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Die Gruft der tausend Tode Ein Gespenster‐Krimi von Frank deL...
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Die Gruft der tausend Tode Ein Gespenster‐Krimi von Frank deLorca Der Schuß riß Corinna Brenton aus ihren düsteren Gedanken. Ihr stockte der Atem, dann schrie sie. Ihr war klar, daß sie in ihrem Ruderboot mitten auf dem großen Teich keine Hilfe erwarten konnte. Die Gewehrkugel hatte die Bordwand des Bootes durchschlagen, nur eine Handbreit von ihrer Sitzbank entfernt. Das Loch stach hell von dem altersdunklen Innenanstrich ab. Ein paar scharfzackige Splitter umgaben die kleine Öffnung wie Wimpern, die ein Auge umrahmten. Es schien, als blickte es Corinna drohend und höhnisch an. Ihre Erstarrung währte nur eine Sekunde. Sie begriff, worum es ging, und sprang über Bord. Die eisige Kälte des fast schwarzen Wassers nahm ihr den Atem. Sie tauchte tief und war bemüht, nicht die Nerven zu verlieren. Dies war der dritte Anschlag auf ihr Leben, aber es geschah zum ersten Male, daß er im Freien erfolgte. Ihre Lungen schmerzten, sie schwamm mit weit ausholenden Zü‐ gen unter der Oberfläche davon, dann mußte sie auftauchen, um Luft zu holen. Das Krachen des zweiten Schusses verband sich mit dem Donner‐ grollen eines heraufziehenden Gewitters. Die Tannen, die die Nord‐ seite des großen Teiches säumten, bildeten eine dunkle, unheimliche Kulisse vor den sich auftürmenden, grauschwarzen Wolken. Corinna schrie kein zweites Mal, obwohl die Kugel dicht neben ihr ins Wasser peitschte und eine kleine Fontäne aufsteigen ließ. Corinna brauchte ihre Luft und ihre ganzen Kräfte, um der tödli‐ chen Gefahr zu entrinnen. Es machte sie halb wahnsinnig, nicht zu wissen, ob sie sich von dem Schützen entfernte oder auf ihn zu‐ 2
schwamm. Corinna tauchte erneut. Sie war eine gute Schwimmerin, aber das Jagen ihres Pulses und die würgende, zunehmende Angst erschwer‐ ten ihr die Flucht. Sie zwang sich dazu, möglichst wenig Bewegung auf der Wasseroberfläche zu verursachen, aber sie bezweifelte, ob diese Anstrengungen von Erfolg gekrönt waren. Neben ihrer Angst spürte sie das Wachsen ihres Hasses. Sie bereu‐ te, nicht schon längst die notwendigen Konsequenzen gezogen zu haben, und schwor sich, das Versäumte nachzuholen. Immer vor‐ ausgesetzt, daß es ihr gelang, der tödlichen Bedrohung zu entkom‐ men… Sie schnappte nach Luft. Ein Projektil klatschte neben ihr auf das Wasser und tanzte singend davon. Die Bahn, die es hinter sich her‐ zog, ließ Corinna erkennen, daß ihre Fluchtrichtung stimmte. Der Schütze saß irgendwo im Dunkel des Waldes. Es war nur ein schwacher Trost, zu wissen, daß sie sich mit jedem Schwimmzug von ihm entfernte. Sein vermutlich mit einem Ziel‐ fernrohr ausgerüstetes Gewehr konnte sie selbst dann noch treffen, wenn sie es schaffen sollte, das Ufer zu erreichen. Das Wort vom rettenden Ufer drohte in dieser Situation perver‐ tiert und umgekehrt zu werden, aber Corinna blieb keine Wahl, sie mußte sich der Herausforderung stellen. Sie schwamm weiter, ihre Angst wurde von einem nagenden, bohrenden Haß verdrängt, sie festigte ihren Rhythmus und tauchte nur dann auf, wenn die über‐ strapazierten Lungen zu bersten drohten. Corinna wartete auf weitere Schüsse, sie fürchtete sich vor einem plötzlichen Schmerz, vor dem jähen, kraftlosen Absinken in schwar‐ ze, stille Tiefen, aber nichts dergleichen geschah. Sie erreichte das Ufer, kletterte an Land und rannte keuchend auf ein kleines Wäldchen zu, das etwa dreißig Meter vom Teich entfernt lag. Sie erreichte auf halbem Wege einen Graben, der ihr Deckung bot und warf sich hinein. Sie erschrak, als sie das eigene, laut röchelnde 3
Atmen vernahm. Sie war am Ende ihrer Kräfte, aber sie hatte dem Schützen ein Schnippchen geschlagen, sie war noch einmal davon‐ gekommen. Sie schwor sich, daß es kein nächstes Mal geben würde. Sie begann zu schluchzen. Ich bringe sie um, dachte sie. Ich bringe sie um! * Noel Brawford verstaute sein Gepäck im Wagenfond und spürte Leonas Blicke auf sich gerichtet. Er kehrte ihr den Rücken zu und hätte viel darum gegeben, in diesem Moment ihren Gesichtsaus‐ druck zu sehen. Er glaubte zu wissen, daß sie seiner Abreise buchstäblich entge‐ genfieberte, um ihn mit Tom Blunt betrügen zu können. Er hatte keine konkreten Hinweise für diesen Verdacht, es war nur ein Gefühl, aber er konnte ihm nicht entrinnen, es drohte ihn zu ers‐ ticken. »Fertig«, sagte er und wandte sich um. Der Anblick von Leonas Schönheit schnitt wie mit Messern in sein Herz. Ich werde um sie kämpfen, nahm er sich vor. Leona lächelte. Noel fand, daß das Lächeln seiner Frau schablo‐ nenhaft wirkte, es war lange her, daß es von der Wärme einer tiefen, innigen Liebe getragen worden war. »Verlieb’ dich nicht in die bei‐ den Brenton‐Damen«, spottete sie. »Wirst du Tom sehen?« fragte er. Er hatte sich vorgenommen, den Namen des gemeinsamen Freun‐ des nicht zu erwähnen, aber nun war es doch passiert, fast gegen seinen Willen. »Natürlich, er kommt heute nachmittag vorbei, er bringt mir ein Buch, um das ich ihn gebeten habe«, meinte Leona. »Warum fragst 4
du?« Leonas Erwiderung erfolgte gelassen, im Plauderton, aber sie täuschte Noel nicht darüber hinweg, welche Bedeutung sie enthielt. Einen Moment lang erwog er, die Reise nach Farbourgh Mansion abzublasen, dann wischte er den Gedanken beiseite. Ein Architekt mit seinem Namen und seinem Ruf mußte sich an seinen Auftrag gebunden fühlen und Selbstdisziplin beweisen. Im übrigen konnten Tom Blunt und Leona ihn auch in London betrü‐ gen, ohne daß er ernsthaft imstande gewesen wäre, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. »Soll ich Tom von dir grüßen?« fragte Leona. »Bitte? Ach ja, tu das«, erwiderte Noel und fragte sich, was er un‐ ternehmen mußte, um zu erfahren, wie es wirklich zwischen Tom und Leona stand. »Du bist so seltsam heute«, erkannte Leona verwundert. »Was qu‐ ält dich? Ich dachte, du freust dich auf die Reise zu den Brenton‐ Damen!« »Ich fahre nicht nach Farbourgh Mansion, um mich mit den bei‐ den Brentons zu amüsieren, sondern um das Schloß umzugestal‐ ten«, sagte Noel und ärgerte sich über den Mangel an Witz in seiner Erwiderung. »Wie ich hörte, sind es Kanadierinnen?« »Ja, aber jetzt sind die Brentons offenbar entschlossen, in England zu leben«, sagte er, küßte Leona flüchtig auf den bebenden, roten Mund, kletterte in seinen Wagen, winkte ihr kurz zu und fuhr da‐ von. Abschiede dieser Art hatte es in seiner Ehe mit Leona schon Dut‐ zende gegeben. Sein Beruf zwang ihn oft dazu, auf Reise zu gehen, aber es geschah zum ersten Male, daß ihn dabei das Gefühl quälte, endgültig von Leona zu scheiden. Er spürte, daß er plötzlich eine Gänsehaut bekam und fragte sich grübelnd, welche Veränderungen diese Reise in sein Leben bringen würde. 5
* Alice Brenton hörte das Donnergrollen und zog wie fröstelnd die Schultern hoch. Es gab kaum etwas, das sie zu erschüttern oder in Angst zu setzen vermochte, aber vor Gewittern empfand sie eine panische Furcht. Sie schaute sich um, musterte die schroffen Felswände, zwischen denen sich der Pfad hindurchschlängelte, und fragte sich, was sie dazu bewogen hatte, den Ausflug zu den Marvin Rocks zu machen. Sie fand die Umgebung von Farbourgh Mansion keineswegs auf‐ regend, aber sie hielt es für ihre Pflicht, sich damit anzufreunden. Wenn Howard, ihr Mann, aus Kanada eintraf, mußte sie in der Lage sein, ihn mit den wenigen Glanzlichtern des Countys vertraut zu machen. Natürlich gab es noch einen zweiten, wichtigeren Grund für die‐ sen Ausflug. Sie brauchte für diese Stunde ein Alibi. Alice Brenton schaute auf ihre Uhr. Bis zu ihrem Wagen, den sie vor dem kleinen Lokal am Fuße des Felsmassivs abgestellt hatte, waren es nur fünf Minuten. Sie war sicher, das Fahrzeug noch vor Ausbruch des Gewitters erreichen zu können. Sie dachte an Corinna. Alice Brenton atmete rascher, wie immer, wenn sie sich mit der Stieftochter beschäftigte. Ein grimmiges Lä‐ cheln umspielte ihre Lippen. Ihre Überlegungen wurden von raschen, leisen Schritten unterbro‐ chen, die sich ihr zielstrebig von hinten näherten. Ein Mann auf der Flucht vor dem heraufziehenden Gewitter? Alice Brenton drehte sich nicht um, aber sie fühlte, wie schwer es ihr fiel, sich zu bezäh‐ men. Ihr war auf dem Wege zur oberen Plattform des kleinen Felsmas‐ sivs niemand begegnet. Um so verwunderlicher fand sie es, daß plötzlich jemand hinter ihr war. 6
Alice Brenton blieb stehen und wandte sich um. Ihr Mund öffnete und schloß sich. Sie wollte einen Schrei ausstoßen, brachte aber keinen Laut hervor. Der Mann, der sich ihr bis auf wenige Schritte genähert hatte, war von Kopf bis Fuß in tiefes Schwarz gekleidet. Er trug keinen Anzug, sondern ein Sporttrikot. Von seinem Gesicht war nichts zu sehen, es war von einer wollenen Maske bedeckt, die bis an sein Kinn reichte und mit kleinen Schlitzen für Augen und Mund versehen war. Alice Brenton prallte mit ihrem Rücken gegen eine Felswand. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Ein Blitz erhellte die Szene, der kra‐ chend einsetzende Donner machte deutlich, daß das Gewitter sich den Marvin Rocks erstaunlich rasch genähert hatte. Aber das Gewitter spielte für Alice Brenton plötzlich eine unter‐ geordnete Rolle, sie sah nur den Mann, der mit erhobenen, wie zum Würgen gekrümmten Händen auf sie zustrebte, sie spürte seine Kraft, seine gegen sie gerichtete Wut, und stieß hervor: »Rühren Sie mich nicht an! Ich gebe Ihnen alles, was ich besitze.« Sie bezog sich auf das wenige, was sie bei sich trug, ein paar Pfundnoten in ihrer Handtasche, ihre Ringe, die brillantenbesetzte Armbanduhr. Der Mann stoppte dicht vor ihr. Er lachte höhnisch. Alice Brenton starrte ihm in die Augen. Sie waren ihr fremd. Sie versuchte sich die eigenartig gewachsenen Zähne des Schwarzgekleideten einzuprägen, sie durfte sich nichts von den we‐ nigen Erkennungsmerkmalen des Unheimlichen entgehen lassen. Wuchs und Bewegungen des Mannes ließen erkennen, daß er noch jung war, nicht älter als 25 oder 30. Er griff nach ihr, mit beiden Händen. Alice Brenton gab sich einen Ruck, sie sprang zur Seite und schrie. Der Mann setzte nach. Seine Hand traf ihr Gesicht. Ein scharfer Schmerz durchzuckte Alice Brenton. Der Schlag ließ sie taumeln. Sie torkelte gegen die Felswand und wäre um ein Haar gefallen. Der Mann preßte seine lederbehandschuhte Rechte gegen ihren 7
Mund. Alice Brenton überwand ihren Ekel und biß hinein. Der Mann fluchte laut und schlug erneut zu. Diesmal stürzte Alice Bren‐ ton zu Boden. Sie begriff, daß dies mehr war als eine Attacke auf ihren Besitz, auf Geld oder Schmuck. »Nein«, keuchte sie. »Bitte nicht, lassen Sie mich leben!« Der Mann packte sie am Arm und, riß sie hoch, dann stieß er sie vor sich her. Er zwang sie dazu, durch einen Felsspalt zu gehen. Er endete an einer schmalen Plattform. Von hier fiel die Felswand schroff in die tiefe Schlucht ab. Die Felswand endete etwa zwanzig Fuß unter Alice Brenton in scharfkantigem Geröll. Alice Brenton drehte sich um. Sie warf sich mit einem Schrei der Verzweiflung auf den Unbekannten und versuchte ihn umzuren‐ nen, aber der Mann lachte nur und konterte mit einem harten, ge‐ zielten Stoß. Alice Brenton griff mit beiden Händen wie haltsuchend in die Luft, sie schrie abermals, dann stürzte sie, scheinbar endlos. Sie schlug mit dem Kopf gegen die Felswand und hatte den Ein‐ druck, als würde die Welt sich in einem immer rascher werdenden Wirbel um sie drehen. Dann kam das Wahnsinnskarussell zu einem plötzlichen Stopp. Ein scharf er, heftiger Schmerz durchzuckte Alice Brenton, gleich darauf stürzte ihr Bewußtsein in einen schwarzen Strudel. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf der Geröllhalde und brauchte Sekunden, um zu begreifen, was geschehen war und wo sie sich befand. Ihre Angst setzte sofort wieder ein. Sie hob den Kopf und blickte nach oben. Der Schwarze war verschwunden. Alice Brenton zögerte, sich zu bewegen. Sie war überzeugt davon, daß sie sich bei dem Sturz ein paar Knochenbrüche zugezogen hatte, aber als sie versuchte, sich zu erheben, gab es keine ernsthaften Komplikationen. 8
Sie war noch etwas benommen, sie stand auf der Schräge keines‐ wegs sicher, aber es sah ganz so aus, als hätte sie den Sturz mit ein paar Hautabschürfungen und einem kräftigen Schock überstanden. Sie geriet noch einmal in Bedrängnis und stürzte, als sie die Ge‐ röllhalde überquerte, aber dann erreichte sie endlich festen Boden. Sie zitterte am ganzen Leibe und hatte Angst, weiterzugehen. Der Wahnsinnige war noch in der Nähe. Wenn er entdeckte, daß sie sich keinen ernsthaften Schaden zugesogen hatte war er am Ende im‐ stande, die erneut zu attackieren. Sie schleppte sich schließlich über eine Wiese in ein Tannenwäld‐ chen, und von dort zur Straße. Nach wenigen Minuten erreichte sie den ROCK INN, das Lokal, vor dem ihr Wagen parkte. Es war das einzige Fahrzeug weit und breit. Alice Brenton betrat das Lokal. Sie hatte hier vor dem Aufbruch in die Feien Kaffee getrunken, der Wirt kannte die also. Er stand am Tresen und blickte ihr verblüfft entgegen. Alice Brenton schnappte nach Luft, die ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Die Polizei, rasch!« stieß sie hervor. »Was ist geschehen?« »Sehen Sie mich an! Ich bin überfallen worden. Von einem Mas‐ kierten. Er hat mich vom Felsen gestoßen. Es ist in Wunder, daß ich mit dem Leben davongekommen bin.« Der Wirt wollte noch eine Frage stellen, dann überlegte er es sich anders und trat ans Telefon. Er wählte eine Nummer, die er im Kopf hatte, nannte seien Namen und sagte: »Kommen Sie bitte sofort her, Constabler. Es sieht so aus, als sei hier ein Mordanschlag verübt worden. Wie, bitte? Was? Okay, ich verstehe.« Er sah verdutzt aus. Er hängte auf. »Was ist los, was haben Sie?« wollte die Frau wissen. Ihr war ganz schlecht. »Er muß der Reihe nach vorgehen«, fragte der Wirt. »Eine Minute vorher ist ein anderer Anruf gekommen.« »Was heißt das?« rief die Frau. »Ein anderer Anruf! Man wollte 9
mich umbringen!« »Der Constabler sagte, daß es sich auch bei dem anderen Fall um einen Mordversuch handelt«, erklärte der Wirt und gab sich keine Mühe, seine maßlose Verblüffung zu meistern. »Zwei Mordversu‐ che an einem Tag – und das in unserer Gegend!« * »Bringen Sie mir einen Cognac«, bat Alice Brenton. »Einen doppel‐ ten.« Der Wirt griff nach der Flasche. »Sie sind Mrs. Brenton, nicht wahr?« »Woher kennen Sie mich?« Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Neuigkeiten machen in die‐ sem County rasch die Runde«, sagte er. »Man sieht Ihnen an, daß Sie nicht aus der Gegend stammen.« »Haben Sie meine Hilferufe nicht gehört?« fragte die Frau. »Tut mir leid, nein«, meinte der Wirt und brachte ihr das Glas. Alice Brenton hob es gegen das Licht, dann trank sie. In diesem Moment brach das Gewitter los. Der Regen prasselte gegen die Scheiben. Der Wirt blickte stirnrunzelnd durch die Fenster. Es schien, als würde es Nacht. Grelle Blitze zerrissen das Dunkel, das ohrenbetäu‐ bende Krachen des Donners ließ die Scheiben erzittern. Im nächsten Moment fiel das Licht aus. »Verdammt«, sagte der Wirt. »Ich hole die Karbidlampe aus dem Keller.« »Nein!« schrie Alice Brenton. »Nein!« Der Wirt blieb stehen, er sah von der Frau nur die Konturen, aber er spürte die Furcht, von der sie geschüttelt wurde. »Was ist los?« fragte er. »Das Haus hat einen Blitzableiter, Sie brauchen sich nicht zu…« Alice Brenton fiel ihm ins Wort. Ihre Stimme klang wie gehetzt. 10
»Darum geht es nicht«, sagte sie. »Der Schwarze muß noch in der Gegend sein. Schließen Sie die Tür ab und legen Sie den Riegel vor!« »Ein Neger?« fragte der Wirt. »Nein, ein Maskierter, ein Mann in schwarzer Kleidung. Er muß hier vorbeigekommen sein. Sie müssen ihn gesehen haben!« Der Wirt schüttelte den Kopf. »In der letzten Stunde sind nur Sie hier gewesen«, sagte er. »Ein schlechter Tag für mich. Die meisten Leute müssen mit dem Gewitter gerechnet haben.« Ein prasselnder Donnerschlag schnitt ihm das letzte Wort ab. Alice Brenton kippte den Inhalt des Glases hinab. Sie starrte zur Tür. Je‐ desmal, wenn ein Blitz aufzuckte, illuminierte er die bunten Glas‐ scheiben, die das obere Drittel der Tür verzierten. »Schließen Sie ab – bitte!« drängte sie. »Das geht nicht«, meinte der Wirt. »Stellen Sie sich vor, jemand sucht einen Unterschlupf, den kann ich doch nicht aussperren!« Ein gleißender Blitz tauchte Landschaft und Raum in grelles Licht. Vor den bleigefaßten Glasscheiben zeichnete sich ein Schatten ab, der Schatten eines Mannes. Alice Brenton schrie. Sie stellte das Glas so hart ab, daß es zer‐ brach. Der Wirt erhob sich, die Tür ging auf. Ein scharfer, regendurchsetzter Windstoß fuhr in den Raum und blähte die Vorhänge an den Fenstern. Der Mann hatte Mühe, die Tür zu schließen. »Mein Gott«, fluchte er. »Was für ein Mistwetter.« Alice’ Brenton entspannte sich, ihre Furcht erwies sich als grund‐ los. Die Stimme gehörte einem alten Mann. »Bier?« fragte der Wirt und ging zum Tresen. »Kaffee«, meinte der Gast. »Aber schön schwarz, bitte.« * Als Alice Brenton nach Farbourgh Mansion zurückkehrte, kam ihr Corinna in der Halle entgegen. »Ich muß dich sprechen«, sagte das 11
Mädchen. Ihre Stimme klang hart. In ihren großen, langbewimper‐ ten Augen stauten sich Wut und Haß. »Das trifft sich gut«, sagte Alice Brenton nicht minder erregt. »Es wird Zeit, daß ich dich zur Rede stelle und dir klarmache, was ge‐ schehen wird, wenn sich ein solcher Anschlag wiederholt.« »Ein Anschlag?« fragte Corinna. »Du hast versucht, mich umzubringen!« »Du bist verrückt! Ich sollte getötet werden!« Sie starrten sich an, dann setzten sie sich in ein Zimmer, dessen allmählich verblassende Seidentapete ihm den Namen »Grüner Sa‐ lon« eingetragen hatte. »Wie du siehst, waren deine Anstrengungen vergebens«, sagte Co‐ rinna. »Ich lebe noch.« Alice Brenton zündete sich mit bebender Hand eine Zigarette an. »Bist du dir eigentlich im klaren darüber, was du sagst?« fragte sie. »Oh ja. Du versuchst seit langem, mich umbringen zu lassen«, er‐ regte sich Corinna und ballte unwillkürlich ihre Fäuste. »Aber so‐ weit wie heute bist du noch nie gegangen…« »Du hast den Verstand verloren!« »Ich habe Hill das Boot gezeigt. Auf mich ist geschossen worden!« »Und du hast ihm allen Ernstes gesagt, daß ich dafür verantwort‐ lich sei?« fragte Alice Brenton, deren Stimme zu einem fassungslo‐ sen Flüstern herabgesunken war. »Oh nein«, erwiderte Corinna. »Das kann ich unserem Namen nicht antun. Der Constabler braucht nicht zu wissen, daß meine Stiefmutter mich aus dem Wege zu räumen versucht.« »Ich habe eine Überraschung für dich«, sagte Alice Brenton. »Auf mich ist ein Mordanschlag verübt worden. Sieh mich an, meine Ar‐ me, die Schürfwunde an der Stirn! Ein Mann hat versucht, mich zu töten! Er hat mich von einem hohen Felsen gestoßen. Ich habe den Sturz wie durch ein Wunder überlebt.« »Du lügst!« »Der Mann war maskiert, ein schwarzes Ungeheuer«, sagte die 12
Frau. »Du weißt, was ich von dir halte«, sagte Corinna, »aber ich weiß auch, daß mein Vater dich liebt. Es liegt nicht in meiner Absicht, ihm sein schönes Spielzeug zu rauben. Ich hoffe, daß dir diese Ver‐ sicherung genügt.« »Dann wüßte ich gern, warum der Schwarze mich zu töten ver‐ suchte!« »Und ich wüßte gern, wer auf mich geschossen hat«, sagte Corin‐ na. Das Mädchen und die Frau starrten einander in die Augen, es schien fast so, als wollten sie sich durch Hypnose gegenseitig zur Wahrheit zwingen. »Es hat keinen Zweck«, meinte Alice Brenton plötzlich und lehnte sich zurück. »An dich ist nicht heranzukommen. Aber wenn mir noch einmal etwas ähnliches zustoßen sollte, zwingst du mich, dei‐ nen Vater von meinem Verdacht zu informieren.« »Ich kann ihm ebenso gut sagen, wen ich für den Initiator der Schüsse halte!« konterte Corinna erregt. Alice Brenton inhalierte tief, sie stieß den Rauch aus und sagte nachdenklich, ohne das Mädchen anzusehen: »Er würde dir nicht glauben. Vermutlich würde er auch meine Worte anzweifeln. Es ist fast schon komisch. Der Mann, der jede von uns auf ihre Weise liebt, kann weder von dir noch von mir als Schiedsrichter angerufen wer‐ den.« Corinna erhob sich. Sie fand, daß es zwecklos war, die Unterhal‐ tung fortzusetzen. »Was ist mit Crawford, dem Architekten?« fragte Alice Brenton. »Er hat sein Kommen für heute angekündigt. Ist er schon eingetrof‐ fen?« »Nein«, erwiderte Corinna und verließ das Zimmer. * 13
