Band 1602
Die Lady aus der Hölle von Jason Dark, erschienen am 24.03.2009, Titelbild: Dimitar Nikolov
Plötzlich ersch...
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Band 1602
Die Lady aus der Hölle von Jason Dark, erschienen am 24.03.2009, Titelbild: Dimitar Nikolov
Plötzlich erschien das Gesicht und war einen Augenblick später wieder verschwunden. Richard Lester fuhr hoch. Er hatte es nur aus den Augenwinkeln gesehen, aber die kurze Zeitspanne hatte ausgereicht, dass er vor Entsetzen erstarrte. Er war davon überzeugt, kein richtiges Gesicht gesehen zu haben. Zwar hatte es einem Menschen gehört, sogar einer Frau, aber wer lief schon mit einem Gesicht herum, das zur einen Hälfte skelettiert war? Denn deutlich hatte er die bleichen Knochen gesehen, auch wenn sie durch das künstliche Licht bläulich geschimmert hatten...
Lester wusste nicht genau, wie er die Entdeckung einstufen sollte. Er fragte sich, ob er diesen Schädel überhaupt gesehen hatte oder ob er nicht einer Einbildung erlegen war. Der Bildschirm des Computers, vor dem er saß, konnte ihm ebenfalls keine Antwort geben, auf ihm waren nur Zahlenkolonnen zu sehen, aber nicht diese Fratze. Er drehte den Kopf, um einen Blick in das Nachbarbüro zu werfen. Das gelang ihm ohne Mühe, denn in dem Bereich, in dem er arbeitete, war alles gläsern. Es gab zwar einzelne Büros, sie hatten aber keine normalen Mauern, sondern gläserne Wände. So konnte jeder seine Kollegen sehen, wenn sie vor ihren Bildschirmen saßen. Im Moment saß niemand dort, abgesehen von Richard Lester. Und auch er hätte eigentlich nicht hier sein sollen, aber er hatte es seinen Auftraggebern versprochen. Es ging um sehr viel Geld, das man ihm geboten hatte. Die Hälfte der Summe hatte er bereits erhalten, die zweite würde folgen, wenn die Informationen komplett waren. Das würde in einigen Minuten so weit sein. Mit den Zahlenreihen, die nur noch ausgedruckt werden mussten, konnten andere nichts anfangen. Sie waren verschlüsselt, doch seine Auftraggeber waren an den Code herangekommen, das hatte man Lester zumindest gesagt. Jetzt brauchten sie nur noch die Tabellen, um sämtliche Informationen zu haben. Es lief alles gut. Auch deshalb, weil sich Lester auskannte. Er wusste, dass das Institut auch in der Nacht nicht unbewacht war. Die elektronischen Wachtposten hatte er umgehen können, aber es gab als zusätzliche Sicherung noch die zweibeinigen Wachtposten, die zu bestimmten Zeiten patrouillierten, und genau diese Intervalle musste er ausnutzen. Das hatte er geschafft. Es blieben ihm noch knappe fünf Minuten, dann musste er weg. Es sollte kein Problem für ihn werden. Er musste die Infos nur noch ausdrucken, dann war die Sache gelaufen. Und jetzt war das Gesicht erschienen! Lester wusste nicht, wie er es einschätzen sollte. Hatte er sich geirrt? War das Gesicht irgendein Spiegelbild gewesen, eine Halluzination, ein Hologramm? Oder gab es tatsächlich einen Menschen, der so aussah? Das wollte er nicht glauben. Niemand konnte so existieren. Halb Mensch und halb Skelett. Egal wie oder was, Lester musste die Entdeckung aus seinen Gedanken verdrängen. Er hatte andere Dinge zu tun. Die ausgedruckte Liste nehmen und verschwinden. Wenn sich jemand auf seine Menschenkenntnis berufen hätte und man ihn gefragt hätte, wie er Lester einschätzen würde, dann hätte es nur eine nichtssagende Antwort gegeben. Ein grauer Durchschnittstyp, der nicht auffiel. Einer, den niemand beachtete. Recht klein für einen Mann,
Haare ohne Farbe. Irgendwie schon blond, aber mehr auch nicht. Hinzu kam das blasse Gesicht mit den farblosen Augen. Lester hatte andere Eigenschaften. Er war ein Tüftler, ein Computerfreak. In der Firma hörte man auf seinen Rat. Er war angesehen, aber das war ihm nicht genug. Er wäre gern Abteilungsleiter geworden. Das hatte man ihm verwehrt, und darüber ärgerte er sich so sehr, dass er zum Verräter geworden war. Er würde die geheimen Unterlagen verkaufen und dafür viel Geld kassieren. Und dann war er weg. Untergetaucht im Ausland. Nur nicht ohne Job, denn den hatte er schon so gut wie sicher, auch wenn die Arbeitsstelle außerhalb Europas lag, aber das war ihm egal. Bisher hatte er sich sicher gefühlt. Es hatte keine Hinweise darauf gegeben, dass man ihm auf die Schliche gekommen war. Bis er eben dieses Gesicht gesehen hatte. Mehr allerdings nicht. Ein Körper war ihm nicht aufgefallen. Trotzdem musste es ihn geben, und so ging er davon aus, dass er sich nicht allein in dieser Etage aufhielt. Aber wer war noch da? Von seinen Kollegen niemand. Die hätten auch nicht so ausgesehen. Von den Sicherheitsleuten auch niemand, ihre Rundenzeiten kannte er. Aber er war keiner Täuschung erlegen. Das gespenstische Gesicht hatte sich gezeigt und war einen Moment später wieder verschwunden gewesen. Das summende Geräusch des Druckers erzeugte bei ihm ein zufriedenes Gefühl. Er schaute nach rechts. Die Seiten wurden ausgespuckt, und Lester steckte sie in einen Umschlag. Die letzte Seite! Es hätte ihm eigentlich ein Stein vom Herzen fallen müssen, doch seine Unsicherheit blieb. Ihm würde es erst besser gehen, wenn er das Haus verlassen hatte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er spürte ihn auch in den Achselhöhlen. Was er hier getan hatte, das war so verdammt endgültig gewesen. Er wusste, dass es keinen Weg zurück gab. Wenn man ihn jetzt erwischte, gab es keine Ausrede mehr. Lester steckte den Umschlag ein. Die Innentasche seiner Jacke war geräumig genug. Jetzt musste er nur die paar Schritte zur Tür gehen und dann verschwinden. Es war alles so einfach. Niemand hatte ihn gesehen, niemand würde ihn sehen. Das dachte er... Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass man ihm bereits auf der Spur war. Er war eben zu gut, ein Perfektionist. Er wusste auch, wo sich die Kameras befanden.
Dass zusätzliche Sicherungen eingebaut sein könnten, daran dachte er nicht. Es hatte in seinem beruflichen Leben bisher alles geklappt, und das hier sollte der große Coup werden. Er wandte sich dem Ausgang zu. Es war eine Tür aus Glas. Dahinter lag ein Flur. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zu einem der Lifts. Drei Etagen musste er hinter sich lassen, dann war die Sache so gut wie gelaufen. Er ging auf die Tür zu. Und da geschah es. Plötzlich sah er wieder das Gesicht. Aber nicht nur das. Auch der Körper war zu sehen. Ein heißer Schreck durchfuhr ihn. Es war eine Frau, und ihr Gesicht war etwas Besonderes und Widerliches. Die rechte Seite bestand aus Knochen. Sein Atem stockte. Wie nebenbei nahm er den Körper wahr. Er war mit einem Kleid bedeckt, dessen Saum die Knie umspielte. Ob auch die Gestalt aus Knochen war, sah er deshalb nicht, aber ihm fiel etwas anderes auf. In der Hand hielt die Person ein Messer. Und dessen Spitze zeigte genau auf ihn! *** Der Raum hatte keine Fenster. Es gab Betonwände, ein eher indirektes Licht und verschiedene Monitore, die die Bilder wiedergaben, die von den Augen der Kameras geliefert wurden. Büros wurden überwacht. Leere Räume in der Regel, wobei es bei einem Raum nicht der Fall war. Denn dort befand sich ein Mann namens Richard Lester. Um ihn ging es. Und um eine Frau, die Jane Collins hieß und vor einem der Monitore saß, um einen Mann zu beobachten, der sich nicht wie ein Dieb verhielt, sondern ganz normal vor dem Bildschirm saß und arbeitete. Nur hatte er um diese Zeit da nichts zu suchen. Er besorgte sich Informationen auf eine noch altmodische Art und Weise, denn der Drucker spuckte das aus, was nicht für fremde Augen bestimmt war. Jane Collins dachte daran, dass dieser Mann irgendwie verrückt war. Er war Angestellter dieser Firma, aber er wollte sie hintergehen und Unterlagen stehlen. Genau das hatten gewisse Leute vorausgesehen und Jane Collins engagiert. Sie verdiente ihr Geld als Detektivin und nahm die verschiedensten Aufträge an. Hier ging es um Industriespionage. Ein gewisser Richard Lester sollte auf frischer Tat ertappt werden. Nur wollte die Firmenleitung das nicht allein dem Sicherheitspersonal überlassen. Man hatte noch eine
Detektivin engagiert, und Jane war dies gar nicht mal so unrecht gewesen, denn die Arbeit wurde gut bezahlt und war mal wieder was Neues, auch wenn sie stundenlang im Überwachungsraum bocken musste, zusammen mit den vier Männern vom Sicherheitspersonal Sic waren eingeweiht und konnten sich nur darüber wundern, dass Jane m ich als zusätzliche Detektivin engagiert worden war. Zuerst hatten sie gedacht, dass sie kontrolliert werden sollten oder man sie nicht für fähig genug hielt, aber ein Telefonanruf aus der Firmenzentrale hatte sie beruhigt. Der Chef der kleinen Truppe hieß Marc Burton. Er stand hinter Jane Collins. Mit seinem breiten Körper und dem knochigen Gesicht konnte er Menschen schon Furcht einjagen. Hinzu kam die dunkle Uniform, die für einen gewissen Respekt sorgte. »Der ist doch blöd«, zischelte Burton. »Der weiß doch, dass er unter Kontrolle steht.« »Vielleicht auch nicht.« »Wieso? Er muss sich hier auskennen.« »Schon klar. Möglicherweise fühlte er sich zu sicher. Wer kann schon in den Kopf eines Menschen hineinschauen?« »Jedenfalls ist er für mich durchgedreht.« »Klar. Wer ist das nicht?«, murmelte Jane. Irgendwie gab sie dem Mann recht. Durchgedreht waren viele Menschen, und es wurden immer mehr, das stand auch fest. Die Welt war verrückt. Davon konnte gerade eine Frau wie Jane Collins ein Lied singen. Die anderen drei Männer konzentrierten sich auf die übrigen Monitore. Es war auf den Bildschirmen alles okay. Niemand schlich durch die Büros und geriet in den Bildausschnitt der Kameras. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass sich jemand so verhielt. Das war nicht zu fassen. Da hatte sich jemand völlig überschätzt, und es würde nicht lange dauern, dann war er überführt. Im nächsten Augenblick zuckte Jane zusammen. Der Mann hinter ihr stieß einen zischenden Laut aus. Auch er hatte die Veränderung auf dem Monitor gesehen. An der Seite hatte es eine Bewegung gegeben. Dort war für einen Moment etwas erschienen, was nicht dorthin gehörte. »Haben Sie das gesehen, Jane?« »Ja.« »Und?« »Ich kann Ihnen nichts sagen. Ich -ich weiß es nicht.« »Aber da ist etwas gewesen!« Jane nickte. »Das schon. Man konnte es nur nicht erkennen. Es war wie ein Schatten.«
Marc Burton beugte sich tiefer. »Ja, ein Schatten. Aber wenn mich nicht alles täuscht, hatte er einen menschlichen Umriss. Ich meine sogar, ein Gesicht gesehen zu haben.« »Sind Sie sicher?« »Nun ja, so genau nicht, aber ...« Beide starrten den Monitor an, der nur das Bild zeigte, das sie kannten. Kein Fremder war zu sehen, abgesehen von Richard Lester, der sich weiterhin mit dem Computer beschäftigte. Er ließ die Unterlagen ausdrucken, steckte sie in einen Umschlag und wandte sich der Tür zu. »Jetzt haut er ab!« Burton lachte rau. Alles wies darauf hin. Er musste auch nur zwei Schritte gehen, dann hatte er die Tür erreicht. Er ging den ersten, den zweiten nicht mehr, denn da geschah etwas, das nicht nur ihn überraschte. »Was ist das denn?«, keuchte Burton. »Eine Frau«, flüsterte Jane, »und sie hält tatsächlich ein Messer in der Hand.« »Schauen Sie sich mal das Gesicht an!« Jane Collins sprang auf. »Kommen Sie! Ich glaube, jetzt geht es um Sekunden ...« *** Können Gespenster Messer haben? Können sie damit auch umgehen und sie Menschen in den Körper stoßen? Es war schon seltsam und völlig ungewöhnlich, welche Fragen Richard Lester durch den Kopf schössen, als er die Gestalt anschaute. Wer oder was immer sie auch sein mochte, eines stand für ihn fest: Sie war eine tödliche Gefahr für ihn, und sie musste Kräfte besitzen, die über die eines Menschen weit hinausgingen. Zudem kam es ihm vor, als wäre die Wirklichkeit zurückgewichen und hätte etwas anderem Platz gemacht. Der Tod war da! Er hatte seine Region verlassen, und er war auch nicht als Sensenmann erschienen, der aus bleichgrauen Knochen bestand. Et trug auch keine Kutte und hatte keine Kapuze über den Kopf gestreift. Dieser Tod war anders, er war zudem nicht männlich. Der weibliche Tod sagte nichts. Das Gesicht blieb unbewegt. Der Tod zeigte nach wie vor die menschliche Maske, und weil nichts passierte, kam Lester der Gedanke, dass ihm die Gestalt die Chance geben wollte, von seinem normalen Leben Abschied zu nehmen. Ja, er lebte noch. Und es kamen ihm die Gedanken, die nur ein Lebender haben konnte.
Er tat etwas. Er wich zurück! Dabei behielt er das Gesicht der Frau unter Kontrolle. Tatsächlich war die eine Hälfte nicht mehr normal. Das war also keine Täuschung gewesen. Diese Person sah tatsächlich so aus. Zur einen Hälfte war sie ein Mensch, zur anderen war sie der Tod. Und da war das Messer. Eine böse, eine lange Klinge. Lester ging zurück. Er hob beide Arme halb an und kreuzte sie vor der Brust. Sein Dutzendgesicht zeigte eine Mischung aus Bestürzung und tiefer Angst. Es ging jetzt um sein Leben, und plötzlich wünschte er sich, dass er von den Kameras beobachtet worden war. Er war ihnen ja aus dem Weg gegangen. Nun aber hoffte er, dass sie das schreckliche Bild auf einen Monitor übertrugen und man ihm helfen konnte. Es war nicht der Fall. Und dann huschte die Gestalt vor! Er hörte kein Auftreten. Sie schien zu schweben. Sie wurde tatsächlich zu einem Geist oder Gespenst, aber sie riss während ihrer Bewegung das lange Messer hoch. Lesters Gesichtszüge nahmen den Ausdruck einer wilden Panik an, denn er sah, dass die Killerin das Messer nicht mehr zurückziehen würde. Dann spürte Lester den Schmerz. Er hätte nie gedacht, dass es so etwas gab. Es war nicht zu beschreiben. Sein Körper schien in zwei Hälften geteilt zu werden, aber durch beide wühlte der Schmerz in all seiner Wildheit. Lester stand noch auf den Füßen, nur nicht mehr lange. Er merkte, dass die Kraft seinen Körper verließ und ihm die Knie weich wurden. Er sah wie seine Mörderin das Messer wieder aus seinem Körper herauszog. In den letzten Momenten seines Lebens klärte sich sein Blick. Er schaute nach vorn, sah all es überdeutlich - und dann war es vorbei. Es gab auch keinen Schmerz mehr. Es war nur dunkel, und Lester merkte nicht mal, dass er fiel und schwer aufschlug. Der Tod hatte sein Leben an sich gerissen... *** Jane Collins hatte bewusst nur Marc Burton mitgenommen. Die an deren drei Männer sollten sich im Überwachungsraum aufhalten und - wenn nötig - ihnen zur Hilfe kommen. Burton kannte den schnellsten und kürzesten Weg zum Ziel. Sie mussten in die dritte Etage. Sie hätten die Treppe nehmen können, aber sie wären dort nie schneller gewesen als mit dem Lift, und so nahmen sie ihn.
Beide schoben sich zugleich in die nicht eben breite und große Kabine. Sie blieben nicht lange stumm, denn Burton konnte sich nicht zurückhalten. »Wie ist das möglich?« »Was?« »Dass hier Personen eingedrungen sind. Das hätte nicht sein dürfen.« »Egal«, sagte Jane. »Es bringt nichts, wenn wir groß darüber nachdenken. Wir müssen es hinnehmen.« Das Gespräch war vorbei, denn sie hatten ihr Ziel erreicht. Marc Burton trug eine Waffe bei sich. Es war eine tschechische Pistole, die er jetzt zog. Jane ließ ihre Beretta noch stecken, aber sie war vorsichtig, als sie die Kabine verließ und mit einem langen Schritt den Flur betrat, der leer vor ihr lag. »Wo müssen wir hin?« »Weiter vor.« »Gut.« In diesem Moment meldete sich das Sprechfunkgerät des Sicherheitsmannes. Er verzog das Gesicht. Jane hörte ebenfalls die Stimme. Sie erkannte sie auch. Sie gehörte einem der Kollegen, der meldete, dass die Frau diesem Richard Lester keine Chance gelassen hatte. »Ist er tot?« »Ja.« »Und die Frau?« »Noch da.« »Okay, Ende.« Burton warf Jane einen längeren Blick zu. »Haben Sie alles gehört?« »Habe ich.« »Sie geht rücksichtslos vor. Wollen Sie nicht lieber zurückbleiben und mich meinen Job machen lassen?« »Nein!« Klar und hart klang die Antwort. »Das ist auch mein Fall, Mr. Burton.« »Ich habe verstanden.« Seine Stimme klang plötzlich gepresst. Der Mord machte ihm zu schaffen. Jane konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. »Wohin müssen wir genau?« »Es ist die letzte Tür.« »Danke.« Jane wusste, dass vieles auf ihr Verhalten ankam. So leise wie möglich bewegten sie sich und glichen selbst Geistern, die ihre Welt verlassen hatten. Man konnte von einer gespenstischen Stille sprechen, die oben herrschte. Finster war es nicht. Es existierte eine Notbeleuchtung, die einen schwachen bläulichen Schimmer abgab, der für eine relativ gute Sicht sorgte.
Jane machte sich trotz der Konzentration Gedanken darüber, warum dieser Richard Lester umgebracht worden war. Und noch stärker dachte sie daran, wer dahintersteckte. Okay, es war eine Frau, eine Täterin, und das genau wollte ihr nicht in den Kopf. Wer besaß diese Abgebrühtheit, so etwas zu tun? Und wie konnte ein Mensch nur so aussehen? Das Gesicht bestand aus zwei verschiedenen Hälften. Zum einen war es menschlich, zum anderen lagen die Knochen frei. Das war normal nicht zu erklären. Oder es wäre vielleicht zu erklären gewesen, wenn die Person tot gewesen wäre. Aber sie lebte, sie bewegte sich wie ein normaler Mensch. Eine Maske? Ja, das konnte sein. Musste aber nicht. Viele Zeugen hätten so gedacht, das stand für Jane fest, aber sie hatte in ihrem Leben einfach schon zu viel erlebt, um auch an die andere, die ungewöhnliche und unglaubliche Seite zu denken. So etwas konnte auch echt sein ... Beim Gedanken daran rieselte es kalt ihren Rücken hinab. Als sie einen schnellen Blick auf Burton warf, sah sie, dass es ihm nicht anders erging. Auf seinem Gesicht hatte sich ebenfalls eine Gänsehaut gebildet. Er hielt die Lippen fest zusammengepresst und atmete nur durch die Nase. Die große Sicherheit war bei ihm verschwunden. Jane zog jetzt ihre Waffe. Sie schaute nicht nur nach vorn. Ihre Blicke glitten auch nach links. An dieser Seite befanden sich die Büros. Rechts war eine Wand, an der Bilder hingen. Fotos mit schlichten Rahmen. Durch die Glaswände schaute Jane in die Büros hinein. Nichts war dort zu sehen, was sich bewegt hätte. Nur die Notbeleuchtung warf ihr Licht durch die Scheiben. Der Weg war kurz. Beide bewegten sich vorsichtig. Eben wie Menschen, die jeden Augenblick mit einer bösen Überraschung rechneten. Noch tat sich nichts. Die Stille sah die Detektivin als gefährlich an, als sie sich ihrem Ziel immer mehr näherten. Marc Burton war etwas zurückgefallen. Jane hörte schräg hinter sich seinen etwas schnaufenden Atem. Dabei stieß er die Luft immer wieder durch die Nase aus. »Die nächste Tür ist es.« Jane Collins nickte. Sie hätte jetzt normal in den Raum hineingehen können, was sie nicht tat, denn sie dachte an die Glaswand an der linken Seite. Man konnte nicht nur in das Büro hineinschauen, sondern auch hinaus, und deshalb waren sie vom Büro aus gut zu erkennen - wie zwei Schattengestalten, die durch ein schummriges, bläuliches Licht schritten. Jane hielt an, als sie die Glasfront erreichte, die an dieser Seite die Bürowand bildete.
Sie schielte in den Raum dahinter. Es war ein schräger Blick, der ihr nicht erlaubte, das gesamte Büro zu überblicken. Teile davon schon, aber sie hatte auch Pech, denn sie sah zunächst nichts. Abgesehen von der Einrichtung, die ihr völlig normal vorkam. Der Schreibtisch, der Stuhl davor, der Computer, das Telefon integriert in eine Sprechanlage. Metallregale, in denen Akten standen, das war wirklich alles, und nichts wies darauf hin, dass hinter der Glasscheibe ein schreckliches Verbrechen geschehen war. Marc Burton hatte nicht in das Büro hineingeschaut. Er stand noch hinter Jane, wurde aber von der Neugierde getrieben und flüsterte: »Was sehen Sie?« »Ein normales Büro.« »Und Lester?« »Den sehe ich nicht.« »Das gibt es doch nicht!« »Doch, mein Lieber. Vergessen Sie nicht, dass Lester nicht mehr stehen kann.« »Ist auch wieder wahr. Dann kann es sogar sein, dass seine Killerin den Ort des Geschehens verlassen hat. Oder wie sehen Sie die Dinge, Miss Collins?« »Ich denke nicht.« Burton wusste keine Antwort. Er war in diesen Augenblicken überfragt und überließ Jane Collins gern die Führung. Er zuckte nur leicht zusammen, als sie erklärte, dass sie das Büro betreten wollte. »Lassen Sie das lieber.« »Warum?« »Ich denke, wir sollten Verstärkung holen.« »Nein, ich gehe!« Jane brauchte nur einen halben Schritt nach vorn zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Natürlich bestand auch die Tür aus Glas. Sie hatte allerdings eine Metallklinke. Sie fühlte sich kühl an, als Jane eine , Hand darauf legte. Zwei, drei Sekunden dauerte ihre Konzentration, dann bewegte sie die Klinke nach unten. Die Mündung der Pistole schaute zuerst in das Büro hinein. Jane war bereit, sie sofort zu schwenken, wenn das Ziel plötzlich auftauchte. Sie sah es nicht, sie entdeckte auch Richard Lester nicht, aber der konnte auch hinter dem Schreibtisch liegen. Was ihr auffiel, war ein seltsamer Geruch. Es war für sie schwer, ihn zu erklären. Die Luft roch irgendwie scharf. Das hier war nicht normal. Dahinter steckte mehr. Jane spürte winzige Eisperlen auf ihrem Rücken. Der Mann hinter ihr war vergessen, und dafür gab es einen Grund.
