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Seewölfe 167 1
Kelly Kevin 1.
Gegen Mittag entwickelte der handige Nordwest bösartige Schärfe. Wolkenbänke schoben sich über die Kimm, die See wurde fast schwarz. Philip Hasard Killigrew betrachtete die langen weißen Schaumstreifen und zog die Brauen zusammen, bis sie nur noch von einer steilen Falte über der Nasenwurzel getrennt wurden. „Das kommt ja ganz schön dick, was?“ fragte Ben Brighton, der Bootsmann und erste Offizier der „Isabella“. „Noch dicker“, brummte Hasard. Der Wind zerrte an seinem schwarzen Haar und ließ Luvwanten und Pardunen wie zu straff gespannte Saiten vibrieren. Die ranke Galeone mit den überlangen Masten segelte raumschots durch den Kanal, auf dem Weg von Plymouth zur ThemseMündung. Länger als ein halbes Jahrzehnt waren die Seewölfe nicht mehr in ihrer Heimat gewesen. Jetzt hatten sie endlich wieder Merry Old England erreicht, hatten die „Bloody Mary“ in Plymouth auseinander genommen und die Perücke des dicken Nathaniel Plymson schwimmen lassen - und auch schon gemerkt, daß die Schätze der „Isabella“, die Ausbeute ihrer tollkühnen Raids rund um die Welt, geradezu magisch Galgenvögel, Halsabschneider und alles mögliche Gesindel anzog. „Gei auf Marssegel! Fier weg Großsegel und Blinde!“ Hasards Stimme übertönte mühelos das Orgeln des Sturms. Zu viele Segel würden sie jetzt nur in Schwierigkeiten bringen, falls der Wind umsprang. Pete Ballie stand am Ruder, die ankerklüsengroßen Fäuste um die Speichen des Rads gelegt, und hielt eisern Kurs. Auf der Kuhl lüftete Ed Carberry seine Decksmannen an und drohte, ihnen eigenhändig die Haut in Streifen von einem gewissen edlen Körperteil zu ziehen. Aber das tat er immer. Solange der Profos fluchte, Old O'Flynn Geister sah und der Schiffszimmermann den baldigen Untergang wegen der Bohrwürmer
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prophezeite, war auf der „Isabella VIII.“ die Welt in Ordnung. Philip und Hasard, die siebenjährigen Zwillinge, kauerten einträchtig neben dem Kombüsenschott und teilten sich die Reste einer Kokosnuß mit dem Schimpansen Arwenack. Mit dieser Koskosnuß hatte es eine besondere Bewandtnis: sie war nämlich nicht einfach aufgeschlagen worden, sondern sozusagen als Kriegswaffe zu Bruch gegangen. Als die wilde Horde des Banditenführers Patrick „Red Fox“ Killarney über die „Isabella“ hergefallen war, hatten sich auch die beiden Jungen ein bißchen an dem Kampf beteiligt. Ihr Großvater, der alte O'Flynn, hatte ihnen vorher erklärt, daß gleich die Fetzen fliegen würden und sie sich gefälligst gefechtsmäßig zu benehmen hätten. Womit er meinte, daß sie unter Deck bleiben und nicht einmal' eine Nasenspitze zeigen sollten. Und hinterher war dann beim besten Willen nicht mehr herauszufinden gewesen, ob Philip und Hasard das absichtlich mißverstanden oder ob die Erwachsenen sich tatsächlich so unklar ausgedrückt hatten. Die Zwillinge jedenfalls legten das „gefechtsmäßige Benehmen“ so aus, daß sie sich mit einem Haufen von Kokosnüssen ausrüsteten und die Dinger durch das Kombüsenschott den Feinden an die Köpfe warfen. Den Köpfen war das gar nicht gut bekommen. Einigen Kokosnüssen auch nicht. Die letzten Bruchstücke verhalfen eben jetzt den Zwillingen und dem Schimpansen zu einem Festmahl, und sie fanden gerade noch Zeit, die Schalen außenbords zu feuern, bevor Big Old Shane sie mit seiner Donnerstimme unter Deck scheuchte. Der Seewolf ließ Manntaue spannen und die Luken verschalken. Auch unter Fock und Besan lief die „Isabella“ jetzt eine Höllenfahrt. Der Nordwest wurde böig, so richtig biestig, überkommende Seen gurgelten über das Backbordschanzkleid, klatschten auf die Kuhl und liefen brodelnd und zischend
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durch die Speigatten ab. Dan O'Flynn hangelte sich über den Niedergang zum Achterkastell hoch und blieb keuchend neben Hasard und Ben Brighton stehen. „Wäre vielleicht besser, uns in eine geschützte Bucht zu verholen!“ schrie der junge Mann über das immer heftigere Toben der Elemente hinweg. „Ganz meine Meinung. Backbord voraus müßte jetzt jeden Moment das HatchetCliff auftauchen. In der Bucht dahinter sind wir sicher wie in Abrahams Schoß.“ „Aye, aye! Ich entere mal in den Großmars. Wenn wir Glück haben, können wir die Einfahrt mit halbem Wind anliegen.“ Der Seewolf nickte nur. Bei diesem Windchen war es keine Kleinigkeit, in den Ausguck zu entern, aber Dan O'Flynn wußte, was er tat. Er hatte immer noch die schärfsten Augen der Crew. Daran würde sich wohl auch so schnell nichts ändern, obwohl sich Dan sonst in jeder Beziehung gemausert hatte und überhaupt nicht mehr an das Bürschchen von früher erinnerte. Geschickt wie eine Katze enterte er in die Wanten und schwang sich über die Segeltuchverkleidung der Plattform. Er hatte das Spektiv mitgenommen und hakte einen Arm fest um den Mast, der sich bei jedem Wellenberg bedrohlich verneigte. Der Sturm pfiff und sauste, ein paar Männer blickten besorgt nach oben. Inzwischen bedeckten die dunklen, tiefhängenden Wolken fast den ganzen Himmel. Wie sie so dahinjagten, sah es aus, als würden sie jeden Augenblick an den Mastspitzen hängen bleiben. Dan wurde kräftig durchgerüttet. Doch nach einer Weile übertönte seine Stimme das Brausen. „Hatchet-Cliff Backbord voraus. Genau drei Strich vorlicher als dwars!“ „Runter mit dir!“ rief Hasard. „An die Brassen! Anluven! Wir werden die Bucht mit halbem Wind anliegen!“ Die Rahen knirschten, als sie dichter geholt wurden, die „Isabella“ schwang nach Backbord herum.
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Dan O'Flynn war schon vor dem Manöver abgeentert. Er hielt sich an einem der Manntaue fest und prüfte aus schmalen Augen das Rigg, das unter den Böen ächzte. Ein schwerer Brecher klatschte gegen die Bordwand, die „Isabella“ holte nach Steuerbord über - und im nächsten Moment gellte Dans Stimme über die Kuhl. „Wahrschau! Die Rah!“ Krachend sauste die Großmarsrah mitsamt dem aufgegeiten Segel nach unten. Stage brachen und pfiffen wie Peitschenschnüre durch die Luft. Die Männer spritzten blitzartig auseinander. Ed Carberry, Ferris .Tucker und ein halbes Dutzend anderer fluchten um die Wette, und diesmal beteiligte sich sogar der immer ruhige Ben Brighton daran. s .. „Über Bord mit dem Zeug!“ kommandierte Hasard. Die zerbrochene Rah war ohnehin zu nichts mehr zu gebrauchen. „Himmelarsch, kappt das verdammte Fall, bevor der ganze Mast zu Bruch geht!“ Smoky und Ferris Tucker stürzten sich mit Enterbeilen auf das wirre Tauwerk, das verdächtig an der Großrah zerrte. Wieder gab es einen scharfen, peitschenartigen Knall, dann konnten die Männer die Trümmer in die Tiefe fahren lassen. Leewärts, wohlweislich. Die „Isabella“ wäre nicht das erste Schiff gewesen, das sich auf diese Weise im Sturm selbst leckgeschlagen hätte. Minuten später konnte Hasard auch mit bloßem Auge die Klippe erkennen, die in ihrer Form tatsächlich an die Klinge einer Axt erinnerte. Die Einfahrt der Bucht war breit genug. Hasard kannte das Gebiet und wußte, daß es keine gefährlichen Untiefen gab. Wie ein windzerzauster Schwan rauschte die „Isabella“ auf den dunklen Einschnitt zu. Fock und Besan wurden weggefiert, kaum daß sie die Einfahrt passiert hatten, und mit der letzten Fahrt lief die Galeone in die Bucht, wo sie vor dem immer wütender von Nordwesten heranheulenden Sturm geschützt war. Der Anker faßte Grund, die „Isabella“ sackte leicht achteraus und schwoite um
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die Trosse. Vorsichtshalber ließ der Seewolf zusätzlich den zweiten Buganker ausbringen. Minuten später lag die Galeone tatsächlich sicher wie in Abrahams Schoß, und Ben Brighton wischte sich aufatmend den Schweiß von der Stirn. „Möchte wissen, ob die Dons es noch vor dem Sturm bis zur Küste geschafft haben“, meinte er nachdenklich. Hasard zuckte mit den Schultern. Die Spanier hatten ihnen Patrick „Red Fox“ Killarney auf den Hals gehetzt, den Banditenführer und ehemaligen irischen Rebellen. Immerhin bewies diese Tatsache, daß der Bursche über Kontakte zu irgendwelchen Agenten Seiner Allerkatholischsten Majestät verfügte. Die beiden spanischen Galeonen waren in die Tiefe gefahren, die Besatzungen hatten sich zum größten Teil in die Boote retten können. Und auch die Banditen, die an Bord gewesen waren – wohl um die Spanier bei dem geplanten Enterkampf zu unterstützen. Der Seewolf glaubte noch vor sich zu sehen, wie der große, knochige Mann mit dem brandroten Haarschopf im Bug eines Bootes gestanden und die Fäuste geschüttelt hatte. Was er schrie, war nicht zu verstehen gewesen, aber Hasard konnte sich denken, daß es sich um eine wüste Verwünschung gehandelt hatte. „Mit etwas Glück dürften sie es geschafft haben“, sagte er gedehnt. Und nach einer Pause: „Dieser Rotkopf ist von der zähen Sorte. Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir dem Burschen nicht zum letztenmal begegnet sind.“ * „Madonna!“ kreischte der spanische Capitan entsetzt. Das Tosen des Sturms übertönte seine Stimme. Die heranrollende Woge packte das quergeschlagene Boot, hob es hoch in die Luft und schleuderte es krachend auf die scharfkantige Klippe. Menschen schrien, das Bersten und Splittern der Planken mischte sich mit dem Tosen der Elemente. Die Küste war ein kompakter
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Schatten zwischen dem aufgewühlten Meer und den jagenden Wolken, gesäumt von der fahlen Linie des Strandes, wo gerade die ersten Überlebenden an Land wateten. „Hart Steuerbord!“ brüllte Patrick Red Fox Killarney, der sein Boot bisher mit Geschick und Instinkt vor größerem Schaden bewahrt hatte. Er bediente die Pinne, beobachtete die Wellenberge, die den kleinen Kahn immer wieder in schwindelerregende Höhen trugen und steil abstürzen ließen, und starrte erbittert zu dem weißen, schäumenden Brandungsstreifen hinüber. Wenn sie nicht vorher einen Brecher erwischten oder querschlugen, würde es sie wohl glücklich auf den Strand werfen. Red Fox schauerte bei dem Gedanken an das zerschmetterte Boot. Zwecklos, irgendwelche Überlebenden aus der kochenden See fischen zu wollen. Sie konnten von Glück sagen, wenn sie es selbst bis zur Küste schafften. Die verdammten Spanier hatten nicht glauben wollen, daß sich da ein Unwetter zusammenbraute. Statt sich wie die Besessenen in die Riemen zu legen, hatten sie einen gemütlichen Rundschlag gepullt, und Red Fox Killarney konnte nichts gegen die Sturheit der Offiziere ausrichten, da seine eigenen Leute in den verschiedenen Booten verteilt waren. Jetzt hockte der Erste der „Navarre“ bleich wie ein Laken auf der Ducht und überließ dem rothaarigen Banditen das Kommando, weil er eingesehen hatte, daß der zumindest die Küstengewässer von Plymouth besser kannte. „Brecher achteraus!“ schrie einer der Männer hysterisch. „Pullt!“ brüllte Red Fox. „Schneller. wenn euch euer Leben lieb ist! Hool weg! Hoool weg ...“ Das Donnern des Brechers verschluckte seine Worte, schäumend und kochend rauschte es unter dem Bootskiel durch. Der Kahn tanzte wie eine Nußschale unter einem Wasserfall, wurde von der nächsten Woge gepackt und emporgehoben, aber irgendwie schafften sie es auch diesmal,
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vor dem Wind zu bleiben und nicht quer zwischen die Wellenberge zu geraten, was unweigerlich zum Kentern geführt hätte. Minuten später gerieten sie in den Brandungsbereich, wurden von Urgewalten gepackt und vorwärts gewirbelt. Aber sie landeten auf Sand, zerschellten nicht zwischen den Klippen, und die Männer brauchten nur noch wenige Schritte durch das kochende Wasser zu waten, um den Strand zu erreichen. Taumelnd und stolpernd hasteten sie zu den anderen hinüber, die sich im Schutz von Klippen und dicken, rundgewaschenen Felsblöcken zusammendrängten. Das letzte Boot schaffte es ebenfalls bis zum Strand. Der spanische Capitan, der die gesunkene „Marguerite“ befehligt hatte, war bleich wie ein Laken. Wut ließ seine Zähne knirschen und seine schwarzen Augen flackern. Er hatte den ehrgeizigen Plan gehabt, die „Isabella“ zu kapern und den legendären Seewolf gefangen zu nehmen — El Lobo del Mar, wie man ihn in Spanien nannte. Jetzt ruhten die „Marguerite“ und die „Navarre“ auf dem Meeresgrund. Männer waren gestorben, die Überlebenden an der Küste des feindlichen England gestrandet. Und den Schuldigen, diesen verdammten rothaarigen Iren, durften sie nicht einmal zur Hölle schicken, weil er der einzige war, der ihnen in dieser prekären Lage noch weiterhelfen konnte. Red Fox Killarney lehnte zusammengekauert an einer der Klippen. Auch in seinen Augen glomm die Wut wie ein Feuer. Er begriff das einfach nicht. Schon wieder hatte er eine Niederlage einstecken müssen und nur mit Mühe und Not seine Haut gerettet. Seit er den Plan gefaßt hatte, sich die Reichtümer im Bauch der „Isabella“ unter den Nagel zu reißen, hatte es überhaupt nur Niederlagen gegeben. Zuerst der Plan, die Galeone zu überfallen, während der Seewolf mit seinen Leuten unterwegs war, um die vier Männer zu befreien, die die Banditen gefangen genommen hatten. Nicht genug damit, daß die neun Männer auf der
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„Isabella“ mit der zweifachen Übermacht der Banditen regelrecht Ball gespielt hatten — auch die Gefangenen hatten sich befreien können, obwohl sie eigens in ein neues Versteck gebracht worden waren. Während Red Fox mit den spanischen Agenten sprach, waren seine Leute auf die zweite Hälfte der Seewölfe gestoßen und hatten prompt die zweite vernichtende Niederlage eingesteckt. Und als Killarney erschienen war und, rasend vor Wut, Philip Hasard Killigrew zum Duell gefordert hatte, war der Banditenhäuptling so sangund klanglos untergegangen, daß er immer noch nicht begriff, wie das hatte geschehen können. Die Flüche des spanischen Capitans unterbrachen seine Gedanken. Killarney biß die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er den Kerl einfach niedergeschlagen, aber er brauchte ihn noch. „Eure eigene Schuld, Amigo“, knurrte der Banditenhäuptling gallig „Ich habe euch gewarnt. Ich habe euch den Rat gegeben, auf Verstärkung zu warten, um die Galeone mit mehr als nur zwei Schiffen anzugreifen ...“ „Gewarnt! Gewarnt! Ist der Kerl vielleicht ein Übermensch, daß man einen ganzen Verband braucht, um ihn zu vernichten?” „Ihr habt ihn jedenfalls unterschätzt. Ich habe euch gesagt, daß diese Männer wie die leibhaftigen Teufel kämpfen ...“ Killarney ballte die Hände, weil die Bilder des Kampfes auf der „Isabella“ wieder vor seinen Augen auftauchten. Man hatte sie abfahren lassen wie dumme Jungen und sie einfach so lange immer wieder ins Wasser befördert, bis sie hatten aufgeben müssen. Mit einer Bratpfanne waren sie verprügelt worden, mit einem Holzbein getreten, mit einer Lieknadel gepiekt, als ob das alles nichts weiter als ein amüsantes Feierabend-Vergnügen gewesen wäre. Sogar ein Affe hatte mitgemischt. Dann waren da noch die beiden Jungen gewesen, die aus der Kombüse mit Kokosnüssen geworfen hatten - Zwillinge. Knirpse, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, die das gleiche
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schwarze Haar und die gleichen eisblauen Augen hatten wie der Seewolf. An dieser Stelle stockten Killarneys Gedanken. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. Er sah sich um, entdeckte den spanischen Agenten mit dem Namen Lorenzo unter den nassen, frierenden Männern und kämpfte sich schräg gegen den Wind zu ihm hinüber. „Schöne Bescherung, die du uns da eingebrockt hast!“ begrüßte ihn der Spanier. „Eure eigene Schuld!“ Killarney mußte schreien, um den Sturm zu übertönen. „Hör zu, Lorenzo! Könntet ihr es schaffen, mit einem Logger oder irgendeinem anderen Kahn den Verband zu erreichen, von dem dieser blöde Hund von Capitan gesprochen hat?“ Lorenzo zuckte zusammen wegen der Beleidigung seines Landsmanns. Aber im Augenblick interessierte ihn mehr, was der rothaarige Banditenhäuptling inzwischen ausgebrütet hatte. Red Fox Killarney war ein Lump, ein geldgieriger Halunke, vielleicht sogar ein Verräter an der spanischen und irischen Sache, aber er war auch clever, gerissen und ungemein hartnäckig, wenn es galt, ein einmal gestecktes Ziel zu verfolgen. „Sicher“, erwiderte Lorenzo gedehnt. „Das ließe sich hinkriegen. Aber wie wollen wir einen Logger auftreiben? Weder ihr noch wir können uns hier an der Küste offen sehen lassen.“ Red Fox blickte aus schmalen Augen auf die kochende See hinaus. Er mußte immer noch schreien, der Sturm würde so schnell wohl auch nicht abflauen. Aber das paßte im Grunde ganz gut in Killarneys Pläne. „Die ,Isabella' hat sich bei dem Wetter garantiert in eine geschützte Bucht verholt“, sagte er. „Wenn wir uns Pferde und Wagen beschaffen, könnten wir verdammt schnell die Insel Wight erreichen. Wir haben Freunde dort. Strandräuber - Leute, die nicht viele Fragen stellen, wenn es was zu holen gibt. Und der Sturm verschafft uns einen Vorsprung.“
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„Einen Vorsprung wozu?“ fragte der Spanier mit zusammengekniffenen Augen. Killarney grinste. „Einen Vorsprung, um eine perfekte Falle zu bauen“, sagte er. „Wir erwischen die ,Isabella` doch noch! Und du und deine Freunde - ihr werdet euch rühmen können, El Lobo del Mar gefangen genommen zu haben.“ 2. Der Sturm tobte den ganzen Tag und die halbe Nacht und flaute dann so plötzlich ab, als sei ihm die Luft ausgegangen. In der Bucht hatte er der „Isabella“ nichts anhaben können. Längst waren eine neue Großmarsrah geriggt und die restlichen Schäden behoben worden. Ferris Tucker strich wie ein grollender Geist durchs Schiff, kontrollierte jede Luke, jede Planke und jeden Augbolzen. Al Conroy, der Stückmeister, prüfte mit der gleichen Gründlichkeit den Zustand der Geschütze. Ed Carberry fluchte mal wieder das Blaue vom Himmel, aber der einzige, der wirklich Grund zum Jammern hatte, war der Kutscher, der in seiner eigenen Kombüse fast einen Salto geschlagen und dabei ein Mehlsäckchen beschädigt hatte. Jetzt sahen Kutscher und Kombüse wie gepudert aus, und zum Schaden hatte der Koch und Feldscher der „Isabella“ natürlich auch noch den Spott, letzteren in reichem Maße. Der Profos lüftete Blacky, Smoky und Bill an, um den „verdammten Saustall“ aufzuräumen. Die Zwillinge beteiligten sich an der Aktion, und der Kutscher, gerührt ob dieses freiwilligen Einsatzes, ließ sie besonders tief in den Sack mit den getrockneten Weinbeeren greifen, was für die beiden ja auch der Sinn der Übung gewesen war. Früh am Morgen ging die „Isabella“ ankerauf und segelte aus der Bucht. Der Wind war kein Wind mehr, sondern höchstens ein lächerliches Säuseln, aber da er raumschots einfiel, liefen sie trotzdem Fahrt. Bill kauerte im Großmars, suchte die Kimm ab und beobachtete die grüne, hügelige Küste. Der Himmel war klar bis
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auf ein paar weiße Schönwetter-Wolken, die Sonne strahlte, und die starke Dünung, die der Sturm zurückgelassen hatte, glänzte wie mit großen, gleißenden Flecken von Quecksilber besät. Bill mußte zweimal hinschauen, ehe er die Umrisse des treibenden Bootes erkannte. Eine Nußschale von Kahn. Eher noch das Beiboot eines Fischerei-Loggers, der mit ein paar Mann Besatzung auskam. Eines Loggers, der im Sturm gekentert sein mußte, wie sich Bill klarmachte. „Deck!“ rief er. „Boot steuerbord querab! Treibt genau auf uns zu und - verdammt, da liegt einer drin!“ „Wirst du wohl das Fluchen lassen, zum Teufel!“ schrie Carberry mit Stentorstimme. „Ja, ver ...“ Bill schluckte den Rest, weil ihm einfiel, daß er schließlich irgendwann wieder abentern mußte. „Ein Schiffbrüchiger, glaube ich“, meldete er. „Muß wohl zu einem Logger gehören, den der Sturm umgelegt hat.“ Inzwischen war das Boot auch vom Achterkastell aus zu sehen. Hasard kniff die Augen zusammen, aber die reglose Gestalt in der Nußschale konnte er erst Minuten später erkennen. Ein Mann, der bäuchlings über der Ducht zusammengebrochen war. Die Riemen hatte er verloren. Wenn er sich tatsächlich von einem sinkenden Logger gerettet hatte, dann mußte er schon seit Stunden so treiben: zuerst in der kochenden See und jetzt in der immer noch bedrohlich steilen Dünung— bedrohlich jedenfalls für diese Nußschale, bei der es an ein Wunder grenzte, daß sie nicht längst quergeschlagen und gekentert war. „Beiboot klarmachen!“ befahl Hasard. „Ferris, Batuti, Blacky, Luke! Backbrassen die Rahen! Wir drehen bei!“ „Könnte das ein Spanier sein?“ fragte Ben Brighton neben ihm. „Jemand von den beiden Galeonen, die wir auf Tiefe geschickt haben?“ Hasard kniff die Augen zusammen. „Glaube ich nicht! Erstens könnte er nach menschlichem Ermessen nicht mehr hier herumschwimmen, zweitens kann ich mir
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nicht vorstellen, daß die Spanier ein so kleines Beiboot an Bord hatten.“ „Stimmt auch wieder. Wahrscheinlich hat Bill recht — irgendein Logger, der im Sturmgekentert ist.“ Die „Isabella“ hatte an Fahrt verloren, jetzt wurden die Segel aufgegeit, die an den gegengebraßten Rahen killten. Ferris Tucker, Blacky, Luke Morgan und Batuti; der hünenhafte Gambia-Neger, schwenkten das Beiboot aus und fierten es ab, bis der Kiel aufs Wasser klatschte. Inzwischen waren auch die Zwillinge und der Kutscher aus der Kombüse aufgetaucht. Philip und Hasard kauten mit vollen Backen. Der Kutscher hielt eine Bratpfanne in der Hand, an der noch etwas Mehl haftete — dieselbe Bratpfanne, mit der er bei dem Kampf in Plymouth um sich geschlagen hatte. Bei diesem Kampf hatte er endlich mal so gekonnt, wie er wollte, da hatten sie jede Hand gebraucht und ihm nicht mit dem Argument kommen können, daß sich der Feldscher, der die Verwundeten zu behandeln hatte. gefälligst aus der Schußlinie heraushalten müsse. Und eine solide eiserne Bratpfanne konnte es durchaus mit jeder anderen Waffe aufnehmen. Es war schon eine Schande, daß ihm anschließend dieses Mißgeschick mit dem Mehlsack hatte passieren müssen. Ziemlich trübsinnig sah er zu, wie das Beiboot ablegte und die Männer auf die treibende Nußschale zupullten. Die Zwillinge enterten in die SteuerbordWanten, wo bereits der Schimpanse Arwenack auf einer Webleine schaukelte. Er empfing ein paar getrocknete Weinbeeren, die ihm genauso gut schmeckten, wie den beiden Jungen, was Sir John, den roten Ara-Papagei, dazu veranlaßte, ziemlich ungehalten über ihren Köpfen herumzuflattern und sie in bester Carberry-Manier als Rübenschweine und Nachkommen triefäugiger Wassermänner zu beschimpfen. Das Beiboot der „Isabella“ hatte inzwischen den treibenden Kahn erreicht und wendete.
