Gruselspannung pur!
Die Bestie vom Alten Strom von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Knisternde Spannung lag im Hi...
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Gruselspannung pur!
Die Bestie vom Alten Strom von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Knisternde Spannung lag im High-Tech-Labor von Professor Zacharias. Eine Zeitbombe schien zu ticken. Der Wissenschaftler tupfte Schweißperlen von seiner Stirn und lockerte seinen korrekt gebundenen Schlips. Vor ihm, auf dem rechteckigen Edelstahltisch, stand eine Plastikkiste, in der weiße Versuchsmäuse herumquirlten. Wahllos ergriff der Professor eines der Tiere. Das weiße Stück Fell wehrte sich. Die Maus quiekte, zappelte, versuchte sich schlank zu machen, als spürte sie, daß sie ein gräßliches Schicksal erleiden sollte. Professor Zacharias injizierte dem spitzmäuligen Nager sein neu entwickeltes Serum in den zuckenden Körper. Anschließend setzte er das Tier in eine zweite, viel kleinere Kiste und plazierte einen Glasdeckel darauf. Der Gelehrte wartete voll fieberhafter Ungeduld. Er ließ die Maus nicht aus den Augen. Und dann, nach einer Stunde, setzte die Wirkung des Impfstoffes ein! Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! 2
Drei Wochen später… In dem matt ausgeleuchteten Foyer des Filmtheaters CineStar an der Warnowallee herrschte wüstes Gedränge. Dämonenblut hieß der Schocker, der heute zum ersten Mal in Rostock gezeigt wurde. An den Wänden hingen Plakate mit grausigen Motiven, deren beängstigende Wirkung durch Punktstrahler noch verstärkt wurde. Über den Köpfen der Kinobesucher waberte bläulicher Tabaksqualm. Aus unsichtbaren Lautsprecherboxen hämmerte ein Top-Hit nach dem anderen. Jens Kielmann stand vor der L-förmigen Bartheke Schlange, um zwei Cola zu ergattern. Der Neunzehnjährige freute sich wie ein Schneekönig, denn neben ihm stand das hübscheste Mädchen von ganz Rostock: Smeraldina Lorenz, Schwarm aller Boys zwischen zwölf und zwanzig. Sein beharrliches Werben hatte sich ausgezahlt. Endlich hatte sie ja gesagt! »Aus der Luft hier kann man Aufschnitt schneiden«, sagte Smeraldina. »Vielleicht funktioniert die Klimaanlage nicht«, vermutete Jens. Smeraldina zog ihre Stupsnase kraus. »Finde ich echt fies. So etwas dürfte nicht passieren, bei dem Eintrittspreis, der hier kassiert wird.« Geziert blickte die Achtzehnjährige an sich hinunter. Sie trug ein elegantes schwarzes Kleid mit Spenzer, von der Mutter ausgeliehen. Auch die hochhackigen Pumps stammten aus Mutters Schuhschrank. Die wertvolle Goldkette, die ihren leicht gebräunten Hals umschmiegte, hatte bereits die Großmutter getragen, als sie ein junges Mädchen war. Smeraldina haßte Schmuddel-Look. Das war eher was für frühpubertäre Zwölfjährige, wie sie fand. Sie fühlte sich bereits als Dame, den meisten Gleichaltrigen um Lichtjahre voraus. Das Mädchen öffnete den Mund und spitzelte mit der Zunge an ihren dezent geschminkten Lippen. »Ich habe Durst«, sagte sie plötzlich. »Meine Zunge fühlt sich schon richtig pelzig an.« Jens warf seiner hübschen Begleiterin einen schnellen Blick zu. »Gleich, Dina. Wir sind jeden Moment an der Reihe. Nur noch 'n paar Minuten. Dann kriegst du deine Cola.« »Cola?« Es klang, als hätte er vorgeschlagen, mit einem Schlückchen Pfützenwasser anzustoßen. 3
»Ja, Cola. Was sonst? Äh, ich dachte…« Smeraldina rollte eine goldblonde Locke um ihren Zeigefinger. »Schon mal was von Daiquiri, White Lady, Martini oder Ohio Cocktail gehört?« Jens war sprachlos. Der Abend entwickelte sich völlig anders, als er sich ausgemalt hatte. Es war ihm schrecklich peinlich, vor allen Leuten wie ein Vollidiot dazustehen. Am liebsten hätte er sich vor Scham irgendwo verkrochen. Dabei hatte er sich fest vorgenommen, die Apothekertochter mit gespielter Lässigkeit zu beeindrucken. Zu Hause, vor dem Spiegel, hatte das doch einwandfrei funktioniert. Das Mädchen kicherte. »Du guckst wie Kniffo, die Figur aus dem Spielhaus.« »Kniffo?« »Hast du nie das Spielhaus gesehen?« fragte sie schnippisch. »Gab's jahrelang im DDR-Fernsehen. In den 80er Jahren. Kniffo war der zappelige Assistent des Erfinders Professor Knollo. Eine Rübe, wie sie im Buche steht.« Sie verglich ihn mit Figuren, die Kniffo und Knollo hießen. Jens schluckte nervös. Irgendwas lief hier voll gegen den Baum. »Kann mich nicht mehr erinnern«, sagte er zögernd. »Zu lange her, Dina.« Einige Typen in Lederklamotten, die vor ihnen standen, bezahlten ihre Getränke und machten Platz. Jens bemerkte es nicht sofort. Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte er über die Köpfe der kleineren Kinobesucher herablassend in die Runde gespäht. Keß stubste ihn Smeraldina an. »Geh weiter! Ich denke, du willst uns 'nen Drink holen.« Bedeppert füllte Jens die Lücke. Die grell angetuschte Bardame mit dem tief dekolletierten Kleid erkundigte sich, was er haben wolle. Im selben Augenblick brach die Musik ab. Eine verschnupfte Stimme bat die Kinobesucher, die entsprechenden Säle aufzusuchen. Die Vorführungen würden in Kürze beginnen. Jens wandte sich an Smeraldina. »Was nimmst du nun?« Das Mädchen zuckte die Achseln. »Such mir einfach was Schönes aus. Das nehme ich dann.« 4
»Okay.« Jens sah die Bardame verzweifelt an. »Ich nehme einen großen Becher Cola und…« Er blieb stecken, wie ein kleiner Junge, der vor der Klasse stand und ein Gedicht aufsagen sollte, das er nur nachlässig gelernt hatte. Die Bardame lächelte höflich. »Was darf's denn nun sein, junger Mann?« erkundigte sie sich. Jens kam sich vor, als stünde er barfuß auf Reißzwecken. Er trat von einem Bein aufs andere. »Cola - und ein Glas Sekt«, sagte er schnell. »Den Sekt trocken, halbtrocken oder mild?« fragte die Bardame geduldig. »Mild«, entschied Jens aufs Geratewohl. »Wir nehmen ihn mild.« »Brrr! Ich mag keinen milden Sekt«, warf Smeraldina ein. »Da hätte ich gleich 'ne Cola bestellen können.« »Also trocken«, half die Bardame dem jungen Mann weiter. Jens nickte eilig. Er spürte seine Wangen glühen. Die Frau an der Theke schenkte das Bestellte ein und schob die Drinks direkt vor Jens' Nase. »Sechzehn Mark fünfzig.« Nach der Schrecksekunde bezahlte Jens hastig mit einem Zwanzigmarkschein. Jetzt hatte er bloß noch kümmerliche drei Mark fünfzig übrig. Seinen Plan, Smeraldina nach dem Horrorfilm auf ein Bier in die Kneipe um die Ecke einzuladen, konnte er abheften. Wütend schmatzte er auf seinem Kaugummi herum. Die Getränke in den Händen, gingen sie zum Saaleingang, hinter dem eine Treppe in den Vorführraum führte. Als sie ankamen, stürmte gerade ein Rudel Teenies heran. Lärmend drängelten sie sich vor. Der Mann mit der goldgerahmten Designerbrille, der sich wahrscheinlich zufällig zwischen ihnen befand, wirkte wie eine Melone im Kürbisfeld. Er hatte einen sündhaft teuren Armani-Anzug an und verströmte den betörenden Duft eines luxuriösen Aftershaves. Jens sah, daß Smeraldina den Schönling bewundernd musterte. Unversehens befanden sie sich inmitten der krakeelenden Kids. »Paßt doch auf, ihr Lümmel!« schimpfte Jens. »Ihr haut einem ja glattweg die Cola aus der Kralle!« Schwungvoll riß er seinen Colabecher in die Höhe. Auch 5
Smeraldina, die bereits den Treppenabsatz erreicht hatte, umklammerte den Stiel ihres Glases. Da brach das Unheil über Jens herein! Es begann, als er die Mitte der Treppe erreicht hatte. Ein Blondschopf, der vor Jens herumhampelte, verlor unversehens die Balance. Der Junge kam arg ins Straucheln. Haltsuchend wirbelten seine Arme durch die Luft. Geistesgegenwärtig reagierte Jens. Er packte zu und bewahrte den Blondschopf vor dem unausweichlichen Sturz. Im selben Atemzug verspürte Jens einen kräftigen Stich in den Allerwertesten. Ein kurzer, brennender Schmerz ließ ihn bis ins Mark erschaudern. »Zum Teufel, was war denn das?« Jens wirbelte um die eigene Achse. Er war ohnehin schon geladen wie ein Kraftwerk. Und da piekte ihm ein ausgeflippter Scherzkeks obendrein eine Nadel in den Achtersteven. Na warte! Jens stutzte. Vor ihm stand der vornehme Herr, den Smeraldina vorhin angehimmelt hatte. Irritiert schaute der Mann an sich hinunter. »Mein Hemd«, sagte er tonlos. »Junger Mann, Sie haben mir Ihre Cola aufs Hemd gegossen.« Jens versteinerte zur Salzsäule. Mit spitzen Fingern zog der Mann ein sorgfältig gebügeltes Tüchlein aus der Hosentasche. Vorsichtig betupfte er die häßlichen, schwarzen Kleckse. Einen Moment brachte Jens keinen Ton heraus. Er starrte den Mann an. Zum zweiten Mal an diesem Abend fühlte sich Jens wie ein Aussätziger. Er vergaß den Piekser. Leute wuselten rechts und links an ihm vorbei, die Treppe empor, in den Vorführraum, aus dem bereits Musik ertönte. »Sorry«, druckste Jens. »Aber ich habe auf einmal…« »Jens!« hörte er Smeraldinas Stimme von irgendwo oben. »Komm endlich! Oder hast du vor, dir den Film von der Treppe aus anzusehen?« Der Mann im Armani-Anzug grinste. Jens sah noch, wie er in der Herrentoilette des Kinosaales verschwand. Großer Gott, dachte Jens. Ich lasse heute auch kein 6
Fettnäpfchen aus. Was ist das bloß? Warum geht alles schief? Als er bemerkte, daß Smeraldina ihm von ihrem Platz aus zuwinkte, tappte er wie ein geprügelter Hund den schrägen Gang hinauf. Als er endlich saß, trank er den Best Cola mit einem langen Zug aus. »Dämonenblut soll einsame Spitze sein«, sagte er, während er den Becher zerdrückte. »Hab 'nen Kumpel aus Berlin, der ihn schon mal gesehen hat. Er sagt, die Mädels im Saal sollen total aus dem Häuschen gewesen sein.« Smeraldina hielt den kleinen Finger abgespreizt, während sie an ihrem Sekt nippte. »Ich finde Dämonen megacool«, sagte sie. »Sie sind fast allmächtig, so wie Götter. Niemand ist vor ihnen sicher, wenn sie erst mal Blut geleckt haben.« Allmählich entwickelte sich der Abend so, wie Jens ihn sich vorgestellt hatte. Lässig kaute er seinen Gummi, und er fand, es war an der Zeit, sich endlich ins rechte Licht zu setzen. »Ich fahr auch voll auf Dämonen ab«, schwindelte er. »Schon als junger Hüpfer hab ich Fotos von Vampiren, Werwölfen, Monstern und Ungeheuern gesammelt. Rein vernarrt war ich in die Viecher. Leider gab's im Wilden Osten kaum Material. Schmöker, Fotos und so. Dafür gab's Manifeste der Kommunistischen Partei und so 'n Firlefanz. Naja, zum Glück hatte man ja Westverwandtschaft.« Wieso lüge ich ihr die Taschen voll? fragte er sich eine Sekunde später. Die Wahrheit ist, ich hatte eine Heidenangst vor übernatürlichen Wesen. Als ich zehn war und mal allein zu Haus, gab es in der Flimmerkiste mal ganz spät Nosferatu, Symphonie des Grauens, ein Stummfilm mit Max Schreck. Fast gestorben wäre ich vor Angst, so gegruselt habe ich mich. Besonders, als der stangendürre Vampir nachts über den mondfahlen Kirchplatz tappte. Und was tu ich heute? Spiele den coolen Helden, dem alles am Arsch vorbeigeht… Apropos - Hintern. Unauffällig rutschte Jens auf dem weichen Sitzpolster hin und her. Noch immer spürte er den Einstich. Wieso, zum Teufel, hatte ihn jemand mit einer Nadel gestochen? Schabernack oder einfach Zufall? Er hatte keinen blassen Schimmer. Die Welt war eben verrückt. Im Saal wurde es dunkel. Das Getuschel der Anwesenden wurde 7
zunehmend leiser. Nach den Werbespots flammten alle Lampen noch einmal grell auf. Eine Frau in gestreifter Bluse verkaufte Eis. Als sie ging, wurde es endgültig dunkel. Jetzt setzte Jens alles auf eine Karte. Tuchfühlung war angesagt. Er legte einen Arm um Smeraldinas Schultern. Das Mädchen ließ es geschehen, und er frohlockte innerlich. Heimlich schielte er auf die fraulichen Rundungen seiner attraktiven Begleiterin. Es war ziemlich schwül im Saal, und Smeraldina hatte den Spenzer abgelegt. Der dünne Stoff des Kleides lag eng über ihrer Brust. Jens genoß den Ausblick. Er hatte auch eine Entschädigung verdient. Tief sog er die würzige Luft ein, die nach Popcorn, Crackern und anderem Naschwerk duftete. Er spürte, wie sein Herz erregt pochte. Gerade stellte er sich vor, daß seine Hand auf Wanderschaft ging. Mal hier fühlte und dort streichelte und dann… Ja, und dann traute er sich auch. »Ich dachte, wir wollten uns den Film ansehen.« Die Worte trafen Jens hart. »Äh, natürlich«, sagte er erschrocken. »Klar, ja…?« Mit rotem Kopf wandte er sich der Leinwand zu. Der Vorspann mit den Namen der Hauptdarstellern. Dann der Titel: Dämonenblut. Der Film begann mit einem Paukenschlag. Ein raffgieriger Totengräber schaufelte nachts das Grab eines unlängst Beerdigten aus, um an das Zahngold des Verblichenen heranzukommen. Aber zu seiner Verwunderung stellte er fest, daß der Boden des Sarges ein großes Loch aufwies. Der Beerdigte war über alle Berge. Doch der Totengräber war ein hartgesottener Bursche. Er entdeckte einen unterirdischen Gang, groß genug, sich selbst hindurchzuzwängen. Er überlegte nicht lange. Seine unerhörte Geldgier trieb ihn vorwärts. Er bestieg den Sarg, machte sich klein und kroch in den finsteren Tunnel. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe wies ihm den Weg. Plötzlich erklang dicht vor ihm ein gräßliches Röcheln. Etwas bewegte sich auf ihn zu. Etwas, das faustgroße Augäpfel und Pupillen wie eine riesige Schlange hatte… Der gellende Schrei des zu Tode erschrockenen Totengräbers fand im Kinosaal ein vielstimmiges Echo. 8
Jens merkte, wie sich Smeraldinas spitzgefeilte Fingernägel in sein Handgelenk gruben. Das Mädchen, vor Minuten noch gefaßt und anscheinend über den Dingen stehend, zitterte jetzt an Hand und Fuß. »Wie will Johnson bloß zurückkommen?« wisperte sie. »Er kann sich in dem engen Tunnel doch nicht drehen.« Johnson hieß der Totengräber. Darauf hatte Jens gewartet. Sein Beschützer-Instinkt meldete sich. Er würde jetzt ein paar coole Sprüche ablassen, denn Girls wie Smeraldina fuhren voll auf Sprüche ab. Glaubte er. Aber irgend etwas hinderte ihn daran. Sein Kaugummi! Jens hatte den Mund geöffnet, brachte aber nur ein ersticktes Gurgeln über die Lippen. Das Kaugummi war irgendwie gewachsen. Plötzlich war es groß wie ein Hühnerei! Und ebenso plötzlich schien Smeraldina, die neben ihm saß und gebannt die Handlung des Films verfolgte, größer geworden zu sein! Er mußte schon zu ihr hinaufschauen… Tausend Dinge jagten durch seinen Kopf. Was ging hier vor? Wieso stachen die Ärmel seines Sweatshirts mit einemmal über seine Handrücken? Wieso baumelten seine Beine vom Sitz, als wäre er ein Dreikäsehoch? Wieso konnte er nicht mehr die Leinwand erkennen? Warum waren die Rücken der Vorderleute schier riesengroß geworden? Ich schrumpfe! schoß es ihm durch den Kopf. Herrgott - ich werde kleiner! Aber das ist doch unmöglich. So etwas gibt es doch bloß im Film! Blankes Entsetzen breitete sich in dem Neunzehnjährigen aus. Noch nie hatte er solche Angst gehabt. Jens Kielmann begriff, daß eine geheimnisvolle, wahrscheinlich zutiefst bösartige Macht die Klauen nach ihm ausstreckte. * Grell bohrte sich Johnsons nächster Schreckensruf in die 9
Trommelfelle der Kinobesucher. Das gespenstische Wesen, das auf ihn zukroch, hatte seinen Rachen aufgerissen. Es spuckte dem Totengräber widerlich glibbrigen Schleim ins Gesicht, der Johnson die Haut verätzte. Fauchend schnappte das Ungetüm nach Johnsons Taschenlampe. Der Totengräber brüllte wie ein angestochenes Kalb. Seine Lage schien hoffnungslos. Schockiert verfolgten die Zuschauer die schrecklichen Ereignisse auf der Leinwand. Der gemeinsam erlebte Schrecken schweißte sie zusammen. Jens stand auf. Er fühlte sich wie ein ausgewrungener Waschlappen. Aber er wußte nicht, wodurch. Er wollte nur eines, allein sein. »Wo willst du hin?« flüsterte Smeraldina angsterfüllt. Ihre zittrige Hand tastete im Dunkeln nach seiner, die Jens rasch fortzog. »Toilette«, keuchte er. Ohne den Blick von der Leinwand zu nehmen, schüttelte Smeraldina den Kopf. »Pionierblase, wie?« »Bin doch gleich wieder da, Dina.« Glücklicherweise hatte er am Rand der Sitzreihe gesessen. So fiel es niemandem auf, daß etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Die rutschenden Jeans festhaltend, eilte Jens den abschüssigen Gang hinunter, bis er die WC-Tür erreichte. Jens atmete auf, als er den Waschraum leer vorfand. Für ein paar Sekunden lehnte er sich an die kühlen Fliesen und schloß die Augen. Obwohl er ganz still stand, merkte er, wie sein Rücken langsam an der Wand hinunterglitt. Er schrumpfte noch immer. Jens zwang sich dazu, die Nerven zu behalten. Bange machen gilt nicht, Alter! munterte er sich auf. Egal, was kommt! Kielmannsbengel, beweis, daß du kein Weichei bist! Reiß dich gefälligst am Riemen! Alles wird wieder gut. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel. Jens reckte sich hoch und schaute hinein. Ungläubig riß er die Augen auf. Ein neuerlicher, unfaßbarer Vorgang fesselte seinen Blick: Seine Gesichtshaut verselbständigte sich. Stirn, Wangen, Kiefer hoben und senkten sich, als würde ein fetter Wurm durch seine Adern kriechen. Eine Welle noch nie gefühlten Schmerzes ließen Tränen 10
in seine Augen schießen. Jens ballte seine geschrumpften Fäuste. »Ich glaub's einfach nicht!« winselte er. Ihm wurde klar, daß er gerade die schlimmste Erfahrung seines Lebens machte. Etwas, das alles in den Schatten stellte, was er bislang erlebt hatte. Möglicherweise würde er sogar sterben. Oder würde er als Winzling weiterleben müssen? Der Kaugummi! Mit beiden Händen zerrte er ihn aus seiner Mundhöhle. Das Teil war mittlerweile groß wie ein Tennisball. Jens hob die Klappe des Mülleimers und warf das Kaugummi hinein. Als der Plastikdeckel zuklappte, betrachtete er nachdenklich seine winzigen Hände. Dann knipste er den Verschluß seiner Armbanduhr auf und steckte sie in die Hosentasche. Tränen kullerten über seine Wangen. Er wischte sie mit dem Ärmel ab - und stieß einen dünnen Schrei aus. Ein großer Fetzen Haut hatte sich von seiner Wange gelöst. Mit einem Flatsch! fiel es auf die Bodenfliesen. Während er noch verblüfft vor sich niederstarrte, löste sich ein zweites Stück Haut. Ich häute mich wie eine Schlange, dachte Jens. Draußen erklangen Schritte. Jemand kam. Jens fuhr herum. Gesellschaft war das Letzte, was er jetzt brauchte. Leute, die dastanden und Maulaffen feil hielten, ihn angafften, als wäre er ein exotisches Tier. Aber wohin sollte er fliehen? Suchend schaute er sich um. Die Holzkabinen im hinteren Teil des Waschraumes. Dort konnte er hineinschlüpfen und die Tür von innen verriegeln. Schnell raffte Jens seine Haut vom Boden, riß die Enden seiner riesigen Jeans hoch und flüchtete in eine der Kabinen. Ein ganz klein wenig erleichtert zog er die Tür hinter sich zu und legte den Riegel vor. Kurz darauf quietschten Türangeln. Jemand tapste in den Waschraum und betätigte den Wasserhahn. Jens stand vor dem Klobecken und horchte. Das Wasserplätschern hörte auf. Nun benutzte der WC-Gänger 11
den elektrischen Händetrockner. Noch bevor das Gebläse aufhörte, warme Luft auszuspeien, ging der Unbekannte hinaus. In dem kurzen Augenblick, als die Tür offen war, erscholl im Vorführraum ein erneuter kollektiver Schreckensruf. Johnson, der Totengräber, hatte offenbar einen weiteren Nervenkitzel zu überstehen. Jens versuchte, kühlen Kopf zu bewahren. Im Vergleich zu ihm befand sich dieser Johnson in einer geradezu beneidenswert harmlosen Situation. Minute für Minute verstrich, und inzwischen wurden die Kleidungsstücke für den Jungen zum ernsthaften Problem. Jens ertrank buchstäblich in den Stoffmassen. Es war wie damals, als er ein kleiner Steppke war, und er zum Spaß die viel zu großen Klamotten seines Vaters angezogen hatte. Damals war das ein herrliches Vergnügen. Er war vier gewesen. Heute war er neunzehn, und es war tödlicher Ernst. Seine Schuhe waren derweil so groß, daß er ohne weiteres aus ihnen hinaustreten konnte. Die Ärmel seines Sweatshirts schleiften bis auf den blankgeschrubbten Fußboden. Als er den Bund losließ, plumpste die Hose hinunter. Die Unterhose rutschte gleich hinterher. Bis auf das Unterhemd, das mittlerweile bis zum Knie reichte, war Jeans nackt. Aber der Neunzehnjährige empfand alles andere als ein Schamgefühl. Und seine Metamorphose schritt weiter voran. Von allen Teilen seines Körpers fiel die Haut von ihm ab. Nur um irgendwas zu tun, begann Jens, die Hautfladen aufzusammeln. Er warf sie in das Becken und spülte sie hinunter. Unterdessen war er soweit geschrumpft, daß er kaum noch an die Türklinke der Kabine herankam. Mit dem Fuß schob er seine Kleidung nach hinten, um sich nicht darin zu verfangen. Immer und immer wieder warf er seine Haut ins Becken - bis er mit der Hand nicht mehr über den Rand gelangte. Um Atem ringend, hielt er inne. Da erklang in der Nachbarkabine die Spülung. Nanu? Die Kabine nebenan war besetzt? Jens hatte doch niemanden hineingehen hören. Demnach war schon vorher einer drauf gewesen! 12
