Nr. 105
Die Flotte der Glücksbringer Kampf auf der Spinnenwelt - Ein Kind Sigas enträtselt das Geheimniss der Robotflo...
9 downloads
647 Views
279KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 105
Die Flotte der Glücksbringer Kampf auf der Spinnenwelt - Ein Kind Sigas enträtselt das Geheimniss der Robotflotte von Hans Kneifel
Mit dem Tod des letzten »Grauen« auf der »Endstation Nemoia« haben die Ereignisse, die durch die Aktivitäten des Redbone- und des Suddenly-Effekts in weiten Teilen der Galaxis Unruhe und Schrecken verbreiteten, ihr Ende gefunden. Jetzt, Anfang Juni des Jahres 2842 terranischer Zeitrechnung, herrschen wieder Ruhe und Frieden auf den von Menschen besiedelten Planeten der Milchstraße. Nur eine Welt ist davon ausgenommen – der zweite Planet von Gladors Stern, die Heimstatt der Siganesen, der kleinsten Vertreter der Spezies Homo sapiens. Hier, auf Siga, sind durch die Manipulierung und Entführung von Kindern Dinge geschehen, die zu einer empfindlichen Störung des traditionell guten Einvernehmens zwischen Terranern und Siganesen geführt haben. Das Solare Imperium wird jedoch fälschlich der Verbrechen an den jungen Bürgern Sigas beschuldigt – dies beweist das Geschehen auf der Spinnenwelt. Dort versucht eine Verbrechergruppe, zu Macht und Reichtum zu gelangen. Der Schlüssel dazu ist DIE FLOTTE DER GLÜCKSBRINGER …
Die Flotte der Glücksbringer
3
Die Hautpersonen des Romans: Flannagan Schätzo - Ehemaliger Spezialist der USO. Stanzo Peysen - Leiter einer gefährlichen Expedition. Afruth Schwartz - Eine »Hausfrau« im Dschungel der Spinnenwelt. Vernon Lyall - Pilot eines Mikro-Helikopters. Saggelor Oggian - Ein Kind Sigas enträtselt das Geheimnis der »Flotte der Glücksbringer«.
1. Stanzo Peysen kam durch die Dämmerung geschlichen, verbeugte sich kurz vor mir und kauerte sich neben das kleine Feuer nieder, das ich gerade angezündet hatte. Es rauchte und qualmte unablässig, und der stechende Rauch verbreitete sich über die gesamte Lichtung. Hinter dem dichten Nebel, der heute morgen die Landschaft erfüllte, schob sich der dunkelgelbe Stern hoch; ein riesiger düsterer Farbfleck hinter den hellgrauen Schleiern. Wir fröstelten alle, auch die Siganesen verhielten sich ruhig. »Was ist los?« fragte ich halblaut. Einige von den anderen schliefen noch. Mich hatte ein unbestimmtes Gefühl der Furcht geweckt. Ich konnte es nicht genau deuten, aber vielleicht hatte es etwas mit diesen ovalen, kopfgroßen Schiffchen zu tun, die wie exotische Perlen in dem alten Gespinst hingen. »Ich bin unruhig«, gestand Peysen. Ich starrte ihn an und bemerkte, daß endlich Flammen aus dem kleinen Holzstapel hochzüngelten. Ich konnte daran gehen, einen Kaffee oder eine heiße Suppe zu kochen. Lieber einen starken Kaffee; ich war der Überzeugung, wir alle könnten ihn besonders heute gebrauchen. »Das sind wir alle!« sagte ich leise. Peysen machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das ganze Unternehmen droht mir zu entgleiten«, murmelte er. Unruhe war in seinem Blick. »Nicht der Teil, für den ich verantwortlich bin«, entgegnete ich. Seit wir in der zweiten Hälfte des Tages die winzigen Schiffe deutlich in dem verstei-
nerten Gespinst hatten hängen sehen, schien sich alles geändert zu haben. Das lähmende Schweigen, das um uns herrschte, bedrückte Terraner und Siganesen gleichermaßen. Sechs Personen, die unter der unnatürlichen Ruhe litten. Man sagt mir nach, daß ich übermäßig sachlich wirke und gezwungen, aber in einer solchen Situation sind Emotionen wohl nicht recht am Platz. »Das weiß ich, Afruth!« sagte Peysen. »Ich fühle mich trotzdem beunruhigt.« Ich stand auf, als der Wasserkessel auf seinen vier Klappfüßen über den Flammen stand. Ich dehnte meine Muskeln und warf einen langen, schweigenden Blick hinüber zu dem geschwungenen Wall – oder war es ein Labyrinth? – der erstarrten KoorbstasGeflechte. »Sie wollen nichts unversucht lassen«, sagte ich und versuchte, mir eine Zigarette anzuzünden, »um Reichtum und Macht zu besitzen!« Zwei Tote hatten wir schon zu beklagen. Einer von ihnen ging auf mein Konto. Ich selbst, Anthropologin von Beruf, hatte bisher keine oder kaum Gelegenheit gehabt, meine Kenntnisse sinnvoll anzubringen. Tage um Tage waren wir durch diese alptraumhafte Wildnis gelaufen, geklettert, gekrochen … jetzt standen wir kurz vor unserem Ziel. Wir alle, so schien es mir nach dem langen Marsch durch die zur Wirklichkeit gewordenen Welt der gequälten Phantasie, waren »unangepaßte« Menschen, selbst die kleinen, grünhäutigen Siganesen. Wir versuchten dadurch, daß wir unserem persönlichen Traum von Reichtum und Wissen, aus dem Macht hervorgehen konnte, nachjagten, aus der Wirklichkeit auszubrechen. Von diesem Punkt der Überlegung aus war es kein langer Weg, sich jenseits der Pfade der Ge-
4 rechtigkeit zu bewegen. »Es ist die Stille«, sagte ich, »die Ihre Nerven ruiniert. Lassen Sie sich nicht kaputtmachen!« Er fuhr herum, bisher hatte er intensiv und mit geröteten Augen die Schiffe angestarrt, als enthielte das Bild die Lösung für sämtliche Daseinsfragen. »Keineswegs!« erwiderte er. »Keineswegs, Afruth!« Er schlug mit der flachen Hand auf die Brusttasche seiner verschmutzten, an einigen Stellen aufgerissenen Kombination. Ich wußte, daß er dort die alte Karte des berühmten siganesischen Prospektors Mentollien hatte. Diesen Informationen waren, wie wir wußten, bereits andere Lebewesen zum Opfer gefallen. Geheimnisse aller Art umwucherten die »Flotte«. Peysen zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe und Sachlichkeit. Er sagte langsam: »Es ist nicht nur die Stille, Afruth. Es ist eine Art seelischer Druck, eine besondere Art von Hypnose. Ich spüre sie deutlich! Als ob uns jemand sagen möchte, wir sollten nicht näher an die Schiffe herangehen!« Das war es! Ich sah ihn verblüfft an. Bisher hatte ich ihn immer für einen ehrgeizigen kalten Mann gehalten, der außer seinen eigenen Ideen und Überzeugungen nur das gelten ließ, was sich nahtlos in seine Pläne fügte. Jetzt mußte ich erkennen, daß er doch etwas komplizierter und anfälliger war, als ich es mir vorgestellt hatte. »Sie haben recht!« flüsterte ich. »Ich bilde es mir zumindest ein, es auch zu spüren. Wie ein schwaches, hypnotisches Feld, das sich kreisförmig ausbreitet.« »Richtig! Vermutlich eine Abwehreinrichtung der Schiffe, die selbst heute noch wirksam ist.« Wir bückten uns und schoben feuchte Holzstücke unter den schwarzen Boden des Kessels. Freiwillig hatten wir alle darauf verzichtet, Energieaggregate zu benutzen, weil wir befürchteten, es könnte den Schiffen und also unseren Plänen schaden. Aber
Hans Kneifel allein der Anblick der vielen Schiffe, die in den Netzen hingen, entschädigte für die Mühen und Unbequemlichkeit des Weges hierher. »Diese Ruhe! Das Feld ist mit einiger Sicherheit der Grund dafür, daß es hier nur Pflanzen, aber keine Tiere gibt. Selbst die Die-Zagos haben uns verlassen, als sie die Wirkungen der Ausstrahlung spürten!« sagte ich. Die Die-Zagos spürten als Naturwesen die Ausstrahlung weitaus stärker als wir Terraner, die in dieser Hinsicht wenigstens durch die Zivilisation verdorben waren. Ich nickte. Die nächsten Stunden würden dem Versuch gewidmet sein, das Geheimnis der Flotte anzugehen. »Peysen!« sagte ich. »Ja? Was möchten Sie?« »Wecken Sie die anderen Männer. In wenigen Minuten ist der Kaffee fertig. Wir haben einen langen und anstrengenden Tag hinter uns!« »In Ordnung, Afruth!« sagte er und ging zu der Gruppe der unruhig gewordenen Schläfer hinüber. Ich bin einunddreißig Jahre alt, nach der Rechnung Terras. Mein Traum von der Macht ist ganz anders als der von Peysen und den Männern neben ihm. Ich will keine Macht über Menschen, sondern lediglich Sicherheit und Ruhe. Diese beiden Begriffe sind indes weitestgehend vom Begriff des Geldes, der Versorgung abhängig. Sicher – ich hätte den bequemen und alltäglichen Weg gehen und einen der Männer heiraten können, die meinen Lebensweg bisher gekreuzt haben. Noch immer ist langes blondes Haar dafür eine Garantie, desgleichen eine gute Figur und ein Mindestmaß an Intelligenz, man muß auch heute als Frau schon schreiben und lesen können, um es ironisch zu formulieren. Aber dieser Weg war mir zu alltäglich. Ich wollte etwas mehr und etwas anderes: Ich wollte Sicherheit und Ruhe, die aus mir selbst kam. Deswegen hatte ich mich dieser Gruppe von Hasardeuren angeschlossen, aus keinem anderen Grund. Das war al-
Die Flotte der Glücksbringer les. »Auch gut!« murmelte ich im Selbstgespräch. »Hausfrau im Dschungel!« Ich wusch die Tassen flüchtig aus, breitete die Nahrungsmittel aus und fabrizierte so etwas wie ein Frühstück. Auch hier ersetzte der gute Wille die Wirklichkeit. Aber wenn wir wieder an Bord des Raumschiffes waren, hatten diese Improvisationen ein Ende. »Aufstehen! Die Nacht ist zu Ende!« rief Peysen vom anderen Ende der kleinen Lichtung. Der Rauch und der Geruch nach dickem, schwarzen Kaffee weckten die Schläfer vollends. Für eine gewisse Anzahl von Minuten würde eine Art Leben hier einziehen. Aber dann, wenn sie alle wach waren und gegessen hatten, kam der Schock, den wir eben versucht hatten, zu überwinden. An die Arbeit, Afruth! sagte ich mir in Gedanken. Wir aßen und tranken. Auch die Siganesen wurden wach, ab jetzt waren sie ein Zwischending zwischen unserer Lebensversicherung und einem Werkzeug. Ich war davon überzeugt, daß die Hauptarbeit noch vor uns lag, unbeschadet der tödlichen Gefahren unseres Fußmarsches. Die Sonne schob sich höher. Nur langsam und zögernd lösten sich die Nebel der Morgendämmerung auf. Etwa fünfhundert Meter von uns entfernt, jenseits einer Zone aus Gestrüpp, abgebrochenen Bäumen, verwilderten Büschen und dschungelartigen Unterholzes, sahen wir die verheißungsvoll im Sonnenlicht glühenden Bronzeschiffchen. Die Luft, die zwischen den bemoosten Stämmen der Baumriesen hervordrang, stank aufdringlich nach Azeton und einer anderen, mir unbekannten Geruchskomponente. Ein bösartiger Hof umhüllte den dunkelgelben Stern. Die Nebel wogten und waberten um uns herum, als wir uns um das inzwischen rauchlose Feuer versammelt hatten. Die beiden Siganesen, dieser rätselhafte Schätzo und der andere, Lyall, aßen von ihren winzigen Vorräten. Ich fühlte mich als
5 Terranerin immer etwas merkwürdig, wenn ich die verkleinerten Abbilder sah und mit ihnen redete. Peysen sagte laut: »Zunächst einmal müssen wir herauszubekommen versuchen, was es mit diesem seelischen Druck, also mit Sicherheit einem hypnotischen Feld, zu tun hat. Dabei ist äußerste Vorsicht am Platz.« Glow Geller sah mitgenommen aus. Sein Bart wucherte, und er stocherte sich mit einem dicken Grashalm zwischen den Zähnen. Angesichts der Schiffe hatten Gellers Augen einen noch mehr verträumten Glanz als sonst. »Schicken wir die Siganesen nach vorn?« fragte er. Peysen sah auf die beiden kleinen Menschen und nickte. »Es wird das beste sein, sie versuchen es. Bei uns ist das Risiko zu groß.« »Sie haben sicher recht!« meinte ich. Ich hatte sie alle in den letzten Tagen kennengelernt. Keiner der Glücksritter interessierte mich. Mein Bild von dem Mann, an dessen Seite ich leben wollte, sah ganz anders aus. Nicht einmal Peysen hatte mit dieser Vorstellung starke Ähnlichkeit. Durch seinen Sprachverstärker knurrte Schätzo: »Sie haben doch nicht etwa Angst, Peysen?« Peysen sah ihn scharf an, dann grinste er kalt. »Angst? Ich weiß nicht. Wir sollten nicht unterschätzen, daß es sich hier um die Erzeugnisse einer unbekannten Gruppe handelt. Wir wissen nicht, wie diese Schiffe reagieren.« »Falls sie noch reagieren!« sagte Lyall. »Das tun sie«, belehrte ihn Schätzo, »denn sonst würden wir dieses Strahlungsfeld nicht spüren. Vorsicht ist geboten, sehr viel Vorsicht. Ich beginne langsam zu verstehen, Peysen, warum die zweiunddreißig am Heranwachsen gehinderten Kinder bei uns sind.« »Ich bin Pragmatiker!« bestätigte Peysen
6 trocken. »Immer wieder ein Genuß, diese Konzentratwürfel. Ich hasse sie!« »Ohne viel Schweiß, Mühen und Fleiß wirkt auch dem Emsigsten kein Preis!« verkündete Abe Borodkin ruhig. Der GalaktoBiologe sprach selten; das waren die ersten Worte dieses Tages, und sie würden vermutlich auch die letzten und die einzigen bleiben. Ich fand sie alle brauchbar, aber völlig uninteressant. Sie hatten kein Format. »Sie sagen es!« bestätigte Peysen. »Aber ungehindert aller Worte, Überlegungen und Ideen müssen wir etwas unternehmen. Wir sollten uns, wenn wir hier fertig sind, langsam und sehr vorsichtig der Flotte nähern.« »Einverstanden!« meine Lyall. »Meinetwegen, Peysen!« sagte Flannagan Schätzo. »Haben Sie ein Konzept, Peysen?« »Noch nicht.« Ich drehte den Kopf und blickte hinüber. Jetzt, da sich die meisten Nebelschwaden aufgelöst hatten, begann die Hitze des frühen Vormittags. Alles war feucht, Tropfen fielen von den Blättern zu Boden und verursachten Geräusche. Dadurch wurde die Stille etwas weniger drückend und lastend. Eine Serie von rhythmisch fallenden Tropfen, die auf die Schale einer toten und längst zu Staub zerfallenen Koorbsta fielen, erzeugten ein hartes, trommelähnliches Pochen. Hoch über uns zog ein Schwarm Vögel mit seidig glänzenden, blauen Schwingen seine Kreise. Die weißlichgrauen, an einigen Stellen silbrig funkelnden Netze sahen wie Mauern aus einer fernen Vergangenheit aus. In ihnen hingen die Schiffe. Es konnten Hunderte oder gar Tausende sein; von hier aus konnte man lediglich einige Dutzend der leuchtenden Sphäroide erkennen. Wir alle standen unter dem Eindruck dieses Bildes und der Umgebung – wir waren unruhig, gespannt, aufgeregt. »Was sollen wir tun?« fragte ich Stanzo Peysen. Schließlich war er der Chef unserer kleinen Gruppe. »Diese Richtung!« sagte er und deutete quer über die Lichtung. »Zuerst einmal einige hundert Meter geradeaus. Wir müssen nä-
Hans Kneifel her heran.« »Einverstanden. Ich mache die Spur!« versicherte Geller. Er schien sich zum Handeln zwingen zu müssen. Hätten wir die Flotte an einer anderen, weniger trostlosen und alptraumhaften Stelle gefunden, wäre auch unsere Stimmung ganz anders gewesen. »Gut. Wie lange brauchen Sie noch, Afruth?« Ich winkte ab. Langsam erfüllte auch mich die Spannung. Würden wir unsere Pläne verwirklichen können, oder gingen wir hier in der unbekannten Wildnis unter? »Einige Minuten. Kümmert euch nicht um mich. Hausfrauen im Dschungel sind immer schnell und geschickt.« Zweimal hatte Peysen, meist im fragwürdigen Schutz der Nacht, sich mir genähert. Ich hatte ihm unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß ich weder jetzt noch später mit ihm – abgesehen von der relativ unverbindlichen Partnerschaft, die rein zweckgebunden war – etwas zu tun haben wollte. Seit diesen beiden Nächten behandelte er mich wie einen Mann. Nicht ganz so hart, immerhin, aber deutlich.
* »Geht in Ordnung. Nächstes Ziel also ist dieser dicke Baum mit den tiefhängenden Ästen!« sagte Peysen laut. »Und … vorsichtig!« »Verstanden.« Wir räumten schnell zusammen, was wir ausgepackt hatten. Viel war es ohnehin nicht, denn entweder war alles miniaturisiert, oder es bestand aus Konzentraten. Dann brachen wir auf die Siganesen wurden von uns getragen –, um das Geheimnis der Flotte näher in Augenschein zu nehmen. Inzwischen erfüllte uns eine unerträgliche Spannung, die sich irgendwann entladen mußte, je nach Temperament der einzelnen Akteure verschieden. Der geistige Druck der Abwehreinrichtung war noch nicht so stark, daß er uns aufgehalten hätte. Peysen setzte
Die Flotte der Glücksbringer sich an die Spitze unserer Gruppe, nachdem Geller die ersten Meter durch das Unterholz mit seiner Machete freigeschlagen hatte. Nach etwa zwanzig Metern kamen wir zu einem gewaltigen Vorhang aus Geflecht, der in seiner Mitte zerfetzt war. Ein riesiges Loch gähnte hier – ein kugelförmiger Baum in dem Gewirr der Fäden und Knoten, Seile und Verstrebungen. Peysen blieb stehen, drehte sich um und zeigte uns sein verkniffenes, unschlüssiges Gesicht. »Halt!« sagte er. »Seht hierher!« Wir entdeckten auf einem Stück vor Jahren verbranntem Boden, der mit bräunlichem Moos bedeckt war, die zerfetzten Trümmer eines Schiffes. Sie sahen aus wie gläsernes Spielzeug, das verbrannt worden war. Offensichtlich war eines der Schiffe explodiert. »Und seht dorthin!« schrie Lyall. »Ein toter Siganese!« Wir drehten uns um und folgten der Richtung, in die sein Ärmchen deutete. Tatsächlich! Wir sahen das weiße, kaum handgroße Skelett, das in einer Astgabel eingeklemmt war. Ein Siganese, vor langer Zeit umgekommen. Langsam traten wir näher und versammelten uns um die Unglücksstelle. Nach einiger Zeit wußten wir, was geschehen war. Borodkin klärte uns auf. Er war Biologe.
* Wir blieben stehen, als wir die Folgerung erkannten: Drei teilweise zerfetzte Skelette waren in den nächsten Minuten von unseren beiden siganesischen Begleitern gefunden worden. Siganesische Skelette; einige Monate alt, wie Borodkin sagte. »Wir haben bisher vier Schiffe gefunden, die explodiert sind!« sagte ich so laut, daß es auch Geller hören konnte. »Sie haben diese gewaltigen Löcher hier hinterlassen.« »Befürchten Sie weitere Explosionen?« fragte Borodkin mürrisch. »Ja, natürlich!« schnappte Peysen zurück.
7 Wir versammelten uns in einer kleinen, aufgeregten Gruppe um Lyall und Schätzo, die vorsichtig in den Verästelungen des Koorbstas-Gespinstes herumkletterten. Mindestens ein halbes Dutzend der kleinen Schiffe war explodiert. In dem Fadengewirr klafften riesige Löcher und Hohlräume. Die Explosionsenergie schien die erstarrten Ausscheidungen der Riesenspinnen einfach vergast oder aufgelöst zu haben, denn dort, wo sich die winzigen Wracks befanden, sahen wir eine glasartige Schicht über den verbrannten Enden. Schätzo brüllte über seinen Verstärker: »Die Männer von Siga haben versucht, sich den Schiffen zu nähern. Das ist die Wahrheit. Vor Monaten oder vor einem Jahr. Vermutlich hatten sie auch die Informationen, die Sie in der Brusttasche herumtragen. Mentolliens Karte meine ich. Das siganesische Raumschiff dürfte sich irgendwo hier im Dschungel der Netze befinden.« Leise gab Peysen zurück: »Was schlagen Sie vor, Flannagan?« »Sie, die Terraner, sollten sich zurückhalten. Nicht wegen des Feldes seelischer Beeinflussung, sondern wegen der Explosionsgefahr. Uns nützen weder tote Expeditionsteilnehmer noch detonierende Schiffe. Jedes Schiff, das sich in einer Explosion auflöst, ist ein Teil unseres zukünftigen Reichtums!« Peysen biß sich auf seine Unterlippe, überlegte einige Sekunden lang und sagte dann mit wenig Begeisterung: »In Ordnung. Wir gehen noch bis zu diesem Sandfleck dort vorn. Dann können Sie Ihr Glück versuchen, Lyall und Schätzo.« »Recht so!« Mit unseren Klingen schlugen wir eine schmale Schneise in das Gewirr vor uns. Eine atemlose, beklemmende Spannung hatte alle sechs Menschen ergriffen, denn wir befanden uns in greifbarer Nähe der Schiffe. Sie hingen jetzt überall, wie ein Schwarm bronzener Insekten, die sich in einem ineinander verschlungenen Netz verfangen hatten. Manchmal brauchten wir nur die Hand auszustrecken, um eines zu berühren. Dann,
8 als wir die kleine Lichtung erreicht hatten, sahen wir die Schiffe wieder nur von fern; dreißig, fünfzig Meter lagen zwischen uns und den kosmischen Fundstücken. Wir setzten uns, auf Peysens Knien balancierten Schätzo und Lyall, der Raumfahrer. »Bisher hat unsere Annäherung keine weiteren Explosionen ausgelöst«, stellte Schätzo fest. »Wir werden zusammen einen Vorstoß wagen!« Er deutete auf sich und Lyall. »Einverstanden, Raumfahrer?« »Geht in Ordnung!« meinte Lyall. »Wie kommen Sie vorwärts?« fragte ich. Der Siganese mit den stechenden Augen richtete seinen Blick auf mich. Vermutlich machte er sich Gedanken darüber, wie eine hübsche blonde Terranerin zu diesem Haufen von Abenteurern gehörte. Ich konnte es ihm nicht verdenken. »Wie immer. Zu Fuß. Außerdem haben wir gewisse Hilfsmittel zum Klettern bei uns. Einer von Ihnen wird uns in die Nähe eines Schiffes bringen.« Borodkin nickte. Peysen winkelte seinen Arm an und deutete mit einem schmutzigen Finger auf den Minikom, der auf Normalfunkbasis arbeitete. »Eine andere Gruppe soll herkommen. Jetzt brauchen wir die Kinder. In den Tagen, die sie vom Raumschiff hierher brauchen, sollten wir einen Teil der Geheimnisse gelöst haben.« »Optimist!« knurrte Geller. Peysen warf ihm einen wütenden Blick zu. Er überlegte, ob die Benutzung eines Funkgeräts für uns ein Risiko darstellte, kam dann aber zu dem Schluß, daß er den Minikom ungefährdet benutzen konnte. Er schaltete ihn ein und sagte: »Peysen hier. Ich rufe das Schiff.« Im Lautsprecher knisterte es durchdringend, dann hörten wir alle die quäkende Antwortstimme. »Verstanden. Hier Marmarosa. Was wünschen Sie, Peysen?« »Wir sind in unmittelbarer Nähe der Flotte. Schätzo und Lyall werden versuchen, in
Hans Kneifel eines der Schiffchen einzudringen. Der Augenblick ist gekommen, an dem wir auf unsere Geheimwaffe zurückgreifen müssen. Bringt zehn Kinder mit und kommt her. Auch ein paar Siganesen sollen kommen. Wir haben euch eine breite Spur hinterlassen; an welchen Stellen besondere Vorsicht am Platz ist, werde ich euch anschließend sagen.« »Wie lange brauchen wir bis zu euch?« Peysen zuckte die Schultern. »Vier Tage, würde ich sagen, denn ihr kommt schneller vorwärts. Vielleicht einen Tag mehr. Der Minikom kann ohne Gefahr benutzt werden. Außerdem liegt ein Feld um die Flotte, das einem denkenden Lebewesen die Annäherung erschwert – stört euch nicht daran.« Die Antwort kam sofort: »Einverstanden, wenn Kotlarsly und ich losgehen? Mit Oggian und Tanzon und Kessel?« »Meinetwegen. Ich sage euch jetzt, was ihr tun müßt …« Peysen sprach etwa drei Minuten lang. Er schilderte präzise die gefährlichsten Stellen, erwähnte zusätzliche Materialien, gab genaue Anweisungen, die aus unserer Erfahrung kamen. Dann schloß er: »Seid bitte vorsichtig. Ehe ihr Risiken eingeht, ruft uns an und meldet euch. Gebt auf die Kinder acht, ja? Wir werden hier versuchen, zu tun, was wir können. Wir sind nur noch einige Millimeter vom großen Erfolg entfernt!« »Geht in Ordnung!« schloß Marmarosa. Peysen schaltete den Minikom aus. Ich war eine Pessimistin, oder besser: eine ziemlich skeptische Frau, aber tatsächlich hing der große Erfolg greifbar um uns in den Netzen ausgestorbener Lebewesen. Wir konnten nur noch versuchen, diesen Erfolg zu bergen. Ich fühlte, wie mich jemand anstarrte. Als ich den Kopf wieder drehte und mich vom schimmernden Anblick eines weit entfernten Schiffchens losriß, sah ich, daß Flannagan Schätzo es prüfend anstarrte. Als ich ihn ansah, entblößte er seine gelben Zähne
Die Flotte der Glücksbringer und lächelte. Ich dachte wieder an die winzigen Skelette. Trotz der feuchten Hitze fror ich plötzlich.