Noel Crawford erreichte Farbourgh Mansion gegen achtzehn Uhr. Er stieg aus seinem offenen Wagen, musterte prüfend die imponie‐ rende dreistöckige Schloßfassade und versuchte zu errechnen, wie‐ viel die Brentons wohl für den Unterhalt des gewaltigen, ziemlich düster und streng wirkenden Kastens aufbringen mußten. Nun, die Brentons waren angeblich steinreich, es hieß, daß sie in Kanada mehrere Uranerzgruben besaßen. Nach ihrem wirtschaftli‐ chen Höhenflug in Übersee entwickelten sie jetzt den Ehrgeiz, in ihrem Mutterland eine gesellschaftliche Rolle zu spielen. Farbourgh Mansion sollte ihnen dabei als Basis und Kulisse dienen. Noel hatte telefonisch erfahren, daß es bereits einen Butler und mehrere Dienstboten gab. Der Haupttrakt und die Wirtschaftsge‐ bäude waren zur Zeit unbewohnt. Noel sollte Farbourgh Mansion den gehobenen Komfortansprüchen der Brentons und ihrer Freunde anpassen. Er hatte vorab ein gepfeffertes Honorar genannt. Es war ihm bewilligt worden. Die Aufgabe reizte ihn, hatte jedoch ein deutliches Handicap. Er würde einige Wochen in Farbourgh Mansion leben müssen, wäh‐ rend dieser Zeit konnte er Leona nur an den Wochenenden besu‐ chen. Er mußte sich etwas einfallen lassen, um seine Eifersucht zu zügeln, sonst lief er Gefahr, sich von ihr geradezu aufzehren zu las‐ sen. Noel stieg die breite Freitreppe zum Hauptportal hinauf. Er hob die Hand, um den auf Hochglanz polierten messingnen Türklopfer zu berühren. Seine Rechte blieb buchstäblich in der Luft hängen. Sie wurde gestoppt von einem jähen, schrillen Schrei. Der Schrei kam aus dem Inneren des Schlosses. Er war grell und von Entsetzen geprägt, er kippte buchstäblich um, dann herrschte Stille. Eine Stille, die von Fliegengesumm und Grillenzirpen durch‐ brochen wurde. Sie zerrte an Noels alarmierten Nerven. Wer hatte geschrien, und warum? Eine Frau? Oder ein Mädchen? Noel gab sich einen Ruck, er betätigte den schweren Türklopfer. 14
Das Werkzeug dröhnte dumpf gegen die massive Holztür. Noel wurde bewußt, daß es heiß war. Der Boden dampfte. Irgendwann am Nachmittag war in der Nähe ein Gewitter niedergegangen, ohne für spürbare Abkühlung zu sorgen. Das dünne, weiße Polohemd klebte schweißfeucht auf seinem Rücken. Niemand kam zur Tür, um zu öffnen. Noel wiederholte das Klopfen, dann griff er nach der Klinke und drückte sie herab. Die unverschlossene Tür gab willig nach. Vor ihm lag eine riesige Halle. Sie war so groß, daß Noel nicht zu erkennen vermochte, wo sie endete. Ihre hintere Begrenzung verlor sich in diffusem Dunkel. Aus dem vorderen Hallendrittel führte eine breite Treppe aus schwarzem Marmor in die oberen Etagen. Sie war mit einem roten Läufer belegt, der von Messingstangen festge‐ halten wurde. Noel trat über die Schwelle. »Hallo?« rief er laut. Seine Stimme kehrte als Echo zurück, in allmählich verebbenden Tonwellen. Niemand antwortete. Noel war ratlos. Er hatte aufgehört, an seine Frau zu denken. Der Schrei war ihm unter die Haut gegangen und bebte in ihm nach. Irgendwo klappte eine Tür. Schritte ertönten. Aus dem Dunkel der riesigen Halle tauchte eine dunkelgekleidete Gestalt auf. Der Butler. Er war hochgewachsen und nicht älter als 50. Trotzdem hielt er sich leicht gebückt, als litte er unter körperlichen Beschwerden oder sei bemüht, seine stattliche Größe zu kaschieren. »Mr. Crawford, nehme ich an?« fragte der Butler mit dünner, höf‐ licher Stimme. Noel nickte. »Wer hat geschrien?« fragte er ungeduldig. »Bitte, Sir?« »Ich habe einen Schrei gehört. Er kam aus der Halle. Was ist ge‐ schehen?« Der Butler sah erstaunt aus. Er besaß ein hageres, blasses Gesicht mit tiefliegenden, dunklen Augen und sehr schmalen, blutleer an‐ 15
mutenden Lippen. Sein dünnes, rotblondes Haar war quergekämmt. Es unternahm den erfolglosen Versuch, die sich rapide vergrößern‐ de Glatze nicht sichtbar werden zu lassen. »Ich habe nichts gehört, Sir«, erwiderte der Butler. »Nur Ihren Wagen. Ich bin sofort aus dem Südflügel herübergekommen. Wo befindet sich Ihr Gepäck, Sir.« »Es liegt im Kofferraum meines Wagens. Hier sind die Schlüssel. Darf ich den Damen meine Aufwartung machen?« fragte Noel. »Folgen Sie mir, bitte.« Die Männer setzten sich in Bewegung. Noels Gesicht war nach‐ denklich und verdrossen. Entweder hatte der Butler die Stirn, schamlos zu schwindeln, oder der Schrei gehörte zu einem Stück Familiendrama und machte es dem Domestiken unmöglich, darüber zu sprechen. Noel schaute sich flüchtig um. Obwohl er dazu aufgefordert wor‐ den war, diese Umgebung zu ändern und wohnlicher zu gestalten, interessierte ihn kaum, was er sah. Er war von fiebernder Unruhe erfaßt und ahnte, daß ihn in diesem Haus Probleme erwarteten, die mit seiner Arbeit nicht das geringste zu tun haben würden. Sie verließen die Halle und durchmaßen mit klickenden Absätzen eine lange Galerie, deren Fenster zum Garten wiesen. Auf der der Fensterfront gegenüberliegenden Wand hingen Ölbilder früherer Bewohner von Farbourgh Mansion. Noels Blicke glitten über die stattliche Ahnengalerie, über diese zumeist ernsten, aus dunklem Hintergrund hervorleuchtenden Gesichter von Menschen, die lange tot waren. Im nächsten Moment stoppte Noel. Ihm war zumute, als habe er einen Faustschlag in die Magengrube erhalten, er hatte plötzlich Mühe, zu atmen. Er starrte auf das goldgerahmte, ovale Ölbild einer schönen jungen Frau. Die Frau trug ein schulterfreies, spitzenverziertes Kleid und sah Leona zum Verwechseln ähnlich. 16
»Leona!« flüsterte Noel. * Der gebückt gehende Butler blieb nach wenigen Schritten stehen, er schaute sich um. »Sir?« Noel war außerstande, seine Blicke von dem Gemälde zu wenden. Es war im Stil eines Thomas Gainborough gemalt und stammte er‐ kennbar aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert. »Wer ist das?« stammelte Noel. Der Butler kam heran, er folgte Noels Blick. »Ich müßte nachsehen, Sir. In der Bibliothek sind die einzelnen Bilder mit ihrer Geschichte exakt verzeichnet«, sagte der Butler. Noel war zutiefst verwirrt. Wie erklärte es sich, daß dieses mindestens zweihundertfünfzig Jahre alte Bild eine so frappante, geradezu erschreckende Ähnlich‐ keit mit Leona hatte? Die Dargestellte glich Leona aufs i‐Tüpfelchen. Die Farbe der Au‐ gen, die Grübchen am Ende der Mundwinkel, der volle, sinnliche Mund, die Art des Lächelns, die fein ziselierte Nase, die dichten seidigen Wimpern mit ihrem kühnen Schwung, das dunkelblonde, sanft schimmernde Haar – alles stimmte. Das galt auch für die Run‐ dung der Schultern, den Ansatz der vollen, schönen Brüste und die Linie des hohen, klassisch geformten Halses. »Sie ist es«, sagte Noel. »Bitte, Sir?« »Nichts«, meinte Noel, der Mühe hatte, seine Blicke von dem Bild zu lösen. Fast schien es ihm so, als versuchte eine höhere Macht ihm ein Zeichen zu geben, aber das war natürlich Unsinn, und selbst wenn es ein solches Zeichen geben sollte, hatte er keine Ahnung, was damit zu beginnen war. Noel wandte sich zum Gehen. Wenige Minuten später stand er im großen Salon des Südflügels seiner Auftraggeberin gegenüber. 17
Alice Brenton war gutgewachsen und sehr attraktiv. Die etwa dreiunddreißigjährige Rotblonde hatte grünlich schimmernde Au‐ gen, eine hübsch geschwungene Nase und weiße, untadelige Zähne, aber sie war nicht Noels Typ. Sie hatte, wie ihm schien, einen Strich ins Billige, ihr Sex‐Appeal war für eine Dame zu betont, zu auf‐ dringlich. Noel haßte es, Menschen abzuwerten oder in Klischees zu pressen, aber Alice Brenton forderte dazu heraus. Sie war, wie er fand, die verständliche Wahl eines alternden Millionärs, aber keine Lady. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Alice und offerierte beim Hinsetzen einen raffiniert gearbeiteten, tiefen Ausschnitt. »Vor allem hoffe ich, daß es Ihnen gelingt, uns ein wenig aufzumöbeln. Farbourgh Mansion hat nur wenig zu bieten. Ich frage mich, ob es eine gute Idee war, den Besitz zu kaufen. Man braucht Stunden, um die nächste Stadt zu erreichen, und ist darauf angewiesen, die Freu‐ den des Landlebens zu genießen. Oh, setzen Sie sich doch, machen Sie es sich gemütlich.« Alice Brenton zog ihre nackten, gut geformten Beine unter sich. Die scheinbar lässige, aber bewußt gewählte Position hob die Vor‐ züge ihrer Oberweite hervor. Das Kleid aus blaßgrüner Honanseide umspannte ihren kurvenreichen Körper wie eine zweite Haut. »Ich bin verwirrt«, gestand Noel zögernd und setzte sich. »Ich ha‐ be soeben zwei höchst seltsame Erlebnisse gehabt.« Er fand Alice Brenton provokativ und sinnlich, aber keineswegs sympathisch. Es war ihm plötzlich zuwider, mit ihr über Leona zu sprechen, also ließ er das Gemälde unerwähnt und schilderte statt dessen den Schrei, der ihn bei seiner Ankunft erschreckt hatte. Alice Brenton runzelte die Augenbrauen. »Es gibt nur zwei Frauen im Haus – die Zimmermädchen ausgenommen, aber die wohnen nicht hier, ihr Dienst ist für heute beendet. Da ich nicht geschrieen habe, kann es nur Corinna gewesen sein.« Die Tür öffnete sich. Corinna betrat den Raum. Sie trug Reitstiefel, Breeches und eine am Hals offenstehende, weiße Bluse. Noel ent‐ 18
ging nicht, daß das Mädchen keinen Büstenhalter trug. »Da ist sie ja«, sagte Alice Brenton. »Hallo, Corinna. Das ist unser Gast, Mr. Crawford.« Noel erhob sich. Das Mädchen kam auf ihn zu und gab ihm die Hand. Corinna hatte große, blaue Augen, die ihn prüfend muster‐ ten. Ihr weizenblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz verkno‐ tet. Sie wirkte frisch, natürlich und kerngesund, trotzdem schien es Noel so, als verberge sich hinter der appetitlichen, einladenden Fas‐ sade eine heimliche Spannung. »Hatten Sie eine angenehme Reise?« fragte sie ihn. Noel nickte, obwohl er die Frage nicht bejahen konnte. Er hatte un‐ terwegs immerzu an Leona und Tom denken müssen. »Mr. Crawford hat bei seiner Ankunft eine weibliche Stimme ge‐ hört, einen Schrei«, sagte Alice Brenton. »Hast du dafür eine Erklä‐ rung?« »Nein«, erwiderte Corinna. »Warum hätte ich schreien sollen?« Sie setzte sich, ihre Brüste strafften die dünne Seide der Bluse. Noel fragte sich, ob Corinna am Ende nicht die gleichen, sinnlichen Anla‐ gen hatte wie ihre attraktive Stiefmutter. Noel nahm wieder Platz. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. Die Frau blickte ihn an, auch Corinna schien zu erwarten, daß er das Gespräch fortsetzte. Fast gegen seinen Willen erwähnte er sein Er‐ lebnis in der Bildergalerie. »Als ich sie durchschritt, fiel mir ein Damenporträt ins Auge, das eine geradezu phantastische Ähnlichkeit mit meiner Frau hat«, sagte er. »Ich kenne sie. Ihre Frau, meine ich«, erklärte Alice Brenton. »Mrs. Crawfords Foto erscheint häufig in den Gesellschaftskolumnen der Modemagazine. Ist es richtig, daß sie Ihretwegen eine vielverspre‐ chende Karriere als Sopranistin aufgegeben hat?« »So etwas würde ich nicht geduldet haben«, meinte Noel. »Die Wahrheit ist, daß Leonas Stimme plötzlich ihre Tragfähigkeit ver‐ lor.« Er räusperte sich. »Der Butler sagte, daß die Bibliothek Unter‐ 19
lagen über die Bildergalerie enthält. Würden Sie mir bitte erlauben, sie einzusehen?« »Aber ja«, lachte Alice Brenton. »Amüsieren Sie sich dort nach Herzenslust. Die Wälzer waren, wie ich von Howard weiß, im Kaufpreis enthal‐ ten. Aber nehmen Sie sich in acht«, fügte sie mit schalkhaft erhobe‐ nem Zeigefinger hinzu. »In der Bibliothek spukt es! Das wird jeden‐ falls behauptet. Die Vorbesitzer nannten die Bibliothek das ›Blut‐ zimmer‹.« »Warum?« »Keine Ahnung! Ich habe noch keine Zeit gefunden, mich mit der Geschichte des Hauses zu befassen, aber ich werde das nachholen – ich interessiere mich für alles, was mit Tod und Sterben zusammen‐ hängt«, schloß sie und schickte einen kurzen, schwer deutbaren Blick zu Corinna hinüber. Corinna erhob sich. »Wann essen wir?« »Zur gewohnten Zeit, gegen acht«, meinte Alice Brenton und stand gleichfalls auf. »Kommen Sie, Noel – ich darf Sie doch so nen‐ nen? Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Sie werden sich nach der langen Reise frischmachen und erholen wollen.« Das Gästezimmer, in dem Noel seine beiden Koffer und die Reise‐ tasche, sowie seine Autoschlüssel wiederfand, war stilvoll möbliert. Die beiden Fenster wiesen zum hinteren Schloßpark. Das Badezim‐ mer war eher groß als elegant. Nachdem Noel sich geduscht und umgezogen hatte, ging er nach unten. Er traf den Butler und ließ sich in die Bibliothek führen. Der saalartige Raum befand sich im Haupttrakt. Die Wände waren mit dichtgefüllten Buchregalen bedeckt. Ein weißer Marmorkamin lockerte das strenge Bild auf. Im Zentrum des Raums standen ein Schreibtisch im Empirestil, zwei Armlehnstühle und ein kleines brokatbezogenes Sofa. Zwei schmale, hohe Rundbogenfenster ließen genügend Licht in den Raum dringen. Das schadhafte Parkett im‐ ponierte durch geometrisch angeordnete Intarsien. Der Raum atme‐ 20
te Würde, er hatte nichts düsteres und schien den Ausdruck »Blut‐ zimmer« nicht verdient zu haben. Noel ließ sich zeigen, wo die Folianten mit der Hausgeschichte standen und ging sofort an die Arbeit. Der Butler zog sich zurück. Noel entdeckte, daß die Ahnenbilder in chronologischer Reihenfolge aufgeführt waren. Das ovale Damenporträt zeigte eine Dame na‐ mens Eleonora Sutton. Eleonora… Leona! * Noels Herz hämmerte. Er überflog die Biographie der Porträtier‐ ten und lernte, daß sie kein Familienmitglied gewesen war. Man hatte sie nach Farbourgh Mansion geholt, damit sie als Sängerin den Töchtern der damaligen Schloßbesitzer Gesangsunterricht erteilen konnte. Leona, eine geborene Hammond, war gleichfalls Sängerin gewe‐ sen. Ihre verblüffende Ähnlichkeit mit der Verstorbenen Eleonora forderte die Frage heraus, ob Leona nicht am Ende mit der schönen Eleonora Sutton verwandt war und aus der gleichen Familie stamm‐ te. Zufälle wie diese gab es im Leben, das hatte er schon oft genug erfahren. Noel las weiter und runzelte betroffen die Augenbrauen, als er er‐ fuhr, daß Eleonora kaum fünfundzwanzig jährig hier in Farbourgh Mansion gestorben war. Es gab keinen Hinweis auf die Todesursa‐ che, lediglich das Sterbedatum. 17.9.1729. Hinter ihm öffnete sich die Tür. Corinna betrat den Raum. Sie hatte sich umgezogen. In Jeans, Sandalen und einem T‐Shirt, das ihren Oberkörper modellierte, sah sie sehr jung aus. »Mama wünscht Sie zu sprechen«, sagte das Mädchen. »Sie erwar‐ 21
tet Sie in der Familiengruft.« * Noel glaubte sich verhört zu haben. »Wo, bitte?« Corinna lächelte sphinxhaft. »In der Familiengruft«, wiederholte sie und wandte sich zum Gehen. »Ich bringe Sie hin.« Noel stellte das Buch zurück an seinen Platz und folgte dem Mäd‐ chen. Er bemerkte, daß sie leicht hinkte. Litt sie unter einem Gehfeh‐ ler? Corinna schien seine Gedanken zu erraten. »Ich bin heute vom Pferd gestürzt«, sagte sie. Durch ein paar Korridore gelangten sie zum Kellereingang. Eine alte, ausgetretene Treppe führte in die von einer kahlen Glühbirne beleuchtete Tiefe. Feuchte, modrige Luft schlug ihnen entgegen. Corinna blieb am unteren Treppenende stehen. »Ich bin keine Gräberfanatikerin«, sagte sie. »Gehen Sie allein weiter, bitte. Näch‐ ster Gang rechts, dann immer geradeaus. Er endet am Eingang zur Gruft.« Noel ging allein weiter. Er bewegte sich langsam und nur zögernd vorwärts. Er fragte sich, woran das liegen mochte. Er war weder furchtsam noch abergläubisch. Er kannte gut ein Dutzend alter Schlösser, er hatte diese alten Gemäuer aufgemöbelt und war nie‐ mals mit den Spukerscheinungen konfrontiert worden, von denen seine Auftraggeber so gern geredet hatten. Noel verzog das Gesicht. Dieser Geruch war widerlich! Er erinner‐ te ihn an Blut, Verwesung und Untergang. Noel erreichte eine schwere, mit alten Eisenplatten beschlagene Tür. Sie war mit einer gewaltigen, rostigen Klinke ausgerüstet und in eine metertiefe, aus klobigen Quadersteinen gefügte Eingangsni‐ sche eingelassen. Die Tür ließ sich nur mühsam öffnen. Sie verursachte ein knarren‐ des, schleifendes Geräusch. Noel trat über die Schwelle. Sein Herz machte einen Sprung und hämmerte gegen seinen Rippenkorb. 22
Vor ihm lag eine kleine, plattformähnliche Galerie. Von ihr führten ein paar Stufen in die eigentliche, von einer Glühbirne beleuchtete Gruft. Das hohe Gewölbe, von denen einige Seitenarme abzweigten, war mit steinernen Sarkophagen gefüllt. Einige davon standen übereinander. An Mauervorsprüngen hingen längst verdorrte Kränze und stei‐ nerne Tafeln mit eingemeißelten Inschriften. Die Luft im Raum war kühl und modrig, sie wurde beherrscht von dem abstoßenden Ge‐ ruch, den Noel bereits im Keller wahrgenommen hatte. Noels beschleunigte Herztätigkeit wurde ausgelöst von Alice Brenton. Sie lag nackt und mit geschlossenen Augen wie tot auf einem Sar‐ kophag, der im Zentrum der Gruft stand und offenkundig einen Vorzugsplatz einnahm. Alice Brentons weiße, makellose und nur von einigen Abschür‐ fungen verunstaltete Haut bildete einen fast makaberen Kontrast zu ihrer von Tod und Verfall geprägten Umgebung. Noel schluckte. Was war geschehen? War die Frau tot? Er räusperte sich. Alice Brenton hob die Augenlider. »Sind Sie das, Noel?« fragte sie. Noel wußte vor Verlegenheit nicht, wohin er blicken sollte. Der sehr weibliche Körper der Nackten war von praller Sinnlichkeit. Alice Brenton richtete sich langsam auf, sie schwang die Beine he‐ rum und blieb mit baumelnden Füßen auf dem Sarkophag sitzen. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt«, sagte sie. »Ich neige zu spiritistischen Handlungen und kann nicht der Versuchung wider‐ stehen, mich mit den Toten zu unterhalten.« * Noel glaubte ihr kein Wort. Für ihn stand fest, daß Alice Brenton lediglich einen Vorwand gesucht hatte, um sich ihm mit ihrer lo‐ ckenden, verführerischen Weiblichkeit präsentieren zu können. 23
Er wußte nicht, ob er die kühne Schamlosigkeit der Frau bewun‐ dern oder verurteilen sollte. Er war zunächst buchstäblich sprachlos, dann fragte er: »Hatten Sie Erfolg damit?« »Nein«, erwiderte Alice Brenton seufzend und glitt von dem Sar‐ kophag. Sie strich mit den Fingerspitzen über das sorgfältig behaue‐ ne Material und meinte: »Vielleicht war der Zeitpunkt falsch ge‐ wählt.« Sie blickte Noel an, ein seltsames Flimmern in den großen Augen. »Wären Sie bereit, an einer meiner Sitzungen teilzunehmen? Wir könnten uns heute nacht hier unten treffen. Oder haben Sie Angst?« »Nein«, erwiderte Noel, »aber das Ganze erscheint mir – verzeihen Sie – doch recht absurd. Es ist nicht nach meinem Geschmack.« Er räusperte sich und fügte hinzu: »Sie werden sich erkälten…« »Sie sind rührend um mich besorgt«, flüsterte die Frau und trat auf ihn zu. Noel merkte, wie er innerlich vereiste. Was hatte diese Verrückte mit ihm vor? Alice Brenton berührte streichelnd seine Wange. Ihre Fingerspit‐ zen schienen winzige Funken zu versprühen. Einen Moment lang schien es, als wollte die Nackte sich auf ihre Zehenspitzen erheben und ihn küssen, aber dann wandte sie sich ab und verschwand im Dunkel eines bogenförmigen Durchgangs. Noel vermied es, ihr hin‐ terherzublicken. Er entspannte sich. Kein Zweifel, diese Alice Bren‐ ton liebte das Abwegige! Ihr genügte es nicht, einen Mann zu verwirren und zu erobern, sie wünschte dies in einer Umgebung zu zelebrieren, der ihrer Phanta‐ sie besondere Impulse vermittelte. Er hörte, wie die Frau sich anzog. Noel trat an den Sarkophag he‐ ran, auf dem Alice Brenton gelegen hatte. Er las die Inschrift, die in die Deckplatte gemeißelt war. ELEONORA SUTTON. Sonst stand nichts darauf. Weder ein Geburts‐ noch ein Sterbeda‐ 24
tum. »Mein Gott«, murmelte Noel betroffen Alice Brenton näherte sich ihm, sie schloß den Gürtel ihres grünen Kleides und fragte: »Was gibt es?« »Hier ist Eleonora Sutton beigesetzt worden. Sie wissen schon, das Mädchen, dessen Porträt mir in der Galerie auffiel.« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Es ist merkwürdig. Eleonora Sutton gehörte nicht zur Familie. Trotzdem wurde sie in der Familiengruft beigesetzt. Ich wüßte gern, warum.« »Es wird in der Familienchronik stehen. Sehen Sie einfach nach«, empfahl die Frau. Er nickte und vermied es, Alice Brenton anzusehen. Es würde schwer sein, die Erinnerung an ihre gleißende Blöße loszuwerden. Genau das hatte die Frau vermutlich mit ihrem skurrilen Auftritt angestrebt. Sie hatte sinnliches Gift in sein Blut geträufelt und war‐ tete geduldig auf dessen Wirkung. »Kommen wir zur Sache«, sagte die Frau. »Sie werden wissen wol‐ len, weshalb ich Sie rufen ließ. Ich möchte Sie bitten, den Raum um‐ zugestalten. Es ist ein herrliches Gewölbe, zwölftes Jahrhundert, würde ich sagen. Machen Sie mir eine Bar daraus.« * »Sie scherzen«, sagte Noel entgeistert. Er wußte um die Geschmacklosigkeiten reicher Leute aus Übersee, aber er weigerte sich zu glauben, daß auch Alice Brenton dieser Ka‐ tegorie zugerechnet werden mußte. »Ich bitte Sie! Wir lassen die Toten umbetten, wir bringen sie zum Dorfanger«, meinte Alice Brenton. »Danach schaffen wir hier eine Superkellerbar, etwas zum Gruseln und sich Wohlfühlen.« Sie lachte laut. »Wenn unsere Gäste erfahren, daß hier jahrhundertelang Tote ruhten, wird das dem Ganzen eine besondere Würze geben. Ich lie‐ be das Ausgefallene, wissen Sie.« 25