Merkwürdig. Er wartete, bis die Tür nebenan auf- und die Person fortging. Doch alles blieb ruhig. Jens sperrte die Ohren auf. Er hörte den regelmäßigen Atem seines Kabinennachbarn. Worauf wartete der? Mit einemmal verspürte Jens einen bekannten Duft in seiner Nase. Das Aftershave aus dem Foyer! Der Luxus-Fuzzi mit dem Armani-Anzug! Jens' Gedanken schossen Purzelbäume. Der Kerl hatte direkt hinter ihm auf der Treppe gestanden, als ihm jemand den Stich in den Hintern verpaßte. Es war so klar wie das Amen in der Kirche: Der Dreckskerl hatte ihm mit voller Absicht den Stich verpaßt. Am liebsten hätte ihm Jens im Waschraum aufgelauert und ihm die eingebildete Visage zerbeult. Leider maß er höchstens noch dreißig Zentimeter. Nicht gerade die richtige Statur, um jemandem einen Denkzettel zu verabreichen. Besser wäre es, dem Kerl zu entwischen. Möglicherweise war er einer dieser wahnsinnigen Tüftler, die man aus einschlägigen Horrorfilmen kannte. Ja, das mußte es sein! Jens fiel es wie Schuppen von den Augen. Das war des Rätsels Lösung! Der Nadelstich war eine Injektion gewesen. Der Mistkerl, der nebenan auf dem Lokus saß, hatte ihm ein Serum gespritzt. Nun wartete er in aller Seelenruhe darauf, bis die endgültige Wirkung eingetreten war. Jens zog sich ein großes Stück Haut von seinem Bauch und warf es achtlos zu Boden. Gehetzt schweifte sein Blick umher. Er mußte sich aus dem Staub machen, bevor ihn der Kerl einkassierte. Denn genau das schien der vorzuhaben. Deswegen verließ der auch nicht das Klo. Aber Jens' Flucht war äußerst schwierig. Immerhin bekam er keine Tür mehr auf. Die Klinken befanden sich in schwindelerregender Höhe. Der Schrumpfungsprozeß war noch immer nicht abgeschlossen. Jens schätzte seine Größe jetzt auf ungefähr zehn Zentimeter. Die hellbeige angepinselten Holzwände um ihn herum schienen himmelhoch. Alles, was ihn umgab, schien für Riesen gefertigt worden zu sein. Er, Jens Kielmann, war der Außenseiter. Ein Witz eigentlich. 13
Aber Jens konnte darüber nicht lachen. Da ertönte hoch über ihm ein anschwellendes Brausen. In Windeseile wurde es lauter. Genauso klang es, wenn in unmittelbarer Nähe ein Rettungshubschrauber zur Landung ansetzte. Jens spähte in die Höhe. Und die Angst preßte mit stahlhartem Griff seinen winzigen Brustkorb zusammen. Der Schrei, den er ausstieß, klang wie das Zirpen einer Grille. Ein riesiges Insekt schwirrte heran. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Jens den gelb-schwarz gestreiften Leib auf sich zustoßen. Dann riß ihn der gewaltige Luftzug zu Boden. Jens klammerte sich an das Erstbeste, was ihm im Weg lag. Es war einer seiner Socken… Die Monsterwespe flatterte eine Runde über ihn hinweg. Offenbar witterte sie sichere Beute. Die Fühler zuckten hektisch. Ober- und Unterkiefer mahlten seitlich hin und her. Es klang, als schabte Metall auf Metall. Wahrscheinlich genoß der gelbschwarze Räuber das Vorgefühl auf einen saftigen Bissen. Dann, plötzlich, veränderte das Insekt seine Flugrichtung. Jetzt ging es kopfüber steil nach unten. Jens quollen die Augen aus dem Kopf. Pfeilschnell kam das Höllenwesen auf ihn zugejagt. Er schrie, bis ihm die Luft wegblieb. Schon war die Monsterwespe dicht über ihm, zum Greifen nahe. Das Flattern der Flügel erfüllte die Luft. Die Schmutzpartikel, die auf dem Boden lagen, wurden aufgewirbelt und flogen Jens um die Ohren. Jens wälzte sich in den Stoffmassen. Er strampelte mit den Beinen. Er wedelte mit den Armen. Er schrie aus Leibeskräften. Bis sein Hilferufen erhört wurde. Unvermittelt ging die Kabinentür auf. Ein Schatten, hoch wie der Berliner Telespargel, fiel auf den geschrumpften Neunzehnjährigen. Es war der Armani-Mann. Seine Stimme klang so tief, daß Jens glaubte, sie käme geradewegs aus den Tiefen der Unterwelt: »Komm nach Hause, Junge!« 14
* Tessa Hayden legte gerade ihren BH ab, als mein Handy fiepte. »Wer stört?« raunte ich. »Staatskanzlei Schwerin«, versetzte eine weibliche Stimme. »Spreche ich mit Mark Hellmann?« Ich stutzte. Tessa schaute mich fragend an. Offenbar dachte sie darüber nach, ob es angebracht war, dem BH ihren Slip folgen zu lassen. »Woher haben Sie meine Handynummer?« Die Frau am anderen Ende überging meine Frage. »Ich verbinde«, sagte sie statt dessen geschäftsmäßig. »Und mit wem, wenn ich fragen darf?« »Benutzen Sie einfach Ihre Ohren.« »Gut gekontert«, flüsterte ich und beobachtete, wie Tessa hüftwackelnd das Hotelzimmer durchquerte, einen Schritt vor mir stehenblieb und kokett mit ihrem Höschen spielte. »Manchmal glaube ich, da will jemand verhindern, daß wir unseren Spaß haben«, bemerkte ich, während mich mein Handy mit Pausenmusik beglückte. »Drei Punkte, Kandidat X!« Tessa schlang die Arme um meinen Hals. »Aber wir lassen es uns einfach nicht verbieten. Komm, Mark, leg auf, ich will dich nicht mehr mit anderen teilen. Du darfst dir auch was wünschen.« »Toll«, alberte ich mit. »Ich wünsche mir.« »… daß ich die Vorhänge zuziehe?« tippte Tessa. »Nein, ich…« »Soll ich das Buch über die altägyptische Liebeskunst aus dem Koffer holen?« »Nee, ich habe von dem Altindischen noch die Nase voll.« »Und ich dachte, du magst Bücher.« Tessa mimte die Beleidigte. Ich mußte lachen. Wenn man sie so sah, tanzend und nur mit einem durchsichtigen Höschen bekleidet, würde man nie auf die Idee kommen, daß Tessa Hayden Fahnderin bei der Weimarer Polizei war. »Ich dachte, wir wären nach Warnemünde gefahren, um uns in der Kunsthalle die Ausstellung anzusehen.« Mein Blick glitt aus dem Fenster. Die Ostsee war spiegelglatt. 15
Auf der Mole wimmelte es von Spaziergängern. Tessa und ich hatten uns übers Wochenende im Warnemünder Hotel »Neptun« eingenistet. Die Ausstellung Miniwelten des Rostocker Professors Zacharias war momentan in aller Munde. Wir hatten nicht lange gefackelt. »Herr Hellmann?« Ich horchte auf. »Am Apparat. Mit wem spreche ich?« Der Minister nannte seinen Namen. Eine Sekunde später sträubten sich meine Nackenhaare. Seit jeher hatte ich ein gestörtes Verhältnis zu Politikern und jeglicher Form von Obrigkeit. Meine achtzehn in der damaligen DDE abgesessenen Jahre hatten mich gehörig in Trab gebracht. Sanft stieß ich Tessa, die mich bedrängte, beiseite, und sagte frostig: »Was kann ich für Sie tun, Doktor…?« Der Minister räusperte sich, als würde ihm ein Frosch im Hals stecken. »Man hat mir gesagt«, begann er vorsichtig, »Sie würden sich mit übernatürlichen Phänomenen beschäftigen. Zudem hätten Sie bereits unglaubliche Erfolge«, seine Stimme wurde leiser, »im Kampf gegen Kreaturen aufzuweisen, die man sich nicht unbedingt als Untermieter wünscht.« »Sie sind gut informiert«, kommentierte ich. »Ich weiß, daß man Sie Kämpfer des Rings nennt und Sie einer Gruppe angehören, die sich hochgesteckte Ziele gesetzt hat. Einige Ihrer Kampfgefährten sind mir namentlich bekannt: Da wären Ulrich Hellmann, Ihr Vater, Hauptkommissar Peter Langenbach, Dr. Abaringo aus Südafrika…« »Was, in Gottes Namen, wollen Sie von mir?« unterbrach ich ihn. Dr. K. schwieg eine Zeitlang. Womöglich verwirrte ihn meine schroffe Art. Tessa spürte den Ärger in meiner Stimme. Sie öffnete den Kühlschrank der Minibar und beförderte zwei Dosen Cola ans Tageslicht. Inzwischen fragte ich mich, was den Minister bewogen haben könnte, mich anzurufen. Er brauchte doch nur mit den Fingern zu schnipsen, und Kompanien von Polizisten standen bei ihm auf der Matte. »Ich habe ein Problem«, sagte er endlich. »Ein ziemlich großes Problem, wie ich fürchte.« 16
Tessa reichte mir eine Dose und prostete mir zu. Noch immer flitzte sie barbusig durch die Gegend. Sie hatte die Hoffnung auf erfüllte Zweisamkeit noch nicht aufgegeben. Kein Wunder, wir vertrugen uns zur Zeit bestens, liebten uns so oft wie möglich, und ich, Mark, der Frauenheld, war zufrieden, hatte keine Sehnsucht nach anderen. Die Liebe zu Tessa war stärker, hatte sich entwickelt. Wie lange es so bleiben würde, konnte ich natürlich nicht wissen, aber ich fand es toll so. Dankbar blinzelte ich Tessa zu, trank einen Schluck und schlug dem Minister kurzerhand vor, einfach Klartext zu reden. »Sagen Sie mir, wo der Schuh drückt«, redete ich ihm zu. »Dann schau'n wir mal.« Dr. K. holte tief Luft. »In Ordnung. Ich werde mich bemühen, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. Also«, wisperte er, »die Dinge, die ich Ihnen jetzt mitteilen werde, sind von äußerster Brisanz. Sie müssen mir fest versprechen, keinem Menschen gegenüber ein Sterbenswörtchen zu erwähnen.« »Gebongt«, sagte ich gelassen. »Schießen Sie los!« »Meine Neffe ist verschwunden«, hauchte er mir ins Ohr. »Zum letzten Mal wurde er im Filmpalast CineStar in Rostock gesehen. Von seiner Freundin, Smeraldina Lorenz. Es ist jetzt eine Woche her, aber das Mädchen steht noch immer unter Schock. Es ist fürchterlich.« »Gibt es weitere Fakten? Immerhin verschwinden pro Jahr einige Hundert Menschen. Die meisten von ihnen wollen gar nicht wiedergefunden werden.« »Ich weiß. Aber das Ungeheuerliche ist, Jens, so heißt der Sohn meiner Schwester, ist auf der Herrentoilette eines Vorführraumes verschwunden. Spezialisten vom BKA haben diesen Raum in seine Atome zerlegt. Sie glauben nicht, was sie gefunden haben.« Ich nippte an meinem Getränk. »In einer verschlossenen Kabine fanden sich all seine Kleidungsstücke an, die er an diesem Abend getragen hatte, inklusive Armbanduhr und Unterwäsche.« »Sie meinen, Ihr Neffe sei völlig nackt aus dem Kino verduftet?« Fast hätte ich mich verschluckt. »Und keinem der Kinobesucher ist etwas aufgefallen?« »Sie sagen es.« Der Minister schnaufte. Mein Interesse war geweckt. Die Sache stank zum Himmel. Niemand verschwand spurlos aus einem Kinoklo, dazu noch im 17
Adamskostüm. Immerhin waren die Fenster vergittert, und im Saal saßen mögliche Zeugen zuhauf. »Seltsam. Wirklich seltsam.« Grübelnd strich ich über mein glattrasiertes Kinn. Es war offensichtlich, daß die Polizei mit ihrem Latein am Ende war und Dr. K. in mich seine wohl letzte Hoffnung setzte. Ich wollte deshalb mein Vorurteil gegenüber Politikern eine Zeitlang in der Schublade verschwinden lassen. »Werden Sie mir helfen?« Die Stimme des Ministers vibrierte, klang beinahe flehend. Ich hauchte in Gedanken meinen Siegelring an. Als ich ungefähr zehn war, fand man mich ohne Gedächtnis in der Nähe von Weimar auf. Um den Hals trug ich diesen Ring. Er hing an einem Lederband. Auf dem Ring standen die Initialen M und N. Daraus bastelten meine Adoptiveltern die Vornamen Markus Nikolaus. Während der Schreckenstage von Weimar entdeckte ich, daß mein Siegelring auf dämonische Aktivitäten mit einem schwachen Glimmen und Wärme reagierte. Mein Dasein als Kämpfer gegen das Böse begann. Ich wurde zum Dämonenjäger… Mit dumpfer Stimme sprach der Minister weiter. »Jens war hm, ist neunzehn und ein guter Junge. Er ist Margots, das ist meine Schwester, einziges Kind. Mein Schwager Bernhard ist seit dem Untergang der Estonia in der Ostsee vermißt. - Herr Hellmann, ich bitte Sie! Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß!« Ich spürte die Angst, die in seiner brüchigen Stimme mitschwang. Ich trank die Dose leer. »Okay, ich werde mich um Ihren Neffen kümmern. Es müßte doch mit dem Leibhaftigen zugehen, wenn ich den Burschen nicht wieder aus der Versenkung hole.« »Ich werde Ihnen alle notwendigen Informationen beschaffen«, versicherte Dr. K. »Der gesamte Polizeiapparat von MeckPom steht zu Ihrer Verfügung, wenn's hart auf hart kommen sollte. Aber retten Sie Jens! Es wird Ihr Schaden nicht sein. Die Belohnung beträgt…« »Langsam, langsam«, dämpfte ich seinen Enthusiasmus. »Versprechen kann ich überhaupt nichts. Die Chance, daß Ihr Neffe am Leben ist, würde ich mit 50:50 einschätzen. Dr. K. in Fällen wie diesen muß man mit allem rechnen.« Der Minister schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Bevor ich's vergesse, die Beamten vom BKA haben etwas gefunden, das Ihnen ziemliches Kopfzerbrechen bereitet.« 18
»Das wäre?« »Im Knie des Abflußrohres fanden Sie einen menschlichen Hautfetzen. Er hatte die Größe eines DIN-A5-Blattes…« * Professor Zacharias lag wach, als er aus dem Keller, der sich direkt unter seinem Schlafzimmer befand, verdächtige Geräusche hörte. Im Keller befand sich sein Labor! Der Gelehrte sprang mit einem Satz aus dem Bett. Es war morgens halb sechs. Durch die Vorhänge schimmerten bereits die ersten Sonnenstrahlen. Ein wolkenloser Septembertag kündigte sich an. Doch dieser Umstand ließ Zacharias kalt. Die Frage, wer in seinem Labor herumstrolchte, war von wesentlich wichtigerer Natur. Im Nu hatte er sich seinen Morgenmantel übergeworfen. Barfuß schlüpfte er in die Schuhe. Bevor er die Treppe hinabhastete, die in die Laborräume führte, warf er einen prüfenden Blick in den Korridorspiegel. Aron Zacharias war fünfundvierzig, einsachtundachtzig und hatte einen sportlichen Körper, den er durch regelmäßiges Hanteltraining fit hielt. Er hatte pechschwarzes Haar, ein hochmütiges Gesicht mit einer aristokratischen Nase, fein gezeichnete Lippen und eine kräftige Kinnpartie. Er war mit seinem Aussehen hochzufrieden. Flink strich er eine widerspenstige Haarsträhne aus seiner Stirn. Dann rannte er nach unten. Auf dem kleinen Kellerflur angekommen, blieb er stehen und lauschte angestrengt. Im Hauptlabor, das er Center Court getauft hatte, klirrten Gegenstände aneinander. Einbrecher? Zacharias' Augen wurden zu Schlitzen. Seine schlanken Finger ballten sich zu Fäusten. Er sah sich nach einer geeigneten Waffe um. Aber im Kellerflur stand bloß ein runder Einbeintisch, neben dem eine mannshohe Topfpflanze verwelkte. Zacharias preßte die 19
Lippen aufeinander. Tausenderlei Dinge fegten durch seine graue Zellen. Plötzlich erscholl eine zittrige Stimme aus dem Labor. Jemand sang Guildo hat euch lieb! Für einen Moment fragte er sich, ob er sich in seinem Haus oder in einer Klapsmühle befand. Da war sein unsagbar kostspieliges High-Tech-Labor, in dem Präparate und Versuchsobjekte gelagert waren, die streng geheim waren. Und was passierte darin? Man sang ein Lied des Meisters… Professor Zacharias fluchte. Wild entschlossen klinkte er die Tür auf - und riß vor Verblüffung die Augen auf. In dem vierzig Quadratmeter großen Raum taumelte ein säbelbeiniger Hausgeist umher. Er trug eine knalligfarbene Kittelschürze, hatte eine ausgekämmte Dauerwelle, wirbelte mit einem Staubtuch und wog gute zweihundert Pfund. »Was, um alles in der Welt, treiben Sie da?« brüllte Zacharias. »Und wie kommen Sie überhaupt in mein Haus?« Das Lied des Meisters brach abrupt ab. Das Gespenst fuhr herum. Es war eine fremde Frau um die Fünfzig. Aus glasigen Augen stierte die Frau den respekteinflößenden Hausherrn an. »Oh«, stotterte sie. »Der Herr Professor!« »Was tun Sie hier?« Zacharias schäumte vor Wut. Verhältnismäßig schnell erholte sich die dicke Frau von ihrem Schreck. »Typisch Mann«, zischte sie. »Ich mache sauber. Was sonst? Ich bin Wilma Wieting. Meine Tochter, die Ute, die sonst immer zu Ihnen kommt, hat sich den Fuß verstaucht. Deswegen bin ich hier.« Zacharias verstand. Es drohte keine Gefahr. Ein banales Mißverständnis, mehr nicht. Sein Zorn verrauchte. »Heute ist Samstag«, sagte er. »Samstags wird hier nie geputzt.« Wilma Wieting legte die Stirn in Falten. »O jemine!« jammerte sie. »Da muß ich wohl was in den verkehrten Hals gekriegt haben.« »Gehen Sie jetzt!« befahl der Professor. »Es reicht, wenn Sie Montagmorgen wiederkommen.« 20
»Wie Sie wünschen, Herr Professor.« Kopfschüttelnd beobachtete er, wie die Putzfrau ihr Arbeitsgerät in einen Plastikeimer tat. Dann schweifte sein Blick prüfend in die Runde. »Haben Sie alles?« Sie nickte. Ihr Irrtum schien sie peinlich berührt zu haben. Ihre feisten Wangen waren von ampelroter Farbe. Als sie an ihm vorbeiging, merkte er, daß sie taumelte. Und wie rot die Äderchen in ihren Augen waren! Professor Zacharias stutzte. Er hatte einen siebten Sinn für Gefahr! Woher das kam, wußte er nicht. Schon als Student an der Rostocker Uni hatte er dieses Gespür bemerkt. Er wußte, wenn diese Frau jetzt das Labor verließ, bedeutete das Gefahr, große Gefahr, und zwar für ihn! »Warten Sie!« Er hielt sie am Ärmel fest. »Ja?« Er starrte sie an. »Es ist noch sehr früh, um Alkohol zu trinken. Meinen Sie nicht auch?« Ihre Röte wurde eine Spur dunkler. Ihr Teint begann, fleckig zu werden. Jetzt sah die Frau aus, als hätte sie gerade ein paar Ohrfeigen bekommen. »Äh, ich…« Der Professor lockerte seinen Griff. Er deutete auf eines der Regale, auf denen zwischen Computerzubehör und allerlei chemischen Gerätschaften auch einige Flaschen Schnaps standen. »Waren Sie an meinen Spirituosen?« Sein Blick wurde kalt wie Gletschereis. »Was denken Sie von mir? Ich bin eine anständige Frau…« »Darum geht es jetzt nicht«, sagte er mühsam beherrscht. »Ist Ihnen eigentlich klar, wo Sie sich befinden?« »Bin ja nicht auf den Kopf gefallen. In einem Labor bin ich. Wo sonst? Ich habe schon viele Labore auf Vordermann gebracht. Manche sahen aus, als hätten sich die Herren Doktoren mit Kuhfladen beworfen. Ich verstehe Ihre Frage nicht.« Zacharias ging zu dem Regal, nahm eine angebrochene Flasche Cognac heraus und schüttelte sie. Wilma Wieting prallte zurück. »Haben Sie daraus getrunken?« »Hm, naja.« Der Gelehrte blieb eisern. »Haben Sie oder haben Sie nicht?« »Ich habe«, murmelte sie. 21
Er schloß die Augen für eine Sekunde. Als er sie wieder aufschlug, war sein Gesicht zu Stein geworden. »Was ist so schlimm daran?« plusterte sich die Putzfrau auf. »Nur ein winziges Schlückchen hab ich probiert. Ich mag eben Braunen. Ihr Cognac war übrigens nicht die Welt. Schmeckte nach Seife. Hab schon wesentlich besseren getrunken. Sie werden doch wohl einen Fingerhut Schnaps verschmerzen. Oder?« Hochaufgerichtet, als hätte er einen Stock verschluckt, ging der Professor zur Tür. Der Schlüssel steckte innen. Der Professor schloß ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Mit unheilverheißendem Blick starrte er die Frau an. »Ich will gehen!« fauchte sie. »Sperren Sie gefälligst die Tür wieder auf!« »Nein.« »Wie bitte?« »Ich kann Sie nicht wieder gehen lassen«, sagte er dumpf. Wilma Wieting stellte ihren Eimer ab. »Wollen Sie etwa die Polente holen, weil ich an Ihrem Fusel war? Das ist doch lächerlich.« Professor Zacharias schwieg verbissen. Er ließ die Frau nicht aus den Augen. »Ich warne Sie!« giftete die Frau. »Ich zähle jetzt bis drei. Wenn Sie mich dann nicht aus Ihrem verdammten Keller lassen, werde ich andere Saiten aufziehen!« Sein Gesicht blieb unbeweglich. Er starrte nur. »Also gut, Sie haben's ja nicht anders gewollt!« Die Reinemachefrau krempelte ihre Ärmel hoch, die plötzlich über ihre Hände reichten. »Eins!« Zacharias stand wie ein Denkmal. »Zwei!!« Abermals zeigte er keine Reaktion. »Und die letzte Zahl heißt Numero…« Weiter kam Wilma Wieting nicht. Mit einem Flatsch! fiel ein großes Stück ihrer flammendroten Gesichtshaut auf den Fußboden. Die Frau bekam einen Schreikrampf. * 22
