Richard Leakey
Die ersten Spuren Über den Ursprung des Menschen Aus dem Englischen von Udo Rennert
GOLDMANN
Die Seri...
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Richard Leakey
Die ersten Spuren Über den Ursprung des Menschen Aus dem Englischen von Udo Rennert
GOLDMANN
Die Serie -Science Masters- erscheint weltweit und umfaßt populärwissenschaftliche Bücher, die von international führenden Wissenschaftlern verfaßt werden. An diesem einzigartigen Projekt beteiligen sich sechsundzwanzig Verlage, die John Brockman zusammengebracht hat. Die Idee zu dieser Serie stammt von Anthony Cheetham vom englischen Verlag Orion und von John Brockman, der eine Literaturagentur in New York leitet. Entwickelt wurde die Serie «Science Masters« in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Verlag BasicBooks. Der Name -Science Masters« ist urheberrechtlich geschützt. Er gehört John Brockman Inc., New York, und ist an die Verlage lizensiert, die die Serie Science Masters« veröffentlichen.
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Vollständige Taschenbuchausgabe August 1999 Wilhelm Goldmann Verlag, München in der Verlagsgruppe Berteismann GmbH © 1997 der deutschsprachigen Ausgabe C. Bertelsmann Verlag in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH © 1994 der Originalausgabe Richard Leakey Originalverlag: BasicBooks, New York Originaltitel: The Origin of Humankind Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagabbildung: Collage Design Team München / Ferenc Regös Druck: Presse-Druck Augsburg Verlagsnummer: 15031 KF • Herstellung: Sebastian Strohmaier Made in Germany ISBN 3-442-15031-0
3579 10 8642
Inhalt
Vorwort 9 Die ersten Menschen 19 Eine weitläufige Familie 43 Ein Mensch eigener Art 68 Der Mensch, der edle Jäger? 87 Die Entstehung des heutigen Menschen 111 Die Sprache der Kunst 137 Die Kunst der Sprache 159 Die Entstehung des Bewußtseins 183 Literatur 207
Vorwort
Es ist der Traum eines jeden Anthropologen, einmal das vollständige Skelett eines Vorfahren des Urmenschen auszugraben. Den meisten von uns bleibt die Erfüllung dieses Traums jedoch versagt: Die Ungewissen Umstände des Todes, der Verschüttung und der Fossilierung haben bewirkt, daß wir bislang nur über eine äußerst dürftige und bruchstückhafte fossile Überlieferung verfügen. Einzelne Zähne, Knochen, Fragmente von Schädeldecken: Zum größten Teil sind dies die Anhaltspunkte, aus denen der Verlauf der menschlichen Urgeschichte rekonstruiert werden muß. Ich bestreite nicht die große Bedeutung solcher Hinweise, so enttäuschend unvollständig sie auch sein mögen; ohne sie wüßten wir über die Urgeschichte des Menschen so gut wie gar nichts. Und es ist auch immer wieder ein erregendes Erlebnis, die physische Gegenwart dieser bescheidenen Überbleibsel zu spüren; sie sind Teil unserer Vorfahren und mit uns durch unzählige Generationen aus Fleisch und Blut verbunden. Dennoch bleibt die Entdeckung eines vollständigen Skeletts die höchste Belohnung unserer Anstrengungen. Das Jahr 1969 stand für mich unter einem außerordentlich günstigen Stern. Ich hatte beschlossen, die alten Sandsteinablagerungen zu erkunden, aus denen das ausgedehnte 9
Ostufer des Turkanasees [des ehemaligen Rudolfsees] in Nordkenia besteht: mein erster eigenständiger Ausflug ins Fossilienland. Getrieben wurde ich von der festen Überzeugung, daß dort große Entdeckungen von Fossilien meiner harrten, da ich im Jahr zuvor die Region in einem kleinen Flugzeug aus der Luft inspiziert und dabei den Eindruck gewonnen hatte, daß die Sandsteinschichten möglicherweise Spuren vorzeitlichen Lebens enthielten - obwohl viele Kollegen ihre Zweifel äußerten. Das Gelände ist zerklüftet und das Klima erbarmungslos heiß und trocken; doch die Landschaft besitzt diese wilde Schönheit, die mich besonders anspricht. Mit Unterstützung der National Geographie Society stellte ich ein kleines Team zusammen - darunter auch meine spätere Frau Meave Epps -, um die Region zu erkunden. Wir befanden uns schon einige Tage dort, als Meave und ich eines Morgens von einem kurzen Erkundungsgang ins Camp zurückkehrten und, weil wir Durst hatten und nicht in die Mittagsglut geraten wollten, ein ausgetrocknetes Flußbett als Abkürzung wählten. Plötzlich sah ich unmittelbar vor uns einen unversehrten fossilierten Schädel auf dem orangefarbenen Sand liegen, der uns aus leeren Augenhöhlen ausdruckslos anstarrte. Es war unverkennbar der Schädel eines Menschen. Zwar ist mir im Laufe der Jahre entfallen, was genau ich in dem Augenblick zu Meave gesagt habe, aber ich weiß noch, daß ich angesichts des unverhofften Fundes eine Mischung aus Freude und Ungläubigkeit zum Ausdruck brachte. Der Schädel, den ich sogleich als den eines Australopithecus boisei, eines seit langem ausgestorbenen Hominidentyps, identifizierte, war erst vor kurzem aus den Sedimenten, durch die in der Regenzeit ein Fluß strömt, ausgewaschen worden. Zum erstenmal wieder ans Tageslicht gelangt, seit die Elemente ihn vor rund 1,75 Jahrmillionen verschüttet hatten, war dieses Exemplar einer der wenigen unversehrten menschlichen Schädel, die man bislang gefunden hatte. Es hätte nur noch wenige Wochen gedauert, und aus dem trockenen Fluß10
bett wäre ein reißender Strom geworden, der das zerbrechliche Stück zerstört hätte, wenn Meave und ich nicht darauf gestoßen wären. Die Wahrscheinlichkeit, daß wir uns gerade zum richtigen Zeitpunkt dort befinden würden, um das während langer Jahrtausende verschüttete Fossil für die Wissenschaft zu bergen, war extrem gering. Durch einen merkwürdigen Zufall machte ich meine Entdeckung fast auf den Tag genau ein Jahrzehnt später, nachdem meine Mutter, Mary Leakey, in der Oldoway-Schlucht, einer Trockenschlucht in Tansania, einen ähnlichen Schädel gefunden hatte. (Dieser Schädel war allerdings ein höchst verzwicktes paläolithisches Puzzlespiel; er mußte aus Hunderten kleinster Bruchstücke wieder zusammengesetzt werden.) Offenbar hatte ich das legendäre »Leakey-Glück« geerbt, das meiner Mutter und meinem Vater Louis bereits hold gewesen war. Und tatsächlich hielt meine Glückssträhne an, da spätere Expeditionen zum Turkanasee unter meiner Leitung etliche weitere menschliche Fossilien zutage förderten, darunter den ältesten bekannten unversehrten Schädel der Gattung Homo, jenes Zweigs des menschlichen Stammbaums, aus dem schließlich der moderne Mensch, der Homo sapiens, hervorging. Obgleich ich mir als Heranwachsender geschworen hatte, mich niemals auf die Jagd nach Fossilien einzulassen - da ich vermeiden wollte, stets im übermächtigen Schatten meiner weltberühmten Eltern zu stehen -, zog mich allein schon die von dem Unternehmen ausgehende magische Wirkung in ihren Bann. Die uralten ariden Ablagerungen Ostafrikas, die die Überreste unserer Vorfahren in sich bergen, haben zweifellos eine besondere Schönheit, doch sie sind auch unerbittlich und gefährlich. Die Suche nach Fossilien und alten Steinwerkzeugen wird häufig als romantisches Erlebnis dargestellt, und sicher hat sie auch ihre romantischen Seiten, doch sie ist eine Wissenschaft, in der die fundamentalen Daten Hunderte oder Tausende von Kilometern entfernt von 11
den Annehmlichkeiten eines Labors erhoben werden müssen. Es ist ein Unternehmen, das hohe körperliche Anforderungen stellt - eine logistische Operation, bei der manchmal auch das Leben von Menschen auf dem Spiel steht. Ich stellte fest, daß ich eine Begabung hatte, organisatorische Probleme auch unter schwierigen personellen und physikalischen Bedingungen zu lösen. Die zahlreichen wichtigen Entdeckungen am Ostufer des Turkanasees lockten mich nicht nur in eine wissenschaftliche Disziplin, die ich ursprünglich nach Kräften gemieden hatte, sondern verschafften mir darin auch noch Renommee. Trotzdem blieb mir die Erfüllung des eigentlichen Traums - die Entdeckung eines vollständigen Skeletts - vorläufig versagt. Im Spätsommer 1984, als die harte Wirklichkeit unseres Tuns uns in Atem hielt und unsere wachsende Hoffnung dämpfte, erlebten meine Kollegen und ich, wie jener Traum allmählich Gestalt annahm. In diesem Jahr hatten wir beschlossen, erstmals das Westufer des Sees zu erkunden. Am 23. August erspähte Kamoya Kimeu, mein ältester Freund und Kollege, ein kleines Fragment eines alten Schädels zwischen Kieseln auf einem Abhang in der Nähe einer schmalen Rinne, die in der Regenzeit Wasser führte. Sorgfältig begannen wir mit der Suche nach weiteren Bruchstücken des Schädels und fanden bald mehr, als wir zu hoffen gewagt hatten. Während der fünf Ausgrabungsintervalle, die auf diesen Fund folgten und sich am Ende auf über sieben Monate Feldarbeit beliefen, bewegte unser Team bei seiner ausgedehnten Suche über 1500 Tonnen Sediment. Wir entdeckten, was sich schließlich als das praktisch vollständige Skelett eines Individuums herausstellte, das am Ufer des alten Sees vor über 1,5 Millionen Jahren gestorben war. Von uns auf den Namen TurkanaKnabe getauft, war es zum Zeitpunkt des Todes knapp neun Jahre alt; die Ursache seines Todes bleibt im dunkeln. Es war ein wahrhaft außergewöhnliches Erlebnis, nach und nach einen fossilen Knochen nach dem anderen zu bergen: 12
Arme, Beine, Wirbelsäule, Rippen, Becken, Kiefer, Zähne und weitere Bruchstücke des Schädels. Das Skelett des Jungen begann Gestalt anzunehmen, es wurde wieder zu einem Ganzen zusammengefügt, nachdem es seit mehr als sechzehnhundert Jahrtausenden in Bruchstücken existiert hatte. Noch nie war aus der Vorzeit des Neandertalers, der vor rund hunderttausend Jahren gelebt hat, etwas so Vollständiges wie dieses fossilierte Skelett gefunden worden. Ganz abgesehen von der freudigen Erregung, in die einen solch ein Fund versetzt, waren wir uns bewußt, daß uns diese Entdeckung wesentliche Einblicke in eine entscheidende Phase der menschlichen Vorgeschichte verschaffen würde. Bevor ich meine Geschichte weitererzähle, möchte ich etwas zur Terminologie der Anthropologie sagen. Es gibt Veröffentlichungen, die so mit Fachbegriffen gespickt sind, daß nur noch Eingeweihte sie verstehen können. Ich werde einen solchen Jargon soweit wie möglich vermeiden. Jede der verschiedenen Arten der prähistorischen menschlichen Familie hat ihren wissenschaftlichen Namen, das heißt, ihre Artbezeichnung, deren Gebrauch sich nicht umgehen läßt. Die menschliche Artenfamilie hat ebenfalls einen eigenen Namen: Hominiden. Einige meiner Kollegen ziehen es vor, den Begriff des »Hominiden« für alle ursprünglichen menschlichen Spezies zu verwenden. Die Bezeichnung »Mensch« sollte ihrer Meinung nach nur Individuen unseresgleichen vorbehalten bleiben. Mit anderen Worten, die einzigen Hominiden, die man demzufolge als »Menschen« bezeichnen dürfte, wären solche, die im Hinblick auf Intelligenz, moralisches Empfinden und die Fähigkeit zur Selbstreflexion unser heutiges Niveau erreichen. Ich vertrete einen anderen Standpunkt. Meiner Meinung nach war die Evolution des aufrechten Ganges, wodurch sich die frühen Hominiden von anderen Affen ihrer Zeit unterschieden, für die spätere Geschichte der Menschheit von grundlegender Bedeutung. Nachdem unser früher Vorfahr zu 13
einem Affen auf zwei Beinen geworden war, wurden viele weitere evolutionäre Neuerungen möglich, bis schließlich der Homo erschien. Aus diesem Grund halte ich es für gerechtfertigt, alle hominiden Arten als »Menschen« zu bezeichnen. Damit will ich nicht sagen, daß alle frühen menschlichen Arten schon in den geistigen Welten von heute lebten. Im fundamentalsten Sinn bezieht sich die Bezeichnung »menschlich« einfach auf Affen, die aufrecht gingen: zweibeinige Affen. Ich werde im folgenden diesen Sprachgebrauch beibehalten und immer dann, wenn damit Eigenschaften benannt werden sollen, die allein den modernen Menschen kennzeichnen, eigens darauf hinweisen. Der Turkana-Knabe gehörte zur Art Homo erectus - einer Art, die in der Geschichte der menschlichen Evolution eine entscheidende Rolle gespielt hat. Aufgrund von Belegen unterschiedlicher - teils genetischer, teils fossiler - Kategorien wissen wir, daß sich die erste menschliche Art vor etwa sieben Millionen Jahren entwickelt hat. Als Homo erectus vor fast zwei Millionen Jahren die Bühne betrat, war die Vorgeschichte der Menschheit schon ziemlich weit gediehen. Wir wissen noch nicht, wie viele menschliche Arten vor dem Erscheinen von Homo erectus gelebt haben und ausgestorben sind: Es gab mindestens sechs und möglicherweise sogar doppelt soviel. Wir wissen hingegen, daß alle menschlichen Arten, die vor Homo erectus gelebt haben, trotz ihrer Zweibeinigkeit in vieler Hinsicht deutlich affenähnlich waren. Sie hatten ein relativ kleines Gehirn, einen vorspringenden Kiefer, und die Form ihres Körpers war in bestimmten Merkmalen - Trichterbrust, kurzer Hals und fehlende Taille - eher affen- als menschenähnlich. Beim Homo erectus war das Gehirn größer, das Gesicht flacher und der Körperbau athletischer. Die Evolution des Homo erectus brachte viele der Körpermerkmale mit sich, die wir an uns selbst beobachten können: Die menschliche Vorgeschichte nahm vor zwei Millionen Jahren offenbar eine entscheidende Wendung. 14
Homo erectus war die erste menschliche Spezies, die Feuer benutzte; die erste, welche die Nahrungsbeschaffung zu einem wesentlichen Teil durch die Jagd bestritt; die erste, deren Vertreter wie heutige Menschen laufen konnten und nach einem bestimmten gedanklichen Modell Steinwerkzeuge herstellten; schließlich war sie die erste, die ihre Existenz über die Grenzen des afrikanischen Kontinents ausdehnte. Wir wissen nicht genau, ob Homo erectus bis zu einem gewissen Grad über eine gesprochene Sprache verfügte, doch deuten einige Belege darauf hin. Ebensowenig können wir mit Bestimmtheit sagen und werden es wohl auch nie können, ob diese Art eine Form von Selbstwahrnehmung, ein menschenähnliches Bewußtsein besaß, doch ich vermute, daß dies der Fall war. Es erübrigt sich, daran zu erinnern, daß Sprache und Bewußtsein, die zu den höchsten Errungenschaften des Homo sapiens gehören, in der fossilen Überlieferung keine Spuren hinterlassen haben. Das Ziel des Anthropologen besteht darin, die evolutionären Ereignisse zu erkennen, die aus einem affenähnlichen Geschöpf Menschen wie Sie und ich gemacht haben. Diese Ereignisse wurden romantisch als ein großes Drama beschrieben, aus dem die Menschheit als der Held der Geschichte hervorging. Die Wahrheit dürfte weit prosaischer sein, da wohl eher klimatische und ökologische Umwälzungen für die Veränderung verantwortlich waren. Dennoch nehmen sie unser Interesse nicht weniger gefangen. Als Art sind wir glücklicherweise mit einer Neugier gegenüber der Welt der Natur und unserem Platz darin ausgestattet. Wir wollen und müssen wissen, auf welche Weise wir das geworden sind, was wir sind, und welches unsere Zukunft ist. Die von uns aufgefundenen Fossilien verbinden uns physisch mit unserer Vergangenheit und wecken in uns den Impuls, die in ihnen enthaltenen Fingerzeige zu interpretieren und auf diese Weise das Wesen und den Verlauf unserer Evolutionsgeschichte zu begreifen. 15
Solange nicht zahlreiche weitere Überreste der menschlichen Vorgeschichte geborgen und analysiert sind, kann kein Anthropologe ex cathedra erklären, so sei es in allen Einzelheiten gewesen. Es besteht jedoch unter den Forschern weitgehende Übereinstimmung in bezug auf die groben Umrisse der menschlichen Vorgeschichte. In ihrem Verlauf lassen sich vier Hauptstadien einigermaßen zuverlässig unterscheiden. Die erste Phase war die Entstehung der Familie des Menschen als solcher, vor etwa sieben Millionen Jahren, als sich eine affenartige Spezies mit zweibeiniger oder aufrechter Fortbewegung entwickelte. Die zweite Phase war die Ausbreitung der zweibeinigen Art, ein Prozeß, den Biologen als Auffächerung der Stammlinie (adaptive radiation) bezeichnen. Vor sieben bis zwei Millionen Jahren entwickelten sich viele verschiedene Arten zweibeiniger Affen, die jeweils an geringfügig voneinander abweichende ökologische Bedingungen angepaßt waren. Unter ihnen befand sich eine menschliche Art, die vor rund drei bis zwei Millionen Jahren ein deutlich größeres Gehirn entwickelte. Die Erweiterung des Gehirnumfangs markiert das dritte Stadium und signalisiert den Ursprung der Gattung Homo, jenes Zweigs des menschlichen Strauchs, der zum Homo erectus und schließlich zum Homo sapiens führte. Die vierte Stufe war der Ursprung des heutigen Menschen - die Evolution von Menschen wie Sie und ich, voll ausgestattet mit Sprache, Bewußtsein, künstlerischer Phantasie und technischen Neuerungen, die es in der übrigen Natur nicht gab. Diese vier Schlüsselereignisse liefern die Struktur für die wissenschaftliche Darstellung der folgenden Kapitel. Wie sich zeigen wird, beginnen wir bei unserer Untersuchung der menschlichen Vorgeschichte nicht nur mit der Frage, was geschehen ist und wann, sondern auch mit der Frage, warum sich bestimmte Dinge ereignet haben. Wir und unsere Vorfahren werden im Kontext eines sich entfaltenden evolutionären Szenarios untersucht, nicht anders als im Falle der 16
Evolution von Elefanten oder Pferden. Damit wollen wir nicht bestreiten, daß der Homo sapiens in vieler Hinsicht etwas Besonderes ist: Es gibt vieles, das uns selbst von unserem nächsten evolutionären Verwandten, dem Schimpansen, trennt, doch wir haben begonnen, unsere Verknüpfung mit der Natur in einem biologischen Sinn zu verstehen. In den letzten dreißig Jahren ist unsere Wissenschaft ein gewaltiges Stück weitergekommen, was beispiellosen fossilen Entdeckungen und innovativen Methoden der Interpretation und Integration der in ihnen enthaltenen Hinweise zu verdanken ist. Wie alle Wissenschaften hat auch die Anthropologie mit echten - und manchmal starken - Meinungsverschiedenheiten zwischen ihren Vertretern zu tun. Sie lassen sich zum Teil aus unzureichenden Daten, in Form von Fossilien und Steinwerkzeugen, und manchmal aus unangemessenen Interpretationsmethoden erklären. Deshalb gibt es viele wichtige Fragen zur Geschichte der Menschheit, auf die wir noch keine endgültigen Antworten wissen, wie etwa die folgenden: Welche genaue Form hat der Stammbaum der Menschheit? Wann entwickelte sich zum erstenmal eine komplexe gesprochene Sprache? Was hat zu der auffälligen Vergrößerung des menschlichen Gehirns geführt? In den folgenden Kapiteln möchte ich darlegen, wo und warum die Meinungen auseinandergehen, und gelegentlich werde ich auch meine eigene Meinung zur Diskussion stellen. Ich hatte das große Glück, während mehr als zwei Jahrzehnten meiner anthropologischen Arbeit mit vielen großartigen Kollegen zusammenzuarbeiten, wofür ich sehr dankbar bin. Zwei von ihnen - Kamoya Kimeu und Alan Walker verdienen meinen besonderen Dank. Meine Frau Meave war mir Kollegin und Freundin, wie man sie selten findet, vor allem in schwierigen Zeiten.
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Bedeutende Fossilienfundstätten. Zu den ersten Entdeckungen frühmenschlicher Fossilien kam es in Höhlen in Südafrika seit 1924. Später, nach 1959, folgten bedeutende Entdeckungen in Ostafrika (Tansania, Kenia und Äthiopien).
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Die ersten Menschen
Die Anthropologen sind seit langem fasziniert von den besonderen Fähigkeiten des Homo sapiens, seiner Sprache, seinen hohen technischen Fertigkeiten sowie der Fähigkeit zur Bildung moralischer Urteile. Doch eine der bedeutsamsten Veränderungen in der Anthropologie der letzten Jahre war die Erkenntnis, daß trotz dieser Eigenschaften unsere Verbindung zu den afrikanischen Affen tatsächlich sehr eng ist. Wie kam es zu dieser wichtigen neuen Einsicht? In diesem Kapitel werde ich erörtern, wie Charles Darwins Vorstellungen von der besonderen Natur der frühesten menschlichen Art die Anthropologen länger als ein Jahrhundert beeinflußt haben - und wie neue Forschungen unsere evolutionäre Nähe zu afrikanischen Affen aufgedeckt und uns genötigt haben, unseren Platz in der Natur mit völlig neuen Augen zu sehen. In seinem 1859 erschienenen Werk Über die Entstehung der Arten hatte Darwin es sorgsam vermieden, die aus seiner Evolutionstheorie gezogenen Folgerungen auf den Menschen zu übertragen. In spätere Auflagen wurde der vorsichtige Satz eingefügt: »Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und ihre Geschichte fallen.« (8. Aufl. 1899, S. 564) Über diesen kurzen Satz schrieb er später ein ganzes Buch, Die Abstam19
mung des Menschen, das 1871 erschien. Mit seiner Behandlung eines noch immer höchst brisanten Themas errichtete er letztlich zwei Grundpfeiler im theoretischen Gebäude der Anthropologie. Der erste ging um die Frage, wo die ersten Menschen sich genau entwickelten (in seiner Antwort folgten ihm nur wenige, obwohl sie sich als zutreffend erwies), während der zweite den Weg oder die Form dieser Evolution betraf. Darwins Auffassung von der Art und Weise unserer Evolution hat die Wissenschaft der Anthropologie bis vor wenigen Jahren dominiert, und dennoch stellte sie sich als falsch heraus. Die Wiege der Menschheit, so Darwin, war Afrika. Seine Begründung war einfach: In jeder großen Region der Welt sind die lebenden Säugetiere eng verwandt mit den entwickelten Arten derselben Region. Deshalb ist es wahrscheinlich, daß Afrika früher von heute ausgestorbenen Affen bevölkert war, die eng mit dem Gorilla und dem Schimpansen verwandt waren; und da diese beiden Arten heute die nächsten Verwandten des Menschen sind, ist es noch etwas wahrscheinlicher, daß unsere frühen Vorfahren auf dem afrikanischen Kontinent und nicht anderswo gelebt haben. Wir dürfen nicht vergessen, daß zu der Zeit, als Darwin seine Bücher schrieb, noch nirgendwo Fossilien von Frühmenschen gefunden worden waren; seine Schlußfolgerung beruhte auf reiner Theorie. Zu Lebzeiten Darwins waren die einzigen bislang bekannten Fossilien von Menschen die des Neandertalers aus Europa, und sie repräsentierten ein vergleichsweise spätes Stadium in der Menschheitsgeschichte. Den Anthropologen behagte die Vermutung Darwins ganz und gar nicht, nicht zuletzt, weil das tropische Afrika mit kolonialistischer Verachtung behandelt wurde: Der dunkle Kontinent erschien ihnen nicht geeignet als Ursprungsort für ein so vornehmes Geschöpf wie der Homo sapiens. Als um die Jahrhundertwende weitere menschliche Fossilien in Europa und Asien entdeckt wurden, geriet die Idee eines afrikani20
schen Ursprungs der Menschheit noch mehr in Mißkredit. An dieser Einstellung änderte sich jahrzehntelang nichts. 1931, als mein Vater seinen geistigen Mentoren an der Universität Cambridge mitteilte, er hege die Absicht, in Ostafrika den Ursprüngen des Menschen nachzuspüren, wurde er massiv unter Druck gesetzt, seine Aufmerksamkeit lieber auf Asien zu konzentrieren. Louis Leakeys Überzeugung stützte sich zum Teil auf das Argument Darwins und zum Teil zweifellos auf den Umstand, daß er in Kenia geboren und aufgewachsen war. Er schlug den Rat seiner Professoren in Cambridge in den Wind und machte sich an den Nachweis, daß Ostafrika in der Geschichte unserer frühen Evolution eine bedeutsame Rolle gespielt hat. Die Vehemenz des antiafrikanischen Ressentiments der damaligen Anthropologen mutet uns heute seltsam an, wenn wir an die große Zahl menschlicher Fossilien denken, die in den letzten Jahren in Afrika entdeckt wurden. Die Episode erinnert uns aber auch daran, daß Wissenschaftler sich häufig ebenso stark von Emotionen wie von der Vernunft leiten lassen. Darwins zweite wichtige Schlußfolgerung in Die Abstammung des Menschen war, daß die wichtigen Unterscheidungsmerkmale des Menschen - Zweibeinigkeit, Technik und ein vergrößertes Gehirn - sich gemeinsam entwickelt haben müßten. Er schrieb: »War es ein Vortheil für den Menschen, seine Hände und Arme frei zu haben und fest auf seinen Füssen zu stehen ..., dann kann ich keinen Grund sehen, warum es für die Urerzeuger des Menschen nicht vortheilhaft gewesen sein sollte, immer mehr und mehr aufrecht oder zweifüssig zu werden.« Und an anderer Stelle heißt es: »Die Hände und Arme hätten aber kaum hinreichend vollkommen werden können, Waffen zu fabriciren oder Steine und Speere nach einem bestimmten Ziele zu werfen, solange sie gewohnheitsgemäss zur Locomotion benutzt worden wären, wobei sie das ganze Gewicht des Körpers zu tragen hatten, oder solange sie speciell... zum 21
Erklettern von Bäumen angepasst wären.« (2. Aufl. 1871, Bd. l, S. 123 und 122) Hier führte Darwin ins Feld, daß die Evolution unserer ungewöhnlichen Fortbewegung unmittelbar in Verbindung mit der Anfertigung von Steinwaffen stehe. Er ging noch weiter und brachte diese evolutionären Veränderungen mit der Entstehung der menschlichen Eckzähne in Verbindung, die im Vergleich zu den dolchartigen Eckzähnen von Affen ungewöhnlich klein sind. »Die früheren männlichen Vorfahren des Menschen [waren] wahrscheinlich mit grossen Eckzähnen versehen«, schrieb er in Die Abstammung des Menschen, »in dem Maasse aber, als sie allmählich die Fertigkeit erlangten, Steine, Keulen, oder andere Waffen im Kampfe mit ihren Feinden zu gebrauchen, werden sie auch ihre Kinnladen und Zähne immer weniger und weniger gebraucht haben. In diesem Falle werden die Kinnladen in Verbindung mit den Zähnen an Größe reducirt worden sein...« (A. a. O., Bd. l, S. 124) Diese waffenschleudernden, zweibeinigen Geschöpfe entwickelten nach Darwins Meinung eine intensivere soziale Interaktion, die vermehrte geistige Fähigkeiten erforderlich machte. Und je intelligenter unsere Urahnen wurden, desto höher entwickelten sich ihre technischen und sozialen Fertigkeiten, was wiederum eine Erweiterung der geistigen Fähigkeiten nötig machte - mit anderen Worten, die Evolution eines dieser Merkmale bedingte gleichzeitig die der anderen. Diese Hypothese einer verbundenen Evolution bot ein sehr klares Bild von den Ursprüngen des Menschen, und sie wurde zum Angelpunkt für die Entwicklung der Anthropologie als Wissenschaft. Diesem Szenario zufolge war die früheste menschliche Spezies mehr als lediglich ein Affe auf zwei Beinen, sondern besaß bereits einige der Merkmale, die den Homo sapiens ausmachen. Das Bild war so eindrucksvoll und plausibel, daß die Anthropologen in der Lage waren, für lange Zeit weitere überzeugend erscheinende Hypothesen daraus abzuleiten. 22
Dennoch ging es über die Grenzen der Wissenschaft hinaus: Wenn die evolutionäre Differenzierung der Menschen aus den Affen sowohl sehr früh als auch in abrupter Weise erfolgt war, dann mußte zwischen uns und der übrigen Natur eine beträchtliche Distanz bestehen. Für diejenigen, die überzeugt waren, der Homo sapiens sei ein durch und durch einzigartiges Geschöpf, war diese Auffassung sehr tröstlich. Eine solche Sicht der Dinge war unter Wissenschaftlern zur Zeit Darwins, aber auch noch im 20. Jahrhundert, weit verbreitet. So scheute etwa der englische Naturforscher und Zeitgenosse Darwins Alfred Russel Wallace - der unabhängig von Darwin ebenfalls die Theorie der natürlichen Auslese entwickelte - davor zurück, die Theorie auf jene Aspekte der Menschheit anzuwenden, die uns besonders am Herzen liegen. Er hielt die Menschen für zu intelligent, zu verfeinert, zu kultiviert, um das Produkt einer reinen Zuchtwahl zu sein. Für primitive Wildbeuter seien diese Eigenschaften biologisch nicht notwendig gewesen, so lautete sein Einwand, und deshalb hätten sie durch eine natürliche Auslese auch nicht entstehen können. Seiner Meinung nach konnte nur ein übernatürliches Wesen eingegriffen haben, um den Menschen zu etwas so Besonderem zu machen. Daß Wallace so wenig Vertrauen in die Kraft der natürlichen Selektion hatte, brachte Darwin sehr gegen ihn auf. Der schottische Paläontologe Robert Broom, dessen bahnbrechende Arbeiten in Südafrika in den dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts die Hypothese erhärteten, die Wiege der Menschheit stehe in Afrika, vertrat außerdem die feste Überzeugung, daß der Mensch etwas unvergleichlich Besonderes sei. In seinen Augen war der Homo sapiens das letzte Produkt der Evolution, und die ganze übrige Natur war nur zu seiner Bequemlichkeit geschaffen. Ebenso wie Wallace suchte Broom den Ursprung unserer Art im Walten eines überirdischen Wesens. In der Brust von Naturwissenschaftlern wie Wallace und 23
Broom kämpften zwei Seelen - eine intellektuelle und eine emotionale - gegeneinander. Zwar akzeptierten sie die Tatsache, daß der Homo sapiens letztlich durch den Prozeß der Evolution aus der Natur hervorgegangen war, doch ihr Glaube an die wesensmäßige Spiritualität oder das transzendente Wesen der Menschheit bewog sie dazu, Erklärungen für die Evolution zu konstruieren, die an der Andersartigkeit des Menschen festhielten. Das evolutionäre »Paket«, das in Darwins Darstellung der Abstammung des Menschen von 1871 enthalten war, bot eine solche Rationalisierung an. Auch wenn Darwin sich nicht auf das Eingreifen einer höheren Macht berief, so machte sein evolutionäres Szenario doch von Anfang an einen Unterschied zwischen Menschen und Affen. Darwins Argument behielt noch bis vor einem guten Jahrzehnt seine Überzeugungskraft und war letzten Endes der Grund für eine hitzige Debatte über die Frage, zu welcher Zeit die ersten Menschen auftraten. Ich möchte den Fall kurz schildern, da er das Verführerische an Darwins Hypothese einer verknüpften Evolution anschaulich macht. Zugleich markiert er das Ende ihres übermächtigen Einflusses auf das anthropologische Denken. 1961 veröffentlichte Elwyn Simons, damals an der Yale University, eine bahnbrechende wissenschaftliche Abhandlung, in der er behauptete, ein kleines affenähnliches Geschöpf mit der Bezeichnung Ramapithecus sei die erste bekannte Hominidenart. Die einzigen damals bekannten fossilen Überreste von Ramapithecus waren Teile eines Oberkiefers, die von einem jungen Wissenschaftler der Yale University, G. Edward Lewis, 1932 in Indien aufgefunden worden waren. Simons erkannte, daß die Backenzähne (Prämolaren und Molaren) insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit Menschenzähnen aufwiesen, als sie abgeplattet waren und nicht spitz wie die Zähne von Affen. Und er stellte fest, daß die Eckzähne kürzer und stumpfer waren als bei Affen. Simons behauptete außerdem, die Rekonstruktion des unvollständigen Oberkie24
fers werde seine menschenähnliche Form erweisen, nämlich einen sich nach hinten leicht abflachenden Bogen im Unterschied zum U-förmigen Oberkiefer heutiger Affen. Zu dieser Zeit tat sich David Pilbeam, ein britischer Anthropologe von der Universität Cambridge, mit Simons zusammen, und gemeinsam beschrieben sie diese vermeintlich menschenähnlichen anatomischen Merkmale des Kiefers von Ramapithecus. Sie gingen jedoch noch über die Anatomie hinaus und vermuteten allein aufgrund der Stärke des Kieferfragments, daß Ramapithecus aufrecht auf zwei Beinen ging, jagte und in einer komplexen sozialen Umgebung lebte. Ihre Argumentation entwickelten sie nach dem Muster Darwins: Aus dem Vorhandensein eines vermuteten hominiden Merkmals (Form der Zähne) ließ sich die Existenz von allem übrigen ableiten. Auf diese Weise wurde ein Geschöpf, das zunächst als die früheste Hominidenart angesehen wurde, als kulturelles Lebewesen gedeutet - das heißt als primitive Version der heutigen Menschen und nicht als ein kulturloser Affe. Die Sedimente, aus denen die ursprünglichen Fossilien von Ramapithecus geborgen wurden, hatten ein hohes Alter, ebenso diejenigen, in denen später in Asien und Afrika weitere Fossilien dieser Gattung gefunden wurden. Deshalb gelangten Simons und Pilbeam zu dem Schluß, daß die ersten Menschen mindestens vor fünfzehn, vielleicht sogar vor dreißig Millionen Jahren auftraten, und dieser Ansicht schloß sich die große Mehrheit der Anthropologen an. Darüber hinaus sorgte der Glaube an einen so alten Ursprung der Menschheit für einen beruhigenden Abstand zwischen dem Menschen und der übrigen Natur, was viele mit Genugtuung aufnahmen. Gegen Ende der sechziger Jahre gelangten zwei Biochemiker an der Universität von Kalifornien in Berkeley, Allan Wilson und Vincent Sarich, zu einer gänzlich anderen Antwort auf die Frage, wann sich die erste menschliche Spezies entwickelte. Statt mit Fossilien zu arbeiten, verglichen sie den 25
Aufbau bestimmter Blutproteine von lebenden Menschen mit denen afrikanischer Affen. Ihr Ziel war es, den Grad der strukturellen Verschiedenheit zwischen Menschen- und Affenproteinen festzustellen - ein Unterschied, der sich als Ergebnis von Mutationsprozessen im Lauf der Zeit mit einer berechenbaren Geschwindigkeit vergrößern mußte. Je länger Menschen und Affen getrennte Spezies waren, desto größer mußte die Anzahl der Mutationen sein, zu denen es im Lauf dieser Trennung gekommen war. Wilson und Sarich berechneten diese Geschwindigkeit und konnten auf diese Weise ihre Blutprotein-Daten als Molekularuhr benutzen. Nach diesem molekularen Zeitmesser entwickelte sich die erste menschliche Spezies erst vor rund fünf Millionen Jahren, ein Ergebnis, das beträchtlich von den fünfzehn bis dreißig Jahrmillionen abwich, von denen die herrschende anthropologische Theorie bislang ausgegangen war. Aus den Daten von Wilson und Sarich ergab sich außerdem, daß die Blutproteine von Menschen, Schimpansen und Gorillas untereinander gleich große Unterschiede aufweisen. Mit anderen Worten, irgendein evolutionäres Ereignis sorgte vor fünf Millionen Jahren dafür, daß eine gemeinsame Ursprungsart sich gleichzeitig in drei verschiedene Richtungen auffächerte - eine Verzweigung, die zur Evolution nicht nur des heutigen Menschen, sondern auch des heutigen Schimpansen und Gorillas führte. Auch das stand im Widerspruch zu dem, was die meisten Anthropologen bisher angenommen hatten. Der herkömmlichen Lehre zufolge waren Schimpanse und Gorilla enge Verwandte, während sich der Mensch in einem gehörigen Abstand zu ihnen befand. Wenn die Interpretation der molekularen Daten schlüssig war, dann mußten die Anthropologen eine wesentlich engere biologische Verwandtschaft zwischen Mensch und Affe konzedieren, als die meisten bisher geglaubt hatten. Nun erhob sich ein mächtiger Streit, bei dem Anthropologen und Biochemiker gegenseitig ihre Forschungsmethoden 26
in starken Worten kritisierten. An der Schlußfolgerung von Wilson und Sarich wurde unter anderem bemängelt, ihre Molekularuhr gehe ungleichmäßig und sei deshalb für genaue Zeitangaben zu evolutionären Ereignissen in der Vergangenheit nicht brauchbar. Wilson und Sarich erhoben ihrerseits den Vorwurf, die Anthropologen interpretierten in kleine, fragmentarische anatomische Merkmale zuviel hinein und würden dadurch zu unhaltbaren Schlüssen verleitet. Ich schlug mich damals auf die Seite der anthropologischen Gemeinde und glaubte, daß Wilson und Sarich unrecht hätten. Die Debatte tobte länger als zehn Jahre, und in dieser Zeit wurden immer neue molekulare Befunde erhoben, nicht nur von Wilson und Sarich, sondern auch von anderen Forschern. In der überwiegenden Mehrheit bestätigten die neuen Daten die ursprüngliche Hypothese von Wilson und Sarich. Das Gewicht dieses Materials bewirkte bei den Anthropologen einen Meinungsumschwung, der allerdings nur sehr langsam vonstatten ging. Schließlich fanden zu Beginn der achtziger Jahre Pilbeam und sein Team in Pakistan und Peter Andrews vom Naturgeschichtlichen Museum London und seine Mitarbeiter in der Türkei wesentlich vollständigere Exemplare von Ramapithecus-ähnlichen Fossilien, die den Streit entschieden (vgl. Abb. 1.1). Die ursprünglichen Fossilien von Ramapithecus waren tatsächlich in mancher Hinsicht menschenähnlich, doch es handelte sich nicht um eine menschliche Spezies. Die Aufgabe, ein evolutionäres Bindeglied mit Hilfe extrem bruchstückhafter Fossilien zu rekonstruieren, ist schwieriger, als sich der Laie vorstellt, und wer unachtsam ist, kann dabei leicht in eine Falle geraten. Simons und Pilbeam hatten sich in einer solchen verfangen: Anatomische Ähnlichkeit bedeutet nicht notwendig auch evolutionäre Verwandtschaft. Die vollständigeren Funde aus Pakistan und der Türkei enthüllten, daß die vermeintliche Menschenähnlichkeit der Merkmale nur oberflächlich war. Der Kiefer von Ramapithecus war V-förmig, 27
und nicht bogenförmig; dieses und andere Merkmale deuteten darauf hin, daß er einer Art von Uraffe angehörte (der Kiefer heutiger Affen ist U-förmig). Ramapithecus hatte auf Bäumen gelebt wie sein späterer Verwandter, der Orang-Utan, und war kein zweibeiniger Affe und noch weniger ein primitiver Wildbeuter. Selbst die glühendsten Anhänger der Theorie, Ramapithecus sei ein früher Hominide, ließen sich durch die neuen Funde überzeugen, daß sie unrecht und Wilson und Sarich recht gehabt hatten: Die erste Spezies zweibeiniger Affen, die am Anfang des menschlichen Stammbaums stand, hatte sich erst relativ spät entwickelt, also nicht in grauer Vorzeit. In ihrer ersten Veröffentlichung hatten Wilson und Sarich für dieses Ereignis eine Zeit vor rund fünf Millionen Jahren vorgeschlagen, doch mußte dieser Wert aufgrund späterer Funde auf knapp sieben Millionen korrigiert werden. An ihrem Postulat einer engen Verwandtschaft des Menschen mit afrikanischen Affen brauchten sie bislang indessen keine Korrekturen vorzunehmen. Im Zweifelsfall ist diese Verwandtschaft sogar noch enger, als ursprünglich angenommen. Zwar sind manche Genetiker der Meinung, daß die molekularen Befunde auf eine gleichzeitige dreifache Verzweigung der Evolution zwischen Mensch, Schimpanse und Gorilla schließen lassen, doch für andere sind Mensch und Schimpanse die engsten Verwandten, während der Gorilla entwicklungsgeschichtlich von beiden weiter entfernt ist. Der Streit um Ramapithecus veränderte die Anthropologie in zweierlei Hinsicht. Erstens zeigte er, daß es problematisch ist, aus gemeinsamen anatomischen Merkmalen auf eine gemeinsame evolutionäre Verwandtschaft zu schließen. Und zum zweiten zeigte er, daß es töricht ist, dem Darwinschen »Evolutions-Paket« sklavisch anzuhängen. Simons und Pilbeam hatten Ramapithecus allein aufgrund der Form der Eckzähne eine bestimmte Lebensweise in allen Einzelheiten zugeschrieben: Wenn ein hominides Merkmal vorhanden war, 28
Abb. 1.1: Molekulare Befunde. Bis zur Mitte der 60er Jahre verstanden die Anthropologen die bislang verfügbaren fossilen Belege als Hinweise auf eine sehr frühe Auseinanderentwicklung von Mensch und Affe: vor mindestens 15 Millionen Jahren. Doch im Jahr 1967 wurden die Ergebnisse von Molekularuntersuchungen vorgelegt, aus denen hervorging, daß dieser Prozeß sich wesentlich später, nämlich erst vor rund 5 Millionen Jahren ereignet hat. Die Anthropologen brauchten einige Zeit, bis sie die Folgerungen aus den neuen molekularen Daten akzeptierten.
mußten alle Merkmale vorliegen. Nachdem diese Annahme aufgegeben werden mußte, regten sich bei den Anthropologen Zweifel am Darwinschen »Paket«. Bevor wir dem weiteren Verlauf dieser anthropologischen Revolution folgen, wollen wir kurz auf einige der Hypothesen eingehen, die im Lauf der Jahre aufgestellt wurden, um zu erklären, auf welche Weise die ersten Hominiden entstanden sein könnten. Es ist interessant zu beobachten, daß neue, populär gewordene Hypothesen häufig ein Spiegel der gesellschaftlichen Vorstellungen ihrer Zeit waren. So sah etwa Darwin die Entwicklung von Steinwaffen als wesentlichen Auslöser für die Entwicklung von technischen Fertigkeiten, 29
Zweibeinigkeit (Bipedie) und Erweiterung des Gehirnvolumens. Darin kommt sicherlich die damals vorherrschende Denkweise zum Ausdruck, derzufolge das Leben ein Kampf war, in dem nur der Tüchtige bestehen konnte. Dieses viktorianische Ethos durchdrang auch die Wissenschaft und beeinflußte die Art und Weise, wie der Prozeß der Evolution, einschließlich der des Menschen, verstanden wurde. In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt des für die Zeit Edwards VII. charakteristischen Optimismus, nahm man an, das Gehirn und seine erhabenen Gedanken machten den Menschen aus. In der Anthropologie fand diese vorherrschende allgemeine Sicht ihren Ausdruck in der Vorstellung, daß die Evolution des Menschen ursprünglich nicht durch den aufrechten Gang, sondern durch die Vergrößerung des Gehirns befördert worden sei. In den vierziger Jahren war die Welt fasziniert von der Magie und Macht der Technik, und die Hypothese vom »Menschen als Werkzeugmacher« fand ihre Anhänger. Diese von Kenneth Oakley vom Museum für Naturgeschichte in London vorgeschlagene Hypothese besagte, daß die Anfertigung und der Gebrauch von Steinwerkzeugen - und nicht von Waffen - der Antrieb für unsere Evolution gewesen sei. Und in den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs wurde eine fragwürdigere Seite des Menschen als unterscheidendes Merkmal gegenüber Affen hervorgehoben - die Gewalttätigkeit gegen die eigenen Artgenossen. Die Idee vom »Menschen als mörderischer Affe«, erstmals von dem australischen Anatom Raymond Dart vorgeschlagen, fand bei vielen Anklang, vielleicht weil sie die schrecklichen Ereignisse des Krieges zu erklären (oder gar zu entschuldigen) schien. Noch später, in den sechziger Jahren, sahen die Anthropologen in der wildbeutenden Lebensweise den Schlüssel zur Entstehung des Menschen. Mehrere Forschungsteams hatten moderne Populationen technisch primitiver, zumeist afrikanischer Völker untersucht, von denen die !Kung San (unzu30
treffend als Buschmänner bezeichnet) besonders bemerkenswert waren. Aus diesen Forschungsarbeiten entstand das Bild von Menschen im Einklang mit der Natur, die von ihnen in vielfältiger Weise genutzt und gleichzeitig geachtet wurde. Dieses Menschenbild paßte gut zu den damals aufkommenden Umweltschutzbewegungen, doch die Anthropologen waren vor allem beeindruckt von der Komplexität und der Leistungsfähigkeit der gemischten Wirtschaftsform des Jagens und Sammelns. In den Vordergrund gestellt wurde jedoch das Jagen. 1966 fand an der Universität Chicago eine große anthropologische Konferenz zum Thema »Der Mensch als Jäger« statt. Der Tenor der Veranstaltung war einfach: Die Jagd macht den Menschen zum Menschen. Jagen ist in den meisten technisch primitiven Gesellschaften Sache der Männer. So ist es nicht überraschend, daß mit einem wachsenden Bewußtsein für die Belange der Frau in den siebziger Jahren diese um den Mann zentrierte Erklärung der Anfänge der Menschheit in Frage gestellt wurde. Eine Gegenhypothese von der »Frau als Sammlerin« besagte, daß wie bei allen Primatenarten der Kern der Gesellschaft die Bindung zwischen Weibchen/Frau und Nachkommenschaft sei. So hätten die Frauen als erste technische Werkzeuge angefertigt und Nahrungsmittel (hauptsächlich Pflanzen) gesammelt, die von allen genutzt und gegessen werden konnten, und dies habe zum Aufbau komplexer menschlicher Gesellschaften geführt. Obwohl diese Hypothesen divergierten, wenn es um die Bestimmung der eigentlichen Triebkraft der menschlichen Evolution ging, hatten sie doch alle die Vorstellung gemeinsam, daß das Darwinsche Paket bestimmter für wichtig gehaltener menschlicher Eigenschaften von Anfang an existierte: Noch immer nahm man allgemein an, die erste Hominidenart sei gewissermaßen zweibeinig gewesen und habe über gewisse technische Fertigkeiten sowie ein vergrößertes Gehirn verfügt. Die Hominiden waren demnach 31
von Anfang an Kulturgeschöpfe und damit von der übrigen Natur verschieden. In den letzten Jahren sind wir zunehmend zu der Erkenntnis gelangt, daß dies nicht der Fall war. Tatsächlich finden sich konkrete Belege für die Irrigkeit der Hypothese Darwins in den Befunden der Archäologie. Hätte Darwin recht gehabt, dann müßten wir in der archäologischen und fossilen Überlieferung Belege für das gleichzeitige Auftreten von Bipedie, Technik und vergrößertem Gehirn finden, und das trifft nicht zu. Ein einziger Aspekt der prähistorischen Überlieferung genügt zur Widerlegung der Hypothese: die aufgefundenen Steinwerkzeuge. Im Gegensatz zu Knochen, die nur selten fossiliert, das heißt versteinert werden, sind Werkzeuge aus Stein praktisch unzerstörbar. Deshalb besteht ein Großteil unserer vorgeschichtlichen Belege aus ihnen, und sie sind das Material, auf dem der Fortschritt der Technik seit ihren einfachsten Anfängen aufbaut. Die frühesten Beispiele für solche Werkzeuge - grobe Steinabschläge, Schaber und Haumesser (Chopper) - erscheinen in der Überlieferung vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren. Wenn die molekularen Daten korrekt sind und die erste menschliche Spezies vor rund sieben Millionen Jahren erschienen ist, dann vergingen fast fünf Millionen Jahre zwischen der Zeit, als unsere Vorfahren begannen, auf zwei Beinen zu gehen, und der Zeit, als sie anfingen, die ersten Steinwerkzeuge anzufertigen. Worin auch immer die evolutionäre Kraft bestand, die einen Affen auf zwei Beinen hervorbrachte, sie hatte nichts mit der Fähigkeit zu tun, Werkzeuge anzufertigen und von ihnen Gebrauch zu machen. Dagegen sind viele Anthropologen überzeugt, daß das Aufkommen technischer Fähigkeiten vor rund zweieinhalb Millionen Jahren mit dem Beginn der Vergrößerung des Gehirns zusammenfiel.