»Sprechen Sie mit den Toten«, sagte Noel sarkastisch. »Sie unter‐ halten einen Draht zu ihnen, nicht wahr? Fragen Sie sie, was sie von Ihrem bizarren Vorschlag halten.« Sie strich über Eleonoras Sarkophag. »Ein Prachtexemplar«, sagte sie. »Daraus machen wir den Bartresen. Schauen Sie mich nicht so entsetzt an! Für mich gehört der Tod zum Leben, er ist der krönende Abschluß unseres Seins. Was ist denn so schlimm an meiner Idee? Falls die Geister der Verblichenen noch in dem alten Gewölbe he‐ rumspuken, bietet sich ihnen bald Gelegenheit, fröhlich mitzu‐ feiern.« Noel wurde die Frau zusehends unsympathischer. »Ich fürchte, ich muß Sie enttäuschen«, sagte er schroff, »aber das ist nicht die Art von Arbeit, für die ich zuständig bin.« Alice Brenton musterte ihn lächelnd. »Schon gut. Sie sind Englän‐ der und lieben den Takt, den guten Benimm, die braven Sitten. Kümmern Sie sich um die Modernisierung des Schlosses. Das ande‐ re übernehme ich.« Noel verließ mit der Frau die Gruft. Er holte tief Atem, als sie die Halle erreichten. »Wir sehen uns beim Abendessen«, verabschiedete sich Alice Brenton von ihm. Noel beschloß, seine Verwirrung und seinen Ärger mit Arbeit zu betäuben. Er schaute sich das Schloß an und geriet dabei, tief in Ge‐ danken versunken, in Corinnas Zimmer. Er stammelte eine Ent‐ schuldigung und errötete. Ganz Farbourgh Mansion schien aus Türen und riesigen Zimmern zu bestehen. Er hatte diese Türen ganz automatisch geöffnet, eine nach der anderen, ohne anzuklopfen. Er mußte feststellen, daß dies ein Fehler gewesen war. Corinna saß auf dem breiten Bett, nur mit Slip und BH bekleidet. Sie hatte einen offenen Verbandskasten neben sich stehen und war damit beschäftigt, sich einige Heftpflaster aufzukleben. Sie starrte ihm verblüfft ins Gesicht. Er murmelte ein weiteres Pardon, machte auf den Absätzen kehrt und schloß die Tür. Er war 26
wütend auf sich. Du bist ein Idiot, warf er sich vor. Du benimmst dich wie ein Ele‐ fant im Porzellanladen! Er suchte die Bildergalerie auf, versank vor Eleonora Suttons Port‐ rät in ein romantisches Grübeln und ging dann in die Bibliothek, um sieh weitere Informationen über die längst verstorbene Schönheit zu besorgen. Er fand eine Menge alter Handschriften aus der Zeit, in der das Mädchen hier gelebt hatte, aber keine Hinweise auf ihre Stellung im Haus und keine Erklärung dafür, weshalb die so jung Verstorbene in der Familiengruft beigesetzt worden war. Noel suchte sein Zimmer auf und zog sich für das Abendessen um. Er musterte sich prüfend im Spiegel. Sein schmales, markantes Gesicht mit dem energischen Kinn, der hohen Stirn und den klaren, blauen Augen wirkte auf Frauen. Früher hatte es ihm Spaß gemacht, seine Anziehungskraft zu beweisen, aber seitdem es in seinem Le‐ ben Leona gab, war es mit diesen Eskapaden vorbei. Er schmeichelte sich, ein loyaler Ehemann geworden zu sein. »Ich möchte mit London telefonieren«, teilte Noel wenig später dem Butler mit. Der Butler führte ihn in einen Salon, machte ihn mit der Tastatur des Telefons vertraut und verließ den Raum. Noel rief Leona an. Sie meldete sich sofort. »Hallo, Liebling«, sagte er. »Oh, bist du gut angekommen?« »Es gab keine Probleme«, erwiderte er und fragte sich, warum er log. »Wie schön für dich«, sagte Leona. Noel legte die Stirn in Falten. Irgend etwas stimmte nicht mit Leona, sie war anders als sonst. »Ich muß dich sprechen«, sagte sie im nächsten Moment. »Eigentlich wollte ich es dir unter vier Augen sagen, in einer ganz persönlichen Aussprache – aber ich war zu feige dazu. Deshalb erledige ich es lieber jetzt, am Telefon.« Sein Herz hämmerte. Es ist soweit, dachte er. Deine schlimmsten 27
Befürchtungen sind eingetreten. Er suchte einen Aufschub. Wie soll‐ te er reagieren, wenn Leona ihm gestand, daß sie sich in Tom Blunt verliebt hatte? »Hast du mal Ahnenforschung betrieben?« fragte er und merkte, wie fremd seine Stimme klang. »Wie kommst du darauf?« »In der Bildergalerie von Farbourgh Mansion gibt es das Porträt eines Mädchens namens Eleonora Sutton. Sie starb 1729 und war Sängerin. Sie sieht aus wie du. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.« »Ich liebe Tom«, sagte Leona. Noel hatte mit diesen Worten gerechnet, aber jetzt, da sie im Raum standen, raubten sie ihm den Atem. »Ich liebe Tom«, wiederholte Leona. »Wir wollen dir nicht weh‐ tun, das weißt du. Es ist einfach so über uns gekommen.« »Was erwartest du von mir?« fragte er rauh. »Einen Glück‐ wunsch?« »Nur Verständnis. Gib mir ein paar Wochen Zeit. Hilf mir, dieses Problem zu meistern – bitte!« »Ich wüßte gern, wie ihr euch das vorstellt. Soll ich Tom auf die Schulter klopfen und ihm alles Gute wünschen?« Er konnte nicht weitersprechen, er legte auf und verließ den Raum. Zehn Minuten später saß er mit den beiden Damen an dem langen Tisch des Speisezimmers. Corinna und Alice saßen sich an den Schmalseiten gegenüber. Der Gast hatte in der Mitte des Tisches Platz genommen. Der Butler servierte mit weißen Handschuhen. Noel schmeckte kaum etwas von dem, was er mechanisch verzehr‐ te. Seine Gedanken kreisten um Leona und Tom. Nach dem Mokka wurde Cognac gereicht. Corinna lehnte ab. Alice Brenton trank und musterte Noel über den Rand ihres Gla‐ ses hinweg. »Mein Angebot steht, Noel«, sagte sie. »Überlegen Sie es sich. Sie treffen mich um Mitternacht in der Familiengruft.« »Du bist geschmacklos«, erregte sich Corinna und stand so plötz‐ 28
lich auf, daß ihr Stuhl umfiel. Sie verließ den Raum. Alice Brenton lachte leise. »Das arme Kind«, sagte sie. »Corinna kann mich nicht ausstehen. Sie kann ihre Mutter nicht vergessen, und sie kann es weder mir noch ihrem Vater verzeihen, daß ich eine Brenton geworden bin.« Sie seufzte. »Ist es meine Schuld, wenn Co‐ rinna eine häßliche Phantasie entwickelt? Mein Angebot an Sie ver‐ bindet sich nicht mit erotischen Motiven. Ich denke nur an die To‐ ten, ich möchte mit ihnen sprechen.« Sie lachte abermals und schau‐ te Noel ins Gesicht. »Denken Sie an Eleonora. Vielleicht können Sie durch mich mit ihr in Verbindung treten.« »Bitte rechnen Sie nicht mit mir«, sagte Noel, erhob sich und ver‐ ließ den Raum. Noel suchte die Bildergalerie auf. Er blieb vor Eleonora Suttons faszinierendem Porträt stehen und spürte ein Würgen im Hals. »Leona«, murmelte er. Er wandte den Kopf, als er Schritte vernahm. Corinna Brenton tauchte auf. Sie trug das weiße, schulterfreie Kleid, das sie beim Es‐ sen angehabt hatte. Ein dazu passendes Stirnband hob sich kontrast‐ reich von der Bräune ihrer makellos glatten Gesichtshaut ab. Corinna blieb neben ihm stehen. »Das Gemälde erinnert Sie an Mrs. Crawford, nicht wahr?« »Das ist richtig«, sagte Noel. »Ich habe sie eingeladen«, erklärte Corinna. * »Das ist nicht wahr«, murmelte Noel betroffen. »Es sollte eine Überraschung werden, aber ich kann es einfach nicht für mich behalten. Ich habe mit Mrs. Crawford telefoniert. Sie hat sich herzlich bedankt und erklärt, daß sie nicht aus London wegkönne, weil sie einen guten Freund betreuen müsse, einen Rennfahrer, der auch Ihr Freund sei. Tom Blunt, das Formeleins‐As! Ich habe Mrs. Crawford darum gebeten, ihn mitzubringen. Sie war 29
einverstanden. Die beiden treffen morgen in Farbourgh Mansion ein. Freuen Sie sich?« »Oh ja«, murmelte Noel. Er fragte sich, welche Motive das Mädchen leiteten. Glaubte sie mit Leonas Anwesenheit einen sich anbahnenden Flirt zwischen ihrer Stiefmutter und ihm hintertreiben zu können? Die beiden Brenton‐Damen schienen es darauf angelegt zu haben, ihn zu okkupieren, jede auf ihre Weise. Vielleicht lag es daran, daß sie sich langweilten. Oder sich bekämpften. Noel suchte sein Zimmer auf und legte sich voll bekleidet auf das Bett. Er dachte an Leona, mit der er seit drei Jahren verheiratet war. Glücklich verheiratet. Damit schien es vorbei zu sein. Tom Blunt war in ihr Leben getreten. Zugegeben, Tom war ein Mordskerl, ein Star. Die ganze Sportwelt kannte seinen Namen. Er hatte gute Aussichten, Weltmeister zu werden. Er verdiente phantastisch, er war umschwärmt und konnte fast jedes Mädchen haben, nach dem ihm der Sinn stand. Aber er hatte sich ausgerechnet in Leona verliebt. Und Leona, das stand nach dem kurzen Telefongespräch fest, erwiderte seine Gefühle. Trotz seiner Erregung schlief Noel ein, in voller Montur. Als er erwachte, dauerte es Sekunden, ehe er begriff, wo er sich befand und was ihn vor dem Einschlafen gequält hatte. Er blickte auf seine Uhr. Zehn Minuten vor Mitternacht. Sein Herz klopfte und ihm war zumute, als litte er unter Atemnot. Er setzte sich auf, stützte den Kopf in die Hände und fragte sich, warum ihn plötzlich eine unerklärliche, lastende Furcht quälte. * Alice Brenton öffnete die schwere Eisentür zur Familiengruft, tas‐ tete nach dem Lichtschalter und blinzelte in das fahle Licht der Glühlampe. 30
Sie fragte sich, ob Noel Crawford den Mut finden würde, ihrer Einladung zu folgen. Sie nahm seine frostige Ablehnung nicht ganz ernst. Sie baute darauf, daß die Erinnerung an ihre gleißende Blöße seine Phantasie auf Trab hielt und ihn dazu animieren würde in die Gruft zu kommen. Alice Brenton lächelte süffisant. Sie trat an Eleonora Suttons Sar‐ kophag heran und versuchte, einer plötzlichen Eingebung folgend, den Deckel zu lüften. Es ging nicht, er war zu schwer. Mit größter Anstrengung gelang es ihr schließlich, den Deckel um ein paar Zentimeter zu bewegen. »Soll ich Ihnen helfen?« ertönte eine dumpfe, männliche Stimme. Sie kam scheinbar aus dem Nichts. Alice Brenton zuckte zusammen, sie stand wie erstarrt. Ein Gespenst, ein Geist? Nein, die Stimme gehörte einem Lebenden. Sie kam aus dem Dunkel eines Rundbogens. Alice atmete flach. Sie versuchte das Dunkel der Nische mit den Blicken zu durchdringen. Ihr fiel die Attacke vom Nachmittag ein, der Anschlag des unheimlichen Mannes in Schwarz. Aus dem Rundbogen löste sich eine Gestalt. Seine Gestalt, schwarz und maskiert. Alice Brenton starrte in die Augenschlitze, die sie schon einmal so nahe vor sich gesehen hatte, sie spannte die Mus‐ keln und spürte, daß es erneut um alles ging, um Tod oder Leben. Sie wußte, wie kräftig die Muskeln des Unbekannten waren. Sie war ihnen nicht gewachsen. Diese Erkenntnis ließ sie herumwirbeln. Sie rannte zur Tür, aber der Mann war schneller, er packte sie am Arm und hielt sie fest. »Wer sind Sie, was wollen Sie von mir?« keuchte Alice Brenton. »Ich heiße Mark Chandler und will Ihren Tod.« erwiderte der Mann. Ein Verrückter! schoß es der Frau durch den Sinn. Maskierte stel‐ len sich nicht vor… »Die Maske«, sagte er und bewies mit seine Worten, daß er ihre 31
Gedanken erraten hatte, »trag ich nur für den Fall, daß mir unter‐ wegs jemand begegnet.« »Chandler, Chandler?« fragte Alice Brenton mit flatternder Stim‐ me. »Den Namen höre ich zum ersten Mal.« »Und zum letzen Mal«, sagte der Mann. »Sie tun mir weh!« »Der Tod löscht alles aus«, sagte der Mann. Alice Brenton zwang sich zur Ruhe. Es mußte ihr gelingen, die Ge‐ fahr zu meistern. »Sie werden von Corinna bezahlt!« würgte sie hervor. »Eine ande‐ re Möglichkeit gibt es nicht. Sie hat gehört, daß ich um diese Zeit in der Gruft sein würde, sie hat Ihnen diese Nachricht übermittelt!« Der Mann versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht. Alice Brenton stürzte neben dem Sarkophag zu Boden. Sie war halb bewußtlos vor Angst. Der Mann zerrte an dem schweren Deckel des Sarkophags. Alice Brenton fragte sich, was er damit vorhatte. Als sie begriff, daß er sie mit dem Deckel erschlagen wollte, bäumte sie sich auf, sie versuchte auf die Beine zu kommen, aber ein zweiter, gezielter Schlag streckte sie erneut zu Boden. »Du hast versucht, Corinna zu töten«, sagte der Mann. »Du wirst es immer wieder versuchen, wenn man dir die Chance dazu gibt. Ich gebe sie dir nicht. Ich gebe dir, was du verdienst.« »Nein!« schrie Alice Brenton. »Nein!« Sie sah den Deckel auf sich zukommen, sie schnellte in einer Reflexbewegung herum, aber ihre Bewegungen waren der Situation nicht gewachsen, der zentner‐ schwere herabstürzende Deckel war schneller als sie. Alice Brenton ließ ihre Todesangst ein letztes Mal in einem grellen Schrei explodieren, dann wurden Schrei und Terror von dem stei‐ nernen Geschoß ausgelöscht. * 32
Noel sprang auf. Er hatte den Schrei gehört, auch den donnernden Fall, der ihm folgte. Es war zu erkennen, daß die Geräusche sich durch viele, dicke Mauern gefressen hatten und aus den unteren Räumen des Schlos‐ ses kamen, vermutlich aus seinem Keller. Noel hastete zur Tür, er riß sie auf und begann zu rennen. Er er‐ reichte die Halle und wenig später die Tür, die in den Keller führte. Sie stand offen. Die brennende Glühbirne beleuchtete die ausgetre‐ tenen Steinstufen. Noel stieg die Stufen hinab. Seine Schritte ver‐ langsamten sich. Er spürte, daß ihn etwas Schreckliches erwartete. Hinter ihm ertönten Schritte. Noel blickte über seine Schulter. Es war Corinna. Sie trug einen bodenlangen, dunkelblauen Hausman‐ tel. Ihr blasses, verstörtes Gesicht machte klar, daß auch sie den Schrei und das Dröhnen vernommen hatte. Noel stellte keine Fragen, er ging weiter. Das Mädchen folgte ihm. Sie erreichten die schwere, eisenbeschlagene Tür der Gruft. Noel öffnete sie. Im Inneren des Gewölbes brannte Licht. Der schwere Steindeckel des Sarkophags von Eleonora Sutton war zu Boden gefallen. Er hatte Alice Brenton unter sich begraben. Von der Unglücklichen waren nur die nackten Beine und das blonde, auf den grauen Steinplatten ausgebreitete Haar zu sehen. Es verfärbte sich langsam, es füllte sich mit rotem, schillerndem Blut. Corinna taumelte. Sie wäre zu Boden gestürzt, wenn Noel sie nicht mit beiden Armen aufgefangen hätte. Er hatte Mühe, zu atmen. Das lag nicht nur an der schlechten Luft, es lag vor allem an dem Bild, das sich ihm bot. Er schüttelte sich. Gleichzeitig registrierte er einen neuen, fremden Geruch, den er zum ersten Mal hier unten bemerkte – er war seltsam süßlich und machte es Noel unmöglich, ihn einzuordnen. Noel nahm Corinna auf seine Arme und trug sie hinaus. Schwer‐ atmend schleppte er die Bewußtlose nach oben, in die Halle. 33
* Noel bettete Corinna behutsam auf den Boden, er mußte eine Pau‐ se einlegen. Das Mädchen kam zu sich, sie hob die Augenlider. »Oh, mein Gott«, flüsterte sie. »Wir müssen den Arzt rufen. Und die Polizei«, sagte er. Corinna stellte keine Fragen. Mit Noels Hilfe kam sie auf die Bei‐ ne. »Wie konnte das nur geschehen?« fragte sie zitternd. »Haben sich die Toten an ihr gerächt?« »Wo schläft der Butler?« fragte Noel. »Was wollen Sie von ihm?« »Er soll mir helfen, den schweren Steindeckel von der Toten zu entfernen.« »Ich hole ihn. Oh, mein Gott«, flüsterte Corinna und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ich muß Papa anrufen. Ich frage mich, wie er die Nachricht aufnehmen wird. Er liebte diese Frau.« Sie ließ die Hand fallen und starrte Noel in die Augen. »Ich bin völlig fertig. Wie konnte das bloß passieren?« »Ich weiß es nicht. Ihre Stiefmutter glaubte an okkulte Dinge. Möglicherweise wollte sie sich in den Sarg legen. Beim Versuch, den schweren Deckel anzuheben, muß sie ausgeglitten und unter ihn geraten sein.« Corinna nickte, preßte eine Hand vor ihren Mund und entfernte sich. Es war zu erkennen, daß sie sich übergeben mußte und einen Ort suchte, wo sie dies tun konnte. Noel kehrte zurück in die Gruft. Er vermied es, die Tote anzuse‐ hen und beugte sich über den offenen Sarkophag von Eleonora Sut‐ ton. Er war leer. * Noel ging nach oben. Corinna kam ihm in der Halle entgegen. »Ich 34
habe Maurice Bescheid gesagt, ich habe auch die Polizei und den Arzt verständigt«, informierte sie ihn. »Maurice ist der Butler?« »Ja.« Noel folgte dem Mädchen in den großen Salon des Südflügels und sah zu, wie Corinna einem Wandschrank eine bauchige Flasche und zwei Gläser entnahm. Ihre Hände zitterten, als sie die Gläser füllte. Sie reichte Noel eines davon, setzte sich und trank. Noel drehte das Glas zwischen seinen Fingern und blickte zum Fenster. Draußen staute sich tiefes Dunkel. Noel zuckte zusammen und hob das Kinn. Ihm schien es so, als bewegte sich jenseits der Scheiben ein Schatten. Corinna bemerkte seine plötzliche Spannung. »Was ist los?« fragte sie. »Nichts«, erwiderte er. Es lag nicht in seiner Absicht, sie zu er‐ schrecken. Der Schock des Erlebten wirkte in ihr nach, sie hatte si‐ cherlich Mühe, damit fertigzuwerden. Ihm fiel ein, was am Nach‐ mittag passiert war. »Als ich ungewollt Ihr Zimmer betrat, waren Sie damit beschäftigt, sich mit Heftpflastern zu versorgen«, sagte er. »Sind Sie vom Pferd gefallen?« »Ja.« Er nahm einen Schluck aus dem Glas, stellte es beiseite und öffnete die Terrassentür. »Ich muß an die Luft«, sagte er und trat ins Freie. Es war völlig windstill. Ganz in der Nähe knackte ein trockener Zweig. Es war klar, daß das Holz unter einer schweren Last brach, vermutlich unter einem Menschen. Noel fragte sich unwillkürlich, ob es einen Mörder gab, und wenn ja, warum Alice Brenton umgeb‐ racht worden war. Noel versuchte das Dunkel mit seinen Blicken zu durchdringen, aber jenseits der kleinen Lichtzone, die von den Lampen und Fens‐ tern des Salons geschaffen wurde, hockte undurchdringliches Dun‐ kel. Noel kehrte in den Salon zurück und schloß die Tür. »Hatte Ihre Stiefmutter Feinde?« fragte er. »Ja«, erwiderte Corinna. »Mich.« 35
»Das ist natürlich. Die Beziehungen zwischen Stiefmutter und Stieftochter sind selten frei von Problemen. Gibt es sonst noch je‐ mand, der Mrs. Brenton nicht besonders mochte oder sogar haßte?« »Warum fragen Sie?« Er zuckte mit den Schultern. Es war nicht seine Sache, Verbre‐ chensaufklärung zu betreiben. Das ging nur die Polizei etwas an. Trotzdem konnte er sich nicht enthalten, festzustellen: »Es ist schlichtweg unglaubhaft, daß es Mrs. Brenton gelungen sein sollte, den schweren Steindeckel anzuheben.« »Es ist ihr auch nicht gelungen. Sie kam dabei zu Fall und wurde von dem Ungetüm begraben.« »Wie geht es jetzt weiter?« fragte er fast ohne Übergang. »Nach Mrs. Brentons tragischem Tod ist zu bezweifeln, daß Ihr Vater Far‐ bourgh Mansion zu behalten und zu modernisieren wünscht. Es ist für ihn zum Symbol des Unheils geworden, es hat ihm die Frau ge‐ raubt.« Es klopfte. Der Butler erschien. Er war vollständig angezogen und sah keineswegs so aus, als habe ihn die Nachricht vom Tode Mrs. Brentons erschüttert. Sein hageres Gesicht mit den dunklen, tieflie‐ genden Augen verriet keine Gefühlsregung. »Wie viele Menschen wohnen in Farbourgh Mansion?« fragte Noel den Butler. »Die Brentons und ich, Sir. Im Augenblick auch Sie. Sonst nie‐ mand. Die Dienstboten leben, zwei Knechte ausgenommen, im Dorf.« »Ich will Ihnen sagen, weshalb ich so detailliert frage«, meinte Noel. »Ich wüßte gern, ob ein Verbrechen vorliegt. Mir war vorhin so, als bewegte sich etwas auf der Terrasse. Ein Schatten. Oder bes‐ ser: ein Mensch, der einem Schatten ähnelte.« »Ich war nicht zugegen, als Sie diese Beobachtung machten«, meinte der Butler. »Das setzt mich außerstande, sie zu kommentie‐ ren.« »Wahrscheinlich bilde ich mir das Ganze nur ein«, sagte Noel und 36
