Gabor Steingart
Deutschland-Der Abstieg eines Superstars
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Gabor Steingart
Deutschland-Der Abstieg eines Superstars
scanned by unknown corrected by bw MODELL DEUTSCHLAND Ein Nachruf. Unser Gemeinwesen ist akut bedroht. Das Modell Deutschland hat aufgehört zu funktionieren – unwiderruflich. Gabor Steingart, Leiter des Hauptstadtbüros des SPIEGEL, zeigt: Der Abstieg Deutschlands hat, zunächst unmerklich, vor langer Zeit begonnen. Trotz aller Reformanstrengungen beschleunigt sich das Tempo des Niedergangs. Deutschland, einst das reichste Land des Kontinents und weltweit ein Vorzeigestaat, ist jetzt der »kranke Mann Europas«. Dennoch: »Der Wiederaufstieg des Landes ist machbar«, lautet Steingarts Botschaft. Aber dieser Neubeginn kommt einer zweiten Staatsgründung nahe. Und: Er wird vielen vieles abverlangen. ISBN: 3-492-04615-0 Verlag: Piper Erscheinungsjahr: 2004
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Buch Nachdem der Sozialismus auf deutschem Boden gescheitert ist, ist nun auch das heutige System der Sozialen Marktwirtschaft am Ende: Das »Modell Deutschland« verschwindet im Nebel der Geschichte – unwiderruflich. Auferstanden aus den Ruinen der HitlerJahre, weltweit beneidet, oft kopiert, hat es seit längerem schon aufgehört zu funktionieren. Das einstige Erfolgssystem hat sich selbst übersteuert. Gabor Steingart zieht eine pointierte und überraschende Schlußbilanz. Er analysiert Aufstieg und Absturz des Wohlfahrtsstaates, erzählt von Irrtümern, Mißverständnissen und den Bequemlichkeiten der politischen Elite. Alles zwingt uns zum Neustart. Vieles wird sich ändern in den kommenden Jahren: unsere Art zu arbeiten, zu leben, Politik zu machen. Die Summe der Neuerungen kommt einer zweiten Staatsgründung gleich. Das neue Deutschland – in diesem provozierenden Buch wird es sichtbar.
Autor
Gabor Steingart, 1962 geboren, studierte Volkswirtschaft und Politik in Marburg und Berlin und absolvierte die Georg-von-Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten. Seit 1990 arbeitet er beim SPIEGEL, ab 1995 als Ressortleiter Wirtschaft, im November 2001 übernahm er die Leitung des SPIEGEL-Hauptstadtbüros in Berlin.
Inhalt Einleitung...............................................................................5 Kapitel 1 Vom Aufstieg und Fall der Nationen..................9 Abstieg garantiert. Die Lektion der Kriegerstaaten...........10 Gnadenlos friedlich. Der Wettlauf zum Wohlstand ..........29 Kapitel 2 Deutschland.........................................................44 Der Abstieg eines Superstars Erste Notsignale .................45 Kernschmelze im Energiezentrum ....................................62 Die Fabrik der Arbeitslosen ..............................................98 Der überforderte Sozialstaat............................................116 Wohlstand ohne Wachstum.............................................122 Kapitel 3 Der deutsche Defekt .........................................138 Stalin und das deutsche Wirtschaftswunder....................139 Der Wohlfahrtsstaat neuen Typs .....................................149 Kapitel 4 Der Jahrhundert-Irrtum .................................179 Adenauers expansive Sozialpolitik .................................180 Verrechnet. Die neue Rentenformel................................194 Kapitel 5 Geisterstunde ....................................................201 Willy wählen! Entspannt in die Krise .............................202 Helmut Schmidt. Annäherung an die Wirklichkeit .........220 Kapitel 6 Aufbau-Ost durch Abbau-West ......................232 Reform nach Vorschrift...................................................233 Kohl II. ............................................................................239 Der Westen wird zur Kolonie des Ostens .......................244 Kapitel 7 Was tun?............................................................259 Auf den Kanzler kommt es nicht an................................260 Die zweite Staatsgründung..............................................268 Arbeit zuerst ....................................................................278 Die neue soziale Frage ....................................................290 Wer gewinnt? Wer verliert? ............................................297 Danksagung .......................................................................308 Literatur ......................................................................309
EINLEITUNG Deutschland steigt ab, seit vielen Jahren schon, erst schleppend und mittlerweile mit doch deutlich erhöhtem Tempo. Wie von Roboterhand gesteuert, verlässt das einstige Wirtschaftswunderland die Spitzengruppe der Volkswirtschaften. Ausgerechnet in dem Moment, in dem das wiedervereinte Deutschland sich auch international in einer neuen Normalität einfindet, ist diese schon wieder bedroht. Das »Modell Deutschland« – unsere Art, fleißig zu arbeiten und die Früchte dieser Arbeit gerecht zu verteilen – verschwindet im Nebel der Geschichte. Dabei hatten es die Deutschen mit ihm, nach allem, was die Vergangenheit für das Land sonst noch im Angebot hatte – den Militärstaat der Preußen und das expansive Kaiserreich, das formlose Gebilde von Weimar, die Hitlerdiktatur –, nicht so schlecht getroffen. Die Bewunderung, die uns weltweit zuteil wurde, ist dem Erstaunen und vielerorts bereits dem Entsetzen gewichen: Der Superstar a. D. wirkt nervös bis gereizt, mit den mangelnden Wachstumserfolgen ging ihm auch die Selbstgewissheit verloren. Der Politik, obwohl sie mit einer Vielzahl von Kabinettsbeschlüssen versucht gegenzusteuern, gelingt es kaum noch, die ökonomische Realität zu berühren. Auch Gerhard Schröder ist bisher ein Kanzler der permanenten Nachbesserungen, ohne dass damit schon erkennbare Verbesserungen der ökonomischen Lage verbunden waren. Die deutsche Volkswirtschaft sendet in immer kürzeren Abständen ihre Notsignale. Die offiziellen Wachstumszahlen vermitteln kein realistisches Bild der Lage. Statt, 5
wie offiziell behauptet, Miniwachstum und Stagnation erleben wir im produktiven Kern unserer Volkswirtschaft, dem eigentlichen Energiekern, seit einem Jahrzehnt schon einen Schrumpfungsprozess. Größer wird nur die Zahl derer, die sich von seiner Energie ernähren; bald jeder zweite Ostbürger lebt maßgeblich von Transfergeldern und 20 Millionen Rentner sind aus der laufenden Produktion mitzufinanzieren, da die Rentenkasse über keine nennenswerten Rücklagen verfügt. 4,5 Millionen Arbeitslose in diesem Winter und 2,7 Millionen Sozialhilfeempfänger kommen hinzu, die Fabrik und Großraumbüro für immer verlassen haben. Noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte hat es zwischen Leistungsempfängern und Leistungserbringern ein derart ungünstiges Verhältnis gegeben. Genau genommen sind wir Zeitzeugen eines in seiner Dramatik nicht zu unterschätzenden Vorgangs: Eine Kernschmelze im Innern des Produktionsprozesses hat begonnen, deren Tempo sich mit der Deutschen Einheit enorm beschleunigte. Die Annäherung der Wirtschaft-Ost an die Wirtschaft-West findet nur noch in Politikerreden statt, in der Wirklichkeit driften die beiden Teile Deutschlands seit mehreren Jahren auseinander. Zweifellos dominiert der Westen den Osten, politisch und kulturell. Ökonomisch allerdings ist Westdeutschland zur Kolonie des Ostens geworden. Aus der Substanz des Westens wurden seit dem Einheitsjahr unvermindert rund 1250 Milliarden Euro in die fünf neuen Bundesländer hinübergeleitet, das Geld dient dort ganz überwiegend dem Konsum unserer Landsleute, ist Hilfe fast ohne Selbsthilfe. Dieser Transferstaat scheint für die Ewigkeit gebaut. Es geht hier um die präzise Analyse der Vorgänge, im politischen Ruheraum, ohne die Begleitmusik der Nationalhymne: Wann begann jene Kettenreaktion, deren 6
Zerfallsprozesse wir heute erleben? Was waren die ersten Notsignale? Wer hat, und warum, falsch reagiert? Denn eine Wirtschaftsnation dieser Größe trudelt nicht von allein und nicht aufgrund fremder Einflüsse nach unten, weshalb hier auch nach den politisch Verantwortlichen gefragt werden soll. Die Probleme wurzeln tief in der deutschen Geschichte, zu erzählen ist daher eine Chronologie des Niedergangs. Wir schauen auf ehrgeizige Ministerpräsidenten und westliche Alliierte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gemeinsam den entscheidungsschwachen AntiFührer-Staat schufen. Dank einer weltweit einmaligen Verfassungskonstruktion, die wir zu Recht einen Deutschen Defekt nennen dürfen, sind wir das wahrscheinlich langsamste Staatswesen der westlichen Welt, wenig sprunghaft, frei von Exzessen, gründlich in jeder Hinsicht – auch in der, dass wir den Weg nach unten seit Jahren unbeirrt weitergehen. Der politischen Führung ist es bis heute nicht gelungen, angemessen, und das kann hier nur heißen wirkungsvoll, auf den deutschen Niedergang zu reagieren. Lassen wir uns nicht täuschen von dröhnenden Machtworten und kiloschweren Kabinettsbeschlüssen. In der ökonomischen Realität wurden bisher keine Siege errungen. Alle messbaren Aggregate drehten seit dem Amtsantritt der Regierung Schröder weiter in den roten Bereich: die Staatsverschuldung und die Arbeitslosigkeit pendeln auf Rekordniveau, die Innovations- und Wachstumsschwäche ist chronisch, der Sozialstaat wurde überdehnt. Das Ergebnis der Zerstörungsprozesse ist in den Vororten der Städte, in den Arbeiterquartieren, den öffentlichen Schulen und Verwaltungsgebäuden mittlerweile mit bloßem Auge zu erkennen. An eine erodierende öffentliche Infrastruktur und mehrere Millionen Arbeitslose haben wir uns 7
gewöhnt, an Vollbeschäftigung traut sich niemand mehr zu denken. Wider diese Verzagtheit soll hier der Versuch gemacht werden, einen anderen Entwicklungspfad zu beschreiben. Einen, der mehr Chancen für mehr Menschen verspricht, der den Energiekern des Landes vergrößert und so die anstehenden Veränderungsprozesse zumindest beherrschbar macht. Deutschland erlebt eine Wirtschaftskrise, die sich bisher noch nicht zu einer Krise der Demokratie entwickelt hat. Darin liegt eine Chance, die zu nutzen dieses Buch beitragen will. Der Wiederaufstieg des Landes ist machbar, wenn auch nur als Neubeginn, der vielen vieles abverlangen wird. Berlin, Februar 2004
Gabor Steingart
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KAPITEL 1 VOM AUFSTIEG UND FALL DER NATIONEN
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Abstieg garantiert. Die Lektion der Kriegerstaaten Deutschland war im vergangenen Jahrhundert führend, wenn es um das schnelle Absteigen ging. Zweimal, und beide Male wie im Rausch, sauste das Land der Nulllinie entgegen mit allem, was dazugehörte. Millionen konnten froh sein, dass sie wenigstens frieren und hungern durften, wo doch Millionen andere einfach auf den Schlachtfeldern liegen geblieben waren. Die Suche nach den Verantwortlichen war denkbar einfach, der Blick musste nur nach innen gerichtet werden: Kaiser Wilhelm II. hatte im Sommer 1914 mitgeholfen, einen der überflüssigsten Kriege der Weltgeschichte anzuzetteln. Ihm folgte, kaum war die Erschöpfung der Nation überwunden, Reichskanzler Adolf Hitler, der mit seiner Mord- und Selbstmordlust das Land ein zweites Mal in Folge den Abgrund hinunterjagte. Beide hatten den Aufstieg gewollt und den Absturz bekommen. Die Zivilbevölkerung war nach 1918 körperlich ausgezehrt und psychisch am Ende. Aus der blühenden, sich entwickelnden Bürgergesellschaft der Kaiserzeit war ein Volk geworden, das millionenfach verkrüppelt und in weiten Teilen geistig wirr dem nächsten Unheil entgegenstolperte. Der zweite Anlauf zur Weltherrschaft, knapp 20 Jahre später, endete noch schlimmer: Millionen Deutsche waren, weil der Krieg diesmal auch inmitten der Städte geführt wurde, auf das Niveau von Erdbebenopfern zurückgeworfen, viele mussten in Lumpen gehüllt ein Dasein in Bombenkratern und Hausstümpfen fristen. Es fehlten Trinkwasser, Strom und Lebensmittel, so dass im ersten Winter nach Kriegsende Hunderttausende verhun10
gerten und erfroren. Viele Wege führen nach unten, aber im vorigen Jahrhundert war die militärische Niederlage eindeutig der am häufigsten benutzte Pfad. Die Deutsche Wehrmacht wusste, wie man ihn ganz zu Ende ging. Andere auch: Nach dem Ersten Weltkrieg blieb das österreichischungarische Reich, das mit seiner präzise arbeitenden Militärmacht und dem byzantinischen Hofzeremoniell viele Zeitgenossen fasziniert hatte, für immer verschollen. Auch das zunächst stolze und zuletzt lebensmüde Preußen, die Keimzelle des Deutschen Reiches von 1871 und eine der bedeutendsten europäischen Mächte jener Zeit, hatte seinen Einfluss verloren. Offiziell wurde es erst 1947 von den Siegern des Zweiten Weltkrieges für »aufgelöst« erklärt. Aus dem sicheren Abstand der Vergangenheit wollen wir nun einen schnellen Blick auf das Treiben in Europa werfen, bevor wir uns auf Deutschland konzentrieren. Der unbedingte Aufstiegswille und die, oft genug berechtigte, Angst vor dem Niedergang der Nation sind keine Phänomene der Jetztzeit. Es lohnt sich, ein paar Jahrzehnte zurückzulaufen und dann mit großem Schwung auf die krisenhafte Gegenwart zuzusteuern. Vieles lässt sich aus der sicheren Distanz klarer erkennen. Wer wollte was und warum hat es so oft nicht geklappt? Wie kann man die auf- von den absteigenden Staaten unterscheiden? Warum sind gerade die Deutschen ein so unruhiges Volk, das Höhen und Tiefen in so extremer Weise durchlebt? Die Geschichte, sagt der Philosoph Karl Jaspers, erleuchtet das Gegenwärtige. Die gültige Währung für auf- und absteigende Staaten waren in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts das Blut und die Gebeine von Soldaten und Zivilisten, bevor man im Gefolge des Zweiten Weltkrieges zum friedlichen 11
Wirtschaftswettlauf und damit zur Geldwährung überging. Aber so weit war man eben noch nicht, in den ersten fünf Jahrzehnten kalkulierten die Mächtigen eindeutig anders als in der zweiten Halbzeit des Jahrhunderts. Die militärische Schlacht, das In-Marsch-Setzen von Panzerdivisionen, Fliegerstaffeln und später U-Booten sollte den Aufstieg besorgen. Wer den Nachbarn übertrumpfen wollte, überfiel ihn. Wer nach Weltherrschaft strebte, zettelte den Kampf aller gegen alle an. Es war die Zeit, als besitzen von besetzen kam. Die Erfahrungen der Spanier, Franzosen und Briten standen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts vielen als leuchtendes Beispiel vor Augen: Wer gründlich plünderte und brandschatzte, konnte in kurzer Zeit ein veritables Kolonialreich zusammenraffen. Die Geschichte war bis dahin, zumindest auf Seiten der Erfolgreichen, eine Geschichte von Invasionen und geglückter Unterwerfung gewesen. Der russische Revolutionär Lenin empfand denn auch in einer Mischung aus Bewunderung und Verachtung die imperialen Gepflogenheiten als die »höchste Stufe des Kapitalismus«. Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass es bei all dem martialischen Aufgebot vor allem um ökonomische Expansion ging. So war es in aller Regel ja auch: Das Militär schloss die Tür auf, die Regierungen und ihre heimischen Firmen brauchten nur noch hineinzustürmen, die Engländer nach Indien, die Deutschen nach Südwestafrika (heute Namibia) und Ost-Afrika (heute Tansania), die Spanier fielen in Südamerika ein, und sie alle kamen, um zu raffen, was zu raffen war: Gold, Zuckerrohr, Baumwolle, Eisenerz und vor allem die Arbeitskraft der Ortsansässigen. Die waren entweder willig oder sie wurden wie Freiwild gejagt. »Natürlich werden wir sie alle niedermähen«, protzte der junge Winston Churchill im fernen 12
Indien, als sich ihm Aufständische in den Weg stellten. Es sollte noch ein wenig dauern, bevor US-Präsident Richard Nixon 1971 mit großer Selbstverständlichkeit feststellen konnte: »Ökonomische Macht ist der Schlüssel zu den anderen Formen der Macht.« Denn die Welt zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war eben die Welt der Militärs, sie besaßen den Schlüssel, um alle anderen Formen der Macht zu erlangen. Zumindest glaubten sie das, und die Mehrzahl des Volkes, Intellektuelle und Sozialdemokraten eingeschlossen, glaubte es auch. Der Beginn der ersten großen Völkerschlacht des vergangenen Jahrhunderts war noch geprägt von romantischer Schwärmerei. »In der vergifteten, verblödeten Atmosphäre von Anno Domini 1914« (Golo Mann) war eine allgemeine Kriegseuphorie ausgebrochen, die auch jene erfasste, die normalerweise zu den Nachdenklichen im Lande zählten. »Der Krieg ist groß und heilig«, rief der Soziologe Max Weber. Als »Akt der Erlösung« empfand der Historiker Karl Alexander von Müller das Ausrücken der Militärs. Und auch Thomas Mann kannte kein Halten mehr, wie er später bereitwillig zugab: »Krieg! Es war eine Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.« Die Sozialdemokraten im Reichstag hatten den Kriegskrediten und damit der Eroberungsideologie zugestimmt wie die anderen Fraktionen auch. Die Genossen wollten mithelfen, den Aufstieg der Nation und damit den eigenen zu beflügeln. Die Entscheidung vom 4. August 1914 sollte der Partei den Rückhalt in der Gesellschaft sichern. Für die eigene Klientel, also Industriearbeiter und kleine Angestellte, so hoffte der Vorstand der SPD-Fraktion, ließe sich anschließend eine Kriegsdividende in Form steigender Löhne und sozialer Verbesserungen erzielen. Die 13
internationale Solidarität konnte warten, der Krieg war in den Augen auch der Sozialdemokraten die zeitgemäße Form, den eigenen Wohlstand zu mehren. Die Kumpanei mit der deutschen Schwerindustrie, die offen über neue Rohstoffe und zusätzliche Absatzgebiete spekulierte, schreckte nicht mehr. Wobei wie selbstverständlich alle Gruppen der Gesellschaft, Arbeiter wie Fabrikanten, vom erfolgreichen Feldzug ausgingen. Die Möglichkeit der Niederlage und damit das Risiko des Abstiegs wurden, wenn überhaupt, in den Familien besprochen. Das Deutsche Reich kannte keine Parteien mehr. Die Politik des Risikos, des Hin- und Herschaukelns zwischen Drohgebärde und Kooperationsangebot, die es förmlich darauf anlegte, dass Diplomaten früher oder später von Kriegsgenerälen ersetzt wurden, fand allgemeine Zustimmung. Dass die deutsch-österreichischungarische Kriegserklärung an die Serben eine russischfranzösisch-englische Antwort provozierte, war kühl kalkuliert. Deutschland sei bereit, tönte ein freudig erregter Großadmiral Alfred von Tirpitz, Chef des Marineamtes, den »Eventualpräventivkrieg« zu führen. Es werde ein Krieg entbrennen, ereiferte sich der badische Gesandte Graf Berckheim, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht erlebt habe. Recht sollte er behalten, ein solches Abschlachten hatte es seit den Napoleonischen Kriegen nicht mehr gegeben. Es war eine Leistungsschau der Industriekonzerne, eine Weltausstellung der Superlative: Deutsche 42-cm-Mörser, vorneweg die »Dicke Bertha« von Krupp, gegen die alliierten Panzer, von Mark I bis Mark IV, unterstützt von britischer Luftaufklärung, auch so eine Innovation der damaligen Zeit. Selbst die sich entwickelnde chemische Industrie führte ihre Produktpalette ins Feld, vornehmlich Chlor, Lost und Phosgen kamen zum Einsatz. Ganze 14
Landstriche wurden mit Giftgas eingenebelt, allein die Schlacht an dem französischen Flüsschen Somme, bei der Franzosen und Briten auf 50 Kilometern Breite schließlich einen Geländegewinn von zwei Kilometern erreichten, kostete einer Million Menschen das Leben. Der von allen Seiten geführte »Abnutzungskrieg« war eine Unsinnigkeit ohnegleichen, wie im Rückblick leicht zu erkennen ist. Am Ende standen die Eliten aller beteiligten Länder blamiert da, hatten sie doch mit hohem Einsatz um ein großes Nichts gespielt. Die Hoffnungen auf mehr Siedlungsfläche und zusätzlichen Wohlstand, auf Kolonien, verstärkten Einfluss und hinter allem die Sehnsucht nach der Vormachtstellung in Europa erfüllten sich nicht. Die Annahme der Intellektuellen, der Waffengang könnte die verspätete Nation endlich auch politisch, sozial und kulturell zusammenschweißen, erwies sich als irreal. Die nationale Frustration der Vorkriegsjahre konnte auch der Waffengang nicht auflösen. Der Krieg wurde auf ganz andere Art, als der Schriftsteller Ernst Jünger es sich erträumt hatte, »das Ereignis, das unserer Zeit das Gesicht gegeben hat«. Es war eben nicht das Gesicht eines modernen Messias, sondern das eines toten Soldaten, und selbst die noch Lebenden waren ausgebrannt, erschöpft, aller Illusionen beraubt. So sahen damals die Niedergänge aus, wobei der tiefe Fall der deutschen Nation auch deshalb von besonderer Dramatik war, weil auf der Treppe nach unten noch längst nicht die letzte Stufe erreicht war. Die Soldaten kamen 1918 in ein Land zurück, das ihnen weitgehend fremd war. Das ganze System der Hohenzollern-Monarchie brach vor ihren Augen zusammen. Das Kaiserreich, das seine Untertanen zwar schurigelte, gleichwohl aber den unteren Schichten Zugang zu Schulbildung und bescheidenem Wohlstand verschafft hatte, war im 15
Innersten so erodiert, dass selbst seine Nutznießer den Glauben an die Überlegenheit der Monarchie verloren hatten. Noch bevor die ersten Barrikaden revolutionärer Arbeiter in Berlin errichtet wurden, ahnten die alten Eliten, dass ihr Schicksal besiegelt war. »Sieg oder Niederlage, wir bekommen die reine Demokratie«, stöhnte von Tirpitz, als an den Fronten noch die Kanonen donnerten. Dem alten System fehlten die Lernbereitschaft, die Reformlust, die Anpassung an die neuen ökonomischen und politischen Realitäten, so dass der Krieg als Katalysator funktionierte. Er beschleunigte einen Zerfallsprozess, der vorher schon eingesetzt hatte und der mit dem Abdanken des Kaisers, wie sich bald zeigen sollte, keineswegs beendet war. Aus der Saat dieses Krieges konnte kein Wohlstandsstaat erwachsen. Die Scham der Kriegslüstlinge saß tief, als wenn sie geahnt hätten, dass der eigentliche Absturz erst noch bevorstand: Max Weber empfand seine Euphorie im Nachhinein als »unverantwortliches Literatengeschwätz«, der Schriftsteller Erich Mühsam sprach von »großer Eselei«. Die deutschen Intellektuellen, das war deutlich geworden und sollte in den folgenden Jahren noch klarer hervortreten, besaßen keine rechte Vorstellung von der Zukunft. Innenpolitisch waren die Kompromisse mit den alten Eliten zu Lasten der jungen Demokratie ausgefallen, was ihre Entfaltung vom ersten Tag an hemmte: der autoritäre Beamtenapparat lebte fort, der Landadel konnte seine Latifundien und damit auch seine Rolle als Einflüsterer retten. Das Heer blieb, was es schon vorher war, ein Staat im Staate. Die Kräfte der Demokratie, die damals hätten Kräfte der Revolution sein müssen, waren offenbar zu schwach geraten. Der Wunsch der Obersten Heeresleitung, die Unterschrift unter den Friedensvertrag, der in Wahrheit 16
eine Kapitulationsurkunde war, mögen doch die Politiker leisten, war eine Todespille, die erst mit Verzögerung ihre Wirkung entfalten sollte. Die Historiker gehen heute streng mit den Politikern von einst ins Gericht, wenn sie ihnen, wie Hans-Ulrich Wehler, »mangelnde Kampfeslust und verkümmerte Risikobereitschaft« hinterherrufen. Auch habe es an mitreißenden, machthungrigen Führungspersönlichkeiten gefehlt, um die »Revolution von oben« durch eine Erhebung von unten abzusichern. Fest steht, dass die politischen Parteien in der Sekunde, in der sie erstmals ernsthaft Verantwortung übernehmen sollten, infiziert waren mit einer Niederlage, die nicht in erster Linie die ihre war. Die junge Demokratie zahlte eine Rechnung, die eigentlich noch auf den Kaiser und seine Generalität ausgestellt war. Die außenpolitische Bilanz des Krieges war zweifellos schockierend für die Zeitgenossen, und dieser Schock trug den Keim der Revanche in sich: die Rückgabe von ElsassLothringen an Frankreich, Gebietsverluste auch gegenüber Belgien, Polen, Dänemark, das bescheidene deutsche Kolonialreich fiel an Engländer und Franzosen, gigantische Reparationszahlungen sollten zusätzlich noch geleistet werden, die Fremdbestimmung des Saarlandes durch Frankreich quälte die Nation ebenso wie die rigorose Verkleinerung der Armee auf ein 100000-Mann-Heer. Im Innern grassierten Inflation, Arbeitslosigkeit und ein politisches Wutvirus, das in dem Beamtensohn Adolf Hitler ein williges Wirtstier fand. Es folgte die Scheinblüte der Jahre 1933 bis 1938, die durch Zwangslöhne, Zwangsarbeit und eine maßlose Rüstungsproduktion ermöglicht wurde. Der zum Reichskanzler aufgestiegene Hitler hatte sie dem Land verordnet. Immerhin verschwanden die sechs Millionen Arbeitslosen der Weimarer Jahre, was dem braunen Diktator von 17
einer Mehrheit der Deutschen hoch angerechnet wurde. Selbst in den Augen der Skeptiker war der seltsam unversöhnliche Mann, der sie mit seinen Hasstiraden und seinem Straßenterror erschreckte, nun in ein wärmeres Licht getaucht. Historiker Joachim C. Fest urteilt: »Wenn Hitler Ende 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte, zu nennen.« Die Geschichte kennt bekanntlich keine Konjunktive, und so ging Hitler als der erfolgloseste Regierungschef aller Zeiten in die Geschichte ein. Selbst die ökonomischen Erfolge der ersten Jahre, die bei den Zeitgenossen zunächst den Eindruck eines Aufstiegs hinterließen, waren Teil jener umfassenden Niederlage, die nun folgen sollte. Die enormen Rüstungsausgaben dieser Epoche, die einhergingen mit der Auflösung aller Gold- und Devisenreserven, mussten sich fast zwangsläufig in einem Eroberungskrieg entladen. Die Alternative wäre der friedliche Staatsbankrott gewesen. Daran aber war nicht zu denken. Der Erste Weltkrieg hatte zwar in aller Deutlichkeit gezeigt, dass selbst der militärische Sieg ökonomisch eine Niederlage bedeuten konnte. Hitler aber ließ sich nicht davon abhalten, es erneut zu versuchen. Kaum hielt er die Hebel der Macht in Händen, baute er den noch immer schwächlichen Militärapparat zum Instrument der Eroberung aus. Sage und schreibe 52 Prozent der Regierungsausgaben flossen bereits 1938 in die Militärindustrie, das war mehr als Frankreich, Großbritannien und die USA zusammen für ihre Rüstung ausgaben. Die Wehrmacht hatte sich Ziele gesetzt, die schon deshalb größenwahnsinnig genannt werden müssen, weil sie schlichterdings unerreichbar waren. Die Marine plante mit einer derart großen Zahl von 18
Schiffen, dass allein zu ihrer Betankung der gesamte in Deutschland vorhandene Dieselkraftstoff nötig gewesen wäre. Das Ergebnis des Größenwahns ist bekannt: Hitlers Aufstieg zum Reichskanzler und Oberbefehlshaber der Wehrmacht brachte schließlich den Niedergang der gesamten Nation, der schon lange vor dem Einmarsch der Sowjetarmee in Berlin im Frühjahr 1945 besiegelt war. Dass dieser Einmarsch für viele ein Tag der Befreiung war, ist so richtig wie die Feststellung, dass die Mehrzahl der Deutschen ihn so nicht erlebt hat; und angesichts ihrer Verstrickung in die NS-Verbrechen auch so nicht empfinden konnte. Deutschland war für alle sichtbar schon wieder abgestiegen: politisch, ökonomisch, militärisch – und durch die industrielle Vernichtung von rund sechs Millionen europäischer Juden (geplant hatten die Nazis die Ermordung von elf Millionen Juden) sank das Land diesmal moralisch so tief wie kein Land zuvor und keines danach. Seither und bis heute, sagt Vizekanzler Joschka Fischer, stehe deutsche Außenpolitik »immer mit einem Bein in der Vergangenheit«. Und nicht nur die Außenpolitik, muss man hinzufügen. »Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen«, hat der Schriftsteller Martin Walser 1979 formuliert, was bis heute Gültigkeit besitzt. Doch wo waren eigentlich die Sieger? Wer hatte von den beiden Völkerschlachten im Herzen Europas profitiert? Steht nicht jedem Abstieg ein Aufstieg gegenüber? Oder hatte sich die Methode des militärisch versuchten Aufstiegs von selbst diskreditiert? Erlebten wir im Niedergang des einen Prinzips bereits den Aufstieg des anderen? Die Suche nach Gewinnern gestaltet sich schwierig, denn auch für die anderen Kriegsteilnehmer, die freiwilligen wie die unfreiwilligen, war diese Art des Kräftemessens alles andere als lohnend gewesen. Die Aufstiegsmethode, die sich bei der Gründung der Kolonialreiche 19
noch als hochgradig wirksam erwies, hatte offenbar aufgehört zu funktionieren. Sobald sich halbwegs gleichgewichtige Gegner gegenüberstanden, ob Einzelstaaten, feste Machtblöcke oder nur lose Kriegerallianzen, konnte sich der Sieg so lange hinauszögern, bis er einer Niederlage gleichkam. Alle europäischen Nationen, die sich bis zum Kriegsausbruch 1914 eines bescheidenen Wohlstandes und steigender politischer Bedeutung in der Welt erfreuten, erlebten den Ersten Weltkrieg daher als Rückschlag. Die Industrie war zum Teil zerstört, das Vieh musste notgeschlachtet werden, selbst Wälder und Äcker blieben in den ehemaligen Kampfgebieten verwüstet zurück, die Bahnlinien waren unterbrochen, die eben erst errichteten Telegrafenmasten lagen quer. Eine gigantische Wertvernichtung war zu besichtigen, deren Summe dem Sechseinhalbfachen der globalen Staatsschulden vor Kriegsbeginn entsprach. Die Welt war um acht Jahre zurückgeworfen, rechnet der britische Historiker Paul Kennedy in seinem Aufstieg und Fall der großen Mächte vor. Selbst die siegreichen Franzosen, an denen sich Deutschland jahrelang die Zähne ausbiss, konnten ihren militärischen Erfolg nicht genießen. Und zwar deshalb nicht, weil es nicht gelang, ihn in einen Sieg der Diplomatie, der Politik, in eine irgendwie geartete Nachkriegsrealität zu übertragen. Das heldenhafte Frankreich von 1914 und das triumphierende Frankreich von 1919 wussten nichts mit dem Erfolg anzufangen, außer den Nachbarn Deutschland mit dem Versailler Friedensvertrag zu demütigen. Was der Krieg nicht vermocht hatte, sollte nun der diktierte Frieden bringen. Selbst der spätere deutsche Außenminister und Verständigungspolitiker Walther Rathenau, der als Delegationsmitglied in Versailles dabei war, zeigte sich schockiert: »Ein wissenschaftlicher Mord, kalt, klar, klug 20
und blutlos.« Doch die Geschichte des Aufsteigers Frankreich zwischen 1919 und 1939 ist eben, wie Sebastian Haffner es ausdrückte, die Geschichte eines verlorenen Sieges, eines stufenweisen Abstiegs von stolzestem Selbstbewusstsein zur fast schon vollzogenen Selbstaufgabe. Den Siegeslauf der Nazis zu Beginn der dreißiger Jahre verfolgten sie nahezu ohnmächtig, die Nichterfüllung des »Schandfriedens von Versailles« (Hitler) nahmen sie mehr oder minder mit hängenden Schultern zur Kenntnis. Die eigene Wirtschaft kam nicht auf Touren, was auch der kollektiven Kraftanstrengung zugerechnet werden muss, die der Krieg bedeutet hatte. Mensch und Material waren erschöpft. Hitlers Wehrmacht konnte diese in sich selbst zusammengesackte Grande Nation 1940 in nur sechs Wochen überrennen, was heute militärisch als ihr größter Erfolg gilt. Der Blick nach Großbritannien bietet das gleiche Bild: Den Briten, deren Empire einst ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachte, ist der Erste Weltkrieg nicht gut bekommen, obwohl auch sie in der Rechenart der Generäle auf der Siegerseite standen. Doch nach dem Krieg zählten geschlagene Divisionen und versenkte Schiffe nicht mehr viel. Es war die Wirtschaft, auf die nun alle starrten. Die Bevölkerung tauschte ihre Begeisterung für den Krieg, die es in allen Ländern unzweifelhaft gab, gegen eine Sehnsucht nach Wohlstand und Verlässlichkeit, die nun überall die Stimmung beherrschte. Doch die Produktionsmaschinerie hatte unter dem Regime der Kriegsregierung derart gelitten, dass die neuen Sehnsüchte nicht bedient werden konnten. Im Gefolge der Schlachten war ausgerechnet die Funktion als Finanzzentrum der Welt verloren gegangen. Alle Versuche der britischen Regierung, die in den Weltkriegswirren beeinträchtigte Rolle des Finanzplatzes nach dem 21
Ende der Kampfhandlungen schnell wieder herzustellen, misslangen. Die USA hatten die Zeit der britischen Abgelenktheit für sich genutzt und waren zur größten Gläubigernation aufgestiegen. Die Welt des Geldes blickte nun nach New York. London war abgerutscht. Zwar begannen die Briten hastig, wieder Geld an andere Staaten zu verleihen – doch es war zu spät. Die Amerikaner hatten aus dem in Europa tobenden Krieg den maximalen Profit geschlagen. Sie waren aus Sicht der berufsbedingt nervösen Börsianer plötzlich das, was eben noch die Briten waren: stabil und stark. Die flüchtige Welt des Geldes liebt es eben, wenn das industrielle Hinterland, für das die Börse schließlich das Geld eintreibt, mit großer Verlässlichkeit, und das heißt möglichst schwankungsfrei, produziert. Auch damit konnten die USA dienen: Ihre Industrieproduktion lag 1920 bereits um 22 Prozent über jener der Vorkriegsjahre, derweil die Kriegsmächte im selben Zeitraum ökonomische Abstiege der schmerzhaften Art zu vermelden hatten; Russland minus 87 Prozent; das übrige Europa immerhin auch minus 23 Prozent. Die Industrieproduktion der Vorkriegszeit wurde erst 1928, also neun Jahre nach Kriegsende, wieder erreicht. Der Aufstieg der USA zur Weltmacht, der durch den wenig später folgenden Zweiten Weltkrieg noch beschleunigt wurde, hatte seinen Anfang schon im Jahrhundert davor genommen. Nirgendwo konnte der heranstürmende Kapitalismus so heimisch werden, wobei die Größe des Landes und die Freiheitsliebe, um nicht zu sagen der Freiheitskult seiner Bewohner, ihm sehr entgegenkamen. Frei von jeder Kartellkontrolle konnten mächtige Konzerne entstehen, die im Inland quasi Monopolcharakter besaßen und damit für den Wirtschaftswettkampf draußen gut gerüstet waren. Bereits um 1900 war die United States 22
Steel Corporation das größte Industrieunternehmen der Welt, auch Standard Oil, DuPont und American Tobacco Company standen derart mächtig da, dass schließlich im Innern der USA doch noch eine Anti-Kartell-Gesetzgebung nötig wurde. Doch erst im Kontrast zum Kriegskontinent Europa entfalteten all die anderen günstigen Ausgangsbedingungen des Landes ihre volle Wirkung: Der große Binnenmarkt bot mit damals schon über 125 Millionen Menschen gleicher Sprache dem weltweiten Investitionskapital eine schöne Chance. Als dann die Massenproduktion ihren Siegeszug antrat, verwandelte sich die bunte Einwanderernation, die erst 150 Jahre zuvor gegründet worden war, zur führenden Wirtschaftssupermacht der Erde. Schon 1929 produzierten die USA mit 4,6 Millionen Automobilen knapp zehnmal so viel wie Deutsche, Briten und Franzosen zusammen. Die ökonomisch potenten Amerikaner, deren Territorium bis heute nahezu unberührt von den Stiefeln fremder Armeen blieb, konnten die kriegerischen Aktivitäten in der Alten Welt für sich nutzen. Die Aufträge aus den zerstörten Gebieten sorgten nach beiden Weltkriegen für kräftige Wachstumsraten. Wer mit einer Umkehrung der im Krieg etablierten Waren- und Geldströme gerechnet hatte, wurde enttäuscht. Warum sollten die Industriekapitäne und Chefs der Geldhäuser den Europäern diesen Gefallen tun? Was war von einem Europa zu halten, das, kaum den Kriegsfolgen entronnen, schon wieder übereinander herfiel? Die 20 Jahre des Friedens, die zwischen dem Ende des Ersten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lagen, erscheinen im Nachhinein doch eher wie eine Ära des zittrigen Waffenstillstands. Der Kontinent, der einst hätte Gegenmacht werden können zu den Vereinigten Staaten und der nach der 23
Einführung des Euro erneut ähnliche Ambitionen hegt, bot 1945 schon wieder ein Bild der Verwüstung: Die Mehrzahl der Fabriken war in den Schutthalden kaum mehr wiederzuerkennen und die jungen Männer, die normalerweise das Vorauskommando jeder Volkswirtschaft stellen, fehlten überall, in den Familien, an den Universitäten, in den Fabriken. Die Stunde null hieß auch deshalb so, weil die meisten Völker mit wenig mehr als nichts ihren Wiederaufbau begannen. Politisch war die Lage halbwegs stabil, aber keineswegs erfreulich: Europa war in seiner westlichen Hälfte zu einer Art Protektorat der USA geworden. Ohne den gutmütigen Hegemon lief nicht viel. Im Osten fielen die Staaten, kaum dass die Wehrmacht verschwunden war, in die Hände der Roten Armee. Deutschland blieb für die nächsten 44 Jahre zweigeteilt. Die USA entwickelten eine Spielart des Kapitalismus, wie sie nur in diesem Reservat gedeihen konnte. Die Sowjetunion übertrug ihr bisheriges Prinzip des »Sozialismus in einem Land« auf 16 Millionen späterer DDR-Bürger, die zumeist unfreiwillig an dem Experiment des »Sozialismus in einer Zone« teilnahmen. Damit war Europa der Kontinent des Eisernen Vorhangs. Man konnte als Europäer schon froh sein, wenn hier nicht zum dritten Mal ein Weltkrieg losbrach. Gelegenheiten dazu gab es reichlich, den Einmarsch der Sowjets in Ungarn, die Kubakrise, den Mauerbau in Berlin, die sowjetische Intervention in der Tschechoslowakei. Und immer herrschte nervöse Anspannung, denn jeder spürte, dass der Eiserne Vorhang unter Strom stand. Dass die politischen Sicherungen hielten und aus den Nachkriegseuropäern nicht schon wieder Vorkriegseuropäer wurden, darf als das vielleicht größte Glück der letzten 59 Jahre gelten. Die kollektive Vernunft der Nationen, falls es eine solche überhaupt gibt, löste die Scharf24
macher beider Seiten ab, brachte schließlich Politiker wie John F. Kennedy, Willy Brandt, Jimmy Carter und Helmut Kohl auf der einen und Leonid Breschnew, Jurij Andropow und seinen Schüler Michail Gorbatschow auf der anderen hervor, die aus Passion oder aus Mangel an Gelegenheit auf Entspannung setzten. Das Risiko eines Dritten Weltkrieges auf dem schon reichlich blutgetränkten Boden Europas wollte offenbar niemand eingehen. Am Ende zuckten auch die in der Kuba-Krise des Jahres 1962 zunächst streitlustigen Russen zurück. Die sowjetischen Schiffe, deren Raketenfracht auf der Karibikinsel abgeladen werden sollte, drehten nach 13-tägigem Nervenkrieg wieder um. Die Japaner sind der zweite große Profiteur des vergangenen Jahrhunderts. Ihre Rolle während des Ersten Weltkrieges schuf die Grundlage für alles, was danach kam. Selbst die tollkühne und am Ende erfolglose Einmischung in den Zweiten Weltkrieg konnte den Vorsprung nicht mehr zerstören. Japan durfte in der Zeit von 1914 bis 1919 die Alliierten mit Kriegsgerät versorgen, ohne selbst Beeinträchtigungen seines Industriepotentials verkraften zu müssen. Hinzu kam, dass Japan während der Kriegsjahre und größtenteils auch danach die Belieferung jener asiatischen Märkte übernehmen konnte, zu der Deutschland, Frankreich, Italien und England nun nicht mehr fähig waren. Wieder vollzog sich der Aufstieg eines Landes im Schatten eines Krieges, der anderswo tobte: Importe und Exporte verdreifachten sich, die Stahl- und Zementproduktion legte um 100 Prozent zu. Japan stieg zur mächtigen Schiffsbaunation auf: Im ersten Kriegsjahr verließen 85000 Tonnen Rohstahl das Land, am Ende waren es 1919 650000 Tonnen. Erst der Eintritt in den Zweiten Weltkrieg, der frühmorgendliche Überraschungsangriff auf den US-Luftwaffenstützpunkt Pearl Habour am 25
7. Dezember 1941, den die Amerikaner vier Jahre später mit Atombomben beantworteten, stoppte den Höhenflug der asiatischen Industrienation. Ein ökonomischer Niedergang setzte ein, dem allerdings schon in den fünfziger Jahren, ähnlich wie in Europa, ein Wiederaufstieg folgte. Der fiel so schwungvoll aus, dass er selbst die deutsche Aufbauleistung mit ihren erregenden dreistelligen Wachstumsschüben noch übertraf. In Deutschland, wo der Wiederaufstieg zum »Wunder« verklärt wurde und im Volksempfinden bis heute als singuläres Ereignis weiterlebt, blieb zunächst keine Zeit für Konkurrenzvergleiche. Die Angst vor den Japanern kam – aber sie kam deutlich später. Der Blick der durch sich selbst gedemütigten Nation blieb nach 1945 zunächst nach innen gerichtet, trotzig und rechthaberisch die einen, voller Scham die anderen. Dass überhaupt nach dieser Katastrophe ein Wiederaufstieg gelang, war weder in erster noch in zweiter Linie ein Verdienst der Deutschen. Aber wunderbar war es eben schon. Den Aufbaumühen der ersten Jahre folgte ein Wirtschaftsboom, wie ihn so stark und anhaltend kein anderes Land Westeuropas erlebte. Die Deutschen schufteten mit ähnlicher Emsigkeit und Härte, mit der sie eben noch Krieg geführt hatten, die Arbeit schien immer auch Therapie zu sein, das In-dieHände-Spucken war vielen Ersatz für das In-sichHineinhorchen. Das ökonomisch messbare Ergebnis fiel beeindruckend aus: Das Pro-Kopf-Einkommen der Deutschen stieg von l186 Dollar Ende der fünfziger Jahre (USA zur gleichen Zeit 2491 Dollar) innerhalb von knapp 20 Jahren auf 10837 Dollar und hatte damit 1979 das Pro-KopfEinkommen der Siegermacht USA leicht überflügelt. Aus Habenichtsen waren Besitzende geworden. Das neue Deutschland, politisch unterwürfig und militä26
risch ein Nichts, war zum ökonomischen Riesen aufgeschossen, der militärischen Niederlage folgte der wirtschaftliche Triumph, was die Franzosen und Briten mit Bitterkeit erfüllen musste. »Wir haben die Deutschen nun schon zweimal in diesem Jahrhundert geschlagen, und jetzt sind sie schon wieder da«, hat die britische Premierministerin Maggie Thatcher 1989 gegenüber einem befreundeten Staatsoberhaupt geklagt. Vor der Tür stand die deutsche Wiedervereinigung, die »Eiserne Lady« erwartete ein Wiedererstarken Deutschlands. Dazu kam es bekanntlich nicht, über die Gründe wird zu reden sein. Nur so viel schon an dieser Stelle: Die Probleme des heutigen Deutschlands, die ökonomischer und politischer Natur sind, waren bereits in den Nachkriegsjahren eingebaut. Sie sollten noch für einige Zeit unsichtbar bleiben. Wichtig bleibt festzuhalten, dass der Zweite Weltkrieg einen Wechsel der Auf- und Abstiegsmuster mit sich brachte: Mit der Erfindung der Atombombe waren Kosten und Nutzen eines modernen Großkrieges noch unkalkulierbarer geworden, worin der große Vorteil der Bombe zu sehen ist. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts setzte sich, notgedrungen könnte man sagen, der ökonomische Wettlauf durch, der mit anderen Mitteln ein ähnliches Ziel verfolgt: den Aufstieg der eigenen und die Deklassierung der anderen Nationen. Der Nationalökonom Joseph Schumpeter beschrieb den Gezeitenwechsel so: »Die bürgerliche Gesellschaft ist in eine rein wirtschaftliche Form gegossen worden – ihre Fundamente, ihre Tragbalken und ihre Leuchttürme sind alle aus wirtschaftlichem Material hergestellt. Das Gebäude schaut nach der wirtschaftlichen Seite des Lebens. Belohnung und Strafe bemisst sich in Geldgrößen. Aufstieg und Abstieg bedeutet Geldverdienen oder Geldverlieren.« 27
Aus den Kriegerstaaten waren Kaufmannsstaaten geworden, was dem Geschehen nicht die Härte, den Visionen nicht das Phantastische, dem ganzen Treiben wohl aber die Brutalität nahm. Nun waren auch die politischen Eliten bereit, die Armeestiefel gegen den Rechenschieber zu tauschen. Seit Hitler hat es keinen Regierungschef in der westlichen Hemisphäre mehr gegeben, der seine alltäglichen Amtsgeschäfte im Armeerock absolvierte.
