen sie einzuordnen sind. Sie entscheiden ferner darüber, welche Quellen und Zeugen des Geschehens als relevant gelten, welche "sprechenden Köpfe" das Geschehen personalisieren und mit welchen medialen Stilmitteln und Formaten es dargestellt werden soll. Diese Entscheidungen sind allenfalls zum geringen Teil subjektive Willkürakte. Sie folgen vielmehr redaktionellen Zielen und Planungen, organisatorischen Zwängen, journalistischen Ritualen und professionellen Normen – "anerkannten journalistischen Grundsätzen", wie es im Rundfunkstaatsvertrag heißt (§10 RStV). Im Wahlkampf werden diese Gesetzmäßigkeiten der Nachrichtenselektion durch weitere Prinzipien überlagert. So wird zum Beispiel in Großbritannien erwartet, dass die Fernsehsender stopwatch balance herstellen, das heißt den Parteien in etwa die gleiche Sendezeit zugestehen (Norris, Curtice, Sanders, Scammell, & Semetko, 1999, S. 130). In Deutschland dagegen werden Sendezeiten der Parteien nach einem Proporzsystem verteilt, der sich an
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ihrer parlamentarischen Repräsentanz orientiert (vgl. Holtz-Bacha, 2000, S. 63ff.). Auch für die redaktionell verantworteten Sendungen wird auf eine entsprechende "proportionale Ausgewogenheit" geachtet, insbesondere bei den öffentlich-rechtlichen Programmen auf Grund strengerer Vorschriften im Rundfunkrecht. Wie Programmanalysen belegen, halten sich aber auch die privaten Programme weitgehend an diese Vorgaben (vgl. etwa Krüger & Zapf-Schramm, 2009). Zweitens dokumentierten Programmanalysen eine Zeitlang eine auffällige Bevorzugung des Amtsinhabers im Fernsehen – einen anscheinend typisch deutschen "Kanzlerbonus" (Schoenbach, de Ridder, & Lauf, 2001; Semetko, 1996). Dieser Bonus schien allerdings bei den letzten Bundestagswahlen zu schwinden (Schulz & Zeh, 2006). Auf der anderen Seite zeigt eine neuere Analyse für Dänemark einen (unterschiedlich starken) Amtsbonus für Akteure der jeweiligen Regierungsparteien bei mehreren Parlamentswahlen (Hopmann, de Vreese, & Albæk, 2010). Die Fokussierung auf die Spitzenkandidaten resultiert auch aus einer fortschreitenden Personalisierung der Wahlkämpfe (Brettschneider, 2002; Holtz-Bacha, 2006). Personalisierung und Präsidentialisierung sind Bestandteil einer Modernisierungstendenz (ungenau auch "Amerikanisierung" genannt), die in entwickelten Demokratien weltweit einen ähnlichen Verlauf nimmt (Plasser, 2002). Dies korrespondiert mit einem Stilwandel des Journalismus, der als zunehmende Entpolitisierung und Dramatisierung beschrieben wird. Erkennbar ist das zum einen am wachsenden Umfang der Berichterstattung über den "Stand des Rennens", an der Vernachlässigung von Sachfragen zugunsten von Politics, das heißt Wahlkampfgeschehen und Konflikte zwischen den Parteien, zwischen Regierung und Opposition (Faßbinder, 2009; Lengauer, 2007). Zum anderen ist eine Tendenz zur Visualisierung der Nachrichten zu erkennen (Maurer & Kepplinger, 2003). Im Fernsehen werden die Akteure außer in Filmdarstellungen mit O-Ton zunehmend auch im Film ohne OTon gezeigt, unterlegt mit Journalistenkommentaren (Bucy & Grabe, 2007; Esser, 2008). Dies wird als eine Form der "Entmündigung" politischer Akteure interpretiert. Ähnlich gilt die Länge der O-Ton-Zitate (sound bites) als Indikator für eine authentische Kandidatendarstellung. Langzeitanalysen belegen für das US-amerikanische Fernsehen und für die deutsche Qualitätspresse ein Schrumpfen der Politikerzitate (Farnsworth & Lichter, 2006; Wilke & Reinemann, 2006).
318 3
Winfried Schulz & Reimar Zeh Die Bundestagswahl 2009
Wie schon einmal, nämlich bei der Bundestagswahl 1969, bewarb sich 2009 ein Herausforderer um die Kanzlerschaft, der in einer Koalitionsregierung hohe Ämter bekleidete.1 In formaler Hinsicht war daher das Macht- und Reputationsgefälle, das üblicherweise den Wettbewerb zwischen den Kanzlerkandidaten kennzeichnet, vergleichsweise gering. Zwar kam der Kanzlerin Angela Merkel als Regierungschefin der größere Amtsbonus zu. Aber auch der Vizekanzler und Außenminister Frank-Walter Steinmeier konnte nicht nur auf hohen formalen Status bauen, sondern ebenso auf große Bekanntheit und Wertschätzung in der Bevölkerung. Noch zu Beginn des Wahljahres rangierte Steinmeier in den Bewertungen ganz vorn auf der Liste des ZDF-Politbarometers des ZDF, nur knapp hinter Merkel. Allerdings war er bis zum Beginn der heißen Wahlkampfphase schon auf Platz vier abgerutscht und konnte erst nach dem TV-Duell wieder Boden gutmachen. Auf Grund des unterschiedlichen Geschlechts der Kontrahenten stellte sich 2009 – wie schon bei der letzten Bundestagswahl – die Frage, welche Rolle der "Gender-Faktor" im Wahlkampf spielte. Dass Frauen, die sich um ein politisches Amt bemühen, in den Medien einen Präsenznachteil haben und das Ziel von Gender-Stereotypisierung sind, wurde häufig vor allem bei US-amerikanischen Wahlen beobachtet. Zumindest der Präsenznachteil lässt sich in neueren Untersuchungen nicht mehr feststellen (Kittilson & Fridkin, 2008). Medienanalysen zeigen jedoch weiterhin, dass weibliche Kandidaten eher mit apolitischen oder vermeintlich weiblichen Eigenschaften und Themen dargestellt werden. Ihr Familienleben, ihre Persönlichkeit und ihr Aussehen spielen oft eine größere Rolle als ihre politische Kompetenz (Bystrom, 2004, 2006; Trent & Friedenberg, 2008, S. 171ff.). Eine in verschiedenen Untersuchungen unterschiedlich ausgeprägte Gender-Stereo-typisierung spielte auch in der Berichterstattung über die deutsche Bundestagswahl 2005 eine Rolle (Semetko & Boomgaarden, 2007; Westle & Bieber, 2009; Wilke & Reinemann, 2006).
1
Bei der Bundestagswahl 1969 traten der Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger für die CDU/CSU und der Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt für die SPD gegeneinander an.
Die Protagonisten in der Fernseharena 4
319
Fragestellungen und Methode
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und Befunde präsentieren und interpretieren wir hier ausgewählte Ergebnisse einer Analyse der Fernsehberichterstattung zur Bundestagswahl 2009. Dabei gehen wir folgenden Fragen nach: 1. In welchen Ereignis- und Themenkontexten erlangten die Kandidaten Fernsehpräsenz? 2. Gab es einen Kanzlerbonus oder andere Unterschiede in der Beachtung der Kandidaten? 3. Welche Merkmale der Kandidaten wurden mit welcher wertenden Tendenz beurteilt und welche Rolle spielte dabei der Gender-Faktor? 4. Gab es Unterschiede im Nachrichtenstil der verschiedenen Sendungen? Die Fragen richten sich an die vier Hauptabendnachrichten der Fernsehsender mit der größten bundesweiten Verbreitung (ARD Tagesschau, ZDF heute, RTL Aktuell und SAT.1 Nachrichten). Sie wurden nach den methodischen Regeln der quantitativen Inhaltsanalyse über einen Zeitraum von vier Wochen untersucht, und zwar ab dem 29. August bis zum 26. September 2009 (dem Tag vor der Bundestagswahl).2 Einbezogen in die Analyse sind nur politische Nachrichtenbeiträge. Diese wurden unterschiedlich detailliert analysiert, so dass für Beiträge mit Bezug zu den beiden Kanzlerkandidaten deutlich mehr Informationen gewonnen wurden als für Beiträge zur Bundestagswahl ohne Kandidatenbezug. Die Analyse setzte außer bei den Kandidatenbezügen auf Beitragsebene auch bei den Sprechersequenzen an, aus denen Nachrichtenbeiträge im Fernsehen bestehen. Auf der Sequenzebene richtete sich das Augenmerk unter anderem auf Merkmale der Sprecher und auf ihre Urteile über die Kanzlerkandidaten. Die Trenddarstellungen beruhen auf methodisch vergleichbaren Erhebungen (vgl. Kindelmann, 1994; Schulz, Berens, & Zeh, 1998; Schulz & Zeh, 2003, 2004, 2006; Zeh, 2005). Weitere Informationen zu den Kategorien und ihren Definitionen werden mit den Ergebnissen mitgeteilt. An der Analyse waren sechs Codierer – Studierende der Sozialwissenschaften – beteiligt, die vor jeder Analysephase eine Woche lang intensiv geschult 2
Dieser Zeitraum von genau vier Wochen plus einem Tag wurde aus Gründen der Vergleichbarkeit mit Ergebnissen zu früheren Bundestagswahlen für die hier präsentierten Ergebnisse gewählt.
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Winfried Schulz & Reimar Zeh
wurden. In der ersten Analysephase wurden die digital aufgezeichneten Nachrichtensendungen in Bezug auf – vorwiegend formale – Beitrags- und Sequenzmerkmale untersucht, in der zweiten Phase auf Akteursmerkmale, Themenbezüge und Urteile. Die Codierer waren angewiesen, sich – entsprechend den üblichen Regeln der quantitativen Inhaltsanalyse – auf manifeste Inhalte zu konzentrieren, so auch bei der Codierung von wertenden Urteilen auf eindeutig wertende Wortwahl. Reliabilitätstests ergaben eine insgesamt gute Übereinstimmung zwischen den Codierern. Die Tests an einer Materialstichprobe ergaben Koeffizienten von 0,9 auf der Beitrags- und Sequenzebene und 0,7 auf der Urteilsebene.3 Um darüber hinaus etwaige Codierereinflüsse zu kontrollieren, wurden ihnen die zu bearbeitenden Sendungen nach einem systematischen Zufallsverfahren zugewiesen. 5
Ergebnisse
5.1 Nachrichtenpräsenz der Kandidaten Verglichen mit früheren Bundestagswahlen widmeten die Sender 2009 in ihren Hauptabendnachrichten dem Bundestagswahlkampf nur wenig Aufmerksamkeit.4 Beiträge mit Bezug zur Bundestagswahl hatten einen so geringen Anteil an der Berichterstattung über deutsche Politik wie seit 1990 nicht mehr, als die Ereignisse um die Wiedervereinigung alle anderen Themen verdrängten (vgl. Abbildung 1).
3
Es sind Koeffizienten für die prozentuale Übereinstimmung unter den Codierern ausgehend vom Holsti-Koeffizienten.
4
Der Unterschied zwischen den Wahljahren ist offenbar geringer, wenn man außer den Hauptabendnachrichten auch noch weitere politische Sendungen berücksichtigt, wie aus einem Vergleich der Analysen von Krüger und Mitarbeitern zu schließen ist (Krüger, Müller-Sachse, & Zapf-Schramm, 2005; Krüger & Zapf-Schramm, 2009). Da deren Untersuchungszeiträume für 2005 und 2009 differieren, ist anhand der veröffentlichten Ergebnisse aber leider kein genauer quantitativer Vergleich möglich.
Die Protagonisten in der Fernseharena Abbildung 1:
80
321
Beiträge mit Wahlbezug und Kandidatenbezug Prozentbasis: Anzahl der politischen Beiträge
Kandidatenbezug und Wahlbezug in Prozent Anteil der Beiträge mit Kandidatenbezug Anteil der Beiträge mit Wahlbezug Anzahl der politischen Beiträge (Prozentbasis)
700
600
60
500
400 40 300
200
20
100
0
0 1990
1994
1998
2002
2005
2009
Dass die Bundestagswahl so wenig beachtet wurde, lag zum einen an einer Reihe konkurrierender Themen und Ereignisse mit hohem Nachrichtenwert wie die Finanzkrise, die Verhandlungen um die Zukunft des Autobauers Opel, der Luftangriff gegen Taliban nahe Kundus und Wahlen in mehreren Bundesländern. Die Hauptabendnachrichten der deutschlandweit verbreiteten Fernsehprogramme haben ein relativ starres Format. Dazu gehört ein begrenzter zeitlicher Umfang (von 15 bis 20 Minuten), von dem sie nur in seltenen Ausnahmefällen abweichen. Um dieses enge Zeitbudget konkurrieren in Wahlkampfzeiten die wahlbezogenen Nachrichten mit Nachrichten über das sonstige inländische und internationale Geschehen. Hat dieses einen hohen Nachrichtenwert, so sinken die Chancen des Wahlkampfes auf Fernsehpräsenz. Im Vergleich zu den anderen Programmen hatte der Wahlkampf für die ARD-Tagesschau offenbar den geringsten Nachrichtenwert; hier lag der Anteil wahlbezogener Beiträge um sechs Prozent unter dem Durchschnitt von 24 Prozent, den Abbildung 1 für 2009 zeigt. Anders da-
322
Winfried Schulz & Reimar Zeh
gegen die Einschätzung des Nachrichtenwerts von SAT.1 mit einem um sieben Prozent überdurchschnittlichen Anteil wahlbezogener Beiträge.5 Vor allem weil dem Wahlkampf Spannungsmomente fehlten, hatte er einen geringen Nachrichtenwert. Auf Grund der veröffentlichten Umfragewerte wurde schon früh ein Sieg von Bundeskanzlerin Merkel erwartet. Zudem führten die Kanzlerkandidaten einen sanften Wahlkampf, so dass es an personalisierten Kontroversen fehlte. Auch das Fernsehduell wurde allgemein als zu "harmonisch" kritisiert. Das Magazin Der Spiegel charakterisierte die Diskussion als "mau". Mit ähnlichen Adjektiven belegten die Medien den Wahlkampf insgesamt. Erst in der letzten Woche vor dem Wahltag spielte die Wahl in der Berichterstattung eine nennenswerte Rolle und behauptete sich dort auch gegenüber bedeutenden internationalen Ereignissen wie dem Weltklimagipfel und dem G-20-Gipfel in den USA. Auch wenn der Wahlkampf als Ereignis und Thema wenig Nachrichtenwert hatte, wäre es den Kanzlerkandidaten doch möglich gewesen, sich im Kontext anderer nachrichtenwürdiger Ereignisse in Szene zu setzen. Bei der unüblichen Konstellation mit zwei Kontrahenten in Regierungsverantwortung konnte man für beide einen ähnlichen Amtsbonus in den Nachrichten erwarten. Tatsächlich zeigen aber unsere Ergebnisse ganz erhebliche Beachtungsunterschiede zwischen der Kanzlerin und dem Außenminister. In gut zwei Fünftel der untersuchten Beiträge kam Merkel in ihrer Rolle als Kanzlerin vor, während Steinmeier nicht einmal halb so oft in seiner Rolle als Außenminister präsent war. Dies ist ein erstes Indiz für den ausgeprägten Kanzlerbonus in den Fernsehnachrichten. Tabelle 1 untergliedert die Kandidatenbezüge nach ihrem jeweiligen thematischen Kontext.6 Die Kanzlerin kam am häufigsten im Themenkontext internationale und Außenpolitik vor, unter anderem beim Besuch des israelischen Premierministers Netanjahu, bei Gedenkveranstaltungen zum Beginn des 2. Weltkriegs und bei den Gipfeltreffen in den USA in der Woche vor dem Wahltag. Die Kanzlerin war damit wesentlich erfolgreicher, außenpolitische Themen zu besetzen, als der Außenminister. Der Schwer-
5
Allerdings waren die Nachrichtenbeiträge bei SAT.1 deutlich kürzer als bei den anderen Programmen (vgl. unten Tabelle 3 und 4).