schritt zur Tür. »Gehen wir nach unten. Heben wir die Platte von der Unglücklichen. Ich hoffe, Sie haben starke Arme und noch stär‐ kere Nerven.« Die Männer begaben sich in den Keller und betraten die Gruft. Der Butler wandte sich jäh ab. Einen Moment lang schien es so, als drohe ihn Übelkeit zu überfallen. »Vielleicht sollten wir das Eintreffen von Arzt und Polizei abwar‐ ten, Sir«, murmelte er. »Es ist doch offenkundig, daß das Aufheben des Deckels der Ärmsten keine Hilfe bringen kann. Sie ist tot.« Noel nickte. Er war nicht versessen darauf, Alice Brentons zer‐ schmetterten Schädel zu Gesicht bekommen. Noel bewegte wie wit‐ ternd die Nasenflügel. Er vermißte den merkwürdigen, süßlichen Geruch, der ihm vorhin in der Gruft aufgefallen war. Ein dumpfes Dröhnen ertönte. Es kam von oben, aus der Halle. »Der Türklopfer«, meinte der Butler und eilte davon. Es war zu merken, wie sehr es ihn erleichterte, die Kellergruft verlassen zu können. Noel folgte ihm. Der Butler öffnete die Eingangstür. Zwei Männer betraten die Hal‐ le. Der Ältere, ein kompakter Mittfünfziger mit starkem Bauchansatz, trug die Uniform eines Constablers. Zwei offene Knopflöcher seiner Jacke und ein starker Bartschatten demonstrierten, daß er gleich nach dem Anruf überstürzt aufgebrochen und nach Farbourgh Mansion geeilt war. »Ich habe meinen Sohn mitgebracht«, erklärte der Constabler stolz. »Er ist Inspektor bei Scotland Yard und machte ein paar Tage Urlaub zu Hause. Er ist nicht in offizieller Mission mitgekommen, aber ich bin sicher, daß er mir helfen kann.« Der Inspektor war ungefähr 30, etwas über mittelgroß, hellblond und von nichtssagendem Äußeren. Er trug eine Sportkombination mit offenem Hemdkragen, lächelte zurückhaltend freundlich und ließ lediglich durch seine dunkelblauen, sanften Augen erkennen, daß er gut beobachten konnte, ohne gleich zu kommentieren, was er 37
sah. Noel stellte sich vor und schilderte, was sich ereignet hatte. Der Constabler schüttelte den Kopf. »Wie konnte sie nur nach dem, was ihr heute nachmittag zugestoßen ist, in die Gruft gehen?« fragte er. »Wie bitte?« fragte Noel erstaunt. Er erhielt keine Antwort. Die Männer gingen in den Keller und be‐ traten die Gruft. Der Inspektor umkreiste die Unfallstellte, er bückte sich, blickte dann in den leeren Sarkophag, rieb sich selbstvergessen den Nasenrücken und sagte dann: »Ich gehe zum Wagen und hole die Kamera.« Zwei Minuten später kehrte er zurück. Er blitzte einige Aufnah‐ men und sagte: »Ich bleibe hier, bis der Arzt kommt.« Der Constab‐ ler, Noel und der Butler begaben sich nach oben. Corinna tauchte auf. »Ich habe mit Papa telefoniert«, berichtete sie. »Er ist fast zu‐ sammengebrochen. Er kann nicht fassen, was geschehen ist. Er wird mit der nächsten Maschine kommen.« Sie begrüßte den Polizisten. »Das ist ein schwarzer Tag für die Brentons«, bedauerte sie. Der Constabler nickte. Er hatte seinen Helm abgesetzt und war spürbar befangen. Der Umgang mit so rei‐ chen Leuten war nicht nach seinem Geschmack. Er setzte sich und nahm zu Protokoll, was die Schloßbewohner zu sagen hatten. Noel enthielt sich jeglichen Kommentars und verzich‐ tete darauf, Alice Brentons Einladung und den Schatten auf der Ter‐ rasse zu erwähnen. Corinna brachte die Ausgleittheorie an, die Noel entwickelt hatte. Der Constabler brachte sie zu Papier, ohne sich dazu zu äußern. Dann kam der Arzt, ein grauhaariger Alter namens Bartok. Er kannte sich im Schloß aus und ging geradewegs in den Keller. Co‐ rinna genehmigte sich einen weiteren Cognac. Sie starrte blaß ins Leere. »Ich wüßte gern, warum der Sarkophag leer ist«, rätselte Noel. Er erhielt keine Antwort. 38
Es dauerte fast zwanzig Minuten, ehe der Inspektor und der Arzt aus der Gruft zurückkehrten. Bartok wandte sich mit bedrücktem Gesichtsaudruck an Corinna. »Sie war sofort tot, falls Ihnen das ein Trost sein sollte«, sagte er. »Was geschieht mit der Toten?« fragte Corinna. »Es wird notwendig sein, die Ärmste nach Morristown zu über‐ führen«, sagte der Inspektor. »Der Doktor und ich sind zu der An‐ sicht gelangt, daß Mord nicht auszuschließen ist.« * Noel erwachte am nächsten Morgen gegen neun und hatte Mühe, munter zu werden. Das Duschen erfrischte und aktivierte ihn. Ihm fiel ein, daß Leona und Tom nach Farbourgh Mansion unterwegs waren. Er bereute, den beiden nicht abtelefoniert zu haben. Aber vielleicht war es dazu noch nicht zu spät. Leona schlief gern und lange, sie pflegte ausgiebig zu frühstücken und haßte es, früh wegzufahren. Noel beeilte sich mit der Toilette und ging nach unten. Er versuch‐ te Leona telefonisch zu erreichen, aber sie meldete sich nicht. Er frühstückte im Speisezimmer und erfuhr von dem Butler, daß Corinna noch nicht aufgestanden war. Nach dem Frühstück unter‐ nahm Noel einen Spaziergang. Er erinnerte sich an seine nächtliche Beobachtung, betrat die Terrasse und entdeckte jenseits der Stein‐ platten in dem weichen Boden des Beetes einen frischen Fußab‐ druck. Der Abdruck schien zu beweisen, daß es tatsächlich einen nächtli‐ chen Besucher gegeben hatte. War es nur ein Neugieriger gewesen, ein Landstreicher – oder am Ende gar Alice Brentons Mörder? Hatte er als heimlicher Lauscher feststellen wollen, wie die Schloßbewoh‐ ner auf den »Unfall« reagierten? Noel überlegte, ob es zweckmäßig war, die Polizei zu verständi‐ gen. Er ging zurück und schrak aus seinen Gedanken hoch, als vor 39
dem Haupttrakt ein Wagen neben ihm stoppte. In dem schnittigen Aston Martin saßen Leona und Tom Blunt. Die Seitenfenster waren herabgekurbelt. »Hallo, Noel«, sagte Leona und lächelte ihm ins Gesicht. »So früh schon auf den Beinen?« »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund, das wollte ich gerade zu dir sagen«, meinte Noel. Ihm schien, daß Leona noch niemals schöner und begehrenswerter ausgesehen hatte. Leona lachte. »Das liegt an Tom. Er ist Frühaufsteher.« Noel gab sich Mühe, seine Bitterkeit nicht zu zeigen. »Ihr könnt den Wagen hier stehen lassen«, sagte er. Tom und Leona stiegen aus. Leona trug ein weißes Leinenkostüm. Um ihren Hals hatte sie einen farbigen Schal geschlungen. Er flatter‐ te mit ihrem schulterlangen, seidigen Haar im Morgenwind. Tom Blunt trug Jeans und ein Polohemd. Er legte sich seinen Wild‐ lederblouson über den Arm, schaute sich prüfend um, wandte sich an Noel und meinte: »Wirklich imponierend! Ich bewundere Leute, die es sich leisten können, in einem solchen Prunkkasten zu woh‐ nen. Davon gibt es im ganzen Lande höchstens zwei Dutzend.« Tom Blunt entsprach der Klischeevorstellung eines erfolgreichen Rennfahrers. Er wirkte jung, dynamisch und draufgängerhaft. Sein dunkelblondes Haar war stark gelockt. Er trug ein kleines, kesses Schnurbärtchen, das ihm gut zu Gesicht stand. »Die Brentons kannst du von deiner Liste streichen«, sagte Noel. »Ich glaube nicht, daß sie Farbourgh Mansion behalten werden. Es hat ihnen kein Glück gebracht. Die Frau ist tot.« »Seit wann?« erkundigte Leona sich verdutzt. »Seit heute nacht«, erwiderte Noel. »Sie wurde vom Sargdeckel deiner Ahnfrau erschlagen.« * »Hast du getrunken?« entfuhr es Leona. 40
Tom sah verblüfft aus. Er starrte Noel ins Gesicht und wartete auf eine Erklärung. Noel gab sie ihm und schilderte, was sich ereignet hatte. »Phantastisch«, murmelte Tom Blunt. »Ich zeige euch das Bild«, sagte Noel und strebte auf das Haupt‐ portal zu. »Ihr werdet mir bestätigen müssen, daß es Leona frappie‐ rend ähnlich sieht.« Sie gingen in die Halle und von dort in die Bildergalerie. Niemand kam ihnen entgegen. Farbourgh Mansion wirkte wie ausgestorben. Noels Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als er die Stelle erreichte, wo das Bild zu hängen pflegte. Es war verschwunden. »Wo ist es?« fragte Leona neugierig. »Abgenommen. Da ist der helle Fleck zu sehen, wo es noch heute nacht hing. Ich habe dafür keine Erklärung«, meinte Noel, der Mühe hatte, seine Erregung in den Griff zu bekommen. Noel wandte sich ab, er marschierte, gefolgt von Leona und Tom Blunt, ins Speisezimmer. Hier saß Corinna am Tisch. Sie tupfte sich ihren Mund mit einer Serviette ab, stand auf und ging den Besu‐ chern entgegen. Noel übernahm die Vorstellung. »Es tut mir entsetzlich leid, daß Sie Farbourgh Mansion unter so tragischen Umständen kennenlernen«, meinte Corinna. »Vielleicht wäre es klüger gewesen, die Einladung zu verschieben, aber wir haben einfach vergessen, daran zu denken. Sie müssen das ent‐ schuldigen. Die vergangene Nacht war schrecklich. Mr. Crawford wird es Ihnen bestätigen.« Corinna trug ein schwarzes, schlichtes Kleid. Noel fragte sich, wo sie es so rasch aufgetrieben haben mochte. »Nehmen Sie bitte den Ausdruck meines tiefen Mitgefühls entge‐ gen«, sagte Leona. »Es ist klar, daß wir Rücksicht auf das Geschehen nehmen und sofort abreisen.« »Das kommt nicht in Frage«, protestierte Corinna. »Sie bleiben! Ich bitte Sie darum! Gerade jetzt ist es für uns alle von größter Bedeu‐ tung, nicht zu resignieren.« 41
»Wie Sie wollen«, sagte Leona zögernd. Der Butler tauchte auf. Er nahm die Gäste mit sich. »Das Bild ist verschwunden«, sagte Noel. Corinna setzte sich. »Ich weiß.« »Was ist damit?« »Der Inspektor hat es mitgenommen. Außerdem hat er einen Sta‐ pel Bücher mitgehen lassen. Alte Chroniken und Handschriften. Fragen Sie mich nicht, warum. Er sucht offenbar irgendwelche Ver‐ bindungen. Er möchte wissen, welche Rolle der Sarkophag und der Name Eleonora Sutton spielen. Meine Stiefmutter hat daran ge‐ glaubt. Es ist ihr zum Verhängnis geworden. Warum setzen Sie sich nicht? Leisten Sie mir ein wenig Gesellschaft, bitte.« Noel befolgte die Aufforderung. »Wie haben Sie geschlafen?« frag‐ te er. »Anfangs hatte ich Angst, kein Auge schließen zu können, aber meine Sorge erwies sich als grundlos. Übrigens war der Wagen vom gerichtsmedizinischen Institut hier. Er hat die Tote abgeholt.« »Hat man Sie darum gebeten, Mrs. Brenton zu identifizieren?« fragte Noel. Corinna hob die Augenbrauen, sie schüttelte sich. »Nein, wieso? Es gibt doch keinen Zweifel daran, daß es meine Stiefmutter ist!« »Was mich betrifft, so habe ich nur nackte Beine, Arme und blon‐ des, blutverschmiertes Haar gesehen.« »Was unter dem Sargdeckel zu sehen war, gehörte ihr, das unter‐ liegt keinem Zweifel.« Sie blickte Noel in die Augen. »Ihre Frau ist umwerfend schön«, sagte sie. »Sie sieht dieser Eleonora Sutton wirk‐ lich zum Verwechseln ähnlich. Ich kann verstehen, daß Sie davon beeindruckt sind. Sie lieben Ihre Frau, nicht wahr? Eine Frau wie sie muß ein Mann einfach lieben!« Noel glaubte zu wissen, was das Mädchen bewegte. Corinna frag‐ te sich, welche Rolle wohl Tom Blunt in Leonas Leben spielte und weshalb er, Noel Crawford, nichts tat, um seine Rechte als Ehemann gegen den mutmaßlichen Liebhaber seiner Frau zu verteidigen. 42
»Ja, ich liebe sie«, sagte er. Es war die Wahrheit. Noel war sicher, daß Leona ihn bereits mit Tom Blunt betrogen hatte, aber er wäre bereit gewesen, ihr zu ver‐ zeihen. Er brauchte sie, er glaubte ohne sie nicht leben zu können. »Was ist Liebe?« fragte Corinna mit einem Hauch von Bitterkeit. »Können Sie mir das verraten?« »Nein«, lenkte er ab. »Was ist gestern nachmittag geschehen? Wo‐ rauf hat der Constabler angespielt?« »Auf mich wurde ein Mordanschlag verübt. Auch meine Stiefmut‐ ter wurde – an einem ganz anderen Platz – attackiert.« »Warum erfahre ich das erst jetzt?« staunte Noel. Corinna zuckte mit den Schultern. »Sie sind unser Gast. Es wäre unüblich gewesen, Sie mit diesen Schauermärchen zu konfrontie‐ ren.« »Aber Alice Brenton und Sie waren bedroht, tödlich bedroht!« rief er aus. »Wir waren der Meinung, daß das kein Thema sei«, meinte das Mädchen. »Haben Sie Ihre Stiefmutter gehaßt?« »Ich habe sie nicht geliebt. Das beruhte auf Gegenseitigkeit«, mein‐ te das Mädchen kühl. »Ich muß jetzt alles wissen!« Corinna berichtete ihm, was geschehen war. Noel hörte fassungs‐ los zu. »Haben Sie Maurice mit dem Schloß übernommen?« wollte er dann wissen. »Halten Sie es für möglich, daß er auf mich geschossen haben könnte? Das ist doch Unsinn! Maurice wurde uns von einer seriösen Agentur vermittelt. Ehe Papa sich entschloß, Farbourgh Mansion zu erwerben, stand das Schloß drei Jahre lang leer. Es wurde im Auf‐ trag des Vorbesitzers notdürftig instand gehalten.« »Wer war der Vorbesitzer?« »Ein Großindustrieller aus Manchester, der den Besitz für seine al‐ ten Tage herrichten lassen wollte. Die Rezession und hohe Steuern 43
zwangen ihn schließlich dazu, von seinem Plan Abschied zu neh‐ men. Warum fragen Sie?« »Ich würde mich gern mal mit jemand unterhalten, der die Ge‐ schichte des Hauses genau kennt und der mir sagen kann, warum Eleonora Sutton in der Familiengruft beigesetzt wurde – und wes‐ halb ihr Sarkophag leer ist.« »Sprechen Sie mit dem Arzt, dem alten Bartok«, riet Corinna. »Er lebt seit frühester Jugend in der Gegend. Wenn es hier einen gibt, der etwas über Farbourgh Mansion zu sagen weiß, dann er.« »Ein guter Gedanke«, sagte Noel und erhob sich. »Ich statte ihm einen Besuch ab.« Noel suchte sein Zimmer auf. Er stutzte. In der Luft hing ein fremder, süßlicher Geruch. Er ähnelte exakt demjenigen, der ihm nach der Entdeckung der toten Alice Brenton in der Gruft aufgefal‐ len war. Noel schaute sich prüfend um. Er hatte den Eindruck, daß seine Koffer verrückt worden waren. Er blickte in das obere Gepäckstück und spitzte die Lippen. Kein Zweifel, jemand hatte den Koffer durchwühlt. Der Constabler vielleicht? Zwar lag alles an Ort und Stelle, aber da er selbst gepackt hatte, erkannte er deutlich, daß dies und jenes verschoben war. Oder war nur ein neugieriges Stubenmädchen an seinem Koffer gewesen? Er hatte noch keines zu Gesicht bekommen, aber das ge‐ machte Bett und die Sauberkeit im Raum machten klar, daß sich jemand um das Aufräumen gekümmert hatte. Noel vernahm ein Geräusch. Er schlich sich auf Zehenspitzen zur Tür und riß sie auf. Vor ihm stand Leona. Sie war allein. * »Ich suche dich«, sagte sie ein wenig atemlos. »Ich wußte nicht ge‐ 44
nau, wo dein Zimmer liegt.« Sie wandte den Kopf, hob winkend den Arm und rief: »Komm, Tom! Ich habe ihn gefunden.« Sie betrat das Zimmer. »Wie großzügig«, spottete sie. »Aber nicht ganz dein Geschmack, oder?« »Ich bin hier nur Gast und habe nicht den Luxus eines Hilton er‐ wartet.« Tom Blunt schob sich ins Zimmer. Er grinste breit, hielt die Hände in seinen Hosentaschen verborgen und gab sich Mühe, gelöst und salopp zu erscheinen. Trotzdem spürte Noel deutlich die Spannung, die seinen Nebenbuhler quälte. Auch Leona war nicht frei von Hemmungen. Noel empfand die eigene Haltung als ähnlich verkrampft. Ein Wunder war das nicht. Die zu erwartende Aussprache sorgte dafür, daß keiner sich in sei‐ ner Haut wohl fühlte. Leona setzte sich auf den Bettrand. »Haschst du?« wollte sie wis‐ sen. »Wie bitte?« fragte Noel. Leona bewegte die fein ziselierten Nasenflügel. »In deinem Zim‐ mer riecht es nach Hasch. Ganz eindeutig.« »Ich habe keine Ahnung wie das Zeug riecht«, sagte Noel wahr‐ heitsgemäß. »Ich muß Leona beipflichten«, schaltete Tom Blunt sich ein. »Ich kenne einige Typen, die dem Gras huldigen. Deshalb kenne ich den Geruch.« »Wollt ihr mich zu einem Süchtigen stempeln?« fragte Noel ärger‐ lich. Er öffnete das Fenster, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und meinte: »Lassen wir die Garnierungen beiseite. Kommen wir zur Sache. Hier geht es nicht um Hasch, hier geht es um unsere Ehe. Wie soll es zwischen uns weiterlaufen, Leona?« »Das wirst du dir wohl denken können«, sagte Leona stockend. »Ich möchte die Scheidung.« »Kommt nicht in Frage, ich denke nicht daran!« erwiderte Noel. »Nun höre mir mal gut zu, alter Junge«, meldete Tom Blunt sich 45
zu Wort. »Niemand hat die Absicht, dir weh zu tun. Es ist einfach so über uns gekommen. Du kannst es nicht ändern, Leona kann es nicht ändern, und ich kann es nicht ändern. Wir lieben uns. Welchen Sinn hat es für dich, eine Ehe fortführen zu wollen, die diesen Na‐ men nicht verdient?« »Du sprichst von Liebe. Ich liebe Leona zufällig auch«, sagte Noel grimmig. »Aber sie liebt dich nicht!« »Das wage ich zu bezweifeln«, meinte Noel. »Kann sein, daß sie in ihrer gegenwärtigen Euphorie deine Ansicht teilt, aber du wirst hof‐ fentlich nicht erwarten, daß ich ihren Gefühlsüberschwang als Maßstab anerkenne. Es ist über euch gekommen? Nun gut, es wird euch auch wieder verlassen…« »Wir müssen uns doch einigen können«, sagte Leona mit gequält klingender Stimme. »Ich möchte Leona heiraten und glücklich machen«, erklärte Tom Blunt und nahm seine Hände aus den Hosentaschen. »Das schulde ich ihr. Ich schulde es auch dir, Noel. Ganz im Ernst! Ich wünsche zu beweisen, daß es diesmal keiner meiner üblichen Flirts ist. Versu‐ che das doch bitte anzuerkennen! Es ist schwer für dich, das gebe ich zu.« »Habt ihr mich schon betrogen?« wollte Noel wissen und wunder‐ te sich, daß er diese Frage überhaupt vorzubringen vermochte. »Nein«, erwiderte Leona. Sie blickte Noel dabei nicht in die Augen. Tom Blunt starrte aus dem Fenster. Noel verspürte einen scharfen, schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Vielleicht war es dumm und überflüssig gewesen, eine solche Frage zu stellen. Er konnte nicht erwarten, daß Leona und Tom ihm die Wahrheit sagten. »Ich will nichts mehr von Scheidung hören«, sagte Noel und ver‐ ließ das Zimmer. Fünf Minuten später fuhr er mit seinem Wagen ins Dorf. Dort suchte er den Arzt auf. 46
»Ich bin nicht krank«, informierte Noel den Alten, »aber ich bin gern bereit, die Zeit zu honorieren, die Sie mir opfern. Im Schloß hängt ein Porträt von Eleonora Sutton. Sie ist im Jahre 1729 verstor‐ ben und sieht meiner Frau verblüffend ähnlich. Obwohl nicht mit dem damaligen Schloßbesitzern verwandt, wurde sie in der Fami‐ liengruft beigesetzt. Mehr noch – ihr Sarkophag erhielt innerhalb der Gruft eine Sonderstellung. Wie Sie wissen, wurde Alice Brenton vom steinernen Deckel dieses Sarkophags erschlagen. Der Sarko‐ phag war leer. Ich frage mich, warum. Können Sie mir helfen, die Fragen zu klären?« Bartok schwieg. Er kaute auf seiner Unterlippe herum. Noel fühlte sich seltsam unbehaglich. Der verschleiert wirkende Blick des grau‐ haarigen Arztes signalisierte ein Wissen, das sein Besitzer nur unter Vorbehalten weiterzugeben bereit war. »Wie stehen Sie zu Fragen des Okkultismus?« erkundigte sich Bar‐ tok. »Ich bin Architekt«, erwiderte Noel. »Leute meiner Berufsrichtung arbeiten mit konkreten Zahlen, sie neigen zum nüchternen Denken, zum klaren Kalkül. Sie glauben nur selten an das Übersinnliche. Ich zähle mich dazu.« »Sie sollten damit beginnen, sich diesem Problem zu stellen«, riet Bartok. »Offen gestanden spreche ich nur ungern darüber. Ich ver‐ spüre keine Neigung, als Spinner oder Hexenmeister abqualifiziert zu werden. Ich bin Arzt und Wissenschaftler. Gerade deshalb weiß ich, wie viele Dinge sich dem Forscherdrang entziehen. Man kann sie deuten und auslegen, aber nicht konkret erfassen.« Er räusperte sich und blickte Noel in die Augen. »Ich halte es durchaus für denk‐ bar«, schloß er, »daß zwischen dieser Eleonora Sutton und Ihrer Frau ein Identitätszusammenhang besteht.« »Wie bitte?« »Eleonora Sutton wurde mehr als, zweihundert Jahre nach ihrem Tod erneut in den ewigen Kreislauf des Lebens eingegliedert«, sagte Bartok. »Sie sind mit ihr verheiratet.« 47
»Ist das Ihr Ernst?« murmelte Noel. »Ich äußere nur eine Vermutung«, sagte der Arzt vorsichtig. »Es ist eine Annahme, ein Stück Glauben, wenn Sie so wollen. Man kann an den lieben Gott, an den Himmel und an die Hölle glauben. Der Glaube hat seine eigenen Gesetze. Er bedarf keiner eigenen Gesetze, er bedarf keiner Beweisführung. Würde es sie geben, wäre es nicht länger Glaube, sondern fast schon Ideologie.« »Sie sind überzeugt davon, daß alle Menschen, also auch Sie und ich, schon einmal gelebt haben – und weiterleben werden in alle Ewigkeit, amen?« fragte Noel verblüfft. »Es gibt keinen wirklichen Tod, nur einen Kreislauf«, nickte Bar‐ tok. »Sehen Sie sich in der Natur um! Dieser Kreislauf existiert in allen Bereichen. Es gibt eine Wiedergeburt, ganz bestimmt.« »Sie sagen selbst, daß diese Dinge sich nicht beweisen lassen.« »Theorie steht gegen Theorie«, gab Bartok zu. »Immerhin gibt es Fälle, wo Menschen sich plötzlich bruchstückhaft an ein früheres Leben zu erinnern vermochten.« Noel war wenig beeindruckt. Zugegeben, das Porträt von Eleono‐ ra Sutton und Leonas Existenz schienen Bartoks Äußerungen zu stützen, aber Noel war nicht bereit, einer wohl eher zufälligen Ähn‐ lichkeit wegen sein Weltbild zu ändern. »Ihrer Theorie zufolge erhalten wir bei einer Wiedergeburt das gleiche Gesicht, den gleichen Körper und sogar die gleichen Talen‐ te?« fragte Noel spöttisch. »Ja, das glaube ich. Alles wiederholt sich. Wie alt ist Ihre Frau?« » Fünfundzwanzig.« »Oh«, meinte Bartok betroffen. »Woran denken Sie?« »An nichts.« »Sie enthalten mir etwas vor«, erkannte Noel und wußte plötzlich, was den Arzt bewegte. Noel sprach aus, was Bartok nicht zu äußern wagte. »Sie glauben, daß auch der Lebenslauf konstant bleibt. Einer, der jung stirbt, wird erneut jung sterben, und einer, der alt wird, 48