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Gnadenlos friedlich. Der Wettlauf zum Wohlstand Staaten geraten auch ohne den Fronteinsatz ihrer Soldaten ins Trudeln. Die ökonomischen Abstürze sind weniger steil und ähnlich schwierig vorhersehbar – sie werden allerdings von den Betroffenen als nicht minder dramatisch empfunden. Das Leben auch unter den Bedingungen der ökonomischen Dauerkrise kann sich deutlich verkürzen, wie das Beispiel Russlands beweist. Schlechte Ernährung und übermäßiger Alkoholkonsum lassen die Lebenserwartung der russischen Männer seit den siebziger Jahren kontinuierlich sinken – auf mittlerweile nur noch 59 Jahre. Die Bürger der DDR verloren mit dem Absturz ihres Staates nicht das Leben, aber doch einen Teil davon: Jene Dinge, die kein Krieg den Menschen normalerweise nimmt, ihre Erfahrung, ihre Bildung, ihr berufliches Netzwerk und damit eben auch ein wichtiger Teil ihrer Biographie, gingen in den Wirren der Wende verloren. Schuld am ökonomischen Abstieg ist in der Regel das fortgesetzte Unverständnis der Bedingungen und Begleitumstände, unter denen Wohlstand entstehen, sich Wirtschaft entfalten kann. Die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Bürgerkrieg hervorgegangene Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hat nach dem Zweiten Weltkrieg vorgemacht, wie aus dem Abstieg ein Absturz ins Nichts werden kann, ohne dass auch nur ein Soldat zum Gewehr gegriffen hätte. Das System der zentralen Planwirtschaft, zunächst von Lenin und später von Stalin gegen alle Widerstände durchgepeitscht, erwies sich in dem kurz nach Kriegsende gestarteten Wettlauf der Wirtschaftssysteme als nicht überlebensfähig. 29
Der Sowjetunion fehlte einfach alles, um eine erfolgreiche Supermacht werden zu können – vor allem ausreichend Kapital und am Ende auch die Zeit, um den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft erfolgreich bewerkstelligen zu können. Bis zum letzten Tag war das System der kollektivierten Landwirtschaft, das den Bauern die Scholle, ihren Stolz und damit die Arbeitsmotivation geraubt hatte, nicht in der Lage, das Land zu ernähren. Das parallel dazu installierte System der Industrieplanung, dessen erklärtes Ziel es war, das richtige Produkt am richtigen Tag in der richtigen Menge am richtigen Ort auftauchen zu lassen, scheiterte schon an einfachsten Informationsproblemen. Doch zunächst ging es bergauf, allen Verwünschungen des Westens zum Trotz. Das sowjetische System der »command economy«, der Kommandowirtschaft, wie es die Amerikaner tauften, brachte es für kurze Zeit zu beachtlichen Wachstumsschüben. Im Zeitraum der Fünfjahrespläne 1928 bis 1937 vervierfachte sich das russische Nationaleinkommen, der Energieausstoß legte um das Siebenfache zu, die Produktion von Werkzeugmaschinen um das Zwanzigfache und die für die Landwirtschaft so wichtige Traktorenproduktion konnte sogar um das Vierzigfache gesteigert werden. Selbst die eingefleischten Marktwirtschaftler des Westens horchten auf, denn die sowjetische Wirtschaft, die sich notgedrungen für Autarkie entschieden hatte, blieb von der großen Depression, die der westlichen Welt arg zu schaffen machte, weitgehend verschont. Es war Stalin, der sich gleich nach dem gewonnenen Zweiten Weltkrieg in die nächste große Schlacht warf, die nun mit wirtschaftlichen Mitteln zu schlagen war. Er hatte es so eilig, dass er sein Land mit einer derartigen Rohheit in Richtung Industriezeitalter trieb, wie sie kein 30
entwickeltes kapitalistisches System je seinen Bewohnern zugemutet hat. Mehrere Millionen Sowjetbürger starben in den Zeiten dieser ökonomischen Mobilmachung. In den fünfziger Jahren wurden mit dem Mittel der Planung noch immer beachtliche Erfolge erzielt, die Freund und Feind verblüffen mussten: Zwischen 1953 und 1957 gelang es den Sowjets, ihre gesamte industrielle Produktion, die schon bis dahin ordentlich gewachsen war, zu verdoppeln. Stalin presste alle Menschen aus, derer er habhaft wurde, um seine Aufstiegsphantasie wahr werden zu lassen: die Krüppel kamen in der Landwirtschaft zum Einsatz, Frauen stellten 30 Prozent der Bauarbeiter und 54 Prozent aller übrigen Werkstätigen, 48 Stunden pro Woche waren das Minimum, jeder musste den ihm zugeteilten Arbeitsplatz annehmen, die Regeln des Jugendschutzes wurden suspendiert. Im Gegenzug kümmerte sich der sozialistische Vielvölkerstaat um die Schulbildung, die Kinderkrippen und, wenn auch in rudimentärer Form, um die Altersversorgung. Viele Kommunisten glaubten reinen Herzens, dass ihre Nation auf dem Weg nach ganz oben sei. Die Nachfolger Stalins träumten in den sechziger Jahren bereits davon, die USA »zu begraben«, wie sich der neue KP-Chef Nikita Chruschtschow damals ausdrückte. Die Anfangserfolge hatten den Westen, wo nun alle nach der Zauberformel für den schnellen, sicheren, den besten aller Aufstiegspfade suchten, nicht unberührt gelassen. Es war ja nicht so, dass man nicht bereit war, heimlich zu lernen. Der Traum von der »gelenkten Wirtschaft«, die sich an den staatlich definierten Bedürfnissen des Volkes und nicht an der Profitgier der Unternehmer orientieren sollte, wurde nun auch im Westen geträumt, besonders intensiv in Frankreich. Von dort schafften es die Ideen der »économie dirigée« sogar bis auf die Lehrpläne deutscher 31
Universitäten. In Deutschland war damit das Ende der Irrfahrt erreicht, in Frankreich sollte die praktische Erprobung der »planification«, geleitet vom »Commissariat au Plan«, erst noch bevorstehen. Als es Anfang der achtziger Jahren in Paris so weit war, hatte das sowjetische System schon die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht, war mit der Einführung moderner Hochtechnologie genauso überfordert wie mit der Koordinierung der Landwirtschaft. Für jeden, der sehen konnte, war schon zehn Jahre vor dem Ableben des sozialistischen Staatenbundes klar: Das Land atmete flach. Die stark eingeschränkte Leistungsfähigkeit zwang zu immer neuen, politisch höchst peinlichen Getreideimporten aus den USA. Die Wachstumsraten des Agrarsektors waren niederschmetternd, sie hatten sich von 4,8 Prozent in den fünfziger Jahren auf 3 Prozent in den Sechzigern abgeschwächt, um in den siebziger Jahren bei dürren 1,8 Prozent zu landen. In den achtziger Jahren stand das Herz des Landes fast schon still. Die Sowjetmacht, die zwischenzeitlich ein atomares Gegengewicht zu den USA hatte bilden können, war nicht in der Lage, ökonomisch mitzuhalten. Das Weltall wurde erobert, die Alltagsprobleme aber bekamen die Sowjets nicht in den Griff. Das russische Volk war ein Volk von Habenichtsen geblieben. Besser gebildet als je zuvor, aber frei von Rechten und Eigentum. Der versuchte Sprung von der militärischen Supermacht, was die Sowjetunion war, zur wirtschaftlichen Großmacht, was sie nie wurde, hatte derart an den Kräften gezehrt, dass am Ende auch die militärische Stärke weitgehend verpuffte. Ausgerechnet die Kommunisten, in deren Theorie das Ökonomische die entscheidende Rolle spielt und alles weitere als »Überbauphänomen« abgetan wird, schlugen diese Erkenntnis in den Wind. Von der eigenen Bevölke32
rung, die mit ihrem Konsumverzicht das fehlende Kapital für die Expansion heranschaffte, war nichts mehr zu holen. Die Kraft, der Mut und zum Schluss auch der Glaube an die Zukunft des Kommunismus waren irgendwo zwischen Missernte und Fehlplanung verloren gegangen. Das System hatten seine Kräfte derart überdehnt, dass alle Versuche der letzten Reformergeneration, den Staatskörper noch einmal zu beleben, fehlschlagen mussten. Als die neue Führung unter Michail Gorbatschow schließlich bereit war, die Impulse für Angebot und Nachfrage dem Markt zu überlassen, kam ausgerechnet diese neue Freiheit einem Todesstoß gleich: Welcher Impuls? Welches Angebot? Welcher Markt eigentlich? Ein ganzes Land verstand plötzlich Bahnhof. Aus Millionen von Befehlsempfängern konnten nicht über Nacht selbstbewusste Angestellte und freie Konsumenten werden. Auch das Unternehmertum hatte nie die geringste Chance gehabt, sich zu erproben. Mut, Erfindungsreichtum, eine gewisse Sturheit, kurz alle Eigenschaften, die nun von Nöten waren, konnten einem in den Jahrzehnten davor das Leben kosten. Der Stalinismus hatte die Voraussetzungen, die für das Umsteuern nötig gewesen wären, gründlich ausgerottet. Eine Karikatur jenes Raubtier-Kapitalismus entstand, vor dem die Kommunisten ihre Bevölkerung immer gewarnt hatten. Gorbatschow sprach 1995 schließlich das Requiem auf eine Supermacht, die in den Geschichtsbüchern der großen Nationen streng genommen nur eine Teilzeitstelle für sich beanspruchen kann: »Die überkommene Form unserer Gesellschaft hatte sich erschöpft. Es zeigte sich, dass sie nicht in der Lage war, auf schnelle Veränderungen im Zeitalter neuer Technologien und der Elektronik zu reagieren. Die Kultur, die Bildung unseres Volkes konnte sich in diesem System nicht verwirklichen. Darum war es – historisch gesehen – zu Ende.« 33
An der Planung allein kann es nicht gelegen haben. Denn dieses Instrument beförderte die Japaner bis zu den Sternen. So flott hatte kein zweites Land die Folgen des Zweiten Weltkrieges vergessen gemacht. Auffällig waren hier die Methode und die Zielstrebigkeit, mit der dieser Aufstieg angepackt wurde. In einem staatlichen Planungsministerium skizzierte man die Zukunft, getrieben von der kühnen Vision, es allen anderen Mächten zu zeigen. Ziel war die Erlangung einer Vormachtstellung in Asien. Der Plan war klug: Mit einer bemerkenswerten Präzision wurden in den fünfziger und sechziger Jahren Autos, Computer, Fernseher, also die technischen Errungenschaften des Westens, nachgebaut und dann als »made in Japan« exportiert. Mit dieser weltweiten Billigoffensive, die begleitet war von rigiden Einfuhrregeln, um die Konkurrenz aus den eigenen Kaufhäusern fern zu halten, verschafften sich die Japaner das nötige Kapital für die zweite Runde: Seit Mitte der achtziger Jahre bietet das Land selbst entwickelte High-Tech-Waren an. Toyota ist an der Börse heute so wertvoll wie Ford, General Motors und Daimler-Chrysler zusammen. Schauen wir uns die Abgestiegenen und Abgestürzten, die es auch in Europa und sogar vor unserer eigenen Haustür gab, nun genauer an: Was waren die Kräfte hinter ihrem Niedergang? Hatten sie eine Chance, den eigenen Bedeutungsverlust zu stoppen? Oder gibt es eine unsichtbare Grenze, einen »point of no return«, den man nur um den Preis des fortgesetzten Abstiegs überschreiten darf? Wenn wir an die Abstiegskandidaten der letzten Jahrzehnte denken, an die siechen Briten, die Schweden, die lebensmüde DDR, fällt vor allem eines auf: Sie alle haben ihre Möglichkeiten – politisch und ökonomisch – überdehnt. Dieses Overstretching, wie es die Amerikaner mit Blick auf ihre eigene weltweite militärische Bean34
spruchung nennen, kann die stabilste Volkswirtschaft zusammenkrachen lassen, eine eingeführte Parteidiktatur sprengen und Millionen von Menschen in arge Bedrängnis bringen. Allerdings funken Staaten Notsignale, bevor sie absteigen, auch solche, die kaum zu überhören sind. Wobei sie dennoch gern überhört werden. Auf die politische Führung jedenfalls ist in solchen Fällen kein Verlass; sie ist, wie die Vergangenheit zeigt, durchaus bereit, alle Früherkennungszeichen zu ignorieren. Je länger sie schon im Amte verweilt, umso stärker ist sie selbst Teil des Niedergangs geworden, zur nüchternen Erkenntnis fehlt ihr dann die Distanz. In jüngster Zeit war es Erich Honecker, der letzte Staatsund Regierungschef der kommunistischen DDR, der den wohl beeindruckendsten Fall von Selbsttäuschung lieferte, so dass seine DDR zumindest im Untergang jenes »Weltniveau« erreichte, von dem sie immer geträumt hatte. In beklemmender Offenheit beschreibt Honecker in seinen Moabiter Notizen, verfasst nach dem Ende der DDR, die arglose, fast beschwingte Stimmung zum Jahreswechsel 1988: Wie am Fließband habe er vormittags Neujahrsgrüße verfasst, nachmittags noch schnell eine Sitzung des Zentralkomitees absolviert: »So weit schien alles im Lot zu sein.« Die DDR erhielt im November 1989 von der eigenen Bevölkerung den Todesstoß, als diese die Mauereröffnung erzwang. Schon 21 Monate nach Honeckers Alles-im-LotGefühl war die DDR nur noch Geschichte – auch deshalb, weil sie ökonomisch nicht stark genug war, den Wohlstand ihrer Bevölkerung zu erhalten. Die Führung hatte ihr zunächst durchaus erfolgreiches Prinzip der Tonnenvorgaben aus den Zeiten der Schwerindustrie in die Zeiten der Computertechnik zu retten versucht, was nicht gelingen 35
konnte. Die Innovationsfreude eines Softwareingenieurs lässt sich eben nicht befehlen, nicht kontrollieren, nicht mal richtig planen. Die eingeführten »Pflichtenhefte« waren nichts anderes als ein Dokument der Hilflosigkeit. Auch Computerexperten sollten mit ihrer Hilfe künftige Programmiererfolge planen, was sich als Ding der Unmöglichkeit erwies. Eine Wirkung hatte der politische Vorstoß allerdings schon: Risikoarm organisierten die Computerexperten ihren Alltag, ohne eigene Ambition tüftelten sie vor sich hin. Die DDR hatte die Volkswirtschaft erfolgreich zu einer schwankungsfreien Niedrigenergie-Zone umgebaut, die ihrem Ende entgegendämmerte. Die DDR verschwand so überraschend, wie sie in der Weltgeschichte aufgetaucht war, und hätte sie nicht Mauer, Stacheldraht und eine kleine Schar bemerkenswerter Frauen wie Bärbel Bohley, Christa Wolf und Angela Merkel hervorgebracht, gäbe es kaum mehr über dieses Land zu erzählen, als dass es wieder weg ist. Der Fairness halber sollten wir allerdings einräumen: Alleinherrscher aller Art haben es schwerer als demokratische Regierungen, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Die Betreiber der geschlossenen Gesellschaften verwenden von Anfang an viel Mühe darauf, alle Gegenanzeigen zu beseitigen. Sie haben keine missliebigen Zwischenrufer mehr in ihren Reihen, sie frisieren ihre Statistiken nach den Erfordernissen der Propaganda, ihre Besuche im Land sind selten spontan und finden von Nordkorea bis Kuba in der immer gleichen Kulisse statt, im Hintergrund hübsch bemalte Häuser, vorne winkende Kinder, so dass man den Verdacht haben könnte, die Despoten bestellen beim gleichen Kulissenschieber. In Ländern mit Demokratie und Marktwirtschaft sind die Leuchtfeuer der Krise deutlicher zu sehen und wenn alles mit rechten Dingen zugeht, werden sie sogar von akusti36
schen Signalen begleitet. Für die optischen Signale ist die Volkswirtschaft zuständig, die in Form statistischer Daten ständig über ihre Gemütsverfassung berichtet. Hörbar gemacht werden die Fehlfunktionen dann in aller Regel von der Opposition, denn dafür ist sie da. Jede noch so kleine Unwucht wird sie für sich zu nutzen wissen, um so ihrer eigentlichen Bestimmung, irgendwann Regierung zu sein, ein Stück näher zu kommen. So weit die Theorie. In der Praxis tun sich auch die modernen Demokratien mit ihren Volksparteien schwer, die Konjunkturdelle von der Dauerkrise zu unterscheiden und entsprechend Alarm zu schlagen. Ihnen geht es nicht viel anders als den Anlegern an der Börse, die kaum in der Lage sind, in der Summe schlechter Börsentage den Beginn eines Börsencrashs zu erkennen. Alle Börsenabstürze seit Einführung der Wertpapiermärkte im Jahr 1602 in Amsterdam begannen mit kleinen und zum Teil kleinsten Abwärtsbewegungen, die, um die Verwirrung komplett zu machen, von Phasen der Erholung unterbrochen waren. Selbst der Schwarze Freitag an der New Yorker Börse des Jahres 1929 brachte dem Aktienindex Dow Jones nur ein Minus von zehn Prozent. In dem spöttisch gemeinten Satz »Zum Börsencrash wird nicht geklingelt« fassen die Wertpapierhändler seither ihre bitteren Erfahrungen mit den auch für sie nur sehr schwer wahrnehmbaren Abstürzen zusammen. Erst im historischen Rückblick ergibt sich jene Klarheit, die den Zeitgenossen oft verwehrt bleibt. Schweden gilt unter den Experten als das ideale Lehrbeispiel, weil hier die Inkubationszeit gut 20 Jahre betrug. Vom ersten Symptom, dem leichten Abrutschen in der weltweit geführten Statistik der Pro-Kopf-Einkommen, bis zur plötzlich ausbrechenden Massenarbeitslosigkeit (plus 400 Prozent in drei Jahren) zu Beginn der neunziger Jahre 37
hatten Generationen von Politikern offenbar weggehört und weggeschaut. Das Erwachen war umso furchtbarer: Die Schweden sahen sich mit einer Dreifach-Krise konfrontiert: Der Sozialstaat übersteuert, die Währung im Tiefflug, die Staatsschuld exorbitant. Mit Erstaunen stellten nun viele fest, dass ihr Staat dem weltweit kriselnden Sozialismus ähnlicher war als jeder anderen Wirtschaftsform. Die Staatsquote, also der Anteil des Volkseinkommens, der vom Staat ausgegeben wird, war von 25 Prozent in den ersten Nachkriegsjahren auf nun stolze 60 Prozent angeschwollen. In den USA beträgt die Staatsquote 30 Prozent, in Deutschland heute rund 48 Prozent. Aber warum, so fragten viele Schweden, kann ein solcher Niedergang sich nahezu unbemerkt vollziehen? Warum sieht, riecht, fühlt man ihn nicht? Können einen die eigenen Augen wirklich so arglistig täuschen? Sie können. »Das Interessante an Schweden«, sagt der Ökonom Horst Siebert, »ist die Tatsache, dass man einen derartigen Abstieg zunächst einmal lange nicht bemerkt, man nimmt nicht wahr, dass ein ökonomisches System erodiert. Die Infrastruktur hält sich lange, und die prächtigen Gebäude lassen den Substanzverschleiß und die unterlassenen Reparaturen nicht unmittelbar erkennen.« So ist es ja auch den Engländern nach dem Zweiten Weltkrieg ergangen, die sich noch immer als Weltenherrscher oder doch zumindest europäische Großmacht fühlten, als die Nation in Wahrheit schon längst ins Rutschen geraten war. Der lärmende Weckruf, der zugleich Start einer Revitalisierung war, kam spät – und er kam von außen. Einen kurzen Rückblick sollte uns das britische Exempel wert sein. Es zeigt, wie schwierig der Abstieg eines Staates auszumachen ist, zumindest für den, der absteigt. Die regierenden Sozialdemokraten in London hatten 38
nach dem Weltkrieg eine Wirtschaft installiert, die man durchaus mit Erfinderstolz »mixed economy« nannte, weil in ihr Staat, Partei und Gewerkschaften ein wichtiges, und Letztere oft sogar das entscheidende Wort mitzureden hatten, was der Volkswirtschaft zunächst gut bekam. Der Staat übernahm die Kohleförderung, die Gas- und Elektrizitätsversorgung, die Luftfahrt, das Eisenbahnnetz und Teile der Stahlproduktion in eigene Regie. Er bekämpfte konjunkturelle Durchhänger mit millionenschweren Investitionsspritzen, so wie es der britische Ökonom John Maynard Keynes empfohlen hatte. Der Staat, und mittlerweile war es egal, ob Linke oder Konservative regierten, fand es modern, die Notenpresse anzuwerfen, wenn wieder ein paar Millionen gebraucht wurden. Dass die Währung auf diese Art weniger wert wurde, empfand man als keinen wirklichen Makel: »Die Leute mögen die Inflation eigentlich ganz gerne«, pflegte selbst der konservative Premier Harald Macmillan zu sagen, weil die Leute dann »mehr Geldscheine in ihrer Tasche haben.« Der Erfolg der »mixed economy« war so überzeugend, dass schnell Übermut einkehrte und der Glaube an die perfekte Steuerbarkeit der Ökonomie sich ausbreiten konnte. Hinzu kamen die Erschöpfungszustände eines Volkes, das unter dem langwierigen nervenzerfetzenden Krieg und dem erst in letzter Sekunde errungenen Sieg noch immer zu leiden hatte. Ein bisschen Belohnung sollte schon sein, dachten die meisten Briten. Der Staat erschöpfte seine Finanzmittel ziemlich zügig und die Gewerkschaften überzogen ihre Lohnpolitik, so dass die Verschuldung rapide anstieg und gleichzeitig die Arbeitsentgelte ab 1960 über den Produktivitätssteigerungen der Wirtschaft lagen. So geschah, was geschehen musste: Die Industrie des Landes, vorneweg die stolzen Autohersteller Jaguar und Rover, wurde im internationalen 39
Wettlauf abgehängt, die Währung des Landes verlor an Wert, Großbritannien bekam die zunächst trabende und dann galoppierende Inflation nicht mehr in den Griff. 1975 betrug die Inflationsrate 24,2 Prozent, was bedeutete, dass 100 Pfund binnen eines Jahres nur noch 75 Pfund Wert waren. Die Briten erlebten die Entwertung ihrer Geldvermögen. Die Regierung, mittlerweile war wieder Labour dran, erkannte zwar die Krise, aber das allein reicht eben nicht aus. Sie unterschätzte die Dramatik der Verwerfung und sie überschätzte ihre eigenen Möglichkeiten. Der Verfall des britischen Pfunds, der für jedermann sichtbar an den digitalen Leuchtbändern der Londoner City ablesbar war, wurde mit immer neuen Interventionen an den Devisenmärkten bekämpft, was nichts anderes hieß als: verschlimmert. Denn bei diesen Interventionen geht es darum, die eigene Währung zu kaufen, um sie wertvoller zu machen oder doch zumindest, um den bisherigen Preis zu stützen. Doch die Finanzexperten der anderen Länder durchschauten das Spiel und werteten die immer neuen Stützungskäufe als das, was sie in Wahrheit auch waren – ein Zeichen der Schwäche, ein Vorbote des weiteren Niedergangs. Die Devisenreserven schrumpften dahin, 1976 musste die Regierung einen Sonderkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) beantragen, was sonst nur Länder der Dritten Welt tun. In drei Tranchen erhielt die britische Krone ein Darlehen der Weltgemeinschaft. Was für ein Skandal! Welch ein Niedergang! Großbritannien war zu Kleinbritannien geworden. Nun endlich spürten auch die Politiker, was sie schon länger hätten spüren sollen: Der Lebensstandard in England hatte sich in den vergangenen zehn Jahren verringert. Bis 1960 waren Briten, Deutsche und Franzosen gemeinsam nach oben gestürmt, dann aber kamen die Steige40
rungsraten des Pro-Kopf-Ausstoßes an Waren und Dienstleistungen, den die Experten das Pro-Kopf-Inlandsprodukt nennen, praktisch zum Stillstand. Die Produktivität der Deutschen war im britischen Krisenjahr 1976 fast doppelt so hoch. Die Londoner Politiker galten nun der eigenen Bevölkerung als unfähig und machtlos. In einer Repräsentativ-Umfrage wählten im Januar 1977 rund 54 Prozent der Briten den Chef der Transportarbeitergewerkschaft zum »mächtigsten Mann im Lande«, der Premier brachte es nur auf 25 Prozent. Der IWF-Kredit hatte das wirtschaftliche Geschehen in ein grelles Licht getaucht. Die Darlehen wurden von der Washingtoner IWF-Führung mit derart harten Auflagen verbunden – Schuldenabbau, Sparprogramm, Lohnsenkung, Privatisierung von Staatseigentum –, dass sich die Labour Party schließlich gezwungen sah, die Wende einzuleiten. Bei der nächsten Wahl, die innenpolitische Lage war mittlerweile aufgepeitscht und radikalisiert, entschied sich eine deutliche Mehrheit für das neoliberale Original: Maggie Thatcher, die studierte Naturwissenschaftlerin aus der Ostküsten-Grafschaft Lincolnshire, trat an und hatte kaum eine andere Chance, als die Eiserne Lady zu geben. Und die Briten hatten kaum eine andere Wahl, als sie 1983 ein zweites Mal zu wählen. Die Leute murrten und schimpften, sie protestierten und wüteten, aber sie wussten, dass ihr Land krank war und ohne diese Rosskur nie wieder gesunden würde. Thatcher besaß ein Sanierungsmandat und sie nutzte es bis an die Grenze des Zumutbaren. Sie brach die Macht der Gewerkschaften, sie senkte die Löhne, sie kam den Firmen und Großverdienern mit Steuersenkungen so hemmungslos entgegen wie kein britischer Regierungschef zuvor. Die internationalen Geldgeber, vor allem die Japaner, wurden hellhörig, die Botschaft vom Niedrig41
steuerland gefiel ihnen. Die Eiserne Lady, empörte sich aus Deutschland der damalige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz, habe das Land zum »Flugzeugträger der Japaner« umgebaut. Der Staat privatisierte, was immer zu privatisieren war, die staatlichen Wohnungen, die Stromerzeuger, die Eisenbahn und die Fluglinie British Airways und große Teile dessen, was zuvor der Wohlfahrtsstaat leistete. Der resoluten Dame schien es eine gewisse Wollust zu bereiten, ihren Landsleuten die neuen Wahrheiten regelrecht ins Gesicht zu spucken. Sie kenne nur Individuen und Familien, sagte sie: »There is no such thing as society.« Frei übersetzt bedeutet dies: Dieses Etwas, das ihr Gesellschaft nennt, gibt es nicht. Kühler und klarer konnte man eine Absage an alles Kollektive nicht formulieren. Wenn einer sie um Barmherzigkeit bat, um Mitgefühl anflehte, lieferte er ihr nur einen neuen wunderbaren Vorwand, ihre Überzeugung herauszukrähen, dass Geld die Welt regiert – und sonst gar nichts: »Niemand würde sich an den guten Samariter erinnern, wenn er nur gute Vorsätze gehabt hätte. Er hatte auch Geld«, pflegte sie zu sagen. Margaret Thatcher schaffte es, die Inflation zu bekämpfen, und das neue Großbritannien präsentierte sich wieder als ein attraktives Land, zumindest für Investoren. Der im Verständnis der Konservativen wichtigste Tätigkeitsnachweis der Lady aber waren die bis an den Rand der Selbstachtung gedemütigten Gewerkschaften. Nur in einem hatten sich die Reformer gründlich geirrt. Die Sozialausgaben des Staates sanken keineswegs, wie man vermuten würde. Die Thatcher-Politik warf derart viele Menschen aus der Bahn – die Zahl der Obdachlosen, der Arbeitslosen, der Bedürftigen aller Art stieg spürbar an –, dass trotz der für den Einzelnen deutlich gesenkten 42
Sozialleistungen der staatliche Gesamtetat expandierte. Kein Wunder also: Kaum war der Abstieg des Landes gestoppt, durfte Labour wieder regieren. Allerdings nur unter der Bedingung, die Parteichef Tony Blair zuvor den Seinen abtrotzen musste: Es gab kein Zurück. Die Thatcher-Ära mit all ihren Grausamkeiten galt fortan als Geschäftsgrundlage für alles weitere. Blairs Labour Party musste sich konsequenterweise umbenennen und heißt bis heute »New Labour«. Noch heute tritt Blair zuweilen wie ein Doppelgänger der Eisernen Lady auf. Im Oktober 2002, auf dem Parteitag in Blackpool, rief er in den Saal: »Der große Staat soll gehen. Die Kultur der Beihilfen und Ansprüche soll gehen.« Die Frage, die sich unwillkürlich stellt: Wie lassen sich derart dramatische Brüche wie in Großbritannien und anderswo verhindern, die ja millionenfach in die Biographien von Menschen eingreifen? Was hat Politik zu leisten, um den Traum vom besseren Leben zu erhalten, anstatt ihn lustvoll zu zerstören? Wie kann ein Land und seine politische Klasse sicherstellen, dass es den Brandherd entdeckt, bevor das Haus in Flammen steht? Was sind die frühen Warnsignale, die ein Einschreiten möglich machen, bevor Abstieg, Absturz und am Ende gar der Untergang drohen? Vor allem eines muss jetzt geklärt werden: Wie weit ist Deutschland schon fortgeschritten auf seinem zunächst behäbigen und in jüngster Zeit spürbar beschleunigten Weg nach unten?
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KAPITEL 2 DEUTSCHLAND.
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Der Abstieg eines Superstars Erste Notsignale In Wahrheit erwarten die deutschen Wähler heute von der Politik zwei Dinge. Nach außen soll der Frieden bewahrt, im Innern der Wohlstand gemehrt werden. Der Mensch sehnt sich danach, ein Stück Paradies schon auf dieser Seite der Grabplatte zu erhaschen. Das Friedensziel scheint mit dem überraschenden Abschied der Sowjetunion, dem sich dankenswerterweise die DDR anschloss, auf absehbare Zeit gesichert. Das könnte die Gelassenheit im Lande erklären. Mit der Wohlstandsmehrung allerdings klappt es seit längerem nicht mehr, weshalb die Gelassenheit trügt. Darunter glimmt es. Die Deutschen spüren, dass es nicht gut bestellt ist um ihr Modell Deutschland, dem bisher ihr ganzer Stolz galt. Ausgerechnet diese international gelobte Art, diszipliniert zu leben, tüchtig zu arbeiten, berechenbar Politik zu machen ist dabei, wieder im Nebel der Geschichte zu verschwinden. Das muss irritieren und tut es auch. Zumal unklar ist, was danach kommt. Das Land ist von einer seltsamen Mutlosigkeit befallen, die Mehrzahl der Deutschen vermag sich die Zukunft derzeit nur als eine Addition von Zumutungen vorzustellen. An das einstige Lieblingswort der politischen Parteien, die keinen Parteitag abhielten, kein Thesenpapier verfassten, keine Regierungserklärung verlasen, ohne das Zauberwort »Zukunft« ganz nach oben zu setzen, reiht sich heute wie von selbst das Wort »Angst«. Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor Altersarmut, Angst vor dem gesellschaftlichen Absturz, Angst auch davor, das Unvermögen der Parteien zur Lösung der Probleme könne die 45
Demokratie vor eine neue Belastungsprobe stellen. Dankbarkeit für vergangene Dienste ist in dieser Situation von den Wählern nicht zu erwarten, was ihnen niemand vorwerfen sollte. Die Demokratie ist, wenn sie funktioniert, ein effektives, zuweilen herzloses System der Zukunftsgewinnung. Ein Politiker, der diese Hoffnung nicht mehr verkörpert, hat ausgedient. Auf große Namen nimmt das Volk dabei erkennbar keine Rücksichten. Der schon zu Lebzeiten übergroße Churchill, dem es gelang, die zunächst kriegsunwilligen USA mit Stalins Roter Armee zur Anti-Hitler-Koalition zu vereinen, wurde in der Stunde seines größten Triumphes aus dem Amt gejagt. Das Volk hatte sich nach geschlagener Schlacht ohne jede Sentimentalität von ihm ab- und den innenpolitischen Problemen zugewandt. »Stellen wir uns der Zukunft«, hatte die Labour Party ihr Programm überschrieben. Diese Zukunft aber traute das Volk dem vor außenpolitischem Ehrgeiz dampfenden Churchill nicht mehr zu. »Und wer würde sagen, dass das britische Volk damit Unrecht hätte?«, notierte Churchills engster Mitstreiter, Außenminister Anthony Eden, in seinem Tagebuch. Helmut Kohl erging es nicht anders. Zwar hinterließ der konservative Kanzler nach 16 Jahren Regierungszeit ein geeintes Europa und ein wiedervereinigtes Vaterland, was den Frieden so sicher macht, dass an Krieg in unseren Breiten kaum mehr zu denken ist. Die Panzersperranlagen sind demontiert, der Todesstreifen weggebaggert, die Uniformen und Embleme der DDR-Grenztruppen wanderten in den Devotionalienhandel. Aber man traute ihm die Wohlstandsmehrung nicht mehr zu. Das Volk, von Heinrich Heine einst »der große Lümmel« genannt, handelte in seinem Fall höflich und klug zugleich: Es verabschiedete den großen Kanzler, wo immer er sich auf den Marktplätzen zeigte, mit Ovationen, 46
so dass Kohl für wenige Wochen von einem letzten, fulminanten Wahlsieg träumte. Gewählt haben die Leute dann freilich anders als geklatscht. Die wirklichen Sorgen beginnen mit dem neuen Kanzler, der nun sechs Jahre regiert, und die Erwartungen, die er weckte, bisher nicht erfüllen konnte. Zwar blieb der Frieden – was nicht anders zu erwarten war – gesichert. Die Außenpolitik erlebt sogar eine Blütezeit, da sie mit gebührendem Abstand zur Wiedervereinigung eine Neudefinition deutscher Interessen wagte. In Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten von Amerika unter Präsident George W. Bush entstand eine »neue Normalität« (ZEITHerausgeber Michael Naumann), die dem Land im Innern Selbstbewusstsein verleiht und außen Einfluss verschafft. Nicht ohne Stolz charakterisiert Gerhard Schröder sein Land heute als »europäische Mittelmacht« und das Verblüffende ist: Niemand zuckt und keiner widerspricht. Die Hoffnung auf Wohlstandsmehrung aber, die sich mit dem Amtsantritt Schröders verband, hat sich bis heute nicht erfüllt. Die Reallöhne sind rückläufig. Sein Wahlversprechen, die Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen zu senken, galt damals als wenig ehrgeizig und ist, aufgrund der enormen Kräfte, die das Land nach unten ziehen, nun fürs Erste unerreichbar geworden. In diesem Winter sind es deutlich mehr als vier Millionen Menschen, die ohne Job dastehen, und ein ohnehin überforderter Sozialstaat wird auch sie alimentieren müssen. Dabei kann er schon heute seine laufenden Verpflichtungen nur dank immer neuer Kredite erfüllen; der Schuldenstand hat sich bisher mit jeder neuen Regierung, entgegen ihren Versprechungen und entgegen auch ihrer tatsächlichen Absicht, deutlich erhöht. Schröder steht, wie sein Vorgänger auch, ökonomisch mit leeren Händen da: Wir haben mehr Arbeitslose, mehr Schulden, mehr Sozialhilfeempfänger 47
als jemals zuvor in der Nachkriegsgeschichte. Pro Kopf ist der Wohlstand noch immer hoch, aber seit einigen Jahren schrumpft er spürbar, Monat für Monat ein bisschen. Die Basis für den Wohlstand von morgen ist mittlerweile derart erodiert, dass unklar ist, welche Art von Zukunft da heranreift. Eine, die das Prädikat »rosig« verdient, sieht anders aus.