6
Ausgewiesen ist jeweils das vorherrschende Thema bzw. Hauptthema im Kandidatenbezug.
Die Protagonisten in der Fernseharena
323
Tabelle 1: Dominierender Themenkontext der Kandidatenbezüge
Themenkontext: Internationale Beziehungen und Konflikte, Europa- und Außenpolitik Regierung, Parlament, Parteien Innere Sicherheit, Verteidigung Wirtschaft, Steuern, Unternehmen Arbeit, Arbeitslosigkeit Energie, Umwelt, Verkehr Soziales, Gesundheit, Familie, Migranten Kunst, Kultur Bundestagswahl, Wahlkampf davon: Fernsehduell Kampagne der Union bzw. SPD Landtags-, Kommunalwahl Summe Anzahl der Kandidatenbezüge
MerkelBezüge* %
SteinmeierBezüge* %
19,5
08,4
06,3 02,9 13,8 02,3 04,0 01,7 00,6 39,1
07,5 01,9 08,4 02,8 01,9 000 00,9 57,0
08,0 20,6 09,8 100 (174)
14,0 28,0 11,2 100 (107)
punkt der Steinmeier-Bezüge lag bei wirtschafts- und finanzpolitischen Themen wie zum Beispiel der Opel-Rettung und der Finanzkrise. Aber auch auf diesem Themenfeld hatte die Kanzlerin weit mehr Nachrichtenpräsenz als der Herausforderer. Steinmeier konnte sich auch nicht auf Themenfeldern profilieren, die in der SPD-Wahlkampfprogrammatik eine zentrale Rolle spielten wie Arbeit, Bildung, Nachhaltigkeit. Das Thema Bildung konnte von keinem der Kandidaten auch nur ein einziges Mal als Hauptthema eines Kandidatenbezugs in den Nachrichten lanciert werden. Während der Amtsinhaber üblicherweise bessere Chancen hat, sich mit Sachfragen und in der Politikherstellung in Szene zu setzen, erzielt der Herausforderer meist mehr Nachrichtenpräsenz im Kontext von Wahlen und Wahlkampf. Dies war auch 2009 mit einem Herausforderer in hohen Regierungsämtern der Fall. Ob die jeweiligen Vorteile den Kandidaten zu ver-
324
Winfried Schulz & Reimar Zeh
gleichbarer Fernsehpräsenz verhalfen, ist aus Tabelle 1 aber nur indirekt ablesbar. Die proportionalen Verteilungen der Kandidatenbezüge haben sehr ungleiche Basiswerte. Ein etwas anderes Bild ergibt sich bei Vergleichen mit absoluten Zahlen. Abbildung 2 zeigt noch einmal separat die Beiträge mit Kandidatenbezügen im Wahlkontext (aus Tabelle 1) und weist dabei die Beiträge aus, bei denen es sich um Bezüge im Kontext der eigenen Kampagne handelt. Abbildung 2: Kandidatenbezüge im Themenkontext Bundestagwahl und -wahlkampf Anzahl Beiträge
Kampagne der eigenen Partei Sonstiges zur Bundestagswahl
20
15
10
5
0 Merkel Steinmeier ARD Tagesschau
Merkel Steinmeier ZDF heute
Merkel Steinmeier RTL Aktuell
Merkel Steinmeier SAT.1 Nachrichten
Die Grafik verdeutlicht, dass einige Sender der Kanzlerin auch in Berichten zur Wahl und nicht nur zu Sachfragen mehr Aufmerksamkeit schenkten. Am größten war dieser Beachtungsvorsprung in der ZDF-heute-Sendung, deutlich auch noch bei SAT.1. Nur bei RTL übertraf Steinmeiers Präsenz im Kontext der SPD-Kampagne die Kampagnenpräsenz von Merkel etwas. Was die Sichtbarkeit der Kandidaten im Kontext ihrer jeweiligen Kampagne betraf, hatte der Herausforderer in der Berichterstattung von RTL die relativ besten Chancen. Alle anderen Programme konzentrierten sich stärker auf die Kanzlerin.
Die Protagonisten in der Fernseharena
325
5.2 Nachrichtenstrukturen Ein ähnliches Muster zeigen auch andere, teils subtile Strukturmerkmale der Nachrichten. So können sich einzelne Beiträge exklusiv auf einen der Kandidaten beziehen oder auch beide behandeln. In Beiträgen mit Bezug auf beide Kandidaten kann man das Bemühen sehen, eine allzu einseitige Berichterstattung zu vermeiden. Meist bezog sich etwas mehr oder weniger als die Hälfte aller Beiträge auf beide Kandidaten (vgl. Abbildung 3). Der entsprechende Anteil war bei der ARD am größten, bei SAT.1 am geringsten. Besonders auffällig ist, dass der Herausforderer in allen Nachrichtenprogrammen nur einen Bruchteil der Exklusivbeiträge der Kanzlerin hatte; SAT.1 brachte sogar zwölfmal mehr Exklusivbeiträge über Merkel als über Steinmeier. Abbildung 3: Kandidatenbezüge im einzelnen Beitrag 100%
80% Steinmeier exklusiv Merkel exklusiv Beide
60%
40%
20%
0% ARD Tagesschau
ZDF heute
RTL Aktuell SAT.1 Nachrichten
Es gehört zu den Konstruktionsmerkmalen von Fernsehnachrichten, dass Wichtiges vor weniger Wichtigem gezeigt wird. Dementsprechend drückt
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Winfried Schulz & Reimar Zeh
die relative Position, mit der Akteure in den Nachrichten erwähnt werden, auch etwas über die Relevanz aus, die ihnen die Nachrichtenredakteure zumessen – dies geschieht nicht immer bereits in der Anmoderation. Tabelle 2 belegt, dass Merkel innerhalb der Beiträge deutlich früher erwähnt wurde. Dasselbe gilt für die Positionierung ihrer O-Töne. Sie kamen im Mittel deutlich weiter vorne im Beitrag als die Äußerungen von Steinmeier. Auch dies illustriert noch einmal die unterschiedliche Nachrichtenpräsenz der Kandidaten. Tabelle 2: Position des ersten Kandidatenauftritts in Beiträgen* ARD Tagesschau Position der ersten Erwähnung im Beitrag Merkel Steinmeier Position des ersten OTons im Beitrag Merkel Steinmeier
ZDF heute
RTL aktuell
SAT.1 Nachrichten
2,90 3,96
3,22 4,36
2,35 3,56
2,77 3,14
4,41 5,64
5,36 8,20
3,89 7,83
4,42 5,40
*) Grundlage der Berechnung sind die in den Beiträgen jeweils durchnummerierten Sprechersequenzen. Die Mittelwerte beziehen sich auf die Sequenznummer, in der ein Kandidat zum ersten Mal in einem Beitrag Erwähnung fand bzw. zu Wort kam. Je niedriger der Wert, desto früher kam sie bzw. er im Beitrag zu Wort.
Keine ausgeprägten Ungleichheiten zeigt dagegen die mittlere Länge der Kandidaten-O-Töne. Bei den einzelnen Programmen sind die Sprechersequenzen von Merkel und Steinmeier nur wenig verschieden, mal zugunsten des einen oder des anderen Kandidaten. Anders sieht es dagegen bei den FilmSequenzen ohne O-Ton aus. Sie sind deutlich länger bei den MerkelAuftritten (vgl. Tabelle 3). Nur bei RTL fällt die Bild-Präsenz Steinmeiers nicht so weit gegenüber der Merkels ab. RTL brachte insgesamt am meisten Film-Sequenzen ohne O-Ton, aber auch bei den SAT.1-Nachrichten war der entsprechende Wert relativ hoch, beim ZDF auffallend niedrig. Der Grad der Visualisierung der Kandidatenberichterstattung war bei den privaten Sendern deutlich größer als bei den öffentlich-rechtlichen (gemessen an der Summe
Die Protagonisten in der Fernseharena
327
der Film-Sequenzen mit und ohne O-Ton). Die ZDF-heute-Sendung bildet das Extrem mit den am geringsten visualisierten Kandidatenberichten. Tabelle 3: Kandidatenauftritte im Film mit und ohne O-Ton ARD Tagesschau Mittlere Länge der FilmSequenzen mit O-Ton (in Sekunden)* Merkel spricht Steinmeier spricht N (Anzahl der O-TonSequenzen) Mittlere Länge der FilmSequenzen ohne O-Ton (in Sekunden)* Merkel tritt auf Steinmeier tritt auf N (Anzahl der FilmSequenzen ohne O-Ton)
ZDF heute
RTL aktuell
SAT.1 Nachrichten
13,0 11,5
13,2 14,1
10,8 11,9
9,8 8,9
39
28
39
39
18,0 13,1
20,2 12,6
20,9 18,5
14,0 11,0
61
51
127
89
*) Der jeweils größere Wert im Kandidatenvergleich ist fett hervorgehoben.
Die mittlere Länge der O-Ton- und Film-Auftritte (sound bites, image bites) ist in der Literatur teils als Indikator einer authentischen Berichterstattung interpretiert worden, und zwar insbesondere im Trend – bei abnehmender Länge – als Indikatoren der "Entauthentisierung" (Bucy & Grabe, 2007; Farnsworth & Lichter, 2006; Wilke & Reinemann, 2006). Vergleicht man die mittlere Länge der Kandidaten-O-Töne über die letzten Bundestagswahlen, so ist – nach einem deutlichen Rückgang von 1990 auf 1994 – seitdem nur noch eine geringfügige Schrumpfung erkennbar (vgl. Abbildung 4).7 Auch gibt es, außer bei der "Vereinigungswahl" 1990, keine besonders ausgeprägten Unterschiede zwischen Amtsinhaber und Herausforderer. Auffälliger ist dagegen die Konvergenz der Mittelwerte von öffentlich-rechtlichen und 7 Für image bites in der deutschen Wahlberichterstattung des Fernsehens gibt es leider keine vergleichbaren Trenderhebungen.
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Winfried Schulz & Reimar Zeh
privaten Nachrichtenprogrammen – genauer gesagt: Im Laufe der Zeit schrumpften bei ARD und ZDF die Kandidaten-O-Töne und näherte sich damit den kürzer geschnittenen Sprechersequenzen der privaten Kanäle an. An den Kandidaten-O-Tönen wird ein Wandel im Nachrichtenstil der öffentlich-rechtlichen Programme deutlich. Abbildung 4: Mittlere Länge der O-Ton-Auftritte (sound bites) 30
Mittelwert Kanzler/-in Kandidat/-in öffentl.-rechtliche Programme private Programme
25
20
15
10
5
0 1990
1994
1998
2002
2005
2009
Weitere Unterschiede im Nachrichtenstil der Programme zeigen sich an den Sprechersequenzen anderer Akteure. In den öffentlich-rechtlichen Nachrichten kamen neben den Kanzlerkandidaten umfangreicher als in den privaten auch andere Politiker zu Wort. Die Privaten zitierten – meist mit kürzeren Statements – häufiger als die Öffentlich-Rechtlichen auch Bürger bzw. Wähler und Experten (vgl. Tabelle 4). Ihnen fiel oft die Rolle zu, das politische Meinungsklima zum Ausdruck zu bringen oder den
Die Protagonisten in der Fernseharena
329
Tabelle 4: Gesamtlänge der Sprechersequenzen verschiedener Akteure ARD Tagesschau % 72,3 Journalisten 6,8 Kandidaten, davon 4,0 Merkel 2,8 Steinmeier 17,5 andere Politiker, davon 4,5 CDU/CSU 2,4 FDP 4,0 SPD 3,4 Bündnis 90/Grüne 2,5 Die Linke 2,0 Interessenvertreter 0,4 Bürger, Wähler Experten, andere nicht 0,9 organisierte Akteure 0,1 nicht klar erkennbar 100 Dauer der Sequenzen (7056) insgesamt (Sek.) Anzahl der Sequenzen (482) insgesamt Sprecher:
ZDF heute % 78,6 5,0 2,9 2,1 13,7 3,1 2,6 2,1 2,5 2,7 1,3 0,7 0,7
RTL aktuell % 78,8 5,9 3,3 2,6 9,8 3,0 1,6 2,0 1,3 0,8 0,9 1,8 2,5
SAT.1 Nachrichten % 76,6 7,1 5,2 1,9 9,1 1,8 2,6 1,8 0,9 1,3 0,8 3,4 2,7
0 100 (7615)
0,3 100 (7469)
0,3 100 (5223)
(441)
(490)
(407)
Stand des Rennens anhand von Umfrageergebnissen zu berichten. Aber insgesamt hatten die nicht organisierten Akteure in den Nachrichtensendungen wenig zu sagen. Auf allen Kanälen dominierten die Journalisten der jeweiligen Sender.8 Auf den ersten Blick mag überraschen, dass die Länge der O-Töne von Vertretern verschiedener Parteien relativ wenig differieren und dass auch die kleineren Parteien mehr zu Wort kamen, als es ihrer parlamentarischen Repräsentanz entspricht. Berücksichtigt man 8
Das ist offenbar auch in anderen "Nachrichtenkulturen" der Fall (USA, Großbritannien) – nicht jedoch in Frankreich (Esser, 2008).
330
Winfried Schulz & Reimar Zeh
jedoch das Übergewicht Merkels bei den Kandidaten-Statements, so räumten alle Sender den Vertretern der Unionsparteien mit Abstand am meisten Redezeit ein, mehr auch als der SPD. 5.3 Urteile über die Kandidaten Man kann die Fernsehpräsenz der Kandidaten und anderer Parteiakteure als Voraussetzung für den Erfolg der Kampagne und ihren Eindruck bei den Zuschauern interpretieren. Das gilt jedoch nur, wenn die Fernsehdarstellung neutral oder positiv ist. Insofern ist die Aussagekraft der bisher betrachteten rein quantitativen Indikatoren begrenzt. Es kommt auch auf die Darstellung und Bewertung der Kandidaten an. Bei unserer Analyse wurden für alle Urteile über die Kanzlerkandidaten neben der Tendenz der Aussagen auch die bewerteten Merkmale der Kandidaten codiert.9 Entsprechend der allgemein stärkeren Beachtung der Kanzlerin wurde sie in den Nachrichten auch deutlich häufiger beurteilt als der Herausforderer. Nimmt man alle Urteile zusammen, so war das Urteilsbild insgesamt für Merkel ausgeglichen, für Steinmeier leicht positiv (vgl. Abbildung 5). Die meisten Urteile bezogen sich auf das Agieren der Kandidaten im Wahlkontext. Die Beurteilungen betrafen überwiegend rollennahe Eigenschaften, das heißt, ihr politisches Handeln und ihre politische Kompetenz, und diese Urteile waren per Saldo für Steinmeier ausgeglichen und für Merkel leicht negativ. Beide Kandidaten wurden wegen ihrer Konfliktvermeidung im Wahlkampf kritisiert. Ein Teil der Kandidatenurteile bezog sich auf das Wählerurteil und auf Publikumsreaktionen zur TV-Debatte; meist ging es dabei um das horse race, also wer besser ankam oder dastand. Der UrteilsSaldo der entsprechenden Merkmalskategorie ist leicht positiv und für Steinmeier etwas günstiger, weil sein Abschneiden im TV-Duell vielfach besser als erwartet eingeschätzt wurde. Am besten wurden Ausstrahlung und Auftreten beider Kandidaten bewertet.
