Scan by Schlaflos
Buch Liath und Prinz Sanglant sind mit ihren Getreuen und Verbündeten getrennt voneinander und auf u...
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Scan by Schlaflos
Buch Liath und Prinz Sanglant sind mit ihren Getreuen und Verbündeten getrennt voneinander und auf unterschiedlichen Wegen unterwegs nach Aosta. Dort versucht Sanglants Vater, König Henry, der sich immer noch im Banne eines Dämons befindet, seine Macht weiterhin zu festigen und das Kaiserreich in altem Glanz auferstehen zu lassen. Eine Konfrontation zwischen Vater und Sohn scheint unausweichlich, doch nun, da die neuerliche Große Umwälzung immer näher rückt, mischen sich plötzlich auch andere Mächte in das Geschehen ein. Denn Liath und die Mathematiki sind nicht die Einzigen, die um die magischen Tore wissen - und sich ihrer bedienen können ... Autorin Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie gemeinsam mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Soloprojekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern begeistert aufgenommen. Von Kate Elliott bereits erschienen: STERNENKRONE: 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), 5. Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24132), 9. Ins Land der Greife. Roman (24138) SAMMELBÄNDE DER STERNENKRONE: Sternenkrone 1 + 2. Erben der Nacht/Im Namen des Königs (24349), Sternenkrone 3 + 4. Auf den Flügeln des Sturms/Kathedrale der Hoffnung (24373) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Kate Elliott
Die magischen Tore Sternenkrone 10 Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Crown of Stars, vol. 5: The Gathering Storm« (Part 3) bei Orbit/Time Warner Books UK, London. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © der Originalausgabe 2003 by Katarina Elliott Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH Published in arrangement with the author c/o BAROR International, Inc., Armonk, New York, USA Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Vladimir Bondar Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck UH ■ Herstellung: H. Nawrot Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24139-1 ISBN-13: 978-3-442-24139-1 www.blanvalet-verlag.de Kate Elliott — Sternenkrone (Was bisher geschah) In den Vereinigten Königreichen von Wendar und Varre herrschen unruhige Zeiten. Die Küstengebiete leiden
unter den Raubzügen der nichtmenschlichen Aikha, die in ihren Booten von Norden über das Meer kommen, Städte und Klöster niederbrennen und das Land verwüsten, während die Grenzmarken im Osten von den Reiterhorden der »geflügelten« Qumaner bedroht werden. Im Licht des Vollmonds erwachen alte, halb verfallene Ruinen zu neuem Leben, bevölkert von den seit langer Zeit verschwundenen Verlorenen, und dunkle Geister streifen am helllichten Tag durch das Land. Und als wenn das alles noch nicht genug wäre, zieht auch noch ein Bürgerkrieg herauf, denn Prinzessin Sabella will mit der Unterstützung einiger Edelleute ihrem Bruder Henry die Königskrone entreißen. In diesen Bürgerkrieg geraten zwei junge Menschen: Liath, die ihr Leben lang mit ihrem Vater auf der Flucht vor unbekannten Feinden war, und Alain, ein junger Mann aus einfachen Verhältnissen, dessen Herkunft im Dunkeln liegt. Eines Tages wird Liaths Vater ermordet, und sie selbst gerät in die Fänge des machtgierigen Mönchs Hugh, der ihr nicht nur das »Buch der Geheimnisse«, das sie von ihrem Vater geerbt hat, entreißen will, sondern auch das alte geheime Wissen, das tief in ihrem Innern verborgen ist. Nach einer langen Zeit des Leidens gelingt es ihr schließlich, mit viel Glück und der Unterstützung eines geheimnisvollen Fremden namens Wulfhere, Hughs Nachstellungen zu entfliehen, und gemeinsam mit ihrer Freundin Hanna tritt sie den Adlern des Königs bei, königlichen Boten, die nur dem König selbst verantwortlich sind. 9 Alain hingegen wird Zeuge eines Aikha-Überfalls auf ein Kloster und begegnet der Herrin der Schlachten, die für sein weiteres Leben noch eine große Bedeutung haben wird. Auf Gut Lavas sieht er zum ersten Mal Fünfter Sohn, einen Aikha, der dort gefangen gehalten wird und den er heimlich freilässt - ohne zu wissen, dass ihrer beider Lebenswege auf besondere Weise miteinander verknüpft sind. Und er wird von Graf Lavastin als sein Erbe erkannt, eine Tatsache, die nicht bei allen dem Graf verpflichteten Edelleuten auf Verständnis stößt. Liath kommt mit ihren Begleitern in die unweit der Küste gelegene Stadt Gent und begegnet dort einem Menschen, der in ihrem zukünftigen Leben eine wichtige Rolle spielen wird: Sanglant, dem Hauptmann der Königlichen Drachen, der Elitereiterei Henrys - und sein Sohn, den er mit einer Aoi gezeugt hat. Dass die geheimnisvolle, fremdartige Frau ihn kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes verlassen hat, ist noch immer ein Stachel im Fleisch des Königs. Genau wie die Tatsache, dass er Sanglant, den Bastard, nicht zum Thronerben machen kann, sondern sich schon bald für eine seiner Töchter - die impulsive Sapientia oder die zurückhaltende Theophanu - entscheiden müssen wird. Kurz darauf erhält König Henry eine weitere Hiobsbotschaft, denn die Aikha haben Gent erobert - und allem Anschein nach ist Sanglant bei den Kämpfen um die Stadt ums Leben gekommen. Doch dem ist nicht so. Sanglant, der »Prinz der Hunde«, wird nämlich von Blutherz, dem Anführer der Aikha, in der Kathedrale von Gent gefangen gehalten - wie ein räudiger Hund. Das Blut seiner Mutter verleiht Sanglant eine unmenschlich große Lebenskraft, so dass er den normalen Tod nicht fürchten muss - doch wird er von der immerwährenden Furcht beherrscht, früher oder später wahnsinnig zu werden. Wer sollte ihm auch Hilfe bringen? 10 Die ist allerdings bereits unterwegs: König Henry hat den Edlen seines Landes Männer und Waffen abgetrotzt und ein Heer zusammengetrommelt, in dem sich auch Alain und Graf Lavastin befinden. Alain muss sich nicht nur mit dem Misstrauen und dem Neid der ehemals engsten Vertrauten Lavastins auseinander setzen, er wird auch von Visionen heimgesucht - denn er sieht manchmal durch die Augen von Fünfter Sohn, mit dem ihn ein geheimnisvolles Band verbindet. Auch Liath, die - ebenso wie Hanna und Wulfhere und der ehrgeizige Mönch Hugh, der sie immer noch bedrängt - an König Henrys Feldzug teilnimmt, verfügt über ungewöhnliche Fähigkeiten. Da ist zum einen die Adlersicht, die Wulfhere ihr beigebracht hat und mit der sie manchmal Orte und Wesen sieht, die nicht von ihrer Welt zu sein scheinen. Zum anderen kann sie Feuer herbeirufen, wenn sie in höchster Not ist. Durch List und Opferbereitschaft gelingt es den Menschen von Wendar und Varre, Gent von den Aikha zurückzuerobern. Sanglant wird von Liath befreit, Blutherz kommt bei den Kämpfen ums Leben, und Alain, der eigentlich nichts sehnlicher als den Frieden wünscht, wird mit Hilfe der Herrin der Schlachten zum gefeierten Helden. Die Gefahr durch die Aikha scheint fürs Erste gebannt. Liath und Sanglant kommen sich näher, doch ihre Liebe ist in König Henrys Lager nicht gern gesehen. Als ihre Nöte immer größer werden, taucht plötzlich Liaths totgeglaubte Mutter Anne auf und bietet ihr an, mit ihr ins Nest der Mathematiki zu fliehen, ein Angebot, das sie und Sanglant schließlich annehmen. Liath hofft, bei dem geheimen Zirkel von Zauberern, deren Anführerin ihre Mutter ist, das alte Wissen studieren zu können - etwa über die Steinkronen, die es nicht nur ermöglichen, von hier nach dort zu reisen, sondern deren Macht die Mathematiki auch dazu benutzen wollen, die Wie11 derkehr der Verlorenen in diese Welt zu verhindern - und mehr darüber zu erfahren, wer oder was sie wirklich ist. Doch ihr und Sanglant wird nur allzu rasch klar, dass sie eigentlich nirgendwo in Sicherheit sind. Und nachdem Liath herausgefunden hat, dass ihre Abstammung sie zu einer möglichen Erbin des alten Kaiserreichs macht, wird sie kurz nach der Geburt ihrer Tochter von den Verlorenen auf magische Weise in deren Sphären
geholt. Inzwischen kehrt Sanglants Aoi-Mutter auf der Suche nach ihrem Sohn, den sie als Säugling zurückgelassen hat, in die Welt der Sterblichen zurück. Sie ist über die Ebenen im Osten gekommen, wo sich die Qumaner unter Bulkezu zu einem neuen Raubzug sammeln. Hoch im Norden ist Fünfter Sohn derweil damit beschäftigt, die zerstrittenen Stämme der Aikha zu einen. Dies gelingt ihm nach und nach, und er wird allmählich zu einem großen, klugen Heerführer, der schließlich den Namen Starkhand erringt - und der sich fest vorgenommen hat, eines Tages nach Wendar und Varre zurückzukehren. König Henry ernennt derweil seine Tochter Sapientia zur Thronerbin und verheiratet sie mit dem ungrischen Prinzen Bayan, einem polternden, aber rechtschaffenen Mann. Alain hingegen, der sich mit Sabellas Tochter Tallia vermählt hat, wird nach dem tragischen Tod seines Vaters Lavastin - ein Geschehen, das sozusagen die letzte Rache des längst toten Aikha-Anführers Blutherz ist - mittels einer Intrige, an der auch seine frömmlerische Frau beteiligt ist, um sein Erbe gebracht. Im Osten greifen erneut die Qumaner an, und Bayan und Sapientia stellen sich ihnen mit einem Heer entgegen. Es kommt zu einer Schlacht, in die auch König Henrys jüngster Sohn Prinz Ekkehard und seine Freunde verwickelt werden, die auf Irrwege des Glaubens geraten und zu Ketzern geworden sind, und in deren Verlauf Bayan fällt. Das Reich befin12 det sich in großer Gefahr, da König Henry weit entfernt vom Ort des Geschehens ist und die Soldaten Sapientia nur unwillig folgen. Alain gerät auf magische Weise durch eine der Steinkronen in ein unbekanntes Land, wo er nicht nur seine große Liebe Adica kennen lernt, sondern auch Zeuge eines verzweifelten Überlebenskampfes wird, als er unabsichtlich in den uralten Konflikt zwischen der Menschheit und ihren Feinden, den Verfluchten, gezogen wird. Liath hingegen befindet sich weit weg von Sanglant und ihrer Tochter im Land der Verbannung, wo sie sich ihrer schwierigsten Aufgabe gegenübersieht. Doch dort liegt auch ihre einzige Hoffnung, etwas über ihre wahre Herkunft sowie über die Art und das wirkliche Ausmaß ihrer einzigartigen Fähigkeiten zu erfahren. Und schließlich öffnet sich ihr der Weg zu den himmlischen Sphären. Auch Sanglant verlässt mit seiner Tochter Gnade das Nest der Mathematiki. Er ist fest entschlossen, seinen Vater König Henry aufzusuchen, denn nur er kann ihm die Warnung über die Verschwörung der Zauberer überbringen, die geschworen haben, die Aoi - die Verlorenen - ein für alle Mal auszulöschen. Und er weiß, dass es die Mathematiki - allen voran ihre Anführerin Anne, die inzwischen auch die Skopos von Darre ist - nicht kümmert, welche Zerstörungen sie mit ihrer Magie anrichten werden. Doch König Henry hat inzwischen seinem geplagten Reich den Rücken gekehrt. Er will Adelheid zu Hilfe eilen, der jungen verwitweten Königin von Aosta, getrieben von dem Wunsch, an ihrer Seite den Thron von Aosta zu besteigen und sich in Darre zum Kaiser krönen zu lassen. Dazu muss allerdings erst Johann Eisenkopf, einer der aostischen Fürsten, besiegt werden, was nach einigem Hin und Her auch gelingt. Während Henrys Tochter Theophanu - die sich ursprüng13 lieh seinem Tross angeschlossen hatte - nach Wendar und Varre zurückkehrt, wo Sabella - dieses Mal mit Unterstützung Conrads des Schwarzen - erneut einen Umsturz plant, gerät Rosvita, die Leiterin der Königlichen Schule und eine enge Vertraute von Henry, in die Gefangenschaft von Hugh; Hathui gelingt im letzten Augenblick die Flucht. Henry ist nun nur noch von Leuten umgeben, denen er zwar vertraut, die aber ihre eigenen Ziele verfolgen; das gilt für Adelheid ebenso wie für Bruder Hugh oder Anne, die Skopos. Sanglant stößt auf Sapientias Heer und wird von den Soldaten so begeistert empfangen, dass Sapientia ihm grollend den Oberbefehl überlässt. Er kann schließlich nicht nur ein qumanisches Heer unter Bulkezu besiegen, sondern auch Hanna befreien, die in Bulkezus Hände gefallen war. Sanglant, der sich mit Gnade, Sapientia und dem Heer immer weiter in die östlichen Steppen vorwagt, schickt Hanna zurück nach Wendar, um Theophanu über die Situation ins Bild zu setzen. Nach einem kurzem Aufenthalt an Theophanus Hof wird Hanna weiter nach Darre gesandt, wo sie durch Zufall von der eingekerkerten Rosvita erfährt. Es gelingt ihr, Rosvita zur Flucht zu verhelfen und zusammen mit ihr und den übrigen Geistlichen der Königlichen Schule aus Aosta zu fliehen. Während Henry sich mit den letzten aufständischen aostischen Edelleuten herumschlägt, bereiten Anne, Hugh und die übrigen Mathematiki sich auf den entscheidenden Augenblick vor. Liath ist inzwischen aus den himmlischen Sphären zurückgekehrt, doch zunächst einmal ist ihr kein längeres Zusammensein mit Sanglant - dem weit mehr gelungen ist, als einfach nur ein paar Greifenfedern zu erbeuten und ihrer Tochter vergönnt. Ihre Wege müssen sich wieder trennen, da sie dem Plan der Mathematiki auf unterschiedliche Weise und an unterschiedlichen Orten entgegenwirken wollen. M Alain, der an Körper, Geist und Seele verletzt dem Kataklysmus in der Vergangenheit entronnen ist, findet für kurze Zeit Aufnahme in ein Kloster, ehe er im wahrsten Sinne des Wortes in die ewige Schwärze stürzt. Starkhand schließlich, der erste Aikha mit Zielen, die über rasche Überfälle und Plünderungen hinausgehen, erobert mit Geschick und List und mittels der Unterstützung der Ureinwohner das Inselreich Alba - seine
zukünftige Basis, von der aus er seine nächsten Schritte zu unternehmen gedenkt. Und somit haben alle wichtigen Personen den Platz erreicht, den ihnen das Schicksal in dieser Geschichte zugedacht hat, oder sie eilen ihm mit schnellen Schritten entgegen - so wie - Liath, die sich erneut von ihrem Mann und ihrer Tochter trennt, um durch die Steinkronen zu schreiten und an jenen Ort zu gelangen, an dem die entscheidende Konfrontation ihres Lebens auf sie wartet. - Sanglant, der mit seinem Heer und seinen neu gewonnenen Verbündeten - zu denen nicht zuletzt ein Greifenpärchen zählt - in Richtung Aosta zieht, um Henry, seinem Vater, gegenüberzutreten. - Alain, der aus den düsteren Minen in die ebenso dunkle Welt der Skrolin gerät. - Starkhand, der auf Alba schon seine nächsten Schritte plant und nebenbei das Volk der Aikha für immer verändern wird. - König Henry, der in seinem Trachten nach der Kaiserkrone in die Falle gestolpert ist, die Hugh ihm gestellt hatte, und der schon längst nicht mehr er selbst, sondern nur noch eine von einem Dämon besessene Hülle ist. - Anne, Hugh und die anderen Mathematiki, die mit den magischen Kräften der Steinkronen die Aoi erneut ins Nichts schleudern wollen, endgültiger, als es in der Vergangenheit bereits geschehen ist. 15 - Hanna, die zusammen mit Rosvita und den übrigen Geistlichen der Königlichen Schule auf der Flucht vor Hughs Häschern einen verzweifelten Plan in die Tat umsetzt. - Und schließlich Zacharias und Ivar und viele andere vermeintlich - oder doch nicht? - unbedeutende Personen, die unaufhaltsam in den Gang der Ereignisse gezogen werden - ohne zu ahnen, dass einigen von ihnen bei dem, was geschehen wird, eine wichtige Rolle zufallen wird ... I In die Grube
1 Die Klippe, unter der das Schiff ankerte, war so hoch und steil, dass es aussah, als hätte ein Riese die Insel mit einem Messer durchtrennt und dann die eine Hälfte weggetragen. Rechts von ihnen fiel das Land in Form holpriger Terrassen und schroffer Felsabstürze zum Meer hin ab, ging dann in eine geschwungene Linie aus kleinen Inseln und Felsen über, so dass ihr Ankerplatz in einer geschützten Bucht lag. Das Wasser unter ihnen war dem Kapitän zufolge zu tief, um ausgelotet werden zu können. Sanfte Wellen brachten das Deck zum Schaukeln. Zacharias empfand diese Bewegung als äußerst beruhigend, nachdem sie viele Wochen lang durch eine steife Brise aus dem Norden gekreuzt waren. Das grelle Licht machte ihn benommen. Er beschattete die Augen und blinzelte zu einem Gewirr aus weißen Häusern hoch, die oben auf der Klippe standen. Was für eine Aussicht! Der Gedanke, so hoch oben zu wohnen und jeden Tag auf das herrliche Meer blicken zu können, machte ihn ganz schwindMarcus stand neben ihm und hielt sich an der Reling fest, den Blick auf ein Boot gerichtet, das zwischen zwei mit Gebüsch bewachsenen Inseln geradewegs auf sie zukam. Neben den vier Männern an den Rudern befanden sich sechs Passagiere darin, darunter eine Person, die kaum größer als ein Kind war. Als das Boot der Länge nach beidrehte, warf ein Seemann eine Strickleiter hinunter. Wulfhere kletterte zuerst an Bord, zusammen mit dem Arethusanisch sprechenden Seemann, der ihn als Übersetzer begleitete. Der alte Adler blies auf seine Hände und betrachtete sie stirnrunzelnd; sie hatten vom Rudern ein paar Blasen bekommen. Als Nächstes kamen zwei kräftig wirkende Bedienstete, ein Mann und eine Frau, die in schlichte, aber schöne Gewänder gekleidet waren. Unten im Boot wurde die wie ein Kind wirkende Gestalt in eine Schlinge gehoben, die um den Körper eines dritten Bediensteten - eines Mannes mit der muskulösen Gestalt eines Soldaten - gebunden war. Wie ein Bündel gelangte sie so an Bord. Marcus eilte zur Strickleiter. Er hatte einen seltsamen Gesichtsausdruck, den Zacharias erst deuten konnte, als der Geistliche der alten Frau in der Schlinge die Hand drückte. »Ihr seht gut aus, Schwester.« Er sorgte sich um sie. »Nun ja, ganz gut für eine Frau, die Schiffbruch erlitten hat.« Obwohl sie mit den schwarzen Haaren und der dunklen Haut eindeutig fremdländisch aussah, schwang nur ein leichter Akzent in ihrer Stimme mit. »Zwei Monate auf dieser Insel haben meiner Lunge ziemlich gut getan.« »Ich habe mir in Darre Sorgen um Euch gemacht.« »Die Luft in der Stadt ist geeignet, den stärksten Bullen zu fällen. Der Gestank hat mich jedenfalls fast umgebracht, aber die Seeluft hat mich wiederbelebt.« Früher einmal war sie eine Schönheit gewesen, schwarzhaarig und hübsch. Jetzt schimmerten weiße Strähnen in ihren Haaren, und ihre mit Altersflecken übersäten Hände zit18
terten. Ihr Blick blieb jedoch scharf und eindringlich. Sie fing Zacharias' Blick auf und nickte. »Wer ist das?« »Ein Schüler«, erklärte Marcus. »Oh.« Ihr kühler Blick ließ Zacharias nervös zusammenzucken. »Ich werde später mit ihm sprechen.« Die Bediensteten stellten einen zusammengefalteten Stuhl aus Zeltstoff auf, und während sie die alte Frau in diesen bequemeren Sitz setzten, kamen auch die letzten zwei Passagiere an Deck geklettert: eine zweite Dienerin und ein gut aussehendes Mädchen, das nicht älter als vierzehn oder fünfzehn sein konnte. Sie besaß einen kräftigen Körperbau, und ihre Haut war dunkler als die der wendischen Bediensteten, aber nicht ganz so dunkel wie die der alten Frau. »Großmutter, ich kümmere mich darum, dass die Kabine für dich vorbereitet wird.« Die alte Frau und Marcus hatten sich auf Aostanisch unterhalten, das Zacharias besser verstand, als er es selbst sprechen konnte, aber das Mädchen sprach Wendisch. »Elene, ich möchte, dass du meinen Kameraden kennen lernst, Bruder Marcus von der Schule der Presbyter. Wir werden mit ihm reisen, bis wir Qahirah erreichen.« »Sehr erfreut«, sagte Marcus mit der ungezwungenen Höflichkeit eines Mannes, der unter Edelleuten aufgewachsen war. »Presbyter Marcus.« Sie neigte den Kopf wie gegenüber einem Gleichrangigen. Wessen Kind war sie, so eindrucksvoll, mächtig und stolz, wie sie aussah? Und auch so wendisch, wenngleich sie das Äußere einer Ungläubigen hatte ? Er wagte nicht zu fragen. »Wird Bruder Lupus bei uns bleiben, Großmutter?« »Für eine Weile, ja, aber seine Aufgabe erfordert es, dass er dann eine andere Straße nimmt als wir. Und jetzt geh hinunter und sorge dafür, dass alles behaglich eingerichtet wird.« 19 Während die Seeleute einige Kisten an Bord brachten, gestattete Elene dem Kapitän, sie zu der winzigen Kabine im Heck zu begleiten, die sie sich mit ihrer Großmutter teilen würde. »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr einen Mann wie ihn dazu bringen könnt, auf eine seiner Töchter zu verzichten«, sagte Marcus. Seeleute versammelten sich an der Reling, um mit den Einheimischen im Boot zu sprechen und etwas von ihren eigenen Vorräten zu tauschen. »Er ist mein Sohn. Er muss tun, was ich ihm sage.« »Und eine von ihnen opfern? Ist sie diejenige, die er am wenigsten geliebt hat?« »Nein. Sie ist diejenige, die er am meisten geliebt hat.« Ein Aufblitzen von Wut ließ Meriam die zerbrechlichen Schultern straffen. »Ihr solltet nicht zu leichtfertig über die Liebe eines Vaters reden, Marcus, da Ihr selbst nicht das Geringste davon versteht. Mein Vater hat bittere Tränen vergossen, als ich zum Tempel von Astareos gebracht wurde, um dort als Akolythin zu dienen. Das war, bevor ich von den Khshäyathiya als Teil des Geschenkes an den barbarischen König nach Norden geschickt wurde. Mein Sohn liebt seine beiden Töchter so, wie ein jeder Mann es tun sollte. >Das Blut eines Vaters wird geschwächt durch Söhne, aber gestärkt durch Töchtern Sie sind beide sehr wertvoll für ihn, da er von seiner geliebten Eadgifu keine weitere Tochter mehr bekommen wird, möge sie in Frieden in Gottes Licht ruhen. Aber er kennt seine Pflicht gegenüber seiner Mutter. Er hat mir gegeben, worum ich ihn gebeten habe.« »Seine Pflicht gegenüber der Mutter oder gegenüber der Kirche ? Was ist mit seiner Pflicht gegenüber der Menschheit in ihrem Krieg gegen die Kräfte, die uns bedrohen?« »Wenn jemand Euch ein Pferd gibt, das Euch die Fortsetzung Eurer Reise ermöglicht, solltet Ihr nicht fragen, wieso er das tut, denn es könnte sein, dass Euch die Antwort nicht 20 gefällt. Seid einfach glücklich darüber, dass Ihr Euren Weg weiterverfolgen könnt.« »Ist es das, was Eure jinnischen Verwandten sagen? Die Absichten Eures Herzens sind wichtiger als die Taten Eurer Hände.« »Verdient die Frau, die den Armen widerwillig hundert Brotlaibe gibt, weniger Dank als der Mann, der nur zehn gibt, aber mit aufrichtigem Herzen? Wir können uns wünschen, dass sie mit einem liebenden Herzen gegeben hätte, aber das Brot, das sie verteilt, ernährt die Hungrigen dennoch.« »Ihr argumentiert wie eine Weise aus Hessu. Wollt Ihr Euch jetzt ausruhen, Schwester?« »Das würde ich in der Tat gern tun.« Die Anteilnahme und Rücksicht, die Marcus zur Schau gestellt hatte, überraschten Zacharias. Verblüfft sah er zu, wie der Presbyter die alte Frau zu ihrer Kabine begleitete. Die ganze Zeit über blieb Wulfhere an der Reling stehen und starrte stumm nach Norden über das Meer. Weil das Wetter schön blieb, wurde Zacharias an Deck unterrichtet. »Wie viele Stunden hat eine Woche?« »Einhundertachtundsechzig.« »Wie viele Punkte?« »Sechshundertzweiundsiebzig.« »Wie viele Minuten?« »Eintausendsechshundertundachtzig.«
»Wie viele Teile?« Diese Übungen, in denen Marcus überprüfte, was er von dem zuvor Gelernten behalten hatte, nahmen häufig die Hälfte einer Übungseinheit in Anspruch. Wann immer Zacharias sich über diese Wiederholungen ärgerte, rief er sich in Erinnerung, dass sie sich dem Gipfel stetig näherten, wie ein Mann, der einen Berg bestieg. 21 »Wie lange dauert ein Aufstieg?« »In Schaltjahren ist die Dauer des Aufstiegs von der Wintersonnenwende zur Sommersonnenwende genauso lang wie die einhundertdreiundachtzig Tage Abstieg vom Sommer zum Winter. Ansonsten ist die Dauer des Abstiegs kürzer als der Aufstieg, weil die Sonne sich unterschiedlich lange durch die vier gleichen Teile des Universums bewegt. Von der Wintersonnenwende bis zur Frühlingstagundnachtgleiche sind es neunzig und ein Achtel Tage. Von der Frühlingstagundnachtgleiche bis zur Sommersonnenwende sind es vierundneunzigeinhalb Tage. Von der Sommersonnenwende bis zur Herbsttagundnachtgleiche sind es zweiundneunzigeinhalb Tage. Von der Herbsttagundnachtgleiche bis zur Wintersonnenwende sind es achtundachtzig und ein Achtel Tage.« »Ein guter Schüler.« Meriam hatte es sich in einer Schlinge aus Zeltstoff bequem gemacht, die in der Nähe des Hecks angebracht worden war, damit sie frische Luft schnappen konnte. Eine Markise schützte sie vor der Sonne, bot aber kaum genug Platz, dass sie zu viert dort sitzen konnten. »Er hat ein gutes Gedächtnis«, sagte Marcus. »Das Verstehen hat noch nicht Wurzeln gefasst. Welches sind die Zonen der Erde?« »Es gibt fünf. Zwei arktische Zonen, eine an jedem Pol. Zwei gemäßigte Zonen, in denen die Menschen leben. Und eine heiße Zone entlang des Äquators, in der kein Lebewesen leben kann.« »Und doch leben dort welche«, bemerkte Meriam freundlich. »Menschen hausen dort in Stämmen. Sie leben in Zelten. Es heißt, dass einst Sphinxe, die Löwenköniginnen aus früher Zeit, in der großen Wüste gelebt hätten.« »Vielleicht haben sie das einmal getan«, erwiderte Marcus, »aber jetzt sind sie Legende.« »Vieles wird Legende genannt, das möglicherweise noch immer existiert, verborgen vor dem Blick der Menschen.« 22 Marcus lachte. »Ich bin nicht so abergläubisch wie Ihr, Schwester. Ich kann mir dessen, dass etwas existiert, erst sicher sein, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe.« »Habt Ihr Gott gesehen, Marcus?« »An Gott muss ich glauben, aber ich würde es vorziehen, Sie mit meinen eigenen Augen zu sehen, um ganz sicher zu sein.« Meriam lächelte streng. »Das hoffen wir alle zu tun, wenn wir gestorben sind, aber nicht, solange wir leben. Lasst die anderen nicht hören, welch ketzerische Worte Ihr sprecht. Es sind schon Menschen aus nichtigeren Gründen verbrannt worden.« »Ihr könnt sicher sein, dass ich nicht vorhabe, einer von ihnen zu sein.« Der Sommer war gekommen und vergangen; die Herbsttagundnachtgleiche war vorüber, und jetzt marschierten die Tage unerbittlich auf die Wintersonnenwende zu. Sie hatten Sordaia kurz nach der Sommersonnenwende verlassen und waren am Ufer des Ketzermeers entlang Richtung Süden zum Hafen des sagenhaften Arethusa gesegelt. Zacharias hatte nicht von Bord gehen dürfen, aber er hatte zwei Tage lang an der Reling gestanden und voller Staunen auf die große Stadt auf den Hügeln geblickt, während der Kapitän das Entladen von Holz, Fellen und Weizen vom Markt von Sordaia und die Aufnahme von Wein, Tuch und Eisenmessern beaufsichtigte. In Arethusa hatten Wulfhere und Marcus auf unbekannte Weise eine dringende Nachricht erhalten, die sie nach Südosten und nicht entlang der dalmiakanischen Küste Richtung Westen nach Aosta geführt hatte. Ein starker Wind namens Halhim hatte ihre Reise entlang der aetilianischen Küste verzögert und sie einmal sogar gezwungen, einige Tage zwischen ihren angenehmen Inseln Zuflucht zu suchen. Schließlich waren sie auf einer Insel namens Tiriana gelandet, von der sie dann Meriam und ihre Enkelin gerettet hatten. Dass Meriam eine Mathematika war, musste niemand laut 23 sagen. Marcus informierte den Kapitän, dass sie einen Umweg zum Hafen von Qahirah machen würden, ehe sie nach Aosta zurückkehrten. Da der Mann eine Sonderzulage erhielt, beklagte er sich nicht. Vielleicht war er auch klug genug zu erkennen, dass er ohnehin keine Wahl hatte. Am Ende diente er der Skopos, die reich und mächtig genug war, um ihm Befehle zu erteilen, obwohl sein Schiff ziemlich weit von ihrem Thron entfernt war. Was für eine Rolle spielten die Absichten seines Herzens, solange er tat, was man ihm auftrug? »Jetzt werden wir mit den Sphären fortfahren«, sagte Marcus. »Die Erde liegt in der Mitte des Universums ...« Stück für Stück nahm die Architektur des Kosmos Gestalt vor Zacharias an, doch manchmal fragte er sich, ob sie wirklich mit dem Ehrfurcht gebietenden Anblick mithalten konnte, den er Jahre zuvor im Palast der Irrungen gesehen hatte. Er zitterte noch immer, wenn er daran dachte, aber er sprach über diesen Anblick nicht mit Marcus, der sich für die Erfahrungen anderer nicht interessierte. Marcus wusste, was er wusste, und das genügte ihm. Elene gesellte sich nie zu ihnen. Sie wurde allein von ihrer Großmutter unterrichtet, sofern sie überhaupt Stunden erhielt. Ansonsten blieb sie in ihrer Kabine oder stand an Deck, starrte nach Norden und nach Osten zu den Ländern, die sie hinter sich ließen. Oft waren Tränen auf ihren Wangen, aber sie weinte niemals laut.
»Ist sie immer so mürrisch?«, wollte Zacharias eines Nachmittags von Wulfhere wissen, während er den Seeleuten beim Lavieren zusah, als der Wind sich drehte. »Habt Ihr jemals erlebt, dass sie zu irgend jemandem auf diesem Schiff ein falsches Wort gesagt hätte?« Wulfhere verbrachte ebenso viel Zeit wie Elene damit, aufs Meer zu starren, aber er sah nicht in eine bestimmte Richtung. Mal fand Zacharias ihn gen Süden blickend, mal gen Norden, Osten oder Westen. 24 »Ich habe nicht gehört, dass sie überhaupt mehr als zehn Worte gesprochen hätte.« »Nun«, sagte Wulfhere, als wäre die Angelegenheit damit erledigt. Aber das war sie nicht, denn Zacharias fragte sich, wie es möglich war, dass jemand in der Gesellschaft solch erfahrener Mathematiki nicht fröhlich war. Als er Marcus die gleiche Frage stellte, bevor dieser mit der nächsten Unterrichtseinheit begann, erhielt er eine ganz andere Antwort. »Zehn Worte? Wieso sollte die Tochter eines Herzogs und die Enkelin einer Königin überhaupt mit Euch sprechen, Zacharias? Ihr seid ohne jede Bedeutung für eine Edelfrau, die in ein solch vornehmes Geschlecht hineingeboren wurde wie sie.« »Natürlich habt Ihr Recht, Bruder Marcus. Aber gerade weil sie die Erbin eines Herzogs und mütterlicherseits die Enkelin einer Königin ist, erstaunt es mich, dass sie von einem solch hohen Platz weggeschafft werden konnte, um sich wie ein gewöhnlicher Wanderer auf einem solchen Pfad wiederzufinden.« »Es gibt keinen Pfad von größerer Bedeutung als den, dem wir folgen. Und jetzt hört auf zu fragen und passt auf.« Marcus trat unter dem Vordach hervor und beschattete die Augen, während er zu den Klippen sah. Dann schüttelte er ungeduldig den Kopf und ließ sich wieder im Schatten nieder. Elene tauchte am Heck auf und legte ihre Hände auf die Reling, starrte dabei zu dem in der Ferne sichtbaren Land. Kurz darauf trat Wulfhere zu ihr und beugte den Kopf, um ihr zuzuhören. Voller Neid fragte sich Zacharias, was sie wohl miteinander besprachen. »Passt auf, Zacharias!« Er zuckte zusammen und richtete seinen Blick auf den Geistlichen. Marcus hatte die Angewohnheit, höchst sarkastisch zu lä25 cheln - auf eine seltsame Weise die Mundwinkel hochzuziehen und die Augen zusammenzukneifen, die Zacharias dazu brachte, sich zu winden. »Seid Ihr so weit?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Zur Wiederholung. Die Ekliptik und die Bewegung des Mondes. Weil sich der Pfad des Mondes in Schräglage zur Ekliptik befindet, quert der Mond sie in regelmäßigen Abständen von Süden nach Norden und von Norden nach Süden. Die Punkte der Ekliptik, an denen er quert, nennt man den aufsteigenden Knoten und den absteigenden Knoten oder auch Caput Draconis und Cauda Draconis - also den Kopf des Drachen und den Schwanz des Drachen.« »Segel!«, schrie Wulfhere. Der Ausguck wiederholte den Ruf. Seeleute eilten zur Reling. Elene beugte sich vornüber, so dass es aussah, als würde sie gleich über Bord gehen. Ihr Gesicht strahlte, als glaubte sie, ihr Vater würde endlich kommen. »Piraten!«, rief sie eifrig. Eine von Rudern vorangetriebene Galeere durchpflügte das Wasser. Der Wind war zu schwach, um sich in Sicherheit zu bringen, und obwohl sie zusätzlich rudern konnten, war es hoffnungslos zu glauben, dass ihr robuster Handelssegler ein rasches Kriegsschiff abhängen könnte. »Es ist ein jinnisches Schiff!«, rief Wulfhere. »Seht das Banner! Sie versklaven gewöhnlich diejenigen, die sie nicht töten.« Zacharias erhob sich, aber er konnte sich kaum auf den Beinen halten, so sehr zitterten seine Knie. Der Schweiß brach ihm aus. Der Kapitän hastete zu Marcus, gestikulierte wild und rief dabei weiter. Marcus wirkte lediglich verärgert, als hätte er es mit einem widerborstigen Kind zu tun, das einfach nicht aufhören wollte zu stören, obwohl man ihm gesagt hatte, dass es still sitzen und sich ruhig verhalten sollte. »Genug!«, rief er, und der Kapitän verstummte. »Holt Schwester Meriam her«, fügte er hinzu, und ein Diener be26 gab sich zu ihrer Kabine, um sie aus dem Mittagsschlaf zu reißen. »Setzt Euch, Zacharias. Ihr steht mir im Weg.« Zacharias prallte hart mit dem Steiß auf das Deck; er zitterte am ganzen Körper. Seeleute packten Speere und Stangen und machten ihre Messer bereit. Wulfhere rührte sich nicht, er fuhr nicht einmal mit der Hand zum Griff seines Schwertes. Er starrte so angestrengt auf das herannahende Schiff, dass Zacharias sich fragte, ob er verzaubert worden war. Marcus klopfte mit den Füßen auf das Deck, in einem rhythmischen Tip-tip-tap, Tip-tiptap, das den Frater fast zum Schreien gebracht hätte. Der Diener tauchte wieder aus der kleinen Kabine auf und trug Meriam in der Schlinge. Er blieb neben Marcus stehen, und sie schätzte die Situation ab, während sich in der Ferne Ruder hoben und senkten und Trommelschläge über die glatte Wasseroberfläche hallten. »Ich sehe das Schiff«, sagte sie. »Ja, es ist eine jinnische Mannschaft.« »Dann möchte ich einen Wind heraufbeschwören, der unsere Segel füllt. Es wäre gut, wenn Ihr irgendetwas
hervorbringen könntet, das ihre Leidenschaft mindert.« »Ja«, stimmte sie voller Eifer zu, und staunend sah Zacharias zu, wie sie gemeinsam arbeiteten, als würden sie von ein und demselben Geist gelenkt. Sie unterschieden sich in nichts von den Arbeitern, die während der Erntezeit einträchtig ihre Lieder sangen, um die Mühen an den langen Tagen angenehmer zu gestalten. Ruder blitzten auf, als die Galeere auf sie zuraste. Der Wind ließ nach. Die Segel wurden schlaff, obwohl die Seeleute verzweifelt lavierten und versuchten, den letzten, ersterbenden Hauch der Brise einzufangen. »Es ist zu spät«, jammerte Zacharias. »Sie werden uns kriegen. Wir werden versklavt werden.« Schon wieder. 27 »Sie haben einen Zauberer an Bord«, erklärte Meriam. »Elene! Hol meinen Beutel.« Elene verschwand in der Kabine. »Passt auf, dann lernt Ihr etwas«, blaffte Marcus, während Zacharias sich bemühte, die Tränen zurückzuhalten. Der Frater hasste sich für seine unterwürfige Feigheit, aber der Anblick der sich unerbittlich hebenden und senkenden Ruder erfüllte ihn mit solcher Furcht, dass er kein Wort herausbrachte. Das Trommeln des Rudermeisters bebte durch seinen Körper, jeder Schlag kündete von seinem Untergang. Marcus winkte den Kapitän zu sich. »Lasst an Bord nach irgendwelchen verschlungenen Seilen suchen, besonders dort, wo zuvor alles in Ordnung gebracht worden ist.« Der Kapitän war kaum zwei Schritte gegangen, als ein Beobachtungsposten vom Bug her rief, und Marcus eilte zu ihm. Das Ankerseil war so verworren und verknotet, dass sicherlich kein Mensch dafür verantwortlich sein konnte. Ein Seemann wäre mit einem Seil niemals so leichtsinnig umgegangen. Zacharias stolperte hinter Marcus her, angestrengt bemüht, sich auf den Beinen zu halten, obwohl das Deck jetzt nicht mehr so schwankte wie zu dem Zeitpunkt, da Wulfhere das Piratenschiff gesichtet hatte. Der letzte Windhauch erstarb, das Segel hing schlaff nach unten. In der Flaute knarrte das Schiff, und Wellen plätscherten gegen die Bordwand. Es hätte ein beruhigendes Geräusch sein können, wäre da nicht das Hämmern der Trommel gewesen, das die jinnische Galeere vorantrieb. Marcus kniete neben dem Seil nieder und hielt seine Hände über das Knäuel. Zacharias brach neben ihm zusammen, während Marcus leise Worte sprach, die er weder verstand noch erkannte. Verschwamm ihm die Sicht vor Augen, oder sah es wirklich so aus, als würde das Seil plötzlich beginnen, sich wie Schlangen zu winden? Ein Lied erhob sich vom Heck, und er warf einen Blick zu28 rück, überrascht, eine solch kräftige, wunderschöne Altstimme zu hören, wo doch der Tod auf sie zueilte. Schwester Meriam stand an der Reling, umfasste mit ihren Händen etwas, auf das sie sanft blies, während ihre Enkelin neben ihr mit einer so durchdringenden Klarheit sang, dass es schmerzte. »Es wird nicht reichen«, flüsterte Zacharias; er wollte nicht, dass jemand seine Worte hörte. »Unterschätzt unsere Macht nicht«, sagte Marcus. »Ihr seid kein Mann des Glaubens, Zacharias. Ihr zweifelt zu sehr.« Das ruhige Wasser, das alles war, was sie von der herannahenden Galeere trennte, wirbelte auf und schäumte. Das Trommeln brach einmal ab, doch dann wurde der gleichmäßige Rhythmus schneller wieder aufgenommen als zuvor, während die Ruder sich im Einklang dazu hoben und senkten. Das Wasser kochte in Dampfwolken auf. Ein Engel erhob sich aus dem Meer, so prachtvoll wie der Sonnenaufgang und so hoch aufragend wie ihr Schiffsmast. Die Haare des Engels strömten wie Sonnenlicht um den unbedeckten Kopf; die Miene war grimmig und unerbittlich. Bei jedem langsamen Schlag der flammenden Flügel sprühten Funken, die zischend und knisternd ins Salzwasser stürzten. Er hielt einen Bogen aus schimmerndem, blauem Feuer in der Hand, hatte einen Pfeil an die Sehne gelegt. Das Trommeln geriet ins Stottern und versiegte. Schreie voller Angst und Entsetzen zerrissen jetzt die Luft, bildeten einen Kontrapunkt zu Elenes Gesang, während die Ruder über die Wellen hüpften. Die Galeere wurde langsamer. Eine Schlange glitt rau über Zacharias' Hand. Er schrie seinerseits auf, fiel rücklings auf das Deck, aber es war nur ein Tau, das sich entrollt hatte wie ein Korb voller Schlangen. Ein sanfter Windhauch strich über seine Wange, eine Berührung, die sich wie ein scheuer Kuss anfühlte und ihm etwas zuzuflüstern schien. 29 Wind füllte die Segel. Sie ließen die jinnischen Piraten hinter sich, als die Flügel des riesigen Engels sich in einem Regen aus heißen Funken auflösten, der auf das Deck der treibenden Galeere fiel. Zacharias kämpfte sich auf die Beine und trat an die Reling; er sah, wie die Ruderer ihre Ruderschläge veränderten und sich bemühten, rückwärts aus dem brennenden Regen zu gelangen. Ein weißer Fetzen flatterte wie ein Schmetterling aus Meriams Händen und flog im Zickzack über das Wasser; er wurde so klein, dass er ihn eigentlich gar nicht mehr hätte sehen dürfen, als der Abstand immer größer wurde - doch ein starkes Schimmern machte ihn weiterhin sichtbar, während er auf seinem unberechenbaren Kurs hin und her pendelte. Die Galeere blieb hinter ihnen zurück. Der dampfende Nebel, der mit dem Engel aufgestiegen war, breitete sich aus und verhüllte sie ebenso wie Meriams Schmetterling, den Zacharias noch ein letztes Mal aufblitzen sah, ehe
er im Dunst verschwand. Elene lachte laut, als sie ihr Lied beendete, und einen Augenblick fürchtete Zacharias, sie wollte ins Meer springen und hinter der strahlenden Vision herschwimmen, die jetzt verklungen war. Marcus kniete noch immer bei dem Seil. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck angestrengter Konzentration, während der Wind das Segeltuch blähte. Wulfhere schritt unruhig nach vorn, während die Seeleute Seile und Tauwerk zurechtrückten. Sie lachten und scherzten erleichtert angesichts ihrer Rettung, wirkten aber nicht entspannt. Das Meer lag still hinter ihnen, während ein unnatürlicher Wind sie vorantrieb. »Gut gemacht, Bruder Marcus«, sagte Meriam. »Die Künste der Tempestari sind schwer zu beherrschen.« »Wir müssen das Wetter kontrollieren, wenn wir die Hoffnung haben wollen, im Weben erfolgreich zu sein.« »Wulfhere, ich bitte Euch«, flüsterte Zacharias. 30 Der alte Adler trat zu ihm, das Gesicht und der graue Bart von der Gischt benetzt. »Er hat ausgesehen wie Liath«, murmelte der alte Mann; sein Tonfall war ebenso beunruhigt wie sein Gesichtsausdruck. Seine Finger öffneten sich und schlössen sich um das Holz der Reling. »War es ein echter Engel oder eine Illusion?«, fragte Zacharias, aber Wulfhere antwortete nicht. Nachdem der Wind sie über das große Mittlere Meer gebracht hatte, segelten sie fünf Tage lang an der südlichen Küste entlang. Backbord war nichts als Wüste und rechts von ihnen blassgrünes Wasser. Marcus verschlief den größten Teil dieser Zeit, erschöpft von der Anstrengung, und auch Schwester Meriam blieb in ihrem Bett. Die Bediensteten und ihre Enkelin kümmerten sich um sie. Auch Letztere sah Zacharias nur dann, wenn sie sich unter den Schatten der am Heck angebrachten Markise zurückzogen und berieten. Er wusste nicht, was solche Sorge in ihnen ausgelöst hatte, aber er sah aus einigem Abstand zu, wie Marcus Zeichen und Markierungen auf ein abgenutztes Pergament kritzelte, häufig die Notierungen mit einem Messer wegkratzte und Neues aufschrieb, bis die Haut ganz durchlässig war. Sobald Zacharias jedoch näher zu kommen versuchte, verscheuchte ihn Meriams kräftiger Diener. »Ich habe keine Zeit, um Unterrichtsstunden zu geben.« Das war Marcus' einzige Bemerkung, die er so kurz und bündig von sich gab, dass es schmerzte. Auch Wulfhere leistete ihm keine Gesellschaft. Sein Leben war so öde wie das Land, an dem sie entlangsegelten. Die Wüste stieg an und senkte sich in sanften Wölbungen, bot nichts als Sand und blasse Hügel ohne jedes Lebenszeichen. Nicht einmal Gras oder Büsche waren zu sehen. Und auch kein einziger Mensch. Während des Tages brachte das Sonnenlicht Sand und Steine so zum Gleißen, dass die Augen 31 schmerzten. Nur die Meeresbrise machte die Hitze erträglich. Zacharias konnte nichts anderes tun als warten. Er war daran gewöhnt, auf den rechten Zeitpunkt zu warten. Der Rückenwind hielt an, bis sie den Hafen von Qahirah erreichten. Sie segelten an einem Vorgebirge vorbei; halb verfallene Säulen erhoben sich vom Rücken der niedrigen Berge. Dann gelangten sie in eine von blühenden Bäumen und Gärten umgebene Bucht. Die Stadt der kuppelförmigen Tempel und weiß getünchten Gebäude leuchtete in der Herbstsonne. »Ein wahres Paradies«, sagte er. Marcus stand neben ihm und runzelte die Stirn. »Eine Verlockung, mehr nicht. Eine Versuchung des Feindes. Die Stadt stinkt vor Ungläubigen.« »Findet Ihr das hier etwa nicht schön? Nach der Wüste?« »Die Wüste ist rein. Sie gibt nicht vor, etwas anderes zu sein als das, was sie ist: Trostlosigkeit. Dieses schöne Gewand verbirgt darunter liegende Fäulnis.« Aber die Fäulnis roch süß, wie eine Mischung aus Lavendel, Ysop, Jasmin, Minze und Rosmarin. Jede wendische Stadt von solch bemerkenswerter Größe hätte wie eine offene Kloake gestunken. Hier jedoch sah Zacharias, während die Seeleute die Ruder einzogen und den wartenden Arbeitern die Seile zuwarfen, sauber gekehrte Straßen vor Hauswänden, die mit den weißen Blumen der Jasminranken bedeckt waren oder leuchteten, als wären sie erst an diesem Morgen geschrubbt worden. Qahirah war eine schöne Stadt, gut gepflegt und gastfreundlich. Drei Zöllner kamen an Bord, und einige Stunden vergingen, in denen jedes Fass, jede Tasche und jede Kiste geöffnet und überprüft wurden. Zacharias beobachtete sie, während ein Schreiber in der geschwungenen Handschrift der Jinnen eine umfassende Liste anfertigte. Ausführlich rechneten sie 32 die Abgaben zusammen, die Steuer, die von Qahirahs Herrscher auf alle in den Hafen geschafften Güter erhoben wurde. Münzen und ein paar der guten Eisenmesser wechselten die Hände, und die Reisenden durften in Begleitung eines Jugendlichen das Schiff verlassen. Dieser versprach ihnen, sie zu dem einzigen Gasthaus der Stadt zu bringen, in dem Fremde geduldet wurden. Es dauerte fast die gesamte Strecke vom Schiff zu dem im Außenbezirk der Stadt gelegenen Gasthaus, bis der Boden unter seinen Füßen nicht mehr schwankte. Es dauerte noch einmal so lange, bis er aufhörte zu gaffen. Da er auf dem Land aufgewachsen war und viele Jahre als Sklave bei den Qumanern gelebt hatte, hatte er nur wenige Städte gesehen und sicherlich keine wie Qahirah. Diese Stadt war kleiner als Arethusa, aber größer als Sordaia, und sie besaß eine unirdische Ausstrahlung. Kein Abfall beschmutzte die Straßen. Alte Männer patrouillierten mit Besen und Schaufeln. Frauen mit Schals über Kopf und Schultern und Männer in
bescheidenen, die Körper verhüllenden Gewändern gingen auf ordentliche, wirksame Weise ihrer Arbeit nach. Auf dem Markt, an dem sie vorbeikamen, herrschte lebhaftes Treiben, aber es gab keine streunenden Hunde, die auf der Suche nach Abfall waren, ja tatsächlich gab es keinerlei Abfall, nicht einmal Obstschalen unter den Früchteständen. Dieser unerwartete Anblick traf Zacharias wie ein Schwall kaltes Wasser, und sein Gang wurde sicherer, so dass er festen Schrittes dahinstapfte, als der Führer auf eine geschlossene, in Bronze eingefasste Doppeltür zeigte. Die Tür war in eine Mauer eingelassen, die an die äußere Stadtmauer grenzte. Beide Mauern bestanden aus weiß getünchten Backsteinen. Der jinnische Jugendliche wartete darauf, dass Marcus ihn mit einer Münze belohnte, ehe er sich umständlich verneigte und davoneilte. Wulfhere klopfte an die Tür. Nach einer Weile öffnete sie 33 sich knirschend, und ein alter Mann unbestimmten Alters musterte sie, ehe er sie schließlich hereinbat. »Wie schön das ist«, sagte Zacharias, als sie zu einem weiß getünchten Innenhof kamen, in dem Jasmin und helle, weiß-rosa Rosen in üppiger Pracht blühten. Ein Springbrunnen mit verspielten Fontänen und fingerbreiten Wasserfällen thronte von Bänken umringt in der Mitte des Hofes. Ein paar Reisende in langen, alles verhüllenden Gewändern saßen auf diesen Bänken und starrten die Neuankömmlinge an. An drei Seiten war der Innenhof von Gästezimmern umgeben; auf der vierten Seite befand sich eine offene Küche, und daneben waren Teppiche, Kissen und niedrige Tische angeordnet. Der Lärm der zeternden Hühner und verärgerten Gänse, das klagende Meckern der Ziegen und das Wiehern eines Pferdes ließen Zacharias vermuten, dass sich nebenan, hinter einem eleganten Torbogen, der Stall befand. Selbst ein Prinz hätte sich einen solchen Luxus gern gefallen lassen. Marcus musterte den Hof voller Abscheu, während er darauf wartete, dass Meriams Bedienstete ihr Gepäck von der Straße hereinschafften. »Mir gefällt der Geruch nicht.« Es roch nach Jasminblüten - und noch nach einem anderen, etwas schwächeren Duft, den Zacharias nicht kannte. »Ist dies ein Gasthaus für die Wohlhabenden?«, wollte Zacharias von Wulfhere wissen. Der Adler schüttelte den Kopf. »Dies ist eine schlichte Unterkunft für Reisende, ähnlich vielen anderen, in denen ich geschlafen habe, als ich vor langer Zeit in diesem Land umhergereist bin.« »Ihr seid durch Jinna gereist? Wieso?« Wulfhere blickte ihn an, dann sah er zur Seite. »Ich habe etwas gesucht.« »Habt Ihr es gefunden?« »Am Ende ja.« Als er sich jetzt an diesen Erfolg erinnerte, war offensichtlich kein Triumphgefühl damit verbunden. Er 34 ging zum Springbrunnen und ließ sich Wasser über die Finger rinnen, ehe er sich den Schweiß von der Stirn und vom Nacken wischte. Zacharias folgte ihm; die Blicke der anderen Reisenden, deren Gesichter unter Kapuzen und hinter Schleiern verborgen waren, machten ihn nervös. Auf diese Weise konnten sie andere mustern, ohne selbst beobachtet zu werden. Er fühlte sich ungeschützt. Sie konnten alles Mögliche über ihn denken, wenn sie ihn so anstarrten, und doch würde er sie nicht erkennen, selbst wenn er sie unverhüllt auf einem Marktplatz wiedertreffen sollte. Es war besser, niemandem zu erlauben, sich so zu verhüllen. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, genoss die kühle Berührung auf der heißen Haut. Wulfhere schniefte und warf den Kopf in den Nacken. »Es heißt, dass man Thymian an Orten riecht, an denen ein Mord begangen wurde. Könnt Ihr es riechen?« »Ich weiß nicht, wie Thymian riecht. Dieser kräftige Geruch - das ist Jasmin, nicht wahr?« »Und der andere - riecht Ihr ihn? Das ist Thymian.« Zacharias sah sich um. Meriam feilschte mit dem Herbergsvater, während Marcus geringschätzig dreinblickte und die Bediensteten geduldig mit dem Gepäck warteten. Elene hatte sich einen Schal über die dunklen Haare gezogen, hielt die Enden des Schals knapp unter dem spitzen Kinn fest. Sie stand im Schatten, und ein wütendes Stirnrunzeln lag auf ihrem hübschen Gesicht. Die Schultern waren steif vor Verärgerung. Der Frater senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Glaubt Ihr, dass hier ein Mord begangen wurde?« »Ich weiß es. Vor langer Zeit. Ich habe die Leiche gesehen.« »Seid Ihr schon einmal hier gewesen?« »Ja, allerdings.« Der Herbergsvater war ein Mann mittleren Alters mit ei35 nem schmalen Gesicht, und seine Haut war doppelt so dunkel wie die von Meriam. Er sah in ihre Richtung, stutzte und verneigte sich dann hastig vor Meriam, ehe er zu Wulfhere eilte. Er kniete vor ihm nieder, packte die Hand des Adlers und tätschelte sie mit offenkundiger Freude. »Freund! Freund!«, rief er auf Wendisch, aber mit starkem Akzent. »Freund!« Vielleicht war es das einzige Wort auf Wendisch, das er kannte. Er wandte sich wieder Meriam zu. »Was sagt er?«, fragte Zacharias, als er den Herbergsvater heftig gestikulieren sah. »Ich weiß es nicht. Ich kenne nur ein paar Worte in dieser Sprache.« Aber die zusammengekniffenen Augen und
die eindringliche Miene, mit der Wulfhere den Austausch zwischen dem Herbergsvater und Schwester Merian verfolgte, legten etwas anderes nahe. »Er lässt uns eine Nacht hier umsonst verbringen, ohne dass wir für irgendetwas zahlen müssen, und dann stellt er uns auch noch einen Führer zur Verfügung, der uns nach Kartiako begleitet. Alles als Gegenleistung für einen Dienst, den Ihr ihm vor zehn Jahren erwiesen habt. Was mag das wohl gewesen sein?« »Nichts, was für Euch eine Rolle spielen würde, Marcus, oder etwas mit dem Zweck unserer Reise hierher zu tun hätte.« Die Bediensteten hatten das Gepäck in dem geräumigen Zimmer untergebracht, in dem die Männer schlafen würden - die Frauen übernachteten in einem anderen Flügel. Jetzt, als die Sonne untergegangen war und die Lampen angezündet worden waren, ließen Marcus, Wulfhere und Zacharias sich auf Kissen nieder, während ein paar junge Männer ihnen eine Schüssel mit Wasser brachten, damit sie sich vor dem Essen die Hände waschen konnten. 36 »Gibt es keine Stühle oder Bänke?«, flüsterte Zacharias. »Essen wir nicht an einem Tisch wie zivilisierte Leute?« »So ist es der Brauch dieses Landes«, sagte Wulfhere. »Wo sind Schwester Meriam und Edelfrau Elene?« »Sie werden allein essen.« »Dann ist es also auch Brauch dieses Landes, Männer und Frauen zu trennen, als müssten die Männer, so wie Tiere, von ihnen fern gehalten werden?« Marcus verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. »Zweifellos finden die Jinnen die wendischen Bräuche ebenso seltsam wie wir die ihren.« Marcus schnaubte, aber da in diesem Augenblick mehrere Tabletts voller Speisen hereingebracht wurden, ließ er das Gespräch versiegen. Er entpuppte sich als wählerischer Esser, der den größten Teil der Speisen wegen ihres würzigen Geschmacks mied. Zacharias hatte in seinem Leben jedoch zu viel Hunger gelitten, um Essen zu verschwenden. Das eine Gericht mit Hühnchen kannte er, auch wenn die scharfe Soße seine Zunge verbrannte, aber die anderen Speisen konnte er nicht benennen. Dennoch aß er so viel, wie er in sich hineinstopfen konnte. Später, als er mit den Bediensteten auf den harten Pritschen lag, litt er entsprechend. Er warf sich immer wieder von einer Seite auf die andere, während seine Kehle brannte und er sich bemühte, Rülpser zu unterdrücken. Sein Bauch rumorte. Irgendwann musste er aufstehen, um sich zu erleichtern. Er tastete sich durch die aus einem Vorhang bestehende Tür und glitt hinaus. Das Mondlicht tauchte den Hof in silbriges Licht, und er ging so leise wie möglich den Pfad entlang, der unter dem Torbogen in den Stallhof führte, denn dort befand sich das Necessarium des Gasthauses. Irgendeine freundliche Seele hatte eine Öllampe darin brennen lassen. Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, stellte er fest, dass er gar nicht müde war. Er ging zu dem dunklen Torbogen zu37 rück und blieb dort stehen, um die Sterne zu betrachten. Die Luft hier war so klar, dass sie noch heller schimmerten als im Norden. Die sphärische Sichel des aufgehenden Viertelmondes stellte einen deutlichen Kontrast zum Nachthimmel dar. Jemand - nein, zwei Leute standen beim Springbrunnen und unterhielten sich leise. Er glitt von Schatten zu Schatten, bis er nahe genug heran war, um lauschen zu können. »Wie ist das möglich? Traut Ihr ihm nicht mehr?« »Schwester Anne traut ihm nicht mehr. Ich habe ihn in der Gesellschaft von Prinz Sanglant gefunden. Ich sage Euch, er schien mir nicht sehr eifrig darum bemüht, den Prinzen und dessen Gefolge zu verlassen, und doch behauptet er, keinerlei Wissen über die Pläne des Prinzen zu besitzen. Er sagt, er wäre von den Beratungen des Prinzen ausgeschlossen gewesen.« »Das mag sein. Prinz Sanglant hat nicht unbedingt Grund, ihm zu trauen. König Henry hatte ihn ganz sicher nicht.« »Und doch hat er mir nicht geholfen, als ich die Tochter des Prinzen als Geisel nehmen wollte. Ich mache mir auch Gedanken über die Reisen, die er vor vielen Jahren unternommen hat, und über die Dienste, die er König Arnulf geleistet hat. Bruder Lupus verbirgt einfach zu viel. Er hält sich so bedeckt wie diese Jinnen. Aber wenn man sich bedeckt hält, deutet das auf Schuldbewusstsein hin.« »Vielleicht. Er war immer höchst loyal Anne gegenüber. Ist er das nicht mehr?« »Es ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass er Anne gegenüber sehr wohl noch loyal ist. Sie sind zusammen aufgewachsen, er war ihr treuer Diener. Wie kann er sich von dem lösen, wozu er erzogen worden ist?« »Was beunruhigt Euch dann?« »Ich frage mich, ob er den Sieben Schläfern gegenüber noch loyal ist. Folgt er noch immer unserer Sache? Ich weiß nicht mehr, was in seinem Kopf und in seinem Herzen vor38 geht. Wir können ihm nicht trauen. Deshalb kann ich ihn nicht mit Euch und Elene nach Süden reisen lassen. Was ist, wenn er Euch verrät?« »Ich glaube nicht, dass er das tun wird. Wir brauchen noch einen weiteren erfahrenen Reisenden, eine starke
Hand und ein scharfes Auge. Die Wüste ist gefährlich. Wir könnten auf hundert verschiedene Weisen zu Schaden kommen. Ich bin eine alte Frau, Marcus. Meine Enkelin ist stark, aber sie ist jung und unerfahren. Meine Bediensteten sind mir treu ergeben und äußerst zäh, und wir können hier in Qahirah ein ansehnliches Gefolge anheuern. Dennoch wünschte ich, Bruder Lupus würde uns ebenfalls begleiten.« »Nein. Mein Plan ist besser. Ihr werdet durch die Kronen reisen, falls wir sie benutzen können. Auf diese Weise müsst Ihr nicht die Strapazen einer langen Reise durch das öde Land auf Euch nehmen. Wenn sich ein Tor nach Südosten öffnet, werdet Ihr hindurchgelangen. Wenn nicht, heißt das, die Krone im Südosten ist verloren. Beten wir, dass dem nicht so ist.« »Lasst mich Bruder Lupus mitnehmen. Wir brauchen ihn. Meine Enkelin mag ihn. Es wird mir meine Aufgabe leichter machen.« »Nein.« »Ihr nennt mir keinen guten Grund, nur Eure eigenen Zweifel.« »Also schön. Schwester Anne hat mir in aller Deutlichkeit aufgetragen, ihn zu ihr zurückzuschicken. Wenn sie ihn nach der Befragung zu Euch schicken will, wird sie das tun. Wenn nicht, dann ist das so.« »Sie traut ihm nicht mehr?« »Ihr Wille ist auch mein Wille. Ich hinterfrage ihre Anweisungen nicht, weder in dieser Sache noch in einer anderen. Und Ihr solltet es auch nicht tun.« »Gut.« Schwester Meriams kurzes Schweigen war so beredt wie ihre Worte. »Dann müssen wir uns auf die Diener 39 verlassen, die wir hier in Qahirah anheuern können. Ich hoffe, sie werden sich als vertrauenswürdig erweisen. Ich hoffe, die Wüste ist nicht voller Banditen, Ungeheuer und Stürme.« Marcus kicherte. »Ihr seid nicht hilflos, Meriam. Und Elene ist es auch nicht. Ihr habt sie gut unterrichtet.« Meriams Ton war so trocken, wie Zacharias es noch nie bei ihr gehört hatte. »Das müssen wir hoffen.« Hinter dem Springbrunnen, an der gegenüberliegenden Mauer, bemerkte Zacharias eine schwache Bewegung, wie sie ein Raubtier machen mochte, wenn es auf der Jagd nach einem Vogel hinter einem Gebüsch umherschlich. Marcus und Meriam, selbst kaum mehr als Schemen, verabschiedeten sich voneinander und schlüpften in ihre Zimmer, aber Zacharias blieb noch zurück. Er wusste, dass es besser war, noch etwas zu warten, bis er sicher war, dass er sich rühren konnte, ohne ein Risiko einzugehen. Bei den Qumanern hatte er gelernt, sich stundenlang still und ruhig zu verhalten, in der Hoffnung, Bulkezus Zorn zu entkommen. Doch in all der Zeit, die er hier wartete, sah er keinen Hinweis mehr auf diesen Schatten. Wer hatte da noch gelauscht? Eine Brise brachte die Ranken in Bewegung, und er schnappte ihren Duft auf - und da war auch wieder dieser andere, unklarere Geruch. Es herrschte eine ungute Stille. Er hörte nicht einmal Hunde bellen. Schließlich wurden seine Beine müde, denn er war nicht mehr daran gewöhnt, so still zu stehen. Immer bemüht, in den Schatten zu bleiben, glitt er ins Zimmer zurück. Der Vorhang strich gegen sein Gesicht, als er hineinschlüpfte, aber seine nackten Füße verursachten keinerlei Geräusch, und niemand sprach ihn an, als er sich zum Schlafen hinlegte. Am Morgen wurde Wulfhere vermisst. Seine Pritsche war leer, und seine Sachen fehlten auf dem Stapel mit den Gepäckstücken. 40 »Er ist fort!« Marcus schlug mit der Faust gegen die Wand und fluchte angesichts des Schmerzes. Aber seine Wut verrauchte so rasch, wie sie gekommen war. »So sei es«, sagte er zu Meriam, während sie sich zum Aufbruch zu der Ruinenstadt Kartiako bereitmachten. »Er hat sich durch seine Taten verraten.« Sie sagte nichts. Elene weinte. 2 Er roch den erstickenden Gestank der schwelenden Feuerstellen lange, bevor seine Füße ihm mitteilten, dass sie den Lehmboden des Waldes verlassen hatten und jetzt über einen schmutzigeren Pfad gingen, der durch Asche und Staub führte. Verkohlte und zersplitterte Trümmerstücke knirschten unter seinen Füßen. Die beißende Spreu bedeckte seine Lippen. In der Ferne hörte er, wie Männer Bäume fällten, Echos des Pochens in seinem Kopf. Das Pochen verschluckte alles. Er konnte sich nicht erinnern, wie lange er gegangen war oder woher er gekommen war oder was er getan hatte, bevor er mit den anderen Gefangenen aneinander gebunden worden war. Er fror nicht - was gut war -, aber sein linker Fuß schmerzte noch immer. Ein paar Tage zuvor war der Maulesel darauf getrampelt, und das Gehen tat weh, während er sich an dem Seil festhielt, das ihn an den Gefangenen vor ihm band. Neben dem Kaufmann und seinen zwei angeheuerten Wachen gab es noch sechs weitere Gefangene, die zum Steinbruch unterwegs waren. Zumindest hatte er im Laufe der Reise gelernt, neun Stimmen auseinander zu halten, und mehr als einmal hatte er von einer der Wachen einen Stoß 41 mit dem Stab zu spüren bekommen. Er wäre bestimmt hundert Mal gestürzt, wären nicht die beiden Männer vor und hinter ihm gewesen, ein salianischer Verbrecher namens Willehm und ein Straßenräuber, der sich selbst »Wanderer« nannte.
»Vorsicht, Schweiger«, rief Will; er gebrauchte den Namen, mit dem auch die anderen ihn ansprachen. Ein sehr passender Name, da er keinerlei Erinnerung an einen anderen hatte, nur eine vage Ahnung von heißen Tränen und wütendem Gebrüll. »Vor dir geht's gleich steil runter. Du musst einen großen Schritt machen und dich darauf einstellen.« Das Seil hinter ihm spannte sich, als Wanderer sich zurücklehnte, um ihm zu helfen. Er schwang den Fuß weit nach vorn und spürte ihn fallen, immer weiter, ganz im Vertrauen auf Wills Hinweis. Der Fuß traf auf lose Erde, zerstoßene Blätter und die glatten Überreste von Holzkohle; er rutschte zur Seite weg und ruderte mit den Händen in der Luft. Schlagartig spannte sich das Seil beiderseits von ihm, und er richtete sich wieder auf und grub die Zehen in den Boden, um Halt zu bekommen. An diesem Ort herrschte ein Gestank, der seine Nase reizte und dazu führte, dass ihm schwindlig wurde und seine blinden Augen schmerzten. Bei jedem Atemzug brannte es in der Lunge. »Weiter!« Die Peitsche des Meisters knallte so dicht bei ihm, dass er den Luftzug an der Wange spürte. Aber er hatte schon zu viele Verletzungen und Prellungen erlitten, um noch zusammenzuzucken. Wanderer stieß einen leisen Fluch aus, als Will am Seil zog, um ihn weiterzutreiben. »Wir gehen durch die Reste zweier alter Holzkohlenmeiler«, sagte Will, der ihm häufig die Gegend um ihn herum beschrieb. »Sie sind bis auf den Grund niedergebrannt und abgeräumt worden. Da ist ein brennender Meiler im Westen 42 nein, es sind zwei. Ich kann Rauch zwischen den Bäumen sehen.« »Es stinkt grauenhaft«, sagte Wanderer. »Die Luft ist pechschwarz vor Rauch. Hier sollen irgendwelche Dämonen hausen, habe ich gehört. Sie brennen Eisen aus der Erde und verschmelzen es mit dem Blut von Menschen.« »Nein, das ist nicht wahr. Ich sehe Männer, die Bäume fällen. Weshalb sind wir hier, wenn nicht deshalb, um in den Schmieden zu arbeiten?« »Sie werden uns töten und unser Blut in geschmolzene Speere und Schwerter gießen.« »Sie werden uns zu Tode arbeiten lassen, glaube ich eher«, wandte Will ein. »Wir sollen Erz zutage fördern. Gruben graben.« »Bäume fällen wie sie? Das ist eine Arbeit, bei der man stark genug wird, um Fesseln sprengen und fliehen zu können.« »Du glaubst, sie geben uns Äxte, mit denen wir unsere Seile durchhauen könnten?« Will lachte kurz auf. »Nein, wir sind für den Bergbau und die Schächte gedacht. Und dabei hasse ich die Dunkelheit.« »Ich habe gehört, dass Kobolde da unten hausen. Sie essen das Fleisch der Menschen, wenn sie welche zu fassen kriegen. Wenn ein Gefangener zu schwach zum Arbeiten ist, lassen die Meister ihn in den tiefsten Schacht runter und überlassen ihn den Kobolden. Und die stopfen als Gegenleistung Silber und Blei in Eimer. Sie lieben Menschenfleisch! Sie fressen einen ganzen Menschen mit Haut und Haaren! Lebendig!« »Woher hast du bloß solche Geschichten?«, fragte Will. »Ich glaube dir nicht.« »Du bist ein Narr, wenn du mir nicht glaubst. Hast du nicht die Dämonen gesehen, die uns verfolgen? Sie sehen wie zwei große schwarze Hunde aus, aber sie haben rote Augen und 43 Fänge, und sie fressen totes Fleisch! Ich habe gesehen, dass die Wachen eines Abends Pfeile auf sie abgeschossen haben. Hast du sie in der Nacht nicht bellen gehört?« »Viele hungrige Hunde streifen durch die Wälder. Wer den Wald nicht kennt, sieht alle möglichen Kreaturen in den Schatten, aber das heißt nicht, dass es sie wirklich gibt.« »Du kannst glauben, was du willst. Ich habe fünf Winter in den Wäldern gelebt. Ich habe dunkle Schatten umherschleichen sehen. Ich habe Geister im Wind zittern sehen. Ich habe gegen Wölfe gekämpft. Ich habe Waldnymphen geküsst, aber ihr Atem stank nach verfaulten Wasserpflanzen. Hättest du gesehen, was ich gesehen habe, würdest du nicht zweifeln.« »Das mit den Wölfen glaube ich«, sagte Will. »Der Sohn von dem Vetter meiner Tante ist von Wölfen gefressen worden. Sie haben ihn in Stücke gerissen. Dabei war er auf dem Heimweg von der Messe gewesen, an Dhearc.« »Also im Winter«, erwiderte Wanderer. »Da sind die Wölfe am hungrigsten. Sie fressen alles. Am liebsten mögen sie allerdings fette Säuglinge.« »Still, ihr plappernden Krähen!«, blaffte der Mann, der hinter Wanderer angebunden war. Er hatte eine harte, unangenehme Stimme, die wie ein Hieb war, wenn sie einen traf, und er roch außerordentlich schlecht, wie verrottendes Süßes. »Still«, murmelte Will, denn die anderen hatten Angst vor dieser Stimme; ihre eigenen Stimmen verrieten das, wenn sie sich nachts leise unterhielten oder auf die Bemerkungen oder Sticheleien des Mannes antworteten. Um die ihn umgebende Welt zu verstehen, musste er zuhören. Er hatte ihre leisen Bekenntnisse gehört; sie sprachen häufig so, als wäre er gar nicht da. Will hatte für seine verkrüppelten Eltern Brot vom Tisch eines Bischofs gestohlen; Wanderer war mit einer Bande hungernder Straßenräuber 44 erwischt worden, als sie die Milchkuh einer Edelfrau stehlen wollten; die Übrigen waren um nichts besser oder schlechter - viele waren hungrig, und die letzten beiden Ernten waren schlecht gewesen. Aber der, den sie Robert
nannten, hatte den anderen niemals von seinem Verbrechen erzählt, und es kam ihnen so vor, als wäre er ein übler Mörder. In der Nähe wurden Äxte in Holz geschlagen; ein Mann rief eine Warnung, und ein Baum knirschte, ächzte und stürzte schließlich mit einem lauten Krachen um, das den Boden erzittern ließ und durch die Fußsohlen drang. Der Wind drehte, trug den Gestank zum größten Teil weg. Kein einziger Vogel sang. Furcht kroch über seine Schultern. Auch an einem anderen Ort waren die Vögel geflohen, alle. Alle waren weg. Ein schrecklicher Schmerz breitete sich in seinem Bauch aus, als er jetzt weinte, sich an nichts anderes erinnerte als daran, dass seine Hände nass von Blut gewesen waren. Wo war er gewesen? Was hatte er getan? Wer bin ich? Gedankenblitze flackerten auf. Schiffe gleiten geräuschlos ans Ufer, an einen schimmernden Sandstrand, der berührt wird vom Licht der sich über die niedrigen Berge erhebenden Morgensonne. Weil sie von Westen kommen, liegen die Schiffe einigermaßen im Schatten - vielleicht ist es aber auch nur der Hauch des Todes und der Zerstörung, der über ihnen schwebt. Was ihnen entströmt, kann unmöglich menschlich genannt werden, aber diese Kreaturen sind auch keine Tiere. Mit ihren seltsamen, scharfkantigen Gesichtern, ihren Gliedmaßen und dem Rumpf ähneln sie den Menschen sehr. Aber im Sonnenlicht glänzt ihre Haut, als wäre sie mit Metallschuppen aus Bronze, Kupfer oder Eisen versehen, und jeder von ihnen trägt auf seinem Körper ein Muster aus weißen Narben oder leuchtende Zeichen aus schreiend gelber, weißer oder roter Farbe. 45 Furcht erregende Hunde laufen neben ihnen her, springen ins Gewühl, beißen und reißen. Die Verteidiger dieses ruhigen Guts kämpfen heftig und mit großem Mut, angeführt von einem gut aussehenden jungen Edelmann mit einem Schild und einem Schwert, aber die Eindringlinge sind in der Überzahl. Es ist nur eine Frage der Zeit. Die Halle des Edelmanns fängt Feuer, und Flammen lodern aus dem Strohdach. »Heh! Du kannst jetzt stehen bleiben, Schweiger. Wir sind da.« »Ist es nicht seltsam, dass er uns manchmal zu hören scheint, aber dann wieder den Eindruck macht, als wäre er übergeschnappt? Vielleicht ist er einer von denen, deren Seelen von Wichten ausgesaugt worden sind.« »Ich bedaure ihn, den armen Mann.« »Nun gut, Freund. Ich bedaure uns alle, wenn ich mich umsehe und erkenne, in was für ein Loch wir hier geraten sind. Ein großes, klaffendes Loch im Boden. Sieh nur diese Teiche mit dem dreckigen Wasser! Puh, wie das stinkt! Ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens hier zu verbringen, das schwöre ich dir.« »Still, Wanderer. Darüber reden wir später, wenn uns niemand hören kann. Komm jetzt, Schweiger, setz dich. Der Meister spricht mit dem Aufseher. Gott mögen uns helfen, das hier ist ein bitterer und hässlicher Ort.« Eine Hand drückte ihn nach unten, und er setzte sich hin, benommen und verblüfft. Nur wenn er träumte, konnte er sehen, und dann erlitt er solch beängstigende Visionen, dass es fast eine Erleichterung war, wenn die Dunkelheit ihm die Träume nahm, was sie immer tat. Wind wehte über sein Gesicht. Die anderen Gefangenen um ihn herum murmelten unruhig. Gesteinsstaub machte die Luft klebrig, und überall erklangen die Geräusche von 46 Hacken und Schaufeln und das Knirschen von Rädern auf Stein. »Da geht der Meister«, sagte Wanderer. »Zurück nach Hause, zu einem weichen Bett, gutem Bier und dem nächsten Haufen unglücklicher Männer. Er muss froh sein, diesem Höllenloch zu entkommen.« »Ich hasse dich«, sagte Robert. Die Gefangenen rührten sich unruhig, als sie diese Worte hörten. Er konnte spüren, wo die anderen sich befanden; drei waren links von ihm und fünf zu seiner Rechten, mit so viel Platz zwischen sich und Robert, wie sie nur aufbringen konnten. »Ich glaube nicht, dass er mit dir spricht«, flüsterte Will. »Die Wichte haben seine Seele auch gestohlen«, murmelte Wanderer. »Ich hasse dich. Nein. Nein, sieh hin! Sieh all das Blut! Ist das ihr hübsches Gesicht?« Die Wut und die Verzweiflung in dieser Stimme vergifteten die Luft genauso sicher wie all der Staub, die Asche und der Gestank der Schmieden in der Ferne. Er streckte die Hand aus, packte zu und fand einen behaarten, muskulösen Arm, der zu Robert gehörte, aber eine Hand schlug die seine weg, und die Stimme verfluchte ihn, während sie zugleich weinte, Tränen und Wut untrennbar vermischt. Er zog die Hand zurück, die jetzt nass von den Tränen des anderen Mannes war. »Auf! Auf! Ihr kriegt hier nicht dafür was zu essen, dass ihr auf eurem Hintern sitzt! Hört zu, Männer. Ich bin Fautscher, der Aufseher hier. Ihr werdet Steine vom Steinbruch herschleppen. Arbeitet hart, dann kriegt ihr was zu essen und seid in zwei Jahren wieder frei.« »In zwei Jahren.« Wills Atem strich an seiner Haut entlang, trug die gemurmelten Worte zu ihm. 47 »So lange werde ich nicht warten«, flüsterte Wanderer. Willehm und Wanderer saßen so dicht beiderseits von ihm, dass er sich tatsächlich beschützt fühlte.
»Wer von euch ist der Taubblinde? Und wer der Verrückte? Diese beiden da? Bringt sie zu den Rädern.« Seine Kameraden fluchten leise vor sich hin, als sich Schritte näherten. »Wie kann ein blinder Mann auf dem Rad gehen?«, fragte Will kühn. »Er kann sich nicht wehren, wenn der Verrückte auf ihn losgeht«, sagte Wanderer. »Bewegt euch, ihr beiden! Was geht das euch überhaupt an ? Wer wäre besser für die Tretmühle geeignet als ein Blinder? Für ihn ist doch alles gleich!« Fautscher kicherte. »Und dem Verrückten können wir keine Werkzeuge in die Hand geben, deshalb wird auch er auf dem Rad gehen. Andernfalls wird er sich seinen Aufenthalt hier in den tiefen Schächten verdienen müssen! Was auch für euch gilt, sobald mir einer von euch Ärger macht.« Sie murmelten, rückten aber zur Seite. Eine Hand packte ihn am Ellbogen, zog ihn hoch, während gleichzeitig grob an den Seilen gezerrt wurde, mit denen er festgebunden war. Sie schürften seine Haut auf, ehe sie sich lockerten. Die anderen verhielten sich ruhig, als er unsanft weggeführt wurde. Jeder Schritt ging durch Mark und Bein, zuckte das Rückgrat hinauf und pochte in seinem Kopf. Die stechenden Schmerzen hinter seinen Augen und seinem geschwollenen Ohr waren so groß, dass er stolperte und stürzte, sich die Knie an spitzen Steinen aufschlug. Agonie verschluckte ihn. Der Lärm verklang in einem Nebel aus Geräuschen, wie Wellen, die sich an Felsen brachen. Wasser rauscht durch einen schmalen Kanal, der in den Fels gehauen ist, zischt dann den verborgenen Strand entlang, ein halbmondförmiges Ufer, das aus wenig mehr als 48 Steinen und Kieseln besteht und schon bald vom kommenden Sturm verschluckt werden wird. Hier, inmitten der Inseln, die die Schnatterinseln bilden, wartet er mit seinem Gefolge an einer Stelle zwischen Meer und Land, wo weder er noch seine Verbündeten einen Vorteil haben. Ein blasser Rücken zerteilt das schäumende Wasser, gefolgt von einem zweiten. Regen prasselt auf den Strand und trommelt auf die Steinsäulen, die den größten Teil dieser Insel ausmachen, Gebeine, die auch die endlosen Gezeiten des Meeres nicht weiter abzutragen vermögen. Hin und wieder sieht er Knicknas-Fels durch den dunstigen Regen, jene Faust, an der er seine Eroberung von Alba begonnen hat. Wolken und Regen verhüllen die Küste, aber er muss nicht sehen, was jetzt ihm gehört. »Da! Habt Ihr das gesehen?« »Was denn, Lord Erling?« »Da!«, ruft der junge Erling, macht einen Schritt zurück und erinnert sich plötzlich, dass er dadurch vor den anderen seine Furcht verraten hat - vor denen, die stets bereit sind, die kleinste Schwäche seiner Landsleute wahrzunehmen. Aber die anderen, sogar die von seinem eigenen Volk, zucken ebenfalls zusammen. Nur er allein hat keine Angst vor dem, was aus dem Meer kommt. Vier von ihnen ziehen sich selbst aus dem Wasser, bis nur noch ihre Schwänze in der Brandung hängen. Wellen bäumen sich ächzend auf und umhüllen sie, ziehen sich dann murmelnd zwischen die Steine zurück. Die flachen, roten Augen lassen nicht im Geringsten auf einen Verstand schließen, aber dieser befremdliche Eindruck täuscht. Sie grinsen, enthüllen dabei scharfe Zähne. Ihre Haare zucken und wirbeln, leben auf eine ganz eigene Weise, denn jede dicke Strähne besitzt einen nach Luft schnappenden Mund, der Luft oder Beute oder Wasser sucht oder eine Spur seiner Gedanken - wer kann das schon wissen? 49 Der größte von ihnen wuchtet sich ganz den Strand hoch. Sein riesiger Schwanz macht ihn unbeholfen, aber trotzdem nähert sich ihm niemand von denen, die ans Land gebunden sind. Die Klauen und Zähne der Merwesen können einen Menschen in wenigen Augenblicken in Stücke reißen; nicht einmal die Haut der FelsenKinder ist vor ihnen sicher. Die gespaltene Nase öffnet und schließt sich, als würde das Merwesen schnüffeln. Es spricht in einer Weise, die eigentlich zu leise ist, als dass man sie hören könnte, und die Worte klingen seltsam, zu rund und zu flach, denn der Mund und die Kehle sind nicht dazu gedacht, menschliche Laute hervorzubringen. Dennoch sind sie in der Lage, die Sprache der FelsenKinder zu sprechen. »Wir sind auf deinen Ruf hin hierher gekommen.« »Das seid ihr, und dafür danke ich euch.« »Was willst du, Starkhand? Wir geben dir unsere Hilfe. Du gibst uns Nahrung. Was willst du jetzt von uns?« »Ich habe das Gerücht gehört, dass dein Volk flussaufwärts schwimmen kann, ins Süßwasser. Dass ihr nicht ans Meer gebunden seid.« Das Merwesen antwortet nicht. »Hätte ich das gewusst, hätte ich deinesgleichen gebeten, mir als Kundschafter zu dienen. Wenn ich eine wirksamere Möglichkeit hätte, euch zu rufen, könnten wir hierbei zusammenarbeiten.« »Was könntest du uns sonst noch geben?«, fragt das Merwesen. »Was willst du?« Die Antwort der Merwesen kommt als Summen, so leise, dass sich die Worte zuerst nicht voneinander unterscheiden lassen, aber die Kieselsteine am Ufer beben und beginnen tatsächlich zu rollen, scheuern gegeneinander, rutschen weg und verlagern sich. Leisen stürzen von den hohen Steinsäulen überall um sie herum und fallen krachend ins Wasser.
50 Der Wind heult durch die felsige Bucht, als der Sturm hereinbricht. Regen fällt in Strömen, so kalt und heftig, dass er eine kleine Wunde an Erlings Wange aufreißt, woraufhin dieser sich duckt und den Umhang schützend über das Gesicht zieht. »Rache.« »Er ist blind und stumm, Hauptmann.« »Ist er auch taub?« Gelächter folgte. Manche Menschen pflegten so zu lachen, wenn sie Tiere ertränkten - wenn sie sich nicht um ihr Leiden scherten, sondern erheitert ihren Todeskampf beobachteten. Er wurde sich der Gerüche und Geräusche bewusst, auch des kalten Windhauchs, der von unten aufstieg. Der Atem der Grube. Wo war er? Wie war er hierher gekommen? In der Ferne bellte ein Hund, aber das Gelächter eines Mannes übertönte es einen Augenblick später. »Umso besser, Fautscher. Wir werden ihn zum untersten Rad schaffen, wo es keinen Unterschied macht, ob er sehen kann oder nicht. Er braucht keine Ketten. Seile werden reichen. Wie soll er weglaufen, wenn er blind ist?« »Bist du sicher, dass er arbeiten kann? Er sieht aus, als wäre er schwachsinnig.« »Mir kommt er stark genug vor.« »Und wenn er zu dumm ist, um zu wissen, was er zu tun hat?« Wieder erklang Gelächter, diesmal vermischt mit dem Geruch von Zwiebeln, nach denen der Atem des Mannes roch. »Behandle ihn wie ein Tier, dann wird er's schon merken. Wenn er geht, passiert nichts. Wenn er stehen bleibt, kriegt er die Peitsche.« »Ich hasse dich.« Die Bemerkung verursachte Aufruhr. Er hörte Männer um 51 sich herum flüstern. Es waren zu viele, um die Stimmen auseinander zu halten, aber ihre Furcht hatte einen prickelnden Duft, der sich wie Nadeln in seine Haut bohrte. »Gott im Himmel, für den da werden wir allerdings Ketten brauchen«, sagte derjenige, der Hauptmann genannt wurde. »Sie nennen ihn Robert. Er hat einen üblen Blick. Wir stecken ihn mit dem Blindstummen nach unten. Was der eine nicht sehen und hören kann, kann der andere nicht zum Unruhestiften benutzen.« »Glaubst du, der Blinde wird bei dem Verrückten auch nur eine Woche am Leben bleiben, Hauptmann? Er wird von der Tretmühle geschubst werden. Er wird lebendig gefressen werden.« »Sie sind doch sowieso alle schon tot, Fautscher. Was machst du dir Sorgen um sie?« »Der Herzog ist unzufrieden, dass wir letztes Jahr unsere Quote nicht erreicht haben.« »Das war nur wegen der Überschwemmung. Diese Räder sollten das beheben.« »Bei den ganzen Unruhen im Grenzland und dem Bürgerkrieg in Salia will der Herzog dieses Jahr noch mehr haben. Noch mehr Eisen und noch mehr Waffen.« »Dann schaff sie runter und lass sie mit der Arbeit anfangen! Wen hast du mir sonst noch gebracht?« »Verbrecher. Die üblichen Rüpel und vagabundierenden Taugenichtse. Hauptsächlich Diebe. Ich habe sie zum Steinbruchmeister geschickt.« »Wir brauchen vielleicht noch welche in den Schächten, um die beiden Felsstürze wegzuräumen.« »Besser sie als wir. Ich fürchte dieses Geflüster, Hauptmann, das muss ich sagen.« »Ich werde dich nicht in die tiefen Schächte schicken, Fautscher. Du hast mir gut gedient. Deine Knochen werden nicht von den Kobolden angeknabbert!« Er lachte erneut, so mun52 ter, dass man hätte einstimmen können, wäre da nicht die Bemerkung gewesen, die dem Lachen vorausgegangen war. Solche Hinweise ermutigten den Schweiger nicht gerade weiterzugehen. Jemand stieß ihn von hinten mit einem Speerschaft an, und er stolperte vorwärts, während die Männer um ihn herum angesichts seiner Verwirrung schallend lachten. Er wurde an den Rand eines offenen Lochs gedrängt, aus dem Luft strömte; Luft, die einen scharfen, trockenen Geruch mitbrachte, den er schon einmal gerochen hatte. Welche Erinnerung nagte da an ihm? Kreaturen, die in der Dunkelheit umherschlurfen. Er strich mit den Fingern über das Bronzearmband, seinen einzigen Besitz, und Bilder flackerten auf, wie Lampenlicht, das eine schwarze Höhle beleuchtet: Er zerrt Kel und Beor vom Rand der klaffenden Spalte weg, während ein sengender Wind vom Abgrund heraufweht und in seinen Augen brennt. Seine geliebte Adica lebt, und sie haben sie vor den Ashioi gerettet, die jetzt auf der anderen Seite der Spalte stehen und sie verfluchen. In den Schatten jenseits des sich bewegenden Lichts schnattern Skrolin mit leisen Stimmen und verschwinden im Felsen. Das Bronzearmband pocht auf der Haut seines Oberarms; als die Dunkelheit hereinbricht, leuchtet es mit dem unheimlichen Glanz von Magie. »Weiter!« Eine Hand schlug ihm aufs Ohr, kam aus dem Nichts und traf genau dort, wo es bereits geschwollen war. Der Schmerz barst in seinem Schädel und ließ seine Erinnerung in tausend Scherben zerplatzen. »Weiter! Stell deinen Fuß auf die Sprosse. Da. Da! Was für ein Dummkopf!« »Sei nicht so grob zu dem Mann, Fautscher. Er kann nichts dafür, dass er blind ist.«
»Vielleicht. Vielleicht aber doch.« 53 »Was ist das für ein Armband, das er da hat? Es sieht wertvoll aus.« »Meister Richard hat mich gewarnt. Er sagt, es verbrennt jeden, der es anfasst.« »Wirklich?« »Wenn du seinen gierigen Blick gesehen hättest, würdest du ihm glauben. Ich bin dafür, dass wir warten und es ihm wegnehmen, wenn er gestorben ist.« »Ich frage mich ...«, sinnierte der Hauptmann, aber ihre Stimmen verklangen, als er in einem Tumult aus Gepolter, Krachen und Echos versank. Eine Holzsprosse rutschte unter seinem tastenden Fuß weg. Er fand Halt und kletterte nach unten, ohnehin die einzige Richtung, die er nehmen konnte. Andere führten ihn, reichten ihn von einer Hand zur nächsten weiter, erst einen, dann einen zweiten Schacht hinunter, bis er den Eindruck hatte, als würde sich der Fels um ihn herum schließen und dabei leise von seinem Alter und der Schändung seiner verborgenen Bereiche künden. Jetzt roch er wieder brennendes Öl und eine Rauchschwade. Einmal stolperte er in einen Graben voll strömenden Wassers. Schließlich ketteten sie ihn auf einem geschwungenen hölzernen Laufgang an, der ein riesiges Rad war. Sie schubsten ihn so lange, bis er begriff, dass sie von ihm verlangten, dass er gehen sollte, um beim Gehen das Rad unter den Füßen zu drehen. Wasser gurgelte und spritzte, wogte aus der Tiefe auf und schoss nach oben. Das ständige Ächzen und Poltern anderer Räder unter den Schritten anderer Männer über ihm war zu hören. Er ging weiter, die Ketten rasselten, und nach einer Weile bekam er den richtigen Dreh raus; seine Schritte wurden sicherer, und er fürchtete nicht mehr, dass er stolpern und fallen und endlos tief in die Dunkelheit stürzen könnte, die sich überall um ihn herum ausbreitete. Die Holzleisten des Rades 54 glitten sanft unter seinen Schritten dahin, abgenutzt von den vielen gleichmäßigen Schritten all der unglücklichen Sklaven, die vor ihm hier gewesen waren. Waren sie hier auch gestorben? Aber es fiel ihm so schrecklich schwer zu denken, weil sein Kopf schmerzte. Er hörte nie auf zu schmerzen. Es war einfacher, nur weiterzugehen. Nach einer sehr langen Zeit machten sie ihn von den Ketten los und führten ihn in eine Höhle, in der er den süßen, brandigen Geruch des irren Robert roch. Flüche hallten durch die Dunkelheit, als der Verrückte an der Stelle angekettet wurde, die er soeben verlassen hatte. Hier auf diesem harten Stein durfte er schlafen, obwohl Roberts Raserei ihn auch noch in seinen unruhigen Träumen verfolgte. Sie weckten ihn, gaben ihm Haferschleim, stießen ihn hoch und ketteten ihn wieder an das Rad, wo er schier ewig weiterging, stumm und in Dunkelheit. 3 »Da«, sagte Marcus. »Das haben wir gesucht.« Zacharias zuckte angesichts der Ruinen von Kartiako zusammen. Nie hatte er etwas so Prachtvolles gesehen, das derart verfallen gewesen war. Sie gingen den halben Morgen von der Gartenstadt Qahirah in ein Gebiet, das schlagartig ab einer bestimmten schroffen Linie bar jeden Lebens war, so dass auf der einen Seite bewässerte grüne Felder standen, während der Boden auf der anderen Seite kahl war. Auf drei Hügeln, die aus dem Vorgebirge oberhalb des Meeres ragten, erhoben sich die Überreste einer großen Stadt, die jetzt mutwillig zerstört war und in Trümmern lag. Dennoch staunte, wer immer sich ihr näherte, angesichts der Säulen und Bö55 gen, der zerbrochenen Aquädukte und umgestürzten Mauern, der komplizierten Anlage einer großen Stadt, die einst das Mittlere Meer beherrscht hatte. »Ihr seht in die falsche Richtung«, sagte Marcus zu Zacharias, als sie den staubigen Pfad verließen, der über die öde Ebene auf die Hügel und die Stadt zuführte. Die Maulesel wirbelten Dreck auf, dessen Staub die Luft vernebelte. Die Ortsansässigen, die Schwester Meriam angeheuert hatte, zogen die Enden ihrer Turbane über die Gesichter, um sich vor dem beißenden Staub zu schützen. »Hierher. Seht Ihr es?« Ein niedriger Berg befand sich außerhalb der eingestürzten Mauer, die einmal Kartiako umgeben hatte, und dahinter lagen die Kammlinien eines zerklüfteten Landes, Felsen und Sand ohne jeden Hinweis auf irgendwelches Leben. Knochen ragten aus dem Hang dieses Berges, aber als sie näher kamen, begriff er, dass es Säulen waren, die in einem in die Länge gezogenen Kreis standen. Das flache Land täuschte, was Entfernungen betraf; salziger Staub knirschte zwischen ihren Zähnen, während sie den Rest des Morgens marschierten und erst nach Mittag den Fuß des Berges erreichten. Ein schmaler Pfad schlängelte sich zur Kuppe hoch, und Zacharias musste zweimal blinzeln, ehe er begriff, dass es sich bei dem dunklen Wesen, das hastig den Pfad herabeilte, nicht um ein Insekt handelte, sondern um einen in schwarze Wüstenkleidung gehüllten Mann, der einen Stab in der Hand hielt. »Nicht ein einziger Stein ist umgestürzt«, sagte Meriam. Der Herbergsvater hatte seinen ältesten Sohn zur Verfügung gestellt, um sie zu der Ruine zu führen, und jetzt bedeutete der junge Mann ihnen zu schweigen. Er kniete nieder, und auch die anderen Ortsansässigen knieten nieder, neigten die Köpfe, während der alte Mann vor ihnen stehen blieb. Das Gewand, das er trug, verbarg alles bis auf Augen und Hände.