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Die Erkenntnis, daß die Zunahme des Gehirnvolumens und die Entwicklung technischer Fähigkeiten zeitlich nicht mit der Entstehung des Menschen zusammenfielen, zwang die Anthropologen zum Umdenken. Infolgedessen wurden die jüngsten Hypothesen in dieser Sache in biologischen statt kulturellen Kategorien formuliert. Ich halte das für eine positive Entwicklung in unserer Zunft - nicht zuletzt, weil sie uns ermöglicht, Vorstellungen zu überprüfen, indem wir sie mit dem vergleichen, was wir von der Ökologie und dem Verhalten anderer Lebewesen wissen. Auf diese Weise müssen wir gar nicht bestreiten, daß der Homo sapiens viele einzigartige Eigenschaften aufweist. Statt dessen müssen wir die Entstehung dieser Eigenschaften aus rein biologischen Bedingungen erklären. Nach dieser Erkenntnis verlagerte sich für die Anthropologen das Problem einer Erklärung der menschlichen Ursprünge wieder auf die Entstehung des aufrechten Gangs auf zwei Beinen. Selbst unter dieser verengten Fragestellung war der evolutionäre Wandel alles andere als trivial, wie Owen Lovejoy, ein Anatom an der Kent State University, bemerkt hat: »Der Übergang zur Zweibeinigkeit gehört zu den erstaunlichsten Veränderungen der Anatomie, die sich in der Evolutionsbiologie beobachten lassen«, schrieb er 1988 in einem populärwissenschaftlichen Aufsatz. »Es gibt bedeutsame Veränderungen der Knochen, der Anordnung der zugehörigen Muskeln und der Bewegungen der Gliedmaßen.« Ein Blick auf das Becken von Menschen und Schimpansen genügt, um diese Beobachtung zu bestätigen: Beim Menschen ist das Becken gedrungen und kastenartig, beim Schimpansen dagegen länglich, und außerdem bestehen deutliche Unterschiede im Hinblick auf den Rumpf und die Extremitäten (s. Abb. 1.2). Der Übergang zur Bipedie ist nicht nur eine tiefgreifende biologische, sondern auch eine adaptive Veränderung. Wie ich im Vorwort bereits ausgeführt habe, ist die Entstehung der 33
Fortbewegung auf zwei Beinen eine so bedeutsame Anpassung, daß es gerechtfertigt erscheint, alle Arten von zweibeinigen Affen als »Menschen« zu bezeichnen. Das heißt nicht, daß die erste zweibeinige Affenart bereits über gewisse technische Fertigkeiten, eine höhere Intelligenz oder eines der Kulturmerkmale des Menschen verfügt hätte. Das traf mitnichten zu. Ich will damit lediglich sagen, daß der Übergang zur Zweibeinigkeit soviel Evolutionspotential enthielt - weil dadurch die beiden vorderen oder oberen Gliedmaßen freigesetzt wurden und eines Tages zu Manipulierwerkzeugen werden konnten -, daß seine Bedeutung in unserer Nomenklatur kenntlich gemacht werden sollte. Diese Menschen waren nicht wie wir, doch ohne die Anpassung der Bipedie hätten sie nicht so werden können wie wir. Welches waren die evolutionären Faktoren, welche die Aneignung dieser neuartigen Form der Fortbewegung bei afrikanischen Affen begünstigt haben? Eine beliebte Vorstellung von der Entstehung des Menschen ist die eines affenartigen Geschöpfs, das die Wälder verläßt und die offenen Savannen durchstreift. Das ist zweifellos ein eindrucksvolles Bild, doch völlig unzutreffend, wie unlängst von Wissenschaftlern der Harvard und der Yale University gezeigt wurde, die in vielen Teilen Ostafrikas die chemische Zusammensetzung der Böden untersucht haben. Die afrikanischen Savannen mit ihren großen Wanderherden sind in ihrem Charakter relativ jungen Datums und haben sich vor weniger als drei Millionen Jahren entwickelt, lange nachdem es bereits die ersten Hominiden gab. Wenn wir uns ein Bild vom afrikanischen Kontinent vor fünfzehn Millionen Jahren machen wollen, müssen wir uns einen geschlossenen Waldteppich von West nach Ost vorstellen, der Lebensraum einer großen Vielfalt von Primaten, einschließlich vieler Affen- und Halbaffenarten, war. Im Unterschied zu den heutigen Verhältnissen waren die Affen bei weitem zahlreicher als die Halbaffen. Es gab jedoch geologi34
Abb. 1.2: Unterschiedliche Methoden der Lokomotion. Die Umstellung von einer vierbeinigen auf eine zweibeinige Fortbewegung machte tiefgreifende Veränderungen im anatomischen Aufbau des Körpers erforderlich. So haben Menschen im Vergleich zu Schimpansen und Gorillas beispielsweise längere »Hinterbeine«, kürzere »Vorderbeine«, ein gedrungeneres Becken, kürzere und nicht gekrümmte Finger und eine kleinere Lumbalregion. Australopithecus afarensis, der früheste bekannte Hominide, war zweifellos ein Zweifüßer, behielt jedoch einige anatomische Merkmale von Baumbewohnern. (Mit freundlicher Genehmigung von John Fleagle/Academic Press.)
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sche Bewegungen, die in den nächsten zwei bis drei Millionen Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen der Landschaft und ihrer Bewohner führen sollten. Unter der östlichen Hälfte des Kontinents riß die Erdkruste in einer Linie vom Roten Meer längs durch das heutige Äthiopien, Kenia, Tansania bis nach Moçambique auf. Das hatte zur Folge, daß sich in Äthiopien und Kenia ausgedehnte Hochländer von über dreitausend Metern Höhe bildeten. Diese großen, kuppelartigen Erhöhungen veränderten nicht nur die Topographie des Kontinents, sondern auch dessen Klima. Die Erhebungen unterbrachen den zuvor gleichmäßigen Luftstrom von West nach Ost und bewirkten, daß die Regionen östlich von ihnen im Regenschatten lagen, so daß die Wälder ihre Lebensgrundlage verloren. Die geschlossene Baumdecke riß auf, und zurück blieb ein Mosaik aus bewaldeten Flecken, Heide und Buschland. Offenes Grasland war jedoch noch selten. Vor etwa zwölf Millionen Jahren gab es weitere Veränderungen durch die fortgesetzte Tätigkeit tektonischer Kräfte: Es formte sich ein langgestrecktes, gekrümmtes Tal in nordsüdlicher Richtung, das Ostafrikanische Grabensystem (Great Rift Valley). Dieses System wirkte sich biologisch in zweierlei Weise aus: Es bildete eine wirksame Grenze zwischen Ost und West für Tierpopulationen, und es begünstigte die Entwicklung vielfältigster ökologischer Bedingungen. Der französische Anthropologe Yves Coppens ist der Meinung, daß diese Ost-West-Barriere die entscheidende Ursache für die getrennte Evolution von Menschen und Affen war. »Bedingt durch äußere Umstände sah sich die Population des gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Affen geteilt«, schrieb er vor kurzem. »Die westlichen Nachfahren dieser gemeinsamen Ahnen paßten sich an ein Leben in einem feuchten, baumreichen Milieu an; das sind die Affen. Die östlichen Nachkommen derselben gemeinsamen Vorfahren erfanden dagegen ein vollständig neues Repertoire, um sich an ihr 36
neues Leben in einer offenen Umwelt anzupassen; dies sind die Menschen.« Coppens gab seinem Szenario die Bezeichnung »East Side Story«. Im Grabensystem gibt es wilde Hochländer mit kühlen, bewaldeten Plateaus und Steilhängen, die tausend Meter tief in heiße, trockene Niederungen abfallen. Biologen sind zu der Erkenntnis gelangt, daß solche abwechslungsreichen Umwelten evolutionäre Neuentwicklungen fördern. Populationen einer Art, die in früherer Zeit ein ausgedehntes, zusammenhängendes Territorium bevölkert haben, können unter Umständen isoliert und neuen Kräften der natürlichen Selektion ausgesetzt werden. Das ist das Rezept für eine evolutionäre Veränderung. Gelegentlich führt diese Veränderung zum Aussterben, wenn die vorteilhaften Umweltbedingungen verschwinden. Das war offensichtlich das Schicksal der meisten afrikanischen Affen: Heute existieren nur noch drei Arten - der Gorilla, der gewöhnliche Schimpanse und der Zwergschimpanse. Doch während die meisten Affenarten aufgrund der veränderten Umweltbedingungen dezimiert wurden und schließlich ausstarben, fand eine von ihnen zu einer neuen Anpassung, die es ihr ermöglichte zu überleben und sich zu vermehren. Das war der erste zweibeinige Affe. Offenbar bot die Bipedie entscheidende Überlebenschancen unter wechselnden Bedingungen. Die Aufgabe des Anthropologen ist es herauszufinden, worin die Vorteile der Bipedie bestanden haben. Innerhalb der Anthropologie gibt es zwei Denkrichtungen im Hinblick auf die Rolle der Bipedie im Verlauf der menschlichen Evolution. Die eine Schule betont die Freisetzung der vorderen Gliedmaßen, so daß mit ihnen Gegenstände gehalten und getragen werden konnten; die andere betont den Umstand, daß die Bipedie energieeffizienter ist, und sieht in dem Vermögen, Gegenstände zu tragen, lediglich ein zufälliges Nebenprodukt des aufrechten Gangs. Die erstere Hypothese stammt von Owen Lovejoy und 37
wurde erstmals 1981 in der Zeitschrift Science vorgestellt. Bipedie, so lautete sein Argument, ist eine ineffiziente Methode der Fortbewegung und kann sich deshalb nur entwickelt haben, um das Tragen von Gegenständen zu ermöglichen. Wieso verschaffte diese Fähigkeit den zweibeinigen Affen einen selektiven Vorteil gegenüber anderen Affen? Letzten Endes beruht der evolutionäre Erfolg auf dem Hervorbringen überlebender Nachkommen, und die Antwort auf diese Frage lag nach Lovejoy in der Möglichkeit, daß die Affenmännchen die Fortpflanzungsrate der Weibchen erhöhen konnten, indem sie Nahrung für sie sammelten. Affen vermehren sich sehr langsam und bringen nur alle vier Jahre ein Junges zur Welt. Wenn das Männchen das Weibchen mit mehr Energie in Form von Nahrung versorgte, konnte dieses mehr Nachkommen gebären. Aus dem neuen Verhalten des Männchens ergab sich nach Lovejoy eine weitere biologische Konsequenz, diesmal im sozialen Bereich. Da das Männchen im Darwinschen Sinn nichts davon hatte, Futter für ein Weibchen zu sammeln, wenn es nicht sicher sein konnte, daß es seine Nachkommen zur Welt brachte, mußte nach Lovejoy die erste menschliche Art monogam sein, wobei sich die Kernfamilie als eine Methode entwickelte, den Fortpflanzungserfolg zu erhöhen und so die anderen Affen zu überflügeln. Lovejoy stützte sein Argument mit einer weiteren biologischen Analogie. Bei den meisten Primaten beispielsweise rivalisieren die Männchen untereinander um die ausschließliche sexuelle Verfügung über möglichst viele Weibchen. Dabei kämpfen sie häufig gegeneinander und setzen dabei ihre großen Eckzähne als Waffen sein. Gibbonaffen bilden hier eine Ausnahme, da sie dauerhafte Paarbeziehungen eingehen; ihre Männchen haben nur kleine Eckzähne - vermutlich, weil sie nicht gegeneinander kämpfen müssen. Die kleinen Eckzähne bei den frühesten Menschen sind möglicherweise ein Hinweis, daß sie ähnlich den Gibbons männlich-weibliche Paare bildeten. Die sozialen 38
und ökonomischen Bindungen dieser Versorgungsgemeinschaft lösten wiederum ein Wachstum der Gehirnmasse aus. Diese Hypothese Lovejoys, die beträchtliche Resonanz und Zustimmung fand, bezieht ihre Plausibilität daraus, daß sie keine kulturellen, sondern ausschließlich fundamentale biologische Fakten heranzieht. Dennoch weist sie Schwachstellen auf. Beispielsweise ist die Monogamie keine generelle soziale Institution bei technisch primitiven Völkern (lediglich ein Fünftel dieser Gesellschaft ist monogam). So wurde an der Hypothese zum einen kritisiert, sie stütze sich auf ein Merkmal westlicher Gesellschaften statt einer Wildbeutergemeinschaft. Ein zweiter, möglicherweise ernster zu nehmender Einwand lautet, daß die Männchen der bekannten frühmenschlichen Spezies etwa doppelt so groß waren wie die Weibchen. Bei allen untersuchten Arten von Primaten korreliert dieser große Unterschied in der Körpergröße, der als Dimorphismus bekannt ist, mit einer Polygynie oder der Rivalität der Männchen um die sexuelle Gunst der Weibchen; bei monogamen Arten kommt dieser Dimorphismus nicht vor. Für mich reicht allein schon diese Tatsache aus, um einen vielversprechenden theoretischen Ansatz zu Fall zu bringen. Für die kleinen Eckzähne muß nach einer anderen Erklärung als der der Monogamie gesucht werden. Eine Möglichkeit ist, daß der Mechanismus des Zerkauens von Nahrung eine malmende statt eine schneidende Bewegung erforderte; eine solche Bewegung wäre durch große Eckzähne behindert worden. Lovejoys Hypothese hat heute weniger Anhänger als noch vor gut zehn Jahren. Die zweite wichtige Theorie zur Erklärung für das Entstehen der Bipedie ist wesentlich überzeugender, was zum Teil auf ihre Einfachheit zurückzuführen ist. Vorgeschlagen von den Anthropologen Peter Rodman und Henry McHenry von der Universität Kalifornien in Davis, besagt sie, Bipedie sei unter den veränderten Umweltbedingungen von Vorteil gewesen, weil sie eine effizientere Fortbewegung ermöglicht 39
habe. Als die Wälder zurückgingen, lagen die in bewaldeten Habitaten vorkommenden Nahrungsquellen wie etwa Obstbäume zu weit auseinander, um von den bisherigen Affen effizient genutzt werden zu können. Nach dieser Hypothese waren die ersten zweibeinigen Affen lediglich in der Weise ihrer Fortbewegung menschlich. Ihre Hände, Kiefer und Zähne blieben weiterhin die von Affen, da ihre Nahrung dieselbe blieb; geändert hatte sich lediglich die Methode, sich die Nahrung zu beschaffen. Vielen Biologen erschien diese Erklärung zunächst unwahrscheinlich; schließlich hatten Wissenschaftler an der Harvard University einige Jahre zuvor gezeigt, daß das Gehen auf zwei Beinen weniger effizient ist als das auf vier Beinen. (Den Besitzern von Hunden oder Katzen ist dies nichts Neues; beide Tiere laufen beträchtlich schneller als sie selbst.) Die Forscher hatten allerdings die Energieeffizienz zweibeiniger Menschen mit der von vierbeinigen Pferden und Hunden verglichen. Rodman und McHenry wiesen darauf hin, daß der einzig sinnvolle Vergleich - der zwischen Mensch und Schimpanse - zugunsten des ersteren ausfalle. Deshalb, so lautete ihr Fazit, könne die Zweibeinigkeit wegen ihrer höheren Energieeffizienz gegenüber den vierbeinigen Affen durchaus ein selektiver Vorteil gewesen sein. Es gab noch zahlreiche andere Vorschläge für die Faktoren, die eine Evolution des aufrechten Gangs gefördert haben, zum Beispiel: die Notwendigkeit, über hochwüchsiges Savannengras blicken zu können, um mögliche Freßfeinde rechtzeitig zu erkennen oder eine für die Kühlung während der Futtersuche am Tage erforderliche günstigere Körperhaltung. Von allen diesen erscheint mir die Hypothese von Rodman und McHenry am zwingendsten, weil sie auf rein biologischen Überlegungen aufbaut und die ökologischen Veränderungen einbezieht, die zu der Zeit eintraten, als sich die frühesten Menschen entwickelten. Sollte sich diese Hypothese bestätigen, dann stehen wir vor dem folgenden Pro40
blem: Wenn wir auf Fossilien der ersten menschlichen Art stoßen, können wir sie als solche nicht immer mit Sicherheit erkennen. Handelt es sich um Knochen des Beckens oder der unteren Extremitäten, dann läßt sich die Zweibeinigkeit unschwer feststellen, und die Diagnose lautet »menschliche Spezies«. Stoßen wir dagegen auf Teile eines Schädels oder Kiefers oder auf einzelne Zähne, dann sind sie von den Knochenfragmenten eines Affen nicht zu unterscheiden. Wie können wir in diesem Fall herausfinden, ob wir es mit den Überresten eines zweibeinigen Frühmenschen oder eines vierbeinigen Affen zu tun haben? Das ist für die anthropologische Wissenschaft eine erregende Herausforderung.
Wenn wir das Afrika aus der Zeit vor sieben Millionen Jahren besuchen könnten, um das Verhalten der ersten Menschen zu beobachten, würden wir auf ein Muster treffen, das den Primatenforschern, die das Verhalten von Affen und Halbaffen untersuchen, vertrauter wäre als den Anthropologen, die sich mit menschlichem Verhalten beschäftigen. Statt als Familiengruppen in nomadischen Verbänden zu leben wie heutige Wildbeuter, lebten die ersten Menschen wahrscheinlich wie Paviane der Steppe. Herden von dreißig bis vierzig Individuen streiften damals in koordinierter Weise durch ein ausgedehntes Gelände und kehrten des Nachts zu ihren bevorzugten Schlafplätzen in steilen Felswänden oder Baumgruppen zurück. Ausgewachsene Weibchen und ihre Nachkommen machten den größten Teil der Herde aus, während geschlechtsreife Männchen nur in geringer Zahl vertreten waren. Die Männchen suchten fortwährend nach einer Paarungsmöglichkeit, wobei die dominantesten die erfolgreichsten waren. Junge und rangniedere Männchen befanden sich weitgehend am Rand der Herde und begaben sich meistens allein auf Nahrungssuche. Die Individuen in der Herde gin41
gen wie Menschen auf zwei Beinen, verhielten sich ansonsten jedoch wie in der Steppe lebende Primaten. Vor ihnen lag eine sieben Millionen Jahre dauernde Evolution, deren Muster komplex war, wie wir noch sehen werden, und deren Ergebnis keineswegs von vornherein feststand. Denn die natürliche Evolution orientiert sich an den jeweils vorherrschenden Gegebenheiten und nicht an einem langfristigen Ziel. Zwar entwickelte sich der Homo sapiens schließlich als Nachfahre der ersten Menschen, doch dieser Prozeß vollzog sich durchaus nicht zwangsläufig.
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Eine weitläufige Familie Nach meiner Schätzung sind in Süd- und Ostafrika fossile Überreste von mindestens tausend Individuen mehrerer menschlicher Arten aus der frühesten Periode der fossilen Überlieferung - das heißt aus einem Zeitraum, der von fast vier Millionen bis knapp eine Million Jahre zurückreicht mehr oder weniger unvollständig geborgen worden (aus späteren Perioden hat man noch weit mehr gefunden). Die ältesten in Eurasien aufgefundenen Fossilien von Menschen dürften bis zu zwei Millionen Jahre alt sein. (Die Neue Welt und Australien wurden wesentlich später, nämlich erst vor etwa 20.000 beziehungsweise 55.000 Jahren bevölkert.) Deshalb dürfen wir mit einigem Recht behaupten, daß sich die menschliche Vorgeschichte im wesentlichen in Afrika abgespielt hat. Im Hinblick auf diese Vorgeschichte sehen sich die Anthropologen zwei Fragen gegenüber: 1. Welche Arten haben den menschlichen Stammbaum in dem Zeitraum vor sieben bis zwei Millionen Jahren ausgefüllt, und wie haben sie gelebt? 2. Wie hingen diese Arten evolutionär miteinander zusammen? Mit anderen Worten, wie sah der Stammbaum der Menschheit damals aus? Bei der Beantwortung dieser Fragen stehen wir vor zwei weiteren Problemen, diesmal praktischer Natur. Das erste ist 43
das, was Darwin als »die extreme Unvollständigkeit der geologischen Überlieferung« bezeichnet hat. Ein ganzes Kapitel in seinem Werk Über den Ursprung der Arten widmete Darwin den entmutigenden Lücken in der fossilen Überlieferung, die sich aus den unberechenbaren Einwirkungen bei der Fossilierung und späteren Freilegung von Knochen erklären lassen. Die Bedingungen, die ein schnelles Verschütten und eine mögliche Fossilierung der Knochen begünstigen, kommen selten vor. Sehr alte Sedimente können durch Erosion zugänglich gemacht werden, zum Beispiel wenn sich ein Strom ein Bett durch sie hindurch gegraben hat. Aber welche Seiten der Vorgeschichte auf diese Weise aufgeschlagen werden, ist reiner Zufall, und viele dieser Seiten bleiben den Blicken verborgen. So gibt es beispielsweise in Ostafrika, der verheißungsvollsten Fundstätte frühmenschlicher Fossilien, aus der Zeit vor acht bis vier Millionen Jahren nur sehr wenige fossilienhaltige Sedimente. Das ist eine entscheidende Periode in der menschlichen Vorgeschichte, da in diese Spanne die Entstehung der menschlichen Art fällt. Selbst aus der Zeit vor vier Millionen Jahren und danach verfügen wir über weit weniger Fossilien, als wir uns wünschen würden. Das zweite Problem rührt von dem Umstand her, daß die Mehrzahl der bislang geborgenen Fossilien aus kleinen Fragmenten besteht - dem Stück einer Schädeldecke, einem Wangenbein, dem Teil eines Unterarmknochens und zahlreichen Zähnen. Die Identifizierung einer Art anhand derart spärlicher Belege ist keine einfache Aufgabe und manchmal sogar unmöglich zu leisten. Die daraus resultierende Unsicherheit erklärt viele Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Wissenschaft im Hinblick sowohl auf die Identifizierung der Art als auch die Erkennung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen einzelnen Arten. Dieser Bereich der Anthropologie, die Taxonomie und Systematik, ist ganz besonders umstritten. Ich werde nicht auf die Einzelheiten 44
dieser Debatten eingehen und mich statt dessen auf eine Beschreibung der groben Umrisse des Stammbaums beschränken.
Die Kenntnis von der Überlieferung menschlicher Fossilien in Afrika setzte sich erst allmählich durch, beginnend im Jahr 1924, als Raymond Dart den Fund des berühmten Taung-Kindes bekanntgab. Er bestand aus dem unvollständigen Schädel eines Kindes - einem Teil der Schädeldecke, Gesicht, Unterkiefer und Gehirnschale - und wurde so benannt, weil er aus dem Taung-Kalksteinbruch in Südafrika geborgen wurde. Zwar konnten die Kalksedimente nicht präzise datiert werden, doch nach wissenschaftlichen Schätzungen dürfte das Kind vor etwa zwei Millionen Jahren gelebt haben. Während der Kopf des Taung-Kindes viele affenähnliche Merkmale wie ein kleines Gehirn und einen vorspringenden Unterkiefer aufwies, erkannte Dart an ihm auch menschliche Züge: Der Unterkiefer sprang nicht so weit vor wie bei Affen, die Backenzähne waren flach und die Eckzähne klein. Ein wichtiger Beleg war die Lage des Foramen magnum - das sogenannte Hinterhauptsloch, durch das das Rückenmark in die Wirbelsäule eintritt. Bei Affen liegt diese Öffnung relativ weit hinten in der Schädelbasis, während sie sich beim Menschen mehr zur Mitte hin befindet; der Unterschied rührt von der aufrechten Körperhaltung des Menschen her, bei der der Kopf über der Wirbelsäule ausbalanciert ist, während er bei den vierbeinigen Affen nach vorn geneigt ist. Das Hinterhauptsloch des Taung-Kindes befand sich in der Mitte des Schädels, woran man erkennen konnte, daß das Kind ein zweibeiniger Affe war. Obwohl Dart überzeugt war, daß er die Überreste eines Hominiden gefunden hatte, mußten über zwanzig Jahre vergehen, bis Anthropologen in den Fossilien die Überreste eines 45
menschlichen Vorfahren und nicht eines frühen Affen erkannten. Das Vorurteil gegen Afrika als die Stätte der menschlichen Evolution und eine allgemeine Abneigung gegen die Vorstellung, etwas derart Affenartiges könnte ein Teil der menschlichen Ahnenreihe sein, wirkten zusammen, um Dart und seine Entdeckung für lange Zeit der Vergessenheit der Anthropologen zu überantworten. Als diese - in den späten vierziger Jahren - ihren Irrtum erkannten, hatte Dart in dem Schotten Robert Broom einen Gefährten gefunden. Die beiden Männer hatten aus vier Höhlenfundstätten in Südafrika eine große Zahl frühmenschlicher Fossilien geborgen: in Sterkfontein, Swartkrans, Kromdraai und Makapansgat. Nach den anthropologischen Gepflogenheiten jener Zeit gaben Dart und Broom praktisch jedem ihrer Fossilienfunde eine neue Artenbezeichnung, so daß sehr bald der Eindruck entstand, in Südafrika habe es vor drei bis einer Million Jahren einen regelrechten Hominidenzoo gegeben. In den fünfziger Jahren beschlossen die Anthropologen, in die Fülle der vorgeschlagenen Hominidenarten eine gewisse Übersichtlichkeit zu bringen, und ließen lediglich zwei davon gelten. Beide waren natürlich zweibeinige Affen, und beide waren in derselben Weise affenähnlich wie das Taung-Kind. Der Hauptunterschied zwischen beiden Arten bestand in ihren Kiefern und Zähnen: Diese waren in beiden Fällen groß, doch eines der beiden Individuen war massiger als das andere. Die zierlichere Art erhielt die Bezeichnung Australopithecus africanus, jene Bezeichnung, die Dart bereits 1924 dem Taung-Kind gegeben hatte und die »afrikanischer Südaffe« bedeutet. Die kräftigere Art wurde passenderweise Australopithecus robustus getauft. Aus der Form ihrer Zähne ergab sich, daß Australopithecus africanus und Australopithecus robustus überwiegend Pflanzenfresser waren. Ihre Backenzähne waren nicht die von Affen - diese laufen spitz zu und eignen sich für eine Nahrung aus relativ weichen Früchten und anderen Futterpflanzen -, 46
sondern hatten die Oberflächen von Mahlzähnen (s. Abb. 2.1). Wenn, wie ich vermute, die erste menschliche Art von derselben Nahrung wie Affen gelebt hat, dann dürfte sie affenähnliche Zähne gehabt haben. Offensichtlich war bis zu einer Zeit vor drei bis zwei Millionen Jahren die Nahrung der Hominiden fester geworden und bestand beispielsweise aus harten Früchten und Nüssen. Das war ein ziemlich sicherer Hinweis, daß die Australopithecinen in einer trockeneren Umwelt lebten als die Affen. Aus der enormen Größe der Molaren der robusten Spezies können wir schließen, daß die von ihren Vertretern aufgenommene Nahrung besonders zäh war und ausgiebig gekaut werden mußte; nicht umsonst werden sie als »Mühlstein-Molaren« bezeichnet. Das erste frühmenschliche Fossil in Ostafrika wurde im August 1959 von Mary Leakey gefunden. Nach einer fast drei Jahrzehnte währenden Erforschung der Sedimente der Oldoway-Schlucht wurde sie mit dem Anblick von Mühlstein-Molaren belohnt, die denen des Australopithecus robustus aus Südafrika glichen. Das Oldoway-Individuum war jedoch noch kräftiger als sein Vetter aus Südafrika. Louis Leakey, der sich zusammen mit seiner Frau Mary an der Suche beteiligt hatte, nannte ihn Zinjanthropus boisei: Der Gattungsname bedeutet »ostafrikanischer Mensch«; boisei ging zurück auf Charles Boise, der meine Eltern bei ihrer Arbeit in der Oldoway-Schlucht und an anderen Orten unterstützte. Bei der erstmaligen Anwendung moderner geologischer Datiermethoden in der Anthropologie ergab sich, daß Zinj, wie das Individuum abkürzend genannt wurde, vor 1,75 Millionen Jahren gelebt hat. Sein Name wurde schließlich in Australopithecus boisei geändert, da man annahm, daß es sich um eine ostafrikanische Version oder eine geographische Spielart des Australopithecus robustus handelte. Diese Bezeichnungen sind an sich nicht besonders wichtig. Entscheidend ist dagegen, daß wir es mit mehreren menschlichen Arten zu tun haben, die dieselbe fundamentale 47
Abb. 2.1: Australopithecine Verwandte. Der Hauptunterschied zwischen Australopithecus robustus (und A. boisei) und A. africanus besteht in den Kauwerkzeugen, zu denen die Kiefer, Backenknochen und die mit ihnen verbundenen Stellen zur Aufhängung der Muskeln gehören. Die Spezies A. robustus war an einen Speisezettel angepaßt, der zähe pflanzliche Nahrung enthielt, die kräftig durchgekaut werden mußte. (Mit freundlicher Genehmigung von A. Walker und R. E. F. Leakey/ Scientific American. 1978; alle Rechte vorbehalten.)
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Anpassung aufweisen: Bipedie, ein kleines Gehirn und vergleichsweise große Backenzähne. Es war das, was ich an dem Schädel entdeckte, auf den ich bei meiner ersten Expedition ans Ostufer des Turkanasees 1969 in einem ausgetrockneten Flußbett gestoßen war. Wir wissen von der Größe verschiedener Knochen des Skeletts, daß die Männchen der Australopithecinen beträchtlich größer waren als die Weibchen. Ihre Körpergröße betrug gut 1,5 Meter gegenüber knapp 1,2 Meter bei den Weibchen. Die Männchen müssen fast doppelt so schwer gewesen sein wie diese, ein ähnlicher Unterschied, wie wir ihn heute an einigen Arten der Steppenpaviane beobachten können. Deshalb dürfen wir annehmen, daß die soziale Organisation der Australopithecinen der der Paviane ähnlich war, wobei die Männchen um die sexuelle Gunst der Weibchen rivalisierten. Das Bild der menschlichen Vorgeschichte wurde ein Jahr nach der Entdeckung von Zinj etwas komplizierter, als mein älterer Bruder, Jonathan, wiederum in der Oldoway-Schlucht das Schädelfragment eines anderen Hominidentyps fand. Aufgrund der geringeren Stärke der Schädeldecke war zu vermuten, daß dieses Individuum von leichterem Körperbau war als die bisher bekannten Australopithecinen. Es hatte kleinere Backenzähne und - was das Auffallendste war - ein um fast fünfzig Prozent größeres Gehirn. Mein Vater gelangte zu dem Schluß, daß zwar die Australopithecinen zu den Vorfahren des Menschen gehörten, dieses neuentdeckte Exemplar jedoch ein Vertreter jener Linie sei, aus der schließlich der heutige Mensch hervorging. Während es von seiten seiner Kollegen Einwände hagelte, beschloß er, ihm den Namen Homo habilis zu geben, und machte ihn damit zum ersten frühen Mitglied der Gattung, die noch näher bestimmt werden sollte. (Die meinem Vater von Raymond Dart vorgeschlagene Bezeichnung bedeutet »handwerklich geschickter Mensch« und bezieht sich auf die Annahme, daß diese frühen Menschen Werkzeuge hergestellt haben.) 49
Die Einwände beruhten in vieler Hinsicht auf fachwissenschaftlichen Erwägungen; die Kontroverse entzündete sich zum Teil daran, daß mein Vater die bislang akzeptierte Definition der Gattung Homo ändern mußte, um ihr das fossile Exemplar zuordnen zu können. Bislang besagte diese von dem britischen Anthropologen Sir Arthur Keith vorgeschlagene Definition, daß die Gehirnkapazität der Gattung Homo mindestens 750 Kubikzentimeter betragen müsse, eine Zahl, die etwa in der Mitte zwischen der Gehirngröße heutiger Menschen und der von Affen lag; sie war zu einem zerebralen Rubikon geworden. Obwohl das Gehirnvolumen des neuentdeckten Fossils aus der Oldoway-Schlucht nur 650 Kubikzentimeter betrug, hielt Louis Leakey es für einen Vertreter von Homo, weil es eine menschenähnlichere (das heißt weniger kräftige) Schädeldecke aufwies. Gleichzeitig plädierte er dafür, den bisherigen Grenzwert von 750 auf 600 Kubikzentimeter zu senken, damit das Exemplar der Gattung Homo zugeordnet werden konnte. Dieses Vorgehen erhitzte die Gemüter in der nun folgenden heftigen Debatte zweifellos noch mehr. Am Ende wurde die neue Definition jedoch akzeptiert. (Später zeigte sich allerdings, daß das durchschnittliche Gehirnvolumen von ausgewachsenen Vertretern von Homo habilis tatsächlich eher bei 800 Kubikzentimetern liegen dürfte.) Einmal abgesehen von der wissenschaftlichen Nomenklatur, ist hier der wichtige Punkt, daß das Muster der Evolution, das sich aufgrund dieser Befunde in ersten Umrissen abzeichnete, das von zwei frühmenschlichen Grundtypen war. Der eine Typus hatte ein kleines Gehirn und große Backenzähne (die verschiedenen Australopithecinen); der zweite Typus besaß ein erweitertes Gehirn und kleinere Backenzähne (Homo: s. Abb. 2.2). Beide Typen waren zweibeinige Affen, doch in der Evolution von Homo hatte sich zweifellos etwas Außergewöhnliches ereignet. Wir werden dieses »Etwas« im folgenden Kapitel genauer erforschen. Jedenfalls hatte der 50
Abb. 2.2: Früher Homo. Dieses Fossil, gekennzeichnet durch die Museumsnummer 1470, wurde 1972 in Kenia entdeckt. Sein Träger lebte vor knapp zwei Millionen Jahren, und das Skelett ist das vollständigste frühe Exemplar eines Homo habilis; verglichen mit den Australopithecinen weist es eine deutliche Erweiterung des Gehirnumfangs und eine geringere Größe der Zähne auf. (Mit freundlicher Genehmigung von A. Walker und R. E. F. Leakey/Scientific American, 1978, alle Rechte vorbehalten.)
Stammbaum an diesem Punkt der Menschheitsgeschichte das heißt vor rund zwei Millionen Jahren - nach dem Erkenntnisstand der Anthropologen eine ziemlich einfache Form. Der Stamm verzweigte sich in zwei Hauptäste: die Spezies der Australopithecinen, die allesamt vor einer Million Jahren ausstarben, und die von Homo, aus dem schließlich der Mensch der Jetztzeit hervorging. Biologen wissen aufgrund der bislang verfügbaren fossilen Belege, daß sich aus einer neuentwickelten Art mit einer neuartigen Anpassung in den nächstfolgenden Jahrmillionen häufig zahlreiche weitere Arten entwickeln und in verschiedenen Themen die ursprüngliche Anpassung variieren - ein Vorgang, der als Auffächerung der Stammeslinien (adaptive radiation) bekannt ist. Der Anthropologe Robert Foley von der Universität Cambridge hat berechnet, daß im Fall eines üblichen Verlaufs der Auffächerung der Stammeslinien in der 51
Geschichte der zweibeinigen Affen zwischen dem Ursprung der Gruppe vor rund sieben Millionen Jahren und heute mindestens sechzehn Arten hätten existieren müssen. Der Stammbaum beginnt mit einem einzelnen Stamm (der Gründungsspezies), verzweigt sich im Lauf der Zeit zu neuen Arten und verliert mit jeder aussterbenden Art wieder an Ästen, bis nur noch ein einziger überlebender Zweig übrigbleibt Homo sapiens. Wie verträgt sich das alles mit dem, was wir aus der fossilen Überlieferung wissen? Noch viele Jahre, nachdem die Hypothese vom Homo habilis schließlich akzeptiert worden war, nahm man an, daß es vor zwei Millionen Jahren drei Arten von Australopithecinen und eine Art des Homo gab. Wir müßten eigentlich erwarten, daß der Stammbaum zu diesem Zeitpunkt der Vorgeschichte dicht verzweigt war, so daß vier koexistierende Arten uns enttäuschend wenig erscheinen. Und tatsächlich hat sich vor kurzem gezeigt - durch neue Entdeckungen und Überlegungen -, daß damals mindestens vier Arten der Australopithecinen gelebt haben, in Tuchfühlung mit zwei oder sogar drei Arten von Homo. Dieses Bild ist noch keineswegs wissenschaftlich erhärtet, doch wenn die menschliche Spezies Ähnlichkeit mit den Spezies anderer großer Säugetiere hatte (und zum gegenwärtigen Zeitpunkt spricht nichts gegen eine solche Annahme), dann muß es etwa so ausgesehen haben. Die Frage lautet: Was geschah in der weiter als zwei Millionen Jahre zurückliegenden Zeit? Wie viele Zweige gab es damals am Stammbaum, und wie sahen sie aus? Wie schon gesagt, werden die fossilen Belege aus der Zeit vor zwei bis vier Millionen Jahren immer dürftiger, und davor fehlen sie schließlich ganz. Die frühesten bekannten menschlichen Fossilien stammen allesamt aus Ostafrika. An der Ostseite des Turkanasees haben wir einen Armknochen gefunden, einen Handgelenkknochen, Kieferfragmente und Zähne aus einer Zeit vor vier Millionen Jahren; der amerikanische Anthropologe Donald Johanson und seine Kollegen haben 52
aus dem Awaschgebiet in Äthiopien einen Unterschenkelknochen von ähnlichem Alter geborgen. Das sind in der Tat magere Reste, um daraus ein Bild der frühmenschlichen Vorgeschichte zu rekonstruieren. Es gibt jedoch eine Ausnahme von dieser dürftig belegten Periode, und das ist die reichhaltige Sammlung von Fossilien aus dem Hadar-Gebiet Äthiopiens, die zwischen drei und 3,9 Millionen Jahre alt sind. Mitte der siebziger Jahre barg ein französisch-amerikanisches Team unter der Leitung von Maurice Taieb und Johanson Hunderte von faszinierenden fossilierten Knochen, darunter ein teilweise erhaltenes Skelett eines kleinwüchsigen Individuums, das unter dem Namen Lucy bekannt wurde (s. Abb. 2.3). Lucy, die zum Zeitpunkt ihres Todes voll ausgewachsen war, wies eine Körpergröße von weniger als neunzig Zentimeter auf und war extrem affenähnlich gebaut, mit langen Armen und kurzen Beinen. Weitere Fossilien von Individuen dieser Gegend ließen erkennen, daß viele von ihnen mit einer Körpergröße von hundertfünfzig Zentimetern nicht nur größer waren als Lucy, sondern in mancher Hinsicht - Größe und Form der Zähne und vorspringender Unterkiefer - auch affenähnlicher als die Hominiden, die etwa eine Million Jahre später in Süd- und Ostafrika lebten. Es war genau das, was wir zu finden gehofft hatten, als wir uns der Zeit der Entstehung des Menschen immer mehr näherten. Als ich die Hadar-Fossilien zum erstenmal zu Gesicht bekam, hatte ich den Eindruck, daß sie zwei oder sogar noch mehr Arten repräsentierten. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß die Artenvielfalt, die wir aus der Zeit vor zwei Millionen Jahren beobachten können, sich aus einer ähnlichen Artenvielfalt ableitete, die eine Million Jahre früher bestand, darunter auch Arten von Australopithecus und Homo. In ihrer ursprünglichen Deutung der Fossilien waren auch Taieb und Johanson dieser Meinung. Doch Johanson und Tim White von der Universität Kalifornien in Berkeley führten weitere 53
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Abb. 2.3: Lucy. Dieses Restskelett, in der populärwissenschaftlichen Literatur als Lucy bekannt, wurde 1974 von Donald Johanson und seinen Mitarbeitern in Äthiopien aufgefunden. Als Weibchen hatte Lucy in aufrechter Haltung eine Körpergröße von etwa 90 Zentimetern. Die Männchen ihrer Art waren wesentlich größer. Sie lebte vor etwas mehr als drei Millionen Jahren. (Mit freundlicher Genehmigung des Cleveland Museum für Naturgeschichte.)
Untersuchungen durch. In einem im Januar 1979 in der Zeitschrift Science veröffentlichten Aufsatz vertraten sie die Meinung, daß die Hadar-Fossilien nicht mehrere Arten des Urmenschen repräsentierten, sondern vielmehr die Knochen einer einzigen Art waren, der Johanson den Namen Australopithecus afarensis gab. Die große Variationsbreite der Körpergröße, in der man früher einen Hinweis auf mehrere Arten gesehen hatte, wurde jetzt einfach als sexueller Dimorphismus gedeutet. Alle bekannten Hominidenarten, die später aufkamen, seien demnach Abkömmlinge dieser einzigen Art. Viele meiner Kollegen waren verblüfft über diese kühne Erklärung, die in den folgenden Jahren für hitzige Diskussionen sorgte (vgl. Abb. 2.4). Während viele Anthropologen seitdem zu dem Schluß gelangt sind, daß die Hypothese von Johanson und White wahrscheinlich zutrifft, halte ich sie für falsch, und zwar aus zwei Gründen. Erstens sind die Unterschiede im Hinblick auf Körpergröße und Anatomie bei den Hadar-Fossilien insgesamt einfach zu groß, als daß sie ein einziges Individuum repräsentieren könnten. Wesentlich realistischer ist die Vorstellung, daß die Knochen von zwei oder noch mehr verschiedenen Arten stammen. Auch Yves Coppens, der zum Entdeckerteam der Hadar-Fossilien gehörte, teilt diese Meinung. Zum zweiten ergibt die Hypothese biologisch keinen Sinn. Wenn die ersten Menschen vor rund sieben oder auch nur vor fünf Millionen Jahren entstanden, dann wäre es höchst ungewöhnlich, wenn eine einzige Spezies vor drei Millionen Jahren die Stammlinie aller späteren Arten gewesen wäre. Dies würde 55
dem normalen Verlauf einer adaptiven Auffächerung widersprechen, und solange es keine guten Gründe für die Annahme des Gegenteils gibt, müssen wir davon ausgehen, daß die Geschichte des Menschen dem typischen Muster gefolgt ist. Die einzige Möglichkeit, diese Streitfrage zu jedermanns Zufriedenheit zu entscheiden, besteht darin, weitere Fossilien, die älter als drei Millionen Jahre sind, zu entdecken und zu untersuchen. Diese Möglichkeit zeichnete sich im Frühjahr 1994 ab. Nachdem es aus politischen Gründen anderthalb Jahrzehnte lang unmöglich gewesen war, in die an Fossilien reiche Hadar-Region zurückzukehren, haben Johanson und seine Mitarbeiter seit 1990 drei Expeditionen durchgeführt. Ihre Bemühungen waren von großem Erfolg gekrönt, denn ihnen gelang die Bergung von dreiundfünfzig fossilen Fundstücken, darunter der erste vollständige Schädel. Das Muster, das sich bislang für diese Periode ergeben hatte - eine große Bandbreite der Körpergrößen -, wird durch diese neuen Funde bestätigt und erweitert. Wie ist diese Tatsache zu deuten? Stehen wir kurz davor, die Frage nach der Zahl der von den Hadar-Fossilien repräsentierten Arten zu beantworten? Leider ist dies nicht der Fall. Diejenigen Fachkollegen, die der Meinung waren, die Größenunterschiede der bislang geborgenen Fossilien sprächen für einen Unterschied in der Körpergröße zwischen Männern und Frauen, sahen in den neuen Funden eine Bestätigung ihrer Ansicht. Ihre Gegner, für die aus den Abweichungen in der Körpergröße ein Unterschied zwischen mehreren Arten und nicht innerhalb einer einzigen Art sprach, interpretierten die neuen Funde dagegen ebenfalls als eine Bekräftigung ihres Standpunkts. Die Frage nach der Form des menschlichen Stammbaums vor mehr als zwei Millionen Jahren muß deshalb weiterhin als offen betrachtet werden. Die Entdeckung von »Lucy« im Jahr 1974 schien einen ersten Anhaltspunkt zu geben für die Frage, wieweit frühe Ho56
Abb. 2.4: Stammbäume. Die bisher aufgefundenen fossilen Belege werden von den Forschern unterschiedlich gedeutet, während die Gesamtform der vermuteten Evolutionsgeschichte weitgehend unstrittig ist. Hier werden - etwas vereinfacht - zwei Versionen dargestellt. Ich neige zur Alternative B, bei der sich unter den ältesten bekannten Fossilien auch Exemplare der Spezies Homo befinden; dieser wäre demnach der Stammvater des von uns so bezeichneten Homo habilis. Die fossile Überlieferung reicht nicht bis in die Anfänge der menschlichen Familie zurück - in eine Zeit vor etwa sieben Millionen Jahren, wie aus molekulargenetischen Untersuchungen geschlossen wird.
miniden sich anatomisch an eine bipedale Fortbewegung angepaßt haben. Als erste Hominidenart, die sich vor etwa sieben Millionen Jahren entwickelt hat, galt definitionsgemäß eine Art Affe auf zwei Beinen. Doch bis zur Entdeckung von »Lucy« hatten die Anthropologen keine handfesten Belege für eine Fortbewegung auf zwei Beinen bei Menschen, die älter als zwei Millionen Jahre waren. Die Skelettknochen des Beckens, der Beine und Füße von »Lucy« boten wesentliche Fingerzeige für die Antwort auf diese Frage. Aus der Form des Beckens und dem Winkel zwischen 57
Schenkelknochen und Knie ergibt sich unzweifelhaft, daß »Lucy« und ihre Artgenossen an eine gewisse Form des aufrechten Gangs angepaßt waren. Diese anatomischen Merkmale hatten mehr Ähnlichkeit mit denen von Menschen als von Affen. Owen Lovejoy, der die ersten anatomischen Untersuchungen an diesen Knochen durchführte, gelangte sogar zu dem Schluß, daß die zweibeinige Fortbewegung dieser Art vermutlich von der Gehweise heutiger Menschen nicht zu unterscheiden gewesen wäre. Dagegen erhob sich allerdings Widerspruch. So boten beispielsweise Jack Stern und Randall Susman, zwei Anatomen von der Universität des Staates New York in Stony Brook, in einem größeren wissenschaftlichen Beitrag eine andere Deutung der Anatomie »Lucys« an: »[Das Skelett] weist eine Reihe von Merkmalen auf, die einem Lebewesen völlig angemessen sind, das in der Entwicklung zur Zweibeinigkeit schon ziemlich weit fortgeschritten war, daneben jedoch solche Merkmale des Körperbaus beibehalten hatte, die es befähigten, die Bäume bei der Suche nach Nahrung sowie Schlaf- und Fluchtmöglichkeiten effizient zu nutzen.« Einer der wichtigsten Beweise, die Stern und Susman für ihre Schlußfolgerung anführten, war der Bau der Füße von »Lucy«: Die Knochen sind leicht gebogen, wie man es beim Affen, jedoch nicht beim Menschen findet - eine Besonderheit, die das Klettern auf Bäume erleichtert. Lovejoy verwirft diese Ansicht und vermutet, daß die gekrümmten Fußknochen ein bloßer evolutionärer Überrest der affenartigen Vergangenheit von Lucy waren. Diese beiden gegnerischen Lager hielten länger als ein Jahrzehnt an ihren unterschiedlichen Überzeugungen fest, bis es 1994 eine Zeitlang so aussah, als würden neue Fossilfunde, einige davon aus einer ganz unerwarteten Quelle, den Streit entscheiden. Zunächst berichteten Johanson und seine Mitarbeiter über die Entdeckung von zwei drei Millionen Jahre alten Armknochen, einer Ulna und einem Humerus, die sie dem Australo58
pithecus afarensis zuschrieben. Das Individuum war anscheinend sehr kräftig gewesen, und seine Armknochen wiesen einige Merkmale auf, die auf eine Ähnlichkeit mit Schimpansen deuteten, während andere wiederum sich davon unterschieden. Über diese Entdeckung bemerkte die Anthropologin Leslie Aiello vom University College London in der Zeitschrift Nature: »Die bruchstückhafte Morphologie der Ulna des A. afarensis in Verbindung mit dem äußerst kräftigen Humerus würden gut zu einem Geschöpf passen, das in Bäumen kletterte, sich aber auch auf zwei Beinen auf dem Boden bewegte.« Diese Beschreibung, der ich mich anschließe, entspricht offenbar dem Denkmodell Susmans und nicht Lovejoys. Eine noch stärkere Bestätigung dieser Auffassung liefert die neuartige Verwendung der Computertomographie zur Bestimmung anatomischer Details des inneren Ohrs dieser Frühmenschen. Zur Anatomie des inneren Ohrs gehören drei C-förmige Röhren, die sogenannten Bogengänge. Sie stehen rechtwinklig aufeinander, wobei zwei von ihnen eine senkrechte Stellung einnehmen, und spielen eine wichtige Rolle für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts. Auf einer Konferenz von Anthropologen im April 1994 beschrieb Fred Spoor von der Universität Liverpool die Bogengänge im Ohr von Menschen und von Affen. Die beiden senkrechten Kanäle sind beim Menschen im Vergleich zum Affen wesentlich erweitert, ein Unterschied, den Spoor als Anpassung an die zusätzlichen Erfordernisse einer Wahrung des Gleichgewichts bei aufrecht gehenden Zweibeinern interpretiert. Wie verhielt es sich in diesem Punkt bei frühmenschlichen Arten? Die Feststellungen Spoors sind wirklich aufregend. Bei allen Arten der Gattung Homo ist der Aufbau des inneren Ohrs von dem der heutigen Menschen nicht zu unterscheiden. Andererseits sehen bei allen Arten des Australopithecus die Bogengänge wie die von Affen aus. Bedeutet dies, daß die Australopithecinen sich wie Affen bewegt haben - das heißt auf 59
vier Beinen? Der Bau des Beckens und der unteren Extremitäten spricht gegen diese Schlußfolgerung. Dasselbe gilt für eine bemerkenswerte Entdeckung, die meine Mutter 1976 gemacht hat: die Spur ziemlich menschenähnlicher Fußabdrücke in einer Schicht aus Vulkanasche aus einer Zeit vor rund 3,5 Millionen Jahren. Wie auch immer, wenn der Aufbau des inneren Ohrs überhaupt ein Zeichen für die gewöhnliche Körperhaltung und Fortbewegungsweise ist, dann läßt er vermuten, daß die Australopithecinen nicht einfach so wie die heutigen Menschen waren, wie Lovejoy annimmt. Lovejoy erweckt dabei den Eindruck, als wolle er die Hominiden von Anfang an zu Menschen machen, eine Neigung innerhalb der Anthropologen, die ich bereits oben erörtert habe. Für mich spricht freilich nichts gegen die Vorstellung, daß einer unserer Vorfahren ein affenähnliches Verhalten gezeigt hat und daß Bäume in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben. Wir sind zweibeinige Affen, und es dürfte niemanden überraschen, daß sich dieser Umstand in der Lebensweise unserer Vorfahren niedergeschlagen hat.