Die verschiedenen Fehlfunktionen der Volkswirtschaft sind derart gravierend, dass sie von allein nicht verschwinden können. Die Probleme werden sich in den kommenden Jahren für alle sichtbar im Alltag auch der Mittelschichten einschleichen. Deutschland ist seit Jahren dabei, mehr Armut und weniger Wohlstand zu produzieren, was sich früher oder später im Straßenbild nicht mehr verheimlichen lässt. Der Abstieg einer Nation ist nichts anderes als die Summe von Millionen Einzelabstiegen. Es beginnt in den ehemaligen Arbeiterquartieren und den Vorstädten, wo der Putz der Häuserfassaden blättert und die Balkons auch tagsüber schon bevölkert sind. Es frisst sich vor in die Fußgängerzonen der Innenstädte, wo die Papierkörbe nun auf Brauchbares durchwühlt werden und sich in den Hauseingängen im Winter düstere Gesellen 48
einnisten. Es dauert eine Weile, aber dann hat die Krise auch das Bürgertum erreicht, das seine Zukunftserwartungen enttäuscht sieht und die Gegenwart als einen schleichenden, zähen, alle Laune verderbenden Niedergang erlebt. Irgendwann, das kann in der Demokratie nicht anders sein, ist dieser Zersetzungsprozess auch im Parlament angekommen, verändert mit stählerner Hand erst den Stil der Debatte, dann die Mehrheitsverhältnisse. Demokratie und Marktwirtschaft sind wie siamesische Zwillinge, in guten wie in schlechten Tagen bleiben sie einander eng verbunden. Der eine ist ohne den anderen nicht lebensfähig, gerät der eine ins Taumeln, stolpert der andere hinterher. Schon heute ist Deutschland das, was Paul Kennedy nicht ohne warnenden Unterton eine »unglückliche Nation« nennt. Der israelische Botschafter in Berlin, Shimon Stein, empfindet die Deutschen heute als »orientierungslos«, was ihn mit einiger Sorge erfüllt. Die Deutschen spüren, dass es mit ein paar Ankündigungen und selbst den unter Schmerzen erstrittenen Reformen der rotgrünen Regierung nicht getan ist. Der wirtschaftliche Riese Deutschland steigt ab, mit langsamen, schweren Schritten, wie von Roboterhand gesteuert. Die Experten starren auf das Armaturenbrett der Volkswirtschaft, das im Wochentakt alle Bewegungen des Landes registriert, den Schuldenstand, die Arbeitslosenzahl, die Verfassung von Renten- und Gesundheitssystem. Selbst die Stimmung von Investoren und Verbrauchern wird genau vermessen. Alle Experten lauern auf Signale des Aufbruchs, zumindest auf ein Zeichen der Richtungsänderung, und sei es noch so zaghaft. Doch nichts dergleichen geschieht, seit Jahren nicht, es scheint wie verhext. Alle Armaturen drehten seit dem Regierungswechsel weiter in den Minusbereich. 49
Der Riese stapft unvermindert nach unten und niemand, so scheint es, versperrt ihm den Weg. Der angekündigte konjunkturelle Aufschwung ist zu schwach, ihn zu stoppen. Die bisher verabschiedeten Reformen waren ein großer Schritt für die SPD, aber ein kleiner für das Land. Die Rezepturen der Union blieben weitgehend wirkungslos in 16 Jahren des Regierens und wurden erst in der Opposition überarbeitet, dann allerdings kraftvoller, als viele es erwartet hatten. Ob die neuen Konzepte den erneuten Wechsel in die Verantwortung überleben würden ist ungewiss, denn die Gemeinsamkeiten der Volksparteien sind groß und die Verbundenheit mit dem Status quo sitzt tiefer, als es die Vorsitzer von SPD und CDU wahrhaben wollen. Denn unbestreitbar ist: Niemand hat es bisher vermocht, den Energiekern der Volkswirtschaft zu verändern, von dessen Strahlungsintensität alles abhängt. Wir werden uns mit diesem Energiekern gleich ausführlich beschäftigen, er ist das Zentrum des Problems und daher ist nur hier eine Lösung zu finden. Im Moment schrumpft er, seine Energieintensität sinkt, seine äußere Hülle erkaltet. Die Folgen sind absehbar, aber nicht für alle sichtbar, weshalb wir sie hier beschreiben wollen. Denn es geht um den historischen Abstieg eines Landes, dessen Aufstiegselan erlahmt ist, das wie so viele Absteiger zuvor seine Kraft erst überschätzt, dann überdehnt hat und sich seit längerem dem Selbstgespräch verweigert. Viele, darunter auch Spitzenpolitiker der Parteien, geben sich mit dem Ungefähren zufrieden, reden über politische Gegenstrategien, ohne sich mit dem Befund beschäftigt zu haben; sie leiten die ökonomische Analyse aus ihren politischen Interessen ab, anstatt umgekehrt zu verfahren. So bleiben im öffentlichen Meinungskampf vor allem Unschärfen zurück: Strukturkrise oder konjunkturelles Zwischentief? Erleben wir das Ende von Wachstum 50
und Wohlstand oder doch nur eine ausgeprägte Wachstumsdelle, die sich womöglich gerade wieder zurückbildet? Haben wir es mit der Erblast der Regierung Helmut Kohl zu tun oder besichtigen wir das missratene Aufbauwerk einer rot-grünen Regierung? Und ist nicht der langwierige Aufbau im deutschen Ostland, wie viele behaupten, der eigentliche Ausgangspunkt aller Schwierigkeiten? Die Etikettierungen der bisherigen Debatte enthalten nur Teilchenwahrheiten, die selbst wenn man sie zusammenfügt kein Ganzes ergeben. Werfen wir also einen Blick auf das Armaturenbrett der Volkswirtschaft: Das erste und eher noch spielerische Frühsignal einer Funktionsstörung der Volkswirtschaft liefert – mit allerdings doch verblüffender Genauigkeit – das Gewerbe der Bierbrauer und Spirituosenhersteller. Wer Sorgen hat, hat auch Likör, die alte Volksweisheit stimmt: Fallen die Temperaturen der Volkswirtschaft, steigt das Verlangen nach alkoholischen Getränken. Meist deutlich bevor der Arbeitsplatz verloren und die Existenz bedroht sind, ziehen bei den Bürgern die Sorgenwolken auf, so dass hier früh schon ein erster Blick auf die Gemütsverfassung unserer Landsleute frei wird. England meldete für die Krisenjahre 1970 bis 1974 einen Anstieg des Alkoholkonsums um 24 Prozent. Auch in Deutschland hat nicht zuletzt die rapide steigende Arbeitslosigkeit Anfang der achtziger Jahre zu einem Ansteigen des Konsums um 14 Prozent allein im Jahr 1984 geführt. Zum Beginn der neunziger Jahre verzeichneten die einschlägigen Verbände erneut eine spürbare Belebung der Geschäfte. Als hätten die Bürger die enormen Probleme der Wiedervereinigung geahnt, stieg ausgerechnet der ProKopf-Spirituosenumsatz im Jahr 1991 gegenüber 1990 um fast 25 Prozent, wie das Verbraucherschutzministerium 51
meldete. Der zweite Warnblinker ist ernster zu nehmen: Er blinkt in den Haupteinkaufsstraßen der Städte, noch deutlicher oft in ihren Nebenarmen. Dort tauchen plötzlich die Schilder der Immobilienmakler auf, die um neue Mieter buhlen, meist provisionsfrei. Wobei man sich unwillkürlich wundert, wie zahnlos jene Spezies geworden ist, die einst ehrfürchtig Immobilienhaie genannt wurde. Jetzt arbeiten sie offenbar schon umsonst. Das Hauptaugenmerk aber gilt den Geschäften und Büros, die zu besseren Zeiten Orte von wirtschaftlicher Aktivität waren. Erst schließt ein Laden, dann ein zweiter, beim zehnten hört man auf zu zählen. In der noblen Berliner Friedrichstraße, eine der längsten und bedeutendsten Straßen der Hauptstadt, gibt es kein größeres Haus, das nicht an der Fassade ein Transparent gespannt hätte, auf dem Büro- und Einzelhandelsflächen im Hundert-Quadratmeter-Pack angeboten werden. Der Leerstand in Deutschland hat in den letzten zehn Jahren um fast 400 Prozent zugenommen, obwohl der Neubau nur noch im Schneckentempo vorangetrieben wird. Derzeit stehen so viele Flächen leer, dass alle Läden und Büros der Bankenstadt Frankfurt dort hineinpassten. In Deutschland hat sich eine Immobilienblase entwickelt, die in nicht allzu ferner Zukunft in sich zusammensacken wird. Wer dem eigenen Augenschein misstraut, sollte sich bei den ehemaligen Kunden dieser nun leer stehenden Verkaufsräume umschauen. Wo sind sie geblieben, was tun sie mit ihrem Geld? Ihre Unlust, Dinge zu kaufen und Arbeiten an Dienstleister zu vergeben, lässt sich heute exakt messen; die Banken tun es jeden Tag. Anhand der Kontostände auf den Spar- und Girokonten wissen sie sehr genau, was die Menschen von der Zukunft erwarten, so dass man sich ein besseres Frühwarnsystem kaum wün52
schen kann: In der Krise schwellen die Konten regelmäßig an. In Japan, das nun den zehnten Krisenwinter in Folge durchlebt, waren die Bankkonten jahrelang prall gefüllt. Die Leute weigerten sich, ihre Gehälter und Renten auszugeben. Alle Versuche der Regierung und der Zentralbank, die Kreditvergabe oder überhaupt das Geldausgeben zu stimulieren, schlugen zunächst fehl. Obwohl man in Tokio und anderswo im Lande das Geld zum Minimalzins von nahezu null Prozent und damit, wenn die Inflation abgerechnet wird, praktisch umsonst bekam. Niemand wollte es haben. Erst in jüngster Zeit sank die Sparquote wieder. In Deutschland sieht es besser aus, aber nicht gut. Die Sparquote gehört zu den höchsten der Welt und wurde im vergangenen Jahr nochmals ausgebaut. Mittlerweile bleiben elf Prozent des verfügbaren durchschnittlichen Einkommens einfach auf dem Konto liegen und das nicht deshalb, weil die Leute nicht wüssten, was sie kaufen sollen. Der Grund der Zurückhaltung ist Unsicherheit, die Ökonomen sprechen vom Angstsparen. Einen Vorteil hat die deutsche Sparsamkeit allerdings auch. Wenn sich das Land erholt, liegt auf den Konten jener Treibstoff, den die Wirtschaft für den nächsten Steilflug dringend braucht. Anders als in den USA, wo die Haushalte aus Prinzip über ihre Verhältnisse leben, für den Aufschwung gibt es dort keinen anderen Stoff als neue Schulden. Die Notsignale liefern erste Hinweise, aber keinerlei Gewissheiten. Man darf sich nicht auf sie verlassen. Der Abstieg eines Staates, den sie scheinbar ankündigen, kann sich schnell als ein konjunktureller Abschwung enttarnen, wie er im dauernden Auf und Ab der Weltwirtschaft seit jeher üblich ist. Es gelingt keinem Land der Erde, alle Antriebskräfte derart im Gleichgewicht zu halten – die Löhne, die Preisstabilität, den Außenhandel und das 53
staatliche Defizit –, dass auf Dauer die gleiche Flughöhe gehalten werden könnte. Die Wissenschaftler tüfteln zwar immer neue Instrumente aus, sie träumen vom ewigen Wohlstand in einer nahezu schwankungsfreien Gleichgewichtswirtschaft. Mit gleicher Prophetengeste wurden das papierlose Büro und die menschenleere Fabrik angekündigt, die bekanntlich noch immer auf sich warten lassen. Die Wachstumszahlen der Volkswirtschaft sind ebenfalls kein zuverlässiger Gradmesser. Sie geben keinen Aufschluss über das, was sich im Energiekern der Volkswirtschaft wirklich tut. Bestenfalls Anhaltspunkte können sie liefern über den Zustand des Landes. Die Wachstumsgeschichte der Bundesrepublik teilt sich in drei Phasen. Phase eins ist die ruhmreiche Zeit von 1950 bis 1970, jene Ära, die mit dem Wirtschaftswunder begann und die auch danach durch allgemeines Wohlergehen gekennzeichnet blieb: Die Wirtschaft wuchs real um legendäre 107 Prozent in der ersten Dekade und legte in den zehn Jahren danach nochmals um real 55 Prozent zu, was das weltweite Aufsehen erklärt. Es waren die Jahre, die im Nachhinein als die goldenen scheinen. Das hatte den Deutschen keiner im Ausland zugetraut. Die einen staunten, die anderen ängstigten sich. Und viele taten beides. Denn natürlich war es beeindruckend zu erleben, wie ein Volk aus dem scheinbaren Nichts der brennenden Städte plötzlich wieder Autos und Stahl, Chemikalien und Kraftwerke zauberte, deren Qualität beachtlich war. Übermütig tauften die hiesigen Politiker diese schönste aller Realitäten auf den Namen »Modell Deutschland« und taten von nun an so, als hätten sie eine Zauberformel für hohe Wachstumsraten entdeckt. Die soziale Sicherheit, die geringen Konflikte mit den Gewerkschaften, die kompli54
zierte, aber eben fein austarierte Machtbalance im Staate seien die Grundlagen unseres Erfolges, hieß es nun. Das klang gleichermaßen vernünftig wie beruhigend, weshalb es allgemein geglaubt wurde. Der Glaube war so stark, dass viele gar nicht bemerkten, wie das Wunderland schon in Phase zwei hinübergeglitten war, die von 1970 bis zur Wiedervereinigung 1990 reichte und in der die Dinge sich anders entwickelten, als von den Erfindern des deutschen Modells gedacht. Es waren die Jahre der Ernüchterung. Arbeitslosigkeit und Staatsschuld schoben sich mit großer Geschwindigkeit ins Bild, als wollten sie alle Erfolge der Wunderjahre verdunkeln. In den siebziger Jahren betrug die Wachstumsrate nur noch 31 Prozent, in den achtziger Jahren bremste der Motor dann auf 23 Prozent ab. Von einer jährlichen Wachstumsrate, die in den fünfziger Jahren bei rund acht Prozent jährlich lag, war das Land nun bei zwei Prozent gelandet. Das wäre für sich genommen nicht dramatisch, wenn nicht im selben Zeitraum die zuvor unsichtbaren Krisensymptome sich nun aufreizend deutlich zeigten. Die Arbeitslosigkeit wuchs von 1970 bis 1990 um 1100 Prozent, die Staatsverschuldung um 750 Prozent. Er war die Zeit der schriller werdenden Notsignale und der Erste, der sie mit großer Sorge registrierte, war SPD-Minister Karl Schiller, der damals das Wirtschafts- und Finanzressort gleichzeitig führte, was ihm den Namen »Superminister« einbrachte. Obwohl er selbst an die Planbarkeit der Wirtschaft glaubte, wollte er 1971, was niemand außer ihm damals wollte: nämlich sparsam sein. In seiner Regierungszeit allerdings geisterten andere Parolen durch die Stuhlreihen der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion. Aufgabe der SPD sei es, »die Belastbarkeit der Wirtschaft zu testen«, hieß es dort. Der zweite Spitzenmann, der frühzeitig die Notsignale 55
erkannte, war Otto Graf Lambsdorff. Als Wirtschaftsminister verfasste der FDP-Politiker am 9. September 1982, also zehn Jahre nach Schiller, ein Papier, das den sperrigen Titel »Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« trug und in dem schnörkellos formuliert war, was die Regierung tun müsse, aber eben nicht tat. Ständig steigende Sozialleistungen, Subventionen aller Art und die Ausgaben für den Öffentlichen Dienst seien verantwortlich für die expansiven Staatsausgaben und sollten reduziert werden, die private Wirtschaft brauche wieder mehr Luft zum Atmen. »Die gegenwärtig besonders deutliche Vertrauenskrise ist nicht kurzfristig entstanden«, schrieb er, die strukturellen Verhärtungen seien »in eine erhebliche Dimension hineingewachsen«, so dass jetzt ein »Mindestmaß an politischer Entschlossenheit sowie wirtschaftlicher und sozialer Anpassungsbereitschaft mobilisiert« werden müssten. Die Forderung nach weiterer Ausweitung staatlicher Sozialleistungen bei verkürzter Arbeitszeit sei angetan, warnte Lambsdorff, »die frühere Eigendynamik und das Selbstvertrauen der deutschen Wirtschaft zu schwächen«. Die Analyse des Grafen führte nicht zur Veränderung des politischen Urstroms, wohl aber zur Veränderung der Regierungskoalition. Die FDP wechselte am 1. Oktober 1982 den Koalitionspartner, ließ CDU-Parteichef Helmut Kohl, dessen Partei die vorangegangenen Wahlen verloren hatte, zum Kanzler wählen. »Verrat«, plakatierte die SPD, wobei der eigentliche Verrat darin bestand, dass sich auch danach nichts Wesentliches änderte. Erst in Phase drei, das Land war mittlerweile um 110000 Quadratkilometer, fünf Bundesländer und 16 Millionen Menschen gewachsen, fing die Sache an, brenzlig zu werden. Es begannen die verlorenen Jahre: Die ohnehin 56
zuletzt nicht mehr rekordverdächtigen Zuwächse halbierten sich nach 1990 auf nur noch 12 Prozent für ein ganzes Jahrzehnt, bevor die Volkswirtschaft das Wachsen praktisch einstellte – 2001: 0,8 Prozent, 2002: 0,2 Prozent, 2003: 0,0 Prozent. Parallel dazu breiteten sich weiterhin jene Phänomene aus, die das Land schon in Phase zwei begleitet hatten: Arbeitslosigkeit und Staatsschulden. Die Arbeitslosigkeit wuchs seit der Deutschen Einheit nochmals um knapp 60 Prozent, die Staatsschuld verdoppelte sich auf nunmehr 1350 Milliarden Euro. Es ist, als laufe der Erfolgsfilm »Wirtschaftswunder« rückwärts ab. Die Beschwichtiger sprechen jetzt von den Folgen der deutschen Einheit, die nun mal beides seien: unschön, aber unabweislich. Dabei veränderte die Einheit keineswegs die Entwicklungsrichtung, sie verstärkte nur jene Prozesse der ökonomischen Verlangsamung, des relativen Abstiegs, der lange vorher begonnen hatte. Deutschland wurde zur »Slow-Motion-Society«, sagt Bert Rürup, Professor und Regierungsberater. Ein Rätsel ist es schon, was da passiert ist mit einem Land, das den Wiederaufstieg so fulminant absolvierte, das wider alle Erwartungen und trotz miserabler Startbedingungen sich an die europäische und zeitweise an die Weltspitze schob, das überall auf dem Globus aus Gegnern Bewunderer machte, aus Feinden Partner, das die destruktive Kraft der vorangegangenen Epoche in eine Produktivkraft verwandelte, die ihresgleichen suchte. Warum ein Großteil dieser positiven Energien sich verflüchtigen konnte, warum aus einer zupackenden Arbeiterschaft und risikobereiten Unternehmern ein Volk von Ängstlichen wurde, weshalb die stimulierende Rolle von Interessenvertretern und Politikern umschlug in eine Kraft der Beharrung und zum Teil auch der Verweigerung, muss später geklärt werden. Die ökonomischen Zahlen 57
können diese Fragen nicht beantworten, sie geben lediglich Auskunft darüber, wo Deutschland steht, aber nicht warum. Sie sagen uns alles über den Status quo, aber nichts über seine Entstehung. Und Gott sei Dank, muss man hinzufügen, ist der heutige Zustand nicht zugleich Zukunftsprognose, auch wenn das in der öffentlichen Debatte zuweilen so scheinen mag. Womit wir bei den Realitäten wären, die wir gründlich und ohne Furcht betrachten sollten. Sie entsprechen in ihrer Fülle nicht dem Bild, das die Politiker von Deutschland zeichnen. Und sie spiegeln nicht annähernd das wider, was die Mehrzahl der Deutschen über ihr Land denkt. Die ruhmreiche Vergangenheit, selbst wenn es sich um eine nicht selbst erlebte handelt, ist in den Köpfen derart übermächtig, dass die meisten nicht bereit sind zu erkennen, dass der relative Abstieg sich seit den ersten Warnsignalen enorm beschleunigt hat. Den internationalen Wettlauf kann der Einzelne schlecht überblicken. Man sieht selbst bei Auslandsreisen den Menschen nicht an, was sie verdienen. Wenn man es sehen könnte, würden viele zusammenzucken. Denn das persönliche Durchschnittseinkommen, also der vielleicht wichtigste Leistungsnachweis einer Volkswirtschaft, sackte im Vergleich zu nahezu allen industrialisierten Ländern ab. Deutschland war Spitze und ist es seit Jahren nicht mehr. Angesichts ständig steigender Steuern und Sozialabgaben sinkt die Nettoeinkommensquote rapide. Praktisch im Quartalstakt taucht ein neues Land neben Deutschland auf, zieht zunächst gleich, um dann in kleinen, aber kraftvollen Schritten vorauszueilen. Staaten wie Holland, Schweden und Finnland sind vorbeigezogen, genauso wie die großen auch, Frankreich und England zum Beispiel. Sie alle produzieren mehr Wohlstand und weniger Arbeitslose, mehr Wachstum und 58
weniger Krisenangst. Nehmen wir Großbritannien: Deutschland hatte den »kranken Mann Europas«, als er noch krank war, in den sechziger Jahren, überholt. 1976, kurz bevor Thatcher mit ihrer Sanierung begann, war die Pro-Kopf-Leistung eines Deutschen doppelt so hoch wie die eines Briten. Dann begann – unter Schmerzen, wie wir wissen – die Aufholjagd, bei uns aber ging es im alten Trott weiter, was nichts anderes bedeutete, als weiter abwärts. Heute liegt der britische Pro-Kopf-Ausstoß an produzierten Waren und Dienstleistungen wieder deutlich über dem eines Deutschen. Das heißt, der durchschnittliche Brite schafft mehr Wohlstand, als ein Deutscher es in derselben Zeiteinheit tut. Werfen wir einen Blick nach Frankreich. Die Franzosen ersparten sich eine Radikalkur und haben ihr Land trotzdem reformiert, langsamer und leiser, so dass wir es kaum wahrgenommen haben. Wir schauten auf Mercedes und sahen nicht, wie Peugeot aufstieg. Wir verfolgten die schwierige Sanierung im deutschen Osten und bemerkten nicht, wie mächtig die französische Ölindustrie geworden war, nachdem der Staat aus drei Unternehmen eins gemacht hatte, das sich erst Total-Fina-Elf nannte und nun Total heißt. Es wird im globalen Wettlauf gut mithalten können. In nahezu allen Branchen schufen der Staat und die Wirtschaft Hand in Hand jene »nationalen Champions«, die heute weltweit mitspielen. Der Brüsseler Wettbewerbskommissar Mario Monti stellte erst kürzlich fest: »Frankreich ist das Land, das es verstanden hat, die größte Zahl großer Wirtschaftsspieler zu schaffen.« Wie auch immer die Veränderungen im Detail aussehen, wichtig ist das Ergebnis: Mitte der achtziger Jahre lag der deutsche Pro-Kopf-Ausstoß noch um 20 Prozent vor dem eines Franzosen, im Jahr 2002 war der Vorsprung dahin. Die 59
Franzosen produzieren seither mit jedem Werktag mehr Wohlstand als wir.
Mittlerweile schüttelt man in den Chefetagen der dortigen Industrie den Kopf über die Deutschen, so wie wir es taten, als der sozialistische Parteichef und spätere Präsident Franςois Mitterrand voller Elan daran ging, die Großunternehmen zu verstaatlichen. Es ist noch nicht lange her, dass der Vorstand von Peugeot über seine Europastrategie beriet: Jedes Land mit seinen Stimmungen und Problemen wurde im Detail durchgesprochen. Assistenten des Vorstandes hatten Dias vorbereitet, die auf einen Blick die Situation im Land erhellen sollten. Für Deutschland entschied man sich für ein Spiegel-Titelbild, das eine chromblitzende Bierdose zeigt: »Operation 60
Dosenpfand.« In die fragenden Gesichter seiner Zuhörer, darunter Christian Peugeot, ein Nachkomme aus der Gründerfamilie, erklärte der Deutschlandchef die Sklerose des Nachbarstaates – viel Bürokratie, zu viel Selbstbeschäftigung, so konnte die Einführung eines Dosenpfands vom umkämpften Politikum zur Posse werden. Es bereitete den Anwesenden Sorge und ein kleines Vergnügen bereitete es ihnen auch. Wenn wir jetzt nach Paris oder London fahren würden: Sind diese Einhol- und Überholprozesse dann mit bloßem Auge zu sehen, sind unsere Nachbarn tatsächlich materiell reicher, als wir es heute sind? Sind sie nicht, und sehen werden wir auch nicht viel. Denn Auf- und Abstiege von Staaten sind keine Berg- und Talfahrten wie auf dem Oktoberfest. Der Vermögens- und Substanzaufbau der Deutschen, in langen Jahren erarbeitet, wird nicht mit zwei, drei Jahren erhöhtem Produktionsausstoß anderenorts zunichte gemacht. Ist das beruhigend? Das leider auch nicht. Denn wenn das bloße Auge den Abstand erst ausmachen kann, ist der Vorsprung derart ausgebaut, dass es immer schwerer wird, noch Anschluss zu finden. Die Veränderungsprozesse sind langwierig, aber eben in beide Richtungen. Das ist ein nicht unwesentlicher Unterschied zur kriegerischen Auseinandersetzung des vergangenen Jahrhunderts: es geht nicht wie im Schützengraben an jedem Tag um alles oder nichts, Erfolge können nicht in wenigen Monaten verspielt, Misserfolge allerdings im Umkehrschluss auch nicht auf die Schnelle korrigiert werden. »In der Wirtschaft stirbt es sich langsam«, sagt Siemens-Chef Heinrich von Pierer.
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Kernschmelze im Energiezentrum Stoßen wir ins eigentliche Energiezentrum des Landes vor: Der produktive Kern der Nation, von dessen Energieleistung alles andere abhängt, interessiert uns nun. Wenn wir die Volkswirtschaft aus der Luft betrachten, ausgestattet mit dem technischen Instrumentarium des Geologen, können wir ihn unter der Erdkruste deutlich erkennen: er lodert in der Mitte feuerrot, selbst an den Rändern glüht er noch. In dieser Sphäre hoher Energiekonzentration entsteht im virtuosen und sich immer wieder verändernden Zusammenspiel von Kapital und Arbeit jene Kraft, die nach außen in die Kruste abstrahlt.
Dort, weit außerhalb des Kerns, liegen die blau schimmernden Regionen, die keinerlei Energieleistung mehr erbringen, die es, wie Rentner und Arbeitslose, früher getan haben und nun erkaltet sind. Dazwischen finden wir die schönen Künste, die das Leben erst lebenswert machen. Allerdings geht es bei der Betrachtung dessen, was wir den produktiven Kern oder den Energiekern des Landes nennen, nicht um gut oder böse, um links oder rechts, um schön oder unschön, es geht hier um eine 62
einzige Kategorie: Schafft eine bestimmte Aktivität zusätzlichen Wohlstand oder verzehrt sie Wohlstand, ist sie plus oder minus im Energiehaushalt unserer Volkswirtschaft? Wir sollten diese Frage nicht verwechseln mit der sehr ähnlichen und nur deutlich bequemeren Frage: Gehört diese oder jene Aktivität zu unserer Wohlstandsgesellschaft dazu und können wir uns ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen? Das mag so sein, aber ist hier unwichtig, weil wir mit dem kühlen Blick des Wissenschaftlers die Dinge betrachten wollen. Die ökonomische Energie im Zentrum der Volkswirtschaft lässt eine Leistung entstehen, die nicht gleich von ihrem Erbringer verbraucht wird, von der etwas übrig bleibt für Investitionen, die allgemeine Wohlfahrt, die Pensionen der Beamten, eben für eine der vielen Leistungen, die anderswo verzehrt werden. Um diese Unterscheidung der Welt geht es uns: Wo sind die Leistungserbringer und wo die Leistungsbezieher zu Hause? Kann unsere Nation auf Ludwig van Beethoven, Johann Wolfgang von Goethe und die Jugendarbeit der Kirchen verzichten, werden nun einige fragen? Sie kann vielleicht, aber sie sollte es nicht tun. Vor allem sollten wir uns jetzt nicht derartig unsinnige Fragen stellen: Sie stellen sich in der Realität nicht, erstens. Und zweitens führen sie uns fort vom Energiezentrum der Volkswirtschaft. Denn klar ist doch auch: Hätten wir hier über die kulturelle Substanz unseres Landes zu urteilen, sähe die Sache anders aus. Die Anzugträger in den Büros, die Blaumänner in den Werkshallen wären dann am Rande der Betrachtung. Es käme darauf an, den kulturellen Kern zu erfassen, ihn zu verstehen, möglichst sauber zu definieren in Abgrenzung zu allen anderen Aktivitäten der Gesellschaft: Wie viele Autoren besitzt das Land? Welche Literaturpreise von internationalem Rang konnten sie einheimsen? 63
Doch uns geht es hier um die ökonomische Potenz und nur um sie. Die Einseitigkeit in der Frage bedingt die Einseitigkeit in der Antwort. Allen Versuchen, die Grenze zwischen produktiv und nicht produktiv zu verwischen, muss hier daher widerstanden werden. Wir wollen ja gerade den Nebel vertreiben und klarer als bisher erkennen, was im Inneren unserer Volkswirtschaft los ist. Dass die kulturellen Aktivitäten der bundesdeutschen Freizeitgesellschaft, auch wenn sie nicht als geldwerte Ware angeboten werden, wie Schülertheater und Kirchenchor, die Energieleistung des produktiven Kerns beeinflussen können, versteht sich von selbst. Aber sie können ihn eben auf keinen Fall ersetzen. Auch die zahlreichen karitativen und sozialen Engagements, von der Krabbelgruppe bis zum Seniorenabend des Roten Kreuzes, gehören zu einer zivilen Gesellschaft dazu, wirken förderlich auf die Arbeit im Innern. Aber das alles ändert nichts daran: Der Wohlstand einer Nation hat seine Quelle nahezu ausschließlich im Kern. Der besteht aus drei Teilen, die in ihrer Energieleistung von unterschiedlicher Intensität sind. Da ist im Innersten zunächst die Sphäre von Bildung und Wissen, die in einem nahezu rohstofffreien Land als Vorstufe der eigentlichen Wertschöpfung betrachtet werden muss. Sie ist die zentrale Ressource, die eigentliche Kernenergie des Landes, ohne die der Produktionsfaktor Mensch so leer wäre wie ein Computer ohne Softwareprogramm. Nur das sich ständig erneuernde Wissen des Menschen hält den Maschinenpark der Volkswirtschaft am laufen, schafft jene Ideen, aus denen später Produkte entstehen können. In dieser Sphäre entstanden die bahnbrechenden Erfindungen eines Gottlieb Daimler, die Theorien eines Albert Einstein, die Weltneuheiten des Pioniers Werner von Siemens. Aber auch innovative Vertriebsideen wie die 64
Buchclubs des Reinhard Mohn, pharmazeutische Bestseller wie Aspirin und theoretische Abhandlungen von Weltrang wie die von Karl Marx sind in diesem innersten Kern entstanden, der ausschließlich dem Wissen und der Innovation dient, der noch keine Rentabilität nachweisen kann und muss und dennoch die entscheidende Voraussetzung für die spätere Rendite ist. Es sind die grundlegenden Innovationen, die großen wie die kleinen Erfindungen, die am Beginn der Wertschöpfungskette stehen. Sie haben für Deutschland die selbe Bedeutung wie das Erdöl für die Arabischen Emirate, wie der Schnee für die Skigebiete, wie Saatgut und Sonne für den Bauern, und es ist noch keine zweihundert Jahre her, dass auch auf jenem Flecken Erde, der sich heute Deutschland nennt, Arbeit und Wohlstand ausschließlich von der Fruchtbarkeit der Böden abhingen. Heute allerdings sind nahezu all unsere Produkte, ob Autos, Handys oder Softwareprogramme, geronnene Geistesleistung, die ihren oft höheren Preis durch das mehr an eingebauter Innovation rechtfertigen. Auch die bessere Art der Unternehmensorganisation, oft das Ergebnis neuer Managementmethoden, ist im Zeitalter der Konglomerate eine Quelle von Innovation und Wachstum. Der Prozess der Erneuerung, ob durch Technik oder eine clevere Organisationsidee vorangetrieben, ist heute der alles entscheidende Basisprozess, er hat sich im Zuge der Globalisierung, die eine Vielzahl neuer Länder in den Wettbewerb katapultierte, enorm beschleunigt. Ein Großkonzern wie Siemens, der jährlich rund 5,8 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung ausgibt, verkauft mittlerweile vom Kraftwerk bis zum satellitengesteuerten Kommunikationssystem eine Produktpalette, die alle fünf Jahre neu erfunden wird. 1980 wurden erst 48 Prozent des Umsatzes mit Produkten erzielt, die jünger als fünf Jahre 65
waren, 1985 bereits 55 Prozent und 2001 erreichte diese Quote stolze 75 Prozent. In der Autoindustrie das gleiche Bild: Die internationale Spitzenposition der deutschen Hersteller Porsche, Mercedes und BMW ergibt sich im Wesentlichen aus der Technologieführerschaft ihrer Autos und diese wiederum ist Folge hoher Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Der Wert einer Pharmafirma besteht nahezu ausschließlich in ihrer Fähigkeit, eine so genannte Produktpipeline zu bauen, in der Forschungsgeld und Forschergeist zu einem neuen Medikament gerinnen. Wenn es dann noch gelingt, eine Innovation weltweit als eigenständige Marke zu etablieren, liefert sie noch Jahrzehnte danach Profite wie aus dem Märchenland: Die Umsatzrendite des Schmerzmittels Aspirin, also jener Anteil vom Verkaufspreis, der als Gewinn in der Konzernkasse bleibt, beträgt nach internen Berechnungen der Firma 60 Prozent. Zum Vergleich: Lebensmittelfilialisten wie die Gebrüder Aldi erwirtschaften mit ihren Verkaufsstellen nur eine Umsatzrendite von 1,5 bis 3 Prozent.
Je schärfer die Lohnkonkurrenz der Schwellenländer, desto bedeutsamer sind Ideenvorsprünge, die mit nichts anderem als mit immer neuen, kühnen Ideen verteidigt werden können. Da die deutsche Wirtschaft vor allem eine Exportwirtschaft ist, die ein Drittel aller Produkte und 66
Dienstleistungen international losschlägt, ist sie auf die Energieleistung im Innern der Volkswirtschaft zwingend angewiesen. Rund die Hälfte aller Ausfuhren gilt als »technologieintensive Produkte«. Doch ausgerechnet dieser innerste Teil des produktiven Kerns zieht sich zurück, schon seit Jahren. Es ist, als würde jemand der hochtourig drehenden Wohlstandsmaschine die Energiezufuhr abklemmen, was ihr nicht gut bekommt. Exakt messen lässt sich der Schrumpfungsprozess nicht, weil Erfindungen und erst recht solche, die nie oder auf der anderen Seite der Erdkugel das Licht der Welt erblicken, nur schwer mit den Instrumenten der hiesigen Statistik zu erfassen sind. Aber Annäherungen sind möglich, die uns die Dramatik, die sich da im Heiligsten der Nationalökonomie abspielt, deutlich vor Augen führen. Die Zahl der Patente ist als Gradmesser der Innovationsfreude nur bedingt tauglich, weil viele strategisch bedeutende Erfindungen aus Gründen der Geheimhaltung nie zur Anmeldung kommen und andererseits so manche Banalität den Weg in das Register findet. Aufschlussreicher ist die Patentbilanz. Hier wird festgehalten, wie viele Patente und Lizenzen deutsche Firmen im Ausland einkaufen, und diese Zahl wird verrechnet mit jenen Patenten und Lizenzen, die sie ihrerseits exportieren. Der Saldo dieser Bilanz ist seit langem negativ, die Differenz zwischen eigenen und zugekauften Ideen hat sich allein von 1991 bis 2000 verfünffacht. Ohne die Erfindungen der anderen, so die Kernbotschaft dieser Zahlen, würde das Innerste unserer Volkswirtschaft noch schwächer strahlen. Wir sind beim wichtigsten Rohstoff der Neuzeit vom Exporteur zum Importeur geworden, so dass die Patentbilanz im Wortsinn heute als Armutszeugnis bezeichnet werden kann. 67
Schnell noch ein kleiner Blick auf die Nobelpreisträger: Wer hier Trost sucht, wird ihn nicht finden. Denn die Rangliste der Weltbesten führte Deutschland zwar einst an, tut es jedoch schon seit längerem nicht mehr. Von der Jahrhundertwende bis zum Beginn der NS-Diktatur wurden die naturwissenschaftlichen Nobelpreise für Physik, Chemie und Medizin an 31 Deutsche, 17 Engländer, 6 Amerikaner verliehen. Nach dem Krieg konnte die alte Spitzenstellung zu keinem Zeitpunkt mehr erreicht werden. Deutschland liegt in den vergangenen 40 Jahren hinter den USA und Großbritannien nur noch auf Platz drei, wobei selbst diese Bronzemedaille über die wahren Differenzen zur auch wissenschaftlichen Supermacht hinwegtäuscht: Die Amerikaner erhielten von 1960 bis heute 152, die Deutschen nur 23 Nobelpreise. Auch die Asiaten, verteilt auf viele Nationen, sind auf dem Sprung an die Weltspitze.
Das Auf- oder Absteigen der großen Erfinder, der Theoretiker und Entdecker, ist keineswegs Glückssache, wie man vermuten könnte. Ginge es allein um Wahrscheinlichkeiten, wären irgendwann auch Namibia oder Mexiko, Venezuela oder Malta dran. Die Größe eines Landes, sein Bildungsstandard und die Rolle des Staates sind entscheidend: Welche Zivilisationsstufe hat er erreicht? Wie fördert er die Wissenschaft und insbe68
sondere die Spitzenforschung? Schafft er es, ein Klima von Neugier und Entdeckergeist zu erzeugen, das Risiken nicht scheut, sondern liebt, das Neue als Herausforderung, nicht als Bedrohung empfindet? Mit Drill lassen sich Sportnationen schaffen, wie die DDR eine war, aber das Hervorbringen von Spitzenforschern muss anderen Kriterien genügen, weshalb die DDR zeit ihres Bestehens nicht einen einzigen Nobelpreis errang. Überall da, wo eine Nation den Weg in Richtung Wissensgesellschaft beschritten hat, spielen der Staat als Förderer und die Gesellschaft als eine, die ihre Freiheit liebt, die entscheidende Rolle. Die Deutschen lieben die Freiheit, aber der Staat liebt die Wissenschaft nicht. Sie ist ihm nicht viel wert, er setzt ihr keine ehrgeizigen Ziele, er gibt ihr immer weniger Geld, politisches Gewicht hat sie noch nie besessen. Insgesamt gibt Deutschland nur 2,5 Prozent seines Bruttosozialprodukts für Forschung und Entwicklung aus, weniger als die USA, Japan, Schweden und Finnland. Nicht einmal der Wert von Südkorea wird erreicht. Die Ergebnisse der über Jahre reduzierten Zufuhr im heißesten Teil des produktiven Kerns fallen daher erwartungsgemäß aus: Wo gewaltige Energien sich freisetzen ließen und der eigentliche Urknall einer modernen Volkswirtschaft sich ereignet, herrscht heute große Stille. Geradezu mutwillig, so scheint es, reicht das Land seine einstige Spitzenposition an andere weiter. »In Deutschland gab es in den vergangenen zehn Jahren keine aus Bildung erklärbaren Zuwächse an Produktivität«, sagt Andreas Schleicher von der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die in regelmäßigen Abständen 30 Staaten miteinander vergleicht. Die Bundesregierung kommt in dem von ihr in Auftrag gegebenen Report »Zur technologischen Leistungsfähig69
keit Deutschlands« zum gleichen Resultat. Die Versorgung des Landes mit Hochqualifizierten könne kaum noch gewährleistet werden, es sei sogar damit zu rechnen, »dass sich die Situation zuspitzt«. Jeder siebte in Deutschland promovierte Nachwuchswissenschaftler zieht mittlerweile in die USA. Nach den Briten, für die bekanntlich keine Sprachbarriere existiert, stellen die Deutschen heute den größten ausländischen Trupp unter den wissenschaftlichen Beschäftigten in den USA. Kein Wunder also: Von einem Vorsprung Deutschlands bei den Hochtechnologien, bei Mikroelektronik, Kommunikationstechnik, Nanotechnologie und Biotechnik, könne nicht mehr gesprochen werden, heißt es in der Studie der Bundesregierung. Mit Ausnahme der Technologiesprünge im Automobilbau, welche die Autokonzerne im Wesentlichen selbst bezahlen, sei »Deutschland nicht mehr als ein Land zu bezeichnen, dass auf forschungsintensive Produktionen spezialisiert ist«. Ein derartig trostloses Selbstzeugnis hätte, ausgeprägten Aufstiegswillen unterstellt, eigentlich einen öffentlichen Aufschrei erzeugen müssen, was es nicht tat. Lethargisch nimmt eine offenbar müde gewordene Gesellschaft zur Kenntnis, dass ihr Wissensrohstoff, dem sie ihren grandiosen Aufstieg verdankt, allmählich versiegt. Niemand fordert zur Umkehr auf. Keiner kämpft für veränderte Prioritäten in der Finanzpolitik. Die Aufforderung an den wissenschaftlichen Nachwuchs, mit außergewöhnlichen Leistungen auf sich aufmerksam zu machen, unterbleibt. Sogar das Gegenteil von alledem passiert: Die Bundesregierung kürzte allein im Herbst vergangenen Jahres zweimal den Forschungsetat im Bereich der Hochtechnologieförderung – einmal, weil das Wachstum wegsackte, das andere Mal, um den Fehlbetrag in der Rentenkasse zu verkleinern. Die zuständige Ministerin, Edelgard Buhlman, 70
nahm es achselzuckend zur Kenntnis, aufgeregt hat sie sich darüber, dass ihr Staatssekretär Zweifel am Sparkurs anmeldete. Zwei Mal hat sie ihn per Handy gerüffelt, schließlich musste er zum Vier-Augen-Gespräch in ihrem Büro antreten. Doch der Mann, Christoph Matschie sein Name, bleibt dabei: Er sieht sein Land »abrutschen«, und das »nicht erst seit gestern«. Der Blick ins Ausland zeigt, dass es anders geht. Alle großen Industrienationen haben in den letzten Jahren ihre Wissensstandorte ausgebaut. Zusätzliche Milliarden, fast überall übrigens durch staatlich verordnete Studiengebühren eingesammelt, wurden an den Hochschulen investiert. In Japan verkündete der vom Premier geleitete »Wissenschafts- und Technologierat« das ehrgeizige Ziel, bis zum Jahr 2050 mindestens 30 Wissenschaftsnobelpreise nach Hause zu tragen. Die deutschen Firmen reagieren auf das staatliche Desinteresse, wie sie es immer tun, wenn ihnen die Richtung nicht passt: Sie gehen einfach. Damit die eigenen Betriebsräte nicht protestieren, verlassen sie stumm, fast heimlich, ihr Heimatland. Sie finden im Ausland mehr Fördergeld und mehr Forschergeist, also nutzen sie die Angebote. In Deutschland, sagt der führende Stammzellenforscher Hans Schöler, vermittle ihm niemand »das Gefühl, dass meine Arbeit geschätzt wird«. In Amerika dagegen werde seinen Kollegen und ihm »der rote Teppich ausgerollt«. Er arbeitet heute an der University of Pennsylvania. Wer wegwandert, fehlt hierzulande. Eine Studie des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) kommt zu dem Schluss, dass mittlerweile »eine Substitution von Inlands- durch Auslandsforschung« stattgefunden hat. Vor allem eben in den USA, in denen Forscher und Entwickler als moderne Helden und nicht als Spinner oder 71
Kostgänger gelten, konnte deutscher Forschergeist eine zweite Heimat finden. Eine Kolonie ist entstanden, von Emigranten gegründet, die nicht durch gewollte Verfolgung, wohl aber durch Gleichgültigkeit aus ihrem Heimatland vertrieben wurden. Normal ist dieser Aderlass nicht, auch nicht im Zeitalter der Globalisierung: Kein anderes führendes Industrieland hat seine Forscher derart zahlreich ins Exil getrieben. In der ebenfalls leuchtend roten zweiten Schicht des Energiekerns findet die Umwandlung von Bildung und Wissen in produktive Arbeit statt, also die eigentliche Wertschöpfung. In dieser Kathedrale des Kapitalismus sind die hochrentablen Arbeitsplätze zu Hause, die sich von der Entwicklung über die Herstellung bis zum Vertrieb erstrecken und die allesamt vier Sorten von Energie und damit das maximal Mögliche abstrahlen: Den eigenen Lohn, die Sozialabgaben, die Steuern und den Unternehmergewinn. Von rund 82,5 Millionen Deutschen sind hier nur rund 27,5 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, also knapp ein Drittel der Bevölkerung. Auch rund zwei Millionen Selbstständige zählen zu dieser feuerroten zweiten Schicht des produktiven Kerns. Denn sie verwandeln Ideen in Produkte und Dienstleistungen. In der ureigensten Bedeutung des Wortes sind sie Arbeitgeber; ohne ihr Zutun gäbe es viele Jobs nicht, weil nur Idee plus Mut plus Startkapital in der Lage sind, Arbeitsplätze zu schaffen. »Der Unternehmer muss ins Gelingen verliebt sein«, sagt Heinz Dürr, Ex-Daimler-Vorstand, Ex-Bahnchef und Familienunternehmer bis heute. Die Wirtschaftspolitiker ermuntern daher den Nachwuchs in jeder zweiten Rede, sich doch endlich in größerer Zahl selbstständig zu machen, Gründer zu werden, 72
nicht zu warten, bis andere den Arbeitsplatz schaffen, sondern es lieber selbst zu tun. Der Staat weiß, dass er ohne Unternehmer nicht existieren kann: Sie entfachen immer wieder neu jene Energie, die das Innerste der Volkswirtschaft zusammenhält. Erfolgreich sind diese Appelle in der Vergangenheit allerdings nicht gewesen. In Deutschland sind die Firmengründer eine Spezies, die ökonomisch an Bedeutung verliert, obwohl die allerorten stattfindenden Gründertage, Gründerwettbewerbe und Gründerbörsen das Gegenteil suggerieren. Die Zahl der Firmengründungen aber entwickelt sich seit der Einheit rückläufig, fiel nach den letzten verfügbaren Daten des Instituts für Mittelstandsforschung von 531000 im Jahr 1991 auf 452000 im Jahr 2002. Da die Zahl der Liquidationen im gleichen Zeitraum um gut 26 Prozent anschwoll, kamen im Saldo 2002 nur 63000 neue Firmen hinzu. Zum Vergleich: 1991 wurden in Deutschland noch 223000 zusätzliche Firmen gegründet. Diese wenigen neuen Unternehmen, das ist der zweite Trend, sind klein und oft sogar klitzeklein. Die Neugründungen mit mehr als einem Beschäftigten sind heute die Ausnahme und waren früher die Regel. Die Ursachen der Misere sind landesweit bekannt, werden als Litanei in unzähligen Parlamentsreden wiederholt – und blieben bisher folgenlos. Zu viel Bürokratie – Berlin hört weg. Zu hohe Sozialabgaben – die Bundesregierung legt eher nach. Zu geringes Eigenkapital – die Banken stellen sich stur. »Die Abwesenheit von Unternehmern ist nicht nur ein statistisches Phänomen, sondern auch ein ganz bedeutendes gesellschaftliches Problem«, sagt der Präsident der Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer, Max Schön. Am 29. Januar diesen Jahres versuchte er vor einem kleinen Politikerkreis in Berlin die politische Elite wachzurütteln: Auf einer Europakarte hatte er die nur 73
schwach wachsenden Volkswirtschaften mit gelb, die moderat wachsenden mit grün und die EU-Kandidaten im Osten mit blau gekennzeichnet, bevor er auf ein alarmrotes Deutschland zeigte: »Schauen wir jetzt einmal, wie es sich in Europa stirbt.« Die Herren, darunter Bundestagsvize Hermann Otto Solms und ein Staatssekretär aus dem Wirtschaftsministerium, schauten betreten drein. Schön legte nach: »Das Verheerende für unser Land ist, dass es in dramatisch zunehmender Weise auch ganz normale und alteingesessene Unternehmen erwischt.« Die Schrumpfung dieser zweiten Schicht ist mittlerweile ins Zentrum zahlreicher wissenschaftlicher Studien gerückt, denn das Phänomen ist selbst für Experten beeindruckend. Kein anderes Land Europas und mit Ausnahme Japans kein anderes der westlichen Welt zeigt in seinem Allerinnersten eine derartig ausgeprägte Neigung, sich zu verkleinern. Der erste Impuls geht von der geschrumpften Kernenergie im Allerinnersten aus: Wenn die Innovation ausbleibt, hat das nicht nur auf Labors und forschungsintensive Unternehmen Auswirkungen. Schrumpft der Wissenschaftsbereich, führt das unweigerlich auch zu einem Rückgang der kommerziell verwertbaren Spitzentechnologie. In der Wertschöpfungsstruktur der sechs größten OECD-Staaten nimmt die Spitzentechnologie mit einem Anteil von 2,6 Prozent an der gesamten durchschnittlichen Wertschöpfung dieser Länder einen kleinen, aber feinen Platz ein. In Deutschland liegt dieser Anteil um 50 Prozent unter dem Referenzwert. Eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt: Im Außenhandel mit Hochtechnologiegütern ist Deutschland nicht mehr so hoch einzustufen wie noch vor einem Jahrzehnt.
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Die publizierten Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sind in ihrer Qualität nicht so gesteigert worden wie in anderen Ländern. Bei den Anstrengungen in Forschung und Entwicklung nimmt Deutschland nicht mehr den Rang ein wie in den siebziger und achtziger Jahren. Rückgänge bei den innovativen Jobs würden durch die große Stabilität der deutschen »old economy« ausgeglichen, glauben viele. Leider ein Irrglaube: Auch die traditionellen Industriearbeitsplätze, weltweit und daher auch in Deutschland noch immer ein wesentlicher Teil des Energiekerns, bilden sich hierzulande seit Jahren zurück, allein im Zeitraum 1995 bis 1999 ist hier ein Minus von knapp 5 Prozent zu verzeichnen. In einigen anderen Ländern schrumpfen sie auch, aber nur halb so stark. 75
Frankreichs Industriejobs entwickelten sich im selben Zeitraum um 2,6 Prozent zurück, in Großbritannien betrug die Schrumpfung nur 0,13 Prozent. Die Mehrzahl aller OECD-Länder aber schlug den anderen, den Wachstumspfad ein. In Irland, das mit seiner Steuerpolitik die auswanderungswilligen Unternehmer der ganzen Welt anlockt, legten die Jobs für Industriearbeiter im Zeitraum von 1995 bis 1999 um 25 Prozent zu, in Finnland um 12 Prozent, in Kanada um 6 Prozent, in den Niederlanden um 4,3 Prozent und selbst das Dienstleistungsparadies USA kann eine Steigerung in der »old economy« um knapp 3 Prozent vorweisen. Viele wird dieser Befund überraschen, denn die Mehrzahl der hiesigen Ökonomen beteiligt sich seit Jahren am Abgesang auf die Industriegesellschaft. Die Zukunft gehöre den Dienstleistungen, der Industriearbeiter sterbe aus, so die eingängige, aber eben falsche Melodie. Denn in Wahrheit muss man diese Trennung als eine künstliche betrachten; jede Industriefirma beherbergt unter ihrem Dach eine Vielzahl von Dienstleistern wie Marketing-, Vertriebs- und Rechtsabteilung, die sie auch ausgliedern kann, wie es in den USA üblich ist. Ein Großteil dieser Tätigkeiten kreist, in welcher Organisationsform auch immer, unwiderruflich um einen Industriearbeitsplatz; der Börsianer braucht das produzierende Hinterland, um es in kleinen Portionen, die sich Aktien nennen, zu verkaufen; der Analyst untersucht reale Firmen und tatsächliche Waren- und Rohstoffströme; der Kellner ist nur das letzte Glied in der Wertschöpfungskette der Lebensmittelindustrie; der schreibende Journalist ist untrennbar mit der Druckindustrie verbunden, die seine Dienstleistung erst zum Produkt macht. Selbst Zehntausende von Verkäuferinnen und Verkäufern können nur verkaufen, was vorher industriell fabriziert wurde. 76
Deshalb wachsen im OECD-Durchschnitt die Industriearbeitsplätze, was in Deutschland kaum jemand wahrhaben will. Und ein Zusammenhang zu den Arbeitsplätzen der Dienstleistungsbranche besteht auch, die wachsen nämlich vor allem da besonders kräftig, wo auch die Industrie zulegt. Also: Irland 31 Prozent, Niederlande 15 Prozent, Finnland 13 Prozent, Kanada 10 Prozent, die USA bringen es von 1995 bis 1999 auf knapp 9 Prozent Jobwachstum in diesem Bereich. So blieb der Benchmarking-Arbeitsgruppe im Kanzleramt, eine von Gerhard Schröder initiierte Expertenrunde, nichts anderes übrig, als leicht verschämt zu notieren, dass die Entwicklung bei den deutschen Industriearbeitsplätzen »recht ungünstig« verlaufen sei und der Dienstleistungssektor ebenfalls eine »recht geringe Dynamik« verzeichne. Hier spätestens kommen die Tarifparteien ins Spiel. Rund um die produktiven Arbeitsplätze, die das Gewinnträchtigste und damit Kostbarste jeder Volkswirtschaft sind, werden die härtesten gesellschaftlichen Kämpfe ausgetragen. Hier tobt seit jeher der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, der in modernen Marktwirtschaften als Tarifrunde sein Ritual gefunden hat. Vereinbarungen über Lohnprozente, Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten und Überstundenregelungen werden erstritten, zur Not auch erstreikt.
