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Der Drakhon-Zyklus! Die unerklärliche Kollision der Galaxie Drakhon mit unserer Milchstraße ist verantwortlich für die gewaltigen Hyperraumstürme, die alles bekannte Leben bedrohen. Doch Ren Dhark findet kaum Zeit, sich um dieses drängende Problem zu kümmern, denn die Schatten setzen der Menschheit immer stärker zu. Und dann geschieht etwas, womit niemand rechnen konnte: Es kommt zur galaktischen Katastrophe… Diese Buchausgabe präsentiert die endgültige Fortschreibung des Klassikers nach Motiven von Kurt Brand. Es gibt noch viel zu entdecken im Dschungel der Sterne – steigen Sie ein und fliegen Sie mit.
Ren Dhark Der Drakhon-Zyklus Band 2
Die Galaktische Katastrophe
HJB
1. Auflage HJB Verlag & Shop e.K. Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31-35 48 32 0 26 31-35 61 00 Fax: 0 26 31-35 61 02 www.ren-dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild und Illustrationen: Swen Papenbrock Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau GmbH © 2000 HJB Verlag Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-930515-08-3
Vorwort Ein neuer REN DHARK-Band hat für mich immer wieder etwas Faszinierendes. Die Vorgaben, nach denen dieses Buch verfaßt wurde, habe ich vor einem knappen halben Jahr zu Papier gebracht. Ich wußte natürlich, was in diesem Buch geschieht – aber wie die Autoren ihre Vorgaben umsetzen, überrascht mich jedesmal aufs Neue. Beim Redigieren der Texte mußte ich laut lachen an Stellen, an denen ich eigentlich nur Spannung vermutet hätte, und mit angehaltenem Atem überflog ich Passagen, die ich beim Verfassen des Exposes nur als Überleitung von einer Szene zur nächsten gedacht hatte. Ich möchte meine Autoren hier einmal ganz öffentlich zu Ihrer hervorragenden Arbeit beglückwünschen – und ich bin sicher, nach Lektüre des vorliegenden Bandes schließen Sie sich meiner Einschätzung an! Daß die Herren mit Feuereifer bei der Arbeit sind, merkt man allein schon an der Tatsache, daß sie mehr Text abliefern als vereinbart. So stand ich plötzlich vor dem Problem, acht Prozent des Gesamttextes herauskürzen zu müssen, um das Buch im technisch nun einmal vorgegebenen Umfang zu seinem beabsichtigten, überraschenden Ende zu bringen – oder mir etwas einfallen zu lassen. Ich habe mich dann für letzteres entschieden und ein wenig an der Gestaltung der Seiten gebastelt. Sie werden feststellen, daß dieses Buch etwas enger bedruckt ist als gewöhnlich. Ich bin sicher, diese kleine Umstellung beim Layout ist im Sinne der überwiegenden Mehrheit unserer Leser, geht auf diese Weise doch nichts von den faszinierenden Geschichten verloren, die unsere Autoren für diesen Band ersonnen haben. Das gibt mir das Stichwort, um die Verfasser des
vorliegenden Buches zu nennen: Nach einem Expose von Hajo F. Breuer schrieben Werner K. Giesa, Uwe Helmut Grave und Conrad Shepherd den folgenden Roman. Mein ganz besonderer Dank gilt Werner K. Giesa, der mir mit enormem Einsatz aus der Patsche half, als der vierte Autor ausfiel, den ich für dieses Buch eingeplant hatte. Werner stürzte sich in die Arbeit und rettete das pünktliche Erscheinen des Bandes. Wer ihm dafür auch persönlich ein Lob aussprechen oder sich sonstwie mit ihm in Verbindung setzen möchte, der kann das jetzt auf Werners eigener Homepage tun: Unter www.wk-giesa.de gibt’s alles und noch mehr über einen der rührigsten zeitgenössischen Autoren Deutschlands. Wo wir schon beim Thema »Internet« sind: Es lohnt sich immer wieder einmal, auf die REN DHARK-Seite zu sehen. Sie wird in diesen Tagen völlig neu gestaltet und bietet schon in wenigen Wochen neue, exklusive Kurzgeschichten aus dem REN DHARK-Kosmos. Natürlich völlig kostenfrei! Zu guter Letzt möchte ich Sie noch auf den neuen REN DHARK-Sonderband von Conrad Shepherd hinweisen, der unter dem Titel »Der schwarze Götze« zeitgleich mit diesem Buch erscheint. Darin schildert der renommierte SF-Autor die spannende Geschichte des letzten G’Loorn, der sich einen kleinen irdischen Außenposten als Opfer auserkoren hat... Nun aber viel Spaß mit den folgenden knapp 350 Seiten! Giesenkirchen, im Mai 2000 Hajo F. Breuer
Prolog Im Herbst des Jahres 2057 machen Ren Dhark und seine Getreuen eine unfaßbare Entdeckung: In einem der Erde entgegengesetzten Abschnitt der Milchstraße droht eine fremde Galaxis mit unserer Sterneninsel zu kollidieren! Liegen hier die Ursachen für die lebensbedrohlichen Schwankungen im galaktischen Magnetfeld? Kurz entschlossen steuert Ren Dhark mit seinem Raumschiff POINT OF die fremde Galaxis an, die schon bald auf den Namen »Drakhon« getauft wird. Totenstille scheint in dieser Sternenballung zu herrschen, intelligentes Leben ist nicht zu finden. Doch der Peilstrahl der Mysterious führt Ren Dhark zur Welt der Shirs. Hier leben als Gäste der paramental unglaublich starken Urbewohner des Planeten die letzten 108 Salter. Die Salter brachen vor mehr als 50.000 Jahren von der Erde ins Weltall auf, vom längst untergegangenen Kontinent Lemuria. Ihr Wissen über die geheimnisvollen Mysterious und deren Supertechnik ist so groß, daß es ihnen gelingt, den Menschen an Bord der POINT OF vorzuspielen, sie selbst seien die langgesuchten Geheimnisvollen. Damit bezwecken sie, endlich zurück auf ihre Ursprungswelt Terra zu kommen. Doch sie können ihre Heimkehr nicht lange genießen: Agenten der Robonen ermorden alle 108 Salter. Im Angesicht des Todes gesteht Olan, der Anführer der Gruppe, daß er gelogen hat. Seine letzten Worte treffen Ren Dhark wie einen Hammerschlag: »Wir Salter sind nicht die Mysterious. Setze deine Suche nach den wahren Mächtigen fort und ergründe ihr schreckliches Geheimnis...« Ren Dhark muß zurück nach Drakhon, um mehr über die Bedrohung unserer Milchstraße zu erfahren. Doch vorher
macht er einen Abstecher zu den Nogk, von denen er sich eine Abschirmungsmöglichkeit gegen die unfaßbaren Parafähigkeiten der Shirs verspricht. Kaum hat die POINT OF das Sonnensystem verlassen, werden Terra und die äußeren Planeten von einer äußerst kampfkräftigen Flotte der geheimnisvollen Schatten angegriffen. Das Schicksal der Erde steht lange auf Messers Schneide, bis es endlich gelingt, die letzten überlebenden Angreifer zu vertreiben. Doch dieser Sieg im All mußte mit schweren Verlusten teuer erkauft werden... Aber nicht nur im militärischen Bereich steht die Erde vor ungeheuren Problemen, auch im zivilen Sektor geht kaum noch etwas voran: Um die Staatskasse zu entlasten (und um das Überleben der Menschheit auch für den Fall der Vernichtung Terras sicherzustellen), sollen 30 Millionen Kolonisten nach Babylon verschifft werden. Aber Agenten der Robonen hetzen unerkannt in der Menge und lösen beinahe einen Aufstand aus. Durch die Funkstörungen im Hyperbereich ahnt man an Bord der POINT OF nichts von den dramatischen Vorgängen auf der Erde. Zufällig fängt man auf dem Flug zu den Nogk einen verstümmelten Notruf auf. Eines der irdischen Forschungsschiffe wurde von einem Schattenraumer angegriffen! Die POINT OF will zu Hilfe eilen – da fallen schlagartig sämtliche Bordsysteme aus...
1. In 3.000 Metern Höhe über einem urweltlichen Dschungelplaneten waren sieben Flash steuerlos geworden und gehorchten keinem einzigen Kommandoimpuls mehr! Auch die Gedankensteuerung funktionierte nicht mehr. Sobald Ren Dhark versuchte, mentalen Kontakt mit ihr aufzunehmen, wurde er mit der verstümmelten Funkbotschaft der FO-XXIX überflutet: »... anhand von leichten Verfärbungen des Dschungelhintergrunds sehen können, weiter vor und anhand von leichten Verfärbungen des Dschungelhintergrunds sehen können, weiter vor und anhand von leichten Verfärbungen des...« Und das in ununterbrochener Folge! Die Beiboote des Ringraumers POINT OF stürzten dem Boden entgegen. Was noch funktionierte, waren Ortung und Bildübertragung, und auf dem kleinen Schirm über seinem Kopf, den zu sehen Dhark den Kopf weit in den Nacken legen mußte, konnte er zwei der begleitenden Flash erkennen, die ebenso steuerlos wie seine 002 dem Boden entgegenrasten. Der Teufel soll die Mysterious holen! dachte er und konnte sich mit der Erklärung des Salters Olan, Mysterious hätten diese wundervollen Mini-Raumfahrzeuge nur in Ausnahmefällen geflogen und das ansonsten Robotern überlassen, die auf dem Schädeldach ein drittes Auge hatten, nicht abfinden – zumal sich herausgestellt hatte, daß die Salter aus der zweiten Galaxis mit Namen Drakhon nicht mit den Mysterious, den Schöpfern einer unglaublich genialen und überragenden Supertechnik, identisch waren. Dennoch blieb die Frage, woher Olan die Flash so genau gekannt hatte, um seine Lüge zu formulieren, und auch, ob Mysterious tatsächlich
ein drittes Auge auf dem Schädeldach hatten. Daß tatsächlich ausschließlich Robots diese Supermaschinen geflogen haben sollten, wollte Dhark nicht in den Kopf. Dafür waren die Flash viel zu perfekt auf die Handlungsweise organischer Piloten abgestimmt. Der Versuch, mit den anderen Booten Funkkontakt aufzunehmen, scheiterte. Auch der Funksektor war blockiert, sowohl im normalen als auch im Hyperbereich. Verrückt! durchfuhr es den Commander. Wieso kann mir die Bildübertragung die anderen Flash zeigen, und der Funk liegt still? Darauf gab es keine Antwort. Wie lange braucht ein mehrere Tonnen schwerer Flugkörper, 3.000 Meter Höhe im Sturzflug zurückzulegen? Rasend schnell kam der Dschungel auf Ren Dhark zu. Den Aufprall würde er nicht einmal bemerken, weil das Intervall den Flash schützte, dieser künstliche Miniaturweltraum, der in seinem Bereich alle Naturgesetze des Einstein-Kontinuums aufhob und seine eigenen Gesetze wirksam werden ließ. Mit dem Intervall war es möglich, Planeten zu durchfliegen, was Ringraumer schon durchgeführt hatten, nur waren diese dabei nie bis in den flüssigen Magmakern vorgestoßen, und ob das Intervallum eines Flash energiereich genug war, diesen Gewalten zu widerstehen, hatte bislang noch niemand zu testen gewagt. Durch eine Sonne zu fliegen, auch nicht. Plötzlich sprang Angst den Commander an. Wenn nichts mehr funktionierte – weder Steuerung noch Funk – war es dann nicht auch möglich, daß das Intervall ebenfalls nicht mehr existierte? Und wie schnell der Boden heranraste! Das Dschungeldach würde seinen Sturz kaum dämpfen. Die Bäume schienen riesig zu sein, aber der tonnenschwere Flash kam mit einem Tempo herunter, mit dem er selbst
massive Stämme von einem Dutzend Metern Durchmesser glatt durchschlagen würde. Was dabei andererseits von dem Flash übrigbleiben würde... die kinetische Energie, mit der hier Masse auf Masse prallen mußte, war gigantisch. Wie viele Sekunden noch? Ren dachte in diesen Sekunden nicht einmal an Joan Gipsy. Er dachte an seine Kameraden, die mit ihm und getrennt von ihm dem Boden und der Vernichtung entgegenrasten, und daran, daß er seine Mission nicht mehr erfüllen konnte, wenn es ihn gleich zerschmetterte, während kinetische in verformende Energie umgewandelt wurde und aus dem Flash und ihm eine undefinierbare Masse machte, die möglicherweise bei Beschädigung von Antrieb und Energiekonverter zu einer kleinen Sonne würde und dabei einen großen Teil der Umgebung gleich mit atomisierte. Wenn sieben Flash zugleich eine Katastrophe auslösten, würde es danach auch die FO-XXIX nicht mehr geben! Wie wenige Sekunden noch? Jeder von ihnen starb jetzt für sich allein. Jeder der sieben Piloten allein in seinem Flash – weil sie die Schatten, die Grakos, wieder einmal unterschätzt und nicht damit gerechnet hatten, daß die eine neue Waffe zum Einsatz brachten und mit dieser die M-Technik komplett blockieren konnten. Da flog das Laub des Dschungeldachs heran! Mit geradezu unwahrscheinlicher Wucht raste Flash 002 hinein... * In der Zentrale der POINT OF glaubten die Menschen, den Verstand zu verlieren, und in der Funk-Z sah es nicht anders aus, weil sich der Dauerfunkspruch, mit einem einzigen, nur fragmentarisch vorhandenen Satz Captain Skaghättans permanent wiederholte – und der Funk ließ sich nicht
abschalten! Auch im Ringraumer versagte jegliche Mysterious-Technik. Seltsamerweise mit Ausnahme dieser Funkschleife, und auch die Bildkugeln in Leitstand, Waffensteuerungen und Maschinenraum funktionierten und zeigten die Umgebung an, aber in den Kabinen ließen sich die kleinen Bildgeber nicht aktivieren. Auch die Ortungen spielten nicht mehr mit. An eine Aktivierung der Waffen war schon gar nicht zu denken. Wer Dro Cimc, der Tel, welcher sich bei diesem Flug auf eigenen Wunsch wieder an Bord der POINT OF befand, hatte den Teufel an die Wand gemalt und behauptet: »Wenn jetzt tatsächlich eine Schattenstation auftaucht, hat sie leichtes Spiel mit uns!« Die POINT OF war ein wehrloses Stück Unitall! Im stationären Orbit umkreiste sie den namenlosen Dschungelplaneten, der zu einer Falle der Grakos geworden war. Der Notruf der FO-XXIX hatte Ren Dhark veranlaßt, diesen Planeten anzufliegen. Auf der vierten Welt des Systems hatte der Forschungsraumer nach einer Feindberührung mit einem Schattenschiff der Unheimlichen eine Notlandung vornehmen müssen. Der Kugelraumer war stark beschädigt. Knapp ein Fünftel der Konverter lieferte noch Energie, und es war ein Wunder, daß der Raumer den Schattenkreaturen so lange Widerstand hatte leisten können. Unter normalen Umständen schien dies völlig unmöglich. FO-Raumer waren nur schwach bewaffnet, weil ihre Kampfausrüstung wissenschaftlichen Einrichtungen und Labors weichen mußte, die nun mal eine Menge Platz einnahmen. Daß es der FO-XXIX gelungen war, den Schattenraumer ebenfalls notlandungsreif zu schießen, war geradezu ein Wunder. Diese schwarzen Raumer hatten selbst den Nogk erheblich zu schaffen gemacht, und wo sie auftauchten, waren auch die unsichtbaren Riesenstationen der Grakos nicht fern.
Wo war die Station, zu der dieser Schattenraumer gehörte? Wenn Dro Cimcs Prophezeiung eintrat und tatsächlich eine Kampfstation der Unsichtbaren hier auftauchte, war die POINT OF verloren. In ihrem jetzigen Zustand war sie nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Strahlschuß abzufeuern. Und in den bisherigen Abwehrschlachten hatten selbst Hunderte von Ringraumern erfahren müssen, daß sie gegenüber den GrakoStationen nicht unbesiegbar waren. Die Verluste, die Terra hatte hinnehmen müssen, waren bereits gigantisch. Die POINT OF war zwar jedem anderen Ringraumer weit überlegen, aber solange sie wehrlos war, war auch sie nur ein Stück besonders widerstandsfähiges Metall. »Verdammt, läßt sich dieser Funkspruch denn nicht abschalten?« brüllte Leon Bebir auf, der 2. Offizier. Aus den Lautsprechern in Funk-Z und Kommandozentrale erklang nach wie vor ungedämpft Captain Skaghättans Stimme und leierte in endloser Wiederholung herunter: »... anhand von leichten Verfärbungen des Dschungelhintergrunds sehen können, weiter vor und anhand von leichten Verfärbungen...« »Ich bring’ den Kerl um«, murmelte jemand auf der Galerie verzweifelt und hielt sich die Ohren zu. Dan Riker hieb Falluta, dem 1. Offizier, die Hand auf die Schulter. »Übernehmen!« stieß er hervor und stürmte in Richtung Funk-Z. Er hörte nicht mehr, wie Hen Falluta kopfschüttelnd seufzte: »Was denn übernehmen, ein fliegendes Wrack?« Wenigstens stürzte die POINT OF nicht ab, weil sie im stationären Orbit den Planeten umkreiste, aber solange der Antrieb nicht wieder arbeitete, konnte sie diesen Orbit auch nicht aus eigener Kraft wieder verlassen. Weit mehr als um das Schicksal der POINT OF sorgte sich Dan Riker um Ren Dhark und die anderen, die mit den Flash unterwegs waren. Die Verbindung war abgerissen! »Den Mist abschalten und die Flash anfunken – verdammt
noch mal, geht das nicht?« fauchte er Yogan und Brugg an, die im Funkraum Dienst taten und völlig unschuldig waren. »Wenn Sie’s uns vormachen, Riker«, konterte Walt Brugg und blieb seinem Vorgesetzten damit nichts schuldig. Der wurde unhöflich beiseitegeschoben. Glenn Morris, der Cheffunker, kam herein. Yogan räumte seinen Platz und ließ sich ein Terminal weiter nieder. Brugg sah Riker an: »Wenn Sie schon auf dem Mecker-Trip sind, wollen Sie Glenn nicht auch zusammenstauchen, weil er trotz Alarmzustand erst jetzt hier aufkreuzt?« »Brugg!« fuhr Morris ihn an. »Wie reden Sie mit...« Riker winkte ab. »Entschuldigung!« Nur das eine, knappe Wort. Aber Walt Brugg war im gleichen Moment wieder zufrieden, und Glenn Morris murmelte etwas von dringenden menschlichen Bedürfnissen, die auch vom Alarm nicht zu verhindern waren. Dann sah Riker, wie Morris schaltete. Er arbeitete mit Erron-Wissen! Er versuchte mit dem Wissen der Mentcaps zu arbeiten, die Dhark und die anderen für die Chefs der einzelnen Abteilungen aus Erron-3 mitgebracht hatten! Erron-3, das gigantische Archiv der Mysterious im blaßblauen Universum, von dem nur ganz wenige Menschen wußten. »Verdammt«, tobte Morris nach ein paar Minuten. »Ich kann diese Dauersendung nicht abschalten... nicht mal mit Gewalt! Riker, die einzige Möglichkeit besteht darin, den gesamten Empfangskomplex komplett zu zerstrahlen! Aber selbst dabei bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher... hier... und hier...« Und er lieferte Erklärungen mit Fachbegriffen, die Dan nicht verstand, weil er die entsprechenden Mentcaps nie geschluckt hatte. Funktechnik war nicht seine Welt. »Wenn wir die Antennen umschalten könnten...« So wie sich die in der Unitallzelle des Ringraumers
liegenden 45 Strahlantennen von einer Waffenart auf die andere umschalten ließen, waren auch die Funkantennen umschaltbar – auf Ortung, aber auch auf einige andere Funktionen, und notfalls ließen sie sich auch auf die Waffensteuerung schalten. Dazu aber bedurfte es des ErronWissens. Nur half das hier auch nicht weiter. »Wir können nicht umschalten, weil hier alles blockiert ist!« knurrte Elis Yogan zornig, und Morris nickte zustimmend. »Alle Antennen bleiben auf Funkempfang! Und damit bekommen wir diese idiotische Dauersendung auch weiterhin ins Schiff...« »Die FO-XXIX sendet doch nicht die ganze Zeit über kontinuierlich diesen Müll!« war Riker sicher. »Was wir hier hören, kommt nicht von draußen herein. Die Tonschleife befindet sich längst an Bord! Wetten, daß die Antennen nichts mehr aufnehmen, das von außen kommt? Der Fehler liegt im Schiff...« »Nett, daß wir’s jetzt wissen, noch netter, daß wir ihn nicht beheben können!« murrte Morris. »Diese Grakos...« stieß Riker wie einen Fluch hervor, und im gleichen Moment schoß ihm durch den Kopf, wie oft Terraner schon die Erbauer des Ringraumers genauso verflucht hatten: Diese Mysterious! Sein nächster Besuch galt Tino Grappa an der Ortung. »Wenn Cimc zum Propheten wird und eine Schattenstation auftaucht, kann ich Ihnen das nicht mal bestätigen!« stöhnte der Mailänder, hatte sich in seinem Kontursessel zurückgelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Deutlicher konnte er seine Hilflosigkeit nicht zeigen. »Nichts funktioniert, Riker – gar nichts!« »Aber wieso, verdammt noch mal, funktionieren dann die Bildkugeln?« »Haben Sie unseren famosen Checkmaster schon danach
befragt?« »Der streikt auch!« Als Riker in die Zentrale zurückkehrte und wieder neben Falluta Platz nahm, zeigte die Bildkugel einen Ausschnitt des Planeten. »Wie haben Sie das denn hingekriegt?« staunte Dan. Hen Falluta zuckte mit den Schultern. »Gedankensteuerung... aber glauben Sie jetzt bloß nicht, daß die wieder richtig funktioniert! Und ich kann Ihnen auch nicht raten, sie zu benutzen, weil sie auch diesen verstümmelten Funktext von der FO-XXIX vor sich hinsabbelt...« Unwillkürlich mußte Riker grinsen, Leon Bebir ebenfalls. Nur Dro Cimc blieb todernst, da er sich unter einer vor sich hinsabbelnden Gedankensteuerung nicht das geringste vorstellen konnte. Falluta selbst auch nicht, der fortfuhr: »Ich habe dann mit meinen Gedanken ein bißchen lauter gebrüllt und diesen FO-XXIX-Müll übertönt und konnte damit die Gedankensteuerung zwingen, uns über die Bildkugel die Flash zu zeigen... aber alles andere funktioniert immer noch nicht!« »Wenn Sie dieses sabbelnde Ungeheuer wenigstens dazu gebracht hätten, die Lautsprecher abzuschalten...« murrte Riker. »Was ist nun mit den Flash?« Falluta deutete auf die Bildkugel. »Besser habe ich die Vergrößerung nicht bekommen. Abgestürzt... alle sieben...« Dan Riker schluckte. Abgestürzt, das klang so endgültig. »Auf den Planeten? Na, mit dem Intervallfeld sind sie ja dann wohl durch die Kruste gesaust und...« »Keine Intervall-Anzeige durch die Bildkugel, sorry«, sagte Falluta leise. »Sie müssen wie Geschosse eingeschlagen sein.« »Ohne Intervallum?« Dan war bleich geworden. Unwillkürlich warf er einen prüfenden Blick auf die Instrumente vor ihm.
Die zeigten alle Nullwerte. Auch die POINT OF flog ohne schützendes Intervallfeld! Wer Dro Cimc holte tief Luft. »Nein!« stoppte Riker ihn. »Sagen Sie’s nicht! Jetzt nicht!« Sie alle wußten es auch so: Wenn eine Schattenstation erschien – oder auch nur ein weiteres ihrer Schattenschiffe – war die POINT OF erledigt... * Captain Skaghättan murmelte eine Verwünschung. Von einem Moment zum anderen war der Funkkontakt mit der POINT OF und den anfliegenden Flash abgerissen. Im gleichen Moment funktionierte aber auch an Bord der FO-XXIX nichts mehr! Nicht mal die Viphos waren noch zu benutzen! Die großen Bildschirme in der Zentrale zeigten nur noch grünes Flimmern. Und draußen waren die Unheimlichen, die aus dem Schattenschiff kamen, um dem Forschungsraumer den Rest zu geben und die Menschen zu töten! Unheimliche Wesen, fast unsichtbar und nur an den leichten Verfärbungen des Dschungelhintergrundes war erkennbar, wo sie sich gerade befanden – da stimmten Farbtöne und Farbhelligkeit nicht mehr. Über Funk hatte der Captain versucht, das den Flashpiloten mitzuteilen, damit sie wußten, worauf sie zu achten hatten, aber mitten im Satz war die Verbindung abgerissen. Wie durch ein Wunder hatte der Feuerleit-Chief es geschafft, diesen Schattenraumer abzuschießen – ein Zufallstreffer, den sich an Bord niemand erklären konnte, hatten doch selbst S-Kreuzer kaum eine Chance gegen die Unheimlichen, wenn sie nicht gerade im Geschwader flogen. Um so weniger ein viel zu schwach bewaffnetes Forschungsschiff, das für Kampfhandlungen überhaupt nicht
ausgerüstet war! Aber der Gegner schien immerhin weit besser intakt zu sein als die FO-XXIX, die brennend in den Dschungel gestürzt war und eine Bruchlandung hinter sich hatte, nach welcher der Kugelraumer wohl nie mehr fliegen würde. Die Piloten hatten es nicht einmal mehr geschafft, die Landebeine auszufahren, und in unangenehmer Schräglage war der Raumer dann von den Überresten der Urwaldriesen fixiert worden, die er mit seiner stürzenden Masse umgeknickt hatte wie Streichhölzer. Im Schiff waren tonnenschwere Aggregate aus ihren Verankerungen gerissen und wie Tennisbälle durch die Luft geflogen. Das blitzschnell abgelaufene Raumgefecht hatte große Materialschäden, aber kaum Menschenleben gefordert – der Absturz dagegen siebzehn Angehörige der Crew getötet und einige Dutzend schwer verletzt. Ihnen zu helfen, wurde zum Problem, da beim Aufprall auch die Medo-Station teilweise zerstört worden war. Die Schräglage des Raumers war auch nicht gerade hilfreich und ließ sich auch durch künstliche Schwerkraft nicht ausgleichen, weil die gleich zu Anfang ausgefallen war. Wenigstens war die Anziehungskraft des Dschungelplaneten etwas geringer als die der Erde. Und das Schiff brannte nicht mehr. Das von den feindlichen Kampfstrahlen ausgelöste Feuer hatte gelöscht werden können. Als die POINT OF auf den noch im Raum abgestrahlten Notruf hin zu Hilfe kam, hatten Skaghättan und seine Crew aufgeatmet – war es schon ein Wunder, daß überhaupt jemand den Notruf aufgefangen hatte, dann war es ein noch größeres, daß ausgerechnet Ren Dharks Flaggschiff, der Gipfel des mysterious’schen Raumschiffsbaus mit seiner enormen Kampfkraft und einer technischen Ausstattung, die ihresgleichen suchte, hierher kam. Aber jetzt... Jetzt war die Zeit der Wunder vorbei. Jetzt sah es so aus, als wäre die Hilfe zu spät gekommen.
Und ob weitere terranische Raumer auftauchten, war mehr als fraglich. Die Störungen des galaktischen Magnetfeldes hatten eine unglaubliche Stärke erreicht; die tobenden Magnetstürme überlagerten selbst die extrem gebündelten und gerichteten ToFunkstrahlen. Die POINT OF war nur sieben Lichtjahre entfernt gewesen und hatte den Notruf daher noch einigermaßen klar auffangen können. Andere Terra-Schiffe waren Hunderte von Lichtjahren weit weg. Keine Chance mehr für die FO-XXIX und vielleicht auch nicht für die POINT OF! Zwischen den Raumern gab es keine Funkverbindung mehr, die Bordwaffen der FO-XXIX waren ohne Funktion... und die Instrumente zeigten, sofern sie überhaupt noch dazu in der Lage waren, unmögliche Werte an. Und draußen kamen die Schatten! Ihr angeschlagenes Schiff lag höchstens drei Kilometer von dem terranischen Wrack entfernt, und niemand wußte, in welchem Zustand sich der Fremdraumer befand, der die FOXXIX so überraschend angegriffen hatte. Drei Kilometer waren eine lächerlich geringe Distanz, und auch die Baumriesen des Urweltdschungels boten keinen Schutz, wenn der Schattenraumer plötzlich aus allen Strahlantennen zu feuern begann. Skaghättan fragte sich, warum die Schatten das nicht schon längst getan hatten. Statt dessen hatten sie Bodentruppen losgeschickt. War ihr Raumer zu einem Strahlangriff nicht mehr in der Lage? Hatte der Zufallstreffer, den die FO-XXIX anbringen konnte, außer dem Antrieb des Gegners auch dessen Waffenzentrale beschädigt? »Das wäre zu schön, um wahr zu sein«, murmelte der Captain. »Und doch schlimm genug...« Denn draußen waren diese Unheimlichen, die der FO-XXIX rapide näher kamen. Wenn sie es schafften, ins Schiff
einzudringen, waren die Terraner so gut wie tot. »Bitte, Sir?« fragte sein 2. Offizier an der Navigationskontrolle. Er ersetzte den Piloten, der bei der Bruchlandung des Forschungsraumers schwer verletzt worden war. Auch der Rest der Zentralebesatzung war nicht ohne Blessuren geblieben. Einer der großen Bildschirme war auseinandergeflogen, und scharfkantige Splitter der transparenten Projektionsfläche waren wie Geschosse durch den Leitstand gerast. Skaghättan winkte ab. »Wenn wir nur wüßten, wie es jetzt draußen aussieht...« Durchs offene Schott rief jemand aus der FuM-Z: »Ich arbeite dran, und vielleicht kriegen wir gleich wieder ein gestochen scharfes Bild...« Skaghättan fuhr herum. Er stürmte zur Funk- und Meßzentrale hinüber, die in den erbeuteten Giant-Raumern direkt neben dem Kommandostand untergebracht war. Auch in den neuen terranischen Nachbauten war dieses Prinzip beibehalten worden. »Haben Sie den Fehler, Xing-Pao?« Der Mann, dessen Großeltern Reisbauern am Jangtsekiang gewesen und im Zuge des Staudamm-Großprojekts zwangsumgesiedelt worden waren (dessen Finanzierung übrigens zusammen mit dem beachtlichen Militäretat die damalige Volksrepublik in den finanziellen Ruin getrieben hatte), schüttelte den Kopf. »Den find’ ich nicht, weil es keinen gibt, sondern diese verdammte Blockade von draußen zu uns ‘reinkommt, aber ich hab’ hier ‘ne Umgehungsstraße gefunden, in die ich diesen Blockadestrom lenken kann...« »Könnten Sie sich vielleicht so ausdrücken, daß auch ein Normalsterblicher Sie versteht, Xing-Pao?« Der hob den Kopf und drehte sich halb herum. »Oh Captain, mein Captain... wenn ich versuche, Ihnen das zu erklären, bin ich morgen früh noch nicht fertig... sorry, Sir, aber ich verstehe
dieses Chaos selbst nicht so ganz, ich sehe nur, versuche etwas zu machen, und... da! Da ist es!« Vor ihm flackerte ein Viphoschirm auf. Der Chinese riß beide Arme hoch. »Ha!« schrie er. »Ausgetrickst! Ihr verdammten Grakos, wenn ihr glaubt...« »Hauptschirme kommen!« rief der 2. Offizier vom Navigationspult her. »Wie zum Teufel meinen Sie das? Die Grakos...« »... haben uns den gesamten Funk und die interne Rechnerkommunikation lahmgelegt!« stieß Xing-Pao hervor. »Der Fehler lag nicht bei uns. Sir, die haben unsere Funkbrücke zu den Flash und zur POINT OF dazu benutzt, um sich irgendwie bei uns einzuloggen und haben uns dann Befehle in die Suprasensoren gejagt, die Datenleitungen überlagert und alles... weiß der Teufel, wie sie das gemacht haben. Schlimmer als ein Computervirus. Aber, beim Großen Drachen, was ‘reinkommt, kann man auch wieder ‘rausschmeißen, und genau das habe ich gerade geschafft und die Impulse über meine wunderschöne Umgehungsstraße ins Nichts gejagt! Schade, daß ich sie dieser teuflischen Schattenbrut nicht zurückschicken kann, damit sie selbst auch ihr Vergnügen damit haben... Aber das schaffe ich auch noch, denn Geben ist seliger denn Nehmen, sagte schon der weise Kon-fu-tse!« »Also so etwas wie elektronische Kriegsführung?« vermutete Skaghättan. Der Chinese nickte. »Wenn Sie jetzt die Suprasensoren im Schiff zu einem Neustart bringen könnten, Sir... wetten, daß dann auch unsere Waffensteuerung wieder funktioniert? Dann können wir alles, was an Schatten zwischen uns und dem Grako-Schrott herumturnt, unserem Glücksdrachen zum Fraß vorwerfen – sauber gegrillt...« »Unserem...? Ach was.« Der Captain winkte ab. »Machen Sie weiter. Ich veranlasse den Warmstart der Rechner. Und
dann...« Dann riß er beide Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen, weil die gesamte Anlage, an der Xing-Pao gearbeitet hatte, in einer grellen Explosion auseinanderflog. Er hörte den Chinesen etwas brüllen, wurde vom Explosionsdruck und einer Metallplast-Platte aus der FuM-Z geschleudert und hatte mehr Glück als Xing-Pao. Als Skaghättan sich wieder aufgerafft hatte und in den brennenden Raum zurückgekehrt war, um Xing-Pao herauszuholen, starb der Chinese in seinen Armen. Und Bildschirme wie Kommunikation waren wieder funktionslos. Die Grakos hatten sich nicht austricksen lassen. Sie hatten den Kugelraumer immer noch unter ihrer blockierenden Kontrolle! * Ich bin nicht tot. Der Flash war nicht zerschellt. Er war nicht beim Aufprall zu einer Bombe geworden, die ihre gesamte kinetische Energie in thermische verwandelte und alles ringsum mit sich in den Untergang riß. Das Intervallfeld hatte den mit hoher Geschwindigkeit stattgefundenen Aufprall abgefangen! Ren Dhark atmete tief durch. Selbst die Massenträgheit war nicht zur Wirkung gekommen, weil innerhalb des Intervallums die »äußeren« Naturgesetze außer Kraft gesetzt waren und nur das Bestand hatte, was von der M-Technik als aktueller Standard definiert wurde. Dennoch konnte mit dem Intervallfeld etwas nicht stimmen, weil die 002 nicht mit Wahnsinnstempo kilometertief in die Planetenkruste hineingejagt war, sondern an der Oberfläche lag! Der Flash war mit der stumpfen Nase aufgeprallt und dann
gekippt, lag jetzt auf dem Boden, und der Bildschirm zeigte, daß die Ausstiegsluken zu benutzen waren. Rätselhaft blieb, warum das Intervallfeld zwar die Aufprallwucht abgefangen hatte, die Planetenmasse aber nicht durchdrungen hatte. Ren versuchte wieder, mit der Gedankensteuerung Kontakt zu bekommen, aber die überflutete ihn prompt wieder mit diesem nervtötenden Satzfragment. Der Commander blockte ab. Er versuchte manuelle Schaltungen. Die spinnenbeinartigen Ausleger der 002, auf denen der Kleinstraumer parkte, wenn er nicht auf dem Konturbett im Flashdepot der POINT OF lag, ließen sich nicht ausfahren. Und die Ausstiegsluke? Nicht über die Steuerung, aber als Dhark die Verriegelung direkt am Ausstieg manuell aufhob, konnte er die Klappe hochstoßen, brauchte aber eine Menge Kraft dazu, weil der Flash ihm keine Servounterstützung gab. Das Kunstmetall der Mysterious war mit seinem spezifischen Gewicht von 28,45 verdammt schwer... Sekunden später wurde es heiß im Flash. Die Hitze kam von draußen. Ren erinnerte sich daran, was Tino Grappa ihm über den Planeten verraten hatte, als er ihn mit den Ortungen erfaßt und analysiert hatte. Die urzeitliche Dschungelwelt besaß eine Durchschnittstemperatur von ungefähr 25° Celsius – die wirkliche Tagestemperatur vor Ort war erheblich höher. Der Commander schätzte sie auf 35 Grad oder mehr. Bei Nacht mochte es deutlich kühler sein, um den Durchschnittswert zu erreichen; durch die nur geringe Achsenneigung des Planeten waren die Jahreszeiten nur schwach ausgeprägt und die Temperaturen mit ihren Höchstund Tiefstwerten relativ stabil. Der immer noch namenlose Planet mit seinen großen Ozeanen und drei Kontinenten war eine Sauerstoffwelt, deren Atmosphäre geringe Beimischungen von Edelgasen aufwies, die aber unbedenklich waren. Dhark kletterte aus dem Flash und sah sich um.
Kein Intervallfeld mehr. Es war ausgeschaltet, denn sonst hätte Ren nicht einmal den Ausstieg öffnen können. Aber wer oder was hatte es deaktiviert? Weder die Automatik noch die manuelle Bedienung funktionierte! »Hier stimmt doch was nicht«, murmelte er. »Wie zum Teufel haben diese Grakos uns erwischt?« Wie konnten die unheimlichen Unsichtbaren die M-Technik dermaßen manipulieren, daß sie in bestimmten Bereichen immerhin noch funktionierte? Ein Systemfehler? War diese neue Waffe der Unsichtbaren noch nicht hundertprozentig ausgereift? Bisher hatten die kompromißlosen Mörder mit diesem Trick noch nicht aufgewartet, aber daß sie außerordentlich lernfähig und bedauerlich innovativ waren, was Taktik und Technologie anging, hatten die Terraner bisher schon verlustreich lernen müssen. Vielleicht war das hier nur ein Test der neuen Waffe, die wenig später im großen Stil gegen die Terraner, Utaren, Nogk und andere galaktische Völker angewandt werden würde... Um so wichtiger mußte es sein, gleich hier den Anfängen zu wehren! Dhark aktivierte sein Armbandvipho. Er versuchte, die anderen Flashpiloten anzurufen. Vielleicht waren die ähnlich sicher gelandet wie er selbst und ebenfalls ausgestiegen, um sich in ihrer neuen Umgebung zu orientieren. Vielleicht konnten sie ihn ja hören und antworten – Dhark hoffte, daß die Blockierung nur die Flash betraf respektive die M-Technik. Dann konnte terranische Kommunikationstechnik noch funktionieren... Rul Warren meldete sich. »Bin ich froh, Sie zu hören, Dhark!« vernahm der Commander und sah das Konterfei des Flashpiloten auf dem Minischirm seines Armbandviphos; Warren hatte die Aufnahmeoptik seines Geräts so gedreht, daß sie sein Gesicht
zeigte. »Ich dachte schon, ich wäre der einzige Überlebende, weil die anderen sich nicht melden, und ich dachte schon, ich wäre der einzige Überlebende, weil die anderen sich nicht melden, und ich dachte schon, ich wäre der einzige Überlebende, weil die anderen sich nicht melden, und ich...« Dhark hieb auf die Aus-Taste. Nur reagierte das Gerät nicht, sondern plärrte stetig weiter: »... dachte schon, ich wäre der einzige...« Dasselbe teuflische Spiel wie mit Captain Skaghättans Funkspruch! Auch hier setzte urplötzlich diese Endlosschleife ein! Dhark zog den Blaster und hieb mit dem Kolben auf sein Vipho, das sich partout nicht abschalten lassen wollte. Etwas knirschte, knackte und zerbrach, und im nächsten Moment war Rul Warren nicht mehr zu hören. »Beide Male Funk«, murmelte Dhark nachdenklich. »So machen sie es also... irgendwie kommen sie über unsere Funkverbindung zu uns herein...« Das war nicht neu! Aber es war verdammt wirkungsvoll. Die Mysterious hatten doch auch schon vorexerziert, wie so etwas gemacht wurde – als Dhark versuchte, den Planeten Cut-out anzufliegen; nur war damals eine hypnotische Hölle über die Ortungen zur POINT OF hereingekommen, nicht über die Funkphasen, aber wo war der prinzipielle Unterschied? Und jemanden mit Telehypnose unter seine Kontrolle zu zwingen oder Technik zu manipulieren mußte für jemanden, der auf dem technischen Standard der Mysterious war, gleichermaßen einfach sein. Die mörderischen Unsichtbaren waren es allemal... Und er mußte an die POINT OF denken – hatte es den Ringraumer ebenso kalt erwischt wie die sieben Flash? Funktionierte auch in der POINT OF nichts mehr? »Der Teufel soll die Unsichtbaren holen... diese Grakos!« Aber daran war der Teufel bestimmt nicht interessiert, waren
die Unsichtbaren doch selbst teuflisch genug! Und Ren Dhark hatte nicht aufgepaßt. Er war aus seinem Flash ausgestiegen, aber für seine Umgebung hatte er sich nicht sonderlich interessiert. Das war sein Fehler! Denn der Feind war hier! * Fast geräuschlos glitten sie heran. Bis fast zur Unkenntlichkeit verschmolzen mit dem Hintergrund, vor dem sie sich bewegten. Ließ man sie auch nur für einen winzigen Moment aus den Augen, waren sie verschwunden und nur mit einer Menge Glück wieder zu entdecken. Die Schatten... die unheimlichen Mörder, die aus dem Nichts kamen und im Nichts auch wieder verschwanden, und in deren Verhalten keine andere Motivation zu erkennen war als nur Haß! Immer näher kamen sie der FO-XXIX. Der 2. Offizier hatte Männer in die Schleusen des Schiffes geschickt, mit schweren Handwaffen ausgerüstet, um die Angreifer fernzuhalten und zurückzuschlagen. Aber der größte Teil der Crew bestand aus Wissenschaftlern, die vom Kampf nur wenig verstanden. Durch den Ausfall der Bordkommunikation war es zudem problematisch, die Männer und Frauen sinnvoll einzusetzen. Befehle konnten praktisch nur durch direkten Zuruf weitergegeben werden. Und Wissenschaftler verfügten auch nicht unbedingt über jene militärische Disziplin, die nötig war, um die Verteidigung des Forschungsraumers effizient vorzubereiten und auszuführen. Ein paar Offiziere und Mannschaften verteilten Waffen und versuchten ihren Kameraden von der forschenden Zunft klarzumachen, daß bald sie es sein würden, die man erforschte – als Leichen, von den Grakos umgebracht, wenn sie nicht versuchten, den Kopf und
andere edle Körperteile tunlichst in Deckung zu halten und trotzdem Grakos abzuschießen, wo immer diese schattenhaften Killer wahrgenommen werden konnten. »Kein Pardon!« lautete der ultimative Befehl. »Nicht fragen, sofort schießen – die Schattenkrieger fragen auch nicht!« Sergej Antonow, Physiker und Astronom, wuchtete die schwere Zweihandwaffe hoch, zielte und drückte den Strahlkontakt. Ein zolldicker Blasterstrahl blitzte aus der Waffenmündung und riß nur zweihundert Meter von der Bodenschleuse entfernt etwas aus dem Nichts, das für ein paar Sekunden von sprühenden Funken und leckenden Flammen umflossen wurde, um sofort mit einem weiten Sprung aus dem Wirkungsbereich der terranischen Waffe zu verschwinden. Antonow hatte die Richtung erfaßt, schwenkte den Blaster herum und gab den nächsten Schuß ab. Abermals hatte er den Schatten erwischt, dessen Konturen vom Energiestrom umspielt wurden, und da fauchte neben dem Physiker Sergeant Tahores Waffe auf und erfaßte das selbe Ziel. In zweihundert Metern Entfernung flog etwas, das gerade wieder unsichtbar werden wollte, mit der Wucht einer winzigen Fusionsladung auseinander! Unwahrscheinlich grell das Aufblitzen, das Antonow für lange Augenblicke blind werden ließ. Eine Hand riß ihn zur Seite, ließ ihn straucheln, und er verlor den Zweihandblaster. »Klasse, Mann!« schrie neben ihm Tawnee Tahore, deren Gesicht hinter der Kampfmaske kaum zu erkennen war. »Den haben wir voll erwischt!« »Roboter?« keuchte Antonow, der wieder verschwommen sehen konnte, sich die Tränen aus den Augen zu wischen versuchte und sich fragte, warum sein Ziel mit vehementer Wucht explodiert war. »Verdammt, sind das Roboter, Sergeant?« »Keine Ahnung!« rief Tahore ihm zu. »Und halten Sie den
Kopf unten, verdammt!« Etwas Unheimliches, Schwarzes befand sich zwischen ihnen in der Schleuse. Es schien das Licht zu schlucken und leuchtete dennoch auf unheimliche Weise selbst. Wo es Metall und Plastik berührte, löste dieses sich einfach auf. Ein Kollege Antonows, der nur einen Herzschlag lang unvorsichtig gewesen war, wurde von dem lautlosen schwarzen Strahl berührt. Antonow sah, daß der Mann plötzlich nur noch zur Hälfte existierte; die andere Hälfte wirbelte als kristallisch funkelnder schwarzer Staub durch die Schleuse und wurde von dem schwarzen Strahl förmlich aufgesogen. Neben Antonow fauchte wieder Tahores Blaster und versuchte die Stelle zu treffen, von der der schwarze Strahl ausging. Tahore war nicht von der grellen Explosion geblendet worden; ihre Kampfmaske hatte die Lichtflut rechtzeitig ausgefiltert. Deshalb sah sie den Feind besser als der Physiker, der immer noch gegen die Tränenflut aus seinen schmerzenden Augen ankämpfte. Der schwarze Strahl verlosch. »Verdammt, er ist weg!« fauchte die Inderin. »Aufpassen!« Hinter ihnen würgte jemand und übergab sich. Antonow selbst wagte nicht, seinen toten Kollegen anzusehen, von dem nur noch ein Teil seines Körpers existierte. Ihm reichten die tiefen Furchen im Stahl und Plastik der Schleuse, die der schwarze Strahl gezogen hatte. Dort funkelte Staub, aber gleichzeitig sah alles auch nach Schmelzspuren aus. Was war das für eine Strahlenart, die zugleich schmolz und zerpulverte? »Den Kopf ‘runter, verdammt!« stieß Tahore hervor. »Das gilt für alle, auch für den großen Kotzer dahinten! Und die Waffen hoch!« Sie feuerte schon wieder. Ihr Blasterstrahl sägte Baumriesen um. Brände flackerten in einiger Entfernung vom Raumer auf. Plötzlich wurde wieder etwas Schattenhaftes sichtbar.
Antonow feuerte sofort darauf, desgleichen zwei andere Männer, die sich ebenfalls in der beschädigten Schleuse aufhielten. Diesmal schloß Antonow die Augen rechtzeitig, ehe abermals ein Schattenkrieger in einer gewaltigen Explosion verging. »Das müssen doch Roboter sein!« stieß der Physiker hervor. »Roboter explodieren, wenn man sie zerstört, aber Lebewesen doch nicht!« »Haben Sie die Giants vergessen mit ihrem Sprengsatz im Körper?« entfuhr es Tahore. Davon hatte Antonow noch nie etwas gehört, weil ihn das auch nie interessiert hatte. Von den Giants wußte er nur, daß sie sich hochtrabend »All-Hüter« nannten, vor Jahren die Menschheit unterjocht und dabei einen neuen Typ Mensch herangezogen hatten, die Robonen, die der Erde mehr und mehr Schwierigkeiten machten. Das zu wissen reichte ihm; mit mehr hatte er sich nie belasten wollen. Plötzlich tauchte etwas seltsam Verwaschenes unmittelbar vor der Schleuse auf. Es stieg vom Boden empor und... »Sie sind hier!« schrie jemand panikerfüllt. »Sie sind schon hier, und sie...« Antonow schoß einfach. Aus allernächster Nähe feuerte er seinen Zweihandblaster auf den Grako ab. Das reichte. Der Unsichtbare explodierte mit unglaublicher Wucht. Und in der Schleusenkammer gab es niemanden mehr, der lebte. * Dhark sah die Schatten! Sie waren plötzlich überall! Unheimliche, flirrende Umrisse, die sich an ihn heranschoben. Sie waren zwischen den Bäumen, bewegten sich durch Bodengewächse, zwischen mehrfach mannshohen Farnen und
Schachtelhalmgewächsen hindurch. Angst sprang den Commander an wie ein wildes Tier, kreatürliche Angst vor diesen Unheimlichen, die nichts anderes kannten als Töten und Vernichten! Wie viele waren es? Er war nicht in der Lage, sie zu zählen. Sie veränderten ihre Standorte pausenlos, und wenn er einem nachsah, verlor er den anderen aus den Augen und konnte nicht sagen, ob der nächste, den er vor dem leicht verfärbten, verschwommenen Hintergrund oder an den Pflanzenbewegungen erkannte, derselbe war, den er schon einmal registriert hatte oder noch ein anderer. Er hob den Blaster. Mit der anderen Hand zog er den Klarsichthelm seines M-Raumanzuges über den Kopf. Der Helm, im Ruhezustand wie eine Kapuze auf dem Rückenteil zusammengefaltet, blähte sich automatisch auf und wurde semistabil, nur verzichtete Ren darauf, den Helm richtig zu schließen. Er war nicht sicher, ob die Hilfstechnik des MAnzuges nicht ebenso versagte wie die Technik seines Flash! Und im geschlossenen Raumanzug, der sich dann möglicherweise nicht mal mehr öffnen ließ, wollte er nicht ersticken! Es hatte keinen Sinn mehr, in den Schutz des Flash zurückzukehren. Daß die Unheimlichen auch mit Unitall fertig wurden, hatten sie in etlichen Raumgefechten bewiesen. Unitall, das eigentlich nur durch Nadelstrahlbeschuß von 210 Sekunden Dauer zu zerstören war, sich dann aber in einer explosiven Reaktion zersetzte, deren Zerstörungskraft jede nukleare Bombe übertraf. Das zumindest hatte man bislang über Unitall gewußt, bis die Riesenstationen der Unsichtbaren mit ganzen Ringraumerpulks aufgeräumt hatten... Die Grakos, von den Mysterious ins Nichts vertrieben, waren zurückgekehrt, um Rache zu nehmen... und machten dabei keinen Unterschied zwischen Ringraumern und den
Schiffen anderer Völker. .. Oder war alles ganz anders? Hatte Olan, der Salter, auch in diesem Punkt gelogen, und waren die Grakos in Wirklichkeit doch die Mysterious, die sich nach tausend Jahren einer anderen, neuartigen Technologie bedienten? Vorstellbar, wenn man bedachte, wie sich allein auf Terra der technische und wissenschaftliche Standard innerhalb von tausend Jahren verändert hatte! Warum sollte ausgerechnet bei den Mysterious mit ihrer Supertechnik die Zeit stehengeblieben sein? Gedanken, die nur Sekundenbruchteile brauchten. Die Schatten brauchten länger, sich an Ren Dhark heranzutasten, der immer noch abwartend neben seinem Flash stand und durch die Beschäftigung mit seinen Überlegungen der Angst Herr wurde, die allmählich nachließ. Da bewegte sich etwas nur fünfzehn, zwanzig Meter vor ihm, und im schattenhaft Verfließenden glaubte Dhark eine Bewegung zu sehen, als reiße jemand eine Waffe hoch und wolle sie auf ihn abfeuern. Sein Finger drückte den Strahlkontakt seines Blasters! Vor ihm flog etwas mit unglaublich grellem Aufblitzen auseinander. Der Klarsichthelm seines Raumanzugs blendete automatisch ab und bewies damit, daß zumindest diese Technik doch noch funktionierte. Im gleichen Moment ließ Dhark sich fallen und sah schwarze Strahlen über sich hinwegrasen, ein tödliches Gitter, das von allen Seiten her abgefeuert worden war. Trotz der Abblendung des Raumhelmes sah er das schwarze Leuchten dieser Energiestrahlen, die Dschungelpflanzen vernichteten. Dann krachte und blitzte es abermals, und noch einmal. »Aufpassen, Dhark!« hörte er Rul Warren schreien. Das Zischen von Warrens Blaster war wie Musik in seinen Ohren. »Ich bin schräg hinter Ihnen!« Noch ein Unsichtbarer explodierte. Die Glutwelle, mit der er
verdampfte, schlug Ren Dhark entgegen. Der M-Anzug schützte ihn vor der tobenden Hitze, nur durch die Helmöffnung kam sie gnadenlos herein. Da riskierte Dhark es doch, den Helm richtig zu schließen. Der M-Anzug funktionierte! Jetzt feuerte auch Ren wieder. Er sah Schatten, die im Strahlfeuer vergingen wie kleine Bomben, und er sah Schatten, die zwischen Riesenpflanzen verschwanden, weil sie vor den beiden Terranern flohen! Es wurde ruhig. Warren kam heran. Auch er hatte seinen Raumanzug geschlossen, klappte jetzt den Helm wieder zurück, der sich als Kapuze hinter seinem Nacken zusammenfaltete, und bedeutete dem Commander der Planeten, seinen Helm ebenfalls zu öffnen. »R-Strahlung gibt’s keine, wo diese Biester auseinandergeflogen sind, also keine Gefahr für uns«, erklärte der Flashpilot. »Aber über M-Funk mag ich nicht mit Ihnen reden, sonst haben wir diesen verfluchten Mist, der alles lahmlegt, auch noch in unseren Anzügen!« Unwillkürlich sah Dhark auf Warrens Handgelenk. Dessen Armbandvipho war ebenfalls zerstört. »Wie haben Sie mich gefunden, Rul?« wollte er wissen. »Bevor die Technik ausflippte und ich nur noch meine eigene Stimme hörte, konnte ich Ihren Standort noch anpeilen«, legte er klar. »Aber fragen Sie mich nicht, wo die anderen sind. Irgendwo hier ringsum, und ich denke mal, sie haben bei der Bruchlandung ebensoviel Glück gehabt wie wir beide.« Er trat mit dem Fuß gegen die 002. »Mir ein Rätsel, warum wir mit dem Intervallfeld nicht quer durch den Planeten geschossen sind! Commander, wir müssen uns zur FO-XXIX durchschlagen. Nur dort haben wir eine Chance. Hier sind wir mitten zwischen den Bodentruppen der Grakos. Wir müssen
die Kameraden finden und durchzubrechen versuchen.« Da zeigte Ren Dhark ihm wieder einmal, daß er aus einem ganz anderen Holz geschnitzt war. »Rul, zusammen mit den anderen werden wir in Richtung des Schattenraumers marschieren! Wir sind hergekommen, um der FO-XXIX Entlastung zu bringen, nicht, uns in ihr zu verschanzen und belagern zu lassen! Wir drehen den Spieß um! Schade nur, daß wir die Flash zurücklassen müssen, aber ehe wir nicht die heimtückische Waffe ausgeschaltet haben, mit der die Grakos uns blockieren, fliegen die leider keinen Meter mehr...« Rul Warren zeigte sein Entsetzen offen. »Commander, mit bloßen Händen wollen Sie... wollen wir ein ganzes Raumschiff angreifen?« Dhark lachte! »Ein Raumschiff, das ein Wrack ist! Wir haben doch schon mit weit weniger Mitteln viel mehr zustande gebracht! Wir haben uns auf Deluge mit nichts als ein paar Fetzen Kleidung auf der Haut und den blanken Fäusten durch den Regendschungel gekämpft, und hier haben wir wenigstens MAnzüge und Blaster! Worauf warten wir noch? Lassen Sie uns Wonzeff, Doraner und die anderen finden und immer auf der Hut sein vor Unsichtbaren, die uns auflauern! Verdammt, ich will dieses Schattenschiff haben, und ich will sehen, wie ein Grako wirklich aussieht!« Rul Warren schluckte. »Wie der Goldene Mensch der Mysterious...« murmelte er, aber es klang mehr wie eine Frage...
2. Captain Skaghättan starrte mißmutig auf den Viphoschirm. Der zeigte verwaschene Strukturen, und auch die Tonphase war schlecht. Aber es gab jetzt wenigstens wieder die Möglichkeit, sich innerhalb des Raumers miteinander zu verständigen. Irgendwie hatten ein paar Leute mit ähnlich genialen Ideen wie der tote Xing-Pao es fertiggebracht, die Geräte auf eine absolut ungewöhnliche Frequenz umzustellen, fast schon außerhalb des für Vipho-Sendungen geeigneten Bandbereichs. Besser als gar nichts... Schlechter als alles Bisherige waren dagegen die Meldungen, die zur Zentrale des Kugelraumers durchgegeben wurden. Die Schatten waren bereits überall um die FO-XXIX und versuchten, das Schiff zu erstürmen. Die Terraner leisteten erbitterte Gegenwehr, aber es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Unheimlichen irgendwo eindrangen. Da die Schleusen erbittert verteidigt wurden, begannen die Schattenkrieger, an anderen Stellen Löcher in die Schiffszelle zu brennen... Immerhin – jetzt, da Kommunikation in eingeschränktem Maß wieder möglich war, ließ sich eine etwas effizientere Verteidigung organisieren. Skaghättan verschaffte sich durch die Meldungen ein Bild von der prekären Lage und erteilte dann Anweisungen. Allerdings dauerte es immer noch eine Weile, bis sich zu allen Besatzungsmitgliedern herumgesprochen hatte, auf welche Frequenz die Viphos umzustellen waren. Der 2. Offizier grinste freudlos: »Wenn wir früher auf Terra privat versucht hätten, ausgerechnet diesen Kanal zu benutzen, hätten uns die Fernmeldebehörden und Funknetzbetreiber bis ans Ende der Welt gejagt! Dieser Nebenkanal stört nämlich alles
mögliche andere an elektronischen Geräten und ist deshalb nie zur offiziellen Benutzung freigegeben worden.« »Woher wissen Sie das denn alles?« staunte Skaghättan. »Elektronische Archäologie ist mein Hobby, Sir! Als sie erst einmal die elektronische Datenverarbeitung entdeckt hatten, waren unsere Altvorderen gar nicht so übel drauf. Technisch wär’s nicht mal ein Problem, die Viphos noch weiter zu optimieren, daß sie aus dieser Frequenz viel mehr ‘rausholen, aber dann funktioniert im Umkreis nichts anderes mehr richtig. Hoffentlich fliegen unseren Leuten nicht die Blaster um die Ohren, wenn sie gleichzeitig funken und schießen!« Skaghättan sah noch ein ganz anderes Problem. »Was, wenn die Schatten sich auf unsere Kommunikation einstellen und die auch lahmlegen?« »Dann werden wir uns vermutlich etwas Neues einfallen lassen müssen, Sir«, murmelte der 2. Offizier unbehaglich. »Auf die Hilfe der POINT OF werden wir wohl kaum noch rechnen können. Die hat’s auch erwischt, sonst wären die Flash oder der Raumer längst hier.« »Wir lassen uns so oder so etwas einfallen«, sagte Skaghättan verbissen. »Wir schlagen zurück! Wenn die Schatten bei uns durch die Hintertür ‘reinkommen wollen, packen wir sie eben von hinten! Unsere Leute müssen ‘raus aus dem Schiff. Aus den Schleusen heraus haben sie doch nicht mal ein halbwegs vernünftiges Schußfeld! Da gibt’s doch mehr tote Winkel als freie Sicht!« Der 2. Offizier sah Skaghättan fassungslos an. »Sir – Sie wollen unsere Leute tatsächlich nach draußen schicken?« »Will ich. Und ich werde mit von der Partie sein. Entweder schaffen wir es, diesen Angriff abzuwehren, oder wir gehen sowieso alle drauf. Dabei wird es völlig egal sein, ob wir in der FO-XXIX sterben oder draußen im Dschungel. Da sind unsere Überlebenschancen vielleicht sogar noch größer.« Der 2. Offizier teilte diese Ansicht nicht. Aber er sagte
nichts dazu. Skaghättan war der Captain. * In der POINT OF war es immer noch nicht möglich, auch nur einen Teil der M-Technik wieder zu aktivieren. Dan Riker fragte sich, was Arc Doorn gerade tat. Der Sibirier mit seinem geradezu phantastischen Einfühlungsvermögen in fremde Technik mußte doch eine Lösung finden! Doorn hatte schon oft genug unter Beweis gestellt, daß er auch mit den Problemen der Mysterious-Technik fertig wurde, wenn andere nur noch verzweifelt den Kopf schüttelten und kapitulierten. Plötzlich glaubte Riker in der Bildkugel eine Veränderung wahrzunehmen. Das 2,68 Meter durchmessende transparente Gebilde, das über dem drei Meter langen Instrumentenpult schwebte, zeigte den vierten Planeten nicht mehr exakt so wie noch vor wenigen Minuten. Riker stieß Falluta an. »Spinne ich, oder fällt Ihnen auch etwas auf?« Der 1. Offizier des Ringraumers kniff die Augen zusammen und betrachtete die Wiedergabe, die plastisch im Innern der Bildkugel projiziert wurde. »Sagen Sie jetzt nicht, da wäre eine Grako-Station aufgetaucht und – oh, verdammt.« »Wir rutschen also doch aus dem Orbit«, murmelte Riker betroffen. Hen Falluta nickte. »Das hat uns gerade noch gefehlt! Nennen Sie’s ruhig beim Namen: Wir rutschen nicht nur, wir stürzen auf den Planeten ab!« »Und das ohne Intervallfelder«, sagte Riker leise. »Den Einflug in die Atmosphäre und die Erhitzung wird das Unitall überstehen, aber wenn wir auf den Boden krachen... na, ich glaube, dann wäre ich doch lieber nicht an Bord.« Dro Cimc beugte sich vor.
»Haben wir eigentlich schon ausprobiert, Intervallfelder innerhalb des Raumers zu erzeugen?« Er hat ›wir‹ gesagt und nicht ›Sie‹, dachte Riker und konnte sich nicht einmal darüber wundern, wie sehr der Tel sich bereits mit der Crew der POINT OF identifizierte. »Haben wir nicht. Wie stellen Sie sich das vor, Cimc?« »Die Flash, die noch in ihren Depots liegen!« verdeutlichte der Tel. »Das sind doch autarke Einheiten, nicht unmittelbar mit der POINT OF-Technik gekoppelt, oder? Wenn wir sie starten...« »Sie lassen sich nicht starten, weil die Konturbettungen sie nicht freigeben.« »Die aber direkt Teil der POINT OF sind«, widersprach Cimc. »Die Flash dagegen nicht. Einsteigen, Intervallfeld manuell einschalten und dann ausfliegen! Das müßte doch gehen.« »Und dann?« »Könnten wir entweder die Crew rechtzeitig vor dem Aufprall auf den Planetenboden evakuieren, oder versuchen, die Flash als Zusatztriebwerke außen an die POINT OF zu legen und die Flugbahn damit wieder zu stabilisieren.« Riker runzelte die Stirn. »Ideen haben Sie...« »Aber es könnte funktionieren«, unterstützte Leon Bebir den Tel. »Vorausgesetzt, wir können die Flash tatsächlich starten, und sie fallen nicht, sobald sie draußen sind, ebenfalls dieser verdammten Funkwaffe anheim wie die POINT OF selbst!« »Die Crew evakuieren nur mit den paar Flash, die wir an Bord haben, wird wohl zu lange dauern«, sagte Falluta. »Aber die Maschinen gewissermaßen als externe Manövriertriebwerke zu verbinden und die POINT OF wieder in den Orbit zurückzuschieben... das könnte klappen. Versuchen wir’s erst mal mit einem Flash. Wenn der durchkommt und draußen funktionstüchtig bleibt, setzen wir auch alle anderen ein.«
»Testpilot bin ich!« bestimmte Riker und machte sich bereits auf den Weg zu den Flashdepots. Dro Cimc wollte sich ihm anschließen. »Es reicht, wenn bei einem Fehlschlag einer von uns draufgeht«, warnte ihn Riker. Der Tel, der trotz seiner schwarzen Hautfarbe keine negroiden Merkmale aufwies, schüttelte nach terranischer Sitte heftig den Kopf. »Es war meine Idee, also habe ich ein Recht darauf, mitzufliegen, und wenn es nicht funktioniert, wäre ich wie alle anderen in der POINT OF auch nicht mehr sicher. Also, lassen Sie mich mitfliegen, Riker?« Der resignierte. »Meinetwegen.« Sie trugen beide ihre M-Raumanzüge, schon seit Beginn des Alarmzustandes, der bisher noch nicht wieder aufgehoben worden war. Vorsichtshalber schlossen sie ihre Helme, nachdem sie in Rikers Flash Platz genommen hatten. Dann klappte Riker den Einstieg zu und versuchte den Flash zu starten. Das Intervallfeld war nicht zu aktivieren. Das Beiboot war zwar voll funktionstüchtig, aber die Bettung gab es nicht frei, und solange das Intervallum nicht einzuschalten war, konnte dieser künstliche Miniweltraum auch den Flash nicht durch die Halterungen gleiten lassen, als wären die überhaupt nicht vorhanden. »Aus der Traum«, kommentierte Dan trocken. »Es wäre ja auch zu schön gewesen. Haben Sie vielleicht noch einen Vorschlag? Wir sollten nichts unversucht lassen, nur fällt mir nichts mehr dazu ein.« Cimc ließ die Luke des Flash wieder hochsurren. »Wir könnten die Flash-Ortungen stellvertretend für die der POINT OF nutzen.« Riker stutzte. »Manchmal kommt man auf das Naheliegende zuletzt. Sie haben recht, Cimc. Dann können wir wenigstens herausfinden, was um uns herum vorgeht und was uns die
Bildkugel nicht zeigt.« »Ich informiere eben Leutnant Grappa«, bot Cimc an, schaltete den Bordfunk des Flash ein und – die gesamte Technik des zylindrischen Raumbootes lag still, aber aus dem Funklautsprecher klang jetzt auch hier der nervtötende Satz in endloser Wiederholung: »... anhand von leichten Verfärbungen des Dschungelhintergrunds sehen können, weiter vor und anhand von leichten Verfärbungen des Dschungelhintergrunds sehen können, weiter vor und anhand von leichten Verfärbungen des...« Und auch in den anderen Beibooten des Ringraumers sah es jetzt nicht mehr anders aus... * Sieben Männer kämpften sich durch die Hölle – Ren Dhark und die Flashpiloten Wonzeff, Doraner, Dressler, Warren, Vultejus und Kartek. Sie hatten nicht lange gebraucht, um zueinander zu finden. Es gab nur einen bestimmten Radius, innerhalb dessen sie sich aufhalten konnten. Jetzt arbeiteten sie sich durch den Dschungel. Brütende Hitze lastete auf ihnen. Die hohe Durchschnittstemperatur auf Planet Vier ließ auch den Tageswert hochschnellen und machte aus der Urwelt einen Backofen. Daß beide Raumer in Küstennähe abgestürzt waren, änderte daran nichts; der Ozean war kein Kältereservoir und konnte daher keine klimatische Erleichterung bringen. Zweimal trafen sie auf Schattenkrieger, die ohne Warnung das Feuer eröffneten. Beide Male kamen sie ungeschoren davon, weil sie höllisch aufpaßten und genau wußten, worauf sie zu achten hatten. Die Terraner erwiderten das Feuer und erlebten jedes Mal, daß tödlich getroffene Schatten in einer heftigen Thermoreaktion vergingen. Mike Doraner und Rul Warren brannten mit ihren Blastern
eine Schneise durch den Dschungel. Wild wuchernde Bodenpflanzen, die krakenartige Fangarme besaßen und damit nach Beute tasteten, verbrannten im Strahlfeuer. Wie gefährlich diese Pflanzen waren, zeigte sich, als eines dieser harmlos wirkenden Gewächse blitzschnell nach dem Flashpiloten Hans Vultejus griff, ihn packte und auf ein Konglomerat von teppichgroßen Blättern zuriß. Kaum hatte einer dieser pflanzlichen Fangarme den Piloten im Griff, bewegten sich drei andere, um den Mann ebenfalls zu erreichen, zu umschlingen und damit bewegungsunfähig zu machen. Alles lief mit unglaublicher Schnelligkeit ab. Als die Kameraden reagierten, war Vultejus schon beinahe zur Hälfte zwischen den Teppichblättern verschwunden, die sich einzurollen begannen, um ihr Opfer zu überdecken und mit einem klebrigen Sekret zu versaften. Blasterstrahlen durchschnitten die Fangtentakel und fraßen sich in die Mörderpflanze hinein. Sie fiel nach allen Seiten auseinander, enthüllte dabei das halbverdaute Skelett eines Mini-Sauriers von Büffelgröße und schleuderte in wilder Agonie Vultejus von sich. Mit Vibromessern schnitten Kartek und Dressler ihren Kameraden aus der immer noch festen Umschlingung durch Tentakelreste heraus. Das klebrige Verdauungssekret haftete noch am M-Anzug und ließ sich nur mit äußerster Mühe entfernen, aber es kapitulierte auch vor dem Material des Schutzanzugs. »Wir verlieren Zeit!« drängte Ren Dhark, der deshalb in der Säuberungsaktion keinen großen Sinn sah. Solange das Sekret dem Piloten nicht gefährlich werden konnte, mochte es weiter am Raumanzug haften. Nachhaltig säubern konnte man den Anzug auch später noch. »Weiter!« Hin und wieder trafen sie auf kleinere Reptilien. Vogelartige und Insekten schien es seltsamerweise überhaupt nicht zu geben. Die Evolution auf Planet Vier schien in dieser Richtung
noch keine Anstrengungen unternommen zu haben. Dementsprechend mußte die ganze Pflanzenwelt darauf ausgerichtet sein, sich durch Ableger oder Selbstbestäubung zu vermehren. Was nicht gerade zur Vergrößerung der Artenvielfalt beitrug und die Fortentwicklung erheblich hemmte. Vielleicht würde diese Welt einige hundert Millionen Jahre länger benötigen als die Erde, um eine vergleichbare Entwicklung hervorzubringen. Aber das sollte nicht das Problem der Terraner sein. Die waren gar nicht böse darüber, es nicht auch noch mit Insekten zu tun zu haben. »Bei diesem urzeitlichen Riesenwachstum... wenn ich mir vorstelle, hier könnten albatrosgroße Stechmücken herumsirren, wird mir schlecht!« offenbarte Mike Doraner. »Diese Tentakel-Salatköpfe reichen schon völlig aus!« Dazu kamen Chamäleon-Kopien in Elefantengröße und kleine, aber äußerst bissige Raubsaurier. Diese schossen aus organischen Preßluftkammern Kapseln ab, die beim Aufprall zerplatzten und eine zersetzende Säure versprühten, die einen am Fuß des Stammes sieben bis acht Meter durchmessenden Baumriesen innerhalb einer Minute durchfraß und fällte. Weit voraus blitzte es im Pflanzendickicht grell auf. Eine Explosion, wie sie bei den Schattenkriegern üblich war. Dort, wo es geknallt hatte, konnten aber keine Terraner sein, die in diesem Fall nur von der FO-XXIX hätten stammen können. Sollten die Schatten einen der ihren an den mörderischen Dschungel verloren haben? War er das Opfer eines Raubreptils oder einer Killerpflanze geworden? Sie fanden es nicht heraus, weil der Explosionsort abseits ihres eingeschlagenen Weges lag. Es kam auch zu keinem Kontakt mit anderen Schattenkreaturen mehr. Aber Ren Dhark mahnte jetzt, mit den Energievorräten der Blaster sorgsamer umzugehen. Die Kapazitätsanzeige von Doraners und Warrens Waffen sank rapide, während die beiden Männer weiter die
Schneise durch den Dschungel brannten. Die Schneise wurde schmaler, damit aber auch das Risiko größer, von Killerpflanzen angegriffen zu werden, denen die Männer somit näher kamen. Es wurde Zeit, daß sie das abgestürzte Schattenschiff erreichten! * Dro Cimc machte sich Vorwürfe, durch seinen Leichtsinn nun auch die Flash blockiert zu haben, aber dadurch ließ sich nichts mehr rückgängig machen. Riker hielt ihm seinen Fehler auch nicht tadelnd vor. Es war passiert, es hätte selbst ihm passieren können. In dieser Streßsituation, der sie alle unterworfen waren, waren Fehler verständlich, wenn auch nicht unentschuldbar. Als sie in den Leitstand der POINT OF zurückkehrten, wartete Anja Riker auf sie. »Wie könnt ihr dieses Geplärre nur ertragen?« erkundigte sie sich und meinte damit den Dauerfunkspruch, der auch die Zentrale berieselte. »Mit der Zeit lernt man, die Ohren auf Durchzug zu schalten«, erwiderte Dan. Er warf einen Blick in die Bildkugel und erschrak. Die Planetenoberfläche war rapide nähergerückt. »Wir stürzen ab, oder?« deutete Anja seine Reaktion richtig. Er nickte. »Wieviel Zeit haben wir noch?« Dan wagte nicht, das abzuschätzen. »Zu wenig, fürchte ich. Die Reibungshitze beim Eintritt in die Atmosphäre wird die Unitallwandung nicht durchdringen können. Bis ein halber Meter Unitall sich aufheizt...« »Rede kein Blech!« unterbrach sie ihren Mann. »Wenn uns keine Gefahr droht, warum macht ihr alle dann so sorgenvolle
Gesichter? Wir fliegen ohne Intervallfeld, stimmt’s? Und dann zerbrechen wir beim Aufschlag wie eine Eierschale, oder wenn die Druckzelle hält, schmettert es uns durch unsere eigene Körpermasse nieder... versuche nicht, mir etwas vorzumachen, mein lieber Dan. Ich kenne dich doch!« Und sie kannte die Raumfahrt. Sie war als Chefmathematikern auf der GALAXIS geflogen, dem Kolonistenraumer, der auf dem Planeten Hope im Col-System strandete. Und sie war in der gleichen Position an Bord der POINT OF gewesen, nachdem Ren Dhark und die anderen den Ringraumer auf Hope gefunden und flugfähig gemacht hatten. Erst später, nach dem Ende der Giant-Invasion und ihrer Heirat mit Dan Riker, war sie wieder einigermaßen seßhaft auf der Erde geworden, aber es zog sie auch heute noch immer wieder hinaus ins All. Sie trat zu ihrem Mann. »Wenigstens sind wir zusammen, wenn es zu Ende geht, und ich muß nicht auf Terra darauf warten, daß mir irgendwann jemand eine sauber zusammengefaltete Flagge überreicht und mit Trauermiene schonend beibringt, daß du nie wieder zurückkehrst...« »Noch leben wir!« gab Dan schroffer als beabsichtigt zurück. »Und solange wir leben, denkt keiner von uns daran, aufzugeben!« »Was ist mit Doorn?« drängte Anja. »Findet der keinen Trick, mit dem wir das Schiff wieder unter Kontrolle bekommen?« Das Schott zum Leitstand flog auf. Der untersetzte, bullige Sibirier stürmte herein. Er stutzte, als er Anja an der Seite ihres Mannes in der Zentrale sah. Dann stapfte er hastig weiter. »Doorn!« rief Riker ihn an. »Was haben Sie?« »Die Lösung!«
* Captain Skaghättan führte ein zwanzigköpfiges Einsatzkommando nach draußen. Zwei andere Offiziere brachen mit weiteren Kampftrupps auf. Ihre Absicht war es, den Schattenkriegern in den Rücken zu fallen, die in die FOXXIX einzudringen versuchten. Mehr als drei Trupps ließen sich nicht ohne überhöhtes Risiko nach draußen bringen, weil nur eine Schleuse dem Boden nahe genug war, so daß die Männer ohne technische Hilfsmittel den Planetenboden erreichen konnten. Die Unheimlichen dagegen schienen über AntigravUnterstützung zu verfügen, denn sie schwebten schattenhaft an der hoch aufragenden Kugelzelle des Forschungsraumers und versuchten in einiger Höhe, ins Schiff einzudringen. Sie bemerkten rasch, was vorging. Zu rasch für Skaghättans Begriffe, der kaum genug Zeit fand, seine Leute zu formieren. Sie hatten sich erst ein paar Dutzend Meter vom Schiff entfernt, als sie bereits in erste Schußwechsel verwickelt wurden. »Verteilen!« schrie Skaghättan den anderen zu und gab über die Viphophase den Befehl auch an die beiden anderen Stoßtrupps weiter. Von einem Moment zum anderen war jeder von ihnen auf sich allein gestellt und mußte zusehen, wie er überlebte, um dabei dem Feind so viel Schaden wie möglich zuzufügen. Immerhin gelang es ihnen, die Schatten von der FO-XXIX abzulenken und sie davon abzuhalten, den Kugelraumer wie eine Konservendose zu öffnen. Dafür aber wandten die Fremden sich jetzt ihnen zu und konzentrierten sich mit mörderischer Wut darauf, die Terraner niederzumachen. Einige von ihnen wandten dabei plötzlich eine ganz neue Taktik an. Waren sie einmal getroffen, versuchten sie nicht mehr zu fliehen, sondern stürmten in rasender Geschwindigkeit
direkt auf die Terraner zu und in deren wildes Strahlfeuer hinein, um ihr explosives Ende so nahe wie möglich an die Menschen heranzubringen und diese mit sich in den Tod zu nehmen! Innerhalb weniger Minuten verloren die drei Trupps ein Drittel ihrer Stärke. Und es war abzusehen, wann die Unsichtbaren auch den Rest von ihnen erledigt hatten. Sie waren zu schwer auszumachen und zu schwer zu treffen, weil sie sich in ständiger Bewegung befanden, aber die Terraner konnten sich nicht tarnen, höchstens sich hinter Dschungelbewuchs verbergen. Doch sobald sie selbst feuerten, flog dabei natürlich ihre Tarnung auf, und sie wurden wieder zum Ziel der Schattenattacken. Die Unheimlichen waren in der Überzahl. Skaghättan wußte, daß sie alle verloren waren, wenn nicht doch noch Hilfe von außen kam. Sein Versuch, die Belagerung von außen aufzubrechen, war zum Scheitern verurteilt. Die Aktion verlängerte die Galgenfrist für die FO-XXIX nur ein wenig. Aber er hatte es wenigstens versuchen müssen. Die Schattenkrieger wurden immer mehr. Mochte der Teufel wissen, wie viele von ihnen in einem ihrer Raumer Platz fanden. Oder waren es tatsächlich Roboter, die zu Hunderten gelagert werden konnten, um sie im geeigneten Moment zu aktivieren und zum Einsatz zu bringen? Plötzlich glaubte der Captain, seinen Augen nicht mehr trauen zu dürfen. Jemand, mit dem keiner von ihnen gerechnet hatte, griff jäh in die Auseinandersetzung ein... * »Die Lösung?« staunte Dan Riker.
Er eilte hinter Doorn her, der in der Funk-Z verschwand. Dort scheuchte der Sibirier Morris, Brugg und Yogan von ihren Plätzen. »Was soll denn das werden, wenn’s fertig ist?« wollte Riker wissen. Er war im Eingang stehengeblieben. Doorn kniete am Funkpult und öffnete die Unitallverkleidung. Wortlos setzte er einen Schachtel-Fänger an, ein Spezialinstrument der Mysterious, das halbselbständig arbeitete und nur Kommandoimpulse benötigte, um Verschachtelungen der MTechnologie zu lösen. Die Impulse bekam es von den kleinen Schaltern am klobigen Griff, die Doorn routiniert betätigte. Er sah ungerührt zu, wie kleine Schachtelsätze sich aus ihren Halterungen lösten und im Fänger landeten. Ebenso ungerührt ließ er die Schachtelkontakte in einer seiner Taschen verschwinden, ohne sie anzusehen und zu sortieren. Am Pult erloschen reihenweise die Anzeigen der Instrumente und Skalen. Schon wechselte Doorn zum nächsten Arbeitsplatz und wiederholte hier seine Aktion, schließlich am dritten. Kaum hatte er den letzten Schachtelsatz aus seiner Halterung genommen, als der nervtötende Dauerfunkspruch schlagartig verstummte! Aus der Kommandozentrale kam ein Aufschrei. »Steuerung spricht wieder an!« »Ortung zeigt Werte!« kam es über die Bordsprechanlage von Tino Grappa. »WS-West klar!« meldete Bud Clifton und war damit wieder einmal eine halbe Sekunde schneller als Jean Rochard in der Waffensteuerung-Ost des Raumers. Riker fuhr herum und kehrte in die Zentrale zurück. »Intervallfelder werden erstellt«, meldete Leon Bebir. »Antrieb klar. Wir sind wieder einsatzbereit. Kurs wird korrigiert.« »Wie zum Teufel hat Doorn das angestellt?« wollte Anja
Field wissen. »Doorn in die Zentrale!« beorderte Riker den Sibirier über die Bordsprechanlage herbei, die ebenfalls wieder perfekt funktionierte. Augenblicke später schlurfte Arc Doorn herein. Riker sah ihn fragend an. Wortlos griff Doorn in die Tasche und legte einen der Schachtelsätze aufs Kommandopult. »Was ist das, Arc?« wollte Riker wissen und ärgerte sich wieder einmal über die Mundfaulheit des technischen Genies. »Sicherungen«, brummte Doorn. »Völlig idiotisch, daß ich selbst nicht darauf gekommen bin! Wenn man etwas nicht abschalten kann, dreht man ihm doch einfach den Saft ab, und das habe ich getan, indem ich die Sicherungen herausgenommen habe. Jetzt ist die Funk-Z lahmgelegt, aber alles andere funktioniert wieder, weil von da keine Störungen mehr durchs Schiff gejagt werden können!« »Das heißt, funken können wir noch nicht wieder, Arc?« vergewisserte sich Leon Bebir. »Müssen wir das denn?« Riker verdrehte die Augen und holte tief Luft. Doorn kam ihm zuvor. »Damit keiner zu früh wieder Saft auf die Leitung gibt, nehme ich diese verdammten Sicherungen erst mal in Verwahrung. Wenn keine Gefahr mehr besteht, daß die Grakos uns lahmlegen können, baue ich den ganzen Krempel wieder ein!« »Sie werden...« begann Riker. Doorn war schon auf dem Weg zum Schott. »Viel Spaß noch beim Turteln, Dan und Anja«, brummte er und war draußen, ehe die beiden Rikers überhaupt begriffen, was er da eben gesagt hatte. »Doorn!« rief Dan hinter ihm her. Aber das Schott war bereits wieder geschlossen. »Frecher geht’s nicht mehr«, murmelte Hen Falluta, und Dro Cimc, der Arc Doorn längst nicht so lange und so gut
kannte wie die anderen, fragte kopfschüttelnd: »Ist dieser Terraner immer so?« Dan ging nicht darauf ein. »Den kaufe ich mir«, knurrte er und wollte Doorn folgen. »Möchte doch zu gern wissen, was er mit dieser verdammten Bemerkung sagen wollte!« »Dan!« stoppte Anja ihn. »Das hat Zeit!« »Stimmt...« Er kehrte um und ließ sich in den Kommandosessel sinken. »Grappa!« Der meldete sich sofort. »Ein paar Sekunden noch, Riker... so! Ich habe die genaue Position des Störsenders! Liegt im Heckbereich des Schattenraumerwracks! Überspiele...« »Direkt an Waffensteuerungen!« ordnete Riker an. »Bud, trauen Sie sich zu, diesen Störsender aus dem Schattenwrack herauszuschneiden?« »Mit Mix-2 immer!« erwiderte der Mann mit dem Kindergesicht, dem niemand seine ungeheure Reaktionsschnelligkeit ansah. »Bekomme Positionsdaten. Feuererlaubnis?« »Mit allem, was Sie für richtig halten!« bestätigte Riker. Und die POINT OF schlug zu! * Skaghättan stöhnte auf. Was er und die anderen da brüllend heranstürmen sahen, hatte ihnen gerade noch gefehlt! Ein mächtiger Raubsaurier brach tobend aus dem Dschungel hervor in die durch den Absturz der FO-XXIX und die Blastergefechte geschaffene künstliche Lichtung; ein gut dreißig Meter hoch emporragendes und sich auf den Hinterläufen bewegendes Monstrum, vom Aussehen her dem Tyrannosaurus Rex der Erde nicht ganz unähnlich – der Archetypus aller Raubsaurier! Allein in den aufklaffenden Rachen dieses Ungeheuers hätte ein halber T-Rex bequem hineingepaßt.
»Ach du Scheiße!« entfuhr es einem Mann neben dem Captain. »Muß uns jetzt auch noch Godzilla heimsuchen?« Er hob den Zweihandblaster und zielte auf die graugeschuppte Bestie. »Nicht!« warnte Skaghättan. »Machen Sie das Monstrum nicht auf uns aufmerksam!« Er beobachtete die Riesenechse. Etwas mußte ihren Zorn erregt haben. Sie verharrte, witterte, stapfte wieder hin und her, und jeder ihrer Schritte ließ den Boden erzittern. Zudem war das Biest ungeheuer schnell – nicht nur, daß schon jeder normale Schritt es bis zu zehn Metern weit brachte, es verfügte auch über genug Kraft in den baumdicken Hinterbeinen, um sich mit weiten Sprüngen vorwärtszuschnellen. Innerhalb weniger Augenblicke war der Saurier zum beherrschenden Faktor rings um den Kugelraumer geworden! Das merkten wohl auch die Schattenkrieger. Von einem Moment zum anderen verharrten sie völlig ruhig, schossen nicht mehr. Ihre Bewegungen erstarrten. Jetzt wären sie leichte Ziele für die Terraner gewesen. Aber denen war das Auftauchen des Raubsauriers ebenfalls schockartig in die Glieder gefahren. Sie zögerten, zu schießen – nicht nur Skaghättan hatte begriffen, daß jede Aktivität das Interesse des schuppigen Giganten wecken mußte, dessen Hornplatten teilweise moosbewachsen waren. Der bewegte sich jetzt in schnellen Sprüngen über die künstliche Lichtung, umrundete die FO-XXIX und war plötzlich wieder da, noch ehe Skaghättan und seine Leute eine bessere Deckung suchen konnten. Haarscharf an den Terranern vorbei wetzte das Ungeheuer, hätte sie beinahe ganz aus Versehen niedergetrampelt. Wer unter diese Tatzen geriet, hatte keine Sorgen mehr... Aber irgendwie schien der Saurier sich überhaupt nicht um die Terraner kümmern zu wollen. Statt dessen interessierte er
sich für die Schatten! Etwas an ihnen reizte ihn, ließ ihn von Augenblick zu Augenblick nervöser werden. War es das schattenhaft Verschwommene ihrer Erscheinung, das er nicht verstand, oder ging von ihnen etwas aus, das auf sein im Vergleich zum Gigantenkörper recht kleines Gehirn wirkte? Plötzlich begann er regelrecht zu toben und unter den Schatten zu wüten. Er schlug mit seinen Pranken nach ihnen, schnappte mit dem riesigen Maul zu. Er verschlang sie nicht; er schien zu begreifen, daß sie ihm dann selbst gefährlich werden konnten. Irgendwie schaffte er es immer wieder, sie von sich zu schleudern, ehe sie explodierten. Skaghättan erschauerte, als er die Unheimlichen durch die Luft fliegen sah. Für wenige Augenblicke schienen sie vollkommen sichtbar zu werden, blieben dabei aber immer noch unbegreiflich fremd. Der Captain war nicht in der Lage, das wahre Aussehen dieser Wesen zu erkennen; noch ehe er sie richtig fixierte, explodierten sie bereits. Jetzt schossen sie auch wieder. Die schwarzen, lichtlos flammenden Strahlen zuckten wieder über die Lichtung, griffen nach dem Raubsaurier. Fraßen sich in seinen Körper hinein und ließen Teile davon zu kristallisch funkelndem, schwarzen Staub zersprühen. Aber die Substanz der Bestie war einfach zu groß, und solange sie den Nervenknoten nahe der Wirbelsäule nicht trafen, der das steuernde Gehirn darstellte, tobte der Saurier, obgleich ihm schon ein Teil des mächtigen Schädels weggeschossen worden war. Wieder und wieder griff er mit zäher Wut die Schattenkrieger an, die trotz ihrer BeinaheUnsichtbarkeit und ihrer mörderischen Waffen kaum eine Chance gegen ihn hatten. Der Bootsmann neben dem Captain hob seine Waffe jetzt doch wieder und begann in das Getümmel zu feuern. Er nahm weitere Schattenkrieger ins Visier.