56 Für jemanden, der von so kleiner Statur war, sprach er mit überraschend tiefer Stimme. Meriam übersetzte. »Wer sind diese Geehrten? Welche Wünsche könnten sie an diesen heiligen Ort führen? Ich bin der Wächter hier. Ich kann ihre Fragen beantworten.« »Ich gebe zu, dass ich neugierig bin, wieso der Steinkreis sich in solch gutem Zustand befindet«, sagte Marcus. »Bei allen anderen, die wir gefunden haben, musste mindestens ein Stein aufgerichtet werden, um den Kreis zu vollenden.« Es war Zacharias unmöglich, irgendeine Gefühlsregung in der Haltung oder Miene des alten Mannes zu erkennen, denn beides war von seinem Gewand verborgen. Die Augen verrieten gar nichts; er kniff sie hin und wieder zusammen, während Meriam die Fragen von Marcus übersetzte und zweifellos ein paar eigene Erklärungen hinzufügte. Als sie geendet hatte, warteten sie schweigend, während der Hüter nachdachte. Weit entfernt, jenseits der staubigen Ebene, schimmerten grüne Felder wie ein Trugbild. »Kommt.« »Was habt Ihr ihm gesagt ?«, fragte Marcus, während sie den Berg hinaufstiegen. Ihr Gefolge marschierte hinter ihnen her. Meriam ritt auf einem der Maulesel, den ein Diener führte. »Dass wir gekommen sind, um die Kronen zu sehen. Er ist ein gebildeter Mann. In diesem Gebiet sprechen die meisten Leute die ortsübliche Sprache, und nur wenige sind in der Sprache der Priester unterrichtet worden. Dass er sie so gut beherrscht, ist ein Zeichen dafür, dass er mehr weiß, als wir vielleicht ahnen. Er ist kein gewöhnlicher Hüter, der einfach nur sauber macht und für Ordnung sorgt. Seid vorsichtig. Begegnet ihm respektvoll.« Marcus schnaubte. »Wenn Ihr ihn nicht mit Respekt behandeln wollt, weil er ein Ungläubiger ist, Bruder, bitte ich Euch, wenigstens um meinetwillen höflich zu ihm zu sein.« 57 »Also gut, Schwester. Um Euretwillen. Ich habe kein Vertrauen in die Bildung von Ungläubigen.« »Ihr werdet Euch noch viele weitere Monate bei ihnen aufhalten müssen, Marcus. Passt auf, dass Euer Hochmut sie nicht dazu bringt, sich gegen Euch zu wenden.« Er kicherte. »Ich werde vorsichtig sein und schweigen, wo ich Falsches sehe.« Als sie die Bergkuppe erreicht hatten, begann der Wind heftiger zu wehen, und Zacharias machte es den jinnischen Angeheuerten nach, indem er wie sie Mund und Nase mit Stoff bedeckte, um den Staub fern zu halten. Er hatte noch nie so salzige Luft geschmeckt, vermischt mit Staubkörnern, die sich zwischen den Zähnen festsetzten. Von der Bergkuppe aus konnten sie durch den Dunst hindurch in Richtung Westen bis nach Qahirah sehen und im Nordwesten bis zur Ruine von Kartiako. Der alte Mann schritt in die Mitte des Kreises, öffnete die Arme und machte eine ausschweifende Bewegung, die die gesamte Szenerie einschloss. Meriam übersetzte, als er zu sprechen begann. »Ihr fragt Euch, wieso dieser heilige Ort nicht in Trümmern liegt. Das liegt daran, weil die jinnischen Magi ihn bewahren. Es ist ein heiliger Ort. Ein uralter Kampf ist hier gefochten worden, eine große Schlacht gegen die Eindringlinge, die Verfluchten.« »Ist es möglich, dass die Geschichte sich bei den Ungläubigen so lange erhalten hat?«, fragte Marcus. »Still«, erwiderte Meriam. »Ich möchte hören, was er zu sagen hat.« Der alte Mann ging zur östlichen Seite des Berges, die scharf zu einer Senke abfiel und sich dann zu den kahlen Felskämmen auffaltete, die bis weit zum östlichen Horizont verliefen. Die Flanke des am nächsten liegenden Kammes war mit Löchern übersät. 58 »Unter diesen Bergen befinden sich Höhlen. In den alten Tagen haben die Alten eine Zeit lang da unten gelebt, aber jetzt ist dort alles verfallen. Verflucht. Sie haben Götzen gehuldigt und Kinder geopfert.« Der alte Mann sah ihnen der Reihe nach in die Augen, als suche er nach dem Bösen. Zacharias zuckte zusammen, als ihn der Blick traf; all seine Sünden schienen aus ihm herauszuströmen und nackt im Licht zu stehen. Aber der alte Mann zeigte keine Reaktion, sondern sah Marcus an, dann Elene und schließlich Meriam. Er nickte. »Astareos hat uns all diese Gräuel verboten, entsprechend den Gesetzen des Himmels. Respektiert ihr die Gesetze des Himmels?« »Oh Gott, Meriam, erwartet er von uns, dass wir irgendeinen heidnischen Eid schwören? Wir huldigen Gott auf die richtige, angemessene Weise. Ich kann sein Gefasel nicht länger ertragen. Wenn die Steinkrone keiner Ausbesserungen mehr bedarf, gibt es keinen Grund, wieso wir unsere letzten Berechnungen nicht heute Nacht anstellen sollten. Dann könnt ihr euch morgen Nacht mit Elene auf den Weg machen. Die Himmel werden ihr Wirken nicht unserer menschlichen Schwächen wegen verlangsamen. Es gibt viel zu tun -und wir haben weniger Zeit, als wir brauchten. Es sind kaum noch achtzehn Monate bis zu dem Tag, auf den wir uns schon so lange vorbereiten.« »Seid nicht so hastig, Marcus. Was er weiß, könnte sich für uns als sehr wertvoll erweisen, wenn wir am wenigsten damit rechnen.« Aber obwohl sie noch mindestens eine Stunde mit dem Mann sprach, gestand sie Marcus gegenüber am Ende
ein, dass sie nichts Besonderes erfahren hatte, abgesehen von den in dieser Gegend herrschenden Legenden über Ungeheuer, Sandstürme und verlorene Höhlen voller augenloser Schlangen. Die Bediensteten stellten Zelte zum Schutz vor dem 59 Wind auf, und als die Dämmerung hereinbrach, wurde die Luft ruhiger, der Dunst löste sich auf, und die Sterne schimmerten so hell und klar, dass man den Eindruck hatte, als könnte man geradewegs nach ihnen greifen. Marcus nahm seinen Stift und die Wachstafel und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf eine auf dem Boden ausgebreitete Decke. Rechts von ihm brannte eine Lampe. Hastig kritzelte er Berechnungen auf die Tafel und wischte sie dann wieder weg. Die ganze Zeit über murmelte er vor sich hin. Zacharias hockte sich neben ihn. »Kann ich lernen, das zu tun?« Marcus antwortete ihm, ohne aufzublicken. »Könnt Ihr schreiben? Seid Ihr mit Zahlen, Summen und Geometrie vertraut? Nein? Dann müsst Ihr warten. Ich kann Euch nur Schritt für Schritt etwas beibringen. Ihr müsst jetzt die Rolle von Bruder Lupus übernehmen.« »Was ist die Rolle von Bruder Lupus?« »Cauda Draconis. Der Schwanz des Drachen. Der Geringste von uns. Und jetzt seid still.« Es war schwer, still zu sein. Er wünschte sich so sehr, das zu haben, was Marcus besaß, dass sein Wunsch sich wie der Sand überall eingrub, in sämtliche Hautfalten und in die Mundwinkel drang, sich in seinen Augenbrauen verfing und den Weg in seine Haare fand. Jedes Mal, wenn er seine Position veränderte, schüttelte er Sand von der Kleidung, der durch Beinkleider und Stiefel drang und knirschend zwischen den Zehen hing. Er hatte sich eine Blase geholt, obwohl er gedacht hatte, dass seine Füße zu kräftig waren, um etwas anderes als Schwielen hervorzubringen. Niemandem war es gestattet, oben auf dem heiligen Berg ein Feuer zu entfachen, und der kalte Nachtwind, der von der Wüste heranwehte, vertrieb die Hitze des Tages. Zacharias zitterte in seinem Umhang, als er im Mondlicht umherging. Im Osten kennzeichneten winzige Lichtpunkte die Mauern 60 von Qahirah, und er stellte überrascht fest, dass er für einen kurzen Moment das unstete Flackern eines Feuers in der Ruine von Kartiako sehen konnte. Hatte er sich die Flammen nur eingebildet, oder waren sie gelöscht worden? Die öde Ebene lag dunkel und nichts sagend da, wirkte mehr wie ein Ozean als ein Stück Land. Ihre Position hier draußen, so weit weg von all den Orten, an denen sich Menschen trafen, kam ihm gefährlich vor, obwohl Meriam immerhin zwanzig Leute angeheuert hatte. Gab es hier draußen Banditen? Sein Stiefel schlurfte über den Boden, und ein kleiner Gegenstand klapperte und rollte weg, blieb an einer Stelle liegen, an der der Boden wieder leicht anstieg. Waren das Fingerknöchelchen? Er zitterte und drehte sich wieder zu der Lampe um, in deren flackerndem Schein er Marcus neben Meriam sitzen sah; der Geistliche widmete sich seinen Zeichen und wischte die Tafel sauber, während die alte Frau ihm leise Bemerkungen zuflüsterte. Elene schritt zwischen den Steinen umher, hob einen Stab, der nicht länger war als ihr Arm, und maß damit die Steine, hielt ihn vor die Sterne. Sie alle blickten immer wieder zum Himmel empor. Ein scheußlicher Schrei erhob sich von Osten, ein Wehklagen, das die klare Nachtluft erzittern ließ. Meriams Bedienstete sprangen auf, und die Ortsansässigen schrien hysterisch und packten ihre Stäbe und Äxte. Einer weinte. Das Wehklagen ließ Zacharias frösteln, bis er regelrecht zitterte, und doch brach ihm der Schweiß aus, als er in die Dunkelheit starrte. Es gab nichts zu sehen. Ein Geruch hing über ihnen, herbeigeweht vom Wind: Aasgestank, mit Honigsüße getränkt, so widerlich und übel, dass ihm schlecht wurde. Der Hüter tauchte aus den Schatten auf, die die Steine zur Hälfte verschluckten, und eilte zu der Decke, auf der Marcus und Meriam an ihren Formeln arbeiteten. Er rief den ande61 ren etwas zu, und die angeheuerten Ortsansässigen eilten gemeinsam ins Innere des Steinkreises, vollkommen still und offensichtlich verängstigt. »Kein Licht! Kein Licht!« Die Worte kamen in verständlichem Dariyanisch, aber das Entsetzen, das im Blick des Hüters lag und ihn die Augen zusammenkneifen ließ, war in jeder Sprache zu verstehen. »Wo ist Elene?«, rief Meriam. Der alte Mann rief Worte, die Zacharias nicht kannte, und reckte den Stab über seinen Kopf. Licht blitzte aus den Steinsäulen auf. Fäden tanzten zwischen den Sternen und der Erde, bildeten einen schimmernden Zaun um die Säulen herum. Durch dieses Licht erkannte Zacharias, wie gleich jenseits der Steine ein gewaltiger Schatten zuckend und zitternd in den Lichtschein eintauchte und ihn wieder verließ, zuerst in Gestalt einer Frau, dann als riesige Schlange. Die Männer hinter ihm stöhnten vor Entsetzen, riefen: »Akreva! Akreva!«, und sanken zu Boden, als wollten sie sich vor dem Feind in den Staub werfen. »Im Namen Gottes, Meriam, was ist das für ein Wesen?«, fragte Marcus. »Wo ist Elene?« Eine Gestalt kam vom Berghang heran geschossen, aber die abscheuliche Frau-Schlange glitt schneller voran, als
es irgendeiner irdischen Kreatur möglich war, und schnitt Elene so den Rückweg ab. Das Mädchen saß jenseits des vom Beschwörungsbann geschützten Zufluchtsortes fest, leichte Beute für das näher kommende Ungeheuer. Sie hob ihren Stab, aber es handelte sich nur um einen dünnen Stock, mit dem man den Tod nicht abwehren konnte. Das würgende Geräusch, das sich Meriams Kehle entrang und Ausdruck ihres Kummers und Entsetzens war, veranlasste Zacharias zu handeln. Er würde nicht wieder daneben stehen und zusehen wie damals, als die Qumaner vor Wal62 bürg diejenigen angegriffen hatten, die Gnade hatten bewachen sollen. Er würde nicht weglaufen. Es war besser zu sterben, als sich wieder wie ein Feigling zu verhalten. Er riss einem der kauernden Diener einen Stab aus der Hand und stürmte durch das glimmende Netz des Banns. Die Fäden brannten, wenn er mit ihnen in Berührung kam; der Stoff wurde schwarz, seine Haut schmerzte und wurde weiß. Das Ungeheuer bäumte sich vor dem verdutzten Mädchen auf, sein Schwanz peitschte den Boden. Die Schuppen waren mit einer widerlichen Substanz überzogen, die phosphoreszierend glühte. Das Schwanzende lief in einem Stachel aus, und jetzt schlug das Ungeheuer damit zu. Elene schoss zur Seite. Der Stachel am Schwanzende grub sich in den Boden. Staub wirbelte auf. Das Ungeheuer riss den Rachen auf, um seine Wut herauszubrüllen, und ein hoher, schrecklicher Schrei hallte von den fernen Bergen zurück und ließ die Steine erbeben. Die Lichtfäden funkelten und zitterten. Die Männer hinter dem Netz der Beschwörung schrien vor Entsetzen auf. Zacharias sprang vor und versetzte dem Ungeheuer mit aller Kraft einen Schlag auf den in Windungen daliegenden Leib. Es bäumte sich auf, drehte sich zu ihm um. Sein Körper war gewaltig, so dick wie ein Baumstamm und von Muskeln durchzogen. Es schimmerte blass und sah so grotesk aus, dass er am liebsten geweint oder sich erbrochen hätte. Der Gestank trieb ihm Tränen in die Augen. Der lange Schlangenkörper verwandelte sich in eine Ungeheuerlichkeit, die auf groteske Weise einer Frau mit vollen Brüsten und einem schmalen Gesicht ähnelte, dabei jedoch so unbeholfen geformt war, dass das Ganze aussah wie die stümperhafte Arbeit eines schlecht ausgebildeten Handwerkers. Elenes Stimme erklang. »Hört mich, Misael, Charuel, Zamroch. Folgt meinem Ruf. Ich rufe euch an, Sabaoth, Mi63 siael, Mioael. Bereitet für mich ein scharfes Schwert vor, das ihr mit der rechten Hand zieht. Bereitet für mich sieben leuchtende Lichter vor. Vertreibt dieses Ungeheuer aus unserer Mitte!« Es schlug zu. Er war langsam, im Gegensatz zu dem Mädchen. Die Spitze durchbohrte seine Schulter. Er erinnerte sich nicht daran, dass er geschrien hatte. Plötzlich lag er auf dem Boden, und ein kaltes, rasches Brennen breitete sich von der Wunde her aus, verwandelte sein Fleisch in Stein. Er konnte sich nicht rühren. Es starrte auf ihn herunter; das junge Gesicht erinnerte an das eines Mädchens, war aber bar jeder Intelligenz und jeden Gefühls. Scharfe Zähne machten ein klackendes Geräusch, und es holte mit dem Schwanz zu einem zweiten Schlag aus. Wie seltsam, dass die Zeit so langsam verging, während er nach oben starrte. Der Kopf der Kreatur war scheinbar von Haaren bedeckt, aber im letzten Augenblick erkannte er, dass es keine Haare waren, sondern eine sich windende Masse aus zischenden Schlangen, die um ihr Gesicht zuckten. Eine Sternschnuppe blitzte am Himmel auf. Feuer explodierte vor seinen Augen, und das grelle Licht blendete ihn und nahm ihm die Sicht. Das Ungeheuer schrie so gequält auf, dass das Geräusch jede Seele in Stein hätte verwandeln können. Er konnte sich nicht rühren, sondern zitterte nur von Krämpfen geschüttelt, als der Schwanz sich über ihn hinwegbewegte, von einer Kraft gezogen, die er nicht kannte, die er auch nicht sehen konnte. Er sah nur die schweren, grauen Windungen, die auf seiner Brust lasteten. Der Schwanz schrumpfte, bis der weiße Stachel vor seinen Augen trieb; ein Tropfen Gift hing an der Spitze, bereit, jeden Augenblick in seinen Mund zu fallen. Er würde ihm die Zunge verbrennen. Er würde nie wieder sprechen können. 64 Der Boden bewegte sich unter ihm. Hände packten ihn und zerrten ihn über Steine und Sand, ließen ihn dann auf die harte Erde fallen, während um ihn herum furchtsame, aufgeregte Stimmen erklangen. »Es war ein Dämon!« »Nein, es war ein Engel, du Narr!« »Es war ein Phönix! Bist du blind?« »Nicht so blind, dass ich einen Blitz nicht erkennen würde. Das war überhaupt keine Kreatur.« »Gnn, Gnn, Gnn«, sagte er, aber es kamen keine Worte. »Geht es ihm gut?« »Er ist gestochen worden, Schwester.« Sie berieten sich, aber er konnte nur hoch zum Himmel starren, wo Licht brannte, so wie seine Haut brannte. Er zitterte. Es war so kalt, so kalt. »Und der Alte sagt, es gäbe kein Heilmittel gegen den Stich dieses Ungeheuers?«
»Das sagt er, aber ich bin nicht bereit, einen tapferen Mann so schnell aufzugeben.« Wann war es so neblig geworden? Dunst trieb vor seinen Augen. Aber diese Worte erstrahlten vor ihm: einen tapferen Mann. Diese Worte machten ihm Mut. »Was schlagt Ihr also vor?« »Ich bin die Einzige hier, die Fähigkeiten im Heilen besitzt. Wir werden hier bleiben, während ich versuche, mein Möglichstes zu tun.« »Wir haben keine Zeit für so etwas, Meriam. Abgesehen davon ist die Kreatur verwundet, aber nicht tot. Sie könnte zurückkommen.« »Auch wenn wir gehen, werdet Ihr noch in Gefahr sein.« »Vielleicht. Es ist leichter, einen einzelnen Menschen zu beschützen als ein ganzes Gefolge. Ihr wisst, dass ich meine Pläne ändern musste, weil Bruder Lupus uns verlassen hat. 65 Ich kann hier in Qahirah bleiben, bis Schwester Anne ein paar Soldaten schickt, die mich beschützen, wenn es nötig werden sollte.« »Soldaten können ein solches Ungeheuer nicht besiegen.« »Genug! Ihr und Elene müsst morgen bei Anbruch der Abenddämmerung mit den anderen aufbrechen.« »Wollt Ihr ihn dem Tod überlassen, nachdem er meiner Enkelin das Leben gerettet hat?« »Nein. Er kann unser Bote zu Anne sein. Er kann uns noch immer dienen, und indem er uns dient, kann er sich selbst dienen und ...« Der ächzende Wind trug Marcus' letzte Worte davon. Schwester Meriam hatte ihn einen tapferen Mann genannt. Es war besser, tapfer zu sterben, als in Schande zu leben. Es war besser zu sterben, aber er hatte eigentlich gar keine Schmerzen, sondern war nur unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sehen. Er lag da und spürte die Sonne aufgehen, obwohl die Berührung des Lichts ihn schmerzte. Sie spendeten ihm mit einem Stück notdürftig aufgespanntem Stoff Schatten, und dort lag er also, während Meriam ihm etwas mit Honig gesüßtes Wasser die Kehle hinunterzwang. Der Geruch des Honigs ekelte ihn an. Der Gestank nach Honig und Aas, der das Ungeheuer umgeben hatte, wallte in seiner Erinnerung, in seiner Kehle auf, und er erbrach alles wieder. Elene saß neben ihm, starrte ihn mit ernsten Augen an. »Ich habe ihn nie angesehen«, sagte sie zu ihrer Großmutter. »Ich dachte, er wäre meine Aufmerksamkeit nicht wert. Wie seltsam, dass Gott durch einen so gewöhnlichen, hässlichen, schmutzigen Mann handeln.« »Sogar ein kriecherischer Hund kann beißen, Elene. Sieh dir die Menschen genauer an. Das Äußere entspricht nicht immer dem Inneren.« »Das weiß ich! Das weiß ich!«, sagte das Mädchen unge66 duldig, als hätte sie diese Lektion schon hundert Mal zuvor erhalten. »Das meine ich nicht! Er schien nur einfach keine Rolle zu spielen.« »So wenig wie die Maus, die von der Gefangenen verschont wird und die dafür später ihre Seile durchnagt und sie befreit.« Der Schatten bildete eine Linie über der Tunika des Mädchens, als sie sie jetzt glatt strich; ihr Kopf befand sich in der Sonne, die Beine lagen im Schatten. »Ich habe Angst, Großmutter. Ich will nicht in die Wildnis gehen. Wir wissen nicht, was wir auf der anderen Seite dieses Tores finden werden. Was ist, wenn es dort auch Ungeheuer gibt?« »Wir müssen stark sein, Elene. Wir haben beide eine Aufgabe bekommen. Ich allein kann die Sprache derjenigen sprechen, die in der Wüste leben, und daher muss ich gehen. So sei es also.« »So sei es also«, hauchte das Mädchen und neigte den Kopf. »Gnn«, flüsterte er, aber das Geräusch verklang im Rieseln der Sandkörner, die von dem schräg aufgespannten Stück Stoff fielen, als der Wind von der Ebene hoch wehte. Sein Körper war eiskalt, seine Gedanken waren träge. Irgendwie kam der aufgespannte Stoff herunter, und er wurde darauf gerollt, über den unebenen Boden gezogen und dann wieder losgelassen. Dort blieb er liegen, während sich ein Stein in seinen Rücken bohrte. Dort lag er. Dunst senkte sich herab, und eine Weile hörte er schwache Geräusche, von denen aber keines deutlich genug gewesen wäre, dass er es hätte verstehen können. Ein Tropfen Feuchtigkeit machte seine Handfläche nass. Durch den Dunst schimmerte die Sonne, während sie tief nach Westen sank, aber ihr Glanz hatte die Kraft von Eis und kroch in seine Glieder. Er trieb dahin. Es war immer schwerer, Leute zu erkennen; sie wirkten so dünn und gegenstandslos vor den blassen Bergen und dem dunkler werdenden Himmel. Licht blitzte am 67 Himmel auf; ein Stern kam in Sicht. Gestalten bewegten sich außerhalb des Kreises, hoben und senkten Stäbe und murmelten Worte, die so leise waren, dass er sie nicht verstand. Ein Spinnenfaden kam vom Himmel herunter und verband sich mit einem der Steine, gefolgt von einem zweiten.
Sein Herz raste, als er begriff, dass sie sich in den Künsten der Mathematiki übten, die die Bewegungen der Himmel deuten und ihnen ihre Geheimnisse entlocken konnten. Jahre zuvor hatte Kansi-a-lari einen Bann in die Steine gewebt, während er daneben gekauert und gebetet hatte, aber sie hatte den Bann mit dem Ziel gewebt, dass sie an Ort und Stelle blieben, während die Zeit um sie herum vorangeschritten war. Marcus webte ein Tor in die Steine, durch das Meriam, Elene und ihr Gefolge in ein fernes Land reisen konnten. Die Steinkreise waren Tore, jedes einzelne ein Tor zu einem der anderen Kreise, aber er wusste nicht, wie man eine solche Beschwörung webte. Er wollte wissen, wie das ging. Er versuchte, den Kopf zu heben, um zu sehen und zu lernen, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht, und die zunehmende Erstarrung zog ihn nach unten, in den Abgrund hinab. Ein Schatten beugte sich über ihn; Hände befestigten Pergament an seinem Gewand; der Stoff, auf dem er lag, straffte sich und zog an seinem Körper, und er wurde ins Netz des Lichts gelegt. Blind schwebte er dahin, während um ihn herum blaues Feuer mit einem kalten Hauch loderte, der bis in seine Knochen drang. Es ist so kalt, dass es brennt. Er sieht abzweigende Korridore und in jedem eine Vision, aber er vermag nicht zu sagen, ob sie falsch oder wahr sind. Ein Mann, schmutzig, dünn, halb nackt, geht und geht, während unaufhörlich ein Rad polternd unter seinen Füßen rollt. Verhutzelte Gestalten flüstern und drücken sich in der Tiefe der Erde herum, lauschen. 68 Ein Merwesen gleitet durch rauchgraues Wasser, gezogen vom Kielwasser eines schlanken Schiffes. Eine kleine Gruppe von Gewandeten eilt hastig durch blauweißen Nebel. Ist ein bekanntes Gesicht darunter? Ist das nicht der Adler namens Hanna, die junge Frau, die aus Bulkezus Sklaverei befreit wurde? Sie dreht sich um, als könnte sie seine Gedanken hören, und ruft laut: »Wer seid Ihr?« Licht flackerte, erstarb wieder, und er schlug hart auf dem Boden auf. Sein Rücken, der Kopf und die Hüfte schmerzten von dem heftigen Aufprall. Das Flackern des Lichts versiegte, bis nichts mehr übrig blieb. War es Nacht ? Oder war er blind ? Er konnte die Lippen nicht mehr bewegen. Aber er konnte noch immer hören. »Wer ist das?« »Seht nur, da ist eine Botschaft an dem Gewand, mit einer schönen Brosche befestigt. Oh Gott, wie er stinkt!« »Bruder Marcus hat das unterschrieben. Da ist der Mann, der den Schmutzigen gezogen hat. Er sieht aus wie ein Diener.« »Was fehlt ihm?« »Ich weiß es nicht. Er sieht aus, als wäre er geschlagen worden, aber ansonsten scheint er gesund zu sein. Wir müssen die beiden zur Heiligen Mutter bringen.« »Das ist ein weiter Weg.« Eine warme Hand berührte seine Lippen, dann seine Kehle und schließlich seine Augen. »Gott im Himmel! Er ist eiskalt! Ich fürchte, er stirbt. Beeilt Euch! Schickt nach Presbyter Hugh!« Die Stimmen versiegten zu einem Zischen, aber auch das verklang schließlich, während er in die Stille des Abgrunds eintauchte. II Seine Stimme
1 Es regnete wieder, so heftig, dass der Regen die neu gepflanzte Saat zu ertränken drohte und möglicherweise die gefürchtete Viehseuche unter den kostbaren Schafen streute. Sie hatten Gerüchte gehört, denen zufolge dieses Leiden den Ländern weiter südlich zusetzte. Ivar stand auf der Veranda des Krankentraktes und lauschte dem auf das schräge Dach prasselnden Regen, ein Geräusch, das begleitet wurde von dem Husten der Leidenden, die sich in der Obhut von Schwester Nanthild befanden. Ermanrich, Hathumod und Sigfrid litten alle an einer Brustfellentzündung, die drei Viertel ihrer kleinen Gruppe befallen hatte. Eine ältere Nonne war gestorben, aber die Übrigen schienen dazu verdammt, lediglich viele Wochen leiden zu müssen und sehr geschwächt zu sein. »Da seid Ihr ja, Bruder Ivar.« Schwester Nanthild konnte sogar mit Hilfe zweier Stöcke kaum laufen, und sie ging niemals weiter als bis zur Veranda des Krankentraktes. Trotzdem herrschte sie energisch und klug über ihre winzige Domäne. »Noch immer gesund, wie ich sehe. Kaut Ihr Süßholzwurzel?« 70 »Mehr als ich mir jemals gewünscht hätte, Schwester.« Der Geschmack hatte ihm den Appetit verdorben, da jede Nahrung nur noch nach Anissamen stank. Sie kicherte. »Ihr seid ein gehorsamer Junge, auch wenn Ihr ein Ketzer seid. Gibt es etwas, das Ihre Exzellenz
von mir wünschen? Ich kann Euch nicht zu Euren Kameraden lassen, falls Ihr mit ihnen sprechen wollt. Wir sind auf Eure Gesundheit angewiesen, Bruder Ivar. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, dass Ihr Euch ansteckt.« »Das weiß ich.« »Aber es gefällt Euch nicht.« »Bin ich so leicht zu durchschauen, Schwester?« Ihr Lächeln vertiefte die vielen, seit langem eingegrabenen Falten in ihrem runzligen Gesicht. Er hatte sie nie die Geduld verlieren sehen, nicht einmal gegenüber den mürrischsten Patienten - und viele forderten sie mit ihrem Jammern und ihren Klagen heraus. »Im Laufe meiner Jahre habe ich alle Arten von Menschen erlebt, Bruder. Ihr seid kein Geheimnis für mich!« Die Bemerkung machte ihm Angst, obwohl er wusste, dass das nicht so sein sollte. Er hatte hart gearbeitet, um die Dämonen zu beschwichtigen, die ihn piesackten, aber sie konnte bis in sein Herz sehen. »Schon gut, Kind. Ich kenne nicht alle Eure Geheimnisse, und ich will sie auch gar nicht alle kennen. Ich habe selbst meine Geheimnisse.« »Aber Ihr habt doch gewiss ein tadelloses Leben geführt!« »Als ich ein junges Mädchen war, gestattete man mir, die Hand der heiligen Königin Radegundis zu küssen. Es mag sein, dass ein geringfügiger Teil ihrer Heiligkeit mich mit einem langen Leben und wenigen Sorgen gesegnet hat. Aber ich habe meinen eigenen Anteil an Üblem in der Welt gesät, wie wir alle es tun. Nun ja. Wie geht es Ihrer Exzellenz?« »Ich soll Euch sagen: >Es ist so weit.<« 71 »Ah.« Sie ging zur Tür und rief ihre Helferin zu sich. »Schwester Frotharia, hol bitte die Tasche, die hinter meinem Stuhl hängt.« Husten und Stöhnen antworteten ihren Worten, als Patienten ihre Aufmerksamkeit zu erlangen versuchten. Sie bedeutete Ivar, dort stehen zu bleiben, wo er war, und humpelte zurück in den langen Raum, in dem die Kranken auf Pritschen lagen. Nach einer Weile kam Schwester Frotharia auf die Veranda, reichte Ivar ohne ein Wort die Tasche und verschwand wieder im Innern. Ivar blickte die Veranda auf und ab, aber natürlich war er allein. Niemand ging bei solchem Regenwetter nach draußen. Der Boden hatte sich in Schlamm verwandelt, und sogar auf dem Kiesweg machten Rinnsale und Pfützen das Gehen zu einer gefährlichen Angelegenheit. Die Wachen wagten sich nur selten zu den Grenzen der Palisade, die ihre heilige Gemeinschaft umgab. Die Tasche wog schwer auf seinem Arm, als er durch den Regen hastete. Der Krankentrakt grenzte an das Hauptgebäude. Die Wachen an der Tür zum Gemach der Bischöfin traten stumm beiseite; sie hatten jetzt fast drei Monate gedient und blickten ihn finster und mit dem Argwohn von Männern an, die nichts als giftigen Klatsch gehört hatten. Die Wachmannschaft wurde alle drei Monate ausgewechselt; diesen Rhythmus behielt Edelfrau Sabella mit eiserner Disziplin bei. Die unrechtmäßige Machthaberin fürchtete, so vermutete Ivar, dass die Wachen bei einem längeren Kontakt mit Bischöfin Constanze ihrem Einfluss unterliegen könnten. Was auch der Fall gewesen wäre. Er zumindest war ihrem Einfluss unterlegen. Bischöfin Constanze hatte alle Eigenschaften, die jene von edlem Geist und Blut von anderen unterschied: Sie war groß und gut aussehend, stolz und demütig, fleißig und fromm, weitsichtig und besonnen, redegewandt, geduldig, freundlich und ernst. 72 »Ah«, sagte die gute Bischöfin, als er eintrat. Sie saß wie gewöhnlich an ihrem Schreibtisch, links und rechts umgeben von zwei Schwestern für den Fall, dass sie etwas benötigte. Niemals in seinen wildesten Träumen hätte er damit gerechnet, einmal der Vertraute und Berater einer Edelfrau von solch hohem Rang zu sein, einer Edelfrau, die den Goldreif als Zeichen ihrer königlichen Abstammung um den Hals trug. »Seid Ihr sicher, dass dies weise ist, Eure Exzellenz?«, fragte er. »Ich bin ziemlich sicher, dass es das nicht ist. Wenn ich schon selbst nicht gehen kann, möchte ich auch keine meiner treuen Anhängerinnen einer solchen Gefahr aussetzen.« »Aber jemand muss es tun«, sagte die junge Frau, die zu Füßen der Bischöfin saß. Sie hatte wilde schwarze Locken, die sich nur mühsam vom Nonnenschal bändigen ließen. Schwester Bona war ein Findelkind gewesen und etwa sechzehn Jahre zuvor vor dem Tor des Bischofspalastes in Autun gefunden worden. Jetzt war sie eines der hübschesten Mädchen, die Ivar je gesehen hatte, und ihre hündische Ergebenheit gegenüber der Bischöfin verlieh ihr die kühne Entschlossenheit eines Kriegers. »Und es muss jetzt sein! Der Regen wird meine Spuren verwischen. Die Wachen verstecken sich in ihren Unterkünften. Ich kann Unterschlupf bei bestimmten Bauernfamilien und in loyalen Klöstern finden, die ich von meinen Reisen mit Euch kenne, Eure Exzellenz. Wenn ich Kessal erreiche, wird Herzogin Liutgards Verwalterin mir helfen und mich mit einer Eskorte zu Prinzessin Theophanu schicken. Selbst wenn ich nur bis zum Kloster Herford komme, werde ich bei Vater Ortulfus in Sicherheit sein. Ihr wisst, dass es jemand tun muss!« »Ich könnte gehen«, sagte Ivar, aber Bona warf ihm einen so finsteren Blick zu, dass er nervös lachte und einen Schritt zurücktrat. »Ihr seid einer von nur sieben Männern, die in diesem Ge-
73 fängnis hausen«, sagte Constanze. »Man würde Euch schnell vermissen.« Der Schmerz verließ sie nie. Sie schloss die Augen, runzelte die Stirn und öffnete sie dann mit einem tiefen Seufzer wieder. »Dann geh also, Bona. Beeil dich. Vermeide unter allen Umständen die Straßen. Geh mit Gott.« Sie umarmten sich, dann lösten sie sich wieder voneinander. Constanze erhob sich nicht, als Ivar die Tasche an Bona weiterreichte, die sie sich über die Schulter schlang und mit Ivar auf den Hof trat. »Ich kenne diese Gegend besser als Ihr!«, sagte sie, ohne einen Blick zu ihm zurückzuwerfen. »Es wird gefährlich werden!« »Ja, das wird es.« Jetzt warf sie einen Blick über die Schulter, und ihr Grinsen war herausfordernd und ärgerte ihn. Ein Mädchen, das in einem Kloster aufgewachsen war, sollte nicht so herausfordernd schauen, aber ein sanftes Geschöpf würde nicht das wagen, was Bona vorhatte. Sigfrid und Ermanrich hatten keine Schwierigkeit damit, sich als die einzigen jungen Männer, die in diesem Kloster eingesperrt waren - ansonsten gab es nur noch vier ältere Laienbrüder, die hier arbeiteten -, an das zölibatäre Leben zu gewöhnen. Ivar jedoch verspürte jeden Tag ein Jucken und Ziehen. Und er konnte sich niemals kratzen. Immerhin träumte er nicht jede Nacht von Liath, aber die Prozession von Frauen, die durch seine Träume schritten, machte es nur umso schlimmer, denn sie alle waren Dämonen mit vertrauten Gesichtern: manchmal Liath, manchmal aber auch Hanna und - viel zu häufig - Bona und dieses Mädchen aus Gent und ein Dutzend andere, die er kurz gesehen und vergessen hatte, bis sie zurückkehrten, um ihm zuzusetzen. Er träumte nie von Baldwin, aber dieser Verrat quälte ihn nur in seinen Wachstunden, wenn er sich fragte, wie es seinem Freund erging und ob er in Sabellas sanfter Obhut weinte oder lachte. 74 An zwei Seiten des Hofes waren die Fenster und Türen mit Brettern vernagelt worden, damit Constanze in den Gemächern der Bischöfin blieb. Bona hatte jedoch ein Brett gelockert und zwängte sich nach einem letzten, nachdenklichen Blick auf Ivar durch die Lücke, zog dabei die Tasche hinter sich her. Er drückte das Brett wieder zurück, um die Lücke zu verschließen, und ging nach draußen, stellte sich in den kalten Regen neben den trockenen Brunnen und ließ sich vollkommen nass regnen. Sechs Monate zuvor waren er und seine drei Kameraden als Gefangene hier hereinmarschiert. Wie lange würden sie hier bleiben müssen? Würden sie jemals befreit werden? Oder würden sie hier sterben? Nach einer Weile ging er vor Nässe tropfend zurück in das Audienzzimmer. Constanze blickte nicht auf, aber sie unterbrach das Schreiben. »Ist sie weg?« . »Ja, das ist sie, Eure Exzellenz.« Sie nickte. Ihre Feder fuhr wieder über das Pergament, getrieben von der gleichen unnachgiebigen Entschlossenheit, die die ganze winzige Gemeinschaft weitermachen ließ, obwohl sie alle auch leicht hätten den Mut verlieren können. Er ließ sie allein und ging nach draußen, fand im Eingang zu der Scheune, in der die Schafe im Winter untergebracht wurden, Unterschlupf. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf die Palisade. Der hohe Zaun war ursprünglich quer über die Talmündung gezogen worden, um das Tal vor Königin Gertrudas Feinden zu schützen, der Gründerin dieser kleinen Gemeinde, die St. Asella geweiht war, aber allgemein als Königinnengruft bezeichnet wurde. Eine Zuflucht, die Feinde fern hielt, konnte jedoch nur zu leicht ins Gegenteil verwandelt werden. Seit Constanzes Ankunft war die Palisade ausgeweitet worden, so dass sie das Anwesen an allen Seiten umschloss. Sie wand sich im Zickzack durch den Wald 75 und verlief unterhalb der hohen Felsen, die das Tal am anderen Ende begrenzten. Wachen patrouillierten Tag und Nacht auf den Mauern und sorgten dafür, dass sie drinnen blieben. Die hohen Felsen und die Palisade begrenzten ihre Welt, aber das Leben, das sie hier führten, war nicht unbedingt schrecklich, nur sehr eingeschränkt. Was es zu etwas Schlechtem machte, hauste draußen in der Welt, nicht in ihren Herzen. Aber er konnte nicht glauben, dass es besser war, hier zu warten, statt dort draußen zu kämpfen. 2 Lange Zeit konnte Zacharias nichts sehen, sondern nur hören und spüren, wie jemand an seinem Rumpf und an seinen Gliedmaßen herumtastete, bis dies schlagartig und ohne erkennbaren Grund aufhörte. »Ist er das? Er stinkt.« »Ja, Heilige Mutter.« »Er und der Diener sind in der Krone bei Novomo gefunden worden?« »Ja, Heilige Mutter. Es hat sechs Tage gedauert, ihn in einem Karren hierher zu bringen. Wie Ihr sehen könnt, ist er verkrüppelt, stumm und blind.« »Aber er ist nicht tot?« »Nein, tot ist er nicht. Die Botschaft berichtet von einem Gift, das sowohl lähmt als auch bewahrt.« »Ist dies das Pergament, das an seinem Gewand befestigt war?« »Ja, Heilige Mutter.« »Bruder Marcus hat am Ende seinen Namen angefügt. Ich erkenne den unvollkommenen Bogen seiner >r<s.« 76 »Ja, Heilige Mutter.«
Die Frauenstimme wurde leiser, während sie sprach. Hin und wieder drangen einzelne Sätze an sein Ohr. »...Akreva ... Schwester Meriam hat dieses Rezept für ein Heilmittel beigefügt, das dem Gift entgegenwirken soll ... sie ist ohne weitere Zwischenfälle aufgebrochen, aber wo sie angekommen ist, weiß ich nicht. Sie wird mir einen Diener zurückschicken, aber ich weiß nicht, wann ich mit ihm rechnen kann ... Ich bleibe hier, um diese Krone zu bewachen, und bereite mich auf die Konjunktion vor ... Bruder Lupus' Verrat ... unsere Berechnungen der Orte und Winkel, die notwendig sind, um jede Krone zu bestimmen und entsprechend der alten Beschwörung miteinander zu verbinden ... aber es wird notwendig sein, diese Berechnungen noch einmal mit denen in den Tabellen von Bischöfin Tallia zu vergleichen ...« Die Stimme ließ ihn wieder in die Benommenheit zurücksinken, ein hilfloses Opfer der Hände, die ihn berührten, und des Wassers und des Lappens, als Bedienstete ihn wuschen und ankleideten und sich über seine Verstümmelung äußerten. Er spürte, wie der Dunst sich lichtete und zu etwas mehr als grauem Nebel wurde, als vage Schemen Gestalt annahmen und er sie als Menschen erkannte, die sich über ihn beugten, um seine Haut und seine Augen zu untersuchen. Er spürte, wie sein Geruchssinn zurückkehrte, weil der unerwartete Geruch nach warmem, ofenfrischem Brot seinen Speichelfluss beschleunigte und er schlucken musste. Das Gefühl der Bewegung schockierte ihn. War er so vollständig erstarrt? Wie hatten sie ihn all die Zeit über ernährt? Und doch war er nicht tot. Als er versuchte, die Zunge zu bewegen, konnte er nur das störrische »Gnn« in der Kehle bilden. Tag für Tag kämpfte er gegen seine Stummheit an, bis er den Versuch zu sprechen ganz aufgab, weil es schlimmer war, sich vorzustellen, dass er 77 diese Fähigkeit völlig verloren hatte. Tag für Tag kamen Leute und bestaunten ihn, ohne dass er den Grund wusste, und er konnte sie auch nicht danach fragen. Stumm. Sprachlos. Nichts konnte schlimmer sein. Selbst der Tod war besser. Aber eines Tages, als der unauffällig aussehende Diener Eigio, der sich stets um ihn kümmerte, ihn auf die Seite rollte, um die Bettlaken unter ihm zu wechseln, versuchte er es wieder, denn er konnte den Drang zu sprechen nicht unterdrücken. »Wo bin ich?« Der Mann schrie erschrocken auf, ließ das halb ausgetauschte Bettzeug fallen und rannte aus dem Zimmer; er blieb zurück wie ein auf die Seite gestelltes Brett. War das wirklich seine eigene Stimme gewesen, so rau und leise? Er versuchte es erneut. »Wo bin ich? Welcher Tag ist heute?« Die Freude trieb ihm Tränen in die Augen, und sie liefen ihm die Wangen hinunter und fielen auf das zerknüllte Bettzeug. Ermutigt spannte er die Muskeln an und wiegte sich hin und her, verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber, landete mit dem Gesicht auf der klumpigen Matratze. Sein Gesicht lag in einer Mulde, so dass er atmen konnte, und er sog den Geruch des staubigen Strohs und der rauen, schweißfeuchten Segeltuchbezüge ein. »Ja! Er hat ganz klar und deutlich gesprochen, Eure Exzellenz. Gott im Himmel! Seht nur! Er hat sich selbst weggerollt.« Hände packten ihn an der Schulter und an der Hüfte und rollten ihn wieder an die Wand. Er sah den besorgten Diener an, erblickte hinter ihm einen Mann mit goldblonden Haaren in einer schönen, hellen Leinentunika, der so tiefsinnig auf ihn herabstarrte, dass Zacharias schon glaubte, der Mann würde gleich zu weinen beginnen. »Könnt Ihr mich hören, Bruder Zacharias?«, fragte diese 78 herrliche Gestalt mit schöner, honigsüßer Stimme. »Könnt Ihr sprechen?« »Wer seid Ihr?«, krächzte er. »Ah.« Der Mann wandte sich an eine vierte Person im Raum, die nicht zu sehen war. »Vindicadus, bring mir mein Gewand.« »Ja, Eure Exzellenz.« Der Rhythmus der Schritte versiegte, während der Edelmann Zacharias untersuchte. »Was sollen wir mit Euch tun?«, sinnierte er. »Was sollen wir mit Euch tun? Zwei Tage noch bis zum Aufstieg des Königs. Könnt Ihr Euch bewegen?« Zacharias versuchte, mit dem Fuß zu wackeln, die Hände zu bewegen, aber nichts geschah. Er hätte ein Stein sein können, und der Gedanke, dass er hier in hilflosem Schrecken dalag, während ein Tag nach dem anderen verstrich, bereitete ihm Übelkeit. »Bin ich ein Krüppel, Eure Exzellenz?« »Seine Finger haben sich bewegt, Eure Exzellenz«, sagte Eigio. »Ja. Schwester Meriams Heilmittel zeigt seine Wirkung, wie sie uns in ihrem Brief versprochen hat, aber schneller als erwartet. Seltsam.« Er biss sich in einer Art und Weise auf die Unterlippe, die an ein Kind erinnerte, das über eine unbeantwortete Frage nachgrübelte. Er wirkte verblüffend jung und seltsam Furcht erregend, aber das kurze Aufwallen von Angst ging gleich wieder vorüber. »Also gut, Eigio.« Er ging zur Tür und blieb dort stehen. »Lass niemanden herein. Sage allen, dass sein Zustand sich verschlechtert hat und er dem Tode nahe ist. Lass unter keinen Umständen zu, dass jemand mit ihm spricht. Deine Mahlzeiten werden dir wie üblich gebracht werden, und eine Wache wird vor der Tür stehen. Du wirst
dieses Zimmer nicht wieder verlassen. Hast du das verstanden?« »Ja, Eure Exzellenz. Es wird so geschehen, wie Ihr gesagt habt, Eure Exzellenz.« 79 »Davon gehe ich aus.« Eigio schloss die Tür hinter ihm, und sie waren eingeschlossen. »Wo bin ich?«, fragte Zacharias, und der Mann sah ihn überrascht an, als hätte er vergessen, dass Zacharias da war. »Nein, Bruder«, erwiderte er und runzelte betrübt die Stirn. »Nur Presbyter Hugh darf mit Euch sprechen, das hat er ganz klar gesagt. Ihr könnt fragen, was Ihr wollt, aber ich darf Euch nichts sagen.« Zacharias hatte nichts anderes zu tun, als mit den Zehen und den Fingern zu wackeln, während er sich in dem Zimmer umsah: Es gab ein Bett, eine Bank und eine Pritsche für den Diener, einen Tisch an der Seite mit einer Schüssel und einem Wasserkrug darauf und eine Girlande über der Tür. Auf der Bank lag ein Tablett mit Krimskrams, darunter ein Ball aus leuchtend rotem Garn und zwei große, gekrümmte Holznadeln, ein Weinbecher, ein Schachspiel aus Elfenbein, eine Schüssel und ein Löffel, ein Bündel Rosmarin mit ein paar hellblauen Blüten unter den stacheligen Blättern und ein Schreibmesser, ein zugestöpseltes Tintenhorn und einige ungeschnittene Gänsefedern. Zwei Läden lehnten an den weiß getünchten Wänden neben einer einzelnen Schießscharte. Draußen war Tag. »Wo bin ich?«, wiederholte Zacharias, aber Eigio blieb stumm und antwortete nicht auf seine Fragen, gab ihm lediglich grauenhaft süßen Met zu trinken. Er schlief, und als er wieder aufwachte, war es dunkel. Nur eine einzige Kerze erhellte das Zimmer, tauchte den blonden Kopf des Edelmannes, den Eigio Presbyter Hugh genannt hatte, in ein goldenes Licht. Der Presbyter hatte die Bank an den Seitentisch herangezogen, auf den eine schräge Schreibplatte gelegt worden war. Der Stift erzeugte beim Schreiben auf dem Pergament ein kratzendes Geräusch, während er eif80 rig arbeitete, ganz und gar darauf konzentriert, eine Kopie eines Schriftstücks anzufertigen, das außerhalb von Zacharias' Blickfeld lag. Er war ein bemerkenswert gut aussehender Mann, hatte ein Gesicht, das vom Licht geschätzt wurde und Frauen sicherlich zu Ohnmachtsanfällen trieb, und mit den üppigen goldenen Haaren und dem wohlproportionierten Körper sah er eher wie ein Engel als wie ein Mensch aus. Augenblicklich wusste Zacharias, wer dieser Mann war, und daraufhin wusste er auch, wo er sich befinden musste. »Bin ich in Darre? Wie bin ich hergekommen?« Hugh legte den Stift beiseite und kratzte mit dem Schreibmesser einen Tintenklecks weg, ehe er sich zu ihm umdrehte und ihn mit dem gleichen nachdenklichen Gesichtsausdruck musterte, den er zuvor gehabt hatte. »Ich habe die halbe Nacht an Eurem Bett gewacht, Bruder Zacharias. Habt Ihr gewusst, dass Ihr im Schlaf ziemlich viel redet? Doch auf eine solch unzusammenhängende Weise, dass ich sehr verwirrt bin. Was könnt Ihr mir über Prinz Sanglant sagen?« Fast wäre er mit Hathuis Anschuldigungen herausgeplatzt, aber er hielt sich zurück. Er war hilflos und allein. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, sich Feinde zu machen. »Ich habe Prinz Sanglant verlassen, um Bruder Marcus zu dienen. Er hat mir versprochen, mich in die Geheimnisse der Mathematiki einzuweihen.« »Hat er das?« »Das hat er! Er hat angefangen, mich über die Bewegungen der Himmel und die herrliche Architektur der Welt zu unterrichten. Wenn ich diese beherrsche, will er mir beibringen, wie man die Kronen webt. Das hat er mir versprochen.« »Tatsächlich!« Hugh warf einen Blick zum offenen Fenster, sah ihn aber kurz darauf wieder an. »Stattdessen wurdet Ihr von einer grauenhaften Kreatur gestochen, die man Akreva nennt, und von ihrem Gift gelähmt. Bruder Marcus hat es für 81 angemessen gehalten, Euch zu uns zu schicken, als Überbringer einer Botschaft an die Heilige Mutter.« »Wie bin ich hergekommen? Ich bin doch in Darre?« »Bruder Lupus, so scheint es, hat Marcus verlassen. Er hätte die Nachricht überbringen sollen, aber da er abwesend war, hat Marcus sich entschieden, Euch zu schicken. Was ist passiert, dass Bruder Lupus seine Pflicht aufgegeben hat?« »Ich habe keine Ahnung, Eure Exzellenz.« »Ihr habt keine Ahnung, wer Bruder Lupus ist?« »Ich habe keine Ahnung, warum er die Gruppe verlassen hat, Eure Exzellenz. Er ist eines Nachts weggelaufen, als wir in einer Herberge in Qahirah übernachtet haben. Das ist alles, was ich weiß.« Sein sanftes Lächeln brachte Zacharias zum Zittern, und diese Bewegung brachte eine weitere Bewegung hervor, denn seine Hände verkrampften sich und seine Füße zuckten. Es war eine Warnung. Wenn er diese Lähmung überlebte, wenn sie wieder verging, konnte er vielleicht fliehen. Er hegte schließlich keine Loyalität gegenüber Wulfhere. »Wir haben uns in eine Herberge begeben, in der Bruder Lupus vor vielen Jahren schon einmal gewesen ist.« »Er ist zuvor in Qahirah gewesen?« »Das hat er gesagt. Ich weiß nicht, wieso. Der Wirt hat ihn erkannt. Bruder Lupus hat ihm vor vielen Jahren
einmal einen Gefallen getan, daher sind wir sehr gut behandelt worden und haben ein großartiges Festmahl erhalten und schmackhaften Wein, so viel wir trinken wollten. In dieser Nacht musste ich aufstehen, um den Abort zu benutzen. Als ich zu meinem Bett zurückkehren wollte, hörte ich zufällig eine Unterhaltung zwischen Bruder Marcus und Schwester Meriam. Marcus hat Bruder Lupus nicht mehr vertraut. Er war der Meinung, er hätte zu lange in der Gesellschaft von Prinz Sanglant verbracht und wäre nicht willens, unter die Fittiche der Kirche zurückzukehren. Schwester Anne hatte befohlen, dass Bruder 82 Lupus zu ihr zurückkehren sollte, wenn wir erst einmal die Krone gefunden hätten, die jenseits des alten Kartiako liegt. Am nächsten Morgen stellten wir fest, dass er weg war. Vielleicht hatte er diese Unterhaltung ebenfalls gehört. Vielleicht wusste er, dass sie ihm misstrauten, und ist deshalb geflohen.« »Wenn dem so ist, scheint es, als wäre ihr Verdacht richtig gewesen. Wulfhere.« Er sprach den Namen so genüsslich aus, als würde er einen süßen Wein genießen. »Es scheint, als wäre das Misstrauen des Königs ihm gegenüber berechtigt.« So sprach der Mann, der Hathui zufolge den König verdorben hatte, indem er einen Daemon in seinen Körper geschickt hatte! Zacharias hielt den Mund. Es war mühsam, nicht mit dem Vorwurf herauszuplatzen, nur um einfach Hughs Reaktion zu sehen, aber sein Instinkt warnte ihn. Hugh war nicht Bulkezu, er war anders, und er wusste noch nicht, ob das zum Besseren oder Schlechteren war. »Seid Ihr ein Mathematikus?«, fragte er stattdessen. »Könnt Ihr mich unterrichten, jetzt, da ich nicht mehr mit Bruder Marcus reise? Er hat versprochen, dass ich Unterricht erhalten würde, wenn ich mich seiner Sache anschließe.« »Ist das Euer Wunsch, Bruder Zacharias ? Unterrichtet zu werden?« »Ja! Mehr als alles andere!« »Und doch habt Ihr mir noch nicht gesagt, was Ihr über Prinz Sanglant wisst. Und über diesen Adler namens Hathui. Ihr habt ihren Namen im Schlaf gesprochen. Was wisst Ihr über sie? Habt Ihr sie vielleicht gesehen? Sie war einmal König Henrys vertrauteste Beraterin, aber es geht das Gerücht, dass sie Helmut Villam nach einem Streit unter Liebenden umgebracht hat und danach geflohen ist.« Wie schwer es war, still zu bleiben. Aber Zacharias hielt den Mund. Er kämpfte und zuckte innerlich, aber er hielt den Mund. »Jemand, der mir Informationen über diesen Adler bringt, 83 über Hathui, würde als vertrauenswürdiges Mitglied in meinen Haushalt aufgenommen werden. Ein solcher Mensch könnte davon ausgehen, in jedem Bereich unterrichtet zu werden, der ihn interessiert. Sogar als Mathematikus. Denn ich bin ein solcher. Ich könnte ihn als Schüler aufnehmen. Ich könnte ihm beibringen, die Kronen zu weben, und noch vieles mehr.« Um den Preis, dass er seine Schwester verriet. Hatte er nicht einmal gesagt: »Ich würde alles tun für die Person, die mich unterrichtet«? Er schloss die Augen und hielt den Mund, obwohl er wusste, dass sein Schweigen ihn verriet. Wunsch und Treue stritten miteinander, aber die Treue gewann, und er besaß keine gewandten Worte, die ihm halfen, sich aus dieser Klemme herauszuwinden. Er hatte möglicherweise gerade das verloren, was er sich am meisten ersehnte - die Geheimnisse der Himmel kennen zu lernen -, und doch spielte es keine Rolle. Er hatte Hathui verlassen, aber er würde sie nicht verraten. Niemals. »Nun«, sagte Hugh, »ich werde Euch Zeit lassen, darüber nachzudenken.« Er stöpselte das Tintenhorn zu, reinigte die Feder und ordnete seine Schreibarbeiten, ehe er ging. An seiner Stelle kehrte Eigio zurück, blies die Kerze aus und legte sich dann zum Schlafen nieder. Zacharias lag in der Dunkelheit da und lächelte, als er erkannte, was ganz unerwartet in seinem Herzen erblühte: Frieden. Hathui hatte ihm vorgeworfen, niemals mit irgendetwas zufrieden zu sein, aber jetzt war er zufrieden. Er hatte Elene gerettet, trotz seiner Angst. Er war im Gedenken an das Band zwischen ihm und Hathui standhaft geblieben. Waren dies nicht die Taten eines guten Mannes ? Eines anständigen Mannes? Eines mutigen Mannes? 84 Am nächsten Morgen lehnte Eigio ihn gegen die Mauer, und er stellte erfreut fest, dass er die Arme gut genug bewegen konnte, um selbstständig etwas Haferschleim zu essen. Er war gierig. Er hatte so viel Gewicht verloren, dass er nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien, und als er sich hinzustellen versuchte, hatten seine Beine nicht genügend Kraft, um ihn aufrecht zu halten. Noch ein paar Tage zuvor hatte er nicht einmal schlucken oder sprechen können. Wenn er jetzt aß und sich ausruhte, würde er seine alte Kraft bald wieder zurückgewinnen. Die Mahlzeit am Nachmittag - Haferschleim und Wein - machte ihn überaus schläfrig. Er döste immer wieder ein und wachte auf, weil seine Haut abwechselnd brannte und sich dann wieder eiskalt anfühlte und seine Zunge wie geschwollen wirkte und ihm Übelkeit bereitete. Die Nacht kam und ging, während er mit kribbelnden Händen und benommenem Kopf immer wieder einschlief und wach wurde. Das Licht kehrte zurück, und er lag auf seinem Bett und versuchte sich zu bewegen, aber seine Glieder fühlten sich so schwer an wie Stein, und
seine Zunge klebte am Gaumen. Presbyter Hugh tauchte plötzlich auf, strahlend in seinem Hofgewand und einem scharlachroten Umhang, der wie Wasser hin und her wogte, wenn er sich umdrehte. »Gib ihm das Gegengift und bring ihn dann zu mir«, sagte er und ging weg. Eigio flößte ihm etwas sauren Wein ein. Die Hälfte floss seine Wangen hinunter und tröpfelte über sein Kinn, aber der Diener wischte ihm das Gesicht ab und zog ihm ein schlichtes Gewand an, eines von der Art, in dem man einen armen Mann beerdigen würde. Er konnte sich nicht bewegen. Bedienstete kamen herbei und rollten ihn auf eine Trage. Ruckelnd wurde er durch die Halle getragen, Treppen hinunter, hoch und wieder hinab und in solch verrückten Kehren, 85 dass er ganz benommen wurde. Galle brannte in seiner Kehle, aber er konnte sie weder hinunterschlucken noch hinauszwängen. Er konnte nicht einmal blinzeln, sondern musste nach oben auf manchmal schlichte, manchmal kunstvolle Holzarbeiten starren, einmal sogar auf ein Stückchen strahlend blauen Himmel, bis das Ruckeln ihn zu einer Arkade brachte, die von einem Ozean murmelnden Wassers umgeben war. Aber es war nur das Gemurmel von Menschen, denn die Bediensteten trugen ihn an unglaublich vielen Leuten vorbei, deren Gesichter genauso kurz in seinem Gesichtsfeld aufflackerten wie die Cherubinen, mit denen die Gewölbe über ihm bemalt waren. Eine riesige Menschenmenge hatte sich hier versammelt, aber wo genau er war und wieso die Menschen alle hier waren, das wusste er nicht. Sie gingen unter einem Türsturz hindurch und kamen zu einem Platz, der voller Frauen und Männer war und nach ihrem Schweiß und nach Kopfschmerzen verursachendem, beißendem Weihrauch stank, der hinter seine tränenden Augen drang. Das Dach entfernte sich von ihm, schwang sich zu einer unmöglichen Höhe auf, von der aus feierliche Engel und düstere Heilige mit riesigen Augen und glühenden Händen und Köpfen herabstarrten. War er nun doch gestorben und in der Kammer des Lichts angekommen? Flüsternde Stimmen drangen an seine Ohren, als die Bediensteten ihn durch die Menge trugen. »Da! Das ist der Krüppel, den sie vor einem Monat gefunden haben.« »Er kann weder reden noch sich rühren, der Arme. Und doch lebt er.« »Es heißt, er wäre vom Feind besessen.« Männerstimmen erhoben sich im Gleichklang. 86 Der Engel sprach zu dem Erwählten: Frohlocke! Empfange das Licht, denn der Ruhm Gottes erleuchtet dich. Frohlocke! Eine Kuppel öffnete sich über ihm, und der Luftzug war so stark, dass er kaum die gemalten Figuren erkennen konnte, die gütig zu ihm herabblickten - zu ihm, der der Kleinste und der Geringste war. Die Leute starrten ihn an, aber seine Träger ließen sich nicht beirren, und so wurde er unter der Kuppel hindurch weitergetragen, bis unter einen niedrigen Bogen der Apsis. Hier waren weniger Menschen, und er wurde inmitten einer Gruppe von in leuchtende Gewänder gehüllten Edelleuten auf den Boden gelassen. Einer von ihnen stand mit dem Rücken zu Zacharias; das durch ein großes Fenster fallende Licht säumte seine Gestalt. Er drehte sich um. Die Sonne machte Zacharias ganz benommen, als der Mann neben ihm niederkniete. Er war in Gold gekleidet, und die goldenen Stoffe waren mit Edelsteinen bestickt; eine schwere Goldkrone saß auf seinem Kopf, und ein Goldreif schmückte seinen Hals. Er hatte braune Haare mit Silbersträhnen darin und das ruhige, gut aussehende und bärtige Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren. Er war tatsächlich so herrlich wie die Sonne. Immer wieder schwammen Gesichter von oben in Zacharias' Blickfeld und verschwanden wieder: eine hübsche junge Frau mit einer Krone und in einem Gewand, das genauso prächtig war wie das des knienden Mannes; Presbyter Hugh; eine in Weiß gekleidete Frau mit einem zierlichen Goldreif um den Hals und einer bestickten, goldenen Kappe, die ihre Haare verbarg. Der Chor verstummte. Stille erzitterte im Luftzug. Der gekrönte Mann zog sanft eine rote Gartennelke über Zacharias' Lippen und dann einen kitzelnden Eibenzweig. 87 »Wenn Gott diesem Tag Ihr Wohlwollen schenken«, sagte er mit einer so kraftvollen Stimme, dass sie ganz sicher bis in die hintersten Reihen drang, »wenn der Herr und die Herrin freundlich auf die Geburt dieses neuen Heiligen Reiches blicken, bitte ich Sie, dass Sie diesen armen Unglücklichen heilen mögen. Mein Kuss soll für ihn der Atem des Lebens sein.« Er beugte sich herunter und küsste Zacharias auf die Lippen. Er roch so stark nach einem berauschenden Parfüm, dass es in Zacharias' Nase kitzelte und er ganz plötzlich und völlig ungebeten niesen musste, gerade als der gekrönte Mann sich zurücklehnte. Ein hörbares Keuchen ging durch die Menge. »Fangt ihn! Fangt ihn!«, rief eine Frau aufgeregt. »Der Dämon ist ausgetrieben!«
Zacharias brannte am ganzen Körper, als er zu dem gekrönten Mann hochstarrte. Oh Gott, so herrlich und stolz wie er war, konnte es sicher nur einer sein. Der Mann, den Hathui mehr als alle anderen achtete. Ihr König. Zacharias versuchte sich zu rühren und stellte fest, dass seine Glieder ihm jetzt gehorchten. Der gekrönte Mann erhob sich, und Zacharias stützte sich auf die Ellbogen, so dass er sich mit unglaublicher Anstrengung ein bisschen erheben konnte. »Eure Majestät!«, sagte er heiser. »Er spricht! Er spricht!« »Ein Wunder! Der Kaiser hat ihn geheilt!« Stimmen schallten durch die Kathedrale, ein wahres Getöse aus lauten Rufen und fröhlichem Weinen. König Henry starrte ausdruckslos auf Zacharias herunter. Sein Blick war immer noch genauso ruhig, aber plötzlich bemerkte Zacharias, dass die Augen des Königs zuerst grün wirkten, dann blau und schließlich wieder grün, als wäre er sowohl er selbst als auch ein ganz anderes Wesen. 88 Hathuis von seelischer Qual zeugende Behauptung stahl sich in seine Gedanken, denn dank seines hervorragenden Gedächtnisses hatte er natürlich nichts von dem vergessen, was sie zu Prinz Sanglant gesagt hatte - auch wenn es schwierig war, überhaupt zu denken, bei so viel Lärm um ihn herum und angesichts der vielen Menschen, die sich näher heranschoben und ihn anstarrten, die das Wunder anstarrten. »Schafft ihn weg«, sagte Hugh, dessen Stimme in dem Geschrei fast unterging. Die Trage ruckelte, und er wurde in die Luft gehoben, streckte die Arme aus und keuchte. »Eure Majestät! Eure Majestät!« Sie schoben ihn an den aufgeregten Leuten vorbei und eilten durch eine Nebentür und durch Korridore und Höfe, achteten nicht auf seine Bitten, ihn herunterzulassen, damit er zum König zurückkehren konnte, der jetzt kein König mehr war, sondern Kaiser. Und die ganze Zeit über hörte er, immer schwächer werdend, den Lärm der Menge und als Kontrapunkt dazu eine Hymne. Stimmt ein neues Loblied an! Legt den alten Mann nieder und nehmt den neuen an. Ehre! Ehre! Ehre! Sie gelangten schließlich in ein ruhiges Zimmer, dessen Fenster offen standen. Sonnenlicht strömte herein und beleuchtete die Wandmalereien. Sie legten ihn in einer Ecke hinter zwei hübschen Stühlen, die auf einem niedrigen Podest standen, auf eine Pritsche, zogen einen Vorhang zu und ließen ihn abgesehen von zwei Wachen bei der Tür allein. Dort weinte er, ohne dass er genau hätte sagen können, aus welchem Grund. Ein Wunder! Vielleicht weinte er wegen der Lüge. 89 3 Starkhands Schiff kam an einem ruhigen Tag im späten Frühling im Rikin-Fjord an. Diakonissin Ursuline war bei jenen, die ihn am Strand begrüßten; sie sah wohlbehalten und gesund aus, so wie alle, die auf den Feldern und Weiden gearbeitet hatten. »Mein Herr«, sagte sie und neigte respektvoll den Kopf. Er hatte gelernt, die verschiedenen Gesichtsausdrücke der Menschen zu deuten, und es schien, als wäre sie aufrichtig erfreut, ihn zu sehen. »Wir haben von Eurem Sieg in Alba gehört. Ich bitte Euch darum, dass einige der jungen Leute, die ich in den Weisen Gottes unterrichte, in dieses Land geschickt werden, um jenen das Licht zu bringen, die dem Feind huldigen.« »Die Königin von Alba ist tot«, bestätigte er, »und auch ihre Erben sind es. Wenn dort noch Baumzauberer übrig sind, müssen sie in die Wildnis und ins Hochland geflüchtet sein. Ich möchte dich nicht verlieren, Diakonissin, denn du hältst hier an meinem Geburtsort den Frieden aufrecht, aber wenn du irgendwelche Schüler nach Alba schicken möchtest, werde ich dafür sorgen, dass sie mit den nächsten Schiffen segeln, die sich dorthin aufmachen.« »Ihr seid sehr großzügig, mein Herr.« »Vielleicht. Wenn der Glaube an deinen Gott das Volk von Alba gehorsam macht und gedeihen lässt, ist es die Mühe wert, sie diesem Glauben zuzuführen.« »Es stimmt, dass gute Taten besonders fruchtbar sind, wenn sie aus einem rechtschaffenen Herzen kommen, aber Ihr tut das Werk Gottes trotz Eurer Ungläubigkeit, mein Herr.« Sie sah an ihm vorbei auf die Gruppe von Geistlichen, die gerade über eine Rampe das Boot verließen. »Es scheint, als hättet Ihr selbst ein paar Geistliche mitgebracht, mein Herr. Was sind das für Leute?« 90 »Sie sind gekommen, um die Weisheit der WeisMütter zu suchen, auch wenn ich nicht glaube, dass sie verstehen, was sie dort finden. Heiße sie willkommen, Diakonissin, und gib ihnen zu essen. Ich muss der AltMutter Bericht erstatten.« »Oh.« Sie nickte. »Sie wird froh sein, ihn zu erhalten, mein Herr.« Er war schon einen Schritt weggegangen, doch ihre Stimme und die seltsamen Worte brachten ihn dazu, sich noch einmal umzudrehen.
Sie hatte damit gerechnet. »Wir haben dieses Land gut verwaltet, mein Herr, wie Ihr selbst sehen werdet, und haben Euch treu gedient. Ihr seid lange Zeit weg gewesen, und daher habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, mit AltMutter zu sprechen, wenn ich Fragen habe.« »Das hast du getan?« »Wir haben so viel voneinander zu lernen.« »So wie ich, wie es aussieht.« Sie blickte ihn scharf an und schob ihren Schal selbstbewusst nach hinten. Obwohl ihr Gesicht und ihre Hände sauber waren, hatte sie Schmutz unter den Fingernägeln, und der Saum ihres Gewands war fleckig, als wäre sie gerade aus dem Garten gekommen. »Missfällt es Euch, mein Herr?« Ihr Ton war alles andere als unterwürfig. Ganz im Gegenteil. Er bleckte die Zähne, so dass sie einen winzigen Augenblick aufblitzten, und genoss das Vergnügen zu sehen, wie ihre Augen sich bestürzt weiteten. Einen Herzschlag später umspielte ein ironisches Lächeln ihre Mundwinkel. »Hätte AltMutter nicht mit dir sprechen wollen, hätte sie dir niemals erlaubt, einen Fuß in ihre Halle zu setzen«, antwortete er. »So sei es also.« Doch als er sich auf den Weg zu AltMutters Halle machte, dachte er über ihre Worte nach. Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, dass AltMutter mit derjenigen sprach, die bei den Weichen selbst so etwas wie AltMutter war, so schwach 9i diese auch sein mochten. Dennoch beunruhigte es ihn. Kein Sohn des Stammes betrat AltMutters Halle ohne ihre Einladung, und eine solche Einladung erhielten nur diejenigen Söhne, die anführen, Nachkommen zeugen oder sterben würden. Er hatte noch nie gehört, dass irgendwann in all den Jahren, seit die FelsenKinder auf Erden wandelten, eine Alt-Mutter mit den Menschen gesprochen hätte. Wieso jetzt? Die RaschTöchter hatten ihn dank der Wachfeuer kommen sehen, die entlang des Fjords brannten, um die Einwohner vor herannahenden Schiffen zu warnen, und sie hatten sich vor der Halle versammelt, um ihn zu begrüßen. Er hatte die Schönheit ihrer Gestalten vergessen, oder vielleicht hatte er sie nie richtig zu schätzen gewusst. Ihre Haare schimmerten mit dem Glanz von Erz, und dieser Glanz webte Adern aus Licht auch in ihre Haut, so dass die Mittagssonne sie zum Leuchten brachte. Sie bewegten sich mit einer Anmut, die die meisten Menschen mit ihren unbeholfenen, plumpen Gliedern nicht nachahmen konnten, und die kalten Lippen und strahlenden Augen waren überaus ausdrucksvoll. Doch wie seine Verwandten waren sie, so weit er wusste, namenlos; im Gegensatz zu den meisten Menschenfrauen würden sie niemals selbst Kinder zeugen und eine eigene Brut hervorbringen. War dies nicht die Schwäche der FelsenKinder, die in so vielerlei Hinsicht stärker waren? Die Menschen würden sie zahlenmäßig immer übertreffen. Er trat über die Schwelle in die riesige Düsternis von AltMutters Halle mit den seltsamen Sternen, die über ihm glitzerten, obwohl die Halle doch ein Dach besaß. Während er nach vorn ging, verwandelte sich der festgetretene Erdboden unter seinen Füßen in harten Fels. Ein Abgrund gähnte vor ihm, und er wagte nicht, sich AltMutters Platz weiter zu nähern. Ein Winterwind kühlte sein Gesicht und seinen Rumpf, wehte aus unermesslicher Tiefe zu ihm herauf. Eis bildete sich auf seinem Zopf und bedeckte seine Lippen. 92 Ihre Stimme klang kratzig. »Du bist kühn, Starkhand. Du führst deine Schiffe aufs Meer hinaus und kämpfst darum, andere Länder zu besitzen als diejenigen, für die du geboren wurdest. Du zwingst die vielen Häuptlinge dazu, vor einem einzigen Führer niederzuknien, der du selbst bist. Du suchst sowohl das Leben als auch den Tod. Du lädst Zauberer in deine Heimat ein, die sich nicht das Geringste aus uns machen, obwohl es ihre Art war, die uns das Leben gegeben hat. Wohin werden diese Pläne führen?« »Das bleibt abzuwarten. Ich benutze die Werkzeuge, die ich finde.« »Aber gefährdest du nicht deine eigenen Pläne, indem du Fremden hilfst?« »Vielleicht. Ich werde das Risiko eingehen. Sie sprechen von einer großen Umwälzung, die von ihren uralten Feinden in Gang gesetzt wurde, die sie Aoi nennen - die Verlorenen.« Ihr Schweigen ermutigte ihn weiter zusprechen, doch kam es ihm so vor, als wäre sie nicht allein, als würden sehr viel mehr anwesend sein und zuhören, während er sprach. »Sie suchen eine Steinkrone in diesen nördlichen Landen, durch die sie eine Beschwörung zu weben versuchen, die sich von den Ländern im Norden bis zu denen im Süden und von Osten nach Westen erstreckt.« »Sie werden finden, was sie suchen«, erwiderte sie. »Doch es wird nicht das sein, was sie erwarten.« »Sie behaupten, nur Wissen und Weisheit zu suchen, aber ich kann spüren, dass sie auch Macht suchen.« »Was das angeht, so folgst du dem Pfad der Menschen, Starkhand. Sei vorsichtig.« »Das bin ich.« »Du hast eine Frage.« Ihre Bemerkung verblüffte ihn, aber er war klug genug, um nicht zu versuchen, AltMutter zu täuschen. »Wieso hast du deinen Söhnen keine Namen gegeben?« 93 »Weil sie nie danach gefragt haben.«
»Jetzt tun sie es.« Der schneidende Wind beruhigte sich schlagartig und erstarb. Er sah nichts, nur Dunkelheit, aber AltMutters Anwesenheit umhüllte ihn. »Ein unentrinnbarer Sturm zieht auf, Starkhand. Dies wissen meine Schwestern und ich. Bereite dich und jene, die unter deinem Schutz stehen, darauf vor. In diesem Sturm wurden vor langer Zeit die FelsenKinder geboren. Die Mütter unserer Stämme wollen nicht, dass unsere Kinder umkommen, sondern dass sie überleben, wenn der Sturm zurückkehrt.« »Was muss ich tun?« »Tritt vor.« Er war zu klug, um ihr nicht zu gehorchen. Beim nächsten Schritt stürzte er in die Kluft, und er fiel hinunter und hinunter in tiefe Schwärze. gehen und gehen und gehen und dann eine Pause, um beim Gemurmel des Verrückten, das seine Träume heimsucht, unruhig zu schlafen, und dann wieder aufstehen und weitergehen, eine hoffnungslose Aufgabe, die weder Anfang noch Ende hat, und immerzu dreht sich das Rad unter seinen Füßen, während er endlos weitergeht und nirgendwo ankommt, und das Rad rumpelt herum und herum, bis er sich an gar nichts mehr erinnert, abgesehen von diesem dunklen Loch und dem unaufhörlichen Drehen des Rades. Jedes Mal, wenn er in den Schlaf sinkt, erzählt der Verrückte, der sich mühsam im Geschirr dahinschleppt, eine so schlimme Geschichte von Blut, Furcht und Wut, dass Bilder seine Träume vergiften, bis er nur noch Feuer sehen kann und Tränen, obwohl manchmal kurz Überraschung darüber in ihm aufflackert, dass er überhaupt sehen kann, wenn auch nur in seinen Träumen. »Nein, nein, ich bitte Euch, mein Herr, lasst sie in Ruhe, sie 94 ist noch jung und unschuldig, meine Tochter, bitte, sie hat niemandem etwas getan, oh Gott, das Blut, nein, Ihr müsst hinsehen, Ihr werdet hinsehen, ich werde Euch töten, seht Euch das Baby an, seht ihr Gesicht an, ich bin froh, dass er tot ist, was habt Ihr mit ihr gemacht?« Das Wasser, das aus der Tiefe heraufgeholt wird, um den Schacht unter ihnen trocken zu halten, ergießt sich endlos in den Graben, von dem aus es in einen Teich fließt, wo das nächste Rad es auf die nächste Stufe befördert und so immer höher, nie endet der Strom, er dreht sich immer weiter und ergießt sich aufs Neue. »Nein, geh nicht da hin, ich werde ihn töten, ihm seine Eier abschneiden und wieso auch nicht, sieh nur das ganze Blut, ich hasse dich, mein armes Mädchen, denn es wird niemanden mehr zurückbringen, töten werde ich dich, töten, töten, töten.« Er fällt, denn dieses Loch hat keinen Boden, es geht einfach weiter und weiter, und eines Tages erreicht der Schmerz des Verrückten seine Zunge, und es regt sich dort etwas, für das er keinen Namen mehr hat. Er spricht, aber seine Stimme ist rau, weil er sie so lange nicht benutzt hat. »Wieso verzweifelst du?« Eine schreckliche Stille folgt seinen Worten; nichts ist zu hören, abgesehen von dem Rumpeln des Rades und dem Plätschern und Gurgeln des Wassers und dem Echo der Räder über ihm, die sich ohne Unterlass drehen. Stille. »Wer bist du?«, fragt der Verrückte, ohne dass er aufhört, auf dem Rad zu gehen, das unter seinen Schritten stöhnt und so hart ist wie das Schicksal. »Was ist mit dem Stummen passiert?« »Ich weiß es nicht.« »Haben sie einen Neuen hier runtergebracht? Ist der 95 Stumme gestorben? Bist du ein Spion für sie und gekommen, um mir meine Geheimnisse zu entlocken? Ich weiß, wo der Schatz vergraben ist, er ist mit meinem Schatz vergraben, meiner Süßen, meiner Unschuldigen. Und wenn ich den hätte töten können, der sie beraubt hat, dann hätte ich es getan, aber er hat sich genommen, was er haben wollte, und ist wieder weggegangen, denn er war ein Edelmann, und wir sind nur der Boden, auf dem er gegangen ist. Hast du das Blut gesehen?« »Ich kann nicht sehen. Hat jemand Schaden erlitten, der dir lieb und teuer war?« »Mach dich nicht über mich lustig!«, brüllt der Verrückte und hämmert mit den Fäusten auf das Holz. Das Rad kommt mit einem Stottern zum Stehen. »Mach dich nicht über mich lustig! Ich habe sie beschützt! Sie alle! Aber was hätte ich tun können, wenn sie doch Schwerter und Speere hatten und ich nur meine Hacke und meine Schaufel, die aus Holz waren, ich konnte nichts tun, als sie vorbeigekommen sind, oh Gott, ich war hilflos, ich hatte Angst, ich habe zugelassen, dass sie das Mädchen nehmen, aus Angst vor dem, was sie uns Übrigen antun könnten, obwohl sie geweint hat und sich an mich geklammert hat, und jetzt werde ich dafür bestraft, denn ich bin ein Feigling, und habe ich sie nicht mit meinen eigenen Händen getötet, indem ich nicht gegen sie gekämpft habe?« Der Verrückte weint, während oben Stimmen zu hören sind und dann die Geräusche von Männern, die herabsteigen und nachsehen wollen, was mit dem Rad passiert ist. Derjenige, der einst stumm war, erhebt sich von dem kalten Lager aus Stein, auf dem er sich ausgeruht hat, und tastet sich den Gang entlang. Auf eine seltsame Weise kann er die Mauern sehen, denn sein Körper spürt die Anwesenheit des Steins so nah, dass er sein Atmen spüren kann, jeder Atemzug dringt wie Feuchtigkeit durch seine Foren, so langsam
96 wie das Vergehen der Jahrhunderte. Es ist, als wollte der Stein zu ihm sprechen, aber seine Stimme kann ihn nicht erreichen. »Beeil dich«, sagt er, als er an seiner Wange das Aufwallen der Kälte aus dem untersten Schacht spürt. Er packt den Rand des reglosen Rades. »Du musst gehen. Sonst werden sie dich auspeitschen.« »Was machst du dir um einen Mann Gedanken, der Blut an den Händen hat? Ich bin ein Mörder! Das bin ich! Das bin ich! Ich habe ihn getötet, der das getan hat! Nicht ihn, aber seinen Diener, denn ihn konnte ich nicht kriegen! Ich habe den getötet, der sich hinterher über das hergemacht hat, was übrig geblieben war. Mehr konnte ich nicht tun. Sie war ein gutes Mädchen. Sie war ein gutes Mädchen. Mehr konnte ich nicht tun. Meine Erstgeborene. Mein Schatz.« Aber der Verrückte geht wieder weiter, er weint und heult, bis Worte und Schluchzen sich vermischen, denn es ist eine andere Peitsche, die ihn antreibt. »Oh Gott«, sagt er, während er dem Rumpeln des Rades lauscht und dem zusammenhanglosen Gemurmel des Verrückten. »Kein Wunder, dass du dich so grämst. Ich wünsche dir, dass du Frieden findest.« Es war gar keine Kluft da. Starkhand stolperte in einen Graben, und seine Füße rutschten auf Kies aus, während Wasser seine Schienbeine umspülte. Der Schock des Frühlingswassers riss ihn ins Bewusstsein zurück, und er bemerkte, wie still es geworden war - als hätte die Welt den Atem angehalten. In diese beunruhigende Stille hinein sprach AltMutter. »Wir sehen in das Herz der Erde, und wir spüren die Fäden, die die Himmel binden. Unsere Erinnerungen reichen weit zurück in die Vergangenheit, aber ein Schatten liegt über unserer Sicht. Wir sehen nicht alles. Wir sind dort blind, wo un97 sere Erinnerung am dringendsten sehen muss. Die Fäden, die Himmel und Erde weben, sind nicht willkürlich. Finde denjenigen, der in deinen Träumen lebt. Er kann sehen, wo wir nicht sehen können.« »Er ist blind! Er hat sein Gedächtnis verloren, sogar seinen Namen vergessen. Wie kann er euch helfen?« »Es ist schwer zu erkennen, wer verloren ist und wer blind. Kannst du es?« Die Frage ließ ihn innehalten. »Ich kann es nicht. Was ist mit den Fremden, die ich mitgebracht habe, den Kreispriestern? Auch sie suchen etwas.« »Meine Töchter werden sie zum Fjell führen. Dort werden wir sehen, ob sie weise sind oder dumm, ob ihre Pläne uns bedrohen oder uns helfen. Was dich betrifft, Sohn von Rikin: Finde ihn. Er hat gesehen, was wir nicht gesehen haben. Er kann uns sagen, was wir wissen müssen.« 4 Zu sehr geschwächt, um sich bewegen zu können, lag Zacharias auf der Pritsche und starrte durch eine Lücke im Vorhang auf die Malereien an der Wand. Sie zeigten Szenen aus den alten Tagen des ersten Kaiserreichs und von noch früher, so wie das Lied von Helen und die Triumphe des Sohnes des Donners. Es waren auch Szenen dabei, die er nicht kannte, von rehäugigen Frauen auf den Rücken von geflügelten Sphinxen. Weil die Diener den Vorhang nicht ganz geschlossen hatten, der ihn von den Stühlen trennte, konnte er auch einen Blick auf die Tür werfen, die zum Korridor hinausging. Das schwarzweiße Schachbrettmuster auf dem Boden machte ihn ganz benommen, und er döste ein, wurde aber abrupt wach, als er anschwellendes Stimmengewirr hörte. Die Türen 98 wurden von Wachen aufgestoßen. Leute strömten ins Zimmer. Ihre leuchtenden Gewänder und die lauten Stimmen verursachten ihm so starkes Kopfweh, dass er die Augen mit einer Hand bedeckte. Da er nicht die Kraft hatte zu fliehen, konnte er nur hoffen, im Schatten nicht weiter beachtet zu werden. Der Kaiser und seine Gemahlin betraten das Podest und setzten sich unter den zustimmenden Rufen der Menge, aber nur sehr viel weniger Leute genossen das Vorrecht, in dieser eher persönlichen Atmosphäre eine Audienz bei Henry zu erhalten. Geistliche und Verwalter versammelten sich hinter den Stühlen, und durch ihre Beine hindurch sah Zacharias zu, wie die Edelleute nacheinander vortraten, vor dem Kaiser und der Kaiserin niederknieten und ihnen die Treue schworen. Ein unaufhörliches Stimmengewirr begleitete diese Treueschwüre. Zwei Geistliche flüsterten miteinander, standen so dicht bei ihm, dass sie ihn fast traten, aber sie schienen sich nicht bewusst zu sein, dass er nur einen Schritt hinter dem Vorhang lag. »Nun, so hat die Skopos sich schließlich für den ersten Tag im Sormas entschieden, wie ich es dir gesagt habe.« »Ja, das stimmt.« Die Worte kamen widerwillig. »Dass die Strahlende Somorhas, die Glückverheißende, in Konjunktion zum Halsband des Kindes tritt, spricht für den rechtmäßigen Aufstieg des wahren Erben.« »Das stimmt, aber ich dachte, die Zeichen für den zweiundzwanzigsten Novorian im letzten Jahr wären noch verheißungsvoller gewesen.« »Damals waren noch die arethusanischen Eindringlinge auf der Halbinsel. Es hätte voreilig ausgesehen, wenn der König ein Kaiserreich beansprucht hätte, das noch nicht seiner Kontrolle unterstand. Es wäre eine Herausforderung des Schicksals gewesen.« 99
»So hat es die Skopos gesagt. Und doch - wie hätten wir oder irgendjemand sonst vorhersehen können, dass es drei Jahre dauern würde, die Banditen, Eindringlinge und Rebellen aus Südaosta zu vertreiben?« »Das ist jetzt alles Vergangenheit. Der letzte arethusanische Ketzer ist geflohen, die jinnischen Banditen sind alle tot, und Tiorno hat sich endlich ergeben. Nun, kaum spricht man vom Feind, da kommt er schon! Da sind Edelfrau Tassila und ihr Neffe. Seit ihr Bruder tot ist, herrscht sie anstelle des Jungen, aber sie will das Herzogtum für sich selbst beanspruchen und dafür sorgen, dass nach ihr ihre eigenen Kinder herrschen.« »Kann sie das tun?« »Wieso nicht? Ihr Bruder hat bis letzten Winter gegen König Henry gekämpft. Der Junge könnte wegen des Todes seines Vaters einen Groll hegen. Man kann ihm nicht trauen. Da ist dieser neue Feldzug, der dazu dienen soll, die dalmiakanische Küste von den Arethusanern zurückzuerobern. Dazu brauchen sie die Truppen von Edelfrau Tassila und ihre Loyalität. Ich habe gehört, dass Kaiserin Adelheid -« »Schscht.« In ganz anderem Ton sagten sie gemeinsam: »Eure Exzellenz.« Füße scharrten. Der Stoff ihrer Gewänder raschelte, als die beiden Geistlichen die Knie beugten und die Köpfe neigten und ihm die Sicht versperrten. »Ich bitte Euch«, sagte Hugh freundlich. »Könnt Ihr mir helfen?« »Natürlich, Eure Exzellenz! Was wünscht Ihr?« »Geht bitte in meine Gemächer. Fragt nach meinem Verwalter. In seinem Besitz befindet sich ein kleines Kästchen, das ich benötige.« »Natürlich, Eure Exzellenz!« Sie eilten davon. Zacharias sah, wie eine schöne, saubere und starke Hand nach dem Vorhang griff und ihn mit einem 100 kräftigen Ruck zuzog, so dass er im Dunkeln lag. Jenseits des Vorhangs wurden weiter Eide geschworen, aber es klang jetzt gedämpfter. Lange Zeit lag er so da, verärgert und wütend. Er hätte laufen können, aber nicht kämpfen. Er konnte schwatzen, aber er konnte sich nicht aus dem Durcheinander herausreden, in das er gestolpert war. Hathui war geflohen, weil sie keine echte Macht am Hof des Königs besaß, lediglich die Gunst des Königs, die sich jetzt gegen sie gewandt hatte. Und doch hatte er Marcus die Treue geschworen, als Gegenleistung dafür, dass er unterrichtet wurde. Seine Loyalität hätte hier liegen müssen, aber das Band mit Hathui war zu fest. Wenn er sie verriet, würde er nichts anderes sein als ein seelenloser, gefesselter Sklave im Griff der Menschen, die sie vernichten oder sogar töten wollten. Nach einiger Zeit tastete er um die Pritsche herum und rollte sich so leise wie möglich in die Lücke zwischen der Matratze und der Wand. Er ruhte sich aus. Als er wieder normal atmen konnte, stemmte er sich auf Hände und Knie und kroch zitternd und schwitzend an der Wand entlang. Er hatte noch nicht einmal die ganze Länge des Bettes hinter sich gebracht, als er zusammenbrach und scheinbar eine Ewigkeit dort liegen blieb, ehe er es erneut versuchen konnte. Der Vorhang, der die Wand verbarg, bewegte sich, als Menschen hin und her gingen. Einoder zweimal berührte er ihn sogar; die Lücke zwischen Vorhang und Wand war nicht größer als zwei Armspannen. Niemand bemerkte etwas. Er kroch weiter. Vielleicht gab es tatsächlich Wunder, oder vielleicht diente der Vorhang auch nur dazu, dass Bedienstete im Verborgenen kommen und gehen konnten. Eine Tür offenbarte sich seinen tastenden Fingern, und mit großer Mühe zog er sich auf die Knie hoch und drückte den Riegel nach oben. Sie öffnete sich 101 nach innen. Er sank in das angrenzende Zimmer und lag keuchend und benommen und voller Schmerzen da, den Kopf und den Oberkörper auf einem Teppich, die Hüfte und die Beine auf der anderen Seite der Türschwelle. Schließlich zog er sich ganz durch die Öffnung und schob die Tür mit dem Fuß zu. Der Riegel schob sich klickend an seinen alten Platz. Er streckte sich mit geschlossenen Augen aus, unfähig, sich zu rühren. Er lag einfach nur da, während seine Muskeln zuckten, und er glaubte, in den Teppich hineinzuschmelzen, dessen Fasern sich in seine Wange drückten. Ein freundlicher Windhund stupste ihn an, leckte ihm das Gesicht, und als er nicht reagierte, rollte er sich in seinen angewinkelten Kniekehlen zusammen. Vielleicht schlief er. Was er als Nächstes mitbekam, war, dass jemand seine Arme packte und ihn über den Teppich zerrte, während der Hund ergeben jaulte. Er riss die Augen auf und sah, dass der Tag vergangen war. Lampen erhellten jetzt ein Zimmer, das voller Schatten war, die zu Dingen erstarrten, die er erkennen konnte: ein Tisch aus Ebenholz, ein herrlich breites Bett mit Vorhängen darum herum, zwei riesige Kisten, eine Frau in einem goldgesäumten Gewand, die sich umdrehte und ihn mit dem schwachen Ausdruck von Überraschung auf ihrem hübschen Gesicht ansah. »Ist es der Gleiche?«, fragte sie, als die Hände seine Arme losließen, ihn umdrehten und eine Körperlänge von ihr entfernt rücklings auf den Boden legten.
»Ja, Eure Majestät. Das ist er.« Hugh trat aus den Schatten oder kam durch eine unsichtbare Tür herein. Ein Diener eilte an ihm vorbei und stellte eine Kohlenpfanne mit rot glühenden Kohlen an die Wand, dann verschwand er auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. »Ich kann nicht lange bleiben. Es muss rasch geschehen.« 102 Die Kaiserin nickte, starrte Zacharias noch immer neugierig an, aber als sie sich dem Bett näherte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, der dort schlief und den Zacharias bisher nicht gesehen hatte. Es war der Kaiser. »Oh, Gott«, flüsterte sie, als sie neben ihrem Mann zu Boden sank, die Hände zum Gebet gefaltet. »Können wir ihn retten, Vater Hugh?« »Das können wir, aber wir dürfen nicht nachlassen, auch wenn die Straße dunkel zu sein scheint. Habt Ihr ihm das Schlafmittel gegeben?« »Ja. Er ist gleich nach der Mitternachtsglocke eingeschlafen. Meine Dienerinnen werden uns nicht stören. Sie glauben, dass er und ich vorhaben, heute Nacht ein neues Kind zu zeugen, ein kaiserliches Kind, nicht nur das eines Königs und einer Königin. Den vier Wachen draußen würde ich mein Leben anvertrauen. Sie werden uns nicht verraten.« »Das müssen wir hoffen. Wenn sie es tun, ist alles verloren, denn dann wird die Skopos erfahren, was wir vorhaben.« Der Schein der Lampe beleuchtete ihr Gesicht, so dass sie jung und verletzlich aussah, aber es blieb eine eiserne Festigkeit um ihren Mund, die vermuten ließ, dass sie wild entschlossen war, einen grausamen Weg zu beschreiten. »Aosta gehört endlich Henry und mir, Vater. Henry würde nach Norden gehen, wenn er könnte. Das wisst Ihr.« »Das weiß ich.« »Aber jetzt hören wir, dass es die Bestimmung des Kaisers ist, nach Osten zu reiten, nach Dalmiaka, um Krieg gegen Arethusa zu führen. Und weswegen ? Wegen eines Steinhaufens, wie meine Spione mir sagen! Ich hatte gehofft, wir könnten diesen schrecklichen Daemon jetzt loswerden und Henry wiederherstellen.« »Das können wir noch nicht riskieren.« Eine Träne rollte ihre Wange hinunter, als sie den schlafen103 den Kaiser betrachtete. »Seht ihn Euch an, wenn er schläft! Seht dieses geliebte Gesicht!« Sie berührte zärtlich seine Wange, strich mit ihren Fingern durch seine Haare. »Ich schwöre Euch, Vater Hugh, immer mal wieder, wenn er wach wird, sehe ich hinter seinen Augen einen Schimmer von ihm. Er ist wütend. Ich schwöre es Euch. Er ist wütend, weil ihm diese Grausamkeit angetan wird. Noch dazu von jenen, die ihn am meisten lieben!« »Es war die einzige Möglichkeit, ihn zu beschützen. Die Heilige Mutter wird ihn töten lassen, wenn er nicht genau das tut, was sie will.« »Ich weiß, dass die Skopos behauptet, diese Krone aus umgestürzten Steinen wäre alles, was die Welt vor einer schrecklichen Umwälzung retten würde. Dass unser Kaiserreich die Ländereien besitzen muss, in denen die Krone liegt. Also müssen wir Krieg gegen die Arethusaner führen, die jetzt über dieses Gebiet herrschen!« »Sie ist eine Frau, die nur von einer einzigen Sache besessen ist«, pflichtete er ihr bei. »Man kann Henry nicht wie einen gewöhnlichen Hauptmann hin und her schicken, nicht einmal die Skopos kann das! Er hätte darauf bestanden, jetzt nach Norden, nach Wendar zu marschieren, da unsere Aufgabe hier erfüllt und das Kaiserreich wiederhergestellt ist. Er hat die Berichte all dieser Adler gehört, er kennt die schrecklichen Entwicklungen. Hätten wir Aosta früher verlassen, wäre es für immer verloren gewesen. Jetzt aber ist unsere Arbeit hier getan, und wir können in Ruhe nach Wendar marschieren. Die Skopos kann selbst ein Heer nach Dalmiaka führen, um gegen die Arethusaner zu kämpfen. Die Chroniken berichten von Heiligen Müttern, die ihre Heere ausgeschickt haben, wie sie es wollten. Die ihre Soldaten begleitet haben. Wieso muss sie Henry zwingen, sich nach ihr zu richten?« »Ihr habt Recht.« Während Hugh sprach, trat er näher an 104 das Bett, in dem Henry schlief und vor dem die schöne Adelheid bekümmert kniete. »Wir müssen ihn auf die einzige Weise beschützen, auf die wir es können. Nun, Eure Majestät. Ich bitte Euch. Nur für diese Stunde müssen wir das wegnehmen, was ihn vor jedem Schaden bewahrt, den die Skopos ihm antun könnte. Er wird nie erfahren, dass der Schutz weggenommen wurde. Er wird niemals erfahren, dass er erneut in seinen Körper zurückgekehrt ist, sobald ich habe, was ich benötige.« »So sei es also«, murmelte sie. Sie machte das Kreiszeichen vor der Brust und ging mit einem Seufzer zum Fußende des Bettes. Hugh setzte sich neben Henrys schlafende Gestalt, während sie über ihm wachte. Die Art und Weise, in der Schatten und Licht über dem Ganzen spielten, machten es für Zacharias schwer zu erkennen, was da eigentlich vor sich ging, nur dass ein Band zwischen Hughs Fingern hindurchgeschlungen war. Er wedelte mit dieser Hand über Henrys Gesicht herum, während er Worte murmelte, und das Band wurde lebendig, wand sich in seinem Griff, als würde es versuchen, ihm zu entkommen. Wie konnte ein Band einen eigenen Willen haben ?