erreicht auch in seinen weiteren Leben ein hohes Alter.« »So sehe ich es.« »Warum ist Eleonoräs Sarkophag leer?« wollte Noel wissen. »Weshalb wurde sie in der Familiengruft beigesetzt?« »Sie war sehr schön«, erwiderte Bartok zögernd. »Möglicherweise unterhielt sie eine Liaison mit dem damaligen Schloßbesitzer. Er muß das Mädchen sehr geliebt haben. Als sie starb, ließ er sie sym‐ bolisch in der Familiengruft beisetzen. Wie gesagt, nur symbolisch. Das ist eine Annahme«, schränkte der Arzt ein. »Ein Stück Phanta‐ sie.« Noel erhob sich, äußerte ein paar Dankesworte und ging. Er fand, daß er mit seinem Besuch bei Bartok nutzlos die Zeit verplempert hatte. Obwohl Noel entschlossen war, sich die Ideen des Alten nicht zu eigen zu machen, wirkten sie lebhaft in ihm nach. Bartoks Hypothe‐ se hatte einiges für sich, aber sie durfte einfach nicht wahr sein, denn wenn sie stimmte, stand Leona kurz vor ihrem Ende. * Noel kehrte zurück nach Farbourgh Mansion. Er traf Leona im Park. »Allein?« wunderte er sich. Leona saß auf einer Bank und rauchte. »Toms Manager ist vorbei‐ gekommen, die beiden haben geschäftliche Dinge zu regeln, da störe ich nur.« Noel setzte sich zu ihr und schaute sie an. Ihre Schönheit schnitt wie mit Messern in sein Herz. Ihm fielen Bartoks Worte ein. Er woll‐ te und konnte nicht glauben, daß soviel Anmut vom Tode gezeich‐ net sein sollte. »Dieser Idiot«, knurrte Noel. Er meinte Bartok, aber Leona glaubte, daß er sich auf Tom bezog. »Wie kannst du so etwas sagen!« schmollte sie. 49
»Kommt dir in Farbourgh Mansion irgend etwas bekannt vor?« fragte Noel. »Du weißt, wie ich das meine. Manchmal betritt man einen Ort und glaubt, ihn schon einmal gesehen zu haben. Irgend‐ wann. Im Traum vielleicht, oder in einem früheren Leben.« Leona lachte. »Einfälle hast du!« »Gibt es wirklich nichts in dieser Umgebung, was dir unter die Haut geht, was dich anrührt oder auf seltsame Weise bedrückt und atemlos macht?« fragte er. »Natürlich gibt es solche Dinge. Sie beziehen sich auf Tom, auch auf dich. Meinst du, es sei einfach für mich, eine solche Entschei‐ dung zu treffen?« Sie erhob sich. »Laß uns ins Haus zurück gehen.« Er begleitete sie, er rang nach Worten, aber seine persönliche Aus‐ strahlung und seine Überzeugungskraft wollten heute nicht funk‐ tionieren. Er blieb wortkarg und deprimiert. Bartoks Worte ließen ihn nicht los. »Ich zeige dir die Gruft«, sagte er. »Im Keller liegen die Toten des Hauses. Es ist ein schönes, altes Gewölbe aus dem zwölften Jahr‐ hundert. Ein Stück Geschichte.« »Es ist der Ort, an dem ein Verbrechen verübt wurde!« sagte Leo‐ na scharf. »Was schert mich Farbourgh Mansion? Was kümmern mich seine Toten?« Es war klar zu erkennen, daß Leona um keinen Preis bereit sein würde, sich die Gruft anzusehen. Leona hatte im‐ mer schon einen Horror vor Friedhöfen gezeigt, eigentlich vor al‐ lem, was mit dem Sterben zusammenhing. Tom Blunt kam ihnen gutgelaunt entgegen. »Der Abschluß ist per‐ fekt«, sagte er. »Wir können ihn begießen. Mein Manager ist abge‐ reist.« Tom Blunt hakte sich spontan bei Leona ein. Er zeigte damit de‐ monstrativ, daß Leona jetzt ihm gehörte. Noel wurde wütend. Er war nicht bereit, sich wie ein Hanswurst behandeln zu lassen. Noch war Leona seine Frau – auch wenn sie sich bereit erklärt hatte, die‐ sen Status aufzugeben. »Laß das, Tom«, sagte er scharf. »Ich will nicht, daß du dir diese 50
Vertraulichkeiten erlaubst.« »Hast du Leona gekauft, ist sie dein Eigentum?« höhnte Tom Blunt. Sie blieben stehen. Leona löste behutsam ihren Arm aus dem des Mannes. »Noel hat recht«, meinte sie. »Wir sind Gäste in Farbourgh Mansion. Man könnte uns sehen und aus unserem Verhalten Schlüsse ziehen, die Noel schaden. Das will ich nicht.« »Das ist ein Argument, dem ich mich beuge«, sagte Tom Blunt und baute sich mit geballten Fäusten vor Noel auf. »Trotzdem möchte ich jetzt und hier für klare Fronten sorgen. Gestern haben wir es im Guten versucht, schließlich wollen wir uns mit ihm nicht verfeinden.« Er starrte Noel ins Gesicht. »Du solltest endlich aner‐ kennen und begreifen, daß Leona mir gehört!« Er wandte den Kopf. »Das ist doch richtig, Liebling?« Leona war blaß geworden. »Es ist doch alles besprochen«, sagte sie. »Ich werde um Leona kämpfen«, sagte Noel. »Du bist kein Kämpfer«, spottete Tom Blunt. »Du bist ein Musen‐ sohn. Du bist ein Bursche, dem man gern auf die Schultern klopft und mit dem man gern ein Bierchen trinkt, aber du hast kein Steh‐ vermögen, keinen Mumm. In entscheidenden Situationen kneifst du. Ich bin das Gegenteil von dir. Widerstand lockt mich aus der Reser‐ ve. Ich bin im Leben immer und überall die Nummer eins, nicht nur auf der Piste. An mir beißt du dir die Zähne aus, Freundchen.« »Du bist ein alberner Tropf, ein eingebildeter, dummer Sportprofi, ein Mann mit Muskeln, aber ohne Herz«, sagte Noel. Tom Blunt riß den Mund auf. Dann zog er die Faust hoch und schlug wütend zu. Seine Linke landete mitten in Noels Gesicht. Noel stolperte zurück. Vor seinen Augen tanzten helle Punkte. Er spürte den Geschmack von Blut auf seiner Lippe. »Aufhören!« rief Leona. »Diesem Burschen muß ich zeigen, wo seine Grenzen liegen«, 51
schäumte Tom Blunt. »Von dem lasse ich mich nicht beleidigen!« Er griff erneut zu. Diesmal landete seine Linke auf Noels Kinn. Noel ging zu Boden. Grenzenlose Bitterkeit wallte in ihm auf. Er war noch niemals in seinem Leben auf diese Weise gedemütigt worden. Und Leona, die er liebte, hielt zu seinem Gegner! Noel kam auf die Beine. Leona versuchte Tom Blunt abzudrängen, aber der Rennfahrer ließ sich nicht beruhigen, er wollte sein Müt‐ chen kühlen und zeigen, wer der Stärkere war und wer Leonas Lie‐ be und Achtung verdiente. Noel holte tief Luft. Er fühlte sich stark benommen. Er spürte, wie etwas in ihm wuchs, das ihn erschreckte. Es war eine Mischung aus Haß und kaltem Zorn, die unbedingt ein Ventil brauchte. »Na los, komm schon, du Schwächling!« höhnte Tom Blunt mit erhobenen Fäusten. Noel war auf der Hochschule ein Mitglied der Boxstaffel gewesen. Er hatte sich an einigen Meisterschaften beteiligt, ohne jemals in die Endrunden vorgedrungen zu sein. Obwohl das lange zurücklag, hielt er sich zugute, einiges vom Boxen zu verstehen. Zum ersten Male in seinem Leben fühlte er sich vor einem Kampf wirklich mo‐ tiviert. Er biß die Zähne zusammen, nahm die Fäuste hoch und mar‐ schierte auf den Gegner los. Tom Blunt lachte. Er versuchte den Gegner leerlaufen zu lassen, aber das ging daneben. Noel traf. Seine Schläge kamen ohne er‐ kennbaren Ansatz, sie waren hart und genau. Tom Blunt lachte nicht mehr. Es verblüffte und überraschte ihn, daß Noel so konzent‐ riert fighten konnte. Noel war erst im Kommen. Er kämpfte sich warm, er erwies sich als guter Techniker und sammelte fleißig Punkte. Tom Blunt setzte alles auf eine Karte. Er versuchte einen entschlossenen Ausfall. Es war, als liefe er in ein offenes Messer. Noel nutzte die Blöße in der Deckung seines Gegners, er traf fast nach Belieben. Zum krönenden Abschluß setzte er Blunt die Rechte auf den Punkt. 52
Tom Blunt fiel um. Er blieb liegen, nur zwei Sekunden lang, dann versuchte er sich hochzustemmen, aber er sackte wieder in sich zu‐ sammen, er war knockout. * Leona kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie hatte nicht geahnt, wozu Noel fähig war. Bislang hatte sie ihn für den Inbegriff des höf‐ lichen Akademikers gehalten, für einen Gentleman alter Schule. »Wie konntest du das nur tun!« stammelte sie. »Ihr benehmt euch wie Schulbuben. Ich kann nur hoffen, daß euch niemand beobachtet hat.« »Das ist für deinen Freund sehr zu wünschen«, spottete Noel, der sich eine kleine Bosheit nicht verkneifen konnte. »Das Bild eines gefallenen Weltmeisters wäre seiner Publicity kaum zuträglich.« »Du bist scheußlich!« »Diese Bemerkung war überflüssig«, gab Noel zu. »Aber zu dem, was ich vorhin sagte, stehe ich. Ich werde um dich kämpfen!« Leona ließ sich neben Tom Blunt auf die Knie nieder. »Wir sehen uns beim Essen«, sagte Noel und ging. * Maurice schrak zusammen, als sich die Tür seines Zimmers öffne‐ te. Corinna trat über die Schwelle. Die Augen des Butlers erhielten einen seltsamen Glanz. Er war damit beschäftigt, ein Gewehr zu reinigen. In der Luft hing der Ge‐ ruch des Öls, das er dabei verwendete. »Habe ich die Klingel nicht gehört?« fragte er. »Ich habe nicht geklingelt«, sagte Corinna, schloß die Tür hinter sich und durchquerte den Raum. Sie blieb am Tisch stehen und griff nach dem Zielfernrohr, das dort lag. Sie blickte hindurch. »Wieviel hat meine Stiefmutter Ihnen für den Mordanschlag bezahlt?« fragte 53
sie. Maurice schluckte. »Pardon, gnädiges Fräulein, aber Sie erwarten hoffentlich nicht, daß ich diese provozierende Frage ernst nehme.« »Das wäre schade«, meinte Corinna. »Ziehen Sie es vor, von der Polizei befragt zu werden?« Auf der Stirn des Butlers bildete sich ein Netz winziger Schweiß‐ perlen. »Ich habe vielen Herren gedient«, sagte er und kämpfte spürbar um passende Worte. »Ich durfte einige auf die Jagd beglei‐ ten und habe dabei selbst meine Liebe zum edlen Waidwerk entwi‐ ckelt. Das erklärt meine heimliche Waffenleidenschaft. Das Gewehr gehört mir. Es ist einfach ungehörig, daß Sie mir seinetwegen un‐ terstellen, es gegen Sie erhoben zu haben.« »Wer sonst sollte denn wohl auf mich geschossen haben, wenn nicht Sie?« Maurice legte das Gewehr aus der Hand, griff nach einem saube‐ ren Lappen und säuberte sich damit die Hände. »Sie erlauben sich recht grausame Scherze mit mir«, klagte er. »Haben Sie für die Tatzeit ein Alibi?« »Für welche Tatzeit?« »Sie wissen genau, wovon ich spreche. Wo waren Sie, als ich auf dem Teich ruderte?« »Hier im Haus!« »Wer hat Sie gesehen?« »Niemand! Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein! Sie wissen genau, daß Mrs. Brenton zu diesem Ausflug aufgebrochen war und schon des‐ halb nicht bestätigt haben könnte, daß ich hier war«, sagte er. »Eben. Meine Stiefmutter brauchte ein Alibi. Was nun Sie betraf, ging sie davon aus, daß niemand den Butler verdächtigen würde.« Corinna lachte bitter. »Das ist wie in einem Krimi. Der Butler mag verdächtig erscheinen, aber er ist allemal unschuldig.« »Warum sollte ein Mann wie ich ein Familienmitglied zu töten versuchen?« »Meine Stiefmutter verfügte über viel Geld, sie war reich. Aber 54
vielleicht hat sie Sie auch auf andere Weise geködert, mit ihrem hübschen, knusprigen Körper. War es so, Maurice?« flüsterte Corin‐ na. Der Butler schluckte. Er legte den Lappen aus der Hand. »Es ist unter meiner Würde, darauf zu antworten.« »Oh nein, so einfach mache ich es Ihnen nicht«, meinte Corinna. »Ich habe Ihre Gummistiefel aus dem Schrank geholt, als Sie im Hause zu tun hatten. An Sohlen und Absätzen fand ich Spuren des Nadelwaldbodens, den der Schütze betreten haben muß.« »Ich bestreite nicht, daß ich mit den Stiefeln in dem Wäldchen am Teich gewesen bin, aber nicht zum fraglichen Zeitpunkt«, verteidig‐ te sich Maurice. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« »Das will ich Ihnen sagen, Maurice. Ich bin rachsüchtig. Ich erlau‐ be es keinem, mich aufs Korn zu nehmen. Ich ziehe ihn dafür zur Rechenschaft.« Maurice wischte sich mit der Hand über die Stirn, er verzog plötz‐ lich die Lippen. »Setzen wir einmal den Fall, daß ich auf Sie ge‐ schossen habe – im Auftrag Ihrer Stiefmutter«, sagte er lauernd. »Was würden Sie in diesem Fall unternehmen?« »Ich könnte Sie unter Mordanklage stellen lassen«, meinte Corin‐ na, »aber ich würde es vorziehen, darauf zu verzichten und statt dessen ein gehorsames, ergebenes Werkzeug aus Ihnen zu machen.« »Was soll das heißen?« »Sie werden für mich da sein, wenn ich Sie brauche.« Maurice starrte dem Mädchen in die Augen, dann sagte er schweratmend. »Nein, das werde ich nicht. Es ist richtig, ich sollte Sie im Auftrag Ihrer Stiefmutter töten. Ich habe jedoch bewußt da‐ nebengezielt. Mit den Schüssen wollte ich Mrs. Brenton demonstrie‐ ren, daß ich mich bemüht habe, ihren Auftrag zu erfüllen. Es lag jedoch niemals in meiner Absicht, Sie zu töten. Ich bin kein Killer.« »Das soll ich Ihnen glauben?« »Es ist die Wahrheit.« »Juristisch gesehen bleibt es ein Mordversuch!« 55
»Ich weiß. Aber ich weiß auch, daß Sie moralisch nicht legitimiert sind, mir solche Vorwürfe zu machen. Sie haben den Tod Ihrer Stiefmutter verschuldet. Sie waren es auch, die den Mann in Schwarz auf sie hetzte. Mir ist bekannt, daß er sich hier im Schloß aufhält.« »Sie wissen gar nichts!« stieß Corinna hervor. »Wollen Sie es darauf ankommen lassen?« fragte Maurice. Corinna zögerte, dann machte sie auf den Absätzen kehrt und ver‐ ließ das Zimmer. * Noel zog sich früh am Abend zurück, nachdem er vorher von Co‐ rinna erfahren hatte, daß Mr. Brenton am nächsten Tag eintreffen würde. Noel hoffte, daß drei genossene Cognacs ihm helfen würden, gut und tief zu schlafen. Er erwachte mitten in der Nacht von einem Geräusch. Es kam von der Tür her. »Wer ist da?« fragte er. Ein Knacken ertönte. Die Deckenlampe flammte auf. Im Rahmen der offene Tür stand Leona. Sie ließ ihre Hand vom Lichtschalter gleiten und lächelte scheu. Sie war mit einem blaurot‐karierten Morgenmantel bekleidet. Noel blickte auf seine Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. »Ich kann nicht schlafen«, sagte Leona, schloß die Tür hinter sich und durch‐ querte den Raum. Sie bewegte sich nur langsam, wie zögernd, und machte keinen Hehl aus der Scheu, die sie plötzlich empfand. Noel rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er lächelte Leona ermun‐ ternd ins Gesicht und klopfte einladend auf den Rand seines Bettes. »Setz dich«, bat er. »Ich bin froh, daß du gekommen bist.« »Es ist besser, wenn ich dir nicht zu nahe komme«, meinte Leona und zog sich einen Stuhl heran. Sie setzte sich, schaute sich wie su‐ 56
chend um und fragte: »Kann ich eine Zigarette haben, bitte?« »In der Reisetasche sind welche«, sagte Noel und wollte sich erhe‐ ben, aber die aufspringende Leona stoppte ihn und meinte: »Ich erledige das schon.« Noel folgte ihr mit den Blicken. »Weiß Tom, daß du hier bist?« fragte er. »Nein«, erwiderte Leona. Sie setzte sich und zündete die Zigarette an. Noel schwieg. Er spürte, wie erregt Leona war und vermied es, sie zu bedrängen. Sie würde schon allein auf das zu sprechen kommen, was sie bewegte. Leona inhalierte tief, sie wurde langsam ruhiger, sie blickte Noel in die Augen und meinte: »Bei dir fühle ich mich so geborgen.« »Danke«, sagte Noel. »Ich kann nicht vergessen, was im Garten passiert ist«, meinte Leona. »Tom hat dich eindeutig provoziert. Er hat bekommen, was er verdiente.« »Ich freue mich, daß du es so siehst.« »Ich habe mich in ihn verliebt, es ist wie ein Sturmwind über mich gekommen – aber seit heute nachmittag frage ich mich, ob es am Ende nicht bloß Verliebtsein ist«, meinte Leona stockend. »Das mußt du selbst entscheiden.« »Ich habe Angst, Noel.« »Angst vor dir selbst?« »Das auch. Aber da ist noch etwas. Etwas, was ich nicht beschrei‐ ben kann…« Noel spürte, wie sein Herz rascher zu schlagen begann. Er wurde ein Opfer wachsender Furcht und litt plötzlich unter Atemnot. »Was ist es?« fragte er. »Einfach Angst. Es hat nichts mit dir oder Tom zu tun. Es ist, als würde mich diese Umgebung bedrücken, als wolle sie mich um‐ bringen…« »Bleibe bei mir«, bat er sie. »Ich werde dich beschützen.« 57
»Es geht nicht. Vielleicht wird alles wieder so, wie es einmal war, aber ich kann jetzt nicht zu dir kommen. Es wäre grotesk. Erst bitte ich dich um die Scheidung, und dann krieche ich zu dir ins Bett…« »Komm«, sagte er. Leona erhob sich, sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich muß mich entscheiden. Ich liebe dich noch immer, Noel. Vielleicht habe ich niemals einen anderen geliebt. Morgen werde ich es genau wissen. Gib mir solange Zeit – bitte!« Sie trat an sein Bett, sie küßte ihn. Als sie sich von ihm löste, standen Tränen in ihren großen, schö‐ nen Augen. Noel beobachtete, wie sie hinausging. Ehe sie das Zim‐ mer verließ, löschte sie das Licht. Noel legte sich zurück. Er versuch‐ te wieder einzuschlafen, aber es ging nicht. Schließlich verfiel er doch in einen gewissen Halbschlummer. Ein Schrei schreckte ihn daraus empor. Noel setzte sich im Bett auf und starrte ins Dunkel. Sein Puls jagte, er schwitzte. Noel stand auf und zog sich an. Er fühlte, daß etwas Schreckliches geschehen war und mußte an den letzten Schrei denken, der durch die alten Mauern zu ihm gedrungen war. Ihn überlief ein Schauer. Er trat auf den Korridor, knipste dort das Licht an und lauschte. Außer dem Ticken der Uhren war nichts zu hören. Du hast geträumt, alter Junge, redete er sich ein. Du bist ein Opfer wirrer Träume geworden. Deine überhitzte Phantasie spielt dir ei‐ nen Streich. Er schaffte es nicht, sich zu beruhigen. Seine quälende Angst blieb. Er suchte die Halle auf, dann begab er sich in den Keller. Es wider‐ strebte ihm, die ausgetretenen Steinstufen hinabzusteigen, aber er handelte wie unter einem Zwang, er mußte sich einfach in die Gruft begeben und nach dem Rechten sehen. Er erreichte die eisenbeschlagene Tür, stieß sie auf und verzog das Gesicht, als er den süßlichen Geruch wahrnahm. War es wirklich Hasch, wie Leona und Tom Blunt behauptet hat‐ 58
ten, und wenn ja, wie erklärte sich der Geruch in diesem Haus und an diesem Ort? Wer von den Bewohnern war süchtig? Er fand keine Antwort auf diese Frage, tastete nach dem Licht‐ schalter und betätigte ihn. Er machte ein paar Schritte vorwärts und schaute sich zögernd um. Die Grabesstille in dem alten Gewölbe bedrückte ihn, die Särge und Nischen wirkten auf ihn wie stumme, vorwurfsvolle Mahner. Was wollte er hier, was hatte er zu finden erwartet? Die schwere Steinplatte, die Alice Brenton zum Verhängnis ge‐ worden war, lehnte neben dem offenen Sarg der jung verstorbenen Eleonora Sutton. Noel stieg die Plattform hinab, er näherte sich dem offenen Sarg. Auch jetzt handelte er wie unter einem Zwang, er mußte einfach an den Sarg treten und hineinblicken. Als er es tat, hatte er plötzlich das Gefühl, daß die Welt stehenblieb. In dem Sarkophag lag Leona. * Noel flüsterte ihren Namen. Er wiederholte ihn und spürte, wie er zu zittern begann. Leona antwortete nicht. Sie konnte nicht antworten. Sie war tot. »Leona!« schrie er. »Leona!« Der Schrei weckte in dem alten Gewölbe ein dutzendfaches, hal‐ lendes Echo. Aus allen Winkeln und Ecken wurde der Name zu‐ rückgerufen. Leona, Leona, Leona, Leona… Noel brach zusammen. Eine Ohnmacht bewahrte ihn davor, den Verstand zu verlieren. Er kam wieder zu sich, als ein scharfer Schmerz seine Rippenpartie 59
durchzuckte. Noel hob die Lider. Neben ihm stand Tom Blunt, mit verzerrtem Gesicht, halb wahnsinnig vor Wut und Erregung. »Du Schwein!« keuchte Tom Blunt und rammte erneut die Spitze seines Schuhs in Noels Rippen. »Du hast sie umgebracht! Du woll‐ test nicht, daß sie meine Frau wird. Da hast du sie getötet…« Noels Erinnerung setzte ein. Er kam auf die Beine und schlug sei‐ nem Widersacher ins Gesicht. »Ich habe sie geliebt. Und sie liebte mich. Ich hätte ihr kein Haar krümmen können. Niemals!« Sein Zorn fiel in sich zusammen. Dies war kein Ort, um Zwistig‐ keiten auszutragen. Ein Schluchzen zerrte an Noels Kehle, er wehrte sich dagegen, aber er schaffte es nicht, dem Impuls zu widerstehen. Er wandte sich ab und begann zu weinen. »Jetzt bereust du, was du getan hast!« stieß Tom Blunt hervor. »Ich werde dafür sorgen, daß du deine verdiente Strafe bekommst, ich will, daß du im Gefängnis verreckst!« Tom Blunt machte kehrt und stürmte hinaus. Noel beugte sich über Leona, seine Tränen versiegten. »Ich liebe dich«, flüsterte er. Die Schwäche in seinen Knien war beängstigend. Er drohte das Opfer eines alles überschwemmenden Selbstmitleids zu werden und stemmte sich gegen diese Entwicklung. Selbstmitleid war schäbig. Und wenn der alte Bartok recht hatte, würde es für Leona ein neues Leben geben. Ein Leben, das exakt fünfundzwanzig Jahre währte… Mit ihm? Oder ohne ihn? Es war egal. Alles war geordnet, nichts konnte den ewigen Kreis‐ lauf aufhalten. Er schloß die Augen. Fing er an, durchzudrehen? Er hob die Lider. Leona war tot. Er berührte sie. Noch hatte die Leichenstarre nicht eingesetzt, ihre Haut war kühl und glatt, es schien, als ob Leona nur schliefe. Noel nahm sich nicht die Mühe, nach ihrem Puls zu suchen. Er wußte, daß es keinen mehr gab. Äußere Verletzungen waren nicht zu erkennen, aber bei genauem 60