9
Die Codierer konnten schwache und starke Wertigkeiten unterscheiden, sahen dafür aber kaum Anlässe. Daher wurde für die Auswertung die Urteilsrichtung auf eine Dichotomie reduziert, auch um die Datenqualität zu verbessern.
Die Protagonisten in der Fernseharena
331
Abbildung 5: Wertende Aussagen über die Kanzlerkandidaten: Urteile insgesamt und bewertete Merkmale10 Urteilsnegative Urteile positive Urteile Saldo Saldo 1 Urteile insgesamt Politisches Ausstrahlung, Handeln, Aussehen Kompetenz
Anzahl Urteile Wählerurteil, Publikumsreaktion
60 40
0,5
20 0
0 -20
-0,5
-40 -60
-1 Merkel Steinmeier
Merkel Steinmeier
Merkel Steinmeier
Merkel Steinmeier
Gut zwei Fünftel aller Urteile in den Hauptabendnachrichten der fünf Sender stammten von Journalisten (Redakteuren, Moderatoren, Reportern) der Fernsehsender, der Rest waren zitierte Urteile, und zwar zu gut einem Drittel von Politikern und zu einem Viertel von Bürgern bzw. Wählern oder Experten, oft aus Wahlumfragen. Die beiden Kanzlerkandidaten haben sich wechselseitig so gut wie gar nicht beurteilt. Nicht nur dies war 2009 offenbar ungewöhnlich. Auch der Anteil von Journalistenurteilen war, verglichen mit den für die Bundestagswahl 2005 dokumentierten Befunden, relativ hoch (vgl. Schulz & Zeh, 2006: 297). Bei den Journalistenurteilen überwogen fast durchweg die positiven Aussagen; RTL-Journalisten äußersten sich am häufigsten positiv, häufiger aber auch kritisch (vgl. Abbildung 6). Das traf speziell auf Merkel zu. Der an einigen Indikatoren ablesbare Präsenzvorsprung Merkels war offenbar nicht nur vorteilhaft. Das galt entspre-
10
Die Punkte markieren jeweils den Saldo bzw. Mittelwert der auf -1 bzw. +1 recodierten Urteile (linke Achse), die Balken die zugehörige Anzahl der Urteile (rechte Achse).
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Winfried Schulz & Reimar Zeh
chend auch für Steinmeier, der zwar bei RTL relativ besser beachtet, aber im Vergleich zu anderen Sendern auch schlechterer beurteilt wurde. Abbildung 6: Urteile und Urteilende im Vergleich der Programme
1
UrteilsSaldo
Journalisten ARD Tagesschau
Politiker ZDF heute
Bevölkerung, Experten RTL Aktuell
Saldo
Anzahl Urteile
SAT.1 Nachrichten
20
0,5 10
0
0
-10 -0,5 -20 -1 Merkel Steinmeier
Merkel Steinmeier
Merkel Steinmeier
Merkel Steinmeier
Die Frage, ob bei der Beurteilung der Kandidaten der Gender-Faktor eine Rolle spielte, lässt sich anhand der Urteilsverteilungen nur ungefähr beantworten. Dass Merkel per Saldo nur unwesentlich schlechter bewertet wurde als ihr männlicher Herausforderer, deutet nicht eindeutig auf eine Diskriminierung hin. In der Urteilskategorie "Ausstrahlung, Aussehen", in der man am ehesten Gender-Stereotypisierungen erwarten könnte, gab es fast nur positive Aussagen. Urteile über Merkel in dieser Kategorie sind überwiegend Lob wie "kämpferisch", "souverän", "selbstsicher", "klare Worte", "locker", "sympathisch". Dem stehen nur wenige kritische Bemerkungen gegenüber, die mal Merkels "Hang zur Selbstbeweihräucherung" ansprechen, mal einen Mangel an Leidenschaft und Emotionalität. Es finden sich allerdings auch einige Formulierungen, die man so auf einen männlichen Kandidaten wohl nicht anwenden würde, wie: "Angela Merkel wirkt abgespannt, internationale Reisen und Wahlkampf, das geht an die Substanz" (Mathias Heinrich am
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26. 9. bei SAT.1 Nachrichten und ProSieben Newstime), "Angela, unser Sonnenschein" (Horst Seehofer am 26. 9. in der ARD Tagesschau), "(Althaus) kann die starke Frau an seiner Seite gut gebrauchen" (Pamela Schlatterer am 28. 8. bei RTL Aktuell). Ein Merkel-Porträt von Pamela Schlatterer auf RTL aktuell (25. 9.) erwähnte neben anderen femininen Eigenschaften auch frühere "konsequent unvorteilhafte Haarschnitte". Es sind Aussagen, die zwar nicht manifest diskriminieren, teils sogar als Kompliment gemeint sind, aber dabei auf vermeintlich weibliche Eigenschaften oder Stereotype rekurrieren. 6
Zusammenfassung und Diskussion
Die Ergebnisse unserer Analyse lassen sich im Hinblick auf die oben gestellten Forschungsfragen wie folgt zusammenfassen: 1. Die Nachrichtenpräsenz der Amtsinhaberin übertraf nicht nur, wie zu erwarten, die des Herausforderers im Kontext von Sachfragen und Regierungshandeln, sondern ebenso im Kampagnenkontext. Der von manchen Beobachtern als "präsidial" kritisierte Wahlkampfstil Merkels war offenbar für die Fernsehkampagne der Unionsparteien eine erfolgreiche Strategie. Die Kanzlerin konnte sich auch wirkungsvoller auf Themenfeldern inszenieren, für die eher dem Herausforderer qua Amt issue ownership zukam. Die Regierungsämter Steinmeiers brachten ihm keinen Fernsehbonus ein. Es gelang ihm auch nicht, sich nachrichtenwürdig auf Themenfeldern in Szene zu setzen, die im Wahlprogramm der SPD von zentraler Bedeutung waren. 2. Eine Anzahl quantitativer Indikatoren belegt einen so deutlichen Kanzlerbonus der Fernsehbeachtung, wie es ihn seit Helmut Kohls Wiedervereinigungskampagne nicht mehr gegeben hat. Der Schwund des Kanzlerbonus, der bei den letzten Bundestagswahlen zu beobachten war, hat sich 2009 nicht fortgesetzt. Die Kanzlerin war nicht nur im Issue-Kontext häufiger und ausführlicher in den Nachrichten präsent, sondern auch in der Wahlberichterstattung. Ihre sound bites und image bites – O-Töne und Film-Auftritte – waren in der Summe und zumeist auch im Mittel länger als die des Herausforderers. Nur für die RTL-Nachrichten ist eine leicht vorteilhafte Beach-
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tung des Herausforderers zu erkennen. Allerdings wurde er dort auch kritischer beurteilt als in den anderen Programmen. 3. Zwar wurde der Bundestagswahlkampf in den Fernsehnachrichten vergleichsweise wenig beachtet. Aber die Nachrichten enthielten eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Kandidatenbewertungen durch die Journalisten der Sender. Alle Programme haben damit das Gebot, Berichterstattung und Kommentar zu trennen, nicht besonders ernst genommen. Die Urteile bezogen sich meist auf Handeln und Kompetenz in der politischen Rolle und waren dabei eher nicht so günstig, insbesondere nicht für die Kanzlerin. Sonst überwogen aber fast durchweg die positiven Urteile, insbesondere in den Aussagen der Journalisten. Das galt auch für Image-relevante Urteile zu Aussehen und Ausstrahlung der Kandidatin. Bei genauer Inspektion der Formulierungen fanden sich jedoch einige wenige Urteile über Merkel, die man als Gender-Stereotypisierungen interpretieren kann. Die JournalistenUrteile in der ARD-Tagesschau waren tendenziell günstiger für Merkel, die in den Nachrichten des ZDF und bei SAT.1 günstiger für Steinmeier. Die Unterschiede sind aber nicht signifikant. 4. Das Wahlkampfgeschehen wird den Fernsehzuschauern vorwiegend in den Worten von Journalisten vermittelt. In geringerem Umfang zitieren vor allem die öffentlich-rechtlichen Programme auch Politiker im O-Ton, während die privaten gelegentlich auch nicht-organisierte Akteure (wie Wähler und Experten) zu Wort kommen lassen. Insgesamt gesehen lassen sich keine eindeutigen Anzeichen für einen politischen Sender-Bias ausmachen. Die Berichterstattung war alles in allem offenbar "unabhängig", wenn auch nicht so "sachlich", wie es der Rundfunkstaatsvertrag fordert. Die Muster der Kandidaten-Präsenz und -Beurteilung wären in allen Nachrichtenprogrammen ähnlich. Soweit unsere Daten Unterschiede zeigen, sind sie nicht ausgeprägt und konsistent genug, um als statistisch gesichert gelten zu können. Deutlicher sind da schon stilistische Unterschiede zwischen den Nachrichtenprogrammen, und zwar vor allem zwischen den öffentlich-rechtlichen und den privaten. Letztere boten eine stärker visualisierte Berichterstattung und kürzere Sprechersequenzen (sound bites). Im Laufe der Jahre haben sich die öffentlich-rechtlichen Programme den kürzer geschnittenen Sequenzen der privaten angenähert.
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Die hier berichteten Analyseergebnisse beziehen sich auf einen Ausschnitt der Fernsehrealität des Bundestagswahlkampfs 2009, und dabei vor allem auf die Darstellung der beiden Spitzenkandidaten. Nicht berücksichtigt sind die wahlbezogenen Berichte in anderen Fernsehformaten und –programmen, die insbesondere bei den öffentlich-rechtlichen Sendern einen beachtlichen Umfang hatten (vgl. Krüger & Zapf-Schramm, 2009). Mit der Konzentration auf die Hauptabendnachrichten wird aber ein Programmsegment beleuchtet, das im allgemeinen die meisten Zuschauer erreicht und den Anspruch erhebt, ein aktuelles Bild der Wirklichkeit zu vermitteln. In den Hauptabendnachrichten der vier am meisten verbreiteten Fernsehprogramme bot sich den Wählern ein vergleichsweise informationsarmes Bild des Wahlkampfs. Andere Themen und Ereignisse hatten fast durchweg einen höheren Nachrichtenwert als das Wahlkampfgeschehen. Offenbar bot es zu wenig fernsehgerechte Spannungsmomente. Es fehlten personalisierte Kontroversen, weil sich die Kontrahenten Merkel und Steinmeier gegenseitig schonten. Auch das speziell für das Fernsehen inszenierte "Duell" der beiden Kandidaten hatte eine im Vergleich zu den beiden vorhergehenden Wahlen geringere Nachrichten- und Publikumsresonanz (Dehm, 2009). Es liegt nahe zu vermuten, dass der spannungsarme Wahlkampf und die entsprechend schwache Medienbeachtung für die mit 70,8 Prozent historisch niedrige Wahlbeteiligung verantwortlich waren. Literatur Bennett, W. L. (1990). Toward a theory of press-state relations in the United States. Journal of Communication, 40(2), 103-125. Brettschneider, F. (2002). Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz – Parteien. Ein internationaler Vergleich. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Brettschneider, F. (2005). Massenmedien und Wählerverhalten. In J. W. Falter & H. Schoen (Hrsg.), Handbuch Wahlforschung (S. 473-500). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bucy, E. P., & Grabe, M. E. (2007). Taking television seriously: A sound and image bite analysis of presidential campaign coverage, 1992-2004. Journal of Communication, 57, 652-675. Bystrom, D. G. (2004). Women as political communication sources and audiences. In L. L. Kaid (Hrsg.), Handbook of political communication research (S. 435-459). Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum.
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Ein Wahlkampf, der keiner war? Die Presseberichterstattung zur Bundestagswahl 2009 im Langzeitvergleich Jürgen Wilke & Melanie Leidecker
1
Vorbemerkungen
Die Bundestagswahl am 27. September 2009 war die siebzehnte seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 (und die sechste seit der Wiedervereinigung 1990). Nachdem die vorangegangene Wahl im Jahr 2005 vorzeitig, nach einer verkürzten Legislaturperiode, stattgefunden hatte, waren diesmal, wie üblich, wieder vier Jahre vergangen. In diesen war das Land von einer großen Koalition von CDU/CSU und SPD regiert worden. Dazu hatte das Wahlergebnis vom 18. September 2005 geradezu gezwungen. Weder hatten die Christdemokraten zusammen mit der FDP, noch die SPD zusammen mit den Grünen eine regierungsfähige Mehrheit erringen können. Und mit der Partei Die Linke, in der sich die im Wesentlichen in den neuen Bundesländern basierte PDS (Ex-SED) und die als gewerkschaftliche Protestbewegung im Westen entstandene WASG vereinigt hatten, hatte die SPD eine Koalition ausgeschlossen. So ließ sich eine Mehrheit nur durch das Zusammengehen der beiden großen Volksparteien erzielen. Bedeutete der reguläre Wahltermin 2009 gegenüber dem zuletzt vorangegangenen eine Normalisierung, so war doch außergewöhnlich, dass im Wahlkampf die zwei großen (bisherigen) Volksparteien gegeneinander standen, die vier Jahre zusammen regiert hatten. Eine ähnliche Situation hatte es in Deutschland nur einmal im Jahre 1969 gegeben. Obwohl die CDU/CSU seinerzeit unter ihrem Kanzler(kandidaten) Kurt Georg Kiesinger 46,1 Prozent der Stimmen erzielten, wurden sie von der SPD, die 42,7 Prozent bekam, (gemeinsam mit der FDP) aus der Regierung abgelöst und in die Opposition verwiesen, aus der sie erst 1982/83 an die Macht zurückkehren konnten. 2009 war die Situation jedoch völlig anders: Diesmal hatte die SPD praktisch keine Machtperspektive.
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Jürgen Wilke & Melanie Leidecker
Die Frage, mit der wir uns hier beschäftigen, ist, wie die Wahlkampfberichterstattung in der deutschen Presse 2009 im Vergleich zu den vorangegangenen Bundestagswahlen ausgesehen hat. Wir schließen damit an zurück liegende Studien an. Am Anfang stand Ende der 1990er Jahre zunächst retrospektiv eine Inhaltsanalyse von vier deutschen Tageszeitungen zu den Bundestagswahlen von 1949 bis 1998 (Wilke & Reinemann, 2000). Eine derartig langfristige Untersuchungsanlage ist bislang einzigartig gewesen. Sie wirft zahlreiche theoretische und praktische Probleme auf, worauf hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann (vgl. Reinemann, 2008). Die amerikanische Vorgänger-Studie von Patterson (1993) hatte sich auf drei Jahrzehnte erstreckt (1960-1992). Die deutsche Untersuchung bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 fortzuführen, lag nahe. Aus mehreren und unterschiedlichen Gründen haben sich diese Wahlen von den vorangegangenen unterschieden, sie schienen jedenfalls in der Berichterstattung "Sonderfälle" zu sein (Wilke & Reinemann, 2003; 2006; 2009). Inzwischen liegen kurzund längerfristige Wahlkampfstudien auch aus Österreich vor (Lengauer, Palaver, & Pick 2006; Melischek, Rußmann, & Seethaler 2009). Vor diesem Hintergrund war es selbstverständlich, die Berichterstattung auch zur Bundestagswahl 2009 wieder kommunikationswissenschaftlich zu untersuchen.1 Damit bietet sich inzwischen die einzigartige Möglichkeit, die Entwicklung der Wahlkampfberichterstattung in der deutschen Presse über 60 Jahre und 17 Bundestagswahlen hinweg zu vergleichen. Zur Anlage der Studie sei hier wiederum nur das Notwendigste gesagt. Näheres kann man den älteren Publikationen dazu entnehmen (Wilke & Reinemann, 2000, S. 19-24). Als Untersuchungsmaterial werden die vier üblicherweise als Qualitätsblätter eingestuften Tageszeitungen Frankfurter Rundschau (FR), Süddeutsche Zeitung (SZ), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und Die Welt (DW) herangezogen. Diese Titelauswahl ließ sich für alle bundesdeutschen Wahlkämpfe bisher gleichhalten, abgesehen von 1949, als statt der damals noch nicht erscheinenden FAZ der Berliner Tagesspiegel ausgewählt wurde. Weitere Beschränkungen betreffen den Untersuchungszeitraum und das untersuchte Material. Jeder zweite relevante Artikel im politischen Teil, auf den Kommentar- und Reportageseiten sowie im Ressort Vermischtes der vier Tageszeitungen aus den letzten vier Wochen vor der Wahl – sozusagen der "heißen Phase" des Wahlkampfs – wurden in die 1
Die Durchführung der Untersuchung wurde wieder durch finanzielle Unterstützung der FAZITStiftung ermöglicht, wofür wir an dieser Stelle ausdrücklich danken möchten.