»Glaubst du, ein Schwarzblüter hat seine dreckigen Klauen im Spiel?« fragte mich Tessa. Ich nickte. »Diesem Höllengeschmeiß' traue ich alles zu. Nur sonderbar, daß mein Ring fast gar keine Reaktion gezeigt hat.« Wir kamen gerade aus dem Kinopalast. Nach langem Hin und Her war es mir gelungen, einen Hausmeister zu überzeugen, uns die Toiletten aufzuschließen. Die Vorführungen begannen erst in ein paar Stunden. Der Kittelträger hatte uns angeglotzt, als hätten wir eine Schraube locker. »Komisch!« hatte er gebrummt. »Neuerdings scheinen sich die Leute für die Lokusse mehr zu interessieren als für die Filme, die gezeigt werden.« Ich präsentierte dem Mann meinen Presseausweis und schwafelte etwas von Recherchen für eine Daily Soap, deren Handlung sich größtenteils auf MeckPoms öffentlichen Druckkammern abspielte. Der Mann glaubte den Humbug. Völlig von der Rolle war er uns vorangeschlurft. Während Tessa und ich das WC überprüften, in dem Jens Kielmann verschwunden war, versorgte uns der gutmütige Hausmeister mit wertvollen Hinweisen. Doch bis auf ein kaum wahrnehmbares Flimmern meines Ringes war nichts festzustellen gewesen. Tessa hatte meinen Blick zum Ring verfolgt und machte sich so ihre Gedanken. »Kann es sein, daß dein Ring seit der letzten Aktion noch nicht wieder voll bei der Sache ist? Du weißt, Mark, manchmal braucht er Zeit, um seine Kraft zu regenerieren.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, so lange hat das noch nie gedauert.« Wenig später saßen wir im Seemannskrug, einem vorzüglichen Restaurant unseres Hotels, das allgemein nur Nep genannt wurde. Das Lokal hatte riesige Fenster. Ich genoß den malerischen Panoramablick auf den Alten Strom, Teepott, Leuchtturm, Strandpromenade und auf andere hochkarätige Sehenswürdigkeiten. Der Kellner kam. Er trug eine strahlend weiße Seemannsjacke mit Schulterstücken. Am linken Revers prangte die Meisternadel. Die Speisekarten, die er uns reichte, hatten einen biblischen Umfang. 23
»Zwei Orangensaft«, sagte ich. »Ich empfehle Ihnen heute fangfrischen pochierten Zander, dazu Pariser Kartoffeln und diverse Blattsalate mit Joghurtdressing. Soll's zu Beginn ein Aperitif sein?« Ich sah ihn an. Sein Unterarm, von dem die akkurat geplättete Handserviette hing, war zum rechten Winkel gebogen. »Zwei Orangensaft«, wiederholte ich. »Und ihr Kartenwerk können Sie wieder mitnehmen.« Erschüttert trollte sich der Ober. Im Seemannskrug war es angenehm kühl. Tessa schien das auch zu empfinden. Zumindest ihre Brustwarzen, die das hauchdünne Top um einiges interessanter machten. Zumindest für Männeraugen. Meine Gedanken beschämten mich. Sofort blickte ich woandershin. »Ich fürchte, wir treten auf der Stelle«, gab ich zu bedenken. »Vielleicht sollte ich Vater anrufen. Ulrich ist mit allen Wassern gewaschen.« Tessa zupfte an ihrer Kurzhaarfrisur. »Prima Idee. Auch deinen Einsatzkoffer hast du nicht dabei, Mark. Möglicherweise brauchst du bald das eine oder andere Teil.« Ich versank ins Grübeln. Tessa hatte recht. Da biß die Maus keinen Faden ab. Das Böse konnte man nicht mit bloßen Händen besiegen. Darum hatte ich mir einige Hilfsmittel besorgt: Flakons mit geweihtem Wasser, Kruzifixe, angespitzte Holzpflöcke, einen magischen armenischen Dolch… Glücklicherweise hatte ich meine SIG Sauer einstecken. Das Dumme war, ich hatte nur noch zwei geweihte Silberkugeln bei mir. Der Kellner servierte den Orangensaft. Als er weggegangen war, wurde die gläserne Pendeltür des Gastraumes brutal aufgestoßen. Verdutzt spähten wir zum Eingang. Ein Riesenkerl im Muskelshirt stolzierte in den Saal. Eine vollbusige gefärbte Blondine auf Stöckelschuhen tippelte hinter ihm her. Das Muskelpaket auf zwei Beinen schaute wie ein Feldherr in die Runde. Die Tische am Fenster waren, wie es in Gaststätten üblich ist, alle zuerst besetzt. Tessa und ich hatten den letzten freien erwischt. Ich sah, daß seine Lippen ein unanständiges Wort formten. 24
Grimmig schnipste er nach dem Ober. »Mr. Universum hat ein Problem«, dachte ich laut und grinste in Tessas Richtung. »Garantiert will der mit seinem süßen Kopfkissenzerwühler allein an einem Fenstertisch sitzen, um ihr ungestört von seinen Heldentaten im Kraftraum zu berichten. Möchtest du noch einen Saft, Tess?« Meine Freundin rollte mit den Augen und preßte die Lippen zusammen. »Was hast du denn?« fragte ich unschuldig. »Deine Tussi hat Herzrasen«, krächzte eine Stimme hinter mir. »Und du Blondschopf hast ein ganz schön freches Maul.« Der Muskelmensch zuckte herausfordernd mit seinen kolossalen Bizeps. Lauernd beäugte er mich. Ihm war anzusehen, daß er mich am liebsten in der Luft zerrissen hätte. Tessa trank ihr Glas leer. »Ja, Mark«, sagte sie todernst. »Einen Orangensaft könnte ich noch vertragen.« »Den könnt ihr Typen auch an der Bar kippen!« knurrte das Kraftpaket. Wie aus dem Boden gestampft, tauchte unser Ober auf. Nervös zuckte er mit den Mundwinkeln. »Berti«, flüsterte er. »Bitte nicht schon wieder. Gestern abend hast du gerade deine Visitenkarte an der Hallenbar abgegeben. Die Handwerker sind eben aus dem Haus.« Der Mann, der Berti hieß, klopfte großspurig auf seine Hosentasche. Offenbar befand sich ein prall gefülltes Portemonnaie darin. »Ich hab alles auf Heller und Pfennig bezahlt, old boy.« Jetzt zuckte er mit den Trizeps. »Also mach hier keine Wellen. Okay?« »Wir nehmen noch zwei Saft, Herr Ober«, sagte ich ungerührt. Unschlüssig blickte der Kellner von einem zum anderen. Er befürchtete wohl das Schlimmste. Muskel-Berti schien ein anstrengender Gast zu sein. »Komm, wir gehen an einen anderen Tisch, Berti«, näselte die Blondine. »Dort hinten wird gerade einer frei.« Aber Berti stand wie angewurzelt. Entsetzt wie ein Dreikäsehoch, dessen Lieblingsspielzeug in eine Jauchegrube gefallen war. Ich schenkte ihm einen gelassenen Blick - und stutzte! Berti? überlegte ich und nahm ihn genauer unter die Lupe. Ich kannte doch einmal einen Berti. Damals, als ich sechzehn war 25
und diesen herrschsüchtigen Weimarer Oberstudienrat zur Räson bringen mußte, gab es einmal einen Berti, der in meine Klasse ging. Narrte mich ein Spuk? »Pah!« machte ich und donnerte eine Faust auf den Tisch. »Das gibt's in keinem DEFA-Film.« Alle starrten mich entgeistert an. Ich lachte, bis mir die Tränen aus den Augen schossen. »Was ist los?« erkundigte sich Tessa besorgt. »Ich halt's im Kopf nicht aus!« japste ich, während ich aufpassen mußte, daß meine SIG Sauer nicht aus dem Holster hüpfte. »Tessa, das ist Herbert! - Herbert Latotzki, genannt der Hering!« Aber bald sollte mir das Lachen vergehen, und zwar gründlich. * Professor Zacharias stand in dem Geheimraum seines Center Courts. Von oben spähte er in eine schuhkartongroße Kiste, die sich auf einem hochbeinigen Labortisch befand. In der Kiste wischten eine Handvoll winziger Lebewesen herum. Auf den ersten Blick hätte man die Winzlinge für Insekten halten können. Sie maßen ungefähr zwei Zentimeter, bewegten sich äußerst behende - aber sie liefen auf zwei Beinen! Als sie den Professor bemerkten, hoben sie drohend ihre Ärmchen und schüttelten die Fäuste. Sie schrien etwas, das Zacharias nicht verstand. Die dünnen Stimmchen waren nicht lauter als Mückengesumm. Aus Wattekügelchen, die er ihnen in den Kasten gelegt hatte, hatten sie sich Kleidungsstücke gefertigt. In einer Ecke ihres Gefängnisses lagen Kuchenkrümel, Petersilie und ein halbes Dutzend gekochter Erbsen. Es gab auch einen Wassernapf. Zacharias lächelte hintergründig. Keiner seiner Gäste sollte behaupten, er hätte im Hotel Zacharias hungern und dursten müssen. Zudem hatte er vor, die geschrumpften Menschen intensiv unter dem Mikroskop zu untersuchen. Er beabsichtigte, sie den unterschiedlichsten Tests zu unterziehen. 26
Wie, zum Beispiel, reagierte ein zwei Zentimeter kleiner Mensch, wenn er allein mit einem Raubinsekt in einem Gefäß eingesperrt war? Oder was würden die Miniwesen anstellen, wenn er ihnen mit einer Pipette ein selbst entwickeltes Nervengift in die Kiste sprühte? Einen von ihnen würde er sogar töten müssen, um unter dem Mikroskop eine Autopsie vornehmen zu können. Vielleicht nehme ich diese garstige Bodenmasseuse, dachte er. Ein gräßliches Weibsbild! Voller Vorfreude rieb Zacharias seine Hände. Liebend gern hätte er sogleich mit seinen Versuchen angefangen. Es juckte ihn förmlich in den Fingern. Doch er mußte sich gedulden. In einer Stunde öffnete seine Ausstellung Miniwelten in der Kunsthalle am Schwanenteichpark. Seine Assistenten erwarteten ihn, und natürlich das Publikum. Entzückt beobachtete er die verzweifelt grotesken Verrenkungen, die die Unglücklichen machten. Fünf Menschen hatte der Wissenschaftler bisher auf Insektengröße geschrumpft. Wilma Wieting war sein vorläufig letztes Opfer gewesen. Wenn auch unfreiwillig, war sie der erste Mensch, der sein Serum getrunken hatte. Zacharias ahnte, es würde wegen ihres Verschwindens Probleme geben. Immerhin wußte die Tochter der Putzfrau, wohin ihre Mutter gegangen war. Aber er hatte vorgesorgt. Kein Mensch würde auch nur den Hauch einer Spur von den Vermißten finden. Zacharias war stolz auf seine Gründlichkeit. Hochmütig hob er sein Kinn. Sein Blick fiel auf das eiserne Kruzifix, das an der Wand hing. Beim Antiquitätenhändler am Doberaner Platz hatte er es aufgegabelt. Angeblich war es zweihundert Jahre alt. Als er es gekauft hatte, war es noch in einwandfreiem Zustand. Seit der Gekreuzigte mit dem Dornenkranz um die Stirn jedoch in seinem Labor hing, rostete das Kruzifix komischerweise. Jäh hatte er ein flaues Gefühl in der Magengegend. Gefahr war in Verzug! Abermals schlug sein siebter Sinn vehement Alarm. Im Umkreis von einigen Hundert Metern gab es also jemanden, der ihm schaden wollte. Komm nur, großer Unbekannter, dachte er. Ich werde auch mit dir fertig. 27
Zacharias legte den Deckel auf die Kiste mit den Minimenschen. Dann entnahm er einer Schatulle eine Phiole mit seinem trinkbaren Serum, das die Menschen schrumpfen ließ. Für alle Fälle. Er löschte das Licht und verließ den Geheimraum. Nachdem er ihn akribisch gesichert hatte, spaltete ein dämonisches Grinsen seine schmalen Lippen. »Mach dein Testament, Fremder!« zischte er leise. »Bald steckst auch du in meiner Kiste. Dann hilft dir auch der liebe Gott nicht mehr.« * Als wir am Schwanenteichpark ankamen, trauten wir unseren Augen nicht. Vor der Kunsthalle, in der die Ausstellung stattfand, drängelte sich eine respektable Menschenmenge. »Gibt's hier Bananen?« flachste ich. Tessa stützte sich auf meine Schultern, stellte sich auf Zehenspitzen und spähte über die Kopfe der Wartenden hinweg. »Heiliges Kanonenrohr«, prustete sie. »Es wird Stunden dauern, bis wir im Plastiksaal sind.« »Das haben wir gleich, Mark«, erbot sich Berti, der seit unserem Wiedersehen wie eine Klette an mir klebte. »Laß mich nur machen!« Sagte es und war einen Augenblick später wie vom Erdboden verschluckt. Nachdem ich meinen alten Schulkumpel im Seemannskrug nach sage und schreibe zwölf Jahren durch einen Zufall getroffen hatte, wichen er und seine Freundin Pia nicht mehr von meiner und Tessas Seite. Dauernd wollte er mir irgendwelche Gefallen tun. Herbert Latotzki war damals der Schwächste in der Klasse, eine dürre Bohnenstange, mit dem jeder umsprang, wie es ihm beliebte. Sogar manche Lehrer machten sich vor der Klasse über ihn lustig, um einen kollektiven Lacher zu ernten. Ich hatte ihm stets beigestanden, weil er mir leid tat. Als ich seinem ärgsten Quälgeist einmal krankenhausreif geprügelt hatte, ließen ihn die anderen in Frieden. Manchmal mußte man eben ein Zeichen setzen. Als wir uns dann aus den Augen verloren hatten, fing er mit Bodybuilding an. Das eisenharte Training hatte sein 28
Selbstbewußtsein gehörig auf Vordermann gebracht. »Wo ist er denn hin, dein Berti?« fragte ich Pia. Die gutgebaute Blondine kramte in ihrer Handtasche, zog eine Packung Zigaretten hervor und steckte sich eine an. »Hintereingang«, sagte sie, ohne den Sargnagel aus dem Mund zu nehmen. »Ein Menschenauflauf ist das«, staunte Tessa. »Es müssen tatsächlich tolle Sachen sein, die da ausgestellt werden.« Pia nickte. »Professor Zacharias ist seit Jahren eine Kapazität auf seinem Gebiet. Man sagt, er sei total besessen. Bei der Uni haben sie ihm den Stuhl vor die Tür gesetzt. Seine Forschungen gingen den Dekanen zu weit. Jetzt arbeitet er in einem privaten Labor in Warnemünde.« »Was sind das für Forschungen, Pia?« Tessa hakte sich bei mir unter. »Was sind das für Miniwelten?« »Naja. Zacharias ist es gelungen, Gegenstände, die eine normale Größe haben, um ein Vielfaches zu verkleinern. Seine Technologie ist strengstens geheim. Ich weiß nur, es ist kein Hokuspokus. Keine Copperfieldschen Illusionen, wenn du verstehst, was ich meine.« »Kapiert«, entgegnete Tessa und sah zu mir auf. »Hast du das gewußt, Mark?« Ich nickte. »Hab in der Weimarer Rundschau einen Artikel darüber gelesen.« »Davon hast du mir aber nichts gesagt!« Tessa blinzelte mich böse an. »Doch, hab ich. Du hattest nur kein Ohr dafür, weil dir ändere Dinge in deinem hübschen Köpfchen herumspukten.« Tessa verpaßte mir einen Rippenstoß. Während sie dann angeregt mit Pia über die banalsten Themen plauderte, hing ich meinen Gedanken nach. Versonnen rieb ich an meinem Ring. Bisher hatte er mir immer einen Weg gewiesen, und wenn dieser auch noch so beschwerlich war. Bei meinem jetzigen Auftrag schien er mich im Stich zu lassen. Was hatte das zu bedeuten? Stand ich diesmal einem Feind gegenüber, bei dem mir mein magischer Ring nichts nützte? Vielleicht gab es auch eine ganz einfache Erklärung für Jens Kielmanns Verschwinden? Schnell verwarf ich diese These wieder. Dr. K. der Minister, 29
hatte mir die Situation des Jungen genauestens beschrieben. Jens verschwand, obwohl seine Angebetete oben im Kinosaal auf ihn wartete. Das war nicht normal. Niemand machte sich klammheimlich aus dem Staub, wenn 'ne flotte Biene auf ihn lauerte. Also hatte ein geheimnisvoller Unbekannter irgendwie daran gedreh. »Seht mal, da kommt Berti!« rief Pia plötzlich. Ich sah mich um. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht kam mein Schulkumpel auf uns zu. »Kommt, Jungs!« winkte er. »Euer Berti hat die Sache geritzt!« »Ist er nicht wunderbar?« schwärmte Pia. Eilig tippelte sie an seine Seite, nestelte nach seiner Hand und versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Tessa und ich und stiefelten hinterdrein. Wir umrundeten das Gebäude, bis uns Berti an eine unscheinbare Hintertür führte. Kurzerhand donnerte er mit der Faust dagegen. Im Schloß ratschte ein Schlüssel. Die Tür ging auf, und ein stiernackiger Mann mittleren Alters erschien. Er trug eine blaue Latzhose und einen rotweiß gestreiftes Shirt. »Macht schnell!« Lauernd sah er sich um. »Wenn sie mich erwischen, hagelt's 'ne Abmahnung.« Der Mann hatte eine hohe, heisere Stimme, die klang, als hätte er mit Rasierklingen gegurgelt. »Das ist Felix«, erklärte mir Berti, als wir im Treppenhaus standen. »Felix macht hier einen auf Hausmeister, wenn er nicht gerade Hanteln stemmt.« »Pst!« Der Mann in der Latzhose legte einen Finger auf die Lippen. »Halt hier keine Volksreden, Alter. Schön die Klappe halten, okay?« »Klar doch, Felix«, versicherte Berti. Die Latzhose führte uns über einen langen Flur, der an der Plattform einer Treppe endete. Wie die Diebe schlichen wir den Gang entlang. Ich war nicht sehr begeistert von Bertis Idee, aber immerhin war es besser, als sich draußen stundenlang die Beine in den Bauch zu stehen. »Hier müßt ihr hoch«, flüsterte Felix. »Wenn jemand fragt, warum ihr euch hier herumtreibt, sagt meinetwegen, ihr hättet 'n Lokus gesucht oder so. Capito?« »Klar«, beruhigte ich ihn. »Das kriegen wir schon hin.« 30
Felix reckte einen Daumen in die Höhe, hustete einmal kräftig und machte, daß er fortkam. Wir stiegen die Treppe hoch und gelangten ungeschoren in den Plastiksaal. Darin ging es zu wie auf dem Jahrmarkt. Unmengen von Menschen standen vor den gläsernen Vitrinen und bestaunten deren Inhalt. Ich trat an den erstbesten Glaskasten heran und betrachtete neugierig die miniaturisierten Ausstellungsstücke. Unter dem blankpolierten Glas reihten sich verschiedene winzige Möbelstücke aneinander. Es gab Kleiderschränke, Sofas, Sessel, Couchtische, Schreibtische und ähnliche Teile. Auf manchen lagen einschlägige Illustrierte, deren Schrift man nur erkannte, wenn man durch die bereitgestellten Vergrößerungsgläser blickte. »Wie im Puppenhaus«, sagte Tessa. »Als Mädchen hatte ich mal eines. Es muß noch irgendwo auf dem Dachboden bei meiner Mutter stehen.« »Sie halten die Exponate für Puppenmöbel, junge Dame?« Ich sah mich um. Der Mann, der die Frage gestellt hatte, trug einen Maßanzug, war frisch frisiert und duftete wie eine ganze Parfümerie. Er lächelte Tessa an. »Professor Zacharias«, stellte er sich vor. »Ich bin schuld an diesen, sagen wir Miniwelten.« Tessa war Feuer und Flamme. Ich fragte mich, ob sie sich mehr für die Miniaturen oder für den Professor interessierte. Lebhaft diskutierten die beiden miteinander. Ohne Frage, der Mann war ein Frauentyp. Das mußte der Neid ihm lassen. Aber je länger ich ihn musterte, desto sonderbarer kam er mir vor. Sein Lächeln, das er zur Schau trug, war nur aufgesetzt. Ich hatte einen Blick dafür. Eine Alarmglocke schrillte in meinem Innern. Ich beschloß, auf der Hut zu sein. Auch wenn dieser Mann keine äußerlichen dämonischen Züge besaß, war er mir nicht koscher. Geschickt verbarg er seine wirklichen Gedanken. Tessa schien von alldem nichts mitzukriegen. Der Professor hatte sie völlig in seinen Bann gezogen. Sie standen jetzt in einer Fensternische; Tessa blickte ihn bewundernd an, während er sprach. Berti und Pia waren an meiner Seite geblieben. »Was hältst du von dem Zinnober, Mark?« fragte mich Berti. »Ich frage mich die ganze Zeit, wozu dieser Minikram gut sein könnte? Warum sollte ich beispielsweise meine eigenen Möbel 31
schrumpfen lassen? Ich kaufe doch nicht Möbel, um sie unbenutzbar zu machen.« Einige umstehende Besucher schauten sich verwundert um und schüttelten die Köpfe. Berti machte sich nichts daraus. Er warf einen schnellen Blick zu Tessa und dem Professor. »He, Mark«, feixte er dann. »Deine Tessa scheint sich ja wirklich prächtig zu amüsieren.« »Laß sie doch«, hörte ich mich sagen. »Wenn es bei Worten bleibt, habe ich nichts dagegen.« Berti grinste. »Schon gut, alter Haudegen.« Spielerisch zuckte er mit seinen Bizeps, zog Pia am Handgelenk zu sich heran und gab ihr einen Klaps auf den strammen Hintern. Die Blondine kreischte erfreut. Plötzlich kam Tessa auf uns zu. Mit triumphierendem Blick maß sie mich von Kopf bis Fuß. »Überraschung«, sagte sie. »Der Professor hat uns zu einem Drink eingeladen. Er ist übrigens ein interessanter Mann, Mark.« »Kandidat Y, wie?« Ich konnte mir diesen Seitenhieb nicht verkneifen. Tessa ging nicht darauf ein. »Er erwartet uns in zehn Minuten.« Wie die Lämmer tappten wir in die Höhle des Löwen… * »Ich habe Angst«, piepste die Stimme einer Frau. Jens Kielmann nickte. »Mir ist auch nicht gerade danach zumute, vor Freude Purzelbaum zu schlagen. Versuchen Sie, sich zu beruhigen.« Die Frau schwieg. Nur ihr unregelmäßiges Atmen war zu hören. In der Kiste war es stockfinster. Jens hatte sich in eine Ecke gekauert und hing seinen Gedanken nach. Gerade hatte er einige Stunden geschlafen. Doch erfrischt fühlte er sich nicht, eher ausgemergelt und schlapp. Sicher lag es an den Alpträumen, die ihn gepeinigt hatten. Er hatte von Johnson, dem Totengräber aus Dämonenblut, geträumt. Doch statt der höllischen Kreatur war Johnson unter der Erde einer Monsterspinne begegnet. Jens hatte im Schlaf geschrien, bis ihn jemand wachgerüttelt hatte. Eine Putzfrau, die Wilma Wieting hieß. 32