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Luke Morgan setzte in die Nußschale über, um die Vorleine wahrzunehmen und zu belegen. Das kleinere Boot wurde in Schlepp genommen: kein Problem für Ferris Tucker und Batuti mit ihren muskelbepackten Hünengestalten. Luke Morgan kauerte auf der Ducht und hob vorsichtig den Kopf des Mannes an. Bewußtlos war der Schiffbrüchige nicht. Er stöhnte leise, seine Augen flackerten. Unverständliche Laute drangen über seine Lippen, und Luke klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. ,,Ist ja schon gut, Junge! Gleich hast du's überstanden. Ein verdammter Don bist du nicht, eh?“ Wieder bestand die Antwort aus unverständlichen Lauten. Aber es waren immerhin englisch klingende Laute, und auch Luke Morgan begrub den Verdacht, daß es sich bei dem Mann um einen Überlebenden von der „Marguerite“ oder der „Navarre“ handeln könne. Einen Unterschied hätte es ohnehin nicht bedeutet. Die Seewölfe kämpften für ihr Land, aber sie kämpften nicht gegen Wehrlose oder Gegner, die sich bereits ergeben hatten. Wenn ein Mensch in Not war und Hilfe brauchte, spielte es keine Rolle, ob er Engländer, Spanier oder was auch immer war. Und inzwischen gab es schon so manchen „verdammten Don“, der die Gerüchte über die angeblich so blutrünstigen Seewölfe nicht mehr glaubte, weil er es besser wußte. Minuten später wurde der Schiffbrüchige mitsamt seinem kleinen Boot an Bord genommen. Schlaff sank er auf die Planken, völlig erschöpft, mit geschlossenen Augen, und niemand zweifelte daran, daß er am Ende seiner Kraft war. * Die Spanier von „Marguerite“ und „Navarre“ und die englischen Banditen kampierten in einem Waldstück in Höhe der Insel Wight.
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Lorenzo und Ernesto, den Agenten Seiner Allerkatholischsten Majestät, war es gelungen, auch die beiden Kapitäne von Red Fox Killarneys Plan zu überzeugen. Pferde und Wagen, von einem Bauern für spanische Golddublonen erworben, wurden gegen Boote und Kleidungsstücke eingetauscht — gebrauchte Kleidungsstücke, die keinerlei Anspruch auf Eleganz erheben konnten. Aber auch die spanischen Offiziere hatten eingesehen, daß sie sowenig wie möglich auffallen durften. Und jetzt, in ausgefransten Kniehosen, verwaschenen Hemden und einfachen Wämsern, sahen sie überhaupt nicht Mehr vornehm aus, sondern wie ganz normale Menschen. Für die erfahrenen Seeleute war es trotz der steilen Dünung kein Problem, mit den kleinen Booten nach Wight überzusetzen. Red Fox übernahm die Führung und lotste die ganze Horde in eine versteckte Bucht. Die Männer waren ausgehungert und durchgefroren, doch das würde sich rasch ändern. In dem kleinen Dorf mit seinen windschiefen, düsteren Steinhäusern, zu dem sich Red Fox mit einigen Kumpanen durchschlug, hatten noch bis vor kurzem die Strandräuber das Sagen gehabt. Killarney nahm auch nicht an, daß sich daran seit seinem letzten Besuch etwas geändert hatte, aber er hielt es für besser, vorsichtig zu sein und sicherzugehen. Sein alter Kumpane Barnabas Ahab, Big Barnabas genannt, war der Wirt eines Gasthauses mit dem schönen Namen „Totenkiste“. Die „Totenkiste“ lag am Rand des Dorfes auf einer Klippe: ein langgestreckter Steinbau mit Ställen, Anbauten und tiefen Kellern, der schon manchem Sturm getrotzt hatte und so zerzaust wirkte wie die wenigen Kiefern und die struppigen Riesendisteln ringsum. Jetzt am hellen Tag herrschte wenig Betrieb. Ein paar finstere Gestalten schütteten Wein in sich hinein und würfelten. Big Barnabas stand hinter dem Schanktisch: ein nicht besonders großer, aber ungeheuer breit gebauter Mann mit
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langen, baumelnden Gorilla-Armen, braunem Zottelhaar, buschigen Brauen und einer pockennarbigen Kraterlandschaft von Gesicht, das durch die plattgeschlagene Nase und den verbogenen Kiefer auch nicht mehr viel häßlicher werden konnte. Wenn er grinste, wandten sich zartbesaitete Gemüter zur Flucht. Aber Red Fox Killarney war kein zartbesaitetes Gemüt und breitete theatralisch die Arme aus, als Big Barnabas Ahab strahlend auf ihn zuwalzte. Die beiden Ober-Halunken umarmten sich, schüttelten sich die Hände, klopften sich auf die Schultern und versicherten sich gegenseitig wortreich ihre außerordentliche Wiedersehensfreude. Danach floß Rum in tassengroße Zinnbecher und von dort in durstige Kehlen. Beide Seiten klagten ausgiebig über den miserablen Gang der Geschäfte — damit gleich klar war, daß es mit eventuell erwarteten freundschaftlichen Hilfeleistungen leider nichts werden würde. Dann kam man zum Geschäft, und es dauerte nicht mehr lange, bis Barnabas Ahabs tiefliegende Augen begierig funkelten. Die Aussicht auf einen Anteil an den Schätzen der „Isabella“ ließ ihn in neuerliche Beteuerungen unverbrüchlicher Freundschaft ausbrechen. Die Würfelspieler wurden zu Rate gezogen, weiterer Rum floß, schließlich begaben sich zwei Abordnungen auf den Weg. Eine, die die restlichen Banditen und die Spanier zur „Totenkiste“ geleiten sollte, die zweite, die im Dorf für zweischnelle, gut besegelte Boote sorgen würde. Mit Hilfe von Barnabas Ahab und seinen Strandräubern wurden die notwendigen Vorbereitungen in Rekordzeit getroffen. Schon eine knappe Stunde später legte das erste Boot ab. An Bord befanden sich Ernesto, der Agent, der Capitan der „Navarre“ und ein halbes Dutzend Spanier. Sie wußten ungefähr, wo sie die Verstärkung finden konnten, die sie brauchten, und sie wurden beflügelt von der Aussicht, endlich den gehaßten und
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gefürchteten El Lobo del Mar zu überwältigen. Das zweite Boot, ein solider Logger, sollte erst gegen Abend in See gehen. Red Fox Killarney wählte eine Besatzung von zehn Mann aus, die er dazu verdonnerte, höchstens noch am Rum zu riechen. Der Gedanke an Gold, Perlen und Edelsteine erleichterte ihnen den Verzicht, außerdem gingen Red Fox, Big Barnabas und der Spanier Lorenz() mit gutem Beispiel voran — da sie einen klaren Kopf brauchten, um sich gegenseitig zu belauern. Der Rest der Männer sorgte dafür, daß in der „Totenkiste“ die Wände wackelten. Sie, feierten bereits den Sieg. Der Rum ließ sie sehr schnell vergessen, daß sie alle schon am eigenen Leib erfahren hatten, wie schwer es war, gegen die Crew der „Isabella“ einen Sieg zu erringen. * „Hm“, meinte der Kutscher. Er hockte neben dem Schiffbrüchigen, der am Schanzkleid der Kuhl lehnte, und blickte ziemlich ratlos drein. Den blutigen Riß in der Kopfhaut des Mannes hatte er bereits mit Salzwasser und Salbe behandelt. Getrunken hatte der Bursche auch: erst Wasser, dann Rum, dann eine Schale kräftiger Fleischbrühe. Aber er wirkte immer noch verwirrt und apathisch, und der Koch und Feldscher der „Isabella“ wußte nicht mehr, was er noch mit dem Patienten aufstellen solle. „Verrückt'', murmelte er. „Der hat höchstens 'ne Latte an den Kopf gekriegt. Davon kann ein kräftiger Kerl eigentlich nicht in so einen belämmerten Zustand geraten.” „Vielleicht der Schock oder so was?“ fragte Ferris Tucker. „Schock? Wegen eines gekenterten Loggers?“ brummte der Kutscher zweifelnd. „Du mußt es ja wissen, du blöder Kombüsenhengst“, raunzte Old O'Flynn. „Du hast ja auch massenweise Erfahrung darin, wie einem zumute ist, wenn- man
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stundenlang in so einer Nußschale treibt, wie? Ich kann euch sagen, das ist eine ganz verdammte Sache, ist das! Da können einem schon ganz schön die Mucks im Schapp durcheinander geraten. Ich meine, ich spreche natürlich nicht von mir, aber ...“ „Klar!“ Dan O'Flynn grinste. „Bei dir sind die Mucks im Schapp sowieso durcheinander.“ „Na warte, du grüner Hering! Gleich schnalle ich mein Holzbein ab, dann wollen wir mal sehen, ob du noch dein vorwitziges Mundwerk aufreißt. Und so was habe ich in die Welt gesetzt!“ Old Donegal schnaufte empört. Die anderen hatten interessiert zugehört, denn was den Zustand des Schiffbrüchigen betraf, da hatte der alte Mann tatsächlich entsprechende Erfahrung. Damals, als er auf die .,Isabella“ kam, .hatten ihn die Seewölfe halbtot aus einem treibenden Boot gefischt, und selbst bei diesem Mann aus Granit und Eisen hatte es eine Weile gedauert, bis er wieder fit gewesen war. Ben Brighton kauerte sich neben dem Schiffbrüchigen auf die Fersen und blickte in das bärtige Gesicht. „Jetzt hör mal zu, Junge“, sagte er ruhig. „Du bist hier in Sicherheit und brauchst dir keine grauen Haare mehr wachsen zu lassen. Aber du wirst ja wohl nicht mit uns nach London segeln wollen, oder? Also mußt du uns schon erzählen, wer du bist und wo du herkommst, klar?“ Der Mann starrte ins Leere. Nur seine Lippen bewegten sich zuckend. „Wight“, flüsterte er. „Jeremy – Wight ...“ „Du heißt Jeremy und stammst von der Insel Wight?“ „Ja – Wight ...“ „Möchtest du, daß wir dich dort an Land setzen?“ Keine Antwort. Ben richtete sich auf, wandte sich dem Seewolf zu und hob ratlos die Schultern. „Wahrscheinlich hast du recht“, meinte Hasard. „Er dürfte zu den Fischern von Wight gehören. Da wir ohnehin an der Insel vorbeisegeln, können wir den Burschen auch dort an Land setzen.-
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„Und jetzt? Was tun wir mit ihm?“ „Flößt ihm eine Muck Rum ein und bringt ihn ins Logis. Ich schätze, er kann eine Mütze voll Schlaf gebrauchen.“ Keiner der Männer konnte ahnen, daß sie keinen bedauernswerten Schiffbrüchigen, sondern den Teufel an Bord genommen hatten. 3. Das einzige, was an der Geschichte des „Schiffbrüchigen“ stimmte, war der Name Jeremy. Jerry the Knife, Jerry das Messer – so wurde er von seinen Kumpanen genannt. Auf einem Fischerei-Logger war er zuletzt als halbwüchsiger Junge gefahren. Er hatte keinen Schiffbruch erlitten, sondern das winzige Boot von der Küste aus in den Kanal gepullt. Die Riemen hatte er weggeworfen, als die „Isabella“ gesichtet worden war. Die Beule am Kopf verdankte er tatsächlich einer Latte: sie war von Red Fox Killarney persönlich mit größtmöglicher Rücksichtnahme geschwungen worden. Seine Erschöpfung, der starre Blick und der apathische, verwirrte Zustand wiesen auf nichts anderes als auf die schauspielerischen Fähigkeiten hin, wegen denen Jerry the Knife für diese schwierige Aufgabe ausgewählt worden war. Einer ganzen Portion Mut bedurfte es natürlich auch noch. In dieser Hinsicht hatte das Versprechen nachgeholfen, an den Schätzen, die man erbeuten würde, mit einem doppelten Anteil beteiligt zu werden. Bei dem bärtigen Banditen überwog die Gier die Vorsicht. Trotzdem gab er sich keinen Illusionen über die Risiken des Unternehmens hin, und da Angst bekanntlich eine gute Lehrmeisterin ist, war seine Theatervorstellung perfekt ausgefallen. Ein paar Stunden lang lag er reglos und mit geschlossenen Augen in einer Hängematte im Logis und kämpfte krampfhaft gegen die Müdigkeit, da er auf keinen Fall einschlafen durfte.
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Der genossene Rum trug nicht gerade dazu bei, ihn munter zu halten. Aber es gab eine einfache Methode: er brauchte nur daran zu denken, was die Seewölfe mit ihm tun würden, wenn etwas schiefging, um sofort wieder hellwach zu werden. Nach der Schilderung von Killarneys Banditen waren diese Kerle allesamt blutrünstige Teufel, Ungeheuer und wahre Übermenschen. Jeremy, der an dem Kampf nicht beteiligt gewesen, sondern später angeheuert worden war, ahnte zwar, daß die Banditen gehörig übertrieben, um ihre Niederlage zu begründen, doch wenn auch nur die Hälfte stimmte, reichte das immer noch, um einem normalen Mann einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Jerry the Knife wartete ab, bis die Freiwächter im Logis fest schliefen und mit ihrem Schnarchkonzert die Planken beben ließen. Vorsichtig richtete sich der vermeintliche Schiffbrüchige auf, glitt aus der Hängematte und blieb lauschend stehen. Niemand rührte sich, die vielstimmigen Schnarchtöne veränderten sich nicht. Auf Zehenspitzen glitt Jerry the Knife aus dem Logis, huschte den Niedergang hinauf und peilte vorsichtig durch das Schott. Die Kuhl lag leer vor ihm. Mit raumem Wind lief die „Isabella“ wie Samt und Seide, die Wachen hatten kaum etwas zu tun. Der Bandit lauschte auf die Schritte, kämpfte gegen das flaue Gefühl im Magen und wagte sich schließlich weiter. Seine winzige Nußschale war an Bord gehievt worden und lag neben einem der Beiboote der „Isabella“. Ungesehen huschte Jerry the Knife hinüber und duckte sich mit hämmerndem Herzen in den tiefen Schatten. Vorsichtig glitt seine Hand unter die vordere Ducht, wo unsichtbar zwei lederne Tragschlingen befestigt waren. Ein Holzbohrer erschien. Einer von der Sorte, wie ihn auch Ferris Tucker bei seinem Zimmermannswerkzeug hatte. Der Bandit schob das Ding unter sein Hemd, sah an sich hinunter und stellte fest, daß man es trotzdem bemerken würde, falls er
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überrascht wurde. Er durfte sich eben nicht erwischen lassen. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, doch er preßte entschlossen die Zähne zusammen. Auf Zehenspitzen wie zuvor schlich er ins Vorschiff zurück, und von dort aus konnte er oh ne Angst vor Entdeckung die Laderäume erreichen. Die völlige Finsternis war ein Problem, mit dem er nicht gerechnet hatte. Einen Augenblick überwältigte ihn fast die Panik, dann riß er sich zusammen. Es spielte keine Rolle, ob er den Weg einmal mehr oder weniger zurücklegte. Seine Nerven vibrierten zwar wie ein Zitterrochen, er verspürte geradezu jämmerliche Angst, aber er kehrte noch einmal ins Logis zurück und holte eine Lampe. Erst im Laderaum schlug er Feuer und entzündete sie. Ihr flackernder Schein huschte über festgezurrte Fässer, Säcke, Kisten und Kästen. Vergeblich hielt Jerry the Knife nach den sagenhaften Schätzen Ausschau. Wahrscheinlich waren sie sorgfältig versteckt, und der Bandit hatte jetzt beim besten Willen keine Zeit, danach zu suchen, obwohl es ihn gereizt hätte, schon mal eine Handvoll Perlen oder Edelsteine in die eigenen Taschen zu schaufeln. Er schob den Gedanken beiseite und arbeitete sich langsam nach achtern vor. Hier unten waren nur das Ächzen der Verbände und das Plätschern der Wellen gegen die Bordwände zu hören. Der Bandit begann, sich etwas sicherer zu fühlen. Er stellte die Lampe ab, überzeugte sich davon, daß sie nicht umkippen konnte, und überprüfte noch einmal den Holzbohrer. Alles in bester Ordnung! Jerry the Knife lächelte, und seine Augen funkelten triumphierend, als er an die Arbeit ging. * Um dieselbe Zeit verspürte Ferris Tucker eins der menschlichen Bedürfnisse, die auf einem Segelschiff traditionell vorn auf dem Galion erledigt wurden.
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Der rothaarige Riese hatte Freiwache. Um die anderen nicht zu stören, verließ er das Logis im Dunkeln, und daher entging ihm, daß der vermeintliche Schiffbrüchige nicht mehr in seiner Hängematte lag. Ferris erledigte, was er zu erledigen hatte, und er wußte selbst nicht so genau, was ihn daran hinderte, anschließend sofort wieder in seine Hängematte zu sinken. Ein Geräusch aus dem Schiffsbauch? Ferris Tucker war nicht sicher, ob er tatsächlich etwas gehört hatte. Selbst wenn: auf einem Schiff wie der „Isabella“ knackte und knarrte es ständig, das Holz arbeitete, Rahen und Blöcke ächzten, daß es sich manchmal anhörte wie das Stöhnen verdammter Seelen. Aber für diese normalen Geräusche hatte gerade der Schiffszimmermann ein geschultes Ohr. Ihm fiel sofort auf, wenn etwas nicht stimmte, wenn etwas knackte oder knarrte, das eigentlich nicht knacken und knarren durfte. Jetzt hatte er das unbestimmte Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung sei, aber da es wirklich ein sehr unbestimmtes Gefühl war, verzichtete er vorerst darauf, die Wachen zu wahrschauen. Stattdessen schnappte er sich eine Lampe und stieg über den Niedergang in den vorderen der beiden Frachträume unter Kuhl und Hauptdeck hinunter. Es roch nach Holz, Gewürzen und allem möglichen Eßbaren – ein Duft der vor allem auf den Schimpansen Arwenack immer magisch anziehend wirkte. Ferris Tucker grinste. Dann kniff er die Augen zusammen, weil er wieder glaubte, ein ungewöhnliches Geräusch gehört zu haben. Auch diesmal war er seiner Sache nicht sicher, aber der Schiffszimmermann hatte nun einmal eine besondere Beziehung zum soliden Holz der „Isabella“ und pflegte zu wittern, wenn da irgendein Schaden drohte. Entschlossen marschierte er weiter und öffnete das Schott zum achteren Frachtraum. Stille. Und Finsternis. Ferris Tuckers Lampe riß eine helle Insel aus der Dunkelheit und ließ gespenstische rötliche Reflexe tanzen. Er sah sich um,
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lauschte, witterte, ging langsam weiter, und dabei hatte er ein merkwürdig kühles Kribbeln im Nacken, als werde er beobachtet. Quatsch, dachte er. Von wem denn? Von dem Schiffbrüchigen, gab er sich selbst die Antwort. Der war der einzige, der nicht an Bord gehörte. Sollte er etwa doch ein Spanier sein? Oder hatte er vielleicht bei dem Unglück den Verstand verloren und irrte im Schiff herum, ohne es selbst zu wissen? Die letzte Möglichkeit erschien Ferris Tucker am wahrscheinlichsten, doch sein Mißtrauen war hellwach, als er mit langsamen Schritten den Laderaum durchmaß und dabei die Lampe vorsichtig nach links und rechts schwenkte. Sekunden später erfaßte der Lichtschein die zweite, erloschene Lampe, die neben einem der festgezurrten Wasserfässer auf dem Boden stand: Ferris Tucker kniff überrascht die Augen zusammen. Das sah ja nun gar nicht mehr danach aus, als ob ein bedauernswerter Verrückter durch das Schiff: irre. Der rothaarige Hüne beugte sich vor, tastete nach der Lampe und stellte fest, daß sie noch warm war. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er wollte sich umdrehen und gründlich in die Runde leuchten, um keine böse Überraschung zu erleben, doch im selben Moment fiel sein Blick auf die Spuren von hellem Staub, der sich auf den Planken verteilt hatte. Staub? Tucker ging noch tiefer in die Hocke und fuhr mit der Hand über den Boden. Gleichzeitig stieg ihm auch der Geruch von Holz in die Nase — die Art von Geruch. die entsteht, wenn irgendwo erst vor kurzem gesägt, gehackt oder geschnitzt worden ist. Sägemehl, dachte der Schiffszimmermann fassungslos, und für zwei Sekunden lenkten ihn Überraschung und ungläubige Wut von seiner Umgebung ab. Zwei Sekunden zu lange!