Andere Terraner taten es ihm nach, überwanden ihre Schreckstarre allmählich. Nur Skaghättan schoß nicht. Er wartete ab und beobachtete sorgfaltig jede Bewegung, jeden Sprung des Sauriers. Auch er zielte, aber auf den kleinen Buckel am Rücken der Bestie. Falls der Saurier von den Schatten ablassen und sich den Terranern zuwenden sollte, wollte er ihn mit einem Schuß in das Gehirn unschädlich machen. Er wußte immerhin, wohin er zu zielen hatte. Die Schattenkrieger dagegen schienen mit Sauriern keine Erfahrung zu haben. Vielleicht hatte es diese Entwicklungslinie auf der Welt, welche die Unheimlichen einst hervorbrachte, nie gegeben? Unwahrscheinlich, aber möglich, denn in der unendlichen Vielfalt, in welcher sich das Universum immer wieder zeigte, mußte nicht zwangsläufig auf jedem Planeten die Entwicklung des Lebens gleich ablaufen. Doch dann wurde Skaghättan brutal aus seinen Gedanken gerissen. Etwas geschah, mit dem niemand gerechnet hatte, mit dem niemand hatte rechnen können. Aus Richtung der Küste, wo das Wrack des Schattenraumers liegen mußte, brüllte eine urgewaltige Explosion auf, und eine Woge unheimlicher Schwärze glitt durch den Dschungel heran, um alles zu verschlingen... * Die Zielerfassung der WS-West hatte den Bereich des Schattenraumers exakt erfaßt, in welchem der Störsender stecken mußte, der über seine Rückkopplungstechnik mittels der Funkfrequenzen alle Technik lahmlegte. Bud Cliftons Gesicht zeigte Anspannung. Er hatte den Ehrgeiz, diesen Störsender mit chirurgischer Präzision herauszuschneiden und dabei möglichst wenig vom Rest des Schattenraumers zu
beschädigen. Er erinnerte sich daran, daß Ren Dhark vor dem FlashEinsatz den Wunsch geäußert hatte, ein paar Grakos lebend zu fangen, und an einem kompletten Raumer war der Commander bestimmt auch interessiert! Clifton setzte Mix-2 ein, eine der Waffenarten, die erst seit dem Aufenthalt der POINT OF in Erron-3 im blaßblauen Universum bekannt waren. Allerdings wußte Clifton selbst nichts von diesem Ausflug in ein anderes Raum-Zeit-Gefüge. Eine Mentcap hatte ihm wie den meisten anderen an Bord die Erinnerung daran genommen. Andere Mentcaps verrieten ihm und seinen Leuten zwar, wie Mix-1 bis Mix-3 funktionierten, aber nicht, unter welchen Umständen diese Waffensysteme entdeckt und erforscht worden waren. Ren Dhark und die wenigen Eingeweihten ergingen sich in vagen Allgemeinplätzen, wenn sie danach gefragt wurden, woher das neue Wissen stammte. Offenbar sei im Bereich der Sternenbrücke etwas mit der POINT OF geschehen, das sie nicht nur in unbekannte Räume der Galaxis verschlagen hatte und eine Spur erzeugte, die die Tels immer wieder auf den Kurs des Ringraumers brachte, ehe es Arc Doorn gelang, diese Spur zu löschen, sondern dieses rätselhafte Ereignis, an das sich niemand an Bord erinnern könne, müsse auch den Wissensschub ausgelöst haben. Es klang sogar einigermaßen nachvollziehbar. Denn hatte die Mysterious-Technik nicht in all den Jahren immer wieder für unerklärbare Rätsel und Überraschungen gesorgt? Dabei hatte Dhark einen sehr guten Grund, Erron-3 selbst vor seinen eigenen Leuten geheim zu halten. Das galaktische Archiv im blaßblauen Universum barg mit seinem unermeßlichen Wissensschatz ein Gefahrenpotential, das seinesgleichen suchte. Erron-3-Wissen, von den falschen Leuten ausgewertet und angewandt, konnte zu einem Kulturschock führen, an dem die Menschheit zerbrach.
Abgesehen von den Risiken, die ein Besuch im Blaßblauen mit sich brachte, wollte Ren Dhark diese Gefahr nicht heraufbeschwören. Es war schon beunruhigend genug, daß es dieses Archiv mit dem gesamten technischen Wissen der Mysterious überhaupt gab, und der Commander der Planeten hatte beschlossen, daß Menschen sich dieses Wissen besser selbst erarbeiteten. Er selbst hatte gern darauf verzichtet, sich mehr anzueignen als nötig war, mehr über seinen Ringraumer zu begreifen, und was die Besatzung der POINT OF an Spezialwissen benötigte, um die Möglichkeiten des Schiffes besser nutzen zu können, hatte er von Erron-3 mitgebracht und in Form von Mentcaps an die Besatzung verteilen lassen – unter dem Vorwand einer medikamentösen Behandlung. Das hatte zu reichen... Nur der Versuchung, mehr über das spurlose Verschwinden der Mysterious vor tausend Jahren herauszufinden, hatte er nicht widerstehen können, aber darüber hatte ihm keine einzige Mentcap des Archivs Informationen liefern können. Entweder war dieses Wissen nicht mehr in Erron-3 verankert worden, oder die Mysterious hatten es mit einer Sperre versehen, die Dhark nicht überwinden konnte. Und jetzt setzte Bud Clifton Mix-2 ein! Fünf Strahlantennen der POINT OF, in der halbmeterdicken Unitallwand drehbar gelagert, strahlten dieses Energiegemisch ab, das zum Planeten hinabjagte und einen Teil des Schattenraumers erfaßte. Mix-2 wurde vom Schutzschirm des Raumers aufgefangen! Unmöglich! wollte Clifton hervorstoßen, weil Mix-2 in der Lage war, durch Energiefelder zu diffundieren, aber er kam mit dieser Energie nicht durch den Schirm, der den Schattenraumer einhüllte! Saugte der das Strahlengemisch auf, um es für sich selbst zu verwerten?
Dabei veränderte sich Mix-2! Was im Energieschirm des Raumers zu toben begann, war nicht mehr die Strahlenart, die von der POINT OF ausgesandt wurde! Im Schutzfeld des Unheimlichen wurde sie zu etwas völlig anderem, das Clifton in seiner Wirkung nicht abzuschätzen wagte. Er wechselte von Mix-2 zu Nadelstrahl. Er mußte darauf verzichten, das Störaggregat sauber aus dem Wrack zu entfernen. Er mußte erst diesen verdammten Energieschirm überlasten und durchschlagen und dann vielleicht noch einmal versuchen, Mix zu benutzen. Aber dazu kam es nicht mehr. Die blaßroten, überlichtschnellen Nadelstrahlen jagten hinab durch die Atmosphäre des Dschungelplaneten und schlugen in den Energieschirm des Raumerwracks ein. Durchdrangen ihn mühelos! Und der Schattenraumer verging in einer ungeheuren Explosion! * Pjetr Wonzeff war stehengeblieben. »Was ist das denn?« stieß er hervor und deutete zum Himmel hinauf. Die Dschungelriesen waren hier schon niedriger geworden und standen weiter auseinander; die Küstennähe und damit der Rand des Urwalds machte sich bemerkbar. So war ein Stück Himmel zu erkennen. Und da flirrte es in seltsamen Mischfarben wie ein Strahlengewitter lautlos herunter... Nur Ren Dhark erkannte dieses Farbendurcheinander. Wonzeff und die anderen Flashpiloten konnten damit nichts anfangen. Sie hatten die Waffe, die hier benutzt wurde, noch nie eingesetzt – weil sie bislang noch nicht in die Lage gekommen waren. Es war nicht einmal ganz sicher, ob die
Flash tatsächlich ebenfalls alle »neuen« Waffensysteme der POINT OF besaßen. Ausprobiert hatte das noch niemand. Aber Ren hatte die Farbstrukturen schon in der Bildkugel gesehen! »Mix!« stieß er hervor. »Die POINT OF schießt mit Mix!« »Die POINT OF?« echote Kartek. »Das würde ja bedeuten, daß zumindest der Ringraumer einsatzklar ist und...« Im nächsten Moment wechselte das Farbenspiel, und blaßrote Energiebahnen ersetzten das Mix, Strahlbahnen, die hauchdünn erschienen und nicht blendeten. Das Flaggschiff der TF hatte von Mix auf Nadelstrahl umgeschaltet – seine vielleicht mächtigste Waffe. Und dann flog nur einen halben Kilometer vor ihnen etwas mit unglaublicher Gewalt auseinander. Schwarzes Licht loderte auf, durchdrang das Dschungeldickicht. Seltsame Energiezungen leckten, verwoben sich miteinander und ließen die Umgebung wie in einem Negativbild erscheinen. Ren Dhark fühlte, wie etwas durch ihn hindurchglitt und ihn einhüllte. Es zerrte an ihm, flackerte und wollte ihn in ein anderes Universum ziehen. In Tausende von Universen zugleich und doch in keines von ihnen. Für wenige Augenblicke schwebte er im Nichts und sah, wie sich Millionen von Galaxien in einem Hyperraum bewegten. Er sah seine Begleiter, aber nicht nur ihre Körper, sondern auch ihr Leben, ihre Daseinsmuster. Sah ihr Werden in der Vergangenheit und ihr Vergehen in der Zukunft, und das alles zugleich. Er sah auch sich selbst werden und vergehen und begriff trotzdem nichts davon; sein Verstand war nicht bereit, die Muster zu erfassen. Dann war es wieder vorbei, und er sah gigantische Trümmerstücke zeitlupenhaft in die Höhe schweben. Bizarre Flächen und Wölbungen, von glosendem Feuer eingehüllt, funkensprühende, aberwitzige Gitterkonstruktionen, und
dazwischen sich bewegende Schatten, die sich auflösten, sobald er versuchte, sie genauer zu erkennen. Zerfallende Fragmente des Schattenraumers regneten wieder herab, hinterließen schwarze Energiebahnen am Himmel, die langsam zerfaserten. Dort oben riß das Universum auf. Etwas Unheimliches tastete mit spiralförmig rotierenden Fangarmen nach dem Planeten, pflügte breite Streifen der Leere durch den Dschungel und verfehlte die Menschen nur knapp. Dann erst kam das Donnergrollen der Explosion. Wie ein verhaltenes Röcheln, wie eine Zeitverlangsamung. Die folgende Druckwelle knickte Bäume um, ließ Schachtelhalme auseinanderfetzen, trieb Pflanzenteile und wie Reste toter Tiere erscheinende, eigenartige Klumpen vor sich her. Der Druck kam langsam, aber unwiderstehlich; es gab keine Möglichkeit, sich dagegenzustemmen. Dhark ließ sich fallen, wurde über den Boden geschleift. Dann ließ das Inferno nach. Ren richtete sich wieder auf. Er sah sich nach den Kameraden um. »Könnt ihr mich hören?« rief er. »Ist jemand verletzt worden?« Seine Stimme erzeugte ein seltsames Echo, das lauter war und stärker nachhallte als seine Originalstimme. Und dann, von einem Moment zum anderen, war alles wieder normal. Ein Gefühl der Leere breitete sich in Ren aus. Irgendwie, wurde ihm klar, war er für kurze Zeit Teil eines Größeren gewesen. Vielleicht hatte er etwas berührt, das jenseits der Schöpfung existierte und mehr als das war, aber er vermochte es nicht zu deuten. Und er war froh darüber. Vielleicht kostete es ihn den Verstand, wenn er wirklich begriff, was da geschehen war. »Melden!« verlangte er. Nacheinander erhoben sie sich aus dem Nichts, die sechs
Männer, traten aus Schatten hervor, die keine Schatten waren, als kämen sie durch ein Weltentor aus einer völlig fremden Welt. Sie waren unverletzt, aber ihre Gesichter waren gezeichnet von Erlebnissen, die sie mit niemandem teilen konnten. Mike Doraner deutete in die Richtung aus der noch ein verhaltenes Prasseln und Krachen kam. »Schätze, Commander, den Plan, diesen Schattenraumer einzukassieren, können wir uns abschminken...« * »Verdammt!« bellte Riker in die Bord Verständigung. »Ging das nicht anders, Bud?« Der Chef der WS-West konterte: »Dann hätte ich es bestimmt getan! Tut mir ja selbst leid, daß da unten nichts übriggeblieben ist.« Tino Grappa schaltete sich ein. »Wir messen unerklärliche Hyperraumeffekte an. Die Explosion des Raumers hat auf dem Planeten etwas ausgelöst, das...« »Geht es auch etwas präziser, Grappa?« fragte Riker. Der junge Mailänder schluckte. »Nein!« erwiderte er dann kühl. »Wir stehen vor einem Novum. Wir haben so etwas noch nie beobachtet.« »Daten an Checkmaster!« ordnete Riker an. »Bebir, Vergleichsprüfung. Waffensteuerungen bereit halten für Angriffsflug in Atmosphäre. Achtung, alle Flashpiloten zu den Depots. Unverzügliche Startbereitschaft. Melden bei Vollzug!« Hinter Riker holte seine Frau Anja tief Luft. »Ist was?« fragte er, ohne sich umzudrehen, und jetzt räusperte sich auch Dro Cimc, der zwar als Wer der Tel militärische Disziplin gewohnt war, nicht aber, daß Ehegatten sich in dieser Form begegneten. »Ob etwas ist, Dan?« fragte Anja. »Das solltest du dich
selbst fragen! Seit ein paar Minuten bist du zum unausstehlichen Ekel geworden! Früher hatten wir einen wesentlich menschlicheren Umgangston in der POINT OF und unter alten Weggefährten!« »Chefmathematikerin Riker, unterstützen Sie bitte Leutnant Bebir bei den Ortungsdatenausweitungen am Checkmaster. Resultate auf mein Display. Vollzug!« »So kannst du deine Untergebenen anschnauzen, Flottenchef Riker, aber nicht mich! Ich bin bei diesem Flug Gast an Bord, nicht Chefmathematikerin. Das war einmal, mein lieber Dan...« Sie rauschte hinaus. Verblüfft sah Dan ihr nach. »Autsch! Das war eine ziemlich harte Ohrfeige, Wer Dan Riker«, sagte Dro Cimc trocken und zeigte nicht, ob er sich amüsierte oder betroffen war. »Ich werde mich hüten, mich in Ihre familiären Angelegenheiten einzumischen, aber bisher hatte ich den Eindruck, daß unter Commander Dhark ein umgänglicherer Ton an Bord dieses Schiffes herrschte. Verzeihen Sie, falls ich Ihnen hiermit zu nahegetreten bin.« Riker holte tief Luft, wollte etwas sagen – und ließ es dann. Er wandte sich wieder den Instrumenten zu. »Grappa, können Sie Flash-Wracks anmessen?« »Ich arbeite daran, Sir.« Derweil gab sich Dro Cimc mit seiner Beobachterrolle nicht mehr zufrieden, wechselte aber einen fragenden Blick mit Hen Falluta, dem 1. Offizier, und erst als der aufmunternd nickte, benutzte auch Cimc die Bordsprechanlage. »Ingenieur Doorn bitte in die Funk-Z. Erneuern Sie die Sicherungen. Die Gefahr ist vorüber, die Rückkoppelungswaffe des Gegners mit dessen Schiff vernichtet. Wir brauchen wieder Funk.« Riker sah ihn durchdringend an, sagte aber nichts zu Cimcs Eigenmächtigkeit, weil er erkannte, daß der Wer richtig handelte. Er dachte an das, was Riker übersehen hatte.
»Tut mir leid«, murmelte er. »Ich bin wohl ein wenig überspannt. Falluta, übernehmen Sie wieder.« Er räumte seinen Sitz und trat zurück, neben Dro Cimc. Der Tel lächelte schmallippig. Bebir am Checkmaster wandte sich um. »Die von Grappa festgestellten Hypereffekte sind dem Checkmaster unbekannt«, sagte er, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. »Mit einer Wahrscheinlichkeit von 88 Prozent geht der Checkmaster davon aus, daß es im Zuge der Explosion zu einem vorübergehenden Bruch im Raum-Zeit-Gefüge kam. Einige Kontinua scheinen sich dabei gegenseitig durchdrungen zu haben.« »Leiten Sie die Daten an Vandekamp weiter. Der soll sich damit beschäftigen«, sagte Falluta. »Tino, was ist mit Dharks Flash-Gruppe?« »Ich habe immer noch nichts«, gestand der Mailänder. »Aber rund um die FO-XXIX muß die Hölle los sein. Da finden Energieausbrüche von erheblichen Ausmaßen statt.« »Daten an die Waffensteuerungen, Tino«, ordnete Falluta an. »Die POINT OF und die verbliebenen Flash werden einen Entlastungsangriff fliegen.« Leon Bebir kam vom Checkmaster zurück und nahm wieder seinen Platz am Kommandopult ein. »Koordinieren Sie den Flash-Einsatz, Leon«, verlangte Falluta. »Verflixt, wann kommt endlich die Klarmeldung aus der Funk-Z? So lange kann Doorn doch gar nicht brauchen, die Sicherungen wieder ‘reinzufeuern...« Er betätigte einige Steuerschalter. Der Ringraumer nahm Fahrt auf. Sein Ziel: Die FO-XXIX! * Skaghättan sah, wie die unheimlichen Lichteffekte durch ihn und die anderen Männer und Frauen hindurchgingen, auch
durch die Schattenkrieger und schließlich durch die FO-XXIX. Ähnlich wie Ren Dhark und seine Begleiter fühlte er sich vorübergehend in eine andere Existenzebene versetzt. Als die eigenartigen Erscheinungen aufhörten, regte sich der riesige Raubsaurier nicht mehr. Das Reptil war zusammengebrochen und offenbar tot. Die Schattenkrieger hatten das seltsame Geschehen wesentlich besser überstanden. Es war, als seien sie Effekte dieser Art durchaus gewöhnt. Sie schienen gestählt daraus hervorgegangen zu sein und brauchten nur wenig Zeit, um sich neu zu orientieren und die Terraner wieder anzugreifen. Und sie gingen jetzt noch verbissener vor als bisher. Irgendwie hatte Skaghättan das Gefühl, die Unheimlichen kämpften mit dem Rücken zur Wand und auf verlorenem Posten. So wie bisher die Terraner! Er ahnte, was geschehen war. Das Wrack mußte explodiert sein. Damit hatten die Schatten keine Chance mehr, diesen Planeten wieder zu verlassen, denn nach allem, was sie bisher von den Terranern erlebt hatten, mußte ihnen klar sein, daß die ihr Raumschiff niemals in die Hand der Grakos fallen lassen würden. Beide Seiten kämpften bis zum Letzten. Entsprechend wütend waren die Angriffe der Schattenkrieger. Sie hatten nichts mehr zu verlieren, und sie wollten so viele Gegner wie eben möglich mit in ihren Untergang reißen. Die Terraner aber wollten überleben! Der Kampf wurde noch härter, noch mörderischer als zuvor. Erleichtert registrierte der Captain, daß nach der für ihn noch rätselhaften Explosion des Schattenraumers die Technik der FO-XXIX wieder uneingeschränkt funktionierte. Aber das half ihnen kaum weiter. Die Bordwaffen des Raumers ließen sich nicht einsetzen; die Grakos befanden sich viel zu nahe am Schiff und im toten Winkel, und auch ohne dies hätte der Einsatz der Geschütze auch die eigenen Leute gefährdet.
Captain Skaghättans anfangs richtige Entscheidung, auszubrechen und die Schattenkrieger von hinten anzugreifen, erwies sich jetzt, unter den neuen Bedingungen, als fatal. Von einem Augenblick zum anderen war die Gefahr für die Menschen wieder riesengroß geworden und ihre Überlebenschancen noch geringer als die der Schatten, weil die über die bessere Waffentechnik verfügten. Der Captain schloß mit seinem Leben ab. * Ren Dhark sah einen Flash im Tiefflug am Himmel entlangjagen. Nur wenige Augenblicke später entdeckte Rul Warren die POINT OF, die irrsinnig schnell über den Dschungel raste. Im nächsten Moment knallte schon die Überschallschleppe. »Wir müssen sie anfunken!« rief Vultejus. »Wenn sie fliegen können, können sie auch funken, dann ist dieser verdammte Spuk vorbei!« Dhark wollte den Helmfunk seines M-Anzuges aktivieren, aber Vultejus winkte ab und reckte sein Handgelenk mit dem Armbandvipho hoch; nur Dhark, Warren und zwei der anderen Piloten hatten ihre Geräte unbrauchbar gemacht. »Hiermit geht’s doch bequemer!« behauptete Vultejus und hatte Augenblicke später tatsächlich Direktverbindung mit der POINT OF. Arc Doorn hatte den Ringraumer wieder funkklar gemacht. Dan Riker und die anderen zeigten sich erleichtert darüber, daß der Gruppe Dhark offenbar nichts geschehen war. Falluta beorderte sofort einige Flash zur derzeitigen Position der Gruppe, um die Männer aufzunehmen und zu ihren eigenen Maschinen zu fliegen. Die waren auch wieder voll funktionstüchtig, nachdem mit dem Grako-Raumschiff auch jene verhängnisvolle
Rückkopplungswaffe untergegangen war. Dhark und die anderen konnten in den Kampf um die Überlebenden der FOXXIX eingreifen. Der Commander der Planeten übernahm sofort wieder die Einsatzleitung. »Ich will unbedingt einen oder mehrere der Schatten lebend!« lautete sein Befehl. Die POINT OF selbst konnte nicht viel ausrichten; der Ringraumer war eher demoralisierend für die Schattenkrieger, wie er über dem Schauplatz des mörderischen Überlebenskampfes schwebte. Die Flash jagten Grakos, aber die änderten ihre Taktik erneut und flohen ins Dschungeldickicht. Die paralysierenden Strich-Punkt-Strahlen der Flash waren nicht in der Lage, Schattenkrieger zu betäuben. Lediglich Nadelstrahl half gegen sie, aber nur mit dem Ergebnis, daß die Unsichtbaren wie kleine Bomben explodierten. Das war nicht in Ren Dharks Sinn. Aber die Schatten wollten sich nicht gefangennehmen lassen! Sie starben lieber. Plötzlich glitt eine Schwebeplattform aus einer der Schleusen der FO-XXIX hervor. Auf ihr war in aller Eile ein überschwerer Paraschocker montiert worden, eine Waffe, die eher in Kampfpanzern zu finden war. Besatzungsmitglieder des Forschungsraumers steuerten die A-Gravplattform und richteten den Schocker aus. »Treibt uns ein paar Schatten ins Schußfeld!« hieß es über Funk. Die auf Schatten Jagd machenden Flashpiloten reagierten sofort und änderten ihr Vorgehen. Die tief über dem Kampfschauplatz schwebende POINT OF ließ jetzt Kampfroboter herabregnen. Zehn Exemplare dieser modernsten Errungenschaften terranischer Kriegstechnik hatte der Ringraumer an Bord, und diese kegelförmigen, dank
Antigravpacks auch flugfähigen Maschinenkonstruktionen beteiligten sich nun an der Treibjagd. Ihre Scanner waren auf die Energiemuster der Schattenkrieger kalibriert worden, und auch wenn die Flash mit ihren Intervallfeldern im Dschungel relativ lässig manövrieren und Baumstämme einfach durchfliegen konnten, waren die Robs dennoch agiler und ihre Suprasensoren entscheidungsfreudiger als die Terraner, die von ihren ethischen Grundsätzen geprägt und gehandicapt waren. Dhark verfolgte die Aktion mit Skepsis. Er dachte daran, daß es auch nicht gelungen war, das Wrack des Schattenraumers in die Hand zu bekommen, und mehr und mehr befürchtete er, daß auch der Versuch, einen der Unsichtbaren gefangenzunehmen, scheitern mußte. Aber dann dröhnte plötzlich ein Strahlschuß nach dem anderen aus der Schocker-Kanone auf der A-Gravplattform. »Wir haben einen!« schrie jemand triumphierend aus dem Funk. Hoffentlich behalten wir ihn auch, dachte Dhark.
3. Die Ruhe nach dem Sturm... Es gab keine Schattenkrieger mehr, bis auf diesen einen, der von der Schocker-Kanone paralysiert worden war und sich jetzt in einem Fesselfeld befand, umhüllt von einem Energieschirm, der verhinderte, daß er aktiv werden konnte, wenn er das Bewußtsein zurückerlangte. Es war Arc Doorns Idee gewesen, den Grako mit einem Paraschocker terranischer Fertigung auszuschalten, nachdem die betäubenden Strich-Punkt-Strahlen der Flash nichts bei den Schattenkriegern ausrichteten. »Wenn High-Tech nicht hilft, dann vielleicht die aus der Steinzeit«, hatte er seinen Vorschlag kommentiert und wieder einmal recht behalten. Offenbar war das Strahlengemisch, das die terranische Waffe emittierte, in seiner Struktur anders geartet als das der Waffen der Mysterious. Mit den M-Strahlen waren die Grakos fertiggeworden, weil sie sie kannten! Terranische Technik war ihnen weniger vertraut. »Deshalb funktionierten auch die Viphos der FO-Leute auf dieser seltsamen Sonderfrequenz, ebenso die Blaster«, behauptete Doorn, »während alles andere in der FO-XXIX ausfiel! Die FO ist ein von uns umgerüsteter ehemaliger GiantRaumer, mit Giant-Technologie, und daß die famosen AllHüter, wie die Giants sich hochtrabend nennen, nichts anderes als biologische Robot-Züchtungen der Mysterious sind, wissen wir seit der Entdeckung von Erron-1! Aber die Viphos sind terranisch, die Blaster haben wir von den Amphis abgekupfert... mit denen scheinen die Grakos nichts anfangen zu können, weil sie sie offenbar nicht kennen.« »Noch nicht!« warnte Ren Dhark, der wieder an Bord des
Ringraumers zurückgekehrt war. »Wir sollten die Grakos aber nicht unterschätzen. Die Rückkopplungswaffe, mit der sie uns alle so böse erwischt haben, muß eine Neuentwicklung sein, weil sie die früher nie eingesetzt haben. Sonst hätten Clarks und Huxleys S-Kreuzergeschwader niemals auch nur den Hauch einer Chance gegen sie gehabt! Terra muß gewarnt werden. Künftig muß mit dieser Waffe gerechnet werden, und auch damit, daß sie sich auf unsere Technik einstellen!« »Weißt du, was das bedeutet, Ren?« fragte Dan Riker. »Daß im Ernstfall kein Funkkontakt zwischen unseren Einheiten mehr stattfinden darf, wenn sie es mit Grakos zu tun haben! Dann ist jedes Schiff im Kampf auf sich allein gestellt – oder rettungslos verloren und wird als wehrloser Klumpen Metallplastik abgeschossen wie die Tontauben!« Ren nickte. »Ich weiß das, und ich befürchte noch viel mehr. Wir hatten es hier mit einem einzigen Schattenraumer zu tun. Er griff einen unserer Kugelraumer an. Die Grakos wissen also sehr genau, daß sie nicht gegen die Mysterious kämpfen, sondern gegen uns.« Riker schüttelte den Kopf. »Die FO ist ein ehemaliger Giant-Raumer«, erinnerte er an Doorns Worte. »Ich denke, die Grakos halten uns für die Giants beziehungsweise für ein Hilfsvolk der Mysterious.« »Kann ich nicht glauben«, widersprach der Commander. »Aber da ist trotzdem noch etwas anderes, worauf ich eigentlich hinaus wollte. Ein einzelnes Schattenschiff, das einen Kugelraumer angreift! Keine unsichtbare Station im Hintergrund! Dan, das war ein Test! Sie wollten herausfinden, ob unsere Technik, für die sie die der Giants halten, so manipulierbar ist wie die der Mysterious! Sie sind uns näher, als wir glauben. Daß wir mit der POINT OF dazwischenkamen, ist für die Grakos ein unglücklicher Zufall. Sie haben die FO-XXIX während eines Magnetsturms
angegriffen und gingen davon aus, daß keiner den Notruf mitbekommt! Oder daß er, wie schon einmal, durch diese magnetischen Stürme aus einer völlig anderen Richtung empfangen wird. Daß wir nur sieben Lichtjahre entfernt waren, wußten sie nicht. Dan, daß sie uns blockieren können, wissen sie schon. Sie wollten ausprobieren, was noch geht!« Riker schluckte. »Das ist doch verrückt!« »Wirklich?« hielt Ren ihm entgegen. »Wenn du recht hast, können wir nicht zu den Nogk fliegen, sondern müssen zurück und Terra warnen!« drängte Riker. »Das machen die Hilfsschiffe, die wir mittlerweile angefordert haben und die uns bestätigt wurden. Skaghättan wird sie eingehend informieren«, erwiderte Ren. »Die FOXXIX ist ohnehin ein Wrack, das diesen Planeten nie wieder verlassen wird – wir schlachten sie aus.« »Wegwerf-Raumer«, zitierte Riker den Begriff, der sich in der Terranischen Flotte (TF) für die aus Giantbeständen stammenden Beuteraumer eingebürgert hatte. Man hatte seinerzeit eine Menge der nach dem Rückzug des CAL führerlos und leer im Raum treibenden Schiffe geentert und in Besitz genommen, und auch heute waren noch Enterkommandos unterwegs, um herrenlose Giantraumer im All oder auf Planeten aufzuspüren und zu requirieren, denn die terranische Raumschiffsproduktion stieß längst an die Grenzen ihrer finanziellen Ressourcen. Man konnte dem Steuerzahler nicht mehr als 100 Prozent seiner Einkünfte für den Flottenneubau abverlangen, was aber nötig gewesen wäre, um die Einheiten der TF rasch genug auf die erforderliche Stückzahl zu bringen. Ein Kugelraumer-Nachbau auf Terras Fließbändern kostete Milliarden von Dollar, und der ohnehin permanent schwindsüchtige Staatshaushalt war längst nicht mehr in der Lage, das zu finanzieren. Von daher war es segensreich, plötzlich über Tausende von Ringraumern verfügen zu können, die Dhark durch einen
technischen Trick in die Hände geraten waren. Trotzdem mußten auch deren Besatzungen bezahlt werden. Finanziell balancierte Terra seit Jahren am Rande des Abgrunds. Fast so billig wie die Ringraumer waren die erbeuteten Wegwerfschiffe der All-Hüter. Aber deren Energiereserven reichten nicht bis in alle Ewigkeit, und es gab bisher keine Möglichkeit, die Konverter neu zu beschicken. Also wurden Kugelraumer, die ausbrannten, verschrottet, sobald sie nicht mehr flogen, und entweder durch andere Wegwerf-Raumer ersetzt oder durch terranische Neubauten, die neuerdings aus Tofirit bestanden. Damit wurden sie zwar fast unzerstörbar, aber auch fast unbezahlbar... »Wir werden trotz allem zu den Nogk fliegen«, fuhr Ren Dhark fort. »Aber wir werden uns auch ansehen, was unsere Eierköpfe und Medizinmänner über den gefangenen Grako herausfinden.« »Wenn er ein Grako ist«, unkte Riker. »Vielleicht handelt es sich bei diesen Schattenkreaturen auch nur um ein Hilfsvolk. Vergiß nicht – was wir über die Grakos wissen, sind entweder Gerüchte oder die Behauptungen der Salter. Und was wir von denen zu halten haben, wissen wir inzwischen ja.« Als sie sie in der Galaxis Drakhon entdeckt hatten – die wenigen Überlebenden eines einstmals großen Sternenvolkes – hatten die Salter behauptet, die letzten Mysterious zu sein. Und die Shirs mit ihren unwahrscheinlich starken Parakräften hatten dafür gesorgt, daß diese Behauptung von den Terranern akzeptiert wurde. Nur hatte sich dann herausgestellt, daß die Salter logen; ihr Führer Olan hatte es sterbend eingestanden. Die Salter hatten, von den Shirs unterstützt, den Terranern ihre Geschichte nur vorgelogen, um nach Terra gebracht zu werden. Das war geschehen – und zu ihrem Verderben geworden. Robonen hatten die angeblich letzten Mysterious ermordet. Das Rätsel an sich war geblieben, und Ren Dhark war zu
den Nogk unterwegs, um sie um die Entwicklung einer Abschirmmöglichkeit zu bitten, die vor den superstarken Hypnokräften der Shirs schützte. Ren wollte in die zweite Galaxis zurück und nach der Wahrheit suchen. Er ging davon aus, daß die Nogk eine solche Abschirmung entwickeln konnten; immerhin waren diese eigenartigen Wesen etwas Ähnliches wie Telepathen. Ihre Kommunikation fand auf mentaler Basis statt. Daher war ihnen die Lüge fremd. Ren erhob sich und nickte den anderen zu. »Ich bin ab jetzt in der Medo-Station zu finden...« Auch Arc Doorn wollte gehen, aber Riker hielt ihn zurück, sprach ihn dann allerdings erst an, als sie zu zweit allein waren. »Arc, was wollten Sie vor ein paar Stunden mit Ihrer anzüglichen Bemerkung, Anja und ich sollten weiter turteln, sagen?« Riker saß. Doorn stand vor ihm, ein bulliges Muskelpaket, und plötzlich hatte Riker fast das Gefühl einer körperlichen Bedrohung. Dabei war Arc Doorn ein Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Dan Riker war indessen alles andere als eine Fliege. »Wollen Sie eine ehrliche Antwort, Flottenchef Riker, oder nur eine Floskel?« fragte der Sibirier zurück. »Floskeln sind etwas für Politiker, nicht für Freunde, oder sehen Sie das anders?« »Wie Sie wollen, Freund Riker«, brummte Doorn. »Sie haben Ihre Göttergattin hier an Bord. Meine durfte mal wieder auf Terra bleiben. Wenn wir hier alle draufgegangen wären, dann wären Anja und Sie zusammengewesen, aber Doris hätte auf mich warten müssen beziehungsweise auf die Nachricht von irgendeinem Lamettaträger, daß es ihm so furchtbar leid täte, daß ich in Ausübung meiner Pflicht und so weiter und so fort. Wissen Sie was, Dan? Sterben ist ein verdammt einsamer Job, und es gibt an Bord dieses Raumschiffes jemanden, der sein Privileg als Chef der TF und als persönlicher Freund des
Commanders ausnutzt, um seine Frau bei sich zu haben! Weil...« »Doorn!« warnte Riker. »Hören Sie...« »... weil die ihm sonst die Ohren vollmeckert, warum sie auf Terra hocken und ständig auf ihn warten muß, während er sich als Sternenzigeuner irgendwo in Weltraumtiefen herumtreibt! Dan, als ich auf Planet Eins im Zwitt-System mit dem Materiesender das Tor nach Erron-3 für die POINT OF öffnete und die hinterher verschollen war, konnte die Frau des Flottenchefs Marschall Bulton mal eben ein paar S-Kreuzer unter Larsens Kommando aus dem Kreuz leiern, um zur Sternenbrücke zu fliegen und danach die POINT OF suchen zu lassen! Aber was war mit meiner Doris? Hätte sie die Chance gehabt, nach mir zu suchen, wenn ich auch an Bord der POINT OF gewesen wäre? Verdammt noch mal, wir alle haben unsere Familien auf Terra oder anderen Planeten. Wir alle sind manchmal monatelang unterwegs und von unseren Leuten getrennt. Ich hatte Doris auf Terra zu lassen, aber Sie haben Anja mitgenommen!« »Sie reden von Erron-3...« »Ich rede von noch ganz anderen Dingen, Freund, und ich habe keine dieser Pillen fressen müssen, die einem die Erinnerung an jene Aktion stiehlt! Wenigstens das ist mir erspart geblieben, und wenigstens hat Dhark daran gedacht, mir ein paar andere Mentcaps mitzubringen, damit ich leichter auf den neuesten Stand der M-Technik kommen konnte... aber das ist auch alles! Ich reiße mir den Arsch auf, weil’s mir Spaß macht, den verdammten Mysterious zu zeigen, daß die auch nur mit Wasser gekocht haben, nur können die nicht mal staunend das Maul aufreißen, weil es sie seit tausend Jahren nicht mehr gibt, und von eurer Seite klopft man mir nur auf die Schulter und erzählt mir, was ich doch für ein tolles Genie bin! Aber wenn ich mal von meiner Frau träume und sie an meiner Seite haben möchte, wenigstens für ein paar Tage, dann ist das
nicht möglich! Dann gibt’s einen Anschiß vom Stab der TF, weil ich einen Flashpiloten, der mich nach Alamo Gordo holen sollte, aus seiner Maschine ausquartiert habe, damit Doris Platz hatte und mitkommen konnte, und dann hat Doris vor dem Start die POINT OF zügig wieder zu verlassen und kann zusehen, wie sie als Zivilistin nach Hause kommt, aber der Flottenchef lädt seine liebe Frau Gemahlin ein, diesen Flug mitzumachen, damit sie ihn bloß nicht hinterher anfaucht, weil er mit der POINT OF mal wieder zu spät nach Hause gekommen ist! Ja, Riker, Sie sind ein großes Tier geworden und ich bin nur ein kleiner Ingenieur geblieben, der nicht mal einen richtigen Ausbildungsabschluß vorweisen kann... zum Teufel mit Ihren Privilegien!« Riker starrte ihn fassungslos an. »Arc, glauben Sie wirklich...?« Doorn unterbrach ihn. »Für Glaubensfragen ist die Kirche zuständig! Sie haben mir eben zu allem Überfluß auch noch vorgeworfen, von Erron-3 zu reden – ja, verdammt noch mal, wir sind gerade allein und keiner hört uns zu, also werde ich mir das doch noch gönnen dürfen! In der Öffentlichkeit habe ich nie über Erron-3 gesprochen und werde es auch nicht tun! Aus Loyalität zu Terra und zu den Menschen, die Commander Ren Dhark vor der Gefahr, die von dem Archivwissen ausgeht, schützen will, und aus Loyalität und Freundschaft zu Dhark selbst, der seine Privilegien als Terras Staatschef wenigstens nie ausgenutzt hat, oder sehen Sie Joan Gipsy hier an Bord, oder hat er den Start der POINT OF verzögert, weil er sich erst noch von seiner im Krankenhaus liegenden Freundin verabschieden mußte? Schönen Tag noch, Dan...« Höfliche Menschen schließen Türen leise; Arc Doorn war in diesem Moment kein höflicher Mensch. Und daß er, der mundfaule Typ, der sich sonst jede Kleinigkeit aus dem Mund holen ließ, dermaßen viel geredet hatte, gab Dan Riker zu denken, nur fühlte der sich nicht schuldig.
Er konnte Doorns Zorn durchaus verstehen, aber Dan hatte keinesfalls seine Privilegien mißbraucht! Hier tat ihm der Sibirier unrecht! Anja war einfach aus eigenem Antrieb an Bord geblieben, und auch, wenn sie sich vor Stunden noch selbst als Gast bezeichnet hatte, war sie in der Stammrolle des Ringraumers immer noch als Chefmathematikerin registriert. Auch wenn sie diese Funktion schon lange nicht mehr offiziell ausübte, sondern an der Universität von Alamo Gordo Mysterious-Mathematik lehrte. Doris Doorn dagegen, vor ihrer Heirat als Doris Eyck Krankenschwester im Hospital von Cattan auf Hope, war nur einmal in der POINT OF mitgeflogen, als nach der Invasion der Giants medizinisches Personal von Hope zur Erde zurückgebracht werden mußte. Und den Vergleich Dhark/Gipsy hielt Dan einfach nur für eine Frechheit. Er gestand Arc Doorn zu, ungeduldig zu sein, aber es gab auch Grenzen, und die hatte der Sibirier für seine Begriffe jetzt überschritten. Aber dann entsann Dan sich, kurz vorher auch nicht gerade höflich mit Doorn umgegangen zu sein; überhaupt mit einigen Leuten aus der Crew nicht. Also schluckte er die Vorwürfe und ließ Arc Doorn in Ruhe. Der würde sich schon wieder beruhigen, und dann waren sie sich gegenseitig nichts mehr schuldig. Hoffte Dan Riker. * Die Medo-Station der POINT OF war kaum wiederzuerkennen. Mediziner und Biologen aus beiden Raumern hatten sich eingefunden und ihre Ausrüstung aufgebaut. Mitten in diesem technischen Tohuwabohu lag, von Strahlfesseln gehalten, der Schattenkrieger auf einem Untersuchungstisch. Über ihm blitzten unzählige Instrumente und Apparaturen. Unwillkürlich fühlte Ren Dhark sich an ein
lange zurückliegendes Erlebnis auf dem 9. Planeten des ColSystems erinnert. Damals, nur kurz nach der Landung des Kolonistenraumers GALAXIS auf Hope, waren sie auf Planet 9 von den Amphis gehetzt worden. Dan, Ralf Larsen, Ren und noch einige andere Kameraden waren in Gefangenschaft geraten, und die Amphis hatten versucht, die ihnen fremde Lebensform Terraner zu sezieren. Wobei es sie nicht im geringsten gestört hatte, daß diese Terraner noch lebten... Damals hatte Ren auf dem Seziertisch der Amphi-Mediziner gelegen und über sich eine Vielzahl blitzender, tödlicher Instrumente gesehen. Wie mochte sich nun dieser Schattenkrieger fühlen, wenn er erwachte und sich umsah...? Für das Erwachen hatte Manu Tschobe immerhin vorgesorgt. Das nach wie vor nur verschwommen und schattenhaft erkennbare Wesen war nicht nur durch Strahlfesseln gesichert, sondern notfalls ließ sich auch noch ein Energieschirm projizieren. Ferner standen drei Kampfroboter in Bereitschaft, und zwei Cyborgs hatten von Tschobe den Auftrag erhalten, den Grako keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Wurden sie nicht mit ihm fertig, kamen die Robs zum Einsatz. Im Hintergrund bauten Physiker ihre Apparaturen auf, um den Unsichtbaren auf die Schliche zu kommen, und gerieten darüber prompt in Streit mit den Exobiologen, die sich von dem Instrumentarium beeinträchtigt fühlten. Dhark erkannte Rani Atawa, die zierlich wirkende Inderin, die vehement auf zwei Physiker einredete. Ren hatte nicht einmal gewußt, daß die Exobiologin sich bei diesem Flug an Bord der POINT OF befand. Sie gehörte zu der kleinen Gruppe, die seinerzeit nach der Landung der GALAXIS auf Hope von dem Diktator Rocco zusammen mit Dhark, Tschobe und anderen zum Inselkontinenten Deluge deportiert worden war, weil Rocco in ihnen allen politische Unruhestifter sah, die seinen
Machtanspruch gefährden konnten; schlußendlich hatte er sich mit der Deportation seiner politischen Gegenspieler keinen Gefallen getan, weil die im Industriedom von Deluge auf die technischen Hinterlassenschaften der Mysterious stießen... Aber irgendwie hatte man sich später teilweise aus den Augen verloren – und traf sich von Zeit zu Zeit auf diversen Missionen wieder. Zuletzt war Atawa bei der Aktion gegen die G’Loorn mit von der Partie gewesen, sogar in »vorderster Front«. Auch der Kontinuumsexperte H. C. Vandekamp, ebenfalls ein »Hope-Veteran«, wenngleich er nicht zu den Deportierten gehört hatte, war diesmal mit an Bord. Er griff in den Streit zwischen Rani Atawa und den Physikern ein und versuchte, die Wogen zu glätten. Unwillkürlich schmunzelte Dhark; die bisweilen etwas hölzerne Art Vandekamps war hier nicht unbedingt opportun. Aber mochten sie sich alle die Köpfe heißreden... Der Commander der Planeten trat an den Untersuchungstisch heran, auf dem der Schattenkrieger lag. Einer der Cyborgs wollte einschreiten, verharrte dann aber, als Dhark ihm einen scharfen Blick zuwarf. Manu Tschobe trat zu ihm. »Es gibt Leute, die behaupten, wir hätten es mit Robotern zu tun«, sagte er. Dhark sah ihn an, aber Tschobe verzog keine Miene. Ren wußte, daß der Afrikaner einst von Anfang an behauptet hatte, die Giants seien Roboter, was ihm damals niemand glauben wollte und was ihm deshalb eine Menge Anfeindungen eingebracht hatte. Speziell weil kein Mensch sich vorstellen konnte – oder sich auch nur vorstellen wollte – daß Roboter telepathische oder gar hypnotische Fähigkeiten entwickelten, aber dann hatten die Giants sich tatsächlich als biologische Roboter entpuppt – eine Entwicklung der Mysterious, die sich irgendwann selbständig gemacht hatte.
»Was glauben Sie, Manu?« fragte Dhark. »Das selbe, was die Leute glauben?« Der Mann, der eine Doppelausbildung als Arzt und Funkspezialist hinter sich hatte, schüttelte den Kopf. »In diesem Fall wage ich keine Prognose, Ren, aber so wie diese Schattenkrieger explodieren, wenn sie sterben, erinnern sie mich an die Giants mit ihrem Sprengsatz im Gehirn, der wie eine Atombombe wirkt und uns damals beinahe alle umgebracht hätte...« Er sah zu seinen Kollegen Maitskill und Hanfstik hinüber. Damals, bei der Untersuchung jenes Giants, war auch noch Anonga dabeigewesen, aber der befand sich diesmal nicht an Bord, weil er irgendwo in der Galaxis seinen wohlverdienten Urlaub verbrachte. Alle drei hatten gewarnt, aber Tschobe hatte die Untersuchung des von Ren Dhark gefangengenommenen Giants durchgesetzt. »Wollen Sie jetzt schon wieder einen Fremden in der MedoStation explodieren lassen?« fragte Dhark gespielt harmlos, aber am Funkeln seiner Augen erkannte Tschobe, wie das gemeint war. »Diesmal haben wir vorgesorgt«, sagte er. Er blieb ernst, ging auf Dharks Humor nicht ein. Aber er zeigte auch nicht, ob er sich vielleicht getroffen fühlte. »Wir warten jetzt noch darauf, was Grappa uns erzählen kann«, fuhr er nach einer Weile fort. »Inwiefern?« fragte Dhark stirnrunzelnd. »Der gute Junge arbeitet daran, unseren stummen Freund hier exakt zu analysieren. Was glauben Sie, Ren, welche Funktion diese Dinger hier haben? Den verdammten Grako damit aufschneiden wollen wir bestimmt nicht.« Dabei deutete er auf die Instrumente, die über der schattenhaften Erscheinung schwebten. »Und welche Funktion haben diese Dinger hier nun?« hakte
Dhark sarkastisch nach. »Das sind Grappas Augen und Ohren«, verriet Tschobe. »Wenn er fertig ist, kommen wir an die Reihe.« »Oder auch noch nicht«, warf Vandekamp ein, der hinzugetreten war. »Vielleicht habe dann erst einmal ich zu tun. Dieses Schirmfeld, das den Grako einhüllt, könnte hyperdimensional sein, und um es zu öffnen, bedarf es...« Rani Atawa schob sich an seine Seite. »Sie gehen alle sehr leichtfertig mit dem Begriff ›Grako‹ um«, stellte sie fest. »Was, wenn diese Annahme völlig falsch ist und wir es nicht mit den sogenannten Grakos zu tun haben, sondern mit einer völlig anderen Entität?« »Von den Utaren wissen wir, daß die Grakos die Geißel der Galaxis sind«, erwiderte der Kontinuumsexperte. »Und? Haben die Utaren jemals einen Grako von Angesicht zu Angesicht gesehen?« fuhr die Inderin ihn an. »Dhark, korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber halten die Utaren nicht sogar die Mysterious für die Grakos?« »Wie viele andere Völker das auch tun«, gestand Ren unbehaglich ein. Die Mysterious, die Schöpfer der phänomenalen Technik, der die POINT OF entstammte, gehörten zu seinem großen Traum, und jeder Versuch, sie von ihrem Denkmalsockel zu stoßen, schmerzte ihn. Als die Salter ihnen vorschwindelten, die letzten Mysterious zu sein, und ihnen die Shirs mit ihren ungeheuren hypnotischen Kräften dabei halfen, hatte er aufgeatmet und war glücklich gewesen, endlich am Ende seiner Suche zu sein, aber dann hatte der sterbende Olan ihm mit seinem Geständnis, daß die Salter nie mit den Mysterious identisch gewesen waren, den schlimmsten Schock überhaupt versetzt. Wer aber waren die Mysterious dann? Doch die Grakos? Diese unmenschlichen Ungeheuer, die keine Achtung vor dem Leben zu haben schienen? Die radikal alles vernichteten,
was ihnen vor die Waffen kam? Tino Grappa betrat die Medo-Station. Sein Auftauchen unterbrach jede Unterhaltung und jeden Streit. »Wollte das Ungeheuer auch mal mit eigenen Augen sehen«, bekannte er und versuchte damit zu entschuldigen, daß er seinen Platz hinter den Ortungen verlassen hatte, wo sein Kollege Yell jetzt allein ausharrte und den Weltraum um Planet 4 und sein System überwachte. Der junge Mailänder schüttelte den Kopf, als er den Schattenkrieger sah – oder besser, die sehr verschwommenen Umrisse, die ständig den Eindruck erweckten, einer Illusion zu erliegen, einer Fata Morgana, die bei der nächsten Bewegung verschwinden mußte. »Wir können ihn nicht richtig sehen, weil er von einem Hyperraumfeld umgeben ist«, sagte Grappa leise. Vandekamp runzelte die Stirn. »Was soll das heißen, Leutnant?« Der zuckte zusammen, weil er es an Bord der POINT OF nicht gewohnt war, mit seinem Dienstrang angesprochen zu werden. Im Flaggschiff der Terranischen Flotte herrschte ein recht lockerer Umgangston, und keiner der POINT OFBesatzung trug an seiner Uniform Rangabzeichen, dafür aber mit Stolz das Ringsymbol, das jeden von ihnen auszeichnete, zu dieser Mannschaft zu gehören. Nur das zählte, und selbst Männer wie Colonel Janos Szardak, früher 2. Offizier des Ringraumers, verzichteten auf ihr Lametta, wenn sie sich wieder einmal in der POINT OF aufhielten. Dabei kommandierten Szardak und Larsen längst nicht mehr nur »eigene« Raumschiffe, sondern ganze Geschwader von SKreuzern. »Die exakten Daten können Sie hier abrufen«, wies Grappa auf ein Terminal in der Nähe. »Vielleicht können Sie mehr damit anfangen als ich. Kurz zusammengefaßt sieht es so aus, daß wir den Grako nur deshalb nicht sehen können, weil er von einer Hyperraumschicht umgeben ist.«
Tschobe verzog das Gesicht. Dhark runzelte die Stirn. »Hyperraumschicht? Was meinen Sie damit, Tino?« »Bisher sind wir davon ausgegangen, daß das da ein Schutzschirm ist, oder? Vielleicht sogar ein Unsichtbarkeitsschirm, wie wir ihn von den Nogk kennen. Und das umgibt unseren Grako ebenso wie sein Schiff und seine Kampfstation. Richtig?« Der Ortungsoffizier deutete auf das nur verwaschen wahrnehmbare Etwas, das zwar körperlich vorhanden, aber kaum zu sehen war. Dhark nickte. »Und genau da hakt es«, behauptete Grappa. »Meine Instrumente, die diesen Burschen analysiert haben, besagen, daß diese Unsichtbarkeit nur eine filmdünne Hülle ist, unter der sich der eigentliche Grako befindet, oder auch sein eigentliches Raumschiff. Diese Hülle umfließt alles bis ins winzigste Detail. Es würde auch bei uns wie eine zweite Haut anliegen und sogar unsere Nasenlöcher ausformen.« »Hm«, machte Tschobe. »Sind Sie sicher, daß in diesem Fall der Begriff ›Analyse‹ nicht eher von ›anal‹ abgeleitet ist – alles für’n Arsch...?« »So drastisch kann man es natürlich auch formulieren«, erwiderte der Mailänder, ohne sich beleidigt zu fühlen. »Aber diese Analphase können Sie getrost vernachlässigen. Was meine Ortungen sagen, stimmt! Und diese Hilfsmittelchen«, er wies auf einen Teil der Instrumentensammlung über dem Schattenkrieger, »sind sehr verläßlich.« »Faszinierend«, bemerkte Vandekamp. »Wenn ich Sie richtig verstehe, Leutnant Grappa, hat dieses Hüllfeld, um es mal so zu bezeichnen, Hyperraumcharakter, ohne dabei einem Intervallfeld zu ähneln?« »Richtig, denn es grenzt sich auch nach innen ab. Der Grako, der sich innerhalb dieses Feldes befindet, hielte sich damit wieder im Normalkontinuum auf. Aber ob die Innenseite des Hüllfeldes die gleiche Struktur besitzt wie die uns
zugewandte äußere, kann ich nicht mit Gewißheit sagen.« Dhark und Tschobe sahen sich an. Der Mediziner und Funker zuckte mit den Schultern. Dhark fragte sich, welche Mühe es Grappa gekostet hatte, diese Details in solch kurzer Zeit zu erarbeiten, auch wenn ihm dafür die Supertechnik der Mysterious zur Verfügung stand. Immerhin mußte er erst einmal austüfteln, welche Instrumente er einsetzen konnte. »Tino«, fragte Tschobe vorsichtig an. »Sie konnten also mit Ihrer Ortung durch das Hüllfeld blicken? Konnten Sie auch schon Details über den Grako selbst erfassen?« »Bin ich ein Zauberer?« Der Mailänder lächelte. »Dazu reichen meine Fähigkeiten und Möglichkeiten nun doch nicht aus. Das ist Ihr Job, Manu. Wenn wir wissen wollen, wie der Grako aussieht, werden wir das Feld knacken müssen. Ich schätze mal, Ihr Skalpell wird sonst abbrechen.« Tschobe räusperte sich. Im Hintergrund warf Dr. Maitskill dem Ortungsspezialisten einen Mörderblick zu. »Skalpell!« knurrte er. »Was glauben Sie, was wir sind, Grappa? Metzger?« Grappas Lächeln wurde zum Grinsen. »Ich möchte mich da lieber nicht so genau festlegen, Doc!« »Na warte...« brummte Maitskill. »Kommen Sie mir erst mal unters Messer, dann reden wir noch einmal über diese Sache!« »Sagte ich’s nicht?« grinste Grappa. »Diese Medizinmänner denken immer nur ans Schneiden und Schnippeln. Mister Vandekamp, können Sie mir mal ein wenig unter die Arme greifen mit Ihrem Fachwissen? Dann finden wir vielleicht eine Möglichkeit, dieses Hyperraumfeld zu knacken, ohne den armen Grako in die Luft zu sprengen.« »Darum möchten wir aber auch dringend bitten!« verlangte Maitskill. »So ein Fiasko wie damals, als uns der Giant unter dem Organdetektor explodierte, möchte ich nicht noch einmal erleben!«
Dabei warf er Tschobe einen anzüglichen Blick zu. Ohne dessen Drängen, einen der All-Hüter eingehend zu untersuchen, wäre seinerzeit die Explosion nicht erfolgt, die Tschobe und dessen Kollegen Maitskill, Hanfstik und Anonga um ein Haar das Leben gekostet hätte. Vandekamp folgte Grappa zum Terminal, wo der Mailänder die überspielten Daten abrief und eine Direktverbindung zum Checkmaster schaltete. Vor ihnen lag eine Menge Arbeit... * Die Medo-Station der POINT OF war zum Tummelplatz der Hyperphysiker beider Raumschiffe geworden. H. C. Vandekamp ließ eine Apparatur konstruieren, die außer ihm und zwei anderen Experten niemand so richtig verstand. Zugleich äußerte Vandekamp die Vermutung, die bei der Zerstörung des Schattenraumers aufgetretenen Hyperraumeffekte hätten etwas mit dem Hüllfeld zu tun, das nicht nur diesen einzelnen Grako, sondern natürlich auch die Schattenraumer und sicher auch, in wesentlich stärkerer und perfekterer Form, die Riesenstationen umgab und sie selbst für die Ortungen der Ringraumer unsichtbar werden ließ. »Daß die Schattenkrieger selbst und ihre Raumschiffe immerhin noch andeutungsweise erkennbar bleiben, liegt möglicherweise an der verfügbaren Energie«, mutmaßte Vandekamp. »Die Stationen verfügen über ein erheblich größeres Potential und können damit erreichen, was kleinere Einheiten mangels Masse nicht schaffen.« »Ich stelle mir ohnehin vor, daß diese Hyperraumfelder gewaltige Energiefresser sind. Immerhin muß das Kraftfeld, das de nature in ein höherdimensionales Raum-Zeit-Gefüge gehört, ja in diesem eingeschränkten Bereich gehalten werden. Versuchen Sie mal, einen Schwamm, also ein
dreidimensionales Gebilde, so platt zu pressen, daß er einem zweidimensionalen Blatt Papier gleicht, ohne dabei seine Dreidimensionalität zu verlieren«, schlug der breitschultrige Professor Gerd Dongen vor, dem man seine annähernd 60 Lebensjahre nicht ansah. Jemand aus dem Team der FO-XXIX protestierte. »Dieser Vergleich hinkt doch, Kollege. Sie reden von Flachpressen, wo doch eine Umformung stattfinden müßte und...« »Wir können jetzt anfangen«, unterbrach Vandekamp den beginnenden Streit. Die beiden Cyborgs und die Kampfroboter waren bereit, sofort einzugreifen, falls es zu einer Katastrophe kommen sollte. Sie befanden sich innerhalb eines energetischen Prallfeldes, das um den Grako herum errichtet worden war und die beobachtenden Wissenschaftler und Mediziner schützen sollte. »Neutralisationsfeld ein...!« Zunächst war nichts zu bemerken. Kein lauteres Summen von Geräten, keine Lichteffekte. Aber dann begann das Hyperraumfeld, das den Schattenkrieger zu einem nur verwaschen erkennbaren Etwas machte, sich zu verdunkeln. Aber immer noch zeigte er seine wahre Gestalt nicht, die ebenso humanoid wie vollständig fremd sein konnte. »Was passiert?« fragte Ren Dhark leise. Vandekamp sah an ihm vorbei zu dem Fremden, während er antwortete: »Wir haben ein Neutralisationsfeld geschaffen, das diese Hyperraumenergie gewissermaßen absaugt. Mit etwas Glück finden wir gleich auf Anhieb den Projektor, mit dem der Grako dieses Feld erzeugt, und können ihn ihm wegnehmen. Da, passen Sie auf, Dhark – gleich müßte er sichtbar werden!« Gespannt starrten die Menschen auf das unheimliche Wesen, das langsam klare Formen annahm. Noch dunkler, fast schon schwarz war das Hyperfeld geworden, um sich dabei allmählich zu verändern.
Dhark hielt den Atem an. Waren die Grakos wirklich die Goldenen Menschen der Mysterious? Gleich mußte es sich zeigen! Wie lange brauchte das Neutralisationsfeld noch? Da zeigte der Unheimliche Konturen! Er wurde sichtbar! »Das – das ist unfaßbar!« stieß Ren Dhark hervor, den das Entsetzen packte. Vor ihnen auf dem Untersuchungstisch lag – ein G’Loorn! * Die Ähnlichkeit mit einem G’Loorn war wirklich verblüffend! Das Wesen, das jetzt ungetarnt vor den Menschen lag und ihnen sein Aussehen preisgab, sah aus wie eine etwa 1,80 m große Gottesanbeterin. Das einzige, was das Rieseninsekt auf den zweiten Blick von den Fremden aus der ehemaligen Quiet Zone im Zentrum der Galaxis unterschied, war die geringere Körpergröße und das Fehlen der pflanzlichen Komponenten. Das waren die Grakos? Insektenwesen? Plötzlich zweifelte Ren Dhark wieder. Zu sehr hatte sich das Bild des Goldenen Menschen längst in ihm festgesetzt, und zu gut hatte er vor ein paar Jahren die G’Loorn kennengelernt. Es paßte zusammen und paßte doch nicht! Die seelenfressenden G’Loorn, die ihr Hilfsvolk aussandten, um lebende Beute zusammenzutragen, ihre mörderische Kampfeswut, ihre kompromißlose Brutalität, die einem geradezu abstrusen Weltbild entstammte... waren sie tatsächlich identisch? Oder handelte es sich hier nur um eine starke Ähnlichkeit, wie die kleinen Utaren den großen Terranern glichen, von Details wie Augenpartie oder Zahl der Finger einmal
abgesehen? Einer der beiden Cyborgs trat zu dem kleinen G’Loorn und tastete den Körper und die heuschreckenartigen Gliedmaßen ab. Dann trat er wieder zurück und schüttelte den Kopf. »Kein Projektor für das Hyperfeld«, erklärte er. »Keine Waffen.« »Kein Projektor?« staunte Dongen. »Ja, zum Teufel, wie erzeugt er das Feld denn dann?« Es blieb ein Rätsel. »Wir werden es herausfinden!« behauptete Manu Tschobe. »So lange sollte das Neutralisationsfeld erhalten bleiben. Besteht keine Gefahr, den Grako zu berühren?« »Keine Gefahr«, erklärte der Cyborg. »Wie lange kann das Neutralisationsfeld arbeiten?« wollte Dr. Hanfstik von Vandekamp wissen. »So lange, bis wir es abschalten«, erwiderte der. »Für die Technik kein Problem, falls Sie Energieversorgung oder Überhitzungseffekte meinen.« »Dann los!« verlangte Tschobe. »Ab sofort gehört die Medo-Station wieder uns Medizinern...« Die Anspielung war deutlich. Für Hyperphysiker und Kontinuumsforscher gab es hier nichts mehr zu tun. Sie hatten ihre Arbeit abgeschlossen. Jetzt waren Mediziner und Biologen an der Reihe. Ren Dhark verließ die Medo-Station als erster. »Halten Sie uns auf dem Laufenden, Herrschaften«, verlangte er. Aber die Ärzte waren bereits beschäftigt. Im Hinausgehen vernahm Dhark Tschobes Aufforderung: »Maitskill, Organdetektor bereitmachen«, und gleich darauf Maitskills wütenden Protest: »Aber nein, Kollege Tschobe! Damit haben wir seinerzeit den Giant explodieren lassen! Wenn Sie unbedingt den Organdetektor einsetzen wollen, machen Sie das gefälligst selbst, aber ich werde dann nicht in der Medo anwesend sein...«
Nach all den Jahren steckte ihm jenes Erlebnis immer noch traumatisch in den Knochen. Und Ren konnte es ihm nicht einmal verdenken. * Einige Stunden später tauchte ein S-Kreuzergeschwader über Planet 4 auf. Die Störungen im galaktischen Magnetfeld hatten endlich wieder nachgelassen, und die POINT OF hatte Hilfe angefordert. Die nie mehr flugfähige FO-XXIX sollte geborgen werden, um ihre Spezialausstattung in einer terranischen Werft auszubauen und für ein anderes Schiff bereitzuhalten. Außerdem sollte die Stelle untersucht werden, an welcher der Schattenraumer explodiert war. Dafür wollte Ren Dhark sich keine Zeit nehmen. Ihn zog es nach Reet ins Corr-System, zu den Nogk. Der Aufenthalt auf diesem Dschungelplaneten war ohnehin nicht vorgesehen gewesen. Also konnten die Ringraumer die Untersuchung durchführen und die FO-XXIX im Intervallfeldschlepp nach Terra schaffen. Daß Janos Szardak das Kommando über die Ringraumerflotte hatte, war Zufall, und der alte Haudegen ließ es sich nicht nehmen, an Bord der POINT OF zu kommen. »Sie haben tatsächlich einen Grako gefangen, Dhark?« stieß er überrascht hervor. »Das bringt auch nur einer wie Sie fertig... kann ich diesen Burschen sehen? Ich möchte mir mein eigenes Bild von dieser Mörderrasse machen, die Huxley, Clark und auch meinem Flottenverband schon so viel Ärger und Verluste bereitet hat!« »Kommen sie, Janos«, bat Dhark und ging voraus zur Medo-Station. Dort erwartete sie eine Überraschung. »Was stinkt denn hier so furchtbar?« stieß Szardak hervor. Tschobe sah auf. »Der da!« erklärte er und wies auf den
Schattenkrieger. Mit dem Wesen ging eine unheimliche Veränderung vor. »Er verfault bei lebendigem Leib«, erklärte Tschobe. »Und wir wissen nicht, warum. Er entwickelt überall Geschwüre und Tumore. Wir wissen nicht genug über seinen Metabolismus, um ihn medikamentös behandeln zu können. Wir stehen erst am Anfang unserer Untersuchungen und wissen noch nicht einmal, ob das, was wir für Blut halten, wirklich Blut ist oder vielleicht etwas ganz anderes.« »Das einzige, was wir definitiv wissen, ist, daß sein genetischer Aufbau sich von dem der G’Loorn stark unterscheidet«, fügte Maitskill hinzu. »Zumindest nach allem, was wir über die G’Loorn wissen. Aber das ist auch nicht gerade viel.« »Geschwüre?« murmelte Szardak. »Auf einer Chitinhaut?« Er war dicht an das Insektenwesen herangetreten; einer der Cyborgs war bereit, sofort einzugreifen, falls der Fremde überraschend aus seiner permanenten Bewußtlosigkeit erwachte. Aber nichts dergleichen geschah. Szardak nahm eines der bereitliegenden Instrumente und berührte eine der schwärenden Zellblasen. Sie platzte auf und verstärkte den Gestank, dessen die Klimaanlage der Medo-Station längst nicht mehr Herr wurde. Szardak sah, daß darunter ein Loch in der Chitinhaut des Schattenkriegers war, unter dem es seltsam brodelte wie hunderte winziger Maden, die sich durch rohes Hackfleisch wühlten... Szardak wich zurück. »Himmel, bin ich froh, daß ich kein Mediziner geworden bin!« Er kämpfte mit einem heftigen Brechreiz. Etwas raschelte und knirschte. Plötzlich brach eines der Heuschreckenbeine einfach ab. Eine schleimige Substanz sickerte heraus und rann, klebrige Fäden ziehend, über den Untersuchungstisch und über die Kante hinab. Die Chitinhülle des Beines zerbröckelte dabei.
Ren Dhark schüttelte den Kopf und verließ die MedoStation wieder. Er wollte nicht noch mehr sehen, um nicht später davon Alpträume zu bekommen. Szardak und Tschobe folgten ihm nach draußen auf den Gang. »Der Zerfall schreitet von Minute zu Minute rapider fort«, sagte der dunkelhäutige Mediziner. »Ich denke, in spätestens einer Stunde ist nichts mehr von dem Wesen übrig. Ich frage mich, ob das etwas mit diesem Hyperraumfeld zu tun hat. Da wir auch im Körperinneren nichts fanden, was wir eindeutig als Projektor identifizieren konnten, gehe ich davon aus, daß eines der Organe dieser Kreatur dafür verantwortlich ist. Vielleicht hat das auch das Sterben ausgelöst, diesen seltsamen Auflösungsprozeß. Menschen verfaulen erst nach ihrem Tod, dieses Wesen schon vorher. Sein Glück, daß es nicht mehr zu Bewußtsein kommen wird. Wobei ich mich frage, ob die Schockerdosis wirklich so enorm war, daß sie bis jetzt anhält.« »Vielleicht will der Bursche auch sterben, um uns nichts verraten zu können«, überlegte Szardak. Manu Tschobe sah an ihm vorbei. »Wissen Sie, was ich von diesem Wesen richtig nett finde?« Dhark und Szardak sahen ihn fragend an. »Daß er nicht explodiert wie alle seine Artgenossen, als die starben. – Vielleicht hängt auch das mit dem Fehlen des Hyperraumfeldes zusammen. Verdammt, diese Grakos geben uns noch viel mehr Rätsel auf als die Mysterious! Als ob wir mit denen nicht schon genug am Hals hätten...« * Wenige Stunden später verließ die POINT OF den vierten Planeten des namenlosen Systems wieder. Janos Szardak war an Bord geblieben und hatte das Kommando über seine SKreuzergruppe seinem Stellvertreter übergeben. Dan Riker als
Chef der Terranischen Flotte hatte diese Aktion offiziell abgesegnet. Damit würde sich auch Marschall Bulton auf Terra abfinden müssen, der solche Überraschungen von Colonel Szardak zwar kannte, aber nicht sonderlich schätzte und schon mehrfach von einem selbstinszenierten Wanderzirkus gesprochen hatte. Aber Janos Szardak war auch mit den Nogk vertraut; er gehörte neben Colonel Huxley und seiner FO-I-Crew, Dhark selbst und dem Prospektorenehepaar Art und Jane Hooker zu den allerersten Menschen, die in Kontakt mit diesem eigentümlichen Volk getreten waren. Deshalb war es Ren Dhark durchaus angenehm, den alten Weggefährten mit dabeizuhaben, als der lange Flug zum Corr-System endlich begann...
4. Rund 300.000 Lichtjahre vom Halo der Galaxis entfernt, existierte in der Leere zwischen den Milchstraßen eine Insel des Lebens. Ringsum wartete der Tod. Das Exspect, jene Zone, die zu einer bislang unüberwindlichen Barriere auf dem Weg nach Andromeda geworden war. Je größer die Entfernung zur Galaxis, desto geringer wurde deren Spannungsfeld und um so höher der Energieaufwand, um Transitionen durchführen zu können. Berechnungen wurden zum Lotteriespiel; weder Entfernungen noch der stetig steigende Energieverbrauch ließen sich eindeutig bestimmen, und es konnte geschehen, daß schon nach einem relativ kurzen Raumsprung die Energiereserven eines Schiffes leergesogen wurden. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Nogk hätten ihre Flucht vor den Magnetstürmen in der Galaxis nicht überlebt. Nur durch Zufall hatten sie die Sonne Corr mitten im Leerraum entdeckt, die ihr eigenes Spannungsfeld aufbaute. Eine Transition aus dem Exspect heraus in das Corr-System verlief zufriedenstellend und berechenbar, wie auch auf dem Weg zurück in die Galaxis. Lediglich der Kurs in Richtung des intergalaktischen Leerraums war wirklich gefährlich. Es kostete eine Menge Energie, in wenigen weitgespannten Transitionen weit genug hinaus ins Exspect und nahe genug an das Corr-System zu gelangen, um die verbleibende Distanz mit einer einzigen Transition überwinden zu können. Im Jahr 2057 war das Corr-System zur neuen Heimat der Nogk geworden. Der Name Corr bedeutete übersetzt Lebensspenderin. Es handelte sich um einen Roten Überriesen der M-Klasse, ähnlich Beteigeuze im Orion. Der Durchmesser des Sterns betrug knapp 400 Millionen Kilometer, aber die
Dichte war relativ gering, deshalb verfügte Corr nur über die 8.000- bis 9.000fache Leuchtkraft von Sol. 15 Planeten umliefen die nach Sternzeit gerechnet noch sehr junge Sonne, und auf Reet, der sechsten Welt, hatten sich die Nogk angesiedelt. Möglichkeiten für organisches Leben gab es auf den Planeten fünf bis zehn. Der siebte Planet, Kraat – was soviel wie »Herberge« bedeutete – war seines etwas kühleren Klimas wegen zum Gastplaneten für Terraner ausgewählt worden. Der neunte Planet war eine Wasserwelt mit Algenplantagen, die die Nahrung für die Nogk lieferten. Diese bevorzugten allerdings das für terranische Begriffe recht extreme Klima ihrer neuen Heimat Reet, eines heißen, trockenen Wüstenplaneten, bedeckt von hellbraunem Sand. Reet war eine erstaunlich flache, ebene Welt, die kaum Berge kannte. In den Polregionen gab es kleine Meere und dichte Dschungel; dort tobten häufig Gewitter von geradezu unvorstellbarer Stärke. Eine ständige Bedrohung in den heißen Trockenregionen des Planeten stellten die urplötzlich aufkommenden, unglaublich heftigen Sandstürme dar. Das erzwang eine besondere Form des Wohnens. Die Nogk lebten in bis zu 5 km durchmessenden Pyramidenstädten von 400 bis knapp 1.000 Metern Höhe. Sie bestanden aus schimmerndem, glasartigem Material. Im Innern zogen sich die Wohnebenen um eine lichte Halle hin, die sich vom Boden bis fast unter die Spitze der Pyramide nach oben erstreckte und die äußere Form des Gebäudes hier im Inneren wieder aufnahm. Viele der Wände waren transparent wie grünliches Glas. Nachts strahlten sie ein phosphoreszierendes Leuchten aus. Aus dem gleichen, seltsam faszinierenden Material bestand die kleine Siedlung, welche die Nogk mit der für sie typischen, manchmal unheimlich erscheinenden Geschwindigkeit für ihre terranischen Freunde errichtet hatten. Aber bei der Architektur richteten sie sich nach den Wohnvorstellungen der Terraner; die für Menschen ungewöhnlichen Pyramidenstädte, an denen
die reetschen Sandstürme abglitten, waren hier auf Kraat nicht erforderlich. Gleich nebenan war ein kleiner Raumhafen angelegt worden, auf dem derzeit drei Raumschiffe lagen. Das entschieden größte war die CHARR. Der 500 Meter lange Ellipsenraumer war ein Geschenk der Nogk an Colonel Frederic Huxley. Sein früheres Schiff, der spindelförmige Forschungsraumer FO-I, konnte zusätzlich zu den normalen, ellipsenförmigen Beibooten in einem speziellen Großhangar im Innern des Raumers hinter einer Großschleuse aufgenommen und mitgeführt werden. Jetzt allerdings parkte die FO-I im Schatten der gigantischen CHARR. Und nur einige hundert Meter weiter funkelte der auf einer terranischen Werft vom Band gelaufene Tofirit-Ringraumer EUROPA... Im Rumpf der CHARR bildete sich eine Öffnung. Ein Beiboot glitt aus seinem Hangar hervor und schwang sich mit hellem Antriebssirren in den Himmel über der Siedlung empor. Schon bald war der Kleinraumer mit dem bloßen Auge nicht mehr zu erkennen. Colonel Frederic Huxley war auf dem Weg nach Reet. Er flog das Beiboot allein. Dank der technischen Perfektion, mit welcher die Nogk ihren Raumschiffsbau betrieben, war das kein Problem. Für den Flug zwischen den beiden Planeten benötigte Huxley nicht lange. Auch im unterlichtschnellen Bereich war das Beschleunigungsvermögen des nogkschen Antriebs enorm. Huxley brachte den Kleinraumer innerhalb kürzester Zeit fast auf Lichtgeschwindigkeit und bremste ihn vor dem Eintauchen in die Atmosphäre von Reet ebenso rasch wieder ab. Erstaunlicherweise kam es trotz der BeinaheLichtgeschwindigkeit nicht zu Dilatationseffekten. Irgendwie hatten es die Wissenschaftler der Nogk fertiggebracht, die normalerweise unumgängliche Zeitdehnung im hochrelativistischen Geschwindigkeitsbereich zu neutralisieren.
Huxley nahm Verbindung mit der Raumkontrolle auf und ließ sich zu jener Nogk-Stadt leiten, in der die neue Generation dieses Volkes heranwuchs. Dort wartete Charaua bereits auf ihn, der Herrscher des einstmals so mächtigen, aber heute durch die zahllosen Schicksalsschläge so gewaltig reduzierten Nogk-Imperiums. Längst schon betrachtete Huxley diese Geschöpfe nicht mehr als fremdartig. Sie waren entfernt humanoid. Etwa zweieinhalb Meter groß, mit sehr schlanken Körpern, die sich mit einer Schnelligkeit und Eleganz zu bewegen vermochten, die an Reptilien erinnerte. Die lederartige Haut war bräunlich und gepunktet. Was absolut fremd und abstoßend erschien, war der mächtige Libellenkopf mit den gefährlich aussehenden Beißzangen und den stets schwingenden Fühlerpaaren, die den Nogk zusätzliche Sinneswahrnehmungen ermöglichten, die Terraner sich nicht einmal vorstellen konnten. »Ich freue mich, dich zu sehen, mein Freund«, teilte Charaua sich ihm auf die semitelepathische Weise seiner Spezies mit. Huxley antwortete verbal; sein TranslatorImplantat erleichterte die Verständigung zwischen den beiden so ungleichen Wesen und formte Huxleys Worte gleich in die mentale Bildersprache der Nogk um. »Ich bin deiner Einladung sehr gern gefolgt«, sagte er. »Gibt es einen bestimmten Grund, aus dem ich ausgerechnet hierher kommen sollte?« Charaua bejahte. »Es geht um Tantal«, gestand er. »Es könnte sein, daß er zu einem unlösbaren Problem für unser Imperium wird.« »Du willst, daß ich mit ihm rede«, erriet Huxley. »Du glaubst, daß er eher auf mich hört als auf dich. Wir Terraner kennen das. Auch unsere Nachkommen rebellieren gern gegen ihre Eltern.« »Das ist es nicht«, erwiderte Charaua. »Du weißt, daß die Beziehungen zwischen Wesen meiner Art anders sind als bei
deiner Rasse. Rivalitäten zwischen Erzeugern und ihren Nachkommen in der Form, wie man sie mir von euch Terranern berichtet hat, gibt es bei uns nicht.« Huxley nickte. »Verzeih mir die kleine Unbesonnenheit, ich hätte daran denken müssen. Was aber ist nun das Problem?« »Begleite mich zu Tantal, und du wirst es erfahren.« * Tantal war der erste einer neuen Generation von Nogk. Seine Puppe war durch einen unglückseligen Zufall vergessen worden, als die Nogk ihre frühere Heimatwelt verließen, um mit dem Fernziel Andromeda schließlich das Corr-System im Nichts zwischen den Sterneninseln zu finden. Tantal schlüpfte erst nach dem Abzug der Nogk, und er benannte sich selbst spontan nach der Sonne, um die seine Geburtswelt kreiste, dem blaugrünen Stern Tantal. Später war er entdeckt und nach Reet gebracht worden, wo mittlerweile zahlreiche weitere Junge seiner Art geschlüpft waren – und es wurden immer mehr. Wie Tantal waren sie kleiner und zierlicher als normale Nogk, und ihre Haut war nicht braun, sondern kobaltblau und metallisch schimmernd. Und wie Tantal waren sie nicht mehr Strahlungsabhängig wie ihre Vorfahren! Das bedeutete möglicherweise, daß sie mit den in der Galaxis tobenden Magnetstürmen würden leben können. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren, die seit Generationen vor diesem immer stärker werdenden Phänomen fliehen mußten und darüber längst schon vergessen hatten, wo ihr ursprüngliches Heimatsystem einst gelegen hatte. Huxley entsann sich, daß Charaua einmal von einer anderen Galaxis gesprochen hatte. Das erklärte auch ihren verzweifelten Mut, die Milchstraße verlassen zu wollen. Wenn sie in grauer Vorzeit schon einmal
den Sprung von einer Galaxis zur anderen gewagt hatten, warum sollten sie es dann nicht ein zweites Mal versuchen? Das konnte aber auch bedeuten, daß die verheerenden Strahlenstürme keine nur auf die Milchstraße beschränkte Erscheinung waren... Allein die Vorstellung jagte selbst einem Mann wie Frederic Huxley kalte Schauer über den Rücken. Und nun stand er in Begleitung Charauas Tantal gegenüber. In dieser speziellen Wohnstadt, die eigens auf die Bedürfnisse der blauen Nogk abgestimmt worden war, bildete Tantal, der erste Vertreter dieser neuen Art, die anderen Kobaltblauen aus. Tantals Begrüßung war von knapper Reserviertheit. Er wandte sich gleich an seinen Erzeuger. »Hast du es dir überlegt?« fragte er direkt. »Das habe ich«, erwiderte Charaua, »eingehend und ausführlich, und ich kann in deiner Argumentation nichts finden, das die Gefahr rechtfertigt, in die du unser Volk bringst.« »Eine Gefahr, die nur mich und jene betrifft, die mich begleiten werden!« widersprach Tantal scharf. »Hast du bei deiner Überlegung auch bedacht, auf welche Informationen ich zurückzugreifen vermag?« Huxley erinnerte sich an das, was er damals erfahren hatte, als Tantal nach Reet geholt wurde – der Kobaltblaue verfügte über ein unerklärliches Wissen die Vergangenheit seines Volkes betreffend. Zwar schlüpften die Nogk körperlich voll ausgebildet aus ihren Kokons und besaßen auch gleich ein umfangreiches Grundwissen, das ihnen über Mentalstrahler vermittelt wurde, während sie in ihren Puppen heranreiften. Aber Tantal besaß Kenntnisse, die ihm auf diese Weise niemals bekannt geworden sein konnten, weil sie längst nicht mehr zum Wissensschatz seines Volkes gehörten! Dazu besaß er die Fähigkeit, bestimmte Gefahren vorauszuahnen. »Das ist es nicht, was ich meine«, erwiderte Charaua nun.
»Komm zur Vernunft. Du wirst das Unheil hierherlocken.« »Darf ich vielleicht auch erfahren, wovon die Rede ist?« mischte sich Huxley ein. Tantal wandte sich ihm zu, fixierte ihn mit seinen Facettenaugen. »Ich beabsichtige, mit einer Anzahl meiner Art eine Expedition in die Milchstraße zu starten, um mehr über die Vergangenheit unseres Volkes herauszufinden. Da uns die gefährliche Strahlung keinen Schaden zufügen kann, gibt es für die Expeditionsteilnehmer auch kein Risiko. Der Herrscher unseres Imperiums will dies nicht begreifen und mir diese Expedition verbieten. Fast könnte man meinen, er fürchte das neue Wissen, die Erkenntnisse, die wir nach Reet bringen wollen.« »Das ist falsch, und du weißt es, Tantal«, rügte ihn Charaua. »Warum verweigerst du uns dann, diese Erkenntnisse zu beschaffen? Vielleicht können sie uns weiterhelfen.« »Es ist zu gefährlich«, beharrte Charaua. »Bedenke die Unsichtbaren mit ihren Riesenstationen und Schattenschiffen, die auf unserer letzten Wohnwelt die Städte vernichteten, die uns unter die Oberfläche unserer Welt zwangen! Die uns selbst auf dem Weg hierher anzugreifen versuchten, so daß unsere terranischen Freunde mit ihren schwer zu vernichtenden Ringschiffen Schutz bieten mußten! Ohne ihre Hilfe wäre uns der Exodus vielleicht niemals gelungen.« »Ja, die selbstlosen Terraner«, erwiderte Tantal, und seinen mentalen, bildhaften Impulsen war nicht zu entnehmen, ob er das so ironisch meinte, wie das Translator-Implantat es für Huxley in gesprochene Worte kleidete. Die symbolhaften Bilder der Nogk, die direkt in die Köpfe der Gesprächspartner projiziert wurden, waren auf eine gewisse Art unmißverständlich, jedoch für solche Feinheiten nicht geeignet. So kannten die Nogk weder Ironie noch Lüge – bisher. Huxley hoffte inständig, daß dies bei der neuen Generation nicht anders wurde...
»Die Schatten könnten eure Transitionen anmessen und hierher zurück verfolgen«, fuhr Charaua fort. »Bisher konnten sie nicht herausfinden, wohin wir uns zurückgezogen haben, daß wir noch existieren und nicht im Exspect zu Staub zerfielen. Noch wissen sie nichts von Corr und Reet, glauben vielleicht, daß unsere Raumflotte mit leeren Speicherbänken und ohne Besatzungen, leer und tot, durch die Dunkelheit zwischen den Galaxien dahintreibt, um einst in Milliarden von Jahren einmal eine andere Sterneninsel zu erreichen und fremden Entitäten Rätsel aufzugeben. Doch wenn sie euch aufspüren, werden sie auch den Weg hierher finden.« »Niemals, denn wir würden uns eher selbst vernichten, ehe wir...« Huxley hob die Hand und unterbrach den jungen Nogk. »Du bist unhöflich, Terraner«, tadelte ihn der Kobaltblaue. »Und du leichtsinnig, Nogk«, gab der grauhaarige Colonel zurück. »Charaua hat recht. Es ist nicht weise, zuviel Aufmerksamkeit zu erregen. Allein deswegen wird das CorrSystem auch von uns nur so selten wie eben möglich angeflogen, um keine verräterischen Strukturerschütterungen bei den Transitionen zu erzeugen! Wie du dich sicher erinnerst, Tantal, steigt der Energieverbrauch um so stärker, je tiefer ein Raumschiff ins Exspect hineinspringt, und um so stärker und leichter anmeßbar sind dabei dann die Strukturerschütterungen. Höre auf Charaua. Das Wohl eures Volkes ist sein größtes Anliegen. Und ihr Nogk braucht Sicherheit und Ruhe, vor allem jetzt, in dieser Zeit der Katastrophen! Es wird schon bald geschehen, daß der größte Teil der Nogk in die Tiefschlafphase wechseln muß; euer Lebensrhythmus ist erheblich durcheinandergebracht worden! Nichts ist mehr so wie früher. Ihr werdet für mehrere Jahre relativ hilflos sein, vielleicht nicht einmal genug Besatzungen für die Kampfraumer aufbringen können, um Reet und die Schlafenden gegen Angreifer zu verteidigen. Vergiß das nie, denn auch wenn du anders
aussiehst als das alte Volk, gehörst du doch zu den Nogk.« »Das muß mir ein Terraner sagen?« gab Tantal zurück. »Anscheinend. Denn auf einen Nogk hörst du ja nicht«, knurrte Huxley. »Ich appelliere an deinen Verstand. Verzichte auf die Expedition, zunächst wenigstens, bis zumindest die Gefahr durch die Schatten nachläßt.« »Das kann lange dauern. Die Kriege, die unser Volk einst führen mußte, dauerten Generationen.« »Diesen Krieg müßt nicht ihr führen«, erwiderte Huxley scharf. »Das erledigen wir. Und wir Terraner pflegen solche ressourcenverschlingenden Aktionen schon in ureigenstem Interesse recht zügig abzuhandeln. Wenn die Gefahr durch die Schatten beseitigt ist, magst du dein Anliegen noch einmal Charaua und dem Rat des Imperiums vortragen. Dann wird sicher in deinem Sinne entschieden werden können. Vorerst solltest du den Feind nicht hierherholen. Denn selbst wenn du ihn nicht siehst – der Feind sieht dich!« Tantal wollte etwas erwidern, aber dann wandte er sich ab und schritt davon, ließ Charaua und den Terraner einfach stehen. »Er will dich nicht verstehen«, teilte Charaua sich seinem Freund mit. »Ups«, machte Huxley. »Vielleicht sollten wir dann noch ein wenig an unserer Kommunikation arbeiten.« »Es ist ein grundsätzliches Problem«, sandte Charaua ihm seine nächsten Impulse zu. »Diese neue Generation ist ganz anders als wir alten Nogk. Aggressiver, kämpferischer.« »Hm«, wandte Huxley ein. »Als ziemlich kämpferisch habe ich deinesgleichen aber auch schon kennengelernt. Ich bin mir nicht sicher, ob da noch eine Steigerung möglich ist.« Er entsann sich, wie die Nogk mit Raumern der Giants umgegangen waren, oder an die wütende Verbissenheit bei den Auseinandersetzungen mit den Schattenstationen. Selbst mit dem Nor-ex hatten sie sich recht erfolgreich angelegt, nachdem
ihnen erst einmal klargeworden war, womit sie es zu tun hatten. »Es ist so«, gab Charaua auf seine lautlose Art zurück. Dazu ertönte ein leises Knacken und Knirschen, wie Huxley es noch nie bei einem Nogk erlebt hatte; erstaunt sah er auf und bemerkte, wie die Beißzangen des Libellenkopfes gegeneinander rieben. Charaua war zutiefst beunruhigt und – verunsichert! »Sie denken auch anders als wir«, fuhr der Nogk fort. »Manchmal, wenn ich Tantal und andere seiner Art sehe, glaube ich, daß sie eine ganz andere Rasse sind.« »Tantal ist ein jugendlicher Heißsporn. Er wird mit der Zeit ruhiger werden.« »Nein«, widersprach Charaua. »Sie sind anders als wir. Wir sterben aus, und ihnen gehört die Zukunft. Schon bald wird es keine wie uns mehr geben. Das ist etwas, das mich schmerzt, mein Freund Huxley.« Der Colonel sah den Nogk überrascht an. Er hatte Charaua noch nie so erlebt wie jetzt. Konnten Nogk unter Depressionen leiden? Ihm war, als würde Charaua sich und die seinen als eine Art »Auslaufmodell« betrachten. »Es wird euch alte Nogk noch lange geben«, erwiderte er. »Du bist selbst noch relativ jung, gehörst zu einer späten Generation. Mögen auch viele der Alten schon bald für immer von euch gehen – ihr werdet noch lange existieren. Vielleicht länger als Tantals Art. Vielleicht sind die Blauen nur eine vorübergehende Erscheinung. Eine kurzfristige Mutation, die wieder verschwindet, wenn die nächste Generation aus ihren Kokons schlüpft.« Charaua sah zum violetten Himmel empor. »Ja, vielleicht.« Dann wandte er sich ab und schritt in Richtung des Schwebers zurück, mit dem er zur Stadt der jungen Nogk gekommen war. Huxleys Armbandvipho sprach an. Lee Prewitt, sein 1. Offizier, meldete sich,
»Die Raumkontrolle unserer Freunde meldet Besuch, Sir«, teilte er mit. »Offenbar ist die POINT OF ins Corr-System gekommen.« »Die POINT OF?« echote Huxley überrascht. »Was, zum Teufel, treibt denn Dhark persönlich hierher?« * Der Ringraumer war gelandet. Ren Dhark in Begleitung von Janos Szardak, Arc Doorn, Rani Atawa, H. C. Vandekamp, dem Astrophysiker Pal Hertog und Professor Gerd Dongen wurde von Charaua und Huxley begrüßt. Nur wenig später hob die POINT OF wieder vom Landefeld ab und flog unter Dan Rikers Kommando die Nachbarwelt Kraat an, wo die Crew ein wenig ausspannen sollte. »Es gibt eine Menge Neuigkeiten«, erklärte Ren Dhark. »Für die Nogk, aber mit Sicherheit auch für Sie, Huxley, da sie schon lange nicht mehr in der Milchstraße waren. Besteht die Möglichkeit«, und nun wandte er sich explizit Charaua zu, »vor dem Rat des Imperiums sprechen zu dürfen?« Der Herrscher der Nogk bejahte. »Es kann sofort geschehen«, teilte er mit. »Ich werde den Rat unverzüglich einberufen. Wenn der Herrscher der Terraner selbst die Mühe des langen Weges auf sich nahm, um persönlich zu uns zu sprechen, müssen Dinge von ungeheurer Wichtigkeit geschehen sein. Wir wollen keine Zeit verlieren.« Huxley schmunzelte und raunte Dhark zu: »Wenn Charaua sagt, er wolle keine Zeit verlieren, wird alles wohl noch ein wenig schneller gehen als sonst!« Aber selbst er war überrascht, wie rasch der Rat zusammenkam, in dem auch Huxley als einziger Nicht-Nogk Sitz und Stimme besaß. Kaum hatte die terranische Delegation das »Regierungsgebäude« betreten, das als Pyramidenbau errichtet worden war, als der Rat sich bereits im Sitzungssaal
einfand. Huxley, der gemeinsam mit einem unter dem Namen Shirro vorgestellten Nogk »Fremdenführer« gespielt hatte, trennte sich jetzt von der Delegation und nahm seinen Platz zwischen den Ratskollegen ein. Er wirkte fremd, klein und unscheinbar inmitten der großen, überschlanken Gestalten mit den furchterregenden Libellenköpfen. Dhark sah zur Decke des großen Konferenzraums hinauf. Die Nogk hatten an alles gedacht. Da oben schwebten kleine Detektorkugeln, die in diesem Fall als Übersetzer fungierten. Ein wenig Unbehagen verspürte der Commander der Planeten bei diesem Anblick und erinnerte sich an seinen ersten Aufenthalt in einem Nogk-Schiff, damals auf Hope, als er mit Hilfe solcher Detektoren einem Verhör unterzogen werden sollte. Damals hatte er auch Charaua kennengelernt, der zu jener Zeit noch Kommandant eines Beibootes war. Auch Szardak war damals mit dabeigewesen. Er stieß Dhark an und deutete nach oben. »Nicht, daß mir diese Kugeln gefallen könnten«, murmelte er in Erinnerung an das damalige Erlebnis. Aber Ren wollte darüber jetzt nicht mehr diskutieren. Er hatte den Nogk eine Menge überraschender Eröffnungen zu machen... * Er berichtete von der Entdeckung der zweiten Galaxis auf der anderen Seite der Milchstraße und daß dieser nach einer Erzählung von Dro Cimc »Drakhon« genannte Spiralnebel schon teilweise mit der heimatlichen Galaxis kollidierte. »Wir halten es für möglich, daß diese bereits seit Jahrtausenden oder Jahrhunderttausenden stattfindende Kollision verantwortlich ist für die Störungen des galaktischen Magnetfeldes. Unsere
Meegs«, er lächelte, als er den nogkschen Begriff für Wissenschaftler verwendete, »Vandekamp, Dongen und Hertog können euch darüber nähere Details berichten, wenn ihr das wünscht.« Er fuhr fort mit der Entdeckung der Salter in Drakhon und wies auch darauf hin, daß sie trotz anfänglicher Beteuerungen doch nicht mit den Mysterious identisch gewesen waren. Allerdings wußte er sie auf entsprechende Rückfragen einiger Ratsmitglieder selbst nicht hundertprozentig einzuordnen, wohl aber die Rolle der Shirs mit ihren enormen hypnosuggestiven Kräften. Er bat die Nogk um Hilfe bei der Entwicklung einer individuellen Abschirmung, um nicht erneut von diesen ParaGiganten ausgetrickst zu werden. Denn sonst war eine erneute Expedition nach Drakhon von vornherein aussichtslos. Aber nur dort versprach Dhark sich Hinweise auf die Lösung des galaxisweiten Strahlungsproblems. Und dieses zu lösen, mußte auch im Interesse der Nogk sein. Aber noch ehe er seine Bitte vollständig vorgetragen hatte, geschah etwas, das mit einem Schlag alles veränderte... * Die POINT OF war auf Kraat gelandet, direkt neben der EUROPA, der CHARR und der FO-I. Riker erhob sich aus dem Pilotensitz und nickte Dro Cimc zu. »Feierabend«, schlug er vor. »Was halten Sie davon, Wer, sich einmal in der Umgebung umzusehen und zu staunen?« »Ich staune jetzt schon«, bekannte der Tel. »Unvorstellbar, daß diese Insektenköpfigen gerade mal etwas länger als ein Jahr hier leben sollen. Ihre Planeten sehen aus, als wären sie schon seit über einem Jahrzehnt bewohnt.« »Das Tempo, mit dem diese Wesen vorgehen, ist für uns einfach unvorstellbar«, schmunzelte Riker. »Selbst Colonel Huxley, der sie von uns allen am besten kennt, weil er schon
lange mit ihnen lebt, gestand einmal, daß sie ihn immer wieder überraschen. Dabei weiß er sie noch am ehesten einzuschätzen... Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Wunder dieser Welt.« »Waren Sie denn schon einmal hier, daß Sie sich auskennen?« zeigte der Tel sich verblüfft. »Wann denn, denn Sie waren doch, seit wir uns kennen, immer in der POINT OF unterwegs!« Riker lachte. »Sie haben recht, ich war nie hier und bin selbst neugierig. Wir...« Er verstummte. Sein Lachen gefror. Der Checkmaster gab Alarm! Gleichzeitig schrie Yell an den Ortungen auf. Riker fuhr herum. »Hyperraumortung!« schrie Yell, Tino Grappas Stellvertreter, und hatte im gleichen Moment die von seinen Instrumenten erfaßten Daten auf das Kommandopult und in die Bildkugel geschaltet. »Ihr Götter!« keuchte Dro Cimc entsetzt. »Was ist das?« Aber seine Götter blieben stumm und ließen ihn im Ungewissen. * Die Bildschirme zeigten die 300.000 Lichtjahre entfernte Milchstraße. Und sie zeigten, was auch die Hyperortungen der POINT OF erfaßt hatten – einen gigantischen Blitz, der die Milchstraße wie eine Explosionswolke zu verschlingen schien. »Checkmaster!« schrie Riker, aber ein Blick verriet ihm, daß er von diesem rätselhaften Rechengehirn der Mysterious nichts erfahren würde. Alle Kontrollen zeigten rot!