Obwohl Henry immer noch schlief, entspannte sich sein Körper so plötzlich, dass er seltsam anders aussah als noch einen Augenblick zuvor; dabei zuckte er weder mit der Wimper noch ließ irgendein anderes Zeichen darauf schließen, dass er wach war. Die junge Kaiserin keuchte auf, dann biss sie sich auf die Lippe, aber sie rührte sich nicht. Sie wirkte wie eine der schönsten Statuen, die Zacharias jemals gesehen hatte, eine entzückende Frau in der Blüte ihrer Jahre und strahlend in ihrem goldenen, prachtvollen kaiserlichen Gewand. Eine wahre Königin. Hugh erhob sich, durchquerte den Raum und kniete neben Zacharias nieder. Das rote Band zwischen seinen Fingern zuckte und wand sich, aber es konnte nicht entkommen. Sei105 ne goldenen Haare schimmerten, sobald das Licht auf sie fiel. Er lächelte sanft. »Was wisst Ihr über Prinz Sanglant, Bruder Zacharias?«, fragte er. »Was über den Adler Hathui?« Er war zu schwach, um wegzulaufen, aber er war stark genug, um zu schweigen. Niemals würde er sie verraten. Niemals. Hugh führte das Band an Zacharias Lippen, und mit melodischer Stimme sang er die Namen von Engeln, heiligen Kreaturen, und bat sie, zu seiner Hilfe herbeizueilen. Eine kühle Empfindung glitt Zacharias' Kehle entlang, drang durch die Nase ins Innere und bohrte sich durch seine Augen. Da war etwas in ihm. Er wehrte sich, aber er konnte nichts tun. Eine wesenlose Anwesenheit durchströmte ihn, wand sich in seine Haut, in seine Eingeweide, selbst in die Halle, in der er jede seiner Erinnerungen aufbewahrte, genau platziert und unheimlich ordentlich. »Kannst du mich hören?«, fragte Hugh. »Das kann ich«, antwortete seine Stimme. Seine Zunge formte die Worte, aber er war es nicht, der sprach. Er kämpfte, aber es war umsonst. Er war sowohl Gefangener als auch Sklave. »Sag mir alles, was du über Prinz Sanglant weißt. Wo hast du ihn zum letzten Mal gesehen ? Wie lauten seine Pläne ? Wo ist seine Tochter? Was ist mit dem Adler, der mir entkommen ist? Was weiß der Prinz? Was hat Hathui gesehen?« Der Daemon, der sich in ihm festgesetzt hatte, streifte durch seine Erinnerungen und gab mit seiner Stimme und seiner Zunge alle seine Geheimnisse preis. Jedes einzelne von ihnen. III Ein stummes Tier
1 »...Bruder Zacharias.« Mit einem großen Schreck kam er wieder zu sich: Er war frei, unbefleckt, unversehrt und allein in seinem Körper. Der entsetzliche Vorgang ließ ihn erschauern und prickelte auf seiner Haut, wie eine Million Ameisen oder tausend Wespenstiche. Es war zu furchtbar, um darüber nachzudenken. »Er kann unter dem Einfluss des Daemons nicht lügen«, sagte Hugh. »Nun. Der Adler ist mir entkommen und hat Prinz Sanglant alles verraten.« »Das stimmt«, sagte Adelheid nachdenklich. »Aber jetzt sind wir vorgewarnt und daher gewappnet.« Tränen der Scham liefen über Zacharias' Wangen. Die anderen bemerkten es nicht. Sie kehrten ihm den Rücken zu. »Wenn er Greifen und Zauberer sucht und mit ihnen nach Aosta marschieren will, hat er drei Möglichkeiten, um das Alfar-Gebirge zu überqueren: entweder über den St.-Barnaria-Pass, den Julier-Pass oder den Brinne-Pass.« »Wo liegt der Brinne-Pass?«, fragte Hugh. »Ich habe noch nie von ihm gehört.« 107 »Er befindet sich tief im Osten. Nur wenige Leute benutzen ihn, denn er führt ins östliche Avaria und die Marklande, und es gibt nur wenig Handel in dieser Richtung. Die Straße liegt oberhalb der nordöstlichen Küste und führt ins Inland nach Zuola, wo Marquesa Richildis herrscht. Sie ist uns gegenüber loyal.« Zacharias hörte, wie sie sich auf dem Teppich umdrehte. Ihre Stimme blieb kühl und gelassen, aber ihr Umherschreiten verriet ihre Unruhe. »Wir müssen an jedem der Pässe Männer stationieren, die nach dem Prinzen und seinem Heer Ausschau halten.« »Es könnte Monate oder Jahre dauern, bevor ein Heer auftaucht, wenn das überhaupt jemals der Fall sein wird.« »Dann ist das eben so. Es ist der einzige Weg, wie wir erfahren können, dass er kommt.« »Sofern er wirklich aus dem Osten kommt«, erwiderte Hugh. »Wenn er das nicht tut, ist er keine Bedrohung für uns.« »Vielleicht. Wenn er sich entschließt, in Wendar einen Bürgerkrieg zu entfachen, könnte sich der Norden gegen
Henry erheben.« »Henry wird mit der Skopos nach Osten reiten. Wenn er aus Dalmiaka zurückkehrt, haben wir eine starke Position. Dann können wir nach Norden marschieren, um seine Herrschaft in Wendar und Varre wieder zu festigen. Jetzt können wir nur die Pässe bewachen und uns vorbereiten.« Hugh kicherte. »Ihr seid eine Strategin, Eure Majestät. Das ist gut so, denn Ihr werdet diese Schlacht allein kämpfen müssen. Ich werde schon bald für das große Weben nach Norden aufbrechen.« »Wieso müsst Ihr gehen?« »Weil die Heilige Mutter es verlangt.« »Was ist mit Henry?« »Anne wird das Band nehmen. Sie wird über den Kaiser wachen.« 108 »Das gefällt mir nicht. Können wir ihn der Heiligen Mutter anvertrauen? Sie könnte alles tun, wenn wir nicht da sind. Dass wir Henry haben, ist das einzige Schwert, mit dem wir uns vor ihr schützen können.« »Es gibt vieles in dieser Welt, das uns nicht gefällt und das wir trotzdem ertragen müssen, weil es der einzige Weg ist, wie wir unser Ziel erreichen. Wir müssen so tun, als würden wir ihr vertrauen, indem wir ihr das Band geben, ansonsten wird sie wissen, dass wir ihr nicht trauen. Sie könnte zu der Überzeugung gelangen, dass wir gegen sie vorgehen wollen. Sie ist im Augenblick mächtiger, als wir es sind. Wir müssen geduldig sein. Wir werden warten. Der Tag wird kommen, wenn alles, was wir erstreben, sich fügen wird.« Zu spät suchte Zacharias nach der Tür. Er lag noch immer auf dem Rücken, und die Tür war weit weg, unmöglich weit, und doch war sie seine einzige Hoffnung. Wenn es ihm gelang, aus der Kammer zu entkommen, konnte er vielleicht jemanden warnen - irgendjemanden -, möglicherweise sogar der Skopos selbst vor die Füße fallen und seine Zunge einsetzen, um diese beiden zu verdammen, die ihn gezwungen hatten, seine geliebte Schwester zu verraten. »Also gut.« Adelheids Schritte erklangen auf dem Teppich, als Zacharias die Schultern hob, um herauszufinden, ob er sich nach hinten schieben konnte. »Werdet Ihr ihn töten?«, fragte die Kaiserin mit kühler Stimme. »Er ist unschuldig«, sagte Hugh. »Bruder Marcus hat ihm versprochen, ihm die Geheimnisse der Mathematiki beizubringen. Doch wie es steht, ist er eine Gefahr für sich und für den Kaiser, denn er weiß zu viel.« Zu spät begriff Zacharias, dass sie nicht mehr von Prinz Sanglant sprachen. Es war Hugh, der neben ihn getreten war, nicht Adelheid; sie befand sich noch immer beim Bett des Kaisers. 109 »Ist er so gebildet, dass er die geheimen Pfade lernen könnte, die nur den Mathematiki bekannt sind?«, fragte sie. Hughs hübsches Gesicht zeigte einen Ausdruck von Mitleid, aber seine Augen blieben kalt. »Es gibt vieles, das er lernen kann. Aber - nein, er ist nicht gebildet. Doch gerade deshalb, weil er weder schreiben noch lesen kann, können wir Gnade walten lassen.« Zacharias stützte sich auf den Ellbogen. Auf dem Bett schlief Henry, aber eine Steifheit in seinen Gliedern verriet, dass der Kaiser nicht friedlich schlief. Das rote Band lag über seiner Kehle und rührte sich nicht. »Werdet Ihr mich unterrichten?«, fragte er unter Tränen -und hasste sich sogleich dafür, dass er auch nur einen Augenblick seinem verzehrenden Wunsch nachgegeben hatte. »Nein! Ich will nicht von dem unterrichtet werden, der mich gezwungen hat, meine Schwester zu verraten!« »Ich werde Euch beibringen, die Kronen zu weben«, sagte Hugh geduldig. »Wenn Ihr gut lernt, könnt Ihr meinen Platz als Cauda Draconis einnehmen, wenn die Zeit gekommen ist.« Eine erbitterte Heiterkeit stachelte ihn an. »Ich werde mich nicht mit denen zusammentun, die meiner Schwester schaden wollen!« »Ich brauche alle vier Wachen«, sagte Hugh zu der Kaiserin. »Ihr könnt Euch auf ihre Loyalität verlassen?« »Sie tragen die Amulette, die Ihr für sie gewebt habt.« »Ah. Dann brauchen wir keine Angst zu haben, dass sie uns verraten könnten.« Sie ging zur Tür und sagte etwas, und vier Wachen betraten den Raum, Männer mit breiten Schultern und kräftigen Händen. »Haltet ihn fest.« Hugh drehte sich zu der Kohlenpfanne um, die vergessen an der Wand stand, streifte einen Handschuh über die rechte Hand, bückte sich und zog ein Messer aus den Kohlen. Die Klinge glühte weißrot. 110 Die Wachen drückten Zacharias auf den Boden. Er wehrte sich. »Oh Gott! Oh Gott! Ich bitte Euch, habt Erbarmen! Ich werde alles tun, was Ihr wollt! Alles, was Ihr wollt!« »Ja, das wirst du«, sagte Hugh. »Haltet ihn gut fest. Einer muss den Kopf packen.« Obwohl er schwach war, kämpfte er wie ein Löwe, der in einem Netz gefangen war, biss zu und trat um sich, kratzte die Wachen, die ihn verfluchten oder lachten, ganz wie es ihrer Natur entsprach. Sie waren stärker als er. Sie waren wie ein Schraubstock. Als sie ihn niedergedrückt und seinen Kopf wie zwischen Eisenklauen gepackt hielten, zuckte er immer noch, obwohl er sich kaum bewegen konnte. Er kämpfte, und er krümmte sich; er weinte und er bettelte, aber sie rissen ihm den Mund auf und zogen mit Zangen seine Zunge heraus, hielten sie ausgestreckt hin, während Hugh das Messer senkte. Auf seinem hübschen Gesicht
zeigte sich keinerlei Schadenfreude, lediglich der finstere Eifer eines Mannes, dem Leid tat, dass er tun musste, was notwendig war. Als die Klinge ihn berührte, explodierten Schmerz und Feuer in seinem Kopf, aber das Schlimmste war, dass er nicht das Bewusstsein verlor, wie es vor so langer Zeit bei den Qumanern gewesen war, als Bulkezu ihn verstümmelt hatte. Er spürte den Schnitt des Messers, und er schrie. Es war die einzige Sprache, die er noch besaß. 2 Sie trat als Letzte in den Bogen aus Licht, den sie zwischen Stern und Menhir gewebt hatte. Das blaue Licht, das sie umhüllte, machte sie blind gegenüber der Welt unten, während 111 es sie im gleichen Augenblick ihre Spalten sehen ließ, die Pfade, die in jedem Winkel von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft wegführten. Doch ihr Blick blieb auf einen Magnetstein geheftet, den sie hinter sich zurückließ: ihre Tochter, eine Fremde für sie, die schlafend auf dem kalten Boden lag, während Liath sich mit jedem Schritt weiter von ihr entfernte, weil sie den Funken folgen musste, die Sorgatanis Wagen beim Vorbeiziehen verursachte. Sie wagte es nicht, sie zu verlieren. So wie sie Sanglant ein zweites Mal verloren hatte. Sie erhaschte kurze Blicke auf ihn. Mit jedem Schritt entschwanden er und sein Heer mehr, und mit jedem Schritt verschwamm ihr Blick mehr, oder sein Heer wurde größer, wuchs zu einer riesigen Menge von Soldaten, denen sich zuerst zwei qumanische Banner hinzugesellten, dann vier, dann acht - eine Abfolge von Bildern, kurze Blicke in die Zukunft, während Tage oder Wochen außerhalb des Webens vergingen. Wie lange würde es dauern, ehe sie ihn wieder sah? Gefühle schimmerten in ebenso vielen Farben wie die glitzernden Sterne, die zusammengewebt waren, um die Faser ihres Seins zu bilden: das Gefühl des Triumphs angesichts der Leichtigkeit, mit der sie die Krone gewebt hatte, der nagende Zweifel, dass sie es vielleicht falsch gemacht hatte und sie an einem unbekannten Ufer stranden würden, Trauer darüber, dass sie ihre Tochter und ihren Mann wieder zurückließ, Wut auf Anne, auf die Bürde der Verantwortung, die sie auf sich genommen hatte, Begehren, das sich auf ihn richtete, aber das würde sie nur ablenken, also durfte sie so etwas nicht denken, abgesehen davon, dass er auf eine ganz besondere Art und Weise lachte, wenn »Liath!« Sie kam stolpernd auf unebenem Boden auf und sank auf ein Knie. Ein starker Arm hielt sie, als ihr schwindlig wurde 112 und ihre Beine nachgaben. Sie wäre hingefallen, wenn sie nicht jemand festgehalten hätte. »Ich bin so müde«, murmelte sie verwundert. Eine Brise fuhr durch ihre Haare, ließ ihren Zopf über die Schulter wippen. Staub wirbelte über nackte Erde. »Wo sind wir?«, flüsterte sie. Sie blickte auf. Unten, am Ende des Hangs in einem kleinen Bergtal, stand der vertraute Turm, in dem sie so viele Monate lang gelernt hatte. Es kam ihr so vor, als hätte sie diesen Ort erst vor wenigen Tagen verlassen. Verna. Sie wurde ganz benommen, und ihr schwanden die Sinne. Als sie aufwachte, lag sie im Schatten eines Apfelbaums auf ihrem Umhang, während Edelfrau Bertha neben ihr saß und wurmige Stellen aus Äpfeln schnitt. Berthas gefütterte Tunika war fleckig von Schweiß. Ein Band hielt ihr die Haare aus dem Gesicht, aber die ausgefransten Enden berührten nicht ihre Schultern. »Es ist Sommer, ohne Zweifel«, sagte Bertha zu jemandem, den sie nicht sehen konnte. Liath starrte zum Laubdach des Apfelbaums hoch, an dessen Konturen sie sich aus der Zeit, als sie in Verna gelebt hatte, noch gut erinnern konnte. Sie hatten viele Äpfel von diesem Baum gegessen. Einmal hatte sie sich mit Sanglant in der Nacht hierher geschlichen, und sie hatten sich unter diesen Zweigen geliebt, während sanfte nächtliche Brisen - oder Annes gefangene Daemonen - um sie herumgetänzelt waren. Aber er war jetzt weit weg, für sie unerreichbar. Für ihn waren Monate vergangen, während sie durch eine einzige Nacht getreten war. Sie konnte es kaum ergründen, aber der Schmerz verließ sie nie, und der Apfelbaum erinnerte sie bitter an all das, was sie zurückgelassen hatte. »Wenn wir in den Bergen sind, müssen wir einen Pass fin113 den, der uns gen Norden nach Wendar oder gen Süden nach Aosta führt«, fuhr Bertha fort. Liath setzte sich stöhnend auf. »Liath!« Breschius beugte sich über sie; er hielt eine Apfelscheibe zwischen den Fingern. »Seht mich nicht so an! Es geht mir gut. Das Weben der Krone hat einfach nur an meinen Kräften gezehrt, weiter nichts.« »Wisst Ihr, wo wir sind?«, fragte Bertha. »Oh Gott, ich fürchte, ich weiß es. Wir sind zu den Ruinen von Verna gekommen. In einer einzigen Nacht sind wir von der Wildnis im Osten mitten ins Zentralmassiv des AlfarGebirges gelangt.« Bertha pfiff anerkennend. »Es stimmt, mit einer solchen Macht könnte man seine Feinde vollkommen unerwartet
angreifen. Adler könnten mit nur wenigen Schritten große Entfernungen zurücklegen.« »Abgesehen davon, dass in dieser einen Nacht Tage und Monate vergehen«, sagte Breschius, der offenbar eine Unterhaltung fortführte, die Liath durch ihr Wachwerden unterbrochen hatte. »Welche Jahreszeit ist jetzt?«, fragte Liath. »Davon hängt ab, ob wir Erfolg haben werden.« Sie legte Breschius eine Hand auf die Schulter und stand auf. Der Boden blieb ruhig, als sie ihren Blick über die Umgebung schweifen ließ: Heriberts schöne Halle war verkohlt und eingestürzt, der alte Turm war geborsten, und Steine lagen an seinem Fuß herum. Die Hütten waren niedergebrannt. Soldaten pflückten Trauben in dem Gewirr von Pflanzen, in das sich der Weingarten verwandelt hatte, der seit Jahren nicht versorgt worden war. Tannen und Fichten bedeckten die oberen Hänge des Tals, abgesehen von der Schneise, die das Feuer geschnitten hatte; dort waren nur noch die Gerippe von Bäumen zu sehen. Drei Berge türmten 114 sich darüber auf - Jungfrau, Mönchskamm und Schrecken -, deren gewaltige Höhen mehr aus Fels als aus Schnee bestanden. »Sommer«, sagte sie. Von weiter weg hörte sie das Plätschern von Wasser, das über Steine rann; viele Bäche führten hinunter in dieses Tal und nährten den zugewucherten Garten und den Teich, der sich hinter einem Hain aus grünen Buchen befand. Die Sonne stand hoch über ihnen. »Es ist Sommer«, pflichtete Bruder Breschius ihr bei. »Zumindest hat es den Anschein.« Die Soldaten hatten noch nicht das Lager aufgeschlagen, aber die Männer hatten sich den Hang und die Breite des Tals zunutze gemacht, damit die Pferde grasen und sich erholen und getränkt werden konnten. Sorgatanis Wagen stand mitten auf einem Flecken aus neuem Gras; ihre Kohorte von Kerayiten-Kriegern hatte sich wie ein Zaun aufgebaut, obwohl die Markländer offensichtlich gesagt bekommen hatten, sich fern zu halten. Liaths jinnische Diener Mücke und Moskito knieten einen Steinwurf von ihr entfernt und zitterten wie Hunde, die an einer Leine zerrten; erst als sie ihnen zunickte, ließen sie sich auf die Fersen zurücksinken, um etwas geduldiger zu warten. Sorgatanis junge Dienerin hockte im Schatten des nächsten Apfelbaums und beobachtete Liath. Hitzewellen wogten durch die Bergluft, oder war das ein wesenloser Daemon? Sie war nie in der Lage gewesen, sie zu sehen, aber jetzt bemerkte sie huschende Bewegungen. »Wir sind in der Morgendämmerung angekommen«, sagte Bertha. »Ihr habt den ganzen Morgen geschlafen.« »Wir werden bis zum Einbruch der Nacht warten müssen«, erklärte Liath. »Ich werde versuchen, mit Hilfe der Adlersicht mit Hathui zu sprechen, und danach werde ich die Sterne berechnen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir jetzt marschieren oder noch einmal die Kronen benutzen.« 115 »Wenn meine Erinnerung an die Lage des Landes stimmt, können wir kaum näher an Aosta herankommen und trotzdem unbemerkt bleiben«, sagte Bertha. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf, unzufrieden mit sich selbst. »Hätte ich mehr Erfahrung im Weben der Kronen, wären wir nicht hier gelandet. Ich habe gesehen, wie die Sternenkrone sich über das Land verteilt. Südöstlich von hier, unweit vom Ufer des Mittleren Meeres, befindet sich der mittlere Stein dieser Krone. Dorthin müssen wir gehen, denn Anne wird ebenfalls dort hingehen. Wenn wir nicht zu spät dran sind - wenn nur ein paar Monate seit unserem Aufbruch aus dem Osten vergangen sind -, haben wir noch Zeit, ein ganzes Jahr oder sogar mehr.« Breschius leckte sich die klebrigen Reste des Apfels von den Fingern. »Wir könnten durch Aosta und dann an der östlichen Küste entlangmarschieren und diese Krone suchen.« »Das könnten wir. Und wir müssten uns jeden Schritt erkämpfen, erst durch Aosta und dann in Dalmiaka, das von den Arethusanern regiert wird. Sollten wir das überleben, haben wir den Vorteil der Überraschung verloren. Und das ist unser einziger Vorteil. Ich werde die Sterne heute Nacht beobachten, während das Heer sich ausruht und vorbereitet. Morgen Nacht werden wir wieder durch die Kronen gehen.« »Ich bitte Euch, Liath«, sagte Breschius leise, »lehrt mich, wie das Datum an den Sternen abgelesen werden kann. Ich weiß, dass es Flut gibt, wenn der Drache sich in der Abenddämmerung erhebt, und dass das Kind im Herbst gegen Mittag in den Zenit steigt. Mok reitet alle zwölf Jahre um die Häuser der Nacht herum, und beim Abendstern und beim Morgenstern ist es das Gleiche, sie steigen in einem regelmäßigen Muster auf und ab. Könnt Ihr mich unterrichten?« Sie lächelte den Frater an. Das Lächeln, mit dem er antwortete, verlieh seinem Gesicht eine Lebendigkeit, die sein starkes Herz enthüllte, seinen Mut und eine gütige Wärme, die 116 ihre eigenen Wangen rot werden ließen, als sie sah, was für ein attraktiver Mann er war, wenn auch schon ziemlich alt -ganz sicher über vierzig. »Ja, Bruder. Ich werde meine eigene Schule von Mathematiki benötigen, wenn ich Anne besiegen will.« »Eine Gelehrtenschule!«, murmelte Bertha angewidert. Dann lachte sie. »Wir haben nur einen Geistlichen. Genügt das für eine Gelehrtenschule?« »Es spielt für mich keine Rolle, ob ein Schüler ein Geistlicher ist oder das Kind eines Holzfällers, Edelfrau Bertha. Ich werde jede Frau und jeden Mann unterrichten, sofern sie genügend Geduld, ein gutes Gedächtnis und die Bereitschaft zum Lernen haben.« An der Art, wie Bertha den Kopf hob, konnte Liath erkennen, dass sie die Edelfrau verblüfft hatte. »Jede Frau und jeden Mann?«
»Jede und jeden, unabhängig von ihrem Stand oder davon, was sie jetzt sind, solange sie arbeiten, denn es ist eine schwierige und trübselige Arbeit, und nur wenige werden Lust dazu haben. Versammelt in der Abenddämmerung jene, die zusehen und zuhören möchten.« »Was wollt Ihr tun?«, fragte Breschius. »Ich weiß, an welchem Tag wir die Steppe verlassen haben, denn Ihr und Heribert habt den Verlauf der Zeit während Eurer Reise gut verfolgt. Es ist möglich, dass wir bei unserer Reise durch die Kronen Monate oder Jahre übersprungen haben.« »Wie kann das passieren?« »Ich bin nur ein paar Tage im Land der Aoi gewandelt, während hier auf der Erde Jahre vergangen sind. Wenn wir die Kronen durchqueren, berühren wir den Äther, wo die Zeit anders verläuft als in der Welt unten. Ich nehme an, es muss einen Weg geben, zu berechnen, wie lange jede Durchquerung dauert. Wir wissen, wie lange es her ist, dass das Land 117 der Aoi in den Äther gestoßen wurde. Wenn wir das genaue Alter von Ältester Onkel kennen würden, könnten wir herausfinden, wie vielen Tagen oder Monaten hier auf der Erde ein Tag im Äther entspricht. Und wenn wir dann auch noch wissen, wie weit wir durch die Kronen reisen wollen, können wir vielleicht genau voraussagen, wie viel Zeit wir in den Kronen verbringen, während wir diese Entfernung zurücklegen. Es sei denn, es gibt noch einen anderen Faktor, der das Berechnen der Tage beeinflusst. Was ist, wenn die Zeit nicht konstant bleibt, wenn ein Tag im Äther nicht immer einem Monat auf der Erde gleicht, sondern sich abhängig -« »Oh Gott«, sagte Bertha lachend. »Jetzt komme ich nicht mehr mit! Was ist, wenn wir geradewegs mitten in die Umwälzung marschiert sind? Was ist, wenn sie bereits geschehen ist?« »Wenn die Umwälzung uns getroffen hätte, während wir zwischen den Steinkreisen waren, würden wir das wissen. Da die Erde und das vertriebene Land über das Band miteinander verbunden sind, hätten wir den Aufprall bemerkt. Wir haben noch Zeit. Ich muss herausfinden, welche Wandelsterne am Himmel stehen und in welche Richtung sie sich bewegen. Dann kann ich rückwärts bis zu den Stellen rechnen, an denen sie gestanden haben, als wir die Krone im Osten betreten haben. Dadurch werde ich ein ungefähres Datum erfahren.« »Die Überlieferungen der Mathematiki werden kein Geheimnis mehr sein, wenn es jeder Frau und jedem Mann gestattet ist, sie zu erlernen«, unterbrach Bertha sie plötzlich. »Was von wenigen gehütet wird, verliert seine Macht, sobald mehrere Anteil daran haben. Denkt nur daran, was geschehen könnte, wenn nicht nur die Adler die Fähigkeit erlernen, durch Feuer zu sehen. Wenn Kaufleute Zauberer anheuern, um die Kronen zu weben und es ihnen zu ermöglichen, unbehelligt von Lawinen und Wegelagerern diese Berge zu überqueren. Denkt nur an Annes Macht, die sie sehr gut ab118 gesichert hat. Wenn mehr gegen sie kämpfen würden, wäre sie jetzt nicht die Skopos, die den König an einer selbst hergestellten Kette herumführt. Amulette schützen uns vor ihrem Blick, aber sie verkrüppeln uns auch, denn wir können meine Adlersicht nicht benutzen, weil sie uns entlarven könnte. Wir können es nur riskieren, sie höchstens einmal am Tag anzuwenden, wie ich es mit Sanglant vereinbart habe. Wenn wir keine Angst hätten, wären wir nicht so schwach. Was ich sehr gut weiß, denn ich war auch einmal ängstlich und schwach.« »Ihr würdet sogar die gewöhnlichen Leute unterrichten?«, fragte Bertha. »Alle, die lernen können. Wieso nicht? Pa und ich haben sowohl unter hochgeborenen Leuten als auch unter Gewöhnlichen gelebt. Ich habe keinen großen Unterschied zwischen ihnen bemerkt. Einige haben sich für das Böse entschieden, andere für das Gute. Einige haben einen ehrlichen Weg gewählt, andere einen Weg, der mit Lügen gepflastert war. Einige waren schlau, andere hatten nicht mehr Verstand als ein Schaf. Jeder Adler könnte Euch genau das Gleiche sagen, denn sie alle sind von niedriger Geburt und folgen dennoch Wegen, die von Prinzen benutzt werden.« Bertha sah sie seltsam an. »Ihr stammt aus einem edlen Geschlecht.« »Tue ich das? Ich bin nicht Annes Tochter. Ich bin nicht Taillefers Urenkelin. Pa wurde in ein edles Geschlecht hineingeboren, das stimmt, aber ich nehme an, sie waren so etwas wie freie Bauern, die zur Zeit meiner Urgroßmütter einen Fuß in unberührtes Land gesetzt haben. Wieso sollte ich stolzer sein als Hathui? Wieso sollte ich mich über sie erheben? Mit dem Gold, das sie von den Qumanern erhalten hat, kann sie ihren Nichten und Neffen eine Mitgift geben, und wer darf sagen, dass diese, wenn sie Erfolg haben, nicht die Söhne und Töchter einer Edelfrau heiraten dürfen? Oder dass ein 119 Edelmann, der harte Zeiten durchmachen musste, seinen jüngsten Sohn nicht als Soldat in das Heer eines anderen Edelmannes geben darf, und dass, wenn dieser Junge jemals heiratet und das Glück ihm weiterhin nicht hold ist, seine Kinder nicht besser dran sind als die eines Dieners, der dem Willen eines Grafen gehorcht?« Als sie atemlos aufhörte zu reden, stellte sie fest, dass die anderen sie ansahen, als hätte sie getobt, als wäre sie eine Irre, die vor ihren Augen wild geworden war. »Ich bitte euch«, sagte Bertha, »holt ihr etwas Wein.« Mücke und Moskito sprangen eifrig auf, holten eine Flasche Wein und ein Tablett mit Brot und Käse sowie einen gerade erst gepflückten Zweig besonders süßer Trauben. Bertha ließ sie in Breschius' Obhut zurück und ging weg, um mit den Soldaten zu sprechen.
»Ich habe sie beunruhigt«, sagte Liath schließlich zu Breschius. »Das war nicht meine Absicht. Ich habe nicht nachgedacht.« »Ihr habt eine seltsame Straße bereist, Liath. Gewiss verändert die Berührung des Äthers die Sichtweise einer Person.« »Das ist in der Tat so.« Sie sah Edelfrau Bertha nach, die mit zwei Soldaten lachte. Trotzdem war sie die Herrin, während die beiden ihre Diener waren, was offensichtlich wurde an der Art und Weise, wie sie beieinander standen, an der Haltung, die sie einnahmen, als die Edelfrau eine letzte Bemerkung machte und dann weiterging. »Es gibt kein Zurück zu dem, was ich vorher war. Und ich würde es auch gar nicht wollen.« Breschius nickte zustimmend. Er schien sie nicht für krank zu halten. »Es stimmt, dass der heilige Daisan uns lehrt, dass alle Seelen vor Gott gleich sind.« »Wieso sind wir dann auf der Erde ungleich?« »Unser Rang auf der Erde ist ungleich, unsere Seelen sind es nicht. Gott haben die Welt so geordnet, Liath. Deshalb ist sie so.« 120 »Das ist keine echte Antwort, nicht wahr? Haben Gott die Welt so geordnet? Oder haben die Menschen das getan und Gott die Verantwortung zugeschoben, um ihre Taten zu rechtfertigen?« »Das grenzt an Ketzerei, Liath.« »Tut es das?« Er lächelte, und sie sah, dass er kein bisschen beleidigt war. Dies war ein Mann, der gern mit schwierigen Fragen kämpfte. »Das tut es. Ich frage Euch also: Welche andere Ordnung könnte es geben? Wie sonst könnte die Menschheit gedeihen, wenn es nicht jene gibt, die befehlen, und andere, die gehorchen? Wenn wir keine Ordnung auf der Welt haben, leben wir im Chaos und sind nicht besser als die wilden Tiere. Und sogar bei den Tieren nehmen sich die Starken, was sie brauchen, und die Schwachen sterben.« »Tiere denken nicht, nicht in der Weise, wie wir es tun«, sagte sie hartnäckig, aber sie konnte seine Frage nicht beantworten. Gott hatten die Erde so geordnet, Herrscher standen oben und Sklaven unten, und die Übrigen hatten ihre eigenen Plätze. Wie kam sie auf die Idee, das ändern zu wollen? »Trotzdem werde ich jede Person unterrichten, die zu mir kommt, egal wie ihr Rang auch sein mag«, sagte sie, während sie die saure Haut von einer Weintraube schälte und das süße Innere kostete. »Sie müssen sich nur lernwillig und lernfähig zeigen.« Er kicherte. »Jeden? Auch diese zwei jinnischen Götzendiener?« Mücke und Moskito beobachteten sie wie Hunde, die darauf warteten, die Absicht und Stimmung ihres Herrchens zu erkennen. Sie musste immer noch lernen, sie auseinander zu halten. Moskito war der mit der runden Narbe auf der linken Wange und dem fehlenden Zahn. Mücke hatte breitere Schultern, ein breiteres Gesicht, und ihm fehlte der Daumen an der rechten Hand. 121 »Würdet ihr die Fähigkeiten eines Zauberers erlernen wollen, wenn ihr die Gelegenheit dazu hättet?«, fragte sie sie auf Jinnisch. »Möchtet ihr das Wissen der Sterne beherrschen?« Sie dachten nach, sahen sich an, als könnten sie das, was der andere dachte, an einem hochgezogenen Mundwinkel oder einem Stirnrunzeln erkennen. Schließlich sprach Moskito. »Wer würde uns unterrichten, Strahlende?« »Ich würde es tun.« Wieder sprachen sie allein durch ihre Mimik miteinander, und als sie diesmal fertig waren, antwortete Mücke. »Wir würden tun, was Ihr befehlt, Herrin.« »Aber wünscht ihr es?« »Ja, Herrin«, sagten sie. Breschius lächelte, während er sie beobachtete. »Was sagen sie?« »Ich weiß nicht, ob sie mich zufrieden stellen oder wirklich lernen wollen!« »Aus diesem Grund müssen Prinzen sich gegen Schmeichler wappnen. Sklaven sind in gewisser Weise wie Höflinge, aufgrund ihrer Furcht - die mehr als begründet ist -, dass sie keine Existenz ohne die Gunst ihres Herrn haben. Deshalb weiß man nie, ob sie die Wahrheit sagen oder lügen, um sich zu schützen.« Sie lächelte. Sie mochte ihn. »Nehmt ein paar Trauben, Bruder. Ich bitte Euch, schmeichelt mir nicht, weil Ihr glaubt, dass ich es mir wünsche, denn das tue ich nicht. Ich glaube, wir sollten herausfinden, ob es in unserer Gruppe zusätzlich zu diesen zweien irgendwelche anderen geeigneten Schüler gibt. Wenn Ihr damit einverstanden seid, möchte ich, dass Ihr anderen das beibringt, was Ihr bei mir lernt. Und ich möchte, dass Ihr mein Hauptmann seid. Sofern Ihr einverstanden seid.« Er musterte sie mit beunruhigender Eindringlichkeit, als 122 würde er hinter ihrem Gesicht noch ein anderes sehen. »Wollt Ihr ein Heer aus Zauberern ausheben und Kaiserin werden?« »Ich habe nicht den Wunsch, ein Reich zu besitzen. Ich möchte nicht über andere herrschen und sie dazu bringen, das zu tun, was ich will. Ich brauche keinen Hof von Schmeichlern um mich herum! Wenn ich Anne besiegen kann, möchte ich in die Geheimnisse des Himmels und der Erde eintauchen. Es gibt noch so viel zu
lernen und zu verstehen. Das wird genug für mich sein.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen und verschwand wieder. »Ihr erinnert mich an jemanden«, murmelte er, »der mir einmal sehr teuer war.« Er neigte den Kopf, berührte die Stirn mit den Fingern in einer Geste des Respekts und sah sie direkt an. »Ja, ich möchte Euer Hauptmann sein, Herrin.« In seiner Miene funkelte ein leises Lächeln; er rieb sich den Stumpf der fehlenden Hand und drückte ihn gegen die Brust auf sein Herz. »Gerne diene ich Euch so, wie Ihr es befehlt.« Sanglant hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, still zu sitzen, aber jetzt saß er den ganzen Nachmittag im Schatten eines Baldachins, der das Einzige war, das ihn vor der heißen Sommersonne schützte. Die Bittsteller, die darauf warteten, mit ihm sprechen zu können, hatten keinen solchen Schutz, aber er hatte Hauptmann Fulk angewiesen, dafür zu sorgen, dass alle einen Becher zu trinken bekamen, auch wenn dadurch die Vorräte des Heeres geschmälert wurden. Die Geschichten, die er hörte, klangen inzwischen fast alle gleich, und trotzdem tat ihm jede einzelne Frau und jeder einzelne Mann Leid, die vor ihm niederknieten. »Ich bitte Euch, Eure Hoheit. Den ganzen Sommer ist kein Regen gefallen, und der Weizen ist auf den Halmen vertrocknet. Wir haben nichts zu essen außer Beeren und Gras und keinerlei Vorräte für den Winter.« 123 »Mögen Gott uns helfen, Eure Hoheit. Zweimal haben Banditen unser Dorf überfallen. Meine Tochter und mein Sohn sind geraubt worden.« »Meine ganze Familie ist an der Pest gestorben, Eure Hoheit, bis auf mich und meine Verwandte. Wir haben uns nicht getraut, sie zu begraben, so schlimm war es. Wir mussten unser Dorf verlassen.« »Ich bitte Euch, Eure Hoheit. Helft uns.« Obwohl er ihnen nichts geben konnte, gingen sie alle erleichtert weg, als hätte allein die Berührung seiner Hand ihre Sorgen gelindert. Als hätten die Greifen ihn dadurch, dass er sie gezähmt hatte, zu einem Heiligen gemacht. Er war schlecht gelaunt, und seine Schultern juckten unter der schweißnassen Tunika, aber er wagte es nicht, Unbehagen zu zeigen. Seine unbedeutenden Sorgen waren nichts im Vergleich zu den Leiden, die diese Leute hier hatten erdulden müssen. Das Feld, auf dem sein Heer lagerte, befand sich in den Marklanden, im Grenzland, wo niemand genau wusste, welches Gebiet unter die Oberherrschaft welcher Edelfrau oder welchen Edelmannes fiel. Die meisten Leute hier glaubten, dass sie in Ostfall lebten, aber nur wenige waren sich dessen sicher; ihre Sorgen waren unmittelbarer und so drängend, dass sie sogar ein Lager betraten, in dem zwei schimmernde Greifen hausten, von denen der eine zwar angepflockt war, der andere aber frei herumlief. »Da sind zwei adlige Familien, die eine Blutfehde austragen, Eure Hoheit. Sie haben angefangen, unsere Schafe zu stehlen, obwohl wir nur Bauern sind. Ihre Streitereien haben nichts mit uns zu tun. Könnt Ihr sie davon abhalten?« »Mein Prinz, unser Kloster ist von den Qumanern niedergebrannt und die Hälfte der Mönche getötet worden diejenigen, die nicht die Zeit hatten, sich zu verstecken. Alle unsere kostbaren Gefäße und Gewänder sind von den Barbaren 124 gestohlen worden. Wir haben die gesamte Ernte verloren, denn es war niemand da, der sie einbringen konnte.« Der Bittsteller, Bruder Anselm, kaute offensichtlich an den Nägeln, und er machte den Eindruck, als hätte er es auch jetzt am liebsten getan, als er zu dem Teil des Lagers hinüberstarrte, wo die Kriegstruppen von acht qumanischen Stämmen ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Ihre Flügel flatterten im auffrischenden Wind, der von Südosten kam, und die Banner knatterten hörbar. Gyasi stand mit verschränkten Armen direkt hinter Sanglant. Seine ausdruckslose Miene war Furcht erregender als jedes finstere Gesicht. »Entspannt Euch, Bruder«, sagte Sanglant. »Diese Qumaner dienen mir, nicht ihrem früheren Herrn. Sprecht weiter.« Der Mönch nickte etwas zu schnell und kam ins Stottern, als er fortfuhr. »W-wir leben in der Klosterruine, so gut es geht, aber diesen Sommer sind zwanzig Findelkinder am Tor abgegeben worden. Einer der Jungen war noch ein Säugling. Ihre Familien können sie zweifellos nicht ernähren. Die älteren sind gut und arbeiten eifrig, aber wir brauchen Saatgut, um den Winterweizen pflanzen zu können, und auch für den nächsten Frühling, und Vorräte, um uns über den bevorstehenden Winter zu bringen.« Es dämmerte allmählich, und der Wind türmte dunkle Wolken auf. Er hatte gerade einmal mit der Hälfte der Leute gesprochen, die hier warteten. Einige waren tagelang marschiert, um hierher zu gelangen, nachdem sie gehört hatten, dass sein Heer durch dieses Gebiet kommen würde. Vierhundert oder mehr lagerten in der Nähe, vielleicht der größte Teil der Bevölkerung des umliegenden Gebietes. Ein paar schienen darauf erpicht, sich den Truppen anzuschließen oder der Nachhut zu folgen. Viele schienen einfach nur hören zu wollen, dass jemand irgendjemand - vorhatte, sie vor dem nächsten Unheil zu beschützen. Er konnte ihnen nur wenig versprechen, aber dass er sich alles anhörte, dass er seinen 125 Fuß in dieses Land gesetzt hatte, schien den meisten zu genügen. Es schmerzte ihn zutiefst. Henry hätte Wendar niemals verlassen dürfen, um seinen Träumen von einem Kaiserreich nachzujagen. Henry wurde hier gebraucht. Einem Kaiserreich nachjagen konnte man, wenn das eigene Haus stark war, nicht wenn es wackelte.
»Mein Prinz!« Hathui trat herbei, und ihr Umhang flatterte, als eine Böe aufkam. Sie war nass geworden, aber in guter Stimmung; ein Grinsen schien ihr Gesicht fast zu zerreißen. »Ich komme mit Neuigkeiten von Walburg. Und vom Feuer.« Walburg bedeutete Villam, aber das Feuer bedeutete, dass Hathui endlich durch die Flammen mit Liath gesprochen hatte. Er winkte ungeduldig einem seiner Verwalter zu. »Der Adler soll etwas zu trinken bekommen.« Ein Soldat brachte Wein. Obwohl er bereits umgekippt und so sauer war, dass er fast nach Essig schmeckte, stürzte sie ihn in großen Schlucken hinunter, während der Wind an dem Baldachin zerrte und die Zelte und Banner seines Heeres flattern ließ. Ganz hinten in den letzten Zeltreihen, wo gerade Hathuis Eskorte ins Lager einzog, kam Unruhe auf; offensichtlich waren die neuen Rekruten aufgeschreckt worden, die sich ihm in der Zeit angeschlossen hatten, als Hathui bereits auf seinen Befehl hin den Umweg nach Walburg gemacht hatte, während er selbst weiter Richtung Südwesten marschiert war. Es fiel ihm schwer zu warten, aber er tat es; er riss sich zusammen, klopfte mit einem Fuß auf den Boden, bis sie endlich ausgetrunken hatte, obwohl es kaum länger als zehn Atemzüge gedauert haben konnte. »Was für Neuigkeiten?«, fragte er mit leiser Stimme. »Was für Neuigkeiten gibt es von Liath?« »Jeden Abend, wenn die Dämmerung hereinbrach, habe ich ein Feuer entfacht und mein Amulett abgenommen, um 126 in die Flammen zu sehen, so wie wir es verabredet hatten, aber ich habe nichts gesehen. Erst heute Nacht. Sie ist in Verna.« »In Verna!« Der Name erschütterte ihn; er trat so kräftig mit den Beinen aus, dass sein Stuhl schwankte, und Gyasi sprang vor, damit er nicht umfiel. Hathui verlagerte ihr Gewicht stärker auf das andere Knie, das nicht unter einer alten Verletzung litt. »Verna. Das hat sie gesagt. Sie hält es für wahrscheinlich, dass sie heute Nacht wieder durch die Kronen reisen.« Es ärgerte ihn, denn er hatte nicht die Fähigkeit, durch Feuer zu sprechen oder zu sehen, aber vielleicht war es auch besser, sie nicht sehen und ihre Stimme nicht hören zu müssen. Es wäre eine Qual. Sogar die Zentaurinnen fingen an, anziehend zu wirken, und er gab sich große Mühe, Frauen von sich fern zu halten. Es war die einzige Möglichkeit, das Versprechen zu halten, das er ihr gegeben hatte. »Wir marschieren seit fünf Monaten in einem anstrengenden Tempo«, sagte er schließlich, »doch sie springt mit einem einzigen Satz sehr viel weiter.« »Ja, mein Prinz. Wir haben alle unseren Weg gesucht. Hättet Ihr es gewollt, hättet Ihr durch die Kronen gehen können, aber Ihr musstet die Greifen führen und Euer Heer ausheben.« »Was ich auch getan habe. Was ist mit Villam? Ist Edelmann Druthmar mit Euch zurückgekehrt?« »Ja, das ist er. Die Stadtsoldaten, die nach Osten marschiert sind, sind wieder auf ihre Höfe zurückgekehrt. Er führt ein Heer von fünfhundert Soldaten an. Mehr konnte die Markgräfin nicht entbehren. Dies sind ihre Worte: >Mein Prinz, marschiert nach Süden, wenn es sein muss, aber beeilt Euch. Wendar leidet und wird zerbrechen, wenn Ihr wie Euer Vater zu lange in den südlichen Landen bleibt. Nehmt Euch in Acht. In den südlichen Landen sind welche, die die Gabe der 127 Adlersicht beherrschen. Sie werden Euch ausspionieren, wenn sie es können, und sich wappnen. Beeilt Euch. Bringt die Krone nach Hause und den Mantel, mit dem wieder in Frieden über Wendar geherrscht wird.<« Er schnaubte, strich mit den Fingern über den Goldreif an seinem Hals, den Waltharia ihm gegeben hatte, das Symbol seiner Abstammung vom königlichen Geschlecht. »Möchte sie, dass mein Vater über Wendar herrscht, oder ich?«, fragte er leise. Hathui lächelte. »Die Markgräfin wünscht Wohlstand und Frieden wie wir alle. Dass ihre Untertanen nicht so schlimm gelitten haben, ist ihrer weisen und vorsichtigen Führung zu verdanken.« »Was denkt Ihr, Adler? Soll ich in Wendar bleiben und das Land so gut wie möglich wiederherstellen?« Sie ließ sich nicht beirren. »Ich bin ein Adler des Königs, mein Prinz. Ich diene Henry. Es ist Henry, dessen Rückkehr ich erleben möchte. Befreit ihn, und er wird aus freiem Willen nach Wendar zurückkehren und alles in Ordnung bringen.« »Also gut. Was ist mit Vorräten?« »Zehn Wagen.« Er winkte einem Verwalter. »Bruder Anselm soll zwei Säcke Saatgut erhalten.« Der Mönch trat vor, Tränen standen in seinen Augen. »Geht sorgsam mit diesem Korn um, Bruder. Euer Kloster muss ein Zufluchtsort für all jene sein, die in schweren Zeiten leiden. Bleibt stark.« Der Mönch küsste ihm die Hand und weinte frei heraus. »Gott mögen Euch segnen, Eure Hoheit.« Der Verwalter führte ihn weg. »Der Nächste soll kommen.« Ein kräftiger Mann mit Armen so dick wie Baumstämme schlurfte nach vorn; er zog ein Bein nach. Sein Gesicht sah seltsam aus, bis Sanglant begriff, dass er keine Augenbrauen hatte. Sein Gesicht war rot, aber der Blick fest. 128 »Ich bin ein Schmied aus Machteburg, mein Prinz. Mein Name ist Johann.«
»Wie sieht es in Machteburg aus ? Es ist ein weiter Weg von dort bis hierher, wenn ich mich recht entsinne.« »Ein weiter Weg, das ist wahr, aber ich bin nach Osten gegangen, weil ich gehört habe, dass das Dorf meiner Schwester von Barbaren belagert wurde, von diesen Qumanern. Als wir angekommen sind, war nichts mehr von ihnen zu sehen. Sie waren nach Westen weitergeritten, nach Avaria.« »Und Eure Schwester?« »Lebt noch, Dank sei Gott. Ich bin hier geblieben, um ihren Leuten zu helfen, das Dorf wieder aufzubauen und Waffen zu schmieden. Ich habe wieder geheiratet, denn meine Frau ist vor zwei Jahren am Lungenfieber gestorben. Aber ich habe das hier gefunden - im Wald, wo wir Bäume für die Palisade gefällt haben.« Er gab drei Männern ein Zeichen, die daraufhin herbeikamen und mehrere Lederbeutel öffneten. Ein wahrer Schatz von Rüstungsteilen kam zum Vorschein, kleine Stücke, große Stücke und schließlich auch zwei vollständige Kettenpanzer. Der Prinz hob ein Schulterstück auf, in das ein sprungbereiter Drachen geprägt war, und drehte es in der Hand herum. Ein goldener Überwurf war gewaschen und geflickt worden, aber viele kleine Risse und Schnitte machten die schwarze Stickerei im vorderen Teil ziemlich undeutlich. Als Letztes stellten sie einen Schild auf den Boden; der Rand war zersplittert, die Hälfte des Mittelteils eingedellt, aber es war noch möglich, die Reste eines sprungbereiten Drachen zu erkennen, der dem auf dem Überwurf und dem Schulterstück entsprach. »Es hat eine Schlacht stattgefunden, mein Prinz«, sagte der Schmied. »Das hier haben wir gefunden.« »Drachen!« Seine Haut brannte an den Stellen, mit denen er die Rüstung berührte, und er ließ das Schulterstück sinken, als hätte es ihn versengt. Galle bildete sich in seiner Keh129 le. Er hatte ein Jahr lang wie ein Tier zwischen den Gebeinen seiner treuen Drachen gelebt; er hatte ihre Überreste und Rüstungsteile in der Krypta von Gent gesehen. Vor seinen Augen verschwamm alles, während er gegen Erinnerungen ankämpfte, die ihn zu überwältigen drohten. »Oh Gott! Seht nur den Himmel!« Donner krachte. »Haltet die Zelte fest!«, rief Hauptmann Fulk in der Ferne, während Soldaten zwischen den Zelten herumliefen. »Er kommt hier durch -« Eine Mauer aus dunklen Wolken, die beinahe grün wirkten, sank auf sie herab. Wind peitschte durch die Baumwipfel, und die Leute rannten davon, um in tiefer gelegene Gefilde zu gelangen. Viele warfen sich auf die Erde, als der Wind brüllend über sie hinwegfegte, und sogar Hathui hockte sich hin und neigte den Kopf, schützte ihr Gesicht mit dem Umhang. Sanglant aber blieb stehen. Die Welt mochte tausend Pfeile auf ihn abschießen; seine Feinde mochten Winde und Stürme entfachen, um ihn aufzuhalten. Aber während der Sturm um ihn herum wütete, während der Baldachin an den Seilen riss, die von Soldaten festgehalten wurden, wappnete er sich gegen den Angriff und ließ sich vom Regen überspülen. Der Wind heulte. Hagelkörner trommelten auf den Boden, und die Leute schrien vor Entsetzen auf, Pferde wieherten, Hunde bellten, die Greifen kreischten bedrohlich, und der Wind heulte weiter und weiter. Der Sturm tobte über sie hinweg wie eine gewaltige Woge. Er hatte Schlimmeres erlebt, und er würde auch noch Schlimmeres erleben. Hagelkörner prasselten auf seinen Kopf und seine Brust. Es war zu heiß gewesen, um den Umhang zu tragen, und er hatte nichts weiter als die Tunika an, aber das machte ihm nichts aus. Er vermisste Liath schmerzlich, aber er hatte das Richtige getan, das einzig Mögliche. Er musste nach Süden marschie130 ren, und zwar rasch. Er musste Henry befreien und sich dann nach Norden wenden, um dem Land den Frieden zurückzugeben. Wenn Henry als Gefangener in Aosta blieb, würde Wendar nie Frieden erfahren, wer immer auch vorgab, dort zu herrschen. Und wenn Wendar keinen Frieden erlebte, würden er und Liath niemals in Frieden miteinander leben können. Der Sturm zog so rasch weiter, wie er gekommen war, ließ Äste, Zweige, Blätter, zerfetzte Zeltbahnen und verlorene Kleidung überall auf dem Boden verstreut zurück, und alle Formen des Weinens, des Jammerns und des Rufens waren zu hören, während die Leute sich aufrappelten und das Ausmaß des Schadens betrachteten, sich dann wieder auf den Boden warfen, als die Greifin sich in die Lüfte erhob und mit donnerndem Flügelschlag dem Sturm hinterherjagte. Hathui hatte sich flach auf den Boden geworfen, als die Greifin aufgesprungen war; jetzt erhob sie sich mit einem verlegenen Grinsen und half dem Schmied auf, dessen robuste Nerven angesichts des sich in den Himmel schwingenden Tieres versagt hatten. Der Mann war auf den Haufen mit den Rüstungsteilen gefallen, an deren polierten Eisenflächen nun nasse Blätter, Grashalme, Zweige und sogar Federn klebten. Hagelkörner waren zwischen die Stücke gefallen, sammelten sich jetzt in flachen Mulden auf dem Boden. »Oje«, sagte Johann. »Das war ein kräftiger Sturm. Wir hatten letzten Monat einen, der fast die Häuser niedergerissen hätte. Und seht nur! Tiere, die auf dem Wind reiten. Einige Leute sagen, das Ende der Welt stehe bevor. Ich kann es ihnen nicht verübeln.« »Macht Euch bereit.« Sanglant bückte sich, um das Schulterstück aufzuheben. Der Regen hatte das Eisen abgekühlt; es brannte jetzt nicht mehr. »Nehmt diese Rüstung. Baut Eure Häuser so fest wie möglich. Es zieht
tatsächlich ein Sturm auf, Schmied. Ihr und Eure Leute müsst stark sein, wenn Ihr ihn überleben wollt.« 131 Er als Einziger von allen Daemonen, die an den Dienst im Tal gebunden gewesen waren, war nicht geflohen, als die älteren Verwandten sie mit einer Feuersbrunst gerufen hatten - einer Feuersbrunst, die sogar die Gipfel der Berge entflammt hatte. Er war hier geblieben, suchte die Gebäude und die Obstwiese heim, obwohl das Band, das ihn an die Erde fesselte, von einer Greifenfeder durchtrennt worden war, obwohl er zu der Sphäre hätte zurückkehren können, in der er geboren worden war. Da er einer niedrigen Art der Daemonen angehörte, besaß er kaum ein Gedächtnis und noch weniger Willen, war leicht zu binden und leicht abzurichten. Er war mehr ein Hund als ein Mensch und doch ganz anders, denn er war ein Wesen, dessen ätherischer Körper nicht von irdischen Krankheiten und irdischer Sterblichkeit berührt werden konnte. Aber die Gefangenschaft hatte ihn verändert, ihm eine Art menschliches Gedächtnis und menschlichen Willen gegeben, die über das hinausgingen, was seine Verwandten erhalten hatten. Er harrte hier aus, er wartete, obwohl er vergessen hatte, worauf er wartete: eine vertraute Berührung, eine vertraute Stimme. Die Anwesenheit eines vertrauten Wesens. Er hielt sich zwischen den ausgebrannten Ruinen auf. Eines Morgens, als die Sonne aufging, blitzten die toten Steine und spuckten eine stolpernde Gruppe von sterblichen Tieren aus, einige auf zwei Beinen und andere auf vieren, eine verwirrende Masse an Farben und Wärme und Stimmen. Er raste auf dem Wind dorthin, um nachzusehen, schlängelte sich zwischen den Neuankömmlingen hindurch. Niemand sah ihn; sie waren blind. Aber da war eine, die sie in einem kleinen Haus auf Rädern verschlossen hielten, und diese eine hatte die Macht zu erkennen, was oben lag und was unten lag, und als er sich durch einen Spalt drückte, sprach die Kreatur zu ihm, und er floh. Er floh, aber da war noch eine größere Bedrohung. Die Strahlende, das Kind des Feuers, war zurückgekehrt, diejeni132 ge, die die Feuersbrunst auf sie herab gebracht hatte. Er verbarg sich zwischen den Zweigen eines Apfelbaums, zu verängstigt, um sich der Kreatur mit dem Herz aus Flammen zu nähern, aber doch so neugierig, dass er sehen wollte, was vor sich ging. Am Ende siegte die Besorgnis, und er floh zu der Hütte, in der er früher geschlafen hatte, neben jener vertrauten Anwesenheit, nach der er sich so sehnte. Dort verbarg er sich bis zum Einbruch der Nacht, und dann, als die Dunkelheit ihn vor den Augen der Sterblichen verbergen würde, wagte er sich nach draußen. Aber die Strahlende und ihre Gefolgschaft waren noch immer im Tal, und er fürchtete, sie könnten bleiben und wieder die älteren Verwandten in einem schrecklichen, weiß glühenden Ausbruch herabrufen. »Das ist der Fluss des Himmels«, sagte die Strahlende zu einer Zuhörerschaft von acht zitternden Seelen, die neben den Resten eines sterbenden Feuers bei den Steinen saßen. »Seht, wie die Schlange hindurchschwimmt.« »Sie ist so hell!« »Das sind die Seelen der Toten, die zur Kammer des Lichts hinaufströmen. So sagt zumindest die Kirche.« »Was könnte es sonst sein?« »Die alten Schreiberinnen hatten viele Erklärungen. Seht genau hin! Mok ist noch im Einhorn. Da ist Jedu - der rote Stern -, der sich mit dem Büßer erhebt. Ich kann weder den Roten Magier noch Somorhas finden. Der Mond ist noch nicht aufgegangen, sofern er überhaupt aufgehen wird. Außerdem versperren uns auch die Berge zum Teil die Sicht. Während die Stunden vergehen, werden wir nach den anderen wandernden Planeten suchen, aber ich kann bereits erahnen, dass etwa vier bis sechs Monate vergangen sein müssen, seit wir den Osten verlassen haben.« »Wie könnt Ihr das schätzen?« »Es ist nicht im eigentlichen Sinne eine Schätzung. Die Planeten wandern in einem gleichmäßigen Muster entlang 133 der Ekliptik. Mok verbringt ein Jahr in jedem Haus, Jedu ein bis zwei Monate - oder sechs, wenn er rückläufig ist -« Zwei Stimmen erhoben sich, überschnitten sich. »Ich komme nicht mehr mit!« »Was bedeutet hier >rückläufig« Gelächter breitete sich unter den Zuhörenden aus. Die Strahlende stand auf und ging, um sich gegen den Wagen zu lehnen. Die Tür stand offen, ein Stock war dagegen gestellt, um sie aufzuhalten, und eine Gestalt rührte sich, verborgen hinter einem Vorhang aus Perlen, und blinzelte nach draußen. »Nein«, sagte die Strahlende und strich über den Perlenvorhang. »Ich gehe zu schnell vor. Lasst mich von vorne anfangen. Wir stehen auf der Erde, die eine Kugel ist. Die Erde liegt im Zentrum des Universums, wie die Gelehrten behaupten; es ist ebenfalls eine Kugel. Aber ich frage mich - nein, das ist jetzt unwichtig. Die Erde ist umgeben von den sieben Sphären der Planeten und der äußersten Sphäre der Fixsterne. Und dahinter liegt die Kammer des Lichts.« Während ihre Stimme weiterströmte, krochen die Sterne entlang ihrer festgelegten Wege über die Himmel. Später, nachdem der Mond aufgegangen war, schliefen die Besucher, abgesehen von der Strahlenden und der
verborgenen Frau, die sich tief verschleiert nach draußen wagte. Diese beiden unterhielten sich leise bis weit in die Nacht hinein, hielten ihre Gesichter hin und wieder den Flammen eines Lagerfeuers entgegen, als würden sie hineinstarren. Kurz vor der Morgendämmerung kletterte die verschleierte Frau in ihren Wagen zurück, während das Lager erwachte. Bei Fackellicht und Mondlicht machten sich Männer und Pferde zum Aufbruch bereit. Die Strahlende webte Fäden aus Sternenlicht in die Steine, und die Besucher schritten nacheinander durch das leuchtende Tor und verschwanden. Die Strahlende war die Letzte, und sie drehte sich auf der Schwelle um. 134 »Auf wen wartest du?«, fragte sie. Dann war sie fort. Die blitzenden Fäden schwankten und brachen in einem Funkenregen zusammen. Staub wirbelte um den Fuß der Steine herum, sank dann wieder zu Boden. Schatten verblassten. Die Gipfel blendeten, als die Sonne über die östlichen Berge kletterte und sich das Licht in den grellen, weißen Schneefeldern fing. Auf einem dieser Gipfel löste sich eine Schneewand und raste brüllend nach unten, so dass das gesamte Tal erschüttert wurde, während weißer Dunst sich vom Berg erhob. Die Lawine aus Schnee und Eis brüllte und donnerte und wurde schließlich langsamer, sanfter und kam zum Stehen, noch immer so hoch über der Baumlinie, dass es unmöglich war, irgendeine Veränderung in der Form des Berges selbst zu erkennen. Die Wolke aus Schnee und Eis glitzerte und legte sich. Ein Blatt trieb auf dem Atem der Lawine herbei, es wirbelte und tanzte, spielte zwischen den Steinen, aber obwohl der Daemon es jagte, war es ein lebloses Ding, dessen Geist geflohen war, und es konnte demjenigen, der einsam war, keine Kameradschaft bieten. Auf wen wartest du?, hatte die Strahlende gefragt, aber nur der klagend zwischen den Steinen hindurchstreichende Wind antwortete. »Auf wen ? Auf wen ?« 3 »Eure Exzellenz, wir haben die Nachricht erhalten, dass heute der geehrte Presbyter mit seinem Gefolge eintrifft.« Antonia legte das Buch beiseite. Die Bibliothek von Novomo verfügte nur über wenige Bände, trotz der zusätzlichen Werke, die sie aus dem Kloster St. Ekatarina mitgenommen 135 hatte, und so hatte sie sich in den letzten neun Monaten gezwungen gesehen, Die Ewige Geometrie von St. Peter von Aron gleich dreimal zu lesen. Dennoch hatte sie immer noch nicht mehr als ein Drittel davon verstanden. Edelfrau Lavinias Verwalter wartete mit gefalteten Händen bei der Tür, während Lavinia zum offenen Fenster trat. Licht fiel auf den Tisch, beleuchtete die kostbare Chronik und die riesige Karte, die auf ein Schaffell gemalt war. Das Fell war zwar bearbeitet und behandelt worden, aber es war noch ganz und nicht - wie bei der Herstellung von Pergament üblich - in Streifen geschnitten worden. »Er wird Neuigkeiten über meine Tochter bringen. Es hieß, sie solle mit einem der wendischen Edelleute verheiratet werden. Es würde mir nicht gefallen, wenn sie gezwungen wäre, so weit im kalten Norden zu leben, aber wenn Vater Hugh es für das Beste hält...« Lavinia war eine loyale und rechtschaffene Frau und sicherlich fromm; schließlich bestand sie darauf, dass Antonia jeden Herrintag in der Kapelle ihres Haushalts die Predigt hielt. Allerdings hatte sie schon seit langem eine unglückliche Leidenschaft für den gut aussehenden Presbyter entwickelt und behandelte ihn eher wie Gottes strahlenden Boten und nicht wie einen von Gottes demütigen Dienern. »Er würde keine Verbindung gutheißen, die ihr Schaden zufügen könnte, nicht, nachdem er sie vor Eisenkopf gerettet und in den Haushalt der Königin gebracht hat. Sie gehört zu den Bevorzugten der Königin, habe ich gehört. Eine Heirat mit einem wendischen Edelmann würde das Glück der Familie mehren. Wir könnten im Norden weitere Verbindungen für meine Verwandten suchen. Aber es gibt auch einen Jungen aus gutem Hause im südlichen Aosta, dessen Familie Interesse an einer Verbindung mit unserem Haus angemeldet hat.« Während sie weiterplapperte und dabei weiterhin aus dem Fenster starrte, schnitt Antonia Federn zum Schreiben. Die 136 Sorgen der Herrin waren der wesentliche Kern des Lebens auf Erden; eine Herrin musste ihr Gut leiten und sich auf die nächste Jahreszeit vorbereiten, ihre Herde züchten und sich um die Gärten kümmern. Wie sie ihre Kinder verheiratete, wirkte sich auf den Wohlstand ihres Haushalts und die Langlebigkeit ihres Geschlechts aus, und eine jede Edelfrau und ein jeder Edelmann hatten die Pflicht, das Geschlecht fortzusetzen, dem sie entstammten. Diese Leute mühten sich redlich im Dienste Gottes ab, der alle erschaffen hatte, aber sie waren nicht mit der Gabe ausgestattet worden, wirklich die Aufsicht zu übernehmen. Diese Aufgabe fiel einer Elite zu. »All dieses Gerede, dass der Kaiser und die Kaiserin nach Osten, nach Dalmiaka reiten, um gegen den arethusanischen Herrscher Krieg zu führen - ich weiß nicht, was uns bevorsteht. Niemand weiß das.« »Nur Gott können in die Zukunft sehen, Edelfrau Lavinia.« »Das ist wahr, Eure Exzellenz! Das ist so wahr!« »Vergesst nicht die Geschichte von Königin Salome, die Angst hatte, dass ein Thronräuber sie verdrängen
könnte. Sie ging zu den Hexen und bat sie, den Geist des Propheten aufzuwecken und mit seiner Hilfe zu ihren Gunsten einen Blick in die Zukunft zu werfen.« »Ja, in der Tat. Und sie wurde für ihre Gottlosigkeit bestraft, indem ein würdiger Nachfolger ihren Platz einnahm.« »Aber war Königin Salome keine würdige Herrscherin? Sie war demütig. Gott selbst hatten sie in diese hohe Position erhoben. Ungehorsam, nicht Gottlosigkeit, führte ihren Sturz herbei. Die Hexen haben getan, was sie ihnen gesagt hatte, und sie wurden für diese Tat nicht bestraft. Aber die Königin hatte Gottes Stimme nicht beachtet, als Gott ihr befohlen hatten, den Stamm von Melia zu töten.« »Sie war selbst Mutter! Sie wollte keine Kinder umbringen.« 137 »Gott können immer wieder Dinge von uns verlangen, die uns mit unserem unvollkommenen Verständnis abscheulich vorkommen, aber wir dürfen niemals zögern. Gehorsamkeit ist Rechtschaffenheit.« Mit solchen Lektionen versuchte Antonia Edelfrau Lavinia und ihren Haushalt auszubilden. Hugh hatte sie für alle sichtbar gemacht und gleichzeitig versteckt, indem er sie zu einem Mitglied von Lavinias Gelehrtenschule gemacht hatte. In Wirklichkeit kamen auch nur wenige Besucher vom Palast der Herrin und noch weniger vom Hof in Darre, und es kamen erst recht keine Geistlichen vom Palast der Skopos, die Antonia hätten erkennen und verraten können. »Wie wahr, wie wahr«, sagte die Herrin abgelenkt, während sie am Fensterflügel lehnte und in die grelle Setentersonne blinzelte. »Da! Ich sehe sie!« Sie trat zur Tür, blieb stehen und drehte sich um. »Kommt Ihr mit, um sie zu begrüßen, Eure Exzellenz?« »Mir fällt das Gehen heute schwer, Edelfrau Lavinia. Ich bleibe lieber hier und lasse mir das Abendessen auf einem Tablett bringen.« »Wie Ihr wünscht, Eure Exzellenz.« Sie eilte nach draußen. Es ist besser, wenn Hugh zu mir kommt, so wie ein Verwalter sich um seine Herrin kümmert. Vielleicht sollte sie über einer solchen Vorgehensweise stehen, aber ihre Position kam ihr schwach vor, die von Hugh dagegen umso stärker. Daher fand sie es notwendig, alles Mögliche zu tun, um ihn an ihre hohe Geburt und ihren Rang und den Respekt zu erinnern, den er ihr schuldete. Sie hörte nur diejenigen Neuigkeiten, die in den Monaten seit Dezial seit sie hier angekommen war, noch immer geschwächt von der Gefangenschaft - in den Norden gesickert waren. Das war nicht sehr viel, aber sie hatte gelernt, sich von kleinen Brocken zu ernähren, und jetzt besaß sie die Bibliothek, die sie aus dem Kloster St. Ekatarina herausgeschafft hatte, ganz besonders ihre Chronik, die Ar138 beit vieler Hände und vieler Generationen, ein Schatzhaus an Wissen und Beobachtungen. Sie hatte die Chronik so viele Male gelesen, dass sie ganze Passagen auswendig kannte, und als sie sich in ihrem Stuhl zurechtrückte, studierte sie die Karte mit gewaltiger Befriedigung. Sie wusste, dass ihre Arbeit, das Knäuel von Hinweisen zu entwirren, die wie Edelsteine in einem Weizenfeld über das ganze Manuskript verteilt waren, sich als fruchtbar erwiesen hatte. Hugh kam früher als erwartet zu ihr. Er wusste nicht weniger als sie, dass sie Informationen von unschätzbarem Wert besaßen. »Ist sie das?«, fragte er nach einer flüchtigen Begrüßung und nachdem er seine Bediensteten aus dem Zimmer geschickt hatte. Einzig ein bartloser, dünner Mann blieb, der an der Tür kauerte. Er sah aus, als wäre er am liebsten weggelaufen, und sprach nicht ein einziges Wort, während Hugh die Hände auf den Tisch stützte und die Karte musterte. Als Antonia ihn von ihrem Platz aus beobachtete, begriff sie, wieso Edelfrau Lavinia allen Grund hatte, dem Mann dankbar zu sein, abgesehen davon, dass er ihre Tochter vor einer Vergewaltigung bewahrt hatte. Gott begünstigten wenige Seelen mit einer solch außergewöhnlichen Schönheit. Aber er übertrieb es nicht, sondern kleidete sich schlicht, ohne sich unziemlich zu schmücken. Seine Kleider waren aus so schönem Tuch, dass sie fast unsichtbar wirkten. Die obere Tunika war in einem gedämpften Weizengold gefärbt, die darunter schimmerte rötlich golden in der Farbe von glühenden Kohlen. Sie war kaum sichtbar, aber verblüffend, so wie jene Details, bei denen man zweimal hinsehen musste. Er trug drei schlichte Ringe - einen Smaragd, einen Zitrin und einen Lapislazuli - sowie seine goldene Presbyterkette und den Kreis der Einigkeit. Nur die Goldkette und sein glatt rasiertes Kinn kennzeichneten ihn als Kirchenmann, wenngleich man seine 139 Berufung hätte erahnen können, da seine Hände außerordentlich sauber waren, die Nägel gefeilt und die Haut glatt und ohne Falten war. Seine Hände wurden weder von Schwielen noch von Blasen verunstaltet, und dennoch wirkten sie stark genug, um jede Seele zu erwürgen, die nicht nach seinem Willen handelte. Der stumme Diener trat unruhig von einem Bein aufs andere, machte einen Schritt vor, um auf die Karte zu sehen, wich aber zurück zur Tür und zitterte, als Hugh ihm einen Blick zuwarf. »Dies ist die Geschichte, die Ihr der Chronik des Klosters entnommen habt«, sagte Hugh schließlich. »Ja, das ist sie.« Die Schafhaut war vor sechs Monaten angekommen; ein Meisterkartograph hatte die bekannten Länder eingezeichnet. Er hatte das Hinterland weniger ausführlich dargestellt -ein Schafskopf für das westliche Inselkönigreich Alba, die Hörner einer Ziege für die nördlichen Gefilde, in denen die barbarischen Aikha
hausten, unbeschriebene Leere für die weglosen Wüsten jenseits der Küste des Mittleren Meeres und ein Rechteck, das die unbekannte Ausdehnung des Ketzermeers darstellte, das sich nördlich und östlich der arethusanischen Hauptstadt erstreckte. Drachen lagen östlich davon, und dahinter gab es Gras und Sand und die fernen Herrlichkeiten von Katai. Mittels sorgfältiger Berechnung und Schätzung hatte sie auf dieser Karte jeden Steinkreis eingetragen, der in der Chronologie der Nonnen erwähnt worden war. »Ihr habt jeden Einzelnen hier aufgezeichnet?«, fragte er. »Jeden Einzelnen, entsprechend meiner Kenntnisse dieses Landes und den Beschreibungen im Text. Die Nonnen von St. Ekatarina haben alles sorgfältig niedergeschrieben. Ihre Seiten werden nicht durch Fabeln und Aberglauben beschmutzt. Sie haben so genau wie möglich aufgeschrieben, was sie gehört haben. Das habe ich auch getan.« »Hier.« Er tippte mit einem Finger auf die Karte; die Stel140 le, auf die er deutete, lag östlich des wendischen Marklandes und ein Stück nördlich des Königreichs von Ungria, auch wenn sich die Grenzgebiete solcher Lande nicht genau festlegen ließen, weil sie sich im Laufe der Jahreszeiten und des Jahres veränderten. Sie wartete. »Hier«, wiederholte er. Sein Finger bedeckte einen Kreis, der eine bekannte Krone darstellte. Die Anzahl der Steine war im Innern des Kreises verzeichnet. Sieben. »Die Heilige Mutter hat mir aufgetragen, nach Osten zu reisen. Ich werde die Krone überwachen, die Bruder Marcus gefunden hat, als er durch die Wildnis nördlich von Ungria und südöstlich von Polenie gewandert ist. Sieben Steine. Eine der ursprünglichen Kronen, wie Mutter Anne entschieden hat.« »Wie wollt Ihr dorthin gelangen? Diese Reise wird viele Monate dauern und durch gefährliches Gebiet führen.« Er zog den Finger wieder zurück. Der Diener bewegte einen Fuß, und eine Holzplanke knirschte. Der arme Mann zuckte zusammen, so erschreckt, als wäre ein Löwe aus dem Holz gesprungen. »Ich werde durch die Kronen reisen. Jetzt, da wir eine bessere Vorstellung von der Lage jeder einzelnen Krone haben, ist offensichtlich ...« Er strich mit der Hand über Die Ewige Geometrie. »Es ist offensichtlich, dass durch das Anwenden von Geometrie die Fäden gewebt werden können, um eine Verbindung von einer Krone zu einer anderen zu öffnen. Abhängig vom Aufgehen und Untergehen der Sterne und ihrer Höhe zum Zeitpunkt der Reise und in Anbetracht des Winkels und der Entfernung muss ich mich von Novomo aus nach Nordosten wenden, indem ich die Fäden von Sternen in diesen Quadranten benutze.« »Zwischen Novomo und diesem fernen Ort stehen noch andere Kronen. Werden sie Eure Reise nicht verwirren?« »Das ist möglich. Wenn ich schnell genug bin, kann ich meine Fehler korrigieren und es erneut versuchen. Ich bin 141 zuversichtlich, dass meine Berechnungen stimmen. Sie sind zweimal von der Heiligen Mutter persönlich überprüft worden. Ihre Fähigkeiten als Mathematika werden von niemandem übertroffen.« »Höchstens vielleicht von ihrer Tochter.« Seine glückselige Miene erstarrte, wurde zu einer Maske. Er führte den Finger südlich von der ungrianischen Grenze zum Ketzermeer und weiter nach Süden in die Wüste, die die heilige Stadt Sais umgab, westlich zu den Ruinen von Kartiako, dann westlich und nordwestlich zu dem umstrittenen Land zwischen Südsalia und dem jinnischen Königreich Aquila, dann wieder nördlich und westlich zum Schafkopf, der Alba darstellte, und weiter nördlich bis zum Land der Aikha, derart einen riesigen Kreis - eine Krone gewissermaßen - auf dem Kontinent Novaria beschreibend. Als er damit fertig war, hatte sein Lächeln wieder die alte Beweglichkeit zurückerlangt. Er winkte. Der Diener eilte zu ihm und reichte ihm eine Messingscheibe, in die Zeichen eingraviert waren und die auf der einen Seite mit einer Stange verziert war und auf der anderen mit einem sich kringelnden Satz aus Kreisen - wobei immer ein kleinerer einen größeren überlagerte. »Höchstens vielleicht von ihrer Tochter«, wiederholte er. »Wisst Ihr, was das ist?« »Nein«, gestand sie. Er bot ihr nicht an, die Scheibe zu halten. »Es ist ein Astrolabium, das die Jinnen sowohl zum Beobachten als auch zum Berechnen benutzen. Es bietet Genauigkeit und Vorhersagen. Ich muss nur die Höhe eines einzigen Sterns bestimmen und kann mit dieser Information erkennen, welche Sterne aufgehen werden und welche gerade untergegangen sind. Ihr seht, dass sich hier mehrere Scheiben befinden; jede für eine andere Breite. Wenn ich vom Kurs abgelenkt werde, dauert es nicht lange, ehe ich einen neuen Pfad geschmiedet habe. Ich werde dorthin gelangen.« 142 »Die Geometrie ist für mich immer noch voller Geheimnisse, Vater Hugh. Wenn Ihr jetzt nach Osten reisen müsst, was für eine Vorstellung habt Ihr dann, was meine Rolle hier in Darre betrifft?« Nach längerem Schweigen, während der Diener zweimal auf das quietschende Bodenbrett trat, ehe er sich anders hinstellte, um das zu vermeiden, setzte Hugh sich auf die Bank gegenüber von Antonia und legte die schönen Hände flach auf die Karte, so dass Wendar und Varre bedeckt waren. »Die Heilige Mutter Anne hat Darre verlassen und ist mit dem Kaiser und dem Heer nach Osten aufgebrochen.«
»Zu den alten kaiserlichen Landen von Dalmiaka, wie ich gehört habe.« »Was Ihr gehört habt, ist wahr. Viele Jahre lang hat Anne geglaubt, dass die mittlere Krone der großen Krone in Verna liegen würde, aber jetzt hat sie begriffen, dass sie Unrecht hatte. Diese Krone hier« - er deutete auf ein Zeichen an der Küste des Mittleren Meeres, ziemlich genau zwischen Aosta und Arethusa - »muss unter unsere Kontrolle gebracht werden. Daher dieser Feldzug. Kaiserin Adelheid ist wieder schwanger -« »Schon wieder!« »- und daher bleibt sie in Darre. Ich habe sie ermutigt, Euch in ihre Gelehrtenschule aufzunehmen. Geht jetzt dorthin. Bereitet den Boden vor.« »Ich soll den Boden vorbereiten?« »Wir haben schon zuvor darüber gesprochen. Der Cauda Draconis hat eine besondere Rolle zu spielen, wenn eine große Beschwörung gewirkt wird.« Der Cauda Draconis starb, aber da er das nicht laut aussprach, tat auch sie es nicht. Sie wartete. Er sollte erst seine Stärken und Schwächen offenbaren; dann würde sie wissen, wie viel sie selbst enthüllen konnte. »Aber wir müssen nicht untätig daneben stehen.« 143 »Gottes Wille muss vollbracht werden«, sagte sie. »So wird es geschehen, Schwester Antonia. Aber um Gottes Willen zu vollbringen, müssen die Rechtschaffenen die Macht haben.« Sie nickte. »Ihr seid sehr ehrgeizig.« Er neigte den Kopf. »Ich diene Gott und dem Herrscher. Das ist alles.« Das war natürlich eine Lüge. Aber welchen Unterschied machte es ? In all den Jahren, seit es die Kirche gab, war noch nie ein Mann Skopos gewesen. Hugh war so hoch aufgestiegen, wie es nur möglich war. Er brauchte sie. Und im Augenblick brauchte sie ihn. »Ich werde nach Darre reisen und mich Kaiserin Adelheids Gelehrtenschule anschließen.« »Sie wird Euch willkommen heißen, Schwester. Ihr werdet mit der Vereinbarung sehr zufrieden sein. Man wird Euch den schuldigen Respekt erweisen.« Er nahm das Astrolabium und erhob sich. »Wir müssen geduldig sein und vorsichtig. Wir wandeln jetzt auf des Messers Schneide. Es ist die gefährlichste Zeit überhaupt. Es wäre am besten, wenn ich beim Kaiser bleiben würde, aber die Heilige Mutter hat mir eine andere Rolle zugedacht. Seid wachsam. Seid stark.« »Ihr werdet von mir nicht enttäuscht werden, Vater Hugh. Ich bin mir bewusst, dass die Stunde der Notwendigkeit näher rückt.« »>Alles, was verloren ist, wird auf dieser Erde durch eine Große Enthüllung ähnlich der Großen Trennung, in der die Verlorenen verschwunden sind, wiedergeboren werden.< Wie heißt es: >Es wird ein gewaltiger Sturm aufziehend« »Um die Bösartigen zu besiegen.« Er zuckte mit den Schultern. »In der Flut, die die Bösartigen hinwegspült, können auch die Unschuldigen ertrinken.« »Dann waren sie auch nicht unschuldig, wenn Gott sich nicht entschieden haben, sie zu schützen!« 144 Weil sie saß, ragte er jetzt hoch über ihr auf, und weil er so schön war, kam sie sich einen Moment lang sehr klein vor, als würde sie von einem Boten Gottes besucht, der in all seiner Pracht über ihr Gericht hielt und sie für fehlerhaft befand. Antonia mochte es nicht, wenn sie sich klein fühlte. Aber seine Lippen verzogen sich zu einem ironischen Lächeln, das seine Sterblichkeit und seine Unvollkommenheit enthüllte. »Ich bin mir bezüglich Gottes Absichten nie sicher gewesen«, sagte er leise. »Viel ist vor unseren Blicken verborgen, und noch mehr ist verworren und durcheinander. Wo wir ein Pferd gesehen haben, haben wir es vielleicht versehentlich als Kuh bezeichnet.« »Ohne Überzeugung kann es kein rechtschaffenes Verhalten geben, Vater Hugh. Seid gewarnt. Zweifel ist das Werkzeug des Feindes.« Sie deutete auf die Karte. »Ich weiß, wie die Welt aussieht und welchen Platz sie in Gottes Plan hat. Wisst Ihr es auch?« »Ich weiß, was ich will«, sagte er, und damit verabschiedete er sich und ging. 4 Der Verrückte starb kurz darauf, ließ seinen Körper auf den Steinen zurück, auf denen er geschlafen hatte. In gewisser Hinsicht war es Frieden. Dann kam eine Reihe schreiender Gefangener herunter in die Tiefe, um das Rad zu treten, aber keiner von ihnen lebte länger als etwa zwanzig Runden. Einige starben im Schlaf; er fand sie, als er mit bloßen Händen herumtastete. Sie waren vollkommen abgemagert und so ausgezehrt, dass es ein Wunder war, dass sie überhaupt hatten laufen können. Ein anderer lag Stunden oder Tage voller Qual mit dem Ausfluss H5 da, bis er schließlich nicht nur seine Eingeweide, sondern auch seine Seele ausschied. Danach stank die Schlafhöhle so schlimm, dass die nächsten vier Gefangenen sich weigerten, dort zu schlafen, und sich lieber auf den Sims neben dem Rad legten, wo es sehr laut war. Sogar die Grubenarbeiter klagten darüber, dass der
Gestank sie krank machte, und so warfen schließlich zwei Arbeiter Kalk in die Höhle, den sie ein paar Runden später wieder aufkehrten. Aber noch viele Runden danach verlor er Kalkstaub, als wären es Schuppen, und er fand Spuren davon in den Hautfalten seines Körpers und rubbelte sie sich aus den Haaren. Wobei genau betrachtet jede Substanz in seinen Haaren angesichts der krabbelnden Läuse und des unaufhörlichen Juckens eine Erleichterung war. Ein Mann rutschte aus und brach sich den Arm; auch er starb, denn es gab nichts, womit man den Arm hätte schienen können, und keine der Wachen machte sich die Mühe, den armen Kerl wieder nach oben zu holen. Schon bald setzte der süße, widerliche Gestank des Giftes ein, und der Gefangene starb qualvoll. Der Nächste sprang vor sich hin brabbelnd in die Tiefe, denn er konnte die Dunkelheit nicht ertragen, und während das Rad weiterrumpelte, hallten seltsame Geräusche aus dem Abgrund herauf, wo sich kein Grubenarbeiter aufhielt - ein Scharren und ein Knacken, als würden Hunde sich über Knochen hermachen. Vielleicht war es besser, tot zu sein, statt in diesem Fegefeuer zu leben, das weder Tod noch Leben war, sondern ein Zwischenreich der Verlassenheit, in dem weder Engel noch Dämonen ihre Klauen in das Fleisch schlagen konnten. Er träumte von Sonne und Wind und vom weiten Meer; er träumte von Drachenschiffen, die durch die Brandung glitten, während salzige Gischt in sein Gesicht klatschte und der Wind seine Haare hin und her peitschte. Aber hier unten kam weder Sonne noch Wind hin; er war vom Erdboden verschluckt, bereits begraben und wartete auf das letzte Gericht. 146 Die Arbeiter gruben einen schrägen Gang und stießen unerwartet auf eine Silberader, die so ergiebig war, dass zu jeder Stunde das ungleichmäßige Stakkato der Hämmer und Spitzhacken durch sämtliche Sohlen hallte, untermalt vom Rattern der vierrädrigen Karren und dem Quietschen der Winden, die volle Eimer heraufwuchteten, sowie dem Gemurmel der kommenden und gehenden Grubenarbeiter. Sie sprachen von neuen Schächten, die angelegt werden sollten, von zukünftigem Reichtum, und doch flüsterten sie auch immer von den Kreaturen, die dort im Abgrund lauerten, wo die üppigsten Vorkommen darauf warteten, abgebaut zu werden wenn da nicht die Gefahr der unstabilen Tunnel und die Furcht vor dem gewesen wäre, was dort unten wartete. Jeden Tag wurde ein Eimer reinstes Silber aus dem Abgrund nach oben gezogen, und jeden Tag wurde irgendein Toter nach unten gelassen. Die meisten Toten des Bergwerks fanden so ihre letzte Ruhestätte, auch wenn der Aufseher behauptete, dass jeder Gefangene, der während der Arbeit hier starb, eine würdige Beerdigung und den Segen einer Diakonissin erhalten würde. Alle Verbrecher sind doch gewiss zum Abgrund verdammt, was macht es also für einen Unterschied, wenn wir ihre Leichen gegen Silber tauschen? So sprachen sie, aber ihr Unbehagen wehte wie der Geruch der Ausscheidungen des toten Mannes durch die Gänge und Schächte, bis die Mine vor Schuld nur so stank. Die Räder drehten sich. Er ging weiter, weil es das Einzige war, von dem er wusste, wie er es tun musste. Die Träume strömten dahin, kamen rasch und vergingen rasch wieder, und wenn es jemals ein Leben jenseits des Rades gegeben hatte, so hatte er seit langem vergessen, wie es gewesen war. Geflüster kitzelte ihn, wie Rauch und Dampf es taten, wenn ein Grubenarbeiter ein Feuer anzündete, um den Fels zu erwärmen, und dann Wasser darauf schüttete, damit er platzte. In 147 dieser Enge konnte er auch noch das letzte Beben von Leben riechen, hören und schmecken. »Es heißt, er würde von irgendeinem seltsamen Bann geschützt werden, der wie ein Bronzearmreif aussieht.« »Ich glaube, er ist ein Dämon.« »Ein Engel.« »Wie hätte er sonst so lange überleben können? Niemand geht so lange auf dem Rad, wie er es jetzt schon getan hat. Hast du jemals gesehen, dass einer es länger als zwei Monate gemacht hat?« »Ist er schon zwei Monate da unten?« »Nein, drei Jahreszeiten oder sogar länger.« »Das glaube ich nicht!« »Ich war hier, als man ihn im Frühjahr gebracht hat. Stumm und blind ist er da gewesen.« »Oh! Es ist fast Winter! Wenn er blind ist, macht es für ihn keinen Unterschied, auf welcher Sohle er sich befindet! Wenn er wirr im Kopf ist, ist er wie ein Ochse im Geschirr. Das würde es erklären. Er ist ein stummes Tier.« Er ging und er schlief und er aß, und er ging und er schlief und er aß, und das Ganze wieder von vorn. Und wieder von vorn. Bis die Wachen während einer Runde nach unten kamen und ihn umringten, einen unglücklichen, stöhnenden Gefangenen an seine Stelle stießen und ihn die Leitern hochzerrten, weiter und immer weiter nach oben, bis er eine seltsame Berührung auf der Haut spürte und benommen schwankte, als sich um ihn herum die Luft veränderte und sie aus der Grube heraustraten. So viele Gerüche! Der Duft der Erde brachte ihn zum Würgen. Der Geruch von gefallenen Blättern und der Gestank von Schmieden grub sich in seine Lunge, bis er husten musste. Geräusche erklangen, verklangen zum Himmel hin, der nicht von Steinwänden eingeengt war. 148
Es waren zu viele Geräusche, als dass er sie alle hätte unterscheiden können: das Hämmern von Hacken, die Felsbrocken zerkleinerten; der Ruf eines Mannes; das Meckern einer Ziege; das Säuseln des Windes; das Schlurfen von Füßen auf losen Steinen und das Knirschen von festgetretener Erde, als ein Mann vor ihm stehen blieb. Saurer Atem wehte ihm in die Nase. In der Brise schwang der volle Geruch von Pferdedung mit. »Hier ist er, Fautscher.« »Oh, Herr! Was für ein Gestank! Wascht ihn am besten erst mal.« »Meinst du wirklich? Wenn wir ihn waschen, wird niemand glauben, dass er da unten so lange überlebt hat. Der Herzog wird nicht beeindruckt sein.« »Hmm. Das ist wahr. Aber die Hochgeborenen werden den Gestank nicht mögen.« »Niemand wird das. Ich kann ihn selbst kaum ertragen.« »Wie wahr. Diese Kreatur ist etwas sehr Seltenes. Wir haben hier eine echte Kostbarkeit. Er sieht immer noch sehr kräftig aus.« Das Ende eines Stockes traf ihn an der Brust, aber niemand berührte ihn mit den Händen. »Er könnte noch Monate auf dem Rad aushalten.« »Jahre!« »Glaubst du das, Hauptmann? Glaubst du das? Das wäre ein Wunder!« Fautscher kicherte; er erfreute sich an dem Gedanken, so wie ein anderer sich an den Scherzen lachender, unschuldiger Kinder erfreuen mochte. »Du weidest dich an unserem Unglück«, sagte er zu Fautscher. Seine Gefangenenwärter schwiegen, hielten die Luft an. »Ich dachte, er könnte nicht reden!«, rief der Hauptmann. Eine Peitsche zischte, knallte gegen sein Ohr. In seinem Kopf explodierte ein Schmerz, der so lange ein halb vergessener, dumpfer Kopfschmerz gewesen war. 149 »Und so wird er es auch nicht!«, sagte Fautscher. »Wir werden ihn schnellstens rüberbringen, zeigen ihn dem Herzog und peitschen ihn aus, wenn er spricht. Dann schaffen wir ihn wieder runter.« Fautscher stieß zischend die Luft aus, und der Stock stieß erneut gegen ihn, traf ihn diesmal in den Bauch. Aber angesichts des Schmerzes, der in seinem Schädel tobte, nahm er den Stoß kaum wahr. »Wenn du weißt, was gut für dich ist, Schweiger, verhältst du dich still!« »Vielleicht ist das nicht sehr klug -«, wandte der Hauptmann ein. »Nein, ich habe dem Herzog bereits gesagt, dass wir eine seltsame Überraschung für ihn haben, also rechnet er damit. Ich hasse es, ihn zu enttäuschen.« »Oh, in der Tat. Er könnte alles Mögliche tun, wenn wir ihn verstimmen. Er ist bereits verärgert, dass es kein Silber mehr gibt, und ihm gefallen auch die Schlafstellen der Gefangenen nicht.« »Als hätten sie es besser verdient!« Die Peitsche knallte gegen seinen Hintern. »Weiter! Weiter!« Er stolperte vorwärts. Als der Schmerz bei jedem Schritt durch ihn hindurchzuckte, blitzte immer wieder etwas vor seinen Augen auf, als würde man in einem dunklen Raum kurze Blicke auf etwas erhaschen, während eine Kerze abwechselnd abgeschirmt wurde und dann wieder offen stand. Er sah Füße, die so schmutzig waren und so gesprenkelt und schuppig und so groß, dass sie ihm ganz und gar nicht menschlich vorkamen; dann sah er nichts, nur absolute Schwärze; dann einen Schwindel erregenden Ozean aus Gelb und Orange in der Ferne; dann Dunkelheit; wieder der Ozean, aber dies hier waren Bäume, die er lange zuvor gesehen hatte, aber es war so lange her, seit er Bäume in den Farben des Herbstes gesehen hatte, dass er einige Zeit gebraucht hatte, bis er sie als das erkannte, was sie waren; dann Nacht, während die Geräusche der Mine verstummten, als sie sich von 150 ihnen entfernten; dann Pilze, die im spärlichen Gras wuchsen, nur waren dies keine Pilze, sondern helle Zelte und anmutige Baldachine, die im Wind flatterten, mit farbenfrohen Gestalten, die lachten und plapperten und in der Sonne umhergingen. Ein herrlicher, breitschultriger Edelmann stand bei ihnen, dessen Haut schmutzig war, aber es war gar kein Schmutz, sondern eine so dunkle Hautfarbe wie die von Liath. Neben ihm hing eine zerbrechliche, blasse Frau mit Haaren so hell wie Weizen. Ihr Bauch war dick von einer Schwangerschaft. Sie und ihr edler Ehemann drehten sich zu der Kuriosität um, die der Vorarbeiter der Mine zu ihrer Unterhaltung herbeigeschafft hatte. Er sah ihr Gesicht. Sie war angewidert von dem Schmutz, aber ansonsten nicht interessiert. Aber er erkannte sie. »Tallia«, sagte er, und das Wort klang wie das erstickte Keuchen eines Mannes, um dessen Hals sich eine Schlinge zieht. Ein Nagel brannte in seiner leeren Handfläche. Seine Stimme weckte Erinnerungen in ihr. Ihre Miene veränderte sich. »Sie ist schwanger«, sagte er. »Tallia ist schwanger.« Aber es war ein Schwindel. Ihr Schrei durchschnitt den Schmerz. Dunkelheit schluckte das kurz aufgeflackerte Bild. Er versank. »Conrad! Schaff ihn weg! Sorge dafür, dass sie ihn wegbringen!« »Ich bitte Euch, Eure Hoheit, wir wollten Euch nicht belästigen«, plapperte Fautscher. »Es sollte nur zur Unterhaltung dienen, nur dazu, Euch -« »Mögen Gott barmherzig sein!«, fluchte der Herzog, als die Frau immer weiterschrie, ein unangenehmes
Jammern, das sich in wimmerndes Schluchzen auflöste. »Schaff die Kreatur weg, Fautscher. Ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast. Es ist ein Wunder, in der Tat, und er sieht eher aus wie ein Kobold als wie ein Mann, mit dem ganzen 151 Schmutz, der an ihm klebt. Ich frage mich allerdings, ob du nicht höhere Erträge erzielen würdest, wenn du deine Verbrecher unter besseren Bedingungen leben lassen würdest.« »Aber, mein Herzog -« »Wenn ich meine Soldaten hungern und draußen im Regen schlafen lassen würde, wären sie zu schwach, um zu kämpfen. Wieso behandelst du diese armen Seelen so schlecht?« »Die Grubenarbeiter sind hart arbeitende, freie Männer, mein Herzog. Was die anderen betrifft, so sind das nur Verbrecher. Die Hälfte von ihnen ist wegen ihrer Sünden zum Tode verurteilt, aber man hat ihnen Gnade erwiesen, indem sie stattdessen hierhin geschickt worden sind.« »Das ist eine seltsame Art von Gnade. Letztes Jahr war es nicht so schlimm, wenn ich mich recht erinnere. Ich habe niemals so viele Ekel erregende Kreaturen gesehen. Sieh doch nur die wunden Stellen dieses Mannes!« »Er ist nicht mehr als ein stummes Tier, mein Herzog. Es ist ein Wunder, dass er bereits so lange auf dem Rad geht. Stellt es Euch als Strafe für das Verbrechen vor, das er begangen hat.« »Vielleicht. Egal. Verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen. Ich brauche heute andere Wunder ich brauche mehr Eisen für mein Heer und Silber, um Münzen zu prägen. Aber um all dem Jammer noch etwas hinzuzufügen - wir haben Nachricht, dass die Aikha zurückgekehrt sind und die salianische Küste heimsuchen. Schaff ihn weg. Weg! Was dich betrifft, Fautscher, werden meine Geistlichen die Berichte deiner Sommererträge durchgehen.« »Werft ihn ins Loch! Er sollte tot sein! Er ist tot!« »Um Himmels willen, Tallia! Beherrsche dich!« Ein ersticktes Schweigen folgte seinen donnernden Worten, danach erklang ein wehleidiges Jammern, das sich mit dem Wispern der Brise in den fernen Blättern vermischte, mit dem aus weiter Ferne herandringenden Lärm der Arbei152 ter sowie dem beißenden Gestank des Rauches aus den Kohlenfeuern, die im Umkreis von vielen Wegstunden überall im Wald verteilt waren. »Sollen wir ihn ins Loch werfen, mein Herzog?«, fragte Fautscher mit zittriger Stimme. »Er ist ein wertvoller Arbeiter. Wir haben keinen, der auf dem Rad so kräftig ist wie er.« »Gott im Himmel! Ich hasse es, gute Arbeiter zu verschwenden. Nein, er soll zu seiner Arbeit zurückkehren. Er hat sein Urteil erhalten wie wir alle. Nein! Genug, Tallia! Wir werden nicht weiter darüber sprechen!« Die Peitsche traf seinen Oberschenkel. »Weiter! Weiter!«, rief der Hauptmann. »Das ist alles deine Schuld!« Er stolperte weiter, wieder blind geworden, und strauchelte und stürzte, aber eine Hand packte ihn am Arm, zwickte seine Haut und zog ihn hoch und weiter, während er weinte, weil sie ihn verraten hatte und er Lavastin verraten hatte, auch wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, auf welche Weise. Die Vergangenheit war ihm verschlossen. Die Blindheit verschluckte ihn. Sie kamen wieder zu den Gruben. Aber am Rand des Schachts zog eine seidenweiche Stimme den Hauptmann beiseite und sagte: »Hier sind zwei Goldnomias für Euch, Freund, wenn Ihr diese Kreatur ins Loch werft, von dem ich gehört habe, dass es sich unter der untersten Sohle befindet und aus dem niemand wieder auftaucht. Ihr werdet Euch auch die Gunst von Ihrer Hoheit Edelfrau Tallia erwerben, die, das sage ich Euch ganz im Vertrauen, schon bald Königin von Varre sein wird. Herzog Conrads Krieg entlang der Grenze nach Salia geht gut voran. Es gibt keinerlei Nachrichten von Henry aus Aosta. Varre wird sich schon bald vom wendischen Joch befreien. Es gibt niemanden, der Herzog Conrad aufhalten könnte, denn er stammt aus dem gleichen königlichen Geschlecht wie Henry, ebenso wie seine Frau, die zudem noch mütterlicherseits das Erstgeburtsrecht besitzt. 153 Tut, was Edelfrau Tallia wünscht, und Ihr werdet in der kommenden Zeit froh darüber sein, ihre Gunst erworben zu haben. Vertraut mir.« »Zwei Goldnomias«, murmelte der Hauptmann, und die Gier brachte seine Stimme zum Schmelzen, bis sie überhaupt nicht mehr wie die Stimme eines Mannes klang, sondern wie die des Feindes. »Ich werde ihn selbst runterstoßen. Hier, gebt sie mir.« »Einen jetzt, den anderen später, wenn die Tat vollbracht ist. Ich gehe mit Euch nach unten und sorge dafür, dass Ihr den zweiten erhaltet, wenn ich unversehrt wieder nach oben gelangt bin.« »Das ist nur angemessen! Das ist nur angemessen!« Nachdem sie ihn die Leitern hinuntergeschoben hatten, vorbei an den sich drehenden Rädern und ihrem Rumpeln, drängten sie ihn zum Rand des Abgrunds, wo ein kalter Wind von der Tiefe heraufwehte und ein Geruch nach Verwesung und Schwefel um ihn herumwirbelte. Er wehrte sich nicht. Er war zu benommen, denn es war ein Schwindel gewesen, dass sie schwanger war; schließlich hatte sie dem Ehestand für alle Zeiten entsagt und sich stattdessen dem Dienst an Gott verschrieben, oder etwa nicht? Gott ließen Bäuche nicht von Schwangerschaften anschwellen. Nur Männer taten das. Was sie ihm vorenthalten hatte, hatte sie einem anderen Mann gegeben, und sie hatte ihn zweimal in schlimmster Weise verraten, obwohl er sie aufrichtig geliebt hatte.