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Ferris Tucker sah nicht die dunkle Gestalt, die sich hinter ihm zwischen den Wasserfässern aufrichtete. Er hörte den gleitenden Schritt des Unbekannten, spürte den Luftzug, aber da war es bereits zu spät für ihn, um noch zu reagieren. Etwas krachte auf seinen Kopf. Ferris Tucker hatte das Gefühl, als explodiere sein Schädel. Schmerz flutete durch seinen Körper, vor seinen Augen entstand ein farbenprächtiges Feuerwerk, und dann war ihm, als stürzte er kopfüber in einen schwarzen, gähnenden Abgrund. * In ihrer Kammer im Achterkastell schliefen Philip und Hasard zusammengerollt in den Kojen. Sie schliefen tiefer als sonst: die letzten Tage und auch Nächte waren voller Aufregung und Abenteuer gewesen. Zum erstenmal hatten sie England gesehen, das Land, in dem sie geboren worden waren. Inzwischen verstanden sie genug von der fremden Sprache, die doch ihre Muttersprache war, um jedem, der sich darauf einließ, ein Loch in den Bauch zu fragen. Was ist das, was ist dies, was ist jenes - in dieser Beziehung wurden sie nie müde. Big Old Shane, der eine wahre Engelsgeduld entwickeln konnte, hatte ihnen inzwischen eine Menge über ihren Vater, ihre tote Mutter und ihre Vergangenheit erzählt. Wenn es um Kämpfe und haarsträubende Abenteuer ging, pflegte er zu passen, weil er fand, daß das nicht unbedingt für Kinderohren bestimmt war. Aber erstens brauchte man ja nur bei den anderen die Ohren zu spitzen, und zweitens hatten die Zwillinge inzwischen schon eine Reihe Kämpfe und haarsträubende Abenteuer selbst miterlebt. Sie verstanden inzwischen auch gewisse feine Unterschiede zwischen Kämpfen und Kämpfen. Wenn zum Beispiel in der „Bloody Mary“ die Fetzen flogen, war das ein herrlicher Spaß, bei dem jeder, der keine Lust mehr hatte, schließlich nichts weiter zu tun
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brauchte, als die Tür zu finden. Bei dem sich stets genug Freiwillige ins Vergnügen stürzten und ein paar Beulen oder ein ausgeschlagener Zahn niemanden daran hinderte, die Keilerei noch lange in liebevoller Erinnerung zu behalten. Wenn jemand überfallen und ausgeplündert wurde, hörte der Spaß auf. Das Verschwinden von Ed Carberry, Dan O'Flynn, Matt Davies und Bill war eine ernste Angelegenheit gewesen, genau wie der Angriff von Red Fox Killarneys Banditen. Aber wenn so eine ernste Angelegenheit erst einmal richtig in Schwung geriet, wenn die Angreifer immer wieder ins Wasser platschten und nicht den kleinsten Schuß abgeben konnten, weil ihr Pulver naß geworden war, dann konnte es trotzdem ganz lustig werden. Die Zwillinge waren mit sich und ihrem Kokosnuß-Bombardement jedenfalls sehr zufrieden gewesen. Und der Sturm, den es dann gegeben hatte - na ja, der hatte sie zwar nicht schlafen lassen, aber schließlich fuhren sie jetzt zur See und konnten sich von so einem munteren Windchen nicht mehr groß beeindrucken lassen. Geängstigt hatten sie sich nicht. Jedenfalls nicht besonders und vor allem nicht so, daß irgendjemand es gemerkt hätte. Nur wach geblieben waren sie. Aber dafür schliefen sie jetzt umso besser, und deshalb hörten sie auch nicht die leisen Schritte auf dem Niedergang. Jerry the Knife, der Bandit, hatte sich ungefähr zusammenreimen können, wo er die beiden Jungen finden würde. Natürlich saß ihm die Angst im Genick. Sein Herz hämmerte, das Blut rauschte in seinen Ohren, und deshalb fiel es ihm gar nicht leicht, überhaupt etwas zu hören, als er sein Ohr an die einzelnen Türen legte. Im Frachtraum hatte soweit alles geklappt. Der Bandit hatte dafür gesorgt, daß die Seewölfe für eine Weile alle Hände voll zu tun haben würden, aber er wußte auch, daß er sich jetzt allmählich beeilen mußte. Es dauerte eine Weile, bis er hinter einer der Türen zweifache Atemzüge hörte, die zwar tief und regelmäßig, aber etwas
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schneller waren als die Atemzüge von Erwachsenen. Hier mußte er richtig sein! Jerry the Knife zog die Unterlippe zwischen die Zähne, streckte die Hand aus und öffnete vorsichtig die Tür. Er wußte, wie scharf die Sinne von Kindern sein konnten. Und vor diesen beiden Bengels hatte man ihn ausdrücklich gewarnt: angeblich waren es mit Kokosnüssen schmeißende kleine Ungeheuer, die bestimmt einmal genauso wild und verwegen werden würden wie ihr Vater, dem sie wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Der Bandit fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, huschte über die Schwelle und schloß behutsam die Tür hinter sich. Er hielt immer noch den Holzbohrer in der Faust, doch den wechselte er jetzt in die Linke, weil man Kinder ja schließlich nicht so rauh behandeln konnte wie einen riesenhaften, hartschädeligen Schiffszimmermann. Jerry the Knife hing ohnehin der altbewährten Ansicht an, daß ein halbwegs anständiger Mann gefälligst keine Frauen und Kinder in einen Kampf hineinzog. Aber Red Fox Killarney hatte es ja nicht geschafft, mit seiner Übermacht die „Isabella“ zu kapern. Und bei der Aussicht auf Schätze wie die, von denen Killarneys Banditen geschwärmt hatten, wurde eben auch ein anständiger Mann schwach und rückte von seinen Prinzipien ab. Jerry the Knife betrachtete die beiden schwarzen Wuschelköpfe im einfallenden Mondlicht, unterdrückte einen unwilligen Seufzer und glitt an die Koje des kleinen Philip heran. Der schlafende Junge wurde beinahe sanft betäubt. Zwei Schritte entfernt fuhr Hasard junior in seiner Koje hoch wie ein Kastenteufel. Er sah, was es zu sehen gab, holte Luft zu einem gellenden Alarmschrei, aber wie gesagt: Jerry the Knife wußte ganz gut Bescheid über die scharfen Sinne und die Reaktionsschnelligkeit von Kindern. Mit einem Sprung erreichte er die zweite Koje und schlug zu, noch ehe Hasard einen Laut herausbrachte. Schlaff sackte der kleine Körper zurück.
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Jerry the Knife zerrte ihn aus der Koje, warf ihn sich über die Schulter und hastete zur Tür. Jetzt, da er es fast geschafft hatte, peitschte ihn Eile vorwärts. Er kannte sich gut genug auf Segelschiffen aus, um den Weg zur Heckgalerie zu finden. Tief sog er die frische, kühle Luft ein, kniff die Augen zusammen und spähte über das mondbeschienene Wasser. Schwarz hoben sich die Umrisse eines Bootes über der Kimm ab. Ein Logger, der scheinbar friedlich seiner Wege zog, unterwegs zu den ergiebigsten Fischgründen. Jerry the Knife zog die Lippen von den Zähnen und grinste erleichtert. Der Zeitplan war aufgegangen. Man konnte sich wirklich auf den „roten Fuchs“ verlassen. Mit dem linken Arm preßte der Bandit den Körper des Jungen an sich, mit der Rechten stützte er sich auf der Balustrade der Heckgalerie ab, flankte hinüber und sprang. Das Wasser klatschte, aber das klatschte ohnehin ständig gegen die Bordwände. Jerry the Knife drehte sich auf den Rücken, zog sich den bewußtlosen Jungen auf die Brust, so daß der Kopf des Kindes über Wasser blieb, und ließ sich einfach mit der Strömung treiben. Die „Isabella“ rauschte unter Vollzeug davon. Ein paar Minuten später war sie nur noch ein Schatten. 4. Eine Ohnmacht unterscheidet sich vom normalen Schlaf eigentlich nur dadurch, daß sich der Betroffene hinterher nicht erfrischt und munter fühlt, weil die Ursache der Ohnmacht irgendeine Verletzung oder zumindest einen Brummschädel hinterlassen hat. Träumen kann man auch im Zustand der Bewußtlosigkeit. Und Ferris Tucker träumte sogar sehr lebhaft. Er war in der „Bloody Mary“. Es hatte eine prächtige Keilerei gegeben, er hatte die Dielenbretter aufsuchen müssen, was auf würdige Gegner schließen ließ. Jetzt lief ein Weinfaß aus. Das gurgelte und rauschte,
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zischte und gluckerte, daß es eine Pracht war. Der Schiffszimmermann glaubte, Nathaniel Plymson jammern zu hören. Vielleicht, so überlegte Ferris Tucker, konnte man mit dessen Perücke zur Abwechslung mal den Boden aufwischen. Aber zuerst einmal galt es, den guten Wein nicht verkommen zu lassen. Wenn man schon am Boden lag, konnte man ja genauso gut unter dem leckenden Weinfaß liegen und den Mund aufreißen. Ferris Tucker brummte, fluchte, tastete mit den Händen um sich und versuchte, die Augen zu öffnen, um wenigstens die ungefähre Richtung festzustellen, in der der kostbare Rebensaft auf den schmutzigen Fußboden der „Bloody Mary“ gluckerte. Die Anstrengung brachte Ferris dem Wachzustand ein Stückchen näher. Seine Lider waren immer noch schwer wie Blei, sein Kopf schmerzte, in seinen Ohren sauste es wie eine handige Brise in der Takelage. Trotzdem erkannte er, daß es irgendwie zu still war. Wo blieb das Geschrei? Wo blieben das Klirren zertöpperter Gläser, das Krachen von Stühlen, die sich in Brennholz verwandelten, das Erbeben der Dielenbretter, wenn jemand den Boden aufsuchte? War die Schlacht schon geschlagen? Hatte er, Ferris Tucker, etwa den Endkampf verpennt, was ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert war? Das gab es einfach nicht. Punktum! Die schmähliche Vorstellung, hier herumzuliegen, während das Gefecht entschieden war und zum Labsal der Übriggebliebenen ein Weinfaß auslief, drängte die schwarzen Wogen der Bewußtlosigkeit wieder ein Stückchen zurück, und Ferris Tuckers Gedanken und Sinne begannen sich zu klären. Es roch nach Salz. Außerdem nach Holz, Essig, Pökelfleisch, Datteln und einem guten Dutzend anderer Dinge. Das spezifische Gemisch all dieser Düfte war Ferris Tucker vertraut. Sogar sehr vertraut! So roch es nicht in der „Bloody Mary“, sondern .. .
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Blödsinn, dachte der Schiffszimmermann, immer noch auf der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen. Er konnte gar nicht im Frachtraum der „Isabella“ sein. Da fanden schließlich keine Keilereien statt. Und da liefen auch keine Weinfässer aus. Das war zwar möglich, theoretisch möglich, aber nicht in einem Frachtraum, der vor den kritischen Augen eines Ferris Tucker zu bestehen hatte. Blieb nur die Frage, wieso es gar nicht nach Wein roch, sondern nach Salzwasser. Außerdem konnte ein simples Fäßchen Wein keine Überschwemmung verursachen. Und Ferris Tucker hatte nasse Füße, einen nassen Hintern und... „Himmelarsch!“ ächzte er, fuhr steil in die Höhe und versuchte krampfhaft, den rosaroten Nebel zu durchdringen, der bei dieser heftigen Bewegung vor seinen Augen waberte. Ein paar Sekunden später verblaßte der rosa Nebel, und Ferris Tucker sah überhaupt nichts mehr. Die Lampe! Ferris konnte nicht ahnen, daß der Bandit sie sorgfältig gelöscht hatte, da er schließlich nicht das Schiff in Brand stecken wollte, das ihnen allen reiche Beute bringen sollte. Der rothaarige Zimmermann erinnerte sich überhaupt nur noch sehr vage an die Lampe und alles andere, was dem Schlag auf den Kopf vorausgegangen war. Aber er begriff, daß er sich wahr und wahrhaftig im Frachtraum der „Isabella“ befand, daß er mit seinem Allerwertesten im Wasser saß, und zwar durchaus nicht im normalen und statthaften Bilgewasser – und diese Erkenntnis schien sich in sein Hirn zu bohren wie ein glühender Nagel. Er sprang auf wie von einer Natter gebissen. Schwindelgefühl packte ihn, der rosarote Nebel tauchte wieder auf, aber da. er ohnehin nichts sehen konnte, spielte das keine Rolle. In den Frachträumen der „Isabella“ fand er sich auch bei totaler Finsternis und im Schlaf zurecht, also erst recht in seinem augenblicklichen, leicht schwindligen Zustand. Zielstrebig watete
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er auf das Schott zu. Kalter Schrecken durchdrang den Nebel halber Bewußtlosigkeit, als ihm klar wurde, daß ihm das Wasser. schon ein Stück über die Knie reichte. Blind rammte er das Schott aufstolperte weiter, und Sekunden später turnte er mit Gebrüll den Niedergang hoch. Ein Gebrüll, das jedes andere Geräusch übertönte, das auf der „Isabella“ sämtliche Schläfer weckte und jedem Mann wie ein Blitzschlag in die Knochen fuhr. „Wasser im Schiff!“ schrie Ferris Tucker. „Alle Mann an Deck! Pützen und Pumpen klar, ihr Hammel! Wasser im Schiff ...“ * Minuten später war die Hölle los. Auf der Kuhl prallte Ferris Tucker mit Ed Carberry- zusammen. Der öffnete den Mund. um den Zimmermann zu fragen, ob er Kakerlaken im Hirn habe oder sonst wie von allen guten Geistern verlassen sei. Ferris ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern schrie ihm noch einmal sein „Wasser im Schiff“ entgegen, daß dem Profos die Ohren klingelten, und damit war klar, daß es sich um eine ernste Angelegenheit handelte. Der Seewolf erschien so schnell an Deck, daß sich unter anderen Umständen jeder gefragt hätte, wie er in einem derartigen Tempo in Hemd und Hose gefahren war. Jetzt hatte niemand Zeit dazu. Die Wachen brauchten kaum mehr als eine Schrecksekunde, um zu reagieren. Sie brauchten auch keinen Befehl, um die Pumpen zu besetzen, schließlich wußte selbst ein hirnrissiger Idiot, was „Wasser im Schiff“ bedeutete. Als die verschlafenen Freiwächter an Deck erschienen, quietschten bereits die Pumpen, platschte und gurgelte es außenbords, und ein halbes Dutzend Mit Segeltuchpützen bewaffneter Männer fauchten Ferris Tucker an, wo, zum Teufel, das dreimal verdammte Wasser denn nun eindringe. Im achteren Laderaum, erhielten sie Bescheid.
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Ferris Tucker stand ziemlich verdattert herum, rieb seine Beule und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte wie ein Automat reagiert, aber er begriff immer noch nicht ganz genau, was geschehen war. Irgendwie wirbelten der vermeintliche Schiffbrüchige, Nathaniel Plymson, ein Weinfaß und eine Menge Salzwasser in seinem Schädel bunt durcheinander. Aber die kühle Nachtluft vertrieb den Nebel aus seinem Gehirn, und als der Seewolf neben ihm auf die Kuhl sprang, begann sein Gedächtnis schon wieder einigermaßen zu funktionieren. „Was ist passiert?“ fragte Hasard scharf. „Keine Ahnung, Sir! Ein Leck! Wasser im Schiff! Ich bin in den Laderaum 'runter, weil ich glaubte, irgendetwas gehört zu haben. Dann hab ich ein Ding auf die Rübe gekriegt, glaube ich, und als ich aufwachte, hatte ich einen nassen Hintern. Aber es kann nur dieser angebliche Schiffbrüchige gewesen sein.“ Der Seewolf versuchte gar nicht erst, über das Warum und Wieso nachzudenken. „Smoky!“ schrie er. „Sieh nach, ob alle Boote da sind! Auch die Nußschale von dem Kerl, den wir aufgefischt haben!“ Ein paar Sekunden später wußte er, daß alle Boote an ihrem Platz lagen. Einschließlich der Nußschale! Seine Lippen preßten sich zusammen, und sein Gesicht wurde kantig. „Zur Küste schwimmen kann er nicht!“ stellte er fest. „Wenn er kein Selbstmörder ist, muß er also noch an Bord sein.“ Und lauter: „Smoky! Zwei Mann passen auf die Boote auf. Und dann will ich, verdammt noch mal, wissen, wie hoch das Wasser im Frachtraum steht.“ „Aye, aye, Sir!“ tönte es zurück. Männer wirbelten durcheinander, Ed Carberrys Flüche dröhnten in gewohnter Manier über die Decks. Wie gesagt: auf der „Isabella“ war die Hölle los, und damit hatte der Bandit Jerry the Knife genau das erreicht, was der Zweck seiner nächtlichen Aktion mit dem Holzbohrer gewesen war. Es würde eine ganze Weile dauern, bis sich die Seewölfe wieder um irgendetwas anderes kümmern konnten als um die
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Notwendigkeit, den Frachtraum leer zu lenzen und das Leck zu finden und abzudichten. * Auf dem Logger hatte Patrick Red Fox Killarney persönlich das Kommando übernommen. Dem irischen Rotschopf ging es wie den meisten Männern von der Grünen Insel oder der englischen Küste: irgendwann waren sie alle zur See gefahren, und sei es nur zum Fischfang. Außerdem bestand die zehnköpfige Besatzung zur Hälfte aus Leuten, die dem Teufel schon mehr als ein Ohr abgesegelt hatten, und der „rote Fuchs“ war durchaus nicht so selbstherrlich, daß er nicht den guten Rat von Leuten angenommen hätte, die von einer bestimmten Sache mehr verstanden als er. Red Fox verkörperte sozusagen den Oberbefehl, während er das seemännische Kommando einem von Big Barnabas Ahabs Leuten überlassen hatte. Der Plan klappte wie am Schnürchen. Die „Isabella“ war nur noch ein Schatten in der Nacht. Vorhin hatte sich so gerade eben noch erkennen lassen, daß an Deck einige Aufregung entstand. Jetzt war auch davon nichts mehr zu sehen. Umso deutlicher erkannte Killarney den schwarzen Flecken in der mondbeglänzten Dünung. Jerry the Knife mit einem der Zwillinge, mit Philip Hasard Killigrews Sohn. Daß es sich bei den beiden Jungen um die Söhne des Seewolfs handelte, hatte Red Fox bei dem Kampf auf der „Isabella“ sofort begriffen: schließlich waren die Kinder ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Und daß Jerry the Knife einen der Bengel im Schlepptau hatte, ließ sich auch nicht übersehen: Der Junge war nämlich inzwischen wieder aufgewacht, strampelte, schlug um sich, gebärdete sich wie wahnsinnig und brachte seinen Entführer in ernsthafte Schwierigkeiten. Jerry the Knife mußte ein zweites Mal zuschlagen, um mit seiner Last überhaupt den rettenden Logger zu erreichen.
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Auch diesmal schlug er nicht besonders hart zu. Hasard junior kam wieder zu Bewußtsein, kaum daß er auf die Planken geworfen worden war. Ruckartig setzte er sich auf, warf einen Blick in die Runde, und diesmal tobte er nicht sofort wieder los, sondern versuchte erst einmal, sich über seine Lage klar zu werden. Patrick Red Fox Killarney war zwar eine miese Ratte und ein bösartiger Halunke, aber nicht gerade, ein Kinderfresser. „Nur ruhig, Junge“, sagte er. „Dir passiert nichts, du brauchst keine Angst zu haben.“ Hasard junior starrte ihn an. Der Junge begriff nicht, was ihm geschehen war. Aber da er dem „roten Fuchs“ bei dem Kampf auf der „Isabella“ eigenhändig eine Kokosnuß an den Kopf geworfen hatte, ahnte er es ungefähr. Englisch verstehen konnte er ganz gut. Englisch sprechen auch ganz gut — und deshalb fiel sein Kommentar recht grob aus. „Rutsch mir den Buckel herunter, du Sohn einer syrischen Wanderhure“, sagte er laut und deutlich. Das hatte er von Ed Carberry gehört. Zwar wußte er nicht, was eine syrische Wanderhure war, aber er wußte, daß es niemand besonders gern hatte, als deren Nachkomme bezeichnet zu werden. Red Fox Killarney schluckte. Ein paar von seinen Leuten grinsten andächtig. Hasard junior hatte inzwischen festgestellt, wo er sich befand: auf einem mickrigen Fischerei-Logger. Sein Gedächtnis funktionierte außerdem auch recht gut. Und da er, wie gesagt, den „roten Fuchs“ persönlich kannte, kamen seine schnellen Spekulationen der Wahrheit ziemlich nahe. „Der Scheitan wird euch lotweise holen, ihr hirnrissigen Kakerlaken!“ sagte er inbrünstig. „Scheitan?“ echote Black Jack, der Schwarzbart, einigermaßen verblüfft. Hasard junior warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Scheitan sein Teufel“, erklärte er in seinem holprigen Englisch. „Satan!