Außer ihm und der Putzfrau vegetierten noch drei andere Personen in der Kiste. Es waren zwei Penner, die zumeist schliefen, und eine junge Frau, der Zacharias im Barnstorfer Wald die grauenhafte Injektion verabreicht hatte. Die junge Frau weinte oft. Sie hatte ihren Leidensgenossen mit stockender Stimme erzählt, daß sie allein mit ihrem blinden Vater in Reutershagen wohnte. Gundula Pank sorgte sich sehr um den alten Mann, der nun völlig hilflos war. Er hatte ein schwaches Herz, und sie hoffte inständig, daß ihn der Schock um ihr spurloses Verschwinden nicht getötet hatte. Jens knirschte mit den Zähnen. Diese verdammte Bestie von Professor hatte sie alle ins Unglück gestürzt. Der Dreckskerl spielte Gott. Er tat mit anderen Menschen, was er wollte. Aber wer sollte ihn zur Strecke bringen? Sie selbst würden es nicht schaffen. Mit zwei Zentimetern Körperhöhe waren sie auf Gedeih und Verderb dem offenbar wahnsinnigen Wissenschaftler ausgeliefert. Möglicherweise würden sie ihr Leben sogar als insektengroße Winzlinge aushauchen. »Was können wir nur tun?« wisperte Gundula Pank. »Noch nie habe ich mich so verloren gefühlt.« Die resolute Putzfrau antwortete. »Gar nichts können wir tun, meine Teuerste. Wir hocken in einer Kiste, die irgendwo in einem Tresor versteckt ist. Kein Mensch wird uns je wieder zu Gesicht bekommen. Dann wäre nämlich das Geheimnis dieses Saukerls gelüftet, und die Kripo würde ihn verhaften.« Eine Zeitlang schwiegen die Kisten-Insassen. Nur das Schnarchen der beiden Penner unterbrach die gespenstische Stille. »In den Filmen, die ich kenne«, sagte Jens, »taucht irgendwann immer jemand auf, der das Böse bekämpft und am Ende auch siegt…« »Quatsch mit Soße!« ereiferte sich Wilma Wieting. »Märchenstunde, oder wie? Jungchen, das wirkliche Leben sieht ganz anders aus. Laß dir das von einer erfahrenen Frau sagen.« Jens gab keine Antwort. Mit einemmal verspürte er Durst. Er stand auf. Um keinen seiner Gefährten zu treten, tastete er sich vorsichtig in die Richtung, wo er den Wassernapf vermutete. 33
Als er am Rand des Gefäßes angelangt war, kniete er davor und trank aus der hohlen Hand. Das Wasser war abgestanden und schmeckte widerlich. Aber Jens hatte keine Wahl. Er mußte trinken oder verdursten. Anschließend riß er sich ein Stück von der Petersilie ab, die er neben dem Napf ertastet hatte. Er stopfte es in den Mund und kaute widerwillig. Die Petersilie war hart und vertrocknet. Aber man mußte von ihr essen. Auch kleine Körper brauchten Vitamine. Jens aß, bis er das Gefühl hatte, satt zu sein. Mit einer Handvoll Wasser spülte er den letzten Rest der Petersilie hinunter und machte sich auf den Rückweg. Plötzlich fing die junge Frau an, ohrenbetäubend zu kreischen. »Hilf…!« Ihr Schrei brach ab. »Was haben Sie?« fragten Jens und die Putzfrau zugleich. Gundula Pank röchelte jetzt. Es klang, als hätte sie sich die Faust in den Mund gestopft. Drohte sie zu ersticken? »Was ist mit Ihnen?« Jens kroch in die Richtung, aus der das unterdrückte Röcheln erklang. Die Angst um die Frau ließ sein Herz rasend schnell schlagen. Obwohl es ihm selbst keinen Deut besser ging, berührte ihn ihr Schicksal sehr. Sicher lag es daran, daß auch er mit seiner Mutter allein lebte, seit sein Vater in der Ostsee ertrunken war. Einmal, als der teuflische Professor ihre Kiste herausnahm, um sie unverwandt im Schein des Deckenlichts anzustarren, hatte Jens bemerkt, daß Gundula Pank eine sehr schöne Frau war. Ein bißchen ähnelte sie sogar Smeraldina. Allerdings war Gundula Pank mindestens fünf Jahre älter. Ein Ratschen erklang. Dann polterte es, als wäre jemand umgefallen. Jens legte einen Zahn zu. »Ich bin gleich bei Ihnen. Halten Sie aus!« rief er in die Finsternis. Eine krächzende Stimme antwortete: »Untersteh dich, Bengel. Wenn ich dich erwische, drehe ich dir den Hals um! Hast du das geschnallt?« Die Erleuchtung fuhr Jens wie ein Blitzschlag ins Gehirn. Einer der Penner war aufgewacht und hatte sich im Schutze der Dunkelheit auf Gundula zubewegt. Jetzt bedrängte er die hilflose Frau. 34
»Du mieses Stück!« keuchte Jens. »Warte, gleich hab ich dich!« »Bleib mir ja vom Acker«, krächzte der Penner. »Will doch bloß mal ausprobieren, ob alle meine Körperteile noch brauchbar sind.« Es polterte erneut. Der Penner brüllte auf. »Du Hexe hast mich gebissen!« heulte er. »Das kommt dich teuer zu stehen.« Die junge Frau schrie vor Angst. »Unternehmen Sie doch endlich etwas!« appellierte Wilma Wieting an Jens. Da ertastete Jens einen Fuß. An der rauhen Fußsohle erkannte er, wem der gehörte. Mit beiden Händen packte er zu und zog den Mann, so kräftig er konnte, in seine Richtung. »Laß mich los, du Aas!« jaulte der Penner. »Kümm're dich gefälligst um deinen eigenen Kram!« »Das tue ich gerade!« sagte Jens. Blitzschnell ließ er mit einer Hand von dem Fuß ab und knallte eine Faust in die Finsternis. Jäh klappten zwei Zahnreihen aufeinander. Der Getroffene brüllte vor Schmerz. Er wand sich wie ein Aal, aber Jens hielt weiter einen Fuß gepackt. Ein Windzug sauste an seinem Ohr vorbei. Der Penner versuchte, Jens mit einem Beinhieb an den Kopf außer Gefecht zu setzen. Zum Glück hatte er nicht getroffen. Der Penner war gut bei Sache, ein ebenbürtiger Gegner. Jens entschied, nicht lange zu fackeln. Wer in ihrer entsetzlichen Lage auf die Idee kam, eine Leidensgefährtin körperlich zu bedrängen, der verdiente es nicht anders, als gewaltsam zur Räson gebracht zu werden. Sonst geriet dieser Penner noch total außer Kontrolle. Der Neunzehnjährige machte kurzen Prozeß! Mit voller Wucht donnerte er dem anderen seinen Ellbogen auf die Brust. Es gab einen kurzen Seufzer, und sein Gegner kippte zur Seite wie ein Sack Sülze. Stille. »Haben Sie ihn ausgebremst, junger Mann?« fragte die Putzfrau mit bewegter Stimme. 35
»Glaub schon.« Jens atmete auf. »Er wird für ein paar Minuten ein Nickerchen machen. Aber wenn der Fiesling wieder aufwacht, wird er es sicher noch einmal versuchen.« »Bitte!« weinte Gundula Pank. »Bleiben Sie in meiner Nähe. Beschützen Sie mich vor diesem Monstrum.« Jens spürte, wie eine heiße Hand sanft seine Wange berührte. Sein Pulsschlag verdoppelte sich. Unbändiger Stolz stieg in ihm auf. Er hatte soeben eine Frau vor dem Übergriff eines Verbrechers gerettet. Ein neues Selbstbewußtsein keimte in ihm. Die Frauen sahen ihn als ihren Beschützer. Jetzt trug er Verantwortung. »Alles wird gut«, sagte Jens, als er sich neben die angstschlotternde junge Frau setzte. »Wir werden gerettet. Ganz bestimmt! Wir müssen nur ganz fest daran glauben.« »Ja«, schluchzte Gundula Pank leise. »Alles wird gut. Irgendwer wird uns schon retten…« * Professor Zacharias erwies sich als formvollendeter Gastgeber. Er empfing uns in einem Raum, der an den Plastiksaal angrenzte. Dort gab es eine Sitzgruppe aus Leder, einen flachen Bartisch und eine Kommode, auf der eine angebrochene Flasche Cognac und ein halbes Dutzend Schwenker standen. »Bitte setzen Sie sich doch!« Er machte eine einladende Geste. »Wenn Sie mögen, könnte ich Ihnen einmal demonstrieren, daß meine Miniwelten keine Zauberkunststückchen sind. Und schon gar keine Puppenstuben.« »Da bin ich aber höllisch gespannt«, meinte Berti. Wie ein Sandsack plumpste er in einen Zweisitzer. Auch Pia setzte sich und steckte sich sofort eine an. Tessa interessierte sich für das Werk des Professors, und ich stand wie auf heißen Kohlen. Mein inneres Alarmsignal war noch immer nicht verstummt. Der Professor schenkte Cognac in vier Gläser. »Ein fünfzig Jahre alter Martell aus einer der sogenannten Schatzkammern der Stadt Cognac«, dozierte er. »Testen Sie ihn. Sie werden hingerissen sein.« »Und Sie?« fragte ich. »Trinken Sie nicht mit uns?« 36
Zacharias machte ein tief trauriges Gesicht. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. »Ich muß starke Tabletten nehmen. Schon das kleinste Schlückchen Alkohol könnte mich aus der Bahn werfen. Die unablässige Forscherei verlangt halt ihren Tribut.« Er stellte die Gläser auf ein Tablett und setzte es in die Mitte des Tisches. Berti ergriff als erster ein Glas. Er hielt es unter seine Nase, schwenkte das edle Getränk und schnupperte verzückt. Pia und Tessa taten es ihm gleich. Ich ergriff das letzte Glas. »Zum Wohl.« Zacharias lächelte Tessa zu. »Wohlergehen«, entgegnete Tessa. Ich unterdrückte mein Magendrücken und entspannte mich. Möglicherweise war ich nur so unruhig, weil der Lackaffe Tessa umgarnte. Wir tranken. Berti hatte sein Glas auf Ex geleert. »Mein lieber Herr Gesangverein«, meinte er anerkennend. »Sie haben uns nicht belogen, Professor. Das Zeug läuft tatsächlich runter wie Öl.« Professor Zacharias grinste, dann wandte er sich um. Gemächlichen Schrittes ging er zur Kommode, zog eine Schublade auf - und schnellte zurück! Er hielt eine Pistole in der Hand. Seine Augen funkelten. »Ich warne Sie!« rief er. »Rühren Sie sich nicht vom Fleck! Ich schieße, sobald Sie auch nur einen Finger rühren!« Mit affenartiger Geschwindigkeit schwenkte er den Lauf in meine Richtung. »Und Sie schieße ich als ersten über den Haufen!« Tessa und Pia rissen vor ungläubigem Staunen ihre hübschen Augen auf. Berti betrachtete stirnrunzelnd sein ausgetrunkenes Glas und rülpste unpassenderweise. »Warum tun Sie das?« fragte Tessa perplex. »Ich dachte, Sie wollten uns etwas…« Barsch unterbrach er meine Freundin. »Sie haben falsch gedacht. Nein, meine Gute, das hatte wahrhaftig andere Gründe.« »Und welche?« warf ich ein. »Sie können uns doch nicht stundenlang mit ihrer Kanone bedrohen. Was haben Sie vor?« 37
Professor Zacharias lachte böse. Er starrte mich an. »Ich weiß nicht, wer Sie sind. Aber ich habe ein untrügliches Empfinden dafür, wer meine Feinde sind. - Und Sie sind mein Todfeind!« Ich kam mir vor wie in der Gondel eines sich zu schnell drehenden Riesenrades. Ein wahrer Hitzeschwall durchfuhr meine Eingeweide. Was faselte der Professor da? Ich sei sein Todfeind? Aber wieso? Was hatte er von mir zu befürchten? Wir kamen her, um uns seine Ausstellung anzuschauen, mehr nicht. Seine Reaktion auf unser Kommen war geradezu absurd! So benahm sich kein normaler Mensch. War er kein normaler Mensch? Mein Ring! Ein schwaches Glimmen. Genauso war es gewesen, als wir die Toilette im CineStar überprüft hatten. Also hatten die Mächte der Finsternis ihre Hände im Spiel. Professor Zacharias hatte irgendeine Verbindung zu einem übernatürlichen Phänomen. War ich auf der richtigen Spur? Drei Sekunden später beantwortete sich meine Frage von selbst. Von meiner schmerzenden Stirn löste sich ein Stück Haut. Ich sah zu Berti und Pia, die wie angegossen auf ihren Plätzen kauerten. Allmählich dämmerte es bei mir. Leider eine Idee zu spät. »Der Himmelhund hat uns was in den Cognac geschmuggelt!« bellte Berti plötzlich. »Ich werde den Kerl…« Jede einzelne Faser seines mächtigen Körpers schien sich zu spannen. Berti stand kurz vor der Explosion. »Ich knalle Sie ab wie einen tollen Hund!« versicherte Zacharias teuflisch ruhig. »Glauben Sie nicht, ich hätte irgendwelche Skrupel. Ich jage Ihnen eine Kugel in den Leib und basta! Danach töte ich die anderen.« Berti zitterte vor unterdrückter Wut und sank auf seinen Sitz zurück. Sein mächtiger Brustkorb war aufgebläht wie ein Transparent bei einer Maikundgebung. Tessa war außer sich. »Professor! Sie sind ja wahnsinnig! Sie können uns doch nicht alle erschießen?« Zacharias wandte sich ihr zu. Er wirkte völlig gelassen. Es schien ihm grausame Freude zu bereiten, uns in Todesangst zu versetzen. Er kicherte dumpf. Die Mündung seiner Waffe zeigte für einen kurzen Augenblick auf 38
Tessa Haydens Kopf. »Doch«, sagte er, »ich kann.« Jetzt oder nie! Ich schleuderte dem Professor den Rest meines Cognacs in die höhnisch grinsende Fratze. Er fluchte, riß die Pistole hoch, um sich mit der Hand den brennenden Schnaps aus den Augen zu wischen. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Ich flog wie ein Torpedo auf ihn zu. Als ehemaliger Zehnkämpfer besaß ich ungeheure Sprungkraft. Das kam mir nun zugute. Ich erwischte seinen Arm, zog ihn mit aller Kraft zu mir und knallte ihm gleichzeitig meinen rechten Fuß an seine graumelierte Schläfe. Der Mann wankte, fiel aber nicht. Er schien einen Kopf aus Beton zu haben. Statt dessen federte er leichtfüßig zur Seite und riß seine Pistole hoch. »Du hast es so gewollt!« Sein Finger lag am Abzug. Mein Handkantenhieb auf seinen bewaffneten Unterarm ließ ihn nicht mal aufseufzen. Der Mann war ein Fels! Aber die Pistole fiel zu Boden. Ich hatte kaum Zeit, Luft zu holen, geschweige denn, meine SIG Sauer aus dem Holster zu ziehen. Mit dem Fuß fegte ich Zacharias' Waffe in Tessas Richtung. »Tess, greif dir die Knarre!« rief ich. Krachend explodierte ein Fausthieb an meinem Kinn. Der Schmerz stach bis unter meine Schädeldecke. Als Zacharias seine Hand zurückzog, sah ich meine eigene Haut daran kleben. Ich schrumpfte! Die Ärmel meiner Jacke hatten bereits die Handknöchel erreicht. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde meine Chance geringer, diese Bestie zu überwältigen. Zacharias mußte tatsächlich eine finstere Macht an seiner Seite haben. Jeden normalen Menschen hätte mein bombastischer Fußhieb an die Schläfe von den Beinen geholt. Der Professor holte erneut aus - und stieß einen überraschten Schrei aus. Der Grund dafür war Berti Latotzki! Mein Schulkumpel hatte sich von hinten an ihn herangepirscht 39
und blitzschnell seine wulstigen Arme um den drahtigen Leib des Professors geschlungen. Berti preßte ihm den Brustkorb samt beider Arme so zusammen, daß sein Gegner nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Zu früh gefreut, du hinterhältiger Eierkopp!« raunte Berti Latotzki. »Echte Weimarer Jungs wie wir lassen sich doch nicht von einem Saukerl wie dir über 'n Nuckel schieben!« Obwohl auch Berti schrumpfte, hatte er noch so viel Kraft, um den Professor festzuhalten. Die Adern seines Bizepses quollen hervor wie starke Stricke. Zacharias keuchte. Sein Gesicht war puterrot. Schaum stand auf seinen Lippen. Tessa trat vor und hielt ihm seine Pistole unter die Nase. »Ihr Spiel ist aus, Professor!« fauchte sie. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er Tessa Hayden durchdringend an. Ein dämonisches Grinsen huschte über seine verschmierten Lippen. »Irrtum!« preßte er hervor. »Nicht ich, sondern Sie haben verspielt! Schaun Sie doch mal in den Spiegel!« Tessa blickte mich groß an. Dann guckte sie an sich selbst hinunter. Starräugig. Fassungslos. »Mark?« fiepte sie. »Mark?« Ich rang um Fassung. »Bleib ruhig, altes Mädel. Ganz ruhig, hörst du?« »Ich - ich schrumpfe«, hechelte sie. »Mark, wir müssen was unternehmen.« Meine Freundin sah furchtbar aus. Das sexy Top schlackerte wie ein Zweimannzelt um ihren geschrumpften Körper. Von ihrem einst so hübschen Gesicht hingen Hautfetzen. Am Hals klaffte ein Loch, durch das fettige Flüssigkeit heraussickerte. Der Rock, den sie trug, war über die Hüften zu Boden gerutscht. Pia, die mit sturem Blick ins Leere starrte, erging es nicht besser. Von der Zigarette, die sie verkrampft zwischen den Fingern hielt, qualmte blauer Dunst an die Decke. »Ich kann ihn nicht mehr lange halten«, schnaufte Berti. »So tut doch endlich was!« Zacharias schien über den Dingen zu stehen. Er hatte ein hochmütiges Gesicht aufgesetzt und beobachtete uns spöttisch. Das brachte mich auf den Gedanken! Bevor Berti seinen Gefangenen endgültig loslassen mußte, 40
würde ich dem Professor seinen Hochmut ein für allemal aus dem Gesicht treiben. Ich hastete zur Kommode, griff nach der Cognacflasche, goß ein Glas voll und ging auf den Professor zu. »Sie werden mit uns auf die Reise gehen, Zacharias«, sagte ich. »Wohlergehen!« Der triumphale Ausdruck im Gesicht des, Professors war wie weggeputzt. Unermeßliches Staunen trat an seine Stelle. Berti mobilisierte noch einmal jeden einzelnen Muskel. Er preßte jetzt so stark, daß der Mund des Umklammerten aufsprang wie ein Scheunentor. »Nein, nein!« brüllte Zacharias. »Das dürfen Sie nicht tun! Aufhören, in drei Teufels Namen!« »Haben Sie sich nicht so!« sagte ich kalt. »Ein Schlückchen in Ehren hat noch keinem geschadet. Und so erleben Sie Ihr Experiment hautnah mit.« Ungerührt goß ich ihm den Martell in den Rachen. Zacharias wollte den Schnaps wieder ausspeien, doch Berti bog brutal seinen Oberkörper nach hinten. Die Flüssigkeit gehorchte den Gesetzen der Schwerkraft. Starräugig blickte der Professor von einem zum anderen. »Sie sind ja irre!« röchelte er. »Sie wissen nicht, was Sie angerichtet haben!« »O doch«, widersprach ich. »Nein, verdammt! Wissen Sie nicht! Es gibt für mein Serum doch noch kein Gegenmittel…« * Ein klickendes Geräusch ließ Hajo Kernbach aus einem verworrenen Traum hochfahren. Er war der geschrumpfte Penner, dem Jens Kielmann eine deftige Abfuhr erteilt hatte. Kernbach brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war. Als seine Erinnerung einsetzte, fluchte er lästerlich. Im Brustbereich verspürte er noch einen dumpfen Druck. Jens' Ellbogencheck war nicht von schlechten Eltern gewesen. Kernbach schluckte den Schmerz hinunter. Penner wie er waren 41
allerhand gewöhnt. Er richtete sich auf. Um ihn herum war alles still. Die undurchdringliche Finsternis lag wie ein gigantischer Sargdeckel über ihm. Mit einer Hand tastete er seine Umgebung ab. Er suchte Fred Metzler, den anderen Penner. Kernbach hatte Glück. Metzler lag direkt neben ihm. Der Kumpel mußte ihn wieder zurückgeschleift haben, als er zu Boden gegangen war. Kernbach kniff ihn in die Wade. »He, Fredi«, flüsterte er dem Schlafenden ins Ohr. »Wach auf, alter Berber. Ich muß mit dir reden.« Schlaftrunkenes Gemurmel ertönte. Kernbach rüttelte an der Schulter seines Kistengefährten. »Pennen kannst du immer noch! Komm endlich zu dir, du Idiot!« Es klickte wieder. Das seltsame Geräusch kam nicht aus ihrer, stockdunklen Behausung. Es kam von draußen. Kernbach achtete nicht auf die merkwürdigen Töne. In seinem Kopf hatte sich das Bild seiner schönen Mitbewohnerin Gundula Pank eingefressen. Er mußte sie haben, koste es, was es wolle! Eine Gelegenheit wie diese kam nie wieder. Die Frauen, die es unter den Pennern gab, waren nicht gerade seine Kragenweite. Man mußte sie sich »schönsaufen«, damit sich überhaupt was rührte. Fredi Metzler gähnte ungeniert. »Was is 'n los?« quäkte er unwirsch. »Das Weib«, raunte Kernbach. »Sie macht mich komplett verrückt. Hab lange nicht mehr mit so einer rassigen Biene unter einem Dach kampiert.« »Wenn du scharf bist, dann steck deine Rübe in den Wasserpott.« Metzler wurde langsam sauer. »Die Abkühlung tut dir bestimmt gut!« »Pah - ich hab 'ne viel bessere Idee.« Metzler schüttelte den Kopf. »Bist unverbesserlich, Hajo. Wie kann man in deinem Alter noch so wild sein?« Kernbach lachte heiser. »Neidisch wie? - Sperr deine Lauscher auf. Ich hab' mir ungefähr gemerkt, wo die Frau und der Bengel liegen. Sie pennen jetzt. Wir werden ihnen einen zweiten Besuch 42