Ein Wahlkampf, der keiner war?
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Analyse einbezogen. Andere Ressorts (Wirtschaft, Feuilleton) blieben außen vor, obwohl auch dort Artikel veröffentlicht wurden, die mit der bevorstehenden Bundestagswahl in Verbindung standen. Gegenstand der Inhaltsanalyse sind alle Artikel, die einen Bezug zur Bundestagswahl und/oder zu den Kanzlerkandidaten der beiden vorherrschenden Parteien aufwiesen. Die Analyse erstreckte sich auf die journalistischen Beiträge, die wertenden Aussagen über die Kanzlerkandidaten und auf die Bilder (Fotos). Auf der Beitragsebene wurden u.a. Umfang, Darstellungsform und zentrales Thema erfasst, auf der Ebene der wertenden Aussagen deren Urheber, Inhalte und Tendenzen, auf der Bildebene der/die gezeigte Kandidat/in und seine/ihre visuelle Erscheinung. Die Einheitlichkeit der Codierung wurde durch Reliabilitätstests überprüft2. 2
Formale Merkmale der Wahlkampfberichterstattung
2.1 Umfang Geradezu sensationell mutet schon das erste, hier mitzuteilende Ergebnis unserer Inhaltsanalyse an: Denn die vier untersuchten Zeitungen – die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt – berichteten über den Wahlkampf 2009 erheblich weniger als in den vorangegangenen drei Bundestagswahlen (vgl. Abbildung 1). Gegenüber den Wahlen von 2002 und 2005 gab es diesmal nur gut halb so viele Beiträge. Da diese in der Länge variieren können (wie auch die Zeilen in der Breite), empfiehlt es sich, den Umfang noch genauer mit den Zeilenanschlägen zu messen. Dieser sank von 3,67 Millionen (2002) und 3,87 Millionen (2005) auf nur noch 2,11 Millionen (2009). Der Umfang der Wahlkampfberichterstattung fiel damit gewissermaßen zurück auf das Niveau der ersten Hälfte der 1960er Jahre bzw. übertraf nur unbeträchtlich den Umfang bei den Bundestagswahlen 1987, 1990 und 1994, der jeweils aus verschiedenen Gründen niedrig gewesen war. Das könnte jetzt wie eine "Normalisierung" aussehen, die nach zwei hoch thematisierten Wahlen 2002 und 2005 – sozusagen "Sonderfällen" (Wilke & Reinemann, 2003; 2006) – eingetreten ist. 2
Der Übereinstimmungskoeffizient nach Holsti beträgt für die formalen Kategorien im Schnitt .93 und für die inhaltlichen Kategorien .91.
342
Jürgen Wilke & Melanie Leidecker
Abbildung 1: Umfang der Wahlkampfberichterstattung (1949-2009) Beiträge
Anschläge
1400
7 1188
1200 1000
6
1134
5
902 882 864 878 786 3,76 3,87
800 608
600
598
2,76 2,76
528
482 400 1,3
1,48
1,68
1,92
4
702
690
2,96 2,8 2,72
604 460 464 1,52 1,44
508 2,5
3
2,11 1,82
200 0,74 0
2 1 0
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 Basis: Hochrechnung der tatsächlichen Wahlkampfberichterstattung auf Basis einer 50%igen Stichprobe (n=6.440 Beiträge). 1949: Der Tagesspiegel statt Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Wie kann man diesen Rückgang im Umfang der Wahlkampfberichterstattung 2009 erklären? Mehrere Gründe lassen sich dafür in Erwägung ziehen und prüfen. Der Wandel des Umfangs könnte auf äußere oder innere Veränderungen der untersuchten Zeitungen zurückzuführen sein, etwa auf eine generelle Verringerung der Seitenzahl der einzelnen Ausgabe, zumal der hier untersuchten Sparte(n). Zu einer solchen Reduktion war es Anfang des Jahrtausends zumindest durch die damalige Zeitungskrise gekommen (Wilke, 2006). Tatsächlich hat es aber eine solche Einsparung von Zeitungsseiten bei den untersuchten Titeln zwischen 2005 und 2009 nicht gegeben. Die Anzahl dieser Seiten wechselt bekanntlich von Tag zu Tag, was insbesondere mit dem Anzeigenaufkommen zusammenhängt. Der Umfang des Politikteils aller Zeitungen schwankte 2005 und 2009 an den Wochentagen zwischen sechs und zehn Seiten. In der SZ waren es in der Regel sieben (und mehr), in der Frankfurter Rundschau acht (sechs + zwei), in der FAZ ebenfalls acht. Jedenfalls sind diese Zahlen eindeutig: Die Verringerung der Wahl-
Ein Wahlkampf, der keiner war?
343
kampfberichterstattung 2009 kann nicht auf eine generelle Umfangsreduktion der Zeitungen zurückgeführt werden. Zwei weitere Gründe sind zur Erklärung denkbar: Einmal, dass andere gleichzeitige Themen so wichtig waren, dass der Wahlkampf es schwer hatte, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. 1990 ließ sich die geringe Berichterstattung beispielsweise auf die gleichzeitig stark thematisierte deutsche Wiedervereinigung zurückführen. Auch ohne dass wir dies inhaltsanalytisch genau belegen können, lässt sich doch sagen, dass im Sommer 2009 die Wirtschafts- und Finanzkrise ein vorherrschendes Thema in den Massenmedien war und der Wahlkampfberichterstattung Aufmerksamkeit und Platz streitig machte. Eine geringe Wahlberichterstattung war früher auch dann zu verzeichnen, wenn der Wahlkampf einen geringen Spannungsgehalt hatte und das Wahlergebnis absehbar war (so etwa 1987). Wenngleich das Wahlergebnis 2009 nicht genau prognostizierbar war, so ließ sich doch absehen, dass die CDU und CSU die Wahl gewinnen würden. Der Absturz, den die SPD in den Meinungsumfragen seit 2005 erlebt hatte, schien unaufholbar und damit auch eine rot-grüne Regierungskoalition ganz unwahrscheinlich. Offen war lediglich, ob die Stimmenzahl für eine schwarz-gelbe Koalition aus CDU/CSU und FDP reichen würde. Der geringe Spannungsgehalt des Wahlkampfs mochte ferner auch aus der Tatsache resultieren, dass vier Jahre lang eine große Koalition regiert hatte, deren Träger sich nicht gut bekämpfen konnten. Die gemeinsame Regierungsverantwortung schmälerte die Möglichkeit der wechselseitigen Attacken, obzwar jeder der Partner auch Abstriche hatte machen müssen und Positionen nicht hatte durchsetzen können. Schon während des Wahlkampfs selbst bot dieser Anlass für Kritik. Er sei "langweilig" (FAZ, 12.9.2009), "konturlos" (SZ, 19./20.9.2009), von "Gesichtsloswerdung" (SZ, 12./13.9.2009) war die Rede. Der GrünenPolitiker Jürgen Trittin warf Angela Merkel und den Unionsparteien vor (26.8.2009), sie wollten im Schlafwagen an die Macht, was der (damalige) Ministerpräsident von Baden-Württemberg Günter Oettinger aufnahm. Jedenfalls entstand auch in der CDU Ende August 2009 Unruhe über Angela Merkels Wahlkampstil, ja es wurden Forderungen laut, diesen zu ändern (was die Kanzlerin und Spitzenkandidatin ablehnte). Ferner ließen die Voraussagen einer niedrigen Wahlbeteiligung eine geringere Berichterstattung erwarten (Petersen, 2009a; 2009b; 2009c). So mag unser Ergebnis zu deren
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Jürgen Wilke & Melanie Leidecker
Umfang nicht überraschend sein. Dass sie dann aber – im Langzeitvergleich gemessen – in den vier Zeitungen so mäßig ausgefallen ist, übertrifft die Erwartung doch. Niemals vorher hat es seit 1949 zwischen zwei Bundestagswahlen in Deutschland einen derart drastischen Rückgang gegeben. Auch offenbart ein Vergleich zu 1969, dass nach einer großen Koalition prinzipiell keineswegs das (Medien-)Interesse am Wahlkampf abnehmen muss(te). Allerdings sind die Konstellationen 1969 und 2009 nicht vergleichbar: Seinerzeit war absehbar gewesen, dass eine im Aufstieg begriffene SPD (zusammen mit der FDP) die CDU/CSU aus der Regierungsverantwortung drängen konnte. Das schien 2009 jedoch ziemlich unwahrscheinlich und wäre nur durch eine rot-grün-gelbe (so genannte Ampel-)Koalition möglich gewesen, welche die FDP ihrerseits ausgeschlossen hatte. Alle vier untersuchten Zeitungen reduzierten ihre Wahlkampfberichte 2009 etwa um mehr oder weniger als die Hälfte. In der Frankfurter Rundschau waren es 2002 noch (hochgerechnet) rund 250 Artikel gewesen, 2005 sogar 300, 2009 aber nur noch 120. Die Süddeutsche Zeitung brachte 2002 und 2005 jeweils rund 280 Artikel, im Jahr 2009 160. Die Abnahme der Wahlkampfartikel bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ging von 240 (2002) auf 210 (2005) und 150 (2009) zurück. Den stärksten Schwund wies aber Die Welt auf, die 2002 noch 400 Artikel zum Wahlkampf gebracht hatte, 2005 noch 340, 2009 aber lediglich 175. Gerade die letztgenannte Zeitung scheint dieses Mal die Lust am Wahlkampf verloren zu haben. Bis 1998 waren die meisten Wahlkampfbeiträge in den vier Zeitungen in der Regel (und von Ausnahmen abgesehen) in der letzten Woche vor der Wahl veröffentlicht worden. Dies schien gewissermaßen einem Anstieg der Spannungskurve am Ende des Wahlkampfes zu entsprechen. Dieser Rhythmus hat sich bei der jüngsten Wahl in dem Maße nicht gezeigt. Insgesamt hatte die tägliche Beitragsmenge einen recht stetigen Verlauf, mit einem leichten Höhepunkt in der zweiten Woche vor der Wahl. Allerdings publizierten die vier Zeitungen 2009 die meisten Beiträge am Tag vor der Wahl. Das war 2005 nicht der Fall gewesen. Eindeutigere Höhepunkte gab es bei der Menge der Aussagen: am 1. September, am 15. September (bedingt durch das TV-Duell) und am Vor-Wahltag, dem 26. September 2009. Ausschlaggebend für diese Höhepunkte waren Anfang des Monats der Ausgang von drei Landtagswahlen, dann das Fernsehduell der Kanzlerkandidaten, das am 13. September stattfand und in der Folgewoche einen Anstieg der Artikel nach sich zog, am meisten in der SZ (54) und in der Welt (52),
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gefolgt von der FAZ (42) und der FR (36). Schließlich häuften sich kommentierende Aussagen nochmals am Ende des Wahlkampfs. Unterschiedlich wie in früheren Jahren war 2009 auch der Anteil der einzelnen Zeitungen an der Wahlkampfberichterstattung von allen vier Zeitungen insgesamt. Bei den Beiträgen hatte Die Welt den größten Anteil (29%) vor der Süddeutschen Zeitung (26%), der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25%) und der Frankfurter Rundschau (20%). Während bei der Welt und der SZ die Anteile der Beiträge gegenüber 2005 stabil blieben, sind diejenigen der FR gesunken (von 27% auf 20%), diejenigen der FAZ gestiegen (von 18% auf 25%). Bei den Aussagen zum Wahlkampf war die SZ 2009 führend mit 34 Prozent, danach folgten Die Welt (30%), die Frankfurter Rundschau (19%) und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (17%). Demzufolge war die SZ offenbar die "meinungsfreudigste" Zeitung, die FAZ hielt sich mit Aussagen demgegenüber zurück. 2005 hatte Die Welt noch mit Abstand die meisten Aussagen publiziert. 2.2 Darstellungsformen und Platzierung In den vorangegangenen Untersuchungen hatte sich über die Zeit hinweg ein deutlicher Wandel in den Darstellungsformen der Wahlkampfberichterstattung gezeigt. Dies ist einer der (wenigen) Aspekte, für die sich fast ein linearer Trend feststellen lässt (vgl. Abbildung 2). In den 1950er Jahren handelte es sich in vier Fünftel der Artikel noch um Nachrichten und Berichte, also um Formen relativ "objektiver" Berichterstattung. Deren Anteil begann in den 1960er Jahren langsam, aber kontinuierlich zurückzugehen. Gleichzeitig nahm der Anteil von Kommentaren und Glossen zu, bis auf ca. ein Fünftel in den 1980er und 1990er Jahren und ein Viertel nach der Jahrtausendwende. Gewachsen ist in den letzten Wahlkämpfen ferner der Anteil von Reportagen und featureähnlichen journalistischen Darstellungsformen. Dieser übertraf 2009 auch erstmals denjenigen der Kommentare und Glossen. Dagegen nahm der Anteil von Nachrichten und Berichten nochmals weiter ab, von 50 Prozent (2005) auf 42 Prozent (2009). Der Trend zu mehr subjektiven und hybriden Darstellungsformen hat sich also auch im Wahlkampf 2009 weiter fortgesetzt. Ferner wurden noch nie so viele Interviews/Gespräche abgedruckt wie in diesem Jahr. Jahrzehnte lang kam diese Form in der Wahlkampfberichterstattung der
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Jürgen Wilke & Melanie Leidecker
Zeitungen überhaupt nicht oder nur vereinzelt vor. Das hat sich seit der Jahrtausendwende geändert. Und von 2005 auf 2009 verdoppelte sich der Anteil von Interviews/Gesprächen auf nahezu fünf Prozent aller Darstellungsformen. Abbildung 2: Darstellungsformen der Wahlkampfberichterstattung (1949-2009) 100
Anteil in Prozent Nachricht/ Bericht Kommentar/ Glosse Reportage/ Feature Sonstiges
89 84
82 78
80
75 71
70
67 61
67
64
62 58
60
56
53
50 42
40 26
20 10
0
6 2
15
13 9 1
7 2
8 4
8 2
22
21
20 14
13
5 4
18
7
7
21
17 14
9 5
6 5
8 6
24
28 23
17
17
15 9
10
10 9
3
15 10
7
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009
Basis: 6.440 Beiträge. 1949: Der Tagesspiegel statt Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Ausgewirkt hat sich 2009 die geringere Anzahl der Wahlkampfberichte auch auf deren Präsenz auf den Titelseiten der Zeitungen: 2002 standen dort (hochgerechnet) 312 Beiträge, 2005 noch 230, 2009 aber nur noch 122. Allerdings änderte dies nichts an der relativen Platzierung: Einer von fünf Beiträgen stand bei allen vier Blättern auf der Titelseite, vier von fünf im Innenteil. Dies entsprach exakt dem Durchschnitt auch vier Jahre zuvor. Über sechs Jahrzehnte hinweg hat sich hier am wenigsten verändert, dies allerdings schon deshalb, weil die erste Zeitungsseite nur für eine begrenzte Zahl von Artikeln Platz bietet. Die meisten Wahlkampfbeiträge auf der Titelseite hatte die FAZ, gefolgt von der Welt und der SZ. Die Frankfurter Rundschau hat seit ihrer Umstellung auf das Tabloid-Format eine andere Gestaltung der Titelseite. In nicht einmal einer Handvoll Ausgaben fand der Bundestagswahlkampf darauf Platz.