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Beelzebub! Böser Kerl aus Hölle, du verstehst?“ „Klar“, sagte der Schwarzbart mechanisch. „Und böses Kerl aus Hölle holt dich lotweise!“ fauchte ihn Hasard an. „Du Fischfutter! Profos dir zieht Haut in Streifen von Dingsda — von Affenarsch! In ganz kleinen Streifen, was wird genagelt an Kombüse, du verstehst? Seewölfe euch erst schneiden in kleine Scheiben und dann kleine Scheiben knüpfen an Rahnock, klar? Und was von kleinen Scheiben nicht mehr paßt an Rahnock, wird geholt kiel. Auch klar?“ Red Fox Killarney schüttelte fassungslos den Kopf. Seine Leute lauschten hingerissen. Sie fanden dieses kleine Kerlchen höchst amüsant. Jedenfalls so lange, bis das kleine Kerlchen begriff, daß es seine Bezwinger abgelenkt hatte, wie ein Kastenteufel hochschnellte und auf das Schanzkleid zujagte. Natürlich wäre es sinnlos gewesen, ins Wasser zu springen. Das wiederum konnte ein siebenjähriger Junge, der noch nicht allzu große Erfahrungen mit der Seefahrt hatte, so genau nicht wissen, Aber es spielte keine Rolle, da zumindest der schwarzbärtige Black Jack geistesgegenwärtig genug war, um den Flüchtenden am Kragen zu packen, bevor er außenbords jumpen konnte. Hasard junior zappelte. Und er zappelte wesentlich lebhafter als ein Fisch auf dem Trockenen, der .wenigstens keine Zähne und Fingernägel hat. „Autsch!“ schrie der Schwarzbart erbost. „Finger weg, du Affenarsch!“ schrie Hasard ebenso erbost. „Dich kalfaterte Kakerlake hat wohl ein verlauster Esel im Linksgalopp verloren. Dich muß des Teufels Großmutter mit einer triefäugigen Gewitterziege im Suff gezeugt haben, dich ...“ „Waaas?“ wunderte sich der Schwarzbart. „Des Teufels Großmutter mit einer Gewitterziege?“ Hasard schnaubte nur. Er war sieben Jahre alt und noch nicht besonders tief in die Geheimnisse des Lebens eingeweiht. Deshalb leuchtete ihm
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auch nicht ein, wieso ein mißratenes Exemplar der Gattung Mensch wie dieser Schwarzbart nicht von des Teufels Großmutter mit einer Gewitterziege gezeugt worden sein sollte. „Jawohl!“ fauchte er. „Du bist Rübenschwein, schwanzloses Steppensau und nachgemachtes Segler auf einem Nachttopf.“ Damit hatte er so einige Carberry-Sprüche abgeschossen und kam zu einem wahren Feuerwerk an türkischen Flüchen. „Rübenschwein!“ wiederholte er zum Schluß noch einmal triumphierend. „Kariertes Decksaffe! Blödes Geier, was ich werde Federn rupfen und stopfen großes Schnabel!“ Letzteres stammte auch von Ed Carberry und pflegte sich gewöhnlich auf den Papagei Sir John zu beziehen. Hasard junior war das schnuppe: er wollte verstanden werden, was auf türkisch leider nicht ging, und deshalb warf er seinen Feinden alles an den Kopf, was zugleich englisch und böse klang. Red Fox und seine Halsabschneider konnten nur staunen. Der Schwarzbart, der den Jungen immer noch am Kragen hielt, grinste breit und stellte seine Last sanft auf die Planken. „Der Knabe ist richtig“, erklärte er. Aber zwei Sekunden später grinste er nicht mehr. Da hatte ihn Hasard junior nämlich in den Finger gebissen, strebte schon wieder dem Schanzkleid zu, und diesmal waren drei Mann nötig, um den zukünftigen. Seewolf einzufangen. „Heiliger Bimbam!“, stöhnte der Schwarzbart. „Mit dieser wildgewordenen Killigrew-Wanze kriegen wir bestimmt noch Ärger.“ Und damit hatte er den Nagel genau auf den Kopf getroffen. * „Kommt mir bekannt vor“, sagte Dan O'Flynn. Hasard lächelte. Genau wie Dan trug er eine Sicherheitsleine um den Leib und war gerade dabei, außenbords zu jumpen, um das Leck, das Ferris Tucker von innen nicht entdecken konnte, von außen zu
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finden. In der Tat: auch dem Seewolf war die Situation bekannt. Schon einmal war er zusammen mit dem jungen O'Flynn auf diese Weise getaucht: damals unter Francis Drake, als ein spanischer Agent die gute alte „Marygold“ angebohrt hatte. Das lag jetzt Jahre zurück. Hasard war noch der Mann vom Vordeck gewesen und Donegal Daniel O'Flynn das vorwitzige, sechzehnjährige Bürschchen, das in der Kombüse auf Raubzüge ausging, frecher war, als es die Disziplin erlaubte, und sich ab und zu redlich eine Naht mit dem Tauende über den Achtersteven verdiente. Damals hatte Dan vor allem daran gedacht, eine Heldentat zu vollbringen und sich eine Flasche vom „Schottischen“ des Kapitäns zu verdienen. Jetzt dachte er an das Schiff. Sein Gesicht wirkte verbissen, als er sprang und ins Wasser tauchte — und der Seewolf dachte daran, daß die Jahre ihrer Weltumseglung doch eine verdammt lange Zeit gewesen waren, die jeden der Crew verändert hatten. Er tauchte ins Wasser, tastete über den Schiffsrumpf und dachte an die alte „Marygold“. Ein Draufgänger war er damals gewesen, wild und unbekümmert. Zum Teil war er das heute noch, aber eben nur zum Teil. Er hatte geheiratet, Gwendolyn Bernice O'Flynn, Dans Schwester, Old Donegals Tochter — und seine Frau verloren. Er hatte sich jahrelang mit dem Gedanken abgefunden, auch seine beiden Söhne verloren zu haben, und jetzt hatte er sie wieder gefunden und die Vaterrolle übernommen. Auch sein Leben hatte sich geändert, wesentlich geändert, und fast mußte er lachen, weil ihm alle diese Gedanken ausgerechnet jetzt, unter Wasser und in einer so kritischen Situation, einfielen. Langsam tauchte er am Rumpf der „Isabella“ entlang —und mußte noch einmal lachen, weil er das Leck fast akkurat an der Stelle fand, wo es auch vor Jahren auf der „Marygold“ gesessen hatte. Er nahm Maß und war nicht einmal überrascht, daß genau Zeige-, Mittel- und Ringfinger in das Loch paßten. Der
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Attentäter mußte die gleiche Art Bohrer benutzt haben wie der Kerl damals auf der „Marygold“. Als Hasard auftauchte, stieß auch Dan O'Flynns Kopf durch die Wasserfläche. Oben peilten Ben Brighton, Ferris Tucker und Big Old Shane über das Schanzkleid, und da sie schon einen Verdacht hatten, brauchte Hasard nur noch die drei Finger hochzuhalten, um zu zeigen, welche Art von zugespitztem Holzkeil er brauchte, um das verdammte Leck dicht zu kriegen. Genau drei Minuten später hatte er den Keil. Wieder tauchte er, rammte das zugespitzte Holzding in das Loch und trat ein paarmal mit dem Absatz dagegen, um es ordentlich festzubolzen. Später würde das Leck fachmännisch abgedichtet und kalfatert werden, aber vorerst reichte es so, wie es war. Hasard tauchte auf, überzeugte sich durch einen Blick, daß Dan O'Flynn hinter ihm war, und enterte an der Jakobsleiter hoch. Immer noch quietschte die Pumpe. Die Männer hatten eine Reihe gebildet, volle Segeltuchpützen flogen von Hand zu Hand, wurden außenbords gekippt und wanderten wieder an der Kette zurück. Jetzt, da das Leck dicht war, begann der Wasserstand langsam zu sinken. Hasard wollte seiner Kammer zustreben, um genau wie Dan O'Flynn in trockene Kleider zu steigen, aber er kam nicht dazu. Philip erschien im Niedergang. Armefuchtelnd, mit einer Beule am Kopf — und so aufgeregt, daß die Männer vor Schrecken fast das Pumpen vergaßen. Der Junge sprudelte etwas auf türkisch hervor, verbesserte sich dann, suchte seine englischen Brocken zusammen — und Minuten später wußte der Seewolf, was geschehen war. Er wurde bleich. Ben Brighton, Big Old Shane und Ferris Tucker starrten ihn an. Der rothaarige Schiffszimmermann biß sich auf die Lippen. „Der Kerl muß total den Verstand verloren haben“, sagte er heiser.
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„Wenn nicht Methode dahintersteckt!“ Hasard preßte die Lippen zusammen. „Der Kerl hat dafür gesorgt, daß wir hier voll beschäftigt waren. Er konnte in aller Ruhe verschwinden, während wir ihn noch an Bord glaubten, weil das Boot an Ort und Stelle lag.“ „Aber er kann doch nicht zur Küste schwimmen“, wandte Ben Brighton ein. „Schon gar nicht mit dem Kind! Himmel, wenn ich daran denke ...“ Er brach ab. Der Seewolf weigerte sich, daran zu denken, daß der Schiffbrüchige möglicherweise wirklich verrückt war und den Jungen aus irgendeiner Wahnidee heraus mit über Bord genommen hatte. Das konnte nicht sein, dafür war der Bursche zu geschickt und planvoll vorgegangen. Hasard biß sich auf die Lippen und ballte unwillkürlich die Hände. „Vielleicht wartete irgendwo ein Boot auf ihn“, sagte er langsam. „Mal angenommen, der Bursche gehört zu den Banditen und ist uns mit voller Absicht über den Weg geschickt worden ...“ „Das wäre dann aber ein verdammt tollkühnes Unternehmen gewesen“, sagte Ben Brighton zweifelnd. „Sicher. Aber schließlich versprechen sich die Burschen reiche Beute. Du hast ja gesehen, daß es geklappt hat. Jetzt können sie uns die Pistole auf die Brust setzen, und das werden sie auch tun, wenn es uns nicht gelingt, den Jungen zu finden und zu befreien.“ „Meine Schuld“, knurrte Tucker. „Wenn ich mir nicht eins auf die Rübe hätte verpassen lassen ...“ „Unsinn! Wenn du nicht aufmerksam geworden wärst, hätten wir das Leck wahrscheinlich erst bemerkt, wenn das halbe Schiff vollgelaufen wäre.“ „Und — was tun wir jetzt, Sir?“ Hasard hob die Schultern. Sie hatten keine große Wahl. Weder der kleine Philip noch Ferris Tucker konnten genau sagen, wie lange sie bewußtlos gewesen waren. Also gab es auch keinen Hinweis darauf, wie weit das Boot, das den Banditen und das Kind wahrscheinlich aufgenommen hatte, inzwischen entfernt
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war. Falls dieses Boot überhaupt existierte! Und falls der Bandit es nicht verfehlt hatte, womit man nach Lage der Dinge ohne weiteres rechnen mußte. Es gab nur eins, was sie tun konnten: das entsprechende Seegebiet nach dem Bärtigen und dem Kind oder nach dem Boot abzusuchen, das beide möglicherweise an Bord genommen hatte. Ob sie Erfolg hatten, würde sich zeigen. Hasard bezweifelte es, aber er wußte, daß es ihre einzige Möglichkeit war, wenn sie nicht jede Initiative ihren Gegnern überlassen wollten. 5. „Boot Backbord voraus! Eine Pinasse! Sie läuft Südkurs und segelt auf uns zu!“ Der Ausguck im Großmars der spanischen Galeone „Estrella de Cadiz“ hatte scharfe Augen. Niemand außer ihm hatte die Pinasse im Morgengrauen bemerkt, nicht einmal der Ausguck des Flaggschiffs „Barcelona“, das dem Verband voransegelte und dem Boot ein Stück näher war als die „Estrella de Cadiz“. Auf dem Achterkastell nahm der Capitan das Spektiv zur Hand. Sein Kollege auf der „Barcelona“ fuhr seinen Ausguck an und beschuldigte ihn, geschlafen zu haben. Auch an Bord der „Santa Anna“ spähte der Capitan durch das Fernrohr. Sie segelten nahe genug an den englischen Küstengewässern, um äußerst vorsichtig zu sein, aber natürlich war ein kleines Boot wie das, was sich da näherte, kein Alarmzeichen. „Deck!“ rief der Ausguck der „Estrella de Cadiz“ nach ein paar Minuten. „Die Pinasse hat die spanische Flagge gesetzt!“ Der Capitan, Julio d'Arriazza mit Namen, runzelte verblüfft die Stirn. Eine Pinasse unter spanischer Flagge? Gespannt blickte er dem Boot entgegen, das jetzt genau auf die spanische Führungsgaleone zuhielt und wenig später bei der „Barcelona“ längsseits ging. Julio d'Arriazza fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er den Capitan der
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„Navarre“ in ausgefransten Kniehosen und einem geflickten Hemd erkannte. Etwas Schlimmes mußte geschehen sein. D'Arriazza wußte, daß die „Navarre“ und die „Marguerite“ in geheimer Mission unterwegs gewesen waren, getarnt als französische Kauffahrer. Wenn der Capitan der „Navarre“ in abgerissener Kleidung auf einer Pinasse auftauchte, die der Bauweise nach noch nicht einmal zu einem spanischen Schiff gehören konnte, dann mußte einiges passiert sein. Die „Estrella de Cadiz“ drehte bei, genau wie die beiden anderen Galeonen. Julio d'Arriazza gab ein paar knappe Befehle, ließ ein Boot abfieren und sich zur „Barcelona“ hinüberpullen. Der Capitan der „Santa Anna“, ein gewisser Porfirio Montez, hatte die gleiche Idee gehabt, und wenig später standen sie auf dem Achterkastell der „Barcelona“ den beiden anderen Kapitänen gegenüber. Antonio de Morales von der „Navarre“ hatte einen düsteren, schweigsamen Mann mitgebracht, den er Ernesto nannte und als Geheimagenten der spanischen Krone vorstellte. D'Arriazza, Montez und der Capitan der „Barcelona“, Juan de la Cruz, interessierten sich weniger für den Agenten als für den Verbleib der „Navarre“. Morales preßte hart die Lippen zusammen, als er berichtete, daß das Schiff im Kanal gesunken sei - vom selben Gegner versenkt wie die „Marguerite“. „Killigrew?“ echote Juan de- la Cruz ungläubig. „Philip Hasard Killigrew? El Lobo del Mar?“ „Er ist wieder in England“, bestätigte der Capitan der gesunkenen Galeone. De la Cruz d'Arriazza und Montez wechselten Blicke. Ernesto, der Agent, beobachtete sie unter halbgesenkten Lidern und lächelte dünn. Er wußte, was folgen würde: ein dreifacher scharfer Atemzug, der Empörung ausdrückte. „El Lobo del Mar“, flüsterte Juan de la Cruz in einem Tonfall, als würde er sich am liebsten dabei bekreuzigen.
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„Dieser Satan hat schon wieder zwei spanische Schiffe versenkt?“ Porfirio Montez wollte es einfach nicht glauben. „Und Sie haben ihn entwischen lassen, de Morales?“ knirschte Julio d'Arriazza. „Eine einmalige Gelegenheit! Sie waren in der Übermacht! Sie hätten ...“ „Hätten, hätten“, erwiderte Antonio de Morales erbittert. „Sie werden sehr schnell Gelegenheit erhalten, es besser hinzukriegen. Noch ist nichts verloren. Wenn wir uns beeilen, wird der Seewolf noch heute abend in unserer Hand sein. Alles ist vorbereitet, damit die Falle zuschnappen kann. Lediglich die Schätze, die die ,Isabella` an Bord hat, werden wir teilen müssen.“ „Teilen? Mit wem teilen?“ D'Arriazzas Augen verengten sich. Sie wurden noch schmaler, als Morales zu berichten begann: das, was er aus eigener Anschauung wußte, und das, was nach den Plänen von Patrick Red Fox Killarney inzwischen auf der „Isabella“ geschehen sein. mußte. Der Capitan der „Estrella de Cadiz“ schüttelte fassungslos den Kopf. „Sie müssen wahnsinnig geworden sein“, stieß er hervor. „Wie können Sie ernsthaft die Hilfe eines dreckigen englischen Banditen in Anspruch nehmen? Wie können Sie mit einer solchen Ratte teilen wollen, was rechtmäßig der spanischen Krone gehört? Ich begreife nicht ...“ „Wenn man Ihnen das Schiff unter den Füßen weggeschossen hätte, würden Sie sehr schnell begreifen“, fauchte Morales. „Wir müssen froh über jede Hilfe sein, die wir erhalten. Wenn wir El Lobo del Mar nach Spanien bringen, wird niemand mehr danach fragen, ob wir uns mit dem Teufel verbündet haben, um ihn zu schnappen. Außerdem ist Killarney kein Bandit, sondern ein irischer Rebell. Und sein Plan ist gut. Er wird den Seewolf zwingen, die ,Isabella` kampflos zu übergeben. Und dann erscheinen wir! Dann werden wir die ganze Bande gefangen nehmen und ...“ „Brauchen wir dazu Hilfe?“ ereiferte sich d'Arriazza. „Wollen Sie vielleicht behaupten, unser Verband sei nicht stark
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genug, um eine einzelne englische Galeone ...“ „Die ,Isabella` ist nicht irgendeine Galeone“, beharrte Antonio de Morales. „Ich weiß, wovon ich spreche. Aber wenn Sie mir nicht glauben wollen, können wir in aller Ruhe abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Die Hauptsache ist schließlich, daß wir erst einmal wissen, wo wir unseren Gegner überhaupt finden werden.“ „Und wo wird das sein?“ Antonio de Modales lächelte. „Wir segeln nach Wight“, sagte er gedehnt. „Dort wird die Falle zuschnappen.“ * Mit der letzten Fahrt glitt der Logger durch die Einfahrt zwischen den beiden Wellenbrechern, die den Fischerhafen schützten. Der kleine Hasard stand an Deck und verbarg seine berstende Wut hinter einem Mienenspiel, das eisige Verachtung ausdrückte. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, und Black Jack, der Schwarzbart, hatte ihn sozusagen an die Leine genommen. Einmal hatte ihm Hasard junior den Tampen, der an seinen Handfesseln befestigt war, schon aus den Händen gerissen - einfach nur, um ihm zu beweisen, daß er sich nichts gefallen ließ. Jetzt hatte Black Jack das freie Ende des Taus ein paarmal um sein Handgelenk geschlungen. Die Besatzung des Loggers betrachtete den Knirps, der ihnen so viele Scherereien bereitete, mit einer gewissen Hochachtung. Und besonders amüsiert hatten sie den Drohungen und Verwünschungen zugehört, die der Kleine gegen Jerry the Knife ausstieß, wobei deutlich wurde, daß der Junge einen Großteil dieser Flüche irgendwo aufgeschnappt hatte und getreulich wiederholte, ohne sich über den jeweiligen Sinn ganz klar zu sein. Barnabas Ahab, seine Strandräuber Und der Rest der Banditen erwarteten Red Fox und die anderen am Anleger.
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Ziemlich verblüfft betrachteten sie den Jungen mit dem schwarzen Haar und den eisblauen Augen, der verschnürt war, als handele es sich um einen ganz besonders gefährlichen Gefangenen. Black Jack, der Schwarzbart, verzog das Gesicht, als er die spöttischen Blicke bemerkte. Er wollte erklären, daß dieser Siebenjährige ein ganz besonders ausgekochter Satansbraten' sei, aber das merkten die Männer im nächsten Augenblick schon selber. Da nämlich beging Barnabas Ahab den Fehler, dem lieben Kind freundschaftlich die Wange tätscheln zu wollen - und der Anführer der Strandräuber war der zweite, der an diesem Tag von Hasard junior kräftig in den Finger gebissen wurde. Er fluchte wild, schlenkerte die Hand und betrachtete die Abdrücke der kleinen, scharfen Zähne. Der Junge blickte sich kampflustig um, als warte er nur darauf, daß sich noch jemand in seine Nähe wagte. Patrick Red Fox Killarney grinste gallig. „Ein nettes Früchtchen, nicht wahr?“ knurrte er. „Den müssen wir ganz besonders sicher unterbringen, Big Barnabas.“ „Verflucht, ja!“ Ahab hielt immer noch seinen lädierten Finger. „Am besten, wir verschnüren ihn zum Paket und binden ihn an einen schönen stabilen Lehnstuhl. Die Hinterstube der ‚Totenkiste' wird im Augenblick ohnehin nicht gebraucht.“ Red Fox stimmte zu. Der bärtige Black Jack versetzte dem Gefangenen einen aufmunternden Stoß. Der Junge setzte sich in Bewegung zähneknirschend, weil er wie ein Kalb am Strick laufen mußte. Wenn er es ernsthaft versucht hätte, wäre es ihm sicher gelungen, sich von den Schnüren zu befreien: unter den Gauklern, die den Zwillingen ihre Tricks und Kunststücke beigebracht hatten, war auch ein sehr begabter Entfesselungskünstler gewesen. Aber jetzt, da die erste wilde Wut verraucht war, wußte Hasard junior genau, daß es wenig Sinn hatte, mitten unter der Horde von Banditen und Strandräubern einen Ausbruch zu versuchen, und deshalb beschloß er, sich sein diesbezügliches
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Können für eine bessere Gelegenheit aufzusparen. Auf schmalen Seitengassen durchquerten sie das Dorf und folgten dem Pfad, der sich zur „Totenkiste“ hinaufschlängelte. Dort wurde Hasard in das bewußte Hinterzimmer gebracht. Ein Zimmer zu ebener Erde, mit massiven Gitterstäben an den Fenstern. Zwei von den Banditen fesselten ihr Opfer kunstgerecht an einen schweren Lehnstuhl. Die Tür fiel zu, der Schlüssel rasselte, knirschend schloß sich zusätzlich ein Riegel - und der kleine Hasard begriff, daß es auch ohne die Fesseln gar nicht so einfach sein würde, aus dieser Falle mit dem sinnigen Namen „Totenkiste“ wieder zu entwischen. Nebenan besprachen die Banditen und Strandräuber ihre nächsten Schritte. Patrick Red Fox Killarney führte das große Wort. Es war sein Plan. Bisher hatte alles wie am Schnürchen geklappt, das mußten auch die anderen zugeben. „Zunächst einmal müssen wir ihnen erklären, wie der Hase überhaupt läuft“, sagte Red Fox. „Im Augenblick glaubt dieser Killigrew wahrscheinlich immer noch, daß ihm ein verrückter Schiffbrüchiger den Kahn angebohrt und seinen Sohn geklaut habe. Wir müssen also einen Mann auf die ,Isabella' schicken und Der Schwarzbart pfiff durch die Zähne. „Mann, das ist aber ...“ „Das ist ein Kinderspiel“, behauptete Red Fox. „Dem Betreffenden kann überhaupt nichts passieren, da wir den Jungen haben, dem es sonst verdammt dreckig gehen würde. Klar?“ „Na ja“, sagte Black Jack zögernd. „Wir laufen mit dem Logger wieder aus“, bestimmte Killarney. „Sobald wir einen Schimmer von der ,Isabella` entdeckt haben, verdrücken wir uns außer Sichtweite und schicken einen Mann mit dem Beiboot los. John Sweeney, das wirst du übernehmen, einverstanden?“ John Sweeney. ein dürrer braunhaariger Bursche mit unsteten Augen, war damit ganz und gar nicht einverstanden. Im Gegenteil: alles andere wäre ihm lieber gewesen. Aber er kannte den „roten
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Fuchs“, und deshalb hütete er- sich, seine Meinung offen kundzutun. „Hm“, brummte er nur. Red Fox nahm es als Zustimmung und nickte zufrieden. Er stand auf, warf noch einen Blick ins Nebenzimmer und überzeugte sich, daß der entführte Junge sicher untergebracht war. Er war es. Jedenfalls konnte Killarney nichts Gegenteiliges feststellen, also schloß er beruhigt wieder ab und schob den Riegel vor. Eine Viertelstunde später legte der Logger wieder ab. Im grauen Morgenlicht kreuzte er nach Westen. Die Insel Wight blieb achteraus. Red Fox Killarney stand vorn auf der Back und suchte das bewegte Wasser mit dem Spektiv ab. Eine knappe Stunde später schoben sich Mastspitzen über die Kimm. Drei Mastspitzen! Wenig später konnte Red Fox bereits erkennen, daß es sich tatsächlich um die überlangen Masten der „Isabella“ handelte. „Beiboot klarmachen!“ rief er. „Fertig, Sweeney?“ „Fertig“, erwiderte der Bandit. Sein Gesicht wirkte verbiestert. Die Sache gefiel ihm immer noch nicht besser. Aber man hatte sie ihm - genau wie vorher Jerry the Knife - durch die Aussicht auf einen doppelten Beuteanteil versüßt. An der Rah wurde das Beiboot außenbords geschwenkt und abgefiert. John Sweeney enterte über die Jakobsleiter ab und griff nach den Riemen. Er warf die Vorleine los, und das kleine Fahrzeug löste sich von der Bordwand des Loggers. John Sweeney mußte schräg gegen den Wind nach Westen pullen. Aber das war nicht der einzige Grund dafür, daß er sich nicht besonders beeilte. * Längst war die Sonne als glühender Ball über der östlichen Kimm emporgestiegen. Die „Isabella“ lief langsame Fahrt, während die Männer mit gespannter Aufmerksamkeit das unruhige Wasser
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absuchten. Dan O'Flynn war in den Großmars aufgeentert und hatte das Spektiv mitgenommen. Ab und zu schwang sich auch der Seewolf über die Segeltuchverkleidung der Plattform, um selbst einen prüfenden Blick in die Runde zu werfen. Das Ergebnis war jedesmal gleich niederschmetternd: selbst ein Boot, sofern es nicht übermäßig groß war, würde auf der bewegten See nur schwer zu entdecken sein, geschweige denn ein Schwimmer, der ein siebenjähriges Kind mitschleppte. Ganz davon abgesehen, daß ein Schwimmer wohl ohnehin nicht mehr am Leben gewesen wäre, da die Unterkühlung verhindert hätte, sich so lange über Wasser zu halten. Hasard biß die Zähne zusammen und umklammerte die Schmuckbalustrade des Achterkastells, bis die Knöchel an seinen Händen hervortraten. Er wollte nicht daran glauben, daß der vermeintliche Schiffbrüchige vielleicht doch in geistiger Umnachtung gehandelt hatte. Für den Jungen wäre das der sichere Tod gewesen. Dann schon lieber die zweite Möglichkeit, daß dieser Jeremy den Banditen in die Hände spielte - obwohl auch das ziemlich düstere Aussichten waren. Red Fox Killarney selbst war auf Beute aus, der wollte die Schätze der „Isabella“ und würde sich mit dem Klimpern von Gold zufrieden geben. Aber in diesen Kampf hatten sich schon einmal die Spanier eingemischt. Die wollten nicht mehr und nicht weniger als die Seewölfe gefangen nehmen, nach Spanien bringen und sie dort als Piraten aburteilen lassen und sie waren mit Killarneys Banditen verbündet. Hasards Blick wanderte nach Osten, wo die Sonne rasch höher kletterte und das Wasser in gleißenden Glanz tauchte. Der Seewolf ahnte, daß es keinen Sinn mehr hatte weiterzusuchen. Ihre Gegner waren am Zug. In Plymouth hielten sie sich nicht mehr auf, denn von dort hatten sie das Boot mit dem vermeintlichen Schiffbrüchigen nicht losschicken können. Zweifellos war ihnen klar, daß die
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Seewölfe das wußten - also mußten sie irgendetwas unternehmen, um sich zu melden und ihre Bedingungen zu stellen. „Deck!“ schnitt Dan O'Flynns Stimme wie auf ein Stichwort hin. durch das Rauschen von Wind und Wellen. „Boot Backbord voraus!“ Hasard kniff die Augen zusammen, sprang auf die Kuhl hinunter und enterte ebenfalls in den Großmars. Schweigend reichte ihm Dan das Spektiv und gab ihm die genaue Position. Der Seewolf schwenkte das graue Wasser ab, und im nächsten Moment hatte er das Boot ebenfalls im Blickfeld. Er stieß einen dünnen Pfiff aus. „Verdammt“, knurrte er. „Das ist die gleiche Sorte von Nußschale wie die, mit der dieser Jeremy erschienen ist.“ „Stimmt.“ Dan nickte. „Und es sitzt wieder nur ein einzelner Mann drin, soweit ich es erkennen kann.“ „Paß mal weiter auf! Ich bin gespannt, wen Red Fox geschickt hat.“ „Du meinst, das ist 'ne Art Kurier?“ „Was sonst? Da wir nicht wissen, wo die Kerle stecken, müssen sie wohl oder übel zu uns kommen, oder?“ Dan nickte nur. In seinem Gesicht malten sich immer noch Zweifel. Hasard konnte es verstehen. Dieser Jeremy hatte bei seinem Unternehmen schon eine ganze Menge Tollkühnheit unter Beweis gestellt. Der Bursche, der jetzt heranpullte, riskierte Kopf und Kragen – und das mußte ihm eigentlich klar sein, wenn er seine Gegner nicht ganz gewaltig unterschätzte. Bildete sich der Bursche ernsthaft ein, man würde ihn ungeschoren lassen? Hatte er etwa vor, so etwas wie einen ehrlichen Vermittler mit den besten Absichten zu spielen? Oder war es ganz einfach so, daß er Red Fox Killarney mehr als alle anderen fürchtete, weil er wußte, daß der Rotkopf ihn im Falle einer Weigerung ganz sicher zu Haferbrei verarbeitet hätte, während ihm das auf der „Isabella“ nur vielleicht blühte? „Kannst du ihn erkennen?“ fragte Hasard scharf.