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Die Ausbeutung der frühen Jahre verschwand, an ihre Stelle trat paradoxerweise die Rationierung von Arbeit. Die Arbeitszeitverkürzung wurde vor allem in den siebziger und achtziger Jahren das Zauberwort der Gewerkschaftsführer, sie kappten an allen Ecken ein bisschen ab, bei der Lebens-, der Wochen-, der Tagesarbeitszeit. Die Arbeits- und damit die Lebensverhältnisse in Deutschland haben sich dank dieses Einsatzes der Gewerkschaften entscheidend verbessert. Die verlängerte Lebenserwartung und der Rückgang der Berufskrankheiten kennen viele Gründe, aber eben auch den, dass weniger und oft auch weniger hart gearbeitet wird. Allerdings: Was gut für den einzelnen Arbeiter war, hat die Entfaltung der Produktivkräfte nicht gerade gefördert, wie sich denken lässt. Als wenn sich die Arbeiterbewegung für die schreiende Ungerechtigkeit der frühen Jahre rächen wollte, versucht sie sich seither dem Produktionsprozess, wo immer sie kann, zu entwinden. Die Löhne stiegen seit 1950 um 1600 Prozent, die Arbeitszeit sank im Gegenzug um 18 Prozent. Der Staat tat das Übrige, diesen Prozess der Verteuerung und Verknappung von Arbeit zu fördern, obwohl er ihn hätte bremsen müssen. Nur die Finnen arbeiten heute weniger als die Deutschen. Die ökonomische Lebensbilanz jedes Einzelnen zeigt, wie innerhalb eines Menschenlebens der Anteil produktiver Arbeit sich zurückbildet: Ein durchschnittlicher deutscher Mann widmet vom zehnten Lebensjahr bis zum Tod nur rund 16 Prozent seiner ganzen Lebenszeit der Berufstätigkeit, die größten Zeitbudgets gehören dem Müßiggang, also dem Sport, dem Fernsehen, dem Kneipenabend (18 Prozent). Bei den Frauen wird nach dieser 2003 veröffentlichten Lebenszeit-Studie des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden mehr Zeit mit Essen und 78
Körperpflege (12 Prozent) verbracht als mit bezahlter Erwerbsarbeit (10 Prozent). Betrachtet man alle Deutschen – auch Kinder ab dem zehnten Lebensjahr, Rentner, Arbeitslose –, verwendeten im Jahr 2002 alle 82,5 Millionen zusammen nur 13 Prozent ihres Zeitbudgets für Berufsausbildung und bezahlte Tätigkeit. Diese 13 Prozent freilich müssen die übrigen 87 Prozent des Lebens mitfinanzieren, woraus sich die Überlastung des Energiekerns ergibt. Denn Freizeitbetätigungen aller Art dienen der Erholung, dem Wohlfühlen, dem Menschsein, aber eben nicht der Vermehrung des Wohlstandes. Aber wenn die Maschine doch für die Menschen arbeitet, werden manche sich fragen, wozu dann die Plackerei? Gehört nicht die Zukunft doch der menschenleeren Fabrik? Das wäre schön, aber es wird nicht wahr werden. Nur im Zusammenspiel von Kapital und Arbeit entsteht Wohlstand. Der bisherige Weg, Arbeit durch Kapital zu ersetzen, die Maschine an die Stelle des Menschen zu rücken, findet dort seine Grenzen, wo die Rentabilität des Kapitaleinsatzes sinkt, weil zusätzlicher Gewinn kaum mehr zu erwarten ist. In den modernen Dienstleistungsberufen, bei Werbeagenturen und Bankberatern, aber auch bei den weniger modernen Dienstleistungen, den Friseuren und Verkäufern, nützt ein erhöhter Kapitaleinsatz oft nicht mehr viel. Dank Farbcomputer für die Kreativen und neuer Scannerkasse im Kaufhaus sind die Möglichkeiten auf dem aktuellen Stand der Technik mehr oder minder ausgereizt. Die Kapitalrentabilität sinkt, weil durch mehr Technik sich nicht mehr Gewinn erzielen lässt. Der Kapitaleinsatz pro Arbeitsplatz ist in Deutschland in den letzten zehn Jahren um 40 Prozent gestiegen. Wie man heute weiß, ist das eine Topposition von zweifelhaftem Wert. Auch in der Auto- und Chemieproduktion, bei Pharmaund Computerherstellern bringt zusätzlicher Kapitaleinsatz 79
seit längerem kaum mehr Nettoertrag. Die Kapitalseite hat seit Jahren mit sinkender Rentabilität zu kämpfen, bei jeder Milliardeninvestition nimmt der Grenznutzen weiter ab. Also sucht der Kapitalist nach Anlagebedingungen, von denen er sich mehr verspricht, mehr Gewinn vor allem. Die Direktinvestitionen der Deutschen im Ausland sind auch deshalb erheblich gestiegen, was den Firmenbilanzen nützt und unserer heimischen Arbeitsplatzbilanz im Gegenzug sehr schadet. Märklin und Audi beschäftigen ungarische Arbeiter in ungarischen Fabriken. Mittlerweile, meldet stolz die Regierung in Budapest, würden knapp zehn Prozent des ungarischen Sozialprodukts von deutschen Firmen erwirtschaftet. Schön für Ungarn. Auch in der Slowakei sind die deutschen Firmen groß im Geschäft. Der neue VW-Geländewagen »Touareg« wird nahezu vollständig in Bratislava gebaut, nicht einmal die Endmontage findet hierzulande statt. In der Regel hat kein deutscher Arbeiter das Auto je berührt. Das muss man nicht beklagen, nur wissen. Alleine die VW-Exporte aus der Slowakei machen bald 20 Prozent der Gesamtausfuhren des Landes aus. Schön für die Slowakei. Rund 2,6 Millionen solcher Auslandsarbeitsplätze werden nach Schätzungen des Münchener Ifo-Instituts derzeit von deutschen Firmen betrieben. Indonesier, Malaysier, Chinesen, Vietnamesen, Südkoreaner, Inder, Polen, Ungarn, Slowaken, Rumänen profitieren davon, dass in Deutschland eine Kernschmelze eingesetzt hat. Die stolzen Umsatz- und Gewinnzahlen, die alle deutschen Konzerne Quartal für Quartal melden, sind auch ihr Werk. Nur an den deutschen Arbeitsplätzen schwingt dieser Aufschwung vorbei. Das Wachstum der Firmen (irgendwo auf der Welt) und das Wachstum der Arbeitslosigkeit (zu Hause) sind oft die zwei Seiten einer Medaille. Auch ohne die deutschen Probleme würden die Unternehmen natür80
lich im Ausland investieren, aber eben nicht so stark. Ihr Abschied trägt alle Züge einer Flucht, die nur deshalb nicht so genannt wird, damit zu Hause keine Unruhe aufkommt. Kernindustrien des Landes, wie die Textilfabriken, haben vor Jahrzehnten mit ihrem Umzug nach Fernost und seit den neunziger Jahren nach Osteuropa begonnen. Neuerdings gehen auch die Softwarehersteller, die Autozulieferer, die Druckereien, die Schiffsbauer, und selbst moderne Dienstleister wie die Betreiber von CallCentern und Investmentbanker fühlen sich auswärts deutlich wohler. Es sind die kleineren und mittleren Firmen, die sich lautlos verabschieden. Aber auch die großen Industrietanker schichten ihr Personal in großem Tempo um. Beispiel BASF: von 1980 auf 2002 wurde der Auslandsumsatz nur geringfügig gesteigert (von 72 Prozent auf 78 Prozent). Derweil hat sich die Zahl der Arbeitsplätze im Inland fast halbiert, minus 37000 Beschäftigte, und die im Ausland um ein Drittel erhöht, plus 10000 Arbeitsplätze. Beispiel Siemens: Die inländische Zahl der Beschäftigten sank von 1980 bis 2002 von 235000 auf 175000, also minus 25 Prozent. Mittlerweile arbeiten im Ausland mehr Firmenmitarbeiter als im Gründungs- und Heimatland, plus 150 Prozent seit 1980; statt 109000 damals sind für Siemens im Ausland heute 251000 Menschen aktiv. Dass wirtschaftliche Verwerfungen oft eine menschliche Katastrophe bedeuten, weil Erwartungen enttäuscht, Zukunftspläne zerstört werden, versteht sich von selbst. Der Zusammenfall von Imperien, der Sturz von Wirtschaftswunderikonen hat sich mittlerweile als Charakteristikum der deutschen Wirtschaftsgeschichte nach 1970 erwiesen, ohne dass ein deutscher Bill Gates oder Steve Jobs nachgewachsen wäre. Der Computerunternehmer Hans Nixdorf, Fernsehpionier Max Grundig und Versand81
hauskönig Josef Neckermann sind gescheitert. Zuletzt, kurz vor Weihnachten 2003, hat es auch Modeunternehmer Klaus Steilmann erwischt. Der ehemalige C & ALehrling, der sich mit nur geringem Eigenkapital und flotten Sprüchen (»Ich mache Mode für Millionen, nicht für Millionäre«) ein Milliardenreich schuf, steht mittlerweile als gescheitert da. Nach Firmenverkäufen beträgt der Umsatz nur noch die Hälfte, im Stammwerk hat das Unternehmen ein Drittel der Belegschaft nach Hause geschickt; ganze Werke, zum Beispiel das in Cottbus, wurden geschlossen. Hilflose Belegschaftsmitglieder brachten kein vernünftiges Wort heraus in ihrer Enttäuschung, außer ein dahingestammeltes »Gerade jetzt vor Weihnachten«, als wenn der Kahlschlag zum Ende der Sommerferien besser platziert wäre. Der Personalchef, der nun aussortieren muss zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Dableibern und Dagewesenen, zwischen Arbeit und arbeitslos, sagt: »Ich empfinde das alles hier persönlich und menschlich als Katastrophe.« Im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung musste sich Klaus Steilmann vorhalten lassen, er habe »unangemessen lange am Produktionsstandort Deutschland festgehalten«. Im dritten Ring unseres Energiekerns beobachten wir den ausgeprägtesten Schrumpfungsprozess. In dieser äußeren Schale der Mitte, die nur noch mattrot leuchtet, ist die Energieintensität bereits deutlich gedämpft. Hier finden wir jene Arbeitsplätze, die kaum oder gar keinen Gewinn abwerfen. Ihre Energieleistung ist schwach, ihre Arbeitsplätze sind oft sogar der innerste Kern von gestern und wandern nun allmählich nach draußen in die erkaltete Kruste. Sie sind auf dem besten Wege, in der Energiebilanz von plus zu minus zu wechseln. Aber noch liefern sie Energie, wenn auch von den vier 82
möglichen Energiearten oft nur noch drei anfallen, der Unternehmergewinn ist hier schon arg bedroht, der Lohn wurde bereits gekürzt und das Weihnachtsgeld gestrichen. Experten nennen solche Firmen, die an der Grenze der Rentabilität arbeiten, daher auch Grenzanbieter. Vereinfacht lässt sich sagen: Die Arbeitslosen von heute sind die Grenzanbieter von gestern gewesen. Auch viele von denen, die sich »Unternehmer« nennen und von Politikern zuweilen als »neue Selbstständige« gefeiert werden, sind in Wahrheit eher Grenzanbieter. Mit dem Idealbild vom wagemutigen Entrepreneur oder kraftstrotzenden Selfmademann haben sie oft wenig gemein. Es handelt sich nicht selten um die Ausgemusterten der Erwerbsgesellschaft, die sich in die steuerlichen Nischen, die der Staat für Selbstständige bereithält, geflüchtet haben. Ihr Unternehmerdasein wird von den Akteuren selbst eher als Schicksal denn als Chance begriffen. Zur Gruppe dieser Kleinstunternehmer zählen Journalisten ohne Festanstellung, Gelegenheitsschauspieler, Werbetexter auf Abruf, Subunternehmer aller Art, gelegentliche Eventveranstalter und freischaffende Stripperinnen genauso wie Klavierlehrer, selbstständige Erzieherinnen und hunderte anderer Formen des UnternehmerSeins, die in Deutschland mittlerweile die Selbstständigkeitsbilanz bevölkern. Professoren wie Michael Reiss von der Universität Stuttgart haben allerlei wohlklingende Namen für diese Spezies erfunden: Da gibt es den »Auch-Unternehmer«, der versucht, an seinem Hobby zu verdienen; den »seriellen Unternehmer«, der immer mal wieder was Neues probiert; den »Intrapreneur«, der innerhalb seiner Firma als Selbstständiger firmiert, den »Auftrags-Unternehmer«, der außerhalb der Firma arbeitet und früher schmucklos 83
Subunternehmer genannt wurde. Die kleinste aller Firmengründungen, die Ich-AG, die in Amerika als Selfemployment bezeichnet wird, kam im vergangenen Jahr auch in Deutschland in Mode. Da man von dieser Selbstständigkeit nicht leben und nicht sterben kann, so der Professor aus Stuttgart, hätten sich viele der Ich-AG’ler »ein ausgewogenes Portfolio aus mehreren Erwerbsquellen zusammengestellt«. Die Betroffenen haben keine andere Alternative, denn ihr Unternehmerlohn liegt oftmals nur in Sichtweite des Sozialhilfesatzes. Von den vier Millionen offiziell registrierten Selbstständigen ist jeder zweite eher ein armer Hund als ein Big Boss, was uns kein Verband, keine Partei und kein Professor verrät, sondern schlicht die vom Statistischen Bundesamt geführte Bilanz der Steuerzahler. Rund 1,35 Millionen Unternehmer sind demnach von der monatlichen Umsatzsteuer-Voranmeldung befreit, weil ihr Jahresumsatz unterhalb von 16617 Euro liegt. Unterstellen wir eine Gewinnspanne von sechs Prozent, was üppig wäre und über der im Mittelstand gebräuchlichen Gewinnspanne liegt, kämen diese Unternehmer auf einen Jahresgewinn von weniger als 1000 Euro. Der Hauptvorteil ihrer Selbstständigkeit liegt also weder im Lohn noch im Gewinn, sondern in der steuerlichen Absetzbarkeit der Lebensführung; der Fiskus akzeptiert Restaurantquittungen, Benzinbelege und Flugtickets als »Betriebsausgaben«. Viele beantragen den Gewerbeschein auch nur deshalb, das haben die Statistiker herausgefunden und hüten es als ihr Geheimnis, um in den Großmärkten der »metro« einkaufen zu dürfen. Diese Märkte sind eigens für Gewerbetreibende reserviert. Auch jene 450000 Selbstständigen, die sich »mithelfende Familienangehörige« nennen, sind eher Grenzanbieter des ökonomischen Geschehens. Sie sind »selbst84
ständig«, weil sie damit von der Einzahlung in die Sozialkassen befreit sind und diese Befreiung hat keinen anderen Grund als den, die Kostenstruktur kleiner Firmen nicht unnötig zu belasten. Viele Kneipenpächter, Handwerksmeister und Landwirte könnten ohne diese weitgehende Befreiung ihrer Ehepartner von der Soziallast nicht existieren, denn ihre Selbstständigkeit erwirtschaftet nicht den Sozialaufschlag. Sie riskieren viel: Scheitert die Firma, scheitern auch die Firmenbetreiber. Auf sie wartet schlimmstenfalls die Sozialhilfe. Soziologen wie Ulrich Beck sprechen in polemischer Absicht von der »Brasilianisierung der Arbeitswelt«, die Regierung glaubte eine Zeit lang diese und andere Formen der »Scheinselbstständigkeit« bekämpfen zu müssen. Was für ein Irrtum: Diese kleinen Selbstständigkeiten taugen zwar nicht zur Glorifizierung des Unternehmertums, sind nicht Ausweis von großer ökonomischer Vitalität, eigen sich daher auch schlecht für die Wahlprogramme der Parteien. Aber: Sie zeigen immerhin eine ökonomische Aktivität an, deren geringe Energieintensität besser ist als keine. Womöglich lässt sie sich sogar noch steigern. Ein Staat, der nicht lebensmüde ist, muss sie fördern, nicht bekämpfen und beschimpfen. Die meisten Bewohner dieser äußersten Schicht des produktiven Kerns sind allerdings normale Arbeitnehmer. Vor allem die von Hause aus nur wenig produktiven Dienstleister, Kellner und Tellerwäscher, Putzfrauen, Kassiererinnen und Garderobenfrauen, sind hier zu Hause. Sie sorgen mit ihren Einkommen im Wesentlichen für sich selbst, haben kaum noch ökonomische Energie übrig, um in die Gesellschaft abzustrahlen. Sie arbeiten im Grenzbereich der Rentabilität – aber sie arbeiten immerhin. In anderen Ländern, vor allem den USA, aber auch in Holland, ist dieser äußere Ring deutlich kräftiger ausgebildet. 85
Diese Länder besitzen einen Niedriglohnbereich, der kaum Abgaben und Steuern zahlt und damit die Profitabilität dieser Jobs oft erst ermöglicht. Viele Reformideen in Deutschland, vom Plan für einen Niedriglohnsektor, wie ihn der einstige Kanzleramtsminister Bodo Hombach 1999 vorlegte, bis zu den Ideen des VW-Vorstands und Schröder-Beraters Peter Hartz, beschäftigten sich mit dieser äußeren Schale des Energiekerns. Sie ist durch staatlichen Einfluss immer weiter verkleinert worden und ließe sich womöglich durch die Linderung eben dieses Drucks wieder vergrößern. Hier wären die schnellsten Siege zu erringen – und dennoch tut sich bisher nicht viel. An der Statistik der geleisteten Arbeitsstunden können wir ziemlich präzise ablesen, in welcher Geschwindigkeit unser produktiver Kern sich insgesamt verkleinert. Wir erkennen auch, dass all jene, deren Wohlstand größer ist als der unsere, und auch jene, die sich in eine rasante Aufholjagd gestürzt haben, nichts anderes tun als die Deutschen in ihren erfolgreichsten Jahren: Sie arbeiten. In Korea schuftet ein Beschäftigter rund 60 Prozent mehr, gezählt in Stunden pro Jahr, die Arbeiter in der Slowakei und in Tschechien sind mit 30 Prozent mehr dabei. Aber auch die erfolgreichen westlichen Nationen sind allesamt fleißiger als die deutschen Beschäftigten mit ihren 1500 Arbeitsstunden pro Jahr – die Amerikaner (plus 350 Stunden), die Briten (plus 250 Stunden) und die Schweizer (plus 110 Stunden), aber auch die Franzosen, Italiener, Spanier, Dänen und Finnen liegen vorn. Die Zeit, die ein deutscher Beschäftigter an Werkbank oder Schreibtisch verbringt, schnurrte über die Jahre immer weiter zusammen. Der Wohlstand schrumpft unweigerlich hinterher. Mindestens genauso wichtig: Auch die Zahl derer, die überhaupt zur Arbeit gehen, hat sich enorm verkleinert. 86
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Vor allem Menschen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren, was man früher das beste Mannesalter nannte, steigen aus oder werden von ihren Arbeitgebern ausgestiegen: 60 Prozent dieser Jahrgänge sind nicht mehr am Erwerbsleben beteiligt. In den USA ist die Aktivität dieser Jahrgänge um 17 Prozent höher. Auch die Jungen und Wenig-Qualifizierten bleiben bei uns daheim, jeder Fünfte von ihnen hat keinen Arbeitsplatz. Die »Deutsche Bank Research«, das wissenschaftliche Institut der Deutschen Bank, kommt zu dem Befund: »Durch eine kürzere Wochenarbeitszeit, eine höhere Zahl an Urlaubstagen, ein früheres Renteneintrittsalter und die steigende Arbeitslosigkeit ist die Zahl der pro Kopf der Bevölkerung gearbeiteten Stunden von etwa 900 in den sechziger Jahren auf unter 700 Ende der neunziger Jahre gesunken, also um fast ein Viertel. ( … ) In den USA stieg sie dagegen im gleichen Zeitraum um etwa ein Viertel. ( … ) Der limitierende Faktor für das deutsche Wirtschaftswachstum ist eindeutig der Faktor Arbeit.« Die Gründe für die abnehmende Energieintensität sieht auch die Regierungskommission, die von Experten aller politischer Denkschulen beschickt wurde, im Rückgang der durch Menschen geleisteten Arbeit: »Die Problemlage in Deutschland lässt sich durch eine verhältnismäßig geringe Auslastung des Faktors Arbeit kennzeichnen.« Über die Ursachen und Gegenstrategie wird später zu reden sein, hier ist nur der Befund von Interesse: Der produktive Kern der deutschen Volkswirtschaft schrumpft – die Zahl der industriellen Arbeitsplätze geht zurück, ohne dass Dienstleistungsjobs bisher die Lücken füllen konnten, die Innovation verflüchtigt sich, die staatlichen Investitionen in die Infrastruktur werden weniger, immer neue Grenzanbieter aus den Randzonen der Ökonomie scheiden aus. Wir haben es gerade im Energiekern, wo 88
normalerweise Ideen in Produkte und Dienstleistungen, wo Arbeitskraft in Gewinn verwandelt werden soll, wo kurz gesagt jener Wohlstand produziert wird, der dann in andere Teile der Gesellschaft umverteilt werden kann, mit einem Schrumpfungsprozess zu tun, der international ohne Beispiel ist. Den verschiedenen Zonen von Kern und Kruste kann man auch Menschengruppen zuordnen, und wir sollten uns nicht scheuen, dies zu tun. Es dient nicht der Ausgrenzung, nur der Klarheit. Fangen wir bei jenen an, die vom Kern weit entfernt sind: 20 Millionen Rentner und Pensionäre, aber auch die 12,5 Millionen Kinder bis 14 Jahre finden sich hier wieder, die einen brauchen noch nicht, die anderen brauchen nicht mehr zur Wertschöpfung beitragen. Sie sind – zumindest in unserem Wohlfahrtsstaat und weiß Gott nicht im Rest der Welt – von einem Eigenbeitrag zur Wertschöpfung freigesprochen. Von ihnen wird heute ökonomische Leistung nicht mehr erwartet, was eine Errungenschaft und keine Selbstverständlichkeit ist. Es mag provozierend klingen, aber es ist nichts als die Wahrheit: Die unberührte Jugendzeit wie der verdiente Lebensabend sind eine politisch gewollte Konstruktion, kein Naturgesetz. Sie sind, sagt die Sozialstaatsexpertin Gabriele Metzler von der Universität Tübingen, »als eigenständige, in sich abgeschlossene und von anderen unterscheidbare Lebensphase eine sozialpolitische ›Erfindung‹ par excellence«. Vor Bismarck gab es keinen Rentenanspruch, das Leben war von Kindesbeinen an bis zum Greisenalter eine einzige Erwerbsphase. Jeder wie er kann, war das Motto, so dass die Alten mit Handreichungen in Haus und Hof beschäftigt waren. Mit dem Eisernen Kanzler kam 1891 die erste Rentenversicherung, die zumindest theoretisch einen Lebensabend vorsah, wobei der kaum Nutznießer 89
fand. Erst ab 1957, das Reich war zerfallen, der Kanzler hieß Konrad Adenauer, wurde die Rente zur so genannten »Lohnersatzleistung« ausgerufen. Damit begann jene letzte Lebensphase enorm zuzulegen, die heute die äußere und am schnellsten wachsende Kruste unserer Volkswirtschaft ausmacht. Sie wird aus zwei Gründen immer dicker und mächtiger. Zum einen wird länger gelebt und kürzer gearbeitet als je zuvor in der deutschen Geschichte: Allein seit 1960 hat sich die Bezugsdauer der Renten um 60 Prozent erhöht. Zum anderen erhält die Kohorte der Ruheständler ständig Neuzugänge. 1980 waren 20 Prozent der Gesellschaft im Ruhestand, heute sind es 25 Prozent und im Jahr 2050 werden es 40 Prozent sein, so die Berechnungen des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft. Finanziert wird dieser wachsende Ring einzig und allein aus dem produktiven Energiekern, denn Rücklagen wurden praktisch keine angelegt. Auch die 12,5 Millionen Kinder, obwohl zahlenmäßig stark auf dem Rückzug, gehören noch nicht lange zu den Siedlern auf der Kruste. Vor 125 Jahren war in Deutschland die Kinderarbeit noch erlaubt, die allgemeine Schulpflicht wurde 1871 eingeführt. Beides eben nicht als Folge einer humanen Revolution, sondern einer ökonomischen. Es fehlte im Mittelalter womöglich auch der Wille, ganz sicher aber die Energieleistung der Volkswirtschaft, um diese soziale Leistung finanzieren zu können. Rentner und Kinder sind nicht alleine: Die 2,7 Millionen Empfänger von Arbeitslosengeld gehören ebenfalls zur äußeren Kruste, die fast zwei Millionen Bezieher von Arbeitslosenhilfe und die knapp drei Millionen Sozialhilfeempfänger auch. Sie saugen Energie ab, ohne selbst einen Beitrag zu leisten. Seit jeher wird von Politikern aller Couleur hart mit ihnen umgegangen. »Wer nicht 90
arbeitet, soll auch nicht essen«, hatte SPD-Führer August Bebel (1878 bis 1890) seinerzeit gewütet. »Es gibt kein Recht auf Faulheit«, verkündete Bundeskanzler Gerhard Schröder 2001. Wobei nicht jeder Sozialhilfeempfänger in der Lage wäre zu arbeiten. Mehr als die Hälfte der heutigen Sozialhilfebezieher ist zu alt oder allein, muss sich der Kindererziehung widmen, weil Ehepartner oder Freund abhanden kam. Aber die andere Hälfte ist noch immer stattlich. Knapp eine Million Menschen wird heute von den Behörden als »erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger« bezeichnet. Sie könnten arbeiten, aber sie tun es nicht. Ob es an der mangelnden Nachfrage oder dem fehlenden Angebot liegt, ob diese Menschen eher Opfer oder eher Täter sind, muss uns hier noch nicht interessieren. Ziehen wir Bilanz, so bleiben von 82,5 Millionen Deutschen nur zwei Millionen Selbstständige sowie rund 27,5 Millionen Menschen übrig, die sich in sozialversicherungspflichtigen Erwerbsverhältnissen befinden, die morgens regelmäßig zur Arbeit fahren und abends zurück, deren Arbeitsleistung den Energiehaushalt der Volkswirtschaft am Ende des Tages erhöht, nicht gesenkt hat. Zumindest glauben das viele, nicht zuletzt auch die Beschäftigten selbst. Nun gibt es allerdings ganze Berufsgruppen, die haben subjektiv das Gefühl, Großes geleistet zu haben, obwohl ihr Beitrag zur Wohlstandsbilanz in Wahrheit negativ ausfällt. Sie verzehren Wohlstand und fügen keinen neuen hinzu. Die 128000 Bergleute im Kohlebergbau zum Beispiel saugen in Wahrheit mehr Energie ab, als sie liefern. Mittlerweile wird jeder von ihnen mit 70000 Euro pro Jahr aus dem Staatsbudget, also aus der Arbeitskraft anderer, gefördert. Denn auf dem Weltmarkt ist nun mal dieselbe Kohle für ein Drittel des deutschen Förderpreises zu 91
kaufen. Wir brauchen das Für und Wider dieser Subvention hier nicht erörtern. Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass diese Subvention politisch fest verabredet und damit für lange Zeit unkündbar ist, dann ändert selbst diese Lagebeurteilung nichts an der Aussage, auf die es hier ankommt: Die Kohlekumpel zählen nicht mehr zum produktiven Kern, sie sind Teil der äußeren Kruste geworden. Sie waren zusammen mit den Stahlkochern das Zentrum der deutschen Volkswirtschaft, sind nach und nach in den Bereich der Grenzanbieter gerückt und werden heute als eine Art lebendes Museum unterhalten, obwohl die ökonomische Grundlage ihrer Tätigkeit entfallen ist. Diese Position teilen sie sich mit einem Großteil der 960000 Landwirte, die nahezu ausschließlich von direkten oder indirekten Stützungszahlungen leben. Auch die knapp 200000 Wehrpflichtigen der Bundeswehr, die für Auslandseinsätze nicht taugen, müssen zu den Energiekonsumenten gerechnet werden. Alle drei B’s – Bauern, Bundeswehrrekruten und Bergleute – mögen sinnvoll sein aus vielen Gründen; die Bauern verhindern das Verwildern der Landschaft, die angelernten Soldaten dienen der Abschreckung von Gegnern, nur Gewinn liefern sie selbst im günstigsten Fall nicht ab. Sie werden finanziert aus dem Gewinn der anderen, der über Steuergelder eingesammelt und vermittelt über das Staatsbudget an sie verteilt wird. Man kann diese Arbeitsplätze als eine Art Versicherungsprämie betrachten, wie die der Bundeswehr, oder als eine Art Landschaftsschutzgebühr, wie die der Bauern, aber sie bleiben im Innersten doch das, was sie sind: ein Kostenfaktor. Stünde nicht jedem Soldaten und jedem Kohlekumpel ein Autobauer, ein Bankangestellter, ein Softwareingenieur gegenüber, würde es ihn nicht geben können, was umgekehrt nicht gilt. Wäre nicht für jeden 92
Bauern an anderer Stelle der Volkswirtschaft ein Arbeiter im Einsatz, könnte er die staatliche Unterstützung nicht bekommen. Das Geld kommt zwar vom Staat, aber der ist nicht Erzeuger, nur der Verteiler. Er lebt von der Energie, die andere ihm liefern. Sind Landwirte und Bergleute deshalb schlechte Menschen? Auf keinen Fall. Sind sie weniger arbeitsam? Wahrscheinlich nicht. Sind sie, klar heraus gefragt, überflüssig, haben sie ihr Anrecht auf diese Tätigkeit, die sie heute tun, verwirkt? Nicht mal das sollten wir gegen sie vorbringen, sie sind eine Grußadresse an die deutsche Vergangenheit, als sie wichtig und sogar überlebenswichtig waren. Sie sind Teil einer gesellschaftspolitischen Verabredung, Brüche nicht abrupter als nötig, sondern so sanft wie möglich zu gestalten. Und dennoch, darauf muss hier bestanden werden, sind sie Teil der Kruste, nicht des Kerns: Ihre Legitimation entspringt der Sozialpolitik, nicht dem Marktgeschehen; ihre Bezahlung erfolgt aus dem staatlichen Subventionsetat, der vor Jahrzehnten schon als Zweigstelle des Sozialbudgets gegründet wurde. Womit wir automatisch bei den Politikern und der öffentlichen Verwaltung gelandet sind. Ihre Ware hat keinen Preis, der über den Markt abgerechnet wird. Sie liefern keinen Gewinn; Politiker und Beamte sorgen nicht mal für ihre eigenen Pensionen. Da sie dennoch im Alter versorgt werden wollen, und das nicht zu knapp, muss das Altersruhegeld aus dem Innersten der Volkswirtschaft, dort wo Gewinne und Steuern entstehen, entnommen werden. Erkennbar ist der Staatsapparat in allen drei Teilen – einfache Arbeiter und Angestellte, Beamte, politisches Personal – nicht aus jener Energie gemacht, die wir zum produktiven Kern zählen, was manches Missverständnis und viele Animositäten erklärt. Doch zur erkalteten Kruste 93
zählen die 4,5 Millionen Menschen, die hier ihr Auskommen finden, auch nicht. Staat und politisches System bilden eine Schnittstelle, eine in der bürgerlichen Gesellschaft durchlässige und in der Diktatur betonierte Zwischenschicht, die zu vermitteln hat zwischen denen, die Leistung erbringen und denen, die Leistung benötigen. Weshalb die politischen Parteien, wenn sie gut funktionieren, von beiden Seiten beschickt werden müssen, ihnen gehören im besten Falle Mitglieder aus Kern und Kruste an. Das kann für ihre Vermittlungsarbeit, die ja in beide Richtungen verlaufen muss, nur hilfreich sein. Denn das Vermitteln ist die vornehmste Aufgabe des Staates: Er soll die Wirtschaft vorm Zugriff der vielen anderen schützen, muss den oft hemmungslosen Anspruch der Leistungsempfänger begrenzen. Gleichzeitig soll er den Zugriff der Wirtschaft, die ohne Vermittler sich das Land Untertan machen, alle Lebensbereiche ökonomisieren (oder absterben lassen) würde, ebenfalls limitieren. Unser Staat ist die Instanz, die dem Treiben der Wirtschaft einen Ordnungsrahmen gibt, für dessen Einhaltung und fortlaufende Veränderung er zu sorgen hat. Notfalls darf er sogar das anwenden, was keiner sonst anwenden darf: Gewalt. Wenn diese Schicht reißt, der Ordnungsrahmen also gesprengt würde, kann das zu allem führen: Zu einem enthemmten Kapitalismus, zur Diktatur der Bürokraten oder aber wir würden erleben, wie ein im Innern haltloses Land in Richtung Anarchie stolpert, was sich außer den Anarchisten keiner wünschen kann. Zusammengefasst lässt sich über die in ihrem Ansehen arg ramponierte Berufsgruppe der Staatsbediensteten Folgendes sagen: Sie sind mit zwölf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland, entgegen vieler Vorurteile, keineswegs besonders zahlreich vertreten. In den USA 94
stellen die Staatsbediensteten unter Einbeziehung der USArmee rund 16 Prozent der Erwerbsgesellschaft und in den skandinavischen Ländern ist sogar ein Drittel der Erwerbstätigen bei Väterchen Staat beschäftigt. Ihre Bezahlung ist eher dürftig, nur die Altersabsicherung hebt sie heraus. In Maßen sind die Staatsdiener notwendig, einfach damit die Quelle unseres Reichtums sprudeln kann. Aber sie sind nicht die Quelle selbst. Viele sind sogar eher hinderlich, wenn es darum geht, dass ökonomisches Leben sich entfalten kann. Die Bundesrepublik leistet sich mit 21000 Richtern sechsmal mehr als Großbritannien, was weniger dem Rechtsfrieden dient als der Verlangsamung des Wirtschaftslebens. Zumindest diese Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes sind in doppelter Hinsicht eine Last, was bei aller Sympathie für den fürsorglichen Staat nicht übersehen werden darf. Sie belasten mit ihren Löhnen das Staatsbudget und mit ihrem Instanzenweg saugen sie einen Teil der Gewinne aus den Firmen ab, in Form von Geld und Arbeitszeit. Aber darf so überhaupt gerechnet werden? Eine Volkswirtschaft funktioniert doch nicht im Rhythmus einer großen Stechuhr. Es kommt nicht auf die Zahl der Erwerbspersonen an, sondern darauf, was in den Millionen von Arbeitsstunden passiert. Werden da Schuhe geputzt, was nicht allzu viel Geld abwirft? Oder wird mehrheitlich mit Maschinenkraft produziert, was deutlich mehr Gewinn erwirtschaftet? Reicht heute nicht ein kleiner Kerntrupp in der Privatwirtschaft aus, die ganze Gesellschaft zu ernähren? Denn der Kapitaleinsatz ist bekanntermaßen enorm gestiegen, so dass die wenigen Stunden und die wenigen Beschäftigten doch nicht zu weniger Wohlstand führen, zumindest nicht automatisch. Der Arbeiter leistet heute, 95
dank EDV und computergestützter Werkzeugmaschinen, ein Vielfaches dessen, was sein Großvater zu leisten im Stande war. Zu Zeiten des VW-Käfers, also in den fünfziger Jahren, brauchte ein Auto noch 35 Stunden, bis es fahrbereit auf den Hof rollen konnte. Die heutigen VWArbeiter sind mit einem Polo nach 10 Stunden fertig und ihr Auto ist von erheblich besserer Qualität. Das Bruttosozialprodukt pro Beschäftigtem, also jener Teil der Wertschöpfung, der auf den einzelnen Arbeiter oder Angestellten entfällt, misst genau diesen höheren Ausstoß pro Mann oder Frau. Und diese Zahl hat sich in Deutschland von 1970 bis 2002 immerhin um gut 42 Prozent erhöht, was eine stattliche, ja eine imposante Steigerung ist. Kein Wunder also: Sie dient den einen als Ausweis gestiegener Wettbewerbsfähigkeit und begründet für die anderen die Forderung nach höheren Arbeitsentgelten. Denn pro Stunde wird, gemäß dieser Berechnung, ja deutlich mehr geleistet. Das stimmt und dennoch ist diese Erfolgszahl auch ein Alarmsignal. Was als Ausweis einer hohen Energiedichte gilt, ist im Haushalt unserer Volkswirtschaft ein Energieverlust, der dem Land schwer zu schaffen macht. Denn mit jeder Lohnerhöhung steigt fast automatisch die Arbeitsproduktivität. Die Lohnerhöhung führt nämlich bei den Grenzanbietern zu enormen Problemen, an deren Ende das Ausscheiden der Beschäftigten steht. Der Wegfall dieser geringproduktiven Jobs, die bisher die durchschnittliche Arbeitsproduktivität im Lande drückten, beflügelt sie nun. Denn übrig bleiben die Leistungsstarken. Je höher also die Arbeitslosigkeit, desto eindrucksvoller fallen die Steigerungen der Arbeitsproduktivität aus, weil immer nur die hochproduktiven Jobs überleben. Würden wir durch mutwilliges Heraufsetzen der Sozialabgaben, der Löhne und der Steuern alle einfachen Dienstleistungen 96
aus dem Feld schlagen, ins Nichts oder in die Schwarzarbeit abdrängen, und blieben nur die EDV-gestützten Arbeitsplätze der Banken, die Roboter-getriebene Autoindustrie, die durchrationalisierten Computer- und Elektronikkonzerne übrig, was für ein Triumph, zumindest auf dem Papier der Statistiker. Die Arbeitsproduktivität des Einzelnen aus dem erlesenen Kreis der Übriggebliebenen wäre gesteigert worden – um den Preis enormer Energieund damit Wachstumsverluste insgesamt. Denn die Ausgesteuerten verschwinden nicht aus der Bilanz, sie wechseln nur die Seite, aus dem leichten Plus ist ein dickes Minus in der volkswirtschaftlichen Bilanz geworden. Die Arbeitsproduktivität ist eben eine ausschließlich betriebswirtschaftliche Messzahl. Da ihr Anstieg mit dem Aussteuern von Beschäftigten verbunden ist, geht sie in der gesamten Volkswirtschaft mit einer sinkenden Produktivität einher. Wenige sind besser, viele aber sind arbeitslos. Und deren Produktivität sinkt mit dem letzten Arbeitstag auf null – für die Gesellschaft ein schlechtes Geschäft. Denn durch die enge Koppelung von Arbeitsmarkt und Sozialstaat nimmt jeder, der nicht arbeitet, automatisch auf der anderen Seite der volkswirtschaftlichen Bilanz seinen Platz ein; wer keinen Wohlstand schafft, verzehrt ihn, was bleibt ihm auch anderes übrig.
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Die Fabrik der Arbeitslosen Funktioniert der Arbeitsmarkt im Innern des Kerns nicht, gerät auch der Sozialstaat aus der Balance – und umgekehrt. Die Fehlfunktionen des Arbeitsmarktes lösen, in Deutschland sogar deutlich stärker als in jedem anderen Land der westlichen Welt, eine Kettenreaktion aus, die den Funken auf den Sozialstaat überspringen lässt. Von dort funkt es wiederum direkt auf den Arbeitsmarkt zurück.