An dieser Stelle gehe ich von Gebeinen zu Steinen über, den greifbarsten Belegen für das Verhalten unserer Vorfahren. Schimpansen sind geschickt im Umgang mit Werkzeugen und benutzen Stöcke zur Jagd auf Termiten, Blätter als Schwämme und Steine zum Nüsseknacken. Doch bislang ist noch kein Schimpanse in der Wildnis beim Anfertigen eines Steinwerkzeugs beobachtet worden. Menschen haben vor zweieinhalb Millionen Jahren begonnen, scharfkantige Werkzeuge zu verfertigen, indem sie zwei Steine gegeneinander schlugen, und damit einen Weg technischer Tätigkeit eingeschlagen, der ein helles Licht auf die Vorgeschichte des Menschen wirft. Die frühesten Werkzeuge waren kleine Steinabschläge, die in der Weise entstanden, daß ein Stein - meist ein Stück Erup60
tivgestein - gegen einen anderen geschlagen wurde. Die Abschläge waren vielleicht zweieinhalb Zentimeter lang und erstaunlich scharf. Trotz ihres einfachen Aussehens wurden sie zu verschiedenen Zwecken benutzt. Wir wissen das, weil Lawrence Keeley von der Universität Illinois und Nicholas Toth von der Indiana University ein Dutzend solcher Klingen aus einem 1,5 Millionen Jahre alten Lagerplatz östlich des Turkanasees unter dem Mikroskop untersucht und nach Anzeichen für deren Verwendung geforscht haben. Sie fanden unterschiedliche Verschleißspuren auf den Abschlägen manche waren anscheinend benutzt worden, um Fleisch zu schneiden, andere für das Zerkleinern von Holz und wieder andere für das Zerschneiden von weichen Pflanzenfasern wie Gras. Wenn wir an einer solchen archäologischen Fundstelle Steinabschläge verstreut finden, müssen wir unsere ganze Phantasie aufbieten, um uns die Komplexität des Lebens vorzustellen, das sich dort abgespielt hat, da die Überbleibsel selbst sehr spärlich sind: Fleisch, Holz und Gras haben keinerlei Spuren hinterlassen. Wir können uns ein einfaches Lager an einem Flußufer vorstellen, wo mehrere Angehörige einer Menschenfamilie in einem Unterschlupf aus jungen Baumstämmen und einem Schilfrohrdach Fleisch zerlegen, auch wenn das einzige, was davon heute noch zu sehen ist, die Abschläge von Steinen sind. Die frühesten Ansammlungen von Steinwerkzeugen, die aufgefunden wurden, sind zweieinhalb Millionen Jahre alt; zu ihnen gehören außer den Abschlägen größere Gerätschaften wie Haumesser (chopper), Schaber und verschiedene Polyeder. In den meisten Fällen wurden auch diese Gegenstände durch das Absprengen mehrerer Abschläge von Lavabrocken hergestellt. Mary Leakey verbrachte viele Jahre in der Oldoway-Schlucht und erforschte diese früheste aller Techniken die nach der Oldoway-Schlucht als Oldoway-Industrie bezeichnet wurde - und legte auf diese Weise den Grundstein zu einer afrikanischen Archäologie. 61
Wie Nicholas Toth vermutet, hatten die ersten Werkzeughersteller bei ihrer experimentellen Verfertigung von Werkzeugen keine besonderen Formen der einzelnen Geräte wenn man so will: geistige Schablonen - im Sinn. Wahrscheinlicher ist es, daß sich die unterschiedlichen Formen der Werkzeuge aus der ursprünglichen Beschaffenheit des Rohstoffs ergaben. Die Oldoway-Industrie - bis vor rund 1,4 Millionen Jahren als einzige Form der Technik gebraucht brachte im wesentlichen Zufallsprodukte hervor. Eine interessante Frage stellt sich im Hinblick auf die kognitiven Fähigkeiten, die in die Produktion solcher Artefakte involviert waren. Verfügten die frühesten Werkzeugmacher über geistige Fähigkeiten, die denen von Affen vergleichbar waren, nur daß sie diese in anderer Weise einsetzten? Oder mußten sie für ihre Tätigkeit eine höhere Intelligenz entwickelt haben? Das Gehirn der Werkzeugmacher war etwa fünfzig Prozent größer als das von Affen, so daß die letztgenannte Schlußfolgerung auf den ersten Blick einleuchtend erscheint. Aber Thomas Wynn, ein Archäologe an der Universität Colorado, und William McGrew, ein Primatenforscher an der Universität Stirling in Schottland, vertreten eine andere Auffassung. Sie untersuchten verschiedene manuelle Fertigkeiten, über die Affen verfügen, und gelangten in einem 1989 veröffentlichten Aufsatz (»Die Oldoway-Stufe mit den Augen eines Affen betrachtet«) zu dem Schluß: »Sämtliche räumlichen Vorstellungen für die Oldoway-Werkzeuge lassen sich auch bei Affen nachweisen. Tatsächlich dürfte das beschriebene räumliche Vorstellungsvermögen für alle Großaffen gelten und ist keineswegs auf die Werkzeugmacher der Oldoway-Stufe beschränkt.« Über eine solche Feststellung kann ich mich nur wundern, nicht zuletzt deshalb, weil ich Zeuge war, wie Menschen versucht haben, »Steinzeit-Werkzeuge herzustellen, indem sie ohne großen Erfolg Steine gegeneinanderschlugen. So einfach geht die Sache nicht. Nicholas Toth hat Jahre damit zu62
gebracht, Techniken zur Herstellung von Steinwerkzeugen zu vervollkommnen, und kennt sich in der Mechanik des Absprengens von Abschlägen aus. Ein guter Hersteller von Abschlägen muß einen Stein von der richtigen Größe auswählen, der den passenden Winkel aufweist, gegen den er schlagen muß; und die Schlagbewegung selbst erfordert eine lange Praxis, um an der richtigen Stelle mit der notwendigen Stärke zuzuschlagen. »Anscheinend besaßen die ersten werkzeugherstellenden Urmenschen einen intuitiven Sinn für die Grundbegriffe der Steinbearbeitung«, schrieb Toth 1985 in einem Aufsatz. »Es steht außer Frage, daß die frühesten Werkzeugmacher über ein höheres geistiges Vermögen als Affen verfügten«, meinte er unlängst in einem persönlichen Gespräch. »Das Anfertigen von Werkzeugen erfordert die Koordinierung ganz bestimmter motorischer und kognitiver Fähigkeiten.« In einer zur Zeit am Language Research Center in Atlanta, Georgia, laufenden Versuchsreihe wird diese Frage untersucht. Seit über zehn Jahren arbeitet die Psychologin Sue Savage-Rumbaugh mit einer Zwergschimpansin, um deren kommunikative Fähigkeiten zu trainieren. Vor kurzem versuchte Toth dem Tier namens Kanzi beizubringen. Abschläge herzustellen. Zweifellos entwickelte die Schimpansin einige Ideen, wie sie scharfe Steinsplitter erzeugen konnte, ohne jedoch bislang auf jene systematische Technik des Absprengens verfallen zu sein, wie sie von den frühesten Werkzeugmachern verwendet wurde. Das heißt für mich, daß entgegen der Auffassung von Wynn und McGrew die frühesten Werkzeugmacher über kognitive Fähigkeiten verfügten, die höher entwickelt waren als die von Affen. Trotzdem läßt sich nicht bestreiten, daß die frühesten Werkzeuge der Oldoway-Kultur einfach und eher Zufallsprodukte waren. Vor etwa 1,4 Millionen Jahren kam in Afrika eine neue Form der Herstellung von Werkzeugen auf, eine als »Acheuléen« bezeichnete Kulturstufe, benannt nach dem Fundort. 63
Saint-Acheul in Nordfrankreich, wo diese Werkzeuge in späteren Versionen erstmals entdeckt wurden. Zum erstenmal in der menschlichen Urgeschichte gibt es Hinweise darauf, daß die Werkzeugmacher ein inneres Bild von dem hatten, was sie herstellen wollten - daß sie dem von ihnen verwendeten Rohstoff bewußt eine bestimmte Form verliehen. Das Gerät, das eine solche Vermutung nahelegt, ist der sogenannte Faustkeil, ein tropfenförmiges Werkzeug, dessen Herstellung viel Geschick und Geduld erforderte (s. Abb. 2.5). Toth und andere Forscher mußten mehrere Monate lang experimentieren, bis sie über das notwendige Geschick verfügten, Faustkeile in der Qualität herzustellen, wie sie aus jener Zeit von Archäologen geborgen wurden. Das Erscheinen von Faustkeilen im archäologischen Befund folgt auf das Erscheinen von Homo erectus, dem mutmaßlichen Nachfahren von Homo habilis und Stammvater von Homo sapiens. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, sind wir zu dem Schluß berechtigt, daß die Hersteller von Faustkeilen der Spezies Homo erectus angehörten, da sie mit einem beträchtlich größeren Gehirn als Homo habilis ausgestattet waren. Als unsere Stammväter hinter das Geheimnis gekommen waren, wie sich scharfe Abschläge systematisch herstellen ließen, bedeutete dies einen wichtigen Durchbruch in der menschlichen Vorgeschichte. Mit einemmal konnten Menschen Nahrungsquellen nutzen, die ihnen bislang nicht zugänglich waren. Wie Toth immer wieder gezeigt hat, eignen sich selbst die einfachsten Abschläge hervorragend zum Aufschneiden der meisten Tierhäute, um an das Fleisch dieser Tiere zu gelangen. Ob sie Jäger oder Aasfresser waren, die Menschen, die solche einfachen Abschläge herstellten, erschlossen dadurch für sich eine neue Energiequelle - tierisches Protein. Damit waren sie nicht nur in der Lage, ihren Jagdbereich auszudehnen, sondern erhöhten auch die Chancen ihrer Reproduktion. Der Fortpflanzungsprozeß ist ein 64
Abb. 2.5: Techniken der Werkzeugherstellung. Die beiden unteren Reihen sind kennzeichnend für die Oldoway-Kultur, deren Artefakte erstmals vor 2,5 Millionen Jahren im Fossilienarchiv erscheinen zu ihnen gehören ein Schlagstein (der weiße Knollen), einfache Haumesser und Schaber (gleiche Reihe) und kleine scharfe Abschläge (in der Reihe darüber). Die beiden obersten Reihen enthalten Artefakte der AcheuléenKultur, die erstmals vor etwa 1,4 Millionen Jahren aufkam und durch Faustkeile (die beiden tropfenförmigen Geräte), Hackmesser und Spitzhacken sowie durch kleine Werkzeuge, ähnlich denen der Oldoway-Kultur, gekennzeichnet ist. (Mit freundlicher Genehmigung von N. Toth.)
aufwendiges Unternehmen, und die Erweiterung des Speisezettels durch Fleisch machte ihn sicherer. Eine der ältesten Fragen für den Anthropologen lautete natürlich: Wer hat die Werkzeuge gemacht? Zu der Zeit in der die ersten Werkzeuge im archäologischen Archiv auftreten existierten mehrere Arten der Australopithecinen und vermutlich auch des Homo sapiens. Wie können wir feststellen, wer von ihnen die Werkzeuge hergestellt hat? Das ist äußerst 65
schwierig. Wenn wir Werkzeuge ausschließlich mit Fossilien von Homo sapiens und nie von Australopithecinen vergesellschaftet fänden, wäre dies ein möglicher Hinweis, daß Homo der einzige Werkzeugmacher war. Die archäologischen Befunde sind allerdings nicht so eindeutig. Randall Susman hat aus der Anatomie von Handknochen einer südafrikanischen Fundstätte, die er dem A. robustus zuschreibt, den Schluß gezogen, diese Art habe über ausreichende Handfertigkeiten zur Herstellung von Werkzeugen verfügt. Daraus ergibt sich jedoch nicht mit Sicherheit, ob diese Art auch tatsächlich Werkzeuge hergestellt hat oder nicht. Ich persönlich bin der Meinung, daß wir nach der einfachsten Erklärung suchen sollten. Wir wissen aus den vorgeschichtlichen Belegen, daß nach einer Zeit vor einer Million Jahren nur noch die Spezies Homo existiert hat, und wir wissen auch, daß deren Angehörige Steinwerkzeuge hergestellt haben. Solange keine guten Gründe dagegen sprechen, erscheint die Vermutung gerechtfertigt, daß auch in einer noch früheren Periode der Vorgeschichte ausschließlich Homo Werkzeuge angefertigt hat. Die Australopithecinen und Homo verfügten offenbar über unterschiedliche spezifische Adaptationen, und es ist wahrscheinlich, daß der Verzehr von Fleisch durch Homo wesentlich zu diesem Unterschied beigetragen hat. Die Herstellung von Steinwerkzeugen dürfte zu den wichtigsten Fähigkeiten von Fleischfressern gehört haben, während Pflanzenfresser auch ohne sie auskamen. Bei seiner Erforschung von Steinwerkzeugen aus archäologischen Grabungsstellen in Kenia und bei seinen eigenen Versuchen, Werkzeuge herzustellen, machte Toth eine faszinierende und aufschlußreiche Entdeckung. Die frühesten Werkzeugmacher waren überwiegend Rechtshänder wie die Menschen der Jetztzeit. Obgleich es einzelne Affen gibt, die vorzugsweise Links- oder Rechtshänder sind, gilt dies nicht für die Populationen insgesamt; die heutigen Menschen nehmen in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein. Toths Ent66
deckung ermöglicht uns einen wichtigen Einblick in den Verlauf der Evolution: Vor rund zwei Millionen Jahren wurde das Gehirn von Homo bereits zu einem echten Menschenhirn, wie wir es heute kennen.
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Ein Mensch eigener Art Erregende und phantasievolle wissenschaftliche Untersuchungen aus allerjüngster Zeit haben es uns ermöglicht, anhand von Fossilien Einblicke in die Biologie unserer ausgestorbenen Vorfahren zu gewinnen, wie sie noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. So ist es heute beispielsweise möglich, fundierte Schätzungen darüber abzugeben, in welchem Alter Individuen einer bestimmten menschlichen Art entwöhnt wurden, wann sie das sexuelle Reifealter erreichten, wie hoch ihre Lebenserwartung war und anderes. Dank solcher aufschlußreichen Informationen sind wir zu der Erkenntnis gelangt, daß Homo seit der Zeit seines ersten Auftretens ein Mensch eigener Art war. Die Entdeckung einer biologischen Unstetigkeit zwischen Australopithecus und Homo hat unser Verständnis von der Vorgeschichte des Menschen grundlegend verändert. Bis zum Erscheinen von Homo hatten alle zweibeinigen Affen ein kleines Gehirn, große Backenzähne und vorspringende Kiefer und sicherten ihren Lebensunterhalt mit einer für Affen typischen Strategie. Sie ernährten sich hauptsächlich von Pflanzen, und ihr soziales Milieu glich vermutlich dem des jetztzeitlichen, in den Steppen lebenden Pavians. Das einzig Menschenähnliche an diesen Arten - den Australo68
pithecinen - war die Art ihrer Fortbewegung, sonst nichts. Zu einer Zeit, die früher liegt als vor zweieinhalb Millionen Jahren - Genaueres wissen wir immer noch nicht -, entwickelte sich die erste menschliche Art mit einem großen Gehirn. Auch die Zähne veränderten sich - wahrscheinlich eine Anpassung infolge einer veränderten Nahrung, bei der zu der bisherigen Pflanzenkost nun auch Fleisch hinzukam. Diese beiden Aspekte des frühesten Homo - die Vergrößerung des Gehirns und die Veränderung des Gebisses - traten zutage, seit vor drei Jahrzehnten die ersten Fossilien von Homo habilis geborgen wurden. Vielleicht liegt es daran, daß wir heutigen Menschen von der Bedeutung der Gehirnleistung besonders beeindruckt sind, wenn die Anthropologen sich weitgehend auf die enorme Ausdehnung des Gehirns von etwa vierhundertfünfzig auf über sechshundert Kubikzentimeter - konzentriert haben, zu der es während der Evolution von Homo habilis gekommen ist. Sie war zweifellos ein wesentlicher Bestandteil der evolutionären Anpassung, der der menschlichen Vorgeschichte eine neue Richtung gegeben hat. Aber sie war nicht alles. Neue Erkundungsreisen in die Biologie unserer Vorfahren zeigen, daß sich auch viele andere Elemente verändert haben, die allesamt dazu beitrugen, diese noch affenartigen Geschöpfe immer menschenähnlicher zu machen. Einer der bedeutsamsten Aspekte der menschlichen Entwicklung besteht darin, daß Kleinkinder praktisch hilflos zur Welt kommen und eine ausgedehnte Kindheitsphase erleben. Außerdem machen Kinder in der Pubertät eine starke Wachstumsphase durch, in der ihre Körpergröße in beunruhigendem Tempo zunimmt. Menschen sind in dieser Hinsicht einzigartig: Bei den meisten Säugetierarten, auch den Affen, setzt der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter frühzeitig ein und vollzieht sich kontinuierlich. Ein heranwachsender Mensch, der kurz vor seinem Wachstumsschub steht, wird an Körpergröße etwa fünfundzwanzig Prozent zulegen, 69
während beispielsweise das stetige Wachstum bei Schimpansen bedeutet, daß deren Körpergröße im Vergleichszeitraum nur um vierzehn Prozent zunimmt. Der Biologe Barry Bogin von der Universität Michigan ist auf eine neuartige Deutung dieser unterschiedlichen Wachstumsprozesse verfallen. Die Körperwachstumsrate von Menschenkindern ist niedriger als die von Affen, obwohl das Gehirnwachstum bei beiden Arten ähnlich verläuft. Deshalb sind Menschenkinder kleiner, als sie es wären, wenn ihr Wachstum stetig wie bei den Affen verlaufen würde. Dies kommt nach Bogin dem Lernen zugute, das junge Menschen in hohem Maße zu leisten haben, um die Regeln ihrer Kultur zu verinnerlichen. Heranwachsende lernen besser von Erwachsenen, wenn ein deutlicher Größenunterschied zwischen ihnen besteht, da sich hierbei ein Lehrer-Schüler-Verhältnis herausbildet. Hätten Kinder und Jugendliche eine Körpergröße, wie sie sich bei einem stetigen Wachstum ergäbe, so würde sich vermutlich eher eine physische Rivalität als eine Lehrer-Schüler-Beziehung einstellen. Ist die Lernphase beendet, holt der Körper den Rückstand durch einen Wachstumsschub gewissermaßen nach. Menschen werden zu Menschen, indem sie sich in einem intensiven Lernprozeß nicht nur Überlebensfähigkeiten, sondern auch Bräuche und soziale Gewohnheiten, Verwandtschafts- und Gesellschaftsregeln, mit anderen Worten Kultur aneignen. Das soziale Milieu, in dem hilflose Kleinkinder versorgt und ältere Kinder erzogen werden, ist weit eher für Menschen charakteristisch als für Affen. Kultur ist quasi die menschliche Anpassung überhaupt, und sie wird durch das ungewöhnliche Muster von Kindheit und Reifung ermöglicht. Die Hilflosigkeit von menschlichen Säuglingen und Kleinkindern stellt jedoch weniger eine kulturelle Anpassung dar als eine biologische Notwendigkeit. Menschenbabys kommen zu früh auf die Welt, eine Folge unseres großen Gehirns und des relativ engen Beckens. Biologen sind erst vor kurzem 70
zu der Erkenntnis gelangt, daß die Gehirngröße nicht nur die Intelligenz beeinflußt. Sie korreliert mit einer ganzen Reihe sogenannter lebensgeschichtlicher Faktoren wie dem Entwöhnungsalter, dem Alter, in dem die Geschlechtsreife erreicht wird, der Dauer der Schwangerschaft und der Lebensdauer. Bei Arten mit großen Gehirnen werden diese Parameter zeitlich gestreckt: Kleinkinder werden später entwöhnt als die Jungen von Säugetieren mit kleinem Gehirn, die Geschlechtsreife tritt später ein, die Schwangerschaft dauert länger, und die Individuen haben eine höhere Lebenserwartung. Eine einfache Rechnung auf der Grundlage von Vergleichen mit anderen Primaten ergibt, daß die Dauer der Austragung beim Homo sapiens, dessen durchschnittliche Hirnkapazität 1.350 Kubikzentimeter beträgt, eigentlich einundzwanzig statt der tatsächlichen neun Monate betragen müßte. Menschliche Neugeborene müssen somit ab der Geburt das Wachstum eines ganzen Jahres nachholen, und von daher erklärt sich ihre anfängliche Hilflosigkeit. Warum ist das so? Warum hat die Natur menschliche Babys den Gefahren ausgesetzt, die mit einer derart frühen Geburt verbunden sind? Die Antwort ist das Gehirn. Das Gehirnvolumen eines neugeborenen Affen, im Durchschnitt etwa zweihundert Kubikzentimeter, ist etwa halb so groß wie das eines ausgewachsenen Tiers. Die erforderliche Verdoppelung der Größe erfolgt im Leben eines Affen frühzeitig und schnell. Demgegenüber beträgt die Gehirngröße bei menschlichen Säuglingen lediglich ein Drittel des Erwachsenengehirns, entwickelt sich anschließend jedoch ebenfalls in einem frühen und schnellen Wachstumsprozeß zu seinen endgültigen Maßen. Würde sich das Volumen des menschlichen Gehirns wie beim Affen lediglich verdoppeln, so müßte das Gehirn eines menschlichen Neugeborenen 675 Kubikzentimeter betragen. Wie jede Mutter weiß, ist bereits die Entbindung von Babys mit normalem Gehirnvolumen schwierig genug und gelegentlich sogar lebensbedrohlich. Zwar hat sich der 71
Beckenausgang im Lauf der menschlichen Evolution vergrößert, um sich dem zunehmenden Gehirnvolumen anzupassen; doch diese Ausdehnung hatte ihre Grenzen, die durch die konstruktiven Erfordernisse einer effizienten Fortbewegung auf zwei Beinen auferlegt wurden. Die Grenze war erreicht, als das Gehirnvolumen eines Neugeborenen bei seiner heutigen Größe von 385 Kubikzentimetern angelangt war. Unter einem evolutionären Blickwinkel können wir sagen, daß der Mensch in dem Augenblick grundsätzlich vom Wachstumsmuster des Affen abwich, als seine Gehirngröße im Erwachsenenalter die Marke von 770 Kubikzentimeter überschritt. Jenseits dieser Grenze mußte das Gehirn vom Zeitpunkt der Geburt an seine Größe mehr als nur verdoppeln, und damit begann das Muster der Hilflosigkeit von Kleinkindern, die »vorzeitig« auf die Welt kamen. Homo habilis befand sich mit seiner ausgewachsenen Gehirngröße von achthundert Kubikzentimetern anscheinend auf dem Scheitelpunkt zwischen dem Wachstumsmuster von Affen und dem von Menschen, während das Gehirn des frühen Homo erectus mit rund neunhundert Kubikzentimetern die Art schon wesentlich menschenähnlicher machte (s. Abb. 3.1). Bei diesem Argument wird allerdings unterstellt, daß der Geburtskanal beim Homo erectus dieselbe Größe hatte wie beim heutigen Menschen. Tatsächlich waren wir in der Lage, uns ein klareres Bild davon zu machen, wieweit Homo erectus in dieser Hinsicht menschlich geworden war, indem wir das Becken des Turkana-Jungen vermaßen, jenes Skelett eines frühen Homo erectus, das von meinen Mitarbeitern und mir Mitte der achtziger Jahre unweit des Westufers des Turkanasees geborgen wurde. Was den Menschen betrifft, so ist der Beckenausgang bei Frauen und Männern etwa gleich groß. Indem wir also den Beckenausgang des Turkana-Jungen ausmaßen, erhielten wir eine gute Schätzung für die Größe des Geburtskanals seiner 72
Mutter. Mein Freund und Kollege Alan Walker, ein Anatom an der Johns Hopkins University, rekonstruierte das Becken des Jungen aus Knochen, die bei ihrer Freilegung separat lagen (s. Abb. 3.2). Nach seinen Messungen war der Beckenausgang kleiner als beim Homo sapiens, und er berechnete, daß ein Neugeborenes von Homo erectus ein Gehirnvolumen von rund 275 Kubikzentimetern aufwies, was beträchtlich weniger ist als bei einem heutigen Neugeborenen. Die Folgerungen liegen auf der Hand. Bei der Geburt war das Gehirn von Homo erectus ein Drittel so groß wie das eines Erwachsenen, ganz wie beim heutigen Menschen, und er muß genau wie heute in hilflosem Zustand zur Welt gekommen sein. Daraus können wir schließen, daß die intensive Fürsorge der Eltern für ihre Kleinkinder, die zum heutigen sozialen Milieu des Menschen gehört, sich bereits beim frühen Homo erectus, vor rund 1,7 Millionen Jahren, zu entwickeln begonnen hat. Für Homo habilis, den unmittelbaren Vorfahren von Homo erectus, können wir keine entsprechenden Berechnungen anstellen, weil wir dafür erst noch das Becken eines Homo habilis entdecken müssen. Wenn jedoch das Gehirn der habilis-Babys bei der Geburt ebenso groß war wie das der erectus-Babys, dann kamen auch sie »zu früh« zur Welt, wenn auch nicht ganz so vorzeitig, dann waren auch sie bei der Geburt hilflos, wenn auch über eine kürzere Zeitspanne, und dann benötigten auch sei ein menschenähnliches soziales Milieu, wenn auch nicht in demselben Ausmaß. Demnach sieht es so aus, als hätte sich Homo von Anfang an in Richtung zum heutigen Menschen bewegt. Analog hatten die Australopithecinen bei der Geburt ein Gehirn von der Größe eines Affengehirns und folgten in ihrer frühen Entwicklung dem bei Affen zu beobachtenden Muster. Eine ausgedehnte Periode der Hilflosigkeit im Kleinkindalter, die intensive elterliche Fürsorge erfordert, war bereits für den frühen Homo charakteristisch, soviel können wir mit 73
Abb. 3.1: Homo erectus. (a), (b) und (c) zeigen drei Ansichten des Schädels KNMER 3733, der 1975 östlich des Turkanasees gefunden wurde. Dieses Individuum, dessen Gehirnvolumen etwa 875 Kubikzentimter betrug, lebte vor rund 1,8 Millionen Jahren. Zum Vergleich: (d) zeigt einen Homo erectus aus China (den sogenannten Pekingmenschen), der eine Million Jahre später lebte als 3733 und ein Gehirnvolumen von knapp 1000 Kubikzentimetern aufwies. (Mit freundlicher Genehmigung von W. E. Le Gros Clark/Chicago University Press und A. Walker und R. E. F. Leakey/Scientific American 1978, alle Rechte vorbehalten.)
Abb. 3.2: Der Junge vom Turkanasee. Das rekonstruierte Skelett dieses neun Jahre alten Homo erectus zeigt, wie menschenähnlich diese Art in ihrem Körperaufbau bereits war. Alan Walker, der die Ausgrabung des Skeletts leitete, steht daneben. (Mit freundlicher Genehmigung von A. Walker/Nationalmuseum Kenia.)
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Bestimmtheit sagen. Doch wie verhielt es sich mit der weiteren Kindheit? Wann wurde diese weiter verlängert, um den Erwerb praktischer und kultureller Fähigkeiten zu ermöglichen, auf den ein Wachstumsschub in der Pubertät folgte? Die Verlängerung der Kindheit beim heutigen Menschen wird durch ein gegenüber den Affen verlangsamtes Körperwachstum erreicht. Infolgedessen stellen sich beim Menschen bestimmte Wachstumsmarkierungen wie das Durchbrechen der Zähne später als beim Affen ein. So bekommen Menschenkinder ihren ersten bleibenden Mahlzahn (Molar) etwa mit sechs, Affen dagegen schon mit drei Jahren; der zweite bricht beim Menschen zwischen dem elften und zwölften, beim Affen im siebten Lebensjahr durch und der dritte schließlich im achtzehnten bis zwanzigsten beziehungsweise im neunten Lebensjahr. Zur Beantwortung der Frage, wann in der menschlichen Vorgeschichte die Kindheit verlängert wurde, brauchten wir eine Möglichkeit, anhand fossiler Kieferknochen festzustellen, in welchem Alter damals der Durchbruch der Molaren erfolgt ist. Der Turkana-Junge starb beispielsweise zu einer Zeit, als ein zweiter Molar sich nach oben arbeitete. Wenn Homo erectus dem langsameren, menschlichen Muster der Kindheitsentwicklung folgte, dann würde dies bedeuten, daß der Junge zum Zeitpunkt seines Todes etwa elf Jahre alt war. Erfolgte die Entwicklung dagegen ähnlich wie beim Affen, dann wäre er bei seinem Tod erst sieben Jahre alt gewesen. In den frühen siebziger Jahren hat Alan Mann von der Universität Pennsylvania fossile Zähne von Menschen eingehend untersucht und ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß alle Arten von Australopithecus und von Homo eine verlängerte Kindheit hatten. Seine Arbeit war äußerst einflußreich und bestätigte die herkömmliche Ansicht, daß alle Hominidenarten einschließlich der Australopithecinen dem Kindheitsmuster des heutigen Menschen folgten. Ich selbst habe aus dem Erscheinen des zweiten Molars im Kiefer des Turkana-Jungen 76
geschlossen, daß er etwa mit elf Jahren gestorben sein muß, denn so alt wäre er gewesen, wenn seine Kindheit wie die des Homo sapiens verlaufen wäre. Desgleichen wurde angenommen, daß das Taung-Kind, das der Spezies Australopithecus africanus angehörte, wahrscheinlich mit sieben Jahren gestorben war, da sich bei ihm gerade der erste Molar zeigte. Gegen Ende der achtziger Jahre wurde diese Auffassung durch die Arbeit mehrerer Wissenschaftler in Zweifel gezogen. Holly Smith, eine Anthropologin an der Universität Michigan, entwickelte eine Methode, lebensgeschichtliche Muster aus menschlichen Fossilien abzuleiten, indem sie die Gehirngröße und das Alter beim Durchbruch des ersten Molars miteinander in Beziehung setzte. Als Ausgangsmaterial sammelte Smith Daten von Menschen und Affen; anschließend untersuchte sie eine Vielfalt menschlicher Fossilien, um Vergleiche anzustellen. Dabei zeichneten sich drei lebensgeschichtliche Muster ab: eines für den heutigen Menschen, bei dem der Durchbruch des ersten Molars mit sechs Jahren erfolgt und die Lebensspanne Sechsundsechzig Jahre beträgt, eines für Affen, bei dem der erste Molar mit drei Jahren durchbricht und die Lebensspanne rund vierzig Jahre umfaßt, und ein Muster, das irgendwo zwischen diesen beiden liegt. Der spätere Homo erectus - dessen Individuen nach einer Zeit vor achthunderttausend Jahren lebten - entspricht dem menschlichen Muster, ebenso der Neandertaler. Alle Australopithecinen entsprechen dagegen dem Affenmuster. Der frühe Homo erectus liegt ebenso wie der Turkana-Junge dazwischen: Der erste Molar des Jungen brach demnach durch, als dieser etwa viereinhalb Jahre alt war; wäre er nicht so früh gestorben, so hätte er ein Alter von etwa zweiundfünfzig Jahren erreichen können. Die Untersuchungen von Smith zeigten, daß das Wachstumsverhalten der Australopithecinen nicht dem der heutigen Menschen entsprach, sondern vielmehr dem von Affen. Sie 77
zeigten außerdem, daß der frühe Homo erectus im Hinblick auf sein Körperwachstum ein Zwischenglied zwischen dem heutigen Menschen und dem Affen war: Nach dem neuesten Stand der Forschung sind wir der Ansicht, daß der TurkanaJunge bei seinem Tod etwa neun Jahre alt war und nicht elf, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Da diese Schlußfolgerungen den jahrzehntelangen Annahmen der Anthropologen widersprachen, waren sie äußerst umstritten. Es bestand natürlich die Möglichkeit, daß Smith irgendwelche Fehler unterlaufen waren. Unter solchen Umständen sind weitere Forschungsergebnisse, die in dieselbe Richtung weisen, immer willkommen; und in diesem Fall ließen sie nicht lange auf sich warten. Die Anatomen Christopher Dean und Tim Bromage, damals beide am University College in London, entwickelten eine Methode, das Alter von Zähnen direkt zu bestimmen. So wie die Jahresringe von Bäumen zur Bestimmung ihres Alters benutzt werden, so verraten mikroskopisch feine Linien auf einem Zahn dessen Alter. Die Berechnungsmethode ist nicht so einfach, wie es klingt - nicht zuletzt, weil noch nicht ganz klar ist, auf welche Weise diese Linien zustande kommen. Dessen ungeachtet wandten Dean und Bromage ihr Verfahren auf den Kiefer eines Australopithecinen an, dessen Zähne genausoweit entwickelt waren wie die des Taung-Kindes. Dabei stellten sie fest, daß das Individuum im Alter von etwas mehr als drei Jahren gestorben war, gerade als sein erster Molar durchbrach, was für ein Wachstumsmuster wie bei Affen sprach. Als Dean und Bromage eine Reihe weiterer fossilierter menschlicher Zähne untersuchten, fanden sie ebenso wie Smith drei verschiedene Muster: für den heutigen Menschen, den Affen und für ein Zwischenglied. Auch hier entsprachen die Australopithecinen eindeutig dem Muster der Affen, der späte Homo erectus und der Neandertaler dagegen dem des heutigen Menschen, während der frühe Homo erectus eine Zwischenstellung einnahm. Und wieder lösten die Befunde 78
eine Debatte aus, vor allem darüber, ob das Wachstum der Australopithecinen dem von Menschen oder von Affen entsprach. Diese Debatte wurde effektiv beendet, als der Anthropologe Glenn Conroy und der Kliniker Michael Vannier von der Washington University von St. Louis die technischen Errungenschaften der medizinischen Welt auf die Anthropologie übertrugen. Mit Hilfe der Computertomographie blickten sie in das Innere des versteinerten Kiefers des Taung-Kindes und konnten die Schlußfolgerung von Dean und Bromage im wesentlichen bestätigen. Das Taung-Kind war gestorben, als es knapp drei Jahre alt war, und sein Wachstumsmuster entsprach dem eines Affen. Die Möglichkeit, durch die Erforschung lebensgeschichtlicher Faktoren und der Zahnentwicklung biologische Schlüsse aus Fossilien zu ziehen, ist für die Anthropologie von großer Bedeutung, da sie uns, bildlich gesprochen, erlaubt, Fleisch an die Knochen zu bringen. Wir können zum Beispiel sagen, daß der Turkana-Junge wahrscheinlich kurz vor seinem vierten Geburtstag entwöhnt wurde und im Fall seines Überlebens mit etwa vierzehn Jahren die Geschlechtsreife erreicht hätte. Seine Mutter bekam ihr erstes Baby wahrscheinlich mit dreizehn Jahren nach einer neunmonatigen Schwangerschaft; danach konnte sie alle drei bis vier Jahre erneut schwanger werden. Diese Muster verraten uns, daß die menschlichen Vorfahren sich zur Zeit des frühen Homo erectus bereits in Richtung auf die Biologie des heutigen Menschen bewegten und sich von der des Affen entfernten, während die Australopithecinen das bisherige Muster der Affen beibehielten. Der evolutionäre Übergang des frühen Homo zu einem Wachstums- und Entwicklungsmuster, wie es für den heutigen Menschen charakteristisch ist, erfolgte in einem sozialen Kontext. Alle Primaten sind soziale Lebewesen, doch die modernen Menschen haben das gesellige Zusammenleben besonders weit entwickelt. Der biologische Wandel, auf den wir 79
aus den fossilen Zähnen des frühen Homo geschlossen hatten, verrät uns, daß sich die soziale Interaktion bei dieser Spezies bereits zu verstärken begonnen hatte und eine Umwelt erzeugte, die Kultur begünstigte. Gleichzeitig kam es anscheinend zu einer tiefgreifenden Veränderung der gesamten Gesellschaftsorganisation. Woher können wir das wissen? Diese Schlußfolgerung ergibt sich aus einem Vergleich der Körpergröße von Männchen und Weibchen und aus dem, was wir über solche Unterschiede bei heutigen Primatenarten wie Pavianen und Schimpansen wissen. Wie bereits erwähnt, sind die Männchen der in Steppen lebenden Paviane doppelt so groß wie die Weibchen. Primatenforscher wissen heute, daß dieser Größenunterschied dort auftritt, wo zwischen den Männchen eine starke Rivalität um Paarungsmöglichkeiten besteht. Wie bei den meisten Primatenarten verlassen die Pavianmännchen bei Erreichen der Geschlechtsreife die Horde, in die sie hineingeboren wurden. Sie schließen sich einer anderen, häufig in der Nachbarschaft lebenden Horde an und befinden sich von da an in Konkurrenz zu den bereits in der Gruppe anerkannten Männchen. Aufgrund dieses Abwanderungsverhaltens sind die Männchen der meisten Horden in der Regel nicht miteinander verwandt. Deshalb haben sie keinen Darwinschen (das heißt genetischen) Grund, miteinander zu kooperieren. Dagegen sind es aus noch nicht restlos geklärten Gründen bei den Schimpansen die Männchen, die in der Horde bleiben, und die Weibchen wandern ab. Infolgedessen haben die Männchen in einer Schimpansenhorde einen Darwinschen Grund, bei der Beschaffung von Weibchen miteinander zu kooperieren, da sie als Brüder die Hälfte ihrer Gene gemeinsam haben. Sie tun sich zusammen in der Verteidigung gegen andere Schimpansenhorden sowie bei gelegentlichen Jagdzügen, bei denen sie zumeist versuchen, einen hilflosen Affen auf einem Baum in die Enge zu treiben. Diese relativ geringe Rivalität und verstärkte Kooperation drückt sich im 80
Größenunterschied zwischen den Geschlechtern aus: Die Männchen sind hier lediglich fünfzehn bis zwanzig Prozent größer als die Weibchen. Im Hinblick auf die Körpergröße folgen die männlichen Australopithecinen dem Muster der Paviane. Wir dürfen deshalb annehmen, daß das soziale Zusammenleben bei den Australopithecinen Ähnlichkeit mit dem sozialen Milieu der heutigen Paviane hatte. Als wir in der Lage waren, einen Vergleich in der Körpergröße zwischen Männchen und Weibchen des frühen Homo anzustellen, zeigte sich sehr schnell, daß sich eine bedeutsame Veränderung vollzogen hatte: Die Männchen waren nur noch rund zwanzig Prozent größer als die Weibchen, genau wie bei den heutigen Schimpansen. Wie die beiden Anthropologen Robert Foley und Phyllis Lee von der Universität Cambridge ausgeführt haben, kommt in dieser Änderung der Größenunterschiede zur Zeit der Entstehung von Homo mit Sicherheit auch eine veränderte soziale Organisation zum Ausdruck. Höchstwahrscheinlich blieben die Männchen des frühen Homo mit ihren Brüdern und Halbbrüdern in ihren Geburtsgruppen, während die Weibchen in andere Gruppen abwanderten. Wie bereits gesagt, verstärkt Verwandtschaft eine Kooperation zwischen den Männchen. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, was diese Veränderung der sozialen Organisation ausgelöst hat: Eine verstärkte Kooperation unter den Männchen muß aus irgendeinem Grund besonders vorteilhaft gewesen sein. Einige Anthropologen haben behauptet, die Verteidigung gegen Nachbarhorden von Homo habe dabei eine besondere Rolle gespielt. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist jedoch ein Wandel im Hinblick auf ökonomische Erfordernisse. Manche Befunde sprechen für eine Änderung der Nahrung von Homo, wobei Fleisch als Energie- und Proteinlieferant eine wichtige Rolle spielte. Das veränderte Gebiß beim frühen Homo deutet auf Fleischfresser, ebenso die Entwicklung einer Technik zur Herstellung von Steinwerkzeugen. Außerdem hat 81
die Vergrößerung des Gehirns, die ebenfalls zur Evolution von Homo gehört, möglicherweise sogar erfordert, daß die Art eine wesentlich energiereichere Nahrung aufnahm. Wie jeder Biologe weiß, haben Gehirne für ihren Stoffwechsel einen ziemlich hohen Energiebedarf. So trägt beispielsweise beim heutigen Menschen das Gehirn lediglich zwei Prozent zum gesamten Körpergewicht bei, verbraucht jedoch zwanzig Prozent des gesamten Energiehaushalts. Die Primaten haben von allen Säugetieren das größte Gehirn und werden vom Menschen nochmals weit übertroffen: Das menschliche Gehirn ist dreimal so groß wie das eines Affen von vergleichbarer Körpergröße. Der Anthropologe Robert Martin vom Institut für Anthropologie in Zürich hat behauptet, daß diese Zunahme der Gehirngröße nur durch eine erhöhte Energiezufuhr möglich war: Die Nahrung des frühen Homo mußte nach seiner Meinung nicht nur ständig verfügbar, sondern auch besonders nährstoffreich sein. Fleisch stellt eine konzentrierte Quelle von Kalorien, Eiweiß und Fett dar. Nur indem er einen beträchtlichen Anteil Fleisch in seine Diät aufnahm, konnte es sich der frühe Homo »leisten«, ein Gehirn zu entwickeln, das größer war als das der Australopithecinen. Aus allen diesen Gründen nehme ich an, daß die entscheidende Anpassung innerhalb des evolutionären Pakets des Frühmenschen ein nennenswerter Verzehr von Fleisch war. Die Frage, ob der Frühmensch lebende Beutetiere gejagt hat oder lediglich bereits verendete Tiere aß oder beides, ist in der Anthropologie höchst umstritten, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden. Ich habe jedoch keinen Zweifel, daß Fleisch im täglichen Leben unserer Vorfahren eine große Rolle gespielt hat. Außerdem erforderte die neue Überlebensstrategie, neben der pflanzlichen auch tierische Nahrung zu beschaffen, ein hohes Maß an sozialer Organisation und Kooperation. Biologen wissen, daß fundamentale Veränderungen in der Ernährungsweise einer Art in der Regel weitere Änderungen 82
zur Folge haben. Zumeist betreffen sie die Anatomie der Spezies, da diese sich der neuen Nahrung anpaßt. Wir haben gesehen, daß Kiefer und Gebiß des frühen Homo sich von dem der Australopithecinen unterscheiden, vermutlich bedingt durch eine Anpassung an den partiellen Wechsel von pflanzlicher zu tierischer Nahrung. Erst vor kurzem sind die Anthropologen zu der Überzeugung gelangt, daß der frühe Homo sich aber auch darin von den Australopithecinen unterschied, daß er körperlich wesentlich aktiver war. Zwei voneinander unabhängige Forschungsrichtungen kamen zu der gemeinsamen Schlußfolgerung, daß der frühe Homo als erster Vertreter seiner Art ein guter Läufer war. Vor einigen Jahren hatte der Anthropologe Peter Schmid, ein Kollege von Robert Martin in Zürich, die Gelegenheit, das berühmte Skelett von Lucy zu untersuchen. Unter Verwendung von Glasfaserabdrücken der fossilen Knochen begann Schmid, das Skelett zusammenzusetzen, erfüllt von der Erwartung, daß es im großen und ganzen eine menschliche Form haben würde. Was er tatsächlich zu sehen bekam, überraschte ihn: Lucys Brustkorb wies eine konische, affenähnliche statt eine faßförmige, menschliche Form auf. Auch die Schultern und die Hüften waren stark affenähnlich. Auf einer großen internationalen Konferenz in Paris 1989 beschrieb Schmid die weitreichenden Folgerungen aus seiner Entdeckung. Wie er dort ausführte, »wäre Australopithecus afarensis nicht in der Lage gewesen, seinen Brustkorb für jene Art der Tiefatmung zu heben, die bei uns einsetzt, wenn wir in einen Laufschritt verfallen. Sein Unterleib war schmerbäuchig, und er hatte keine Taille, was beides die Flexibilität beeinträchtigte, die beim Laufen für den Menschen wichtig ist.« Homo war ein Läufer, Australopithecus dagegen nicht. Weitere Anhaltspunkte zum Thema der körperlichen Wendigkeit lieferten die Untersuchungen von Leslie Aiello über Körpergewicht und -Statur. Sie stellte Messungen dieser Merk83
male bei heutigen Menschen und Affen an und verglich sie mit ähnlichen Daten, die anhand menschlicher Fossilien erhoben worden waren. Heutige Affen weisen für ihre Statur einen relativ schweren Körperbau auf und sind etwa doppelt so schwer wie Menschen derselben Körpergröße. Auch die fossilen Daten ergaben ein deutliches Muster - das mittlerweile etwas vertrauter wurde. Die Australopithecinen waren in ihrem Körperbau affenartig, alle Arten des Homo dagegen menschenartig. Sowohl die Befunde von Aiello als auch die Untersuchungsergebnisse Schmids stehen in Einklang mit Fred Spoors Entdeckung des Unterschieds im anatomischen Aufbau des inneren Ohrs zwischen den Australopithecinen und Homo: Der Wechsel zur Zweibeinigkeit geht einher mit einer neuen Statur. Ich habe im vorangegangenen Kapitel angedeutet, daß sich im Verlauf der Evolution der Gattung Homo noch andere bedeutsame Änderungen außer der Vergrößerung des Gehirns vollzogen haben. Wir können jetzt erkennen, was es war: Die Australopithecinen waren Zweibeiner, jedoch in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt, während die Arten der Gattung Homo Athleten waren. Ich habe früher den Standpunkt vertreten, daß sich die Bipedie ursprünglich als eine effizientere Fortbewegungsweise in einer veränderten physikalischen Umwelt entwickelte und einem zweibeinigen Affen das Überleben in einem Habitat ermöglichte, das für herkömmliche Affen ungeeignet war. Zweibeinige Affen konnten auf der Suche nach verstreuten Nahrungsquellen in offenem Waldland ein größeres Terrain durchstreifen. Mit der Evolution von Homo kam eine neue Form der Fortbewegung auf, die ebenfalls auf der Zweibeinigkeit beruhte, aber mit einem höheren Maß an Beweglichkeit und Aktivität verbunden war. Die geschmeidige Statur heutiger Menschen erlaubt eine anhaltende Fortbewegung auf zwei Beinen und begünstigt eine wirksame Wärmeabfuhr, ein wichtiger Umstand für ein Tier, das sich wie der Früh84
mensch in freien, warmen Naturzonen bewegt. Der effizient ausschreitende Zweibeiner stellte eine entscheidende Änderung in der Anpassung der Hominiden dar. Und diese Änderung war zweifellos mit einem gewissen Maß an aktiver Jagd verbunden, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden. Die Fähigkeit eines aktiven Tiers, Wärme abzugeben, ist besonders wichtig für die Physiologie des Gehirns, ein Punkt, auf den die Anthropologin Dean Falk von der University of New York in Albany hingewiesen hat. Im Rahmen ihrer in den achtziger Jahren angestellten Untersuchungen zeigte sie, daß die Struktur der Gefäße, in denen das Blut aus dem Gehirn von Homo abfließt, eine deutliche Abkühlung bewirkt, während dies bei den Australopithecinen weit weniger der Fall war. Falks sogenannte Kühler-Hypothese ist ein weiteres Argument für das weitreichende Ausmaß der Anpassung von Homo. Daß die Anpassung von Homo erfolgreich war, muß kaum betont werden: Unsere heutige Existenz ist Beweis genug. Aber warum leisten uns keine anderen zweibeinigen Affen Gesellschaft? Vor zwei Millionen Jahren existierte Homo gemeinsam mit mehreren Arten von Australopithecus in Ost- und Südostafrika. Doch eine Million Jahre später befand sich Homo allein auf weiter Flur, da die verschiedenen Australopithecinen allesamt ausgestorben waren. (Wir neigen dazu, das Aussterben als ein Zeichen des Versagens zu verstehen - als etwas, das einer Art zustößt, die irgendwie den von der Natur gestellten Herausforderungen nicht gerecht wird. Tatsächlich aber ist das Aussterben anscheinend das Schicksal, das am Ende alle Arten ereilt: Über 99,9 Prozent aller Arten, die je existierten, sind heute ausgestorben - vermutlich ebenso das Ergebnis ungünstiger Umstände wie ungünstiger Gene.) Was wissen wir über das Schicksal der Australopithecinen? Ich werde immer wieder gefragt, ob ich der Meinung sei, 85
daß Homo, nachdem er zum Fleischfresser wurde, möglicherweise auch seine Verwandten, die Australopithecinen, gefressen und damit ihr Aussterben bewirkt haben könnte. Ich habe keinen Zweifel, daß Homo von Zeit zu Zeit auch verwundbare Australopithecinen getötet hat, so wie er es auch mit Antilopen und anderen Beutetieren getan hat, wenn er die Möglichkeit dazu hatte. Doch der Grund für das Aussterben der Australopithecinen dürfte wesentlich banaler gewesen sein. Wir wissen, daß Homo erectus eine extrem erfolgreiche Art war, da er der erste Mensch war, der seinen Aktionsradius über Afrika hinaus ausgedehnt hat. Deshalb ist es wahrscheinlich, daß der frühe Homo rasch an Zahl zunahm und damit zu einem bedrohlichen Konkurrenten um eine Ressource wurde, die für das Überleben der Australopithecinen wesentlich war: die Nahrung. Außerdem wurden vor zwei bis einer Million Jahren am Boden lebende Affen - Paviane ebenfalls sehr erfolgreich, dehnten ihre Population aus und stellten eine weitere Konkurrenz für die Australopithecinen dar. Diese fielen möglicherweise dieser zweifachen Konkurrenz durch Homo und die Paviane zum Opfer.