Der Checkmaster weigerte sich, Daten zur Berechnung anzunehmen! Die Menschen in der Zentrale der POINT OF waren fassungslos. Sie glaubten an eine Illusion, an einen Trick. Was sie auf den Schirmen sahen, konnte doch nur ein Film sein, nicht aber die Wirklichkeit, denn etwas, das innerhalb weniger Sekunden eine ganze Galaxis überzog, durchdrang und einhüllte, konnte es überhaupt nicht geben. Unwahrscheinlich das Tempo, mit dem dieser Superblitz heranjagte! Er verschlang nicht nur die Milchstraße, sondern raste auch in den Leerraum und damit dem Corr-System entgegen! Das Exspect mit seinem Spannungsabfall vermochte die fremde Energieform nicht aufzuhalten! »Das ist ein Alptraum«, keuchte Hen Falluta. »Das kann nicht real sein!« Aber real war der Alarm in der POINT OF, und der Checkmaster schätzte dieses unglaubliche Phänomen als Gefahr ein! Zwischen der Entdeckung des Hyperblitzes und seinem Einschlag im Corr-System blieben nur wenige Sekunden. Die Gedankensteuerung übernahm die Kontrolle über die POINT OF! Schneller als jeder Mensch reagierte sie. »Wer hat denn hier...« stöhnte Walt Brugg in der Funk-Z auf und kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden: ... eine Funkverbindung zur EUROPA geschaltet? Die Gedankensteuerung hatte diese Verbindung hergestellt und sprach dabei direkt den Suprasensor der EUROPA an. Kommandoimpulse gingen an den Hauptrechner des TofiritSchiffes. Blitzschnell wurden die Intervallfelder aktiviert. Von einem Moment zum anderen entstanden die künstlichen MiniWelträume, durchdrangen einander, weil die Raumer zu dicht beieinander standen, hoben auch die Existenz der FO-I und
teilweise der CHARR für die Dauer ihres Bestehens auf, ohne sie dabei zu zerstören oder zu beschädigen. Sie existierten noch, aber nicht für die POINT OF und die EUROPA. Im nächsten Moment durchflammte die unglaubliche, weißglühende Energieform bereits das Corr-System. So unfaßbar schnell, daß kein Mensch in der Zentrale der POINT OF überhaupt begriff, was geschah. Und dann war bereits alles wieder vorbei. Alles! Nur das Schweigen nicht... Es dauerte an. In der POINT OF herrschte Totenstille. Aber es gab keinen Menschen mehr, der das überhaupt noch wahrnehmen konnte...
5. Ren Dhark kam zu sich. Übergangslos. Von einem Moment zum anderen. Er wußte nicht genau warum, aber er hatte das Empfinden, in einem Nessosgewand zu stecken – jenem Hemd, das der Centaur Nessos der Deianira, der Frau des antiken, griechischen Helden Herakles geschenkt hatte und das angeblich Liebeszauber enthielt. Nur – der listige Pferdemensch hatte es mit Gift beschmiert. Als Herakles es angezogen hatte, konnte er es nicht wieder abstreifen. Weshalb der Held unter unsäglichen Schmerzen starb. Doch davon war der Commander lichtjahreweit entfernt. Wieviel Zeit vergangen war, seit ihn dieser unbegreifliche weiße Blitz außer Gefecht gesetzt hatte, konnte er auch nicht sagen, da sein letzter Blick auf das Chrono schon länger zurücklag. Vielleicht eine Minute, vielleicht zehn – vielleicht aber auch viel weniger. »Heilige Galaxis«, murmelte er, »was war das denn?« Er saß zusammengesunken in seiner Sitzschale und begriff noch immer nicht genau, was da vorgefallen war. Dann straffte er sich und stand auf. Außer ihm waren nur Doorn, Szardak und Rani Atawa auf den Beinen. Die anderen, Colonel Frederic Huxley, die Astrophysiker und Kontinuumsexperten H. C. Vandekamp, Pal Hertog und Professor Gerd Dongen sowie die hochrangigen Mitglieder des nogkschen Rates lagen weiterhin auf dem Boden oder in den Sitzen über den ganzen Raum verteilt. Sie befanden sich noch immer im Versammlungssaal des Rates der Nogk, fast tausend Meter hoch über dem rechteckigen Areal aus gewaltigen Quadern, in das die
Fundamente des Pyramidenbaues eingebettet waren. Seine Blicke irrten durch den riesigen, quadratischen Raum, dessen lichtdurchlässige Wände sich nach oben hin leicht verjüngten. »Was... was war denn los?« Rani Atawa, die Exobiologin, blickte wie hilfesuchend auf den Commander. »Etwas hat uns ohnmächtig werden lassen«, antwortete Dhark, und er fügte hinzu: »Aber fragen Sie mich jetzt nicht, was. Ich kann es Ihnen nicht sagen.« »Teufel auch«, entfuhr es Doorn, »einen schnelleren Blackout habe ich noch nie erlebt!« »Blackout?« murmelte Szardak sarkastisch. »Das war wohl mehr ein Whiteout, wenn ich mich recht erinnere.« »Sie haben es also auch bemerkt, mein Freund?« fragte Dhark rauh. »Eine unerträgliche Helligkeit«, nickte Szardak. »Wie ein weißer Blitz, der aus dem Himmel kam und alles überstrahlte...« »Darf man fragen, was Sie bemerkt haben, meine Herren?« Neben ihm rappelte sich der eben zur Besinnung gekommene Frederic Huxley vom Boden auf. Der überraschten Miene des grauhaarigen Colonels sah man an, daß er selbst über alle Maßen irritiert war über diesen unerklärlichen Vorgang. H. C. Vandekamp, Professor Gerd Dongen und der Astrophysiker Pal Hertog gesellten sich zu ihnen. Sie hatten, so erinnerte sich Dhark, mit den Mitgliedern des nogkschen Rates die augenblicklich aktuelle Lage erörtert. Vordergründig hatten sich die Gespräche dabei um die neuentdeckte Galaxis Drakhon gedreht, die bereits in Teilen schon mit der Milchstraße kollidiert war, wobei Dhark und die terranischen Meegs dabei die Überzeugung vertreten hatten, daß die seit geraumer Zeit beobachteten sporadischen Schwankungen des
galaktischen Magnetfeldes unmittelbare Folgen dieser Kollision waren. Tatsächlich allerdings war Dhark trotz der zur Zeit schwierigen und unruhigen Lage auf der Erde mit seiner Delegation nach Reet gekommen, um sich von den Nogk bei der Entwicklung von Abschirmmöglichkeiten gegen die Kräfte der Shir Rat zu holen. Die Nogk mit ihren schwachen telepathischen Kräften schienen ihm dafür am besten geeignet zu sein... Hinter den Wissenschaftlern erwachten eben die Ratsmitglieder der Nogk mit Charaua an der Spitze und richteten sich aus eigener Kraft wieder auf. »Wir sprachen gerade davon, was der Auslöser für unsere Ohnmacht war – beziehungsweise gewesen sein könnte«, schränkte Dhark ein. Aber noch ehe er seine Vermutung genauer darlegen konnte, machte Huxley eine entschuldigende, abwehrende Handbewegung und eilte zu Charaua, um ihm auf die Beine zu helfen. »Charaua...« begann er mit besorgter Stimme. »Bist du in Ordnung?« Der Nogk mit der strichförmigen Narbe auf der linken Hälfte des Insektengesichtes, wandte sich dem Colonel zu. In den starren Facetten seiner Augen war keine Regung abzulesen, lediglich seine vier Fühler bewegten sich unstet. Zeichen seiner Verwirrung über die unerklärlichen Geschehnisse. Er machte eine abwehrende Bewegung mit seiner reptilienhaften Hand. »Ich bin in Ordnung«, versetzte er in seiner Bildersprache, die gleichzeitig aus einem Detektor drang und so für die anderen verständlich wurde. Ren Dhark war weder verärgert noch gekränkt über das Verhalten des Colonels. Er wußte um dessen schwierige Rolle. Diener zweier Herren! Huxley zählte zu den Ratsmitgliedern des nogkschen
Imperiums. In dieser Eigenschaft nahm er eine immens wichtige Schlüsselstellung zwischen den Libellenwesen – wie die Nogk oft völlig zu unrecht von den Menschen bezeichnet wurden, weil ihre Köpfe eine gewisse Ähnlichkeit mit denen riesiger Libellen aufwiesen – und der Erde ein. Auf Terra vertrat er die Interessen der Nogk, im Rat der Nogk die der Terraner. Ein Spagat, der nicht nur Lichtjahre überspannte, sondern den Abgrund zwischen zwei völlig verschiedenen Kulturen überbrücken mußte. Keine leichte Aufgabe, Schon gar nicht für einen Menschen. Dhark beneidete ihn nicht darum. Er registrierte nur ein wenig erstaunt die Fürsorge, die Huxley an den Tag legte. Aber seine diesbezüglichen Überlegungen wurden jäh gestört, als plötzlich ein Tohuwabohu an Geräuschen einsetzte. Aus sämtlichen Richtungen gellten Alarmsignale. Die Meegs begannen sofort mit hektischen Aktivitäten, deren Zweck den Menschen zunächst verborgen blieb. »Ach du Schreck!« rief Rani Atawa. »Was zum Teufel ist jetzt schon wieder los?« Szardak starrte wild um sich. Konsolen fuhren aus dem Boden. Sichtsphären flammten auf, die anfangs nur Statik zeigten, bis die Meegs von Hand die herausgeflogenen Schutzschaltungen wieder installierten und Verbindungen zumindest auf einem niedrigen Level zustandebrachten. Allerdings produzierten sie anfangs nur für die Terraner nicht lesbare Anzeigen und nichtidentifizierbare Datenreihen. Ren Dhark fror plötzlich, trotz der wohltemperierten Atmosphäre im Ratssaal. Eine vollkommen irrationale Regung. Er kannte Aktivitäten wie diese. Sie bedeuteten auf allen Planeten und in allen bekannten
und unbekannten Sprachen immer nur das eine: Katastrophenalarm! Ren wandte sich an Charaua. »Was ist geschehen?« fragte er eindringlich und hob seine Stimme, um die Geräuschkulisse zu übertönen. »Wie können wir helfen?« Er sah sich von den dunklen Facettenaugen des Oberhauptes der Nogk prüfend fixiert. Die leuchtendgrüne Uniform, von deren Schulterpartien golden irisierende Streifen bis zu den Handgelenken liefen, unterstrich dessen Fremdartigkeit. »Es ist gut Freunde zu haben«, drangen seine Impulse als Worte aus dem Detektor. »Freunde wie euch Terraner. Freunde wie Huxley...« Er legte dem Colonel seine Rechte auf den Unterarm. Eine vollkommen menschliche Geste, die für einen winzigen Moment vergessen machte, daß Charaua ein Nichthumanoider war. Doch dieser Eindruck verflog rasch. Charaua fuhr fort, während sich die Sinnesorgane auf seinem Kopf auf die Terraner richteten: »Aber dies hier ist eine rein technische Angelegenheit, die meine Meegs in kürzester Zeit im Griff haben werden...« Während sich die Terraner bis auf Huxley und Ren wieder auf ihren Plätzen niederließen und dankbar die Betreuung der Serviceroboter annahmen, winkte Charaua einer Gruppe gelbgekleideter Meegs, die im Hintergrund warteten. Ein einzelner Nogk näherte sich ihnen. Es handelte sich um Sriil, wie Ren Dhark erkannte. Der Meeg bekleidete in der nogkschen Hierarchie das Äquivalent eines terranischen Wissenschaftsministers. Inzwischen reduzierte sich der Lärm aus den Sichtsphären und Audiophasen auf ein erträgliches Maß. Sriil wechselte mit Charaua einige bildhafte Impulse, die weder Ren noch Huxley verstanden. Ren Dhark richtete sich auf und setzte zu einer Äußerung
an, aber der Colonel bat ihn durch eine Handbewegung, die Diskussion der beiden Nogk nicht zu unterbrechen. Mit gerunzelter Stirn kam der Commander der Bitte Huxleys nach, in der Hoffnung, bald eine Erklärung zu erhalten. Er mußte nicht lange warten. Charaua richtete seine Facettenaugen auf Ren Dhark; seine Fühler vibrierten nervös. »Entschuldige die Unhöflichkeit, Commander der Erde, dich und unser Ratsmitglied Huxley nicht gleich an unseren Überlegungen teilhaben zu lassen. Aber Sriil ist, wie ich und alle übrigen Nogk auch, auf das tiefste betroffen über jenes unerklärliche Phänomen, das die Welten unseres Systems heimgesucht hat. Laßt euch jetzt berichten...« Charaua begann seinen Bericht ohne alle Umschweife – und ohne irgendwelche Beschönigungen. Ren war von der plötzlichen Fülle gestochen scharfer Bilder überwältigt, die durch sein Bewußtsein schossen. Er sah die Städte der Nogk und erkannte, daß jedes Lebewesen auf Reet bewußtlos gewesen war. Schlimmer noch: sämtliche Energieverbraucher waren durch Kurzschlüsse lahmgelegt und mußten nun erst mühsam und zeitaufwendig von Hand wieder hochgefahren werden. Zum Glück waren die Kraftwerke durch intelligente, suprasensorische Sicherheitssysteme innerhalb einer Zeitspanne, die nur in Nanosekunden gemessen werden konnte, vom Netz getrennt worden, so daß es zu keinen nennenswerten Unfällen in diesem sensiblen Bereich kam. Ganz anders sah es jedoch im Verkehrsbereich aus: Infolge der planetenumspannenden Bewußtlosigkeit jedes Lebewesens war es zu wahren Kettenreaktionen an schrecklichen Unfällen gekommen... Je länger Charaua seine überaus präzisen Gedankenbilder in den Gehirnen der Männer in schneller Abfolge entstehen ließ, desto ernster wurden die Terraner. Als der Nogk-Regent endlich schwieg, sagte keiner der
Männer ein Wort. Schließlich durchbrach Ren Dhark das Schweigen. »Haben Eure Astronomen denn gar nichts von dem gemerkt, was dieses System heimgesucht hat?« fragte er die beiden Nogk – um dann bestürzt innezuhalten, als ihn die Ahnung überkam. Dieses System... Das würde bedeuten, daß die Katastrophe jeden Planeten im Corr-System getroffen hatte! Jede Welt. Auch Kraat! Dort machten die Besatzungen der POINT OF und der EUROPA Urlaub vom... »Ich fürchte, du hast recht«, erreichte ihn die bildhafte Antwort des Herrschers der Nogk. Seine Fühler spielten unruhig hin und her. Er bestätigte auf diese Weise Rens geheimste Befürchtungen und ließ wieder einmal deutlich werden, daß die telepathisch begabten Nogk mühelos in Lage waren, auch nicht laut geäußerte Gedanken zu erfassen. Charauas dunkle Facettenaugen richteten sich prüfend auf Ren Dhark. »Ich spüre, du bist in Sorge um den Gesundheitszustand deiner Leute auf Kraat!« »Ja«, bestätigte Ren ernst. »Ich mache mir Sorgen.« Er begann langsam in dem weitläufigen, quadratischen Raum hin und her zu wandern. Dann blieb er an einem der in die Außenwände eingelassenen raumhohen Fenster stehen, dessen leichte Neigung und Trapezform deutliche Rückschlüsse auf die Architektur des ganzen Bauwerks zuließ. Schließlich drehte er sich um. »Läßt sich eine Funkverbindung mit Kraat herstellen?« Es war Sriil, der mit einem verneinenden Kopfschütteln antwortete; eine terranische Sitte, die er adaptiert hatte. »Die erforderlichen Energien stehen noch nicht zur Verfügung«,
bedauerte er. »Es wird noch eine Weile dauern.« »Warten wir also solange...« begann Ren Dhark mit belegter Stimme. In diesem Augenblick flammte eine weit größere Sichtsphäre auf und forderte unmißverständlich die Aufmerksamkeit der humanoiden wie insektoiden Anwesenden. Die Raumhafenkontrolle... Ein Nogk in einer Art silberfarbener Uniform sah auf sie herab. Aus der Öffnung zwischen den insektenartigen Mandibeln drang ein Schrillen, das die Terraner veranlaßten, sich in einem Reflex die Ohren zuzuhalten. Aus Charauas Detektor quollen sekundenlang nur unverständliche Laute, ehe die Übersetzung griff und den uniformierten Nogk verständlich werden ließ. »... der Kapitän hat alles versucht, Regent, aber die SETER ist auf dem Raumhafen zerschellt!« drangen seine bildhaften Impulse durch den Konferenzraum. Charauas Fühler gerieten in Aufruhr; seine Hände krallten sich in sein Gewand. »Bericht!« drang es scharf aus dem Detektor. Der silberfarbene Nogk benutzte keine Worte. Für die Schilderung der Lage setzte er die Fähigkeit seines Volkes ein, einen komplizierten Sachverhalt in blitzartig ablaufenden Gedankenbildern darzulegen und weiterzugeben. Huxley hatte keine Schwierigkeiten mit der Erfassung. Charaua selbst hatte ihn die einmalige Form dieser raschen Verständigung auf Tantal gelehrt. Nur Ren Dhark hinkte ein bißchen asynchron hinterher. Die SETER war einer der neuesten Ellipsenraumer der Nogk. Gedrungener und flacher als Colonel Huxleys CHARR. Sie gehörte zu jenem neuen Typus von Schiffen, mit dem die Nogk versuchen wollten, den Leerraum zwischen dem Corr-
System und der Andromeda-Galaxis zu überbrücken. Das Schiff war unmittelbar vor der Katastrophe gestartet. Als die Triebwerke und sämtliche energieerzeugenden Systeme sowie die Besatzung ausfielen, war es etwa 10 Kilometer hoch. Der kinetische Impuls reichte gerade noch für viereinhalb Sekunden, die Massen des Schiffes gegen die Schwerkraft Reets zu halten, dann stürzte es in gerader Linie zu seinem Ausgangspunkt zurück – zum Raumhafen. Es gab keine Aufzeichnung des Geschehens; kein technisches Gerät hatte noch funktioniert, ebensowenig gab es Augenzeugen des Vorfalls. Aber Ren und Huxley konnten sich auch so vorstellen, was geschehen war, was geschehen sein mußte. Zwangsläufig. Den Gesetzen der Physik folgend. Aus dem kontrollierten Aufstieg der SETER war ein unkontrollierter Sturz geworden. Die Lufthülle konnte den Fall nicht bremsen. Schlingernd und gierend bewegten sich -zigtausend Tonnen Masse zur Oberfläche des Planeten herab und schlugen mit kaum vorstellbarer Wucht auf der Landebahn ein. Den Bildern zufolge, die der Nogk inzwischen aus dem Tower des Raumhafens vermittelte, mußte die SETER mit der Hecksektion zuerst aufgeschlagen sein. Ihr Gewicht und die kinetische Energie trieben sie meterweit in den Boden, wobei sich eine Sektion über die andere stülpte. Glühende Gasmassen zuckten auf und wüteten durch die Decks. Wandungen zerbarsten, beulten sich nach außen und flogen davon. Es hatte sicher Minuten gedauert, bis die verformte Masse aus geborstenen Decks und Stützzellen zur Ruhe gekommen war. Jetzt lag nur noch ein Berg von ineinander verschachtelten
Metalltrümmern, in dem bösartige Brände glühten, an der Absturzstelle. Mit maskenhaft starren Gesichtern verfolgten Nogk und Terraner den Bericht über den Todessturz des Schiffes. Schließlich endete die bildhafte Übertragung. Die Sichtsphäre erlosch. »O Gott«, murmelte Ren Dhark. Frederic Huxley trat auf Charaua zu, packte ihn links und rechts an der Schulter. »Um Gottes willen, Charaua! Ist schon etwas zur Rettung der Verunglückten unternommen worden? Wurden Bergungsarbeiten eingeleitet?« »Natürlich!« drang es scharf in die Bewußtseine der Menschen. »Die entsprechenden Einheiten sind, soweit sie schon wieder einsatzfähig sind, bereits alarmiert«, bestätigte Charaua und gab dadurch zu verstehen, daß er eine für Huxley und die anderen Terraner unhörbare Nachricht empfangen und gesendet hatte. »Aber jetzt mußt du mich entschuldigen, Huxley. Ich möchte bei den Bergungsmaßnahmen dabei sein.« Ren Dhark sagte: »Meine Leute und ich werden helfen, soweit es in unserer Macht steht.« »Und ich natürlich ebenso«, versetzte der Colonel. Charaua schwieg zunächst. Nur seine hin- und herzuckenden Fühler verrieten, daß er das Angebot der Terraner von allen Seiten beleuchtete. Schließlich nickte er widerstrebend. »Ein Schweber wird uns zur Absturzstelle bringen. Wen von deinen Leuten willst du mitnehmen?« Ren überlegte kurz, dann traf er seine Entscheidung. »Janos, Sie kommen mit. Die übrigen bleiben hier bei den Wissenschaftlern! Stellen Sie eine Verbindung mit der POINT OF her und legen Sie mir die Phase auf mein Armbandvipho, sobald Sie Kontakt haben!« *
Dhark saß mit Huxley, Szardak und Charaua in dem vollgekapselten nogkschen Schweber, der sie zum Raumhafen brachte. Unter ihnen lag die Pyramidenstadt im weichen, rötlichen Licht der Riesensonne Corr. Die transparenten, durchschnittlich gut tausend Meter hohen Pyramidenbauten schienen, vom Sonnenlicht des roten Riesen durchdrungen, wie von innen heraus zu glühen. Der Anblick jagte den Menschen einen Schauer über den Rücken. Hier, auf dem sechsten von insgesamt fünfzehn Planeten, waren die Nogk von der auf Nogk II unter der blaugrünen Sonne Tantal praktizierten Bauweise ihrer Städte abgerückt. Statt der konzentrisch angelegten Ringstädte hatten sie sich auf Reet zu gewaltigen Pyramidenbauten entschließen müssen, die tausend Meter und mehr in den überwiegend violetten Himmel ragten. Gründe dafür waren die klimatischen Verhältnissen, mit denen sich die Nogk auf Reet konfrontiert sahen. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet befand sich Reet am Ende einer Periode, die mit dem Archäozoikum Terras vergleichbar war – wenn auch nicht alle Aspekte unbedingt deckungsgleich waren. So konzentrierten sich die sintflutartigen, scheinbar nie endenden Regengüsse nur auf die Polregionen, die von den Nogk gemieden werden mußten, denn ungeschützt konnte sich das insektoide Volk nicht in diese Gebiete begeben. Die Verhältnisse waren für den Metabolismus seiner Angehörigen tödlich. Abgesehen von gelegentlichen Patrouillenflügen wagte sich deshalb niemand freiwillig in diese Regionen. Aber auch die äquatoriale Zone war nicht ohne Gefahren. Die durch sporadische Temperaturstürze ausgelösten Staubzyklone, die an Heftigkeit alles überboten, was die Nogk bisher kennengelernt hatten, zwangen sie, das Prinzip der Ringstädte aufzugeben und sich der Pyramidenbauweise zuzuwenden. Diese Art der
Urbanisierung bot weitaus besseren Schutz gegen die fürchterlichen Staubstürme, die einige der ersten Ringstädte, die zu Beginn der Besiedlung noch errichtet worden waren, regelrecht zugeschüttet hatten... »Was ist, Commander?« meldete sich Colonel Huxley; die eisgrauen Augen in vom langen Weltraumaufenthalt rötlich ledern gewordenen Gesicht sahen fragend auf Dhark. »Sie wirken überrascht.« »Ich bin beeindruckt«, gestand Ren Dhark unumwunden ein. Zu Charaua gewendet, fuhr er fort: »Die Schnelligkeit, mit der die Arbeiten auf Reet voranschreiten, beeindruckt mich nachhaltig. Ich bin mir nicht sicher, ob wir unter den selben Voraussetzungen Ähnliches in vergleichbarer Zeit zu schaffen imstande wären.« »Wir haben alles seit langem sehr sorgfältig geplant«, erreichten Ren die Impulse des Regenten der Nogk. »Wie immer, wenn wir vor einem neuen Exodus standen.« Ren Dhark nickte nachdenklich. Exodus. Das beschrieb ziemlich genau die Lage, der sich das Volk der Nogk im Laufe seiner Existenz schon mehrmals gegenübergesehen hatte. Die Vertreibung... Nichts paßte besser zur Situation der Nogk als dieser Begriff aus der terranischen Mythologie. Immer wieder hatten sie versucht, eine Heimat auf Dauer zu finden. Erst auf Charr. Ein Roter Riese der Spektralklasse K2, ehe er entartete und seine Strahlen für die Nogk zur tödlichen Gefahr wurden. Dann Tantal. Die einzige Sonne in einem Radius von etwa hundert Lichtjahren im Halo der Milchstraße, auf der Andromeda abgewandten Seite der Galaxis.
Und schließlich Corr. Jenes Sechzehnplanetensystem am entgegengesetzten Ende der Milchstraße im Leerraum zwischen ihr und der Galaxis Andromeda. Umgeben vom Exspect... Der Pilot nahm ein paar Sensorschaltungen vor, worauf das Flugvehikel einer Reihe von nogkschen Einsatzschwebern auswich. An ihrem Sirenengeheul und der pulsenden Warnbefeuerung war zu erkennen, daß es sich bei ihnen um die von den Meegs alarmierten Rettungseinheiten handelte, die zu den Katastrophenbezirken unterwegs waren. Unter dem Schweber glitt die Stadt hinweg. Aus der Höhe sah man deutlich ihre Reißbrett-Anordnung. Jede der Pyramiden, von denen immer sechs Stück mit mathematischer Genauigkeit auf einem von gigantischen Quadern gebildeten Areal angeordnet waren, war durch gewaltige Tunnels mit den benachbarten verbunden. Die einzelnen Areale verfügten untereinander ebenfalls über derartige Verbindungstunnels. Außerdem führten je nach Lage der Städte Schnelltransportschächte zu den obligatorisch unterhalb der Planetenoberfläche gelegenen Raumhäfen hinab. Wie die Erde war auch Reet von einem globalen Schutzschirm umspannt, der auf Angriffe fremder Aggressoren mit Antisphären reagieren konnte, die, über einen Suprasensorik-Verbund zusammengeschaltet, von den einzelnen Abwehrzentren so exakt dosiert werden konnten, daß sie niemals zur Gefahr für die eigenen Welten im Corr-System zu werden vermochten. Jetzt allerdings war der Schutzschirm über dem Wohnplaneten der Nogk nicht mehr vorhanden. Und es würde längere Zeit dauern, wie Sriil noch im Konferenzbau erklärt hatte, bis wieder genügend Energie zur Verfügung stehen würde, um ihn erneut aufzubauen. Ren wagte gar nicht erst an das Chaos zu denken, das an Bord der nogkschen Einsatzflotte ausgebrochen sein mußte, die
in ständiger Alarmbereitschaft im Corr-System patrouillierte, um es gegen fremde Aggressoren zu schützen und zu verteidigen. Colonel Szardak stieß Ren an. Er deutete durch die Allsichtverglasung nach draußen. Der Schweber hatte den Mittelpunkt des Stadtareals erreicht. Die gigantischen Pyramiden gruppierten sich um eine kreisrunde Fläche, auf der sich ein Bauwerk erhob, das auf den ersten flüchtigen Blick Erinnerungen an die Ringstädte der Nogk weckte. Aber der kreisförmige Bau war keine Ringstadt, sondern der Zugang zu einem der unter der Planetenoberfläche befindlichen Raumhäfen, wie Ren erkennen konnte. Die etwa fünfhundert Meter hohe Ringmauer, die die freie Fläche umschloß, war nur außen zylindrisch, nach innen hin fiel sie trichterförmig ab. Nach Rens Schätzungen konnte die Landefläche zehn der großen nogkschen Ellipsenraumer gleichzeitig aufnehmen; die deutlich gekennzeichneten Kreispisten senkten sich dann mitsamt den Schiffen ins Innere des Planeten hinab, wo wahrhaft gigantische Gewölbe die Raumer aufnahmen. Im Augenblick waren die gewaltigen Silos geschlossen; auf der Piste standen mehrere Ellipsenraumer, die auf Startfreigabe gewartet hatten, als das Verhängnis Reet überkam. Mitten unter ihnen auf der trümmerbedeckten Lande- und Startfläche das Wrack der SETER. Mit einem harten Stoß setzte Charauas Schweber unweit der gepanzerten Einsatzfahrzeuge der Raumhafenwehr auf, die in sicherer Entfernung von der ausbrennenden SETER warteten. »Mein Gott!« stöhnte Janos Szardak. »Was für ein Desaster!« Er sprach aus, was Ren und Colonel Huxley dachten. Die SETER glich einem vielfach zusammengefalteten Metallhaufen, der kaum noch etwas von seiner ursprünglichen Form erahnen ließ. Eine rotglühend erhitzte Masse, die halb im
Einschlagkrater versunken war. An der Aufschlagstelle trieben schwarzrote Rauchschwaden über die weite Räche. Schweber der Nogk schossen wie Hummeln zwischen den aufragenden Türmen der anderen Schiffe hin und her und hüllten sie mit Schaumflüssigkeiten von oben bis unten ein, um ein Übergreifen des Feuerorkans auf sie zu unterbinden. Vom Boden aus bemühten sich Reparaturmannschaften, die Plattformen wieder in Gang zu bringen, um die Schiffe zurück in die unterirdischen Gewölbe fahren zu können, bevor sie Schaden nahmen. Dazwischen die jaulenden und wimmernden Medo-Fahrzeuge, die sich einfanden, um Verletzte so schnell wie möglich in die medizinischen Zentren zu bringen. Immer wieder flammten Explosionen auf. Die Prallfelder, die sich in Situationen wie dieser um Gefahrenherde legten, sie eindämmten und so eine Ausbreitung auf benachbarte Schiffe oder Gebäude verhinderten, waren aufgrund der Energieausfälle noch immer nicht einsatzbereit. Gasfontänen entzündeten sich und schossen gleich Vulkaneruptionen in den violetten Himmel Reets. Ein Inferno, dem kein Mitglied der Besatzung entkommen zu sein schien. Und doch gab es Überlebende! Nogk in schweren Bergungsanzügen liefen durch die Qualmwolken und züngelnden Gasschleier auf das Wrack zu. Laserbrenner schufen sich Bahn, schnitten durch Trümmer und Wrackteile. Im Schutz ihrer extrem belastbaren Panzeranzüge drangen nogksche Spezialisten in die gestauchten und zerquetschten Sektionen ein. Andere Gruppen verließen das Wrack, transportierten auf A-Gravliegen verletzte oder tote Besatzungsmitglieder. Es hatte den Anschein, als herrsche ein heilloses Durcheinander.
In Wirklichkeit war jede Aktion wohlgeplant und wurde mit äußerster Präzision durchgeführt. Schwebereinheiten versuchten die Flammen zu ersticken, indem sie das Wrack umschwirrten und die einzelnen Sektionen von oben und von der Seite unter weißem Schaum begruben. Die Geräuschkulisse war infernalisch. Hinter dem nogkschen Herrscher liefen Ren Dhark, Colonel Szardak und Colonel Huxley über die Landefläche in den Schatten eines breiten, schildkrötenförmigen Einsatzvehikels, in dessen Schutz bereits eine Gruppe Nogk wartete. »Wie groß ist der Schaden?« wandte sich Charaua an den Meeg, der den Bergungseinsatz leitete. »In den Maschinensektionen sind alle tot, Herrscher«, erwiderte der Nogk in seinem Schutzanzug. »Von dort empfangen wir keinerlei Lebensimpulse mehr. Auch die Materialdecks sind voller Toter.« Der nogksche Einsatzleiter hob mit einer resignierten Bewegung seine Arme. Charauas Fühler erzitterten. Über seine dunklen Facettenaugen legte sich ein milchiger Schleier. »Gibt es Überlebende?« »Wir registrieren einhundertzwanzig Lebensimpulse. Es handelt sich größtenteils um Meegs und Techniker. Sie sitzen ziemlich tief im Schiff auf dem Wissenschaftsdeck fest. Die Korridore dorthin sind zerstört. Wir müssen uns mühsam einen Weg zu ihnen bahnen. Ich befürchte, es wird dauern. Ob sie bis dahin am Leben bleiben, ist fraglich. Die Brände im Innern des Schiffes lassen sich nicht eindämmen!« Ren wurde abgelenkt, als sein Armbandvipho ansprach. Er drehte sich zu Seite und aktivierte es. Es war Arc Doorn, der sich aus dem Konferenzgebäude meldete. Endlich...
»Verbindung zur POINT OF steht, Commander«, sagte er nur knapp und legte die Phase auf das kleine Gerät. Das winzige Bild, das sich auf dem Display manifestierte, war das seines Freundes Dan Riker auf Kraat. »Dan! Hörst Du mich?« sagte er laut. Lauter als es eigentlich nötig gewesen wäre. Aber er schloß einfach aus der Tatsache, daß um ihn herum eine enorme Geräuschkulisse herrschte, daß auch Dan Riker mit den gleichen Problemen zu kämpfen hätte. Ein Irrtum. »Weshalb schreist du so?« erreichte ihn Rikers Stimme. »Hier ist das Chaos ausgebrochen, Dan! Hör zu...« Der Commander informierte seinen Freund in knappen Worten über die Ereignisse. »Tut mir leid, Ren«, versetzte Dan auf dem fernen Kraat, »was dort bei euch geschehen ist. Auch hier hatten wir so unsere Schwierigkeiten. Aber die scheinen vergleichsweise winzig zu sein gegen das, was bei euch abgeht. Ich kann dir erklären...« Ren fiel ihm ins Wort. »Später, Dan, später können wir uns austauschen. Jetzt hör zu, hör genau zu! Ich möchte, daß du mir alle verfügbaren Flash schickst. Und es eilt. Jede Sekunde kann Leben retten...!« Wenn Dan Riker, Dharks Weggefährte seit den Tagen der GALAXIS, über die Anordnung seines Freundes erstaunt war, so ließ er es sich nicht anmerken. »Verstanden«, erwiderte er nach kurzem Überlegen. »Ich schicke die Flash auf den Weg; sie treffen in ein paar Minuten ein. Ich komme mit der POINT OF nach, sobald die Mannschaft komplett an Bord ist!« »Okay! Wir warten!« Dhark beendete die Verbindung. »Was haben Sie vor, Commander?« fragte Huxley halblaut, der Rens Unterhaltung mitbekommen hatte. »Wollen Sie uns
nicht aufklären?« Der hagere, grauhaarige Mann blickte Dhark auffordernd an, während Janos Szardak nachhaltig dazu nickte. »Die Flash sind mit Hilfe ihres Intervallums in der Lage«, erklärte der Commander langsam, während er die beiden und die Nogk beobachtete, »gefahrlos die Hülle der SETER zu durchdringen und zu den tief im Schiffswrack eingeschlossenen Nogk vorzustoßen, um sie herauszuholen. Die Rettungsmannschaften würden viel zu lange brauchen, sich bis dorthin vorzuarbeiten, wo man die Überlebenden geortet hat. Bis dahin dürfte dann niemand mehr am Leben sein.« Huxley nickte langsam. »Das ist es also, was Sie bezwecken, Commander. Ausgezeichnete Idee. Schade nur, daß sie nicht von mir stammt.« Szardak wiegte den Kopf. »Hundertzwanzig Nogk! Ein etwas mühsames Unterfangen, wenn Sie mich fragen. Die Flash haben nur Platz für jeweils einen Passagier...« »Zur Not gehen auch zwei rein, wenn sie sich den Platz teilen«, erwiderte Huxley pragmatisch. »Das ist aber auch was...« brummte Szardak; das Gesicht des ehemaligen Zweiten Offiziers des Auswandererschiffes GALAXIS und jetzigem Sternen-Colonels der TF wirkte zutiefst skeptisch. »Es halbiert zumindest die benötigte Zeit, um alle zu retten«, versetzte Huxley mit einem etwas angespannten Grinsen. * »Melden uns zur Stelle, Commander!« Das Gesicht Mike Doraners erschien in der mobilen Sichtsphäre, die die Nogk herbeigeschafft hatten. Es handelte sich um zweiundzwanzig Flash, die über dem
Raumhafen scheinbar aus dem Nichts auftauchten. Von ihnen hing das Leben von hundertzwanzig Nogk ab. Und vom Können ihrer Piloten. Zweiundzwanzig Mini-Raumboote. Die übrigen waren in den Depots der POINT OF verblieben. Mehr Piloten waren nicht greifbar gewesen, wurde Ren bedeutet, als er sich nach den restlichen M-Beibooten erkundigte. Seit der Anforderung waren keine zehn Minuten vergangen. »Mike, Gott sei Dank! Sie sind die Rettung. Im Wrack der SETER sitzen noch Überlebende fest. Nur Sie und die anderen Piloten können sie rausholen...« In gedrängter Form erklärte Ren Dhark, was er von den Flashpiloten erwartete. »Die Koordinaten werden Ihnen von den Nogk übermittelt«, sagte er abschließend. »Und schalten Sie die Aufnahmeprojektoren zu uns durch, Mike.« »Verstanden, Commander«, versetzte Mike Doraner, der das Einsatzkommando anführte. In der Sichtsphäre konnte man sehen, wie er den Kopf in den Nacken legte und auf die Deckenprojektion schaute. »Ihr habt gehört, was der Commander gesagt hat?« wandte er sich an die Piloten der anderen Flash. »Verstanden«, kam es über die Phase. Über Gedankensteuerung koordinierten sie ihr Vorgehen untereinander. »Einsatzbestätigung!« »Einsatzbereit!« meldeten die Flashpiloten nacheinander. »Dann los. Machen wir uns an die Arbeit!« Der Flash mit Mike Doraner im Cockpit näherte sich in halber Flughöhe dem Wrack, schob sich langsam heran – und tauchte ein in die Wandungen, als wären sie nur eine Holoprojektion. Die anderen »Blitze« folgten. Nichts konnte sie aufhalten.
Nichts konnte ihnen gefährlich werden. Weder das im Wrack wütende Feuer, noch die geborstenen und verdrehten Korridore, die abgekippten und gestauchten Schächte. Gebannt verfolgten Terraner und Nogk in der Sichtsphäre das, was die Piloten auf ihren eigenen Monitoren sahen. »Achtung. Nähern uns Zielkoordinaten«, meldete Rul Warren, der ebenfalls an dem Einsatz teilnahm. In Fächerformation drangen die Flash in die schwer zerstörte SETER ein. Das Innere des einst so stolzen Raumers war eine Hölle aus Trümmern, Feuer und Rauch. Mit nervöser Anspannung verfolgten die Außenstehenden über die Sichtsphäre, wie die 003 von Mike Doraner die letzten Meter zurücklegte und in das weitläufige Deck vorstieß, in dem sich die Nogk aufhalten sollten. Der innere Teil des Schiffes war noch relativ unversehrt, was für die unvergleichlich stabile Bauweise der Nogk sprach. Und da waren sie! Zum Teil verletzt, überwiegend jedoch in relativ guter Verfassung, wie sich via Bildkontakt feststellen ließ. Jemand neben Ren Dhark stieß erleichtert die Luft aus. Es war Colonel Huxley, dem sichtlich ein Stein vom Herzen fiel. »Gott sei Dank!« murmelte er, »sie sind alle noch am Leben.« Über die Phase von Mikes 003 sprach Charaua mit den Besatzungsmitgliedern der havarierten SETER. Er klärte sie darüber auf, was die Terraner zu tun gedachten. Der nächste Flash tauchte in der Halle auf, dann der dritte, der vierte. Zum Schluß waren alle Flash anwesend. Was zu einer drangvollen Enge führte; die Mini-Raumboote waren zwar nur knapp drei Meter lang, aber mit ihren spinnenbeinartig anmutenden Auslegern beanspruchten sie
doch einen gewissen Platz. »Beginnen mit der Evakuierung, Commander«, ließ sich Mike Doraners Stimme über die Phase vernehmen. »Verstanden! Viel Glück!« wünschte Ren Dhark. Die Sekunden verstrichen, dehnten sich zur ersten Minute. Dann tauchte die 003 wieder aus dem Wrack der SETER auf. Sie landete inmitten des markierten Areals, und das medizinische Personal der Nogk übernahm die zwei Verletzten aus der Kabine des Flash. Die 004 erschien, dann die 010. Fasziniert verfolgten die Terraner und Charaua das Geschehen. Je mehr Minuten vergingen, um so koordinierter, regelmäßiger und schneller ging der Ablauf der Rettungsaktion vonstatten. Dann war es vorbei. Nach genau vierundzwanzig Minuten landete der letzte Flash auf seinen Auslegern. Erleichtert grinsend kletterte Kartek aus der Kanzel und sprang auf den Boden. »Puh! War verdammt eng, was?« Er deute auf die SETER, in der mehrere Explosionen stattfanden, die das Wrack kurzzeitig aufblähten, ehe es noch weiter in sich zusammenfiel. »Das war es, Terraner«, versetzte Charaua. Er warf einen langen Blick auf die glühenden Trümmer, dann sah er hoch zur Sonne, deren Scheibe sich dem Horizont zuneigte; bald würde sie hinter den gigantischen Pyramidenbauten verschwinden. Dann erst wandte er sich Ren Dhark, den Colonels Huxley und Szardak sowie den Flashpiloten zu. Ungewöhnlich ernst verneigte er sich mit vor der Brust gekreuzten Armen vor den Männern; die hinter ihm stehenden Meegs taten es ihm nach.
»Das Imperium der Nogk schuldet euch Dank, meine Freunde«, drangen seine Impulse in ihr Bewußtsein. »Terraner, ihr habt mehrfach in der Vergangenheit bewiesen, daß wir auf euch zählen konnten, wann immer es nötig war. Seid versichert, daß gleiches auch für das Volk der Nogk gilt.« Er nahm Dharks Hände, hielt sie für eine kurze Zeitspanne in den seinen, ehe er, terranischer Sitte folgend, auch den anderen die Hand reichte, um so seiner und seines Volkes Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Huxley unterbrach die etwas rührselige Stimmung. »Wir bekommen Besuch!« sagte er zu Ren Dhark und Charaua und deutete nach oben in den violetten Himmel Reets, aus dem ein riesiger, ringförmiger Schatten herabfiel – die POINT OF mit Dan Riker im Leitstand war angekommen. Sie senkte sich der kreisförmigen Piste entgegen – und setzte behutsam auf, weit genug entfernt von dem noch immer brennenden Wrack der SETER, außerhalb des Ringes aus Versorgungs- und Medo-Einheiten. Die POINT OF blieb an der Oberfläche; die gewaltigen Liftanlagen der Silos, die hinunter in den eigentlichen Raumhafen führten, waren noch immer funktionsunfähig. Sie würden es auch noch eine Weile bleiben. Im Augenblick gab es für die Nogk Wichtigeres zu tun; der kosmische Blitz hatte die gesamte Infrastruktur auf Reet in ein Chaos verwandelt. Es würde lange dauern, das zu entflechten. Selbst für die Nogk. Rens Armbandvipho schlug an. Das Gesicht auf dem winzigen Display war das des Chefs der Terranischen Flotte – Dan Riker. Die Stimme des Freundes drang aus der Audiophase. »Meine Taster sagen mir, daß ihr keine Hilfe mehr benötigt. Trifft das zu?« Es war typisch für ihn, sich nicht mit Floskeln aufzuhalten. »Richtig«, versetzte Ren mit einem flüchtigen Lächeln. »Du
sagtest etwas von Schwierigkeiten auf Kraat?« »Erklärung, sobald du an Bord bist. Werden die Flash noch benötigt?« Ren verneinte. »Sie können in die Depots zurück«, sagte er und gab Befehl an Mike Doraner zum Andocken der Flash, wobei er ihn bat, auf ihn zu warten. »Janos«, richtete er das Wort an den langjährigen Weggefährten, »kümmern Sie sich bitte darum, daß sich der Rest unserer Delegation zur POINT OF begibt.« Dann wandte er sich an Charaua, der ihn mit seinen dunklen Facettenaugen entgegensah, und legte dem Herrscher der Nogk die Rechte auf den Unterarm. »Es tut mir leid, aber ich muß mich auf mein Schiff begeben. Die Konferenz wird wohl zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden müssen«, sagte er bedauernd. »Im Augenblick habe ich das Gefühl, daß Terra dringend unsere Anwesenheit benötigt. Ich lasse allerdings Colonel Huxley mit der CHARR im Corr-System. Wie ich ihn kenne, wird er sowohl eure als auch die Interessen Terras im nogkschen Rat zu beiderseitigem Wohl adäquat vertreten.« »Natürlich, Commander der Planeten.« Zum zweiten Mal an diesem Tag verneigte sich der hochgewachsene Nogk vor dem kleineren Terraner. Ungewohnt berührt kletterte Ren Dhark in die 003 und nahm hinter Mike Doraner Platz. »Dann wollen wir mal, Mike. Bringen Sie die Flash wieder an Bord der POINT OF!« Im selben Augenblick, in dem die Null-Null-Drei abhob, fiel das ausgeglühte Wrack der SETER völlig in sich zusammen. * Die POINT OF hatte einen geostationären Orbit über Reet eingenommen.
Im Maschinenraum arbeiteten alle Aggregate im Stand-by, bereit, auf einen Befehl des Checkmasters hin den MRingraumer mit unvorstellbarer Geschwindigkeit zur Erde zu bringen. Die Zentrale war vollständig besetzt. Sämtliche Plätze vor der Bildkugel, auf der Galerie, vor den WS-Stationen, am Checkmaster-Terminal und den sonstigen Instrumentenkonsolen waren doppelt belegt; keinen Mann, keine Frau der Freiwache hielt es in den Kabinen oder den Aufenthaltsräumen. Nicht jetzt. Vor allem deshalb, weil man jetzt wußte – oder zumindest zu wissen glaubte – was als Ursache der Katastrophe angesehen werden mußte, die das Corr-System heimgesucht hatte. Ren Dhark lehnte sich in seinem Sitz zurück. Wenn er den Blick hob, spürte er die Faszination dessen, was er zu sehen bekam: In der Bildkugel, die über der zentralen Steuerkonsole schwebte, zeigte sich der innere Bereich der Milchstraße. Er war mit schimmernden Sternenschwärmen übersät, mit Millionen, Milliarden von Sonnen, deren strahlendes Leuchten nur teilweise von interstellaren Nebeln etwas gedämpft wurde. Ein Meer von dicht zusammengedrängten Sonnen in allen Spektralklassen, Dunkelwolken und geheimnisvoll glühenden Nebeln. Der Checkmaster der POINT OF mit seiner noch immer nicht ausgeloteten Kapazität lieferte gestochen scharfe 3-D-Abbildungen des Alls. Im galaktischen Süden erhob sich die zerrissene, rotglühende Wand eines stellaren Nebels, der Tausende von Lichtjahren weit hinaus in den Raum reichte. In Blickrichtung verbarg sich im Herzen der Milchstraße eine unvorstellbar energiereiche Radiound Infrarotstrahlungsquelle. Das wahre Zentrum der Spiralgalaxis. Ausgehend von diesem Zentrum hatte es eine Art Hyperraumblitz, eine aus dem Hyperraum austretende
Energieentladung gegeben, die sich konzentrisch in der gesamten Galaxis und womöglich noch darüber hinaus ausgebreitet hatte. Dies jedenfalls hatte der Checkmaster unaufgefordert als Erklärung geliefert, nachdem die Besatzung der POINT OF wieder vollzählig an Bord gewesen war. Und der Checkmaster, dieses geheimnisumwitterte Bordgehirn des Ringraumers, hatte sich einmal mehr selbst übertroffen, als er die energetische Superentladung wenige Sekunden, bevor sie das 300.000 Lichtjahre vom Rand der Milchstraße entfernte System Corr erreichte, per Hyperortung angemessen und die POINT OF sowie die EUROPA in ihre schützenden Intervallfelder gehüllt hatte. Sie waren der Grund, weshalb auf beiden Raumern keinerlei technische Probleme auftraten, wenn auch die Besatzungen genauso bewußtlos wurden wie alle anderen Intelligenzen. Das Erstaunlichste allerdings: Auch der Checkmaster war für drei Minuten deaktiviert gewesen! Diese Zeitspanne konnte deshalb so genau von ihm ermittelt werden, weil die vom Intervallum geschützten Borduhren fehlerfrei weitergelaufen waren. Und wieder fröstelte Ren Dhark bei dem Gedanken, daß das geheimnisumwobene Bordgehirn ganz offensichtlich durch bestimmte Phänomene außer Gefecht gesetzt worden konnte. Dieser Umstand bot Stoff für die wildesten Spekulationen unter den Wissenschaftlern an Bord der POINT OF. Wieder und wieder stellte man sich die Frage, ob der Checkmaster etwa biologische Komponenten enthielt. Auch Ursache und Natur des Hyperraumblitzes lagen nach wie vor im Dunkeln – seine Folgen hingegen nicht. Die Lösung dieser Probleme, dachte Ren, muß noch etwas zurückstehen. Im Augenblick gibt es Wichtigeres zu tun. Dieses Wichtigere hatte einen Namen. Nein, eigentlich waren es zwei: Terra und das Solarsystem.
6. Die Sonne brannte glühendheiß vom Himmel herab, der Wind brachte kaum eine Abkühlung. Sogar die ewig scharrenden und gackernden Hühner im Hof hielten sich im schmalen Schatten der kleinen Scheune auf. Savina Green stand auf der Veranda ihres kleinen Ranchhauses und blickte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung des Gebirgszuges Anza Borrego, dessen blaue Schattenlinie sie gerade noch am Horizont erkennen konnte. Sie schwitzte; die Temperatur hatte die Zweiunddreißiggradmarke bereits erreicht. Sie zerrte das T-Shirt über ihre Brüste hoch und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Sie lebte alleine am Rande der Mesa; Palm Springs war Meilen entfernt, und außer der gelegentlichen Sheriffspatrouille des Riverside County verirrte sich selten jemand nach hier draußen. Wieder hörte sie das Geräusch. Propellergeräusch! Sie legte die Hand zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht über die Augen und blickte angestrengter. Dann sah sie das kleine Flugzeug. Es war kein moderner Schweber, sondern eine altertümliche STOL-Maschine mit einem antiquierten Propellerturbinenantrieb. Es bewegte sich in einer Höhe von etwa tausend Fuß über den Kakteenfeldern und würde in einer Entfernung von knapp einer Meile an ihrem Hause vorüberkommen. In der Kanzelverglasung spiegelte sich die Sonne und warf funkelnde Reflexe, die sie fast blendeten. O Mann, dachte sie. Fliegen, das wä... Wie vom Blitz getroffen stürzte sie zu Boden, und etwas
Unbegreifliches ließ sie in eine tiefe Ohnmacht versinken, die nicht einmal mehr Platz für Träume hatte. Als sie aufwachte, fühlte sie sich wie eine Ertrinkende, die sich im letzten Moment ans Ufer rettet. Sie hatte keine Erinnerung an das, was ihr widerfahren war. Ihr Körper war von kaltem Schweiß bedeckt. Sie fühlte sich hundeelend, zerschlagen, ausgelaugt und vor allem durstig. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich zurechtfand. Wie spät war es? Sie konnte es nicht genau sagen, hatte ihr Zeitgefühl verloren. Sie konzentrierte sich auf ihren Körper, spürte die rissigen Bohlen der Veranda unter sich und rappelte sich stinkwütend und irritiert auf. Der Stellung der Sonne nach mußten ungefähr drei Stunden vergangen sein. Drei Stunden... Himmel! War sie krank? Sie umklammerte das Verandageländer. Ihr Atem kam in rauhen Stößen. Sie roch den sauren Geruch ihres verschwitzten Körper und kämpfte die Welle von Erschöpfung nieder, die sie noch immer gefangenhielt. Ihr Blick fiel auf die kleine Scheune; ihr Schatten war größer geworden. Die Hühner lagen auf dem Rücken und streckten die Beine in die Höhe. Erst dachte sie, irgend etwas hätte sie getötet, doch dann regte sich das erste, dann ein zweites Huhn. Schließlich stolzierte die ganze Blase durch den Sand. Vereinzelt klang wieder Gegacker auf. Etwas zu ihrer Linken fiel ihr ins Auge. Keine Bewegung, sondern eine Erscheinung. Sie drehte sich in die Richtung – und sah in der Ferne eine schwarze Rauchwolke zwischen dem Dornengestrüpp der flachen Hügel stehen.
Augenblicklich bohrte sich eine scharfe Erinnerung in ihr Gehirn. Das Flugzeug, dachte sie. O Gott... Sie eilte ins Haus und versuchte vergeblich, das Büro des Sheriffs von Riverside zu alarmieren. * Der gleiche Tag, drei Stunden zuvor Die Aggregate des schweren Antigravschleppers brummten zuverlässig. Ric Barrows hockte fast zwei Meter über Bodenniveau in der Führerkabine und lenkte den Schwerlastzug mit sechzig Meilen über den Highway 25 nach Norden. Er hatte vor zwei Stunden Las Cruces mit Ziel Socorro verlassen. Auf der Ladefläche transportierte er riesige Maschinensätze für die dort ansässige Raumfahrtindustrie. Er donnerte gerade eine Senke hinunter und zog den Schlepper in eine weite Linkskurve, als ihn die Ohnmacht ereilte. Der Antigravzug hielt sich noch eine kurze Weile auf dem Highway, dann driftete er auf die linke Fahrspur, durchbrach den Grünstreifen und donnerte ungebremst in den nach Süden flutenden Gegenverkehr. Ric Barrows war nicht der einzige, der ohne Vorwarnung das Bewußtsein verlor. Und er war auch nicht der einzige, der an diesem Tag sein Leben verlor. * Ungefähr zur gleichen Zeit, auf der anderen Seite der Erde Stille. Rings um die Maschine war es Nacht. Durch die oberen Kanzelscheiben konnte die Besatzung die Sterne sehen. Vor einer knappen halben Stunde hatte der ultramoderne Clipper planmäßig von der langen Piste des Palawan Airport
abgehoben und war in wenigen Minuten auf 12.000 Meter gestiegen, seine normale Reiseflughöhe. In der Maschine und ihren beiden Decks war es ruhig. Die Passagiere schienen zu schlafen. Weit zurückgelehnt saß der große, schlanke Mann untätig in dem wuchtigen Pilotensessel vor den Instrumenten. Die suprasensorisch unterstützten Autopiloten hatten den Aufstieg berechnet, ihn in Gang gesetzt und ausgeführt. Kein Besatzungsmitglied hatte einen Handgriff dazu beigetragen. Kapitän Raven Decker hatte den Flug Nr. 233 von Puerto Princessa über Bombay, Athen, Rom nach Alamo Gordo ausgeruht angetreten, er würde ihn noch immer ausgeruht auch wieder beenden. Heutzutage flogen Suprasensoren die Maschinen. Das war nicht immer so gewesen. Früher, ach was... Raven Decker ließ es dabei bewenden. Zwischen seinen kräftigen Fingern glimmte eine Zigarette. Der Rauch stieg in dünnen Fäden nach oben, vom Sog der Klimaanlage angezogen. Vor sich hatte der Kapitän das nur scheinbar verwirrende Tohuwabohu der Kontrollmonitore und Lageanzeigen. Die geringe Helligkeit, die durch das sechs Zentimeter dicke Glas der langgestreckten Seitenscheiben der Pilotenkabine fiel, zugleich mit den verwirrenden Farben der vielen sanft beleuchteten Instrumente, erhellte das Innere der Kanzel nur fahl und indirekt. Decker bewegte sich. Er hob den Arm in Augenhöhe und schaute auf sein Piloten-Chrono, das mit einer breiten, gelochten Metallspange an seinem linken Handgelenk befestigt war. Noch sechs Minuten fehlten bis Mitternacht. Rechts neben Decker leuchtete ein Lämpchen auf. Eine Stimme sagte aus der Dunkelheit: »Der Kaffee wird jeden Augenblick kommen, Kapitän.«
Der Kopilot hatte gesprochen. »In Ordnung, Greg«, sagte Raven Decker. »Stimmt meine Rechnung? Backbords unter uns müßte die AndamanenInselgruppe liegen, richtig?« »Exakt, Kapitän. In einer knappen Stunde sind wir in Bombay.« »Dann scheinen wir den Flugplan ja genau einzuhalten.« Decker drehte den Pilotensitz etwas und blickte seinen Kopiloten an. Das Licht der Punktlampe fiel auf Deckers Gesicht. Wieder sah der zweite Mann im Cockpit des Jetts die vier langen Narben auf der linken Gesichtshälfte seines Kapitäns. Und wieder fragte er sich, woher Decker diese Narben wohl hatte. »Wenn ich die Gier in deinen Augen richtig deute, wartest du auch auf den Kaffee, oder, Greg?« »Der Nachteil einer eng begrenzten Gemeinschaft besteht darin«, zitierte Greg Rhodes, »daß man sich zuviel Wissen um den anderen aneignet.« »Über!« warf der Kapitän grinsend ein. »Es heißt: über den anderen...« »Sagte ich doch.« Ungerührt lächelnd blickte der Kopilot auf den Monitor des Kur sauf Zeichners. Zwanzig Sekunden lang herrschte Schweigen. Dann ein Geräusch. Kapitän Decker bewegte sich, drehte den Sitz in seinem Gelenk und schaute in Richtung des Durchganges. Das Druckschott wurde zur Seite geschoben. Die Chefflugbegleiterin kam in die Kabine. In den sehr gepflegten Händen trug sie ein Tablett. Darauf standen eine Kanne aus Thermoglas, bis zum Rand gefüllt mit frischem Kaffee, und drei ineinandergestülpte Kunststoffbecher. »Der Kaffee, Käpt’n«, sagte Misty Goodman. »Mädchen«, erwiderte der Kapitän sehr nachdrücklich, »was wäre eine Linienmaschine unserer Gesellschaft ohne die
Chefstewardeß?« Er zerdrückte die Zigarette im Ascher. »Vermutlich unterbelegt«, bekam er schlagfertig zur Antwort. Decker grinste. Das verlieh seinem braungebrannten Gesicht einen jungenhaften Zug. »Wahr gesprochen! Obwohl ich etwas anderes meinte, Misty.« Sie teilte Kaffee aus und setzte sich dann in den freien Sitz hinter dem Kopiloten. »Milch? Zucker?« »Auf keinen Fall«, knurrte Raven Decker. »Mein Magen verträgt diese Dinge nicht mehr.« Ein Glucksen stieg aus Rhodes’ Kehle. »Lassen Sie sich nicht in die Irre führen, Misty. Unser Kapitän fürchtet nur um den Sitz seiner maßgefertigten Uniform.« »Dieses Problem existiert für dich gottlob nicht, Greg.« Der Kapitän blickte anzüglich auf den beträchtlichen Leibesumfang seines Co. »Scharfsinnig beobachtet. Dafür werde ich aber auch nicht vom Knurren meines Magens aus dem Schlaf gerissen.« »Schluß der Debatte, meine Herren!« Misty hatte einen gequälten Ausdruck im Gesicht. »Nehmen Sie Rücksicht auf eine geplagte Stewardeß, die schon bei dem Wort ›essen‹ um Pfunde zunimmt!« Der Kaffee war gut. Raven Decker genoß ihn ebenso, wie er die Gespräche während dieser schon zu einem Ritual gewordenen Pausen genoß. Der überdurchschnittliche Service der großen Interkontinenaljetts galt nicht ausschließlich nur den Passagieren. Auch das fliegende Personal profitierte davon. »Noch Kaffee, Kapitän?« Decker nickte. Er schüttelte Zigaretten halb aus der roten Packung und ließ sie reihum gehen. Durch die Rauchschleier
hindurch verfolgte er die sicheren Bewegungen Mistys. Die Chefstewardeß war einssiebenundsiebzig groß, sehr schlank – natürlich! – und bewegte sich mit dem Appeal einer Aristokratin. Sie wirkte nicht nur kühl und äußerst selbstsicher, sondern war es auch. Noch keinem Passagier war es gelungen, dieses Mädchen aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Langes schwarzes Haar, in der Mitte gescheitelt, fiel ihr auf die Schultern. Sie war fast ohne Make-up. Ihre braune, samtene Haut hatte keine Hilfsmittel nötig. Nur die Augen, groß und grün wie die See über der Molukkenpassage, waren entsprechend hervorgehoben. Misty war das erlesene Endprodukt einer Reihe Vermischungen von europäischem und polynesischem Blut. Decker fragte: »Alles ruhig in den Decks?« Das Mädchen mit den seegrünen Augen nickte. »Wie ist Ihr Eindruck von den Passagieren?« »Durchschnittlich, würde ich behaupten. Fast ausschließlich Urlauber auf dem Heimweg von diesem neuartigen Ferienparadies in der Sulu-See.« Raven Decker warf einen Blick auf die Flugkontrollen. Im Augenblick lag unter der Maschine der Golf von Bengalen. Flug Nr. 233 verlief ohne Komplikationen. Sein Blick kehrte zu Misty zurück. »Fast?« »David Matsuschima ist an Bord. Mit ihm seine derzeitige Lebensabschnittsbegleiterin, ein Cybermodell.« »Matsuschima?« Misty nickte. Kapitän Decker pfiff durch die Zähne. Senator David Matsuschima war ein Begriff in der terranischen Diplomatie. Decker kannte den Politiker aus zahlreichen Medienbeiträgen und Viphosendungen der TerraPress. Der Senator sah blendend aus – tiefschwarzes Haar, glattrasiert, mit brennenden, hypnotisch wirkenden Augen. Er hatte japanische Ahnen, was seiner Popularität im indo-
japanischen Raum ungemein förderlich war. Und er war ein Frauenheld. Seine Affären zählten Legion. Der Kapitän sog nachdenklich an seiner Zigarette. »Wohin hat Matsuschima gebucht?« »Alamo Gordo, Käpt’n.« Decker murmelte: »Was hat er wohl in der Hauptstadt verloren?« »Keinen blassen Schimmer. Vielleicht will er dem Luxusweibchen an seiner Seite nur die moderne Architektur vorführen.« Höre ich da etwa Neid heraus, Misty? dachte Decker. Laut fragte er: »Diese Begleiterin – ist sie hübsch?« Misty Goodman winkte nonchalant ab. »Geben Sie sich keine Mühe, Raven. Ihr Bankkonto dürfte nicht mal ansatzweise die Höhe aufweisen, bei der Damen dieser Kategorie ihr Make-up zu überprüfen beginnen.« Deckers Interesse erlosch augenblicklich. »Die Kaffeepause ist vorbei«, brummte er. »An die Arbeit!« Kapitän und Kopilot blickten der Chefstewardeß nach, bis sich das Schott hinter ihr geschlossen hatte. Beide Männer führten einige Kontrollen durch. Es gab keine Abweichung von der Norm. Die Autopiloten bewegten den großen Jett in zwölf Kilometern Höhe mit einer Geschwindigkeit knapp über Mach 3 auf Bombay zu. Es war ein Flug wie jeder der vielen anderen vorher. Der Kapitän hob den Kopf und blickte durch das Spezialglas nach oben in die endlose Dunkelheit hinaus. Über ihm wölbte sich, ungestört vom diffusen Licht niederer Atmosphärenschichten, das violette Schwarz des Weltraums, übersät von Millionen Sternen. Wäre er auf der arktischen Route geflogen, hätte ihm die Nacht farbige Nordlichter gezeigt, so aber sah er nur einen weißen Blitz – und dann nichts mehr. Das geschah ohne Vorwarnung.
Von einem Sekundenbruchteil zum anderen fielen alle an Bord von Flug Nr. 233 in eine totenähnliche Bewußtlosigkeit. In derselben Mikrosekunde gaben bestimmte Bauteile in den suprasensorischen Autopiloten, die aus Mysteriousfertigung stammten, ihren Dienst auf Daraufhin fielen die gesamten Steuerungssysteme, auch die redundanten, in ein elektronisches Koma. Gleichzeitig schmorten sämtliche Sicherungen an Bord durch oder flogen heraus. Das Resultat war unvermeidbar. Die Triebwerke setzten aus. Der Jett legte sich erst auf die Seite, dann rollte er auf den Rücken, behielt diese Lage eine Zeitlang bei, bis er schließlich begann, kopfüber abzustürzen. Ohne die Suprasensorsteuerung konnten die Stabilisatoren nicht arbeiten. Ohne die Stabilisatoren hatte das Flugzeug nicht den Hauch einer Chance. Nichts und niemand hielt die Katastrophe auf. Es war ein langer Sturz durch die Nacht. Der Luxusliner fiel und fiel, drehte und überschlug sich. Die Passagiere im Innern wurden umhergeschleudert, ohne es mitzubekommen. Der Todessturz dauerte endlose Minuten. Schließlich prallte der Jett auf die Wasseroberfläche. Er explodierte beim Aufprall und zerbarst mitsamt den Passagieren in winzige Fragmente, die auf den Meeresgrund sanken. Nach wenigen Minuten deutete nichts mehr darauf hin, welche Tragödie sich hier ereignet hatte. * Kalifornien Der schwere, schneeweiße Convertible fegte durch die Kurven und Kehren der Küstenstraße, daß die überbreiten
Reifen des Turbo-Renners nur so pfiffen. Der junge Mann hinter dem Steuer des Oldies überholte schnell und rücksichtslos und mitunter so, als hocke er hinter dem Steuer eines Kampfschwebers. Er betrachtete sich offenbar als einen der schon legendären Kamikazes. Ob das vielleicht etwas mit seinem Namen zu tun hatte? Steve Victory dachte impulsiv und handelte ebenso. Dementsprechend war seine Fahrweise, egal ob er einen Boden- oder einen Flugschweber steuerte. Und saß er erst hinter dem Steuer eines Oldtimers mit richtigen Pneus und einer Turboladermaschine unter der Motorhaube, die noch fossilen Treibstoff verbrannte, dann war er so richtig in seinem Element. Er genoß die extremen Beschleunigungswerte des hochverdichteten Motors und die wahnwitzigen Querkräfte, die das Fahrwerk mit Einzelradaufhängung an doppelten Dreiecksquerlenkern, Stabilisatoren vorne und hinten und den überbreiten 385er-Reifen erzeugte. In diesem Geschoß spürte man die Fortbewegung noch. Die modernen Gleiter mit ihren Neutralisatoren waren zwar komfortabel, aber langweilig. Victory zündete sich eine Zigarette an und lehnte den linken Arm über die Bordwand. Er überholte johlend einen überschweren, silbergrau lackierten A-Grav-Lastzug der Firma AMCO, scherte wieder ein und beschleunigte noch mehr. Steve Victory war ein großer junger Mann, einer von der Sorte, die man an allen exklusiven Badestränden der Erde finden konnte – braungebrannt, muskulös, charmant als Plauderer, gewandt als Tänzer. Der richtige »Beach Boy« für schwerreiche Industriellengattinnen und gelangweilte Millionärstöchter. Die vierspurig ausgebaute Küstenstraße nach Los Angeles, der Stadt der Engel, wand sich wie eine Schlange entlang des Ufers. Rechts war der Pazifik, links ragte der Fels empor. »Wenn du so weiterfährst«, beschwerte sich das Mädchen
auf dem Beifahrersitz lautstark, um gegen den Fahrtwind zu bestehen, »werden wir Los Angeles wohl nie zu Gesicht bekommen.« Der offene Turbo schnitt drei Kurven. Victory freute sich wie ein Kind. Dann schrie er zurück. »Wie meinst du das?« »Wie wohl!« Clarissa Novalis schüttelte den Kopf, was Steve nur dazu veranlaßte, noch mehr aufs Gaspedal zu treten. Santa Barbara – 104 Miles. Das Schild huschte vorbei. Aus den Felsen über ihm leuchtete weiß ein Villenvorort herunter. »Fang nicht an zu nerven, Süße. Wir sind bald da«, beruhigte Steve das Mädchen an seiner Seite. Vor knapp vierzehn Minuten hatte der schwere Turbo San Luis Obispo verlassen. Bis Point Conception waren es noch rund sechzig Kilometer. Die Abzweigung mußte jeden Augenblick auftauchen. Da war sie auch schon. Steve Victory bremste hart und brutal, wirbelte das Steuerrad herum. In einer Staubwolke raste er in halsbrecherischer Fahrt der nächsten Haarnadelkurve entgegen... Bevor er abbremsen und das Steuer einschlagen konnte, überfiel ihn ein vollständiger Blackout, der ihn in Sekundenbruchteilen ohnmächtig werden ließ. Ebenso das Mädchen auf dem Beifahrersitz. Der schwere Convertible behielt stur die Richtung bei. Er durchbrach die Abgrenzung, die die Straße vom nahezu senkrecht abfallenden Steilhang hinunter zum Strand trennte, und schoß infolge der hohen Geschwindigkeit eine ganze Strecke geradeaus, ehe er eine Parabel beschrieb und durch den leeren Raum nach unten stürzte. Der Aufprall zwischen den Felsen am Strand allein hätte
schon genügt, um die Insassen auf der Stelle zu töten. Aber beim Aufschlag platzte der Treibstofftank. Brennstoff geriet auf die heißen Motorteile – und die Explosion zerriß den Wagen samt Insassen in handtellergroße Fragmente. * San Onofre Beach Der Lärm und die Musik von der Jacht verklangen allmählich. Die Felsen der kleinen, versteckten Bucht kamen näher; sie war nur von See her zu erreichen. Kein Problem mit dem Outborder der »Sacarra«. Derek Beland ankerte in zwanzig Metern Entfernung vom Strand. Dann schwammen sie nebeneinander an Land und warfen sich in den Sand. Sie trug nichts auf der samtenen Haut. Das lange Haar lag links und rechts neben ihrem Kopf ausgebreitet. Kerry, achtzehn Lenze, jung und süß, sexy und sehr erfahren, sehr egoistisch, was ihre eigenen Bedürfnisse betraf. Sie bekam stets, was sie haben wollte: Schmuck, eine Achtzehnmeterjacht (von der ab und zu der Lärm der Clique herüberwehte) und exklusive Kleidung. Ihr Daddy erfüllte ihr jeden Wunsch. Dafür hatte er die denkbar besten Voraussetzungen: Banken, Ladenketten, mehrere renommierte TV-Sender, Transportunternehmen. Wie gesagt, sie konnte alles haben, was ihr gefiel. Im Moment war es Derek Beland, Student und Anwärter auf einen Platz an der Kallisto-Akademie. Er war schlank und sehnig, hatte blaue Augen in einem verwegen grinsenden Gesicht und eine schwarze Haarmähne, die ihm auf die durchmodellierten Schultern fiel. »Worauf wartest du? Ich friere...« Als seine Finger zärtlich über ihren Körper strichen, merkte er, daß die Haut den Flaum gesträubt hatte. Ihre Brustwarzen hatten sich aufgerichtet und drängten sich seinen Händen
entgegen. Aber sie fror garantiert nicht. Nicht bei 28 Grad im Schatten! Sie war mitten in einem »Trip«. Starwynd vermutlich. Das war zur Zeit »in« in den Kreisen der kalifornischen High Society. Derek war es aufgefallen, als er mit ihr an Bord getanzt hatte. Das Girl hatte sich wie in Trance bewegt. Nur ihre leicht geweiteten Pupillen verrieten, was wirklich in ihr vorging. Und als er in diese wilden, glitzernden, hungrigen Augen blickte, empfand er denselben Hunger – nach ihr. Sie drängte sich an ihn. Die Berührung mit ihrer Haut ließ das Blut in seinen Schläfen hämmern. »Küß mich!« murmelte sie und krallte die Fingernägel in seine Schultern. Ihre Lippen brannten auf seinem Mund und nahmen ihm den Atem. Ihr weicher, heißer, zitternder Körper hörte nicht auf, sich zu bewegen. Er ließ die Hand zwischen ihre Knie gleiten und beugte sich über sie. »Derek... oh, Derek«, flüsterte sie heißer. »Nun mach schon!« Und er machte. Küßte leidenschaftlich ihren Hals, ihre Ohren – und immer wieder ihre Brüste. Schnell verloren sie sich in einen süßen Taumel. Später schwammen sie ermattet nebeneinander zurück zum Outborder und kletterten über die kurze Heckleiter hinein. Langsam klang die Erregung in ihnen ab. Der Lärm der Clique auf der Jacht war lauter geworden. Der Duft von Grillsteaks zog mit dem auflandigen Wind herüber. »Hmm.« Kerry seufzte. Sie drehte sich herum, nahm ihm die Zigarette (garantiert ohne krebserregende Stoffe!) aus dem Mund und schnippte sie über Bord. »Ist was?« fragte er mundfaul. »Oh ja«, hauchte sie, kicherte albern auf Kleinmädchenart
und verbarg ihr Gesicht an seinem Hals. Neues Begehren flammte in ihm auf. Er packte sie hart an den Oberarmen und zog sie an sich. »Was empfindest du?« erkundigte er sich mit rauher Stimme. »Heißhunger – auf die Steaks da drüben...« Einen Moment war er sprachlos. Dann stimmte er in ihr Lachen ein. »Nichts wie Anker auf, Käpt’n«, befahl er sich selbst, sprang auf die Beine und war mit zwei langen Schritten am Bug. Seine sehnige Muskulatur spannte sich unter der Anstrengung, als er das dünne Ankertau einholte. »Teufel auch!« entfuhr es ihm. »Der Anker hat Zuwachs bekommen. Ich bringe ihn nicht hoch.« »Du wirst nicht mehr ganz in Form sein, Sonnyboy«, spottete Kerry. »Das könnte es sein«, sagte er keuchend und gab auf. Er hockte sich mit untergeschlagenen Beinen nieder und starrte ins Wasser. »Was machen wir jetzt?« »Nimm das Beil und tauche hinunter. Vielleicht kannst du den Anker auf dem Grund lösen.« Er grinste breit. »Prächtiges Mädchen«, meinte er anerkennend. »Auf den Gedanken hätte ich eigentlich auch selbst kommen können. Ich versuche es.« Aus dem Verschlag neben dem Steuerrad griff er sich Taucherbrille und Schwimmflossen. Das kleine Beil befestigte er mit der Handschlaufe an seinem Gelenk. Er zog die Schwimmflossen an. Nun schwang er die Beine über die Bordwand und atmete mehrmals tief ein und aus, um genügend Sauerstoff ins Blut zu bringen. Kerry gab ihm noch eine starke Stablampe. Dann ließ er sich ins Wasser fallen. Die Sicht direkt unterhalb der Wasserfläche war aufgrund
des Sonnenstandes ausgezeichnet. Über sich sah er den Kiel des Outboarders, von einer Wolke perlender Luftblasen umgeben, die von seinem Sprung herrührten, und die Beine von Kerry, die sie ins Wasser baumeln ließ. Zwei rasche Schläge mit den Flossen brachten ihn zum Ankertau, das sich straff gespannt nach unten verlor. Er packte es mit der linken Hand, warf sich herum und stieß mit dem Kopf voran abwärts. Zwei Meter... vier... sieben. Die Farbe des Wassers veränderte sich, je tiefer er am Ankertau hinunterglitt. Bald sah er nur noch schemenhaft seine Umgebung. Er knipste die Lampe an. In ihrem Schein wirkten die mikroskopisch kleinen Lebewesen wie Nebel. Derek stieß einen kleinen Schub Luft aus. Die Blasen perlten um sein Gesicht. Er hatte keinen Tiefenmesser dabei, aber er wußte, daß an dieser Stelle vor der Küste der Grund nicht tiefer als fünfzehn Meter lag. Schließlich erreichte er den Meeresboden und erkannte, weshalb er den Anker nicht heraufbrachte. Unmittelbar vor ihm befand sich ein verästeltes Korallengebilde, eine blaue Geweihkoralle von immensem Ausmaß. Die Klauen des kleinen Ankers hatten sich hoffnungslos darin verfangen. Derek schwamm um die Koralle herum. Seine Flossen wirbelten den Sand hinter ihm auf. Das Wasser war voller Geräusche. In der Ferne hörte er eine Delphinschule; noch weiter draußen die Rufe eines Wals nach seinen Gefährten. Langsam wurde ihm die Luft knapp. Er schätzte, daß er noch eine Minute hatte, dann mußte er unweigerlich wieder an die Oberfläche. Mit dem kleinen Beil zertrümmerte er schließlich die Korallenäste, in denen sich der Anker verfangen hatte. Der schwang zur Seite und grub sich, als die Spannung nachließ, in
den weichen Meeresboden. Geschafft! Derek wollte aufsteigen – in diesem Augenblick schien jedes Geräusch zu ersterben, alles Leben im Wasser auszusetzen. Nur noch Stille. Eine weiße Stille, deren Ursprung nicht feststellbar war. Die Stille blähte sich auf und hüllte Derek ein. Mein Gott – was ist das? Was geht hier vor...? Er wußte nicht, daß das Wasser die Wirkung des unfaßbaren Phänomens, das im gleichen Augenblick alle Lebewesen im Sonnensystem betraf, ein ganz klein wenig dämpfte. Er kippte im Wasser zur Seite. Langsam schwand sein Bewußtsein, so, wie das Licht einer Lampe in der Ferne schwächer wurde, bis es schließlich erlosch. Er merkte gottlob nicht, wie er ertrank, als er vor Schreck Wasser atmete und das tödliche Medium tief in die Lungen inhalierte.
7. Alamo Gordo war in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Die Temperatur lag bei gut siebenundzwanzig Grad, und da völlige Windstille herrschte, war es schwül und stickig in diesem ehemaligen, am Westabfall der Sacramento Mountains gelegenen Handelszentrums eines Viehzuchtgebietes im südlichen New Mexico. Heute war es eine ultramoderne Stadt mit ihrer unverwechselbaren Silhouette, die in den vergangenen vier Jahren World-City als ehemaliger Hauptstadt Terras den Rang abgelaufen hatte. Im neununddreißigsten Stockwerk des Regierungsgebäudes war im Arbeitszimmer von Henner Trawisheim nichts von der schwülen Hitze zu bemerken. Im Gegenteil, der Stellvertreter Ren Dharks schien zu frösteln. Trawisheim saß hinter seinem großen, hufeisenförmigen Schreibtisch, sah aus wie nach einer durchzechten Nacht und fühlte sich hundeelend. Sein Gesicht spiegelte seine Laune wider. Die konnte nur als »mörderisch« umschrieben werden. Er zog ein Tuch aus der Tasche und wischte sich die Stirn ab – der widerlich kalte Schweiß dort hatte sich erst während der letzten halben Stunde gebildet. Ob das vielleicht ein Anzeichen dafür war, daß er sich irgendeine Infektion geholt hatte? Gewundert hätte es ihn nicht. Er war ein Arbeitstier und wußte, daß er körperlich erschöpft war, dringend Ruhe und Erholung brauchte. Doch wie hätte er sich Ruhe gönnen können bei all dem Trubel, der derzeit im Hauptquartier herrschte?
Aber diese Erschöpfung war auch nicht der Grund, der ihm den kalten Schweiß auf die Stirn trieb. Nein. Was ihm wirklich zu schaffen machte, war der etwa dreistündige Blackout, den er zusammen mit allen anderen Lebewesen auf der Erde durchlitten hatte. Auch seine CyborgImplantate hatten ihn nicht davor bewahrt – ganz offensichtlich – aber sie bewahrten ihn immerhin davor, durchzudrehen. Als er aus der Ohnmacht wieder erwacht war, hatte er feststellen müssen, daß in dieser Zeitspanne – deren Dauer von zirka dreimal sechzig Minuten sich am Stand der Sonne festmachen ließ – die Welt, so wie er sie bisher gekannt hatte, vollkommen aus den Fugen geraten war. Aus den Fugen geraten ist noch geschönt, durchzuckte es ihn. Tatsächlich hatte das Chaos seinen Einzug auf der Erde gehalten! Aber nicht nur dort, sondern auch auf allen bewohnten Planeten des Sonnensystems, den besiedelten Monden, den Ast-Stationen. Wo immer sich intelligentes Leben aufhielt, war es für die Dauer dieser ominösen drei Stunden außer Gefecht gesetzt worden. Henner Trawisheim, der brillante Taktiker, der in Dharks Abwesenheit die Geschicke von CENTRAL COMMAND leitete, steckte das Tuch wieder ein. Dann seufzte er fast angewidert und blickte grimmig auf den Mann, der vor ihm stand. Schließlich knurrte er: »Nehmen Sie Platz, Mister Shekar.« »Sir! Danke, Sir!« Colin Shekar ließ sich, obwohl ihm mulmig war, mit undurchdringlicher Miene auf den Sessel nieder, der vor Henner Trawisheims Schreibtisch stand. Auch er war erschöpft und verdammt mißgelaunt. Aber er tat alles, um sich dies nicht anmerken zu lassen.
Trawisheim schlug mit den Fingerkuppen seiner linken Hand kleine, harte Trommelwirbel auf die Schreibtischplatte, die verteufelte Ähnlichkeit mit Maschinengewehrfeuer hatten. Düster fragte er: »Was ist geschehen, Mister Shekar?« »Ich weiß es nicht, Sir«, gestand der GSO-Mann, der von Bernd Eylers, dem Chef der Galaktischen Sicherheitsorganisation, höchstpersönlich zum Schutz von Trawisheim beordert worden war. Jetzt schien die Temperatur im Raum noch um einige Grade weiter zu fallen. Trawisheim schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte ärgerlich: »Also auch keinen blassen Schimmer, wie?« »Ja, Sir – das heißt nein, Sir. Aber man arbeitet daran.« »Wie schön, daß wenigstens jemand daran arbeitet. – Sekunde, Mister Shekar.« An der linken Schmalseite von Trawisheims Arbeitszimmer hatte sich eine Doppeltür geöffnet. Dahinter lag die Schaltstelle zu den Nervenzentren des CENTRAL COMMAND und der GSO. Dort befanden sich die wuchtigen Konsolen der Suprasensoren und die der Kommunikationsgeräte, mit denen man Verbindung hielt zu den Brennpunkten des Sol-Systems. An und für sich gab es in der gesamten 39. Etage mit ihren vielen Räumen keine Vorzimmer mehr. Auch keine Sekretärinnen oder andere dienstbare Geister. Bis auf die persönlichen Ordonnanzen und Chefsekretärinnen des Stabes und seiner Stellvertreter. Man hatte den ganzen Apparat für Dienstleistungen in die Etagen darunter verbannt. Außer Sichtund Hörweite der Arbeitsräume von Ren Dhark, Dan Riker, Janos Szardak, Ralf Larsen und Bernd Eylers – oder deren Stellvertreter – doch nahe genug, um jederzeit präsent zu sein, falls es erforderlich sein sollte. In Zeiten des solaren Notstandes lief der gesamte Mechanismus binnen Minuten wieder auf Hochtouren. So wie jetzt.