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Dabei interpretieren wir dessen Präsenz dort als Indiz für den Aufmerksamkeitsgrad, der dem Ereignis zugemessen wird. 2.3 Urheber und Quellen Zu den vergleichsweise linearen Trends in der Wahlkampfberichterstattung gehört, dass im Laufe der Jahre der Anteil der Eigenbeiträge der Zeitungen angestiegen ist, derjenige der Nachrichtenagenturen abgenommen hat. Dieser Trend hat sich 2009 nochmals verstärkt (vgl. Abbildung 3). Abbildung 3: Urheber und Quellen der Wahlkampfberichterstattung (1949-2009) Anteil in Prozent 100
Eigenbeiträge
Agenturbeiträge
Sonstige/ nicht identifizierbar 88 84
83 77
76
80 65
66
31
31
74
75
71
71
83
70
72
75
66
60 47 37
40
27
26
21
26
23
20 5
0
22
21
21 16
16
16
3
23
18
3
1
3
11 4
2
3
6 3
1990
2
2
5
13 8 4
4
2005
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009
Basis: 6.440 Beiträge. 1949: Der Tagesspiegel statt Frankfurter Allgemeine Zeitung.
88 Prozent, sozusagen neun von zehn Beiträgen, wurden bei den vier Zeitungen von Angehörigen der eigenen Redaktion verfasst, mehr als je zuvor. 2002 waren es 84 Prozent gewesen, 2005 83 Prozent. Über Wahlkämpfe zu berichten, ist zumindest für Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine und Die Welt weit überwiegend eine Sache der Eigenarbeit, der Korrespondenten vornehmlich in Berlin (oder auf Wahlkampftour) und
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der Journalisten in der Redaktion. Beiträge der Nachrichtenagenturen, also Material, das auch den meisten anderen Tageszeitungen zur Verfügung steht, werden allenfalls ergänzend verwendet. 2009 stammte nur noch knapp jeder zehnte Artikel aus Agenturquellen (immer vorausgesetzt, diese wurden überhaupt angegeben). Das wird vermutlich nicht für alle regionalen Abonnement-zeitungen gelten, spricht aber doch für den Bedeutungsverlust der Agenturen. Während das Agenturmaterial, weil es für viele Nutzer gedacht ist, in besonderer Weise ausgewogen und neutral sein muss, können die Zeitungen in ihrer Eigenberichterstattung eher die Informationen selbst auswählen, bestimmte Bewertungen abgeben und Positionen vertreten. 3
Themen
Mit der Analyse der Themen fragen wir nach der inhaltlichen Substanz des Wahlkampfs, die durch die untersuchten Zeitungen vermittelt wurde. Auch hier wurden selbstverständlich die gleichen Themenkategorien erfasst wie in den vorangegangenen Untersuchungen (vgl. Abbildung 4). Im Vordergrund der Berichterstattung standen, wie bei allen Bundestagswahlen zuvor, die Wahl und der Wahlkampf. Damit befassten sich 2009 knapp drei Fünftel der Beiträge, das heißt ziemlich genau so viele wie 2005 und (etwas) mehr als 2002 oder 1998. Dieses Ergebnis bewegt sich folglich auf dem Niveau der letzten Wahlkämpfe, während in den 1980er Jahren der Anteil wahlkampfbezogener Themen deutlich geringer gewesen war. In dem Wert für 2009 sind allerdings sechs Prozent Beiträge enthalten, die einen Bezug zu den Landtagswahlen hatten, die in drei Bundesländern am 30. August (Thüringen, Saarland, Sachsen), in zwei weiteren gleichzeitig mit der Bundestagswahl am 27. September stattfanden (Brandenburg, SchleswigHolstein). Eine vergleichbare Ballung von Wahlterminen hatte es vorher nicht gegeben, so dass dazu keine Daten in unseren Inhaltsanalysen erhoben wurden. 2005 hatten wir zum ersten Mal die Beiträge zum zentralen Thema Wahl/Wahlkampf, die mehr als die Hälfte von allen untersuchten ausmachten, weiter nach den wichtigsten Unterthemen klassifiziert. Maximal drei wurden dabei erhoben. Während Wahlkampfstrategien (2005: 30%; 2009: 28%), Wahlkampfereignisse (2005: 16%; 2009: 19%), Fernsehdebat-
Tabelle 1: Themen der Wahlkampfbeiträge 1949-2009 (geordnet nach der Häufigkeit 2009)
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ten/Medienauftritte (2005 und 2009: 12%) relativ gleich stark vorkamen, gab es bei anderen Unterthemen Unterschiede: Bei Wahlprogrammen/inhaltlichen Wahlkampfthemen (2005: 39%, 2009: 29%) sowie bei Kanzlerkandidaten (2005: 28%; 2009: 14%) und bei Mitgliedern von Schattenkabinetten/Kompetenzteams (2005: 23%; 2009: 4%). Damit bestätigen sich die "Inhaltsleere" des Wahlkampfs und die weitgehende Ausblendung der Personaltableaus der Parteien. Die Rolle der Medien im Wahlkampf (Metaberichterstattung) wurde 2009 (zumindest im Politikteil der vier Zeitungen) nicht als wichtiges Thema behandelt, auch zum Online-Wahlkampf, der zum ersten Mal in das Kategorienschema der Inhaltsanalyse aufgenommen wurde, wurde lediglich in sechs Beiträgen (= 2%) Bezug genommen. Wie sah es 2009 mit der Verteilung bei den anderen Haupt-Themen der Wahlkampfberichterstattung aus? Man hätte gewiss erwartet, dass die 2007 ausgebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise im Vordergrund des Wahlkampfes und der Berichterstattung darüber stand. Tatsächlich kamen Wirtschaft und Finanzen aber nur in sechs Prozent der Beiträge als zentrales Thema vor. Diese "Unterrepräsentanz" – immerhin handelt(e) es sich um die größte Krise dieser Art in der Nachkriegszeit – mag damit zusammenhängen, dass in der vorliegenden Untersuchung der Politikteil (und die Sparte Vermischtes) in den Zeitungen untersucht wurde. Weitere wahlkampfbezogene Berichterstattung zu diesem Thema fand darüber hinaus in den Wirtschaftsteilen statt. Da dieser Teil aber früher schon nicht untersucht wurde, musste er auch dieses Mal ausgeschlossen bleiben. Die Unterrepräsentanz von Wirtschaft und Finanzen in der (politischen) Wahlkampfberichterstattung fällt vor allem im Vergleich zu den vorangegangenen Bundestagswahlen auf. Zuletzt hatte dieses Thema 1980 nur in sechs Prozent der Beiträge eine Rolle gespielt, in den 1990er Jahren war es jeweils doppelt, ja nahezu drei Mal so viel. Nicht unbedingt war demgegenüber zu erwarten, dass 2009 die Außenpolitik (nach Wahl/Wahlkampf) das wichtigste Thema in den Wahlkampfbeiträgen der vier untersuchten Zeitungen war. Zwar betrugen diese mit elf Prozent nicht so viel wie 2002, als der Irak-Krieg und die Weigerung des damaligen Bundeskanzlers Schröder, Deutschland daran zu beteiligen, zu 15 Prozent Beiträgen mit außenpolitischer Thematik führten. Im Wahlkampf 2009 war es vor allem der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, zu dem Artikel erschienen. Die im Bundestag vertretenen Parteien (zumal die Große Koalition) waren sich über diesen Einsatz nicht uneins, doch wurde er von
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der Partei Die Linke kritisiert und bekämpft. Entscheidend für die Thematisierung im Wahlkampf war dann der von deutscher Seite angeforderte Luftschlag gegen zwei Tanklastzüge in der Nähe von Kundus, dem zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen und der Ende Oktober 2009 letztlich die Ursache war, warum der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung, der nach der Wahl Bundesarbeitsminister geworden war, seinen Rücktritt erklären musste. Diese Militäraktion beherrschte nach dem 4. September 2009 mehrere Tage die Schlagzeilen der deutschen Presse. Tatsächlich standen knapp sieben von den elf Prozent der Wahlkampfbeiträge mit außenpolitischer Thematik im Zusammenhang mit dem deutschen AfghanistanEinsatz; und in der Woche nach dem Luftschlag waren es sogar 24 Prozent. Ein weiteres außenpolitisches Ereignis, das dann in der letzten VorWahlkampfwoche die Aufmerksamkeit auf sich zog, war das G20-Treffen in Pittsburgh (USA), das der Bundeskanzlerin eine weitere Möglichkeit bot, sich auf internationalem Parkett zu präsentieren. Alle anderen Themen kamen seltener vor. Die Umwelt war dieses Mal immerhin bedeutsamer als früher, bedingt durch die Klimadiskussion im Vorfeld der für Dezember 2009 in Kopenhagen geplanten UNOKlimakonferenz. Gleich häufig wie 2005 waren Beiträge, die Meinungsumfragen und Umfrageergebnisse behandelten. Ihr Anteil ist seit 1998 aber nicht weiter angestiegen. Angesichts des absehbaren Wahlergebnisses konnte 2009 von einer "Horse Race"-Berichterstattung nicht die Rede sein. Dergleichen gibt es nur bei einem engen Abstand zwischen den konkurrierenden Lagern oder Personen (was eher in präsidentiellen als in parlamentarischen Systemen der Fall ist). Die Publikation von Umfrageergebnissen erlebte als Thema 2009 jedoch partiell eine Neuauflage. Eineinhalb Stunden vor Schließung der Wahllokale bei den Landtagswahlen im Saarland, in Sachsen und in Thüringen waren am 30. August über das Plauderforum Twitter Zahlen verbreitet worden, die angeblich den später im Fernsehen präsentierten Ergebnissen nahekamen. Dies löste eine Diskussion über die Zulässigkeit von Wahltagsbefragungen aus. Laut FAZ (3.9.2009) sah die Bundesjustizministerin Zypries (SPD) "keinen großen Schaden für die Demokratie", wenn auf solche Wahltagsbefragungen verzichtet würde, wollte aber zunächst wissenschaftlich geprüft sehen, "ob Veröffentlichungen kurz vor Schließung der Wahllokale tatsächlich die Wähler beeinflussten." Auch Bundestagspräsident Lammert warnte vor einer rechtswidrigen Beeinflussung der Bundestagswahl, sollten Ergeb-
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Jürgen Wilke & Melanie Leidecker
nisse vor Schließung der Wahllokale in Twitter-Meldungen oder sonstwie im Internet auftauchen (FAZ, 1.9.2009). Von den Ereignissen in den vier Wochen vor der Bundestagswahl fällt noch einmal ein Licht auf die Ursachen für die vergleichsweise geringe Wahlbeteiligung. Es war nicht ein einziges Ereignis, aber doch die Gemengelage von mehreren, die in diesem Zeitraum zusammenkamen und der Wahlkampfberichterstattung den Platz streitig machten: In der ersten der vier Wochen waren es die drei Landtagswahlen, in der zweiten Woche der Luftangriff in Afghanistan. In der dritten Woche dominierte dann die Wahlkampfberichterstattung, bedingt vor allem durch das Fernsehduell der Kanzlerkandidaten am 13. September 2009. In der letzten Woche vor dem Wahltag war die Wahlkampfberichterstattung nochmals rückläufig, obwohl die Zeitungen dann am Samstag, dem 26. September, die meisten Beiträge von allen Tagen brachten. Nicht zu vergessen ist schließlich der Verkauf der Autofirma Opel, der in den Wahlkampfwochen ebenfalls häufig behandelt wurde. 4
Personalisierung
Nach weit verbreiteter Auffassung sind moderne Wahlkämpfe durch ein hohes Maß an Personalisierung gekennzeichnet. Darunter versteht man im Allgemeinen eine Entwicklung, bei der konkrete Einzelpersonen immer stärker zum Deutungsmuster komplexer Sachverhalte und zum Anker von Bewertungen werden (Holtz-Bacha, 2003, S. 20). Dies gilt insbesondere für die jeweiligen Spitzenkandidaten, die im Zentrum der Wahlauseinandersetzung stehen. Im Prinzip kann man Personalisierung an verschiedenen Indikatoren ablesen. Mehrere davon haben wir in der Wahlkampfberichterstattung seit 1949 fortlaufend untersucht (vgl. Abbildung 4). Im ersten Schritt wird ermittelt, wie viele der Beiträge einen Bezug zumindest zu einem der beiden Kanzlerkandidaten hatten. Da die Gesamtzahl der Artikel 2009 wesentlich niedriger lag, gab es davon auch weniger mit Kandidatenbezug (227 statt 404 im Jahr 2009). Da ein solcher Bezug eines der Aufgreifkriterien der Inhaltsanalyse war, überrascht es nicht, dass die Mehrzahl der untersuchten Artikel einen solchen Bezug aufwies. Im Jahre 2009 traf dies auf 75 Prozent der Artikel zu, etwas mehr als 2005 und ge-
Ein Wahlkampf, der keiner war?
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Abbildung 4: Kandidatenbezug in den Wahlkampfbeiträgen 1949-2009 (in %) Bezug zu mind. einem Kandidaten
Anteil in Prozent 100
Bezug zum Kanzler
79
80
71 62 60
58
62
59 54
Bezug zum Herausforderer
75 67
66
75 64
71
55
40
20
75
66 65
40 19
0 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009
Basis: 6.440 Beiträge. 1949: Der Tagesspiegel statt Frankfurter Allgemeine Zeitung.
nauso viel wie 2002. Bei anderen Wahlen, in den fünfziger, den siebziger und auch in den neunziger Jahren, hatten die Beiträge etwas weniger Kandidatenbezug. Über die Jahrzehnte hinweg gab es zumeist mehr Artikel mit Bezügen zum Kanzler als zu seinem Herausforderer. Dies hat man als Ausdruck für einen "Kanzlerbonus" verstanden, der sich gewissermaßen aus dessen größerem Aktionsradius ergab. Bei den zuletzt veranstalteten Wahlkämpfen war dieser Kanzlerbonus aber kaum mehr vorhanden (1998) oder nur schwach ausgeprägt (2002); 2005 gab es bei diesem Kriterium sogar einen kleinen Vorsprung für die Kandidatin Angela Merkel. Vier Jahre später, im jüngsten Wahlkampf, zeigt(e) sich dagegen wieder ein beträchtlicher Kanzler(innen)bonus: Zwei Drittel der Artikel hatten einen Bezug zu Angela Merkel (65%), nur zwei Fünftel zu Frank-Walter Steinmeier (40%).