Jane hatte den Eindruck, eine andere Zone betreten zu haben. Sie befand sich zwar noch in der normalen Umgebung, dennoch hatte sie den Eindruck, als hätte sie die Realität verlassen. Als wäre vor ihr ein Vorhang zur Seite geschoben worden, der allerdings durchsichtig war. Sie ging trotzdem weiter. Alles in ihr war auf Alarm eingestellt. Jane sah nichts, aber sie fühlte sich trotzdem nicht allein, und das hatte nichts mit Marc Burton zu tun. Wo lauerte die Gefahr? Die seltsame Luft blieb. Jane saugte sie durch die Nasenlöcher ein. Das war keine Luft, die in die normale Welt gehörte. Sie war anders - kälter und auch klarer. Die Detektivin bewegte ihren Kopf und schaute in verschiedene Richtungen, und dann sah sie rechts, wo der Schreibtisch stand, das Ende der Beine, die dort hervorschauten. Der Mann musste auf dem Rücken liegen. Sie erkannte es an der Haltung der Füße. Also war doch etwas passiert. Die Zeugen hatten sich nichts eingebildet. Und dann geschah es. Es war so schnell, dass Jane nicht reagieren konnte. Sie hatte sich darauf vorbereitet, dass sie eine Überraschung erleben würde. Nur nicht in der Art, wie es jetzt geschah. Plötzlich war sie da! Die Frau war nicht vom Himmel gefallen. Sie schien aus einer anderen Dimension in die Wirklichkeit getreten zu sein. Das war fast nicht zu begreifen, aber Jane musste damit fertig werden, denn innerhalb einer kaum messbaren Zeitspanne stand die Mörderin vor ihr und lächelte sie an ... *** Die Detektivin tat nichts. Sie konnte auch nichts tun. Sie hatte das Gefühl, an der Grenze zwischen zwei Wirklichkeiten zu stehen. Vor ihr stand die Mörderin. Die Mordwaffe hielt sie noch in der Hand. Die Spitze des Messers wies zu Boden. Es bestand keine direkte Gefahr für Jane Collins. Überhaupt war alles anders geworden. Der Eindruck, zwischen zwei Realitäten zu stehen, wollte einfach nicht weichen. Jane befand sich in der normalen, aber die andere Person, kaum eine Schrittlänge von ihr entfernt, hielt sich woanders auf. Und trotzdem war sie da. Aber war sie noch ein Mensch? Von der Gestalt her schon. Nun sah Jane das, was ihr schon auf dem Monitor aufgefallen war. Diese Frau hatte kein normales Gesicht mehr. Zwar war sie nicht von
einer strahlenden Helligkeit umgeben, aber Jane erkannte trotzdem, dass dieses Gesicht in zwei unterschiedliche Hälften geteilt war. Die linke zeigte die normale Haut, die rechte nur das bleiche Knochengerüst. Dabei war nur das Gesicht betroffen, die Haare nicht. Sie wuchsen als dunkle Flut bis auf beide Schultern. Die Veränderung teilte das Gesicht tatsächlich in zwei Hälften, genau in der Mitte,-denn sogar die Nase war betroffen. An der rechten Seite schimmerte sie knochenbleich, an der linken sah sie völlig normal aus. Es war ein abstraktes Bild, an das sich Jane erst gewöhnen musste. Da ihr der Schrecken und das Grauen nicht fremd waren, wurde sie auch mit diesem Anblick fertig. Weniger allerdings mit der Veränderung der Umgebung. Zum Greifen nah stand Jane der anderen Frau gegenüber, und doch kam sie Jane so weit entfernt vor. Hinter sich hörte sie die Flüsterstimme ihres Begleiters. Was er sagte, verstand sie nicht. Es war auch unwichtig, denn jetzt zählte einzig und allein die Fremde. Jane hatte damit gerechnet, dass sie angegriffen oder zumindest angesprochen wurde. Da dies nicht eintrat, unternahm sie selbst den Versuch. »Wer bist du?« Sie hatte die Frage halblaut ausgesprochen. Auf dem Weg zu der Fremden schienen die Worte zu versickern. Sie fand nicht mal heraus, ob sie überhaupt gehört worden war. Eine Antwort gab es zunächst nicht. Erst als Sekunden vergangen waren, hörte sie die Worte der Frau, die auch nicht mehr als ein Flüstern waren. »Geh mir aus dem Weg!« Es gab Augenblicke, da konnte Jane Collins stur wie ein Panzer sein, und das war jetzt der Fall, denn sie schüttelte den Kopf. Einer Mörderin würde sie nicht ausweichen. »Weg mit dir!« »Nein!« Die Frau hob das Messer! Für Jane Collins stand fest, dass diese Person keinerlei Skrupel hatte, einen weiteren Mord zu begehen. Aber das sollte ihr nicht gelingen. Deshalb hob Jane ihre Waffe und schoss. Im Magazin von Jane Collins' Pistole steckten geweihte Silberkugeln. Auf deren Kraft setzte sie. Sie hörte den Knall des Schusses, der die Stille zerriss, und sie wartete auf den Einschlag des Geschosses. Was die Detektivin in diesem für einen Menschen kaum messbaren Augenblick erlebte, das überstieg ihr normales Begreifen. Sie konnte nicht behaupten, dass sie den Körper der Killerin nicht getroffen hatte. Nur fehlte die Wirkung. Die Kugel hatte getroffen und trotzdem keinen Schaden angerichtet. Sie musste durch die Gestalt hindurchgeflogen sein. Zugleich aber hatte sich etwas bewegt.
Das war so schnell abgelaufen, dass Jane keine rechte Erklärung dafür fand. Sie hatte den Eindruck, als wäre vor ihr etwas verschoben worden und hätte dabei die Frau mit dem halben Knochengesicht mitgenommen. Sie war plötzlich weg. Sie hatte sich in einer anderen Realität bewegt und war dennoch vorhanden gewesen. Jane schaute nach vorn und über ihre Pistole hinweg, die zitterte, weil auch ihre Hand nicht ruhig blieb. Beinahe hätte sie gelacht. Die Reaktion blieb ihr im Halse stecken. Die Killerin mit dem verunstalteten Gesicht war nicht mehr zu sehen. Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben, doch daran glaubte Jane nicht. Endlich, nachdem einige Zeit vergangen war, hörte sie wieder einen menschlichen Laut. Hinter ihr stöhnte Marc Burton. Danach hörte sie sein Kichern. Jane drehte sich um. Burton stand da und sah aus, als wären ihm sämtliche Felle davon geschwommen. Er glotzte in das Büro hinein und ihm war anzusehen, dass er die Umgebung kaum normal wahrnahm. »Das ist doch nicht wahr - oder?« Jane Collins zuckte nur mit den Schultern. Etwas anderes konnte sie nicht tun. Sie stand selbst vor einer Frage, die sie nicht beantworten konnte. Irgendwie war das Geschehen in den letzten Minuten an ihr vorbeigelaufen. »Da war doch jemand - oder?« Die Detektivin nickte. »Und wo ist sie jetzt?« »Nicht mehr da.« »Und Sie haben geschossen?« »Ja, das habe ich.« »Und weiter?« »Hören Sie auf zu fragen, Mr. Burton. Ich kann Ihnen leider keine Antwort geben.« Burton lachte plötzlich. »Nein, nein«, sagte er dann, »so habe ich das auch nicht gemeint. Ich will nur wissen, ob Sie das Gleiche gesehen haben wie ich.« »Das denke ich.« »Was sagen Sie dazu?« Burton traute sich einen Schritt näher. »Bitte, können Sie ...?« »Nein, ich kann Ihnen nichts erklären. Wir müssen es zunächst hinnehmen, das ist alles.« Burton nickte. Er schien mit Janes Vorschlag einverstanden zu sein, hatte aber noch eine Frage. »Und was sagen wir der Polizei? Wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen?«
»Das stimmt. Ich werde mich gleich mit den entsprechenden Stellen in Verbindung setzen.« »Das ist gut.« »Aber zuvor schaue ich mir den Toten an.« »Ja, wie Sie wollen.« Marc Burton blieb an der Tür stehen, während Jane tiefer in das Büro schritt. Ihr Gesicht blieb dabei ausdruckslos. Nichts regte sich. Sie schaute sich auf dem kurzen Weg mehrmals um, weil sie noch immer damit rechnete, dass die Killerin plötzlich wie aus dem Nichts erschien und den Tod brachte. Bei dem Gedanken an den Tod stockte sie. Die Frau war der Tod gewesen. Er war diesmal nicht als knöcherner Sensenmann gekommen, sondern in Gestalt dieser eiskalten Person. Richard Lester lag auf dem Rücken. Es gab keinen normalen Blick mehr in seinen Augen. Dafür sah Jane das viele Blut, das aus der Wunde gequollen war. Es gab zwei Lachen, die den Körper einrahmten, und Jane nahm jetzt den Geruch wahr. Er hatte den anderen und ihr so fremden abgelöst, den sie beim Betreten des Büros wahrgenommen hatte. Dieser hier war einfach nur eklig, aber er war ihr auch bekannt. Hatte Lester das verdient? Jane stellte sich automatisch die Frage. Sie wusste nicht viel über ihn. Sie hatte mit dem Sicherheitspersonal zusammengearbeitet, doch erfolgreich war sie leider nicht gewesen. Marc Burton war ihr schließlich doch gefolgt und an ihre Seite getreten. Er hielt den Blick gesenkt, schaute sich den Toten an und schüttelte den Kopf. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass er etwas sagte. Dass er schluckte, sah Jane an den Bewegungen seines Kehlkopfes. »Wo ist sie hin?«, flüsterte er. Jane erhob sich aus ihrer gebückten Haltung. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, Mr. Burton. Sie können mich auch fragen, woher sie gekommen ist, aber auch darauf bekommen Sie keine Antwort von mir. Es ist mir ein Rätsel, das ich nicht lösen kann.« Er räusperte sich, bevor er fragte: »Und diese - diese Mörderin? Haben Sie die schon mal gesehen?« »Nein, Mr. Burton. Sie ist mir heute zum ersten Mal begegnet. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß beim besten Willen nicht, wohin ich sie stecken soll.« »War sie denn ein Mensch?« Jane runzelte die Stirn. »Sie sah so aus, das wissen wir beide. Aber kennen Sie einen Menschen, dessen Gesicht zur Hälfte aus Knochen besteht?« »Nein.« »Ich auch nicht.«
Marc Burton wollte unbedingt auf den Boden der Tatsachen zurück und nichts Unerklärliches gelten lassen. »Könnte es denn sein, dass sich diese Person eine Maske übergestreift hat?« »Das wäre schön.« »Sie glauben also nicht daran?« »So ist es.« »Und jetzt?« »Haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das wir mit den Gesetzen der Physik nicht erklären können.« Burton starrte die Detektivin an. Über den Satz musste er nachdenken. Bis er sich fing und flüsterte: »Dann gibt es für uns kein Begreifen, was diese Tat angeht.« Jane Collins gab eine ausweichende Antwort. »Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln.« »Hä? Wie soll ich das denn verstehen?« »Am besten gar nicht.« Für Jane stand längst fest, dass sie wieder mal in einen Fall geraten war, der für sie einige Etagen zu hoch war. Allein würde sie ihn nicht lösen können, aber sie wusste bereits, an wen sie sich wenden musste, auch wenn John Sinclair nicht begeistert sein würde, denn Jane hatte erfahren, dass er in seinem letzten Fall wirklich an die Grenzen gegangen war. Und jetzt, in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, hatte er einige Tage Urlaub machen wollen. Den würde er sich abschminken können, das stand für Jane fest. Ab jetzt galt es, eine Person zu jagen, die in der Lage war, die normalen Gesetze auf den Kopf zu stellen. Jane hatte nicht vergessen, dass sie so etwas wie zwei Realitäten erlebt hatte. Das musste für sie und John so etwas wie ein Ansatzpunkt sein. »Was ist denn jetzt mit der Polizei?« Jane winkte ab. »Keine Sorge, Mr. Burton, die werde ich anrufen. Und dann sehen wir weiter.« Der Mann starrte sie an. »Wie meinen Sie das denn?« Jane lächelte. »Es wird sich alles ergeben, glauben Sie mir ...« *** Die wilde Schlacht war vorbei, und bei ihr hatte sich praktisch eine uralte Vergangenheit wiederholt. Das Böse hatte auch diesmal nicht gewonnen. Die Tore zum Hades waren wieder verschlossen worden, dafür hatten Raniel, der Gerechte, und letztendlich ich gesorgt. Allerdings durch die Unterstützung der Erzengel, die dieses Grauen nicht hatten freiwerden lassen wollen. Somit waren die Menschen praktisch gerettet worden.
Ich hätte glücklich sein können, war es aber trotzdem nicht. Ich wusste genau, dass die Hölle niemals schläft. Sie und damit das Böse würden weiterhin versuchen, die Menschheit zu unterjochen, denn vergessen war nichts. Der Angriff war in Südtirol erfolgt. Inmitten einer winterlichen und grandiosen Gebirgslandschaft. Da hatten der Gerechte und ich uns gegen diese Welle gestemmt und sie zurückgeschlagen. Das alles war kurz vor Weihnachten geschehen, und es war mir gelungen, zum Fest wieder in London zu sein. Sheila und Bill Conolly hatten eine große Christmas-Party gegeben und ihre Freunde eingeladen. Dazu hatten Shao und Suko ebenso gezählt wie Jane Collins und Glenda Perkins. Es war ein wirklich schönes Fest geworden, nachdem es mir gelungen war, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln. Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr wollte ich nicht im Büro verbringen und hatte mir Urlaub genommen. Da ich ihn in London verbrachte, war aus dem Urlaub so etwas wie eine Bereitschaft geworden, denn ich wusste, dass die Mächte der Finsternis nicht schliefen. Zudem interessierte sie auch ein Weihnachten oder ein Jahreswechsel nicht. Ich wollte die freie Zeit nutzen und die Gräber der Menschen besuchen, die mir in der Vergangenheit einiges bedeutet hatten. Es waren nicht die meiner Eltern, da hätte ich schon nach Schottland fahren müssen. Ich wollte auf den Friedhof gehen, auf dem Lady Sarah Goldwyn, auch Horror-Oma genannt, und Frantisek Marek, der Pfähler, lagen, der in seinem Leben die Vampire bis zu seinem bitteren Ende gejagt hatte. Sein Leichnam war nicht in Rumänien begraben worden. Ich hatte ihn nach London schaffen lassen, und so lag sein Grab nicht weit von dem der Horror-Oma entfernt. Es war ein kleiner Friedhof, auf dem keine Beerdigungen mehr stattfanden. Dementsprechend schwach war er besucht, und das war auch nicht anders, als ich den Rover auf dem kleinen Platz in der Nähe des Eingangs parkte. Ich konnte den Friedhof betreten, nachdem ich ein kleines Tor geöffnet hatte. Es war ein Wintertag wie aus dem Bilderbuch. In den letzten Jahren war es um diese Zeit immer zu warm gewesen. Davon konnte man jetzt nicht mehr sprechen. Die Kälte aus dem Osten Europas hielt auch den Westen im Griff. Es war eisig geworden. Und es wäre noch eisiger gewesen, hätte der Wind freie Bahn gehabt. Das war hier nicht der Fall. Ich erlebte eine Windstille, dafür aber eine starke Sonne, die am blauen Himmel stand
und ihren blendenden Gruß auf die Erde schickte, die von einer silbrigen Reif Schicht überzogen war. Die Sonne stand sehr tief. Um besser sehen zu könne, setzte ich die Brille mit den dunklen Gläsern auf. So konnte ich mich besser orientieren und betrat das Gelände, auf dem nichts los war. Es gab keinen Besucher, der vor einem der Gräber stand oder auch nur einen kleinen Spaziergang unternahm. So wirkte das Gelände in der winterlichen Sonne und der Kälte wie eingefroren. Der Friedhof war mir nicht fremd, und so wusste ich genau, wohin ich zu gehen hatte. Ich besuchte zuerst das Grab meines Freundes Frantisek Marek. Es lag auf dem neueren Teil des Friedhofs. Ich fand es sehr schnell. Auch sein Grab war von einer Eiskruste bedeckt. Da ein Gärtner für seine Pflege sorgte, sah es gut aus, sodass ich mich nicht beschweren konnte. Tannenzweige verteilten sich auf der Oberfläche. Auch sie hatten durch die Kälte einen silbrigen Schimmer angenommen. Mehrere Zweige lagen übereinander, als wollten sie den Toten tief in der Erde wärmen. Automatisch kamen mir die Gedanken, die sich mit meinem rumänischen Freund beschäftigten. Über viele Jahre hinweg hatte er vor allen Dingen gegen die Brut der Vampire gekämpft, und er hatte den Kampf letztendlich verloren, ebenso wie seine Frau Marie, die ich hatte töten oder erlösen müssen, weil sie zu einer Blutsaugerin geworden war. Das alles lag Jahre zurück. Marek hatte den Kampf gegen die Blutsauger verbissen weitergeführt, bis eben zu seinem bitteren Ende. Ich schaute auf das Grab. Dabei sah ich ihn vor mir. In seinem alten Haus am Wald lebend. Einsam, aber nicht ohne Aufgabe. Ich konnte mich indirekt als sein Nachfolger ansehen, denn der alte Eichenpflock befand sich als Erbe in meinem Besitz. Ich sprach mit ihm und sagte mit leiser Stimme: »Wo du auch sein magst, alter Freund, der Kampf geht weiter, das verspreche ich dir hoch und heilig.« Ich erhielt keine Antwort aus der frostharten und kalten Erde, aber das Versprechen hatte er bestimmt gehört, in welchen Sphären er sich auch befinden mochte. Ich wandte mich vom Grab ab und ging auf den alten Teil des Friedhofs zu. Dort war das Gelände nicht so übersichtlich. Ziemlich dicht wuchsen hier die Büsche, die an den Rückseiten der Gräber einen Halbkreis bildeten. Das Grab der Lady Sarah war größer als das des Pfählers. Sie hatte nie einen besonderen Grabstein gemocht. Kein Engel aus Stein, der schützend seine Hände über die letzte Ruhestätte ausbreitete. Sie hatte
sich nie als etwas Besonderes gefühlt, obwohl sie genau das gewesen war, und deshalb stand auf dem Grab auch nur ein schlichter grauer Stein. Versehen mit Lady Sarahs Namen und ihren Geburts- und Sterbedaten. Als ich auf ihr Grab schaute, da musste ich schon hart schlucken und verspürte auch den leichten Druck hinter meinen Augen. Himmel, was hatten sie und ich alles erlebt! Sie war eine besondere Frau gewesen. Trotz ihres Alters irgendwie alterslos. Ihr Hobby war all das gewesen, was nicht in den Bereich des Normalen gehörte. Mit Mystik, mit dem Unerklärlichen, mit dem Horror oder dem Grusel, was immer es auch an ungewöhnlichen und unerklärlichen Dingen gab, hatte sie sich beschäftigt. In ihrem Haus wohnte jetzt Jane Collins, zusammen mit Justine Cavallo, einer Vampirin. Aber Jane hatte schon vor dem Tod bei Sarah Goldwyn gewohnt. Gemeinsam waren sie auch durch harte Zeiten gegangen und hatten beide nie aufgegeben, das Böse zu bekämpfen. Das hatte ich nicht immer toll gefunden, aber die Horror-Oma hatte eben ihren eigenen Kopf gehabt. Trotz ihres Alters war sie viel zu früh gestorben. Und auch nicht sanft eingeschlafen. Ihr Leben war durch die andere Seite beendet worden, und ich musste daran denken, wie viel Zeit mir noch blieb, bevor es auch mich erwischte. Bisher hatte ich Glück gehabt, aber Glück dauert nicht ewig, davon musste ich ausgehen. Es lag nicht nur am Grab der Lady Sarah, dass mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss. Der Jahreswechsel stand bevor. Da hatten Menschen nun mal solche Anwandlungen, was oft nichts mit dem Alter zu tun hat. Hinter dem Grab schimmerte es hell auf. Es war kein Geist, der da über den Friedhof huschte, sondern nur die Sonne, die ihre Strahlen auf einen mit einer dicken Eisschicht versehenen Strauch schickte, sodass das Eis das Sonnenlicht reflektierte. Die Welt drehte sich weiter. Ich lebte noch und hoffte, dass dies noch lange anhalten würde. »Ja, Sarah«, flüsterte ich und meine Lippen verzogen sich dabei zu einem traurigen Lächeln. »Schade, denn ich hätte gern mit dir weiterhin zusammengesessen und Tee getrunken. Mach's gut, meine alte Freundin. Bis zum nächsten Besuch.« Auch dieses Grab wurde gepflegt. Hier lagen die Tannenzweige ebenfalls und bildeten eine grüne Schicht. Da konnte man nicht meckern.
Ich warf einen letzten Blick auf die Grabstätte und wollte mich wegdrehen, als ich aus dem rechten Augenwinkel eine Bewegung in der Nähe wahrnahm. Das alles wäre nichts Besonderes gewesen, hätte es auf dem Friedhof mehr Betrieb gegeben. Ich war bisher allein auf dem Gelände gewesen. Zumindest hatte ich keinen anderen Menschen gesehen, doch das schien jetzt anders zu sein. Vielleicht war auch nur einer der dunklen Vögel dicht über das Gräberfeld geflogen und hatte mich durch seinen Flug irritiert. Jedenfalls drehte ich mich um. Nein, das war kein Vogel, dem ich diese Irritation zu verdanken hatte. Es war ein Mensch, der sich nicht weit von mir entfernt aufhielt. Ich hätte ihn eigentlich deutlich sehen müssen. Da mich aber die Sonne blendete - die dunkle Brille hatte ich abgenommen -, sah ich den Besucher nur unscharf. Ich setzte meine Brille auf und drehte mich halb nach rechts. Jetzt war die Sicht besser. Der Mensch war eine Frau. Das hätte mich nicht weiter gewundert. Mir fiel nur auf, dass sie trotz der Kälte ein kurzes Kleid trug, das über den Knien endete und auch ansonsten weit ausgeschnitten war. Und das bei dieser Kälte. Unnatürlich. Plötzlich erfasste mich ein ungutes Gefühl... *** Ein Friedhof ist immer ein exponierter Ort. Es gibt Menschen, die besuchen ihn gern, weil sie dort in Ruhe spazieren gehen konnten. Andere gehen nur hin, um Angehörige zu besuchen, und wieder andere lieben den Friedhof in der Nacht, um dort ihren unheilvollen Hobbys nachzugehen. Jetzt hatten wir Tag. Es war saukalt. Selbst Spaziergänger mieden den Ort, aber da stand eine Person vor mir, die gekleidet war wie in einem warmen Sommer. Da stimmte etwas nicht. Allerdings war es auch möglich, dass ich mich geirrt hatte und durch das Licht geblendet war. Deshalb beschattete ich trotz Brille noch meine Augen und stellte wenig später fest, dass ich mich nicht geirrt hatte. Es gab die Person in diesem ungewöhnlichen Outfit tatsächlich. Warum war sie gekommen? Hatte sie auf mich gewartet, um mir etwas zu sagen? Dann hätte sie mich kennen müssen, aber ich kannte sie nicht, das sah ich trotz der Entfernung. Was wollte sie von mir?