Eine weibliche Technikerin aus Trawisheims Stab betrat den Raum, orientierte sich kurz und kam schnellen Schrittes auf den Stellvertreter Ren Dharks zu, ein paar Folien wie eine Trophäe in der Hand schwenkend. Henner Trawisheim nahm sie in Empfang und nickte der Ordonnanz zu. Er wartete, bis sich die Tür wieder hinter der jungen Frau geschlossen hatte, ehe er sich den Akten widmete. Lange starrte er die Schriftstücke an. Dann seufzte er. Colin Shekar wartete und schwieg. Schließlich schob Trawisheim die Folien wie angeekelt von sich. Die scharfen Linien um seinen Mund vertieften sich. »Es ist schlimmer als ich dachte«, murmelte er mit düsterer Miene, und es war ersichtlich, daß diese Worte nicht für die Ohren des Sicherheitsmannes bestimmt waren. Trotzdem hielt er es für geboten, ihm ein paar klärende Worte zukommen zu lassen. Er sah Shekar an. »Die gesamten Asteroiden-Abwehrforts melden sich nicht. Ich hoffe nur...« Er verstummte und überließ es dem GSO-Mann, sich einen Reim darauf zu machen, was er hoffte. Colin Shekar räusperte sich verhalten. »Benötigen Sie mich noch, Sir?« »Wie? – Oh, nein, nein, Shekar. Sorgen Sie nur dafür, daß wir hier so schnell wie möglich einen Situationsbericht über die Zustände auf der Erde bekommen. Machen Sie den Leuten von der Terra-Press, vor allem diesem Hans-Dampf-in-allenGassen Stranger, klar, daß es von planetarischem Interesse wäre, wenn uns ihre Reporterteams umfassend darüber informieren könnten, wie die Lage ist.« »Ich bemühe mich, Sir.« »Machen Sie das«, nickte Trawisheim, »und bemühen Sie sich gewaltig, in unser aller Interesse, ach was sage ich – im Interesse der gesamten Menschheit!«
»Natürlich, Sir«, murmelte Colin Shekar im Hinausgehen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als das Tischvipho hartnäckig zu summen begann. Zumindest haben sie die Energieversorgung für dieses Gebäude wieder hingekriegt, dachte Trawisheim und aktivierte das Gerät. »Ja?« Eine junge Frau – eine der vielen Assistentinnen des Stabes – blickte ihn vom Monitor an. »Dr. Hoffoss möchte mit Ihnen verbunden werden, Mister Trawisheim.« »... bis daß der Tod uns scheidet!« nickte er mechanisch. Als er ihren irritierten, verständnislosen Blick sah, meinte er sarkastisch: »Kein Grund zur Besorgnis, Kindchen. Nichts als eine Redensart aus einer längst vergangenen Zeitepoche. Geben Sie ihn mir!« Eine verwirrte Assistentin verschwand vom Schirm. An ihre Stelle trat das Gesicht von Duncan Hoffoss. »Sie sind genau das, was mir jetzt noch fehlt zu meinem Glück!« bemerkte der Stellvertreter des Commanders mit falscher Freundlichkeit. »Sicher haben Sie nur schlechte Nachrichten!« Hoffoss grinste spöttisch zurück. »Nicht so pessimistisch, Henner. Aber was...« er beugte sich vor, bis von seinem Gesicht nur Mund und Augen zu sehen waren, »... hat Sie denn so fertiggemacht? Sie sehen ziemlich ramponiert aus, wie nach einer durchzechten Nacht. Halt! Sagen Sie nichts, lassen Sie mich raten!« »Den Teufel werde ich!« Henner Trawisheim unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Das müssen gerade Sie sagen. Sie sehen auch nicht viel besser aus, Duncan. Kommen Sie also zur Sache. Ich hoffe, Sie haben Erfolge zu melden?« »Ja und nein!«
Duncan Hoffoss war seit mehr als drei Jahren der zuständige Energieminister im Regierungslager und ein Praktiker par excellence. Er war schon etwas älter, die Falten um seine Augen und auf seiner Stirn kündigten davon. Aber trotz seiner weißen Haare umgab ihn eine Aura der Stärke und Autorität. »Ich glaube, wir haben ein Problem«, sagte er ruhig, aber mit einem nicht eindeutig zu verifizierenden Unterton. Trawisheim sah ihn stirnrunzelnd an. »Ein weiteres?« Hoffoss nickte mit schmalen Lippen. »Die Kraftwerke gehen nach und nach wieder ans Netz. Energie steht, wenn auch in sehr eingeschränktem Maße, zur Verfügung. Wir verteilen sie zunächst vorrangig an die Hospitäler und ähnliche Einrichtungen. Dieses rätselhafte Phänomen, das die Erde getroffen hat, hat sämtliche Sicherungen aus allen nur erdenklichen Anlagen zur Energieerzeugung fliegen lassen. Zum Glück, sonst könnten wir sie jetzt komplett abschreiben. Sie können sich vorstellen, daß es eine Sisyphusarbeit ist, alle Sicherungen rund um den Globus von Hand wieder zu installieren. Aber diese Tatsache ist es nicht, was uns Sorge bereitet, wenn es auch vordergründig den Anschein hat. Damit werden wir fertig, früher oder später. Was uns Kummer bereitet und unsere Experten Kopf stehen läßt, ist etwas ganz anderes...« Hoffoss zögerte. Fast schien es, als fürchte er sich vor dem, was er zu sagen beabsichtigte. »Duncan...!« Trawisheim sagte es fast drohend. Mit einem entschuldigenden Blick fuhr Hoffoss fort: »Wie gesagt, die Einspeisung von Energie aus wieder betriebsfähigen Kraftwerken schreitet voran – allerdings werden wir uns verteufelt einschränken müssen.« »Wieso das?« »Wir haben uns in der Vergangenheit zu sehr auf die MMeiler zur Energieerzeugung verlassen. Die funktionieren aber nunmal nicht mehr.«
Trawisheim starrte Hoffoss an. »Moment. Wollen Sie damit andeuten, daß die MysteriousTechnik nicht mehr zur Verfügung steht?« »Es ist leider so«, bestätigte Hoffoss. »Sämtliche Hochtechnologie der Mysterious hat ihren Geist aufgegeben – soweit ich meinen Experten vertrauen kann. Wir müssen, ob wir wollen oder nicht, uns wieder auf uns selbst besinnen. Wir benötigen in allernächster Zukunft dringend Meiler aus terranischer Produktion, ansonsten sehe ich im wahrsten Sinn des Wortes schwarz für unsere Wirtschaft. Die großen Energievorräte in den Speicherbänken reichen auch nicht ewig.« Trawisheim blies die Backen auf. »Was arbeitet denn überhaupt noch?« »Außer so einfachen Aggregaten wie Blockheizkraftwerken oder Fernwärmeerzeugern arbeitet nichts mehr. Die ganze Mysterious-Technik hat es, wie schon erwähnt, vorgezogen, den Dienst zu verweigern. Leider haben die massenhaften, gleichzeitigen Sicherheitsabschaltungen zu einer noch nicht überschaubaren Anzahl von Unfällen geführt. Ich hatte gerade eine Unterhaltung mit dem Verkehrsministerium. Jetts sind reihenweise abgestürzt. A-Gravlifte deaktivierten sich mit katastrophalen Folgen. Der Verkehr ist zusammengebrochen. Auf den Straßen herrscht Chaos. Sobald ich Genaueres weiß, hören Sie wieder von mir, Henner.« Hoffoss blendete sich aus. Henner Trawisheim stand auf und stellte sich mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor die Panoramascheibe. Vor und über ihm lag Alamo Gordo im Licht der Nachmittagssonne. Die größte Stadt Terras mit dem kleinsten Grundriß, hatte sie Bernd Eylers einmal genannt – und er hatte recht damit! Alamo Gordo wuchs regelrecht in den Himmel. Schmale, schlanke Türme, die sich dem Firmament entgegenreckten. Die
Höhe dieser Bauten variierte zwischen fünfhundert und fünfzehnhundert Metern. Einer neben dem anderen. Jeder höher als der andere. Türme, die Kugeln trugen. Kugeln von hundertzwanzig Metern Durchmesser. Sie boten Wohnraum für viele hunderttausend Menschen. Von seinem Standort aus konnte der geistige Cyborg deutlich die kühne Gesamtkonzeption der neuen Metropole erkennen, die untrennbar mit dem Geschick der Menschheit verbunden schien und die World-City als Hauptstadt längst abgelöst hatte. Das Armageddon World-City, ständiges Mahnmal der brutalen Giant-Herrschaft. Alamo Gordo hingegen wurde jeden Tag um zehntausend Menschen größer. In der Tat übertraf die tägliche Zuwachsrate die Zahl der Siedler, die nach anderen Planeten auswanderten. So sehr Henner Trawisheim sich in den wenigen Perioden der Muße von diesem Anblick fesseln ließ – heute konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Er fühlte mehr denn je die schwere Bürde, die ihm die augenblickliche Situation hier und in den von Menschen besiedelten Sonnensystemen innerhalb der Galaxis auferlegte. Und Ren Dharks fast ständige Abwesenheit machte es auch nicht leichter. Wenn er es genau nahm, kam der Commander sowieso nur alle paar Monate mal kurz vorbei, konfrontierte seinen Stellvertreter mit neuen Erkenntnissen und Entwicklungen und kehrte dann wieder auf die POINT OF zurück, um das All zu retten. Henner Trawisheim seufzte unwillkürlich. Die Last der Verantwortung drohte ihn mitunter zu erdrücken. Die Last, auch zu unpopulären Maßnahmen zu stehen, sie mit dem nötigen Elan voranzutreiben... Das Tischvipho summte unaufdringlich. Trawisheim runzelte die Stirn. Er kehrte zum Schreibtisch zurück und legte beide Hände flach auf die Platte. »Ja?« Seine Sekretärin blickte vom Monitor. »Sir!« sagte sie. »Marschall Bulton möchte mit Ihnen
sprechen.« »Ich werde gleich drüben sein«, antwortete Trawisheim mechanisch. * »... es war was?« Geduldig wiederholte Marschall Bulton: »Eine Art Hyperraumblitz.« »Können Sie das näher erläutern?« Trawisheim sprach lauter als gewöhnlich. Grund war die Geräuschkulisse ringsum. Es war wie der Schritt in eine andere Welt gewesen, als sich vor Henner Trawisheim die Tür zu Marschall Bultons Arbeitsraum geöffnet hatte. Eine militärische Welt, die ziemlich im Gegensatz zu seiner eigenen stand. Er kannte zwar den großen, hell erleuchteter Raum, der stets ein wenig aussah wie die Zentrale eines Sternenkreuzers. Aber heute schien er sich noch mehr verändert zu haben, war durch das Entfernen einiger Zwischenwände zu einer Schaltzentrale geworden, inmitten derer Marschall Bulton agierte. Umgeben von Reihen halbrunder, abgeschrägter Suprasensorkonsolen und Monitore. TF-Techniker beobachteten und verfolgten jede Veränderung auf den Schirmen, hielten Kontakt zu anderen Krisenzentren. Hektische Geschäftigkeit gab den Ton an. Überall flimmerte und blinkte es. Bulton hatte kurz entschlossen seinen Bereich zu einem eigenen Krisenzentrum umfunktioniert. »Eine aus dem Hyperraum gedrungene Energieentladung von derart unvorstellbarer Intensität«, beantwortete er Trawisheims Frage, »daß wir sie mit unseren bescheidenen Geistesgaben kaum begreifen können.«
»Wie erlangten Sie diese Erkenntnis, Ted?« »Durch die To-Hyperfunkanlage in Cent Field.« Cent Field, der größte Raumhafen Terras! Sitz des Stabes der Terranischen Flotte. Ausgerüstet mit der stärksten ToHyperfunkanlage und zugleich Sitz des Frühwarnsystems. Gleich nach seiner Rückkehr aus der Quiet Zone und den Erlebnissen mit den G’Loorn hatte Ren Dhark als Commander der Planeten seinen Vorschlag durchgebracht, im Bereich des Sol-Systems alles nur Erdenkliche zu unternehmen, um eine feindliche Invasion unmöglich zu machen. In einem Zeitraum von drei Jahren war diese technische Großleistung realisiert worden. Über achthundert Meter tief ragten Stabsquartier und Hyperfunkstation in den Boden. Über A-Gravlifte war innerhalb kurzer Zeit jede Etage zu erreichen. Die Zentrale des Frühwarnsystems nahm dabei mehr als zwanzig Stockwerke in Anspruch. Von ihr aus wurden die überlichtschnellen Sichtsprechverbindungen zu den Abwehrforts auf den AstStationen, Monden und Planeten erstellt. Die in die Tiefen der Galaxis hineingreifenden Ortungen erfaßten noch Strukturerschütterungen transitierender Raumschiffe in einer Entfernung von zehntausend Lichtjahren. Sie maßen dabei Sprungort und Eintauchpunkt präzise an. Der Nexus zusammengeschalteter Suprasensoren terranischer Fertigung arbeitete ununterbrochen, und die Hyperfunk-Antennenanlagen durchkämmten die Milchstraße pausenlos nach verdächtigen Signalen. Nur so war es zu verstehen, ließ sich Ted Bulton vernehmen, daß sie jene Energieentladung aus dem Hyperraum für den Bruchteil einer Nanosekunde vor ihrem Eintreffen registrieren konnten. »Hat das Frühwarnsystem auch die Quelle lokalisiert?« Bulton schüttelte den Kopf. »Negativ...« Trawisheim kaute auf seiner Unterlippe. Er war nicht der Mensch, der sich grundlos Sorgen über etwas machte. Aber das, was auf der Erde geschehen war, überstieg alles, was er
bislang für möglich gehalten hatte. »Hmm«, brummte er, »Was könnte dahinter stecken, Ted?« »Ich bin so schlau wie Sie, Henner«, gestand Marschall Bulton. »Ich weiß nicht, was dahintersteckt, ich weiß nur, was es bewirkt – nämlich ein absolutes Desaster.« Er lehnte sich schwer in seinem Sitz zurück und runzelte in tiefem Nachdenken die Stirn. Harte Linien hatten sich in sein Gesicht gegraben. »Auch einen, Sir?« Trawisheim sah zur Seite. Eine Nachrichtentechnikerin stand am Kaffeeautomaten, blickte in seine Richtung und hob dabei ostentativ eine dicke Tasse in die Höhe. Erst jetzt wurde er gewahr, daß es überwältigend nach frischgebrühtem Kaffee roch. »Oh, ja. Danke.« Er nickte enthusiastisch. »Bitte mit viel Milch, ohne Zucker.« Der Kaffee war von einer Güte, die Trawisheim überraschte. Während er trank, fixierte er einen Punkt an der Wand hinter Marschall Bulton. Wie ein futuristisches Kunstwerk schwebte dort als dreidimensionale Holographie das Sonnensystem. Sie war von den leuchtenden Linien eines Gradnetzes durchzogen, dazwischen Lichtpunkte in sattem Rot, dazu eingezeichnet Zahlen: die Positionen der hochgerüsteten AsteroidenAbwehrforts. Er stellte die Tasse zurück. Irgend etwas störte den Cyborg. Dann registrierte er, daß der Kugelschild, der die Erde umspannte, nicht mehr vorhanden war. Trawisheim zog seinen Blick von der Projektion zurück, sah Bulton an, bestürzt, unsicher. »Der Nogk-Schild...« »... ist ebenfalls verschwunden«, bestätigte Ted Bulton seine geheimen Befürchtungen. »Die Techniker haben mich darauf vorbereitet, daß er vermutlich erst in einigen Tagen wieder
betriebsbereit sein wird.« »Hoffen wir nur«, sagte Trawisheim düster, »daß uns nicht gerade ein neuer Invasionsversuch der Schatten bevorsteht.« »Dazu besteht kein Anlaß«, versicherte Bulton, zog aber trotzdem unbehaglich den Kopf zwischen die massigen Schultern. »Was gibt es sonst noch an gesicherten Erkenntnissen?« »Wenig – und gleichzeitig viel.« Sibyllinische Worte, dachte der Cyborg, die verstehen mag, wer will. Laut sagte er: »Haben Sie von den Katastrophen im Verkehrswesen gehört, Ted?« »Natürlich«, brummte der Marschall. »Mein Apparat läuft zwar nur langsam wieder an, aber er läuft. Ich bekomme eine Hiobsbotschaft nach der anderen über alle nur erdenklichen Kanäle gemeldet. Mein Stab und ich stehen vor fast unlösbaren Problemen. Wir haben eine ganze Reihe Raumschiffe verloren, die zum Zeitpunkt des galaktischen Desasters gerade starten beziehungsweise landen wollten. Können Sie sich vorstellen, wie es momentan auf den Raumhäfen zugeht? Oder im Orbit? Oder draußen im Weltraum?« Trawisheim setzte zu einer Antwort an, aber Ted Bulton ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Natürlich könnten Sie jetzt fragen, warum ich nicht meine S-Kreuzer losschicke, um die havarierten Schiffe zu bergen. Würde ich gerne, glauben Sie mir. Nichts lieber als das. Aber stellen Sie sich vor, die äußerlich völlig unzerstört wirkenden Schiffe lassen sich überhaupt nicht aktivieren! Wir kriegen sie nicht vom Boden hoch. Es ist zum Mäusemelken. Bevor Sie kamen, Henner, habe ich gerade die Mitteilung erhalten, daß Erron-1 eine fast tote Raumstation ist. Ich habe offengestanden noch keine Möglichkeit gefunden, mich darum zu kümmern. Ich...« Er wurde unterbrochen. »Marschall Bulton, Sir!« Ein FZ-Techniker in Uniform winkte ihm quer durch den Raum zu. »Wir haben einen
Hyperruf von Deluge aufgefangen.« »Wortlaut?« »Alle Anlagen im Industriedom arbeiten einwandfrei, dank des Intervallfeldes.« »Wenigstens ein winziger Hoffnungsschimmer«, knurrte der Marschall. Der wurde aber sofort wieder zunichte gemacht, als von einem anderen Terminal die Schreckensmeldung kam, daß die MEDUSA, ein Kugelraumer der 400-Meter-Klasse, während der Hyperraumentladung mit ausgefallenem Antrieb und bewußtloser Besatzung im freien Fall auf die Lufthülle der Erde geprallt und wieder ins All zurückgeschleudert worden war. Schwer beschädigt trieb sie seither im Schwerefeld der Erde und drohte, erneut in die Lufthülle zu stürzen. Ihre Hilferufe kamen über einen Wettersatelliten und per ViphoNotfrequenz. »Wie lange kann sich die MEDUSA noch halten? Steht das fest?« »Etwa eine Stunde, Marschall«, wurde ihm von dem FZOffizier bedeutet. »Verdammt knapp...« »Wir müssen ihr helfen!« verlangte Henner Trawisheim. »Können wir ihr denn helfen?« Ted Bulton malträtierte seine Unterlippe mit den Zähnen, während die Gedanken hinter seiner Stirn rasten. »Uns stehen im Moment keine einsatzbereiten Schiffe zur Verfügung, die wenigen GiantBeuteraumer mit ihren terranischen Einbauten sind im All unterwegs, auf der Suche nach havarierten TF-Kreuzern...« Dann schien er einen Lichtblick zu haben. »... aber Moment mal! Sagen Sie, Major Bernal: Steht nicht seit Tagen in einer Ecke von Cent Field dieser... dieser Schrottsammler herum?« »Sie meinen die JUMPING LADY des alten Hideaki Nischihato, Sir?«
»Richtig. Diese Wertstoffsammler«, er sagte das ohne jegliche Ironie, »haben doch multifunktionale Andockvorrichtungen, oder?« »Genau, Sir. Damit sondieren sie erst einmal die herrenlosen Raumer und überprüfen sie, ob sich nicht noch jemand an Bord befindet, ehe sie sie an den Haken nehmen.« »Schicken Sie das Schiff hoch.« »Das dürfte mit Schwierigkeiten verbunden sein«, druckste der Major. »Ist das Schiff denn nicht startklar?« »Doch, schon...« bestätigte Major Bernal. »Aber?« Ted Bulton blickte ärgerlich. »Hideaki hat die Gebühren der letzten Dekade noch nicht bezahlt. Deswegen verweigert man ihm jeden weiteren Start.« »Das ist stark«, sagte der Marschall mehr zu sich als zu dem Major, »die Erde schlittert am Rande eines Abgrundes entlang – und ein Subalterner entwickelt zuviel Eigeninitiative in pekuniärer Hinsicht. Nicht zu glauben! – Major, Sie veranlassen den sofortigen Start der JUMPING LADY! Sind Sie dazu in der Lage?« Major Bernal straffte sich unwillkürlich. »Natürlich, Marschall. Kein Thema!« Trawisheim grinste verstohlen und überließ Marschall Ted Bulton das Krisenzentrum. * Eine Menge Müll bewegte sich innerhalb des Sol-Systems und in den Schwerefeldern der Planeten und ihrer Monde. War es früher, als man begann, die ersten Satelliten auf Umlaufbahnen um die Erde zu etablieren, noch relativ gefährlich für die Raumschiffahrt, solchen Bruchstücken zu begegnen, wurde diese Gefahr später mit der Einführung von energetischen Schutzschilden und Prallfeldern auf Null
zurückgefahren. Der Müll blieb trotzdem. Er vermehrte sich sogar noch. Nach der brutalen Giant-Herrschaft gesellten sich unzählige zerschossene oder heilgebliebene Raumschiffe dazu, verlassen und aufgegeben von ihren Besatzungen. Und die Blütezeit der »Weltraum-Schrottsammler« begann. Ein einträgliches Geschäft. So einträglich, daß sogar die Erdregierung offizielle Enterkommandos unterhielt, die die seinerzeit nach dem Rückzug des CAL führerlos und verlassen im Raum treibenden Schiffe aufbrachten und für die TF in Besitz nahmen. Was die Partikuliere der Handelsschiffahrt mitunter ein wenig gegen die Flottenschiffe aufbrachte. In den Kneipen und Bars rings um die Raumhäfen gab es schon den einen oder anderen Reibungspunkt; manche Keilerei zwischen den Freien und den Flottenheinis war mittlerweile schon Legende. Wegen dieser und ähnlicher Vorkommnisse wurde das eine oder andere Gesetz erlassen. Trotzdem gab es kaum ernsthafte Reibungspunkte. Es blieb genug Weltraumschrott übrig. Und es kam auch schon mal vor, daß die Flotte sogar die Hilfe der Partikuliere beanspruchte. Darum hing jetzt die JUMPING LADY hoch im Orbit über der blaugrünen, eisigen Einsamkeit des Bering-Meers, und das Sternenlicht brach sich auf ihrer Karbonmetallhülle, während sich ihre zweiköpfige Crew daranmachte, die havarierte MEDUSA zu lokalisieren. Einhundertsiebenunddreißig Kilometer unter ihr schimmerte die ferne, gekrümmte Horizontlinie der Erde in einem lichtdurchlässigen Halo von ineinanderfließenden Farben. Südlich von ihr erstreckten sich die langgestreckte, gezahnte Fläche der Halbinsel Alaska und die Kette der Aleuten, die allerdings nur durch die über ihr aufsteigenden
Kumuluswolken gekennzeichnet waren. Weit im Norden, aber deutlich erkennbar, war die furchteinflößende weiße Wüste des Nordpols zu sehen. Die JUMPING LADY folgte einem südwestlichen Kurs und raste mit einer Geschwindigkeit von mehr als sechstausend Kilometer pro Stunde auf die Datumsgrenze zu. Wieder wechselte das Licht, als der Schrottsammler in den Erdschatten trat. Seit der Raumtransporter terranischer Fertigung Cent Field verlassen hatte, war eine halbe Stunde vergangen. Einige Scanner zirpten. Der alte Hideaki Nischihato berührte die Kontrolle. »Sie wird gleich auftauchen«, sagte er zu seinem Enkelsohn Kevin. »Die MEDUSA? Hätte nicht gedacht, daß wir mal für die TF in einer Rettungsmission unterwegs sein würden«, konnte sich Kevin die Bemerkung nicht verkneifen. Der hagere, großgewachsene Hideaki, dessen eisgraues Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden war, lächelte knapp und meinte: »Setzt man gemeinsam über den Strom, so ist es schon Jahrhunderte vorher vom Schicksal bestimmt.« »Du und dein alter Freund Konfuzius«, entgegnete der Enkelsohn grinsend. »Die Worte stammen von Tseng-Kuang«, korrigierte ihn der Alte. »Ah, da ist sie ja!« »Yeah«, bestätigte Kevin, und fuhr im gleichen Atemzug fort: »Sie ist tiefer als berechnet. Wir sollten einen Zahn zulegen, Opa, wenn wir die Besatzung noch rechtzeitig übernehmen wollen.« »Nenn’ mich nicht Opa, Jungchen.« Hideaki Nischihato warf einen Blick auf den Flugcomputer der überraschend reichhaltig ausgestatteten Zentrale der JUMPING LADY. Das war keine billige Hardware, wie sie in vielen Partikulierschiffen zu finden war. Der Suprasensor des
Schrottsammlers war allererste Güte; der Familienclan der Hideakis legte großen Wert darauf, daß ihr Schiff mit dem Besten ausgestattet war, was der zivile Markt zu bieten hatte. »Du hast recht, Tochtersohn.« Kevin grunzte. »Sieh sie dir an! Die hat ganz schön Federn gelassen.« Nischihato nickte, daß sein Pferdeschwanz flog. »Ziemlich ramponiert...« Man sah der MEDUSA an, daß sie schon einmal ungeschützt Kontakt mit der Erdatmosphäre gehabt hatte; die einstmals silbern schimmernde Hülle war von schwarzen Spuren glühender Luftmoleküle gezeichnet, die sich in langen Streifen über die Kugelschale zogen. Der Aufprall auf die Lufthülle hatte Antennen weggerissen und Schleusen lädiert. »Ob da noch viele am Leben sind, was meinst du?« fragte Kevin. »Weiß nicht. Rufen wir sie.« Kevin tippte etwas in seine Tastatur. Dann sagte er eindringlich: »Hier Frachter JUMPING LADY, hier Frachter JUMPING LADY. Sind gekommen, Sie zu retten. Erbitte Andockanweisungen; erbitte Andockanweisungen. Ich wiederhole...« »Hör auf damit«, befahl der alte Hideaki scharf. »Wahrscheinlich ist ihre Funkantenne beim Aufprall verschmort. Schick eine Sonde los, such ein Außenterminal und sieh zu, ob du von dort Verbindung zur Zentrale bekommst. Mach schon. Die Zeit läuft.« »Du bist der Chef.« Kevin tippte eine Befehlsfolge in die Tastatur. »Sonde unterwegs. Sensoren ein.« Die Sonde glitt auf die MEDUSA zu und fütterte dabei die JUMPING LADY hinter ihr mit Informationen. Schon wenige Minuten später bremste die Sonde ab, als sie neben einer Schleuse ein externes Terminal registrierte. Sie
schwebte darauf zu. Ein winziger Robotarm fuhr aus, betätigte einen Mechanismus an der Außenhülle, und eine Klappe fuhr beiseite. Die Sensoren der Sonde dockten an dem genormten Kontakt an – die Verbindung stand. »Yeah«, sagte Kevin eifrig. »Da wären wir.« Er tippte erneut etwas in seine Tastatur. Die Sonde stellte eine Verbindung mit der Zentrale der MEDUSA her. Ein Viphoschirm auf der Konsole erwachte; einige Reflexe erschienen. »Es klappt«, sagte Kevin emphatisch. »Viphoverbindung hergestellt. Hier Frachter JUMPING LADY...« begann er wieder seinen Spruch. Auf dem Schirm erschien das Gesicht eines Mannes, dessen Gesicht von Erschöpfung gezeichnet war; eine lange Schramme zog sich über seine Stirn. »Hier MEDUSA. Captain Roberts. Wir sind froh, Sie zu hören.« »Wir wollen Sie rausholen, Captain«, sagte der alte Hideaki knapp. »Nennen Sie uns eine Schleuse, wo wir andocken können!« »Sie haben’s wirklich eilig, wie mir scheint, Skipper« meinte der Captain der MEDUSA. »Du meine Güte!« stöhnte Nischihato gequält auf. »Es dauert keine zwanzig Minuten mehr, dann trifft Ihr Schiff auf genug Atmosphäre, um selbst Blei zum Kochen zu bringen.« Währenddessen war die JUMPING LADY immer näher an den 400-Meter-Kugelraumer herangedriftet. »Welche Schleuse, Mann?« brachte sich Nischihato wieder in Erinnerung. »Sie haben eine Multifunktions-Andock-Vorrichtung?« »Herrje, Sie können fragen! Ja, doch. Eine 10-CA, Typ fünf. Sie könnten direkt in unseren Frachtraum einsteigen...« »Nehmen Sie die Schleuse neben Ihrer Sonde. Die ist mit
den entsprechenden Vorrichtungen ausgestattet. Sie müssen sie allerdings mit Ihrer eigenen Bordenergie öffnen, bei uns ist so ziemlich alles tot. Die Mannschaft versammelt sich bereits im Korridor dahinter.« »Gut. Erspart uns Zeit...« Hideakis Enkel berührte eine Taste. Der Andock-Suprasensor kommunizierte mit der Sonde. »Wir sind unterwegs«, sagte Kevin einen Moment später. »Halten Sie sich bereit, MEDUSA.« »Sind bereit...« Die JUMPING LADY glitt fast ohne Fahrt, Meter um Meter, an die Außenwand der MEDUSA heran. Noch langsamer schwang sie herum. Sanft wie eine Daunenfeder schob sich das wesentlich kleinere Partikulierschiff an den 400Meter-Riesen heran. Metall traf auf Metall. Wie die Mandibeln einer Zecke fuhren kräftige Andockklammern in Gegenhalterungen, rasteten ein und verriegelten. Die Geräusche der Andockprozedur hallten wie mächtige Gongschläge durch beide Schiffe. Die äußeren Schleusentore öffneten sich wie Blendenverschlüsse. Dichtwülste verschlossen die wenigen Mikrolecks. Als der Druckausgleich hergestellt war, öffneten sich die Innenschotts. Über die Internmonitore verfolgte die Zwei-Mann-Crew der JUMPING LADY, wie die Besatzung der MEDUSA, Männer und Frauen, in den Laderaum des Schrottsammlers hastete. Zwei Minuten vergingen... drei... fünf. Nach zehn Minuten meldete sich der Captain des TF-Raumers über die Bordverständigung aus dem Laderaum. »Wir sind vollzählig, Skipper. Sie können ablegen!« »Wurde auch Zeit«, brummte der alte Hideaki. Laut und scharf sagte er: »Nichts wie weg, zweiter Enkelsohn!« Ein fernes Winseln war über die Außenmikrophone zu hören: die Reibung der ersten Luftmoleküle an der Außenhaut
der beiden Schiffe. Kevin bediente hektisch die Kontrollen. Ein metallischer Klang brachte das Schiff zum Erbeben, als sich die Andockklammern explosionsartig lösten, zur JUMPING LADY zurückschwangen, um in den Halterungen einzurasten. Die Triebwerke sprangen an. In einer engen Kehre löste sich der Schrottsammler vom Kugelraumer und stieg in einen höheren Orbit, wo man die letzten Minuten der MEDUSA über die suprasensorischen Systeme verfolgte. Der Kugelraumer fiel, träge rollend wie der Spielball eines Giganten, entlang einer großen, südlichen Parabel in Richtung Südchinesisches Meer und wurde auf den Schirmen der JUMPING LADY schnell zu einer Miniatur. Die zunächst flache Flugbahn wurde zunehmend steiler. Je tiefer das Wrack kam und je dichter die Atmosphäre wurde, desto mehr verstärkte sich auch das Leuchten der durch die Reibung ionisierten Luftmassen, bis der Kugelraumer in einer Höhe von zwölf Kilometern über Grund einen weithin sichtbaren Flammenschweif hinter sich herzog und wie ein unheilbringender Asteroid der Oberfläche zustrebte. Dreihundert endlos lange Sekunden dauerte es, ehe das verlassene und aufgegebene Raumschiff mit einem letzten Aufblitzen mit dem Planeten verschmolz. Erst viel später würde die Besatzung erfahren, daß die MEDUSA über Singapur abgestürzt war und dort einen dichtbesiedelten Vorort vernichtet hatte.
8. Als Nick Gillard erwachte, war es, als tauche er aus eisigen Tiefen endlich an die Oberfläche. Wo war er? Die Orientierung fiel ihm schwer. Sein Atem kam stoßweise. Sein Herz klopfte. Er spürte den Puls in seinen Schläfen pochen. Jeder einzelne Muskel tat weh. Als er die Augen öffnete, schimmerte ihm indirekte Helligkeit entgegen. Er ließ den schmerzenden Kopf zurückgleiten. Die Notbeleuchtung, dachte er benommen. Weshalb brennt die Notbeleuchtung? Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Und von einem Augenblick zum anderen war der Kapitän der BELÉM hellwach. Er lag am Boden, komplett angekleidet. »Verdammter Mist«, fluchte er halblaut – muß bei Gelegenheit mal den Arzt aufsuchen, plötzliche Ohnmachten sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen – und rollte sich langsam herum, um sich aufzusetzen. Er war ein großer schlanker Mann, zweiundfünfzig Jahre alt, dessen Dienstauffassung gefürchtet war. Von seiner Hakennase sagte man, sie röche deshalb jede Nachlässigkeit an Bord der BELÉM, weil sie so groß sei. In kühnem Schwung wölbte sie sich aus dem asketischen Gesicht. So am Boden seiner Kabine hockend, kam ihm die Situation lächerlich vor, weshalb er aufstand. Vorsichtig probierte er einige Muskelpartien aus. Sie ließen sich bewegen, schmerzten aber heftig. Eine Gänsehaut jagte über seinen Rücken und ließ ihn schaudern. Es ist zu kalt. Die Temperaturkontrolle scheint einen Defekt zu haben. Ich glaube, der Chief bekommt ein paar Probleme.
Einige Sekunden später griff er nach der Kante seines Schreibtisches, sank langsam in den Sessel – meine Güte, es ist wirklich kalt. Ich muß mich sofort mit der Zentrale in Verbindung setzen – und schaltete das Vipho ein. Das Gesicht seines I.O. erschien auf dem Schirm, doch die Konturen blieben unscharf, so als arbeite die Internverständigung mit verminderter Leistung. Ein Umstand, der dem Captain sehr gegen den Strich ging. Gillard bemerkte eine blutige Platzwunde über Steward Brisdons rechtem Auge, das sich bereits verfärbt hatte. Sein Unbehagen verstärkte sich um mehrere Grade. »Bericht, Eins O«, sagte er knapp. »Ich habe Alarmstufe Gelb veranlaßt, Captain«, erwiderte der im Range eines Majors stehende Erste Offizier des SKreuzers BELÉM. »Grund?« bellte Gillard. »Die ganze Mannschaft ist für eine noch zu ermittelnde Zeitdauer ausgefallen«, erwiderte der Erste mit heiserer Stimme. »Die Männer kommen jetzt erst langsam wieder zu sich.« Also auch die... »Verdammt«, knurrte der Skipper. »Was war da los?« Brisdon bezog die Frage auf sich. »Keine Ahnung, Sir. Ich verschaffe mir gerade selbst einen Überblick.« »Ich komme auf die Brücke!« Das Schott des Kommandantenquartiers schob sich mit einem leichten Zischen beiseite. Gillard trat auf den Korridor, der im düsteren Licht der Notbeleuchtung lag. Die Transportbänder waren außer Betrieb. Er setzte sich in Richtung des zentralen Hauptkorridors in Marsch. Hier und dort öffneten sich andere Türen, und Besatzungsmitglieder verließen ihre Kabinen. Sie machten Platz, als der Skipper mit ausgreifenden Schritten vorbei stürmte. Verstörte Gesichter
starrten ihn an, als er die Zentrale betrat. »Kapitän auf der Brücke!« sagte der Erste förmlich. Seine Platzwunde über dem Auge wurde gerade von einem Sanitätsmaat versorgt. Gillard nickte mechanisch und ließ sich in seinen wuchtigen Konturensitz nieder. Seine Blicke glitten durch den Leitstand. An der Navigationskonsole versuchte der 2. Offizier und Navigator, Oberleutnant Steve Lavier, eine Erklärung für die Fehlfunktionen des Suprasensors zu finden. »Kurs, Mr. Lavier?« fragte Gillard. »Keine Ahnung, Sir. Die Navigations- und Kurskontrolle ist ausgefallen.« »Bockmist«, ließ sich Gillard zu einer Gemütsäußerung hinreißen, die er ansonsten in Gegenwart seiner Leute tunlichst vermied. »Wir treiben also manövrierunfähig im All. – Leutnant Hilliker!« wandte er sich an den Funk- und Ortungsoffizier. »Wie sieht unser Kommunikationsstatus aus?« »Die Internverbindung zu den einzelnen Schiffssektionen funktioniert«, antwortete der dunkelhäutige Offizier. »Aber damit sind unsere Möglichkeiten auch schon erschöpft. Wir versuchen zur Zeit alles, um mit der Flottenzentrale in Kontakt zu treten. Doch Hyperraumverbindungen sind derzeit unmöglich. Wir haben nicht genug Energie, um die nötige Signalstärke aufbauen zu können.« Captain Gillard wandte sich an seinen Ersten. »Status, Mister Brisdon?« Steward Brisdon suchte nach den richtigen Worten. »Alle Geräte an Bord sind tot. Unsere Triebwerke sind außer Funktion. Chief Litchfield versucht, sie wieder in Gang zu setzen. Einige Notaggregate laufen mit Energie aus den Speicherbänken. Das Belüftungssystem und die Temperaturkontrolle arbeiten, aber auch nur mit verminderter Leistung. Darüber hinaus stehen uns keine Funktionen des
Bordrechners mehr zur Verfügung. Es sieht so aus, als wäre der Hauptkern gelöscht. Der Computer ignoriert sämtliche verbalen Anweisungen; auch von Hand lassen sich die Subroutinen nicht mehr eingeben. Es hat den Anschein, als ob die gesamte Mysterious-Technik an Bord ihren Geist aufgegeben hat. Und wir haben keinen einzigen Meiler aus terranischer Fertigung an Bord, Kapitän, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.« »Meine Güte, was ist da geschehen, Steward?« fragte Gillard laut. »Warum wurde die gesamte Crew ohnmächtig?« »Niemand weiß es«, bekannte der Erste wahrheitsgemäß. »Vielleicht übergroßer Transitionsschock«, warf der Waffenoffizier ein. »Unsere letzte Transition liegt schon eine Weile zurück«, erinnerte ihn der Erste. »Außerdem erklärt das nicht den Ausfall der Technik.« »Natürlich nicht, Sir«, murmelte Manuel Puro. In den Sektionen der BELÉM kamen immer mehr Besatzungsmitglieder zu sich; die medizinische Abteilung hatte alle Hände voll zu tun, die vielen Blessuren zu versorgen, die sich die Männer und Frauen während ihres Blackouts zugezogen hatten. Der Captain drehte sich zur wissenschaftlichen Station um und ließ sich mit dem Bordobservatorium verbinden. »Sorry, Skipper«, versicherte der Astrogator der BELÉM, Ian Lowe, auf Gillards Anfrage nach einer Standortbestimmung, »aber meine Schirme sind tot. Ich kann Ihnen nicht einmal mehr mit unseren letzten Koordinaten dienen – ich habe keinen Zugriff auf den Suprasensor«, fuhr Lowe fort, hinter dessen Kopf ein Ausschnitt der Astro-Kuppel zu sehen war, »der die Dateien gespeichert hat. Die AstroScanner haben ihren Geist aufgegeben. Wir sind komplett blind.« »Wie wär’s«, schlug der I.O. vor, »wenn Sie mal aus dem
Fenster schauen würden, Ian? Zu Beginn der Raumfahrt gab es auf den Schiffen noch die Möglichkeit, durch eine besondere Sichtkuppel mittels eines astronomischen Bestecks eine Standortbestimmung zu machen. Sie war nicht exakt, aber es genügte mitunter, um zu wissen, wo in etwa im All man sich befand.« »Ha, ha«, machte der Astro-Offizier. »Selten so gelacht. Der massive Einsatz der Giant- und Mysterious-Technik machte dieser Art der Positionsbestimmung den Garaus. Leider. Und außerdem – was würde das bringen, so ganz ohne funktionierenden Antrieb und mit toter Kommunikation?« »Danke«, sagte Gillard und unterbrach die Verbindung zur Astro-Kuppel. In der selben Sekunde meldete sich Chief Litchfield aus dem Maschinenraum. Ein Monitor zeigte ein fluktuierendes, unscharfes Bild. Litchfields Gesicht beherrschte den Ausschnitt. »Berichten Sie, Chief!« Der Chefingenieur zeigte seine Zähne – aber es war kein Lächeln, sondern schiere Verzweiflung. »Hier unten ist nichts mehr zu machen, Skipper.« »Was heißt das?« Gillard kniff die Augen zusammen und starrte drohend auf seinen Chefingenieur. Litchfield legte den Kopf schief. Er suchte nach Worten. Den richtigen Worten. Schließlich sagte er mit unverblümter Verzweiflung: »Es gibt nur noch ein paar Brennstoffzellen, die wir zur Wärmeerzeugung verwenden könnten, aber die würden nur unseren kostbaren Sauerstoff verschwenden. Ansonsten läuft hier nichts mehr, was ohne Energie aus den Speicherbänken auskommt. Alles tot. Das ist unsere Lage. Ich bin mit meinem Latein am Ende!« »Das heißt also, daß wir unser Schiff ohne fremde Hilfe
nicht wieder betriebsbereit bekommen. Stimmt’s?« »Stimmt, Skipper.« Gillard lächelte schief. »Danke für Ihre Offenheit, Chief.« Er sah auf den großen Schiffschrono, erkannte, daß der Zeitmesser stehengeblieben sein mußte – natürlich – und fluchte innerlich. Laut sagte er: »Kommen Sie mit Ihren Männern herauf, Chief. Wir versammeln uns in der Hauptmesse.« »Aye, Skipper. Verstanden!« Der Schirm wurde leer. Etwa eine halbe Stunde später – es ging zwar kein einziger suprasensorgesteuerter Zeitmesser mehr auf der BELÉM, aber dafür liefen die vielen individuellen Chronos der Besatzungsmitglieder wieder, wenn man sich auch auf deren Angaben nicht allzusehr verlassen konnte – hatte sich die Lage geändert, aber nicht gebessert. Im Gegenteil. Das Schiff schwebte antriebslos in der Schwärze des Alls. Blind. Ohne Energie. Dem Untergang geweiht. Als Captain Gillard mit versteinertem Gesicht durch die Gruppen von Männern und Frauen der Besatzung in die Mitte des Messeraums ging, breitete sich Stille aus. Es waren Minuten, in denen niemand zu atmen schien. Der Captain ging bis zum Ende, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen und sah in die Gesichter, die ihn anstarrten. Die zweihundertzehn Mann starke Besatzung der BELÉM verursachte eine drangvolle Enge. »Das Schiff ist von etwas Unerklärlichem getroffen worden«, begann er ohne Umschweife und mit autoritärer Stimme, »das zum einen jedes menschliche Wesen an Bord bewußtlos werden ließ, zum anderen offenbar der gesamten Technik irreparable Schäden zufügte.«
Er hob die Hand, als Unruhe entstand und wartete, bis wieder Stille eingekehrt war. »Da keiner unserer Suprasensoren mehr arbeitet, haben wir keine Kenntnis darüber, wie lange wir ohne Bewußtsein waren. Weiter läßt sich auch nicht feststellen, wohin das Schiff in dieser Zeitspanne abdriftete, falls es überhaupt abgetrieben ist. Unglücklicherweise sind wir nicht in der Lage, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Wir haben weder einen einzigen Hyperfunkkontakt herstellen können, um andere auf unsere Situation aufmerksam zu machen, noch will es uns gelingen, die Meiler und Triebwerke in Gang zu setzen. Das läßt nur einen Schluß zu: Wir sind im All gestrandet. Es tut mir leid, Ihnen diese Auskunft geben zu müssen.« Die Offiziere der BELÉM ausgenommen, glaubte zunächst niemand dem Kapitän die fürchterliche Wahrheit. Erst nach und nach dämmerte in manchen Augenpaaren, die ihn anstarrten, langsames Verstehen. Nick Gillard war Menschenkenner genug, um zu wissen, was ihm und seinen Offizieren früher oder später bevorstand. Er sprach weiter. »Ich weiß genau, wie es in jedem Einzelnen von Ihnen aussieht – glauben Sie mir, auch ich habe Angst. Wir sind möglicherweise in einer unbekannten Entfernung von der Erde. Niemand hört uns. Niemand kann uns helfen. Aber verloren sind wir deshalb noch nicht. Wir sind erst in dem Moment verloren, in dem wir erlauben, daß Panik von uns Besitz ergreift.« »Was ist mit der Bordversorgung?« kam eine Stimme aus dem Hintergrund. »Wie lange läßt sie sich aufrechterhalten?« »Sehr gute Frage...!« eine andere Stimme. »... was haben wir überhaupt noch an Energiereserven?« fragte ein Dritter. Die Atmosphäre in der Messe schlug langsam um. Jetzt griff Furcht nach den Menschen.
Gillard sah Angst in manchen Augen, Schweiß erschien auf Stirnen. Andere setzten sich und starrten wortlos vor sich hin. Gillard nickte dem Bordingenieur zu. Chief Litchfield überlegte einen kurzen Augenblick. Dann sagte er: »Die Energie der Speicherbänke ist begrenzt, keine Frage. Aber sie reicht eine ganze Weile für die Notbeleuchtung, Lufterneuerung und Heizung, wenn auch nur auf dem niedrigsten Niveau...« »Es heißt also, sich warm anzuziehen, Leute«, ließ sich jemand von der linken Seite vernehmen. Vereinzelt wurde verhaltenes Lachen hörbar. »Die Beiboote«, sagte eine überlaute, nervöse Stimme, »was ist mit den Beibooten? Wir könnten uns ausschleusen, einen Planeten suchen und landen. Wir würden damit unser Leben retten!« Gillard hob die Stimme gegen den aufbrandenden Tumult. »Das können wir nicht. – Van der Pool, erklären Sie’s!« »Die Aggregate und Triebwerksanlagen der Beiboote bestehen zu hundert Prozent aus M-Technik«, ließ sich die ruhige und beherrschte Stimme des Hangarchiefs vernehmen. Dann drehte er den Kopf und sah den Fragesteller mit gefurchter Stirn an. »Aber das sollten Sie eigentlich wissen, Maat Walken. Sie gehören doch zum Hangarpersonal. Oder was bezwecken Sie mit Ihrem Einwurf?« »Nichts, Sir«, erwiderte Maat Walken. »Ich hab’ mir nur Sorgen um mein Leben gemacht. Das ist doch legitim, oder?« Gillard runzelte die Stirn, dann zuckte er die Schultern. »Natürlich ist das legitim, Maat«, antwortete er anstelle Van der Pools. »Seien Sie versichert, wir alle machen uns Sorgen. – Ich schlage vor, daß wir jetzt auseinandergehen. Die Decksoffiziere werden die Wachen einteilen. Aufgrund der besonderen Situation werden nur die allernotwendigsten Posten besetzt, der Rest bleibt in den Quartieren und ruht, so spart
man am meisten Energie. Es ist im Interesse aller notwendig, daß möglicherweise in naher Zukunft einige recht...« er suchte nach einem passenden Begriff und fuhr dann fort: »... unpopuläre Maßnahmen ergriffen werden müssen. Diese werden von Ihren jeweiligen Vorgesetzten bekanntgegeben. Danke.« Langsam leerte sich die Messe. »Leutnant Malikyan!« Der halblaute Ruf des Kapitäns hinderte den Offizier der TF-Flotteninfanterie, Korvak Malikyan, am Verlassen der Messe. »Sir?« »Einen Augenblick.« Der Leutnant befehligte das kleine Kontingent von Flotteninfanteristen, bestehend aus zwanzig Soldaten, einem Corporal und einem Sergeanten. »Das mit den unpopulären Maßnahmen vorhin... es könnte bedeuten, daß ich Sie unter Umständen brauche. Noch sind die Leute mit der Verarbeitung der Situation beschäftigt. Wenn sie damit aufhören, werden sie entweder so müde sein, daß sie ohne einen einzigen Gedanken an das, was sie eventuell erwartet, ruhen oder aber zu unvorhersehbaren Wahnsinnstaten Zuflucht suchen. Ich möchte, daß Sie mit Ihren Männern die Situation im Schiff im Auge behalten.« »Das werden wir«, versprach Malikyan, »und Sie dürfen überzeugt sein, daß uns niemand entgeht.« »Gut«, zeigte sich Kapitän Gillard zufrieden. »Wir anderen«, er machte eine die ganze Führung der BELÉM einschließende Handbewegung, »werden auf der Brücke sein.« * »Sie haben was vor?« Der Kapitän sah Chief Litchfield und seinen Funk- und
Ortungsoffizier eindringlich an. Sämtliche Plätze auf der Brücke waren belegt. Auch die – jetzt nutzlosen – Waffensteuerungen. Aber die Funk- und Waffentechniker saßen vor toten Anzeigen, leeren Bildschirmen und inaktiven Kontrollen. Lediglich die Displays der Bordverständigung zeigten Leben. Die Leitstände waren von den diensthabenden Offizieren und Unteroffizieren besetzt. Eine trügerische Ruhe herrschte vor. Es fehlte die übliche Geräuschkulisse wispernder Instrumente; sogar die halblaut geführten Unterhaltungen der Männer und Frauen klangen gedämpfter als sonst. Ein Totenschiff... »Wir wollen einen Hypersender bauen«, wiederholte Oberleutnant Hilliker. Und der Triebwerksexperte der BELÉM fügte hinzu: »Mit Bordmitteln ausschließlich terranischer Technologie. Keine MKomponenten.« Nick Gillard ließ den heißen, schwarzen Kaffee im Thermobecher kreisen, trank einen Schluck. Zwei Stunden waren vergangen seit der Zusammenkunft in der Messe. Im Schiff war es ruhig. Bis auf das Winseln der Lufterneuerungsanlage hörte man kaum andere Geräusche. Die Decksoffiziere hatten die Mannschaft im Griff. Es war leichter Dienst angeordnet, das hieß, daß die Decks aufgeräumt wurden. In den medizinischen Stationen wurden die letzten Blessuren behandelt, die sich Mannschaftsmitglieder beim Sturz zugezogen hatten. Bis jetzt war die gefürchtete Panik nicht eingetreten. Wie lange werden sie noch Ruhe geben ? Gillard stoppte seinen Gedankenflug und sagte: »Und Sie beide sind überzeugt, Sie schaffen das?« »Wir werden es versuchen«, erwiderte Hilliker. »Immerhin gehörte der Bau eines derartigen Gerätes mal zur Grundausbildung an der Kallisto-Akademie.«
Chief Litchfield sagte: »Die Alternative ist wesentlich unangenehmer, falls dieses Wort ausreicht, zu umschreiben, was uns erwartet. Wir sind bewegungsunfähig. Unsere Maschinen nutzlos. Unsere einzige Chance, rechtzeitig von einem Flottentender geborgen zu werden, liegt in einem Funkspruch über Hyperkom. Allerdings...« »Ja?« Gillard zog die Brauen hoch, als sein Triebwerksexperte verstummte. »Worauf wollen Sie hinaus, Chief? Sie reden doch sonst nicht so um den heißen Brei herum. Also, spucken Sie’s schon aus! Ich werde Ihnen nicht gleich den Kopf abreißen.« Es war Hilliker, der sagte: »Ein Peilruf wird den Hauptteil der Energie aus den Speicherbänken aufzehren. Das ist es, was Ihnen der Chief sagen wollte.« Gillards Finger krampften sich um den Becher. Er verinnerlichte sich die sich daraus ergebenden Konsequenzen eine Zeitlang, dann nickte er. »Machen Sie es. Bauen Sie den Sender. Nehmen Sie sich so viele Techniker, wie Sie brauchen. Die Leute haben sowieso nichts zu tun. So werden sie wenigstens für eine Weile abgelenkt sein.« Auf der Brücke der BELÉM war die nächste Stunde von pausenloser, hektischer Arbeit erfüllt. Schließlich verkündete Oberleutnant Hilliker, und sein dunkles Gesicht glänzte schweißüberströmt: »Fertig. Der Peilruf wird auf sämtlichen Flottenfrequenzen gleichzeitig gesendet, sobald wir ihn aktivieren. Es ist unsere einzige Chance. Die Energie reicht nur für einen einzigen Versuch, zu mehr nicht. Es gibt danach keine Möglichkeit mehr, den Vorgang zu wiederholen. Geben Sie den Befehl, Sir!« »Warten Sie, Kapitän«, warf der Astrogator ein. »Sollten wir diese Entscheidung nicht der Besatzung zur Abstimmung unterbreiten?« Plötzlich schien die Temperatur auf der Brücke um mehrere Grade zu fallen.
»Was soll das nun wieder bedeuten...« hub Steward Brisdon ärgerlich an, und eine Zornesader begann auf seiner Stirn zu schwellen. Eine Handbewegung des Kapitäns ließ den Ersten verstummen. »Das wäre ein ungewöhnlicher Vorgang, Mister Lowe«, erwiderte Gillard mit beherrschter Stimme, »und einmalig in der Flottengeschichte dazu. Ich gestehe Ihnen zu, daß wir unter uns das Für und Wider eines geplanten Vorganges diskutieren können, wobei ich letztlich doch die Entscheidung alleine treffe, aber niemals vor der Besatzung.« »Aber, Sir, das können Sie doch nicht einfach so wegfegen!« drängte der Astrogator. Und das war genau der verkehrte Ton, um bei Gillard etwas zu erreichen. Der Kapitän war aufgestanden. Sein Gesicht war plötzlich hart, unnachgiebig, sein Ton schneidend. »Was ich kann oder nicht kann«, verkündete er mit abweisender Miene, »entscheide ich ganz allein. Ich habe dazu nicht die Belehrungen von Ihrer Seite nötig, Leutnant Lowe.« »Aber, Kapitän, so hören Sie doch...« »Es reicht, Leutnant!« schnitt ihm der Colonel das Wort ab. Vergessen war das Vertrauliche ihrer sonstigen Beziehungen. »Das war gerade das berühmte Wort zuviel. Sie wissen ganz genau, daß bei Entscheidungen dieser Tragweite jedes einzelne Besatzungsmitglied an Bord des Schiffes eine andere Meinung haben würde. Das Chaos wäre perfekt. Glauben Sie allen Ernstes, Sie brächten die Mannschaft dazu, gemeinsam an einem Strang zu ziehen?« »Nein, Sir.« Der Astrogator war immer mehr in seinem Sitz zusammengesunken und seine Stimme klang zerknirscht. »Natürlich nicht, Sir.« Kapitän Gillard musterte jeden Einzelnen auf der Brücke nachdrücklich. »Noch weitere Einwände?«
Dem war nicht so. Gillard nickte dem Funk- und Ortungsoffizier zu. »Senden Sie das Peilsignal, Mister Hilliker!« Und gebe Gott, daß uns jemand hört! setzte er in Gedanken hinzu. * Scheinbar bewegungslos stand die EBRO vor der gewaltigen, sternflimmernden Kulisse des interstellaren Raumes. Doch dieser Eindruck trog. In Wirklichkeit glitt das Schiff mit einem Achtel Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum, auf der Suche nach der BELÉM. Es befand sich im Schnittpunkt einer X-förmigen Formation der ausgeschleusten Beiboote, die ein genau festgelegtes Suchschema flogen. Es war kurz nach Mitternacht Schiffszeit, die der Standardzeit des Sol-Systems entsprach. Für sämtliche Decks des TF-Kugelraumers giantscher Fertigung herrschte Alarmstufe Gelb. Die Helligkeit im Innern des Schiffes entsprach dem normalen Licht. Alle Schirme waren offen. Auf den Monitoren zeigte sich die virtuell vom Suprasensor erzeugte dreidimensionale Darstellung des Suchrasters innerhalb eines sphäroiden Gitterrasters, in dem grünleuchtende Dreiecke die Positionen der Beiboote markierten. Die Ortungsgeräte des Kreuzers waren in Betrieb, drangen tief in den umgebenden Weltraum ein und suchten unablässig nach den charakteristischen Signaturen, die das Auftauchen der BELÉM auf den Schirmen sichtbar machen würden. Die EBRO war in einer SAR-Mission unterwegs. Search and Rescue, Suchen und Retten...
Ein Begriff, der sich ohne jegliche Veränderung aus dem zwanzigsten ins einundzwanzigste Jahrhundert herübergerettet hatte. Der Auftrag der EBRO lautete, die BELÉM zu bergen. Ein Unterfangen, das unerklärliche Schwierigkeiten verursachte, da vom S-Kreuzer an der zuletzt verzeichneten Position keine Spur gefunden werden konnte. Ausgehend von den Koordinaten dieser Position war die EBRO einem 3-D-Suchraster gefolgt, um das havarierte Schiff in den Tiefen des Raumes aufzuspüren. Erfolglos. Dann hatte die FZ einen Peilstrahl aufgefangen – und wieder verloren, noch ehe der Zentralrechner eine exakte Standortbestimmung auswerfen konnten; ungewöhnlich starke und massive Fluktuationen des galaktischen Magnetfeldes waren die Ursache dafür. Und so blieb der EBRO nichts anderes übrig, als einen ausgedehnten Raumabschnitt mit Hilfe der Beiboote zu durchsuchen, wollte sie die BELÉM doch noch finden. Kapitän Pressler richtete sich in seinem schweren Kontursitz auf und sagte halblaut: »Major Carver!« Der Kopf des Offiziers ruckte herum. »Sir?« »Status?« »Beiboote haben Suche aufgenommen, Kapitän«, meldete der Erste Offizier der EBRO gewohnt kurz und prägnant. »Sehr gut, I.O.«, nickte Pressler. »Stockton!« »Kapitän?« »Öffnen Sie die Phase zu den Booten.« »Verstanden, Sir«, antwortete der Funk- und Ortungsoffizier von seiner an Steuerbord gelegenen Konsole. Pressler richtete seine Aufmerksamkeit auf die Monitorphalanx vor sich, die ihm die einzelnen Piloten der
Beiboote zeigte, die ihrerseits sein Konterfei auf ihren Bildsprechgeräten hatten. »An alle Einheiten!« kam seine Stimme aus den Lautsprechern im Inneren der Cockpits. »Meine Herren! Ich wünsche ein lückenloses Suchraster. Jede noch so kleine Anomalie, jede noch so winzige Strukturerschütterung muß beachtet werden. Nichts darf Ihren Spürern entgehen. Derjenige, der mir als erster die BELÉM meldet, kann mit einer belobigenden Eintragung in seiner Personalakte und einer Woche Sonderurlaub rechnen.« »Wir sind bereit, EBRO...« Die Bestätigungen der einzelnen Beiboote liefen nacheinander in der Zentrale ein. In gewohnt rascher Folge. »EBRO – verstanden!« Das letzte der Boote. Kapitän Pressler lehnte sich aufatmend zurück, kniff kurz die Augen zusammen und sagte halblaut zu seinem Funkoffizier: »Noch nichts zu erkennen, Leutnant?« »Nein, Sir.« »Geben Sie gut acht, Darren. Ich wünsche, daß sich jeder in Ihrer Abteilung der größten Aufmerksamkeit befleißigt. Wir müssen die BELÉM finden.« »Jawohl, Sir«, sagte Darren Stockton und forschte verstohlen im Gesicht seines Vorgesetzten nach Zeichen der Anspannung, unter der der Kapitän stehen mußte, Der Funk- und Ortungsoffizier forschte vergebens. Das wuchtige Gesicht seines Kapitäns verriet nichts von dessen Gemütsregungen. Die Zeit verstrich quälend langsam. »Kapitän, Sir!« Ein Ortungstechniker vor seiner Konsole hob die Hand. »Hyperspruch von der Zentralen Raumüberwachung!«
»Öffnen Sie die Phase«, befahl Pressler mit unbewegter Miene. »Aye, Sir.« Pressler richtete seine Aufmerksamkeit auf den Hauptschirm, auf dem sich binnen Sekunden das Gesicht Marschall Bultons, des Stellvertreters von Dan Riker, dem die Terranische Flotte unterstand, überlebensgroß materialisierte. »Kommandant Pressler.« Marschall Bulton hob die Hand. »Haben Sie die BELÉM schon geortet?« »Negativ, Sir.« Das übergroße Abbild Bultons runzelte die Stirn. »Schwierigkeiten?« Pressler bestätigte widerwillig. »Wir haben bislang erfolglos versucht, die BELÉM aufzuspüren. Sie befand sich leider nicht an der zuletzt verzeichneten Position.« Marschall Bultons Brauen zuckten. »Nicht die geringste Spur von ihr?« »Wie man’s nimmt... Unsere Ortungszentrale hat einen verstümmelten Peilstrahl aufgefangen. Er könnte von der BELÉM stammen.« »Aber?« »Der Ausgangspunkt war nicht exakt zu lokalisieren, zu viele Störungen im galaktischen Magnetfeld zu dem Zeitpunkt.« »Sie suchen weiter.« Pressler starrte den Marschall an. Der Befehl klang mehr wie eine Bitte. »Natürlich. Ich verstehe, Marschall«, murmelte er dann. »Haben Sie das wirklich?« Bulton ließ dem Kapitän der EBRO keine Zeit, sich über diesen Ausspruch zu wundern, sondern fuhr gleich fort: »Ich will’s mal so ausdrücken, Leon«, sagte er eine Spur freundlicher. »Sie führen ein Wettrennen gegen die Zeit. Wir
wissen von anderen S-Kreuzern, die mittlerweile aufgespürt und gerettet worden sind, daß die gesamte Mysterious-Technik an Bord der Schiffe versagt, die sich zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht im Schutz ihrer Intervallfelder befanden. Das bedeutet, daß den betroffenen Schiffen nur eine zeitlich begrenzte Energie für die interne Bordversorgung wie Lufterneuerung, Heizung und Notbeleuchtung aus den Speicherbänken zur Verfügung steht. Alles energieintensive Systeme, wie Sie selbst wissen. Wird eines der Schiffe nicht rechtzeitig gefunden, erstickt die Besatzung entweder, oder sie erfriert. Keine angenehme Vorstellung, wie Sie mir zugestehen werden. Sie haben also keine Zeit für Aktionen unbestimmter Dauer. Sie müssen einfach Erfolg haben, Leon. Und das schnell. Sie kennen die Lage in der TF mindestens so gut wie ich. Uns fehlen an allen Ecken und Kanten ausgebildete Mannschaften und Offiziere. Wir sind auf jeden einzelnen angewiesen. Wir können uns den Verlust von Menschenleben und Schiffen einfach nicht leisten. Es wäre eine unangemessene Verringerung unserer Schlagkraft. Das ist einfach nicht tolerierbar!« Leon Pressler hatte zugehört, ohne mit der Wimper zu zucken. »Selbstverständlich nicht, Sir!« erwiderte er. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, Marschall! Sie können sich auf die EBRO und ihre Mannschaft verlassen.« Bulton nickte nachdrücklich. »Das weiß ich. Viel Glück, und erstatten Sie sofort Bericht an die Zentrale Raumüberwachung, wenn Sie Erfolg hatten.«
9. Nick Gillard strich sich über die Stirn; er war mit unfreundlichen Gedanken beschäftigt. Als Kapitän hatte er die uneingeschränkte Befehlsgewalt, war der absolute Herr an Bord seines Schiffes. Hatte er sich getäuscht, oder lag in Ian Lowes Worten wirklich ein Vorwurf? Hatte er nicht auch den gleichen Vorwurf in den Augen der anderen Offiziere gesehen? Nein, wohl nicht. Trotzdem. Wieder legte er sich – zum wievielten Male? – die Frage vor, ob er bis jetzt richtig gehandelt hatte. Wenn nein, was war dann falsch an seiner Entscheidung, den Peilruf zu senden, auch wenn das bedeutete, daß mit einem Schlag die Energiereserven der Speicherbänke fast auf Null gesunken waren? Kommandant eines S-Kreuzers zu sein hieß Verantwortung tragen. Es hieß aber auch: Einsamkeit. Ein einsamer Mann, der einsame Entscheidungen zu treffen hatte. Weshalb nur? Die Antwort: Du hast es so gewollt. Ja. Er konnte es nicht leugnen. Er hatte es so gewollt. Kapitän Gillard nahm seine unterbrochene Wanderung wieder auf. Drei Stunden waren seit dem Aussenden des HyperraumPeilsignals vergangen; sie kamen ihm wie vierundzwanzig vor,
so abgespannt und zerschlagen fühlte er sich. Das Warten auf Resonanz war unerträglich. Wie ein gefangenes Raubtier ging Gillard in seinem neben dem Leitstand gelegenen Bereitschaftsraum hin und her. Die schlanken, nervigen Finger hatte er auf dem Rücken verschränkt. Das Gesicht war verschlossen und reglos. Der schmallippige Mund zu Strichen gepreßt. Die straffe, hagere Gestalt in eine nicht mehr ganz so untadelige Uniform gehüllt, darüber eine dicke Jacke für Extremwelteinsätze. Er war die Verkörperung uneingeschränkter Autorität. Einer Autorität, die er bis zuletzt aufrechtzuerhalten gedachte. Die Luft im Schiff wurde langsam stickig. Die Kälte kroch aus allen Ecken und Winkeln, breitete sich durch die Transportschächte aus. Gillard hatte den Decksoffizieren und Mannschaftsführern Order gegeben, alle unmittelbar hinter der Schiffshülle liegenden Räume aufzugeben und von den Lebenserhaltungssystemen zu trennen. Auch die nutzlosen Maschinensektionen lagen verlassen, waren luftleer gepumpt und gegen das Schiffsinnere abgeschottet worden. Mittlerweile drängte sich die Mannschaft in den beiden Decks unterhalb der Brücke. Dienst im eigentlichen Sinne gab es keinen mehr. Außerdem, in etwa fünf Stunden würde alles vorbei sein. Nach dieser Frist mußten sie in die Raumanzüge. Die würden ihnen noch einmal für weitere acht Stunden Leben verheißen. Und dann? Dann stand er vor der schwierigsten Entscheidung seines Lebens. Sah sich in der Rolle Gottes. Als Herr über Leben und Tod. Denn von den an Bord befindlichen Raumanzügen war nur die Hälfte aus terranischer Fertigung, die andere Hälfte entstammten der M-Produktion und waren somit unbrauchbar.
Er mußte die Männer und Frauen bestimmen, die einen Anzug erhielten – und gleichzeitig den Rest der Besatzung zum Tod verurteilen. In einer plötzlichen Anwandlung von ohnmächtiger Wut wischte Gillard die Sternenkarten von der Platte seines Arbeitstisches und hieb mit der geballten Linken auf den massiven Kunststoff. Er konnte es nicht länger leugnen, der Faden seines Lebens, seiner Karriere schien gerissen zu sein. Der Schmerz brachte ihn wieder zur Besinnung. Eine Weile versuchte er, an nichts zu denken. Abwesend massierte er sich den Handballen. Da durchbrach das Summen des Bordviphos die Stille. »Sir!« Gillard wandte sich dem Schirm zu. »Ja?« Die Stimme klang laut und alarmierend und weckte spontan die Aufmerksamkeit des Kapitäns. »Was gibt’s, Leutnant?« Das Gesicht des Leutnants der Flotteninfanterie, Korvak Malikyan, blickte von der Bildfläche. »Schwierigkeiten, Sir!« »Ich höre!« Malikyan sagte drängend: »Ich befinde mich auf Deck VIII. Sie sollten besser herunterkommen, Sir. Es hat eine Meuterei stattgefunden.« Ein Muskel begann in Gillards Gesicht zu zucken. »Ich komme sofort«, versprach er grimmig und unterbrach die Phase. Er nahm sich nicht einmal mehr Zeit, die Dienstmütze auf den Kopf zu stülpen, sondern stürmte auf den breiten Korridor hinaus. Rasch trugen ihn seine Schritte durch die leeren, hallenden Gänge, über Knotenpunkte hinweg, und endeten schließlich vor dem inaktiven Lift. Scheppernd schlug das Sicherheitsgitter gegen die Wand.
Gillard hangelte sich über die metallenen Haltegriffe, die man als Abstiegs- beziehungsweise Aufstiegshilfen benutzen konnte, zum Deck VIII hinab. Der weitläufige Raum war voller lärmender und schiebender Besatzungsmitglieder. Der Kapitän drängte sich rücksichtslos durch die Menge und steuerte zielstrebig auf Korvak Malikyan zu, der ihn inmitten seiner schwer bewaffneten Männer erwartete, die in ihren gepanzerten Kampfanzügen terranischer Fertigung einen martialischen Eindruck machten. »Meuterei?« stieß er grollend hervor, »Sie sagten etwas von Meuterei, Leutnant. Auf meinem Schiff? Berichten Sie!« Korvak Malikyan zuckte nicht mit der Wimper, als er verkündete: »Eine Gruppe Hangartechniker unter Führung von Maat Walken hat sich im kleinen Lagerraum des Quartiermeisters verbarrikadiert, Sir.« Malikyan deutete auf das große Schott, hinter dem sich, wie Gillard mit einem Anflug von Erschrecken erkannte, außer der Waffenkammer auch die Raumanzüge für den Ausstieg in den Weltraum befanden. Das verhieß nichts Gutes. Als wenn wir nicht schon genug Schwierigkeiten hätten! »Wie viele sind es? Haben Sie darüber schon Erkenntnisse?« »Zirka dreißig Männer, meist Hangarpersonal. Walken ist ihr Sprecher.« »Was beabsichtigen diese Kerle?« Malikyan hob die gepanzerten Schultern. »Überleben. Sie wollen einfach überleben. Es geht ihnen nur um die Raumanzüge. Sie wollen sich nicht einem Ausleseverfahren unter Ihrem Vorsitz unterziehen, Sir...« »Diese Idioten!« brach es aus Chief Litchfield heraus. »Damit erreichen sie doch gar nichts, zögern das Unvermeidliche lediglich hinaus.« »Die menschliche Natur ist nun mal so«, versetzte Ian Lowe
fatalistisch. »Weshalb haben Sie die Meuterei nicht sofort im Keim erstickt?« fragte Gillard mit ungeduldiger Stimme, die nichts von seiner Sorge über die Eskalation der Situation an Bord der BELÉM nach außen dringen ließ. Der Leutnant blieb von der implizierten Kritik des Kapitäns unberührt. »Sie haben sich Waffen verschafft und drohen jeden zu erschießen, der versucht, zu ihnen vorzudringen.« Gillards dünne Lippen kräuselten sich ärgerlich. »Wurden Sie und Ihre Männer nicht dafür ausgebildet, mit derartigen Situationen fertig zu werden, Leutnant?« Vereinzelte Rufe aus der umstehenden Menge wurden laut. »... ja, räuchert sie aus...« »... können nicht einfach tun und lassen, was sie wollen...« »Ruhe, verdammt!« erhob der Kapitän seine Stimme. »Ihre Nerven möchte ich haben, Sir«, murmelte Manuel Puro. Nick Gillard fuhr herum, faßte seinen Waffenoffizier scharf ins Auge. »Nerven, Mister Puro, sind das einzige, was uns diese verfahrene Situation überwinden hilft.« Er wandte sich von Lowe ab und seinem 1. Offizier zu. »Mister Brisdon! Sorgen Sie dafür, daß dieses Deck geräumt wird. – Und nun wieder zu Ihnen, Malikyan... wie gedenken Sie, dieses Dilemma zu unseren Gunsten zu lösen?« »Wir dringen ein«, versetzte der Leutnant lakonisch, »und geben ihnen eins auf die Mütze.« Eins auf die Mütze... Obwohl die Bemerkung flapsig klang, war sie alles andere als das. »Das auf die Mütze geben« war in Wirklichkeit für die kampfunerprobten unteren Dienstgrade an Bord eines TFKreuzers ein unter Umständen lebensbedrohlicher Vorgang. Die auf jedem größeren Schiff der TF eingesetzten Kontingente
der Flotteninfanterie waren voll ausgebildete Kämpfer, Elitesoldaten, während die normale Besatzung lediglich gelernt hatte, sich notfalls mit Handfeuerwaffen zu verteidigen. »Ich warte nur noch auf Ihr Okay, Sir.« »Das haben Sie.« »Könnte sein, daß wir uns gezwungen sehen, das Feuer auf die Meuterer zu eröffnen!« »Ich habe damit kein Problem.« Um Gillards Mund legte sich ein harter Zug. Die tiefe Falte über seiner Nasenwurzel erschien erneut. »Auf meinem Schiff zettelt niemand ungestraft eine Meuterei an.« Ian Lowe wurde nervös. Und mit ihm jeder, der dieser Unterhaltung folgen konnte. »Ist... ist das Ihr Ernst, Kapitän?« brachte der Astrogator etwas mühsam hervor. »Mein voller Ernst«, bestätigte Nick Gillard hart. »Oder muß ich erst die Flottenvorschriften zitieren? Meuterei auf einem Schiff ist nach wie vor kein Kavaliersdelikt, sondern ein Verbrechen, auf das früher einmal die sofortige Todesstrafe stand. Heute endet es in jedem Fall vor einem Kriegsgericht und danach in der Regel in einer Strafkolonie!« »Aber...« »Leutnant Lowe!« Gillards Stimme enthielt einen gefährlichen Unterton. Seine Haltung versteifte sich, und seine Augen sprachen von seinem unbeugsamen Willen. Mehrere Sekunden maßen sich die beiden mit Blicken. Sekunden, in denen man glaubte, sie wären mit Elektrizität geladen. Aber bevor sich diese Gewitterstimmung entladen konnte, gab Ian Lowe auf. »Natürlich, Sir«, murmelte er. »Erlauben Sie, daß ich mich zu den anderen begebe?« »Erlaubnis erteilt«, nickte Gillard und hatte den Vorfall schon wieder vergessen. Zu Malikyan gewandt sagte er:
»Beginnen Sie mit der Aktion, Leutnant!« Korvak Malikyan postierte seine Kämpfer mit schnellen Handzeichen links und rechts des Schotts. Einer der Männer machte sich mit einem RobotLaserschweißer an die Arbeit. Die Flamme leuchtete hell auf. Wo der Brennpunkt mit dem Material in Berührung kam, blieb eine Schmelzspur zurück. Sie begann von unten nach oben zu wandern, bewegte sich nach rechts und glitt wieder nach unten zur Basis. Ein letzter waagerechter Schnitt, und die Ramme erlosch. Zwei Soldaten stützten einen dritten, und der trat mit dem stiefelbewehrten Fuß zu. Die Metallplatte flog nach innen. Der Weg war frei. »Der erste, der hier eindringt«, gellte ihnen eine Stimme aus dem dahinterliegenden Lagerraum entgegen, »wird erschossen!« Wie um den Ernst dieser Behauptung unter Beweis zu stellen, pulste eine Kette hell glühender Strahlen aus einem Zweihandblaster durch die Öffnung und schlug im Hintergrund in die Wand. Der Kunststoff der Verkleidung begann zu qualmen und tropfte zähflüssig auf den Boden, wo er in der Kälte sofort wieder erstarrte, als der unsichtbare Schütze das Feuer einstellte. Die Luft im Deck wurde noch schlechter. Langsam zog beißender Qualm in Richtung der Entlüftung. »Heilige Galaxis«, murmelte einer der Infanteristen mehr erheitert als erschrocken. »Da ist ja ein ganz wilder Cowboy dabei.« Malikyans Stimme erklang über die Anzugsphasen. Seine Anweisungen kamen knapp und präzise. »Erstes Team, aufstellen. Sergeant Strang, Standardprozedur. Sie bilden mit Ihren Leuten die Nachhut und
sichern unsere Flanken!« »Leutnant Malikyan!« Der nahm sich einen Augenblick Zeit, um hinter sich zu schauen. »Ja, Kapitän?« »Keine Toten, wenn es sich vermeiden läßt«, sagte Nick Gillard. Malikyan verzog keine Miene, trotzdem wirkte er irgendwie enttäuscht. Er nickte und wandte sich an seine Männer. »Ihr habt gehört, was der Kapitän gesagt hat. Nehmt die Paraschocker. Und jetzt vorwärts!« Er schlug das Visier seines Kampfhelmes herunter und schaltete auf IR-Sichtmodus. Seine Männer taten es ihm nach. Eine Displayeinblendung warf den Aufriß des Lagerraumes auf die Visierinnenfläche, so daß die Träger jederzeit wußten, wo sie sich befanden. Malikyan reckte die Hand hoch und ballte sie zur Faust. Aktion beginnen, hieß das. Und dann geschah alles sehr schnell. Wie Schatten huschten die Elitesoldaten der TF-Infanterie durch die aufgeschweißte Schottöffnung und stürmten im Schutz ihrer anzugeigenen Prallschirme in den dahinterliegenden, nur schwach erleuchteten Raum. Der Zeugraum des Quartiermeisters. Blasterfeuer empfing sie. Der Leutnant machte eine Folge von schnellen Handzeichen. Das Team schwärmte aus, teilte sich. Eine Hälfte nahm sich die linke, die zweite die rechte Seite vor. Die auf die Innenseiten ihrer Visiere gespiegelten IRAnzeigen verrieten ihnen den genauen Standort eines jeden einzelnen Meuterers im Raum. Obwohl sie sich verzweifelt wehrten, schickten Malikyans Kämpfer die Meuterer mit gezielten Schüssen aus den Paraschockern nacheinander ins Land der Träume, noch ehe sie
realisieren konnten, wie ihnen geschah. Zwei versuchte mit Hakentricks durch eine Tür in der Seitenwand zu entkommen; sie brachen im Kreuzfeuer der Paralysestrahlen zusammen. »Vorsicht, Phil!« rief ein TF-Infanterist. »Links von dir!« »Schon gesehen«, knurrte der mit Phil angesprochene Soldat und legte wie auf dem Schießstand die Waffe an. Er betätigte den Abzug. Der Mann fiel halb aus dem Nebenraum, aus dem er urplötzlich auftauchte, und krachte zu Boden. Vier, fünf Männer drängten nach. Wild aus Blastern feuernd, versuchten sie sich gegen das Unvermeidliche aufzubäumen. Wahrend die Strahlbahnen der Blaster wirkungslos an den Prallschirmen verpufften, erledigten die TF-Infanteristen mit gezielten Schüssen einen Meuterer nach dem anderen. »Achtung, Andsager!« Der Teamführer machte ein Handzeichen in eine bestimmte Richtung. Dort rannte ein Mann hinter dem Schutz eines Stapels kleiner Container hervor und zur anderen Raumseite, seine Hände umklammerten einen schweren Zweihandblaster. Eine Kette hell glühender Strahlen pulste durch den Raum. Der Kunststoff der Wandverkleidung begann zu qualmen. »Schon entdeckt, Leutnant.« Der Paralysestrahl aus Andsagers Waffe traf den Mann mitten im Lauf; er stürzte zu Boden, kollerte über den geriffelten Belag, während die Waffe in die andere Richtung schlitterte. Und als ob der Sturz einen Schlußpunkt gesetzt hätte, gab es im Lagerraum keine Gegenwehr mehr. Mit erhobenen Händen kam die restlichen Meuterer aus ihren Deckungen. Die TF-Infanteristen trieben sie zusammen und legten ihnen Fesseln an, wobei sie nicht gerade sanft mit ihnen umsprangen. Und sie vergaßen auch nicht, mit den Bewußtlosen ebenso zu
verfahren. Kapitän Gillard lief suchend durch die Reihen. »Wo ist der Initiator dieses lächerlichen Aufstandes?« herrschte er einen der Männer an. »Reden Sie, Whiteside! Ich kann Sie zwar nicht vor dem Kriegsgericht bewahren, aber wenn Sie kooperieren, werde ich dies in meinem Bericht erwähnen. Wo ist Walken?« Der Waffentechniker beeilte sich mit der Antwort. »Als ich ihn zuletzt gesehen habe, verschwand er gerade im Depot für die Raumanzüge...« Gillard erstarrte. »Verdammt, was hat der hirnverbrannte Narr vor?« knurrte Chief Litchfield. »Leutnant Malikyan! Holen Sie diesen Irren dort raus, schnell!« stieß der 1. Offizier hervor. Malikyan reagierte sofort. Mit einem Handzeichen beorderte er einen seiner Männer vor die besagte Tür. »Läßt sich nicht öffnen, Sir«, versetzte der Mann nach wenigen Sekunden. »Von innen verriegelt vermutlich.« »Brechen Sie sie auf!« befahl Kapitän Gillard. Der Mann nickte. »Treten Sie bitte alle ein wenig zu...« Er verstummte. Hinter der Tür waren ein dumpfes Geräusch zu hören. Eine scharfe Detonation ließ die Männer zusammenzucken. Die Tür beulte sich leicht nach außen, klaffte auf, und ein greller Lichtschein drang durch den Spalt. Gefolgt von einem heißen Luftstoß, der die unmittelbar vor der Tür stehenden Männer taumeln ließ. Die Beschichtung der Türfüllung begann zu qualmen und Blasen zu werfen. Das Metall dahinter glühte kurzzeitig hell auf und kühlte dann wieder ab. »Mein Gott!« stieß einer der Männer hervor. »Er hat eine Thermobombe gezündet.«
»Das waren mindesten zwei...« sagte jemand anderer. »Damit dürfte von ihm nichts mehr übrig sein.« »Von ihm nicht – und den Raumanzügen auch nicht«, ließ sich ein Dritter vernehmen. Eine volle Minute lang war es still im Raum. Langsam verzog sich der beißende Qualm in Richtung der noch immer arbeitenden Entlüftung. Dann regte sich der Erste Offizier. »Na schön«, sagte er, an niemand Bestimmten gerichtet, »das wär’s dann also damit.« »Das wäre es also mit was?« knurrte Kapitän Gillard ihn an. »Mit dem Vorhaben, der Hälfte unserer Männer das Überleben zu garantieren«, wurde Brisdon deutlicher. »Wenigstens für eine Weile.« »Also gut, Mister Brisdon«, schnaubte der Kapitän widerstrebend. »Sie haben recht. Diese Alternative ist uns genommen. Aber wessen Schuld war es?« Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Dann sagte der Erste langsam: »Die Schuld von etwas Unerklärlichem, dessen Opfer wir geworden sind, Sir.« Kapitän Gillard sah seinen 1. Offizier an. »Wir können also nur noch darauf hoffen, daß man uns findet, Steward, oder?« »Darauf, Skipper, oder wir erfrieren, beziehungsweise der Luftmangel gibt uns den Rest!« Nick Gillard ließ resigniert die Schulter sinken. War dies das Ende? * »Kapitän, Sir!« Der Techniker vor der Ortungskonsole wirkte aufgeregt. »Was gibt’s?« »Wir haben sie!«
Wer mit sie gemeint war, war jedem auf der Brücke der EBRO klar: Es konnte sich nur um die verzweifelt gesuchte BELÉM handeln. »Lassen Sie sehen!« Der Techniker zog einen Regler. Das winzige, pulsierende Echosymbol in der dreidimensionalen Orterdarstellung des erfaßten Raumsektors wurde vergrößert. Wenig später gab es keinen Zweifel. Bei dem entdeckten Objekt handelte es sich tatsächlich um die BELÉM; die TF-Signatur war eindeutig. Waren die letzten Stunden in quälender Ereignislosigkeit verstrichen, so erfaßte jetzt hektische Betriebsamkeit alle Ränge des Leitstandes. Pressler hob die Hand. »Holen Sie die Beiboote zurück, Mister Olds, und lassen Sie sie andocken«, wies er seinen 3. Offizier an. »Aye, Kapitän!« Leutnant Lee Olds nickte und gab seine Anweisungen. »Mister Stockton«, wandte sich der Kapitän an seinen Funkoffizier. »Rufen Sie die BELÉM!« Die Funkzentrale schickte ihren Ruf auf allen gebräuchlichen Frequenzen und bat um Antwort. Vergeblich. In der Zentrale der EBRO herrschte Schweigen, sah man vom steten Flüstern der Instrumente ab, die ihre zuckenden Lichter auf gespannte Gesichter warfen. Kapitän Pressler löste den Blick vom Hauptschirm über ihm und fuhr seinen Kontursitz in den Gleitschienen näher an die abgeschrägte Fläche seiner Konsole heran. Auf einem Separatschirm verfolgte er die Andockmanöver der Beiboote; schließlich war das letzte an Bord. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Darren Stockton. »Irgendwelche Reaktionen?«
»Nichts«, resignierte der Funkoffizier. »Das Schiff antwortet nicht. Entweder haben sie Ärger mit ihren Funkgeräten, oder bei denen sind sämtliche Systeme aufgrund fehlender Energie ausgefallen.« »Vermutlich letzteres«, meinte Pressler, und eine tiefe Falte erschien über seiner Nasenwurzel. »Sputen wir uns, die BELÉM zu erreichen.« Die EBRO änderte geringfügig ihre Flugrichtung und nahm Kurs auf das erfaßte Objekt. Der Pilot beschleunigte den TF-Kreuzer. Pressler riskierte sogar eine Kurztransition, um sein Schiff binnen weniger Augenblicke in Sichtweite der BELÉM zu bringen. Dann glich der Pilot nach der Bremsverzögerung und einer 180-Grad-Kurve die Geschwindigkeit an. Die EBRO driftete näher. Die Funk-Z schaltete alle Optiken auf die Internschirme, so daß die Besatzung die Annäherung verfolgen konnte. Der Pilot steuerte den Kreuzer in wenigen hundert Metern um die BELÉM herum. Leon Pressler sagte halblaut: »Scheinwerfer an!« Die Lichtkreise der Suchscheinwerfer flammten auf, strahlten das havarierte Schiff an, zeichneten grelle Kreisflächen auf die Wandungen und rissen Konturen und Einzelheiten aus der Schwärze. Pressler beugte sich vor und spähte angestrengt auf den Hauptschirm; einige Luken und Schleusen standen spaltbreit offen. »Das verheißt nichts Gutes«, brummte er. »Niemand antwortet auf unsere Funkrufe, dazu die offenen Luken und Schleusen. Sie stecken ganz offensichtlich in erheblichen Schwierigkeiten. Also dann...« Er klappte die Abdeckung von einem rotglimmenden Schalter hoch und preßte die Kontaktplatte. Das Alarmsignal
dröhnte durch die Räume der Bergungsteams der EBRO. »Mister Stockton«, wandte sich Pressler an seinen Funkund Ortungsoffizier, »verständigen Sie über Hyperspruch die zentrale Raumüberwachung. Teilen Sie denen mit, daß wir die BELÉM gefunden haben und uns daranmachen, die Besatzung an Bord zu nehmen.« »Verstanden, Kapitän!« »Mister Olds!« »Sir?« »Koordinieren Sie von hier aus mit dem Hangar-Chief die Bergung. Und zwar ein bißchen dalli!« »Sofort, Sir!« Die EBRO glitt nun fast ohne Fahrt an der Außenwandung der BELÉM empor. »Wo sollen die Leute eindringen?« fragte der Pilot. Kapitän Pressler hob die Schultern, ohne die Schirmgalerie aus den Augen zu lassen. »Versuchen Sie es in der Nähe der Brücke«, ordnete er leise an. »Ich an Gillards Stelle würde mich mit meinen Leuten auf den Decks in der Nähe des Leitstandes aufhalten.« »Geht in Ordnung.« Die EBRO kam zum Stillstand. Keine hundert Meter von der BELÉM entfernt. Unter den Schaltungen des Piloten drehte der NavSuprasensor das Raumschiff langsam halb herum, bis die Frachtschleuse auf gleicher Höhe mit einer Schleuse des SKreuzers war, die etwa zwei Meter weit aufklaffte. Leutnant Lee Olds bestimmte drei Männer. Sie sollten das antriebslos treibende Schiff als erste entern, um die Lage zu sondieren, ehe das Gros des Bergungsteams mit AGravplattformen und schwerem Gerät die Besatzung der BELÉM an Bord der EBRO brachte. In ihren Druckanzügen betraten die drei Ausgewählten die Frachtschleuse. Sie hatten Handscheinwerfer und andere
Geräte dabei. Helfer kontrollierten ein letztes Mal die dünnen, auf Magnettrommeln aufgerollte Entertaue. Olds’ Stimme klang aus den Anzugviphos. »Shaw, Poiker, Daly! Alles klar?« Poiker, als der Dienstälteste der Teamleiter, drehte sich langsam um seine Achse und sah, wie die beiden anderen ein Handzeichen machten. Er atmete tief durch. »Fertig zum Ausstieg!« Die Frachtschleuse wurde geräumt. Die Innentür geschlossen. Dann glitt die äußere Schleusentür beiseite. Scheinwerfer strahlten kalkig weiß die Schleusenöffnung und den Umkreis des wuchtigen Rahmens mit seinen Zuhaltungen und Dockklammern an. Die Männer klinkten die Karabinerhaken der Sicherungsseile ein. »Los, Freunde!« ließ sich Poiker vernehmen. »Machen wir voran.« Sie peilten ihr Ziel an und stießen sich nacheinander ab. Es war nicht der erste Einsatz im freien Weltraum, den Ben Poiker erlebte; einmal mehr jedoch durchlitt er erneut jenes Schaudern, als er aus der Schleuse glitt und sein Blick für ein paar Herzschläge lang völlig den Halt verlor und irgendwo in die unendliche Schwärze zu stürzen drohte. Dann war diese irrationale Anwandlung auch schon vorüber. Sobald sie den Wirkungsbereich des Schwerefeldes der EBRO verlassen hatten, schwebten sie geradlinig, ohne die Nanoaggregate einsetzen zu müssen, etwa 100 Meter weit genau auf die offenstehende Schleuse zu. Gleich darauf konnten sie die Griffe in den Aussparungen neben der Luke fassen. »Schleuse erreicht«, meldete Poiker über Helmvipho. »Keine Schwierigkeiten bisher.« Er sicherte das Seil mit einem weiteren Karabinerhaken an
der Außenwand der BELÉM und schwang sich bis zum Spalt. Die Schleusenkammerbeleuchtung war aus. Im Innern war es dunkel. Poiker hielt sich fest, hakte einen Fuß um den Griff und öffnete den Schutzdeckel über den Schaltern, die ein Öffnen der Schleuse von außen ermöglichte. Er studierte die Anzeigen und murmelte laut: »Beschädigt scheint nichts; nur abgeschaltet, um Energie zu sparen. Wir gehen hinein.« Die Männer schwangen sich ins Schleuseninnere. »Keine Schiffsatmosphäre. Keine Bordschwerkraft in diesem Bereich«, meldete Daly. »Schalten EM der Sohlen ein.« Das anzugeigene, elektromagnetische Feld zog ihre Stiefelsohlen auf den Bodenbelag der etwa zehn Quadratmeter großen, rechteckigen Kammer. Shaw drehte sich herum, hob den Arm und deutete in eine Richtung. »Seht nur, wie schwach die Innenanzeigen leuchten. Ich möchte wetten, daß die Batterien ziemlich am Ende sind.« »Die Wette gewinnst du«, knurrte Poiker. Dann, lauter und an die EBRO gerichtet: »Was ordnen Sie an, Sir?« »Betreten Sie das Schiff. Sie müssen die Besatzung finden. Wir bereiten hier einstweilen alles für die Übernahme vor.« »Verstanden.« Die Männer gingen aus dem Schleusenraum in einen Schiffskorridor hinein; die Optiken der Helmkameras übertrugen jede Einzelheit auf den Leitstand der EBRO. Die Dunkelheit hatte etwas Bedrückendes. Es war sehr still. Totenstill? Keiner der Männer hoffte es.