Sie stießen ihm ein Stockende in den Rücken und schoben ihn über den Rand. Er fiel. IV Unter den Toten
1 Das Schweigen fiel Zacharias nicht leicht. Jeden Augenblick, den er wach war, schrien Worte in seinem Kopf, aber er hatte nur noch Vokale zur Verfügung, ein Gestammel aus Ooos, Aaas, Eees, Iiis und Uuus. All die starken und herrlichen Klänge, die zwischen Zunge und Lippe gebildet wurden, waren jedoch wie abgeschnitten. Er war ein stummes Tier, das nur noch stöhnen und grunzen konnte. Es wäre besser gewesen, tot zu sein. Besser tot zu sein, als seine Schwester verraten zu haben. Und doch starb er nicht. Wie ein geprügelter Hund stolperte er seinem Herrn hinterher, unterwürfig und sabbernd, sich mit Gesten und einem grotesken Gemisch aus Vokallauten verständigend. Manchmal ließ Edelmann Hugh sich dazu herab, sein Gebrabbel zu deuten, denn war es nicht so, dass alles, was Edelmann Hugh ihn sagen lassen wollte, auch das war, was er selbst hatte sagen wollen? Er war ein Schatten, dicht an den Fersen seines Herrn gehalten durch die Eisenkette, die Hughs Wille war, und durch Furcht. Was war, wenn Hugh ihn wieder mit dem Daemon würgte? 155 Gegen Ende eines elenden Sommers verließen sie Darre und reisten Richtung Norden nach Novomo, wo die Herrin von Novomo, Edelfrau Lavinia, Presbyter Hugh und sein Gefolge großzügig bewirtete und Hugh mit Aufmerksamkeit überschüttete, ihn dafür lobte, dass er ihre Tochter vor einem nicht näher benannten, aber offensichtlich grausamen Schicksal bewahrt hatte. Sie hielten sich nur einen Tag hier auf, denn der Himmel blieb klar, und am Nachmittag des zweiten Tages belud Hughs Gefolge Maultiere und zwei Wagen mit einer Unmenge von Vorräten und Ausrüstungsgegenständen für die Reise. Begleitet von ihrer Eskorte - vierzig Mann von Adelheids erstklassiger aostanischer Reiterei -ritten sie auf einen Hügel außerhalb von Novomo, auf dem sich über den von der sengenden Sommerhitze weiß-golden verfärbten Hängen eine alte Steinkrone erhob. Die zwölf Bediensteten, vierzig Soldaten und ein halbes Dutzend Geistliche, aus denen Hughs Gefolge bestand, warteten in Marschordnung, während die Sonne den zerklüfteten westlichen Bergen entgegensank. Hugh führte Zacharias zu einem sandigen Flecken - dem einzigen Teil des Hügels, der nicht mit trockenem Gras bedeckt war -, stellte sich direkt hinter ihn und drückte ihm dann den armlangen Holzstab in die Hände, mit dem man Fäden aus Sternenlicht in Stein weben konnte. In diesem mathematischen Weben unterrichtete Hugh ihn jetzt schon seit Monaten, und heute Abend würden das, was er gelernt hatte, und sein Gedächtnis einer Prüfung unterzogen werden. Seine Knie zitterten, seine Handflächen waren feucht und die Lippen aufgesprungen. War es den Preis seiner Zunge wert, endlich die Geheimnisse zu kennen, nach deren Enthüllung er sich schon so lange gesehnt hatte? Seine Zunge vielleicht. Aber nicht Hathui. »Da«, sagte Hugh. »Seht Ihr? Der erste Stern. Wir müssen Osten und Norden suchen, um unseren Pfad zu weben. Wir 156 werden uns am Auge des Guivre festhaken, das im Nordosten aufgeht, und ein Netz um den im Osten aufgehenden Adler weben.« Sie würden dem Adler, der bereits vom eigenen Bruder verraten worden war, eine Falle stellen. Der Stab zitterte in seiner Hand, als Wut durch ihn hindurchwogte, aber Hugh führte seinen Arm. Der Stab hob sich, als Hugh Worte sang, die Zacharias niemals würde sprechen können, auch wenn er sie auswendig kannte. »Matthias führe mich, Mark beschütze mich, Johanna befreie mich, Lucia unterstütze mich, Marianna reinige mich, Peter heile mich, Thecla sei stets meine Zeugin, dass die Herrin mein Schild sei und der Herr mein Schwert.« Während Hughs Hand ihn führte, als die ersten Sterne am sich Purpur färbenden Himmel auftauchten, fing er die Fäden der Sterne mit dem Stab ein und webte ein Tor in die Steine. Die Sterne zerrten an den Strängen, als die Himmel sich unausweichlich weiterdrehten, sich drehten und drehten mit dem Rad der Nacht, und das Gefolge eilte unruhig durch den schimmernden Bogengang und verschwand, als würde es sich in Luft auflösen. Die Fäden zogen an den Steinen, dehnten sich und wurden dünner, entwirrten sich, und dann versetzte Hugh ihm einen kräftigen Schlag auf den Rücken und schob ihn hinter den letzten beiden Reitern der Nachhut her. Zacharias stolperte durch das Tor; die Musik der Himmel erklang in seinen Ohren, und seine Beine waren so schwach wie die eines Krüppels, während ihm Schweiß über Stirn und Nacken lief. Ein ständiges Pochen summte durch seine Fußsohlen, und ganz plötzlich sieht er ein Mädchen in einem Kreis von Begleitern schlafen, es ist eine wirklich bunt gemischte Gruppe, denn eine davon ist zu seiner Überraschung Anna, und gerade als der Anblick sich in Dunkelheit auflöst, begreift er, dass es Gnade ist,
1-57 inzwischen groß geworden und zitternd an der Schwelle zur Frau stehend Sanglant reitet an der Spitze eines beeindruckenden Heeres, das aus wendischen Soldaten und Markländern und den schrecklichen Bannern - einem Dutzend oder mehr - der aumanischen Stämme besteht. Es sind so viele von ihnen, dass große Furcht ihn überwältigt und er sich benässt. Der Prinz reitet nicht in Ketten gelegt als ihr Gefangener. Er führt sie an, und doch trägt er keine Flügel aus Greifenfedern, denn er führt zwei lebende Greifen mit einer Leichtigkeit, als würde er einen wertvollen Hengst und eine Stute mit sich führen, und ihre Eisenfedern glänzen so hell, dass Zacharias vollkommen geblendet ist sein Kopf schmerzt die Nacht ertränkt ihn, als verkümmerte Gestalten zwischen Felsen und durch Tunnel schlurfen, sich schnatternd und plappernd bei einem blassen Leichnam treffen, der am Grund des Schachts neben mit Bronzebändern beschlagenen und halb mit Silberstücken gefüllten Eimern liegt. Sie sind so hungrig, dass sein Magen knurrt und er vor Schmerz weint über diesen ständigen Hunger, unter dem so viele von ihnen leiden, die alle hier gefangen sind, wo sie für die letzten Brocken Nahrung arbeiten müssen, ohne die sie alle sterben werden, nicht nur die vielen, die bereits gestorben sind. Sie schwärmen aus, bereit, sich über die Leiche herzumachen, aber ein zauberisches Licht strömt vom Arm des toten Mannes aus, denn er ist gar nicht tot, und dieses kostbare Totem erkennen sie als ein Zeichen, das von einer Generation an die nächste weitergegeben worden ist. Sie weichen zurück, ihr Flüstern hallt durch die Steingänge, in denen sie gefangen sind andere wandeln im Labyrinth er sieht kurz den Adler, den Prinz Sanglant vor Bulkezus Horde gerettet hat. Ihre Haare leuchten wie Zinn, als sie sich 158 umdreht und erstaunt dreinblickt, als hätte sie ihn gesehen. Sie verschwindet in einem Seitenpfad, drängt eine weißhaarige Frau vor sich her, aber er sieht das Gesicht der älteren Frau nicht, ehe ein Wagen rollt in weiter Ferne, ein winziges Haus auf Rädern mit klappernden Perlenvorhängen, und Rauch steigt wirbelnd aus einem Loch im Dach. Daneben reitet eine Frau auf einem kräftigen Wallach, der herrlich schimmert, als das blaue Licht um sie herum pulsiert und ganz plötzlich strahlende Flügel aus ihren Schultern wachsen Zacharias stürzte mit voller Wucht hin, landete bis zu den Handgelenken in Mist und beißendem Dung. Er keuchte und schnaufte, so eng fühlte sich seine Brust an. »Liath!«, sagte Hugh mit einer Stimme, die vor Leidenschaft oder Ärger ganz rau war. »Presbyter Hugh! Eure Exzellenz! Wir haben seit Stunden auf Euch gewartet, Eure Exzellenz! Wir waren schon ganz verzweifelt -« »Mögen Gott uns helfen! Er sieht aus, als würde er ohnmächtig. Haltet meinen Arm, Eure Exzellenz. Vindicadus, lauf nach unten zum Lager und sorge dafür, dass der Stuhl meines Herrn bereitsteht. Wir brauchen heiße Suppe! Hierher, Eure Exzellenz.« Niemand half Zacharias auf. Ihre Stimmen verklangen, als sie sich von ihm wegbewegten, und es dauerte einige Zeit, ehe er die Kraft fand, den Kopf zu heben und aufzustehen. Wolken jagten über den Himmel. Der Boden fiel zu massigen Erdwällen ab, die weiter unten immer flacher wurden und in Grasland und Wald übergingen, weiter nördlich dann in ein dichtes Waldgebiet aus Eichen und Kiefern. Ein Fluss schlängelte sich davon, bis er sich zwischen den Bäumen verlor. Ein Stück Metall glitzerte weit unten auf nackter Erde, aber als er sein Gewicht auf das andere Bein verlagerte, verlor er es aus dem Blick. Vor ihm war sein Schatten, von der Sonne in sei159 nem Rücken in die Länge gezogen. Er drehte sich um, keuchte vor Furcht und hob die Hand, um die Augen zu beschatten, aber die hoch aufragenden Gestalten, die näher rückten, waren nichts weiter als riesige Steine, die in die Erde eingelassen worden waren - die Krone, aus der er taumelnd herausgetreten war. Nelken, blauer Enzian und gelber Siebenstern blühten auf dem grasigen Stück zwischen den Steinen, obwohl ganze Flächen von einem schweren Gewicht, das jetzt entfernt worden war, niedergetrampelt und festgetreten worden waren. Hier und da kroch mit gelben Blüten gesprenkeltes Fingerkraut hervor, schlängelte sich um im Gras verstreute ausgebleichte Knochen. »Bruder Zacharias!« Zwei Soldaten warteten mit verschränkten Armen und sahen ihn finster an. Er stolperte hinter Hugh her, der umgeben von seinem Gefolge durch das Gewirr der Erdwälle hinabstieg. Ein schlichter Weiler aus einem Dutzend Hütten und einigen Grubenhäusern befand sich am Grund des Hügels, gleich hinter einem halb zerfallenen irdischen Tor, das die labyrinthischen Erdwälle vor dem dahinter liegenden offenen Land schützte. Ganz in der Nähe waren frische Gruben für einen Abort ausgehoben worden; in den Erdhaufen krabbelten noch immer Würmer und Käfer, und es schien keinen Abfall zu geben. Zacharias schloss daraus, dass dieses winzige Dorf wohl erst vor kurzem errichtet worden war. Es konnte nicht älter als ein Jahr sein und wurde von etwa zwei Dutzend dunkelhaarigen, hellhäutigen Leuten bewohnt. Diese Einwohner kauerten an den Türen ihrer Häuser und warfen sich demütig zu Boden, als Hugh in seinem herrlichen Gewand auftauchte. Hugh musterte sie, bevor er in aufmunternden Worten zu ihnen sprach. Seine Stimme war jetzt nicht mehr von
Gefühlen zerrissen, auch wenn er noch blass aussah. 160 »Bruder Marcus sagt, dass unter euch jemand wäre, der für die anderen übersetzen kann - wer könnte das sein? Derjenige soll ohne Furcht vortreten. Ich bin erfreut über das, was ich sehe, was ihr hier vollbracht habt. Habt keine Angst vor mir.« Nach einer Pause erhob sich ein Mann und bedeutete mit Gesten, dass jemand von außerhalb der Erdwälle kommen würde. Einer von Hughs Soldaten namens Gerbert kletterte auf den nächsten Wall. »Da draußen ist eine halb fertige kleine Kirche, Presbyter«, rief er herunter. »Einige Männer kommen. Es ist eine Diakonissin bei ihnen.« Vor dem Tor war einst ein tiefer Graben gewesen, der quer dazu verlaufen und als Verteidigungsmaßnahme gedacht war. Jetzt aber war die Grube hauptsächlich mit Schutt gefüllt. Auf der einen Seite zeugten frische Narben davon, dass jemand versucht hatte, sie wieder freizuschaufeln. Bretter waren über das Loch geworfen worden und bildeten eine Brücke. Die Prozession, die sich jetzt näherte, wurde von einer jungen Diakonissin in einem fleckigen und geflickten Gewand angeführt; sie stützte sich auf einen Gehstock, denn sie hinkte deutlich. Sie hatte ein fröhliches Gesicht und ein freundliches Lächeln, das sie sehr jung aussehen ließ, da ihre zwei Vorderzähne fehlten. Ihre strahlende, offene Miene wurde vom Schock über Hughs Auftauchen kaum beeinträchtigt, lediglich ihre Augen weiteten sich, und ihre Hände zitterten. »Mein Herr!« Sie kniete vor Hugh nieder. Er reichte ihr seine saubere, weiße Hand, und sie nahm sie mit ihrer eigenen, die von der harten Arbeit rissig und schmutzig war, und küsste seine Finger. Dann drückte er ihre Finger und bedeutete ihr damit, sich zu erheben. »Ich bin Presbyter Hugh und komme mit diesem Gefolge vom Palast der Skopos in Darre.« »Mein Herr.« Sie sah ihn mit Tränen in den Augen an, 161 vielleicht geblendet von seiner Schönheit oder überwältigt von dem Geruch des Rosenwassers, der ihn umgab. »Ich bin Diakonissin Adalwif, die im Auftrag Gottes, Unseres Herrn und Unserer Herrin, über diese Herde wacht.« »Ihr kommt aus Wendar«, sagte er überrascht. »Ja, das stimmt. Meine Familie besitzt Land in der Nähe von Kessal, aber nach meinem Eintritt in den Orden bin ich nach Osten gegangen, um bei den ungläubigen Salavii zu predigen. Und hier findet Ihr mich nun.« Sie nickte den Menschen zu, die sich um sie herum versammelt hatten und respektvoll schwiegen. »Es sind schlichte, aber gute Leute. Mit ihrer Ehrfurcht und ihrer harten Arbeit haben sie sich als äußerst fromm erwiesen. Ihr seht, dass wir die Aufgabe erfüllt haben, die Presbyter Marcus von Darre uns vor zwei Jahren gestellt hat. Die Steine sind aufgerichtet. Jetzt sind wir damit beschäftigt, eine Kirche zu bauen, um diesen Grund zu weihen und die alten heidnischen Geister fern zu halten.« »Ihr habt gute Arbeit geleistet.« »Wir tun unser Bestes, um Gott zu dienen, mein Herr.« Sie zögerte, als wollte sie eine Frage stellen, tat es aber nicht. »Und jetzt seid Ihr gekommen.« »Ich werde für einige Zeit hier bleiben. Ich bitte Euch, Diakonissin Adalwif, welcher Tag ist heute?« Sie nickte. »Bruder Marcus hat mir gesagt, dass die Tage innerhalb der heiligen Kronen anders vergehen als auf der weltlichen Erde. Ich habe den Lauf der Tage sorgsam verfolgt, damit meine Herde die Festtage feiern kann, wie es sich gehört, und damit die Kinder nach den herrlichen, gottgefälligen Heiligen benannt werden können. Es ist der Festtag von St. Branwen, dem Krieger.« Er lächelte. »Ein guter Tag, um anzukommen! Wir haben Aosta höchst günstig am Festtag von St. Marcus, dem Apostel, verlassen.« »St. Marcus!« 162 »Hierher zu kommen hat weit länger gedauert, als ich gedacht hatte.« »Ganze fünf Monate.« »Beinahe sechs.« »Und all das ist in einer einzigen Nacht geschehen?« »In einer einzigen Nacht«, stimmte er zu und warf dabei einen Blick den Hügel hinauf, doch der Hang und die großen Erdwälle verhinderten, dass er die Krone sehen konnte. »Aber was spielt es für eine Rolle, dass sechs Monate in einer Nacht vergangen sind?«, fragte er nachdenklich. »Wir müssen auf jeden Fall bis Octumber hier bleiben und uns auf das vorbereiten, was kommen wird. Ich habe eine Gruppe von kräftigen Leuten bei mir, Diakonissin, wie Ihr gesehen habt. Wir werden Eure Kirche fertig stellen. Anschließend werden wir eine Palisade errichten, denn dieser Ort ist vor nicht allzu vielen Jahren der Schauplatz einer schrecklichen Schlacht gewesen.« »Das ist nur zu wahr.« Sie nickte ernst. »Wir erinnern uns gut an diese Zeit. Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia haben eine starke Streitmacht hierher gebracht, aber die Qumaner haben sie besiegt und nach Nordwesten getrieben. Am Ende, so heißt es, hat Prinz Sanglant uns gerettet. Alle Qumaner sind vertrieben worden und werden nie mehr zurückkehren.« Eine leichte Drehung des Windes brachte Hugh dazu, eine Grimasse zu ziehen, als ihm etwas Spreu ins Auge
flog, aber er lächelte rasch und machte eine Handbewegung in Richtung des Lagers, das seine Bediensteten bereits zu errichten begannen. »Dafür müssen wir beten, Diakonissin. Wenn wir geduldig sind und stark, werden alle unsere Feinde zur letzten Ruhe gebettet werden.« 163 2 Er versank unterhalb der Gebeine der Welt. Ein Flüstern zupfte an seinen Ohren, und als er die Augen öffnete, fand er sich in einer Dunkelheit wieder, die nur von einem schwachen, goldenen Licht etwas erhellt wurde, das von seinem linken Arm ausging. Verwundert wartete er darauf, dass sein Sehvermögen kurz aufblitzte und wieder verschwand, aber der Glanz blieb beständig, als er sich umsah. Er lag in einer niedrigen Kammer, die von intelligenten Wesen aus dem Fels gehauen oder von beharrlicheren Kräften erschaffen worden war. Der Boden war von jeglichem Schutt gereinigt. Links von ihm schuf die Schräge der Kammer eine Reihe von bankähnlichen Vorsprüngen an der Wand. Kreaturen kauerten dort, hielten die knöchernen Knie gegen die Brust gedrückt und umfingen sich mit den spindeldürren Armen. Viele trugen kleine Schmuckstücke um den Hals, seltsame Brocken, die sie aus einem Dohlennest gestohlen haben mochten. Die meisten hatten scharfe, glitzernde Kanten und glänzende Ecken. Die Kreaturen hatten Gesichter, die denen von Menschen ähnelten, aber wo Augen hätten sein müssen, waren milchige Ausbuchtungen, die sich verhüllten und klärten. Er hätte nicht sagen können, ob sie ihn beobachteten oder blind waren. Mit einem Ächzen setzte er sich auf. Die Bewegung brachte seinen Kopf zum Pochen, und er musste die Augen schließen, um sich darauf zu konzentrieren, sich nicht zu erbrechen. Schließlich nahm der Würgereiz ab, und sein Magen beruhigte sich wieder, nur der klopfende Schmerz in den Schläfen dauerte noch an. Die Luft war angenehm, weder warm noch kalt, und so ruhig, dass er den Geschmack jedes Staubkorns auf der Zunge schmecken konnte. Eines der Geschöpfe rührte sich, vollführte mit den Armen 164 genaue Muster, während es Finger an Finger rieb, dann über die Arme, über den Stein selbst, so dass es klickte und klackte. Die Stimme war nicht eigentlich eine Stimme; es klang eher wie das Mahlen von Kieselsteinen. »Wer bist du?«, fragte das Geschöpf. »Ich bin«, sagte er. »Ich bin ...« Es war wie das Um sich schlagen in tiefem Wasser, während die reißende Flut einen unausweichlich hinaus ins offene Meer zerrte. »Ich habe meinen Namen vergessen. Es ist alles weg.« »Du trägst einen Talisman aus der alten Zeit«, sagte das Geschöpf geduldig. Er sah jetzt ein Dutzend Geschöpfe wie Steinklötze überall in der Kammer sitzen, reglos, abgesehen von den leichten Gesten, deren raffinierte Muster und Klangveränderungen für ihn allmählich einen Sinn ergaben, denn sie flössen auf die gleiche Weise zusammen und trieben wieder auseinander, in der sich Schichten von Metall durch den Fels arbeiteten. »Die alte Zeit ist nichts als eine falsche Geschichte! Wir müssen die Behaglichkeit aufgeben und nach der Wahrheit graben!« »Verzweiflung ist nicht Wahrheit. Die alte Zeit ist keine falsche Geschichte, sondern eine in Luft gemeißelte Erinnerung, die uns die Wahrheit über die alte Zeit sagt und über die Stadt, deren Mauern sprechen.« »Du bist ein Narr! Ein Träumer!« »Du wirst von Felsstürzen festgehalten, die nur in dem Geist existieren, den du mit dir trägst!« Sie sprachen mittels Berührungen und Geräuschen, gaben sie von einem zum anderen weiter und wieder zurück, wobei das Ganze vom Scharren der Finger auf Staub und vom Klopfen der Knöchel auf Stein oder Haut, vom Ziehen und Schieben der Luft, die durch ihre Bewegungen aufgewühlt wurde, von ihrem Ein- und Ausatmen unterstrichen wurde. Die 165 Worte, die sie sprachen, waren Konstrukte, die er verstand, so wie er eine Sprache verstehen konnte, die sich aus einer Abfolge von Silben zusammensetzte. »Der Talisman bezeugt die Wahrheit! Diese Kreatur trägt den Talisman! Diese Katakombe hält uns gefangen, weil wir in der Wache-die-vorher-kam hierher gehen und Luiadh suchen. Um Luiadh zu finden, folgen wir den Adern von Silapu. Eins führt zum anderen. Dieses Geschöpf führt uns zum Talisman oder dieser Talisman zu dem Geschöpf. Tu nicht so, als würde das eine ohne das andere gehen. Höre!« Sie beruhigten sich. Das Geschöpf, dessen Haut wie Zinn glänzte und das als Erstes gesprochen hatte, veränderte seine Haltung und wandte sich an ihn. »Was bist du? Die anderen von deiner Art, die von dem Geblende heruntersteigen, sind leer, wenn sie hier ankommen. Du nicht.« »Ich lebe«, stimmte er zu, bevor er sich an das Schicksal der armen Verbrecher erinnerte, die in das Loch geworfen wurden. Er zitterte. Das Zittern ging wie ein giftiger Wind durch die Versammlung hindurch. »Es fürchtet uns!« »Es will uns vergiften!« »Es sucht Silapu! Dieb! Verberger!« »Hört!« Zinn-Haut stampfte mit einem dreiklauigen Fuß auf, und die anderen bewegten sich unruhig, ehe sie sich fügten. Als sie sich reglos niederkauerten, versuchten sie tatsächlich so sehr, mit dem Fels zu verschmelzen,
dass er sich fragte, ob er noch immer träumte. Sie waren nur Felsen, und er halluzinierte. Aber sie sprachen weiter, und er hörte noch immer ihre Worte. »Es soll sprechen. Was bist du? Wieso bist du nicht leer? Wieso bist du wie die Leeren runtergeworfen worden? Wieso trägst du den Talisman?« »Ich weiß es nicht.« Erinnerungsfetzen blitzten in seinem Geist auf, brannten in seinen Augen. »Ihr seid Skrolin. Mein 166 Volk hat euch einmal so genannt. Es war ein Wesen von eurer Art, das mir das hier gegeben hat.« Er strich mit den Fingern über den glänzenden Armreif, der sich kühl anfühlte, obwohl seine Oberfläche brannte, als wäre sie heiß. »Ich erinnere mich an die große Stadt. Eine strahlende Stadt.« »Oh! Oh!« Sie bewegten sich, seufzten und stöhnten, dann wurden sie wieder ruhig, rollten nur noch ihre milchigen Augen, bis auch diese zur Ruhe kamen. Ein paar strichen mit den Fingern über den Fels, ehe sie sich wieder in die Hocke begaben. Zinn-Haut sprach. »Erzähle uns von der Stadt.« »Habt ihr vor, mich zu essen?« »Dich zu essen?« »Die Leichen von meinem Volk. Sie werden als Nahrung für euch hier runtergeworfen, und ihr gebt den Grubenarbeitern dafür Silber.« Sie schnauften, ihr ganzer Atem verpuffte regelrecht. Staub wirbelte auf dem Boden auf. Zuerst entrollte sich das eine, dann ein zweites und ein drittes, bis alle mit einem rollenden Gang aus der Kammer verschwanden und ihn allein ließen. Er rieb sich die schmutzigen Haare, zitterte vor Angst und Erschöpfung, als er versuchte, sich zu orientieren und sich zu erinnern, aber er konnte in all dem keinen Sinn erkennen. Er besaß nur Fetzen, wie die abgebrochenen, kaputten Schmuckstückchen, die die Skrolin an ihren knorrigen Körpern trugen. Nichts passte zusammen. Hatte er nicht eine Frau mit weizenblondem Haar gesehen, deren Bauch von einer Schwangerschaft rund war? Sie hatte ihn verraten! Aber er wusste nicht, wie. Es schien, als wären Ärger und Trauer seine Kameraden gewesen, aber sogar sie entzogen sich ihm jetzt. Er stand schwankend auf, stieß sich den Kopf an der rauen Decke und sank auf die Knie, während eine Woge aus Schmerz durch ihn hindurchging. Er konnte nichts anderes 167 tun als tief Luft holen, ausatmen und wieder einatmen. Früher einmal hatte die Welt, hatte jede Faser seines Seins nicht so sehr geschmerzt, aber jetzt tat sein Kopf die ganze Zeit über weh. Deshalb war er blind und stumm gewesen. Der Schlag auf den Kopf hatte ihn beschädigt. Wann war das gewesen ? Er konnte sich nicht erinnern. Eine Berührung so sanft wie von einem Schmetterling flatterte über seinen Rücken. Er fuhr auf, sah Zinn-Haut kaum eine Armeslänge entfernt zusammengekauert an den Fels geschmiegt. Etwas stimmte nicht mit der glatten Haut des Geschöpfes; dieses Nichtwissen nagte an ihm, aber er konnte die Lücke nicht füllen. Er konnte sich nicht erinnern. »Komm.« Zinn-Haut benutzte Geräusche, Berührungen und Gesten, um das zu übermitteln, was es meinte. »Du sprichst Worte, die giftig sind. Die anderen wenden sich von dir ab. Wir wenden uns von dem ab, was uns kränkt. Aber ich glaube, ich sollte dir zuerst etwas zeigen. Ich glaube, dass du unwissend bist.« Das Skrolin entrollte sich und watschelte davon. Bei jedem Schritt schössen schmerzhafte Stiche durch seinen Kopf, aber er folgte Zinn-Haut weiter, während sich der Raum von allen Seiten um ihn schloss. Er ging in die Hocke, bis die Decke zurückwich und die Mauern einer größeren Kammer Platz machten. Zinn-Haut führte ihn zu einer niedrigen Öffnung, wo er auf Händen und Knien über raues Felsgestein kroch, dem Skrolin dann vorsichtig eine steile Schräge hinab in eine noch größere Kammer folgte, die von Adern eines Minerals durchzogen war, das er nicht einordnen konnte. Ein ausgetretener Pfad führte sie an einer sich verzweigenden Röhre vorbei, dann an zwei Schächten, die in die Dunkelheit abstürzten, an drei Steinsäulen, an deren einer Seite ein Schuttberg aufgehäuft war, und schließlich an vier Abzweigungen, die vom Hauptkorridor abgingen und deren 168 Decken so niedrig waren, dass er sich niemals hätte hindurchzwängen können. Die Decke im Hauptkorridor blieb hoch genug, dass er sich nicht den Kopf stieß, und als der Boden schließlich wieder nach oben führte, flitzte Zinn-Haut durch eine Öffnung, und er kroch hinterher, schürfte sich die Knie und Handflächen auf, obwohl die Fußsohlen so voller Schwielen waren, dass nicht einmal die schroffen Felskanten sie verletzen konnten. Die Decke und die Wände weiteten sich verblüffend rasch zu einer sehr viel größeren Höhle, und er schnappte überrascht nach Luft, atmete einen Geruch ein, der so intensiv war wie gärende Hefe in einem geschlossenen, warmen Raum mit aufgehendem Brot. Weiße Gewächse, die wie riesige Pilze aussahen, wuchsen in ordentlichen Reihen auf dem Boden der Höhle. Der kräftige Geruch hing schwer in der Luft. Er hustete, blinzelte den stechenden Nachgeschmack von Verwesung weg, der seine Augen tränen ließ und seine Zunge trocken machte. Leben kann nicht aus totem Stein erwachsen. Leichen lagen in den unterschiedlichsten Stadien der Verwesung da. Auf den frischesten erblühte förmlich eine
pilzähnliche Masse; bei den anderen schmückten ein paar letzte Zweige die Knochen, während der schwammige Pilz die letzten Fetzen des Lebens verschlang. Zinn-Haut zupfte eine Hand voll von dem weißen Zeug ab und aß es. »Wir leben in einer Falle. Clavas hält uns am Leben. Die Leeren geben dem Clavas Nahrung. Also tauschen wir Silapu für die Leeren. Wir können das Silapu nicht essen, auch wenn einige behaupten, wir hätten es zur Zeit der Stadt tun können. In der Zeit damals waren wir ein starkes und schlaues Volk, gut aussehend und voller Wachstum. Jetzt sind wir krank und sterben, sogar die Freien.« »Wo sind die Freien? Wieso seid ihr in einer Falle?« »Komm mit.« Zinn-Haut winkte ihm zu. 169 Er folgte ihm durch den Garten aus Leichen und Knochen und in einen Tunnel, der voller Flecken war; sie glitzerten, als er vorbeiging. Durch den Schimmer des Armbands konnte er Adern und Kristalle ausmachen, die im Stein wuchsen. Glänzende Körner rutschten unter seinen Füßen weg. Weitere Tunnel zweigten zu beiden Seiten ab, wo Schächte nach unten oder nach oben ragten. Zinn-Haut führte ihn unbeirrbar weiter, und nach schier endlos langer Zeit - es mochte die Dauer einer Hymne oder auch ein Jahrhundert gewesen sein quetschten sie sich zwischen zwei Säulen hindurch, und er starrte verwundert nach oben. Die Decke und die Wände dieser breiten Höhle glänzten, wo das Licht von ihnen zurückgeworfen wurde, obwohl die Wände nur wenige Schritte entfernt in Dunkelheit versanken. Der Boden war ungewöhnlich eben. Hier hatten die Skrolin gesäuberte Knochen benutzt, um einige seltsame Gebäude zu errichten: eine Pyramide aus Schädeln, einen Bogengang aus raffiniert zurechtgeschnitzten, ineinander verschränkten Oberschenkelknochen, einen Kai aus miteinander verbundenen Brustkörben; Schulterblätter und Beckenknochen, die zu einem plumpen Miniaturtempel oder Palast angeordnet waren. »Dies ist die Geschichte unserer Stadt«, sagte Zinn-Haut. »Wir versuchen, uns zu erinnern.« »Wieso könnt ihr euch nicht erinnern?«, fragte er. »Die Geschichte wird über viele Leben hinweg weitererzählt, aber wir vergessen, ob sie wahr ist oder falsch.« »Die Falle, von der du gesprochen hast. Ist das eine wahre Geschichte oder eine falsche?« »Oh!« Das Geräusch schnitt durch die Luft wie eine Klinge aus Wut, Resignation und Trauer. »Komm mit. Komm mit.« Ein Pfad teilte die Knochenstadt, führte sie an den unheimlichen Gebilden vorbei zur anderen Seite, wo die Decke auf den Boden stieß. Dort, an der Verbindungsstelle, befand sich ein schmaler Durchgang. 170 »Dies ist die Falle.« Er roch Wasser. Er ließ sich auf Hände und Füße nieder und kroch in einen Tunnel hinein, der zu niedrig war, als dass er aufrecht hätte stehen können. Er war nicht weiter als eine Körperlänge gekommen, als seine Hände auf etwas Feuchtes stießen. Er führte die Feuchtigkeit an die Zunge, spuckte aus und kroch wieder zurück. »Es schmeckt wie Meerwasser.« »Solches Wasser ist Gift für uns. Durch diesen Tunnel kommen wir vor vielen Wachen, dreißig von uns, auf der Suche nach Luiadh. Die Erde bebt. Die Füße der Weisen weit im Norden verlagern sich und zittern. Das Wasser rauscht herein und hält uns hier fest, wo die Tunnel in einem Kreis verlaufen. Wir können nicht raus.« Er versuchte, sich Klarheit zu verschaffen, während er sprach. »Diese Tunnel, in denen ihr jetzt lebt, sind eine Sackgasse. Der Tunnel, durch den ihr gekommen seid, ist voller Wasser aufgrund eines Erdbebens. Jetzt sitzt ihr hier in der Falle.« »Ja. Vierzehn von uns sind leer geworden, aber wir Übrigen halten uns mit dem Clavas weiter am Leben.« »Also tauscht ihr bei den Grubenarbeitern Silber gegen die Leichen, die den Boden bieten, auf dem ihr eure Nahrung wachsen lasst.« »Ja.« »Ist dies der Tunnel, der zurück in eure Heimat führt?« »Ja. Durch diesen sind wir gekommen. Dieser Tunnel ist der Weg nach Hause, wo der Stamm in langen Höhlen wohnt.« »Gibt es keinen anderen Weg?« »Nein. Viele Wachen lang haben wir gesucht. Viele Wachen lang haben wir gegraben. Wir warten in einer Falle.« »Könnt ihr euch nicht zur Oberfläche durchgraben? Einen anderen Eingang in die Tiefe finden?« 171 »Das Geblende verbrennt uns. Das Wasser vergiftet uns. Wir können sie nicht erreichen. Wir sitzen in der Falle.« »Könnt ihr euch nicht einen Weg zurückgraben ? Ihr seid doch Grubenarbeiter, nicht wahr?« »Wir graben in der Erde. Wir graben, aber langsam. Wir, die wir jetzt hier gefangen sind, haben uns hier nur umgesehen, als wir zum ersten Mal hergekommen sind. Wir haben alle kräftigen Werkzeuge zurückgelassen. Und wir sind auch zu wenige, um in unserer Lebensspanne so weit zu graben. Wir werden hier sterben, während wir warten. Eins nach dem anderen.« Er nickte. »Ich werde gehen. Ich werde so weit schwimmen, wie ich kann, und sehen, ob ich zur anderen Seite
komme.« »Vergiftet das Wasser dich nicht?« »Nein. Ich kann es nicht trinken, aber es vergiftet mich nicht, solange ich es nicht trinke.« »Wieso?« »Ich weiß es nicht. Das Salz ist zu stark. Deshalb können wir es nicht trinken.« »Nein. Wieso hilfst du uns? Willst du nicht zurück zu dem Geblende?« Er sank auf den Boden, kreuzte die Beine und rieb sich die Augen. »Wieso sollte ich euch nicht helfen wollen? Ihr sitzt in der Falle. Vielleicht kann ich euch befreien, indem ich eurem Volk sage, dass ihr noch lebt. Wenn ich den Schacht hochklettere, werden sie mich töten, also bin ich sowieso verdammt. Vielleicht haben Gott mich hierher geschickt, damit ich euch helfe, wenn ich eure Not sehe.« »Wer ist Gott?« Er lachte, und der Klang seines Lachens ließ Zinn-Haut zusammenfahren. Das Skrolin machte einen Satz rückwärts und rollte sich in der kauernden Position zusammen, wie eine Schildkröte, die sich in den Panzer zurückzog. Aber sein Gelächter war wie ein Messer, schnitt einen Strang des Seils 172 durch, das an ihm scheuerte. So viele Dinge banden ihn: sein leeres Gedächtnis, sein schmerzender Kopf, das Geheimnis seiner Wut und seiner Trauer. Doch das Gelächter war ein Rätsel für sich, ein Tonikum, das die Bürde des Lebens erleichterte. »Lass mich erst zu Kräften kommen. Ich bin so müde. Ich habe Schmerzen. Ich brauche Wasser zum Trinken. Gebt mir bitte etwas von eurem Clavas. Erzählt mir eure Geschichten, während ich mich ausruhe. Dann werde ich sehen, wie weit ich schwimmen kann.« 3 Zacharias' Tagesablauf folgte einem gleichmäßigen Trott. An schönen Tagen leitete Hugh in der Früh die Gelehrtenschule - wenn man sie denn so nennen wollte; einige Kinder saßen dann auf dem Boden vor ihm, und er brachte ihnen Schreiben und Lesen bei. Zacharias durfte nie nah genug kommen, als dass er hätte zuhören können, denn wenn er das getan hätte, hätte er schreiben lernen und so eine Möglichkeit finden können, sich mitzuteilen. Es war aber offensichtlich Hughs Ziel, ihn davon abzuhalten, sich jemals wieder auf irgendeine Weise zu äußern. Zacharias musste sich daher damit begnügen, mit einem Stock Buchstaben in den Boden zu kratzen, wenn er sich unbeobachtet wähnte, und aus diesen gebogenen und gekrümmten Symbolen versuchte er dann eine Bedeutung herauszulesen. Da er die Liturgie auswendig kannte, musste es ihm doch sicher gelingen, das Geheimnis herauszufinden, das es möglich machte, Worte in Buchstaben zu gießen, in die Botschaft, die die Schöpfung hervorgebracht hatte, wie es das Heilige Buch behauptete, an das er längst nicht mehr glaubte. Aber da war gewiss etwas an der Vernunft, an dem Gedan173 ken und dem Willen, die im Innern des Universums ruhten, in seinem Kern, seiner Seele - sofern das Universum eine Seele hatte. Sofern irgendjemand eine Seele hatte. Hugh hatte seine Seele jedenfalls schon seit langem aufgegeben, denn wie konnte man so wunderschön und so freundlich sein und gleichzeitig in seinem Innern solch ein vergiftetes Herz verbergen? Wie konnte ein großer Edelmann so geduldig vor einem Dutzend schmutziger salavischer Bauernkinder stehen und ihnen Buchstaben beibringen? Ein frommer Kirchenmann mochte das tun - jemand, der hoffte, dass sie Diakonissinnen und Frater werden und dann ihrerseits die Landbevölkerung unterrichten und ihre ungläubigen Verwandten ins Licht führen würden. Bedeutete dies, dass Hugh ein frommer Kirchenmann war? Oder ein gerissener Schwindler? Aber er mühte sich als treuer Diener und Helfer von König Henry und Königin Adelheid ab. Auf diese Gegensätze konnte sich Zacharias keinen Reim machen. Er verstand einen Mann einfach nicht, der so elegant war, aber trotzdem ohne zu klagen in der Wildnis lebte, dessen Hände sauber und doch blutbefleckt waren von Grausamkeiten wie dem Herausschneiden der Zunge eines Unschuldigen, der rotznäsige gewöhnliche Kinder wie ein demütiger Frater unterrichtete und doch in Darre mit der Arroganz eines Mannes von höchstem Rang unter den großen Edelleuten einherschritt. Der skrupellos sein und doch so überaus barmherzig wirken konnte, wenn Mütter ihre kranken Kinder in seine Obhut gaben. Seine Soldaten bekannten ihm gegenüber ihre Sorgen und kleinen Verbrechen, und er ließ ihnen stets eine gerechte Strafe zukommen, die durchdrungen war vom Kuss der Gnade. Würde ich ihn nicht hassen, würde ich ihn lieben. Die Wochen vergingen, und der Frühling erblühte rings um sie herum. Die Kirche wuchs Balken für Balken, und viele Nächte nahm Hugh Zacharias, Diakonissin Adalwif und 174 die anderen Geistlichen mit zur Krone hinauf, wo sie die Sterne und die Geheimnisse studierten, die von den Mathematiki gehütet wurden, und sich auf die Beschwörung vorbereiteten, die sie schon bald würden weben müssen. »Was ist mit dem Wunder des Phoenix?«, fragte Diakonissin Adalwif häufig, wenn sie im Licht der Lampen zwischen den Erdwällen hindurch zurückgingen. »Habt Ihr ihn mit eigenen Augen gesehen?« »Nein, das habe ich nicht, aber diese salavischen Leute hier und ich sind durch die Fürbitte eines Heiligen
verschont worden, der in die Tracht eines Löwen des Königs gekleidet war. Das qumanische Heer ist direkt an uns vorbeimarschiert, während wir hilflos waren, und doch wurde niemandem ein Haar gekrümmt.« »Ein Wunder, in der Tat. Aber wieso glaubt Ihr, dass dieses Wunder mit der Ketzerei zusammenhängt, von der Ihr sprecht?« »Ich weiß es tief in meinem Innern, Eure Exzellenz. Geht es Euch nicht genauso? Ihr verdammt es nicht, was Ihr tun würdet, wenn Ihr nicht an den alten Lehren zweifeln würdet.« Hugh antwortete nicht, aber sein Arm schloss sich fester um das Buch, das er Tag und Nacht bei sich trug. Er wachte über das Buch auf die gleiche Weise, wie er über Zacharias wachte, der tagsüber niemals allein blieb und nachts am Mittelpfosten des Zeltes angekettet wurde. Der Festtag von St. Barbara kennzeichnete den ersten Tag des Avril des Jahres siebenhundertfünfunddreißig. Dreizehn Tage später dämmerte der Festtag von St. Sormas mit einem Regenschauer, gefolgt von einem milden Südwind, der die Wolken vertrieb. Während die Novizen sich zur Schulstunde versammelten, benachrichtigten zwei aufgeregte salavische Jungen Hugh, dass das Wasser mit der Ankunft des Frühjahrs genug zurückgewichen war, um in den Grabhügel kriechen zu können, wenn er sich traute. 175 »Was heißt das?«, wollte Hugh von Diakonissin Adalwif wissen. Sie schüttelte den Kopf. »Nichts Heiliges, Eure Exzellenz. Dies ist ein alter Grabhügel, wie die Alten sie über den Gebeinen ihrer Königinnen errichtet haben. Deshalb habe ich darauf bestanden, dass wir diese Kirche bauen. Ich hätte sie gern auf dem Hügel errichtet, um dieses Gebiet zu weihen und es heilig zu machen, aber ich durfte die Krone nicht versperren. Im letzten Sommer haben jedoch ein paar von den Kindern einen Teich entdeckt und ein Loch, das tief in den Hügel führt. Sie wollten hineinkriechen, aber ich habe dem Einhalt geboten. Niemand weiß, was sich in einem alten Grabhügel wie diesem befinden könnte.« »Sicher seid Ihr nicht abergläubisch genug, um an böse Geister zu glauben, Diakonissin?« »Nein, nein, gar nicht, Eure Exzellenz.« »Am besten untersuche ich die Angelegenheit selbst, wenn der Weg frei ist«, sagte Hugh, aber Zacharias fand, dass sein Gesicht ungewöhnlich gerötet war. »Auf diese Weise kann ich das Böse, sollte es hier noch herumlungern, gleich vertreiben.« »Natürlich, Eure Exzellenz«, erwiderte sie und wirkte erleichtert. »Es ist nicht einfach gewesen, die älteren Jungen davon abzuhalten, sich überall herumzutreiben. Letzten Herbst ist ein armer Kerl im Fluss ertrunken.« »Die Kinder sollen mir den Eingang zeigen. Ich werde Bruder Zacharias eine Lampe tragen lassen, und Gerbert wird den Eingang bewachen, so dass mir niemand folgen kann.« »Wollt Ihr sonst niemanden mitnehmen?« »Habe ich denn etwas zu fürchten? Die Gebeine der ungläubigen Toten haben keine Macht über mich, Diakonissin. Und über Euch auch nicht.« »Ja, mein Herr. Ihr habt natürlich jegliches Recht dazu.« Aber sie sah immer noch erschreckt aus. 176 Und wieso auch nicht? Zacharias hatte Muße zum Nachdenken, als Gerbert auf der dem kleinen Dorf und dem Lager entgegen gesetzten Seite des Hügels in einen knietiefen Teich watete, der am Fuß einer Klippe lag, die aus dem hier steil ansteigenden Erdwall ragte. Ein dünnes Rinnsal hatte im Lauf der Jahre die Erde weggewaschen und einen Eingang freigelegt, der aus zwei mit einem Türsturz verbundenen Steinen bestand und - wie Zacharias vermutete - einst vom Hügelgrab bedeckt gewesen war; jetzt befand er sich halb verborgen hinter einem Vorhang aus Moos. Wenn die Kinder sich hier nicht herumgetrieben hätten, wäre er möglicherweise von niemandem bemerkt worden. Gerbert hackte das Moos mit dem Schwert weg. »Gehen wir.« Hugh hielt eine Lampe hoch, watete ins Wasser und schritt durch die Öffnung. Die Frühlingssonne lag warm auf Zacharias' Schultern; welch ein Gegensatz zu dem eisigen Wasser, das seine Zehen und Waden eiskalt werden ließ, kaum dass er Hugh in den schmalen Tunnel hineinfolgte. Der Tunnel war kaum höher als er selbst und ziemlich dunkel. Seine Hand zitterte, und daher zitterte auch das Licht seiner Lampe, während es die mit Spiralen und Rauten verzierten Steinwände erhellte. Er fürchtete sich vor der Dunkelheit, aber Hugh jagte ihm noch mehr Angst ein. Der Korridor weitete sich genug, dass ein Mann durch das knietiefe Wasser schreiten konnte, ohne mit den Schultern an einer der Mauern anzustoßen. »Was ist das?«, murmelte Hugh. Zacharias wäre fast in ein seltsames Knochengerüst hineingerannt, das aus dem Wasser ragte. Es war voller blasser Würmer, die er nach einem Augenblick als die Überreste von verrottenden Federn erkannte. Ihm wurde übel, und die Erinnerung traf ihn mit solcher Wucht, dass sein Magen sich entleerte, ohne dass er es hätte verhindern können. 177 »Ich bitte Euch«, sagte Hugh und trat zur Seite, um dem Gestank auszuweichen, »was ist los, Zacharias?« Er konnte nicht antworten. »Ah.« Hugh fischte einen Schädel aus dem Wasser, an dem noch ein paar schwarze Haarbüschel hingen. »Ich nehme an, dies sind die berüchtigten Flügel eines qumanischen Kriegers, und das hier ist wohl sein Kopf. Er muss nach der Schlacht hierher gegangen sein, um zu sterben. Das hier ist sicher keine uralte Königin, die von ihren frommen Dienern zur Ruhe gebettet wurde. Kommt.« Falls das, was jetzt oben auf dem Wasser schwamm,
ihn anekelte, war es ihm jedenfalls nicht anzumerken, auch wenn seine Miene in dem Wechselspiel aus Licht und Schatten, das beim Weitergehen über sein Gesicht tanzte, nur schwer zu deuten war. Schwitzend und ängstlich watete Zacharias gehorsam hinter ihm her. Der Boden des Tunnels führte unmerklich aufwärts. Das Wasser blieb zurück und gab allmählich festen Boden frei, während sie weiter vorsichtig in die Dunkelheit schritten. Hugh blieb stehen, um die Symbole zu mustern, die in den Stein gemeißelt waren: weitere Spiralen und Rauten, lange schraffierte Streifen und hier und da sogar Punkte und Linien, die wie ein Kalender aussahen. Was war, wenn Hugh einen weiteren Daemon fand, der hier eingesperrt war, und ihn Zacharias' Körper in Besitz nehmen ließ? Er wimmerte. »Was war das?«, fragte Hugh, blieb kurz stehen und ging dann weiter. Der Tunnel öffnete sich zu einer breiten Kammer, einem schwarzen Loch, das im flackernden, über den Boden tanzenden Licht unheimlich wirkte. Die Wände blieben im Schatten, und auch die Decke war nicht zu sehen, so hoch über ihnen befand sie sich. »Da liegt sie, die arme Seele.« Hugh ging im Kreis in der Kammer herum, hielt seine Lampe in drei Alkoven, die in die von Kragsteinen gestützte Mauer eingelassen waren. Er 178 schüttelte den Kopf, kehrte zu der Steinplatte in der Mitte der Kammer zurück. »Ich hatte gehofft, hier vielleicht Gnade mit ihren Kameraden zu finden«, sagte er nachdenklich mehr zu sich selbst als zu Zacharias. »Aber vielleicht war das eine falsche Vision, keine wahre. Es ergibt auch gar keinen Sinn. Wieso sollte Sanglant seine Tochter unter einer der Kronen schlafen lassen? Damit sie in sicherem Gewahrsam ist? Aber ich kann sie immer noch finden. Das war ganz gewiss Liath, die auf die gleiche Weise gereist ist wie wir - durch die Kronen. Wer war da bei ihr? Eine Zauberin von großer Macht. Ich habe ihre Macht in meinen Knochen gespürt.« Er kniete neben dem Skelett auf der Steinplatte nieder. Die tote Königin schimmerte im Licht, denn das Gold, das einst ihre Kleidung geschmückt hatte, war schon vor langer Zeit zwischen ihre Knochen gesunken. »Was ist das?« Hugh berührte zwei goldene Geweihe, die beiderseits des grinsenden Schädels lagen. »Reichtümer! Wir sollten niemandem davon erzählen, Zacharias. Es gibt keinen Grund, die Toten auszurauben. Lassen wir sie in Frieden hier liegen.« Er beugte sich nach vorn, noch immer auf den Knien. »Oh, was ist das hier?« Er griff hinter sie und hob einen groben Obsidian-Spiegel aus dem Staub; trotz der vielen Jahre fing die glänzende Oberfläche noch immer das Lampenlicht ein und warf blitzende Funken in die verborgenen Tiefen der Kammer. Wo Schatten sich bewegten. Sie treten aus den Alkoven, alte Königinnen, deren Augen den Glanz von Messern haben. Zacharias schrie vor Entsetzen auf, stolperte und sank in einen Haufen verrotteter Kleider, die unter seinen Händen zu Staub zerfielen. Seine Lampe fiel zu Boden, spuckte, als das Öl auslief. »Keine Angst, Zacharias«, sagte Hugh freundlich, während 179 er den Spiegel hob. Mit verwundertem Blick und schlauem Grinsen schickte er das Licht an den Wänden entlang und die Decke hinauf, indem er den Spiegel dazu benutzte, es zu reflektieren. »Natürlich. Natürlich. Was, wenn sie eine der Alten war, eine Mathematika? Was, wenn sie einen Spiegel benutzt hat, um das Licht der Sterne einzufangen? Wieso hat Anne nie daran gedacht?« Das Öl auf dem Boden fing Feuer und loderte auf, und in diesem Licht sah Zacharias, dass er knöcheltief in einem Haufen verrotteter Kleidung und verrosteter Kettenhemden hockte. Die Überreste eines Ledergürtels krümmten sich unter seinen Fingern und verwandelten sich in Staub, während er zusah. Der verblassende Umriss eines schwarzen Löwen, der genauso aussah wie die, die jetzt von den Löwen des Königs getragen wurden, lag nur eine Handbreit von seinen tränenden Augen entfernt. »Wer ist da?«, fragte Hugh scharf und hob die Lampe. Ein kühler Luftzug krümmte sich um sie herum, und die Feuer gingen aus. Sie sind zu dritt. Sie sind wütend auf die Eindringlinge, aber sie sind auch fasziniert von der außerordentlichen Schönheit desjenigen, der ihr Grab entweiht. Sie haben die Erinnerung an das Beben, die ihren Geist wach hält, noch nicht ganz vergessen. Sie haben den süßen Duft der Wiesenblumen, die im Frühling blühen, noch nicht ganz vergessen. Zacharias verlor jegliches Gefühl für oben und unten, und er fiel, aber er stürzte nur mit dem Gesicht voran in das Kleiderbündel, das sich schlagartig in nichts verwandelte. Er hustete und schnaufte, und ihm war, als würde er sämtlichen Staub, der einmal hier gelegen hatte, in Mund und Lunge saugen. Die Schwärze erstickt ihn. Salzwasser schwappt gegen seine Augen und Lippen, dringt in seine Nasenlöcher. Seine Lunge 180 schmerzt, aber er schwimmt weiter durch den Tunnel, der vollkommen unter Wasser steht. Wenn er sich zu weit vorwagt, wird er nicht genug Luft in der Lunge haben, um zurückschwimmen zu können, aber welchen Unterschied macht das? Wohin sonst könnte er gehen? Ohne Erinnerung ist er ohnehin tot. Er ist wie die Skrolin, die in einer Sackgasse gefangen sind, deren Tunnel nur in Kreisen herumführen. Er muss weiterschwimmen, wenn er sich und auch sie befreien will.
Seine Lunge brennt. Sein Kopf prallt gegen die Decke, seine Finger scharren an der rauen Wand entlang, und seine Füße stoßen gegen Felsen, während er sich weiterschiebt und plötzlich mit den Armen wedelnd an die Oberfläche gelangt. Er zieht sich aus dem Wasser und liegt keuchend und spuckend da, und seine Lunge brennt, und seine Augen brennen, und die Welt verkommt zu nebliger Dunkelheit. Schmerz wallt durch seinen Körper, als eine kalte Hand über seine Stirn streicht und ein eisiger Finger an seinem Ohr zupft, als wollte ihn jemand wieder ins Wasser ziehen. Er liegt nicht mehr halb im Wasser, sondern in den staubigen Resten der Grabkammer. Eine trockene Stimme flüstert in seinem Geist. »Auf ihn wurde bereits Anspruch erhoben.« Zacharias erkennt sie: Es sind die Götter seiner Großmutter, die junge Jägerin, strahlend und wachsam, die Großzügige und die zahnlose Alte Frau. »Ich habe Angst vor euch«, wimmert er, obwohl er nicht richtig sprechen kann. Er sagt die Worte in seinem Geist, und sie hören ihn. »Ihr seid die Götter, denen meine Großmutter gehuldigt hat. Sie ist euch immer treu geblieben.« »Die Tage, als wir auf der Erde geherrscht haben, sind lange vorbei. Unsere Macht ist vergangen.« »Ich erinnere mich an euch!« 181 »Du erinnerst dich an uns. Du bist unser Enkel.« Er weint, spürt ihre liebevolle Berührung. Wo sich seine Tränen mit dem Staub verbinden, spricht die Erde mit einer Stimme zu ihm, die so schwer wie Stein ist und durch die Alten zu ihm dringt, die hier in diesem Grab hausen. Kannst. Du. Uns. Hören? Bist. Du. Der. Eine. Den. Wir. Suchen? Hilf. Uns. »Ich höre euch. Ich werde euch helfen. Sagt mir, was ich tun muss.« Seine Lippen und sein Geist formen die Worte, auch wenn das, was mit seinem Atem entflieht, nur höhere und tiefere Vokale und nicht im eigentlichen Sinne Worte sind. Die Erde antwortet nicht mit einem Geräusch, sondern mit einer Stimme, die durch seinen Kopf pocht. Hör. Zu. Du. Bist. Nicht. Der. Den. Wir. Suchen. Aber. Wir. Könnten. Dich. Brauchen. Die. Krone. Kannst. Du. Die. Krone. Erreichen. Und. Berühren? »Das kann ich.« Licht flackerte. Hugh fluchte. »Verdammt. Da muss irgendwo eine verborgene Öffnung sein, dass eine solche Brise hereinkommt. Zacharias! Um Gottes willen, Mann, steht auf. Die Lampe ... ist zerbrochen.« Seine Schultern hoben sich, als er seufzte. »Nun, egal. Ich werde diesen Spiegel nehmen. Den Rest lassen wir in Ruhe.« Noch immer wüteten Schmerzen durch Zacharias' Körper, und so kämpfte er sich mit einiger Mühe auf Hände und Knie, stand dann auf, während Hughs Licht den Tunnel entlanghüpfte. Er bückte sich, um die heruntergefallene Lampe aufzuheben, und es überwältigte ihn eine solche Woge von Benommenheit und Verwirrung, dass er aufstöhnte. Hughs Lampe verharrte. Stille herrschte. Aus dieser Entfernung und von seinem Standort aus konnte Zacharias lediglich Hughs von zuckendem Licht einge182 rahmtes Gesicht sehen, golden und schön und vollkommen erschreckend. Der Presbyter musterte ihn noch einen Augenblick, dann drehte er ihm den Rücken zu. »Kommt jetzt. Ich möchte mich hier nicht länger aufhalten. Es gibt hier nichts Interessantes.« Die alten Königinnen warteten in den Schatten, aber sie kamen nicht näher, sondern sahen nur zu. Sein ganzer Körper kribbelte, und er taumelte benommen. Er hatte Schmerzen. Er war verändert. Hugh hatte nichts gesehen und nichts gehört. Er hatte Verbündete, von denen Hugh nichts wusste und gegen die Hugh auch nicht kämpfen konnte. »Zacharias?« Sein ganzes Leben lang hatte Zacharias sich bemüht, still zu sein, entweder besonnen zu sprechen oder gar nicht. Sein ganzes Leben lang hatte er darin versagt. Er hatte seinen Glauben an Gott aufgegeben, hatte dem Herrn und der Herrin den Rücken gekehrt, seinem Volk und dem Ruf, der ihn vor so vielen Jahren nach Osten und in die Sklaverei geführt hatte. Er war als Bettler durch die Welt gezogen, ohne Beistand, ängstlich und feige. Er hatte keine Worte mehr, er hatte seine Zunge verloren, und doch war er vollkommen verändert. Sämtliche Furcht war verschwunden. Weg. »Geh, Enkel«, flüsterten die Königinnen, während sie im Grab verblassten. »Kehre zu uns zurück, wenn du kannst.« Er würde zurückkehren. Er würde sich irgendwie in das Hügelgrab zurückschleichen, auch wenn er damit Hughs Zorn auf sich zog. Die Königinnen warteten auf ihn, und ein namenloser Verbündeter brauchte seine Hilfe. »Zacharias!« Diese Stimme hatte einmal die Macht gehabt, ihn vor Furcht erzittern zu lassen. Jetzt lächelte er nur in sich hinein,
183 und nachdem er einen letzten Blick in die Kammer geworfen hatte, folgte er Hugh ins Licht. 4 »Das Wort ist der sicherste Beweis für Gottes Gnade«, erklärte Sigfrid seiner Zuhörerschaft, die auf dem leicht ansteigenden Grasboden saß und zum Schutz vor der Nachmittagssonne Kapuzen und Schals trug. »Nur mit Worten können wir zu anderen sprechen und ihnen das Licht bringen. Sind nicht jene, die nicht glauben, >die Beute jeder Furcht, weil sie nichts sicher wissen<, wie der heilige Daisan sagt?« Einige nickten. Ermanrich rückte etwas nach links, um in den Genuss des Schattens zu kommen, der über die Senke kroch, in der die Gemeinde sich versammelt hatte. »Als die Elemente sich vermischten und von der Dunkelheit befleckt wurden, war es die Stimme Gottes, das Wort des Gedankens, das die Dunkelheit von den anderen löste und in die Tiefen schleuderte, wo sie naturgemäß hingehört. Und so wie es das Wort war, das dieser Welt zur Geburt verhalf, sind es unsere Worte, die auf der Erde der Gemeinschaft von Gläubigen zur Geburt verhelfen.« »Erzählt uns die Geschichte von dem Phoenix und dem Wunder, Bruder Sigfrid!«, rief eine Novizin. »Erzählt uns, wie Gott Euch die Zunge wiedergegeben haben!« Die anderen baten Sigfrid ebenfalls, die Geschichte zu erzählen, obwohl er sie in den letzten anderthalb Jahren schon hundertmal erzählt hatte. Ivar stand ganz hinten, daher war es nicht schwer, sich von den Übrigen zu lösen und das sanft ansteigende Amphitheater zu verlassen, das von den natürlichen Konturen des Geländes gebildet wurde. An schönen Tagen versammelten sich hier die Bewohner des Klosters, um 184 die Heilige Botschaft zu diskutieren oder um über die unbeschreiblichen Wunder Gottes oder die handfesteren Taten der Menschen zu sprechen, die sie in diesem Gefängnis festhielten. In Zeiten wie diesen fühlte er sich so unsäglich müde. Das Amphitheater befand sich am Rand des Geländes, das auf einer Seite von dem Felsenkamm begrenzt wurde, der das nördliche Ende des Tals verschloss. Im Osten und Westen war es von einem wuchernden Wäldchen und den steilen Hängen der Berge umgeben und gab in Richtung Süden den Ausblick auf die Gebäude und Felder des Klosters bis hin zur Palisade frei. Ivar beschattete die Augen, um in die Ferne sehen zu können. Das Gelände leuchtete jetzt golden, und nur ein paar grüne Tupfen lockerten die Blässe auf. Es war ein heißer, trockener Sommer gewesen, und die Ernte hatte darunter gelitten. Staub stieg jenseits der Palisade in den Himmel. Jemand kam, Reiter und vielleicht Wagen, wenn er die Höhe und Dichte der Staubwolke richtig einschätzte. Er verließ Sigfrid und die Zuhörer und lief den Pfad entlang, der an Feldern mit verdorrtem Weizen und Roggen und Gärten mit ebenso verdorrtem Gemüse vorbei zum Hauptbereich führte. Er passierte die Webhalle und nutzte den Schatten der Veranda vor dem Krankentrakt, um den Kopf zu kühlen, ehe er den letzten Streifen freies Gelände überquerte und den Haupthof erreichte. Das Audienzzimmer war leer, also ging er hindurch und trat in den Säulengang vor dem Innenhof. Der Brunnen drei verspielte, tanzende Bären - war lange versiegt, und Tag für Tag mussten Eimer herangeschleppt werden, um die Kräuterbeete und die Rosen zu bewässern. Der Gedenkpfosten, der der armen Schwester Bona gewidmet war, war gerade erst neu getüncht worden; ihr Kreis aus Elfenbein hing an einem Nagel im Holz. Es war über ein Jahr her, seit sie gestorben war, und doch war die Erinnerung an jenen Tag noch so 185 frisch, als wäre es erst letzte Woche geschehen, auch wenn das Entsetzen, das ihn wie ein Hieb in den Bauch getroffen hatte, allmählich in einen dumpfen Schmerz übergegangen war. Eine Nonne kniete im Kräuterbeet und jätete Unkraut. Die andere kümmerte sich um die Bischöfin, die im Schatten an ihrem Schreibtisch saß. Wegen der großen Hitze hatte man ihn hinaus in den Säulengang geschafft. Constanze blickte auf, als sie Ivars Schritte hörte, und reichte ihm warmherzig die Hand. »Was führt Euch zu mir, Bruder Ivar? Ihr habt die Gemeinschaft ausgerechnet in dem Augenblick verlassen, da die Diskussion die reifsten Früchte bieten könnte.« Er küsste ihre Hand, dann ließ er sich vor ihr auf die Knie sinken. »Es kommt jemand, Eure Exzellenz. Ich habe vom Amphitheater aus eine Staubwolke gesehen.« »Ah.« Sie lächelte sanft. »Ich bin besorgt, Eure Exzellenz. Ich fürchte, diese Wolke bringt schlimme Neuigkeiten.« »Das ist möglich, aber wir können ihre Ankunft nicht verhindern. Geht bitte zum Tor und seht nach, was da zu uns unterwegs ist. Ich werde im Audienzzimmer warten.« »Jawohl, Eure Exzellenz.« »Schwester Eligia, bitte hilf mir.« Die junge Frau eilte zu Constanze und gab ihr den Gehstock; dann bot sie ihr den Arm und half ihr, sich von dem Stuhl hinter dem Schreibtisch zu erheben. »Zögert nicht, vor mir wegzugehen, Bruder«, sagte Constanze. »Die Gemeinschaft bedarf Eurer Beine mehr als meiner königlichen Ehre, die uns in den letzten zwei Jahren ohnehin nicht sehr gut gedient hat.« Er verbeugte sich und eilte durch die Kammer hinaus, hörte das Schlurfen ihres kranken Beines auf dem Piasterstein, das Klopfen ihres Stockes, als sie einen mühsamen Schritt 186 nach dem anderen machte und den Säulengang verließ. Er klopfte an die Tür. Die Wachen öffneten, musterten
ihn von oben bis unten und ließen ihn durch. Hinter ihm fiel die Tür mit einem Krachen wieder zu. Es stand ihm frei - ihnen allen stand es frei, nur der Bischöfin nicht -, innerhalb der Grenzen der Palisade umherzugehen, wie es ihm beliebte. Er nahm den Pfad an der Schafweide und den Feldern mit den Brombeersträuchern entlang, wo die Ziegen hausten, und kam gleichzeitig mit den Neuankömmlingen beim verschlossenen Tor an. Zwei Hunde bellten. Eine Frau lachte, als der Hauptmann fröhliche Flüche von der Brustwehr herunterrief, um die Soldaten zu begrüßen, die zur Ablösung der Wachmannschaft gekommen waren. »... elenden Hurensöhne. Es ist wirklich ruhig hier, das versichere ich Euch, dafür gibt es allerdings auch nichts anderes zur Unterhaltung als Würfelspiele. Es sind noch nicht einmal schöne Frauen im Dorf, die gern ein bisschen Spaß haben wollen, denn sie sind von der Gefangenen und ihren Lügen verdorben und haben geschworen, dass sie nichts mit uns zu tun haben wollen. Wenn Ihr erst mal ein paar Tage hier seid, werdet Ihr Euch wünschen, irgendwo im Krieg zu sein!« »Ihr könnt noch nicht viele Kämpfe erlebt haben, wenn Ihr glaubt, dass eine Schlacht besser ist als ein ruhiges Leben wie das hier.« »Ich habe genug Kämpfe gesehen!« »Ihr müsst Hauptmann Tammus sein. Wir haben gehört, dass Ihr Edelfrau Sabella mit großer Loyalität dient.« »Es ist leider nur zu wahr, dass sie nicht jedem trauen kann, der ihr seine Dienste nur deswegen anbietet, weil sie Gold und Schwerter hat, aber ich habe ihr die Treue schon vor langer Zeit geschworen. Sie kennt den Wert meines Eides. Ich habe diese Narben und diesen Stumpf als Beweis. Wer seid Ihr?« 187 »Hauptmann Ulric von Autun.« »Oh. Ja, Hauptmann, ich erinnere mich an Euch.« »Ich bringe die Ablösung für die Männer, die hier auf Wache sind. Außerdem habe ich eine Nachricht für die Bischöfin.« »Gut. Eure Männer können die Wagen hier lassen und sich eine Unterkunft in unserem Lager aussuchen - Ihr werdet feststellen, dass es ziemlich annehmbar ist. Im Winter ist es warm, und es gibt jede Menge Holz und Wasser, auch wenn der Fluss in diesem Jahr nicht viel Wasser führt. Ich werde meinen Wachen befehlen, die Wagen ins Kloster zu schaffen. Eure Männer werden das Gelände kennen lernen müssen, bevor sie ihren Wachdienst antreten können. Und jetzt werde ich Euch persönlich zur Bischof in führen.« »Sehr gut.« Als das Tor aufschwang, verbarg Ivar sich hinter einem Stapel leerer Fässer und Kisten, während ein Dutzend Soldaten zwei Wagen mit den üblichen Gaben von Salz, Öl und Kerzen vorbeischaffte. Er erkannte den Namen »Ulric« wieder, erinnerte sich an den unglückseligen Tag, an dem er mit den anderen in Autun angekommen war, in der Erwartung, wegen Ketzerei angeklagt zu werden. Stattdessen waren sie weggeschickt worden, um in diesem Kloster begraben zu werden; weil Baldwin sich geopfert hatte, war ihnen das Leben gelassen worden. Vielleicht wusste Hauptmann Ulric etwas Neues von Baldwin. Er folgte dem Wagen zum Klostergelände, lief dann weiter, während Hauptmann Ulric, Tammus und zwei Diener zum Audienzzimmer der Bischöfin gingen. Hauptmann Tammus hatte das gleiche verdrießliche Gesicht wie immer, das zu seinem kriegerischen Schritt und der derben Sprache passte. Er hatte in Diensten seiner Herrin tatsächlich schreckliche Verletzungen erlitten, obwohl Ivar nicht wusste, in welchen 188 Schlachten er genau gekämpft hatte: Es fehlten ihm eine Hand und ein Auge, und hässliche Narben zogen sich über die rechte Gesichtshälfte. Hauptmann Ulric hingegen war ein Mann mittleren Alters mit einem angenehmen Gesicht, nett anzusehen, groß und gut gebaut, und er hatte den für die Reiterei so typischen o-beinigen Gang. Seine Wangen und die Nase waren rot verbrannt und schälten sich, aber seine Begleiter schützten ihre Gesichter mit Kapuzen vor der heißen Sonne. Ivar schlüpfte ins Audienzzimmer und stellte sich an die hintere Wand, von allen unbemerkt, außer von der Bischöfin natürlich - und von Hauptmann Ulric, der einen Blick zurückwarf, als die Tür geschlossen wurde. Seine Augen weiteten sich, und seine Miene wurde starr, als er Ivar sah. Er traut mir nicht. Wieso sollte er auch ? Ivar war zu Sabellas Feind erklärt worden, und Hauptmann Ulric diente ihr oder Herzog Conrad, der ihr Verbündeter war. Sogar Gerulf und Dedi waren in Conrads Heer verschwunden; er hatte seit achtzehn Monaten kein Wort mehr von ihnen gehört, genauso wenig, wie er etwas über Baldwins Verbleib erfahren hatte - ob er in Sabellas Obhut litt oder ob es ihm gut ging. »Ihr dürft vortreten, Hauptmann«, sagte Constanze freundlich, »und meinen Ring küssen.« Tammus verbeugte sich kaum wahrnehmbar, gerade genug, um sie nicht offen zu beleidigen, und küsste den Ring. Er grinste jedoch höhnisch, als er Ulric einen Blick zuwarf, um ihn aufzufordern, vorzutreten. Der Reiterhauptmann kniete vor ihrem Stuhl nieder und beugte respektvoll den Kopf. Waren da Tränen in seinen Augen? Aus dieser Entfernung war es unmöglich zu erkennen, und Hauptmann Ulric blinzelte, erhob sich und zog sich wieder zurück. Er hustete hinter vorgehaltener Hand, entweder von dem Staub, der in der Luft hing, oder aufgrund eines starken Gefühls. 189
Ivar spürte einen Wirbel von gefährlichen Strömungen im Zimmer aufkommen, aber er konnte weder die Stelle, von der sie ausgingen, noch die sich verlagernden Strudel ausmachen. Er lehnte sich gegen die Wand, täuschte eine Lockerheit vor, die er nicht besaß. »Was habt Ihr für Neuigkeiten, Hauptmann?«, fragte Constanze. »Ich bringe eine Nachricht von Edelfrau Sabella. Sie will Euch in etwa zwei Wochen besuchen.« »Oh.« Es war unmöglich, Constanzes Reaktion irgendwie zu deuten. Sie nickte, die Hände auf den Armlehnen ihres Stuhls, und wirkte entspannt. Oder ergeben. »Es werden viele Vorbereitungen zu treffen sein«, sagte Hauptmann Tammus. »Wir werden unsere Vorratslager leeren müssen, um ihr Gefolge zu ernähren. Das Dorf in der Nähe hat keine Kornspeicher mehr, und es ist noch nicht Erntezeit.« »Die Ernte wird dieses Jahr nicht viel hergeben«, erwiderte die Bischöfin. »Ihr habt die Felder gesehen.« »Ich werde meine Männer erneut auf die Jagd schicken. Wir werden ein halbes Dutzend Schafe von Eurer Herde nehmen.« Constanze nickte, obwohl sie genau wie Ivar nur zu gut wusste, dass die Herde schon ziemlich klein geworden war. Keines der Muttertiere hatte in diesem Frühling Zwillinge geboren, ein Zeichen für bevorstehende Dürre, wie Schwester Nanthild gesagt hatte, und in der Tat hatten ihnen enorme Trockenheit und ungewöhnlich heißes Wetter zugesetzt. Wenn es überhaupt mal geregnet hatte, dann zur Unzeit - die Schösslinge waren von einer alles ertränkenden Flut von den staubigen Feldern geschwemmt worden, die sich in schlammige Seen verwandelt hatten. Als dann die Sonne zurückgekehrt war und die Erde wie ein Hammer bearbeitet hatte, der rot glühendes Eisen auf dem Amboss flach schlug, war der Boden hart und rissig geworden. 190 »Es ist gut, wenn Edelfrau Sabella den Zustand dieses Landes sieht, das im letzten Winter und bis in den Sommer hinein sehr gelitten hat«, sagte sie. »Gibt es sonst noch eine Nachricht, Hauptmann?« »Das ist alles, Eure Exzellenz. Ansonsten habe ich den Befehl, wie Ihr wisst, nicht mit Euch oder sonst jemandem in Eurer Obhut zu sprechen.« »Ich kenne die Bedingungen meiner Gefangenschaft nur zu gut. Allerdings scheint es mir eine lange Reise zu sein, den ganzen Weg herzukommen, nur um mir eine einzige Nachricht zu überbringen.« Er sah Tammus an, ehe er eine weitere Bemerkung wagte. »Ich habe eine neue Gruppe von Wachen mitgebracht, um diejenigen abzulösen, die in den letzten drei Monaten hier waren.« »Werdet Ihr Hauptmann Tammus ersetzen?« Tammus schnaubte. Ulric zuckte die Schultern. »Nein, Eure Exzellenz. Edelfrau Sabella hat ihn zu Eurem Bewacher ernannt. Also wird er hier bleiben, denn er hat ihr in den vergangenen zwei Jahren gut und treu gedient.« »Das hat er«, pflichtete Constanze ihm ohne einen Hauch von Sarkasmus bei. »Ich hoffe, Ihr werdet etwas Wein annehmen, Hauptmann, nach solch einer langen Reise in dieser heißen Zeit.« »Das tue ich gern und mit großem Dank.« »Hauptmann Tammus wird Euch den Weg zeigen.« Ivar blieb an Ort und Stelle stehen, als die beiden Hauptleute sich zur Tür zurückzogen und gefolgt von Ulrics Eskorte hinausgingen. Bis auf einen. Als sie durch die Tür gingen, überschüttete Ulric Hauptmann Tammus mit einer Flut von Fragen, während hinter ihm der zweite seiner verhüllten Begleiter rasch ein paar 191 Schritte zur Seite machte; aufgrund von Ulrics Ablenkungsmanöver gelang es ihm, im Zimmer zu bleiben, als die Tür hinter den anderen Männern geschlossen wurde. Der Fremde schob die Kapuze zurück, schritt zu Constanzes Stuhl und kniete davor nieder. Das Ganze ging so schnell, dass Ivar keine Zeit hatte, darauf zu reagieren. Er hätte sie erstechen können, aber stattdessen ergriff er ihre Hand wie ein Bittsteller. »Eure Exzellenz, ich habe nur wenige Augenblicke Zeit, um mit Euch zu reden. Bitte, hört mich an.« Sie musterte ihn, ließ ihren Blick über sein Gesicht und seine Gestalt schweifen. Sie nickte als Zeichen, dass sie ihn erkannte. »Edelmann Jeoffrey von Lavas. Wie geht es Eurer Tochter, der jungen Gräfin?« »Es geht ihr schlecht, Eure Exzellenz. Lavas und den ganzen westlichen Landen geht es schlecht, seit Ihr hier eingesperrt worden seid. Gott sind wütend. Dies ist unsere Strafe: Wir leiden unter Dürre und unzeitgemäßen Regenfällen. Flüchtlinge, die vor den salianischen Kriegen nach Norden fliehen, bedrängen uns. Wegelagerer machen die Straßen unsicher. Diesen Winter wird es eine Hungersnot geben. Wir hören Geschichten über Pest und Viehseuche, aber dem Herrn und der Herrin sei Dank, in unserem Land haben wir noch nichts davon gesehen. Beten wir zu Gott, dass wir verschont bleiben mögen. Es wird sogar getuschelt, dass Lavrentia in Wahrheit nicht die rechtmäßige Erbin wäre!« »Wie kann das sein?« »Nein, nein, ich mache mir nichts daraus. Es ist nur das Geschwätz verzweifelter Leute.« Mit einer zitternden Hand schlug er das Kreiszeichen über der Brust. »Eine andere Geißel schlägt vom Meer aus zu. Die Aikha sind zurückgekehrt! Sie plündern entlang der Küste von Salia. Wir hören Gerüchte, dass sie sich ins Inland und nach
Norden begeben. Ich bitte Euch, Eure Exzellenz. Edelfrau Sabella hat Euren rechtmä192 ßigen Platz eingenommen, der Euch von König Henry gegeben wurde, dem wahren König. Wir werden Euch unterstützen.« »Verstehe ich es richtig, dass Hauptmann Ulric dabei Euer Verbündeter ist?« »So weit es ihm möglich ist. Er war stets Euer wahrer und loyaler Diener, aber er muss seine Männer schützen.« »Ja, er kann Sabella und Conrad nicht mit einer kleinen Truppe bekämpfen. Aber meine Position ist schwach, Edelmann Jeoffrey, wie Ihr bemerkt haben müsst. Ich bin verkrüppelt. Ich lebe hier als Sabellas Gefangene. Es wird schwierig sein, dieses Joch abzuschütteln. Conrad ist ein mächtiger Verbündeter, und seine Ziele stimmen nicht mit meinen überein.« Jeoffrey hatte Constanzes Hand noch nicht losgelassen. »Und auch nicht mit meinen, Eure Exzellenz. Die Familie meiner Frau ist trotz vieler Schwierigkeiten Henry gegenüber loyal geblieben, aber jetzt hält Edelfrau Sabella die zwei Kinder meiner Frau als Geiseln in Autun fest.« »Auch Gräfin Lavrentia?« »Sie bleibt auf Lavas, wegen der Gerüchte -« »Was für Gerüchte?« Er rang die Hände; seine Kiefermuskeln waren angespannt, und seine Stimme klang kalt. »Dass der rechtmäßige Erbe lebt und wartet, dass er in der Wildnis umherwandert, bis ganz Lavas nach seiner Rückkehr ruft. Es heißt, es hätte Wunder gegeben - aber das sind alles Lügen! Sogar Edelfrau Sabella erkennt, wie gefährlich die Situation ist, also bleibt Lavrentia bei mir auf Lavas, während Aldegund und unsere Söhne Sabella in Autun dienen. Aber Varre leidet unter Sabellas Herrschaft. Und ich wage nicht, gegen Sabella oder Conrad vorzugehen, solange wir nicht sicher sein können, dass wir genügend Rückhalt haben, um zu siegen.« Sie sah ihn ernst an. »Ich habe keinerlei Möglichkeit, mit 193 denen in Kontakt zu treten, die mich unterstützen könnten, und ich habe kein Heer - nur eine Gruppe von treuen Soldaten, die einen Befehlshaber brauchen, um gemeinsam zu handeln. Was für Neuigkeiten gibt es von Prinzessin Theophanu?« »Ich habe das Gerücht gehört, dass sie in Gent sein soll. Ich habe auch das Gerücht gehört, dass Prinz Sanglant sich in die Wildnis aufgemacht hat, um ein großes Heer aus Wilden auszuheben, mit dem er ihr Wendar entreißen oder es seinem Vater wiedergeben will. Aber Gerüchte sind unbeständige Liebhaber, wie ich sehr wohl weiß. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Es heißt, dass Henry in Aosta zum Kaiser gekrönt worden ist.« »Zum Kaiser!« Für die Dauer von drei Atemzügen war Constanze zu geschockt oder zu wütend, um etwas sagen zu können. »Sicher befiehlt er doch über ein genügend großes Heer, dass er kommen und uns retten könnte, statt Träume im Süden zu verfolgen.« »Wenn er von unserer Not wüsste.« »Wenn er das nur täte. Ich habe Adler geschickt, aber keiner ist zurückgekehrt. Ich habe keine Boten, die ich schicken könnte, Edelmann Jeoffrey. Ihr müsst jemanden von Euren Leuten nach Gent schicken.« »Hauptmann Ulric hat mir einen seiner Soldaten angeboten, Eure Exzellenz, aber ich bin gekommen, um Euch zu bitten, selbst ein Sendschreiben aufzusetzen und einen Eurer Leute mit dem Soldaten zu schicken. Schreibt eine Botschaft mit eigener Hand und versiegelt sie mit Eurem Ring. Wie sonst soll uns die Prinzessin glauben? Sie muss erfahren, was Sabella und Conrad aushecken. Sie wird jede Nachricht - egal, ob über Frieden oder über Krieg - für eine Falle halten, mit der sie in einen Hinterhalt gelockt werden soll.« »Kaiser«, flüsterte Constanze. »Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist.« Ihr Blick schweifte 194 umher. Dann drückte sie Jeoffreys Hand und ließ sie sinken, bedeutete ihm damit, dass er sich erheben sollte. »Sie werden Euch suchen, und wenn Ihr hier entdeckt werdet, ist alles verloren. Ich kann eine Nachricht schreiben, und vielleicht, wenn wir Glück haben und Gott unserem Anliegen wohlgesonnen sind, kann ich sie Euch zukommen lassen, bevor Ihr wieder abreist. Hauptmann Tammus hat den strengen Befehl von Sabella erhalten, uns alle jeden Abend abzuzählen, wie Ihr noch feststellen werdet, denn Sabella fürchtet genau das, was Ihr vorschlagt - dass einer von denen, die mir die Treue geschworen haben, fliehen wird, um die Nachricht über meine Situation zu meiner Familie zu bringen. Ich kann so etwas nicht riskieren. Denn es droht eine schwere Strafe, wie wir zu unserem Kummer feststellen mussten.« »Eine Strafe?« »Ich habe eine Novizin losgeschickt, die Prinzessin Theophanu eine Nachricht von mir übermitteln sollte. Zehn Tage später ist sie zurückgebracht und in den Hof geworfen worden, verstümmelt und so gut wie tot. Hauptmann Tammus hat jedem Mitglied meines Gefolges, das zu fliehen versucht, das gleiche Schicksal angedroht.« »Ich werde gehen«, sagte Ivar. Edelmann Jeoffrey fuhr herum; er war vollkommen verblüfft, als hätte er ganz vergessen, dass Ivar noch da war. Constanze lächelte grimmig. »Das sagt Ihr immer wieder, Bruder Ivar. Aber wie wollt Ihr Erfolg haben, wo doch die arme Schwester Bona so qualvoll gestorben ist?« »Einen toten Mann werden sie nicht jagen, Eure Exzellenz.«
»Einen toten Mann!« Jeoffrey wurde so bleich, dass Ivar schon fürchtete, der Mann könnte ohnmächtig werden, fast so, als hätten Ivars Worte für ihn eine tiefere und schlimmere Bedeutung. »Ein toter Mann kann auch meine Botschaft nicht überbringen, Bruder Ivar. Was schlagt Ihr vor?« 195 »Auch wir sind Gefangene, Eure Exzellenz. Ich habe lange über unsere Situation nachgedacht, aber erst kürzlich ist mir im Gespräch mit Schwester Nanthild der Gedanke gekommen, dass wir Mittel besitzen, um eine mutige Seele hinaus zuschmuggeln. Angesichts Edelmann Jeoffreys Bitte scheint mir der richtige Zeitpunkt dafür gekommen zu sein.« »Schwester Nanthild ist eine weise Frau, das stimmt, aber nur Gott können den Toten das Leben zurückgeben, wenn die Seele den Körper erst einmal verlassen hat.« »Es kommt nur auf den äußeren Anschein des Todes an, Eure Exzellenz.« »Ich verstehe.« Ihr Blick hielt seinen fest, und er sah als Erster zur Seite, weil sie zu tief und zu gut sehen konnte. »Ihr seid wirklich bereit, das Risiko auf Euch zu nehmen, Bruder Ivar? Mit dem Wissen, dass Ihr Eure Kameraden in meiner Obhut zurücklasst und sie vielleicht niemals mehr wiedersehen werdet?« »Das bin ich. Dies sind verzweifelte Zeiten, Eure Exzellenz.« »Und Ihr reibt Euch an diesen Fesseln, während Eure Freunde zufrieden sind, hier nach all den Unruhen, die Ihr erlitten habt, etwas Ruhe zu finden. Also schön, Bruder Ivar.« Sie streckte die Hand aus, die voller Tintenflecken und Schwielen von der Gänsefeder war, und er kniete vor ihr nieder und küsste den bischöflichen Ring. »Auch ich bin verzweifelt. Edelmann Jeoffrey, Ihr müsst gehen. Macht einen Treffpunkt aus und lasst Euren Mann dort fünf Tage lang warten. Wenn Bruder Ivar in dieser Zeit nicht dort eintrifft, wird er nicht mehr kommen. Das ist alles, was ich versprechen kann.« An diesem Abend braute Schwester Nanthild einen Trank aus Baldrian, Flohkraut und zwei Tropfen einer milchigen Flüssigkeit, die sie »Akrevas Saft« nannte. Am Morgen nahm Ivar all seinen Mut zusammen und trank die Mischung in ei196 nem Schluck, umgeben von Sigfrid, Ermanrich und Hathumod, die weinten und die Gesichter verzogen. »Du musst auf dich aufpassen.« Hathumods Nase war immer leuchtend rot, wenn sie weinte. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dich zu verlieren, aber ich weiß, du musst tun, was notwendig ist. Es gibt sonst keinen Menschen, dem die Bischof in trauen könnte.« »Sie kann vielen vertrauen«, sagte Sigfrid. »Aber niemand besitzt diese Stärke. Ivar muss gehen.« Ermanrich wischte sich die Tränen weg und sagte nichts, hielt nur Ivars Hand und ging kurz darauf mit ihm aufs Feld, damit die Krämpfe von so vielen Wachen wie möglich bezeugt werden würden. Ivar hackte eine Zeit lang Unkraut, aber er war nicht mit dem Herzen bei der Sache. Er wartete, wusste, dass jedem Krampf, der durch seine Muskeln ging, ein noch schwererer folgen würde. Dann fuhr ein so starkes Zittern durch ihn hindurch, dass er die Hacke fallen ließ. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, verlor er das Gleichgewicht, stürzte vornüber auf den Boden, atmete eine ordentliche Portion Staub und etwas verschrumpeltes Unkraut ein, bevor er sich auf dem Boden krümmte. »Ivar!«, schrie Hathumod. Er wurde von Krämpfen überwältigt. Heißer Urin floss seine Beine entlang, versickerte im Boden. Er versuchte aufzustehen, aber seine Arme waren nutzlos; sie reagierten nicht. »Die Pest!«, rief Ermanrich und weinte erneut. Rufe erklangen in der Ferne. Ein Zittern ging in Wogen durch seinen Körper, zuerst stark und dann immer schwächer, während vor seinen Augen alles verschwamm und er immer weniger hören konnte. In einem Wachtraum sah er den Himmel über sich vorbeiziehen, ein helles Blau, das beinahe weiß wirkte. Er war wach 197 und bei Bewusstsein, aber nicht wirklich wach, träumte noch immer, denn er konnte sich nicht bewegen, konnte nicht einmal seine Glieder richtig spüren, oder das Heben und Senken seiner Brust. Vielleicht fühlte sich der Tod so an. Vielleicht war er tot, und das Ganze war schief gegangen. Der Boden unter ihm vibrierte, während der Himmel oben vorbeizog, und nach einer langen, beschaulichen Pause kam er zu dem Schluss, dass er auf dem Karren lag, der zwischen dem Dorf und der Palisade hin und her fuhr. Das Tuch, mit dem man ihn zugedeckt hatte, war von seinem Gesicht gerutscht, und die Sonne stach. Er würde einen Sonnenbrand bekommen, das wusste er. Er bekam immer einen Sonnenbrand, wenn er ungeschützt in die Sonne ging, aber er konnte sich nicht bewegen, um sich selbst zuzudecken, und es war auch gut so, dass er das nicht konnte. Ein Geheimnis. Er hütete ein Geheimnis. »Pst! Da! Was ist das, Maynard?« »Ein Reiterzug. Irgendwelche mächtigen Edelleute, würde ich wetten.« »Das muss die Herzogin sein.« »Oh ja, das wird sie sein.« Maynard räusperte sich und spuckte aus. »So. Für sie.« »Sei vorsichtig. Sie könnte dich nur zu leicht mit dem Pferd überrennen oder in die Bergwerke schicken, wie es heißt.« Der Wagen hüpfte über die Furchen, die die Straße bildeten, als die Wagenlenker ihr Gefährt zur Seite lenkten,
damit die Prozession aus Edelleuten ungehindert passieren konnte. Er hörte, wie sie sich näherten, hörte Hufgetrappel, Gerede, ein Lied und das Rumpeln von Wagenrädern, spürte all das über sich hinwegwehen wie die Sommerbrise, und dann war es vergessen und lag hinter ihm, der jetzt tot war. Gedankenfetzen verklumpten zu Erinnerungen. Er trug eine Nachricht von Bischöfin Constanze bei sich, geschrieben auf einem winzigen Streifen Pergament, das sie in ein Stück 198 geölte Schafhaut eingerollt hatten. Sie hatten es ihm in die Backe gesteckt, wo er es jetzt wie ein Eichhörnchen aufbewahrte, das vor dem Winter Nüsse sammelte. Er tat nur so, als wäre er tot. Das war eine Erleichterung! »Schafft ihr da eine Leiche weg?«, fragte eine Stimme. »Kommt nicht näher. Einer von denen in St. Asella ist einen grauenvollen Tod gestorben, und sie haben Angst, dass es die Pest ist, die mit den Soldaten aus dem Süden gekommen ist.« »Mögen Gott Erbarmen haben! Sind alle erkrankt?« »Nein, sonst niemand. Es könnte sein, dass einfach nur Dämonen dem armen Jungen die Eingeweide rausgerissen haben. Aber sie wollten kein Risiko eingehen, deshalb schaffen wir ihn zu den Wäldern, wo es eine seit langem verlassene Kirche gibt. Unsere Diakonissin wird die Riten über ihn sprechen.« »Ich will ihn sehen!« Diese neue Stimme gehörte einer Frau. Ivar erkannte den herrischen Ton, der gereizt und mürrisch war. Ein Gesicht tauchte an einer Seite über ihm auf. Es war eine Frau, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte. Sie saß auf einem Pferd, wie er aus dem Augenwinkel sehen konnte, und nach einer langen Zeit des Schattens - denn sie hielt die Sonne ab - blendete das Licht ihn wieder, und er hätte geblinzelt, wenn er es gekonnt hätte. »Er atmet nicht, Herzogin«, sagte eine andere Person. »Sollen wir umkehren?« »Nein, ich fürchte die Pest nicht. Wir haben in dieser Gegend nichts davon gehört. Zweifellos hat ihn irgendeine andere Krankheit befallen. Geister vielleicht.« »Das könnte sein, Herzogin. Wir haben viele Geschichten von Schemen gehört, die die Wälder in größerer Anzahl als je zuvor heimsuchen und äußerst kühn sind. Sie setzen dem gewöhnlichen Volk zu, so dass die Menschen sich sogar 199 fürchten, Holz zu sammeln und Wild zu jagen, obwohl sie das brauchen. Glaubt Ihr, das hat diesen Jungen vielleicht umgebracht?« »Das könnte sein.« Während die Unterhaltung an ihm vorbeiströmte, begannen seine Gedanken zu einer richtigen Ordnung zu verschmelzen, obwohl ihr schwerfälliges Tempo ihn ärgerte. Die Wagenlenker würden ihn bei einer alten Eiche in den Wald werfen, wo die alten Götter früher Opfer verlangt hatten. Jetzt stand dort eine Kapelle, die St. Leoba geweiht war, ein Schutz gegen Blitze, ein Segen für die Rechtschaffenen. Wie auch er einer sein musste, wenn er die Nachricht von Bischöfin Constanzes Notlage zu Prinzessin Theophanu bringen wollte. »Er kommt mir irgendwie vertraut vor«, sagte Edelfrau Sabella nachdenklich, aber obwohl sie weiterredete, wurde ihre Stimme leiser, als würde sie sich wegbewegen, nun, da sie das Interesse verloren hatte. »Man sieht hier nicht so viele Leute mit kupferroten Haaren. Er muss aus dem Norden stammen ...« Der Schrei hätte jeden Menschen zusammenzucken lassen, nur denjenigen nicht, der von einem Zaubertrank mehr tot als lebendig war. »Ivar? Oh Gott. Ivar! Es ist Ivar! Nein, Herr, das kann nicht sein! Die Herrin beschütze ihn! Ich dachte, er wäre in Sicherheit!« »Edelmann Baldwin! Kommt hierher zurück!« Eine Gestalt fiel polternd über den Rand des Karrens und landete so hart auf Ivar, dass er sich sicher verraten hätte, wäre er nicht erstarrt gewesen. »Ivar! Das ist unmöglich! Oh Gott! Oh Gott!« Tränen flössen in einer wahren Flut. Baldwin drückte Ivars Hände und rieb sie, wiederholte immer wieder die gleichen Worte, weinte und stöhnte. Sein hübsches Gesicht war vor Kummer verzerrt. »Oh! Oh! Oh!« 200 »Kommt, Edelmann Baldwin! Der Mann ist vielleicht an der Pest gestorben. Kommt da weg!« »Dann möchte ich auch sterben. Und das würde ich auch, wenn es ihn zurückbringen könnte! Ich würde den Tod mit ihm teilen, wenn das möglich wäre! Rührt mich nicht an!« »Baldwin! Her zu mir!« Sabella sprach, als würde sie mit einem Hund reden. Weinend zog Baldwin einen Ring von seiner Hand und schob ihn über Ivars rechten Zeigefinger. »Nimm etwas von mir mit in das zukünftige Leben«, schniefte er. »Oh Gott! Oh! Oh!« »Holt ihn da runter!«, befahl die Edelfrau. »Ich habe genug davon!« Baldwin wurde weggeschleppt, obwohl er weinte und um sich trat, während Ivar hilflos dalag und innerlich aufschrie. Seine Eingeweide waren zu einem Knoten zusammengezogen, einer Mischung aus Wut und hässlicher Erleichterung darüber, dass diese Scharade die schrecklichste aller Prüfungen bestanden hatte. Baldwin hielt ihn für tot. Baldwin - der so viel geopfert hatte - würde ihn betrauern, obwohl er noch immer lebte. Ivar würde nicht leiden, aber Baldwin würde es tun. Die anderen konnten es nicht riskieren, ihm die Wahrheit zu
sagen, nicht solange er in Edelfrau Sabellas Zug reiste. Nicht solange er in Edelfrau Sabellas Bett schlief, ob freiwillig oder nicht. »Glaubst du, der war ein Freund von ihm?«, fragte Maynard seinen Kameraden. »Sah für mich nicht wie ein Bruder oder Vetter aus, wenn du mich fragst. Vielleicht sind sie zusammen aufgezogen worden.« »Bestimmt. Pst! Du störrisches Biest! Geh weiter!« Der Esel schrie seinen Protest heraus, aber der Karren machte einen Ruck, und sie setzten sich wieder in Bewegung, während die Sonne herunterschien, ihm die Haut verbrann201 te, die Augen verbrühte, so dass Tränen über das Gesicht eines toten Mannes liefen, der gar nicht tot war. Aber Baldwin würde es nie erfahren. 5 Die Kaufleute, die im Handelszentrum von Medemelacha lebten und arbeiteten, hatten sich klugerweise ohne Kampf ergeben. Sie waren von ihren Landsleuten aus Hessu vorgewarnt worden und hatten gelernt, dass es besser war, sich zu ergeben als zu sterben. Weiter stromaufwärts des Heide hatte sich jedoch der Herzog dAmalisses in eine befestigte Stadt zurückgezogen, dem Zentrum seiner Macht. Als Starkhand bei der belagerten Stadt ankam, hatte Raschtod eine Schlacht erzwungen, indem er und andere Aikha mit den Speeren Gefangene an die Wand getrieben hatten, auf ihren blutenden und verstümmelten Rücken hochgeklettert und über die Mauern geschwärmt waren. Der Fluss war voller Leichen, während die Aikha die Stadt niederbrannten und plünderten. »Das ist nicht das, was ich im Sinn hatte«, sagte Starkhand, als Raschtod zu ihm kam, um mit seinem Sieg zu prahlen. »Diese Stadt kann uns nicht dienen, wenn sie bis auf die Grundfesten niedergebrannt ist. Die Felder können kein Korn liefern, wenn es keine Bauern gibt, die den Boden bestellen und die Ernte einbringen.« »Aber wir sind reich!« Raschtod hatte zwanzig Krieger und vierzig Hunde als Eskorte mitgebracht; sie riefen und jubelten, stellten den Schmuck zur Schau, die schönen Kleider und Silbermünzen, die sie aus den Trümmern gezogen hatten. »Und der Anführer dieser Stadt ist tot!« Leichen hingen von der brennenden Palisade. Als der Wind 202 sich drehte, vertrieb der Rauch die nach Aas suchenden Krähen, die gekommen waren, um ihr Glück zu machen. »Du bist voreilig.« Starkhand erhob sich. Ein paar seiner Nestbrüder standen hinter ihm, doch einige Anführer, die sich in Medemelacha mit ihm getroffen hatten, hielten Abstand. Eisenklaue stand vorne; er sah zu und wartete. Der Hauptteil von Starkhands Heer war in Alba unter dem Befehl von Aufrecht geblieben, aber in den Monaten seit dem Tod der albischen Königin hatte er kleinere Gruppen ausgesandt, die entlang der Küste zuschlagen sollten, um ein möglichst breites Netz des Entsetzens zu weben. »Wir sind noch nicht bereit, ins Landesinnere vorzudringen. Wenn wir uns zu sehr ausdünnen, werden wir zerbrechen. Kriegsgruppen sind für Hinterhalte geeigneter als große Heere. Dein Befehl war, der Küste zuzusetzen, nichts weiter.« Raschtod lachte, bleckte die Zähne. »Und wenn ich keine Lust habe, diesen Befehl zu befolgen? Vielleicht bin ich voreilig. Aber du bist zu vorsichtig!« Er packte seine Axt fester, während seine Männer bedrohlich näher kamen. Falls die geringeren Anführer sich entschieden, einfach nur daneben zu stehen und nicht einzugreifen, war Raschtods Gruppe deutlich in der Überzahl. Starkhand lächelte nicht. Er musste nicht länger deutliche Drohungen aussprechen, sich aufplustern, sich größer und wilder machen, denn tatsächlich war Raschtod seinem Äußeren nach so beeindruckend, wie er es niemals sein würde. »Du verwechselst Vorsicht mit Feigheit, weil du es nicht verstehst. Ein vorsichtiger Mann sieht zu und beugt vor, er benutzt weise Voraussicht, eine Fähigkeit, von der ich nicht glaube, dass du sie bereits beherrschst.« Raschtod schnaubte verächtlich und wog die Axt in der Hand; er wusste, dass er zahlenmäßig im Vorteil war. Das Blut seiner Männer war heiß vom Sieg. Starkhand wirkte so klein vor ihnen. 203 »Aber es stimmt, dass jeder Anführer eine Belohnung braucht«, fuhr Starkhand fort. »Dieses kostbare Juwel soll dir als Belohnung dienen, wie du es für den Sieg, den du heute errungen hast, verdient hast.« »Versuchst du mich zu bestechen?«, fragte Raschtod, aber wie jeder Aikha-Krieger zögerte er. Letzter Sohn brachte die Kiste aus Elfenbein, die mit Goldbändern und Muschelschliff aus hellem Aquamarin und dunklem Granat geschmückt war, und stellte sie auf Starkhands Oberschenkeln ab. Dann zog er sich zu den anderen zurück. »Ich werde nicht zulassen, dass man sagt, ich würde denen, die in meinem Heer kämpfen, nur widerwillig etwas geben.« Raschtod ließ ein Lächeln aufblitzen, und mit einem Lachen sprang er vor, riss Starkhand die Kiste vom Schoß. »Jetzt gehören sowohl dein Heer als auch dein Schatz mir!«, rief er und öffnete den Deckel. Für Starkhands Männer war dies ein Signal. Sie erstarrten an Ort und Stelle, so wie Starkhand selbst, denn sie wussten, dass Reglosigkeit jetzt ihre Waffe war. Die Voreiligen kannten weder Vorsicht noch Ruhe. Die Eiswürmer waren tödlich, aber verletzlich. Sogar das Sternenlicht verbrannte sie. Sie waren augenlos, aber
Raschtods schnelle Bewegung bot ihnen Ziel genug. Er ließ die Kiste fallen. Die winzigen Eiswürmer huschten über den Boden zu dem nächsten Ding, das sich bewegte. Und bissen zu. Raschtods Schrei zerriss den Himmel selbst. Seine Krieger zerstreuten sich vor Furcht, abgesehen von zwei kühnen, treuen Hunden, die sich knurrend ins Gewühl stürzten, aber die Sonne hatte die winzigen Kreaturen bereits in Staub verwandelt. Starkhand gab ein Zeichen, und während Raschtod zuckte und vor Qualen krächzte und das Gift durch seine Adern floss, erschlug Letzter Sohn die Hunde. Ihr Blut besudelte seinen zuckenden Körper. 204 »Lasst ihn liegen«, sagte Starkhand und stand auf. Er nahm die Elfenbeinkiste und runzelte die Stirn, während zwei seiner Brüder den Stuhl zusammenpackten und sich zum Aufbruch bereitmachten. »Ein hübsches Ding«, sagte er, »aber das Wissen des Handwerkers, der es gemacht hat, ist weit mehr wert als der Gegenstand selbst, wie sehr diese Edelsteine auch glitzern.« Die Anführer kamen näher. »Hast du gewusst, dass er dich herausfordern würde?«, fragte Eisenklaue. »Ich wusste, dass er voreilig war und Vorsicht verabscheute. Mehr musste ich nicht wissen.« »Wie bist du an die Eiswürmer gekommen?« Starkhand bleckte die Zähne, und die eingearbeiteten Juwelen kamen zum Vorschein, strahlten so hell wie das Sternenlicht. »Jeder von uns kann den Sand bezwingen, in dem die Eiswürmer hausen.« »Aber wie viele kämen auf eine solche Idee ? Und wie viele würden einen solchen Versuch überleben?« Starkhand überließ es den Anführern, darüber nachzudenken. Raschtods Krieger würden nach einiger Zeit zurückkehren, obwohl sie durch den Verlust ihres Kriegsführers ihren Anspruch auf den Sieg verloren hatten. Sie hatten ihre Lektion gelernt. Sie würden nicht noch einmal rebellieren. »Kommt«, sagte er. »Ich will nachsehen, was von der Stadt noch übrig ist.« Die Überreste der Schlacht sahen genauso aus wie in anderen Ländern. Die salianischen Toten, die im Fluss trieben, waren so aufgebläht wie andere, ihr Blut befleckte das Wasser mit dem gleichen Farbton. Ihre verhungernden Kinder brüllten und jammerten auf die gleiche Weise wie jedes neue Waisenkind, das so plötzlich seinen Eltern entrissen wurde. Die Flammen fraßen das Holz genauso, und die Dürre, die Salia den ganzen Sommer über zugesetzt hatte, verstärkte die Feu205 ersbrunst noch, ließ sie noch heißer brennen. Die meisten Gebäude standen daher in Flammen, als er das Stadttor erreichte; Rauch und Asche stoben zum Himmel auf, färbten ihn brodelnd grau. Die Tore waren niedergerissen worden, eine höchst beeindruckende Tat, und die Verteidiger hatten aus einem Haufen Karren und Wagen ein zweites Hindernis errichtet, aber auch das war zertrümmert worden, und Pfade waren zwischen die Überreste geschlagen worden, wo Raschtods Krieger ihren Angriff geführt hatten. »Blas das Hörn«, sagte Starkhand zu Letzter Sohn, als er es müde war, zwischen den Toten herumzugehen. »Ich möchte, dass sich alle unsere Krieger vor die Mauern zurückziehen.« Er gab den Befehl, dass den letzten Flüchtlingen gestattet würde, mit so vielen Habseligkeiten aufzubrechen, wie sie tragen konnten, und verfügte lediglich, dass jeder Mann, der mit einem Schwert angetroffen wurde, getötet werden sollte. Asche legte sich auf seine knochenweißen Haare und bedeckte sein Gesicht und seinen Rumpf. Die Luft stank nach Verbranntem und nach Tod, aber es war nicht der Tod, der ihn betrübte, sondern der Verlust des Nutzens dieser Stadt, ihrer Handwerker und Lager, der Gärten und Gerbereien, Kaufleute und Schmiede. Die Städte waren die Räder, die seinen Wagen rollen lassen würden; die Segel und die Ruder, die seine Schiffe weiterbrachten. Eine gewisse kriegerische Betriebsamkeit schwelte in den Städten, die in seltsamem Gegensatz zu dem trägen Leben auf dem Lande stand, wo der größte Teil des gewöhnlichen Volkes in irgendeiner Form seinen edlen Herren diente und auf den Feldern arbeitete. »Was hast du mit diesem Ort vor?«, fragte Eisenklaue. Er klebte jetzt dicht an Starkhands Seite und schien ihn mit neuer Achtung zu betrachten. »Wir dürfen uns nicht zu sehr ausbreiten, aber wenn der passende Moment gekommen ist, möchte ich solche Städte 206 wieder aufbauen. Sie sollen mit Handwerkern und Arbeitern gefüllt werden, die einen Zehnten an uns zahlen, als Tausch für die Freiheit zu arbeiten.« »Wieso machst du sie nicht zu Sklaven?« »Ein Mann, der ausgepeitscht wird, ist wie Kohle unter der Asche - er glüht immer noch voller Groll.« »Dann peitsch ihn aus, bis der Funke erstirbt.« »Wenn der Funke erstirbt, ist er nichts weiter als ein Tier, ohne Geist und ohne Gedanke. Nein, ich werde Sklaven haben, wo es mir nützt, aber auf dem Boden, der mich mit reicher Ernte versorgt, sollen Handwerker und Grundeigentümer gedeihen.« »Du bist nicht so wie die Anführer vor dir«, sagte Eisenklaue, aber die Bemerkung klang in Starkhands Ohren wie Eisen, wie ein entschiedener Hieb. Eisenklaue hatte seine Vorsicht aufgegeben; sein Misstrauen war der Anerkennung gewichen. »Nein«, pflichtete er ihm bei, »das bin ich nicht.«
In der Ferne, wo die Nachzügler in die umliegenden Wälder flüchteten, kamen zwei Tiere in großen Sätzen zwischen den Bäumen hervor. Etwas an ihren dunklen Körpern löste bei Starkhand eine Lawine von Erinnerungen aus. Um ihn herum begannen die Aikha-Hunde zu bellen, drängten wild nach vorn, wurden aber von ihren Herren zurückgehalten. »Halt!«, schrie er, und seine Soldaten nahmen den Ruf auf, gaben ihn weiter, so dass niemand die Kreaturen angriff. Er reichte Letzter Sohn seine Standarte und rannte zu ihnen. Es stimmte also tatsächlich, dass er sie kannte. Ihre Rippen zeichneten sich deutlich ab, und Schmutz und Blätter bedeckten ihre schwarzen Flanken. Einer hatte ein zerrissenes Ohr, und der andere humpelte, und doch erkannte er sie wieder, und sie erkannten ihn. Sie drängten sich mit wedelndem Hinterteil und angelegten Ohren zu ihm. Selbst ausgehungert und geschwächt waren sie groß genug, um ei207 nen Mann zu Boden werfen und ihm die Kehle herausreißen zu können. Seine eigenen Hunde umringten sie, hielten aber Abstand, so sehr knurrten und schnappten sie. »Ja«, sagte er und grinste, als sie ihm die Hände leckten. »Ja, ihr habt mich gefunden. Und jetzt müsst ihr mich zu Alain bringen.« V Unerwartetes Treffen
1 Rosvita träumte. Prinz Sanglant reitet an der Spitze eines großen Heeres zu einer vornehmen Halle. Auf dem Dach weht die Flagge von Avaria: der mächtige Löwe. Eine Frau in den Dreißigern in königlichen Gewändern schreitet auf ihn zu und begrüßt ihn. Sie ist eine von Burchards und Idas Erben; die hakenförmige Nase und die herabhängenden Mundwinkel bestätigen dies. Sie ist zurückhaltend, aber nicht unfreundlich. »Wir haben viel zu besprechen«, sagt die Edelfrau zu dem Prinzen, während sie seine Zügel so umklammert, als wäre sie ein Stallbursche, der das Pferd festhält, damit sein Herr absteigen kann. »Ihr wisst, welchen Kummer meine Familie erlitten hat. Meine älteren Brüder sind beide in den besten fahren gestorben, während sie in Henrys Kriegen gekämpft haben, fetzt sind auch noch meine Mutter und meine jüngere Schwester an der Pest gestorben, mein Herzogtum ist verwüstet, und ich fürchte, dass mein Vater gegen seinen Willen im Süden festgehalten wird, wenn er nicht schon ermordet worden ist, wie es von Villam heißt. Henry ist uns gegenüber 209 nicht so loyal geblieben, wie wir es ihm gegenüber immer gewesen sind.« Ein Donnerschlag lässt den Himmel erzittern, und der dunkle Wind nimmt Rosvita mit sich, trägt sie in weite Ferne, bis sie ihren jüngeren Halbbruder Ivar tot auf einem Karren liegen sieht. Sein Körper wird hin und her geschüttelt, während der Karren durch die Furchen auf dem Boden ruckelt. Die Trauer ist wie ein Pfeil, der sie umbringt; dann reißt Ivar die Augen auf und starrt sie geradewegs an. Seine blauen Augen sind das Meer; sie stürzt in dieses Wasser, während die Nacht hereinbricht und sie umhüllt. Sie schwimmt in Dunkelheit, während die letzten Luftbläschen von ihren Lippen perlen. Felsgestein umgibt sie. Sie ist gefangen. Die Erinnerung an Sternenlicht blendet sie, wird zu Funken, die einer nach dem anderen ausgehen, so wie ihr Atem vergeht, und sie weiß, dass sie ertrinken wird. Etwas Kaltes und Feuchtes landete auf ihrer Stirn und schmolz, und noch so etwas berührte ihre Lippen, so dass sie schlagartig wach war. Aber sie konnte immer noch nicht sehen, hörte nur das Geräusch des tosenden Meeres, während das Wasser stieg und sank und wieder stieg, immer wieder gegen die Felsen schlug. Sie war blind und stumm und zu schwach, um sich zu rühren. Wo bin ich? Was ist aus uns geworden? Unerwartet erklang Fortunatus' Stimme aus dem schwarzen Meer. »Schwester, ich bitte Euch, wacht auf. Könnt Ihr mich hören? Nein, Hanna, es hat keinen Zweck. Ich kann sie nicht aufwecken.« »Wir werden sie tragen müssen. Wir müssen schnell gehen, sonst werden sie uns gefangen nehmen. Das da ist König Henrys Banner. Wie ist es möglich, dass sein Heer so schnell hier ist?« »Es wäre wichtiger zu erfahren, wie viele Wochen oder 210 Monate in der Welt vergangen sind, während wir zwischen den Kronen gewandelt sind. Sie konnten nicht wissen, wohin wir gehen würden. Wir haben es ja nicht einmal selbst gewusst.« »Die Heilige Mutter ist eine mächtige Zauberin. Vielleicht kann sie in die Zukunft sehen.« »Das mag sein, Adler, aber das halte ich für unwahrscheinlich, denn dann hätte sie wissen müssen, dass Schwester Rosvita das Wissen hat, die Kronen zu weben. Wir sollten uns darüber Gedanken machen, wo wir
sind und wieso der König und die Skopos ein Heer an diese Küste geführt haben.« Hannas Lachen klang bitter. »Ihr habt Recht, Bruder. Wie die Antwort auch lauten mag, wir sind an dem Ort, an dem wir am allerwenigsten sein wollten. Beeilen wir uns!« Gerwita jammerte. Ruoda hustete, Jehan kurz darauf ebenfalls. Diese Geräusche schafften es, im Gegensatz zu allen anderen, Rosvita aufzuwecken. Sie mussten sich beeilen, wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte. Sie hatte von der Skopos keine Gnade zu erwarten, und auch ihre Begleiter nicht, für die sie verantwortlich war. »Gnn«, machte sie und räusperte sich in dem Versuch, etwas zu sagen. Ihre Augenlider waren verklebt, aber schließlich bekam sie eines auf und sah eine Armeslänge über sich einen Kopf. Das Gesicht war abgewendet, als würde jemand etwas anstarren, das ihrem Blick verborgen war. Der Scheitel war kahl, und die Haare waren dünn und mit grauen Strähnen durchsetzt. Sogar Bruder Fortunatus wurde alt. Eine Schneeflocke wirbelte herab und verlor sich auf seiner Schulter. Er blickte nach unten, sah sie wach werden und strahlte wie ein Kind, ein Leuchtfeuer der Hoffnung. »Schwester Rosvita!« Die anderen rückten näher, ein Meer von Gesichtern, zu viele und doch zu wenige. Wo war Schwester Amabilia? Wie hatten sie sie verloren? Andere kamen ihr nur vage vertraut 211 vor, als hätte sie sie einst, vor langer Zeit, gekannt und dann vergessen. Waren das nicht Hilaria und Diocletia vom Kloster St. Ekatarina? Ihre Mienen waren so besorgt, dass ihre Furcht ihr Stärke verlieh, und diese Stärke erinnerte sie daran, dass Schwester Amabilia ganz sicher tot war. Die alte Trauer, die jetzt gedämpft, wenn auch nicht weniger schmerzhaft war, verlieh ihrer Entschlossenheit neuen Schwung. »Ich kann stehen.« Aber Hanna und Fortunatus mussten ihr helfen, und ihre Beine zitterten, als sie sich die Finger leckte und mit Hilfe des Speichels das noch immer verklebte Auge nässte, bis die Feuchtigkeit das klebrige Zeug auflöste, das es verschlossen hielt. »Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte sie, während sie blinzelte, um besser sehen zu können. Der Himmel erstreckte sich dunstig über ihnen, und obwohl es ihr schwer fiel, sich zurechtzufinden, heftete sie den Blick auf den schwachen Lichtschein, der die Szenerie vor ihnen einhüllte: einhundert Feuer, zweihundert oder sogar noch mehr, erstreckten sich in einem unerkennbaren Muster bis zu einem unbekannten Horizont, der sich in der Nacht verlor. Schnee bedeckte den Boden, und der Wind war eisig kalt. Ein paar Schneeflocken wirbelten herunter. »Lange genug, um zu beten. Der Abend dämmerte, als wir hierher gekommen sind, nur ein paar Sterne haben uns hergeführt. Die Wolken sind schnell aufgezogen. Wir könnten nicht einmal dann durch diese Krone entkommen, wenn Ihr die Kraft hättet, sie wieder zu weben.« »Wo sind wir?« Sie antworteten mit Schweigen. Sie versuchte erneut, sich zu orientieren. Während sie wach geworden war, hatte sie gegen ihre Verwirrung ankämpfen müssen, aber als sie die zerlumpte Grup212 pe ansah, fiel ihr alles wieder ein. Heriburg hielt noch immer die Tasche mit den kostbaren Büchern umklammert, ihrer Geschichte und der Kopie, die Schwester Amabilia begonnen hatte und die andere fortgeführt hatten, sowie ihrer Kopie von Die Lebensgeschichte der Radegundis. Abgesehen von ein paar Kleidern, die sie am Körper trugen, ein paar Messern und Hannas Waffen waren die Bücher alles, was sie aus Darre mitgenommen hatten. Jerome saß auf einer der Kisten, die mit Vorräten und Schätzen gefüllt waren, die die Schwestern aus dem Kloster gerettet und durch die Krone mitgeschleppt hatten. Denn sie waren nicht allein aus dem Kloster geflohen. »Mutter Obligatia! Wo ist sie?« »Hier bin ich, Schwester.« Schwester Hilaria trat zur Seite, um Rosvita durchzulassen. Mit Fortunatus' Hilfe kniete sie neben der Pritsche nieder, auf der die alte Äbtissin lag. Obligatia war so schwach, dass es immer wieder überraschend war, ihre kräftige Stimme zu hören und ihren lebendigen Blick zu sehen - sie verströmte die Stärke einer sehr viel jüngeren Person. »Nun«, sagte Mutter Obligatia. »Es war ein Risiko, aber Ihr habt gewonnen, Schwester. Ihr habt die Kronen gewebt und uns hierher gebracht.« »Wenn ich nur wüsste, wo wir sind!« »Es gibt nicht viele Steinkreise mit genau sieben Steinen, wie es bei diesem der Fall ist.« »Sind es insgesamt sieben oder stehen sieben noch?« Die Steine erhoben sich am Rand einer Klippe, und obwohl sie sieben gewaltige Säulen ausmachen konnte, war sie sich nicht sicher, ob andere nicht umgestürzt auf dem Boden lagen. Es hatte den Anschein, als würden sie am Rand der Welt stehen; stöhnend und heulend fuhr der Wind zwischen den Steinen hindurch, während sich unten das Wasser über die Felsen ergoss, gurgelnd und flüsternd. Landeinwärts fiel das Gelände ab, führte ein langer, flacher Hang von dem herun-
213 ter, was nicht ganz als Hügel bezeichnet werden konnte. Hinter dem Gebiet, auf dem das Heer lagerte, mochte es Höhenzüge geben, aber ohne Sterne oder Mond war es schwer zu beurteilen, was Schatten und was das Land selbst war. Gleich hinter ihnen saß Teuda neben der armen Schwester Petra, die murmelnd vor- und zurückwippte; Teuda beruhigte sie. »Insgesamt sieben«, sagte Mutter Obligatia. »Wie sieht das umliegende Gelände aus?«, fragte Rosvita. »Ihr müsst in der untergehenden Sonne noch etwas gesehen haben.« »Das Meer befindet sich im Süden, mehr oder weniger«, sagte Hanna. »Wir sind im Norden.« »Es ist noch immer Winter, in Anbetracht des Schnees. Seid Ihr sicher, dass das König Henrys Heer ist?« »Ganz sicher«, erwiderte Hanna. »Die Skopos ist bei ihm.« »Wie konnten sie so schnell hierher reisen?« Rosvita rieb sich müde die Augen. Fortunatus legte ihr eine Hand in den Rücken, um sie zu stützen. Hanna sprach weiter. »Als ich in Darre war, bin ich einmal zur Skopos gebracht worden. Die Heilige Mutter hat von einer Krone beim Meer von Dalmiaka gesprochen. Vielleicht sind wir aber auch im südlichen Salia oder sogar weit im Westen bei Aquila herausgekommen.« »Wie ich mich aus den Chroniken erinnere, gibt es an allen drei Orten Kronen mit sieben Steinen«, sagte Obligatia, deren Finger noch immer mit denen von Rosvita verschränkt waren. »Ich habe in Richtung Osten gewebt, oder zumindest hatte ich das vor. Das hinter uns muss das Mittlere Meer sein.« »Wir könnten im Norden sein«, sagte Hanna, »aber wenn dem so wäre, wären wir jetzt im Land der Aikha. Ich kann mir nicht vorstellen, wie König Henry mit einem solchen Heer hierher marschiert sein könnte.« »Seid Ihr dann auch der Meinung, dass dies hinter uns das Mittlere Meer sein muss?« 214 »Es scheint mir am wahrscheinlichsten, es sei denn, es gibt noch Meere, von denen wir nichts wissen. Aber wie hätte dann König Henry davon wissen können? Wenn wir nach Dalmiaka gekommen sind, ist dies vielleicht die gleiche Krone, von der die Skopos gesprochen hat.« »Die einfachste Erklärung ist oft die beste«, sagte Fortunatus. »Wenn der Bauch einer Jungfrau anschwillt, ist es höchstwahrscheinlich ein Mann, der sie geschwängert hat, und nicht ein Schatten oder ein Engel, was auch immer sie der Diakonissin erzählen mag. Wenn die Heilige Mutter nicht gewusst hat, wohin wir gehen würden, ist es dann nicht sehr gut möglich, dass sie aus ihren eigenen Gründen hierher gekommen sind und gar nicht damit rechnen, uns hier zu begegnen?« »Das ist unser Unglück«, flüsterte Gerwita und schniefte. Ruoda hustete, und ihre Krämpfe erschreckten Jehan. »Still«, sagte Aurea von der dunklen Stelle her, an der sie Wache hielt. »Seht nur! Fackeln!« Mit einer Grimasse stand Rosvita auf. Fortunatus hielt ihren Ellbogen fest. Im Stehen konnte sie das Land in Richtung Norden besser überblicken. Eine Prozession näherte sich vom entfernten Lager, nicht mehr als zwei Personen nebeneinander, aber es waren mehr Lichter, als Rosvita zählen konnte. »Sie suchen uns«, schniefte Gerwita. »Sie wissen, dass wir hier sind!« »Sie müssen gesehen haben, wie die Fäden der Beschwörung aufblitzten«, erklärte Fortunatus. »Ich bitte Euch, gehen wir!«, sagte Hanna. »Und wohin sollen wir in der Dunkelheit gehen?«, fragte Aurea, die stets praktisch veranlagt war. »Wir können keine Fackel anzünden.« »Wir brauchen die Dunkelheit nicht zu fürchten«, sagte Schwester Hilaria. »Wenn Ihr Mutter Obligatia und die Kiste tragen könnt, werden Diocletia und ich abwechselnd die 215 Führung übernehmen. Die Nacht ist für meine Augen hell genug. Teuda wird am Schluss gehen. Gebt mir den Stock, dann kann ich in den Schatten herumtasten und Büsche beiseite schlagen.« »Eine kluge Lösung.« Rosvita packte Gerwita an den Schultern. »Schwester Gerwita, ich bin noch zu schwach von meiner Arbeit. Fortunatus muss helfen, Mutter Obligatia zu tragen. Wenn du mich nicht stützen kannst, müsst ihr mich zurücklassen.« Gerwitas unterdrücktes Schluchzen hörte augenblicklich auf. »Ich werde Euch niemals zurücklassen, Schwester! Hier, lasst mich meinen Arm um Euren Rücken legen. Könnt Ihr Euch auf mich stützen? So ist es gut!« Heriburg hatte die Bücher, die sie nicht aus der Hand geben würde. Ruoda und Jehan mussten sich um sich selbst kümmern, und es war klar, dass die beiden jungen Novizen zwar an einer ernsten Erkältung litten, aber nicht klagen würden. Also fiel es Jerome zu, die Kiste zu tragen, und Fortunatus und Hanna hoben die Pritsche, während Hilaria und Diocletia die Vorhut bildeten, jede mit einem Stock in der Hand. Teuda und Aurea gingen zum Schluss; sie führten Schwester Petra, die die Angewohnheit hatte, davonzulaufen, wenn sie nicht bewacht wurde. »Habt Ihr ein Seil, um sie an Euch zu befestigen?«, fragte Rosvita freundlich, und nach kurzer Überlegung benutzte Teuda Petras Gürtel als Leine, so dass die Frau nicht weglaufen und sie dadurch aufhalten oder gar verraten konnte.