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„So einigermaßen“, murmelte Dan. „Aber ich bin nicht sicher, ob ich ihn schon mal gesehen habe. Schau mal selber!“ Erneut griff der Seewolf nach dem Spektiv. Diesmal war das Boot schon so nah, daß er deutlich Rücken, Schultern und Hinterkopf des pullenden Mannes sehen konnte. Der Bursche kam ihm bekannt vor. Und er hielt mit seiner Nußschale auf die „Isabella“ zu, daran gab es kaum einen Zweifel. Wahrscheinlich war das Boot von einem größeren Fahrzeug ausgesetzt worden, das sich außer Sichtweite hielt. Der Mann an den Riemen zeigte jedenfalls noch keine Ermüdungserscheinungen. Jetzt wandte er sich um, schätzte mit einem Blick die Entfernung zu der Galeone ab, und durch das Spektiv konnte der Seewolf das Gesicht ziemlich genau erkennen. Ein langes, knochiges Gesicht. Strähniges braunes Haar, blasse Haut, ein paar Sommersprossen, die sich wie Feuermale abhoben. Die Augen waren rund und glänzend wie die eines Wiesels, unstete Augen – und Hasard wußte sofort, daß er den Mann schon einmal gesehen hatte. Der Bursche war bei dem Kampf an Bord der „Isabella“ dabei gewesen. Hasard selbst hatte diesen Kampf nicht miterlebt, da er zur selben Zeit mit einer Gruppe anderer Seewölfe nach ihren Kameraden suchte, die von den Banditen gefangen genommen worden waren. Aber auf dem Rückweg stießen sie auf Killarneys geschlagenen Haufen – und unter diesen triefnassen, frierenden, zerschrammten Männern war auch der Dürre mit dem braunen Haar und den Wieselaugen gewesen. Hasard biß die Zähne zusammen. Also doch, dachte er. Red Fox Killarney schickte einen Kurier, um seine Bedingungen zu stellen — und das hieß, daß sich der Bursche verdammt sicher fühlte. 6. Das Boot würde noch eine Viertelstunde brauchen, um die „Isabella“ zu erreichen.
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Hasard stand auf der Kuhl und blickte ernst in die Gesichter der Männer, die sich um ihn versammelt hatten. Gesichter, die fast alle den Ausdruck finsterer Entschlossenheit trugen. Big Old Shane hatte eine seiner mächtigen Pranken auf die Schulter des kleinen Philip gelegt. Der Junge verfolgte die Ereignisse aus großen Augen. Auch Dan O'Flynn war abgeentert, denn inzwischen gab es nichts mehr zu sehen, was er von hier unten nicht genauso gut hätte erkennen können. „Ich möchte wissen, was, zum Henker, es da noch zu besprechen gibt!“ knurrte Ed Carberry. „Ist doch ganz klar, daß das Leben von dem Jungen wichtiger ist als ein Haufen Gold! Wer das auch nur mit einem Wort bezweifelt, dem werde ich eigenhändig... „Keine Drohungen, Mister Carberry!“ unterbrach ihn der Seewolf. „Dazu braucht uns dieser Riesenaffe gar nicht zu drohen!“ erklärte Sam Roskill mit einem leidenschaftlichen Funkeln in den dunklen Augen. „Da gibt es gar keine Frage, Sir, darüber waren wir uns alle von Anfang an einig. Wenn diese Dreckskerle einen Haufen Gold als Lösegeld für den Jungen verlangen, dann werden wir ihnen das Zeug eben in den Rachen schmeißen. Hauptsache, wir kriegen Hasard wieder! Alles andere können wir schließlich mit. Leichtigkeit ersetzen, indem wir mal eben ein spanisches Schatzschiff kapern, oder?“ „Genau!“ knurrte Smoky, der Decksälteste. „Jawohl!“ sagte Old O'Flynn und klopfte bekräftigend mit seinem Holzbein auf die Planken. „Keiner von uns ist anderer Meinung“, erklärte Ferris Tucker entschieden, und die restlichen Männer nickten bekräftigend. Der Seewolf lächelte. „Ich danke euch“, sagte er ruhig. „Aber da ist noch etwas, das ihr zu vergessen scheint. Wir haben es nicht nur mit Red Fox Killarney und seinen Banditen zu tun, sondern auch mit den Spaniern. Und die werden sich nicht mit einem Haufen Gold zufrieden geben, die wollen uns. Wenn wir uns den Bedingungen der Kerle fügen, kann es sehr leicht sein, daß wir allesamt in
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eine Falle gehen, aus der es kein Entrinnen mehr für uns gibt. Das ist eine Gefahr, die wir sehr gründlich bedenken sollten.“ Diesmal war es der Kutscher, der antwortete. Und er tat es mit einem Vergleich, den alle anderen höchst. einleuchtend fanden. „Quatsch“, brummte er respektlos. „Wenn ich mich in 'ne Keilerei stürze, zerbreche ich mir doch auch nicht vorher den Kopf darüber, welche Sorte Salbe ich hinterher auf meine Schrammen schmiere — falls es Schrammen gibt.“ „Eben“, sagte Smoky überzeugt. „Sollen sie doch aufkreuzen, die Dons! Wir haben zwei von ihnen auf den Meeresgrund geschickt, wir werden notfalls auch noch mehr zu Treibholz verarbeiten. Und so gut kann keine verdammte Falle sein, daß wir nicht 'ne Chance hätten, wieder herauszukommen.“ „Stimmt genau!“ erklärte Ed Carberry. „Das ist ja mein Reden! Falle hin oder her - in erster Linie müssen wir zusehen, den Jungen wiederzukriegen.“ „Ist das auch deine Meinung, Ben?“ wollte Hasard wissen. „Natürlich“, sagte Ben Brighton, gelassen wie immer. „Ferris?“ „Mann, Sir! Soll das vielleicht 'ne ernsthafte Frage sein?“ „Natürlich soll es das! Hasard ist mein Sohn, da ist es völlig normal, daß ich notfalls bereit wäre, für ihn meine Freiheit und mein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber ich kann nicht das gleiche von euch verlangen, ich ...“ „Hasard gehört aber auch zur Crew, Sir“, meldete sich Bill. „Und - und bei uns ist noch nie jemand im Stich gelassen worden, da hat doch immer einer für den anderen notfalls das Leben riskiert. Ich - ich meine...“ Der Moses schwieg, verwirrt von der allgemeinen Aufmerksamkeit. Dann wurde er rot, weil von allen Seiten zustimmendes Gemurmel ertönte. Sam Roskill versetzte ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß, ein paar von den anderen Männern schlugen ihm
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kräftig auf die Schultern - und der Seewolf sah deutlich, daß tatsächlich keiner unter ihnen war, der eine andere Meinung hegte. Er hatte es auch nicht erwartet. Trotzdem hielt er es für seine Pflicht, den Männern das Risiko so deutlich wie möglich aufzuzeigen. Bei diesem Spiel würden ihre Gegner die Regeln bestimmen. Gegner, die bereits bewiesen hatten, daß sie mit den Spaniern im Bunde standen, und deshalb sprach die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Seewölfe ausgesprochen schlechte Karten erhalten würden. Aber sie hatten während ihrer abenteuerlichen Fahrten schließlich schon mehr als eine verfahrene Situation gemeistert. Diesmal ging es um den Sohn ihres Kapitäns, um einen der Zwillinge, die sie inzwischen alle ins Herz geschlossen hatten. Sie würden kämpfen wie noch nie, notfalls einer mittleren Flotte trotzen, und ihre Blicke verrieten, daß sie entschlossen waren, dabei auch noch zu gewinnen. In knappen Worten erläuterte der Seewolf seinen Plan oder besser, den Umriß eines Plans, von dem er noch nicht recht wußte, ob er überhaupt zu etwas führen würde. Aber auf jeden Fall war ein vager Plan immer noch besser, als dem Gegner das Gesetz des Handelns zu überlassen - und der Bursche. den Red Fox Killarney geschickt hatte, konnte sich jetzt schon gratulieren. * Der kleine Hasard wartete eine ganze Weile, bevor er anfing, sich näher mit seinen Fesseln zu beschäftigen. Nebenan in der Schankstube der „Totenkiste“ herrschte Lärm: die Banditen und Strandräuber versuchten, ihre Spannung mit Rum ' und Wein zu bekämpfen. Einmal hatte der Schwarzbart noch nach dem Gefangenen geschaut, dann sahen offenbar endgültig alle ein, daß der Junge keine Chance hatte zu fliehen. Hasard wartete, lauschte, und nach einer Weile war er sicher, daß man ihn vergessen hatte.
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Nebenan lieferten die angetrunkenen Kerle ein Musterbeispiel dafür, wie einfach es ist, das Fell des Bären zu verteilen, bevor man ihn erlegt hat. Sie überboten sich gegenseitig darin, zu schildern, was sie alles mit den erbeuteten Schätzen anfangen würden. Der kleine Hasard verstand ungefähr, um was es ging: um die „Isabella“ und die Seewölfe, die ganz gemein erpreßt werden sollten. Der Junge war entschlossen, nach Möglichkeit zu verhindern, daß dies geschah. Er biß die Zähne zusammen, konzentrierte sich mit geschlossenen Augen und begann, vorsichtig die Handgelenke in den Stricken zu drehen. Wie gesagt: zu der Gauklertruppe, mit der die Zwillinge durch den Orient gezogen waren, hatte auch ein begabter Entfesselungskünstler gehört. Die meisten seiner Kunststücke nutzten Hasard jetzt nichts, da sie darauf beruhten, komplizierte, ungeheuer stabil wirkende Knoten zu knüpfen, die in Wahrheit gar keine Knoten waren. Aber es gab auch Tricks, um mit echten Fesseln fertig zu werden. Tricks, von denen sich englische Banditen nichts träumen ließen, und deshalb hatten sie ihre Verschnürungskünste auch nicht darauf eingestellt. Hasard junior schaffte es, seine Gelenke so gegeneinander zu verschieben, daß er mit den Fingern an den Knoten der stabilen Hanfstricke heranreichte. Allzu straff saßen die Fesseln ohnehin nicht. Auch das war ein probater Kniff: man holte tief Luft, dehnte den Brustkorb und spannte die Muskeln, wenn die Stricke um den Oberkörper geschnürt wurden. Hasard bewegte geschickt die Hände, verrenkte sich etwas, und schließlich hatte er die beiden Stricke ertastet, an denen er nicht etwa herumzerren durfte, sondern die er gegeneinander verschieben mußte, um die gesamte Fesselung zu lockern. Der nächste Schritt war, den kleinen Finger der Linken in eine Schlinge zu schieben und das freie Ende aus der Verschnürung zu lösen.
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Hasard schob die Zungenspitze zwischen die Zähne, um sich besser konzentrieren zu können. Den Trick mit dem kleinen Finger hatte er schon früher immer viel besser hingekriegt als der Entfesselungskünstler. Dabei war es die Einfachheit selber, wie der Junge fand. Man brauchte das ganze Knotensystem lediglich so weit zu lockern, daß die Schlinge für die Kraft im kleinen Finger nicht zu fest saß. Das wiederum erforderte nicht mehr als ein paar Verrenkungen, einfache Übungen für ein drahtiges Bürschchen, das überdies zum Akrobaten ausgebildet worden war. Das Ergebnis sah so aus, daß Hasard die Hände frei hatte und die Stricke, die seinen Oberkörper mit der Rückenlehne des Stuhls verbanden, nur noch lächerlich locker saßen. Fünf Minuten später hatte er sich vollständig befreit, glitt von dem Sessel und begann, sich mit funkelnden Augen in seinem Gefängnis umzusehen. * Das Boot wurde immer langsamer, je mehr es sich der „Isabella“ näherte. Der Dürre mit dem braunen Haar vermied es, sich noch einmal umzusehen: vielleicht ahnte er, was ihm blühte, und wollte die wütenden Gesichter gar nicht so genau sehen. Erst als Ed Carberry zu ihm hinunterbrüllte, gefälligst nicht die Bordwand zu rammen. oder der Teufel werde ihn lotweise holen, riskierte er einen Blick. Sein Gesicht war bleich, die Augen flackerten, und er zuckte heftig zusammen, weil ihm die ausgebrachte Jakobsleiter fast an den Kopf flog. Mit ziemlich zittrigen Fingern belegte er die Vorleine, indem er sie einfach um eine hölzerne Sprosse schlang. Als er aufenterte, perlten Schweißtropfen auf seiner Stirn. Er brauchte nur einen Blick auf die Männer zu werfen, die sich über das Schanzkleid beugten, um sofort zu begreifen, daß sie alles wußten. Oder zumindest haargenau die Wahrheit ahnten! John Sweeney schluckte krampfhaft, brauchte eine endlose Zeit für die letzten
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Sprossen der Jakobsleiter und wurde sichtlich von der Frage bewegt, ob man ihn überhaupt reden lassen oder gleich an die Rahnock knüpfen würde. Ed Carberry erleichterte ihm die Entscheidung, indem er einfach hinunterlangte, den ängstlichen Mann am Kragen packte und auf die Planken der Kuhl stellte. Sweeney schluckte wieder. Er hatte geglaubt, auf alles gefaßt zu sein. Auf Ed Carberrys wüstes Narbengesicht genauso wie auf die furchterregende schwarze Hünengestalt Batutis, auf den Schiffszimmermann mit seiner mörderischen Axt, auf den graubärtigen Riesen Shane, auf die beiden Männer mit den schrecklichen Eisenhaken, auf die anderen, die im Grunde alle gleich wild und gefährlich aussahen. Schließlich war er ihnen schon einmal begegnet. Er hatte sich gewappnet, aber er hatte die Männer nur in einem ganz normalen Kampf gesehen, bei recht guter Laune, und er hatte vor allem nie den Seewolf erlebt, wenn der wirklich zornig wurde. Was dem Banditen da aus den eisblauen Augen entgegenstrahlte, war durchaus geeignet, auch einem hartgesotteneren Typ als John Sweeney zu weichen Knien zu verhelfen. Der Dürre schluckte noch einmal. Er riß sich zusammen. Einfach deshalb, weil er immer noch klar genug dachte, um zu wissen, daß ihm überhaupt nichts anderes übrigblieb. „Wenn ihr mich anfaßt, geht es dem Jungen dreckig!“ stieß er in einem erstaunlichen Anfall von Entschlossenheit hervor. Hasard zog die Lippen von den Zähnen. Es war ein Lächeln, aber eins, vor dem es den Sensenmann persönlich gegraust hätte. „Mach's Maul auf“, sagte er hart. „Und zwar schnell, bevor ich mit meiner Geduld am Ende bin. Was wollt ihr?“ Sweeney fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Angesichts all der finsteren Gesichter, zusammengezogenen Brauen und drohend vorgeschobenen Kinnladen war es schwer.