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Der Mensch, der edle Jäger? Zumindest einige Befunde stützten die Ansicht, daß der Körperbau des frühen Homo für eine aktive Suche nach Fleisch spricht - das heißt, als Jäger von Wild. Es ist durchaus sinnvoll, sich einige Gedanken zu machen über die Tatsache, daß das Jagen und Sammeln während der weitaus größten Zeit der menschlichen Vorgeschichte das hauptsächliche Mittel zur Existenzsicherung gewesen ist; erst mit dem Ackerbau, der vor kaum mehr als zehntausend Jahren aufkam, wandten sich unsere Vorfahren allmählich von ihrem einfachen Dasein als Wildbeuter ab. Für den Anthropologen stellt sich seit längerem die wichtige Frage, wann diese speziell menschliche Form der Existenzsicherung entstanden ist. Gab es sie bereits mit der Entstehung der Gattung Homo, wie ich vorgeschlagen habe? Oder war sie eine relativ junge Anpassung, die erst mit der Evolution der modernen Menschen vor etwa hunderttausend Jahren erfolgt ist? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns eingehend mit Hinweisen in der fossilen und archäologischen Überlieferung beschäftigen und nach Anzeichen für eine Sicherung des Lebensunterhalts durch Jagen und Sammeln suchen. Wir werden in diesem Kapitel sehen, daß sich in den letzten Jahren ein Wandel in der Theoriebildung vollzogen hat, der eine Änderung in unserer 87
Sicht von uns selbst und unseren Vorfahren widerspiegelt. Bevor wir darauf eingehen, mit welchen Methoden die vorgeschichtlichen Funde untersucht wurden, ist es vielleicht hilfreich, ein Bild von der wildbeutenden Lebensweise zu vermitteln, wie wir sie von den heutigen Jägern und Sammlern kennen. Die Jagd nach eßbarem Wild und das Sammeln pflanzlicher Nahrung bilden zusammen eine systematische Strategie zur Sicherung des Lebensunterhalts nur beim Menschen. Sie ist außerdem erstaunlich erfolgreich, da sie es der Menschheit ermöglicht hat, in praktisch jeder Region des Erdballs, mit Ausnahme der Antarktis, zu überleben. Der Mensch hat die unterschiedlichsten Welten in Besitz genommen, von den nebligen Regenwäldern bis zu Wüstengebieten, von dichtbewachsenen Küstenstreifen bis zu praktisch unfruchtbaren Hochebenen. Die von ihm aufgenommene Nahrung war je nach den äußeren Bedingungen höchst unterschiedlich. Die Eingeborenen des amerikanischen Nordwestens fingen beispielsweise Lachse im Überfluß, während die !Kung-San (Buschmänner) der Kalahari ihre Proteine zum größten Teil aus Mongongonüssen bezogen. Doch trotz der Unterschiede im Hinblick auf Ernährung und äußere Umweltbedingungen gab es in der Lebensweise der Jäger und Sammler viele Gemeinsamkeiten. Die Menschen lebten in kleinen, beweglichen Horden von etwa fünfundzwanzig Individuen - eine Kerngruppe von erwachsenen Männern und Frauen und ihren Nachkommen. Diese Horden pflegten untereinander Austausch und bildeten ein soziales und »politisches« Netz, das durch Bräuche und Sprache zusammengehalten wurde. Ein solches Netz aus Horden, das in der Regel an die fünfhundert Individuen umfaßte, wird als ein Dialektstamm (»dialectical tribe« = wörtlich dialektischer Stamm) bezeichnet. Die Horden hielten sich in provisorischen Lagern auf, von denen aus sie auf ihre tägliche Nahrungssuche gingen. 88
In der Mehrzahl der heute noch existierenden Jäger- und Sammlergesellschaften, die von Anthropologen untersucht wurden, herrscht eine klare Arbeitsteilung, wobei die Männer für die Jagd und die Frauen für das Sammeln pflanzlicher Nahrung verantwortlich sind. Das Lager ist ein Ort intensiver sozialer Kontakte und außerdem ein Zentrum der Verteilung von Nahrung; waren die Jäger erfolgreich, so wird das Fleisch häufig im Rahmen eines komplizierten Rituals verteilt, das strengen sozialen Regeln unterliegt. Angehörigen des westlichen Kulturkreises erscheint die mühselige Sicherung des Daseins aus den Ressourcen der natürlichen Umwelt mit Hilfe primitiver Techniken als eine entmutigende Herausforderung. Tatsächlich ist es jedoch eine äußerst effiziente Weise der Selbstversorgung, da Wildbeuter häufig nur drei bis vier Stunden benötigen, um die Nahrung für einen ganzen Tag zu beschaffen. Ein größeres Forschungsprojekt, das in den sechziger und siebziger Jahren von Anthropologen der Harvard University durchgeführt wurde, zeigte dies am Beispiel der !Kung-San, deren Heimat in der Kalahariwüste Botswanas extrem kärgliche Lebensbedingungen aufweist. Jäger und Sammler sind an ihre physikalische Umwelt in einer Weise angepaßt, die für den urbanisierten Westeuropäer schwer zu begreifen ist. Diese Menschen sind in der Lage, Ressourcen zu nutzen, die in unseren Augen mehr als spärlich sind. Die Stärke ihrer Lebensweise beruht auf dieser optimalen Nutzung pflanzlicher und tierischer Ressourcen innerhalb eines sozialen Systems, das eine gegenseitige Abhängigkeit und Kooperation fördert. Die Vorstellung, daß die Jagd für die menschliche Evolution von wesentlicher Bedeutung war, hat innerhalb der Anthropologie eine lange Tradition und geht auf Darwin zurück. In seinem 1871 veröffentlichten Buch Die Abstammung des Menschen behauptete er, Steinwaffen seien nicht nur zur Verteidigung gegen Raubtiere, sondern auch zum Erlegen von Beute gebraucht worden. Die Aufnahme der Jagd mit künst89
lichen Waffen sei ein Bestandteil dessen gewesen, was den Menschen zum Menschen gemacht habe. Darwins Bild von unseren Urahnen war sicherlich beeinflußt durch seine Erfahrungen während einer fünfjährigen Reise auf der »Beagle«. Mit folgenden Worten hat er seine Begegnung mit den Bewohnern von Feuerland an der Südspitze Südamerikas geschildert: »Es kann kaum ein Zweifel bestehen, daß wir von Barbaren abstammen. Das Erstaunen, welches ich empfand, als ich zum erstenmal eine Gesellschaft von Feuerländern an einer wilden und zerklüfteten Küste begegnete, werde ich niemals vergessen, denn mir kam sogleich der Gedanke: So waren unsere Vorfahren. Diese Männer waren völlig nackt und mit Farbe beschmiert, ihr langes Haar war verfilzt, ihre Münder vor Erregung mit Schaum bedeckt, und ihr Ausdruck war wild, bestürzt und mißtrauisch. Sie verstanden sich kaum auf irgendwelche Künste und lebten wie die wilden Tiere von dem, was sie fangen konnten.« Die Überzeugung, daß das Erlegen von Wild für unsere Evolution wesentlich war, und die Übereinstimmung der Lebensweise unserer Vorfahren mit der von heutigen, in technischer Hinsicht primitiv lebenden Menschen haben sich dem anthropologischen Denken tief eingeprägt. In einem nachdenklichen Essay zu diesem Thema haben der Biologe Timothy Perper und der Anthropologe Carmel Schrire, beide an der Rutgers University, diese Vorstellung auf eine knappe Formel gebracht: »Das Modell [vom Menschen als Jäger] nimmt an, die Jagd auf Tiere und der Verzehr ihres Fleischs hätten die menschliche Evolution ausgelöst und den Menschen zu dem Geschöpf gemacht, das er heute ist.« Nach diesem Modell, so Perper und Schrire, wirkte sich das Jagen in dreierlei Weise auf unsere Vorfahren aus, »indem es das psychische, soziale und territoriale Verhalten des Frühmenschen beeinflußte«. In einem klassischen Aufsatz zu diesem Thema aus dem Jahr 1963 hat der südafrikanische Anthropologe John 90
Robinson die enorme Bedeutung zum Ausdruck gebracht, welche die Wissenschaft dem Jagen in der Vorgeschichte des Menschen beigemessen hat: »Die Bereicherung der vom Menschen aufgenommenen Nahrung durch Fleisch dürfte eine evolutionäre Veränderung von weitreichender Bedeutung gewesen sein, die ein riesiges neues evolutionäres Feld erschlossen hat. Dieser Wandel ist meiner Meinung nach in seiner Bedeutung mit der Entstehung der Säugetiere gleichzusetzen - vielleicht passender noch mit der der Tetrapoden. Mit der relativ großen Erweiterung von Intelligenz und Kultur führte er in das evolutionäre Bild eine neue Dimension und einen neuen evolutionären Mechanismus ein, die bei anderen Tieren bestenfalls vage angedeutet sind.« Unser mutmaßliches Erbe als Jäger nahm sogar mythische Züge an, vergleichbar der Erbsünde von Adam und Eva, die aus dem Paradies vertrieben wurden, nachdem sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten. »Nach diesem Modell aß der Mensch Fleisch, um unter den harten Bedingungen der Steppe zu überleben, und wurde aufgrund dieser Strategie zu dem Lebewesen, dessen spätere Geschichte durchtränkt ist von Gewalt, Eroberung und Blutvergießen«, wie Perper und Schrire bemerken. Es war das Thema, das Raymond Dart in einigen seiner Veröffentlichungen aus den fünfziger Jahren und nach ihm Robert Ardrey auf einer populärwissenschaftlichen Ebene aufgriff. »Nicht in Unschuld und nicht in Asien wurde die Menschheit geboren«, lautet der berühmte Einleitungssatz zu Ardreys 1971 erschienenem Buch African Genesis. Das Bild erwies sich als äußerst einprägsam in der Öffentlichkeit wie in der Fachwelt. Und wie wir noch sehen werden, hat sich das Bild auch in der Art und Weise niedergeschlagen, wie die archäologische Überlieferung in dieser Hinsicht gedeutet wurde. Eine Konferenz zum Thema »Der Mensch als Jäger«, die 1966 an der Universität Chicago stattfand, war ein Meilenstein 91
in der Entwicklung des anthropologischen Denkens über die Bedeutung der Jagd für den Verlauf unserer Evolution. Die Konferenz war aus mehreren Gründen wichtig, nicht zuletzt wegen ihrer Erkenntnis, daß pflanzliche Nahrung für die meisten Wildbeutergesellschaften die hauptsächliche Kalorienquelle war. Und genau wie Darwin es fast ein Jahrhundert früher schon getan hatte, setzten die Teilnehmer an der Konferenz das, was wir über die Lebensweise heutiger Jäger und Sammler wissen, mit den Verhaltensmustern unserer frühesten Vorfahren gleich. Infolgedessen hatten Belege in der fossilen Überlieferung für den Verzehr von Fleisch in prähistorischer Zeit - Ansammlungen von Steinwerkzeugen und Tierknochen - eine klare Bedeutung, wie mein Freund und Kollege, der Archäologe Glynn Isaac von der Harvard University feststellte: »Nachdem wir gleichsam eine anscheinend ununterbrochene Spur von Steinwerkzeugen und Knochen bis ins Pleistozän zurückverfolgt hatten, schien es naheliegend, diese Ansammlungen von Artefakten und faunischen Überresten als fossile Fundstätten von festen Wohnplätzen aufzufassen.« Mit anderen Worten, wir nahmen an, daß unsere Vorfahren genauso gelebt haben wie heutige Jäger und Sammler, nur in einer primitiveren Form. Isaac veröffentlichte 1978 in der Zeitschrift Scientific American einen größeren Aufsatz, in dem er seine Hypothese vom Teilen der Nahrung vortrug und damit der Anthropologie neue Denkanstöße gab. Dort vertrat er die Ansicht, daß nicht so sehr das Jagen an sich das menschliche Verhalten geformt habe als vielmehr das gemeinsame Beschaffen und Verteilen von Nahrung. »Das gemeinsame Verteilen der Nahrung wäre der Entwicklung der Sprache, einer sozialen Gegenseitigkeit und des Intellekts zugute gekommen«, erklärte er 1982 auf einer Veranstaltung zum Gedenken an den hundertsten Todestag Darwins. Fünf Verhaltensmuster unterscheiden den Menschen von seinen äffischen Verwandten, schrieb er in seinem Aufsatz aus 92
dem Jahr 1978: 1. Die Fortbewegung auf zwei Beinen, 2. eine gesprochene Sprache, 3. eine regelmäßige, systematische Verteilung der Nahrung in einem sozialen Kontext, 4. das Leben auf Lagerplätzen und 5. die Jagd auf große Beutetiere. Das ist natürlich eine Beschreibung moderner menschlicher Verhaltensweisen. Doch wie Isaac schrieb, »hatten [vor zwei Millionen Jahren] mehrere fundamentale Änderungen in den sozialen und ökologischen Bedingungen der Hominiden eingesetzt«. Sie waren bereits Jäger und Sammler in Ansätzen, lebten in kleinen, beweglichen Gruppen zusammen und richteten sich behelfsmäßige Lager ein, von denen aus die Männer zur Jagd gingen und die Frauen pflanzliche Nahrung sammelten. Das Lager stellte den sozialen Mittelpunkt dar, wo die Nahrung verteilt wurde. »Fleisch war zwar ein wichtiger Bestandteil der Nahrung, aber es konnte ebensogut selbst erlegtes Frischfleisch wie aufgefundenes Aas sein«, äußerte Isaac mir gegenüber 1984, ein Jahr vor seinem tragisch frühen Tod. »Wir können beim besten Willen nicht entscheiden, ob das eine oder das andere, jedenfalls nicht anhand der bisherigen Belege von den meisten archäologischen Fundstätten.« Die Ansicht Isaacs machte sich in der Interpretation der archäologischen Funde nachhaltig bemerkbar. Überall dort, wo Steinwerkzeuge mit den fossilierten Knochen von Tieren vergesellschaftet aufgefunden wurden, galt dies als Zeichen für einen vorgeschichtlichen »Lagerplatz«, der spärliche Abfall eines vielleicht mehrere Tage währenden Unternehmens einer Gruppe von Wildbeutern. Isaacs Argument klang einleuchtend, und in meinem 1981 erschienenen Buch Die Suche nach dem Menschen hatte ich geschrieben, »die Theorie des Nahrungsteilens [hat] die besten Chancen, uns eine Erklärung zu liefern, was die frühen Hominiden auf den Weg zum modernen Menschen brachte«. Die Hypothese stand anscheinend im Einklang mit meiner Deutung fossiler und archäologischer Befunde, und sie stützte sich auf gesicherte biologische Erkenntnisse. Richard Potts von der Smithsonian 93
Institution war ebenfalls dieser Meinung. In seinem Buch Early Hominid Activities at Olduvai (1988) bemerkte er über Isaacs Hypothese, sie »scheint eine äußerst attraktive Interpretation zu sein«, und fuhr fort: »Die Hypothese eines Sammelplatzes, wo die Nahrungsmittel verteilt werden, verknüpft viele Aspekte des menschlichen Verhaltens und des sozialen Lebens, die für die Anthropologen von Bedeutung sind - Systeme der Gegenseitigkeit, Tausch, Verwandtschaft, Sicherung des Lebensunterhalts, Arbeitsteilung und Sprache. Aus den aufgefundenen Steinwerkzeugen und fossilen Knochen, die auf eine Lebensweise von Jägern und Sammlern schließen lassen, haben die Archäologen alles übrige abgeleitet. Es war ein weitgehend lückenloses Bild.« In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren setzte jedoch eine Neubesinnung ein, ausgelöst durch Isaac und den Archäologen Lewis Binford, damals an der Universität von New Mexico. Beide erkannten, daß ein Großteil der gängigen Interpretation der vorgeschichtlichen Funde auf stillschweigenden Annahmen beruhte. Unabhängig voneinander begannen sie das, was sich aus der fossilen Überlieferung eindeutig ergab, von den rein hypothetischen Annahmen zu trennen. Sie fingen auf der untersten Ebene an und fragten sich, was es eigentlich besage, wenn man Steine und fossile Tierknochen an derselben Stelle auffindet. Bedeutete diese räumliche Koinzidenz tatsächlich, daß hier früher einmal Tiere zerwirkt wurden, wie man bisher angenommen hatte? Und wenn man diese Frage bejahen könne, müsse man dann daraus folgern, daß die Urheber dieser Spuren ein ähnliches Leben geführt hätten wie die heutigen Wildbeuter? Isaac und ich haben uns immer wieder über die verschiedenen Hypothesen der damaligen Lebensführung unterhalten, und er erfand Szenarien, in denen Steine mit Knochen an derselben Stelle vergesellschaftet waren, ohne daß dies etwas mit einem Dasein von Jägern und Sammlern zu tun hatte. Es 94
war beispielsweise denkbar, daß eine Gruppe von Frühmenschen sich eine Zeitlang unter einem Baum niedergelassen hatte, einfach weil er Schatten spendete, und dort Abschläge herstellte, die zu etwas anderem als zum Zerwirken von Tierkadavern gedacht waren - etwa zum Anspitzen von Stöcken, mit denen sie nach Knollenfrüchten stochern konnten. Einige Zeit später war vielleicht ein Leopard auf den Baum geklettert und hatte seine erlegte Beute mitgenommen, wie man dies häufig bei diesen Tieren beobachten kann. Im Lauf der Zeit verwesten die Überreste des getöteten Tiers, und seine Knochen fielen zu Boden zwischen die künstlich erzeugten Steinsplitter. Wie konnte ein Archäologe, der anderthalb Jahrmillionen später auf diese Stelle stieß, mit Sicherheit wissen, ob die Knochen von einem von nomadisierenden Jägern und Sammlern zerlegten Tier stammten oder nicht? Mein Instinkt sagte mir zwar, daß diese frühen Menschen tatsächlich in irgendeiner Form ein Dasein als Jäger und Sammler geführt hatten, aber ich konnte auch Isaacs Einwände gegen unsere ungesicherten Hypothesen verstehen. Lewis Binfords Angriff auf die gängige Meinung in der Archäologie war heftiger als der von Isaac. In seinem 1981 erschienenen Buch Die Vorzeit war ganz anders behauptete er, Archäologen, die in fossilen Knochen und Steinwerkzeugen die Überreste von vorgeschichtlichen Lagerplätzen sähen, »fabrizieren ›nur so‹ Geschichten über unsere Hominidenvergangenheit«. Binford, der bei seiner wissenschaftlichen Tätigkeit kaum unmittelbar vor Ort arbeitete, entwickelte seine Ansichten ursprünglich aus der Untersuchung der Knochen von Neandertalern, die in Eurasien vor etwa 135.000 bis 34.000 Jahren gelebt haben. »In mir reifte die Überzeugung, daß die Organisation des Wildbeuterdaseins unter diesen relativ jungen Vorfahren eine völlig andere war als die unter den Angehörigen des modernen Homo sapiens«, schrieb er 1985 in einem großen Bericht zum Stand der Forschung: »Wenn das stimmte, dann mußte 95
die in der gängigen wissenschaftlichen Literatur über den frühen Hominiden beschriebene fast ›menschliche‹ Lebensweise extrem unwahrscheinlich erscheinen.« Binford behauptete, die systematische Jagd, gleich welcher Art, habe erst mit der Entwicklung des modernen Menschen begonnen, ein Vorgang, den er auf eine Zeit vor etwa 45.000 bis 35.000 Jahren datiert. Nach Binfords Meinung ist es irrig, in den frühen archäologischen Fundstätten mit Steinwerkzeugen und Knochen die Überreste des Eßplatzes prähistorischer Lagerplätze zu sehen. Zu dieser Folgerung gelangte er, nachdem er die Ergebnisse der Untersuchungen anderer Forscher an Knochen von einigen der berühmten archäologischen Fundstellen in der Oldoway-Schlucht analysiert hatte. In seinen Augen waren es die Jagdgründe nichtmenschlicher Räuber. Nachdem diese Raubtiere wie Löwen und Hyänen weitergezogen waren, kamen Hominiden an die Stelle und nahmen sich das, was ihre Vorgänger zurückgelassen hatten. »Die größten oder in vielen Fällen die einzigen nutzbaren oder eßbaren Teile bestanden aus Knochenmark«, schrieb er. »Es gibt keine Hinweise darauf, daß die Hominiden Nahrungsmittel von den Fundstellen zu einem Lager gebracht haben, um sie dort erst zu verzehren. Auch die Behauptung, die Nahrung sei geteilt worden, entbehrt jeder Grundlage.« Diese Sichtweise präsentiert ein gänzlich anderes Bild von unseren Vorfahren aus der Zeit vor zwei Millionen Jahren. »Sie waren keine romantischen Vorfahren«, schrieb Binford, »sondern eklektische Esser, die gemeinsam die Kadaver toter Huftiere nach eßbaren Resten absuchten.« Diesem Bild zufolge war der Frühmensch wesentlich weniger menschenähnlich, nicht nur in der Sicherung seines Unterhalts, sondern auch in anderen Aspekten seines Verhaltens: So fehlten ihm beispielsweise Sprache, moralisches Empfinden und Bewußtsein. Binford gelangte zu dem Schluß: »Unsere Art ist nicht als das Ergebnis gradueller, fortschrei96
tender Prozesse, sondern explosionsartig, innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne auf der Bildfläche erschienen.« Das war der philosophische Kern der Debatte. Wenn der frühe Homo Aspekte einer menschenähnlichen Lebensweise an sich hatte, dann müssen wir annehmen, daß sich das Wesen der Menschheit im Lauf eines langgedehnten, allmählichen Prozesses herausgebildet hat - eines Prozesses, der uns mit der grauen Vorzeit verbindet. Hat sich dagegen das im eigentlichen Sinn menschenartige Verhalten schnell und erst vor relativ kurzer Zeit entwickelt, dann stehen wir einzigartig da, ohne Verbindung zur grauen Vorzeit und zur übrigen Natur. Isaac akzeptierte zwar Binfords Warnung vor einer Überinterpretation der prähistorischen Überlieferung, wählte jedoch einen anderen Ansatz zu ihrer Korrektur. Während Binford überwiegend die Forschungsergebnisse anderer Wissenschaftler überprüfte, beschloß Isaac, selbst archäologische Grabungen vorzunehmen und eventuelle Funde unter einer neuen Perspektive zu untersuchen. Die Unterscheidung zwischen Jagen oder Aasfressen hatte zwar keinen Einfluß auf Isaacs Hypothese vom Verteilen der Nahrung, wurde jedoch wichtig bei der erneuten Überprüfung der archäologischen Überlieferung. Im Prinzip mußte die Jagd in der archäologischen Überlieferung andere Spuren hinterlassen als das Aasfressen. Der Unterschied müßte in dem Teilen der Beute bestehen, die einerseits die Jäger, andererseits die Aasfresser hinterlassen haben. Wenn beispielsweise ein Jäger das erlegte Beutetier in Sicherheit bringen will, hat er die Wahl, ob er den vollständigen Kadaver oder nur die besten Teile davon zum Lagerplatz tragen soll. Ein Aasfresser muß sich dagegen mit dem begnügen, was von einem erbeuteten Tier übriggeblieben ist: Ihm bleiben wesentlich weniger Auswahlmöglichkeiten hinsichtlich der Körperteile, die er ins Lager mitnehmen kann. Deshalb ist anzunehmen, daß die Bandbreite der verschie97
denen Knochen, die man in einem Lager vorgeschichtlicher Jäger findet, größer ist - und in besonderen Fällen sogar ein vollständiges Skelett umfaßt - als in einem Lager von hominiden Aasfressern. Es gibt jedoch viele Faktoren, die in dieses übersichtliche Bild Verwirrung bringen können. So hat Potts bemerkt: »Findet ein Aasfresser den Kadaver eines Tiers, das gerade eines natürlichen Todes gestorben ist, dann kann er den gesamten Kadaver in Sicherheit bringen, so daß an der Fundstelle ein vollständiges Skelett erscheint, was auf eine Gruppe von Jägern schließen läßt. Und wenn es einem Aasfresser gelingt, einen Räuber frühzeitig von dessen Beute zu vertreiben, dann ergibt sich dasselbe zweideutige Bild. Wie kann man sich da Klarheit verschaffen?« Der Anthropologe Richard Klein von der Universität Chicago, der zahlreiche Knochenfundstätten in Südafrika und Europa untersucht hat, äußerte die Meinung, es sei unmöglich, die beiden Formen der Fleischbeschaffung zu unterscheiden: »Es gibt so viele Möglichkeiten, wie Knochen an eine Fundstätte gelangen können, und es gibt so vieles, was mit ihnen passieren kann, daß die Frage ›Jäger oder Aasfresser?‹ für die Hominiden wohl niemals eindeutig beantwortet werden kann.« Die Stelle, die Isaac für eine Grabung auswählte, um seine neue Hypothese zu überprüfen, war als Fundstelle 50 bekannt und lag in der Nähe der Karari-Landstufe, etwa fünfundzwanzig Kilometer östlich des Turkanasees in Nordkenia. Zwischen 1977 und 1980 legten er und ein Team aus Archäologen und Geologen eine prähistorische Bodenoberfläche frei, die Sandbank eines kleinen Flusses. Im Verlauf ihrer Arbeit bargen sie 1.405 Artefakte aus Stein und 2.100 zumeist kleine Knochenfragmente, die vor rund anderthalb Millionen Jahren verschüttet wurden, als ein saisonales Flußbett zu Beginn einer Regenzeit überflutet wurde. Heute ist die Gegend arid, mit einzelnen Büschen und Gestrüpp auf dem Ödland, das seit Jahrtausenden der Erosion ausgesetzt war. Isaac 98
und sein Team hatten sich zum Ziel gesetzt herauszufinden, was vor anderthalb Millionen Jahren geschehen war, als Artefakte aus Stein und zahlreiche Tierknochen an derselben Stelle verschüttet wurden. In seinen früheren Kritiken hatte Binford behauptet, in vielen Fällen sei das gemeinsame Vorkommen von Steinen und Knochen auf die Einwirkung von fließendem Wasser zurückzuführen. Das heißt, ein schnell fließender Fluß kann Bruchstücke von Steinen und Knochen mitreißen, bis sie an einer Stelle mit niedriger Fließgeschwindigkeit - an der Innenseite einer Flußbiegung oder an einer Verbreiterung des Flußbetts - auf den Grund absinken. In diesem Fall wäre das gemeinsame Vorkommen von Steinwerkzeugen und Knochen auf das zufällige Wirken der Natur und nicht auf das Handeln von Hominiden zurückzuführen. Die »archäologische Fundstelle« wäre in diesem Fall nicht mehr als ein hydraulisches Sammelsurium. Eine derartige Erklärung schien für die Fundstelle 50 wenig plausibel, da die alte Bodenoberfläche sich auf dem Ufer eines Flusses und nicht in demselben befunden hatte und weil sich aus geologischen Hinweisen ergab, daß die Fundstelle nicht plötzlich, sondern ganz allmählich verschüttet worden war. Trotzdem war dies noch immer kein zwingender Beweis für einen direkten Zusammenhang zwischen Steinen und Knochen. Dieser Beweis wurde auf eine gänzlich unerwartete Weise erbracht und stellte eine der bahnbrechenden archäologischen Entdeckungen der letzten Zeit dar. Wenn ein Metzger mit seinem Messer - aus Stein oder aus Stahl - ein Tier zerlegt oder einen Knochen aus dem Fleisch löst, dann schneidet er zwangsläufig ab und zu in den Knochen oder schabt mit dem Messer an ihm entlang und hinterläßt auf ihm lange Kerben oder Schnittspuren. Während des Zerlegens häufen sich die Schnittspuren in der Nähe der Gelenke, während sie beim Ausbeinen auch an anderen Stellen auftreten werden. Als der Archäologe Henry Bunn von 99
der Universität von Wisconsin einige der Knochenfragmente der Fundstelle 50 näher untersuchte, konnte er solche Schabspuren nachweisen. Unter dem Mikroskop zeigte sich, daß diese Riefen einen V-förmigen Querschnitt hatten. War das die Spur eines Steinabschlags, der vor anderthalb Millionen Jahren von einem Hominiden zum Schneiden benutzt worden war? Versuche mit heutigen Knochenbruchstücken und Steinabschlägen bestätigten diese Vermutung und bewiesen eindeutig einen Kausalzusammenhang zwischen den Knochen und den Abschlägen an der Fundstelle: Hominiden hatten sie dorthin gebracht und Fleisch für ein Mahl zubereitet. Diese Entdeckung war der erste direkte Beweis für einen durch ein bestimmtes Verhalten hergestellten Zusammenhang zwischen Knochen und Steinen an einer prähistorischen archäologischen Grabungsstätte. Es war »der rauchende Colt« im Geheimnis vorgeschichtlicher Fundstellen. In der Naturwissenschaft kommt es immer wieder vor, daß wichtige Entdeckungen etwa zur gleichen Zeit, unabhängig voneinander, gemacht werden. So verhielt es sich auch mit den Schnittspuren. Bei der Untersuchung von Knochen aus archäologischen Grabungsstätten in der Nähe des Turkanasees und der Oldoway-Schlucht fanden Richard Potts und der Archäologe Pat Shipman von der Johns Hopkins University ebenfalls Schnittspuren. Ihre Untersuchungsmethoden unterschieden sich geringfügig von den Methoden Bunns, doch ihr Ergebnis war dasselbe: Hominiden benutzten vor knapp zwei Millionen Jahren Steinabschläge, um tote Tiere zu zerlegen und ihr Fleisch auszubeinen (vgl. Abb. 4.1). In der Rückschau ist es erstaunlich, daß man solche Schnittspuren nicht schon früher entdeckt hat, da die von Potts und Shipman geprüften Knochen bereits mehrfach von anderen Forschern untersucht worden waren. Ein einziger Augenblick des Nachdenkens hätte einen wachsamen Kopf davon überzeugt, daß zumindest auf einigen der fossilen Knochen Schnittspuren zu finden sein müßten, wenn die allgemein anerkannte archäolo100
gische Theorie richtig war. Doch niemand hatte ernsthaft danach gesucht, da die Antwort schon vorher festzustehen schien. Nachdem die unausgesprochenen Annahmen der herrschenden Lehrmeinung jedoch in Zweifel gezogen worden waren, war der Zeitpunkt gekommen, nach solchen Spuren zu suchen und sie auch zu finden. Die Fundstelle 50 erbrachte noch weitere Belege dafür, daß die frühen Hominiden in ihrem alltäglichen Leben Knochen mit Steinwerkzeugen bearbeiteten. Einige der dort geborgenen Röhrenknochen bestanden aus zahlreichen einzelnen Splittern. Wie sich zeigen sollte, war dies darauf zurückzuführen, daß jemand den Knochen auf einen Stein - wie auf einen Amboß - gelegt und mit einem zweiten Stein mehrmals auf ihn geschlagen hatte, um an das Knochenmark in seinem Innern zu gelangen. Dieses Szenario wurde aus einem paläolithischen Puzzlespiel rekonstruiert, bei dem die einzelnen Fragmente zum vollständigen Knochen zusammengesetzt und die Muster der Bruchlinien, an denen außerdem charakteristische Spuren von Schlägen zu erkennen waren, eingehend untersucht wurden. »Das Auffinden der zusammenpassenden Bruchstücke eines von einem Schlagstein zertrümmerten Röhrenknochens ruft in einem die Vorstellung von Frühmenschen hervor, die aus einem Knochen das Mark saugen«, schrieben Isaac und seine Mitarbeiter in einem Aufsatz, in dem sie über ihre Funde berichteten. Von den Schnittspuren sagten sie: »Wenn man ein Knochengelenk findet, das Spuren aufweist, die anscheinend daher rühren, daß jemand ein Antilopenbein mittels eines scharfen Abschlags zerlegt hat, dann kommen einem zwangsläufig Bilder von einem Schlachter bei der Arbeit in den Sinn.« Neben diesen Spuren einer Aktivität von Hominiden vor anderthalb Millionen Jahren haben auch die Steine selbst eine Geschichte zu erzählen. Wenn ein Hersteller von Steinklingen Splitter von einem Steinbrocken abschlägt, fallen diese innerhalb eines relativ kleinen Umkreises zu Boden. Und ge101
Abb. 4.1: Zeichen für das Zerlegen von Fleisch in vorgeschichtlicher Zeit. Diese winzigen Schneidspuren (durch Pfeile markiert) auf der Oberfläche eines fossilierten Tierknochens aus einem 1,5 Millionen Jahre alten archäologischen Fundort in Nordkenia zeigen, daß die Frühmenschen Steinabschläge zum Zerlegen von Tierkadavern benutzt haben. (Mit freundlicher Genehmigung von R. Lewin.)
nau dies fand die Archäologin Ellen Kroll von der Universität von Wisconsin an der Fundstelle 50: Die Steinsplitter lagen besonders dicht an einem Ende des Ausgrabungsfeldes zusammen. An derselben Stelle konzentrierten sich auch die Knochenfragmente - Teile von Giraffen, Nilpferden, einer Elenantilope und von einem zebraartigen Tier sowie die Gräten von einem Wels. »Wir können nur Vermutungen darüber anstellen, was die Nordseite der Fundstelle für Verrichtungen so attraktiv gemacht hat, doch das beobachtete Muster könnte beispielsweise durch die Existenz eines schattenspendenden Baums erklärt werden«, schrieben Isaac und seine Mitarbeiter. 102
Ein noch bemerkenswerterer Aspekt derselben Steinsplitter war, daß ähnlich wie der fragmentierte Röhrenknochen auch einige von ihnen wieder zu einem ursprünglichen Ganzen, einem Lavabrocken zusammengesetzt werden konnten. Im zweiten Kapitel habe ich erwähnt, daß Nicholas Toth und Lawrence Keeley mehrere Abschläge unter dem Mikroskop untersucht und Anzeichen dafür gefunden haben, daß sie zum Zerlegen von Fleisch, Anspitzen von Holzstöcken und zum Zerschneiden von weichen Pflanzengeweben verwendet worden waren. Diese Steinwerkzeuge stammten aus Fundstelle 50, und die Ergebnisse der Untersuchung tragen zu unserer Vorstellung bei, daß sich dort vor anderthalb Millionen Jahren ein vielfältiges Treiben abgespielt haben muß. Hier waren keine hydraulischen Kräfte am Werk, sondern Hominiden, die Fleischstücke herbeischleppten und sie anschließend mit vor Ort hergestellten Steinwerkzeugen zerkleinerten. Der Nachweis eines auf Hominiden zurückgehenden Transports von Knochen und Steinsplittern zu einem bestimmten Ort, wo das Fleisch zerlegt wurde, war nach den heftigen theoretischen Debatten zum Ende der siebziger Jahre ein wichtiger Schritt für eine neue archäologische Theoriebildung. Aber beantwortet dieser Befund auch die Frage, ob die Hominiden von Fundstelle 50, Homo erectus, Jäger oder Aasfresser waren? Isaac und seine Mitarbeiter haben dazu bemerkt: »Die besonderen Merkmale der Knochenansammlung lassen stark vermuten, daß die damalige Methode der Fleischbeschaffung weniger in der Jagd als in der Suche nach Aas bestanden hat.« Hätte man dort vollständige Tierskelette gefunden, so wäre dies ein Hinweis auf ein Jägerdasein gewesen. Doch wie ich schon sagte, kann die Deutung bestimmter Muster in der Zusammensetzung von Knochenfunden auch mit Fehlern behaftet sein. Andere Befunde sprechen jedoch ebenfalls dafür, daß der frühe Homo weniger ein Jäger als ein Aasfresser war. So hat beispielsweise Shipman bei der Untersuchung der Ver103
teilung von Schnittspuren auf alten Knochen zwei Beobachtungen gemacht. Erstens ging nur etwa die Hälfte von ihnen auf ein Zerlegen des Fleischs zurück, und zweitens befand sich ein Großteil dieser Spuren auf Knochen, die nur wenig Fleisch tragen. Außerdem befanden sich auf vielen Knochen auch die Spuren der Zähne von Raubtieren, und zwar unter den Schneidspuren, was darauf schließen läßt, daß die Hominiden die Tiere nicht selbst erlegt haben. Das alles ist nach Shipman »ein erdrückender Beweis für ein Dasein als Aasfresser«, ein Bild von unserem Vorfahren, wie sie anmerkt, das »fremd und nicht besonders schmeichelhaft» ist. Auf jeden Fall hat es wenig gemein mit der traditionellen Vorstellung vom Menschen als dem edlen Jäger. Ich hatte damit gerechnet, daß der frühe Homo bei der Beschaffung von Fleisch auch nach Aas gesucht hat. So schrieb auch Shipman: »Fleischfresser fressen Aas, wenn sie können, und jagen, wenn sie müssen.« Andererseits befürchte ich, daß die jüngste theoretische Revolution in der Archäologie die Dinge übertrieben hat, wie es in der Wissenschaft immer wieder geschieht. Die Zurückweisung der Hypothese vom frühen Menschen als Jäger war zu apodiktisch. Für mich war es aufschlußreich, daß Shipman bei ihrer Untersuchung so viele Schneidspuren auf Knochen mit wenig Fleisch festgestellt hat. Was gab es hier zu schneiden? Haut und Sehnen. Mit diesen Materialien ist es sehr einfach, kräftige Schlingen zum Fangen ziemlich großer Beutetiere herzustellen. Es würde mich sehr überraschen, wenn der frühe Homo erectus dieser Form der Jagd nicht nachgegangen wäre. Der menschenähnliche Körperbau, der sich im Verlauf der Evolution der Gattung Homo herausbildete, steht in Einklang mit einer Anpassung an eine Existenzweise als Jäger. Für Isaac war die Arbeit an Fundstelle 50 sehr lehrreich. Ihre Ergebnisse bestätigten zwar, daß Hominiden Fleisch und Steine zu einem zentralen Sammelplatz transportierten, sie ermöglichten jedoch nicht den schlüssigen Beweis, daß die Ho104
miniden diesen als Lagerplatz benutzt hatten. »Ich sehe jetzt ein, daß die Hypothesen über das Verhalten früher Hominiden, die ich in früheren Aufsätzen vertreten habe, diese frühen Hominiden zu menschenähnlich erscheinen ließen«, schrieb er 1983. Deshalb machte er den Vorschlag, seine »Hypothese über das Teilen der Nahrung« umzuformulieren in eine »Sammelplatz-Hypothese«. Meiner Meinung nach hätte er nicht ganz so vorsichtig sein müssen. Ich kann nicht behaupten, daß die Ergebnisse Isaacs und seiner Mitarbeiter die Hypothese bekräftigen, daß Homo erectus als Jäger und Sammler gelebt hat und sich nach jeweils einigen Tagen von einem vorübergehenden Stützpunkt zum nächsten begeben hat - Stützpunkte, zu denen die männlichen Mitglieder der Gruppe Fleisch brachten und dort verteilten. In welchem Maß das von Isaac in seiner ursprünglichen Hypothese von der geteilten Nahrung unterstellte wirtschaftliche und soziale Milieu an Fundstelle 50 damals bestanden hat, läßt sich vorläufig nicht klären. Doch meiner Meinung nach bestätigen diese Ergebnisse, daß wir uns von der Vorstellung verabschieden müssen, der frühe Homo sei im Hinblick auf seine sozialen, kognitiven und technischen Fähigkeiten kaum weiter entwickelt gewesen als die Schimpansen. Ich behaupte nicht, diese Geschöpfe seien Jäger und Sammler im kleinen gewesen, aber ich bin sicher, daß damals die menschenähnlichen Stufe des primitiven Wildbeuters Gestalt angenommen hat.
Zwar werden wir niemals mit Sicherheit wissen, wie das Alltagsleben in der Frühzeit von Homo erectus ausgesehen hat, doch können wir unter Zuhilfenahme der reichen archäologischen Funde von Fundstelle 50 und unseres Vorstellungsvermögens eine solche Szene vor anderthalb Millionen Jahren rekonstruieren: 105
Ein nur in der Regenzeit Wasser führender Fluß nimmt seinen Lauf langsam quer durch ein breites Überschwemmungsgebiet am Ostufer eines ausgedehnten Sees. Hohe Akazien säumen die gewundenen Ufer des Flusses und bieten mit ihrem Schatten einen willkommenen Schutz gegen die tropische Sonne. Die meiste Zeit des Jahres ist das Flußbett trocken, doch das Wasser der letzten Regenfälle in den Bergen im Norden bahnt sich seinen Weg zum See hinab und läßt den Strom langsam anschwellen. Seit einigen Wochen leuchtet das Überschwemmungsgebiet in den verschiedensten Farben, blühende Krauter bilden überall Pfützen von Gelb und Dunkelrot, die sich von der orangefarbenen Erde abheben, und niedrige Akazienbüsche sehen aus wie wogende weiße Wolken. Die Regenzeit steht bevor. Hier, an einer Biegung des Flusses, sehen wir eine kleine menschliche Gruppe, fünf erwachsene Frauen und einen Haufen Kinder und Jugendliche. Ihr Körperbau ist athletisch mit kräftig entwickelter Muskulatur. Sie schwatzen lautstark, werfen sich gegenseitig Scherzworte zu oder besprechen die Pläne für den Tag. Bereits früher, noch vor Sonnenaufgang, sind vier erwachsene Männer der Gruppe aufgebrochen, um Fleisch zu beschaffen. Die Aufgabe der Frauen besteht darin, genießbare Pflanzen zu sammeln, welche die Grundlage ihrer Ernährung bilden. Die Männer jagen, die Frauen sammeln: Es ist eine Arbeitsteilung, die sich für unsere Gruppe und überhaupt seit urdenklichen Zeiten hervorragend bewährt hat. Drei der Frauen sind jetzt bereit zum Aufbruch, nackt bis auf ein Tierfell, das sie über die Schultern geworfen haben und das als Tragetasche zunächst für ihr Baby und später für die gesammelten Lebensmittel dient. Sie haben kurze, spitze Stöcke dabei, die eine der Frauen tags zuvor mit scharfen Abschlägen aus Ästen zugeschnitten hat. Es sind Grabstöcke, mit denen die Frauen tief in der Erde verborgene fleischige Knollen ausgraben, eine Nahrung, die für die meisten anderen großen Herrentiere ungeeignet ist. Schließlich machen die 106
Frauen sich auf den Weg, wie stets im Gänsemarsch, in Richtung auf die in der Ferne aufragenden Berge des Seebeckens, wobei sie einem Weg folgen, von dem sie wissen, daß er sie zu reichlichen Vorräten an Nüssen und Knollen führen wird. Reifes Obst können sie erst später im Jahr ernten, wenn der Regen seine Arbeit für die Natur getan hat. Die beiden am Flußufer zurückbleibenden Frauen liegen ruhig auf dem weichen Sand unter einer hohen Akazie und schauen drei Kindern beim Spielen zu. Zu alt, um in einem Tragegurt mitgenommen zu werden, aber auch noch zu jung, um die Männer oder Frauen auf ihrem Weg zu begleiten, tun die Kleinen das, was alle Kinder in ihrem Alter tun: Sie ahmen im Spiel das Leben der Erwachsenen nach. An diesem Morgen ist eines von ihnen eine Antilope, wobei Zweige das Geweih andeuten; die beiden anderen sind Jäger, die sich an ihre Beute heranpirschen. Später bittet das älteste Kind, ein Mädchen, eine der Frauen darum, ihr noch einmal zu zeigen, wie Steinwerkzeuge gemacht werden. Bereitwillig schlägt die Frau mit einer schnellen, kräftigen Bewegung zwei Lavabrocken gegeneinander und sprengt einen perfekten Steinabschlag ab. Mit großem Ernst versucht das Mädchen, es ihr nachzumachen, aber ohne Erfolg. Die Frau ergreift die Hände des Mädchens und zeigt ihm mit langsamen Bewegungen, wie es die Steine führen muß. Das Herstellen scharfer Steinabschläge ist schwieriger, als es aussieht, und die Fertigkeit wird hauptsächlich mimetisch und nicht durch mündliche Unterweisung erworben. Das Mädchen macht einen erneuten Versuch, der diesmal etwas besser ausfällt. Ein scharfer Splitter fliegt in hohem Bogen von dem Steinbrocken, und das Mädchen stößt einen Laut des Triumphs aus. Es hebt den Splitter auf, zeigt ihn der lächelnden Frau und läuft dann damit zu seinen Spielgefährten, um ihn denen vorzuführen. Gemeinsam gehen sie wieder ihren Spielen nach, diesmal mit einem Werkzeug der Erwachsenen ausgerüstet. Sie finden einen Stock, den das ge107
lehrige Mädchen zuspitzt, und dann bilden sie eine Jagdgruppe auf der Suche nach einem Wels, den sie aufspießen können. Bei einbrechender Dämmerung füllt sich das Lager am Flußufer wieder mit Leben, nachdem die drei Frauen mit prall gefüllten Tragetaschen zurückgekehrt sind, aus denen sie unter anderem einige Vogeleier, drei kleine Eidechsen und - eine unerwartete Speise - Honig hervorholen. Zufrieden mit ihrer Arbeit warten die Frauen gespannt darauf, was die Männer mitbringen. Häufig kehren die Jäger mit leeren Händen zurück. Das gehört bei der Suche nach Fleisch dazu. Doch wenn sie Glück haben, kann die Belohnung beträchtlich sein und wird auf jeden Fall allgemein bejubelt. Bald verraten immer lauter werdende Stimmen den Frauen die Heimkehr der Männer. Und nach ihrer lebhaften Unterhaltung zu urteilen, waren sie diesmal erfolgreich. Während eines Großteils des Tages haben die Männer geräuschlos eine kleine Antilopenherde verfolgt und bemerkt, daß eines der Tiere anscheinend leicht lahmte. Wiederholt blieb es hinter der Herde zurück und hatte große Mühe, wieder zu ihr aufzuschließen. Die Männer erkannten ihre Chance, ein großes Tier zu erlegen. Jäger, die wie unsere Gruppe mit einem Minimum an natürlichen oder künstlichen Jagdwaffen ausgerüstet sind, müssen sich auf ihre List verlassen. Die Fähigkeit, sich geräuschlos zu bewegen und zu tarnen, und das Wissen, wann der Zeitpunkt zum Angriff gekommen ist, sind die stärksten Waffen dieser Jäger. Schließlich bot sich eine Gelegenheit, und als hätten sie sich abgesprochen, begaben sich die drei Männer in ihre strategischen Positionen. Einer von ihnen warf kraftvoll und zielgenau einen Stein, der das Tier mit betäubender Wucht traf; die beiden anderen rannten los, um das Beutetier zu lahmen. Ein schneller Stich mit einem kurzen, spitzen Stock, und aus der Jugularvene des Tieres spritzte eine Fontäne von Blut. Das Tier wehrte sich noch, war jedoch bald tot. Müde, verschwitzt und blutbesudelt brachen die drei Män108
ner in ein Triumphgeschrei aus. Ein in der Nähe befindlicher Vorrat an Lavabrocken bot das Rohmaterial zur Herstellung von Steinabschlägen, die für das Zerlegen der Antilope nötig sein würden. Einige wenige Schläge genügten; dann konnten die Männer mit scharfen Steinwerkzeugen die zähe Haut des Tiers durchschneiden und damit beginnen, das rohe Fleisch, Knochen und Gelenke freizulegen. Innerhalb kurzer Zeit waren Muskeln und Sehnen mit geschickten Händen durchtrennt, und die Männer konnten den Rückweg antreten. Sie nahmen zwei Hinterkeulen auf die Schultern, und unter Gelächter und gegenseitigem Necken über die Ereignisse des Tages und ihren jeweiligen Anteil daran wandten sie sich heimwärts. Sie wußten, daß ein fröhlicher Empfang auf sie wartete. Der Verzehr des Fleisches später an diesem Abend hat fast etwas Rituelles an sich. Der Anführer der Gruppe schneidet einzelne Stücke von dem Fleisch ab und reicht sie den Frauen in seiner Nähe und den anderen Männern. Die Frauen geben einen Teil davon an die Kinder weiter, die in ausgelassener Stimmung untereinander die Bissen austauschen. Die Männer bieten ihren Gefährten Fleischstücke an, eine Geste, die von diesen erwidert wird. Das Essen von Fleisch ist mehr als eine einfache Nahrungsaufnahme; es ist eine Handlung zur Verstärkung sozialer Bindungen. Die Hochstimmung über die geglückte Jagd klingt ab, und Männer und Frauen erzählen sich gegenseitig gemütlich von den unterschiedlichen Ereignissen des Tages. Ihnen ist klar, daß sie diesen angenehmen Lagerplatz bald werden verlassen müssen, da die zunehmend schweren Regenfälle in den Bergen sehr bald den Fluß über die Ufer treten lassen werden. Doch jetzt sind sie erst einmal zufrieden. Drei Tage darauf verläßt die Gruppe das Lager endgültig, um sich in die Sicherheit eines höher gelegenen Plateaus zu begeben. Spuren ihres vorübergehenden Aufenthalts sind überall verstreut. Haufen von abgesprengten Steinsplittern, 109
angespitzte Äste und bearbeitete Tierhaut bezeugen ihr technisches Können. Zerbrochene Tierknochen, der Kopf eines Welses, Eierschalen und die Überreste von Knollen verraten die Reichhaltigkeit ihres Speisezettels. Verschwunden ist hingegen der intensive gesellige Austausch, die Seele des Lagers. Verschwunden sind auch das Ritual des Fleischverzehrs und die Geschichten von den täglichen Ereignissen. Es dauert nicht lange, und das verlassene, stille Lager wird sacht überschwemmt, wenn der Fluß sanft über seine Ufer tritt. Feiner Schlick bedeckt den Abfall von fünf Tagen im Leben unserer kleinen Gruppe und fängt eine kleine Geschichte ein. Schließlich zersetzt sich alles bis auf die Knochen und die Steinwerkzeuge, die die äußerst schwachen Spuren hinterlassen, aus denen wir diese Geschichte rekonstruiert haben. Viele Leser finden vielleicht, daß meine Rekonstruktion den Homo erectus zu menschenähnlich macht. Das glaube ich jedoch nicht. Ich schaffe ein Bild der Lebensweise von Jägern und Sammlern, und ich gebe diesen Menschen eine Sprache. Beides halte ich für gerechtfertigt, auch wenn beides notgedrungen nur eine primitive Version dessen ist, was wir vom modernen Menschen wissen. Jedenfalls ergibt sich zweifelsfrei aus den archäologischen Befunden, daß diese Geschöpfe ein Leben jenseits der Reichweite anderer großer Primaten geführt haben, nicht zuletzt in ihrer Verwendung der Technik, um sich Zugang zu Nahrungsmitteln wie Fleisch und in der Erde wachsenden Knollen zu verschaffen. Auf dieser Stufe in unserer Vorgeschichte wurden unsere Vorfahren auf eine Weise menschlich, die wir sofort wiedererkannt hätten.