Die aufgrund der fehlenden Atmosphäre völlige Lautlosigkeit aller Vorgänge erfüllte die Szene mit zusätzlicher Bedrängnis. Im Licht der Helm- und Handscheinwerfer glitzerten die Korridorwände wie Eis. Es war Eis! Niederschlag von Luftresten, gefroren in der absoluten Kälte des Weltraumes. Sie kamen an einen Knotenpunkt. »Wohin, Kumpel?« brummte Daly. »Nach links, nach rechts oder hinauf?« Poiker deutete auf das Piktogramm an der Korridorwand. »Nach oben. Zur Zentrale.« Sie verzichteten darauf, Schotte und Türen zu öffnen, um nachzusehen. Dieser Sektor der BELÉM war eindeutig aufgegeben und luftleer gemacht worden. Niemand würde sich hier aufhalten. Sie beschleunigten ihre Schritte und liefen eine Rampe hoch, deren Transportband außer Funktion war. »Warum zur Zentrale?« tönte Shaw mit hohler Stimme. »Eine Besatzung von 210 Mann findet dort niemals Platz!« »Aber in den Decks darunter«, beschied ihm Poiker resolut. »Also weiter...!« Sie durchstiegen weitere Decks. Dann kamen sie in einen Ringkorridor. Die Druckschotts auf der Innenseite waren verschlossen! Hinter einer Abdeckplatte neben einem der Schotts summte ein aktiver Mechanismus. Als Poiker die Platte anhob, sah er die Kontrollichter hinter der transparenten Abschirmung. Sie schimmerten in sattem Grün. In den Räumen hinter den Schotts herrschte Druck. Wo Druck herrschte, gab es Luft.
Und wenn es Sauerstoff gab, gab es auch Leben. Die drei sahen sich an. Dann begann Shaw mit der gepanzerten Faust gegen die Füllung des Schotts zu klopfen. Immer wieder. Und immer stärker. Schließlich donnerte er dagegen. In den Pausen brachten Poiker und Daly ihre Helme in Kontakt mit dem Metall; der luftleere Korridor trug keinen Schall. Es war Daly, der das leise Antwortpochen von der Gegenseite als erster vernahm. »Gott sei Dank!« stieß er hervor. Dann, mit tiefer Genugtuung: »EBRO, ihr könnt mit der Bergung beginnen. Die Besatzung der BELÉM ist noch am Leben...«
10. Zwei Ringraumer verließen das Corr-System. Das Licht der roten Sonne ließ die EUROPA funkeln und glitzern wie ein Juwel. Das rubinrote Schwerstmetall Tofirit, aus welchem der Ringraumer bestand, glänzte hier in bester Pracht. Die POINT OF wirkte ebenfalls ins Rötliche verfärbt. Das blauviolette Unitall schimmerte im Corr-Licht eher rotviolett. Faszinierend dabei, daß die EUROPA in ihren Abmessungen doppelt so groß war wie das Flaggschiff der TF. Und doch waren beide Raumer klein gegenüber den massigen Ellipsenraumern der Nogk. Colonel Huxley sah den beiden Schiffen etwas wehmütig nach. Raumschiffe faszinierten ihn, ihre Form, ihre Technik. Vielleicht war er deshalb zur Flotte gegangen, damals, in einer Zeit, in der es noch lebensgefährlich war, zwischen den Planeten des Sol-Systems und später zwischen den Sternen zu fliegen. Mit Hilfe des Time-Effekts, der ein Raumschiff bis zu einer Distanz von maximal 1,7 Lichtjahren verschieben konnte. Eine Art Vorläufer der heute bekannten Transitionstechnik. Auch Huxley war einst mit Hilfe des Time-Effekts in die Galaxis hinausgeflogen, mit seiner alten FO-I, die heute praktisch nur noch eine Art Beiboot war. Längst umgerüstet auf die Supertechnik der Nogk. In ihrer ursprünglichen Funktion als Forschungsraumer der einstigen Solaren Flotte hatte sie längst ausgedient, war heute nur noch ein durchaus kampfkräftiges »Anhängsel« der von den Nogk erbauten und Huxley geschenkten CHARR. Trotzdem war und blieb Frederic Huxley diesem alten, unzählige Male umgebauten und nachgerüsteten Schiff eng verbunden. Und nicht nur er, sondern auch der ganze Rest seiner Crew, dieser verschworenen Mannschaft, die mit ihm
durch dick und dünn gegangen war. So wie Huxley auch anderen Männern verschworen war. Den Männern, mit denen er gemeinsam die legendäre Kallisto-Akademie besucht hatte. Männern wie Janos Szardak, der sich nicht zu schade war, trotz eigenen Kommandos zwischendurch immer wieder mal in untergeordneter Position an Bord der POINT OF Dienst zu tun. Oder wie P. S. Clark, der ebenfalls ein eigenes Ringraumergeschwader geführt hatte und jetzt »nur« Kommandant des ersten Tofirit-Ringraumers der Erde war. Sam Dhark... nein, der alte Sam war schon lange tot, gestorben bei Hope, kurz vor der Landung des Kolonistenraumers GALAXIS. Aber sein Sohn Ren war vom gleichen Schlag wie der alte Sam Dhark. Hatte seinen Vater sogar längst überflügelt. Denn Sams politische Ambitionen waren Träume geblieben, aber sein Sohn war Chef der Erdregierung geworden. Commander der Planeten wurde er genannt. Aber was für ein Regierungschef... einer, der ständig in der Galaxis unterwegs war und die Politgeschäfte von seinem Stellvertreter Trawisheim erledigen ließ. Huxley fragte sich manchmal, was die Erdbevölkerung wohl davon hielt. Ob sie den jungen Ren Dhark mehrheitlich gewählt hatte, damit er seiner Abenteuerlust im Weltraum nachgehen konnte, oder damit er durch die übernommene Verantwortung das Vertrauen der Menschen rechtfertigte, das sie in ihn setzten? Oft verglich Huxley die Terraner mit den Nogk. Charaua und Ren Dhark waren sich ähnlich. Nicht wirklich und direkt, aber auf einer ganz bestimmten mentalen Ebene. Sie beide waren das, was man als Abenteurer bezeichnen mochte, und unter anderen Umständen, bei einer anderen Entwicklung, hätte aus ihnen vielleicht ein klassisches Gespann werden können wie einst in der irdischen Literatur Old Shatterhand und Winnetou. Aber das Schicksal hatte ihnen andere Wege
bestimmt, und Charaua als Herrscher der Nogk konnte sich die Abenteuerlust eines Ren Dhark keinesfalls erlauben. Er war zu sehr eingebunden in die strikte Disziplin seines Volkes. Einst, als er nur Raumschiffskommandant gewesen war, hatte er seinem Abenteuerdrang nachgehen können. Heute würde ihm der Rat der Nogk niemals erlauben, eigene Wege zu gehen. Charaua fügte sich dieser Disziplin. Ob Ren Dhark jemals zu einer solchen Form der Selbstverleugnung fähig wäre, wollte Huxley lieber nicht wissen. Denn so ähnlich der Nogk und der Commander sich auch waren, so unterschiedlich werteten sie ihre Bedürfnisse. Dhark war ein emotional geprägter, ungestümer Aktivist, Charaua dagegen von Logik und Disziplin beherrscht. Sie mochten sich deshalb gut ergänzen – wenn es einen Vermittler gab, der ihre unterschiedlichen Ansprüche auf einen gemeinsamen Nenner brachte. Huxley fühlte sich als ein solcher Vermittler. Wie Charaua und Dhark sich ergänzten, ergänzten sich auch Terraner und Nogk. Eine Zusammenarbeit, wie sie beide Völker früher niemals kennengelernt hatten, bahnte sich an. Huxley empfand es als sehr bedauerlich, daß diese Zusammenarbeit sich erst jetzt effektiv und gewinnbringend anbahnte, da die Nogk in ihrem Exil außerhalb der Galaxis lebten. Zu weit waren sie voneinander getrennt. Aber für die Nogk gab es keinen Weg zurück. Die Störungen des galaktischen Magnetfelds, die kosmischen Stürme, bedrohten ihre Existenz. Und nun – diese neue Bedrohung. Jener weiße Hyperraumblitz... Huxley fühlte sich hin- und hergerissen. Am liebsten wäre auch er zurück in die Milchstraße geflogen. Aber jetzt, in diesen schweren Stunden, war sein Platz auf Reet. Bei seinen Freunden, den Nogk. Er war es ihnen schuldig. Er mußte hier Präsenz zeigen. Und
er mußte nicht nur, er wollte auch. Vertrauen gegen Vertrauen. Außerdem – vielleicht würde er ihnen erklären müssen, warum Ren Dhark, der Herrscher Terras, viele von Huxleys Männern mit zurück in die Sterneninsel genommen hatte. Natürlich waren es nicht Raumfahrer, die Huxley unterstellt waren – aber sie waren mit ihm hierhergekommen. Major Crook mit seiner Mannschaft. Crook, ebenfalls ein Absolvent der legendären Kallisto-Akademie. Normalerweise hatte Crook ein eigenes Kommando, flog ein Werkstattschiff der TF, die JAPETUS. Aber Huxley hatte beim Stab der TF darauf gedrungen, daß Crook und eine erlesene Auswahl seiner Leute mit ihm zu den Nogk kamen. Jetzt nahm Ren Dhark diese Männer und Frauen wieder mit zurück in die Galaxis. Es sah so aus, als würden sie dort eher gebraucht als im Corr-System. Wenn es auf Terra und den Kolonialwelten ähnlich aussah wie auf Reet, dann wurde jede Hand gebraucht. Und vielleicht auch im Weltraum, bei lahmgelegten Raumschiffen... Huxley war weder Hellseher noch Prophet. Aber er verfügte über eine seltsame Parafähigkeit, von der außer ihm selbst nur Charaua wußte. Hin und wieder konnte Huxley Dinge sehen, die geschehen würden oder geschahen. So hatte er auch gesehen, daß die Nogk hier im Exspect im Bereich der Sonne Corr – »Lebensspenderin« bedeutete dieser Name in Angloter – eine neue Heimat finden würden. Er hatte Charaua daran hindern können, selbst tiefer ins Exspect vorzustoßen und dabei den Tod zu finden. Auch früher hatte es schon Dinge gegeben, die Huxley sah. Über die er zu niemandem sprach. Das war seine ganz private Sache. Und jetzt glaubte er Raumschiffe zu sehen, die durch das Nichts trieben. Ohne Energie, tot, mit toten Besatzungen. Toten terranischen Besatzungen.
Deshalb hatte er nicht widersprochen, als Dhark ihm Major Crook und seine Leute wieder entzog. Die Nogk waren durchaus in der Lage, sich selbst zu helfen. Und Weltraumveteranen wie Crook und seine Crew konnten in der Milchstraße möglicherweise besser helfen. Vor allem Crooks JAPETUS war für solche Bergungs- und Rettungsunternehmen bestens ausgestattet. Niemand wußte das besser als Huxley. Er hatte sämtliche Unterlagen über den bislang berühmtesten Einsatz Crooks studiert, bei dem der damals die Besatzung des von den Robonen sabotierten Experimentalraumers GlNOK gerettet hatte... Allerdings war die CHARR nun wieder dramatisch unterbesetzt. Huxley hatte jetzt nur noch die Crew seiner alten FO-I zur Verfügung. Abgesehen davon, daß das alte Forschungsschiff ja auch nicht vollautomatisch fliegen konnte, verlor sich die Mannschaft in dem riesigen Ellipsenraumer völlig. Allein deshalb hatte Huxley seinerzeit Crook und seine Leute angefordert. Solche Raumschiffe ließen sich von nur einer Handvoll Besatzungsmitglieder nicht optimal bedienen. Aber nicht nur Crook, auch Clark vermißte er. Der alte Haudegen war vom gleichen Schlag wie Huxley. Sie hatten so manche Schlacht gemeinsam geschlagen – im Weltraum, an der Akademie, in den Raumhafenbars und in den sonstigen Amüsierbetrieben. Mit jeder Sekunde entfernten sich Clark, Crook, Dhark und auch Szardak weiter von Reet. Die beiden ungleichen Ringraumer waren nur noch winzige Punkte am violetten Himmel. Entzogen sich dem Blick des Colonels schließlich endgültig. Huxley widerstand der Versuchung, die Ortungszentrale seiner CHARR aufzusuchen und die beiden Raumer mit den Ortungssystemen weiter verfolgen zu lassen, bis sie endgültig außer Reichweite gerieten. Er beneidete die Besatzungen nicht; sie flogen in eine
Galaxis heim, von der sie nicht einmal ahnen konnten, wie es dort jetzt aussah. Denn durch die Störungen im galaktischen Magnetfeld war ein Hyperfunkkontakt derzeit einfach illusorisch – selbst wenn man mit einem der superstarken Nogk-Sender ERRON-1 oder die außerordentlich leistungsfähige Funkstation der Mysterious auf Planet 1 im Zwitt-System in der Sternenbrücke hätte erreichen und von dort aus Antwort bekommen können. Hier im Corr-System wußte wenigstens jeder von ihnen, wie groß die Katastrophe war... Schulterzuckend wandte Huxley sich ab und gesellte sich zu seinen Freunden, den Nogk. Es gab eine Menge zu tun. * Janos Szardak war Pilot der POINT OF; er hatte darum gebeten, während seines Gastaufenthalts im Ringraumer in den Dienstablauf eingebunden zu werden, und Falluta und Bebir waren die letzten, die dagegen etwas einzuwenden gehabt hätten, verschaffte ihnen Szardaks Wunsch doch eine etwas längere Freiwache. Und Szardak fühlte sich in die alten Zeiten zurückversetzt, als er noch als 2. Offizier zur Stammbesatzung gehörte. Er genoß den Blick in die Bildkugel, die über dem Instrumentenpult schwebte und den umgebenden Raum zeigte. So etwas gab es selbst in den S-Kreuzern nicht. Da existierten nur Monitore. Überhaupt war die POINT OF allen anderen Ringraumern der Mysterious-Flotte weit überlegen. Zumindest in diesem Punkt schienen die Salter den Terranern nichts vorgeschwindelt zu haben; das Flaggschiff der TF war die absolute Krönung des Raumschiffsbaus der Mysterious. Ren Dhark trat hinter den Pilotensitz, den er so gern selbst nutzte. Ein kurzer mentaler Befehl an die Gedankensteuerung,
und sie zeigte Reet, wie es langsam kleiner wurde und in der Ferne verschwand. Ren fragte sich, wie schnell die Nogk die gewünschte Para-Abschirmung entwickeln würden. Angesichts der ungeheuren Schnelligkeit, die dieses Volk bei allen Arbeiten an den Tag legte, konnte es sicher nicht sehr lange dauern. Charaua hatte zugesagt, daß die Arbeit an diesem Projekt trotz der momentanen Probleme unverzüglich begonnen würde. Ren schaltete die Bildkugel mit einem weiteren Gedankenbefehl wieder auf die vorherige Wiedergabe zurück. »Wir werden auf Transitionen verzichten und die Distanz per Sternensog zurücklegen«, sagte er. Szardak lehnte sich zurück und hob den Kopf, neigte ihn so weit nach hinten, daß er den Commander der Planeten gerade noch sehen konnte. »Begründung, Ren?« So konnte auch nur auf der POINT OF gefragt werden. Auf jedem anderen Schiff der TF hätte es dafür einen Verweis gegeben, aber im Flaggschiff herrschten eben andere Sitten. »Ein Grund ist das Exspect«, erwiderte Dhark. »Ich möchte vermeiden, daß wir in eine jener Zonen geraten, die uns die Energie aus dem Antrieb saugt. Der zweite Grund sind die Schatten. Sie könnten die Strukturerschütterungen anmessen.« »Das ist ein Argument«, gestand Szardak zu. Wenn die POINT OF mit Sternensog flog, verließ sie das Raum-Zeit-Gefüge nicht und konnte dadurch auch keine anmeßbare Strukturerschütterung hervorrufen, wie sie bei Transitionen unweigerlich auftraten. Dasselbe galt für die EUROPA, die zwar ein terranischer Eigenbau, aber mit drei MTriebwerken ausgestattet war. Zwei alleinfliegende Ringraumer mochten für die Schatten eine leichte Beute sein; Dhark war nicht sicher, ob trotz aller technischer Überlegenheit die POINT OF wirklich eine Chance hatte, wenn ihnen eine der unsichtbaren Riesenstationen den Weg verlegte. Und selbst wenn die EUROPA mit ihrem aus
Tofirit geschmiedeten Druckkörper sogar noch stabiler war als das Unitall der POINT OF, konnten die Trefferschocks mit ihrer kinetischen Wirkung trotzdem im Inneren alles kurz und klein schlagen, sobald das Intervallfeld unter dem Beschuß der Schatten zusammenbrach. Daß dieser künstliche Miniweltraum keinen absoluten Schutz darstellte, hatte sich bei den zurückliegenden Kämpfen oft genug gezeigt. Denn sonst hätte die TF nicht bereits so immens viele S-Kreuzer verloren. Und da waren stets größere Geschwader im Einsatz gewesen mit entsprechender Kampfkraft und der Möglichkeit, sich gegenseitig zu decken und zu unterstützen. Aber wer nicht geortet wurde, wurde auch nicht angegriffen. Die Chancen dafür waren hoch – so eine Ortungsstrecke wie damals zwischen Terra und Hope, wo die POINT OF selbst im Überlichtflug immer wieder angepeilt und angegriffen worden war, von den unterschiedlichsten Rassen, die sich trotz teilweiser Verfeindung in diesem speziellen Fall zusammengeschlossen hatten mit dem Ziel, den Ringraumer zu vernichten – eine solche Ortungsstrecke würde es hier mit ziemlicher Sicherheit nicht geben. Denn zaubern konnten die Schatten auch nicht, und daß draußen im Exspect mit dem Corr-System und den dort lebenden Nogk ein lohnendes Ziel existierte, hatten sie noch nicht herausgefunden. Und sie sollten es möglichst auch nicht herausfinden. Auch deshalb galt es, Transitionen einzuschränken. Deshalb erfolgten ja auch nur so wenige Flüge nach Corr und wieder zurück... »Wie willst du das machen?« fragte Dan Riker, der sich neben seinen Freund gesellt hat. Ein etwas gereizter Unterton klang in seiner Stimme mit, und Ren fragte sich, ob das an der Auseinandersetzung mit Arc Doorn lag. Ren hatte versucht, den Streit zwischen den beiden zu schlichten, und oberflächlich betrachtet schien auch Ruhe eingekehrt zu sein. Aber es war
ziemlich klar, daß der Groll nur schlummerte. Vielleicht richtete er sich sogar unterschwellig gegen den Schlichter... Ren sah seinen Freund fragend an. »Ja, nun!« kam dieser. »Wie lange sollen wir unterwegs sein? Dreihunderttausend Lichtjahre trennen uns von der Milchstraße! Schau sie dir an!« Er wies auf die Bildkugel, die die heimatliche Sterneninsel als leuchtende Spirale in der Schwärze des intergalaktischen Raumes zeigte. Spielzeughaft klein in der Wiedergabe, und auch auf Reet und Kraat war sie am Nachthimmel winzig erschienen – als eine Galaxis unter vielen, nur eben die noch am nächsten gelegene; Andromeda mit ihren vorgelagerten Zwerggalaxien war noch kleiner, aber schon deutlich zu erkennen. »Dreihunderttausend Lichtjahre«, wiederholte Dan. »Die Milchstraße selbst durchmißt nur hunderttausend! Und selbst da waren wir schon Ewigkeiten unterwegs, um gerade mal fünf- oder zehntausend Lichtjahre zurückzulegen! Wir werden mit dem Sternensog Monate brauchen, um heimzukehren. Ich denke, daß das einigen Leuten an Bord gar nicht gefallen wird.« »Meinst du Arc Doorn?« fragte Ren ruhig. Riker schnappte nach Luft. »Davon rede ich jetzt nicht!« fuhr er auf. »Sondern von der allgemeinen Situation! Dieser weiße Hyperraumblitz... der ist in nahezu Nullzeit über diese gewaltige Distanz gekommen. Wenn ich mir anschaue, was er im Corr-System ausgelöst hat... er dürfte auch in der Galaxis eine Menge Schaden angerichtet haben. Und diese Probleme existieren jetzt, Ren! Nicht erst in ein paar Monaten! Deshalb müssen wir so schnell wie möglich zurück!« Janos Szardak wies auf die Darstellung der Milchstraße in der Bildkugel und dann mit dem Daumen über seine Schulter nach rückwärts. »Mal eine ganz akademische Frage«, warf er ein. »Dieser
Blitz, oder was auch immer das war, dürfte ja weiter in den intergalaktischen Raum gezuckt sein. Was, wenn er Andromeda erreicht? Da wird’s ja wohl auch intelligentes Leben geben...« »Im Gegensatz zu unserer Galaxis«, bemerkte Wer Dro Cimc im Hintergrund sarkastisch. »Was heißt hier auch? Vielleicht nur dort...« Riker sah ihn zornig an. »Ziehen Sie es bitte nicht ins Lächerliche, Cimc!« Der Tel grinste ihn freundlich an. »Vielleicht verläuft sich die zerstörerische Energie im Exspect«, überlegte er ernsthaft. »Dann erreicht sie die andere Galaxis gar nicht mehr. Außerdem dürfte die Feldstärke des Blitzes – wenn wir ihn mal so nennen wollen – exponential abnehmen, je weiter er sich ausdehnt. Andromeda hat vermutlich nur noch einen leichten Magnetsturm erlebt. Falls überhaupt.« »Hm«, brummte Szardak. »Wenn dem so wäre und die Nogk schon einen Haufen Probleme bekamen, nachdem diese Blitzenergie nur dreihunderttausend Lichtjahre weit durchs Exspect gewirkt hat, was muß diese Kraft dann erst bei uns angerichtet haben?« »Ein Grund mehr, daß wir so schnell wie möglich heimkehren!« drängte Riker. »Mit ein paar Transitionen! Oder mit einer einzigen, die weit genug führt...« Dhark schüttelte den Kopf. »Zu riskant, Dan. Der Rematerialisierungspunkt läßt sich über diese große Distanz nicht eindeutig bestimmen, der Streufaktor ist zu groß.« »Der Checkmaster...« »... ist auch kein Wunderknabe, der Unmögliches schafft!« unterbrach ihn der Commander fast ein wenig zu schroff. »Und deshalb dürfen wir deiner Ansicht nach nun nach Hause schleichen?« Es war Riker anzusehen, daß er noch einiges mehr sagen
wollte, aber darauf verzichtete, weil er seinen Freund nicht vor der Mannschaft kompromittieren wollte. Er war so weit gegangen, wie er konnte – Auseinandersetzungen dieser Art hatte es auch früher schon gegeben, aber nichts, was darüber hinausging. Ren konnte sehen, wie es in Dan förmlich kochte. »Wir schleichen nicht«, sagte er. »Wir rasen. Ich habe da eine Idee.« »Laß hören!« bellte Riker. »Der Checkmaster wird die Koordination übernehmen...« »Der Checkmaster, der kein Wunderknabe ist, der Unmögliches schafft«, konterte Dan beißend ironisch. Stirnrunzelnd sah Dhark ihn an. »Ja«, sagte er. »Sonst noch prophylaktische Einwände?« »Nach deiner Vorlesung!« blieb Dan ihm nichts schuldig. »Und dann werden sie galaktisch sein.« Dhark holte tief Luft – und blieb ruhig. Szardak hob die Brauen. Auf der Galerie spitzten einige Offiziere längst die Ohren. Bei einer früheren Auseinandersetzung, die nicht einmal ganz so aggressiv wie jetzt abgelaufen war, hatte Dhark seinen Freund der Zentrale verwiesen. Damals war die Aggression von Dhark ausgegangen; diesmal kam sie von Riker. »Wir werden«, sagte der Commander ruhig, »mit Maximalwerten beschleunigen. Und diese Beschleunigung wird nicht gestoppt, ehe wir die Hälfte der Distanz zurückgelegt haben. Ab Mitte wird dann mit den gleichen Werten abgebremst. Also Vollgas bis zur Mitte und Vollbremsung danach, um es mal so vereinfacht auszudrücken, daß es selbst hochrangige Politiker des vergangenen Jahrtausends verstanden hätten.« »Aber noch nicht der Kluis«, bemerkte Cimc so sarkastisch wie unbemerkt im Hintergrund.
Dan Riker schüttelte langsam den Kopf. An seinem Kinn war ein roter Reck erschienen; ein deutliches Zeichen für seine innere Erregung. »Verrückt«, sagte er leise. »Volle Beschleunigung, wie? Diese hochrangigen Politiker hätten das ›Bleifußfahren‹ genannt. Hast du wenigstens eine Vorstellung davon, was uns das an Energie kosten wird?« Dhark runzelte die Stirn. »Das hier sind die POINT OF und die EUROPA, nicht Beuteraumer der Giants, deren Energieerzeuger irgendwann ausbrennen und sie zu ›Wegwerf-Raumern‹ machen!« »Hast du vergessen, daß auch die POINT OF-Konverter schon mal ertobit wurden?« erinnerte Riker ihn. »Und das ist noch gar nicht sehr lange her! Zuerst hat es uns doch auch draußen im Leerraum außerhalb der Galaxis erwischt, und später dann in der Milchstraße, und wer weiß, wie es aussähe, wenn uns damals jener Raumer aus der Robotflotte nicht mit neuer Energie versorgt hätte...« »Wir können uns jederzeit auf Babylon Ersatz für ertobite Konverter beschaffen«, sagte Dhark. »Was ja auch schon geschehen ist. Das Energieproblem sehe ich in diesem Fall als zweitrangig an.« »Trotzdem ist es ein Risiko«, beharrte Riker. »Transitionen verbrauchen weniger Energie als Überlichtflüge im Normalraum. Ich weiß nicht, welches Supertempo wir erreichen können – aber was, wenn uns ein Hindernis erwischt? Wenn da etwas ist, an dem wir und die anderen bisher vorbeigesprungen sind, aber im linearen Überlichtflug knallen wir genau hinein?« »Intervallfelder, Dan...« sagte Dhark leise. »Die sind so wenig Universallösung wie der Checkmaster der Wunderknabe ist!« konterte Riker. »Ich bin dagegen, Ren. Laß uns zwei oder drei weitreichende Transitionen durchführen. Das geht schnell und...«
»Der deutsche Schriftsteller Hanns Kneifel hat in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einmal formuliert: Diskussion ist die beste Möglichkeit, andere in ihren Irrtümern zu bestätigen«, unterbrach ihn der Commander. »Das gilt wohl für beide Seiten gleichermaßen. Wir werden es versuchen. Wir beschleunigen unaufhörlich maximal, und ab hundertfünfzigtausend Lichtjahren zurückgelegter Strecke wird mit den gleichen Werten verzögert.« »Ich liebe diese Art von Diskussionen«, murrte Riker. »Aber gut. Wenn du meinst... aber wenn wir in einem Monat noch irgendwo im Leerraum hängen, kannst du sicher sein, daß ich eine Meuterei anzettele.« Dhark grinste. »Meuterer werden aufgehängt – alte Regel der christlichen Seefahrt.« Riker grinste zurück. »Und starrsinnige Kapitäne werden Haifischfutter – alte Regel der unchristlichen Piraterie. Okay, versuchen wir’s. Aber ich erlaube mir, nach wie vor nichts davon zu halten!« * Der Checkmaster koordinierte den Flug. Er berechnete die Energiewerte, mit denen die beiden Schiffe beschleunigen mußten, um einen Synchronflug zu erzielen. Da die EUROPA im Gegensatz zur POINT OF mit gleich drei M-Triebwerken ausgestattet war, andererseits das spezifische Gewicht des Tofirits um den Faktor 16,9 höher lag – Tofirit also fast I7mal schwerer war als das Unitall, aus dem die Mysterious ihre Raumer gebaut hatten – und dabei auch noch annähernd doppelt so große Abmessungen besaß wie die POINT OF, hatte letztere eindeutig das bessere Beschleunigungsvermögen. Die POINT OF mußte also den Werten der EUROPA angeglichen werden. Wenn die beiden Raumer während des Fluges stets
beisammenbleiben sollten, konnte die POINT OF ihre maximale Leistung nicht ausspielen. Das langsamere Raumschiff bestimmte das Tempo. Die Suprasensoren in der EUROPA wurden mit den vom Checkmaster errechneten Daten bestückt. Dann gab Ren Dhark den Startbefehl. Noch im Bereich des Spannungsfeldes der Sonne Corr setzte die rasante Beschleunigung ein. Der Sternensog kam und jagte die beiden Ringraumer dem Exspect entgegen. Von einem Moment zum anderen überschritten sie die Lichtgeschwindigkeit. Die Anzeigen waren normal. Eine Beschleunigung dieser Stärke war normal. Nicht normal war, daß sie unverändert anhalten sollte. Bisher hatte noch niemand versucht, die Höchstgeschwindigkeit der POINT OF auszutesten. Bei Flügen innerhalb der Galaxis lohnte sich das nicht. Zu riskant war es, wie Riker zu Recht gewarnt hatte, auf einen im Kurs stehenden Körper zu treffen, sei es ein Planet oder eine Sonne – oder in eine Dunkelwolke oder einen Raumsektor zu geraten, in dem geradezu abstruse astrophysikalische Zustände herrschten. Je höher die Fluggeschwindigkeit, desto problematischer wurde es, solche Zonen rechtzeitig zu erkennen. Und – wer flog schon noch längere Strecken mit Überlicht, wenn er die Möglichkeit zur Transition besaß und damit riesige Distanzen praktisch ohne Zeitverlust zurücklegen konnte? Der einzige Verlust, der auftrat, waren dann Beschleunigungs- und Bremszeiten bis zum Erreichen der Eintauchgeschwindigkeit in den Hyperraum; je nach Raumschiff und Antriebssystem mußte der Raumer zunächst zwischen 35 bis 70 Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreicht haben, um in Transition gehen zu können. Der Sternensog dagegen brachte einen Ringraumer im Moment der Aktivierung bereits auf Überlichtgeschwindigkeit
und ließ ihn dann rasch schneller werden. Noch schenkte Ren Dhark den Anzeigen der Instrumente wenig Beachtung. Noch hatte der Ringraumer die bisher erzielte Höchstgeschwindigkeit längst nicht erreicht. Das konnte Stunden dauern. Wichtiger war, wie es im Triebwerksraum aussah. Hielt die Technik dieser Dauerbeanspruchung stand? Oder kam es irgendwann zu einer Überlastung, und zeigte die phantastische M-Technik dann, daß sie trotzdem ihre Grenzen hatte? Auch was sich in der EUROPA abspielte, war für Ren Dhark von gesteigertem Interesse. Der To-Raumer war solchen Anforderungen ans Material bisher noch nicht ausgesetzt gewesen. »Grappa?« Der hatte nichts Beunruhigendes zu melden. Mit seinen Ortungssystemen tastete er nicht nur den umgebenden Weltraum ab, sondern immer wieder auch die EUROPA. Begeisterung über Dharks Entscheidung, das Exspect mit Sternensog zu durchfliegen, herrschte in der Astroabteilung. Die Astrophysiker Pal Hertog, Hu Dao By, Ken Wask und Plishi rieben sich die Hände, weil sie hofften, beim direkten Durchflug der spannungsarmen Zone jede Menge neuer Erkenntnisse über das Spannungsfeld der Galaxis zu erhalten. Kontinuumsexperte H. C. Vandekamp warnte vor übertriebenen Hoffnungen und wies darauf hin, daß hier ein weites Forschungsfeld wartete, das Hunderten oder Tausenden von Wissenschaftlern über Jahre und Jahrzehnte Arbeit verschaffen würde. »Wir müssen Forschungsstationen im Randbereich des Exspect installieren, oder auch bereits in der spannungsarmen Zone selbst, möglichst gut abgesichert. Die Hyperraumtechnologie der Mysterious könnte uns dabei helfen. Wir müssen sie nur erst mal besser verstehen und anwenden können. Wir müssen...«
»Dazu erst einmal die Bedrohung durch die Schatten ausschalten«, versuchte Hertog ihn von seiner Traumwolke wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. »Solange es die gibt, besteht die Gefahr, daß sie unsere Forschungsstationen schneller abschießen, als wir sie einrichten können. Begnügen wir uns erst einmal mit dem, was wir während des Fluges an Daten und Fakten sammeln können.« »Das ergibt schon Material genug, daß wir bestimmt ein Jahr lang mit der Auswertung zu tun haben«, lächelte Hu Dao By. »Und den Ruhm ernten wir sowieso, weil wir die ersten sind, die eine Chance bekommen, sich mit dem Exspect auseinanderzusetzen.« »Einmal abgesehen von den Kollegen in der FO-I«, brummte Ken Wask. »Ich gehe mal in die Zentrale«, beschloß Hertog. »Dhark muß genehmigen, daß wir nicht nur unsere Meßinstrumente, sondern auch die Möglichkeiten der Ortung nutzen können. Vielleicht können wir sogar mit ein paar Flash hinaus und Messungen neben unserer Flugroute vornehmen...« Hu wiegte zweifelnd den Kopf. »Der Commander wird dem nicht zustimmen.« Er war ein guter Prophet. »Die Ortungen der POINT OF stehen der Astroabteilung nicht zur Verfügung«, stellte er klar. »Aus sicherheitstechnischen Gründen. Falls Schattenstationen auftauchen, können wir nicht erst abwarten, bis Ihre wissenschaftlichen Scan-Programme abgelaufen sind, sondern brauchen die volle Kapazität der Ortungssysteme sofort. Und Ausflüge mit den Flash können Sie auch vergessen, Pal. Zu riskant – weniger der Schatten wegen, sondern weil wir sie bei unserem rasenden Flug zu leicht verlieren könnten. Wir wissen nicht, ob die Antriebe der Flash bei der unaufhörlichen Beschleunigung der POINT OF mithalten können. Immerhin
sind sie wesentlich kleiner dimensioniert.« »Commander, wir haben hier eine einmalige Gelegenheit...« begann Hertog erneut, aber Ren unterbrach ihn. »Es wird bessere Gelegenheiten geben – später einmal. Sie haben ein vielfältiges Instrumentarium zur Verfügung. Nutzen Sie es. Sie bekommen auch vollen Zugriff auf den Checkmaster – außer im Fall eines Angriffs auf uns. In dem Fall werden Ihre Rechnerprogramme ohne Vorwarnung abgeschaltet; damit werden Sie also rechnen müssen.« »Ja«, brummte Hertog. »Wie in den alten Zeiten, als wir von Hope aus die Erde suchten...« Ren lächelte. »Genau. Und vergessen Sie bei aller Begeisterung für Ihr Fachgebiet nie, daß wir kein Forschungsraumer sind.« Der Astrophysiker verzog das Gesicht. »Vielleicht sollte ich mich versetzen lassen. Nur... nicht auf so einen Kahn wie die FO-XXIX... Dhark – nein, Riker«, wandte er sich an den neben dem Commander stehenden Flottenchef. »Wie wäre es damit, verstärkt S-Kreuzer zu Forschungsraumern zu erklären und umzurüsten?« Der schwarzhaarige Mann lachte leise auf und machte mit den Fingern der linken Hand die Geste des Geldzählens. »Bei unserem schwindsüchtigen Staatshaushalt? Wer soll die Ausstattung finanzieren? Unser Finanzminister würde mich eigenhändig umbringen.« »Aber das Geld käme doch aus dem Forschungsetat, nicht dem des Militärs.« »Der Wissenschaftsminister wird mich festhalten, während der Finanzminister mich eigenhändig umbringt«, erweiterte Riker seine Vorstellung. »Aber Sie können ja gern im Ministerium einen Antrag stellen. Den unterschreibe ich sogar mit!« »Anträge«, murrte Hertog. »Formulare. Papierkrieg. Verflixt, sieht denn kein Mensch, was hier draußen für Schätze
vor uns liegen? Wissen ist unbezahlbar...« »Deshalb bezahlt’s auch keiner, Pal«, sagte Riker. »Schöpfen Sie das aus, was Sie haben, und machen Sie das Beste draus.« Hertog verließ die Zentrale. Ren Dhark warf einen Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige. Die Zahlensymbole der Mysterious veränderten sich rapide. Aber ihre Farbe blieb gleich. Kein Grund zur Besorgnis. Der Ringraumer hielt die Beschleunigungswerte aus. Noch...
11. Marschall Bulton war wieder einmal persönlich von Cent Field herübergekommen nach Alamo Gordo, um seinem Anliegen Nachdruck zu verschaffen. In Henner Trawisheims Büro fand er Bernd Eylers vor, den Chef der Galaktischen Sicherheitsorganisation. Der grinste ihn an. »Sind Sie auch hier, weil Sie Geld wollen, Bulton?« Der Polterkopf Bulton, der sich gerade im A-Gravlift noch seine Donnerwetter-Rede zurechtgelegt hatte, schnappte nach Luft. Verdutzt starrte er Eylers an. »Wieso auch?« »Weil unser Finanzminister angesichts der derzeitigen Krise seine ganz persönliche Krise bekam und mit einer Haushaltssperre gedroht hat! Nur ist dann keine vernünftige Arbeit meines Ressorts mehr möglich. Allein die letzten Robonenaktivitäten haben uns Unsummen gekostet.« »Weil Ihre Agenten, allen voran dieser famose Jos van Haag, Unsummen an Schmiergeldern an Informanten und ähnliche Betrüger verschleudern! Trawisheim«, wandte er sich an den Stellvertreter des Commanders, »das Evakuierungsprogramm kann vorerst nicht wieder aufgenommen werden. Ich...« Der Marschall verstand nicht, wieso Eylers schallend auflachte. »Wieso?« echote der GSO-Chef. »Weil eben noch der Finanzminister forderte, eben dieses Programm noch weiter zu forcieren. Damit mehr Geld in die Staatskasse fließt! Sie wissen doch, daß jeder Auswanderer eine Gebühr zu zahlen hat, und Minister Lamont rechnet mit zusätzlichen Milliarden, wenn zusätzliche Raumer eingesetzt werden können.« »Können sie aber nicht!« konterte Bulton frostig. »Ist der
Minister noch im Haus?« »Gar nicht gewesen. Er bemühte von seinem Büro in WorldCity aus das Vipho«, sagte Eylers spöttisch. »Weil das billiger kam als ein persönlicher Besuch per Jett oder Transmitter. Lamont will selbst mit leuchtendem Bleistift – sorry, Beispiel vorangehen.« »Lobenswert, aber übertrieben«, bemerkte Trawisheim. »Denn auf die paar Dollar kommt es bei unserem Finanzloch nun auch nicht mehr an. Sie können den Minister aber gern zurückrufen und ihm Ihre Ansicht verdeutlichen, Marschall.« Der Vizechef der TF schüttelte energisch den Kopf. »Sie haben dafür die passenderen Wörter parat, Trawisheim. Ich würde mich vielleicht zu sehr im Ton vergreifen und den Mann ein inkompetentes Ar...« »Stop!« warnte Trawisheim. »Sagen Sie lieber Stoffwechselendproduktausscheidungsöffnung, aber das wird dem Minister nicht gerecht. Er ist erstklassig in seinem Fach und besser als sein Vorgänger, der dem Commander ja schon den Kram vor die Füße geworfen hat, als das Loch in der Staatskasse noch ein Viertel kleiner war. Jetzt aber, durch die Blackout-Katastrophe, kommt noch viel mehr auf uns zu. Wissen Sie, daß wir eigentlich bankrott sind?« Bulton stutzte. »Eine Staatsregierung kann überhaupt nicht bankrott gehen. Anleihen und...« »Auch die Banken, die die Staatskredite finanzieren, sind keine Dukatenscheißer mit endloser Kapazität«, unterbrach ihn Trawisheim. »Der Kreditrahmen kann nicht mehr ausgeweitet werden, weil keine Mittel mehr verfügbar sind. Das gesamte Kreditwesen kommt bereits zum Erliegen, sowohl das private als auch das der Wirtschaft, weil nichts mehr da ist. Unsere Gesamtverschuldung ist mittlerweile fünfmal höher als das Bruttoweltprodukt, und die Katastrophe reißt weitere Löcher, weil staatliche Mittel eingesetzt werden müssen. Es gibt Rechtsansprüche, und es gibt auch moralische
Verpflichtungen.« »Moralische? Seit wann handeln Regierungen moralisch, wenn’s ums Geld geht?« Bulton schüttelte den Kopf. »Diese Regierung tut es«, erwiderte Trawisheim scharf. »Man kann uns eine Menge vorwerfen...« »Tut man auch«, warf Eylers ein. »Die Art, wie die Evakuierung nach Babylon angelaufen ist und bisher durchgeführt wurde, hat bei einer Menge Leute Zähneknirschen hervorgerufen. Es gibt Demonstrationen und Proteste. In den Medien wurde uns sogar schon vorgeworfen, wir wären keinen Deut besser als die Giants, die damals die stumpfsinnig gemachten Menschen massenhaft nach Robon transportierten, um sie dort zu dem zu machen, was sie heute sind.« »Da wundert’s mich doch schon, daß ausgerechnet die Robonen dieses Thema aufgreifen und gegen uns einsetzen«, sagte Trawisheim. »Nicht nur Robonen«, erwiderte Eylers. »Die schlachten das Thema nur zusätzlich aus, weil sie genau wissen, wie sensibel die Menschen in diesem Punkt sind. Die Unruhen kommen von den Menschen selbst, von den Terranern, die fürchten, um ihr Hab und Gut betrogen zu werden. Entwurzelt zu werden. Abgeschoben zu werden auf einen fernen Planeten, weit, weit weg von der Erde und bald von der Erde vergessen... Diese Ängste werden von den Robonen nur geschürt. Trawisheim, das Projekt ›Menschen zu den Sternen‹ haben wir völlig falsch angepackt. Es ist mit zu heißer Nadel gestrickt worden. Ein schönes Schlagwort, aber dahinter steckt eine Katastrophe, die die Betroffenen bereits teilweise am Demokratieverständnis der Regierung zweifeln läßt.« »Die Menschheit muß dezentralisiert werden«, sagte Trawisheim. »Wir sehen doch, was jetzt gerade passiert ist. Erst der Angriff der Schatten, dann dieser weiße Blitz mit dem anschließenden Blackout... so etwas kann uns beim nächsten
Mal nicht nur dezimieren, sondern auslöschen! Dann gibt es wenigstens auf anderen Welten noch Menschen, die unserer Spezies als solcher das Weiterleben ermöglichen. Eylers, Bulton... ich habe das jüngste Zahlenwerk vorliegen.« Er las es nicht von einem Monitor ab, sondern hatte es im Kopf gespeichert. Wer nicht wußte, daß Henner Trawisheim der erste und wohl bis auf weiteres auch einzige Cyborg auf geistiger Basis war, konnte angesichts seiner Gedächtnisleistungen nur staunen. Er vergaß nichts, war in der Lage, bis zu zehn Viphogespräche zugleich zu führen und dabei auch noch Entscheidungen zu treffen und Entwürfe auszuarbeiten. Und nur in den seltensten Fällen zeigte er einen Hauch von Erschöpfung. »Wir haben allein 843 Millionen Verletzte zu versorgen und über 50 Millionen Tote zu bestatten. Die Zeit drängt, die Kapazitäten fehlen, müssen ausgeweitet werden, was Geld kostet. Kraftwerke müssen repariert werden, sind teilweise nicht einmal in der Lage, Strom zu liefern, der Nogk-Schirm um Terra muß wieder aufgebaut werden, Kurzschlüsse haben in der Industrie gewaltige Werte vernichtet. Und selbst wenn wir die Steuern drastisch erhöhen, hilft uns das allenfalls langfristig wieder auf die Beine. Aber das Geld brauchen wir jetzt. Abgesehen davon, daß sowohl Lamont als auch ich eine Steuererhöhung in dieser Situation vehement ablehnen. Wir können den Menschen nicht noch mehr abfordern. Sie geben schon mehr, als eigentlich gut für das Wirtschaftssystem ist, weil dadurch auch die Kaufkraft sinkt. Meine Herren, wir sind am Schlußpunkt angelangt, noch weiter abwärts geht es einfach nicht mehr. Noch ein paar Tage, und die Regierung wird ihre Zahlungsunfähigkeit erklären müssen. Können Sie sich vorstellen, was dann auf den Straßen los ist?« »Können Sie sich vorstellen, was im Weltraum los ist?« fragte Bulton leise. »Können Sie sich vorstellen, was die Frauen und Männer an
Bord von rund vierhundert S-Kreuzern denken? Die den Tod vor Augen haben, die schon in Raumanzügen stecken, weil sie die Kälte nicht mehr ertragen? Wissen Sie, daß Unitall der Weltraumkälte maximal acht Stunden widersteht? Danach ist es durchgekühlt, und das Frieren an Bord beginnt! Die Luftvorräte reichen länger, aber wie lange, läßt sich kaum abschätzen. Denn es funktioniert nichts mehr an Bord bis auf ein paar ganz simple Geräte. Aber Heizung, Lufterneuerung und Beleuchtung fressen Energie – und die wird einfach nicht mehr produziert. Die Speicherbänke entleeren sich rasant. Was noch arbeitet, sind die von uns installierten Suprasensoren, aber die können den Leuten auch nur ausrechnen, wie lange sie noch zu leben haben. Diese Menschen da draußen warten darauf, gerettet zu werden. Sie vertrauen uns, Trawisheim! Wir können sie nicht im Stich lassen. Und ich will und werde sie nicht im Stich lassen. Fest steht: Das Evakuierungsprogramm nach Babylon ist vorerst gestoppt! Ich brauche jeden Raumer – wirklich jeden – für die Rettungsaktion! Bestellen Sie Minister Lamont einen schönen Gruß von mir – er soll sich mal überlegen, wie er das Programm überhaupt noch durchziehen kann. Denn von der gigantischen S-Kreuzerflotte, die wir einmal hatten, ist praktisch nichts mehr übrig. Wir haben Rückmeldung von gerade mal 546 Raumern erhalten, die zum Zeitpunkt der Katastrophe eher zufällig ihre Intervallfelder eingeschaltet hatten und dadurch verschont blieben! Mehr nicht! Keine 550 Schiffe! Alle anderen, die Tausenden von Raumern, die wir größtenteils mangels Mannschaften und mangels Robotern noch nicht mal in Dienst stellen konnten, sind Schrott! Nur noch Schrott! Zum Abwracken! Braucht jemand ein paar Gigatonnen Unitall? Bitte, für Selbstabholer gratis...« Trawisheim wollte etwas sagen, aber Bulton kam ihm noch einmal zuvor. »Und diese fünfhundert Ringraumer, die wir noch haben, brauchen wir jetzt für die Rettung der anderen
Besatzungen – und danach, um Terra und die anderen Welten unseres Mini-Sternenreiches zu schützen! Von denen sieht unser Finanzminister keinen einzigen mehr, um Kolonisten in andere Sternsysteme zu bringen.« »Marschall, Sie werden einen Teil der Raumer abstellen müssen, weil Terra das Geld braucht.« »Und die Menschen da draußen brauchen unsere Hilfe!« brüllte Bulton ihn an. »Mann, begreifen Sie das nicht? Nein...« er wurde leiser. »Nein, Sie sind ja selbst kein Mensch mehr. Sie sind ein Monstrum, ein Cyborg, der streng nach Logik handelt und denkt und darüber das Menschliche vergessen hat!« »Sie sagten eben etwas von acht Stunden, bis die Weltraumkälte das Unitall durchdrungen hat. Die Zeit dürfte vorbei sein. Wie viele Raumer haben Sie inzwischen gefunden?« »Weiß ich nicht auswendig!« bellte der Marschall. »Ich hab’ kein Rechner-Implantat im Schädel wie Mister Trawisheim! Auf jeden Fall noch viel zu wenig. Und je mehr Zeit verloren geht, weil auf Anweisung der Sternverwaltung und irgendwelcher Schreibtischfuzzies aus den Ministerien Raumer blockiert werden, die ich brauche und die unter meinem Kommando stehen, desto mehr Menschen sterben im Weltraum!« »Wir können uns doch alle ausrechnen, wann der letzte erfroren sein wird«, sagte Trawisheim leise. »Selbst ohne Rechner-Implantat im Schädel.« »Und ich werde auch die Toten bergen lassen!« fuhr Bulton ihn an. »Das bin ich den Leuten schuldig, die mir vertrauen! Es sind meine Leute! Und wenn in einer Viertelstunde nicht jeder Raumer, der noch irgendwie flugfähig ist, freigegeben wird, werde ich die Regierung verklagen. Wegen Mordes an jedem Menschen, der noch hätte gerettet werden können, wenn nicht Ihre Schreibtischtäter die Fettfinger drauf gelegt hätten! Auf
dringenden Wunsch des Herrn Finanzministers, den der Teufel holen soll! Wenn er nicht bereit ist, jeden Preis für die Rettung von Menschenleben zu bezahlen – ich bin es, und ich werde es tun!« Eylers grinste freudlos. »Der Teufel hat noch keinen einzigen Finanzminister geholt. Der will doch nicht, daß die ihm auch noch Steuern abknöpfen, das wäre ja wirklich die Hölle!« Fassungslos starrte Bulton ihn an. »Soll das ein Scherz sein, oder was?« »Ja. Lachen Sie doch mal wieder. Das entspannt die Gesichtsmuskeln und beugt Faltenbildung vor.« »Der Spruch könnte von Bert Stranger kommen«, knurrte Bulton. »Kommen Sie mir nicht auch noch mit dem Mist. Trawisheim, in einer Viertelstunde habe ich wieder Verfügungsgewalt über jedes einzelne Raumschiff, oder Sie und Ihre ganze Sternverwaltung erleben den Ärger des Jahrtausends! Haben wir uns verstanden, stellvertretender Regierungschef?« Trawisheim sah ihn an, und eiskalt kam es über seine Lippen: »Stellvertretender Flottenchef, Sie haben meine Erlaubnis zu gehen! Falls Sie nicht wissen, wo die Tür ist, wird Mister Eylers sie Ihnen gern zeigen.« »Mister« Eylers hatte daran kein gesteigertes Interesse und ergriff plötzlich Bultons Partei. »Henner, ich bin nicht Ihr Dienstbote, sondern Chef der Abwehr. Und als solcher muß ich Ihnen sagen, daß Marschall Bulton recht hat, mit jedem einzelnen seiner Worte. Wenn die Flotte ihre eigenen Leute krepieren läßt, wird kein Mensch an Bord der Raumer noch für diese Regierung, für diese Welt kämpfen.« »Meuterei?« raunte Trawisheim. »Reden Sie von Meuterei?« »Die TF meutert nicht!« bellte Bulton, schon auf dem Weg zur Tür. »Aber die TF wird jedes rechtsstaatliche Mittel
ausschöpfen, um die Leute zur Rechenschaft zu ziehen, die hilflose Menschen im Weltraum sterben ließen! Ende der Diskussion!« Die Tür krachte hinter ihm ins Schloß. Unwillkürlich zuckte Trawisheim zusammen. »Man hätte damals elektrisch gesteuerte Türen einbauen sollen und nicht diesen nostalgischen Kram«, murmelte er. Ohne sich vorzubeugen, erreichte er eine Sensortaste. Eines der Viphos auf seiner Arbeitsplatte wurde aktiviert. »Weisung an den Stab der TF«, sagte Trawisheim. »Volle Verfügbarkeit über alle Raumer, die bisher dem Evakuierungsprojekt Babylon zugeteilt waren, ist gewährt. Das Evakuierungsprogramm wird bis auf weiteres gestoppt.« Er machte eine Kunstpause und fuhr dann fort: »In elf Minuten eine Viphoverbindung mit Minister Lamont.« Die Bestätigung wartete er nicht ab und wandte sich Eylers zu. »Sie haben’s gehört, ich habe jetzt elf Minuten Zeit für den Rest Ihrer Probleme.« »Damit will ich einen vielbeschäftigten Mann wie Sie jetzt nicht mehr belasten«, sagte Eylers gezwungen ruhig. »Zumal mich wundert, daß Sie Bulton nicht vom Dienst suspendiert haben, sondern seinem Drängen nachgaben. Warum haben Sie das nicht in seiner Gegenwart getan?« Er winkte ab, bevor Trawisheim antworten konnte. »Vergessen Sie die Frage. Nur eines hätte ich gern noch gewußt, aber da werde ich wohl eher Bulton fragen müssen. Gehört die POINT OF zu den Raumern, die eine Rückmeldung gefunkt haben, oder nicht?« Trawisheim blieb ruhig. »Von der POINT OF haben wir keine Rückmeldung. Wie auch? Dhark steckt doch bei den Nogk und hat vermutlich nicht die geringste Ahnung von dem, was hier passiert ist. Ich denke, da draußen im Exspect waren er und die anderen in Sicherheit...«
* Immer schneller wurde die POINT OF. Ren Dhark hatte sich im Sitz des Kopiloten niedergelassen. Leon Bebir, der 2. Offizier, hatte Szardak turnusgemäß im Kommando abgelöst, nur hatte er nicht das geringste zu tun, weil keine Änderung der Flugvorgabe stattfand. Hin und wieder fragten er oder Dhark im Maschinenraum nach. Miles Congollon oder Arc Doorn, wer auch immer sich gerade meldete, konnten nicht mehr berichten, als daß alles im normalen Bereich war. Einmal blendete Congollon die Energiekontrolle auf einen Monitor im Instrumentenpult der Zentrale. Ren sah die leuchtenden Quadrate, die nacheinander aufblinkten und erhöhte Energieabgabe signalisierten. Jedes einzelne Quadrat bedeutete eine Verdoppelung der erbrachten Leistung. Trotz der unaufhörlichen Beschleunigung war die letzte Reihe der Quadrate noch nicht gefüllt. »Doorn meint, wir könnten doppelt so viel Saft drauf geben. Klar, daß wir Rücksicht auf die EUROPA nehmen müssen... lahmer Kasten, das...« Noch vor ein paar Jahren hätte es Leute gegeben, die ihn für diese Bemerkung liebend gern gesteinigt hätten. Die EUROPA war immerhin die Krönung terranischen Raum Schiffsbaus. Dhark zupfte eine Zigarette aus der Packung, nahm sie zwischen die Lippen und setzte sie in Brand. »Wollen Sie denn gar nicht wissen, wie schnell wir sind, Miles?« »Sehe ich doch an meinen Instrumenten! Kennen Sie Ihr eigenes Schiff nicht mehr, Commander?« Und grinsend schaltete der Chief die Verbindung ab. Dhark grinste auch. Kennt ihr Terraner das Schiff, das ihr fliegt, eigentlich? hatten ihn damals die Utaren auf Esmaladan gefragt. Und jetzt
stellte Congollon eine ähnliche Frage, nur personalisiert. Ja, die POINT OF war sein Schiff. Ren fühlte sich mit dem Raumer so eng verbunden wie mit nichts anderem. Eleganz, Perfektion, unbändige Kraft und Omnipotenz. Das war es, was der Ringraumer für ihn bedeutete. »Distanz zum Corr-System? Distanz zur Galaxis?« Sie hatten noch nicht einmal die halbe Strecke zurückgelegt. Aber die Geschwindigkeit, die die beiden Ringraumer vorlegten, betrug schon mehr als das Milliardenfache der Lichtgeschwindigkeit, und die Beschleunigung wurde unverändert fortgesetzt. »Systemcheck«, murmelte Ren und hatte es zugleich als Gedankenbefehl formuliert. Der Checkmaster überspielte ihm die Werte auf sein Instrumentenpult. Die Belastung der Unitallhülle und der Aggregate hielt sich in Grenzen; es gab nirgendwo kritische Werte. Im Gegenteil – normaler konnten die Anzeigen auch bei einem Flug mit konstanter Niedriggeschwindigkeit nicht sein. »Funk-Z! Wie sieht’s in der EUROPA aus?« Dort war es auch nicht anders als in der POINT OF. Vielleicht sogar besser, weil das Tofirit mechanischen Belastungen noch besser standhielt als Unitall. Unwillkürlich fragte sich Ren, warum die Mysterious seinerzeit nicht ihre Raumschiffstechnik bereits auf Tofirit umgestellt hatten, sondern beim Kunstmetall Unitall blieben – immerhin hatten sie dieses rubinrote Schwermetall gekannt und auch verarbeitet. Auf Hope gab es auf Kontinent 4 eine Fundstätte, die bereits von den Mysterious erschlossen worden war. Die andere befand sich auf dem Planeten Jump und wurde von den Terranern zum Erzabbau nach wie vor bevorzugt; dort war man wenigstens vor Überraschungen sicher, mit denen die Mysterious-Technik immer noch aufwartete. »Astro... Exspect-Einflüsse auf das Schiff meßbar?«
»Negativ.« Dan Riker, links von seinem Freund sitzend, räusperte sich. »Du wirst doch wohl nicht etwa recht haben? Wenn es funktioniert, hätten wir vielleicht eine Möglichkeit, auch andere Galaxien zu erreichen – sofern die Energievorräte des Schiffes das erlauben.« »Zukunftsmusik«, murmelte Ren, aber in seinen Augen funkelte es seltsam. Dan kannte dieses Funkeln; er wußte, daß er etwas in Ren geweckt hatte, das schon lange schlummerte. Andere Galaxien... »Erst einmal werden wir uns aber um Drakhon kümmern müssen, und das erreichen wir, ohne das Exspect zu durchfliegen.« Es klang irgendwie nicht echt. Ren Dhark träumte von etwas ganz anderem... Und immer noch wurde die POINT OF exponential schneller. Dan sah seinen Freund aufmerksam von der Seite her an, beobachtete das Minenspiel. Irgendwie war Ren Dhark verdammt gut drauf... * Die Invasion der Giants hatte Istanbuls Schönheit nicht zerstören können. Zwar gab es die Bosporusbrücke nicht mehr, einst viertgrößte Hängebrücke der Welt und eine technische Meisterleistung, die schon vor Jahrhunderten geplant, aber erst 1973 fertiggestellt worden war; die Giants hatten sie aus heute noch unerklärlichen Motiven demontiert und auf ihrem »Schrottplaneten« gelagert. Auch die Bevölkerung war geschrumpft; Ende des vergangenen Jahrhunderts noch 5,5 Millionen Köpfe zählend, hatte sich die Einwohnerzahl durch die Invasion und ihre Folgen um über eine Million Menschen verringert. Nicht, daß es auf den ersten Blick jemandem aufgefallen
wäre, der durch Istanbuls Straßen schlenderte oder durch das Labyrinth schmaler Gassen mit den über 4.000 kleinen Läden, die den Basar bildeten. Es wimmelte von Menschen und Gerüchen, niedergelassene und fliegende Händler überschrieen sich gegenseitig, Käufer und Taschendiebe drängten sich um die Auslagen. Hier hatte man sich sehr schnell wieder von dem dreistündigen Blackout erholt. Das Leben ging weiter. Wo es zu Unfällen gekommen war, räumte man auf, wo das Stromnetz noch nicht wieder funktionierte, brannten Öllampen und Kerzen. Man improvisierte und arrangierte sich. Allah wird’s schon richten. Wer die Invasion mit ihrer jahrelangen Verdummungsphase überstanden hatte, der kam mit nur drei Stunden Katastrophe durchaus zurecht. Antigravfähren kreuzten bereits wieder über den Bosporus, um den europäischen und den asiatischen Teil der Stadt miteinander zu verbinden. Dazwischen altertümliche Wasserbusse und Motorboote der Fischer, die ihren Fang gleich in großen Kohlenpfannen an Bord zubereiteten und als »Fast Food« verkauften. Ömer Giray ließ sich vom Menschenstrom mittreiben. An einer Anlegestelle hatte er sich eine Mahlzeit gekauft, betrachtete abwechselnd die farbenprächtige Menschenmenge und die Silhouette der Stadt, die von den Minaretten der rund 500 Moscheen geprägt war, und fragte sich, warum Istanbul, die Perle Anatoliens am Goldenen Horn, ständig überfüllt wirkte, zu welcher Tages- und Nachtzeit auch immer, gleich ob in den Straßen, den Moscheen oder auf dem Wasser. Es schien, als befände sich kein einziger Mensch in seiner Wohnung, als seien sie alle zugleich und immer unterwegs. Schweber durchpflügten den Luftraum, Bodenfahrzeuge hupten sich durch die überfüllten Straßen, Boote und Schiffe hatten Mühe, einander auszuweichen. Flüche und Gebete erfüllten die Stadt. Hier und da gellte hin und wieder eine Sirene; schwer zu
unterscheiden, ob die eines Schiffes oder eines Rettungsschwebers. Dennoch lag ein Schatten über dem lebhaften und trotz der zurückliegenden Katastrophe oftmals fröhlichen Treiben. Diesen Schatten zu finden war Girays Job. Wer genau hinsah, erkannte, daß die Fröhlichkeit zum großen Teil nur gespielt war. Und je weiter der GSO-Agent vom Hafenbereich in die engen Gassen der Innenstadt kam, desto deutlicher wurde, daß Allah eben doch nicht alles richtete. Giray sah Menschen, die mutlos in den Trümmern zerstörter Häuser oder Fahrzeuge saßen, Verletzungen, die nur notdürftig behandelt worden waren. Er sah, wie Männer und Frauen in verbissener, harter Arbeit versuchten, andere Menschen zu bergen und zu versorgen. Die Rettungsschweber, die Ärzte – sie waren zu wenige. Und eines der großen Krankenhäuser war nur noch eine Trümmerwüste; der StratoJett einer Charterfluglinie war abgestürzt, als im Moment des Blackouts der Piloten auch die Sicherungen der automatischen Steuerung durchgeschmort waren. Bodenfahrzeuge hatten sich ineinander verkeilt oder waren an Hauswände geprallt, hatten Wohnungen beschädigt und Menschen verletzt oder getötet. Zwischen den Aufräumenden und den Trümmern und Wracks wanden sich jene Menschen und Fahrzeuge hindurch, die längst wieder ihren Geschäften nachgingen. Dabei störten sie die Arbeiten logischerweise... »Faßt mit an!« rief eine ältere Frau den vorbeiströmenden Menschen zu. »Faßt doch mit an, wir schaffen es nicht allein!« Giray blieb stehen, mit ihm zwei andere Männer. Die Frau und fünf weitere Personen waren damit beschäftigt, schwere Plastikbetonplatten beiseitezuräumen, die einmal eine Hausfassade gebildet hatten. Ein Frachtschweber hatte das Haus gerammt und teilweise zum Einsturz gebracht. Die Maschine war in den Trümmern restlos verkeilt. Und zwischen dem Transporter und den Wandplatten... ragte der zuckende
Arm eines Kindes hervor. Mit A-Gravtechnik wäre es kein Problem gewesen, die Trümmerstücke abzuheben und die Reste des Gebäudes zu stützen. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Auf eine Katastrophe wie diese war niemand vorbereitet gewesen. Die beiden anderen Männer faßten sofort mit zu. Giray überlegte. Er betrachtete den Schweber. Die Fahrerkabine war stark deformiert, aber die Tür sah noch einigermaßen erhalten aus. Hinter dem Kunstglas des Fensters sah Giray den zusammengesunkenen Körper des Fahrers. Warum hatte den noch niemand aus dem Schrott geholt? Augenblicke später wußte er es, als er versuchte, die Tür zu öffnen. Das Schloß blockierte. Irgendwie mußte die Verriegelung schadhaft sein und verhinderte, daß die Tür geöffnet werden konnte. Giray schüttelte den Kopf. Er stellte sich so, daß andere nicht erkennen konnten, was er tat, und benutzte ein Spezialinstrument. »Vergiß es«, rief ihm jemand zu. »Die Tür kannst du nur aufsprengen oder das Glas einschlagen! Laß es, dafür haben wir keine Zeit, und der Fahrer ist sowieso tot! Wir müssen das Kind...« Da klickte das Schloß; Giray hatte die Blockierung überbrückt und zog die Tür auf. Gleichzeitig ließ er das kleine Einbrecherwerkzeug aus den Beständen der GSO unbemerkt wieder in der Tasche verschwinden. »Wie hast du das geschafft?« staunte der gleiche Mann, der ihn eben noch davon abhalten wollte, sich mit dem Schweber zu befassen. »War doch ganz einfach«, brummte Giray. Er griff beherzt zu, zerrte den Toten aus der Schweberkabine und turnte selbst hinein. Der Starter reagierte; die A-Gravtechnik funktionierte noch. »Na also«, murmelte der Agent. »Was hast du vor, Mann?«
»Still!« Giray machte eine abweisende Geste. »Laß mich nachdenken.« Er betrachtete das Chaos, sprang noch einmal ins Freie, um es aus einer anderen Perspektive zu begutachten, und überlegte, wie er die Kraft des Schwebers am besten einsetzen konnte. Dann stieg er wieder ein und bediente die Steuerung. Der Schweber ruckte an. Metallplastik kreischte und knallte. Dann hob die Maschine einige der verkeilten Wandplatten zentimeterweise an. Giray fühlte, daß alles noch instabiler wurde, und hoffte, daß die anderen schnell genug begriffen, was er tat. Die ältere Frau griff als erste zu. Sie bekam den Jungen zu fassen, kaum daß die Plastikbetonplatten ein paar Zentimeter Luft ließen, und zog ihn vorsichtig unter den Trümmern hervor. Als Giray sah, daß das Kind in Sicherheit war, rammte er den Schweber regelrecht nach vorn und zur Seite. Polternd und krachend brach im Haus noch einiges zusammen – aber ein Teil der eingestürzten Frontseite war jetzt freigelegt. Er setzte den Schweber wieder auf, schaltete die Maschine nicht aus und sprang ins Freie. »Was ist mit dem Jungen?« »Ich glaube, er hat zwei Beinbrüche«, sagte jemand. »Wißt ihr, wie man das schient?« Kopfschütteln. Von Erster Hilfe schien hier keiner besonders viel zu verstehen. Die nächsten zehn Minuten verbrachte Giray damit, den Jungen notdürftig zu versorgen. »Zu einem Arzt muß er aber trotzdem schnellstens.« »Ja, natürlich.« Natürlich... Aber daraus wurde vermutlich nichts. Zumindest nicht in den nächsten Stunden oder Tagen. Die Ärzte hatten mehr als genug zu tun mit schwereren Verletzungen, und es war fraglich, ob aus anderen Städten Hilfe eingeflogen werden konnte. Ömer Giray wußte, daß es überall auf Terra ähnlich aussah wie hier. Vielleicht waren die Auswirkungen der Katastrophe im ländlichen Bereich,
außerhalb der Ballungszentren, weniger schlimm, aber dort war auch die medizinische Versorgung spärlicher. Giray setzte seinen Weg fort. Er hatte schon fast zu viel Zeit verloren. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Denn es gab, wie stets in solchen Fällen, auch hier Menschen, die das Chaos für ihre fragwürdigen Ziele zu instrumentalisieren versuchten... Um sie sollte sich Ömer Giray kümmern. Daß er selbst beobachtet wurde, daß jemand sich bereits um ihn kümmerte, ahnte er nicht... * Ren Dhark fand Zeit, bei den Astrophysikern vorbeizuschauen. »Erkenntnisse?« Pal Hertog schüttelte auf Dharks Frage hin den Kopf. »Wo sollen die so schnell herkommen? Wir können ja nicht mal richtige Messungen anstellen, bei dem Affentempo, mit dem wir das Exspect durchrasen! Wie schnell sind wir jetzt eigentlich?« Der Commander zuckte mit den Schultern. »Das läßt sich wohl nur noch schätzen, weil die Instrumentenanzeigen ihre Endmarken erreicht haben. Ich denke, wir werden Zehnmilliardenfache Lichtgeschwindigkeit erreicht haben, wenn die Hälfte der Strecke hinter uns liegt. Das heißt, in zwei Tagen könnten wir die komplette Distanz zurückgelegt haben... je nachdem, wieviel Zeit auf die Beschleunigungs- und Abbremsphase entfällt, in der wir uns ja mit niedrigerer Geschwindigkeit bewegen. Das ist höhere Mathematik und damit eher was für Anja Riker oder noch besser den Checkmaster. Ich denke, er wird’s uns bei Gelegenheit verraten, wie schnell wir wirklich wurden.« »Zehnmilliardenfach«, seufzte Hertog. »Unglaublich. Wir könnten in ein paar Stunden die nächsten Galaxien erreichen.«
»Wenn die Energievorräte es erlauben«, warnte Plishi. »Commander, Sie fragten nach neuen Erkenntnissen. Liegen noch nicht vor. Wir kommen kaum mit den Messungen zurecht, für die Auswertungen haben wir keine Zeit! Die kommen später... gut zwei Tage im intergalaktischen Raum, was sollen wir da machen? Es langt nicht! Zumal ein Tag schon fast vorbei ist... Können Sie den Flug nicht etwas verlangsamen?« Dhark schüttelte den Kopf. »Ich könnte«, sagte er. »Aber ich will nicht. Wir müssen wissen, wie es zu Hause aussieht, nach dem weißen Hyperraumblitz. So schnell wie möglich. Ich habe ein verdammt ungutes Gefühl.« Er verließ die Astroabteilung wieder. »Als Kassandra kenne ich Dhark ja überhaupt noch nicht!« staunte Hertog. »Der ist doch der ewige Optimist, und jetzt beginnt er zu unken? Ach was«, er winkte ab. »Ist nicht unser Problem. Zumindest jetzt noch nicht. Nutzen wir die Zeit, die uns noch verbleibt! Was sagen die Kollegen in der EUROPA? Wie weit sind die inzwischen?« Ren Dhark kehrte in die Zentrale zurück. Er hatte nicht untertrieben, als er den Astrophysikern erzählte, die Instrumente seien nicht mehr in der Lage, die Geschwindigkeit des Ringraumers darzustellen. Lediglich die Beschleunigungsanzeige funktionierte noch korrekt und gab den linear steigenden Wert an. Danach ließ sich das erreichte Tempo berechnen. Aber Dhark wollte nicht mit diesen gigantischen Zahlen jonglieren. Eine Schätzung reichte ihm. »Wir sind schon über neun Milliarden«, behauptete Dan Riker. »Wenn mir vor einem Jahrzehnt, als der Time-Effekt gerade in den Kinderschuhen steckte mit seiner Verschiebung um maximal 1,7 Lichtjahren, einer gesagt hätte, mit welchem Affenzahn wir jetzt durchs Nichts rasen, ich hätte ihn
ausgelacht. Ich kann’s einfach nicht glauben, Ren. Ich fürchte immer noch, daß uns die Technik jeden Moment um die Ohren fliegt. Deutet nicht die Geschwindigkeitsanzeige darauf hin, daß die POINT OF für ein solches Tempo gar nicht gebaut ist?« »Die POINT OF hält auch in anderen Dingen viel mehr aus, als die Instrumente anzuzeigen vermögen«, erwiderte Dhark. »Wir haben es doch schon erlebt. Belastungen weit über hundert Prozent hinaus... wie die Mysterious das geschafft haben, ist mir ein Rätsel, das ich lieber nicht ergründen möchte. Theoretisch geht’s doch gar nicht, hundert Prozent sind immer und überall Ende der Fahnenstange, nur bei den Geheimnisvollen nicht...« »Ich bin nicht gerade böse darüber«, verriet Dan, der zum Kettenraucher geworden war und nervös in der Zentrale auf und ab ging. »Aber das, was wir hier tun, geht schon weit über zweihundert Prozent hinaus, ist in Prozenten praktisch kaum noch zu erfassen. Was mich noch mehr wundert, ist allerdings, daß auch die EUROPA keine Probleme hat. Zumindest kommt keine entsprechende Meldung. Die M-Triebwerke schnurren wie Kätzchen.« Ren ließ sich in einem freien Sitz nieder. »Mich interessiert, ob es in Sachen Geschwindigkeit für die Mysterious überhaupt irgendeine Grenze gibt. Ob nicht zumindest theoretisch unendliche...« »Du bist ja verrückt!« unterbrach ihn Dan. »Weißt du überhaupt, was du da sagst? Unendliche Geschwindigkeit würde doch bedeuten, daß wir jeden Punkt im All im gleichen Moment erreichen, in dem wir starten... das käme einer Transition gleich.« »Eben«, schmunzelte Ren. »Transition mit unbegrenzter Reichweite. Und das trotz aufgeschalteter Intervalle.« Die galten als Transitionsbremse. Flog ein Ringraumer im Schutz seines künstlich erzeugten Miniweltraums, war eine
Transition unmöglich, und der Sternensog erzeugte nur variable Überlichtgeschwindigkeiten, nicht aber einen Sprung durch den Hyperraum in Nullzeit. H. C. Vandekamp erklärte es damit, daß das Intervallfeld den Raumer nicht nur aus dem normalen Universum herausnahm, sondern auch gegen den Hyperspace abschirmte. Der künstliche Miniweltraum war eine eigene Welt mit ganz eigenen Naturgesetzen, die sich von denen des einstein’schen Normalkontinuums drastisch unterschieden. Wurde während des Überlichtflugs das Intervallfeld überraschend abgeschaltet, kam es automatisch zu einer Transition... Zumindest ging man in der Theorie davon aus. In der Praxis hatte das bisher noch niemand erprobt. Vielleicht würde den einstein’schen Theorien zufolge im gleichen Moment auch die komplette Masse des Raumers in Energie umgewandelt werden – und das zu riskieren beabsichtigte niemand. Die Mysterious hatten darüber bisher keine Aufzeichnungen preisgegeben. Vielleicht gab es Informationen in Erron-3, dem galaktischen Archiv im blaßblauen Universum, aber während des relativ kurzen Aufenthalts dort hatten Ren Dhark und die anderen Wichtigeres zu tun gehabt, als sich ausgerechnet um diese Dinge zu kümmern. Es gab genug anderes Wissen, das übernommen werden mußte. Und Ren hatte nicht vor, Erron-3 so bald wieder einen Besuch abzustatten. Das Fiasko der Rückkehr steckte ihm immer noch in den Knochen, und außerdem bestand die Gefahr, daß Unbefugte von dem Archiv erfahren würden. »9,8 Milliarden«, sagte Leon Bebir, der gerade den Checkmaster befragt hatte. »Immer noch steigend.« »Distanz?« »Von Reet hundertdreißigtausend...« »Dann wird es ja langsam Zeit, ans Abbremsen zu denken«, stellte Ren gelassen fest. »Schade... ich hätte zu gern gewußt,
wie schnell wir wirklich werden können.« Dan warf ihm einen finsteren Mörderblick zu. Und immer noch beschleunigten die beiden Ringraumer. * Ömer Giray war erstaunt, wie viele Menschen sich vor der Blauen Moschee versammelten. Seinen Namen hatte das Gotteshaus von den kunstvollen, vorwiegend blaugrünen Fayencen. Wer von ihm sprach, nannte es nur selten Sultan Achmed Moschee – die andere Bezeichnung hatte sich schon vor Jahrhunderten eingebürgert. Mit ihren sechs Minaretten war sie die größte Moschee der Stadt. Die nahegelegene Hagia Sofia war weit prachtvoller und älter als die Blaue Moschee, wurde aber schon längst nicht mehr als Gebetsraum genutzt, sondern war bereits vor mehr als hundert Jahren zum Museum umgewidmet worden. Trotz der Katastrophe und den nötigen Aufräumarbeiten strebten Hunderte von Menschen ihrem Ziel entgegen. Der Muezzin rief zum Gebet. Aber das war nicht der alleinige Grund. Denn das Gebet selbst konnte überall verrichtet werden. Daß die Menschen sich selbst in dieser Situation hier versammelten, lag an etwas anderem. Eine politische Veranstaltung islamischer Fundamentalisten war angesagt. Deshalb war auch Ömer Giray hier. Er hatte den Auftrag erhalten, sich unter die Leute zu mischen und die Veranstaltung zu verfolgen. Die GSO vermutete Robonen hinter den fundamentalistischen Aktionen, die derzeit überall im weitläufig arabischen Raum stattfanden. Marrakesch, Tunis, Addis Abeba, Kairo, Memphis, Er-Riad, Dubai, Bagdad, Teheran, Ankara, Istanbul – überall in den größeren Städten fanden Demonstrationen und Versammlungen statt.
Sicher kein Zufall... Ähnliche Aktionen hatte es auch anderswo auf der Welt schon gegeben, ebenfalls von radikalen Gruppierungen veranstaltet. Und meist steckten auch hier die Robonen hinter den Aktivitäten, die sich gegen die Weltregierung richteten. Aufrufe zum Umsturz, teilweise zur Gewalt... Giray sollte beobachten, nicht eingreifen – noch nicht. Er schwamm im Strom der Menschen mit, ein unauffälliger Mann, auf den niemand achtete und den jeder schnell wieder vergaß. Selbst die Menschen, denen er vor ein paar Minuten noch geholfen hatte, das Kind aus den Trümmern zu befreien, würden sich wohl an die Hilfe erinnern, kaum aber an den Mann selbst, es sei denn, sie begegneten ihm unmittelbar wieder. In dieser Hinsicht glich er seinem Chef Bernd Eylers; trotz aller äußerlichen Unterschiede. Die Unauffälligkeit war seine beste Tarnung. Von der inneren Einstellung her war er Weltbürger, von der Abstammung her Türke, wenn auch nicht in seinem derzeitigen Einsatzgebiet Istanbul geboren. Mitte 30, mittelgroß, von sportlichkräftiger Figur, das lange schwarze Haar zu einem Zopf gebunden. Außer mit Türkisch war er auch mit Deutsch vertraut und – natürlich — mit der künstlichen Weltsprache Angloter, die sich allerdings auch fast zwanzig Jahre nach ihrer Einführung immer noch nicht überall durchgesetzt hatte. Vor allem östlich des Ural, in Südostasien und Lateinamerika gab es da noch erhebliche Defizite... Er betrat die Moschee, nachdem er die Schuhe abgestreift und beiseitegestellt hatte. Immer wieder sah er sich unauffällig um, hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern. Nach GSObekannten Gesichtern. Jos Aachten van Haag hatte ihm einen Datenspeicher ausgehändigt mit entsprechenden Holobildern. »Achten Sie besonders auf diese Personen, aber halten Sie sich noch von ihnen fern und zeigen Sie möglichst kein
Interesse«, hatte der Agent gemahnt, dem man nachsagte, daß er Bernd Eylers’ rechte Hand und vielleicht noch mehr sei. Daß van Haag hier in Istanbul war, überraschte Giray ein wenig; er hatte nicht geahnt, daß die GSO den hiesigen Aktivitäten der vermutlich robonischen Aufrührer so viel Bedeutung zumaß. Giray hatte eher damit gerechnet, daß sich die bedeutenden Machenschaften in anderen, wichtigeren Ballungszentren abspielten. Ömer Giray suchte sich einen Gebetsplatz möglichst weit vorn. Dort ließ er sich zwischen den anderen nieder. Einer von vielen Gläubigen, einer wie alle. Die Gespräche, draußen noch laut und lebhaft, waren längst verstummt oder wurden nur noch gedämpft geführt. Die Zeit des Redens endete, die Zeit des Gebets kam. Und wie alle anderen kniete Giray und verneigte sich in Richtung Mekka, zum Grab des Propheten Mohammed. Wie auch der Mann, der unmittelbar hinter Ömer kniete. * Als die beiden Ringraumer den »Wendepunkt« ihres Fluges erreichten, flogen sie bereits mit knapp über zehnmilliardenfacher Lichtgeschwindigkeit. Präzise leitete der Checkmaster das Abbremsmanöver ein und löste es über Hyperfunkkontakt mit den Suprasensoren der EUROPA auch im Tofirit-Raumer aus. Von einem Moment zum anderen wurden die Flächenprojektoren des M-Antriebs, die sich auf der Nabenseite des Ringrumpfs zwischen dem 4. und 5. Deck befanden, umgeschaltet. Der von ihnen erzeugte Brennpunkt des Sternensogs erhielt eine entgegengesetzte Polarität und wurde in entgegengesetzter Flugrichtung instabil. Von einem Moment zum anderen wurde die ganze ungeheure Kraft der Beschleunigung zum Abbremsen
verwendet. Im Innern der POINT OF war davon nichts zu spüren. Die Schubumkehr machte sich lediglich in der Anzeige der Instrumente bemerkbar. Andruck kam nicht durch. Im Bereich der Intervallfelder waren Beharrungskräfte, die unter anderen Umständen das Raumschiff bei diesem abrupten Wechsel sicher zerrissen hätten, nicht existent. Die Geschwindigkeit sank rapide. »Funkspruch von der EUROPA, Dhark!« meldete Glenn Morris aus der Funk-Z und stellte den Ruf direkt auf das Pult des Commanders durch. Colonel P. S. Clark meldete sich. »Keine Probleme beim Umschalten«, erklärte er. »Der Chief behauptet übrigens, daß der Checkmaster die Leistung der EUROPA-Triebwerke unterschätzt hat. Wir hätten noch wesentlich stärker beschleunigen können.« Daß der Checkmaster eine Fehlberechnung vorgenommen hatte, konnte Dhark sich nur schwer vorstellen. »Sind Sie sicher, daß das kein Irrtum ist?« »Wir rechnen noch dran«, erwiderte Clark. »Wenn wir fertig sind, würde ich das Resultat gern noch mal vom Checkmaster selbst prüfen lassen. Aber unser Chief ist mittlerweile sicher, daß die Gesamtleistung der drei M-Triebwerke sich nicht addiert, sondern multipliziert. Vielleicht sogar potenziert, aber das kann ich mir selbst schon nicht mehr vorstellen.« »Senden Sie die Resultate ‘rüber«, stimmte Dhark zu. »Wenn Ihr Mann recht hat, eröffnet uns das vielleicht noch viel bessere Möglichkeiten als bisher. Kommen Ihre Triebwerke auch entsprechend besser mit dem Exspect zurecht?« »Wir haben im Überlichtflug damit keine Probleme. Ich staune, Commander. Bei Transitionen geht der Energieverbrauch ins Unfaßbare, und jetzt ist es so, als würden wir innerhalb der Galaxis fliegen. Ende.« Die Verbindung brach zusammen.
Ren schaltete eine Verbindung zum Maschinenraum. »Ist Doorn greifbar?« War er. »Langweilig hier unten«, beschwerte er sich. »Nicht mal jetzt geht irgendwas kaputt. Bei Ihnen etwa?« Dhark berichtete ihm von Clarks Vermutungen. »Schon möglich, Dhark«, bestätigte Doorn den Verdacht. »Auch möglich, daß die Ingenieure auf Terra nicht mal im Traum an sowas gedacht haben, als sie gleich drei Triebwerke zusammengefriemelt haben. Wie diese Vernetzung funktioniert, müßte ich mir in der EUROPA mal selbst anschauen. Hm... die Mysterious sind doch ein heimtückisches Völkchen gewesen. Wenn wir gewußt hätten, daß die EUROPA mehr aushält, hätten wir doch lässig auch noch mehr Tempo vorlegen können und wären schneller zu Hause...« Es war nicht das erste Mal, daß er auf die Geheimnisvollen schimpfte. Und diesmal hatte er auch noch einen Grund, heim zu wollen – trotz Dharks Versuch, ihn zu beruhigen, war er immer noch sauer auf Dan Riker, der seine Frau Anja hier an Bord hatte, während Doris Doorn auf Terra zurückbleiben mußte. Sonst hielt Arc es durchaus Ewigkeiten im Weltraum aus, aber in diesem Fall zog ihn der Ärger auf die angeblichen Privilegien Rikers zu seiner Frau zurück. »Wenn wir wieder auf Terra sind, können Sie sich die EUROPA genau ansehen«, schmunzelte Dhark. »Aber falls der Raumer danach noch schneller fliegt, vergessen Sie nicht, das Colonel Clark mitzuteilen...« Kommentarlos schaltete Doorn aus dem Maschinenraum ab. Ren warf wieder einen Blick auf die Instrumente. Rasend schnell wurde der Ringraumer langsamer. Und rasend schnell näherte er sich dabei der Galaxis. Die silberne Spirale in der Bildkugel schien deutlich sichtbar zu wachsen. Es ließ sich bereits ausrechnen, wann sie den Halo der Milchstraße erreichten und dann »normal« weiterfliegen konnten.
Da war nur etwas, mit dem keiner von ihnen gerechnet hatte. Selbst der Checkmaster hatte es übersehen. Denn die entsprechenden Daten für die Flugdatenberechnungen hatte ihm vorher niemand gegeben...
12. Als das Freitagsgebet vorschriftsmäßig beendet war, geschah das, worauf Ömer Giray gewartet hatte. Achmed Gezmec erschien neben dem Imam, der das Gebet geleitet und die Suren des Koran rezitiert hatte. Gezmec war einer der Mullahs, die auf der Liste der GSO standen. Einer der religiösen Führer einer fanatischfundamentalistischen Gruppierung, die versuchte, aus den katastrophalen Zuständen im Land und in der Welt Kapital zu schlagen. Der Imam zog sich zurück. Der scharfe Beobachter Giray glaubte zu erkennen, daß der mit Gezmecs Auftritt gar nicht einverstanden war. Seine ganze Körpersprache deutete darauf hin. Aber natürlich konnte er sich nicht offen widersetzen und Gezmec der Moschee verweisen. Das Haus Gottes stand jedem Menschen jederzeit offen. Den Rechtgläubigen ohnehin, und natürlich auch jedem giaur, denn es bestand ja immer die Möglichkeit, daß er bekehrt werden konnte... Und wenn nicht, konnte es auch nicht schaden, wenn er anhand der prachtvollen und kunstvollen Ausgestaltung der Moschee von Allahs Größe erfuhr. Ein unauffälliger Rundblick verriet Giray, daß die meisten Anwesenden auf Gezmecs Auftritt gewartet hatten. Sie waren nicht nur des Gottesdienstes wegen hier, sondern auch, weil Gezmec ihnen etwas zu sagen hatte. Dennoch gab es viele, die die Blaue Moschee jetzt verlassen wollten. Aber irgendwie standen ihnen immer wieder andere Moscheebesucher im Wege, so daß sie kaum vorwärtskamen. Sehr viel davon konnte Giray von seinem Platz ziemlich weit vorn nicht erkennen; er hätte sich schon gezielt umschauen müssen. Das aber wollte er vermeiden.