Sie verschwand nicht, sie schien auf mich zu warten. Ich wusste nicht, wie lange wir uns angestarrt hatten. In dieser Zeit hatte sie sich nicht bewegt. Sie schien darauf zu warten, dass ich etwas unternahm. Aber auch ich wartete. Es wurde mir kein Zeichen gegeben, näher zu kommen. Schließlich war ich es leid. Wenn die Frau nichts tun wollte, dann musste ich eben die Initiative übernehmen, denn ich war mir inzwischen sicher, dass sie meinetwegen gekommen war. Ich ging langsam auf die Frau zu. Ich wollte sie auf keinen Fall nervös machen und nur von ihr erfahren, ob sie tatsächlich auf mich gewartet hatte, und das in dieser Kleidung. Darüber machte ich mir schon meine Gedanken, denn ich sah, dass sie nicht fror. Sie zitterte nicht, sie blieb ruhig stehen und wartete. Ich beeilte mich nicht. Leider gab es keinen normalen Weg, der zu ihr führte. Ich musste über die Gräber steigen, die sich vor mir aufreihten, und gab dabei acht, nicht auf irgendwelchen glatten Steinen auszurutschen. Als ich am Grab stand, da hatte ich mich nicht so sehr auf ihr Gesicht konzentrieren können. Dazu war die Entfernung einfach zu weit gewesen. Jetzt hatte ich einen besseren Blick, und was ich zu sehen bekam, ließ mich den Kopf schütteln. Das Gesicht sah seltsam aus. Es wurde von einer langen und dunklen Haarflut umrahmt. Das war alles okay. Doch das, was sie umrahmte, stieß mir schon auf. Ich hatte den Eindruck, dass dieses Gesicht aus zwei Hälften bestand. Beide Seiten waren hell, aber eine, die rechte, war tatsächlich heller. Als läge dort eine dicke Paste oder Salbe auf der Haut, wobei man nicht mehr von einer normalen Haut sprechen konnte, was ich beim Näherkommen entdeckte. Da war keine Haut mehr zu sehen. Was mir aufgefallen war, konnte man als. Knochen bezeichnen. Plötzlich schlug mein Herz schneller. Dabei ging ich langsamer, weil die Überraschung dafür sorgte. Getäuscht hatte ich mich bestimmt nicht, und jetzt wollte ich es genau wissen. Ich hatte die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht, und genau in dem Augenblick, als ich meine Schritte beschleunigte, geschah es. Auf meiner Brust spürte ich einen scharfen Schmerz oder Stich. Mein Kreuz hatte sich gemeldet und mich gewarnt! Aber das war noch nicht alles. Dieses wunderbare Phänomen wurde zur Nebensache, als ich mit ansehen musste, was vor mir passierte.
Etwas zwischen mir und dieser ungewöhnlichen Person verschob sich. Als wären Glaswände bewegt worden, damit eine neue Szenerie entstehen konnte. Aber so war es nicht. Es entstand etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Die Wirklichkeit schien sich zu verschieben. Und das imaginäre Glas sorgte dafür, dass sich die Frau vor meinen Augen auflöste. Für mich sah es so aus, als wäre sie durch das Glas zur Seite geschoben und dann von ihm verschluckt worden. Einen Moment später gab es sie nicht mehr, und ich stand da, als wäre ich mit dem Kopf gegen eine Mauer gelaufen. Ich wollte mir mit der flachen Hand gegen die Stirn schlagen. Es gelang mir nicht, weil ich mich einfach nicht bewegen konnte. Die Überraschung hielt mich voll im Griff. Ich stand in der Stille wie eine Steinfigur, bewegte mich nicht vom Fleck und hatte zudem das Gefühl, dass selbst meine Gedanken eingefroren waren. Was war da passiert? Wer war diese Frau gewesen? Auf beide Fragen fand ich keine Antwort, aber mir schoss etwas anderes durch den Kopf, und das hing mit der Reaktion meines Kreuzes zusammen. Es hatte sich auf seine Weise gemeldet. Das war nicht grundlos geschehen. Mein Kreuz hatte diese Frau als Feindin erkannt, und damit gehörte sie zur anderen Seite. Aber was hatte sie hier auf dem Friedhof zu suchen? Wollte sie versuchen, einen Kontakt zu den Geistern der Toten aufzubauen? So etwas war nicht unmöglich. Das hatte ich schon öfter erlebt. Aber es konnte auch sein, dass sie meinetwegen hier erschienen war, obwohl ich sie noch nie im Leben gesehen hatte. Es blieb ein Rätsel. Trotzdem stand eines für mich fest. Die lockere, entspannte und freie Zeit zwischen den Tagen war für mich vorbei. Es gab wieder etwas, das ich aufklären musste. Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr kam mir zu Bewusstsein, dass diese so ungewöhnliche Frau mich gesucht hatte. Dafür gab es einen Grund, das lag auf der Hand. Welcher es genau war, darüber konnte ich nur spekulieren, ebenso über das Aussehen dieser noch namenlosen Person. Das Gesicht war es, das in meinem Gedächtnis hängen blieb. Es hatte nur auf den ersten Blick ausgesehen wie das einer normalen Frau. Auf den zweiten weniger. Da war ich zu nahe heran gewesen. Ich hatte die Veränderung erkannt. Zwar nicht überdeutlich, aber die rechte Hälfte des Gesichts war nicht normal.
Was genau mit ihr geschehen war, da konnte ich nur raten. Ansonsten musste ich es dabei belassen und vielleicht auch darauf warten, dass es zwischen uns zu einer zweiten Begegnung kam. Als mich dieser Gedanke durchzuckte, war ich sogar davon überzeugt. Die erste Begegnung zwischen uns hatte ihr nichts gebracht. Sie war vielleicht nur so etwas wie ein Test gewesen. Es würde zu einer zweiten kommen, und dabei würde sich einiges entscheiden. Auf der Stelle drehte ich mich um. Ich schaute noch kurz zurück zum Grab der Lady Sarah. Dort hatte sich nichts verändert, und ich entdeckte keinen Zusammenhang zwischen ihm und dem Auftauchen dieser geheimnisvollen Unbekannten. Auf dem Friedhof hatte ich nichts mehr zu suchen. Deshalb machte ich mich wieder auf den Weg zu meinem Rover, der vor dem Friedhof parkte. Als ich ihn erreichte, fiel mir die dünne helle Schicht auf, die die Scheiben bedeckte und auch ihren matten Glanz auf der Karosserie hinterlassen hatte. Auch am Tag hatte der Frost kaum nachgelassen. Aber die Scheiben waren nicht so vereist, dass ich sie hätte abkratzen müssen. Ich nahm hinter dem Lenkrad Platz und wollte starten, als ich die Melodie meines Handys hörte. Ich holte es hervor und sah, dass es Jane Collins war, die etwas von mir wollte. Dabei dachte ich an nichts Böses, als ich mich meldete, aber ich hörte schnell, dass Jane mir etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. »Können wir uns treffen, John?« »Ja. Wann und wo?« »Wo habe ich dich denn erreicht?« Ich erzählte es ihr. »Hast du die Gräber besucht?« »Was sonst?« »Das wollte ich auch noch. Mir ist etwas dazwischengekommen.« »Und was?« Ich war natürlich neugierig. »Das sage ich dir, wenn wir uns sehen.« »Soll ich zu dir kommen?« »Nein. Ich bin auch nicht zu Hause. Kennst du die Cafeteria in dem Einkaufszentrum an der Oxford Street? Sie befindet sich in der zweiten Etage. Ich denke, dass es ein guter Platz ist.« »Gut. Ich komme dorthin.« »Danke. Ich warte.« Unser Gespräch war beendet, aber ich startete den Rover noch nicht, weil ich erst über Janes Anruf nachdenken musste. Der Klang ihrer Stimme wollte mir nicht aus dem Kopf, und so ging ich davon aus, dass Jane Collins etwas mit mir bereden wollte und sich nicht nur mit mir zu einem reinen Kaffeetrinken verabredet hatte.
Während ich anfuhr, lachte ich in mich hinein. Einige Tage lang hatte ich ausspannen wollen. Ich wusste nun, dass es dazu nicht kommen würde. Das war eben mein Schicksal... *** Ich hatte sogar einen Parkplatz gefunden. Es mochte daran liegen, dass auch eine Riesenstadt wie London zwischendurch mal durchatmen musste, und an Tagen wie diesen hielt sich der Verkehr in Grenzen. Ich konnte mit einem Lift in die Cafeteria fahren und war kaum aus der Kabine getreten, als mir die warme Luft wie ein dichter Schwall entgegenschlug. Voll war es nicht. Durch die breiten und bis zum Boden reichenden Glaswände strahlte das Sonnenlicht so intensiv, dass einige Gäste ihre Sonnenbrillen aufgesetzt hatten. Jane Collins hatte sich zum Glück ein schattiges Plätzchen ausgesucht. Mich hatte sie noch nicht gesehen, so hatte ich Zeit, sie eine Weile zu beobachten. Jane trug eine braune Winterhose und dazu einen violetten Pullover. Ein Schal in der gleichen Farbe hing um ihren Hals. Das blonde Haar hatte sie hochgesteckt. Ein paar Strähnen fielen ihr in die Stirn. Noch bevor ich sie erreicht hatte, drehte sie sich um. Ihr blass geschminkter Mund verzog sich zu einem Lächeln, das mir allerdings ein wenig gequält vorkam. Ich gab dazu keinen Kommentar ab, zog meine Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Dann ließ ich mich auf den Stuhl fallen und sah, dass Jane Kaffee trank und dazu einen Salat mit Shrimps aß. »Guten Hunger«, sagte ich. »Das ist mein Frühstück.« »He, so spät?« Sie aß ihre Gabel leer. »Ja, so spät. Und das hat seinen Grund gehabt, John.« »Dessentwegen ich hier sitze.« »Genau.« Es gab hier ein Büffet, an dem sich der Gäste bedienen konnten. »Iss du mal auf, ich hole mir was zu trinken.« »Tu das.« Kaffee gab es in verschieden großen Tassen. Ich entschied mich für die größte und reihte mich vor der Kasse in die kleine Schlange ein. Meine Gedanken drehten sich um laue Collins. Entspannt hatte sie nicht ausgesehen. Deswegen hatte sie mich auch treffen wollen. Mit dem bezahlten Kaffee ging ich zurück zum Tisch. Janes Teller war inzwischen leer. Sie lächelte und sprach dann von den ruhigen Tagen, die ich mir gewünscht hatte.
Ich ließ die Tasse sinken. Der Kaffee war ganz in Ordnung. Mit dem von Glenda Perkins war er allerdings nicht zu vergleichen. »Vergiss die Tage, Jane.« »Aha, du bist im Stress?« »Fast«, sagte ich und fuhr fort. »Du doch auch - oder?« Janes Miene verschloss sich. »Das kann man so sagen«, murmelte sie. »Es gibt tatsächlich ein Problem, und ich denke, dass es auch dich interessieren wird.« »Da bin ich gespannt.« »Es geht um eine seltsame Frau, die ich bei einem Einsatz kennengelernt habe. Es war ein Job, der mit gut zupass kam, weil die Bezahlung außerordentlich gut war.« Ich erfuhr Einzelheiten und hörte den Namen Richard Lester. Er war durch einen Messerstich getötet worden. »Und das von einer Person, John, die wie aus dem Nichts aufgetaucht und nach der Tat ebenso plötzlich wieder verschwunden war.« Sie bewegte Hand und Arm über den Tisch hinweg. »Als hätte sie sich in eine andere Dimension zurückgezogen.« Ich spürte, dass sich etwas in meinem Kopf tat. Da klingelte eine Glocke sehr leise. Dennoch sagte ich: »Kannst du mir nicht noch mehr erzählen?« »Sicher.« Ich erfuhr die Einzelheiten. Jane als auch der Chef der kleinen Sicherheitstruppe hatten ihre Aussagen bereits bei der ermittelnden Polizei gemacht. Es hatte für sie beide Probleme gegeben, und eigentlich hatte man sie festhalten wollen. Dank ihrer guten Kontakte zur Polizei war Jane nur als Zeugin angesehen worden und nicht als Verdächtige. »Das war in der Tat ein Schock, John. Ich weiß wirklich nicht, woher diese Frau mit dem zweigeteilten Gesicht gekommen ist. Das Gesicht zeigte zwei verschiedene Hälften. Das ist unglaublich und entspricht doch der Wahrheit.« »Ich glaube dir.« »Ach? So schnell?« »Ja.« Jane verdrehte ihre Augen. »Und wieso glaubst du mir das alles, ohne großartig nachzufragen?« »Weil ich genau diese Person ebenfalls gesehen habe. Und zwar vorhin auf dem Friedhof.« Es war für Jane Collins wie der berühmte Schlag ins Gesicht. Auf ihren Wangen erschienen plötzlich rote Flecken. Sie war beileibe nicht auf den Mund gefallen. Aber in diesem Moment war sie sprachlos. Erst als ich mehrmals nickte, um meine Worte zu bestätigen, flüsterte sie: »Du auch?«
»Ja, ich auch.« »Und warum, John?«, hauchte sie. »Keine Ahnung. Den Grund sollten wir gemeinsam herausfinden.« »Und wo fangen wir an?« Ich trank einen Schluck Kaffee. »Nun ja, zunächst mal bei dieser ungewöhnlichen Frau. Sie ist kein normaler Mensch, davon müssen wir ausgehen. Ich bin mir dessen sicher, denn mein Kreuz hat mich gewarnt. Es hat sich plötzlich erwärmt. Da wusste ich, was die Glocke geschlagen hatte. Wir haben es mit einem dämonischen Wesen zu tun.« »Das denke ich auch.« Jane schaute ihre Hände an, die sie zusammengelegt hatte. »Du hast sie gesehen. Ich habe sie gesehen, aber bei dir kann ich mir beim besten Willen keinen Grund vorstellen. Du hast ja nichts mit ihr zu tun gehabt.« »Du denn?« »Zumindest indirekt. Ich hatte ja meinen Job. Ich sollte diesen Richard Lester überführen. Industrie- oder Wirtschaftsspionage. Darum ist es letztendlich gegangen.« Ich lächelte etwas kantig und sagte: »Wobei ich mir kaum vorstellen kann, dass sich jemand mit einem derartigen Gesicht auf dem Gebiet der Wirtschaftsspionage auskennt. Da muss es andere Gründe geben, davon bin ich überzeugt.« Jane hatte mir zugehört. Sie nickte. »Davon gehe ich auch aus. Aber da gibt es noch etwas, über das ich mit dir sprechen möchte. Als ich sie sah, da hatte ich den Eindruck, als stünde sie zwar vor mir und in meiner Nähe, aber tatsächlich war sie weit, sehr weit entfernt. Trotz der Nähe, verstehst du?« »Ja, das ist mir schon klar. Das hast du dir auch nicht eingebildet. Mir erging es ebenso.« »Außerdem habe ich auf sie geschossen, John. Die Kugel hätte treffen müssen, aber sie ist durch die Person hindurchgegangen. Wir haben hier ein Phänomen, für das ich keine Erklärung finde. So leid es mir tut.« Jane lehnte sich zurück und wies mit dem rechten Zeigefinger auf meine Brust. »Warum ist sie dir erschienen, John?« »Ich habe keine Ahnung.« »Kann es sein, dass sie gewusst hat, dass wir hin und wieder zusammenarbeiten und ...« Ich winkte ab. »Klar, das könnte stimmen. Machen wir uns nichts vor. Im Moment bleibt es ein Rätsel. Wir müssen diese Frau mit dem halben menschlichen Gesicht finden. Aber ich weiß nicht, an welchem Punkt wir anfangen sollen.« »Bei diesem Richard Lester«, sagte die Detektivin.
»Das ist eine Möglichkeit, Jane. Ich frage mich dabei, welche Verbindung es zwischen den beiden gab. Durch Zufall ist diese Mörderin nicht erschienen.« Jane seufzte. »Leider können wir ihn nicht mehr fragen.« »Was weißt du eigentlich über ihn?«, fragte ich. »Ich denke da vor allem an sein privates Umfeld.« »Nicht viel.« Jane grübelte. »Es war nicht verheiratet. Er hat in fast spießigen Verhältnissen gelebt. Wobei ich das spießig nicht niedermachen will. Er hat recht gut verdient und konnte sich deshalb auch ein kleines Reihenhaus leisten.« »Bist du schon dort gewesen?« »Nein, aber ich habe Bilder gesehen. Mein Auftraggeber hat mich ausführlich informiert. Man sagte mir, dass seine Schwester ab und zu bei ihm übernachtet, wenn sie in London ist. Sie arbeitet viel im Ausland. Man kann sie beruflich als Wirtschaftsanwältin bezeichnen. Sie berät Firmen, kümmert sich aber auch um deren Auflösung, wenn es sein muss. Wir könnten sie befragen.« »Das werden die Kollegen bereits getan haben, wenn sie in London ist.« »Denke ich auch.« Janes Augen nahmen einen anderen Ausdruck an. Wenn ich an die Kollegen denke, habe Ich kein gutes Gefühl. Sie haben mich ja bei der Leiche gesehen. Sie wissen auch, dass ich geschossen habe. Aber ich konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Man hätte mich ausgelacht, und meinen Zeugen kannst du auch vergessen. Der war völlig überfordert, was ja verständlich ist. Dass man mich überhaupt hat gehen lassen, verdanke ich meinem Ruf und dass ich einige deiner Kollegen kenne.« »Klar, Jane. Und worauf willst du hinaus?« »Es ist ganz einfach. Vielleicht könntest du anrufen und deinen Leuten klarmachen, dass wir oder dass du den Fall übernommen hast. Dann können sie aussteigen.« Janes Gedanke war für mich nachvollziehbar. Ich wollte ihn trotzdem nicht akzeptieren. Sie sah es meinem Gesicht an und sagte: »Keine gute Idee?« »So ist es.« »Was hast du dann vor? Du willst die Trauben doch nicht von anderen Leuten ernten lassen?« »Das auf keinen Fall. Wir mischen mit. Wenn es denn sein soll, geben wir uns zu erkennen. Offiziell habe ich Urlaub. Aber du weißt ja, wie das bei mir ist.« »Eben.« Jane lächelte. »Also sind wir am Ball und bleiben auch dran.« »Klar.« »Was wollte sie wohl von dir? Du hast sie auf dem Friedhof gesehen. Auch wenn wir darüber gesprochen haben, mir will diese Frage einfach nicht aus dem Kopf.«
»Mir auch nicht«, gab ich zu. »Kann es nicht sein, dass sie vorbeugen wollte? Dass sie gewusst hat, dass wir uns gemeinsam um die Sache kümmern würden?« »Hm. Das ist weit hergeholt.« »Das weiß ich.« »Dann stellt sich noch die Frage, ob sie von allein gehandelt hat oder geschickt wurde.« Ich runzelte die Stirn. »Du meinst, dass sie einen Auftraggeber hat, der alles lenkt und die entsprechenden Pläne geschmiedet hat?« Jane nickte heftig. »Dann muss ich dich fragen, wer dein Auftraggeber gewesen ist.« »Der Chef der Firma, bei der Richard Lester gearbeitet hat. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass er etwas über diese Unperson weiß. Dann hätte er mich nicht zu engagieren brauchen und alles selbst in die Hand nehmen können. Es ist eine kleine Firma, aber sie hat Aufträge von der Regierung bekommen. Sie arbeitet für die Luftwaffe. Woran, das weiß ich nicht. Das würde man mir auch nicht sagen. Ich weiß nur, dass es sehr geheim ist.« »Und man hatte den Verdacht, dass Richard Lester die Ergebnisse an jemand anderen verkaufen wollte.« »Ja.« Ich dachte vor meiner Frage kurz nach. »Sag mal ehrlich, Jane, hat sich dieser Richard Lester dann nicht ziemlich dumm angestellt? Er hätte doch wissen müssen, dass man ihn überwacht. Ich meine, dass Leute des Sicherheitsdienstes in der Nacht tätig sind. Ich begreife nicht, dass er sich so naiv angestellt hat.« Jane sah mich ernst an. »Genau darüber habe ich auch nachgedacht. Ich kann mir das nur so erklären, dass Lester der Meinung war, dass ihm nichts passieren kann. Er hat sich sehr sicher gefühlt. Ja, so könnte es gewesen sein. Sich auf eine große Rückendeckung verlassen, die es letztendlich doch nicht gab.« »Okay, Jane, und wer hätte diese Rückendeckung sein können?« »Das weiß ich nicht.« »Vielleicht seine Mörderin?« Die Detektivin riss die Augen auf. »Das ist ziemlich weit hergeholt, JohnWenn sie auf seiner Seite gestanden hat, warum hätte sie ihn dann töten sollen?« »Das weiß ich nicht.« »Deshalb kann ich deine Theorie nicht nachvollziehen. Aber ich will sie auch nicht ins Reich der Fantasie verdammen. Jedenfalls ist sie eine besondere Frau, und das meine ich im negativen Sinne.« »Klar, Jane. Ich denke nur daran, was wir schon alles erlebt haben. Von einer gesunden menschlichen Logik sind wir oft weit entfernt gewesen.
Das sehe ich auch hier so. Aber dann kann ich mir auch vorstellen, dass die auf den Kopf gestellte Logik stimmt.« Jane Collins winkte ab. »Okay, lassen wir es darauf ankommen. Beginnen wir also bei Richard Lester.« »Okay. Wir werden zu ihm fahren und uns mal in seinem Haus umsehen.« Jane stand mit einer raschen Bewegung auf und griff nach ihrem Mantel. Auch ich erhob mich. Es war ein komplizierter Fall, der mir große Probleme bereitete. So sehr ich auch hin und her dachte, ich gelangte zu keinem Ergebnis, das logisch gewesen wäre. Hier waren Kräfte am Werk, die zu einer Seite gehörten, die ich leider nicht kannte. Es war mir nur klar, dass es sich um Schwarzblüter handelte, die möglicherweise für eine Gruppe von Menschen arbeiteten, die sich mit dieser anderen Seite verbündet hatten. Deshalb war ich gespannt darauf, ob wir in Lesters Haus einen Hinweis fanden. Jane Collins hatte es ziemlich eilig. Sie war schon vorgegangen. An einer der Lifttüren trafen wir uns wieder. Die Kabine kam Sekunden später. Wir ließen drei Menschen aussteigen, bevor wir den Lift betraten, in dem wir allein blieben. Die Tür schloss sich, und Jane berührte den Kontakt, um die Kabine nach unten fahren zu lassen. Ein kurzes Rucken, dann ging es abwärts. Wir standen uns gegenüber. Jane lächelte. Sie wollte so etwas wie Optimismus ausstrahlen und mir zeigen, dass sie zuversichtlich in die Zukunft blickte. Sekunden später stoppte der Lift. Nur waren wir noch nicht unten. Beide schauten wir uns an. »Was ist das denn?«, flüsterte Jane. »Ein nicht vorgesehener Zwischenstopp.« »Und das nimmst du so gelassen?« »Nein.« Eine Sekunde später erlosch auch die Beleuchtung. Ich dachte an einen Stromausfall und wurde ebenso wie Jane Collins eines Besseren belehrt. Die Ausmaße der Kabine waren recht geräumig. Schließlich sollte immer eine Gruppe von Menschen transportiert werden. Zu zweit hatten wir recht viel Platz. Nur waren wir nicht mehr zu zweit. Zwischen mir und Jane Collins stand plötzlich eine dritte Person. Es war die Mörderin mit den zwei unterschiedlichen Gesichtshälften... *** Es war eine Überraschung, mit der wir beide nicht gerechnet hatten.