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Die Entstehung des heutigen Menschen Von den vier bedeutenden Ereignissen im Verlauf der menschlichen Evolution, von denen ich im Vorwort gesprochen habe - die Entstehung der menschlichen Familie selbst, vor rund sieben Millionen Jahren; die anschließende Auffächerung der Arten zweibeiniger Affen; die beginnende Erweiterung des Gehirns (letztlich der Beginn der Gattung Homo) vor vielleicht zweieinhalb Millionen Jahren; und die Entstehung des heutigen Menschen -, ist das vierte, die Entstehung von Menschen wie wir, in der gegenwärtigen Anthropologie besonders umstritten. Heftige Debatten kreisen um ganz unterschiedliche Hypothesen, und es vergeht kaum ein Monat, ohne daß eine Konferenz abgehalten oder ein neues Buch oder eine wissenschaftliche Abhandlung veröffentlicht wird, deren Thesen einander häufig diametral entgegengesetzt sind. Mit »Menschen wie wir« meine ich den heutigen Homo sapiens - das heißt, Menschen mit einem Sinn für Technik und Neuerungen, einer Fähigkeit zum künstlerischen Ausdruck, einem introspektiven Bewußtsein und einem Moralempfinden. Wenn wir nur ein paar tausend Jahre in der Geschichte zurückblicken, erkennen wir die Anfänge der Zivilisation: In sozialen Organisationen von zunehmender Komplexität tre111
ten an die Stelle vereinzelter Gehöfte größere Dorfsiedlungen, die im Lauf der Jahrhunderte von Stadtstaaten und schließlich von Nationalstaaten verdrängt werden. Die Triebkraft dieser anscheinend zwangsläufigen Steigerung der Komplexität liegt in der kulturellen Evolution und nicht in biologischen Veränderungen. So wie die Menschen des vorigen Jahrhunderts dieselbe biologische Ausstattung hatten wie wir, aber eine Welt ohne Elektronik bewohnten, so waren die Dorfbewohner vor siebentausend Jahren wie wir, nur daß ihnen die Infrastruktur der Zivilisation gefehlt hat. Wenn wir uns in die Geschichte vor der Erfindung der Schrift - vor rund sechstausend Jahren - zurückversetzen, können wir noch immer Spuren des modernen menschlichen Bewußtseins ausmachen. Etwa um die Zeit vor zehntausend Jahren erfanden nomadisierende Gruppen von Jägern und Sammlern überall auf der Welt, unabhängig voneinander, verschiedene Techniken des Ackerbaus. Auch das war die Folge einer kulturellen oder technischen und nicht einer biologischen Evolution. Wer noch weiter hinter jene Zeit eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels zurückgeht, der findet die Malereien, Einritzungen und Schnitzereien des eiszeitlichen Europas und Afrikas, in denen die geistigen Welten von Menschen, die mit uns vergleichbar sind, heraufbeschworen werden. Begibt man sich indessen noch tiefer in eine Vergangenheit, die von uns weiter als 35.000 Jahre entfernt liegt, so erlöschen diese Leuchtfeuer des modernen menschlichen Geistes. Von da an finden wir in der archäologischen Überlieferung keine überzeugenden Anhaltspunkte mehr für das Wirken von Menschen, die über ähnliche geistige Fähigkeiten verfügt hätten wie wir selbst. Lange Zeit hindurch waren Anthropologen der Überzeugung, das plötzliche Erscheinen künstlerischer Ausdrucksformen und hervorragend gearbeiteter Werkstücke in der archäologischen Überlieferung aus der Zeit vor rund 35.000 Jahren sei ein klares Signal für die Evolution des modernen 112
Menschen. Der britische Anthropologe Kenneth Oakley hat 1951 als einer der ersten angenommen, daß diese Blüte eines modernen menschlichen Verhaltens mit dem ersten Auftreten einer nach heutigem Verständnis wirklichen Sprache einherging. Es erscheint in der Tat unvorstellbar, daß eine menschliche Art über eine nach heutigen Maßstäben vollentwickelte Sprache verfügte und nicht auch in jeder anderen Hinsicht dem heutigen Menschen entsprach. Aus diesem Grund gilt die Evolution der Sprache allgemein als krönendes Ereignis in der Entstehung der Menschheit, wie wir sie heute kennen. In welchen Zeitraum fällt diese Entstehung? Und in welcher Weise hat sie sich vollzogen: allmählich, mit einem weit zurückliegenden Anfang, oder abrupt und erst vor relativ kurzer Zeit? Diese Fragen stehen im Zentrum der gegenwärtigen Diskussion. Ironischerweise verfügen wir unter allen Perioden der menschlichen Evolution gerade aus den letzten zwei- bis dreihunderttausend Jahren mit Abstand über die meisten fossilen Belege. Neben einer umfangreichen Sammlung unversehrter Hirnschalen und postkranialer Knochen hat man rund zwanzig mehr oder weniger vollständige Skelette geborgen. Für einen Forscher, der sich wie ich hauptsächlich mit einer früheren Periode der Vorgeschichte des Menschen beschäftigt, aus der wir nur über eine geringe Zahl von fossilen Funden verfügen, sind dies unermeßliche paläontologische Reichtümer. Und dennoch können sich meine anthropologischen Kollegen über die zeitliche Abfolge evolutionärer Ereignisse noch immer nicht einigen. Es kommt hinzu, daß die allerersten Fossilien von Frühmenschen, die bisher entdeckt wurden, vom Neandertaler stammen (in der gängigen Vorstellung das Musterbild eines Höhlenmenschen), der in der Diskussion eine wichtige Rolle spielt. Seit 1856, als die ersten Knochen eines Neandertalers geborgen wurden, hat man über das Schicksal dieser Menschen endlose Debatten geführt: Waren sie unsere unmittel113
baren Vorfahren, oder stellten sie eine evolutionäre Sackgasse dar und starben vor rund dreißigtausend Jahren aus? Diese Frage wurde vor fast anderthalb Jahrhunderten gestellt und konnte bis heute nicht beantwortet werden, jedenfalls nicht zur allgemeinen Zufriedenheit. Bevor wir uns mit einigen Besonderheiten im Streit um den Ursprung des modernen Menschen beschäftigen, müssen wir die allgemeineren Fragen skizzieren. Die Geschichte beginnt mit der Evolution der Gattung Homo vor mehr als zwei Millionen Jahren und endet mit dem schließlichen Erscheinen von Homo sapiens. Seit langem gibt es zwei verschiedene Kategorien von Belegen: Die eine bezieht sich auf anatomische Veränderungen, die andere auf Änderungen in der Technik und anderen Manifestationen der geistigen und manuellen menschlichen Fähigkeiten. Richtig gedeutet, müßten diese beiden Belegreihen denselben Ablauf der menschlichen Evolutionsgeschichte illustrieren. Aus ihnen müßte dasselbe Muster an Veränderungen im Lauf der Zeit abzulesen sein. Zu diesen traditionellen Belegreihen, jahrzehntelang der Grundbestand anthropologischer Gelehrsamkeit, hat sich in jüngster Zeit eine dritte hinzugesellt, die der Molekulargenetik. Im Prinzip enthalten die genetischen Belege eine verschlüsselte Geschichte der menschlichen Evolution. Und auch diese Geschichte müßte mit der übereinstimmen, die wir bereits aus den überlieferten Knochenfunden und Artefakten kennen. Leider hat sich jedoch gezeigt, daß diese drei Belegreihen bislang nicht miteinander zur Deckung zu bringen sind. Es gibt zwar Berührungspunkte, aber keine Übereinstimmung. Die Probleme, denen sich Anthropologen selbst bei einer Fülle von Belegen gegenübersehen, lehren uns, wie schwierig eine Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte oft ist. Die Entdeckung des Skeletts des Turkana-Jungen vermittelt uns eine ausgezeichnete Vorstellung von der Anatomie eines Frühmenschen vor etwa 1,6 Millionen Jahren. Wir können erkennen, daß der frühe Homo erectus hochgewachsen war 114
(der Turkana-Junge war knapp 1,8 Meter groß), athletisch und sehr muskulös. Selbst der stärkste Berufsringer von heute hätte gegen einen durchschnittlichen männlichen Homo erectus wenig ausrichten können. Obwohl das Gehirn des frühen Homo erectus größer als das seiner Vorgänger, der Australopithecinen war, reichte es mit seinen neunhundert Kubikzentimetern nicht an das durchschnittliche Gehirnvolumen von 1350 Kubikzentimetern des heutigen Homo heran. Der Schädel von Homo erectus ist lang und niedrig, mit wenig Stirn und einer dicken Hirnschale; die Kiefer stehen etwas vor, und über den Augen treten kräftige Wülste hervor. Dieses anatomische Grundmuster erhielt sich bis vor etwa einer halben Million Jahre, obwohl sich das Gehirn während dieser Zeit auf etwa 1.100 Kubikzentimeter ausdehnte. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich Populationen von Homo erectus von Afrika aus ausgebreitet und weite Regionen Asiens und Europas in Besitz genommen. (Zwar wurden in Europa noch keine zweifelsfrei identifizierten Fossilien von Homo erectus gefunden, doch läßt sich seine Existenz anhand von Artefakten nachweisen.) Die fossilen menschlichen Überreste aus einer jüngeren Zeit, das heißt vor weniger als 34.000 Jahren, stammen alle vom modernen Homo sapiens. Der Körper ist weniger robust und muskulös, das Gesicht flacher, der Schädel höher und die Gehirnschale dünner. Die Brauenwülste stehen nicht mehr vor, und das Gehirn ist (zumeist) größer. Daran können wir erkennen, daß die evolutionären Ereignisse, die zur Entstehung des heutigen Menschen geführt haben, in dem Intervall zwischen 500.000 und 34.000 Jahren vor unserer Zeit stattgefunden haben. Aus dem, was wir in der fossilen und archäologischen Überlieferung jener Periode in Europa und Asien gefunden haben, können wir den Schluß ziehen, daß die Evolution tatsächlich stattgefunden, jedoch einen verwirrenden Verlauf genommen hat. Die Neandertaler lebten vor etwa 135.000 bis 34.000 Jahren 115
und bevölkerten ein Gebiet, das sich von Westeuropa über den Vorderen Orient bis nach Asien erstreckte. Innerhalb der Periode, die uns hier interessiert, stellen ihre Überreste den bei weitem höchsten Anteil der fossilen Überlieferung. Es steht außer Frage, daß sich in vielen verschiedenen Populationen überall in der Alten Welt während dieser Zeit die Evolution in kleinen Wellen fortgesetzt hat. Außer den Neandertalern gibt es vereinzelte Fossilien - in der Regel Schädel oder Teile davon, gelegentlich aber auch andere Skeletteile - mit romantisch klingenden Namen: der Petralona-Mensch aus Griechenland; der Arago-Mensch aus Südwestfrankreich; der Steinheim-Mensch aus Deutschland; der Broken-Hill-Mensch aus Sambia und andere. Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen diesen einzelnen Exemplaren haben sie alle zwei Dinge gemeinsam: Sie sind einerseits weiter entwickelt als Homo erectus - so ist beispielsweise ihr Gehirn größer - und andererseits primitiver als Homo sapiens, da ihre Gehirnschale dicker und ihr Körperbau robuster ist (s. Abb. 5.1). Wegen der unterschiedlichen Anatomie der Exemplare aus dieser Periode haben die Anthropologen diesen Fossilien insgesamt den Namen »archaischer Sapiens« gegeben. Angesichts dieses bunten Gemischs aus anatomischen Formen stehen wir vor dem Problem, ein evolutionäres Muster zu konstruieren, das die Entstehung der Anatomie und des Verhaltens des heutigen Menschen beschreibt. In den letzten Jahren sind hierzu zwei höchst unterschiedliche Modelle vorgeschlagen worden. Das erste, die sogenannte Hypothese einer multiregionalen Evolution, sieht den Ursprung moderner Menschen als Phänomen, das die gesamte Alte Welt umgreift; dabei entsteht Homo sapiens überall dort, wo sich Populationen von Homo erectus niedergelassen haben. Nach dieser Auffassung ist der Neandertaler ein Teil jenes drei Kontinente erfassenden Trends, das antomische Zwischenglied zwischen Homo erectus und dem heutigen Homo sapiens in Europa, im Nahen 116
Abb. 5.1: Verbindungen zum Neandertaler. Neandertaler haben einige Merkmale mit Homo sapiens gemeinsam, zum Beispiel ein großes Gehirn, und einige mit Homo erectus, zum Beispiel einen langen, niedrigen Schädel und vorstehende Brauenwülste. Sie haben jedoch viele unverwechselbare Merkmale, von denen das auffälligste das extreme Hervortreten des mittleren Gesichtsteils ist.
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Osten und in Westasien, und die heutigen Populationen in jenen Teilen der Alten Welt stammen unmittelbar vom Neandertaler ab. Milford Wolpoff, Anthropologe an der Universität von Michigan, vertritt die Meinung, der überall zu beobachtende evolutionäre Prozeß in Richtung auf die biologische Verfassung von Homo sapiens sei von dem neuen kulturellen Milieu unserer Vorfahren angetrieben worden. Kultur stellt etwas Neuartiges in der Welt der Natur dar, und sie hätte den Kräften der Selektion einen wirkungsvollen, vereinheitlichenden Impuls verleihen können. Christopher Wills, Biologe an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz, sieht hier zudem die Möglichkeit einer Beschleunigung des evolutionären Tempos. In seinem 1993 erschienenen Buch The Runaway Brain heißt es: »Die Kraft, die das Wachstum unseres Gehirns anscheinend beschleunigt hat, ist ein neuartiges Stimulans: Sprache, Zeichen, kollektive Erinnerungen - alles Elemente der Kultur. So wie unsere Kulturen sich unter komplexen Umständen entwickelt haben, so auch unsere Gehirne, die ihrerseits den Kulturen zu noch größerer Komplexität verhalfen. Große und intelligente Gehirne führten zu komplexeren Kulturen, und diese hatten wiederum noch größere und intelligentere Gehirne zur Folge.« Wenn es zu einem derartigen autokatalytischen Prozeß oder einer positiven Rückkopplung kam, dann konnte dieser dazu beitragen, daß genetische Änderungen sich innerhalb großer Populationen schneller ausbreiteten. Ich hege eine gewisse Sympathie für die Hypothese der multiregionalen Evolution, und ich habe einmal die folgende Analogie angeboten: Wenn man eine Handvoll Kiesel nimmt und sie in einen Teich wirft, so wird jeder Stein eine Anzahl sich ausbreitender Wellen erzeugen, die sich früher oder später mit den Wellen der anderen Steine überschneiden werden. Der Teich steht für die Alte Welt mit ihrer ursprünglichen Sapiens-Population. Die Punkte auf der Wasseroberfläche, wo die Kiesel auftreffen, sind Punkte des Übergangs zum 118
Homo sapiens, und die Wellenkreise sind die Wanderungen von Homo sapiens. Diese Analogie ist von mehreren Teilnehmern an der gegenwärtigen Debatte übernommen worden. Doch heute halte ich sie nicht mehr für zutreffend. Ein Grund für meinen Vorbehalt ist die Existenz einiger bedeutsamer fossiler Exemplare aus mehreren Höhlen in Israel. Seit über sechs Jahrzehnten hat man sporadisch immer wieder Ausgrabungen an diesen Stätten vorgenommen, bei denen in einigen Höhlen fossile Überreste von Neandertalern und in anderen Fossilien von modernen Menschen gefunden wurden. Bis vor kurzem schien das Bild eindeutig und sprach für die Hypothese einer multiregionalen Evolution. Alle Exemplare von Neandertalern - aus den Höhlen von Kebarra, Tabun und Amud - waren relativ alt und stammten aus einer Zeit vor etwa sechzigtausend Jahren. Alle Fossilien von modernen Menschen - die aus Skhul und Kafzeh stammten waren etwa zehn- bis zwanzigtausend Jahre jünger. Angesichts dieser Daten erschien ein evolutionärer Wandel von Neandertal-Populationen zu Populationen moderner Menschen in dieser Region plausibel. Überhaupt war diese Fossilienreihe einer der Eckpfeiler der Hypothese einer multiregionalen Evolution. In den späten achtziger Jahren wurde diese ordentliche Reihenfolge jedoch durcheinandergewirbelt. Forscher aus England und Frankreich wandten neue Datiermethoden, bekannt als Elektronenspinresonanz (ESR) und Thermolumineszenz, auf einige dieser Fossilien an; beide Methoden beruhen auf dem Zerfall bestimmter Radioisotope, die in vielen Gesteinen vorkommen - ein Prozeß, der wie ein atomarer Zeitmesser für Mineralien im Gestein wirkt. Die Wissenschaftler stellten fest, daß die Fossilien der modernen Menschen aus Skhul und Kafzeh um rund vierzigtausend Jahre älter waren als die meisten der Fossilien von Neandertalern. Wenn diese Ergebnisse korrekt sind, können die Neandertaler nicht die Vorväter der heutigen Menschen sein, wie die 119
Hypothese der multiregionalen Evolution unterstellt. Aber wie sieht das alternative Erklärungsmodell aus? In diesem Gegenmodell sind die modernen Menschen nicht das Produkt eines evolutionären Trends überall in der Alten Welt, sondern sie haben sich innerhalb eines einzigen geographischen Raums entwickelt (s. Abb. 5.2). Horden von modernen Homo sapiens wanderten aus diesem Raum ab und breiteten sich in der übrigen Alten Welt aus, wo sie die dort lebenden prämodernen Populationen verdrängten. Dieses Modell firmierte unter verschiedenen Bezeichnungen wie »Arche-Noah-Hypothese« und »Garten-Eden-Hypothese«. In jüngster Zeit erhielt sie den Namen »Wiege-Afrika-Hypothese«, da das Afrika der Subsahara als die wahrscheinlichste Region identifiziert wurde, wo sich die ersten modernen Menschen entwickelt haben. Mehrere Anthropologen haben zu dieser Auffassung beigetragen, und Christoph Stringer vom Londoner Museum für Naturgeschichte ist ihr überzeugtester Verfechter. Die beiden Hypothesen hätten kaum gegensätzlicher sein können: Das Modell der multiregionalen Evolution unterstellt einen evolutionären Trend innerhalb der gesamten Alten Welt in Richtung auf den Homo sapiens, ohne nennenswerte Wanderungen und ohne die Verdrängung einzelner Populationen, während die »Wiege-Afrika-Hypothese« die Evolution von Homo sapiens in einer einzigen Region annimmt, gefolgt von ausgedehnten Bevölkerungswanderungen in alle Richtungen der Alten Welt, die zur Verdrängung vorhandener prämoderner Populationen geführt habe. Außerdem unterstellt das erste Modell, daß geographische Populationen des modernen Menschen (die wir gern als »Rassen« bezeichnen) tiefreichende genetische Wurzeln hätten und letztlich seit zwei Millionen Jahren getrennt seien. Dem zweiten Modell zufolge hatten diese Populationen noch junge genetische Wurzeln und gingen allesamt auf eine einzige, erst vor kurzem evolutionär entwickelte Population in Afrika zurück. 120
Abb. 5.2: Zwei Auffassungen vom Ursprung des modernen Menschen. Die Hypothese der multiregionalen Evolution, links, besagt, daß Populationen von Homo erectus sich vor knapp zwei Millionen Jahren von Afrika aus ausbreiteten und sich überall in der Alten Welt festsetzten. Die genetische Kontinuität blieb überall in der Alten Welt durch einen Genaustausch zwischen lokalen Populationen gewahrt, so daß die evolutionäre Entwicklung zum modernen Homo sapiens sich zur selben Zeit überall dort vollzog, wo Populationen von Homo erectus existierten. Die Hypothese von der »Wiege Afrika«, rechts, behauptet, der moderne Homo sapiens habe sich vor relativ kurzer Zeit in Afrika entwickelt und von dort aus schnell in die übrige Alte Welt ausgebreitet, wo er die vorgefundenen Populationen von Homo erectus und vom archaischen Homo sapiens verdrängte.
Die beiden Modelle unterscheiden sich des weiteren deutlich in ihren Prognosen über das Anschauungsmaterial, das uns die fossile Überlieferung zu bieten hätte. Nach dem Modell der multiregionalen Evolution müßten anatomische Merkmale, die wir an geographischen Populationen des modernen Menschen beobachten, auch an Fossilien in derselben Region festzustellen sein, die fast zwei Millionen Jahre zurückreichen, als Homo erectus erstmals sein Territorium über Afrika hinaus ausdehnte. Das Modell von der »Wiege Afrika« 121
rechnet nicht mit einer solchen regionalen Kontinuität während eines langen Zeitraums; bestenfalls müßten die Populationen von modernen Menschen mit afrikanischen Fossilien gemeinsame Merkmale aufweisen. Milford Wolpoff, der exponierteste Vertreter der Hypothese einer multiregionalen Evolution, sagte 1990 auf der Jahresversammlung der American Association for the Advancement of Science, daß »klare Beweise für eine anatomische Kontinuität vorliegen«. In Nordasien ließen sich zum Beispiel bestimmte Merkmale wie die Form des Gesichts, der Aufbau der Backenknochen und die Schaufelform der Schneidezähne an Fossilien beobachten, die 750.000 Jahre alt seien, ebenso an Fossilien des Peking-Menschen mit einem Alter von 250.000 Jahren und an chinesischen Populationen von heute. Dem widerspricht Stringer nicht, weist jedoch darauf hin, daß diese Merkmale nicht auf Nordasien beschränkt sind und deshalb nicht als Beweis für eine regionale Kontinuität angesehen werden können. Wolpoff und seine Mitarbeiter machen ein ähnliches Argument für Südostasien und Australien geltend. Doch dem hält Stringer entgegen, daß sich die unterstellte Kontinuität auf Fossilien stützt, die nur auf drei verschiedene Zeitpunkte datiert werden: vor 1,8 Millionen, vor hundert- und vor dreißigtausend Jahren. Diese geringe Zahl von Bezugspunkten bedeutet nach Stringer eine extreme Schwächung dieser Position. Diese Beispiele verdeutlichen die Probleme, mit denen Anthropologen sich herumschlagen müssen. Es bestehen nicht nur Meinungsverschiedenheiten im Hinblick auf die Bedeutung wichtiger anatomischer Merkmale, sondern die fossile Überlieferung ist - abgesehen von Überresten der Neandertaler - weitaus spärlicher, als es den meisten Anthropologen wünschenswert erscheint (und als die meisten Fachfremden glauben). Solange diese Hindernisse nicht überwunden sind, wird eine Übereinstimmung bei den allgemeineren Fragen nicht zu erzielen sein. 122
Wir können die fossile Anatomie jedoch unter einer anderen Perspektive beurteilen. Die Neandertaler waren anscheinend von untersetzter Gestalt mit kurzen Extremitäten. Diese Statur ist eine zweckmäßige physikalische Anpassung an die kalten klimatischen Bedingungen, die in weiten Teilen ihres Verbreitungsgebiets vorherrschten. Die Anatomie der ersten modernen Menschen ist jedoch eine ganz andere. Diese Individuen waren großgewachsen, leicht gebaut und hatten lange Extremitäten. Eine magere Körperstatur ist weitaus besser an ein tropisches oder gemäßigtes Klima angepaßt, nicht an die eisigen Steppen Europas während der Eiszeit. Dieses Rätsel wäre gelöst, falls sich herausstellen sollte, daß die ersten modernen Europäer die Abkömmlinge von Zuwanderern aus Afrika waren und sich nicht in Europa entwickelt haben. Diese Beobachtung unterstützt das Modell der »Wiege Afrika«. Es gibt jedoch noch eine weitere direkte Beobachtung an der fossilen Überlieferung, die für dieses Modell spricht. Wenn die Hypothese einer multiregionalen Evolution korrekt wäre, dann müßten wir erwarten, daß überall in der Alten Welt mehr oder weniger gleichzeitig frühe Beispiele für den modernen Menschen erscheinen. Doch das ist nicht das Bild, das sich uns bietet. Die frühesten bekannten Fossilien von modernen Menschen kommen wahrscheinlich aus Südafrika. Ich sage »wahrscheinlich«, weil diese Fossilien zum einen nur als Fragmente von Kiefern vorliegen und weil zum anderen ihr Alter nicht mit letzter Sicherheit feststeht. So nimmt man beispielsweise an, daß die Fossilien aus der Border-Höhle und der Klasies-River-Mouth-Höhle, beide in Südafrika, gut hunderttausend Jahre alt sind, und führt sie als Belege für die »Wiege-Afrika-Hypothese« an. Andererseits haben auch die Fossilien moderner Menschen aus den Höhlen von Kafzeh und Skhul ein Alter von knapp hunderttausend Jahren. Es ist demnach möglich, daß die modernen Menschen zuerst in Nordafrika oder dem Vorderen Orient entstanden und von dort abgewandert sind. Die meisten Anthropologen vermu123
ten jedoch aufgrund einer Gesamteinschätzung aller Belege den Ursprung des heutigen Menschen in der Subsaharazone (s. Abb. 5.3). Bislang wurden nirgendwo sonst im übrigen Asien oder Europa fossile Überreste des modernen Menschen gefunden. Wenn darin eine evolutionäre Realität zum Ausdruck kommt und nicht nur das leidige Problem einer unvollständigen fossilen Überlieferung, dann erscheint die Hypothese von Afrika als dem Ausgangspunkt des modernen Menschen vernünftig. Die Mehrheit der Populationsgenetiker hängt dieser Hypothese an, da sie biologisch die plausibelste ist. Diese Wissenschaftler erforschen das genetische Profil innerhalb einer Art und gehen der Frage nach, wie es sich im Lauf der Zeit verändert haben könnte. Wenn Populationen einer bestimmten Art miteinander geographisch in Kontakt bleiben, dann können sich mutationsbedingte genetische Veränderungen auf dem Weg der Kreuzung ausbreiten. Das genetische Profil der Art wird sich schließlich ändern, doch wird es für die Art insgesamt einheitlich bleiben. Anders sieht das Ergebnis aus, wenn Populationen einer Art geographisch voneinander isoliert leben, weil sich vielleicht der Lauf eines Flusses geändert hat oder aufgrund einer trennenden Wüste. In diesem Fall wird eine genetische Veränderung, die in einer Population auftritt, nicht auf andere Populationen übertragen. Deshalb können isoliert lebende Populationen sich auf die Dauer genetisch immer stärker voneinander unterscheiden und möglicherweise schließlich zu verschiedenen Unterarten oder zu gänzlich verschiedenen Arten werden. Mit Hilfe mathematischer Modelle berechnen Populationsgenetiker die Geschwindigkeit, mit der eine genetische Veränderung in Populationen unterschiedlicher Größe auftreten kann, und ziehen daraus ihre Schlüsse über mögliche Prozesse in der Vergangenheit. Die meisten Vertreter dieser Disziplin, darunter auch Luigi Luca Cavalli-Sforza von der Stanford University und Shahin Rouhani vom University College in London, die 124
Abb. 5.3: Eine Fossilienkarte. Die Karte zeigt den Fundort (und das Alter in tausend Jahren) von Fossilien, die mit dem Ursprung des modernen Menschen zusammenhängen. Die Neandertaler waren auf die schraffierten Gebiete beschränkt. Die frühesten Exemplare moderner Menschen wurden in Afrika südlich der Sahara und im Nahen Osten gefunden.
sich eingehend zu der Diskussion geäußert haben, stehen der Möglichkeit einer multiregionalen Evolution skeptisch gegenüber. Sie wenden ein, daß es eines extensiven Genaustauschs innerhalb großer Populationen bedurft hätte, um diese genetisch zu vereinheitlichen und gleichzeitig einem evolutionären Wandel Raum zu geben, der sie zu modernen Menschen machte. Und wenn die jüngsten, im Frühjahr 1994 bekanntgewordenen Meßergebnisse an Fossilien des JavaMenschen korrekt sind, dann hat Homo erectus sich bereits vor rund zwei Millionen Jahren von Afrika aus nach Europa und Asien ausgebreitet. Somit hätte der Genaustausch nach der Hypothese einer multiregionalen Evolution nicht nur in125
nerhalb eines ausgedehnten geographischen Gebiets, sondern auch über einen äußerst langen Zeitraum hinweg beibehalten werden müssen. Nach Meinung der meisten Populationsgenetiker ist das eine unrealistische Annahme. Wenn prämoderne Populationen von Afrika aus nach Asien und Europa gelangt sind, dann haben sie mit größerer Wahrscheinlichkeit geographische Varianten hervorgebracht (wie wir sie tatsächlich beim archaischen Sapiens beobachten können) als ein einheitliches Ganzes.
Wir wenden uns jetzt für eine Weile von den Fossilien ab und dem menschlichen Verhalten zu, soweit es in Werkzeugen und Kunstgegenständen seinen Niederschlag gefunden hat. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, daß die meisten menschlichen Verhaltensweisen in technisch primitiven Menschengruppen keine archäologisch sichtbaren Spuren hinterlassen haben. So gehören beispielsweise zu einem von einem Schamanen geleiteten Initiationsritus die Erzählung mythischer Geschichten, Gesang, Tänze und Körperbemalung und nichts von alledem wird in der archäologischen Überlieferung sichtbar. Wenn wir also auf Steinwerkzeuge und geschnitzte oder bemalte Gegenstände stoßen, müssen wir uns stets bewußtmachen, daß sie uns nur einen winzig kleinen Einblick in die vorzeitliche Welt vermitteln. Was wir in der archäologischen Überlieferung gern erkennen würden, ist eine Art Signal des aktiven modernen menschlichen Bewußtseins. Und es wäre wünschenswert, wenn dieses Signal ein Licht auf die beiden konkurrierenden Hypothesen werfen könnte. Wenn dieses Signal beispielsweise in allen Regionen der Alten Welt mehr oder weniger gleichzeitig aufgetreten wäre, dann ließe sich dies als Hinweis verstehen, daß die Hypothese der multiregionalen Evolution mit höchster Wahrscheinlichkeit zutreffend beschreibt, wie 126
der moderne Mensch sich im Lauf der Evolution entwickelt hat. Wenn das Zeichen dagegen zuerst in einer isolierten Region erschienen wäre und sich mit der Zeit von dort aus in die übrige Welt ausgebreitet hätte, so würde dies die Alternativhypothese stützen. Darüber hinaus müßte dieses archäologische Signal im Idealfall natürlich in Einklang mit dem Muster stehen, das sich aus der fossilen Überlieferung ergeben hat. Wir haben im zweiten Kapitel gesehen, daß das Erscheinen der Gattung Homo in etwa zusammenfällt mit den Anfängen der archäologischen Überlieferung vor rund 2,5 Millionen Jahren. Wir sahen des weiteren, daß die größere Komplexität der Ansammlungen von Steinwerkzeugen vor 1,4 Millionen Jahren, von der Oldoway-Kultur (dem Oldowan) zum Acheuléen, bald nach der Evolution von Homo erectus auftrat. Die Verbindung zwischen Biologie und Verhalten ist daher sehr eng: Einfache Werkzeuge wurden vom frühesten Homo verfertigt; mit der Evolution von Homo erectus kam es zu einem qualitativen Sprung in der Vielfalt der Werkzeuge. Dieselbe Verknüpfung zeigt sich mit dem Erscheinen des archaischen Sapiens vor knapp einer halben Million Jahren. Nach über einer Million Jahren relativer Stagnation trat an die Stelle der einfachen Faustkeil-Kultur von Homo erectus eine komplexere Technik, welche die Herstellung einer Vielzahl von Werkzeugen aus großen Steinabschlägen erlaubte. Und während für das Acheuléen vielleicht ein Dutzend Werkzeuge nachweisbar sind, stieg deren Zahl jetzt auf sechzig. Das biologisch Neuartige, das wir in der Anatomie des archaischen Sapiens einschließlich des Neandertalers beobachten können, geht offenbar einher mit einer neuen Stufe technischer Fertigkeiten. Nachdem sich die neue Technik jedoch durchgesetzt hatte, änderte sie sich kaum noch. Stagnation, nicht Innovation, charakterisierte die neue Ära. Als dann schließlich doch eine Veränderung eintrat, stellte sie alles Bisherige so sehr in den Schatten, daß wir uns hüten 127
müssen, die darunterliegende Wirklichkeit nicht aus dem Blick zu verlieren. Vor rund 35.000 Jahren begannen Menschen in Europa, Werkzeuge in vollendeten Formen herzustellen, die aus fein behauenen Steinabschlägen gearbeitet waren. Erstmals wurden Knochen und Hirschhorn als Rohstoffe zur Werkzeugherstellung benutzt. Das Werkzeug umfaßte jetzt über hundert verschiedene Gerätschaften, mit denen man unter anderem grobe Kleidung herstellen, Stein oder Knochen ritzen und Plastiken bearbeiten konnte. Zum erstenmal wurden Werkzeuge und Waffen künstlerisch bearbeitet: Wurfspeere aus Geweih wurden beispielsweise mit lebensähnlichen Tierschnitzereien verziert. Perlen und Anhänger erscheinen in der fossilen Überlieferung und lassen den neuen Brauch erkennen, den Körper zu schmücken. Und Bilder auf den Wänden tiefer Felsenhöhlen geben - als ausdrucksstärkste aller Zeugnisse - Nachricht von einer geistigen Welt, in der wir sogleich die unsrige wiedererkennen. Im Gegensatz zu früheren Zeiten bestimmt jetzt die Innovation das Wesen der Kultur, und der Wandel vollzieht sich innerhalb von Tausenden und nicht Hunderttausenden von Jahren. Bekannt als jungpaläolithische Revolution, legt dieses ubiquitäre archäologische Signal in unmißverständlicher Weise Zeugnis davon ab, daß hier der moderne menschliche Geist am Werk war. Ich habe gesagt, das archäologische Signal der jungpaläolithischen Revolution könnte uns möglicherweise für die Realität blind machen. Damit meine ich, daß die bekannte archäologische Überlieferung in Westeuropa aus historischen Gründen wesentlich reichhaltiger ist als in Afrika. Auf jede archäologische Fundstätte aus jener Zeit in Afrika kommen rund zweihundert solcher Fundstätten in Westeuropa. In diesem Mißverhältnis spiegelt sich ein Unterschied im Hinblick auf die Intensität wissenschaftlicher Forschung in den beiden Kontinenten, nicht jedoch auf die Realität der Vorgeschichte. Lange Zeit hindurch galt die jungpaläolithische Revolution als 128
Hinweis, daß der Ursprung des heutigen Menschen in Westeuropa zu suchen sei. Schließlich fielen hier das archäologische Signal und die fossile Überlieferung genau zusammen beide sprechen für ein dramatisches Ereignis, das vor rund 35.000 Jahren stattfand: Vor 35.000 Jahren erschienen moderne Menschen in Westeuropa, und ihr modernes Verhalten ist unmittelbarer Bestandteil der archäologischen Überlieferung - jedenfalls nahm man das an. Diese Auffassung hat sich vor kurzem geändert. Westeuropa in vorgeschichtlicher Zeit wird jetzt als eine Art rückständiges Gebiet betrachtet, und wir können eine Veränderung feststellen, die Europa von Osten nach Westen erfaßt hat. Vor rund fünfzigtausend Jahren beginnen in Osteuropa die dort existierenden Populationen von Neandertalern zu verschwinden, verdrängt von modernen Menschen, wobei die endgültige Verdrängung im Westen vor rund 33.000 Jahren stattfindet. Das Erscheinen moderner Menschen in Westeuropa nicht nur im anatomischen, sondern auch im kulturellen Sinn erklärt sich aus dem Zustrom einer neuartigen Population von Menschen, des modernen Homo sapiens. Mit anderen Worten: Die jungpaläolithische Revolution in Europa war ein demographisches und kein evolutionäres Signal. Wenn moderne Menschen seit einer Zeit vor fünfzigtausend Jahren nach Westeuropa einwanderten, dann stellt sich die Frage, woher sie kamen. Nach den fossilen Belegen zu urteilen, ist Afrika am wahrscheinlichsten oder vielleicht der Nahe Osten. Obwohl die archäologischen Befunde sehr spärlich sind, stützen sie die Annahme, daß die Kultur des modernen Menschen ihren Ursprung in Afrika hat. Technische Fertigkeiten wie die Herstellung von Werkzeugen aus dünnen Steinklingen treten auf diesem Kontinent erstmals vor rund hunderttausend Jahren in Erscheinung. Ich erinnere daran, daß dies mit dem ersten Auftreten der Anatomie des modernen Menschen zusammenfällt und als drittes Beispiel 129
für die Verbindung von Biologie und Verhalten/Kultur herangezogen werden könnte. Diese Verbindung kann aber auch eine Illusion sein, ein bloßes Spiel des Zufalls. Ich sage das, weil wir im Nahen Osten, wo die fossile wie die archäologische Überlieferung reichhaltig ist, ein ebenso klares wie paradoxes Bild vor uns haben. Dank neuer Datierungsmethoden wissen wir inzwischen, daß Neandertaler und moderne Menschen in dieser Region nicht weniger als sechzigtausend Jahre lang praktisch nebeneinander existiert haben. (1989 wurde für den TabunNeandertaler ein Alter von mindestens hunderttausend Jahren nachgewiesen, was ihn zu einem Zeitgenossen der modernen Menschen aus Kafzeh und Skhul macht.) Während dieser ganzen Zeit ist die einzige Form der Werkzeugtechnik, die wir zu Gesicht bekommen, die des Neandertalers. Dieser Kulturstufe hat man nach der Höhle von Le Moustier in Frankreich, wo sie erstmals entdeckt wurde, die Bezeichnung Moustérien gegeben. Die Tatsache, daß die anatomisch modernen Menschenpopulationen im Nahen Osten offenbar Werkzeuge wie im Moustérien hergestellt haben und nicht die vielfältigen und neuartigen Werkzeuge, die für das Jungpaläolithikum so charakteristisch sind, bedeutet, daß sie nur in ihrem Erscheinungsbild, nicht in ihrem Verhalten modern waren. Somit erweist sich die Verbindung zwischen Anatomie und Verhalten offenbar als brüchig. Das archäologische Signal für die früheste Kultur des modernen Menschen ist schwach und sporadisch, was möglicherweise mit der bislang nur unzulänglich erschlossenen Überlieferung zusammenhängt. Obwohl die Technik zur Herstellung feiner Steinklingen zuerst in Afrika auftritt, ist es uns nicht möglich, den afrikanischen Kontinent eindeutig als Wiege der Kultur des modernen Menschen zu identifizieren und anschließend seine Expansion nach Eurasien zu verfolgen. Die dritte Belegreihe, aus der wir Schlüsse auf die Entstehung moderner Menschen ziehen könnten, die der Moleku130
largenetik, ist die am wenigsten eindeutige und zugleich die umstrittenste. In den achtziger Jahren kam eine neue Hypothese über die Ursprünge des modernen Menschen auf, die sogenannte Hypothese der mitochondrischen Eva, die im wesentlichen das Modell von der »Wiege Afrika« stützte, und zwar sehr überzeugend. Die meisten Anhänger dieser Hypothese räumen die Möglichkeit ein, daß es im Zuge der Ausbreitung moderner Menschen von Afrika aus in den restlichen Teil der Alten Welt bis zu einem gewissen Grad zu einer Vermischung mit den bereits existierenden prämodernen Menschen kam. Das würde einige Stränge einer genetischen Kontinuität von frühmenschlichen bis zu menschlichen Populationen erklären. Das Modell der mitochondrischen Eva verwirft eine solche Annahme. Es geht vielmehr davon aus, daß moderne Menschen im Zuge ihrer Abwanderung aus Afrika und ihrer zahlenmäßigen Zunahme die bestehenden modernen Populationen vollständig verdrängten. Wenn es überhaupt zu einer Vermischung zwischen den Einwanderern und den bestehenden Populationen kam, dann nur in ganz unbedeutendem Maß. Das Modell der mitochondrischen Eva entwickelte sich aus der Arbeit in zwei Laboratorien - aus der Forschung von Douglas Wallace und seinen Mitarbeitern an der Emory University in Atlanta und der von Allan Wilson und seinen Mitarbeitern an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Sie untersuchten das genetische Material oder die DNS in winzigen Organellen in der Zelle, den sogenannten Mitochondrien. Wenn das Ei einer Mutter und die Samenzelle eines Vaters sich vereinigen, dann stammen die einzigen Mitochondrien, die Bestandteil der Zellen des neugebildeten Embryos werden, vom Ei. Deshalb sind die in Mitochondrien enthaltenen DNSKetten ausschließlich über die mütterliche Linie vererbt worden. Aus einer Reihe von technischen Gründen sind die mitochondrischen DNS-Ketten besonders gut geeignet, die Gene131
rationen rückwärts zu verfolgen, um Einblicke in den Verlauf der Evolution zu gewinnen. Und da diese DNS über die mütterliche Linie vererbt wird, führt sie schließlich zurück zu einem einzigen Weibchen als »Urmutter«. Diesen Untersuchungen zufolge können moderne Menschen ihre genetischen Vorfahren bis zu einem Weibchen zurückverfolgen, das vor rund 150.000 Jahren in Afrika gelebt hat. (Wir müssen jedoch darauf hinweisen, daß dieses eine Weibchen einer Population von etwa zehntausend Individuen angehört hat; es war keine einsame Eva mit ihrem Adam.) Die genannten Untersuchungen sprachen nicht nur für Afrika als die Wiege des modernen Menschen; es ließen sich ihnen auch keine Hinweise auf eine Vermischung mit den bereits existierenden Populationen entnehmen. Alle bislang untersuchten Stichproben mitochondrischer DNS aus heute lebenden Populationen von Menschen sind einander bemerkenswert ähnlich, was auf einen gemeinsamen, nicht allzuweit zurückliegenden Ursprung schließen läßt. Wenn eine genetische Vermischung zwischen dem modernen und dem archaischen Sapiens stattgefunden hätte, dann müßten die mitochondrischen DNS-Ketten mancher Menschen deutlich vom Durchschnitt abweichen und ihren alten Ursprung erkennen lassen. Bislang wurden über viertausend Menschen aus den verschiedensten Regionen der Erde getestet, ohne daß man auf eine derart alte DNS gestoßen wäre. Sämtliche Typen von mitochondrischer DNS aus heutigen Populationen, die man untersucht hat, sind offenbar jüngeren Ursprungs. Dem läßt sich entnehmen, daß die modernen Zuwanderer die früheren Populationen vollständig verdrängt haben - ein Prozeß, der vor 150.000 Jahren in Afrika einsetzte und sich in den folgenden 100.000 Jahren über Eurasien ausgedehnt hat. Als Allan Wilson und seine Mitarbeiter ihre Ergebnisse im Januar 1987 in der Zeitschrift Nature erstmals veröffentlichten, wurden diese Schlußfolgerungen mutig ausgesprochen, 132
was bei den Anthropologen große Bestürzung und in der Öffentlichkeit starkes Interesse auslöste. Wie Wilson und seine Mitarbeiter schrieben, ließen ihre Daten erkennen, daß »der Wandel von archaischen zu modernen Formen von Homo sapiens sich zuerst in Afrika vor etwa 100.000 bis 140.000 Jahren vollzogen hat und alle heute lebenden Menschen von dieser Population abstammen«. (Spätere Untersuchungen erbrachten geringfügig frühere Daten.) Douglas Wallace und seine Mitarbeiter unterstützten im großen und ganzen die Schlußfolgerungen der Berkeley-Gruppe. Milford Wolpoff blieb bei seinem Modell einer multiregionalen Evolution und kritisierte die Daten und Untersuchungen als zweifelhaft; doch Wilson und seine Mitarbeiter setzten ihre Untersuchungen fort, erhoben weitere Daten und erklärten schließlich, ihre Schlußfolgerungen seien statistisch hieb- und stichfest. Vor kurzem wurden allerdings einige statistische Probleme der Untersuchungen festgestellt, und die Forscher mußten einräumen, daß ihre Schlußfolgerungen nicht auf ganz so festen Füßen standen wie ursprünglich behauptet. Dennoch sind viele Molekularbiologen nach wie vor überzeugt, daß die anhand der mitochondrischen DNS erhobenen Daten die Hypothese von der »Wiege Afrika« genügend stützen. Und wir sollten hinzufügen, daß sich auch bei konventionelleren genetischen Befunden, die an den DNSKetten im Zellkern erhoben wurden, ein Muster ähnlicher Art abzeichnet wie bei den mitochondrischen DNS-Ketten.