Er konnte es nicht riskieren, hier und jetzt in irgendeiner Form aufzufallen. Aber ihm war klar, daß jene, die die Ansprache des Mullahs hören wollten, versuchten, die anderen zum Bleiben zu veranlassen. Damit auch sie vernahmen, worum es ging, und sich der Bewegung anschlossen, für die Gezmec tätig war. »Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen...« begann Gezmec. Während Giray lauschte, beobachtete er die Menschen um ihn herum. Sie ließen sich tatsächlich mitreißen. Begeistert hingen ihre Blicke an den Lippen des Mullahs. Gezmec war ein äußerst geschickter Redner und Demagoge. Sein Talent, fand der GSO-Agent, wäre einer besseren Sache würdig gewesen. Gezmec redete so schnell und eindringlich, daß kaum jemand in der Lage war, über seine Worte nachzudenken, und damit sie sich dennoch einprägten, wiederholte er sich in unregelmäßigen Abständen mit jeweils anderer Wortwahl. Wie bei Werbespots, dachte Giray bestürzt. Du wirst berieselt und berieselt, und immer wieder greift ein einzelner Spot auf einen früheren zurück, um den Eindruck zu vertiefen, und du merkst es gar nicht richtig. Für die lauschende Menge kam natürlich noch der Eindruck des erst wenige Minuten zurückliegenden Gebetes hinzu; die Gläubigen wurden aus ihrer Andacht rasch in die Polit-Rede hineingestoßen; so rasch, daß sie kaum noch zu unterscheiden vermochten. Und die unter ihnen, die ohnehin schon von den radikalen Ansichten überzeugt waren, die Gezmec jetzt predigte, versuchten die anderen zusätzlich mitzureißen. Das waren auch jene, die sich bemühten, die Zweifler und Pragmatiker am Verlassen der Moschee zu hindern. Nicht mit Gewalt, sondern einfach damit, daß sie ständig im Weg standen und nicht ausweichen wollten. Der Bursche hat das verdammt gut organisiert, überlegte Giray. Gibt es etwas, woran Gezmec nicht gedacht hat?
Der Mullah rief den Menschen ihre tragische Situation in Erinnerung. Er sprach über die jüngste Katastrophe, wies darauf hin, daß Allah sie deshalb zugelassen habe, weil sich zu viele Gläubige vom rechten Weg abwandten, kleidete das aber durch rhetorische Tricks wieder in Vermutungen, so daß ihm effektiv niemand einen Strick draus drehen konnte. Gezmec erwähnte auch das Evakuierungsprojekt, prangerte die terranische Zentralregierung an, die Menschen von der Erde zu deportieren, statt ihnen Schutz zu gewähren. »Doch nur den Gottlosen droht die Hölle«, rief Gezmec. »Wir, die wir fest im rechten Glauben stehen, sind der Barmherzigkeit Allahs gewiß. Wir weigern uns, uns der Unbarmherzigkeit einer Weltregierung auszuliefern, die...« Er erhob Vorwürfe. Er redete über die Invasion der Giants, hob hervor, daß niemand etwas daraus gelernt habe, daß man statt dessen immer wieder neue Feinde aus dem All zur Erde lockte, allen voran der vom Scheïtan verführte Ren Dhark mit seinen kostspieligen Exkursionen. »Und er nennt sich Commander der Planeten, ist das Oberhaupt dieser Weltregierung, doch ständig entzieht er sich seiner Verantwortung. Wo war er, als die Schatten des Scheïtans die Erde überfielen? Wo war er, als der weiße Blitz uns allen die Besinnung und vielen das Leben, noch vielen mehr aber die Gesundheit raubte? Kümmert er sich um die Verletzten? Nein! Tröstet er die Hinterbliebenen? Nein! Räumt er die Trümmer fort? Nein! Irgendwo in der kalten Nacht zwischen den Sternen fühlt er sich zu Hause, er lächelt und ignoriert eure Ängste und Nöte. Und ihm und seinen Ministern fällt nichts anderes ein, als euch in Raumschiffe zu stopfen und von dieser Erde zu entfernen, die der Allerbarmer uns schenkte und die unsere Väter zu unserer Heimat machten. Und er läßt euch auch noch dafür bezahlen, daß ihr ausgewiesen werdet, fortgeschickt in die Fremde, entwurzelt, verloren und allein... Nein, nicht ganz allein. Allah sieht euch auch dort, er wird
euch helfen. Aber so weit muß es nicht kommen. Wir können etwas dagegen tun. Wir können uns wehren.« Ein Mann schob sich neben Giray. Sah ihn kurz, aber eindringlich an, um sich dann wieder abzuwenden. Kenne ich ihn? fragte sich Ömer. Und kennt er mich? Aber woher? Unterdessen änderte Gezmec seine Taktik. Er redete nicht mehr nur, sondern er bezog seine Zuhörer auch in die Rede ein. Er stellte Fragen, forderte die Menge zu Äußerungen auf. Und seine Claqueure waren die ersten, die Beifallsrufe von sich gaben. Lautstarke Zustimmung. Sie rissen die anderen mit. Immer lauter wurden die Rufe, wurden zu einem anschwellenden Chor. Auch Giray begann zu rufen, stimmte in das Geschrei ein. Was blieb ihm anderes übrig? Er konnte nicht schweigsam bleiben oder gar protestieren. Er mußte mit den Wölfen heulen. Und er hörte zu! In seiner Gürtelschließe lief ein Aufzeichnungsgerät, das die demagogische Ansprache Gezmecs mitschnitt und zugleich auf einer kodierten Frequenz übertrug, die von kaum jemandem benutzt wurde. Auch die Reaktion der Menschen wurde festgehalten. Giray sammelte Beweismaterial, das ausreichte, Gezmec wegen Volksverhetzung anzuklagen. Der Mann rief zum gewaltsamen Widerstand auf. Er propagierte die Neugründung des Osmanischen Reiches, die Rückkehr zu den alten Werten. Die Loslösung aus dem Weltstaatenbund. »Laßt euch nicht von denen verführen, die versagt haben und immer versagen werden! Vertraut auf Allah, den Allbarmherzigen, der euch durch das Tal der Entbehrungen ins Paradies geleiten wird! Fegt jene hinweg, die euch knechten wollen. Alamo Gordo und World-City – sie sind weit. Wir leben hier, und wir leiden unter den Fehlentscheidungen, die
dort getroffen werden. Wie es schon immer war, wie stets aus dem Abendland die Unterdrückung kam! Die Kreuzzüge, in denen die Rechtgläubigen mit Feuer und Schwert hingemordet wurden, später mit Bomben und Raketen. Oh, sie sind so überzeugt von sich, daß sie nur die Gewalt kennen. Wo sie nicht überzeugen können, schießen sie, denn sie müssen ja recht behalten. Sie schießen auf euch, auf uns alle. Sie werden auch jetzt wieder auf uns schießen. Denkt an Australien, da haben sie es schon getan. Sie haben auf Menschen geschossen, die sich nicht deportieren lassen wollten. Laßt euch das nicht gefallen. Diese Weltregierung ist schlecht. Erhebt euch. Schließt euch zusammen. Wir schließen uns zusammen! Wir wehren uns! Wir werden...« Ein neuer Sturm der Begeisterung brach los, immer wieder geschürt von den Agitatoren. Giray bedauerte, daß er mit seinem kleinen Gerät nur den Ton aufzeichnen und senden konnte. Bildaufnahmen der Unruhestifter waren unmöglich. Aus der Erinnerung heraus würde er sie kaum identifizieren können. Dennoch mußte etwas getan werden. Ein Aufruf zu öffentlicher Gewalt konnte nicht hingenommen werden. Gezmec predigte den Aufruhr. Das, was er der Weltregierung vorwarf, propagierte er selbst – statt Argumenten Gewalt zu benutzen. Je länger er redete, desto deutlicher wurde es, aber mittlerweile hatte er auch die letzten Zweifler bereits so im Griff, daß sie nicht mehr fähig waren, nachzudenken und seine Agitation in Frage zu stellen. Giray merkte es an sich selbst, wie er begann, dem unaufhörlichen Niederprasseln von Schlagwörtern zu verfallen. Er wehrte sich dagegen, was um so schwieriger war, als er mitrufen und mitschreien mußte, um nicht unangenehm aufzufallen. Daß der Mann, der anfangs hinter ihm gekniet hatte und jetzt neben ihm stand, ein ganz bestimmtes Handzeichen
machte, bekam er in dem immer größer werdenden Durcheinander nicht einmal mit. Aber ein anderer erkannte es: Achmed Gezmec. * »Etwas stimmt nicht!« behauptete Hen Falluta, der 1. Offizier der POINT OF, als er turnusmäßig das Kommando übernahm. Von Dhark und Riker war nichts zu sehen; auch sie brauchten hin und wieder Ruhe und hatten sich in ihre Kabinen zurückgezogen. Janos Szardak sah ihn fragend an. »Was meinen Sie?« »Hier, sehen Sie das nicht? Den Unterschied...« Falluta deutete auf eingeblendete Anzeigen. »Hier, die errechnete Momentangeschwindigkeit der POINT OF. Ich meine die Geschwindigkeit im Moment des Berechnungsschlusses. Sie sinkt ja ständig weiter, und wir können nur mit Näherungswerten arbeiten, die sich von Sekunde zu Sekunde verändern... und hier, die Distanz zur Galaxis! Fällt Ihnen denn nichts auf, Colonel?« Szardak berührte zwei Sensortasten und holte die Werte an sein Terminal am Ko-Sitz. »Stimmt die Distanz denn? Grappa...« Die Bordsprechanlage stellte ihn sofort zur Funk-Z durch. »Grappa, haben Sie die Distanz zur Milchstraße korrekt...« »Wofür halten Sie mich?« kam es verdrossen zurück. »Ich kann auch nur das an die Zentrale weitergeben, was mir die Ortungen liefern, und das ist exakt das, was Sie auch auf Ihren Displays haben!« »Sorry, Grappa! Danke!« Szardak schaltete ab. »Wir sind zu nahe dran«, murmelte er. »Vielleicht stimmt nicht, was der Checkmaster uns erzählt. Übernehmen Sie, Colonel?« Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sich Falluta und eilte zum direkten Eingabeterminal des
geheimnisumwitterten Bordgehirns. Er schob den Kadetten beiseite, der am Checkmaster Dienst tat, und gab selbst Daten ein. Er brauchte nicht lange zu überlegen; wer regelmäßig in der Kommandozentrale Dienst tat, war auch am Checkmaster ausgebildet. Und Falluta tat hier schon einige Jahre Dienst. Das Resultat der Berechnungen sendete er ans Kommandopult. Zusätzlich warf der Checkmaster eine Folie aus. Falluta nahm sie aus dem Auffangkorb und überflog den Text, der in den Symbolzeichen der Mysterious geschrieben war, während er an seinen Platz zurückkehrte. Die Zeichen zu lesen, bereitete ihm keine Schwierigkeit. »Verdammt! Die Kursrechnung des Checkmasters stimmt, aber wir sind trotzdem zu nahe dran, weil auch die Distanzortung korrekt arbeitet!« »Lassen Sie die Berechnung vom Suprasensor der EUROPA kontrollieren!« schlug Szardak vor. »Der hat doch bei weitem nicht die Leistungsfähigkeit des Checkmasters, selbst wenn die Peripherie-Computer zugeschaltet werden...« »Und ich traue dem Checkmaster nicht über den Weg!« konterte Szardak. »Der hat uns auch in alten Zeiten schon einige Male böse hereingelegt, nur hat er da meistens die Auskunft verweigert, statt falsche Zahlen zu liefern. Falluta, lassen Sie es die EUROPA versuchen. Wenn deren Suprasensoren zum gleichen Ergebnis kommen wie der Checkmaster, arbeitet die Ortung fehlerhaft!« »Und das lasse ich auch sofort mit vergleichen!« entschied der Eins-O. Dann stand die Hyperfunkverbindung zur EUROPA wieder. Obgleich die Raumer nur ein paar hundert Kilometer voneinander entfernt parallel durch den Leerraum rasten, konnte auf Hyperfunk nicht verzichtet werden – nicht bei dem immensen Tempo, mit dem die beiden Schiffe flogen. Normalfunk war in diesem Fall einfach zu langsam.
Colonel P. S. Clark stutzte. »Ich lasse das sofort nachprüfen!« Eine Viertelstunde später meldete er sich zurück. »Unsere Distanzortung zeigt das gleiche wie die der POINT OF«, berichtete er. »Wir sind tatsächlich näher am Halo, als wir eigentlich sein dürften, nur sagt unser Suprasensor, daß die Berechnung des Checkmasters korrekt ist. Alle durchgeführten Rechenschritte sind exakt ausgeführt und nachvollziehbar. Weiß der Teufel, wo hier schon wieder der Wurm drin steckt. Ob das was mit dem Exspect zu tun hat?« Darauf konnte niemand eine konkrete Antwort geben. »Wir arbeiten dran, den Fehler zu finden«, versprach P. S. Clark. »Und wir auch...« Falluta schaltete ab. »Sollen wir Dhark wecken?« überlegte er. »Bloß nicht!« warnte Szardak. »Der kommt nur wieder auf die verrücktesten Ideen, und außerdem hat er sich eine Mütze Schlaf auch mal verdient. Aber wir können ja mal trautes Eheglück stören und Anja Riker aus dem Bett werfen! Die ist doch die Expertin für Mysterious-Mathematik und soll den Checkmaster mal auf Herz und Nieren prüfen...« »Sofern der so was hat«, brummte Falluta sarkastisch. »Aber bei Riker rufe ich jetzt nicht an... will doch nicht von gleich zwei rachsüchtigen Wüterichen für die Weck-Aktion gehäutet und gewendet werden...« »Na gut«, seufzte Szardak. »Dann muß wohl ich mal wieder den Helden spielen...« * Anja Riker zeigte ihm die Zähne. Aber ein paar Minuten, nachdem sie am Checkmaster gearbeitet hatte, scheuchte sie die Astronomen auf. Jens Lionel kam in die Zentrale.
Weitere zehn Minuten später protestierten die Astrophysiker. Dr. Ken Wask tobte. »Wir arbeiten hier rund um die Uhr, und nun stürzen uns die Daten einer kompletten Versuchsreihe ab, weil irgendwer den Checkmaster über Gebühr auslastet! Der Commander hat uns versprochen, daß das nur in extremen Krisenfällen...« »Luft anhalten, Doc Wask«, unterbrach Szardak ihn. »Wir haben hier ein Problem.« »Ein Problem? Erzählen Sie das Houston!« knurrte Wask. »Und sorgen Sie dafür, daß wir hier schnellstens weiterarbeiten können!« »Houston?« echote Szardak, der den Gag nicht verstand und falsch deutete. »Was hat denn der damit zu tun?« Und er dachte an C. S. Houston, den neu eingesetzten Koordinator der TF für Cyborg-Einsätze. Wask hingegen dachte an terranische Geschichte und einen legendär gewordenen Mondflug des vergangenen Jahrhunderts, der beinahe zur Katastrophe geworden war; statt Szardak aufzuklären murmelte er »Idiot« und schaltete die Bordsprechverbindung ab. Szardak nahm ihm das nicht übel. Er kannte Wask aus alten Zeiten und wußte auch, daß der Mann oft eine etwas drastische Art des Artikulierens pflegte. »Ouuu... der hat’s Ihnen jetzt aber gegeben«, stöhnte Falluta in gespieltem Erschrecken auf. Szardak grinste. »Ich fühle mich auch tief getroffen.« Unterdessen arbeiteten Chefastronom Jens Lionel und Chefmathematikerin Anja Riker am Checkmaster. Zwischendurch korrespondierten die beiden über die Bordverständigung mit H. C. Vandekamp. Nach einer Weile verließ Riker das Bordgehirn und kam zum Kommandopult. »Wie ich es vermutet habe«, sagte sie. »Der Checkmaster hat völlig korrekt gearbeitet – im Rahmen der ihm
eingespeisten Daten.« »Und wo liegt der Fehler?« fragte Szardak. »Es ist doch offensichtlich, daß hier eine enorme Diskrepanz zwischen Flugdaten und Realität vorliegt. Wenn’s der Checkmaster nicht ist, woran liegt es dann?« »An der Milchstraße«, sagte Lionel. Auch er kam jetzt langsam heran. »Wer auch immer die Daten vorgegeben hat, hat einen Fehler gemacht. Aber aufgrund fehlerhafter Daten kann auch nur eine fehlerhafte Berechnung erfolgen.« »Die Milchstraße trägt die Schuld? Fehlerhafte Daten? Was wollen Sie damit sagen?« Lionel zuckte mit den Schultern. »Die Gravitation der Galaxis wurde nicht in Betracht gezogen.« Er deutete auf die Bildkugel. »Schauen Sie sich das Gebilde an. Millionen Sterne und Planeten. Eine gewaltige Masseballung. Dahinter, von Dunkelwolken verdeckt, Galaxis 2 oder Drakhon, wie man sie neuerdings zu nennen beliebt. Können Sie sich vorstellen, was das für eine Masse ist? Masse erzeugt Gravitation. Die Anziehungskraft der Galaxis wirkt auf die POINT OF ein. Deshalb stimmt die Berechnung nicht. Deshalb sind wir schon viel näher dran als errechnet.« »Aber in dieser krassen Form? Über diese Distanzen?« staunte Falluta. »Das ist doch Mumpitz, Lionel! Okay, mir sind die Gesetze der Massenanziehung auch bekannt, aber die nimmt doch mit dem Quadrat der Entfernung ab, und zudem bewegen wir uns im Schutz der Intervallfelder. Innerhalb spielt doch Gravitation keine Rolle...« »Ich habe Vandekamp zu Rate gezogen«, sagte Lionel. »Er behauptet, daß nicht die POINT OF und die EUROPA selbst, sondern ihre Intervallfelder angezogen werden. Zudem treten durch die Überlichtgeschwindigkeit veränderte Gesetzmäßigkeiten zu Tage. Mag sein, daß auch das Exspect dabei eine Rolle spielt. Da wollte Vandekamp sich nicht festlegen. Aber es steht eindeutig fest, daß die Anziehungskraft
der Galaxis – genauer gesagt, beider Galaxien – uns schneller als erwartet heimbringt.« »Umgekehrt gilt das ähnlich«, sagte Anja. »Nur mit entgegengesetzter Wirkung. Das ist es, was bei der Einspeisung der Daten übersehen wurde. Der Scheitelpunkt unseres radikalen Beschleunigungs- und Abbremsflugs hätte nicht genau in der Mitte zwischen dem Corr-System und dem Halo unserer Galaxis liegen müssen wie berechnet, sondern wesentlich weiter weg von der Milchstraße. Und wenn ich wesentlich sage, meine ich auch wesentlich. Er liegt sehr viel weiter...« »Dann«, murmelte Szardak, »sollten wir vielleicht eine Notbremsung vornehmen, ehe wir auf der anderen Seite bei Drakhon wieder ‘rausfliegen...« »Jetzt wecke ich den Commander doch!« entschied Falluta. * Der Mullah unterbrach sich. Im gleichen Moment ahnte Ömer Giray kommendes Unheil. Instinktiv wollte er sich abwenden, um sich möglichst unauffällig aus den vordersten Reihen zurückzuziehen, aber im gleichen Moment stand der Mann, der ihn eben von der Seite betrachtet hatte, so hinter ihm, daß er es nicht konnte. Erwischt! durchzuckte es Giray. Er hörte Gezmec rufen. Er verstand die Worte nur noch halb, aber er begriff, daß der Mullah ihn meinte. Daß er auf Ömer Giray deutete, ihn als Büttel der fortschrittsfeindlichen und menschenverachtenden Regierung bloßstellte. Als einen Spitzel! Einen Feind, den es unschädlich zu machen galt. Einen Spion, der beabsichtigte, dieser Versammlung und allen Rechtgläubigen zu schaden. Der sie verraten wollte an die schändliche Regierung, damit diese Soldaten schickte und die
Menschen bekämpfte und tötete, die sich gegen das Böse erhoben und ein neues Zeitalter begründen wollten. Das Zeitalter des neuen Osmanischen Reiches... »Vernichtet die, die uns vernichten wollen!« schrie Achmed Gezmec. Macht kaputt, was euch kaputt macht! Diesen Spruch kannte Giray aus dem Geschichtsunterricht. Er stammte aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Doch jene, die sich damals gegen die Staatsmacht stellten, hatten nicht annähernd soviel Gefahrenpotential in sich getragen, wie das bei Gezmec und der Bewegung, der er angehörte, der Fall war. Ein großer Teil der Jugend von damals hatte opponiert, weil das modern war, und freundete sich schon wenige Jahre später mit dem einst so verhaßten System an. Hier aber sah es anders aus. Und die aufgehetzten, aufgepeitschten Menschen, vorwiegend Männer, drangen auf den bösen Spitzel ein, um ihn zu erschlagen. * »Verdammt!« stieß Jos Achten van Haag hervor. »Das geht schief! Eingreifen!« Aber das war leichter gesagt als getan. Er war dem Agenten mit einigen weiteren Männern gefolgt. So unauffällig, daß Giray selbst nicht einmal etwas davon mitbekommen hatte. So hatte es auch sein sollen. Jos war dabei allerdings vielleicht etwas zu vorsichtig gewesen, wie sich jetzt zeigte. Er war davon ausgegangen, daß er selbst und seine Begleiter den Fundamentalisten – und vor allem den vermutlich hinter ihnen stehenden Robonen – hinlänglich bekannt waren. Aber er wollte keine spezielle Maske anlegen; er ging davon aus, daß
seine Anwesenheit höchstens einen, zwei Tage währen würde, und dafür wollte er diese Mühe nicht auf sich nehmen. Schließlich gab es hier Agenten wie Giray, die noch nicht verbrannt waren und deshalb ohne größeren Aufwand eingesetzt werden konnten. Verbrannt – im Einsatz erkannt und deshalb vor Ort nicht mehr verdeckt einsetzbar... nur noch im Hintergrund aktiv... Jos selbst war an vielen Orten der Erde bereits verbrannt. In Istanbul noch nicht, aber hier wollte er auch nicht in Erscheinung treten, sondern lieber im Hintergrund bleiben, um eventuelle Risiken zu vermeiden. Doch jetzt sah es so aus, als bliebe ihm nichts anderes übrig, als selbst einzugreifen. Jetzt zählte jede Hand. Das Gerät in Girays Gürtelschnalle zeichnete auf und sendete zugleich. So bekamen Jos und die anderen mit, was sich in der Blauen Moschee abspielte. Sie speicherten alles zusätzlich. Den Aufruhr, den der Mullah predigte, den Aufruf zur Gewalt – und nun auch den Angriff auf den GSO-Agenten. Der Scheïtan mochte wissen, wie sie ihn erkannt hatten; es spielte in diesem Moment auch kaum eine Rolle. Von Bedeutung war, daß Giray entdeckt worden war, und daß von dieser Sekunde an sein Leben in Gefahr schwebte. Jetzt ging es um jede Sekunde. Sie mußten in die Moschee eindringen. Dabei befanden sie sich alle in durchaus respektabler Entfernung zu dem Bau. Die mußte erst einmal überwunden werden. Und dann mußten sie sich durch die Menschenmenge zu Giray durchkämpfen, um ihm helfen zu können. Das war so gut wie unmöglich. GSO-Agent Ömer Giray war praktisch schon tot. *
Sie kamen von allen Seiten und griffen ihn an. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß jemand in einer Moschee Gewalt einsetzen würde, aber genau das geschah hier! Die Menschenmenge war außer Rand und Band geraten. Der einzige, der sie jetzt noch kontrollieren konnte, war Achmed Gezmec – vielleicht. Vielleicht war aber auch nicht einmal mehr er in der Lage, die Raserei zu stoppen. Es half nichts, sich nur mit Worten zu verteidigen. Niemand würde auf Ömer Giray hören. Ihm blieb keine andere Möglichkeit, als zu kämpfen. Dabei verabscheute er Gewalt. Doch was sollte er jetzt tun? Fortlaufen konnte er nicht mehr, reden konnte er nicht mehr. Und es widerstrebte ihm, sich mit dem Paraschocker den Weg freizuschießen. Er trug die Waffe zwar bei sich, wie es Vorschrift war, aber außer bei der Ausbildung und in drei, vier Einsätzen hatte er sie noch nie angewandt. Er versuchte stets, den gewaltfreien Weg zu gehen. Hätte man ihm aufgetragen, einen Blaster mit sich zu führen, hätte er den garantiert mitzunehmen vergessen. Er war in waffenloser Selbstverteidigung ausgebildet, und diese Abwehrtechnik versuchte er jetzt einzusetzen. Sie half ihm nicht weiter. Die anderen waren aufgehetzt, aufgeputscht. Sie ließen sich nicht abschrecken dadurch, daß Giray einige seiner Angreifer niederschlagen oder sonstwie außer Gefecht setzen konnte. Im Gegenteil, das stachelte die anderen erst recht an. Dieser Büttel der verhaßten weltlichen Obrigkeit wagte es doch wahrhaftig, sich zur Wehr zu setzen! Das mußte geahndet werden... Sie schlugen und traten auf ihn ein, waren sich teilweise sogar gegenseitig im Wege bei dem Bestreben, Giray niederzumachen. Sie wollten ihn totschlagen, erkannte er voller Entsetzen! Er sollte die Blaue Moschee nicht mehr lebend verlassen!
Alles deutete darauf hin, daß die zu diesem sinnlosgewaltsamen Tun aufgehetzten Menschen nicht mehr Herr ihrer Sinne und zum Mord bereit waren. 232 Da endlich griff er zum Schocker, um sich verteidigen zu können. Aber dafür war es zu spät. Jemand schlug ihm die Waffe aus der Hand, kaum daß er sie aus dem verborgenen Holster gezogen hatte. Es war ein Fehler gewesen, sie erst jetzt einzusetzen. Aber es war zu spät, diesen Fehler zu bereuen. Ein Hieb nach dem anderen traf ihn, ließ ihn sich zusammenkrümmen. Er war nicht einmal mehr fähig, seinen Schmerz hinauszuschreien. Sie schlugen und traten noch auf ihn ein, als er längst die Besinnung verloren hatte. In ihrer Raserei wollten sie seinen Tod. Er bekam nichts mehr davon mit. Alles um ihn herum war schwarz geworden, versunken in der Unendlichkeit, im Nichts. Es gab keinen Ömer Giray mehr, der die wütenden Hiebe spüren konnte, die seine Knochen bersten ließen, die seine Haut aufplatzen ließen, die sein Gesicht zerstörten, die ihn zerschmetterten... Es gab überhaupt nichts mehr. * »Schocken!« hatte Jos Aachten van Haag angeordnet. Er stürmte voran, feuerte auf jeden, der sich ihm und seinen Leuten in den Weg stellte. Nur wer von sich aus zur Seite wich oder zu erkennen gab, nichts mit der Auseinandersetzung zu tun haben zu wollen, blieb verschont. Die GSO-Agenten hatten ihre Paraschocker auf minimale Leistung eingestellt; es lag ihnen nicht daran, die aufgehetzten Menschen für viele Stunden handlungsunfähig zu machen. Ein
paar Minuten reichten völlig aus. Gerade solange, wie es dauerte, Giray zu helfen und ihn aus dem Hexenkessel herauszuholen. War es im ersten Moment noch einfach, vorzudringen, hielt der Überraschungseffekt des Angriffs von draußen nicht lange an. Das Zischen der Schocker war durch das Gebrüll und Gejohle der aufgebrachten Menge zu hören, und mehr und mehr wurden aufmerksam. Und drangen ihrerseits auf die GSO-Agenten ein. »Sichern!« schrie Jos. »Den Rückweg freihalten!« Das war leichter gesagt als getan. Denn gerade das versuchte die Menge zu verhindern. Es konnten nicht alles nur aufgeputschte, verhetzte Menschen sein. In der Menge mußten sich kampfgeschulte Agitatoren befinden, die den anderen sagten, was sie zu tun hatten. Jos feuerte jetzt fast wahllos auf die Moslems. Ein Blick auf die Kapazitätsanzeige seiner Waffe verriet ihm, daß das Energiemagazin nicht mehr lange vorhielt. Er mußte so schnell wie möglich zu Giray vorstoßen. Er bekam einen Stoß in den Rücken, stolperte und stürzte in die Arme zweier Männer, die sofort auf ihn einschlugen. Mit einigen schnellen Griffen befreite er sich, setzte dem einen den Ellenbogen ins Gesicht und dem anderen die gestreckten Finger gegen die Halsschlagader. Der taumelte zurück. Jos versetzte dem Mann, der ihn gestoßen hatte, einen TaekwonDo-Tritt, fuhr wieder herum und konnte gerade noch mit dem Lauf des Schockers einen weiteren Angreifer stoppen, der mit einer Platzwunde zur Seite taumelte. Dann fauchte der Schocker wieder und paralysierte weitere Gegner. Es wurde langsam eng! Plötzlich war einer der anderen GSO-Agenten bei Jos. »Aufpassen!« zischte er und machte rücksichtslos von zwei Paraschockern Gebrauch, die er so eingestellt hatte, daß sie bei
niedrigster Energieabgabe nicht paralysierten, sondern bei den Getroffenen »nur« diabolische Schmerzen verursachten. Aufheulende Menschen wichen zurück, in wilden Krämpfen zuckend. Hatten sie gerade noch Schockstrahlen weitgehend ignoriert, weil sie doch wußten, daß sie bald schon wieder aus der Paralyse erwachten und Platz für ihre Mitstreiter schufen, wenn sie selbst stürzten, so begannen sie jetzt die wilden Schmerzorgien zu fürchten, die von den durch die Minischocks überreizten Nerven ans Gehirn weitergegeben wurden. »Sind Sie wahnsinnig?« fauchte Jos seinem Kollegen zu. »Nein, Engländer... da ist Giray! Himmel, ist er das wirklich?« Zu zweit packten sie zu. Rissen ihn hoch, und im gleichen Moment sah Jos Achmed Gezmec, der vom Schauplatz verschwinden wollte. Blitzschnell stellte Jos seinen Schocker um. Mit einem Trick, der nur wenigen Waffenexperten bekannt war, vervierfachte er die Reichweite des Strahlers, der eher als Nahkampfwaffe konstruiert war, und verdoppelte dabei die Energieabgabe. Allerdings riskierte er dabei, daß ihm der Schocker gleich als Minibombe um die Ohren flog. Jos feuerte auf den Mullah, der sich absetzen wollte! Unwahrscheinlich laut bellte die Waffe auf, aber der Schuß verfehlte Gezmec um eine Handbreite. Im nächsten Moment fühlte Jos, wie der Schocker heiß wurde. »Bombe!« brüllte er. »Weg hier«, und dabei schleuderte er die Strahlwaffe so hoch er konnte in die Luft. In fünfzehn Metern Höhe flog die Waffe mitten im Kuppeldom der Moschee auseinander! Sekundenlang blitzte eine winzige Minisonne auf. Ohrenbetäubend hallte der Krach der Entladung, und winzige, glühendheiße Metall- und Plastiksplitter jagten nach allen Seiten davon. Erschrockene Menschen ergriffen die Flucht, drängten sich
gegenseitig zurück. Jos und sein Kollege hatten für einen Moment Luft. Jos lud sich Giray über die Schulter und spurtete los in Richtung Ausgang. Diesmal stellte sich ihnen niemand in den Weg. Die unvorhergesehene Explosion hatte auch den letzten Besucher der Moschee schockiert. Einer der Agenten sprach in sein Spezialvipho und forderte einen Rettungsschweber an. »... mir völlig egal, woher, aber die Maschine hat innerhalb der nächsten drei Minuten hier zu sein, oder wir brauchen sie nicht mehr, sondern einen Bestattungsunternehmer...!« Jos fragte nicht, wie schwer verletzt Ömer Giray war oder ob er durch seine Art, den Mann zu tragen, die Verletzungen noch verschlimmerte. Sie mußten hier weg, so schnell wie möglich, ehe die Menschenmenge sich erholte und den GSOLeuten nachsetzte. Jos wollte nicht auf noch mehr Leute schießen lassen. Was sich in der Moschee abgespielt hatte, war schon schlimm genug. Die Situation mußte nicht noch weiter eskalieren. Aus der Luft jagte ein Jett heran. Wie ein Geschoß fiel er vom Himmel, und als Jos schon befürchtete, der Jett müsse am Boden zerschellen, bremste der mit Höchstwerten ab. Die Einstiegsluke flog auf. »Rein mit euch!« Es war nicht der angeforderte Sanitätsschweber. Es war eine Maschine des örtlichen GSO-Büros. Nicht ganz eine Minute später waren sie in der Luft. Jetzt erst fand Jos Zeit, sich um seinen Kollegen Giray zu kümmern. Der lebte noch, aber ob er überleben würde, lag in Allahs Händen...
* Seit Stunden jagten die POINT OF und die EUROPA durch die Randzone der Galaxis in den Spiralarm hinein und wurden dabei immer langsamer, aber diese Verlangsamung geschah nicht schnell genug. Immer noch waren die beiden Ringraumer einige Millionen mal schneller als das Licht! Die Notbremsung, die Janos Szardak vorgeschlagen hatte, wurde vom Checkmaster verweigert. Der beharrte auf seinen Berechnungen und ignorierte dabei, daß diese auf falschen Grundlagen beruhten. Damit zeigte er eine Sturheit, die auf ein reich mechanisch-physikalisches Rechengehirn hinwies, nicht auf eine biologische Komponente, die manche in ihm vermuteten. »So starrsinnig können wirklich nur Roboter sein!« behauptete Dro Cimc, der robotische Sturheit vom Kluis, dem zentralen Rechengehirn auf seiner Heimatwelt Cromar, nur zu gut kannte. Dhark versuchte die Negativbeschleunigung manuell zu erhöhen. Aber auch das verhinderte der Checkmaster. Die Steuerschalter waren blockiert. Die Gedankensteuerung reagierte nicht auf entsprechende Befehle. Die Bildkugel zeigte die Sterne, an denen die POINT OF vorbeijagte, als verwaschene Striche am Rand. Grappa und Yell an den Ortungen bekamen Schweißausbrüche, weil Dhark ihnen abverlangte, im Kurs liegende Hindernisse schneller festzustellen als der Checkmaster, der die Kontrolle über den Ringraumer übernommen hatte. »Wie damals, wenn wir auf der Strecke zwischen Hope und Terra immer wieder angegriffen wurden... damals hat das verdammte Mistding doch auch immer wieder eingegriffen und ließ sich nicht eher abschalten, als bis die Gefahr vorüber war«, erinnerte sich Szardak leise. Er war nicht der einzige und nicht der erste, der Gedankensteuerung und Checkmaster ein verdammtes
Mistding nannte. Andere wie Arc Doorn befleißigten sich zuweilen noch drastischerer Ausdrücke. »Sie meinen, der Checkmaster sieht eine Gefahr, die wir nicht erkennen, und will uns deshalb mal wieder bevormunden?« fragte Dhark. »In diesem Kahn ist doch nichts unmöglich...!« »Morris, wie sieht’s in der EUROPA aus? Könnte die stärker abbremsen?« wollte Dhark wissen. »Moment, Commander, ich frage nach.« Dann war wieder P. S. Clark auf dem Bildschirm. »Wir können, Commander, aber warum sollten wir das tun? Wir würden die POINT OF dann im Stich lassen!« »Oder mit uns zusammen in den nächsten Stern rasen, der auf unserem Kurs liegt!« »Würde das nicht Ihr Checkmaster verhindern?« fragte Clark. »Wenn wir ihn über eine Hyperfunk-Standverbindung wieder mit unserem Hauptrechner zusammenschalten, kann er die EUROPA doch gleich mit aus dem Kurs nehmen!« »Ein Vertrauen hat der alte Knabe«, brummte Szardak sarkastisch. »Einfach unfaßbar, grenzenlos und absolut närrisch! Clark«, rief er dem Kameraden an Ren Dhark vorbei über Hyperfunk zu, »wenn Sie stärker bremsen können, dann tun Sie das! Wir werden hier schon allein fertig.« Dhark nickte ihm zu. »Wir bleiben bei der POINT OF!« entschied Clark. »Aber mal ‘ne andere Frage... wenn wir die Intervallfelder abschalten, müssen die Raumer doch eine Nottransition vornehmen und beenden die wie gewohnt im unterlichtschnellen Bereich!« Von diesem Verfahren wird dringend abgeraten, vernahmen alle in der Zentrale im gleichen Moment die lautlose Stimme der Gedankensteuerung in ihren Köpfen. Die physikalische Belastung der Schiffszelle ist größer als ihre Stabilität. »Wer hat denn das verdammte Ding nach seiner Meinung gefragt?« entfuhr es Szardak.
»Das verdammte Ding dürfte aber Recht haben«, seufzte Dhark. »Also gut, Clark, lassen wir es weiter auf uns zukommen.« »Und Ihren Checkmaster auf unseren Suprasensor schalten!« erinnerte der Colonel. »Auch das«, murmelte Ren und wollte gerade die entsprechende Schaltung einleiten und mit Glenn Morris in der Funk-Z abstimmen, als die Gedankensteuerung sich erneut meldete: Verstanden, Ausführung. »Wie in alten Zeiten«, spottete Szardak. »Jetzt fehlt uns wirklich nur noch ein Überfall wütender Fremdraumer!« »Bei diesem Tempo kommen die gar nicht zum Schuß, so schnell sind wir vorbei«, wehrte Dro Cimc ab. »Das ist wenigstens ein Vorteil unserer Hochgeschwindigkeit. Sie müßten schon annähernd so schnell sein wie wir, um ein Passiergefecht zu führen. Da sie sich aber zwangsläufig unterlichtschnell bewegen und uns nur per Transition folgen könnten...« Szardak winkte ab. »Danke für die taktische Erläuterung, Wer, aber das ist mir auch klar! Nehmen Sie eigentlich jede Bemerkung jedes Terraners so todernst?« »Bitte? Ich wollte nur...« Ren Dhark grinste die beiden an. »Liegt wohl daran, daß es in Schiffen des Telin-Imperiums militärischer zugeht als in der POINT OF«, schmunzelte er. Der Wer, vom Rang her einem Flottenchef der TF gleich, machte eine Handbewegung, die das Äquivalent terranischen Schulterzuckens war. Diesmal war es Szardak, der sich ein unvorschriftsmäßig breites Grinsen erlaubte; bei Terranern hatte die Geste des Tel eine ganz andere und wenig stubenreine Bedeutung, für die man in Raumhafenkneipen auch schon mal die Fäuste fliegen ließ. Augenblicke später holte der Ernst der Lage sie alle wieder ein.
Jens Lionel und seine Leute in der astronomischen Abteilung bekamen zu tun. Die Astrophysiker auch, die über die zusätzliche Aufgabe alles andere als begeistert waren, weil sie eigentlich mehr an den über das Exspect gewonnenen Daten interessiert waren. »Ziehen Sie alles an Sternkarten zu Rate, was wir haben!« verlangte Dhark, der wie Szardak im Gegensatz zu Colonel Clark weit weniger Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Checkmasters hatte – allein daß der keine manuellen Kursänderungen akzeptierte, gab dem Commander zu denken. »Die Kursdaten sind bekannt – wir müssen wissen, ob uns Sterne, Planeten, Dunkelwolken oder was auch immer im Weg stehen, solange wir nicht von diesem Supertempo herunterkommen! Und wir müssen auch wissen, ob es bestimmte Anomalien gibt – Überschwerkraftsterne, Hyperzonen, Schwarze Löcher, Radiosterne – alles, was Schaden anrichten kann allein dadurch, daß es existiert!« »Und was können wir machen, wenn uns tatsächlich ein Radiostern oder sonstwas Feines im Weg steht?« brummte Szardak. »Ausweichen? Wie, wenn der Checkmaster die Kontrolle nicht abgibt?« Ren Dhark lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und schloß kurz die Augen. »Dann sprenge ich das Ding in die Luft«, entfuhr es ihm. Von diesem Verfahren ist dringend abzuraten, meldete die Gedankensteuerung sich prompt. »Das«, sagte der Commander nachdrücklich, »wollen wir doch erst mal sehen!« * Bernd Eylers hatte Jos nach Alamo Gordo zitiert. »Haben Sie völlig den Verstand verloren?« erkundigte er sich wenig freundlich. »In einer Moschee eine Schießerei anzufangen...
und dann auch noch eine Bombe zu zünden! Hätten Sie nicht etwas subtiler vorgehen können?« »Dann dürften wir Ömer Giray jetzt ganz subtil in Tücher wickeln und mit dem Gesicht nach Südosten, nach Mekka gerichtet, bestatten«, erwiderte Jos trocken. Eylers hob die Brauen. »In Tücher?« »Nach türkisch-islamischem Ritus«, ergänzte der Agent. »Aber weil wir nicht ganz so subtil vorgegangen sind, lebt er noch und wird im Brana-Tal wieder aufgepäppelt. Fragen Sie mal diesen Achmed Gezmec, wie subtil er die Menschen gegen Giray aufgehetzt hat! Haben Sie sich die Aufzeichnungen angehört, die Giray machen konnte, bevor der Mob ihn beinahe erschlagen hätte?« »Und dieser Gezmec ist Ihnen großartig entwischt...!« »Wir kriegen ihn noch«, brummte Jos. »Darf ich? Meine sind im Gemenge leider ein bißchen zerdrückt worden. Auch ganz subtil.« Dabei langte er nach einer Zigarettenschachtel, die auf Eylers’ Schreibtisch lag, und fischte eines der Stäbchen heraus. »Seit wann rauchen Sie denn, Chef? Und noch dazu dieses miese, billige Kraut...?« »Es zwingt Sie keiner, damit Ihrem Laster zu frönen!« fuhr Eylers ihn an. »Die Packung gehört nicht mir, sondern liegt für Nassauer wie Sie herum, die mir dann damit das Büro verpesten!« »Dann will ich Sie nicht länger stören, Chef. Verpestete Luft kann ich niemandem zumuten.« Er erhob sich und ging zur Tür. Eylers stoppte ihn. »Wir sind noch nicht fertig, van Haag! Ihr Einsatz hat eine Menge böses Blut geschaffen. Die Regionalverwaltung der Türkei macht mir die Hölle heiß, und Trawisheim...« »Vergessen Sie Trawisheim«, winkte Jos großspurig ab. »Und vergessen Sie die Regionalverwaltung. Hat deren Referent seine Protestnote bereits mit ›Osmanisches Reich‹
gesiegelt?« »Verdammt, Jos...! Gerade weil die Moslems dahinter stehen, können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Die machen uns die Pferde scheu! Und wir...« »Verdammt, Eylers!« konterte der schwarzhaarige Agent im gleichen Tonfall. »Moslems... Schwachsinn! Die Fundamentalisten sind eine Minderheit, die bloß so laut schreit, daß jeder sie hört, während die Mehrheit schweigt und deshalb keine Beachtung findet.« »Der Islam ist eine Weltanschauung, und er ist ein Gesetz! Ein religiöses Gesetz, das deshalb über dem weltlichen steht...« »Ja, Eylers, aber er ist vor allem eine Religion, die von den Gläubigen aktiv gelebt wird. Die Fundamentalisten mißbrauchen sie für politische Zwecke, was aber von der breiten Masse nicht unbedingt akzeptiert wird. Die wollen mit allen anderen friedlich zusammenleben und akzeptiert werden wie Sie und ich. Darf ich Ihnen aus dem Koran zitieren, Bernd? Sure 109, Vers 6: ›Eure Religion ist eure, meine Religion ist meine‹.« Er machte eine kurze Atempause. »Und die Gesetze, Eylers«, fuhr er fort, »die religiösen Gesetze, stehen durchaus nicht über den weltlichen, wie Sie eben behaupteten, sondern sind mit diesen in Einklang.« »Sagen Sie das den Mullahs und Ajatollahs, die uns hier unter Druck setzen wollen, gerade eben weil Sie in einer Moschee des toleranten Islam herumgeschossen haben wie die Büffeljäger im Wilden Westen!« »Glauben Sie im Ernst, daß mir das Spaß gemacht hat?« knurrte Jos böse. Er kam zurück an den Schreibtisch und stützte sich mit beiden Händen auf, um seinem Chef direkt in die Augen zu sehen. »Glauben Sie, es hat mir Spaß gemacht, Tayu Pononga im Zwangsverhör zu einem lallenden Idioten zu machen, nur um einen Hinweis auf Scholf zu bekommen? Tayu war einmal mein Freund... und dieser Scheißjob hat schon
längst aufgehört, mir zu gefallen! Ich mache meine Arbeit, und ich versuche zu verhindern, daß andere, die auch ihre Arbeit machen, umgebracht werden! Oder daß irgendwelche Fanatiker die Erde zu einem Sprengsatz machen, für den sie allein den Zünder in der Hand halten! Eylers – lassen Sie mich meinen Job so machen, wie ich es für richtig halte, oder feuern Sie mich! Aber halten Sie mir keine Predigten, verdammt!« »Sie sind draußen im Einsatz, aber ich bekomme hier den Ärger um die Ohren gehauen...« »Dafür sitzen Sie hier an diesem Schreibtisch, und dafür bin ich draußen im Einsatz!« konterte Jos eiskalt. »Ich bin auch oft genug draußen...« »Um so weniger verstehe ich, daß Sie mir jetzt Ärger machen wollen. Den habe ich auch so genug. Tayus Gesicht werde ich nie mehr vergessen!« »Die Sache hat mit der von heute nichts zu tun.« »Doch! Auch hier stecken die Robonen hinter dem Aufruhr! Das wissen wir, denn dieser Achmed Gezmec ist ein Robone. Er gehört zu Scholfs Leuten. Um so ärgerlicher, daß Gezmec mir entwischen konnte, aber den kriegen wir noch, Eylers, das schwöre ich Ihnen!« »Rachegedanken?« »Rache? Nein... Sie verstehen mich immer noch nicht, oder? Wie lange kennen wir uns nun schon? Seit den Tagen nach der Giant-Invasion, als ich in Ihren Verein eingetreten bin. Sechs, sieben, acht Jahre? Und Sie kennen mich immer noch nicht.« »Wer kennt den anderen schon wirklich?« fragte Eylers leise. Das hatte sich Jos Aachten van Haag auch schon oft gefragt.
13. Die beiden Ringraumer trieben mit 0,97 Prozent der Lichtgeschwindigkeit durch den interstellaren Raum, aber die Intervallfelder verhinderten, daß die Auswirkungen der Zeitdilatation in diesem hochrelativistischen Geschwindigkeitsbereich zum Tragen kamen. »Siebentausend Lichtjahre«, murmelte Dan Riker. »Grob geschätzt...« Exakte Angaben waren natürlich unmöglich. Der galaktische Randbereich war nicht durch Grenzpfosten oder Maschendrahtzäune auf den Meter genau abgesteckt. Aber bei intergalaktischen Entfernungen kam es auf ein paar hundert Lichtjahre mehr oder weniger nun wirklich nicht mehr an. Der Schwerkraftsog hatte die POINT OF und die EUROPA rund 7.000 Lichtjahre weit in die Milchstraße hineingezogen, ehe die Raumer ihre aberwitzige Geschwindigkeit auf Normalmaß reduzieren konnten. »Etwas, das wir künftig berücksichtigen müssen«, erklärte Ren Dhark nüchtern. Er, Dan und Anja Riker sowie Janos Szardak und Dro Cimc hielten sich in Dharks Kabine auf, die geräumig genug war, um allen ausreichend Platz und Bequemlichkeit zu bieten. »Wie bitte?« Dan Riker hob die Brauen. »Künftig? Hast du etwa immer noch nicht genug? Was, wenn wir in eine Sonne gerast wären?« »Sind wir aber nicht. Lionel und sein Team haben festgestellt, daß kein Stern im Weg war.« »Zufall!« polterte Dan. »Berechnung! Deshalb hat die Gedankensteuerung auch keinen manuellen Eingriff in die Steuerung erlaubt. Der Checkmaster hatte den Kurs so festgelegt, daß wir nicht in
Gefahr geraten konnten.« »Augenblick mal«, protestierte Dan. »Vom Corr-System aus, über diese gigantische Distanz? Wir haben doch nur ungenügende Sternkarten über diesen Teil des galaktischen Spiralarms, und Lionel hat sie erst jetzt durch die aktuellen Messungen ergänzen können, zumindest teilweise. Und darf ich daran erinnern, was wir damals erlebten, als wir aus dem Bereich der Zeitensonne ausbrachen? Du warst nicht dabei, Ren, du warst auf Terra, während uns die anderen mal wieder jagten und um jeden Preis vernichten wollten...« Ren entsann sich vage; Dan hatte ihm davon erzählt. Damals waren Dhark und einige Gefährten mit Flash zu der von den Giants besetzten Erde vorgestoßen. Die POINT OF hatte flüchten müssen und war bis in den Bereich einer Überschwerkraft-Sonne gehetzt worden, deren Anziehungskraft etliche der feindlichen Raumer zum Opfer gefallen waren. Dan hatte den Ringraumer in einen Orbit um jene Sonne gebracht, deren Gravitation dermaßen groß war, daß selbst die Zeitkonstante starken Verzerrungen unterlag. Die POINT OF war durch ihr Intervallfeld vor diesen Einflüssen geschützt worden und umkreiste die Zeitensonne mit hoher Überlichtgeschwindigkeit. Mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit war der Ringraumer dann durch die Kugelschale gebrochen, die die Feinde um die Zeitensonne gebildet hatten, und in Raumtiefen hinausgerast. Zu jener Zeit hatte noch niemand geahnt, daß die POINT OF ein Transitionsraumer war. Weil niemand jemals auf die Idee gekommen war, ohne Intervallfeld überlichtschnell fliegen zu wollen... Auch damals, beim Ausbruch aus dem Orbit, hatte das Risiko bestanden, mit einer Sonne zu kollidieren. Selbst der Checkmaster hatte lange gebraucht, um einen sicheren Kurs zu berechnen. Kein Wunder, daß das Erlebnis Riker noch heute in den
Knochen steckte, daß er von Anfang an gegen das Experiment seines Freundes protestiert hatte! »Stopp, mein Lieber!« unterbrach ihn Anja. »Wir haben es zwar nicht richtig registriert, aber der Checkmaster hat selbst zweimal eine Kurskorrektur vorgenommen.« »Wie bitte?« Jetzt wurden auch Szardak, Cimc und Dhark hellwach. »Es handelt sich beide Male um nur sehr geringfügige Korrekturen. So geringfügig, daß selbst die Astronomen sie nicht gemessen haben, sondern nur eine leichte Unschärfe feststellten, die sie auf die hohe Überlichtgeschwindigkeit selbst und eine daraus resultierende geringfügige Ungenauigkeit der Meßinstrumente zurückführten...« »Kann man das auch etwas weniger geschraubt ausdrücken, Anja?« fragte Dan mißmutig. »Lohnt sich nicht... weil ich mit meiner Rede gleich schon fertig bin! Die Kurskorrekturen sind mir nur aufgefallen, weil ich eine Logdatei des Checkmasters abgerufen habe.« »Wie bitte? Das verdammte Mistding protokolliert tatsächlich alle Berechnungen?« stieß Szardak verblüfft hervor. »Wieso erfahren wir erst jetzt davon?« »Weil auch ich das bis heute nicht wußte!« konterte die Chefmathematikern, die an terranischen Universitäten Vorlesungen über Mysterious-Mathematik hielt und wohl galaxisweit die einzige Person war, die sich wenigstens annähernd mit dieser Hypermathematik auskannte. »Als ich noch zur Stammbesatzung gehörte und ständig am Checkmaster arbeitete, hatte ich nicht einmal Zeit, nach solchen Dateien zu suchen.« »Du hast also einen Zugriffskode entwickelt?« hakte Dan nach. Man wußte bislang zwar, daß der Checkmaster auch schwierigste Rechenoperationen ausführte und die Ergebnisse sowohl auf die Bildschirme sendete als auch ausdruckte, aber ein Dateisystem, wie es terranische Suprasensoren besaßen,
war unbekannt. Wo all das Wissen, über das der Checkmaster verfügte, um seine Berechnungen durchzuführen, steckte, war bis heute unbekannt. »Nein. Mir kam nur plötzlich die Idee, nach einem solchen Logfile zu fragen. Und siehe da, ich bekam es. Wenn der Checkmaster tatsächlich eine biologische Komponente besitzen sollte, muß die ein Y-Chromosom besitzen. Ihr Männer rückt doch mit euren Geheimnissen auch erst ‘raus, wenn man euch drauf festnagelt...« »Pah!« machten Dan und Szardak synchron. Cimc lächelte feinsinnig. »Männer sind logisch denkende Geschöpfe und haben deshalb grundsätzlich keine Geheimnisse«, sagte er weise. »Denn vor der manischen Neugierde der Frauen etwas verbergen zu wollen, wäre sinnlose Vergeudung von Arbeitskraft und Nervenstärke.« Anja Riker starrte ihn entgeistert an. »Sie Macho glauben wohl auch noch, daß Frauen hinter den Herd gehören, wie?« fuhr sie ihn dann an. »Nein«, gestand der Tel trocken. »Natürlich nicht hinter den Herd – wenn die Bedienungsschalter doch vorn sind! Aber das müssen ohnehin nur Roboter wissen. Für Frauen gibt es weit bessere Verwendung, wie Ihnen Ihr Gemahl sicher näher erläutern kann.« »Männer!« fauchte Anja. »Wie auf Terra gehabt, so von Cromar gekommen!« Die Bordverständigung wurde automatisch aktiviert und unterbrach den Disput, dem Dhark amüsiert lauschte. Tino Grappa meldete sich. »Dhark, wir haben ein Objekt in der Ortung. Es handelt sich um einen Xe-Flash...« * Ein alter, weißbärtiger Mann beugte sich über den
Erwachenden. »Petrus?« murmelte Ömer Giray. »Allahu akbar – ich bin im falschen Paradies gelandet. Ich will hier ‘raus, sofort!« Etwas schweres, Bewegliches, landete mit einem Sprung auf seinem Bauch, bewegte sich über seine Brust und ließ sich dort nieder, um ihm schnurrend warmen Atem ins Gesicht zu blasen. »Choldi!« tadelte der Weißbärtige. »Du hast hier überhaupt nichts zu suchen! Hinaus mit dir!« Die Katze blieb davon unbeeindruckt. Der alte Mann seufzte. »Verzeihen Sie, Ömer. Katzen finden immer ihren Weg, wenn sie irgendwohin wollen.« Er streckte eine Hand aus. Giray hob seinen Arm, wunderte sich selbst darüber, daß ihm das gelang, und begann die schnurrende Katze zu streicheln. »Lassen Sie nur. Ich mag Katzen.« »Choldi spürt das, sonst wäre sie nicht hier«, sagte der Alte. »Wissen Sie, wer Sie sind? Wissen Sie, was passiert ist? Ahnen Sie, wo Sie jetzt sind?« »Sie müssen Ezbal sein«, sagte der Agent. »Und da Sie mich Ömer nannten, muß ich zwangsläufig Ömer Giray sein. Spricht etwas dagegen?« Der Inder lächelte. »Es freut mich, daß Sie wieder Sie selbst sind.« »Wer sagt das?« murmelte Giray. »Vielleicht bin ich Urran.« »Dann müssen wir Ihre Ernährung auf Hundefutter umstellen.« »Nur nicht«, ächzte Giray. Er wußte jetzt, wo er sich befand: In der Cyborg-Station im Brana-Tal im tibetanischen Himalaja. Vor ihm stand Echri Ezbal, Choldi war seine Katze und Urran sein Hund; Giray hatte genug über diesen weisen, annähernd hundertjährigen Mediziner und Forscher gehört, um die Details zu kennen. Er richtete sich halb auf; Choldi äußerte
ihren kätzischen Unmut. »Was ist mit meinem Auge?« fragte Giray. Etwas stimmte mit seinem Sehvermögen nicht. Er hob die andere Hand, um nachzutasten. Ezbal stoppte ihn. »Nicht berühren. Wie fühlen Sie sich ansonsten?« »Ich könnte Bäume ausreißen«, behauptete Giray. »Aber hier gibt’s wohl nicht genug davon.« »Bitte, stehen Sie auf, Ömer. Sagen Sie mir, was Sie spüren.« Giray pflückte die protestierende Katze endgültig von seiner Brust, schwang die Beine aus dem Bett und erhob sich. »Ich spüre schlecht geheizten Fußboden unter meinen Fußsohlen«, sagte er. »Der Weltregierung muß es tatsächlich sehr schlecht gehen, daß sie der Cyborg-Station nicht mal genug Geld für die Heizung bewilligt.« »Sie wissen, was passiert ist?« Giray sah sich langsam um. Er begriff, warum er so schlecht sah – die räumliche Perspektive war zu schwach ausgeprägt. Eines seiner Augen funktionierte offenbar nicht mehr. Als er sich drehte, entdeckte er einen unauffällig aussehenden Mann, den er erst auf den zweiten Blick zu erkennen glaubte. »Mister Eylers?« »Bitte, Mister Giray, beantworten Sie Ezbals Frage.« »Ich wurde niedergeprügelt und totgeschlagen. Von aufgehetzten, fehlgeleiteten Menschen. Wer hat mich gerettet?« »Agent van Haag und seine Leute. Sie haben sehr gute Arbeit geleistet, Giray. Ich bedaure, was Ihnen zugestoßen ist.« »Warum kann ich nicht mehr richtig sehen?« »Ihr linkes Auge wurde zerstört, Ömer«, warf Ezbal ein. »Es bedarf einiger Zeit, es zu erneuern. Die anderen Verletzungen konnten wir bereits regenerieren.« »Wie lange bin ich schon hier? Ich nehme an, ich wurde in
ein künstliches Koma versetzt?« »Nachdem Sie aus dem echten erwachten, ja«, sagte der Brahmane. »Sie sind jetzt zwei Tage hier.« »Sie sagten, es bedürfe einiger Zeit, mein Auge zu erneuern. Ich werde also irgendwann wieder richtig sehen können?« Ezbal nickte. »Darf ich Sie zu einem Spaziergang einladen?« fragte er. »Sicher. Wenn ich dabei niemanden erschrecke.« Giray sah an sich herunter. Eylers lächelte und griff neben sich, nahm einen Stapel Kleidungsstücke und legte sie neben Giray auf das Krankenbett. Die Katze wollte sofort davon Besitz ergreifen. »Wenn ein Tier an mein Krankenbett darf, muß ich fit sein«, erkannte Giray und zog sich an. »Ich nehme an, daß ich extrem schwer verletzt war, wenn ich in die Cyborg-Station gebracht wurde. Merhaba Eylers, weshalb sind Sie hier? Doch nicht nur, um mir Kleidungsstücke zu reichen.« »Ich wollte sehen, wie Sie beim Erwachen reagieren.« »Und sind Sie zufrieden?« Eylers nickte. »Ja. Alles andere wird Ihnen Ezbal bei Ihrem Spaziergang erzählen.« Bald darauf schritten die beiden ungleichen Männer über das weitläufige Gelände, das unter einem hochenergetischen Schutzschirm lag. Die Cyborg-Station war nach wie vor ein Geheimprojekt der Regierung. Die Öffentlichkeit wußte zwar, daß dieses medizinische Zentrum existierte, aber für »Normalsterbliche« gab es keinen Zutritt. Das Brana-Tal konnte nur per Transmitter erreicht oder verlassen werden. Von den enormen Sicherheitsvorkehrungen war nichts zu bemerken. Nur wer genau hinsah, konnte bei einer ganz bestimmten Wetterlage das leichte Flimmern des Energieschirms erkennen. »Was sollen oder wollen Sie mir erzählen, hakim Ezbal?« fragte Giray. Der Brahmane blieb stehen. »Möchten Sie Cyborg
werden?« Der Türke schnappte nach Luft. »Was soll das, Ezbal?« stieß er hervor. Durchdringend sah er den alten Mann an. »Ist das der Preis für meine Heilung?« »Ömer, ich war nie ein Erpresser und werde nie einer sein. Ich verlange nichts als ein Lächeln für das, was meine Mitarbeiter und ich tun.« »Warum dann diese Frage?« »Sie ist der Grund für Bernd Eylers’ Anwesenheit. Er fragte mich, ob wir Sie zum Cyborg machen könnten. Ich habe Sie getestet, Ömer. Sie haben das Zeug dafür.« »Nein«, sagte Giray. »Sie können mich nicht getestet haben. Ich weiß, wie die Eignungstests ablaufen. Ich war im Koma, wie Sie selbst sagten. Ich war ohne Besinnung. Sie können mich nicht getestet haben. Was soll diese Farce?« »Ich weiß zwar nicht, woher Sie zu wissen glauben, wie die Eignungstests ablaufen. Aber ich glaube, Ihre Information ist veraltet. Wir haben neue Methoden entwickelt. Sie sind geeignet, Ömer, glauben Sie es mir. Und glauben Sie mir auch, daß Terra Menschen wie Sie braucht.« »Menschen, nicht Roboter!« konterte Giray. »Sie halten Cyborgs für Roboter?« »Was sind sie denn sonst? Sobald sie auf ihr Zweites System umschalten, unterliegen sie der Diktatur ihres Programmgehirns. Der Chip entscheidet, nicht der Mensch! Eiskalte, mörderische Logik, bar jeder Emotion! Cyborgs sind perfekte Roboter, besser als jede Maschinenkonstruktion, weil sie als Robots nicht zu erkennen sind, sondern immer als Menschen identifiziert werden! Als menschliche Hüllen... in denen ein Robot steckt!« Ruhig hatte Ezbal zugehört. »Cyborgs sind keine Roboter«, erwiderte er. »Roboter können nicht entscheiden, was sie sein wollen. Cyborgs haben jederzeit die Entscheidungsfreiheit, auf Normal zurückzuschalten...«
»Besonders in Gefahrensituationen, in die sie sich nur eingelassen haben, weil sie lediglich als Cyborg, nicht aber als Mensch damit fertigwerden, ja?« widersprach Giray. »Nein, Ezbal. Diese Entscheidungsfreiheit gibt es doch nur auf dem Papier! Ein Cyborg, der in einer solchen Situation zurückschaltet, ist ein Selbstmörder. Außerdem gefährdet er damit seine Mission. Nein, das gefällt mir nicht. Ich lasse mich nicht zum Roboter machen, der seelenlos seinem Programmgehirn gehorcht. Der zu einem bewußtlosen Gefangenen in seinem eigenen Körper wird, sobald der Chip die Kontrolle hat. Und«, er hob abwehrend die Hand, als Ezbal etwas sagen wollte. »Kommen Sie mir jetzt nicht damit, ich hätte durch größere Reaktionsschnelligkeit und höhere Belastbarkeit bei meinem letzten Einsatz besser abgeschnitten, wäre nicht so schwer verletzt worden! Das zählt für mich nicht.« Ezbal neigte den Kopf. »Verzeihen Sie mir«, bat er. »Aber genau das wollte ich anführen. Dennoch besitzen Sie ein charakterliches Potential, das Sie zum Cyborg prädestiniert. Sie sollten wissen, daß wir sehr strenge Maßstäbe anlegen, daß nicht jeder, der nur körperlich oder nur geistig top ist, genommen werden kann. Es müssen viele andere Dinge bedacht werden. Opferbereitschaft...« »Die bei mir nicht existiert!« unterbrach Giray. »Ich werde mein Ich nicht opfern, um mich zu einer Maschine machen zu lassen. Ich lasse mich nicht von einer Tronik kommandieren. Ich werde kein Sklave eines Chips! Vergessen Sie’s. Streichen Sie mich von der Cyborg-Liste!« »Ömer, ich bedaure Ihre Entscheidung«, sagte Ezbal ruhig, »aber ich akzeptiere sie. Auch wenn ich anderer Ansicht bin und die Cyborgs Ihnen ebenfalls versichern könnten, daß sie keinesfalls Sklaven ihrer Programmgehirne sind. Im Gegenteil, es kommt oft genug vor, daß das Programmgehirn überfordert
ist und eine Rückschaltung empfiehlt, um das Menschliche im Cyborg zu Rate zu ziehen!« »Darauf kann und will ich mich nicht verlassen«, erwiderte Giray. »Eylers wird sehr enttäuscht sein, aber das ist nicht unser beider Problem. Da ist allerdings noch etwas anderes, das ich Ihnen vorschlagen wollte.« Giray blieb mißtrauisch. Die Formulierung ›nicht unser beider Problem‹ gefiel ihm nicht. Das roch ihm zu sehr nach Anbiederung. Andererseits hatte er genug von Echri Ezbal gehört, um zu wissen, daß dieser große alte Mann es nicht nötig hatte, sich anzubiedern. »Es geht um Ihr Auge«, sagte Ezbal. »Wir können es aus Ihrem Zellmaterial nachbilden und später implantieren. Aber das wird eine geraume Zeit dauern.« »Wie lange?« »Vermutlich mehrere Wochen«, gab Ezbal zu bedenken. »Es gibt aber eine andere Möglichkeit. Wir können Ihnen ein künstliches Auge einsetzen. Das ginge sofort, und Sie wären bereits heute abend wieder fit.« »Fit? Ich könnte von hier fort?« Ezbal nickte. »Geben Sie mir Bedenkzeit«, verlangte Giray. »Ich verstehe Ihre Sorge«, sagte Ezbal lächelnd. »Wir können ein biologisches Auge trotzdem nachzüchten und es Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt einsetzen. Das ist absolut kein Problem.« Ömer Giray sah an Ezbal vorbei. Über die weißen Bauten, in denen sich Dinge abspielten, die noch vor ein paar Jahren unglaublich erschienen. Hier wurde die Zukunft gemacht – die medizinische Zukunft der Menschheit. Und hier wurden Cyborgs produziert. »Ich brauche keine Bedenkzeit«, zog er seine Forderung zurück. »Geben Sie mir das künstliche Auge. Wenn das
organische fertig ist, komme ich zurück und lasse es gegen das künstliche tauschen.« Er wußte, daß das doppelte Arbeit war. Aber er wollte weg von hier. * »Ich glaube nicht, daß wir ihn überzeugen können«, vermutete Ezbal später im Gespräch mit Bernd Eylers. »Auch die vielen technischen Vorteile, die das künstliche Auge ihm bieten wird, helfen da sicher nicht.« »Trotzdem versuchen Sie es?« »Natürlich. Es ist ja auch in seinem Sinn. Denn es dauert wirklich sehr lange, ein menschliches Auge zu klonen. Das ist ein äußerst kompliziertes Gebilde. Bis es fertig ist, können Wochen vergehen. Es wäre nicht gut, Giray so lange hier festzuhalten. So ist es besser. Und ich hoffe immer noch, daß er Gefallen an dem Kunstauge findet. Das wäre der erste Schritt, ihn zu überzeugen. Wenn Sie ihn wirklich zum Cyborg machen lassen wollen. Aber solange er dem nicht aus freiem Willen zustimmt, wird er Mensch bleiben.« »Selbstverständlich«, murmelte Eylers. »Es wäre nur schade um sein Potential.« Ezbal lächelte. »Die Welt hat Millionen Jahre ohne Cyborgs existiert. Sie wird es auch verkraften, diesen einen nicht zu bekommen.«
14. Der Xe-Flash trieb mit dreiviertel Lichtgeschwindigkeit durch den Raum und reagierte auf keine Funkanrufe, was bei der inzwischen vernachlässigbar gering gewordenen Entfernung nichts mehr mit den Störungen im galaktischen Magnetfeld zu tun haben konnte. Die POINT OF bekam zwar keinen Hyperfunkkontakt mit Terra oder mit anderen galaktischen Funkstationen, aber die Verbindung zur EUROPA funktionierte nach wie vor einwandfrei. »Der Antrieb des Xe-Flash ist außer Funktion«, berichtete Tino Grappa. Glenn Morris aus der Funk-Z konnte noch eins draufsetzen. »Ich habe die Echokontrolle eingesetzt. Sender und Empfänger des Xe-Flash arbeiten nicht.« »Ausgeschaltet oder defekt?« wollte Dro Cimc wissen. »Fragen Sie mich was Einfacheres, Wer«, gab Morris zurück. »Hellsehen kann unsere M-Technik nicht.« »Ich möchte den Xe-Flash untersuchen«, bat Cimc. Ren Dhark nickte. Er verstand den Wunsch des Tel. Dessen Volk, das seines Aussehens wegen von den Terranern anfangs »Schwarze Weiße« genannt worden war – Humanoide mit dunkler Haut, die aber keine negroiden Merkmale aufwiesen – benutzte ebenso wie die Terraner Relikte der MysteriousTechnik, war aber nie in den Besitz von Ringraumerflotten gekommen, wie es die Terraner geschafft hatten. Dafür besaßen sie Xe-Flash in noch unbekannter Zahl, über die auch Dro Cimc nicht redete, weil er trotz aller Freundschaft zu Dhark und aller Sympathie für die Terraner nicht zum Verräter an seinem Volk werden wollte; militärische Geheimnisse gab er nicht preis. Dhark akzeptierte das.
Und weil Xe-Flash – dieser Begriff war geprägt worden, als die Terraner in der Sternenbrücke zum ersten Mal auf ein solches Raumfahrzeug der Mysterious im Besitz der Tel trafen – bislang ausschließlich von den »Schwarzen Weißen« benutzt wurden, war es mehr als verständlich, daß der Wer sich dafür interessierte. »Sie begleiten Wonzeff«, bestimmte Dhark. »Schauen Sie sich die Sache an.« Wenig später waren Pjetr Wonzeff und Dro Cimc im Flash 005 unterwegs. Die Beiboote der POINT OF boten nur Platz für zwei Personen – im extremen Notfällen auch für drei; der Xe-Flash war ein zehnmal größeres Gebilde mit sehr viel Platz für Passagiere. Waren die Flash mit einem Sportwagen des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar, dann war ein Xe-Flash so etwas wie ein Omnibus. Der Xe-Flash flog ohne sein Intervallfeld. Auch als Wonzeff ihn aus nächster Distanz anfunkte, erhielt er keine Antwort. Er versuchte es über die Gedankensteuerung, Kontakt aufzunehmen. Aber auch darauf reagierte das andere Raumboot nicht. »Merkwürdig«, murmelte der Ukrainer. »Da kann doch nicht alles im Eimer sein? M-Technik ist doch unkaputtbar?!« Cimc äußerte sich nicht dazu. »Ich fliege ein!« beschloß Wonzeff. Er gab geringfügig Schub und schlich sich förmlich im Schneckentempo ein. Das Intervallfeld des Flash ließ die Unitallwandung des anderen Raumbootes gegenstandslos werden. »Warum so langsam und vorsichtig?« wollte Dro Cimc wissen. »Wenn Sie in die POINT OF einfliegen, geht das doch auch mit Tempo!« Wonzeff grinste, was der mit dem Rücken zu ihm sitzende Tel nicht sehen konnte. »In der POINT OF funktioniert ja auch alles«, sagte er. »Aber meine Ortung verrät mir, daß dieser Xe-
Flash technisch gesehen tot ist. Wissen Sie, was bei Objekten passiert, die nicht zur M-Technik gehören? Der Brennkreis des Flash schweißt ein hübsches Loch hinein. Das will ich hier nicht riskieren.« »Aber der Xe-Flash gehört doch zur M-Technik, und seine Hülle besteht aus Unitall!« »Trotzdem riskiere ich es nicht, das Ding zu perforieren«, erwiderte Wonzeff. »Wenn ich mit eingeschaltetem Brennkreis in ein anderes Objekt einfliege, gibt’s ein Loch, wenn ich in einen Ringraumer einfliege, nicht, weil der Brennkreis da gesondert in ein Intervallfeld gehüllt wird, nur weiß keiner von uns, ob das vom Flash oder vom Ringraumer erzeugt wird! Ist Letzteres der Fall, funktioniert das hier nicht, weil hier scheinbar gar nichts mehr funktioniert.« Der Bildschirm über seinem Kopf zeigte, wie der Flash langsam in den anderen Flugkörper eindrang. Wonzeff hatte schon beim Anflug Maßarbeit geleistet. Kaum befand sich die 005 im Innern des Xe-Flash, als er das Intervallfeld abschaltete und die spinnenbeinartigen Ausleger ausfuhr. Die trafen auf den Boden, schrammten darüber und bremsten damit den Flash ab; zur Not wäre er auf der anderen Seite im Schrittempo gegen die Unitallwand gestoßen und abgestoppt worden. Der Ausstieg flog auf. Wonzeff und Cimc, in geschlossenen Raumanzügen, kletterten aus dem Flash. Der Wer stöhnte verzweifelt auf. Sie fanden 14 Tel. 14 Tel, die tot waren, weil sie keine Raumanzüge besaßen. Im ganzen Xe-Flash war kein einziger Raumanzug zu finden. Die Schwarzen Weißen hatten offenbar grenzenloses Vertrauen in die M-Technik gehabt, und das war ihnen zum Verhängnis geworden. Die toten Körper waren von Eiskrusten überzogen. Im Innern des Flash herrschten Tiefsttemperaturen. Die Insassen waren erfroren, weil die Bordheizung nicht funktionierte.
Alles andere funktionierte ebenfalls nicht. Steuerung, Antrieb, Funk, Waffen, Energieversorgung, Lufterneuerung, Ortung – die gesamte Technik war tot. Es gab einen Haufen Geräte, die von den Tel nachinstalliert worden waren. Von denen funktionierte ebenfalls keines mehr. »Warum?« wollte Wonzeff wissen. Cimc schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es sieht aus, als wäre unsere Technik von der übergeordneten der Mysterious überlappt und blockiert worden! Aber das können wir feststellen! Ich baue eines der Geräte aus, und wir können es in der POINT OF untersuchen!« »Ausbauen? Ohne Werkzeug?« Statt einer Antwort griff der Wer zum Blaster und löste eines der Geräte mit thermischer Gewalt. Unterdessen stopfte Wonzeff einen der Toten in den Flash. »Eng wird’s, Herr Admiral, auf dem Rückflug«, brummte er. So vorsichtig, wie er eingeflogen war, flog er auch wieder aus und sorgte dafür, daß der Brennkreis nur ganz kurz im Innern des Xe-Flash aktiv wurde; gerade so lange, um genug Schub zu entwickeln, daß er die 005 im Schutz ihres Intervallfeldes in den Weltraum hinausgleiten ließ. Erst draußen schaltete Wonzeff den SLE erneut ein und nahm Kurs auf die POINT OF, in die er normal einfliegen konnte, ohne daß der Brennkreis des Sub-Licht-Effekts Schaden anrichten konnte. Das Gerät, das Cimc ausgebaut hatte, wurde im Maschinenraum untersucht, der Tote in der Medo-Station – ironischerweise auf dem gleichen Untersuchungstisch, auf dem der Grako sich aufgelöst hatte. Cimc hatte recht; das Tel-Gerät war durch die versagende M-Technik blockiert worden. Zu genau jenem Zeitpunkt, an welchem der weiße Blitz durch die Galaxis gerast war... Und der geborgene Tel war der Obduktion zufolge etwa acht oder neun Stunden später erfroren. Zu jener Zeit, als die
Weltraumkälte sich durch die Unitallhülle gefressen hatte. Bleich vor Entsetzen hörte Ren Dhark sich die Untersuchungsergebnisse an. »Wir müssen nach Terra«, entschied er dann. »So schnell wie möglich. Ich fürchte, was bei den Nogk geschah, war nur die Spitze des Eisbergs! Was hier passierte, muß weit schlimmer gewesen sein.« Ein paar Wissenschaftler protestierten, unterstützt von Arc Doorn. »Wir müssen den Xe-Flash bergen und untersuchen! Wir haben hier eine einmalige Gelegenheit...« »Wir haben keine Zeit mehr«, wehrte der Commander der Planeten ab. »Der Xe-Flash wird sich kaum in Nichts auflösen, seine Koordinaten sind bekannt. Später können wir ihn immer noch bergen lassen. Wir fliegen nach Terra! Das ist um so dringender, als wir durch die Strahlenstürme immer noch keinen Funkkontakt bekommen.« Nur Minuten später nahmen POINT OF und EUROPA wieder Fahrt auf. Noch ahnte an Bord der beiden Raumer niemand, wie katastrophal es in der Heimat tatsächlich aussah...
15. In einer komplizierten Operation, die mehrere Stunden dauerte und nicht nur Chirurgen, sondern auch Neurologen erforderte, wurde Ömer Giray das künstliche Auge eingesetzt. Dabei kam vorwiegend Cyborg-Technologie zum Tragen, weil diese Operation ohne das in diesem Bereich erarbeitete Wissen nahezu unmöglich gewesen wäre. Echri Ezbal fühlte sich nicht als Verräter an Girays innerer Einstellung, als er dem Rekonvaleszenten anschließend erzählte, was ihm wie und mit welchen Mitteln und welchen Tricks implantiert worden war. Das künstliche Auge war vollgestopft mit aller Mikroelektronik, die terranische Technik bisher entwickeln und kontrollieren konnte. Die Optik konnte stufenlos von Mikro bis Makro zoomen und ließ sich durch bestimmte Kontraktionen der Augenmuskeln auf sämtliche Bereiche des elektromagnetischen Spektrums umschalten. Zugleich funktionierte das Gerät als Kamera, die das Erfaßte aufnehmen und speichern konnte, um es anschließend abrufen und auswerten zu können. Damit nicht genug, war noch ein Mini-Schocker eingebaut worden, der Gegner auf nahe Entfernung – bis maximal 1 m – kurzfristig betäuben konnte. Die Energie für dieses äußerlich von einem normalen Auge nicht zu unterscheidende Gerät wurde auf biologischem Weg aus Girays Körper gewonnen. Giray zeigte nicht, ob er mit diesen Modifikationen wirklich einverstanden war. »Dann kann ich Eylers ja künftig als Gleicher unter Gleichen entgegentreten«, bemerkte er erstaunlich ruhig. »Wie meinen Sie das, Ömer?« fragte Ezbal.
»Wenn ich mich nicht irre, ist Eylers’ linker Unterarm eine Prothese, in der eine Gaswaffe steckt«, sagte Giray. »Ich frage mich, warum er nie versucht hat, den Unterarm und die Hand nachwachsen zu lassen. Was ja wohl noch einfacher machbar wäre als ein Auge zu klonen.« »Es wäre wirklich kein Problem«, erwiderte Ezbal. »Ich habe es ihm auch schon oft vorgeschlagen. Aber er lehnt ab. Er findet diese Prothese, an die er sich in vielen Jahren gewöhnt hat, weit praktischer als seine frühere echte Hand.« »Hoffentlich gewöhne ich mich nicht zu sehr an dieses Hightech-Auge«, brummte Giray. »Aber was auch immer passieren wird: Das ist das Äußerste, was ich über mich ergehen lasse. Ich warte darauf, daß mein natürliches Auge fertig wird, und zum Cyborg werden Sie mich nie machen! Ich lasse doch nicht meine Seele und meine Persönlichkeit verstümmeln!« Hatte er Ezbal und Eylers durchschaut? Ezbal ließ ihn gehen. Pantha rei. Alles fließt. Und der Strom, in dem Ömer Giray floß, würde ihn an sein Ziel tragen. Wie auch immer das aussah und wo auch immer es war. Es lag in der Hand des Gottes, an den jeder von ihnen glaubte, welchen Namen auch immer er trug. Allah, Jahwe, Jehova, Brahma, Wischnu, Odin... Om mani padme hum. * Giray gewöhnte sich relativ schnell an die neuen Funktionen seines Auges; nur mit dem Mini-Schocker konnte er sich nicht so recht anfreunden. Anderthalb Tage später erhielt GSO-Agent Ömer Giray die Anweisung, sich in Alamo Gordo einzufinden. Er passierte die Sicherheitskontrollen im Brana-Tal und ließ sich per Transmitter an sein Ziel abstrahlen. Er meldete sich
auftragsgemäß im Büro von Bernd Eylers und fand dort Jos Aachten van Haag vor. Der staunte, weil Giray in der Zeit seiner Rekonvaleszenz ein noch recht stoppeliger Bart gewachsen war, der sein Aussehen erheblich veränderte. »Rasieren Sie den bloß nicht ab, im Gegenteil, den müssen wir noch ein bißchen prachtvoller hinbekommen«, schlug van Haag vor. »Dafür gibt’s ein Patentmittel: Die Wangen von außen mit Honig einschmieren und von innen mit Hühnermist, weil Hühnermist treibt und Honig zieht. Umgekehrt angewendet, wächst der Bart allerdings nach innen...« »Haben Sie das Rezept selbst schon erprobt?« fragte Giray. »Hat er«, warf Eylers ein. »Seitdem hat er Haare auf den Zähnen...« »Kann ich drauf verzichten«, erwiderte Giray. »Mein nächster Job erfordert also, daß ich Bart trage? Wenn’s denn sein muß. Was tut man nicht alles für Terras Sicherheit...« »Ihr nächster Job heißt, Mullah Achmed Gezmec aus der Reserve zu locken«, sagte Eylers. »Wie wir schon ahnten und Jos bestätigen konnte, ist Gezmec Robone. Er gehört zur Organisation Scholf und ist derzeit untergetaucht. Finden Sie ihn.« »Nichts leichter als das. Darf ich Ihr Vipho benutzen? Ich frage mal eben bei der Meldebehörde nach seiner Adresse.« Jos räusperte sich. Eylers sah Giray strafend an. »Hier versteht wohl keiner den Humor eines Mannes, der knapp dem Tod und noch knapper der Cyborg-Sklaverei entging«, brummte Giray. »Na schön, wie stellen Sie sich die Aktion vor, Chef?« »Ganz einfach«, log Eylers. »Hören Sie zu...« * Wenn er in den Spiegel schaute, erkannte Ömer Giray sich
kaum wieder. Ein prachtvoller Vollbart tarnte sein Gesicht, und das lange schwarze Haar, das er normalerweise zu einem Zopf zusammenband, verschwand vollständig unter einem Turban. Van Haag und er waren an den Bosporus zurückgekehrt. Giray, der sich an sein neues Auge immer mehr gewöhnte und mit dessen Möglichkeiten spielte, schleuste sich in eine Koranschule ein, um sich zum Imam ausbilden zu lassen. Das war seine Tarnung. Die des Gegners war die Schule selbst; in Wirklichkeit war sie nichts anderes als eine konspirative Vereinigung, die von dem untergetauchten robonischen Mullah geleitet wurde. Unter dem Deckmantel der Religion arbeitete Achmed Gezmec, der hier vorsichtshalber einen anderen Namen angenommen hatte, gegen Terra und versuchte, terranische Moslems so zu beeinflussen, daß sie zu Gegnern der Weltregierung wurden. Er mißbrauchte die Religion für seine umstürzlerischen Pläne. Exakter: für Scholfs Pläne. Scholf war der »Mann fürs Grobe« auf Terra. Und er war nach wie vor nicht zu fassen. Ebenso wie der Planet unbekannt war, von dem aus die Robonen derzeit agierten. Hide-out war vom Nor-ex entvölkert worden, und es gab eine Menge Terraner, die gehofft hatten, damit sei auch das Robonenproblem endgültig gelöst. Aber die Robonen waren immer noch da... Und sie sahen sich immer noch als die wahren Menschen, während die Terraner für sie die Verdammten waren. So wie es einst die Giants, die All-Hüter, bestimmt hatten... Giray war gleich am ersten Tag ein Musterschüler. Gleich am ersten Tag aber bestellte der Leiter der Koranschule ihn zu sich. Giray hatte nur eine kurze Chance, mit van Haag Kontakt aufzunehmen, um ihn vorzuwarnen und darauf vorzubereiten, daß vermutlich Unterstützung nötig war. »Ich weiß nicht, ob Gezmec mich durchschaut hat. Ich weiß nur, daß es zu einer
direkten Begegnung kommen wird.« Jos deutete auf Girays linkes Auge. »Schocken Sie ihn«, empfahl er. »Verdammt, Jos, damit habe ich ihn immer noch nicht aus der Schule ‘raus! Ich komme an ihn ‘ran, aber dann brauche ich sofort Unterstützung!« »Bekommen Sie, Ömer«, versprach Jos. »Wir werden da sein.« »Ja... wie in der Blauen Moschee. Diesmal ein künstliches Auge, beim nächsten Mal ein künstliches Gehirn... auf die Weise schafft ihr es noch, mich zum Cyborg wider Willen zu machen.« »Ich glaube, Sie brauchen wirklich ein künstliches Gehirn«, bemerkte Jos trocken. »Das ist dann vielleicht nicht ganz so paranoid! Viel Glück, Ömer! Möge Ihr Gott uns helfen, Sie zu beschützen.« Als Giray nach dem Mittagsgebet das Zimmer betrat, das dem Leiter der vermeintlichen Koranschule als Büro diente, sah er nicht nur Gezmec vor sich, sondern auch den Mann, der in der Blauen Moschee neben ihm gestanden hatte. Schlagartig begriff er, wem er seine Enttarnung zu verdanken hatte. Dieser unauffällige Mann in der Menschenmenge, der jetzt hier stand, war einer von Gezmecs Agenten, Agitatoren, Helfern, Stimmungsmachern. Oder wie auch immer man das nennen mochte, was er zu tun hatte. Und ein kurzes Aufblitzen seiner Augen verriet ihm, daß dieser Mann ihn sofort wiedererkannt hatte. Trotz des Vollbarts. Im nächsten Augenblick erinnerte Giray sich auch, woher ihm dieser Mann letztens so bekannt vorgekommen war. Sie waren sich einmal begegnet in der »Agentenschule«, in der man Giray die nötigen Spionage- und Überlebenstechniken – vor allem letztere – beigebracht hatte.
Der Mann an Gezmecs Seite gehörte zur GSO! Ein Verräter! Im gleichen Moment war es Giray klar, daß er kaum noch eine Chance hatte. Er setzte den Schocker ein. Ein Blick auf den Verräter, ein Blinzeln in ganz bestimmtem Rhythmus – und der Verräter brach zusammen. Für Gezmec reichte die Kapazität der Miniwaffe nicht mehr. Sie mußte erst aus Girays Körperelektrizität neu aufgeladen werden. Aber Gezmec hatte eine Waffe greifbar! Mit einem Blaster giantscher Fertigung wollte er auf Giray schießen. Der warf sich zur Seite, bekam dabei noch den zusammenbrechenden Verräter zu fassen und benutzte ihn als Deckung. Gezmec stellte seine robonische Reaktionsschnelligkeit unter Beweis und verriß die Waffe noch im Moment des Auslösens, weil er seinen Helfer nicht verletzen wollte. Dadurch bekam Giray die Chance, nach der Waffe zu greifen, die er in der Kleidung des paralysierten Doppelagenten ertastete. Giray lehnte Waffengewalt ab, aber in diesem Moment blieb ihm keine andere Wahl. Durch den Stoff hindurch bekam er die Waffe zu fassen, richtete sie aus und drückte ab. Ein Blasterstrahl fauchte aus dem Gewand und verfehlte Gezmec um Haaresbreite. Giray gab Dauerfeuer und ließ den Strahl durch das Zimmer streichen. Mit einem Wutschrei ergriff der Robone die Flucht durch eine Geheimtür. Giray setzte ihm nach. Den Blaster des Verräters nahm er mit. Vorsichtig trat er durch die Geheimtür in einen schmalen Gang. Von Gezmec war nichts zu sehen. Von einer Tür allerdings auch nicht. Auf den ersten Blick schien es, als besäße dieser Gang außer der Tür zu Gezmecs Büro keinen
weiteren Zu- oder Ausgang. Giray lauschte nach Schritten. Irgendwo glaubte er das leise Klicken eines Türschlosses zu hören. Also doch eine Tür, gut getarnt! Giray eilte in die Richtung, aus der er den Laut vernommen hatte, und schaltete sein künstliches Auge, das äußerlich nicht von einem echten zu unterscheiden war, um. Plötzlich sah er den ultrafeinen Haarriß, der die Konturen der Tür nachzeichnete. Wie bei den Mysterious mit ihren fugenlosen Türen, dachte Giray und suchte nach dem Schließmechanismus. Plötzlich glitt die Tür nach leichtem Druck wie von selbst auf. Überrascht stellte er fest, daß er sich unter freiem Himmel befand. Der Geheimgang führte direkt nach draußen! Wo steckte Gezmec? Giray sah sich hastig um. Er entdeckte den Mullah, der versuchte, geschwinden Schrittes, aber möglichst unauffällig den Park zu durchqueren, an dessen anderem Ende sich die Hagia Sofia befand, viertgrößter Sakralbau der Welt. Dieses Juwel Istanbuls und des gesamten Orients war einst vom byzantinischen Kaiser Justinian I. in Auftrag gegeben und zwischen den Jahren 532 und 537 errichtet worden. Die »Kirche der heiligen Weisheit« wurde später für fünf Jahrhunderte als Moschee genutzt, ehe der Reformer Atatürk sie 1935 zum Museum umwidmen ließ. Im Gegensatz zu vielen anderen Prachtbauten hatte die Hagia Sofia die Invasion der Giants 2051 unversehrt überstanden. Gezmec verschwand in der Hagia Sofia. Giray folgte ihm. Er hoffte, daß Jos nicht den Anschluß verpaßte und mitbekommen hatte, daß sich der Mullah und der vermeintliche Koranschüler bereits nicht mehr in der Schule aufhielten. Nur wenige Menschen hielten sich in dem Museum auf. Giray orientierte sich. Er konnte Gezmec nicht sehen. Durch die hochliegenden Fenster der von nur vier Stützpfeilern
getragenen 31-Meter-Kuppel kam Sonnenlicht wie das blendende Strahlengewitter einer Laser-Show und erfüllte das Innere des Bauwerks mit unglaublicher, phantastischer Farbenpracht. Giray befand sich zum ersten Mal in der Hagia Sofia. Der Anblick raubte ihm fast den Atem und hätte ihn beinahe seinen Auftrag vergessen lassen. Er riß sich nur mühsam von dem Licht- und Farbenspiel los und schaltete sein Kunstauge auf Infrarot um. Der Robone hatte sich schnell bewegt; sein Körper mußte daher mehr Wärme abstrahlen als andere Menschen. Giray erkannte die Wärmespur auf dem Boden; sie zeichnete sich deutlich erkennbar ab. Der GSO-Agent lächelte. Er holte auf. Gezmec schien sich jetzt relativ sicher zu fühlen. Er hatte sich einem der Treppenaufgänge zugewandt, der in eines der fünf Minarette des Gebäudes führte. Dort wollte er wohl abwarten, bis die Gefahr für ihn vorüber war, oder auch überlegen, wie er Giray am unauffälligsten ausschaltete, sobald der Agent einen Fehler beging. Der folgte dem Robonen in das Minarett. Gezmec war es, der einen Fehler begangen hatte. Jetzt saß er in der Falle und konnte nicht mehr zurück. Es ist immer wieder das Gleiche, dachte Giray kopfschüttelnd. Der Verfolgte flüchtet nach oben, obgleich ihm klar sein muß, daß er dort nicht mehr wegkommt! Unbegreiflich, dieses unlogische Verhalten... Vorsichtig machte Giray sich an den Aufstieg. Plötzlich fauchte ihm ein Blasterstrahl entgegen und verfehlte ihn nur knapp. Die Energie zerschmolz die Treppenstufen neben Giray. Gezmec hatte seinen Verfolger entdeckt und versuchte, ihn zu töten. Giray sprang vorwärts. Abermals entging er nur knapp einem Strahlschuß. Hinter und unter ihm löste sich die Treppe
jetzt in voller Breite auf. Der Robone schloß Giray mit sich in der Falle ein, in welche er getappt war! Der GSO-Agent zögerte, zurückzuschießen. In einem Hause Gottes zu kämpfen, war ein Sakrileg. Auch wenn die Hagia Sofia schon längst nicht mehr als Gotteshaus genutzt wurde. Der Robone kannte diese Skrupel nicht. Er feuerte immer wieder auf Giray, zwang ihn in Deckung, während er sich weiter nach oben arbeitete. Irgendwann, lange Minuten später, hatte Gezmec die erste der außenliegenden Galerien erreicht. Er schlüpfte nach draußen. Giray fragte sich, was der Mann sich davon versprach. Doch als er dann selbst die Tür erreichte, stellte er fest, daß Gezmec nicht ganz so närrisch war, wie er vermutet hatte. Über ein Minivipho mußte er Hilfe herbeigefunkt haben. Giray sah einen Jett, der sich dem Minarett mit hoher Geschwindigkeit näherte. Offenbar wollte Gezmec sich hier oben abholen lassen! Er kletterte auf die Zinnen und balancierte dort, auf den Jett wartend, an dem sich bereits die Einstiegsluke öffnete. In diesem Moment sah Giray auf dem Nachbarturm Jos Aachten van Haag. Der Agent hielt seinen Blaster mit beiden Händen und feuerte auf den Jett! Die Maschine geriet ins Trudeln. Etwas explodierte. Funken sprühten, Flammen schlugen aus dem Antriebssektor. Der Jett taumelte weg und dicht an Gezmec vorbei. Giray konnte das verzerrte Gesicht des Piloten erkennen, der versuchte, die Maschine wieder unter Kontrolle zu bekommen. Gezmec sprang trotzdem! Er versuchte, die offene Luke des Schwebers zu erreichen. Aber in diesem Moment setzte das brennende Triebwerk wieder ein, der Jett erhielt zusätzlichen Schub und schrammte an der Wand des Minaretts entlang.