abstatten.« »Wir?« »Klaro. Diesmal kommst du mit, Fredi. Du wirst den Typen festhalten, und ich kümmre mich um das Zuckerpüppchen. Das wird ein Gaudi, sag ich dir!« »Könnte dir so passen!« ereiferte sich Metzler. »Du genießt das Leben in vollen Zügen, und ich soll mich mit dem Bengel herumprügeln? Du hast ja nicht alle auf der Reihe, Hajo.« Kernbach grinste. Mit dieser Reaktion hatte er gerechnet. Seit jeher war Fredi Metzler ein Feigling gewesen. Aber Kernbach wußte, wie er den anderen kriegen konnte. Das war gar nicht schwer. »Du schuldest mir noch einen Gefallen«, sagte er. »Hast du das vergessen?« Metzler antwortete nicht. In ihrem Gefängnis war es mucksmäuschenstill. Die beiden Frauen und der Junge schienen noch immer zu schlafen. Kernbach frohlockte innerlich. Sein Kumpel war ein butterweiches Sensibelchen, der es mit Kameradschaft, Treue und einmal gegebenen Versprechen sehr genau nahm. Und er, Kernbach, hatte Metzler vor ein paar Wochen ein Ticket für das Bundesligamatch Hansa Rostock gegen Bayern München geschenkt. Metzler schwebte im siebten Himmel. Es war der größte Wunsch in seinem Leben gewesen, einmal die weltberühmten Kicker des deutschen Rekord-Meisters im Ostseestadion spielen zu sehen. Hoch und heilig hatte er versprochen, sich bei Kernbach dafür zu revanchieren. Jetzt war der Augenblick da! Fredi Metzler mußte Farbe bekennen. »Du bist ein Schwein, Hajo«, stöhnte er. »Das kannst du dieser Frau doch nicht antun…« »Was hab ich zu verlieren?« Kernbach lachte heiser. »Dieser Mistkerl von Zacharias hat uns voll gelinkt. Wir sind nur noch Fliegendreck. Unser Leben ist nicht mehr wert als ein Haufen Dreck.« Jäh fühlte Kernbach eine Hand an seinem Hals. Eine Hand, die kräftig zudrückte und ihm die Luft zum Atmen nahm. »Ich bring dich Sausack um!« Kernbach versuchte, den Angreifer zurückzustoßen, aber 43
Metzler hing an ihm wie eine Klette. »Und dein Versprechen - ah!« japste Kernbach. »Schöner Kumpel bist du.« Der harte Griff lockerte sich. Die Hand verschwand. Metzler fluchte angewidert. Kernbach bekam wieder ausreichend Luft. Er spürte, daß er gewonnen hatte. Sein Spannmann würde jetzt genau das tun, was er von ihm verlangte. »Hast du einen Plan?« fragte Fredi Metzler müde. Voller Vorfreude benetzte Kernbach seine spröden Lippen. Er brauchte ein paar Minuten, um den Kumpel in seine greulichen Absichten einzuweihen. Als er fertig war, klopfte er Metzler gutgelaunt auf die Schulter. »Na, was hältst du davon, altes Suppenhuhn? Gib zu, das Ding ist bombensicher. Es kann einfach nichts schieflaufen.« »Ich soll den Jungen…?« Metzler konnte das nicht aussprechen. »Wieso nicht? Damit ersparst du dem viel Leid. Was meinst du, was dieser wahnsinnige Professor noch alles mit uns veranstalten wird? In Stücke wird uns dieser Irre schneiden, um zu gucken, wie es bei uns innen aussieht. Und das können wir dem Bengel damit ersparen.« »Ich weiß nicht.« »Also los!« drängte Kernbach. »Verlieren wir keine Zeit.« Er stieß ein hämisches Gelächter aus. Metzler war nicht Kerl genug, sich noch länger gegen den Plan zu stellen. Schulter an Schulter krochen die Männer durch die Finsternis. Grobe Staubkörner scheuerten ihre Ellbogen und Knie wund. Kernbach bestimmte die Richtung. Eine schöne Frau roch er zehn Meilen gegen den Wind. Metzler hielt einen steinhart gewordenen Brotkrumen in der Hand, groß wie eine Männerfaust. Damit sollte Jens Kielmann erschlagen werden. Es klickte zum dritten Mal. Diesmal klang der helle Ton etwas lauter als vorhin. Beinahe schien es, als würde etwas versuchen, um jeden Preis in ihr Domizil zu gelangen. »Was war das?« Metzler lauschte ängstlich. »Was weiß ich?« gab Kernbach zurück. »Vielleicht Holz, das arbeitet. Oder Staub, der von irgendwo runterfällt. Du weißt doch, so ein verdammtes Staubkorn ist jetzt mindestens hundertmal so groß wie vorher. 44
Kriech endlich weiter, Fredi. Sonst kommen wir nie an.« Die beiden Penner setzten ihren Weg fort. Bis ein großes Hindernis vor dem vorankriechenden' Kernbach auftauchte und ihm das Fortkommen unmöglich machte. »Halt!« befahl er. Sie stoppten. Kernbach dachte nach. »Unmöglich«, brummte er grübelnd. »Wir können unmöglich schon da sein.« Ärgerlich betastete der liebeshungrige Penner das Teil, das ihnen den Weg versperrte. Es fühlte sich hart und rauh an wie grobes Sandpapier. Kernbach richtete sich auf. Seine Hände glitten an dem unsichtbaren Körper hinauf, immer höher, fanden aber kein Ende. Der Koloß war riesig. Als Kernbach eine jähe Bewegung spürte, zog er rasch die Hand zurück. »Ich krieg die Motten!« hauchte er perplex. »Fredi, das Ding ist lebendig!« »Spinner«, raunte Metzler zurück. »Wenn du Schiß hast, dann kriechen wir eben woanders lang.« Da spürte Metzler einen heftigen Luftzug im Gesicht. Als hätte er unvorsichtigerweise ein Fenster geöffnet, obwohl draußen ein schrecklicher Orkan peitschte. Erschrocken prallte er zurück und fiel auf den Rücken. Rasch rappelte er sich wieder auf. Er lauschte angespannt in die tintenschwarze Dunkelheit. Da - ein undefinierbares Knacken, das im Nu in ein ebenso ekelerregendes Knirschen überging. Metzler standen die Haare zu Berge. Das Getöse hörte sich so an wie ein Schredder im Kleingarten, in den man Holzstücke und Abfall warf, um das zerkleinerte Zeug dann schneller kompostieren zu können. »Hajo?« flüsterte Metzler angsterfüllt in die Finsternis. »Hajo? Mach jetzt keinen Mist! Hajo, wo steckst du denn, verdammt noch mal! Sag doch was!« Aber die erwartete Antwort blieb aus. Metzlers Kumpel gab keinen Mucks von sich, statt dessen spritzte Fredi Metzler eine warme, klebrige Flüssigkeit ins Gesicht! Blut! Der zu Tode erschrockene Penner schrie auf. 45
Auch die anderen Bewohner der Kiste waren aufgewacht und brüllten vor Entsetzen. Plötzlich zuckten Lichtblitze auf. So nahe, daß Metzler sie hätte anfassen können. Geblendet kniff er die Augen zusammen. Was er sah, ließ sein Blut in den Adern klumpen. Metzler war kein gläubiger Mensch, aber jetzt betete er. Ein einzigartig schauriger Anblick bot sich dem zur Salzsäule erstarrten. Ein Paar riesige Komplexaugen eines grauenerregenden HöllenInsekts verströmten facettenartige Lichtexplosionen. Im schillernden Schein der ungewohnten Helligkeit sah er, wie zwei gigantische Kiefer Hajo Kernbachs Körper zermalmten. Kopf, Schultern und Brust des Kumpels waren bereits im Rachen des Ungeheuers verschwunden. Die Beine hingen heraus - bis auch sie in den schwarzen Schlund gesogen wurden. Metzler hörte Knochen krachen, widerwärtiges Lutschen und Schmatzen. Kurz darauf spie das Ungetüm Kernbachs unverdauliche Reste aus. Ein Teil davon klatschte Metzler ins Gesicht. Er spuckte, hustete und wand sich in Krämpfen. Ein unbeschreibliches Ekelgefühl packte ihn. Seine Gedärme bäumten sich auf. Sie schienen den Platz verlassen zu wollen, an dem sie ein Leben lang friedlich nebeneinander gelegen hatten. Metzler atmete tief durch. Aber es half nichts. Eher das Gegenteil war der Fall. Die Luft roch nach Blut und Fleisch - nach Hajo Kernbachs Blut und Fleisch. Der Brechreiz breitete sich in Metzler aus wie eine bösartiges Krebsgeschwulst. Röchelnd übergab er sich. Dabei stierte er wie in Trance auf die unzähligen, sechseckigen Linsen, aus denen sich die beiden gewaltigen Insektenaugen zusammensetzten. Seine Hände und Füße zitterten wie verrückt. Und wie seine Zähne klapperten! Die Hölle! powerte es ihm durch den Kopf. Fredi, das ist die Hölle! Metzler zitterte noch mehr, als sich unversehens ein Paar 46
schwarzschuppige Fühler nach ihm ausstreckten. Lauernd pendelten sie hin und her. Jäh erloschen die diabolischen Lichtreflexe. Der geschrumpfte Penner gab für sein Leben keinen Pfifferling mehr. Er rollte sich zusammen wie ein Fötus. Er kniff die Augen zu, ganz fest. * Es dauerte nicht lange, und wir waren auf die Größe eines Zigarettenfilters geschrumpft. Nur der Professor war noch etwas größer. Schließlich hatte er seinen teuflischen Zaubertrank etwas später als wir eingenommen. Aber bald würde auch er unsere jetzige Körperhöhe erreicht haben. Wir standen im Halbkreis unter dem Couchtisch, der uns jetzt hoch wie der Kölner Dom erschien. Der Raum, in dem wir uns aufhielten, war vorhin ungefähr zwanzig Quadratmeter groß. Jetzt maß der Raum summa summarum zwanzigtausend! Ich atmete tief durch. Tessa und Pia zogen sich gegenseitig lange Hautfladen vom Körper. Unsere Kleidungsstücke hatten wir abgeworfen, bevor sie für uns zur Bedrohung werden konnten. Ich brauchte einige Zeit, um mich mit der neuen Lage, in der ich mich befand, abzufinden. Zacharias saß jetzt mit uns in einem Boot. Er würde umdisponieren müssen. Alle schienen zu begreifen, daß man jetzt auf Teufel komm raus zusammenhalten mußte, auch er. Doch guter Rat war teuer. Möglicherweise würden wir nie mehr unsere normale Größe erreichen. Weil es jetzt ohnehin bedeutungslos war, hatte der Professor zugegeben, auch schon andere Menschen geschrumpft zu haben, auch Jens Kielmann. Ich mußte mich zurückhalten. Am liebsten hätte ich dem wahnsinnigen Wissenschaftler eine Tracht Prügel verabreicht. Doch ich schluckte meine Wut hinunter. Wem hätte das genützt? Jens Kielmann, dem Neffen des Ministers, bestimmt nicht. Und 47
uns anderen ebensowenig. Also unterdrückte ich meinen gerechten Zorn. Zudem mußte ich nachdenken, wie wir überleben konnten. Immerhin hatte ich einen Auftrag, und noch nie hatte ich vorzeitig die Flinte ins Korn geworfen. Dr. K. vertraute mir. Aber wie sollte ich das Vertrauen rechtfertigen? Schließlich war ich nicht größer als eine Mensch-ärgere-dich-nicht-Figur. Ich sah zu den beiden Frauen. Tessa und Pia hielten sich tapfer. Eine tröstete die andere. Ich war froh, daß keine von ihnen hysterische Anfälle bekam. Grund dazu gab es ja wohl ausreichend. Doch möglicherweise standen Gefühlsausbrüche dieser Art noch bevor. Berti dagegen war stumm wie Fisch. Er hatte voll mit seinem geliebten Body zu tun. Glotzäugig beobachtete er, wie sein Körper von Minute zu Minute kleiner wurde. Zwar behielt er proportionsmäßig seine austrainierte Gestalt, aber wer ließ sich schon von einem zwei Zentimeter kleinen Muskelprotz beeindrucken? Unsere Lage war einfach grotesk! Professor Zacharias unterbrach das Schweigen. »Wissen Sie, was mir Kopfzerbrechen bereitet?« fragte er mich mit gerunzelter Stirn. »Das wäre?« blaffte ich. Allein der Klang seiner Stimme ließ meinen Blutdruck in die Höhe schnellen. Zacharias hob seinen Blick und deutete mit einer Hand schräg in Richtung Zimmerdecke, die sich wie ein allumspannender Himmel über uns ausbreitete. Er war kreideweiß. »Maria und Josef! Wir sind in der Welt der Insekten gelandet. Und nirgendwo wird der Kampf des Individuums um die Existenz so erbarmungslos geführt wie gerade hier.« Ich trampelte auf meiner abgefallenen Haut herum. »Mann, das hätten Sie sich vorher überlegen müssen!« Er gab sich zerknirscht. »Sie haben recht. Wir stecken bis zum Hals im Schlamassel.« Pia hatte seine Worte mitgekriegt. »Igittegitt, ich hasse Insekten wie die Pest«, schäumte sie vor Wut. »Wir müssen den Biestern aus dem Wege gehen. Oder?« Keiner beachtete sie. Auch ihr Berti nicht. Er betastete seine 48
Muskeln. Der Professor fuhr fort. »Ich frage mich, was wir dem entgegenzusetzen haben? Wir werden es mit eisenharten Panzern, Stechborsten, Stacheln, Kiefern und Klauen zu tun bekommen. Mit Monstern, die unersättlich sind. Nehmen wir als Beispiel die gemeine Stechmücke. Ein Blutsauger allerersten Ranges. Die Imagines werden bis zu fünfzig Millimeter groß. Die Mücke findet ihre Opfer mit Hilfe ihrer Fühler und Taster. Die Taster erkennen verschiedene Stoffe, die vom Opfer abgegeben werden. Die Fühler nehmen Luftbewegungen und Gerüche wahr. Wenn die Mücke gelandet ist, dringt sie mit den Stechborsten in die Haut ein, wobei die Stechborstenscheide knieförmig zurückgeschoben wird. Erreicht die Mücke ein Blutgefäß, beginnt sie zu saugen…« »Na toll. Graf Dracula läßt grüßen«, krächzte Berti. »Und womit sollen wir uns gegen einen langen Saugrüssel wehren. Damit, Professor?« Hilflos riß er seine winzigen Arme in die Höhe. Zacharias blieb ihm die Antwort schuldig. Er ging ein paar Schritte, stoppte an einem der säulenartigen Tischbeine und lehnte sich grübelnd dagegen. »Wir müssen fliehen«, sagte er nach einer Weile. »Fliehen?« Berti starrte ihn an. »Vor wem und überhaupt wohin wollen wir denn fliehen?« Ich ahnte, welche Befürchtungen der Professor hatte. Als geschrumpfte Miniaturen, zu denen wir nun einmal durch sein Serum mutiert waren, befanden wir uns nicht nur wegen der Insekten in allergrößter Gefahr. Auch der normal entwickelte Mensch war für uns zum Feind geworden. Wenn man uns fand, würden sie uns in Käfige sperren, uns gaffenden Schaulustigen als Sensation präsentieren oder uns in Labors auf Herz und Nieren prüfen. Den Rest meines Lebens unter einer Glaskuppel verbringen? Niemals! Und gerade heute hatte ich mein Handy im Hotelzimmer liegenlassen. Ich hätte, während ich schrumpfte, Ulrich, Pit Langenbach oder meinen Freund Vincent van Euyen informieren können. Auf sie war Verlaß. Sie hätten uns beschützt. Aber der Zug war abgefahren. Der Schrumpfungsprozeß schien zum Glück abgeschlossen. Wir waren bloß noch zwei Zentimeter groß. 49
Nicht mal mein magischer Ring konnte mir helfen. Wo war er eigentlich? Suchend sah ich mich um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Wahrscheinlich lag er zwischen meinen riesigen Kleidungsstücken. Ich betete zu Gott, daß er in ehrliche Hände fiel. Andernfalls würde meine Karriere als Dämonenjäger endgültig vorüber sein. Das Böse würde triumphieren. Ich zerbiß einen saftigen Fluch. Pias Schrei holte mich in die Realität zurück. Bertis Freundin hatte sich der Tischkante genähert, als plötzlich ein flammendes Geschoß kerzengerade auf sie zusauste. Nur ein paar Schritte neben ihr explodierte der seltsame Gegenstand. Knisternd stoben Funken umher. Es roch nach verbranntem Stoff. Pia flüchtete sich in Berti Arme und weinte bitterlich. »Schon gut, Piamaus.« Berti streichelte ihr blondes Haar. »War doch bloß dein Zigarettenstummel.« Nachdenklich sahen wir zu, wie die gigantische Zigarettenkippe langsam verglühte. Hätte Pia nur ein kleines Stückchen weiter links gestanden, würde sie sich schwerste Verbrennungen zugezogen haben. Und es gab nicht mal einen Arzt, an den wir uns hätten wenden können… Ich legte einen Arm um Tessas zitternden Körper und gab ihr einen Kuß. Sie lächelte schwach. Zacharias kam auf uns zu. Sein leichenblasses Gesicht verriet trotzige Entschlossenheit. »Jeder Schatten, der über uns auftaucht, kann unseren Tod bedeuten«, sagte er. »Also los! Wir müssen hier verschwinden. Je schneller, desto besser.« »Aber wohin?« wimmerte Pia aus Bertis Arm. »Nach Warnemünde«, versetzte er. »In mein Labor. Dort sind wir sicher. Und nur dort kann ich versuchen, ein Gegenmittel herzustellen.« »Ohne Verbündete werden wir es nie schaffen!« meldete sich Berti zu Wort. »In unser jetzigen Größe sind es nach Warnemünde fast achthundert Kilometer! Sollen wir uns an die Straße stellen und ein Taxi rufen?« Der Professor schüttelte den Kopf. »Nein. Wir werden wohl zu 50
Fuß gehen müssen.« »Zu Fuß?« Berti Latotzki quollen die Augen aus den Höhlen. »Genau«, pflichtete ich Zacharias bei. »Es ist unsere einzige Chance. Wir müssen pro Tag ungefähr fünfzig Kilometer laufen. Natürlich meist nachts, wenn die Straßen leer sind. In zehn Tagen könnten wir an Ort und Stelle sein. Verlieren wir also keine kostbare Zeit…« * »Jens, Zacharias muß doch mal wieder in sein Labor kommen.« »Vielleicht macht er Urlaub«, bemerkte Wilma Wieting sarkastisch. »Schläft irgendwo in der Sonne, während wir hier langsam verrecken.« »Ja, vielleicht…« Jens Kielmann kauerte an der Kistenwand und starrte ins Leere. Noch immer gaukelte seine Fantasie ihm Bilder des gräßlichen Todes von Hajo Kernbach vor. Dessen Kumpan Metzler hätte es auch um ein Haar erwischt. Aber das Monster-Insekt hatte ihn, warum auch immer, verschont. Genauso schnell, wie es aufkreuzte, war es wieder aus der Kiste verschwunden. Möglicherweise war das Ungetüm satt und kam erst wieder, wenn es sich abermals einen deftigen Bissen genehmigen wollte. »I Can't Get No - Satisfaction…« Das war Fredi Metzler. Seit dem Tod seines Kumpels schien der Mann komplett wahnsinnig geworden zu sein! Laut trällerte er den Song von den Rolling Stones, wobei er gleichzeitig die Leadgitarre zu imitieren versuchte. Es klang furchterregend. »Sa- tis - fac - tion!!!« Betrübt schüttelte Jens den Kopf. Tagelang hatte der Penner gewimmert und leise vor sich hin gesummt. Seit gestern verfiel er regelmäßig in schaurig anzuhörende Lachkrämpfe. Zwischendurch krakeelte er Refrains von älteren Stones-Hits. Wenn Jens das irre Gekreische aus den Tiefen der Finsternis vernahm, schnürte ihm jedesmal grausiges Entsetzen die Kehle zusammen. 51
* Eine Woche später. Der Gestank verwesenden Menschenfleisches verpestete die Luft in der Kiste. Die menschlichen Überreste des getöteten Penners stellten jeden Magen auf die Probe. Wo hätten die hilflosen Bewohner der Kiste Hajo Kernbachs traurige Überbleibsel auch beerdigen sollen? »Ich habe solchen Hunger«, hauchte Gundula trotz des Würgereizes. »Ich glaube, ich sterbe.« »So schnell stirbt man nicht«, sagte Wilma Wieting burschikos. »Denken Sie einfach nicht daran. - Der Mensch ist ein zähes Luder.« Gundula Pank schluchzte leise. Seit einer Woche hatten die miniaturisierten Menschen nichts Vernünftiges mehr gegessen. Der Professor war noch nicht wieder aufgetaucht. Die vorhandenen Lebensmittel waren verdorben. Aus dem Wassernapf roch es faulig, dennoch tranken sie das ekelhafte Zeug. Den Kisten-Insassen war hundeelend zumute. »Wir werden alle kläglich verhungern«, begann Gundula Pank erneut. »Er hat uns einfach vergessen, dieser abscheuliche Kerl.« »Ich kapiere das nicht«, meinte Jens. »I Can't Get No!« schrie Metzler aus Leibeskräften. »Lange halte ich sein Gesabbel nicht mehr aus«, fauchte die Putzfrau aus dem Dunkel. »Irgendwann krabble ich zu ihm hinüber und stopf ihm das Maul!« Wilma Wieting schien ganz in Jens' Nähe zu liegen. Deutlich hörte er, wie die Frau vor Wut mit den Zähnen knirschte. Das Geräusch erinnerte ihn sofort wieder ans Essen. Wie eine Fata Morgana tauchte ein festlich eingedeckter Tisch vor seinem inneren Auge auf. Gerade wurde der Hauptgang serviert. Jens sah, wie das Essen dampfte. Es gab Schweinemedaillons mit Sauce Hollandaise, knackige Pommes Frites und Weißkrautsalat. Über der Messerspitze war ein hochstieliges Glas eingesetzt, in dem goldgelber Weißwein perlte. Der totenköpfige Kellner wünschte guten Appetit! Als sei es die normalste Sache von der Welt, bestieg er ein schwebendes 52
Leichentuch und flog durch die Luft davon. »Jens, kennen Sie das Buch Die Abenteuer des Gordon Pym?« riß ihn Wilma Wieting aus seinen Träumen. »Den einzigen Roman von Edgar Allan Poe?« »Kann sein, Junge. Namen kann ich mir schlecht merken. Haben Sie das Buch gelesen?« »Ja. Wieso?« Aus Richtung der miniaturisierten Putzfrau ertönte ein glucksendes Schmatzen. »Weil es den Figuren in dem Schmöker einmal ebenso erging wie uns. Sie waren auf einem Schiff, mitten auf dem Ozean, ihre Vorräte waren lange verbraucht. Abgemagert bis auf die Knochen, standen sie kurz vor dem Hungertod. Da machte einer 'nen Vorschlag…« Jens ahnte, worauf Wilma Wieting hinauswollte. Er schauderte. »Das ist nicht Ihr Ernst!« »Wieso nicht?« ereiferte sich die Frau. »Auf dem Schiff hat es auch geklappt. Die Typen haben Hölzchen vorbereitet, wovon eines kürzer war als die übrigen. Daraufhin haben sie gelost. Der Verlierer wurde getötet. Sie tranken sein Blut und aßen sich dann satt. Er hat den anderen das Leben gerettet. Sie waren ihm ziemlich dankbar.« »Das ist Kannibalismus«, keuchte Jens. »Zum Henker, ich esse doch kein Menschenfleisch!« Gundula Pank seufzte laut auf. »Fleisch?« quäkte sie. »Ich esse für mein Leben gern Fleisch. Am liebsten kurzgebraten. Steaks, Koteletts, auch Bratwürste und gegrilltes Eisbein. Aber wir werden wohl nie wieder Fleisch essen.« Leise fing die junge Frau an zu weinen. Die Putzfrau schnaufte. »Papperlapapp! Kannibalismus hin, Kannibalismus her. Bevor ich jämmerlich verhungere, muß ich doch alle Möglichkeiten erwogen haben, um mein Leben zu verlängern. Oder?« Jens schlug das Herz bis zum Hals. »Sie meinen, wir sollten eine Lotterie veranstalten, so wie die Seeleute auf der Grampus?« Wilma Wieting hüllte sich eine Zeitlang in Schweigen. Da wurde die gespenstische Stille in der Kiste von einem schaurigen Krächzen zerfetzt. 53