* Und dann geschah etwas. Als ob es ein lautloses Zeichen hinter den löcherigen Kulissen der Gespinste gegeben hätte, schien sich alles plötzlich zu bewegen. Niemand war hier, aber unsichtbare Insekten schienen zu rascheln und mit harten Mandibeln zu klappern. Ein summender Windstoß fuhr durch die Höhlungen und brachte einen weiteren Ansturm stinkender Luft mit sich. Ein summendes Zittern füllte die Hohlräume aus. Wir sprangen auf; Geller verdrehte die Augen und schien in seiner Phantasiewelt gefangen zu sein. Er stöhnte auf. Ich legte meine Hand an die Waffe und sah mich wachsam um, aber auch ich konnte nichts erkennen. Dann drang durch die knisternde Stille ein langgezogener Laut. Der Boden unter uns bebte, oder bildeten wir uns die Bewegung nur ein? Es war wie ein Seufzen, als ob sich die Erde öffnete und entweichende Gase einen stöhnenden Laut erzeugen würden. Der Teil der Netze, der sich bewegte, raschelte und ließ einen Regen aus feinem, gelbem Staub zur Erde rieseln. Eine weiße Wolke trieb, sich zerfasernd, über das Loch dahin, das die Ränder der Lichtung bildeten. Für einen langen Zeitraum verschwand das Sonnenlicht. Wir alle, auch die Siganesen, waren im Bann dieser unheimlichen Momente gefangen. Gleichzeitig erhöhte sich, wenigstens in der unmittelbaren Wirkung auf unsere Gemüter, die Intensität des abstoßenden Feldes. Wir wollten fliehen, wir dachten an die Entweihung einer heiligen Stätte, wir schauderten und fühlten uns unwohl. Aber dann, als das Stöhnen und Seufzen vergangen war und das Sonnenlicht wieder seine frühere stechende Helligkeit in die Lichtung warf, verging auch dieser Einfluß. »Was war das?« flüsterte Peysen heiser.
9 Ich hatte ihn noch nie so fahrig und unsicher gesehen. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn; sein Gesicht war schreckensbleich geworden. »Ein Zeichen!« brüllte Schätzo. »Wir sollen noch vorsichtiger sein!« Wir beruhigten uns nur langsam, denn nach wie vor waren die Stille der Umgebung und das schwach wirksame Feld der Abwehreinrichtung vorhanden. Sie legten sich wie schwere Gewichte auf uns. Schließlich unterhielten wir uns nur noch im Flüsterton. Unsere Freude, endlich die Flotte erreicht zu haben, und unsere Zuversicht, endlich am Ziel der verschiedenen Wünsche zu sein, schmolzen dahin wie Fett in der Sonnenhitze. Die Stunden vergingen, und wir alle wurden immer niedergeschlagener. Außerdem begannen wir, mißtrauisch den anderen zu beobachten. Ab einem bestimmten Punkt der Aktion würden wir Feinde werden, wenn es uns nicht gelang, uns schnell zu zerstreuen. Ich blickte Stanzo Peysen an. Seine Eleganz war dahin. Der ehemalige Politiker der terranischen Mission auf Siga zeigte, je mehr die Tünche der Kultur und Zivilisation von ihm abblätterte, seinen wahren Charakter. Uns allen war klar, daß nur ein Mann ohne jegliche Skrupel und mit gefühlskalten Helfern ein solches Unternehmen starten konnte, wenn man vom offiziellen Versuch absah, wie es etwa Perry Rhodan und Lordadmiral Atlan vorhaben würden. Peysen war der Anführer, wir alle gehorchten ihm; aber in meinen Augen war er viel zu ehrgeizig und zu kalt. Seine Manipulationen entbehrten der Kontrolle durch das Gefühl. Peysen selbst war der Typ des Weichlings, der andere für sich arbeiten ließ und bestenfalls in Augenblicken aussichtsloser Gefährdung über sich hinauswachsen würde. »Wir gehen jetzt!« sagte Schätzo laut. »Wir versuchen es.« »Sie haben meine Zustimmung!« sagte Peysen. »Ich werden Sie dort drüben absetzen lassen, Lyall.«
10
Hans Kneifel
Die Siganesen suchten aus ihren Vorräten zusammen, was sie zu den abenteuerlichen Unternehmungen und Klettereien brauchten. Borodkin sah ihnen aus Augen zu, die fast hinter den dicken Lidern und über den geschwollenen Tränensäcken verschwanden. Sein rotes Haar leuchtete in der Sonne wie Feuer, wie eines der kleinen Schiffe. Dann steckte er die beiden Männer vorsichtig in seine Brusttaschen und griff nach der Ausrüstung. »Seien Sie vorsichtig, Abe!« warnte ich. »Keine Sorge. Ich gehe bis zu diesem dicken Ast dort vorn!« versicherte Borodkin. Sein hartes Gesicht zeigte die Spuren der Anstrengungen. Er war sie offensichtlich nicht gewohnt. »Los! Worauf warten Sie noch?« schrie Schätzo. Abe bewegte sich langsam und vorsichtig den Weg zurück, verschwand am Rand der Lichtung und kam wieder in unser Blickfeld. Als er neben dem alten, umsponnenen Baum stehenblieb, war er etwa vierzig Meter von uns und zwanzig Meter von dem nächsten Schiff entfernt. Ich sah genau, wie er unendlich behutsam die beiden Männlein absetzte und ihnen dann die geöffnete Hand entgegenhielt, den Handrücken auf den Ast gepreßt. Die Siganesen rüsteten sich aus. Dann verloren wir die Kleinen aus den Augen. Was konnten sie ausrichten? Würde es ihnen glücken, das Geheimnis der Flotte zu lüften? Ich hatte den Eindruck, daß sich die Schwierigkeiten vor uns noch immer auftürmten. Plötzlich fühlte ich mich ganz elend.
2. Wir krochen weiter, auf breiten Ästen und vorbei an dünnen Spinnenfäden, die wie Tauwerk oder Lianen wirkten. Der Unterschied zwischen dem Kosmos »normalgroßer« Terraner und unserem Kosmos, in dem wir die gleiche Größe wie ein großes Insekt hatten, war auffallend und
schreckenerregend. Aber zweihundertsechsundzwanzig Jahre Lebenserfahrung, davon ein Jahrhundert im Dienst der United Stars Organisation, hatten mich abgehärtet. Ich kletterte vor Lyall in die Richtung auf ein einzelnes Schiff, das wir ohne besondere Schwierigkeiten erreichen mußten – wenn nicht gänzlich unvorhergesehene Zwischenfälle auftauchten. Ich hätte jetzt eine Menge für einen Schluck aus der Flasche gegeben, selbst wenn es billigster SigaFusel gewesen wäre. Nichts da, Schätzo, sagte ich mir und schleuderte den Wurfanker, so weit ich konnte. Das federleichte Seil schwirrte hinterher, und die stählernen Haken mit den Nadelspitzen verfingen sich fast einen Meter weiter im Gespinst. »Weiter?« rief Lyall hinter mir. »Langsam weiter!« sagte ich, ohne den Kopf zu drehen. Er verstand sehr gut, der TarouseAnhänger mit der melodiössingenden Stimme. Eines war für mich nunmehr sicher: Dieser weichliche terranische Politiker Peysen würde nichts, aber auch gar nichts unversucht lassen, um den Reichtum in seinen Besitz zu bringen, den ihm die Flotte versprach. Deswegen befinden sich auch die Kinder auf diesem Planeten, dachte ich. Und deswegen unterzog man sie im Raumschiff dem für sie gefährlichen Hypnoseunterricht. So addierten sich die Verbrechen. Aber noch war ich nicht soweit, etwas daran ändern zu können. Und … außerdem hatte ich keine Hilfe. Nicht einmal mehr das Mädchen, dachte ich und befestigte das Seil. Ich machte eine dreifache Schlinge und verknotete die Verbindung, die sich sehr fest spannte. Afruth war, nach terranischen Maßstäben selbstverständlich, eine kleine Schönheit, aber ihre Augen gefielen mir nicht. Sie zeigten zuviel von der inneren Härte und Kälte dieses Mädchens. Aber schließlich und endlich war auch Afruth Schwartz nichts anderes als ein Opfer dieses gewissenlosen Mannes, der sich sogar an Kindern vergriff. Aus diesem
Die Flotte der Glücksbringer Grund würde ich ihn, wenn ich es konnte, zur Strecke bringen. Verbrechen an sich war schon schlimm, aber Kinder soll man nicht in diese schmutzigen Geschäfte mit hineinziehen. Nicht mit mir, dachte ich. Nicht mit Flannagan Schätzo, der aussah, als sei er ein ungepflegter Trunkenbold mit gelben Zähnen. Und wir würden auch das Geheimnis der stählernen Insel lösen, oder wie immer man dieses Phänomen nennen konnte. »Wir versuchen einzudringen, Schätzo?« fragte Lyall. Wir standen beide nebeneinander vor dem gespannten Seil. Hier waren sowohl die Tiefe des Gespinstes als auch die oberen Bezirke hoffnungslos erhärtet. Die wenigen Pflanzen und die Bäume hatten sich mit der Hartnäckigkeit des wuchernden Lebens zwischen den erstarrten Strukturen hochgeschoben. »Wir müssen erst einmal dorthin!« sagte ich. »Los! Ich versuche es!« Wir hangelten uns an dem Seil mehr als einen Meter weit über einen Abgrund von zwei Metern Tiefe. Dann befanden wir uns auf dem Boden eines kleinen Kessels, der aus dünnen Fäden gebildet wurde. Sie zitterten unter unseren Schritten. Schräg vor uns, etwa fünfzehn Meter entfernt, hing das ovale Schiff. »Verdammt! Das ist ein gefährlicher Aufstieg!« knurrte Lyall. »Keine Sorge, Piano«, erwiderte ich. »Wir schaffen es, wenn auch mit einigen Tricks.« Auch das Leben und die geistige Gesundheit der Kinder wurden von Peysen vorsätzlich aufs Spiel gesetzt. Der einzige, der ihm nicht half, war ich. Es war zum Verzweifeln. Ich war ganz allein, ein alter Mann mit kalter Wut und einigen Fähigkeiten, waffenlos und ganze siebzehn Zentimeter groß. Ich griff nach einer der seidenartigen Lianen und sagte: »Weiter! Selbst wenn es schwerfällt. Wir sind nicht in Gefahr, denn wir haben weder ein Raumschiff noch hochenergetische Ausrüstungen.« »Ich verstehe!«
11 Langsam, Schritt um Schritt, tasteten wir uns vorwärts. Der stechende Geruch, den entweder die Koorbstasfäden oder der Boden weit unter diesen Knäueln aus Fasern und Stricken ausströmte, betäubte uns halb, aber wir schafften es, uns über die Rundung hinweg auf eine schräge, schmale Fläche hinwegzuhangeln. Wir schwitzten und stöhnten, als wir uns auf das Schiff zubewegten. Unter uns gähnte der Abgrund. Wir würden von den harten, dünnen Fäden zerschnitten werden. Unsere Knochen würden zersplittern, wenn wir den Halt verlören und abstürzten. Aber der metallische Glanz des Schiffes blendete uns und trieb uns zu immer größeren Leistungen an. Wir sprachen kaum miteinander. Ich führte an, suchte die einzelnen Griffe aus und schlug mit meiner Machete Kerben in die harte Substanz. Es war, als ob wir uns durch unwirkliche, aber außerordentlich schwierige Labyrinthe aus faden und röhrenförmigen Säulen hindurchschlängelten. Teilweise krochen wir durch rohrartige Schneisen, teilweise liefen wir auf dicken Strängen entlang. Die Schatten des Koorbstas-Labyrinths bildeten verwirrende Muster, die vielfach durch die darunterliegenden Fäden gebrochen wurden. Es lag leider keinerlei System in der Arbeit der längst gestorbenen Riesenspinnen. Sie hatten ihre Fäden, einem für mich rätselhaften Instinkt folgend, kreuz und quer und in allen drei Dimensionen gesponnen, in verschiedenen Stärken, oftmals einander überschneidend. Es war wie ein mühevoller Weg durch einen gewaltigen Haufen stabförmiger Dinge, zwischen denen nur geringe Zwischenräume herrschten. Wir krochen hintereinander her. Dann, endlich, uns erschien es wie eine kleine Ewigkeit, befanden wir uns an einem vorläufigen Ende. Lyall kroch neben mir unter der Barriere hervor und blieb halb erschöpft neben mir liegen. »Ich habe es mir leichter vorgestellt!« keuchte er und wischte den Schweiß aus seinem Gesicht. Mein Pulsschlag hämmerte
12 wie rasend. »Ich nicht«, gab ich zur Antwort. »Ihr jungen Kerle seid alle verwöhnt!« Er warf mir einen erbitterten Blick zu und erwiderte: »Geben Sie nicht so an. Noch sind wir nicht am Ziel.« »So ist es. Dort ist das Ziel!« Ich hob den Arm und deutete nach vorn. Das Schiff hing schräg über uns in einem System dünner Fäden, die sich oft verzweigten und kreuzten. Wenn es abgestürzt war und in den Bereich der damals noch federnden und nachgebenden Fäden geraten war, so war sein Absturz und Fall leicht gewesen. Das galt vermutlich auch für die anderen Schiffe der Flotte. Wieviele waren es wirklich? Dutzende? Hunderte oder Tausende? »Wir müssen hinunter!« sagte ich. »Und dann wieder fast senkrecht hinauf. Ob wir es bis zum Abend schaffen?« »Schon möglich«, sagte Piano Lyall. »Vorausgesetzt, Sie rennen wie bisher weiter. Haben Sie keine Angst vor dem Infarkt?« Ich grinste ihn kalt an und registrierte, wie er erschrocken zurückwich. »Noch nicht!« sagte ich. »Wo sind die Strickleitern?« Natürlich wäre ein Anflug mit einer Rückenschraube oder einem konventionellen Gleiter leicht gewesen. Aber wir hätten diesen Versuch mit einem Mißerfolg der Mission bezahlt. Obwohl ich dieser Mission einen Mißerfolg brennend wünschte, aber nicht auf diese Art. Ich mußte auf die Kinder Rücksicht nehmen und war überdies darauf scharf, das Geheimnis der alten Flotte zu ergründen. Das Volk der Sternfahrer, das einst diese Körper gebaut hatte, mußte noch kleiner als wir Siganesen gewesen sein. Und, überdies, waren es »humanoide« Wesen gewesen, also ein Volk, dessen Erscheinungsbild uns verkleinerten Terranern glich? Nicht einmal der berühmte Prospektor Mentollien schien es gewußt zu haben. »Schaffen wir es? Wo sind die Strickleitern?« erkundigte sich Lyall laut.
Hans Kneifel »Ich habe sie um die Schultern.« Ich stand auf und wickelte mehr als einen Meter hauchdünne Leiter aus Fäden ab, die ein Terraner kaum mit dem bloßen Auge entdecken konnte. Von kleinen Gewichten beschwert raste das Bündel in die Tiefe, rollte sich auf und ruckte schwer, als es ausrollte. Ich befestigte beide Enden an zuverlässig aussehenden Gespinstfäden. »Dort hinunter … warum habe ich bei dieser verrückten Aktion mitgemacht?« fragte sich Piano schaudernd. Dann zog er seine Handschuhe straff und deutete auf den Anfang der Leiter. »Ich zuerst?« »Ja. Geben Sie acht. Der Verlust wäre für die Expedition unersetzlich. Außerdem kämen Sie um Ihren Anteil an der Beute!« sagte ich spottend. »Sie werden eines Tages auch noch erfahren, daß …« »Schon gut!« winkte ich ab. »Sparen Sie sich den Atem, steigen Sie ab. Wer sich selbst heruntersetzt, wird der erste auf dem Gipfel sein.« Peysen wollte die Flotte mit Hilfe der wachstumsgehemmten Kinder von Siga bergen. Jedenfalls sollten wir versuchen, ihnen den Weg zu zeigen und die Möglichkeiten zu schaffen, in die Schiffe einzudringen. Langsam turnten wir die Strickleiter abwärts und hingen dann in den letzten Sprossen. Unter uns war ein freier Raum von etwa zwei Metern. »Wieder ein Seil?« keuchte Lyall. »Ja. Oder wollen Sie lieber springen?« Ich machte ein weiteres Seil von meinen Schultern los, knotete es in die Maschen der Strickleitern und war mehrmals in Gefahr, abzurutschen und in die Tiefe zu stürzen. Dann hakte ich den schmalen Tragegurt ein und die Bremse in das Seil. Ich schob mich vorsichtig, Millimeter um Millimeter, in den Gurt. Das Seil ringelte sich tief unter uns auf einer runden Platte aus hauchfeinem Gespinst zusammen, das aussah, als hätten zwanzig terranische Spinnen ihre grobmaschigen
Die Flotte der Glücksbringer Netze übereinander gewoben. »Halten Sie das Seil von den Wänden!« sagte ich, ließ mich fallen und stieß mich ab. Leise schnurrten die Räder, zwischen denen das Seil lief. Ich ließ mich einen Meter weit durchfallen, dann zog ich den langen Hebel der Bremse an. Mein Sturz wurde langsamer, immer langsamer, dann drehte ich mich ein letztesmal und berührte den Boden. »Ausgezeichneter Halt!« schrie ich nach oben. »Kommen Sie, Lyall!« »Verstanden! Ich komme!« Ich packte das Ende des Seiles und rannte zehn Schritte in die Richtung des langen Aufstiegs. Dadurch hielt ich das lange Seil leicht schräg und sicherte den Fall des anderen Siganesen. Privat hatte ich nichts dagegen, wenn er sich das Genick brach, denn er war ein Verbündeter Peysens und ein Schurke. Aber ich brauchte ihn. Wir waren aufeinander angewiesen. Zunächst suchten wir uns den besten Aufstiegsweg heraus. Es ging über eine Distanz von fast vier Metern, fast senkrecht aufwärts. Es würde eine mühevolle Kletterei werden. »Wir werden uns ständig mit den kurzen Seilen und den Haken sichern müssen«, meinte Piano. »Wir hätten einen anderen Weg nehmen sollen.« Ich deutete blinzelnd nach oben. »Wie Sie sehen, gibt es keinen anderen Weg. Und wir können nicht auf die Hilfe der Terraner hoffen. Sie haben zuviel Angst. Und ich bin auch der Auffassung, daß es gefährlich ist. Vielleicht reagieren die Schiffchen auf Terraner.« »Wir kommen heute bei Tageslicht nicht mehr bis zum Schiff!« meinte Lyall zweifelnd und ging langsam, die Flasche aus seiner Jacke ziehend, über den Raster aus übereinander liegenden Fäden. »Ich schwöre Ihnen, daß wir das Schiff in wenigstens drei Stunden erreicht haben!« sagte ich. »Geben Sie mir die Flasche.« Er starrte mich an, lachte dann kurz. »Es ist kein Alkohol darin. Nur kalter Tee.«
13 »Möchten Sie, daß ich Ihnen die Zähne einschlage, Sie Ignorant?« fragte ich mit äußerster Ruhe zurück. Er gab mir wortlos die Flasche. Es war wirklich kalter, stark gesüßter Tee darin. Ich spülte meinen Mund aus und nahm einen langen Schluck. Dann machte ich die kurzen Kletterseile mit den langen, gekrümmten Klapphaken klar und winkte ihm. »Los! Vorwärts. Wenn Sie so gut klettern wie reden, dann schaffen wir es in zwei Stunden.« »Wo haben Sie das gelernt?« »Das Trinken oder das Klettern?« murmelte ich. »Das Klettern, meine ich natürlich.« Ich gab trocken zurück: »Im Lauf eines langen, an Entbehrungen und Ärger reichen Lebens!« Wir begannen den Aufstieg. Es war eine fast endlose Folge von ähnlichen Griffen. Wir zogen uns an einem dünnen Faden hoch, stellten dann die Zehen in die Mulden der Grifflöcher, sicherten uns und schlugen wieder Kerben in das Gespinst. Und wieder machten wir Klimmzüge, kamen zentimeterweise höher und höher. Die Sonne strahlte schließlich direkt auf unsere Rücken. Die Kleidung begann an der Haut zu kleben. Und zweieinhalb Stunden später befanden wir uns auf einer Art Terrasse aus dünnen Stäben oder Fäden. Ich brauchte nur die Hand auszustrecken, dann berührte ich die Wand des Schiffes. Lyall sagte keuchend, mit aufgerissenen Lippen und schweißüberströmtem Gesicht: »Wir sollten Peysen von unserem Erfolg berichten.« »Es ist wahr«, entgegnete ich. »Er sollte es erfahren. Aber noch sind wir nicht im Schiff!« Piano sah mich an und nickte schwer. Er flüsterte zischend: »Wenn wir versuchen einzudringen, wird das Ding explodieren und uns töten.« »Und wieder ein riesiges Loch in dieses verdammte Koorbstaszeug reißen!« meinte ich. »Das ist unser Risiko, Partner!«
14 Ich betrachtete das Schiff genauer. Es war tatsächlich so groß wie der Kopf eines Terraners. Die Hülle schimmerte auch aus dieser geringen Entfernung nicht anders als bronzefarben. Nicht ein einziger Kratzer war zu sehen. Aber ich konnte auf unserer Seite auch kein Bullauge erkennen und keine Schleuse. »Wo ein Wille ist, gibt es auch einen Weg!« sagte ich zweifelnd. »Der Wille, in das Schiff einzudringen, ist vorhanden. Aber kein Weg, soweit ich es erkennen kann.« »Alles war umsonst!« »Aber ein gutes Training!« entgegnete ich. »Reißen Sie sich zusammen, Piano Lyall. Versuchen wir, die andere Seite und die beiden Pole des elliptischen Dinges zu erreichen.« Langsam turnten wir mit akrobatischen Verrenkungen um das Schiff herum. Wir erkannten, daß es zu einem Zeitpunkt abgestürzt, gelandet oder notgelandet sein mußte, als diese Fäden noch frisch und elastisch gewesen waren. Es hatte, aus dem Himmel kommend, einen dünnen Kanal in das Gespinst gerissen und war nach etwas mehr als einem Meter zum Stillstand gekommen. Die Fäden, die es aufgefangen hatten, waren zerrissen, nachdem sie die Fallenergie geschluckt hatten. Ein Großteil der Verspannungen hatte sich wie ein Netz vor einen der »Pole« gelegt und das Schiff sanft und ruhig aufgefangen. Seit unbekannter Zeit lag es in einer Art Nest oder Hängematte und wartete. Worauf? Oder auf wen? Sicher nicht auf Stanzo Peysen, dachte ich grimmig. Aber noch immer hatten wir keinen Eingang, keine Schleusenumrandung gefunden. Das Feld der Beeinflussung, das wir Siganesen ebenso, wenn auch nicht so ausgeprägt wie die Terraner spürten, galt hier in unmittelbarer Nähe nicht mehr. »Verdammt! Alles war völlig umsonst!« krächzte Lyall. »Niemals ist etwas umsonst. Wir wissen jetzt wenigstens, daß wir nicht in die Schiffe der Flotte eindringen können. Wir nicht!«
Hans Kneifel sagte ich. Auch ich hatte mir etwas anderes vorgestellt. Wir beendeten unsere Klettertour und hatten jetzt die gesamte Oberfläche des Schiffes gesehen. Ausgenommen die Stellen, an denen sich Fäden dicht über die glänzende Oberfläche spannten, hatten wir sogar mit den bloßen Fingerspitzen die Außenhülle berührt und abgetastet. Nichts! »Jetzt können Sie meinetwegen Peysen rufen und ihm von unserem Mißerfolg berichten. Schließlich haben Sie die weitaus angenehmere Stimme!« sagte ich und setzte mich auf einen breiten Faden. Ich baumelte mit den Beinen und fühlte mich gar nicht so schlecht. »Sie sind so verdammt sarkastisch. Was haben Sie eigentlich gegen mich?« fragte Lyall aufgebracht. Ich sah ruhig in sein wütendes Gesicht und antwortete: »Ich habe nichts gegen Sie. Allerdings habe ich auch nicht viel für Sie, Lyall!« Er schüttelte den Kopf und zog dann das Funkgerät aus der Brusttasche. Ich hörte deutlich, wie Peysen zu fluchen begann. Sehr interessant. Er kannte ein paar Sequenzen, die nicht einmal ich in meinem Wortschatz hatte, und in dieser Beziehung hatte ich niemals Schwierigkeiten bei der Wortfindung gehabt. »Kommen Sie zurück!« sagte Peysen scharf. »Wir werden Sie an der alten Stelle abholen.« Ich griff nach dem Funkgerät und sagte: »Keine Chance, Sir! Wir werden auf der Strecke übernachten müssen. Morgen vor Mittag dürfen Sie uns an dem betreffenden Baum abholen.« »Gut. Meinetwegen. Keinen Fluchtversuch!« Ich lachte hohl. »Wohin sollte ich flüchten, Peysen? Zu Fuß zurück zum Raumschiff? Das wäre eine Odyssee von einigen Jahren. Sie wissen, daß ich von Ihnen abhängig bin.« Er lachte kalt. »Hoffentlich wissen Sie das auch.« »Sehr wohl!« bestätigte ich und schaltete das Gerät ab.