Der Mechanismus ist teuflisch: Steigt die Arbeitslosigkeit, steigen die Kosten des Sozialstaates, und diese, da sie fast ausschließlich von den Arbeitenden – in Form von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung, zur Kranken98
kasse, zur Rente, zur Pflegeversicherung – selbst aufgebracht werden, treiben die Kosten der Arbeit erneut in die Höhe. 1970 lag die Arbeitslosenquote noch bei 0,7 Prozent (150000 Arbeitslose), die Sozialabgaben machten damals nur 26,5 Prozent des Lohnes aus. 1980, die Arbeitslosenquote lag nun bei 3,8 Prozent (900000 Arbeitslose), mussten schon 32,4 Prozent an den Sozialstaat bezahlt werden. Heute sind wir bei 4,5 Millionen Arbeitslosen (11 Prozent) und einem 40-prozentigen Lohnaufschlag angelangt, der die Anforderungen an einen rentablen Arbeitsplatz immer mehr erhöht. Denn diese 40 Prozent Sozialaufschlag müssen Arbeiter und Angestellte verdienen, ob sie wollen oder nicht. Keiner der vier Begünstigten ist zum Verzicht bereit: Der Arbeiter will seinen Lohn, sonst tritt er in den Streik. Der Unternehmer verlangt seinen Gewinn, ohne den er die ganze Unternehmung sofort stilllegen würde. Der Staat verlangt unnachgiebig und auf dem Wege des Vorabzugs vom Lohnzettel seine Tribute. Die Steuer fließt Richtung Finanzamt, die Sozialabgaben an die Sozialkassen, noch bevor Arbeiter und Unternehmer überhaupt zuschnappen konnten. Nicht alle Jobs sind derart gewinnträchtig, dass neben Lohn, Lohnsteuern und Unternehmergewinn auch noch ein 40-prozentiger Sozialaufschlag drin ist. Deshalb legt der hin- und herspringende Zündfunke irgendwann jede noch so robuste Volkswirtschaft lahm. Die sich nach oben schraubende Sozialgebühr erreicht auf ihrem Weg zum Gipfel immer neue Arbeitsplätze und Gehaltsstufen, die diese Gebühr beim besten Willen nicht erwirtschaften können. Für die Betroffenen bedeutet es eine Niederlage: Denn jeder Arbeitslose ist ein Mensch, der seine ganz persönliche Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. Wer ehrlich ist und sich das Staunen nicht restlos abgewöhnt hat, wird es frei heraus zugeben: Auf den 99
Arbeitsmärkten bietet sich ein Bild der Verwüstung. In Deutschland ist die Arbeit dabei, sich breitflächig aus dem Alltagsleben von Millionen zurückzuziehen. Die von jedem Deutschen geleistete Arbeitszeit hat sich von 1970 bis heute um ein Viertel reduziert. Gestiegen ist die Zahl der Arbeitslosen (um 2900 Prozent) und der Sozialhilfeempfänger (um 525 Prozent). Vielerorts sind mittlerweile regelrechte Brachflächen zu sehen, wie nach einem Hurrikan. In Frankfurt/Oder etwa, wo nur noch 32 Prozent der Einwohner arbeiten. Oder in Herne, wo es nur 28 Prozent sind. Auch in der deutschen Hauptstadt sind von 3,4 Millionen Menschen nur noch 1,5 Millionen mit einer bezahlten Arbeit beschäftigt. Die nächstgrößere Gruppe stellen die Rentner mit 800000 Menschen, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger bringen es auf 550000 Menschen, was sich der örtliche SPD-Bundestagsabgeordnete und neue SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter wegen der größeren Anschaulichkeit als »achtmal das Olympiastadion« vorstellt. Bundesweit stehen in diesem Winter rund 4,5 Millionen ohne Job da und wer sich in der Regierungszentrale unbeliebt machen will, muss den Kanzler nur an sein 3,5Millionenversprechen von 1998 erinnern. Ein neues Versprechen will der Kanzler nicht abgeben und interessanterweise ist nicht mal die Reservekanzlerin bereit, den Wählern Konkretes in Aussicht zu stellen. Das kann Feigheit sein, oder Klugheit. Die Prozesse der Zerstörung, von denen hier die Rede ist, sind eben sehr weit fortgeschritten. Die Politiker spüren, dass die Verhältnisse auf ihre Politik kaum mehr reagieren und selbst wegweisende Parlamentsbeschlüsse auf die Schnelle nichts ändern würden. 85 Prozent aller Arbeitslosen, das 100
haben die Forscher des Ifo-Instituts herausgefunden, sind arbeitslos, egal ob die Konjunktur brummt oder lahmt. Die Massenarbeitslosigkeit gehört mittlerweile zu Deutschland wie die Slums zu Kalkutta. Wir erleben, dass vor unser Tür nicht unbedeutende Teile der Volkswirtschaft einfach absterben. Ein präziseres Notsignal ist kaum denkbar. Weil das, was dem Land an Arbeitslosigkeit zuwächst, im gleichen Umfang an Wohlstand verloren geht. Im Zentrum steht die schlichte Frage, was bringt Menschen überhaupt dazu, einer geregelten Arbeit nachzugehen? Die Frage ist für die Gewinnung von weiterem Wohlstand von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Und dem Verständnis unserer deutschen Probleme dient die Antwortsuche auch, denn das Land leidet darunter, dass täglich wieder irgendwo eine Hundertschaft das Arbeiten einstellt oder einstellen muss und damit in der Bilanz der Volkswirtschaft von der Plus- auf die Minusseite wechselt. Es sind im Kern nur zwei Motive, und Selbstverwirklichung, um es gleich vorwegzunehmen, zählt nicht an erster Stelle dazu. Schön, wenn sich die Freude an der Arbeit dazugesellt, und leistungsfördernd ist es sicher auch. Entscheidend ist es nicht. Der regelmäßigen Arbeit gehen die allermeisten Menschen vor allem deswegen nach, weil sie Angst und Verlockung in sich spüren. Angst, weil hinter ihnen der Absturz droht, nicht mehr der Rückfall in existenzielle Not, aber doch in einen Zustand, der weniger materielle Freiheit und weniger Prestige bedeutet. Vor ihnen locken Sozialprestige und weiterer Wohlstand, eine Verbesserung der Lebensverhältnisse für den Einzelnen und seine Familie. Als der große Experte in diesen Dingen gilt seit den Frühzeiten des Kapitalismus der englische Nationalökonom Adam Smith, der mit seiner 1776 vorgelegten Unter101
suchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker gewissermaßen das Standardwerk über auf- und absteigende Staaten verfasste. In der nach festen Regeln sich vollziehenden Erwerbsarbeit, deren Lohn nicht mehr durch den Feudalherren abgeschöpft werden darf, sah er die wesentliche ökonomische Überlegenheit des bürgerlichen Rechtsstaates und damit der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt. Denn erst jetzt besaß der Einzelne »die leidliche Sicherheit, die Früchte seiner eigenen Arbeit genießen zu können«. Also strengte er sich mehr an als je zuvor, um wie »von einer unsichtbaren Hand geleitet einem Zweck zu dienen, der nicht in seiner Absicht lag«, nämlich den Wohlstand der gesamten Nation zu mehren. Immer wieder kommt Smith auf diesen zentralen Punkt zurück: Der Einzelne »hat weder die Absicht, das Gemeinwohl zu fördern, noch weiß er, wie sehr er es fördert«. Aber, wenn der Arbeitsmarkt funktioniert, tut er es eben doch. Das Ergebnis eines solchen unter staatlicher Aufsicht ablaufenden Produktionsprozesses, der die große Gier des Unternehmers ebenso zulässt wie die kleine Gier des Lohnabhängigen, hat auch Karl Marx und Friedrich Engels beeindruckt. Bei aller Kritik an den sozialen Zuständen ihrer Zeit kamen der Journalist und der Fabrikantensohn nicht umhin, in ihrem Kommunistischen Manifest der kapitalistischen Produktionsmaschine ihren Respekt zu erweisen: »Die Bourgeoisie reißt alle Nationen in die Zivilisation. Sie hat enorme Städte geschaffen … und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen.« 102
Unzweifelhaft ist es bis heute so, dass kein anderes System existiert oder sich auch nur abzeichnet, das eine vergleichbar kraftvolle ökonomische Leistung erbringt. Die große Kraft erwächst dabei aus der Einfachheit des Mechanismus: Der erschrockene Blick nach hinten, der freudige nach vorn, und über allem ein Rechtssystems, das dem Einzelnen den Gewinn seiner Mühsal garantiert. Dieser von jedermann verstehbare Dreiklang lässt die Menschen rennen im Rad der Ökonomie, jeden Tag, Jahr für Jahr, ein Berufsleben lang. Das Versprechen von Reichtum und die Drohung mit Armut treibe die Menschen an, meinte auch der österreichische Nationalökonom Josef Schumpeter und fügte in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hinzu, dass diese Drohung allerdings auch eingelöst werden müsse – »mit unbarmherziger Pünktlichkeit«, wie er fand. Die europäischen Staaten haben sich für ein bisschen Unpünktlichkeit und ein mehr an Barmherzigkeit entschieden, was den Menschen und ihrem Wohlergehen nicht schlecht bekommen ist. Aber die Grundregel darf eben niemand außer Kraft setzen: Nur durch die Anstrengung möglichst vieler in der Gesellschaft entsteht Massenwohlstand, Staaten, denen es nicht oder immer weniger gelingt, ihre Bevölkerung zur Leistung anzuhalten, sind auf der Verliererstraße. Ludwig Erhard wusste das genau, weshalb er anstelle des unbarmherzigen Zwangs zu rührenden Worten griff, mit denen er immer wieder an den Fleiß der Deutschen appellierte: »Jeder, der bummelt, jeder, der krankfeiert, jeder, der in seiner verkürzten Arbeitszeit nicht seine volle Arbeitskraft einsetzt, bestiehlt im Grunde genommen den Arbeitskameraden.« Ein Staat, der beide Motive für die Anstrengung des Einzelnen mit großer Planmäßigkeit beseitigt, der einerseits – wie der Feudalstaat und später der Sozialismus – die 103
Früchte der Arbeit für sich beansprucht und andererseits – wie der Sozialismus und unter bestimmten Bedingungen eben auch der Sozialstaat – die Angst vor gesellschaftlichem Abstieg abschafft, muss wissen, was er anrichtet. Das sagt schon der gesunde Menschenverstand, dass mit dem Streichen der Belohnung sich auch die Leistung früher oder später verabschiedet. Gerade diese Banalität wird dennoch auf sehr hartnäckige Art missachtet. Mit großem Staunen wundern sich viele über das, was absehbar ist und zum wundern am wenigsten taugt: Denn Hunderttausende, vielleicht mittlerweile sogar Millionen, stellen sich doch lieber gleich vorm Arbeitsamt an, wenn der Ertrag ihrer Arbeit sich nicht sonderlich von dem unterscheidet, was dort gratis vergeben wird. Diese Menschen sind weder zu beneiden noch zu beschimpfen: Sie verhalten sich streng ökonomisch, wofür sie keinerlei Grundwissen benötigen, nur das Gespür für ein gutes Geschäft. Wenn es ein Ehepaar, er Lagerarbeiter, sie Kassiererin, mit ehrlicher Arbeit und dank Kindergeld für Sohn und Tochter gemeinsam auf rund 1600 Euro bringt, warum sollen sie dann nicht lieber die staatliche Zuwendung entgegennehmen, die mit Sozialhilfe, Kleidergeld, Wohngeld und einer staatlichen Gesundheitsvorsorge, die über dem Niveau des Kassenpatienten liegt, in Konkurrenz zu ihren Jobs getreten ist. Das Staatsgehalt beträgt für sie nach Berechnungen, die das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln angestellt hat, immerhin 1500 Euro, ohne dass der Staat dafür eine Gegenleistung erwartet. Im Gegenteil, es gibt noch ein zusätzliches Geschenk. Denn das Staatsgehalt schafft einen Wert, den die herkömmliche Arbeit planmäßig vernichtet: Zeit. Der Leistungsempfänger bekommt also Geld und er gewinnt Zeit; Zeit, die verbummelt oder durch Schwarzarbeit ausgefüllt werden kann. Bestimmte Teilmärkte werden heute 104
komplett mit den Truppen der Schwarzarbeiter bestritten. Rund drei Millionen Putzfrauen arbeiten illegal in deutschen Haushalten. Offiziell sind nur 40000 Haushaltshilfen registriert. Der individuelle Vorteil der staatlichen Lösung liegt auf der Hand und wird deshalb fleißig genutzt, worüber sich nur Puristen empören können. »Sogar die Blinden können Geld sehen«, sagen die Chinesen. Der Mechanismus, der da in Gang gekommen ist, schaltet für einen guten Teil der Bevölkerung den Erwerbstrieb aus. Nicht die Arbeitslosen sind faul – es ist das System. Wobei sich niemand täuschen soll: das Geld, welches die neuen Bedürftigen erhalten, müssen andere mitverdienen, was dem Anstieg der Sozialabgaben neuen Schub verleiht. Die Motivation der Noch-Beschäftigten sinkt mit jeder neuen Sozialabgabe, die sie nun selbst in die Nähe derer befördert, die sie alimentieren. Sagen wir es ruhig so, wie es ist: Der Katze wird die Maus aus den Krallen genommen und an fremde Kätzchen verfüttert. Das Ergebnis ist absehbar: Die Katze lässt das mausen sein und die Kätzchen werden auf diese Weise nicht stark, nur fett. Aber aufmüpfig werden sie eben auch nicht. Und unser Staat? Er wagt sich zumindest immer weiter in diesen Grenzbereich vor, in dem unklar ist, was sich denn mehr lohnt, Arbeiten oder Faulsein, das Mausen oder das Warten auf die Fütterung, oder eben die gelungene Kombination von beidem. Die geltenden Regeln kommen heute für einen Teil der Erwerbsfähigen einem staatlich garantierten Bürgerrecht aufs Nichtstun gleich – bei vollem Lohnausgleich und einer Arbeitszeitverkürzung auf null. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich – parallel zum steigenden Wohlstand – dramatisch erhöht, obwohl doch das Gegenteil zu erwarten gewesen wäre. Die 1,6 Milliarden Euro für die Sozialhilfezahlungen des Staates im Jahr 1970 haben sich bis zur deutschen Einheit 105
verzehnfacht und danach noch einmal um 50 Prozent erhöht. In der Stadt Kassel lebt heute jeder zehnte Einwohner von der Sozialhilfe. Über die Bezieher hoher Einkommen brauchen wir hier nicht zu reden, sie klagen gern über die Steuersätze und in der FDP haben sie einen willigen Vollstrecker ihrer Empfindungen gefunden. Aus Sorge, diese Kundschaft könnte sie nicht erkennen, legten die Liberalen eine Zeit lang Wert auf den Zusatz »Partei der Besserverdienenden«. Dabei ist die Klage der Besserverdiener aus Sicht der Volkswirtschaft wenig dramatisch: Die hohen Steuern, die mittlerweile für Spitzenverdiener deutlich abgesenkt wurden, mögen aus Sicht derer, die sie abführen, noch immer zu hoch sein. Immerhin stammen rund 40 Prozent der Einkommensteuer von denen, die mehr als 100000 Euro verdienen. Die oberen zwei Prozent der Gehaltspyramide (350000 Menschen) zahlen etwa 20 Prozent des Aufkommens der Einkommensteuer. Wir dürfen sie also nach Kräften loben oder bemitleiden. Nur ökonomisch gibt es kaum Gründe, ihr Leiden zu lindern. Für den Arbeitsmarkt sind sie nicht das Problem, sie leben und arbeiten weit außerhalb der Gefahrenzone. Ihr Anreiz ist groß genug, der Verlockung von Sozialhilfe, Wohngeld und Kleiderzuschuss werden sie nicht erliegen. Den weiteren Aufstieg dürften sie nicht von der Höhe ihrer Steuerrechnung abhängig machen. Wenn der Abteilungsleiter zum Hauptabteilungsleiter aufsteigen darf, tut er das, ohne zu zögern. Wenn der stellvertretende Fabrikdirektor nach langen Jahren des Wartens endlich seinen Vorgänger beerben kann, wird er darauf nicht unter Verweis auf die höhere Steuerklasse verzichten. Die progressive Einkommensteuer hat ja durchaus ihren Sinn: Sie hilft mit, die Einkommens-Exzesse an der Spitze von Großkonzernen für die Gesellschaft erträglich zu 106
machen. Das Gegenmodell, die USA, hat sich nicht bewährt. Der Chef von General Electric verdient selbst in mittelprächtigen Jahren sieben Millionen Dollar Festgehalt und einer wie der Walt-Disney-Boss bringt es samt aller Aktienoptionen auf bis zu sechs Millionen Dollar, was in keinem Verhältnis zur messbaren Leistung steht. Jeder Manager, auch das vermeintliche Genie, ist ersetzbar und früher oder später macht der Aufsichtsrat von der Alternativlösung auch Gebrauch. Schumpeter glaubte, dass solche »Belohnungen, die viel größer sind, als notwendig wäre« für den Rest der Menschheit einen ungleich stärkeren Reiz auslösen würden als eine »gleichmäßigere und gerechtere Verteilung«. Nicht nur die DisneyAngestellten, sondern Menschen im ganzen Land sollten sich nach diesem höchsten aller Körbe strecken. Generationen von jungen Hochschulabsolventen, so die Hoffnung, würden alles geben, um an die Spitze einer Firma zu gelangen und dort den Produktionsapparat derart peitschen, dass er das gibt, was sie auch geben – das Äußerste. Doch in Wahrheit haben die amerikanischen Eliten viel Zeit vertrödelt mit dem Beflügeln von Aktienkursen, nur weil ihre Gehälter davon abhingen. Und nebenbei ermöglichen diese Spitzengehälter einen Lebensstil, der die Macher binnen kürzester Zeit um Lichtjahre vom Rest der Gesellschaft entfernt. Hinzu kommt, dass die nachhaltige Entwicklung einer Firma sich nicht allein mit der Peitsche erzwingen lässt, der traurige Zustand der amerikanischen Autoindustrie und der Niedergang der Fluggesellschaften mögen als Illustration genügen. Es war nicht der einzige Irrtum des großen Ökonomen Schumpeter, der den Kapitalismus so idyllisch sah, dass er 1942 die Massenarbeitslosigkeit als vorübergehendes Phänomen einstufte: »Ich bin nicht der Ansicht, dass irgendeine Tendenz der Zunahme des Prozentsatzes der Arbeitslosen 107
auf lange Sicht besteht.« Die Besserverdiener und der Arbeitsmarkt harmonieren also durchaus. Zwischen beiden gibt es eigentlich kein Problem. Der Arbeitsmarkt funktioniert für sie, wie er für die meisten Erwerbsfähigen funktioniert. Denn oft wird vergessen: Der Großteil der Arbeitsfähigen geht seiner Arbeit nach, wechselt mitunter zwischen den Firmen hin und her, ohne Verweildauer auf dem großen Parkplatz, den wir Arbeitslosigkeit nennen. Seine Motivation ist nicht bedroht, er ist gierig genug. Das Problem, das die großen Fehlsteuerungen verursacht und den Abstieg Deutschlands mit großer Deutlichkeit anzeigt, liegt fast ausschließlich am unteren Ende des Arbeitsmarktes: Bei den kleinen Leuten mit den kleinen Einkommen. Für sie lohnt es kaum mehr zu arbeiten und umgekehrt lohnt es auch kaum, ihnen reguläre Arbeit anzubieten. Der Einzelne kann sich diesem doppelten Hindernis kaum entgegenstemmen, selbst wenn er wollte, würde er heute keinen Job finden. Arbeit verschwindet nicht nur deshalb, weil sie keiner annehmen mag. Sie verschwindet auch deshalb, weil sie keiner anbietet. Betrachten wir die 4,5 Millionen Arbeitslosen, die es nun sind, unterm Mikroskop, dann sehen wir vor allem Alte und schlecht Ausgebildete und wir sehen sehr Junge, die ebenfalls nichts Richtiges gelernt haben. Sie stellen zusammen 17 Prozent der Gesamtzahl. Zieht man all die unproblematischen Fälle der Statistik ab, jene Menschen also, die nur für ein paar Monate »Stütze« kassieren, um danach beim nächsten Arbeitgeber zu landen, so vergrößert sich der Anteil der Ungelernten ganz enorm: Von den Langzeitarbeitslosen stellt diese Spezies fast 35 Prozent. Ökonomisch betrachtet ist die Sache einfach zu erklären und unter den heutigen Bedingungen dennoch aussichtslos 108
zu lösen: Der Input dieser Menschen ist aus Sicht der Wirtschaftsmaschine Deutschland so gering, dass sie zu den festgesetzten Preisen keine Chance haben. Sie stehen im vierfachen Wettbewerb, den sie nur verlieren können. Gegner Nummer eins ist jener chromblitzende Maschinenpark, der allmorgendlich unsere Straßen kehrt, die Fahrkarten der S-Bahn verkauft, in den Hotelfluren die Schuhe putzt, das Laub wegsaugt, die Gärten mit unterirdisch gelegten Kanälen bewässert und besprenkelt. Diese Maschinen sind der einfachen Arbeitskraft nachempfunden, ihr allerdings in Geschwindigkeit und Präzision oft überlegen. Sie haben aus Unternehmersicht viele Vorteile: Sie verlangen kein Kranken- und kein Urlaubsgeld, beziehen keine Rente und im Fall des Nichtfunktionierens werden sie einfach verschrottet. Der zweite Herausforderer wohnt und schuftet in Fernost und in Osteuropa. Das Kapital in Form von Maschinen wurde eigens dort hingeschafft, um diese einfache Arbeitskraft, die dort im Überfluss und zu günstigsten Konditionen sich anbietet, zu nutzen. Das Gegenstück zum Gastarbeiter, der in den sechziger Jahren zu uns kam, ist das Gastkapital, das die umgekehrte Reise antritt. Gemeinsam ist beiden, dass sie sich integrieren wollen, das Kapital wie die Arbeitskraft werden in aller Regel nie wieder in ihre Heimat zurückkehren. Gegner Nummer drei sind jene Kollegen, die sich in die Schwarzarbeit verabschiedet haben. Sie machen den noch verbliebenen Einfacharbeitern beinharte Konkurrenz. Sie arbeiten auch samstags und sonntags, sie kennen keine Arbeitszeitlimits, keine Obergrenzen für Staub, Lärm und Schmutz und ihr Preis liegt in aller Regel um sensationelle zwei Drittel unter dem, was der reguläre Arbeiter verlangen muss. Dem Niedergang des untersten Segments im Arbeitsmarkt steht spiegelbildlich der Aufstieg der 109
Schwarzarbeit gegenüber, die zu frühkapitalistischen Bedingungen konkurriert. Sie ist seit Jahren die einzige Wachstumsbranche, die mit beeindruckenden Zuwachsraten auf sich aufmerksam macht. Das illegal geleistete Arbeitsvolumen würde nach Berechnungen verschiedener Institute 5,5 Millionen Arbeitsplätze ausmachen – mehr als wir heute registrierte Arbeitslose haben. Konkurrent vier der einfachen Arbeiter, der Aushelfer und Handlanger, der Ungelernten und Geringqualifizierten, sind die Privathaushalte. Angesichts der Hochpreispolitik des offiziellen Arbeitsmarktes sind selbst Zahnärzte, Rechtsanwälte, Architekten und Bankmanager zum Do-it-yourself übergegangen. Der Wachstumsschub der Baumärkte ist das sichtbare Zeichen einer Verweigerungshaltung.
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Obi meldete in den vergangenen zehn Jahren ein Wachstum, das um zehn Prozent über dem der Volkswirtschaft lag. Die meisten Arbeiter wissen gar nicht, dass sie sogar deutlich schlechter gestellt sind als die Spitzenverdiener: Dieser Effekt beruht auf einer grundsätzlich unterschiedlichen Behandlung von Steuern und Sozialabgaben. Generell gilt: Wer viel leistet, also viel verdient, zahlt mit jeder neuen Gehaltsstufe einen höheren Steuersatz. Bei den Sozialabgaben aber ist ein Limit eingezogen. Ab einer bestimmten Einkommensgrenze, der so genannten Beitragsbemessungsgrenze, die heute in der Rentenversicherung bei 5150 Euro liegt, zahlt jeder den Höchstsatz, der dann bei rund l000 Euro liegt. Im Klartext heißt das: Wer eine Million im Jahr verdient, zahlt zwar den prozentual höchsten Steuersatz (derzeit in der Spitze 45 Prozent), zugleich aber einen denkbar niedrigen Satz an Sozialabgaben (nämlich 2,4 Prozent). Bei den Geringverdienern, also allen, die mit ihrem Einkommen deutlich unter der Bemessungsgrenze liegen, verhält es sich umgekehrt. Sie zahlen kaum Steuern, jedoch 40 Prozent Sozialabgaben. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Trend – weniger Steuern, höhere Sozialaufschläge – noch verstärkt, was die Angelegenheit für die Geringverdiener nur noch prekärer macht. Wer 1000 Euro im Monat steuerpflichtiges Einkommen erwirtschaftet, muss 400 Euro davon abführen, wobei 200 davon als »Arbeitgeberbeitrag« bezeichnet werden. Aber das ist nur eine dieser Maskierungen, in Wahrheit wird dieser Betrag genau wie alle anderen Sozialabgaben auch vom Arbeitnehmer erwirtschaftet und bezahlt. Er allein muss, oder besser gesagt: er müsste ihn zahlen. Denn das tun immer weniger, weil eben immer mehr kleine Arbeitsverhältnisse unter genau dieser Last zusammenbrechen. 111
Sie können die Päckchen, die ihnen die Gesellschaft aufbürdet, nicht tragen. Zügig und in immer größerer Zahl biegen Kleinstverdiener daher vor der Werkshalle ab, gehen dahin, wo ihre Wettbewerber auch schon sind, ins vermeintliche Paradies der Schwarzarbeit, wo diese Abgaben nicht erhoben werden. Hier können sie sich entfalten und tun das auch. Der Abschied aus der regulären Erwerbsarbeit wird den Kleinverdienern leicht gemacht. Niemand drängt sie zu bleiben. Denn auch für die Anbieter von Arbeit, also die Unternehmer, sind diese Menschen unattraktiv geworden. Offiziell registrierte und sauber mit Finanzamt und Sozialkasse abgerechnete Arbeit wird von ihnen kaum mehr angeboten. Auch deshalb stirbt am unteren Ende des Arbeitsmarktes die Arbeit aus. Den Unternehmern ist kein Generalvorwurf zu machen. Denn was bringt Fabrikanten, Bäckermeister, Fuhrparkbesitzer oder den Besitzer einer Imbissbude dazu, Menschen in Lohn und Brot zu nehmen? Was sind die Gründe, die zur Neueinstellung oder auch nur zum Erhalt eines Arbeitsplatzes führen? Hier gibt es ein einziges Motiv von Relevanz: Den Unternehmern geht es um jenen »Mehrwert«, den Karl Marx so akribisch analysiert hatte und dessen Gültigkeit, bei allem was sich sonst gegen Marx vorbringen lässt, die Jahrzehnte überdauert hat. Die Leistung der Arbeiter muss nach Auszahlung von Lohn, Steuern und Sozialabgaben, die ja alle nur eine Quelle haben, nämlich die Arbeitskraft des Arbeiters, noch etwas für den Unternehmer übrig lassen, jenen Mehrwert, den wir heute, je nach Temperament und politischer Grundstimmung, auch Ertrag, Gewinn oder Profit nennen. Er muss so üppig ausfallen, dass er a) auch für die schlechten Tage langt und b) in den guten Tagen die Investitionen der Firma zu finanzieren 112
hilft. Die neue Produktionsstraße und das renovierte Verwaltungsgebäude haben ebenfalls keine andere Quelle als die menschliche Arbeitskraft. Sie muss so viel Energie erzeugen, dass alle vier Beteiligten – der Arbeiter, der Steuerstaat, die Sozialkassen und der Unternehmer – sich einen Teil davon abzapfen können. Geht einer leer aus, wird der Arbeitsplatz erst wackelig und dann vom »ewigen Sturm«, als den Schumpeter das Wirtschaftstreiben empfand, hinweggefegt. Der Betroffene landet nur leider nicht, wie von Schumpeter vorgesehen, vor dem Werkstor einer anderen Firma. Zumindest in Deutschland, aber hier nicht allein, weht der »ewige Sturm der schöpferischen Zerstörung«, von dem Schumpeter so schwärmerisch sprach, viele für immer aus Werkshalle und Büro hinaus, so dass volkswirtschaftlich die Zerstörung bleibt und das Schöpferische sich einstweilen verflüchtigt hat. Die Aufgabe des Arbeitsmarktes müsste es sein, die leicht durchschaubaren Motive beider Seiten so zu kombinieren, dass alle profitieren: Der Unternehmer muss mehr Gewinn als Ärger haben und der Arbeiter mehr in der Lohntüte behalten, als er durch Nichtstun bekommen kann. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, kommt es zum Abschluss eines Arbeitsvertrages. Entfällt auch nur einer dieser Gründe, ist die Kündigung in Sicht. Nur wer diese Balance wiederherstellt, also das natürliche Beschäftigungsgesetz beachtet, macht die Arbeitslosigkeit wieder zu dem, was sie war: ein Randphänomen. Nichts dergleichen geschieht. Millionen Menschen sind nicht an der Wohlstandsmehrung beteiligt und tauchen stattdessen eben auf der anderen Seite der Bilanz auf. Hier sorgen sie für Wohlstandsverzehr, Wachstumsverluste, erhöhen mit jeder weiteren Million die Gefahr, dass aus dem deutschen Abstieg ein Absturz wird. Auch im 113
politischen Leben sind die Gefahren nicht zu leugnen, dass ein ganzes System einfach kippt, aus Mangel an Zukunftsfähigkeit. Die Vollnarkose, die der heutige Sozialstaat den Betroffenen verpasst, dämpft die politische Aufmüpfigkeit ungemein. Die Betroffenen wirken zwar nicht glücklich, aber rebellisch sind sie auch nicht. Erst wenn der Staat die Dosis senkt oder aussetzt, wird es für viele ein böses Erwachen geben. Der Arbeitsmarkt sendete hierzulande früh schon ein erstes Notsignal, das von allen Parteien allerdings überhört wurde. Bereits in den beginnenden sechziger Jahren zeichnete sich ab, dass er nicht in der Lage sein würde, Angebot und Nachfrage zueinander zu bringen. Damals war ein Mangel an Arbeitskräften zu verzeichnen, der durch eine bei voller Fahrt vorgenommene Verkürzung der Arbeitszeit zustande kam. Von 44 auf 40 Stunden pro Woche setzen Gewerkschaften und Arbeitgeber die tarifliche Wochenarbeitszeit herunter. Die Belegschaften hatten nach den harten Jahren des Wiederaufstiegs das Gefühl, eine Verschnaufpause verdient zu haben. Die Wirtschaft allerdings expandierte noch immer mit beträchtlichem Tempo und verlangte nach mehr Arbeitern, mehr Stunden, mehr Energieaufwand, was man ihr nicht mehr erfüllen wollte. Plötzlich war im damaligen westdeutschen 65-Millionen-Volk eine Arbeitskräftelücke entstanden, die sich selbst bei Mobilisierung aller Reserven nicht schließen ließ. Mit einem Millionenetat für Anwerbeprämien zog die Bundesrepublik los, um in der Türkei, in Griechenland, Jugoslawien, Spanien, Italien und Portugal nach Freiwilligen zu suchen. Eine Völkerwanderung war die Folge: Vier Millionen Ausländer siedelten damals als Gastarbeiter nach Deutschland um. Wären sie nicht gekommen, hätte der Wohlstand schon damals Schaden genommen. Die Volkswirtschaft hätte 114
schrumpfen müssen. Die Funktionsstörungen des Arbeitsmarktes häuften sich dann in den Achtzigern – fortan allerdings in die andere Richtung. Jetzt fehlten die Arbeitsplätze. Das Gegenstück zum Anheuern ausländischer Arbeitskräfte war nun das Aussteuern. Die Politik kümmerte sich nicht um die Funktionsstörungen, sondern versuchte, mit einer Art Bypass den Krisenherd zu umgehen: Ältere Arbeitnehmer wurden in den Vorruhestand, Frauen zurück in die Haushalte geschickt, Jugendliche hat man in staatlichen Bildungsinstitutionen vor der Statistik versteckt. Das Reaktionsmuster der Politik war in beiden Fällen ähnlich: So wie die britische Labourregierung den Pfundverfall mit Interventionen an den Devisenmärkten bekämpfen wollte, wurde auch in Deutschland von Regierungen aller Couleur auf dem Arbeitsmarkt interveniert. Das Zentrum des Problems blieb dabei unberührt.
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Der überforderte Sozialstaat Ludwig Erhard erinnerte seine Landsleute immer wieder daran, dass jeder staatlichen Wohltat eine privat erwirtschaftete Leistung gegenüberstehen müsse. Wer den Zusammenhang bestreite, so Erhard, gerate in den Verdacht, »das deutsche Volk einschläfern zu wollen«. Der Mann trat ab, die Erinnerung verblasste. Der Sozialstaat, einst nur die Ausgleichsstelle für schwere Schicksalsschläge aller Art, wurde zum großen Ernährer breiter Bevölkerungsteile, denen er millionenfach Lohnersatz spendiert. Das Münchener Ifo-Institut hat errechnet, dass im deutschen Osten 47 Prozent aller Erwachsenen und im Westen 38 Prozent der Volljährigen ihren Lebensunterhalt ausschließlich oder maßgeblich mit Hilfe der Auszahlungen des Wohlfahrtsstaates bestreiten. Viele werden hier widersprechen oder zumindest eine Anmerkung machen wollen: Ein Transfereinkommen, das Geld also, welches vom Kern zur Kruste wechselt, ist kein Almosen, viele Ansprüche sind über Jahre erworben. Ist es da nicht unfair, die Rückzahlung dieser Gelder als verwerflich zu kritisieren? Dafür sind sie doch in besseren Zeiten beiseite gelegt worden. Das allerdings ist nur die halbe Wahrheit. Denn von dem insgesamt knapp 700 Milliarden Euro umfassenden jährlichen Sozialbudget, das über die verschiedensten Leitungssysteme den Begünstigten zufließt, stammen nur gut 60 Prozent aus den tatsächlich eingezahlten Beträgen zur Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung. Die anderen 40 Prozent der Sozialtransfers stammt aus dem Steuertopf oder kommt direkt als Kredit von den Banken. Denn die Sozialsysteme sind schon seit längerem 116
nicht mehr in der Lage, die Ansprüche, die sie ihren Mitgliedern versprechen, aus eigener Kraft zu decken. Der beherzte Griff in die Steuerkasse kam in den siebziger Jahren in Mode, hier ein Zuschuss für die Rentner (aus dem mittlerweile eine 30-prozentige Zuzahlung aus Steuermitteln wurde), da ein Beitrag zur Arbeitslosenversicherung. Und weil selbst dieser Geldtransfer aus der Steuerkasse die in Dutzenden von Parteiprogrammen versprochenen Ansprüche nicht befriedigen kann, kommt die Anspruchsbefriedigung auf Kredit noch hinzu. Denn ein solch ungünstiges Verhältnis von Leistungsbeziehern und Leistungserbringern hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben. Die Verbindungsstelle zwischen denen, die arbeiten, und denen, die nicht mehr arbeiten, ist der Sozialstaat, ein komplexes Gebilde, das eine Vielzahl von Leitungssystemen unterhält. Die ziehen vom Kraftzentrum der Volkswirtschaft jene Energie ab, die für die Erledigung der sozialen Aufgaben gebraucht wird. Zur Zeit verteilt der deutsche Wohlfahrtsstaat über 100 verschiedene Leistungen, von der Kindergeld und Rente nur die Anfangs- und Endpunkte markieren. Seine Kundschaft, die Bedürftigen, nennt er Leistungsbezieher, im Unterschied zu den Leistungserbringern, den Beschäftigten der Firmen, die für den Nachschub der Milliarden sorgen. Denn als Einzahler treten fast ausschließlich Arbeiter und Angestellte auf: Sie tragen in Deutschland zu annähernd 90 Prozent die Finanzierung unser Sozialsysteme durch ihre Sozialbeiträge, die Lohnsteuer und die Mehrwert- und Ökosteuer. Die Unternehmerbeiträge sind in Wahrheit nichts anderes als vorher abgezwackte Arbeitnehmerbeiträge und die Beamten werden mit Samthandschuhen angefasst, wenn überhaupt. Zum Sozialsystem jedenfalls tragen sie 117
kaum etwas bei, ihre Krankenversicherung regeln die Staatsdiener über die Privatkassen, das Rentensystem kennt sie nur als Auszahladresse. Sie sind lebenslang und seit Einführung des Berufsbeamtentums von jeder Einzahlung befreit. Blieben die Rücklagen des Staates, wenn es sie denn gäbe. Aber es gibt in Deutschland keine Rücklagen, die sich zu erwähnen lohnt. Denn die Sozialversicherungen funktionieren eben nicht wie Versicherungen, die in guten Zeiten für schlechte Zeiten ansparen. Das Wort Versicherung müsste eigentlich gestrichen werden, weil es in die Irre führt. Die Sozialkassen sind im Großen und Ganzen nichts anderes als Einsammelund Auszahlstationen, die täglich Milliarden umwälzen. Eine normale Versicherung funktioniert wie ein Staudamm, sammelt in guten Zeiten an, um in Dürrephasen abfließen zu lassen. Das Geld unserer Sozialsysteme dagegen fließt durch die Hände der Kassenfunktionäre wie der Regen ins Erdreich, es gibt kein Auffangbecken, keine Risikovorsorge, keinen Notgroschen, der länger als einen Monat die Zahlungsunfähigkeit verhindern würde. Die Krankenkassen sind sogar, wenn man genau hinschaut, hoch verschuldet, die Rentenkasse verkauft nach und nach das wenige, was sie an Wohnungsbestand einmal gehortet hatte. Einzig die Pflegeversicherung, die als letztes Sozialsystem Mitte der Neunziger unter konservativer Führung hinzukam, besitzt eine milliardenschwere Rücklage, die allerdings wird nicht mehr aufgefüllt, nur verzehrt. Das Wasser verlässt den einzigen kleinen Staudamm, den die Politiker errichtet haben, danach kommt auch hier die Dürre. Denn so viel ist absehbar und jeder kann damit kalkulieren: Wenn die heutigen Einzahler um Auszahlung bitten, sind die Reserven aufgebraucht und die Beitragszahler verschwunden. 118
Was uns heute wie ein schwerer, kaum entschuldbarer Konstruktionsfehler vorkommt, war vom Erfinder des heutigen Sozialstaates genau so gedacht. Jede Generation sollte für ihre Nachfahren sorgen, so reichlich, dass diese für ihre Erzeuger von einst aufkommen würden. Es war das Prinzip der Großfamilie, das Adenauer (nicht Reichskanzler Bismarck, wie viele glauben) auf die sich erst herausbildende Sozialstaatlichkeit übertrug. Bismarck gründete zwar die Rentenversicherung, aber er war schlitzohrig genug, seinem eigenen Prinzip zu misstrauen: Er setzte für einen Teil der Arbeiterschaft den Rechtsanspruch auf Altersruhegeld durch, aber: Der Beginn der Auszahlung war auf das siebzigste Lebensjahr festgelegt, das Durchschnittslebensalter jener Zeit lag jedoch zwanzig Jahre darunter. Finanznot kam da keine auf. Der Präsident der staatlichen Rentenversicherungsanstalt musste seltener in den Tresorraum laufen als der Betreiber eines Spielkasinos. Und im Unterschied zum heutigen System, in dem die Kinder für ihre Eltern das Altersruhegeld zahlen, war damals auch tatsächlich Geld im Tresorraum. Denn Bismarck ließ Millionen beiseite packen und konnte dank Zins und Zinseszins die Ansprüche der wenigen Rentner am Ende bedienen. Sein System war durch Kapital gedeckt, nicht durch Kinder. Nach Bismarcks Tod verschwand die Schlitzohrigkeit, die Politiker der Bundesrepublik verließen sich darauf, dass ausreichend Nachwuchs für den finanziellen Nachschub sorgt. »Kinder kriegen die Leute immer«, sagte Adenauer, als er sich nach dem Weltkrieg für den Neuanfang mit einem gänzlich anderen Rentensystem entschied. Die Wahrheit war allerdings schon zu Adenauers Zeit eine andere, was sich in den Statistiken der Kliniken leicht hätte feststellen lassen. Die Leute bekamen zwar Kinder, aber nicht mehr genug. Das Wirtschafts119
wunder und auch der Boom der sechziger Jahre konnten die Deutschen ebenfalls nicht zu größerer Gebärfreudigkeit anregen: Die letzte Generation, die sich komplett selbst reproduzierte, wurde 1875 geboren. Für die bisherige Art, das Sozialsystem zu organisieren, bedeutet das Ausbleiben neuer Beitragszahler eine mittlere Katastrophe. Denn die Vermögen sind nicht Goldbarren, Immobilienbesitz und Aktienpakete, sondern ausschließlich Kinder. Weniger Kinder bedeutet automatisch mehr Belastung für die, die im Erwerbsprozess stehen. An der Entwicklung unserer Rentenbeiträge lässt sich das gestörte Gleichgewicht ablesen. Zahlten 1970 noch 22 Millionen Erwerbstätige für gut 8 Millionen Rentner rund 11,4 Milliarden Euro, zahlen heute 27,5 Millionen Erwerbstätige für rund 20 Millionen Rentner rund 140 Milliarden Euro. Und diese Rentner leben länger, als ihre Vorgänger es taten. Auf ein Kleinkind (unter l Jahr) kamen 1960 knapp sieben Alte (über 65 Jahren), 1995 waren es schon 15 Alte pro Baby und im Jahr 2020 werden es 26 sein. Schön für die Alten, schlecht für die Jungen, denn die wenigen sollen für die vielen sorgen: Die längere Verweildauer auf der Erde und die ständige Verkürzung der Lebensarbeitszeit haben zu einem rasanten Anstieg der bezahlten Rentnerjahre geführt. Seit der Einführung des Systems hat sich die Bezugsdauer fast verdoppelt. Das ist ja das Unheimliche, dass hier ein Automatismus in Gang gekommen ist, der auch den Politikern Angst einflößt, weil er mit ihren bisherigen Instrumenten kaum beherrschbar scheint. Sollen sie etwa das Älterwerden ihrer Wähler verhindern, das ja für sich genommen ein erfreulicher Zustand ist? Wie sollen sie denn die Gebärfreudigkeit der Bevölkerung stimulieren, ohne in den Verdacht zu geraten, sie wollten ihre Wahlfreiheit einengen? Denn die Entscheidung für oder gegen die Ehe, für oder 120
gegen Kinder, für oder gegen eine Beziehung mit welchem Geschlechtspartner auch immer ist ins Belieben des Einzelnen gestellt. Dem liberalen Staat sind alle recht, er anerkennt, er fordert ohne Ansehen der Person. Allerdings eben auch ohne Ansehen der volkswirtschaftlichen Folgen. Was die Deutschen zu Recht als neue Errungenschaft feiern, die Freiheit von jener Norm, die gestern noch die Großfamilie, der Staat, die Gesellschaft setzte, könnte zu ihrer größten Niederlage werden. Der Preis der Freiheit, von der viele bisher dachten, sie sei kostenlos, ist am Ende womöglich die Freiheit selbst. Einen Nebeneffekt hat der Vorgang, der politisch von Bedeutung ist: Je kleiner die Gruppe derer, die das Rad der Ökonomie in Schwung halten, desto uninteressanter wird es, ihre Interessen zu vertreten. Beide Volksparteien werden dagegen munter, wenn es um die größte homogene Gruppe im Lande geht, die der Rentner. Heute schon sind 25 Prozent der Deutschen über 60 Jahre alt, im Jahr 2050 werden 40 Prozent der Bevölkerung oberhalb dieser Altersmarke leben, medizinisch weitgehend gesund und politisch im Zentrum des Geschehens. So wie die Zunahme der Senioren das Angebot unserer Volkswirtschaft verändert – die Autos werden komfortabler, die Anzüge weiter, die Dekolletes verzichten auf Gewagtheiten –, so richtet sich das politische Personal ebenfalls auf die neue Nachfragemacht ein. Für die Jüngeren könnte das kommende Deutschland ein unwirtlicher Ort werden.