»I Can't Get No!« meldete sich Fredi Metzler. Jens spürte, wie ihn Wilma Wieting an der Schulter packte und ein paar Sekunden festhielt. Ein fürchterlicher Verdacht ließ ihn frösteln. »Ich denke, wir brauchen keine Lose«, raunte ihm die Putzfrau ins Ohr. »Wir haben doch - ihn…« * Es war heller Tag und für einen Weitermarsch zu gefährlich. Wir hatten uns in eine kleine Erdmulde unter einem Stein versteckt. Hier waren wir einigermaßen geschützt. Tessa, Pia, Berti und der Professor schliefen. Die allnächtlichen Gewaltmärsche hatten insbesondere die Frauen an den Rand ihres Leistungsvermögens gebracht. Ich hielt Wache. Den Eingang unseres Schlupfwinkels hatte ich mit dem Fetzen eines welken Eichenblattes verdeckt. Hin und wieder spähte ich durch einen Spalt nach draußen. Über uns wölbte sich ein strahlend blauer Himmel. Ich mußte die Augen mit der Hand beschatten. Die Sonne blendete mich. Alles um uns herum war schlichtweg gigantisch. Der Stein, unter dem wir uns verborgen hielten, wirkte wie ein Felsblock. »Ich hoffe, das Wetter hält sich.« Professor Zacharias war aufgewacht und an meine Seite gekrochen. Sein aristokratisches Gesicht wurde von einem pechschwarzen Vollbart umrahmt. Auch Berti und ich trugen jetzt Barte. Zacharias lugte durch den Spalt. »Wir haben Glück. Wolkenloser Himmel.« Ich nickte. »Ein Platzregen reicht, und wir werden ersäuft wie junge Kätzchen.« »Die Fluten würden uns über den Gehsteig in einen Gully spülen«, sinnierte Zacharias. »Im Endeffekt würden wir in der Kanalisation landen. Kein Hahn würde mehr nach uns krähen.« Er wälzte sich wieder ins Innere der Höhle. Ich sah, wie er die Augen zumachte und mit gekrauster Stirn vor sich hindöste. Obwohl ich den Kerl haßte wie die Pest, war er unsere letzte 54
Hoffnung. Er mußte das Anti-Serum herstellen. Egal, wie! Wenn ihm unterwegs ein Unglück zustieß, waren wir alle verloren. Wir würden auf der Erde als Winzlinge herumkriechen, bis wir Opfer eines räuberischen Insekts oder einer, anderen Katastrophe werden würden. Zacharias war unser Trumpf-As. Hoffentlich stach es auch. Ich ballte die Hände zu Fäusten. Pah - das waren vielleicht Aussichten! Wenn uns unser Leben lieb war, mußten wir für unseren ärgsten Feind noch Leibwächter spielen. Für den Unhold, der uns in diese schier aussichtslose Lage gebracht hatte. Zum Kuckuck noch mal! Während ich den Eingang sicherte, rekapitulierte ich noch einmal die Ereignisse der vergangenen Tage. In den ersten Stunden unserer Flucht waren wir aus dem Staunen nicht herausgekommen. Immer wieder gab es Anlaß, uns über unsere eigene Kraft zu wundern. Im Verhältnis zu unserer jetzigen Größe vermochten wir beispielsweise rasend schnell zu laufen. Als wir die riesigen Treppenstufen der Kunsthalle hinabkletterten, merkten wir, daß auch unsere Sprungkraft um ein Vielfaches zugenommen hatte. Mit weitem Anlauf konnten wir sogar über ein Hindernis springen, das zehnmal so hoch wie wir selber war. Auch Waffen hatten wir uns zugelegt. Sie bestanden aus spitzen Holzsplittern, Dornen von Pflanzen und Kieskrumen, die wir als Wurfgeschosse gegen Käfer, Spinnen und anderes Geschmeiß verwenden wollten. Ich selbst trug einen messerscharfen Dorn, der mir bis zur Hüfte reichte. Mit Hilfe eines scharfkantigen Steins hatte ich ihn von einem Grasbüschel gehauen. An einem Grashalm, der für uns so groß wie ein Baumstamm war, hatte ich mein glasig schimmerndes Schwert ausprobiert. Ein kurzer Hieb, und der Halm wurde durchtrennt. Rauschend pfiff er durch die Luft. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre auf Berti, Latotzki gestürzt. Aber dank seiner neuen Reaktionsfähigkeit hatte er sich mit einem tollkühnen Hechtflug aus der Gefahrenzone retten können. Zudem hatte der Saft, der aus dem Halm spritzte, Tessa und Pia von oben bis unten durchnäßt. Die Frauen mußten ihre aus 55
Pflanzenfasern bestehende Kleidung ausziehen und sich ein neues Outfit zulegen. Als Tessa und Pia so völlig ohne dastanden, beschlich mich ein Gefühl, das mir sehr bekannt vorkam. Am liebsten hätte ich Tessa geschnappt, sie an ein lauschiges Plätzchen gezerrt und… Es steckte also noch Leben in mir, doch ich verkniff mir eine Annäherung in eindeutiger Absicht. Gedankenverloren juckte ich an meinem Vollbart, während ich durch den Spalt nach draußen lugte. Von weither brauste der Lärm des Stadtverkehrs. Zacharias hatte bewußt eine Route gewählt, die nicht unmittelbar an einer Straße vorbeiführte. Das wäre unser Verderben gewesen. Der Luftzug eines vorbeirauschenden Autos hätte uns in alle sieben Winde zerstreut und anschließend zerschmettert. Nicht mehr als ein winziger Fettfleck wäre von uns übriggeblieben. Mein Magen knurrte. Es war Zeit für eine Mahlzeit. Bisher hatten wir uns von Brotkrümeln, eßbaren Pflanzen und den Resten aus achtlos weggeworfenen Büchsengetränken ernährt. Es war schon abenteuerlich, in die Öffnung einer ColaBüchse zu kriechen, die glatte fünfzehn Meter lang war! Unwillkürlich hatte ich an Gullivers Reisen denken müssen. Ich spürte, wie meine Konzentration nachließ. Allmählich machte sich eine bleierne Müdigkeit in mir breit. Ich wandte mich gerade ab, um Berti wachzurütteln, da erscholl von draußen schwerfälliges Flügelschlagen. Ich duckte mich, hielt den Atem an und umklammerte mein Dornenschwert. Vorsichtig spähte ich hinaus. Ich beobachtete, wie sich eine Biene auf der Blüte einer turmhohen Pflanze niederließ, ihren Rüssel ausfuhr und friedlich Nektar saugte. Beruhigt atmete ich aus. Von Bienen drohte uns keine Gefahr. Die emsigen Nektarsammler waren anderweitig beschäftigt. Plötzlich jagte ein eiskalter Schauer durch meine geschrumpften Glieder. Dicht vor dem Eingang unseres Unterschlupfes waren schwarze, haarige Beine aufgetaucht. Eine Spinne! 56
Zögernd kam das apokalyptische Geschöpf näher. Zwei Reihen mit je vier tintenschwarzen Punktaugen bohrten sich in meinen Blick. Die Kiefertaster pendelten lauernd. Jäh stoppte das Ungetüm, verharrte reglos. Langsam hob es seine beiden schuppigen Vorderbeine. »Es sind Greifbeine«, wisperte Zacharias hinter mir. »Spinnen sind ungeheuer schnell. Und ihre Kiefer sind für uns kreuzgefährlich. Rühren Sie sich nicht! Vielleicht hat das Monster Sie noch nicht ausmachen können.« Und ob mich das Vieh ausgemacht hat! dachte ich. Ihm läuft schon das Wasser im Maul zusammen. Es dürstet nach meinem Blut. Da schnellten die Greifbeine auf mich zu. Blitzartig, ansatzlos. Die furchteinflößenden Kiefer rasselten metallisch. Ich spürte einen eisernen Griff um Hals und Schulter. Die Spinne wollte mich aus meinem Versteck in ihren mörderischen Schlund ziehen. Wenn sie es schaffte, würde sie mich knacken wie eine Haselnuß. Hatte ich doch nicht einmal einen schützenden Chitinpanzer wie ein normales Insekt. Hinter mir erhob sich aufgeregtes Geschrei. Besonders Pias Stimme gellte glockenhell an mein empfindliches Trommelfell. Aber Tessa stand ihr um nichts nach. »Mark! Mark!« schrie sie. »Du darfst nicht sterben!« Natürlich nicht, du Dummchen! spornte ich mich indirekt an und mobilisierte all meine Kräfte. Kampfentschlossen riß ich mein Dornenschwert hoch. Die schwarzgeschuppten Spinnenbeine hatten mich schon zur Hälfte unter dem Stein hervorgezogen. Sie waren höllisch scharf und schnitten mir tief ins Fleisch. Wahnsinnige Schmerzen bohrten sich in mein Hirn. Ich krallte mich in die Erde, während die anderen wie verrückt an meinen Füßen zogen. Ein Tauziehen mit dem Tod begann. Wenn es der Monster-Spinne gelang, ihr Gift in mich hineinzupumpen, um mich zu lähmen, war ich ein für allemal weg vom Fenster. Gierig würde das Biest jeden Tropfen Blut aus meinem Körper saugen. Der erste Windhauch würde meine mumifizierten Überreste in die Gosse pusten. Das Dornenschwert! Ich stieß meinen Oberkörper vom Boden ab, packte das Schwert fester und nahm Maß. 57
Die Spinne hatte ihre Anstrengungen verdoppelt, als sie merkte, daß mein Körper ungewöhnlichen Widerstand bot. Mit ihren sechs Beinen stemmte sie sich wütend in das Erdreich. Das Rasseln ihrer Kiefer steigerte sich zu einem diabolischen Spektakel. Sausend pfiff mein Schwert durch die Luft. Getroffen! Es war genau wie mit dem Grashalm, an dem ich meine Waffe ausprobiert hatte. Eines der behaarten Greifbeine wurde zerhackt. Übelriechender Glibber spritzte durch die Gegend. Das abgetrennte Teil fiel zu Boden. Es zappelte noch eine Weile. Dann blieb es verkrümmt liegen. Die Spinne schien von der Kühnheit meiner Attacke sehr beeindruckt. Offenbar verblüfft wich der schwarze Räuber ein Stück zurück. Seine Fühler tanzten pfeifend hin und her. »Fahr zur Hölle, du Mistvieh!« In Erwartung des nahenden Sieges schwang ich mein Dornenschwert ein zweites Mal. Ich hatte das andere Greifbein aufs Korn genommen. Wenn die Spinne auch ihr zweites Mordinstrument verloren hatte, sah es zappenduster für sie aus. Ohne ihre Angriffswerkzeuge konnte sie einpacken. Doch das Monster hatte meinen Plan durchschaut. Mit affenartiger Geschwindigkeit zog es sein verbliebenes Greifbein zurück. Der Hieb, den ich mit voller Wucht geführt hatte, ging ins Leere. Der Schwung meines Schlages ließ mich taumeln. Ich strauchelte. Fast hätte ich mein Dornenschwert fallen lassen. Darauf hatte mein Gegner gelauert. Wie der Blitz sauste das schuppige Spinnenbein von oben auf mich herab. Ich zog den Kopf ein und hechtete zur Seite. Noch im Fallen spürte ich den sausenden Luftzug des herabschnellenden Greifbeines. Ich wälzte mich auf die Seite - und erblickte den weit aufgesperrten Spinnenrachen über mir. Jetzt! Beidhändig rammte ich mein Schwert in die greuliche 58
Höllenfratze. Der scharfe Dorn zerfetzte den Kopf des Ungeheuers. Ein Schwall klebrigen Schleimes ergoß sich mit einem Blubb! auf die Erde. Die Spinne torkelte beiseite. Dabei stieß sie ein ohrenbetäubendes Pfeifen aus. Ein paar Mal lief sie im Kreis, als hätte sie die Orientierung verloren. Dann schien sie sich zu besinnen. Ohne mich eines letzten Blickes zu würdigen, machte sie, daß sie fortkam. Ich hatte gesiegt. Ausgepumpt sank ich auf den Boden nieder und schloß die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, sah ich Berti Latotzki über mir stehen. Zornig schüttelte er sein Holzschwert in Richtung des fliehenden Gliederfüßers. »Laß dich ja nicht wieder sehen, du mieses Spinnen-Monster!« röhrte er. »Dann bekommst du es nämlich mit mir zu tun.« Ich rappelte mich auf. Trotz meiner schmerzenden Wunden mußte ich grinsen. Berti Latotzki tat ja gerade so, als hätte er selbst die Spinne in die Flucht geschlagen. Wie auf Kommando erschien Pia an seiner Seite. Freudestrahlend hakte sie sich bei ihrem Favoriten unter und schmiegte ihren Kopf an sein bärtiges Kinn. »Ist er nicht großartig, mein Berti?« fragte sie verzückt. Ich wollte gerade einen saftigen Kommentar dazu abgeben, als Tessa Hayden auftauchte. »Mark, mein Lieber…« Die Augen der treuen Seele waren mit Tränen gefüllt. Schluchzend schloß sie mich in die Arme und bedeckte mein zerschundenes Gesicht mit heißen Küssen. Ich hielt still. Die Zärtlichkeiten, mit denen sie mich überschüttete, taten mir irgendwie gut. Sie waren wie Medizin. Jedenfalls ließen meine Schmerzen augenblicklich nach. Die Stimme des Professors katapultierte uns in die Realität zurück. »Eine Wolke«, sagte er rauhhalsig. »Ich denke, es wird Regen geben…« 59
* »We Love You! We Lo-hoho-ve You-hu!« Jens Kielmann bemühte sich, einfach nicht hinzuhören. Aber das war nicht so einfach. Der Ausfall des Gesichtssinns hatte die übrigen Sinne auf geheimnisvolle Weise geschärft. Er hörte wie ein Luchs. Fredi Metzlers Singsang dröhnte wie ein entfesselter Hagelschlag an sein Trommelfell. Bis eben hatte sein polterndes Gelächter die Kiste erfüllt. Jetzt zelebrierte der verwirrte Penner wieder Jagger-Songs aus den Sechzigern. Seit Stunden hatten Jens und die Frauen kein Wort mehr gewechselt. Gundula Pank wimmerte unablässig, und Wilma Wieting schwieg verbissen. Jens hatte ihr den Plan, den Penner als Fleischlieferant zu mißbrauchen, erst einmal ausreden können. Immerhin hatten sie kein Feuer und hätten ihn roh verspeisen müssen. Seit diesem Gespräch hatte sie kein einziges Wort mehr gesprochen. Zudem hatte sie ihr Lager ein Stück weiter verlegt. Jens war das recht. Er lag mit dem Rücken an der Kistenwand. Mit zusammengepreßten Lippen unterdrückte er das peinigende Hungergefühl. Um sich abzulenken, dachte er an die hübsche Smeraldina. Das Mädchen tat ihm leid. Seit seinem Verschwinden aus dem CineStar hatte sie sicher keine ruhige Minute mehr gehabt. Ob sie ihn geliebt hatte? Jens fuhr mit der Zunge über seine trockenen Lippen. Vor seinem geistigen Auge erschien Smeraldinas schlanke Gestalt. Das Mädchen trug einen knappen Bikini. Das Oberteil schien mindestens zwei Nummern zu klein. Smeraldina stand am Alten Strom in Warnemünde, hinter ihr schaukelten Fischerboote und Segelyachten auf den silbrig glitzernden Wellen. Jens sah, wie sie den Mund öffnete und ihm etwas zurief. Dann kicherte sie schelmisch. Aufreizend wackelte sie mit ihren Hüften. Obwohl sich einige Spaziergänger in der Nähe befanden, löste sie mit einem 60
Mal ungeniert den Verschluß ihres Büstenhalters. Sie tat es ganz langsam, wie im Zeitlupentempo… Plötzlich spürte Jens eine glühende Hand auf seinem Oberarm. Erschrocken fuhr er zusammen. »Warum keuchst du so?« fragte ihn Gundula Pank. Jens erstarrte. »Ich, habe gerade an etwas denken müssen«, seufzte er. »An eine Frau?« »Ja. Ich habe daran gedacht, wie es wohl Smeraldina geht. Sie ist meine Freundin.« Die heiße Hand begann, auf seinem Arm auf- und abzugleiten. »Ist sie hübscher als ich?« hauchte ihm Gundula ins Ohr. Jens schluckte. »Naja…« »Welche Haarfarbe hat deine Freundin?« »Blond.« »Ich habe auch blonde Haare. Möchtest du sie mal berühren?« »Aber…« »Faß sie ruhig an. Ich mag es, wenn jemand meine Haare streichelt.« Ein längst vergessenes Gefühl rührte sich in Jens. Peinlich berührt versuchte er, es zu unterdrücken. Die Situation war bizarr. Er lag an der Seite einer hübschen Frau in einer Kiste, hundertfach verkleinert: Zudem hungerten sie, und vor einigen Stunden war gerade ein grauenvoller Mord geschehen. Da konnte man doch nicht an Sex denken. Oder? Jens kämpfte mit sich. Hm, warum eigentlich nicht? Möglicherweise starben sie bald. Da war es doch wohl erlaubt, sich ein letztes Mal zu vergnügen und somit abzulenken. Oder tat man in ihrer Situation solche Dinge nicht? Jäh spürte er, wie Gundula seine Hand ergriff und diese an ihren Kopf führte. Sie legte ihr Gesicht in seine Handfläche. Mit den Lippen fuhr sie über seine Haut, als schmuse sie mit einem Kuscheltier. »Streichle mich, Lieber!« gurrte sie. Schnaufend tat Jens, wie ihm geheißen. Behutsam strichen seine Fingerkuppen über ihr erhitztes Gesicht. Als er hörte, daß die Frau immer schneller atmete, zog er fix seine Hand zurück. »Was hast du?« wollte sie wissen. 61
»Ich weiß nicht.« »Angst?« »Wovor sollte ich Angst haben?« Jens wischte sich die Schweißperlen von der Schläfe. »Dann streichle mich weiter. Es tut so gut.« »Wenn du meinst.« Suchend tastete Jens nach ihrem Gesicht. Unvermittelt ergriff Gundula sein Handgelenk. Jens Kielmann kam sich vor, als säße er in einem Backofen. Er spürte, wie die Frau seine Hand unbeirrt an ihrem Körper hinuntergleiten ließ. Nachdem sie ihr Wattefaser-Oberteil beiseitegeschoben hatte, lenkte sie seine Hand ohne Umschweife über ihren wogenden Busen. Jens fühlte, daß sich die erblühten Knospen ihrer Brustwarzen kräuselten. »Ich komme um vor Hitze«, japste er. Gundula Pank veränderte ihre Position. »Küß mich«, flüsterte sie. »Genier dich nicht!« Da gab Jens jeglichen Widerstand auf. Er neigte den Kopf, spitzte bereitwillig die Lippen zum Kuß - da wurde die knisternde Erotik zwischen ihm und Gundula durch einen markerschütternden Entsetzensschrei buchstäblich zerschmettert. »Helft mir!« schrillte Wilma Wietings Stimme aus nächster Nähe. »Das Ding will mir an den Kragen! So helft mir doch endlich…!« * Der Himmel öffnete all seine Schleusen. Als der erste Regentropfen neben mir zu Boden ging, spritzte mir eine Ladung Schlamm ins Gesicht. Ich rieb mir noch den Dreck aus den Augen, da schlug es wieder dicht neben mir ein. Die Tropfen hatten die Größe eines mittleren Fernsehapparates. Jeder Einschlag wie die Explosion einer Luftmine. Der Boden unter meinen nackten Füßen erzitterte. Berti und ich hechteten in Richtung unseres Steines. Auf allen vieren krochen wir in unsere Erdmulde. Mit vereinter Kraft rückten wir das Eichenblatt vor die Öffnung und stemmten uns dagegen. 62
Draußen war die Hölle los. Mit ohrenbetäubendem Getöse peitschten gewaltige Wassermassen auf die Erde nieder. Ich warf einen schnellen Blick zu den anderen. Tessa und Pia hatten sich in die hinterste Ecke unseres Unterschlupfes verkrümelt. Ihre Gesichter glichen Masken des Schreckens. Pia hatte fröstelnd die Arme über ihren Leib geschlungen. Ihre Pupillen waren kugelrund. Tessa starrte mit geballten Fäusten ins Leere. Der Professor lag dicht neben dem Eingang. Er schüttelte unablässig den Kopf, als wolle er partout nicht wahrhaben, was da draußen vor sich ging. »Ich könnte Sie umbringen, Sie Idiot!« blaffte ich ihn an. »Ihr gottverdammter Ehrgeiz wird uns alle ins Jenseits verfrachten.« Zacharias sagte nichts. Er zupfte an seinen langen Fingern, bis die Gelenke knackten. Dann bürstete er mit fahrigen Bewegungen über sein schwarzes Haar. Ein Anflug von Hochmut erschien in seinen Zügen. »Das Wasser wird größtenteils in der Erde versickern«, meinte Berti. »Vielleicht ist es bloß ein Husch.« »Ein Husch?« Ich starrte meinen Schulkumpel an. »Dieser Husch, wie du ihn nennst, ist die reinste Sintflut. Nicht lange, und das Wasser wird in unsere Behausung laufen. Wenn wir nicht jämmerlich ertrinken, dann werden wir eben jämmerlich erfrieren.« Berti Latotzki deutete auf Zacharias. »Bevor wir die Löffel abgeben, poliere ich unserem Freund aber noch mal ordentlich die Fresse!« Zacharias blickte auf. Seine Augen funkelten böse. »Latotzki!« brummte er. »Etwas mehr Anstand, wenn ich bitten darf. Sie benehmen sich wie ein Neandertaler.« Bertis Körper spannte sich wie eine Bogensehne. »Was sagen Sie da?« preßte er hervor. »Wer ist hier ein Neandertaler? Ich?« Zacharias nickte. »Ich gebe es Ihnen schriftlich, wenn Sie Wert darauf legen.« Mein Schulkumpel hatte die Nase voll. Bevor ich ihn zurückhalten konnte, ließ er das Eichenblatt los und federte zur Seite. 63
Auch Zacharias war aufgesprungen. Er hatte die Fäuste gehoben und erwartete zähnefletschend Bertis Attacke. »Sie dreckiger Psychopath. Ich werde Ihnen das Maul stopfen!« Berti zitterte vor Wut. Verdammt! Ich stand wie auf Kohlen. Das fehlte noch, daß Berti den Professor an den Kragen ging. Ich mußte etwas tun. Aber wie? Von draußen trommelte der Regen gegen unser Schutzschild. Sobald ich es losließ, würden Sturzbäche entfesselter Wassermassen in die Höhle fließen. Schon jetzt hielt ich dem gewaltigen Druck kaum noch stand. Ich sah, wie Berti zum Schlag ausholte. Da warf sich Tessa Hayden zwischen die kampfbereiten Männer. »Seid ihr verrückt?« schrie sie. »Uns steht das Wasser bis zum Hals. Und ihr? Ihr wollt euch herumbalgen! Das kann nicht euer Ernst sein.« Tessa verpaßte Berti einen derben Stoß vor die Brust. Er pumpte wie ein Maikäfer, ließ aber langsam seine Fäuste sinken. Auch Pia war aus ihrer Lethargie erwacht. Sie rappelte sich auf und schmiegte sich an Bertis Seite. »Sei nicht so streng zu ihm, Tess«, sagte sie. »Er ist zwar manchmal ein ungehobelter Klotz. Aber er meint es doch im Grunde genommen immer gut.« Berti hielt noch eine Weile den Blicken des Professors stand. Er schnaufte furchterregend. Dann grinste er breit. »Noch mal Schwein gehabt, Sie Eierkopp!« Zärtlich streichelte er Pias verfilztes Haar. »Aber das nächste Mal nehme ich Sie auseinander wie einen Stabilbaukasten.« Zacharias setzte sich wieder, sprang jedoch auf der Stelle wieder auf und starrte auf sein aus Grashalmen zusammengeschustertes Lager. »Wasser«, keuchte er. »Unsere Höhle läuft voll wie eine Badewanne.« »Großer Gott!« entfuhr es Tessa bestürzt. Ich hielt noch immer das Eichenblatt gepackt, auf das die riesigen Regentropfen wuchtig herabprasselten. Da spürte ich an meinen Füßen, wie es langsam naß und kalt wurde. Das einbrechende Wasser stieg in wahnsinnigem Tempo. Bald schon reichte es mir bis zur Wade. 64