Die Flotte der Glücksbringer Dann deutete ich nach unten und zuckte mit den Schultern. »Das wird nicht der letzte Weg durch diesen Koorbstasdschungel sein, lieber Partner!« sagte ich. Er murmelte dumpf: »Davon bin ich leider auch überzeugt. Und dann werden wir den Weg auch noch mit den Kindern im Schlepp machen müssen. Darauf freue ich mich schon besonders!« Ich grinste ihn an und begann, den Weg nach unten einzuschlagen. Wir sollten vor Anbruch der Nacht wenigstens dort angekommen sein, wo die Strickleiter befestigt war. Diese Strecke ließ sich schaffen, ohne daß wir vor Erschöpfung zusammenbrachen. »Mitgegangen, mitgehangen!« meinte ich. »Die spätere Macht und der gewaltige Reichtum wird Sie für jede einzelne Strapaze maßlos entschädigen.« »Ich hoffe es.« Wir erreichten die Stelle, knüpften unsere Hängematten in das Gespinst und aßen einiges aus den Vorräten. Wir schliefen bald ein und erwachten erst, als die Morgensonne fahl durch die dicken Nebel leuchtete und vom anderen Ende der Lichtung die helle Stimme des Mädchens an unsere Ohren drang. Dann gingen wir an das letzte Stück der Klettertour. Die Seile und Leitern ließen wir zurück.
* Das Warten auf die zweite Gruppe war nervenaufreibend. Jene unirdische Ruhe, das Fehlen jeglicher Geräusche und Bewegungen außer denen, die wir verursachten, zerrte an den Nerven und stellte die Geduld aller Teilnehmer auf eine harte Probe. Die Terraner versuchten, die verstreichenden drei Tage einigermaßen sinnvoll zu verbringen, und Piano Lyall half ihnen dabei. Zunächst versuchten sie festzustellen, wie nahe man einem Schiff kommen konnte, ohne es durch die Annäherung zu zerstören.
15 Auf dem Weg zu der Lichtung, auf der wir warteten, waren wir an insgesamt drei Schiffen vorbeigekommen. Der Mindestabstand der Terraner hatte etwa zweihundert Dezimeter betragen. Das war ein Richtmaß, wenigstens für Geller, der den Versuch unternahm. Er suchte sich ein viertes Schiffchen aus, das hinter dicken, erstarrten Fäden und schenkelstarken Barrieren des Geflechtes verborgen hing. »Immerhin«, rief Geller über die Schulter zurück, als er sich ganz langsam an den leuchtenden Körper herantastete, »können wir annehmen, daß einige der Schiffe einfach ausgefallen sind. Energetisch tot!« »In Ordnung! Das glauben wir auch!« rief Peysen vom anderen Ende der Lichtung zurück. Ich lag in einer Hängematte, die ich aus feinen Grashalmen geflochten hatte, und sah zu. Selbst wenn das Schiff detonierte, der Explosionsdruck würde mich nicht treffen. Auch nicht die anderen Terraner, denn sie verbargen sich in der Deckung. Wieder machte Geller einen Schritt. »Nichts! Sieben Meter!« sagte er. Wir warteten in aufgeregter Spannung. Geller war keineswegs feige, obwohl man ihn mit langen und kurzen Holzstückchen ausgelost hatte. Er holte hörbar Luft und setzte wieder einen Fuß vor den anderen. »Sechseinhalb!« schrie er. Die Totenstille wurde nicht einmal durch unsere Atemzüge unterbrochen. Die Ruhe lag über der Lichtung wie ein weißes Leichentuch. Ich spähte zwischen den dicken Verstrebungen hindurch und sah den Rücken der Terraner, etwa dreißig Meter von mir entfernt. »Sechs!« Plötzlich, als habe er es geahnt, warf sich Geller zu Boden. Es war ein reiner Reflex, aus der Angst geboren, aber er rettete ihm das Leben. Aus der Richtung des Schiffes ertönte ein kurzes, peitschendes Fauchen, und ein dünner, sonnenheller Strahl schmolz dort das Gespinst, wo sich eben noch Gellers Kopf befunden hatte. In rasender Eile robbte
16 Geller zurück und sprang dann auf. Er hastete über die Lichtung, stürzte zweimal und blieb dann stehen, an allen Gliedern zitternd. Aus seiner Kehle kam ein heiseres Krächzen. »Sechs Meter …«, stotterte er. »Das Schiff … es hätte mich beinahe getötet!« Peysen stand auf und ging Geller langsam entgegen. »Wir danken Ihnen«, sagte er kurz. »Jetzt wissen wir, daß wir auf keinen Fall näher als sechs Meter herangehen dürfen.« Offensichtlich waren die anderen Schiffe zu alt und nicht mehr in der Lage gewesen, sich gegen einen Angreifer zu wehren. Dieses Schiff jedoch nicht. Geller stolperte und taumelte über die Lichtung und ließ sich schwer auf ein zersplittertes Stück aus dem glasartigen Labyrinth fallen. »Wir sind alle verrückt!« stöhnte er. Seine Kleidung war an einigen Stellen zerrissen. Es würden nicht die einzigen Verluste bleiben. Ich beugte mich aus der Matte, um besser sehen und hören zu können, was die Terraner in der nächsten Zeit versuchen wollten. »Niemand ist verrückt!« gab Peysen schroff zurück. »Sie wissen genau, daß dieser Versuch für uns alle lebenswichtig ist.« »Besonders für mich! Er war beinahe tödlich!« sagte Geller erschüttert und wischte sich zugleich mit dem Schweiß den Staub aus dem Gesicht. Es war heute womöglich noch heißer und schwüler als gestern. Ich wedelte mir mit einem großen Blatt Luft zu. Afruth Schwartz stand auf und ging mit einem Becher voll heißen Tee hinüber zu Glow Geller. »Hier. Trinken Sie. Das wird Sie beruhigen!« Glow blickte auf, starrte in ihre kühlen, ausdruckslosen Augen und nickte bedächtig. »Danke. Ich bin nicht beunruhigt. Ich bin nur zu Tode erschrocken.« Er stürzte den heißen Tee herunter, als ob es kühles Wasser wäre. »Das ist erst der Anfang!« murmelte das Mädchen. »Warten Sie nur, bis die Sigane-
Hans Kneifel sen kommen.« »Und die Kinder!« meinte Borodkin. »Die Kinder, die Lieblinge unseres großen Chefs!« Die Luft war starr vor Stille, die Männer langweilten sich und rieben sich aneinander. Peysen blickte unablässig von einem der vielen Raumschiffe zum anderen. Sie hingen wie Dekorationsartikel, leuchtend und scheinbar harmlos, rings um die Lichtung in den unwirklichen Zweigen dieser größenwahnsinnigen Spinnennetze. Gerade die richtige Dekoration, dachte ich, für die kommenden Ereignisse. Jeden Augenblick konnten Marmarosa und Kotlarsly auftauchen – dann fing alles an. Vielleicht auch das Ende. Ich spuckte aus meiner Hängematte und sah zu, wie Lyall aus seinem Gepäck den kleinen Hubschrauber auspackte und zusammensetzte. Das Ding wurde von einem alten, konservativen Explosionsmotor angetrieben. »Das wird ein Spaß!« knurrte ich. Mir war nicht im entferntesten zum Spaßen zumute, denn ich dachte an die Kinder, die von den beiden Terranern hierher geschleppt wurden. Mir wurde übel, als ich den Verräter an dem klapprigen Gerät hantieren sah.
* Sie kamen in der Abenddämmerung. Privin Marmarosa und Sergei Kotlarsly, abgerissen, erschöpft und hungrig, von Schnittwunden übersät, verschmutzt und mit dem Ausdruck der Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern. Peysen sprang auf und rannte ihnen entgegen. Ich schleuderte die leere Alkoholflasche irgendwo hin und ließ mich aus der Hängematte fallen. »Endlich seid ihr hier! Wo haben Sie gesteckt? Wir haben auf Sie gewartet, Privin!« schrie er. Marmarosa winkte ab. »Oelrich ist tot!« sagte er dumpf. »Die Funkgeräte gingen verloren, eines nach dem anderen. Wir haben nur die siganesische Ausrüstung übrig.« Langsam trotteten sie in das Zentrum des
Die Flotte der Glücksbringer kleinen, provisorischen Lagers, das im wesentlichen aus einigen Schlafplätzen und einer annähernd runden, gesäuberten Fläche bestand, in deren Mitte das Mädchen gesammeltes Holz für das Feuer aufgeschichtet hatte. Marmarosa trat mitten in den Holzstoß und knickte in den Knien ein. »Hier sind die Kinder!« sagte er. »Zwei Kinder … tot!« Ich erstarrte. Ich fühlte, wie die kalte Wut in mir hochstieg. Verdammte Verbrecher! Die Kinder waren durch die Hypnoschulungen nicht nur frühzeitig intelligent und wissend geworden, so wie es Peysen vorgehabt hatte. Sie waren vermutlich für ihr ganzes Leben verdorben worden. Wie konnte man einem Kind zumuten, Raumfahrttechnik zu lernen, wenn es nicht einmal richtig schreiben gelernt hatte? Wie konnte man das Kind mit den Erkenntnissen der Mikrotechnik belästigen, wenn es noch mit anderen Kindern spielte? Es waren Kinder dem Aussehen nach, aber innerlich waren sie nicht mehr jung! Ich knirschte mit den Zähnen, aber noch sah ich nicht eine einzige Chance, eingreifen zu können. Verdammter Peysen! »Tot? Was ist passiert?« Kotlarsly, der alte Raumfahrer mit dem verhärmten Gesicht, das durch verkrustete Wunden und einen wuchernden Bart entstellt war, setzte vorsichtig den Behälter ab, in dem er die beiden Siganesen Tanzon und Kessel und die Kinder mit ihrer Ausrüstung getragen hatte. »Wir wurden angegriffen. Als wir uns wehrten, blieb der Behälter einige Zeit unbeaufsichtigt. Wir …« Er erging sich lamentierend über das Schicksal, das sie auf dem langen Weg heimgesucht hatte. »Nehmen Sie sich zusammen, Mann!« brüllte Stanzo Peysen. »Sie haben genau gewußt, daß es kein Ausflug wird. Oelrich ist also tot, ja?« »Ja. Er ertrank in diesem stinkenden Morast, an dem sie vorbeikamen. Er wurde von den Spinnen mitgezerrt, als er sich in dem Gespinst verfangen hatte.«
17 »Ich verstehe!« Die beiden Männer ließen sich auf die Decke fallen und von dem Mädchen versorgen. Die Terraner waren vergleichsweise gut ausgerüstet, und ich machte mich in der Verwirrung daran, meinen Platz zu verlassen und mich der Tragetasche mit den harten Wänden zu nähern, in denen acht Kinder waren und zwei erwachsene Siganesen. Ich sah die Zerstörungen, die von den Klauen der Koorbstas herrührten; als ich vor der Tasche stand, öffnete sich die Klappe, und der Genforscher Jon Tanzon kam hervor. Er sah ziemlich mitgenommen aus, obwohl wir im Gegensatz zu den Terranern ein geradezu luxuriöses Leben führten. »Sie leben auch noch!« begrüßte er mich knapp. »Wie geht es den Kindern?« fragte ich. Er zuckte abschätzend die Schultern und gab mürrisch zur Antwort: »Inzwischen haben sie sich wieder beruhigt. Sie sind ziemlich willenlos geworden, wissen Sie! Während der Hypnoschulung hat sich dieser Effekt eingestellt.« Ich betrachtete Tanzon prüfend. Noch immer wußte ich nicht, ob er so bedingungslos auf der Seite Peysens stand, daß er die Verbrechen an den Kindern tolerierte oder gar billigte. Auf alle Fälle schien er ein wenig mehr Verantwortungsgefühl zu besitzen als die anderen. »Der Effekt ist von Peysen zweifellos beabsichtigt!« sagte ich. »Dann hat er willige Marionetten, die ihm aufs Wort gehorchen. Aber es gibt wohl keine andere Möglichkeit!« Tanzon warf mir einen nachdenklichen Blick zu, dann runzelte er die Stirn. »Wollen Sie sich überzeugen, daß die Kleinen gut untergebracht sind?« fragte er. Offenbar traute er mir auch nicht. »Meinetwegen!« sagte ich und zuckte die Schultern. »Sie werden die Kinder begleiten müssen«, sagte Tanzon. »Peysen hat es so angeordnet.« Ich nickte.
18 »Mir ist es recht. Mein Ziel deckt sich völlig mit den Wünschen von uns allen. Hinein in die Schiffe und dann den Reichtum kassieren. Allerdings weiß auch Peysen nicht genau, wie er seinen neuen Besitz in Geld oder Einfluß ummünzen soll!« Wir sahen uns an, dann trat Jon zur Seite. Ich blickte auf die breite Treppe, die im Innern der Tragetasche nach oben führte. Hinter uns hörten wir die Stimmen der Terraner. Die beiden erschöpften Männer stammelten Mitteilungen über ihre Erlebnisse. Sie schienen nicht besser oder schlechter vorangekommen zu sein als wir; schließlich waren sowohl Penty Grasor als auch Oren Kubaschk umgekommen. »Wo ist der Mechaniker?« »Er kümmert sich um die Klimaanlage!« sagte Jon. »Gehen Sie ruhig hinauf. Wie geht es Piano?« Ich grinste. »Er bastelt gerade an seinem idiotischen Flugmechanismus.« Brennende Sorge erfüllte mich. Was würde ich finden? Acht Kinder, darunter hoffentlich auch Saggelor Oggian, zu dem ich immerhin ein gewisses Verhältnis besaß. Kinder, die keine Kinder mehr waren, sondern blöd herumsaßen und in ihren Köpfen unverdauliches und nicht reflektiertes Wissen haufenweise mit sich trugen? Ich stieg langsam die Treppe hinauf und registrierte, daß es hier innen wunderbar kühl war. Schließlich sah ich Saggelor. Er hockte in seiner Kabine. Er lehnte gegen die Wand und hatte vor sich einen Lese oder Bildwürfel. Die bunten Farben der leuchtenden Seite spiegelten sich in seinen Augen und huschten über sein Gesicht. »Saggelor!« sagte ich und hielt mich am Rahmen der Sicherheitstür fest. Er blickte auf. »Ja?« »Kennst du mich noch?« Er lächelte kaum wahrnehmbar, dann glitt ein Schimmer des Erkennens über sein Gesicht. »Ja, ich erkenne dich!«
Hans Kneifel »Gut. Wie geht es dir. Ich bin dein Freund, das weißt du!« Er schaltete den Bildwürfel ab und zog die Knie ans Kinn heran. Und dann sagte er zu meiner Überraschung: »Du bist der Mann, der Peysen nicht mag. Ich mag ihn auch nicht.« Vielleicht ergab das einen Hebel. Ich wußte, wie unsagbar schwer es war, eine Hypnose zu neutralisieren oder in einigen Punkten sogar außer Kraft zu setzen. Aber hier mußte ich ansetzen. Ich mußte annehmen, daß sich in den kleinen Zimmern Abhöranlagen oder Kontrollsysteme befanden, also erwiderte ich: »Ich mag Peysen nicht, aber ich helfe ihm. Du hilfst ihm auch. Morgen werden wir zusammen ein Schiff betreten!« »Ein Schiff?« Seine Augen leuchteten auf. Er sprang von der Liege, an der die breiten, gefütterten Bänder herunterhingen. Der Bildwürfel kollerte über den weichen Boden. Ich hob ihn auf. Auf dem Würfel war, in künstlerischvereinfachter Form, eine Lichtung abgebildet, die zufällig dieser Lichtung hier glich. »Zeigst du mir, wie es draußen aussieht?« fragte Saggelor und hüpfte auf mich zu. Ich griff nach seiner Hand. »Natürlich. Was willst du sehen?« Er strahlte mich an. Plötzlich benahm er sich wieder wie ein Kind. »Gehen wir!« sagte ich. »Gehen wir nach draußen!« »Wirst du mir die Schiffe zeigen?« Ich schluckte. »Ja, natürlich, Saggelor!« erwiderte ich heiser.