Aber wir hatten uns gut in der Gewalt, und so schrie niemand von uns auf. Wir nahmen den Besuch hin, der so nahe bei uns war, aber trotzdem weit entfernt. Das Gefühl zumindest hatte ich. Sie stand da wie eine Schaufensterpuppe. Nichts an ihr bewegte sich. Beide Arme hingen nach unten, aber die Finger der rechten Hand umklammerten den Griff eines Messers mit sehr langer Klinge. Es war die Waffe, durch die auch Richard Lester gestorben war. Jane drehte der Person den Rücken zu. Mich schaute sie an und so sah ich ihr Gesicht sehr nahe vor mir. Ihr Kleid interessierte mich nicht, auch wenn es nicht in die winterliche Jahreszeit passte. An den hohen Stiefeln schaute ich auch vorbei, ich konzentrierte mich allein auf das Gesicht. So konnte kein Mensch aussehen. Und so durfte auch kein Mensch aussehen. Was mir da geboten wurde, war schon pervers, und ich spürte Stiche wie von glühenden Nadeln in meiner Brust. Sie war da! Aber war sie wirklich da? Stand sie tatsächlich zwischen Jane und mir? Auf dem Friedhof hatte ich die Warnung des Kreuzes gespürt, und genau das geschah jetzt auch. Da mein Talisman durch die Kleidung verborgen wurde, war kein Leuchten zu sehen, aber die Wärme, die er ausstrahlte, beruhigte mich. Ich konnte meinen Blick nicht von dem veränderten Gesicht lösen. Bleiche Knochen bildeten die rechte Seite. Auch die Nase war in Mitleidenschaft gezogen worden, während die linke Seite einen völlig normalen Eindruck machte. Am schlimmsten kam mir das Auge innerhalb der Knochenmasse vor. Es sah aus wie ein blasser Kreis, in dessen Mitte etwas schwamm, was man als Pupille ansehen konnte. Sie war erschienen, und sie war auch bewaffnet, aber sie hatte bisher nicht erkennen lassen, warum sie gekommen war und was sie von uns wollte. Ich sprach sie leise an. »Wer bist du?« Eigentlich hatte ich nicht mit einer Antwort gerechnet. Ich erhielt sie trotzdem und hörte dabei eine Stimme, die neutral klang. Man konnte nicht unbedingt davon ausgehen, dass sie einer Frau gehörte. »Ich heiße Surina.« Der Name war mir neu. »Und weiter?«, fragte ich. »Ich bin die Lady aus der Hölle.« Die Worte sprach sie noch normal aus, dann aber gellte uns ihr Lachen in den Ohren, wobei ihr gesamter Körper geschüttelt wurde. Janes Stimme übertönte das Gelächter. »Achtung, John, das Messer!«
Surina hatte den rechten Arm angewinkelt. Dabei befand sich die Klinge in einer für uns gefährlichen Position und wir wussten auch, dass es eng werden würde. Sie stand in unserer Nähe und war trotzdem weit entfernt. Das half uns nicht, denn töten konnte sie, das hatte sie bewiesen, und jetzt zuckte die lange Klinge auf mich zu. Nicht mal eine Sekunde später hätte sie in meiner Brust stecken müssen. Ich hatte mich auch nicht geduckt oder war zur Seite gewichen. Ich war einfach stehen geblieben und das half mir tatsächlich. Ihr zweiter Schrei war noch schlimmer als ihr erster. Es gab plötzlich wieder Licht, aber das strahlte mein Kreuz durch meine Kleidung ab, denn es hatte innerhalb kürzester Zeit einen Abwehrriegel aufgebaut. Das Messer erreichte meine Brust nicht. Es war nicht mal zu sehen, ob es seine Welt überhaupt verließ. Die Gestalt jedenfalls drehte sich auf der Stelle und verwandelte sich dabei in einen Wirbel, der zwei, drei Atemzüge später verschwunden war. Jane und ich standen uns völlig normal gegenüber, und plötzlich funktionierte auch das Licht wieder. Wir schauten uns an, und ich ging davon aus, dass mein Blick ebenso flackerte wie der meiner Freundin. »Das war hammerhart, John.« Da hatte sie recht. Hammerhart und knapp. Aber ich wusste jetzt, dass mein Kreuz einen perfekten Schutz aufgebaut hatte, der diese Surina oder die Lady aus der Hölle davon abgehalten hatte, mich durch einen Messerstich zu töten. Plötzlich öffnete sich die Tür, sodass wir aussteigen konnten. Wir hatten kaum bemerkt, dass sich die Kabine wieder in Bewegung gesetzt hatte. Jetzt schauten wir in die Gesichter von drei Menschen, die die Kabine betreten wollten. »Dürfen wir mal?«, fragte ein Mann. »Bitte.« Ich trat zur Seite. Auch Jane machte Platz. Ich sah, dass sie ihre gesunde Gesichtsfarbe verloren hatte. Als wir ein paar Schritte gegangen waren, blieb sie stehen und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Was wäre passiert, John, wenn sie mich angegriffen hätte?« Ich winkte ab. »Lass uns nicht daran denken, das ist besser.« »Ja, das meine ich auch.« Sie atmete ein paar Mal tief durch. Jane Collins gehörte zu den Frauen, die so etwas schnell verkraften. Sie war Action gewöhnt und hatte sich schon mehr als einmal in tödlicher Gefahr befunden. In diesem unteren Bereich des Einkaufzentrums herrschte der meiste Betrieb. Wir waren von einem Stimmenwirrwarr umgeben, und es war schwer, eine ruhige Stelle zu finden, an der wir normal sprechen konnten.
»Eines ist sicher, Jane. Sie war da, und sie war trotzdem nicht da. Sie hat sich in einer anderen Zone aufgehalten. Das beherrscht sie offenbar perfekt. Diese Surina war innerhalb eines Sekundenbruchteiles wieder verschwunden.« »Ja, nach der Tat.« »Sicher.« »Aber dein Kreuz hat dagegengehalten. Wäre es nicht gewesen, dann...«, sie stockte für einen Moment und fragte dann weiter: »Wo kommt sie her, John? Was hat sie gesagt?« »Aus der Hölle.« »Glaubt du ihr?« »Ich weiß nicht. Jeder definiert die Hölle wohl anders. Davon gehe ich mal aus. Jedenfalls dürfen wir sie auf keinen Fall unterschätzen. Und sie hat bemerkt, dass wir ihr auf der Spur sind. Wer immer ihr das auch gesagt hat, sie weiß es also.« »Dann müssen wir uns auf weitere Angriffe gefasst machen, schätze ich.« »Ja.« Ich sah Jane in die blauen Augen. »Und das bedeutet auch, dass wir zusammenbleiben sollten. Ich unterschätze deine Tatkraft keineswegs, doch ohne Schutz ...« Jane ließ mich nicht ausreden. »Das ist völlig klar, John. Aber bleibt es bei unserem Vorsatz?« »Sicher. Ich bin gespannt, ob wir Richard Lesters Schwester in seinem Haus antreffen werden.« »Wenn sie in London ist, schon. Ich denke, dass sie um diese Zeit schon im Haus sein müsste.« »Super. Dann lass uns fahren.« »Ich habe nichts dagegen«, erwiderte Jane, wobei ein Schauer über ihr Gesicht lief, denn den heimtückischen Angriff im Lift hatte sie nicht vergessen. *** Wir waren in den Nordwesten der Stadt gefahren, nach South Hampstead, wo der Tote gewohnt hatte. In der Nähe eines kleinen Parks war ein Viertel mit kleinen Häusern entstanden, die eine Reihenhaussiedlung bildeten. Man hatte sie in einem offenen Karree angelegt, in das Wir hineinrollten und auch einen Parkplatz fanden. Jane Collins hatte sich im Laufe ihrer Recherchen bereits hier umgesehen, aber sie war nicht in das Haus des Mannes gegangen, was sich bald ändern würde. Wir stiegen aus. Der Himmel hatte sich mit einer dünnen Wolkendecke bezogen. Nach wie vor war es kalt. Und ich dachte an den Wetterbericht. Dort war leichter Schneefall oder Regen angesagt worden. Wenn das
tatsächlich eintrat, würden die Straßen und Gehsteige zu Rutschbahnen werden. Kinder hielt die Kälte nicht davon ab, die Häuser zu verlassen. Sie rannten sich auf der Straße warm und spielten auch hinter den Häusern auf dem hart gefrorenen Boden der kleinen Gärten. Um den Hausreihen zumindest ein wenig Individualität zu geben, hatten die Bewohner den Bereich ihrer Eingänge teilweise verändert. So waren schützende Vordächer gebaut worden, die von Säulen getragen wurden. Wem es gefiel, der sollte damit glücklich werden. Mein Fall war das nicht. »Und wo müssen wir hin?«, fragte ich. »Wir gehen darauf zu.« »Okay.« Wie schon erwähnt, es war hier eine reine Wohngegend und kaum vorstellbar, dass hier das Grauen in Form dieser Surina erscheinen und zuschlagen konnte. Den Gedanken daran verbannte ich trotzdem nicht aus meinem Kopf. Wir betraten den schmalen Weg, dessen graue Platten einen Vorgarten in zwei Hälften teilte. Die Kälte hatte auch hier ihre Spuren hinterlassen. Auf den dünnen Zweigen der Büsche schimmerte eine graue Schicht aus Eis. Aber die Steine waren davon befreit worden, und so gelangten wir heil bis dicht an die Haustür, die von zwei kleinen Fenstern eingerahmt wurde. Ob man uns bereits gesehen hatte, war nicht festzustellen. Ich entdeckte ein Namensschild mit einem Klingelknopf darüber. Ich wollte schellen, als die Tür bereits aufgezogen wurde. Vor uns stand eine Frau, bei der sofort die verweinten Augen auffielen und der leicht zuckende Mund. Das musste die Schwester des Toten sein, die bereits vom Ableben ihres Bruders erfahren hatte. Sie war recht groß, hatte blondes Haar, das flach auf ihrem Kopf lag, und trug eine Brille, die in ihrem Gesicht so gut wie gar nicht auffiel. »Wer sind Sie?«, fragte sie. Ich stellte Jane und mich vor. »Es geht um meinen Bruder, nicht?« »So ist es«, sagte ich. »Und weiter?« »Wir möchten gern mit Ihnen über ihn sprechen, wenn es möglich ist, Miss Lester. Das sind Sie doch - oder?« »Miss, bitte. Ja, ich heiße Mandy Lester.« »Dürfen wir eintreten?« Sie gab nicht sofort Antwort. Sie dachte etwas länger nach, dann nickte sie und gab den Weg frei.
Wir betraten einen recht engen Flur, der dort endete, wo die Tür in ein Wohnzimmer führte. Wir sahen es deshalb, weil sie nicht geschlossen war. Wenig später hatten wir den Raum betreten und nahmen auf einer zweisitzigen Couch Platz, deren Leder schon sehr blank war. Auf dem Tisch vor uns lag ein Notebook neben zahlreichen Papieren, die sich auf der Platte verteilten. »Entschuldigen Sie, dass es hier so aussieht, aber ich bin dabei, einige Unterlagen zu ordnen, die meinen Bruder betreffen. Sein Tod hat mich völlig überrascht.« »Es ist schon gut«, sagte Jane. »Wir wollen Sie auch nicht lange aufhalten. Es sind nur ein paar Fragen.« »Bitte. Möchten Sie etwas trinken?« Wir lehnten beide ab. Mandy Lester setzte sich in einen Sessel und schaute auf ihr Notebook. Sie erwartete unsere Fragen. »Ihr Bruder ist tot. Er wurde ermordet«, stellte Jane fest. »Können Sie sich ein Motiv vorstellen?« Mandy Lester ging sofort auf Abwehr. Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann mir kein Motiv vorstellen. Mein Bruder war ein wunderbarer Mensch. Er ist nie auffällig geworden und hat nur für seine Arbeit gelebt.« »War er damit zufrieden?«, fragte Jane. Mandy Lester runzelte die Stirn. Ihr Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. Hinter den Gläsern der Brille verengten sich ihre Augen, was sie nicht sympathischer machte. Irgendwie wirkte sie eher männlich. Es konnte auch sein, dass der Job sie so hart hatte werden lassen. »Natürlich war er damit zufrieden«, lautete die Antwort. »Die Menschen haben ihn akzeptiert. Mein Bruder war ein exzellenter Programmierer.« »Wissen Sie denn, woran er gearbeitet hat?« »Nein, Miss Collins. Er hätte es mir auch nicht gesagt. Es war ein geheimes Projekt, das heißt, es waren stets geheime Projekte. Die Firma arbeitete für die Regierung. Oder besser gesagt, für das Militär, aber das interessierte mich nicht. Ich wollte es nicht wissen, denn ich stehe selbst mit beiden Beinen mitten im Beruf, der mich ziemlich fordert. Ich bin oft unterwegs. Wenn ich in London bin, wohne ich hier. So auch zwischen den Jahren. Reicht Ihnen das?« »Sicher«, sagte ich. »Wir sind ja nicht ihretwegen gekommen, Miss Lester. Es geht um Ihren Bruder, und es geht darum, dass er ermordet wurde. Lassen Sie es sich gesagt sein, es geschieht nichts ohne Motiv.« »Das weiß ich«, erklärte sie spröde. »Und wir sind hier, um das Motiv zu suchen.« »Danach dürfen Sie mich nicht fragen.«
»Aber es muss eins geben.« Die Frau sah aus, als wollte sie mir im nächsten Moment an die Gurgel gehen. Zischend gab sie die Antwort. »Das ist mir alles klar, Mr. Sinclair, aber ich kann Ihnen dabei nicht helfen. Ich hatte mit dem Beruf und der Firma meines Bruders nicht das Geringste zu tun. Soll ich Ihnen das noch mal wiederholen, oder reicht es jetzt?« Ich ließ mich von ihrem Ärger nicht anstecken und blieb weiterhin gelassen. »Wenn Sie sagen, dass Ihr Bruder an geheimen Projekten gearbeitet hat, kann ich mir vorstellen, dass er die Aufmerksamkeit einer anderen Seite auf sich gezogen hat.« »Sie sprechen von der Konkurrenz?« »Ja.« Mandy Lester schien zu überlegen. Neben ihr stand eine Flasche mit Wasser auf dem Boden. Sie hob sie an und trank einen kräftigen Schluck. »Ja, ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, sagte sie schließlich. »Ich kenne mich da aus. Gute Leute sind rar, und ich kann mir vorstellen, dass man versucht hat, meinen Bruder abzuwerben. Gesprochen haben wir darüber allerdings nie.« »War er denn glücklich in seinem Job?« Jane hatte Mandy Lester mit ihrer Frage überrascht. »Wie meinen Sie das denn?« »Wie ich es sagte. War er zufrieden, und hat er nie mit dem Gedanken gespielt, die Firma zu wechseln?« Diesmal musste sie nachdenken. Das war an ihrer gekrausten Stirn deutlich zu erkennen. Wir ließen ihr Zeit mit der Antwort, die auch erfolgte und ehrlich klang. »Gesprochen hat er mit mir darüber nicht direkt. Ich hatte aber das Gefühl, dass es seit einiger Zeit nicht mehr sein Traumjob gewesen ist.« »Und warum nicht?« Mandy Lester schaute Jane direkt an. »Mit seiner Arbeit war er glücklich, aber nicht mit dem, was man ihm geboten hat.« »Sie meinen das Gehalt?« »Nein, das meine ich nicht. Das war schon in Ordnung, wie er mir sagte. Aber es gab keine Aufstiegschancen für ihn. Darüber hat er sich geärgert. Er wollte mehr zu sagen haben und auch über die geschäftlichen Belange der Firma informiert sein. Man hat es ihm verwehrt, bisher jedenfalls.« »Hat er die Hoffnung denn aufgegeben?« »Ja, Miss Collins, das hat er.« »Könnte man dann von einer innerlichen Kündigung sprechen?« »Wenn Sie so wollen, trifft das zu.« »Und so etwas ist nie gut, oder?«
»Ja, da haben Sie recht.« »Und es hätte zu Reaktionen führen können, die eigentlich nicht zu Ihrem Bruder passen?« Pause. Es sagte keiner mehr etwas. Wieder verengte die Frau ihre Augen. Dabei zuckte die straffe Haut an ihren Wangen. »Auf was wollen Sie eigentlich hinaus, Miss Collins?« »Das ist recht einfach, und bitte, bekommen Sie es nicht in den falschen Hals. Wäre es möglich, dass Ihr Bruder für eine andere Firma gearbeitet hat? Nebenbei, meine ich. Dass er sich so übergangen und frustriert fühlte, dass er an einen Punkt gelangt ist, dass er von seinem Wissen etwas weitergegeben hat?« Diese Frage hatte Mandy Lester getroffen. Sie konnte nicht mehr so cool bleiben. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, und der Blick ihrer Augen wurde eisig. »Was Sie da sagen, ist eine Unverschämtheit. Wie können Sie es wagen, das Ansehen eines Toten zu beschmutzen? Mäßigen Sie sich, oder verlasen Sie das Haus!« »Bitte«, sagte Jane. »Sie sollten das nicht persönlich nehmen. Ich habe schon meine Gründe, danach zu fragen.« »Ach ja? Kann ich die hören?« »Natürlich. Ich bin im Gegensatz zu Mr. Sinclair nicht bei der Polizei, sondern arbeite als Privatdetektivin. Und man hat mich auf Ihren Bruder angesetzt. Man hatte den Verdacht, dass er für eine andere Firma spioniert und Firmengeheimnisse an die Konkurrenz verrät. Das ist leider keine Theorie, Miss Lester.« Die Frau schwieg. Ihr Gesicht rötete sich. Nach einem scharfen Atemausstoß fragte sie: »Können Sie das beweisen?« »Ich war dabei.« »Und?« »Jemand war schneller.« Sie schaltete schnell. »Sprechen Sie vom Mörder meines Bruder »Ja.« Jane sagte nicht, dass es eine Mörderin war, kam aber indirekt darauf zu sprechen. »Sagt Ihnen der Name Surina etwas?« »Nein.« »Denken Sie nach!« »Er sagt mir nichts«, presste sie hervor. »Aber warum haben Sie danach gefragt? Hängt es mit meinem Bruder zusammen?« »Das könnte sein.« »Und weiter?« »Nichts weiter. Ich wollte nur wissen, ob Sie zwischen dem Namen und Ihrem Bruder einen Zusammenhang sehen.« »Auf keinen Fall!« »Dann hatte er keine Beziehung?«
»So ist es, Miss Collins. Er war mit seiner Arbeit verheiratet. Außerdem hat er sich nichts aus Frauen gemacht.« »War er homosexuell?« »Ich kann es Ihnen nicht sagen, weil ich mir nicht sicher bin. Zugegeben hat er es nie. Ich habe auch nicht weiter danach gefragt. Das war Privatsache meines Bruders.« »Damit hätte man ihn erpressen können«, sagte ich. »Kann sein.« Sie starrte uns böse an. »Sonst noch etwas?« »Ja«, sagte ich. »Wir müssen davon ausgehen, dass es ein Motiv für die Tat gegeben hat, und wir würden uns gern hier im Haus umsehen. Ihr Bruder wird sicherlich ein Arbeitszimmer gehabt haben.« »Ja, das ist oben.« »Dann würden wir es uns gern ansehen.« Mandy Lester bedachte uns wieder mit ihrem scharfen Blick. Süffisant lächelnd fragte sie: »Einen Durchsuchungsbefehl haben Sie nicht?« »Nein.« »Gut, Sie können sich dort umschauen. Ich sage Ihnen gleich, dass Sie nichts finden werden. Ihre Verdächtigungen sind völlig haltlos.« Jane Collins musste dazu einfach etwas sagen. »Immerhin hat er sich in der Nacht in die Firma geschlichen, um sich dort Informationen zu beschaffen.« »Die hätte er sich auch am Tag holen können.« »Das stimmt. Leider ist er in der Nacht aufgefallen.« »Gehen Sie!« Wir hatten längst eingesehen, dass wir von ihr keine Kooperation erwarten konnten. So standen Jane und ich auf, während sie demonstrativ sitzen blieb. »Gehen Sie die Treppe im Flur hoch. Dann ist es oben das rechte der beiden Zimmer.« »Danke«, sagte ich. Jane ging schon vor. An der Holztreppe mit den geschwungenen Stufen holte ich sie ein. Sie ging nicht weiter, sondern drehte sich zu mir um. »Was hältst du davon?« »Meinst du die Schwester?« »Auch.« »Die ist knallhart.« »Stimmt. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich vor ihr davonlaufen.« Ich musste mir das Lachen verkneifen und folgte ihr. Dabei dachte ich über den Toten nach. Sollte er tatsächlich schwul gewesen sein, dann war er auch erpressbar. Das gab es leider in unserer Gesellschaft noch immer. Licht schalteten wir nicht ein. In der ersten Etage wartete ein enges Flurrechteck auf uns. Es gab drei Türen. Eine führte ins Bad. Wir sahen es, weil ein Schild davor hing.
»Es war die rechte Tür, nicht?« Ich nickte Jane zu. Sie öffnete und trat als Erste hinein in die Helligkeit, die durch ein Fenster strömte. Es war recht groß für den kleinen Raum, und wir konnten alles überblicken. Der Schreibtisch mit dem Computer stand mitten im Zimmer. Die Wände waren mit Regalen voll gestellt. Manche mit Akten voll gestellt, aber wir sahen auch Fachliteratur. Jan hielt vor dem Schreibtisch an. »Man müsste den Computer einschalten.« »Kannst du.« »Aber wie ich den Mann einschätze, gibt es da ein Passwort, ohne das wir nicht weiterkommen.« Ich gab ihr durch mein Nicken recht. »Und was tun wir?« Ich hatte auf der breiten Schreibtischplatte einen Briefhalter gesehen. Er bestand aus einer Holzplatte, auf der zwei halbbogenförmige Ringe montiert waren, zwischen die man die Briefe klemmen konnte. Es waren recht viele, die Ringe bogen sich sogar nach außen. Ich zog die Briefe hervor und schaute sie mir der Reihe nach an. Sie steckten noch in den geöffneten Umschlägen, auf denen ich auch die Absender las. Es waren mir unbekannte Firmen, die wohl allesamt mit der Computerbranche zu tun hatten. Unwichtig zunächst. Beim drittletzten Brief wurde ich aufmerksam. Meine Augen zuckten, als ich das Papier aus dem Umschlag holte und es entfaltete. Der Brief war mit der Hand geschrieben worden. Eine sehr steile Schrift. Man konnte nicht sofort erkennen, ob es die Schrift eines Mannes oder einer Frau war. War es ein Liebesbrief? Die ersten Zeilen wiesen darauf hin. Ich winkte Jane heran und las halblaut vor. »Es ist wunderbar, dich getroffen zu haben, mein Freund. Und ich denke, dass so etwas wie ein Band der Liebe zwischen uns entstehen könnte. Um es zu festigen, möchte ich dich bitten, dass du mir die Information, von denen ich gesprochen habe, so schnell wie möglich besorgst. Ich denke, dass wir uns in der Nacht treffen werden. Es ist der 29. Dezember. Bitte, halte dich bereit. Ich freue mich auf dich. Surina ...« Ich verstummte und warf Jane Collins einen Blick zu. Sie stand neben mir, und ihre Augen waren groß geworden. »Und jetzt?«, hauchte sie. »Sie haben sich gekannt.« »Und nicht nur das, John. Ich bin sicher, dass er sich in sie verliebt hatte.«
»Ja, in die Lady aus der Hölle.« »Hat er das gewusst?« »Keine Ahnung. Wohl eher nicht. Aber sie hat sich bewusst an ihn herangemacht. Dieses Weib ist mit allen Wassern gewaschen.« Ich schüttelte den Kopf. »Ein Liebesbrief, der indirekt zu einer Person führt, die aus der Hölle kommt. Die alte Sache, schon Hunderte von Malen durchgezogen. Sie funktioniert noch immer.« »Dann sollten wir der Schwester diesen Brief mal zeigen.« »Das denke ich auch.« Wir wandten uns beide der Tür zu, die nicht geschlossen war, und deshalb hörten wir auch den Schrei, der von unten zu uns herauf wehte... *** Die beiden Besucher waren kaum verschwunden, als sich Mandy Lester bewegte und auf eine Schrankwand zuging. Sie fühlte sich alles andere als gut. Der Kontakt zu ihren Bruder war nicht sehr intensiv gewesen, obwohl sie immer bei ihm übernachtete, wenn sie nicht unterwegs war. Sein Tod hatte sie weniger berührt, als sie es sich hatte vorstellen können. Was sie schockierte, waren die Umstände, wie Richard gestorben war. Man hatte ihn ermordet. Eiskalt gekillt, und jetzt hatte sie das Gefühl, dass bestimmte Dinge noch längst nicht zu Ende waren. Sie konnte nicht sagen, was es war, doch die Unruhe in ihrem Innern begann sich in eine bedrückende Angst zu verwandeln. So etwas kannte sie nicht. In ihrem Job musste sie immer auf der Höhe sein, und sie hatte sich auch ein dicken Fell zugelegt, sonst wäre ihr diese Karriere nicht gelungen. Aber das hier war etwas völlig Fremdes. Es betraf sie zwar nicht persönlich, aber Mandy ärgerte sich jetzt darüber, dass sie so wenig über die Arbeit ihres Bruders wusste. Es war ein Fehler gewesen, sich nicht darum zu kümmern. Um ihm zur Seite zu stehen, war es jetzt zu spät. Als sie die Schranktür öffnete, stellte sie fest, dass ihre Hand zitterte. Allerdings stand das, wonach sie gesucht hatte, in Griffweite vor ihr. Es war eine halb volle Flasche Whisky. Mandy Lester sah sich nicht unbedingt als Trinkerin an, doch es gab gewisse Situationen, da musste sie einfach einen Schluck trinken. Das hatte sie auch an den einsamen Abenden in irgendwelchen Hotelzimmern getan. Mandy Lester verzichtete auf ein Glas. Sie trank aus der Flasche. Dabei sah sie ihr Bild in dem schmalen und langen Spiegel, der direkt neben der Tür hing.