»Wir müssen raus!« brüllte ich. »Wohin?« Pia schluchzte. »Nach draußen?« Mit einem Satz sprang sie in Bertis Arme, der sie instinktiv hochhielt. Ihr Kostüm ging dabei in die Brüche und entblößte ihren Oberkörper. Jetzt strömten die Wassermassen fast ungehindert in unsere Behausung. Wahrscheinlich konnte der Mutterboden nicht so schnell all das Wasser aufnehmen. Dann suchte sich das Wasser einen neuen Weg. Ratlos sahen wir uns an. »Nehmen Sie das Blatt beiseite!« forderte Zacharias. »Wir müssen hier raus. Und zwar sofort!« Berti erblaßte. »Draußen ist die Hölle los!« »Und hier drinnen das Schlaraffenland, wie?« Der Professor starrte ihn an. Aus Bertis Armen blickte Pia hilfesuchend in die Runde. »Was sollen wir denn nun machen?« quiekte sie. »Wie zwischen Scylla und Charybdis«, meinte Tessa. Professor Zacharias wandte sich mir zu. »Hellmann, nehmen Sie endlich das Ding, das Sie festhalten, weg! Bevor es zu spät ist und wir als aufgedunsene Wasserleichen hier herumschwimmen.« Wir standen bereits bis zu den Knien im Morast. Zacharias hatte sich vor mir aufgebaut. Jede Spur von Hochmut war aus seiner Miene verschwunden. Nackte Angst stand in seinem Gesicht. »Okay«, entschied ich. »Aber wenn ich das Schutzschild wegnehme, werden wir todsicher einen ungeheuren Druck aushalten müssen. Das Wasser wird uns mit aller Kraft in die Höhle mitreißen.« Zacharias nickte! »Egal. Zumindest versuchen müssen wir es.« »Wenn es schiefgeht«, flötete Pia, »sterben wir wenigstens gemeinsam, Berti.« »Unsinn«, schnaufte er. »Wir werden leben, Pia. Ich will nämlich noch 'ne Menge toller Stunden mit dir erleben. Kapiert, Süße?« Pia nickte glücklich. »Also los! Bleiben wir zusammen«, sagte ich. »Am besten Hand in Hand. Das ergibt einen größeren Widerstand.« Ich wußte, wie klein die Chance war, von den gleich hereinströmenden Sturzbächen nicht augenblicklich unter das Wasser gedrückt zu werden. Trotzdem rutschte ich langsam vom Eingang weg - und ließ los. 65
Prompt gab unser Eichenblatt-Schutzschild nach. Blitzschnell langte ich nach Tessa Haydens Hand und hielt sie fest umklammert. Da brach auch schon die Sintflut über uns herein! * »Bring mich nach Hause, Hans«, murmelte Margot Kielmann. Dr. K. streichelte behutsam ihre Hand. »Das geht nicht, Schwesterherz. Dein Zustand ist noch nicht stabil genug. Du mußt weiterhin in der Klinik bleiben.« Die Frau weinte. Ihr verschwommener Blick irrte durch das Krankenzimmer. Der Raum war hell und freundlich. Durch das große Fenster konnte man auf den angrenzenden Park mit seinen hundertjährigen Eichen, Birken und Buchen schauen. Die Sonne schien herein. »Aber zu Hause würde ich mich wohler fühlen«, seufzte sie. Margot Kielmann war eine Frau von vierzig Jahren. Ihr leichenblasses Gesicht war von schwarzen, lockigen Haaren umrahmt. Sie trug ein hellblaues, klinikeigenes Nachthemd und weiße Leinenstrümpfe. »Zu Hause wärst du ganz allein«, gab der Minister zu Bedenken. »Ich hätte mein gewohntes Umfeld. Obwohl…« Ihre Stimme wurde brüchig. »Obwohl Jens nie zurückkehren wird, so wie Bernhard nie zurückkommen wird.« Dr. K. verzog das Gesicht. Wortlos glitt seine „Hand über die seiner Schwester. Margot ist in dieser schrecklichen Woche um Jahre gealtert, dachte er. Lange hält sie die Strapazen nicht mehr aus. Die Medikamente werden immer mehr. »Du hast doch alles getan, nicht wahr?« Margot Kielmann sah ihren Bruder an. »Ja«, bestätigte er. »Alles Menschenmögliche .« »Und dieser junge Mann aus Weimar? Hat er auch nichts erreichen können?« Traurig schüttelte der Mann den Kopf. »Er ist unverrichteter Dinge wieder abgereist, hab ich recht?« »Du solltest dich nicht unnötig aufregen, Margot.« Die Frau richtete sich auf. Beschwörend sah sie ihren Bruder an. »Sag mir endlich die Wahrheit, Hans! Die ständige Ungewißheit 66
ist ja bald schlimmer als alles andere. Was ist mit Mark Hellmann?« Dr. K. seufzte gedankenverloren. Sollte er Margot tatsächlich erzählen, was passiert war? Daß Mark Hellmann auf ebenso phantastische Weise spurlos verschwunden war wie Jens? Die Spezialisten der SOKO standen vor einem Rätsel. In der Kunsthalle hatten sie lediglich die Kleidungsstücke und persönliche Dinge der Vermißten aufgestöbert. Nach Aussagen einiger Ausstellungs-Assistenten waren mit Mark Hellmann eine Polizistin namens Tessa Hayden, der bekannte Professor Aron Zacharias und ein Mann und eine Frau verschwunden, mit denen Hellmann befreundet war. »Hans?« »Hast du einen Wunsch, Margot? Ich werden nach der Schwester klingeln.« »Was ist mit Mark Hellmann?« Die Kranke ergriff seine Hand, drückte sie, so fest sie konnte. »Man munkelt, dieser Mann sei eine lebende Legende. Er soll schon mit Kreaturen gekämpft haben, die geradewegs aus der Hölle gekommen sind. So ein Mann gibt doch nicht so einfach auf.« »Richtig«, flüsterte Dr. K. »Mark Hellmann wird nicht aufgeben.« »Ich flehe dich an, Hans. Die Wahrheit, bitte!« Der Minister räusperte sich unwohl. Wenn er seiner Schwester jetzt reinen Wein einschenkte, könnte es schlimme Folgen haben. Ihr ohnehin schlechter Zustand könnte sich drastisch verschlimmern. Doch andererseits hatte sie ein Recht auf die Wahrheit. Sanft strich er ihr eine Locke aus der Stirn. »Ich habe mit Mark Hellmanns Vater gesprochen«, sagte er dann leise. »Er ist ein Ex-Polizist und gehört zu der Gruppe seines Sohnes, die sich das Ziel gestellt hat, das Böse zu vernichten.« »Erzähl weiter. Ich bin stärker, als du denkst. Was hast du ihm gesagt?« »Ulrich Hellmann ist noch in Rostock. Ein Freund, der Vincent van Euyen heißt, ist bei ihm. Die Polizei hat Hellmann die persönlichen Sachen seines Sohnes ausgehändigt. - Margot, es ist unglaublich! Auch Mark Hellmann ist wie vom Erdboden verschluckt. Unter denselben Umständen wie Jens.« Margot Kielmann atmete tief durch. 67
Der Minister fürchtete schon, sie würde sich jetzt kolossal aufregen. Heimlich schielte er nach dem Knipser, um rechtzeitig das Pflegepersonal informieren zu können. Aber er hatte sich geirrt. Seine Schwester preßte gerührt seine Hand. Sie lächelte matt. Ungläubig sah er sie an. »Wieso freust du dich?« Die Kranke blickte geistesabwesend einer Fliege nach, die durch das Zimmer schwirrte. Dann richtete sie ihren Blick auf den fassungslos auf der Bettkante verharrenden Bruder. »Es ist noch nicht alles verloren«, wisperte sie. »Hans, ich bin eine Frau. Ich fühle jetzt ganz genau, daß Jens noch lebt. Ich glaube sogar, daß, wo auch immer sich Jens gerade aufhält, Mark Hellmann bei ihm ist.« »Glaubst du?« »Ja«, entgegnete sie leidenschaftlich. »Und du solltest auch daran glauben, Hans.« Er nickte. »Jetzt habe ich Hunger«, sagte sie. »Auf eine Orange.« Der Minister gehorchte. Nachdenklich nahm er eine Orange vom Nachttisch und begann, die Schalen der Frucht zu lösen. * Wie durch ein Wunder war es uns gelungen, aus der Höhle ins Freie zu kriechen. Der hereinströmende Wasserstrudel hatte uns zuerst in den hinteren Teil unserer Behausung zurückgeworfen. Wir drohten zu ertrinken. Doch es gelang uns, gegen die Wassermengen anzukämpfen. Schwimmend hatte ich den rettenden Ausgang als erster erreicht. Mit meinem Dornenschwert kappte ich einen meterlangen Grashalm und warf ihn meinen Leidensgefährten zu. Nacheinander zog ich sie ins Freie. Wir kletterten auf eine Pflanze und duckten uns unter eines ihrer großen, tiefgrünen Blätter. Der Regen ließ allmählich nach. Dennoch mußten wir höllisch aufpassen, keinen der Tropfen direkt auf den Schädel zu bekommen. 68
Berti kauerte, sich am baumstarken Stiel festklammernd, neben mir. Mit leisen Worten tröstete er Pia, die sich an seiner Brust ausheulte. Der Professor spähte zum Himmel. »Es wird schon wieder heller«, sagte er. »Nicht mehr lange, und die Dunkelheit bricht herein. Dann können wir wieder weitermarschieren.« Niemand ging darauf ein. Tessa rutschte näher zu mir heran. Sie zitterte vor Kälte. Als ich sie in den Arm nahm, nieste sie laut. »Mark, ich glaub, ich habe mich erkältet«, sagte sie. »Und ich dachte, ich wäre gegen Krankheiten immun.« Ich blickte sie an. Tessa war splitternackt, vom Scheitel bis zur Sohle. Wie wir alle. Die Haare stachen ihr wild vom Kopf. Ihr dreckverschmierter Körper war mit zahllosen Kratzern übersät. »Bist 'n tapferes Mädchen«, lobte ich sie. »Sobald es aufhört zu gießen, suche ich dir ein nettes Kleid aus. Wie wär's mal mit 'nem grünen? Würde verdammt gut in die Umgebung passen.« Tessa lächelte schwach. Sie schmiegte sich an meine Schulter. Fünf Sekunden später war sie eingeschlafen. »Wie weit müssen wir noch?« fragte ich Zacharias. Der Professor schob die Unterlippe vor. »Von der Kunsthalle bis Warnemünde waren es ungefähr achthundert Kilometer. Reutershagen, Marienehe und Schmarl haben wir hinter uns. Jetzt kommt Groß Klein. Wir müßten über die Gleise der Stadtbahn, um nach Lichtenhagen zu gelangen! Von Lichtenhagen bis Warnemünde sind es noch schlappe dreihundert Kilometer.« »Über die Gleise müssen wir? Ist das nicht zu gefährlich? Wenn der Zug kommt, sehen wir alt aus.« »Es hilft nichts. Wagen müssen wir es.« Ich deutete auf Tessa und Pia. »Die Frauen sind schon sehr schwach. Tessa ist zudem erkältet. Ich befürchte, der letzte Teil unseres Weges wird es in sich haben.« Zacharias blickte mich aufmerksam an. Ich sah, wie seine Augen zu Eissplittern wurden. »Wer nicht mehr kann, wird zurückgelassen, Hellmann«, versuchte er zu bestimmen. »In unserer Situation können wir uns keine Gefühlsduselei leisten. Die Zeit ist kostbar. Wir müssen in mein Labor, um jeden Preis. Ich brauche Ihnen ja nicht den Grund zu erläutern!« 69
»Sie Schwein«, murmelte ich und drückte Tessa fester an mich. »Was sind Sie bloß für ein Mensch?« Zacharias grinste verächtlich. Dann schaute er einfach weg. Die Stunden vergingen. Das Unwetter hörte auf. Es wurde dunkel, und wir kletterten aus unserem Versteck auf den Boden und setzten unseren beschwerlichen Weg fort. Vorher hatten wir uns neu eingekleidet. Tessa erlitt einen Hustenanfall, als ich ihr das versprochene grüne Kostüm überstreifte. Ich hatte es selbst angefertigt. Auch unsere Bewaffnung wurde erneuert. Mein Dornenschwert besaß nicht mehr die anfängliche Härte. Der Regen hatte es aufweichen lassen. Der Weg, der vor uns lag, war äußerst mühsam. Nur schleppend kamen wir vorwärts. Am Rande der Stadtautobahn tappten wir durch die Nacht. Riesige Autos brausten vorüber. Zum Glück in einiger Entfernung. Von Zeit zu Zeit erfaßten uns ihre gigantischen Scheinwerfer. Linkerhand sah ich riesenhafte Gebäude auftauchen. Sie schienen bis in den Himmel zu ragen. Ein Wohngebiet. Die berüchtigten Arbeiterschließfächer aus der Zeit des Arbeiter- und Bauernstaates. Nach Zacharias' Beschreibung mußte das Groß Klein sein. Ich sah hunderte erleuchtete Fenstervierecke. Der leise Wind trug den schwachen Geruch von Zivilisation herüber. Der Professor marschierte vorneweg. Hinter ihm Berti und Pia. Tessa und ich bildeten das traurige Ende des Trupps. Kein Wort wurde gesprochen. Bis der Professor irgendwann stehenblieb und sich umsah. Wir schlossen auf. »Es wird bald hell«, begann Zacharias. »Zeit, nach einem neuen Unterschlupf Ausschau zu halten.« »Einverstanden«, keuchte Tessa. »Ich bin ausgelutscht wie eine Eistüte.« Wir schlugen uns in die Büsche. Vor einem vier Meter hohen Felsen blieb Zacharias stehen. Er zeigte auf ein Loch darunter. »Eine Höhle«, meinte er. »Hier sollten wir den Tag verbringen.« Der Professor machte Anstalten, hineinzukriechen. Ich fuhr mir über das Stoppelkinn. »Sehen Sie sich vor, Zacharias. Solche Höhlen entstehen garantiert nicht von selbst.« »Angst, Hellmann?« spottete er und richtete sich wieder auf. 70
Selbstgefällig packte Zacharias seinen Speer, rammte ihn in das Loch und stocherte darin umher. Ich ließ Tessa los, wollte ihn zurückreißen, doch etwas war schneller. Ein wütendes Rasseln erklang. Mit einem gewaltigen Ruck wurde der leichtsinnige Wissenschaftler in das schwarze Loch hineingezogen. Seine Schreie fetzten uns um die Ohren. »Zacharias!« entfuhr es Berti. »Dieser eingebildete Fatzke hat sich mit einem Insekt angelegt…« Aus dem Inneren der Höhle ertönten Scheppern, Pfeifen, Klappern, Mahlen und immer wieder entsetzliche Schmerzenslaute. Ich biß die Zähne zusammen und mußte da. hinein. Ohne Zacharias waren unsere Chancen, lebend aus diesem Höllentrip herauszukommen, auf ein Minimum gesunken. Und Jens Kielmann würde auf ewig Verschollen bleiben. »Mark, nicht…!« Tessa hielt mich am Arm fest. »Was immer es ist, es wird dich umbringen.« Ich schüttelte sie ab. Als ich mich mit vorangestrecktem Schwert durch den Eingang schob, spürte ich heißen Atem in meinem Nacken. »Machen wir es alle!« raunte Berti Latotzki. Ein schwarzes Ungetüm mit zuckenden Antennenfühlern sprang uns entgegen. Es blieb keine Zeit zur Besinnung. Die Stimme des Professors war verstummt. Wuchtig stach ich mein Schwert in die Finsternis. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte eine schemenhafte Gestalt vor mir auf. Es blies mir seinen ekelhaften Atem ins Gesicht. Ich zog mein Schwert zurück. Es ging sehr schwer, weil widerlicher Schleim daran klebte. Was war mit Zacharias? Sein Brüllen war verstummt. War er tot? Instinktiv trieb ich mein Schwert ein zweites Mal in den Leib des Höllenwesens. Dann fühlte ich, wie ein harter Gegenstand auf meiner Schädeldecke explodierte. Meine Knie wurden zu Gummi. Ich versank in eine Wolke, die aus schwarzer Watte zu bestehen schien…
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* »Es ist ein Wurm!« krähte Wilma Wieting. »Ein riesiger Wurm! Er saugt sich an meiner Wade fest!« »Wie groß ist er?« brüllte Jens. »Nicht sehr groß. So lang wie mein Unterarm.« »Schütteln Sie ihn ab!« »Wie denn? Er klebt an mir wie ein Blutegel.« »Verpassen Sie ihm einen kräftigen Tritt! Dann läßt er schon los.« »Igittegitt!« »Haben Sie's geschafft?« Jens Kielmann war aufgesprungen, versuchte festzustellen, aus welcher Richtung Wilma Wietings Stimme kam. »Bleib bei mir!« Gundula Pank klammerte sich an ihm fest. »Geh bitte jetzt nicht weg. Es war so schön zwischen uns.« »Ich ekle mich entsetzlich vor dem Vieh!« schrie die Putzfrau. »Nur Mut! Geben Sie ihm die Kante!« feuerte Jens die Frau an. »I Can't Get No!« röhrte der Penner dazwischen. »Satisfaction, ohoho, Satisfaction!« Jens befreite sich aus Gundulas Griff. Enttäuscht sank sie zurück. Unbeirrt tappte er durch die nachtschwarze Dunkelheit. Unterwegs stieß er mit dem Fuß an einen Gegenstand. Es war ein steinharter Brotkrumen. Groß wie ein Kinderkopf. Jens überlegte: Wenn man ihn ins Wasser legte, würden sie ihn essen können. Rasch hob er ihn auf und ging weiter. Ein merkwürdiges Geräusch erklang. Als würde die Luft aus einem Ball gelassen. Kurz darauf sprudelte Flüssigkeit. Dumpfes Stampfen erklang. »Was ist?« fragte Jens. »Haben Sie dem Quälgeist den Garaus gemacht?« »Ich denke ja. Ich hab das Ekelpaket zu Brei getreten«, japste die Putzfrau. »Es ist alles in Ordnung.« Jens atmete auf. Im selben Atemzug bekam er eine schallende Ohrfeige. Er prallte zurück, rieb sich die schmerzende Wange. Schauerliches Gelächter erfüllte die Kiste. »Let's Spend The Night Together«, quäkte der Penner. 72
Nicht mehr lange, dann kriege ich auch 'ne Macke, dachte Jens. Wenn wir nicht bald hier herausgelassen werden, sehe ich schwärzer als schwarz. Er tastete sich zum Wassernapf vor. Dort angekommen, kniete er sich nieder und tunkte den Brotkrumen in das faulig riechende Naß. Ich werde das Brot aufteilen müssen, ging es ihm durch den Kopf. Schließlich hungern wir alle. * Als ich aufwachte, brummte mein Schädel, und meine Arme und Beine waren schwer wie Blei. Das Untier, das Zacharias aufgestöbert hatte, schien mir übel mitgespielt zu haben. Ich lag rücklings auf einem Polster aus duftenden Blüten, unter meinem Kopf ein zusammengerolltes Pflanzenteil. Es war dunkel, und ich war allein. »Tess?« Niemand antwortete. Ich richtete mich auf. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis. Ich befand mich in einer Art Felsengrotte. Alle Wände waren aus zerklüftetem Stein. Es stank penetrant nach Aas. Neben meinem Lager ertastete ich mein Dornenschwert. »Tessa?« Wieder nichts. Hatten sie mich zurückgelassen? Ich kratzte an meinem Bart. Nein, das würde Tessa Hayden nie tun. Dem Professor hätte ich das schon eher zugetraut. Aber Tessa? Nur mühsam kam ich auf die Beine. Ich benutzte mein Schwert als Krücke, während ich zum Ausgang humpelte. Und dabei spähte ich hinaus ins Freie. Irgendwo zwischen den baumhohen Gräsern rührte sich etwas. »Tessa! Berti!« rief ich. »Wo steckt ihr?« Berti Latotzki tauchte auf. Sein Gesicht war zerschrammt, dreckbespritzt und irgendwie ohne Hoffnung. »Mark«, sagte er kopfschüttelnd, »der Professor…« Ich wurde hellhörig. »Was ist mit ihm?« 73
»Es ist schauderhaft. Hätte ich es nicht selbst gesehen, ich hätte es nie für möglich gehalten.« »Hat ihn das Mistvieh aus. der Höhle erledigt?« Ich stand starr. Berti ließ den Kopf hängen. »Schlimmer.« »Hast du die Kreatur wenigstens abserviert?« Stumm deutete Berti auf einige Körperfetzen, die ringsum im Gras verstreut lagen. An manchen war noch ein Teil eines abgehackten Beines. An einem Teil sah ich die mörderischen Kiefer des Ungeheuers, groß wie ein Elchkopf und metallisch schimmernd. Die Reste eines glänzend gelben Chitinpanzers deuteten darauf hin, daß wir es mit einer Wespe zu tun gehabt hatten. »Hab den Kumpel in seine Baugruppen zerlegt«, sagte Berti. Aber in seiner Stimme klang kein Stolz mit. Alarmstufe Rot! Wenn Berti sein eigenes Licht unter den Scheffel stellte, mußten dem Professor tatsächlich furchtbare Dinge widerfahren sein. Ich schleppte mich an Berti vorbei, bog einige im Wind rauschende Grasstämme beiseite und stand kurz darauf vor dem entsetzlich zugerichteten Körper des Professors. Tessa und Pia kniete neben ihm. So gut es ging, versuchten sie, seine Schmerzen zu lindern und die Wunden zu verbinden. »Was ist passiert?« fragte ich. Zacharias lag verkrümmt auf dem Boden. Sein aristokratisches Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Von der Schläfe bis zum Kiefer klaffte ein Riß. Auch im Brustbereich hatte er tiefe Schnittverletzungen. Um die Wunden herum begann sich flaumiger Schimmel auszubreiten. Ich sah, daß sein rechter Fuß fehlte. Als mich der Professor bemerkte, hob er den Kopf. »Hätte wissen müssen, daß die Höhle besetzt ist«, murmelte er. Ich nickte. »Es ging zu schnell. Ich hab Sie nicht mehr zurückhalten können.« »Ich bin manchmal eben zu impulsiv.« Zacharias stöhnte vor Schmerz, als er die zerfurchten Ränder seiner Brustwunde aufdrückte. »Um Himmels willen!« schrie Pia und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Sehen Sie, Hellmann«, japste Zacharias. »Schauen Sie mal da 74