Aus der Hypothese, moderne Menschenpopulationen hätten alteingesessene prämoderne Populationen ganz oder teilweise verdrängt, ergibt sich zwangsläufig die Frage, wie dieser Verdrängungsprozeß sich abgespielt hat. Nach Milford Wolpoff müßten wir in diesem Fall von einem gewaltsamen Genozid ausgehen. Wir kennen Beispiele für eine Ausrottung 133
der Urbevölkerung durch Einwanderer aus Nord- und Südamerika und Australien im 19. Jahrhundert. Und es mag solche Fälle auch in vorgeschichtlicher Zeit gegeben haben, obwohl wir bislang nicht die Spur eines Beweises dafür haben. Da wir über keine präzisen Anhaltspunkte verfügen, sind wir genötigt, nach möglichen Alternativen zu einem Genozid Ausschau zu halten. Falls diese Suche erfolglos bleibt, gewinnt die Hypothese vom Genozid an Gewicht, bleibt jedoch unbewiesen. Ezra Zubrow, Anthropologe an der Universität von New York in Buffalo, hat eine solche Alternative durchgespielt, indem er Computermodelle von zwei interagierenden Populationen entwickelte, von denen die eine einen geringfügigen selektiven Vorteil gegenüber der anderen aufweist. Mit Hilfe dieser Simulationsmodelle läßt sich feststellen, wie groß der selektive Vorteil der überlegenen Population sein muß, wenn sie die unterlegene innerhalb relativ kurzer Zeit verdrängen soll. Die Antwort ist verblüffend: Bereits ein Vorteil von nur zwei Prozent kann innerhalb eines Jahrtausends zur Verdrängung der zweiten Population führen. Wir haben keine Schwierigkeit, uns vorzustellen, wie eine Population eine andere aufgrund militärischer Überlegenheit vernichten kann. Es ist jedoch wesentlich schwieriger für uns zu verstehen, wie ein geringfügiger Vorteil beispielsweise bei der Nutzung von Nahrungsressourcen sich im Verlauf einer relativ kurzen Zeitspanne mit katastrophalen Konsequenzen auswirken kann. Wenn moderne Menschen einen geringfügigen Vorteil gegenüber Neandertalern hatten, wie sollen wir uns dann die offensichtliche Koexistenz dieser beiden Populationen während eines Zeitraums von nicht weniger als sechzigtausend Jahren im Nahen Osten erklären? Eine Erklärung ist die, daß der moderne Mensch sich in anatomischer Hinsicht bereits entwickelt hatte, während die moderne Kultur erst später kam. Eine zweite, von vielen akzeptierte Erklärung 134
lautet, daß die Koexistenz der beiden Populationen nur scheinbar bestand. Es ist möglich, daß die verschiedenen Populationen die Region abwechselnd bevölkerten. In kälteren Zeiten zogen die modernen Menschen nach Süden, und die Neandertaler bevölkerten den Nahen Osten; in wärmeren Zeiten verlief der Prozeß umgekehrt. Da eine exakte zeitliche Einordnung von Höhlenablagerungen kaum möglich ist, kann diese Form der »gemeinsamen« Nutzung einer Region den Eindruck einer Koexistenz erwecken. Es ist jedoch erwähnenswert, daß dort, wo wir zuverlässig von einer Koexistenz von Neandertalern und modernen Menschen wissen - in Westeuropa vor 35.000 Jahren -, dieses Zusammenleben höchstens ein- bis zweitausend Jahre währte, was mit Zubrows Modell in Einklang steht. Zwar beweisen die Ergebnisse Zubrows nicht eindeutig, daß die modernen Menschen die Ureinwohner, wo sie ihnen begegnet sind, durch einen selektiven Vorteil verdrängt haben, aber sie beweisen, daß ein gewalttätiger Genozid nicht die einzig denkbare Möglichkeit einer Verdrängung war.
Was bedeutet das alles für uns? Die wichtige Frage nach dem Ursprung der heutigen Menschen bleibt trotz der vielfältigen Informationen, mit denen man ihr zu Leibe gerückt ist, unbeantwortet. Ich persönlich bin der Überzeugung, daß die Hypothese von der multiregionalen Evolution sich wohl kaum bewahrheiten dürfte. Ich vermute, daß der moderne Homo sapiens als singuläres evolutionäres Ereignis irgendwo in Afrika seinen Ursprung hat; ich vermute aber auch, daß die Nachfahren dieser ersten echten Menschen sich im Verlauf ihres Vordringens nach Eurasien mit den dortigen Bevölkerungen vermischt haben. Warum sich das nicht in genetischen Merkmalen, wie sie gegenwärtig interpretiert werden, niedergeschlagen hat, weiß ich nicht. Möglicherweise ist die ge135
genwärtige Interpretation des genetischen Befunds irrig. Oder die Hypothese von der mitochondrischen Eva wird sich am Ende doch als die richtige erweisen. Diese Ungewißheit wird wahrscheinlich eher behoben, wenn der Lärm der Debatte abschwillt und neue Belege gefunden werden, welche die eine oder die andere Hypothese zu bestätigen scheinen.
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Die Sprache der Kunst Es steht außer Zweifel, daß einige der eindrucksvollsten Überreste der menschlichen Vorgeschichte die Bilder von Tieren und Menschen sind - als Malereien, Ritzungen oder Plastiken -, die in den letzten dreißigtausend Jahren angefertigt wurden. Zu dieser Zeit hatten sich die modernen Menschen entwickelt und einen Großteil der Alten, doch wahrscheinlich noch nicht die Neue Welt in Besitz genommen. Wo immer Menschengrupen lebten - in Afrika, Asien, in Europa und Australien -, brachten sie Bilder ihrer Welt hervor. Der Drang, bildliche Darstellungen zu produzieren, war anscheinend unwiderstehlich, und die Bilder selbst haben eine überwältigende Aussagekraft. Darüber hinaus sind sie geheimnisvoll. Eines meiner unvergeßlichen Erlebnisse als Anthropologe war der Besuch einiger Höhlen mit Felsbildern in Südwestfrankreich 1980. Ich machte Filmaufnahmen für die BBC und hatte so Gelegenheit, etwas zu sehen, was nur wenige zu Gesicht bekommen konnten, darunter auch die berühmte Höhle von Lascaux in der Nähe von Les Eyzies in der Dordogne. Als von allen am reichsten mit Felsbildern ausgestattete Höhle aus dem eiszeitlichen Europa wurde Lascaux im Jahr 1963 für die Öffentlichkeit gesperrt, um die Bilder in einem unversehrten Zustand zu erhalten; zur Zeit ist die Zahl der täg137
lichen Besucher auf fünf beschränkt. Zum Glück hat man vor kurzem ein ausgezeichnetes Duplikat der bemalten Höhlenwände fertiggestellt, so daß es wieder möglich ist, die Bilder zu besichtigen. Mein Besuch in der authentischen LascauxHöhle 1980 erinnerte mich an eine Zeit, dreieinhalb Jahrzehnte zuvor, als ich die Höhle mit meinen Eltern und Henri Breuil, dem berühmtesten Prähistoriker Frankreichs, besucht hatte. Die Bilder von Stieren, Wildpferden und Hirschen zogen mich bei dieser Gelegenheit ebenso in ihren Bann wie damals, als ich noch ein Kind war, kommt es einem doch so vor, als bewegten sie sich vor den Augen des Betrachters. So spektakulär Lascaux auch ist, die Höhle de Tuc d'Audoubert im Departement Ariège ist einmalig und atemberaubend. Sie ist eine von insgesamt drei bemalten Höhlen auf einem Areal, das dem Grafen Robert Bégouën gehört. Ein schmaler-, gewundener Gang führt aus dem hellen Sonnenlicht mehrere Kilometer in die tiefste Finsternis. Die Taschenlampe des Grafen belebt die Wände mit tanzenden Schatten, und der Lehmfußboden leuchtet orange. Schließlich erreicht man am Ende des Ganges eine kleine Rundkammer, und der Graf richtet seine Lampe mit entsprechender Dramatik auf einen Punkt in der Mitte der Kammer, wo die Decke leicht schräg zum Boden hin abfällt. Dort erblickt man die Figuren von zwei wunderbar aus Lehm modellierten Wisenten gegen die Felswand gelehnt. Ich kannte natürlich Bilder von diesen berühmten Figuren, doch nichts hatte mich auf die Realität vorbereitet. Ein Sechstel der natürlichen Größe messend, sind sie vollkommen geformt und in ihrer Reglosigkeit voller Bewegung; sie sind eine Verkörperung des Lebens. Das Geschick der Künstler oder Künstlerinnen, von denen diese Figuren vor fünfzigtausend Jahren geschaffen wurden, erfüllt einen mit Staunen, vor allem, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen sie gearbeitet haben müssen. Unter Zuhilfenahme von einfachen Lampen, die mit Talg gespeist wurden, holten sie Ton aus 138
einer benachbarten Kammer und schufen die Gestalt der Tiere mit ihren Fingern und einem flachen Werkzeug; Augen, Nüstern, Maul und Mähne wurden mit einem spitzen Stock oder Knochen modelliert. Nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten, beseitigten sie sorgfältig den größten Teil der Abfälle und ließen lediglich einige würstchenförmige Tonklumpen zurück. Ursprünglich als Phalli oder Hörner gedeutet, werden sie heute als Proben interpretiert, an denen die Bildhauer die Formbarkeit des Materials prüften. Die Gründe für die plastische Darstellung der Wisente sowie die näheren Umstände, unter denen sie angefertigt wurden, sind nicht überliefert. Eine dritte Figur ist grob in den Boden der Höhle in der Nähe der beiden anderen eingeritzt, und es gibt noch eine Statuette von geringer Größe und ebenfalls aus Ton modelliert. Am verwirrendsten sind jedoch Fußabdrücke, vermutlich von Kindern, in der Nähe der Figuren. Spielten die Kinder, während die Künstler und Künstlerinnen arbeiteten? Wenn es sich so verhielt, warum haben diese nicht ebenfalls Fußabdrücke hinterlassen? Entstanden die Abdrücke während eines Rituals, das Bestandteil der jungpaläonthologischen Mythologie war und in dem Wisente eine zentrale Rolle spielten? Wir wissen es nicht und werden es vermutlich nie erfahren. Wie der südafrikanische Archäologe David Lewis-Williams von der prähistorischen Kunst bemerkt hat, ist »Bedeutung stets kulturgebunden«. Lewis-Williams, der an der Universität des Witwatersrand arbeitet, hat die Kunst der in der Kalahari lebenden !Kung San erforscht, um auf diesem Weg etwas über die Bedeutung der prähistorischen Kunst einschließlich der des eiszeitlichen Europa zu erfahren. Er erkennt, daß sich die künstlerische Aussage als rätselhafter Faden durch das Gespinst des Kulturgewebes einer Gesellschaft schlingen kann. Mythologie, Musik und Tanz sind ebenfalls Bestandteile dieses Gewebes: Jeder Faden trägt zum Sinn des Ganzen bei, doch für sich allein genommen bleibt er zwangsläufig Stückwerk. 139
Selbst wenn wir jenen Ausschnitt des jungpaläolithischen Lebens zu sehen bekämen, in dem die Höhlenmalereien ihre Rolle gespielt haben, könnten wir dann die Bedeutung des Ganzen erfassen? Ich bezweifle es. Wir brauchen nur an die Erzählungen späterer Religionen zu denken, aus denen für uns die wichtige Rolle bestimmter kryptischer Symbole hervorgeht, die außerhalb der Kultur, der sie zugehören, bedeutungslos sein mögen. Man denke nur daran, wieviel Sinn für einen Christen in dem Bild liegt, das einen Mann mit einem Stab in der Hand und einem Lamm zu seinen Füßen zeigt. Was soll jemand, der noch nie etwas vom Christentum gehört hat, mit diesem Bild anfangen? Ich will damit nicht sagen, daß wir die Hoffnung aufgeben sollten, sondern möchte lediglich zur Vorsicht raten. Die alten Bilder, vor denen wir heute stehen, sind die Bruchstücke einer alten Geschichte, und obwohl der Drang, ihre Bedeutung herauszufinden, vielleicht unwiderstehlich ist, tun wir gut daran, die wahrscheinlichen Grenzen unserer Erkenntnis zu akzeptieren. Außerdem hat es eine starke und vermutlich unvermeidliche Verzerrung in der westlichen Wahrnehmung prähistorischer Kunst gegeben. Eine Folge davon war ein mangelndes Interesse an der prähistorischen Kunst Ost- und Südafrikas, die mindestens ebenso alt und zum Teil sogar noch älter ist. Eine zweite Folge bestand darin, daß wir die Kunst mit unseren westlichen Augen gesehen haben: als bestände sie aus Bildern, die in Museen aufgehängt sind, aus Objekten, die man einfach nur betrachtet. So hat der große französische Prähistoriker André Leroi-Gouran sogar einmal die Bilder der Eiszeit als »die Ursprünge westlicher Kunst« bezeichnet. Das ist zweifellos nicht der Fall, da gegenständliche Bilder und Ritzzeichnungen zum Ende der Eiszeit, vor zehntausend Jahren, fast völlig verschwanden und von schematischen Bildern und geometrischen Mustern abgelöst wurden. Viele der Techniken, die man in Lascaux angewandt hatte, wie die Perspektive und der Eindruck von Bewegung, muß140
ten in der westlichen Kunst, in der Renaissance, erst wieder neu erfunden werden.
Bevor wir uns einigen der Versuche zuwenden, vermittels der alten Bilder einen Einblick in das Leben im Jungpaläolithikum zu gewinnen, möchte ich einen kurzen Überblick über die Kunst der letzten Eiszeit geben. Die betreffende Periode begann vor 35.000 Jahren und endete vor etwa zehntausend Jahren mit dem Ende der Eiszeit selbst. Wie wir uns erinnern, taucht in dieser Zeit in Westeuropa zum erstenmal anspruchsvolle Technik auf, die sich rasch weiterentwickelte, als folgte sie einer Mode. Die Abfolge von Änderungen wird markiert durch Namen, die jeder neuen Spielart der jungpaläolithischen Kulturstufe gegeben wurden, und wir können uns dieser Kategorien bedienen, wenn wir die Veränderungen in der Kunst der Eiszeit näher betrachten. Das Jungpaläolithikum beginnt im wesentlichen mit dem Aurignacien, vor 34.000 bis 30.000 Jahren. Zwar sind aus jener Zeit keine Höhlen mit Felsbildern bekannt, doch die damaligen Menschen verwendeten große Mühen auf die Verfertigung kleiner Perlen aus Elfenbein, vermutlich als Schmuck für Kleider. Außerdem schufen sie außergewöhnliche Menschen- und Tierfiguren, zumeist als Elfenbeinschnitzereien. So hat man beispielsweise in der Vogelherdhöhle bei Heidenheim ein halbes Dutzend winziger Elfenbeinplastiken von Mammuts und Wildpferden geborgen. Eines der Pferdefigürchen ist so kunstvoll gearbeitet, daß es seinesgleichen im gesamten Jungpaläolithikum sucht. Wie schon gesagt, spielte die Musik sicherlich eine wichtige Rolle im Leben dieser Menschen, wofür wir ebenfalls ein Zeugnis haben, nämlich eine kleine, aus einem Knochen hergestellte Flöte aus dem Abri Blanchard in Südwestfrankreich. Die Menschen der nächstfolgenden Kulturstufe, des Gra141
vettien, das in die Zeit vor 30.000 bis 22.000 Jahren fällt, haben als erste Tonfigürchen modelliert, die sowohl Menschen als auch Tiere darstellen. Höhlenmalereien in dieser Periode des Jungpaläolithikums sind selten, doch in manchen Höhlen hat man negative Handabdrücke gefunden, die wahrscheinlich so entstanden sind, daß man eine Hand auf die Wand auflegte und mit einem Röhrchen Farbpulver darüber blies. (Ein etwas makabres Beispiel dieser Praxis ist in der Fundstätte von Gargas in den französischen Pyrenäen gefunden worden, wo man über zweihundert Abdrücke gezählt hat, an denen fast überall mindestens ein Fingerglied fehlt.) Die berühmtesten Neuerungen des Gravettien sind jedoch die weiblichen Figürchen, häufig ohne Gesichtszüge und Unterschenkel. Aus Ton, Elfenbein oder Calcit gefertigt, wurden sie überall in Europa aufgefunden und im allgemeinen als »Venusstatuetten« bezeichnet. Eine Zeitlang nahm man an, sie seien rituelle Idolplastiken eines in ganz Europa bekannten weiblichen Fruchtbarkeitskults. Neuere und genauere Untersuchungen haben jedoch ergeben, daß diese Statuetten sich in ihrer Formgebung stark unterscheiden, und nur noch wenige Forscher sind von der Hypothese eines Fruchtbarkeitskults überzeugt. Die Höhlenmalereien, denen die größte Aufmerksamkeit des Publikums gilt, begannen im Solutréen des Jungpaläolithikums, vor 22.000 bis 18.000 Jahren. Herausragender waren jedoch andere Formen des künstlerischen Ausdrucks. So hatte etwa das Meißeln großer, eindrucksvoller Flachreliefs, häufig in der Nähe von Wohnstätten, für die Angehörigen dieser Kulturstufe eine offenbar größere Bedeutung. Ein wunderbares Beispiel ist in der Fundstätte Roc de Sers in der Charente geborgen worden, wo große Figuren von Wildpferden, Wisenten, Rentieren, Bergziegen und ein Mensch auf der Rückseite eines Abri aus dem Felsen gehauen wurden; einige dieser Figuren stehen bis zu fünfzehn Zentimeter als Relief hervor. 142
Die letzte Stufe des Jungpaläolithikums, das Magdalénien vor achtzehntausend bis elftausend Jahren, war die Blütezeit der Höhlenmalerei. Achtzig Prozent aller bemalten Höhlen datieren aus dieser Zeit: Lascaux ebenso wie Altamira, eine ähnlich spektakuläre Höhle in der kantabrischen Region Nordspaniens. Die Menschen des Magdalénien waren außerdem begabte Bildhauer und schnitzten Objekte aus Stein, Knochen und Elfenbein - teils Gebrauchsgegenstände wie Speerschleudern, zum Teil aber auch nicht, so zum Beispiel (vielleicht:) »Taktstöcke«. Obwohl man häufig liest, in der Kunst der Eiszeit begegne man nur selten Darstellungen von Menschen, gilt dies nicht für das Magdalénien. Die Menschen dieser Periode, die in der Nähe der Höhle von La Marche in Südwestfrankreich lebten, haben über hundert Profile von Menschenköpfen in die Höhlenwände eingeritzt, jedes einzelne so individuell, daß man den Eindruck von Porträts hat.
Die spektakuläre bemalte Decke von Altamira wäre vielleicht für immer unentdeckt geblieben, wäre Maria nicht gewesen, das kleine Töchterchen von Don Marcellion de Sautuola, der das Bauerngut besaß, auf dessen Gelände die Höhle liegt. Eines Tages im Jahr 1879 erkundeten Vater und Tochter die Höhle, die ein Jahrzehnt zuvor entdeckt worden war. Maria betrat eine kleine Kammer, die ihr Vater bereits erforscht hatte. Sie »rannte in der Kammer herum und spielte mal hier mal da«, wie sie sich später erinnerte. »Plötzlich entdecke ich Formen und Gestalten an der Decke. ›Sieh mal, Papa, Ochsen!‹, rief ich.« Im flackernden Licht einer Öllampe erblickte sie etwas, das siebzehntausend Jahre lang niemand mehr gesehen hatte: Bilder von zwei Dutzend Wisenten, die zu einem Kreis gruppiert waren, und dahinter zwei Wildpferde, ein Wolf, drei Eber und drei Hirschkühe. Sie waren in Rot, Gelb 143
und Schwarz gemalt und wirkten so frisch, als wären die Bilder gerade erst vollendet worden. Der Vater Marias, ein begeisterter Amateurarchäologe, sah mit Staunen, was ihm entgangen und von seiner Tochter aufgespürt worden war; er erkannte sogleich die große Bedeutung dieser Entdeckung. Leider folgten ihm die Prähistoriker seiner Zeit darin nicht: Die Bilder waren so leuchtend und lebendig, daß sie sie für das Werk eines Künstlers aus jüngster Zeit hielten. Ihrer Ansicht nach wirkten die Bilder zu gut, zu realistisch und zu kunstvoll, um von Primitiven geschaffen zu sein. Zu dieser Zeit hatte man mehrere bewegliche Kunstobjekte aufgefunden, mit Schnitzereien verzierte Knochen und Geweihteile. Damit war die vorgeschichtliche Kunst als eine Realität anerkannt. Bilder hatte man jedoch bislang noch nicht als prähistorisch akzeptiert. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß kurz vor der Entdeckung der Bilder von Altamira Léopold Chiron, ein Lehrer, in der Höhe von Chabot in Südwestfrankreich Ritzzeichnungen fand, die freilich schwierig zu entziffern waren. Die Fachwelt zögerte, sie als Belege für jungpaläolithische Felsmalerei zu akzeptieren. Der britische Archäologe Paul Bahn hat dazu bemerkt: »Während die Bilder von Chabot zu bescheiden waren, um Eindruck zu machen, waren die von Altamira zu prächtig, um glaubhaft zu sein.« Als de Sautuola im Jahr 1888 starb, galt Altamira noch immer als durchsichtiges Fälschungsmanöver. Erst mit der fortgesetzten Entdeckung neuer, wenngleich weniger beeindruckender Höhlenmalereien, vor allem in Frankreich, wurde Altamira schließlich als echte vorgeschichtliche Höhle akzeptiert. Die bedeutendste der damals entdeckten Höhlen war die von La Mouthe in der Dordogne. Ausgrabungen von 1895 bis zur Jahrhundertwende brachten Felsbilder ans Licht, darunter einen eingeritzten Wisent und mehrere gemalte Bilder. Einige dieser Bilder waren unter Ablagerungen aus dem 144
Jungpaläolithikum verschüttet, was ihr hohes Alter bewies. Außerdem wurde in der Höhle das erste Beispiel einer paläolithischen, aus Sandstein geschnitzten Lampe gefunden, die den Künstlern das Arbeiten ermöglicht hatte. Die Fachleute änderten allmählich ihre Meinung, und bald wurden die paläolithischen Felsbilder als echt akzeptiert. Der berühmteste Meilenstein auf dem Weg dorthin war ein Aufsatz von Emile Carthailac, einem führenden Vertreter jener Wissenschaftler, die an einen Betrug geglaubt hatten, mit dem Titel »Schuldbekenntnis eines Ungläubigen«, der 1902 erschien. »Wir haben keinen Grund mehr, an Altamira zu zweifeln«, schrieb er. Zwar wurde dieser Aufsatz zu einem klassischen Beispiel dafür, daß ein Wissenschaftler einen Irrtum eingestand, doch sein Ton ist eher widerwillig, und Carthailac versucht seine frühere Skepsis zu rechtfertigen. Anfangs sah man in den eiszeitlichen Malereien »einfach absichtsloses Gekritzel, Graffiti, müßiges Spiel: gedankenlose Ornamente von Jägern, die gerade nichts anderes zu tun hatten«, wie Bahn es ausgedrückt hat. Diese Interpretation erklärt sich nach seinen Worten aus dem damals in Frankreich herrschenden Kunstverständnis: »Die Kunst wurde noch immer unter dem Aspekt der vergangenen Jahrhunderte gesehen mit ihren Porträts, Landschaftsdarstellungen und Bildern, die etwas erzählten. Es war einfach ›Kunst‹, ihre einzige Funktion war zu gefallen und zu schmücken.« Außerdem waren einige einflußreiche französische Prähistoriker fanatische Antiklerikale und sträubten sich dagegen, den Menschen des Jungpaläolithikums Äußerungen eines religiösen Gefühls zuzuschreiben. Diese frühe Interpretation war zweifellos nicht unbegründet, vor allem da die ersten Beispiele für Kunst bewegliche Objekte - tatsächlich einen einfachen Eindruck machten. Mit der späteren Entdeckung der Felsbilder änderte sich diese Auffassung jedoch. Sie waren im Hinblick auf die Häufigkeit der dargestellten Tiere im Vergleich zu ihrem natürlichen Vorkommen kein Spiegel des wirklichen Lebens; 145
und es gab auch rätselhafte Bilder, geometrische Zeichen, die nichts Erkennbares darstellten. John Halverson von der Universität von Kalifornien in Santa Cruz hat vor kurzem vorgeschlagen, die Prähistoriker sollten zur Interpretation der »Kunst um der Kunst willen« zurückkehren. Seiner Meinung nach dürfen wir nicht erwarten, daß sich das menschliche Bewußtsein im Verlauf unserer Evolution sogleich in seinem ganzen Umfang entfaltet hat, sondern müssen uns damit abfinden, daß die ersten Beispiele der Kunst in der Urgeschichte eher einfältig sind, weil das Denken dieser Menschen einfach war. Die Malereien von Altamira machen einen schlichten Eindruck: Auf den Bildern erscheinen Wildpferde, Wisente und andere Tiere einzeln oder in Gruppen, doch kaum in einer auch nur annähernd naturalistisch wirkenden Umgebung. Die Tiere selbst sind naturgetreu wiedergegeben, aber aus jedem Zusammenhang gerissen. Nach Halverson spricht dies dafür, daß die Künstler und Künstlerinnen der Eiszeit einfach Ausschnitte aus ihrer Umwelt gemalt oder geritzt haben, ohne damit irgendeine mythologische Bedeutung zu verbinden. Mich vermag dieses Argument nicht zu überzeugen. Einige wenige Beispiele aus den Bildern der Eiszeit genügen für den Nachweis, daß diese Kunst mehr ist als die ersten Gehversuche des modernen Bewußtseins. So befindet sich etwa in einer der anderen Höhlen auf dem Grundbesitz des Grafen Bégouën, der Höhle Les Trois Frères, das Bild einer Chimäre, halb Tier und halb Mensch, dem man die Bezeichnung »der Zauberer« gegeben hat. Das Geschöpf steht auf den Hinterbeinen, sein Gesicht ist dem Betrachter zugewandt. Mit einem großen Elchgeweih auf dem Kopf wirkt es, als sei es aus den Körperteilen vieler verschiedener Tiere, einschließlich des Menschen, zusammengesetzt. Das ist kein einfaches, »durch keine kognitive Reflexion gebrochenes« Bild, wie Halverson uns glauben machen möchte. Dasselbe gilt für das erste Geschöpf in der Halle der Stiere in Lascaux. Bekannt als das Ein146
horn, soll dieses Geschöpf möglicherweise einen als Tier verkleideten Menschen oder eine Chimäre darstellen. Viele weitere solche Abbildungen überzeugen uns zur Genüge davon, daß wir es hier mit Bildern zu tun haben, an deren Anfang sehr wohl eine »kognitive Reflexion« stand. Besonders bedeutsam ist jedoch, daß die Bilder komplexer sind, als aus Halversons Kommentar hervorgeht. Wie schon gesagt, sind die Bilder und Ritzzeichnungen keine naturalistischen Szenen aus der eiszeitlichen Welt. Nirgends findet sich so etwas wie ein Landschaftsbild. Und nach den Überresten von Tieren an den Wohnplätzen dieser Menschen zu urteilen, waren die auf diesen Bildern dargestellten Tiere auch nicht ihr bevorzugtes Jagdwild. Die Maler des Jungpaläolithikums hatten Pferde und Wisente im Kopf und Fleisch von Rens und Schneehühnern im Magen. Die Tatsache, daß manche Tiere auf Felsbildern wesentlich häufiger vertreten sind, als sie es damals in der Realität waren, ist sicherlich kein Zufall: Offenbar hatten sie für die Künstler eine besondere Bedeutung.
Die erste umfassende Hypothese zur Erklärung, warum die Menschen des Jungpaläolithikums gerade diese und keine anderen Bilder gemalt haben, führte die Jagdmagie an. Um die Jahrhundertwende erfuhren die Anthropologen, daß die Malereien der australischen Aborigines Bestandteile magischer und totemistischer Rituale waren zu dem Zweck, das Gelingen eines bevorstehenden Jagdunternehmens zu fördern. Im Jahr 1903 behauptete der Religionshistoriker Salomon Reinach, dasselbe könne auf die Kunst des Jungpaläolithikums zutreffen: In beiden Gesellschaften wurden bestimmte Tierarten weit häufiger, als sie in der Natur vorkamen, auf Bildern dargestellt. Die Menschen des Jungpaläolithikums haben diese Bilder möglicherweise gemalt, um die Zahl ihrer 147
Totem- und Beutetiere zu erhöhen, so wie dies von den australischen Aborigines bekannt war. Henri Breuil übernahm Reinachs Ideen und entwickelte und förderte sie im Verlauf seiner langen beruflichen Laufbahn nach Kräften. Fast sechzig Jahre lang dokumentierte, kartographierte, kopierte und zählte er Felsbilder überall in Europa. Außerdem legte er eine Chronologie für die Evolution der Kunst während des Jungpaläolithikums an. Während dieser Zeit interpretierte Breuil weiterhin diese Kunst als Jagdmagie, nicht anders als die Mehrzahl der etablierten Archäologen. Eine offensichtliche Schwachstelle dieser Hypothese bestand darin, daß auf den Höhlenwänden häufig Tiere abgebildet wurden, die den Menschen des Jungpaläolithikums gar nicht zur Nahrung dienten. Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss hat einmal bemerkt, daß in der Kunst der in der Kalahari lebenden San und der australischen Aborigines bestimmte Tiere nicht darum besonders häufig dargestellt worden seien, weil sie sich »gut zum Essen«, sondern weil sie sich »gut zum Denken« eigneten. Als Breuil 196l starb, war die Zeit reif für eine neue Sichtweise. Eingeleitet wurde sie durch André Leroi-Gourhan, der als Prähistoriker ebenso prominent werden sollte wie Breuil. Leroi-Gourhan suchte nach einer Struktur in der Kunst, nach einer Bedeutung in den Mustern zahlreicher Bilder, nicht in einzelnen Bildern, wie Breuil es getan hatte. Er führte eingehende Untersuchungen der Höhlen mit Felsmalereien durch und erkannte schließlich wiederholte Muster, bei denen bestimmte Tiere bestimmte Teile der Höhlen »besetzten«. Rotwild erschien beispielsweise häufig an den Wänden von Zugängen, in der Regel jedoch nicht in Hauptkammern. Hier waren Wildpferde, Wisente und Ochsen vorherrschend. Fleischfresser kamen zumeist tief im Innern des Höhlenlabyrinths vor. Außerdem repräsentierten einige Tiere Männlichkeit und andere Weiblichkeit. Das Pferd zum Beispiel stand 148
für Männlichkeit, der Wisent für Weiblichkeit; Rothirsch und Steinbock waren ebenfalls männlich, Mammut und Ochse dagegen weiblich. Für Leroi-Gourhan brachte die in den Bildern herrschende Ordnung eine Ordnung innerhalb der jungpaläolithischen Gesellschaft zum Ausdruck, nämlich die Trennung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit. Eine französische Archäologin, Annette Laming-Emperaire, entwickelte ein ähnliches Konzept von einem Dualismus zwischen weiblich und männlich. Die beiden Wissenschaftler waren sich jedoch vielfach uneinig darüber, welche Bilder nun für das eine und welche für das andere Prinzip standen. Diese mangelnde Übereinstimmung führte schließlich dazu, daß das Modell wieder aufgegeben wurde. Die Idee, daß möglicherweise die Höhlen selbst dem künstlerischen Ausdruck eine Struktur verliehen, ist vor kurzem wieder aufgegriffen worden, allerdings auf eine höchst ungewöhnliche Weise. Die französischen Archäologen Iégor Reznikoff und Michel Dauvois haben eingehende Untersuchungen von drei ausgeschmückten Höhlen im Departement Ariège in Südwestfrankreich angestellt. Entgegen der bisherigen Übung suchten sie jedoch weder nach Steinwerkzeugen noch nach gravierten Objekten oder neuen Bildern. Statt dessen sangen sie. Genauer gesagt, sie bewegten sich langsam durch die Höhlengänge und hielten wiederholt inne, um die jeweilige Resonanz zu prüfen. Mit Hilfe von gesungenen Tönen, die sich über drei Oktaven erstreckten, erstellten sie eine Resonanzkarte jeder Höhle und machten dabei die Entdeckung, daß die Höhlenregionen mit der stärksten Resonanz in den meisten Fällen auch diejenigen waren, die gemalte Bilder oder Ritzzeichnungen enthielten. In ihrem Bericht, den sie Ende 1988 veröffentlichten, äußerten sich Reznikoff und Dauvois über die verblüffende Wirkung der unterschiedlichen Resonanz, die zweifellos in dem flackernden Licht einfacher Dochtlampen damals in der Eiszeit noch verstärkt wurde. 149
Es bedarf nur geringer Einbildungskraft, um sich die Menschen des Jungpaläolithikums vorzustellen, die im Angesicht der Felsbilder beschwörende Gesänge anstimmten. Die ungewöhnliche Natur der Bilder sowie die Tatsache, daß diese sich häufig gerade in den unzugänglichsten Tiefen der Höhlen befanden, legt die Vermutung von Ritualen nahe. Wenn man heute vor einer Schöpfung der Eiszeit steht, wie ich vor dem Wisent in Le Tue d'Audoubert, dann drängen sich dem Betrachter die uralten Stimmen auf, begleitet möglicherweise von Trommeln, Flöten und Pfeifen. Die faszinierende Entdeckung von Reznikoff und Dauvois lenkt in den Worten des Archäologen Chris Scarre von der Universität Cambridge »erneut die Aufmerksamkeit auf die wahrscheinlich große Bedeutung von Musik und Gesang in den Ritualen unserer frühen Vorfahren«. Als Leroi-Gourhan 1986 starb, waren die Prähistoriker wiederum bereit zu einer umfassenden Neuorientierung ihrer Interpretationen, so wie es beim Tod Henri Breuils der Fall gewesen war. Heute spricht für die Forscher nichts dagegen, die unterschiedlichsten Erklärungen gelten zu lassen, doch stets wird dabei der kulturelle Kontext betont, und man ist sich in stärkerem Maß der Gefahr bewußt, daß man die Vorstellungen der heutigen Gesellschaft auf die Gesellschaft des Jungpaläolithikums überträgt. Wir können mit einiger Sicherheit annehmen, daß zumindest manche Elemente der eiszeitlichen Kunst die Art und Weise betrafen, wie die Menschen des Jungpaläolithikums ihre Vorstellungen von ihrer Welt strukturiert haben - als Ausdruck ihres spirituellen Kosmos. Wir werden darauf noch zurückkommen. Vielleicht gab es aber auch eher praktische Aspekte in der Art und Weise, wie sie ihre sozialen und ökonomischen Welten organisierten. Margaret Conkey, eine Anthropologin an der Universität von Kalifornien in Berkeley hat beispielsweise vermutet, daß sich in Altamira regelmäßig im Herbst viele Hunderte von Bewohnern der Umgebung ver150
sammelt haben. Zu dieser Jahreszeit gab es Rotwild und Napfschnecken im Überfluß, und das hätte einen mehr als ausreichenden wirtschaftlichen Grund für solche Zusammenkünfte abgegeben. Doch wie wir von heute noch existierenden Wildbeutern wissen, dienen derartige Zusammenkünfte, ungeachtet des äußeren ökonomischen Anlasses, eher der Bildung von sozialen und politischen Bündnissen als irgendwelchen alltäglich praktischen Zwecken. Der britische Anthropologe Robert Laden glaubt, etwas von der Struktur solcher Bündnisse in den bemalten Höhlen Nordspaniens auszumachen. Die bedeutenderen dieser Höhlen wie Altamira sind häufig in einem Umkreis von fünfzehn Kilometern von kleineren Höhlen umgeben, als wären sie die Zentren eines sozialen oder politischen Zusammenschlusses gewesen. Der Durchmesser eines solchen Kreises stellt vermutlich die optimale Entfernung dar, über die solche Bündnisse sich gut aufrechterhalten ließen. Bei den bislang entdeckten Höhlen mit Felsmalereien in Frankreich sind solche Muster nicht beobachtet worden. Möglicherweise beschreibt das Arrangement von Wisenten und anderen Tierbildern auf den bemalten Decken von Altamira in der einen oder anderen Weise die Einflußsphäre des Zentrums. Die Hauptstruktur der bemalten Höhlendecke besteht aus fast zwei Dutzend polychromen Bildern von Wisenten, die im wesentlichen entlang der Peripherie angeordnet sind. Wie Margaret Conkey vermutet, stellten sie die verschiedenen Gruppen dar, die sich damals dort versammelt hatten. Bezeichnenderweise bietet die Sammlung eingeritzter Objekte, die in Altamira von Archäologen geborgen wurden, einen Querschnitt durch zahlreiche lokale Zierformen. Überall in Nordspanien zur damaligen Zeit haben die Menschen alltägliche Gebrauchsgegenstände mit verschiedenen Mustern wie Sparren, Neumonden, ineinandergeschlungenen Spiralen und anderem verziert. Man hat etwa fünfzehn solcher Muster identifiziert, die jeweils in einem geographisch 151
begrenzten Raum vorkommen, was auf lokale Stile oder Hordenidentitäten schließen läßt. Da in Altamira viele dieser lokalen Stile belegt sind, hat man angenommen, daß diese Höhle ein Ort für wichtige soziale oder politische Zusammenkünfte war. Bislang hat man eine vergleichbare Vielfalt verzierter Objekte in Lascaux nicht nachgewiesen. Dennoch spricht manches dafür, daß diese Höhle in einem weiten Umkreis für die damaligen Menschen eine Bedeutung gehabt hat und ihre Malereien nicht nur das lokale Produkt begeisterter Künstler waren. Möglicherweise verdankte Lascaux seine Bedeutung einem wichtigen spirituellen Ereignis, etwa der Erscheinung einer Gottheit im jungpaläolithischen Kosmos. Das ist beispielsweise bei vielen ansonsten nichtssagenden Stätten in der Umgebung der australischen Aborigines der Fall.
Ich habe schon erwähnt, daß in der eiszeitlichen Kunst Tiere abgebildet wurden, die aus ihrem natürlichen Umfeld herausgenommen wurden, und daß ihre Häufigkeit auf den Felsbildern nicht ihrem realen Vorkommen entspricht. Das allein verrät uns schon etwas von dem rätselhaften Wesen dieser Kunst. Neben den darstellenden Bildern gibt es jedoch auch Einritzungen, die uns noch größere Rätsel aufgeben: eine verstreute Ansammlung geometrischer Muster oder auch Zeichen, wie man sie genannt hat. Dazu gehören Punkte, Gitter, Sparrenzeichen, Wellen- und Zickzacklinien, ineinandergeschlungene Spiralen und Rechtecke; sie gehören zu den verwirrendsten Elementen der jungpaläolithischen Kunst. Je nach der zugrunde liegenden Hypothese hat man sie zumeist als Bestandteile etwa der Jagdmagie oder der Männlichkeits-Weiblichkeits-Dichtomie gedeutet. David Lewis-Williams hat unlängst eine neue und interessante Interpretation angeboten: Sie sind die verräterischen Zeichen einer Schamanenkunst Bilder, die einem Zustand der Halluzination entsprungen sind. 152
Lewis-Williams hat vier Jahrzehnte lang die Kunst der in Südafrika lebenden San erforscht. Diese geht zu einem Großteil zurück auf eine Zeit vor etwa zehntausend Jahren, zum Teil wurde sie jedoch in jüngerer, historischer Zeit geschaffen. Allmählich wurde ihm klar, daß die Bilder der San keine schlichten Darstellungen ihres Alltagslebens waren, wie westliche Anthropologen eine lange Zeit angenommen hatten. Es waren vielmehr die Produkte von Schamanen, die sich in einem Trancezustand befanden: Die Bilder stellten eine Verbindung mit einer schamanischen Geisterwelt dar und beschrieben, was der Schamane in seiner Halluzination gesehen hatte. Im Verlauf ihrer Untersuchung befragten Lewis-Williams und sein Mitarbeiter Thomas Dowson eine alte Frau, die im Tsolo-Bezirk der Transkei lebte. Diese Tochter eines Schamanen schilderte einige der inzwischen verschollenen schamanistischen Rituale. Schamanen können sich mit Hilfe verschiedener Techniken, wie der Einnahme von Drogen oder der Hyperventilation, in Trance versetzen. Nach Aussagen der Frau war diese stets begleitet vom rhythmischen Singen, Tanzen und Händeklatschen einer Gruppe von Frauen. Wenn die Trance sich verstärkt, beginnt der Schamane am ganzen Leib und an allen Gliedmaßen heftig zu zittern. Während er die Welt der Geister besucht, kommt es häufig vor, daß der Schamane »stirbt« und sich wie im Schmerz zusammenkrümmt. Die Elenantilope spielt in der Mythologie der San eine große Rolle, und der Schamane kann ihr Blut, das er durch Schnitte in Hals und Kehle gewinnt, dazu verwenden, einem anderen Menschen Kraft einzuflößen, indem er dessen Hals und Kehle einritzt und die Schnitte mit dem Tierblut einreibt. Später verwendet der Schamane häufig einen Teil desselben Bluts dazu, eine Schilderung seiner halluzinatorischen Begegnung mit der Geisterwelt bildlich darzustellen. Bilder haben eine eigene Kraft, je nach dem Zusammenhang, in dem sie entstanden sind, und wie Lewis-Williams von der alten Frau er153
fuhr, konnte man einen Teil dieser Kraft erlangen, indem man seine Hand auf das Bild legte. Die Elenantilope ist das Tier, das in den Bildern der San am häufigsten vorkommt, und ihre Kraft kann viele Formen annehmen. Lewis-Williams fragte sich, ob Wildpferd und Wisent für die Menschen des Jungpaläolithikums ähnliche Quellen der Kraft waren - Bilder, an die man sich wandte und die man berührte, um spirituelle Kraft zu erlangen. Um diese Frage beantworten zu können, brauchte er Beweise, daß auch die jungpaläolithische Kunst schamanistisch war. Einen Anhaltspunkt gaben die geometrischen Zeichen. Nach der psychologischen Literatur, die von Lewis-Williams herangezogen wurde, gibt es drei aufeinanderfolgende, sich steigernde und immer komplexere Stadien der Halluzination. Im ersten Stadium sieht der in Trance Befindliche geometrische Formen wie Gitter, Zickzacklinien, Punkte, Spiralen und Kurvenlinien, Diese Bilder aus insgesamt sechs Formen sind flimmernd, strahlend, unbeständig - und eindrucksvoll. Sie werden als entoptische Bilder (»innere Vision«) bezeichnet, da sie durch die grundlegende neurale Struktur des Gehirns hervorgerufen werden. »Da sie ihren Ursprung im menschlichen Nervensystem haben, werden sie von allen Menschen, die in veränderte Bewußtseinszustände eintreten, unabhängig von deren kultureller Herkunft wahrgenommen«, schrieb Lewis-Williarns 1986 in der Zeitschrift Current Anthropology. In der zweiten Phase einer Trance erscheinen diese Formen mehr und mehr als reale Gegenstände. Kurven können die Formen vom Hügeln in einer Landschaft annehmen, Sparrenzeichen als Waffen erscheinen usw. Was der einzelne jeweils sieht, hängt von seiner kulturellen Erfahrung und seinen Interessen ab. Die Schamanen der San wandeln mehrfache Wellenlinien häufig in Bilder von Honigwaben um, da Bienen das Symbol einer übernatürlichen Kraft sind, die von diesen Menschen beim Eintritt in einen Trancezustand in Anspruch genommen wird. 154
Der Übergang von der zweiten in die dritte Phase der Halluzination ist häufig von dem Gefühl begleitet, ein Gewölbe oder einen rotierenden unterirdischen Gang zu durchqueren. Es können auch komplette Bilder erscheinen, teils ungewöhnlichen, teils alltäglichen Inhalts. Ein bedeutsamer Bildtypus in dieser Phase ist die Mensch-Tier-Chimäre (s. Abb. 6.1). Diesen Geschöpfen begegnet man nicht nur häufig in der Kunst der San, sie sind uns auch aus den jungpaläolithischen Felsbildern vertraut. Die entoptischen Bilder einer Halluzination ersten Grades finden sich in der Kunst der San, was als objektiver Beweis gelten kann, daß es sich hier um schamanistische Kunst handelt. Und dieselben Bilder begegnen uns auch in der jungpaläolithischen Kunst, manchmal als Überzeichnungen von Tieren, manchmal auch für sich allein stehend. In Verbindung mit der Darstellung rätselhafter Chimären sind sie ein deutlicher Hinweis darauf, daß zumindest ein Teil der jungpaläolithischen Kunst schamanistischen Ursprungs ist. Diese Tier-Mensch-Darstellungen wurden einmal als das Produkt »eines primitiven Denkens« abgetan, dem es »nicht gelang, eindeutige Grenzen zwischen Mensch und Tier festzulegen«, wie John Halverson es ausgedrückt hat. Wenn es sich dagegen um Bilder handelt, die in einem Trancezustand erlebt wurden, dann waren sie für den jungpaläolithischen Maler ebenso real wie Wildpferde und Wisente. Wenn wir an Kunst denken, dann stellen wir uns ein Gemälde auf einer bestimmten Oberfläche, etwa einer Leinwand oder einer Wand, vor. Schamanen erleben ihre Halluzinationen häufig als etwas, das aus den Gesteinsoberflächen hervorscheint. »Sie sehen die Bilder so, als hätten die Geister sie dorthin versetzt, und wie die Schamanen sagen, berühren sie während des Malens lediglich das, was bereits vorhanden ist, und zeichnen es nach«, schreibt Lewis-Williams. »Die ersten Abbildungen waren somit keine naturgetreuen Wiedergaben, wie wir sie gewöhnt sind, sondern festgelegte innere Bilder 155
Abb. 6.1: Ein Gesicht aus der Vergangenheit. Kombinationen menschlicher und tierischer Merkmale wie im Bild des sogenannten Zauberers aus der Höhle Les Trois Frères in Südwestfrankreich sind in der Kunst des Jungpaläolithikums nichts Ungewöhnliches. Sie lassen vermuten, daß diese Kunst schamanistischen Ursprungs ist.
einer anderen Welt.« Die Gesteinsoberfläche, so schreibt er weiter, ist eine Berührungsfläche zwischen der realen und der Geisterwelt - eine Verbindung zwischen beiden. Sie ist mehr als nur ein Medium für die Bilder; sie ist wesentlicher Bestandteil von ihnen und des Rituals, das dort vollzogen wurde. Lewis-Williams hat mit seiner Hypothese beträchtli156
che Aufmerksamkeit und zwangsläufig auch einige Skepsis hervorgerufen. Ihr Nutzen besteht darin, daß sie uns die Möglichkeit bietet, die Kunst mit anderen Augen zu sehen. Die schamanistische Kunst ist in ihrer Anlage und Ausführung so verschieden von der westlichen Kunst, daß wir durch sie die jungpaläolithische Kunst in einem neuen Licht betrachten können. Auch der französische Archäologe Michel Lorblanchet hat uns eine solche Möglichkeit erschlossen. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mit experimenteller Archäologie und malt Höhlenbilder nach, um auf diese Weise ein Gefühl für die Aufgaben und die Erfahrung der eiszeitlichen Künstler zu gewinnen. Sein ehrgeizigstes Projekt bestand darin, die Pferde von Pêche Merle nachzubilden, einer Höhle im französischen Departement Lot. Die beiden Pferde sind voneinander abgewandt, ihre Körper überschneiden sich geringfügig und sind etwa 1,2 Meter hoch. Sie sind schwarz und rot gepunktet und von zahlreichen »negativen« Handabdrücken umgeben. Da der Felsen, auf dem die Bilder gemalt wurden, eine rauhe Oberfläche aufweist, trugen die Künstler die Farbe anscheinend in der Weise auf, daß sie sie mit einem Röhrchen auf das Gestein pusteten, statt einen Pinsel zu verwenden. Lorblanchet fand in einer Höhle in der Nähe eine ähnliche Gesteinsoberfläche und faßte den Entschluß, die Pferde mit dieser Blastechnik nachzumalen. »Eine ganze Woche lang stand ich sieben Stunden am Tag da und paffte Farbwolken«, erzählte er einem Interviewer für die Zeitschrift Discover. »Es war ermüdend, vor allem wegen des Kohlenmonoxids in der Höhle. Aber man erlebt etwas Besonderes, wenn man so malt. Man hat ein Gefühl, als atme man das Bild auf die Felswand - als projiziere man den eigenen Geist aus dem tiefsten Innern des eigenen Körpers auf die Gesteinsoberfläche.« Das klingt nicht gerade sehr wissenschaftlich, doch vielleicht bedarf es unorthodoxer Methoden, wenn wir uns einem so schwer zu erreichenden intellektuellen Ziel nähern wollen. 157
Lorblanchet hat bereits bei seinen früheren Versuchen einer Nachschöpfung von Höhlenbildern neue Wege beschritten. Auch sein neuester Vorstoß verdient unser Interesse. Wenn die Felsbilder der Eiszeit Bestandteil der jungpaläolithischen Mythologie waren, dann haben die Maler der Felswand ihren Geist aufgeprägt, gleichgültig, nach welchem Verfahren die Farbe aufgetragen wurde. Wir werden wohl nie erfahren, von welchen inneren Vorstellungen die Künstler jener Zeit geleitet wurden, als sie im Tuc d'Audoubert die Wisente schufen, in der Höhle von Lascaux das Einhorn zeichneten oder all die vielen bislang entdeckten Bilder malten. Wir dürfen jedoch überzeugt sein, daß das Tun der Künstler für sie selbst und für die Menschen, die in den nachfolgenden Generationen die Bilder betrachteten, in einem tiefen Sinn von Bedeutung war. Die Sprache der Kunst ist sinnreich für die, die sie verstehen, und verwirrend für die, denen dieses Verständnis fehlt. Wir wissen lediglich, daß hier ein modernes menschliches Bewußtsein am Werk war, das Symbolik und Abstraktion in einer Weise miteinander verwob, wie sie nur dem Homo sapiens möglich gewesen wäre. Zwar können wir noch nichts Sicheres über den Prozeß aussagen, wie sich die heutigen Menschen entwickelt haben, aber auf jeden Fall wissen wir, daß er die Entstehung einer geistigen Welt einschloß, wie sie jeder von uns heute erlebt.