Gezmec verfehlte die Luke. Und stürzte lautlos in die Tiefe. Noch während er fiel, feuerte er auf Giray, der sich über die Brüstung beugte. Einer der Schüsse erfaßte die Pilotenkanzel des Jett. Die Klarsichtschale zerplatzte, und Giray sah, daß der Kopf des Piloten plötzlich fehlte. Dann schmierte die Maschine endgültig ab und stürzte steuerlos dem Boden entgegen. Falls es neben dem Piloten noch weitere Robonen in dem Schweber gegeben hatte, ließ sich das nicht mehr feststellen. Der Jett war beim Aufprall explodiert und dermaßen ausgebrannt und verglüht, daß selbst von dem Piloten kaum mehr als Asche übriggeblieben war. Achmed Gezmec hatte seine Geheimnisse mit in den Tod genommen. Er konnte nicht mehr verhört werden. Wieder einmal war die Spur zu Scholf, dem Agentenführer der Robonen, abgerissen.
16. »Geht nicht!« Robert Saam lehnte das Schwert, das Jon Vassago ihm gegeben hatte, achtlos an seinen Labortisch. Einer seiner Assistenten würde es nachher in einen speziellen Lagerraum bringen. Dort lagerten diverse defekte oder unausgereifte Erfindungen Saams, zum Wegwerfen zu schade. »Natürlich geht es nicht«, erwiderte Vassago. »Deshalb bin ich ja hier. Ich möchte Sie bitten, mein Flammenschwert zu reparieren.« »Wahrscheinlich ist es gar nicht kaputt«, vermutete Saam. »Ich glaube eher, Sie haben zu oft damit herumgespielt, und jetzt sind wieder mal die Megabatterien leer.« »Ich spiele nicht herum!« entrüstete sich Vassago. »Ich habe das Schwert lediglich ein paarmal getestet, wie es sich gehört. Schließlich muß ich sichergehen, daß es im Kampf nicht versagt.« »Im Kampf?« spottete Saam. »Soweit ich informiert bin, kam es noch nicht ein einziges Mal zum Einsatz.« »Das war bislang auch nicht notwendig«, räumte Vassago ein. »Eine so gefährliche Waffe darf man nicht leichtsinnig einsetzen. Meistens reicht im Nahkampf die Faust oder Handkante aus.« »Allmählich regen Sie mich auf«, entgegnete Saam und stemmte die Hände in die Hüften. »Wenn Sie das Flammenschwert nie benutzen, wieso soll ich es dann laufend durchchecken und die Batterien ersetzen?« »Weil ich es vielleicht irgendwann doch noch zu meiner Verteidigung benötige. Man weiß ja nie«, machte Vassago ihm klar und stemmte ebenfalls die Hände in die Hüften. Der Anblick der beiden reizte zum Schmunzeln. Jon
Vassago war ein hünenhaftes Mannsbild mit weit ausladenden Schultern. Abgesehen von einem nach unten gebogenen Schnurrbart war sein Kopf völlig kahl, er hatte nicht einmal Augenbrauen. Sein Anzug war von ausgesuchter Eleganz. Nur der breite Gürtel, den er unter der Jacke trug und an dem eine Schwertscheide hing, paßte nicht zu der eleganten Aufmachung. Gegen den gestandenen Vierundvierzigjährigen nahm sich der sechsundzwanzigjährige Norweger Robert Saam wie ein Schmachtlappen aus. Er war mittelgroß, hager und hatte dichtes blondes Haar, ein unbändiger Schopf, der ihm wirr vom Kopf abstand. Um den Hals trug er einen Schal, wie immer in der kühlen Jahreszeit, unabhängig davon, ob die Witterung tatsächlich kühl oder eher mild war. Die beiden waren nicht allein im Labor. Der sechzigjährige kanadische Wissenschaftler George Lautrec, der siebenunddreißigjährige indonesische Funkund Ortungsspezialist Saram Ramoya und die neunundzwanzigjährige Schweizer Biologin Regina Lindenberg saßen in einiger Entfernung um einen runden Tisch herum. Frühstückspause! Die drei zählten zu Robert Saams engsten Vertrauten. Das junge Universalgenie Saam konnte sich auf sein eingeschworenes Team felsenfest verlassen. Zuletzt hatte ihm das Trio bei der Errichtung eines neuartigen Linearbeschleunigers auf Ast-1 hilfreich zur Seite gestanden. »Die zwei Streithähne erinnern mich an ein uraltes Märchen«, raunte Lautrec den beiden anderen am Tisch zu. »Ein kleiner Junge fand am Strand eine Flasche, die er entkorkte. Es blitzte, knallte und dampfte – und plötzlich stand ein riesiger Flaschengeist vor dem Kind.« »Verstehe«, entgegnete Ramoya leise. »Vassago ist der Geist, Saam der Junge. Wie ging das Märchen weiter? Hat der Riese den Kleinen zerquetscht?«
»Nein, der Knabe hatte drei Wünsche frei«, verriet ihm der Kanadier. »Was würdet ihr euch wünschen?« »Ich hätte nur einen einzigen Wunsch«, sagte Ramoya und blickte Regina verzehrend an. »Den aber gleich dreimal hintereinander.« »Aufschneider«, konterte die bildschöne Schweizerin. »Nach dem zweiten Mal würdest du halbtot auf der Matratze liegen und wie ein Karpfen nach Luft schnappen. Männer über dreißig kennen leidenschaftliche Liebe doch nur noch aus ihren wehmütigen Erinnerungen an eine längst vergangene Jugend.« Sie machte eine Kopfbewegung in Saams Richtung. »Unser Kleiner hat bestimmt mehr Elan als du. Schade, daß er so schüchtern ist.« Regina liebte es, den Indonesier eifersüchtig zu machen. Ihr mißfiel seine machohafte Art. Frauen schien er lediglich als gefühllose Schmusekissen zu betrachten. Daß sie seinem ständigen Werben nicht gänzlich abgeneigt war, zeigte sie ihm nie. Mit Robert Saam hatte sie nichts im Sinn, der war ihr viel zu unreif. Allerdings genoß sie es, wenn er ein klein wenig nervöser wurde, sobald sie in seine Nähe kam. Die obersten Knöpfe ihres Kittels ließ sie stets offen, wie aus Versehen, und »zufällig« trug sie darunter die gewagtesten Dekolletés. Saam unterbreitete Vassago einen Vorschlag zur Güte. »Vergessen Sie das Schwert, es paßt sowieso nicht zu Ihrem feinen Anzug. Statt dessen rüste ich Sie mit einer neuartigen Waffe aus, die ich kürzlich so ganz nebenbei erfunden habe.« Er überreichte Vassago einen Gegenstand. Ramoya reckte den Hals, konnte vom Frühstückstisch aus jedoch nicht genau erkennen, worum es sich handelte. »Sieht aus wie ein Strick, glaube ich.« »Vielleicht ein Galgenstrick«, scherzte Lautrec. »Damit will er Vassago andeuten, er möge ihn endlich in Frieden lassen und sich am nächsten Baum aufhängen.«
»Das würde Wallis aber gar nicht gefallen«, meinte Regina. »Immerhin sind Vassago und er alte Schulfreunde.« Terence Wallis war der reichste Mann der Welt – und gleichzeitig der begehrteste Junggeselle des gesamten Universums. Der Fünfundvierzigjährige war schlank, sportlich und hatte langes, schon etwas schütteres Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Maßgeschneiderte Anzüge wechselten mit legerer Kleidung, je nachdem, wie er gerade drauf war. Das »Markenzeichen« des ehemaligen Basketballund heutigen Golfspielers waren grellbunte Westen, die nicht immer zu seinem übrigen Outfit paßten. Sein Vermögen hatte Wallis durch geschickte Investitionen und Betriebskäufe gemacht. Ihm gehörte das größte Industriekonglomerat der Erde, mit Firmen auf dem ganzen Globus. Sein Geschäftsbereich umfaßte alles von der Schwerindustrie bis zur Hyperraumtechnologie. Die Firmenzentrale war ein riesiges Gelände bei Pittsburgh, Pennsylvania. Früher hatte es hier Stahlwerke gegeben, nun wurde Tofirit hergestellt und Roboterentwicklung betrieben. Ein weitläufiger Flachbauten-Komplex erstreckte sich über einen Teil des Geländes. Dort waren Robert Saams Versuchslabore und Werkstätten untergebracht. Saam, der in Bahnen dachte, die die meisten Menschen nicht einmal ansatzweise begriffen, arbeitete ohne besonderen Forschungsauftrag. Für ihn gab es nur einen sinnvollen Lebenszweck: lernen. In seinem Eifer, sich soviel Wissen wie möglich anzueignen, hatte er einst sogar sein Studium abgebrochen, weil seine Professoren ihm nicht mehr hatten folgen können. Terence Wallis ließ Robert, den er als eine Art Adoptivsohn betrachtete, sämtliche Freiheiten, auch in finanzieller Hinsicht. Gleichzeitig hielt er ihn aber unter Kontrolle, denn Genie und Wahnsinn lagen auch im 21. Jahrhundert nicht weit auseinander. Robbie, wie er ihn väterlich nannte (was Saam
nicht ausstehen konnte), bewohnte ein Appartement in unmittelbarer Nähe seines Hauptlabors. Auch zu Jon Vassago pflegte Wallis ein enges, freundschaftliches Verhältnis. In der Schule waren die beiden durch dick und dünn gegangen. Später hatten sie sich aus den Augen verloren. Erst nach der Giant-Invasion waren sie sich wieder begegnet. Im Gegensatz zu Terence hatte Jon ziemlich viel Pech gehabt, er war – salopp ausgedrückt – auf den Hund gekommen. Daraufhin hatte ihn Wallis als persönlichen Leibwächter eingestellt. Mittlerweile war Vassago nicht mehr nur allein für Wallis’ persönlichen Schutz verantwortlich. Sein Freund und Arbeitgeber hatte ihn zum Leiter der Sicherheitsabteilung ernannt. Jon Vassago nahm Saams neueste Waffenerfindung entgegen und probierte sie umgehend aus. »So nicht!« rief Saam entsetzt. »Sie dürfen damit nicht ausholen! Lassen Sie es aus dem Handgelenk vorschnellen und...« Sämtliche Warnungen kamen zu spät. Es blitzte, knallte – und schon lag der »Flaschengeist« reglos am Boden. In diesem Moment betrat Terence Wallis das Labor. »Trommele deine Leute zusammen, Jon!« rief er schon von weitem. »Die Nachrichtensender melden, daß Dhark auf Terra gelandet ist. Vermutlich wird er als erstes eine Krisensitzung...« Mitten im Satz hielt er inne. Fassungslos starrte er auf Vassago hinunter. * Als die POINT OF und die EUROPA auf Terra eintrafen, wurde gerade der planetare Schutzschirm wieder eingeschaltet. Dhark hatte sich bereits per Hyperfunk über die
katastrophalen Zustände auf seinem Heimatplaneten informiert. Direkt nach der Landung auf dem Raumflughafen Cent Field rief er den Krisenstab zusammen. Die Sitzung fand im Regierungsgebäude von Alamo Gordo statt. Unter anderem nahmen Dan Riker, Henner Trawisheim und Marschall Bulton daran teil. Auch den Kontinuumsexperten H. C. Vandekamp hatte man hinzugebeten. »Die finanzielle Lage ist erschreckend«, brachte der Finanzminister seine Sicht der Dinge ohne Wenn und Aber auf den Punkt, wobei er Bulton mit einem zornigen Seitenblick bedachte. »Die Reparaturen der Kraftwerke, die Versorgung von knapp 850 Millionen Verletzten und der Wiederaufbau des Nogk-Schirms verschlingen Unsummen. Im Industriebereich haben Kurzschlüsse gewaltige Werte vernichtet. Nur finanzstarke Unternehmen wie Wallis Industries werden mit ihren Problemen allein fertig, die übrigen schreien nach Hilfe von der Regierung. Die Evakuierungsaktion nach Babylon, die zur Sanierung der Staatsfinanzen gedacht war, mußte unterbrochen werden, weil Marschall Bulton sämtliche verfügbaren Schiffe eingesetzt hat, um im All Leichen zu bergen.« »Mir ging es nicht nur um die Bergung der Toten, sondern auch um die Rettung der Überlebenden«, stellte Bulton richtig. »Im übrigen stellen vierhundert verschollene S-Kreuzer einen enormen finanziellen Wert dar. Das müßte einen Zahlenmenschen wie Sie eigentlich überzeugen.« »Vierhundert Ringraumer, auf denen die MysteriousTechnik komplett ausgefallen ist, haben bestenfalls noch Schrottwert«, erwiderte der Minister unnachgiebig. »Ich bestehe darauf, daß die Evakuierung so bald wie möglich fortgesetzt wird. Der Staat kann auf den Beitrag, den jeder Auswanderer abzuführen hat, nicht verzichten.« 35 Millionen Siedler sollten für ihre Verschiffung nach
Babylon zwanzig Dollar pro Kopf entrichten. Für Nachschubkosten wurden zusätzliche Gebühren erhoben. »Ihre Sorgen möchte ich haben«, bemerkte Dharks Stellvertreter Trawisheim. »Wir haben alle Hände voll zu tun, auf Terra wieder halbwegs geregelte Verhältnisse herzustellen, und Sie drängen darauf, die Evakuierungen voranzutreiben. Wollen Sie die Menschen total verunsichern? Auf der Erde wird jede helfende Hand gebraucht. Die Besiedelung anderer Planeten gerät dadurch zwangsläufig ins Hintertreffen.« »Was ich für einen Fehler halte«, gab Riker zu bedenken. »Würden derzeit weniger Menschen die Erde bevölkern, könnte man sie besser mit allem Notwendigen versorgen.« »Und wer versorgt die Abgeschobenen auf den Siedlerplaneten?« warf Dhark ein. »Unsere Probleme lösen sich nicht in Luft auf, nur weil wir sie nach anderswo verlegen.« »Wir schieben niemanden ab«, sagte Bulton. »Die Aussiedelungen erfolgen auf freiwilliger Basis. Inzwischen wurden die Besatzungen fast aller gestrandeten S-Kreuzer geborgen. Das bedeutet, die TF kann einige Schiffe für die Auswanderer entbehren. Soweit ich informiert bin, war die meiste Technik in den Ringpyramiden zum Zeitpunkt des Blitzes abgeschaltet, daher hat es dort nur wenige Kurzschlüsse gegeben. Die konventionelle Technik ist daher fast komplett intakt. Davon gibt es viel auf Babylon, schließlich handelt es sich um einen Wohnplaneten. Die Welt stellt immer noch ein ungeheures Potential für uns dar, auch wenn die auf M-Technik basierenden Spezialeinrichtungen nicht mehr funktionieren.« Trawisheim brachte ein Projekt ins Gespräch, über das schon seit geraumer Weile eifrig diskutiert wurde: Die Umfunktionierung der Frachträume in den Schiffen zu Kühlräumen. Bulton hatte vorgeschlagen, ausreisewilligen Siedlern ein leichtes Sedativum zu verabreichen, sie in einen künstlichen Kälteschlaf zu versetzen...
»... und bei Temperaturen von 4° Celsius in Regalen zu stapeln.« »Stapeln?« Dhark verzog mißbilligend die Mundwinkel. »Wir reden hier über Menschen, nicht über Lagerware.« »Die Bezeichnung ›menschliche Reisefracht‹ trifft den Kern der Sache wohl am besten«, meinte sein Stellvertreter. »Apropos Fracht. Dank unserer platzsparenden Reisemethode wird zusätzlich Transportkapazität fürs Gepäck geschaffen. Jeder Auswanderer kann einen Großteil seiner Habe direkt mitnehmen, auf demselben Raumer. Ich schätze, dieses Argument dürfte die Ausreisewilligen überzeugen, insbesondere diejenigen, die auf Urlaubsflügen schon mal Schwierigkeiten mit der Gepäckbeförderung hatten. Urlaubers Alptraum: Man trifft in Paris ein und erfährt am Flughafen, daß Koffer und Taschen versehentlich in einen Jett verladen wurden, der soeben in Berlin landet. Bei ›TF-Reisen‹ gibt’s das nicht. Wer bei uns bucht, braucht sich hinterher nicht zu beschweren.« »Ich freue mich, daß Sie allem Arbeitsstreß zum Trotz Ihren trockenen Humor noch nicht verloren haben«, merkte Dhark nicht minder trocken an. Ren Dhark und Henner Trawisheim – zwei Männer, die sich hervorragend ergänzten. Blond der eine, dunkelhaarig der andere. Der erste ein unermüdlicher Wanderer durchs All, getrieben von Ehrgeiz und Abenteuerlust, mit einem starken Willen und Durchsetzungsvermögen, einer, der das Risiko liebte und nötigenfalls mit dem Kopf durch die Wand ging. Der zweite ein Cyborg auf geistiger Basis, ein unauffällig arbeitender Organisator mit diplomatischem Geschick und ungeheurem Wissen, der in der Lage war, selbst große Schwierigkeiten zu kleinen Nebensächlichkeiten herunterzuspielen. Draufgängertum war für Trawisheim ein Fremdwort. Macht interessierte ihn nicht, nur Verantwortung. Sein ganzer Ehrgeiz lag darin, Dharks Stellvertreter zu sein –
nicht mehr und nicht weniger. »Die Frachträume sind fünfzig mal fünfzig mal zehn Meter groß«, rechnete der Finanzminister dem Commander der Planeten vor. »Nutzt man die vorhandenen Kapazitäten voll aus, können auf dieser Fläche fünfzigtausend Menschen gestap... äh, untergebracht werden. Ein 400-MeterKugelraumer der Planetenklasse hat also ein Fassungsvermögen von vierhunderttausend Siedlern. Umgerechnet in Dollar...« Weiter kam er nicht. Vor dem Regierungsgebäude setzte eine Kolonne von Schwebern zur Landung an und zog die Aufmerksamkeit der Sitzungsteilnehmer auf sich. »Erwarten wir Besuch?« fragte Dan Riker verblüfft. »Es hat sich niemand angemeldet«, erwiderte Ted Bulton und betätigte eine Kameraschaltung. »Der Sicherheitsdienst kümmert sich bestimmt gleich darum.« Alle Anwesenden verfolgten die Landung auf einem großen Wandbildschirm mit. Eine am Haupteingang angebrachte Kamera machte dies möglich. »Die Männer, die aus den Schwebern steigen, sind bewaffnet«, stellte der Commander fest. »Besser, wir bereiten uns auf einen Angriff vor.« »Nicht nötig«, meinte Bulton. »Die Sicherheitsleute werden uns die Kerle vom Hals halten.« »Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner«, sagte Dhark und überprüfte seine Waffe. Die anderen Sitzungsteilnehmer folgten seinen Beispiel. * »Mord ist eine scheußliche Sache.« Inspektor Groove vom Morddezernat Alamo Gordo wirkte wie erstarrt. In seinem von tiefen Falten zerfurchten Gesicht bewegte sich nichts, als wäre es aus Stein gehauen.
So sah er immer aus, wenn er angestrengt nachdachte. Das Penthouse, in dessen Schlafzimmer er sich aufhielt, gehörte einer jungen Frau namens Martha Kimbley. Besser gesagt: Es hatte ihr gehört. Martha Kimbley weilte nicht mehr unter den Lebenden. Jemand hatte sie in der vergangenen Nacht mit ihrem eigenen Halstuch erdrosselt. Groove streckte den Arm aus und deutete auf Marthas französisches Bett. »Dort hat sie gelegen«, sagte er zu dem kleinen kugelrunden Mann, der neben ihm stand. »Augen und Mund vor Entsetzen weit aufgerissen.« »War das Tuch noch um ihren Hals geschnürt?« erkundigte sich Bert Stranger, Starreporter bei Terra-Press. Er war damit beschäftigt, ein hochmodernes Aufzeichnungsgerät auf der Schlafzimmerkommode zu plazieren und an eine Steckdose anzuschließen. »Kugelblitz« wurde der knapp dreißigjährige Journalist genannt, liebevoll von seinen Freunden, verächtlich von seinen Neidern. Er trug diesen Spitznamen mit einem gewissen Stolz, weil er fand, daß die Bezeichnung zu ihm paßte. Trotz seiner kugelrunden Körperfülle war er stets wie der Blitz zur Stelle, wenn es etwas Sensationelles zu berichten gab. Ein Mord, zwei Verdächtige – eigentlich keine echte Sensation für jemanden, der kürzlich im Dschungel von Borneo knapp einem Atomanschlag entgangen war und Scholfs Robonentruppe einen empfindlichen Schlag zugefügt hatte, Seite an Seite mit den Kämpfern der Galaktischen Sicherheitsorganisation. Das waren Nachrichten nach seinem Geschmack! Stranger war kein Wald- und Wiesenreporter. Er hatte schon mit Dhark & Co an einem Tisch gesessen und wichtigen Verhandlungen beigewohnt. Zur heutigen Krisensitzung hatte man ihn nicht hinzugebeten. Entweder, so vermutete Stranger, waren die
Dinge, die dort besprochen wurden, streng geheim, oder aber die Regierung war noch sauer auf ihn wegen seines Berichts über den Siedleraufstand auf dem Raumhafen von Sydney. Wie konnte man nur so nachtragend sein? Was ein Bert Stranger war, der ließ sich so leicht nicht abschütteln. Die Information über den Mord im Penthouse hatte ihn aufhorchen lassen. Dieser Fall schrie regelrecht nach einer gründlichen Recherche. Zumindest war das Berts offizielle Version. In Wahrheit interessierte ihn das Ableben von Martha Kimbley nur am Rande. Tod war für ihn zur Routine geworden, so grausam das auch klang. Die galaktische Katastrophe hatte mit den unzähligen Unfällen und sonstigen Katastrophen, die durch die Kurzschlüsse und die dreistündige Ohnmacht sämtlicher Lebewesen auf der Erde (und auf allen anderen bekannten Planeten in der Milchstraße ebenfalls) verursacht worden waren, fünfzig Millionen Leben gefordert – allein auf Terra. Das war eine Zahl von solch schrecklicher Größe, daß vereinzelte Todesfälle zwangsläufig dahinter verblaßten. Inspektor Groove sah das anders. Zwar zogen auch an ihm die Millionen von Toten nicht spurlos vorüber, doch für seinen Beruf waren sie irrelevant, schließlich waren sie keinem Verbrechen zum Opfer gefallen. Im Gegensatz zu Martha Kimbley. Kein unabwendbares Schicksal hatte sie auf dem Gewissen, sondern ihr Ehemann. Oder ihr Liebhaber. Eben das mußte er ermitteln. »War das Tuch noch um ihren Hals geschnürt?« wiederholte Stranger seine Frage ungeduldig, als Groove nicht gleich antwortete. »Nein, der Ehemann hat es ihr abgenommen, angeblich in der Hoffnung, sie würde dann wieder Luft kriegen und erwachen«, erwiderte der Inspektor tonlos. »Könnte eine Schutzbehauptung von ihm sein, um seine genetischen Spuren an dem Tuch zu erklären.« Er seufzte leise. »Wie ich schon
sagte: Mord ist eine scheußliche Sache. Jeder Fall geht mir mehr an die Nieren, als gut für mich ist. Vielleicht sollte ich den Beruf wechseln.« »Mord ist eine scheußliche Sache – ein idealer Aufmacher für meinen Bericht«, meinte der Journalist und öffnete die Glastür zur Dachterrasse. »Ich lasse mal ein bißchen frische Luft rein, vielleicht fühlen Sie sich dann besser.« Das Wohlbefinden des Inspektors lag Stranger genausowenig am Herzen wie die Aufklärung des Mordes an der armen Mrs. Kimbley. Doch von der Terrasse aus hatte man einen hervorragenden Blick auf das in einiger Entfernung gelegene Regierungsgebäude. Das war der wirkliche Grund für Berts journalistischen Eifer. Was auch immer dort passierte, von hier aus konnte er alles bestens beobachten. Im Beisein des Kriminalbeamten wagte er es nicht, ein Richtmikrophon aufzubauen. Wahrscheinlich hatte man den Regierungssitz eh gegen derartige Kinkerlitzchen abgeschirmt. Groove stiefelte ihm auf die Terrasse nach und atmete tief durch. »Ah, das tut gut! Soll ich jetzt beginnen?« »Womit?« fragte der Reporter zerstreut. »Mit meinem Polizeibericht. Sie hatten mich gebeten, Ihnen jede Einzelheit zu schildern und zwar direkt am Tatort. Vielleicht hilft uns ja die Veröffentlichung sämtlicher Fakten bei der Aufklärung des Falls. Die Polizei ist für Hinweise aus der Bevölkerung immer dankbar.« »Ja, in Ordnung, legen Sie los, und lassen Sie nichts aus«, sagte Stranger und fügte in Gedanken hinzu: Je länger der Kerl redet, um so mehr Zeit habe ich für meine Beobachtungen. Zunächst gab es leider nicht das geringste auszuspionieren. Die Sicherungskontrollen am Eingangstor und auf dem Landedeck waren verstärkt worden, doch das war bei Anwesenheit des Commanders der Planeten in Alamo Gordo nichts Ungewöhnliches. Sobald Dhark das nächste Mal ins
Weltall aufbrach, würde man einen Teil der Wachen wieder abziehen. »Mrs. Kimbley war das, was man allgemein eine leichtlebige Frohnatur nennt«, begann Inspektor Groove mit seinen Ausführungen. »Nachbarn behaupten, sie hätte jeden Monat einen anderen Liebhaber gehabt. Das halte ich jedoch für eine böswillige Übertreibung. Fakt ist, daß sie unwahrscheinlich gut aussah und ihrem Ehemann am laufenden Band Hörner aufsetzte. Mister Kimbley rief um ein Uhr nachts auf dem Polizeirevier an. Aufgeregt teilte er dem Beamten von der Dienstbereitschaft mit, er sei gerade überraschend von einer Geschäftsreise heimgekehrt und habe seine Ehefrau leblos im Schlafzimmer aufgefunden, mit einem Tuch erdrosselt. Daraufhin wurde ich sofort verständigt. Weil ich noch nicht zu Bett gegangen war und zudem nicht weit von hier entfernt wohne, war ich der erste am Tatort. Obwohl der Anrufer versprochen hatte, bei der Leiche zu warten, öffnete niemand die Eingangstür zur Penthousewohnung. Glücklicherweise befand sich der Hausmeister in meiner Begleitung. Wir waren uns zufällig unten an der Haustür begegnet, und ich hatte ihn gebeten, mit hinaufzukommen. Im A-Gravfahrstuhl hatte ich ihn als Zeuge befragt, doch ihm war nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Die Mieter vom Penthouse kannte er nur flüchtig. Mit seiner General-Codecard öffnete er die Tür. Wir traten beide ein. In der Diele brannte Licht, die übrigen Räume lagen im Dunkeln. Das Schlafzimmer befand sich am Ende des Ganges. Die Tür stand offen. Im Schimmer des Dielenlichts erblickte ich neben dem Bett die Umrisse einer modernen Stehlampe. Ich machte den Hausmeister darauf aufmerksam. Er ging hin, aktivierte die Impulsschaltung der Lampe, und es wurde Licht. Langweile ich Sie, Mister Stranger?« Groove stellte diese Zwischenfrage, weil er den Eindruck
hatte, daß ihm der Reporter nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Er ahnte ja nicht, wie recht er hatte. Stranger hatte in der Ferne einige Punkte am Himmel entdeckt, die ihn wesentlich mehr interessierten als das langatmige Geschwätz des Inspektors. Das ließ er sich jedoch nicht anmerken. »Nein, nein, reden Sie nur weiter«, ermunterte er den Polizeibeamten. »Und lassen Sie ja nichts aus. Oftmals sind es gerade die unscheinbaren Kleinigkeiten, die zur Lösung eines Kriminalfalls beitragen.« »Ganz meine Meinung«, stimmte Groove ihm zu. »Übrigens, sämtliche Geräte und Lichtquellen im Penthouse werden über Geräuschimpulse ein- und ausgeschaltet, sei es ein Fingerschnippen, ein schriller Pfiff oder ein geheimes Kennwort. Der Kühlschrank beispielsweise läßt sich nur öffnen, wenn man sagt: aufmachen. In einer Küchenschublade fanden wir eine Liste mit verschiedenen Codewörtern. So hat es mir jedenfalls die Spurensicherung berichtet, die ich per Vipho umgehend an den Tatort bestellte, nachdem der Hausmeister und ich Martha Kimbleys Leiche auf dem Bett vorgefunden hatten.« Stranger stöhnte innerlich auf. Aufmachen. Das sollte ein Geheimwort sein? Der Journalist zog ein flaches Fernglas aus der Innentasche seiner Jacke, ähnlich einem Opernglas, nur mit stärkeren Gläsern. Damit blickte er gen Himmel. Sein Herz schlug merklich schneller, als er die schwarzen Punkte als eine Kolonne von Schwebern identifizierte. Und es kam noch besser. Auf dem ersten Schweber prangten zwei riesige Buchstaben an der Vorderfront. »WI – wie Wallis Industries«, murmelte Stranger, der routinemäßig einen Haufen Material über den Multimilliardär gesammelt hatte. Ein Interview hatte er mit Terence Wallis bislang noch nicht geführt, Gesellschaftsklatsch war nicht sein
Ressort. Stranger sah, daß die Kolonne direkt aufs Regierungsgebäude zuhielt, und er fragte sich halblaut: »Was hat der Mann bloß vor?« »Genau das habe ich mich auch gefragt«, warf Inspektor Groove ein, der Strangers Bemerkung auf seinen Fall bezog. »Noch vor Eintreffen der Spurensicherung schickte ich den Hausmeister hinaus. Kaum war er fort, betrat ein anderer das Penthouse: Mister Kimbley höchstpersönlich. ›Was hat er bloß vor?‹ überlegte ich – genau wie Sie jetzt, Mister Stranger. Erst verspricht er am Telefon, auf die Polizei zu warten, dann macht er sich dünne, und kurz darauf kehrt er überraschend zum Tatort zurück. Was bezweckte er damit?« »Möglicherweise gar nichts«, äußerte sich Stranger, um wenigstens etwas zum Thema beizutragen. »Früher als geplant kam er von seiner Geschäftsreise heim und entdeckte die Leiche. Das brachte ihn völlig durcheinander. Zudem wurde ihm nach dem Anruf bei der Polizei urplötzlich bewußt, daß man ihn des Mordes an seiner Frau verdächtigen könnte. Kopflos floh er aus dem Haus. Zuvor löschte er in seiner Panik alle Lichter, vergaß dabei aber das in der Diele. Nachdem er sich draußen einigermaßen beruhigt hatte, kam ihm in den Sinn, daß seine Flucht erst recht den Verdacht auf ihn lenken würde. Daraufhin kehrte er wieder um und stellte sich.« »Exakt das hat er hinterher ausgesagt. Und nicht nur er versuchte, sich im nachhinein auf Panik und Kopflosigkeit herauszureden, auch Marthas Geliebter behauptete, in einem Zustand geistiger Verwirrung gehandelt zu haben. Mrs. Kimbley und er waren nämlich für halb ein Uhr nachts verabredet.« »So spät? Normalerweise trifft man seine Angebetete gegen acht Uhr abends, geht mit ihr aus und begleitet sie anschließend nach Hause. Zumindest sagt man, daß das so gehandhabt wird. Ich selbst habe für Verabredungen leider viel
zuwenig Zeit.« »Marthas Liebhaber ist Saxophonist«, erklärte Groove. »Bis Mitternacht spielte er in einem Nachtclub. Dafür gibt es haufenweise Zeugen. Danach begab er sich zum Kimbley’schen Penthouse. Mrs. Kimbley, die ihren Ehemann erst für den nächsten Tag erwartete, hatte dem Musiker ihre Reservecard überlassen. Laut seiner Aussage war sie schon tot, als er ins Schlafzimmer kam. Noch während er verzweifelt darüber nachdachte, wie er sich nun verhalten sollte, hörte er jemanden an der Tür – wahrscheinlich den heimkehrenden Ehemann, falls die Angaben stimmen. Aus Angst versteckte sich der Nebenbuhler auf der Terrasse, hinter einem großen Blumenkübel. Erst als er sah, daß das Licht im Schlafzimmer erlosch, wagte er sich wieder nach drinnen. Die Terrassentür hatte er einen Spalt offenstehen lassen. Beim Durchqueren des Zimmers schaute er die Tote auf dem Bett nicht an, er wollte nur rasch fort von diesem Ort des Schreckens. Dank Zeugenaussagen von Hausbewohnern, die ihm des öfteren im Flur begegnet waren, machten wir ihn bald ausfindig. Der Bursche ist mehrfach wegen Gewalttaten vorbestraft und somit in unserer Computerkartei registriert. Bei seiner Vernehmung gab er zu, zur fraglichen Zeit im Penthouse gewesen zu sein, bestritt den Mord jedoch energisch. Irgendwer lügt bei dieser ganzen Geschichte. Wenn ich nur wüßte, wer! Der Ehemann oder der Liebhaber?« Stranger war das herzlich egal. Als er sah, daß die Schweber zur Landung auf dem Rasen ansetzten, gab es für ihn kein Halten mehr. Ohne ein Wort der Erklärung eilte er aus der Wohnung. »Wo wollen Sie denn hin?« rief Groove ihm verblüfft nach. »Dahin, wo die Action ist!« rief der Reporter zurück und ließ die Tür hinter sich zufallen.
»Ich dachte, die wäre hier«, brummelte der Inspektor. »Ein einfacher solider Mord ist der Presse offenbar nicht mehr gut genug.« Sein Blick fiel auf die komplizierte Apparatur, die Stranger auf der Kommode abgestellt hatte. Groove war alles andere als ein technisches Genie, aber die Bedeutung des kleinen roten Lämpchens links oben am Gerät war ihm sonnenklar. * Terence Wallis war bewußt nicht auf dem Dach des Regierungsgebäudes gelandet, sondern auf dem mit Rasen ausgelegten freien Platz neben dem unteren Eingangsbereich. Die Dach-Parkpalette wurde nämlich wesentlich besser bewacht. Im Zeitalter der Großserienschweber kam unerwünschter Besuch meistens von oben (erwünschter auch) und nur selten durch die Tür. Bis sich die Sicherungskräfte der Regierung auf die unerwünschte Situation eingestellt hatten, waren die Wachleute von Wallis Industries bereits ausgestiegen. Auf Anweisung des Sicherheitschefs Jon Vassago formierten sie sich schützend um ihren Arbeitgeber. Sie hatten den Einsatz mehrfach auf dem Firmengelände geprobt. Jeder wußte bis auf den Zentimeter genau, wo er Posten zu beziehen hatte. Schweigend standen sie sich gegenüber, der private Sicherheitsdienst von Terence Wallis und die unter Regierungsbefehl stehenden Wachmänner vom Objektschutz. Beide Trupps waren bewaffnet. Robert Saam stieg als letzter aus dem Schweber. »Ist ein Krieg ausgebrochen?« fragte er lax. »Noch nicht«, erwiderte Bernice, die Gruppenleiterin der Regierungsschutztruppe. »Aber wenn ich nicht auf der Stelle eine gute Erklärung für Ihr merkwürdiges Verhalten bekomme, könnte es hier gleich heiß hergehen.«
Bernice war achtunddreißig Jahre alt und sah verteufelt gut aus, mit formvollendeten Rundungen an den richtigen Stellen. Sie kannte Terence Wallis aus den Medien, war aber fest entschlossen, sich von seinem vielen Geld nicht beeindrucken zu lassen. Ganz und gar konnte sie sich seiner Ausstrahlung allerdings nicht entziehen, immerhin war er alles andere als häßlich. »Bringen Sie mich zum Commander der Planeten«, verlangte Wallis ohne Umschweife. »Ich möchte mit ihm reden.« »Der Commander ist nicht für jedermann zu sprechen«, entgegnete seine Gesprächspartnerin. »Im übrigen befindet er sich gerade in einer Krisensitzung.« »Erstens bin ich nicht jedermann«, sagte Wallis. »Zweitens bin ich gekommen, um an der Krisensitzung teilzunehmen. Und drittens...« Er langte in die Innentasche seines Jacketts. Ein junger Wachbeamter deutete diese Bewegung falsch und legte seinen Paraschocker auf ihn an. In derselben Sekunde löste Jon Vassago den Gürtel, den er unter seiner Jacke trug. Es war ein anderer Gürtel als sonst, viel schmaler und ohne sein gewohntes Schwert. Alles lief in rasantem Tempo ab. Ruckartig zog Vassago den Gürtel aus den Schlaufen und ließ ihn mittels einer geschickten Drehung des Handgelenks vorschnellen. Nur ganz kurz war ein Lichtblitz zu sehen, ein Knall zu hören. Der voreilige Wachbeamte sank lautlos in die Knie und kippte dann vornüber. Er lag wie tot am Boden und rührte sich nicht mehr. Dieser Vorfall trug zur Verschärfung der Situation bei. Zahlreiche Waffen richteten sich auf Jon Vassago, der sich den Gürtel wieder umschnallte, als wäre nichts von Bedeutung geschehen. Die Sicherheitsleute von Wallis Industries waren perplex,
darauf hatte sie niemand vorbereitet. Unschlüssig legten sie ihre Hände auf die Schockerhalfter. »Sie lernen schnell, Vassago«, lobte Robert Saam, der dicht hinter Wallis stand, den Leibwächter. »Wenn ich an Ihren ersten ungeschickten Versuch zurückdenke...« »Kein Wort mehr, Saam!« unterbrach Vassago ihn ärgerlich. »Es ist nicht nötig, so etwas öffentlich breitzutreten.« Robert Saam war da anderer Meinung. »Wenn man die Sache falsch angeht, entwickelt sie sich zum Bumerang. Die Gürtelspitze soll den Gegner treffen, nicht den Träger des Gürtels. Bevor ich Sie warnen konnte, Vassago, hatten Sie sich verworfen.« »Verworfen?« wiederholte Bernice, während sie sich über den zu Boden gegangenen Wachbeamten beugte. »Unter diesem Begriff verstehe ich etwas anderes. – Ihr könnt die Schocker wieder wegstecken, er ist nicht tot.« »Natürlich ist er nicht tot«, sagte Saam. »In einer Minute ist er wieder bei sich, genau wie vorhin Vassago, der uns allen einen schönen Schrecken eingejagt hatte.« Die Lage entspannte sich. Saams neueste »Spielerei« erweckte ringsum Interesse. »Die ideale Nahkampfwaffe«, meinte einer von Wallis’ Männern. »Warum hat man sie uns noch nicht vorgeführt? Unsere ganze Mannschaft sollte damit ausgerüstet werden.« »Nicht nur eure«, warf Bernice ein. »Ich könnte mir vorstellen, meine Leute ebenfalls mit diesem Wundergürtel auszustatten.« »Ich habe kein Wunder vollbracht, sondern lediglich ein bißchen mit den heutigen technischen Möglichkeiten herumgespielt«, entgegnete Saam bescheiden. »Von einer Serienproduktion dieser harmlosen Defensivwaffe rate ich ab. Für einen wirkungsvollen Einsatz ist ein gewisser Überraschungseffekt vonnöten. Weiß der Gegner, was ihm bei der Berührung mit der Gürtelspitze blüht, duckt er sich und
gibt einem keine Gelegenheit mehr zu einem zweiten Schlag.« Bernice konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich stelle mir gerade vor, wie unsere beiden Trupps mit Gürteln aufeinander einprügeln, ohne daß jemand getroffen wird. Das wäre doch mal was anderes, als sich gegenseitig über den Haufen zu schießen.« Ihr schwarzer Humor löste allgemeine Heiterkeit aus. In diesem Moment erwachte der Bewußtlose. Verwirrt schaute er um sich, konnte sich nicht erklären, wieso alle lachten. Bert Stranger hatte sich unauffällig unter die Leute gemischt. Seine geheime Minikamera lief ununterbrochen. Sie war in einem Manschettenknopf verborgen und drahtlos mit dem Aufzeichnungsgerät verbunden, das sich im Penthouse der Kimbleys befand. Der Reporter hatte dem Inspektor weisgemacht, es für sein Interview zu benötigen. Das Vipho der Sicherheitschefin summte. Sie aktivierte es. Marschall Bultons Konterfei erschien auf dem kleinen Bildschirm. Bernice wollte ihm Bericht erstatten. »Ich weiß Bescheid«, schnitt er ihr noch im ersten Atemzug das Wort ab. »Führen Sie Wallis und Saam zu uns herauf. Seine Leibwächter dürfen das Gebäude betreten, bleiben aber im unteren Stockwerk.« Er räusperte sich. »Im übrigen bitte ich mir etwas mehr Ernst bei der Arbeit aus. Fehlt nicht viel, und ihr feiert da unten eine Verbrüderungsfete mit Wallis’ Leuten.« »Jawohl, Sir!« erwiderte Bernice in militärischem Tonfall. »Keine Verbrüderung mit dem Feind!« »Nun übertreiben Sie mal nicht«, sagte Bulton. »Nicht jeder Besucher ist uns feindlich gesinnt. Versorgen Sie Ihre Kollegen von Wallis Industries mit reichlich Kaffee, das verkürzt die Wartezeit. Ende.« Bernice wandte sich Terence Wallis zu. »Sie haben es gehört. Mister Saam und Sie haben freies Geleit zum Sitzungsraum. Ihre Leibwächtertruppe wird derweil von uns
mit Kaffee abgefüllt, heiß wie die Sonne und schwarz wie die Nacht. Bitte folgen Sie mir.« Nicht nur die Sicherheitskräfte kamen ihrer Aufforderung nach. Auch Stranger ging mit, in der Hoffnung, daß ihn in der Menge niemand erkannte. »Was wollten Sie eigentlich aus Ihrem Jackett ziehen?« erkundigte sich Bernice bei dem Multimilliardär, während sich die Eingangstür automatisch Öffnete. »Doch sicherlich keine Waffe, oder?« Wallis griff erneut in seine Innentasche. »Keine Waffe, sondern eine Reihe von Schlüsseln, die mir allerorts Tür und Tor öffnen.« Er zückte seine Brieftasche und klappte sie auf. Eine ansehnliche Riege von Geldkarten, die jeweils in einer durchsichtigen Hülle steckten, fiel heraus und faltete sich auseinander. Die letzte der miteinander verbundenen Hüllen reichte fast bis zum Boden. »Mein Vermögen habe ich über so ziemlich alle Banken der Erde verteilt«, erklärte Wallis. »Ich wollte Ihnen mit dieser Geste demonstrieren, daß ich als Geldbote komme. Normalerweise schießt man nicht auf seinen Wohltäter.« »Unsere Schocker waren nur auf leichte Betäubung eingestellt«, verriet ihm die Leiterin des Sicherheitsdienstes. »Außerdem schärfe ich meinen Leuten dauernd ein, auch in brenzligen Situationen nie die Nerven zu verlieren. Den voreiligen Wachbeamten stopfe ich nachher in den Fleischwolf.« Wallis lächelte sie gewinnend an. »Der Glückliche. Es ist bestimmt das reinste Vergnügen, von Ihnen durch den Wolf gedreht zu werden.« Sie lächelte zurück. »Darauf würde ich nicht wetten.« Bert Stranger atmete erleichtert auf. Bis in die Eingangshalle war er schon vorgedrungen. Jetzt mußte er nur noch eine Möglichkeit finden, sich unauffällig nach oben zu
schleichen. Plötzlich wurde er von hinten am Kragen gepackt. Der ständige Wachposten an der Tür hatte ihn erkannt. »Hiergeblieben, Stranger! Die Einladung des Marschalls gilt nicht für Sie. Oder verdienen Sie sich neuerdings ein Zubrot bei Wallis Industries?« »Logisch, als Freiberufler nagt man doch am Hungertuch«, konterte Stranger schlagfertig, ohne sich gegen den harten Griff zu wehren. Innerlich fluchte er wie ein Rohrspatz. Das hatte er nun davon, der bekannteste Journalist auf Terra zu sein. Kurz darauf stand er wieder auf dem Rasen vor dem Haus, um ihn herum die geparkten Schweber. Ärgerlich zeigte er der Kamera am Eingang den Stinkefinger. Im Sitzungsraum bekam das niemand mit, dort hatte man die Sichtverbindung nach unten inzwischen abgeschaltet. Stranger kehrte zurück ins Penthouse. Groove wollte gerade gehen, er stand schon in der Tür. »Moment noch«, bat Bert ihn. »Ich brauche mein Aufnahmegerät. Es enthält wichtiges Material. Bis zu den Abendnachrichten muß ich es noch sichten und bearbeiten.« Daraus wurde nichts. Drinnen erwartete den Journalisten eine unangenehme Überraschung. Inspektor Groove hatte die Apparatur durch Herausziehen des Steckers stillgelegt, um nicht unnötig Strom zu verbrauchen. Schließlich waren noch immer nicht alle Kraftwerke wieder ans Netz gegangen. Und außerdem empfand der Inspektor eine gewisse Abneigung gegenüber allzu pfiffigen Reportern, die glaubten, er würde es nicht merken, wenn sie ihn verarschten. * Terence Wallis nahm sich das Recht heraus, seine verschiedenen Spleens auszuleben. Wer hätte ihn auch daran
hindern sollen? Ihn, den reichsten Mann der Welt? Ihn, der nicht ohne Einfluß war, der die Geschicke der Welt mitbestimmte? Ihn, den sich andere wichtige Persönlichkeiten zum Vorbild nahmen, ohne je seine Größe zu erreichen? Nur wenige Menschen wußten, daß auch er jemanden bewunderte. In Wallis’ Augen zählte Ren Dhark zu den größten Lichtgestalten des Universums. Ohne den Commander der Planeten, da war sich der Multimilliardär ganz sicher, wäre die Menschheit heute nichts weiter als eine Sklavenkolonie irgendeiner außerirdischen Macht. Auch sonst hatte Dhark viel bewegt und bewirkt. Sein weiteres Wirken durfte auf gar keinen Fall an profanen Finanzproblemen scheitern. Um das zu verhindern war Wallis zum Regierungssitz gekommen, mit der festen Absicht, sich nicht abwimmeln zu lassen. Eine von Wallis’ spleenigen Eigenheiten war sein Widerwille gegen die traditionellste Begrüßungsform in der westlichen Welt: das Händeschütteln. Da er auch das von Eskimos bevorzugte Reiben der Nasen, Lippenküsse von Männern nach russischer Art und gegenseitiges Berühren der nackten Fußsohlen, wie es bei den Eingeborenen eines kleinen Planeten im Cassiopeia-System Sitte war, nicht sonderlich mochte, begnügte er sich zur Begrüßung meistens mit einem Kopfnicken. Bei Ren Dhark machte er die berühmte Ausnahme von der Regel. Gleich nachdem er den Sitzungssaal betreten hatte, ging er zum Commander und streckte ihm freundschaftlich die Hand entgegen. »Wallis. Terence Wallis«, stellte er sich vor, obwohl das nicht nötig war, denn jeder im Raum kannte ihn. Dhark erwiderte den Händedruck mit verblüffter Miene. »Während Sie auf dem Weg nach oben waren, erzählte mir mein Freund Dan von Ihrer Abneigung gegen Handschläge«, sprach er ihn direkt auf seine Marotte an.
»Tut mir leid, offensichtlich bin ich falsch informiert«, entschuldigte sich Riker. »Man soll halt nicht alles glauben, was in der Klatschpresse steht.« »Diesen Satz kann ich nur unterstreichen«, pflichtete Wallis ihm bei. »Die Hälfte aller Mediengerüchte über mich ist erstunken und erlogen. Die Sache mit dem Händeschütteln gehört jedoch zur wahren Hälfte.« »Dann sollte ich mich wohl jetzt geehrt fühlen«, bemerkte Dhark zur Erheiterung aller Anwesenden. Schon bald wurde es wieder ernst, schließlich fand diese Zusammenkunft nicht zum Vergnügen statt. Sämtliche Augen richteten sich auf Terence Wallis und Robert Saam, die mittlerweile am Sitzungstisch Platz genommen hatten. »Aus welchem Grund haben Sie sich Zutritt in den Sitzungssaal verschafft?« fragte Henner Trawisheim den Multimilliardär. »Ihr spektakulärer Auftritt hätte beinahe zu einer Schießerei geführt.« »Ohne diesen spektakulären Auftritt säße ich jetzt nicht hier«, machte Wallis ihm deutlich. »Wie ich schon Ihrer reizenden Sicherheitschefin sagte, bin ich als Geldbote unterwegs.« »Wollen Sie uns kaufen?« fragte Trawisheim scharf. »Die Regierung ist unbestechlich!« »Ebenso wie die Terranische Flotte!« fügte Ted Bulton hinzu. »Bei 250 Milliarden Dollar ist schon manch einer schwach geworden«, fuhr Wallis unbeirrt fort. »Ich lege sogar noch eine Billion drauf.« Dhark hatte genug gehört. In geharnischten Worten sagte er Wallis die Meinung. Seine Integrität war nicht käuflich. Er verstand seinen Regierungsauftrag als Verpflichtung der gesamten Menschheit gegenüber und würde sich niemals einzelnen Interessen unterordnen... »... für kein Geld der Welt«, beendete er seine
Ausführungen. »Und nun raus hier, Wallis, aber ein bißchen plötzlich!« Wallis grinste übers ganze Gesicht. »Gut gebrüllt, Löwe! Was anderes habe ich auch gar nicht von Ihnen erwartet.« Er blickte in die Runde finsterer Mienen. »Offenbar haben Sie mich falsch verstanden, meine Herrschaften. Mein Geld ist mir zum Verschenken zu schade. Ich beabsichtige lediglich, im Vorgriff auf zu zahlende Steuern den Staat mit 250 Milliarden Dollar zu stützen. Früher oder später müßte ich diese Summe ohnehin entrichten, da kann ich genausogut sofort zahlen. Selbstverständlich erwarte ich, daß Sie das Geld nicht auf irgendwelchen schwarzen Konten verschwinden lassen, sondern zum Wohle der Allgemeinheit einsetzen. Auch die Billion, die ich Ihnen in Form von zinsgünstigen Anleihen anbieten möchte, ist zur Sanierung des maroden Staatshaushalts gedacht, nicht zur persönlichen Bereicherung. Über die Rückzahlungsmodalitäten verhandeln wir noch gesondert.« »Woher wissen Sie so gut über die prekäre Finanzlage der Regierung Bescheid?« erkundigte sich Riker. Wallis winkte ab. »Das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern. Meine in führenden Finanzkreisen arbeitenden Mitarbeiter – hochbezahlt und somit hochmotiviert – haben mich ausführlich über alles unterrichtet. Es sind gut ausgebildete Fachleute, die vermutlich schon lange vor Ihnen wußten, wie es um die Staatsfinanzen steht.« Der Finanzminister konnte seine Aufregung kaum verbergen. »250 Milliarden freiwillig vorausbezahlte Steuern?« fragte er atemlos. »Himmel, wann hatten Sie eigentlich Ihre letzte Betriebsprüfung?« »Vergangenen Monat. Zugegeben, ich kann recht gut von meinen Einkünften leben«, bekannte Wallis bescheiden. »Aufgrund der nach dem Hyperraumblitz notwendigen
Reparaturmaßnahmen in aller Welt macht Wallis Industries derzeit die höchsten Umsätze seit der Firmengründung. Des einen Leid, des andren Freud.« Hyperraumblitz! Das war endlich das Stichwort für Saam, den die Diskussionen ums Geld nicht die Bohne interessierten. Solange immer genügend Finanzmittel für seine Forschungen bereitstanden, war die Welt für ihn in Ordnung. Im weiteren Verlauf der Sitzung unterhielten sich H. C. Vandekamp und Robert Saam mit Feuereifer über die Ursache des galaxisweiten Blitzes aus dem Hyperraum. Vandekamp glaubte an ein wie auch immer geartetes Naturereignis. »Fest steht, daß es sich um eine Energieentladung handelt, die aus dem Hyperraum gekommen ist«, resümierte er, »ausgehend vom Zentrum der Galaxis. Wahrscheinlich gibt es dafür eine ganz normale Erklärung. Sie zu kennen bedeutet allerdings nicht, sie zu begreifen.« »Wenn ich die Ursache für die Energieentladung kenne, verstehe ich sie auch«, erwiderte Saam selbstbewußt. »Davon waren die Menschen vergangener Jahrhunderte ebenfalls überzeugt«, entgegnete der ältere Wissenschaftler. »Für Donnerschläge machte man einen hammerschwingenden Gott namens Thor verantwortlich, fürs Wetterleuchten am Horizont waren Elfen zuständig, und harmlose Glühwürmchen hielt man für Irrlichter, die Wanderer ins Verderben lockten. Erst spätere Generationen waren in der Lage, die wirklichen Zusammenhänge zu begreifen.« »Bitte verschonen Sie mich mit derart lächerlichen Beispielen. Dank der heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sind wir durchaus in der Lage, seltsame Phänomene bis ins letzte Detail aufzuklären. Die Rätselnuß des Hyperraumblitzes wird nicht Generationen später geknackt werden, sondern im Hier und Jetzt.« »Von Ihnen?« fragte Vandekamp provozierend.
»Halten Sie das etwa für ausgeschlossen?« stellte ihm Saam gereizt die Gegenfrage. »Ich denke, Sie sind etwas zu sehr von sich überzeugt. Wenn es so einfach ist, Unbekanntes zu erforschen und zu entschlüsseln, wieso ist uns das bislang bei der MysteriousTechnik nicht gelungen? Noch bevor die Menschheit gelernt hat, sie vollständig zu beherrschen, bricht sie größtenteils zusammen. Warum und wieso es zu diesem Zusammenbruch kam, ist ein weiteres Rätsel, das es zu lösen gilt.« »Die Mysterious-Technologie ist halt zu anfällig geworden. Wahrscheinlich war sie das schon immer, aber das wollte niemand sehen, weil die Begeisterung über jede Neuentdeckung stets überwog. Nun hat uns die Wirklichkeit auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die Befürworter dieser fremdartigen Technologie werden wohl oder übel einsehen müssen, daß sie in ihrem Feuereifer in eine Sackgasse gelaufen sind.« Diese Anmerkung Saams wollte der Regierungschef nicht unkommentiert lassen. »Niemand ist blindlings drauflos gerannt. Jeder Schritt wurde genau berechnet und kalkuliert. Zahllose Teams von Wissenschaftlern haben sich ausschließlich der MysteriousTechnik und -Mathematik gewidmet, und sie tun es noch. Ich lasse es nicht zu, Saam, daß Sie die gesamte Technologie der Geheimnisvollen pauschal als unzulänglich darstellen. Dafür habe ich selbst viel zu oft das genaue Gegenteil erlebt!« Dan Riker stieß ins selbe Horn. »Ganz meine Meinung, Ren. Mehr als einmal hat uns die Technik der Mysterious aus brenzligen Situationen befreit und das Leben gerettet. Hätten wir damals nicht den Industriedom auf Deluge mit all seinen wissenschaftlichen Schätzen entdeckt, wäre es uns niemals gelungen, die Giants in ihre Schranken zu verweisen, von anderen angriffslustigen Weltraumvölkern ganz zu schweigen. Kein einziger
Transmitter wäre je gebaut worden. Hätten Sie sich so intensiv wie wir mit dieser Thematik befaßt, Saam, würden Sie jetzt nicht so neunmalklug daherreden.« »Er hat recht, Robbie«, stimmte Wallis ihm zu. »Du weißt noch zuwenig darüber, um ein derart vernichtendes Urteil zu fällen.« »Mag sein, aber ich lerne täglich dazu«, sagte Saam und zog an seinem Schal, der auf einer Seite zu lang herunterhing. »Meine Analyse diverser defekter Mysteriousgeräte hat ergeben, daß eine Vielzahl von Funktionen im subatomaren Bereich angesiedelt waren – und eben diese Funktionsweise hat der Hyperblitz zerstört. Unsere konventionelle Technik hingegen arbeitet nicht mit subatomaren Funktionen, deshalb läuft sie unbeschadet weiter. Wie Sie ja wissen, Riker, sind die von Ihnen gepriesenen Transmittersysteme der Mysterious ebenfalls ausgefallen. Alle bis auf eines.« »Womit bewiesen wäre, daß die M-Technik nicht ganz so anfällig ist, wie Sie behaupten«, meinte Dharks Freund. »Falsch«, widersprach Saam. »Dieses eine einzige System, zu dem übrigens auch die Transmitter auf den Ast-Stationen gehören, ist in puncto Technik ganz sicher kein MysteriousSpitzenprodukt. Es kann nur über wenige Lichtjahre hinweg eingesetzt werden – vermutlich deshalb, weil bei dieser Baureihe auf die Verwendung subatomarer Funktionen verzichtet wurde. Man könnte sie fast mit konventionellen irdischen Geräten gleichsetzen.« Vandekamp nickte zustimmend. Er wußte, wovon Saam sprach. »In der Speziellen Relativitätstheorie betrachtete Einstein Längen und Zeiten nicht als starre Gegebenheiten, sondern als variable physikalische Größen. Raum und Zeit sind dieser Theorie zufolge miteinander verknüpft, bilden ein Kontinuum. Durch Gravitation wird die Raum-Zeit-Einheit gekrümmt, eine Erkenntnis, die bei der Entwicklung des besagten Transmittersystems angewendet wurde. Über das Wie
ist sich unsere Forschung noch nicht völlig im klaren, doch man hat das System schon in Ansätzen begriffen, anhand gründlicher Analysen der auf Deluge vorhandenen Geräte und nicht zuletzt dank der Anwendung von Mentcaps. Somit war es uns möglich, diese einfach gestrickten Transmitter nachzubauen.« »Kurz und bündig: Die Transmitter arbeiten mit Raumkrümmung durch Schwerkraftfelder«, brachte Saam es auf den Punkt. »Diesem Umstand haben sie es zu verdanken, daß sie vom Hyperraumblitz verschont wurden. Allerdings ist die Reichweite dieser Anlagen auf wenige Lichtjahre begrenzt. Bis jetzt. Ich bin überzeugt, man kann das System noch verbessern. Mir schwirren da schon ein paar vage Ideen im Kopf herum, die ich demnächst ausarbeiten und vorlegen werde. – Soweit ich informiert bin, verfügt die Flotte noch über eine gewisse Anzahl höher entwickelter Transmitter?« Vandekamp nickte. »Alle Transmitter, die sich im Intervallfeldschutz befanden, sind noch intakt. Die Energieentladung aus dem Hyperraum konnte intervallgeschützter M-Technik nichts anhaben.« »Ein so gewaltiges Ereignis wie der Hyperraumblitz kann nur durch eine Anomalie kosmischen Ausmaßes verursacht worden sein«, stellte Saam klar. »Ich befürchte, es besteht ein direkter Zusammenhang mit den Schwankungen im Magnetfeld.« Seine Bemerkung brachte umgehend das Thema »Galaxis 2« auf den Tisch. Die Kollision Drakhons mit der Milchstraße war mit größter Wahrscheinlichkeit Auslöser der unberechenbaren Magnetfeldschwankungen. Es lag eigentlich auf der Hand, daß auch der Hyperraumblitz eine Folge dieser kosmischen Katastrophe war. Einen Beweis für diese These gab es allerdings bis jetzt nicht. Dhark erteilte Bulton den Auftrag, ein FO-Schiff in Richtung Drakhon zu schicken. »Weisen Sie Ihre Männer an,
lediglich an den Rand der Milchstraße zu fliegen und dort Messungen und Beobachtungen anzustellen. Keinesfalls darf Drakhon selbst angesteuert werden. Die Nogk arbeiten an einer Mental-Abschirmung, die eine neue Expedition nach Drakhon ermöglichen soll. Bis dahin ist Galaxis 2 für uns tabu.« Bulton versprach, gleich nach der Sitzung alles Notwendige in die Wege zu leiten. Anschließend erläuterte er Saam seinen Plan, die Aussiedlung nach Babylon mit einem Schiff durchzuführen, dessen Frachträume zu Kühlkammern umfunktioniert werden sollten. Saam äußerte Bedenken, machte aber keine konkreten Einwände. Daraufhin stimmte Dhark dem Projekt endgültig zu. Zum Abschluß der Konferenz erklärte sich der Commander der Planeten mit Wallis’ Vorschlägen zur Sanierung der Staatsfinanzen einverstanden. Er wies den Finanzminister an, in den nächsten Tagen mit den Finanzstrategen von Wallis Industries die Rückzahlungsmodalitäten für den Billionenkredit auszuhandeln. Eine Anweisung, die der Minister nur zu gern befolgte. Ein Leuchten lag in seinen Augen, als er den Sitzungssaal verließ...
17. ... als hätte man mich ins finsterste Mittelalter zurückversetzt. Lediglich die Durchfahrtsstraße war asphaltiert. Die Häuser wirkten nicht gerade sehr wetterfest. Das auffallendste aber war der kleine Friedhof am anderen Ende des Dorfes. Er lag auf einem Hügel, und ein großes Kreuz aus Stein befand sich gleich neben der Eingangspforte. Allmählich begannen die ersten Vorboten der Nacht, den einsamen Friedhofshügel in Dunkelheit zu hüllen. Diese anschauliche Beschreibung eines im schottischen Hochland gelegenen Dorfes ging Ren Dhark durch den Kopf, als er den Friedhof von Alamo Gordo betrat. Sie war Bestandteil einer Spukgeschichte, die er kürzlich gelesen hatte. Nicht als Bildschirm- oder Folientext, sondern gedruckt auf Papier, verfaßt von einem längst verstorbenen amerikanischen Schriftsteller namens Edgar Allan Poe. Allen Unkenrufen zum Trotz gab es auf der Erde noch immer Bücher, wenn auch kleinere Buchhandlungen inzwischen fast vollständig von mehrstöckigen Medienkaufhäusern ersetzt worden waren. Hier wurde der Kundschaft die Möglichkeit geboten, bei Kaffee und Kuchen schon mal ein bißchen zu schmökern und zu prüfen, ob man sich tatsächlich fürs richtige Werk entschieden hatte. Da die Papierherstellung seit mehr als zwanzig Jahren auf umweltschonende Weise erfolgte, die zudem das Vergilben der Seiten verhinderte, hatten Bücher sicherlich auch im nächsten Jahrtausend noch eine Zukunft. Schade war nur, daß es so gut wie keinen winzigen Buchladen mehr gab, in dem man ohne Hektik herumstöbern konnte, einen kleinen Plausch mit dem greisen Händler haltend, insgeheim beseelt von der Hoffnung, in irgendeiner
versteckten Ecke auf einen uralten verstaubten Wälzer zu stoßen, von dem nur noch ein einziges Exemplar existierte. Derartige geheimnisvolle Exkursionen ins Reich des Lesens gehörten der Vergangenheit an. Unheimliche Friedhöfe, wie Poe sie in seiner Spukgeschichte beschrieben hatte, leider ebenfalls. Zwar lag auch der Friedhof von Alamo Gordo auf einem Hügel – außerhalb der Stadt – doch es fehlte ihm die typische Atmosphäre. Die geradlinig geschnittenen Hecken, geharkten Wege, in Reih und Glied gepflanzten Blumenbeete und der Stoppelrasen ähnelten eher einer Grünanlage, einem Park, der zum Spaziergang einlud, mit Ehefrau, Kindern und Hund. Auch hier reckte sich neben dem Eingang ein großes Kreuz zum Himmel empor, nicht aus Stein, es bestand aus einer gehärteten Glaslegierung, die in verschiedenen Farben schimmerte, je nachdem aus welchem Blickwinkel man es betrachtete. Auf Grabsteine stieß man nur selten. Aus Platzgründen waren die Kosten für Erdbestattungen in den letzten Jahrzehnten so hochgeschraubt worden, daß es sich kaum noch jemand leisten konnte, seine Anverwandten in einem ausgehobenen Grab zur letzten Ruhe zu betten. Im Gegensatz dazu nahm sich der Unkostenbeitrag für eine Feuerbestattung recht kümmerlich aus, denn Urnen ließen sich leichter unterbringen. Grundsätzlich wurden Totengefäße nicht begraben. Entweder gab man sie den Trauernden mit nach Hause oder stapelte sie in speziellen Fächern. Stapeln. Seit der Krisensitzung schüttelte es den Commander, wenn er dieses Wort hörte. Bisher hatte man es nur in Bezug auf leblose Gegenstände angewendet. Oder auf die Überreste von Verstorbenen. Ein zu Asche verbrannter Körper fühlte nichts mehr, daher war es egal, ob man das Gefäß, in dem man ihn aufbewahrte, in einem Regal oder auf dem Kaminsims
abstellte. Aber bei den Aussiedlern hatte man es mit lebendigen Menschen zu tun. Menschen, die sich vertrauensvoll in Tiefschlaf versetzen ließen, um nach dem Erwachen ein neues Leben zu beginnen. Menschen, die ihre irdischen Hüllen noch brauchten und deshalb ein Recht darauf hatten, daß man sie sorgsam und respektvoll behandelte. Der sanfte Friedhofshügel erstreckte sich über mehrere Kilometer. Damit ältere Hinterbliebene nicht total außer Atem bei den Gräbern oder Urnenfächern eintrafen, hatte man an mehreren Stellen Schweberparkplätze eingerichtet. Dhark hatte sich dennoch entschlossen, zu Fuß zu gehen. Zum einen tat ihm der frische Wind gut, der über den Hügel streifte, zum anderen lag die Gruft, zu der er wollte, nicht weit entfernt. Es handelte sich dabei um einen privaten Neubau, der ursprünglich als Familiengruft gedacht gewesen war und seit der Fertigstellung leerstand, weil sich die Auftraggeber verschuldet hatten. Dhark hatte ihn mit Regierungsmitteln gekauft und dort die 108 Salter bestatten lassen, die in der Flottenklinik von Robonen ermordet worden waren. Die Täter hatten ihren Opfern nicht die geringste Chance gelassen. Auf einem Kiesweg wurde der Commander von einem jungen Liebespaar überholt. Die beiden turtelten innig verliebt miteinander und schienen ihn gar nicht zu bemerken. Unwillkürlich mußte er an Joan denken. Vor der Urnengruft blieb Dhark stehen und schloß kurz die Augen. In seiner Phantasie sah er eine Gedenktafel über dem Eingang zur Gruft, mit dem Schriftzug: Letzte Ruhestätte der Mysterious. Eine solche Gedenktafel würde es nie geben. Die Salter waren nicht die Mysterious. Aus diesem Grund mußte Dharks unermüdliche Suche nach den Geheimnisvollen weitergehen, irgendwann in naher Zukunft, sobald die Probleme auf Terra gelöst waren und man keine Angriffe der Schatten mehr zu
fürchten brauchte. Kurz darauf stand der Commander vor der Urne des Salterführers Olan. Der letzte Satz des Sterbenden hallte noch immer in seinem Bewußtsein nach, nie würde er ihn vergessen. »Suche die wahren Mysterious und ergründe ihr schreckliches Geheimnis.« Ihr schreckliches Geheimnis. Was hatte Olan damit gemeint? Ren war so tief in Gedanken versunken, daß er nicht merkte, wie sich ihm etwas näherte. Jemand streckte die Hand nach ihm aus. * Dhark wirbelte herum. Er war überrascht, gerade diese Person so unvermittelt hier zu erblicken. Und er war sich nicht sicher, ob er die Überraschung wirklich als angenehm einstufen sollte. Hinter ihm stand Joan Gipsy. Atemberaubend schön wie immer. Mit ihrem Lächeln hatte sie es noch jedesmal geschafft, Ren den Kopf zu verdrehen. Diesmal schien es jedoch nicht zu wirken. Zögernd trat er einen halben Schritt zurück. Warum ließ sie ihn nicht in Frieden? Es tat noch immer weh, was sie ihm angetan hatte. »Ich bin hier, damit wir uns endlich einmal aussprechen können«, ergriff sie die Initiative. »Ständig gehst du mir aus dem Weg. Wenn du ausnahmsweise mal nicht auf einer Mission im All unterwegs bist, läßt du dich von deinen Mitarbeitern verleugnen. Ich halte das nicht mehr aus. Willst du Schluß mit mir machen? Ja oder nein?« »Ich weiß es nicht«, gestand Dhark ein. »Wirklich nicht. Daß du mich hintergangen hast, habe ich noch nicht verarbeitet.« »Hintergangen – was für ein pathetisches Wort! Man könnte
meinen, ich hätte dich mit einem anderen Mann betrogen.« »Du weißt genau, was ich meine. Wallis hat dich auf mich angesetzt, um mit mir in Kontakt zu treten. Um dieses Ziel zu erreichen, hast du mir Gefühle vorgespielt.« »Ich habe dir bereits im ›Los Morenos‹ geschworen, daß meine Gefühle für dich echt sind...« setzte Joan Gipsy an, aber Dhark schnitt ihr abrupt das Wort ab. »Und was den anderen Mann anbetrifft, hast du mich ebenfalls angelogen, Joan. Eylers hat mich von eurem Zwiegespräch im Krankenhaus unterrichtet – und von seiner Unterhaltung mit Terence Wallis. Wallis hat offen zugegeben, daß ihr beide eine Beziehung hattet. Warum hast du mir das verschwiegen?« »Außer mit Wallis war ich in meinem Leben auch noch mit anderen Männern zusammen«, machte Joan ihm ein ehrliches Geständnis. »Von denen habe ich dir ebenfalls nichts erzählt. Was hast du denn in mir gesehen? Eine unberührte Nonne, die jahrelang in einem Kloster eingesperrt war?« »Deine früheren Verhältnisse tun hier nichts zur Sache«, entgegnete Dhark. »Das war vor meiner Zeit mit dir.« »Genau wie mein Verhältnis mit Wallis«, erklärte Joan. »Als mir klar wurde, daß ich mich rettungslos in dich verliebt hatte, gab ich Terence von einem Tag auf den anderen den Laufpaß. Ihm paßte das gar nicht, denn normalerweise ist er es, der eine Beziehung beendet. Mittlerweile ist er darüber hinweg und tröstet sich mit seiner Privatsekretärin.« »So wie du dich mit mir.« »Du bist mehr für mich als nur ein Lückenbüßer, das mußt du mir glauben.« Ren Dhark konnte seinen Blick nicht von der attraktiven Gestalt wenden, die so zart und irgendwie verwundbar vor ihm stand. Ihre Verletzungen, die sie beim Überfall der Robonengruppe auf das Restaurant davongetragen hatte, waren dank moderner terranischer Medizintechnik vollständig und
spurenlos ausgeheilt. Rens Blick fiel auf die Perle, die sie am linken Ohrläppchen trug. Obwohl kein Sonnenstrahl in die neonbeleuchtete Gruft drang, blinkte das Schmuckstück auf, als ob es ihm aufmunternd zuzwinkern würde. Wenig später gingen beide Hand in Hand auf den Friedhofsausgang zu. Beim Anblick der wenigen Grabsteine erinnerte sich Dhark an die Beerdigung seines Großvaters. Damals war er noch ein Kind gewesen. Als er das Grab Jahre später besucht hatte, hatte sich Moos auf dem verwitterten Stein ausgebreitet. Durch die Wipfel einer knorrigen Eiche war Sonnenlicht gedrungen und hatte gespenstische Figuren auf die Grabstätte gezeichnet. Auf dem Hügelgelände über Alamo Gordo gab es keine alten Bäume, nur frische Anpflanzungen. Die Steine waren so neu wie der Friedhof selbst. Gepflegt sahen sie aus, als würden sie jeden Tag sorgsam gesäubert werden. »Woher wußtest du eigentlich, wo ich bin?« fragte der Commander seine schöne Begleiterin. »Laß mich raten. Eylers läßt mich weiterhin unauffällig bewachen. Er hat dir meinen Aufenthaltsort gesteckt.« Joan schüttelte den Kopf. »Nein, aus ihm war nichts herauszubekommen. Ich glaube sogar, er hat den Befehl deiner Dauerüberwachung zurückgezogen – oder aber deine heimliche Leibwache tarnt sich heute besonders gut. So gut wie das Pärchen, das Terence dir hinterhergeschickt hat und das ihn ständig über dich auf dem laufenden halt.« Dhark schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Das Liebespaar auf dem Kiesweg! Und ich Trottel habe nichts gemerkt. Wieso läßt mich dein Exlover beschatten?« »Er sorgt sich halt um seinen neuen Geschäftspartner.« »Wallis macht Geschäfte mit der Regierung, nicht mit mir.« »Sei nicht so bescheiden, Ren. Du bist die Regierung.«
* Als Ren Dhark und Joan Gipsy bald darauf auf dem Dach des vierzigstöckigen Hochhauses landeten, hatten sie ihre beiden Bewacher abgehängt. Der Commander hatte sie über einem Canyon in die Irre geführt und war dann in einem gewagten Manöver abgetaucht. »Das war ganz schön riskant«, rügte Joan ihn. »Bei deinem Flugstil kann einem angst und bange werden.« Er winkte nur gelassen ab. »Ich habe das Fliegen von meinem Vater gelernt. Und der war ein As. Bis die zwei Kletten kapiert haben, daß wir längst aus den Bergen verschwunden sind, ist ihnen ein weißer Bart gewachsen.« In der folgenden Nacht kam es nicht nur zu einer gründlichen Aussprache zwischen Joan und Dhark, sondern auch zu einer vorsichtigen Aussöhnung. Was sich sonst noch in seinen Privaträumen zutrug, in den Stunden bis zum Morgengrauen, blieb das Geheimnis der beiden. Als Joan am nächsten Morgen erwachte, war der Commander bereits fort. Eine Menge Arbeit wartete auf ihn, und der Tag hatte nur vierundzwanzig Stunden. Auf dem Nachtschrank fand sie den Schlüssel für seine Wohnung. Ein Zettel lag daneben. Ich vertraue dir, war darauf zu lesen. Eine zweite Enttäuschung würde ich nicht verkraften.