3. Ich weiß nicht, wie wichtig ich bin, aber auf alle Falle werde ich mir von der goldenen Scheibe Peysens ein breites Stück herausschneiden. Ich schwitzte, und meine Fingerknöchel waren aufgeschrammt. Der Schweiß biß in den Wunden und Schnitten. Vor mir, auf einem breiten Ast dieses ver-
Die Flotte der Glücksbringer rückten Wirrwarrs, stand die Maschine. Sauber aufgereiht neben ihr die kleinen Treibstofftanks. Auch sie strömten einen Gestank aus, der mich halb besinnungslos machte. Weit unter mir befand sich dieses vorzügliche tragfähige Hotel, in dem Peysen die Kinder aufbewahrte. Was sollen die Kinder angesichts eines Raumschiffs, das nicht einmal eine Schleuse hat? Jedenfalls arbeitete ich weiter. Eben hatte mir Stanzo Peysen, dieser arrogante, autoritäre Terraner, den Befehl gegeben, den Apparat bis morgen früh klar zu haben. Ich werde die halbe Nacht weiterarbeiten müssen. Morgen früh! Ich warf wieder einen Blick nach unten. Dort ging jetzt Schätzo vorsichtig mit einem Kind an der Hand auf einer der untersten Spinnennetzbahnen entlang. Er deutete nach rechts und links und nach oben. Vermutlich zeigte er dem Bengel die verwünschten Schiffchen. Mir tun noch heute sämtliche Muskeln von der blöden Kletterei weh. Ich überhörte das Summen dreimal. Dann, als der Schraubenschlüssel nicht mehr quietschte, hörte ich das Funkgerät. Ich drückte mit einem ölschmierigen Finger die Taste. »Hier Piano!« meldete ich mich. »Jon Tanzon hier. Wie weit sind Sie mit der Maschine?« Seine Stimme war frostig. Vermutlich bildeten sich hier alle ein, Siganesen wie Terraner, sie könnten mit mir umgehen wie mit einem schmutzigen Mechaniker. »Geht Sie das was an, Jon?« fragte ich. »Ihr Tonfall paßt mir nicht!« Er hüstelte, dann schwieg er einige Sekunden. Endlich erwiderte er voller Überraschung: »Warum sind Sie eigentlich so wütend? Ich kann nichts dafür, daß es hier so heiß ist.« Ich brüllte zurück: »Sie sitzen die ganze Zeit in diesem klimatisierten Hotel und lassen es sich gut ge-
19 hen, und ich schufte hier an diesem museumsreifen Ding herum, nur weil wir keine Energieantriebe verwenden können. Kommen Sie doch herauf und helfen Sie mir!« »Später gern. Jetzt noch nicht. Ich muß erst die Lage feststellen und mit Peysen sprechen. Wie weit sind Sie?« »Fast für den ersten Versuch bereit!« erwiderte ich. »Sagen Sie das Peysen, wenn Sie ihn treffen!« Tanzon lachte. Seine Nerven waren nicht so angegriffen wie unsere. »Ich werde es ausrichten!« meinte er und trennte die Verbindung. Ich griff wieder nach dem Werkzeug und zog die Muttern auf der Seite an, auf der ich mich bewegte. Es war ein unglaublich primitiver Zweimann-Helikopter, der nur aus einem Motor, den Rotoren, zwei Sitzen und einem Haufen Gestänge bestand, das mit komplizierten Schellen miteinander verbunden werden mußte. Alles wog nicht viel mehr als zwei Siganesen, und der kleine Explosionsmotor sah recht vertrauenswürdig aus. Was meine Arbeit betraf, so hatte ich ein sehr gutes Gefühl. Als hundertfünfzig Jahre alter Raumfahrer lernt man, seine Fähigkeiten zu gebrauchen. Ich setzte mich in den schmalen, harten Pilotensitz und prüfte sämtliche Armaturen und Handgriffe; es waren nicht viele. Morgen würde ich den Transport der Kinder an diejenigen Stellen besorgen, die einem gefahrlosen, kurzen Aufstieg am nächsten waren. Dort setzte ich die Kinder ab, so war es ausgemacht. Ich wischte meine Hände ab, setzte mich bequemer hin und feuerte den Lappen in die unergründlichen Löcher des Labyrinths hinein. Dann winkelte ich den Arm an und drückte den Schalter. »Ich rufe Flannagan Schätzo. Melden bitte.« Flannagans rostige Stimme drang eine Sekunde später an mein Ohr. »Ich höre. Flannagan hier. Kann ich Ihnen helfen?« Ich nickte und betrachtete das Panorama
20 unter mir. Sechs Terraner saßen um den Holzstoß herum und sprachen miteinander. Zwischen ihnen balancierten Jon Tanzon und Romberg Kessel und hörten zu. »Ich soll morgen die Kinder in die Nähe der Schiffe bringen. Helfen Sie mir, einige geeignete Landeplätze auszusuchen?« »Gern. Sofort?« fragte er zurück. »In einer halben Stunde etwa. Ich hole Sie am Boden ab – vorausgesetzt, das Vehikel funktioniert!« sagte ich. Merkwürdig, Schätzos Stimme klang gar nicht mehr bissig oder angriffslustig. Hatte er sich geändert? Das konnte nicht sein. Vermutlich war er wieder betrunken, denn Angeheiterte sind meistens friedlich. »Geht in Ordnung. Ich bringe nur noch den Kleinen zurück in den Kasten«, sagte er. »Sie finden mich in der Nähe des Eingangs.« »Verstanden.« Ich blickte, während ich die Reservekanister des Helikopters auffüllte, nach unten. Flannagan Schätzo und der Junge, es schien jener Saggelor zu sein, unterhielten sich. Schätzo hatte sich niedergekauert und redete mit ernstem Gesicht auf den Kleinen ein. Ich konnte natürlich nicht verstehen, was er sagte und was der Junge erwiderte, aber in dem Gesicht des erwachsenen Siganesen leuchtete ein wahrer Eifer, eine Konzentration, die ich nur ein paarmal während des erschöpfenden Aufstiegs hatte beobachten können. Worüber sprachen sie? Ich zuckte die Schultern. Es ging mich nichts an. Wir alle waren letzten Endes Werkzeuge von Stanzo Peysen. Jetzt kam sein großer Tag, und wir halfen ihm mit wahrer Begeisterung. Ich beobachtete die Terraner. Privin Marmarosa wirkte heute noch unkonzentrierter und zerfahrener als sonst. Sein ohnehin spitzes Gesicht sah jetzt aus wie das einer Ratte. Als Hyperphysiker schien er es nicht weit gebracht zu haben, aber ich wußte, daß er sehr zäh und unnachgiebig sein konnte. In seiner zerfetzten Kleidung,
Hans Kneifel durch die an vielen Stellen die zerschrammte und verdreckte Haut leuchtete wie fahles weißes Fleisch, bot er einen jämmerlichen Anblick. Der schüttere Bart um Kinn und Mund sah geradezu abstoßend aus, aber dafür konnte Privin natürlich nichts. Aber zeit seines Lebens hatte er es sicher unerhört schwer gehabt, beliebt zu sein. »Ich bin jedenfalls froh, hier zu sein und meine Beine ausstrecken zu können!« sagte er. »Kann ich noch Tee haben?« Das Mädchen mit dem seidenweichen, langen Haar und den Augen, die so leblos wie Steine waren, hatte einen riesigen Topf voll Tee gekocht. Sie nickte Privin zu und richtete ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf Peysen, während sie einen Kunststoffbecher vollschöpfte. »Danke.« Privin trank in großen Schlucken, dann drehte er sich zur Seite und zog die Decken über seine Schultern. Peysen sprach. Er schien mit großen Gesten die Rollen zu verteilen, jedenfalls hörte ich ihn sagen: »… traue in bösen Minuten nicht einmal mir selbst. Glücklicherweise ist es so, daß wir die Flotte zuerst bergen und nach Siga oder auf eine Welt bringen müssen, ehe wir an die Verteilung gehen können. Das wird das Team bis zuletzt zusammenhalten, meine ich.« Ich zweifelte noch immer daran, daß es den Kindern, deren augenfälliger Vorteil ihre geringe Größe war, gelingen würde. Erstens gab es keine Öffnung, und die unbekannte Fernsteuerung der Schiffe lag vermutlich im Sumpf, in der Stahlinsel des PsogenerMorastes. Ich zweifelte also. Und warum hatte ich trotzdem fast vom Anfang der Aktion an mitgemacht? Vermutlich, dachte ich selbstkritisch, weil ich auf die begeisternden Reden des Terraners hereingefallen war! »Also! Ich mache weiterhin mit, ich Idiot!« sagte ich und räumte die kleinen Treibstoffkanister weg.
Die Flotte der Glücksbringer Ich betätigte das Funkgerät. »Ich möchte mit Peysen sprechen!« sagte ich. »Schaltet die Verstärker an!« Peysen unterbrach seinen Vortrag und hielt seinen Minikom ans Ohr. »Sind Sie es, Piano?« »Ja. Erschrecken Sie nicht. Ich unternehme einen Probeflug. Schließlich hängen einige Leben an diesem Gerät. Ich werde dann, wenn der Mechanismus arbeitet, mit Schätzo einige gute Landeplätze aussuchen.« »Ich bin einverstanden. Aber stürzen Sie nicht ab, Piano!« sagte er. »Hatten Sie große Schwierigkeiten?« Ich weiß nicht, woher dieses Fluggerät stammte. Wenn mir jemand erzählt hätte, es wäre aus dem Luftfahrtmuseum einer siganesischen Kleinstadt gestohlen worden, hätte es mich nicht gewundert. »Außer abgebrochenen Nägeln und einer irren Wut hatte ich keine Schwierigkeiten!« sagte ich steif. Peysen lachte. Ich konnte dieses leise, weiche Gelächter nicht mehr hören! Er hatte Glück, daß ich kein Terraner war, sonst wäre ich ihm bereits an die Gurgel gesprungen. »Wir alle werden unsere Spuren von hier mitnehmen. Selbst unsere schöne Freundin!« sagte er und lächelte sie ölig an. Sie hob nicht einmal die Brauen. »Trotzdem sollten Sie sich nicht sehr weit von Ihrem jetzigen Platz wegbewegen. Kann sein, daß ich die Kontrolle über das Gerät verliere!« »Wir haben verstanden!« Ich winkte nach unten, denn ich fühlte einige Augenpaare auf mich gerichtet. Dann betätigte ich den Anlasser. Die Batterie gab Energie an einen Motor ab, der langsam die schwere, sechsblättrige Horizontalschraube drehte. Die ersten Fehlzündungen knallten wie leise Pistolenschüsse und erzeugten über der Lichtung Echos. Dann drehte sich die Schraube schneller und schneller, erzeugte einen kühlenden Luftstrom, schließlich sprang der Motor rasselnd an. Er lief schneller der Lauf wurde ruhiger, und ich betrach-
21 tete die Uhren, die vom Öldruck bis zur Wirkungsweise der Luftkühlung alles genau zeigten. Die Werte waren zufriedenstellend. »Es scheint zu funktionieren!« hörte ich durch das hämmernde Summen der Schraube. Ich nahm den Helm, der an einem Holm festgebunden war, stülpte ihn über den Kopf und schob das Visier herunter, nachdem ich den Kinnriemen befestigt hatte. Ich schob die Hebel nach vorn, der Luftstrom und sämtliche Geräusche wurden lauter, und schließlich lösten sich die federnden Spinnenbeine von der rauhen Oberfläche des Gespinstes. Ich stieg zwanzig Zentimeter, dann schaltete ich auf Geradeausflug. Vor mir wuchsen die Gesichter Peysens und Abe Borodkins ab. Ich schwirrte dicht über sie hinweg und ging dann im relativ freien Luftraum dazu über, die Manövrierfähigkeit der Maschine zu testen. Die Steuerung gehorchte schwergängig, aber dieser primitive Apparat besaß überraschend gute Flugeigenschaften. Ich flog Kurven und Schleifen, ging tiefer und steuerte den Platz an, an dem Schätzo stand und mit erhobenem Arm winkte. Leicht federten die Beine durch, als die Dorne den Boden berührten. Schätzo kletterte gewandt an Bord und schnallte sich fest. »Bereit!« schrie ich. »Ja, los!« brüllte er zurück. Wieder startete ich. Flannagan deutete auf das Schiff, das wir vor einigen Tagen auf sehr mühsame Weise erreicht hatten. Ich verwünschte Peysen noch jetzt, daß er uns diesen Befehl erteilt hatte. Wir flogen langsam und vorsichtig etwa denselben Weg, den wir zu Fuß und unter Anstrengungen genommen hatten. Ich steuerte, und Schätzo suchte nach geeigneten Landeplätzen. Schließlich fanden wir einen, dessen Lage uns vor Tagen nicht aufgefallen war. Er lag keine fünfzig Zentimeter von dem ersten Schiff entfernt, das uns im letzten Licht des Tages höhnisch anstrahlte. »Dort können Sie morgen ein Kind absetzen!« schrie Schätzo. »Probelandung?«
22
Hans Kneifel
»Selbstverständlich.« Er schien wirklich von allen möglichen Dingen etwas zu verstehen. Die Ausbildung in dieser legendären United Stars Organisation, aus der man ihn hinausgeworfen hatte, war sicher ausgezeichnet, und er machte nicht den Eindruck, als ob er allzu viel vergessen hatte. Ich setzte zur Landung an und bugsierte den Tragflügler vorsichtig durch die Riesenlöcher und die ovalen Unterbrechungen der erhärteten Gespinstfäden. Schätzo deutete mit dem Zeigefinger nach unten. »Landen!« Der Helikopter setzte auf. Ich hob wieder ab, ließ ihn drehen und sah mit Zufriedenheit, daß selbst ein Kind den Weg bis zu »unserem« Schiff leicht zurücklegen konnte. Schätzo hob zwei Finger; der zweite Landeplatz. Ich nickte und machte Zeichen, daß insgesamt sechs Kinder den ersten Versuch unternehmen sollten. Flannagan verstand. Wie eine stählerne Libelle surrten wir aus dem Dickicht aus Fäden und Hohlräumen und sich ständig gegeneinander verschiebenden Durchlässen und Ausblicken hinaus und steuerten das zweite Schiff an. Ich wurde mutiger und ging näher heran. Wir Siganesen widerstanden der Ausstrahlung mühelos; wie das bei den Kindern sein mochte, wußten wir nicht. Und keines der sechs Schiffe, die wir anflogen, schoß seine Strahlen gegen uns ab. Ich landete wieder und berichtete das, was die Terraner nicht selbst hatten beobachten können. Schätzo verdrückte sich; vermutlich spielte er wieder mit den Kindern.
* »Aufstehen! Ich gebe euch zehn Minuten – dann fangen wir an!« Ich grinste, obwohl ich noch unausgeschlafen war. Stanzo Peysen schien sich wieder gefangen zu haben. Er stand im Mittelpunkt des unordentlichen Lagers und brüllte seine Befehle. Mürrisch gehorchten
die anderen. Marmarosa, ein kleiner Mann, dem alles weh zu tun schien, stand ächzend und stöhnend auf. »Auch Sie, Piano Lyall!« rief Peysen. »Das gilt auch für Sie! Machen Sie den Helikopter klar.« Verdammter Terraner! dachte ich. Die Nacht mit ihrer trägen, unheimlichen Stille hatte mich mehrmals schweißgebadet aufwachen lassen. Dies war wirklich ein Ort für Verbannte, aber nicht für normale, denkende Wesen. Je länger der Aufenthalt dauerte, desto mehr litten unsere Nerven. Ich wartete förmlich auf eine Schlägerei. »Geht in Ordnung, Chef!« sagte ich in das Funkgerät. Dann stand ich auf, säuberte mich flüchtig und ging wieder hinüber zum Helikopter. Ich wußte, daß heute und in den nächsten Tagen diese Maschine für unseren Erfolg eine der wichtigsten Garantien sein würde. Ich hörte gemurmelte Flüche, mehr als an jedem anderen Tag. Selbst das Mädchen fluchte, als es ihr erst beim viertenmal gelang, das Feuer anzuzünden. Unsere Wasservorräte wurden auch immer weniger. Es wurde Zeit, daß wir unsere Aufgabe beendeten. In der Ferne donnerte es. »Ich bin fertig!« sagte ich, als die Terraner bei ihrem hastigen Frühstück saßen. »Dann landen Sie vor dem Ausgang, dort, wo Sie gestern Schätzo abgeholt haben. Flannagan Schätzo wird Ihnen helfen. Außerdem bitte ich Jon Tanzon zu mir!« rief Peysen. Eine hektische Betriebsamkeit und Aufgeregtheit hatte ihn ergriffen. »Ich habe verstanden.« Kurz darauf landete die Maschine ratternd und summend vor dem tragbaren Heim der acht Kinder. Flannagan Schätzo tauchte zwischen den verschmutzten, mit Laub und dürren Gräsern verfilzten Fasern des bodennahen Geflechts auf und grinste mich an. Er roch unbeschreiblich, und ich fragte mich, aus welchem Grund er derart wasserscheu und hygienefeindlich war. »Einen bemerkenswert schönen guten
Die Flotte der Glücksbringer Morgen«, sagte er. »Heute ist wohl Ihr großer Tag.« Ich lächelte säuerlich, als ich die Maschine verließ und unter der auslaufenden Tragschraube hinwegtauchte. »Ich wußte, daß früher oder später meine Stunde kommt. Sie sollen mir helfen!« »Schon gut!« sagte er. Die Spezialtür öffnete sich. Jon Tanzon, in einen sauberen Expeditionsanzug gekleidet, kam heraus. Er sah sich um, als trete er vor großem Publikum auf. »Fangen wir schon an?« fragte er neugierig. Er war ein feiner, stiller Gelehrtentyp, der nicht in das Schema der anderen hier zu passen schien. Aber dadurch, daß er mit uns mitarbeitete, klassifizierte er sich. Schätzo und ich hatten noch etwas Selbsterkenntnis und Selbstironie übrig; er offensichtlich nicht. »Bringen Sie die Kinder!« sagte Schätzo und warf ihm einen halb angewiderten Blick zu. »Wir fangen an.« »Ich werde also sechsmal zwischen den ausgesuchten Landeplätzen und hier hin und her pendeln«, meinte ich. »Gibt es bestimmte Reihenfolgen zu beachten?« »Nein.« Die Kinder kamen die Treppe herunter. Ich kannte ihre Namen nicht oder nicht mehr, aber der erste war der Kleine, mit dem Schätzo gestern lange gesprochen hatte. Der Junge lief auf Flannagan zu und begrüßte ihn. Dann wurde er von Jon Tanzon ausgerüstet. »Du kennst das Funkgerät?« »Ja, ich drücke diesen Knopf, und dann spreche ich. Und Herr Peysen wird mir sagen, was ich zu tun habe.« »Ausgezeichnet. Du wirst merken, daß in der Nähe des Schiffes …« Während Tanzon dem Kleinen das Phänomen der Strahlung zu erklären versuchte, schnallte Schätzo Saggelor an. Er machte die Handgriffe mit der ruhigen Gewißheit eines Mannes, der sie lange geübt hatte. Sein Blick war verdrossen und scharf konzentriert. Ich wurde aus ihm nicht schlau. Die
23 Kinder waren Peysen völlig hörig – schon die Erwähnung seines Namens genügte, und sie gehorchten unbedingt. Es war schon fast Dressur. »Setzen Sie ihn vor ›unserem‹ Schiff ab, Piano!« sagte Schätzo. »Los geht's!« Ich nickte. Jon Tanzon breitete hier seine Geräte aus. Er stand, wenn der Versuch auf Touren lief, mit sechs Kindern in Verbindung und würde jede Information an Peysen und die Terraner weiterleiten. Der Startermotor winselte, die Tragschraube drehte sich, dann zog die Maschine hoch und schwirrte quer über die Lichtung auf das Schiffchen zu. Etwa dreißig Meter Entfernung … die Höhe betrug nach meinen Instrumenten sieben Meter über dem festen Grund. Die Terraner setzten sich rund um die kleine Sprechhalle. Das Mädchen räumte mit den Händen einen kleinen Helikopterlandeplatz frei, der sich zwischen den riesigen Gestalten befand. Eine Batterie Verstärker war gerade aufgebaut, als ich von meinem ersten Flug zurückkehrte. »Alles in Ordnung?« fragte mich Schätzo. Wir waren über unsere Funkgeräte in die Rundum-Kommunikation eingeschaltet. Jeder konnte hören, was der andere sagte. Die lauten Stimmen der Terraner wurden reduziert, unsere Stimmen wurden in den Mikrogeräten der Terraner verstärkt. »Ich habe diesen … Saggelor keine dreißig Zentimeter vor dem Schiff abgesetzt. Das heißt, ich habe die Maschine aufgesetzt und den Kleinen bis zur sicheren Stelle begleitet.« »Sehr gut!« warf Peysen ein. »Wie reagiert er auf die Strahlung?« Ich deutete nach drüben und hob bedauernd die Schultern. »Wie wir Erwachsenen, denke ich. Ich habe keinen Unterschied feststellen können. Aber fragen Sie ihn doch selbst.« »Richtig. Bringen Sie jetzt das nächste Kind ans Ziel.« Wieder halfen mir Schätzo und der Mechaniker Kessel, der seinen Raum verlassen
24
Hans Kneifel
hatte. Der Helikopter surrte davon, und Afruth duckte sich, weil ich ihrem Kopf ein wenig zu nahe gekommen war. Es ist immer faszinierend, wenn man als Siganese direkt in die riesigen Augen eines Terraners hineinzufliegen scheint. Sie wirken wie Scheinwerfer oder Reklametafeln. Etwa eine Stunde später hatte ich alle sechs Kinder abgesetzt und ihnen noch einmal eingeschärft, was zu tun sei, oder was sie zumindest versuchen sollten. Wir mußten mit Störungen und Pannen rechnen, denn Kinder waren unberechenbar. Aber zu diesem Zeitpunkt war das Verhängnis bereits unterwegs zu uns. Saggelor Oggian hatte es ausgelöst. Die Katastrophe näherte sich uns akustisch – zunächst.
sche Jon Tanzon bemerkt hatte, was ich mit dem Kind besprach. Ich versuchte, allem den Anschein eines freundschaftlichen Gespräches zu geben. Als das erste Kind über Funk anrief, daß etwas nicht stimmte, grinste ich innerlich. Gleichzeitig wußte ich, daß meine Arbeit Früchte getragen hatte. Was geschah dort in unmittelbarer Nähe des Schiffes, das Lyall und ich abgesucht hatten? Ich hörte atemlos den sich überschlagenden Stimmen zu, die aus den Lautsprechern drangen. Die Terraner saßen alle wie erstarrt da. Peysen war leichenfahl.
*
Alles dreht sich in meinem Kopf. Ich möchte mich hinlegen und schlafen, und am nächsten Morgen ist dann alles vergessen. »Saggelor Oggian!« hatte Tanzon gesagt, »Mister Peysen will, daß du bis zu dem Schiff gehst und dich durch die Stimmen in deinem Kopf nicht ablenken läßt.« »Ja, Tanzon!« hatte ich geantwortet. Jetzt ging ich geradeaus. Ich ging langsam, weil ich mich fürchtete. Dieses helle Schiff, das wie ein kostbares Spielzeug aussah, war vor mir. Von ihm strahlten Traurigkeit und Schrecken aus. Aber es waren keine wirklichen Schrecken, sondern nur Bilder davon in meinem Kopf. »Versuche, in das Schiffchen einzudringen. Es ist so klein, daß du hineinkannst!« »Ja, Tanzon.« Was konnte ich tun? Ich mußte Jon Tanzon oder Stanzo Peysen gehorchen. Ich ging langsam weiter, auf das Raumschiff zu. Die Umgebung sah so aus, wie ich es auf den Bildern des Lesewürfels gesehen hatte. »Sprich alles, was du siehst oder erlebst, in das Mikrophon!« »Ja, Mister Peysen!« hatte ich geantwortet. Ich kletterte langsam über die dicken Fäden. Der Weg war schwer, aber ich konnte
Flannagan Schätzo, der ehemalige USOSpezialist, dachte: Ich habe zu Saggelor Oggian guten Kontakt bekommen. Er identifiziert mich mit dem einzigen Menschen, der ihn nicht mit sinnlosen Dingen quälen will. Ich habe mit ihm über unsere Heimat Siga gesprochen. Er erinnert sich natürlich, weil die Erinnerungen dieses Kindes die einzige, noch nicht völlig abgerissene Verbindung mit der Realität sind. Ich sprach mit ihm über seine Eltern und über seinen Vater, den Peysen ermorden ließ. Die Erinnerung war hier weitaus stärker, und ich konnte während der stundenlangen Arbeit, die diese psychologischen Versuche kennzeichnete, die hypnotische Fessel Saggelors ein wenig mildern. Er wurde sich bewußt, wer er war. Ich schaffte es – so hoffte ich wenigstens –, ihm beizubringen, daß er für den Erfolg eines Mannes arbeitete, der seinen Vater hatte umbringen lassen. Für einen Mann, der daran schuld war, daß er, Saggelor, niemals so groß werden würde wie einer von uns Siganesen. Ich hoffe, daß nicht einmal der mißtraui-
4.