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Die Kunst der Sprache Es steht außer Frage, daß die Evolution der gesprochenen Sprache, wie wir sie kennen, ein Wendepunkt in der Vorgeschichte der Menschheit war. Möglicherweise war sie der Wendepunkt überhaupt. Ausgerüstet mit einer Sprache, waren die Menschen in der Lage, neuartige Welten in der Natur zu erschaffen: die Welt des introspektiven Bewußtseins und die Welt, die wir herstellen und mit anderen teilen, die sogenannte »Kultur«. Die Sprache wurde unser Medium und die Kultur unsere Nische. In seinem 1990 erschienenen Buch Language and Species faßt der Linguist Derrick Bickerton von der Universität von Hawaii diesen Sachverhalt überzeugend zusammen: »Nur der Sprache war es möglich, die Gefängnismauern der unmittelbaren Erfahrung zu durchbrechen, in die jedes andere Geschöpf eingesperrt ist, und uns in die unendliche Freiheit von Raum und Zeit zu entlassen.« Anthropologen können nur zwei unanfechtbare Forschungsergebnisse vorweisen, die sich direkt und indirekt auf Sprache beziehen. Erstens, die gesprochene Sprache unterscheidet den Homo sapiens eindeutig von allen anderen Lebewesen. Nur der Mensch bringt eine komplexe gesprochene Sprache hervor, ein Medium der gegenseitigen Verständigung und der introspektiven Reflexion. Zweitens, das Gehirn von 159
Homo sapiens ist dreimal so groß wie das Gehirn unserer nächsten stammesgeschichtlichen Verwandten, der afrikanischen Großaffen. Zwischen diesen beiden Feststellungen besteht mit Sicherheit ein Zusammenhang; worauf dieser beruht, ist allerdings eine heftig debattierte Streitfrage. Obwohl die Philosophen über die Welt der Sprache seit langem nachgedacht haben, verdanken wir den größten Teil unseres Wissens auf diesem Gebiet ironischerweise erst den Erkenntnissen der letzten drei Jahrzehnte. Was den evolutionären Ursprung unserer Sprache angeht, so haben sich zwei verschiedene Ansichten herausgebildet. Die Anhänger der einen Richtung sehen in ihr ein einzigartiges Merkmal des Menschen, eine Fähigkeit, die sich als Nebenprodukt aus der Vergrößerung des Gehirns ergeben hat. Erst spät, nachdem eine kognitive Schwelle überschritten war, und innerhalb kurzer Zeit hat sich nach diesem Verständnis die menschliche Sprache entwickelt. Für die Anhänger der zweiten Richtung hat sich die gesprochene Sprache durch eine natürliche Selektion entwickelt, die sich auf verschiedene kognitive Fähigkeiten - unter anderem die der Kommunikation - unserer vormenschlichen Vorfahren ausgewirkt hat. Nach diesem sogenannten Kontinuitätsmodell entwickelte sich die Sprache allmählich bereits in der Urgeschichte der Menschheit, parallel zur Evolution der Gattung Homo. Der Linguist Noam Chomsky vom Massachusetts Institute of Technology wird hauptsächlich mit der ersten Richtung in Verbindung gebracht, und sein Einfluß war immens. Für die Chomsky-Anhänger, die eine Mehrheit unter den Linguisten darstellen, hat es wenig Zweck, in der menschlichen Frühgeschichte nach Hinweisen auf sprachliche Fähigkeit zu suchen, schon gar nicht bei unseren Vettern, den Menschenaffen. Infolgedessen stießen die Bemühungen mancher Forscher, Affen eine bestimmte Form der symbolischen Kommunikation beizubringen - in der Regel über eine Computeranlage und willkürlich gewählte Lexigramme -, bei zahlreichen Lingui160
sten auf erbitterte Ablehnung. Eines der Themen des vorliegenden Buchs ist die philosophische Scheidelinie zwischen denen, die den Menschen als etwas Besonderes und von der übrigen Natur Getrenntes ansehen, und denen, die von einem engen Zusammenhang zwischen beidem überzeugt sind. Nirgends tritt diese Trennung deutlicher zutage als in der Debatte um das Wesen und den Ursprung der Sprache und vor allem in der Gehässigkeit, mit der Linguisten jene Forscher angreifen, die Sprachexperimente mit Menschenaffen anstellen. Über jene Wissenschaftler, die von einer Einzigartigkeit der menschlichen Sprache ausgehen, hat die Psychologin Kathleen Gibson von der Universität von Texas vor kurzem geschrieben: »Trotz der Wissenschaftlichkeit in ihren Postulaten und ihrer Diskussion fügt sich dieser Ansatz nahtlos in eine lange westliche philosophische Tradition ein, die mindestens bis zu den Autoren der Genesis und den Schriften von Plato und Aristoteles zurückreicht und derzufolge das menschliche Bewußtsein und Verhalten sich qualitativ von dem der Tiere unterscheidet.« Als Ergebnis dieser Denkweise war die anthropologische Literatur seit langem überfüttert mit Untersuchungen von Verhaltensweisen, die man allein dem Menschen zuschrieb: die Herstellung von Werkzeugen, die Fähigkeit zur Verwendung von Symbolen, die Erkennung des eigenen Spiegelbilds und natürlich die Sprache. Seit den sechziger Jahren ist dieses Bollwerk der Einzigartigkeit mehr und mehr in sich zusammengestürzt, nachdem man entdeckt hat, daß auch Affen Werkzeuge und Symbole benutzen und sich in einem Spiegel wiedererkennen können. Nur die gesprochene Sprache blieb unangetastet, so daß die Linguisten faktisch die letzten Verteidiger einer menschlichen Einzigartigkeit sind. Diese Rolle nehmen sie offenbar sehr ernst. Die Sprache entstand in der Urgeschichte der Menschheit - auf irgendeine Weise und in einem bestimmten zeitlichen Verlauf - und veränderte uns auf diese Weise als Individuen 161
und als Spezies. »Die Sprache ist von allen unseren geistigen Fähigkeiten die tiefste unterhalb der Schwelle unseres Bewußtseins und ist dem rationalen Denken am wenigsten zugänglich«, schreibt Bickerton. »Wir können uns kaum an eine Zeit erinnern, da wir ohne sie waren, und noch weniger daran, wie wir sie erlangt haben. Als wir den ersten Gedanken formulieren konnten, war sie bereits da.« Als Individuen sind wir von der Sprache abhängig, um in der Welt sein zu können, und eine Welt ohne sie ist für uns einfach nicht vorstellbar. Für uns als Spezies verändert sie die Art und Weise, wie wir miteinander in Beziehung treten, durch die Ausformung von Kultur. Sprache und Kultur verbinden und trennen uns gleichzeitig. Die fünftausend lebenden Sprachen der Erde sind Produkte unserer gemeinsamen Fähigkeit, doch die fünftausend Kulturen, die sie hervorbringen, sind voneinander getrennt. Wir sind so sehr ein Produkt der Kultur, die uns geformt hat, daß wir sie häufig erst dann als eine Schöpfung von uns wahrnehmen, wenn wir mit einer anderen Kultur konfrontiert sind. Die Sprache öffnet tatsächlich eine Kluft zwischen dem Homo sapiens und der übrigen natürlichen Welt. Die menschliche Fähigkeit, einzelne Laute oder Phoneme zu erzeugen, ist im Vergleich zu derselben Fähigkeit bei Affen nur geringfügig höher entwickelt: Wir verfügen über fünfzig Phoneme, die Affen über etwa ein Dutzend. Dafür sind wir jedoch in der Lage, von diesen Lauten einen praktisch unendlichen Gebrauch zu machen. Mit Hilfe immer neuer Umstellungen und Anordnungen lassen sie sich zu einem Wortschatz von hunderttausend Wörtern zusammenfügen, der einem durchschnittlichen menschlichen Wesen zu Gebote steht, und aus diesen Wörtern lassen sich wiederum unendlich viele Sätze bilden. Infolgedessen ist die Fähigkeit von Homo sapiens, sich schnell und detailliert mit seinesgleichen zu verständigen, sowie der Reichtum seines Denkens in der Welt der Natur unerreicht. 162
Wir stehen vor der Aufgabe zu erklären, wie die Sprache überhaupt entstanden ist. Nach Meinung der Chomsky-Anhänger brauchen wir hierfür gar nicht auf das Wirken der natürlichen Selektion zurückzugreifen, da Sprache ein historischer Zufall ist, eine Fähigkeit, die sich entwickelte, nachdem eine kognitive Schwelle erst einmal überschritten war. Chomsky selbst hat dazu gesagt: »Wir haben gegenwärtig keine Ahnung, welche physikalischen Gesetze gelten, wenn 1010 Neuronen in ein Objekt von der Größe eines Basketballs unter den besonderen Bedingungen, die sich im Lauf der menschlichen Evolution ergeben haben, praktiziert werden.« Diese Auffassung teile ich nicht, ebensowenig Steven Pinker, ein Sprachwissenschaftler am MIT, nach dessen Meinung Chomsky »das Pferd vom Schwanz aufzäumt«. Es ist wahrscheinlicher, daß die Zunahme des Gehirnumfangs durch die Evolution der Sprache ausgelöst wurde und nicht umgekehrt. Nach Pinkers Meinung »sind es die präzisen Mikroschaltungen im Gehirn, die eine Sprache ermöglichen, und nicht der Umfang, die Form oder die Zusammenballung von Neuronen«. In seinem 1994 erschienenen Buch Der Sprachinstinkt hat Pinker alle Belege aufgeführt, die auf eine genetische Grundlage der gesprochenen Sprache hinweisen, was wiederum für deren Evolution auf dem Weg einer natürlichen Selektion spricht. Wir können an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, doch die Belege sind beeindruckend. Die Frage lautet, in welcher Weise der Druck der natürlichen Selektion die Evolution der gesprochenen Sprache begünstigt hat. Vermutlich war diese Fähigkeit nicht innerhalb kürzester Zeit voll ausgebildet, so daß wir uns fragen müssen, welche Vorteile eine zunächst nur rudimentär entwickelte Sprache unseren frühesten Vorfahren gebracht hat. Die offenkundigste Antwort lautet, daß sie eine effiziente Möglichkeit bot, etwas mitzuteilen. Diese Fähigkeit wäre für unsere Vorfahren von Vorteil gewesen, als sie die ersten tastenden Schritte auf dem Weg zu einem Dasein als Jäger und 163
Sammler unternahmen, eine mühevollere Form der Existenzsicherung als die der Affen. Als ihre Lebensweise komplexer wurde, verstärkte sich auch das Bedürfnis nach wirtschaftlicher und sozialer Koordination. Unter diesen Umständen wäre eine effektive Kommunikation zunehmend wertvoll geworden. Deshalb hätte eine natürliche Selektion in dieser Richtung die sprachliche Kompetenz ständig verbessert. Infolgedessen hätte sich das Grundrepertoire der Lautäußerungen urgeschichtlicher Affen - vermutlich so ähnlich wie die Japser, Schreie und Knurrlaute moderner Großaffen - erweitert, und sein Ausdruck wäre stärker strukturiert worden. Die Entstehung der Sprache, wie wir sie heute kennen, ergab sich aus den Erfordernissen des Jagens und Sammelns - so hat es jedenfalls den Anschein. Es gibt aber noch andere Hypothesen, wie sich die Evolution der Sprache abgespielt haben könnte. Im weiteren Verlauf der Entwicklung zu einem Wildbeuterdasein erwarben die Menschen zunehmend technisches Geschick und stellten schärfere und kunstvoller geformte Werkzeuge her. Dieser evolutionäre Wandel, der mit der ersten Spezies der Gattung Homo vor einer Zeit vor zwei Millionen Jahren einsetzte und mit dem Erscheinen des modernen Menschen irgendwann in den letzten zweihunderttausend Jahren ihren Gipfelpunkt erreichte, ging mit einer Vergrößerung des Gehirns um das Dreifache einher. Sein ursprüngliches Volumen bei den frühesten Australopithecinen lag bei 400 Kubikzentimetern und erreichte bis heute einen Durchschnittswert von 1.350 Kubikzentimetern. Lange Zeit sahen die Anthropologen eine Kausalverbindung zwischen zunehmendem technischen Geschick und wachsendem Gehirnumfang: Das erstere bewirkte das letztere. Wir wir uns erinnern, war dies ein Teil des Darwinschen evolutionären Pakets, das ich im ersten Kapitel beschrieben habe. In jüngerer Zeit war diese Sicht der menschlichen Urgeschichte in einem klassischen Essay von Kenneth Oakley aus dem Jahr 164
1949 mit dem Titel »Der Mensch als Werkzeugmacher« enthalten. Wie bereits erwähnt, vertrat Oakley als einer der ersten die These, die Entstehung des modernen Menschen sei durch die »Vervollkommnung» der Sprache bis zu der Stufe, wie wir sie heute kennen, ausgelöst worden. Mit anderen Worten, die heutige Sprache brachte den heutigen Menschen hervor. In jüngerer Zeit hat jedoch eine andere Erklärung für die evolutionäre Entwicklung des menschlichen Bewußtseins an Beliebtheit gewonnen - eine Erklärung, die sich weniger am Menschen als Hersteller von Werkzeugen, sondern eher am Menschen als sozialem Wesen orientiert. Wenn die Sprache sich als Instrument der sozialen Interaktion entwickelte, dann war ihr Nutzen für eine Verständigung in einem Dasein als Jäger und Sammler sekundärer Natur und nicht die primäre Ursache einer evolutionären Weiterentwicklung. Der Neurologe Ralph Holloway von der Universität Columbia war ein bedeutender Wegbereiter dieser Auffassung, die in den sechziger Jahren aufkam. »Es ist meine intuitive Überzeugung, daß die Sprache aus einem Kontext des Sozialverhaltens und der Kognition entstanden ist, der im wesentlichen von Kooperation statt von Aggression geprägt war und auf einer komplementären sozialstrukturellen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern beruhte«, schrieb er vor zehn Jahren. »Das war eine notwendige adaptive evolutionäre Strategie, die eine ausgedehnte kleinkindliche Abhängigkeitsperiode ermöglichte, eine Verlängerung der Periode bis zur Geschlechtsreife sowie eine verzögerte Reifung im Mutterleib, die wiederum ein größeres Gehirnwachstum nach der Geburt und eine erhöhte Fähigkeit zu erlerntem Verhalten zur Folge hatte.« Das alles paßt sehr gut zu den Entdeckungen im Hinblick auf die lebensgeschichtlichen Muster von Hominiden, die ich im dritten Kapitel beschrieben habe. Holloways bahnbrechende Ideen haben verschiedene Namen erhalten, bis sie schließlich als Hypothese der sozialen 165
Intelligenz bekanntwurde. In jüngster Zeit hat Robin Dunbar, ein Primatenforscher am University College in London, dieses Modell folgendermaßen beschrieben: »Die konventionellere Hypothese lautet, daß Primaten große Gehirne benötigen, um sich in der Welt zurechtzufinden und die bei der täglichen Nahrungssuche auftretenden Probleme zu lösen. Die Alternativhypothese lautet, daß die komplexe soziale Welt, in der Primaten sich befinden, den Impuls zur Evolution großer Gehirne gegeben hat.« Eine wichtige Komponente bei der Gestaltung sozialer Interaktionen in Primatengruppen ist die gegenseitige Körperpflege, die einen engen Kontakt zwischen den Individuen ermöglicht. Nach Dunbar ist sie in Gruppen bis zu einer bestimmten Größe wirksam, doch bei Überschreiten dieser Grenze seien andere soziale Gleitmittel erforderlich. Im Lauf der menschlichen Vorgeschichte nahm die Gruppengröße zu, was einen Selektionsdruck in Richtung auf eine effizientere soziale Körperpflege hervorrief. »Die Sprache hat im Vergleich zum Entlausen zwei interessante Vorzüge«, schreibt Dunbar. »Man kann sich gleichzeitig mit mehreren unterhalten, und man kann reden, während man unterwegs ist, sein Essen verzehrt oder auf den Feldern arbeitet.« Folglich »entwickelte sich die Sprache, um eine wachsende Zahl von Individuen in ihre sozialen Gruppen zu integrieren«. Nach diesem Szenario ist Sprache »stimmliche Körperpflege«, und für Dunbar entsteht sie erst »mit dem Erscheinen von Homo sapiens«. Meiner Meinung nach hat die Hypothese von der sozialen Intelligenz manches für sich, aber wie ich noch ausführen werde, glaube ich nicht, daß die Sprache sich erst spät in der menschlichen Vorgeschichte entwickelt hat.
Der Zeitpunkt, zu dem die Sprachentwicklung eingesetzt hat, ist eines der Grundthemen in dieser Debatte. Existierte sie 166
frühzeitig und verbesserte sich in der Folge allmählich? Oder entstand sie erst spät und plötzlich? Ich erinnere daran, daß die Antwort auf diese Frage auch von unserem philosophischen Standpunkt abhängt, je nachdem, in welchem Maß wir uns für etwas Besonderes halten. Heutzutage nehmen viele Anthropologen an, die menschliche Sprache sei erst sehr spät und plötzlich entstanden hauptsächlich wegen der abrupten Änderung des Verhaltens, die in der jungpaläolithischen Revolution zu erkennen ist. Randall White, Archäologe an der Universität New York, hat in einem provozierenden wissenschaftlichen Aufsatz vor knapp zehn Jahren behauptet, aus den Spuren einer vielfältigen menschlichen Aktivität aus einer Zeit, die älter ist als hunderttausend Jahre, sei das »vollständige Fehlen von allem, was heutige Menschen als Sprache akzeptieren würden«, abzulesen. Moderne Menschen im anatomischen Sinn hatten sich damals zwar schon entwickelt, doch sie hatten noch keine Sprache in einem kulturellen Kontext »erfunden«. Das sollte erst wesentlich später kommen: »Vor etwa 35.000 Jahren hatten diese Populationen eine Sprache und eine Kultur, wie wir sie heute kennen.« White nennt sieben Bereiche archäologischer Befunde, die seiner Meinung nach auf eine deutliche Zunahme sprachlicher Fähigkeiten seit dem Jungpaläolithikum hinweisen. Erstens die bewußte Totenbestattung, die höchstwahrscheinlich zur Zeit der Neandertaler begann, jedoch erst im Jungpaläolithikum mit dem Aufkommen von Grabbeigaben kulturell verfeinert wurde. Zweitens begann die künstlerische Äußerung einschließlich der Anfertigung von Bildern und Körperbemalung erst im Jungpaläolithikum. Drittens läßt sich im Jungpaläolithikum eine plötzliche Beschleunigung im Tempo der technischen Neuerungen und des kulturellen Wandels beobachten. Viertens entstehen erstmals regionale Unterschiede der Kultur - ein Zeichen und Produkt sozialer Grenzen. Fünftens häufen sich für diese Zeit die Belege für Kontakte zwi167
schen weit voneinander entfernten Bevölkerungen in Form des Handels mit exotischen Gegenständen. Sechstens nehmen Wohnplätze zu dieser Zeit deutlich an Umfang zu; das damit verbundene Ausmaß an Planung und Koordinierung machte eine Sprache erforderlich. Siebtens wird jetzt nicht mehr überwiegend Stein verarbeitet, sondern auch andere Rohstoffe wie Knochen, Hirschhorn und Ton, was dafür spricht, daß die physikalische Umwelt in einem Ausmaß bearbeitet wird, das ohne das Vorhandensein einer Sprache undenkbar wäre. White und andere Anthropologen, darunter Lewis Binford und Richard Klein, sind überzeugt, daß dieser Häufung von Neuerungen im menschlichen Handeln die plötzliche Entwicklung einer komplexen, gesprochenen Sprache im heutigen Sinn zugrunde liegt. Binford sieht bei den Menschen der Vorzeit, wie ich weiter oben erwähnt habe, keine Hinweise auf ein planendes Handeln und nur geringe Möglichkeiten zu einer Vorhersage und Organisation zukünftiger Ereignisse und Aktivitäten. Der große Schritt vorwärts war die Sprache, »insbesondere die Verwendung von Symbolen, was ein Abstrahieren ermöglicht«, so Binford. »Ich sehe kein anderes Medium, durch das ein derart schneller Wandel möglich gewesen wäre, als ein gut funktionierendes, biologisch verankertes Kommunikationssystem.« Klein, der dieser Aussage im wesentlichen zustimmt, sieht in archäologischen Belegen aus südafrikanischen Fundstätten Anzeichen für einen plötzlichen und relativ spät erfolgten Zuwachs an jägerlichen Fähigkeiten. Das erklärt sich seiner Meinung nach aus dem Entstehen des modernen menschlichen Bewußtseins einschließlich des Sprachvermögens. Obwohl die Vorstellung, daß die Sprache in der menschlichen Geschichte eine relativ plötzliche Entwicklung war, die mit dem Erscheinen des modernen Menschen zusammenfiel, von vielen Anthropologen geteilt wird, gibt es auch Gegenpositionen. Dean Falk, deren Untersuchungen über die Evo168
lution des menschlichen Gehirns ich im dritten Kapitel erwähnt habe, ist der Meinung, daß die Sprache sich bereits früh entwickelt hat. »Wenn die Hominiden keine Sprache benutzt und verfeinert haben, dann möchte ich wissen, was sie mit ihren autokatalytisch wachsenden Gehirnen überhaupt angestellt haben«, schrieb sie vor kurzem. Terrence Deacon, Neurologe am Belmont Hospital in Belmont, Massachusetts, vertritt eine ähnliche Auffassung, stützt sich dabei jedoch auf Untersuchungen, die an heutigen und nicht an fossilierten Gehirnen durchgeführt wurden: »Das Sprachvermögen hat sich über eine lange Periode - wenigstens zwei Millionen Jahre - kontinuierlicher Selektion entwickelt, bedingt durch eine Wechselwirkung zwischen Gehirn und Sprache«, schreibt er in einem Aufsatz in der Zeitschrift Human Evolution aus dem Jahr 1989. Deacon hat die Unterschiede in den Neuralverknüpfungen zwischen Affen- und Menschengehirnen verglichen und festgestellt, daß die Gehirnstrukturen und Schaltkreise, die sich im Verlauf der Entwicklung des menschlichen Gehirns am stärksten geändert hätten, den außergewöhnlichen »Rechenaufwand« der gesprochenen Sprache widerspiegelten. Gesprochene Worte können nicht versteinern. Wie läßt sich also diese Streitfrage schlichten? Die indirekten Befunde - die von unseren Vorfahren hergestellten Artefakte und die Veränderungen in ihrer Anatomie - erzählen anscheinend unterschiedliche Geschichten über unseren evolutionären Werdegang. Wir beginnen mit einem Blick auf den anatomischen Befund, einschließlich des Aufbaus von Gehirn und Sprechapparat. Danach wenden wir uns der technischen Perfektionierung und dem künstlerischen Ausdruck zu - Verhaltensaspekte, aus denen sich die archäologische Überlieferung zusammensetzt.
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Wir haben bereits gesehen, daß die Ausdehnung des menschlichen Gehirns vor über zwei Millionen Jahren mit dem Erscheinen der Gattung Homo einsetzte und kontinuierlich anhielt. Vor einer halben Million Jahre betrug die durchschnittliche Gehirngröße beim Homo erectus 1.100 Kubikzentimeter, was dem heutigen Durchschnittswert ziemlich nahe kommt. Nach dem anfänglichen Sprung um fünfzig Prozent von den Australopithecinen zu Homo gab es in der Größe des vorgeschichtlichen menschlichen Gehirns keine plötzlichen nennenswerten Erweiterungen mehr. Zwar ist die Aussagekraft der absoluten Gehirngröße unter Psychologen umstritten, doch aus der im Verlauf der menschlichen Vorgeschichte erfolgten Vergrößerung des Gehirns um das Dreifache sprechen zweifellos erhöhte kognitive Fähigkeiten. Wenn die Gehirngröße sich außerdem auf das Sprachvermögen auswirkt, dann spricht die Geschichte der Gehirnerweiterung in den vergangenen rund zwei Millionen Jahren für eine allmähliche Entwicklung des Sprachvermögens unserer Vorfahren. Terrence Deacons Vergleich der Anatomie von Affen- und Menschengehirnen läßt eine solche Vermutung plausibel erscheinen. Der namhafte Neurobiologe Harry Jerison von der Universität von Kalifornien in Los Angeles bezeichnet die Sprache als die Triebkraft hinter dem menschlichen Gehirnwachstum und hält nichts von der Annahme, die manuelle Geschicklichkeit habe zu einem größeren Gehirn geführt, wie sie die Hypothese vom Menschen als Werkzeughersteller vertritt. »Für mich ist es eine unzureichende Erklärung, nicht zuletzt weil das Verfertigen von Werkzeugen auch mit einem geringen Quantum an Hirnmasse möglich ist«, sagte er 1991 in einem großen Vortrag im American Museum for Natural History. »Die Produktion von einfacher, nützlicher Sprache erfordert dagegen eine beträchtliche Menge an Gehirngewebe.« Die Hirnstrukturen, die dem Sprachverhalten zugrunde liegen, sind weitaus komplizierter, als man ursprünglich ange170
nommen hat. Anscheinend gibt es für die Sprache viele kleine Zentren, die über mehrere Regionen im Gehirn verstreut sind. Wenn wir solche Zentren auch bei unseren Vorfahren nachweisen könnten, wären wir eher in der Lage, die Frage nach dem Ursprung der Sprache endgültig zu beantworten. Über die Anatomie des Gehirns ausgestorbener Arten der Gattung Homo wissen wir jedoch nichts; aus den Fossilien kennen wir lediglich seine Oberflächenkonturen. Zum Glück gibt es ein Merkmal, das irgendwie mit der Sprache und der Herstellung von Werkzeugen zusammenhängt und auf der Oberfläche des Gehirns erkennbar ist. Es ist das Brocasche Sprachzentrum, ein kleiner Knoten, der bei den meisten Menschen in der Nähe der linken Schläfe sitzt. Wenn wir Hinweise auf das Brocasche Sprachzentrum in fossilierten menschlichen Gehirnen finden könnten, so wäre dies ein - wenn auch Ungewisses - Zeichen für die Anfänge eines Sprachvermögens. Ein zweites mögliches Zeichen ist der Größenunterschied zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte beim modernen Homo. Bei den meisten heute lebenden Menschen ist die linke Hemisphäre größer als die rechte - was zum Teil daran liegt, daß hier die Sprachzentren untergebracht sind. Mit dieser Asymmetrie hängt auch das Phänomen der Rechts- bzw. Linkshändigkeit beim Menschen zusammen. Neunzig Prozent der heutigen Menschen sind Rechtshänder; somit hängen Rechtshändigkeit und Sprachvermögen vermutlich mit einer größeren linken Gehirnhälfte zusammen. Ralph Holloway hat die Form des Gehirns von Schädel 1470 untersucht, einem schönen Beispiel für Homo habilis, der 1972 östlich des Turkanasees gefunden und dessen Alter auf knapp zwei Millionen Jahre geschätzt wurde (s. Abb. 2.2). Er entdeckte nicht nur Hinweise auf das Brocasche Sprachzentrum in Form eines Abdrucks auf der Innenseite des Craniums, sondern auch eine leichte horizontale Asymmetrie im Bau des Gehirns, ein Hinweis darauf, daß sich Homo habilis nicht nur mit den japsenden Schreilauten heutiger Schim171
pansen verständlich gemacht hat. In einem Aufsatz in der Zeitschrift Human Neurobiology bemerkte er, man könne zwar unmöglich beweisen, wann oder wie es zur Entstehung der Sprache kam, es sei jedoch unwahrscheinlich, daß ihre Ursprünge sich »weit in die paläontologische Vergangenheit« erstreckten. Holloways Ansicht, diese evolutionäre Bahn habe möglicherweise mit den Australopithecinen begonnen, stimme ich allerdings nicht zu. Die gesamte bislang in diesem Buch vorgestellte Diskussion der Entwicklung der Hominiden deutet auf eine tiefgreifende Änderung in deren Anpassung mit dem Erscheinen der Gattung Homo. Deshalb vermute ich, daß erst mit der Evolution von Homo habilis so etwas wie eine gesprochene Sprache ihren Anfang genommen hat. Mit Bickerton vermute ich, daß dies eine Art Frühsprache war, einfach in Inhalt und Aufbau, aber ein Mittel der Verständigung jenseits der Lautäußerungen von Affen und Australopithecinen. Die außergewöhnlich sorgfältige und innovative experimentelle Herstellung von Steinwerkzeugen durch Nicholas Toth, über die ich im zweiten Kapitel berichtet habe, stützt die Auffassung, daß bereits beim Frühmenschen eine Asymmetrie des Gehirns bestand. Seine Herstellung von Steinabschlägen demonstrierte, daß die Menschen des Oldowan überwiegend Rechtshänder waren und daß deshalb bei ihnen die linke Gehirnhälfte geringfügig größer war als die rechte. »Die Ausbildung einer Lateralität des Gehirns erfolgte bei den frühesten Werkzeugmachern, was sich an ihrem Verhalten beim Herstellen der Abschläge ablesen läßt«, schreibt Toth. »Das ist vermutlich ein guter Hinweis darauf, daß sich damals auch schon die ersten Ansätze eines Sprachvermögens entwickelten.« Ich bin aufgrund der an fossilen Gehirnen erhobenen Befunde überzeugt, daß der Beginn der Evolution unserer Sprache mit dem ersten Erscheinen der Gattung Homo zusammenfällt. Zumindest gibt es nichts an diesen Befunden, das 172
gegen eine frühe Entwicklung des Sprachvermögens spricht: dem Larynx (Kehlkopf), Pharynx (Rachen), der Zunge und den Lippen? Er stellt die zweite wichtige Quelle anatomischer Informationen dar (s. Abb. 7.1). Menschen sind fähig, die vielfältigsten Lautäußerungen zu produzieren, da der Larynx tief in der Kehle sitzt und auf diese Weise einen großen Schallraum schafft, den Pharynx oberhalb der Stimmbänder. Den innovativen Untersuchungen von Jeffrey Laitman an der Mount Sinai Hospital Medical School in New York, Philip Lieberman von der Brown Universität und Edmund Crelin von der Universität Yale zufolge, ist der erweiterte Pharynx der Schlüssel zur Produktion einer voll artikulierten Sprache. Diese Forscher haben sich eingehend mit der Anatomie der Stimmorgane an heutigen Lebewesen und fossilen menschlichen Überresten beschäftigt. Dabei ergaben sich beträchtliche Unterschiede. Bei allen Säugern mit Ausnahme des Menschen befindet sich der Larynx oben in der Kehle, was dem Tier ermöglicht, gleichzeitig zu fressen oder zu trinken und zu atmen. Das hat zur Folge, daß die kleine Rachenhöhle den Umfang der Laute, die erzeugt werden können, beschränkt. Die meisten Säugetiere können deshalb nur die Mundhöhle und die Lippen zu Hilfe nehmen, um die im Kehlkopf erzeugten Laute zu verändern. Die tiefe Lage des Larynx beim Menschen bedeutet neben der Fähigkeit, ein breites Spektrum an Lauten zu erzeugen, die Unfähigkeit, gleichzeitig zu schlucken und zu atmen. Wenn wir es dennoch versuchen, kann es leicht passieren, daß wir uns »verschlucken«. Bei Neugeborenen sitzt der Kehlkopf oben in der Kehle wie bei typischen Säugern und ermöglicht ein gleichzeitiges Trinken und Atmen des Säuglings. Nach etwa achtzehn Monaten beginnt der Kehlkopf die Kehle hinunter zu wandern und erreicht seine adulte Lage, wenn das Kind etwa vierzehn Jahre alt ist. Die Forscher stellten nun folgende Überlegung an: Falls es ihnen gelänge, die Lage des Kehlkopfs in den Kehlen der Urväter des heutigen Menschen festzustellen, 173
Abb. 7.1: Der Sprechapparat. Der Schimpanse links hat wie alle Säugetiere einen Sprechapparat, bei dem der Kehlkopf hoch in der Kehle sitzt, eine Anordnung, die es ermöglicht, gleichzeitig zu schlucken und zu atmen, jedoch den Umfang der Laute begrenzt, die in der Rachenhöhle erzeugt werden können. Die Menschen haben als einzige einen tiefsitzenden Kehlkopf. Infolgedessen können sie nicht gleichzeitig schlukken und atmen, ohne sich zu verschlucken, können jedoch eine wesentlich größere Vielfalt von Lauten erzeugen. Bei allen menschlichen Spezies vor dem Homo erectus befand sich der Kehlkopf in derselben Stellung wie beim heutigen Schimpansen. (Mit freundlicher Genehmigung von J. Laitman, P. Gannon und H. Thomas.)
dann ließen sich daraus Rückschlüsse auf deren Fähigkeit zur Stimmbildung und auf ein Sprachvermögen ziehen. Das war allerdings gar nicht so einfach, da der Sprechapparat aus weichem Gewebe - Knorpelmasse, Muskeln und Fleisch - besteht, das keiner Versteinerung fähig ist. Aber zum Glück enthalten die Schädel unserer urgeschichtlichen Vorfahren einen wichtigen Hinweis; die Form des Schädelbasisknochens. Bei Säugetieren ist die Schädelbasis im wesentlichen flach, beim Menschen dagegen deutlich gewölbt. Aus der Form der Schädelbasis bei einer fossilen menschlichen Spezies müßte man demnach schließen können, wieweit diese in der Lage war, einzelne Laute zu bilden. 174
Bei einer Untersuchung menschlicher Fossilien entdeckte Laitman, daß die Schädelbasen der Australopithecinen im wesentlichen flach waren. In dieser wie in vieler anderer biologischer Hinsicht waren sie affenartig, und wie bei den Affen muß ihre lautliche Kommunikation sehr beschränkt gewesen sein. Die Australopithecinen waren höchstwahrscheinlich nicht imstande, einige der universellen Vokallaute zu produzieren, die für die menschliche Sprache charakteristisch sind. »Die früheste Zeit, aus der wir in der fossilen Überlieferung einen Schädelbasisknochen mit ausgeprägter Wölbung finden, war vor dreihundert- bis vierhunderttausend Jahren, beim sogenannten archaischen Homo sapiens«, faßte Laitman seine Ergebnisse zusammen. Heißt dies, daß der archaische Sapiens, der vor der Evolution des anatomisch modernen Menschen erschien, bereits über eine Sprache wie wir heutigen Menschen verfügte? Das erscheint unwahrscheinlich. Die Veränderung in der Form der Schädelbasis ist an dem frühesten bekannten Exemplar eines Homo erectus zu sehen, dem Schädel 3733 aus Nordkenia, der auf eine Zeit vor knapp zwei Millionen Jahren datiert wird. Nach dieser Analyse wäre dieses Individuum in der Lage gewesen, bestimmte Vokale wie in den Wörtern »Fuß«, »Vater« und »Knie« zu erzeugen. Laitman schätzt, daß die Lage des Kehlkopfs beim frühen Homo erectus etwa der bei einem heutigen Sechsjährigen entsprach. Leider können wir nichts über Homo habilis aussagen, da keiner der von dieser Spezies bislang entdeckten Schädel einen unversehrten Basisknochen aufweist. Ich vermute, daß wir bei der Entdeckung des ersten intakten Schädels vom frühesten Homo auch die ersten Anzeichen für eine Wölbung der Schädelbasis finden werden. Eine rudimentäre Fähigkeit zu einer gesprochenen Sprache setzte zweifellos mit dem Ursprung von Homo ein. Innerhalb dieser evolutionären Sequenz stoßen wir auf ein scheinbares Paradox. Nach der Schädelbasis zu urteilen, verfügte der Neandertaler über geringere sprachliche Fähigkei175
ten als andere Frühmenschen, die mehrere hunderttausend Jahre früher lebten. Die Wölbung der Schädelbasis war beim Neandertaler sogar weniger weit fortgeschritten als bei Homo erectus. Gab es beim Neandertaler eine Regression, so daß er über geringere sprachliche Fähigkeiten verfügte als seine Vorfahren? (Einige Anthropologen haben sogar vermutet, daß das Aussterben des Neandertalers möglicherweise genau damit zusammenhing.) Eine evolutionäre Regression dieser Art ist unwahrscheinlich; in der Natur finden sich dafür praktisch keine Beispiele. Eher ist die Antwort wohl in der Anatomie von Gesicht und Schädel des Neandertalers zu suchen. Als sichtbare Anpassung an kalte Klimazonen springt der Mittelteil des Gesichts beim Neandertaler außerordentlich weit vor, so daß sich lange Nasenkanäle ergeben, in denen kalte Luft sich erwärmen und die Feuchtigkeit der ausgeatmeten Luft kondensieren kann. Diese Anordnung hat möglicherweise die Form der Schädelbasis beeinflußt, ohne das Sprachvermögen der Spezies nennenswert beeinträchtigt zu haben. Unter Anthropologen herrscht über diesen Punkt noch keine Einigkeit. Alles in allem deutet der anatomische Befund auf eine frühe Evolution der Sprache, gefolgt von einer kontinuierlichen Verbesserung sprachlicher Fertigkeiten. Der archäologische Befund im Hinblick auf die Herstellung von Werkzeugen und künstlerische Äußerungen weist dagegen in eine andere Richtung. Obgleich die Sprache, wie schon gesagt, keine Fossilien bildet, können die Produkte menschlicher Hände im Prinzip gewisse Einblicke in die Sprache geben. Wenn wir - wie im vorigen Kapitel - von künstlerischem Ausdruck sprechen, dann denken wir an Menschen mit heutigem Bewußtsein, und das bedeutet eine Sprache auf dem heutigen Niveau. Können Steinwerkzeuge uns auch zu einem Verständnis des Sprachvermögens der Werkzeugmacher verhelfen? Das war die Aufgabe, mit der Glynn Isaac konfrontiert war, 176
als er vor der New Yorker Academy of Sciences 1976 einen Vortrag über Ursprung und Wesen der Sprache halten sollte. Er blickte auf die Komplexität der Steinwerkzeug-Herstellung von ihren Anfängen vor über zwei Millionen Jahren bis zur jungpaläolithischen Revolution vor 35.000 Jahren. Er interessierte sich weniger dafür, welche Aufgaben die Menschen mit den Werkzeugen bewältigten, als für das formale Prinzip, dem die Werkzeugmacher bei ihren Geräten folgten. Die Anwendung eines Ordnungsprinzips ist ein menschliches Bestreben, eine Verhaltensweise, die in ihrer vollen Ausprägung eine hochentwickelte gesprochene Sprache erfordert. Ohne Sprache wäre die Willkür einer von Menschen aufgezwungenen Ordnung unmöglich. Die archäologische Überlieferung zeigt, daß die Auferlegung einer Ordnung in der menschlichen Frühgeschichte sehr viel Zeit in Anspruch nahm und in einem Schneckentempo erfolgte. Wir haben im zweiten Kapitel gesehen, daß die Werkzeuge des Oldowan, die aus einer Zeit vor 2,5 bis etwa 1,4 Millionen Jahren datieren, eine eher zufällige Form aufwiesen. Anscheinend ging es den Werkzeugmachern in der Hauptsache um die Herstellung scharfer Abschläge ohne Rücksicht auf deren Form. Die Geröllwerkzeuge wie Schaber, Haumesser und runde, flachgewölbte Chopper, die beim Herstellen von Abschlägen von einem sogenannten Kern entstehen, waren Abfallprodukte. Selbst die Geräte des Acheuléen, das auf das Oldowan folgte und bis vor rund 250.000 Jahren dauerte, zeigen nur minimale Ansätze einer intendierten Formgebung. Der tropfenförmige Faustkeil folgte vermutlich einer Konzeption, doch die meisten übrigen aufgefundenen Geräte entsprachen in vieler Hinsicht denen des Oldowan. Außerdem kannten die Menschen des Acheuléen nur rund ein Dutzend Werkzeugformen. Seit einer Zeit vor rund 250.000 Jahren verfertigte der archaische Sapiens einschließlich des Neandertalers Werkzeuge aus hergerichteten Abschlägen, und dieses Sortiment, auch das des Moustérien, um177
faßte vielleicht sechzig identifizierbare Werkzeugtypen. Doch die Typen als solche blieben länger als Zweihunderttausend Jahre unverändert - eine Stagnation der technischen Entwicklung, aus der nicht gerade ein voll entwickeltes Bewußtsein des modernen Menschen spricht. Erst mit dem Erscheinen jungpaläolithischer Kulturen vor 35.000 Jahren setzten sich Neuerungen und bewußte Formgebung durch. Jetzt wurden nicht nur neuartige und funktionellere Werkzeugtypen produziert, sondern die Werkzeugtypen, die das Sortiment des Jungpaläolithikums charakterisierten, änderten sich innerhalb weniger Jahrtausende, während sie zuvor über zweihunderttausend Jahre unverändert geblieben waren. Isaac interpretierte dieses Muster einer technologischen Vielfalt und Veränderung als Zeichen für die allmähliche Entstehung einer gesprochenen Sprache. Seiner Meinung nach zeigte die jungpaläolithische Revolution einen Markstein auf diesem Evolutionspfad an. Die meisten Archäologen stimmen dieser Interpretation im großen und ganzen zu, auch wenn Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, in welchem Maß die frühen Werkzeughersteller, wenn überhaupt, über eine gesprochene Sprache verfügten. Im Gegensatz zu Nicholas Toth ist Thomas Wynn von der Universität von Colorado überzeugt, daß die Oldoway-Stufe in ihren allgemeinen Merkmalen affenartig und nicht menschlich war. »An keiner Stelle dieses Bildes brauchen wir unbedingt solche Elemente wie Sprache vorauszusetzen«, schrieb er zusammen mit anderen Autoren in einem 1989 erschienenen Aufsatz in der Zeitschrift Man. Die Herstellung dieser einfachen Werkzeuge erfordere nur geringe kognitive Fähigkeiten, so Wynns Argument, und deshalb könne man ihre Produzenten in keiner Hinsicht als Menschen bezeichnen. Wynn räumt immerhin ein, daß es etwas »Menschenähnliches« in der Verfertigung der Faustkeile des Acheuléen gebe: »Artefakte wie diese deuten darauf hin, daß die Form des Endprodukts von seinem Produzenten tatsächlich beabsichtigt 178
war und daß uns diese Intention einen winzigen Einblick in das Bewußtsein von Homo erectus ermöglicht.« Nach Wynns Einschätzung entsprachen die kognitiven Fähigkeiten von Homo erectus auf der Grundlage der geistigen Anforderungen der Werkzeugproduktion des Acheuléen den geistigen Fähigkeiten eines Siebenjährigen von heute. Kinder in diesem Alter haben bereits beträchtliche sprachliche Fähigkeiten, einschließlich Referenz und Grammatik, und stehen kurz davor, sich ohne Zuhilfenahme von Zeigen oder anderer Gebärden zu verständigen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Jeffrey Laitman das Sprachvermögen von Homo erectus aufgrund der Form der Schädelbasis mit dem eines Sechsjährigen von heute gleichgesetzt hat. Wohin führen uns all diese Befunde (vgl. Abb. 7.2)? Wenn wir uns nur an die technologische Komponente der archäologischen Überlieferung halten könnten, wäre zu vermuten, daß die Sprache sehr früh entstanden ist, sich während des größten Teils der menschlichen Vorgeschichte nur sehr langsam weiterentwickelt und erst relativ spät und innerhalb kürzester Zeit ihre heutige Ausformung erhalten hat. Diese Annahme verträgt sich mit der Hypothese, die sich aus dem anatomischen Befund ableitet. Die archäologische Überlieferung des künstlerischen Ausdrucks läßt eine solche Annahme dagegen nicht zu. Farbige Bilder und Ritzzeichnungen an den Wänden von Abris und Höhlen treten in der Überlieferung plötzlich auf - vor rund 35.000 Jahren. Belege, die für eine frühere künstlerische Betätigung sprechen, wie Ockerstöcke und eingeritzte Kurvenlinien auf Knochengegenständen, sind günstigenfalls selten und ansonsten zweifelhaft. Wenn man die künstlerische Produktion zum einzigen verläßlichen Anhaltspunkt für eine gesprochene Sprache nimmt - worauf beispielsweise der australische Archäologe Iain Davidson besteht -, dann entwickelte sich die Sprache nicht nur sehr spät zu dem, was sie heute ist, sondern sie entstand auch erst relativ spät. »Das Schaffen von Bildern, die bestimmten 179
Dingen ähnlich sind, kann in vorgeschichtlicher Zeit nur in Gemeinschaften mit gemeinsamen Bedeutungssystemen entstanden sein«, behauptet Davidson in einem zusammen mit William Noble, seinem Kollegen an der Universität von New England, verfaßten Aufsatz, der erst kürzlich erschien. »Gemeinsame Bedeutungssysteme« werden natürlich durch Sprache vermittelt. Davidson und Noble behaupten, daß der künstlerische Ausdruck ein Medium gewesen sei, durch das sich eine referentielle Sprache entwickelte, und nicht, daß die Kunst erst durch Sprache möglich geworden sei. Die Kunst müsse der Sprache vorausgehen oder zumindest gleichzeitig mit ihr entstehen. Das Erscheinen der ersten Kunst in der archäologischen Überlieferung bezeichne deshalb das erste Auftreten einer gesprochenen, referentiellen Sprache. Die Hypothesen über die Form und den zeitlichen Verlauf der Evolution der menschlichen Sprache könnten offenbar nicht widersprüchlicher sein - was bedeutet, daß die Befunde bislang ganz oder zum Teil falsch interpretiert worden sind. Ungeachtet der komplexen denkbaren Gründe für die Fehlinterpretation zeichnet sich ein neues Verständnis für die Komplexität der Entstehung von Sprache ab. Eine große Konferenz im März 1990, organisiert von der Wenner-Gren-Stiftung für anthropologische Forschung, dürfte der Diskussion der kommenden Jahre die Richtung geben. Unter dem Thema »Werkzeuge, Sprache und Kognition in der menschlichen Evolution« zog die Konferenz Verbindungslinien zwischen diesen wichtigen Bereichen der menschlichen Vorgeschichte. Kathleen Gibson, eine der Organisatoren der Konferenz, beschrieb die Position mit folgenden Worten: »Da die menschliche soziale Intelligenz, der Gebrauch von Werkzeugen und einer Sprache allesamt auf einer quantitativen Zunahme des Gehirns und den damit einhergehenden Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung beruhen, hätte keine dieser Komponenten für sich allein mit einem Schlag wie eine Minerva aus dem Haupt des Zeus geboren werden können. Vielmehr muß 180
Abb. 1.2: Befunde aus drei unterschiedlichen Forschungsrichtungen. Wenn die archäologische Überlieferung (a) ein zuverlässiger Indikator ist, dann hat sich die Sprache spät in der menschlichen Vorgeschichte und innerhalb kürzester Zeit zu ihrem heutigen Niveau entwickelt. Dagegen lassen Befunde der Gehirnstruktur und der Gehirngröße (b) auf eine allmähliche Entwicklung der Sprache schließen, die mit dem Erscheinen der Gattung Homo einsetzte. Derselbe Schluß ergibt sich aus der Evolution des Sprechapparats (c).
sich jede dieser geistigen Fähigkeiten ebenso wie die Größe des Gehirns allmählich über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt haben. Da diese Fähigkeiten zudem wechselseitig voneinander abhängen, hätte keine für sich allein ihren heu181
tigen Komplexitätsgrad erreichen können.« Es bedeutet eine große Herausforderung für uns, diese Interdependenzen zu entwirren. Wie ich bereits gesagt habe, geht es hier um mehr als um die Rekonstruktion der Vorgeschichte. Auch unser Verständnis von uns selbst und unserem Platz in der Natur steht zur Debatte. Diejenigen, die nach wie vor an der Einzigartigkeit des Menschen festhalten wollen, werden alle Befunde begrüßen, die auf einen späten und plötzlichen Ursprung der Sprache deuten. Diejenigen, die keine Probleme damit haben, daß der Mensch ein Teil der Natur ist, können mühelos akzeptieren, daß diese ganz und gar menschliche Fähigkeit sich im Lauf eines langgedehnten Evolutionsprozesses entwickelt hat. Ich vermute, daß wir, wenn durch eine Laune der Natur heute noch Populationen von Homo habilis und Homo erectus existierten, an ihnen Abstufungen einer referentiellen Sprache beobachten könnten. Die Lücke zwischen uns und der übrigen Natur wäre damit durch unsere eigenen Vorfahren geschlossen.