Nein, sie war nicht mit ihrem Aussehen zufrieden. Sie fühlte sich beinahe mehr wie ein Mann. Das lag an ihrer Größe und an ihrem schmalen Gesicht, und ihre Figur konnte mit dem Attribut hager umschrieben werden. Es gab Leute, die sie als Mannweib bezeichneten. Darüber hatte sie sich zwar immer geärgert, beim Blick in den Spiegel aber musste sie zugeben, dass dies tatsächlich zutraf. »Scheiß drauf«, flüsterte sie, setzte die Flasche noch mal an und trank zwei große Schlucke. Dabei verzog sie das Gesicht und schüttelte den Kopf. Da sie sich nahe der Tür aufhielt, die nicht geschlossen war, lauschte sie in den Flur hinein und damit auch nach oben. Sie wollte wissen, ob sich in der oberen Etage etwas tat, aber es blieb alles ruhig. Nicht mal Stimmen waren zu hören. Sie wandte sich von der Tür ab, schritt mit der Whiskyflasche in der Hand zum Fenster und schaute hinaus. Der kleine Garten war zu einem eisstarren Gebilde geworden, in dem die Pflanzen wie Fremdkörper wirkten. Es gab nicht mal eine Handvoll davon. Aber das war ihr egal. Was hatte Richard getan? Warum hatte man ihn umgebracht? Mandy kannte die Gründe nicht. Aber sie konnte nachdenken und gelangte zu dem Schluss, dass ihr Bruder so etwas wie ein Doppelleben geführt hatte, und dabei musste er den Bogen überspannt haben. Über der Stadt lag ein aschgrauer Himmel, aus dem winzige Schneekristalle fielen. Es war nur ein schwaches Rieseln. Richtiger Schnee war nicht angesagt worden. Sie schaute auf die Flasche. Ein kleiner Rest befand sich noch darin. Mit einem Ruck kippte sie ihn in die Kehle und stellte fest, dass sie nicht zufrieden war. Noch immer war ihr Inneres aufgewühlt, und sie hätte sich schon richtig betrinken müssen, um in einen anderen Zustand zu geraten. Das hatte sie einige Male in ihrem Leben getan, aber nach dem Rausch war es ihr nie gut gegangen. Mandy Lester versuchte, die unangenehmen Gedanken loszuwerden. Sie dachte daran, dass es nun ihr Haus war. Deshalb wollte sie nach oben gehen und dort nachsehen, was diese Collins und dieser Sinclair taten. Etwas störte sie. Es war mehr ein Gefühl, dass sich in der Nähe etwas Fremdes aufhalten konnte, was nicht in ihre Umgebung gehörte. Hinter ihr ... Es wäre kein Problem gewesen, sich umzudrehen und nachzuschauen. Das traute sich Mandy in diesem Augenblick nicht. Erst als ihr ein eigenartiger Geruch in die Nase stieg, fuhr sie herum -und wurde zur berühmten Salzsäule.
Im Zimmer standen zwei ihr fremde und mit Pistolen bewaffnete Männer... *** Mandy Lester kannte die beiden Eindringlinge nicht, und die Waffen mit den aufgeschraubten Schalldämpfern trugen auch nicht dazu bei, ihre Angst zu mildern. Wer so auftrat, der wollte auch töten. Die Unbekannten sahen aus wie Zwillinge, obwohl das nicht zutraf. Es lag mehr an der Kleidung, denn beide trugen dunkelgrüne Ledermäntel und Wollmützen auf den Köpfen. Die Eindringlinge hatten harte Gesichter mit kalten Augen. Keiner von ihnen sprach. Sie ließen nur ihre Waffen sprechen. Die ersten Sekunden hatte die Frau in einer Art Schockzustand erlebt. Der wich nun. Sie versuchte, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen, doch so ganz schaffte sie es nicht. Ihre rechte Hand begann zu zittern, sodass sie die Flasche nicht mehr halten konnte. Sie landete auf dem Boden, zerbrach aber nicht, weil der Teppich den Aufprall dämpfte. Die beiden Männer registrierten es, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur ihre Augen bewegten sich. Sie schickten ihre Blicke hin und her, als suchten sie nach etwas Bestimmten. Mandy Lester fragte sich, was die Typen von ihr wollten. Als normale Besucher waren sie nicht gekommen, da hätten sie nicht ihre Waffen zu ziehen brauchen. Sie dachte auch daran, dass sie nicht allein war, und Mandy nahm sich vor, ihre beiden Besucher nicht zu erwähnen. Anscheinend wussten die Eindringlinge nichts von ihnen. Es war wahrscheinlich, dass der Besuch nicht ihr galt, sondern ihrem toten Bruder. Er war schließlich nicht eines natürlichen Todes gestorben. Man hatte ihn umgebracht. Möglicherweise hatten die beiden etwas damit zu tun. Es machte ihr offenbar große Mühe, überhaupt ein Wort hervorzubringen. Dementsprechend leise hörte sich ihre Stimme an. »Was wollen Sie?« »Mit dir sprechen.« Mandy hatte die Antwort gehört. Sie wusste allerdings nicht, wer von den beiden gesprochen hatte. Aber sie hatte am Klang der Stimme erkannt, woher der Sprecher stammte. Das hatte nach Osteuropa geklungen. »Und worüber wollen Sie mit mir reden?« »Über deinen Bruder.« Heiß schoss es in ihren Kopf, obwohl sie nicht besonders überrascht war. Mit tonloser Stimme gab sie die Antwort. »Er ist tot!« »Das wissen wir.«
»Dann gibt es ja nichts mehr zu sagen.« Beide Männer schauten sich kurz an. Ihre Münder zeigten dabei ein dünnes Lächeln, und wieder vernahm Mandy Lester die Stimme eines der Männer. »Was weißt du über ihn?« Reiß dich zusammen! Behalt dich in der Gewalt! Diese Befehle gab sie sich selbst. Und so begann ihre Antwort mit einem Kopf schütteln. »Es gibt nichts über ihn zu sagen. Ich weiß nichts.« »Er hat hier gewohnt.« »Ja, das hat er. Es ist sein Haus. Ich habe hier nur manchmal übernachtet. Ich bin viel unterwegs. Nur ab und zu, wenn ich in London zu tun hatte, quartierte ich mich bei meinem Bruder ein. Deshalb weiß ich auch nichts von ihm. Ist das klar?« »Ja, wir haben es gehört.« »Dann ist es gut und ihr könnt wieder verschwinden.« Mandy Lester erschrak über sich selbst. Sie konnte nicht fassen, woher sie den Mut genommen hatte, eine derartige Antwort zu geben. Die beiden Typen hatten ihre Antwort ohne große Regung zur Kenntnis genommen. Sie ließen einige Sekunden verstreichen, dann trat einer von ihnen vor und nickte. »Du kannst dir aussuchen, ob du es hart haben oder lieber darauf eingehen willst, was wir wollen. Es liegt an dir.« »Das weiß ich.« »Sehr schön.« »Aber ich weiß nichts.« Der Sprecher reagierte blitzschnell. Mandy Lester hatte nicht gesehen, wie er sich abstieß. Er tauchte plötzlich dicht vor ihr auf, und einen Moment später bohrte sich eine Faust in ihren Bauch. Mandy bekam keine Luft mehr. Sie konnte sich auch nicht mehr auf den Beinen halten. Sie wankte zurück. Es war ihr Glück, dass sie nicht zu Boden fiel, sondern in einem Sessel landete. Auch wenn sie gewollt hätte, es war ihr nicht mehr möglich zu sprechen. Der Schlag hatte sie unerwartet getroffen. Sie hatte den Mund weit aufgerissen, um überhaupt atmen zu können. Die Schmerzen in ihrem Körper waren kaum auszuhalten. Sie riss den Kopf hoch, um die Männer anzusehen. Sie kamen auf sie zu. Klar waren sie nicht mehr zu erkennen. Vor Mandys Augen lag so etwas wie ein Nebelschleier. Auch wenn sie gewollt hätte, sie hätte kein Wort hervorbringen können. Derjenige, der geschlagen hatte, blieb dicht vor ihr stehen. Er senkte sogar den Kopf, um sie anzuschauen, aber er wusste offenbar, dass er ihr Zeit lassen musste, um Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Und so verging fast eine Minute, bis er wieder zur Sache kam.
»Du hast es selbst in der Hand, wie es dir ergeht. Wenn du redest und unsere Fragen beantwortest, ist alles okay. Wenn nicht, wirst du noch mehr Schmerzen erleiden.« Auch wenn es ihr schwerfiel, Mandy wusste sehr gut, dass sie eine Antwort geben musste. Normal reden konnte sie nicht, und so hörten sich ihre Worte an, als wären sie hervorgewürgt worden. »Ich weiß nichts ...« Der Schläger stöhnte auf. Es sollte sich anhören, als hätte er Mitleid mit der Frau. Dann flüsterte er etwas in seiner Muttersprache und drehte sich dabei kurz zu seinem Kumpan um. Der nickte. Das bekam auch Mandy mit. Sie ahnte, dass die beiden Männer zu härteren Maßnahmen greifen würden. Nein, sie wusste es, als sich eine Hand auf sie zu bewegte. Zwei oder drei Finger griffen zu. Und sie klemmten das linke Ohr der Frau ein. In diesem Moment schien die Welt für Mandy still zu stehen bis der Hundesohn seine Hand drehte und das Ohr gleich mit. Ein irrer Schmerz zuckte durch den Kopf der Frau. Sie konnte nicht mehr an sich halten und schrie gellend auf ... *** Jane Collins und ich gingen nicht normal. Wir bewegten uns auf Zehenspitzen vor, und so gingen Wir auch die Stufen der Treppe hinab. Der Frauenschrei hatte uns alarmiert. Jane und ich waren uns darüber klar, dass er nicht grundlos abgegeben worden war. Da befand sich ein Mensch in Not, und es war zudem ein Schrei gewesen, wie ihn nur der Schmerz hatte produzieren können. Bestimmt hatte ihn sich Mandy Lester nicht selbst zugefügt. Ich ging vor. Jane befand sich zwei Stufen hinter mir. Beide hatten wir unsere Waffen gezogen und waren auf jede böse Überraschung vorbereitet. Das Haus war recht eng. Viel Platz hatten wir auf der Treppe und auch im Flur nicht. Da auf dem Stufenholz kein Teppich lag, der Laute gedämpft hätte, war es nicht so leicht, sich lautlos zu bewegen. Aber wir schafften es, denn niemand betrat den Flur, um zur Treppe zu schauen. Der Schrei war verklungen, aber wir hörten Stimmen. Sie warnten uns. Wir hörten auch das Stöhnen und Jammern einer Frau. Ich spitzte die Ohren, als ich den Klang der Stimmen vernahm. Es hörte sich fremd an. Das waren keine Landsleute von uns. Sie stammten aus dem osteuropäischen Raum. Die Tür zum Wohnraum lag links von uns. Wir hatten die Stimmen auch deshalb hören können, weil sie offen stand, und jetzt gelang uns der erste Blick über die Schwelle.
Mandy Lester hatte Besuch bekommen. Zwei Männer in Ledermänteln standen leicht gebeugt vor ihr und drehten uns ihre Rücken zu. Mandy saß in einem Sessel. Ihr Jammern tat selbst uns weh. Und die Worte, die sie zu hören bekam, erlebten wir fast wie eine geistige Folter. »Wenn du nicht redest, dann werden wir dir deine Ohren abschneiden. Und glaube mir, wir bluffen nicht.« Mandy Lester wand sich unter großen Schmerzen. Sie holte Luft, um reden zu können und flüsterte schließlich: »Ich weiß doch nichts. Ich habe keine Ahnung. Mein Bruder und ich lebten nicht zusammen.« Darauf ließen sich die beiden nicht ein. »Er hat für uns gearbeitet. Er hat es versprochen. Aber er war zu gierig. Er wollte noch mehr Geld. Das ist nicht drin.« »Ich habe kein Geld.« »Wo sind seine Unterlagen?« »Mein Bruder ist tot! Und ich weiß nicht, wer ihn umgebracht hat!« »Er hat etwas hinterlassen.« »Das weiß ich nicht.« »Jeder hinterlässt etwas. Und du bist seine einzige Verwandte gewesen. Es ist vorbei. Wir lassen uns nicht länger belügen.« »Ich lüge nicht!«, schrie sie gequält auf. Die beiden Hundesöhne kannten keine Gnade. »Wir nehmen uns zuerst dein linkes Ohr vor. Danach kommt das rechte an die Reihe.« Der Sprecher hatte seine Waffe weggesteckt und stattdessen ein Messer hervorgeholt. Das waren Typen, die nicht blufften und aufs Ganze gingen. Wenn wir noch länger warteten, würde Blut fließen. Das taten wir nicht. Ich trat einen langen Schritt vor und drückte dabei die Tür weiter auf. Leise war ich nicht, aber die Eindringlinge waren so in ihre Aufgabe vertieft, dass sie mich nicht hörten. Bis ich sie ansprach: »Sie weiß wirklich nichts...« *** Es war wie der berühmte Paukenschlag, der die Stille zerstörte und die Typen in den Ledermänteln handeln ließ. Nicht sofort, denn es dauerte zwei, drei Sekunden, bis sie ihre Überraschung verdaut hatten. Dann aber wirbelten sie herum. Sie rissen in der Bewegung ihre unterschiedlichen Waffen hoch - und erbleichten, als sie die Mündungen von zwei Pistolen auf sich gerichtet sahen. »Eine Bewegung, und ihr seid tot!« Sie waren keine Amateure, sie wussten genau, wann sie verloren hatten. In diesem Fall war ihnen klar, dass wir die besseren Karten in den Händen hielten.
Sie sagten kein Wort. Selbst das Atmen schienen sie zu vergessen. Zumindest hörten wir nichts. Harte Gesichter. Kalte Augen. »Und jetzt werdet ihr eure Waffen vorsichtig zu Boden legen und sie wegtreten!«, befahl ich. Sie starrten uns an. Aber die Pistolen in unseren Händen waren nicht zu übersehen, und deshalb wussten sie genau, was die Stunde geschlagen hatte. Beide kamen dem Befehl nach. Dabei bewegten sie sich langsam, als hätten sie es geübt. Die Pistole mit dem Schalldämpfer landete ebenso auf dem Boden wie das Messer. Noch bevor beide weggetreten werden konnten, übernahm ich wieder das Wort. Ich sprach den Messermann an. »Ich glaube nicht, dass Sie sich mit einem Messer zufrieden geben. Ich will, dass Sie alle Waffen ablegen, die Sie bei sich tragen. Ist das klar?« »Er hat noch eine Pistole«, flüsterte Mandy Lester. »Na bitte«, sagte ich. »Dann raus damit!« Der Typ kochte innerlich. Sein Gesicht zeigte plötzlich eine gewisse Röte, aber er gehorchte und holte tatsächlich ein mit einem Schalldämpfer bestücktes Schießeisen hervor. Auch die Pistole landete auf dem Boden. Jetzt mussten die Dinger nur noch weggetreten werden. Ich brauchte meinen Befehl nicht zu wiederholen. Es klappte wie am Schnürchen. Die Waffen verschwanden außer ihrer Reichweite. Jane und ich atmeten auf. Ein weiterer Befehl sorgte dafür, dass sie die Arme anhoben und die Hände im Nacken verschränkten. »Halt du sie in Schach, Jane.« »Und was willst du?« »Ihnen Handfesseln anlegen.« Die leichten, aber sehr stabilen Achten aus Kunststoff trug ich immer bei mir. Vom Gewicht her waren sie kaum zu spüren. Wenn sie einmal festsaßen, ließen sie sich auch nicht durch eine gewaltige Anstrengung lösen oder zerreißen. Ich hatte nur eine Handschelle bei mir, ein Kreis umschloss den linken Arm des Killers, der zweite passte um das rechte Gelenk des zweiten Mannes. Bei dieser Aktion hielt Jane Collins die beiden genau unter Kontrolle. Eine falsche Bewegung, und sie hätte geschossen. Aber die Typen wussten genau, wann sie passen mussten. Sie standen nebeneinander, und ich hatte sie so zusammengebunden, dass sie in entgegengesetzte Richtungen schauten. Das war für Typen wie die beiden schon demütigend. Ich nickte Jane zu. »Behalte sie bitte weiter im Auge. Man kann nie wissen.«
»Ist schon okay.« Ich kümmerte mich um Mandy Lester. Endlich war ich in der Lage, sie genauer anzuschauen, denn bisher hatten mir die beiden Eindringlinge den Blick auf sie verwehrt. Die Frau, die einen so toughen Eindruck auf uns gemacht hatte, saß im Sessel und zitterte. Schon beim ersten Blick erkannte ich, dass ihr körperlich kein Leid zugefügt worden war. Es gab keine Wunde in ihrem Gesicht und auch keine am Körper. Bisher hatten die Killer nur gedroht und waren noch nicht richtig zur Sache gekommen. Nur das linke Ohr der Frau sah sehr rot aus, da war sie wohl malträtiert worden. Die Angst war noch nicht aus ihrem Blick gewichen. Das schaffte auch mein Lächeln nicht, mit dem ich es versuchte. Ich nickte ihr zu und sagte mit leiser Stimme: »Sie müssen sich keine Sorgen mehr um Ihr Leben machen, Miss Lester.« »Ja, ich - ich weiß nicht.« »Die werden Ihnen nichts mehr tun.« Sie warf den Gefesselten einen schnellen Blick zu. »Ich - ich kenne sie nicht. Die habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.« Ich nickte. »Das glaubte ich Ihnen gern. Aber Sie werden wissen, was Sie von Ihnen wollten. Oder haben Sie das nicht zu hören bekommen?« »Ja, schon ...« »Und?« Mandy Lester faltete die Hände. Dabei dachte sie nach. Dann sagte sie leise: »So etwas ist mir noch nie passiert. Ich sträube mich noch immer dagegen und kann kaum glauben, dass ich mich in der Realität befinde.« »Leider ist das so.« »Ich weiß.« »Erinnern Sie sich, was man von Ihnen wollte? Sie haben geschrien, wir hörten es oben. Das haben sie bestimmt nicht ohne Grund getan, denke ich mir.« »Sie haben mir mein Ohr verdreht. Ich dachte schon, dass sie es abreißen würden. Aber ich konnte ihnen nichts über meinen Bruder sagen. Ich hatte kaum Kontakt zu ihm. Jeder von uns ging seinen eigenen Weg.« »Das hat man Ihnen nicht geglaubt?« Sie nickte. »Und was genau wollten sie wissen?« »Es ist schwer zu sagen. Ich - ich -habe da meine Probleme. Ich glaube, dass es um eine Abrechnung ging. Die Kerle fühlten sich von Richard hinters Licht geführt. Man kann sagen, dass er sie wohl betrogen hat. Ja, so sah es aus.« »Wollten sie Beweise oder Unterlagen?«
»Ja, ja, ich denke. Aber ich kenne mich nicht aus. Das haben sie mir nicht geglaubt. Ich hätte sie ja auch nach oben geschickt, aber dazu ist es nicht mehr gekommen.« »Hat man Ihnen gesagt, wer sie sind?« »Nein. Aber der Sprache nach sind sie aus dem Osten, denke ich. Vielleicht aus Russland oder so.« »Ja, das denke ich auch.« Mandy Lester rieb über ihr Ohr. »Und wie geht es jetzt weiter?« Ich lächelte sie an. »Sie sind aus dem Schneider, Miss Lester. Wir werden uns um die beiden kümmern und sie verhören. Aber um völlig sicher zu sein, rate ich Ihnen doch, das Haus hier zu verlassen. Es wäre unter Umständen besser, wenn Sie sich in ein Hotel einquartieren.« »Ich denke darüber nach.« »Danke.« Es war mir klar, dass ich von ihr nichts erfahren würde, was uns in diesem Fall weiterbrachte, der immer verzwickter und rätselhafter wurde. Ich frage mich, was hier gespielt wurde. Dass diese beiden Killer ins Spiel kommen würden, damit hatte ich nicht rechnen können, und so nahm der Fall ganz andere Dimensionen an. Ich ging zu Jane Collins, die ihren Platz nicht verlassen hatte und die beiden Männer in den langen Ledermänteln in Schach hielt. Während meines Gesprächs mit Mandy Lester hatte ich ab und zu mal ihre Stimme gehört, aber nicht verstanden, was sie gesagt hatte. Ich ging davon aus, dass sie versucht hatte, mit den beiden Killern zu sprechen, und kam auf dieses Thema. »Keine Chance, John.« »Dann haben sie nichts gesagt?« »Genau.« »Auch nicht ihre Namen?« »So ist es.« Sie wies mit der Beretta auf die beiden gefesselten Männer. »Sie wissen einiges, John, davon müssen wir ausgehen. Vielleicht bringen ihre Aussagen uns weiter.« »Aber nicht hier. Ich werde sie abholen lassen und sie unseren Verhörspezialisten übergeben. Das sind harte Nüsse, ich weiß. Aber ich weiß leider nicht, in welch einem Zusammenhang sie mit dieser Surina stehen. Oder hast du eine Idee?« »Nein.« »Hast du sie nach der Frau befragt?« Jane schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie etwas sagen. Möglicherweise kennen sie die Frau gar nicht.« »Welche Rolle spielt sie dann?« »Da bin ich überfragt«, gab Jane zu.