Hinsehen erschien es ihm so, als säße Leonas Kopf anders als sonst auf ihren Schultern. Sie trug ihren Hausmantel. Ihre Füße waren nackt. Was war aus den Sandalen geworden, die sie, wie er sich erinner‐ te, bei ihrem Besuch in seinem Zimmer getragen hatte? Er löste sich von dem Sarg und verließ den Raum. Er nahm sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Es war klar, daß schon bald der alte Bartok und die Polizei die Schwelle zur Gruft überschreiten würden. Noel begab sich in die Halle. Er war wie betäubt. Corinna kam ihm entgegen. Sie trug ihre Jeans und das T‐Shirt und zitterte vor Erregung am ganzen Körper. »Tom Blunt hat mich geweckt. Ist es wahr, was er sagt? Haben Sie Ihre Frau umgebracht?« »Dieser verdammte Idiot!« sagte Noel. Es klang eher müde als aufgebracht. Nach Leonas spektakulärem Ende schien es Noel fast so, als würde er niemals wieder fähig sein, sich über etwas aufzuregen. Sein Leben war sinnlos geworden. Sie gingen in den großen Salon. Tom Blunt saß am Telefon und legte den Hörer auf die Gabel. Er drehte sich um. »Ich habe die Poli‐ zei verständigt«, sagte er. »Was ist mit dem Arzt?« fragte Noel. »Mit Mördern spreche ich nicht«, knurrte Blunt und starrte an Noel vorbei ins Leere. »Aber seine Frage ist berechtigt. Haben Sie mit Bartok telefoniert?« wollte Corinna wissen. »Leona ist tot. Ich habe es gesehen. Ihr kann kein Arzt mehr hel‐ fen«, murmelte Tom Blunt. Noel griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer des al‐ ten Bartok. Der Arzt meldete sich sofort. Es hatte den Anschein, als habe er neben dem Telefon gesessen und auf den Anruf gewartet. »Es ist passiert«, sagte Noel nur mit leiser, dumpfer Stimme. »Ich komme«, meinte Bartok und legte auf. Tom Blunts Augen weiteten sich. Er wechselte einen erstaunten 61
Blick mit dem Mädchen. Es war zu er kennen, daß weder Tom Blunt noch Corinna Brenton eine Erklärung für die Kürze und den Inhalt des Dialogs fanden. Noel dachte nicht daran, sich mit Erläuterungen aufzuhalten. Er fragte das Mädchen statt dessen: »Haschen Sie?« »Gibt es in diesem Haus Haschzigaretten? Kennen Sie Leute, die dem Gras verfallen sind?« »Wie bitte?« »Rauchen Sie Haschzigaretten?« »Lieber Himmel, nein! Ich habe es ein einziges Mal versucht, vor längerer Zeit – seitdem habe ich das Zeug nicht mehr berührt.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Corinna, deren Wangen sich kaum merklich gerötet hatten. Tom Blunt schaltete sich ein. »Leona und ich haben so etwas Ähn‐ liches gerochen«, räumte er widerwillig ein. »Ich halte das für ausgeschlossen, für ganz unmöglich«, meinte Corinna. »Maurice raucht überhaupt nicht! Mein Gott, worüber re‐ den wir bloß? Das ist doch grotesk! Ich bin völlig fertig. Erst meine Stiefmutter, und nun das…« Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. Ihr Zittern nahm zu. Tom Blunt erhob sich, er machte ein paar Schritte auf das Mädchen zu, er schien sie trösten zu wollen, aber dann zuckte er mit den Schultern und verließ den Raum. Corinna ließ die Hände sinken. »Ich wünschte, ich wäre tot«, flüs‐ terte sie. Noel setzte sich. Er hatte weder die Kraft noch den Wunsch, sich um das Mädchen zu kümmern. Nicht in diesem Augenblick jeden‐ falls. Er war mit sich selbst beschäftigt. Seine Gedanken kreisten um Leonas Tod. Was war geschehen? Welche Mächte hatten es so eingerichtet, daß Leona in einem Sar‐ kophag verschieden war, der, wenn man dem alten Bartok glauben wollte, schon einmal ihr früheres Ende bestimmt hatte? Du bist jetzt Witwer, schoß es ihm durch den Kopf. Du bist allein. Du wirst niemals wieder lachen können. Niemals! Ohne Leona hat 62
das Leben für dich seinen Sinn verloren. Er wußte nicht, wie lange er schweigend vor sich hingebrütet hat‐ te. Die sich öffnende Tür schreckte ihn aus seinen Gedanken. Cons‐ tabler Hill und sein farblos wirkender Sohn betraten den Raum. Hinter ihnen tauchte das grimmige Gesicht von Tom Blunt auf. »Er war es«, sagte Tom Blunt und wies anklagend auf Noel. »Ich kann es beweisen!« * Der Constabler und sein Sohn blieben mitten im Raum stehen. Der Alte verbeugte sich ungeschickt vor Corinna, dann blickte er Noel an, beinahe strafend. »Was sagen Sie dazu?« Noel hob das Kinn. »Blunts Anschuldigung ist so verrückt und ab‐ surd, daß ich mich weigere, sie ernst zu nehmen«, erwiderte er. »Ich habe nichts mit Leonas Tod zu schaffen.« »Er hat sie mir nicht gegönnt«, stieß Tom Blunt hervor. »Weil sie sich von ihm trennen wollte, hat er sie getötet!« Noel spürte, daß die beiden Hills seine Verteidigung erwarteten, aber er konnte im Augenblick nichts sagen, er war zu niederge‐ schlagen, außerdem widerstrebte es ihm, auf eine so alberne Ankla‐ ge zu antworten. »Da haben Sie es, er weiß darauf nichts zu erwidern!« rief Tom Blunt aus. »Ich glaube nicht, daß Mr. Crawford den Tod seiner Frau ver‐ schuldete«, sagte Corinna. Noel war überrascht. Er hatte mit keinem Beistand von seiten des Mädchens gerechnet. »Aber ich weiß, daß Leona bei ihm war«, erregte sich Tom Blunt. »Ich wollte zu ihr und sah gerade noch, wie sie um die Ecke des Korridors bog. Ich folgte ihr und entdeckte, wie sie Mr. Crawfords Zimmer betrat. Ich war geschockt, ich verstand die Welt nicht mehr – bis mir dämmerte, daß es für ihren nächtlichen Besuch nur einen 63
Grund gegeben haben kann. Sie wollte ihren Mann unter vier Au‐ gen bitten, doch endlich in die Trennung einzuwilligen.« »Haben Sie Leona Crawfords Rückkehr abgewartet?« wollte der junge Hill wissen. »Was denken Sie von mir! Ebensogut hätte ich an der Tür lauschen können, nein, das war unter meiner Würde«, erklärte Tom Blunt. »Was haben Sie zu Mr. Blunts Worten zu sagen?« wandte sich der junge Inspektor an Noel. »In gewisser Hinsicht hat er recht. Leona besuchte mich, um eine Klärung zu erreichen. Sie hatte Angst. Es ist anzunehmen, daß sie von Todesahnungen heimgesucht wurde, aber darüber haben wir natürlich nicht gesprochen. Es war keine sehr lange Unterhaltung. Sie gipfelte in der Erkenntnis, daß wir uns immer noch lieben. Lieb‐ ten«, schloß er bitter. Der alte Hill setzte sich. Er nahm den Helm ab und rieb sich die schweißfeuchte Stirn trocken. »Spüren und merken Sie denn nicht, daß der Kerl lügt?« schrie Tom Blunt und gestikulierte mit seinen Fäusten. »Leona liebte nur mich. Als sie ihm die Tatsache einhämmerte, als sie ihm das wieder‐ holte, verlor Crawford den Kopf. Er tötete Leona. Er brachte die Lei‐ che in den Keller, in die Gruft. Dort verließen ihn seine Kräfte. Er verlor das Bewußtsein, als er erkannte, was er angerichtet hatte und was ihn erwartete. So habe ich ihn gefunden.« Der Inspektor räusperte sich. »Das ist Ihre Version, Mr. Blunt.« »Haben Sie eine bessere?« Der Inspektor zuckte mit den Schultern. »Sie klingt plausibel. Zu plausibel«, fügte er hinzu. »Das ist schizophren«, meinte Tom Blunt wütend. »Sie werden zugeben müssen, daß es leicht ist, eine andere Deu‐ tung zu finden«, erklärte der junge Hill. »Wollen Sie sie hören?« »Okay, schießen Sie los, aber glauben Sie ja nicht, daß ich zu über‐ zeugen bin!« »In meiner Version sind Sie der Buhmann«, spottete der Inspektor. 64
»Sie waren eifersüchtig, als Sie entdeckten, daß Leona ihren Mann aufsuchte. Sie warteten, bis Leona zurückkehrte und machten ihr eine Szene. Es kam zu einem heftigen Streit, in deren Verlauf Sie die junge Frau töteten. Sie wußten nicht, wohin mit der Leiche und tru‐ gen sie in die Gruft. Dort wurde sie von Mr. Crawford gefunden. Er wurde ohnmächtig, weil er nicht die Kraft hatte, mit seinem Schock fertigzuwerden. Sie tauchten aus Ihrem Versteck auf und versuchen nun, Mr. Crawford zu belasten.« Tom Blunt schluckte. Sein Gesicht drückte völlige Verständnislo‐ sigkeit aus. »Das ist nicht Ihr Ernst. Sie stellen die Tatsachen auf den Kopf!« Der Inspektor lächelte dünn. »Ich versuche Ihnen nur klarzuma‐ chen, wie leicht es ist, eine scheinbar logische Hypothese zu kons‐ truieren. Aber das hilft uns nicht weiter. Wir brauchen konkrete Beweise. Ja, wenn Sie einen Kampf zwischen Mr. Crawford und seiner Frau beobachtet oder gehört hätten…« »Crawford hatte ein Tatmotiv. Genügt Ihnen das nicht?« fragte Tom Blunt. »Nein – schließlich läßt sich auch Ihnen ein Motiv unterstellen«, meinte der junge Hill. »Da komme ich nicht mehr mit«, murmelte Tom Blunt und setzte sich. Der Inspektor wandte sich an Corinna. »Haben Sie eine Erklärung für das Geschehen?« Corinna starrte ins Leere. Sie schwieg. * Die beiden Hills nahmen zu Protokoll, was die Schloßbewohner ihnen im einzelnen mitzuteilen hatten. Zwischendurch traf Doktor Bartok ein. Er begab sich sofort in die Gruft. Als er zurückkehrte, sagte er müde: »Ein Genickbruch, meine Herren.« 65
»Der Fundort der Leiche ist mit dem Tatort also nicht identisch«, sagte der junge Hill. »Davon können Sie ausgehen«, bestätigte der Alte seufzend. »Mord!« stieß der Konstabler hervor. »Nicht unbedingt«, meinte der Arzt. »Wie meinen Sie das?« fragte der Inspektor konsterniert. Bartok rückte seine Brille zurecht. »Ich habe da eine Theorie, aber ich werde mich hüten, sie preiszugeben«, sagte er. »Ich möchte sie hören«, meinte der Inspektor. »Sie gehört in den okkulten Bereich«, sagte der Arzt. »Ich glaube einfach, daß Leonas Lebensuhr abgelaufen war. Ihr Tod war vor‐ programmiert, mein Freund.« »Das kann schon sein«, sagte der Inspektor mit leiser Schärfe. »Mich interessiert freilich nur, wie er zustande gekommen ist.« »Das«, meinte der Arzt schulterzuckend, »kann ich Ihnen leider nicht sagen.« »Ich bekomme es heraus«, versicherte der junge Hill. »Mein Wort darauf. Ich finde den Mörder und bringe ihn zum Sprechen.« »Wenn Sie erlauben, ziehe ich mich jetzt zurück«, sagte Bartok und ging. Wenig später versiegelte der Constabler die Gruft und verließ mit seinem Sohn das Schloß. Corinna Brenton, Tom Blunt und Noel Crawford gingen schwei‐ gend auseinander. Sie waren müde und erschöpft. Sie hatten einan‐ der nichts zu sagen, jeder sah im anderen einen Gegner. Noel wußte, daß er nicht in der Lage sein würde, zu schlafen. Er unternahm einen nächtlichen Spaziergang. Als ihm kühl wurde, kehrte er nach Farbourgh Mansion zurück. Ihm war zumute, als durchlebte er einen bösen Traum. Leona war tot. Ermordet, wie der junge Inspektor glaubte. Abberufen, wie Doktor Bartok meinte. Noel glaubte zu wissen, daß beide recht hatten, aber das brachte 66
ihn nicht weiter. Er betrat die Halle, blieb darin stehen und fragte sich, was er tun konnte, um Ruhe und Vergessen zu finden. Es zog ihn nach unten, in den Keller. Er hatte den Wunsch, an Leonas Sarg zu wachen, aber die Gruft war versiegelt, er mußte sich etwas anderes einfallen lassen, um die Nacht zu überbrücken. Ihm fiel Corinna ein. Er begab sich zu ihrem Zimmer und klopfte an. Niemand antwor‐ tete. Er klopfte stärker, zuletzt hämmerte er mit der Faust gegen die Zimmertür des Mädchens. Als sich im Innern des Raumes nichts regte, drückte er die Klinke nach unten, öffnete die Tür und trat über die Schwelle. Er knipste das Licht an und entdeckte, daß Corinnas zerwühltes Bett leer war. Noel überzeugte sich davon, daß sich das Mädchen sich nicht in dem angrenzenden Badezimmer befand und schaute verdutzt auf seine Uhr. Es war kurz nach drei. Offenbar war es Corinna ergangen wie ihm. Sie hatte nicht schla‐ fen können und war zu einem Spaziergang aufgebrochen. Noel zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Seine Unruhe wuchs. Ihm dämmerte, daß Corinnas Verschwinden ihm einen Weg wies. Er mußte herausfinden, was es damit für eine Bewandtnis hat‐ te. Oder war sie zu Tom Blunt gegangen? Wollte sie mit ihm spre‐ chen? Noel begab sich vor Tom Blunts Zimmer und preßte sein Ohr ge‐ gen die Türfüllung. Ein starkes Schnarchen verriet ihm, daß Tom Blunts gute Nerven sich auch in einer solchen Situation bewährten. Der Rennfahrer schlief tief und fest. Noel kehrte zurück in sein Zimmer, er legte sich im Dunkeln auf das Bett und zermarterte sich das Hirn, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wer Leona getötet hatte. Er stand wieder auf, trat ans Fenster, öffnete es und lehnte sich weit hinaus. Seine Augen wurden schmal, als er meinte, ein weißes 67
Gewand durch die Nacht geistern zu sehen. Das weiße Gewand wurde deutlicher, es näherte sich dem Schloß und wurde von ihm verschluckt. Noel machte kehrt, hastete aus dem Zimmer und lauschte. Er hörte das Klappern einer Tür, dann war Stille. Er zögerte nur kurz, dann hastete er bis vor Corinnas Zimmer. Er klopfte. »Ja?« ertönte es ängstlich aus dem Innern des Raumes. Noel öffnete die Tür und trat ein. Corinna lag im Bett. Sie hatte sich die Decke bis ans Kinn hochge‐ zogen. »Sie?« staunte das Mädchen. »Ich kann nicht schlafen«, sagte Noel. »Ich auch nicht«, meinte Corinna. »Wo sind Sie gewesen?« »Ich?« »Ja, Sie! Sie waren nicht hier, als ich Sie suchte.« »Was spielt das für eine Rolle?« Er durchquerte den Raum, blieb am Bett stehen und blickte auf das Mädchen hinab. Einem Impuls folgend streckte er die Hand aus. Noch ehe Corinna einen Laut des Protestes zu äußern vermochte, hatte er ihr Haar berührt. Es war feucht. »Sie waren im Freien«, stellte er fest. »Was geht Sie das an?« »Sie haben geweint«, fügte er hinzu. »Ihre Augen sind gerötet.« »Soll ich nicht weinen dürfen? Dieses Haus ist verhext«, sagte das Mädchen. »Sie haben Ihre Stiefmutter nicht geliebt«, meinte Noel zögernd. »Und Leona war für Sie eine Fremde. Warum also die Aufregung? Wenn ich zu zerbrechen drohe, ist das für Sie noch lange kein Grund, sich als ein Opfer des Geschehens zu fühlen.« »Ich möchte jetzt allein sein.« »Was verschweigen Sie mir?« fragte er. 68
»Nichts«, sagte Corinna. Noel blickte ihr lange in die Augen, dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Er verließ das Schloß durch einen Hinterausgang und versuchte herauszufinden, was Corinna dazu gebracht hatte, einen nächtlichen Spaziergang zu unternehmen. Er blieb nach wenigen Schritten stehen. Im Osten graute der Mor‐ gen herauf. Ein Tag, den Leona nicht mehr erleben konnte… Ein Schluchzen saß an seiner Kehle. Er stieß gegen eine steinerne Balustrade und setzte sich darauf. Er hörte Schritte. Sie kamen nä‐ her. Noel wandte den Kopf. Er bemerkte das glühende Ende einer Zigarette. Es wurde rasch größer. Der Raucher bewegte sich auf Farbourgh Mansion zu. Er ging zielstrebig, aber ohne Hast. Die Art, wie er ausschritt, ließ vermuten, daß er noch jung war. Ein Mann voller Elastizität und Spannkraft. Der Raucher schritt an Noel vorbei, ohne zu bemerken, daß die Ba‐ lustrade, die zu einer kleinen Brücke gehörte, besetzt war. Noels Muskeln spannten sich. Er erkannte die Konturen des Vorü‐ bergehenden ganz deutlich und zuckte zusammen, als ein süßlicher, wohlbekannter Duft seine Nase umfächelte. Der Haschraucher! Noel erhob sich. Der Mann blieb abrupt stehen und wandte seinen Kopf. Das Ge‐ sicht des Fremden war nur als blasses Oval erkennbar. »Ist da je‐ mand?« fragte er gedämpft. »Ja«, erwiderte Noel. »Ich bin’s.« Der Mann schnippte die Zigarette weit von sich. Der winzige, rote Feuerball verschwand im Dunkel. Der Mann machte ein paar Handbewegungen, um den süßlichen Duft zu vertreiben. »Wer sind Sie?« murmelte er. »Diese Frage wollte ich gerade an Sie richten«, meinte Noel und 69
nannte seinen Namen. Der Mann gab sich einen Ruck, er ging auf Noel zu. Der spürte die Gefahr, die ihn erwartet. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er hob unwillkürlich beide Fäuste. Der Fremde griff an. Der Schlag seiner Linken zielte auf Noels Gürtellinie. Der Treffer war von brutaler Härte. Noel riß den Mund auf und schnappte nach Luft. Der Mann schlug erneut zu. Noel war gewarnt, er wußte jetzt, daß sein Gegner vor nichts zu‐ rückschreckte. Noel senkte die Deckung und konterte. Er traf sehr hart, ohne daß der Unbekannte irgendwelche Wirkung zeigte. Der Fremde zog die Linke hoch, dann die Rechte. Er kämpfte schweigend, mit brutaler, wütender Verbissenheit. Noel dachte an Leona, er überwand die Schwäche, die der erste Treffer des Mannes in ihm ausgelöst hatte, er fightete mit kalter Wut im Bauch. Noel kam mit einer linken Geraden voll durch. Die Faust krachte auf das Kinn des Mannes. Ein Hieb dieser Art hätte fast jeden Ge‐ gner wie einen Baum gefällt, aber der Fremde blieb auf den Beinen. Die nächsten Schläge des Unbekannten waren fahrig und unkon‐ zentriert. Noel spürte, daß der Mann angeschlagen war und setzte entschlossen nach. Das Ende kam sehr plötzlich. Der Mann fiel nach einem Haken um und blieb liegen. Noel merkte erst jetzt, daß er am ganzen Leibe zitterte. Er holte sein Feuerzeug aus der Tasche, knipste es an, drehte die Flamme hoch und beleuchtete das schmale, gebräunte Gesicht eines etwa Fünfundzwanzigjährigen. Der Mann hatte eine stark gewölbte Stirn, weit auseinanderste‐ hende Augen, eine etwas schiefe Nase, volle Lippen und ein kanti‐ ges Kinn. Das dunkelblonde Haar war stark gekräuselt und zog sich bis an den Kragen. Bekleidet war der junge Mann mit einem Jeans‐ anzug, einem schwarzen Polohemd und bequemen Ledermokassins. Noel fiel auf, daß der junge Mann keine Socken trug. Noel steckte das Feuerzeug ein und wartete, bis sein Gegner wie‐ der zu sich kam. Schon wenige Sekunden nach dem Niederschlag 70
kam er zu sich. Er setzte sich auf, massierte sich das Kinn und be‐ merkte grimmig: »Ihr Bums ist nicht von schlechten Eltern. Wo ha‐ ben Sie das gelernt?« »In der Schule, wo sonst?« erwiderte Noel. »Los, stehen Sie auf, ich habe ein paar Fragen an Sie zu richten.« »Nur immer mit der Ruhe«, sagte der junge Mann. »Ich bin leider etwas wacklig auf den Beinen. Sie haben einen Sonntagstreffer ge‐ landet, mein Freund.« Noel wartete, bis der junge Mann sich erhoben hatte. Noel blieb auf der Hut. Er belauerte sein Gegenüber und ahnte, daß das Ende der Auseinandersetzung noch lange nicht gekommen war. »Wer sind Sie?« fragte Noel. »Tut mir leid, mein Freund – aber darüber möchte ich nicht spre‐ chen.« »Sie werden nicht umhin können, sich vorzustellen«, sagte Noel. Der junge Mann schien zu explodieren. Er verzichtete auf einen Faustschlag und warf sich statt dessen mit eingezogenen Schultern wie ein lebendes Geschoß gegen Noel. Obwohl Noel mit einer wei‐ teren Attacke gerechnet hatte, traf ihn diese Art der Offensive völlig unerwartet. Noel verlor das Gleichgewicht, kippte über die Balust‐ rade und stürzte in einen morastigen Bach. Noel watete fluchend ans Ufer und humpelte mit schmerzverzo‐ genem Gesicht die Böschung hinauf. Er hörte den Unbekannten da‐ vonrennen, und begriff, daß er keine Chance hatte, ihn einzuholen. Klatschnaß schleppte Noel sich zurück ins Schloß. Er suchte sein Zimmer auf, legte die schmutzigen Sachen ab und duschte sich. Wenig später begab er sich zu Bett. Er schlief nach kurzem Grü‐ beln ein. Gegen neun Uhr morgens traf er Corinna beim Frühstück. »Wo ist Mr. Blunt?« erkundigte er sich. »Er schläft noch, nehme ich an«, erwiderte Corinna, die sehr blaß war. Noel setzte sich. Maurice tauchte auf und füllte Noels Kaffeetasse. 71
Noel bedankte sich. Er ließ die ihm gegenüber sitzende Corinna nicht aus den Augen. »Was ist?« wollte das Mädchen wissen und erwiderte seinen Blick. »Ist mit meinem Make‐up etwas nicht in Ordnung?« »Ich habe den Haschraucher gefunden«, sagte Noel. Corinna zuckte kaum merklich zusammen. »Tatsächlich?« fragte sie. »Wer ist es?« »Ein junger Mann«, erwiderte Noel und beschrieb das Aussehen des Fremden. »Gehört er zum Personal?« »Nein.« »Aber Sie kennen ihn?« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Corinna, tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab und schaute auf ihre Uhr. »Ich muß mich beei‐ len. Ich hole Papa vom Flugplatz ab.« »Von welchem?« fragte Noel. »Sheffield. Wie haben Sie geschlafen?« Er spürte, wie verwirrt sie war und welche Mühe sie sich gab, ihre innere Erregung zu kaschieren. »Er ist Ihr Freund, nicht wahr?« fragte Noel. »Wer?« »Der Haschraucher«, sagte Noel ungeduldig. »Er ist Ihr Freund, nehme ich an. Sie haben ihn aus Kanada mitgebracht, wagen es je‐ doch nicht, ihn vorzuzeigen. Wollen Sie mir nicht sagen, wie er heißt?« Corinna starrte Noel in die Augen. Sie kämpfte mit sich. »Ich er‐ kläre es Ihnen«, sagte sie endlich. »Aber nicht jetzt. Ich muß zum Flugplatz.« * Als das Mädchen gegangen war, tauchte Tom Blunt auf. Er setzte sich grußlos an den Frühstückstisch. Der Butler schenkte ihm Kaffee ein. »Ich kümmere mich um frische Spiegeleier«, meinte Maurice 72