Die Flotte der Glücksbringer langsam und ohne viel Anstrengung die Seile überklettern. Es waren keine Seile, sie waren nicht geflochten, sie glichen nicht den Seilen, die ich kannte. Es waren andere Dinge, glatt wie ganz dicke Haare. Ich kletterte, blieb stehen und ging wieder weiter. Plötzlich hörte ich eine Stimme. Sie kam aus dem kleinen Radio neben meinem Ohr. »Saggelor! Hier spricht dein Freund Jon Tanzon. Wo bist du?« Ich mußte gehorchen. Ich hob den Kopf und sah das Raumschiff an. »Ich bin dreißig oder vierzig Schritte von dem Schiff entfernt. Wohin wird das Schiff fliegen, Jon?« sagte ich. Tanzon antwortete sofort. »Das Schiff wird nirgendwohin fliegen, Saggelor! Geh weiter, nähere dich dem Schiff und warte ab. Hast du Angst? Sendet das Schiff böse Gedanken?« »Ja!« antwortete ich. »Aber ich kann ihnen widerstehen.« Ich schloß die Augen, als ich mich bis auf wenige Zentimeter dem Schiff genähert hatte. Dieses kleine Raumschiff sendete Gedanken aus, die mich quälen sollten. Ich spürte wieder, wie sich in meinem Kopf alle Gedanken drehten. Aber ich merkte auch andere Dinge, als ich über die flach nebeneinanderliegenden Fäden ging und stolperte. »Geht es dir gut, Saggelor?« »Ja!« In der direkten Nähe des bronzen leuchtenden Schiffes, dessen Haut das Sonnenlicht widerspiegelte, spürte ich viele fremde Gedanken in meinem Kopf. Das Schiff wollte nicht, daß ich näher herankam. Aber ich wurde vom Befehl Peysens nach vorn geschoben. Also kämpften das Schiff und der große Terraner mit dem Mund eines weichen Mannes gegeneinander. Vorläufig war Peysens Befehl noch stärker. Ich ging mit langsamen, zögernden Schritten geradeaus auf das Schiff zu. Und ich spürte auch, daß sich bestimmte Dinge veränderten. Ich wußte, daß ich dem Wunsch des Schiffes nachgeben konnte. Ich wußte, daß ich dem Befehl Peysens
25 nicht unbedingt gehorchen mußte. Mit jedem kleinen Schritt wußte ich es besser und genauer. Als ich von dem glühenden Körper so wenig weit entfernt war, daß ich glaubte, es mit dem ausgestreckten Arm berühren zu können, war ich völlig benommen. »Saggelor?« Eine fremde Stimme, die für mich nicht mehr viel bedeutete. »Ja?« sagte ich leise ins Mikrophon. »Wie fühlst du dich?« Zugleich mit der Stimme eines Mannes hörte ich das Summen der Maschine, die mich hierher gebracht hatte. Vielleicht flog der andere Mann meine Kameraden, die Spielgefährten, zu anderen Schiffen. »Ich bin ganz durcheinander. Aber ich bin in der Nähe des Schiffes«, sagte ich. »Kannst du etwas sehen?« Ich öffnete die Augen und blickte das Schiff an. »Ich sehe die Wand des Schiffes. Sie leuchtet wie die Sonne!« erwiderte ich. »Kannst du das Schiff berühren?« »Gleich!« antwortete ich. Ich war jetzt sicher, daß ich nicht mehr diesem bösen Terraner gehorchen mußte. In meinen Gedanken drehten sich die Bilder in einem rasenden Wirbel. Ich wußte: Dieses Schiff lebte. Darin war jemand oder etwas, das lebte und dachte. Es schien auf mich zu warten, auf mich oder auf einen meiner Spielgefährten. Ich hörte die vielen Dinge, die Flannagan Schätzo mir erzählt hatte, aber alle seine Worte hatten keine Bedeutung für mich. Noch nicht. Ich glaubte, daß sie irgendwann sehr viel bedeuten würden. Wieder machte ich ein paar Schritte und spürte, daß der Wunsch des Schiffes, ich möge verschwinden, immer deutlicher wurde. Aber ich wußte, trotz des milchigen Nebels in meinen Gedanken, noch alle Einzelheiten, die ich in den langen Stunden und Tagen unter der Haube der hypnotischen Schulungen – wie es Tanzon genannt hatte –
26 gelernt hatte. Ich konnte mir deutlich vorstellen, wie dieses Schiff arbeitete, wie es innen aussah. Ich berührte die bronzen schimmernde Haut des Schiffes. Plötzlich: Ich gehorchte Peysen! Peysen war der Terraner, der meinen Vater hatte ermorden lassen. Peysen war dafür verantwortlich, daß ich ein Zwerg unter den Siganesen bleiben würde. Peysen war ein Verbrecher! Ich durfte Peysen nicht gehorchen … Denn das, was Stanzo Peysen von meinen Spielkameraden und mir wollte, war böse und würde nur ihm helfen. Ich schwitzte am ganzen Körper. Ich lehnte mich gegen das Schiff und atmete schnell und hastig. »Saggelor!« Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht antworten. Ich hatte das Schiff und das Schiff hatte mich berührt. Es war, als ob ich mich in die Arme von Mutter geflüchtet hatte, wenn mich Angst vor der Dunkelheit oder Schmerz überwältigt hatten. »Saggelor!« Die Stimme wurde lauter. Ich konnte nicht antworten, denn jetzt wußte ich fast alles. Ein wilder Schmerz überwältigte mich. »Saggelor! Antworte endlich! Wir warten auf deine Worte!« schrie jemand. Er war so weit entfernt wie der Geist aus einem Märchen. Ich atmete noch immer schwer. Ich wußte nicht mehr, wer ich war und wo ich war. Ganz langsam überwältigten mich der Kummer und die Einsicht, was wirklich geschehen war. In welcher Lage ich mich befand. Ich öffnete die Augen und sah mich um. Alles war still. Ich hörte nicht einmal ein Flüstern aus dem Lautsprecher. Die Hülle des Schiffes war kühl und leuchtete blendend. Ich zwinkerte. Ich spürte ganz genau, wie mich der Befehl Peysens dazu treiben wollte, etwas zu unternehmen. Aber das Schiff schob mich zurück, wollte nicht, daß ich ihm nahe kam. Aber diese beiden Befehle waren so undeutlich oder, anders ausgedrückt, so wenig interessant für mich, daß
Hans Kneifel ich sozusagen neben mir stand und zuschaute, was ich tat. Auch erlebte ich meine verwirrten eigenen Gedanken als Außenstehender mit, als ein Kind, daß neben dem wirklichen Saggelor stand. »Saggelor! Melde dich!« brüllte krachend der Lautsprecher. Ich meldete mich nicht. Ich hatte keine Lust dazu – ich mochte nicht. Ich war plötzlich viel älter, als ich Lebensjahre zählte. Ich taumelte und schlug schwer gegen die Wand des Raumschiffs. Ich spürte den Schmerz nicht, aber dann erfaßte ein drittes, ganz anderes Gefühl von mir Besitz. Es war so, als ob ich kaltes Wasser auf meine heiße Haut schüttete. Das Wasser nahm die Hitze mit sich, und die Haut wurde dadurch kühler und schließlich kalt. Das gleiche passierte hier. Die Verwirrung wich von mir! Das Schiff zog meine Traurigkeit an sich wie ein Schwamm das Wasser. Ich vergaß bewußt die Befehle Peysens. Ich litt nicht mehr unter seiner geistigen Klammer, aber während der Druck des Befehls verschwand, besaß ich noch all mein Wissen, das mir Peysen und Tanzon vermittelt hatten. Aber ich wollte nicht mehr dem Mann gehorchen, der mich von Siga entführt und meinen Vater hatte umbringen lassen. Das Schiff nahm meinen Kummer weg und gab mir die Fähigkeit zurück, selbst denken zu können. Die Stimme aus dem Lautsprecher klang jetzt zornig und wütend – und sehr laut. »Melde dich sofort, Saggelor! Ich werde dich bestrafen müssen!« Ich zuckte die Schultern und lächelte. Dann hörte ich andere Stimmen; es waren die hellen Stimmen meiner Spielkameraden, der anderen Kinder. »Saggelor wird nicht gehorchen!« rief einer. »Das Schiff hat mich fast gezwungen, zu gehorchen – aber nicht Peysen!« sagte jemand. Er wurde unterbrochen: »Wir können jetzt ganz andere Dinge denken. Unsere Köpfe summen nicht mehr!« Stanzo Peysen schrie wütend:
Die Flotte der Glücksbringer »Kommt sofort zurück! Weg von den Schiffen! Ihr werdet abgeholt! Schnell oder ich bestrafe euch furchtbar!« Er war halb wahnsinnig vor Furcht und Zorn. Wieder lächelte ich und lehnte mich fest gegen das Metall der Schiffswand. Ein wohliges, warmes Gefühl durchströmte mich. Ich badete förmlich in dem Wohlgefühl. Die fünf anderen Kinder hatten sicher dasselbe gespürt wie ich, aber offenbar gehorchten sie noch immer diesem Verbrecher Stanzo Peysen. »Wir kommen! Ich gehe dorthin, wo mich Lyall abgesetzt hat!« hörte ich. »Vorsicht! Das Schiff versucht, mich zu halten!« »Ich habe Angst! Holt mich ab! Schnell!« Ich gehorchte nicht. Ich gehorchte mir selbst. Ich wußte, daß das Schiff etwas tun würde. Es war nicht tot und seit vielen Jahren außer Funktion, denn sonst wäre es nicht in der Lage gewesen, mich zu beeinflussen. Mich kümmerte nicht, was rund um mich geschah. Der Helikopter startete wieder. Er schwirrte zwischen den unwirklichen Zweigen und den sich kreuzenden Linien der Gespinstfäden hindurch. Das Geräusch wurde lauter, schwoll noch mehr an und wurde dann wieder leiser. Er war an meinem Standort vorbeigeflogen. Die Gruppe der Terraner tobte, am lautesten gebärdete sich Peysen. Er rannte rund um den Kasten, in dem wir gewohnt hatten. Er schrie auf Tanzon ein, der seine Schaltungen vornahm und uns ununterbrochen rief. Wir sollten zurückkehren, und das schnell und sofort. Peysen suchte in seinem Gepäck nach dem Magazin der kleinen Energiewaffe, die er bisher nicht benutzt hatte. Die Waffe befand sich bereits in seiner Hand. Peysen rief ununterbrochen nach mir und schrie, er würde das Schiff abschießen, auch wenn ich dabei sterben müsse. Ich sollte mich sofort zurückziehen. Wieder hörte ich das Brummen des Heli-
27 koptermotors. »Saggelor! Die letzte Warnung! Ich schieße das Schiff ab!« Ich lehnte mich noch dichter an das Metall. Die Aufregung unter mir wuchs. Wo war Flannagan Schätzo? Er hatte fest versprochen, mir zu helfen, wo immer es ihm möglich war. Warum war er nicht hier und sagte mir, was ich zu tun hatte? Ich begann mich zu fürchten. Ich zitterte und begann plötzlich zu frieren. Die Beruhigung, die von dem Schiff ausging, konnte mir nicht mehr helfen. Es war mir, als würde mich eine kalte Hand am Rücken berühren. »Saggelor! Komm zurück! Ich schieße das Schiff in Fetzen!« Ich fürchtete mich jetzt; ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hörte wie durch einen dicken Vorhang die Maschine, deren Lärm immer lauter wurde. Piano Lyall kam, um mich abzuholen. Er würde mich zwingen, und ich konnte nicht flüchten. »Flannagan! Hilf mir … bitte!« flüsterte ich. Neben mir war plötzlich ein fremdartiges Geräusch. Ich drehte den Kopf und sah, daß in der spiegelnd glatten Fläche sich ein Kreis gebildet hatte. Das Metall innerhalb des Kreises drehte sich sehr schnell. Ich stellte es fest, als ich mit der Handfläche darauf faßte. Ich sah, wie der Helikopter mit Lyall am Steuer sich näherte. Er kam sehr schnell näher, geradewegs auf mich zu. Dann sah ich das feine Gewinde im Metall der Hülle. Mit einem letzten, kreischenden Geräusch drehte sich die Luke auf und klappte nach innen. Ich spürte mit einer großen Heftigkeit den deutlichen Wunsch des Schiffes, mich in Sicherheit zu bringen. Ich drehte mich schnell um. Meine Hände griffen in die feinen Fäden des harten Spinnwebmaterials und zogen den Körper daran hoch. Ich strengte mich an, und das schwirrende, knatternde Fluggeräusch trieb mich an. Dann spürte ich einen kühlen Hauch Luft, die nach Dingen roch, die ich nicht
28
Hans Kneifel
kannte. Wie ein Museum! dachte ich, als meine Knie über die Rillen und Vertiefungen des Gewindes schrammten. Noch bevor ich den kleinen, hell erleuchteten Raum hinter dem Durchlaß erreicht hatte, ertönte wieder das winselnde Geräusch. Ich warf mich nach vorn und landete schmerzhaft auf den Knien und Ellenbogen. Über meinem Kopf schwangen ein massives Gelenk und ein Drehmechanismus herum. Die Schleusenplatte drehte sich rasend schnell. Die beiden Gewinde faßten, und das Schiff verschloß sich wieder. Gerettet! dachte ich. Zuerst hörte ich das Geräusch des Helikopters nicht mehr, und dann, als das schleifende Geräusch aufgehört hatte, gab es nur die Stille des Schiffes. Ich richtete mich langsam auf und drehte mich langsam um. Wo war ich? Die Schleuse war gerade genügend groß gewesen, um mich bequem hindurchzulassen. Das Schiff schien für einen Raumfahrer gebaut worden zu sein, der meine Größe hatte oder gar noch kleiner war. Vor mir breitete sich eine halbrunde, raumhohe Wand aus. Sie ähnelte in gewisser Weise dem Material, aus dem der gefährliche Märchenwald dort draußen, in der gefährlichen Umgebung, bestand. Milchig und glasartig. Als ich das feine, durchbrochene Muster berührte und mit dem Verschluß des Jackenärmels anschlug, ertönte ein glockenähnlicher Laut. Ich war gerettet – aber was geschah draußen?
* Peysen hatte den Arm erhoben. In seiner rechten Hand schimmerte das blaue Metall der kleinen Energiewaffe im Sonnenlicht. Der nadelfeine Projektor zielte genau auf das kleine Schiff, das jenseits der freien Fläche im geschwungenen Geäst hing und leuchtete. »Sie werden uns alle umbringen, Peysen!« sagte Afruth Schwartz mit schneiden-
der Schärfe. »Das ist mir gleich! Dieser Kretin! Dieser siganesische Wurm!« Flannagan Schätzos Stimme drang, von den Verstärkern mehrfach lauter gemacht, aus den kleinen akustischen Anlagen. »Und überdies vernichten Sie Ihre eigenen Chancen, die Flotte zu bergen. Sie lassen sich zu unbesonnener Betrachtung des Problems hinreißen, Stanzo!« Das Handgelenk Peysens bewegte sich zögernd. Der Lauf senkte sich. »Sie haben vielleicht recht!« murmelte Peysen düster. Stanzo sah alle seine Pläne gefährdet. Fünf Kinder hatten seinem Befehl gehorcht. Schnell und widerspruchslos hatten sie seinen letzten Befehl befolgt, so wie er es angenommen, wie er es sich ausgerechnet hatte. Nur Saggelor Oggian nicht! Was war geschehen? Er wußte es noch nicht genau, aber jetzt hörte er in seinem winzigen Gerät in der Ohrmuschel die Stimme des Helikopterpiloten. »Peysen!« schrie Lyall. »Es ist etwas Irrsinniges passiert!« Mit unheildrohender Stimme erwiderte Stanzo: »Berichten Sie! Schnell!« »Das Schiff hat sich geöffnet. Eine winzige Luke an einer Stelle, die Schätzo und ich vor Tagen genau kontrolliert haben. Der Junge ist hineingekrochen und verschwunden …« »Warum sind Sie ihm nicht nachgerannt?« Der Hubschrauber surrte gefährlich nahe an Gellers Kopf vorbei und landete neben der Gruppe der fünf Kinder, die rund um Tanzon standen. »Weil sich die Schleuse geschlossen hatte, ehe ich aufsetzte. Ich konnte den Sitz nicht mehr verlassen, da war der Kleine bereits verschwunden.« »Verdammt!« sagte Peysen. Seine Stimme versagte. Das Mädchen sagte schroff:
Die Flotte der Glücksbringer »Wenn Sie schießen, stirbt der Junge, weil das Schiff explodiert. Das ist ziemlich sicher. Aber die Gefahr, daß dann alle anderen Schiffe in die Luft gehen, ist sehr groß. Vielleicht Tausende von Schiffchen. Der Traum von Reichtum und Macht würde für uns alle hier enden!« Peysen stierte sie düster an und brachte dann krächzend hervor: »Sie haben recht. Ich werde nicht schießen. Aber die Frage ist nur, was wir unternehmen können.« »Nicht viel!« sagte Schätzo. Peysen wirbelte herum und blickte zur Gruppe neben dem Tragebehälter der Siganesen hinunter. »Schätzo?« »Ja, Mister Peysen. Wir können nicht viel tun. Wir haben aber inzwischen die Gewähr, daß die Schiffe intakt sind. Oder wenigstens ein Großteil von ihnen.« »Das ist richtig!« knurrte Marmarosa und kratzte sich auf dem Rücken. »Das ist verdammt richtig.« »Ein Terraner kann sicher nicht viel gegen diese veränderte Situation tun!« warf Flannagan zu. Eile schien geboten zu sein. Eine wilde Freude erfüllt ihn, weil er wußte, daß seine harte psychologische Arbeit Früchte getragen hatte. Andererseits fürchtete er um das Leben des Kindes und um die letzten, undeutlichen Chancen, der gesamten Entwicklung doch noch eine andere Wendung zu geben. »Aber ein Siganese, meinen Sie?« bellte Peysen zurück. »Vielleicht!« Flannagan Schätzo schien viel zu ruhig für diese knisternde, angespannte Situation zu sein. Woher bezog der kleine Mann mit der grünen Haut und dem ungepflegten Aussehen die Ruhe oder den Mut? »Vielleicht auch sogar Sie, Schätzo?« schrie Peysen. Schätzo gab ruhig zur Antwort: »Vielleicht auch ich, ja. Sie sollten die Chance nicht verschenken. Ich habe einen
29 Plan.« Alle Gesichter drehten sich in seine Richtung. »Lassen Sie hören!« Niemand bewegte sich, und die Stille, diese unnatürliche, drohende Ruhe, nahm wieder von der Lichtung und der näheren Umgebung Besitz. Flannagan wartete genügend lange, bis die Spannung einen höheren Wert erreicht hatte. Dann erwiderte er: »Sie wissen, daß die dicksten Stränge des Geflechts der Explosion eines einzelnen Schiffes unter Umständen widerstehen?« »Ja, wahrscheinlich!« Sie alle hatten die Überreste gesehen, die ausgebrannten und verschmorten Löcher im Gespinst. Vielleicht konnte man ein einzelnes Schiff sprengen oder veranlassen, daß es sich selbst sprengte. Vielleicht. »Wie wollen Sie das schaffen?« fragte Peysen etwas ruhiger. Flannagan schaute angestrengt die auslaufende Horizontalschraube des Helikopters an und biß auf seine Unterlippe. »Ein ganz einfacher Versuch. Ich werde Steine schleudern.« »Bemerkenswert!« rief das Mädchen. »Ausgesprochen bemerkenswert.« Schätzo breitete die Arme aus und sagte laut: »Wenn ich einen großen Stein auf das Schiff schleudere und mich nach dem Wurf hinter einem sehr dicken Stück Gespinst verberge, dann ist die Chance am größten. Die Erschütterung wird das Schiff in die Luft jagen, und den ungehorsamen Jungen mit ihm. Ich werde vielleicht vom Explosionsdruck ein wenig mitgenommen, aber ich werde dabei nicht sterben. Allerdings sollten Sie sich bald entscheiden, denn in der Zwischenzeit ist der Junge im Schiff allein.« Abe Borodkin warf ein: »Und zwar schon eine ziemlich lange Zeit, Sir!« Peysen deutete auf Flannagan Schätzo und dann auf Lyall. »Nehmt Steine mit und fliegt dort hinauf. Und macht das verdammte Schiff kaputt!«
30 »In Ordnung!« sagte Lyall trocken. »Hier sind Steine!« meinte Tanzon und deutete schräg nach vorn. Schätzo bückte sich und sammelte etwa ein Dutzend Kiesel auf, die größer waren als sein Kopf. Zusammen mit Lyall trugen sie die Steine hinüber zum Helikopter und verstauten sie zwischen den Sitzen und dem Gestänge. Dann startete die kleine Maschine wieder. Alle starrten ihr nach, als sie hinüber zum ersten Schiff summte und knatterte. »Haben Sie tatsächlich vor, das Schiff mit Steinen zu bombardieren?« schrie Lyall durch den Lärm des Motors. »Ja!« Schätzo wollte sich dem Schiff nähern, aber gleichzeitig verhindern, daß dem Jungen etwas passierte. Er wußte, daß Lyall richtig berichtet hatte; es war überraschend, aber es mußte so gewesen sein. Natürlich konnte es trotz seiner wohlmeinenden Absichten zu einer Explosion kommen, aber er würde sichergehen und Lyall mit seiner Maschine wegschicken. Er schüttelte sich, denn sein Unbehagen hatte einen Höhepunkt erreicht. »Soll ich wieder dort landen, wo …?« Schätzo blickte zum Piloten hinüber und nickte bestätigend. Die Maschine flog im Zickzack an den Leitern und Seilen vorbei, umrundete eine gedrechselt aussehende Säule aus Gespinst und schwebte schräg auf den »Landeplatz« ein. Sofort sprang Schätzo aus dem Sitz und warf nacheinander die Steine auf einen kleinen Haufen. »Hauen Sie ab! Schnell! Oder wollen Sie mit Ihrem Vehikel in die Luft fliegen?« schrie er. Der Wind, den die Tragschraube verursachte, riß und zerrte an seinen Haaren und seiner Kleidung. »Ist das Ihr Ernst?« brüllte der Pilot zurück. »Völlig! Machen Sie schon!« Zwischen dem Augenblick, als der Junge in das Schiff geflüchtet war, und dem Moment, an dem sich die Schraube wieder schneller zu drehen begann und die Maschine in die Luft zerrte, waren etwa dreißig Mi-
Hans Kneifel nuten vergangen. Eher einige Zeit mehr, schätzte Flannagan. Er warf dem davonschwirrenden Helikopter einen kurzen Blick nach und murmelte: »So habe ich wenigstens keine Zeugen!« Er nahm einen Stein, stemmte ihn hoch und suchte sich ein Ziel aus. Dann schleuderte er den annähernd kopfgroßen Brocken davon. Der Kiesel segelte, sich drehend und überschlagend, durch die Luft und prallte mit einem dröhnenden Ton an eine massive Verbindung von Strängen und Fäden, einige terranische Handbreit vom Schiff entfernt. Harmlos und im Zickzack fiel der Stein zwischen den Fäden zu Boden und verursachte Geräusche, die hoffentlich auch die Terraner hörten. »Und jetzt, näher an das Schiff heran!« sagte sich Schätzo. Er schleuderte noch vier oder fünf Steine in verschiedene Richtungen und bewegte sich langsam auf das Schiff zu, einen letzten Kiesel in den Händen. Jetzt rechnete er nicht mehr damit, daß sich das Schiff wehren würde, aber ihn erfüllte eine harte, kalte Spannung. Alle seine Nerven waren im Aufruhr; er fand sich in der veränderten Lage nicht mehr zurecht, denn er kannte weder die Absichten dieser rätselhaften Mechanismen noch die Situation, in der sich das Kind befand. »Verdammt!« murmelte er und starrte das Schiff an. Von einer Luke oder Schleuse war nichts mehr zu erkennen. »Was soll ich tun?« Er setzte sich, nachdem er den Stein hatte fallen lassen, auf einen Faden und blickte das Schiff an, als könne er die glänzende Metallhaut mit seinen Augen durchdringen. Es war nahezu Mittag, und die Hitze machte ihm zu schaffen. Er hörte in seinem Funkgerät die leise, angespannte Unterhaltung der Terraner und der wenigen anderen Siganesen und dachte nach. Kurze Zeit später hörte er ein schleifendes, heulendes Geräusch, als ob sich Metall an Metall reiben würde. Er sprang auf.
Die Flotte der Glücksbringer In der glatten, scheinbar nahtlosen Fläche des Schiffes öffnete sich ein kreisrunder Ausschnitt. Das Innere des Ausschnitts drehte sich nach innen wie ein Verschlußkorken. Sekunden später sah Schätzo das Gesicht des Kindes in der Öffnung. »Aber … Saggelor …«, keuchte er erschrocken auf. Es war nicht mehr das Gesicht eines Kindes. Es war ein kindliches Gesicht, aber das Antlitz war auf eine Weise gereift und älter, wissender, die Schätzo für sich nicht beschreiben konnte. Sie starrten sich schweigend an: das Kind und der verwahrloste Mann.
5. Noch immer war ich Saggelor Oggian. Als ich um die Wand – »Filigranarbeit« nannte man diese Technik, das wußte ich von meiner hypnotischen Ausbildung – herumging, befand ich mich in einer absolut fremden Welt. Ich hatte noch niemals von einer solchen Umgebung geträumt. Sie war phantastischer als alle Bilder, die ich in meinem ganzen kurzen Leben gesehen hatte. »Hallo! Ich bin … hier!« sagte ich. Meine Stimme wurde immer leiser. Niemand antwortete mir, aber ich fühlte deutlich, wie meine Gedanken langsam mit den Gedanken des Schiffes verschmolzen. Die Verschmelzung war so innig, als ob man aufgelöste Farbe in Wasser schüttet, das sofort die Farbe annimmt und verdünnt. Ich machte einige Schritte und befand mich in einem runden Raum, der etwa die Form eines Kugelinnenraums hatte. Aus der Oberfläche wuchsen kantige und weiche, fadenartige und durchbrochene Dinge heraus, deren Fortsätze sich langsam bewegten. Oder waren es Schatten? Ein mildes, grünlichgelbes Licht durchflutete den Raum. »Ich bin Saggelor!« sagte ich und versuchte, tapfer und mutig zu sein. Es antwortete mir aber niemand. Ich sah mich um. Ich war das einzige Lebewesen hier inner-
31 halb des Schiffes. Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde es. Außerdem drängte mir das Schiff auf eine rätselhafte Weise seine Gedanken auf. Dieses Schiff war nicht für Lebewesen gebaut. Es war für sich selbst gebaut, eine Maschine, die einen Zweck hatte und nicht gelenkt zu werden brauchte. Es gab also außer mir hier niemanden und nichts, mit dem ich sprechen konnte. Ich setzte mich auf ein Teil des durchsichtigen, filigranhaften Materials. Ich glaubte, daß es sich unter mir veränderte, so daß ich bequemer sitzen und mich anlehnen konnte. Der Wunsch des Schiffchens, ich solle mich aus seiner Nähe zurückziehen, war völlig verschwunden. Ich »hörte« in meinen Gedanken nichts mehr davon. Vielmehr war es jetzt so, daß ich glaubte, mich mit dem Schiff lautlos unterhalten zu können. Ich formulierte meine Gedanken zu einem klaren Satz und dachte angestrengt, während ich meine Augen auf einen Punkt des filigranhaften Hintergrundes konzentrierte. »Ich bin Saggelor Oggian, ein kleiner Junge. Wer bist du?« Ich war nicht erstaunt, als das Schiff antwortete. Oder träumte ich das alles nur? Ich bin ein Glücksbringer. Ich nehme deinen Kummer und bringe dir Glück und Glücklichsein, Saggelor! »Du hast gemerkt, daß ich in Not war?« fragte ich. Meine Stimme hallte nicht wider. Aber ich merkte, daß ich noch immer laut sprach und mitdachte. Also dachte ich die nächste Frage schweigend. Ich bin von einem Volk erbaut worden, das noch schneller und besser denkt als ich und du. Seine Gedanken sind viel empfindlicher! Ich lachte. »Hast du auf mich gewartet?« Ich habe gemerkt, daß jemand außerhalb von mir voller Schmerz und Angst ist. Deshalb habe ich mich geöffnet. »Ich bin in dich eingedrungen!« Nicht ohne meinen Willen. Du hast mich wieder aufgeweckt!