354 5
Jürgen Wilke & Melanie Leidecker Authentizität
Die Frage, wie "authentisch" die Medien über die Kanzlerkandidaten berichten, ist schon rein demokratietheoretisch relevant. Allerdings ist die Authentizität einzelner Zeitungsartikel nur schwer zu erfassen. In unserer Studie verwenden wir – wie bereits in den vorangegangenen Untersuchungsjahren – den Zitierungsgrad als Maß dafür, wie authentisch die Botschaften der Politiker in der Berichterstattung wiedergegeben werden (ohne dabei den Anspruch zu erheben, mit diesem einzelnen Indikator die Authentizität vollständig erfassen zu können). Im Zitierungsgrad drückt sich aus, wie häufig die Kanzlerkandidaten in den Wahlkampfbeiträgen vor der Wahl wörtlich wiedergegeben werden, in welchem Umfang dies geschieht und wie lang die Zitate im Durchschnitt (in Zeilen) sind. Die Annahme, die hinter dieser Vorgehensweise (den Zitierungsgrad als Authentizitätsindikator zu verwenden) steht, ist, dass Botschaften der Kandidaten als authentischer bezeichnet werden können, wenn diese in ihren eigenen Worten und Formulierungen – sozusagen im O-Ton – anstelle mittels der Worte eines Journalisten wiedergegeben werden. In einem ersten Schritt wird überprüft, wie groß der Anteil der Beiträge ist, die Zitate der Kandidaten überhaupt enthalten (sowohl eines einzelnen als auch beider Kandidaten). Hier zeigt sich über die Jahre hinweg ein relativ konstantes Bild: Zwar steigt der Anteil an Beiträgen mit Zitaten 2009 im Vergleich zum Wahljahr 2005 von 23 Prozent auf 28 Prozent leicht an, doch bewegt sich dieser Wert auf dem Niveau der 1980er und 1990er Jahre, in denen der Anteil jeweils schon zwischen 22 und 28 Prozent schwankte. Das Jahr 2002 stellt hier wieder einen Sonderfall dar, mit einem Höchstwert des Zitierungsanteils in den Wahlkampfbeiträgen von 32 Prozent. Auch hinsichtlich des Umfangs der Kandidatenzitierung in Zeilen wird diese Sonderstellung deutlich: Der Umfang der Zitierung in Zeilen hat seit den 1980er Jahren kontinuierlich abgenommen – lediglich 2002 stieg er noch einmal auf eine Höhe von insgesamt 5256 Zeilen an – im Vergleich zu beispielsweise 3372 Zeilen im Jahr 2005 und 3222 Zeilen im Jahr 2009 (hochgerechnete Werte). Der hohe Zitierungsgrad im Jahr 2002 hatte auch mit der vergleichsweise großen Zahl damals publizierter Interviews zu tun und passt zu dem übrigen Bild der Wahlkampfberichterstattung dieses Jahres: Im Vorfeld der 2002er Wahl erschienen auch besonders viele Beiträge, die zusätzlich
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einen hohen Grad an Personalisierung aufwiesen. Die zahlreichen Interviews haben 2009 ebenfalls den "Authentizitäts"-Wert ansteigen lasssen. Betrachtet man für das Untersuchungsjahr 2009 den Zitierungsanteil nach Kandidaten getrennt wird deutlich, dass Angela Merkel in einem stärkeren Anteil der Beiträge (21%) als ihr Herausforderer Frank-Walter Steinmeier (13%) zitiert wird. Dieser Unterschied war im Wahljahr 2002 ähnlich hoch (hier: 7%), 2005 jedoch deutlich geringer (lediglich 3%). Der Vorsprung Merkels auf Steinmeier (am Anteil der Beiträge mit Zitaten gemessen) bewirkte für sie jedoch nicht automatisch eine längere Zitierung in Zeilen. Diesbezüglich liegen die Werte beider Kandidaten sehr dicht beieinander: Während Merkel in insgesamt 1576 Zeilen Länge zitiert wird, sind es bei Steinmeier 1646 Zeilen (hochgerechnete Werte). Ein stärkerer Authentizitätsindikator als der Anteil an Beiträgen mit Zitaten ist die durchschnittliche Länge der Zitierung. Diesbezüglich zeigte eine Studie von Schulz und Zeh (2004) zur Wahlkampfberichterstattung im Fernsehen, dass die eingespielten O-Töne seit 1990 im Durchschnitt kürzer geworden sind (Schulz & Zeh, 2004). Derartiges hatte Patterson (1993) auch für die USA nachgewiesen. Dem entspricht ein Trend zu durchschnittlich immer kürzeren Zitaten der Kanzlerkandidaten (in Zeilen) seit der Mitte der 1980er Jahre in den von uns untersuchten Zeitungen. 2009 deutet sich jedoch eine Umkehrung dieses langjährigen Trends zu kürzeren "text-bites" an (vgl. Abbildung 5). Wie aus dem Schaubild ersichtlich wird, sank die durchschnittliche Länge der Zitate3 seit 1987 von 31 Zeilen auf einen Tiefpunkt von 13 Zeilen im Jahr 2005. 2009 ist die Durchschnittslänge der Zitate erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder angestiegen, und zwar auf einen Wert von 19 Zeilen pro Beitrag. Ob dies tatsächlich die Umkehrung eines Trends bedeutet oder lediglich einen einmaligen "Ausreißer" darstellt, bleibt abzuwarten und kann erst bei künftigen Bundestagswahlen überprüft werden. Möglicherweise nehmen Darstellungsformen wie Reportagen, Features und Interviews, die den Raum für längere Zitate bieten, weiter zu – und damit dürfte ein Trend zu längeren Zitaten einhergehen.
3
Wie bereits von Wilke und Reinemann (2006) gehandhabt, wird die Länge der Zitate hier aufgrund der zwischen den Wahljahren schwankenden Beitragszahlen durch die Anzahl derjenigen Beiträge dividiert, in denen auch Zitate vorkommen. "Das hat den Vorteil, dass man einen plastischeren Eindruck davon bekommt, in welchem Umfang die Kontrahenten zu Wort kommen, wenn ihre Aussagen referiert werden." (Wilke & Reinemann, 2006, S. 327-328)
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Jürgen Wilke & Melanie Leidecker
Abbildung 5: Durchschnittliche Länge der Zitierung der Kandidaten (in Zeilen) Zeilen
Anzahl der Beiträge mit Zitaten
Durchschnittliche Länge der Zitate
40
250
35 200
193
31 29 26
25
150
22 20
100
30
166
20 16 90
84 60
99
18
102 89
85
24
22
11121
25
24
85 16
88 60
64
69
14
19
20
85
15
13
10
50 20
0
5 0
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009
Basis: 2.055 Beiträge mit Zitaten der Kandidaten. 1949: Der Tagesspiegel statt Frankfurter Allgemeine Zeitung. Stichprobe von 50 Prozent der relevanten Beiträge.
Insgesamt kann die Wahlkampfberichterstattung 2009, gemessen am Indikator Länge der Zitierung in Zeilen, als "authentischer" bezeichnet werden, als in den drei Bundestagswahlen zuvor. Die Kandidaten hatten eine höhere Chance, dass ihre Ideen und Vorstellungen in ihren eigenen Worten und "am Stück" den Lesern zugänglich wurden. 6
Visualisierung
Sowohl in deutschen Fernsehnachrichtensendungen (Maurer & Kepplinger, 2003; Schulz & Zeh, 2006) als auch in der gedruckten deutschen Tagespresse (Wilke, 2004) hat die Visualisierung der Wahlkampfberichterstattung in den letzten Jahren deutlich zugenommen: "Insgesamt ist das politische Spitzenpersonal […] sowohl in der Presse als auch im Fernsehen immer häufiger im Bild zu sehen." (Maurer & Reinemann, 2006, S. 128) Diese Entwicklung ist unter anderem deshalb von Bedeutung, da visuelle Informationen mittels Bildern die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich lenken und den
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357
Gesamteindruck von einem Politiker stärker prägen, als verbale Informationen (Kepplinger & Maurer, 2005). Da Bilder kaum über die Sachkompetenz eines Politikers informieren, jedoch durchaus einen Eindruck von äußerlichen und persönlichen Eigenschaften vermitteln (Kepplinger & Maurer, 2005), rückt auch die Persönlichkeit der Kanzlerkandidaten bei einer zunehmend visualisierten Wahlkampfberichterstattung immer mehr in den Vordergrund. Ein steigender Visualisierungsgrad kann daher auch als Indikator für eine stärkere Personalisierung angesehen werden (Wilke & Reinemann, 2006): "die Visualisierung vermittelt den Wählern einen lebendigeren und zunehmend personalisierten Eindruck vom Wahlkampf." (Schulz & Zeh, 2006, S. 288). Ein Trend zu mehr Bildern in der Wahlkampfberichterstattung lässt sich durch unsere Inhaltsanalyse seit 2002 belegen (vgl. Abbildung 6). Abbildung 6: Fotos der Kandidaten 1949-2009 (Anzahl, hochgerechnet) Fotos (Anzahl) Abbildungen
Fotos pro Beitrag
Abbildungen pro Beitrag 0,9 16 0,8
18 16 14
12
121
0,7
12
0,6
10
0,5
8
0,4
6
0,3
4 2
4
3 1 0,00
1
1
0,03
0,02
2 0,04
1
1
0,02
0,02
2
25 0,03
0,04
0,03
1
8
0,03
0,02
27 0,06
0,15
2 0,06
0,2 0,11
0,05
0
0,2 0,1 0,0
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009
Basis 2009: 123 Fotos der Kandidaten. Vollerhebung "Einzelbilder" und einer Stichprobe von 50% der "Beitragsbilder". Ein Foto kann einen oder beide Kandidaten zeigen (=Abbildung). 1949: Der Tagesspiegel statt Frankfurter Allgemeine Zeitung.
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Während sich die Anzahl an Kandidatenfotos in den Wahlkampfbeiträgen von 1949 bis 1998 auf einem konstant niedrigen Niveau bewegte, kam es 2002 zu einem regelrechten Visualisierungsschub. Im Vergleich zur vorangegangenen Bundestagswahl 1998 hatte sich die Anzahl an Kandidatenfotos in der "heißen Wahlkampfphase" (vier Wochen vor der Wahl) von 42 im Jahr 1998 auf 121 im Wahljahr 2002 verdreifacht (hochgerechnete Werte). Auch 2005 stieg die absolute Anzahl an Fotos der Kanzlerkandidaten weiter an, nämlich auf 166. Im Wahljahr 2009 scheint der Visualisierungstrend auf den ersten Blick rückläufig zu sein: Die absolute Anzahl der Kandidatenfotos in den vier untersuchten Zeitungen beträgt 123. Allerdings muss dieser Wert im Verhältnis zur Gesamtzahl der Beiträge gesehen werden. Im Wahljahr 2009 berichteten die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine und Die Welt – wie zu Beginn dargestellt – lediglich in 604 Beiträgen in den letzten vier Wochen über den Wahlkampf (im Vergleich zu 1134 Beiträgen im Jahr 2005 – hochgerechnete Werte). Daher empfiehlt es sich, die durchschnittliche Anzahl an Fotos pro Beitrag zu berechnen, um die Befunde aus den einzelnen Wahljahren miteinander vergleichen zu können. Dabei zeigt sich, dass sich der beschriebene Visualisierungstrend auch 2009 weiter fortsetzt: Die Anzahl an Fotos pro Beitrag steigt von 0,11 Fotos im Jahr 2002 auf einen Wert von 0,15 im Jahr 2005 und 2009 schließlich auf 0,2 Fotos. Mit anderen Worten: War früher im Durchschnitt jeder zehnte Artikel mit einem Foto illustriert, ist es jetzt jeder fünfte. Die Vermehrung der Bilder in den Zeitungen führt dazu, dass die Kanzlerkandidaten darin visuell präsenter sind. Das heißt, dass sie häufiger abgebildet werden als früher. Hier zeigt sich 2009 zudem ein deutlicher "visueller Kanzlerinnenbonus": Die untersuchten Beiträge enthielten nämlich insgesamt 77 Abbildungen von Angela Merkel und lediglich 50 Abbildungen von ihrem Herausforderer Frank-Walter Steinmeier4 (hochgerechnete Werte). Einen ähnlich großen Unterschied in der Abbildung der Kandidaten gab es in den früheren Wahlkämpfen lediglich 1990 (23 Abbildungen von Kohl und 8 von Lafontaine) oder 1976 (29 Abbildungen von Schmidt und 15 von Kohl). In den restlichen Wahljahren vor 2009 war der Unterschied an Abbildungen zwischen den Kontrahenten immer sehr gering. 4
Der Unterschied zwischen der Anzahl an Fotos (123) und der Anzahl an Abbildungen (127) ergibt sich daher, dass auf einem Foto nicht nur ein einziger, sondern auch beide Kandidaten abgebildet sein können.
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Ein Blick auf die vier Zeitungen im Einzelnen macht deutlich, dass Die Welt den größten Anteil an Kandidatenfotos brachte (32%). Im Jahr 2005 war es noch die Frankfurter Rundschau, die mit einem Anteil von 36% die meisten Illustrationen zeigte – 2009 sank dieser Wert deutlich auf 29% (den zweithöchsten Anteil an Bildern 2009). Das dürfte mit der Umstellung der Zeitung auf das Tabloid-Format (im Mai 2007) zusammenhängen. Den geringsten Bildanteil wies 2009 – wie bereits 2005 – die FAZ auf. Ihr Anteil an der Bebilderung hat sich trotz der Layoutumstellung im Oktober 2007 (mit der die FAZ beispielsweise durch die Einführung eines Titelbildes auf mehr Visualität setzte) nicht verändert: Sie liegt konstant bei 12 Prozent. Der Anteil der Süddeutschen Zeitung an Kandidatenbildern stieg von 23 Prozent im Jahr 2005 auf 27 Prozent im Jahr 2009. Hinsichtlich der Bildmotive unterscheiden sich die Zeitungen nicht groß voneinander: Alle vier Blätter bildeten Angela Merkel häufiger (alleine) ab als ihren Kontrahenten Steinmeier. Am geringsten war dieser Unterschied bei der FAZ, am größten bei der SZ und der Welt. 7
Bewertungen
Im Rahmen der Analyse der Berichterstattung zur Bundestagswahl 2009 interessiert letztendlich auch, wie die untersuchten Zeitungen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier bewertet haben. Eine Bewertung ist in einem Beitrag immer dann enthalten, wenn einem oder beiden Kandidaten positive oder negative Eigenschaften zu- bzw. abgesprochen wurden. Ein Beispiel für eine positive Bewertung ist das Loben eines Kandidaten oder auch die Zurückweisung von Vorwürfen und Kritik. Negative Wertungen stellen beispielsweise das Aussprechen von Kritik, Missbilligung oder Vorwürfen dar sowie das Zurückweisen von Anerkennung. Ob eine positive bzw. negative Bewertung der Kandidaten vorliegt, wurde in unserer Inhaltsanalyse sowohl auf der Ebene des Gesamtbeitrags als auch auf Aussagenebene erfasst, und zwar jeweils auf einer fünfstufigen Skala von "eindeutig positiv" bis "eindeutig negativ". Bei der Analyse der Kandidatenbewertungen stellen sich gleich mehrere Fragen: zum einen nach dem Umfang und der Intensität der Bewertungen insgesamt. Zum anderen geht es um die Bewertung der einzelnen Kandidaten und um eventuelle Unterschiede sowohl zwischen diesen als auch zwischen den untersuchten Zeitungen.