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Red Fox Killarneys unverschämte Forderungen auszusprechen. Aber er hatte nun einmal keine andere Wahl. „Die Schätze“, sagte er heiser. „Alles, was ihr an Gold, Silber, Perlen und Edelsteinen geladen habt!“ Er schwieg und hielt den Atem an. Halb und halb erwartete er, daß man sich jetzt auf ihn stürzen werde, um wenigstens die erste Wut abzureagieren, wenn man ihn schon nicht umbrachte. Aber nichts dergleichen geschah. Die Reaktion auf seine Worte war eisiges Schweigen. Ein Schweigen, das umso bedrohlicher wirkte, weil es in dieser Lage unnatürlich war, und das nicht einmal von Arwenack oder Sir John unterbrochen wurde, der sonst, stets mit dem Schnabel vorneweg war. „So“, sagte Ed Carberry schließlich mit einer Stimme, die vor mühsam gebändigter Wut zitterte. „Und woher will diese rothaarige Kanalratte wissen, was wir an Bord haben?“ Wen er mit der „rothaarigen Kanalratte“ meinte, war klar. Der dürre John Sweeney tastete haltsuchend nach dem Schanzkleid hinter sich und vermied es, jemanden direkt anzusehen. „Das - wird sich herausstellen“, sagte er gepreßt. „Red Fox wird sich selbst davon überzeugen.“ „So?“ Hasard kniff die Augen zusammen. „Und wie soll das praktisch vor sich gehen?“ Sweeney lächelte verzerrt. Aus den Worten glaubte er, die Bereitschaft herauslesen zu können, auf alle Bedingungen einzugehen. Er gewann Oberwasser. Ein bißchen nur, aber es reichte, um seine Stimme etwas sicherer klingen zu lassen. „Sie sollen zur Insel Wight segeln“, sagte er. „Hinter der kleinen südwestlichen Landzunge gibt es einen ziemlich versteckten Hafen, den laufen Sie an. Red Fox wird dann an Bord kommen und ...“ „Tatsächlich?“ fragte Hasard zweifelnd. Der Dürre nickte eifrig. „Jawohl! Wir werden die Schätze ausladen, und dann kriegt ihr den Jungen zurück. Natürlich erst, wenn die Schätze an einen sicheren
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Ort gebracht worden sind. Wir - wir wollen schließlich keine bösen Überraschungen erleben.“ „Verständlich“, sagte Hasard sarkastisch. „Und deshalb werdet ihr uns auch im entscheidenden Augenblick die Spanier auf den Hals schicken, nicht wahr?“ „Spa - Spanier?“ stammelte der Dürre erschrocken. Die Seewölfe brauchten nur einen Blick in das bleiche, hagere Gesicht des Banditen zu werfen, um zu wissen, daß ihr Kapitän mit seiner Vermutung genau richtig lag. Die Spanier waren das Trumpfas in Red Fox Killarneys Ärmel. Sie würden verhindern, daß den Banditen die Schätze schlicht und einfach wieder abgejagt wurden, sobald sie den Jungen als Faustpfand aus der Hand gegeben hatten. Wenn sich vor der Insel Wight eine Seeschlacht entwickelte, verschaffte das Red Fox Killarneys Galgenvögeln und Halsabschneidern Zeit genug, sich mit den erbeuteten Reichtümern in Sicherheit zu bringen. Und den Spaniern ging es ohnehin in erster Linie darum, die „Isabella“ zu kapern und die Besatzung, allen voran den verhaßten El Lobo del Mar, endlich zur Strecke zu bringen. Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Sein Gesicht glich einer harten, entschlossenen Maske. „Der Junge wird also auf der Insel Wight gefangen gehalten?“ vergewisserte er sich. Sweeney schluckte. „Das habe ich nicht gesagt, das ...“ „Natürlich hast du es gesagt. Und als nächstes wirst du uns erzählen, wo genau Red Fox den Jungen versteckt hat. Sonst werden wir dir nämlich an der Rahnock den Hals lang ziehen, verstanden?“ Sweeneys Mund wurde trocken. Der Blick seiner unsteten Augen irrte von einem zum anderen, und seine Lider flatterten. „Das - das könnt ihr nicht tun“, flüsterte er verzweifelt. „Nicht?“ fragte der Seewolf gedehnt. „Bestimmt nicht?“ echote Ed Carberry höhnisch. „Nein! Wenn mir etwas passiert, geht es dem Jungen dreckig! Red Fox wird ihn
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umbringen lassen, wenn ihr mir auch nur ein Haar krümmt, er ....“ „Red Fox wird gar nichts“, sagte Hasard kalt. „Er will die Schätze. Und die erhält er nur, wenn er uns den Jungen ausliefert. Glaubst du im Ernst, daß er sich auch nur das Schwarze unter dem Nagel darum scheren wird, was unter diesen Umständen mit dir passiert? Nimmst du wirklich an, er verzichtet auf die Beute und bringt seine Geisel um, nur um eine miese Ratte wie dich zu rächen?“ Der Dürre wurde gelb im Gesicht. Mit seinem Verstand konnte es nicht weit her sein, sonst hätte ihm die Erkenntnis seiner eigenen miserablen Lage viel früher kommen müssen. Jetzt traf ihn die bittere Wahrheit mit voller Wucht: er war seinen Gegnern ausgeliefert. Sie konnten mit ihm tun, was sie wollten. Erstens würde Red Fox überhaupt nichts davon erfahren, da die Seewölfe nur zu behaupten brauchten, sein Kurier sei in Panik über Bord gesprungen oder sonst wie ins Jenseits übergewechselt — und selbst wenn der „rote Fuchs“ kein Wort davon glaubte, würde er für John Sweeney nicht einmal den kleinen Finger rühren. Mit zitternden Händen wischte sich der Bandit den Schweiß von der Stirn. „Nein“, sagte er heiser. „Das dürft ihr nicht. Ich — ich kann nichts dafür. Ich war dagegen, das Kind zu entführen, das schwöre ich. Ich — ich bin überhaupt nur hier, um — um ... ` „Um uns dazu zu verhelfen, den Jungen zurückzuholen?“ fragte Hasard sanft. „Jawohl“, flüsterte Sweeney. Obwohl er sich gerade noch mitten im entsprechenden Satz unterbrochen hatte, weil ihm diese Behauptung denn doch zu unverschämt erschienen war. „Fein“, sagte Hasard immer noch sanft. „Dann wirst du uns ja sicher gern verraten, wo der Junge gefangen gehalten wird.“ Sweeney blinzelte. „Das weiß ich nicht! Ehrlich nicht! Ich habe keine Ahnung ...“ „Wie du willst“, sagte Hasard trocken. „Dann eben doch die Rahnock!“ „Nein!“ kreischte Sweeney. „Das könnt ihr nicht, das dürft ihr nicht, das…“
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Ed Carberry grinste. Bei seinem wüsten. Narbengesicht wirkte das furchterregend. „Möglich, daß wir es nicht dürfen“, räumte er ein. „Aber wir können, und wir werden, mein Junge. Reden oder Rahnock, das ist die Wahl, die du hast. Also?“ „Aber ich weiß doch nichts, ich ...“ „Rahnock“, stellte Carberry gelassen fest. „Nein!“ heulte Sweeney. „Nein, nicht, ich ...“ „Doch lieber reden?“ „Ja“, stöhnte der Dürre schicksalsergeben. „Ich rede. Ich sage alles, ich ...“ „Dann fang an! Aber ein bißchen plötzlich. Wo ist der Junge?“ „In — in der ,Totenkiste’“, brachte Sweeney heraus. Erst als er schon zwischen Carberrys mächtigen Fäusten hing und wie ein Bettsack geschüttelt wurde, fiel ihm ein, daß das eine mißverständliche Bezeichnung war. Sein Kopf pendelte, seine Zähne klirrten aufeinander, und er beeilte sich hervorzusprudeln, daß mit der „Totenkiste“ keineswegs ein Sarg gemeint sei, sondern nur eine ganz normale Schmuggler- und Strandräuber-Schenke. Carberry setzte den schlotternden Mann wieder auf den Planken ab. Für Sweeney war das ungefähr so, als habe jemand versucht, ihn in die Bilge zu befördern, ohne eine Luke zu benutzen. Stotternd und benommen beantwortete er die restlichen Fragen, erklärte genau die Lage der „Totenkiste“ und beschrieb die Umgebung, so gut er konnte. Wann und wo die Spanier in das Geschehen eingreifen würden, konnte er tatsächlich nicht sagen. Er wußte nur, daß sich eine Gruppe von Dons mit einem Boot auf die Suche nach ihren Landsleuten begeben hatte. Nicht einmal Carberrys fürchterlichste Drohungen fruchteten etwas, da der Dürre tatsächlich nicht mehr als das wußte, was er bereits gesagt hatte. „Ab mit ihm in die Vorpiek“, befahl Hasard hart. Wenig später fand sich John Sweeney in einem stockfinsteren, übel riechenden Loch wieder, wo er reichlich Zeit und Gelegenheit haben würde, über die
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diversen Sünden seines Banditenlebens nachzudenken. 7. Für die Seewölfe stand fest, daß sie nur zum Schein auf die Bedingungen der Banditen eingehen würden. Zum Schein — und nur so lange, wie sie die Aufmerksamkeit der Kerle ablenken mußten, um in Ruhe den kleinen Hasard befreien zu können. Letzteres war eine Aufgabe, die eine ziemlich kleine Gruppe erledigen würde. Denn die „Isabella“ musste gefechtsklar bleiben. Der spanische Überfall stand nach wie vor als stete Bedrohung im , Hintergrund — und ohne wirksame Möglichkeit, diesen Überfall abzuwehren, konnte man im Grunde auch dem Jungen nicht helfen. Zusammen mit Ben Brighton, Ed Carberry, Big Old Shane und den beiden O'Flynns stand der Seewolf in der Kapitänskammer und blätterte Seekarten durch, bis er eine gefunden hatte, die die Insel Wight und den entsprechenden Küstenabschnitt bis in Einzelheiten genau zeigte. Jede winzige Bucht und jede vorgelagerte Klippe waren eingezeichnet. Hasard beugte sich mit zusammengekniffenen Augen darüber. Er tippte auf den Südwestzipfel der Insel und den schmalen Einschnitt dahinter. „Der Fischerhafen“, stellte er fest. Sein Finger wanderte. „Also müßte hier das Dorf und dort oben die obskure ‚Totenkiste' liegen. Sobald die Kerle uns sichten, werden sie vermutlich alle zum Hafen laufen und sich die Augen aus dem Kopf starren. Daß sie es für nötig halten, einen kleinen Jungen besonders schwer zu bewachen, glaube ich nicht. Also könnte inzwischen hier — „, er wies auf eine weitere, östlicher gelegene Bucht, „ — unsere Pinasse mit sechs Mann an Bord anlegen.“ „Gute Idee“, sagte Ben Brighton sofort. „Das Gelände zwischen der Landestelle und der Schenke sieht ziemlich unübersichtlich und felsig aus. Es dürfte also nicht allzu schwer sein, in die
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verdammte Räuberhöhle einzudringen und den kleinen Hasard herauszuholen.“ „Genau“, brummte Carberry zufrieden. „Und wie steht es mit der Besatzung der Pinasse?“ Hasard zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Am liebsten würde ich selbst das Kommando übernehmen, aber ...“ „Killarney kennt dich“, wandte Ben Brighton ein. „Er würde Verdacht schöpfen, wenn plötzlich jemand anders die ,Isabella` befehligt.“ „Eben! Deshalb wird Big Old Shane die Pinasse führen. Shane, such dir fünf Leute aus, die mitsegeln. Al Conroy, Ben und Ed brauche ich allerdings hier an Bord, falls tatsächlich Spanier aufkreuzen. Deckt euch reichlich mit Waffen ein. Das Signal dafür, daß ihr den Jungen habt, sind vier Schüsse in die Luft. Jeweils zwei rasch hintereinander mit einer längeren Pause dazwischen. Noch Fragen?“ Niemand sagte etwas. Schweigend kehrten die Männer an Deck zurück, wo Ed Carberry mit seiner Donnerstimme dem Rest der Crew den Plan erläuterte. Big Old Shane wählte fünf Männer aus: Stenmark und Smoky, Ferris Tucker, Sam Roskill und Bob Grey. Unterdessen wurde bereits die Pinasse ausgerüstet und abgefiert, wurden der Mast aufgerichtet und die Segel gesetzt, so daß das Landungskommando nur noch in das Boot überzuwechseln brauchte. Ferris Tucker war der letzte. Er runzelte heftig die Stirn. „He!“ brummte er. „Die Pinasse ist aber ein verdammtes Stück langsamer als die alte ,Isabella`. Wenn beide die Insel Wight ungefähr gleichzeitig erreichen sollen, werden wir einen ziemlichen Vorsprung brauchen.“ Hasard lächelte. „Den kriegt ihr auch, Ferris, keine Sorge.“ „Und wenn die Banditen mißtrauisch werden? Die können doch schließlich auch zwei und zwei zusammenzählen und sich ausrechnen, wann ihr ungefähr aufkreuzen müßtet.“ „Stimmt“, erwiderte Hasard. „Deshalb werden wir jetzt zunächst mal einen
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kleinen Ruderschaden vortäuschen, den wir reparieren müssen, bevor wir weitersegeln. Alles klar, Ferris?“ „Alles klar“, bestätigte der rothaarige Hüne zufrieden. Die Pinasse legte ab. Wenig später war sie nur noch ein undeutlicher Umriß auf dem bewegten Wasser. * Der spanische Verband erschien aus südwestlicher Richtung und rauschte mit halbem Wind auf die Insel Wight zu. Der Nordwest blies immer noch recht kräftig, und die drei Galeonen liefen gute Fahrt. An Bord herrschte fieberhafte Erregung. Inzwischen war es Capitan de Morales und dem spanischen Agenten gelungen, auch den letzten der Offiziere davon zu überzeugen, daß tatsächlich die Chance bestand, endlich den berüchtigten Seewolf gefangen zu nehmen und die „Isabella“ aufzubringen. Eine gute Chance sogar, eine Chance, bei der sie selbst nicht einmal viel zu riskieren brauchten. Die „Isabella“ würde die Insel Wight anlaufen, und während sich die Aufmerksamkeit der Besatzung auf die Banditen und Strandräuber konzentrierte, würde das Schiff den Spaniern wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. So jedenfalls sah ihr Plan aus,, bis der Mann im Großmars der Führungsgaleone Mastspitzen über der Kimm meldete. Die „Isabella“? Noch lag sie ein paar Strich achterlicher als dwars, doch da sie mit raumem Wind lief, würde sie auf jeden Fall den Kurs des Verbandes kreuzen, und zwar noch vor der Insel Wight. Auf der „Barcelona“ starrte Capitan Juan de la Cruz aus zusammen- gekniffenen Augen zu der Galeone hinüber, die rasch größer wurde. Auf der „Estrella de Cadiz“ zwirbelte Julio d'Arriazza heftig und hingegeben seinen Schnurrbart und dachte an die Schätze, die der Gegner mit sich führte und die man — leider, leider — mit den Banditen auf Wight teilen mußte.
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Porfirio Montez, den Capitan der „Santa Anna“, bewegten ganz ähnliche Gedanken. Er fragte sich, ob man tatsächlich mit den Banditen teilen müsse oder ob es nicht viel besser und einfacher sei, auf offener See über die „Isabella“ herzufallen, sie kurzerhand einzusacken und den Männern, die auf Wight festsaßen, das Nachsehen zu geben. Die Kerle waren keine Seeleute, und sie hatten kein gefechtsfähiges Schiff. Sie würden nichts tun können — nur lange Gesichter schneiden. Innerhalb der nächsten Minuten begannen die Signalgasten auf den drei Galeonen eine rege Tätigkeit. Wie sich herausstellte, waren sämtliche Kapitäne einschließlich Antonio de Morales von der untergegangenen „Navarre“ der gleichen Ansicht: sie fanden es angesichts der. unerwarteten Wendung der Dinge völlig überflüssig, sich an die Vereinbarungen mit Red Fox Killarney und seinen Banditen zu halten. Helfen konnten die Männer von der Insel Wight ihnen ohnehin nicht. Was also lag näher, als sich den fetten Brocken allein einzuverleiben? Gegen drei starke, hervorragend armierte Kriegsgaleonen hatte die „Isabella“ nicht den Schimmer einer Chance, das glaubte selbst Morales, der es eigentlich hätte besser wissen müssen. Einstimmig beschlossen sie, über das Opfer herzufallen, noch bevor es die Insel Wight erreichte. Auf allen drei Galeonen wurde „Klar Schiff zum Gefecht“ befohlen. Bootsmannspfeifen schrillten, nackte Fußsohlen klatschten über. die Decks. Kugeln und Kartuschen wurden gemannt, die Stückmeister überprüften die Pulvervorräte, kontrollierten die Brooktaue und überzeugten sich, daß Lunten, Ladestücke, Wischer und alles andere bereitlag, was gebraucht wurde. Die Kanonen waren fertig, um ausgerannt zu werden. Nur noch die Stückpforten mußten herunterrasseln. Von den GroßmarsPlattformen aus beobachteten immer noch Ausguck-Posten aufmerksam die näher gleitende „Isabella“.
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Dort hatte man den spanischen Verband schon eine geraume Weile früher gesichtet als umgekehrt. Da gerade in ihrer augenblicklichen Situation der Ausguck besonders wichtig war, hatte Dan O'Flynn den Posten im Großmars eingenommen, und mit dessen scharfen Augen konnte nun mal niemand so leicht konkurrieren. Als für das spanische Führerschiff die See noch wie leergefegt war, sichtete der junge O'Flynn schon Mastspitzen über der südöstlichen Kimm. Mit Hilfe des Spektivs, das ihm Hasard hinaufreichte, wurden aus den drei dünnen Nadeln über, der ebenso dünnen Linie zwischen Wasser und Himmel bereits sechs. Wenig später waren es neun und nach ein paar Minuten stand fest, daß da tatsächlich drei fremde Schiffe heransegelten, dreimastige Galeonen vermutlich, die allerdings genauso gut Spanier wie Holländer, Franzosen oder ebenfalls Engländer sein konnten. In einem vielbefahrenen Gewässer wie dem Kanal war alles möglich, aber Hasard zog es vor, sicherheitshalber mit dem Schlimmsten zu rechnen. „Klar Schiff zum Gefecht!“ dröhnte seine Stimme. „Al, du wirst zusehen müssen, wie du es an den Geschützen mit sechs Mann weniger schaffst. Ed?“ „Aye, aye, Sir?“ „Bereitet ein paar Brandsätze vor, wir sind immerhin unterbemannt und haben es mit einem ganzen Verband zu tun. Ich möchte, daß das Führerschiff der Spanier zwei Raketen abkriegt. Dann werden die beiden anderen erst einmal abfallen, um sich in Sicherheit zu bringen. Die dritte Rakete laßt ihr über dem Wasser explodieren. Die Kerle sollen die Chance haben, ihre Kameraden aus dem Wasser zu fischen und zu verschwinden, klar?“ „Aye, aye!“ rief der Profos gelassen. „Klar bei Brandsätze! Blacky, Luke — an Deck mit den Abschuß-Gestellen, oder glaubt ihr, die Dinger kriegen Flügel und fliegen von selbst zu euch, was, wie?“ Die Männer flitzten. Immer noch hielt die „Isabella“ stur ihren Ostkurs. Al Conroy, der Stückmeister,
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hatte persönlich jedes einzelne Geschütz einschließlich der Drehbassen an Bug und Heck kontrolliert, jetzt ließ er Handwaffen ausgeben für den Fall, daß es wider Erwarten doch zum Enterkampf kommen würde. Niemand rechnete damit, für die unterbemannte „Isabella“ wäre es wohl auch eine verhängnisvolle Entwicklung gewesen, aber Vorsicht war nun einmal die Mutter der heilen Rumflasche. „Dan?“ schrie Hasard zum Großmars hinauf. „Drei Galeonen, Sir“, meldete der junge O'Flynn gelassen. „Einwandfrei Spanier. Jedenfalls kann ich bei zweien die Holzkreuze unter dem Bugspriet erkennen, da wird der dritte Kahn wohl auch vom gleichen Haufen sein.“ „Bewaffnung?“ „Führerschiff hat achtzehn Stückpforten an Backbord. Bei den beiden anderen kann ich noch nicht genau zählen, aber ich vermute, daß es jeweils ein paar weniger sind - so zwölf bis vierzehn.“ Hasard hob die rechte Braue. Ganz respektable Feuerspucker, die ihnen da entgegen pegelten und es augenscheinlich auf einen Kampf angelegt hatten, dachte er. Die „Isabella“ war mit je acht Siebzehnpfünder-Culverinen an Backbord und Steuerbord und je zwei Drehbassen an Bug und Heck bestückt. Aber darauf allein kam es nicht an. Ganz abgesehen davon, daß gegen die Brandsätze, über die die Seewölfe verfügten, ohnehin kein Kraut gewachsen war. Das chinesische Feuer war unlöschbar, die kleinen Raketen reichten weiter und trafen genauer als Kanonenkugeln. Da sie nur über eine begrenzte Anzahl dieser Brandsätze verfügten, wandten sie sie nur in Notfällen an, aber eine unterbemannte „Isabella“ gegen drei wesentlich schwerer bestückte Spanier, das war zweifellos ein solcher Notfall. Auf der Seite der Gegner hielt man die ganze Sache im Gegenteil für einen Glücksfall. Die Spanier ahnten nicht, auf was sie sich einließen. Und der Capitan der „Navarre“
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konnte es ihnen nicht sagen: mit seinem Schiff und der „Marguerite“ waren die Seewölfe auch ohne Brandsätze spielend fertig geworden. Sicher, auch die Kommandanten von „Barcelona“, „Estrella de Cadiz“ und „Santa Anna“ hatten schon davon gehört, daß El Lobo del Mar eine unheimliche, rätselhafte Waffe besitzen sollte, gegen die auch überlegene Gegner nichts zu melden hatten. Aber die meisten Spanier, die die Wirkung dieser Waffe noch nicht am eigenen Leib erlebt hatten, hielten sie für ein bloßes Gerücht. Den drei augenblicklichen Angreifern erging es nicht anders. Der Capitan des Führerschiffs legte die Taktik fest. Man würde höher an den Wind gehen, auf die Luvposition verzichten, wieder abfallen und in Kiellinie an der Steuerbordseite der „Isabella“ vorbeilaufen. Die erste Breitseite sollte ihr die Takelage zerfetzen. Dann würde sie an Fahrt verlieren, konnte selbst nur eine einzige Breitseite anbringen und war den beiden restlichen Gegnern praktisch wehrlos ausgeliefert. So jedenfalls dachte. sich das der Capitan der „Barcelona“, und seine schwarzen, tiefliegenden Augen funkelten bereits in purer Vorfreude. „Anluven“, befahl er, nicht ahnend, daß das vermeintlich sichere Opfer schon seit geraumer Zeit auf dieses Manöver gewartet hatte. Die Seewölfe waren vorbereitet. In der Vorpiek hockte der Bandit John Sweeney, hörte die Kommandos, die ihm eindeutig verrieten, was die Stunde geschlagen hatte, und versuchte verzweifelt, ein möglichst eindringliches Stoßgebet zum Himmel zusammenzubringen. * Um diese Zeit hatten Red Fox Killarney und seine Leute den Logger längst wieder in dem Fischerhafen an der Südwestecke von Wight vertäut. Sie waren an Land gegangen und hatten einen Boten zur „Totenkiste“, geschickt.
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Dort waren inzwischen nur noch wenige Männer nüchtern. Barnabas Ahab gehörte dazu, der Spanier Lorenzo, und diesen beiden schloß sich etwa ein Dutzend Strandräuber und Banditen an, die immerhin noch in der Lage waren, mit einiger Mühe einen Fuß vor den anderen zu setzen. Red Fox Killarney und Black Jack, der Schwarzbart, waren in die Klippen auf der Landzunge geentert, von wo aus sie den besten Ausblick hatten. Big Barnabas und ein paar andere kletterten ebenfalls hinauf. Red Fox berichtete, wie die Sache gelaufen war — soweit er es beurteilen konnte. Er hatte es vorgezogen, keine Sekunde länger als nötig in Sichtweite der „Isabella“ zu bleiben, obwohl er das mit dem kleinen Logger ohne weiteres gekonnt hätte, ohne selbst gesehen zu werden. Aber die Gefahr war zu groß, daß die Seewölfe die richtigen, im Grunde nahe liegenden Schlüsse zogen und sich auf die Suche nach ihrem Gegner begaben — und eine Wettfahrt Logger gegen Galeone war das letzte, auf das Red Fox sich hatte einlassen wollen. „Sehr weise“, pflichtete ihm Big Barnabas bei. „Vorsicht ist der bessere Teil der Tapferkeit, das habe ich schon immer gesagt. Vor allem in einem solchen Fall! Jetzt können wir in aller Ruhe abwarten und ...“ „Da ist sie!“ schrie Black Jack dazwischen. Tatsächlich: Sie war es. Das Spektiv, das Red Fox Killarney mit heraufgebracht hatte, zeigte deutlich die typische, merklich flacher gewordene Linienführung und die überlangen Masten der „Isabella“. Der rothaarige Bandit zog die Lippen von den Zähnen, seine Augen funkelten triumphierend. Langsam ließ er das Fernrohr weiterwandern — und dann zuckte er heftig zusammen. „Was ist?“ fragte Black Jack, dem die Geste nicht entgangen war. „Spanier!“ Killarney biß die Zähne zusammen und sprach, ohne das Spektiv abzusetzen. Erst nach ein paar Sekunden ließ er es sinken. „Spanier!“ wiederholte
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er. Sein Blick suchte den Mann, der sich Lorenzo nannte. „Schau es dir an — Amigo mio!“ Die Art, wie er die letzten Worte betonte, wirkten ausgesprochen erbittert. Lorenzo, Agent der spanischen Krone, griff nach dem Spektiv und richtete es nach Westen. Langsam schwenkte er die Kimm ab, und auch er zuckte leicht, aber sichtbar zusammen. „Ich erkenne die ‚Barcelona', Amigo“, sagte er nach einer Weile. „Dann dürfte es sich bei den beiden anderen Galeonen um die ,Estrella de Cadiz' und die ,Santa Anna' handeln.“ „Und sonst fällt dir nichts auf?“ Lorenzo zuckte mit den Schultern. Black Jack und Barnabas Ahab sahen verständnislos von einem zum anderen. Um sie mit bloßem Auge auseinander zuhalten, waren die Schiffe, von der „Isabella“ abgesehen, noch zu weit entfernt. Die Männer sahen nur, daß die drei Galeonen, die da von Südwesten heranrauschten, den Kurs der einzelnen kreuzen würden, und es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, was das zu bedeuten hatte. „Verdammt!“ knurrte Big Barnabas. „Sind diese Idioten blind, oder wieso haben sie nicht längst abgedreht? Sie sollten der ,Isabella“ den Weg aus dem Hafen abschneiden, damit wir den Kahn alle gemeinsam kapern können. Glauben diese dämlichen Dons vielleicht, das klappt, wenn sie sich schon vorher sehen lassen?'` Red Fox verzog das Gesicht. „Bist du so naiv, oder tust du nur so? Siehst du nicht, daß unsere verehrten Freunde gar nicht daran denken, sich an die Vereinbarung zu halten?“ „Aber ...“ Es war Lorenzo, der zu einem Einwand ansetzte. Red Fox Killarney fuhr herum und durchbohrte ihn mit einem Blick. „Was denn, Amigo?“ fragte der rothaarige Bandit schneidend. „Willst du bestreiten, daß deine Leute da drüben gerade dabei sind, die ,Isabella` anzugreifen?“ „Nein, aber ...“
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„So! Und wenn sie sie gekapert haben – glaubst du vielleicht, dann segeln sie hierher um die Beute mit uns zu teilen?“ Lorenzo schwieg. Nein, er glaubte selbst nicht, daß seine Landsleute hierher nach Wight segeln würden, wenn es ihnen gelang, die „Isabella“ zu besiegen. Inzwischen begriffen auch die anderen Männer, was da vor ihren Augen seinen Lauf nahm. Flüche wurden laut. Black Jack raufte sich seinen schwarzen Bart, und Barnabas Ahabs narbenverwüstetes Gesicht verzerrte sich zur wütenden Fratze. „Diese Schweine!“ knirschte er. „Diese dreckigen spanischen Halunken! Denen werde ich eigenhändig die Hälse umdrehen! Hackfleisch mache ich aus den Kerlen, vierteilen werde ich sie und „Wie denn?“ fragte Red Fox nüchtern. „Willst du einen Verband spanischer Kriegsgaleonen mit dem Logger angreifen?“ „Wir haben den Jungen, wir ...“ „Idiot! Du weißt verdammt genau, daß den Spaniern das Schicksal des Jungen total gleichgültig ist.“ Schweigen. Stumm und blaß vor Wut starrten die Männer nach Westen. Um die vier Schiffe dort zu beobachten, brauchten sie jetzt kein Fernrohr mehr. Lorenzo hatte das Spektiv sinken lassen. Aber er biß die Zähne zusammen, nicht weniger wütend als die anderen. Denn er wußte nur zu genau, daß man auch auf ihn keine Rücksicht nehmen würde. Jedenfalls würden die spanischen Galeonen nicht seinetwegen die Insel Wight anlaufen und riskieren, in ein Scharmützel mit Killarneys Banditen und Barnabas Ahabs Strandräuber-Horden verwickelt zu werden. Das hieß, daß die sagenhaften Schätze der „Isabella“ für Lorenzo genauso verloren waren wie der Ruhm, zur Gefangennahme des berüchtigten Seewolfs beigetragen zu haben. Falls die „Isabella“ tatsächlich gekapert wurde!