hinein!« Ich reckte mich und sah tief in seinen Eingeweiden ein faustgroßes, eierförmiges Gespinst. »Das Teufelsding hat sofort reagiert, kaum daß ich bei ihm reingeschneit bin. Es hat schnurstracks seine Eier in mich hineingelegt…« »Sie dürfen nicht soviel reden«, meinte Tessa. Zacharias bekam einen Hustenanfall. Es war nur schwer mit anzusehen, wie er sich quälte. Unwillkürlich fragte ich mich, ob wir übrigen auf ähnliche Weise sterben würden. Wenn der Professor hier und heute endgültig das Zeitliche segnete, sanken unsere Chancen, jemals wieder unsere normale Gestalt zu zurückzugewinnen, rapide. Ich riß mich zusammen. »Wir werden eine Trage bauen«, schlug ich vor. »Dann marschieren wir weiter, nach Warnemünde, in Ihr Labor.« »Ich werde sterben, Sie Ignorant!« zeterte der Professor. »Sehen Sie nicht, wie schlecht es um mich bestellt ist?! Wollen Sie mit einer Leiche durch die Gegend ziehen?« »Sein Sie ein Mann, Zacharias!« forderte ich ihn auf. »Noch sind Sie am Leben. Wir werden Sie jetzt betäuben und Ihnen den Schmarotzer aus dem Leib schneiden. Dann nähen wir Sie zu. Das muß einfach klappen.« Der Professor zappelte wie ein Wahnsinniger. Sein leichenfahles Gesicht färbte sich rot. »Operieren wollen Sie mich?« kreischte er. »Womit, frage ich Sie? Mit Ihrem Dornenschwert?« Kaltblütig prüfte ich die Klinge. »Scharf genug wäre es. Aber die Schneide ist zu breit.« »Hellmann! Zum Teufel, Sie sind vollkommen irre! Ich weigere mich partout, von Ihnen >operiert< zu werden.« Ich winkte ab. »Verbindet ihn weiter«, sagte ich zu Pia und Tessa. »Aber laßt seine Brustwunde frei. Darum kümmere ich mich!« Die Frauen standen mit offenem Mund da. »Mark«, hauchte Tessa, »ich kann mich nicht daran erinnern, daß du auch Medizin studiert hast…« »Richtig. Aber ich hatte mal eine Freundin, die sich für Medizin eingeschrieben hatte. Sie hat mich des öfteren mitgenommen, wenn Frösche zersägt oder Leichen geöffnet wurden…« 75
Zacharias hatte meine Worte mit Entsetzen verfolgt. Die Augen waren ihm dabei hervorgequollen. Er öffnete den Mund, um energisch zu protestieren. Doch die Aussicht, in Kürze von einem blutigen Laien wie mir operiert zu werden, war einfach zu viel für ihn. Seufzend fiel Professor Zacharias in Ohnmacht. »Okay«, sagte ich. »Da sparen wir glattweg den Anästhesisten…« Mit den flotten Sprüchen wollte ich mir die Angst nehmen, doch etwas Falsches zu tun. Aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Ohne Umschweife sah ich mich nach geeigneten Operationsinstrumenten um. * Vincent van Euyen kauerte auf einer schneeweißen Bank auf der Warnemünder Strandpromenade, kaute seine geliebten Katzenpfötchen aus Lakritz und schaute aufs Meer hinaus. Er wartete auf Ulrich Hellmann, der auf einen Sprung ins Hotel Neptun gegangen war. Der ehemalige Polizeibeamte wollte einige Erkundigungen einholen. Insgeheim bewunderte Vincent die Starrköpfigkeit, mit der Mark Hellmanns Adoptivvater strikt leugnete, daß sein Sohn verloren war. Es waren bereits vierzehn Tage vergangen. Und es hatte kein einziges Lebenszeichen von den Vermißten gegeben. Die SOKO hatte die Suche bereits eingestellt. Man begann sich damit abzufinden, daß die Verschwundenen nicht wieder auftauchen würden. Nicht so Ulrich Hellmann! Unermüdlich war der Fünfundsechzigjährige auf Achse. Trotz seiner verrenkten Hüfte und seines steifen Handgelenks. Verbissen klammerte er sich an jeden Strohhalm, war jener auch noch so winzig. Vincent langte erneut in die schwarz-gelbe Tüte. Seine Hand griff ins Leere. Der Fotoreporter erschrak. Auch das noch! Er schüttelte den Kopf. Ein Unglück kommt eben selten allein. Zornig zerknüllte er die Tüte und ließ sie in den Papierkorb, der 76
neben der Bank festgekettet war, fallen. Dann stand er auf. Er brauchte Nachschub. Und das so rasch wie möglich. Er wollte gerade zum Kiosk gehen, da erklangen schleppende Schritte hinter ihm. Ulrich Hellmann kam. Vincent sah dem verknitterten Gesicht des alten Mannes an, daß sein Gang umsonst gewesen war. Ulrich Hellmann wirkte müde und gereizt. Demnach hatte er nichts Neues erfahren. »Was jetzt?« fragte Vincent, als der Alte neben ihm stehenblieb. Ulrich blickte aufs Meer und schwieg. Gedankenschwer zupfte er sich am rechten Ohr. Plötzlich fiepte es unter seinem Sakko, doch er reagierte nicht darauf. »Ulrich«, sagte Vincent van Euyen. »Marks Handy. Jemand will dich sprechen.« Der alte Mann nickte geistesabwesend, zog das Handy aus der Tasche und drückte einen Knopf. »Ja. Hellmann?« Vincent sah, daß sich die Miene seines Freundes weiter verfinsterte. Ulrich Hellmann nickte zu den Worten des Anrufers und beendete schließlich das Gespräch, ohne ein weiteres Wort gesagt zu haben. »Wer war dran?« fragte Vincent wissensdurstig. »Dr. K.«, sagte Ulrich. »Dr. K. war dran.« »Was wollte er?« »Unwichtig.« »Ging es um seinen Neffen?« bohrte Vincent. »Ja. Um den auch.« Der Fotoreporter ließ nicht locker. »Gibt es neue Fakten? Neue Anhaltspunkte?« Ulrich Hellmanns Blicke schweiften von der gischtumsprühten Mole hinauf zum azurblauen Himmel, an dem nett anzusehende Schäfchenwolken entlangzogen. »Die Untersuchungen sind jetzt auch offiziell abgeschlossen. Man hat den Fall zu den Akten gelegt. Ergebnislos.« Vincent van Euyen schwieg bestürzt. Mechanisch glitt seine Rechte in die Hosentasche, in die vermeintlich vorhandene Lakritztüte. »Verdammter Mist!« fluchte er. 77
Ulrich Hellmann nickte. »Das kann man laut sagen.« Mit zusammengekniffenen Augen linste Vincent auf den Papierkorb, in dem seine leere Lakritztüte obenauf lag. Irgendwie erinnerte ihn die Farbe der Tüte an ein Insekt. Gelb und schwarz. Wespen sahen so aus. Er runzelte die Stirn und dachte nach. Plötzlich packte er Ulrich Hellmann an der Schulter. »Mich laust der Affe!« sprudelte er hervor. »Der Professor! Miniwelten! So hieß doch die Ausstellung in der Kunsthalle. Der Typ hat wahllos Gegenstände geschrumpft. Ich hab ein Foto in der Zeitung gesehen. Ein winziges Fernsehgerät. Würde prima in eine Puppenstube passen…« Hellmann musterte den Freund stirnrunzelnd. »Ja, und?« sagte er. »Glaubst du etwa, dieser Professor hätte etwas damit zu tun? Immerhin ist auch er von der Bildfläche verschwunden.« Vincent van Euyens Augen glänzten fiebrig. »Zum Kuckuck! Das ist es! Diesem Monstrum ist es gelungen, auch Menschen zu schrumpfen. Deswegen gibt es keine Spuren! Könnte es nicht sein, daß er sein Zaubermittelchen heimlich an irgendwelchen Probanden ausprobiert hat?« »Jeder weiß, dieser Zacharias kann nur tote Gegenstände verkleinern«, sagte Ulrich leise. »Und was, wenn er gelogen hat…?« »Vincent, alter Grützkopf, jetzt geht deine Phantasie mit dir durch. Kein Mensch kann Menschen schrumpfenlassen. Zwerge gibt's nur bei Jonathan Swift oder in den Filmstudios von Hollywood.« »Und wenn doch?« »Du - du spinnst!« murmelte Ulrich. Seine Stimme klang mit einemmal unsicher. Vincent van Euyen sah, daß im zerklüfteten Gesicht des alten Mannes ein Hoffnungsstrahl aufblitzte. Schon zog Ulrich Hellmann das Handy hervor. »Dr. K.?« fragte Vincent. »Du sagst es.« Der Fotoreporter grinste zufrieden. Auch deshalb, weil sie den Kiosk fast erreicht hatten… * 78
Die Operation war gut verlaufen. Ich hatte Zacharias die Wespenbrut aus seinen Eingeweiden entfernt und die klaffende Wunde anschließend vernäht. Tessa und Pia hatten assistiert. Anschließend bastelten wir eine Trage. Material gab es in Hülle und Fülle. Im Nu war das Teil fertig. Dann rüsteten wir zum Aufbruch. Der Professor war noch nicht wieder bei Bewußtsein. Aber er war ein zäher Brocken. Wir waren sicher, er würde dem Tod noch einmal von der Schippe springen. Der Kerl war uns das einfach schuldig, nach dem, was er uns angetan hatte. Der Abend dämmerte, und wir zogen los. Berti und ich trugen den Professor. Tessa und Pia liefen zu beiden Seiten der Trage nebenher. Die Stimmung war gedrückt, und Berti versuchte, uns mit Witzen abzulenken. »Kennt ihr, den, wo sich Ulbricht und Kiesinger treffen?« »Das ist doch kein Witz«, sagte ich. »Denn die beiden haben sich nie getroffen.« »Erzähl schon, Berti!« flötete Pia. »Also gut. Sperrt eure Löffel auf: In den Sechziger Jahren stand die DDR im Ruf, im Schnapsverbrauch europaweit an erster Stelle zu liegen. Ulbricht wollte das nicht wahrhaben. Er schlug Kiesinger, dem damaligen Bundeskanzler, vor, daß dieser jeden DDR-Bürger, den er betrunken traf, erschießen dürfe.« »Ach du Schreck!« entfuhr es Pia. »Kiesinger bekam also eine Kalaschnikow umgehangen und inspizierte die Kneipen. Was soll ich sagen? Schon in der ersten Kaschemme wurde er fündig. Alle waren voll wie die Haubitzen. Kiesinger pumpte sein Magazin leer und ging in die nächste Kneipe, wo sich das Trauerspiel wiederholte.« Berti machte eine Kunstpause. »Wie ging es weiter?« Pia war Feuer und Flamme. »Jetzt war Walter Ulbricht an der Reihe. Mit einer MPi unterm Mantel betrat er die erste Kneipe im Westen. Alle nüchtern! Ulbricht erschrak. Schnell marschierte er ins nächste Wirtshaus. Wieder alle nüchtern! So ging es am laufenden Band. Ulbricht war fix und foxi. Da - endlich hörte er aus einem Nebenraum einer 79
Kneipe hemmungsloses Gelächter und Lallen. Ulbricht stieß die Tür auf, hielt seine Knarre rein und ballerte, was das Zeug hielt. Es gab keinen Überlebenden. Die Schlagzeile am nächsten Tag war größer denn je. Sie lautete: Spitzbärtiger Gauner erschoß DDR-Delegation!« Berti wollte sich totlachen. Auch Pia grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Über den eigenen Witz lacht es sich immer noch am besten«, feixte Tessa Hayden. Ein Schrei. Ich fuhr herum. Pia hielt die Hände vors Gesicht. Durch die Schlitze der Finger stierte sie auf den leblosen Körper des Professors. »Da…«, hauchte sie. »Zacharias! Es sieht fast so aus, als würde sein Fuß nachwachsen.« Wir setzten die Trage ab und untersuchten den Fuß des Professors. Pia hatte fast richtig getippt. Aus dem Stumpf des Beines wuchs jedoch kein neuer Fuß, sondern ein schwarzes, behaartes Etwas, das wie eine Greifklaue aussah. Es hatte ein buschiges Ende, aus dem kleine Röhren hinausstachen. »Verdammt!« Berti sah mich an. »Wenn das keine Saugröhren sind, will ich nicht mehr Berti Latotzki heißen!« Ich nickte stumm. Mit dem Professor geschahen merkwürdige Dinge. An manchen Körperpartien bekam er schwarze Borsten. Seine Hautfarbe ging ins Gelbliche über. Verwandelte sich Zacharias in ein Insektenwesen? »Egal«, sagte ich. »Wir müssen weiter.« Da schlug der Professor die Augen auf. »Wo bin ich?« krächzte er. »Auf dem langen Marsch nach Warnemünde«, gab ich zurück. Er räkelte sich unwohl, kratzte sich am Bauch und zog sich einen Fladen Haut ab. Mit schreckgeweiteten Augen ließ er es vor seiner Nase pendeln. »Wir müssen einen Zahn zulegen, Hellmann! Jetzt zählt jede Minute!« Berti und ich wechselten bedeutsame Blicke. Wir nahmen die Trage auf und verschärften das Tempo. 80
Bis vor uns eine unendlich lange Mauer auftauchte. Das fahle Mondlicht ließ sie metallisch schimmern. »Die Schienen der Stadtbahn«, sagte Zacharias. »Wir müssen sie überqueren. Dann ist es nicht mehr weit.« »Augenblick mal!« Ich legte ein Ohr an den Schienenstrang. »Wenn ein Zug im Anmarsch ist, müssen wir uns in die Büsche schlagen.« Ich horchte eine Weile. »Und? Rührt sich was?« »Nein. Nichts zu hören. Wir können rüber.« Ein paar Minuten später lag das Hindernis hinter uns, und die Lichter von Warnemünde kamen in Sicht. Neue Hoffnung keimte in mir. Irgendwie hatte ich das Empfinden, daß sich alles wieder einrenken würde. Der Professor würde ein Antiserum finden, und wir alle wären bald wieder richtige Menschen. Zudem würden wir die Gefangenen befreien, die Zacharias in eine Kiste gesperrt hatte. Nicht mehr lange, und Jens Kielmanns Mutter würde ihren Sprößling wieder in die Arme schließen können. Erst dann wäre mein Auftrag erfüllt. Doch wenn man den Professor so ansah, konnten einen schon Zweifel befallen. Noch ahnte ich nicht, daß uns allen das furchtbarste Erlebnis noch bevorstand! * Wir waren angekommen. Die Alexandrinenstraße, in der Zacharias wohnte, verlief parallel zum Alten Strom. Die gigantisch hohen Fassaden der Gebäude schienen mit dem nachtblauen Himmel zu verschmelzen. »Halt!« rief der Professor plötzlich und deutete auf einen riesigen Steinhaufen. »Hier wohne ich. Im Schlafzimmer ist das Fenster nur angekippt. Dort können wir bequem hindurchschlüpfen.« Berti und ich ließen die Trage sinken. »Und?« fragte Tessa. »Wie kommen wir dort hinauf? Es sind gut und gern dreihundert Meter. Wir können zwar springen wie die Flöhe, aber in das Fenster hineinspringen? Das erscheint mir doch 81
etwas zu phantastisch.« Ich zwinkerte Tessa zu. »Wart's ab.« Ich ergriff mein Dornenschwert und streichelte vorsichtig die glitzernde Klinge. Vielleicht das letzte Mal würde es mir einen unschätzbaren Dienst erweisen müssen. Möglicherweise den wichtigsten überhaupt. Während sich die anderen in eine Gehsteigfuge drückten, ging ich ein Stück beiseite, schaute mich um und lauschte angespannt. Flügelrauschen. Mein Schwert gepackt, näherte ich mich dem Geknatter. Bisher waren die Insekten unsere gefährlichsten Gegner gewesen. Jetzt würde ich sie dazu zwingen, uns einen Gefallen zu tun… Da - eine Fliege! Es war ein kleines Exemplar, nicht größer als ein Geschirrspülautomat. Es flatterte durch die Luft und setzte sich in meiner Reichweite auf den Boden. Dort begann es, seine Vorderbeine aneinanderzureihen. Wild entschlossen griff ich an. Das Insekt schien völlig überrascht. Bevor seine Komplexaugen mein Auftauchen ankündigten, wirbelte mein Schwert durch die Luft. Zwei abgehackte Fliegenbeine fielen zu Boden. Vor meinen Füßen blieben sie liegen. Während das Insekt eiligst davonschwirrte, raffte ich die Beine auf und trug sie zu meinen Gefährten. »Paßt gut auf sie auf!« Fassungslos starrten sie mich an. Erneut ging ich auf Jagd. Als ich ein Dutzend der klebrigen Fliegenbeine erbeutet und sie säuberlich aufgeschichtet hatte, löste ich das Rätsel. »Wir werden uns die Saugröhren an Händen und Füßen befestigen. So kommen wir die Fassade hinauf.« Die Idee war mir gekommen, als ich während unseres Marsches bemerkt hatte, daß der neue Fuß des Professors ständig irgendwo haften geblieben war. Meine Gefährten waren begeistert. Im Handumdrehen wurde mein Vorschlag in die Tat umgesetzt. Mit Grasfasern banden wir uns die Saugnäpfe an die Gliedmaßen. 82
Dann kletterten wir die Fassade empor. Zum ersten Mal nach langer Zeit betraten wir eine menschliche Behausung. »Mir ist zum Heulen zumute«, meinte Tessa gerührt. »Jetzt wird alles gut«, ergänzte Pia und drückte Berti einen Schmatzer auf. Durch die Türschlitze krochen wir von Raum zu Raum. Dann, endlich, waren wir am Ziel! Wir standen im Hauptlabor des Professors, im Center Court, wie er es nannte. Ich sah mich um. Wo war bloß die Tür, die in den Nebenraum führte? Dort, wo er Jens Kielmann und die anderen gefangenhielt? »Zacharias!« rief ich. »Wo stecken Sie?« Berti zuckte die Achseln. »Vorhin war er noch da. Er kroch direkt hinter mir unter den Türen durch.« Keine Spur von Zacharias. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Hilflos sahen wir uns an. »Ohne ihn sind wir geliefert«, schnaufte Berti. Jäh ertönte ein ohrenbetäubendes Surren über unseren Köpfen. Mir gefror das Blut in den Adern. »Zacharias!!!« kreischte Pia. »Er kann fliegen!« Genauso war es. Zacharias war zum Insekt mutiert. Die Haut des Wissenschaftlers hing in Fetzen herab. Ihm waren lange, durchsichtige Flügel gewachsen. Sein Gesicht befand sich in Auflösung. Aus seiner Stirn stachen zwei Antennenfühler. Seine Mundpartie war einem furchterregenden Wespenkiefer gewichen. Nur seine Augen und seine Nase waren noch menschlich. Aber, was das Schlimmste war: Er besaß einen kolossalen Giftstachel, den er im Flug drohend schwenkte. Brummend schoß Zacharias auf uns zu. »Deckung!« schrie Berti und riß Pia zu Boden. Ich beobachtete Tessa. Sie stand da wie angenagelt. Ich riß sie beiseite. Wie ein Wahnsinniger wirbelte ich mein Schwert durch die Luft. Zacharias drehte ab. Er setzte sich auf den Tisch und pendelte mit seinen Fühlern. »Ihr könnt anfangen zu beten«, zischte er. Ich konnte erkennen, daß er noch etwas sagen wollte, aber es 83
offenbar nicht mehr konnte. Statt dessen spritzte Geifer aus seinem Schlund. Zähflüssig quoll es über die Tischplatte und tropfte auf den Boden. Vor Entsetzen krallten wir uns in die Fasern des Teppichs. Er stieg erneut auf. Er flog eine Runde durch das Zimmer und verfolgte uns lauernd. Dann fiel er wie ein Stein auf uns herab. Ich parierte seinen Angriff mit einem kräftigen Schwerthieb. Er kreischte vor Wut, während er über uns hinwegflatterte. Berti hatte sich aufgerappelt und stieß mich an. Er hielt einen zwei Meter langen Holzspeer in der Hand. »Versuch's mal damit!« wisperte er. Schnell wechselte ich die Waffen. In derselben Sekunde schoß Zacharias abermals auf uns zu. Jetzt! Der Speer zischte davon - und bohrte sich den gefleckten Leib des Ungetüms. Die Wirkung war unbeschreiblich. Ein Getöse, als hätte man einen Kürbis aus der obersten Etage eines Wolkenkratzers auf das Straßenpflaster geschleudert. Das, was von Zacharias übrig war, zerplatzte. Es spritzte fast bis an die Decke. Dann polterten seine Überreste zu Boden. Professor Aron Zacharias war tot. Einen Moment lang herrschte Grabesstille. »Ein guter Wurf«, kommentierte eine Stimme. Verdutzt sah ich mich um. »Wer hat das gesagt?« Hinter dem Bein eines Stuhles kam eine Gestalt hervor. Bis auf einen aus Watte bestehenden Lendenschurz war sie unbekleidet. Ich schaute genauer hin. Es war ein junger Mann. Er übertraf uns an Körperhöhe um das Dreifache. »Ich bin Jens Kielmann«, sagte er. Freudig beugte er sich zu mir herab, um mir die Hand zu schütteln. Ich war baff. »Zum Henker, wieso bist du nicht genauso klein wie wir?« Jens Kielmann holte tief Luft. Seine Augen glitzerten erregt. »Ich schätze, die Wirkung des Serums läßt nach…«
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* Als uns die Polizei einige Tage darauf aus dem Labor holte, waren mein Vater und Vincent van Euyen bei ihnen. Immerhin hatte Vater die entscheidenden Schritte in die Wege geleitet. Und Vincent war der Urheber der Idee. Ich war stolz auf die beiden. Inzwischen waren wir wieder richtige Menschen geworden. Mit jeder Minute, die verstrich, waren wir gewachsen. Jedoch alles, was wir erlebt hatten, würde sich für immer in unser Gedächtnis eingraben. Dr. K. war überglücklich, als er seiner Schwester Margot den Sohn wiederbringen konnte. Auch eine hübsche Blondine, die Smeraldina hieß, heulte Rotz und Wasser, als sie ihren Freund in die Arme schließen konnte. Jens hatte sich als überaus tapferer Bursche erwiesen. Es war ihm gelungen, sich aus der Kiste, in der er gefangengehalten wurde, zu befreien. Übrigens mit Hilfe von Saugfüßen, die er einer Fliege abgeknöpft hatte… Auch zwei Frauen und ein verwirrter Penner hatten, wenn auch total abgemagert, überlebt. Noch heute klingt mir der schauerliche Singsang von Fredi Metzler in den Ohren »I Can't Get No…« Ach ja, mein Ring, er war tatsächlich in ehrliche Hände gefallen.
ENDE Ein sonderbares Schmatzen ertönte. Bolle fröstelte vor Angst. »Noch können wir umkehren«, wisperte er. Sein Bruder drehte sich um.»Halt endlich dein dummes Maul, du Flachzange! Wenn du Schiß hast, dann hau doch ab zu Mami dich ausheulen.« »Ich hab keinen Schiß«, schwindelte Bolle. »Brauchst du auch nicht. Unser Alter ist tot. Er kann uns nichts mehr tun. Außerdem wollen wir nur den Lottoschein aus seiner Jacke holen.« Während die beiden Halbstarken das Grab aufbuddelten, merkten sie gar nicht, daß sie einem Ghul den Weg in die Freiheit bahnten.
Torturus kehrt zurück! 85
Und er hat bereits große Pläne, wie er die neugewonnene Freiheit nutzen will, um Böses zu verbreiten! - Holt Euch C.W. Bachs 30. >Mark Hellmann<-Roman!
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