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Jürgen Wilke & Melanie Leidecker
Die absolute Anzahl wertender Aussagen, die in den Beiträgen zur Bundestagswahl zu den Kanzlerkandidaten getroffen werden, stieg – im Zeitverlauf (1949 bis 2009) betrachtet – erst im Jahr 2002 an. Hier verfünffachte sich nahezu die Anzahl wertender Aussagen im Vergleich zu 1998 (auf 1520 Aussagen – hochgerechneter Wert). Ähnlich hoch lag die Zahl auch im Wahljahr 2005 (hochgerechnet 1482 Aussagen). In den Zeitungsbeiträgen des Wahljahres 2009 haben die Journalisten jedoch deutlich weniger wertende Aussagen getroffen, als noch in den beiden Wahljahren zuvor: Ihre Anzahl sank auf 908 Aussagen (hochgerechneter Wert). Doch dieser Befund hängt selbstverständlich wieder mit der ziemlich geringen Gesamtzahl an Wahlkampfbeiträgen im Jahr 2009 zusammen. Berücksichtigt man die Gesamtzahl der Beiträge als Basis und berechnet die Anzahl wertender Aussagen pro Beitrag, wird deutlich, dass diese seit 2002 sogar kontinuierlich ansteigt (von 1,28 auf 1,31 im Jahr 2005 und schließlich auf 1,5 wertende Aussagen pro Beitrag im Jahr 2009). Gleichzeitig zeigt sich ein deutlicher Unterschied in der durchschnittlichen Anzahl wertender Aussagen pro Beitrag über die Kanzlerin im Vergleich zu den Aussagen über ihren Herausforderer (vgl. Abbildung 7). Während nahezu jeder Beitrag eine wertende Aussage über Angela Merkel enthielt, wurde Steinmeier nur in etwa jedem zweiten Beitrag bewertet. Noch im Wahljahr 2005 gab es nahezu keinen Unterschied in der Anzahl der Bewertungen pro Beitrag zwischen Schröder und Merkel – 2009 öffnete sich also wieder eine Kluft. Ein klares Muster ist im Zeitverlauf jedoch nicht zu erkennen: Bereits 2002 waren die Unterschiede zwischen Schröder und Stoiber relativ groß, 1998 jedoch waren die Unterschiede zwischen den Kandidaten ebenso gering wie 2005. Uns interessiert aber nicht nur die Anzahl an wertenden Aussagen insgesamt, die über die Kandidaten getroffen werden, sondern vielmehr auch, wie die Wertungen in ihrer Tendenz aussehen (also: positiv oder negativ). Bestätigt sich hier der immer wieder festgestellte Trend zu negativer Medienberichterstattung? Das können wir anhand unserer Studie überprüfen. Zur Erfassung der Tendenzen der Kandidatenbewertungen wurde – wie in den früheren Analysen – der Saldo des Anteils positiver und negativer Beiträge über die Kanzlerkandidaten berechnet. Die Basis hierfür bilden alle Beiträge, die einen Bezug zu einem Kandidaten aufweisen (nicht also Beiträge, in denen es um die Bundestagswahl im Allgemeinen geht, ohne dass ein Kandidat angesprochen wird).
Ein Wahlkampf, der keiner war?
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Abbildung 7: Intensität der Kandidatenbewertung (Anzahl wertender Aussagen pro Beitrag) Anzahl wertender Aussagen
Herausforderer
800
Kanzler
600
760 741
700
500
600 400
500
454
300
400 294
300 158 163 172 156
200 71
100 0
94
201
200 195
191 128
155
84
1
100 0
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009
Basis: 4.019 wertende Aussagen in 6.440 Beiträgen. 1949: Der Tagesspiegel statt Frankfurter Allgemeine Zeitung. Adenauer wurde 1949 als Kanzler verschlüsselt.
Wie aus Abbildung 8 ersichtlich wird, kann von einer immer negativeren Berichterstattung über die Kanzlerkandidaten nicht die Rede sein. Zwar überwiegen auch 2009 negative Beiträge über die Kandidaten, jedoch ist deren Überhang seit 2002 deutlich rückläufig. Das bedeutet, dass sich die Anzahl negativer und positiver Artikel aneinander angleicht. Wie an den Balken im Diagramm zu erkennen ist, wurde Angela Merkel 2009 (mit einem Überhang negativer Beiträge von 6%) insgesamt etwas negativer bewertet als Frank-Walter Steinmeier (mit einem Überhang negativer Beiträge von lediglich 1%). Merkel wurde also insgesamt öfter, gleichzeitig jedoch auch negativer bewertet als Steinmeier, was theoretisch eher unvorteilhaft für sie hätte sein müssen (Schulz & Zeh, 2006, S. 294). Auch die Saldoberechnung, die auf der Anzahl wertender Aussagen basiert (anstelle auf dem Anteil wertender Beiträge) stützt das beschriebene Gesamtbild: Zum einen war das Meinungsklima über die Kandidaten in den untersuchten Tageszeitungen 2009 offenbar deutlich weniger negativ aufgeladen als noch im Jahr 2005 – während Merkel 2005 in den untersuchten
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Zeitungsartikeln noch einen Überhang von 53 negativen Aussagen zu verzeichnen hatte, waren es 2009 nur noch zwölf. Zum anderen wurde Angela Merkel sowohl auf Beitrags- als auch auf Aussagenebene negativer bewertet als ihr Kontrahent Frank-Walter Steinmeier. Für Steinmeier wurde lediglich eine negative Bewertung mehr als positive festgestellt (was dem Eindruck entsprechen könnte, dass er "konturlos" wirkte). Dafür könnte auch die geringe Gesamtzahl von Aussagen über ihn sprechen. Wendet man die Befunde zur Bewertung der Kandidaten ins Positive, so ließe sich vielleicht sagen, dass die Wahlkampfberichterstattung nicht zu weiterer Politikverdrossenheit beigetragen haben dürfte, die man als Folge übertrieben kritischer Politikdarstellung unterstellt hat (Maurer & Reinemann, 2006, S. 132). Ohnehin nimmt in Wahlkampfzeiten üblicherweise die Politikverdrossenheit ab, die Identifikation mit dem politischen System steigt. Neben der Untersuchung, wie die Kandidaten beurteilt werden (positiv oder negativ) ist von Bedeutung, welche ihrer Eigenschaften oder Verhaltensweisen von den Zeitungen in welchem Ausmaß bewertet werden. Ein Vergleich zu 2005 macht deutlich, dass die Persönlichkeit der Kandidaten immer mehr in den Vordergrund der Bewertungen rückt – etwa 40 Prozent der wertenden Aussagen bezogen sich in der Frankfurter Rundschau, der Süddeutschen Zeitung und der Welt 2009 auf Persönlichkeitsmerkmale5 der Kandidaten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung machte ihr Anteil immerhin 30 Prozent aus. Das Verhältnis der Kandidaten zu anderen Parteien spielte bei deren Bewertung durch die Zeitungen hingegen eine deutlich geringere Rolle als noch im Jahr 2005. Der Befund, dass die Persönlichkeit der Politiker in der Berichterstattung an Bedeutung gewinnt, wurde auch schon durch die Analyse der Personalisierungs- und der Visualisierungsmerkmale gestützt (siehe oben).
5
Unter Persönlichkeitsmerkmale fassen wir Eigenschaften der Kandidaten, die nicht ihre eigentliche Sachkompetenz beschreiben, sondern beispielsweise ihren Umgang mit anderen Menschen, ihre Fairness, ihre Ehrlichkeit, Kritikfähigkeit, ihren Humor usw.
Ein Wahlkampf, der keiner war?
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Abbildung 8: Tendenzen der Kandidatenbewertung (Saldo der Anteile positiver und negativer Beiträge mit Kandidatenbezug)
Basis: Beiträge mit Bezug zu den Kandidaten der CDU/CSU und mit Bezug zu den Kandidaten der SPD. 1949: Der Tagesspiegel statt Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Wie haben die einzelnen von uns untersuchten Zeitungen die beiden Kandidaten bewertet? Schlägt sich darin die politische Grundhaltung der Blätter nieder? Wie bereits in den letzten Wahljahren ist auch 2009 festzustellen, dass die vier untersuchten Qualitätszeitungen die beiden Kandidaten insgesamt eher kritisch beurteilten (vgl. Abbildung 9). Als Indikator dient erneut der Saldo aus dem Anteil negativer und positiver Aussagen. Bei allen Zeitungen – bis auf die Frankfurter Allgemeine Zeitung – überwogen 2009 insgesamt negative Aussagen über positive. Die Bewertung der Kandidaten entsprach 2009 bei der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung generell ihrer jeweiligen politischen Linie: Beide Blätter bewerteten Merkel negativer als Steinmeier. Bei der FAZ war das Verhältnis eher ausgewogen, sie bewertete weder die Kandidatin noch den Kandidaten positiver oder negativer. Die FAZ ist gleichzeitig die einzige der vier untersuchten Zeitungen, die sowohl 2005 als auch 2009 mehr positive als negative Aussagen über die Kandidaten traf. Nicht ins übliche Bild
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redaktioneller Linien passt, dass Die Welt die CDU-Kanzlerkandidatin Merkel deutlich negativer bewertete als den SPD-Kandidaten Steinmeier. Zugleich war der Überhang an negativen Aussagen bei der Welt im Vergleich zu den anderen drei Zeitungen am größten. Dies hätte man angesichts der politisch eher rechtskonservativ einzuschätzenden Linie dieser Zeitung nicht unbedingt erwartet. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass Merkel in den Augen der Welt einen eher sozialdemokratischen Kurs eingeschlagen hat. Dem würde entsprechen, dass die links-liberale Frankfurter Rundschau Merkel 2009 mit einem Überhang von lediglich 14 negativen Aussagen deutlich positiver bewertet hat, als noch 2005 (mit einem Überhang von 43 negativen Aussagen). Damals wird sie dieser Zeitung noch als "neoliberal" gegolten haben. Abbildung 9: Tendenzen der Kandidatenbewertung 2005 und 2009 nach Zeitungen (Saldo positiver und negativer Aussagen – absolute Häufigkeiten) Saldo Schröder 2005
40 30
2005
2009
Saldo Merkel 2005 2005
2009
Saldo Merkel 2009 2005
2009
Saldo Steinmeier 2009 2005
2009
23
20 10
9
5
4
5
5
2
5
0 -1 -6
-10
-7
-14
-20
-22
-30
-27 -28
-40 -50
-43
Frankfurter Rundschau
Basis: 454 Aussagen.
Süddeutsche Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Welt
Ein Wahlkampf, der keiner war? 8
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Zusammenfassung
Versteht man die Frage im Titel dieses Beitrags wörtlich (und nicht rhetorisch), so müsste man sie verneinen: Denn selbstverständlich fand im Spätsommer 2009 in Deutschland ein Bundestagswahlkampf statt. Dafür sprechen allein schon die Kosten, die von den Parteien für ihre Kampagne aufgewandt wurden: Bei der CDU waren es nach unseren Recherchen 20 Millionen Euro (ohne CSU, die auf Anfragen keine Auskunft erteilte), die SPD investierte 29 Millionen Euro, die FDP 4,8 Millionen Euro, Bündnis 90/Die Grünen 3,9 Millionen Euro und Die Linke 5,5 Millionen. Das belief sich (ohne CSU) insgesamt auf 63,2 Millionen Euro (immerhin rund 5 Millionen weniger als 2002). Mit diesen Mitteln wurden zahllose Wahlkampfaktionen im ganzen Land finanziert, nicht nur die Auftritte der Kandidaten, auch symbolische Aktionen (wie die nostalgisch an Konrad Adenauer erinnernde Wahlkampftour Angela Merkels im "Rheingold-Express"), ferner die Plakatwerbung, die Websites und vieles andere mehr. Stattgefunden hat somit zumindest eine aufwändige "paid campaign". Und diese zog auch fraglos eine "media campaign" nach sich. Allerdings sind es deren Form und Gehalt, die den Anlass für das Stellen der Titelfrage geboten haben. Die Einschätzung, 2009 finde in Deutschland ein Bundestagswahlkampf nicht statt, haben die Medien und Journalisten in den Wochen vor dem 27. September 2009 selbst mehrfach artikuliert. Manchen erschien dies sogar als "medialer Konsens" (FAZ, 12.9.2009, S. 42). Chefredakteur Nikolaus Brender kritisierte die politische Enthaltsamkeit im ZDF, während Heribert Prantl in der SZ das "Lob der Langeweile" sang und darin "ein Spiegelbild der realen Politik" sah (SZ, 26.8.2009, S. 4). Michael Hanfeld, Medienredakteur der FAZ, hielt allerdings dagegen. Einerseits machte er das Fernsehen selbst für den entstandenen Eindruck verantwortlich ("Ihr seid die Langweiler!", FAZ, 24.9.2009, S. 29), andererseits widersprach er Brender wegen der kontroversen Diskussion um die Fernsehduelle, die ihn gar zu der Bemerkung veranlasste, er – der Wahlkampf – tobe an allen Fronten (FAZ, 28.8.2009, S. 35). Zumindest Hanfelds Kollege Bannas sekundierte ihm, als er in einem Leitartikel vom "konsensualen Mediengespenst" (FAZ, 7.9.2009, S. 1) sprach. Dies stellten aber eher Ausnahmen dar. Dass die zitierte Einschätzung keineswegs eine Täuschung war, dafür liefert unsere Analyse eine Reihe von Anzeichen. Diese gewinnen ihre Bedeutung insbesondere wieder im Langzeitvergleich. Die Berichterstattung über
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den Wahlkampf erfuhr einen drastischen Rückgang auf nur noch halb so viel wie in den beiden zuletzt vorangegangenen Wahljahren. Dementsprechend gab es auch weniger Wahlkampfaussagen mit absolut gesehen weniger Bewertungen. So weisen mehrere Indikatoren auf die geringe Polarisierung im Wahlkampf 2009 hin, die sowohl eine Folge der zurück liegenden Großen Koalition mit ihren Gemeinsamkeiten war als auch mit den Persönlichkeiten der Kandidatin und des Kandidaten zusammenhing. Zumal der SPD-Kandidat Steinmeier blieb ein "unbeschriebenes Blatt". Im Langzeitvergleich haben sich bei der Analyse der Zeitungen sowohl stetige als auch variable Merkmale der Wahlkampfberichterstattung gezeigt. Fortgesetzt haben sich die langfristigen Trends: (1) dass immer weniger "objektive" Nachrichten und Berichte und immer mehr "subjektive" Reportagen, Features und Kommentare gebracht werden; und (2) dass sich die Journalisten in Wahlkämpfen immer weniger des Materials der Nachrichtenagenturen bedienen. Erhöht hat sich (3) weiterhin die Visualisierung, d.h. die Illustration der Wahlkampfberichte mit Fotos. Der Anteil der Beiträge mit Kandidatenbezug ist (4) zwar stabil geblieben, aber mehr Beiträge hatten Bezug zu Angela Merkel als zu Frank-Walter Steinmeier. Dieser "Kanzlerbonus", den es 2005 nicht gegeben hatte, zeigte sich (5) zwangsläufig auch bei der Zahl der Aussagen, im Saldo allerdings (sozusagen als Malus) auch bei den "negativen" Bewertungen. Obwohl die Zahl der wertenden Aussagen 2009, bedingt durch die geringere Artikelzahl, niedriger lag als zuvor, erhöhte sich (6) die durchschnittliche Anzahl der Aussagen darin (auf 1,5). Rückläufig war (7) insgesamt der Negativtrend in der Kandidatenbewertung. Vergleichsweise stabil blieb (8) die Themenstruktur der Wahlkampfberichterstattung, wobei allerdings der relativ hohe Anteil der Außenpolitik hervorstach. Stetige und variable Merkmale ließen sich in der Wahlkampfberichterstattung aller vier Zeitungen feststellen. Am auffälligsten waren Veränderungen in der Frankfurter Rundschau und in der Welt. Bei der ersteren hat sich formal die Umstellung auf das Tabloid-Format ausgewirkt. Die redaktionelle Linie ist freilich die gleiche geblieben. Inhaltlich bewertete die Zeitung Angela Merkel 2009 allerdings deutlich weniger negativ als vier Jahre zuvor. Bemerkenswert war auch der Negativgehalt in der Bewertung von Angela Merkel durch Die Welt. Das Übergewicht, das dieses Blatt 2002 und noch 2005 von den vier Zeitungen bei der Anzahl der Wahlkampfbeiträge hatte, ging 2009 weiter zurück.