Ich wollte es selbst versuchen, und deshalb sprach ich die beiden Männer an. Sie drehten dabei ihre Köpfe so, dass sie mich anschauen konnten. Noch immer lauerte in ihren Augen der harte Blick. Wenn sie gekonnt hätten, sie hätten mir mit dem größten Vergnügen die Kehle durchgeschnitten. »Wer hat euch geschickt?« Sie sagten nichts. Sie grinsten mich nur an. Da wusste ich, dass es keinen Sinn hatte. Doch so schnell gab ich nicht auf. Während Jane Collins sie weiterhin bedrohte, durchsuchte ich die tiefen Taschen ihrer Mäntel. Das tat ich an der Außen- und auch an der Innenseite. Ich fand Bargeld, aber keinen Ausweis oder etwas, was mir ihre Identität verraten hätte. Nicht mal eine Kreditkarte. Das deutete auf Auftragskiller hin, die geschickt wurden, ihren blutigen Job erledigten und danach wieder spurlos verschwanden. Die beiden musste ich unseren Verhörspezialisten überlassen. Sie würden ihren Panzer schon knacken. Es kostete mich nur einen Anruf, um sie herbeizuholen, aber das blieb beim Vorsatz, denn innerhalb einer kurzen Zeitspanne wurde alles anders. An der Brust erlebte ich wieder eine Warnung. Mein Kreuz! Sofort veränderten sich mein Blick und meine Haltung. Ich schaute zu Jane Collins hinüber, die meine Veränderung ebenfalls bemerkt hatte. »Ist was?« »Ja, das Kreuz.« »Und?« Darauf konnte ich ihr keine Antwort geben, aber sie wurde uns wie auf dem Tablett geliefert. Mitten im Raum kam es zu einer Veränderung. Dort schien die Luft schwer zu werden, und ich hatte das Gefühl, dass sie sich zugleich verschob. Es entstand so etwas wie eine gläserne Insel, und in ihr erschien wie aus dem Nichts die Lady aus der Hölle ... *** Jäh hatte die Veränderung stattgefunden, und das war auch den beiden Killern nicht verborgen geblieben. Einer von ihnen musste den Kopf weit drehen, dass er hinschauen konnte, und beide Männer reagierten fast gleich. Vor uns hatten sie kaum Angst gezeigt. Das war hier anders. Plötzlich verloren ihre Gesichter die Starre, und sie sahen aus wie Menschen, die von Panik ergriffen wurden.
Als hätten sie sich gegenseitig abgesprochen, öffneten sie ihre Lippen. Es drang nur kein Wort hervor, nur schnelle und heftige Atemstöße. »Verdammt, da ist sie!« Den Satz hatte Jane gesagt, und ich sah auf ihrem Gesicht die Gänsehaut. Surina befand sich im Raum. Sie war uns also nah. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass dies nicht stimmte. Sie war nah und trotzdem fern, sie wurde geschützt wie durch einen Panzer, aber sie war sehr deutlich zu sehen. Ihr Gesicht zeigte immer noch zwei verschiedene Seiten. Auf der einen die normale Haut, auf der anderen die bleichen Knochen. Sie trug auch noch das kurze Kleid, und dazu die hohen Stiefel. Lächerlich bei dieser Jahreszeit, aber sie schien nicht zu frieren. Jedenfalls machte sie auf mich nicht den Eindruck. Und natürlich hatte sie das Messer mit der langen Klinge mitgebracht. Sie hielt es locker in der linken Hand. In der zerstörten rechten Gesichtshälfte zuckte das runde Auge wie eine gelierte Masse. Sie tat noch nichts. Sie schien auf etwas zu warten. Es war auch nicht zu sehen, wen genau sie unter Kontrolle hielt, aber unbekannt schien sie den Männern nicht zu sein. Sie sprachen miteinander. Es war ein scharfes Flüstern in der fremden Sprache, und so konnte ich sie nicht verstehen. Es konnte russisch sein, musste es aber nicht. Dennoch hörten wir die Angst hervor, die darin mitschwang. Surina tat nichts. Sie schien Jane und mich gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es sah so aus, als wäre sie einzig und allein auf die beiden Killer konzentriert. Ich war es leid, auch weiterhin stumm zu sein. Deshalb sprach ich die beiden Männer an. »Wer ist sie? Kennt ihr sie?« Eine Antwort erhielt ich nicht. Sie redeten noch miteinander und nahmen dabei eine Haltung an, als wollten sie jeden Moment wegrennen. »Ich will eine Antwort!« Genau die Sprache verstanden sie. Derjenige Typ, der seinen Kopf nicht zu drehen brauchte, gab sie mir. »Es ist Surina.« »Ja, und weiter?« »Sie ist der Tod!« Ich grinste. »So habe ich mir den Tod nicht vorgestellt. Ich habe immer gedacht, dass er als Sensenmann auftritt.« »Sie ist seine Freundin. Sie steht auf der Seite des Todes.« »Ach, kommt sie nicht aus der Hölle?« »Das sagt sie auch.« »Dann kennt sie auch den Teufel - oder?« »Ja, sie ist ein Teufel. Sie ist einfach alles. Der Tod und der Teufel.«
»Und sie will euch killen?« »Surina schafft alles aus dem Weg, was sie stört. Wir haben immer von ihr gehört, aber wir wussten nicht, dass sie es auch auf uns abgesehen hat. Jetzt ist es zu spät.« »Kann man nichts gegen sie unternehmen?« »Nein, denn man sagt, dass sie unbesiegbar ist.« So etwas hatten wir schon öfter gehört. Nur hatte sich das oft als Irrtum herausgestellt. In diesem Fall allerdings hatte auch ich meine Probleme. Diese Surina war da und trotzdem nicht zum Greifen nahe. Sie wurde von einem Schutzschild umgeben, und ich musste davon ausgehen, dass sie sich in einer anderen Dimension befand. Jane Collins zielte auf die Gestalt. Sie hielt ihre Beretta mit beiden Händen fest. Ihr Gesicht zeigte einen angespannten Ausdruck, den kannte ich, und ich wusste auch, dass Jane bereits auf diese Gestalt geschossen hatte. »John. Ich werde es noch einmal versuchen!« »Was?« »Schießen!« »Und dann?« »Sie wird sich nicht mit den beiden Typen zufrieden geben, glaube ich.« »Warte noch.« »Warum?« Eine Antwort erhielt sie durch meine Bewegung. Ich wollte das Kreuz nicht mehr verdeckt lassen. Es sollte offen liegen, und dann war ich gespannt, was passierte. Meine Beretta hatte ich weggesteckt, um beide Hände frei zu haben. Ich ergriff die Kette am Hals und zog daran, sodass mein Kreuz langsam an der Brust hochrutschte. Der Pullover, den ich trug, hatte zum Glück einen kleinen Ausschnitt und keinen Rollkragen. So wurde das Kreuz auf seinem Weg ins Freie durch nichts gestoppt. Ein letzter Zug, ein Ruck, und es lag frei! Ja, das Glänzen und Schimmern auf seiner Oberfläche war nicht zu übersehen. Ich spürte auch die Wärme auf meiner Hand. »Geht es dir jetzt besser, John?« »Abwarten.« Ich sah, dass auch die beiden Killer wie fasziniert auf das Kreuz schauten. Dabei flüsterten sie etwas, was nicht zu verstehen war und um das ich mich nicht weiter kümmerte. Es gab jetzt nur noch Surina und mich. Da ich meinen Talisman in der Hand hielt, gab es für mich auch kein langes Zögern mehr. Ich wollte es auf dem direkten Weg versuchen und behielt auch in der Hinterhand, die Formel zu rufen, um das Kreuz zu aktivieren. Zuvor allerdings musste ich näher an die Gestalt heran, um direkten Kontakt zu bekommen.
Das klappte auch. Ich konnte meinen Blick auf Surina beibehalten. Ich sah sie nur unscharf, denn zwischen ihr und mir stand so etwas wie eine gläserne Wand. Es war keine direkte Wand, sondern ein leicht zittriges Gebilde, zu vergleichen mit einer durchsichtigen Membrane. Und plötzlich war ihre Stimme zu hören. Ob nur in meinem Kopf oder einfach überall, ich hörte sie sprechen, und jedes Wort vernahm ich wie ein Zischen. »Es ist nicht dein Spiel. Halte dich da raus. Lass mich meinen Weg gehen. Ich bin der Tod. Ich hole mir meine Beute.« »Aber du lebst doch. Den Tod habe ich mir immer anders vorgestellt.« »Halte dich zurück.« »Wie bist du denn gestorben?« »Viele Tode haben mich stark gemacht. Ich habe gelitten, ich habe geschrien, aber die Welt hat mich nicht vernichten können. Jetzt bin ich wieder unterwegs ...« »Und wo hältst du dich auf?« »In meiner Totenwelt. In meiner Sphäre. Ich kann sie verlassen, wenn es sein muss.« »Dann komm her!« »Keine Sorge, das wird geschehen ...« Ich wollte ihr das Kreuz entgegen halten, aber etwas anderes geschah. Diese ungewöhnliche Wand bewegte sich. Es kam zu einer Verschiebung, und dann sah ich etwas, das mich in Staunen versetzte. Auch Surina verschob sich. Dabei nahm ihr Körper eine andere Form an. Plötzlich stimmten die Proportionen nicht mehr. Die Gestalt sah aus wie die Teile eines Puzzles, das noch zusammengesetzt werden musste. Mit einem derartigen Bild hatte ich nicht gerechnet. Die andere Sphäre schob sich vor mir zusammen und ich glaubte, dass diese Surina ihre Dreidimensionalität verloren hatte. Jetzt sah sie aus wie eine Gestalt, bei der es nur noch Länge und Breite gab, wobei ihr Kopf auch nicht mehr an der gleichen Stelle vorhanden war. Er saß jetzt schief, war zur Seite gerutscht und schien jeden Augenblick abzufallen. Sie war nicht zu einem Schatten geworden, aber sie hatte die normale Existenz verloren, und dann wurde sie offenbar von ihrer eigenen Welt aufgesogen und war plötzlich verschwunden. Unsere Blicke glitten ins Leere. Da war nichts mehr, was noch an sie erinnerte. Nur die Reaktion des einen Killers, mit dem ich gesprochen hatte. Er fing plötzlich an zu lachen. Aber es war kein fröhliches Gelächter. Es hörte sich überlaut und röhrend an. Sogar Tränen traten ihm in die Augen, und erst, als ich ihn anschaute, verstummte das Lachen.
»Was ist denn so lustig?«, fragte ich. »Noch bist du nicht aus dem Schneider.« Auf meine Frage ging er nicht näher ein. »Du - du hast es geschafft. Du hast sie vertrieben.« »Das ist auch alles.« »Du kannst sie auch besiegen. Ja, du kannst den Tod auf zwei Beinen besiegen.« »Das werden wir sehen.« Ich wechselte das Thema. »Jedenfalls habt ihr beide mir euer Leben zu verdanken. Das solltet ihr nicht vergessen. Deshalb möchte ich gern wissen, was du über Surina weißt. Woher kommt sie? Wie ist sie zu dem geworden, was sie jetzt ist?« »Ich weiß es nicht!« »Warum lügst du?« »Sie ist der Tod. Sie hat ihn überwunden. Sie ist neu geschaffen worden.« »Tatsächlich?« »Ja, und sie hat den Schutz der Totenwelt.« »Das war nicht das, was ich wissen wollte. Wie ist sie denn geschaffen worden?« »Aus Leichenteilen, John Sinclair.« Diese Antwort hatte nicht der Killer gegeben, sondern eine Frau, deren Stimme ich gut kannte. Auf der Stelle fuhr ich herum und schaute - ebenso wie Jane - zur Tür hin. Wie vom Himmel gefallen stand dort Karina Grischin! *** Wenn das keine Überraschung war, gab es keine mehr auf der Welt. Mir verschlug es wirklich die Sprache, und das kommt nicht oft vor. Ich kannte Karina Grischin gut, sie war zu einer Freundin geworden. Zusammen mit Wladimir Golenkow lebte sie in Russland, und sie ging dort dem gleichen Job nach wie ich hier in London. Jane hatte ihre Sprache zuerst wiedergefunden. »Du, Karina?« »Ja, ihr irrt euch nicht.« »Aber wo kommst du her?« Die Russin mit den braunen Haaren, auf denen jetzt eine Pelzmütze saß, lächelte. »Das werde ich euch später sagen, aber ich bin froh, euch getroffen zu haben.« Sie ging auf Jane zu und umarmte sie. »Bist du allein?«, fragte Jane. »Ja, Wladimir ist in Russland geblieben, obwohl ihn der Fall auch sehr interessiert.« Mehr sagte sie nicht. Zunächst kam sie zu mir, um auch mich zu umarmen. »Geht es dir gut, John?« »Ja, noch.« »Das freut mich.« Sie ließ mich los. Dann schaute sie auf die beiden Killer und nicke. »Um sie wäre es nicht schade gewesen. Es sind Auftragskiller.« »Die aber nicht mit dieser Surina zusammenarbeiten, oder?«
»So ist es, John.« »Und wie sehen die Zusammenhänge aus? Ich habe das Gefühl, in einem Wirrwarr loser Fäden zu stehen. Ich komme da nicht mehr mit, wenn ich ehrlich bin.« »Es ist auch nicht leicht.« Sie deutete auf die beiden Killer, die nichts mehr begriffen. Das jedenfalls war ihnen anzusehen. Sie stierten uns an, ohne uns richtig wahrzunehmen. »Bleiben wir am besten bei Surina«, sagte ich. Jane nickte. »Das würde ich auch meinen.« Mir brannte eine Frage auf dem Herzen, die ich rasch loswerden wollte. »Ist sie tatsächlich eine Kunstfigur? So etwas wie Frankensteins Monster?« »So ähnlich kann man es sehen. Sie hat auf ihre Weise tatsächlich den Tod überwunden. Es gab da einen Menschen, der Leichenteile gesammelt hat und das aus ihr machte, was sie jetzt ist. Sie hat alles, nur keine Seele, die konnte man ihr nicht geben. Aber dafür hat man ihr den Weg in die Totenwelt gezeigt, die sie auch wieder verlassen kann. In ihr steckt der Geist der Hölle, und es gibt sie schon recht lang, wobei ihr Erschaffer nicht mehr lebt.« »Wer war das?« »Es war ein Mönch, dessen Name dir nicht ganz unbekannt sein sollte, John. Rasputin!« Ich stieß einen Pfiff aus. »Der Magier und Hexer am Zarenthron! Ich wusste nur nicht, dass er auch in Frankensteins Gefilden geräubert hat.« »Er hat vieles getan, wovon die meisten Menschen nichts wissen, was auch besser ist. Manche glauben, dass er noch lebt. Das will ich mal dahingestellt sein lassen. Ich habe ihn auch noch nicht gefunden. Allerdings diese Surina.« »Bist du hinter ihr her gewesen? Hast du sie gejagt?« »Ja.« Sie runzelte die Stirn. »Schon sehr lange. Sie war so etwas wie eine Legende in unserem Land. Niemand wusste, ob sie wirklich existierte, aber dann habe ich einen Hinweis bekommen. Ich konnte mich auf ihre Spur setzen, die hierher führte.« Ich musste lachen und fragte sofort: »Was hat sie denn hier zu suchen?« »Sie ist geschickt worden!« Diese Antwort überraschte mich so sehr, dass ich zunächst nichts sagen konnte. Dann fragte ich doch: »Geschickt?« »Du hast richtig gehört.« »Und von wem?« Ich lachte wieder. »Bestimmt nicht von einem Mönch namens Rasputin.« »Da hast du recht. Aber es gibt in unserem Land Menschen, die noch an ihn glauben. Kannst du dich erinnern? Wir haben schon einmal mit dieser Liga zu tun gehabt. Und sie ist weiterhin aktiv. Sie will so etwas wie sein Erbe fortführen. Nur auf einem anderen Weg. Auf einem
modernen. Es sind Leute, die Magie und Wissenschaft miteinander verbinden, und sie haben gute Kontakte. Auch zu deinem Land.« Allmählich klärte sich etwas in meinem Kopf. »Meinst du etwa, dass sie hier so etwas wie eine Filiale aufbauen wollen?« »Nein, nein, John. So weit möchte ich nicht gehen, aber sie haben von einem Mann namens Richard Lester erfahren, der so etwas wie ein Geheimnisträger ist. Er arbeitet an einem geheimen Projekt für eure Luftwaffe. Um was es sich dabei genau handelt, weiß ich nicht, aber sie wollten die Ergebnisse bekommen. Deshalb haben sie Surina geschickt.« »Damit sie Richard Lester ermordet, wie?« »Das hat sie wohl getan. Ich bin leider zu spät gekommen.« »Aber warum tat sie das?« »Weil dieser Lester ein doppeltes Spiel trieb. Er hat zugleich mit dem bulgarischen Geheimdienst Kontakt aufgenommen. Die beiden Typen hier gehören dazu. Deshalb wollte Surina auch sie töten. Das hat sie nicht geschafft. Du bist dazwischen gekommen. Aber sie hätte es getan. Die Rasputin-Liga duldet keine fremden Götter neben sich. Keiner wollte, dass die Unterlagen in andere Hände fallen. Deshalb musste Lester sterben durch Surina. Und sie sollte auch alle anderen Spuren beseitigen, um reinen Tisch zu machen.« Ich begriff, auch Jane Collins nickte. Wir hatten also Licht ins Dunkle bekommen, aber es gab weiterhin Surina, und es stellte sich die Frage, ob sie aufgeben würde. Als ich mich danach erkundigte, sagte Karina Grischin: »Das weiß ich nicht. Da Richard Lester ihr nichts hat sagen können, wird sie unter Umständen weiter suchen. Irgendwo muss er ja die Ergebnisse seiner Forschungen versteckt haben.« Es war der Augenblick, an dem Jane Collins sich einmischte. »Er hat sich alles zu leicht vorgestellt«, sagte sie. »Er war nicht schlau genug. Er dachte, sicher zu sein, aber das war er nicht. In seiner Firma war man ihm längst auf die Schliche gekommen. Man hat ihn nur an der langen Leine gehalten, aber mich engagiert, um ihn zu überführen. Er stand also von drei Seiten unter Beobachtung, ohne es zu wissen.« Ja, so sah es aus. Aber das Spiel war noch nicht beendet. Diese Surina gab es weiterhin, und ob sie eine Niederlage so einfach wegstecken und akzeptieren würde, stand in den Sternen. Ich schnitt das Thema bei Karina an. Sie vergrub die Hände in den Taschen ihrer gefütterten Jacke und meinte: »Ich habe im Moment keine Ahnung, aber es gibt wohl noch genügend Löcher, die gestopft werden müssen.« »Das heißt, die Gefahr ist nicht vorbei?«
»Wenn sie nicht zurückgepfiffen wurde, wird sie sich etwas anderes ausgedacht haben«, sagte Karina. »Zudem ist sie in der Lage, sich in einer anderen Ebene zu bewegen, was uns nicht gegeben ist. Deshalb ist sie uns leider über.« »Und wie ist das möglich?« Aus ihren dunklen Augen sah Karina Grischin mich an. »Das weiß ich nicht, John. Es ist mir nach wie vor ein großes Rätsel. Es muss mit dem geheimnisvollen Erbe des Rasputin zu tun haben, das von seinen - ich sage mal Nachkommen - übernommen worden ist. Er soll es jedenfalls geschafft haben, sie herzustellen, und die Menschen waren schon immer der Ansicht, dass er einen Draht zum Teufel und zum Jenseits gehabt hat. Um ihn damals zu töten, hat man ihn praktisch erschlagen. Aber ich wiederhole mich, wenn ich das sage, dass es noch Menschen gibt, die daran glauben, dass er lebt. Versteckt in den Weiten unseres Landes.« »Das ist alles gut und schön, bringt uns aber nicht weiter. Wir müssen uns mit der Gegenwart auseinandersetzen.« »Du sagst es!« Plötzlich sprang Mandy Lester von ihrem Platz hoch. Sie blieb stehen, aber sie zitterte am gesamten Leib. »Ich will diese beiden Killer nicht mehr sehen!«, schrie sie. »Ich will überhaupt keinen mehr sehen, versteht ihr? Weg mit euch!« Jedes Wort unterstrich sie durch eine wilde Handbewegung. »Verlasst mein Haus, und das sofort!« Sie verstummte, fiel wieder zurück in ihren Sessel und schlug beide Hände vor das Gesicht. Zu sagen hatte sie nichts mehr. Dafür Jane Collins, die nickte. »Ja, sie hat recht, John. Mandy ist nur ein zufälliges Opfer. Nicht so die beiden Killer hier. Was machen wir mit ihnen?« Bevor ich etwas sagen konnte, sagte Karina Grischin: »Könnte man ihnen einen Mordversuch anhängen?« Ich überlegte nicht lange und schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Den Vorsatz würde uns jeder Anwaltsgehilfe zerpflücken. Es war eine Bedrohung, mehr nicht. Und ob Mandy Lester bei ihrer Aussage bleibt, ist auch die Frage. Ich kann mir vorstellen, dass sie ihre Ruhe haben und von allem nichts mehr wissen will. Möglicherweise kann man sie für ein paar Tage festhalten.« Ich wandte mich an die Russin. »Kennst du sie denn, Karina?« »Nein, die habe ich nie zuvor gesehen.« Sie schaute die Männer an, die frech grinsten. Dann sagte einer der beiden: »Es war nur ein kurzer Besuch. Wir werden außer Landes gehen. Was haben wir denn getan? Wir haben nur im Haus nachgeschaut ...« »Einbruch!«, sagte Jane.