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Wohlstand ohne Wachstum Nationalstolz lässt sich messen. Im Zeitalter der Kaufmannsstaaten zählen nicht Heeresstärke und Flottenverband, es ist nun eine ökonomische Zahl, die, wenn sie entsprechend schön und groß ausfällt, voller Stolz herumgereicht wird. Die Tagesschau eröffnet mir ihr, Politiker drucken sie in ihre Wahlprogramme, Journalisten sind überglücklich, wenn sie die neueste Zahl vor allen anderen, also »exklusiv«, ergattern konnten. Das Bruttoinlandsprodukt, in Kurzform oft auch nur Sozialprodukt genannt, ist heute die grundlegende Maßeinheit der Wirtschaftsleistung einer Nation und zugleich die wichtigste Kennziffer im politischen Meinungskampf. Sie dient als Leistungsnachweis, wenn sie kräftiges Wachstum zeigt, sie wird als Zeuge der Anklage vorgeführt, wenn sie sich nur knapp oberhalb der Nulllinie bewegt. Für beide Rollen ist sie allerdings gänzlich ungeeignet. Unsere Wachstumszahl, zuletzt klein und in diesem Jahr wieder etwas größer, sagt nichts über den produktiven Kern unserer Volkswirtschaft. Sie verschleiert dessen Existenz sogar, weil sie nicht die Energie- und damit Leistungskraft der Ökonomie misst, obwohl eine Mehrheit von Bürgern und Politikern genau das glaubt. Anstelle des Wachstums, das die Zahl aller Zahlen auch jetzt wieder anzeigt, haben wir es seit Jahren mit einer Schrumpfung zu tun. Das Bruttoinlandsprodukt spiegelt das Ausmaß dieser Erosionsprozesse nicht annähernd wider, im Gegenteil: es verschweigt sogar den Niedergang des Landes, meldet selbst dann noch positive Werte, wenn die tatsächliche Leistungskraft bereits in den roten Bereich gedreht ist. 122
Die Zahl könnte uns gleichgültig sein, würde sie nicht in sehr starkem Ausmaß die öffentliche Diskussion beherrschen und dieser Regierung, wie jeder Regierung zuvor, als Richtschnur ihres Handels dienen. Im vergangenen Wahlkampf brachte es die große Schwester des Sozialprodukts, ihre Prognose, bis auf die Plakate der SPD. Da stand sie, stolz und kühn (und falsch, wie wir heute wissen), und davor reckten zwei Spitzenpolitiker, der SPD-Fraktionschef und heutige Parteivorsitzende Franz Müntefering und Finanzminister Hans Eichel, ihre Daumen siegessicher in die Höhe. Prognosen können falsch oder richtig sein, das liegt an ihrem flüchtigen Wesen. Sie sind ein Sozialprodukt im Anmarsch, das wir nur aus der Ferne sehen. Aber auch wenn die Zahl vor uns steht, und darum geht es hier, sagt sie noch immer nicht die Wahrheit. Aber woher kommt dann das Wachstum, das die Statistiker selbst in mageren Jahren noch melden? Worin genau liegt die Täuschung? Und wer hat sie zu verantworten, ist sie womöglich das Produkt einer bewussten Irreführung? Zunächst ist unsere Wachstumszahl nichts anderes als das Ergebnis einer doppelten Falschrechnung: Die Experten des Wiesbadener Bundesamtes für Statistik erfassen in einer komplizierten Rechnung aus Tausenden von Einzelpositionen alles, was in diesem Land an Dienstleistungen und Waren verkauft wird. Ergibt die Addition ein Plus gegenüber dem Vorjahr, freuen sich alle sehr. Je kräftiger es ausfällt, desto besser für Arbeitsplätze, Löhne und das Zukunftsgefühl. Diese Addition ist allerdings tückisch. Die meisten Güter haben zwar ihren Preis, er steht auf dem Etikett und die Summe taucht in den Firmenbilanzen später auf, sie sind für die Statistiker leicht zu addieren. Die Softwareingenieure von Siemens verkaufen Software, deren Preis 123
leicht zu erfassen ist. Auch alle anderen Beschäftigten des produktiven Kerns unserer Volkswirtschaft produzieren Waren, die in der Exportstatistik, der Einzelhandelsstatistik und anderswo sich niederschlagen – mit echten Preisen für echte Produkte, weil sie ja tatsächlich verkauft wurden. Aber die Statistiker wollen auch die Leistung des Staates erfassen und haben sich dafür einen Trick ausgedacht, der die erste große Verzerrung bringt. Die Leistung der Staatsbediensteten, ob im Arbeitsamt, auf der Meldestelle oder bei den unzähligen Genehmigungsbehörden, hat kein Etikett, keinen Preis, taucht daher auch in keiner Bilanz auf. Niemand erstattet eine Gebühr in Höhe der Kosten, kein Wertgutachten wurde je gefertigt, um den wahren Wert der Staatsdiener zu taxieren. Die Staatsbediensteten tauchen in den staatlichen Budgets nur als Ausgaben auf; ihre Lohn-, Papier-, Heizungs- und Computerkosten sind dort erfasst. Worin also liegt der Wert ihrer Arbeit, wenn sie doch keinen Preis hat? Die Statistiker haben sich der Einfachheit halber entschlossen, die Kosten, also den Lohn, das Papier, die Heizungsausgaben und den Computer, als Marktpreis zu betrachten. Dank dieser Verrechnungspreise, wie sie die DDR nicht besser hätte erfinden können, sind die Staatsbediensteten zu echten Schätzen in der Wachstumsbilanz geworden. Jeder zusätzliche Mann ein Gewinn, jede neue Staatsaktivität ein Aktivposten. Würde der Staatssektor weiter ungebremst expandieren, sich der untergegangenen DDR also auch in dieser Hinsicht annähern, und alle erwachsenen Menschen in Deutschland als Staatsdiener anstellen, wäre das statistisch ein Glücksfall. Das Land wäre in unserer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung reicher und leistungsstärker geworden. Was im wahren Leben der Nation ein Nachteil, ein Ärgernis, ein Gegen124
stand vielfältigster Rückbaupläne ist, wird in unserer Art, das Wachstum zu messen, ein Vorteil: Denn Kosten bedeuten Wertzuwachs. Die enorme Steigerung der Staatsaufgaben, die Verdoppelung der staatlichen Aktivität seit 1950, also der Anstieg der Staatsquote von damals 25 Prozent auf annähernd 50 Prozent heute, ist in den Augen der Statistiker ein Wachstumsmotor der kraftvollen Art. Der Staat beansprucht einen immer größeren Teil des Volksvermögens für sich und seine Verteilarbeit, wodurch aber in Wahrheit das Wachstum des produktiven Energiekerns gebremst wird. Auch die Herkunft der Gelder, die der Staat zum Erwerb dieser »Werte« einsetzt, ist der Statistik gleichgültig. Die auf Kredit finanzierten Staatsausgaben behandelt die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nicht anders als den Produktionsausstoß der Wirtschaft. Das Zahlenwerk ist damit blind gegenüber der Staatsverschuldung. Es geht ihr, so verteidigen sich die Experten in ihren Lehrbüchern, um eine rein »güterwirtschaftliche Betrachtung«, bei der offen bleibt, »wie das gesamtwirtschaftliche Angebot und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage finanziert worden sind«. So verschweigt uns ausgerechnet jene Zahl, die als Wachstums- und Wohlstandsindikator gilt, dass ein immer größerer Prozentsatz dieser Güter auf Kreditbasis erstanden wurde. Diese Kredite, die eigentlich die Überforderung unseres Produktionsapparats anzeigen, weil sie für Ansprüche aufgenommen werden, die aus dem laufenden Geschäft nicht zu befriedigen sind, tauchen in der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts als Faktor auf, der Wohlstand und Wohlergehen des Landes gemehrt hat. Es klingt verrückt, aber so ist es nun mal: Die rapide steigende Staatsverschuldung wird als Fortschritt dargestellt, obwohl sie am relativen Abstieg des Landes nicht unwesentlich beteiligt ist. 125
Zur Verteidigung der Statistiker muss man sagen: Als sie ihre Gesamtrechnung entwarfen, war die Welt der Staatsfinanzen noch in Ordnung. Erst in den siebziger Jahren haben sich die Parteien in die Schuldenpolitik geflüchtet. Das fehlende Wirtschaftswachstum wurde nach und nach durch ein Wachstum der Kredite ausgeglichen. Anfangs lag dem die Hoffnung zugrunde, das Wachstum auf Pump möge das reale, das tatsächliche Wachstum der Betriebe stimulieren, durch echte Aufträge, durch Signale des Optimismus, durch eine verstärkte Kaufkraft der Konsumenten. Am Ende würde der alle Branchen erfassende Aufschwung die Kosten der Initialzündung wieder einspielen. Es war Professor Karl Schiller, SPD-Minister unter Brandt, der unter Berufung auf den britischen Ökonomen Keynes die staatliche Wirtschaftssteuerung in Deutschland einführte. Er ging davon aus, dass »wir alle seit den dreißiger Jahren Keynsianer geworden sind – in der geistigen Haltung und in der Politik –, auch diejenigen, die es selbst noch nicht wissen, dass sie auf dem besten Wege sind, Keynsianer zu werden«. Kurzerhand wurde der Begriff des »organischen Wachstums« (Franz Josef Strauß), der ein Auf und Ab der Wirtschaftsmaschine als naturgegeben akzeptierte, ersetzt durch die Rede vom »optimalen Wachstum« (Schiller), was den Glauben an die Planbarkeit der Zuwächse enthielt. Schiller wollte, das nur zu seiner Ehrenrettung, in guten Zeiten sparsam sein, was ihm nicht gelang. Die Keynes’sche Rechnung ging, wie wir heute wissen, nur in den seltensten Fällen und nur für kurze Zeit auf. Wer glaubte, die milliardenschweren »Vorleistungen« des Staates würden in Form höherer Steuereinnahmen und geringerer Ausgaben für Arbeitslose nach Anspringen des Wachstumsmotors schnell wieder zurückerstattet, sah sich getäuscht. Was als Krisenbewäl126
tigung begann, um sich als Krisenprävention fortzusetzen, hat die Krise erst so richtig angefeuert. Professor Rainer Roth von der Fachhochschule Frankfurt kommt zu dem durchaus zynisch gemeinten Schluss: »Statt Mittel zur wirtschaftlichen Belebung ist die Staatsverschuldung selbst die wirtschaftliche Belebung.« Oder anders ausgedrückt: Den Zustand, den sie anregen sollte, führt sie selbst herbei – zumindest auf dem Papier und zumindest für eine kurze Zeit. Denn auf Dauer lässt sich Wirtschaftskraft nicht kaufen. Die Stabilität, auch die Stabilität der Wachstumsrate, die dadurch vorgetäuscht wird, muss später mit Instabilität bezahlt werden. Diese Substitution, bei der Staatskredite die schwächer werdende Wirtschaftsleistung ersetzen, ist heute der eigentliche Treibsatz unseres Wachstums. Stellt man ab dem Jahr 1980 die jährlichen Zuwächse des Sozialprodukts den jährlichen Zuwächsen der Staatsverschuldung gegenüber, sieht man, dass praktisch alle Erfolgsmeldungen aus der staatlichen Schuldenaufnahme stammen. Jene Zahl, die uns Wirtschaftswachstum anzeigen soll, erzählt in Wahrheit die Geschichte vom Wachstum der Kredite, der Schulden, der Zinszahlungen. Der letzte Zeitabschnitt, der echte, auf geleisteter Arbeit basierende Zuwächse des Bruttoinlandprodukts vermelden konnte, war die Zeit zwischen 1960 und 1970. Danach stieg die Staatsverschuldung derart kraftvoll an, bis sie endlich den Zuwachs der Wirtschaftsleistung überholt hatte. Im Zeitraum 1971 bis 1980 stand einem realen Zuwachs von 282 Milliarden Euro noch eine Nettokreditaufnahme von 171 Milliarden Euro gegenüber. Kurt Biedenkopf und Meinhard Miegel waren die Ersten, die in einem gemeinsamen Aufsatz an der Seriosität der offiziellen Wachstumsziffer zweifelten. Ende der siebziger Jahre entdeckten sie, dass es seit 1975 eigentlich 127
kein Wirtschaftswachstum mehr gegeben hatte, das diesen Namen verdient: »Ohne den Einsatz der öffentlichen Hände hätte das reale Wirtschaftswachstum ( … ) nur knapp über null Prozent gelegen.« In seinem später verfassten Standardwerk Die neue Sicht der Dinge wird Biedenkopf deutlicher: »Schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre konnte das Wachstum von durchschnittlich 2,7 Prozent nur noch mit erheblicher staatlicher Unterstützung erreicht werden. Von 1975 bis 1979 gaben die öffentlichen Hände dafür 150 Milliarden DM, im Jahresdurchschnitt 30 Milliarden DM aus. Ohne diesen Einsatz wäre die Volkswirtschaft schon damals kaum noch real gewachsen.« Doch das Spiel mit den Zuwachsraten auf Pump hatte da erst begonnen. Da die Wähler nicht nachfragten, woher eigentlich die immer neuen Steigerungen kamen, langten die Politiker aller Parteien nun erst recht zu. Sie waren in der Tat, wie von Schiller prophezeit, alle zu Keynsianern geworden. Im Zeitraum 1981 bis 1990, als Kanzler Kohl mit einem selbstbewussten Wachstumsversprechen (»Die Wende wählen«) für sich warb, wurden 300 Milliarden Euro realer Zuwachs mit 260 Milliarden Euro neuer Kredite erkauft. In den Jahren zwischen 1992 bis 2001, die DDR war als Neuland hinzugekommen, fiel die Scham endgültig. Einen besseren Anlass, die Kreditfinanzierung auszuweiten, gab es kaum. So waren in den ersten acht Jahren der deutschen Einheit schon knapp 500 Milliarden Euro neue Schulden nötig, damit wenigstens 275 Milliarden Euro als zusätzlich erwirtschaftetes Bruttoinlandsprodukt in der Bilanz stehen konnten. In Wahrheit war die Wirtschaftskraft in dieser Zeit bereits geschrumpft und ohne das Wachstum der Kredite hätte ein dickes Minus die Republik aufschreckt. So aber war zumindest 128
der Schein von einem kleinen Wachstum erweckt worden, in der öffentlichen Debatte sprach man liebevoll von Wachstumsschwäche, obwohl es sich längst um eine Reduktion unserer volkswirtschaftlichen Leistungskraft handelte. Spätestens jetzt wurde denen, die hinter die Zahlenschminke schauen konnten, klar: Die Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts sind eine Wohlstandsillusion. Vergleicht man den Anstieg der Staatsausgaben mit dem Anstieg des gesamten Sozialprodukts, sieht man deutlich, zu welcher Verschiebung es mittlerweile gekommen ist. Die Staatsausgaben entwickelten sich seit Mitte der siebziger Jahre deutlich schneller als das Sozialprodukt, was nichts anderes bedeutet, als dass der Staat die Entwicklung des Sozialprodukts stärker antreibt als alle anderen Akteure unserer Gesellschaft. Die geheimnisvolle Kraft, die den Staatsausgaben einen steileren Anstieg als dem durchschnittlichen Wachstum ermöglicht, liefern die Banken. Nur dank der bei ihnen und auf den Kapitalmärkten abgerufenen Kredite hält der Staat sein Ausgabentempo durch und hebt so das Gesamtwachstum des Landes – zumindest auf dem Papier. Die Experten geraten seit jeher in Erklärungsnot, wenn sie die Aussagekraft der geltenden Rechenart erläutern sollen. Horst Afheldt geht in seinem 1994 erschienenen Buch Wohlstand für niemand? noch davon aus, dass alle Staatsaufwendungen »wesentlich zur Nützlichkeit des Industriestandortes« beitragen und deshalb auch alle Staatsausgaben an der Erwirtschaftung des Sozialprodukts »mitgewirkt haben«. Doch die »Nützlichkeit« der Staatsverschuldung (und anders sind große Teile der Staatsaufgaben seit Mitte der siebziger Jahre nicht mehr erfüllt worden) muss eben heute bezweifelt werden. Durch diese Staatsausgaben, die angeblich an der Erwirtschaftung des Sozialprodukts »mitgewirkt haben«, wurde in Wahrheit 129
der Niedergang der Wirtschaft befördert. Die Schuldenpolitik als Methode der Wachstumsstimulierung ist nichts anderes als das, was sich im Sport Doping nennt und dort strikt verboten ist: Objektiv steigt zunächst die messbare Leistung, in Wahrheit aber hat ein Verschleiß- und Zersetzungsprozess begonnen, mit dem Spitzensportler und Staat sich gleichermaßen ruinieren. Immer mehr von dem stimulierenden Präparat namens Staatsverschuldung ist nötig, um immer weniger zu bewirken. Jedes Absetzen schwächt den ökonomischen Kreislauf, schon die Verringerung der Dosis kann böse politische Folgen haben, wie die Nation in den Tagen der rigiden Sparpolitik von Reichskanzler Heinrich Brüning erfahren musste. Der heutige Befund ist auch deshalb so dramatisch, weil die kreditfinanzierten Staatsausgaben ja keineswegs für Investitionen in die Zukunft ausgegeben werden. Würde das Geld wirklich für Brücken und Straßen, für Flughäfen und Schienennetz, für Altstadtsanierung und den Bau von High-Tech-Centern verwandt, könnte man mit einigem Recht sagen: Hier wird der Kapitalstock des Landes aufgewertet, wie jeder Investor finanziert auch der Investor Staat einen Teil seiner Zukunftsaufgaben auf Kredit, denn die Nutzung der Infrastruktur findet morgen und übermorgen statt. Doch es sind in Deutschland die Konsumausgaben des Staates, die alles andere dominieren und die ständig wachsen. Das Geld, das mehrheitlich aus den Steuerzahlungen der Beschäftigten stammt, wird für den Lebensunterhalt der Nicht-Beschäftigten ausgegeben – vom Kindergeld über die Sozialhilfe bis zum Zuschuss für die notleidende Rentenkasse. Nur ein kleiner und noch dazu ständig schrumpfender Teil steht überhaupt für staatliche Investitionen bereit und selbst das Aufbau-Ost-Programm hat, entgegen der öffentlichen Wahrnehmung, nur eine 130
kurze Trendumkehr gebracht. Das Verhältnis von Konsum und Investition im Staatsbudget hat mittlerweile ein Verhältnis 11:1 erreicht, was einen historischen Tiefstpunkt markiert. Zum Vergleich: In den USA beträgt das Verhältnis der staatlichen Konsumausgaben zu staatlichen Investitionen 4:1, im traditionell staatsfixierten Frankreich (8:1) und auch in Italien (7:1) liegen die Zahlen deutlich unter dem deutschen Wert. Die Geschichte der öffentlichen Investitionen ist in Deutschland die Geschichte eines stetigen Niedergangs, der nur in den wenigen Jahren nach der deutschen Einheit unterbrochen war. Der stolze Wert von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was einem staatlichen Investitionsetat von 47 Milliarden Euro entsprach, markierte im Jahr 1992 den Höhepunkt staatlicher Schaffenskraft. Die USA und Japan lagen – auch ohne Wiedervereinigung – schon damals deutlich höher und tun es heute auch. Innerhalb der Europäischen Union ist der deutsche Staat beim Investieren der trägste von allen. Nicht, dass er nicht viel Geld ausgibt, sogar deutlich mehr, als er hat, aber er gibt es eben weg für die Vergangenheit und für soziale Hilfszahlungen aller Art. Ausnahmsweise deckt sich der Augenschein der Bürger mit dem Befund der Ökonomen: Um die öffentliche Infrastruktur ist es schlecht bestellt, Schulen und Bürgerhäuser verfallen, Schwimmbäder vergammeln, die Straßen in den Städten und Gemeinden werden zunehmend löchrig, so dass in manchen Gegenden die Bürger schon selbst mit Teer und Schippe ausrückten. Die meisten öffentlichen Gebäude – die Hochschulen, die Kasernen, Hunderte von Ämtern und Behörden – sind in einem lausigen Zustand, der von der jeweiligen Opposition beklagt wird, um ihn später dann, als Regierungspartei, weiter verkommen zu belassen. Zum Glück klagen 131
dann die anderen. Die Fakten bleiben: Die kommunalen Investitionen sind in den letzten 10 Jahren um 35 Prozent gesunken. Mit zwei Ausnahmen – zu Beginn der Brandt-Ära und während der ersten drei Jahren nach der deutschen Einheit – hat es keinen Anstieg der staatlichen Investitionen in Deutschland gegeben. Die Kapitalausstattung des Gemeinwesens sinkt, die Werthaltigkeit seines Eigentums bröselt. Die Investitionsquote des deutschen Staates, so auch die Analyse der Deutsche Bank Research, sei »niedrig und klar rückläufig«. Der europäische Durchschnitt liegt dieser Studie zufolge um knapp 60 Prozent darüber. Das Verhältnis dieser beiden Größen im Staatsbudget, Investition und Konsum, ist keine Zahlenspielerei, sondern eine Schlüsselgröße – auch für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die von der Bundesregierung eingesetzte Benchmarking-Gruppe kam zu dem Ergebnis, dass alle Länder mit weniger Arbeitslosigkeit eine Strategie verfolgen, die darin besteht, »die konsumtiven Ausgaben des Staates zu reduzieren und die investiven möglichst konstant zu lassen«. Deutschland hat den anderen Weg eingeschlagen. Dies könnte, so tastet sich die Regierungskommission an die Wahrheit heran, »ein Schritt in die falsche Richtung gewesen sein«. Einige werden erwidern, das staatliche Konsumgeld fließt doch in den Kreislauf zurück. Wie sonst sollte der Konsum aufrechterhalten werden, wenn nicht durch diese Umverteilung? Irgendeiner muss doch die im Kern der Volkswirtschaft produzierten Waren auch kaufen? Wenn es so einfach wäre, müsste man den Energietransfer vom Kern zu den Rändern geradezu befördern. Aber die Wirtschaft ist eben, wie alle Energiekreisläufe, kein Perpetuum mobile. Ein erheblicher Teil der Transferenergie geht schon in den staatlichen Leitungssystemen, 132
sprich der Bürokratie, verloren. Dort verzischt er, ohne dass er einen Nutzen gebracht hätte. Die weltweite Verflechtung der Kaufmannsnationen sorgt dafür, dass ein weiterer Teil des Transfergeldes nicht in den heimischen Kreislauf zurückfließt. Denn die Leistungen des Sozialstaates sind dem inländischen Kern entnommen, schwappen aber im Gegenzug für Sony-Walkmann und PeugeotKombi, für die Handyrechnung an Vodafone, den PC von Dell und das Kinoticket, das zum Bestaunen der aktuellen Hollywoodproduktion berechtigt, in die Kassen der ausländischen Konkurrenz. Der Umverteilungsstaat sorgt eben, gleichermaßen systematisch wie ungewollt, auch dafür, dass die im Inland erwirtschafteten Reichtümer ins Ausland abfließen. Das sollte man nicht kritisieren, weil es Teil der internationalen Arbeitsteilung ist, von der Deutschland profitiert. Aber man sollte es wissen, bevor man wieder daran geht, die inländische Wirtschaft mit Leihgeld ankurbeln zu wollen. Der sichtbarste Ausdruck der ökonomischen Funktionsstörungen ist die Staatsverschuldung. Sie zeigt uns eine Überforderung des produktiven Kerns, der die Kruste nicht länger mit eigener Energie versorgen kann. Seine Kraft reicht dafür nicht aus und die Angewohnheit der Politiker, durch Kreditfinanzierung schon die Energieressourcen von morgen anzuzapfen, hat Rückwirkungen wiederum auf seine heutige Leistung. Das macht die Angelegenheit ja so kompliziert, dass alle Aggregate miteinander kommunizieren. Der Staat, der den Sozialstaat ausbaut, betreibt damit automatisch den Rückbau des Arbeitsmarktes; eine Politik, die Produktivitätszuwächse von morgen verteilt, begrenzt damit die heutigen; die Schuldenpolitik stärkt den Staat, um ihn in seiner Handlungsfreiheit schon am nächsten Tag massiv einzuschränken. 133
Insgesamt beträgt der Schuldenstand aller öffentlichen Haushalte derzeit rund 1,35 Billionen Euro, was dem Fünffachen des Bundesetats entspricht. Sollte diese Schuldenlast getilgt werden, wäre dafür die vierfache Jahresproduktion der Firmen Daimler, Bertelsmann, Thyssen-Krupp, Siemens und Metro notwendig. Diese Schulden engen den Staat schon heute in einer kaum vorstellbaren Weise ein, was daran liegt, dass er nur geringfügig tilgt und daher die Zinskosten schon bei einem Satz von fünf Prozent nach 14 Jahren die ursprüngliche Leihsumme übersteigen. Für die 820 Milliarden Euro offizieller Schulden nur des Bundes musste der Finanzminister im vergangenen Jahr rund 40 Milliarden Euro Zinsen zahlen: Das bedeutet: Das Fünffache dessen, was Deutschland für Bildung und Forschung ausgibt, floss an die Kreditgeber. So verschiebt sich Jahr um Jahr das Gewicht im Staatsbudget unweigerlich von der Zukunft zur Vergangenheit. Das Verrückte: Selbst ohne neues Leihgeld, wenn also morgen der sofortige Stopp der Neuverschuldung beschlossen würde, müssten die Zinszahlungen an die Banken weiter zunehmen. »Die Verschuldung nährt sich aus sich selbst heraus«, schreibt die Bundesbank in einem ihrer Monatsberichte. Der Zinseszinseffekt ist eben eine 134
teuflische Angelegenheit, der dafür sorgt, dass die Zinsen schnell die ursprüngliche Leihsumme übersteigen. Für Deutschland bedeutet das: Der gesamte Schuldenstand von Bund, Ländern und Gemeinden hat sich von 1965 bis 2001 um das 28-fache gesteigert, derweil die jährlichen Zinszahlungen im selben Zeitraum um das 37-fache zulegten. Für Albert Einstein war der Zinseszinseffekt »die größte Entdeckung der Mathematik«, Bankier Rothschild schwärmte vom »achten Weltwunder«. Dabei ist die offizielle Staatsverschuldung, deren Höhe 1870 nur bescheidenen zehn Prozent und mittlerweile fast 60 Prozent des Sozialprodukts entspricht, nur der kleinste Teil des Schuldenbergs. Das meiste liegt unsichtbar unter Wasser, den Blicken der Öffentlichkeit entzogen. In verschiedenen Schattenhaushalten, die so spröde Titel wie »ERP-Sondervermögen« oder »Entschädigungsfonds« erhielten, sind rund 60 Milliarden Euro an Schuldenlast versteckt. Die Sozialkassen, allen voran die Krankenkassen, haben ebenfalls damit begonnen, sich auf eigene Rechnung zu verschulden. Die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau ist zum heimlichen Kreditgeber des Staates geworden; sie muss zwangsweise Aktien der noch immer halbstaatlichen Unternehmen Post und Telekom kaufen, damit der Finanzminister flüssig bleibt. Eine besondere Form der Verschuldung (und wahrscheinlich der gravierendste Fall von Wählertäuschung) besteht darin, den Bürgern Zusagen zu machen und für diese Zusagen als Anzahlung sogar echtes Geld einzusammeln, wissend, dass diese Zusagen unhaltbar 135
sind. Genau so aber wird bei der Rente verfahren: Die heutige Rentenpolitik ist eine getarnte Politik der Verschuldung, denn es werden Ansprüche ausgereicht gegenüber Dritten, die in diesem Fall nicht die Banken, sondern die Bürger sind. Diese Ansprüche, mit den heutigen Einzahlungen redlich erworben, sind unerfüllbar. Angesichts der schrumpfenden Bevölkerungszahl fehlt es – heute bereits absehbar – an Beschäftigten, die den Rentnern von morgen das versprochene Altersruhegeld auszahlen. Professor Bernd Raffelhüschen, ein Experte auf diesem Gebiet und Mitglied der Regierungskommission zur Rentenreform, beziffert diese nirgends ausgewiesene Verschuldung für das Jahr 2000 auf rund 140 Prozent des Sozialprodukts. Damit wäre die inoffizielle mehr als dreimal so hoch wie die offizielle Staatsschuld. Allein die Rechtsansprüche der Postbeamten summieren sich auf 500 Milliarden Euro. Und für niemanden, den Beamten nicht und die Normalbürger auch nicht, existieren Rückstellungen, wie sie in einer Firma gesetzlich zwingend sind. Millionen von heute Beschäftigten kalkulieren fest mit den auf allen amtlichen Schreiben der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) errechneten Ruhegeldern. Dabei wissen alle Experten: Sie werden niemals in dieser Höhe ausgezahlt. Der Staat bleibt seinen Bürgern etwas schuldig, was sie schwer enttäuschen dürfte und viele, die ohne Privatvorsorge kalkulieren, in die Altersarmut stürzen wird. Wer nach dem Jahr 2030 aus dem Erwerbsleben ausscheidet, hat nach den Berechnungen von Raffelhüschen keine Rendite für seine Einzahlbeträge zu erwarten. Wer noch später zum Rentner wird, also heute jünger als 30 Jahre ist, muss mit Negativrenditen rechnen. Eigentlich müsste über diesen Sachverhalt öffentlich geredet und nicht nur geraunt werden. Doch Minister und 136
Kanzler stehen der Wucht der Ereignisse, den kraftvollen Prozessen der Zerstörung gerade auch in der Rentenpolitik, so hilflos gegenüber wie Experten und Bürger. Nur in vertraulichen Runden macht sich eine Mischung aus Ratlosigkeit und Zynismus breit. Ein Mitglied des Kabinetts sagt im Hintergrundgespräch, dass er sich von dem allseitigen Ruf nach Klarheit und Wahrheit regelrecht überfordert fühlt: »Das erlebe ich Gott sei Dank nicht mehr. Das müssen Sie und die anderen Jüngeren dann lösen.« Dabei wird eine Lösung mit jedem Jahr, das ungenutzt verstreicht, nur schwieriger und am Ende ist nicht ausgeschlossen, dass eine für alle erträgliche Lösung unmöglich wird. Selten wurde so viel über Zukunft geredet und so wenig in ihrem Interesse entschieden. Die engen finanziellen Spielräume sind einerseits die Folge einer Politik der permanenten Gegenwart, zugleich schaffen sie die Voraussetzungen dafür, dass diese permanente Gegenwart nicht vergeht. Die Staatsverschuldung ist der moderne Weg einer Nation, ihre Souveränität zu verlieren. Warum konnte es so weit kommen? Wieso diese jahrzehntelange Unklarheit über einen Erosionsprozess, der bereits die Fundamente der Volkswirtschaft erreicht hat? Warum hat jede Politikergeneration die Probleme nur vererbt und nicht zu lösen versucht? Welches sind die Kräfte, die uns spürbar weiter nach unten ziehen, wo es doch an Erkenntnis heute nicht mangelt? Wenden wir uns der Entstehung dieser Zerfallsprozesse zu. Die Probleme, die uns heute plagen, wurzeln tief in der deutschen Nachkriegsgeschichte, die ein Wunder bewirkte und zugleich jenen Defekt einbaute, den wir mit Fug und Recht einen deutschen Defekt nennen dürfen.
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KAPITEL 3 DER DEUTSCHE DEFEKT
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Stalin und das deutsche Wirtschaftswunder Das deutsche Wirtschaftswunder ist nicht so deutsch, wie viele glauben. Die Ursuppe, aus der es sich materialisierte, rührte der Sohn eines Schuhmachers und einer Waschfrau aus Georgien an: Josef Wissarionowitsch Stalin. Der damals 67-jährige Diktator hat den westdeutschen Wiederaufstieg zwar weder geplant noch durchgeführt, ihn nicht mal gewollt – und dennoch wurde er durch ihn auf das Vielfältigste befördert. Die Geschichte gehorcht eben niemandem, auch nicht den Despoten. Hitler wollte seinen totalen Krieg ja auch mit dem totalen Sieg krönen. Auf keinen Fall hatte er die Absicht, vor dem Führerbunker als Selbstmörder zu enden. Es waren Stalins Sturheit und Härte – die ihm im Kampf gegen den Zaren, den Widersacher Lenin und später den deutschen Diktator von so großem Nutzen waren –, die nun auf wundersame Weise die Grundlagen für den Wiederaufstieg Westdeutschlands legten. Denn das Beste, was dem Kriegsverlierer Deutschland passieren konnte, deutete sich kurz nach dem Einmarsch der alliierten Soldaten bereits an: Die Sieger fingen an, sich zu streiten. Kaum war der Kriegsgrund, Hitler, verschwunden, begann die ungleiche Allianz zu bröckeln. Stalins Politik war für Briten, Amerikaner und Franzosen von Anfang an eine Provokation: Er verlangte, dass die Fabriken von Krupp und Thyssen demontiert und per Eisenbahn nach Russland geschickt würden. Er wollte überall in Deutschland mitbestimmen – auch im britisch besetzten Ruhrgebiet. Zusätzlich begann er, die Deutschen zu beeinflussen, was zunächst nichts anderes bedeutete, als sie zu umwerben. 139
Rund 4600 deutsche Kommunisten waren vor und während des Krieges nach Moskau geflüchtet, nach verschiedenen »Säuberungen« blieben 1600 von ihnen übrig. Die schickte der Diktator noch vor dem letzten Schusswechsel zwischen Roter Armee und Wehrmacht als Aufbauhelfer zurück nach Deutschland, was die anderen Siegermächte mehr als nur irritierte. Diese Experten begannen, Kontakt zu den untergetauchten Kommunisten und Sozialdemokraten aufzunehmen. Die Keimzellen späterer Staatlichkeit entstanden. Lange bevor die Amerikaner das »nation building« als Element ihrer Außen- und Militärpolitik entdeckten, setzte Stalin auf die Gründung ihm höriger Satellitenstaaten. Die Westalliierten hörten bald schon auf, an eine gemeinsame Politik mit den Sowjets zu glauben. Sie fürchteten, dass sich Stalin überall in Europa breit machen wollte, um die Kriegsbeute noch ein bisschen anwachsen zu lassen. Wenn der Westen nicht aufpasse, warnte der Chef der britischen Besatzungszone, General Robertson, werde man »eines schönen Morgens aufwachen und Hammer und Sichel bereits am Rhein vorfinden«. Zum ersten Mal tauchte jenes Wortpaar in den US-Zeitungen auf, dass der Epoche bald seinen Namen gab: Cold War, Kalter Krieg. Den Deutschen im Westen konnte es recht sein. Der Mann aus Georgien tat alles, um jene Anti-HitlerKoalition zu zertrümmern, von der sie vieles, aber eben kein Wunder zu erwarten hatten. Denn zunächst bestand ja weitestgehend Einigkeit darüber, dass einem Deutschland, das mit so menschenverachtender Härte gekämpft hatte, kein Pardon gegeben würde. Die deutsche Teilung begann eben nicht schon in Jalta, auch wenn das noch immer gern behauptet wird. Da aber war noch das gemeinsame Vorgehen aller Sieger gewollt. Russen und Franzosen 140
fingen gleich nach ihrem Einmarsch an, die Besiegten in Kriegsgefangenschaft zu verschleppen, auf viele wartete dort nichts anderes als der Tod durch Haft. Die Demontage der Industrie diente dem doppelten Ziel des eigenen Wiederaufbaus und dem Niederhalten der Deutschen. Wärme war nicht zu erwarten, auch die Amerikaner untersagten ihren in Deutschland stationierten Truppen zunächst jede menschliche Annäherung an die ehemaligen Aggressoren. Die Besiegten, die in den Ruinen ihrer zerbombten Städte kauerten, hatten aus Sicht der Sieger alles verdient, aber keine Schonung. Auch auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 ging man davon aus, dass die Deutschen als Feinde zu behandeln seien. Beschlossen wurde die Abtrennung eines Viertels des bisherigen Staatsgebietes, das nun zum größten Teil an Polen fiel. Auch wenn eine endgültige Regelung aller Territorialfragen auf später vertagt wurde, zeichnete sich doch ab, dass diese später kein Zurück zum Vorkriegsstatus bringen würde. Die Vertreibung von rund 14 Millionen Deutschen aus den nun ehemaligen deutschen Ostgebieten war die logische Konsequenz. Das Deutschland der Kriegsgeneration war – mit den wenigen Ausnahmen jener Widerständler, die sich kein Gehör verschaffen konnten – ein Volk von Mitläufern und Tätern, das nach millionenfach vollbrachter Mordtat auf Mitgefühl nicht rechnen durfte. Es ging um Bestrafung und Entmündigung, auch um Rache, in jedem Fall aber um die Vernichtung jener Strukturen, die den Feldzug wider die Menschlichkeit ermöglicht, befördert oder auch nur begünstigt hatten. Darin waren sich die Sieger zunächst einig. Und die Deutschen? Sie verharrten im Zustand körperlicher Not und seelischer Betäubung, wie Golo Mann 141
notierte. Sie hatten genug damit zu tun, das Geschehene auszuhalten und die Selbstdemütigung zu ertragen. Von Widerstand, wie ihn die Alliierten zunächst befürchtet hatten, konnte nicht die Rede sein. Der Hitlerismus hatte sich in den Augen der deutschen Mehrheit selbst diskreditiert. Die Alliierten aber gerieten mit jedem Tag mehr überquer. Aus dem anfänglichen Misstrauen des Westens gegenüber den Sowjets wurde bald schon Gewissheit: Mit diesem Stalin war kein Staat zu machen, zumindest kein demokratischer und erst recht kein kapitalistischer, woran die Westalliierten wie selbstverständlich gedacht hatten. Der Mann aus Moskau verfolgte vom ersten Tag an seine eigene Agenda, die auf eine Veränderung der privatwirtschaftlichen Eigentumsstruktur, auf das Entstehen einer kommunistischen Führungsschicht und damit auf Ausdehnung des eigenen Vorhofes abzielte, woran der Westen nun seinerseits kein Interesse haben konnte. Erst derart begünstigt von der großen Weltgeschichte konnte Ludwig Erhard, Artillerist im Ersten Weltkrieg und später Geschäftsführer in der Textilwarenhandlung von Vater Wilhelm Philipp, die politische Bühne betreten. Die hatte ihm Stalin gebaut, wenn auch ohne es zu wollen. Auch die Fürsprecher der deutschen Selbstverwaltung – zu denen von Anfang an auch US-Militärgouverneur General Lucius D. Clay zählte, der sich den Berlinern mit dem Satz »Man darf ein Volk nicht in Ketten legen« einprägte – wären ohne russische Mithilfe wohl nicht zum Zuge gekommen. US-Kriegsminister Henry Stimson gab später in bemerkenswerter Offenheit zu, dass der Wiederaufbau alles Mögliche war, aber eben kein Liebesdienst an den Deutschen: »Die Politik der Russen zwingt uns unweigerlich, in enger Abstimmung mit den Briten die 142
Wirtschaft in Westdeutschland in Schuss zu halten.« »Die Politik der Russen« – das erst war die Legitimationsurkunde für Erhard. Mit ihr in der Hand konnte er sich daran machen, jenes Musterhaus zu errichten – später war dann vom »Modell Deutschland« die Rede –, dessen Verfall wir gerade erleben, weil tragende Teile erodieren. Auch daran ist Stalin nicht ganz unschuldig, hat er doch auch bei der Erstellung der Bauskizze mitgewirkt, was der Statik des Musterhauses nicht gut bekam. Nach außen war Erhard der Star und seine Politik das Beste, was Millionen Deutsche seit Jahren erlebt hatten. Schon seine Leibesfülle verkörperte ein saftiges Wohlstandsversprechen, wogen die Männer im Jahr 1947 durchschnittlich doch nur 52 Kilo. Doch die deutsche Politik brauchte nahezu an jedem Tag den Konflikt von Russen und Westalliierten, den echten und den befürchteten, um sich entfalten zu können. Der heimliche Verbündete war und blieb Stalin, der den Amerikanern das Verharren in einer antideutschen Koalition unmöglich machte. Die Währungsunion, im kollektiven Gedächtnis das Kern- und Glanzstück der Erhardschen Politik, zeigt, wie wenig deutsch das Wunder in Wahrheit war. Alle maßgeblichen Entscheidungen dazu fielen im Weißen Haus des US-Präsidenten. Die neuen Banknoten waren auf geheimen Beschluss der US-Regierung vom 25. September 1947 in den USA gedruckt worden: 500 Tonnen Papier und Münzen, verpackt in 23000 Kisten, trafen im Frühjahr 1948 per Schiff in Bremerhaven ein. Noch immer fehlte der Startschuss. Bis zuletzt versuchten die Amerikaner sich mit den Russen über eine gemeinsame Deutschlandpolitik zu einigen, denn die Lust, es den Westdeutschen angenehm einzurichten, war trotz aller 143
Zwistigkeiten noch immer nicht übermäßig ausgeprägt. In Washington fürchtete man überdies, die ganze Mission könnte den US-Steuerzahler teuer zu stehen kommen. Da hatte man sich schon widerwillig in den Krieg verwickeln lassen, wo man doch in den Jahrzehnten zuvor mit dem Beiseitestehen die ökonomisch besseren Erfahrungen gemacht hatte. Und nun war ein Ende des Engagements auf einmal gar nicht mehr abzusehen. Die Mehrheit daheim in den USA plädierte den Meinungsumfragen zufolge für den schnellen Abzug der Armee und damit auch für den Rückzug aus der politischen Verantwortung. Die USA waren damals (und sind es zum Teil noch heute) eine Weltmacht wider Willen. Aber an Rückzug war nicht mehr zu denken, denn dafür hätte man mit den Sowjets eine verlässliche Partnerschaft verabreden müssen. Doch zu starr waren die Fronten, zu tief die ideologischen Gräben, über die im Herbst 1947 längst keine Brücke mehr führte. Also verfügte Washington, das Experiment Währungsunion in den Westzonen zu wagen. All die angehäuften ReichsmarkMillionen wurden über Nacht entwertet und jeder Deutsche im Westen erhielt am 21. Juni 1948 40 Deutsche Mark Kopfgeld. Erst am Vorabend des Währungsschnitts kam ein deutsches Spurenelement hinzu, das dem fremdbestimmten Wunder etwas Heimisches gab. Es waren Erhards Klugheit und sein Mut, die dem neuen Geld auch neue Spielregeln zur Seite stellten, was für das Gelingen der Aktion von großer Bedeutung war. Die staatliche Preisfestsetzung, für die er als Wirtschaftsdirektor der zur Bizone zusammengeschlossenen britischen und amerikanischen Besatzungsgebiete nur ein Vorschlagsrecht besaß, lag eindeutig in der Hand der Alliierten. Erhard aber, obwohl erst wenige Stunden zuvor von der Operation Währungsunion informiert, setzte sie in 144
einer sonntäglichen Rundfunkrede, zeitgleich wurde das neue Geld schon verteilt, außer Kraft. Ab Montag waren die meisten Produkte dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage ausgesetzt. Und siehe da – Erhards Hoffnungen gingen auf: Wie durch Zauberhand füllten sich Regale und Schaufenster, weil das neue Geld knapp war und daher als stabil und wertvoll galt. Wo vorher ungeputzte Schaufensterscheiben das Nichts ausstellten, lagen nun wieder Wurst, Käse, Brot. Für die Plastikpuppen in den Bekleidungsläden war die Zeit der Nacktheit vorbei. Die Militärbehörde freilich war empört und der sonst so großzügige General Clay ließ es sich nicht nehmen, Erhard persönlich zu rügen. Eigenmächtig, so der Vorhalt, habe der Deutsche die von den Besatzern erlassenen Bewirtschaftungsvorschriften geändert. Erhard erwiderte kühl: »Ich habe sie nicht geändert, ich habe sie abgeschafft.« So kehrte mit der Mark auch das Selbstwertgefühl zurück. Die neue Währung wurde zum Symbol des Aufstiegs. Die Amerikaner registrierten sehr wohl, dass hier Unglaubliches geschehen war. Sie hatten den Deutschen zwei Finger gereicht und Erhard griff nach der ganzen Hand. Das Risiko seines Scheitern war gering, weil er sich auf seinen heimlichen Partner, Stalin, mittlerweile fest verlassen konnte. Die Berlin-Blockade zwang die westlichen Sieger endgültig an die Seite des Besiegten. Denn Moskau, erregt über die Währungsunion-West, wollte im Juni 1948 nichts Geringeres, als den Lebensnerv der Metropole treffen und die Westalliierten zur Aufgabe Westberlins bewegen, das nun wie eine Insel im roten Meer der Ostzone lag. Zu Lande und zu Wasser wurde der Westteil über Nacht abgeriegelt, nur der Luftraum war noch offen. Die Amerikaner, die eigentlichen Hausherrn in diesem Teil der 145
Stadt, entschlossen sich, eine Luftbrücke einzurichten, was technisch, menschlich und vor allem politisch eine Meisterleistung war. Die Berliner wurden auf dem Höhepunkt dieser Leistungsschau rund um die Uhr versorgt: Maximal l344 Flüge am Tag und in der Nacht brachten 12000 Tonnen Versorgungsgüter in die Stadt, womit das Transportvolumen noch deutlich über dem lag, was vor der Blockade auf den Straßen herangeschafft wurde. Berlin staunte und ganz Deutschland staunte mit. Wieder schlug die Geschichte dem großen Sowjetführer einen Haken: Stalin erreichte mit seiner Blockade das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war. Berlin-West gehörte nun zum unveräußerlichen, weil symbolträchtigen Besitzstand der Westmächte. Die Anti-Hitler-Koalition war nicht nur zerfallen, sie war implodiert. Es kam zur Umkehrung der bisherigen Politik, wobei so ziemlich alles ausgewechselt wurde, was ausgewechselt werden konnte, vor allem Freunde gegen Feinde. All ihre Aggressivität gegen die Deutschen richteten die Kriegssieger nun gegeneinander, wodurch den Kriegsverlierern im deutschen Westen die größte anzunehmende Gefälligkeit zuteil wurde. Ihnen ging es nämlich noch immer schlecht, der Krieg hatte erst die halbe Welt und am Ende das eigene Land verwüstet: Von 54000 Bahnkilometern waren zwar 46000 unversehrt geblieben, aber: 80 Prozent aller Personenwagen der Bahn waren »betriebsunfähig« und 17000 Weichen defekt, was der Wirtschaft nicht gut bekam. Ungefähr 7,5 Millionen Menschen standen nach den Bombennächten ohne Behausung da, von Arbeit gar nicht zu reden. Und täglich strömten neue Flüchtlinge in die Westzonen: Allein 14 Millionen Vertriebene kamen aus dem deutschen Osten, der nun polnischer Westen war. Und auch die Absatz146
bewegung aus jenen Dörfern und Städten, die wenig später zur DDR zusammengeschweißt wurden, hatte begonnen. Alle spürten den bevorstehenden Klimawechsel in Deutschland. Bald schon sollten auf der einen, der östlichen Seite der Demarkationslinie dunkle Wolken aufziehen, derweil über dem westlichen Deutschland Sonne zumindest in Sicht war. Die drei westlichen Sieger waren erst nach der BerlinBlockade wirklich bereit, die Deutschen mit anderen Augen zu sehen, die Aggressoren von gestern wurden fortan als irregeleitete und daher hilfsbedürftige Nation betrachtet. Ein ökonomisches Wunder im Sinne steiler Wachstumsraten zeichnete sich noch immer nicht ab, aber immerhin: Sie schickten Pakete mit Schokolade und Wurst, und sie stoppten die Demontage der Schwerindustrie, die einer Amputation des Landes gleichgekommen wäre. Der vom Hass diktierte Plan der Sieger, das Industrieland Deutschland in einen Agrarstaat zu verwandeln, der Pflanzenöl, Bier und Futtermais herstellen sollte statt Autos, Panzer und Chemieprodukte, war bereits vorher ad acta gelegt worden. Man musste den Westdeutschen jetzt weiter entgegenkommen, als man es sich wenige Monate zuvor noch hatte vorstellen können. Denn der eigentliche Nutzen der Unterstützung bestand nun darin, ihr Territorium einerseits zum Bollwerk und Aufmarschgebiet auszubauen, andererseits aber auch ein weltweites Pilotprojekt zu installieren: Die Westdeutschen mussten zum Prototyp einer freiheitlichen Ordnung aufsteigen, auch deshalb, weil sich im Osten Großes tat. Das Sowjetsystem meldete Erfolge, die beeindruckend waren. Dies umso mehr, als niemand im Westen sie ihm zugetraut hatte. Die Sowjetmacht war emsig dabei, den europäischen Osten zu einer Art lebenden Leistungsnachweis für die 147
Überlegenheit ihres Systems umzugestalten. Dabei gab es Erfolge, politischer, kultureller und auch ökonomischer Art, die nicht zu unterschätzen waren. Sie strahlten in den Westen ab, wo sie für Neugier, Sympathie und Anhängerschaft auf der einen sowie für Ablehnung, Besorgnis und grimmige Entschlossenheit auf der anderen Seite sorgten. Wer die Entstehung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland mit all ihren bekannten Vorzügen und all ihren damals noch unbekannten Mängeln verstehen will, sollte sich mit dem Gedanken anfreunden, dass dieses System keine deutsche Erfindung und auch nicht das Ergebnis höherer ökonomischer Rationalität war, sondern im Wesentlichen ein Reflex auf das, was sich im östlichen Europa tat: Ohne die Sowjetmacht kein Westzonenstaat, ohne Sozialismus keine Soziale Marktwirtschaft, ohne Stalin kein Erhard. Die Bundesrepublik war eine politische Geburt, an deren Wiege Mütterchen Russland stand. So paradox kann Politik sein: Beide Systeme berührten einander kaum und waren dennoch im Geiste miteinander verzahnt, stießen sich ab und gehörten doch in ihrer Entstehungsgeschichte zusammen.