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Ganz plötzlich fielen Lorenzo wieder alle die Legenden ein, die sich um den Namen des Seewolfs rankten. Legenden, die von der angeblichen Unbesiegbarkeit der „Isabella“ sprachen, von geheimnisvollen Waffen, die Feuer regnen ließen, von Bränden, die wahres Teufelswerk sein mußten, weil sie durch nichts und niemanden zu löschen waren. Der spanische Agent hatte das alles für Gerüchte und maßlose Übertreibungen gehalten. Jetzt hoffte er inständig, daß wenigstens ein Teil davon zutraf – und es störte ihn nicht im mindesten, daß er damit zugleich seinen Landsleuten die Pest an den Hals wünschte. Ihre eigene Schuld, wenn sie sich nicht an die Vereinbarungen hielten! Wenn er, Lorenzo, ohnehin ausgebootet werden sollte, wollte er sich lieber wie ein gewöhnlicher Bandit mit den anderen die Schätze der „Isabella“ teilen. Er starrte nach Westen, ballte die Hände vor Spannung und wurde sich nicht bewußt, daß alle anderen ringsum genau das gleiche taten. Wenn sie überhaupt noch zum Zug gelangen wollten, hatten sie nur eine Wahl: der „Isabella“ kräftig die Daumen zu halten. Und das taten sie, obwohl sich Red Fox Killarney nie hätte träumen lassen, daß dies jemals passieren könnte. 8. Hasard stand auf dem Achterkastell und wartete kaltblütig darauf, daß das Flaggschiff der Spanier auf Raketenschußweite heransegelte. Der Verband war hoch an den Wind gegangen und lag jetzt fast genau querab Steuerbord. Die Absicht war klar: das Flaggschiff würde versuchen, der „Isabella“ mit den Bugdrehbassen ein paar Segel zu zerfetzen, sie nach Möglichkeit zu einer überhasteten Breitseite zu verleiten und blitzschnell abzufallen. Wenn die Männer an den Drehbassen gute Kanoniere waren, würde die „Isabella“ dann bereits in ihrer Manövrierfähigkeit eingeschränkt
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sein, und die drei Galeonen konnten in aller Ruhe an ihr vorbeilaufen und ihre Breitseiten abfeuern. „Fein ausgedacht“, meinte Ben Brighton sarkastisch. „Denken ist Glücksache“, sagte Hasard trocken. Sein Blick hing an der „Barcelona“, an deren Backbordseite soeben die Stückpforten heruntergingen. Noch war die Entfernung zu groß für Drehbassen oder Culverinen, aber nicht für die sinnreich konstruierten Bronzegestelle, mit denen die Brandsätze abgeschossen wurden. „Feuer!“ befahl Hasard nach ein paar Sekunden schneidend. „Feuer!“ tönte es von Al Conroy zurück. Im nächsten Moment löste sich zischend und fauchend eine der Raketen von der Abschußvorrichtung und zog im Bogen ihre funkensprühende Bahn über das Wasser. Eine Bahn, die genau auf den Großmast des feindlichen Flaggschiffs zielte. Starr vor Schrecken hatten die Spanier dem unbekannten Geschoß entgegengesehen. Erst als es ein Stück über der Nagelbank explodierte, stieg ein vielstimmiger Aufschrei in den Himmel. Bunte, leuchtende Kugeln spritzten nach allen Seiten auseinander und zerplatzten abermals. Von einer Sekunde zur anderen schien es über der „Barcelona“ Feuer zu regnen. Schon stand das Großsegel in Flammen. Rahen und Masten glommen, überall, wo die Flammenzungen die Decksplanken trafen, entstanden Brandnester, die sich mit rasender Schnelligkeit ausbreiteten und tiefer fraßen. Befehle wurden gebrüllt. An langen Tampen flogen Segeltuchpützen außenbords, Wasser ergoß sich in die Glut, Männer schlugen verzweifelt mit Jacken und heruntergerissenen Hemden auf die Flammen ein, aber wo das „chinesische Feuer“ erst einmal aufgeflammt war, da gab es nichts mehr zu löschen. Auf der „Barcelona“ herrschte sichtlich Zustand. Hasard beging allerdings nicht den Fehler, den angeschlagenen Gegner zu
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unterschätzen, sondern ließ anluven und wich mit halbem Wind etwas nach Norden aus. Der spanische Capitan würde eine Weile brauchen, um die Aussichtslosigkeit seiner Lage zu begreifen, und bis dahin blieb er gefährlich. Das Bleigewitter, das im nächsten Augenblick über das Wasser orgelte, gab dem Seewolf recht. Das Rigg der „Barcelona“ stand in hellen Flammen. Aber der Winddruck reichte aus, um die Galeone etwas nach Steuerbord herumzuschieben - und die Männer, die nicht mit den vergeblichen Löschversuchen beschäftigt waren, feuerten halb verrückt vor Haß aus allen Rohren, obwohl sie die „Isabella“ jetzt nicht mehr erwischen konnten. Die beiden anderen Galeonen reagierten genauso, wie Hasard es vorausgesehen hatte. Für sie war die Lage völlig unübersichtlich. Die Kommandanten begriffen nur, daß die „Barcelona“ plötzlich brannte - und manövrierunfähig auf sie zutrieb. Rammen lassen durften sie sich natürlich nicht. Und von den beiden Ausweichmöglichkeiten wählten sie diejenige, die im Notfall die schnellere Fluchtchance versprach: sie fielen ab und rauschten zunächst einmal raumschots ostwärts. Genau das hatte inzwischen auch die „Isabella“ getan. Als die Spanier auf der „Estrella de Cadiz“ und der „Santa Anna“ ihr vermeintlich sicheres Opfer wieder auftauchen sahen, lag die Galeone des Seewolfs platt vor dem Wind, schnitt in sicherer Entfernung am Bug der brennenden „Barcelona“ vorbei und rauschte wie' ein zorniger Schwan auf die beiden restlichen Schiffe zu. Ein paar von den Spaniern bekreuzigten sich, obwohl sie schließlich immer noch die Überlegenen waren. Aber jetzt hieß es nur noch zwei gegen einen, und die „Isabella“ hatte die taktisch günstigere Luvposition. Die spanischen Kommandanten ließen stur Kurs halten und warteten darauf, daß ihnen der Gegner vor die Rohre laufen würde - und als die Seewölfe schließlich handelten, gab es
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wieder eine Reihe von Spaniern, die sich mehr oder weniger heimlich bekreuzigten. Zwei Brandsätze hatten die „Barcelona“ getroffen, jetzt löste sich eine weitere fauchende, funkensprühende Rakete diesmal vom Bug der „Isabella“. Hoch sauste sie in die Luft - gewollt hoch, denn diesmal sollte sie ja nicht wirklich treffen. Ein Alptraum von Zeit schien zu vergehen, bis sich das kleine, teuflische Ding wieder senkte. Genau zwischen den beiden in Kiellinie segelnden Galeonen zerplatzte der Brandsatz, und ein farbenprächtiger Flammenregen gleißte auf, blendete die Augen und tauchte die Umgebung sekundenlang in glutroten Widerschein, bevor er zischend im Wasser verlöschte. Die „Isabella“ drehte wieder nach Westen ab. Vom Achterkastell aus konnte Hasard deutlich sehen, wie die Mannschaft der lichterloh brennenden „Barcelona“ in fieberhafter Eile Boote abfierte. Die Männer hatten begriffen, daß ihr Schiff nicht mehr zu retten war. Das sahen auch die Spanier von „Estrella de Cadiz` und „Santa Anna“. Selbst den sturen, hochmütigen Kapitänen war klar geworden, daß der letzte Brandsatz mit voller Absicht zwischen sie gefahren war, oh-. ne Schaden anzurichten. Sie hatten gesehen, auf welche Entfernung diese teuflischen kleinen Feuerspucker trafen, sie wußten, daß sie der Vernichtung ihrer Schiffe näher waren als je zuvor — und beide zogen sie aus dieser Tatsache die richtigen Konsequenzen. Sie griffen nach der Chance, die ihnen die „Isabella“ offen und unmißverständlich anbot. Julio d'Arriazza, Capitan der „Estrella de Cadiz“, war der erste, der abfallen ließ. Die „Santa Anna“ folgte seinem Beispiel. Beide Galeonen halsten und liefen über Backbordbug am Wind nach Westen, Wo sie die Boote von der „Barcelona“ sahen. Die Männer auf den Duchten pullten wie besessen, um aus dem Bereich der brennenden Galeone zu verschwinden. Ein paar von ihnen begannen erleichtert zu
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winken, als sie sahen, daß sich die „Santa Anna“ und die „Estrella de Cadiz“ näherten, um sie aufzufischen. Auf der „Isabella“ beobachteten die Seewölfe, wie die Spanier ihre Landsleute an Bord nahmen und sofort wieder abfielen, um wie vom Teufel gejagt nach Süden zu verschwinden. Hasard lächelte matt. Er ahnte, daß seine Gegner die Sache nicht auf sich beruhen lassen und sämtliche Häfen der spanischen Niederlande alarmieren würden. Aber im Augenblick konnte er sich um diesen Punkt nicht groß kümmern. „Das war's“, sagte er trocken. „Jetzt können wir den Banditen auch erklären, wo ihr dürrer Komplice abgeblieben ist. Wir werden ihnen einfach erzählen, dieser Sweeney sei bei dem Gefecht getötet worden.“ * Hasard junior strich durch das große, kärglich möblierte Zimmer wie eine Katze. In der „Totenkiste“ war es still geworden. Bemerkenswert still. Hasard ahnte, was das bedeutete, denn die Männer, die die ganze Zeit über nebenan getrunken hatten, waren nicht gerade leise gewesen. Der Junge verstand zwar nicht besonders gut Englisch, vor allem nicht das schauderhafte Englisch, das diese Halsabschneider sprachen, aber er konnte immerhin zwei und zwei zusammenzählen. Er mußte hier 'raus! Von den Fesseln hatte er sich schon befreit, doch im Augenblick sah es nicht so aus, als ob ihn das besonders weiterbringen würde. Die Tür war abgeschlossen und verriegelt, die Fenster mit Eisenstäben vergittert, die selbst für einen drahtigen, akrobatisch geschickten Siebenjährigen zu eng standen. Hasard hatte die Wände untersucht und sogar einen Teil der Fußleisten abgerissen. Er hatte jedes einzelne Dielenbrett betastet in der Hoffnung, vielleicht eine getarnte Falltür zu entdecken. Bisher war alles vergebens gewesen. Der Junge biß sich auf die Lippen und bereitete sich gedanklich
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darauf vor, daß er wohl mit Gewalt durchbrechen mußte, sobald jemand die Tür öffnete, um nach ihm zu sehen. Noch einmal sah er sich im Zimmer um und suchte nach einem Versteck, aus dem er im gegebenen Augenblick hervorschießen konnte. Dabei fiel sein Blick auf den großen gemauerten Kamin. Hasard hielt den Atem an. In Gedanken belegte er sich selbst mit den erlesensten türkischen Schimpfnamen, weil er nicht gleich darauf verfallen 'war. Der Kamin, natürlich! Feuer gab Rauch, der Rauch mußte entweichen, also existierte eine Öffnung zum Dach hin. Hasard lächelte andächtig. Nicht einmal ein Feuer brannte, wie er mit einem Blick feststellte. Seine Zähne blitzten, und die blauen Augen funkelten wie pures Gletschereis, als er zu dem Kamin hinüberhuschte, den Kopf ins Feuerloch schob und nach oben spähte. Eine schwarze Röhre. Nicht einmal besonders eng! Als der Junge kurzerhand über das schmiedeeiserne Schutzgitter in die Aschenmulde kletterte und sich aufrichtete, konnte er sogar die rußgeschwärzten Steigeisen sehen, die aufwärts führten. Wahrscheinlich mußte der Kamin ab und zu gesäubert werden. Hasard streckte die Hand aus, packte eins der Steigeisen, und im nächsten Moment unterdrückte er krampfhaft den Hustenreiz, weil eine Wolke von Staub und Ruß herunterwirbelte und ihn einhüllte. Er grinste, als er an sich hinunterblickte. Kleider, Arme, Füße, vermutlich auch sein Gesicht - das alles sah jetzt schön gleichmäßig grau aus. Wenn er das Dach erreicht hatte, würde er wahrscheinlich vom Kopf bis zu den Zehen schwarz sein. Aber das störte nicht weiter. Das konnte sich höchstens segensreich auswirken, denn wenn man ihn erwischte, würden ihn seine Gegner vielleicht für den Teufel persönlich halten und rasch Reißaus nehmen. Hasard zögerte nicht länger, sondern kletterte geschickt wie eine Katze durch den Kamin nach oben.
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Der helle Fleck über ihm wurde größer. Eine halbe Minute später hatte er es geschafft. Vorsichtig schob er den Kopf über den Rand des Kamins - und konnte den Südwestteil der Insel, die Klippen und das Meer überblicken. Tief sog er die frische Luft ein und blinzelte in den blauen Himmel. Seine Augen wanderten weiter und erfaßten die Gestalten, die da auf einer der Klippen kauerten. Red Fox Killarneys roter Schopf, Black Jacks schwarzer, struppiger Bart, die langen Gorillaarme des Kerls, der Barnabas Ahab genannt wurde. Genau wie ein paar andere starrten sie nach Westen und dort waren deutlich weißgraue, majestätisch geblähte Segel zu erkennen. Die „Isabella“! Sie rauschte heran und hielt Kurs auf die Insel Wight. Der kleine Hasard ahnte, daß er nicht mehr viel Zeit zu verlieren hatte. * Die Pinasse lag hart am Wind, um die kleine Bucht im Süden der Insel Wight zu erreichen. Big Old Shane stand hoch aufgerichtet im Bug: sein grauer Bart wehte im Wind, das verwitterte Gesicht wirkte wie versteinert. Auch Stenmark und Smoky, Ferris Tucker, Sam Roskill und Bob Grey waren sehr schweigsam. Sie hatten das Kielwasser der drei spanischen Galeonen gekreuzt, die von Südwesten herangesegelt waren. Sie wußten, daß der spanische Verband nur ein Ziel haben konnte: die „Isabella“. Jetzt warteten sie darauf, daß die Schlacht entbrannte, daß Kanonendonner über das Wasser dröhnte. Nichts dergleichen geschah. Die Männer in der Pinasse wurden immer besorgter, da sie schließlich nicht ahnen konnten, daß ihre Kameraden das Gefecht ohne einen einzigen Kanonenschuß mit drei genau platzierten Brandsätzen entschieden hatten. Ferris Tucker suchte mit dem zweiten Spektiv die Küste ab. Weißer Sand, windzerzauster Strandhafer auf den Dünen, weiter westlich die Klippen der Landzunge. Hier im Süden war kein
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Mensch zu sehen. Die Insel bot ein Bild völliger Einsamkeit. Ferris nickte Shane zu, sie fielen etwas ab, und Minuten später öffnete sich die Einfahrt der Bucht vor ihnen, die sie auf der Karte für das Landeunternehmen ausgesucht hatten. Eine ruhige, fast kreisrunde Wasserfläche, von leuchtend weißem Strand umgeben. Die Segel wurden geborgen, mit der letzten Fahrt glitt die Pinasse weiter, bis Sand unter dem Kiel knirschte. Smoky und Ferris Tucker flankten über das Schanzkleid, um die Vorleine wahrzunehmen, die anderen folgten ihnen. Gemeinsam zerrten sie die Pinasse ein Stück auf den Strand, belegten die Leine an einem Stein und überzeugten sich, dass das Boot so sicher wie in Abrahams Schoß lag. Big Old Shane überlegte kurz, dann entschloß er sich, einen Mann als Wache zurückzulassen. Bob Grey übernahm diesen Posten. Zwar konnte er das Boot bei einem eventuellen Angrifft nicht allein halten, aber er konnte zumindest in die Luft schießen und auf diese Weise den anderen zeigen, was die Stunde geschlagen hatte. Minuten später war der Rest der Gruppe bereits unterwegs. Unter Führung von Big Old Shane marschierten Ferris Tucker, Stenmark, Smoky und Sam Roskill quer durch die windzerzausten Dünen, um die geheimnisvolle „Totenkiste“ zu finden und den kleinen Hasard aus seinem Gefängnis herauszuholen. 9. „Nun schau sich einer das Empfangskomitee an“, sagte Ben Brighton erbittert. Sie hatten die Höhe der Landzunge erreicht und luvten an, um das Kap zu runden. Die Bucht öffnete sich vor ihnen: Fischerboote an den Stegen, ein gewundener Weg, der zu den niedrigen, zusammen geduckten Steinhäusern des Dorfs führte. Offenbar hatte sich die halbe Einwohnerschaft am Hafen zusammengefunden. Und von den
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Klippen auf der Landzunge lösten sich jetzt auch noch ein paar Gestalten und kletterten abwärts, um die Versammlung zu vervollständigen. „Killarney, diese rothaarige Mißgeburt“, knirschte Ed Carberry. „Mißgeburt, vermaledeite!“ krähte Sir John, der Papagei – worauf der Profos den Vogel kurzerhand von der Webleine pflückte und in eine seiner unergründlichen Taschen schob, damit der Ara die bevorstehenden Verhandlungen nicht mit unpassenden Bemerkungen störte. Der Seewolf lächelte matt. „Fier weg Groß- und Marssegel!“ befahl er. „Aus dem Wind mit der Blinde! Pete, sobald wir in der Bucht sind, luvst du noch weiter an. Wir gehen über Stag und bleiben so liegen, daß wir notfalls sofort wieder abrauschen können, verstanden?“ „Aye, aye, Sir.“ Die Stimme des Rudergängers klang ruhig und gelassen wie immer. „Klar bei Anker! Höher an den Wind jetzt! Klar zum Anluven auf den neuen Bug!“ Unter Fock und Besan wendete die „Isabella“ in der engen Bucht: ein majestätischer Anblick, der auch die Zuschauer für Sekunden in Bann schlug. Kommandos hallten, die beiden letzten Segel wurden eingeholt. „Fallen Anker!“ dröhnte Hasards Stimme — und wenig später schwoite die Galeone sacht um die Trosse. Bewegung geriet in die Männer am Ufer. Fünf, sechs von ihnen sprangen in eins der kleineren Boote — und Ed Carberry kratzte sich fassungslos an seinem zernarbten Rammkinn. „Du meine Fresse!“ staunte er. „Der rote Giftzwerg ist größenwahnsinnig geworden. Ich glaube, der will allen Ernstes an Bord kommen.“ So sah es tatsächlich aus. Red Fox Killarney persönlich stand mit verschränkten Armen im Bug des Bootes, während seine Kumpane pullten. Der Schwarzbart war dabei. Ein narbengesichtiger Bursche, den die Seewölfe nicht kannten, der aber ebenfalls eine gehobene Stellung in der Hierarchie
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der Galgenvögel und Schlagetots innehaben mußte, da auch er nicht daran dachte, einen Riemen anzufassen. Der Kahn rauschte rasch näher, und nur einpaar von den Männern schienen sich leicht besorgt zu fragen, ob sie nicht ein bißchen zu viel riskierten. „Reißt ihnen nicht gleich die Köpfe ab!“ warnte der Seewolf. „Denkt daran, daß uns die Hände gebunden sind. Philip?“ „Aye, aye, Sir.“ Der Junge stand mit den anderen auf der Kuhl. Wut flammte in seinen eisblauen Augen, jetzt blickte er fragend zum Achterkastell hoch. „Du verhältst dich still“, sagte sein Vater in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Ich weiß, wie dir zumute ist, aber ich will keinen Ton von dir hören, verstanden?“ „Aye, aye, Sir!“ wiederholte Philip. Obwohl ihm anzusehen war, daß er den Kerlen, die seinen Bruder entführt hatten, viel lieber eigenhändig an die Gurgeln gesprungen wäre. Hasard grinste flüchtig, sehr flüchtig, denn zu lachen gab es in dieser Situation wahrhaftig nichts. „Bringt die Jakobsleiter aus“, ordnete er an. „Und dann laßt die Herrschaften an Bord. Paßt auf sie auf! Ich will lediglich mit dem Rotkopf und seinem Unterführer reden. Der Rest bleibt unten auf der Kuhl, klar?“ „Klar“, tönte es zurück. Wahrscheinlich würde es Diskussionen geben, aber Diskussionen kosteten Zeit, und genau darum ging es. Die Pinasse mußte die Bucht im Süden der Insel inzwischen erreicht haben. Da sich ein ziemlicher Menschenauflauf am Hafen versammelt hatte, um das Seegefecht und die folgenden Ereignisse zu beobachten, konnten nicht viele Männer zur Bewachung der „Totenkiste“ zurückgeblieben sein. Vier Schüsse hatten sie als Signal vereinbart. Wenn diese vier Schüsse fielen, konnten sie loslegen, bis dahin mußten sie ihre Gegner nach Möglichkeit hinhalten. Hasard beobachtete, wie das Boot der Banditen längsseits ging.
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Red Fox Killarney enterte als erster auf, was immerhin für seinen Mut sprach. Seine grünen Augen wirkten leicht verschleiert. Sprungbereite Spannung lag in seiner Haltung, als er sich über das Schanzkleid zog und federnd auf der Kuhl landete. Rasch und prüfend tastete sein Blick in die Runde, bevor er zur Seite glitt, um dem Schwarzbart und den anderen Platz zu machen. Red Fox sah versteinerte Gesichter und wutflammende Augen. Er atmete verhalten auf, als klar wurde, daß niemand versuchte, sich auf die ungebetenen Besucher zu stürzen, um sie zu massakrieren. Minuten später stand die ganze Gruppe auf der Kuhl. Ed Carberry hatte sich vor ihnen aufgebaut. Ein finster dreinblickender Carberry mit bedrohlich rollenden Augen, der fast an der Wut erstickte, der er keinen freien Lauf lassen konnte. Da er nicht brüllen durfte, zischte er wie eine gereizte Giftnatter — sehr leise und sehr drohend, so daß die Worte auf dem Achterkastell nicht zu verstehen waren. Red Fox Killarney zischte im gleichen Ton zurück. Eine kurze, heftige Debatte entspann sich, die mit der wachsenden Erbitterung der Beteiligten immer leiser wurde. Hasard preßte die Lippen zusammen. Es wirkte komisch, wie sich da Männer gegenseitig anzischten, die normalerweise über eine Lautstärke verfügten, die mühelos einen soliden Sturm zu übertönen vermochte. Unter anderen Umständen hätte der Seewolf vielleicht grinsen müssen. Aber jetzt dachte er an seinen Sohn, und der kalte Zorn erfüllte ihn bis in die letzte Faser seiner Nerven. Schließlich waren es Red Fox Killarney und der Bursche mit den wüsten Pockennarben, die den Niedergang zum Achterkastell heraufstampften. Beide schnitten finstere Gesichter. Killarneys Lippen bildeten einen dünnen Strich, seine grünen Augen glommen. Wahrscheinlich dachte er an den katastrophalen Ausgang des Kampfes auf der „Isabella“, wo eine von den Zwillingen
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geschleuderte Kokosnuß den „roten Fuchs“ außer Gefecht gesetzt hatte. Und an die zweite Niederlage, als er so versessen darauf gewesen war, sich mit dem Seewolf zu duellieren, und schon nach dem ersten Schlagabtausch zu Boden ging, weil er einen Hieb mit dem Glockenkorb des Degens erwischt hatte. „Nun, Mister Seewolf?“ fragte er durch die zusammengebissenen Zähne. „Immer noch auf deinem verdammt hohen Roß?“ Hasard lächelte dünn. Am liebsten hätte er zugeschlagen, aber er beherrschte sich. „Sicher, Mister Red Fox“, sagte er trocken. „Oder glaubst du, irgend etwas ändert sich, nur weil du dir einen ganz besonders schmutzigen Trick ausgedacht hast? Ich schätze, davon wird man sich noch lange in den Schenken erzählen: Patrick Killarney, der sich an kleinen Kindern vergreift, weil er sich an erwachsene Männer nicht mehr herantraut.“ Red Fox hielt den Atem an. Der nur mittelgroße, aber ungemein breit gebaute Bursche neben ihm schnaufte aufgebracht durch die Nase. Er starrte erst Hasard an, dann Ben Brighton, dann wieder Hasard, und sein pockennarbiges Gesicht erhielt einen roten Schimmer. „Ich bin Barnabas Ahab“, knurrte er. „Wer mich beleidigt, dem schlage ich die Zähne ein — damit das klar ist.“ „Habe ich dich beleidigt?“ fragte Hasard hoffnungsvoll. „Nein, aber ...“ „Schade“, sagte der Seewolf. Und es war klar, was er damit meinte: daß es ihm nur recht sein würde, wenn der andere den wahnwitzigen Versuch unternahm, ihn anzugreifen. Barnabas Ahab ließ es lieber bleiben. Auch Red Fox Killarney war die Situation etwas zu prekär, um den Mund allzu weit aufzureißen. Er knirschte mit den Zähnen, starrte seine Gegner an und würgte die Wut hinunter. „Wo ist John Sweeney?“ wollte er wissen. „Tot“, sagte Hasard ungerührt. Red Fox wechselte die Farbe. Barnabas Ahab schluckte krampfhaft. „Tot?“ echote er.