»Na und? Willst du sie dafür festsetzen?« Ich hatte leider recht. Wir würden uns unter Umständen nur Ärger einhandeln. Möglicherweise gab es sogar diplomatische Verwicklungen, und das war die Sache nicht wert. Auf der anderen Seite ging es um die Lady aus der Hölle. Wir mussten an sie herankommen, und wir wussten jetzt, dass sie unterwegs war, um Menschen zu bestrafen, von denen sie sich verraten fühlte. Darauf konnte man aufbauen, wenn ich sie richtig einschätzte. Sie musste einsehen, dass sie verloren hatte. Sie war an die beiden Männer nicht herangekommen, und wenn sie diese Pläne nicht aufgegeben hatte, dann befanden sich die beiden noch immer auf ihrer Liste und konnten für uns die perfekten Lockvögel abgeben. Nicht nur ich hatte darüber nachgedacht. Das war auch bei Karina Grischin der Fall gewesen. Sie flüsterte mir ihren Gedankengang ins Ohr. »Nicht schlecht!«, murmelte ich. »Man müsste sie nur unter Kontrolle halten.« Ich grinste schief. »Willst du das übernehmen?« »Unter Umständen.« »Und weiter?« »Ich würde sie an einen Ort schaffen, an dem wir unter uns sind.« Ich schaute sie an und sah dabei in ein hübsches Gesicht, das einen harmlosen Ausdruck zeigte. Aber es war nur eine Maske, das stand auch fest. Karina Grischin war mit allen Wassern gewaschen. Sie kannte alle Tricks und fand sich zudem in London zurecht, denn hier hatte sie früher mal gelebt. Als Leibwächterin eines gewissen Logan Costello. Da hatte ich sie kennengelernt. Der weitere Weg hatte sie zurück in ihre Heimat geführt. Dort hatte sie sich dann mit Wladimir Golenkow eine zweite Karriere aufbauen können. Ich musste einfach loswerden was mir quer gegangen war. »Eigentlich nehme ich es dir übel, dass du mir keinen Bescheid gegeben hast, wo du dich aufhältst.« »Bitte, John.« Sie legte mir beide Hände auf die Schultern. Dabei schaute sie mich treuherzig an. »Das hätte ich getan, wirklich. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen. Außerdem sah ich die Gefahr als nicht so groß an. Aber das Schicksal hat uns zusammengeführt. Jetzt können wir gemeinsam losziehen.« »Du machst es dir einfach, Karina.« »Nur so kommt man durch.« Ich vergaß das Thema und kam wieder auf ihren Vorschlag zu sprechen. Was sie vorhatte, entsprach zwar nicht der feinen englischen Art, aber darauf nahmen unsere Gegner auch keine Rücksicht, die sich über alle Regeln hinwegsetzten. »Und? Hast du dich entschieden?« »Ja.« »Dann können wir ja los.«
Ich hob den rechten Arm. »Moment, so schnell geht das nicht bei mir. Wohin willst du?« »Es gibt hier in London einige geeignete Plätze. Du weißt, dass man Fabrikgelände saniert hat. Man baut sie um, es entstehen neue Räume, die wieder vermietet werden. Künstler, Freischaffende lassen sich dort zumeist nieder, und deshalb ...« »Hast du dir dort auch eine Wohnung gemietet?« »Nicht ich, John.« »Die Organisation?« Sie lächelte. Davon wusste ich nichts. Ich würde es auch später vergessen, denn ich wollte mich auf keinen Fall in Aktivitäten der Geheimdienste einmischen. Das war nicht gut, da konnte man sehr leicht zwischen die Fronten geraten. Die Entscheidung fiel auch deshalb, weil ich diese Surina für äußerst gefährlich hielt. Auch wenn sie aussah wie ein Mensch, es stand fest, dass sie kein Mensch war, sondern ein aus mehreren Teilen geschaffenes Wesen, das Ähnlichkeit mit dem Monstrum von Professor Frankenstein aufwies, wenn vom Aussehen her auch das glatte Gegenteil. »Wie bist du gekommen, Karina?« »Mit einem Wagen. Ich muss ihn nur noch holen. Dann fahre ich vor, und die Dinge sind erledigt.« Sie zwinkerte mir zu und verließ das Haus. Jane und ich blieben zurück, wobei die Detektivin nachdenklich nickte. »Die ist schon ein Hammer, John. Sie weiß genau, was sie will, und ich komme mir irgendwie überfahren vor.« »Da kann man nichts machen.« »Du gibst einfach auf?« »Nein, Jane, so darfst du das nicht sehen. Ich muss nur zugeben, dass ich im Moment keinen besseren Vorschlag habe. Wir werden die nächsten Stunden abwarten müssen. Ich denke, dass wir von Surina unter Kontrolle gehalten werden und sie auch weiß, wohin wir uns verziehen. Sie wird auf eine günstige Gelegenheit warten. Und ich gehe davon aus, dass wir alle ihre Feinde sind. Also wird sie versuchen, nicht nur die beiden Bulgaren aus dem Weg zu schaffen. Eine andere Möglichkeit sehe ich leider nicht.« Jane lächelte und verengte dabei ihre Augen. »Du hast dabei kein schlechtes Gewissen?« Ich wusste sofort, worauf sie anspielte. »Nein, das habe ich nicht. Offiziell bin ich im Urlaub. Da kann ich machen, was ich will. Und vergiss nicht, wer mich ins Boot geholt hat. Das bist du gewesen, meine liebe Jane.« »Wobei ich nicht gedacht hätte, dass dieser Fall derartige Dimensionen annehmen würde.«
»Das kann man nie im Voraus sagen.« Mandy Lester saß noch immer in ihrem Sessel. Ihre Stimme klang recht ärgerlich, als sie fragte: »Kann ich jetzt davon ausgehen, dass Sie mein Haus bald Verlassen?« Ich drehte mich zu ihr um. »Ja, das können Sie.« »Das wird auch Zeit. Ich muss mich ja auch um die Beerdigung meines Bruders kümmern.« »Das stimmt. Wenn die Leiche freigegeben ist.« »Wieso das?« »Sie befindet sich in der Obduktion. Das ist bei Todesarten wie dieser so üblich.« »Verstehe.« Damit war ihre Neugierde gestillt, was mir sehr entgegenkam. Außerdem kehrte Karina Grischin zurück. Da sie lächelte, schien alles glatt über die Bühne gelaufen zu sein. »Wir können«, sagte sie. »Soll ich die beiden mit in meinen Wagen packen oder wollt ihr ...?« »He, wir bleiben hier!«, stieß einer der beiden Bulgaren hervor. »Wir können auch alleine gehen. Weg mit den Fesseln.« Karina ging zu ihnen. »Nein, Freunde, so haben wir nicht gewettet«, sagte sie. »In diesem Film führen wir die Regie und nicht ihr. Aber ich kann euch versprechen, dass ihr die Hauptrolle spielt. Und das ist doch auch was, nicht wahr?« So freundlich Karina auch gesprochen hatte, die beiden Bulgaren wussten genau, wie der Hase laufen sollte. Sie sahen ein, dass es keinen Sinn hatte, groß zu protestieren, senkten die Blicke und flüsterten nur Flüche vor sich hin. Jane Collins sammelte die Waffen ein. Auch das Messer nahm sie mit. Es blieb dabei, dass die beiden Bulgaren in meinen Rover stiegen. Obwohl sie gefesselt waren, bedeuteten sie einen Unsicherheitsfaktor. So konnten sie während der Fahrt leicht durchdrehen und uns Schwierigkeiten bereiten. Ich sprach mit Karina darüber, als wir das Haus verlassen hatten. Sie verzog für einen Augenblick die Lippen und flüsterte mir zu: »Lass mich das machen.« Mehr sagte sie nicht. Ich vertraute ihr. Die beiden Gefesselten stiegen in den Rover, was für sie gar nicht mal so einfach war. Schließlich saßen sie da, wo sie hingehörten, und Karina Grischin beugte sich ebenfalls in den Rover hinein. Es sah so aus, als wollte sie Abschied nehmen. Das traf auch zu. Nur auf ihre Weise. Dass sie ihre Hände bewegte und dies dicht an den Hälsen der beiden Männer geschah, sah ich noch. Mehr wurde mir nicht bewusst. Ich sah nur, wie die Bulgaren zuckten und sofort danach erschlafften.
Ich fragte nicht nach, weil ich wusste, dass es Griffe gab, die einen Menschen töten oder auch nur bewusstlos werden lassen konnten, wie das hier der Fall war. Karina tauchte wieder auf. Sie grinste Jane und mich an. »Alles klar, wir können los. Ich fahre vor.« Darauf war nichts mehr zu sagen. *** Unser Ziel lag am Südufer der Themse im östlichen Teil der Metropole. Es war ein Gelände in der Nähe des Southwark Parks, und es war verbunden mit einem alten Pier, der stillgelegt, aber nicht abgerissen worden war. Es war kein Problem, das Wasser zu erreichen, in dessen Nähe die zwei alten Kähne wie tote Metallsaurier standen. Die Lagerhäuser waren nicht mehr gefüllt, aber im Bereich dahinter sah es anders aus. Da gab es die hohen Bauten aus dunkelroten Ziegelsteinen, die man renoviert hatte. So war Platz für kreative Menschen geschaffen worden, und es gab auch die eine oder andere IT-Firma, die hier ihren Sitz gefunden hatte. Wir waren mit unseren Fahrzeugen bis dicht an den Eingang herangefahren und mussten den beiden Bulgaren beim Aussteigen helfen. Sie waren noch ziemlich angeschlagen. Karina und ich kümmerten uns um die Männer. Jane Collins gab uns dabei Rückendeckung. Die Männer taumelten durch die geöffnete Eingangstür aus Metall ins Haus hinein und gelangten in einen Flur, der mehr ein breites Rechteck war. Ich hatte von außen gesehen, dass der Bau gut vier Stockwerke hoch war. Von der alten Fabrikhalle war nicht mehr viel zu sehen. Man hatte Zwischenwände eingezogen und eine neue Eisentreppe gebaut. Es gab sogar einen Fahrstuhl mit einer recht breiten Tür, auf die Karina und ich zugingen. »Wie hoch müssen wir?« »In die letzte Etage.« Ich grinste. »Und der Aufzug funktioniert?« »Das denke ich doch.« Karina blieb vor der grauen Metalltür mit der schmalen Scheibe in der Mitte stehen. Sie schaute mich dabei ernst an. »John, ich möchte, dass du das vergisst, was du gleich zu sehen bekommst. Die Außenstelle ist unter einer Deckadresse angemietet worden. Nur wenige Menschen wissen Bescheid. Aber ich weiß auch, dass ich dir vertrauen kann und du nichts im Sinn hast, was dieses Schlupfloch gefährden könnte. Sind wir uns da einig?« »Das geht klar.« »Und bei dir, Jane?« »Da musst du dir keinen Kopf machen, Karina.« »Das ist okay.«
Um die Bulgaren kümmerte sie sich nicht. Sie standen zwar auf ihren eigenen Füßen, mussten allerdings von Jane und mir gestützt werden, was sich später ändern würde. Das Glück stand auf unserer Seite, denn keine der in der Nähe liegenden Türen öffnete sich. Besonders warm war es hier nicht. Der Bau war so gut wie nicht isoliert. Die Fahrstuhltür musste aufgezogen werden. Die Kabine dahinter war recht geräumig. Sie diente auch zum Transport von Material. Erst recht bot sie Platz für fünf Personen. Wir lehnten die Bulgaren mit den Rücken gegen die Wand. So hatten sie mehr Halt. Karina drückte einen Knopf, neben dem eine schwarze Vier stand. Ein kurzes Rucken, dann setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung, wobei er recht langsam und schaukelnd in die Höhe fuhr. Ich machte mir meine Gedanken darüber, wie es weitergehen würde. Es war nur zu hoffen, dass wir uns nicht verrechnet hatten, alles andere wäre fatal gewesen. Eine Unperson wie Surina durfte nicht auf die Menschheit losgelassen werden. Erneut ruckte die Kabine, dann hielt sie an. Jane Collins stieß die Tür auf. Karina und ich schleiften die beiden Bulgaren in einen Flur, der recht breit und trotzdem nicht besonders übersichtlich war, weil er nach beiden Seiten hin eine Biegung machte. An einer Seite gab es noch die alten Fenster der Fabrikhalle. Sie waren durch Eisensprossen in Vierecke unterteilt. Man hatte sie sogar gereinigt. Von hier aus schweifte mein Blick zum Fluss hinüber. Der blaue Himmel war noch da. Eine fahle Sonne brachte trügerische Wärme, und das Wasser im Flussbett hatte eine hellgraue Farbe angenommen, auf der hin und wieder helle Reflexe standen. Karina Grischin ging vor. Jane und ich kümmerten uns um die Bulgaren, die jetzt allein gingen, aber recht frustriert waren, was an ihren geflüsterten Flüchen zu hören war. Karina war nach links gegangen. Ungefähr dort, wo das Licht schwächer wurde und der Flur dicht vor einer Biegung stand, sahen wir, wie die Russin eine Tür auf schloss. Sie verschwand zuerst in ihrer konspirativen Wohnung und schaute sich dort um. Erst als sie sicher war, dass sich kein Fremder in der Wohnung befand, konnten wir eintreten. Das war schon kein Zimmer mehr, sondern ein riesengroßer Raum, in den wir hineingingen. Rechts sahen wir eine Front aus Glas, die durch Sprossen ebenfalls in Vierecke unterteilt war. Nach draußen konnte man nicht schauen, weil Vorhänge aus Lamellen fast bis zum Boden reichten und vor dem Sonnenlicht schützten.
Ein großer Raum, nur wenig Einrichtung. Hier konnte keine Gemütlichkeit entstehen, es war alles nur zweckmäßig. Sogar eine kleine Küchenzeile war integriert. Es gab auch ein breites Bett, einige Sessel und zwei Tische. Natürlich war der Mieter auch hier vernetzt. Ein Laptop stand auf einem Schreibtisch. Ich merkte, dass mich die Russin von der Seite her anschaute. Erst setzte ich den Bulgaren in den Sessel, dann wandte ich mich an sie. »Du möchtest einen Kommentar hören?« »Bitte.« »Ein wenig groß und ungemütlich, ansonsten kann man es hier schon aushalten.« »Es ist nicht nur für mich bestimmt, John. Hin und wieder leben auch andere Personen hier.« »Klar, ein Schlupfloch.« »Wenn du es so siehst, muss ich dir recht geben.« »Und jetzt meinst du, dass wir hier von Surina Besuch bekommen«, sagte Jane Collins. »Ich hoffe es.« »Und warum sollte sie uns den Gefallen tun?« »Ich gehe davon aus, dass sie Spuren verwischen will. Eine wie sie hat es nicht so gern, wenn Zeugen sie beschreiben . können. Das gilt auch für die Macht, die hinter ihr steht.« »Diese Leute bereiten euch Probleme, oder?« Damit lag Jane offenbar richtig. »Ja, ich muss zugeben, dass diese Rasputin-Bande stärker geworden ist. Aber mehr in unserem Land. Aber sie weiten sich auch international aus, wie wir haben erkennen müssen.« »Ist Surina ihre Spitzenkraft?« Karina nickte. »Zumindest ist sie eine Unperson, die aus dem Weg geräumt werden muss.« »Dann bin ich mal gespannt«, sagte Jane. Das war ich auch. Nur hatte ich mich nicht an dem Gespräch beteiligt. Ich war durch den großen Raum gegangen und hatte mich umgeschaut. Viel zu entdecken gab es nicht. Aber auf der Küchenzeile stand eine Kaffeemaschine. Das war schon ein Vorteil. Ich sah auch die zweite Tür. Sie bestand nicht aus Metall, sondern aus Holz. Ich zog sie auf, und in dem kleinen Raum dahinter schaltete sich automatisch das Licht ein. Mein Blick fiel in eine Dusche, zu der auch eine Toilette mit giftgrüner Brille gehörte. Durch eine Luke an der Decke drang Frischluft. Geheizt wurde hier nicht. Dafür liefen durch den großen Raum Heizrohre dicht an den Wänden entlang und über den Fußboden hinweg. »Zufrieden?«, fragte Karina.
Ich grinste. »Hier kann man es aushalten, wenn man nicht entdeckt werden will.« »Stimmt.« »Und wie ist es mit den Nachbarn?« »Ich habe noch keine gesehen«, sagte Karina. »Man lebt hier ziemlich einsam, und das ist für unsere Zwecke nicht das Schlechteste.« Da mochte sie recht haben. Wir wurden durch die beiden Bulgaren abgelenkt, die sich über die neue Lage beschwerten und wissen wollten, wo sie steckten. »An einem guten Ort«, sagte die Russin nur. »An dem es sich auch gut sterben lässt, oder?« »Man kann überall sterben, wenn man sich entsprechend benimmt. Das solltet ihr doch am besten wissen.« »Auf was warten wir hier?« »Auf den Tod, Freunde. Das ist doch klar. Der Tod wird kommen, und ich bin gespannt, ob wir stärker sind als er.« Darauf konnten die beiden keine Antwort geben. Sie waren in ein Geschehen hineingeraten, das sie nicht mehr richtig überblickten. Wie lange wir hier aushalten mussten, wusste keiner von uns. Ich sah gegen die Fensterfront und betrachtete den Vorhang aus Lamellen, die ziemlich dicht waren. Karina hatte meinen Blick bemerkt. »Soll ich sie hochziehen?« »Warum nicht?« »Dann sitzen wir wie auf dem Präsentierteller.« »Na und?« »Was willst du denn sehen?« »Nur die Landschaft.« »Die kennst du doch. Von hier kannst du bis zum Fluss schauen.« Jane mischte sich ein. »Das ist doch alles nur Gerede. Diese Person kann nichts aufhalten. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie in einer anderen Dimension existiert. Sie kann sie blitzschnell verlassen und wieder in sie eintauchen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass wir bis zur Dunkelheit warten müssen. Surina hat alle Chancen auf ihrer Seite.« »Du hast recht«, meinte Karina. »Ich gehe sogar davon aus, dass sie sich bereits in der Nähe aufhält und sehr genau weiß, wo wir jetzt stecken.« Es gab keinen, der ihr widersprochen hätte. Wenn ich ehrlich gegen mich selbst war, dann hatte ich keine große Lust, hier im Raum zu warten. Ich war jemand, der sich gern mit der Umgebung vertraut machte, in der er sich aufhielt. Und diese Umgebung bestand für mich nicht nur aus dem Raum, in dem wir uns aufhielten. Ich ging nicht davon aus, dass sich Surina bereits in der Nähe aufhielt und damit auch in einer Welt, die für uns nicht sichtbar war. Wäre das der Fall gewesen, hätte mich mein Kreuz bereits gewarnt. Und ich hoffte
auch, dass die Lady aus der Hölle weiterhin eine Einzelkämpferin blieb und sich nicht irgendwo Verstärkung geholt hatte. Jane Collins bemerkte meine Unruhe. »Was hast du, John?« »Ihr bleibt ja hier, denke ich ...« Sie kannte mich gut und fragte: »Du willst dich in der Nähe umschauen, wenn ich mich nicht irre?« »Du irrst nicht.« »Wie du willst. Ich könnte ...« Da ich wusste, was kam, unterbrach ich sie. »Nein, nein, Jane, bitte nicht. Das regele ich allein. Außerdem trage ich einen guten Schutz bei mir.« »Wie du willst.« Karina schaute mich an. Sie sagte nichts. Dafür meldete sich einer der Bulgaren. »Du kannst uns mitnehmen und freilassen. Wir sind wieder auf der Reihe. Wir kommen auch nicht zurück, versprochen.« »Das glaube ich sogar. Ich gehe trotzdem allein.« »Ach, leck mich doch ...« Den Satz überhörte ich und ging nach einem knappen Nicken los. Mein Ziel war die Tür, durch die wir gekommen waren. Der Schlüssel steckte von innen, doch es war nicht abgeschlossen. Ich zog die Tür auf und warf zunächst einen vorsichtigen Blick nach draußen. Vor mir lag der Flur, in dem sich nichts bewegte. Allerdings hörte ich Musik, die mir entgegenschlug. Die harten Bässe des Rocks drangen wie Zitterschläge an meine Ohren. Hinter mir fiel die Tür zu. Ich ging vom Dunklen ins Helle hinein, passierte auch den Fahrstuhl, ohne dass mir etwas aufgefallen wäre. Einige Meter weiter hörte ich die Musik lauter. Ich schritt in den Teil des Gangs hinein, der in einem großen Viereck endete. Da zählte ich vier Türen, die zu den verschiedenen Wohnungen führten. Aus einer hämmerten mir durch die geschlossene Tür die Klänge entgegen. Keine Spur von Surina. Wo gab es hier Verstecke? Offen sah ich keine. Wenn sie hier war, dann musste sie sich einfach verborgen halten. Das konnte hinter einer der geschlossenen Türen sein. So musste ich damit rechnen, dass sie geöffnet wurde. Ja, eine flog auf. Plötzlich wurde die Musik lauter. Ich verzog das Gesicht und sah einen Moment später eine junge Frau, die über die Schwelle taumelte. Hinter ihr stand ein ebenfalls junger Mann, der Luftgitarre spielte und sich beinahe in einer Trance befand.
Die Frau stolperte und wäre wohl gefallen, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte. Sie fiel steif in meine Arme, und ihr Gewicht drückte mich etwas zurück. »He, bist du mein Retter?« »Kann sein.« Sie wollte mich umarmen. Ich aber drückte die Arme zur Seite und schob sie leicht zurück. So schaute ich in ein verschwitztes Gesicht, in dem die Schminke verlaufen war. Zumindest liefen dunkle Bänder von den Augen her in Richtung Kinn. Das Haar hatte sie hochgesteckt, und die Frisur erinnerte mich an die Rockröhre Amy Winehouse, wobei sich die Ähnlichkeit nicht allein auf die Frisur beschränkte. Entweder war sie high oder betrunken. Vielleicht auch beides, denn ich roch eine Fahne. »Komm, ich bring dich wieder zurück.« »Kommst du denn auch?« »Ja.« Mit schwerer Zunge formulierte sie die nächste Frage. »Hast du auch die komische Frau mit dem hässlichen Gesicht gesehen? Ist sie dir begegnet?« Ich horchte auf. Mochte diese Person noch so daneben sein, die Beschreibung hatte sie sich nicht aus den Fingern saugen können. Ich hielt sie fest, damit sie nicht nach hinten stolperte und fiel. »Was für ein Gesicht meinst du?« »He!« Sie lachte und hustete zugleich. »Das war kein richtiges Gesicht. Das war eine Fratze.« »Wieso?« »Da kamen die Knochen raus.« »Und wo hast du sie gesehen?« Ich musste nicht mehr schreien, denn es gab keine Rockmusik mehr. Dafür hörte ich aus der Wohnung ein Stöhnen, das gar nicht gut klang. Sie klatschte gegen ihr Gesicht. »Da - da - sind sie rausgekommen. Richtige Knochen. Bleich und auch ein Auge.« Sie schüttelte sich. »Das war echt scheiße.« »Und wo war sie?« »Bei uns.« »Wie bei euch?« »In der Wohnung.« Sie drehte sich halb um und deutete hinein. »Da ist sie gewesen.« »Und wie kam sie zu euch? Habt ihr der Frau die Tür geöffnet?« »Nein, sie war auf einmal da. Ich ich - weiß es auch nicht. Plötzlich stand sie bei uns.« »Und dann?« »War sie wieder weg. So wie sie gekommen ist. Niemand hat es gesehen. Aber ich weiß es genau. Verdammt genau sogar. Ich habe sie ja gesehen und Lennart auch.«
Das war wohl der junge Mann. »Hat sie euch was getan?« Diese Frage peitschte förmlich eine Erinnerung in der Frau hoch. Sie kam mir für einen Moment sehr nüchtern vor, auch wenn sie die Augen weit geöffnet hatte. »Da war das Messer.« »Bei ihr?« »Ja, das war so lang. Aber sie hat nicht zugestochen. Sie verschwand einfach. Keiner von uns hat die Tür öffnen müssen. Die ist so gegangen, wie sie kam.« »Ja, das glaube ich.« »Kennst du sie denn?« »Vielleicht«, sagte ich. »Auf jeden Fall solltest du zurück in deine Wohnung gehen.« »Und dann?« »Dort bleiben.« Um meine Worte zu unterstreichen, fasste ich nach ihren Schultern und schob sie weiter. Sie starrte mir dabei ins Gesicht. Sie redete auch etwas, was ich nicht verstand, dann bugsierte ich sie über die Schwelle und zog die Tür zu. Hoffentlich hielt sie sich an meinen Rat. Ich dachte daran, dass ich die anderen warnen musste. Surina würde bestimmt nicht bis zur Dunkelheit warten. So drehte ich mich um, und ob es mich noch in der Drehung erwischte, war nicht genau nachzuvollziehen. Jedenfalls konnte ich den Wärmestoß auf meiner Brust nicht ignorieren. Surina war in der Nähe! *** Meinen Vorsatz konnte ich nicht mehr umgehend in die Tat umsetzen. Jetzt musste ich mich um eine Gefahr kümmern, die mit den Augen noch nicht zu sehen war. Aber wo steckte sie? Zu weit entfernt konnte sie nicht sein, sonst hätte ich nicht die Warnung empfangen. Es gab dieses große Fenster an der einen Seite, aber das ließ nur so viel Licht durch, um einen Teil des Flurs zu erhellen. Alles andere lag im Dunkel. Ich bewegte nicht nur meine Augen, sondern auch den Kopf, um möglichst viel überblicken zu können. Da war nichts, was mich auch nicht besonders überraschte. Surina konnte da sein und war trotzdem sichtbar nicht vorhanden. Das war ihr Vorteil, auf den ich mich einstellen musste.