32 »Bist du in den Fäden gefangen?« Ja. Sie waren noch zäh und klebrig, als ich hierher kam und abstürzte. Ich und einige Tausend anderer Glücksbringer! »Wann?« Vor sehr langer Zeit. Kannst du mich befreien? »Wie soll ich das machen? Ich bin klein und schwach und habe keine Waffen.« Das Schiff schien nicht überlegen zu müssen, denn seine Gedankenfrage traf mich sofort. Hast du Freunde unter den Besuchern? Ich sagte schnell und ertappte mich wieder, wie ich laut sprach: »Ja, vielleicht einen Freund.« Wer ist es? Ich dachte an das Bild Flannagan Schätzos, den Mann, der so merkwürdig roch und gelbe Zähne hatte. Er ist hier, dachte der Glücksbringer. »Hier? Wo?« Ich sehe ihn. Er steigt gerade aus der kleinen Maschine, die ein so lautes Geräusch macht! Das konnte nur der Hubschrauber sein. Also hatte Lyall Flannagan hierher geflogen. Sicher versuchten sie, in das Schiff hineinzukommen. Ich nahm meine Gedanken und meine Vorstellungskraft zusammen und dachte angsterfüllt: »Die Terraner, das sind die sehr großen Menschen dort unten, wollen die Flotte bergen. So nennen sie euch. Sie wissen nicht, daß ihr euch Glücksbringer nennt. Sie wollen versuchen, auf irgendeine Weise Macht über euch zu erreichen. Sie versuchen alles mögliche. Sie fürchten nur, daß die Schiffe explodieren. Schätzo, also Flannagan, will das verhindern. Ich glaube, er mag mich. Er wird mir helfen!« Ich sehe ihn. Er schickt die Maschine weg und wirft mit Steinen, aber nicht in meine Richtung. »Mit Steinen?« Es konnte nur eine seiner verrückten Ideen sein, um Peysen abzulenken. Ich glaubte,
Hans Kneifel daß er mir helfen und mit mir allein sprechen wollte. Aber wie kam ich aus dem Schiff heraus, aus dem »Glücksbringer«? »Du willst, daß man dich aus den Fäden befreit?« fragte ich. Ja. Mich und eine Anzahl der anderen Schiffe. Dann können wir uns selbst helfen, mit unseren Geräten. »Schätzo und ich können es versuchen!« Bitte ihn darum. Ich werde ihn belohnen! »Wie kann ich mit ihm sprechen?« fragte ich. Schließlich war er draußen, und uns trennte der schwere Verschluß. Er ahnte sicher, daß ich in den Glücksbringer hinein geflohen war, aber mehr wußte er nicht. Ich mußte also mit ihm sprechen. Das war nur möglich, wenn das Schiff den Einstieg wieder öffnete. Ich werde die Öffnung wieder schaffen! »Glaubst du, daß Schätzo dich befreien kann?« Der Glücksbringer antwortete mit einer Deutlichkeit, als habe er schon lange auf eine solche Gelegenheit gewartet. Er muß nur die Fäden abschneiden oder abhacken. Dann bin ich frei und kann den anderen helfen. Ich versprach gern und bereitwillig: »Ich bitte Schätzo darum. Er wird es sicher tun.« Der Eingang wird soeben geöffnet. Bleibe nicht zu lange Zeit draußen. Ich brauche dich! Ich nickte und hörte wieder das Geräusch. Ich wartete, bis sich die runde Platte zur Seite gedreht hatte und blickte durch die Öffnung. Direkt vor mir stand Schätzo und starrte mich an, als würde er mich nicht mehr erkennen. »Was … was ist geschehen, Saggelor?« fragte er mich schließlich mehr als verwundert. Er bückte sich und hob gedankenlos einen Stein auf. »Das Schiff bittet dich um einen Gefallen!« sagte ich. »Verrückt!« murmelte er und schüttelte den Kopf. Ich begann ihm zu erklären, was
Die Flotte der Glücksbringer das Schiff wollte. Plötzlich hob er die Hand und unterbrach mich. »Du siehst reifer und älter aus. Und du sprichst ganz anders als vor einer Stunde!« Ich lächelte ihn an. »Das hat der Glücksbringer bewirkt. Willst du uns helfen?« Flannagan Schätzo nickte und zog ein langes siganesisches Vibromesser mit doppelter Schneide aus dem Schaft seines Stiefels.
* »Ich werde euch helfen!« sagte ich. Alles war plötzlich verändert und logisch. Der Junge und ein Schiff würden sich zunächst retten können. Aber wo blieb ich bei diesem verrückten Unternehmen? Ich stürzte mich auf den nächsten Gespinstfaden und schaltete das Messer ein. Die Zeit begann plötzlich kostbar zu werden. Nachdem ich wie ein Rasender drei verschieden dicke Stränge durchgeschnitten hatte, hielt ich keuchend inne und schaltete mein Funkgerät ein. »Hier Schätzo. Peysen, hören Sie?« »Ich höre. Das Schiff ist natürlich nicht explodiert?« Ich sagte entschuldigend: »Ich habe es dreimal getroffen, aber noch immer nicht an der richtigen Stelle. Warten Sie noch etwas, vielleicht klappt es!« »Ich glaube, Sie versuchen einen Scherz mit mir, Schätzo!« Ich warf einen langen Blick zur Schleuse, aus der der Junge heraussah und mich zufrieden anlächelte. »Ich versuche keineswegs einen Scherz. Ich befinde mich hier in akuter Lebensgefahr. Da scherzt man nur selten!« »Gut. Versuchen Sie es weiter!« »Ja, Sir!« erwiderte ich. Wieder begann das Messer zu summen. Ich würde es nicht schaffen, in den nächsten Minuten sämtliche Stränge zu durchzutrennen. Einige von ihnen waren für mein Werkzeug noch zu dick, aber vielleicht half das Schiff mit. Ich vergewisserte mich, daß mein
33 Funkgerät auch abgeschaltet war, dann rief ich zu dem Jungen hinüber: »Das Schiff muß mitarbeiten. Ich werde es nicht ganz schaffen, Saggelor!« Er gab mit einer mir unverständlichen Ruhe und Überzeugungskraft zurück: »Ich denke bereits daran, und das Schiff wird mich verstehen.« Die Sonne brannte durch das Dickicht der Gespinste herab. Ich war wenige Minuten später schweißüberströmt, aber ich arbeitete weiter. Summend fraß sich der Stahl des Messers in das Gespinst hinein und hinterließ breite Einschnitte. Der Glücksbringer schien in dem Jungen eine Reihe von Veränderungen bewirkt zu haben, über die ich erst in Ruhe nachdenken mußte. Optisch hatte sich Saggelor kaum geändert; er sah noch immer aus wie ein zu klein geratenes Kind. Aber in seinem Gesicht hatte ich den Ausdruck der Reife und des schlagartig erwachten Verstandes gesehen. Auch die Sprache hatte sich verändert. Er redete jetzt wie ein kluger Erwachsener. Schlagartig war das aufgepropfte und eingetrichterte Wissen integriert worden. Wieder gelang es mir, einen langen Faden zu durchtrennen, der sich um das halbe Schiff herum gelegt hatte. Langsam konnte ich bemerken, wie das Schiff mitarbeitete. Es bewegte sich ruckend hin und her und nach beiden Seiten. Aus den Einschnitten meines Messers wurden breite Spalten. Ich sprang mit einem gewaltigen Satz zurück, als sich das Schiff stark bewegte und um eine Handbreit zurückzog. Hoffentlich sahen die Terraner diese Bewegung nicht! »Saggelor?« »Ja, Freund Schätzo?« »Sage dem Schiff, daß ich aufhören muß. Nur noch die drei Fäden dort oben.« »Ich sage es!« »Ich muß nämlich Peysen etwas sagen. Er wird uns aufmerksam beobachten!« »Das Schiff weiß es. Du kannst so vorgehen, wie du es möchtest. Wir sind in Sekunden frei!«
34 »Aber versuche weiterhin«, beschwor ich den Jungen, »dir und mir und den anderen Kindern zu helfen, ja?« Er nickte. »Ich werde es mit den anderen besprechen und mit dem Glücksbringer!« Während ich das Messer ausschaltete und zurück zu meinem Steinhaufen sprang, ruckte das Schiff abermals stärker. Einige Fäden brachen ab. Das Geräusch der sich zudrehenden Schleuse ertönte. Ich schaltete das Gerät ein und rief verzweifelt nach Peysen. »Verdammt! Was ist bei Ihnen los, Schätzo!« Ich keuchte, während sich meine Stimme überschlug und ich immer wieder stockte: »Das Schiff, Sir … es hat sich plötzlich bewegt. Mein letzter Stein muß die Schleuse oder sonst was getroffen haben!« Noch während ich redete, passierte es direkt vor meinen Augen. Die letzten Fäden brachen ab. Aus ihren Schnittstellen rieselten lange Fontänen aus gelblichem Staub. Dann, eine letzte, schwere Anstrengung, und das Schiff schnellte sich schräg in die Höhe. Noch einmal blitzte die Sonne auf der bronzefarbigen Haut, dann verschwand das Schiff in einer steilen Kurve in dem stark bewölkten Himmel. Der Donner eines fernen Gewitters wurde stärker; ein langes, rollendes Geräusch ertönte aus Westen. »Kommen Sie sofort zurück!« schrie Peysen. »Haben Sie es gesehen …?« stammelte ich. »Ja. Wir rechnen ab, wenn Sie hier sind. Kommen Sie sofort! Lyall wird Sie holen!« »Jawohl.« Jetzt war es passiert. Der Junge und ein Schiffchen, ein Glücksbringer, waren gerettet. Das Kind und der Fremdling aus der Vergangenheit schienen eine Einheit geworden zu sein, die sich miteinander beschäftigen mußten. Alles war so schnell geschehen, daß keiner der Terraner hatte eingreifen können. Und wieder wußte ich nicht, wie es weitergehen würde. Ich warf meine letzten
Hans Kneifel Steine, die unnützen Beweismittel, vom Landeplatz hinunter und wartete auf Lyall. Als der Helikopter einschwebte, sah ich bereits am Gesicht von Piano, daß es nicht besonders gut stand. Stanzo Peysen traute mir nicht. Er konnte mir nichts beweisen, aber seine Wut war begreiflicherweise an einem Höhepunkt angelangt, und außerdem mochte er mich nicht besonders. Es konnte sein, daß er mich umbrachte oder umbringen ließ. Ich kletterte in den Sitz. »Sie sind ein Selbstmörder!« schrie Lyall. »Was haben Sie bloß getan!« Ich hob bedauernd die Schultern und erwiderte ebenso laut: »Nichts anderes als das, was ich vorgeschlagen habe. Das Schiff mit Steinen bombardiert.« »Peysen schäumt vor Wut!« Ich zuckte mit den Achseln und machte ein ratloses Gesicht. »Ich kann es nicht ändern!« Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich fürchtete mich natürlich, denn ich wollte nicht gerade auf dieser Lichtung sterben. Aber auch eine Flucht war sinnlos, denn von hier bis zum Raumschiff war die Strecke für mich ebenso tödlich; ich würde das Schiff kaum erreichen, und selbst wenn es mir glückte, würde mich Peysen oder jemand aus seiner Verbrecher-Mannschaft dort erwischen. Wir landeten. Schon beim Anflug sah ich die wütenden Gesichter der Terraner. Peysen war fast grün vor Ärger. Er bückte sich und umfaßte mit seiner Hand meinen Körper, kaum, daß ich ausgestiegen war. »Kommen Sie her, Sie … verdammter Verräter!« sagte er und hob mich hoch. Ich fühlte mich mit unwiderstehlicher Gewalt durch die Luft gerissen und befand mich plötzlich dreißig Zentimeter vor seinem Gesicht. Sein Griff war fest und schmerzhaft. »Sie bringen mich um!« schrie ich keuchend. »Sie zerdrücken mich!« »Was haben Sie dort drüben gemacht?« schrie Peysen.
Die Flotte der Glücksbringer Ich sah jede Pore seines Gesichts wie in einer riesenhaften Vergrößerung. »Ich habe das Schiff mit Steinen beworfen!« sagte ich. »Und plötzlich bewegte es sich.« »Sie haben dem Jungen zur Flucht verholfen!« rief Stanzo. Ich brachte hervor: »Wie hätte ich das tun können? Der Junge ließ sich nicht blicken. Er war im Schiff. Wollen Sie mich … umbringen?« Der Druck seiner Hand wurde stärker, aber in seinem Gesicht erkannte ich, daß er sich noch beherrschen konnte. Peysen kämpfte mit sich selbst, ob er mich zerquetschen sollte, oder ob er mich noch einmal brauchen konnte. »Ich weiß nicht, ob ich Sie umbringen soll. Sie haben dem Schiffchen geholfen, sich loszureißen. Es ist fort.« »Und mit ihm Saggelor Oggian!« Das Mädchen tauchte dicht neben Peysen auf und starrte mich an. Peysen sagte hart: »Gehen Sie zum Teufel! Wir brauchen Sie nicht mehr!« Seine Finger schlossen sich. Der Druck, der wie eine gewaltige Klammer meinen Körper quetschte, verstärkte sich. Mir wurde schwarz vor den Augen. Ich bekam keine Luft mehr und lief dunkel an. Dann hörte ich mich einen langgezogenen Schrei ausstoßen. Daß Stanzo Peysen mich fortschleuderte wie ein totes Insekt, merkte ich nicht, aber den harten Schlag, der durch meinen Körper ging und mich bewußtlos machte, spürte ich noch. Er hatte mich weggeworfen. Ich lag irgendwo auf der Lichtung zwischen dem Gespinst, mehr tot als lebendig …
6. Das Schiffchen sprach in ausdrucksstarken Bildern meiner Gedanken und inzwischen hatte ich mich bereits daran gewöhnt. Auch ich »dachte« nur noch – der Glücksbringer verstand mich. Telepathie, so hieß dieser Vorgang; ich fand das Wort in mei-
35 nem passiven Wortschatz. »Warum lebst du, Glücksbringer?« fragte ich, als ich wieder in dem kugelförmigen Raum und in dem weichen, bequemen Sessel lag, den das Schiffchen für mich geschaffen hatte. Die Antwort sickerte mit nie gekannter Intensität in meine Gedanken ein. Als du das schwache Abwehrfeld durchdrungen hattest, Saggelor, das wir alle um uns aufgebaut haben – bis auf einige Glücksbringer, die ausgefallen sind –, da spürte ich deine Verzweiflung, deine Ängste. Sie waren so stark, daß ich wieder erwachte. Du mußt meine Geschichte kennen, damit du erkennen kannst, wer ich bin. Und was ich bin. Worte können nur schlecht wiedergeben, was die Gedanken des Schiffes ausdrückten. Gerüche und Empfindungen, Bilder und breite Ströme aus Farben und Formen überfluteten mich. Nach der Antwort, die das Schiff mir unhörbar gab, existierten in diesem Punkt keinerlei Fragen mehr. Die Antwort war vollkommen. »Wo sind wir?« Wir fliegen in einem großen Kreis rund um den Ort, an dem die anderen Glücksbringer gefangen sind. »Wie lange noch?« Bis ich alle meine Systeme überprüft habe. Dann werden wir auch entscheiden, was wir tun können. »Es gibt noch viele andere Kinder!« sagte ich zurückhaltend. »Können wir sie auch retten?« Warte und sieh, was geschehen wird. Wir Glücksbringer haben viel Möglichkeiten. Meine Geschichte ist lang. Du wirst sie jetzt hören. »Ich freue mich!« sagte ich. Irgendwo zwischen den Sternen gibt es ein Volk von Raumfahrern, die sehr weit zivilisiert sind und eine sehr hohe Kultur haben. Die Mentalität der Einzelpersonen dieses Volkes ist so überaus empfindlich, daß sie keinen Hauch von Kummer oder Leid vertragen können.
36 Die Personen, die durch den Raum fliegen und auf anderen Planeten landen, sahen überall Leid und Tod, Wunden und Schmerz. Sie spürten überall den Kummer der leidenden Wesen, gleichgültig, wie sie aussahen. Also konstruierten sie hochempfindliche Maschinen, die sie »Glücksbringer« nannten. Die Glücksbringer hatten die Aufgabe, das Leid anderer zu lindern, wo immer es möglich war. Und wenn das nicht gelang, da halfen sie ihren eigenen Herren, den Kummer und das Leid nicht zu spüren. Sonst wären auf einigen Welten oder in einigen Zonen einzelner Planeten die Herren vor Angst und Kummer wahnsinnig geworden. Sie spürten jede Regung von Leid. »Und was geschah dann?« erkundigte ich mich ungeduldig, obwohl ich von der Flut aus Bildern und Erklärungen noch halb benommen war. Das Schiff entgegnete auf seine verwirrendlogische Weise: Die Flotte der Glücksbringer und ein großes, raumflugfähiges Labor der raumfahrenden Forscher, Wissenschaftler und Entdecker, die wir auf unsere Art vor Leid und Kummer beschützen mußten, flogen durch den Weltraum. Plötzlich wurden die Männer krank. Niemand fand ein Mittel gegen diese seuchenartige Krankheit, und unsere Aufgabe wurde es, den Dahinsiechenden und Sterbenden zu helfen. Das große Labor wurde schließlich von dem letzten, noch arbeitsfähigen Raumfahrer hier auf diesem Planeten gelandet und versank in einem weichen Teil der Landschaft. Vielleicht existiert es noch als eine Art Insel oder Berg – ich weiß es nicht, denn der letzte Mann starb. Wir bekamen keine Lenkimpulse, also keinerlei Wünsche oder Befehle mehr. Wir landeten ebenfalls und fingen uns in den dünnen Netzen der Wesen, die von euch … Koorbstas genannt werden. Zunächst jedoch irrten wir ziellos durch die Luft dieses Planeten. Eine große Flotte
Hans Kneifel von Tausenden Schiffen. Wir landeten schließlich, weil wir keine Aufgabe mehr erkennen konnten, auch nicht bei anderen Wesen – denn unsere Herren waren tot. »Wie lange ist das her? Warum gibt es hier nicht einmal Insekten?« Das Schiff lächelte unhörbar, aber die Heiterkeit strömte auf Saggelor über. Er war jetzt der Herr dieses Schiffes und, vielleicht, auch der vielen anderen Glücksbringer. Wir haben kein Zeitgefühl. Es ist schon sehr lange her, viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte in deiner Rechnungsart. Wir spüren die Ausstrahlungen von Tieren nicht oder nur sehr schwer. Wir können sie auch nur in den seltensten Fällen deuten. Aber auf dieser Welt gab es keine hochentwickelten Wesen, denen wir helfen konnten, das Leid zu vergessen. Wir dachten also, daß die Tiere uns eher schaden würden und errichteten ein kleines Feld, das nach und nach alle Tiere aus dem Gebiet des Landeplatzes vertrieb. Ihr, die großen Wesen und die kleinen Siganesen, könnt diese Strahlung wahrnehmen, aber ihr müßt ihr nicht gehorchen. Ihr könnt durch den Vorhang hindurchschreiten und euch uns Schiffen nähern. Das ist geschehen. »Ich habe dich also wieder aktiviert?« So war es. »Und du wirst deine Aufgabe wieder wahrnehmen? Wirst mir gehorchen?« fragte ich. Der Glücksbringer sollte die Furcht und das Leid nicht von Peysen und seinen Freunden nehmen. Aber er sollte Flannagan retten. Ich werde alles tun, was du anordnest. Ich bin dafür gebaut worden. »Sehr gut. Ich habe einen ersten Auftrag für dich. Was kannst du von dort draußen alles erkennen?« Alles. Willst du sehen, was ich sehe? »Ja, bitte!« sagte ich. Und dann verwandelte sich für mich alles. Zuerst die Wände. Nicht überall, aber an den meisten Stellen. Sie wurden zu durchsichtigem Glas, und an einigen Stellen schienen sich Linsen zu befinden, durch die ich ein-
Die Flotte der Glücksbringer zelne Punkte der Landschaft überscharf und außergewöhnlich deutlich wahrnehmen konnte. Es wirkte so, als könnte ich gleichzeitig an vielen verschiedenen Punkten schweben und sie genau betrachten. »Ich muß sofort zu dem Raumschiff, mit dem wir alle hierher gekommen sind! Weißt du, wo es steht?« Nein. Kannst du mir ein Hilfsmittel angeben? Eine markante Geländeformation etwa? Ich schilderte, so gut ich es konnte, den Weg, den wir hierher genommen hatten. Während ich an die vereinzelten Beobachtungen dachte und mir das Aussehen des Raumschiffs vorstellte, raste der Glücksbringer bereits durch die Luft, auf das einige Tagemärsche entfernte Schiff zu. Die Terraner sind deine Feinde? Ja. Sie sind auch die Feinde der Glücksbringer, dachte ich angestrengt. Sie werden die Besatzung des Schiffes gewarnt haben, nicht wahr? Mit Sicherheit, dachte ich zurück. Das Schiff wurde schneller. Unter mir raste die Landschaft nach hinten. Ich fühlte eine neue Art Leben in mir. Ich war kein Kind mehr, meine Gedanken waren erwachsen, was das Abschätzen und Begreifen vieler Vorgänge betraf. Nicht aller Vorgänge, aber doch derjenigen, die mit dem Problem der alten Flotte zusammenhingen. Ich konnte nicht allein kämpfen und uns alle befreien. Aber die Flotte war ein hervorragendes Werkzeug. Ich mußte auf meine Gelegenheit warten. Neunundzwanzig Kinder waren zu retten. Noch wußte ich nicht, was ich tun konnte. Bleib ruhig. Wir sind bald nicht mehr allein. Schätzo wird den anderen Schiffen aus dem Gespinst helfen. Und die Schiffe stehen untereinander in Verbindung. Wir werden sehen. Ist das dort vorn euer Raumschiff? Ich blickte nach vorn. Dort unten, vergrößert durch ein linsenartiges Gebilde in der durchsichtigen Bordwand, sah ich das Schiff. Offensichtlich hat-
37 te Stanzo Peysen den Rest der Mannschaft alarmiert. Das kleine Schiff wurde langsamer und flog einige Kreise um den Giganten. Im hellen Sonnenlicht blieben wir unsichtbar, und ich fühlte, wie meine Aufregung wuchs. Ich starrte die Bordwand der Korvette an. In der starken Vergrößerung sah ich, daß keine einzige Schleuse offen stand. Nicht einmal ein schmaler Spalt, durch den wir hindurchfliegen konnten. Außerdem hätte ich jetzt den Rat meines Freundes Flannagan gebraucht. Wie eroberten ein kleiner Junge und ein bronzefarbener Glücksbringer ein terranisches Raumschiff, das so groß und so massiv war? Ich wußte es nicht.