Auf diese Weise stolperten sie parallel zur Klippe in Richtung Osten. Rechts von ihnen war das Meer, und eine steife Brise wehte ihnen vom Wasser her ins Gesicht. Sie war kühl, aber nicht kalt. Eine salzige Feuchtigkeit durchdrang alles, und während sie gingen, löste sich die leichte Schneedecke in Flecken auf, verschwand schließlich ganz, als eine warme Brise von Südosten heranwehte. Der Boden war steinig und äu216 ßerst uneben, aber es gab nur wenig Bäume und große Büsche, und so wurde Rosvita, die direkt hinter Diocletia ging, nur selten zerkratzt, da die Nonne die meisten vorstehenden Zweige zur Seite schlug oder abbrach. Selbst als Rosvitas Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, fühlte sie sich halb blind, aber die Nonnen gingen so zuversichtlich voran, als hätten sie Fackeln dabei. Gerwita stützte sie, und tatsächlich stapfte das Mädchen so trittsicher einher wie ein Soldat. Hinter ihr stolperte Jerome; der dumpfe Aufprall der Kiste vermischte sich mit seinem Schmerzenslaut, als beide auf dem Boden landeten, aber er beruhigte sie, dass er unverletzt sei und es ohnehin keine Rolle spielen würde. Sie mussten weitergehen. Sie alle warfen häufig Blicke zurück, und Rosvita empfand große Erleichterung, als das Land ihnen jede Sicht auf die von Fackeln erhellte Prozession nahm, die den Steinen immer näher kam. »Werden sie uns verfolgen?«, fragte Gerwita. »Das ist möglich, aber wir müssen beten, dass sie erst morgen etwas entdecken.« »Das hoffe ich.« »Vorsicht«, sagte Diocletia vor ihr. »Fünf Schritte weiter ist ein Spalt im Boden. Wenn ich Euch berühre, bleibt stehen, und ich helfe Euch hinüber.« Rosvita gab die Nachricht an die anderen weiter. Nach vier weiteren Schritten fand sie sich von einer starken Hand zur nächsten übergeben, als Diocletia und Hilaria ihr über einen Graben halfen, den ein nun trockener Bach in den Boden geschnitten hatte. Sie wartete mit Gerwita auf der anderen Seite, während die Pritsche mühsam herübergereicht wurde, dann folgten die Übrigen, hielten mit Hilfe der Stöcke das Gleichgewicht. Nach einer kurzen Pause setzten sie ihren Weg fort. Auf diese Weise gingen sie weiter und immer weiter, obwohl sie so müde waren, dass sie am ganzen Körper zitterten. 217 Sie blieben nur stehen und ruhten sich kurz aus, wenn sie auf ein Hindernis aus Felsen oder Erde stießen oder einmal auch auf ein dichtes Dornengebüsch, das sie umgehen mussten. Die Wolkendecke riss auf und enthüllte Sterne, hin und wieder auch den zunehmenden Mond. Niemand sprach, abgesehen davon, dass sie einander Warnungen zukommen ließen; einmal meckerte Petra wie eine Ziege, und sie hörten in der Ferne aus der Dunkelheit eine Antwort. Gerwita kicherte nervös. Ruoda hustete. Schließlich stieg der Boden merklich an, und die Geräusche des Meeres wurden schwächer, je höher sie kamen und je weiter sie ins Landesinnere vordrangen, bis sie einen Kiefernwald mit ein wenig Unterholz erreichten Büsche und Sträucher, deren Zweige und Dornen sich in ihrer Kleidung verfingen. Als Jerome ein zweites Mal die Kiste fallen ließ, nachdem er über eine Wurzel gestolpert war, bestand Rosvita darauf, dass sie anhielten und eine Pause machten. Sie alle sanken wie ein Stein zu Boden, abgesehen von Hilaria und Diocletia, die sich kurz berieten und dann trennten. Hilaria machte sich auf, die Gegend vor ihnen auszukundschaften, während Diocletia den Weg ein Stück zurückging, um sicherzustellen, dass sie nicht verfolgt wurden. Gerwita kümmerte sich unruhig um Rosvita. »Ich bitte dich, Kind, ich bin zu müde, um mich zu rühren, aber vielleicht könntest du nachsehen, ob Bruder Jerome sich irgendwie verletzt hat.« »Natürlich, Schwester!« Hanna stöhnte und rückte neben Rosvita, blies auf ihre Hände. »Ich werde Blasen bekommen.« »Wie geht es Euch, Adler?« »Einigermaßen. Mutter Obligatia wiegt nicht viel. Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt.« »Ein Wunder, vielleicht, oder Dickköpfigkeit. Man sollte die Macht der Halsstarrigkeit nie unterschätzen.« 218 Hanna kicherte, dann wurde sie wieder ernst. »Stimmt es, dass sie Liaths Großmutter ist?« »In zweifacher Hinsicht.« »Oh Gott! Ich bete, dass wir Liath wiederfinden und dass Mutter Obligatia lange genug lebt, um sie noch einmal zu sehen.« »Ich glaube, das ist genau die Hoffnung, die die gute Mutter am Leben hält.« Sie verschnauften eine Zeit lang schweigend, lauschten dem Wispern des Windes in den Kiefern und im Unterholz, dem abgehackten Husten der Kameraden, Petras gemurmelten Selbstgesprächen. Der Geruch von Immergrün und wildem Salbei verlieh der Nacht eine erfrischende Note. Die Gruppe rückte so nah zusammen, dass es leicht war, sie alle zu spüren, nicht nur zu sehen. Der Wind hatte die Wolken in Fetzen gerissen, und der Mond war zum Vorschein gekommen. »Ich kann das Meer nicht mehr hören«, sagte Rosvita, »und doch war es alles, was ich in meinen Träumen gehört habe.« »Es war noch hell genug, dass wir sehen konnten, als wir aus der Krone gekommen sind. Der Steinkreis befindet
sich am Rand einer hohen Klippe. Als ich ins Wasser gesehen habe, hat mich das ganz benommen gemacht. Es war so weit unten. Und die ganze Küste entlang habe ich weder Dünen noch Strände gesehen, nur eine einzige Linie aus Klippen. Ich finde es seltsam, dass sie so messerscharf abfallen. Ich kenne die Küste des Nördlichen Meeres, und sie ist so anders, ganz flach. Die Wellen kriechen weit über das Ufer, ehe sie auslaufen.« »Ich habe das Meer noch nie gesehen.« »Niemals während all Eurer Reisen mit dem König?« Rosvita lächelte. »Seid Ihr überrascht; Adler? Ich nehme an, Ihr seid weit gereister als ich.« 219 »Obwohl Ihr bei der Rundreise des Königs wart? Das hätte ich nicht gedacht. Ihr seid aus der Nordmark, genau wie ich. Das Meer ist von meinem Dorf und dem Anwesen Eures Vaters kaum einen Tagesmarsch entfernt.« »Ich bin als Kind nach Süden geschickt worden, um die Schule zu besuchen, ehe ich zum Meer gekommen bin. Nein, ich habe es nie gesehen, aber ich würde es gern tun.« Hanna hob die Hände und blies darauf, um die aufgeschürfte Haut zu beruhigen. Rosvita verlagerte ihr Gewicht von einer Gesäßhälfte auf die andere; der Boden aus Kiefernnadeln war ein stacheliges Kissen. Gerwita flüsterte Jerome etwas zu; Aurea ließ etwas Apfelwein herumgehen, der beinahe zu Essig geworden war. Sie bot zuerst Rosvita und dann Hanna etwas an, und erst, als sie ihn Fortunatus reichte, der bei Mutter Obligatia saß, sprach der Adler erneut. »Ich habe Träume, aber sie kommen mir vor wie wahre Träume, wie Visionen von Dingen, die geschehen, und ganz und gar nicht wie Träume. In einem solchen Traum wurde mir gesagt, dass ich das Glück einer kerayitischen Schamanin sei. Wisst Ihr, was das bedeutet?« »Eine kerayitische Schamanin? Sind die Kerayiten nicht ein barbarischer Stamm weit im Osten? Ich glaube, dass Prinz Bayans Mutter aus diesem wilden Volk stammte. Darüber hinaus« - sie schüttelte den Kopf - »weiß ich nur wenig. Aber ich bin immer begierig, mehr zu lernen. Was heißt es, das Glück einer kerayitischen Schamanin zu sein?« Ein Ziegenmelker schnurrte. Hanna fuhr zusammen und sprang halb auf. »Dies ist nicht die Zeit im Jahr, in der ein Ziegenmelker sein Weibchen ruft!« »Es sei denn, der Winter ist vorbei, und das hier wäre der letzte Schnee des Frühlings.« »Still!«, zischte Aurea. »Es kommt jemand!« Gebüsch raschelte, als Diocletia auf die Lichtung trat, auf der sie sich ausruhten. 220 »Auf!«, sagte sie mit leiser Stimme. »Sie sind bereits hinter uns her. Ich habe ein Dutzend oder mehr Fackeln auf unserem Pfad gesehen. Sie hüpften auf und ab, als die Männer den Boden untersuchten. Wir müssen weiter.« Die Furcht gab ihnen neue Kraft. Hanna drückte ihre Handflächen an die Wangen, bevor sie wieder an die Pritsche trat. Gerwita eilte zu Rosvita, um ihr beim Aufstehen zu helfen. »Ich werde Euch nicht verlassen!«, sagte sie, wie vorherzusehen war, aber Rosvita lächelte nur und versuchte, nicht aufzustöhnen, als sie sich in Bewegung setzte. Alles tat ihr weh. Sie war vollkommen erschöpft. »Hier entlang«, sagte Diocletia und verschwand im Gebüsch. »Was ist mit Schwester Hilaria?«, wandte Heriburg ein. »Kommt weiter«, sagte Diocletia, ohne auf sie zu warten. Sie waren kaum weiter als hundert Schritt gekommen, als sie den Schutz des Waldes verließen und in einen Olivenhain traten. Hilaria stand im Mondlicht zwei Männern gegenüber, die mit Hacken bewaffnet waren, begleitet von drei stummen, argwöhnischen Hunden. »Ich könnte es mit ihnen aufnehmen«, murmelte Hanna. Hilaria hob die Hand, als sie die anderen hörte, drehte sich aber nicht um. »Ich bitte Euch, Schwester Rosvita, kommt her. Sie sprechen eine Sprache, die ich nicht kenne. Vielleicht sind es Arethusaner.« Das waren sie nicht, und sie schienen diese Sprache auch nicht zu kennen, als Rosvita um Hilfe bat. Sie sahen aus wie Bauern, kräftig und stark, und als sie ihnen winkten, hielt Rosvita es für weise, ihnen zu folgen. Vielleicht konnte Hanna sie wirklich besiegen, aber Mutter Obligatia konnte nicht fliehen, wenn irgendetwas schief ging. Als sie jedoch hinter den Bauern her durch den Hain gingen, sich zwischen den Reihen eines kleinen Weinbergs hin221 durchwanden und auf einen gut ausgetretenen Pfad bogen, hatte Rosvita nicht den Eindruck, als wären die Männer besonders misstrauisch. Sie schienen nur vorsichtig zu sein. Sie gaben weder Drohungen von sich noch brüllten sie, nicht einmal die Hunde bellten. Der Pfad führte zu einem Dorf, das aus nicht mehr als zehn Häusern bestand. Diese Häuser waren aus Backstein oder Rasenstücken gebaut, in einem Stil, der ihr vollkommen unbekannt war. Ein Gebäude war jedoch dabei, das sie sofort erkannte: Der flache, rechteckige Bau erinnerte zwar mehr an eine Soldatenunterkunft als an eine Kirche, aber der runde Turm an dem einen Ende und der angrenzende Friedhof kennzeichneten ihn als arethusanische Kirche. Ein bärtiger Mann in dem Gewand eines Priesters mit einer Stola über der linken Schulter wartete im Säulengang der Kirche. Zwanzig Soldaten waren bei ihm. Fackeln beleuchteten ihre grimmigen Gesichter. Der Priester trug den Kreis der Einheit auf der Brust, halbiert von einem Stab - das Zeichen der Arethusanischen Kirche.
»Ich bitte Euch, Heiliger Vater«, sagte Rosvita auf Arethusanisch und machte einen Schritt auf ihn zu, als sie alle in den Lichtstein getreten waren und ihre Bürde abgesetzt hatten. »Gewährt uns Unterkunft und Ruhe, denn wie Ihr sehen könnt, sind wir heilige Schwestern und Brüder der Kirche so wie Ihr. Wir müssen uns ausruhen, ehe wir uns wieder auf den Weg machen können.« »Ihr seid nicht wie ich.« Die Oberlippe des Priesters zuckte verächtlich, als er Rosvita und ihre Gruppe musterte. Er hatte lockige Haare, die ihm in dunklen Strähnen fast bis auf die Schultern fielen, aber dieses engelsgleiche Merkmal minderte seine höhnische Miene nicht. »Ihr seid Dariyaner. Wie kommt es, dass Ihr meine Sprache verspottet?« Sie wusste, dass ihre Grammatik gut war, aber er schien entschlossen, sich unbeeindruckt zu geben. »Ich bin Schwester Rosvita, ausgebildet im Konvent von Korvei. Ich bitte um 222 Entschuldigung, wenn ich die Aussprache Eurer Wörter entstellen sollte.« »Genauso wie Euer Volk die Worte unseres gesegneten Erlösers entstellt und die Erde mit jeder Art von Ketzerei quält. Nur bei uns Arethusanern sind Eure falschen Worte ausgerottet und vernichtet worden. Feldwebel Bysantius, was sollen wir mit ihnen tun?« Der Feldwebel sah aus wie ein typischer Arethusaner, klein und stämmig, mit schwarzen Haaren und einem dunklen Gesicht. Er musterte sie mit schlauer Miene. Ganz offensichtlich war er ein Mann, der daran gewöhnt war, den Wert der Soldaten abzuschätzen, die er in die Schlacht schickte. »Da draußen liegt ein dariyanisches Heer, Vater, das von dem Besatzer und der falschen Mutter befehligt wird. Wie kommen diese paar Dariyaner hierher? Haben sie das Heer verloren, das ihnen Unterschlupf gewährt? Wenn dem so ist, wie viel Lösegeld könnten wir von dem Besatzer für sie bekommen?« »Am besten, sie werden zum Patriarchen von Arethusa gebracht«, sagte der Priester. Feldwebel Bysantius' Blick wanderte über die Pritsche und Mutter Obligatia. »Gut«, erwiderte er schließlich. »Wir brechen noch heute Nacht auf. Ich habe nicht genügend Männer, um gegen eine so große Streitmacht zu kämpfen.« »Sicherlich wird es doch einem Dutzend guten Arethusanern gelingen, ihren ganzen Heerhaufen abzuschlachten! Sie sind das schwächste Volk von allen. Der Herr von Arethusa ist der einzige Herr, der starke Soldaten und die Macht über das Meer hat.« »Nur zu wahr«, pflichtete Feldwebel Bysantius ihm bei, aber in seiner Stimme lag ein spöttischer Unterton, der Rosvita veranlasste, ihn zu mögen. Dennoch misstraute sie ihm. »Ich werde diese Gefangenen zur Herrin von Bavi bringen; sie kann sie dann weiter zum Patriarchen schicken. Was ist mit Euch, Vater? Wollt Ihr hier bleiben und kämpfen?« 223 »Meine Leute erwarten von mir, dass ich bleibe. Nicht einmal die Sklaven und Mörder, aus denen das dariyanische Heer besteht, werden einen Mann Gottes töten! Nehmt, weshalb Ihr gekommen seid, und geht!« »In Ordnung.« Bysantius wandte sich ab und gab seinen Männern Befehle. Sie machten sich sofort an die Arbeit. »Was hat er gesagt?«, fragte Hanna, und die anderen kamen näher - soweit sie sich trauten, auch nur einen einzigen Schritt zu machen -, und Rosvita erzählte ihnen, was sie gehört hatte. Ein Wagen wurde herangerollt, und nachdem Säcke mit Korn, zwei Fässer Öl, zwei Fässer Wein und ein Käfig mit Hühnern darauf geschafft worden waren, machten die Soldaten Platz für die Pritsche von Mutter Obligatia. Die Pritsche würde von den Säcken gestützt werden, wie Rosvita bemerkte, so dass die alte Äbtissin eine etwas bequemere Reise haben würde. Es stellte sich heraus, dass der Feldwebel nicht nur wegen der Vorräte, sondern auch wegen neuer Rekruten gekommen war. Während seine Leute sich aufstellten, drängten sie zwei junge, verängstigte Männer in die Reihen, deren Mütter und Freundinnen oder Schwestern an den Türschwellen ihrer Hütten standen und weinten. Zwei Soldaten kamen vom Olivenhain her ins Dorf gelaufen. »Feldwebel! Eine Patrouille der Dariyaner kommt hierher!« »Dann also los«, sagte Bysantius, der ein Pferd hatte. Die Übrigen gingen zu Fuß, und das taten auch Rosvita und ihre Kameraden. Sie schleppten sich halb benommen die staubige Straße entlang, bis der Feldwebel bei Anbruch der Morgendämmerung Mitleid mit Rosvita und der hustenden Ruoda hatte und ihnen gestattete, sich auf den Wagen zu setzen. Die Gruppe bewegte sich nicht sonderlich rasch, aber in einem gleichmäßigen Tempo voran, das sich an den Ochsen orien224 tierte. Dennoch konnte Rosvita nicht erkennen, dass sie verfolgt wurden, als sie die Straße zurückblickte, die sie gekommen waren. Die Landschaft war nur spärlich bewaldet und ziemlich trocken, obwohl Blumen den Boden schmückten. »Es muss Frühling sein«, sagte Ruoda leise; ihre Stimme war heiser vom Husten. »Wie lange sind wir zwischen den Kronen gewandelt?« »Drei oder vier Monate. Ich weiß es nicht genau.« Das Mädchen seufzte, hustete und schloss die Augen. »Schwester Rosvita.« Obligatia war wach; auch sie musterte die Straße, die sich hinter ihnen schlängelte, sowie die versengten Hügel und den blassblauen Himmel. »Glaubt Ihr, wir sind der Skopos entkommen?«
»Ich hoffe es. Vielleicht hat der Priester sie aufgehalten. Vielleicht hat Henrys Patrouille geglaubt, dass überall arethusanische Soldaten sind, und die Jagd aufgegeben.« »Bei wem werden wir Schutz finden?« Rosvita konnte nur den Kopf schütteln. »Ich weiß es nicht.« Sie marschierten drei Tage in diesem gemächlichen Tempo weiter, hielten jede Nacht in einem anderen Dorf an, wo sie jeweils neue Vorräte und auch zwei oder drei zögernde Rekruten mitnahmen. Einmal spuckte ein alter Mann den Feldwebel an, fluchte in einer Sprache, die Rosvita nicht kannte. Gerwita schrie auf, als Bysantius den Mann niederstach, ihn dann an einem Olivenbaum aufhängte und als Fressen für die Krähen zurückließ. »Ich frage mich, ob wir mehr Gnade bei der Skopos gefunden hätten«, sagte Hanna eines Nachts, als sie sich in einem engen Stall niederließen, während sie den Luxus eines Lagers aus Heu, von kaltem Haferbrei und Ziegenkäse genossen. »>Lerne die Kunstgriffe der Arethusaner kennen, und von einem Verbrechen kannst du auf alle schließen<«, murmelte Fortunatus. 225 Der Feldwebel stellte die ganze Nacht über eine Wache ab, und am nächsten Morgen machten sie sich wieder auf den Weg. An diesem Tag verzichtete Feldwebel Bysantius auf sein Pferd und ging zu Fuß neben dem Wagen her. »Nun, Schwester«, fragte er, »wieso kommt der Besatzer in dieses Land? Wieso will er uns etwas nehmen, das rechtmäßig anderen gehört?« »Ihr müsst verstehen, dass ich nicht in verräterischer Weise über meinen Landsmann und Lehnsherrn sprechen kann. Ich bitte Euch, versucht nicht, Informationen aus mir herauszubekommen, die ich Euch nicht guten Gewissens geben kann. Selbst wenn ich sie kennen würde, was ich nicht tue.« Er grinste. Er hatte gute Zähne und fröhliche Augen, wenn er lächelte. »Die dariyanischen Soldaten, die in diesem Heer marschieren, waren nicht aus der alten Stadt, wo die Ketzer brennen werden. Sie sagen, der neue Kaiser sei ein Mann des Nordens, ein ungehobelter Barbar.« Sie lächelte ausdruckslos, hielt es für klüger, nicht in diese plumpe Falle zu tappen. »Er ist ein Wendaner, sagen sie, ein König des Nordens. Die Herren pflegen gern zu sagen, dass die Dariyaner und Nordländer Rüpel und Lügner sind, ziegenfüßig und dumm wie Esel. Ich habe sie allerdings kämpfen sehen.« »Ihr habt gegen sie gekämpft?« Er grinste erneut, antwortete jedoch nicht, sondern rief in einer Sprache nach seinem Pferd, die sie nicht kannte. Zum ersten Mal fiel Rosvita auf, dass Feldwebel Bysantius Arethusanisch so sprach wie sie, ohne den reinen Akzent, über dessen Fehlen der Priester sich so verächtlich geäußert hatte. 226 2 Am frühen Nachmittag warfen die Fuhrunternehmer Ivar am vereinbarten Treffpunkt aus dem Wagen, aber erst, als sie wieder weggefahren waren und ihre Stimmen in der Ferne verklangen, trat ein junger Mann hinter einer gewaltigen Eiche hervor, die die Lichtung beherrschte. Er war schlank, hatte helle Haare und trug einen Bogen in der einen Hand und einen Pfeil in der anderen. »Ihr seid Bruder Ivar«, sagte der Soldat. »Ich erkenne Euch.« Ivar spuckte die winzige Rolle aus, die er im Mund versteckt hatte, dann stöhnte er, während er schwankte und sich bemühte, das Gleichgewicht zu halten. Er sackte unsanft auf den Boden. Seine Gliedmaßen arbeiteten noch nicht richtig. »Wie könnt Ihr mich erkennen? Ich kenne Euch nicht.« »Es sind die roten Haare. Ich war dabei, als Ihr vom Kloster Herford gekommen und zu Herzogin Sabella gebracht worden seid, damit sie über Euch richtete.« »Ah.« Die Erinnerung an diesen entwürdigenden Tag ließ ihn noch immer heiß vor Wut werden. Der andere Mann - nicht älter als er selbst - hockte sich neben ihn. Ivar blinzelte ihn an, stellte fest, dass seine Augen
Ein Rumpeln schwoll an und verklang wieder, wie ein Erzittern der Erde, als würde ein großes Tier sich im Schlaf umdrehen. Die Menge im Vorraum versank in Schweigen. Draußen lachte eine Frau; ihre hohe Stimme übertönte die plötzliche Stille. »Nur ein kleines«, flüsterte Gerwita. Ihre Stimme klang mehr wie das Quieken einer Maus. Sie ließ Ruodas Hand los. Blutrote Vorhänge schützten den nächsten Raum vor Blicken aus dem Vorraum. Ein in jadegrünen Gewändern erstrahlender Eunuch tauchte auf und hielt den Vorhang zur Seite, damit sie hindurchgehen konnten. Es war dämmrig und stickig in diesem Raum, der durch vier Schlitze im Zeltdach erhellt wurde - und durch zwei Lampen in der Form von 327 Lamias, geschmeidigen Kreaturen mit den Köpfen und Oberkörpern von wunderschönen Frauen und den Unterleibern von Schlangen. Ein Sofa stand auf dem Ehrenplatz, leicht erhöht auf einem niedrigen, runden Podest aus Holzplanken, das in der gleichen blutroten Farbe bemalt war wie die schweren Vorhänge. Zwei junge Männer, nackt bis auf einen Lendenschurz, fächerten der Frau, die dort entspannt saß, von beiden Seiten Luft zu. Sie beäugte die Neuankömmlinge, als wären sie Kröten, die nicht hierher gehörten. Sie hatte dunkle Haut und schwarze Haare mit etlichen grauen Strähnen, und sie war fett. Ihr Gesicht hätte schön sein können, hätte sie nicht so kleine Augen gehabt und wäre da nicht das einzelne Haar an ihrem Kinn gewesen. Eine Decke verhüllte ihren Körper von der Taille abwärts, und Hanna hatte plötzlich mit der zwanghaften Idee zu kämpfen, dass die Edelfrau tatsächlich eine Lamia sein könnte, mehr Schlange als Frau. Ein dunkelhaariger, reizloser Junge von etwa zehn Jahren saß am Ende des Sofas, hielt einen Goldreif in den Händen und versuchte, seine Unruhe zu beherrschen. Ein General in glänzender Rüstung stand hinter ihr, eine auffällige Erscheinung, denn eines seiner Augen war von einer alten Wunde vernarbt, während das andere in lebhaftem Kornblumenblau erstrahlte. Er stand zwischen den beiden Sklaven, so starr und reglos, dass er eine Statue hätte sein können. Aber er blinzelte einmal, als er Hannas weizenblondes Haar sah, und dann lachte ein Mann so laut, angenehm und herzhaft, dass Hannas Blick zur Seite schweifte, zu dem König und der Königin, die rechts des Podests mit der arethusanischen Edelfrau auf Stühlen saßen. Nichts hätte ihr einen größeren Schreck einjagen können - außer vielleicht der Anblick einer Lamia, die über die weichen Teppiche glitt. Der König und die Königin saßen auf einem eigenen Podest, das rechteckig und genauso hoch war wie das, auf dem 328 die arethusanische Edelfrau thronte. Zwei Banner waren hinter ihren Stühlen entrollt - der doppelköpfige Adler von Ungria und das rote Banner mit dem in Gold aufgestickten Adler, Drachen und Löwen, das dem Herrscher oder Erben von Wendar gehörte. Hinter der Königin standen drei grimmig dreinblickende qumanische Frauen, die eine jung, die andere mittleren Alters, die letzte sehr alt. Sie trugen kleinen Türmen ähnliche Kopfbedeckungen, die mit Gold überzogen waren, und als Hanna sie ansah, vollführten sie Gesten, die man gegen den bösen Blick einsetzen mochte. Der König lachte erneut. Er war ein großer, kräftiger Mann, nicht wirklich alt, aber ganz und gar nicht mehr jung. »Es ist, als wäre eine Spur Schnee zu uns gelangt. Ich habe noch nie so weiße Haare gesehen!« Er wandte sich an seine Königin und nahm ihre Hand, aber sie blickte so angesäuert drein wie Milch, die zu lange in der Sonne gestanden hat. »Genau das hat auch dein Bruder immer gesagt«, erklärte Prinzessin Sapientia. »Sie ist der Adler meines Vaters, aber ich traue ihr nicht. Und du solltest es auch nicht tun.« Hanna starrte sie an, aber sie war klug genug, sich nicht zu verteidigen. »Ihr kennt diese Leute, König Geza?«, fragte die arethusanische Edelfrau. Der einäugige General hinter ihr lächelte, wie über einen Witz, den nur er kannte. »Ich kenne sie!«, sagte Sapientia. »Diese Frau ist Schwester Rosvita, eine von Henrys Vertrauten. Ich habe nie ein böses Wort über sie gehört, obwohl tatsächlich einige darauf eifersüchtig sind, dass der König sie so hoch schätzt, wo doch ihr Geschlecht gar nicht so hoch steht.« »Könnte sie die Gedanken des Eindringlings kennen?«, fragte die Edelfrau. »Ja, das könnte sie.« Sie sprachen die arethusanische Sprache langsam genug, dass Hanna ihnen folgen konnte. Geza und Sapientia spra329 chen nicht fließend, und die Edelfrau hielt es offenbar für unter ihrer Würde, einen Übersetzer hinzuzuziehen. »Tretet vor, Schwester Rosvita«, sagte die Edelfrau. Schwester Rosvita machte einen Schritt nach vorn, blieb stehen und neigte respektvoll den Kopf. »Ich bin Schwester Rosvita. Es ist wahr, ich war einmal die Vertraute von Henry, aber dem ist nicht mehr so.« »Das behauptet sie!«, schnaubte Sapientia. »Und doch haben wir vielerlei Rebellion gesehen«, sagte Geza, »nicht zuletzt in der Person deines bezaubernden Bruders, teure Sapientia. Henry verliert an Unterstützung, und seine Autorität zerbricht. Ist das nicht das traurige
Schicksal derer, die nicht gut herrschen, Edelfrau Eudokia?« Die Lippen der Edelfrau wurden schmal, als sie lächelte. Hanna wartete regelrecht darauf, die gespaltene Zunge einer Schlange aus ihrem Mund schießen zu sehen. »Wir brauchen nur einen einzigen großen Sieg, um die Unterstützung der Leute hier in Arethusa zu bekommen. Wir müssen das Heer des Eindringlings aus Dalmiaka vertreiben. Danach werden wir im Triumphzug zur goldenen Stadt reisen. Mein gealterter Vetter wird sich in ein Kloster zurückziehen und meinen Neffen das übernehmen lassen, was ihm gehören sollte.« »Werde ich dann Kaiser, Tante?« Der reizlose Junge am Fußende des Sofas hatte eine piepsige, ziemlich laute Stimme. Er sah aus, als befände er sich gewöhnlich im Zustand des Überraschtseins, während er den Reif zwischen den Fingern herumdrehte. Offensichtlich hätte er lieber gespielt, statt bei diesem ernsten Gespräch dabei zu sein. »Ja, Nikolas«, sagte sie geistesabwesend. Der General rührte sich nicht, nicht einen Fingerbreit, obwohl er die beunruhigende Angewohnheit hatte, seinen Blick immer wieder auf Hanna zu richten. »Sagt uns noch einmal, Feldwebel Bysantius, in welchem Zustand habt Ihr diesen traurigen Haufen gefunden?« 330 »Meiner Meinung nach, Erhabene Edelfrau, sind sie vor den Soldaten des Eindringlings geflohen. Wenn das nicht so war, sollten sie Schauspieler werden und auf die Bühne gehen, denn dann haben sie mich zum Narren gehalten.« »Ich bitte Euch«, sagte Rosvita mit kräftiger Stimme, »wir sind eine kleine Gruppe von Geistlichen, die niemandem etwas tun. Wir haben Kranke und Versehrte bei uns.« »Ich habe Euch nicht die Erlaubnis gegeben zu sprechen!«, blaffte Edelfrau Eudokia. Rosvita presste die Lippen zusammen und enthielt sich einer Antwort, aber ansonsten veränderte sich ihr Gesicht nicht. Sie war eine sanfte Frau, aber sie war vermutlich klüger als alle anderen zusammen. Hanna stellte überrascht fest, dass die Zurechtweisung Rosvitas sie vor Entrüstung zittern ließ. Woher kam diese Loyalität? Wann hatte sie ihr Herz an die Geistliche verloren, die die Loyalität jener in ihrem Umfeld nicht forderte, sie aber dennoch besaß? Rosvita würde sie niemals im Stich lassen. Sie würde niemals ihre eigene Ehre beflecken. Das war etwas, das alle, die sie begleiteten, wussten. Das war der Grund, weshalb sie ihr folgten. Auf ihre eigene Weise war auch sie eine Anführerin, aber das Heer, das sie führte, trug andere Waffen: die Feder, den unbeugsamen Geist, die langsame Anhäufung und sinnvolle Nutzung von Wissen. »Wisst Ihr, wieso der Eindringling nach Dalmiaka gekommen ist?«, fragte Edelfrau Eudokia. »Ja, das weiß ich«, sagte Rosvita ruhig. »Doch bevor ich aufrichtig mit Euch sprechen werde, benötige ich einige Zusicherungen bezüglich der Sicherheit meiner Leute.« »Wollt Ihr meinen Vater ebenso verraten wie mein Bruder?«, rief Sapientia, und Röte stieg ihr ins Gesicht. Sie machte Anstalten aufzustehen, aber Geza hielt sie am Handgelenk fest, so dass sie sofort nachgab. Sie zitterte sichtbar, als hätte das leichte Erdbeben sie noch immer im Griff. 331 »Ich habe Henry nie verraten, Eure Hoheit. Andere haben ihn verraten, aber ich niemals. Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist um einiges ernster und wird Hochstehende und Gewöhnliche treffen, Arethusaner und Wendaner, Ungrianer und Dariyaner gleichermaßen. Welches Datum haben wir, bitte ?« »Diese Nacht beginnt der Festtag von St. Nikephoras«, erklärte der Diener im jadegrünen Gewand. »Es ist das zwei-hundertsechsunddreißigste Jahr gemäß der Anerkennung des Patriarchen, zurückgehend auf die eintausendsechshundertundacht Jahre zuvor erfolgte Gründung des dariyanischen Reiches, von dem wir die einzig wahren Erben sind.« »Ich bitte Euch, welches Datum haben wir nach dem Kalendar, der von der Dariyanischen Kirche anerkannt wird?« Der bartlose Mann schnaubte. Edelfrau Eudokia wirkte beleidigt und musste tatsächlich einen Schluck Wein trinken, ehe sie sich überwinden konnte, ihrer Entrüstung Ausdruck zu verleihen. »Ihr habt die richtigen Bräuche und Feiertage vergessen! Kann es sein, dass eine gebildete Kirchenfrau der abtrünnigen Kirche sich nicht länger an St. Nikephoras erinnert, den Patriarchen und Verteidiger der Wahren Kirche?« Geza rief einen Verwalter aus seinem Gefolge zu sich, der nach großem Zögern zugab, dass er den Kalender der abtrünnigen Dariyaner kannte und verfolgte. »Ich bitte um Vergebung, Erhabene Edelfrau«, sagte der Mann zu Eudokia. »Dies ist der Tag, der von der falschen Hirtin in Darre als Festtag einer ihrer Ahnen, genannt Maria Jehanna, gefeiert wird, die ebenfalls die Gewänder der Skopos angelegt hat, aus Trotz gegenüber dem rechtmäßigen Patriarchen. Rebellen und Ketzer, allesamt!« »Das heißt, wir haben bereits die Tagundnachtgleiche«, rief Rosvita aus. »Wir sind sechs Monate oder mehr in der Krone gewesen!« Sie wurde bleich und schwankte, und Ruoda und Gerwita stützten sie. »Oh, nein, nicht sechs Monate!« Sie war so verblüfft, dass sie laut mit sich selbst sprach, und alle Anwesenden konnten ihren Verstand arbeiten sehen. Sie verriet auch die geheime Art und Weise, auf die sie nach Dalmiaka gelangt waren, aber sie war durch und durch entsetzt. »Das Konzil von Addai hat im Jahr 499 stattgefunden, und wenn die arethusanische Kirche zweihundertsechsunddreißig Jahre gezählt hat... dann ist jetzt nicht das Jahr 734, sondern 735. Wir sind volle achtzehn Monate in der Krone gewandert! Wie kann es sein, dass uns so viel Zeit entglitten ist?«
»Wovon redet sie?«, murmelte Geza, das Gesicht vor Argwohn angespannt. Edelfrau Eudokia beugte sich vor; ihre Hand krallte sich gierig in die Decke über ihren Beinen. »Die Kronen! Wie kommt es, dass Ihr dieses alte Wissen erlangt habt, das denen in der Wahren Kirche lange Zeit verboten war?« Rosvita warf den Mädchen einen Blick zu. »Ich bitte Euch, Schwestern. Ich kann stehen. Es war nur ein unbedeutender Schlag.« Hanna wagte kaum zu atmen. Sie alle starrten einander an, versuchten zu begreifen, was Rosvita gerade gesagt hatte. War es wirklich wahr, dass sie in einer einzigen Nacht achtzehn Monate verloren hatten? War dies der Preis, den jene zu zahlen hatten, die glaubten, sich die Mühen der Reise ersparen zu können? Fortunatus' hageres Gesicht war vor Furcht aschfahl geworden, und die anderen murmelten leise Gebete vor sich hin oder starrten Rosvita verwundert an. Mutter Obligatia hatte die Augen geschlossen, aber ihre Lippen bewegten sich. Nur Petra wirkte ungerührt; sie wiegte sich vor und zurück, die Augen noch immer halb geschlossen, und sang leise. Rosvita holte zitternd Luft und faltete die Hände wie zum Gebet. »Erhabene Edelfrau, ich habe in meinem Leben viele Dinge gelernt. Was genau wollt Ihr von mir? Wenn Ihr erfahren wollt, was ich weiß, müsst Ihr mir als Gegenleistung etwas geben.« »Euer Leben?« 332 333 Rosvita zuckte die Schultern. »Das Leben derjenigen, die Euch begleiten?« »Darum werde ich feilschen, ja, aber es steht ihnen frei, ihren Weg selbst zu bestimmen. Wenn die Informationen stimmen, die ich habe, spielt es keine große Rolle, welchen Druck Ihr auf mich oder auf sie ausübt. >Die Sonne wird in Dunkelheit verwandelt werden, und der Mond wird bluten.< Ein Sturm zieht auf -« »Das hat auch Sanglant behauptet!«, rief Sapientia. »Ja, das hat er«, erklärte Geza. »Er mag besessen gewesen sein, aber er ist kein Narr. Wir sind die Narren, wenn wir nicht auf das hören, was er gesagt hat.« »Es war eine Falle! Eine Lüge, um uns überrumpeln zu können! Er wollte mich von Anfang an in der Wildnis zurücklassen. Wären die Pechanek-Mütter nicht gewesen, wäre ich gestorben! Ich habe nie an seine Geschichte von einer Umwälzung geglaubt!« »Ich glaube daran«, sagte Edelfrau Eudokia in einem Tonfall, der Ruhe gebot. »Unsere Gelehrten haben die alten Geschichtswerke studiert. Wir in Arethusa sind der vollen Wucht entkommen, mit der die Bwr vor fünfhundert Jahren in Dariya eingefallen sind und es zu großen Teilen verwüstet haben. Wir erinnern uns voller Bitterkeit an die Wut des Pferdevolkes, das geschworen hat, sich an den Nachkömmlingen der Verlorenen zu rächen, denn vor langer Zeit haben die Verlorenen die Erde in ihrem Krieg gegen die Menschheit entzweigerissen.« Eudokia sprach mit so viel Leidenschaft, als hätte das Ereignis erst vergangenen Monat stattgefunden, aber Hanna konnte sich nicht dazu durchringen, länger bei solch riesigen Zeitsprüngen zu verweilen, die ihr Vorstellungsvermögen überstiegen. In Friedleben galt eine Frau schon als reich an Verwandten, die sich an den Namen der Großmutter ihrer Großmutter erinnerte. 334 »Und jetzt strebt dieser Prinz Sanglant ein Bündnis mit dem Pferdevolk an. Wie sollen wir wissen, ob er den Menschen oder dem Volk seiner Mutter helfen wird, den Verlorenen? Wie können wir Geschöpfen trauen, die nicht ganz menschlich sind, so wie wir es sind? Die Gott nicht so huldigen wie wir?« Die Anwesenden blieben still, nicht einmal ein Flüstern war zu hören, aber Rosvita war von der Inbrunst der Edelfrau nicht eingeschüchtert. »Was wollt Ihr von mir, Erhabene Edelfrau? Eure Hoheit? Eure Majestät? Wir sind bedeutungslos, wir vierzehn Reisenden. Wir spielen keine Rolle.« »Ihr seid meinem Vater weggelaufen«, sagte Sapientia. »Das bedeutet, dass Ihr sehr wohl irgendeines Verbrechens schuldig seid. Ihr seid der Zauberei schuldig! Das habt Ihr selbst zugegeben!« »Das ist unnötig, Kusine«, sagte Edelfrau Eudokia zu Sapientia. »Es spielt keine Rolle, welches Verbrechen man ihr in Dariya vorwirft. Wir marschieren mit oder ohne sie und ihre Gefährten nach Dalmiaka.« »Ich halte es für das Klügste, wenn wir dafür sorgen, dass sie in unserer Nähe bleiben«, sagte Geza nachdenklich und mit einem respektvollen Nicken in Rosvitas Richtung. »Wenn ihr Wissen uns möglicherweise helfen könnte, sollten wir sie mitnehmen«, stimmte Eudokia ihm zu. »Und wenn wir den Sieg errungen haben?«, fragte Sapientia. »Was dann?« »Mach dir darum keine Sorgen, meine Liebe«, sagte Geza, und obwohl er Eudokia niemals anblickte oder gar zublinzelte, konnte jeder Idiot sehen, dass er und die arethusanische Edelfrau Sapientia gemeinsam hereingelegt hatten. »Du wirst deinen rechtmäßigen Platz zurückerhalten. Der Erhabene Edelmann wird den Thron besteigen, der ihm zusteht.« »Das bin ich!«, rief der Junge mit breitem Grinsen. »Alles wird gut werden«, endete der Ungrianer. 335 »Und Ihr, König Geza?«, fragte Rosvita kühn. »Was gewinnt Ihr bei diesem Unternehmen?« Er lächelte nicht, aber er war auch nicht verärgert. Er war zwar wie Bayan leicht zu erheitern, aber er war auch
sehr viel tiefsinniger und düsterer, als Bayan es jemals gewesen war. »Bestimmte Gebiete entlang des Anubar, der viele Jahre lang die umstrittene Grenze zwischen Arethusa und Ungria gewesen ist. Und Gerechtigkeit für meine Frau, die meine Hilfe gesucht hat, nachdem sie von ihrem Bruder in der Wildnis zurückgelassen wurde.« Sapientia strahlte ihn an; in ihren Augen glitzerten ungeweinte Tränen. Er tätschelte ihre Hand, aber nicht viel anders, dachte Hanna, tätschelte er vermutlich auch seine Lieblingshunde. Bayan hatte Sapientia mit mehr Respekt behandelt. Aber wie konnte sie erkennen, wer schuld war? Hatte Sapientia sich in Gezas Arme geworfen, oder hatte er sie mit Gewalt zu sich genommen? Die Prinzessin war mit ihrem Bruder nach Osten marschiert, und ohne dass sie Fragen stellte, zu denen ein gefangener Adler nicht das Recht hatte, konnte Hanna nicht erkennen, was vorgefallen war, das Sapientia so sehr gegen Prinz Sanglant aufgebracht hatte - außer vielleicht der Weigerung des Prinzen, Bulkezu hinzurichten. Der Gedanke an Bulkezu überraschte sie. Der alte, vertraute Abscheu und Hass klebten immer noch an ihr, wie ein Gestank. Aber nach ihrer Zeit in Darre erkannte sie jetzt, dass ein Mensch sich manchmal der Notwendigkeit fügen musste und gezwungen war, um eines größeren Wohles willen das Leben eines Mannes zu verschonen, den er verabscheute. Habe ich Sanglant vergeben? Die Erkenntnis verblüffte sie. Sein Name rief keinerlei Wut in ihrem Innern hervor, nur das Gefühl, sich dem Unvermeidlichen gefügt zu haben. Nur ein gequältes Lächeln. Sie hatte sich verändert. Sie war durchs Feuer gegangen, 336 und sie hatte eine Ahnung von der schrecklichen Aussicht, die sich vor ihnen eröffnete und die ihre früheren Prüfungen fast unbedeutend erscheinen lassen würde. »Lasst sie wegbringen, Basil. Sie sollen etwas zu essen bekommen und eine gute Unterkunft und einen Wagen, um darin zu reisen, wenn wir aufbrechen. Aber wenn sie entkommen, kostet es Euch den Kopf.« Der General kicherte, und vielleicht zwinkerte er auch, als Hanna ihn ansah, oder er blinzelte ihr zu. Sie wandte rasch den Blick ab. »Jawohl, Erhabene.« Der Mann in dem jadegrünen Gewand drehte sich mit einer schwungvollen Gebärde um und winkte drei Männer zu sich, die genauso bartlos waren wie er, aber nicht so vornehm gekleidet. Sie wurden zu einem Zelt geführt, dessen Abmessungen und Einrichtung geradezu königlich wirkten, nachdem sie den ganzen Sommer in den kargen Klosterzellen gehaust hatten. Die unablässigen Sorgen, die verblüffende Erkenntnis ihrer veränderten Umstände und die Entdeckung, wie unerwartet lange ihre Reise durch die Kronen gedauert hatte, hatten sie so erschöpft, dass sie sehr schweigsam waren, als sie sich jeweils einen Platz auf den Stühlen, der Bank oder den Kissen suchten, die für ihr Wohl hereingeschafft wurden. Tee und Honigkuchen wurden gebracht, Brot und ein Brei aus mit Rosmarin gewürzten Erbsen, der ziemlich trocken war und einen bitteren Nachgeschmack hatte. Sie aßen schweigend. Selbst Rosvita sagte nichts, während sie ihren Wein trank und sich gelegentlich über den Kopf rieb, als würde er schmerzen. Als sie alle satt waren und erschlafft dasaßen, fragte Hanna: »Was jetzt, Schwester Rosvita?« Rosvitas Lächeln war eher geisterhaft als wirklich. »Es ist eine Ironie des Schicksals, denke ich, dass wir ausgerechnet bei derjenigen so etwas wie Zuflucht finden, die eine Feindin unseres Herrschers ist.« 337 »Sapientia ist die rechtmäßige Erbin!«, wandte Fortunatus ein. »Das stimmt, aber unter dem Einfluss von Adelheid hat er Mathilda auf ihren Platz gesetzt. Prinzessin Sapientia hat mit König Geza und den Arethusanern nicht unbedingt einen schlechten Handel gemacht, auch wenn sie es vielleicht irgendwann bereuen wird. Es könnte sein, dass sie dies für die einzige Möglichkeit hält, die Position zurückzuerlangen, die sie lange Zeit als ihre Zukunft gesehen hat. Doch wir wissen sehr genau, dass der Henry, der jetzt in Darre herrscht und spricht, nicht unser Herrscher ist, sondern eine Marionette, die von anderen Händen bewegt wird. Wer ist also der Feind und wer der Verbündete?« »Werdet Ihr ihnen das so sagen?«, fragte Hanna. »Wie viel dürfen wir den Feinden unseres Herrschers verraten?« Im Innern dieses angenehmen Zeltes, das ein schöneres Gemach war als viele der Orte, an denen sie in den letzten Monaten gelebt hatte, fühlte Hanna sich sicher, obwohl sie wusste, dass Rosvita Recht hatte. »Es kommt mir so vor, als wären wir auf allen Seiten von Feinden umgeben. Wie sollen wir wissen, was wir tun und wem wir trauen sollen?« »Sanglant hat behauptet, dass die Sternenkrone den Himmel am zehnten Octumber krönen würde, im Jahr sieben-hundertfünfunddreißig. Ich weiß nicht, mit welchen Methoden die Mathematiki dieses Datum errechnet haben oder ob es richtig ist, aber auf jeden Fall ist es nächsten Monat. Wir lagern jetzt im Südwesten von Arethusa, glaube ich, gleich nördlich von Dalmiaka. Dieses Heer hat offenbar vor, nach Dalmiaka zu marschieren, um sich der Heiligen Mutter und Henry entgegenzustellen. Aber ich weiß nicht, ob wir die Heilige Mutter Anne bei der Krone in Dalmiaka von ihrer Aufgabe abhalten müssen, oder ob wir ihr helfen sollen, den Bann der Mathematiki zu weben.« Während dieses Gesprächs war Mutter Obligatia still ge338 blieben. Hanna hatte sogar vermutet, dass sie schlief. Eines der Beben brachte die Erde unter ihnen zum Erzittern, so dass Gerwita aufschrie; dann kicherte sie nervös, als das Beben so rasch nachließ, wie es gekommen
war. Als hätte die Erde sie geweckt, hob Obligatia den Kopf und stemmte sich auf die Ellbogen. Schwester Diocletia eilte ihr zu Hilfe und stützte sie. Sie alle wandten sich respektvoll um, um sie anzuhören. »Die Alten lassen sich durch ihre Gefühle blenden.« Es war für Hanna stets eine Überraschung, mit was für einer kräftigen Stimme diese zerbrechliche Gestalt sprechen konnte. »Ich weiß das, denn ich habe es gesehen. Ich habe es bedauert. Und dennoch glaube ich, dass ich die Tochter meines Sohnes gesehen habe und dass sie uns vor dem Galla gerettet hat, obwohl es zu spät war, um Schwester Sindula zu retten.« »Liath!«, flüsterte Hanna. Die Äbtissin nickte ihr zu, ehe sie weitersprach. Es wurde düster im Zelt, und die Schatten wurden länger, als die Sonne unterging und die Dämmerung die glühenden Temperaturen verjagte. Sie hatten keine Lampen. »Wenn diese Frau, diese Skopos, die sich Anne nennt, wirklich Liathanos Mutter ist, dann wird Liath genau dorthin gehen. Suchen wir die Heilige Mutter Anne, und wir werden diejenige finden, die wir suchen. Dorthin möchte ich gehen.« Tränen glänzten auf den Wangen der alten Frau, und Diocletia wischte sie sanft beiseite. »Ich bin mit der Entwicklung der Ereignisse zufrieden, meine Freunde. Ich bin alt und stehe am Ende meines Lebens. Die Welt wird für mich enden, ob ein Sturm aufzieht oder nicht, und jetzt erkenne ich, dass ich die ganze Zeit über selbstsüchtig gewesen bin.« Obwohl das Lager außerhalb der Zeltwände lebendig wurde, als die Nacht hereinbrach, herrschte im Innern Stille. Der Wind strich am Zeltstoff entlang. »Ich möchte meine Enkelin sehen, bevor ich sterbe.« VII Die Falle, die sie gestellt hat
1 Liath benutzte einen Pfeil, um das Netz der Magie durch die Krone in Verna zu weben. Die vom Himmel herabgezogenen Fäden pochten durch ihre Arme. Es war reinste Freude. Sie fühlte sich erregt und lebendig; ihr Körper summte von der Berührung der Sterne und der Musik der Sphären, dem ewig sich drehenden Rad des Kosmos, das sich von Kopf bis Fuß durch sie hindurchsang. Edelfrau Bertha ritt in der Vorhut, führte ihre dreißig berittenen Soldaten in Zweierreihen durch das glühende Tor. Sorgatani folgte; ihr Wagen wurde von den zwei Sklavinnen gezogen, die sich um sie kümmerten, während die kerayitische Wache hinterherritt. Mücke, Moskito und Breschius hielten inne und warfen einen Blick zurück zu ihr, aber sie zwang sie weiterzugehen. Sie traute sich nicht, zu sprechen oder sich zu bewegen, aus Angst, das Tor zu verrücken, während die Sterne langsam nach Westen wanderten und an den Fäden zerrten. Was Richtung und Entfernung anging, waren die Feinheiten schwerer zu kontrollieren, als sie es sich vorgestellt hatte, 340 aber mit einiger Übung müsste sie diese Fähigkeit beherrschen können. Die Sterne könnten durch sie sprechen; sie könnte mit ihnen singen. Sie könnte bei denen, die sie liebte, auf der Erde wandeln und dennoch die Himmel berühren. Sofern sie Anne besiegten. Die drei Männer traten schließlich durch den Bogengang. Die ätherischen Fäden zitterten, als würden sie von einer kräftigen Brise bewegt, als die Männer darunter hindurchgingen und verschwanden. Liath zog die Fäden hinter sich her, doch auf der Schwelle blieb sie kurz stehen und warf noch einmal einen Blick zurück. Die Daemonin wartete im Tal, verbarg sich, aber sie konnte ihre helle Gestalt vor dem Hintergrund der verblassenden Nacht erkennen. Die Daemonin hatte die ganze Nacht dort gekauert. »Worauf wartest du?«, fragte Liath, aber da sie keine Antwort erhielt, drehte sie Verna den Rücken zu und trat durch das Tor, während Licht um sie herum herabfiel. Es sah aus, als würden die Fäden die Sphären hinter sich zusammenziehen, und der gesamte Kosmos - die Sterne, die Sonne, die Zeit selbst - wirbelte, als das Licht des einen Körpers mit dem des nächsten verschwamm. Sie sieht Sanglant an der Spitze eines großen Heeres aus dem Gebirge marschieren. Er reitet auf Resuelto voraus; hinter ihm ist Hathui und um ihn herum sind Edelfrauen und Edelmänner. Beiderseits von ihm marschieren die zwei Greifen. Das Männchen trägt keine Kapuze mehr. Es hebt den Adlerkopf und gibt einen Schrei von sich, der durch das ganze Tal hallt. Am tiefblauen Himmel ist nicht eine einzige Wolke zu sehen. Die Aussicht ist herrlich, und die Straße liegt bis zur Küstenebene klar und deutlich vor ihnen. Ein Aikha-Prinz segelt über unruhiges Wasser, grübelt am Steven seines Schiffes. Er starrt über die grauen Fluten, die Hände um den Schaft einer Standarte geklammert, die mit Knöchelchen, Perlen und Federn geschmückt ist. Zwei 341 schwarze Hunde liegen zu seinen Füßen. Hinter ihm betet eine Diakonissin. Ivar reitet einen Waldpfad entlang, neben einem jungen Mann, der ihr verblüffend vertraut vorkommt.
Erkanwulf? Der Wind fährt rüttelnd durch die Blätter, lenkt sie auf einen anderen Pfad. Sie sieht Hanna schlafen. Hanna! Die Fäden peitschen ihren Blick andere Wege entlang, ein Durcheinander, das sie in hundert Richtungen zieht, als es in mannigfaltige Pfade zerbirst. Sie ist hoch über der Welt und sieht, wie die Fäden eines jeden Lebens mit denen aller anderen verbunden sind, eine Kette, die alle Seelen und alle Dinge und alle Orte miteinander verbindet. Ein schmutziger Bettler mit angeketteten Händen und Füßen wird in einen Käfig geschoben. Sein Gesicht liegt im Schatten verborgen. Eine Kreatur, halb Mensch, halb Fisch, schwimmt in ruhigen Gewässern; ihre Haare zucken wie Aale. Schwester Venia steht zwischen vier Dutzend Toten und wischt sich über die Stirn. Sie hat Blut an den Händen, und Wut verunstaltet ihr Gesicht. In den Tiefen der Erde hockt ein verhutzeltes Wesen vor einer Schicht Metall und fährt mit dem Finger über eine leuchtende Reihe von Beulen und Wölbungen. Andere hocken hinter ihm, klicken und summen, klopfen auf den Boden. Schlangen zischen. Ein Phoenix rührt sich in seiner tiefen Höhle. Der Boden erzittert. Eine Eule schreit. Sie dreht sich um und sieht Li'at'dano durch einen mit blauem Feuer brennenden Stein. »Achtung!«, schreit die Zentaurin. »Achtet auf die Falle, die sie gestellt hat!« Sieben Kronen mit sieben Steinen bilden den Webstuhl, 342 auf dem die große Beschwörung vor langer Zeit gewebt wurde. Sie erstrecken sich über das Land und bilden die Spitzen einer riesigen Krone. Sie erhascht der Reihe nach einen flüchtigen Blick auf jeden Steinkreis und sieht: Meriam. Hugh. Marcus. Severus. Eine Frau mittleren Alters im Gewand eines Presbyters, ihr völlig unbekannt. Eine Fremde. Einen hochmütigen jungen Mann im Gewand eines Abtes. Sein Gesicht kommt ihr vage vertraut vor, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Herzogin Rotrudis. Wo ist Anne? Wieso kann ich Gnade nicht sehen? Sie hört das Wogen und Wallen des Meeres, als das Wasser gegen nahe gelegene Felsen brandet. Sie trat hindurch. »Noch einmal auf sie!« Berthas Stimme übertönte das Klirren und Rasseln von Waffen. Liath stolperte aus dem Kreis heraus mitten in den Wahnsinn. Im Licht der untergehenden Sonne schien es, als wären die Steine an drei Seiten von dichtem Wald umgeben, der sämtlicher Äste beraubt war und sie einkreiste wie ein fest verbundener Schildwall von Männern. Auf diesen drei Seiten befanden sich - keinem offensichtlichen Muster folgend -Zelte und etliche Feuerstellen. Fackeln brannten. Männer, überwiegend zu Fuß, stürmten vor und zurück und riefen. Weil Liath sie voller Entsetzen und Verblüffung anstarrte, achtete sie nicht darauf, wohin sie trat. Sie stolperte und stürzte über einen Mann, der von einem Pfeil in die Kehle getroffen worden war. Eine Blutlache hatte sich um ihn herum gebildet. Die Gesichter von zwei weiteren Toten grinsten ihr entgegen, jeweils rechts und links von ihr. In dem ersten er343 kannte sie einen von Edelfrau Berthas Soldaten; der andere trug einen Überwurf mit einem goldenen Kreis der Einigkeit auf schwarzem Grund: das Zeichen der Leibwachen, die die Skopos beschützten. Jetzt begriff sie, was sie sah. Sie waren durch die Krone mitten in ein bewaffnetes und befestigtes Lager geraten, das zum Schutz des Steinkreises errichtet worden war. »Zu mir, zu mir!« Berthas Stimme übertönte erneut den Lärm. Wieder trieb sie ihre kleine Streitmacht gegen ein Knäuel von Fußsoldaten, die sich bereits gesammelt hatten, aber noch nicht so weit waren, einem Angriff standzuhalten. Sie stoben auseinander, einige fielen, andere rissen Pferd oder Reiter mit nach unten, indem sie Hiebe gegen ein Pferdebein oder einen Stoß auf den Brustkorb des Reiters führten. Es gab nicht genug Platz für die Reiterei, um die Fußsoldaten mit voller Wucht angreifen zu können. Weitere Fußsoldaten brandeten von hinten heran und griffen an. Pfeile zischten durch das Dämmerlicht. Sie waren umzingelt. Oh Gott. Liath mühte sich auf die Beine und machte ihren Bogen bereit, aber sie waren hoffnungslos in der Unterzahl. Sie spannte den Bogen, schoss und brachte einen tapferen Feldwebel zu Fall, der in ebendiesem Moment den Steigbügel von Berthas Schlachtross gepackt hatte. Ein zweiter Mann brach zusammen, tödlich getroffen von ihrem zweiten Schuss. »In diese Richtung!«, rief Bertha. »Dahin! Wo die Palisade noch nicht fertig ist!« Hatte die Edelfrau aus Austra schon die Hälfte ihrer Männer verloren? Liath reihte sich hinter den kerayitischen Wachen ein, die versuchten, für Sorgatanis Wagen einen Pfad zu bahnen. Mücke und Moskito waren nirgends zu sehen. Sie hob zwei Pfeile vom Boden auf und schoss, und Edelfrau Bertha scharte die verbliebenen Soldaten um sich und ließ sie dann nach vorn preschen, um den Rückzug zu sichern.
344 Mücke und Moskito tauchten zwischen den Steinen auf und rannten zum Wagen; sie bückten sich tief und wichen mit erstaunlicher Geschmeidigkeit Pfeilen und Speerstößen aus. »Hierher!«, rief sie, während sie über Leichen sprang und sich den anderen anschloss. Sie sah sich nach einem herrenlosen Pferd um, aber zu viele Soldaten gingen auf sie und die anderen los. Sie hatte gerade genug Zeit, ein paar weitere Pfeile vom Boden aufzuheben und sich unter einem Schwerthieb wegzuducken, der an ihrem Kopf vorbeistrich. Sie schoss dem Mann, der keine Körperlänge von ihr entfernt stand, einen Pfeil in den Bauch, und er fiel nach hinten, schrie und riss zwei seiner Kameraden mit sich, während er wild mit den Armen fuchtelte. Doch als sie sich dem südlichen Ende des Lagers näherten, dabei Zelte umstürzten und einzelne Soldaten niederschlugen, begriffen sie schlagartig, dass die Palisade sehr wohl fertig war. Sie umgab das Lager. Das Brandungsgeräusch von Wasser wurde lauter, aber der freie Boden enthüllte keineswegs die Seite eines steilen Berges, sondern ging vielmehr in den Rand einer Klippe über, die steil weit nach unten zum Meer hin abfiel. Die Palisade endete an beiden Seiten in einem Haufen Steine und Erde; dahinter befand sich nur noch Luft. Sie saßen in der Falle. Niemand konnte diese Klippe hinunterklettern. Die kerayitischen Wachen erreichten die Palisade als Erste, und einer von ihnen hackte vergebens auf die grünen Stämme ein, während seine Kameraden sich um Sorgatanis Wagen gruppierten und Bertha ihre Soldaten aufforderte, abzusitzen und einen Schildwall zu bilden. Pfeile flogen zwischen sie, einige wirbelten Erde auf, ein paar bohrten sich mit einem dumpfen Geräusch ins Holz. Sie spürte einen Pfeil an ihrer Wange vorbeizischen; ein anderer fand sein Ziel, und ein Mann schrie auf. Ein Pferd bockte und warf seinen Reiter ab. 345 Sie saßen in der Falle. Sie sammelte sich und rief Feuer herbei. Zuerst gingen die Zelte in Flammen auf. Dann fing ein unglückseliger Soldat Feuer, der kühn vorgetreten war, um seine Männer zum Vormarsch zu drängen, und dabei einer sich aufblähenden, prasselnden Zeltbahn zu nahe gekommen war. Der Mann drehte sich schreiend um seine eigene Achse, als die Flammen seinen Körper umfingen. Sie hatte nicht die Zeit, seinen Tod zu bedauern. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die grünen Stämme der Palisade. Feuer schlummerte tief in ihrem Innern. Sie fachte es an, wieder und wieder, immer stärker, bis ein Dutzend Stämme explosionsartig in Flammen aufging - genau dort, wo der kerayitische Soldat auf das Holz einhackte. Das Feuer verschlang ihn augenblicklich; er hatte nicht einmal die Zeit, einen Schrei auszustoßen. Die anderen Wachen zogen den Wagen eine Radumdrehung weit zurück, aber sie begriffen, was sie vorhatte. Sie hielten der Hitze stand, warteten auf ihre Chance, während die Stämme von innen nach außen brannten. Feuer war das einzige Mittel, mit dessen Hilfe sie am Leben bleiben würden. Der Feind hatte sich hinter die brennenden Zelte zurückgezogen, aber jetzt begannen die feindlichen Bogenschützen auf die Soldaten zu schießen, die sich vor dem brennenden Holz zusammendrängten und leicht auszumachen waren. Liath lenkte ihren Willen auf die Bogenschützen und setzte einen nach dem anderen in Brand. Ihre Schreie quälten sie, aber sie durfte nicht aufhören. War dies nicht ein Krieg? Starben die Männer nicht genauso schrecklich, wenn sie einen Speer in die Eingeweide bekamen oder ihnen von einem Schwert der Schädel gespalten wurde? Sie war zu langsam. Sie konnte unmöglich alle Bogen346 schützen aufhalten, dazu war sie nicht schnell genug. Pfeile sprenkelten den Boden. Edelfrau Berthas Soldaten schützten sich hinter ihren Schilden, aber die Pferde waren leichte Ziele, und die Feinde nutzten nur zu gern diese Gelegenheit, um Unheil anzurichten, und schössen ihnen in den Bauch. Die armen Tiere traten aus und wieherten voller Angst, und ein halbes Dutzend schoss auf die feindliche Linie zu. Das Feuer, nicht die Schlacht, versetzte sie in Panik. Sie selbst hielt noch immer ihren Bogen in der Hand, aber dort, wo sie hinzielte, entfachte sie Feuer. Eine Pfeilsalve ging über ihr in Flammen auf und regnete als Asche herunter. Die Palisade toste. Der Feind schob sich Schritt für Schritt vorwärts, bereitete unter lauten Rufen einen Angriff vor. »Los, Arnulf, los!«, rief Bertha. Liath warf einen Blick zurück. Zwanzig standen noch, mehr nicht. Einer von Berthas Soldaten, ein Riese von einem Mann mit gewaltigen Schultern und dicken Armen, warf einen Umhang über seinen Kopf und stellte sich den Flammen mit einer Axt in der Hand, hackte wild auf das Holz ein. Der Umhang begann zu brennen, aber die Stämme zerbarsten in flammende Stücke. Das Herz des Holzes war weggebrannt. »Bewegung!«, schrie Bertha. »Los, los!« »Angreifen, Männer!«, brüllte ein Hauptmann bei den Feinden. Weitere Soldaten sammelten sich hinter ihrer Linie. Bogenschützen mit brennenden Händen schrien. Ein Pferd lag zuckend am Boden, von einem Dutzend Pfeilen getroffen. Die kerayitischen Sklavinnen fuhren den Wagen mitten in die brennende Mauer; die Pferde waren schier wahnsinnig vor Angst, als sie durch die glühende Lücke sprangen. Unter dem Druck der Räder zerfielen weitere Holzstämme wie brennendes Stroh, und die Flammen, die an dem bemalten Wagen leckten, zischten und
versiegten, von Sorgatanis Magie ausgelöscht. Der Wagen war hindurch! Jubel erscholl bei 347 den Überlebenden, als sie ihm folgten und zur Flucht ansetzten. Ein ganz anderes Gebrüll als das des Feuers erhob sich auf der Seite des Feindes. »Vorwärts!« Der Hauptmann machte erst einen Schritt, dann einen zweiten. »Vorwärts, ihr Feiglinge!« Die Reihe marschierte rasch heran, wuchs, sammelte Kraft für den Angriff. »Ihr müsst jetzt gehen, Liath!«, rief Bertha und lenkte ihr Pferd neben sie. Das Tier rollte vor Furcht mit den Augen und war voller Asche und Kohleflecken, aber es wich keinen Schritt zurück. Ein Pfeil hing vom Sattel herab, eingeklemmt zwischen Knopf und Sitz. Berthas Schild war entzweigehackt, und sie warf ihn weg. »Steigt hinter mir auf!«, rief sie. »Geht!«, rief Liath. »Ich bilde die Nachhut. Beeilt Euch!« Bertha zögerte nicht, während Liath in die eisernen Ränder der Schilde eintauchte und tief in den Schwertern nach Funken aus Feuer suchte. Stiefel und Gürtel, Haare und Knochen, alles erblühte, als das Feuer die erste Reihe versengte, und doch rückten sie weiter vor, schrien, kreischten, während jene hinter ihnen brüllten und fluchten und einige wie lebende Fackeln auf sie zurannten. Ich bin ein Ungeheuer. Einer lief an ihr vorbei und stürzte sich auf einen Kerayiten, der mit ein paar anderen zurückgeblieben war, um sie zu decken. Sie sah, wie sich die Form ihrer Gesichter veränderte, als das Feuer sich durch das Fleisch bis zum Knochen fraß. Ihre Augen waren schwarze Stecknadeln, die im Augenblick des Todes aufplatzten. Die Zelte in Bogenschussweite brannten so hell, dass es fast Tag zu sein schien. Und doch berührte sie nichts. Sie war die Mitte, die Sonne. »Zurück, Liath!«, rief Bertha weit hinter ihr. »Sonst sterben wir alle noch, weil wir auf Euch warten!« 348 Waren sie alle so schnell gegangen? Sie zog sich zurück, Schritt für Schritt, hielt den Feind lediglich dadurch in Schach, dass sie existierte. Mehr als vierzig Männer lagen überall um sie herum, einige tot, die Finger und Arme gewellt wie verbrannte Zweige. Ein paar Unglückliche zuckten noch, wimmerten und stöhnten; ihre Haut war weggeschmolzen oder hing in Fetzen. Rauch, der süßlich nach verbranntem Fleisch roch, trieb wie ein Dunstschleier um sie herum, so dass sie den Eindruck hatte, als würde sie sich rücklings in einen Giftnebel begeben. Und das tue ich auch. Sie kämpfte gegen den Drang zu rennen. Sich umzudrehen würde ihren sicheren Tod bedeuten, denn immer noch regnete es Pfeile. Viele von ihnen verbrannten kaum eine Pfeillänge von ihrem Körper entfernt. Hunderte von wütenden, ängstlichen Männern hielten Abstand, folgten ihr aber Schritt für Schritt. Sie sah ihren eigenen Tod in ihren Gesichtern. Sie hassten sie für das, was sie war. »Liath!«, rief Breschius; er schien weit weg zu sein, oder auch gar nicht weit weg, da Augenblicke wie eine Stunde wirken konnten, drei Schritte wie drei Wegstunden. Die Palisade brannte noch immer; sie hörte das Klappern von Rädern, als Sorgatanis Wagen über den Boden rollte. Hatte sie mehr als zehn Atemzüge getan, seit die Palisade zusammengebrochen war? Sie war fast da. Die Hitze der brennenden Holzstämme schlug gegen ihren Rücken. »Strahlende! Lauft schnell!« Mückes Stimme kam aus der falschen Richtung. Sie verlor einen Augenblick die Konzentration, wusste nicht mehr, wo sie hintreten sollte, und stolperte über das Bein eines gefallenen Pferdes. Sie konnte den Sturz abfangen und rollte sich über den Körper des Tieres ab, aber noch ehe sie sich erhoben hatte, 349 traf ein Pfeil sie in den Oberschenkel, durchbohrte ihn und grub seine Spitze tief in den Bauch des Pferdes. Sie schrie. Schmerz explodierte. Flammen flackerten vom Boden auf. Während sie sich wand und das befiederte Ende aus dem Bein ragen sah, bohrte sich ein zweiter Pfeil in denselben Oberschenkel, nur in einem anderen Winkel. Moskito tauchte auf, kam geduckt zwischen brennenden Zelten hindurch und kauerte sich hinter ein gestürztes Pferd. »Herrin! Ich komme!« Ein Feuerwall schoss in die Höhe, trieb ihre Feinde zurück. Ein stechender Gestank nach versengtem Rosshaar breitete sich aus. »Geht!«, schrie sie. »Ich befehle es, euch allen. Mücke! Moskito! Zurück! Rettet Sorgatani!« Sie packte einen der Pfeile, aber allein die Berührung des Schaftes schickte Schmerzwellen ihr Rückgrat hinauf und bis zur Wade hinunter. Sie unterdrückte einen Schrei; sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie sollen laufen, betete sie. Sie sollen laufen und sich retten. Sie packte beide Schäfte, schloss fest die Hände um sie herum, rief Feuer herbei. Schmerz flammte in ihrem Oberschenkel auf, er biss, er blühte auf. Er machte sie benommen mit seiner wilden Kraft, mit der er innen an ihrem Fleisch fraß. Sie weinte. Tränen nässten ihr Gesicht mit kalter Heftigkeit. Ein schrecklicher, starker Wind blies vom Meer her. Donner grollte. Oder bebte die Erde unter ihr?
Flammen gingen zischend aus, als Regen niederprasselte, doch es waren nicht die Regentropfen, die die Flammen abkühlten, sondern die funkelnden Flügel von Schmetterlingen, eintausend blinkende Flügel. Wohin sie flatterten, erstarben die Flammen. Der erste Pfeil zerbröselte zu Asche. Blut strömte aus der 350 Wunde über den Bauch des Pferdes. Eine trübe Mischung aus Asche und Blut tropfte auf ihre Füße. Sie zog an dem zweiten Pfeil und verlor fast das Bewusstsein, aber er brach nicht. Er war nicht durchgebrannt. »Ich habe ihn, Herrin! Ich ziehe ihn raus.« Moskito war derjenige mit der runden Narbe auf der Wange und dem fehlenden Zahn. Mücke hatte breitere Schultern, ein breiteres Gesicht, und ihm fehlte der Daumen an der rechten Hand. Und verflucht, da war er, flitzte neben seinen Bruder. Er schob ein Messer zwischen ihren Oberschenkel und das Pferd, führte es nach oben, bis es den Schaft erreichte. Schon der Schmerz dieser Bewegung schien sie zu töten. Der Himmel verschwamm vor ihren Augen; die Sterne webten Netze, und Moskito schrie vor Furcht auf, während Mücke säbelte und sie stöhnte. Ein glitzerndes Netz fiel vom Himmel herab, trieb eine Armeslänge über ihnen. Schmetterlinge strichen über ihre Wangen. Anne trat aus der Reihe ihrer Soldaten und blieb einen Steinwurf von ihr entfernt stehen. Die Skopos erstrahlte in ihrer Amtstracht, trug ein weißes Gewand, das mit roten Kreisen bestickt war. Kein Aschefleckchen trübte die Sauberkeit des Leinens. Ein Goldreif ruhte auf ihrem Kopf, ein Widerhall des Goldreifs um ihren Hals, der das Zeichen ihrer königlichen Herkunft war. Anne betrachtete sie einige Augenblicke schweigend. Weil hinter ihr noch immer die Zelte hell lodernd brannten, lag ihr Gesicht im Schatten, halb verdeckt. Aber Anne war stets verhüllt gewesen; sofern Leidenschaft unter diesem kühlen Äußeren existierte, war sie ähnlich wie Kohlen immer unter einer Schicht Asche verborgen geblieben. »Tötet die Diener«, sagte sie. Fünf Pfeile zuckten durch die brennende Nacht. Drei schlugen feuchtnass in Fleisch: Zwei trafen Moskito und ei351 ner Mücke, gleich oberhalb des Schlüsselbeins. Er fiel nach hinten, hustete. Mücke war ohne ein Geräusch zusammengebrochen. »Ich bin enttäuscht von dir, Tochter«, sagte Anne mit ihrer sanften, ruhigen Stimme. Anne wurde niemals wütend. »Du hast mich so viel gekostet. Und jetzt habe ich nichts vorzuweisen.« »Habe ich dich so viel gekostet?« Die Qual in ihrem Oberschenkel, der Schmerz, der von der Klinge ausging, die immer noch zwischen Bein und Pferd eingeklemmt war und gegen ihr zerfetztes Fleisch drückte, das alles war nichts im Vergleich zu dem Schmerz in ihrem Herzen. »Ich habe dich gar nichts gekostet. Meine Mutter und mein Vater sind beide tot. Was hat dich meine Zeugung gekostet? Den Tod meiner Mutter? Die Ermordung meines Vaters ? Abgesehen davon, dass du all die Jahre gegenüber den anderen vorlügen musstest, dass du vortäuschen musstest, ich wäre aus deinem Leib geboren.« »Oh.« Selbst jetzt, als die Wahrheit für beide sichtbar vor ihnen auf dem Boden lag, umgeben von den geschwärzten Leichen der noch schwelenden Männer, zuckte Anne nicht zusammen und wich auch nicht zurück. Sie zeigte nicht den geringsten Hauch von Gefühl. »Nun ja. Sicherlich gibt es keine Hoffnung auf eine Wiederannäherung, wenn du die Wahrheit herausgefunden hast. Aber ich staune. Woher weißt du das alles?« »Nun ja«, echote Liath spöttisch. Spott war alles, was ihr inmitten der Trümmer ihrer Hoffnungen geblieben war. »Es scheint, als hättest du mir mehr gesagt als ich dir, da du jetzt bestätigt hast, was ich nur vermutet habe. Ich habe nichts weiter zu sagen.« Die ersten Fäden des Netzes strichen über ihr Haar und legten sich auf ihre Schultern. Das Feuer, das in ihrem Innern brannte, der Geist ihrer Mutter, wich vor der kalten Berührung zurück. 352 »Du musst auch nichts sagen, Liath. Deine Pläne liegen offen wie ein Buch vor mir. Du hast vielleicht das Herz einer Feuerdaemonin, aber du bist schwach. Bernard hat dich schwach gemacht. Es war leicht, dich gefangen zu nehmen, und es wird leicht sein, dich in meiner Gewalt zu behalten. Mit dem gleichen Netz aus Zauberei, mit dem ich deine Mutter eingefangen habe.« Das Netz war ein Käfig für Feuer. Aber sie war nur zur Hälfte aus Feuer geboren. Der Rest von ihr war gewöhnliches menschliches Fleisch, das Erbe ihres Vaters. Sie packte den Pfeil und zerrte daran. Der Schmerz machte sie schier blind, aber nur für einen Augenblick. Mückes Messer hatte gute Arbeit geleistet und den Schaft geschwächt, der jetzt abbrach, halb verkohlt und halb zersplittert. Sie rollte sich seitlich über den qualmenden Kadaver des Pferdes, zwischen ihre verletzten Diener. Sie packte ihre Arme, und wie durch ein Wunder kämpften sie sich hoch, obwohl es eigentlich unmöglich war, dass sie noch gehen konnten. Sie rannten, taumelten, krümmten sich, während Männer riefen und sie verfolgten. Sie erhaschte nur einen kurzen Blick auf die qualmende Lücke in der Palisade, auf Annes Soldaten, die durch die Öffnung strömten, um ihre Leute zu verfolgen. Regen prasselte auf sie herab. Ein Hagelsturm brach los. Blitze zuckten und enthüllten einen kurzen Augenblick die Weite des Meeres, die sich auftürmenden Wellen, die vom Sturm aufgepeitscht wurden. Gischt schäumte.
Eine Mauer von Männern versperrte die Lücke in der Palisade. Annes Netz strich an ihrer Hand entlang, und blaue Flecke blieben zurück. »Hierher!«, schrie Moskito, aber seine Stimme klang feucht; der zweite Pfeil hatte seine Lunge durchbohrt, und blutiger Schaum stand auf seinen Lippen. Sie schwankten zum Rand der Klippe, standen dort und 353 starrten hinunter ins Wasser. Es gab keinen Strand, nur die Felswand und ein paar Felsen, die aus dem Wasser ragten. Draußen auf dem Meer schwammen Merwesen, deren gezackte Rücken das aufgewirbelte Wasser durchpflügten, als würden sie die Schlacht dort oben spüren oder die Magie und als wollten sie wissen, was dort vor sich ging. »Es gibt keinen anderen Weg«, murmelte Mücke. »Es ist besser, wenn sie nicht die Möglichkeit haben, unsere Körper zu verstümmeln.« Er sprang, und sein Bruder folgte ihm, und sie dachte weder nach noch zögerte sie, sondern machte ebenfalls einen Satz über die Klippe, sprang so weit wie möglich, damit sie nicht direkt auf die tödlichen Felsen prallte. Ihre Flügel aus Feuer erzitterten, flackerten und entfalteten sich, und zwei Atemzüge lang hatte sie Auftrieb. Mücke tauchte ins Wasser ein und verschwand in den Wellen. Moskito war einen Augenblick später verschwunden, vom Meer verschluckt. Der Wind trieb sie zur Seite. Donner krachte. Ihre ätherischen Flügel hatten nicht die Kraft, sie zu halten. Ihre Substanz verwehte, als der Wind auf sie einschlug. Das unerbittliche Gewicht der Erde war wie Trauer und zog sie in die Tiefe. Ich werde meinen Geliebten und mein Kind nie wiedersehen. Flügellos und verloren stürzte sie ins Meer. 2 Hammerschläge ertönten. Äxte trafen dröhnend auf Holz. Schaufeln wurden in den Boden gestoßen, und Erde flog auf die immer größer werdenden Wälle; es klang, als würden Hagelkörner auf den Boden prasseln. Die Musik dieser Arbeiten 354 begleitete Starkhand, als er einen Rundgang durch die neuen Befestigungsanlagen von Medemelacha machte. Aikha und Menschen arbeiteten zusammen, wenn auch nicht immer Seite an Seite. Mit seiner Eskorte aus fünf mürrischen Kaufleuten, deren Familien den größten Teil des Handels in der Stadt kontrollierten, einem Dutzend Bewaffneten und seinen treuesten Gefährten - den zwei Hunden - ging er zum Strand hinunter. In der Werft herrschte reges Treiben. Äxte und Breitbeile hoben und senkten sich. Männer hämmerten Keile in einen riesigen Stamm, um ihn zu spalten. Vier Boote lagen auf Baumstümpfen und Pfählen aufgebockt; das neueste bestand noch aus kaum mehr als einem Kiel, während dasjenige, das bereits beinahe fertig war, gerade mit einem Seitenruder ausgestattet wurde. Schon bald würde es zum Auslaufen bereit sein. In den letzten sechs Monaten hatte sich die Bevölkerung von Medemelacha verdoppelt; immer mehr Leute waren in die Stadt geschwärmt, um Arbeit auf den Schiffswerften und bei den Befestigungsanlagen zu finden. Unterkünfte für die Arbeiter und die Garnison waren errichtet worden. Das Ackerland im Umkreis von einem Tagesmarsch befand sich unter seiner Kontrolle; das reichte, um die Bevölkerung zu ernähren, solange die Ernte gut war. Auf Vorstöße ins Landesinnere hatte er zugunsten der Stärkung seiner Position an der salianischen Küste und in Alba verzichtet. Aber der Fehlschlag seiner Rettungsaktion nagte an ihm. Er fand keinen Frieden; er konnte seine Siege nicht genießen. »Mein Herr, da sind drei Männer im Zollhaus, die mit Euch sprechen möchten«, sagte Yeshu, während sie in der Werft zwischen den Schiffen herumgingen und die Kaufleute unruhig zu werden begannen. Er riss den Blick von einem jungen Alben los, dessen helle Haare mit einem Lederband zurückgebunden waren. Er hat355 te sich wegen der heißen Spätsommersonne bis auf den Lendenschurz entkleidet und arbeitete mit einer Axt an einem Steven. Es war eine schweißtreibende Arbeit. Er arbeitete gemeinsam mit einem Aikha, einem gut aussehenden, kräftigen Kerl, dessen Haut silbern glänzte; Letzterer hatte sich nach Art der Menschen eine Tunika übergezogen, die ihn von den Schultern bis zu den Knien bedeckte. Sie arbeiteten gut zusammen, machten hin und wieder eine Bemerkung, zogen Splitter heraus und bliesen Sägemehl weg. Einmal lachten sie, so wie Kameraden es zu tun pflegen. Eine junge Frau kam mit einer Bierhaut vorbei; er konnte das Bier aus der Entfernung riechen. Ihre Haare waren unter einem Schal verborgen, das Kleid etwas hochgezogen, damit sie mehr Bewegungsfreiheit hatte, was dazu führte, dass ihre hellen Knöchel und die bloßen Füße zum Vorschein kamen. Der Albe und der Aikha scherzten mit ihr - alle beide -, obwohl sie aus Salia zu sein schien und sie kaum verstehen konnte. Aber sie hatte keine Angst vor ihnen. Auch sie lachte. Das war Wohlstand - dass die Leute lachten, während sie arbeiteten, weil sie weder Hunger noch Krieg fürchteten. »Mein Herr«, wiederholte Yeshu. Er richtete die Aufmerksamkeit wieder auf seine Kameraden. Die Kaufleute unterhielten sich leise miteinander. Unter ihnen war auch eine verschleierte Frau aus Hessu; sie stand etwas abseits der anderen, die Salianer und
somit einmal anderen edlen Beschützern verpflichtet gewesen waren. Draußen in der Bucht näherte sich ein Langschiff dem Ufer; die Ruder wurden eingezogen, als die Seeleute sich bereitmachten, es auf den Strand zu ziehen. Es führte das Banner von Rikin. Er seufzte, und als er sich zu den anderen umdrehte, unterdrückte er ein unangenehmes Gefühl des Bedauerns, weil er nicht mehr dort stehen konnte, wo der Lichtfall die moosbedeckte Felswand in den stillen, blauen Fjord hinunterstürzte. Hatte er dort nicht einmal Frieden verspürt? 356 Vielleicht nicht. Vielleicht hatte er nie Frieden verspürt, seit dem Tag, an dem er ausgeschlüpft war und angefangen hatte, um sein Leben zu kämpfen. »Welche Angelegenheit bedarf meiner Anwesenheit im Zollhaus? Gibt es dort nicht einen Rat von Älteren, die solche Dinge beurteilen?« »Ja, mein Herr. Aber es scheint, dass zwei der Männer des Schmuggels verdächtig sind. Der andere ist ein Kaufmann von der Küste im Norden, aus Varre. Man dachte, Ihr würdet vielleicht mit ihm sprechen wollen. Vielleicht weiß er etwas über die Streitkräfte von Herzog Conrad.« »Also gut.« Er pfiff die Hunde zu sich. Sie kamen gehorsam. Sie duldeten ihn, aber sie sehnten sich nach ihrem Herrn, und so wurde er jedes Mal, wenn er ihre Köpfe tätschelte, an sein Versagen erinnert. Sie gingen an den neuen Landungsbrücken vorbei zum Zollhaus, einer alten, langen Halle, die einst einem salianischen Edelmann gehört hatte, der inzwischen tot war. Er hatte den Kaufleuten Steuern abgenommen und an den salianischen König weitergeleitet, dabei aber einen Teil selbst einbehalten. Er war nicht sehr beliebt gewesen. Tatsächlich steckte sein Kopf auf einem Pfosten vorne neben der Tür, fast völlig ohne Fleisch und nur noch mit ein paar wenigen Strähnen braunen Haares. Das Innere der Halle war von den alten Möbeln befreit und in etwas verwandelt worden, das mit seinen Regalen, Tischen, Bänken und dem einzigen Stuhl auf einem Podest dem Studierzimmer eines Geistlichen ähnelte. Er ließ sich auf dem Stuhl nieder. Die Hunde hockten sich neben ihn; Kummer legte sich mit seinem Gewicht quer über seine Füße, aber er brachte es nicht übers Herz, ihn wegzuschieben. »Bringt sie her.« Sämtliche Arbeiten kamen zum Stillstand: Die Geistlichen hörten auf, mit ihren Federn zu schreiben, die Frauen und 357 Männer diskutierten nicht mehr den Wert ihrer Handelswaren, die Kaufleute zählten keine Perlen mehr. Sie fürchteten ihn, wie sie es tun sollten, aber er empfand ihre Furcht als ermüdend. Er klopfte mit dem freien Fuß auf den Boden und wartete. Zwei Männer wurden vor ihn gezerrt. Man hatte ihnen die Hände auf den Rücken gebunden, und sie hatten Schnittwunden, blaue Flecken und schreckliche Angst. Vier Zeugen traten vor, um gegen sie auszusagen: Sie waren nördlich der Stadt in einer schmalen Bucht festgenommen worden, als sie sich in einem mit Stoffen beladenen Ruderboot davonmachen wollten. Die Stoffe waren zwei Tage zuvor vom Haus Fuchswürdig, einem geachteten Kaufmann, als gestohlen gemeldet worden. Die Diebe flehten um Gnade. Sie waren jung, sie waren schmutzig, und sie sahen hungrig und misshandelt aus, jeder Hoffnung beraubt. Aber die Strafe für das Stehlen von Handelsgütern aus den Häusern der Kaufleute war der Tod, und das wussten alle. Er rief den Spross des Hauses zu sich, einen Mann mittleren Alters mit rotem Haar und Bart, der in eine schöne Leinentunika gekleidet war; ihr Saum war mit halb hinter grünen Blättern verborgenen Fuchsgesichtern bestickt. »Wie lautet Euer Wunsch in dieser Angelegenheit?«, fragte Starkhand. »Sie leugnen den Vorwurf nicht. Wollt Ihr Anklage gegen sie erheben?« Der Kaufmann dachte lange nach. »Es gibt immer Bedarf an Arbeitern in den Minen, mein Herr. Wenn sie an die Minen verkauft werden, nehme ich den Preis, den sie einbringen, als Entschädigung für das Verbrechen. Ich habe die Stoffe in gutem Zustand zurückerhalten. Meinem Haus ist kein dauerhafter Schaden zugefügt worden.« »Also gut.« Rage stand auf und stupste seine Hand an. Er erinnerte sich 358 an die Minen. Er wollte diese Minen haben. Aber jetzt noch nicht. Noch nicht. Geduld hatte ihm immer geholfen. Sie würde ihm auch weiterhin dienlich sein. Wenn er zu schnell vorging, könnte er übers Ziel hinausschießen und alles verlieren. Die Verbrecher weinten, aber sie hatten ihr Schicksal bereits in dem Augenblick besiegelt, als sie Diebe geworden waren. »Bringt den anderen Mann her«, sagte er. Er spürte den Fluch der Ungeduld in sich hineinsickern, obwohl er dagegen ankämpfte. Wo war Alain? Kummer bellte, nur einmal, wie zur Begrüßung, wie eine Bitte um Aufmerksamkeit. Rage jaulte. Da! Er stand auf, vollkommen verblüfft, aber einen Moment später begriff er, dass er sich etwas eingebildet hatte. Das war nicht Alain; die Schatten in der Halle hatten ihm einen Streich gespielt. Dies war ein Mann mittleren
Alters, dessen dunkle Haare von grauen Strähnen durchzogen waren. Er trat von zwei Soldaten begleitet vor den Stuhl. Er wirkte nervös, aber seine Haltung war stolz, und er hatte einen wachsamen Blick. Falls es ihn überraschte, einem Aikha-Herrn gegenüberzustehen, so ließ er sich diese Überraschung jedenfalls nicht anmerken. Er kniete vor Starkhand nieder, als wäre er ein Bittsteller und kein Gefangener. Er sprach wendisch, nicht salianisch. »Ich heiße Henri, mein Herr. Meine Schwester hat in Osna ein Haus. Ich bringe einmal im Jahr ihre Waren zum Markt. Dieses Jahr sind wir wegen der Unruhen spät dran, und ich stelle fest, dass ich hier als Verbrecher festgehalten werde, obwohl alle meine Geschäfte mit den Kaufleuten gerecht und wie üblich vonstatten gegangen sind. Ich bitte Euch, mein 359 Herr, ich bin ein einfacher Mann. Kein Kaufmann hat sich über die Waren beklagt, die ich geliefert habe. Ich hatte Mühlsteine von sehr hoher Qualität und sehr gute Wollstoffe, die in der Webhalle meiner Schwester hergestellt worden sind. Das ist alles. Ich werde dafür Weizen und Salz mit nach Hause nehmen. Nichts weiter.« Der Mann sah zu den Hunden, und Zweifel verdüsterten seine Miene. Dann riss er den Blick von ihnen los und sah Yeshu an. Er nickte, um anzudeuten, dass er fertig war und auf die Übersetzung wartete. »Sind wir uns schon einmal begegnet?«, fragte Starkhand in perfektem Wendisch. Der Mann zuckte zusammen, als hätte er sich nicht vorstellen können, dass ein Aikha in der Lage wäre, menschliche Worte zu bilden. »I-ich glaube nicht, mein Herr. Vor vielen Jahren haben Aikha das Kloster in der Nähe unseres Dorfes niedergebrannt.« Er stammelte wieder, als ihm klar wurde, dass seine Worte möglicherweise als Beleidigung aufgefasst werden könnten. »I-im gleichen Jahr hat der damalige Graf eine andere Gruppe von Eindringlingen vertrieben. Er hat einen von ihnen gefangen genommen, so geht das Gerücht, aber der ist später entkommen. Mein Stiefsohn ist damals auf Lavas gewesen, aber wir haben die Geschichte von anderen gehört. Ich selbst bin nie einem Aikha begegnet. In meinem ganzen Leben nicht.« Er fuhr sich in einer besorgten Geste mit den Fingern durch den Bart, doch als ihm klar wurde, was er da tat, ließ er die Hand sinken. »Mein Herr.« »Habt Ihr in diesem Sommer andere Nachrichten über die Aikha gehört? Habt Ihr Neuigkeiten über Herzog Conrad gehört? Über den Krieg in Salia?« Die Hände des Mannes waren ineinander verkrampft, und er nickte auf eine so ergebene Weise, als hätte er jede Hoffnung auf ein erfolgreiches Ende seines Unterfangens aufgegeben. Starkhand spürte einen Stich des Mitgefühls. »Es ist 360 so, mein Herr, dass wir in Osna in den letzten ein oder zwei Jahren mit unseren eigenen Problemen zu kämpfen hatten. Wir haben nichts von der Welt mitbekommen.« »Was für Probleme hattet ihr?« »Wir hatten Missernten. Es hat zu viel geregnet. Es findet kein Handel in unserem kleinen Handelszentrum statt, seit den letzten zwei Jahren nicht, obwohl wir vorher einigen Wohlstand besaßen. Unzählige Flüchtlinge aus Salia sind zu uns geströmt. Im letzten Jahr hat es in unserem Dorf vier Mordfälle gegeben. Unglaublich!« Er schüttelte den Kopf. »Die Jungen sind weggegangen, um am Krieg teilzunehmen, und nicht mehr zurückgekehrt. Arbeiter betteln um einen Brocken Brot. Auf den umliegenden Höfen und unter den Ärmsten gibt es eine Krankheit - sie nennen sie >heiliges Feuer<, weil ihre Glieder brennen und die armen, befallenen Seelen Flüsse voll brennendem Blut sehen. Unser neuer Graf hat uns verlassen. Er versteckt sich in seiner Festung, sieht überall Feinde. Einige behaupten, er wäre nicht unser wahrer Graf und dass der rechtmäßige Erbe verstoßen und um seinen Platz betrogen wurde.« »Glaubt Ihr das?«, fragte Starkhand, fasziniert von der Miene des Mannes, die jetzt sogar noch grimmiger wurde, als sich Trauer in ihr zeigte. »Nein, mein Herr. Wenn jemand betrogen hat, dann derjenige, der behauptet hat, der rechtmäßige Erbe zu sein. Aber ich sage damit auch nicht, dass der neue Graf Gottes Gunst auf seiner Seite hat, denn seinem Volk geht es in diesen Tagen sehr schlecht.« Er veränderte seine Position, kniete sich auf das linke Knie und stellte das rechte auf, um ihm eine Pause zu gönnen. »Ich bitte Euch, lasst mich gehen. Ich bin kein Spion. Ich besitze keinerlei Wissen, das ich Euch enthüllen könnte. Wenn wir einmal am Tag zu essen haben, schätzen wir uns glücklich. Es stimmt, dass wir Geschichten über Unruhen an der Küste gehört und Schiffe vorbeifahren gese361 hen haben, aber sie haben nicht Halt gemacht. Ich bin dieses Jahr nach Süden nach Medemelacha gesegelt, weil wir so verzweifelt sind. Ich bitte Euch, mein Herr, lasst mich nach Hause zurückkehren.« »Lasst ihn gehen!«, sagte Starkhand schroff. Die Worte des Mannes hatten ihn mitgenommen, auch wenn er nicht wusste, wieso. »Ich kann nichts Verdächtiges daran erkennen, dass er hierher gekommen ist. Hat irgendjemand eine Klage gegen ihn vorzubringen?« Es gab niemanden. Der Mann war bekannt als jemand, der einmal im Jahr auf dem Markt handelte, ein paar Waren vom Land weiter nördlich an der Küste herbrachte. Er hatte in den Jahren, die er nach Medemelacha kam, immer ehrlich gehandelt. Er war nur deshalb festgenommen worden, weil irgend jemandem aufgefallen war, wie er an diesem Tag sein kleines Boot beladen hatte, um aufzubrechen. Da er ein Fremder war, hatte der Beobachter gedacht, es könnte sich um einen Spion handeln.