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Der Wohlfahrtsstaat neuen Typs Wer den Bedingungen westdeutscher Staatlichkeit nachspürt, kommt nicht umhin, Stalins Politik in Osteuropa zu betrachten. Denn seine Politik wurde von vielen einfachen Menschen im Westen »als Oase und als Gegengift gegen die Arbeitslosigkeit« begriffen, wie der Historiker und Pulitzerpreisträger Daniel Yergin formulierte: »Die Sowjetunion genoss in wirtschaftlicher Hinsicht im Westen ein Prestige und einen Respekt, der heute nur noch schwer verständlich ist.« Stalin ging nach dem gewonnenen Krieg zunächst, für seine Verhältnisse, behutsam zu Werke. Mit Ausnahme einiger Gebiete nahe der Sowjetunion durften alle anderen Länder in deren Einflussbereich die nationale Eigenständigkeit wahren. Die Einparteiendiktatur wurde zur Überraschung zahlreicher westlicher Beobachter nirgendwo eingeführt, das Konzept der »Volksdemokratie« kam zu Tragen. Koalitionsregierungen wurden gebildet, die sich erst nach und nach der kommunistischen Kontrolle zu unterwerfen hatten. Die überall in Europa verbreitete Sehnsucht nach nationalem Konsens, einem Ende der ideologischen Kraftmeierei und einer Abkehr auch von der Spaltung der Arbeiterbewegung, die den Aufstieg der europäischen Rechten zumindest begünstigt hatte, kam dem sowjetischen Tarnkappen-Kommunismus sehr entgegen. Erst später kritisierte Stalin das »fetischhafte Koalitionsdenken« der kommunistischen Parteien, das er vorher gefördert hatte. Doch zunächst versuchten die Russen, die Herzen der Bevölkerung zu gewinnen, auch mit nationalistischen 149
Gefälligkeiten. Den Polen wurde die neue Lage durch die Territorialgewinne entlang von Oder und Neiße, den Rumänen durch die Rückübertragung von Siebenbürgen schmackhaft gemacht. Auch ökonomisch ging es voran, so dass von Rückständigkeit zunächst keine Rede sein konnte. Die hoffnungslose Unterlegenheit der Plansysteme, die später zu Tage trat, war für die Menschen im kriegszerstörten Osteuropa zunächst nicht erkennbar. Der Kommunismus ging in Polen, Bulgarien, Rumänien, Albanien, Jugoslawien, Ungarn und der Tschechoslowakei mit großer Entschiedenheit daran, die Reste des Feudalstaates zu beseitigen und die Transformation von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu beschleunigen. Der Historiker Edward Hallett Carr urteilte 1947: »Wenn wir heute alle Planer sind, so ist dies natürlich weitgehend das bewusste oder unbewusste Ergebnis der Auswirkungen der sowjetischen Praxis und der sowjetischen Errungenschaften.« Die Sehnsucht nach einem westlich geprägten Wirtschaftssystem jedenfalls war außer vielleicht in Fabrikantenkreisen überall in Europa gering, denn das Unheil der Weltwirtschaftskrise galt keineswegs als Ausrutscher des Kapitalismus, sondern als sein wahres Wesen. Die Geschichte lieferte scheinbar den Beleg dafür, dass der Kapitalismus keine allzu große Zukunft vor sich hatte. Zumindest keine, die in der Lage gewesen wäre, ihm eine größere Anhängerschaft zu verschaffen. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die von den Goldenen Zwanzigern nahtlos zu den Suppenküchen der dreißiger Jahre führte, war unheimlich genug, um nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch das Bürgertum zu erschrecken. Viele Angestellte waren der Armut nur für wenige Jahre entronnen, um sich schließlich mit Schlips um den Hals und Schild vor der Brust als Arbeitssuchende 150
auf der Straße wiederzufinden. Ein Mehr an Planbarkeit war da kein Nachteil. Hauptsache, es ließ sich ein Leben führen, das mehr zu bieten hatte als wackelige Wohlstandsversprechen und die stets wiederkehrende Gefahr, dass einem der Boden unter den Füßen verschwand. Die Geschichte der Großen Depression war nicht Stalins Geschichte und schon das reichte aus, das Selbstbewusstsein der Sowjetmacht enorm zu stärken. Ihr Gesicht war damals das eines aufstrebenden Arbeiters in einer neuen Wohnsiedlung und nicht wie heute das eines frierenden Mütterchens, in dessen Gesichtszüge sich Hunger, Kälte und Desillusionierung eingegraben haben. Auch im Westen und erst recht in Westdeutschland dachte man so wie der tschechische Präsident Benes: Eine »rein politische Konzeption von Demokratie in einem liberalistischen Sinn« reiche nicht aus, sagte er, notwendig sei ein System, »das auch im sozialen und wirtschaftlichen Sinn demokratisch ist«. Die westliche Demokratie war durch die Vorkriegserfahrungen zumindest beschädigt, einen wirklich erfolgreichen Parlamentarismus hatten die Völker nirgendwo erlebt. Also trat ihr in den Gedankenskizzen der jeweiligen Eliten eine Wirtschaftsdemokratie zur Seite, um das Zwitterhafte jener Zeit – in der Politik herrschte das Palaver der Parteien, in den Betrieben die Diktatur des Kapitals – zu beseitigen. Die Sowjets entsprachen mit ihren in den dreißiger Jahren erprobten Planungssystemen also durchaus dem Zeitgeist. Überall forderten die Politiker einen umfassenden Einsatz des Staates, der mit seinen Instrumenten nicht nur den Arbeitsmarkt und den Sozialstaat steuern, sondern auch die Investitionslenkung und Bedarfsplanung übernehmen sollte. Der britische Historiker Mark Mazower: »Nach der Befreiung fand das Konzept der Wirtschaftsplanung auf dem ganzen Kontinent Anklang, während das 151
Laisser-faire einhellig abgelehnt wurde. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates, stärkere staatliche Interventionen im Wirtschaftssektor, die Kontrolle der Schwerindustrie und des Bankenwesens – all das gehörte damals zum unumstrittenen Kanon.« Zwischen 1948 und 1951 wurden überall in Osteuropa Fünfjahrespläne aufgestellt, die untereinander vernetzt waren, so dass früh schon eine Arbeitsteilung innerhalb des Ostblocks einsetzte. So beförderten die Sowjets die Staaten ihres Einflussbereiches mit ähnlicher Brachialgewalt in das Industriezeitalter sowjetischer Prägung, wie sie es daheim schon getan hatten. Mit ähnlich großem Erfolg: Die Wachstumsraten der meisten osteuropäischen Staaten waren – trotz fehlender Marshallplan-Milliarden und trotz vielfach fortgesetzter Demontage – denen des Westens ebenbürtig, wovon die meisten Westbürger aus ihren Medien nie erfuhren. Vor allem beim Ankurbeln der Industrieproduktion und damit der Schaffung von Arbeitsplätzen errangen die Plansysteme ihre größten Erfolge. Auch die volkswirtschaftliche Kapitalbildung, wichtigstes Fundament für den Wiederaufbau, kam beeindruckend zügig voran. Im Westen wie im Osten entspringt das Kapital (vorausgesetzt, es wird nicht durch räuberische Erpressung eingesammelt) nämlich den selben Quellen: harte Arbeit plus Konsumverzicht, es gibt bis heute keine andere Rezeptur zum Reichwerden, für den Einzelnen nicht und für Staaten auch nicht. Der Konsumverzicht des Ostens war sogar leichter zu erreichen als der des Westens, weil die kommunistisch geführten Gewerkschaften nicht jede Produktivitätssteigerung für Lohnsteigerungen nutzten. Und die Landwirtschaft wurde von Albanien bis Polen als Kolonie im Inland genutzt, hatte also dem Aufbau der Industrie mit Arbeitskräften und Lebensmitteln zu dienen. Kein Wunder 152
also: Die Investitionsquoten in den Schlüsselindustrien, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, waren in Osteuropa höher als in Westeuropa, was die Experten hier mehr ängstigte als beeindruckte. In Osteuropa, urteilte die Europäische Wirtschaftskommission in Genf, sei ein »revolutionärer Neubau der industriellen Struktur« im Gange. Das Geheimnis des Erfolges bestand aus vier Zutaten: Massiver Arbeitskräfteeinsatz in der Industrie und bei der Rohstoffförderung: Derweil sich die Zahl der Bergleute in den fünfziger Jahren weltweit rückläufig entwickelte, wurde sie in Ungarn beispielsweise verdoppelt. Insgesamt steigerte sich die Industriearbeiterschaft vom Ende des Krieges bis zum Ende der sechziger Jahre um rund 100 Prozent. Aufbau einer Bildungselite: In allen osteuropäischen Ländern begann ein wahrer Bildungsboom, bis Anfang der sechziger Jahre hatte sich die Zahl der Studenten gegenüber den Vorkriegszahlen in allen Ländern mehr als verdoppelt. Besonders eindrucksvoll verlief die Entwicklung in Polen (von 50000 auf 250000 Studenten), Ungarn (von 11000 auf 67000 Studenten) und Jugoslawien (von 17000 auf 97000 Studenten). Kapital durch Konsumverzicht: Nicht nur in der Landwirtschaft, die ihre Waren vielfach unter Wert der neuen Industriearbeiterschaft zur Verfügung stellen musste, auch in den Städten wurde auf Kosten der Lebensqualität gespart. Die Konsumgüterproduktion spielte in den Plänen eine zunächst untergeordnete Rolle, die Löhne stiegen deutlich langsamer als die Produktivität. Der Wohnungsbau in der DDR beispielsweise verlief viermal langsamer als in der Bundesrepublik. Wachstumsmotor Sozialstaat: Die Sozialpolitik wurde 153
getreu dem Lenin-Motto »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« zur Stimulierung von Erwerbsarbeit eingesetzt. Die Legalisierung der Abtreibung und der Aufbau von Kinderkrippen dienten vor allem der Erhöhung der Frauenerwerbsquote. Die kostenlose medizinische Versorgung allerdings galt für alle, sie ließ die Lebenserwartung rapide ansteigen – parallel zu der im Westen. Für die Anführer der kommunistischen Parteien und die Spitzen der Regierungen war es zunächst kein Problem, ihren Völkern den doppelten Kraftakt von Industrialisierung und Konsumverzicht aufzunötigen. Die politischen Kader erklärten unverblümt, dass der Aufstieg angesichts eines ungünstigen Mischungsverhältnisses von Arbeitskraft (zu viel) und Kapital (zu wenig) nicht anders zu bewerkstelligen sei als durch Entbehrung. Der tschechische Ministerpräsident Zapotocky polemisierte – durchaus vergleichbar den Maßhalte-Appellen Ludwig Erhards – gegen »die lieb gewordene Illusion, dass die Steigerung des Lebensstandards eine notwendige Begleiterscheinung sei oder gar der erfolgreichen Durchsetzung des Plans vorausgehe«. Das Gegenteil sei richtig, erst müsse geschuftet und der Plan erfüllt werden: »Dann können wir auch besser, zufriedener und fröhlicher leben.« Bei Erhard klang das so: Die Kuh könne nicht im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken werden. Erst am 17. Juni 1953, als sich Bauarbeiter in der OstBerliner Stalinallee gegen die Heraufsetzung der Arbeitsnormen und damit praktisch gegen eine staatlich verordnete Lohnsenkung wehrten, wurde den Führern des Ostblocks klar, dass die Ressource Arbeitskraft nicht beliebig ausgepresst werden konnte. Schon bald sollten sich die Wachstumszahlen verlangsamen und ab Anfang der sechziger Jahre war es dann auch schon mit den 154
beeindruckenden ökonomischen Erfolgen in Osteuropa vorbei. Der langsame, quälende Abstieg einer Supermacht begann. All dies aber war am Ausgang der vierziger Jahre nicht absehbar. Ost und West traten spätestens mit der Gründung zweier deutscher Staaten in einen Wettlauf, den auch die USA unbedingt gewinnen wollten. Die Siegeszuversicht schien ihnen, angesichts der russischen Anfangserfolge, zwischenzeitlich abhanden gekommen. Die CIAZweigstellen in Europa, denen man zunächst nur einen Etat von 4,7 Millionen Dollar bewilligt hatte, wurden materiell und personell aufgestockt und konnten 1953 bereits über 200 Millionen Dollar verfügen. Im Zentrum der Schlacht aber ging es um die Ökonomie. Die Völker der Welt sollten auf das westliche Deutschland schauen, um ihre eigenen Schlüsse zu ziehen: Da das ineffiziente Bürokratensystem Stalinscher Prägung, hier die liberale Demokratie, deren bald wichtigster Leistungsnachweis ein Wohlfahrtsstaat neuen Typs sein sollte. Lange bevor der Osten seinen antifaschistischen Schutzwall errichtete, versuchten die Amerikaner quer durch Deutschland einen Wohlstandswall zu errichten. Er sollte den Vormarsch der Sowjets stoppen und die Gesellschaften des Westens immunisieren gegen die Verlockungen der sowjetischen Anfangserfolge und die eigenen kapitalismuskritischen Schwingungen der frühen Jahre. Und wenn dieser Wohlstandswall im europäischen Osten für quälende Selbstbefragungen, für steigende Ansprüche der Arbeiter, kurz für Zersetzung sorgte, umso besser. Derart politisch programmiert begann also in Westdeutschland jene Serie von Ereignissen, die man getrost als Wunder bezeichnen darf. Es war am Ende genau besehen sogar mehr als ein Wirtschaftswunder, mindestens auch ein Demokratiewunder, ein Sozialstaats155
wunder, ein Gefühlswunder, wenn man die zunächst kühlen und eher rachsüchtigen Gedanken der einmarschierenden Soldaten bedenkt. Man kann es ruhig noch einmal sagen: Es war – abgesehen von der als bitter empfundenen nationalen Teilung – ein großes Geschenk der Geschichte, wie es einem Aggressor und Kriegsverlierer nie davor und nie danach beschieden war. Zumindest für Westdeutschland ließ sich sagen: Das Land war geteilt, aber glücklich. Weshalb Konrad Adenauer auch nicht den Versuch unternahm, die Teilung zu überwinden. Selbst 1952, als der Taktiker Stalin die Verschmelzung beider deutscher Staaten um den Preis der Neutralität anbot, blieb die echte oder auch nur vermeintliche Chance ungenutzt. Mit einem großen historischen Schubs war das eben noch kriegslüsterne Nazi-Deutschland mit all seinen düsteren, mittelalterlich anmutenden Ritualen des Germanenkults in der Moderne westlicher Prägung angekommen. An ein Zurück, und sei es nur um einen halben Schritt in Richtung Neutralität, war nicht zu denken. Der Wettbewerb mit der Ostzone, die 1949 auf den Namen DDR getauft wurde, blieb in all den Jahren des Wiederaufbaus ein wichtiger Motor des westlichen Fortschritts. Der Weststaat musste fleißig gegen einen nicht gänzlich erfolglosen Oststaat vor seiner Haustür konkurrieren – auch um die Herzen der Bevölkerung, die in der Stunde des Starts durchaus ihre Vergleiche anstellten und es auch später immer wieder taten: Wo haben die Frauen die besseren Berufs- und Aufstiegschancen? Wer besitzt mehr Kindertagesstätten? Wo sind die Arbeitszeiten humaner, die Altersbezüge höher? Wer bietet den Arbeitern mehr Mitbestimmung, wer die bessere medizinische Betreuung, wer sorgt für mehr Urlaubstage? Wer schafft den größeren Wohlstand für die kleinen Leute? Diese Fragen ließen sich, so viel war allen Verantwort156
lichen klar, mit einem Kapitalismus nach dem Vorbild der USA nicht zugunsten des deutschen Westens entscheiden. Die neue Bundesrepublik musste daher im wirtschaftlichen Fundament ein Gegenentwurf sein, effizient und kapitalistisch zwar, aber auf diesen Grundmauern musste ein Sozialstaat stehen, schöner und größer als das sowjetische Modell. Die Idee war listig: Es sollte ein Kapitalismus entstehen wie in den USA, nur deutlich weniger raubtierhaft. Leistung sollte sich lohnen, aber auch für weniger Leistungsfähige und sogar für Versager war hier ausreichend Platz. So viel Marktwirtschaft wie nötig, so viel Sozialismus wie möglich. »Wohlstand für alle« war denn auch die Parole Erhards und eben nicht ein Wohlstandsversprechen – wie in den USA üblich – nur für die Tüchtigen. Auch die Wirtschaftseliten zogen mit: »Alle sollen besser leben«, lautete das Motto einer großen Industriemesse in Düsseldorf, auf der Autos, Werkzeugmaschinen, Eisenbahnen gezeigt wurden – die neuen Wunderwaffen der Nachkriegsära. Das Ergebnis jener Konstellation, die aus Feinden Freunde gemacht hatte, war also ein marktwirtschaftlicher Sozialstaat oder eine soziale Marktwirtschaft, je nach Geschmack. Jedenfalls hatte es so etwas bis dahin nicht gegeben und nirgendwo im amerikanischen Einflussbereich ist ein vergleichbarer Wohlfahrtsstaat je entstanden. Nicht mal im Heimatland des Besatzers hatten die Arbeiter derart viel zu melden wie im besetzten Deutschland. Die doppelte Staatsgründung schuf also auf beiden Seiten ein Unikum: Da die deutsche Volksdemokratie, mit ihrem Mehrparteien-System und einer zunächst weitgehenden Bewegungsfreiheit für kleine Unternehmen. Dort der marktwirtschaftliche Sozialstaat, der den Arbeitern kampflos einen bunten Strauß an Rechten und Privilegien überreichte, wie sie ihn nie zuvor und nie danach auf der 157
Welt bekamen. Osteuropa als kommunistischer Block ist zerfallen, das Unikum DDR mittlerweile gescheitert und das Wunder der Wirtschaftswunder-Republik im Westen wäre perfekt, wenn der Wohlfahrtsstaat neuen Typs auf Dauer funktioniert hätte. Was er leider nicht tat, und heute immer weniger tut.
Keine Macht für niemanden: Der AntiFührerstaat entsteht Erst war es eine nur deutsche Stimmung, dann kam die Weltpolitik dazu. So konnte sich jener Defekt ausbilden, von dem hier die Rede sein soll. Wir können ihn ruhig einen deutschen Defekt nennen, denn die Weltpolitiker von einst haben die Bühne verlassen und übrig bleibt ein Deutschland, das mit diesem Makel lebt, wenn auch zunehmend schlechter. Es geht um unsere Verfassung, das Grundgesetz, die Hausordnung der deutschen Nachkriegsdemokratie, die als Gegenentwurf zu den Hitler-Jahren entwickelt wurde. Nach den Erfahrungen mit der Unmenschlichkeit des Führerstaates wurde ein Regierungssystem installiert, das sich mit den Begriffen freiheitlich, sozial und föderal umschreiben lässt – dem heute aber auch die Etiketten ineffizient, langsam und reformunwillig anhaften. Eine Chronik des deutschen Abstiegs muss also im Grunde hier beginnen: Am 1. Juli 1948 in Frankfurt, als die Militärgouverneure der westlichen Zonen, Lucius D. Clay, Brian Robertson und Pierre Koenig sich mit den Ministerpräsidenten der Länder trafen. Eine deutsche Zentralgewalt existierte noch nicht, also wurden die Landesfürsten beauftragt, eine Verfassung auszuarbeiten. 158
Sie sollten eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, »die spätestens bis zum 1. September 1948 zusammentreten sollte«, heißt es etwas streng in der Frankfurter Direktive. Auch inhaltlich hatten die Militärs sich schon ihre Gedanken gemacht über jenes Regelwerk der Demokratie, das nun entstehen sollte. Es musste unbedingt eine »Regierungsform des föderalistischen Typs« sein, die an erster Stelle »die Rechte der beteiligten Länder schützt« und erst danach eine, wie es hieß »angemessene Zentralinstanz schafft«. Diese neue Verfassung sollte den Militärs vorgelegt werden und nur bei Wohlgefallen würden sie, auch das wurde in der Frankfurter Direktive klar formuliert, ihr Inkraftreten »genehmigen«. Es war genauso, wie Adenauer, der bald schon Präsident des Parlamentarischen Rates werden sollte, freimütig feststellte: »Wir sind keine Mandanten des deutschen Volkes, wir haben den Auftrag von den Alliierten.« Die Ministerpräsidenten reagierten zunächst reserviert, denn sie wussten sehr genau, dass sie nun zu Teilnehmern eines größeren Spiels werden sollten. Die Gründung eines Separatstaates West war von »oben« gewünscht, schnell sollte es gehen, noch vor der nächsten Außenministerkonferenz musste alles fertig sein. Die westdeutsche Verfassung war auch als Drohschrift an die Adresse der Sowjets gedacht. General Clay ärgerte sich über die Deutschen, die ihm nun mit Bedenken kamen: Den Ostteil des Landes einfach abzuschreiben, das behagte ihnen nicht. Sie baten, die Verfassung lieber Grundgesetz nennen zu dürfen, das klang zumindest nach Provisorium. Auf eine pompöse Nationalversammlung wollten sie auch verzichten und stattdessen lieber ein 65-köpfiges Arbeitsgremium einberufen, das aus den Vertretern der Länder bestehen 159
sollte. In seinen später verfassten Erinnerungen kommt Clay nur kopfschüttelnd darüber hinweg, dass diese Deutschen die ihnen gebotene Chance, endlich wieder Herr im eigenen Haus werden zu dürfen, nicht kraftvoll ergriffen. Er empfand sie als »langsam und widerwillig«. So weit fürs Erste die Weltpolitik. Die deutsche Stimmung, jedenfalls das, was davon im öffentlichen Leben zum Ausdruck kam, kannte zu jener Zeit nur ein Grundgefühl: Nie wieder! Wenn es nach dem 8. Mai 1945 in Westdeutschland bei Gewerkschaften, Sozial-, Frei- und Christdemokraten eine Gemeinsamkeit gab, dann war es diese: Nichts sollte wieder so sein, wie es unter Hitler war. Allzu viele Gewissheiten gab es nicht mehr, und wenn überhaupt, dann diese eine: Der Bruch mit der Nazi-Vergangenheit sollte möglichst radikal und unumkehrbar vollzogen werden. Das Loslösen beschleunigen, das Zurückkippen verhindern, das war das Ziel aller Anstrengungen. Im Parlamentarischen Rat trafen sich Deutsche auf Anweisung der Westalliierten und über allem lag der Schatten des Hakenkreuzes. Je deutlicher das Neue sich also von den Institutionen, den Ritualen, den Leitsätzen jener Zeit unterschied, desto besser. Aus braun sollte weiß werden. War der ökonomische Wiederaufbau auch ein Reflex auf die Ereignisse östlich der Demarkationslinie, reagierte die deutsche Politik mit ihrem Neuanfang auf das Gestern. Die Wirtschaftsexperten schauten nach »drüben«, die Politiker zurück. Die einen kämpften gegen Stalin, die anderen hatten Hitler im Nacken. Der ehemalige Diktator saß wie ein Untoter mit am Tisch, als der Parlamentarische Rat sich im Bonner »Museum König« am 1. September 1948 zum ersten Mal traf. Ohnehin haftete der Zusammenkunft in dem Naturkundemuseum etwas Gespenstisches an: Die ergrauten Herren, Adenauer war mit seinen 72 Jahren 160
nicht mal der Älteste, sahen sich umringt von ausgestopften Tieren, denen man notdürftig weiße Laken übergeworfen hatte. Der neue Staat, darin bestand von Anfang an große Einigkeit, sollte das Gegenteil dessen sein, was man gerade erlebt hatte: Entwaffnet statt hochgerüstet, liberal statt autoritär, tolerant statt chauvinistisch, demokratisch statt diktatorisch, föderal und nicht zentral. Es sollte alles geschehen, damit das, was geschehen war, nie wieder geschehen konnte. Die Suche nach den juristischen Formeln für den politischen Wunsch des »Nie wieder« beschäftigte die Verfassungsväter mehr als alles andere, so dass ihr Paragrafenwerk vor allem ein großer Sicherungskasten wurde. Der Einparteienstaat hatte für alle erkennbar versagt, er hatte zur Einparteiendiktatur und diese dann zur Einpersonenherrschaft geführt. Die Entscheidungen Hitlers, vom Verbot der freien Presse bis zu jener Konferenz in der Wannseevilla, bei der hochgeheim und genauso hochoffiziell die logistischen Details der Liquidierung von bis zu elf Millionen europäischer Juden geplant wurden, hatten vor Augen geführt, dass ein System ohne Gegengewicht ins Verderben führt. Nie wieder durfte so einer oder überhaupt nur einer das Sagen haben. Nie wieder sollte nur eine einzige Meinung gelten. Nie wieder sollte Widerspruch mit dem Tod geahndet werden. Nun also galt es die Rückkehr zu Rede und Widerrede, zu Parlament und Parteien in den Grundfesten des neuen Staates fest zu verankern. Selbst in der sowjetischen Zone kam es zu Neu- und Wiedergründungen der Parteien. Die Führerpartei war nun verboten, die Pluralität der Weimarer Jahre kehrte scheinbar zurück. Auch wenn die Sowjets die westliche Form der Entscheidungsfindung mit ihrer teils bunten Parteien161
vielfalt als »bürgerliche Demokratie« verspotteten, blieb die DDR bis zum letzten Atemzug ein Mehrparteienstaat. Quasi als Souvenir der Nachkriegsjahre durften Bauernpartei, Liberale, Christ- und Nationaldemokraten weiterleben, die Mitläufer hatten zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ihre eigenen Parteien bekommen. Aber was sollte man mit dem gemeinen Volk machen? Dem misstraute man nach Kräften, in Ost wie in West. Es war ja noch nicht lange her, dass in Berlin-Mitte, schräg gegenüber der Humboldt-Universität, die Bücher brannten, dass sich auf dem Rollfeld des Flughafens Tempelhof knapp eine Million einfand, um am 1. Mai dem »Führer« zu huldigen. Wie überhaupt nahezu das ganze Volk gestern noch bereit war, sich mit »Heil Hitler« zu begrüßen. »Während der Jahre des Nationalsozialismus verhielt sich das deutsche Volk so, dass ich es verachtete«, sagte Adenauer 1947 bei einer Rede in Luxemburg. Die neue westdeutsche Verfassung suchte denn auch die Bürger weitgehend von der politischen Entscheidung fern zu halten. Wo Weimar die Direktwahl des Präsidenten vorsah, kennt das neue Werk nur die indirekte Wahl durch eine Bundesversammlung. Nie wieder sollte ein Präsident wie der Ersatz-Kaiser Paul von Hindenburg regieren können, wofür ihm zuallererst die herausgehobene Stellung eines direkt gewählten Staatsoberhauptes genommen werden musste, bevor die Beschneidung der übrigen Rechte folgte. Überall tritt die neue Verfassung dem Volk misstrauisch entgegen: Volksbegehren und Volksbefragungen, anderswo zumeist eine Selbstverständlichkeit, sind in Deutschland von höchster Stelle untersagt. Sie hatten in den Weimarer Jahren wenig zur Klärung von Einzelfragen und viel zur Polarisierung der Gesellschaft beigetragen. Sie waren das Aufputschmittel der Extremisten von links und 162
rechts, die das Land mit immer neuen Befragungen in einen Dauerwahlkampf stürzten, der dem Ansehen der Demokratie nicht gerade förderlich war. Diese Erfahrung genügte den Verfassungsvätern, jede Direktbefragung zu verbieten, dieses Verbot darf nur mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages aufgehoben werden. Volksbefragungen, meinte der Mitautor des Grundgesetzes Theodor Heuss, seien »eine Prämie für jeden Demagogen«. Die Mehrheit im Parlamentarischen Rat sah es genauso. Auch den gewöhnlichen Bundestagsabgeordneten, die sicherheitshalber nur zur Hälfte vom Volk und zur anderen Hälfte von Parteiversammlungen und Listenparteitagen hervorgebracht werden, traut die Verfassung nicht allzu viel zu – oder eben alles. Jedenfalls wurden ihre Einflussmöglichkeiten gründlich beschnitten, zum Beispiel jene, den Bundestag selbst auflösen zu dürfen. Weil in Weimar der Reichstag geradezu routinemäßig die Wähler zur Neuwahl aufforderte, erfand die neue Verfassung ein »konstruktives Misstrauensvotum«. Wem der Kanzler nicht passt, der muss einen neuen bestimmen. Die Parteien im Parlament sind heute verpflichtet, konstruktiv zu sein, weil ihre Vorgänger die Destruktion pflegten. Und das Volk? Soll möglichst nur alle vier Jahre mit Wahlen behelligt werden. Wo immer die Weimarer Verfassung ein Schlupfloch für potentielle Diktatoren bot, wurde es nun mit einem Bretterverhau von Paragrafen geschlossen: Hitler ließ im Staatsauftrag töten, der Nachfolgestaat schaffte die Todesstrafe ab. Hitler zwang selbst Jugendliche im Alter von 16 Jahren in die Wehrmacht, die Armee wurde abgeschafft, und als sie später doch wieder angeschafft wurde, blieb zumindest ein Recht auf Wehrdienstverweigerung erhalten. Hitler ordnete seine Politik an, die heutige Verfassung 163
schwört auf die Rechtswegegarantie, die es jedermann ermöglicht, mit seiner Klage bis zum Verfassungsgericht zu marschieren. Zur Wirtschaft: Hier lagen die Dinge von Anfang an komplizierter, obwohl dasselbe Prinzip der Umgestaltung galt. Was auch immer die Nazis im Bereich der Volkswirtschaft, der Sozialen Sicherungssysteme oder der Interessenvertretung der Arbeitnehmer veranstaltet hatten, verlor nun seine Existenzberechtigung. Kontinuität war auch hier nicht gefragt, alles Gestrige galt als gefährlich, vorneweg die private Verfügungsgewalt über Maschinen, Fabriken und Ländereien. Es nützte den Kapitalisten nichts, dass ihre Mehrzahl dem Führer zunächst eher widerwillig gefolgt war. Erst nachdem die kleinen Leute ihre Entscheidung in der Wahlkabine getroffen hatten, arrangierte man sich. Jetzt freilich wollten viele den Anschluss nicht verpassen. Das große Geld neigt nun mal zur großen Anbiederung und zur Ausbeutung hat es, nennen wir es ruhig so, ein unverkrampftes Verhältnis. Als der Staat Zwangsarbeiter zur Verfügung stellte, wurden sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit in Anspruch genommen wie heute Steuerschlupfloch und Subvention. Doch der große Anschub für den zunächst kleinen Führer kam eben von unten, nicht von oben. Es waren, wir wissen es aus der Hitler-Forschung mittlerweile sehr genau, jene mit den leeren Taschen, die auf Hitler setzten, nicht die mit den vollen. Die Steigerung der Stimmen von 18,3 Prozent 1930 auf 43,9 Prozent im Jahr 1933, die Hitlers NSDAP zur stärksten politischen Kraft in Deutschland aufsteigen ließ, verdankte er den Arbeitern, den Arbeitslosen, den Abstiegskandidaten aus Mittelstand und Kleingewerbe. Den meisten Wirtschaftskapitänen war dieser »Herr Hitler« zu derb, zu fanatisch, zu aggressiv, zu 164
sozialistisch, zu proletarisch, und was sie am wenigsten mochten: er war nicht wirklich kalkulierbar. Henry A. Turner von der US-Universität Yale hat der Rolle der Großunternehmer beim Aufstieg Hitlers nachgespürt. Ihre Beziehung zur NSDAP, so sein Fazit, ging »über das Niveau von Flirts nicht hinaus«. Als der »Führer« allerdings Alleinherrscher war, zog die große Mehrzahl der Fabrikanten an ihm vorbei, um sich ehrfürchtig zu verneigen. Die Wirtschaftsgrößen sind unnachgiebig, wenn es ums Geschäft geht, und hurenhaft im Umgang mit den politisch Mächtigen, nicht nur damals. Ihre anfängliche Zurückhaltung half ihnen nach 1945 nicht viel. Schon ihr über den Krieg geretteter Reichtum sorgte für Abwehrreaktionen. Nichts, so schien es zunächst, konnte in der Stunde des Neuanfangs das herrschende Ordnungsprinzip des »Nie wieder« stören: Wer früher unfrei war, wie Presse und Gewerkschaften, wurde nun großzügig mit Freiheit und Einflussmöglichkeiten beschenkt. Wer früher die Freiheit besaß – und sei es nur die Freiheit, halbwegs unbehelligt seinem Profitstreben nachzugehen, wie die Mehrzahl der nichtjüdischen Bankiers und Fabrikanten –, der sollte nun gehörig büßen. Es war ja noch eine andere Rechnung offen als die aus zwölf Jahren Hitler-Diktatur. Hatte nicht der Kapitalismus der Vorkriegsjahre zu jener Geldentwertung geführt, der die Entwertung der Arbeitskraft folgte. Das Fragezeichen können wir hier weglassen, denn für die Menschen damals stand die Antwort fest. Ein Zurück zur Herrschaft der Stahl- und Kohlebarone war für die Deutschen, so sie nicht zufällig selbst Kohle- oder Stahlbaron waren, keine Verheißung. Die offene Rechnung mit dem ungeliebten kapitalistischen System, jetzt konnte sie beglichen werden. Keiner war damals so laut, so streng, aber auch so glaubwürdig wie der dem Konzentrationslager entkommene 165
Kurt Schumacher. Der neue SPD-Führer, ein Mann, der aus kaum mehr als aus Haut und Knochen bestand, der im Ersten Weltkrieg einen Arm gelassen hatte und später noch ein Bein verlor, war das personifizierte »Nie wieder!«. Unermüdlich bereiste er die deutschen Trümmerlandschaften; schon als in Berlin die Rote Armee noch immer auf den Widerstand von Wehrmachtseinheiten stieß, hielt er in Hannover eine Grundsatzrede, in der er die Verstaatlichung von Banken und Großindustrie forderte. Das Monopolkapital habe Hitler zur Macht verholfen, und in seinem Auftrag habe er den großen Raubkrieg gegen Europa vorbereitet und geführt, sagte er. Er war der Meinung: »Im Gegensatz zu den alten Demokratien des Westens können Kapitalismus und Demokratie in diesem Lande – Deutschland – nicht nebeneinander existieren.« Er und mit ihm die damalige Sozialdemokratie glaubten fest daran, dass Deutschland nicht mehr in der Lage sei, »eine privatwirtschaftliche Profitwirtschaft zu ertragen«. Diese Grundstimmung war gesamtdeutsch und sollte sich in der Verfassung des entstehenden Weststaates nun auch niederschlagen. Große Teile der CDU träumten den selben Traum. Noch Anfang 1947, im Ahlener CDU-Programm, hieß es: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.« Wie ein roter Faden zog sich die Sehnsucht nach mehr Staat und weniger Kapitalismus durch die Union. Auch wenn Franz Josef Strauß die SPD später aufforderte, das Ahlener Programm nicht weiter zu erwähnen und »die Mumie endlich einmal im Grab zu lassen und nicht das Gras zu fressen, das längst darüber gewachsen ist«. Eine Marktwirtschaft ohne den Zusatzstoff »sozial« war für keine der Volksparteien vorstellbar. Das Sozialstaatsprinzip wurde 166
daher auf allgemeinen Wunsch im Grundgesetz verankert und es besagt nicht mehr und nicht weniger als dass alles Handeln, das des Staates und der Privatwirtschaft, den Gedanken des sozialen Ausgleichs, der Gerechtigkeit, der Teilhabe zu gehorchen hat. Wenn es das nicht tut, darf sogar enteignet werden. Das Eigentum selbst war »sozialpflichtig« geworden. Das hehre Bekenntnis wurde mit realer Macht angereichert; die Gewerkschaften gab es schon vorher, aber erst jetzt wurden sie von der Verfassung beauftragt, das Kapital bei der Durchsetzung des Sozialstaatsprinzips zu beaufsichtigen. Das Wort von der Sozialpartnerschaft entstand. Es war der märchenhafte Aufstieg von Betriebsräten und Gewerkschaftsfunktionären zu Mitherrschern im Wirtschaftsleben. Fortan durften sie mehrmals pro Jahr den dunklen Anzug anziehen und zur Aufsichtsratssitzung erscheinen, wo sie den Kapitalisten auf gleich und gleich gegenübersaßen. Mitbesitz bekamen sie nicht, dafür Mitbestimmung, was an Rhein und Ruhr unbestreitbar für neuen Schwung sorgte. Der vielfach harte Gewerkschaftsbeton von heute, damals war er der noch feuchte Kitt, der die Gesellschaft zusammenhielt. Hier von Restauration zu sprechen, der Wiederherstellung alter Wirtschaftsmacht, wie es nach Kriegsende und Ende der sechziger Jahre auf der Linken modisch war, ist töricht. Die Rückkehr alter Nazis in die Verwaltung, die Universitäten, die Ministerialbürokratie (über 60 Prozent der höheren Beamten des Außenministeriums waren zuvor Mitglieder der NSDAP gewesen) und selbst ins Richteramt war moralisch empörend, es blieb ein echter, ein objektiver Makel des neuen Systems. Hans Globke wurde unter Adenauer Staatssekretär im Bundeskanzleramt, obwohl er in der Nazizeit als Mitherausgeber des Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen mitgewirkt 167
hatte. Das Ex-NSDAP-Mitglied Theodor Oberländer schaffte es bis zum Bundesvertriebenenminister. Auch die Beibehaltung des deutschen Beamtenapparates, in all seinem schläfrigen Untertanengeist, war ein historischer Fehler. Aber das darf nicht den Blick trüben auf das Neue, das Revolutionäre, das sich in der Welt der Wirtschaft getan hatte. Das neue System der gleichberechtigten Mitsprache in den Aufsichtsräten der Montankonzerne begründete einen Staat, wie es ihn nie zuvor auf deutschem Boden gegeben hatte. Später wurde das neue Westdeutschland, als es sich mit Wohlstand und Wachstum schmücken konnte, zum »Modell Deutschland« ernannt. Nirgendwo in der westlichen Welt war ein solcher Ausgleich von Arbeit und Kapital probiert worden. Bequem war die Angelegenheit vor allem für die Gewerkschaften: Denn das allermeiste bekam die Arbeiterklasse geschenkt. Den großen Kampf um die sozialen Errungenschaften hat es nach 1945 nicht gegeben, weil er nicht nötig war. Die Bundesrepublik Deutschland gründete sich als »demokratischer und sozialer Bundesstaat«, fast ganz ohne ihr Zutun. So bekam das Land auch die Tarifautonomie verordnet oder geschenkt, je nach Lesart, also das Recht der Gewerkschaften, mit den Arbeitgebern – frei von jeder Einmischung des Staates – die Löhne, die Arbeitszeiten und alles, was sonst den Arbeitsalltag betrifft, zu regeln. Die in der Weimarer Verfassung noch vorgesehene Zwangsschlichtung des Staates – plötzlich war sie abgeschafft. Hitler, und das war in der Stunde null die entscheidende Legitimation, hatte das staatliche Lohndiktat bevorzugt und die Arbeitnehmerrechte auch ansonsten mit Stiefeln getreten. Jetzt hieß es: Freie Bahn den Unterdrückten von gestern. Dies alles, das Demokratieprinzip, das Rechtsstaats168
prinzip, das Sozialstaatsprinzip, ist den Deutschen nicht schlecht bekommen. Der Defekt der Verfassung liegt woanders, auch wenn er den selben Wurzeln entspringt: Die Grundstimmung des »Nie Wieder« und die Vorgaben der Westalliierten ließen eine Verfassung entstehen, die auf Einigung besteht, den Konsens über alles stellt, und dabei die staatlichen Gewalten am Ende nicht geteilt, sondern zerbröselt hat. Die heutige Verfassung misstraut nicht nur dem Volk, sie misstraut auch dem Zentralstaat, bestreitet damit die Notwendigkeit von Führung, verachtet den Effizienzgedanken. Sie ist bewusst ein Dokument, das nach zwölf Jahren der Diktatur die Gesellschaft beruhigen und Veränderungsprozesse entschleunigen sollte. Die Welt hatte Deutschland ja keineswegs als schläfrig, sondern als roh und gewalttätig erlebt. Dies alles sollte keine Chance mehr haben, weshalb jede Veränderung des fein austarierten Status quo einer gewissenhaften Prüfung und einem quälenden Verfahren zu folgen hatte. Da sich viele Deutsche und die Amerikaner in ihrer Geringschätzung einer funktionstüchtigen Zentrale damals einig waren, als Reflex auf die Vergangenheit, der eine Sicherheitsmaßnahme für die Zukunft bringen sollte, kam der Defekt nicht durch die Hintertür, sondern durchs Haupttor in die Verfassung hinein. Er ist gewollt und findet sich an vielen Stellen wieder. Die Gewaltenteilung innerhalb der politischen Klasse, die Macht der Gerichte, die starke Stellung der Länder, die weitgehende Autonomie der Bundesbank, überall finden wir bewusst gesetzte Gegengewichte. Kein anderes Land der Welt ist so ausbalanciert, so resistent gegenüber jedweder Schwankung, um es positiv zu sagen. Anders ausgedrückt: Kein anderes Land setzt der politischen Gestaltungskraft so enge Grenzen. Deutschland ist heute zwar regierungsfähig, aber nur bedingt reformfähig, was in Zeiten des Abstiegs von 169
erheblichem Gewicht ist. Der Kanzler bestimmt ja keineswegs, wie die jeweiligen Amtsinhaber schnell zu spüren bekommen, »die Richtlinien der Politik«, denn diese Linien werden gekreuzt, verwischt, verändert von der zweiten deutschen Regierung, die sich Bundesrat nennt, die kein Gesicht, aber dennoch großen Einfluss besitzt. Selbst das Budgetrecht des Parlaments, das als vornehmstes Parlamentarierrecht gelten darf, wird begrenzt durch die Mitsprache der Länder. Sie entscheiden mit, welche Steuern gesenkt oder erhöht werden, ob der Staat Subventionen abbaut, streicht oder heraufsetzt. Die Länder haben aus der damaligen Situation den für sie vorteilhaften Schluss gezogen: Keine Macht für niemanden. Bund und Länder werden von der Verfassung in einer Art Machtbalance gehalten, die Stabilität garantiert, aber eben auch eine große Behäbigkeit der Entscheidungen bedeutet. Der eine kommt ohne den anderen nicht voran und so herrscht entweder Konsens oder Blockadezeit. Deutschland besitzt heute das langsamste Regierungssystem der Welt. Genau so war es ja von der großen Politik auch gewollt. Die Westalliierten drückten den Parlamentarischen Rat dahin, wo sie ihn haben wollten. Die Besatzer bestellten ein, überreichten diplomatische Noten, führten vertrauliche Gespräche mit wichtigen Vertretern des deutschen Verfassungsrates. Auch wenn es Differenzen innerhalb der Siegerkoalition gab, am Ende setzten sich Franzosen und Amerikaner durch, beide wollten den schwachen Staat, dessen Zentralgewalt nur in Abhängigkeit von den Ländern regieren kann. SPD-Chef Schumacher, in Erwartung seines eigenen Wahlsieges bei der ersten Bundestagswahl, wollte diese Vorgaben nicht akzeptieren. »Die Erhebung des Begriffs 170
Föderalismus zu einem Fetisch mit prähistorischem Inhalt ist ein kostspieliger Luxus«, tobte er. Unversöhnlich wütete er in Interviews und Reden gegen die Vorgaben der Alliierten: Es gehe um »die große Frage des nationalen und wirtschaftlichen Zusammenlebens«, das bei Realisierung der alliierten Wünsche »zerstört würde«, meinte er. Es war wie so oft bei Schumacher: Er hatte Recht, aber er bekam es nicht. Der Historiker Wolfgang Benz über das Wollen der Alliierten: »Die Länder sollten einflussreicher, die Zentralgewalt etwas schwächer sein.« So eilig hatten es die Sieger nämlich nicht mit der vollen Souveränität, gaben sie den Deutschen zu verstehen. Selbst am Tag der Überreichung des Besatzungsstatuts, am 21. September 1949, war für den soeben gewählten deutschen Bundeskanzler, der überraschend für viele Adenauer und nicht Schumacher hieß, kein Platz auf dem roten Teppich vorgesehen. Demonstrativ sollte er auf dem staubigen Boden stehen und von dort das Dokument aus der Hand der Hohen Kommissare in Empfang nehmen, das damals oberhalb der Verfassung rangierte. Adenauer verweigerte sich der Demutsgeste. Kaum ließ der Franzose, offenbar eher zufällig, etwas Raum, rückte der knorrige Alte nach vorn. »Ich machte mir diese Gelegenheit zunutze, ging ihm entgegen und stand somit ebenfalls auf dem Teppich«, erzählte er später. Die westlichen Alliierten hatten zwei Ängste und taten alles, sie im Prozess der deutschen Staatswerdung zu dämpfen. Die eine war die, das neue, kapitalismusmüde und sozialistisch infizierte Deutschland könnte gemeinsame Sache mit den Sowjets machen. Die Verbrüderung von SPD und KPD in der Ostzone strapazierte die Nerven der Westsieger sehr. Dagegen half nur die Verbrüderung West, Hilfe statt Strafe, Teilhabe anstelle von Demontage, also jenes großzügige Hilfsprogramm, aus dem später die 171
deutsch-amerikanische Freundschaft erwachsen konnte. Furcht zwei betraf ein Wiedererstarken Deutschlands, das mit der angebotenen Hilfe zwangsläufig verbunden war. Also galt es Balance zu halten: Das westliche Deutschland sollte im Äußeren pro-amerikanisch, im Innern frei und ökonomisch stark sein, aber eben nicht so stark und frei, dass es sich womöglich den Sowjets zuwenden würde. Das Schlimmste, notierte der britische Außenminister Ernest Bevin in seinen Aufzeichnungen, »wäre ein wiedererstarktes Deutschland, das gemeinsame Sache mit Russland macht oder von ihm beherrscht« wird. Dem Grundgesetz der Deutschen kam aus Sicht der westlichen Alliierten eine herausragende Rolle zu. Sie wollten den schwachen, nicht den starken Staat. Es ging ihnen nicht um effizientes Regieren, wichtiger war es, ein Wegkippen ins Totalitäre für alle Zeiten zu verhindern, wobei den Amerikanern eben beides, das Abdriften der Deutschen in die braune Vergangenheit wie in eine rote Zukunft, gleichermaßen bedrohlich und möglich schien. Die Fehlkonstruktion begann schon mit der Teilnehmerrunde, die sich da zur Beschlussfassung über die Verfassung traf. Es waren Abgesandte der Länder, assistiert von den Juristen der Landesverwaltungen, denn nur hier gab es deutsche Staatlichkeit. Die Länder waren vor dem Bundesstaat entstanden und wussten, wie sich das Recht des Erstgeborenen in politische Münze verwandeln ließ. Sie hatten jene Macht, die der andere Organismus durch sie erst noch bekommen sollte. So redeten sie denn von der zu schaffenden Bundesrepublik und dachten doch fortwährend nur an sich. Die Länder, urteilte der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin und spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, hätten sich ihrer eigenen Rechte besonders liebevoll angenommen. Es sei, gegenüber der Verfassung von Weimar, zu einer »spektakulären 172
Verschiebung des politischen Einflusses zugunsten der Ministerpräsidenten« gekommen. Diese Selbstversorgung mit Rechten aller Art fiel nicht nur üppig aus, sie war maßlos und bedeutet bis heute nichts anderes, als dass der Bund von Gnaden der Länder regiert wird: Verfassungsänderungen des Bundes, welche die Rechte der Länder beeinträchtigen, sind grundsätzlich verboten. Die Länder installierten neben der Bundesregierung einen Bundesrat und damit keineswegs nur eine Länderkammer, wie es heute oft verharmlosend heißt, sondern ein machtvolles »Bundesorgan eigener Art« (Thomas Ellwein). Die Verfassung definierte bis ins Detail, welche Gesetzesvorhaben des Bundes der Zustimmung der Länder bedürfen. Danach besitzt der Bundesrat bei ungefähr 60 Prozent aller Bundesgesetze ein aufschiebendes Veto und bei 40 Prozent aller Bundesgesetze ein echtes Blockaderecht. Kompromisse können nur im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag gefunden werden (wie bei der Steuerreform jüngst geschehen), oder es gibt eben kein neues Gesetz, wie im Falle der Zuwanderung. • Die deutsche Finanzverfassung, ebenfalls im Grundgesetz geregelt, hat Bund und Länder unentwirrbar miteinander verknotet. Die Länder erheben und verwalten die maßgeblichen Steuern, der Bund darf dann »einen Teil der Einkommens- und Körperschaftssteuer zur Deckung seiner Aufgaben in Anspruch nehmen«. • In Erweiterung der Verfassung wurden immer mehr Länderzuständigkeiten an den Bund abgegeben, um den hohen Preis weiterer Mitspracherechte, vor allem, wenn es ums Geld geht. Mittlerweile sind 80 Prozent aller Steuern in dieses große Gemeinschaftswerk, das sich 173
»Mischfinanzierung« nennt, einbezogen. Im Alltag der Republik hat sich in Fragen der BundLänder-Beziehungen ein bürokratischer Politikstil eingebürgert, genau so, wie es Schumacher vorausgesehen hatte. Der Bund kümmert sich um die Dinge, von denen er nichts versteht, die Gemeindefinanzen und die Küchen der Ganztagsschulen. Die Länder fühlen sich im Gegenzug für Rentensicherheit, Gesundheitssystem und Pendlerpauschale zuständig. Alle 16 Länder mit ihren rund 140 Ministerien und 5500 Referatsleitem sind Teil einer großen Kompromissmaschine, die nahezu an jedem Werktag irgendwo in der Republik eine Sitzung abhält, ein Positionspapier verfasst, das dann in Arbeitsgruppen und Unterarbeitsgruppen mit den Vertretern der Bundesministerien beraten wird. Experten schätzen die Zahl der Arbeitsgruppen, die nur die Länder zur Abstimmung unterhalten, auf rund 1000. Allein im Bereich der Verkehrs- und Umweltminister existieren rund 200 Koordinierungsgruppen. Die wichtigen Expertengremien wie die »Länderarbeitsgemeinschaft Wasser« sind sogar im Internet mit eigenem Auftritt vertreten: www.lawa.de. Ihre kleineren Unterarbeitsgruppen wie »Industrieabwasser«, »Grundwasser« und »Oberirdische Gewässer« kommen ohne aus. Längst haben auch die Ministerpräsidenten den Überblick über diese Parallel- und Doppelaktivitäten zu denen der Bundesregierung verloren. Immer mal wieder wird eine Straffung der föderalen Konsensbürokratie beschlossen, mit meist nur mäßigem Erfolg. Der »Arbeitskreis zur Verbesserung der Zahlungsmoral« entfiel, die Arbeitsgruppe »Beratungsecken in Apotheken« durfte bestehen bleiben. Das ist gelebter »Verbundföderalismus«, der von der Verfassung in Artikel 30 ausdrücklich gewollt ist: »Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfül174
lung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder.« Und in Artikel 50 heißt es nicht minder deutlich: »Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit.« Nahezu alle Experten schütteln heute den Kopf über das, was da entstanden ist. »Das Dickicht der föderativen Beziehungen«, sagt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, »wirft heute nicht nur Fragen der Effizienz und der Kosten, sondern auch der Sicherung der demokratischen Verantwortlichkeit auf.« Es sei fast nicht möglich, für den Bürger nicht und auch nicht für den Fachmann, »die politische Verantwortlichkeit für einzelne Entscheidungen zutreffend zuzuordnen«. Denn wesentliche Entscheidungen sind längst aus dem Parlament abgewandert, sagt Papier, »in einen Verhandlungsverbund von Regierungsvertretern aus Bund und Ländern«. Die Gefahren für die Demokratie sind nicht unerheblich; in jenem deutschen Defekt liegt eine wichtige Quelle für die Unzufriedenheit mit den Parteien. Denn sie besitzen nicht die Werkzeuge, um erfolgreich gestalten zu können. Die Macht-Parzellierung hat das, was die Wahlforscher »Lösungskompetenz« nennen, geschmälert und zum Teil zerstört. Das Publikum sieht sich mit dem immer gleichen Schauspiel konfrontiert: Was der Bundestag will, will der Bundesrat partout nicht, und umgekehrt. Wahlen, selbst Bundestagswahlen, verändern nur die Ausgangslage im föderalen Stellungskrieg, nicht aber die Richtung der Politik. Auch das Amt des Bundeskanzlers verliert so an Autorität. Wie soll er regieren, wenn alle ihm ins Handwerk pfuschen? Was ist von einem Regierungschef zu halten, der um die Zustimmung jedes Landesfürsten persönlich ringen muss? In den Kreis der »großen Männer« kann 175
einer, der im Kameragetümmel des Vermittlungsausschusses um jedes Komma seiner Regierungspolitik zu kämpfen hat, nicht aufrücken. Dabei ist es doch gerade dieses »merkwürdige Walhalla halb mystischer überlebensgroßer Führer und Vaterfiguren, ohne die die Deutschen nie so recht glücklich und zufrieden sind«, wie Sebastian Haffner im April 1958 am Beispiel Adenauers zu Recht konstatierte. Auch der war übrigens ein großer Gegner des Bundesrates. »Den Kanzler möchte ich sehen, der gegen den Bundesrat regieren kann«, so Adenauer, der für einen Senat nach US-Vorbild warb. Obwohl er dem Parlamentarischen Rat vorsaß, konnte auch er sich nicht durchsetzen. Die Ministerpräsidenten, nicht die Parteiführer, waren die starken Spieler. Und die hatten sich mit den Vertretern der Weltpolitik verbündet. »Die Alliierten«, sagt Hamburgs langjähriger Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, »wollten uns enthaupten.« Viele Legenden werden heute um dieses Grundgesetz verbreitet, auch die, dass da ein großer Wurf gelungen sei. Das ist es nicht und konnte es unter diesen Bedingungen auch nicht sein. Der Grundrechtsteil, der mit schönen Worten die Freiheitsrechte sichert, und erst recht jene Abschnitte, die den Rechtsstaat, den Sozialstaat und das Demokratieprinzip festschreiben, streicheln die deutsche Seele. In Ermangelung besserer Gelegenheiten, glaubwürdigerer Symbole und Traditionen wurde auf dieser Grundlage sogar ein Verfassungspatriotismus ausgerufen. Und in der Tat: Etwas Besseres hatte das kriegszerstörte Deutschland seinen Bewohnern nicht zu bieten als dieses Regelbuch, das Humanität und Freiheit hochhält, wo gerade erst ein Reich untergegangen war, zu dessen bestimmenden 176
Merkmalen Unmenschlichkeit und Unfreiheit zählten. Doch im Alltag der Republik haben sich große Teile der Verfassung nicht bewährt. Sie ist zu starr, der Reform steht sie aus Prinzip ablehnend gegenüber. Überall sind hohe Hürden eingebaut, um irgendetwas von Belang bewegen zu können. Eine realitätsnahe Auslegung des Asylparagrafen und selbst die Umwandlung der Behördenbahn in eine staatseigene Aktiengesellschaft bedurften einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag, was nur in Folge langer, kräftezehrender Kämpfe gelang. Vieles ist an der Zweidrittelmehrheit, die unsere Verfassung für wirkliche Richtungsentscheidungen verlangt, gescheitert. Nur in glücklichen Ausnahmezuständen, wenn Bundesrat und Bundesregierung von der gleichen Parteienformation dominiert werden, ist Führung überhaupt möglich. In der Regel fallen sich Regierung, Bundesrat und Rechtsprechung ständig in den Arm. In zwanzig der letzten dreißig Jahre stand der Bundesregierung ein feindlicher Bundesrat gegenüber. Weniger die Interessen der Länder als die Ambitionen der Länderfürsten machten die Einigung in Sachfragen unmöglich. So gibt es seit Jahren auf Kernfeldern der deutschen Politik kein Vor und kein Zurück: Das Einwanderungsgesetz blockiert, die Steuerreform halbiert, der Subventionsabbau wieder mal aufgeschoben. Über die Neuordnung der Länder, die Reform des Föderalismus oder einheitliche Bildungsstandards im europäischen Zeitalter konnte bisher nicht mal ernsthaft geredet werden. Die klein geraspelte Macht hindert jeden Reformer daran, seine Reformen umzusetzen, wie das Gezerre um Steuersenkungen Ende des Jahres 2003 gezeigt hat. Der Regierungschef des Landes war nicht in der Lage, den Bürgern die Steuern im gewünschten Umfang nachzulassen, obwohl er im Bundestag über eine Kanzlermehr177
heit verfügte. Genauso war es wenige Jahre zuvor seinem Amtsvorgänger Helmut Kohl auch schon ergangen, als der Bundesrat von der SPD dominiert wurde und der damalige SPD-Chef Oskar Lafontaine die Blockade der Kohlschen Steuerreform zum Härtetest für die Geschlossenheit der SPD erklärte. Regieren heißt im Kern nichts anderes als Richtungsentscheidungen treffen. Doch die blockierte Nie-WiederRepublik tritt lieber auf der Stelle, als einen Fuß in die womöglich falsche Richtung zu setzen. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog sagt: »Wenn die Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat gegensätzlich sind, herrscht bei Reformen Stillstand.« Woraus er den einzig zulässigen Schluss zieht: »Wir müssen die Rolle des Bundesrates neu definieren.« Das gibt es ja häufiger und nicht nur im Verfassungsleben: Dass die Rechte länger leben als die Bedingungen, unter denen sie geschaffen wurden.