18. Die Vereinigung der Weltstaaten unter einer gemeinsamen Regierung war eines der wichtigsten Ereignisse in der Ära der Menschheit gewesen. Dennoch dachten und fühlten nicht alle Völker gleich, es gab erhebliche regionale Unterschiede. China war das beste Beispiel dafür. Allem Fortschritt zum Trotz hatten sich zahlreiche uralte Traditionen bis in die heutige Zeit erhalten. Auch in einem Jahrtausend, das nach den Sternen griff, wurden dort mit wachsender Begeisterung heidnische Drachenfeste veranstaltet. Das berühmteste fand Jahr für Jahr in Peking statt und zog scharenweise Touristen an. Es begann mit einer fröhlichen Straßenfete auf dem Platz des Himmlischen Friedens und fand seinen Höhepunkt in einer Freiluftaufführung im klassischen Stil der Pekingoper. Veranstaltungsort war die Verbotene Stadt, die 500 Jahre lang für »Normalsterbliche« gesperrt gewesen war. Seit 1420 hatten in Peking die verschiedensten chinesischen Regenten ihren Stammsitz innegehabt, zuletzt eine in ihrem Denken völlig erstarrte Altherrenriege, die noch über das Ende des vorigen Jahrtausends hin das eigene Volk blutig unterdrückt hatte. Dank eines Gesetzes von 1992, das chinesischen Unternehmen größere Entscheidungsfreiheiten zubilligte, hatten sich schließlich die Türen zum bis dahin verpönten kapitalistischen Auslandsmarkt geöffnet, und das starre System war allmählich von innen her aufgeweicht worden. Nichtsdestotrotz blieben die Erinnerungen an Mongolen, Ming-Dynastie und Mandschukaiser weiterhin lebendig, so wie auch andere Kulturen ihre Vorfahren verehrten und ihnen Denkmäler setzten, ungeachtet der Tatsache, daß sich nicht
wenige von ihnen zu ihren Lebzeiten als brutale Eroberer profiliert hatten und für ihre Machtergreifung über Leichen gegangen waren. Der Besatzung des 400-Meter-Raumschiffs SKARLAND, eines älteren Giant-Beuteschiffs der Planetenklasse, war die chinesische Kultur total schnuppe. Hauptsache, Peking verfügte über einen Raumhafen. Von dort aus startete der Kugelraumer um acht Uhr 15 morgens mit 400.000 im Kälteschlaf befindlichen Siedlern an Bord nach Babylon. Auf dem Hauptmonitor in der Zentrale verschwand allmählich der Nordwestrand der chinesischen Tiefebene sowie das 150 Kilometer östlich von Peking gelegene Gelbe Meer. Die Konturen verschwammen, und das Siedlerschiff tauchte ein ins unendliche Sternenmeer. Captain Igor Ewikowski – seine Mutter war Russin, sein Vater Pole – leitete die erste Transition ein. Er machte keinen Hehl daraus, daß er seine gekühlten Passagiere beneidete. »Die haben’s viel zu gut«, sagte er zu seinem I.O. Peter Fandl. »Wir kümmern uns um alles, und die liegen faul rum. Von den Strapazen der Transition bekommen die auch nichts mit.« Der knapp vierzigjährige Captain neigte zur Bequemlichkeit. Eigentlich hatte er nie so richtig kapiert, warum er sich freiwillig zur Terranischen Flotte gemeldet und zu allem Überfluß auch noch Karriere gemacht hatte. Der Teufel mußte ihn geritten haben bei seinem Entschluß, diesen anstrengenden Berufsweg einzuschlagen. Mit seinem Ersten Offizier stand ihm ein nützlicher Helfer zur Seite. Der deutsche Oberleutnant Fandl kannte sich in allen Bereichen der Raumfahrt mindestens ebensogut aus wie sein Vorgesetzter, und er nahm ihm so ziemlich jedes Quentchen Arbeit ab. Das einzige, was Igor Ewikowski noch selbst tragen mußte, war die Verantwortung. So sah es zumindest Peter Fandl. Seiner Ansicht nach hätte
er auf dem Chefsessel in der Zentrale sitzen müssen, doch Ewikowski war viel zu behäbig, um aufzustehen und ihn zu räumen. Gemeinsam leiteten sie die erste Transition ein. Alles verlief reibungslos. Nach dem Sprung hatte die Mannschaft mit den gewohnten Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen. Ihr Captain war ihnen in dieser Hinsicht leider kein gutes Vorbild. Meistens war er der letzte, der sich von den Strapazen erholte. Fandl war verhältnismäßig früh wieder beieinander. Umgehend rief er diverse zentrale Gerätefunktionen ab. Anschließend nahm er die Meldungen der anderen Decks entgegen, wie es nach jeder Transition Vorschrift war. »Hier Hangarschleuse. Keine besonderen Vorkommnisse.« »Waffensteuerung. Funktionen einwandfrei.« »Maschinenraum. Alles im grünen Bereich.« »Medo-Station meldet keine besonderen Vorkommnisse.« »Abteilung Sensorauswertung und Koordinationsrechner für die Ortungsimpulse.« »Wie geht’s, Freddy?« rief ihm der Captain über die Freisprechanlage zu. »Alles in Ortung?« Den kleinen Wortscherz machte er nicht zum ersten Mal. Normalerweise antwortete Freddy, der daheim in seiner Nachbarschaft wohnte, mit einem leisen Höflichkeitslachen oder einem lockeren Spruch. Diesmal nicht. »Schwer zu sagen«, ertönte es aus dem Lautsprecher. »Für einen Moment lang dachte ich, die Apparaturen zeigen etwas an, doch dann war es wieder verschwunden.« »Es?« hakte Fandl nach. »Was denn? Bitte um genauere Definition.« »Ich glaube, es war ein fremdes Peilsignal, als ob jemand versuchen würde, unsere exakten Sprungkoordinaten zu errechnen«, informierte Freddy ihn. »Möglicherweise habe ich mich geirrt, es ging alles so schnell. Kaum hatte ich das
scheinbare Signal wahrgenommen, war es auch schon wieder verschwunden.« Fandl prüfte die Ortungsauswertung in der Hauptzentrale. Weit und breit war kein anderes Raumschiff auszumachen. »Vielleicht ein Robonenraumer?« überlegte er laut. »Es heißt, ihre Schiffe seien mit einem perfekten Ortungsschutz ausgerüstet. Womöglich kleben sie an uns dran.« »Das macht keinen Sinn«, meinte Ewikowski. »Wieso sollten uns Robonen oder sonst wer durchs All folgen? Die Verschiffung der Siedler nach Babylon ist kein Geheimprojekt. Die Presse hat ausführlich darüber berichten dürfen, damit erst gar keine Gerüchte aufkommen. Falls jemand die Aktion sabotieren will, muß er uns nicht heimlich beschatten. Es würde genügen, uns kurz vor der Landung auf Babylon abzufangen. Theoretisch hätte man uns bereits nach dem Start angreifen können.« »Damit hätten die Angreifer riskiert, daß wir Waffenunterstützung von Terra kriegen. Ein Überfall auf halber Strecke, zum geeigneten Zeitpunkt, irgendwo mitten im All...« »Hören Sie schon auf! Niemand wird uns überfallen. Und falls doch, sind wir bestens gerüstet. Tremble-Schock, Drehstrahl, Pressor, Raptor – wer sich mit Captain Blizzard anlegt, sollte vorher besser sein Testament machen.« In diesem Augenblick wurde Leutnant Fandl schmerzlich bewußt, wieso Igor Ewikowski die SKARLAND befehligte und nicht er. Captain Blizzard – diesen Spitznamen hatte Ewikowski von anderen Raumerkommandanten verpaßt bekommen. Nicht nur bei Manöverübungen war es ein Fehler, ihn zu unterschätzen, auch bei echten Weltraumschlachten erwies er sich als gefährlicher Gegner. Der Erfolg seiner Strategie lag darin, daß es gar keine Strategie gab. Wie ein Wirbelsturm griff er ins Kampfgeschehen ein und machte dem Feind das Leben zur
Hölle. Niemand an Bord beherrschte die verschiedenen Waffensysteme so gut wie der Captain, und keiner konnte sich mit seinen Flugkünsten messen. Ein Kreuzer der Planetenklasse wurde durch ihn zu einem Ball, der mal hierhin, mal dahin sprang, nach allen Seiten wild, aber präzise feuernd. Sein Erster Offizier Fandl begab sich zu den Frachträumen, um sich persönlich zu überzeugen, daß dort aufgrund der Transition keine Probleme aufgetreten waren. Die Meldung über den Bordlautsprecher genügte ihm nicht, in diesem Fall wollte er ganz sicher sein. Immerhin ging es um 400.000 Menschenleben. Die drei ausschließlich zur Betreuung der Siedler im Kälteschlaf abgestellten Ärzte äußerten sich zufrieden über den Zustand der Passagiere. Der Leutnant suchte den portugiesischen Techniker auf, der die automatische Temperatursteuerung überwachte. »Warum machen Sie so ein mürrisches Gesicht, Sergeant Moranez?« erkundigte er sich, nachdem der Mann seine Meldung gemacht hatte. »Weil ich mir meinen ersten Flug ins All aufregender vorgestellt hatte, Sir«, antwortete der Technical Sergeant. »Die Suprasensoren haben alles perfekt im Griff, für mich gibt es kaum etwas zu tun.« »Seien Sie froh darüber, Moranez. Ohne Supras wäre es hier an Bord zappenduster. Auf diese Art von Aufregung kann ich gut und gern verzichten.« Fandl musterte den kleinwüchsigen Mann unauffällig von oben bis unten. Er schätzte ihn auf höchstens einen Meter fünfzig. Der Leutnant hatte die Akte des Sergeants gelesen und wußte, daß man ihn nur aufgrund einer Sondergenehmigung bei der TF aufgenommen hatte. Moranez’ überdurchschnittliche Intelligenz und seine durchweg ausgezeichneten Ergebnisse beim Schieß- und Kampftraining
hatten selbst die hartgesottensten Aufnahmeprüfer überzeugt. Lange, so vermutete Fandl, würde der Mann kein Sergeant mehr bleiben. Größere Aufgaben warteten auf ihn. Eventuell würde man ihn eines Tages sogar für das Cyborg-Programm entdecken. Wahrscheinlich bin ich dann noch immer I.O. auf der SKARLAND, dachte Oberleutnant Fandl resigniert, während er in die Hauptzentrale zurückkehrte. Den Zwergen gibt’s der Herr im Schlaf. Nach der vorschriftsmäßigen Erholungsphase wurde die zweite Transition durchgeführt. Diesmal blieben dem Captain und seinem Ersten Offizier nur wenig Zeit, um sich zu sammeln. Unmittelbar nach erfolgter Transition ertönte die hektische Stimme des kleinen Portugiesen aus sämtlichen Bordlautsprechern. »Um Himmels willen! Die Temperatur schwankt erheblich! Wir müssen sofort etwas unternehmen, sonst haben wir gleich 400.000 Leichen an Bord!« * Die in speziellen Transportregalen gestapelten Siedler umgab eine stetige Temperatur von 4° Celsius. Höher als 8°C durfte sie nicht steigen, weil sonst das Sedativum seine Wirkung verlieren würde. Eine kurzzeitige Schwankung um 2°C nach oben wirkte zwar bedrohlich, war in den Augen des Ersten jedoch... »... kein Grund zur Panik. Sie müssen lernen, Ruhe zu bewahren, Moranez, sonst bringen Sie es nie zu etwas.« »Entschuldigen Sie bitte, Sir«, erwiderte der Portugiese zerknirscht. »Als die Temperatur kurz nach der Transition auf 6°C anstieg, brach mir der Angstschweiß aus. Ich war so nervös, daß ich an der Sprechanlage versehentlich auf den falschen Knopf drückte. In meiner Hand liegt das Leben all
dieser Menschen, das ist eine hohe Verantwortung.« »Marschall Bulton war der Ansicht, daß Sie dieser Verantwortung gewachsen sind«, entgegnete Fandl. »Ich bin der Überzeugung, daß sein Vertrauen gerechtfertigt ist. Informieren Sie die Zentrale auch weiterhin über jede Veränderung – aber bitte nicht wieder das gesamte Schiff. Es ist nicht nötig, die komplette Mannschaft mit Ihrer Nervosität anzustecken...« Nach Eingang der Alarmmeldung waren sofort hektische technische Maßnahmen ergriffen worden, die sich im Nachhinein als unnötig erwiesen hatten, weil sich die Temperatur wieder gesenkt hatte, genauso schnell und unbegreiflich wie sie angestiegen war. Der Ursache für die an sich harmlose Schwankung war man bisher nicht auf die Spur gekommen. »Darf ich einen Vorschlag machen, Sir?« fragte Sergeant Moranez. »Nur zu, ich bin ganz Ohr«, antwortete der Leutnant. »Es wäre besser, die Temperatursteuerung auf Handbetrieb umzuschalten. Ich verfüge über die entsprechende technische Ausbildung und bin durchaus in der Lage, 4° C bis zur Landung konstantzuhalten. Auf mich ist mehr Verlaß als auf die Automatik.« »Auch während einer Transition?« äußerte sein Vorgesetzter Bedenken. »Gerade in dieser schwierigen Phase ist menschliches Versagen nicht auszuschließen. Einigen wir uns auf einen Kompromiß. Sobald die Transition eingeleitet wird, überlassen Sie es dem Bordrechner, die Temperatur zu kontrollieren. Nachdem Sie sich dann ausreichend erholt haben, übernehmen Sie die manuelle Steuerung, okay?« »Okay, Sir!« bestätigte der Sergeant und salutierte. Nachdem der Oberleutnant die Handsteuerung entsichert hatte, begab er sich wieder in die Zentrale. Noch ahnte er nicht, daß er schon bald erneut aufs Frachtdeck eilen würde – mit dem
Auftrag, einen der größten Massenmorde Menschheitsgeschichte zu verhindern.
in
der
* Bert Stranger hatte über Nacht diverse journalistische Unterlagen aufgearbeitet. Kurz vor Sonnenaufgang hatte er sich noch eine Mütze voll Schlaf gegönnt. Als sich drei Stunden später sein Radiowecker einschaltete, hatte er das Gefühl, sich erst vor drei Minuten hingelegt zu haben. Es gab alltägliche Dinge in Strangers Leben, an die gewöhnte er sich nie, die würde er auch noch in hundert Jahren als unangenehm empfinden. Dazu zählte beispielsweise das knackende Geräusch unter seiner Schuhsohle, wenn er draußen versehentlich auf einen dicken schwarzen Käfer trat. Oder eine Unterhaltung an der Bartheke mit einem volltrunkenen Quartalssäufer, der in ihm seinen besten Kumpel sah und mitsamt seiner Alkoholfahne ganz nah an ihn heranrückte. Daß er an diesem Morgen nach seiner viel zu kurzen Schlafphase von einer durchs Äther tobenden Punkband geweckt wurde, war eine neue unangenehme Erfahrung für ihn. Im Radio malträtierte die viel zu laute Truppe auf grausige Weise ihre Instrumente, während sich eine schrille weibliche Stimme tatkräftig abmühte, die Musik zu übertönen. Der überwiegend aus Kreischtönen bestehende Text war kaum zu verstehen. Stranger hörte lediglich vereinzelte Wörter wie »niedermachen«, »Teufelsbrut« oder »kaputtschlagen« heraus. Letzteres hätte er nur zu gern mit seinem Wecker gemacht, doch der war nicht billig gewesen. Darum schnippte er lieber mit dem Finger, um die Band zum Schweigen zu bringen. Als das nicht funktionierte, pfiff er zweimal kurz hintereinander. Wieder nichts. Stranger klatschte in die Hände. Keine Reaktion. Lautes
Räuspern führte ebenfalls nicht zum Erfolg. Der Wecker verfügte über eine Geräuschimpulsschaltung und reagierte ausschließlich auf den Laut, den man zuletzt einprogrammiert hatte. Stranger war sicher, sich für ein Fingerschnippen entschieden zu haben. Vor drei Tagen hatte die Schaltung noch tadellos funktioniert. Das möblierte Appartement, das der Journalist bewohnte, war nicht sonderlich groß. Arbeiten, essen, schlafen – alles fand im selben Raum statt, an den eine Küche und ein viel zu kleines Badezimmer grenzten. Stranger fühlte sich hier nicht sonderlich wohl. Glücklicherweise war er meistens auf Achse, so daß er mehr Zeit in Hotels, Pensionen oder auf der Rückbank seines Schwebers verbrachte als zu Hause. Bei seinem letzten Aufenthalt daheim war er nicht allein gewesen. Er hatte ein Barmädchen bei sich gehabt – die ganze Nacht. Am nächsten Morgen war er leise aufgestanden und hatte sie weiterschlafen lassen. An einer Fortsetzung des kurzen, leidenschaftlichen Verhältnisses hatte er keine Interesse gehabt. Wie ein Dieb hatte er sich aus seiner eigenen Wohnung geschlichen. Auf dem Nachtschrank hatte er ihr lediglich einen Zettel zurückgelassen, mit dem wenig einfühlsamen Text: »Mach’s Licht aus, wenn du gehst.« Offensichtlich hatte sie ihm das übelgenommen und aus Rache an seinem Radiowecker sowohl den Sender als auch die Impulsprogrammierung verstellt. »Weiber!« zeterte Stranger, während er nach dem manuellen Abschalthebel tastete. »Von Liebe war niemals die Rede, Monika.« Monika – das war das Zauberwort. Abrupt verstummte der Gesang der »rostigen Kreischsäge«. Gespenstische Ruhe breitete sich im Zimmer aus. »Es lebe die Technik«, murmelte Bert Stranger und richtete sich im Bett auf. »Ohne das richtige Kennwort wäre ich
aufgeschmissen gewesen. Gott sei Dank habe ich mich noch an ihren Namen erinnert.« Er dachte an das Penthouse der Kimbleys, wo so ziemlich alles über bestimmte Impulse ein- und ausgeschaltet wurde. Stranger stellte sich das Chaos vor, das unweigerlich ausbrechen würde, wenn man die jeweiligen Laute beziehungsweise Kennwörter verwechselte. .. ... und plötzlich war ihm sonnenklar, wer Martha Kimbley ermordet hatte. Nach der Morgentoilette kleidete Stranger sich an. Dann betätigte er die Viphoanlage in seinem Appartement. Auf dem Wandbildschirm erschien das Gesicht eines zivilen Polizeibeamten. Stranger kannte ihn, es war der Assistent von Inspektor Groove. »Ist Ihr Chef nicht da?« erkundigte sich der Reporter. »Er befindet sich nebenan im Verhörzimmer«, erhielt er zur Antwort. »Sie recherchieren doch im Fall der ermordeten Mrs. Kimbley, nicht wahr, Mister Stranger? Inspektor Groove vernimmt gerade den Witwer.« »Kann er sich schenken«, erwiderte Stranger. »Ich kenne den wahren Täter. Der Hausmeister hat’s getan.« »Der Hausmeister? Sind Sie sicher?« »Ganz sicher. Im Schlafzimmer der Ermordeten gibt es eine Stehlampe, die auf einen bestimmten Geräuschimpuls reagiert. Groove hatte den Hausmeister gebeten, die Lampe einzuschalten. Der Mann ging hin und kam der Anweisung nach.« »Der Hausmeister ist tatverdächtig, weil er eine Stehlampe eingeschaltet hat?« fragte der Beamte skeptisch und kratzte sich am Kinn. »Verstehe ich nicht.« Bert klärte ihn auf. »Angeblich kannte er die Mieter des Penthouses nur flüchtig. Und woher wußte er dann, durch welchen Impuls diese spezielle Lampe zu bedienen war? Ich habe gerade eine halbe Ewigkeit gebraucht, um meinen
Radiowecker abzustellen, weil... äh, weil ich das Kodewort vergessen hatte. Das Mordmotiv herauszufinden ist Polizeisache, ich kann lediglich eine Vermutung äußern. Martha Kimbley war eine leichtlebige Person. Womöglich hat sie dem Hausmeister schöne Augen gemacht, ihn aber immer wieder abblitzen lassen. Eines nachts drang er mit der General-Codekarte ins Penthouse ein und betrat leise ihr Schlafzimmer. Sie lag im Bett, erwartete jemand anderen. Das Licht hatte sie gelöscht. Als sie ein Geräusch wahrnahm, betätigte sie die Stehlampe. Dafür verwendete sie irgendeinen Laut oder ein Kennwort – und das bekam der Hausmeister mit. Weil Martha seine Annäherungsversuche abwehrte, erdrosselte er sie mit dem Halstuch.« »Meinen Sie nicht, das ist ein bißchen weit hergeholt?« merkte Grooves Assi an. »Der Hausmeister...« »... ist der Täter«, ergänzte Stranger den Satz, seiner Sache völlig sicher. »Glauben Sie mir. Informieren Sie den Inspektor, daß er mit Mister Kimbley auf dem Holzweg ist. Ende der Durchsage.« Ohne eine weitere Erwiderung abzuwarten, unterbrach Stranger die Vipho Verbindung. Er kochte Kaffee. Anschließend bestrich er eine Scheibe viel zu alten Brotes mit roter, viel zu klebriger Marmelade. Auch der Signalgeber der Viphoanlage ließ sich individuell einstellen. Man hatte die Wahl von der Haustürklingel über das Geräusch eines abfahrenden Zuges bis hin zu diversen Lichtsignalen. Stranger hatte sich seinerzeit für melodisches Glöckchengeläut entschieden. Als ihn urplötzlich lautes Hundegebell erschreckte, wußte er, daß Monika auch daran herumgespielt hatte. Jemand wollte sich mit ihm in Verbindung setzen. Er vermutete, daß es der Inspektor war, um sich zu bedanken. Der kugelrunde Reporter schaltete den Bildschirm wieder
ein. Zu seiner Verwunderung wurde eine Person eingeblendet, die nur von hinten zu sehen war. Sie trug einen Hut sowie einen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen. »Stimmt, sie sind ein häßlicher Kerl, Groove«, scherzte Stranger. »Aber deshalb brauchen Sie Ihr Gesicht nicht vor mir zu verbergen. Drehen Sie sich ruhig um. Ich bin hart im Nehmen und habe schon üblere Typen gesehen.« »Halten Sie den Mund, Stranger!« schnarrte ihn eine künstlich verzerrte Stimme an. »Haben Sie vor, in nächster Zeit zu verreisen?« »Wer sind Sie?« erkundigte sich Stranger verblüfft. »Beantworten Sie meine Frage!« befahl der Unbekannte. »Aufgrund einer Reportage müßte ich für zwei... sagen Sie mal, was geht Sie das eigentlich an?« »Bleiben Sie daheim! Demnächst erhalten Sie einen Datenträger mit wichtigen Informationen. Ich garantiere Ihnen die Reportage Ihres Lebens.« Mit diesen Worten verschwand der unheimliche Fremde vom Wandbildschirm. Nachdenklich setzte sich Stranger wieder an den Frühstückstisch. Anonyme Nachrichten waren in seinem Beruf keine Seltenheit. Diese hier mußte besonders wichtig sein, wenn man sie ihm vorher auf derart geheimnisvolle Weise ankündigte. Daher beschloß er, seine geplante Reise zu verschieben. Erneut meldete sich das Vipho. Diesmal war es tatsächlich der Inspektor. »Guten Appetit«, wünschte Groove dem Journalisten, der gerade den letzten Schluck Pulverkaffee austrank. »Ich möchte Ihnen mitteilen, daß Mrs. Kimbleys Mörder verhaftet wurde. Er hat die Tat gestanden.« »Das ging aber fix«, lobte Stranger ihn. »Ich nehme an, Sie haben sofort einen Streifenwagen losgeschickt.« »Das war nicht notwendig, er befand sich bereits im
Verhörzimmer.« »Sie haben Mister Kimbley verhaftet? Aber...« »Mein Assi hat mir von Ihrer Hausmeister-Theorie berichtet, Stranger. Sorry, das ist an den Haaren herbeigezogen. Der gute Mann ist 99 Jahre alt, noch sehr rüstig zwar, aber er steigt keinen jungen Frauen mehr nach. Und was die Stehlampe angeht: Er hat exakt die gleiche in seiner Wohnung. Es handelt sich um ein qualitativ minderwertiges Modell, bei dem sich nur drei verschiedene Impulse einstellen lassen. Seine funktioniert auf simples Zusammenklatschen der Hände, und genau das probierte er als erstes bei Mrs. Kimbleys Lampe aus. Als es nicht klappte, schnippte er mit dem Finger – und schon wurde es hell.« »Tja, dann habe ich mich wohl geirrt«, gab Stranger zu. »Der Witwer sitzt in Untersuchungshaft, sagten Sie?« »So ist es«, bestätigte der Inspektor. »Er kam von der Geschäftsreise heim, stritt sich mit seiner Frau und tötete sie. Danach wollte er die Wohnung verlassen. Plötzlich hörte er jemanden außen an der Tür, und er versteckte sich in der Küche. Marthas Liebhaber betrat das Penthouse, ging ins Schlafzimmer, fand die Leiche. Mister Kimbley öffnete die Wohnungstür und ließ sie zufallen, so als ob er gerade heimgekommen wäre. Der ertappte Geliebte verbarg sich daraufhin auf der Terrasse. Der Ehemann rief die Polizei an, inszenierte anschließend seine panische Flucht... Sie kennen ja die Geschichte, Stranger. Ich schätze, der Mörder wird einige Jahre einsitzen. Wenn er Pech hat, bekommt er sogar lebenslänglich.« »Hervorragend«, meinte der Journalist. »Demnach schläft er künftig auf der Gefängnispritsche. Ich werde ihn in seinem neuen Domizil besuchen und ihn fragen, ob er mir seine Möbel verkauft. Zuvor setze ich mich mit der Hausverwaltung in Verbindung und miete das Penthouse.« »Sie haben ein Gemüt wie ein Fleischerhund«, hielt Groove
ihm vor. »Einer von der Sorte, die vor der Hackbank hockt und geduldig darauf lauert, daß Herrchen sich einen Finger abschneidet. Die arme Mrs. Kimbley ist noch nicht richtig kalt, und Sie wollen sich ihre Wohnung als Appetithäppchen einverleiben.« »Warum nicht?« bemerkte Stranger trocken. »Sie braucht sie ja nicht mehr.« * Die SKARLAND beendete ihre letzte Transition. Als nächstes stand die Landung auf Babylon an. Dazu kam es jedoch nicht mehr, weil unmittelbar nach der Transition die Alarmglocken schrillten. Sie waren auf sämtlichen Decks zu hören. Die kampferprobte Mannschaft bereitete sich auf einen Angriff vor. Doch der Feind kam nicht von außen – er hatte sich im Schiff eingenistet. Oberleutnant Peter Fandl blieb zunächst gelassen. »Der Alarm wurde auf dem Frachtdeck ausgelöst«, teilte er dem Captain mit. »Wahrscheinlich dreht der kleine Portugiese wieder durch.« »Die Automatik hat Alarm geschlagen, nicht Moranez«, erwiderte Igor Ewikowski nach einem Blick auf die Anzeigen. »Diesmal ist in den Frachträumen die Hölle los, das spüre ich in meinen Knochen. Sehen Sie sofort nach dem Rechten, und zwar schnell! Ich schicke einen bewaffneten Trupp hinterher.« Während Fandl zum A-Gravschacht rannte, betätigte Ewikowski einen Schalter und erteilte kurz und knapp seine Befehle. Am Pult stach ihm ein Leuchtsignal in die Augen. Die Hangarschleuse wurde geöffnet. »Welcher Idiot macht sich da zu schaffen?« knurrte der Captain. »Während der Alarmbereitschaft darf niemand ohne
meinen ausdrücklichen Befehl den Kreuzer verlassen.« Zu spät. Noch bevor er es verhindern konnte, schoß eins der Beiboote nach draußen. Igor versuchte, sich mit dem Piloten des wendigen Giantgefährts in Verbindung zu setzen, doch der meldete sich nicht. Natürlich nicht. Fandl traf noch vor der georderten Truppe auf dem Frachtdeck ein. Vor dem A-Gravschacht stolperte er beinahe über einen Toten. Es war einer der drei für die Passagiere zuständigen Ärzte. Die beiden anderen Mediziner entdeckte der Leutnant im Tunnel, der zu den Frachträumen führte. Sie waren mit gezielten Schüssen aus dem Hinterhalt umgebracht worden. Der dritte hatte offensichtlich noch versucht zu fliehen, war aber nicht weit gekommen. Inzwischen waren mehrere bewaffnete Soldaten eingetroffen. Sie erfaßten die Situation mit einem Blick. Weil der Todesschütze möglicherweise noch in der Nähe war, hielten sie ihre Waffen schußbereit in den Händen und sicherten die Umgebung. Fandl öffnete die automatische Tür zu den Frachträumen. »Es ist viel zu kalt hier drinnen«, stellte er fest. Er warf einen Blick auf den Temperaturmesser an der Wand. »Verdammt! Die Temperatur liegt unter Minus 5°C! Wie lange schon? Wieso hat Moranez uns nicht alarmiert?« »Wahrscheinlich hat man auch ihn erschossen«, befürchtete eine junge Soldatin. Die Wahrheit war viel schlimmer. Sergeant Moranez entpuppte sich als der Verräter. Er hatte die Temperatursteuerung so manipuliert, daß sie sich nicht mehr verstellen ließ. Auf einem Computerbildschirm entdeckte Fandl eine an ihn gerichtete Nachricht. »Hallo, Leutnant! Ich habe mir Ihren Ratschlag zu Herzen
genommen und beim Absenken der Temperatur Ruhe bewahrt. Wozu hätte ich mich aufregen sollen? Vierhunderttausend tote Verdammte sind für uns Wahre Menschen – um es mit Ihren Worten zu sagen, Leutnant – kein Grund zur Panik.« »Elende Ratte!« entfuhr es dem Truppführer, der Fandl beim Lesen über die Schulter gesehen hatte. Peter Fandl entriß ihm die Strahlenwaffe, zielte auf die Steuerkonsole und schmolz sie zu einem häßlichen, dampfenden Klumpen zusammen. Das nutzte ihm gar nichts, die Temperatur blieb unverändert. »Wie hat er das bloß geschafft?« fragte der Truppführer fassungslos. »Die manuelle Steuerung ist durch einen Zahlencode gesichert. Nur der Captain kennt ihn.« Fandl nickte. »Der Captain – und der Erste. Ich habe Moranez vertraut und die Handsteuerung entriegelt. Er hat eine zufällige Temperaturschwankung genutzt, um mich geschickt auszubluffen – falls es überhaupt ein Zufall war.« »Sie meinen, es ist ihm gelungen, für kurze Zeit die Automatik zu beeinflussen? Unmöglich, es ist alles doppelt und dreifach gesichert.« »Diesen heimtückischen Robonen traue ich alles zu«, erwiderte der Leutnant grimmig. Über Sprechfunk forderte er ein Technikerteam an. Nachdem er auch mit der Medo-Station gesprochen hatte, informierte er den Captain. Igor Ewikowski zögerte nicht eine Sekunde. Er übernahm die Schiffssteuerung und folgte dem flüchtenden Beiboot. * Moranez sah auf dem Bildschirm, wie die SKARLAND zur Verfolgung ansetzte. Dennoch war er die Ruhe selbst. Nervosität war ihm ein Fremdwort, die hatte er »den
Verdammten« nur vorgegaukelt, um harmloser zu erscheinen. Nicht nur Captain Blizzard war ein guter Pilot. Sergeant Moranez stand ihm darin in nichts nach. Durch geschickte Wendemanöver lenkte er die Linse immer wieder aus dem Schußbereich des Kugelraumers. Ewikowski hatte gar nicht vor, den Flüchtenden einfach abzuschießen. Er wollte ihn lebend, damit er von den terranischen Behörden vernommen werden konnte. Noch hoffte der Captain, daß die Techniker und Mediziner das Problem auf dem Frachtdeck in den Griff bekommen würden. Möglicherweise kamen die Siedler mit leichten Erfrierungen davon. Die heutige Medizin war in der Lage, beinahe alles zu heilen – nur Tote zum Leben erwecken konnte sie nicht. In den Frachträumen war man weniger zuversichtlich. Fast sämtliche Mitarbeiter der Medo-Station kümmerten sich – der eisigen Kälte zum Trotz – um die reglosen Siedler. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchten sie, durch Einleitung von Sofortmaßnahmen zu retten, was noch zu retten war. Viel Hoffnung hatten sie jedoch nicht, genausogut hätten sie an Eisblöcken herumdoktern können. Derweil entfernten die Techniker Teile der Wandverkleidung, um auf diesem Wege den Steuermechanismus lahmzulegen. Die türkische Teamleiterin Sina Gölen unterstützte ihre ausschließlich aus Männern bestehende Mannschaft, indem sie selbst Hand anlegte. Sie war zierlich, unscheinbar und handwerklich überaus geschickt. In Windeseile wurden mehrere Kühlleitungen durchtrennt. Gleichzeitig kam eine transportable Heizungsanlage zum Einsatz. Man wollte die Raumtemperatur mit aller Macht wieder hochschrauben. Plötzlich ging ein Ruck durchs Schiff. Die Techniker hielten sich fest, wo sie gerade standen. Einer von ihnen griff in seiner Hektik nach einem offenliegenden Kabelende, das unter
Hochspannung stand. Er war auf der Stelle tot. Angriffsalarm wurde ausgelöst. Diesmal zu Recht. Die SKARLAND stand unter Beschuß. * Captain Blizzard ergriff jede nur erdenkliche Abwehrmaßnahme. Die Soldaten befanden sich kampfbereit auf ihren Posten. Sämtliche Waffen waren einsatzbereit. Selbst einem übermächtigen Feind wäre es nur unter größten Verlusten gelungen, die SKARLAND zu vernichten. Aber wie bekämpfte man einen Gegner, der gar nicht vorhanden war? Zum zweiten Mal wurde der Kugelraumer von einem Strahl aus dem Nirgendwo getroffen. Diesmal war der Captain besser vorbereitet. Der Schutzschirm hielt die Erschütterung in Grenzen. Die Ortungszentrale errechnete den Ausgangspunkt des Strahlenangriffs. Ein Raptorstrahl wurde losgejagt, um dem Angreifer Schutzschirmenergie zu entziehen und dem eigenen Energiehaushalt zuzufügen. Doch der Strahl ging ins Leere, verlor sich in den Weiten des Alls. Dafür mußte die SKARLAND einen weiteren Treffer einstecken, aus einer anderen Richtung kommend. Zwei Tremble-Schock-Antennen – fünfundvierzig Meter lange, spiralförmige Hohlrohre – wurden regelrecht in Stück gerissen. Moranez lenkte seine Linse direkt auf den unsichtbaren Angreifer zu. Der Captain entschloß sich, ihn nicht länger zu schonen und wollte auf ihn feuern lassen. Plötzlich war das Beiboot aus der Ortung verschwunden. Offensichtlich war es vom unbekannten Gegner aufgenommen und dadurch ebenfalls unsichtbar geworden. Vergebens schickte die SKARLAND dem Verräter und
seinen Fluchthelfern einen Pressorstrahl hinterher. Wo nichts mehr war, konnte auch nichts durch Vibration zerstört werden. Die Unsichtbaren verkniffen sich einen »Abschiedsgruß«, hätten sie damit doch ihre Position verraten. Zweimal war man den Gegenangriffen des Kreuzers durch rasches Wechseln des Standortes entkommen, für ein drittes Mal gab es keine Garantie. * Die schreckliche Nachricht, daß 341.417 Siedler in der zu niedrigen Temperatur erfroren waren, verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf der SKARLAND und entsetzte selbst die hartgesottensten Gemüter. Alle übrigen Passagiere hatten mehr oder weniger schwere Schäden davongetragen. Noch vor der Landung auf Babylon verpflichtete Captain Ewikowski jeden seiner Leute zu strengstem Stillschweigen. »Die Angelegenheit unterliegt der militärischen Geheimhaltung. Der Commander der Planeten allein entscheidet, ob und wann die Bevölkerung auf der Erde darüber unterrichtet wird.« Doch ein anderer nahm Ren Dhark diese Entscheidung ab. * Bert Stranger erwachte mitten in der Nacht durch ein Geräusch an seiner Wohnungstür. Noch lebte er in seinem Appartement, hatte aber die Anmietung des Penthouses bereits in die Wege geleitet. Im Halbschlaf erhob sich der Journalist von seinem Nachtlager, um nachzusehen, wer sich an der Tür zu schaffen machte. Auf dem Fußboden lag ein verschlossener Umschlag, den man ihm durch den Briefschlitz gesteckt hatte. Stranger öffnete die Tür einen Spalt. Niemand war auf dem dunklen Flur zu sehen.
Der Umschlag enthielt eine Silberscheibe mit brisanten Informationen. Bert blieb fast das Herz stehen, als er die Filmaufnahmen über seinen Suprasensor ablaufen ließ. * Auf Babylon machte man sich Gedanken über das Verschwinden eines Mannschaftsmitglieds der SKARLAND. Sina Gölen, die Leiterin des technischen Teams, war nicht mehr aufzufinden. Die Suche nach ihr erstreckte sich über den ganzen Planeten. Ergebnislos. »Als ob sie von Himmel und Erde verschluckt wurde«, kommentierte Oberleutnant Peter Fandl den rätselhaften Fall. »Verschluckt – oder abgeholt«, erwiderte Captain Igor Ewikowski nachdenklich. »Abgeholt? Von wem?« »Von einem unsichtbaren Raumschiff.« * Terra-Press sendete die Stranger zugespielten Aufnahmen weltweit und sorgte für einen Aufschrei des Entsetzens und der Empörung. Bilder von erfrorenen, in Regalen gestapelten Menschen, von der vergeblichen Rettungsaktion durch Ärzte und Techniker an Bord der SKARLAND, von verzweifelten Wiederbelebungsversuchen nach der Landung auf Babylon und von der Überführung zahlreicher Schwerverletzter in hoffnungslos überfüllte Kliniken gingen rund um den Erdball und wurden auch auf den besiedelten Planeten ausgestrahlt. Und dann das Unfaßbare: Captain Igor Ewikowski hängte seiner Mannschaft einen Maulkorb um. Im Namen des Commanders der Planeten verbot er allen Beteiligten, das furchtbare Geschehen zu verbreiten, sprach von militärischer
Geheimhaltung. Daß ein Robonenagent den Tod der Siedler verursacht hatte, davon war in den Medien nicht die Rede. Bert Stranger wußte nichts davon, die CD in dem Umschlag hatte keine Informationen darüber enthalten. Als Starreporter von Terra-Press machte er sich viele Feinde. Sogar am eigenen Arbeitsplatz neidete man ihm den Erfolg. Seine Reportagen brachten manchmal auch angesehene Persönlichkeiten zu Fall. Brisanten Themen ging er niemals aus dem Weg, egal, wie gefährlich sich die Recherchen entwickelten. Und so war es nicht weiter verwunderlich, daß man ihm des öfteren nach dem Leben trachtete. Auch zusammengeschlagen hatte man ihn schon mehrfach, ohne daß die Täter in allen Fällen hatten ermittelt werden können. Aus Unterweltkreisen gingen mitunter Drohungen ein, die einen ängstlicheren Journalisten zum sofortigen Berufswechsel veranlaßt hätten. Aber einen Stranger schüchterte man nicht so leicht ein. Bert richtete sich nach einem Wahlspruch seines Vaters, mit dem er immer gut durchs Leben gekommen war: Wer kehrtmacht, bevor er die gesamte Strecke bewältigt hat, wäre besser erst gar nicht losgegangen. Ein langes Durchhaltevermögen und die Fähigkeit, Enttäuschungen zu verarbeiten, waren für einen guten Reporter unabdingbar. Schläge einzustecken gehörte mit dazu, man mußte auch mal verlieren können. Kein Tag im Berufsleben eines Journalisten verlief durchgehend zufriedenstellend. Ein Tiefpunkt jagte mitunter den nächsten. Doch über kurz oder lang führte der Weg wieder aufwärts, dafür lohnte es sich, weiterzumachen. Rechts Backpfeifen einkassieren und zum Dank die linke Seite hinhalten – das allerdings ging selbst einem »Prügelknaben« wie Stranger zu weit. Am Nachmittag nach Erscheinen der Meldung sah er sich mit einer Situation
konfrontiert, die seine Duldsamkeit auf eine harte Probe stellte. Dank eines Freundes bei der Hausverwaltung hatte Bert Stranger den Mietvertrag für das Penthouse so gut wie in der Tasche. Der frühere Mieter hatte ihm keine Steine in den Weg gelegt und sich mit der Auflösung sofort einverstanden erklärt. Mit lebenslänglicher Haft rechnete Mister Kimbley zwar nicht – sein Anwalt plädierte auf Totschlag im Affekt – doch für die kommende Zeit stand sein Aufenthaltsort mit Sicherheit fest. Vier oder fünf Jahre würden es mindestens werden, möglicherweise mehr, das hing vom Richter ab. Als »Wolf im Schafspelz« hatte Stranger den Untersuchungshäftling in einem Medienbericht bezeichnet und keinen Zweifel daran gelassen, daß er ihm die angeblich zufällige Heimkehr nicht abnahm. Doch er mußte ihn ja nicht mögen, um Geschäfte mit ihm zu machen. Der Verkauf der Möbel wurde trotz beiderseitiger Antipathie problemlos abgewickelt. Denn auch im Gefängnis brauchte man Geld. Auf Reisen gehen und welches verdienen konnte Mister Kimbley ja nicht mehr. Strangers großzügiges Angebot kam ihm daher gerade recht. Beim Verlassen der Haftanstalt fielen dem Reporter zwei große, kräftige Männer auf, die sich an seine Fersen hefteten. »Na, phantastisch«, zischte Stranger leise. »Wie’s aussieht, habe ich mal wieder irgendeinem rachsüchtigen Mitbürger auf die Füße getreten.« Er hatte keinen Zweifel daran, daß es sich bei seinen Verfolgern um bezahlte Schläger handelte. Diejenigen, die ihn mit ihrem Haß verfolgten, machten sich nur selten selbst die Hände schmutzig. Für kleinliche Rachefeldzüge hatten sie ihre Leute. Da er auch einen Anschlag auf sein Leben befürchten mußte, geriet Stranger innerlich in Panik, und er beeilte sich, ins nahegelegene Parkhaus zu kommen, wo er seinen Schweber abgestellt hatte.
Noch bevor er einsteigen konnte, wurde er tüchtig in die Mangel genommen. Eine Hand wie eine Baggerschaufel legte sich auf seine Schulter und riß ihn brutal herum. Ein kräftiger Schlag in die Magengrube raubte ihm den Atem. Es folgten zwei gezielte Fausthiebe unters Kinn, die ihn von den Beinen rissen. Sein Versuch, sich so schnell wie möglich vom Boden zu erheben, wurde durch einen Tritt in die Seite verhindert. Stranger tastete nach der Chemischen Keule in seiner Jackentasche. Doch er kam nicht dazu, das Spray anzuwenden, es wurde ihm aus der Hand getreten. Anschließend zog man ihn unsanft hoch und drehte ihm den linken Arm auf den Rücken. Einer der beiden Männer hielt Stranger von hinten fest, der andere stand vor ihm. Der Journalist rechnete mit weiteren Schlägen. Statt dessen grinste ihn sein Gegenüber herablassend an und zückte einen Ausweis. »Galaktische Sicherheitsorganisation«, sagte der Mann. »Sie sind verhaftet, Stranger! Unter dem Verdacht des Hochverrats.« »Wie du sicherlich bemerkt hast, ist es uns ein besonderes Vergnügen, die Verhaftung durchzuführen«, raunte der andere in sein Ohr. »Mein Freund und ich können Schnüffler wie dich nicht leiden. Die Presse sitzt uns ständig im Nacken und behindert unnötig unsere Arbeit. Du bist einer von der übelsten Sorte, und genauso behandeln wir dich auch.« Der Vorwurf des Hochverrats hätte Stranger eigentlich entsetzen müssen. Aber die Wut in seinem Bauch war so groß, daß ihm die Bedeutung dieses Wortes gar nicht richtig bewußt wurde. Er fühlte sich gedemütigt wie noch nie zuvor. Reichte es nicht, von Verbrechern und sonstigen dunklen Elementen attackiert zu werden? War es nötig, daß die behördlichen Sicherheitsorgane dieselben Methoden anwendeten? Er hatte
sich der Verhaftung nicht widersetzt, hatte ihnen keinen Grund gegeben, Gewalt anzuwenden. »Mir langt’s«, brummelte er. »Ich bin doch nicht jedermanns Fußabtreter.« Der Mann hinter ihm lockerte den Griff, um ihm Handschellen anzulegen. Schon klickte die Fessel um Strangers linkes Handgelenk... ... da wurde er selber link. Wutschnaubend wirbelte »Kugelblitz« herum und verpaßte seinem Widersacher mit dem rechten Ellbogen einen Schlag gegen den Kehlkopf. Und weil er gerade so gut in Form war, machte er eine kurze Drehung zurück und ließ den erhobenen Arm vorschnellen. Die Nase seines zweiten Gegners zerbrach wie unter einem mächtigen Hammerschlag. Blut spritzte. Nummer eins hatte offenbar noch nicht genug. Zwar konnte er keinen Ton herausbringen, nur gurgelnde Laute, dieses vorübergehende Handikap hielt ihn jedoch nicht davon ab, zur Waffe zu greifen. Stranger nahm seinen Unterarm in den klassischen Schraubstockgriff, bis der Mann den Schocker losließ. Anschließend kickte er die Waffe mit dem Fuß mindestens fünfzehn Meter weit weg. Mit einem gekonnten Satz sprang er in seinen Schweber und startete ihn. Unbehelligt flog er nach draußen. Die beiden Schläger hatten erst einmal genug mit sich selbst zu tun. Bert Stranger begab sich unverzüglich zum Regierungsgebäude. Auf dem obersten Parkdeck stellte er sich den Sicherheitsbeamten. »Bringen Sie mich zu Eylers«, verlangte er und hob den linken Arm, an dem noch die Handschellen baumelten. »Ich bin nämlich gerade verhaftet worden.« * Einige Zeit später saßen sich der Chef der GSO und der
Journalist von Terra-Press im Büro von Bernd Eylers gegenüber. Marschall Ted Bulton war bei der Unterredung zugegen. Die Handschellen hatte man Stranger inzwischen abgenommen. Den Grund für die Aggressivität der GSO-Männer kannte er inzwischen. Ein vor drei Monaten erschienener Bericht über unnötige Brutalität in Kreisen der Polizei und der GSO – bewiesen anhand konkreter Beispiele – hatte einem der beiden einen Haufen Ärger sowie eine offizielle Abmahnung eingebracht. Ausgerechnet ihn und seinen Partner mit Strangers Verhaftung zu beauftragen, war ein Fehler gewesen. »Mein Fehler«, räumte der wortkarge Eylers ein. Eine darüber hinaus gehende Entschuldigung konnte man von ihm nicht erwarten. »Schmeißen Sie die beiden raus?« erkundigte sich der Reporter. »Ich hänge ihnen ein Disziplinarverfahren an«, gab Eylers ihm Auskunft. »Kommen wir zu Ihnen, Stranger. Bulton möchte Ihnen eine Frage stellen.« »Jawohl, ich will Sie fragen, ob Sie von allen guten Geistern verlassen sind!« wetterte der Marschall los. »Was hat Sie nur bewogen, mit den Robonen an einem Strick zu ziehen, Stranger? Bisher dachte ich, wir kämpfen auf derselben Seite!« »Robonen?« wiederholte der Reporter. »Ich verstehe kein Wort. Meine Verhaftung hängt mit dem Bericht über den Unfall auf der SKARLAND zusammen, vermute ich mal. Haben Sie wirklich geglaubt, die Sache auf ewig vertuschen zu können? Selbst wenn mir kein unbekannter Informant diese geheimen Aufnahmen zugespielt hätte...« »Das war kein Unfall!« unterbrach Bulton ihn lautstark. »Das war ein feiger, hundsgemeiner Massenmord!« »Mord? Dieses Wort habe ich bei meiner Veröffentlichung nie gebraucht. Von Massensterben ist die Rede, nicht von Massenmord. Die von der Regierung abgesegnete Idee, Siedler
zu sedieren und einzufrieren, hat unzählige Menschen das Leben gekostet. Aber deswegen würde ich nicht auf den Gedanken kommen, Dhark und all die anderen, die an der Ausführung des gutgemeinten Planes beteiligt waren, als Mörder zu bezeichnen. Das gleiche gilt für die Mannschaft des Kugelraumers. Ich bin überzeugt, jeder hat sein Bestes gegeben, als plötzlich und unerwartet die Technik versagte.« »Seit wann dauert es bei Ihnen eigentlich so lange, bis der Groschen fällt?« mischte sich Eylers ein. »Weder die Regierung noch die Besatzung der SKARLAND tragen die Hauptschuld an dem Unglück. Zwei Robonen hatten sich unter die Mannschaft geschmuggelt. Das kommt leider immer wieder vor, trotz schärfster Sicherheitsvorkehrungen.« »Sie spielen ihre Rollen so perfekt, daß sie fast selbst daran glauben, ›Verdammte‹ zu sein«, ergriff wieder Bulton das Wort. »Vor einiger Zeit wäre es einem als Leutnant getarnten Robonen fast gelungen, auf einer AST-Station Chris Shanton zu ermorden. In letzter Sekunde konnte der Anschlag vereitelt werden. Diese Scharte hat die robonische Führung nun dreihundertfünfzigtausendmal ausgewetzt.« »Um Himmels willen!« entfuhr es Stranger. »Das... das konnte ich unmöglich wissen!« »Sie hätten sich nach Erhalt der gefälschten Informationen sofort mit uns in Verbindung setzen sollen«, machte Eylers ihm zum Vorwurf. »Die Informationen waren keine Fälschung«, hielt Stranger ihm entgegen. »Das Material wurde von mir überprüft und für echt befunden. Hätte ich geahnt, daß es unvollständig ist... Sie müssen mir alles sagen, Eylers, Bulton, jede Einzelheit ist wichtig. Noch ist es nicht zu spät, die Meldungen zu ändern.« »Der Name des Sergeanten, der die Temperatursteuerung sabotiert hat, lautet Moranez«, verriet ihm der Marschall. »Seine mutmaßliche Komplizin heißt Sina Gölen. Wir vermuten, daß sie die heimlichen Aufnahmen gemacht hat, die
Ihnen zugespielt wurden.« Im Anschluß an die Vernehmung wurde der Haftbefehl gegen Stranger aufgehoben, damit er versuchen konnte, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Noch am selben Abend verbreitete Terra-Press die Wahrheit über den grausigen Zwischenfall auf der SKARLAND. Auch in den nächsten Tagen berichteten die Medien laufend über den veränderten Stand der Dinge. Am Tod der 341.417 Siedler änderte das nichts. Die neuen Nachrichten gingen jedoch in der allgemeinen weltweiten Entrüstung über das riskante Vorhaben fast unter. Hartnäckig weigerten sich die terranischen Aussiedler, sich auf die gleiche Weise nach Babylon verschiffen zu lassen – und niemand konnte es ihnen verdenken. * Bernd Eylers suchte Ren Dhark in dessen Privatwohnung auf. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, daß Joan Gipsy bei ihm war. Zweifelsohne hatten sich die beiden wieder vertragen. Seine Freude über diese Aussöhnung zeigte er nicht offen, das war nicht sein Ding. Vielmehr tat er so, als wäre es die normalste Sache der Welt, Joan hier anzutreffen. Er begrüßte sie freundlich und respektvoll zugleich. »Auch auf die Gefahr hin, daß ich es mir gleich wieder mit Ihnen verscherze, Miß Gipsy«, sagte er zu ihr. »Könnten Sie den Commander und mich für einen Augenblick allein lassen? Ich möchte unter vier Augen mit ihm reden.« »Sie trauen mir wohl noch immer nicht über den Weg«, entgegnete sie lächelnd. »Keine Sorge, ich bin Ihnen deswegen nicht böse.« Sie wandte sich Dhark zu. »Falls du Sehnsucht nach mir hast, Ren, ich bin in der Küche und mixe uns einen Drink.« »Was soll das?« fragte Dhark den Sicherheitschef ärgerlich,
nachdem Joan aus dem Raum gegangen war. »Ich vertraue ihr. Das sollten Sie auch tun. Man könnte meinen, Sie halten Joan für eine Robonenagentin.« Eylers seufzte. »Wundern würde es mich nicht. Von Rechts wegen müßte ich beinahe jeden verdächtigen, Robone zu sein. Da glaubt man, über ein undurchdringliches Sicherheitsnetz zu verfügen, und dann mischen sich diese Irregeleiteten trotz strengster Überprüfungen unter unsere Leute. Schade, daß sie unsere Gegner sind. Feinde mit solchen Fähigkeiten macht man besser zu seinen Freunden.« »Sie sind nicht unsere Feinde«, stellte Dhark klar. »Die Robonen sind Menschen wie wir. Hätten die Giants sie damals nicht umgepolt...« »Es bringt nichts, darüber zu diskutieren, warum sie so geworden sind«, fuhr Eylers ihm ungehalten ins Wort. »Wer dreihundertfünfzigtausend wehrlose Menschen umbringt, den bekämpfe ich mit allen nur erdenklichen Mitteln!« Solche Gefühlsausbrüche waren selten bei ihm. Er bekam sich auch gleich wieder in den Griff. »Entschuldigen Sie, Dhark. Ich kann den Tod der Siedler einfach nicht verwinden. Fortwährend werfe ich mir vor, versagt zu haben, weil ich Moranez und Sina Gölen nicht rechtzeitig enttarnt habe. Die GSO verfügt über ein weltweites Netz perfekt ausgebildeter Agenten, aber keiner von ihnen ist in der Lage, einen Robonen als solchen zu erkennen. Umgekehrt könnten wir uns nicht bei ihnen einschmuggeln, weil sie immer genau wissen, wen sie vor sich haben.« »Selbstvorwürfe bringen uns nicht weiter, Eylers«, erwiderte der Commander. »Auch ich frage mich ständig, was wir anders machen können, um solche katastrophalen Fehler zu vermeiden. Aber ich weiß keine Antwort. Am schlimmsten getroffen hat es den Ersten Offizier der SKARLAND. Er hat sich von Moranez austricksen lassen und die Sicherung der manuellen Temperatursteuerung entriegelt.
Dadurch trifft ihn – seiner eigenen Ansicht nach – die Hauptschuld am Tod der Passagiere. Das Ganze hat ihn so sehr mitgenommen, daß sich jetzt die Militärpsychologen um ihn kümmern. Dem Captain der SKARLAND geht es auch nicht besser. Er erwägt, aus dem Militärdienst auszuscheiden. Todesschiff nennt man seinen Kreuzer überall. Wer auf der SKARLAND gedient hat, wird wohl noch in Jahren schief angesehen werden, vom Offizier bis hin zum untersten Chargen. Wir müssen lernen, mit diesem furchtbaren Zwischenfall zu leben, Eylers. Und mit allen grausigen Vorfällen der Vergangenheit und der Zukunft. Ansonsten sind wir der schweren Verantwortung, die auf uns lastet, nicht gewachsen. Bleiben Sie weiterhin mißtrauisch, lassen Sie sich aber nicht dazu hinreißen, alles und jeden grundlos zu verdächtigen. Joan ist für mich über jeden Zweifel erhaben.« Eylers hatte Dhark schon immer für seine sprachliche Überzeugungskraft bewundert. Auf ein Wortduell mit ihm würde er sich niemals einlassen. »Ich verdächtige Miß Gipsy nicht, eine Robonin zu sein«, erklärte er dem Commander. »Mir ist nur ihre Verbindung zu Terence Wallis nach wie vor suspekt.« »Eine Verbindung, von der wir profitieren«, entgegnete Dhark. »Wallis steht auf unserer Seite.« Eylers schüttelte den Kopf. »Typen wie er stehen ausschließlich auf einer Seite: ihrer eigenen.« »Tun wir das nicht alle? In erster Linie ist doch jeder von uns auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Ich bin es, der sich Glück in der Liebe wünscht, der nicht in Armut leben möchte, dem meine Gesundheit am meisten am Herzen liegt, der einst allein dem Tod ins Auge blicken wird... Kurz gesagt: Ich bin es, der mir selbst am nächsten ist. Nächstenliebe und Verantwortungsbewußtsein gegenüber meinen Mitmenschen bewahre ich mir trotzdem, das eine schließt das andere nicht
aus. Wallis gewährt uns seinen Kredit nicht uneigennützig. Er erkauft sich sozusagen ein gewisses Mitspracherecht. Die Regierung handelt ebenfalls nicht ohne Eigennutz. Wir nehmen sein Geld zur Sanierung der Staatsfinanzen und zur Linderung der größten Not in der Bevölkerung. So wäscht eine Hand die andere.« »Sie mögen den Kerl, wie?« schmunzelte Eylers. »Irgendwie schon«, gab Dhark ehrlich zu. »Ihn – und das verrückte Genie Robert Saam. Ich werde mir demnächst seinen Linearbeschleuniger vorführen lassen. Möglicherweise ist es eine brauchbare Waffe gegen die Schatten. Chris Shanton ist jedenfalls begeistert. Saam und er streiten sich zwar dauernd, arbeiten aber recht gut zusammen.« »Wenn Sie meinen«, brummte Eylers. Der GSO-Chef kam zu seinem eigentlichen Anliegen. Mit wenigen Worten legte er Ren Dhark nahe, die Verbringung der restlichen 30 Millionen Aussiedler nach Babylon vorerst zurückzustellen. Dhark war dagegen. »Auf Babylon ist mehr Platz als auf der Erde, und es leben erst fünf Millionen Menschen dort. Ich lasse nicht zu, daß die Flüge unterbrochen werden, schließlich haben sich die Ausreisewilligen freiwillig für die Verschiffung gemeldet.« »Das war vor dem Massenmord auf der SKARLAND«, erwiderte Eylers. »Jetzt gibt es so gut wie keine Freiwilligen mehr. Wir müßten die Siedler mit Gewalt zur Abreise zwingen. Wollen Sie das wirklich?« Dhark dachte zurück an den von einem Robonenagenten angezettelten Aufstand auf dem Raumhafen in Sydney. Das Militär hatte die Aufständischen – die sich vor ihrer Revolte alle einmal freiwillig als Auswanderer gemeldet hatten – paralysiert an Bord des Raumschiffs bringen müssen. So etwas durfte sich nicht wiederholen.
»Einverstanden«, sagte er zu Eylers. »Legen wir die Sache vorerst auf Eis.« Angesichts der erfrorenen Siedler war das nicht gerade eine gelungene Formulierung, doch das fiel weder ihm noch Eylers auf.
19. »Hier spricht der Kapitän des Forschungsraumers FO-XVII! Können Sie mich hören?« Für eine Weile war es ganz still in der Zentrale. Dann meldete sich die geheimnisvolle Stimme wieder, in einer fremden Sprache. »Zunur worena aradu! Nosur zereb inosse golef!« Es klang verzweifelt, so als ob die Person, die den Funkspruch ausstrahlte, in Todesgefahr schwebte. Ob es sich um eine weibliche oder männliche Stimme handelte, war nicht exakt herauszuhören. Die in der Zentrale befindlichen ratekischen Translatoren hatten Schwierigkeiten, den Notruf zu übersetzen. Die Lautsprecher gaben nur Wortfetzen wieder. »Gefahr... Untergang... Feuer vom Himmel... Millionen Tote...!« Der Translator warf allerdings eine Meldung aus, die anzeigte, daß diese Übersetzung mehr eine Extrapolation war. Das phantastisch leistungsstarke Gerät hatte nicht genug Referenzmaterial, um die ihm völlig unbekannte Sprache auch nur annähernd verläßlich zu übersetzen. Aber die ratekischen Konstrukteure hatten ihr technisches Meisterwerk in die Lage versetzt, auf der Basis höchst komplizierter mathematischer Grundlagen zu extrapolieren. So konnte das Gerät vermuten, was die fremden Worte bedeuteten – obwohl dieser Ausdruck den wahren Sachverhalt nicht annähernd richtig beschrieb. Auf jeden Fall sorgten die ratekischen Translatoren inzwischen nicht nur für verbale Völkerverständigung. Angesichts der galaxisweiten, kollektiven Bedrohung durch die Strahlenorkane hatten sich die Rateken zur einer vorsichtigen Politik der Öffnung überreden lassen. Im Wirtschaftsverkehr mit Terra hatten sich die Translatoren zu einem echten Exportschlager
entwickelt. »Kommt von einem bedrohten Planeten«, schätzte der I.O. der FO-XVII. »Laut Anpeilung aus dem Spiralarm unserer Milchstraße, der sich mit Drakhon schon vermischt. Wir müssen etwas unternehmen.« »Damit würden wir gegen den ausdrücklichen Befehl des Commanders verstoßen, ausschließlich Daten zu sammeln«, erwiderte der Kapitän. »Wir bleiben, wo wir sind. Funken Sie die aktuellen Meßdaten und den Inhalt des Notrufs zur Erde. Danach warten wir weitere Anweisungen ab. Inzwischen soll die Ortung versuchen, den Standort des Senders anzupeilen!« Die Daten, die der Kommandozentrale übermittelt und sogleich ans wissenschaftliche Zentrum weitergeleitet wurden, sorgten für erhebliche Aufregung. Galaxis zwo alias Drakhon war mit seiner Hauptmasse um 1.000 Lichtjahre näher an der Milchstraße als die von der POINT OF ermittelten Daten besagten, also nur noch rund 8.000 Lichtjahre entfernt. Auch die Vermischung eines weit in den Leerraum hinausreichenden Spiralarms der Milchstraße mit einem Seitenarm von Drakhon war wesentlich stärker als von den erst wenige Wochen alten Unterlagen behauptet. Aber eine Galaxis konnte sich in so kurzer Zeit nicht um eintausend Lichtjahre fortbewegen – oder doch? Was spielte sich hier ab? Welche Katastrophe bahnte sich da an? Zwei Galaxien auf Kollisionskurs, das war eine ernste Sache. Kamen sie sich zu nahe, hielt sie nichts mehr auf, dann steuerten sie unaufhaltsam aufeinander zu und begannen, sich gegenseitig zu durchdringen. Unzählige Sternenkollisionen würden beide Galaxien in eine Gluthölle mit gigantischem Strahlungsniveau verwandeln. Unter diesen Bedingungen war alles Leben verloren. Aber was spielte sich hier wirklich ab? War Drakhon schon so dicht an die Milchstraße geraten, daß der Prozeß der gegenseitigen Anziehung nicht mehr aufzuhalten war? Oder
würden sich die beiden kollidierenden Galaxien nur streifen und aneinander vorbeiziehen? Gefährlich nahe zwar, aber doch keine kosmische Katastrophe? Kaum noch ein Wissenschaftler glaubte an die zweite Möglichkeit. In ihren Augen waren die Magnetstürme und der Hyperraumblitz erst die Vorboten des früher oder später bevorstehenden Weltuntergangs. Des Untergangs aller Welten in beiden Galaxien, um es wissenschaftlich genau zu formulieren. * »Die Sonnensysteme an den Rändern der Galaxien, dort, wo sie sich zu vermischen beginnen, spüren die Auswirkungen bereits jetzt«, sagte Dhark, nachdem man ihn per Hyperfunk über die neuen Meßergebnisse und den Notruf informiert hatte. »Es ist zu ersten Zusammenstößen gekommen.« »Gibt es Leben in jenen Systemen?« erkundigte sich der Diplomingenieur Chris Shanton, der den Hyperfunkspruch mitgehört hatte. »Unseres Wissens nach nicht«, antwortete der Commander. »Doch um ganz sicherzugehen, hätten wir jeden kleinsten Planeten gründlich erforschen müssen. Über die Sonnensysteme auf der anderen Seite wissen wir so gut wie gar nichts. Ich muß so bald wie möglich nach Drakhon zurückkehren.« Viel zu lange schon machte er auf der Erde Station – so empfand es jedenfalls der Abenteurer in ihm. Die unbekannte Gefahr lockte ihn wie eine wunderschöne Göttin. Immer und immer wieder. Und jedesmal mußte Dhark höllisch achtgeben, nicht in die Fänge einer Todesgöttin zu geraten. *
Als dem Commander der Planeten über Hyperfunk das bisherige Ergebnis des Forschungsfluges der FO-XVII mitgeteilt wurde, befand er sich gerade auf Ast-1, der Zentrale der Ast-Stationen. Dort wurde ihm die Funktionsweise des Linearbeschleunigers erklärt – vom Erfinder Robert Saam höchstpersönlich. Für Dhark war das Ganze eine spannende Angelegenheit. Für Robert Saam weniger, er hatte das Interesse an der vielversprechenden Waffe inzwischen verloren. In dieser Beziehung glich er mitunter einem Kind, das sein Lieblingsspielzeug achtlos in die Ecke warf, sobald es ein neues, vermeintlich besseres entdeckte. Chris Shanton und sein ungewöhnlicher Robothund Jimmy waren bei der Vorführung anwesend, schließlich hatte der Diplomingenieur an der Entwicklung des Linearbeschleunigers mitgearbeitet und letztlich die entscheidende Idee eingebracht. Getestet hatte man die Waffe auch schon. Saam hatte vor einiger Zeit eigenmächtig einen Probeschuß auf die Sonne abgefeuert und dort eine gefährliche Eruption ausgelöst. Seither sah Shanton ihm genauer auf die Finger. Saam sah ebenfalls – und zwar ständig auf sein Armbandchrono. Shanton fiel das allmählich auf die Nerven. »Haben Sie heute noch eine Verabredung?« fragte er unwirsch. »Vielleicht mit Ihrer Biologin? Das würde zumindest Ihre Ungeduld erklären.« Das junge Genie wurde vor Verlegenheit leicht rot. »Wie kommen Sie darauf? Fräulein Lindenberg und ich haben ein rein berufliches Verhältnis.« Daran hatten weder Shanton noch Dhark den geringsten Zweifel. Der Dicke, wie Chris Shanton respektlos von seiner rabenschwarzen Scotchterrier-Robotkonstruktion genannt wurde, konnte sich nicht vorstellen, daß sich eine Vollblutfrau wie Regina Lindenberg mit einem unreifen Kindskopf wie
Robert Saam einlassen würde. Seiner Meinung nach brauchte die schöne Schweizerin für die Liebe keinen dummen Jungen, sondern einen richtigen Kerl wie ihn. Zu seinem Leidwesen stand sie überhaupt nicht auf fettleibige Bartträger mit Keulenarmen und Halbglatze. Jimmys hochempfindlicher elektronischer Spürnase waren die verzehrenden Blicke, die sein Herrchen der Biologin manchmal heimlich zuwarf, nicht entgangen. Waren beide allein, zog er ihn gern damit auf. »Wo bleiben deine Grundsätze, Dicker?« hatte Jimmy erst gestern provozierend gefragt. »Hast du nicht immer behauptet, Frauen seien nur zu dem Zweck erschaffen worden, Männer zu heiraten und sie dadurch ins Unglück zu stürzen? Ich zitiere wörtlich aus meinen Speicherbänken: ›Nur gut, daß ich keine Ehefrau habe, sonst müßte ich meinen Cognac mit ihr teilen.‹ Ein eingefleischter Junggeselle wie du wird doch wohl nicht auf Abwege geraten.« Und Chris hatte erwidert: »Ab und zu braucht halt auch ein Frauenfeind wie ich was fürs Herz. Schielst du denn nie hübschen Hündinnen nach?« »Allen Robothündinnen, die mir über den Weg laufen«, hatte Jimmy sarkastisch geantwortet, wohl wissend, daß es eine außergewöhnliche Konstruktion wie ihn nur ein einziges Mal auf der Welt gab. Auf Ast-1 verhielt sich der Hund ruhig und gesittet. Shanton machte dieses Verhalten nervös, er hatte dann immer das Gefühl, Jimmy würde gerade etwas aushecken. Auch Saam, der sich mit dem Terrier angefreundet hatte, war stiller als sonst. Normalerweise erklärte er Interessierten seine Erfindungen voller Begeisterung bis ins letzte Detail. Diesmal hielt er sich ziemlich zurück, so als ob er mit den Gedanken ständig woanders sei. Im Gegensatz zu Shanton ahnte Dhark, was den jungen Mann beschäftigte und von der Vorführung des
Linearbeschleunigers ablenkte, »In Ihrem Kopf spukt keine Frau herum«, sagte er zu Saam, »sondern eine neue Erfindung, stimmt’s?« »Stimmt«, bestätigte Robert. »Auf dem Gelände der WallisWerke steht der Prototyp eines leistungsverstärkten Raumkrümmungstransmitters. Den würde ich Ihnen viel lieber vorführen als dieses Gerät hier. Das ist sowieso mehr oder weniger Mr. Shantons Baby. Wollen wir nicht zurück zur Erde fliegen? Hier sind wir eh fertig. Oder soll ich noch mal kurz auf die alte Lady schießen?« Alte Lady – so bezeichnete er lax die Sonne. Saam war überzeugt, daß der lebenspendende Fixstern weitaus mehr als nur einen Probeschuß aushielt. »Besser nicht«, entgegnete der Commander. »Die Badefreudigen an den Meeresstränden hängen an ihr. Also kommen Sie, schauen wir uns Ihr neuestes Wunderwerk an.« In Dharks Flash war nur Platz für zwei Personen und einen Hund, daher benutzte Shanton den Transmitter auf der AstStation. Über den »Umsteigebahnhof« Alamo Gordo gelangte er nach Pittsburgh, wo er von einem Linienschweber, der hoffnungslos überfüllt war, zu Wallis Industries gebracht wurde. Die Wächter am Tor kannten ihn mittlerweile und gewährten ihm freien Zugang. Mit einem Feodora – ein offener Ein-Personen-Bodenschweber – gelangte Shanton zu einer Reihe von Flachbauten. Hier befanden sich Saams Labore und Werkstätten. Ren Dhark wählte den direkten Weg: Weltall – Werkstatt. Auf einer freien Fläche setzte er zur Landung an. Zwar gab es auf dem Gelände auch einen Flughafen, und es war Vorschrift, ihn bei der Ankunft anzufliegen, aber als Commander der Planeten konnte man sich doch gewisse Freiheiten leisten. Der Transmitter stand auf einem Hinterhof und hatte einen Durchmesser von etwa zehn Metern. Shanton stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das hier ist also das
Beste, was die Technik in Sachen Transmitter noch zu bieten hat. Dabei fallen mir unsere Reisen kreuz und quer über die Transmitterstraßen der Mysterious ein, Jimmy. Tschobe, van Haag, ich und du – drei Männer und ein Hund. Ob es uns jemals gelingen wird, sämtliche M-Transmitter wieder in Gang zu bringen? Vielleicht brechen wir dann eines Tages erneut zu einer Entdeckungstour ins Unbekannte auf.« »Muß nicht sein«, erwiderte der Hund. »Mein Gedächtnisspeicher erinnert sich zwar nur lückenhaft an unsere wilden Abenteuer vor einigen Monaten, aber soweit mir bekannt ist, habe ich bei den Kämpfen gegen die beiden durchgedrehten Cyborgs ganz schön was abbekommen. Hattest du mich nicht sogar als Wurfgeschoß benutzt?« »Habe ich, doch zu diesem Zeitpunkt warst du nichts weiter als ein Stück Schrott ohne Fell. Es war nicht einfach, dich zu reparieren.« Ein Mitarbeiter vom Sicherheitsdienst hatte Terence Wallis von Dharks Ankunft unterrichtet. Der Multimilliardär und der Chef seiner Leibwächtergarde trafen kurz darauf per Feodora beim Transmitter ein. Wallis reichte jedem die Hand. Seine Marotte war wie weggeblasen, seit er Dhark auf diese Weise begrüßt hatte. Shanton und Vassago kannten sich bereits. Der Dicke machte den großgewachsenen Sicherheitsmann mit dem Commander bekannt. Jon Vassago schien verletzt zu sein. Er konnte kaum laufen. Dhark fiel auf, daß er zwei verschiedene Stiefel trug. Der linke war viel größer als der rechte. »Skiunfall?« erkundigte er sich mitfühlend. »Nein, mir geht es bestens«, antwortete der Hüne lächelnd. »Der Stiefel ist so groß und dick, weil ein Haufen Technik darin untergebracht ist.« »Eine technische Gehhilfe also«, vermutete Shanton. Wieder schüttelte Vassago den Kopf. »Eine neue Waffe, die
Saam mir gebastelt hat.« Gebastelt! Robert Saam zuckte bei diesem Ausdruck innerlich zusammen. Er bastelte nicht – er entwickelte. »So was erledigt Robbie ganz nebenbei«, bemerkte Wallis. Robbie! Schon wieder schüttelte es das junge Genie. Nur weil er seinen Arbeitgeber und väterlichen Freund nicht kränken wollte, beschwerte er sich nie über diese Verniedlichung seines Vornamens. Aber wehe, ein anderer redete ihn so an! Den traf dann die geballte Rache des Universums. »Soll ich Ihnen die Stiefelwaffe vorführen?« fragte Vassago den Commander und wartete die Antwort erst gar nicht ab. Er trat mit dem linken Hacken fest auf und streckte das Bein vor. In einiger Entfernung standen die Überreste einer Mauer, die zwecks eines Umbaus abgerissen werden sollte. Aufgrund wichtigerer Tätigkeiten ruhte die Arbeit daran augenblicklich. »Nicht!« schrie Saam erschrocken, als er sah, was Vassago vorhatte. Zu spät. Wie eine Rakete löste sich der Stiefel vom Fuß und schoß auf die Mauerreste zu. Beim Aufprall gab es eine laute Explosion. Steine flogen in die Höhe und krachten auf den Boden. Die Mauer war weg, und keiner weinte ihr eine Träne nach. Vassago war ebenfalls weg. Der Rückstoß hatte ihn mehrere Meter durch die Luft geschleudert. Unsanft landete er auf dem Asphalt. Wallis’ alter Schulfreund war hart im Nehmen. Nach einer kurzen Phase der Benommenheit rappelte er sich halbwegs unversehrt auf. Bis auf ein paar blaue Flecken hatte er nichts abbekommen. »Sie müssen sich beim Abschuß irgendwo festhalten«, rügte Saam ihn und seufzte. »Wieder eine Waffe, die zunächst einmal im Zwischenlager landet.« »Wieso das denn?« fragte Vassago. »Die Wirkung ist
phänomenal. Ich habe den Arbeitern die Abrißbirne erspart. Würde man das Militär mit solchen Stiefeln ausrüsten...« »Das wäre das Ende des Gleichschritts«, warf Shanton amüsiert ein. »Mit zwei verschiedenen Stiefeln könnten die Soldaten nur noch humpelnd die Front erreichen.« »Vergessen Sie den Stiefel, Vassago«, sagte Saam. »Ich gebe Ihnen nachher etwas Neues zum Testen. Es sieht aus wie ein ganz normaler Jackenknopf. Wenn man das Ding abreißt, entwickelt es sich innerhalb der nächstens zehn Sekunden zu einer Nebelbombe.« »Arbeitet die GSO nicht schon mit derartigen Tricks?« raunte Shanton dem Commander zu. Dhark zuckte nur mit den Schultern. Die Knöpfe am Transmitter interessierten ihn mehr als die an einer Jacke. Saam erklärte ihm, wie seine Verbesserung funktionierte... * Auch Großbritannien zählte zu den Ländern, die jahrhundertealte Sitten und Gebräuche – schottische, walisische und englische – wie wertvolle Schätze hüteten, zur Freude der Einheimischen und der Touristen. Fuchsjagden hatte man inzwischen verboten, weil es auf der Insel kaum noch Füchse gab. Als Teeland machten die Briten längst keinen Staat mehr, seit sich herausgestellt hatte, daß Tee aus asiatischer Produktion wesentlich aromatischer schmeckte. Doch die Königsfamilie gab es noch immer. Sie abzuschaffen, wäre einem Sakrileg gleichgekommen. Genausogut hatte man versuchen können, die Schottenröcke zu verbieten. Nach der teilweisen Zerstörung des Planeten durch die Giants hatte auch der Adel lernen müssen, sich einzuschränken. Dank der Unterstützung zahlreicher Sponsoren konnte man sich dennoch einen gewissen Luxus leisten. Das betraf allerdings nicht jeden Adligen. Die meisten von ihnen mußten
wie normale Bürger tüchtig in die Hände spucken, um es zu etwas zu bringen. Der fünfzigjährige Lord Bracklefort lebte am Stadtrand von London und ging jeden Morgen ins Büro. Er arbeitete für eine in der Innenstadt ansässige Maklerfirma und bezog ein gutes Gehalt. Für seinen Arbeitsweg benutzte er einen Transmitter, der in seinem Stadtteil stand und dem öffentlichen planetaren Verkehr diente. Wie jeden Morgen nahm er erst den Aktenkoffer, dann seinen Schirm zur Hand, verabschiedete sich mit Charme von seiner Ehefrau, setzte die Melone auf und verließ das Haus. Der Transmitter stand drei Straßen weiter und jedermann zur Verfügung. Die Gegenstation befand sich in einer Einkaufszone im Stadtkern. Eine ungewöhnliche Vibration erfüllte das Innere der großen runden Antenne, als Lord Bracklefort sie durchschritt. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Daß er sich auf einem Basar in der Muahedin-Zone, Region Marokko wiederfand, war jedenfalls keine Einbildung. Der Empfangstransmitter stand vor einem Hotel und diente dem Transfer zum Raumhafen Marrakesch. Davor gab es einen freien, mit Kopfstein gepflasterten Platz, der als Markt genutzt wurde. Händler und Kunden starrten den Adligen an, als käme er aus einem anderen Universum. In seinem dunklen Anzug wirkte er wie ein Vertreter für Särge. Was ein waschechter Lord war, der ließ sich so leicht nicht beeindrucken. Mit dem kühlen Blut des Engländers grüßte er die ihm fremden Menschen höflich und erkundigte sich auf Angloter nach einem Schal für seine Frau. Sofort war er von Händlern umringt, und alle redeten durcheinander auf ihn ein – traditionelles marokkanisches Brauchtum, das sich ebenfalls über Jahrhunderte hinweg erhalten hatte.
* In einer öffentlichen Transmitterstation für planetaren Verkehr in Alamo Gordo spielte sich zeitgleich ein anderer unerklärlicher Vorfall ab. Ohne Vorwarnung aktivierte sich der Transmitter selbsttätig. Es fand ein unplanmäßiger Durchgang statt. Das, was aus dem Transmitterfeld heraustrat, war etwa vier Meter groß und versetzte die Menschen in dem überdachten Gebäude in Panik. Wie eine aufgescheuchte Büffelhorde rannten sie zu den Ausgängen. Ein zufällig anwesender Zeitungsreporter wollte Fotos von dem Riesenwesen schießen, wurde aber von der flüchtenden Menge zu Boden gerissen. Viel hätte nicht gefehlt, und man hätte ihn zu Tode getrampelt. Sein Fotoapparat war hin. Über Vipho benachrichtigte er einen Kollegen von Terra-Press, der nicht weit von hier in einem Penthouse wohnte. Bert Stranger versprach ihm, gleich dazusein. Er hängte sich einen 3-D-Fotoapparat um, schulterte seine Kamera und lief los. Die Wohnungstür fiel automatisch hinter ihm ins Schloß. Er hatte sie bei seinem Einzug auswechseln lassen. Nur mittels eines Geheimwortes (das ganz bestimmt nicht »aufmachen« lautete) gelangte man nach drinnen. Und natürlich brauchte man zusätzlich die Codecard. Auf dem Flur begegnete Stranger dem 99jährigen Hausmeister, grüßte ihn kurz und eilte vorüber. »Tjaja, das hektische Leben von heute«, murmelte der Alte. »Immer auf dem Sprung, immer in Aktion.« Wehmütig dachte er an seine eigene Blütezeit zurück. In den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts, so meinte er sich zu erinnern, war alles viel, viel ruhiger gewesen.
Dieses neue Jahrtausend hingegen sorgte für Sensationen am laufenden Band. Die neueste bahnte sich gerade in Alamo Gordo an. Zwei Roboter terranischer Bauart, die in der Transmitterstation für die Sicherheitskontrolle zuständig waren, teilten die Panik der nach draußen fliehenden Menschen nicht. Als gefühllose Maschinen handelten sie, wie man es ihnen einprogrammiert hatte. Das Etwas, das in diesem Gebäude für Unruhe sorgte, stellte offensichtlich eine Bedrohung dar. Die Bevölkerung mußte davor geschützt werden, unter allen Umständen. Darum konnte der Programmbefehl nur lauten: Angriff! * »Was, zum Teufel, haben Sie jetzt schon wieder angerichtet?!« fuhr Chris Shanton aus der Haut. »Genügt es Ihnen nicht, die Sonne vom Himmel zu schießen? Müssen Sie obendrein das gesamte terranische Transmitternetz lahmlegen?« »Übertreib mal nicht, Dickerchen«, mischte sich Jimmy ein. »Die Sonne scheint doch noch, oder? Wie oft willst du meinem Freund den klitzekleinen Probeschuß mit dem Linearbeschleuniger eigentlich noch aufs Butterbrot schmieren?« »So oft ich das für richtig halte!« ranzte Shanton seinen sprechenden Terrier an. »Im übrigen bin ich dein Freund, nicht er.« »Wo steht denn geschrieben, man darf nur seinen Schöpfer lieben?« reimte der Robothund und das auch noch schlecht. »Bis jetzt deutet nichts auf ein Versagen des gesamten Netzes hin«, nahm Wallis seinen jungen Mitarbeiter in Schutz. »Sehe ich genauso«, pflichtete Vassago ihm bei. »Nach dem Einschalten vibrierte das Ding plötzlich, leuchtete kurz auf und
erlosch. Das muß aber nicht heißen, daß sämtliche anderen Transmitter ebenfalls kaputt sind.« »Da kennen Sie Saam aber schlecht«, erwiderte Shanton. »Wenn er etwas macht, dann macht er es gründlich. Ich wette, er hat sie alle außer Gefecht gesetzt.« »Wette verloren«, entgegnete Saam, der die Transmitterantenne inzwischen näher untersucht hatte. »Das Ding hat einen Namen, Vassago, nämlich evolutionierter Raumkrümmungstransmitter, und dieser hier ist genauso wenig kaputt wie die anderen. In einer Hinsicht haben Sie allerdings recht, Shanton. Die überraschende Fehlfunktion hatte tatsächlich Auswirkungen auf das dünne Transmitternetz auf der Erde. Es gab mehrere Rückkopplungen.« »Und was hat das für Folgen?« erkundigte sich Dhark, der sich in den Disput bisher nicht eingemischt hatte. Durch Zuhören erfuhr man mitunter mehr als durch Mitreden. Saam zeigte sich ratlos, was selten bei ihm war. »Eventuell gar keine«, antwortete er vorsichtig. »Schlimmstenfalls werden einige Reisende nicht aus den von ihnen anvisierten Transmittern herauskommen.« »Bedeutet das, sie verschwinden unterwegs auf Nimmerwiedersehen?« fragte Shanton entsetzt. »Ganz so dick wird es wohl nicht kommen«, beruhigte Saam ihn. »Es könnte lediglich passieren, daß jemand auf eine Nebenstrecke gerät und aus einem anderen Transmitter steigt als dem, den er eigentlich erreichen wollte.« Jon Vassago, mit der modernen Technik ständig auf Kriegsfuß, kratzte sich am Kopf. »Übel, übel. Man steigt in World-City ein, will nach Paris und landet bei den Rateken.« »Rein theoretisch wäre das möglich«, erklärte ihm Saam mit Engelsgeduld. »Vorausgesetzt, der Heimatplanet der Rateken wäre ein paar Lichtjahre näher an der Erde – und wir hätten dort einen Transmitter auf Raumkrümmungsbasis installiert.« Dhark schmunzelte still in sich hinein. Er fragte sich, nach
welchen Kriterien Wallis den Leiter seiner Sicherheitsabteilung eingestellt hatte. Offensichtlich hatte der Mann Schwierigkeiten, technische und wissenschaftliche Zusammenhänge zu begreifen, ja, er konnte nicht einmal richtig mit seinen neuartigen Waffen umgehen. Ein Anruf aus Alamo Gordo riß ihn aus seinen Gedanken. Henner Trawisheim war am Vipho. »Bei mir gehen laufend Meldungen ein, denen zufolge in der Transmitterstation am Venusplatz die Hölle los ist«, berichtete er in wenigen Worten. »Angeblich ist dort ein außerirdisches Wesen aus dem Transmitter getreten und liefert sich in der Halle einen harten Kampf mit den Sicherheitsrobotern. Möglicherweise handelt es sich nur um blinden Alarm...« »Sofort alles absperren!« befahl Dhark. »Wir dürfen kein Risiko eingehen. Ziehen Sie sämtliche Polizeikräfte zusammen, und holen Sie die Reisenden aus der Station.« »Die Absperrung habe ich bereits veranlaßt. Moment, gerade bekomme ich eine Meldung vom Polizeihauptquartier. Die meisten Menschen sind aus dem Gebäude geflohen, teilt man mir mit.« »Die meisten?« »Ein paar Sensationshungrige sind geblieben. Offenbar betrachten sie den Kampf als eine Art Abenteuerspiel und begreifen nicht, in welcher Gefahr sie schweben. Außerdem hat ein kleiner dicker Reporter eine Lücke in der Sperre genutzt, um mit seiner Kamera in die Station einzudringen. Die Beschreibung trifft nur auf einen zu.« »Stranger!« entfuhr es Dhark. »Wo immer es brennt auf dieser Welt, er ist als erster zur Stelle. Ich bin sofort vor Ort, Trawisheim. Benachrichtigen Sie inzwischen Marschall Bulton. Er soll sich bereithalten, falls wir militärische Unterstützung benötigen.« Der Commander schaltete sein Vipho ab und machte
Anstalten, zum Flash zu laufen. Saam deutete auf den Transmitter. »Hiermit geht’s schneller. Es existiert eine Direktverbindung nach Alamo Gordo. Sie würden exakt am Ort des Geschehens erscheinen.« »Oder auf einer Ast-Station«, befürchtete Dhark. »Nein danke, Saam, aber ich habe es eilig.« »Ich weiß zwar noch nicht genau, warum es beim ersten Einschalten meines Prototyps zu den Rückkoppelungen kam«, räumte Saam ein, »doch darum kümmere ich mich später. Viel wichtiger ist, daß der Transmitter trotz dieser Fehlfunktion einwandfrei funktioniert.« »Kann ich mich darauf verlassen?« fragte der Commander, dem es unter den Nägeln brannte, skeptisch. »Ich vertraue ihm«, sagte Wallis. Bevor ihn jemand daran hindern konnte, war er durch die runde Antenne getreten. Dhark zögerte keine Sekunde und folgte ihm. Vassago tat es ihm gleich. Shanton deutete mit finsterer Miene auf Saam. »Ich gehe hinterher. Aber falls ich nicht zurückkomme, gnade Ihnen Gott! Dann reiße ich Ihnen die Ohren ab!« »Wie denn, wenn Sie nicht zurückkommen?« konterte Saam schlagfertig und machte eine Kopfbewegung in Jimmys Richtung. »Vergessen Sie Ihr Brikett nicht. Ohne Jimmy sind sie doch aufgeschmissen.« Der Dicke und sein Hund schritten Seite an Seite durch das Antennenfeld, wie es sich für ein Team gehörte. Bei ihrem ersten Kennenlernen hatte Robert Saam den Robot-Terrier noch für einen echten Hund gehalten. Mittlerweile war er besser informiert, und es juckte ihn in den Fingern, Jimmy einmal auseinanderzunehmen und seine Innereien zu begutachten. Allerdings wußte er, daß Shanton das niemals zulassen würde. »Schade«, sagte sich das junge Genie. »Hier und da könnte ich bestimmt eine Verbesserung einbauen.«
Vielleicht würde er das eines Tages ohne Shantons Einwilligung tun. Während Robert Saam noch überlegte, ob er den anderen nach Alamo Gordo folgen oder an Ort und Stelle die Ursache für die Rückkopplung ergründen sollte, entstieg in London Lord Bracklefort einem Transmitter. Diesmal war es der richtige. Für bunte Tücher, Schals und einige echt afrikanische Souvenirs hatten Ihre Lordschaft fast die gesamte Barschaft ausgegeben. Weil in seinem Aktenkoffer kein Platz für all das Zeug gewesen war, hatte man ihm auch noch zwei bunt bestickte Stoffbeutel verkauft – geräumig, stabil und garantiert mit der Hand genäht. Seinen kleinen Umweg über Marokko nahm der Lord gelassen hin, schließlich war ihm nichts zugestoßen, und die Rückreise auf einer anderen Transmitterstraße war ohne Schwierigkeiten verlaufen. Korrekt wie er war, plagte ihn nur ein Gedanke: »Hoffentlich komme ich noch pünktlich in die Firma.« * Die kegelförmigen terranischen Kampfroboter hatten eine Größe von zwei Meter fünfzehn. Der Außerirdische war viel größer, schätzungsweise um die vier Meter. Sein schlanker, aber muskulöser humanoider Körper, der an die griechischen Statuen des klassischen Altertums erinnerte, war ganz und gar goldfarben. Den ersten Angriff der Roboter wehrte er mit Leichtigkeit ab. Von links und rechts kamen sie auf ihn zu, um ihn in die Zange zu nehmen. Der Goldene formte seine Hände zu Riesenfäusten und ließ sie geschoßartig vorschnellen. Dabei streckten und dehnten sich seine Arme, als wären sie aus geschmolzenem Metall.
Die beinlosen Roboter bewegten sich dreißig Zentimeter über dem Boden, per A-Grav und auf Prallfeldern. Dadurch waren sie unheimlich wendig. Dem ersten nutzte das wenig, ihn erwischte der Faustschlag mit voller Wucht. Der zweite wußte seine rundum wirksamen Optiken besser zu nutzen und wich geschickt aus. Aus sicherer Entfernung schaute eine Gruppe sensationslüsterner Gaffer dem Kampf fasziniert zu. Den Treffer mit der goldenen Riesenfaust kommentierten sie mit Grölen und mit Pfiffen. Dank seiner kräftigen Gliedmaßen konnte Roboter Eins seinen Sturz unbeschadet auffangen. Derweil flog Roboter Zwei um den Goldenen herum und nahm ihn von hinten ins Visier. Beide Maschinen waren nur mit leichter Bewaffnung ausgerüstet, schließlich hatte man nur in der Station die allgemeine Sicherheit gewährleisten und keinen Krieg anfangen wollen. Drei, vier Strahlenschüsse erwischten den vermeintlichen Außerirdischen im Rücken. Er krümmte sich leicht, blieb aber stehen. Wahrscheinlich hätte sich sein Gesicht vor Schmerzen verzerrt – wenn er denn eins gehabt hätte. Doch sein schlanker Kopf zeigte dort, wo bei einem Menschen das Gesicht sitzt, nur eine konturlose Fläche. Bert Stranger filmte die Szene mit angehaltenem Atem. Dieser Goldene war eine direkte Kopie der gigantischen Statuen goldener Menschen ohne Gesicht, die Ren Dhark bei seinen Reisen auf mehreren Planeten entdeckt hatte. Stranger hatte die entsprechenden Berichte und Aufnahmen alle gesehen. War dieser Goldene das lebendige Vorbild für die mysteriösen Denkmäler? War er der Grako, der nun auch auf die Erde gekommen war? Der Goldene winkelte den rechten Arm an. Mit seiner Faust ging eine Wandlung vor. Sein Unterarm verformte sich zu
einer Waffe, die einem kleinen Raketenwerfer ähnlich sah. Damit zielte er auf Roboter Eins, der ihn jetzt von vorn unter Beschuß nahm. Mehrere Treffer gegen den Brustkorb machten dem Riesen nur wenig aus, aber er verriß das Ziel. Die Minirakete, die er aus seiner Handfeuerwaffe abschoß, schien aus purer Energie zu bestehen. Fauchend jagte sie durch die Halle, knapp vorbei am ersten Roboter. Die Energierakete riß ein riesiges Loch in die Hallenwand. Obwohl das einen Höllenlärm machte, explodierte sie nicht, sondern flog draußen weiter. Nur wenige Meter, dann löste sie sich mitten in der Luft auf, als hätte sie nie existiert. Der nächste Schuß saß. Im letzten Augenblick aktivierte Roboter Eins seinen Schutzschirm, so daß zwei verschiedene Energien aufeinanderprallten – die der Minirakete und die des Schirms. Grellweißes Licht breitete sich aus, kroch bis in den letzten Winkel der Station. Die Halle bebte wie bei einem Rockkonzert. Das Kreischen, das den Raum erfüllte, kam jedoch nicht von erregten Fans, sondern von den geblendeten Gaffern, die einen Einsturz des Gebäudes befürchteten. Plötzlich wurde ihnen klar, daß sie besser mit den anderen nach draußen geflüchtet wären. Roboter Zwei fuhr seine mechanischen Gliedmaßen aus und griff den Goldenen von hinten an. Einer seiner Robotarme war mit einem Werkzeug ausgestattet, das einer riesigen Krebsschere ähnelte. Damit packte er den stummen Feind am Bein und versuchte, ihn zu Fall zu bringen. Auch Roboter Eins ging zum Nahkampf über. Eine Stahlschlinge schoß aus einer Öffnung an seinem Robotkörper und schlang sich mehrmals um den Waffenarm des Gesichtslosen. Das grelle Licht verlosch. Der goldene Arm veränderte sich erneut, wurde ganz dünn und schlüpfte aus der Stahlseilfalle. Gleichzeitig entstand am
anderen Arm eine weitere gefährliche Waffe. Roboter Zwei wurde abgeschüttelt wie ein lästiges Insekt. Stranger sah, daß der Goldene nun beidarmig mit Schußwaffen bestückt war und aus allen Rohren feuerte. Teile des Gebäudes waren mittlerweile zerstört, doch der Transmitter blieb unversehrt. Beide Roboter gingen unablässig auf das Riesenwesen los. Die Gaffer standen nicht mehr auf einem Fleck. In Panik versuchte jeder für sich, einen der Ausgänge zu erreichen. Dabei mußten sie höllisch aufpassen, nicht zwischen die Fronten zu geraten. Kein leichtes Unterfangen, wenn einem die Augen tränen. Schlimmere Auswirkungen hatte das gleißende Licht Gott sei Dank nicht gehabt. Bert Stranger filmte aus der Deckung, die ein massiver Blumenkübel ihm bot. Mit der Geschicklichkeit eines Profikameramanns fing er rundum jede wichtige Szene ein. Sein Kollege von der Zeitung hatte sich die ganze Zeit über in einer halbwegs sicheren Wandnische verborgen gehalten. Jetzt zeigte er sich. Mit den Worten »Danke für den Tip!« warf Stranger ihm den Fotoapparat zu. Unerschrocken zeichneten die beiden Männer das Geschehen von verschiedenen Seiten auf. Es ärgerte Stranger, daß er nicht live ans Studio angeschlossen war. Das wäre mit zu großem Aufwand verbunden gewesen, der unnötig Zeit gekostet hätte. Wenn’s eilte, mußte die normale Kamera genügen. Der Transmitter wurde aktiviert. Nacheinander erschienen Wallis, Dhark, Vassago, Shanton und Jimmy in der Station. Gleich auf den ersten Blick fiel Dhark die Ähnlichkeit des goldenen Riesen mit den Goldenen Menschen auf, den gewaltigen Statuen der Mysterious. Es blieb ihm keine Zeit, über dieses Phänomen nachzugrübeln. Die Menschen mußten hier raus, das war vorrangig.
»Deckung!« schrie Vassago, und schon lag die Gruppe auf dem Boden. Keine Sekunde zu früh. Eine Schußsalve des Goldenen jagte über ihre Köpfe hinweg. Keine gezielte Salve. Aufgrund der ständigen Robotangriffe verlor der Gesichtslose die Orientierung und feuerte in sämtliche Richtungen. Eine große Wandtafel, auf der das Streckennetz und die Abstrahlzeiten abzulesen waren, zerbarst in mehrere Stücke. Die Trümmer jagten durch die ganze Halle. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Dhark durchschaute die Taktik der Kampfroboter. Sie wußten, daß sie den Goldenen mit normalen Mitteln nicht besiegen konnten, darum verwirrten sie ihn, damit er Fehler machte. »Wenn sie ihn nicht bald zu Fall bringen, kracht das ganze Gebäude über uns zusammen!« rief Shanton dem Commander zu. Wie auf ein geheimes Kommando sprangen Wallis und sein Leibwächter plötzlich auf und liefen in zwei Richtungen. Terence Wallis rannte auf den Goldenen zu und blieb dann abrupt stehen. Rasch drehte er sich um. Auch Vassago stoppte. Er hatte genügend Anlauf genommen, machte auf dem Absatz kehrt, visierte seinen Chef an und sprintete los. Wallis verschränkte seine Hände in Bauchhöhe, bildete eine Absprungschanze für Vassago. Der hünenhafte Mann sprang mit seinem linken Fuß hinein und ließ sich von dem ehemaligen Basketballspieler Wallis in die Höhe schleudern, wobei er sich mit dem rechten Fuß zusätzlich vom Boden abstieß. Wie ein Artist flog Vassago durch die Luft, vollzog einen doppelten Salto und ließ die Beine vorschnellen. Er erwischte den Goldenen mit beiden Füßen am Kopf. Der Gesichtslose hatte ohnehin keinen festen Stand mehr, er schwankte bereits erheblich. Vassagos Tritt aus der Luft war sozusagen der Windhauch, der die Eiche zum Umknicken
brachte. Der goldene Riese schlug der Länge nach hin. Beim Aufprall fiel massenweise Putz von der Decke, ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Katzengleich landete Vassago mit den Füßen voran auf dem Boden und rollte sich auf der Schulter ab, wie er es vom Kampftraining her gewohnt war. Dhark begriff jetzt, warum Wallis diesen Mann in seine Dienste genommen hatte. Die meisten Gaffer waren bereits nach draußen geflüchtet. Der Rest hatte sich gut versteckt. Jetzt, wo der Goldene am Boden lag, trauten sie sich wieder hervor. Jimmy tat, was man von einem guten Wachhund erwarten konnte. Er hinderte die Neugierigen daran, dem Gesichtslosen zu nahe zu kommen und verbellte sie nach draußen. Die beiden Roboter unterstützten ihn, indem sie drohend über ihm schwebten. Menschen in Sicherheit zu bringen, notfalls auch gegen deren Willen, hatte in ihren Programmierungen Vorrang vor dem Kampf. Das war auch gut so, denn die Gefahr war noch lange nicht vorüber. Nur für eine Weile lag der Goldene reglos am Boden. Dann kam wieder Bewegung in ihn. Er veränderte seine Armwaffen aufs neue und richtete sich auf. Dhark alarmierte Bulton über sein Armbandvipho und lief aus der Halle. Er wies die Polizisten an, die Menschen hinter den Absperrungen noch weiter zurückzudrängen, um Landeplatz für die TF zu schaffen. Anschließend begab er sich wieder nach drinnen. Der Riese hatte sich inzwischen zu voller Größe aufgerichtet. Robert Saam, der kurz zuvor aus dem Transmitter gekommen war, bestaunte ihn voller Faszination. Angst schien er keine zu haben, er stand ziemlich nahe dran. »Gehen Sie da weg!« befahl Dhark, doch Saam hörte nicht auf ihn. Draußen landeten mehrere Schweber. Die Soldaten luden schweres Geschütz aus, brachten sich innerhalb und außerhalb
der Transmitterstation in Position. Die beiden Sicherheitsroboter bekamen Unterstützung von besser bewaffneten »Kollegen«, die den Goldenen kampfbereit umringten. »Das gibt ein Gemetzel«, befürchtete Vassago. »Wir müssen hier raus.« »Müssen wir nicht«, entschied Dhark, auf dessen Angriffsbefehl alle warteten. »Der Goldene scheint verunsichert zu sein. Er weiß nicht so recht, ob er kämpfen soll oder nicht. Wir befindet uns in einem Patt, das sollten wir für Verhandlungen nutzen.« Unbewaffnet näherte er sich dem gesichtslosen Riesen. In diesem Moment hallten die Lautsprecher in der Transmitterstation auf. Offenbar hatte der Goldene sie über Funk manipuliert und aktiviert. »Ich kam in Frieden!« drang eine helle, klare Stimme in einer Sprache, die nur Ren Dhark fließend beherrschte, aus den Schallgebern. Der Goldene sprach im Idiom der Mysterious! »Warum greift ihr mich an?«
REN DHARK Drakhon-Zyklus Band 3 Der letzte seines Volkes erscheint Ende September 2000