und ging hinaus. »Ich habe heute nacht kein Auge schließen können«, grunzte Tom Blunt. »Das habe ich gemerkt«, spottete Noel. Tom Blunt blickte Noel wütend an. »Ich halte dich immer noch für ihren Mörder!« stieß er hervor. Noel erhob sich und verließ das Zimmer. Er trat wenig später ins Freie und erreichte die kleine Brücke im Park, von der er in der Nacht herabgestoßen worden war. Noel nahm sich nicht die Mühe, einen Blick über das Geländer zu werfen, er strebte auf die Wirtschaftsgebäude zu. Er schaute sich kurz um, stattete den Pferdeställen einen Besuch ab, wechselte ein paar Worte mit den Knechten, und strebte dann auf ein flaches, einstöckiges Gebäude zu, das etwas abseits lag und den Eindruck erweckte, als habe es einmal dem Verwalter als Wohnhaus gedient. Seine ge‐ schlossenen Fensterläden und das schadhafte Dach ließen erkennen, daß es seit langem nicht mehr benutzt wurde und auf eine gründli‐ che Sanierung wartete. Die Vielzahl der großen und kleinen Wirtschaftsgebäude bot, wie Noel bewußt wurde, eine Fülle brauchbarer Verstecke, aber sein Gefühl sagte ihm, daß er gut beraten war, wenn er sich dem ehema‐ ligen Wohnhaus zuwandte. Die Doppelflügeltür am oberen Ende der kleinen Freitreppe war verschlossen, dafür ließ sich jedoch die kleine Tür öffnen, die die ehemalige Küche des Gebäudes mit dem Garten verband. Noel betrat die Küche, ging in die Diele, bewegte wie witternd die Nasenflügel und registrierte, daß er fündig geworden war. Der süßliche Duft war unverkennbar. Noel folgte ihm über die Treppe nach oben. Noel bewegte sich auf leisen Sohlen, konnte je‐ doch nicht vermeiden, daß hin und wieder ein schadhaftes oder altersschwaches Dielenbrett knackte oder knarrte. Er erreichte eine Tür, holte tief Luft und stieß die Tür auf. In dem Raum befand sich eine auf dem Boden liegende Matratze, 73
ein Seesack mit Sachen, eine Kiste, die als Tisch diente und auf der einige Flaschen und Dosen standen, sowie eine Waschschüssel mit einem Krug Wasser. Noel trat an den Seesack heran und öffnete ihn. Obenauf lag eine Blechschachtel mit schwarzem, duftendem Tabak. Darunter ent‐ deckte Noel eine Plastiktüte mit Ausweisen. Ein kanadischer Paß zeigte das Foto( des jungen Mannes, mit dem er sich geprügelt hatte. Der junge Mann hieß Mark Chandler und war 26 Jahre alt. Er stammte aus Toronto, Kanada. Noel legte den Paß zurück in den Seesack, schaute sich prüfend um, hob die Matratze an und erstarrte förmlich, als er unter dem primitiven Lager ein Paar Sandalen entdeckte. Noel kannte sie. Sie hatten Leona gehört. Ein Geräusch ließ Noel herumwirbeln. Im Rahmen der Tür stand Mark Chandler. Der junge Mann war mit seinem verwaschenen, hellblauen Jeansanzug und dem schwar‐ zen, am Hals offenstehenden Polohemd bekleidet. Sein kantiges Kinn war unrasiert. In seinen dunklen Augen glitzerte es tückisch. »Ah, Besuch am frühen Morgen«, sagte er halblaut. »Sie sind ein Mann, der Überraschungen liebt.« »Überraschungen, ja«, erwiderte Noel und ballte die Fäuste. »Mörder, nein!« Mark Chandler warf seinen Kopf in den Nacken und lachte laut. Sein Lachen endete so jäh, wie es begonnen hatte. Er starrte Noel ins Gesicht und trat über die Schwelle. »Sie spinnen, mein Freund«, sagte er. »Das trauen Sie mir doch nicht im Ernst zu, oder?« »Wie kommen Leonas Sandalen unter die Matratze?« fragte Noel. »Ich habe sie gefunden. Drüben im Schloß. Ich erfahre erst jetzt, wem sie einmal gehörten.« »Das soll ich Ihnen glauben?« »Mark Chandler ging an Noel vorbei zum Fenster und spähte durch die Holzlamellen der geschlossenen Läden hinüber zum Schloß, dann drehte er sich um, verschränkte seine Arme vor der 74
Brust und lehnte sich gegen die Wand.« »Ja, das sollen Sie mir glauben.« »Sie waren in der Gruft, als Leona in den Sarg gelegt wurde«, sag‐ te Noel. »Wer behauptet das?« »Ich behaupte es. Der Duft Ihrer Zigaretten hat Sie verraten. Ich habe ihn auch bei anderen Gelegenheiten bemerkt und habe gute Gründe, Sie mit den im Schloß verübten Verbrechen in Zusammen‐ hang zu bringen.« »Ja, ich bin hier, weil Farbourgh Mansion zum Zentrum eines gro‐ ßen Verbrechens werden sollte«, erklärte der junge Mann. »Aber ich bin hergekommen, um es zu verhüten – und nicht, um eines zu be‐ gehen.« »Das müssen Sie mir näher erklären.« »Ich liebe Corinna, und sie liebt mich. Ich kam mit den beiden Brentons nach England – mit Corinnas Wissen, aber ohne Wissen ihrer Stiefmutter.« »Alice Brenton war Ihre Feindin?« »Sie hat mich nicht gekannt«, behauptete der junge Mann. »Sie wußte nicht, daß es mich gibt.« »Warum dann das Versteckspiel?« »Das hatte gute Gründe. Alice wollte Corinna aus dem Wege räu‐ men. Töten, um genau zu sein. Ermorden – falls Sie eine weitere Steigerung wünschen.« »Das soll ich Ihnen glauben?« »Als Sie in Farbourgh Mansion eintrafen, hörten Sie einen Schrei. Er wurde von Corinna ausgestoßen. Corinna wurde von der Treppe gestoßen, sie sollte sich das Genick brechen«, sagte Mark Chandler. »Warum hat Corinna nicht darüber gesprochen?« »Mit wem denn wohl, etwa mit Ihnen?« fragte Chandler und schüttelte den Kopf. »Sie sind ein Fremder für Corinna. Alice Bren‐ ton hat Sie ins Haus gerufen. Corinna mußte befürchten, daß Sie Alice Brentons Marionette sind. Corinna sah das aus gutem Grund 75
so. Ihre Stiefmutter hat wiederholt versucht, Corinna auszuschalten. Mit groben und mit subtilen Mitteln. Deshalb ersuchte mich Corin‐ na, ihr nach England zu folgen. Ich hatte den Auftrag, in Corinnas Nähe zu bleiben. Ich sollte sie notfalls verteidigen. Nur aus diesem Grund hielt ich mich nachts oft im Schloß auf – und nur deshalb konnten Sie einige Male den Geruch meiner selbstgedrehten Ziga‐ retten wahrnehmen.« »Welchen Grund hätte Alice Brenton haben sollen, Corinna zu tö‐ ten?« »Denken Sie einmal nach! Alice Brenton wollte die zu erwartende Erbschaft nicht mit dem Mädchen teilen. Die Alte wollte allein ab‐ kassieren. Was Corinna und ich auf die Beine gestellt haben, war reine Notwehr.« »Ist Howard Brenton krank?« »Nein, aber alt und verbraucht«, erwiderte Mark Chandler. »In ei‐ nigen, vielleicht schon in wenigen Jahren wird er die Augen schlie‐ ßen. Alice Brenton wollte zu diesem Zeitpunkt die Alleinerbin sein.« Noel fiel ein, was er beobachtet hatte, als er versehentlich in Co‐ rinnas Zimmer geplatzt war. Das Mädchen hatte ein paar Hautabschürfungen und blaue Flecke mit Heftpflaster behandelt. Es schien also zuzutreffen, daß sie von der Treppe gestoßen war. »Stand der Butler auf Alice Brentons Seite?« fragte Noel. »Ja.« »Wer hat Alice Brenton getötet? Waren Sie es? Sie sind ein kräfti‐ ger Mann. Ein Mann mit starken Armen. Einer, dem es keine Mühe gemacht haben dürfte, den schweren Sargdeckel anzuheben und…« »Hören Sie auf mit diesem Unsinn!« fiel Chandler Noel ins Wort. Seine Stimme klang scharf. »Ich bin kein Mörder. Ich bin nach Far‐ bourgh Mansion gekommen, um einen Mord zu verhindern! Sie wissen, welchen okkulten Spleen Alice Brenton hatte. Sie ist ein Op‐ fer dieses Spleens geworden.« »Die Polizei sieht das anders.« 76
»Kann sie es auch beweisen?« »Wenden wir uns Leona zu. Sie wurde getötet. Das unterliegt kei‐ nem Zweifel.« »Wollen Sie mir den Mord anhängen, nur weil die Sandalen Ihrer Frau in meinem Zimmer liegen? Das ist absurd! Ich kannte Ihre Frau nicht. Ich hatte keinen Grund, ihr etwas anzutun.« »Wir sprechen noch darüber«, sagte Noel und begab sich zur Tür. Chandler stieß sich von der Wand ab, holte Noel ein und trat ihm in den Weg. »Moment noch, mein Freund«, sagte er. »Ich möchte Ihnen ein kleines Versprechen abnehmen.« Noel schwieg. Chandler grinste matt. »Der alte Brenton wird heute in Farbourgh Mansion erwartet. Ein Mann, der mich nicht kennt und der, würde Corinna mich ihm vorstellen, gewiß nicht bereit wäre, mich zu akzeptieren. Ich will keinen Stunk haben. Ich möchte weder Corinna kompromittieren, noch habe ich Lust, meinen Na‐ men im Polizeibericht zu lesen. Ich ersuche Sie deshalb, den Mund zu halten, ich bin nicht hier, betrachten Sie mich als ein Tabu. Ein‐ verstanden?« »Nein«, sagte Noel. »Das ist sehr schade«, meinte Chandler. Er trat nicht zur Seite. Noel versuchte an dem jungen Mann vorbeizugehen. Chandlers Arm zuckte hoch, er packte Noel mit hartem Griff am Hemdkragen. Noel stieß den jungen Mann zurück. Im nächsten Moment war eine heftige, verbissene Schlägerei im Gange. Noel war wütend. Er haßte es, sich auf diese Weise zu prügeln, aber ihm blieb keine Wahl, er mußte sich der Herausforderung stel‐ len. Er war bemüht, zu einem raschen Erfolg zu kommen, seine Schläge kamen hart und präzise. Chandler war ein mehr als unbequemer Gegner. Er wußte genau, worum es für ihn ging und wie wichtig es war, den Kampf zu ge‐ winnen. Trotzdem stoppte er ihn so plötzlich, wie er ihn begonnen hatte. »Okay«, sagte er schweratmend. »Dann tun Sie mir wenigstens ei‐ 77
nen Gefallen. Warten Sie auf Corinna. Sprechen Sie mit ihr. Ent‐ scheiden Sie erst dann, wie Sie sich verhalten werden.« Noel überlegte. »Meinetwegen«, sagte er nach kurzer Pause. »Ich warte, bis Corin‐ na zurückkehrt.« * Noel ging zurück zum Schloß. Vor dem Hauptportal standen zwei Polizeifahrzeuge. Einige Beamten, unter ihnen auch Constabler Hill und sein Sohn, sprachen mit dem Butler. Noel begrüßte die Herren und wunderte sich, daß sie keine Fragen an ihn richteten. Er bedauerte, Chandler eine Schonfrist eingeräumt zu haben und brannte darauf, mit Corinna Brenton zu sprechen, aber es war nicht anzunehmen, daß sie vor Einbruch des Abends aus Sheffield zu‐ rückkehren würde. »Was gibt es Neues?« wandte Noel sich an den jungen Hill. »Es handelt sich eindeutig um zwei Morde«, erklärte der Inspek‐ tor. »Auch im Falle Brenton?« »Ja, auch im Falle Brenton«, bestätigte Hill. »Es ist mehr als zwei‐ felhaft, ob die Frau die Kraft hatte, den Deckel des Sarkophags an‐ zuheben. Hinzu kommen rein physikalische Überlegungen. Das Falltempo des Deckels war zwangsläufig größer als das der Frau. Vieles spricht dafür, daß Alice Brenton vorher erschlagen wurde, und daß der Täter den Steindeckel nur deshalb auf ihren Kopf warf, um den Mord vertuschen zu können.« »Stehe ich noch unter Mordverdacht?« »Natürlich«, sagte der Inspektor ohne Zögern. »Sie und Tom Blunt. Das bedeutet keineswegs, daß Sie mit einem Haftbefehl rech‐ nen müssen. Die Tatmotivation steht auf schwachen Füßen.« »Vergessen Sie den Butler nicht«, spottete Noel sarkastisch. »Er ist ein großer und kräftiger Mann – auch er könnte die Verbrechen be‐ 78
gangen haben.« »Ich weiß«, sagte Hill ernst. »Sie verstehen keinen Spaß«, meinte Noel. »Ist Ihnen danach zumute?« »Eigentlich nicht«, gab Noel zu. »Was geschieht mit dem Leich‐ nam meiner Frau?« »Wir warten auf den Wagen. Ihre Frau wird zunächst ins ge‐ richtsmedizinische Institut gebracht.« Noel begab sich ins Schloß. Als er den grünen Salon passierte, klingelte das Telefon. Noel nahm den Hörer ab und meldete sich. »Polizeistation Creston«, tönte ihm eine männliche Stimme entge‐ gen. »Ich muß Ihnen eine betrübliche Mitteilung machen, Sir. Miß Brenton ist mit ihrem Wagen verunglückt. Wir haben sie im Privat‐ hospital von Dr. Cullers untergebracht.« Noel legte auf und bereute im nächsten Moment, nicht gefragt zu haben, wie ernst Corinnas Verletzungen waren. Er eilte aus dem Haus, setzte sich in seinen Wagen und winkte den jungen Hill he‐ ran, der gerade um die Ecke bog. »Wie weit ist es von hier nach Creston?« erkundigte sich Noel. »Etwa zwanzig Meilen. Warum fragen Sie?« »Corinna Brenton hatte einen Autounfall, sie war unterwegs, um ihren Vater vom Flugplatz abzuholen«, erklärte Noel und fuhr los. Er erreichte das kleine, sehr romantisch gelegene Privatkranken‐ haus nach vierzigminütiger Fahrt. Dr. Cullers war ein hochgewach‐ sener, vollbärtiger Arzt mit randloser Brille und angenehmen Ma‐ nieren. »Das Ganze ist glimpflich abgelaufen«, sagte der Arzt. »Ein paar Quetschungen, eine angebrochene Rippe, ein leichter Schock. Wäre nicht der Schock, könnten wir die junge Dame nach ambulan‐ ter Behandlung entlassen, aber so, wie die Dinge nun mal liegen, empfehle ich ein paar Tage Bettruhe.« »Kann ich sie sprechen?« »Ich habe keine Einwände, darf Sie jedoch ersuchen, die junge Dame nicht erregen zu wollen.« 79
Kurz darauf betrat Noel Corinnas Krankenzimmer. Corinna lä‐ chelte ihm matt entgegen. Noel zog sich einen Stuhl heran, setzte sich an das Bett und fragte: »Wie konnte das bloß geschehen?« »Ich kann es nicht erklären«, erwiderte Corinna. »Plötzlich ließ der Wagen sich nicht mehr lenken. Um ein Haar wäre ich gegen einen Baum geprallt. Statt dessen landete ich im Straßengraben.« Noel runzelte die Augenbrauen. Er sprach nicht aus, was ihn be‐ schäftigte. War ein Mordanschlag auf Corinna verübt worden, hatte sich jemand an der Lenkung oder an den Bremsen zu schaffen ge‐ macht, und wenn ja, wer hatte diese Ungeheuerlichkeiten verübt? »Ich habe mit Mark Chandler gesprochen«, sagte Noel. Corinna erschrak nicht. Überhaupt hinterließ sie keineswegs den Eindruck, unter Schockwirkung zu stehen. Im Gegenteil. Sie er‐ schien ruhig, gefaßt und ausgeglichen, beinahe glücklich. »Sie haben Mark also entdeckt. Ich konnte und durfte ihn nicht verraten, das war so abgemacht, schließlich hatte ich ihn darum ge‐ beten, mich nach Europa zu begleiten«, sagte Corinna. »Stimmt es, daß Ihre Stiefmutter wiederholt versucht hat, Sie zu töten?« »Ja.« »Haben Sie jemals mit Ihrem Vater darüber gesprochen?« fragte Noel. »Wie denn wohl«, meinte Corinna bitter. »Er hat meine Stiefmut‐ ter geliebt. Er hätte mir keinen Glauben geschenkt. Und seine Frau war klug genug, die Anschläge so zu tarnen, daß sie nicht als ihr Werk erkennbar wurden.« »Jetzt ist sie tot«, sagte Noel. »Mich quält die Frage, ob Mark es getan hat. Und wenn ja, war‐ um? Aus mißverstandener Liebe mir gegenüber? Meinte er, mir damit einen Gefallen erweisen und mich vor weiteren Anschlägen bewahren zu können?« »Würde er Ihnen die Wahrheit sagen, wenn Sie ihn darum ersuch‐ ten?« 80
»Ich glaube schon.« »Und was würden Sie tun, wenn sich herausstellte, daß er ein Mörder ist?« Corinna schwieg. »Ich warte«, sagte Noel. »Quälen Sie mich nicht. Ich möchte allein sein«, meinte das Mädchen und strich mit ihren schlanken Händen unruhig über die Bettdecke. Die Tür öffnete sich. Der Arzt tauchte auf. »Sie sollten unsere Re‐ konvaleszentin jetzt ein wenig Ruhe gönnen«, sagte er zu Noel. Noel erhob sich und ging. Er fuhr zurück nach Farbourgh Mansi‐ on. Inzwischen war es Mittag geworden. »Darf ich das Essen auftra‐ gen?« erkundigte sich der Butler. »Danke, nein. Ich habe keinen Appetit«, erklärte Noel und suchte die Bibliothek auf. Auf dem Wege dorthin, stoppte ihn der Anblick des Porträts von Eleonora Sutton. Noel blieb lange davor stehen. Sein Herz klopfte, seine Augen wurden feucht. Er hatte sich Bartoks Thesen zu eigen gemacht und war überzeugt davon, daß zwischen Eleonora und Leona ein Identitätszusammenhang existierte. Noel begann zu philosophieren. Wenn Leona schon viele Leben hinter sich hatte, war er ebenso häufig Gast auf dieser Welt gewesen – ausgestattet mit den gleichen, äußerlichen Merkmalen wie der, der er im Augenblick war, und gelenkt von einer unsichtbaren Macht, die für einen Gleichlauf von Schicksal und Sterben sorgte. Ihn quälte die Frage, ob er in einem künftigen Leben erneut auf Leona stoßen würde. In der Bibliothek setzte er seine Suche nach Informationen, Hinweisen und Erklärungen fort. Es war klar, daß er sich auf die Zeit beschränkte, in der Eleonora Sutton hier gelebt hat‐ te. Er fand nichts, was seine Neugierde zu stillen vermochte. Gegen Abend fiel ihm ein, daß möglicherweise die alten Kirchen‐ bücher Aufschluß über manches geben mochten, das ihn interessier‐ te, also machte er sich auf den Weg, um mit dem Pastor der kleinen Gemeinde zu sprechen, einem Mann namens John Glendale. Er erfuhr, daß die alten Kirchenbücher aus dem sechzehnten, sieb‐ 81
zehnten und achtzehnten Jahrhundert einem Brand zum Opfer ge‐ fallen seien. »Nur eines wurde gerettet«, erinnerte sich der Pastor. »Es ist stark angesengt. Ich bringe es Ihnen.« Glendale verschwand. Noel hörte den Mann auf dem Speicher des kleinen, nahe der alten Kirche gelegenen Pfarrhauses rumoren. Als er zurückkehrte, trug er ein dickes, ledergebundenes Buch bei sich, dessen Ränder starke Brandspuren aufwiesen, dessen Eintra‐ gungen aber, wie sich zeigte, keinen Schaden genommen hatten. Noel durchblätterte den Wälzer und hielt jäh in seiner Tätigkeit inne, als er auf eine Federzeichnung stieß, die einen Männerkopf zeigte. »Das… das ist frappierend«, sagte Glendale, der hinter Noel stand und sich über dessen Schulter beugte, um die Zeichnung genau be‐ trachten zu können. »Das sind ja Sie, mein Freund!« * Noel antwortete nicht. Sein Blick saugte sich an der Zeichnung fest. Er meinte, sein Spiegelbild zu betrachten. Ja, das war er, das waren seine Augen, seine Stirn, sein spöttischer Ernst… »Ich wette, das war Eleonora Suttons Liebhaber«, sagte er. »Wie er Ihnen ähnelt!« Noel versuchte, die Eintragungen zu entziffern. Es gelang ihm nicht. »Es ist lateinisch«, erkannte er. »Können Sie mir helfen, bitte?« Glendale nahm das Buch an sich, er blätterte vor und zurück, holte seine Brille aus einem Etui, hielt den Wälzer auf Armeslänge von sich und bewegte die Lippen. »Lesen Sie!« rief Noel ungeduldig. »Lesen Sie laut, bitte.« »Es ist Raymond de Lorrant«, murmelte der Pastor. »Er war Besit‐ zer von Farbourgh Mansion – damals hieß es noch Farbourgh Castle und hatte eine andere Form.« Er schwieg, um die nächsten Sätze zu entziffern und lieferte seine Informationen nur bruchstückhaft. 82
»Raymond de Lorrant war verheiratet, er hatte zwei Kinder und starb, als Witwer, im Jahre 1744.« »Mehr ist über ihn nicht in dem Buch enthalten?« fragte Noel ent‐ täuscht. Glendale blätterte vor und zurück. »Ich weiß es nicht. Wenn es Sie interessiert, sehe ich nach. Ich rufe Sie im Schloß an, falls ich etwas finde.« Noel bedankte sich und ging. Er fuhr zurück nach Farbourgh Mansion. Sein Herz klopfte hoch oben im Hals. Hier hast du einmal gelebt, dachte er. Hier hattest du eine Frau und zwei Kinder. Er runzelte die Stirn. Wenn es stimmte, was das alte Buch aussag‐ te, zeigten sich in seiner Theorie einige Risse, dann stand keines‐ wegs fest, daß er Leona in einem späteren Leben wiedertreffen wür‐ de. Es hatte eine Madame de Lorrant gegeben. Sie paßte nicht in das Schema. Es sei denn, sie wäre mit Eleonora Sutton identisch gewe‐ sen, aber dafür gab es keine Hinweise. Immerhin betrachtete er jetzt Farbourgh Mansion mit anderen Augen. Er lauschte auf Gongschläge der Erinnerung, er suchte nach einer blitzartigen Erhellung, aber er wartete vergebens auf ein Wunder. Die Türen seiner Erinnerung blieben fest verschlossen. Noel war zutiefst erregt. Ihm fiel Raymond de Lorrants Sterbedatum ein. Noel begann zu rechnen. Der Schloßbesitzer war 15 Jahre nach Eleonora gestorben. Wenn zwischen den beiden der gleiche Altersunterschied bestanden hatte wie zwischen Leona und ihm, Noel, dann verblieben ihm noch rund zwanzig Lebensjahre. Was würde wohl geschehen, wenn er sein Leben abkürzte? Würde er dann, im nächsten Dasein, erneut auf Leona treffen – oder auf die Frau, die ihm in Farbourgh Castle einmal zwei Kinder geschenkt hatte? Er wischte den Gedanken beiseite. Er war nicht der Typ, der zum 83
Selbstmord neigte, außerdem hatten seine Untersuchungen das Bild vergangener Ereignisse eher verwirrt als geklärt. Die Vergangenheit ließ sich nicht in die Karten blicken. Er betrat die Halle. Maurice kam ihm entgegen. »Wie geht es dem gnädigen Fräulein?« fragte er. »Es ist nichts Schlimmes, nur ein kleiner Schock«, sagte Noel. »Mr. Blunt ist abgereist, Sir.« Noel nickte mechanisch. Blunt spielte in seinen Überlegungen keine Rolle. Noel begab sich in den Keller. Das Siegel war von der alten Eisentür der Gruft entfernt worden. Noel öffnete sie, knipste das Licht an und schaute sich nach dem Sarg des Mannes um, der er einmal gewesen war – Raymond de Lorrant. Er fand ihn nicht. Noel kehrte zurück nach oben. »Telefon für Sie, Sir«, rief der But‐ ler ihm entgegen. Noel eilte in den grünen Salon, griff nach dem Hörer und setzte sich. Pastor Glendale war am Apparat. »Eine wirklich phantastische Geschichte, ein Roman – fast ein Krimi«, eröffnete Glendale das Gespräch. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter!« »Wenn es zutrifft, was ich soeben gelesen habe, dann waren Ray‐ mond de Lorrant und Eleonora Sutton heimliche Eheleute«, sagte der Pastor. »Aber de Lorrant war doch verheiratet, er hatte zwei Kinder!« rief Noel aus. »Die Kinder stammten von Eleonora. Die Ehe mit Madame de Lor‐ rant existierte nur auf dem Papier, es war eine Scheinehe, die dem Königshaus gegenüber aufrecht erhalten wurde und die allein dem Zweck diente, gewisse Privilegien erreichen und bewahren zu kön‐ nen.« »Das verstehe ich nicht.« »Es hat den Anschein, als habe die damalige Madame de Lorrant ihrerseits einen glühenden Liebhaber besessen. Er war nicht von Stand, also konnte sie ihn nicht heiraten. Zumindest nicht öffentlich. 84