»Er hat uns nichts Wichtiges zu sagen. Geht!« Der Mann eilte nach draußen, aber als er die Tür erreichte, warf er noch einmal einen Blick zurück auf Starkhand. Wie zur Antwort auf eine ungestellte Frage stemmte Kummer sich hoch und bellte wieder, und er und Rage trotteten zur Tür, als wollten sie dem Fremden folgen. Das durch die Tür strömende Sonnenlicht ließ den Mann im Dunst verschwinden, kaum dass er draußen war. »Osna«, murmelte Starkhand. Er pfiff, aber die Hunde kehrten nicht zurück. Weil er auf seinem Stuhl saß, traten andere vor und bedrängten ihn wegen unbedeutender Angelegenheiten, Streitereien und Meinungsverschiedenheiten, die ein starker Rat selbst hätte klären müssen. Aber sie prüften ihn; sie wollten wissen, ob er so schlau war, wie es den Gerüchten nach hieß. Er musste zuhören, Fragen stellen und urteilen. 362 Aber der Name nagte an ihm, während die Bittsteller zu zweit, zu dritt, in Gruppen oder manchmal auch allein zu ihm traten und sich wieder zurückzogen. Ein strittiger Zaun, der die Grenze zwischen zwei Feldern bildete; ein Bulle, der ein Kind aufgespießt hatte; gestohlene Äpfel; eine Messerstecherei zwischen verfeindeten Freiern. Osna. Er hatte den Namen schon zuvor gehört. War das nicht der Ort gewesen, wo Alain hergekommen war? Er war sich nicht sicher; er kannte die Küste von Varre nicht gut, nicht so gut wie die der Aikha-Lande und die Siedlungen und Landstriche von Alba oder die Felder um Gent herum. Als er damals in Varre gefangen genommen worden war, war er nicht ganz wach gewesen; er hatte nur vage Erinnerungen an diese Tage, als er genau wie seine Brüder kaum mehr gewesen war als ein plünderndes Tier. Der Käfig hatte ihn verändert. Er hatte ihn aufgeweckt, und Alains Blut hatte ihn belebt. Seither wurde er von dieser Unruhe geplagt, dem Mangel an Frieden, und doch hätte er es sich nicht anders gewünscht. »Wo ist das Boot von diesem Mann festgemacht?«, fragte er Yeshu, als der Strom der Bittsteller nachließ. »Von welchem Mann, mein Herr?« »Dem aus Osna, der zu mir gebracht worden ist.« »Die meisten einheimischen Kaufleute haben ihre Boote an der Nordmauer liegen. Bei der Mühle. Sie handeln überwiegend auf dem Wielmarkt.« »Geht und sucht ihn. Bringt ihn zu mir. Ich möchte diesen Markt besuchen und sehen, was für Waren er mitgebracht hat.« Er erhob sich, und seine Eskorte versammelte sich hinter ihm, als er zur Tür ging. Er hatte nicht die richtigen Fragen gestellt. Ihm war etwas Wichtiges entgangen. Hatte dieser Mann Alain gekannt? Hatte er nicht gesagt, dass sein Name Henri war? Lange Zeit hatte Starkhand geglaubt, dass Alain 363 der Sohn des Königs war, denn der wendische König hieß Henry, aber Alain konnte nicht gleichzeitig der Sohn eines Königs und der Erbe eines Grafen sein, oder? Er hatte sich ablenken lassen. Er hatte darin versagt, der Fährte zu folgen, die direkt vor seiner Nase gelegen hatte. Wo waren nur die verdammten Hunde ? An der Tür jubelte ihm eine große Gruppe von Rikin-Brüdern fröhlich zu. Eine kleine, pummelige Frau stand gebieterisch in ihrer Mitte, die eine Hand hing locker herab, die andere hatte sie in die Hüfte gestemmt. Ganz offensichtlich folgten diese wilden Aikha ihrer Führung, obwohl sie deutlich größer waren als sie und sie mit einem einzigen Axthieb hätten zermalmen können. »Mein Herr! Ich bringe eine Nachricht von äußerster Wichtigkeit. Ich bitte Euch, lasst mich sprechen.« Die Sonne blendete ihn. Er trat zur Seite, stellte sich unter den Dachvorsprung. »Diakonissin Ursuline!« Die Welt kippte, und eine Wolke bedeckte die Sonne während das Wasser um ihn herumströmt, aber er muss gegen die Strömung weitergehen, denn seine Hände sind gebunden, und sie zerren ihn durch den fließenden Fluss aus Blut, der so hell brennt, dass die Hitze seinen Augen Tränen entlockt. Das Blut ist überall, es ertränkt das Land. Sein Rauschen löscht jedes andere Geräusch aus. Egal, wie laut er auch ruft, wie er schreit oder singt, er kann sich selbst nicht hören. Er kann niemanden hören, nur den wild dahinströmenden Fluss und das grollende Beben, das der Erde unter ihm zusetzt, wo Kieselsteine unter seinen Fußsohlen wegrutschen, und er hat Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Gebäude erheben sich um ihn herum, und durch eine offene Tür sieht er ins Innere einer schwach beleuchteten Kapelle. Ein Edelmann liegt dort, ein trotzig zusammengerollter Hund an seinem Kopfende und Schrecken zu seinen Füßen. 364 Er befreit sich von seinen Häschern und rast in die Kirche, wirft sich dem Edelmann weinend zu Füßen, aber kein menschliches Fleisch schließt ihn in die Arme. Der Edelmann ist ganz aus Stein. Alles ist aus Stein oder Feuer. »Schafft ihn hier raus! Er entweiht die heilige Kapelle.« »Du elender Verrückter!«, rufen sie. Sie zerren ihn nach draußen und gießen ihm Wasser über den Kopf.
Oh Gott. Es brennt so. Kaue Bürsten scheuern seine Haut, bis sie blutet. Alles blutet. Die Welt blutet. Ein Mann sitzt auf einem Stuhl mit einem Kind neben sich, einem Mädchen mit einem süßen Gesicht, aber das Blut ist in ihre Knochen gedrungen, und sie wird rot. Sie brennt. Er streckt die Hände nach ihr aus, um sie zu retten, aber sie drücken ihn auf den Boden und schlagen ihn. »Er ist es«, sagt der Mann. »Da habe ich also die Bestätigung. Die Leute, die diese Gerüchte verbreitet haben, sollen sehen, was aus ihm geworden ist. Er hat gelogen, was seine Herkunft betrifft. Er hat versucht, meinen Vetter zu betrügen. Er hat jetzt versucht, meine Tochter anzugreifen, die die rechtmäßige Gräfin ist. Steckt ihn in einen Käfig. Bindet ihn, damit er niemanden verletzen kann. Stellt eine Eskorte zusammen. Ich werde dafür sorgen, dass das Volk, das sich weigert, vor meiner Tochter niederzuknien, sieht, was er wirklich ist.« »Mein Herr?« Er stürzte, fing sich wieder, war aber benommen. Seine Klauen fuhren aus, als er mit der Faust gegen die Holzwand schlug, gruben sich tief hinein. Einen Augenblick blieb er so, und erst, nachdem er den Kopf geschüttelt hatte, zog er seine Klauen wieder aus dem Holz. 365 »Mein Herr?«, fragte sie erneut. »Das Licht hat mich geblendet«, sagte er. »Ich bin zu schnell aus der Halle an die frische Luft gekommen.« In seinem Kopf dröhnte noch immer das tosende Geräusch, der unaufhörliche Strom. Ich weiß, wo er ist! Es war schwer, vor Freude und Triumph nicht laut aufzuschreien. »Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht, mein Herr?« Er stellte Fragen, um sich Zeit zu verschaffen. Der Geruch des Blutes war sehr stark gewesen. Die Halluzination hatte ihn beinahe überwältigt. »Was führt dich nach Medemelacha, Diakonissin Ursuline?«, fragte er. »Ich bin überrascht, dich zu sehen.« »Ich bin nicht weniger überrascht, hier zu sein, mein Herr. Ich bin auf Befehl von AltMutter hier.« Das waren erstaunliche Neuigkeiten, aber er war klug genug, seine Verwunderung nicht durch eine Geste oder seine Miene zu verraten. »Was für eine Botschaft bringst du mir, Diakonissin?« Doch sein Herz raste, und er konnte seine zitternden Glieder kaum ruhig halten. Alain war auf Lavas. Jetzt konnte er lossegeln, um ihn zu befreien, und er musste es rasch tun, bevor ihm weiterer Schaden zugefügt wurde. Was hatte ihn wahnsinnig gemacht? Wieso wurde er auf diese Weise bestraft? Oder war es überhaupt eine Strafe? Es gab andere Seuchen; sie verbreiteten sich unter den Menschen wie Maden in verrottendem Fleisch. Niemand war davor geschützt. Alain war an Orten gewesen, wo er sich durchaus angesteckt haben könnte. Umso mehr Grund, ihn zu retten und zu den WeisMüttern zu bringen, wie sie es ihm befohlen hatten. »Ja, mein Herr«, sagte sie, als hätte er laut gesprochen. »AltMutter wünscht, dass Ihr sofort nach Alba segelt, zur Steinkrone, bei der Bruder Severus einige Schüler zurückgelassen hat, die am zehnten Octumber die Zeremonie durch366 führen sollen. Es bleibt nur noch wenig Zeit, wenn Ihr rechtzeitig dort ankommen wollt.« »Was ist mit Alain?«, fragte er. Seine Leidenschaft verblüffte sie; sie machte einen Schritt zurück, und die RikinBrüder, die sich um sie geschart hatten, um zuzuhören, rückten näher, als rechneten sie damit, dass Blut vergossen werden würde. Ströme von Blut. Der Wind nahm zu. Eine Wolke verdeckte die Sonne, kam vom Meer herangeweht, und jenseits des Hafens sah er Regen hereinkommen, der die Farbe des Meeres und des Himmels veränderte. »AltMutter hat nichts von einer Person namens Alain gesagt«, erwiderte Ursuline, nachdem sie kurze Zeit nachgedacht hatte. »Ist das einer der Schüler von Bruder Severus? Ich kann Euch sagen, dass ich mir aus diesen hohen Geistlichen nichts mache. Sie verachten eine Frau wie mich, obwohl ich aus einem ehrbaren Geschlecht stamme. Sie glauben, dass sie darüber stehen, das gewöhnliche Volk von der Geburt bis zum Tod zu begleiten, obwohl der heilige Daisan ganz sicher von der Wichtigkeit der gewöhnlichen Arbeit gesprochen hat, vom Auswählen dessen, was nützlich und gut ist und nicht böse. Alle Menschen kämpfen diesen Kampf, nicht nur die Höherstehenden und Mächtigen!« Sie war beleidigt. Ihre Miene gab ihm zu denken. »AltMutter hat Alain nicht erwähnt?«, fragte er schließlich noch einmal. Aber AltMutter wusste Bescheid. AltMutter hatte ihm selbst aufgetragen, Alain zu finden. »Dies hat sie gesagt.« Ihre Stimme veränderte sich, wurde tiefer und rauer. »>Starkhand muss sofort zur albischen Krone gehen und dort in Bewegung setzen, was notwendig ist. Jetzt verstehen wir, was wir tun müssen.< Ich soll mit Euch gehen.« 367 »Und mehr hat sie nicht gesagt?« »Ist das nicht ein ausdrücklicher Befehl?«, fragte sie ihn. »Aber für den Fall, dass es nicht reicht, hat sie mich gebeten, Euch das hier zu geben, um Euch an ihre Macht zu erinnern.« Sie öffnete die rechte Hand und zeigte vier flüchtige Gegenstände: eine winzige weiße Feder, die Locke eines flaumigen Jungen, das Bruchstück einer Eierschale, den zarten Flügelknochen eines Vogels. Diese Dinge hatte er
einst der jüngsten WeisMutter gegeben, als sie den Pfad zum Fjell emporgegangen war, um sich ihren Großmüttern anzuschließen. »Mein Herr!« Yeshu kam mit rotem Gesicht angelaufen, die Tunika klebte ihm schweißnass am Körper. »Der Mann ist weg. Sein Boot ist bereits ausgelaufen, heißt es, mit ihm und zwei großen schwarzen Hunden. Er kann aber noch nicht weit sein. Die Gezeiten sind nicht auf seiner Seite. Er muss direkt die Küste entlangfahren. Möchtet Ihr, dass ein paar Männer die Verfolgung aufnehmen? Wir werden ihn bald haben.« Er streckte die Hand nach den kostbaren Gegenständen in Ursulines Hand aus, aber sie schloss ihre Finger darum und zog die Hand sanft zurück, um nicht vor den anderen als trotzig zu erscheinen. Jetzt sah er die Falle, die Ursuline ihm gestellt hatte. »Nein. Lasst ihn ziehen. Es ist in Ordnung.« Ursuline war ein Mensch, sie war schwach und weich, aber wie die WeisMutter trug sie die Fähigkeit in sich, Leben hervorzubringen. Deshalb herrschten die Mütter. Sie allein konnten Leben erschaffen und Leben zerstören, bevor es selbstständig wurde. Sie hatte ihre Macht erkannt, und jetzt hatte sie ihn herausgefordert. Der Hieb in den Rücken, mit dem er längst gerechnet hatte, war schließlich von einer Stelle gekommen, von der er es am wenigsten erwartet hätte. Ursuline hatte 368 ihre Loyalität verlagert. Sie gehorchte ihm nicht allein um seinetwillen, sondern weil er den Wünschen von AltMutter gehorchte. Sie wusste, wer über die Aikha herrschte; er war einfach nur deren Diener. Aus einem seltsamen Grund hatte er das im Freudentaumel des Krieges und der Eroberung vergessen. Und natürlich hatte er keine Wahl. Sich gegen AltMutter zu stellen war unmöglich. Er neigte den Kopf in dem Wissen, dass er Alain und die Hunde verloren hatte. Er hatte seinen Bruder im Stich gelassen - er hatte versagt. »Ich bin AltMutters gehorsamer Sohn«, erklärte er. »Morgen segeln wir nach Alba.« 3 Die Reste ihrer Flügel hielten gerade lang genug, dass sie nicht allzu hart auf dem Wasser aufschlug. Sie ging unter, kämpfte sich wieder an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Stürmische Wellen krachten gegen die Klippe. Einer der Brüder tauchte plötzlich bei den Felsen auf. Es war schwer zu sagen, ob er noch lebte oder tot war, und sie bewegte die Beine, um zu ihm zu schwimmen - doch die Bewegung schickte einen solchen Schmerz durch ihr Bein, dass sie fast ohnmächtig wurde und wild mit den Armen zappelte. Der Körper des Bruders verschwand plötzlich im Wasser. Eine Woge schwappte über sie hinweg. Sie schluckte Meerwasser, wurde von Panik erfasst und versank. Albtraumhafte Erinnerungen an den Kampf erstickten sie, während sie versuchte, nach oben zu gelangen. Ich bin ein Ungeheuer. Ein Stoß traf sie am Rumpf. Ein großer Körper stieß gegen 369 sie. Sie drehte sich im Wasser herum, dachte, es wäre einer der Brüder, aber da waren andere Kreaturen bei ihnen. Sie hatte die Augen geöffnet, und als ein Blitz die Dunkelheit zerriss, erkannte sie die schlaffen Körper von Mücke und Moskito. Sie zappelten nicht einmal mehr, während zwei riesige Menschen-Fische anmutig um sie herumglitten. War das ein Tanz? War es Neugier? Ihr ging die Luft aus. Sie schlug mit den Armen, um zur Wasseroberfläche zu gelangen, aber sie war nicht schnell genug. Es blitzte erneut, und sie sah, was geschah. Mücke und Moskito wurden gefressen, das Fleisch wurde ihnen von den Knochen gerissen. Ihre Gesichter hatten bereits jegliche Konturen verloren, und an den Stellen, wo kein Fleisch mehr war, glänzten ihre Schädelknochen. Ihre Augen waren weg. Sie waren nicht tot gewesen, als sie ins Wasser gesprungen waren. Keuchend und schnaufend kam sie an die Luft, und ein Gesicht tauchte aus dem Wasser auf, als wieder ein Blitz den Himmel erhellte. Das Wesen hatte lidlose Augen und schreckliche zuckende Haare, eine Masse aus Aalen mit winzigen scharfen Zähnen, die nach ihrem Gesicht schnappten. Das Ungeheuer kam ihr so nah, dass sie vor Entsetzen zu schwimmen vergaß. Sie versank wieder in den Fluten. Aber nicht einmal das Ertrinken gewährte ihr Befreiung von den Qualen eines gebrochenen Herzens. Ich habe sie in eine Falle geführt. Sie schlug mit Händen und Beinen um sich, versuchte die Wasseroberfläche zu finden, aber plötzlich stand alles auf dem Kopf. Ein zweiter Körper wogte unter ihren Füßen. Sie durchbrach die Wasseroberfläche, fuchtelte wild mit den Armen und ertastete einen muskulösen Arm. Eine raue Hand packte die ihre. Sie versuchte sich loszureißen, aber sie wurde mit370 gezerrt. Gischt und Wellen überspülten sie. Der Sturm heulte, und laute Donnerschläge brachten ihre Ohren zum Klingeln. Regen prasselte herab, trommelte auf ihren Kopf. Ich muss kämpfen. Die Klaue schloss sich um ihren Arm, und das Ungeheuer tauchte, zog sie mit sich.
Ich sitze in der Falle. Sie kämpfte, aber die Wunde hatte sie erschöpft. Sie hatte keine Kraft mehr, und sie waren zu tief unter Wasser, als dass sie sich den Weg zurück zur Wasseroberfläche hätte erkämpfen können, selbst wenn sie herausbekommen hätte, wohin sie schwimmen musste. In ihrer Lunge war keine Luft mehr; vor ihren Augen verschwamm alles, zerteilte sich in dunstige Flecken, als Blasen vor ihr vorbeitrieben. Ein Gesicht tauchte auf. Ein lippenloser Mund drückte sich auf ihren, und eine dicke Zunge versuchte einzudringen, zwang sie, den Mund aufzumachen. Jetzt würde die Kreatur sie zu fressen beginnen, sie von innen verzehren, so wie das Feuer, das sie erweckt hatte, die Stämme und die armen, verdammten Soldaten, die schreiend gestorben waren, von innen verzehrt hatte. Rasiermesserscharfe Zähne pressten sich in einem linkischen Kuss gegen ihre. Sie spürte Nadelstiche in den Haaren, als die Aalmünder nach Fleisch suchten. Luft. Oh Gott. Luft erfüllte ihre Lunge, von dem Ungeheuer in sie hineingeatmet. Die Kreatur löste den Mund von ihrem und zog sie mit sich, tiefer und tiefer, atmete ein zweites Mal Luft in sie hinein. Als sie schon glaubte, weiter hinab könne es gar nicht mehr gehen, schwamm die Kreatur in einen Tunnel, der sich tief unter der Wasseroberfläche im Felsen verbarg, nicht sichtbar, sondern nur spürbar, denn inzwischen war sie blind. Sie waren in einem versunkenem Loch im Boden gefangen, und als ihr Kopf an einem Felsen vorbeischrammte, schwapp37i te der Schmerz wie eine Woge aus Messerstichen über sie hinweg. Sie wurde ohnmächtig. Sie erwachte mit zugeschwollenen Augen, als der Boden unter ihr erzitterte. Ihre Zunge war so dick, dass sie den ganzen Mund auszufüllen schien. Feuchtkalte Finger zogen ihre Lippen auseinander, und eine üble Flüssigkeit wurde ihr in den Mund getröpfelt. Sie spuckte, sie wehrte sich, aber sie hatte nicht die Kraft zu kämpfen. Als das Gift in ihrem Magen sauer wurde, glitt sie wieder in die Dunkelheit zurück. Sprich. Zu. Uns. Strahlende. Sprich. Zu. Uns. Wir. Wissen. Wer. Du. Bist. »Tot, nicht wahr?« Sie schwamm von tief unten nach oben. Ihr Gesicht tat weh, und ihre Ohren klingelten von einem halluzinatorischen Traum von alten Stimmen, die sie quälten. Ihr Körper pochte vor Schmerz. Die Erde unter ihr bebte und wurde wieder ruhig. Sie öffnete die Augen und sah ein Doppelbild vor sich, aber dann erkannte sie, dass es zwei etwas entfernt stehende Geschöpfe waren, die aus irgendeinem seltsamen Grund Jinnisch sprachen. Sie hatte seit den Jahren nicht mehr Jinnisch gesprochen, da sie und Pa in Aquila bei den Feuerhuldigern gelebt hatten. Es waren gute Jahre gewesen. Pa war dort glücklich gewesen. Dort hatte er von seinem edlen Schutzherrn das Astrolabium als Geschenk erhalten. Beim Festbankett hatte es klein geschnittene Datteln und Melonen gegeben. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, an das Mahl und die Gesänge, das Gedicht, das fünf Nächte gebraucht hatte, um die Geschichte einer kühnen Königin und eines üblen Zauberers zu erzählen, der sich ihr entgegenstellte; sie hatte dieses Gedicht einmal auswendig gekannt. Wegen ihres außerordentlichen Ge372 dächtnisses hatte es den Hofdichtern Spaß gemacht, sie zu unterrichten, aber ein Schleier verhüllte ihr Blickfeld ... Nebel lag über dem Palast des Gedächtnisses. Sie konnte sich nicht an die erste Zeile erinnern. Am Anfang. Nein. Dies ist die Geschichte einer Schlacht und einer Frau. Nein. Weisheit ist besser als Liebe. Nein! Im Namen des Gottes, der Feuer ist, biete ich meine Geschichte ... »Strahlende!« Mücke und Moskito, sagte ihr Verstand durch den Dunst hindurch. Sie quälten sie tatsächlich ziemlich unbarmherzig. Einer zwickte sie so kräftig in den Arm, dass sie krächzend Einwände erhob. »Sie ist nicht tot«, bemerkte der Erste. »Strahlende, wacht auf! Ihr müsst trinken.« Sie trank. Das Wasser kühlte ihre Zunge, und sie konnte fast wie ein normaler Mensch sprechen. »Es war eine Falle.« »Eine Falle, ja, das war es, Strahlende. Sie haben gewartet, als wir da durchgekommen sind«, sagte Mücke. »Vielleicht, Bruder«, erwiderte Moskito. »Aber wir wissen nicht, ob sie auf uns gewartet haben oder auf jemand anderen!« »Wie viele Zauberer können eine solche Beschwörung weben, du Idiot? Wen sollen sie wohl sonst erwartet haben?« »Wo ist Sorgatani?«, fragte sie. Es gelang ihr, sich auf die Ellbogen zu stützen. Der Boden, auf dem sie lag, schürfte ihre Haut auf, und es schmerzte, sich überhaupt zu bewegen. Aber kein Schmerz kam dem Schock gleich, der sie erfasste, als sie mit ihren Salamanderaugen aufsah und sich erinnerte, dass Mücke und Moskito tot waren; sie waren an die Fische verfüttert worden. 373 Sie wusste nicht, wo ihre Körper hingegangen waren, aber die Geschöpfe, die sie anstarrten, waren nicht die
beiden Brüder aus Jinna, sondern Merwesen, die gleichen Tiere, die ihre unglücklichen Diener im stürmischen Wasser verzehrt hatten. Sie hatten die Oberkörper von Menschen, aber die Unterleiber von Fischen, endeten sie doch in einem gewaltigen, kräftigen Schwanz. Ihre Arme waren sowohl schlank als auch kräftig, und ihre schuppigen Hände hatten Schwimmhäute zwischen den Fingern und Klauen an den Spitzen. Grässliche Gesichter starrten sie an, mit ausdruckslosen Augen, Schlitzen als Nasen, lippenlosen Mündern und Haaren, die sich ganz von allein bewegten, als wäre ein Nest von Aalen an ihren Schädeln befestigt worden. Aber sie sprachen Jinnisch mit den feinen Nuancen von Mücke und Moskito. »Die Verborgene?« Moskito schüttelte den Kopf und sah seinen Bruder an, auch wenn es in diesem Loch zu dunkel war, als dass ein normaler Mensch etwas hätte sehen können. Und sie waren auch keine Menschen, an deren Lippen oder Linien im Gesicht man hätte Gedanken oder Gefühle ablesen können. Mücke schüttelte den Kopf wie ein Echo. Die Aale, die seine Haare bildeten, erwachten und zischten, legten sich dann wieder nieder. »Wir wissen es nicht. Ihr Wagen ist durch die Lücke gefahren. Dann sind wir zurückgekommen, um Euch zu helfen.« »Was ist mit Breschius?«, fragte sie und erstickte fast an den Worten. »Diejenigen, die noch gelebt haben, sind durch das Loch in der Palisade gelaufen. Wir sind zurückgekommen, um Euch zu helfen.« »Ihr seid tot!« Wieder sprachen sie miteinander, indem sie sich einfach nur ansahen. Wasser erzeugte in einem Loch in der Nähe ein 374 gurgelndes Geräusch, als es stieg und wieder sank. An den Wänden der Höhle wuchsen schimmernde Flechten. Das schwache Licht gab ihr die Möglichkeit zu erkennen, dass die zwei Merwesen halb im und halb außerhalb des Wassers waren, an einer Stelle, wo es in einen in den Fels gegrabenen Tunnel abfloss, einen alten, überfluteten Gang. Sie lag weiter oben, fast in der Mitte der Höhle, die kaum größer als ein königliches Schlafzimmer war. Die Höhle schien jedoch hoch genug zu sein, dass sie hätte stehen können, und sie glaubte, am anderen Ende des Raumes drei in die Felsen führende Gänge erkennen zu können. Wenn es ihr nur gelänge, so weit zu kommen. Aber es schien ihr unmöglich, sich zu bewegen. Sie war verwirrt, und ihre Ohren waren verstopft. Ihr Bein tat so weh, dass sie kaum denken konnte. »Viele sind tot«, pflichtete Mücke ihr ernst bei. »Und noch viel mehr werden sterben. Wir sind für Euch gestorben, Strahlende.« »Wie ist es möglich, dass ihr jetzt mit mir sprecht?« Ihre Worte hallten durch die Höhle. Zur Antwort bebte der Boden. »Die Erde erwacht«, sagte Moskito. »Die Alten sprechen. Wir sind Eure Diener. Was sollen wir tun?« Oh Gott. Sie weinte. Sie hatte keine Angst gehabt, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, aber sie hatte nicht richtig darüber nachgedacht, was es bedeutete, anderen zu gestatten, für sie zu sterben. Mücke und Moskito waren tot, von Pfeilen durchbohrt und bei lebendigem Leib gefressen, und doch lebte irgendein Teil von ihnen in den Körpern dieser Kreaturen weiter. War sie ihre Gefangene - oder ihre Herrin? »Wo sind wir?«, fragte sie, als sie wieder sprechen konnte, obwohl ihre Tränen noch immer flössen. Ihre Stimme bebte, aber vielleicht war das auch wieder der Boden, das Zittern eines angeketteten Tieres. Furcht überkam sie, eine Furcht, die 375 so streng schmeckte wie Salzwasser. Als das Beben abebbte, folgte kurz darauf ein zweites. Hörte das denn nie auf? »Darunter«, sagte Mücke. »Wir sind im Zentrum«, sagte Moskito. »Legt den Kopf auf die Erde, Strahlende. Schließt die Augen. Lasst die Alten zu Euch sprechen.« Liath setzte sich auf. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren verletzten Oberschenkel, aber sie biss die Zähne zusammen und ertrug es. »Wer sind die Alten?« Sie schüttelten die Köpfe, und nach einer weiteren wortlosen Verständigung sprach Moskito. »Wir wissen es nicht. Sie leben im Langsam, genau wie Ihr, aber sie leben sogar noch jenseits des Langsam, denn der Lauf ihres Lebens ist nicht wie der des Fleisches, das uns ernährt.« Fleisch ernährte sie, ihren Geist und ihren Körper. Wenn sie sie verzehrten, würden sie dann ihr Wissen und ihr Gedächtnis und ihre Art zu sprechen in sich aufnehmen? Selbst wenn sie es taten, wenn sie sich ernährten, wie es alle Kreaturen tun mussten, wieso sollten sie dann schlimmer sein als sie? Sie selbst hatte an diesem Tag auf die schrecklichste Weise, die man sich vorstellen konnte, Menschen getötet. Wer war das Ungeheuer? »Also gut«, sagte sie, obwohl sie den Gedanken kaum ertragen konnte, die Augen wieder zu schließen. Wenn sie sie schloss, würde sie vielleicht wieder die verkohlten Leichen ihrer Kameraden und Feinde sehen. Aber was sollte sie tun? Sie war der Gnade dieser Wesen ausgeliefert, die wie Mücke und Moskito sprachen und sie noch immer nicht verschlungen hatten. Wer wusste, wie lange sie behaupten oder den Anschein haben würden, die
Brüder zu sein? Sie würde ertrinken, wenn sie versuchte, auf dem gleichen Weg zu fliehen, auf dem sie hierher gekommen war. Sie hatte möglicherweise nicht genug Kraft, um zu gehen, und es gab vielleicht überhaupt keinen Weg, dieser Höhle zu entfliehen. 376 »Wir kennen eine Pflanze, die den Schmerz der Wunde lindern wird. Ruht Euch aus. Hört auf die Alten. Wir werden Nahrung bringen und Farnkraut zum Heilen.« »So sei es«, sagte sie. Moskito rollte sich zur Seite, so dass er fast ganz im Wasser war, und verschwand dann mit einem einzigen Schlag seines Schwanzes. Wasser schwappte bis zu ihren Zehen, kam auf dem unebenen Boden allmählich zur Ruhe. Er war weg. Mücke blieb zurück, still und wachsam. Sie streckte sich der Länge nach aus und legte eine Wange an den Boden. Die Oberfläche schürfte ihr die Haut auf. Lange Zeit lag sie mit offenen Augen da, atmete einfach nur, leerte ihren Geist, versuchte, nicht an die Schlacht zu denken. Nicht an Sanglant. An Gnade. An Hanna. An Pa. Oder an die Feuerdaemonen. Lass. Los. Sie schloss die Augen. Es fiel ihr schwer, sich auf Erde einzulassen. Erde begrub Feuer. Auf Feuer geworfene Erde löschte die Flammen. Aber mit jedem Atemzug ließ sie ihr Bewusstsein tiefer in die Erde einsinken, und sie erinnerte sich an die langsamen Stimmen, die im Traum zu ihr gesprochen hatten. Wie lange war das her? Wie weit musste sie reisen? Wie tief musste sie gehen? Felsen waren nur eine Decke, die die Tiefen der Erde bedeckte, wo Feuer in großen Strömen floss, heißer als in jeder Schmiede. Die Erde dreht sich um ein Drachenherz aus Feuer und ein kaltes, schweres Etwas in seinem Innersten. Lausche. Rasch. Tochter. Lausche. Der. Sturm. Kommt. Die. Erde. Wird. In. Stücke. Gerissen. Wenn. Wir. Ihr. Nicht. Helfen. Schaffe. Platz. Schaffe. Platz. Wirst. Du. Ihr. Helfen. Oder. Sie. Daran. Hindern. Sprich. Tochter. Ob. Du. Uns. Hören. Kannst. Die Feuer im Innern der Erde waren Kanäle, die sie mit den Alten verbanden, die durch die Erde sprachen, die ein Teil der 377 Erde und doch von ihr getrennt waren, langsam wie die Jahrhunderte, aber mit dem scharfen Verstand der Menschen und den mächtigen Träumen von Kreaturen, die längst von der Erde verschwunden waren und Drachen genannt wurden, Kinder des Feuers und der Erde. »Wir müssen das Weben aufhalten.« Ihr Flüstern wurde auf dem Faden des flüssigen Feuers tief in der Erde davongetragen, hinein in das Netz, das alle Dinge miteinander verwob. Nein. Nein. Das. Dachten. Wir. Zuerst. Auch. Aber. Jetzt. Wissen. Wir. Es. Besser. Dies. Haben. Wir. Von. Der. Gefallenen. Erfahren. Das. Weben. Muss. Geöffnet. Werden. Um. Den. Gesang. Der. Macht. Zu. Ermöglichen. Das. Mitschwingen. Von. Land. Und. Land. Schaffe. Platz. Oder. Sie hatten keine Worte für das, was dann kam. Es war eine Explosion von Bildern, die alles übertrafen, was sie jemals gesehen hatte, schlimmer noch als die Zerstörung, die Adica und ihre Kameraden siebenundzwanzighundert Jahre zuvor herbeigeführt hatten. Sengender Regen würde auf die Landschaften einprasseln; die Erde selbst würde sich aufbäumen und heben, würde Flüsse aus Feuer ausspucken, die sowohl Land als auch Meere ertränkten. Alle Kreaturen würden sterben. Alles Leben würde ausgelöscht werden. »Was ist mit den Ashioi? Sind sie verdammt?« Schaffe. Platz. Das Weben öffnen, um Platz zu schaffen, um den Hieb abzumildern, und es dann schließen, bevor Anne das Land der Ashioi wieder wegstoßen konnte. »Wie?«, flüsterte sie, als Hoffnung in ihrem Herzen aufkeimte, denn sie begriff jetzt, wo sie war. Sie wusste, wie die Fäden sie alle verbanden. Sie lag direkt unterhalb der zentralen Krone. Sie lag begraben in der Erde, und sie sprachen mit ihr durch die alte Resonanz, die alle Kronen miteinander verband. Was sie gesagt hatten, ergab plötzlich einen schrecklichen Sinn. Sie musste darauf vertrauen, dass sie ihre Verbündeten waren. Sie hatte keine andere Wahl, jetzt nicht mehr. »Wie können wir das tun?«, fragte sie. Sie erklärten es ihr. 4 Sie banden ihn mit Ketten, die seine Knöchel und Handgelenke aufscheuerten, am Unterbau des Wagens fest. Wann immer der Wagen über Furchen und Rillen in der Straße rollte, wurde er mit einem heftigen Stoß gegen das Gitter geschleudert, bis seine Hüfte und sein Oberkörper von blauen Flecken übersät waren. Splitter steckten in seinen bloßen Armen, aber die Kette hatte nicht genug Spiel, und so war er nicht in der Lage, die Hände zu heben und sie herauszuziehen. Wenn es regnete, wurde er nass; wenn ihn keine Wolken vor der Sonne schützten, verbrannten ihre Strahlen seine Haut. Es war immer noch ein barmherziges Dasein, denn langsam, über Tage oder Wochen hinweg, zogen sich die Flüsse aus Blut vor seinen Augen zurück. Er war schwach, und ihm war so schwindlig, dass er manchmal kaum stehen konnte. Er hatte längst vergessen, was Wirklichkeit war und was Halluzination: Ein Weiler kam in Sicht,
und Kinder bewarfen ihn mit faulem Obst, sie lachten und schrien, aber er konnte die zwei Geräusche nicht voneinander unterscheiden, denn Verzweiflung in ihren Stimmen ließ sie einander zu ähnlich werden, und doch, während er darauf starrte, um einen Sinn in dem zu erkennen, was er sah, oder während er unter dem Aufprall zusammenzuckte, mit dem der wurmstichige Apfel ihn im Unterleib getroffen hatte, strömte eine Flut herbei und ertränkte die Hütten, warf Latten und Dächer wie Anzündhölzer in die schäumenden Wellen. Und wenn er dann 379 blinzelte, starrte er womöglich wieder auf den Wald oder auf das Meer, denn oft kam es ihm vor, als würde er am Steven eines Drachenschiffes stehen, während die Ruder das Wasser peitschten und der Wind an seinen knochenweißen Haaren zerrte. »Wer bist du?«, riefen seine Wächter, wenn sie den Wagen am Gemeindeplatz eines Dorfes zum Halten brachten und die Leute von den Feldern, den Höfen oder ihren Werkstätten herbeiströmten, um zu sehen, was ihr Herr auf die Reise geschickt hatte. »Wie ist dein Name, edler Herr?« Die Worte besudelten ihn nicht weniger als die verfaulten Früchte, aber er konnte ihnen ihre Fragen nicht beantworten oder sich verteidigen. Wenn er überhaupt etwas sagte, brachten die Worte, die aus ihm herausströmten, die Leute zum Lachen oder zum Weinen. »Wir werden niemals Frieden haben. Was an die Erde gebunden ist, wird zur Erde zurückkehren. Das Leiden ist noch nicht vorbei.« »Seht nur, was für eine gräfliche Rundreise dieser Betrüger und Lügner jetzt macht!«, rief Heric, der jeden Tag Brot bekam und zur Belohnung eine neue Tunika erhalten hatte und der darüber hinaus das Vergnügen genoss, den Käfig zu begleiten, wenn er seine Runde durch die Dörfer und zu den Höfen machte, die ihm manchmal vertraut vorkamen, obwohl er nichts mit Namen benennen konnte, es sei denn, es wurde in Hörweite erwähnt. Der einzige Name, an den er sich erinnerte, war der von Adica. Und sie war tot. Seine einzigen Begleiter waren Rage und Kummer, unsichtbar und doch stets an seiner Seite. Die Fesseln banden ihn fest an sie. Er konnte niemals entkommen. Zumindest hatten die Flüsse aus Blut aufgehört zu fließen. »Aber Blut wird wieder über uns kommen«, sagte er zu den Dorfbewohnern, während er versuchte, den grellen Glanz der Sonne wegzublinzeln. Er musste dafür sorgen, dass sie ver380 standen. »Die Umwälzung steht bevor. Sie hat sie in Bewegung gesetzt. Sie hat nicht gewusst, was sie tat. Sie hat es gewusst, aber sie kann es unmöglich verstanden haben. Ich habe sie geliebt. Sie kann nicht gewollt haben, dass so vielen Schaden zugefügt wird.« Sie konnte es nicht gewollt haben. Egal, wie oft er es sagte, er wusste, er würde es niemals wissen. Die Ketten machten es ihm unmöglich, sich den Staub aus den Augen zu wischen. Die Tränen liefen ununterbrochen, als der Schmutz der Straße in sein Gesicht wirbelte. Seine Zunge schmeckte nach Staub. Hin und wieder gaben sie ihm Haferbrei, den sie auf den hölzernen Unterbau des Wagens schütteten, so dass er sich hinknien und ihn auflecken musste, während Neugierige zusahen und flüsterten. Einmal warf ein Kind ein Stück verschimmelten Käse auf ihn. Er fing es mit Mühe auf und schlang es hinunter, obwohl es so hart war, dass er das Gefühl hatte, er würde auf einem Stein herumkauen. Sogar verfaulte Äpfel, die unter ihrer Schale durch und durch braun waren, waren willkommen. Er zupfte die Schale vom Lattenboden des Wagens, auf dem die Äpfel aufgeplatzt waren. Er trank Regenwasser, leckte es von seinen Händen. »Er ist nicht besser als ein wildes Tier!«, sagte Heric. »Und doch hat diese Kreatur behauptet, mit unserem edlen Grafen verwandt zu sein! Schämt euch! Schämt euch, dass ihr euch einmal vor ihm verneigt habt!« Die Furcht sorgte dafür, dass sie sich schämten. Er sah mitten in ihre Herzen. Sie hatten Angst vor ihrem neuen Herrn, demjenigen, den sie Jeoffrey nannten, und doch fürchteten sie seine fantasierenden Worte und sein dreckiges Äußeres noch mehr, und so hassten sie ihn. Er sprach von dem Entsetzen, das in jedem von ihnen schlummerte, von den Liedern der Verzweiflung, deren Melodie das Ende der Welt war. 381 Sie glaubten ihm, aber sie wollten es nicht. Er hörte ihr Gemurmel, als sie untereinander über die Vorboten tuschelten, von denen sie in den letzten paar Jahren gequält wurden, seit dem beklagenswerten Tod des alten Grafen. Sie wurden von Problemen bedrängt, von Flüchtlingen auf der Straße und sterbenden Kindern und heiligem Feuer, das sich in ihre Glieder fraß, von der im Süden verbreiteten Pest, wie die Gerüchte behaupteten, und von Missernten und so heftigen Stürmen, wie sie sie noch nie erlebt hatten, mit Hagelkörnern, die so groß waren, dass sie Häuser zerstörten, mit Blitzen, die eine Kirche niedergebrannt hatten, und unzeitgemäßen Schneefällen im späten Frühling, die Reisende und Hauseigentümer und Hirten gleichermaßen unvorbereitet trafen. Sie glaubten ihm, und deshalb verfluchten sie ihn. Edelmann Jeoffrey ritt ihm mit seiner jungen Tochter in jedes Dorf nach, und sie verneigten sich und beugten die Knie vor der jungen Gräfin und schworen ihr die Treue, weil Jeoffrey besser war als das Ende der Welt. »Niemand wird entkommen«, sagte er zur Luft. »Ganz besonders du nicht!«, krähte Heric, und der Wächter wandte sich an den Wagenführer, der die Zügel in der Hand hielt. »Komm, Ulf. Es wird Zeit, dass wir Weiterreisen. Wir haben heute noch einen weiten Weg vor
uns, bevor wir beide unser Mahl bekommen, und einen noch weiteren Weg, bevor der Eindringling seine gerechte Belohnung erhält.« Der Wagen ruckelte weiter, als der Wagenführer Ulf den Ochsen antrieb. Sie fuhren einen Waldpfad entlang. Die Blätter der Bäume färbten sich allmählich golden und orangefarben, und als der Wind durch die Zweige strich, lösten sich einige von ihnen und tanzten in Wirbeln und Spiralen. Heric rief von weiter vorn. Der Wagen kam ruckelnd auf einer Lichtung zum Stehen. Hier gab es ein Dutzend Hütten, die aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk bestanden und Rasendächer besaßen. Zäune verliefen um ordentlich gepflegte 382 Gemüsegärten, die offensichtlich erst vor kurzem abgeerntet worden waren. Ein Fleckchen Rosmarin blühte; ein paar Pastinaken steckten noch im Boden. Zwanzig zerlumpt aussehende Leute starrten Heric an, als der zu seiner Tirade ansetzte und die anderen Wächter mit Stöcken nach ihm stießen, um Herics Worte zu bekräftigen. »... behauptet, der Sohn des Grafen zu sein, aber es war alles eine Lüge ... Gott haben ihn bestraft... als Wahnsinnigen gefunden, der durch die Landschaft irrte, wo er einer Diakonissin das Brot gestohlen und versucht hat, ein Mädchen umzubringen ... nicht besser als ein Tier.« Eine Frau trat aus der Menge, hielt ein kleines Kind fest an der Hand. Sie war dünn und abgemagert, und das Kind bestand fast nur aus Haut und Knochen. Aber beiden war ihr starker Wille anzusehen, und sie ließen sich von Heric und seinen hochmütigen Kameraden nicht einschüchtern. Obwohl die Frau genau wie die übrigen Dorfbewohner in Lumpen gekleidet war, trug sie seltsamerweise darüber einen herrlichen pelzgesäumten Umhang, der eher zu einem Edelmann als einer Armen gepasst hätte. Es war dieser Umhang, der ihr Autorität gegenüber den anderen verlieh. Es war dieser Umhang, der seine Augen brennen ließ und ihn schwindlig machte. »Wir wissen, was Ihr vorhabt«, sagte sie zu Heric mit der ruhigen Verachtung einer Frau, die, da sie am Rand des Abgrunds gestanden und überlebt hatte, weltliche Bedrohungen nicht länger fürchtete. »Verlasst uns, ich bitte Euch. Verspottet uns nicht durch dieses Schauspiel. Wir wissen, wer unter uns wandelt. Wir wissen, wer er ist.« Einige von ihnen weinten, und ihr Mitgefühl brachte ihn zum Schweigen. Er entwürdigte sich nicht, indem er wild drauflosplapperte, sondern sah nur zu, wie Heric sich wütend fluchend an den Wagenführer wandte und sie sich wieder den Waldpfad entlangschlängelten. Die Bäume schlössen sich um 383 ihn herum. Der Weiler verschwand, als hätte er nie existiert, und vielleicht hatte er das auch gar nicht. Vielleicht war es nur eine Vision gewesen, gar nicht wirklich. Sein Kopf schmerzte. In der Ferne hörte er das Grollen des Donners, der einen sich zusammenbrauenden Sturm ankündigte. VIII Die Art ihrer Macht
1 »Ich bitte Euch, Schwester Rosvita.« Rosvita wurde abrupt wach. »Ich muss eingeschlafen sein«, sagte sie und scheuchte eine Fliege von der Wange. Die Sonnenstrahlen wärmten ihren Rücken, der vom Liegen auf dem Boden schmerzte. Obwohl es schon spät im Jahr war - nach ihren Berechnungen war es der neunte Octumber -, brannte die Sonne unbarmherzig heiß. Die Erde bebte. Pferde wieherten. Hunde bellten. Als der Lärm nachließ, senkte sich Stille herab. Es wehte keinerlei Wind. »Das war etwas stärker als die anderen«, sagte Ruoda, aber es lag ein seltsamer Unterton in ihrer Stimme, eine Warnung. Rosvita setzte sich auf. Ihre kleine Gruppe hockte so erstarrt da wie Kaninchen unter dem Blick eines Adlers, nur Mutter Obligatia nicht, die im Schutz der Markise auf ihrer Pritsche lag. Die alte Äbtissin war ebenfalls wach, stützte sich auf einen Ellbogen, um zuzusehen. Hanna stand neben ihr, den Blick auf die fünf Männer gerichtet, die am Rand des kleinen Lagers warteten. Einer von ihnen war der einäugige General, Edelmann Alexandros, der ein Kettenhemd und darüber einen 385 schönen, scharlachroten Überwurf trug. Er sagte nichts. Ein solch erhabener Mann hatte Bedienstete, die für ihn sprachen. »Schwester Rosvita.« Feldwebel Bysantius neigte respektvoll den Kopf. »General Edelmann Alexandros erbittet die Anwesenheit des Adlers in seinem Zelt.« »Also schön«, sagte Rosvita; sie wusste, dass sie keinerlei Einwände erheben konnte, falls der General sich entschied, Hanna mit Gewalt zu sich holen zu lassen. »Ich werde sie begleiten.« »Das entspricht nicht unserem Befehl, Schwester.«
»Ich bitte Euch, Edelmann Alexandros.« Rosvita wandte ihre Aufmerksamkeit dem General zu. »Sie steht unter meinem Schutz.« »Ich weiß, was er will«, murmelte Hanna, die aschfahl geworden war. »Es sind meine Haare. Die Männer des Ostens sind besessen von hellen Haaren.« »Ich kann Euch nicht gehen lassen, Hanna. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand Euch etwas antut. Ich bin weder schwach noch feige.« »Nein, Schwester.« Hanna trat zu ihr und nahm ihre Hand, flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin nicht ganz unbewaffnet, auch wenn Ihr meine Waffen nicht sehen könnt. Lasst mich gehen. Es ist besser, wenn ich jetzt mit ihm gehe. Wir müssen vielleicht an einem anderen Tag Widerstand leisten.« »Schon bald«, pflichtete Rosvita ihr bei, aber ihre Brust wurde von einer solch festen Faust umklammert, dass sie ganz verzweifelt war. Schon bald würde die Welt sich verändern, und sie waren Gefangene und nicht in der Lage, dagegen anzugehen. »Wir müssen überleben«, murmelte Hanna. »Mehr können wir uns im Augenblick nicht erhoffen. Wenn ich nicht zurückkomme, verliert nicht den Mut. Wenn ich entkommen kann, werde ich fliehen.« »Geht mit meinem Segen, Tochter.« Rosvita küsste sie auf 386 beide Wangen, dann auf die Stirn, und wischte ihre Tränen beiseite, als der Adler den Kreis aus Seil verließ und mit dem General und seiner Eskorte wegging. Hanna blickte sich nicht um, aber Fortunatus ging zum Seil, packte es mit beiden Händen und starrte ihr nach. Rosvita trat zu ihm. Es war so heiß an diesem Tag. »Das ist keine natürliche Hitze«, sagte sie. Die Wachen warfen ihr einen Blick zu, aber da sie kein Wendisch verstanden, widmeten sie der Unterhaltung keine Aufmerksamkeit. »Ich spüre, dass die ganze Erde den Atem anhält.« Ein weiteres Rumpeln tanzte durch den Boden und verging so rasch, dass man es auch für das Summen einer am Ohr vorbeihuschenden Fliege hätte halten können. Kein einziges Wölkchen trübte den grellblauen Himmel. Die Sonne strahlte über den weißen Zelten, die in ordentlichen Reihen standen. Vor vier Tagen hatten sie dieses Lager bezogen und waren seither nicht weitergereist; sie wusste nicht, wieso, aber sie vermutete, dass sie in den letzten Wochen ein gutes Stück nach Dalmiaka hineinmarschiert waren und jetzt in der Nähe des Meeres warteten. Sie lagerten an den Hängen von Hügeln, die nach Norden und Westen hin immer höher aufragten, während sie im Südosten vermutlich langsam flacher wurden und in eine Ebene ausliefen. Da sie sich jedoch auf dem Marsch in der Mitte des Heeres befunden hatten und nun auch in der Mitte des Heeres lagerten, war es schwer, einen guten Blick zu bekommen. Sie konnten nicht in die Ferne sehen, sahen lediglich die zerklüfteten Konturen der Hügel, die in der Herbsthitze in einem hellen Gelb erstrahlten. Das Zelt des Quartiermeisters verwehrte ihnen den Blick nach Westen. Das Lager lag ruhig in der grellen Sonne da. Ein Mann ging zwischen den Zelten herum, schleppte mit Wasser gefüllte Eimer an einem Stab, den er auf den Schultern balancierte. Ein Hund kroch aus dem Schatten eines Zeltes und folgte mit 387 angelegten Ohren einer Spur, die zu schwach war, als dass er sie hätte wahrnehmen können. Auch Edelfrau Eudokia wartete. Deshalb hatte sie ihr Heer die Reise unterbrechen und das Lager errichten lassen. Diese Reglosigkeit in der Luft war die falsche Ruhe vor dem Sturm, und es war umso schlimmer, dass sie jetzt schon drei Tage währte. Oft veränderte sich der Himmel gegen Mittag, und aus dem Blau wurde fast Weiß. Gelegentlich dachte sie, dass die Luft in der Art und Weise wallte, wie der Zeltstoff es tat, wenn Wind darüberstrich. Sie hatte seit Tagen keine Vögel mehr gehört. Sogar die Insekten waren geflohen. »Ich habe Angst, Schwester«, sagte Bruder Fortunatus. Sie legte ihre Hand auf seine, dann warf sie einen Blick zurück zu ihrem kleinen Lager. Die jungen Geistlichen hatten einen Schreibtisch aufgebaut und arbeiteten abwechselnd daran, die Seiten eines ihrer kostbaren Bücher abzuschreiben, oder sie ließen sich von ihr etwas diktieren, während die Übrigen dabeisaßen und zusahen oder Bemerkungen machten. Gerwita las Mutter Obligatia laut vor, und ihre Stimme klang dabei so sanft, dass sie einen Steinwurf entfernt kaum noch zu hören war. Teuda und Aurea wuschen Unterhemden in einem Eimer Wasser, das jetzt grau vom Staub war, und unterhielten sich kameradschaftlich auf Dariyanisch, da Aurea sich verbessern wollte. Petra schlief, wie sie es in diesen Tagen häufiger tat. »Ein friedlicher Anblick«, sagte Rosvita. »Und so täuschend.« »Was wird aus uns werden?« »Ich habe Prinzessin Sapientia alles gesagt, was ich weiß. Wenn sie sich entschließt, mir nicht zu glauben, kann ich nichts weiter tun. Es liegt jetzt in Gottes Händen.« 388 2 Im Zelt des Generals gab es Wein und eine Schüssel, in der sich mit Eiskristallen gekühltes Fruchteis befand, angerichtet auf einem Ebenholztisch neben einem mit grüner Seide bezogenen Sofa. Edelmann Alexandros bedeutete Hanna, Platz zu nehmen. Zuerst setzte er sich neben sie, nahm ihre Hand in seine und begutachtete den Smaragdring, befingerte ihre Haare, aber schon bald stand er auf, ging zum Zelteingang und sprach leise zu einer draußen wartenden Person.
Hanna aß das Fruchteis, denn sie sah keinen Grund, es verkommen zu lassen. Es schmeckte nach Melone, schmolz auf der Zunge und schickte einen Schauer durch ihren Körper, während sie sich auf das gefasst machte, was als Nächstes kommen würde. Abgesehen von dem Tisch und dem Sofa war das Zelt leer. Ein herrlicher jadegrüner Teppich, bestickt mit hellgrünen arethusanischen Sternen, bedeckte den Boden. Ein Diener - einer der bartlosen Eunuchen - brachte eine schüsselähnliche Kohlenpfanne voller glühender Kohlen herein und klappte den Dreifuß aus. Er legte Stöcke in einem Gittermuster oben drauf und zog sich nach einem Nicken des Generals zurück. Die Vorhänge schwangen an ihren alten Platz zurück. Der General sah Hanna an und runzelte nachdenklich die Stirn; er stand da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und musterte sie. Sein Blick blieb besonders lang an ihren Haaren hängen. Sie wartete, hielt den leeren Becher in der einen Hand und den Silberlöffel in der anderen. Man konnte auch einen Löffel als Waffe benutzen, wenn es notwendig war. Er kicherte. Die Verletzung des einen Auges - die unter der Augenklappe verborgen war - hatte seine Gesichtsmuskeln beeinträchtigt; wenn er lächelte, bildeten sich nur auf der einen Gesichtshälfte Krähenfüße. 389 »Ich weiß, was du denkst.« Er sprach leise und Dariyanisch mit so starkem Akzent, dass sie genau hinhören musste, um die Worte zu verstehen. »Ich habe eine Frau. Und so hübsch bist du auch wieder nicht.« Sie errötete, und es gelang ihr nur mit großer Mühe, sich nicht über die Haare zu streichen. Der Vorhang bewegte sich; der Eunuch Basil trat ein und hielt den Stoff auf, als Edelfrau Eudokia von zwei kräftigen Männern auf einem Stuhl hereingetragen wurde; sie hatten bronzene Sklavenhalsbänder und waren nur mit kurzen Leinenhosen und Sandalen bekleidet. Eine bestickte Decke lag über den Beinen der Edelfrau. Die Sklaven stellten den Stuhl neben der Kohlenpfanne ab. Rauch wand sich empor, aber das Gitter aus Stöckchen hatte noch nicht Feuer gefangen. Ein Funke sprang aus der Glut und wirbelte auf den Teppich. Hanna verlagerte ihren Fuß, um ihn auszutreten. Sie konnte es nicht mit ansehen, wie in einen solch wunderbaren Teppich ein Loch gebrannt wurde. »Ich habe gehört, dass du durch Feuer sehen kannst«, fuhr Alexandros fort, ohne die Edelfrau zu begrüßen. Er sah Eudokia nicht einmal an, als hätte er sie gar nicht bemerkt. »Die Adlersicht, wie man sie nennt. Zeig sie mir.« Hanna ächzte leise, sowohl erheitert als auch wütend, aber sie vermutete, dass es keine Rolle spielte. Sie konnten nicht sehen, was sie sah, solange sie nicht selbst die Adlersicht beherrschten. Als sie vor der niedrigen Kohlenpfanne niederkniete, warf Edelfrau Eudokia eine Hand voll zerkrümelter Kräuter ins Feuer, und Flammen schössen hoch, erfassten die Stöckchen. Die Hitze versengte Hanna das Gesicht, und sie setzte sich auf die Fersen, aber der General hatte bereits schnell wie ein Panther sein Schwert gezogen und legte ihr die Klinge flach auf den Rücken. »Wenn du nichts siehst«, sagte er, »bist du von keinerlei Nutzen für mich. Dann werde ich dich auf der Stelle töten. Aber wenn du etwas siehst, werde ich dich verschonen.« 390 Sämtliche Luft wich aus ihrer Lunge. Sie legte die Handflächen auf die Knie und versuchte, ruhiger zu atmen, so schwierig das auch angesichts der Klinge zwischen ihren Schulterblättern und der Drohung war. Hab keine Angst. Sie hatte schlimmere Prüfungen überlebt als diese. Sie sammelte ihre Gedanken und starrte ins Feuer. Wen konnte sie suchen? Was konnte sie durch das Feuer sehen, das sie nicht alle verraten würde? Aber was gab es denn überhaupt noch zu verraten? Rosvita hatte die Wahrheit gesagt, aber Sapientia und die anderen hatten ihr nicht geglaubt. Hannas Gedanken rasten. Der General ragte drohend über ihr auf, hielt ihr die Klinge an den verletzlichen Nacken. Oh Gott, wo war Liath? In den Tiefen gibt es nur Schatten, eine so durchdringende Dunkelheit, dass sie glaubt, den Geruch von Seetang zu riechen. Sie glaubt, das Seufzen von Wellen zu hören, die ans steinige Ufer schlagen. Ein Geräusch erreicht sie - Stoff schabt auf Steinen, als würde jemand im Schlaf einen Arm oder ein Bein bewegen. Sie fällt nach unten, immer tiefer, folgt dem Geräusch, bis die Flamme selbst eins mit einem Fluss aus Feuer wird, der stürmisch über sie hinwegströmt. Sie zuckt zurück. Stahl hält ihre Bewegung auf, und sie rutscht wieder nach vorn, haucht den Namen desjenigen, den sie so lange gesucht hat. Ivar. Er kniet vor einer Edelfrau, die mit einem Goldreif gekrönt ist. Ein gedrehter Goldreif hängt um ihren Hals. Sie ist groß und kräftig gebaut, eine mächtige Frau mit braunen Haaren und den breiten Händen eines Menschen, der reitet und sich nicht fürchtet, eine Waffe zu schwingen. »Also gut«, sagt die Edelfrau. Hanna kennt diese kühle Stimme sehr gut: Es ist Prinzessin Theophanu. Sie sitzt in einer Halle, Banner hängen von 391 den Balken, und Höflinge umgeben sie, hauptsächlich Frauen. Da ist ein anderer junger Mann bei Ivar, aber Hanna kennt ihn nicht. »Nehmt diese Botschaft und bringt sie meiner Tante. Ich bin hier in Osterburg
abgeschottet. Mein Einfluss reicht nicht über Gent und die leider von Saony hinaus, denn als Regentin besitze ich nicht genügend Truppen, um meine Autorität aufrechtzuerhalten. Ich wage nicht, den alten Herrschaftssitz meiner Familie zu verlassen. Er ist vielleicht alles, was wir noch haben. Hungersnöte und Pest haben den Süden vernichtet. Ich habe nach Avaria und in die Marklande geschickt, aber jetzt höre ich, dass sie sich mit meinem unehelich gezeugten Bruder zusammengetan haben, dass sie nach Aosta marschiert sind, hinter Henry und der kaiserlichen Krone her! Ich kann nicht gegen Sabella und Conrad vorgehen. Sie sind stärker als ich.« »Was soll Bischöfin Constanze tun, Eure Hoheit?«, fragt Ivar verzweifelt. »Sie ist ihre Gefangene.« »Sie muss beten, dass bald Rettung kommt.« »Es ist also wahr.« Edelfrau Eudokias Stimme riss Hanna aus ihrer Versenkung, aber Edelmann Alexandros drückte ihr immer noch das Schwert in den Rücken. Sie war nicht frei, würde es vielleicht nie wieder sein. »Wie viel mag sonst noch stimmen, wenn das hier wahr ist?« »Königin Sapientia bezweifelt, dass die Geschichte der Geistlichen wahr ist«, sagte der General. »Sie ist leicht zu beeinflussen. Geza hat einen fügsamen Jagdhund bekommen, der sich seinem Willen unterordnet.« »Solange er sich an seinen Teil unseres Handels hält, dient dieses Bündnis uns allen.« Eudokia lächelte, und Hanna tat so, als würde sie in die schwächer werdenden Flammen blicken, damit sie nicht herausfanden, dass sie sie verstand. »General, ich stelle das Bündnis mit den ungrianischen Barbaren nicht in Frage. Ich spreche nur die Wahrheit. Und die Wahrheit müssen wir he392 rausfinden, ehe wir uns entscheiden, ob wir den Eindringling und die falsche Skopos bekämpfen oder uns zurückziehen sollen. Die Omen sprechen davon, dass eine schlechte Zeit heraufzieht. Spricht das Feuer die Wahrheit? Spricht es nur von diesem Tag und dieser Stunde, oder kann es sowohl in die Vergangenheit als auch die Zukunft sehen? Sollen wir jetzt zuschlagen? Oder sollen wir uns schützen, bis das Schlimmste vorüber ist?« Das Schwert in Hannas Rücken verlagerte sich, zeugte von einer Geste seinerseits, die sie nicht sehen konnte. Sie wagte es nicht, den Kopf zu drehen. Ihre Nackenhaare hatten sich aufgerichtet. Wie leicht wäre es für ihn, sie gleich hier umzubringen, während sie kniete. Aber sicher würden sie den Teppich nicht mit ihrem ketzerischen Blut beflecken wollen. Sie hatte Fremden die Adlersicht verraten. Was konnten sie sonst noch von ihr wollen? Eudokia hantierte unter der Decke herum, die ihre Beine bedeckte, und zog ein Bündel gerader Zweige hervor, von denen keiner länger als ein Finger war. Sie beugte sich nach vorn und warf ein Dutzend davon ins ersterbende Feuer. Flammen kringelten sich und versiegten, bekamen dann neue Lebenskraft, und der Geruch, der von diesen Zweigen ausströmte, war so intensiv, dass Hanna schwindlig wurde und sie fast umgefallen wäre, hätte der General sie nicht an der Schulter gepackt und hochgerissen. »Sieh!«, befahl er. Rauch wand sich um die Feuerzungen, die an den Zweigen leckten, und machte Hanna benommen, bis ihre Augen tränten und sie nicht länger hätte sagen können, ob sie die Wahrheit sah oder Halluzinationen, die vom Rauch stammten. »Kampfer wird sie führen«, sagte Eudokia, aber Hanna war bereits weg. Ihr Kopf pochte, und sie brach in Schweiß aus, hustete, während ihr Bewusstsein seltsam geschärft war. Sie spürte den Teppich durch den Stoff ihrer Beinkleider; sie hör393 te das Rauschen von Seide, als der General hinter ihr die Position wechselte. Der Wespenstich brannte in ihrem Herzen, während Edelfrau Eudokia leise Worte murmelte, eine Beschwörung wie eine Schlange, die den Rauch in einen Spiegel zog, in dessen glatte Tiefen Hanna fiel die Heilige Mutter Anne steht in einem Kreis von sieben Steinen am Rand einer Klippe. Durch die Steinkrone weht sie Fäden aus Licht zu einem schimmernden Netz, das sich weit über die Lande erstreckt. Sein Scheitelpunkt explodiert in Feuer und Blitzen, die so hell sind, dass ihr die Augen wehtun und sie geblendet ist, die Erde brennt die Erde birst und bricht auf, und ein gähnender Abgrund verschluckt das Mittlere Meer, und sie würgt, als eine Wand aus Wasser ins Landesinnere vordringt und alles ertränkt... »Genug!«, rief Eudokia laut mit vor Furcht brüchiger Stimme. Hanna wurde nach hinten gerissen und prallte erst mit den Schultern und dann mit dem Kopf gegen den Boden. Der Teppich dämpfte den Aufprall etwas. Aus der Kohlenpfanne stoben Funken auf und wirbelten wie Glühwürmchen umher, regneten herab, während der General einen Satz nach vorn machte und Edelfrau Eudokias Stuhl aus dem Weg zog. Die Stuhlbeine verfingen sich im Teppich, schoben ihn zu steifen Falten zusammen. Ein Kohlestück geisterte hinunter und fiel auf Hannas Wangen. Dies war keine Vision. Der Funke brannte sich in die Haut, und da der schwere Weihrauchgeruch ihre Lunge benebelte, rang sie nach Luft, hustete hilflos und verlor das Bewusstsein. »Hanna, ich bitte Euch, wacht auf.« Sie wehrte die Hände ab, wusste, dass die Finger, die sich um ihren Hals schlössen, ihr das Leben abwürgen wollten, wie der Rauch es getan hatte. 394
»Hanna!« Mit einem Ruck prallte sie seitwärts gegen eine harte Wand. Nachdem dieser neue Schmerz sich in ein paar gewöhnliche Abschürfungen und blaue Flecken verwandelt hatte, stellte sie fest, dass sie gemasertes, grob bearbeitetes Holz anstarrte. Sie erkannte das knirschende Geräusch der Räder und das Ruckeln eines Wagens. Sie lag auf der Wagenfläche, und über ihr breitete sich ein hauchdünner, weißer Himmel aus. Weil der Anblick ihren Augen wehtat, senkte sie den Blick: Fortunatus lief neben ihr her, schaute besorgt auf sie herab. »Hanna? Seid Ihr wach?« Der Geschmack von Weihrauch hing noch immer in ihrer Kehle. »Hanna, was ist passiert?« Neue Gesichter tauchten jetzt über ihr auf, als die anderen sich in dem Versuch anrempelten, einen Blick auf sie zu werfen: Ruoda, Heriburg, Gerwita, Jerome und Jehan, die Schwestern von St. Ekatarina, die Dienerinnen, alle glitten in ihr Blickfeld und wieder hinaus. Dann kam Rosvita, und die anderen wichen zur Seite, so dass die Geistliche neben ihr hergehen konnte, die eine Hand am Wagen. Der Blick, mit dem sie Hanna ansah, war so gütig, dass Hanna erleichtert seufzte, auch wenn es wehtat, die Luft von der Lunge zum Mund zu befördern. »Lasst sie in Ruhe, meine Freunde.« »Aber was ist passiert?«, riefen sie alle durcheinander. »Wohin gehen wir so schnell? Wieso gehen wir den gleichen Weg zurück, als würden wir vor dem Feind fliehen?« »Könnt Ihr uns sagen, was passiert ist, Hanna?« Rosvitas Stimme klang sanft, aber ihre Miene war auf beunruhigende Weise angespannt. Sie berührte Hannas Wange mit einem Finger, fuhr an der Haut entlang. Hanna zuckte zusammen, spürte die Narbe, wo das Glutstückchen sie verbrannt hatte. 395 »Oh!«, murmelte Rosvita traurig, als hätte sie erst jetzt begriffen, dass Hanna eine neue Verletzung hatte. »Ich habe es gesehen.« Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder. Der Rauch hatte sie ruiniert. »Feuer. Flammen. Eine Flutwelle, so gewaltig, als wäre das ganze Meer losgelassen worden.« Sie stammelte unter Tränen. »D-das Ende der Welt.« 3 Die dreißig handverlesenen Soldaten flohen mit ihrem Schützling in glühender Hitze die Küstenebene entlang, um zum Heer der Königin zu stoßen. Am Abend des fünften Tages erreichten sie das in der Nähe des Ufers gelegene Lager, und sie hofften, dass vielleicht vom Wasser her eine Brise wehte. Aber die Wasserlinie war weit zurückgewichen, und Felsen und Schlamm lagen offen da. Trotz der Abenddämmerung ging kein Wind; es herrschte nichts als Hitze. In der Mitte des Lagers stieg Antonia vom Maultier und sah Adelheid aufgebracht an, während eine Dienerin sie zu einem Platz unter einer Markise führte. Adelheid gab mit einer Geste zu verstehen, dass alle außer Herzog Burchard und ihren engsten Vertrauten verschwinden sollten, damit Antonia sich ein paar Augenblicke in Ruhe entspannen konnte. »Wie lange werden wir noch unter dieser Hitze zu leiden haben?«, fragte Herzog Burchard die Kaiserin, als würde er eine Unterhaltung fortführen, die bei Antonias Ankunft zum Stillstand gekommen war. »Sie ist Teil des Plans der Skopos. Wenn Wolken den Himmel bedecken, kann sie ihre große Beschwörung nicht weben. So habe ich es zumindest verstanden.« Bedienstete fächelten ihnen Luft zu, aber trotzdem konnten sie kaum atmen. 396 Burchard gab ein Brummen von sich; es klang beunruhigt. »Als ich jung war, hat die Kirche die Tempestari verdammt. Sie hat gesagt, dass solche Magie dem natürlichen Lauf von Gottes Willen widerspricht.« »Man könnte das Gleiche auch von Schwertern und Speeren sagen«, bemerkte Adelheid, »denn ohne sie würden Feinde einander im Krieg viel weniger antun, und Schlachten wären eine weit weniger blutige Angelegenheit. Zauberei ist ein Werkzeug, Burchard, genau wie ein Schwert.« Sie wandte sich Antonia zu, die den Wein ausgetrunken hatte, während eine Dienerin ihr die schweißnasse Stirn und den Nacken mit einem feuchten Leinentuch abwischte. »Ihr hattet keinen Erfolg, Schwester Venia?« Sie war staubbedeckt, wund, erhitzt, müde und schäumte vor Wut. »Er hat Greifen!« »So hatten die Späher berichtet«, sagte Burchard mit gewölbten Brauen. »Habt Ihr ihnen nicht geglaubt?« »Ich habe die Art ihrer Macht nicht begriffen.« »Von welcher Art ist denn die Macht eines Greifen?« Die Kaiserin saß auf höchst unziemlich informelle Weise da, die Füße unter den Körper geschoben, wobei der eine Seidenschuh unter dem goldenen Faltenwurf ihres Gewandes hervorlugte. Sie beugte sich jetzt vor, die Lippen geöffnet, die Augen geweitet, so unschuldig wie ein Kind und vermutlich auch so dumm. »Sie haben die Macht, die Galla zu vertreiben. Es heißt, dass Greifenfedern die Fäden der Magie durchtrennen.« »Haben die Galla keine Verwirrung in seinem Heer angerichtet?« »So um die zwanzig Männer dürften gestorben sein, vielleicht auch ein paar mehr oder weniger. Ich habe den Angriff von einer sicheren Stelle aus verfolgt. Wir haben ihn nicht aufgehalten.« »Aber wir haben seinen Vormarsch verlangsamt.« 397 Antonia hatte sich noch nie so über die Anmut der Königin geärgert wie jetzt. Wie weich diese rosafarbenen
Lippen aussahen! Wie hell und einladend diese lieblichen Augen waren! Adelheid hatte ihre Hände nicht mit Blut besudelt, denn die Verbrecher, die sie Antonia übergeben hatte, waren ohnehin zur Hinrichtung bestimmt gewesen. Aber Adelheid hatte das Talent, andere die schmutzige Arbeit erledigen zu lassen, damit ihre eigenen Hände lilienweiß blieben. Sie hatte Schreiber, die ihre Sendschreiben verfassten; treue Wächter, die ihre Schwerter schwangen, um sie zu verteidigen; Verwalter, die Essen und Getränke brachten, und Heerscharen von Höflingen wie diesen alten Narren Burchard, der ihr Loblieder sang. Schönheit war eine gefährliche Gabe, wurde so oft missbraucht. Schon als Mädchen hatte Antonia jene verachtet, die dank ihrer flüchtigen Schönheit immer bekamen, was sie wollten - auch wenn es noch so falsch war. Sie selbst hatte diesen gewinnenden Liebreiz nie besessen. Sie hatte die Rechtschaffenheit studiert und das Spiel der Macht, um ihre Ziele zu erreichen. Sie hatte sich zu Gottes Instrument geformt. Es war ein besseres Schwert, eines, dessen Reichweite unendlich und dessen Lebensspanne ewig war. »Wir können ihn nicht aufhalten«, sagte Antonia. »Habt Ihr darüber nachgedacht, was der Fehlschlag unseres Angriffs bedeutet? Die Galla waren unsere mächtigste Waffe.« »Glaubt Ihr das, Schwester Venia? Ich dachte, Überraschung wäre unsere mächtigste Waffe.« »Die Galla haben ihn überrascht, aber er hat sie überwältigt.« Adelheid seufzte, bewegte die Füße. Ihre Haare waren unbedeckt, eine Erleichterung bei der Hitze, und ihre dichten schwarzen Haare waren auf einfache Art geflochten, wie die eines Bauernmädchens. »Ich hoffe, Ihr verliert nicht die Hoffnung. Ich tue es nicht.« 398 Antonia war klug genug, nicht zu sagen, was sie dachte. Sie hatte ihre eigenen Pläne, und es wäre nicht gut, die Kaiserin zu verärgern. »Was habt Ihr vor, Eure Majestät?« »Ich werde Euch zu meinen Töchtern zurückschicken. Ihr werdet in Tivura bleiben, bis ich sie zu mir rufen lasse. Ich glaube, Ihr könnt sie mit Euren Galla beschützen, wenn es nötig sein sollte. Ihr habt Euren Wert bewiesen. Ich weiß, Ihr werdet tun, was nötig ist, um sie zu beschützen. Ich hoffe, Ihr fürchtet Euch nicht vor der Reise zurück nach Darre. Nun, da Prinz Sanglants Heer in unser Land eindringt, könnten unterwegs Gefahren lauern.« Burchard nickte mehrfach, während die Königin sprach. Früher hatte Antonia mehr Geduld für diesen Schwachsinn aufgebracht, und es war schwer, ihn jetzt zu ertragen, aber sie wusste, dass sie lächeln musste, um sich das Vertrauen und das Wohlwollen der Königin zu sichern. Adelheid brauchte sie, und im Augenblick brauchte sie auch Adelheid. »Ich bin gut gerüstet, so wie Prinz Sanglant, Eure Majestät. Wie lauten Eure Pläne?« »Wir werden die Küste entlang durch Ivria nach Osten marschieren.« »Weg von Darre?« »Prinz Sanglant wird nicht nach Darre marschieren, wenn wir ihn woanders herausfordern. Darre ist nicht das Herz von Aosta. Ich bin es. Mich muss er gefangen nehmen, wenn er versuchen will, das Kaiserreich an sich zu reißen.« »Die Gerüchte sagen, dass er seinen Vater sucht und nicht Euch, Eure Majestät.« »Niemand weist eine Krone zurück, wenn sie vor seiner Nase baumelt.« Antonia runzelte die Stirn. »Wollt Ihr Prinz Sanglant, Eure Majestät? Ist dies eine Finte, um ihn gefangen zu nehmen?« Burchard schnaubte. »Die Königin ist ihrem Ehemann gegenüber loyal!« 399 Adelheid lachte und tätschelte Burchards zittrige Hand. Dieses liebliche Lachen hatte einen ganzen Hof für sich eingenommen, einen König und ein Reich, aber Antonia vermochte es nicht zu narren. »Still, Burchard. Meine Loyalität gegenüber Henry steht außer Frage.« Sie lehnte sich zurück und richtete ihren strahlenden Blick auf Antonia. »Natürlich ist dies eine Finte, um ihn in die Falle zu locken, Schwester. Was sollte es sonst sein? Adler fliegen rasch. Ich bin nicht die Einzige, die vor zehn Tagen von einem Boten die Nachricht erhalten hat, dass Sanglant sich über den Brinne-Pass nähert.« 4 In der größten Hitze, die Sanglant jemals erlebt hatte, zog sich Adelheids Heer einen halben Tagesmarsch von ihnen entfernt geordnet zurück und suchte schließlich Zuflucht hinter den Mauern der Hafenstadt Estriana, während sein Heer sich zur Belagerung bereitmachte. Nur die wenigsten wendischen Städte rühmten sich starker Steinmauern; die meisten hatten Holzpalisaden und einen Bergfried aus Stein. Dies hier waren alte Mauern, die in der Zeit des Dariyanischen Kaiserreiches errichtet worden waren. Die Stadt stand auf einem Felsvorsprung, der zu einer flachen Bucht hin abfiel; das Wasser dort war nicht sehr tief und glasklar, und die umliegenden Felder waren bereits abgeerntet. Adelheids Streitkräfte hatten nichts als staubige Stoppeln, ausgerissene Weinstöcke und eine Reihe knorriger Olivenbäume hinterlassen. Im Osten stieg das Gelände an, wurde uneben und bergig. Im Westen erstreckte sich Wald über die Küstenebene, verlor sich in einem Dunst aus Hitze und Staub. Auch im Norden gab es Berge; über den Ausläufer eines Felsenkamms, der sich in die schmale Küsten400 ebene reckte, ergoss sich ein Fluss in das tief liegende Land und strömte weiter in die Bucht. Ungefähr nach der Hälfte seines Weges floss ihm ein kleinerer Fluss zu, der sich von den Bergen im Osten herunterschlängelte. Weil diese Klippe weniger als eine Wegmeile von der Stadtmauer entfernt lag, benutzte Sanglant sie als
Ausgangspunkt ihrer Belagerung, um den Zugang zum Wasser zu gewährleisten. Während das Lager in einem riesigen Halbkreis um die Stadt herum errichtet wurde, saß er unter einer Markise und hielt Hof. Niemand konnte lange in der prallen Sonne stehen, ohne irgendwann benommen und ohnmächtig zu werden; tatsächlich wurde ihm vor Sorge ganz schwindlig, als er die Berichte seines Obersten Heilers und des Ersten Stallmeisters hörte. »Fünf Männer sind gestorben, seit wir die Berge verlassen haben«, sagte der Heiler. »Ich schwöre Euch, mein Prinz, diese Hitze ist schlimmer als die Kälte auf den Ebenen im Osten. Mindestens hundert Männer haben Brandblasen und Fieber oder sind unterwegs zusammengebrochen.« »Ich frage mich, ob die Aostaner ebenso viele Worte für die Hitze haben wie die Qumaner für Kälte. Was ist mit den Tieren?« Der Stallmeister hatte ebenfalls schlimme Nachrichten. »Wir haben in den letzten zehn Tagen zweiundzwanzig Pferde verloren, mein Prinz. Es ist zwar gut, dass wir uns so verschanzen, dass der Fluss hinter unseren Linien liegt, aber es tröpfelt so wenig Wasser von den Bergen herunter, dass ich mich frage, ob die Soldaten der Königin den Fluss nicht weiter oben abgeleitet haben. Wir haben einfach nicht genug Wasser für die Tiere.« »Es herrscht Dürre in diesem Land.« »Ja, das stimmt«, sagte der Stallmeister und wischte sich dabei den Schweiß von der Stirn. »Aber wenn dies der gleiche Fluss ist, neben dem wir gestern und vorgestern hergeritten 401 sind, dann hat er da noch sehr viel mehr Wasser geführt. Es wäre eine gute Taktik von Seiten der Königin, uns das Wasser zu nehmen, besonders, wenn sie selbst Zugang zu einer Quelle innerhalb ihrer Mauern haben.« »Lord Wichman.« Sanglant rief den Sohn der Herzogin zu sich. »Wollt Ihr Euch mit fünfzig Mann auf die Suche nach einem solchen Damm machen und ihn zerstören, falls Ihr einen findet?« »Mit Vergnügen!« »Haltet Ihr das für klug?«, fragte Hathui, als Wichman die Versammlung verließ; er war begierig darauf, etwas zu unternehmen. »Er wird allein in feindlichem Gelände sein. Die Hitze ist verheerend.« »Entweder löst er unser Wasserproblem, oder ich bin ihn und den Ärger los, den er anrichtet. Hauptmann Fulk?« Der Hauptmann trat vor. »Wir bauen unsere Stellungen auf beiden Seiten auf, mein Prinz. Sie werden von zwei Gräben umgeben sein, einem, der nach innen weist, und einem, der nach außen zeigt. Diese Klippe im Norden hält die eine Flanke. Die Stelle, an der der kleine Fluss in den größeren mündet, befestigt die zweite. Gegen einen Angriff vom Meer aus - falls denn einer erfolgen sollte - können wir nicht viel tun; immerhin haben wir die Wagen so aufgestellt, dass sie eine Palisade bilden. Ich habe zwanzig Männer im Umkreis als Wachen aufgestellt. Es geht das Gerücht, dass König Henry vor etlichen Monaten nach Osten, in arethusanisches Gebiet marschiert ist - in eine Region namens Dalmiaka. Wenn das stimmt, liegt sein Heer östlich von uns. Wenn nicht, könnte er von Südwesten kommen.« »Sehr gut.« »Ich bitte Euch, Prinz Sanglant.« Edelfrau Wendilgard von Avaria trat mit einem Dutzend ihrer besten Soldaten im Gefolge vor. Obwohl ihre Nase und ihre Wangen von der Sonne verbrannt waren, hatte ihr Gesicht die Blässe einer Frau, die 402 sich fest im Zaum hielt. »Wir kommen von der vordersten Linie.« Als sie auf unübliche Weise demütig vor ihm niederkniete, roch er, dass es ein Problem geben würde. Die Art, wie sie die Zähne zusammenbiss und die Lippen zu einer schmalen Linie zusammenpresste, verhieß nichts Gutes. »Bitte, sprecht weiter.« In der Ferne hörte er die Greifen schreien. Edelfrau Wendilgard schwieg noch eine Zeit lang, und als sie dann sprach, tat sie es zu schnell. »Ich war bei der vordersten Linie, mein Prinz. Ich habe die Mauern von Estriana gesehen. Das Banner meines Vaters flattert neben dem von Aosta. Er ist bei Königin Adelheid. Ich kann nicht gegen ihn kämpfen.« Diesmal konnte sie ihn nicht ansehen, denn sie wusste, was er war: ein unehelicher Sohn und ein Rebell. »Ich kann es nicht.« Schweigen war eine Waffe, und sie konnte besser mit ihr umgehen als er. Er sprach zuerst. »Es könnte eine Finte sein. Woher wisst Ihr, dass Euer Vater bei der Königin ist?« Wie ihre Eltern war sie sehr stolz, und binnen weniger Atemzüge hatte sie ihre Haltung wiedererlangt, so dass sie ihm in die Augen sehen konnte. »Ich habe die Wachen auf der Mauer angerufen, mein Prinz.« Solche Förmlichkeit von einer Frau, deren Rang seinem fast gleichkam, verdammte ihn. Er wusste, was sie als Nächstes sagen würde. »Mein Vater wurde herbeigerufen. Ich habe ihn auf der Mauer gesehen, heil und gesund.« Er klopfte mit einem Fuß auf den Boden, hielt inne; eine Woge von Energie flutete durch ihn hindurch, aber er musste sitzen bleiben, durfte die Beherrschung nicht verlieren. »Nun«, sagte er, sie hinhaltend. Aber er hatte diese Schlacht bereits verloren, und es war zu spät, die Niederlage noch abzuwenden. 403 »So sei es«, erwiderte sie, wieder zu schnell. »Ich habe Euch einen Eid geschworen, mein Prinz, den ich nicht zurücknehmen werde. Ich werde nicht das Schwert gegen Euch erheben. Aber ich muss meinem Vater gegenüber loyal bleiben. Ich und meine Avarianer, wir werden uns aus dem Heer zurückziehen und nach Hause
zurückkehren.« IX Die Verlorenen
1 Er konnte es nicht einfach so hinnehmen. Wendilgard und ihre Soldaten ritten am späten Nachmittag weg, während Adelheids Männer sich auf der Stadtmauer versammelten und diejenigen verspotteten, die blieben. Die Greifen, die zwischen Graben und Mauer herumstolzierten, gaben dem Feind allerdings zu denken. Ein Mann schoss einen Pfeil auf Domina ab, der aber nicht weit genug flog. Das Abrücken der Avarianer war ein schwerer Schlag für das Heer der Belagerer. Männer runzelten die Stirn, während sie die Gräben aushoben, die ihnen Schutz gewähren sollten. Soldaten murmelten vor sich hin und verstummten, wenn er vorbeikam. Sie starrten nach Norden - dorthin, wo ihr Zuhause lag. Sie stritten darüber, wer neben den Qumanern lagern sollte, obwohl Fulk die Plätze bereits zugewiesen hatte. Gyasi war gezwungen, seine Neffen ein Seil um das qumanische Lager spannen zu lassen und es mit Zaubern und Glöckchen zu versehen, um Wendaner und Qumaner voneinander getrennt zu halten. Am schlimmsten aber war, dass die Greifen plötzlich da405 Von flogen, und obwohl sie dies schon häufig getan hatten, um zu jagen, und immer zurückgekehrt waren, roch ihr Abflug diesmal nach Niederlage. Männer sahen sie wegfliegen und wandten sich leise murmelnd wieder ihren Aufgaben zu. Fünf tote Delfine wurden ans felsige Ufer gespült. Die Kadaver waren halb verfault und wimmelten von winzigen Würmern. Diesem Omen folgte das Zurückweichen des Meerwassers, als würde es durch einen Abfluss verschwinden. Fische zappelten in immer kleiner werdenden Tümpeln auf dem freigelegten Meeresboden, und seine Soldaten wateten in den Schlamm, um sie in Körben einzusammeln. Einer von ihnen kam der Mauer zu nahe, und drei Pfeile durchbohrten ihn, ehe seine Kameraden ihn in Sicherheit bringen konnten. Er starb kurz darauf, als die Sonne unterging, und kaum hatte diese schlechte Nachricht die Runde gemacht, mussten zwei Pferde geschlachtet werden, die an Koliken litten. Sanglant nahm Hathui beiseite, während das Lager sich auf eine unbehagliche Nacht vorbereitete, die von den Flüchen und spöttischen Bemerkungen der Männer auf Estrianas Mauern begleitet wurde - und von dem allzu weit entfernten Seufzen des Meeres, dessen Wasser sich Stück für Stück zurückzog, obwohl die Gezeiten inzwischen - sofern es im Mittleren Meer überhaupt welche gab - längst wieder hätten umschlagen müssen. Dürre an Land und eine unheimliche Ebbe im Meer. Was kam als Nächstes? »Sattelt ein Pferd. Ich reite hinter Wendilgard her.« Sie setzte zum Sprechen an, aber nachdem sie ein erstes Geräusch von sich gegeben hatte - kein erkennbares Wort -, machte sie den Mund wieder zu. »Ihr wisst, dass ich Euren Rat schätze. Ich bitte Euch, Adler, sagt, was Ihr denkt.« »Nur so viel, mein Prinz. Am besten überredet Ihr sie zurückzukehren. Die Avarianer machen ein Fünftel des Heeres aus. Edelfrau Wendilgard wird Achtung entgegengebracht, 406 weil auch sie nicht um des Ruhmes willen, sondern aus Loyalität gegenüber ihrem Vater nach Süden geritten ist. Jetzt werden die Leute daran erinnert, dass Ihr ein Rebell seid. Ihnen gefällt der Gedanke nicht, dass sie gegen den Herrscher kämpfen sollen, den sie lieben.« »Wie kommt es dann, dass Ihr den Gedanken ertragt, Hathui?« Ihr fester Blick hielt seinem stand. Sie wich ihm nicht aus. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was sie mit dem König gemacht haben. Wer kann sagen, dass sie Herzog Bur-chard nicht auf die gleiche Weise verzaubert haben? Ist es nicht auch eine Form von Zauberei, wenn er die Wahrheit nicht kennt und ihnen aufgrund einer Lüge weiter treu ergeben ist? Wie kann es Rebellion sein, wenn man die Waffen gegen Untaten erhebt?« Es war Nacht, als sie schließlich die Straße entlangritten, die sich durch die bewaldeten Berge links von der Klippe wand, und nur der zunehmende Mond beleuchtete ihren Weg. Ein kräftiger Wind wehte vom Wasser her. Er hatte fünfzig Männer bei sich, die Hälfte von ihnen ging mit Fackeln zu Fuß. Die Straße führte durch einen Kiefern- und Eichenwald, der offen genug war, dass sie die Sterne durch das Blattwerk hindurch sehen konnten. Wendilgard war weiter geritten, als er erwartet hatte, und der Mond war bereits untergegangen, als er seine Soldaten anhalten ließ und allein mit Hathui weiterritt. Die avarianischen Wachen hörten ihn kommen und ließen ihn zur Mitte des Lagers durch, das hastig im Windschutz eines einsamen Hügels errichtet worden war; der Hang deckte den Avarianern den Rücken, und eine Schlucht - eigentlich kaum mehr als ein Graben - schützte ihre linke Flanke. Wendilgard hatte ihr Zelt neben einem Haufen Felsblöcken und bearbeiteten Steinen errichtet, die so groß waren wie der 407
Rumpf eines Mannes. Einst hatten sie weiter oben am Berg gelegen, wo eine lang verlassene Festung nach und nach verfiel. Wendilgard begrüßte ihn zurückhaltend. Der Wind schüttelte die Zweige der Bäume, und sie hörten das Heulen eines Sturms, der sich von Osten näherte. »Kommt«, sagte sie und winkte ihn in ihr Zelt, während ihre Männer unter den Bäumen oder im Windschatten der herabgestürzten Mauerstücke Schutz suchten. Eine Windböe raste so schnell durch das Lager, dass die Männer gerade zu schreien anfingen, als der Wind schon wieder nachließ und Wendilgard und Sanglant aus dem Zelt traten und feststellten, dass ein halbes Dutzend Zelte dem Erdboden gleichgemacht worden war. Ein paar Pferde hatten sich losgerissen. In der Ferne hörten sie Donner grollen, aber es waren keinerlei Blitze am Himmel zu sehen. Es gab auch keinen Regen. »Nun«, sagte Wendilgard, als sie bei dem Feuer standen, das ihre Verwalter zuvor entzündet hatten und dessen Glut jetzt in weitem Umkreis verstreut war. Bedienstete traten die Funken aus. »Was wollt Ihr, Prinz Sanglant?« »Ich möchte, dass Ihr zurückkommt.« »Das ist unmöglich. Ich kann nicht gegen meinen Erzeuger kämpfen.« Es war zu dunkel, um ihr Gesicht richtig erkennen zu können. Sämtliche Fackeln, die zuvor das Lager erhellt hatten, waren von der Windböe ausgeblasen worden, und die ersten, die neu entfacht worden waren, hatten die Soldaten erhalten, die nach den verlorenen Pferden suchten. Der Schimmer ihrer Flammen flackerte, verschwand und tauchte wieder auf, erinnerte an den Tanz der Gespenster in einem Sommerwald im Norden. An Geister, die einen Menschen in die Irre führen konnten, wenn er ihnen in die Dunkelheit folgte. »Ihr habt gewusst, dass ich ein Heer gegen König Henry führen wollte. Wenn Euer Vater mit jenen kämpft, die Hen408 ry zugrunde gerichtet haben, ist er dann nicht eher ein Rebell als wir?« Sie sagte zunächst nichts. Sie hatte das Talent, sich reglos wie ein Stein verhalten zu können. Er klopfte immer wieder mit der einen Hand auf seinen Oberschenkel, denn er konnte nicht ruhig sein. »Ich bin keineswegs anderer Meinung als Ihr«, sagte sie schließlich. »Aber als ich meinen Vater sah, wusste ich, dass ich mein Schwert nicht gegen ihn erheben kann. Dass ich seine Avarianer nicht bitten kann, gegen ihre Brüder und Vettern in die Schlacht zu ziehen. Ich kann es nicht. Woher wisst Ihr, Sanglant, wie Ihr reagieren werdet, wenn Ihr Eurem Vater auf dem Feld gegenübersteht?« »Falls das überhaupt geschehen wird. Wenn er verzaubert ist, und ich glaube, dass er das ist, wäre ich ein Verräter, wenn ich ihn nicht befreien würde.« »Aber würdet Ihr Euch keine Fragen stellen? Was ist, wenn es keine Verzauberung gibt? Ich sage Euch ganz offen: Ich zweifle, wo ich zuvor nicht gezweifelt habe. Seid Ihr Euch Eurer Informationen so sicher? Oder gibt es andere Ziele, die Euch antreiben und Eure Zweifel verjagen?« »Ich habe keine anderen Ziele«, sagte er ungeduldig. »Ich war stets ein gehorsamer Sohn.« »Ja? Es geht das Gerücht, dass Ihr gegen den Willen Eures Vaters geheiratet habt. Ich höre Geraune, dass uns das Ende der Welt bevorsteht, dass uns Dürre und Hungersnot, die Pest und sogar eine qumanische Invasion heimsuchen werden, weil wir Gottes Missfallen erregt haben. Weil die Verlorenen vor vielen Jahrhunderten die Menschheit mit einem Fluch belegt haben. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Ihr seid nur zur Hälfte Mensch. Seid Ihr mein Verbündeter oder mein Feind?« »Ich bin von meiner Mutter verlassen worden! Meine Loyalität hat stets meinem Vater gegolten!« 409 Es war nicht seine Absicht gewesen, so laut zu sprechen. Überall im Lager drehten Männer die Köpfe und sahen zu ihnen herüber. Ein paar fuhren mit den Händen zu den Schwertern und Speeren; ein Dutzend rückte näher, aber Wendilgard winkte sie weg. Sie war eine stolze Frau, die sich nicht leicht einschüchtern ließ und auch um einiges älter war als er, ein spätes Kind schon älterer Eltern. Nach dem vorzeitigen Tod ihrer jüngeren Brüder und ihrer älteren Schwester war sie die einzige verbleibende Erbin. »Alles steht auf Messers Schneide«, sagte sie ruhig. »Wenn ich mich falsch entscheide, verdamme ich mein eigenes Volk wie auch meinen Vater. Avaria hat in den letzten Jahren sehr gelitten. Ich weine, wenn die Leute vor mich treten und mir von ihrer Not erzählen. Ich habe sie nicht beschützt.« Er zu gelte sich, ballte lediglich die Hand und klopfte im Stakkato-Rhythmus gegen sein Bein. »Vorsicht wird uns nicht retten.« »Vielleicht nicht, aber ich bin zu weit gegangen. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Ich bin so weit gegangen, wie es mir möglich war. Meine Soldaten werden nicht kämpfen, Sanglant. Sie haben das Banner meines Vaters gesehen. Einige von ihnen haben auch meinen Vater gesehen, genau wie ich, und jetzt wissen alle, dass er lebt und auf Adelheids Seite ist, die schließlich Henrys Frau ist. Wenn ich sie in die Enge treibe, werden sie rebellieren. Ich kann Euch nicht helfen.« »Ohne Eure Streitmacht ist Henry vielleicht verloren.« »Wenn ich zu Euch zurückkehren würde, wäre meine Streitmacht verloren, weil die Männer sich gegen mich auflehnen würden.« »Was uns bevorsteht, ist weit schlimmer als die Angst vor einer Rebellion. Wenn wir Henry nicht retten und uns Anne nicht entgegenstellen, sind wir alle verloren.« Sie schüttelte den Kopf. »Ihr verlangt zu viel von mir und meinen Soldaten. Ich kann nichts mehr für Euch tun.«
410 Sie ließ sich nicht beirren, und am Ende musste er den Rückzug antreten, um das Gesicht zu wahren, aber er tat es nicht freudig. Er kochte innerlich, obwohl er seinen Ärger nicht laut verkündete. Er ging würdevoll, denn wenn er wütend geworden wäre, hätte ihn das auch noch um ihren Respekt gebracht. Aber er war wütend. Er kochte vor Wut, und weil er nicht einmal im Sattel sitzen bleiben konnte, ohne zu riskieren, dass er Resuelto zu hart herannahm, ging er zu Fuß, marschierte schon bald seinen eigenen Wachen davon. Als sie hinter ihm herzulaufen begannen, um ihn einzuholen, scheuchte er sie weg. Hathui duldete er, denn er wusste, dass sie wie eine Klette an ihm kleben würde, solange er sie nicht wegriss. Er hatte aber gar nicht die Energie, das zu tun, oder er hatte zu viel Energie. »Prinz Sanglant«, sagte sie, als sie den Pfad entlanggingen, der sich jetzt zwischen Eichen, Kiefern und Unterholz hindurchwand, »dies ist die falsche Richtung. Wir gehen den Weg zurück, den wir gekommen sind. Seht Ihr dort, zwischen den Bäumen ? Der dunkle Schatten ist der Berg, an dem die Avarianer ihr Lager errichtet haben. Das da vorne sind ihre Fackeln.« »Verflucht!« Er ging weiter. »Hat sie jetzt vor, uns in den Rücken zu fallen? Wird sie versuchen, die Belagerung aufzuheben? Soll ich sie im Morgengrauen angreifen und ihre Männer gefangen nehmen? Kann ich ihrer Aussage trauen, dass sie sich nach Norden zurückzieht, so dass sie weder für mich eine Bedrohung noch für Burchard und damit für Adelheid eine Hilfe ist? Gott im Himmel, Hathui! Ich habe Eurer Aussage bisher vertraut. Ist es wahr, dass mein Vater verzaubert worden ist? Werde ich von anderen Zielen angetrieben? Habe ich Sapientia verkauft, um mir eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen? Bestimmt ist sie jetzt tot, und ich bin um nichts besser als ein Mörder, der seine eigene Schwester umbringt, um den Besitz der Familie an sich zu reißen.« 411 Sie sagte nichts, folgte ihm lediglich, während er weitersprach. Er konnte nicht zuhören, obwohl er wusste, dass er es tun sollte. Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Die Laubschicht unter seinen Stiefeln knisterte. »Mein Gott!«, sagte Hathui und blieb abrupt stehen. Er stapfte noch zehn Schritte weiter durchs Unterholz, ehe er zwischen den Bäumen hindurch nach oben sah. Der Himmel stand in Flammen, war von rosa- und orangefarbenen Schlieren und einem einschläfernden roten Licht überzogen, das wie Schlangen zuckte. Trommelnder Regen trieb von Norden heran, und während sie an Ort und Stelle stehen blieben, fegte ein zweiter Sturm über sie hinweg. Während in der Ferne seine Männer vor Angst aufschrien, prasselten faustgroße Hagelkörner auf sie nieder. Er ließ sich im Schutz einer Eiche nieder, deren Stamm von dichtem Efeu überwuchert war. Der Hagel trommelte auf ihn ein, sogar durch die Zweige hindurch, riss Blätter ab, fetzte den Efeu vom Stamm. Hathui fluchte und schrie auf. Er rief ihr etwas zu, und als sie nicht antwortete, stürzte er los, um sie zu finden. Er hielt seine Arme über den Kopf, während ihm Hagelkörner auf den Rücken und die Schultern prasselten. Die Wucht war so groß, dass er in die Knie ging. Er kroch weiter, suchte Schutz unter einem Busch, der schwach nach Geißblatt roch; dort traf ihn seltsamerweise kein einziges Hagelkorn, obwohl sie überall um ihn herum zu Boden fielen. Ein besonderer Glanz malte verschwommene Schatten entlang der spitzenartigen Umrisse des Busches, dessen Zweige sich über ihm wölbten. Seine Hände scharrten im feuchten Laub. Er grub einige alte Schichten beiseite, bis er darunter auf trockene Erde stieß - weiße Körner, die an Sand erinnerten -, fand dann unter dieser kalkigen Schicht Teile einer mit Steinen gepflasterten Straße. Er schmeckte den Geschmack von Magie auf der Zunge. Die Sturmfront zog so schnell vorüber, wie sie gekommen 412 war, und als er mit vom nassen Laub verschmierten Handflächen und Knien unter dem Busch herauskroch, fand er Hathui unter einer schwarzen Kiefer. Sie zitterte so sehr, dass er sie an den Schultern packte, damit sie aufhörte. Am Himmel erstrahlten unzählige Sterne, ansonsten aber war er nicht ungewöhnlich, als hätten dort niemals irgendwelche anderen Farben geschimmert. Es gab keine Wolken. Sie konnte nicht sprechen, so sehr zitterte sie. Ein gespenstischer Halbmond schwebte am Himmel, trieb immer wieder aus dem Blickfeld heraus und wieder hinein, obwohl die Mondsichel bereits untergegangen war. Es war zu dunkel, als dass er etwas hätte sehen können, aber er konnte hören. Ein paar Tiere durchbrachen die Stille: zwei Eichhörnchen, die einen Ast entlanghuschten, drei Schweine, ein Reh. Ihre Gerüche strichen über ihn hinweg, verwehten aber, als sie durch den Wald flohen. Das leise Geräusch von Schritten klang wie ein Flüstern, von der Luft herangetragen. Kein menschlicher Geruch drang zu ihm, und doch näherte sich jemand von Nordwesten, ohne Staub aufzuwirbeln oder ein Geräusch zu erzeugen. Hathui blickte an ihm vorbei und erstarrte. Er drehte sich um. Licht schimmerte in einem Faden, der sich genau über dem Busch erstreckte, unter dem er sich während des Hagelsturms verkrochen hatte. Der helle Boden war Teil eines Pfades, der nicht breiter war als seine ausgestreckten Arme lang, und jetzt glitzerte er in einem zauberischen Licht. Schattenhafte Gestalten tauchten auf der alten Straße auf, marschierten nach Süden. Er zog sein Schwert aus der Scheide und schob Hathui nach hinten, trat zwischen sie und den leuchtenden Pfad.