Ich wollte etwas von ihr. Sie aber wollte auch etwas von mir. Einer musste den nächsten Schritt tun. Ich hatte den ersten hinter mich gebracht, jetzt war sie an der Reihe. Zu hören war nichts. Sicher, wer diesen Schutz besaß, der konnte sich lautlos bewegen. Ich blieb nicht auf der Stelle stehen, sondern ging ein paar Schritte auf die helle Fläche des Gangs zu. Es war immerhin der Weg zur konspirativen Wohnung der Karina Grischin. Möglicherweise war die Lady aus der Hölle schon dort. Sie war gefährlich, aber ebenso gefährlich oder noch stärker war die Macht, die hinter ihr stand. Nur mit ihrer Hilfe konnte Surina zu dem geworden sein, was sie jetzt war. Der helle Teil des Flurs war für mich gut zu überblicken. Da tat sich nichts. Das Licht lockte mich, ich ging auch weiter, aber hielt nach zwei Schritten an. Sie war da! Erneut wie aus dem Nichts gekommen, stand sie plötzlich mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Ich schaute in die beiden unterschiedlichen Hälften des Gesichts, und mir fiel dabei auf, dass sich das gesamte Gesicht verschoben hatte. Genau das traf auch auf den Körper zu. Er stand irgendwie schräg, als wären die beiden Hälften falsch zusammengesetzt worden. Die Warnung an meiner Brust blieb bestehen. Ich holte das Kreuz noch nicht hervor, denn jetzt reagierte auch Surina. Sie hatte den Augenblick abgewartet, an dem ihr Körper keine Verzerrung mehr zeigte. Sie sah jetzt völlig normal aus. Ebenso wie das Messer, dessen Klinge vor wenigen Sekunden noch Schlangenlinien geworfen hatte. Eine normale Person, zwar nicht vom Aussehen her, aber dennoch musste man sie so sehen. Sie lächelte. Nein, das war falsch. Bei ihrem Gesicht verwandelte sich jedes Lächeln in ein schräges Grinsen, das niemand aufmuntern konnte. Und mit dem Lächeln ging sie den ersten Schritt auf mich zu. Das Messer hielt sie jetzt in der linken Hand, was ich nicht gut fand. Für einen Rechtshänder wie mich war es nicht einfach, den Angriff einer Linkshänderin abzuwehren. Aber hatte sie das überhaupt vor? Es sah so aus. Beim zweiten Schritt hob sie den Arm mit dem Messer schon höher an. Dabei nutzte sie den Schwung des Gehens aus. Und sie legte auch den nächsten Schritt zurück, wobei ihr linker Arm noch höher glitt. So zeigte die lange Klinge jetzt in einem schrägen Winkel direkt auf mich.
Das sah nicht nach einem Rückzieher aus, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. Es war nur wichtig, rechtzeitig genug Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Und noch etwas schoss mir durch den Kopf. So wie sie wirkte, präsentierte sie sich wie ein normaler Mensch und hatte auf ihren Schutz verzichtet. Traf das tatsächlich zu oder täuschte ich mich? Da gab es keine Verzerrung mehr. Sie wollte mir von Mensch zu Mensch gegenübertreten. Das Grinsen klebte als hässlicher Ausdruck in ihrem Gesicht fest. Etwas anderes bewegte sich dort nicht. Auch nicht der Mund, bei dem eine Hälfte der Lippen fehlte. Die Knochen schimmerten matt. Sie stellte wirklich eine Mischung aus Leben und Tod dar. Sie wollte mich. Sie spürte genau, dass ich ein Feind war, den sie nicht unterschätzen durfte. So etwas räumte man am besten aus dem Weg, und der Angriff begann mit einem kurzen und schrillen Schrei. Es war so etwas wie ein Startschuss. Sie riss den linken Arm so hoch wie möglich, denn sie brauchte den entsprechenden Winkel und musste zudem die nötige Kraft einsetzen, um mich tödlich zu treffen. Ich hatte mich darauf vorbereiten können. Ich durfte nur nicht zögern und sprang der Angreiferin entgegen. Für einen Zuschauer hätte es sicherlich so ausgesehen, als wollte ich mich in den tödlichen Stoß hineinwerfen. Dem war nicht so. Ich war zudem froh, beide Hände frei zu haben, denn ich musste schneller als die lange Klinge sein. So rammte ich gegen den Messerarm. Bevor die Klinge nach unten raste, umfasste ich den Arm in der oberen Hälfte. Der Stoß wurde gestoppt. Die lange Klinge ritzte nicht mal meine Haut. Ich sah sie auch nicht, weil sie sich in meinem Rücken befand. Den Arm ließ ich nicht los. Ich wollte ihn zur Seite biegen und dafür sorgen, dass Surina das Messer fallen ließ. Mit einer wilden Kraftanstrengung drehte ich den Arm herum. Das war eine Bewegung wie immer. Unzählige Male geübt. Ich wollte ihn drehen, um ihn dann auf mein Knie zu schlagen. So etwas war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Hier war trotzdem alles anders. Zwar drehte ich den Arm herum, ich spürte auch die Bewegung im Schultergelenk, hörte es sogar knacken, und einen Moment später trieb es mich nach vorn, weil ich zuviel Wucht in meine Aktion gelegt hatte. Ich stolperte vor und konnte kaum glauben, was ich mit den eigenen Augen sah. Ich hielt den Arm fest. Beide Hände umfassten ihn, und mit ihm zusammen trieb es mich nach vorn. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Das war verrückt, das musste ein Irrtum sein, aber es war keiner.
Ich hielt den Arm tatsächlich fest, den ich durch meine heftige Aktion aus dem Schultergelenk gerissen hatte. Wie viele Schritte ich gelaufen war, bevor ich stehen blieb, wurde mir nicht bewusst. Jedenfalls stoppte ich und handelte dabei, ohne groß nachzudenken. Auf der Stelle fuhr ich herum und sah tatsächlich eine Person mit nur dem rechten Arm vor mir stehen. Das Bild war so unwirklich, dass ich es zuerst nicht richtig wahrnahm. Ich brauchte schon eine gewisse Zeit, um mich daran zu gewöhnen. Was mir da gezeigt wurde, das war unbegreiflich. Ein Arm war bei Surina noch vorhanden. Eine weitere Waffe sah ich nicht. Das Messer mit der langen Klinge wurde noch von der Hand gehalten, die zu dem abgerissenen Arm gehörte. Und dann geschah noch etwas. Wieder schob sich etwas in den Gang hinein. Es war durchsichtig wie dünnes Glas, und eine Sekunde später begann es, die Perspektive zu verzerren. Die Proportionen des Frauenkörpers wurden unegal. Da schob sich einiges zur Seite, aber auch in die Höhe, und der gesamte Körper einschließlich des Gesichts - sah aus wie aus Puzzleteilen zusammengesetzt. So sah die Gestalt aus, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen und sich dabei in seine Einzelteile auflösen. Das trat allerdings nicht ein: Dafür geschah etwas anderes. Erneut bewegte sich die seltsame Schicht, die so etwas wie eine Grenze zwischen den Welten bildete, und wenig später sah ich von dieser Gestalt nichts mehr. Was ich erlebt hatte, kam mir wie ein böser Traum vor, aber ich wusste auch, dass es keiner war. Den Beweis dafür hielt ich in meinen Händen. Ich konnte noch immer nicht glauben, was ich da sah. Es gab keinen Zweifel, ich hielt tatsächlich den Arm in der Hand, dessen Hand noch ein Messer umklammerte. . Ich flüsterte etwas, was ich selbst nicht verstand, und fragte mich gedanklich, ob ich es geschafft hatte, die Frau auszuschalten oder nicht. Nein, bestimmt nicht. Sie hatte nur einen Arm verloren. Ich erinnerte mich auch daran, keinen Schrei gehört zu haben. Es hatte ihr also nichts wehgetan, und das wiederum war der endgültige Beweis, dass ich es nicht mit einem normalen Menschen zu tun hatte. Ich schaute auf den Arm. Die nackte Haut hatte eine graue Farbe angenommen. Als wäre sie mit einer hellen Asche bestreut worden. Das war kein Arm mehr, der normal lebte oder existierte. Alles, was einen Menschen ausmachte, war aus ihm verschwunden, und mir fiel ein, wie die Lady aus der Hölle zusammengebastelt worden war. Dieser Arm hatte mal einer Toten gehört.
Der Gang um mich herum war leer, und er blieb auch leer. Selbst die Musik war verstummt. Ich wusste, dass Surina nur den Rückzug angetreten hatte. Ganz abgetaucht war sie nicht. Es brachte mich nicht weiter, wenn ich länger hier im Flur wartete. Es gab Menschen, die auf mich warteten, und die wollte ich nicht enttäuschen. Ich stellte mir schon jetzt die Gesichter vor, die sie ziehen würden, wenn ich plötzlich mit einem Arm in der Hand erschien. Es waren nur wenige Schritte bis zur Tür, die ich öffnete und sagte: »Ich bin es nur.« Dann betrat ich den großen Wohnraum, und jeder konnte sofort sehen, was ich in den Händen hielt. *** Ich war nicht viel weiter vorgegangen und blieb in der Nähe der Tür stehen. Es waren keine Schreie zu hören. Selbst die beiden Bulgaren blieben still. Sie glotzten mich an. Ihre Augen quollen dabei hervor, und es gab für sie nur den Arm, den ich waagerecht vor meinem Körper hielt. Karina Grischins Blicke waren eine einzige Frage, und es war Jane Collins, die sich als Erste bewegte und sogar nickte. Sie hatte den Schock überwunden und fing leise an zu sprechen. »Mein Gott, was ist das?« Ich ging einen weiteren Schritt vor und hob meine Beute an. »Das ist Surinas Arm. Ich habe ihn ihr aus dem Gelenk gerissen als sie mich töten wollte.« »Und kein Blut, John?« Ich schüttelte den Kopf. »Warum auch? Sie ist aus Leichenteilen zusammengesetzt worden. Ich denke nicht, dass die noch bluten.« Karina nicke. »Das war die Magie des Rasputin. Es gibt keine andere Möglichkeit.« Sie schloss für einen Moment die Augen. »Fast glaube ich, dass er noch lebt. Nein, existiert.« Ich gab darauf keine Antwort, wollte aber den Arm loswerden und legte ihn auf den Tisch. Die Faust hatte den Griff des Messers regelrecht eingeklemmt. Ich wollte, dass es anders wurde und bog die Finger auf, was gar nicht mal so einfach war. In ihrer Härte erinnerten sie mich an Metall. Aber ich schaffte es, und so blieb die Stichwaffe neben dem Arm liegen. »Wie war das möglich?«, flüsterte Karina mir zu. Ich zuckte mit den Schultern. »Bis ins Detail kann ich es dir nicht sagen, aber sie hat ihren Schutzschild verlassen. Sie war praktisch wieder zu einem normalen Menschen geworden mit all seinen Vor- und Nachteilen. In diesem Zustand glaubte sie, mich töten zu können.« Ich deutete auf
das Messer mit der langen Klinge. »Das ist wohl ein Irrtum gewesen. Ich konnte den Stich unterlaufen, den Waffenarm packen nun ja, jetzt liegt er hier. Er war wohl nicht so fest verankert.« »Und sie?« »Ist verschwunden.« »Soll ich fragen, wohin?« »Kannst du. Nur kann ich dir keine Antwort geben. Ich denke mir, dass sie in ihre Dimension abgetaucht ist, und da können wir lange nach ihr suchen.« Keiner widersprach. Jeder machte sich seine eigenen Gedanken. Die beiden Bulgaren stierten vor sich hin. Ihre Gesichter waren grau geworden. So abgebrüht waren sie nun doch nicht, als dass sie diesen Vorgang locker hätten verkraften können. Jane schaute zum Fenster, als würde sie dort etwas sehen. Dann fragte sie: »Rechnest du damit, dass sie zurückkommen wird?« »Bestimmt.« »Und warum? Sie besitzt keine Waffe mehr und ...« »Aber einen Auftrag. Ich glaube nicht, dass sie so schnell aufgeben wird, ihn zu erfüllen.« »Ja, das kann sein.« Jane schloss für einen Moment die Augen und schüttelte den Kopf. »Dann werden wir wohl hier auf sie warten müssen, oder?« »Zumindest für eine Weile.« Es war eine Antwort, die den beiden Bulgaren nicht gefiel. »Aber nicht wir!«, rief einer von ihnen. »Wir haben mit dieser Geschichte nichts mehr zu tun. Was ihr da macht, das ist Freiheitsberaubung!« »Haltet euer Maul«, fuhr Karina sie an. »Wir wissen genau, was wir tun.« »Ihr wollt, dass wir sterben, wie?« »Es wäre nicht schade um euch.« »Ich sollte dir den Hals umdrehen, Russin.« »Versuch es!« Die beiden schwiegen. Sie waren Realisten und hatten längst erkannt, dass sie sich in einer miesen Lage befanden. Sie interessierten uns auch nicht primär. Ich nahm mein Kreuz ab und steckte es in meine linke Jackentasche. Dort kam ich schneller an meinen Talisman heran. »Also warten wir auf sie!«, fasste Karina Grischin zusammen. »Ja.« »Ist sie jetzt waffenlos?«, fragte Jane, wobei sie Karina anschaute. »Oder wäre sie in der Lage, sich eine neue Waffe zu besorgen? Auch mit nur einem Arm kann sie noch gefährlich sein, denke ich.« Die Russin lächelte. »Ich weiß nicht, was alles möglich ist. Wir können nur abwarten.« Ich hielt mich aus dem Gespräch heraus. Ich dachte nur daran, dass Surina auf ihre Waffe fixiert war, und konnte mir kaum vorstellen, dass
sie ihren Weg ohne das Messer fortsetzen wollte. Und auch nicht ohne ihren Arm. Möglicherweise war sie in der Lage, ihn wieder mit ihrem Körper zu vereinigen. Karina schaute auf die Uhr. »Wie lange geben wir ihr?« Ich winkte ab. »Wir warten einfach. Sie hat ihren Job, und ich bin davon überzeugt, dass sie ihn durchziehen wird.« »Das ist zu hoffen.« Das Warten war nicht meine Sache, und auch nicht das der beiden Frauen. Jane und Karina blieben nicht auf ihren Plätzen stehen. Sie durchwanderten das große Zimmer. Ich ließ derweil den Arm und das lange Messer nicht aus dem Blick. Es waren beides Dinge, die zu dieser lebenden Toten gehörten. Wenn sie kam, würde sie sich nur darum kümmern. Hin und wieder schob ich meine Hand in die Tasche und fasste nach meinem Kreuz. Ich wartete darauf, dass es eine Warnung abgab, aber es tat sich nichts. Es blieb still. Nur unsere Geräusche waren zu hören. Mal ein Atemstoß, hin und wieder das Schleifen der Füße über den Boden. Ansonsten blieb es still. Jane Collins hielt das Schweigen nicht länger aus. »Könnte man es irgendwie beschleunigen und sie locken?« Ich lächelte. »Kaum, Jane. Denn was da auf dem Tisch liegt, ist Lockung genug.« »Und wenn sie den Arm nicht mehr braucht?« »Dann vielleicht das Messer.« »Klar, kann sein.« So warteten wir weiter. Es gefiel mir ebenfalls nicht, aber welch andere Chance hatten wir? Ich sah keine. Und wenn Surina nicht daran dachte, hier zu erscheinen, mussten wir eben unsere Zelte abbrechen. Aber sie kam. Nur sahen wir sie nicht. Ich spürte die leichte Erwärmung an meinem Kreuz. Als ich daraufhin zusammenzuckte, wussten die beiden Frauen Bescheid. »Kommt sie?«, flüstere Karina. »Ich denke, sie ist unterwegs.« Jane und Karina, die bisher dicht beisammen gestanden hatten, verteilten sich. Sie nahmen strategische Positionen ein und zogen auch ihre Waffen. Noch war nichts zu sehen. Ich nutzte die Zeit, um mein Kreuz hervorzuholen und es so zu drapieren, dass es mit einem Ende auf der Klinge lag und mit seinem Anfang den Arm berührte, der sich nicht auflöste. Als Einzelteil steckte keine höllische Macht mehr in ihm. »Sie ist da!« Janes Stimme warnte mich. Ich drehte mich um und schaute auf die Tür.
Die Detektivin hatte sich nicht geirrt. Surina war da, aber wir sahen sie noch nicht. Es war nur eine Veränderung zu erkennen, denn in der Leere des Raumes hatte sich die Membran gebildet, die Surina schützte. Ich war davon überzeugt, dass sie aus Schaden klug geworden war und diesen Schirm so schnell nicht mehr verlassen würde. Eine Sekunde später sahen wir sie. Sie stand inmitten dieser transzendentalen Wand, und jeder von uns sah, dass sie nur noch einen Arm hatte. Der linke fehlte. Und der rechte baumelte an ihrer Körperseite nach unten, als wäre er ein Fremdstück. Alles andere sah bei ihr normal aus. Auch das Gesicht, dessen rechte Hälfte sich als Skelettfratze präsentierte. Sie konnte jedem Menschen eine höllische Angst einjagen. Wir hatten uns daran gewöhnt. Es war vorstellbar, dass sie sogar Furcht hatte, obwohl sie unter diesem schützenden Schirm stand. Sie bewegte sich tiefer in das Zimmer hinein. Uns beachtete sie dabei nicht, denn sie hatte nur Augen für das, was auf dem Tisch lag. Sie wollte ihren Arm zurück und auch das Messer. Keiner von uns ließ sie aus den Augen. Es war kein Geräusch zu hören. Surina bewegte sich lautlos innerhalb ihres magischen Schutzes. So kam sie dem Tisch immer näher. Die Spannung wuchs auch bei uns. Ich setzte darauf, dass ich das Richtige getan hatte. Sicher sein konnte ich mir nicht. Diese Unperson war immer für Überraschungen gut. Sie erreichte den Tisch. Zwei Mündungen zielten auf sie, was sie nicht weiter störte. Aber was war mit dem Kreuz, das ich praktisch als Falle für sie hingelegt hatte? Störte es sie nicht? Fühlte sie sich stärker? Noch fasste sie nicht zu. Ihr Zögern hatte durchaus Sinn, denn sie schaute zunächst in die Runde, um zu sehen, wie wir uns verhalten würden. »Los, greif zu!«, zischte Jane. Es war, als hätte Surina die Worte der Detektivin gehört. Vorbei war es mit ihrer Starre. Sie hob den rechten Arm an, streckte ihn dann aus, und die Finger näherten sich dem Messergriff. Auf den Arm verzichtete sie. Ihre Hand umschloss den Griff. Wir taten nichts und schauten nur zu. Dann hob sie die Waffe an und damit auch das Kreuz, das noch auf der Klinge lag. In derselben Sekunde geriet es in Bewegung. Es rutschte an der Klinge entlang auf ihre Hand zu. Noch umgab Surina der Schutz. Und darauf zählte sie auch. Doch sie hatte sich verrechnet. Bevor das Kreuz wieder abrutschte, um auf den Tisch zu fallen, berührte es mit einem Balken den Rand ihres Schutzschirmes.
Ich hatte gesehen, dass sich dort das R für Raphael befand. Genau dort strahlte es auf, und dieses Strahlen breitete sich aus. Es jagte in den schützenden Schirm hinein, der sofort anfing zu strahlen. Er brach zusammen. Es gab keinen Schutz mehr für die Lady aus der Hölle. Wir hörten ihren Schrei! Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht glauben. Sie reagierte jetzt wie ein hilfloser Mensch. Sie dachte nur noch an Flucht, drehte sich auf der Stelle und wurde in der Bewegung von zwei Kugeln erwischt, die Jane und Karina verschossen hatten ... *** Mit der Flucht war es vorbei! Wir hörten einen erneuten Schrei, und dabei warf sich Surina aus der Drehung heraus herum, sodass sie uns jetzt wieder mit ihren verschiedenen Augen anschauen konnte. Wir standen wie auf dem Sprung. Auch ich hatte meine Beretta gezogen, musste jedoch nicht eingreifen, denn was wir zu sehen bekamen, war so etwas wie eine One-Woman-Show. Surina wollte ihre Waffe. Es war nur ein kurzer Weg, um den Tisch zu erreichen. Sie hatte den rechten Arm ausgestreckt und umfasste mit der Hand den Griff. »John, das kann ins Auge gehen!«, schrie Jane. Ich ignorierte ihre Warnung und winkte nur ab. Mit einer zittrigen Bewegung hob die Gestalt die Waffe an. Es war in ihrem Gesicht nicht zu erkennen, was sie dachte und wofür sie sich entschlossen hatte. Ich war mir sicher, dass sie nicht gegen uns kämpfen würde. Wir waren zu stark. Sie hatte verloren, das war in ihr einprogrammiert, und jetzt musste sie die Konsequenzen ziehen. Sie schrie wieder. Dabei drehte sie sich um und riss zugleich ihre Waffe hoch. Sie hielt die Klinge vor sich, sodass die Spitze auf ihre Kehle zeigte. Ein weiterer Beweis für mich, dass wir für sie nicht mehr wichtig waren. Im nächsten Moment zuckte die Waffe hoch. Es sah so aus, als wollte sie die Spitze in die Kehle rammen. Im letzten Augenblick drehte sie das Messer herum, sodass die Breitseite auf ihren Hals zielte. »Neinnnn ...!«, schrie Jane. Ihr Schrei veränderte nichts. Surina zog ihren Plan eiskalt durch, und wir schauten zu, wie sie sich selbst den Kopf abschnitt. Das hatte ich auch noch nicht erlebt. Meine Augen weiteten sich. Wir alle sahen, wie scharf die Klinge war. Mit zuckenden Bewegungen säbelte sie sich selbst den Kopf vom Rumpf.
Kein Blut strömte aus der Wunde. Sie war kein Mensch. Und ich musste immer daran denken, dass man sie aus Leichenteilen zusammengeflickt hatte. Noch ein zuckender Schnitt, dann war es vorbei. Der Kopf löste sich endgültig und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden, wo er noch ein Stück rollte und dann liegen blieb. Auch der Körper kippte um, und als er aufschlug, da blieb er nicht mehr so, wie er war. Die Teile, aus denen die Macht Rasputins ihn zusammengesetzt hatte, lösten sich voneinander. Beine und Arm, ein Teil des Rumpfes, das alles bildete ein schauriges Puzzle, das darauf zu warten schien, wieder zusammengesetzt zu werden. Das aber würde nie geschehen... *** Es dauerte seine Zeit, bis wir uns wieder gefangen hatten. Jane Collins schaute zur Seite, die beiden Bulgaren fluchten und stöhnten, und nur Karina Grischin nickte, als sie auf mich zukam. »Dank deiner Hilfe habe ich meinen Job doch noch zu Ende bringen können, John.« »Ja, sieht ganz so aus. Aber beim nächsten Mal tust du mir bitte einen Gefallen, ja?« »Und welchen?« »Sag Bescheid, wenn du nach London kommst.« Sie lächelte. »Mal sehen, mein Freund. Ich werde mich jetzt auf jeden Fall zurückziehen. Die beiden Bulgaren überlasse ich euch. Euer Geheimdienst kann sich mit ihnen beschäftigen.« Sie hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. »Mach's gut, John. Und du auch, Jane ...« Dann ging sie auf die Tür zu, und weder Jane noch ich hielten die Russin auf. Es war besser so, wenn wir den Fall nicht an die große Glocke hängten...
ENDE