Der Pakt, den die beiden Lorrants miteinander eingingen, ermög‐ lichte es ihnen, hinter der Fassade einer vom König gebilligten Ehe mit den Partnern ihrer Wahl zusammenzuleben.« »Das würde bedeuten, daß die beiden Lorrants sich der Bigamie schuldig machten«, meinte Noel. »So sieht es aus. Not macht erfinderisch, nehme ich an. Raymond und Eleonora haben versucht, auf ihre Weise den Zwängen der Zeit zu trotzen. Wirklich Konkretes kann ich nicht finden, nur subtile Hinweise. Das meiste habe ich zwischen den Zeilen herausgelesen.« »Danke«, sagte Noel und legte auf. Glendales Anruf klärte die Fronten. Er machte deutlich, daß Wie‐ dergeburt und damit verbundene Ähnlichkeiten keineswegs einen Abklatsch des Vorlebens garantierten. Das Telefon klingelte. Noel griff erneut nach dem Hörer und mel‐ dete sich. Glendale war am Apparat. »Ich war noch nicht ganz fertig«, sagte er. »Eleonora ist offenbar keines natürlichen Todes gestorben. Ich konnte nicht entdecken, ob sie das Opfer eines Unfalls oder eines Verbrechens wurde. Fest steht, daß Lorrant die Tote niemals gesehen hat und eine symboli‐ sche Beerdigung vornehmen mußte. Er stellte einen leeren Sarko‐ phag mit Eleonoras Namen in die Familiengruft.« »Das erklärt manches«, sagte Noel. »Der wirkliche Knüller kommt erst noch«, meinte der Pastor. »Nämlich?« »Raymond de Lorrant ist seiner geliebten Eleonora nur wenige Tage später in den Tod gefolgt…« Noels Herz krampfte sich zusammen, er bekam einen trockenen Mund. »Aber in dem Buch steht, daß er erst 1744, also 15 Jahre nach Eleonoras Hinscheiden verstarb…« »Das war ein anderer. Madame de Lorrants Liebhaber. Sie gab ihm Raymonds Namen. Der Mann, den Sie auf der Federzeichnung ge‐ sehen haben und der Ihnen so ähnlich sieht, ist kurz nach Eleonora gestorben. Vieles deutet daraufhin, daß er ihr freiwillig in den Tod 85
folgte.« * Noel ließ den Hörer sinken. Er hörte noch kurz Glendals Stimme aus der Membrane klingen, dann unterbrach die einrastende Gabel das Gespräch. Noel erhob sich. Er trat ans Fenster und blickte hinaus, ohne etwas von dem wahrzunehmen, was sich seinen Augen bot. Hinter Noel öffnete sich die Tür. »Haben Sie wirklich keinen Hunger, Sir?« erkundigte sich der But‐ ler. »Danke, nein.« Der Butler ging. Noel trieb es ins Freie. Er atmete tief durch, aber seine Erregung blieb. Er hatte sein Todesurteil vernommen. Wenn Raymond de Lorrant so kurz nach Eleonoras Ende gestor‐ ben war, bedeutete dies, daß auch seine, Noel Crawfords Tage, ge‐ zählt waren… Der Gedanke daran verursachte ihm Atembeschwerden. Sein Le‐ benswille begehrte dagegen auf. Was war denn schon geschehen? Er, Noel Crawford, war ein beklagenswertes Opfer von Doktor Bartoks versponnenen Hypothesen und seiner eigenen Phantasie geworden. Ein Ölporträt und eine Federzeichnung, die Leona und ihm ver‐ blüffend ähnelten, hatten eine Reihe von Spekulationen in ihm aus‐ gelöst. Sie schienen das Phänomen der Wiedergeburt zu belegen, aber noch war keineswegs ausgemacht, ob diese Kombinationen stimmten. Trotzdem. Seine Angst und seine Erregung blieben. Er konnte sich davon nicht befreien. Noel blieb stehen, machte abrupt kehrt und beschloß, nach Lon‐ 86
don zurückzufahren. Hier konnte und wollte er keine Stunde länger bleiben, diese Umgebung drohte ihn zu ersticken. Es war ihm völlig gleichgültig, ob seine plötzliche Abreise der Po‐ lizei gefiel oder nicht. Wer ihn zu sprechen wünschte, konnte ihn mühelos in London erreichen. Er betrat Farbourgh Mansion, suchte sein Zimmer auf und packte. Er entdeckte, daß die durch seinen Sturz in den morastigen Bach schmutzig gewordenen Sachen fehlten. Offenbar hatte ein Zimmer‐ mädchen sie in die Wäsche oder in die Reinigung gegeben. Es war nicht wichtig. »Ich fahre nach Hause, zurück nach London«, eröffnete er dem Butler auf dem Weg zu seinem Wagen. »Mr. Brenton hat gerade angerufen, Sir. Er befindet sich auf dem Wege nach Farbourgh Mansion. Wollen Sie nicht seine Ankunft ab‐ warten?« »Ich telefoniere mit ihm«, sagte Noel. »Er wird nicht länger an dem Auftrag interessiert sein. Offen gestanden bin ich es auch nicht…« »Er wird viele Fragen haben, die sich mit den tragischen Un‐ glücksfällen befassen, vor allem mit dem Ableben seiner Frau«, meinte Maurice. »Corinna kann sie ihm beantworten«, sagte Noel. Er fühlte sich wie befreit, als er Farbourgh Mansion hinter sich ließ. Ihm war, als sei er einem Alpdruck entwichen. Aber hatte er wirklich die Chance, Farbourgh Mansion zu ent‐ kommen? Er hatte schon einmal hier gelebt, vielleicht schon häufi‐ ger, und vieles sprach dafür, daß er wiederkehren würde. »Leona«, murmelte er und umspannte das Lenkrad seines Wagens so fest, daß die Knöchel weiß und spitz aus der Haut hervortraten. »Leona…« * 87
Mark Chandler betrat das Krankenzimmer. Corinna schlief. Be‐ hutsam drückte der junge Mann die Tür hinter sich ins Schloß. Co‐ rinna hob blinzelnd die Lider. Sie lächelte nicht, als sie den Besucher sah. Der junge Mann setzte sich zu ihr ans Bett und ergriff ihre Hand. Corinna überließ sie ihm widerstandslos, aber ohne Wärme und Gegendruck. »Du machst mir Sorgen«, sagte Mark Chandler leise. »Wie bist du hereingekommen?« »Ich habe mich als dein Freund ausgegeben. Hier kennt mich ja keiner.« »Das war leichtsinnig. Was ist, wenn die Polizei in der Gegend he‐ rumschnüffelt?« »Unsinn! Dich verdächtigt doch keiner.« »Du hättest nicht kommen dürfen.« »Es ist sehr wichtig. Du weißt, warum?« »Wegen Crawford?« »Natürlich wegen Crawford!« erregte sich Mark Chandler. »Er kann uns das Genick brechen.« »Du hättest dich nicht erwischen lassen dürfen. Deine verdamm‐ ten Haschzigaretten haben uns verraten«, sagte Corinna wütend. »Ich habe ein Gewissen. Wie hätte ich es denn wohl betäuben sol‐ len, wenn nicht mit dem guten, alten Gras?« fragte Mark Chandler. »Mir ist es immerhin gelungen, Crawford für kurze Zeit zu vergat‐ tern, aber ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn er zu singen beginnt.« »Er kann nichts beweisen.« »Was hilft uns das schon?« fragte Mark Chandler bitter. »Wenn die Polizei von ihm erfährt, daß ich mich auf dein Geheiß in Far‐ bourgh Mansion versteckt hielt, werden die Polypen keine Mühe haben, zwei und zwei zu addieren, dann werden sie mir unterstel‐ len, daß ich es war, der deine Stiefmutter tötete.« »Was schlägst du vor?« 88
»Crawford muß weg.« »Weg, weg! Wie du das sagst!« begehrte das Mädchen auf. Auf ih‐ ren Wangen hatten sich kleine, rote Flecken gebildet. Sie strich ner‐ vös mit ihren Händen über die weiße Bettdecke. »Wir müssen ganze Arbeit leisten.« »Das geht mir einfach zu weit«, flüsterte Corinna. »Okay, ich war damit einverstanden, daß du Alice aus dem Wege räumst, aber…« Mark Chandler beugte sich nach vorn, seine Augen funkelten er‐ regt. »Einverstanden!« fiel er Corinna ins Wort. »Das ist eine reizen‐ de Formulierung. Warum hast du nicht den Mut, dich klarer aus‐ zudrücken? Zwischen uns gibt es keine Geheimnisse. Du hast mich dazu aufgefordert, Alice zu töten. Du oder sie – das war deine Devi‐ se. Ich habe mir sie zu eigen gemacht.« Corinna atmete schwer. »Ja, ich wollte, daß Alice stirbt«, sagte sie. »Hätte ich darauf warten sollen, daß ich ein Opfer des Duells wer‐ de? Sie hat mindestens ein Dutzend Male versucht, mich umzubrin‐ gen! Sie hat bekommen, was sie verdiente. Ja, ich bestreite es nicht, daß ich Alices Tod wollte, aber ich habe niemals von dir verlangt, daß du diese Leona Crawford tötest. Erst durch ihren Tod sind wir in echte Schwierigkeiten geraten.« »Leona Crawford lief mir über den Weg, sie sagte mir auf den Kopf zu, wer ich bin und was ich…« »Sie kannte dich doch gar nicht!« unterbrach Corinna den Besu‐ cher. »Sie roch meine Zigarette. Sie bewies eine Menge Hellsichtigkeit, weißt du. Eine phantastische Kombinationsgabe. Ihr war sofort klar, daß ich dein Freund bin, und sie durchschaute, daß ich Alice Bren‐ ton tötete. Damit konnte ich sie nicht ziehen lassen, ich mußte sie zum Schweigen bringen, sonst wäre alles aus gewesen.« »Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll«, murmelte Corinna. »Ich sehe nur einen Weg.« »Crawford?« Mark Chandler nickte. »Er muß seiner Frau ins Jenseits folgen.« 89
»Wie du das sagst! Es wäre Mord!« »Es ist Notwehr. Er oder wir.« »Das ist zuviel, ich halte das nicht durch«, murmelte das Mädchen. »Er oder wir«, wiederholte Mark Chandler. »Was ist, wenn er damit rechnet?« »Er ist Architekt, ein Musensohn«, Spottete Mark Chandler. »Ich glaube nicht, daß er ahnt, was ihn erwartet.« »Er kann sich inzwischen der Polizei anvertraut haben«, sagte Co‐ rinna. »Das finde ich heraus«, meinte Mark Chandler und erhob sich. »Wie denn?« »Wenn mein Versteck im alten Verwalterhaus unberührt geblieben ist, weiß die Polizei noch nichts von meiner Existenz«, sagte Mark Chandler. »Wie… wie willst du es anstellen?« flüsterte Corinna kaum hörbar. »Das überlasse ruhig mir«, sagte Mark Chandler. »Allerdings«, fügte er hinzu, »muß ich eine Forderung erheben.« »Welche?« »Du wirst mich heiraten.« »Darüber sprechen wir noch.« »Ich bin nicht zum Mörder geworden, um mich mit ein paar Tau‐ senddollarscheinen abspeisen zu lassen. Ich habe getötet, weil ich dich liebe. Ich will dich besitzen. Als meine Frau.« »Solange Papa lebt, können wir nicht heiraten, bei deinen Vorstra‐ fen!« »Das ist okay. Mir genügt es, wenn du nach seinem Tod meine Frau wirst.« Corinna schluckte. »Du hast vor, seinen Tod zu beschleunigen, nicht wahr?« fragte sie kaum hörbar, mit bebender Stimme. »Du spinnst!« erwiderte Mark Chandler. »Ich bin kein Killer.« »Was denn sonst?« Er beugte sich über sie. »Du sprichst von meinen Vorstrafen. Zwei Autodiebstähle, ein Kaufhauseinbruch, das ist alles. Erst du hast 90
mich zum Mörder gemacht. Wenn wir nicht daran zerbrechen wol‐ len, müssen wir das Ganze konsequent zu Ende führen. Das mit Leona Crawford war ein Betriebsunfall. Der Tod ihres Mannes ist Notwehr, ich wiederhole es. Er oder wir!« »Du wirst es schon richtig machen«, seufzte das Mädchen. Mark Chandler grinste. »Wenn wir uns wiedersehen, ist Crawford ein toter Mann«, versprach er. * Noel schrieb sein Testament. Er war dabei ganz entspannt, fast vergnügt. Es hatte keinen Sinn, sich vor dem Tod zu fürchten. Er war nur ei‐ ne Station auf der langen Reise durchs Tal der tausend Schicksale. Als das Telefon klingelte, war ein alter Bekannter an der Strippe. »Ich hätte was für dich, alter Junge«, sagte er. »Einen phantastischen Auftrag! Er wird dir Spaß machen, liegt ganz auf deiner Linie. Bist du frei?« »Nein, leider nicht.« »Schade. Wann kann ich mit dir rechnen?« »Im nächsten Leben«, sagte Noel und lachte dabei. »Bist du betrunken?« »Vielleicht«, meinte Noel. »Aber es hat nichts mit Alkohol oder Drogen zu tun. Ich bin ganz einfach gutgelaunt. Ich fühle mich wie jemand, der erfahren hat, was Leben heißt.« »Das wissen wir doch alle!« »Ich weiß es erst jetzt«, sagte Noel und legte auf. Er ging essen. In einem vornehmen Restaurant der Regent‐Street traf er ein paar Bekannte. Er wechselte einige Worte mit ihnen. »Wir könnten am Sonntag Golf spielen«, sagte ein Klubmitglied zu ihm. »Wie wäre es, wenn wir uns gegen neun Uhr auf dem Platz träfen?« »Das ist leider nicht zu machen«, meinte Noel lächelnd. »Am 91
Sonntag bin ich tot.« Er ließ den Verblüfften stehen, setzte sich an seinen Tisch und or‐ derte den Mokka. »Er hat den Verstand verloren«, murmelte der Golfspieler. »Nein, seine Frau«, klärte ihn dessen Begleiter auf. »Weißt du nicht, daß sie unter mysteriösen Umständen gestorben ist? Ich habe es in der Zeitung gelesen.« »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« fragte der Golfspie‐ ler. »Ich hätte ihm kondoliert! Ich kannte Leona. Eine hinreißende Frau. Aber warum, zum Teufel, versetzt ihn ihr Tod in eine solche Bombenstimmung? Er spricht vom Tod, sogar von seinem eigenen, und trotzdem befindet er sich in einem Zustand der Euphorie.« »Ob er beschlossen hat, sich umzubringen?« »Du spinnst! Selbstmörder sehen anders aus. Er ist durchgedreht, der Ärmste. Eine andere Erklärung gibt es nicht.« Noel spürte, daß die Männer ihn beobachteten und über ihn spra‐ chen. Es berührte ihn nicht. Er trank seinen Mokka, beglich die Rechnung und ging. Wenn er auf dem Weg zu seinem Wagen ein leises Bedauern ver‐ spürte, dann lag das wohl an der Erkenntnis, daß es in seinem näch‐ sten Leben keine Erinnerung an diese Stunden geben würde, an die‐ sen sanften, sentimentalen und zugleich beglückenden Abschied vom Leben des Noel Crawford. Vielleicht war das gut so. Der Besuch in Farbourgh Mansion hatte ihn eher zufällig über das aufgeklärt, was ihn erwartete. Er konnte mit keinem Menschen darüber sprechen, den alten Bartok ausge‐ nommen. Noel fuhr nach Hause. Sein Haus lag in Chelsea, es galt als Se‐ henswürdigkeit und Aushängeschild, seine noble Fassade und die Exquisität der Inneneinrichtung hatten nicht wenig dazu beigetra‐ gen, seinen Ruhm und die Zahl seiner Aufträge zu mehren. Er setzte sich in den ledergepolsterten Ohrensessel, schenkte sich ein Glas Cognac ein, lauschte dem Ticken der alten Uhr und warte‐ 92
te. Gegen dreiundzwanzig Uhr vierzig klingelte es. Noel leerte sein Glas, stellte es beiseite und ging in die Diele, um zu öffnen. »Hallo, Mark«, sagte Noel. »Treten Sie ein. Ich habe Sie erwartet.« Mark Chandler trug eine Brille mit dunklen Gläsern, außerdem hatte er sich eine Ballonmütze tief in die Stirn gezogen. Er hielt die Rechte in der Tasche. Seine Finger umspannten den Griff einer Pis‐ tole. Er war entschlossen gewesen, sofort auf Noel Crawford zu schie‐ ßen und danach zu fliehen, aber die spöttische Souveränität des Architekten verunsicherte ihn, sie stieß seine Absichten über den Haufen, zumindest sorgte sie für ein Hinauszögern der Tat. »Sie haben mich erwartet?« echote Mark Chandler verblüfft. »Ja. Wollen Sie nicht näher treten? Wenn Sie erlauben, gehe ich vo‐ ran…« Mark Chandler folgte dem Gastgeber durch die Halle. Tu es jetzt, schoß es Chandler durch den Kopf. Er kehrt dir den Rücken zu. Du brauchst ihm nicht in die Augen zu sehen… Noel erreichte die Tür zum Wohnzimmer, er blieb stehen und wartete, bis der Besucher die Schwelle überschritten hatte. Mark Chandler blieb stehen, er blickte sich um und Verhehlte nicht, wie tief ihn die geschmackvolle, kostbare Einrichtung beeindruckte. »Ist Ihnen nicht wohl?« fragte Noel und setzte sich. »Warum fragen Sie?« »Sie sehen blaß aus.« »Sind Sie allein?« »Ja.« »Keine Dienstboten?« »Ich beschäftige welche, aber sie leben nicht im Haus. Leona und ich hatten abends den Wunsch, allein zu sein«, erklärte Noel. Mark Chandler trat an die geschlossenen Übergardinen eines Fensters und spähte hinaus auf die Straße. »Eine ruhige Gegend«, sagte er. 93
»Wir haben uns hier sehr wohl gefühlt.« Chandler drehte sich um. »Warum fragen Sie nicht weshalb ich nach London gekommen bin?« »Ich kann es mir denken. Sie haben erst Alice und dann Leona ge‐ tötet. Sie wissen, daß ich Sie durchschaue und haben die Absicht, mich aus dem Wege zu räumen.« Chandler öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Er war sprach‐ los. »Nehmen Sie einen Cognac?« fragte Noel lächelnd. »Ja, bitte«, murmelte Chandler. Seine Hände waren feucht gewor‐ den. Noel erhob sich, holte einen Cognacschwenker aus dem Schrank und füllte beide Gläser. »Worauf trinken wir?« fragte er und über‐ ließ Chandler eines der Gläser. »Auf meinen Tod?« Er merkte, wie feucht seine Hand geworden war und fragte sich, ob er träumte. »Sie neigen zu makabren Witzen«, murmelte er. »Nein, nein. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit Leona, das ist alles.« »Ein Wiedersehen im Jenseits?« höhnte Chandler. »Daran glauben nur komplette Narren.« »Was mich betrifft, so glaube ich an ein Wiedersehen im Diesseits – natürlich zeitverschoben«, erklärte Noel lächelnd. »Sie sind verrückt!« »Warum trinken Sie nicht?« Chandler kippte den Inhalt des Glases hinab, stellte das Glas aus der Hand und zog die Pistole aus seiner Hosentasche. »Ich wollte Ihre Frau nicht töten«, sagte er. »Es war ihr Pech, daß sie meinen Weg kreuzte und sofort erkannte, wer ich bin und was ich getan hatte.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, meinte Noel. Er lächel‐ te immer noch. Chandler hob die Hand mit der Pistole. »Das ist zuviel für mich«, 94
würgte er hervor. »Ich halte das nicht aus. Weder Ihr verdammtes Lächeln noch Ihre widerliche Überlegenheit!« Er drückte ab und schoß. Noel zuckte zusammen, er machte zwei Schritte nach vorn, dann brach er zusammen. Chandler zitterte. Er starrte in das Gesicht des Sterbenden, dann schoß er noch einmal, aber er schaffte es nicht, das Lächeln aus Noels Gesicht zu fegen. * Mark Chandler hastete in die Halle. Dort blieb er stehen. Der Cog‐ nacschwenker! Das Glas trug seine Fingerabdrücke. Er machte kehrt, nahm das Glas an sich, brachte es in die Küche und säuberte es. Ehe er das Haus verließ, wischte er jede Türklinke, die er berührt hatte, sorgfältig mit seinem Taschentuch ab. Er durchquerte den kleinen Vorgarten und betrat den Bürgersteig. Auf der anderen Straßenseite stoppte eine dunkle Limousine. Mark Chandler nahm sich nicht die Mühe, seinen Kopf zu wen‐ den. Falls Fahrer und Insassen des Wagens ihn bemerkt hatten und später mit dem Mord an Noel Crawford in Verbindung bringen soll‐ ten, war nicht zu erwarten, daß sie ahnten, wer sich hinter der dunk‐ len Brille und unter der karierten Ballonmütze verbarg. Mark Chandler war bemüht, sich ganz normal zu bewegen, weder zu schnell noch zu langsam, aber als hinter ihm Schritte ertönten, hatte er plötzlich den Wunsch, loszustürmen und davonzulaufen. »Hallo, Chandler!« rief es hinter ihm. Chandler stoppte. Er drehte sich um. Er wußte, daß er falsch han‐ delte, aber er fühlte auch, daß es dumm und nutzlos gewesen wäre, seine Identität zu leugnen. »Wer sind Sie?« fragte er und starrte auf die Handschellen, die ei‐ ner der vier sehr ernst wirkenden Männer aus seiner Tasche zog. 95
»Mein Name ist Hill. Inspektor Hill«, erklärte der Mann, der Chandler angerufen hatte. »Ich habe mir erlaubt, eine Wanze im Krankenzimmer Ihrer Freundin zu installieren. Das Gespräch, das Sie mit Corinna führten, wurde von einem Bandgerät festgehalten. Leider habe ich es zu spät abgehört, sonst wären wir schon früher gekommen. Was ist mit Crawford?« Mark Chandler schwieg. Sein Mund war pulvertrocken geworden. »Legen Sie ihm die Handschellen an«, befahl Hill. »Wir wissen immerhin, daß wir einen zweifachen Mörder vor uns haben.« Mark Chandler hob das Kinn. Er streckte den Männern beide Hände entgegen und korrigierte: »Einen dreifachen.« ENDE Der Schein von vier riesigen, flackernden Kerzen tauchte den Raum in gespenstisches Licht. Die Wände und die niedriggezogene Decke waren mit tiefschwarzen Tüchern bespannt. Geheimnisvolle Symbole und Zeichen zierten den Stoff. Sie wirkten wie Schriftzüge, Schriftzüge einer Sprache, die an Hieroglyphen erinnerte und die doch keiner der alten Ägypter zu entziffern vermocht hätte. Die hochgewachsene Frau im nachtdunklen, weitgeschnittenen Gewand aber war in der Lage, die fremdartigen Zeichen zu lesen und zu deuten. Sie stand in der Mitte des Raums und blickte auf eine große goldene Schale hinab, die auf einem Steinsockel ruhte. Rechts und links von dem Sockel standen zwei weitere Gebilde aus Stein, längliche, viereckige Blöcke, in die muldenartige Aussparun‐ gen hineingearbeitet worden waren. Und in diesen Mulden lagen zwei Frauen, in einen tiefen, reglosen Schlaf versunken. Beide waren vollkommen nackt. Die eine, jung und außergewöhnlich hübsch, wirkte wie ein Sinnbild des blühenden Lebens. Die andere hinge‐ gen, alt, verbraucht, mit runzelübersäter, faltiger Haut, schien be‐ reits dicht an der Schwelle des Todes zu stehen. 96
Die Strandhexe So lautet der Titel des neuen Gespenster‐Thrillers von Brian Elliot! In acht Tagen bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie im Bahnhofs‐ buchhandel. Preis 1,20 DM.
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