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Hasard wartete eine Weile, bevor er den offensichtlichen Irrtum aufklärte. „Wir haben ihn nicht massakriert“, sagte er ruhig. „Obwohl ich gestehen muß, daß es mir ein Vergnügen gewesen wäre. Der Kerl paßte nicht auf, als die Spanier versuchten, ein paar Enterhaken zu werfen. Sweeney ging über Bord, sein Pech, daß während des Gefechts niemand Zeit hatte, ihn wieder aus dem Bach zu ziehen.“ Red Fox und Ahab wechselten einen Blick. Allzu nahe schien ihnen der vermeintliche Tod ihres Komplicen nicht gerade zu gehen. Killarney fuhr sich mit allen fünf Fingern durch den brandroten Schopf und straffte die Schultern. „Schicksal“, erklärte er ungerührt. „Also kommen wir zum Geschäft! Ich möchte die Frachträume sehen. Und ich sage euch jetzt schon, daß ihr uns eine verdammte Menge bieten müßt, wenn ihr den Bengel lebendig und gesund wieder hier an Bord haben wollt.“ * Seit dem Augenblick, da Hasard junior den Kopf aus dem Schornstein gesteckt hatte, war das ganze Unternehmen ein Kinderspiel für ihn. Daß er von Kopf bis Fuß verrußt war und keinem Seewolf-Sohn, sondern viel eher einem Sprößling des schwarzen Herkules Batuti glich, störte ihn nicht im mindesten. Vor allem, da es ihm nicht bewußt wurde. Er hatte mit einem sichernden Blick in die Runde festgestellt, daß ihn niemand beobachtete, war über das Dach geturnt und an der Regenrinne hinuntergerutscht. Jetzt kauerte er seit einer Weile geduckt hinter dem Wasserfaß und wartete darauf, daß sich die beiden Betrunkenen vor der Tür der „Totenkiste“ verdrückten. Die Kerle dachten nicht daran. Und der kleine Hasard gelangte nicht weiter, da hinter ihm ein Gestrüpp wilder Rosensträucher bis an die Hauswand wucherte, das er nicht durchqueren konnte. Wenn er es umging oder den freien Platz vor der Schenke überquerte, würde er unweigerlich ins Blickfeld der beiden
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Schnapsseligen geraten. Nicht, daß er etwa befürchtet hätte, sie könnten ihn einfangen, aber sie würden vermutlich ein Riesengeschrei anstimmen, und Hasard wollte nach Möglichkeit verhindern, daß seine Flucht zu früh entdeckt wurde. Wenn Blicke töten könnten, wären die beiden Burschen schon längst zu Boden gesunken. Kurz davor waren sie ohnehin. Sie mußten sich aneinander festhalten und konnten nur noch lallen. Auf diese Weise fiel es ihnen schwer, sich darüber zu verständigen, ob sie zum Hafen oder besser zur heimischen Bettstatt schwanken sollten. Der eine zerrte hierhin, der andere dorthin, sie schwankten, brabbelten, warfen sich gegenseitig Freundlichkeiten an die Köpfe — und ahnten nicht, daß nur ein paar Schritte entfernt ein kleiner Junge ungeduldig darauf wartete, daß sie sich einig wurden. Schließlich entschieden sie sich dafür, doch noch den Ereignissen am Hafen zuzuschauen, da man die im Gegensatz zur heimischen Bettstatt nicht jeden Tag geboten erhielt. Torkelnd und unsicher setzten sie sich in Bewegung. Hasard atmete tief auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn, wobei er ein abenteuerliches Muster in die Bußschicht zeichnete. Er wartete, bis die beiden Männer auf dem schmalen Pfad verschwunden waren, der von den Klippen zum Hafen hinunterführte, dann verließ er seine Deckung, überquerte den freien Platz und tauchte in dem unübersichtlichen Gewirr von Felsbrocken, Krüppelkiefern und wucherndem Sanddorn unter. Der Junge nahm nicht den direkten Weg, sondern umrundete das kleine Fischerdorf in weitem Bogen. Auf diese Weise näherte er sich dem Hafen von der Seite der Landzunge her. Die Klippen stiegen hier steil an, und er mußte eine Art Höhenrücken überwinden. Als er sich oben auf dem Grat zwischen ein paar Felsblöcke duckte, hatte er den besten Überblick, den er sich nur wünschen konnte.
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Die „Isabella“ lag mit aufgegeiten Segeln in der Bucht. Der Junge verstand inzwischen genug von der Seefahrt, um sofort zu sehen, daß es nur eines blitzschnellen Manövers bedurfte, um der Galeone zu erlauben, mit raumem Wind unter Vollzeug aus der Einfahrt zu rauschen. Hasards Augen wurden schmal, als er die vielen Menschen auf den Anlegestegen sah, die gespannt zu dem Schiff hinüberstarrten, das kleine Boot, das längsseits gegangen war, und die Fremden an Bord. Da war Red Fox Killarney, ganz deutlich war sein roter Schopf zu erkennen. Er und der Wirt der „Totenkiste“ standen auf dem Achterkastell. Der kleine Hasard erkannte seinen Vater und Ben Brighton, er erkannte auch seinen Bruder, den der Kutscher am Schlafittchen hielt, um ihn an irgendwelchen Eigenmächtigkeiten zu hindern, und die anderen Männer, die ein Grüppchen von Killarneys Banditen umstanden. Mit grimmigen Gesichtern und in höchst bedrohlicher Haltung, wie der Junge feststellte. Sein Blick wanderte über die Seewölfe, die an den Masten und am Ankerspill bereitstanden. Er vermißte Big Old Shane und Ferris Tucker. Stenmark und Smoky waren auch nicht zu sehen, ebenso wenig wie Sam Roskill und Bob Grey. Da sich Hasard beim besten Willen nicht vorstellen konnte, daß einer der Männer in dieser Situation unter Deck eine Mütze voll Schlaf nahm, kamen seine Schlußfolgerungen der Wahrheit ziemlich nahe. Er grinste breit. Einen Augenblick erwog er, zur „Totenkiste“ zurückzukehren und dort auf die Männer zu warten, die ihn zweifellos befreien sollten, doch dann sah er ein, daß dieses Verfahren ein bißchen umständlich sein würde. Außerdem reizte es ihn, den Überraschungseffekt auf seiner Seite zu haben. Aus schmalen Augen beobachtete er den Hafen und suchte den Strandstreifen und die Klippen ab. Dabei entdeckte er das winzige Boot, das ziemlich versteckt
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zwischen den großen, rundgewaschenen Kieseln am Ende der Landzunge lag. Sollte er sich bis dorthin durchschlagen, einen Bogen pullen und sich der „Isabella“ von der Backbordseite her nähern? In seinem rußgeschwärzten Gesicht begannen die blauen Augen wie Gletschereis zu funkeln. Vorsichtig richtete er sich zwischen den Felsen auf, schwang sich über die Kante des Grats und glitt auf der anderen Seite abwärts. Der Schatten einer Geröllrinne nahm ihn auf. Leise, jede Deckung nutzend, bewegte er sich weiter, geschmeidig wie eine Schlange. Selbst wenn die Männer am Hafen ihre Aufmerksamkeit nicht so ausschließlich auf die „Isabella“ konzentriert hätten, wäre es ihnen wohl kaum gelungen, die drahtige, über und über mit Ruß beschmierte Gestalt zwischen den Felsen zu entdecken. Am Ende der Landzunge untersuchte Hasard zunächst einmal gründlich das Boot, da er mit dem Ding schließlich nicht absaufen wollte. Die Befürchtung erwies sich als unbegründet. Der Kahn war in Ordnung, sogar recht stabil gebaut, wenn es sich auch nur um eine winzige Nußschale handelte. Zwei Riemen lagen ebenfalls an Ort und Stelle. Hasard junior warf noch einen prüfenden Blick zum Hafen hinüber, dann zerrte er das Boot über den steinigen Boden ins Wasser, glitt auf die Ducht und schob geschickt die Riemen in die Dollen. Mit ein paar schnellen Riemenschlägen löste er sich von der Landzunge. Sein Blick hing an den Anlegestegen, an den Männern, die sich dort versammelt hatten, aber die Kerle dort drüben waren viel zu sehr von ihrer Gier besessen, als auf den kleinen Jungen in dem winzigen Boot zu achten... * Umso schärfer paßten die Seewölfe auf. Sie hatten den spanischen Verband in die Flucht geschlagen, doch das hieß nicht, daß sie nicht mehr mit Überraschungen zu
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rechnen brauchten. Nur ein Teil der Männer verfolgte die Debatte auf dem Achterkastell oder bewachte die Banditen auf der Kuhl, die sich von Sekunde zu Sekunde unbehaglicher fühlten. Bill kauerte in Gesellschaft von Arwenack im Großmars und beobachtete die Umgebung. Er bemerkte die kleine Gestalt auf der Landzunge sofort, ohne allerdings mehr als eine huschende Bewegung und ab und zu einen Schatten wahrnehmen zu können. Selbst als das Boot ablegte, erkannte er den Jungen darin nicht sofort. Erst die Art, wie der Knirps sich in die Riemen legte, ließ ihn stutzig werden. Aber dann, als der Junge einmal über die Schulter zur „Isabella“ spähte, sah Bill ganz deutlich die eisblauen Augen in dem kohlschwarzen Gesicht. Der Moses mußte zweimal kräftig schlucken, um den Anblick zu verdauen. Da schrie er nicht los, sondern stieß ein scharfes Schnalzen aus, das nur diejenigen seiner Kameraden wahrnahmen, die dem Großmast am nächsten standen. Ed Carberry hatte sich etwas von der Gruppe der Banditen entfernt, da er den Anblick der Galgenvogel-Gesichter nicht ertrug, solange ihm nicht erlaubt war, seine Faust hineinzupflanzen. Jetzt legte er den Kopf schräg, peilte nach oben und runzelte die Stirn, als er das aufgeregte Gesicht des Schiffsjungen sah, der sich über die Segeltuchverkleidung der Plattform beugte. Bill gestikulierte heftig und deutete beschwörend nach Backbord. Das kleine Boot hatte inzwischen den Bug der „Isabella“ passiert und beschrieb einen Bogen. Der massige Schiffsleib deckte es jetzt gegen die Sicht von den Anlegestegen her. Ed Carberry runzelte die Stirn, rieb sich sein Rammkinn, schlenderte hübsch unauffällig zum Schanzkleid - und dann hatte er das Gefühl. seinen Augen nicht trauen zu können. Im wahrsten Sinne des Wortes! Und darum winkte er unauffällig Dan O'Flynn, der mit seinen stets hellwachen Sinnen die winzigen Zeichen der Unruhe längst mitgekriegt hatte.
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Der blonde junge Mann schlenderte heran und furchte die Brauen. Ed Carberry dämpfte seine Donnerstimme zum Flüstern. „Schau mal nach Backbord“, stieß er durch die Zähne. „Siehst du, was ich sehe?“ Dan O'Flynn sah es. Zwei Sekunden verschlug es ihm glatt die Sprache. Danach sagte er immer noch nichts, aber er begann wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen und spuckte symbolisch in die Hände zum Zeichen dafür, daß es jetzt gleich gewaltig rundgehen würde. Um diese Zeit hatte Hasard den beiden Ober-Halunken gerade erklärt, daß es keine einzige Perle und nicht einmal .ein Goldstäubchen geben würde, bevor er nicht den eindeutigen Beweis dafür erhielte, daß sein Sohn am Leben sei und es ihm gut gehe. Die Kraterlandschaft, die Barnabas Ahab als Gesicht spazieren trug, wirkte so finster wie ein Kohlenkeller um Mitternacht. Red Fox Killarney schäumte vor Wut. Beide hatten sich die Angelegenheit leichter vorgestellt - und beide ahnten noch nicht, welche Schwierigkeiten in Wahrheit auf sie zurückten. „Wie stellt ihr euch das vor?“ fauchte Red Fox. „Der Junge ist in der ,Totenkiste' und ...“ „Schick jemanden hin und laß ihn holen“, forderte der Seewolf kalt. „Den Teufel werde ich! Ihr habt hier keine Bedingungen zu stellen, ihr...“ Er verstummte. Denn in diesem Augenblick enterte Dan O'Flynn den Niedergang hoch - und die blauen Augen des jungen Mannes funkelten so zufrieden, daß Killarney und Ahab unwillkürlich innehielten und die Stirn furchten. Auch Hasard hob fragend die Brauen. Dan warf das blonde Haar zurück und grinste. „Schau mal nach Backbord, Sir“, sagte er trocken. Der Seewolf tat es. Genau wie Ben Brighton und Ed Carberry, der jetzt ebenfalls auf dem Achterkastell erschien und ein grimmig entschlossenes
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Gesicht schnitt. Auch Red Fox Killarney und Barnabas Ahab folgten ihrem Beispiel, aber sie brauchten etwas länger, um zu begreifen, was sich da vor ihren Augen abspielte. Ein Boot wurde auf die „Isabella“ zugepullt. Jetzt glitt es im Bogen längsseits - und damit war es nah genug, um die Gestalt auf der Ducht zu erkennen, obwohl sie über und über mit Ruß bedeckt war. Der kleine Hasard! Triumphierend winkte er zu den Männern am Schanzkleid hoch. Schon wurde eine Jakobsleiter ausgebracht, damit er an Bord klettern konnte. Ein weiterer Blick zeigte Red Fox Killarney, daß seine Kumpane auf der Kuhl nicht mehr nur um¬ ringt, sondern hoffnungslos eingekeilt waren. Auf dem Absatz fuhr der Seewolf herum. Jäh flammten seine eisblauen Augen auf. Red Fox Killarney fuhr mit einem unterdrückten Schreckenslaut zurück, doch das brachte ihm sowenig ein, wie Barnabas Ahab sein überstürzter Fluchtversuch nutzte. Für die Banditen, die sich auf die „Isabella“ gewagt hatten, schlug die Stunde der Wahrheit. Sie hätten besser daran getan, sich zu ergeben, doch sie begingen den Fehler, eine Chance zu sehen, als ein paar von den Seewölfen dem kleinen Hasard an Bord halfen. Mit dem Mut der Verzweiflung schlugen sie los und versuchten, sich nach Steuerbord durchzukämpfen, wo ihr Boot an der zweiten Jakobsleiter vertäut lag. Auf dem Achterkastell setzten auch Red Fox Killarney und Barnabas Ahab alles auf eine Karte, und Minuten später war eine prächtige, wenn auch kurze und ziemlich einseitige Keilerei im Gange. Barnabas Ahab jumpte freiwillig außenbords, als Ed Carberry mit schwingenden Fäusten und vorgeschobenem Rammkinn auf ihn zustürmte. Red Fox Killarney wollte zum Degen greifen, doch die Waffe wurde ihm entrissen, bevor er sie richtig packen konnte. Der Banditenhäuptling hatte sich
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an einem siebenjährigen Kind vergriffen und eine ganz besonders schmutzige Erpressung versucht. Jetzt präsentierte ihm der Seewolf gnadenlos die Rechnung. Eine Serie klatschender Maulschellen trieb den Rotschopf den Niedergang hinunter und quer über die Kuhl. Am Schanzkleid sackte Red Fox Killarney fast zusammen. Hasard packte ihn an Hosenboden und Kragen und lüftete ihn einmal kurz an. Der „rote Fuchs“ wußte selbst nicht mehr so genau, zum wievielten Male er nun schon im hohen Bogen von Bord der „Isabella“ flog und im aufspritzenden Wasser landete. Seine Kumpane folgten ihm auf dem gleichen Weg. Hasard wischte sich die Hände an der Hose ab und verzog angewidert das Gesicht. Mit einem Blick überzeugte er sich davon, daß die außenbords gefeuerten Banditen nicht einmal mehr an ihr Boot dachten, sondern nur noch zusahen, daß sie Land gewannen. Der Seewolf atmete tief durch, wandte sich Ed Carberry zu und grinste. „Und jetzt das Signal“, sagte er knapp. „Vier Schüsse in die Luft. Ich will nicht, daß Shane und die anderen auch noch Ärger mit diesen widerlichen Ratten kriegen.“ 10. Die Tür zum Schankraum der „Totenkistekrachte bis an die Wand. Ferris Tucker und Sam Roskill flitzten nach links und rechts in das halbdunkle Gewölbe — beide mit schußbereiten Waffen in den Fäusten. Smoky, Stenmark und Shane folgten ihnen, alle bewaffnet, doch die schweren Steinschloß-Pistolen wären gar nicht nötig gewesen. Der Schankraum war leer. Offenbar hielten es die Banditen nicht für nötig, ihren Gefangenen zu bewachen, also konnten die Seewölfe auch niemanden fragen, wo der kleine Hasard versteckt war. Big Old Shane sicherte die Tür, die anderen gingen daran, das Gebäude zu durchsuchen. Vergeblich! Das einzige, was
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sie fanden, war ein Sessel, an dem noch die Überreste von Stricken hingen, und auf dem Teppich ein großer schwarzer Flecken, der bewies, daß jemand am Kamin herumhantiert hatte, ohne darauf zu achten, wie viel Ruß er aufwirbelte. Am Kamin? Der Gefangene, der da aus den Fesseln entschlüpft war, mußte in den Kamin gestiegen sein, wie die Spuren bewiesen. Die Seewölfe sahen sich an. Sie dachten alle das gleiche - und wie auf ein Stichwort hin erhielten sie wenig später die Bestätigung. Schüsse klangen herüber. Vier Schüsse! Je zwei hintereinander mit einer etwas längeren Pause dazwischen. Das vereinbarte Signal! Eigentlich waren sie es, die dieses Signal hatten geben sollen, sobald es ihnen gelungen war, den kleinen Hasard zu befreien. Jetzt erklangen die Schüsse ganz offensichtlich von Bord der „Isabella“. Nach Lage der Dinge konnte das nur eins bedeuten. Ferris Tucker grinste breit. „Kommando zurück“, sagte er trocken. „Der kleine Teufelskerl hat sich bereits selbst befreit. Er ist an Bord, ganz klar oder?“ „Ganz klar!“ bestätigte Smoky. „Wirklich ein Teufelskerlchen“, sagte Sam Roskill mit funkelnden Augen. Big Old Shane nickte nur. Auch ihm war klar, daß die Situation keine andere Deutung zuließ. Niemand verstand, was er in sein Bartgestrüpp murmelte, aber als er noch einen Blick auf die Reste der Fesseln und den Rußflecken warf, wirkte sein Grinsen eindeutig anerkennend. „Weg hier!“ befahl er. „Wenn der Junge an Bord ist, fliegen auf der ,Isabella' wahrscheinlich bald die Fetzen. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis die Kerle hier auftauchen, um ihre Wunden zu lecken.“ Die anderen stimmten zu. Eilig verließen sie die „Totenkiste“ und schlugen sich wieder quer durch das Gelände bis dahin, wo sie die Pinasse unter der Bewachung von Bob Grey zurückgelassen hatten. Vom Hafen her
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konnten sie fernes 'Geschrei hören. Ein paarmal glaubten sie sogar, dumpfes Klatschen wahrzunehmen, aber vielleicht bildeten sie sich das auch nur ein, weil ihnen die Vorstellung gefiel, daß da schon wieder ein paar von Red Fox Killarneys Banditen im Bogen außenbords gefeuert wurden. Das Geschrei verstärkte sich. Auch Schüsse mischten sich hinein, doch das waren nur einzelne Musketenschüsse, die offenbar keinen Schaden anrichten konnten, da sie nicht einmal erwidert wurden. Unbehelligt erreichten Big Old Shane und die anderen die Pinasse. Im Eiltempo brachten sie das Boot aufs Wasser, setzten Segel, und wenig später glitten sie bereits durch die Ausfahrt der Bucht dem offenen Meer zu. Auch diesmal hielten sie ein Stück von der Insel ab, bevor sie hochdrehten und an den Wind gingen. Das Geschrei im Hafen war verstummt. Die Männer in der Pinasse vermuteten, daß die „Isabella“ ankerauf gegangen war, nachdem man sämtliche Banditen und Strandräuber von Bord gefeuert hatte. Red Fox Killarney stand lediglich der Logger und nicht einmal das winzigste Schiffsgeschütz zur Verfügung. Unter diesen Umständen konnte er nichts weiter tun, als auf . der Insel Wight zurückzubleiben, die „Isabella“ mit ihren Schätzen auf Nimmerwiedersehen entschwinden zu sehen und zu versuchen, nicht an seiner Wut zu ersticken. „Hoffentlich platzt er“, murmelte Ferris Tucker inbrünstig. Da sich die anderen alle das gleiche wünschten, brauchte er ihnen nicht erst groß zu erklären, wen er meinte. „Mastspitzen Steuerbord voraus!“ meldete Sam Roskill eine Viertelstunde später. Was keine Sensation war, da schließlich feststand, welchen Weg die „Isabella“ nehmen würde. Außerdem waren es nicht nur Mastspitzen, die hinter der Landzunge auftauchten, sondern geblähte Segel, denen der Widerschein der tiefstehenden Sonne einen
Die Falle von Wight
Schimmer wie von rosa Perlen verlieh. Die Galeone rauschte rasch heran, schien ins Riesenhafte zu wachsen, und wenig später drehte sie bei, damit die Pinasse längsseits gehen konnte. Die Insel Wight war nur noch ein dunkler, lang gezogener Buckel. Die Banditen hatten keinen Versuch unternommen, die „Isabella“ mit ihren lächerlichen Loggern zu verfolgen. Es wäre auch Wahnsinn gewesen, das schien selbst ein unbelehrbarer Fanatiker wie Patrick Red Fox Killarney zu begreifen. Diesmal hatte sogar der Seewolf das sichere Gefühl, daß erden rothaarigen irischen Halunken nicht noch einmal wiedersehen würde. Die Sonne hing als blutroter Ball über der Kimm, als das ganze Abenteuer auf der „Isabella“ sein unvermeidliches Nachspiel hatte. Der Kutscher und Batuti rumorten im Schiffsbauch, förderten schließlich ein großes Faß zum Vorschein und brachten es mitten auf der Kuhl in Stellung. Segeltuchpützen flogen an langen Tampen außenbords. Salzwasser wurde gemannt und mit heißem Wasser aus der Kombüse gemischt, bis das Ganze eine Temperatur hatte, die der Kutscher als besonders geeignet für Reinigungszwecke befand. In letzter Sekunde versuchte der kleine Hasard noch, in die Wanten zu entwischen, aber Big Old Shane war schneller und packte das zappelnde Kerlchen am Kragen. Kein noch so lauter Protest half: der Junge wurde aus den rußigen Kleidern gepellt und ins Faß befördert. Dort hielt ihn Batuti fest, während der Kutscher ihn einseifte, abrubbelte, untertauchte und nochmals einseifte. Zum Schluß wurde er auf die Planken befördert und noch ein paarmal gründlich mit Seewasser abgespült, um die letzten Reste von Ruß zu entfernen. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, konnte sich nur noch darüber wundern, wie perfekt sein hoffnungsvoller Sprößling inzwischen auf englisch fluchen gelernt hatte...
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Seewölfe 167 46 ENDE
Die Falle von Wight