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Im Rückblick bieten sich mehrere Vergleiche zu früheren Bundestagswahlen an. Wegen der politischen Umstände etwa zur Wahl 1969, der (wie dieses Mal) ein Koalitionswechsel folgte (wenn auch anderer Art). Die jeweilige Ausgangssituation unterscheidet jedoch beide Fälle (auch in der Berichterstattung) gravierend. Wegen der fehlenden Machtperspektive und des mangelnden Spannungsgehalts lassen sich auch Vergleiche zu den Wahlkämpfen 1987 und 1990 ziehen (weniger schon 1994). Zwar war der Umfang der Berichterstattung in all diesen Jahren begrenzt. Aber dennoch bedingten die Kandidatenkonstellationen auch Unterschiede. 1987 lagen zahlreiche Werte für den SPD-Kandidaten Johannes Rau im unauffälligen Bereich. Und 1990 wurde Oskar Lafontaine zwar stärker wahrgenommen, erfuhr aber die (bis heute) negativste Bewertung aller SPD-Kanzlerkandidaten seit 1949. Der Eindruck eines schwachen Wahlkampfs drängt sich für 2009 vor allem aus dem Vergleich zu demjenigen vier Jahre zuvor auf. Plastisch soll das noch einmal durch die Abbildungen 10 und 11 veranschaulicht werden. Abbildung 10:
Anzahl und Inhalte der wertenden Aussagen in der Walkampfberichterstattung 2005
Persönlichkeit
Kompetenz
Auftreten/Äußeres
Grundhaltung
Verhältnis zu anderen
150
125
100
75
50
25
0
22/ 23/ 24/ 25/ 26/ 27/ 29/ 30/ 31/ 1/ 8 8 8 8 8 8 8 8 8 9
Basis: 741 Aussagen.
2/ 9
3/ 5/ 9 9
6/ 9
7/ 9
8/ 9
9/ 10/ 12/ 13/ 14/ 15/ 16/ 17/ 9 9 9 9 9 9 9 9
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Sie zeigen für die letzten vier Wochen vor dem Wahltag, wie viele Aussagen die untersuchten Zeitungen über verschiedene personale Dimensionen der Kanzlerkandidaten gemacht haben. Insgesamt wird der reduzierte, wesentlich "gedämpftere" Meinungstenor des (Medien-)Wahlkampfs 2009 erkennbar. Fast durchweg sind die Balken im Diagramm niedriger als 2005. Abbildung 11: Anzahl und Inhalte der wertenden Aussagen in der Wahlkampfberichterstattung 2009 Persönlichkeit
Kompetenz
Auftreten/Äußeres
Grundhaltung
Verhältnis zu anderen
150
125
100
75
50
25
0
31/ 1/ 2/ 3/ 4/ 5/ 7/ 8/ 9/ 10/ 11 12/ 14/ 15/ 16/ 17/ 18/ 19/ 21/ 22/ 23/ 24/ 25/ 26/ 8 9 9 9 9 9 9 9 9 9 /9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9
Das gilt auch und nicht zuletzt für die Tage mit den Spitzenwerten: In beiden Jahren wurden die meisten Aussagen über Angela Merkel und Gerhard Schröder/Frank Walter Steinmeier am übernächsten Tag nach den TVDuellen der Kanzlerkandidaten veröffentlicht. 2005 waren es in den vier Zeitungen am 6. September rund 110 Aussagen, am 15. September 2009 aber nur knapp 70. Das hatte auch mit dem TV-Duell selbst zu tun, das nur von 14 Millionen Zuschauern gesehen wurde, sieben Millionen weniger als 2005. Zudem wurde das Duell allgemein als langweilig wahrgenommen, was in Schlagzeilen wie "Duell mit Samthandschuhen" (FR) und "Kuschel-Duell statt Wahlkampf. Yes, we gähn!" (Bild-Zeitung, 14.9.2009) seinen Nieder-
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schlag fand. Aus der geringeren Beachtung des TV-Duells dürfte auch resultieren, dass über das Auftreten und das Äußere der Kandidaten 2009 weit weniger Aussagen getroffen wurden als 2005. Auffällig zeigt sich in den Verlaufsdiagrammen auch noch einmal, um wie viel weniger das Verhältnis der Kandidaten zu anderen (Parteien) 2009 ein Thema war als 2005. Das gilt übrigens insbesondere für die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine, nicht für die Frankfurter Rundschau und Die Welt. Die Differenz zwischen den Wahlkämpfen 2005 und 2009 hat sich so weitgehend aufgedrängt, dass sie auch von Karikaturisten aufs Korn genommen wurde. Mit drei Karikaturen aus der Süddeutschen Zeitung wollen wir dies am Ende dieses Beitrags noch belegen. Am 2. September 2005 erschien in der SZ eine Karikatur (von Ironimus), in der Angela Merkel und Gerhard Schröder mit Boxhandschuhen aufeinander losgehen (Abbildung 12). Die Bewegungen der Protagonisten signalisieren etwas Kämpferisches. Luis Murschetz platzierte in seiner Karikatur in der SZ vom 5./6. September 2009 die Kontrahenten – diesmal Merkel und Steinmeier – ebenfalls in einen Boxring (Abbildung 13). Dieser ist jedoch mit Decken weich gepolstert, und die beiden Protagonisten sitzen in den Ecken und scheinen nicht recht willens, tatsächlich den Kampf aufzunehmen.6 Zehn Tage später brachte die Süddeutsche Zeitung eine weitere Karikatur (von Gabor Benedek), jetzt zum TV-Duell: Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier treten sich an ihren Podien als Bogenschützen gegenüber (Abbildung 14). Die Bogen sind aber (wie bei Liebenden) in einer Herzform gespannt, und die von beiden abgeschossenen Pfeile touchieren lediglich ihre Haare: gewiss eine Beschönigung, aber doch auch eine Antwort auf die mit dem Titel unseres Beitrags aufgeworfene Frage.
6
"Abrüstung" gab es auch laut der sonst mitunter martialischen Walkampfberichterstattung: "Schlacht ohne Krieger" (SZ, 26./27.9.2009, S. 23), "Das wird kein Schlachtengemälde" (FAZ, 12.9.2009, S. 12).
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Abbildung 12: Wahlkampfkarikatur "Vor dem Kampf" – SZ vom 2. September 2005
Abbildung 13: Wahlkampfkarikatur "Ring frei" – SZ vom 5./6. September 2009
Abbildung 14: Wahlkampfkarikatur „Das Duell“ – SZ vom 15. September 2009
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Literatur Holtz-Bacha, C. (2003). Bundestagswahlkampf 2002: Ich oder der? In C. Holtz-Bacha (Hrsg.), Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2002 (S. 9-28). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Kepplinger, H. M., & Maurer, M. (2005). Abschied vom rationalen Wähler. Freiburg: Alber. Lengauer, G., Pallaver, G., & Pig, C. (2006). Redaktionelle Politikvermittlung in österreichischen Wahlkämpfen, 1999-2006. In F. Plasser & P. A. Ulram (Hrsg.), Wechselwahlen. Analysen zur Nationalratswahl 2006 (S. 103-151). Wien: Facultas. Maurer, M., & Kepplinger, H. M. (2003). Warum die Macht der Fernsehbilder wächst. Verbale und visuelle Informationen in den Fernsehnachrichten vor den Bundestagswahlen 1998 und 2002. In C. Holtz-Bacha (Hrsg.), Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2002 (S. 82-97). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Maurer, M., & Reinemann, C. (2006). Medieninhalte. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Melischek, G., Rußmann, U., & Seethaler, J. (2009). Agenda Building in österreichischen Nationalratswahlkämpfen, 1970-2008. In F. Plasser (Hrsg.), Politik in der Medienarena. Praxis politischer Kommunikation in Österreich (S. 101-143). Wien: Facultas. Patterson, T. E. (1993). Out of Order. New York: Vintage Books.
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Autorinnen und Autoren
Holtz-Bacha, Christina (Jg. 1953), Prof. Dr. phil.; seit 2004 Inhaberin des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Medienpolitik. Leidecker, Melanie (Jg. 1983), M.A.., Studium der Publizistikwissenschaft, Deutschen Philologie und Soziologie an der Johannes GutenbergUniversität Mainz (2002-2008). Seit April 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Öffentliche Meinung, Nachrichtenforschung, politische Kommunikation, Journalismusforschung (auch im internationalen Vergleich). Leidenberger, Jacob (Jg. 1980), Diplom-Sozialwirt, Studium der Sozialwissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; von 2008 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft in Nürnberg; seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Département de communication politique et publique an der Universität Paris-Est Créteil Val-de-Marne (UPEC). Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Vergleich von Mediensystemen, Medienpolitik. Lessinger, Eva-Maria, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Visuelle Kommunikation, Medienunterhaltung, qualitative Methoden. Nieland, Jörg-Uwe (Jg. 1965) Dr. phil., wiss. Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen am Institut für Politikwissenschaft und der "Forschungsgruppe Regieren" sowie an der Deutschen Sporthochschule Köln, Institut für Kommunikations- und Medienforschung. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Politische Kommunikation und Regierungstätigkeit, Extremismus-
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Autorinnen und Autoren
forschung, Medienpolitik und Medienentwicklung, Sportkommunikation und Sportpolitik sowie Populärkultur. Quandt, Thorsten (Jg. 1971), Prof. Dr. habil., Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Film- und Fernsehwissenschaft sowie Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1998 bis 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Ilmenau, von 2003 bis 2007 an der LMU München. Danach bis 2008 Juniorprofessor an der FU Berlin. Seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft, insb. interaktive Medienund Onlinekommunikation, an der Universität Hohenheim. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikatorforschung, Online-Kommunikation, Medieninnovationen und Medienwandel, Games Research. Schoen, Harald, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Finanzwissenschaft und des Privatrechts in Bamberg. Promotion zum Dr. phil. 2003 und Habilitation 2008 in Mainz. 1997 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz. Seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Forschungsschwerpunkte: politische Einstellungen und politisches Verhalten, politische Kommunikation, Methoden der empirischen Sozialforschung. Schulz, Winfried (Jg. 1938), Dr. rer. pol., Dr. h. c., em. Prof. für Kommunikations- und Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Medienwirkung, Methoden der Kommunikations- und Mediaforschung. Schweitzer, Eva Johanna (Jg. 1980), M.A., Studium der Publizistik, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und Psychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Von 2004 bis 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Online-Kommunikation. Tapper, Christoph (Jg. 1966), M.A., Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1998 bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbei-
Autorinnen und Autoren
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ter am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FUBerlin; zunächst am Arbeitsbereich PR/Kommunikationsmanagement und zuletzt im Studiengang Journalisten-Weiterbildung. Seit 2005 selbständiger Kommunikationsberater und Dozent. Forschungsschwerpunkte: Kommunikationsmanagement, Dialoganalyse, digitale Medien und Filmwirtschaft. Wilke, Jürgen (Jg. 1943). Prof. Dr., Universitätsprofessor für Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Medienstruktur und Mediengeschichte, Nachrichtenwesen und Nachrichtenagenturen, Internationale Kommunikation, Politische Kommunikation. Zeh, Reimar (Jg. 1970), Dr. rer. pol., Diplom-Sozialwirt; Studium der Sozialwissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg; 1997 bis 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kommunikations- und Politikwissenschaft in Nürnberg; 2005 Promotion; derzeit Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft in Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Social Media, Sportberichterstattung, Umweltkommunikation.
Autorinnen und Autoren
Holtz-Bacha, Christina (Jg. 1953), Prof. Dr. phil.; seit 2004 Inhaberin des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Medienpolitik. Leidecker, Melanie (Jg. 1983), M.A.., Studium der Publizistikwissenschaft, Deutschen Philologie und Soziologie an der Johannes GutenbergUniversität Mainz (2002-2008). Seit April 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Öffentliche Meinung, Nachrichtenforschung, politische Kommunikation, Journalismusforschung (auch im internationalen Vergleich). Leidenberger, Jacob (Jg. 1980), Diplom-Sozialwirt, Studium der Sozialwissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; von 2008 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft in Nürnberg; seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Département de communication politique et publique an der Universität Paris-Est Créteil Val-de-Marne (UPEC). Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Vergleich von Mediensystemen, Medienpolitik. Lessinger, Eva-Maria, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Visuelle Kommunikation, Medienunterhaltung, qualitative Methoden. Nieland, Jörg-Uwe (Jg. 1965) Dr. phil., wiss. Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen am Institut für Politikwissenschaft und der "Forschungsgruppe Regieren" sowie an der Deutschen Sporthochschule Köln, Institut für Kommunikations- und Medienforschung. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Politische Kommunikation und Regierungstätigkeit, Extremismus-
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forschung, Medienpolitik und Medienentwicklung, Sportkommunikation und Sportpolitik sowie Populärkultur. Quandt, Thorsten (Jg. 1971), Prof. Dr. habil., Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Film- und Fernsehwissenschaft sowie Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1998 bis 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Ilmenau, von 2003 bis 2007 an der LMU München. Danach bis 2008 Juniorprofessor an der FU Berlin. Seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft, insb. interaktive Medienund Onlinekommunikation, an der Universität Hohenheim. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikatorforschung, Online-Kommunikation, Medieninnovationen und Medienwandel, Games Research. Schoen, Harald, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Finanzwissenschaft und des Privatrechts in Bamberg. Promotion zum Dr. phil. 2003 und Habilitation 2008 in Mainz. 1997 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz. Seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Forschungsschwerpunkte: politische Einstellungen und politisches Verhalten, politische Kommunikation, Methoden der empirischen Sozialforschung. Schulz, Winfried (Jg. 1938), Dr. rer. pol., Dr. h. c., em. Prof. für Kommunikations- und Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Medienwirkung, Methoden der Kommunikations- und Mediaforschung. Schweitzer, Eva Johanna (Jg. 1980), M.A., Studium der Publizistik, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und Psychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Von 2004 bis 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Online-Kommunikation. Tapper, Christoph (Jg. 1966), M.A., Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1998 bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbei-
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ter am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FUBerlin; zunächst am Arbeitsbereich PR/Kommunikationsmanagement und zuletzt im Studiengang Journalisten-Weiterbildung. Seit 2005 selbständiger Kommunikationsberater und Dozent. Forschungsschwerpunkte: Kommunikationsmanagement, Dialoganalyse, digitale Medien und Filmwirtschaft. Wilke, Jürgen (Jg. 1943). Prof. Dr., Universitätsprofessor für Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Medienstruktur und Mediengeschichte, Nachrichtenwesen und Nachrichtenagenturen, Internationale Kommunikation, Politische Kommunikation. Zeh, Reimar (Jg. 1970), Dr. rer. pol., Diplom-Sozialwirt; Studium der Sozialwissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg; 1997 bis 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kommunikations- und Politikwissenschaft in Nürnberg; 2005 Promotion; derzeit Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft in Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Social Media, Sportberichterstattung, Umweltkommunikation.