Die Schatten gingen in gleichmäßigem Tempo, nicht schnell, aber auch nicht langsam, sondern mit dem zuver4*3 sichtlichen Schritt von Leuten, die einen langen Weg zurückgelegt und die Absicht hatten, ihr Ziel zu erreichen. Während sie so dahingingen, sangen sie in einer vergessenen Sprache. Der Rhythmus ihres Liedes passte zu dem ihrer Schritte. Die Worte kannte er nicht, aber die Bedeutung schien ihm klar, als hätte er in jener Zeit, da er noch nicht als eigenes Selbst, sondern nur als Teil von ihr existiert hatte, dieses Geheimnis aus dem Körper seiner Mutter aufgesaugt. Sie sangen von einem verlorenen Land, das ihre Heimat gewesen war; sie sangen von Familien, die niemals vergessen werden würden, und von unerfüllter Liebe. Sie sangen vom Krieg und von Rache, die es nie gegeben hatte. Aber eine hoffnungsvolle Atmosphäre rankte sich um ihr Lied, als hätten sie es seit langer Zeit gesungen und glaubten nun, dass eine Kadenz am Schluss schon bald das Ende ankündigen würde. Obwohl er nicht Liaths Salamanderaugen besaß, sah er sie deutlich vor sich, als sie in einer lang gezogenen Reihe den Pfad entlangschritten. Alte Männer führten Kinder. Starke Krieger mit Tiermasken, sowohl Männer als auch Frauen, schritten stolz einher, mit Bögen oder Speeren oder seltsamen Schwertern bewaffnet, die nicht aus Metall bestanden, sondern deren Schneiden aus schwarzem Glas waren. Kräftige alte Frauen stemmten sich Körbe aus geflochtenem Schilf in die Hüfte und mit weißen Spiralen und Schraffuren verzierte rote Krüge. Sie alle waren Schatten inmitten von Schatten; sie waren nicht wirklich, sie hatten keine Substanz, nicht so wie er. Und doch waren diese Leute genauso gefährlich wie alle anderen, denen er begegnet war. Sie waren die Verlorenen, die Ashioi. Seine Verwandten. Eine lange Zeit sah er zu, wie sie vorbeizogen. Hathui sprach kein einziges Wort. Er konnte nicht einmal ihre Atemzüge hören, denn die unirdische Stille, die sich auf den Wald gelegt hatte, erstickte alle irdischen Geräusche. Es kam ihm so vor, als würden er und die Welt zu Schatten werden, wäh414 rend die Schatten marschierten. Sie gingen vorbei, einer nach dem anderen und immer noch mehr, so viele, dass er sie nicht zählen konnte. Es waren sicherlich mehr als ein Stamm, mehr als die Bewohner einer Stadt. Es waren Heerscharen, die auf dem leuchtenden Pfad nach Südosten reisten. Über ihnen wanderten die Sterne entlang ihrer vorgezeichneten Bahnen, während die Nacht verging. Die Welt lag still da, wartete, genau wie er. Er verspürte die stürmische Neigung, sich der Reihe am Ende anzuschließen und mitzumarschieren, obwohl niemand von ihnen ihn zu bemerken schien - vielleicht war er für sie ebenso ein Schatten wie sie für ihn. Träumte er nur? Würde er seine Mutter bei ihnen sehen? Er sah sie nicht. Das erste Grau der Morgendämmerung sickerte bereits zwischen den Bäumen hindurch, als die Letzten an ihm vorbeigingen. Die Nachhut bildete ein stolzer junger Mann mit einer Statur, die seiner eigenen sehr ähnelte, und dessen Gesicht ihm auf unheimliche Weise vertraut vorkam das Gesicht eines Mannes, das aus dem Antlitz seiner eigenen Mutter geformt war. Der Mann trug einen Brustharnisch aus Bronze, dessen Oberfläche glänzte. Der junge Krieger blieb stehen und starrte den Prinzen an. Sein hüftlanger weißer Umhang wirbelte in einer nicht spürbaren Brise. »Verwandter!«, rief er. »Wie kommt es, dass Ihr uns vorbeigehen seht und nicht mit uns kommt? Es ist nahe. Es steht kurz bevor. Könnt Ihr es nicht spüren?« Seine Stimme versiegte, und er verlagerte seinen ganzen Körper, als ein Schauer durch ihn hindurchging. »Wie ist das möglich?«, fragte er mit veränderter Stimme. »Ihr seid keiner von uns, und dennoch erkenne ich Euch. Wer seid Ihr?« Sanglant kannte die Sprache nicht, und doch verstand er sie irgendwie. Sie schmolz sich in ihn hinein wie die Hitze der Sonne, die auf alle Leute schien, unabhängig davon, ob sie wussten, dass es die Sonne war, oder ob sie blind waren. »Ich bin Sanglant«, erwiderte er und machte einen Schritt 415 auf den Pfad zu. »Ich bin der Sohn von Henry, dem König von Wendar. Ich bin der Sohn von Uapeanikazonkansi-a-lari.« Der andere Mann hob den Speer in einer Geste der Abwehr oder des Erstaunens. Mit Perlen verzierte Schützer bedeckten seine Unterarme und Waden, und sie blitzten im Dämmerlicht auf, weckten die Aufmerksamkeit der Krieger, die bereits vorbeigegangen waren und jetzt stehen blieben und sich umdrehten. »Beeil dich! Beeil dich!«, riefen sie. »Die Zeit ist nahe! Wir müssen uns beeilen.« »Ich kenne Euch!«, rief der junge Krieger, vor Wut und Enttäuschung angespannt. »Aber wer seid Ihr? Wieso behauptet Ihr, Abkömmling eines Namens zu sein, der nicht existieren kann? Uapeani-kazonkansi-a-lari ist der Name, den die Tochter meines Bruders getragen hätte, hätte er jemals ein Mädchen gezeugt, aber er ist seit vielen Lebenszeiten weg, verloren. Wer seid Ihr?« »Seid Ihr tot, oder lebt Ihr?«, fragte Sanglant. »Für mich seid Ihr ein Schatten, ein Geist. Aber Ihr sprecht, als wären andere gestorben, während Ihr überlebt habt.« »Wir sind tot, und wir leben. Wir sind in den Schatten gefangen, von der Erde weggerissen und doch nicht getötet, als die Hexe Li'at'dano denen die Hände geführt hat, die die große Beschwörung gewebt haben, durch die unser Land und unser Volk vertrieben wurden.« »Ich bin Euer Verwandter! Ich werde versuchen, Euch zu helfen -« »Es ist zu spät. Was geschehen ist, lässt sich nicht ungeschehen machen. Das vertriebene Land wird
zurückkehren.« »Nein. Eine andere Gruppe von Zauberern versucht, den alten Bann ein zweites Mal zu weben, um das Land zurück in den Äther zu befördern.« »Hassen sie uns noch immer? Grübelt die Hexe immer noch über unseren alten Krieg nach?« 416 »Sie hilft mir. Sie ist nicht länger Eure Feindin.« Der andere Mann lachte. »Wenn sie das sagt, dann lügt sie, oder Ihr seid dumm genug, ihr zu glauben. Wie kann sie überhaupt noch am Leben sein? Wir haben Jahrhunderte vorbeiziehen sehen. Niemand, der in der Zeit der Vertreibung gelebt hat, kann noch am Leben sein!« »Ihr seid am Leben!« »Ich bin ein Schatten, aber ich hoffe, noch einmal zu leben, damit ich Rache üben kann. Genug!« Seine Kameraden, ein Dutzend maskierter Krieger, warteten eine Bogenschussweite entfernt und riefen nach ihm. Die anderen Mitglieder des Zuges waren zwischen den Bäumen und im dämmrigen Dunst des Morgengrauens verschwunden. Der Mann folgte ihnen. »Hört auf mich!«, rief Sanglant verärgert. »Kehrt mir nicht den Rücken! Ich lüge nicht. Ihr wisst weniger, als Ihr zu wissen glaubt. Ich habe die Schamanin des Pferdevolkes getroffen, die Ihr Li'at'dano nennt. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie lebt noch. Sie hat offen über das alte Weben gesprochen, das sie nun bedauert. Sie möchte diejenigen, die die Verlorenen noch einmal vertreiben wollen, daran hindern. Wir müssen als Verbündete handeln!« Der Krieger achtete ebenso wenig auf ihn, wie es zuvor Edelfrau Wendilgard getan hatte. Vom Pfad aus riefen die Kameraden ihm etwas zu, aber ihre Stimmen waren so leise, dass nicht einmal Sanglant sie verstehen konnte. »Ich muss gehen«, sagte der Krieger. »Der Tag bricht an.« Ein seltsamer Unterton veränderte die Klangfarbe seiner Stimme. Er sah Sanglant noch einmal durchdringend an, dann lief er davon, die alte Straße entlang zu den anderen. Als das Licht sich erhob und die Nacht vertrieb, verschwanden sie zwischen den Bäumen. Hathui brach ohnmächtig auf dem Boden zusammen; sie war vollkommen schlaff, und er stand überrascht mit offe417 nem Mund da. Dann hörte er Stimmen - seine Eskorte kämpfte sich durch den Wald, um zu ihm zu stoßen. Er kniete neben Hathui nieder, und sie öffnete die Augen genau in dem Moment, als Feldwebel Cobbo mit besorgter Miene und einer großen Beule in seinem Helm zu ihm gerannt kam. »Mein Prinz! Wir haben die ganze Nacht nach Euch gesucht. Wir hatten schon gedacht, Ihr wärt verloren, als dieser Sturm durchzog! Das war kein natürlicher Sturm! Was ist mit dem Adler? Ist sie niedergeschlagen worden?« Sie rieb sich den Kopf und setzte sich ächzend auf. »Ich bin vom Hagel am Kopf getroffen worden. Danach erinnere ich mich an nichts mehr.« Der Prinz blickte zum Pfad hinüber, aber jetzt war nichts als Ginster und Kreuzdorn unter dem ausladenden Laubdach einer efeuumrankten Eiche zu sehen. Der Pfad, der in der Nacht noch so deutlich geleuchtet hatte, war jetzt unsichtbar, und als er zu dem Busch trat, unter dem er seiner Meinung nach Schutz gesucht hatte, fand er keine Spur von dem kalkweißen Sand. Und er legte auch keine alte gepflasterte Straße frei, als er mit dem Fuß die Laubschicht wegscharrte. Die Dürre hatte den Boden gebacken, bis er so hart wie Stein war. »Mein Prinz?« Sie schauten ihn an, wie es Leute taten, die sich nicht sicher waren, ob der Hund nun verrückt war oder nur ein paar Augenblicke brauchte, um sich zu erleichtern. In weiter Ferne hörten sie einen Schrei. Er hielt noch immer das Schwert in der Hand, und mit einem leisen Fluch schob er es in die Scheide und kehrte zu ihnen zurück. »Kommt«, sagte er. »Am besten kehren wir zum Lager zurück, ohne Edelfrau Wendilgards Frieden zu stören.« Wichman kam gegen Mittag zurück; er hatte ein Drittel seiner Männer verloren. Sein Pferd schäumte, und er stieg ab und warf einem wartenden Pferdeknecht die Zügel zu. Der 418 Prinz stand auf einer Anhöhe und ließ den Blick über die Stadtmauer und die Küste schweifen, wo das zurückweichende Meer bisher Verborgenes freigab - matschbedeckte Steine, Knochen, einen überkrusteten Anker, die Gerippe von einigen Booten und auch etwas, das eine alte, schnurgerade verlaufende, gepflasterte Straße zu sein schien. Offensichtlich hatte sich dort, wo jetzt die Bucht war, zu der Zeit, als die Straße gebaut worden war, festes Land befunden. »Verflucht schlechte Neuigkeiten!«, rief Wichman mit einem heiseren Lachen und schritt auf ihn zu. Männer wichen vor dem Edelmann zurück, als er einen von ihnen zur Seite schob, statt um ihn herumzugehen. Er blieb bei Sanglant stehen, richtete den Blick gleichgültig auf das Meer und drehte sich dann um, beobachtete die Männer, die angestrengt damit beschäftigt waren, die Lücken in ihren Verteidigungsanlagen zu schließen. »Wieso hat Königin Adelheid nicht angegriffen?«, fragte er. »Dieser Ring aus Wagen wird einem entschlossenen Ausfall nicht standhalten können. Es ist noch nicht einmal die Hälfte der Gräben ausgehoben, die wir brauchen werden.« »Schön, Euch zu sehen, Vetter«, sagte Sanglant und wechselte das Thema, ehe Wichman richtig in Fahrt kam. »Was ist mit dem Fluss?«
Wichman schüttelte den Kopf. »Dürre. Jemand hat tatsächlich versucht, die paar Tropfen abzuleiten, die oberhalb der Klippe noch bei einer Art Wasserfall waren, aber im Grunde kommt keinerlei Wasser mehr von den Bergen runter. Die Felder vertrocknen. Wir haben gestern Nacht ein paar seltsame Lichter am Himmel gesehen, das kann ich Euch sagen. Ich habe sechs Männer an Geister verloren.« »Geister!« »Das haben die Wachen behauptet, aber ich glaube, es waren Krieger, die in den Wäldern herumgeschlichen sind, Kundschafter des Heeres, das direkt auf uns zumarschiert, 419 während wir uns hier unterhalten. Wir haben Rufe und Schreie in der Ferne gehört, westlich von uns.« Sanglants Eskorte drehte sich um. Die Frauen und Männer starrten Wichman an, als wären ihm Federn gewachsen. »Was meint Ihr damit?«, fragte Sanglant leise. »Was für ein Heer?« »Das, dessen vorauseilende Kundschafter ein Dutzend meiner Männer erwischt haben, als sie heute Morgen an einem See ihre Pferde getränkt haben. Dieses Heer meine ich. Ein verdammt großes Heer, denn ich habe es selbst gesehen.« »Ich bitte Euch, Wichman, redet etwas langsamer und deutlicher. Es gibt also ein Heer, das hierher marschiert? Aus welcher Richtung? Wie groß ist es? Wer sind sie?« Wichman grinste. Er genoss die allgemeine Aufmerksamkeit. »Es sieht so aus, Vetter, als hättet Ihr gerufen, und Papa hätte Euch gehört. Ein großes Heer kommt von Osten aus dem Hochland hierher.« Nicht ein Wölkchen stand am Himmel, aber genau in diesem Augenblick erschütterte Donnergrollen die Luft, als wäre Wichman der Himmelsbote. Der Boden erzitterte, schwankte und beruhigte sich wieder. Männer schrien auf, eilten hierhin und dorthin, als könnten sie ein paar Schritte weiter links oder rechts festeren Boden finden. Doch kaum verklangen die Rufe im Lager, da erscholl neuer Lärm. Wachen zeigten nach Norden, über die weit entfernte Linie der Bäume. Die Greifen kamen zum Lager geflogen, wurden größer; hinter ihnen, ein gutes Stück im Waldland im Nordwesten, kletterte eine Rauchsäule gen Himmel. Wollte Edelfrau Wendilgard ihrem Vater zeigen, wo sie sich befand? »Was für ein Banner führt dieses Heer?«, fragte Sanglant mit gepresster Stimme. »Es führt das Banner des Herrschers von Wendar und Varre sowie die Kronen von Aosta und noch eine neue Flagge.« »Die der Skopos?« Es war schwer, Wichman nicht an der 420 Kehle zu packen und die Informationen aus ihm herauszuschütteln. »Nein. Ich habe kein Banner mit dem Wappen der Skopos gesehen. Nur eines, das ich ein einziges Mal zuvor gesehen habe, in der Kapelle von Autun: ein Banner, das mit Taillefers kaiserlicher Krone geschmückt ist.« Henry hatte sich zum Kaiser gekrönt! Alle um ihn herum flüsterten: Kaiser. Dieses Wort besaß eine Magie an sich, eine Magie, die nicht einmal die Greifenfedern vertreiben konnten. Das Gemurmel erstarb, als die Umstehenden auf Sanglants Antwort warteten. Es war vollkommen still geworden, ein seltsamer, harter Druck lag in der Luft, der seine Ohren zu verstopfen und sein Gehör zu betäuben schien. Keinerlei Wind bewegte die Banner in seinem Lager; sogar Adelheids Fahnen auf der Stadtmauer hingen schlaff herab, waren nichts als in sich gekräuselte Farben. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Das Blau des Mittagshimmels verblasste zu einem unheimlichen Silber, bis er das Gefühl hatte, als würde er im Innern einer Trommel stehen und darauf warten, dass der Schlag eines Stockes sie aufweckte. Um die Stille zu vertreiben. Um Liath und Gnade lebendig zu ihm zurückzubringen. Von weiter weg, zu schwach, dass irgendein normaler Mensch es hätte hören können, drang der schrille Klang eines Hornsignals an sein Ohr. »Zu den Waffen!«, rief er und brach den Bann. »Blast das Hörn!« Er trug ständig ein Kettenhemd, aber jetzt, da eine Schlacht unmittelbar bevorstand, gestattete er seinen Wachen, ihm zusätzliche Rüstungsteile anzulegen, das Zeichen der schweren Reiterei, seiner stärksten Figuren auf dem Schachbrett. Er stand reglos da, während Sibold ihm eine eiserne Brustplatte 421 über dem Kettenhemd anlegte und Beinschienen an den Waden befestigte. Chustaffus wartete, bereits vollständig gerüstet, mit dem Banner des schwarzen Drachen in der linken Hand. Die übrigen von seiner Leibgarde versammelten sich hinter ihm auf ihren Pferden. Alle hatten Eisenhelme, die meisten auch Beinschienen und Brustplatten - es waren seine stärksten Soldaten. Während Sibold ihm die Rüstung anlegte, erstattete Hauptmann Fulk Bericht. »Unsere Möglichkeiten sind in dieser Hitze geschrumpft, mein Prinz. Ohne Wasser können wir nicht fliehen, und wir können auch einem Angriff von beiden Seiten - Von der Stadt und vom Feld - nicht standhalten, da unsere Verteidigungsanlagen noch nicht fertig sind und das Heer des Kaisers so groß ist.« Während sie sprachen, wurden hastig weitere Pfosten in den verbliebenen Lücken des inneren Verteidigungsrings befestigt, um bei einem Ausfall von der Stadt her die Angreifer daran zu hindern, ihre Linien zu durchbrechen.
Sanglant sah Hathui an. »Wendilgards Rückzug hat uns großen Schaden zugefügt. Sollen wir uns ergeben und meinen Vater um Gnade bitten? Er ist bekannt dafür, barmherzig zu sein.« Sie reckte das Kinn. »Ja, Eure Hoheit, wenn es König Henry wäre, könnten wir Gnade erwarten. Aber der Mann, dem wir gegenüberstehen, wird nur Henrys Gesicht tragen und mit seiner Stimme sprechen. Ich habe gesehen, welchen Daemon sie in seinen Körper gezwungen haben. Ich habe gehört, wie seine Stimme Villam verdammt hat, aber ich weiß, dass König Henry so etwas niemals getan hätte. Wenn wir uns ergeben, werden wir denen die Kehlen entgegenrecken, die uns so wenig Gnade entgegenbringen wie ihm!« Für einen Augenblick schien ihre Aufmerksamkeit sich von ihm ab- und etwas anderem zuzuwenden, schien ihr Blick durch ihn hindurchzugehen, als würde sie etwas anderes sehen, eine Sze422 nerie, zu der er keinen Zugang hatte: die Ereignisse, die sie dazu geführt hatten, beim rebellischen Sohn des Königs Zuflucht zu suchen. »So sei es.« Sibold trat zurück, sobald er fertig war, und Sanglant stieg auf Resuelto und nahm Immersieg die Lanze ab. Er reckte sie in die Luft, um die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu lenken, die sich zum Kampf bereitmachten, und rief mit jener Stimme, die schon bald den Gefechtslärm übertönen würde: »Auf jedem Feld gibt es einen Sieg zu erringen. Lasst uns unseren finden.« Malbert reichte ihm seinen polierten Helm, der mit der Figur eines Drachen verziert war, demjenigen so ähnlich, den er einst als Hauptmann von Henrys Drachen getragen hatte, damals, als er noch der gehorsame Sohn seines Vaters gewesen war. Das war er immer noch: Henry war es, der sich verändert hatte, nicht er. Aber spielte das eine Rolle - jetzt, wo der entscheidende Zeitpunkt gekommen war? Letzte Nacht, nachdem Wendilgard weggegangen war, war er wütend gewesen, mürrisch, besorgt und gereizt. All das fiel jetzt von ihm ab. Die Entscheidung war gefallen. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt, um es zu diesem Augenblick kommen zu lassen. Jetzt. Sofort. Die bevorstehende Schlacht hob seine Stimmung. Über ihm flogen die Greifen auf die Stadt zu. Als er gefolgt von seiner Eskorte zur südlichen Spitze der Befestigungen ritt, die sie in der kurzen Zeit hatten errichten können, hielt er die Lanze so, dass der Wimpel auf dem Schaft in der Brise flatterte, die von Resueltos Schritt erzeugt wurde. Er schwitzte bereits stark. Es wehte kein Lüftchen. Die Fußsoldaten hatten sich nordöstlich des Flusses eingegraben, entlang einer Linie, die von der Klippe, wo der Fluss den Wald verließ, bis hinunter zum Ufer führte. Weil sie einen Teil des Flusses innerhalb ihrer eigenen Linien hatten halten wollen - sofern das Rinnsal, das da über die Steine 423 f loss, einen solchen Namen noch verdiente -, teilte der Fluss seine Streitmacht. Sogar im Laufe des einen Tages, den sie hier gelagert hatten, war der Wasserstand gesunken. Als er Resuelto die Böschung hinunter ins Flussbett drängte, reichte das Wasser dem Wallach kaum über die Fesseln. Kompanien der Wendaner, Markländer, Qumaner und Zentauren folgten ihm auf das Feld, wühlten das bisschen Wasser auf, das noch übrig war, so dass es sich in eine schlammige Brühe verwandelte. Die Fußsoldaten bemannten die vorhandenen Verteidigungsanlagen; einige der Gräben waren erst zur Hälfte ausgehoben. Es waren zu wenig Soldaten, um einem Angriff von mehreren Seiten standhalten zu können. Aber die Fußsoldaten bildeten nicht den Kern seines Heeres. Sanglant und seine Soldaten überquerten die Verteidigungsanlagen und gelangten auf staubiges, offenes Gelände, wo er Platz zum Manövrieren hatte. Das Feld war zum größten Teil eben, wurde aber von einem trockenen Bachbett gekreuzt, das einst ein Seitenarm des Flusses gewesen war. Er und ein Dutzend Männer aus seinem Gefolge ritten auf eine Anhöhe, von der aus sie das Gelände überblicken konnten, während sein restliches Heer Aufstellung nahm. Er hatte etwa dreißig Hundertschaften Reiterei. Die qumanischen Clans formierten sich auf der linken Flanke, die Markländer auf der rechten. Seine wendische Reiterei, ein bunter Haufen, der nominell unter dem Befehl von Wichman stand, aber tatsächlich von Hauptmann Fulk befehligt wurde, hielt die Mitte - wo eigentlich Wendilgards Avarianer hätten stehen sollen. Was als Reservetruppe übrig blieb, bildete die zweite Reihe, aufgeteilt in Gruppen von fünfzig bis hundert Reitern, die aus seinen Markländern und den abtrünnigen Ungrianern unter Hauptmann Istvan bestanden, und außerdem aus Waltharias ausgesuchter schwerer Reiterei unter dem Banner von Edelmann Druthmar, seiner eigenen Leib424 garde und den Bwr. Die Greifen waren über die freie Fläche zum Wasser geflogen, wo sie eine schwerfällige Wende vollzogen und zurückkehrten. Wenige Heldengedichte aus längst vergangenen heroischen Zeitaltern erzählten von einer solch seltsamen Mischung von Menschen und anderen Wesen. Kein Dichter hatte jemals ein solches Heer besungen, in dem viele verschiedene Gruppen sich einem gemeinsamen Feind entgegenstellten. Sicher hatte es während des Marsches das eine oder andere Problem gegeben. Er hatte Äußerungen gegen Zauberei gehört. Manche hatten es nicht richtig gefunden, sich mit Heiden und Ketzern zusammenzutun, oder sie hatten sich gefragt, ob es richtig war, dass ein Kind seinen Vater oder ein Edelmann die Weisheit der Skopos herausforderte. Aber ihre Furcht und ihre Zweifel waren auch ihre Stärke. Sie hatten ihre alten Vorurteile aus Loyalität ihm gegenüber über den Haufen geworfen. Die Wendaner mochten den Qumanern misstrauen, aber sie
gewährten ihnen ein ordentliches Maß an Respekt. Und in der Tat lag etwas Ermutigendes für die Männer darin, zusammen mit den Zentauren zu kämpfen, jenem alten Volk, das einst die heilige Stadt Darre niedergebrannt hatte. Ihre unmenschliche Natur war stets sichtbar, und doch besaßen sie auch eine gewisse Schönheit. Hin und wieder hatte Sanglant gesehen, wie einer seiner Männer verträumt einen der Bwr-Verbündeten anstarrte. Mehr als einige Male hatte er sich selbst dabei ertappt, wie er bewundernd ihre kräftigen Gestalten musterte, während er über das Geheimnis ihrer Existenz nachdachte. Hin und wieder hatte er sich ermahnen müssen, dass sie gar keine Frauen waren. Jetzt warteten sie wie alle Übrigen im Heer, bewaffnet mit Speeren, Bögen oder Schwertern. Es war so verdammt heiß. Er betete, dass er nicht zu schnell aufgebrochen war, dass das Warten in der drückenden Hitze 425 sein Heer nicht schwächen würde. Tatsächlich war es bereits mitten am Nachmittag, als Henrys Heer in Sicht kam und sich in Gefechtsposition aufstellte. Zwei gut geordnete Kontingente Fußsoldaten - das eine mit dem Überwurf der Löwen des Königs und das andere aus wendischen Soldaten aus Saony - flankierten eine gewaltige Reitertruppe, die unter dem Banner seines Vaters ritt, unter den vereinigten Wappen von Wendar und Varre. Das Banner mit der kaiserlichen Krone wehte herrlich über dem Rest, von einem Bannerträger hin und her geschwenkt. An Henrys äußerster linker und rechter Flanke standen abwechselnd Gruppen aus Reiterei und Fußsoldaten, die verschiedenen Edelleuten von Aosta gehörten. Es fehlte das Banner von Herzogin Liutgard von Fesse. Wichman hatte jedoch diese Streitmacht ein paar Stunden zuvor gesehen, und jetzt war sie verschwunden. Tatsächlich verließ Wichman die Mitte und ritt zurück, um ihn darüber zu informieren. Mit einem hämischen Grinsen auf dem Gesicht galoppierte er die Anhöhe hoch. »Habt Ihr's gesehen?«, rief er atemlos, kaum dass er in Hörweite des Prinzen war. »Diese Hexe will ihre Streitmacht bestimmt um unsere Flanke herumführen. Sie werden nach Norden in den Wald gehen und einen Bogen schlagen, um unsere Verteidigungslinie von Nordwesten aus anzugreifen, wo sie am dünnsten ist. Am besten schickt Ihr ihnen die Reserve entgegen.« »Meint Ihr?« Sanglant schüttelte den Kopf. »Henry wird abwarten, damit sie Zeit hat, ihren Plan auszuführen. Er wird sie zur gleichen Zeit angreifen lassen, da er Königin Adelheid das Zeichen gibt, einen Ausfall zu machen.« Schach, würde sein Vater auf jene zuversichtliche Weise sagen, die einen darin bestärkte, das Spiel in genau diesem Augenblick aufzugeben. »Nein, Wichman. Der nächste Schritt liegt bei mir. Wir werden unsere Linien nicht ausdünnen. Wir werden die426 se Schlacht gewinnen, bevor es Liutgard gelingt, einen Bogen um uns zu schlagen.« Wichman schnaubte. »Henry ist uns zahlenmäßig überlegen ! Allein mit all denen, die sich auf dem Feld befinden. Wer weiß, wie viele bei der Königin warten, um uns von hinten anzugreifen?« »Es geht nicht nur um die Frage der Anzahl. Wir haben geflügelte Reiter und Bwr und Greifen. Wir sind kühn, nicht vorsichtig.« Er stellte sich in den Steigbügeln auf, hob die Lanze und deutete auf das kaiserliche Banner, dann richtete er den Blick auf seinen Vetter. »Ich fordere Euch heraus! Wer von uns wird das Banner mit dem Zeichen der Sternenkrone ergreifen, Ihr oder ich?« Wichman lachte lauthals und fröhlich, dann wendete er das Pferd, ehe Sanglant noch etwas sagen konnte. »Seht nur«, rief Hathui. Ein Dutzend Reiter löste sich aus Henrys vorderster Reihe; sie trugen die Fahne mit dem Löwen, dem Adler und dem Drachen von Wendar. »Sie wollen verhandeln.« Sanglant nickte Chustaffus zu, der das Banner mit dem schwarzen Drachen einmal, zweimal, dreimal hochreckte. Sie ritten den Hügel hinunter und weiter zur vordersten Reihe des Heeres. Staub wirbelte unter den Pferdehufen auf. Als sie die wendischen Linien passierten, erklangen Jubelrufe, die erst versiegten, als er eine Geste machte und Chustaffus das Banner hob, um Ruhe zu gebieten. Sie standen am Ufer des Nebenflusses. Jenseits des in der Hitze geborstenen, steinigen Flussbetts warteten jene, die für den Kaiser sprachen. Er erkannte drei dieser edlen Höflinge, zwei Gerüstete und einen Geistlichen. Der Geistliche, ein Mitglied von Henrys Gelehrtenschule, ergriff das Wort. »Sanglant, Kaiser Henry, Euer Vater, bittet Euch, die Waffen niederzulegen und ihn zu umarmen, wie ein Sohn es tun sollte. Habt Ihr Gott und auch die Eltern auf427 gegeben? Wie könnt Ihr gegen den rebellieren, der Euch das Leben gegeben hat? Er weint und fragt sich, welcher Wahnsinn seinen geliebten Sohn befallen hat.« Alle litten unter der unbarmherzigen Sonne. Der Schweiß floss in Strömen. Resuelto zuckte mit den Ohren. Die Hitze würde sie austrocknen, lange bevor ihr Mut versiegte. Sanglant ritt vier Schritte vor und rief mit lauter Stimme, die so weit wie möglich zu hören sein sollte: »Erkennt die Wahrheit: Henry ist nicht er selbst. Jene, die sich seine Verbündeten nennen, haben sein Vertrauen missbraucht und ihm einen Daemon in den Körper gepflanzt, damit er sich ihren Befehlen entsprechend verhält und spricht. Wenn Ihr das nicht glaubt, dann fragt Euch, wieso Henry nicht nach Wendar zurückgekehrt ist, als seine Adler ihm die Nachricht von Unruhen im Norden überbracht haben. Er ist eine Marionette, die nach der Pfeife derjenigen tanzt, die ihn für ihre eigenen Ziele benutzen. Ich bin monatelang unterwegs gewesen und habe
einen weiten Weg zurückgelegt, um meinen Vater zu retten, nicht um gegen ihn zu kämpfen. Wird er mir gegenübertreten, damit ich ihm in die Augen sehen und mich davon überzeugen kann, dass er wirklich er selbst ist?« »Die Eltern richten sich nicht nach dem Kind! Ihr seid derjenige, der seinen Vater um Vergebung bitten muss, Prinz Sanglant!« »Das werde ich tun, wenn er frei ist!« Er wandte sich an Feldwebel Cobbo. »Blast zum Angriff.« Er drängte Resuelto mit den Fersen vorwärts. Drei scharfe Hornsignale ertönten, aber noch bevor das zweite verklungen war, befand sich Wichman an der Spitze des Angriffs bereits zur Hälfte jenseits des Flussbetts. Die Unterhändler waren über diesen Bruch der Etikette so überrascht, dass sie augenblicklich Hals über Kopf zu ihren eigenen Linien rasten. Ein Pferd stolperte, und der Geistliche stürzte zu Boden. Er rappelte sich auf und rannte weiter. 428 Resuelto stürmte das gegenüberliegende Ufer hoch, die Muskeln angespannt, die Ohren nach vorn gerichtet; hinter ihm preschte Sanglants Leibwache voran. Vor ihnen begann sich die Reiterei von Henry in Bewegung zu setzen; die Männer waren so schwer gerüstet, dass es schwierig war, schnell Geschwindigkeit zu erringen. Dann kamen sie in Keilformation heran, zuerst langsam, dann immer schneller. Eine Staubwolke wirbelte hinter ihnen auf, verdeckte die Sicht auf das Banner des Kaisers. Von links erklang das unheimliche Pfeifen der qumanischen Schwingen, als die geflügelten Reiter ebenfalls mit dem Angriff begannen. Die Reihen krachten gegeneinander. Sanglant lenkte Resuelto nach links und führte dann einen Stoß nach rechts, gegen die ungeschützte Seite eines wendischen Ritters. Mein Landsmann. Es war ein flüchtiger Gedanke, und er verschwand so rasch, wie er gekommen war. Er traf genau, und seine Lanze durchbohrte den Bauch des Mannes und trat im Rücken wieder aus. Sanglant versuchte, die Lanze mit einem Ruck herauszureißen, aber die Glieder des Kettenhemdes hielten sie fest, so dass sie ihm aus der Hand gerissen wurde. Jetzt verschluckte ihn der Lärm der um ihn herum beginnenden Schlacht wie eine Woge. Er zog sein Schwert. Die Spitze fuhr zischend am Schild entlang, als er es über den Kopf schwang, ein kleiner Kontrapunkt zu den Schreien der Männer und dem Wiehern der Pferde, jeder einzelne Laut eine Melodie des Jubels, der Überraschung oder des Todes. Er schlug um sich und bahnte sich so seinen Weg. Niemand hielt ihm stand. Tatsächlich schienen die armen Soldaten, denen er für wie kurz auch immer gegenüberstand, nicht erkennen zu können, wie gefährdet sie in diesem Staub und Chaos waren. Als würden sie sich eigens dort herumtreiben, um in ihrer Verwirrung niedergehauen zu werden. Er riss den Schild hoch und traf einen Mann im Gesicht, warf ihn aus dem Sattel, schlug gleichzeitig auf die 429 Hinterhand eines anderen Tieres ein, so dass es sich aufbäumte und zusammenbrach. Seine Augen brannten vom Staub und von der Hitze, während er sich auf der Suche nach Taillefers Krone den Weg durch die Massen von Reiterei freikämpfte. Ein Glitzern leuchtender Farben erregte seine Aufmerksamkeit: Es waren die Sterne in Taillefers Krone, die sich über dem Dunst erhob. Er hielt auf das Banner zu, wurde aber langsamer, als er eine Mauer von Fußsoldaten zwischen sich und seinem Ziel fand. Er drehte sich nach links, sah sich dort einer anderen Mauer aus unberittenen Löwen gegenüber, die sich gemessenen Schrittes näherten. Rechts von ihm glitzerten die Speere einer anderen Mauer aus Fußsoldaten. Zu spät begriff er, dass er seinen eigenen Soldaten weit vorausgeprescht war. »Haaaaaahh!« Der Ruf kam von hinten - Wichman, der in vollem Galopp auf die vordere Mauer zupreschte. Erst im letzten Augenblick sprang sein Pferd hoch. Etwa ein Dutzend Speerspitzen bohrten sich in den Bauch des Tieres, aber als es zusammensackte, öffnete sich eine riesige Lücke. Sanglant und ein Dutzend Soldaten stürmten durch diese Lücke, die sich weitete, als Männer niedergestreckt wurden oder die Formation verließen. Ein letztes Knäuel von Berittenen stand zwischen ihm und dem Banner des Kaisers, aber das Banner des Herrschers von Wendar und Varre war nirgendwo zu sehen, ebenso wenig wie Henry in seiner unverkennbaren Rüstung und dem weiß-goldenen Überwurf. Die Verteidiger kämpften tapfer, aber sie konnten Sanglant und seinen Männern nicht standhalten. Doch nicht nur sie wurden immer weniger, sondern auch Sanglants Leute, und noch während er sich dem kaiserlichen Banner näherte, formierten sich die Löwen neu und griffen von hinten an. Draußen im staubigen Dunst tauchten neue Gestalten auf, eine frische Gruppe von Reiterei, die jetzt angriff. Sanglant parierte einen Hieb, schlug im Vorbeipreschen ei430 nen Mann nieder. Als er sich jedoch zur Seite wandte, um das Schwert freizubekommen, bohrte sich ein Speer knapp neben seinem Oberschenkel tief in Resuelto. Der Wallach zuckte, kämpfte sich aber tapfer weiter vorwärts. Sie lösten sich langsam von dem Speer, als wäre es möglich, einem Hieb, der bereits erfolgt war, zu entkommen. Resuelto knickte immer mehr ein. Eine Fontäne aus Blut ergoss sich über Sanglants Bein, und er warf sich nach vorn, um nicht zermalmt zu werden. Er fiel über Resueltos Nacken, als das Pferd endgültig zusammenbrach. Blut strömte pochend aus seiner Flanke. Sanglant rutschte das Schwert aus der Hand. Eine zerbrochene Lanze rollte zwischen Resueltos Vorderbeinen hin und her, vielleicht dieselbe, die ihn getötet hatte.
Ein Reiter sprang über sie beide hinweg und setzte zum Hieb an. Sanglant duckte sich unter den zerbrochenen Überresten seines Schildes, packte dann sein Schwert und riss es kräftig nach oben. Er war sich nicht sicher, was er traf; Blut war ihm in die Augen gekommen, aber er taumelte zur Seite, als das Pferd zu Boden sackte. Der Reiter neigte sich nach vorn, und Sanglant erwischte ihn unter dem Arm, trieb das Schwert tief in seine ungeschützte Achselhöhle hinein. »Die Sternenkrone! Die Sternenkrone!« Der Schrei kam von den saonischen Soldaten, die um sie herum waren, aber seine Landsleute schienen zu zögern, einen der ihren niederzustrecken. Das kaiserliche Banner war gefallen und nirgends zu entdecken. Er sah niemanden von seinen eigenen Soldaten, nur eine Reihe unbekannter Überwürfe und scharfer Klingen. Er machte einen Satz nach vorn, schlug erst nach links und dann nach rechts, um sie nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Sein Schild war zerborsten, sein Körper von unbedeutenden Schnittwunden übersät, aber er kämpfte weiter. Schachmatt, würde sein Vater sagen. Er spürte es kommen, aber die Müdigkeit machte ihn lang43i samer. Er wirbelte herum, um zu parieren, aber zu spät. Die Spitze hatte sein Kettenhemd gleich unterhalb des Herzens berührt, war unausweichlich ihrer Bahn gefolgt, als sie wie durch Magie weggestoßen wurde und der Reiter, der die Waffe schwang, rücklings von seinem Pferd fiel. Die Spitze am Schaftende des kaiserlichen Banners hatte den Mann heruntergerissen, und diesen höchst edlen Speer hielt Wichman in den Händen, zerrte das riesige Banner und die leuchtende Sternenkrone in den Staub. Mit einem Lächeln und blutenden Lippen wirbelte er den Schaft in den Händen herum, so dass sich der Stoff vom Boden löste. »Ich bin Sieger!«, rief Wichman. Sie standen da wie in einem Strudel, für einen Moment abgeschnitten von dem Lärm und dem Ring, der sie umgab, gefangen in einem Netz aus Schweigen und Stille. Wichman lachte. Ja, er strahlte, leuchtete in diesem Augenblick seines Ruhms, und der Feind zerstreute sich und schrie, taumelte zurück, als hätte die Sonne selbst sich auf das Schlachtfeld begeben, so hell, dass Wichman die Augen gegen den unerwarteten Glanz beschatten musste und Sanglant einen Schritt zurücktrat, als die von ihren Flügeln verdrängte Luft ihn traf. Die Erde bebte, als die Greifen landeten. Ihre Federn glänzten sogar in dem wirbelnden Staub, der alles bedeckte, alle Kämpfer, alle Pferde, alle Waffen. Sie schlugen zu, stürzten sich auf die nächststehenden Männer wie Falken auf ein Nest junger Mäuse. Ihre Krallen und die Berührung ihrer Federn zerfetzten Fleisch und Metall. Von diesem Angriff völlig entmutigt, sanken viele Soldaten - oh Gott, seine eigenen Landsleute - auf die Knie und beteten, während andere die Waffen fallen ließen und wegrannten. Sanglant schob sein Schwert in die Scheide und schüttelte die Reste seines Schildes ab. 432 »Wichman! Folgt mir!« Er rannte zu Domina und sprang auf ihren Rücken, schwang ein Bein auf die andere Seite und schob sich zu ihren Schultern hoch. Seine Rüstung bewahrte ihn davor, förmlich zerfetzt zu werden, aber überall auf ihren Federn war Blut aus hundert kleinen Schnittwunden, und es köchelte, zischte und verdampfte, wo es ihr Gefieder berührte. Wichman rannte zu Silber, aber der erhob sich in die Lüfte, ehe er ihn erreichen konnte, und Domina stieß sich zur gleichen Zeit ab, zog die Beine hinter sich her, während sie sich bemühte, trotz des Gewichts auf ihrem Rücken an Höhe zu gewinnen. Die Flügel schleuderten ihm Staub ins Gesicht. Er verlor Wichman und das Banner aus den Augen, als die Greifin höher stieg, aber er hörte den Sohn der Herzogin fluchen, und er verlor fast den Halt, als sie schwankte, absackte und wieder an Höhe gewann. Pfeile jagten ihnen in den Himmel hinterher. Das Schlachtfeld unter ihm war das reinste Chaos, von so dichtem Staub bedeckt, dass er nicht hätte sagen können, wo seine Reihen endeten und Henrys Heer begann. Entlang der inneren Befestigung des Lagers war es ruhiger, aber Adelheids Leute schössen Brandpfeile in den Boden vor die Wagen. Kleine Feuer verbrannten das trockene Gras, schickten Rauchwolken gen Himmel, doch die Flammen bedrohten die Wagen nicht. Noch nicht. Etwas außerhalb der dichtesten Staubwolken wartete die Reserve auf ein Zeichen. Es war ein holpriger Ritt, nicht zu vergleichen mit dem auf einem Pferd und weit unbequemer. Nie zuvor in seinem Leben hatte er so viel Angst gehabt, und er fragte sich, ob er wohl hinunterfallen und sterben würde. Zwar konnte er die gesamte Szenerie unter sich überblicken, aber er stellte fest, dass er vor Furcht kein einziges Wort herausbekam und denen dort unten nichts zurufen konnte. Schließlich, als die Greifin über Fulk kreiste, der sich in der 433 Mitte der Nachhut befand, erhaschte Sanglant einen Blick auf Henrys Banner. Es hatte sich weit nach links bewegt, auf den Wald zu. Etwa zehn Hundertschaften Reiterei ritten mit seinem Vater, eine beträchtliche Streitmacht. Durch die vor Hitze flimmernde, staubige Luft sah er die erste Reihe von Liutgards Truppen langsam die bewaldete Klippe hinaufreiten und überqueren. Noch hatten sie die steileren Abhänge an der Westseite nicht erreicht. Es war ihm unmöglich, die Stärke ihrer Streitmacht abzuschätzen, denn sie wurde zum
Teil von den Bäumen verborgen. Oh Gott! Taillefers Banner war nur ein Täuschungsmanöver gewesen. Henry spielte diese Partie raffiniert und mit ganzer Willenskraft. Er würde sich niemals leicht ergreifen lassen, aber er hatte seinen eigenen Sohn zum Narren gehalten, einen Köder ausgeworfen und ihn gefangen. So sei es. Es blieb ihm jetzt nur eines übrig. Die Sonne neigte sich bereits rasch gen Westen. Die Nacht würde bald hereinbrechen, aber Henry würde nicht auf die Dämmerung warten, um seinen entscheidenden Zug zu tun. Die Greifin schrie eine Warnung und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Pferde bäumten sich auf, Soldaten duckten sich. Der Aufprall traf ihn so hart, dass er von ihrem Rücken rutschte und zu Boden stürzte. Kaum war er von ihr herunter, erhob sie sich mit peitschenden Schwingen wieder in die Luft. Fulk rannte zu ihm; er hatte den Helm abgenommen, und die Haare klebten ihm schweißnass und verdreckt am Kopf. Seine rechte Hand war blutig, und während Sanglant sich aufrappelte, drehte er sich um und winkte einem über und über mit Staub bedeckten Soldaten freudig zu. Es dauerte einen Augenblick, ehe Sanglant unter all dem Dreck Sibold erkannte. Der junge Soldat stieß einen Freudenschrei aus, als er den Prinzen sah, und hielt das schwarze Drachenbanner 434 hoch, das zerrissen und blutverschmiert war, aber nicht verloren. Jubellaute stiegen von den Verteidigern auf. Seine Soldaten drängten mit neuer Leidenschaft nach vorn. »Mein Prinz! Wir hatten Euch schon verloren geglaubt!«, rief Hathui weinend hinter Fulk. Sie reichte ihm ein Stück Stoff, damit er sich den Staub und das Blut aus den Augen wischen konnte. Seine Hände waren klebrig vom Blut. Er hatte Schnittverletzungen, wo immer das Kettenhemd seine Haut nicht geschützt hatte, und seine Kleidung war zerrissen und zerfetzt. Aber die Wunden waren oberflächlich, nur ein Ärgernis. Er bückte sich und hob vorsichtig zwei leuchtende Greifenfedern auf. Er schob sein Messer in den Stiefel und stieß die Federn in die Scheide, obwohl das Leder rissig zu werden begann, wo es von den Rändern aufgeschlitzt wurde. »Wie viele von meinen Männern sind zurückgekommen ?«, fragte er. Hathui trat zurück, um Fulk den Vortritt zu lassen. »Niemand, mein Prinz«, sagte der Hauptmann. »Nur Sibold, der dem toten Chustaffus das Banner aus der Hand genommen hat.« Er hatte keine Zeit zum Trauern. Später würde der Kummer ihn heimsuchen, aber jetzt musste er handeln. »Was gibt es sonst?« Blut befleckte überall um ihn herum den Boden. Sein Überwurf war zerfetzt. Malbert kam zu ihm und reichte ihm eine volle Weinhaut. Er nahm einen Schluck, wischte sich den Mund ab und spuckte aus, bevor er einen noch größeren Schluck nahm. »Die Männer weichen zurück, um die Belagerungslinie zu halten, wie wir es vereinbart hatten. Ich habe Edelmann Druthmar zu der Stelle geschickt, wo das Bachbett auf den Fluss trifft. Ein paar Gruppen leichter aostanischer Reiterei waren durchgebrochen und haben das Lager bedrängt. Eine Gruppe von Bwr hat das Zentrum unterstützt.« 435 Die große, kräftige Stute, die den Befehl über die Zentauren hatte, galoppierte zu ihm; mit ihrem cremefarbenen Fell und den schwarzblauen Haaren war sie schon aus der Ferne zu erkennen. »Prinz Sanglant.« Sie war vermutlich nicht nur wegen ihres Alters und ihrer Erfahrung in die Rolle des Hauptmanns geschlüpft, wie es bei den Stuten üblich war, dachte Sanglant, sondern auch, weil sie Ungrianisch sprach. »Wir hatten schon gedacht, wir hätten Euch verloren.« »Das habt Ihr nicht, Capi'ra, wie Ihr seht. Wie viele von Euch haben sich noch nicht in die Schlacht begeben?« Sie stampfte mit einem Huf auf. »Zwei Hundertschaften warten noch.« Sie deutete auf die Bwr-Reserve hinter den Staubwolken, die das Schlachtfeld darstellten. »Reitet mit mir zum Wald. Fulk, ich brauche ein neues Pferd. Wenn möglich Fest.« Der braune Wallach wurde in Reserve gehalten, und als er jetzt zu ihm gebracht wurde, beäugte ihn Capi'ra aus dem Augenwinkel. Wie alle Zentaurinnen hatte sie ungewöhnlich bewegliche, lange Ohren, die jetzt zuckten, aber er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. »Habt Ihr keinen Pura, den Ihr reiten könnt?« »Nein.« Er sagte es schärfer als beabsichtigt. »Wie lautet Euer Plan, Prinz?«, fragte Fulk. Er nahm einen letzten Schluck Wein. »Wir müssen unter allen Umständen die Stellung auf diesem Feld halten. Adelheids Streitkräfte werden auf ein verabredetes Zeichen hin angreifen, also seid wachsam. Ich glaube, sie werden warten, bis Liutgard uns von der Seite angreifen kann. Das wird die Entscheidung bringen. Im Augenblick befindet sich ihre Streitmacht noch im Wald. Wir müssen sie dort schlagen, bevor Henry zu ihnen gelangt. Ich brauche einen Schild.« »Eure Hoheit.« Hathui trat vor. »Wäre es nicht besser, wenn Ihr von der Nachhut aus befehlt? Wenn Ihr jemand anderen schicken würdet?« 436 Sanglants Stimmung veränderte sich, und er lachte. »Nein, Adler. Ich traue Fulk wegen seiner beständigen Art, und das ist genau das, was auf dem Schlachtfeld gebraucht wird. Wenn wir nicht schnell sind, werden wir umzingelt werden. Außerdem gibt es die Möglichkeit, dass ich meinem Vater im Wald begegne.«
Er nahm den Schild, den Malbert ihm brachte, und sobald Capi'ra ihre Zentaurinnen zu sich gerufen hatte, brachen sie auf. »Wir müssen Liutgards Streitkräfte rasch besiegen und dann kehrtmachen, um die Qumaner an der linken Flanke zu unterstützen«, sagte er. Die Zentaurinnen waren außergewöhnlich zäh, und die Hitze schien ihnen nicht so viel auszumachen wie ihm und Fest. Sie rasten am Westufer des Flusses entlang zur Klippe, betraten unterhalb der westlichen Hänge den Wald. Sobald sie sich unter dem Schatten spendenden Laubdach befanden, wurden sie langsamer. Jetzt war die heißeste Zeit des Nachmittags, und Sanglant wusste, dass ebenso viele Männer der Hitze zum Opfer fallen würden wie dem Feind. Sie waren ein gutes Stück in den Wald hineingeritten, als sie die ersten Kundschafter von Liutgards Truppen sichteten; auf dem Pfad dahinter und vor ihren Blicken verborgen befand sich die Hauptstreitmacht. Die Bwr unterhielten sich mit Schnauben und Stampfen; Sanglant verstand weder die Bedeutung des einen noch des anderen, aber sie bewegten sich weg, bildeten eine zweifach gestaffelte Reihe, die sich parallel zu dem Pfad durch den Wald wand. Jene in der zweiten Reihe hielten Bögen bereit, während die in der ersten Speere und Schilde trugen. Liutgards vordere Soldaten erkannten die Bedrohung zu spät. Capi'ra blies einen scharfen Ton auf einem Widderhorn, und ihre Zentaurinnen setzten sich in Bewegung. Die Bwr besaßen Hornbögen und schössen jetzt Pfeile ab, während sie 437 vorrückten. Sie waren erstaunlich wendig, wenn es darum ging, Zweigen und Ästen auszuweichen und über oder um Gebüsch herumzuspringen. Ihre Fähigkeiten mit dem Bogen wurden noch nicht einmal von den Qumanern übertroffen, deren berittene Bogenschützen berühmt und gefürchtet waren, und diese Fähigkeiten zahlten sich jetzt aus. Als er Liutgards Vorhut erreichte, waren die meisten Soldaten zu Boden gegangen, obwohl nur ein einziges Pferd getroffen worden war. Es gab niemanden mehr, mit dem man kämpfen konnte. Fest sprang über Leichen, als Sanglant den Zentaurinnen zurück zwischen die Bäume folgte; der Wallach hatte starke Nerven, aber es mangelte ihm an Fantasie, und so war er für diese Art von Gefecht sehr gut geeignet. Er hörte Liutgards Stimme - er konnte sie gar nicht überhören, denn sie waren am Hof zusammen aufgewachsen -, als sie ihren Leuten befahl, sich zum Angriff zu formieren. Aber als die Zentaurinnen erneut nach vorn stürmten, dabei ihre Pfeile abschössen, pfiffen und mit ihren hohen Stimmen riefen, rührten sich die Pferde der fessischen Soldaten nicht, als würden sie unter einem Bann stehen. Liutgard und ihre Soldaten saßen auf dem Pferderücken fest, unfähig, sich zu bewegen, und ein weiterer Pfeilhagel ging auf sie nieder. Panik brach unter ihren Männern aus, als die erste Reihe der Bwr sich mit gesenkten Speeren näherte. Sie trafen mit ohrenbetäubendem Lärm auf die Mitte von Liutgards Linie. Speere, die keine Soldaten trafen, blieben in Schilden stecken, und als die Zentaurinnen die Linie durchbrachen, dabei mit langen Messern nach rechts und links schlugen, begannen die Pferde zu bocken und auszukeilen. Reiter wurden auf den Boden geschleudert. Die Männer, die sich zu wehren versuchten, konnten sich weder halten noch einen guten Hieb austeilen, aber was ihnen am meisten Angst machte, war der Verrat ihrer Pferde. In alten Legenden hieß es, dass die Bwr mit den Pferden sprachen, und jetzt schien es, 438 als wäre es wahr. Liutgards Soldaten, die einer nach dem anderen vom Pferd geschleudert wurden, stürzten in panischer Flucht davon. »Hinterher!«, rief Sanglant, der die Verfolgung aufnahm. Die Zentaurinnen antworteten mit schrillen, unmenschlichen Rufen. Er drängte Fest weiter. Der Angriff musste rasch erfolgen - Liutgard durfte keine Zeit haben, ihre Leute neu zu formieren. Aber der Wald bot mehr Vorteile für Männer, die zu Fuß waren. Sanglant teilte nur ein paar Hiebe aus, verletzte einen Mann, bevor dieser und seine zwei Kameraden in ein dichtes Dornengebüsch sprangen und zwischen den Zweigen hindurch wegkrochen, so dass er ihnen nicht folgen konnte, ohne vom Pferd zu steigen. Einige Zentaurinnen verfolgten Männer durch den Wald, während andere die Gruppen der Soldaten aus Fesse, die sich im Unterholz versteckten, mit Pfeilen beschossen. Die Zentaurinnen umkreisten sie, zielten bei jedem Schuss sehr sorgfältig, suchten den besten Schusswinkel an einem Schild vorbei oder durch eine Lücke in den Zweigen. Sie waren nicht genug, um lange im Vorteil zu sein. Hinter der Kampflinie erklang ein Ruf. »Zu mir! Zu mir! Zurück zum Adler von Fesse!« Herzogin Liutgard - noch immer aufrecht auf ihrer schwarzen Stute, das Banner in der eigenen Hand - rief ihre Männer zu sich. Ein Schildwall wuchs um sie herum, als die vom Pferd geworfenen Männer ihre Furcht besiegten. Sanglant wusste, dass Liutgard und ihr Banner fallen mussten, um die Niederlage vollständig zu machen. Ein Wald aus Speeren bildete sich vor der Herzogin. Ein Dutzend Zentaurinnen gesellte sich zu ihm, und gemeinsam stießen sie in die rechte Flanke von Liutgards Soldaten. Er sah seine Kusine so deutlich wie sie ihn: Sie war eine stolze, erfahrene Kämpferin, die wusste, wie sie sich den veränderten Gegebenheiten eines Gefechts anpassen musste. Sie gab An439
Weisungen, befahl den Männern, Lücken zu schließen, oder zeigte ihren wenigen Bogenschützen Ziele. Es war offensichtlich, dass sie genau wusste, wo Sanglant war. Er griff an, allerdings nicht ihre Stellung, sondern eine Gruppe von Männern, die zu ihr stoßen wollten, versprengte sie und brachte zwei zu Fall, bevor er weiter auf den schwächsten Punkt in der Mauer aus Speeren und Schilden zuhielt. »Wir müssen sie kriegen! Jetzt!« Capi'ra ließ ihr Hörn erklingen. Weitere Zentaurinnen schlössen sich ihm an, stürmten zwischen den Bäumen hindurch nach vorn, während andere von den Flanken her angriffen. Er wäre fast vom Pferd gefallen, als er einen Moment zur Seite sah und mit dem Helm gegen einen Ast prallte. Er sackte zur Seite, klammerte sich an Fests Hals und zog sich wieder in den Sattel hoch. In dichter Formation waren die zu Fuß kämpfenden Männer gegenüber den Zentaurinnen im Vorteil, aber Capi'ra trieb ihre Leute weiter, und sie folgten dem Befehl, ohne zu zögern. Erjagte hinter ihnen her, während seine Ohren immer noch klingelten, und dort, wo der Zusammenprall stattfand, drängte er weiter vorwärts und versuchte, eine Bresche zu schlagen, um zu Liutgard zu gelangen, die sich ein paar Schritte weiter nach hinten auf den Pfad zurückgezogen hatte. Die Geräusche des Handgemenges klangen irgendwie gedämpft - Pfeile zischten durch Blätter, ein Mann ächzte, als er einen Speerstoß mit dem Schild abfing, ein Schrei ertönte, als eine Zentaurin getroffen wurde, Zweige brachen knackend, und trockenes Laub raschelte unter Stiefeln und Hufen, als Soldaten ihre Position veränderten oder fielen. Einige der Zentaurinnen lehnten sich zurück und nahmen gelassen ihr Ziel ins Visier, aber jetzt, da Liutgards Männer die Schilde hoben, war es schwieriger, durch deren Reihen zu kommen. Dieser langsame, zermürbende Tanz würde seiner 440 Sache nicht helfen. Er drängte Fest vorwärts und teilte nach beiden Seiten kräftige Hiebe aus. Männer wichen vor ihm zurück. Er wehrte Speerstöße mit dem Schild ab. Die Linie der Verteidiger schwankte, als sie mehr und mehr an Boden verloren. Liutgards Stimme übertönte den Lärm. »Sanglant! Gib deine Rebellion auf! Wirf die Waffen weg, dann wird dein Vater dir Gnade erweisen!« Er konnte nicht antworten. Er brach durch den Schildwall, und mit einem Dutzend oder mehr Zentaurinnen hinter sich galoppierte er den Pfad entlang auf Liutgard zu. Sie war leicht zu erkennen: Sie trug einen Überwurf in Weiß und Gold, den königlichen Farben, auch wenn sie ihr Banner für den Ritt durch den Wald eingerollt hatte. Sie hatte die Riemen ihres Helms gelockert und ihn nach hinten geschoben, um besser gehört zu werden. Als Sanglant näher kam, zog sie den Helm herunter und machte sich bereit. Fünf Männer standen zwischen ihm und der Herzogin, und er kämpfte wild, um zu ihr durchzukommen. Er schlug einem Axtkämpfer den Arm ab und stieß einen anderen mit dem Schild zur Seite, trat einem dritten ins Gesicht, der wieder aufzustehen versuchte, nachdem er von Fest umgerannt worden war. Er rückte näher, begegnete Liutgards trotzigem Blick. Sie ist meine Lieblingskusine. Der Gedanke verflog, und während er das tat, zögerte Sanglant. Dann schlug er zu, aber das Adlerbanner sank auf ihn nieder, noch ehe sein Hieb das Ziel fand, raubte ihm die Sicht und hüllte ihn ein. Sie hatte ihn gefangen. Seine Klinge traf klirrend auf ihre, als sie parierte, während sie die ganze Zeit das Banner gegen ihn drückte, damit er weder entkommen noch es zur Seite schlagen konnte. »Zur Herzogin!« »Packt ihn!« 441 »Für Fesse!« Ein Speer traf seine Brustplatte, drang aber nicht ein; ein Schwerthieb prallte von seiner Wadenschiene ab. Das Geheul der Zentaurinnen leitete ihn, als er in den Schaft des Banners schlug. Der Stoff fiel von ihm ab und sank zu Boden, und er konnte wieder sehen. Der Druck der Männer um ihn herum zwang ihn und diejenigen Zentaurinnen zum Rückzug, die gekommen waren, um ihn zu retten. Sie bildeten eine kleine Phalanx, und er rief andere herbei. Liutgard wich ihrerseits zurück. Ein Feldwebel hob das Banner am zerbrochenen Schaft auf und reckte es unter lautem Triumphgebrüll in die Höhe. Von der Klippe erklang dreimal ein Hornsignal. Sie muss-te nur lange genug aushalten, bis Henry bei ihr war. »Schießt auf sie!«, rief er den Zentaurinnen hinter sich zu. Wenn Bayan mit einem Pfeil in der Kehle sterben konnte, dann auch Liutgard. Fessische Pfeile trafen seinen Schild, und einer blieb zitternd stecken. Fest drehte sich um und stolperte, als ein Speer seinen Widerrist streifte. Zwei Zentaurinnen fielen; die anderen heulten auf. Zuerst wurde Liutgards Pferd verrückt, dann auch die Pferde der anderen. Sie konnte weder weglaufen noch kämpfen. Er näherte sich ihr. Ein Hörn erklang links von ihm. Aus dem Wald im Norden schwärmten weitere Männer heran, einige auf Pferderücken, andere zu Fuß. Sie trugen die Farben von Avaria. »Für Henry!«, riefen sie. »Mörder! Ihr habt unsere Herrin getötet! Verräter! Betrüger!« Zehn Atemzüge später würden sie bei ihm sein. Ein einziger Blick offenbarte ihm etwas, das ihm den Atem verschlug: Das da waren Wendilgards Männer.
Die Erbin von Avaria hatte ihn verraten. Er hatte keine andere Wahl, als sich zurückzuziehen, wenn er nicht die Reste seiner Streitmacht opfern wollte. Sie verlo442 ren drei Zentaurinnen beim Rückzug, aber da der Feind mit den eigenen Pferden zu kämpfen hatte und sie die Bäume als Deckung benutzten, waren sie in der Lage, erst einmal außer Schussweite zu kommen. Dort fand er Capi'ra, die aus einem Dutzend oberflächlicher Wunden blutete. Er hielt den Atem an, während sie ihre Streitkräfte zusammenrief. Seine Lippen waren aufgesprungen, sein Nacken und Rücken schweißnass. Die Verfolger waren dicht hinter ihnen; sie mussten weiter, und zwar rasch. Er musste entscheiden, was sie tun sollten. Wenn er auch nur einen Augenblick innehielt, um darüber nachzudenken, dass er fast seine eigene Verwandte getötet hätte, würde er alles verlieren. »Nicht schlimmer, als ich es erwartet hatte«, sagte Capi'ra mit solch fester und gleichgültiger Stimme, dass ihre Ruhe ihn wie ein Schlag ins Gesicht traf. »Nicht mehr als zwanzig Tote. Aber wir können es mit einer derart großen Streitmacht nicht aufnehmen, auch wenn sie so ungeordnet ist wie hier im Wald.« »Nein«, pflichtete er ihr bei. Die Wahrheit schmerzte, aber er musste sich ihr stellen. »Nein, das können wir nicht. Henry rückt näher. Wendilgard marschiert gegen uns. Adelheid wird uns von hinten angreifen. Wir müssen mit dem gesamten Heer nach Nordwesten in den Wald zurückweichen, bevor wir umzingelt werden. Wir haben die Schlacht verloren.« X Schlimmeres steht bevor
1 In der Dämmerung trat Starkhand zur Steinkrone von Alba und starrte über das Moor. Nicht nur der Horizont rings um ihn herum, sondern auch der größte Teil des flachen Wassers und die halb überfluteten Hügel lagen hinter einer dichten Dunstschicht verborgen, die das ganze Land einhüllte. Der Himmel direkt über ihm war jedoch klar, beinahe weiß. Die Sonne glitt in die Dunstschicht und versank darin. Schon bald würden die Sterne herauskommen. Er herrschte über die Aikha und über die Menschen; seine Schiffe durchstreiften die Meere und schlugen nach Belieben an der Küste zu. Das gesamte Land der Aikha unterstand seiner Herrschaft, und auch der größte Teil von Alba hatte sich ihm ergeben und stand hinter ihm. Aber wenn AltMutter befahl, musste er gehorchen. Vor drei Tagen war er in Alba angekommen. Der Gedanke an Alain schmerzte unablässig, aber er hatte eine Aufgabe erhalten, die er erfüllen musste. »Vater Reginar«, begrüßte er den jungen Kirchenmann, der nervös und besorgt mit fünf anderen Geistlichen bei der Steinkrone wartete. 444 »Prinz Starkhand.« Reginar war jung, unreif und hochmütig; er war unfähig, seine Verachtung zu verbergen, aber er war kein Narr. Starkhands Soldaten schützten ihn vor jenen, die sich in die Beschwörung einmischen mochten, die er und seine Kameraden in dieser Nacht weben würden. Aus diesem Grund duldete Reginar die Aikha. Starkhand bleckte die Zähne, bemerkte, wie die Geistlichen zusammenzuckten und einen Schritt zurückwichen. Die Sonne ging unter, und die ersten Sterne erblühten am Himmelszelt. Weit im Osten zuckte ein Blitz über den Himmel, aber er war zu weit weg, als dass sie den Donner hätten hören können. »Ich bitte Euch«, sagte Reginars Kameradin, eine Frau mit einem kurzen Stab in der Hand. »Wenn Ihr gestattet, mein Herr, würden wir jetzt gerne beginnen.« Er nickte und zog sich zehn Schritte den Hang hinab zurück. Dort blieb er stehen, verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während die Frau ihren Platz im Webkreis einnahm. Drei seiner Brüder traten zu ihm, so still wie Nebel. Ursuline wartete im Lager weiter unten und leitete die Abendandacht. Er hörte, wie viele Stimmen gemeinsam eine Hymne anstimmten. Einige von diesen Stimmen gehörten den FelsenKindern. Also gut. Jetzt würde es beginnen. Das Bündnis, das die WeisMütter geschlossen hatten, würde sich als weise oder als dumm herausstellen. Was auch passierte, die Welt würde sich verändern, so wie er sich bereits verändert hatte. Es gab kein Zurück. Bei Anbruch des Abends schlugen die Heere von Edelfrau Eudokia und König Geza in der geschützten Senke eines Hanges der dalmiakanischen Berge ihr Lager auf. Wegen der Dürre, unter der ganz Dalmiaka litt, gab es für die Gefangenen kein Wasser; stattdessen wurde lediglich eine einzige Flasche 445 mit Essigwein herumgereicht, von der jeder nur ein paar Schlucke trinken konnte. Zu essen erhielten sie gar nichts, nicht einmal ein trockenes Stück Brot.
Hanna hatte fürchterlichen Durst, und ihr Kopf schmerzte vor Hunger und von der unerbittlichen Hitze. Mutter Obligatia hielt die Hand über die Augen, sie war blass und atmete flach, während Schwester Diocletia ihr mit einem Zipfel ihres Gewandes den Schweiß vom Gesicht wischte. Rosvita stand neben Fortunatus, legte ihre Hand auf seinen Ellbogen und starrte nach Süden zum dunkler werdenden Himmel. Die anderen versammelten sich totenstill hinter ihnen. Es gab keinerlei Wolken, nicht eine einzige. Die Luft war so drückend, dass sie in einem unnatürlichen, grünen Farbton zu schimmern schien. Die Beschaffenheit des Geländes gestattete ihnen einen wunderbaren Blick über ein Plateau hinweg nach Süden. Dort befand sich das Meer, auch wenn sie es nicht sehen konnten. Ein gewaltiger Sturm tobte am südlichen Himmel, Blitze zuckten immer wieder auf, breiteten sich krachend zur Seite hin aus oder fuhren nach unten in die Erde. Donner grollte in der Ferne. Ein Netz aus Licht funkelte und schimmerte am Himmel, während Blitze darum herumtanzten. »Wir sind zu spät gekommen«, sagte Rosvita. »Wir haben versagt.« Hanna weinte. Die Menschen entlang der Küstenebene von Aosta nordöstlich von Darre waren durch die schrecklichen Omen verängstigt, die sie in den letzten Wochen und Monaten immer stärker bedrängt hatten, aber sie begrüßten die Ankunft der freundlichen alten Frau, die das schlichte Gewand einer Diakonissin trug und von zwei demütigen Brüdern begleitet wurde. Sie begriffen nicht, dass sie sich mit einer Beschwörung umgeben hatte, die die Blicke der Menschen von ihr ab446 lenkte und sie als unauffällig darstellte, solange sie ihre Aufmerksamkeit nicht erringen wollte. Sie sahen auch nicht, dass die Brüder Schwerter unter ihren Gewändern trugen. Sie gaben ihr und ihrer Eskorte zu essen, kümmerten sich um ihre Pferde und überließen ihr das beste Bett zum Schlafen, und am Morgen schickten sie sie mit Brot und Käse für ihr Mittagsmahl weiter auf den Weg nach Darre. Es fiel ihr oft schwer zu schlafen. Das Amulett erzeugte Blasen auf ihrer Haut, und gerade an diesem Abend brannte es so heftig, dass sie schließlich das weiche Federbett ihrer Gastgeber verlassen musste und nach draußen ging, in der Hoffnung, dass der Nachtwind ihr etwas Kühlung verschaffen würde. Obwohl die Haut da, wo das Amulett sie berührte, rot war, hatte sich an diesem Abend nur eine einzige Blase gebildet, wie der Stich einer Mücke. Also nichts, worüber sie sich hätte Sorgen machen müssen. Sie musste nur wachsam bleiben. Ihre Geistlichen hatten vor langer Zeit unter ihrer Leitung Amulette angefertigt, um Sabellas Heer vor dem versteinernden Blick des Guivre zu schützen, und die Soldaten hatten schreckliche Lepra bekommen. In Verna hatte sie deutlich höher entwickelte und vorsichtigere Mittel der Beschwörung und Zauberei kennen gelernt, also waren die Geistlichen, die ihr damals geholfen hatten, vermutlich nicht rechtschaffen genug gewesen, um der zerstörerischen Wirkung des geheimen Kerns der Beschwörung standzuhalten. Zweifellos hatten sie bekommen, was sie verdient hatten. Auch draußen fand sie keine Erleichterung, denn es war immer noch windstill und schrecklich heiß. Sie stand im Hof zwischen der behelfsmäßigen Tür und dem Gartentor und starrte zum Himmel hinauf. Ihre Wachen krochen aus dem Stall, wischten sich den Schweiß von der Stirn, und nach einer Weile erhob sich jede einzelne Seele in diesem kleinen Weiler - zwanzig etwa, die Hälfte davon Kinder - von ihrem Lager und stellte sich auf den staubigen Weg, starrte zu den 447 unheimlichen Lichtern hoch, die um die Sterne spielten, und zu den Blitzen, die unablässig über einen wolkenlosen Himmel zuckten. Die Dorfbewohner weinten vor Furcht. Sogar ihre treuen Soldaten, die sie wegen ihrer Standhaftigkeit und Loyalität gegenüber Adelheid und ihren Töchtern ausgesucht hatte, wurden immer kleiner, während sie zusahen. Antonia fürchtete sich nicht vor Gottes Missfallen. Sie begrüßte es. Sie würde den kommenden Sturm überstehen. Sie würde über den kärglichen Rest herrschen, und alles würde gut sein. Die Straße, der Ivar und Erkanwulf folgten, verlief geradewegs nach Westen durch den Bretwald, einen riesigen, sehr alten Wald im westlichen Saony nahe der Grenze zwischen Wendar und Varre. Den ganzen Tag über zogen sich die Wolken zusammen, und der Himmel wurde schwarz, als ein Sturm aufzog. Als es dämmerte, prasselte der Regen so heftig herab, dass Blätter von den Bäumen gerissen wurden und sich Rinnsale auf dem Boden bildeten. Sie waren mitten im Wald auf einem Pfad, ritten in großer Eile dahin, wurden vom Einbruch der Nacht überrascht und waren jetzt völlig durchnässt. »Wir sollten besser irgendwo Unterschlupf suchen«, sagte Ivar. Er stieg ab und packte das Zaumzeug seiner nervösen Stute dicht am Maul, versuchte sie zu beruhigen, aber der Sturm schien die ganze Welt zu erschüttern. »Glaubst du, wir werden die Nacht überleben?« Erkanwulf s Stimme bebte. »Komm schon!« Angst machte Ivar wütend. »Ich habe mehr als das hier überlebt! Wir werden zu Bischof in Constanze zurückkehren. Prinzessin Theophanu hat es uns aufgetragen, und wir dürfen sie nicht enttäuschen.« »Sie hat uns aufgetragen, eine Botschaft zu überbringen, 448 aber sie schickt weder Hilfe noch einen Ratschlag! Und wie willst du in Königinnengruft reinkommen, wenn du als Leiche von dort weggeschafft worden bist?« »Wir werden sie nicht enttäuschen«, wiederholte Ivar störrisch, obwohl er nicht sicher war, ob es stimmte.
Der Regen tat weh, als er auf sie eintrommelte, und er schien auch nicht schwächer zu werden. So etwas hatte er noch nie erlebt. Es war, als hätte sich der Regen aller Länder um sie herum genau über dieser Stelle gesammelt und wollte sie nun ertränken. Sie zogen ihre Pferde unter die ausladenden Zweige einer alten Eiche. Eicheln krachten auf den Boden und trafen sie am Kopf. Der Regen durchnässte sie. Die Pferde zerrten an den Zügeln. Wasser strömte um ihre Füße herum, und schon bald hatte sich der Pfad in einen schlammigen, unpassierbaren Bach verwandelt, sprudelnd und stürmisch. »Sieh nur!«, rief Erkanwulf. »Sieh da!« Lichter hüpften im Wald auf und ab, verwoben sich ineinander. Erkanwulf machte einen Schritt auf sie zu und rief, aber Ivar packte ihn am Umhang und riss ihn zurück. »Still, du Idiot. In diesem Regen kann kein natürliches Feuer überstehen! Erinnerst du dich nicht mehr daran, wer uns schon einmal überfallen hat?« »Oh Gott! Die Verlorenen! Wir sind verdammt.« »Still jetzt. Still.« Die Lichter kamen in ihre Richtung. Nach einer Niederlage war Disziplin besonders wichtig. Sanglant gestattete sich ein grimmiges, zufriedenes Lächeln, als er mit dem, was von seinem Heer noch übrig war, den Waldrand erreichte - genau zu dem Zeitpunkt, da die Dämmerung schützend ihre Schwingen über sie ausbreitete. Seine Leute waren nicht in wilder Flucht davongelaufen. Als das Zeichen zum Rückzug erklungen war, hatten sie sich in 449 geordneter Formation und ohne Panik zurückgezogen. Jetzt würde die Nacht ihnen helfen und Henry behindern. So hoffte er. Er hatte sich entschieden, bei der Nachhut zu bleiben, und es Fulk überlassen, das geschlagene Heer an der Seite von Capi'ra und ihren Zentaurinnen nach Nordwesten zu führen. Die qumanischen Clans, Waltharias schwere Reiterei, die Ungrianer, die Markländer und seine wendischen Freischärler und Reiter folgten Fulk und Capi'ra. Er hielt Schild und Schwert in der Hand, saß auf dem kräftigen Fest und hatte seine Leibgarde um sich. Lediglich eine dicht geschlossene Formation aus Villams Fußsoldaten und den Bogenschützen aus den Marklanden, die unter dem Befehl von Lewenhardt standen, trennte sie von Henrys Heer - und die Greifen. Obwohl er nicht wirklich mit den Greifen sprechen konnte, spürten sie seine Not. Während des gesamten Rückzugs durch das offene Gelände waren sie an der letzten Reihe entlanggeflogen, brüllten und schrien immer dann, wenn Henrys Heer ihnen zu nahe kam. Ein- oder zweimal stürzten sie sich nach unten, aber die Speere und Schwerter setzten ihnen mächtig zu, und sie mochten es nicht, ihnen zu nahe zu kommen. Nicht einmal Eisenfedern konnten gegenüber Stahl bestehen, wenn auch nur wenige Pfeile genug Kraft hatten, ihre Haut zu durchdringen. Hathui ritt neben ihm, trotz der Gefahr durch Pfeile oder den einen oder anderen Speer, die aus der vordersten Reihe von Henrys Heer angeflogen kamen. Sanglant konnte Henrys Banner nicht sehen, aber er erkannte Henrys Anwesenheit in jedem Schritt, den sie sich zurückzogen, in jedem toten Soldaten, den er zurücklassen musste. »Er bedrängt uns nicht so sehr, wie er es tun könnte«, bemerkte er. Es kam Bewegung auf, als die Fußsoldaten ihre Formation änderten, um das offene Gelände zu verlassen und den Wald 45° zu betreten. Ein Mann in der letzten Reihe sackte vornüber auf die Knie, als eine Hellebarde sich in seinem Schild verhakte und ihn nach hinten riss. Ein Axthieb fällte ihn, aber seine Kameraden sprangen mit lautem Schrei vor, um ihn in Sicherheit zu zerren. Einen Augenblick später wurde der verletzte Mann an Sanglant und seiner berittenen Leibgarde vorbei zu den Wagen geschafft, die in quälend langsamem Tempo die schmale Straße durch den Wald entlangkrochen. Zwei Tage zuvor waren sie Adelheids Heer durch offeneres Gelände südlich des Waldes gefolgt, aber die Gegebenheiten auf der schmalen Küstenebene hätten Henrys überlegenen Streitkräften zu viele Vorteile verschafft. Der Wald bot Schutz, aber er barg auch ganz eigene Gefahren. Sanglant kannte diese Straße; es war diejenige, die Wendilgard gestern benutzt hatte, als sie mit ihren Soldaten den Rückmarsch angetreten hatte. Seine Unterhaltung mit ihr und seine Begegnung mit dem Schattenprinz schienen Jahre zurückzuliegen. Eine Ewigkeit war verstrichen, seit sie ihm den Rücken gekehrt hatte. Wenn er gewusst hätte, dass sie ihr Wort brechen und ihn von hinten angreifen würde, hätte er sie dann erschlagen, als er die Möglichkeit dazu gehabt hatte? Konnte er seine eigenen Verwandten töten? Hatte sein Zögern, als er seiner Kusine Liutgard gegenübergestanden hatte, sein Schicksal besiegelt? Zweifel würden sich als tödlich erweisen. Über all dies konnte er später nachdenken. Im Augenblick, da Feldwebel Cobbo mit einer Fackel neben ihm herging und er unablässig das Stampfen von Schritten und das Gemurmel von Männern hörte, die ihre Positionen durch Zurufe überprüften, gab es etwas anderes, worüber er nachdenken musste. »Es war von Anfang an eine Falle«, sagte Hathui. »Mein Vater hat seinen Sinn für strategische Fähigkeiten nicht verloren.« Eine Aussage, die ihm zu denken gab. Wenn Henry ihn im
451 Schach immer noch schlagen konnte, bedeutete dies, dass er seinen eigenen Verstand zurückerhalten hatte? Hatte Hathui sich bei dem, was sie im Palast von Darre gesehen hatte, etwa getäuscht? Nein. Er glaubte Hathui. Sie war ein Adler, dazu ausgebildet, zu sehen und zu berichten. Der Wald behinderte die Greifen, und mit einem schrillen Schrei schwangen sie sich in die Lüfte. Der Wind ihrer Flügel ließ ein paar Männer zu Boden gehen. Die letzte Reihe kam rasch herbei und sammelte sich, während Sanglant unter den ersten Bäumen am Waldrand darauf wartete, dass sie unter dem Laubdach verschwanden. Auf Hathuis Drängen folgte er hinter dem letzten Wagen, wo die frisch verwundeten Männer neben einem halben Dutzend verletzter Kameraden stöhnten und ächzten. Die Soldaten, die ihre Kameraden in Sicherheit gebracht hatten, blieben vor dem Prinzen stehen. »Mein Prinz!« »Eure Hoheit!« Er gab ihnen allen einen Segen, und sie eilten zurück an ihren Platz bei der Nachhut. Es kam ihm in diesem Zwielicht seltsam vor, dass Männer bereit waren, für die Ehre oder die Ziele eines anderen Mannes zu sterben, aber gleichzeitig unter den seltsamsten Umständen ums Überleben kämpfen würden, selbst in den Klauen der grässlichsten Katastrophe. Ein Ertrinkender, der sich bemühte, an der Wasseroberfläche zu bleiben, mochte sich ohne einen Augenblick nachzudenken opfern, damit ein Kamerad in Sicherheit gelangen konnte. Eine Mutter konnte mit eisernem Willen über viele Wochen und Monate hinweg hungern, nur um das bisschen Essen, das sie gerettet hatte, ihrem Kind zu geben. Gott hatten aus den Herzen der Menschen etwas Geheimnisvolles gemacht, das oftmals sogar ihnen selbst verborgen blieb. Sterne glitzerten über ihnen, waren als Flickwerk zwischen dem Eichenlaub zu sehen. Der Mond stand hoch am 452 Himmel, aber er war nicht hell genug, um ihnen viel Licht zu spenden. Weit im Osten, jenseits der dunklen Umrisse der Hochlande, flackerte der Himmel hell auf, wurde dann dunkel. Obwohl er sich anstrengte, konnte er keinen Donner hören. Hier im Wald mussten sie zwischen die Bäume ausschwärmen, um die Wagen zu beschützen. Die Pferde hatten es auf der Straße leichter, aber sie kamen ohnehin nur langsam voran. Ringsum hörte er Zweige knacken, Laub unter den Stiefeln rascheln und Männer fluchen, wenn sie ausrutschten oder von einem Zweig im Gesicht getroffen wurden, den ein anderer vor ihnen losgelassen hatte. Pferdegeschirre klirrten. Pferde wieherten. Der Hund eines Mannes jaulte. Einmal hörte er die Greifen rufen, aber er hatte sie aus dem Blick verloren. Hin und wieder zischte ein Pfeil aus der Dunkelheit heran. Fackeln brannten überall entlang ihres Weges, entfacht von den Männern zu Fuß, die den Reitern leuchteten. Diese Lichter brannten vor und beiderseits von ihnen, markierten so die Grenzen seines Heeres, während hinter ihnen die Feinde ebenfalls Fackeln hervorholten. Der ganze Wald schien von Glühwürmchen zu wimmeln. Tatsächlich boten sie ein leichtes Ziel, aber obwohl Henrys Streitkräfte sie verfolgten, entschied sich der König der Kaiser - nicht zu einem alles entscheidenden Angriff. Auch Henry wurde durch die Dunkelheit behindert. »Er zögert«, sagte Sanglant zu Hathui. »Er wartet. Worauf?« »Wir stecken tief in feindlichem Gebiet, ohne jede Hoffnung auf Unterstützung. Wieso sollte er das Risiko eingehen, mehr Männer als notwendig zu verlieren, wenn er uns einfach der Reihe nach auflesen kann ? Außerdem nehme ich an, dass seine Männer Angst vor den Greifen haben.« »Was auch so sein sollte. Aber die Greifen können uns jetzt nicht helfen.« 453 Blitze verwandelten den Himmel in ein schauderhaftes Grauweiß. Die Silhouetten der Bäume zeichneten sich kurz ab und verschwanden dann wieder. In der Ferne grollte der Donner und verklang. Seine Ohren fühlten sich so voll an, als würden sie jeden Augenblick platzen. Ein Pfeil zischte vorbei und bohrte sich in den Wagen vor ihnen. Irgendwo im Wald schrie ein Mann gellend auf, als er getroffen wurde. Sie hielten ihre Position, während sie sich weiterschleppten. Das Blitzgewitter flackerte auf und verklang dröhnend gen Osten, während sie die Formation beibehielten, die Reihen sich nicht auflösten. Sie hatten bei weitem zu viele Männer auf dem Schlachtfeld verloren, aber er traute sich noch nicht, die Toten zu zählen oder ihre Namen zu nennen. Sie hatten sich über ihre eigenen Toten hinweg zurückgezogen, aber sie hatten keinen Verletzten zurückgelassen, der noch irgendwie mitgeschleppt werden konnte. Doch die Hitze hatte sie ausgetrocknet, und sie hatten mehr Pferde verloren als Männer. Die Hälfte ihrer Vorräte war verloren. Aber obwohl sie nur langsam gingen und den Segen der Nacht genossen, würden sie nicht mehr lange durchhalten. Er schwitzte noch immer; die Luft hatte sich auch in der Nacht nicht abgekühlt, sondern wurde dicker und feuchter, so dass es schließlich schwierig wurde, überhaupt noch zu atmen. Der Himmel erhellte sich jetzt so sehr, dass er geblendet wurde. Donner grollte über ihnen, eine Woge nach der anderen. Ein Blitz fuhr zuckend über den Himmel, blieb fast eine Ewigkeit in der Schwärze hängen und brannte sich in seinen Blick, so dass er ihn selbst dann, als er verblasst war, immer noch vor dem Sternenhimmel sah, wie eine sich windende Straße, auf der die Engel zur Erde hinabstiegen und die Seelen der jüngst Verstorbenen einsammelten. Es gab so viele Tote. »Prinz Sanglant!« Ein Mann tauchte aus der Dunkelheit auf, zusammen mit einem Kameraden, der sich auf ihn
stütz 454 te. Ein Pfeil steckte in seinem Oberschenkel. »Terrence kann nicht mehr gehen, aber auf dem Wagen ist kein Platz mehr.« Sanglant stieg ab und brach den Schaft knapp über dem Bein ab. Der Mann biss die Zähne zusammen, aber er gab keinen Laut von sich. »Setz ihn aufs Pferd«, sagte er. »Mein Prinz!«, rief Hathui. Malbert und Sibold protestierten. »Reitet auf unseren Pferden, Prinz Sanglant. Wir werden zu Fuß gehen.« »Macht, dass ihr weiterkommt«, erwiderte er. »Ich bleibe bei der Nachhut. Entweder wir schaffen es alle oder keiner.« Er hatte die Gebeine seiner Drachen auf dem Pflaster der Kathedrale von Gent gesehen. Er wollte nicht als Letzter am Leben bleiben, nicht noch einmal. Kein Wunder, dass der Segen seiner Mutter in Wahrheit ein Fluch war. Zu überleben mochte eine schlimmere Strafe sein als zu sterben. Wie viele Leute hatte er in den Tod geführt, während er am Leben geblieben war? Ein Windstoß rüttelte an den Bäumen, und Blätter und Zweige regneten herab. Als die Reihe weiterging, schloss er sich den Letzten an. Eine Speerwurfweite hinter ihm flackerten die Fackeln in den Händen von Henrys Soldaten, aber die Männer sprachen nicht, sondern folgten ihnen nur. Ein Pfeil zischte aus der Nacht heran und traf seinen Schild, blieb neben dem Stumpf eines Pfeiles stecken, den einer von Liutgards Bogenschützen früher an diesem Tag abgeschossen hatte. Lewenhardt trat hinter ihn, zielte und schoss. Sein Pfeil zischte durchs Gebüsch. Er hörte Gelächter, gefolgt von der Stimme eines Hauptmanns, der zur Zurückhaltung aufforderte. »Hört auf damit«, sagte er ruhig zu Lewenhardt. »Hebt die Pfeile fürs Tageslicht auf.« »Ja, mein Prinz.« Der Bogenschütze blieb hinter ihm, unwillig wegzugehen, und auch Sibold kam herbei; er hatte sein Pferd einem anderen Mann gegeben. Abgesehen von einem Dutzend Männern 455 bei Hauptmann Fulk waren sie die Einzigen, die von seiner Leibgarde noch übrig waren. Blitze zuckten, beleuchteten die lange Reihe von Männern, die ihnen folgten. Einhundert oder mehr waren in Sichtweite, aber der Lärm zeugte von Tausenden, die nicht zu sehen waren. Sie verschwanden wieder, als die Dunkelheit zurückkehrte, schrumpften zu nichts weiter zusammen als dem Feuerschein ihrer Fackeln. Lewenhardt pfiff leise. »Ich hätte nie gedacht, dass es so viele sein würden.« Keiner schwankte. Keiner verließ die Reihe oder weinte vor Angst. Sie waren gute Soldaten, die besten. Es war ein Fluch, Männer in den Tod zu führen. Er verstand das nur zu gut. Er hatte es so viele Male getan. »Diesmal nicht«, murmelte er. Wut packte ihn, pochte in ihm wie die drückende Luft. Diesmal nicht. Er hatte vielleicht diese Schlacht verloren und bei weitem zu viele Männer und Pferde, aber er würde nicht sein Heer verlieren, was immer er tun musste, um es zu retten. Von Norden her, von der Vorhut, hörte er einen Schrei. Ein Hornsignal erklang, ein Warnruf. Hatte Henry Männer durch den Wald geschickt, um sie einzukreisen? Wendilgard und ihr Banner waren nicht zu sehen, obwohl ein Teil ihrer Streitmacht die Männer aus Fesse unterstützt hatte. Hielt sie noch immer die alte verfallene Festung ein Stück weiter nördlich? War sein Heer dabei, sich in eine weitere Falle zurückzuziehen? »Sibold. Lewenhardt. Haltet diese Reihe dicht geschlossen, was immer auch passiert. Zieht Euch langsam weiter zurück, bis ihr von mir hört. Hathui! Feldwebel Cobbo! Ihr begleitet mich!« Den verwundeten Terrence setzte er hinter den Soldaten, der jetzt auf Sibolds Pferd ritt. Er führte Fest an den Zügeln und lief die Reihe entlang, während der Feldwebel ihm den Weg leuchtete. Es war schwierig voranzukommen. Häufig 456 war kaum Platz zwischen den Wagen und den Bäumen, und manchmal musste er ungeduldig warten, bis ein Wagen an einer Lücke vorbei war, bevor er selbst hindurchkonnte. Andere Male bahnte er sich den Weg durchs Unterholz, obwohl Fest die Dunkelheit und das Gelände nicht mochte. Er kam an Wagen vorbei, an Fußsoldaten aus den Marklanden mit Speeren auf den Schultern und grimmigen, staubverschmierten Gesichtern, an einer ruhigen Gruppe von Ungrianern, die mit gesenkten Köpfen gingen. Schließlich sah er die Schwingen der Qumaner, die für die Enge des Waldes nicht geeignet waren. »Prinz Sanglant!« Gyasi ritt an der Spitze seiner Männer. »Ich rieche, dass eine mächtige Beschwörung Gestalt annimmt. Wir müssen Schutz suchen.« Die Himmel entflammten weiß und hell, aber nach einem Augenblinzeln war es wieder dunkel. Donner krachte über ihnen. Ein Netz von Lichtern funkelte hoch am Himmel, bevor es in Funken und Fetzen zerbarst. Rufe waren vor ihm auf der Straße zu hören, fanden einen Widerhall in dem plötzlichen Klirren eines Gefechts bei der Nachhut. Blitze zuckten. Donner grollte. Es war immer noch keine Wolke zu sehen. Die Sterne wirkten so nah, dass er dachte, er könnte sie mit den Händen vom Himmel holen, pulsierten im gleichen Rhythmus wie sein Herzschlag. Es kommt etwas. Er lief, ließ Fests Zügel los und achtete nicht auf den Adler und den Feldwebel, die hinter ihm zurückblieben. Er taumelte, stolperte einmal und stürzte schwer. Der Aufprall zuckte durch seine Schulter. Eine der Beinschienen
hatte sich durch einen Schwerthieb gelöst und zwickte jetzt in der Kniekehle. Er zog das Messer und durchtrennte die Riemen, sprang auf und lief weiter. Wenn Wendilgard da vorne war, würde er sie ihres Verrats wegen umbringen. Keine Gnade, keine Möglichkeit, sich freizukaufen. 457 Blitze flackerten wieder und wieder, und in jedem einzelnen sah er die hageren, erschöpften Gesichter seiner Männer. Dennoch marschierten sie entschlossen einem Schicksal entgegen, das sie nicht kannten. Sie vertrauten fest darauf, dass er sie zum Sieg oder in einen Unterschlupf führen würde. Weiter vorn im Wald leuchtete ein unheimlicher Pfad, der - wie er jetzt sah - den Weg kreuzte. Wenn man dem Weg, auf dem sie sich jetzt befanden, noch ein Stück weiter folgte, kam man genau dahin, wo Wendilgard gestern ihr Lager aufgeschlagen hatte. Nicht allzu weit davon entfernt - irgendwo in der Nähe, wohin er sich aufgrund seiner Wut und seiner Zweifel verirrt hatte - war er den Verlorenen begegnet. Sicher waren sie weitergegangen. Er rannte. Der Übergang vom Wald zum offenen Gelände erfolgte abrupt. In dem einen Moment peitschten noch Zweige an ihm vorbei, im nächsten stand er unter den Sternen -und stolperte nach wenigen Schritten, kaum dass er den letzten Baum hinter sich gelassen hatte, über eine Leiche, blieb an ihrem ausgestreckten Arm hängen. Blitze zuckten erneut, und er sah, dass er auf einen Mann gestürzt war, der den Löwen von Avaria im Wappen führte - es war einer von Wendilgards Soldaten. Der Mann hatte keine offensichtliche Verletzung, und um ihn herum war auch kein Blut zu sehen, dennoch war er tot - und schon ziemlich steif, was bedeutete, dass er viele Stunden zuvor gestorben war, lange bevor Wendilgards Soldaten seine Gruppe unterhalb der Klippe angegriffen hatten. Die ganze Lichtung im Schatten der alten Festung war übersät von toten Avarianern. Wieder wurde sie von einem Blitz erhellt. Einen Steinwurf von ihm entfernt lagen die zerrissenen Überreste ihres stolzen Banners, und darauf fand er ihre Leiche. Ihr rotweißer Überwurf war staubig, aber ansonsten unversehrt und unbefleckt. Ihre Lippen waren zu einem schrecklichen Grinsen verzogen, und ihre Augen starr458 ten zum Himmel, obwohl sie offensichtlich nichts mehr sehen konnte. Wendilgard war tot. Sie war im Kampf gestorben - aber sie hatte nicht gegen ihn gekämpft. Die Ashioi hatten sie getötet, die Gleichen, denen er im Wald begegnet war, und ihre Avarianer hatten ihm die Schuld gegeben und sich so gut es ging gerächt, indem sie Liutgard zu Hilfe gekommen waren. Er sprang auf und rannte über die Lichtung. Sie wurde von einem Hügel beherrscht, auf dessen Kuppe einst eine Festung gestanden hatte, die mittlerweile allerdings nur noch aus geborstenen Mauern und umgestürzten Steinen bestand. Er stieg über die äußere Mauer der Festung, die so stark zerfallen und von Moos überwuchert war, dass sie eher wie eine Gartenmauer wirkte - und geriet geradewegs in ein Gefecht: Seine eigenen Männer wichen schreiend und laut rufend vor dem entschlossenen Angriff der Ashioi zurück. Im Licht ihrer Fackeln erhaschte er einen Blick auf die Szenerie: Die Verlorenen kamen aus dem Innern der Festung geströmt. Sie hatten in der Morgendämmerung dort Zuflucht gesucht, vermutete er, als wäre dies ihr seit langem angestammter Platz, den sie jetzt gegen Eindringlinge verteidigten. Die Dunkelheit senkte sich wieder herab. Er eilte zu den vordersten Reihen. Die Männer dort taumelten zurück, einige fielen durch Geisterpfeile, die sich sofort auflösten, wenn sie jemanden getroffen hatten. Er schob sich an der ungeordneten Reihe entlang zu Fulk und ein paar anderen, die an ihrem Platz ausharrten, um den Übrigen den Rückzug zu ermöglichen. Sanglant hatte angenommen, die Schlacht wäre verloren, aber jetzt begriff er, dass er eine Schachfigur vergessen hatte jene, von der er geglaubt hatte, dass er nie den Mut oder den Wunsch haben würde, sie zu benutzen. Hatte seine Mutter ihn denn nicht verlassen ? Hatte sie ihn überhaupt geliebt? Aber ihr Blut hatte sich mit dem seines 459 Vaters vermischt, um ihn zu erschaffen. Sie würde immer ein Teil von ihm sein, und niemals mehr als jetzt. Er zog den Helm ab, holte tief Luft und rief. »Verwandter! Ich bitte Euch, Verwandter! Hört mich an, Ihr, der Ihr der Sohn von Uapeani-kazonkansi-a-lari seid. Ich brauche Eure Hilfe!« »Prinz Sanglant!«, rief Fulk hinter ihm. Er sprang in die Lücke und hob sein Schwert, als die Lichtung wieder erhellt wurde und ein bleiches Licht auf das Kampfgeschehen fiel. Eine Reihe von Schatten starrte ihn an, viele davon mit den Körpern von Menschen und den Gesichtern von Tieren. Sie hielten inne, als er erneut rief. »Verwandter! Ich bin der Sohn von Uapeani-kazonkansi-a-lari. Hört mich an! Wir sind Verwandte. Wir gehören zur gleichen Familie. Wieso kämpfen wir gegeneinander?« Die Schatten zogen sich zurück und ließen den Schattenprinz vortreten. Er und Sanglant standen sich inmitten der Leichen von Wendilgards Soldaten und ein paar gerade erst getöteten Wendanern gegenüber. Hinter ihnen warteten ihre Soldaten, seine lebendigen und die körperlosen, schattenhaften der Ashioi. »Ihr steht auf unserem heiligen Boden, einer Festung, die einst Sie-Die-Nie-Einen-Mann-Haben-Wird gewidmet war. Die anderen haben hier gelagert, also haben wir so viele wie möglich von ihnen getötet und die Übrigen vertrieben. Jetzt müssen wir uns beeilen.«
»Ich bitte Euch, helft mir, und ich werde Euch helfen. Ich werde von einem Heer verfolgt, von Menschen, die mich vernichten wollen - und auch Euch. Hört mich an!« Ein Blitz flammte über den Himmel, hing drei Atemzüge lang in der Luft, bevor er verblasste. Das Nachbild schnitt eine brennende Linie über die Reihen der Schatten, die lauschend dastanden. Und warteten. Er sah Bäume durch die Konturen ihrer Körper hindurch. Aus der Ferne hörte er ein 460 Hornsignal und dann das Klirren von Waffen und das schrille Wiehern eines Pferdes. »Wieso kämpft Ihr gegen Eure eigenen Leute?«, fragte der Geisterprinz. »Wir kämpfen gegen diejenigen, die eine Beschwörung weben, um Euer vertriebenes Land zurück in den Äther zu schleudern. Ich bin kein Zauberer. Ich weiß nicht, mit welchen Mitteln eine solche Beschwörung gewoben werden kann.« Der andere lachte. »Und ich bin kein Zauberlehrling, im Gegensatz zu meinem Bruder. Ich ziehe es vor, eine Waffe in der Hand zu halten. Ein Speer ist etwas, das ich verstehe. Wie heißt Ihr, Verwandter?« »Ich heiße Sanglant, Prinz von Wendar und Varre, Sohn von Henry und Uapeani-kazonkansi-a-lari. Wie werdet Ihr gerufen?« »Ich werde bei vielen Namen gerufen. So ist es Brauch bei meinem Volk. Einige nennen mich Jüngerer Bruder, andere Begibt-Sich-In-Schwierigkeiten. Aber Ihr könnt mich Zuan-guanu-kazonkiu-a-laru nennen. Oder Zuangua, denn ich weiß, dass die Menschen Schwierigkeiten mit der Aussprache unserer Namen haben.« Sanglant lachte. »Ganz besonders ich. Also, Zuangua, werdet Ihr uns gegen unsere Feinde helfen? Ich möchte ihnen keinen Schaden zufügen, sondern sie nur vertreiben, damit ich nicht noch weitere Männer verliere. Den König muss ich lebendig haben. Er ist von den gleichen Zauberern zum Gefangenen gemacht worden, die auch Eurem Volk Schaden zufügen wollen. Ich habe zwei Greifenfedern bei mir, die die Fäden der Magie durchtrennen werden. Wenn er erst einmal von dem Bann befreit ist, der ihn bindet, wird er nicht länger gegen uns kämpfen.« Der Prinz grinste, und Sanglant erkannte das Grinsen, denn er hatte es viele Male auf seinem eigenen Gesicht ge461 spürt, geboren aus Sorglosigkeit und kühner Spontanität und der Bereitschaft, sich kopfüber in eine nie da gewesene Schlacht zu stürzen, deren Ausgang ungewiss war. »Ach ja? Und was ist, wenn ich den Kampf herbeisehne ? Ich habe lange darauf gewartet, Menschen für das töten zu können, was sie meinem Volk angetan haben. Aber nun gut. Die Zeit ist nahe. Wenn es meinem Volk hilft, wenn ich Euch helfe, werde ich es tun. Wenn dem nicht so ist, kann ich Euch so leicht töten wie jeden anderen Mann.« Zuangua hob sein Schwert. Blitze zuckten, und sein Umhang flackerte weiß auf, ehe die Dunkelheit zurückkehrte. Neben ihm stand eine Frau in der Rüstung einer Kriegerin mit einer auf den Kopf hochgeschobenen Falkenmaske; sie setzte eine juwelenverzierte Schneckenmuschel, die größer war als ihre Hände, an die Lippen und blies darauf. Der Ton erklang genau in dem Augenblick, als ein Donnerschlag krachte, aber während der Donner abrupt verklang, hatte der traurige Ton Bestand. Die Ashioi stürmten in den Wald, verloren sich rasch in der Dunkelheit. Als der Ruf endete, deutete Zuangua auf die alten Mauern auf der Anhöhe. »Die Verwundeten sollen sich dahin zurückziehen. Die Übrigen stellt hier auf. Wir werden zusammen kämpfen.« »Mein Prinz!«, rief Fulk, als Blitze weißes Feuer durch die Luft schössen. Seine besorgte Miene wurde beleuchtet und verschwand wieder, während Schwärze herunterfuhr. Sanglant rief, während direkt über ihnen der Donner grollte: »Geht! Bildet einen Schildwall aus denen, die noch stark genug sind, und schafft die Verwundeten in die Festung. Sie sollen keinen der dort hausenden Verlorenen anrühren. Geht! Geht!« Er wandte sich wieder Zuangua zu. »Begleitet Ihr mich auf die Jagd, Verwandter? Ich suche meinen Vater, und ich habe vor, ihn zu befreien.« 462 2 Zacharias war bereit, als Hugh ihn und die anderen am Nachmittag dieses Tages, des zehnten Octumber, durch das Gewirr von Ruinen, das das Hügelgrab umgab, zur Steinkrone führte. Das hohe Gras war gemäht worden; es würde als Futter für das Vieh dienen. Sie marschierten hintereinander durch die Stoppeln, Hugh als Erster und Zacharias gleich hinter ihm, den Kopf hoch erhoben. Er würde Hathui stolz machen, auch wenn sie es nie erfahren würde. Die zunehmende Mondsichel stand hoch am Himmel, als sie sich um die Steine versammelten. Es waren vierzig Wachen zugegen, außerdem Diakonissin Adalwif, zwei von Hughs Dienern und er selbst. Zacharias kannte den sandigen Flecken sehr gut, von dem aus die Fäden gewoben wurden; er und Hugh hatten zur Vorbereitung viele Nächte hier geübt. Als die Sonne gen Westen sank, schob Hugh ihn auf diesen Flecken und gab ihm den Stock zum Weben in die Hand, dann stellte er sich hinter ihn. Das Licht wurde schwächer, und die ersten Sterne funkelten am dunkler werdenden Himmel: der Diamant, der Zitrin und der Saphir, die das Schwert der Königin schmückten, der Stab und der Becher. Der Diamant stand so nah am Zenit, dass Zacharias schwindlig wurde, als er hochstarrte. Es war kalt und vollkommen klar; trotz des Umhangs fühlte er den Winter in seine Knochen dringen, aber das waren Kleinigkeiten, die ihm in dieser Nacht nicht viel bedeuteten.