7. Ich fühlte, wie meine Beherrschung dahinschwand. In den letzten Tagen, noch mehr in den letzten Stunden, war zuviel passiert. »Verdammt! Niemand ist offen gegen mich. Niemand sabotiert bewußt – aber alles geht schief!« fauchte ich. Das Mädchen, diese eiskalte Person, schlenderte heran und sah mich aus ihren kalten Augen hinter den halbdunklen Gläsern der Brille prüfend an. »Unruhig, Stanzo Peysen?« fragte sie. Ich versuchte, Spott aus ihrer Stimme herauszuhören. »Verdammt unruhig!« sagte ich unwirsch. »Dieses Schiff. Dieses verdammte Schiffchen. Es ist mit dem Jungen weggeflogen.« Ich hantierte schnell und mit aufgeregten Fingern an meinem Funkgerät. Durch das knisternde Rauschen hindurch rief ich scharf: »Hier Peysen! Ich rufe Cathcart oder Fasulo! Schnell! Meldet euch!« Der Marsgeborene war am Interkom. Ich sah mich um, aber die anderen Schiffchen rührten sich nicht. Dieser verdammte Siganese lag irgendwo im Gebüsch und starb vermutlich gerade. »Hier Fasulo. Was gibt es, Chef?«
38 »Der Teufel ist los! Ein Schiffchen hat sich unter noch ungeklärten Umständen losgerissen und ist davongerast. Der Junge ist eingeschlossen, dieser Oggian. Vermutlich wird er zum Schiff fliegen!« Der Mann, der mehr als zwei Dutzend galaktische Sprachen beherrschte, schwieg verblüfft. »Das kann nicht wahr sein! Was befürchten Sie, Chef?« Ich spreizte die Finger und zuckte mit den Schultern. Alle hier auf der Lichtung starrten mich an. Sie waren ebenso verblüfft wie ich und wußten ebenfalls nicht, was jetzt zu tun war. »Ich befürchte, daß das Schiff mit dem Jungen das Schiff beschädigen will oder eindringen möchte. Ich weiß es auch nicht, verdammt! Jedenfalls sperren Sie die anderen Kinder ein und bewachen das Schiff. Es darf nichts passieren, hören Sie?« »Ich werde mich bemühen!« gab er trocken zur Antwort. Der Donner aus der Ferne war abermals stärker geworden, aber noch sahen wir keine dunklen Wolken. Unsere Stimmung schien am absoluten Nullpunkt angelangt zu sein. Wir alle besaßen genügend Phantasie, um uns vorstellen zu können, daß uns dieser nicht einkalkulierte Zwischenfall um die Ergebnisse jahrelanger Anstrengungen bringen konnte. »Ich erwarte nichts anderes. Verhindern Sie, daß das Schiff etwas unternehmen kann. Und …«, ich zögerte, aber dann siegte meine Wut über die Gedanken an das Risiko, »… wenn Sie das Schiff abschießen können, dann zögern Sie nicht! Haben Sie das verstanden?« »Ja, natürlich, Peysen.« »Dann sagen Sie es auch Dored Cathcart!« »Selbstverständlich. Und was werden Sie tun?« »Wir versuchen weiterhin, die Schiffchen unter Kontrolle zu bringen!« sagte ich. »Nötigenfalls mit anderen Mitteln.« »Ich habe nichts anderes erwartet. Viel
Hans Kneifel Glück!« schloß der Marsgeborene. »Danke. Werden wir brauchen.« Ich schaltete das Gerät aus und sah mich um. »Wir starten einen zweiten Versuch mit veränderten Vorzeichen!« sagte ich deutlich. »Eines der Kinder wird, scharf bewacht, zu dem nächsten Schiff gebracht. Die Siganesen werden sich auch anstrengen müssen. Los, Lyall! Werfen Sie Ihre Maschine an.« »Jawohl!« Lyall sollte nacheinander einen der Jungen und die anderen beiden Siganesen in die Nähe eines Schiffes bringen. In dem Augenblick, da sich das Schiff öffnete, würden sie versuchen müssen, den Jungen am Betreten zu hindern – oder auf eine noch ungeklärte Weise das Schiff selbst in Besitz zu nehmen. »Also. Lyall startet zunächst mit Jon Tanzon. Tanzon, Sie haben eine Explosivwaffe?« Der Mikrobiologe nickte, als ich mich zu ihm und seinem Regiepult hinunterbeugte. Zwei der Jungen trieben sich scheu am Eingang des Transportbehälters herum. »Machen Sie sich fertig, ja?« »Ich bin so gut wie fertig.« Der Helikoptermotor sprang an. Die Maschine flog, mit Lyall als Piloten und Tanzon als Kontrollperson, hinüber zum zweiten der nächstgelegenen Schiffchen. Ihr Glanz wurde intensiver; die Sonne stach mehr und mehr und brannte senkrecht herunter. Der Donner rollte langgezogen über das Land; ein Gewitter stand bevor. »Kessel!« schrie ich in den Eingang des Behälters hinein. Nach einigen Sekunden kam der Mechaniker mit aufreizender Langsamkeit die Treppe hinunter und blieb neben den beiden Kindern stehen. »Ja?« »Schnappen Sie sich eine Waffe und einen der Jungen. Nach Möglichkeit den, der weniger halsstarrig ist. Wenn er nicht gehorcht, schlagen Sie ihn. Er soll versuchen, das zweite Schiff zu öffnen. Haben Sie mitgehört?«
Die Flotte der Glücksbringer Kessel nickte langsam. Er war ein phlegmatischer Siganese und bewegte sich mit der Langsamkeit einer Schildkröte. Sein Gesicht sah ähnlich aus, abgesehen von der grünen Haut. Ich haßte sie alle, diese Winzlinge. »Ich habe alles gehört. Sie können auf mich zählen, Mister!« »Gut. Kommen Ma-Kona und Cooster auch noch hierher?« »Nein!« sagte ich schroff. »Sie bewachen das Raumschiff.« In das schrille Kichern des Mechanikers mischten sich der Donner und der Ton des näherkommenden Helikopters. Der Junge war angeschnallt. Kurze Zeit später verfolgten wir gespannt, wie die Maschine mit Kessel, dem letzten Siganesen, davonschwirrte und unsichtbar hinter einem Vorhang von Gespinstfäden landete. Die Geräusche wurden leiser. Nur der Donner blieb und bildete von Zeit zu Zeit eine akustische Kulisse. Afruth Schwartz streichelte sarkastisch meine unrasierte Wange und meinte: »Sie stehen unter stärkstem emotionalem Druck, Stanzo. Entspannen Sie sich, sonst verlieren Sie die Selbstkontrolle. Und wir alle brauchen Sie und Ihre souveräne Leitung.« »Haha«, machte ich. »Es läuft nicht so, wie ich es geplant habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Es läuft niemals so, wie es geplant ist. Aber man kann mit unvorhergesehenen Zwischenfällen fertig werden.« Geller, der jüngste Mann der Gruppe, stand auf und warf einen besorgten Blick zum Himmel. »Irgendwo blitzt es, und der Donner kommt immer näher. In Kürze werden wir ein fürchterliches Gewitter erleben. Was sollen wir tun?« Ich grinste ihn kalt an und sagte dann: »Sie werden sich nach dem Gewitter abtrocknen müssen! Was sollen wir tun? Was sollen wir tun? Vielleicht Zelte aufspannen? Sind Sie ein Mann oder ein Schwächling?« Er krümmte die Schultern nach vorn drehte sich wortlos um und stapfte zurück an sei-
39 nen Platz, von dem aus er den Vorhang aus Gespinst sehen konnte, hinter dem jetzt ein neuer Versuch anlief. Der Mikroempfänger in meinem Ohr schwieg; genauer gesagt, er gab die verworrenen Geräusche wieder, die von den vier Personen dort oben erzeugt wurden. »Sie sind unbeherrscht!« sagte eine Stimme dicht hinter mir. Ich fuhr herum. Ich habe es nicht gern, wenn jemand hinter mir steht. Marmarosa blickte mich ängstlich an. »Es geht auch um Ihren Anteil an der Beute!« sagte ich laut. »Scheren Sie sich weg. Sie halten mich auf. Oder haben Sie ebenfalls Angst vor dem Gewitter?« Marmarosa schüttelte den Kopf. Er sah aus wie eine halb verhungerte Ratte mit abgesengtem Schnurrbart. »Nein. Aber müssen wir die anderen Kinder nicht bewachen?« »Wo sollen sie hinrennen?« fragte ich zurück. »Sie werden nach zehn Metern Marsch in dieser Wildnis sterben. Meinetwegen behalten Sie den Eingang des Käfigs dort im Auge.« Er nickte und setzte sich unter den halbverdorrten Baum, der in das Gespinst eingewoben war wie eine surrealistische Spinnweb-Theaterdekoration. Mit seinen kleinen, dunklen Augen, die wie Löcher im Kopf wirkten, starrte er den Ausgang des Transportbehälters an. »Kotlarsly!« rief ich. »Hier!« Der Hangartechniker stand auf und hinkte zu mir herüber. »Gehen Sie um diese Kulisse dort herum und versuchen Sie, zu erkennen, was im Gespinst vor sich geht!« Er nickte nur und schlurfte davon. In meinem Magen hatte sich ein dicker Klumpen gebildet. Die Hitze setzte mir zu. In einem breiten, klebrigen Rinnsal sickerte der Schweiß zwischen den Schulterblättern in die Hose. Ich fühlte mich miserabel. Die Aussicht auf einen völligen Mißerfolg des lange und entbehrungsreich geplanten Unternehmens erschütterte mich. Ich konnte
40 mich dagegen nicht wehren. Ich winkelte den Arm an und rief leise: »Jon Tanzon!« Augenblicklich meldete er sich. Ich hörte seine Stimme in meinem rechten Ohr und war ein wenig erleichtert; sie klang knapp und nicht aufgeregt. »Was geht dort vor?« fragte ich. »Wir warten, während der Junge auf das Schiff zugegangen ist. Er lehnt jetzt an der Bordwand.« Ich keuchte auf. Greifbar nahe erschien mir das Ziel vor den Augen. Würden wir dieses Schiffchen der Flotte erobern können, ehe es sich in die Luft sprengte? »Und …?« »Nichts. Der Junge sieht uns an, lehnt an der leuchtenden Wand, zwischen den Fäden, und nichts geschieht. Weder sagt er ein Wort, noch handelt das Schiff auf eine erkennbare Weise.« Ich überlegte einige Sekunden, dann fragte ich leise und lauernd: »Gehen Sie hin und erkundigen Sie sich, ob der Junge vielleicht telepathisch mit dieser verdammten Konstruktion verkehrt!« »Wird gemacht, Chef.« Ich hörte die Schritte, dann eine leise geführte Unterhaltung, in der die helle Stimme des kleinen Jungen deutlicher war als das Organ des erwachsenen Siganesen. Dann die Erklärung: »Nichts. Er spürt die Ausstrahlung des Schiffes, die ihm befiehlt, seinen Platz zu verlassen. Aber er kann sich dagegen wehren. Sonst ist hier nichts zu berichten.« Ich biß auf meine Unterlippe und sagte: »Versuchen Sie es weiter! Versuchen Sie es immer wieder! Es ist unsere einzige Chance!« »Wir versuchen es!« In das letzte Wort krachte ein wütender, überraschend lauter Donnerschlag hinein. Ich schrak zusammen. Die Hälfte des Ausschnitts über der Lichtung hatte sich verfinstert. Für mich würde der Regen eine Erholung sein, denn wir alle hatten nicht genug Wasser, um uns zu waschen. Irgendwie schi-
Hans Kneifel en die Spannung in der sonst lautlos erstarrten Natur zu meiner schlechten Laune mehr beizutragen, als ich ahnte. Das Gewitter würde eine Art Erlösung sein. Die Sonne nahm einen schwefligen, stechenden Glanz an. Dann hörte ich im Ohr die Stimme von Fasulo. »Sir! Mister Peysen! Melden Sie sich!« Ich schaltete mein Gerät auf den Kanal des Schiffes und rief: »Ich höre! Was ist bei euch los?« Cathcart stotterte. Er schien seine Fassung verloren zu haben. »Peysen! Das Schiff … es hat Fasulo aus der Korvet …« Ein scharfes, peitschendes Knacken, dann schwieg der Sender. Ich schaltete den Reservekanal ein, der mich mit den anderen Geräten an Bord des Schiffes verbinden konnte. Schweigen …
* Ich blickte gebannt nach unten. Cathcart rannte über die Rampe nach unten und blieb vor dem Energiezaun stehen, der die Koorbstas vom Schiff fernhielt. Der Mann war schwer bewaffnet und blickte sich suchend um. »Peysen scheint eben seine Warnung durchgegeben zu haben!« sagte ich. »Kannst du versuchen, zwischen unterer Bordwand und der Oberkante des Energieschirmes durchzubrechen und in die Polschleuse einzufliegen? Dann gehört die Korvette uns!« Ich werde sehen, was sich tun läßt! Der Glücksbringer tauchte schräg nach unten. Die Geschwindigkeit nahm zu und wurde abgebremst, in einzelnen, wilden Phasen. Schließlich verstand ich fast alles aus dem Bereich der Raumfahrttechnik, um zu wissen, welche technischen Leistungen nötig waren, um solche Lastwechsel zu schlucken. Wie eine riesige Felswand kam das Metall der Kugelhülle näher. Ich sah die flachen Nieten wie kleine Hügel. Das Schiff raste so dicht an der Wand, in einer gebogenen Bahn, nach unten, daß ich glaubte, wir
Die Flotte der Glücksbringer würden das Metall streifen und einen gewaltigen Funkenstreifen hinter uns herziehen wie ein kleiner Komet. Dann zuckte es kurz auf, als wir einen Energieausläufer des Felsens berührten. Hindurch! Das Schiffchen raste entlang der Bordwand, hielt an und schwänzelte etwas hin und her. Dann bemerkten Augen, die ich nicht kannte, daß sich langsam die Polschleuse schloß. Nur noch ein Spalt, drei terranische Handbreit groß, klaffte in den Metallteilen. Das Schiff beschleunigte und schoß zielsicher durch den Spalt in den Schleusenraum hinein. Wir sind sehr beweglich, dachte die Maschine exakt. Wir sind im Schiff. Was soll ich tun? »Suche zuerst einmal die anderen Kinder. Als ich noch bei ihnen war, hielten wir uns dort und dort auf!« Ich dachte eine Schnittzeichnung und konzentrierte mich auf die Räume, die ich kannte. Sie lagen im oberen Drittel des Schiffes. Es war für mich fast wunderbar, wie sich der Glücksbringer seinen Weg durch die Röhren und Aufgänge, die Korridore und die offenen Räume suchte. Wir schienen im Schiff völlig allein zu sein; winzige Zwerge in einem riesigen stählernen Bauwerk. Wenn ich richtig rechnete und keine Information unberücksichtigt ließ, hielten sich nur noch die beiden Terraner Cathcart und Fasulo hier auf. Dazu die zwei Siganesen Ma-Kona und Cooster. Und die Kinder natürlich, meine Freunde, die noch immer unter dem Zwang des fremden Befehls standen. Der Glücksbringer würde auch ihnen das Glück bringen können, indem er sie so selbständig werden ließ wie mich. Ich fühlte mich himmlisch, als das Schiffchen in einem abenteuerlichen Zickzackflug durch das Schiff wirbelte und alle Räume absuchte, die in dem fraglichen Bezirk lagen. »Wenn du den anderen Terraner siehst – vielleicht ist er unterwegs, um den Kindern
41 etwas anzutun – betäube ihn!« sagte ich laut. Ich habe Vorrichtungen dieser Art nicht an Bord. Aber ich kann sein Glücksgefühl so stark werden lassen, daß er alles vergißt! Sehr gut, dachte ich. Treibe ihn aus dem Schiff! Wir werden sehen! Wir befanden uns jetzt vor einer nicht ganz geschlossenen Tür. Das Schiff zog einen senkrechten Kreis wie ein Kolibri, dann rammte es mit dem stumpfen Bug den Schaltknopf. Langsam schwang das Schott nach innen auf. Ich sah die Spezialbehälter, in denen sich meine Freunde aufhielten. »Spielzeug« und »Puppenstuben« sagten die Terraner dazu. »Dort sind sie!« schrie ich voller Freude. »Hilf ihnen!« Ich denke daran. Das Schiff summte langsam vorwärts. Dann umrundete es den Turm aus einzelnen kleinen Bauelementen. Als ich dieses Gefängnis jetzt zum erstenmal bewußt sah, glaubte ich, daß Peysen sein Vorgehen jahrelang genau vorbereitet hatte. Das Schiffchen umrundete den Turm mehrmals, dann blieb es dicht über ihm in der Luft stehen. Ich beeinflusse sie jetzt so, wie ich es bei dir getan habe. Anschließend öffne ich die Schleuse. Dann kannst du mit ihnen reden und ihnen alles erklären. Ich weiß nicht recht, was du vorhast … darüber später mehr. Alles in mir konzentriert sich auf die Aufgabe. Ich wartete geduldig und beobachtete das Schott durch die durchsichtige Bordwand hindurch. Niemand kam. Niemand schien uns bemerkt zu haben. Noch nicht! Im Innern des geheimnisvollen Mechanismus summte und klickte es. Das kleine bronzefarbene Raumschiff wendete seine rätselhaften Fähigkeiten an, um die Kinder zunächst einmal von dem Druck der Befehle zu befreien. Das dauerte eine Weile. Ich besaß keine Uhr, und ob mein Zeitgefühl richtig war, wußte ich auch nicht, aber ich schätzte, daß es etwa dreißig Minuten dauerte. Dann bewegte sich der Glücksbringer
42 wieder und feuerte einen kurzen, gleißenden Feuerstrahl aus einem verborgenen Projektor an Bord ab, der den Eingang des Gefängnisses zerschmolz. Sie sind frei! Ich sagte: »Lasse mich jetzt hinaus. Ich muß mit ihnen reden. Wir sind die Besitzer des Schiffes. Bitte, treibe den einen Terraner hinaus und verhindere, daß er und der andere sich bewaffnen. Zerstöre die Waffen!« Einverstanden! Das Schiff senkte sich auf die Tischplatte. Das vertraute Geräusch der Schleuse war zu hören. Ich verließ meinen Sessel und den gläserndurchsichtigen Raum und ging hinaus. Die ersten Kinder stürzten schreiend und jubelnd aus dem Eingang, kamen durch den Rauch und die kleinen Flammen auf mich zugerannt. Ich breitete die Arme aus und merkte plötzlich, daß ich sehr hungrig und durstig war. Wo befanden sich die beiden erwachsenen Siganesen? Ich drehte mich um und wollte dem Schiffchen eine Warnung zurufen, aber die Maschine schoß bereits rasend schnell aus dem Raum und durch die offene Tür in den Korridor hinein. »Saggelor! Was ist passiert!« »Cooster wollte mich gerade schlagen, da ist er zusammengebrochen. Er liegt oben und sieht aus, als wäre er tot!« »Merkwürdig. Ich habe noch niemals das alles gedacht …« »Du siehst ganz anders aus …!« Ich rief, so laut ich konnte: »Ich bin's, Saggelor! Es ist etwas passiert, was wunderbar erscheint. Ich werde euch alles erzählen. Aber zuerst brauche ich etwas zu essen! Ich bin hungrig und habe Durst!« »Kommt mit nach oben!« »Habt ihr Ma-Kona gesehen?« »Er hat sich im Batterieraum eingeschlossen und ist noch dort. Er hat, glaube ich, einen Lachkrampf!« Ich schüttelte den Kopf und ließ mich von meinen Freunden in das nun offene Gefängnis hineinziehen. Als wir in der Messe sa-
Hans Kneifel ßen, begann ich zu erzählen. Schließlich wußten wir es alle: Uns gehörte diese Korvette! Wir waren die zukünftigen Herren der »Flotte«, nach der Peysen gesucht hatte. Und: Wir waren kindliche Erwachsene oder erwachsene Kinder! Das Schiffchen raste inzwischen durch die leeren Räume der Korvette und tat, was ich ihm aufgetragen hatte. Der Glücksbringer hatte uns in jeder Hinsicht befreit. Jetzt mußten wir beratschlagen, was wir tun konnten, um unsere Flucht von diesem widerlichen Planeten und aus der Nähe von Peysen und seinen Verbrechern zu bewerkstelligen. Wir hatten mächtige Verbündete, auch wenn sie nur so groß waren wie der Kopf eines Terraners …
* Der Glücksbringer bremste mit erheblicher Verzögerung, als er den ersten Terraner sah. Der Mann stand vor dem Funkgerät und legte gerade einen Schalter um. Aus dem Lautsprecher kam eine Flut undeutlicher Worte. Dann richtete das Schiffchen, verborgen im Halbdunkel der Hauptzentrale, einen unsichtbaren Finger auf den riesengroßen Mann. Er hielt mitten in der Bewegung inne. Der Schalter wurde nicht mehr herumgedreht. Der Terraner lächelte langsam. Er riß die Augen auf, als erlebe er einen Wachtraum, in dem der Begriff des absoluten Glücklichseins die Hauptrolle spielte. Er griff zu seiner Waffe, machte sie los und bückte sich, legte sie auf den Boden der Zentrale. Dann ging er bis zu einem Schaltpult. Er drückte nacheinander mehrere Schalter herein. Im obersten Teil der Korvette öffnete sich eine große Schleuse. Auch die Innentür fuhr langsam auf. Das Schiff war jederzeit aus der Luft zu betreten. Dann ging der Terraner langsam, noch immer mit verklärtem Gesicht, vorwärts. Er sah das Schiffchen nicht, und wenn seine
Die Flotte der Glücksbringer Augen den Glanz des Metalls wahrnahmen, dann realisierte er nicht, worum es sich bei diesem Lichtblitz handelte. Der Terraner folgte langsam dem Schiffchen, das ihn durch die Innenräume der Korvette führte. Schließlich gelangten sie bis in den Raum, in dem die Behälter der siganesischen Kinder standen. Wartend blieb der riesige Mann vor der Tischplatte stehen und legte beide Hände, die Handflächen nach oben, auf die Platte. Es sah aus, als warte er, bis ihm ein Geschenk überreicht wurde. Das Schiff schwebte neben dem Turm. Nach einer Weile kam Saggelor Oggian heraus und wich zurück, als er den Terraner sah. Keine Angst. Er ist so glücklich wie noch niemals in seinem Leben. Er wartet, daß er etwas nach draußen tragen kann. Holt die beiden Erwachsenen! Schnell! Keuchend schleppten jeweils sieben oder acht Kinder die schweren Körper der Erwachsenen aus dem Turm heraus, zerrten und trugen sie über die Tischplatte, die ihnen wie eine weite Ebene vorkam, und dann wuchteten sie Cooster und Ma-Kona in die Handflächen des Terraners. Der Mann drehte sich um und marschierte langsam, mit angewinkelten Armen, aus dem Raum hinaus. Ich komme sofort zurück, wenn ich meine Aufgabe erledigt habe! versprach ihnen der Glücksbringer. Saggelor drehte sich zu seinen Freunden um, die in zwei kleine Gruppen wie verloren auf der Weite der Platte standen und darüber sprachen, was sie eben miterlebt hatten. »Der Glücksbringer tut jetzt, was wir wollen. Oder was ich will. Wenn uns das Schiff gehört, werden wir der Flotte helfen müssen!« »Das tun wir gern! Wohin bringt uns die Flotte?« Oggian hob die Schultern. »Ich weiß es nicht!« Er hatte ihnen alles erzählt, was er wußte. Sie waren zweiunddreißig gewesen. Zwei
43 von ihnen waren auf dem Marsch gestorben, als die Koorbstas den Behälter angriffen. Sieben Kinder befanden sich noch in der Gewalt Peysens. Sie zählten dreiundzwanzig ausgebildete Raumfahrer, denen man ihre Fähigkeiten nicht ansah. Nur jemand, der die Gesichter und bestimmte Bewegungen der Nichtmehr-Kinder studieren würde, mußte erkennen, daß er kleine Erwachsene vor sich hatte. Ihr Verstand war erwachsen. »Was tut das Schiff mit dem Riesen?« »Es wird ihn, denke ich, im Glauben lassen, er sei glücklich, bis er das Gegenteil merkt!« entgegnete Saggelor. Der Terraner verließ das Schiff, nachdem er die Schleuse geöffnet hatte. Aber noch bevor sich die Polschleuse ganz geöffnet hatte, schoß das Schiffchen daraus hervor und auf den zweiten Terraner zu, der es deutlich sah und zu seinem Funkgerät griff. Ein Feuerstrahl zerstörte das Funkgerät mitten in einem aufgeregten Satz. Dann begann auch der andere Terraner zu lächeln. Schließlich standen sie beide vor dem Schiff und blickten die zwei Siganesen in den Händen des einen Mannes an. Einer schien zu schlafen, der andere war von der nämlichen Seligkeit erfüllt wie die beiden terranischen Riesen. Das Schiff zog sich zurück und schloß die Polschleuse wieder. Als das Metallschott einrastete und es ein dumpfes Geräusch gab, erwachten die letzten vier Verbündeten Peysens aus ihrer glücklichen Erstarrung. Sie sahen nicht mehr, wie sich ein Schiff aus der obersten Schleuse entfernte und die Richtung einschlug, in der einige tausend Schiffe jener alten Flotte in den Spinnenfäden hingen. Saggelor hatte fast keine Sorgen mehr. Nur etwas quälte ihn. Was hatte Peysen mit Flannagan Schätzo gemacht? Lebte der einzige erwachsene Freund noch?