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Die Entstehung des Bewußtseins Drei große Revolutionen markieren die Geschichte des Lebens auf der Erde. Die erste war der Ursprung des Lebens selbst, zu einem Zeitpunkt, der weiter als 3,5 Milliarden Jahre zurückliegt. Das Leben in Form von Mikroorganismen wurde zu einer mächtigen Kraft in einer Welt, in der bislang lediglich die Gesetze der Chemie und Physik geherrscht hatten. Die zweite Revolution war die Entstehung mehrzelliger Organismen vor etwa einer halben Milliarde Jahre. Das Leben wurde komplex, als Pflanzen und Tiere in unzähligen Formen und Größen sich in fruchtbaren Ökosystemen entwickelten und miteinander in Wechselbeziehung traten. Die Entstehung des menschlichen Bewußtseins irgendwann in den letzten 2,5 Millionen Jahren war das dritte revolutionäre Ereignis. Das Leben wurde sich seiner selbst bewußt und begann, die Welt der Natur seinen eigenen Zwecken zu unterwerfen. Was ist überhaupt Bewußtsein? Genauer gesagt, wozu ist es da? Welche Funktion erfüllt es? Solche Fragen mögen seltsam erscheinen, wenn man bedenkt, daß jeder von uns das Leben durch das Medium des Bewußtseins oder der Selbstwahrnehmung erfährt. Es ist in unserem Leben eine so wirkungsvolle Kraft, daß es unmöglich ist, sich eine Existenz 183
ohne die subjektive Wahrnehmung vorzustellen, die wir als reflexives Bewußtsein bezeichnen. So stark es auf der subjektiven Ebene wirksam ist, so schwer ist es objektiv zu erfassen. Das Bewußtsein stellt die Wissenschaftler vor ein Dilemma, das manche für unlösbar halten. Das Empfinden der Selbstwahrnehmung, das jeder in sich verspürt, überstrahlt alles, was wir denken und tun; und dennoch gibt es für mich keine objektive Möglichkeit zu erfahren, ob mein Gegenüber dieselbe Wahrnehmung hat wie ich und umgekehrt. Wissenschaftler und Philosophen haben sich seit Jahrhunderten bemüht, dieses Phänomen, das sich unserem gedanklichen Zugriff stets aufs neue entzieht, exakt zu beschreiben. Operationale Definitionen, die sich auf die Fähigkeit konzentrieren, die eigenen mentalen Zustände zu überwachen, mögen in gewissem Sinn objektiv exakt sein, doch haben sie keinen Bezug zu der Frage, wie wir wissen können, daß wir ein Bewußtsein von uns selbst und unserem Sein haben. Das Denken ist der Ursprung des Selbstgefühls - eines Gefühls, das manchmal privat ist und manchmal mit anderen geteilt wird. Das Denken ist außerdem ein Kanal, über den wir mit Hilfe der Phantasie Welten erreichen, die jenseits der materiellen Gegenstände des Alltagslebens liegen; und es gibt uns ein Mittel an die Hand, die bunte Realität um abstrakte Welten zu bereichern. Vor drei Jahrhunderten versuchte Descartes, dem beunruhigenden Geheimnis der Quelle des Ichgefühls, das in uns entsteht, auf die Spur zu kommen. Die Philosophen haben diese Dichotomie als das Geist-Körper-Problem bezeichnet. »Ich habe das Gefühl, als wäre ich unerwartet in einen tiefen Strudel gestürzt, der mich umherwirbelt, so daß ich weder festen Boden unter den Füßen finden noch nach oben schwimmen kann«, schrieb Descartes. Seine Lösung des Geist-Körper-Problems bestand darin, Geist und Körper als zwei völlig getrennte Wesenheiten zu beschreiben, als Dualismus, der ein Ganzes ergibt. »Das Selbst wurde als eine Art 184
immaterieller Geist aufgefaßt, der einen Körper besitzt und lenkt, so wie man ein Automobil besitzt und lenkt«, formulierte es der Philosoph Daniel Dennett von der Tufts University in seinem Buch Philosophie des menschlichen Bewußtseins. Descartes betrachtete das Denken auch als alleinige Domäne des Menschen, während alle übrigen Lebewesen bloße Automaten seien. Eine ähnliche Auffassung herrschte während der vergangenen fünf Jahrzehnte auch in der Biologie und Psychologie. Bekannt unter der Bezeichnung Behaviorismus, behauptete sie, daß nichtmenschliche Lebewesen lediglich reflexhaft auf Ereignisse in ihren Welten reagierten und zu analytischen Denkprozessen unfähig seien. Ihr zufolge haben Tiere kein Bewußtsein; oder jedenfalls fehlt uns die Möglichkeit, wissenschaftlich etwas darüber auszusagen, und deshalb sollte es außer Betracht bleiben. Diese Auffassung hat sich in jüngster Zeit allmählich geändert, was zu einem großen Teil Donald Griffin zu danken ist, einem Verhaltensbiologen der Harvard Universität, der seit zwei Jahrzehnten darum kämpft, dieses negative Bild der Tierwelt zu Fall zu bringen. Drei Bücher hat er zu diesem Thema veröffentlicht; das letzte mit dem Titel Animal Minds ist 1992 erschienen. Psychologen und Ethologen waren offenbar »geradezu versteinert angesichts der Vorstellung eines Bewußtseins bei Tieren«, meint der Autor. Das ist Griffin zufolge auf den anhaltenden Einfluß des Behaviorismus zurückzuführen, der wie ein Geist über der Wissenschaft schwebt. »In anderen Bereichen wissenschaftlicher Forschung müssen wir Beweise akzeptieren, die nicht hundertprozentig hieb- und stichfest sind«, sagt Griffin. »Die historischen Wissenschaften gehören dazu oder etwa die Kosmologie und die Geologie. Auch Darwin konnte die Tatsache der biologischen Evolution nicht im strengen Sinn beweisen.« Anthropologen, die darum bemüht sind, die Evolution der menschlichen Gestalt zu erklären, müssen sich früher oder 185
später auch der Evolution des menschlichen Verstandes zuwenden - insbesondere dem menschlichen Bewußtsein, einem Gegenstand, der bislang eher eine Sache der Biologen war. Wir müssen uns außerdem fragen, wie ein solches Phänomen im menschlichen Gehirn entstand: Gelangte es voll ausgebildet in das Gehirn von Homo sapiens, ohne in der übrigen Welt der Natur einen wie auch immer gearteten Vorläufer zu haben, wie man aus dem Behaviorismus schließen müßte? Wir können uns die Frage stellen: Wann in der menschlichen Vorgeschichte erreichte das Bewußtsein das Stadium, das wir heute erleben - entstand es frühzeitig und strahlte im weiteren Verlauf der Frühgeschichte immer heller? Und wir können uns fragen: Welche evolutionären Vorteile hätte eine solche Eigenschaft des Denkens unseren Stammvätern gebracht? Man beachte, daß diese Fragen ihre Entsprechung in den Fragen zur Evolution der Sprache haben. Das ist kein Zufall, denn Sprache und reflexives Selbstbewußtsein sind zweifellos eng miteinander verbundene Phänomene. Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen müssen wir auch darauf eingehen, »wozu« das Bewußtsein gut ist. »Gibt es etwas, das ein bewußtes Wesen für sich tun kann, das eine bewußtseinslose (aber intelligent geschaltete) Simulation dieses Wesens nicht für sich zustande bringt?. Der Zoologe Richard Dawkins von der Universität Oxford räumt ein, daß auch er ratlos sei. Wie er ausführt, müßten Organismen in der Lage sein, etwas über die Zukunft zu wissen, eine Fähigkeit, die im Gehirn durch ähnliche Vorgänge erreicht wird wie bei Computersimulationen. Dieser Prozeß muß seiner Meinung nach nicht bewußt ablaufen. Trotzdem »erreichte die Evolution der Fähigkeit zur Simulation anscheinend ihren Höhepunkt im subjektiven Bewußtsein«. Warum das so war, ist nach seinem Bekenntnis das tiefste Rätsel, vor das die moderne Biologie gestellt ist. »Möglicherweise entsteht Bewußtsein, wenn die Simulation der Welt im Gehirn so voll186
ständig wird, daß sie ein Modell ihrer selbst einschließen muß.« Es besteht natürlich immer die Möglichkeit, daß das Bewußtsein überhaupt nicht »für« etwas gut ist, sondern lediglich ein Abfallprodukt der Tätigkeit der Großhirnrinde. Ich halte es allerdings lieber mit der evolutionären Auffassung, derzufolge ein so leistungsfähiges mentales Phänomen wahrscheinlich einen Überlebensvorteil erbracht hat und somit das Ergebnis einer natürlichen Auslese war. Wenn sich keine solchen Vorteile feststellen lassen, dann kann man unter Umständen die Gegenhypothese - das Bewußtsein war nicht mit einem Anpassungsvorteil verbunden - gelten lassen.
Der Neurobiologe Harry Jerison hat den Weg der Gehirnevolution seit der Ankunft des Lebens auf dem trockenen Land eingehend verfolgt. Das Muster der Veränderung im zeitlichen Verlauf ist erstaunlich: Der Ursprung großer neuer Faunengruppen (oder Gruppen innerhalb von Gruppen) geht in der Regel einher mit einem plötzlichen Anstieg der relativen Größe des Gehirns, ein Vorgang, der als Enzephalisierung bezeichnet wird. Als sich beispielsweise vor etwa zweihundertdreißig Millionen Jahren die ersten Ursäugetiere entwickelten, waren ihre Gehirne vier- bis fünfmal so groß wie das Gehirn durchschnittlicher Reptilien. Zu einer ähnlich drastischen Vergrößerung des Denkapparats kam es mit dem Erscheinen moderner Säugetiere vor fünfzig Millionen Jahren. Im Vergleich zu den Säugetieren insgesamt sind die Primaten die Gruppen mit den relativ größten Gehirnen und weisen eine doppelt so große Enzephalisationshöhe auf wie ein durchschnittliches Säugetier. Unter den Primaten haben die Affen das relativ größte Gehirn; es ist wiederum doppelt so groß wie bei einem durchschnittlichen Primaten. Und das Gehirn des Menschen ist dreimal so groß wie das eines durchschnittlichen Affen. 187
Wenn man von den Menschen für einen Augenblick absehen würde, dann könnte man das schrittweise Ansteigen der relativen Gehirngröße im Verlauf der Evolutionsgeschichte als Entwicklung zu einer immer höheren biologischen Überlegenheit auffassen: Größere Gehirne bedeuten intelligentere Lebewesen. In einem bestimmten Sinn trifft dies zweifellos zu, doch es empfiehlt sich, unter einem evolutionären Blickwinkel zu untersuchen, was hier eigentlich vorgeht. Wir könnten uns vorstellen, daß Säugetiere irgendwie intelligenter als Reptilien und diesen überlegen sind, irgendwie besser in der Lage, die benötigten Ressourcen zu nutzen. Doch die Biologen sind zu der Erkenntnis gelangt, daß das nicht stimmt. Wenn die Säugetiere bei der Nutzung ihrer Nischen auf der Erde tatsächlich erfolgreicher gewesen wären, dann müßte man eine größere Vielfalt in der Art dieser Nutzung, mit anderen Worten eine größere Vielfalt der Gattungen erwarten. Doch die Anzahl der Säugetiergattungen, die zu irgendeiner Zeit in der jüngsten Geschichte existiert haben, ist etwa ebenso hoch wie die Zahl der Dinosauriergattungen, dieser ungeheuer erfolgreichen Reptilien einer früheren Periode. Außerdem ist die Zahl der ökologischen Nischen, die von Säugetieren genutzt werden können, etwa ebenso groß wie die der Dinosauriernischen. Worin besteht dann der Nutzen eines größeren Gehirns? Eine der Triebkräfte der Evolution ist ein ständiger Konkurrenzkampf zwischen den Arten, in dessen Verlauf eine Art durch eine evolutionäre Neuerung vorübergehend einen Vorteil erlangt, nur um durch die noch vorteilhaftere Neuerung einer anderen Art überholt zu werden usw. Das Ergebnis ist die Entwicklung von scheinbar besseren Methoden, bestimmte Dinge zu tun, zum Beispiel schneller zu laufen, schärfer zu sehen, sich gegen Angriffe wirksamer zur Wehr zu setzen, intelligenter zu sein - während kein einziger dieser Vorteile dauerhaft gesichert werden kann. Militärisch gesprochen, ist es ein Wettrüsten: Die Waffen auf beiden Seiten 188
werden zahlreicher oder effizienter, doch letztlich trägt keine der beiden Seiten einen endgültigen Sieg davon. Wissenschaftler haben den Begriff des »Wettrüstens« in die Biologie eingeführt, um dasselbe Phänomen in der Evolution zu beschreiben. Die Herausbildung größerer Gehirne läßt sich als Konsequenz eines solchen Wettrüstens auffassen. In größeren Gehirnen muß jedoch etwas anderes vorgehen als in kleineren. Wie haben wir uns dieses Etwas vorzustellen? Nach Jerisons Meinung erzeugen Gehirne für jede Spezies eine eigene Version der Realität. Die Welt, die wir als Individuen wahrnehmen, ist im wesentlichen unser eigenes Werk, beherrscht von unserer eigenen Erfahrung. In ähnlicher Weise ist die Welt, die wir als eine Spezies wahrnehmen, von der Beschaffenheit unserer Sinnesorgane und ihrer Kanäle beherrscht. Jeder Hundebesitzer weiß, daß es eine Welt der Geruchserfahrungen gibt, in die der Hund, aber nicht der Mensch eingeweiht ist. Schmetterlinge sind in der Lage, ultraviolettes Licht zu sehen, wir dagegen nicht. Die Welt im Innern unserer Köpfe - ob wir ein Homo sapiens, ein Hund oder ein Schmetterling sind - wird deshalb von der qualitativen Natur des Informationsflusses von der Außenwelt zur Innenwelt und durch die Fähigkeit der Innenwelt zur Informationsverarbeitung geformt. Es besteht ein Unterschied zwischen der wirklichen Welt »draußen« und der gedanklich wahrgenommenen Welt »drinnen«. Während sich die Gehirne im Lauf der Evolution ausdehnten, konnten weitere sensorische Informationskanäle noch vollständiger bedient und ihr Input sorgfältiger integriert werden. Damit näherten sich gedankliche Modelle den Realitäten »draußen« und »drinnen« immer mehr an, wenngleich mit einigen unvermeidlichen Informationslücken, wie ich gerade erwähnt habe. Wir können stolz sein auf unser introspektives Bewußtsein, doch wir können nur von dem ein Bewußtsein haben, was das Gehirn aufgrund seiner Ausstattung von der Welt erfassen kann. Die Sprache wird zwar von vielen als 189
Werkzeug der Kommunikation wahrgenommen, aber sie ist nach Jerison zugleich ein Mittel, mit dem unsere gedankliche Wirklichkeit zugerichtet wird. So wie die sensorischen Kanäle des Sehens, Riechens und Hörens für bestimmte Tiergruppen in der Konstruktion ihrer besonderen inneren Welten von Bedeutung sind, so ist die Sprache die Schlüsselkomponente für den Menschen. In der Philosophie und Psychologie gibt es eine Fülle von Literatur zu der Frage, ob das Denken auf der Sprache oder die Sprache auf dem Denken beruht. Es steht außer Zweifel, daß ein großer und vielleicht der größte Teil der kognitiven Prozesse des Menschen ohne Sprache oder sogar ohne Bewußtsein abläuft. Jede körperliche Tätigkeit, wie beispielsweise das Tennisspielen, erfolgt weitgehend automatisch das heißt, ohne einen wörtlichen laufenden Kommentar zu dem, was man jeweils als nächstes tun wird. Die Lösung eines Problems, die einem plötzlich einfällt, während man an etwas gänzlich anderes denkt, ist ein weiteres offenkundiges Beispiel. Für manche Psychologen ist die gesprochene Sprache lediglich eine quasi nachträgliche Überlegung zu einem fundamentaleren Denkprozeß. Doch die Sprache formt zweifellos Elemente des Denkens in einer Weise, wie sie einem sprachlosen Denken unmöglich wäre, so daß Jerison gute Gründe für seine Behauptung beibringen kann.
Die offensichtlichste Veränderung des Gehirns der Hominiden im Verlauf der Evolution war eine Verdreifachung seiner Größe. Die Größe war jedoch nicht die einzige Veränderung; auch die gesamte Organisation veränderte sich. Die Gehirne von Affen und Menschen sind nach demselben Grundmuster aufgebaut: Beide sind in eine linke und eine rechte Hemisphäre unterteilt und diese wiederum in vier separate Lappen: Stirn-, Schläfen-, Scheitel- und Hinterhaupts190
lappen. Bei den Affen sind die Hinterhauptslappen größer als die Stirnlappen, während es sich beim Menschen genau umgekehrt verhält. Dieser Unterschied im Aufbau liegt vermutlich in irgendeiner Weise der Entstehung des menschlichen im Gegensatz zum äffischen Bewußtsein zugrunde. Wenn wir wüßten, auf welche Weise sich die Veränderung der Organisation in der menschlichen Vorgeschichte vollzogen hat, hätten wir einen Hinweis auf die näheren Umstände bei der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins. Glücklicherweise hinterläßt die äußere Oberfläche des Gehirns auf der inneren Oberfläche der Schädeldecke ihren Abdruck. Wenn man von der inneren Oberfläche einer fossilen Schädeldecke einen Latexabdruck macht, erhält man das Bild eines frühgeschichtlichen Gehirns. Die Geschichte, die aus einer solchen Untersuchung erwächst, ist voller Dramatik, wie Dean Falk bei ihrem Studium mehrerer fossiler Schädeldecken aus Süd- und Ostafrika entdeckte. »Das Gehirn der Australopithecinen ist in seiner Organisation im wesentlichen affenähnlich«, sagt sie über die relative Größe von Stirn- und Hinterhauptslappen. »Die menschenähnliche Organisation findet sich bei den frühesten Arten von Homo.« Wir haben gesehen, daß sich viele Aspekte der Hominidenbiologie mit dem Erscheinen der ersten Art von Homo veränderten, zum Beispiel der Körperbau und die Muster des Entwicklungswachstums - Änderungen, die für mich eine Verlagerung zur neuen adaptiven Nische des Jagens und Sammeins signalisieren. Veränderungen in der Organisation und der Größe des Gehirns zu diesem Zeitpunkt sind deshalb miteinander vereinbar und ergeben einen biologischen Sinn. Wie weit wir an diesem Punkt jedoch schon von einem menschlichen Bewußtsein sprechen können, läßt sich weit weniger leicht bestimmen. Erst müssen wir etwas über das Bewußtsein und Denken unserer stammesgeschichtlich nächsten Verwandten, der Menschenaffen, wissen, bevor wir uns dieser Frage zuwenden können. 191
Primaten sind durch und durch soziale Wesen. Einige wenige Stunden in Gegenwart einer Affenhorde reichen einem bereits aus, um einen Eindruck davon zu bekommen, welch große Bedeutung eine soziale Interaktion für ihre Mitglieder hat. Bestehende Bündnisse werden fortwährend auf die Probe gestellt und bekräftigt; die Möglichkeiten neuer Bündnisse werden erkundet; Freunden muß man zu Hilfe kommen, Rivalen in ihre Schranken weisen; und ständig sind die geschlechtsreifen Männchen auf der Suche nach paarungsbereiten Weibchen. Die Primatenforscher Dorothy Cheney und Robert Seyfarth von der Universität von Pennsylvania haben Jahre damit zugebracht, das Leben mehrerer Horden südafrikanischer Meerkatzen im Amboseli-Nationalpark in Kenia zu beobachten und aufzuzeichnen. Auf einen zufälligen Beobachter der Affen mögen plötzliche Aktivitätsausbrüche, häufig aggressiver Natur, wie ein soziales Chaos wirken. Für die beiden Forscher dagegen, die die einzelnen Individuen kannten und wußten, wer mit wem verwandt oder verbündet war und wer mit wem rivalisierte, hatte das Chaos durchaus einen Sinn. Sie beschreiben eine typische Begegnung: »Ein Weibchen, Newton, stürzt sich auf ein anderes, Tycho, und will ihr eine Frucht streitig machen. Als Tycho davonrennt, kommt Newtons Schwester Charing Cross herbei, um sich an der Verfolgung zu beteiligen. Inzwischen läuft Wormwood Scrubs, eine weitere Schwester Newtons, zu Tychos Schwester Holborn, die in zwanzig Meter Entfernung beim Fressen ist, und schlägt sie auf den Kopf.« Was als Konflikt zwischen zwei Individuen beginnt, breitet sich rasch aus und erfaßt Freunde und Verwandte, die möglicherweise noch unter dem Eindruck vorhergehender, ähnlich verlaufender Aggressionsausbrüche stehen. »Affen müssen nicht nur ihr gegenseitiges Verhalten vorhersagen, sie müssen auch ihre gegenseitige Beziehung einschätzen«, erläutern Cheney und Seyfarth. »Ein Affenweibchen, das mit all 192
diesem keineswegs zufälligen Tumult konfrontiert ist, kann sich nicht damit begnügen, einfach nur zu lernen, wer ihr gegenüber dominant oder unterwürfig ist; es muß auch wissen, wer mit wem verbündet ist und wer voraussichtlich einer Gegnerin zu Hilfe kommen wird.« Das geistige Erfordernis, soziale Bündnisse im Blick zu haben, ist der Schlüssel zu einem Paradox in der Primatenforschung, meint der Psychologe Nicholas Humphrey von der Universität Cambridge. Das Paradox besteht in folgendem: »Unter künstlich erzeugten Laborbedingungen hat man mehrfach gezeigt, daß Menschenaffen ein beeindruckendes kreatives Denkvermögen besitzen«, so Humphrey, »doch diese Intelligenzleistungen haben einfach keinerlei Entsprechung im Verhalten derselben Tiere in ihrer natürlichen Umgebung. Bislang ist mir jedenfalls aus der Forschung kein einziger Fall bekannt, in dem ein Schimpanse seine ganze Fähigkeit zu logischen Schlußfolgerungen zur Lösung eines biologisch relevanten praktischen Problems eingesetzt hätte.« Dasselbe könnte man nach Meinung Humphreys auch vom Menschen sagen. Einmal angenommen, man habe Einstein ebenso mit einem Fernglas beobachtet, wie Primatenforscher Affen beobachten, dann hätte man die Genieblitze des großen Physikers nur sehr selten zu sehen bekommen. »Er machte keinen Gebrauch von seinem Genie, denn in der alltäglichen Welt der praktischen Dinge mußte er keinen Gebrauch davon machen.« Entweder war die natürliche Auslese verschwenderisch, als sie Primaten - einschließlich des Menschen - intelligenter machte, als sie eigentlich sein müßten, oder ihr alltägliches Leben stellt höhere geistige Anforderungen, als es für einen außenstehenden Beobachter den Anschein hat. Humphrey gelangte zu der Überzeugung, daß die zweite Möglichkeit die richtige sei und daß insbesondere die soziale Verflochtenheit des Lebens von Primaten eine hohe geistige Herausforderung darstelle. Die eigentliche Funktion des schöpferischen Intellekts bestehe darin, »die Gesellschaft zusammenzuhalten«. 193
Primatenforscher wissen heute, daß das Beziehungsgeflecht innerhalb von Primatenhorden äußerst komplex ist. Die Feinheiten dieses Bezugssystems zu erlernen, wie es die Mitglieder tun müssen, wenn sie sich behaupten wollen, ist schwierig genug. Doch die Aufgabe wird durch fortwährende Veränderungen der Bündnisse ungeheuer erschwert, da die einzelnen Individuen ständig bestrebt sind, ihre politische Macht auszubauen. Stets auf ihre eigenen vordersten Interessen und die ihrer engsten Verwandten bedacht, sehen es die Individuen gelegentlich als vorteilhaft an, bestehende Verbindungen zu lösen und neue - sogar mit ehemaligen Rivalen - einzugehen. Somit befinden sich die Hordenmitglieder inmitten eines ständig wechselnden Musters von Bündnissen, und es bedarf eines wachen Verstandes, um das Spiel mitzuspielen, das Humphrey als soziales Schachspiel bezeichnet. Die Mitspieler beim sozialen Schachspiel müssen geschickter sein als traditionelle Schachspieler, da nicht nur die Spielfiguren unversehens ihre Identität ändern können - aus Springern werden Läufer, Bauern werden zu Türmen usw. -, sondern gelegentlich sogar die Verbündeten die Seiten wechseln und zu gegnerischen Figuren werden. Die Spieler in diesem Spiel müssen ständig auf der Hut sein, nach potentiellen Vorteilen Ausschau halten und unerwartete Nachteile rechtzeitig erkennen. Wie schaffen sie das? Eine der wichtigsten Anforderungen, die an Individuen in Primatengesellschaften gestellt werden, besteht darin, das Verhalten von anderen vorherzusagen. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, wäre eine riesige Datenbank im Gehirn, in der jede mögliche Handlung der anderen Hordenmitglieder und die jeweils angemessene Reaktion darauf gespeichert sind. Nach diesem Prinzip arbeitet das leistungsstarke, einem Schachgroßmeister ebenbürtige Computerschachprogramm Deep Thought. Computer arbeiten jedoch weit schneller als lebende Gehirne, wenn sie für jede Stellung auf dem Schachbrett alle möglichen Kombinationen durch194
gehen. Deshalb müssen wir nach einer geeigneteren Methode Ausschau halten. Wenn die Individuen beispielsweise ihr eigenes Verhalten überprüfen könnten, statt lediglich automatisch wie ein Computer zu reagieren, dann würden sie ein heuristisches Gefühl dafür entwickeln, was sie unter bestimmten Umständen am besten tun sollten. Durch Extrapolation wären sie dann in der Lage, das Verhalten der anderen unter denselben Umständen vorherzusagen. Diese Fähigkeit der Überprüfung, die Humphrey als »inneres Auge« bezeichnet, ist eine Definition von Bewußtsein, und sie würde den Individuen, die darüber verfügen, einen beträchtlichen evolutionären Vorteil verschaffen. Nachdem das Ichbewußtsein einmal entstanden wäre, gäbe es keinen Weg mehr zurück, denn die Individuen, die in geringerem Maß als andere darüber verfügten, befänden sich im Nachteil, und diejenigen mit einem geringfügigen Vorteil würden zunehmend stärker begünstigt. Ein Wettrüsten würde einsetzen, das den Prozeß immer weiter treiben und die Intelligenz und das Ichbewußtsein weiter steigern würde. Mit wachsender Aufmerksamkeit des inneren Auges würde sich notwendig ein echtes Gefühl eines Selbst, ein reflexives Bewußtsein, ein inneres Ich herausbilden. Die Hypothese, die ein Bestandteil der Hypothese über die Entwicklung der sozialen Intelligenz war, fand großes Interesse und Unterstützung. In einem 1986 in der Zeitschrift Science veröffentlichten Überblick über die Primatenforschung betonten Cheney, Seyfarth und Barbara Smuts die Bedeutung der Intelligenz in sozialen Zusammenhängen gegenüber ihrer Wichtigkeit für die Lösung technischer Probleme. Und Robin Dunbar untersuchte die Unterschiede im Umfang der Großhirnrinde - der »Denkregion« im Gehirn zwischen verschiedenen Primatenarten. Dabei stellte er fest, daß Arten, die in großen Gruppen zusammenlebten und deshalb an einem komplexeren sozialen Schachspiel teilnahmen, die umfangreichste Gehirnrinde hatten. »Das stimmt überein 195
mit der Hypothese der sozialen Intelligenz«, lautete seine Schlußfolgerung. Für die Revolution im Verständnis des Tierverhaltens - die Erschütterung des behavioristischen Dogmas, Tiere hätten kein Bewußtsein - waren zwei Befundreihen von besonderer Bedeutung. Die eine war eine Serie von bahnbrechenden Experimenten mit der Absicht, Selbstwahrnehmung, genauer gesagt Anzeichen für eine Selbsterkenntnis bei nichtmenschlichen Lebewesen festzustellen. Im zweiten Fall suchte man nach Anhaltspunkten dafür, daß Primaten innerhalb ihrer natürlichen Umgebung zum Mittel der taktischen Täuschung ihrer Artgenossen greifen. Eine so persönliche Erfahrung wie das Bewußtsein ist mit den üblichen Methoden der experimentellen Psychologie so gut wie nicht zu erfassen. Das mag einer der Gründe sein, warum viele Forscher vor der Vorstellung zurückgeschreckt sind, daß auch Tiere ein Bewußtsein haben könnten. Gegen Ende der sechziger Jahre entwickelte jedoch Gordon Gallup, Psychologe an der Universität New York, Albany, einen Test, mit dem sich so etwas wie ein Ichbewußtsein feststellen ließ: den Spiegeltest. Falls ein Tier in der Lage war, sein Bild in einem Spiegel als »Ich« zu erkennen, dann konnte man annehmen, daß es eine Wahrnehmung von sich selbst oder ein Bewußtsein besaß. Die Besitzer von Haustieren wissen, daß Katzen und Hunde auf ihr Spiegelbild reagieren, doch häufig behandeln sie es als das Bild eines anderen Artgenossen, dessen Verhalten nach kurzer Zeit als verwirrend und langweilig empfunden wird. (Dennoch werden die Besitzer dieser Tiere darauf schwören, daß ihr Liebling ein Ichbewußtsein habe.) Das Experiment - das Gallup sich bei einer Morgenrasur einfallen ließ - sah vor, das Versuchstier mit einem Spiegel vertraut zu machen und anschließend dessen Stirn mit einem roten Fleck zu markieren. Wenn das Tier das Spiegelbild einfach als einen Artgenossen auffaßte, dann wunderte es sich vielleicht über den merkwürdigen roten Fleck und patschte 196
vielleicht sogar auf den Spiegel. Wenn es jedoch erkannte, daß es sein eigenes Spiegelbild war, dann würde es vermutlich mit der Pfote zum Fleck auf der eigenen Stirn gehen. Als Gallup den ersten Versuch mit einem Schimpansen anstellte, verhielt sich das Tier so, als wisse es, daß es vor seinem eigenen Spiegelbild stand; es griff nach dem roten Fleck auf seiner Stirn und nicht nach dem Spiegel. Gallups 1970 in der Zeitschrift Science veröffentlichter Bericht über das Experiment war ein Markstein in unserer Erkenntnis des tierischen Bewußtseins, und die Psychologen fragten sich, wie verbreitet die Selbstwahrnehmung bei Tieren wohl sein würde. Nicht sehr, lautet die Antwort. Orang-Utans bestanden den Spiegeltest, Gorillas dagegen überraschenderweise nicht. Manche Beobachter behaupten, in weniger stark strukturierten Situationen hätten sie Gorillas mit Spiegeln hantieren sehen, als hätten sie darin ihr eigenes Spiegelbild erkannt, und haben dies als Zeichen für ein Ichbewußtsein bei diesen Tieren gewertet. Ein geistiger Rubikon zwischen dem Fehlen und dem Vorhandensein eines Ichbewußtseins würde einen Sinn ergeben, wenn auf der letzteren Seite die Menschen und Großaffen und auf der ersteren die übrigen Primaten und Tiere ständen. Manche Primatenforscher haben eine solche Einteilung auf der Grundlage ihrer Beobachtungen des komplexen Soziallebens zahlreicher Affenarten jedoch als zu rigide verworfen. Die Relevanz einer solchen Abgrenzung wurde vor kurzem getestet, und zwar in bezug auf die »taktische Täuschung«. Andrew Whiten und Richard Byrne von der Universität St. Andrews in Schottland haben diesen Begriff geprägt. Darunter verstehen sie »die Fähigkeit eines Individuums, eine ›ehrliche Handlung‹ aus seinem normalen Verhaltensrepertoire in einem anderen Kontext zu verwenden, so daß selbst vertraute Individuen dadurch in die Irre geführt werden«. Mit anderen Worten, es geht um Situationen, in denen ein Tier einen Artgenossen absichtlich täuscht. Um eine bewußte Täuschung 197
durchzuführen, muß ein Tier ein Gefühl davon haben, wie seine Handlungen einem anderen Individuum erscheinen. Eine solche Fähigkeit setzt ein Ichbewußtsein voraus. Wenn es überhaupt zu einer Täuschung kommt, dann wahrscheinlich nur wenige Male: So wie bei dem Jungen in der bekannten Geschichte, der grundlos »Feurio!« ruft, reagiert nach einigen Wiederholungen niemand mehr auf den falschen Alarm. Byrne und Whiten interessierten sich für ein solches Verhalten, nachdem sie mehrere Beispiele für etwas, das man als Täuschung interpretieren konnte, bei einer von ihnen beobachteten Pavianhorde in den Drakensberg Mountains Südafrikas festgestellt hatten. So sahen sie eines Tages, wie Paul, ein junges Männchen, sich Mel, einem ausgewachsenen Weibchen, näherte, das gerade eine nahrhafte Knolle aus der Erde grub. Paul blickte sich um und stellte fest, daß kein anderer Pavian zu sehen war, obwohl er eigentlich sicher sein konnte, daß die Horde nicht weit entfernt war. Paul stieß einen durchdringenden Schrei aus, als befände er sich in Gefahr. Pauls Mutter, die Mel gegenüber dominant war, reagierte wie jede Mutter, die ihr Junges schätzt: Sie erschien eilends auf der Bildfläche und trieb Mel, die vermeintliche Angreiferin, in die Flucht. Daraufhin verzehrte Paul die Knolle, als wäre nichts geschehen. Hatte Paul gedacht: Wenn ich schreie, wird meine Mutter annehmen, daß Mel mich angreift, mir zu Hilfe kommen, und dann habe ich die saftige Knolle für mich? In diesem Fall hätte er eine taktische Täuschung verübt. Byrne und Whiten hielten dies für möglich und hörten sich informell bei anderen Primatenforschern um. Dabei erfuhren sie viele ähnliche Geschichten, auch wenn die wenigsten, anekdotisch und unwissenschaftlich wie sie waren, Aufnahme in die wissenschaftliche Literatur gefunden hatten. Byrne und Whiten befragten daraufhin in den Jahren 1985 und 1989 über hundert ihrer Kollegen nach möglichen Beispielen für eine taktische Täuschung und erhielten über dreihundert Berichte. Diese beschränkten sich nicht auf Beob198
achtungen an Großaffen, sondern umfaßten auch das Verhalten kleinerer Affen. Interessanterweise hatte keiner der Befragten zu vermelden, er habe auch bei Halbaffen und Galagos solche Täuschungsmanöver beobachtet. Das Problem der Primatenforscher bei der Suche nach diesem Verhalten läßt sich so formulieren: Ist das Verhalten wirklich das Resultat einer individuellen »Überlegung«, die auf einem Sinn für das eigene Ich beruht, oder ist es lediglich durch Lernen erworben, was keine Form von Ichbewußtsein voraussetzt. So wäre es beispielsweise denkbar, daß Paul einfach gelernt hatte, daß ihm unter den gegebenen Bedingungen ein lautes Schreien die von Mel entdeckte Knollenfrucht verschaffen würde; in diesem Fall würde natürlich keine taktische Täuschung vorliegen. Als Byrne und Whiten an die Beispiele einer vermuteten taktischen Täuschung strengere Maßstäbe anlegten und die Möglichkeit von erlerntem Verhalten weitgehend ausschlossen, blieben von den 253 Fällen, die sie in der Übersicht von 1989 zusammengefaßt hatten, nur noch sechzehn übrig; sie betrafen allesamt Affen, die meisten von ihnen Schimpansen. Ich werde ein Beispiel wiedergeben, das von dem holländischen Primatenforscher Frans Plooij im Gombe-Stream-Reservat in Tansania beobachtet wurde. Ein ausgewachsener männlicher Schimpanse befand sich allein an einem Futterplatz, als über Fernsteuerung eine Kiste geöffnet wurde, in der sich Bananen befanden. Genau in diesem Augenblick betrat ein zweiter Schimpanse die Szene, worauf der erste die Kiste schnell wieder zumachte, gemächlich davontrottete und tat, als läge nichts Besonderes vor. Er wartete ab, bis der Eindringling sich wieder verzogen hatte, öffnete dann schnell die Kiste und holte die Bananen heraus. Der Hereingelegte war jedoch er selbst, denn der Eindringling hatte sich gar nicht entfernt, sondern lediglich versteckt und abgewartet, was passieren würde. Das ist ein überzeugendes Beispiel für eine doppelte taktische Täuschung. 199
Beobachtungen wie diese ermöglichen uns einen Einblick in die Innenwelt von Schimpansen. Diese Tiere erleben anscheinend ein beträchtliches Maß an reflexivem Bewußtsein, eine Schlußfolgerung, die von Forschern, die tagtäglich mit der Beobachtung von Schimpansen beschäftigt sind, mit Nachdruck unterstrichen wird. Schimpansen lassen in der Art und Weise, wie sie miteinander und mit Menschen in Wechselbeziehung treten, ein stark entwickeltes Bewußtsein erkennen. Sie können ebenso wie Menschen Gedanken lesen, wenn auch in wesentlich beschränkterem Umfang. Beim Menschen geht das Gedankenlesen über die simple Prognose, was andere unter bestimmten Umständen tun werden, hinaus: Dazu gehört auch eine Vorstellung von dem, was andere möglicherweise empfinden. Wir alle erleben an uns Sympathie oder Mitgefühl für andere, die in eine Situation geraten sind, die wir als schmerzhaft oder bedrückend kennen. Stellvertretend erleben wir das Leid von anderen manchmal so intensiv mit, daß wir sogar einen physischen Schmerz verspüren. Die quälendste stellvertretende Erfahrung in der menschlichen Gesellschaft ist die Angst vor dem Tod oder einfach das Bewußtsein vom Tod, was in der Bildung der Mythen und Religionen eine große Rolle gespielt hat. Trotz ihrer Selbstwahrnehmung scheinen Schimpansen durch den Tod höchstens in Verwirrung zu geraten. Es gibt viele anekdotische Berichte von Individuen oder ganzen Familien, die bekümmert oder desorientiert sind, wenn ein Verwandter stirbt. So kommt es gelegentlich vor, daß eine Mutter, deren Säugling stirbt, den kleinen Leichnam noch einige Tage mit sich herumträgt, bevor sie ihn aufgibt. Anscheinend erlebt die Mutter eher Verwirrung als das Gefühl, das wir als Trauer bezeichnen. Doch wie können wir das wissen? Bedeutsamer ist vielleicht, daß etwas, das wir als Mitgefühl für die hinterbliebene Mutter erkennen würden, bei den übrigen Individuen fehlt. Was immer die Mutter erleidet, sie erleidet es allein. Die bei Schimpansen beobachtete Einschränkung der Einfühlung 200
in andere erstreckt sich auch auf sie selbst als Individuen: Niemand hat bisher Anzeichen dafür gefunden, daß Schimpansen sich der eigenen Sterblichkeit, ihres bevorstehenden Todes bewußt wären. Doch auch hier gilt: Wie können wir das wissen? Was vermögen wir über den Grad der Selbstwahrnehmung unserer Vorfahren auszusagen? Rund sieben Millionen Jahre sind vergangen, seit Menschen und Schimpansen einen gemeinsamen Vorfahren hatten. Deshalb müssen wir der Annahme, daß die Schimpansen sich seitdem nicht mehr verändert hätten und wir in ihnen letztlich unsere gemeinsamen Stammväter erblickten, mit Vorsicht begegnen. Schimpansen müssen sich in verschiedener Weise entwickelt haben, seit sie von der menschlichen Linie abzweigten. Wir dürfen jedoch mit gutem Grund vermuten, daß der gemeinsame Vorfahr, ein Affe mit großem Hirn, der ein sozial komplexes Leben führte, ein Bewußtsein auf dem Niveau moderner Schimpansen entwickelt hat. Nehmen wir einmal an, der gemeinsame Vorfahr von Menschen und afrikanischen Affen habe tatsächlich ein Bewußtsein auf diesem Niveau entwickelt. Nach dem, was wir über die Biologie und die soziale Organisation der Australopithecinen gelernt haben, waren sie im wesentlichen zweibeinige Affen: Das soziale Geflecht innerhalb dieser Arten wäre nicht enger gewesen als das zwischen heutigen Pavianen. Deshalb gibt es keinen zwingenden Grund, warum sich das Niveau ihres Ichbewußtseins in den ersten fünf Millionen Jahren der Existenz der Menschenfamilie erhöht haben sollte. Die wesentlichen Änderungen, die sich mit der Evolution der Gattung Homo ereignet haben - im Hinblick auf Größe und Aufbau des Gehirns, soziale Organisation und Sicherung des Lebensunterhalts -, markierten vermutlich auch den Beginn einer Änderung auf der Ebene des Bewußtseins. Die Anfänge des Wildbeuterdaseins erhöhten zweifellos die Komplexität des sozialen Schachspiels, das unsere Vorfahren 201
beherrschen mußten. Geschickte Spieler - jene, die mit einem stärker ausgeprägten Bewußtsein ihrer selbst ausgestattet waren - dürften sozial und als Produzenten von Nachkommenschaft erfolgreicher gewesen sein. Das hat wiederum die natürliche Auslese beschleunigt, in deren Verlauf sich das Bewußtsein immer höher entwickelte. Dieses sich allmählich entfaltende Bewußtsein machte uns zu einem neuartigen Lebewesen, das willkürlich Verhaltensmaßstäbe festlegt, je nachdem, was es für richtig und falsch hält. Vieles davon ist natürlich Spekulation. Wie können wir wissen, was in den vergangenen zweieinhalb Millionen Jahren mit dem Bewußtsein unserer Vorfahren geschehen ist? Wie können wir feststellen, wann genau es so wurde, wie wir es heute erleben? Die harte Wirklichkeit, vor der die Anthropologen stehen, ist die, daß es auf solche Fragen möglicherweise keine Antwort gibt. Wenn es schon schwer genug ist zu beweisen, daß ein anderer Mensch über dieselbe Bewußtseinsebene verfügt wie ich, und wenn die meisten Biologen den Versuch scheuen, den Grad des Bewußtseins von Tieren zu bestimmen, wie sollen wir dann die Anzeichen eines reflexiven Bewußtseins bei Kreaturen aufspüren, die seit langem tot sind? Das Bewußtsein ist in der archäologischen Überlieferung sogar noch weniger sichtbar als die Sprache. In manchen menschlichen Verhaltensweisen kommen mit Sicherheit sowohl Sprachvermögen als auch ein Ichbewußtsein zum Ausdruck, etwa in der künstlerischen Äußerung. Andere, wie die Herstellung von Steinwerkzeugen, können uns, wie wir gesehen haben, zwar Hinweise auf ein Sprachvermögen, aber nicht auf ein Bewußtsein geben. Es gibt jedoch eine menschliche Aktivität, die auf ein Bewußtsein schließen läßt und gelegentlich ihre Spuren in der vorgeschichtlichen Überlieferung hinterlassen hat: die absichtliche Bestattung der Toten. Die rituelle Beisetzung der Toten spricht deutlich für ein Bewußtsein vom Tod und damit auch eines Ichs. Jede Ge202
sellschaft verarbeitet den Tod auf ihre Weise, als Bestandteil ihrer Mythen und religiösen Vorstellungen. Das geschah in neuerer Zeit [gemeint ist hier offenbar das Jungpaläolithikum - d. Ü.] auf die unterschiedlichste Weise, von der extensiven Fürsorge für den Leichnam über einen langen Zeitraum hinweg, wobei dieser unter Umständen nach einem Jahr oder mehr von einem besonderen Ort zu einem anderen überführt wurde, bis zu einer minimalen Beachtung der sterblichen Hülle. Nur in seltenen Fällen gehörte zum Ritual eine Erdbestattung. In vorgeschichtlicher Zeit bot nur eine Beerdigung die Möglichkeit, daß Spuren der Zeremonie erhalten blieben und späteren Archäologen Rätsel aufgaben. Die frühesten Hinweise auf eine bewußte Bestattung in der Menschheitsgeschichte beziehen sich auf die Beisetzung eines Neandertalers vor etwas mehr als hunderttausend Jahren. Eine der anrührendsten Bestattungen, von der wir wissen, fand einige Zeit später, vor rund sechzigtausend Jahren, in den Ausläufern des Zagros-Gebirges im Nordirak statt. [Das Zagros-Gebirge liegt eigentlich im Iran und nicht im Irak; gemeint ist vermutlich die Shanidar-Höhle im Nordirak - d. Ü.] Ein erwachsener Mann wurde am Eingang zu einer Höhle begraben; seinen Leichnam hatte man anscheinend auf ein Lager aus heilkräftigen Blumen gebettet, von denen noch Pollenkörner in der Erde in der Nähe des fossilierten Skeletts gefunden wurden. Manche Anthropologen vermuten, daß der Tote ein Schamane war. Aus einer Zeit, die mehr als hunderttausend Jahre zurückliegt, gibt es keinerlei Spuren eines Rituals, das auf ein reflexives Bewußtsein schließen ließe. Wie im sechsten Kapitel ausgeführt, gibt es auch keine Zeugnisse einer künstlerischen Produktion. Nun ist das Fehlen solcher Belege natürlich kein schlüssiger Beweis, daß es damals noch kein Ichbewußtsein gegeben hat - wir wissen einfach nichts darüber. Andererseits fände ich es erstaunlich, wenn der unmittelbare Vorfahr des Urmenschen, der späte Homo erectus, kein Bewußtsein gehabt hätte, das beträchtlich wei203
ter entwickelt war als das moderner Schimpansen. Die soziale Komplexität seines Daseins, das größere Gehirnvolumen und seine vermutlichen sprachlichen Fähigkeiten deuten jedenfalls in diese Richtung. Neandertaler, so habe ich vorgeschlagen, und vermutlich auch andere frühe Formen des Homo sapiens hatten ein Todesbewußtsein und somit zweifellos auch ein hochentwickeltes reflexives Bewußtsein. Hatte dieses jedoch dieselbe erhellende Kraft wie unser heutiges Bewußtsein? Wahrscheinlich nicht. Die Entstehung einer Sprache und die Entfaltung eines Bewußtseins im heutigen Sinn waren zweifellos in einem Prozeß der gegenseitigen Verstärkung miteinander verknüpft. Die modernen Menschen wurden modern, als sie so sprachen wie wir und ein Ich in derselben Weise erlebten wie wir. Belege hierfür sehen wir zweifellos in der Kunst Europas und Afrikas seit der Zeit vor 35.000 Jahren und in den komplexen Ritualen in Verbindung mit Bestattungen im Jungpaläolithikum.
Jede menschliche Gesellschaft hat einen Ursprungsmythos, die elementarste Geschichte von allen. Diese Ursprungsmythen entstammen dem Urquell des reflexiven Bewußtseins, der inneren Stimme, die für alles nach Erklärungen sucht. Seit das reflexive Bewußtsein im menschlichen Denken ein helles Licht verbreitete, sind Mythologie und Religion ein Teil der Menschheitsgeschichte. Selbst in unserem wissenschaftlichen Zeitalter werden sie dies wahrscheinlich bleiben. Ein in allen Mythen wiederkehrendes Thema besteht darin, daß Tieren - und selbst physikalischen Objekten und Kräften wie Bergen und Gewittern - menschliche Motive und Gefühle zugeschrieben werden. Diese Neigung zur Anthropomorphisierung entspringt natürlich dem Kontext, in dem das Bewußtsein sich entwickelte. Das Bewußtsein ist ein gesell204
schaftliches Instrument zum Verständnis der Verhaltensweisen anderer, von denen man sich auf der Grundlage der eigenen Gefühle ein Bild macht. Es ist eine einfache und natürliche Extrapolation, dieselben Motive auch Aspekten der Welt zuzuschreiben, die außermenschlich und dennoch von Bedeutung sind. Tiere und Pflanzen sind für Jäger und Sammler lebenswichtig, ebenso die natürlichen Elemente, welche die Umgebung erhalten. Das Leben als komplexes Wechselspiel all dieser Elemente wird als Wechselspiel zielgerichteter Handlungen aufgefaßt, ebenso wie der gesellschaftliche Zusammenhang. Es kann demnach nicht überraschen, wenn Tiere und Naturkräfte in den Mythen der Wildbeutergesellschaften auf der ganzen Erde eine große Rolle spielen und zweifellos auch in vorgeschichtlicher Vergangenheit gespielt haben. Bei meiner Besichtigung zahlreicher ausgemalter Höhlen in Südfrankreich vor zehn Jahren hat mich dieser Gedanke immer wieder beschäftigt. Die Bilder, die ich vor mir sah, zum Teil einfach skizziert, zum Teil bis ins einzelne ausgearbeitet, haben mich innerlich immer wieder stark beeindruckt, doch der Zugang zu ihrer Bedeutung blieb mir versperrt. Insbesondere die Zwitterwesen aus Mensch und Tier haben meine Phantasie beflügelt, doch das Rätsel blieb ungelöst. Ich war überzeugt, vor den Elementen eines Ursprungsmythos eines alten Volkes zu stehen, aber ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu erkennen. Wir wissen aus der jüngeren Geschichte, daß die Elenantilope für die San in Südafrika unzählige spirituelle Kräfte besaß. Doch wir können nur Spekulationen darüber anstellen, welche Rolle Pferd und Wisent im spirituellen Leben der eiszeitlichen Völker Europas gespielt haben. Wir wissen, daß von diesen Tieren eine Kraft ausging, aber wir wissen nicht in welcher Weise. Im Angesicht der Wisentfiguren in der Höhle Le Tuc d'Audoubert empfand ich die Verbundenheit des menschlichen Geistes über die Jahrtausende hinweg: das Bewußtsein der 205
Bildhauer dieser Figuren und mein eigenes Bewußtsein - das Bewußtsein des Beobachters. Gleichzeitig empfand ich Enttäuschung darüber, der Welt der Künstler so fern zu sein nicht, weil wir durch die Zeit getrennt waren, sondern weil unsere unterschiedlichen Kulturen uns voneinander schieden. Das ist eine der Paradoxien des Homo sapiens: Wir erleben die Einheit und die Unterschiedlichkeit eines Bewußtseins, das von Äonen eines Wildbeuterlebens geformt wurde. Wir erleben seine Einheit im gemeinsamen Besitz eines Ichbewußtseins und eines Gefühls der Ehrfurcht gegenüber dem Wunder des Lebens. Und wir erfahren seine Unterschiedlichkeit in den verschiedenen Kulturen - wie sie in Sprache, Bräuchen und religiösen Vorstellungen zum Ausdruck kommt -, die wir schaffen und von denen wir geschaffen werden. Wir sollten uns über ein so wunderbares Resultat der Evolution eigentlich freuen.
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