Seit zwei Monaten war kein Regen gefallen, und der Fluss, der unterhalb des Hügelgrabes verlief, war kaum mehr als ein Rinnsal in seinem steinigen Bett, während das Vieh und die Dorfbewohner unter Durst litten. Der junge Weizen, erst kürzlich gepflanzt, war noch nicht gekeimt, und die Diakonissin und ihre Dorfbewohner waren verzweifelt. Sie fürch463 teten, dass er ohne Herbstniederschläge gar nicht keimen würde. Offensichtlich hatten die Heilige Mutter Anne und ihre Tempestari in dem Bestreben, den Himmel für das Weben über einem so großen Landstrich klar zu halten, gute Arbeit geleistet. Genauso offensichtlich machten sie sich nichts aus den Folgen, mit denen das gewöhnliche Volk zu kämpfen hatte. Sein Volk. Menschen von seiner Art. Zur Zeit vor seiner Geburt war ein Adler des Königs durch das Wasrau-Tal geritten, in dem Bauernfamilien dicht gedrängt Ackerbau betrieben. Diese Leute bezahlten hohe Steuern und leisteten gegenüber der einen oder anderen Edelfrau jährlich irgendeine Art von Dienst. Als Gegenleistung erhielten sie ihren Schutz, die Wegerechte und in mageren Jahren ein bisschen Korn, das allerdings nicht immer verteilt worden war. König Arnulf der Jüngere hatte verfügt, dass jede Familie vom Joch des Dienstes für eine Herrin oder einen Herrn befreit werden sollte, wenn sie bereit war, das hohe Risiko einer Reise nach Osten in die Marklande auf sich zu nehmen, um dort im Hochland fruchtbares Ackerland zu bestellen, das zuvor nie einen Pflug gesehen hatte. Eine Familie, die dies tat, sollte nur gegenüber dem Herrscher von Wendar verpflichtet sein. Die meisten Leute blieben, wo sie waren: Alle wussten, dass das Leben in den Marklanden - so nah an der Grenze zu den Barbaren - hart und gefährlich war. Nur zu leicht konnte man bei einem Plünderungszug der Qumaner sterben, oder die Töchter wurden von den Salavii vergewaltigt oder von Greifen und Löwen gefressen, während man versuchte, zu einem bescheidenen Wohlstand zu kommen. Seine Großmutter hatte ihren Haushalt eingepackt, ohne sich ein einziges Mal umzublicken. Seine Großmutter hatte verstanden, wie die Welt wirklich war. Sie war nach Osten gereist, weil sie das Joch des Dienstes mehr gehasst als sich vor Gefahren und Schwierigkeiten 464 gefürchtet hatte. Jetzt, zum ersten Mal seit seiner Gefangenschaft bei den Qumanern, war er wahrhaftig ihr Enkel. Ihr Erbe. »Ah«, sagte Hugh. Es war mehr ein Hauch als ein Wort. Am dunstigen westlichen Horizont, der noch immer schwach golden schimmerte, funkelte die helle Somorhas kurz auf, ehe das Rad des Himmels sie nach unten zog. Mok, die Herrscherin der Fülle, stand hoch im Südwesten, am Scheitelpunkt des Büßers und des Heilers. »Da«, sagte Hugh, und Zacharias sah, während sich das Rad weiterdrehte, wie da jene Gruppe von sieben Sternen aufstieg, die als die »Krone« bekannt war. Heute Nacht würde die Sternenkrone die Himmel krönen. Ihr Alten, ich bitte euch, gebt mir Kraft. Du bist stark, Enkel. Tu das, was wir dich gelehrt haben. Zacharias spürte Hughs Brustkorb an seinem Rücken, als wäre er ein Geliebter, aber als sich die Hand des Presbyters um seinen Ellbogen schloss, war der Griff hart wie Eisen - die Kette, mit deren Hilfe er seine Diener seinem Willen unterwarf. Er hielt Zacharias' Hand und somit auch den Stab. »Jetzt werdet Ihr so weben, wie ich es Euch beigebracht habe, Bruder Zacharias. Wenn Ihr genau tut, was ich Euch sage, werdet Ihr mit Hilfe dieser Beschwörung ins Innere von Gottes Schöpfung blicken. Das verspreche ich Euch.« Zacharias grunzte; er hatte noch viele Geräusche zur Verfügung, aber ohne eine Zunge formten sich nur wenige von ihnen zu Worten. Die Alten verstanden ihn trotzdem. Sie hatten ihm Stärke angeboten - und mit der Stärke kam die Gelegenheit, den Verrat an Hathui zu rächen. Er beruhigte seinen Geist, als Hugh zu singen begann. »Matthias führe mich, Mark beschütze mich, Johanna befreie mich, Lucia unterstütze mich, Marianna reinige mich, Peter heile mich, Thecla sei stets meine Zeugin, dass die Herrin mein Schild sei und der Herr mein Schwert.« 465 Der Stab fing den Faden der Sternenkrone auf und verband ihn mit dem Steinkreis, und während die einen Sterne aufgingen und andere untergingen, führte Hugh seinen Arm so, dass der Stab die Fäden zu einem Netz webte, das ihn blendete und in seinem Körper pochte. Oder bebte etwa der Boden? Der Mond ging unter. Seit sie ins Netz der Beschwörung eingetaucht waren, verging die Nacht deutlich rascher, als er gedacht hätte. Das Netz wurde mitgezogen, während das Himmelsrad an den Steinen zerrte, während jeder Faden sich spannte und - ehe er zerreißen konnte - in eine andere Richtung geführt wurde, um das Muster in einer anderen Konfiguration weiterzuweben. Es gab Risse am Himmel, riesige Lücken wie bei einem gerissenen Zeltstoff, durch die man einen Blick auf die dahinter liegende Welt werfen konnte. Er sieht die Leiter des Himmels von der Erde hoch in den Himmel ragen und in einem Regenbogen aus Farben glitzern: Rosa, Silber, Azur, Bernstein, Amethyst, Malachit und blauweißes Feuer, das so heiß brennt, dass er es nicht ansehen kann. Unruhe befällt ihn. Die Leiter ist leer. All die ätherischen Daemonen, die einst von der Erde zum Himmel aufgestiegen und wieder abgestiegen sind, sind nicht da. Oder sie sind geflohen. Sie sind vor der
Macht des Webens geflohen. Einen Augenblick lang ist er verzagt. Er weicht zurück. Furcht wallt in ihm auf. Dann erinnert er sich an Hathui und die Stimme der Alten. Er ist ein Bruder. Er ist ein Enkel. Er wird handeln. Er wird stark sein. »Schwester Meriam!«, sagte Hugh. Eine Stimme antwortete trommelnd innerhalb des Netzes der Beschwörung; er erhaschte einen Blick auf ihre zerbrechliche Gestalt, wie sie von ihrer Enkelin gestützt mitten in einer Ödnis aus Sand und einem aufgewühlten Himmel stand. Er spürte ihren Körper neben sich, obwohl er wusste, dass es eine Illusion war. 466 »Ich bin hier. Ich bin hier.« »Bruder Marcus!« Die Ruinen von Kartiako zeichneten sich als gezackte Schatten vor einem fernen Berg ab, bevor Marcus' angespannte Gestalt den Blick verdeckte. »Ich bin hier.« Die Himmel drehten sich weiter. Die Nacht kroch über die Erde nach Westen, obwohl sie jetzt von Dunkelheit umhüllt waren, und marschierte durch die frühen Nachtstunden auf Mitternacht zu. Es war also wahr, dachte er, dass der Himmel und die Erde diese Fäden spannten, bis sie so dünn waren wie ein Haar. Es war wahr, dass die Erde und die Himmel Sphären waren, denn ansonsten würde die Dunkelheit plötzlich und überall zur gleichen Zeit hereinbrechen. Stattdessen drehten sich die Himmel, und die Sterne erhoben sich zuerst ganz im Osten und wanderten dann nach Westen, während die Nacht über die Erde zog. Die Risse öffneten sich noch mehr, als die Fäden straffer wurden. Sterne brennen, jeder in seiner eigenen Farbe, jeder mit seiner eigenen Stimme, jeder mit seiner eigenen Seele. Er weinte vor Freude angesichts ihrer Schönheit. Die Musik der Sphären lief durch seinen Körper, als die Beschwörung ihn packte. »Hugh! Meriam! Marcus!« Er schwankte, als er eine Stimme hörte, die kälter war als jeder Albtraum. Die Heilige Mutter hatte sich dem Netz hinzugesellt. »Ich bin hier«, sagte Hugh, und Zacharias konnte nichts sagen, aber natürlich war es jetzt offensichtlich, dass Hugh ihn angelogen hatte. Wieso hätte er Zacharias den Ruhm überlassen sollen, den das Weben der Beschwörung bot, wenn er doch alles selbst tun konnte? Wieso wollte er, dass ein anderer an seiner Stelle stand? 467 Aber was spielte das schon für eine Rolle? Er musste sich auf das Weben konzentrieren. Geduld. Schon bald würde diese Freude enden. Was spielte es für eine Rolle, was danach kam? Er wusste, welches Schicksal ihn erwartete. Jede Beschwörung verlangte ein Opfer. Eine fünfte Stimme gesellte sich hinzu, eine Männerstimme, die Zacharias unbekannt war, obwohl er den Namen sagte: Severus. Hugh sang noch immer, aber seine Hand löste sich von dem Stab, während Zacharias die Fäden webte. Hugh löste sich rückwärts aus dem Netz, als eine sechste Frau sich in die Beschwörung einwebte, die sich »Abelia« nannte. Die siebte Krone, nach wie vor stumm, stand noch aus, aber innerhalb des Gesangs der anderen Kronen spürte er das weit geöffnete Netz. Er spürte ein Prickeln auf seinen Schultern, als wäre es der Atem eines bevorstehenden Verhängnisses, ein schweres Gewicht, das sich ihnen nicht direkt vom Himmel her näherte, sondern von einer Stelle jenseits des Himmels, aus dem Innern des Himmels, unsichtbar und doch bereit, aus der Luft heraus zu explodieren. Die Ansammlung von Sternen, die als die Sternenkrone bekannt war, hatte inzwischen bereits den größten Teil des Weges zum Zenit zurückgelegt, auch wenn es schien, als hätte er seit Einbruch der Nacht nur sechs Atemzüge getan. Mok und der Heiler sanken dem südwestlichen Horizont entgegen, während die Büßerin sich bereitmachte, ihre Bürde abzulegen. Im Osten reckte der Löwe die Schnauze über den Horizont, während das Guivre triumphierend hoch oben schwebte. Der Fluss des Himmels strömte über den Zenit, stieg im Südosten auf und ergoss seine Ausbeute an Seelen in den Nordwesten. Jeder Stern glitzerte wie ein Juwel, umgeben vom schwarzen Gewölbe des Himmels. Jeder Einzelne sang in seinem Herzen, als sich die siebte Stimme aus den Kronen meldete. 468 »Reginar.« »Ich bin hier.« Hugh stand eine Handbreit hinter ihm, er berührte ihn nicht mehr, aber er sang weiter, sang eine Weise, die so melodisch war wie eine Hymne und doch um vieles lieblicher. Mit der Berührung des siebten Kreises entflammte die Krone. Sie brannte gen Himmel, blauweiß und so strahlend, dass Zacharias' Augen schmerzten, obwohl er keine Hitze verspürte. Die Himmel erzitterten. Er starrte in ihre Tiefen und sah den Schatten eines riesigen Gewichts auf sie herabrasen, nicht so wie Regen aus Wolken fällt oder wie ein Pfeil von oben abgeschossen wird, sondern er näherte sich vom Innern des Netzes her. Die Beschwörung bog sich unter dem Druck, aber sie zerbrach nicht. Die sieben Mathematiki zogen ihre Kraft zusammen, machten sich bereit, die Kronen zu versiegeln und zu verschließen, das vertriebene Land erneut
zurück in den Äther zu schleudern. Die Erde für immer abzuschließen. Die Sterne zerbarsten in Strahlen aus Farben, die der Länge nach mit unterschiedlich buntem Licht versehen waren, manche blau und andere rot. Die Erde stöhnte. Berge verschoben sich, Meere wirbelten. Weil er in die Beschwörung eingewoben war, spürte er, wie sich Risse rasend schnell von den Kronen ausbreiteten, wie sie tief hinab in die Erde drangen bis hin zu den weit unter der Oberfläche verborgenen Orten, wo Flüsse aus Feuer dampften und zischten. »Jetzt!«, schrie Anne. Ihre Stimme hallte durch die sieben Kronen. Aus den Tiefen rief eine andere Stimme wie zur Antwort. jetzt, Enkel. Er stürzte durch den Bogengang. Weil er noch immer den Stab hielt, zog er die Fäden hinter sich her, verwirrte sie, brachte sie vollkommen durcheinander und sprengte dadurch die Beschwörung. Sie musste bei so vielen Kronen wie mög469 lieh unterbrochen werden, so hatten die Alten es ihm aufgetragen. Ohne Zacharias konnte ihr Plan nicht gelingen. In der Ferne, entlang den Pfaden der Beschwörung sieht er eine Insel, die von Steinen gekrönt ist. Ein junger Abt steht auf dem Webboden; er keucht und dreht sich um, als er von einer Axt niedergestreckt wird, aber eine andere Geistliche springt hinzu und nimmt seinen Platz ein, packt die Fäden, ehe sie sich auflösen können. Aber auch sie fällt unter einem Hagel von Axthieben. Jenseits der Krone wölbt sich der Boden in die Höhe und bricht in sich zusammen, als die halbe Insel abgeschnitten wird. Eine riesige, geflügelte Kreatur erhebt sich von irgendwo unter der Erde hört er Severus vor Angst und Entsetzen aufschreien, als der glitzernde Sand unter seinen Füßen lebendig wird und durchscheinende Klauen zum Vorschein kommen: »Was hat das zu bedeuten? Was?« Die Klauen zerren ihn nach unten. Blauweißes Feuer umhüllte und verbrannte ihn. Kein irdisches Fleisch hätte einer solchen Hitze widerstehen können, und doch fühlte er keinen Schmerz, nur die kalte Hand des Todes. Er würde Hathui nie wiedersehen, sofern sie sich nicht auf der Anderen Seite begegneten. Mit seinem letzten Atemzug: Da. Durch Tränen hindurch sieht er in die unendliche Weite, die jenseits der himmlischen Sphären liegt. Falten aus schwarzem Staub formen Gestalten, als wären es sich verlagernde Wolken. Zwei Sonnen wirbeln umeinander herum, verbunden durch Pfade aus rotem Feuer. Ein Nautilus aus Licht kreist heftig um eine dunkle Mitte. Ein spiralförmiges Rad aus unzähligen Sternen dreht sich in einer Stille, die so gewaltig ist, dass sie Gewicht hat. Er hat Angst, aber einst hat er immer Angst gehabt. Leben ist Angst. Lass los. So viel Licht winkt, und doch wölben sich Abgründe aus Leere zwischen den großen Rädern. Dies ist der Abgrund, in den das ganze Menschengeschlecht am Ende hineinfällt. 470 Lass los. Der Tod kommt zu allen, sogar zu den Sternen. Er ließ los. Er stürzte. 3 Jetzt. Eine ganze Zeit lang befand sie sich in einem Zustand irgendwo zwischen Schlafen und Wachen, während die Brüder ihr bitteren Seetang und einen streng schmeckenden Saft brachten, der sie am Leben erhielt. In bestimmten Abständen erkundete sie die Gänge, die von der Höhle wegführten, benutzte dabei Kieselsteine, um ihren Pfad zu kennzeichnen. Obwohl ihre Salamanderaugen ihr den Weg wiesen, gelangte sie stets früher oder später zu einem Tunnelgewirr, das vollkommen ohne jede Beleuchtung war, und so kehrte sie immer wieder zur Höhle zurück. Es hätte ohnehin keine Rolle gespielt, selbst wenn sie einen Pfad zur Erdoberfläche gefunden hätte. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Wenn sie schlief oder einfach nur benommen dalag, sprachen die Alten zu ihr; für etwas, das ein Mensch in einer Stunde sagen konnte, benötigten sie Tage oder sogar Wochen. Sie war sich nicht sicher. Sie hielt durch. Sie würde eine einzige Chance haben. Es konnte sein, dass sie diejenigen, die sie liebte, nie wieder sah, aber was zählte die Liebe gegenüber dem, was ihr die Pflicht auferlegte? Sie wusste, wie sie ihr Herz verschließen konnte; sie tat es auch jetzt, so dass keinerlei Empfindungen sie ablenken würden. Diese Fähigkeit hatte sie von Anne gelernt. fetzt. Die Beben erfolgten beständig, als würde die Erde auf ei471 nem riesigen Meer treiben wie ein auf den Wellen hin und her schaukelndes Schiff. Tief in der Erde wirkten die Alten ihre uralte Magie. Sie konnten Anne nicht berühren; sie konnten sich nicht einmal bewegen, wie es schien, aber ihnen standen andere Mittel zur Verfügung. Sie lenkten die tiefen Flüsse und sprachen zu jenen, die geduldig genug waren, um zuzuhören, und die die Fähigkeit besaßen zu reisen. Wir. Sind. Die. Kinder. Der. Umwälzung. Wir. Wachen. Über. Unsere. Eigenen. Kinder. Wir. Sind. Aus. Stein.
Und. Drachenblut. Und. Menschenfleisch. Geboren. Sie wurde wach, als der Stich der Magie von dem Land weit über ihr durch die Erde zu ihr heruntersickerte, sie in ein gespenstisches Netz aus blauweißem Feuer wickelte. Sie kämpfte sich auf die Beine, taumelte. Mücke und Moskito hoben die Köpfe und starrten sie mit ausdruckslosen Augen an. »Geht mit euren Verwandten weit ins Meer hinaus«, sagte sie zu ihnen. »Ihr werdet nicht überleben, wenn ihr am Ufer bleibt.« Sie sahen einander an. Die Aale, die ihre Haare waren, zuckten und wanden sich und zischten, als wären ihre Bewegungen eine Sprache. »Geht«, wiederholte sie. Sie schleppten sich zu dem überfluteten Gang, glitten ins Wasser und verschwanden, ließen sie allein. Sie kniete nieder, drückte die Handflächen gegen den Boden. Sie ließ ihr Bewusstsein sinken, als das Netz der Magie ihren Körper entlangzuckte und in ihren Haaren knisterte, sie dazu brachte, sich aufzustellen. Sie drang mit ihrem geistigen Auge tief in die geschmolzenen Felder ein, die unterhalb der Steinkruste lagen. Wo Flüsse aus Feuer flössen, schwamm sie, bahnte sich ihren Weg aus den Strudeln zähflüssiger Teiche in rascher dahinfließende Ströme, die so heiß waren, dass sie sich durch Stein fraßen. Diese Flüsse wüteten in einer wilden Flut, von den Alten in ihren Kreisen angestoßen und aufgewühlt. Un472 ter dem scheinbar festen Boden wogte und kochte ein Aufruhr aus flüssigem Stein. Als die Nacht gen Westen über das Land wanderte und die Sterne aufgingen, fand das Weben zwischen den Steinen der sieben Kreise statt, der großen Krone, die die nördlichen Lande und das Mittlere Meer umspannte. Das Netz der Beschwörung loderte. Durch dieses Netz hindurch sah sie den Schatten des Ashioi-Landes aus dem Äther Gestalt annehmen, nicht so, wie ein Stein von oben herabfällt, sondern sich aus der ätherischen Existenz lösend und in die Welt der Sterblichen eindringend. Durch die breiter werdenden Lücken strömte Äther hinab auf die Welt, unsichtbar für sterbliche Augen, aber mit jener Macht lodernd, die Anne und ihre Brut in ihrem Webstuhl sammelten. Sie hörte, wie Anne zu den restlichen Sieben Schläfern sprach, die die Beschwörung webten: Meriam, Marcus, Hugh, Severus, Abelia, Reginar. »Jetzt!« Eine Woge von Gefühlen lief durch das Netz, eine ganz eigene Magie, gegen jene gerichtet, die sich derjenigen entgegenstellen, die kurz vor dem Sieg steht: Anne wusste, dass sie gesiegt hatte, dass ihre Feinde verloren hatten. Die Schussfäden und die Kettenfäden der Beschwörung verwebten sich zu einem riesigen, glitzernden Netz, das sowohl den Äther als auch die Erde durchdrang. »Jetzt!«, echoten die Alten. Jetzt. Die Alten hatten gesucht und befohlen, und an den drei nördlichen Kronen handelten jene, die ihren Befehlen gehorchten. Im Norden verzehrten die Eis-Wyrm Bruder Severus. Im Nordwesten schlug ein Aikha-Prinz namens Starkhand die Geistlichen nieder, die sich beim Steinkreis von Alba versammelt hatten. Im Osten, in der Wildnis nördlich von Ungria, war Hugh - nein, es war gar nicht Hugh. Hugh hat473 te einen anderen an seine Stelle gesetzt, der den Rückschlag aufnehmen sollte, von dem Hugh gewusst hatte, dass er kommen würde - einen zerlumpten, stummen Geistlichen namens Zacharias. Dieser andere Mann stürzte sich mutig in die Krone, obwohl er wusste, dass er dabei getötet werden würde; aber er brachte die Fäden durcheinander, verwirrte alle im nördlichen Teil des Webens. Eine Seite der Beschwörung begann sich aufzulösen. Anne gab nicht auf. Ihre Stärke übertraf alles, was Liath bei einem Menschen für möglich gehalten hätte. »Marcus! Meriam! Abelia!« Sie ließen sie nicht im Stich. Über der südlichen Hälfte hielt das Netz stand, und unterstützt von dem trommelnden Gebilde richtete Anne ihren Willen gen Norden, webte die Fäden von ihrem Platz in der Mitte aus sorgfältig wieder zusammen. Die Beschwörung gewann wieder an Kraft, war zwar entlang dieser Linie geschwächt, aber nicht zerbrochen. Die Erde stöhnte und bebte. Der Himmel riss auf, wurde weiß, als Blitze über ihn zuckten. Das Wasser des Meeres wurde von einer unnatürlichen Ebbe weiter und immer weiter nach draußen gezogen, bis ein breiter Uferstreifen freigelegt war - alte Grundmauern, alte Straßen, Schiffswracks und nach Luft schnappende Fische. Es war niemand zur Stelle, um Meriam, Marcus und Abelia aufzuhalten, denn sie hatten sie noch nicht einmal mit Aikha-Schiffen erreichen können. Sie hatten nicht genug Zeit gehabt. Aber die Alten hatten sich auf alle Möglichkeiten vorbereitet. Das Alter verschaffte ihnen einen Vorteil gegenüber Anne: Sie wussten, wie man etwas vom Anfang bis zum Ende durchdachte. Sie hatten noch eine Macht zurückbehalten. Eine letzte Waffe. Es tat Liath lediglich Leid um Meriam, denn Meriam war nett zu ihr gewesen. Aber es musste geschehen. Am besten, sie dachte nicht über die Folgen nach. 474 Rasch. Tochter. Handle. Jetzt.
Äther strömte durch das Netz der Beschwörung hinunter zur Erde. Liath zog diese strahlende, himmlische Substanz in sich hinein und benutzte sie, um ihre Flügel aus Flammen zu entfalten. Als die Flügel sie in einem schützenden Käfig aus ätherischer Macht einschlössen, griff sie hinunter, ganz tief hinunter zu den brennenden Flüssen - und rief das Feuer aus der Tiefe empor. 4 Fulk stand bei der äußeren Mauer der alten Festung und teilte die Männer ein. Jene, die noch einen Schild tragen konnten, bildeten eine dicht gestaffelte Linie hinter den umgestürzten Steinen. Als die Bwr, Qumaner und Ungrianer herbeiströmten, wurden sie auf die Lichtung geschickt, wo sie die Flanken decken sollten, um sicheren Durchgang von der Rückzugslinie bis zum eingestürzten Torbogen zu gewährleisten. Ein Dutzend Wagen rollte heran, aber unzählige herabgestürzte Steine und das aufgerissene Pflaster machten die Straße zum Tor unpassierbar. Nachdem die Vorräte und die Verletzten ins Innere der Festung geschafft worden waren, wurden sie daher zusammengeschoben, um eine Barriere zu bilden, eine zusätzliche behelfsmäßige Mauer, die Henry fern halten sollte. »Henrys Heer wird uns umzingeln«, sagte Fulk, als er Sanglant die Rampe hinauffolgte; vor und hinter ihnen gingen Männer mit Fackeln in den Händen. »Möglicherweise. Die Ashioi sind mächtige Verbündete. Sie können nicht getötet werden, weil sie nicht richtig lebendig sind.« »Nun ja.« Der Hauptmann sah nervös von einer Seite zur 475 anderen. Schattenhafte Gestalten - alte Frauen mit Körben und Krügen, hagere Kinder mit Augen so leuchtend wie Sterne - starrten sie aus den Alkoven und Höhlen, in denen sie Schutz gesucht hatten, an. Wenn Blitze über den Himmel flackerten, lösten sie sich in der Helligkeit fast auf. Es war leichter, sie zu sehen, wenn es dunkel war. »Könnt Ihr es riechen?« Beim Tor zum Innenhof blieb Sanglant stehen, während Verwundete in den Schutz eines Bauwerks humpelten oder getragen wurden, das wie eine eingestürzte Kapelle aussah. »Hier gibt es Wasser. Zumindest wird uns der Durst nicht nach draußen treiben. Solange Edelmann Druthmar nicht auftaucht, habt Ihr den Befehl, Fulk.« Er eilte die Rampe hinunter und auf die Lichtung zurück. Als er ebenes Gelände erreichte, begann er zu rennen, achtete allerdings darauf, nicht auf die vielen Leichen zu treten, die den Boden bedeckten. In südlicher Richtung, wo Henrys Streitkräfte mit Wucht angriffen, sah Sanglant, wie einige Nachzügler aus seinen eigenen Reihen die Formation verließen und flohen. Männer kamen vorbei, einige ohne Waffen, die meisten verwundet. Als sie den Prinzen sahen, fassten diejenigen ohne Waffen Mut und machten Anstalten, in den Kampf zurückzukehren, wobei sie sich vorher mit Schwertern und Speeren von den Leichen versorgten. Doch Sanglant schickte sie auf die Mauern. Sie waren überwältigt worden, aber die Schattengeister würden schon bald aus den Verfolgern Verfolgte machen. »Ha!«, rief Zuangua. »Beeilt Euch. Wir haben nicht viel Zeit.« Er ließ Fest bei Hathui und Feldwebel Cobbo und folgte Zuangua so gut es ging, was jedoch schwer war, kaum dass sie den Wald betreten hatten. Der Geisterprinz bewegte sich so anmutig zwischen den Bäumen hindurch, dass weder seine Rüstung noch sein Umhang an einem Ast oder Zweig hängen blieben und er nicht einen Kratzer im Gesicht abbekam. Auch 476 das schwache Licht, das lediglich von den Sternen und dem untergehenden Mond stammte, und die unregelmäßigen Blitze behinderten ihn nicht. Darüber hinaus war er auf eine beunruhigende Weise lautlos und ohne jeden Geruch; Sanglant konnte Männer und Tiere ebenso gut an den Geräuschen, die sie machten, und an ihrem Geruch erkennen wie an ihren Gesichtern und ihrer Haarfarbe. Der Geisterprinz existierte, aber er hatte keine irdische Substanz, und mehr als einmal prallte Sanglant gegen einen zuvor unbemerkten Baum, dem Zuangua mühelos ausgewichen war. Sie kamen an Malbert vorbei, der noch immer das Drachenbanner trug, und begegneten einer zerlumpten Gruppe grimmig dreinblickender Soldaten, die im Laufschritt und in eng geschlossener Formation marschierte. »Beeilt Euch, Prinz Sanglant!«, rief Malbert und wiederholte damit auf unheimliche Weise Zuanguas Worte. »Hinter uns ist noch eine Gruppe. Ich fürchte, sie sind verloren.« Schließlich erreichten sie die Männer, die die Nachhut bildeten; sie kauerten hinter einem umgestürzten Wagen. Überall lagen Verwundete auf dem Boden. Einige schleppten sich den Pfad entlang zur Rückzugslinie, während Lewenhardt und Sibold - der eine Fleischwunde im Nacken hatte, wo ihn ein Pfeil getroffen hatte - mit sechs anderen bei denjenigen Verletzten ausharrten, die nicht aus eigener Kraft fliehen konnten. Nicht wenige Soldaten mit dem Adler von Fesse oder dem dreifarbigen Wappen von Wendar auf ihren Überwürfen lagen tot oder sterbend auf dem Boden, weil sie versucht hatten, diese letzten paar Wachen zu überrennen. Aber zwischen den Bäumen tauchten schon die nächsten Angreifer auf. Zuangua tänzelte auf die Soldaten zu, verblüffte und erschreckte sie, als er auf den Wagen sprang und die Luft mit seinem Speer zerteilte. Der Hieb hinterließ eine Funkenspur. Lewenhardt, dessen Köcher leer war und der jetzt den letz477
ten Pfeil anlegte, stand wie betäubt da, unsicher, ob er auf den Geist oder auf Henrys Männer schießen sollte. »Lewenhardt! Sibold!« Sanglant rannte zu ihnen. »Nehmt so viele Leute, wie ihr tragen könnt, und geht. Wir haben neue Verbündete. Wir decken euren Rückzug. Weiter vorn ist eine Festung, über die Fulk den Befehl hat. Geht jetzt!« Sibold antwortete nicht, denn der Pfeil im Nacken machte ihm das Sprechen unmöglich. Aber die Verletzung war weder lebensbedrohlich, noch hinderte sie ihn daran, sich zu bewegen. Als Henrys Männer Sanglant sahen, schüttelten sie jeden Zweifel ab und stürmten schreiend in seine Richtung. Lewenhardt schoss seinen letzten Pfeil ab und traf einen Mann in den Oberschenkel, dann eilte er mit den anderen durch den Wald davon. Ringsum im Wald zerrissen Schreie die Luft. Die Ashioi hatten ihre Beute erreicht. Sanglant wappnete sich. Er war nicht daran gewöhnt, zu Fuß zu kämpfen, aber er konnte sich behaupten. Man stieß mit Speeren nach ihm, aber das Licht war nicht gut genug, dass seine Feinde richtig trafen. Oben auf dem Wagen schwang Zuangua seine Waffe, dann stieß er wie ein schwarzer Blitz zu. Sein Speer ging durch Rüstungen und Schilde hindurch und drang tief in die Körper seiner Feinde ein. Mit jedem Stoß fiel ein Mann, aber nicht sein Fleisch wurde getroffen, sondern seine Seele, denn es wurde das Wesen getötet, das die sterbliche Hülle bewegte. Drei Blitze flackerten in rascher Folge, und als hätten sie eine Lücke in die Stille gerissen, fegte eine Sturmböe von Osten her über sie hinweg. Die Bäume knirschten, und nicht wenige schwankten gefährlich. Blätter, Zweige und Äste regneten herab, trafen die Männer am Kopf und warfen sie zu Boden. Ein belaubter Ast krachte mitten durch Zuangua hindurch, und während der Wind einige Männer auf die Knie trieb, stand der Geisterprinz so gelassen auf dem Wagen, als wäre es ein richtig ruhiger Tag. Männer versuchten, gegen ihn zu 478 kämpfen, aber keiner ihrer Hiebe konnte gegen einen Geist irgendetwas ausrichten. Sanglant lachte, er wusste, was für eine grausame Ironie dies war. Er hatte ein Heer gefunden, auf das der Tod keinen Anspruch erheben konnte. Blitze zuckten und Donner grollte; diesmal erzitterte die Erde unter ihren Füßen. Zwischen den Bäumen schrien Männer. Die Welt war schwarz, abgesehen von den Blitzen, die immer wieder den Himmel erhellten. Der Mond war verschwunden, und der Wind hatte sämtliche Fackeln ausgeblasen. Nur die Glühwürmchenlichter der Ashioi schössen im Wald hin und her. So schnell wie der Sturm gekommen war, so schnell legte er sich auch wieder. Zuangua stieß einen Schlachtruf aus, und dieser Ruf wurde aus dem Wald hundertfach beantwortet. Der Ruf bestand nicht aus Worten, aber alle in Hörweite wussten, was er bedeutete: Rache. Das wendische Heer floh, abgesehen von den wenigen, die angesichts des bevorstehenden Strafgerichts betend und weinend zu Boden sanken. »Die Stunde ist gekommen, Verwandter! Endlich können wir Rache nehmen.« Zuangua sprang vom Wagen, stieß seinen Speer nach Belieben tief in die Männer, die auf die Knie gesunken waren. Er ließ keine Gnade walten; er suchte keine. Sanglant rannte hinter ihm her, als ein zweiter Sturm krachend durch den Wald tobte. Die Rufe und Schreie der Männer erhoben sich als Kontrapunkt zu dem Knacken abbrechender Zweige und dem Heulen des Windes in den Blättern. Sie stürmten weiter, während Zweige um sie herum herabfielen und der Boden erzitterte. Blitze zuckten wieder und immer wieder, bis Tag und Nacht ineinander verschmolzen und zerrissen wurden und hier und da Bäume in Flammen aufgingen, wo die Blitze einschlugen und trockene Zweige 479 und Blätter aufloderten und flackerten. Rauch wand sich um die Stämme. Männer rannten und fielen, als zischende Pfeile ihre Körper durchbohrten. Ein heftiger Regen prasselte herab, aber er bestand nur aus brennenden Blättern. Es gab keinen Regen, keine Wolken. Es war so heiß wie während des Tages, da die Sonne am Himmel gestanden hatte. Und dort vorn auf der Straße stand unerwartet und ungerührt Henry, eine Gruppe vertrauter Edelleute hinter und das Banner neben sich. Der Kaiser brauchte keine Fackel, um seinen Weg zu beleuchten. Er war eine Fackel. Seine Augen leuchteten in einem unirdischen Licht, kalt und strahlend. Ein Nimbus umhüllte ihn, verströmte das innere Licht auf den Pfad und in die Luft. Wo Rauchschwaden um seine Füße wallten, glühte der Rauch silberfarben. Sanglant blieb taumelnd stehen. Zuangua trat neben ihn, während mehrere Ashioi aus dem Wald stürzten und sich an ihren Flanken aufstellten. Die Frau mit der Falkenmaske glitt an ihren Platz rechter Hand des Prinzen, den gespannten Bogen in den Händen, die Lippen zu einem barbarischen, ganz und gar nicht vogelähnlichen Grinsen zurückgezogen. »Ist das Euer Vater?«, murmelte Zuangua. Zum ersten Mal wirkte er unsicher und sogar ängstlich. »Ich habe gar nicht gewusst, dass eine Frau meines Volkes einen Daemon der unteren Sphäre umarmen würde.« Sanglant weinte, als er ihn sah. Natürlich hatte Hathui die Wahrheit gesagt. Er konnte riechen, dass dies nicht sein Vater war, sondern ein Eindringling, der in der Hülle seines Vaters hauste. Vielleicht vermuteten Henrys Kameraden, dass etwas nicht stimmte, denn sie starrten den Kaiser entsetzt an und erinnerten sich zu spät daran, dass sie auf ihre Feinde Acht geben mussten, die sich jetzt vor ihnen sammelten. Kein menschlicher Mann konnte so strahlend leuchten, nicht einmal einer, der das Glück des Königs besaß. Aber ein Rest vom 480
Wesen seines Vaters war noch da, verborgen unter der Anwesenheit des Daemons. Wenn er diesen Mann erreichen konnte, wäre es ihm vielleicht möglich, ihm die Kraft zu geben, gegen die Kreatur anzukämpfen, die in ihm war. »Ich bitte dich, Vater«, sagte er. »Lass uns einen Waffenstillstand schließen. Lass uns diesen Krieg beenden.« »Tötet ihn«, sagte Henry. Sanglant machte einen Schritt, dann noch einen, und dann rannte er los. Er spürte das Zögern seiner Verwandten, aber er war bereits in vollem Lauf und wagte nicht anzuhalten. Er wollte nicht anhalten. Er würde Henry von dem Daemon befreien. Er würde ihn retten. Henrys Wachen brüllten. Einige Edelleute stürzten vor, um sich zwischen den Prinzen und den Kaiser zu stellen, aber Sanglant traf einen am Oberschenkel, zerfetzte das Kettenhemd des Mannes, und traf einen anderen in die Eingeweide. Er schlug so kräftig zu, dass das Kettenhemd des Mannes durchtrennt wurde, drehte die Klinge herum und schob ihn mit dem Fuß beiseite. Drei andere fielen durch Pfeile der Geister. Henry hatte nicht einmal sein Schwert gezogen. Er starrte gleichgültig drein angesichts des Todes seiner Kameraden. »Verflucht! Du bist nicht Henry!« Trotzdem konnte Sanglant nicht auf seinen Vater einschlagen. Er packte ihn an der goldenen Schnalle, die den schönen Umhang zusammenhielt, und zerrte an ihm, aber er hätte genauso gut an einem Berg zerren können. Henry rührte sich nicht, bis er selbst zuschlug. Sein Handrücken traf Sanglant unter dem Kinn und schickte ihn rücklings zu Boden. Der Prinz landete hart, und sein Kiefer knackte. Blut trat auf seine Lippen. Zuangua machte einen Satz nach vorn, aber Henry wich aus und versetzte ihm mit der behandschuhten Hand einen 481 Hieb. Die bronzene Rüstung gab nach, und drei große Furchen aus Blut öffneten sich auf Zuanguas Brust, als hätte Henrys Hand unsichtbare Klauen gehabt. Erstaunt sprang Zuangua zurück. Obwohl die Wunde ihm nichts auszumachen schien, waren die Ashioi nun weniger geneigt, vorzustürmen. Sanglant rappelte sich mühsam auf. »Verräter«, sagte Henry mit der Stimme einer ganz anderen Kreatur. Seine Stimme hatte den Klang einer Glocke und trug weit durch den Wald, bis zu den Reihen seines in Angst und Schrecken versetzten Heeres. Seine Kameraden wichen einen Schritt vor ihm zurück. »Du hast die ganze Zeit mit dem Volk deiner Mutter zusammengearbeitet. Jetzt sehen wir die Wahrheit. Herzog Burchard. Herzogin Liutgard. Meine edlen Kameraden. Meine Hauptleute. Seht ihr es? Seht ihr, wer er wirklich ist?« »Mörder!«, rief Herzog Burchard aufgebracht. »Ihr habt meine Tochter betrogen!« »Verräter!«, rief Liutgard noch leidenschaftlicher. »Ich dachte, du wärst loyal!« Sanglant stand unsicher da, als der Boden erzitterte. Er musste sich anstrengen, etwas zu sehen. In seinen Ohren dröhnte es, obwohl kein Donner zu hören war. Stille hatte das Land ergriffen, oder er war taub geworden, hörte nur noch ein Rauschen, das sich in das Flügelschlagen der Greifen verwandelte, die über ihm kreisten. Oh Gott! Die Federn! Er griff nach der Messerscheide, aber in der Hitze des Gefechts hatten die Federn sie vollkommen aufgerissen. Sie - und auch die halbe Scheide - waren weg. Wenn nur eine einzige Feder von oben auf seine Hand herabschweben würde, könnte er Erfolg haben. Henry - der Daemon - lachte grausam und machte einen Satz auf ihn zu. Gerade noch rechtzeitig sprang Sanglant zur Seite und parierte den Hieb, doch der war so kraftvoll und 482 traf seinen Schild so hart, dass das Holz zersprang. Er selbst wurde herumgewirbelt, taumelte und stolperte und konnte nur mit Mühe einen zweiten Hieb von einem von Henrys Hauptleuten abwehren. Dann sank er auf die Knie. Der Hauptmann keuchte schwer, als ein Pfeil in seiner Schulter aufleuchtete. Sanglant rappelte sich auf. Zuangua war zu ihm gesprungen, um ihn zu decken; jetzt tänzelte er vor und zurück, während Henry versuchte, an ihm vorbei zu Sanglant zu gelangen, und dabei einen Hieb nach dem anderen austeilte. Der Geisterprinz blutete im Gesicht, an den Beinen und am Unterleib, und doch kämpfte er weiter, während seine Krieger die Edelleute zurückdrängten. Sanglant zog sein Messer aus dem Stiefel und machte einen Satz, um Henry von hinten zu packen. Er versetzte ihm einen kräftigen Tritt in die Kniekehle, schlang ihm den Arm um den Hals und zog ihn nach hinten. Aber der Daemon griff nach der Klinge, und allein die Berührung seiner Hand ließ sie in kleine Splitter zerbersten, die Feuer fingen und als zischender Funkenhagel zu Boden fielen. Henry griff nach hinten und zog Sanglant den Helm vom Kopf. Bevor der Prinz reagieren konnte, grub er seine Finger in Sanglants Haare. Sanglant drückte fester zu, versuchte ihn zu würgen, aber Henrys Finger packten seine Haut und drehten und zerrten, als wollten sie ihm geradewegs den Kopf abreißen. Die Klauen, die Zuanguas ätherische Substanz aufgerissen hatten, konnten menschlichem Fleisch nichts anhaben, aber die scharfen Kanten von Henrys Eisenhandschuhen schnitten in Sanglants Haut, und es bestand die Gefahr, dass sie Sehnen durchtrennten. Er wehrte sich, aber es war umsonst. Gegen Henrys unnatürliche Kraft konnte er nicht ankommen. Funken tanzten vor seinen Augen, so groß war der Schmerz. Die Welt versank hinter einem Schleier, als der Daemon ihm die Kehle zu-
483 drückte. Sein eigener Griff wurde schwächer. Er konnte nicht durchhalten. Zuanguas schwarzer Speer traf seinen Vater mitten in den Kopf. Er spürte den Lufthauch als heißes Prickeln unterhalb seines eigenen Kinns. Da er dem Daemon so nah war, spürte er ihn tatsächlich sterben, als der Geisterprinz seine Seele durchbohrte und ihn freiließ. Die unmenschliche Kraft zersprang, und mit einem scheußlichen Schrei verschwand er im Äther, verbannt von der Erde. Sanglant wich zurück, sackte, den Arm noch immer um die Kehle seines Vaters geschlungen, rücklings zu Boden, so dass sein Vater auf ihm lag. Sein Blick war gen Himmel gerichtet, während er nach Luft rang. Durch die Zweige und Äste hindurch sah er, dass die Sterne doppelt so groß waren wie gewöhnlich. Die Sternenkrone stand im Zenit, leuchtete so sehr, dass seine Augen schmerzten. Das Rad der Sterne pochte und pulsierte, und schließlich hallte seine Musik ihm durch den Kopf und drang ihm in die Knochen, schwächte ihn und ließ die Erde von einem Gebrüll erzittern, das voller Schläge, lautem Krachen und gewaltigem, unaufhörlich grollendem Donnern war. Wogen aus Übelkeit erregendem, perlmuttartigem Licht strömten über den Himmel. »Für Henry!«, rief Liutgard hinter ihm. »Für Wendar!«, rief Burchard. »Und die Kaiserin!« Dann kam der Schlag. Ein Windstoß fegte von Südosten heran. Bäume knackten und zerbarsten, als würden sie umgemäht. Männer taumelten zu Boden. Pferde wieherten schrill, als die Sturmböe sie umriss. Der Sturm versengte die Luft und machte den Himmel weiß, und die Blätter eines Stechenden Mäusedorns schrumpften, kringelten sich und lösten sich vor seinen Augen auf. Seine Haut schmerzte. Er rollte sich herum, damit sein Vater unter ihm zu liegen 484 kam und er ihn vor dem herumfliegenden Unrat schützen konnte. In diesem Augenblick sah er, wie Zuangua und seine Kameraden nach hinten torkelten, ihre Körper sich veränderten, als der Wind über sie hinwegfegte. Es war, als würde dieser Wind sie mit Substanz erfüllen, mit Erde und Sterblichkeit. Liutgard hatte ihren Speer geschleudert, ehe sie selbst zu Boden geworfen wurde; die Waffe wurde vom Wind davongetragen, behielt aber die ursprüngliche Richtung bei und bohrte sich in Zuanguas Schulter, der an einem umgestürzten Baum lehnte. Der Ashioi-Prinz, der ungezählte Generationen hindurch keinen Schmerz außer dem in seinem Innern gekannt hatte, schrie auf. Blut, das so rot war wie das eines jeden sterblichen Mannes, schoss aus seiner Wunde. Der Wind erstarb abrupt, aber Sanglant hörte, wie er über das Land fegte, sich entfernte. Er hockte sich auf die Fersen. Wir müssen Schutz suchen, hatte Gyasi gesagt, und er wusste, dass er Recht gehabt hatte: Es stand noch Schlimmeres bevor. Ein schreckliches orangerotes Glühen schoss am südöstlichen Horizont zum Himmel auf. Es sah aus, als wäre die Welt in Flammen aufgegangen. Es erinnerte ihn an Liath, und eine Woge von schrecklicher Furcht überwältigte ihn. War sie tot? Henry stöhnte. »Vater!« Er zog seinem Vater die Handschuhe aus und nahm ihm den Helm ab, rieb ihm die Hände, starrte ihm in die Augen, die in diesem seltsamen Halblicht so aussahen wie die eines jeden anderen. »Oh Gott! Vater!« Henry hob schwach den Arm. »Still, Sohn«, sagte er, und seine Stimme war so ganz die vertraute Stimme, die er kannte. Er strich Sanglant sanft über die Haare. »Still, mein Kind. Schlaf weiter. Du bist nicht mehr Blutherz' Gefangener.« Sanglant weinte. 485 Um ihn herum erwachten die Leute allmählich aus ihrer Benommenheit - zumindest jene, die nicht von Trümmern oder umstürzenden Bäumen bewusstlos geschlagen worden waren. Er hörte Geräusche aus dem Wald, als Männer und Pferde wieder zu Verstand kamen, sich erhoben, flohen, um Hilfe riefen oder vor Schmerz stöhnten, je nach der Art ihrer Verletzung. Irgendein Soldat gab einen Warnruf von sich, aber es war zu spät. Ein staubbedeckter, blutverschmierter Albtraum von einem Mann kam zwischen den Bäumen auf sie zugestolpert; er lachte wie ein Wahnsinniger. Dieses Wesen stützte sich auf einen Stab, von dem ein zerrissenes Banner hing, das mit allen möglichen Flecken übersät und zerfetzt war, so dass fast unmöglich zu erkennen war, welches Wappen einst darauf gewesen war. Fast, aber nicht ganz unmöglich: Es war eine glitzernde Sternenkrone auf schwarzem Feld, das den Nachthimmel darstellte. »Vetter! Habe ich Euch endlich gefunden! Gott im Himmel, Halunke, Ihr habt mich auf dem Feld zurückgelassen! Aber dieses Mal habe ich Euch besiegt. Ich habe gewonnen!« Zuangua hatte sich wieder aufgerichtet und sagte etwas. Die Frau mit der Falkenmaske machte einen Satz, und ehe Wichman begriff, was sie vorhatte, riss sie ihm das Banner aus der Hand. Im nächsten Augenblick stand sie neben ihrem Anführer, den Speer erhoben. Andere Ashioi kamen lärmend durch den Wald zu ihnen, bildeten einen grimmigen Wall aus Fleisch und Blut - uralter Hass stand in ihren Gesichtern. Die Luft war vollkommen reglos; als einzige Geräusche waren die Schreie der Männer und Tiere zu hören, die immer noch zwischen den Bäumen verstreut waren, begleitet vom Knacken eines morschen Astes und dem
gleichmäßigen Ascheregen. »Lass ihn los«, sagte Liutgard hart. Sie stand wieder, aber 486 ihr Pferd war verschwunden. Burchard lag auf der Erde und rührte sich nicht; Henrys Kameraden klopften sich die Asche ab oder wanden sich auf dem Boden, und zumindest einer war von einem umstürzenden Baum zermalmt worden. »Ah!«, sagte Henry und blinzelte. »Mir ist schwindlig. Sanglant, was ist passiert?« Der Prinz erhob sich, aber er wusste bereits, was ihm bevorstand, hier zwischen den beiden Parteien, während das, was von seinem Heer noch übrig war, sich - wie er hoffte - in der Festung in Sicherheit befand. Aber auch außerhalb seiner Reichweite. Er unterschied sich nicht von seinem Drachenüberwurf - die eine Hälfte schmutzig und mit Dreck verschmiert, die andere blutbefleckt. Innen so wie außen. »Es ist an der Zeit, Frieden zu schließen«, sagte er. »Du Verräter und Mörder!«, spottete Liutgard. »Wie kommt es, dass du ihre Sprache sprichst, wenn du nicht seit langem mit ihnen zusammengearbeitet hast? Dieses Unheil ist dein Werk, Sanglant! Lass deinen Vater los!« Zuangua lachte schroff; es war offensichtlich, dass er nicht ein Wort von dem verstanden hatte, was Liutgard gesagt hatte. »Frieden? Nein, jetzt ist es an der Zeit, Krieg zu führen. Welche Seite wählt Ihr, Verwandter? Die Menschen oder uns?« »Keine«, sagte Sanglant wütend. »Oder beide.« »Zurück, Liutgard«, sagte Henry mit kräftigerer Stimme. Er versuchte aufzustehen, aber es gelang ihm nicht. Blut strömte aus der Wunde an seinem Kopf. Blut drohte ihn zu ersticken, und er hustete und spuckte aus und hob einen Arm. »Sanglant! Hilf mir. Hilf mir, dass ich mich wenigstens hinsetzen kann.« »Oh Gott.« Sanglant kniete neben ihm nieder; er weinte noch immer. »Vater, du musst dich ausruhen.« »Nein, ich habe mich lange genug ausgeruht. Ich habe gelitten ...« Er hustete erneut. Mit jedem Blutschwall wurde er 487 schwächer. Burchard stöhnte, und ein Hauptmann half ihm auf. Die Edelleute scharten sich enger um ihren König. »Ich habe unter einem Bann gelitten! Ich habe gesehen, wie Villam von Verrätern getötet wurde. Gott! Gott! Meine eigene teure Frau hat gegen mich intrigiert.« »Adelheid?«, krächzte Burchard, der an der anderen Seite des Königs kniete. Er hatte den Helm abgenommen. »Doch nicht Adelheid!« »Was soll das heißen, Eure Majestät?«, fragte Liutgard, die neben Burchard trat. Sie starrte die Ashioi an, die sich nicht von der Stelle rührten, ebenso bereit zum Zuschlagen wie sie. »Ja, es stimmt, dass Ihr auf höchst unnatürliche Weise gestrahlt habt, vorhin auf dem Pfad. Ist es wahr, was Sanglant behauptet? Seid Ihr verzaubert worden und von einem Daemon besessen gewesen?« »Presbyter Hugh und Adelheid ... mit Zustimmung der Heiligen Mutter ... Anne ... um ihre eigenen Pläne voranzutreiben. Sie haben eine Kreatur in mich hineingezwungen ... in mein Inneres ...« Er erschauerte. Blut pulsierte aus der Wunde. Er sackte in Sanglants Arme. »Schnell«, flüsterte er. »Schnell. Hört zu!« Sie rückten näher. Hinter ihnen schnaubte Zuangua, als er das sah, aber zunächst hielt er sich abseits und blieb friedlich. »Dies ist mein Wunsch ... mein letzter Wunsch ... meine Verfügung, wie es mein Recht als Herrscher ist. Mein ganzes Leben lang habe ich mir das gewünscht ... aber es ist dem Brauch zuwidergelaufen.« Sein Kopf sank immer schwerer auf Sanglants Arm, aber durch bloße Willenskraft gelang es ihm weiterzusprechen, obwohl sein Gesicht im seltsamen orangeroten Licht grauenhaft bleich aussah, während das Leben ihn durch die Wunde verließ, die Zuanguas Speer verursacht hatte. Nur das Rauschen des Ascheregens war zu hören, abgesehen von seinen mühsamen Atemzügen und den Schritten der näher kommenden Männer, die hören wollten, 488 die sehen wollten, die Trost in der Nähe ihres sterbenden Königs suchten. »Was wollt Ihr damit sagen, Eure Majestät?«, fragte Liutgard. »Mein Recht... als König ... den Erben zu benennen.« »Prinzessin Mathilda ist Eure Erbin, Eure Majestät«, sagte Burchard, inzwischen besorgt. Er wischte sich Asche aus dem Gesicht. »Ihr habt sie selbst dazu ernannt.« »Unter Zwang ... sogar Sapientia war nicht würdig. Dieser hier.« Er griff mit der Hand über seine Brust hinweg nach Sanglants anderem Arm und drückte ihn fest. »Dieser hier. Schwört es. Gebt mir Euren Eid. Ihr werdet Sanglant folgen. Er wird nach mir Herrscher werden. Schwört es!« Er würgte und krümmte sich, aber er hielt aus. »Schwört es!« Sie schworen es, sie alle, denn Henry war ihr König, derjenige, dem sie den ganzen Weg bis hierher gefolgt waren. »Ah!«, sagte er, als schließlich Burchard und Liutgard als Letzte vor ihm niederknieten und ihren Eid schworen. Er sah Sanglant in die Augen. Seine eigenen waren jetzt frei von jedem Makel. »Ah! Der Schmerz ist weg. Mein Sohn. Mein geliebter Sohn.« Das Licht verschwand aus ihm. Seine Seele war frei, im einen Augenblick noch da, im nächsten ganz woanders. Sanglant neigte den Kopf, zu niedergeschlagen, um noch weinen zu können. Zuerst schien das Rauschen ein Teil
dieser seltsamen Nacht zu sein, noch mehr Ascheregen oder Blätter, die von toten und verbrannten Zweigen fielen. Dann blickte er auf. Sie hatten sich hingekniet, sie alle, bis auf die Ashioi, die nur dastanden und warteten. Tränen strömten über Liutgards Wangen. Burchard schluchzte leise; seine Schultern bebten. Hinter ihnen im Wald - so weit Sanglant sehen konnte -knieten Hauptleute, Feldwebel und Soldaten nieder, um ihren toten König zu ehren. 489 Aus der Düsternis stolperten zwei bekannte Gestalten herbei - Lewenhardt und Hathui. Der Adler schrie auf und warf sich neben Henrys Leiche zu Boden. »Er war er selbst, als er gestorben ist«, sagte Sanglant, als sie zu weinen begann, und sie bewegte den Kopf zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, denn sie konnte vor Trauer nicht sprechen. »Er ist als Herrscher gestorben.« »Sagt mir, Verwandter«, fragte Zuangua leicht spöttisch hinter ihm, »was bedeutet diese Zurschaustellung von Leidenschaft und Tränen?« Sogar Wichman war niedergekniet, aber beim Klang von Zuanguas Stimme sprang er auf, stürzte mit einem Schrei auf die Frau mit der Falkenmaske zu und riss ihr das kaiserliche Banner aus der Hand. Er steckte es hinter Sanglant in den Boden und lachte. »Wie lautet Euer Befehl, Eure Majestät?«, fragte er, und die Worte klangen fast wie Hohn. Sanglant legte die Leiche seines Vaters sanft auf den Boden. Er erhob sich, klopfte sich die Asche von den Schultern. Henrys Blutbefleckte seine Hände. Sein Schwert, sein Schild und seine Lanze waren weg, aber das letzte Geschenk, das sein Vater ihm gemacht hatte, war die mächtigste Waffe von allen. »Der Sturm steht bevor«, sagte er mit einer Stimme, die weit trug. Asche, Trauer und Erschöpfung hatten sie rau gemacht - aber andererseits klang seine Stimme immer so. »Ich weiß nicht, was wir sonst noch erdulden müssen, um den Sieg zu erringen.« Was ich erdulden muss, dachte er, wenn Liath und Gnade tot sind. »Wir haben Verbündete.« Er sah Zuangua an, aber der Ashioi-Prinz zuckte nur die Schultern, unfähig, seine Worte zu verstehen. Er hielt sich weiter abseits. Ich hoffe, wir haben Verbündete. 490 »Wir haben Feinde. Einige von ihnen sind diejenigen, denen wir in der Vergangenheit vertraut haben.« Und einige, wie Adelheid, Hugh und Anne, wissen noch nicht, was sie verloren haben. »Wer folgt mir?« »Eure Majestät«, sagten Herzogin Liutgard und Herzog Burchard. Sagten die edlen Kameraden, die noch übrig waren. Sagten die Hauptleute, die noch lebten. Sagte Lewenhardt, der für seine eigenen treuen Soldaten sprach. Henrys Heer wiederholte diese Worte, bis zum letzten Mann. Sie waren sein. Jetzt herrschte er über sie. 5 Anne herrschte über die Himmel. Ihr Netz aus Magie überspannte die Erde, als das vertriebene Land, das den Verlorenen gehörte, aus dem Äther glitt, um zu seinen irdischen Wurzeln zurückzukehren. Das Netz bebte unter dem großen Gewicht, aber es hielt stand. Trotz des Fehlens von drei Kronen würde es standhalten, würde es das Land der Aoi zurück in den Äther schleudern. Aber unterhalb des Webens zogen die ersten Anzeichen von Unheil über das Land, als Blitze über den Himmel zuckten und Erdbeben den gesamten Kontinent Novaria erfassten. Was die Sieben Schläfer nicht begriffen hatten und auch nicht begreifen wollten, war die Tatsache, dass sie die gesamte Erde zum Untergang verurteilten, wenn sie die Verlorenen zum Untergang verdammten. Sie konnten jetzt nicht mehr umkehren. Sie würden es nicht tun. Sie hatten gewonnen. Annes Triumph war so greifbar wie Sand - und genau wie Sand ließ er sich mit einer einzigen Welle wegspülen. Liath rief das Feuer aus der Tiefe herbei. 491 Geschmolzenes, glutflüssiges Gestein barst geradewegs aus dem Herz des Steinkreises, der wiederum das Herz des Webens war. Liath spürte Anne sterben. Sie spürte, wie Anne das Leben entrissen wurde. Die Skopos hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, einen einzigen verblüfften Schrei auszustoßen. Von einem Atemzug zum nächsten war sie tot. Die Seelen sämtlicher Mitglieder von Annes Gefolge und ihrem Heer wurden aus ihren Körpern gerissen, als die Macht des Ausbruchs alle Lebewesen verdampfte, die sich im Umkreis von einer Wegstunde um die Krone herum befanden. Die oberste Erdschicht wurde weggerissen und entblößte den Fels darunter. Asche und pulverisiertes Gestein wurden nach oben geschleudert. Das Felsgestein prasselte in einem Hagel zur Erde, der die ganze Küste umfasste und das Mittlere Meer viele Wegstunden weit zum Kochen brachte. Die Asche stieg wie ein wirbelnder Helmbusch in die Höhe und bedeckte schon bald den halben Himmel. Lava ergoss sich über das, was noch von den Klippen übrig war, ins Wasser, wo Dampfwolken aufwallten und sich mit der Asche und dem Rauch vermischten. All dies und mehr beobachtete Liath im Schutz ihrer Flügel. Sie sah die gewaltige Zerstörung, die sie und die Weis-Mütter herbeigeführt hatten, um die Beschwörung zu durchbrechen. Die Steinkrone war vernichtet. Anne und ihr Gefolge waren tot, vom Erdboden verschwunden. Und dies war erst der Anfang. Dies war nicht einmal das Schlimmste. Wie man gesät hat, so wird man ernten. Die Menschheit und ihre Bwr-Verbündeten hatten zweitausendsiebenhundertundvier Jahre zuvor gesät, und ihre Abkömmlinge standen jetzt vor einer bitteren Ernte.
Der Sturm stand bevor. Jetzt. Sie zog ihre Flügel eng um sich, als der Aufprall durch die Erde hallte. Schockwellen liefen tief durch den Boden. Auf 492 dem Meer erhob sich eine riesige Woge, die in alle Richtungen strömte und gegen die Klippen der Küste krachte - in einem Sturm zischenden Dampfes, der gleichzeitig abkühlte und sich erhitzte und so die sich über dem Land auftürmende Rauchwolke noch mehr anschwellen ließ. In kurzer Zeit oder nach Stunden würde die Welle die anderen Ufer erreichen. Liath konnte nichts tun, um die Abertausenden zu warnen, die dabei ertrinken würden. Die vom Aufprall verdrängte Luft breitete sich kreisförmig nach allen Seiten über Land und Meer aus; sie entwurzelte Bäume, verbrannte Gras, und was aus der Nähe wie eine unheimliche Stille widerhallte, klang aus der Ferne und selbst an einem so fernen Ort wie Darre wie ein Gemisch aus Schlägen, Klopfen und Donnern. Die Leute blieben entsetzt und verängstigt auf den Straßen stehen, wo sie etwas noch Schrecklicheres sahen, als die Erde zu beben begann und der Vulkan westlich von ihnen, der lange geraucht und gerumpelt hatte, eine Mischung aus Asche und Schlamm ausspuckte. Entlang der westlichen Küste von Aosta erwachten andere schlafende Vulkane zum Leben. Liath konnte nichts tun, um jene zu warnen, die zu nahe am Rand dieses nun erwachten Feuers lebten. Ich hatte keine Wahl. Zweifellos hatte auch Anne diese Worte gesprochen, als sie sich entschieden hatte, die Aufgabe zu übernehmen, die zu dieser Zerstörung geführt hatte, auch wenn sie die ganze Zeit davon ausgegangen war, im Recht zu sein. Um Anne aufzuhalten hatte Liath sich selbst in Anne verwandelt. Es spielte keine Rolle. Es war geschehen. Sie übergab sich einem der strömenden Flüsse aus Feuer und ließ sich von ihm an die Oberfläche bringen, gerade noch rechtzeitig, denn schon ließ die Strömung nach, als die Weis-Mütter den Druck ihres Geistes zurückzogen. Schon begann 493 das Salzwasser die äußeren Schichten der flüssigen Lava zu kühlen, und sie fingen an zu erstarren. Schon ließ die Flut von Äther aus den Himmelssphären nach, und die Kraft ihrer Flügel verringerte sich; sie begannen zu zerreißen und zu zerfallen, als die Erde ihre Anziehungskraft wieder geltend machte. Sie fand sich nackt und nur mit dem Bogen in der Hand auf einer Treppe wieder, die aus der Kruste eines Lavastroms gebildet wurde. Wirbel und Windungen waren in der hart werdenden Haut zu sehen. Alles andere, was sie besessen hatte, war verbrannt, sogar der qumanische Köcher, sogar Lucians Freund - ihr Schwert. Sie lief ins Freie. Eine dünne Kruste knisterte zu ihren Füßen, knirschte unter ihrem Gewicht. Rauch zischte aus schmalen Schlitzen. Ein anderes Wesen wäre in dieser Hitze und bei diesem Rauch gestorben, aber sie war halb aus Feuer geboren, dies war ihr Element. Ein angenehm kühler Wind begrüßte sie, als sie zum Rand des Kraters kletterte, der durch den Ausbruch entstanden war. Als sie oben ankam, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Der Sturm, der sich in alle Richtung ausgebreitet hatte, hatte dafür gesorgt, dass die Luft unterhalb der schweren Schicht aus Aschewolken, die sich von Horizont zu Horizont erstreckten, klar geblieben war. Der Himmel im Osten verwandelte sich in ein schreckliches Rot; er verkündete den Sonnenaufgang. Sie hörte Wasser an einem jetzt fernen Ufer vor- und zurückschwappen; einst hatte es sich direkt unter dem Steinkreis befunden, und sie fragte sich, ob Mücke und Moskito überlebt hatten. Sie fragte sich, ob überhaupt jemand überlebt hatte, denn als sie auf dem Grat eines zerklüfteten Kammes stand und an drei Seiten von Verwüstung umgeben war, fühlte sie sich ganz allein in einer riesigen, neuen Welt. Nichts ist von Dauer außer der Veränderung. Dort hatte das Meer einst den Fuß der Klippen umspült, 494 aber dem war jetzt nicht mehr so. Sie starrte über das neue Land, das sich im Südosten ins Mittlere Meer erstreckte, so weit sie schauen konnte. Nebel hüllte seine Höhenzüge und Täler in einen silbrigen Glanz. Weit entfernt und mehr gefühlt als gehört, erklang ein stöhnender Ruf aus dem Nebel, der Klang eines Horns, das die Verlorenen zusammenrief. Die Ashioi waren nach Hause zurückgekehrt. Epilog Im fernen Dunst, dort, wo der Himmel auf das Wasser traf, erhoben sich Inseln aus der Meerenge, wie Zähne, die den Horizont kennzeichneten. Das Wasser glänzte so still und glatt wie poliertes Metall. Von der Höhe des Kamms aus gesehen verlor sich die Dünung im Schein der Sonne. Der Wagenlenker und die Wächter hielten in der schrecklichen Hitze auf dem Pfad an, um sich über die Stirn zu wischen. Er hatte keinen Schutz und kein Wasser, um seinen Durst zu stillen, aber er hatte sich im Laufe der unzähligen Tage seiner Gefangenschaft an die Macht der Sonne gewöhnt. Heute war es besonders heiß und schwül, obwohl er eine Ahnung hatte, dass es kühler hätte sein müssen, aber er wusste nicht, wieso. Es ging kein Wind, es gab höchstens die Erwartung von Wind und einen Druck auf seinen Ohren, als würde jemand die Luft um sie herum zusammenpressen. Der Horizont im Westen und Norden war dunstig, aber der Himmel über ihnen war klar.
Allerdings hatten sich im Osten und Süden Gewitterwolken zu einer schwarzen Wand aufgetürmt. »Mir gefällt das nicht«, sagte Heric mit einem Kopfnicken gen Osten zu seinen Kameraden. »Muss ein ziemlicher Sturm sein. Ha! Ich habe noch nie solche Wolken gesehen, in meinem ganzen Leben nicht.« »Machen wir, dass wir weiterkommen«, sagte Ulf, der Wagenlenker. »Wir sollten nicht hier auf diesem Kamm bleiben.« »Drachenrücken, so nennen die Dorfbewohner ihn!«, kicherte Heric. »Bestimmt schleicht sich das eine oder andere Mädchen in einer dunklen Nacht mit ihrem Geliebten hier hoch, um Drachenrücken zu spielen! Ich würde es tun!« 496 Ulf seufzte. »Die Leute von Osna waren nicht gerade besonders freundlich. Ich habe kein einziges Mädchen gesehen, das uns schöne Augen gemacht hätte. Ich wünschte, wir würden nach Lavas zurückkehren und diese stinkende Kreatur loswerden.« »Das dauert nicht mehr lange«, sagte Heric. »Wir müssen nur noch ein paar Güter und Dörfer aufsuchen, und danach kommen wir wohlbehalten wieder nach Hause.« Ulf schnaubte, kratzte sich an der Nase, dann spuckte er auf den Boden. Er war kein unfreundlicher Mann, aber er war abergläubisch. »Wenn wir nur wirklich wohlbehalten nach Hause kommen! Die Wolken da drüben gefallen mir ganz und gar nicht. Die Leute hier waren auch nicht sehr glücklich, uns zu sehen. Sie machen sich zu viele Sorgen wegen dem schlechten Wetter und einer schlechten Ernte, um sich dieser üblen Kreatur zuzuwenden.« »Dabei ist er es doch, der ihre Ernte mit unpassenden Regenfällen und Kälteeinbrüchen ruiniert hat! Seine Sünden haben das herbeigeführt!« »Vielleicht.« Ulf zuckte die Schultern. Die anderen drei Wächter gähnten; sie befolgten Herics Befehle und aßen ihre Mahlzeiten, aber ansonsten erfüllten sie ihre Aufgabe nicht gerade mit großer Leidenschaft. »Aber genug ist genug, das ist alles, was ich sage.« »Weiter geht's!«, rief Heric gereizt. Er hatte eine Weidenrute und schlug damit auf die Kruppe seines Pferdes, um es in Bewegung zu setzen. Ulf ging etwas sanfter mit den Ochsen um. Der Wagen ruckelte weiter, und sie krochen in einem gleichmäßigen Tempo den Pfad entlang. Hinter dem Kammende befand sich eine Reihe von Gebäuden; sie waren um eine Kirche ohne Dach und einen Steinturm herumgruppiert, der noch intakt war. Als der Pfad den Fuß des Kammes erreichte, sich zwischen einem Haufen Felsblöcken hindurchwand und dann auf Lehm497 boden durch einen ruhigen Wald führte, verloren sie die Ruine für kurze Zeit aus den Augen. Aber schon bald stießen sie auf zugewucherte Felder und passierten das zerbrochene Tor, um für die Nacht in dem Turm Unterschlupf zu suchen. Ulf tränkte die Ochsen an einem Bach und ließ sie grasen, und die Pferde bekamen ihren Hafer und durften sich innerhalb der Reste einer Einzäunung herumtreiben, die einmal das Vieh zusammengehalten hatte. Bevor sie ein Feuer entfachten, um sich das Essen zuzubereiten, schoben sie den Wagen an eine Seite der Kirche, so dass sie ein bisschen Schutz bot, falls es stürmte. Von hier konnte er die geschwungene Kammlinie und einen steinigen Strand und die dahinter liegende Meerenge sehen. Das Wasser war so ruhig, dass es fester Boden zu sein schien, auf dem man viele Wegstunden weit bis in das wilde Land jenseits der Wächterinseln gehen konnte. Dort draußen reisten und weinten seltsame Wesen, oder zumindest meinte er sich daran zu erinnern. Da gab es Fische mit den Gesichtern von Menschen und Menschen mit Klauen an den Händen, die das Meer mit Schiffen befuhren, die so geschmeidig und wendig wie Drachen waren. Erinnerungen flackerten kurz auf, grell wie ein Blitz. Das Fenster da, halb von einem wild wachsenden Rosenstrauch verdeckt, führte zum Skriptorium. Das Kloster besaß ein kostbares Buch der Einigkeiten, das in goldüberzogene und mit Juwelen verzierte Buchdeckel gebunden war. »Ich kenne diesen Ort«, flüsterte er. Vor seinem geistigen Auge sah er einen alten Mann, der sich auf einen Stock stützte und in das Gewand eines Mönchs gekleidet war. Aber er war tot, oder nicht ? Waren sie nicht alle gestorben ? Der Sturm war vom Meer her gekommen und hatte sie alle erschlagen und verbrannt und ihr Heim zerstört, wie er es wieder tun würde. »Bring ihn zum Schweigen, ja?«, forderte Heric. »All das Gequatsche über Tod, Tod, Tod bringt mich dazu, dass ich 498 ihm am liebsten ins Gesicht schlagen würde, und das werde ich auch bald tun!« »Arme, verrückte Seele«, murmelte Ulf, aber der Wagenlenker brachte ihm ein Stück hartes Brot, auf dem er herumkauen konnte, und ziemlich unerwartet auch eine Haut voller Bier, das so stark war, dass er vorsichtig daran nippen musste und es nicht hinunterstürzen konnte, denn sonst würde er alles gleich wieder ausspucken. Zuerst versetzte es seinen Magen in Unruhe, aber dann wärmte es ihn genug, dass er sich auf dem harten Wagen zwischen den Resten des schmutzigen Strohs niederlassen konnte. Er schloss die Augen und döste, während die Wächter im Schutz des verlassenen Turms am Feuer saßen und sich unterhielten. Er hörte ihre Stimmen.
»Mir gefällt der Himmel nicht.« »Was, diese Wolken? Es geht nicht genug Wind, um sie hierher zu treiben.« »Nein, sieh dir doch nur diese Farbe an. Das ist nicht normal. Da kommt ein schrecklicher Sturm auf uns zu, glaub mir.« »An welchen Hexentitten hast du einst genuckelt? Du hast dem Verrückten zugehört.« »Ach, hör doch auf, Heric. Was hast du überhaupt gegen ihn?« »Er hat mir mein Mädchen weggenommen!« »Der dreckige Kerl? Wohl kaum.« »Damals war er ganz sauber und hat die Tunika eines Edelmanns angehabt und überall leuchtende Juwelen. Natürlich hat er sie mir weggenommen! Er ist ein Dieb und ein Betrüger ...« Ein Dieb und Betrüger - er glitt in Dunkelheit und träumte. Ein junger Edelmann schläft mitten in einem Haufen Gold und Edelsteinen; um ihn herum schlafen sechs Kameraden, 499 aber aus den Schatten kriechen knorrige Gestalten, deren Haut wie Zinn glänzt. Sie flüstern, klopfen und suchen. Suchend bahnen sich Flüsse aus Feuer neue Wege tief unten in der Erde, und die Welt erzittert. Der Sturm ist da. Die Geheiligte neigt ihren grauen Kopf, während sie den Sonnenuntergang betrachtet. Von ihrem Aussichtspunkt neben der Steinkrone, der östlichsten ihrer Art, sieht sie zu, wie das in alter Zeit begonnene und geplante Weben in den Händen derer, die jetzt ihre Feinde und nicht ihre Verbündete sind, erneut zum Leben erwacht. Sie ist so müde. Ein Teil von ihr hofft, dass diese Nacht ihre letzte sein wird, dass sie zu alt ist, um die Macht dieses Sturms zu ertragen. Sie weint nicht, denn sie hat zu lange gelebt und im Laufe dieser fahre zu viele schwere Entscheidungen getroffen, um noch weinen zu können, ist einen Weggegangen, auf dem sie nicht zurückkehren und den sie auch nicht zurückverfolgen kann. Aber da war eine, die sie unvorhergesehenerweise und unerklärlicherweise geliebt hat. Zauberei erfordert einen Preis, auch wenn die Menschen in ihrem unglaublichen Hochmut dieses Prinzip nicht immer begriffen haben, jeder Geste, jeder Entscheidung steht eine Folge von gleichem Gewicht gegenüber. Und doch ertränkt die Leidenschaft die Vernunft. Obwohl sie wusste, dass es dumm war, griff sie nach dem Pfad der Toten und verbrauchte mehr Kraft, als sie es hätte tun sollen, denn sie wollte diejenige glücklich machen, die sie wie eine Tochter liebte. Adica. Sie hatte nie eine eigene Tochter gehabt; das war verboten gewesen. Sie liebte zu sehr, wo sie doch gar nicht hätte lieben dürfen, und diese Tat der Liebefiel in einer Art und Weise auf sie zurück, wie sie es nie erwartet oder gewünscht hatte. Indem sie mit den Pfaden der Toten herumhantierte, verrückte sie den Strom ihrer eigenen Seele. 500 So lange war der Tod ihr verweigert worden. Sie sah die Auswirkungen ihres großen Unterfangens sich entfalten, und alles entwickelte sich anders, als sie es gehofft hatte. Sie lebte, während ihr Volk langsam starb und verschwand, da die Menschen in ihre alte Heimat einwanderten, ihre Puras stahlen oder kastrierten und ihre Töchter eine nach der anderen zur Strecke brachten. Sie will schlafen, aber sie muss wach bleiben, um ihr Volk zu retten, das sie verdammt hat, ohne es zu wollen. Sie wird noch eine Nacht wach bleiben, und dann wird sie sich hinlegen und sterben und andere die Bürde tragen lassen, die sie so lange getragen hat. Man sollte vorsichtig mit dem sein, was man sich wünscht. »fetzt!«, ruft Starkhand, und dann führt er den Befehl der WeisMütter aus. Er springt mit erhobener Axt vor. Die Klinge glänzt, und wo Licht flackert Machen Blitze den Himmel weiß, und anstelle von Donnern hört er einen heiseren, schadenfrohen Schlachtruf, als der Boden zu beben beginnt »Oh Gott! Oh Gott! Holt die Pferde!« Er erwachte, aufgeweckt von der bebenden Erde, und machte einen Satz bis zum Ende der Kette, während er den schattenhaften Gestalten der Männer hinterherstarrte, die ihre Pferde in den Wald Richtung Norden trieben. Sogar die Ochsen rissen die Köpfe hoch und trotteten vom Erdbeben aufgeschreckt davon. Ulf rannte fluchend hinter ihnen her. Eisenfesseln schnitten in seine Handgelenke und die Knöchel, so dass es blutete, als er versuchte, ihnen hinterherzulaufen, aber sie hatten ihn vergessen. Der Himmel über ihm war eine einzige weite Fläche aus Blitzen, die die Sterne verhüllten und dem Himmel eine Farbe verliehen, die so abscheulich war wie die einer Leiche, der das Leben und die Seele entwichen sind. Das Wasser am Ufer war weit über die Linie der Ebbe hinaus zurückgewichen, so 501 dass der Meeresgrund und eine Reihe scharfer Felsen entlang der Biegung des Kammes zum Vorschein kamen. Fische zappelten in flachen Gezeitentümpeln. Er atmete tief ein, obwohl die Luft sich wie Suppe anfühlte. Ein lautes Rumpeln erschütterte den Boden und brachte den Wagen so sehr in Schräglage, dass er umstürzte und der Pfosten, an den er gebunden war, entzweibrach. Der Turm ächzte, als er sich zur Seite neigte und dann mit lautem Getöse in sich zusammenfiel. Staub und Trümmer wogten über ihn hinweg, ließen ihn würgen. Er lag benommen da, hörte aus weiter Ferne das schrille Wiehern von angsterfüllten Pferden. Der Wind vertrieb die Wolke mit einer solch heftigen Böe, dass die Staubdecke hinaus aufs Wasser getrieben
wurde. Der Boden bebte noch immer. Er neigte sich und schwankte, als wäre er lebendig, und als er in der Lage war, den pochenden Kopf zu heben, sah er den großen Drachenrücken-Kamm zerbersten, während Unmengen von Felsbrocken ins Wasser der Meerenge stürzten. Der Kamm krümmte sich. Der Lärm, mit dem die Steine aufprallten, war ohrenbetäubend. Das Donnern und Krachen dröhnte so schmerzhaft in seinen Ohren, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Er bewegte sich. Der Drachenschwanz peitschte zur Seite, warf Bäume um. Als seine Flanke sich hob, krachte Erde in die Meerenge und begrub das alte Ufer. Als er eine Klaue hob und wieder senkte, erzitterte der Boden. Er reckte den auf einem schlanken Hals sitzenden Kopf gen Himmel. Er schwenkte den riesigen Körper herum, beugte den Nacken und senkte den Kopf zum Boden, nicht einen Steinwurf entfernt von dem Käfig, in dem er an Ketten gebunden dalag. Er kämpfte sich auf die Knie, um ihn anzusehen. Der Drache hatte goldfarbene Schuppen, die so hell leuchteten, dass er blinzeln musste. Die Augen glänzten wie Per502 len. Ein einzelner Blutstropfen quoll aus einem Schnitt am Bauch, zerplatzte und lief die Furchen entlang, die seine Klauen verursacht hatten, um sich über Alain zu ergießen. Die klebrige Flüssigkeit brannte sich durch die Fetzen, die er trug, bis in sein Herz hinein. Mein Herz ist die Rose. Jedes Herz ist die Rose des Heilens, das Barmherzigkeit kennt und sie erblühen lässt. Er starrte erschreckt auf die Schönheit dieser Kreatur, als diese blinzelte, ihn ihrerseits musterte, dann eine Dampfwolke ausstieß, den Kopf hob und die gewaltigen Schwingen ausbreitete. Sie waren so riesig, dass das gesamte Kloster plötzlich im Schatten lag. Sie zog die Hinterbeine an, wartete einen Atemzug, zehn Atemzüge, hundert Atemzüge. Er hörte die Böe kommen, noch ehe er sie spürte; er hörte sie durch den Wald rasen, Bäume niederreißen - ein heulender Wind aus Südosten. Der Wind schlug zu. Der Drache sprang. Die Sturmböe peitschte über ihn hinweg. Der Schatten des Drachen verschwand, und das Gewicht seines Luftzugs drückte ihn nach unten. Das Meer trat über die Ufer. Mochten Gott barmherzig sein mit den Seelen, die in diesem Sturm gefangen waren, aber alle Seelen auf der Erde waren in diesem Sturm gefangen, ob sie es wollten oder nicht, ob sie irgendwo Unterschlupf fanden oder sich im Freien dagegen wappneten. Die Sterne waren erloschen. Alles, was er über sich sehen konnte, war ein wirbelnder Dunstschleier, eine Mischung aus Staub und Asche und Wind und herumwehenden Blättern und Funken von dem riesigen Netz des Webens, das Adica gemacht hatte und das jetzt endlich beendet wurde. Jemand würde die Stücke aufsammeln müssen. Das Tosen des Meeres erfüllte seine Ohren, und eine riesige Welle schwappte über ihn hinweg, obwohl eigentlich keine Welle diesen hochgelegenen Landstrich überspülen konn503 te. Er rollte in der Brandung hin und her, blieb unter der Wasseroberfläche gefangen, festgehalten von seinen Ketten. Er ging unter. Am nordöstlichen Ufer des Mittleren Meeres, wo das mittlere Juwel der Sternenkrone prunkvoll glitzert, öffnet sich die Erde und umschließt die Krone in einer Säule aus geschmolzenem Feuer. Über dem Land bricht die Sternenkrone und die durch sie gewobene Beschwörung in sich zusammen. Ein Schatten taucht aus der Luft auf, nimmt vor der messerscharfen Klippe, die an das Wasser grenzt, Gestalt an. Am ganzen westlichen Ufer des großen Stiefels von Aosta erwachen die Vulkane bebend zum Leben. Lava quillt aus der Erde. Risse klaffen auf einst ruhigen Feldern. Schlamm und Asche begraben Hänge, Städte und Flüsse. Der Ozean schäumt, als all das Wasser, das durch das zurückkehrende Land verdrängt wird, nach draußen strömt, auf die fernen Ufer zu. Wo diese Woge auftrifft, wird das Ufer vollkommen überschwemmt. Die Erde stöhnt. Entlang des nördlichen Meeres trocknen die Flussmündungen aus, als das Land einen Fingerbreit nach oben ruckt, um ein Gegengewicht zu dem Gewicht zu bilden, das so abrupt ins Mittlere Meer gefallen ist. An manchen Stellen fließen die Flüsse rückwärts. Häfen befinden sich plötzlich hoch oben und liegen auf dem Trockenen. Überall erzittert der Boden. Der Sturmwind, der über das Land fegt, ebbt in der Wildnis ab, wo stumme Tiere ohne Verstand an den letzten Resten schnüffeln. Tief in der Erde rennen Kobolde durch uralte Labyrinthe, suchen ihre verlorenen Hallen. Draußen im Ozean kreist das Mervolk, taucht tief, um dem Mahlstrom über sich zu entkommen. Draußen in der Steppe kauert das Pferdevolk in Mulden und Senken, die ihnen etwas Schutz vor dem heulenden 504 Wind gewähren. Die Magie der Geheiligten schützt sie, auch wenn dabei das Leben aus ihr herausrinnt. Jene, die in der seit langem vergangenen Zeit am stärksten geschädigt wurden, reiten in den Sturm hinaus, denn sie haben jetzt am wenigsten zu verlieren. Es sind die Menschen, die am meisten leiden. Vielleicht hat Li'at'dano
das die ganze Zeit über gewusst, vielleicht hat sie sogar geplant, dass die zwei größten Bedrohungen ihres Volkes - die Verfluchten und ihre menschlichen Verbündeten - Schaden nehmen. Vielleicht haben die WeisMütter vermutet, dass die Menschheit die größte Wucht des Rückpralls auffangen würde. Vielleicht hatten sie auch keine andere Wahl, da sie wussten, dass der Gürtel bereits gedreht war, dass der Pfad durch den Wald, dem sie folgen mussten, bereits geebnet war. Sie sprechen durch Felsen und durch Wasser zu ihm, auch wenn das salzige Meer ihre Stimme beinahe erstickt. Es. Ist. Vollbracht. Du. Hast. Uns. Gerettet. Die Verbindung verschwindet, und sie ziehen sich zurück. Die Flutwelle zog sich ins Meer zurück, riss jedes lose Trümmerstück mit sich in die Meerenge hinaus. Zuerst wurde der Wagen von der Wucht mitgerissen, aber dann verkeilte er sich zwischen den umgestürzten Steinen der Kirchenmauer, und die Ketten hielten ihn fest. Mitgenommen, aber am Leben, hockte er keuchend und schnaufend auf dem nassen Boden, während das Wasser zurückwich. Die Sonne kam hervor. Es war ein kalter, bewölkter Tag. Am Himmel war kein Blau zu sehen, und ein aschegeschwängerter Dunstschleier dämpfte das Tageslicht, aber dennoch hatte die Welt überlebt. Er hatte überlebt. Er war schwach und erschöpft und durchnässt und hungrig und durstig und schmutzig, und trotz allem empfand er Ruhe und Frieden. Es war geschehen. Er hatte den Anfang und jetzt das Ende gesehen. Die Ster505 nenkrone war ausgelöscht. Die Ashioi waren aus ihrem Exil zurückgekehrt. »Der Herr möge uns retten!«, sagte eine Männerstimme, die er wie durch einen dämpfenden Vorhang hörte. »Kann irgendjemand das überlebt haben? Los dann, Jungs!« Hunde bellten. Er hörte sie durch Teiche aus schlammigem Wasser platschen, hörte das Klatschen ihrer Pfoten auf dem Boden. Er versuchte die Augen zu öffnen, aber sie waren mit salzigem Schmutz verkrustet, und erst als ihre Zungen ihn leckten, alles wegwischten, was ihn blind gemacht hatte, konnte er wieder sehen. »Kummer!«, flüsterte er. »Rage!« Sie jaulten, als sie ihn anstießen und vor Freude mit den Schwänzen wedelten. Sie waren dünn und dreckig und überglücklich. Das Salz hatte die Beschläge aufgerissen, die ihn festgehalten hatten, und als die Hunde über ihn hinwegkletterten, fielen die Ketten von ihm ab. Ein Mann kam in Sicht, ragte über ihm auf. Er stieß einen Laut des Entsetzens aus oder einen leisen Fluch oder ein Gebet. »Alain?« Er kniete neben ihm nieder, aber er berührte ihn nicht, noch nicht. Stattdessen zog er ihm die schweren Ketten vom Körper. Er weinte. »Ich habe es gehört, Junge, aber ich musste selbst nachsehen. Sie haben gesagt, du wärst über den Kamm gegangen. Und dieser Sturm! Oh Herrin. Es gibt mindestens drei Tote im Dorf, und ich bin noch nicht zu Hause gewesen, um zu erfahren, wie es Bei und den anderen geht. Mein Gott. Wie kann ein Mensch nur so grausam sein, einen anderen auf solche Weise zu behandeln?« Er riss die Augen auf. »Vater?« Henri sah viel älter aus; er hatte mehr Falten im Gesicht, und seine Haare waren grau. Aber dieses vertraute, geliebte Gesicht! Tränen waren auf den Wangen des Kaufmanns zu sehen. 506 »Oh Gott, Junge, kannst du mir verzeihen? Auch wenn du nicht der Sohn des alten Grafen warst, hast du das nicht verdient. Ich habe dich besser erzogen, als dass du auf solche Weise lügen und betrügen würdest. Ich nehme an, der alte Graf hat das für sich selbst entschieden, und wie hättest du es ablehnen können? Da war ein Mädchen, mit dem er geschlafen hatte, das brachte ein tot geborenes Kind zur Welt - ziemlich zur gleichen Zeit, als du geboren wurdest. Er hat es vielleicht anders gesehen, hat vielleicht darauf bestanden, dass du sein Sohn bist. Alter Kummer kann Menschen manchmal dazu bringen, so etwas zu tun. Ich hätte dir trauen sollen. Ich hätte dich besser kennen sollen. Ich habe dir gegenüber versagt, mein Sohn.« Die Worte strömten in einem Schwall heraus, der so kräftig wie die Flut war, und Alain blieb gestrandet und außer Atem zurück. Er war noch immer benommen, erschüttert und bestürzt, und die Hunde lagen halb auf ihm, drückten sich so eng wie möglich an ihn. Henri runzelte die Stirn, wischte die Tränen weg und sprach wieder. »Weg da, ihr Halunken!« Erstaunlicherweise krochen die Hunde brav zurück; ihr leises Knurren war nichts weiter als ein Protestlaut. Zögernd, als wäre er sich nicht sicher, ob er das Recht hatte, ihn anzufassen, legte Henri eine Hand auf Alains Arm. »Komm, Junge. Komm jetzt, steh auf. Stütz dich auf mich.« Mit seiner Hilfe konnte Alain stehen, obwohl seine Beine noch zittrig waren. Das Meer schäumte, das Wasser war grau und schmutzig, und die Inseln waren halb im trüben Dunst versunken. Die Ruinen waren von der Flutwelle sauber gewaschen worden, und Trümmer säumten jetzt die alte Küstenlinie. Doch der seltsamste Anblick war die neue Meeresbucht, die dort herausgebrochen worden war, wo sich einst der Drachenrückenkamm erhoben hatte. Bäume lagen wie wahllos verteilte Stöckchen auf einem zerklüfteten, felsigen Hang, 507 der dort, wo die Erde auf Wasser stieß, in Kanäle zerschnitten war, voneinander getrennt durch Erdhaufen und
Felsen, die beim Erwachen des Drachen in die Bucht gefallen waren. Entlang der Krümmung der Bucht, in der Ferne und zum größten Teil im Dunst verborgen, sah er die kleinen Bauernhütten und Langhäuser von Osna auf der Anhöhe oberhalb des Strandes. Soweit er es aus dieser Entfernung erkennen konnte, war das Dorf mehr oder weniger heil. Henri starrte in die gleiche Richtung. Die Hunde saßen geduldig daneben. »So eine Nacht habe ich noch nie erlebt«, sagte der Kaufmann mit zittriger Stimme. »Dieser Drache, der zum Leben erwacht ist. Der Sturm. Die Flutwelle. Sie hat Meistrin Garias Enkelin mitgerissen. Vielleicht ist es das Ende der Zeit. Vielleicht.« »Es ist das Ende«, sagte Alain, überrascht, wie fest seine Stimme klang. Er blickte an seinem nackten Körper herunter und war entsetzt, wie dünn er geworden war. »Und es ist auch der Anfang. Es werden harte Zeiten kommen. Aber ich bete, dass die Leute von Osna das Schlimmste hinter sich haben. Ich bete, dass sie keine größeren Härten mehr zu erwarten haben.« Henri blickte ihn forschend und gleichzeitig auch mit einem seltsamen Ausdruck der Achtung an. »Weißt du etwas darüber? Weißt du, ob es Gottes Hände waren, die uns gestreift haben?« »Ich weiß etwas darüber. Die Menschen haben dies verursacht, nicht Gott.« Der Kaufmann strich sich über das Kinn, dann runzelte er die Stirn. »Was ist das für ein Zeichen auf deinem Gesicht? Früher hast du dieses Muttermal nicht gehabt. Ist es eine Narbe? Es sieht aus wie eine Rose.« Die Rose der Herrin. So lange hatte er verkannt, was sie war - oder vielleicht hatte die Herrin der Schlachten das getan. Vielleicht hatte sie ihn in die Irre geführt. Vielleicht war 508 die Herrin der Schlachten nicht seine Schutzherrin, sondern seine Feindin. »Es ist die Rose des Heilens, Vater. Sie soll mich daran erinnern, wie viel es noch zu tun gibt. Adica hat nicht so viel Schaden anrichten wollen, aber jetzt muss jemand versuchen, die Stücke aufzuheben. Ich werde es tun. Ich muss es tun. Wenn ich nur vorher ein bisschen schlafen könnte. Wenn ich ein bisschen essen könnte ...« »Bei wird mir den Kopf abreißen! Du bist ausgehungert und nicht besser als ein wilder Hund behandelt worden. Hier, komm jetzt.« Er setzte sich in Bewegung. Alain musste sich auf ihn stützen, um sich auf den Beinen zu halten, aber das war nicht schwer. Henri hatte einen starken Arm. »Ich habe einen Umhang für dich und ein Pferd, auf dem du reiten kannst. Du siehst zu krank und mitgenommen aus, um so weit gehen zu können.« »Wohin gehen wir?« »Nach Hause, mein Sohn. Wir gehen nach Hause.« Danksagung Ich möchte mich besonders bei Sherwood Smith bedanken, dessen triftige Bemerkungen zu dem vorletzten Entwurf mich dazu gebracht haben, die letzten Szenen einmal mehr zu überprüfen und daraufhin eine entscheidende Szene in der Mitte des Buches zu ändern. Meine Lektorin Sheila Gilbert blieb während der langen und mühsamen Arbeit an diesem Buch geduldig und verständnisvoll; Debra Euler und das restliche Team von DAW Books zögerten nicht, sich über mich lustig zu machen, wenn es nötig war. Die üblichen Verdächtigen standen mir mit Rat und Tat zur Seite - ihr wisst, wer gemeint ist.