8.
44 Zuerst sah ich durch die geschlossenen Augenlider hindurch den grellen Schimmer eines Blitzes, der ganz in meiner Nähe in einen Baum fuhr oder in ein hochragendes Bauwerk aus glasartigen Spinnenfäden. Der elektrische Schock warf mich einige Handbreit hoch. Dann schreckte mich der krachende Donnerschlag hoch. Ich öffnete die Augen und hob den Kopf. Ringsherum waren eine graue Dunkelheit, und als ich wieder klar denken konnte – trotz der Schmerzen, die sich durch meinen Körper ausbreiteten –, schlugen mir Regentropfen wie Keulen ins Gesicht. »Schätzo!« sagte ich, während die Brühe aus meinem Haar über mein Gesicht lief und im Kragen versickerte, »du lebst also noch! Herzlichen Glückwunsch!« Ich robbte auf Knien und Ellbogen in den Schutz eines großen, verdorrten Blattes, das unter dem Bombardement erschüttert wurde wie ein Zeltdach aus feiner Seide. Ich setzte mich auf und bekam im selben Moment eine ganze Ladung Wasser über den Körper. Das Blatt, in dessen Höhlung sich das Wasser angesammelt hatte, war umgekippt. Der Schock des kalten Wassers fuhr über meinen vor Schmerzen glühenden Körper. Ich entspannte mich ein wenig, rang nach Luft und spürte ein Stechen in der Brust. Gebrochene Rippen? »Vielleicht!« murmelte ich. »Warum hat er mich eigentlich nicht gleich umgebracht?« Ich kam, triefend naß, auf die Beine und hielt mich an einem Pflanzenstengel fest. Abermals zu meinem Nachteil, denn zwei der großen Blätter neigten sich mit majestätischer Langsamkeit und schütteten ihr Reservoir an Wasser über mich aus. Wieder ein Blitz. Es roch nach Ozon. Und wieder ein krachender Donner. Peysen! Wo war er? Ich befand mich, soweit ich das von hier aus und in meinem Zustand erkennen konnte, am Rand der kleinen Lichtung. Ich hörte keine Stimmen mehr! Auch sah ich nicht die Schatten oder Silhouetten der Terraner. Als ich mich in den
Hans Kneifel strömenden Regen hinaus bewegte, immer entlang der sicheren Deckung von Wurzeln oder Halmen, von tief heruntergezogenem Gespinst oder Brücken aus alten Ästen, aus denen ein brauner, stinkender Saft herauslief wie aus einem geplatzten Abwassertank, verdichtete sich mein erster Verdacht. »Sie sind abgehauen! Sie haben die Flucht ergriffen!« Ich blieb stehen. Ich konnte gehen und denken. Das war schon viel wert für ein Wrack wie mich, für einen Mann in meiner Lage. Als ich mich abtastete, fühlte ich buchstäblich am ganzen Körper Druckstellen. Wenn ich einen Spiegel gehabt hätte, wäre ich vermutlich erschrocken. Erstens wegen meiner Sauberkeit, zweitens wegen meines Aussehens. Aber der wütende Schmerz in der Brust blieb, steigerte und schwächte sich ab, bei jedem Atemzug. Aber ich biß die Zähne zusammen und ging weiter. Ich zog mich, halb weinend vor Schmerzen, auf einen schrägen Ast hinauf und kletterte ganz langsam auf der schlüpfrigen Rinde höher und höher. Endlich, nachdem ich eine Barriere widerlich grün und gesund und sauber aussehender Blätter überwunden hatte, konnte ich die Lichtung zu drei Vierteln überblicken. Der Behälter mit den Siganesen war stehengeblieben. Leer? Auch der Helikopter stand davor, sauber waren neben ihm die Reihen der Reservekanister aufgestapelt. Und … »Das ist mehr Glück, als ich jemals in meiner bewegten Karriere hatte!« flüsterte ich. Der erste Blitz, der mich aufgeweckt hatte, war eine Art Zeichen gewesen. Ich hielt mich fest, während rund um mich ein dichter Regen von seltener Heftigkeit herunterrauschte. Der Einschlag hatte ein Gebilde aus Holz und Gespinstfäden getroffen. Die Feuchtigkeit innerhalb des Holzes war schlagartig verdampft und hatte den Baum auseinandergesprengt. Seine Teile ragten wie die Sprossen eines Rades nach allen Sei-
Die Flotte der Glücksbringer ten. Das Gespinst war verbrannt und verdampft worden. Und mindestens zehn Schiffchen – so viele konnte ich allein von hier aus sehen – waren frei. Sie lagen in dem Moder, den faulenden Blättern. Sie glänzten in der Nässe trotz des schwindenden Lichtes sehr intensiv. »Vielleicht gelingt es mir, noch andere Schiffe zu befreien!« sagte ich mir. »Ich weiß nicht, wie alles zusammenhängt, aber ich kann es wenigstens versuchen. Der Junge hat es geschafft, also rechne ich mir Chancen aus!« Jetzt wußte ich wieder, was ich zu tun hatte. Vielleicht waren die Schiffe von einem Steuermann abhängig, vielleicht handelten sie im technischen Rahmen von Robotmechanismen. Ich beschloß, dieses Gewitter mit dem unumgänglichen Wasserschwall abzuwarten und spürte Hunger und Durst. Und Schmerzen. »Also, Flannagan Schätzo, hilf mit, diese Aktion zum Ende zu bringen. Wie immer es aussieht.« Ich trank etwas von dem ekelhaften Regenwasser und fühlte mich zwar nicht mehr durstig, aber alles andere als erfrischt und zufrieden. Ich besaß noch einen Konzentratwürfel und mein Vibromesser. Als der Regen nachließ und die Sonne wieder durch die Dampfschleier stach, begann ich mit der Arbeit. Peysens Mannschaft war verschwunden. Der Behälter war, wie zu erwarten, leer. Peysen hatte sieben Kinder in seiner Gewalt und war mit Afruth Schwartz und allen anderen auf dem Rückzug zum Schiff. Ich hielt mit der Arbeit, die letzten Fäden von einem flach daliegenden Schiffchen abzuschneiden, ein. »Warum?« Ich dachte darüber nach, als ich trotz der stechenden Schmerzen fortfuhr, die Schiffe zu befreien. Es mußte sich etwas sehr Wichtiges am oder im Raumschiff ereignet haben. Mir fiel mein Funkgerät ein. Keine Anzeige; es war
45 ausgefallen. Hatte es Saggelor geschafft, zusammen mit dem Schiff, die Raumschiffbesatzung in Panik zu versetzen? Und zwar so nachdrücklich, daß Peysen mitten im Gewitter zu einer hastigen Flucht aufbrach? »Wie auch immer – weiter, Schätzo!« Ich schuftete wie ein Besessener. Als ich in der Dunkelheit der Nacht nicht mehr weiterarbeiten konnte, wußte ich von mindestens dreiundzwanzig Schiffchen, die sich frei bewegen konnten. Falls sie es technisch schafften. Ich lehnte mich gegen das letzte Schiff, steckte das Messer zurück in den nassen Stiefel und wagte einen Versuch. Öffne dich! Öffne die Schleuse! Ich bin krank und müde und hungrig! Ich bin elend! Diese und ähnliche Sätze dachte ich immer und immer wieder, so konzentriert, wie ich gerade konnte. Langsam spürte ich die Reaktion darauf, daß ich trotz der Schmerzen und der Verletzungen weiter gearbeitet hatte. Ich fühlte mich elend. Ich hungerte, zitterte und begann zu frieren. Ich war unglücklich, weil ich das Gefühl hatte, nichts Sinnvolles geleistet zu haben. Und dann öffnete sich die Schleuse dicht neben mir. In meinem Kopf wisperte, sehr undeutlich, eine Stimme: Komm herein. Ich bin der Glücksbringer. Ich werde deine Schmerzen vertreiben! Ich war zu benommen, um die Tragweite dieses Vorgangs voll zu erfassen. Ich reagierte wie ein krankes Stück Wild, das sich verkriechen wollte, weil es das Ende spürte. Ich versuchte, in die neu geschaffene Öffnung hineinzukriechen, hinter der ein vertrauensvoll kühles Licht brannte. Komm! wisperte dieses Schiff. »Glücksbringer!« knurrte ich, als ich durch den kurzen Tunnel kroch. Ich riß mir die Haut von den Schultern, den Knien und den Ellbogen, aber ich schaffte es tatsächlich, mit knapper Mühe ins Innere des Schiffes zu kommen. Hier war es kühl oder warm; ich wußte es nicht. Lege dich hin! Schlafe! Vergiß die Sor-
46
Hans Kneifel
gen! »Also doch ein telepathisches Schiff!« dachte ich laut, als sich die Schleuse wieder schleifend schloß. Ich fühlte mich schlagartig wohl. Aber die Botschaft des Schiffes war undeutlich und verschwommen. Ich verstand den Sinn, aber nicht die Nuancen. Ich schlief ein, vom Schmerz und der Müdigkeit überwältigt, und von einem neuen, nie gekannten Gefühl der Glückseligkeit umschmeichelt. Ich fühlte mich zurückversetzt in den Schoß der Mutter …
* Eine unbestimmte Zeit war vergangen, als Peysen das Schiff erreichte. Sie sahen aus, als hätten sie sich ununterbrochen kämpfend durch die Landschaft bewegt. Von der Kleidung hingen ihnen nur noch streifenförmige Fetzen an den Körpern. Sie waren von Wunden übersät. Die Siganesen befanden sich noch in der besten Verfassung – vergleichsweise. Sie paßten auf die Kinder auf, die sich in den Brusttaschen Gellers festklammerten. Afruth Schwartz blutete aus einer Stirnwunde, die immer wieder aufbrach. Das Mädchen war schlammbedeckt und nur noch ein Schatten seiner selbst. Aber noch immer hielt sie sich aufrecht und bewahrte ihre Haltung. Stanzo Peysen lief mit letzter Kraft, die Thermowaffe in der Hand, auf Cathcart zu. »Machen Sie endlich diesen Zaun auf, verdammt!« schrie er mit gebrochener Stimme. Sie hatten unterwegs die Waffen häufig benutzen müssen; ganz im Gegensatz zu der Zeit auf der Lichtung, in unmittelbarer Nähe der Schiffchen. »Die Koorbstas … wir haben es bisher nicht gewagt!« stammelte Dored Cathcart. »Es ist furchtbar … wir können nicht mehr ins Schiff hinein.« Schweigend, angefüllt mit tödlichem, heißem Zorn, wartete Peysen. Er würde sich selbst nicht mehr erkannt haben. Sie waren in einem Gewaltmarsch
hierher gerannt. Mehr als einmal mußte er seine meuternden Leute mit der Waffe bedrohen, damit sie sich aufrafften und weitergingen. Glow Geller hatte einen Arm und einen Fuß gebrochen und wurde von Kotlarsly und Borodkin auf einer behelfsmäßigen Bahre gezogen. Er stöhnte auf, als die zwei Männer die Tragegriffe losließen und Geller absetzten. »Was ist passiert?« »Wir wissen es nicht!« »Waaas?« schrie Peysen mit dunkelrotem Gesicht. Das Schiff stand noch immer an der alten Stelle, aber die Umgebung hatte sich wesentlich verändert. Die Männer schleppten sich in den relativ sicheren Raum neben der ausgefahrenen Rampe. Der Energiezaun wurde wieder eingeschaltet. Ma-Kona und Cathcart berichteten, was sie erlebt hatten. Schweigend hörte Peysen zu. Um ihn drängten sich, müde und erschöpft, seine Partner. »Dieses Schiff! Wo ist es? Noch an Bord?« Ma-Kona blickte von der Mündung der Waffe in das Gesicht Stanzos. »Wir wissen es nicht. Wir haben das Schiffchen nicht sehen können, falls es davongeflogen ist.« Peysen nickte. »Aber ich gebe nicht auf!« knirschte er. Er winkte Kotlarsly und Borodkin. Sie hoben die Waffen und kamen näher. »Wir müssen in das Schiff hinein!« bestimmte Peysen. »Wir schießen auf Verriegelungen und Widerlager der Polschleuse. Eine Öffnung, groß genug, daß einer von uns hineinkann, wird genügen.« »In Ordnung!« Alle Schleusen, die sie von hier aus sehen konnten, waren verriegelt und verschlossen. In die einzige Schleuse, die sich auf der oberen Krümmung des Schiffes befand, konnten sie auch nicht einsteigen, selbst wenn diese offen war. Fluchend feuerte Stanzo Peysen einen Schuß ab. Die Thermowaffen krachten und donnerten, und an den Stellen, wo das Material getroffen wurde, begann es dunkel
Die Flotte der Glücksbringer zu glühen, schließlich hell, und endlich spritzten die ersten Metalltropfen nach allen Seiten. Eine undurchdringliche Rauchwolke erhob sich und hüllte den Raum zwischen Schiff und Energiezaun in Dunkelheit. Hustend und mit tränenden Augen zogen sie sich zurück und warteten. Sie sahen nichts. Nur draußen, wo ununterbrochen die Koorbstas herumkrochen, sich an ihren Spinnenfäden von Ast zu Ast ihrer eigenen Bauwerke schwangen, herrschte rege Tätigkeit. Man sah keinen der halbintelligenten DieZagos. Peysen und seine Leute sahen auch nicht, wie ein Schwarm aus rund zwei Dutzend Schiffchen über die Rauchwolke hinwegflog und durch die geöffnete obere Polschleuse ins Schiff eindrang. Auch sah niemand die beiden Schiffchen, die sich in der Nähe einer Landestütze befanden. Sie schwebten regungslos und wie zwei wachsame Augen dort. Nach einer Weile kletterten die siganesischen Kinder aus den Brusttaschen des Verwundeten, der vor Schmerz wieder einmal ohnmächtig geworden war. Die Schiffchen warteten mit geöffneten Schleusen. Als die Kinder sich innerhalb der Glücksbringer befanden, schwirrten die Schiffchen davon … unbeobachtet. Der Rauch wurde dünner; sie sahen schon wieder die ausgeglühten Stellen rund um die Schleuse. »Los! Weitermachen! Wir haben dann die Bordgeschütze!« schrie Peysen und feuerte erneut. Knisternde und krachende Detonationen schmolzen die ersten Angeln auf. Das Metall floß in breiten, dünnen Fladen davon. Schließlich krachte der runde Ausschnitt an einer Stelle zu Boden und setzte das dörre Laub in Brand. »Hinein! Ins Schiff!« Peysen stürmte los. Er hielt die Waffe in der Hand und war fest entschlossen, jedes Schiffchen zu zerschießen, dessen er ansichtig wurde. Aber er sah kein einziges Schiff,
47 bis er sich am unteren Ende des AufwärtsAntigravschachtes befand. Er sprang hinein und landete, da er den Schwung einer funktionierenden Röhre angeglichen hatte, krachend auf dem Boden. »Verdammt!« Etwas Eiskaltes griff nach ihm, als er sich wieder hochstemmte und umsah. Der Antigrav, eine Maschine, die praktisch unzerstörbar lief und immer eingeschaltet blieb, war ausgefallen. »Cathcart!« brüllte er über die Schulter. Ma-Kona hastete hinter ihm her ins Schiff. Er blieb stehen, als er sich neben dem Einstieg in der senkrechten Röhre befand. »Warum habt ihr den Antigrav ausgeschaltet?« Ma-Kona erwiderte dumpf: »Wir haben nichts ausgeschaltet. Jedenfalls nicht wissentlich. Aber in der langen Zeit zwischen dem letzten Funkanruf und jetzt kann viel passiert sein.« »Los, hinauf in die Zentrale!« stieß Peysen hervor. Langsam schleppten sich die halbverhungerten, abgerissenen und erschöpften Partner dieses Unternehmens durch die ausgebrannte Schleuse ins Schiff. Peysen kletterte mit letzten Kräften die Wendeltreppe hinauf und sah unterwegs, daß einige Leitungen durchtrennt waren. Er blieb stehen und blickte genauer hin. Ein feiner Schnitt durchlief die Kabel und Röhren, als habe das Messer eines Chirurgen geschnitten. Das waren die Schiffchen! dachte Peysen. Seine Angst verstärkte sich noch mehr, als er weiter kletterte. Endlich befand er sich am Eingang in die Zentrale. Er lehnte sich gegen einen Schrank und schlug die Hände vors Gesicht. Er war wie versteinert, keiner normalen Regung mehr fähig. Sämtliche Schirme der Panoramagalerie waren explodiert. Er machte einen Schritt und sah, daß einige der wichtigsten Schaltpulte geöffnet worden waren. Er ging näher, ungläubig und wortlos vor Entsetzen.
48 Die Schalter waren zusammengeschmolzene Häufchen schwarzer Materie. Sie sahen aus wie heruntergetropftes Wachs von einer Kerze. Die Verdrahtung und die Anschlüsse der Bausteine und der integrierten Schaltungen waren zerschnitten und zerschmolzen. Langsam drehte er den Kopf und blickte von Pult zu Pult, von Bedienungsplatz zu Terminal und zurück. »Alles kaputt! Alles vernichtet! Unrettbar verloren!« murmelte er so leise, daß er sich selbst kaum verstand. Die anderen drängten sich in die Zentrale hinein und sahen Peysen, der seine Waffe fallen ließ und als gebrochener Mann zu einem Kontursessel wankte. Er ließ sich hineinfallen und blieb regungslos sitzen. »Was ist los?« »Die Kinder und das Schiff haben alles zerstört. Auf alle Fälle hier!« erwiderte Peysen leise. »Aber!« schrie das Mädchen, »wir können doch noch starten?« Nach einer langen Pause kam die Stimme von Glow Geller aus dem Korridor: »Wir werden hier auf diesem verfluchten Planeten sterben!« Der Hyperphysiker Marmarosa unternahm einen Inspektionsgang durch die Zentrale. Zusammen mit Cathcart, dem ehemaligen Kommandanten, betrachtete er die angerichteten Schäden. Sie erstreckten sich über alle Bedienungspulte und Anlagen, die etwas mit der Fortbewegung des Schiffes zu tun hatten. Hier war gründlich und mit Methode zerstört worden. »Die Kinder!« schrie Jon Tanzon über die Verstärker. »Wir haben sie in Raumfahrttechnik ausgebildet. Sie haben genau gewußt, wie man ein Schiff zerstören muß.« Sie dachten nicht einmal mehr daran, in die Energiezentralen vorzustoßen. Dort würde es ähnlich aussehen. »Das Schiff kann niemals mehr starten!« sagte Kotlarsly dumpf. »Vielleicht können wir ein Funkgerät bauen und um Hilfe rufen?«
Hans Kneifel Noch immer hatte Afruth Schwartz nicht aufgegeben. Aber ein einziger Blick in Peysens Gesicht belehrte sie eines anderen Endes. Es würde alles ganz langsam untergehen. Als sie später in den Funkräumen nachsahen, mußten sie auch dort erkennen, daß ein Hyperfunk-Notruf nicht mehr möglich war. Sie waren Ausgesetzte. Verloren auf dem Planeten der tödlichen Spinnen. Die Mission war gescheitert – sie alle waren gescheitert. Afruth kannte jetzt ihr eigenes Schicksal. Sie drehte sich um, verließ die Schleuse und versuchte, mit ihren Gedanken fertig zu werden. Es gelang ihr nicht.
* Wir trafen uns, als das Ende von allem bereits deutlich zu sehen war. Rings um uns arbeiteten Hunderte von Schiffchen daran, die restlichen, noch gefangenen Glücksbringer zu befreien. »Peysen hat mit seiner Gruppe sich einen Weg ins Schiff freigeschossen«, sagte Saggelor zu mir. »Ich habe es eben von einem Schiffchen erfahren. Sie finden nichts mehr; die Korvette wird niemals mehr fliegen. Wir haben das Schiff mit Hilfe der Glücksbringer unbrauchbar gemacht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich dich dafür loben soll«, sagte ich. »Du hast sie praktisch zum Tod verurteilt. Irgendwann werden die Waffen der Gruppe nicht mehr funktionieren, dann greifen die Koorbstas das Schiff an.« Saggelor erwiderte mit einer Härte, die ich an einem Kind noch niemals erlebt hatte: »Sie haben uns verurteilt, klein zu bleiben. Wir haben sie verurteilt, hier zu bleiben.« »Ich kann nichts daran ändern. Funktioniert auch kein Hyperfunkgerät mehr?« »Nichts dergleichen funktioniert!« Alle überlebenden Kinder befanden sich hier. Sie befreiten immer mehr Schiffchen. Heute, am letzten Tag, hatte man mehr als
Die Flotte der Glücksbringer
49
sechstausend Glücksbringer gezählt, eine riesige Armada winziger Schiffchen also. Saggelor beherrschte seinen Glücksbringer vollkommen, aber die anderen Kinder waren noch nicht so weit. Aber da die Schiffchen untereinander kommunizierten, war es nicht weiter schlimm. Ich hingegen hatte zu meinem persönlichen Glücksbringer nur insofern Kontakt, als es ihm gelang, die Spannungen von mir zu nehmen – ich war schon viel zu »verhärtet«, so wie Saggelor, mein kleiner Freund, mir versicherte. Die hypnogeschulten Kinder bekamen in den nächsten Stunden von mir die Koordinaten des Planeten Siga und würden sie an die Schiffchen übermitteln. Wir hatten beschlossen, uns auch nicht mehr um das abgestürzte und fluguntaugliche Labor der ausgestorbenen Wissenschaftler – also um die rätselhafte stählerne Insel – zu kümmern. Es war ein phantastischer Anblick, als
sich mehr als sechstausend Schiffchen in den Abendhimmel erhoben und immer schneller wurden. Ich genoß dieses Schauspiel. Irgendwann würden wir auf Siga landen, und dann konnte ich auch den dringenden Wunsch des Schiffchens erfüllen, nämlich mich heiß zu baden und neue Kleidung anzuziehen. Die Glücksbringer waren auch in dieser Hinsicht außerordentlich sensibel. Wir kommen, Siga, dachte ich. Wir kommen weitaus mächtiger zurück, als wir gegangen sind. Eine phantastische Flotte noch merkwürdigerer Maschinen mit ihren kleinen Insassen. Und mit Flannagan Schätzo! ENDE
ENDE