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KAPITEL 4 DER JAHRHUNDERT-IRRTUM
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Adenauers expansive Sozialpolitik Auf die Opposition der fünfziger Jahre war kein Verlass: Konrad Adenauer wurde von den Linken für eine richtige Politik getadelt und für die falsche gelobt. Er steuerte die junge Bundesrepublik in das westliche Staatenbündnis, was eine Minderheit toben und eine Mehrzahl der Deutschen ruhiger schlafen ließ. Die Westintegration, die er unermüdlich vorantrieb und sich dabei von keiner gesamtdeutschen Verlockung, hinter der mutmaßlich doch nur die Neutralität lauerte, verleiten ließ, war seine große historische Leistung; beeindruckend auch im Rückblick. Westverträge, Wiederbewaffnung, NATOBeitritt, Aussöhnung mit Frankreich und Israel: »Das Maß an Erfolg war fast unbegreiflich«, urteilt Golo Mann. Die Schumacher-SPD bekämpfte Adenauer unerbittlich. »Kanzler der Alliierten«, rief der SPD-Chef mit fiebrigem Eifer und in erstaunlicher Verkennung dessen, was deutsche Interessen damals erforderten und erlaubten. Entspannte Stimmung zwischen Regierung und Opposition herrschte dagegen bei der Verabschiedung des »Generationenvertrages«, der offiziell »Rentenneuregelungsgesetz« hieß und am 22. Januar 1957 um kurz nach Mitternacht in dritter Lesung verabschiedet wurde. Der Beschluss von damals bildet die Grundlage unseres heutigen Rentensystems, das vor allem deswegen unrettbar krank ist, weil Adenauer mehrere kapitale Fehler einbaute. Die Opposition merkte davon nichts. SPD, CDU und CSU hatten sich zu einer großen Gesetzgebungskoalition zusammengetan, das erste Mal. 413 der 456 anwesenden Parlamentarier stimmten zu. »Wir Sozialdemokraten sind 180
glücklich, dass Epochemachendes in einem Gesetz verwirklicht wird«, rief ein freudig erregter Ernst Schellenberg, SPD-Parlamentarier aus Berlin, den »lieben Kollegen« von der anderen Seite des Hohen Hauses zu. Als einer der wenigen Kritiker der Rentenreform sich zu Wort meldete, registrierte das Protokoll: »Unruhe in der Mitte«. Diese so einvernehmlich arbeitende Sozialstaatskoalition, die hier erstmals und später immer wieder zueinander fand, hat in der Rentenpolitik einen Schaden von historischer Größe angerichtet. Der Tag der großen Rentenreform, die das Bismarck-System mit einem Federstrich beseitigte, war kein guter Tag für Deutschland, auch wenn das damals nur wenige erkennen wollten. Die Mehrheit irrte. Der Alte selbst war getrieben von einem Eifer, der in merkwürdigem Kontrast zu seiner Gelassenheit allen Fragen der Vergangenheitsbewältigung gegenüber stand. »Wenn man kein sauberes Wasser hat, schüttet man trübes nicht weg«, sagte er und ließ ehemalige NSDAPMitglieder in Kabinett, Verwaltung und Militär gewähren. Doch in der Sozialpolitik betrat ein Tatenmensch die Bühne, der nicht auf Wiederherstellung des alten, teils lausigen Sozialstaats aus war, mit Suppenküchen und Minimalversorgung für Kranke, Alte und Arbeitslose. Er wollte die Expansion, vieles wurde dem untergeordnet, die Finanzpolitik und auch die Wirtschaftspolitik mit einem zunehmend verstörten Ludwig Erhard an der Spitze. Der Vorwurf der »Restauration«, der Wiederherstellung der alten Vorkriegsrealität, traf auch in der Sozialpolitik nicht zu. Adenauer war hier kraftvoller Reformator, nicht vermuffter Restaurator. Seine Motive waren offenkundig: Es ging ihm um Machterhalt und Machtausbau. Adenauer trieb keine ro181
mantische Vorstellung von einer besseren Welt, er nutzte die Einführung neuer Sozialleistungen, wie sie die Mehrzahl der Nachfolger auch nutzte, als Stimmenkauf aus der Staatskasse. Vorhaltungen über die bereits absehbaren, teils verheerenden Wirkungen seiner Rentenformel, die aus den eigenen Reihen geäußert wurden, wies er zurück. Seine Sozialpolitik war für den Augenblick konzipiert und nahm die Überforderung der Volkswirtschaft billigend in Kauf. Die Ergebnisse sind unbestreitbar: Mitten im steilsten Aufstieg begann der Kanzler die Grundlage für den späteren Abstieg zu legen, weshalb sich die CDU des Sozialreformers Adenauer heute nur hinter vorgehaltener Hand erinnert. Diese Wahrheit will eben so gar nicht zum Glorienschein passen, den die Partei dem »Alten« in Jahrzehnten des Erinnerns und Gedenkens verpasst hat. Allerdings ist er nur Teil eines Quartetts. Von jenen vier deutschen Kanzlern, die für die heutigen Probleme maßgeblich mitverantwortlich sind, trieb es Adenauer keineswegs am ärgsten. Dem SPD-Kanzler Willy Brandt fehlten Einsicht und Handlungsfreiheit, seinem Nachfolger Helmut Schmidt am Ende die politische Kraft zum Gegensteuern. Helmut Kohl aber war in der glücklichen Lage, die Erosion der Staatsfinanzen, die Funktionsstörungen auf dem Arbeitsmarkt und im Gefüge des Sozialstaats nicht nur zu erkennen, sondern im Ausmaß bereits bewerten zu können. Warum er unfähig war, diese Erkenntnisse nachhaltig zum Wohle des Landes zu nutzen, wird später zu betrachten sein. Adenauer aber trat an, als die Gestaltungsspielräume noch groß waren. Er konstruierte – nicht vorsätzlich, aber fahrlässig – eine Ausgabenmaschine, die von Anfang an ohne ausreichende Rückkoppelung zur ökonomischen Basis ihre Ansprüche verteilte. Er ließ die Energie schnel182
ler aus dem produktiven Kern absaugen, als es dessen Wachstum erlaubte. Von 1950 bis 1964 verdreifachte sich die Wirtschaftskraft. Die Summe der Sozialleistungen aber hatte sich von 17 Milliarden Mark im Jahr 1950 auf 103 im Jahr 1965 mehr als versechsfacht. Der Anteil der Sozialleistungen am gesamten Bruttosozialprodukt war damit von 17 Prozent auf 23 Prozent gestiegen, nach Erhards Berechnungen war das Weltrekord, die Sozialleistungen beanspruchten vom Start weg »den höchsten Anteil am Sozialprodukt in allen Ländern der Erde«, so der Wirtschaftsminister mahnend. Er lag doppelt so hoch wie im Deutschland der dreißiger Jahre, womit dem Wirtschaftswunder – wie von Adenauer gewünscht und von Erhard befürchtet – ein Sozialstaatswunder gefolgt war. Wer Adenauers Jahrhundert-Irrtum begreifen will, muss den Alten selbst verstehen, seine Schlitzohrigkeit, seine lässige Art im Umgang mit öffentlichen Geldern, seine Sehnsucht nach historischer Größe – und seinen unauflösbaren Konflikt mit dem erst im Nachhinein zu historischer Größe aufgeschossenen Erhard. Der Wirtschaftsminister und sein Kanzler – ungleicher hätte ein Politikerduo kaum sein können. Der Minister predigte das »Maßhalten« und war jederzeit bereit, dem Volk Preiserhöhungen zu erläutern und Subventionen vorzuenthalten. Adenauer, der in der offiziellen Erinnerung der CDU vorsichtshalber auf den Außenpolitiker, den Schrittmacher der Westintegration, den prinzipienfesten Antikommunisten reduziert wird, war in der Sozialpolitik ein prinzipienloser Opportunist. Er wollte mit ihrer Hilfe Wahlen gewinnen, was ihm ein ums andere Mal eindrucksvoll gelang. Er spürte sehr genau, dass die Marktwirtschaft als System nicht sonderlich hoch im Kurs stand bei seinen deutschen Landsleuten. Die gelungene Währungsreform hatte ihr zwar Kredit verschafft, aber keinen allzu großen. 183
Adenauer war weder christlicher Sozialist noch schwärmerischer Sozialpolitiker. »Mit dem Wort Sozialismus gewinnen wir fünf Menschen, und zwanzig laufen weg«, mahnte er seine eigene Partei. Das hielt ihn freilich nicht davon ab, eine expansive Sozialpolitik zu entwerfen, die dem Grundgedanken des Sozialismus auf halber Strecke entgegenkam und den realen Sozialismus sogar deutlich übertraf. Das sei nun mal der Preis dafür, so rechtfertigte sich Adenauer später, um Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter in der Wählergunst zu deklassieren. Der Alte sprach von »Wahlkampfspeck«. Als Schrittmacher funktionierte die neu gegründete Einheitsgewerkschaft, gegen die anzuregieren Adenauer nicht opportun schien. Denn es war zu Beginn keineswegs ausgemachte Sache, wer in der neuen Republik die stärksten Bataillone anführte: Im Machtkampf zwischen den Konservativen und den Gewerkschaften, die in den frühen Jahren der Republik ihr eigentlicher, ihr gefährlicherer, weil ungleicher Gegner waren, ging es neben all den Einzelfragen zur Demontage, zur Mitbestimmung, zu den Modalitäten der Währungsreform, immer auch ums Grundsätzliche: Parteienstaat gegen Gewerkschaftsstaat, lautete die provokante und in den frühen Jahren der Auseinandersetzung keineswegs entschiedene Frage: Wer regiert das Land? Wer hat in den Betrieben das Sagen? Wer gibt in der Wirtschafts- und Sozialpolitik den Ton an? Wer baut das neue Deutschland auf? Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse befanden sich noch in einem flüssigen Aggregatzustand. Adenauers Gegenspieler hieß Hans Böckler, der bereits 1950 rund 5,4 Millionen Mitgliedern vorstand, die er zusammen mit den Chefs der Einzelgewerkschaften viele Male zum Streik und einmal auch zum Generalstreik gegen die Regierung losschickte. Der Sohn eines Fuhr184
manns hatte das Handwerk des Gold- und Silberschlägers gelernt, saß in den letzten Weimarer Jahren für die Sozialdemokraten im Reichstag, hatte die »Schutzhaft« der Nazis überlebt, um am Ende wieder auf der Bühne zu stehen: diesmal ganz vorn in den Reihen der Gewerkschaft, die nun DGB hieß und deren Erster Vorsitzender er 1949 wurde. Er und seine Kollegen beanspruchten ein Mandat weit über Betriebsratsbüro und Tarifrunde hinaus. Ihre Forderungen reichten von der Einrichtung eines zentralen Planungsamtes über eine Bodenreform bis zur Sozialisierung der Schlüsselindustrien, was nur die elegantere Vokabel für Verstaatlichung war. In ihren Grundsätzen zur »Neugestaltung der Wirtschaft« ebenso wie in der »Entschließung über die politische Stellung der Gewerkschaften und ihr Verhältnis zu den politischen Parteien« wiesen die Arbeitnehmerorganisationen im Februar 1948 sich selbst die Aufgabe zu, beim Wiederaufbau des Landes »politisch maßgeblich mitzuwirken«. Das Selbstbewusstsein der Arbeiterführer war groß, aber künstlich. In ihren Reihen herrschte ein politischer Triebstau, der sich seit 1933 aufgebaut hatte. Sie waren laut und schrill, vor allem deshalb, weil sie in der Spätphase der Weimarer Republik leise und am Ende stumm geblieben waren. Sie hatten kläglich versagt, aus Angst vor dem Widerstand zogen die Funktionäre 1933 den politischen Selbstmord vor. »Organisation – nicht Demonstration: Das ist die Parole der Stunde«, rief der letzte Chef des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) Theodor Leipart am 31. Januar 1933 den Mitgliedern zu. An jenem Schicksalstag, der Reichstag hatte soeben das Ermächtigungsgesetz beschlossen und damit die Voraussetzung für einen scheinbar legalen Übergang von der Demokratie zur Diktatur geschaffen, ging es den Arbeiterführern vor allem um Anbiederung an die neuen Herrn. 185
Sie hofften, so ihren Apparat und Teile ihres Einflusses zu retten. Statt zum Generalstreik (den letzten hatten sie gegen den putschenden Generallandschaftsdirektor Kapp 1920 ausgerufen und den nächsten würden sie gegen Adenauer lostreten) sah sich die eigene Mitgliedschaft zur Selbstdisziplin aufgerufen. Die Führung sprach von einer »Politik des kühlen Blutes«. Die Befürworter des Widerstandes in den eigenen Reihen sahen sich als »Generalstreik-Theoretiker« verhöhnt. Die Anpassungsbereitschaft ging bis zur freiwilligen Selbstaufgabe im März 1933, als der ADGB-Vorstand dem Hitlerregime das Recht einräumte, die bis dahin gültige Tarifautonomie anzutasten. Die Gewerkschaftsspitze erkannte per Vorstandsbeschluss das »Recht des Staates« an, in die Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum einzugreifen, »wenn das Allgemeininteresse es erforderlich macht«. Doch die Nazis waren an Kompromissen längst nicht mehr interessiert: Nur wenige Wochen später, am Vormittag des 2. Mai 1933, wurden alle wichtigen Gebäude des ADGB und der Einzelgewerkschaften von SA und SS besetzt. Zahlreiche Gewerkschaftsfunktionäre und auch viele einfache Mitglieder endeten in den Konzentrationslagern. Nach dem Krieg wollten die Überlebenden nicht an das unrühmliche, aber doch weitgehend kampflos akzeptierte Ende erinnert werden. Was half besser gegen das NichtErinnern, als kühne Forderungen an die neuen Herren zu stellen, zunächst an die Adresse der Alliierten und wenig später an die der CDU unter Führung von Adenauer. Der neue Kanzler hatte es also mit einer Art nachgereichtem Widerstand zu tun, den er nicht gegen sich und seine Politik mobilisiert sehen wollte. Adenauer nahm diese neue Macht erkennbar ernster als seinen parlamentari186
schen Widersacher Schumacher, der zwar die eigenen Anhänger emotionalisierte, aber das übrige Land – die Bürgerlichen, die Katholiken, den entstehenden Mittelstand – mit seinen rhetorischen Schroffheiten erschreckte. Die Einheitsgewerkschaft – mitgliederstark, antikapitalistisch, scheinbar monolithisch – war zum Machtfaktor aufgestiegen. Sie verhandelte im Auftrag ihrer Mitglieder um eine Erhöhung der Essensrationen, die zunächst mit 1200 Kalorien pro Mann kärglich ausgefallen waren. Sie pochte mit Erfolg auf eine Begrenzung der Demontage. Statt der 1946 vorgesehenen 1800 Betriebe blieben schließlich nur noch 682 auf der Liste. Hans Böckler selbst war kein Ideologe, aber auf mehr Mitbestimmung pochte auch er. Die Gewerkschaften müssten in den Betrieben neben den Fabrikanten und ihren Geschäftsführern gleichberechtigt vertreten sein, meinte er: »Also der Gedanke ist der: Vertretung in den Vorständen und Aufsichtsräten der Gesellschaften«, so Böckler im Jahre 1946. Er und sein Funktionärskörper waren für dieses Ziel auch bereit, die Grenze zwischen Arbeitskampf und Wahlkampf verschwimmen zu lassen. Ihnen gegenüber stand der CDU-Patriarch Adenauer, Böckler und der Alte kannten sich aus gemeinsamen Vorkriegstagen in der Kölner Stadtverordnetenversammlung. Angesichts der Frage »Kooperation oder Konfrontation?« entschied sich Adenauer für eine Politik, die den Ausgleich suchte. Wie einen Keil schob er seine Politik zwischen SPD und DGB. Die Einheitsgewerkschaft löste sich geschmeidig von den Genossen – und profitierte davon: Die Mitgliederzahlen legten in der Ära Adenauer um eine Million zu. Die SPD dagegen verlor zwischen 1947 und 1954 rund ein Drittel ihrer Mitglieder. Der Parteienforscher Franz Walter: »Den Sozialdemokraten mangelte es an Vitalität, an Phantasie, ja an Lust auf 187
Politik, auf bundespolitischer Ebene stand die Partei isoliert da, ohne jeden Mitstreiter.« Der DGB dagegen buchte weitere Erfolge auf das schon randvolle Konto. Adenauer führte die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ein, hob mit der »Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung« den Vorläufer der späteren »Bundesanstalt für Arbeit« aus der Taufe, in deren Gremien die Arbeitnehmer Sitz und Stimme erhielten. Und: Er half entscheidend mit, die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie, die früh von den Briten eingeführt worden war, vom Besatzungsrecht in das Gesetzblatt der Bundesrepublik zu retten. Gegen erheblichen Widerstand der eigenen Fraktion und der FDP machte er sich für dieses Ansinnen stark, warb in einer Vielzahl von Gesprächen auch bei seinen Freunden in der Großindustrie dafür. Seinen Wirtschaftsminister, einen erklärten Gegner der gewerkschaftlichen Gegenmacht, machte er mundtot. Er forderte ihn im Dezember 1949 auf, »zu Fragen des Mitbestimmungsrechts der Arbeitnehmer öffentlich keine Stellung zu nehmen«. Ein Gesetzentwurf aus dem Hause Erhard, der die Abschaffung der Montanbestimmung vorsah, musste zurückgezogen werden. Im April 1951 wurde das neue Mitbestimmungsgesetz schließlich verabschiedet, damit war die Gültigkeit der von den Briten eingeführten Spielregeln nicht nur bestätigt, sondern ausgeweitet: Neben den Konzernen der Stahl- und Eisenverarbeitung bekamen auch die Kohleproduzenten paritätisch besetzte Aufsichtsräte. Adenauer teilte den Kritikern im konservativen Lager lapidar mit, dies sei aus »Gründen der höheren Politik« unumgänglich gewesen. Die Gewerkschaften bedankten sich artig. Sie unterstützten seine Politik der Wiederbewaffnung. Selbst in 188
ihrem zentralen Geschäftsfeld, der Lohnpolitik, fielen sie durch Zurückhaltung auf. Wer immer heute mit dem Finger auf die DGB-Gewerkschaften zeigt, sie für den Niedergang des Landes mitverantwortlich machen will, kann zumindest die frühen Jahre der Republik nicht als Beleg anführen. Die Arbeitnehmer predigten den Klassenkampf und waren am Ende schon zufrieden, wenn sie im Aufsichtsrat saßen. Weit und breit waren keine Revolutionäre in Sicht, nur Funktionäre. Karl Marx hatte sich das Proletariat im fortgeschrittenen Kapitalismus wahrlich robuster vorgestellt. Die Einkommen aus unselbstständiger Arbeit verdoppelten sich zwischen 1950 und 1960, die aus Unternehmertätigkeit dagegen verdreifachten sich. Die Lohnquote, also der Anteil der Bruttolöhne und -gehälter am Volkseinkommen, stieg nominal von 58,4 Prozent im Jahr 1950 auf knapp 65 Prozent im Jahr 1965. Berücksichtigt man allerdings, dass immer mehr Arbeiter in den Produktionsprozess stürmten und schaut nun ein zweites Mal auf die bereinigte Lohnquote, so fällt auf: sie sank von 58,2 Prozent im Jahr 1950 auf 54,8 Prozent im Jahr 1965. Es kann heute nicht der geringste Zweifel bestehen: Die Tarifautonomie mit ihren Flächentarifen wurde verantwortlich gehandhabt, es war das entstanden, was Adenauer erhofft und mancher auf der Linken befürchtet hatte: echte Sozialpartnerschaft. Die großen Fehlsteuerungen passierten anderswo – in der Welt der Politik. Adenauers Draht zu Erhard war unterdessen erkaltet, richtig geglüht hatte er noch nie. Die Darstellung von Kanzler und Wirtschaftsminister als gemeinsam handelndem Erfolgsduo ist eine Erfindung der damaligen Wahlkampfstrategen, die später keiner mehr zerstören wollte. In Wahrheit konnten Naturell, Grundüberzeugung und Alltagspolitik der beiden kaum unterschiedlicher sein. 189
Adenauer wollte die sozialstaatliche Expansion, Erhard lehnte sie ab, Adenauer kämpfte für Subventionen aller Art, Erhard stritt für seine Ordnungspolitik, der Alte arrangierte sich mit allen Lobbyverbänden, solange sie ihm nur groß und mächtig genug schienen, derweil der »Dicke«, wie Erhard damals genannt wurde, ihren Einfluss durch Nichtbeachtung zurückdrängen wollte. Adenauer-Biograf Henning Köhler ist überzeugt, dass der erste Kanzler der Republik »die Marktwirtschaft innerlich nie wirklich akzeptiert hatte«. Vornehmlich in Briefform teilte der Kanzler seinem wichtigsten Minister mit, was ihn störte. Er sei »deprimiert« über dessen mangelnde Kontakte zur Bankenwelt, vielleicht reise der Minister zu viel, in jedem Falle, so meinte Adenauer, kümmere sich Erhard zu wenig um sein Ministerium, rede einer allzu marktgläubigen Politik das Wort, so dass der Kanzler seinen Wirtschaftsminister zuweilen dazu zwang, öffentliche Ausführungen vorab schriftlich in der Regierungszentrale einzureichen, »möglichst bald, spätestens bis 13 Uhr«, heißt es in einer Adenauer-Note vom 21. März 1956. Erhard akzeptierte die erniedrigende Behandlung, bis er schließlich in einem Brief vom 11. April 1956 ebenfalls schwere Vorwürfe erhob, vor allem den, dass Adenauer von Wirtschaft nicht viel verstehe: »Ich habe es oft als bitter, ungerecht und kränkend empfunden, wenn Sie in Kabinettssitzungen oder bei anderer Gelegenheit die von mir vertretene Wirtschaftspolitik herabzuwürdigen oder doch hinsichtlich ihrer Konsequenzen in Zweifel zu ziehen suchten. Selbst wenn ich dabei in Rechnung stelle, dass Sie nicht als Sachverständiger zu urteilen vermögen und deshalb Ihre Kritik nur im Gefühlsmäßigen wurzelt, bleibt davon doch der bittere Nachgeschmack, dass Sie gerade die Arbeit jenes Ministers in Zweifel ziehen, der Ihnen 190
wohl mehr als jeder andere in sechs Jahren treuer, menschlicher Verbundenheit den Boden für Ihre Regierungspolitik bereitet hat.« Adenauer wertete den mitleidheischenden Ton zu Recht als Zeichen politischer Schwäche. Er war ein Politiker der verschlagenen Art, der Schlitzohrigkeit und politische Tollkühnheit mehr schätzte als Expertenrat. Er beriet sich mal mit den Spitzen der Deutschen Bank, einigen Privatbankiers und dem Boss des BDI, zitierte im Kabinett aber ebenso gern und ausgiebig die Aussagen des Rhöndorfer Bäckermeisters Profittlich und scheute sich nicht, mit den Erlebnissen beim Spargeleinkauf zu reüssieren, was Spiegel-Gründer Rudolf Augstein damals als die »Einwände eines Klippschülers« charakterisierte. Hinzu kam, dass weder der Privatmann noch der Politiker Adenauer zu Geld eine Beziehung besaß, zumindest keine, die das Attribut »sparsam« oder »verantwortungsbewusst« verdient hätte. Im Gegenteil, er war ein ausgesprochener Hallodri, was bei seinem asketischen Äußeren und dem würdigen Stil seines Auftritts niemand vermutet hätte. In seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister sorgte seine hemmungslose Schuldenpolitik für reichsweites Aufsehen. Um seine ehrgeizige Stadtpolitik, die mit der Neugründung der Universität, der Schaffung eines Grüngürtels rund um die Stadt und der Ansiedlung der FordWerke von beträchtlicher Strahlkraft war, finanzieren zu können, nahm er großzügig Anleihen auf. Anfang der dreißiger Jahre war die Stadt bis zur Zahlungsunfähigkeit verschuldet. Der Volksmund taufte Adenauer auf den Namen »Schuldenauer«. Der Privatmann Adenauer ging ähnlich zu Werke. Mit geliehenen Millionen spekulierte er an der Börse – und verlor. Adenauer stand 1928 vor dem Ruin. Dass er beim Schwarzen Freitag in New York dennoch halbwegs 191
glimpflich davonkam, verdankte er der Großzügigkeit (und der Verschwiegenheit) der Deutschen Bank, die bereit war, ihn generös zu »entschulden«. In der heutigen Zeit hätte das Finanzgebaren des CDU-Politikers Adenauer, das offizielle wie das private, ausgereicht, ihn im Kampf um das höchste Regierungsamt frühzeitig aus dem Rennen zu werfen. Die einfachen Menschen der Nachkriegszeit aber interessierten sich nicht für den Blick zurück. Adenauer musste keine Enthüllungen fürchten. Und wenn schon: Was waren kommunale Schuldenpolitik und private Börsenspekulation gegen jenes Unheil, das die anderen angerichtet hatten? In Sachen Hitler, und darauf kam es damals an, hatte er sich nichts vorzuwerfen. Als der »Führer« im Februar 1933 die Stadt Köln besuchte, verbot Oberbürgermeister Adenauer die Beflaggung mit der Hakenkreuzfahne und lehnte es ab, Hitler zu empfangen. Wenig später verlor er sein Amt. Das Antiautoritäre blieb, wie die Alliierten bald zu spüren bekamen. Das prinzipienlose Finanzgebaren allerdings auch: Kaum im Kanzleramt angekommen, schritt der Regierungschef Adenauer ähnlich großzügig, fast möchte man sagen ungeniert, zur Tat wie vor ihm der Kommunalpolitiker Adenauer. Nur war die Kasse mittlerweile praller gefüllt und die Reichweite der Fehlentscheidungen gewachsen. Im Vordergrund seiner Sozialpolitik standen zunächst die Opfer des Krieges, wogegen nichts zu sagen war. Aus Steuergeldern zahlte der Staat Hilfsgelder an die Hinterbliebenen des Weltkrieges, an Witwen und Waisen, an Kriegsbeschädigte und die Angehörigen jener Soldaten, die sich in Kriegsgefangenschaft befanden und somit zum Unterhalt ihrer Familien nichts beitragen konnten. Mit dem Bundesversorgungsgesetz von 1950 wurden diese 192
eher kärglichen Zuschüsse zum Lebensunterhalt auf ein umfangreiches Hilfssystem umgestellt, das den Kreis der Begünstigten ständig ausweitete und so die Höhe der Auszahlungen enorm steigerte. Seit 1960 konnten alle, die durch Kriegsbeschädigung Einkommenseinbußen hinnehmen mussten, im Zuge eines »Berufsschadensausgleichs« staatliche Mittel beantragen. Der Ausgleich zwischen Unversehrten und Kriegsopfern war zunächst das Ziel, das später zu Gunsten immer neuer Opferkreise erweitert wurde, bis schließlich auch Bundeswehrsoldaten, politische Gefangene in der DDR und Impfopfer die staatliche Zuwendung erhielten. Für die Millionen von Kriegsflüchtlingen kam 1952 das Lastenausgleichsgesetz hinzu. Anspruchsberechtigt war, wer durch Vertreibung, Zerstörung oder die Währungsreform Vermögenseinbußen erlitten hatte, später wurden auch hier die Flüchtlinge und politischen Gefangenen der DDR einbezogen. Bis Mitte der siebziger Jahre flossen knapp 100 Milliarden Mark aus dieser Kasse, das 30-fache der Marshallplan-Gelder für Deutschland. Adenauers Sozialstaat, so Gabriele Metzler von der Universität Tübingen, stand »im Zeichen von Entschädigung, Wiedergutmachung und Wiederaufbau – und zugleich im Zeichen der Expansion«.
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Verrechnet. Die neue Rentenformel Das alles wäre hier keine Erwähnung wert, wäre es nicht die Ouvertüre für das gewesen, was Adenauer dem Publikum in seiner Spätphase bot. Das wirkliche Herzstück seiner Sozialpolitik, mit der er sich in die Chronik des Abstiegs eintrug, war die Rentenpolitik. Vage hatte er bereits in der Regierungserklärung 1953 eine »große Sozialreform« angekündigt. Er wollte sie zur innenpolitischen Grundlegung des neuen Staates nutzen, nachdem die Weichen in der Außenpolitik weitgehend gestellt schienen. Die Lage der Rentner war alles andere als rosig. Sie hatten vom Wirtschaftswunder bisher kaum profitiert. Zwei Superinflationen ließen die Ersparnisse der Rentenversicherung rapide abschmelzen, viele Immobilien waren dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen. Der Tresorraum der Bismarckschen Rentenversicherung war nicht leer, aber doch nur spärlich bestückt. Der Staat musste mit Zuschüssen einspringen, wollte er seine Rentner nicht verelenden lassen. Heute, nach Jahrzehnten der Prosperität, würden die Deutschen von der kapitalgedeckten Rente alten Typs reichlich profitieren. Damals aber war das Vertrauen in diese Form der Vorsorge zerstört. Adenauer musste handeln, auch wenn er zunächst nicht wusste wie. Es war schließlich Sohn Paul, der dem Alten auf die Sprünge half. Er schickte im Sommer 1955 dem Vater an seinen Schweizer Urlaubsort Murren eine kleine Broschüre, die der Nationalökonom und Geschäftsführer der katholischen Unternehmer, ein bis dahin unbekannter Professor Wilfried Schreiber, verfasst hatte. In ihr ging es um 194
den »Solidarvertrag zwischen jeweils 2 Generationen«. Ein verlockender Gedanke lag dem Konzept zugrunde: Die Wirtschaft florierte, die Arbeitseinkommen stiegen in großen Sprüngen und eine Koppelung der Renten an die Arbeitseinkommen musste zwangsläufig zu einem deutlichen Anstieg auch der Altersruhegelder führen. Mit einem Rentenbeitrag, der allen Arbeitnehmern und den Selbstständigen vom Einkommen abgezogen würde, ließen sich die erforderlichen Milliarden schnell und unbürokratisch aufbringen. Statt langer Ansparzeiten mit unwägbarem Ausgang wären die Rentner mit einem großen politischen Schub in der Wirtschaftswunderwelt angekommen. Vorteil Nummer zwei war ebenfalls nicht zu unterschätzen: Auch die jetzigen Arbeiter und Angestellten brauchten sich nicht länger zu sorgen, ihr gerade begonnener ökonomischer Wiederaufstieg wurde mit einem politischen Federstrich in den Lebensabend hinein verlängert. Adenauer erkannte den politischen Reiz des Konzeptes, das ihn erneut ins Kanzleramt katapultieren sollte: »Für mich ist die Sozialreform das innenpolitische Thema Nummer eins«, so ein euphorischer Kanzler nach Lektüre der Schrift. Von den Bedenken, die ihm nun massiv vorgetragen wurden, von Ludwig Erhard, Wilhelm Röpke, den Bankiers, der Versicherungswirtschaft und großen Teilen der eigenen Fraktion, ließ er sich nicht beirren. Professor Schreiber wurde von Adenauer in das so genannte Sozialkabinett geladen, ein Regierungsausschuss, dem auch Wirtschaftsminister und Finanzminister angehörten. Hier sollte er für den Systemwechsel werben, was er nach Kräften tat: Sein Modell »bedeute nichts anderes, als dass die selbstverständliche Solidarität der Lebensalter, die sich in der wirtschaftlich viel einfacher strukturierten vorindustriellen Zeit mühelos in der Großfamilie vollzog, auf die größere Solidargemeinschaft der Sozialversicherten 195
übertragen wird«. Adenauer machte sich die Überlegungen des Mannes zu eigen. Das Niveau der Renten sei nicht akzeptabel, sagte er in den nun folgenden Monaten immer wieder: »Das ist doch menschenunwürdig.« Es sei sein politisches Ziel, dass die Rentner »ein anständiges Leben führen können und nicht als Bettler herumlaufen müssen«. Auch sein mit der Durchführung des Projekts beauftragter Arbeitsminister, Anton Storch aus Fulda, war angetan von der Aussicht, eine Jahrhundertreform ins Werk setzen zu können. Den damals schon geäußerten Zweifel an der Stabilität des Beitragssatzes ließ er nicht gelten: »Wir haben ja nun die Vollbeschäftigung erreicht«, sagte er im Bundestag. Der Jahrhundert-Irrtum, der nun folgte, war von Adenauer wenn nicht einkalkuliert, so doch in Kauf genommen worden. Das Konzept des Ökonomen Schreibers wurde von ihm nur zur (wählerwirksamen) Hälfte umgesetzt, den anderen, ihm zu kompliziert anmutenden Teil hat er kurzerhand amputiert. Alle Erwerbstätigen, so der Ursprungsplan, sollten in das neue System einzahlen, also auch Freiberufler und Selbstständige aller Art, wie Apotheker, Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Die finanzielle Basis wäre damit spürbar verbreitert worden. Doch die Regierung entschied anders: Der Großteil der Gutverdiener durfte weiter in die (kapitalgedeckte) Privatversicherung einzahlen. Nur die lohnabhängig Beschäftigten wurden zu Beitragszahlern und -empfängern. Der wirtschaftlich leistungsstärkste Personenkreis blieb außen vor. Für Schreiber stand im Zentrum ein Drei-GenerationenModell, das Kinder, Eltern und Großeltern einbezog. Der Schreiber-Plan sah eine Rentenkasse und eine separat geführte Kinderkasse vor, so dass beide Generationen, die 196
nicht zur Wertschöpfung beitrugen, die Rentner und die Kinder, kollektiv abgesichert waren. Der berufstätige Familienvater zahlte für den Opa und kassierte für das Kind. Der Alleinstehende zahlte für beide. Schreiber ging davon aus, dass Kinder zwingend Teil des Generationenvertrages sein müssten; der Staat dürfe aus systematischen Gründen nicht das eine Risiko (Altwerden) kollektiv absichern und das andere (Kinderkriegen) zur Privatsache erklären. Beide seien »gleichzeitig« und »gleichrangig« zu berücksichtigen, wollte man die ohnehin absehbaren Schwierigkeiten einer schrumpfenden Bevölkerung nicht noch befördern. Der mittlerweile 81-jährige Adenauer entschied anders und zwar einseitig zugunsten seiner Generation, die sich damals komplett im Ruhestand befand. Der Vorteil für die Alten war klar: So konnte der gesamte Rentenbeitrag, der fortan von den Beschäftigten erhoben wurde, ungeschmälert den sieben Millionen Rentnern des Jahres 1957 zugute kommen – wenige Monate vor den Wahlen wurde ihnen ein Milliardensegen annonciert. Insgesamt verdoppelten sich die Renten nahezu – im ersten Jahr des neuen Systems von acht Milliarden auf fast vierzehn Milliarden Mark. Schreiber wies früh auf die ungeheure Wucht der demografischen Probleme hin, die bereits absehbar waren. Der Hundertjahresvergleich fiel schon damals beunruhigend aus: Im Geburtsjahrgang 1856 bekam eine Frau durchschnittlich noch fünf Kinder, im Jahr der Adenauerschen Reformdebatte waren es im Durchschnitt nur noch 2,2 Kinder. Deshalb wollte Schreiber den Rentenanstieg nicht nur mit dem prozentualen Lohnanstieg, sondern mit dem absoluten Anstieg der Lohnsumme koppeln. Dies hätte – angesichts sinkender Geburtenzahlen, denen unweigerlich sinkende Beschäftigtenzahlen und damit eine geschrumpfte Lohnsumme folgen mussten – früher oder 197
später zur Absenkung der Renten geführt. Das Gesamtsystem aber wäre im Lot geblieben, mehr Kinder hätten automatisch mehr Rente bedeutet, weniger Kinder zur Reduzierung geführt. Doch Adenauer wollte mit einer »bruttolohnbezogenen dynamischen Rente« in den Wahlkampf ziehen. Jeder Nachhaltigkeitsfaktor, wie er später unter dem Druck eines überforderten Rentensystems halbherzig eingeführt wurde, schien ihm zu kompliziert. Er wollte die Rentnergeneration schließlich kaufen, nicht verunsichern. »Kinder kriegen die Leute immer«, erwiderte er den Kritikern in den eigenen Reihen. Allen Experten war klar, dass eine Radikalumstellung von der (kapitalgedeckten) Sparrente auf die (umlagefinanzierte) Lohnrente durch die bisher keineswegs nur negativen Erfahrungen und angesichts der Sondersituation des Krieges nicht gerechtfertigt war. Schreiber, Röpke und Erhard sprachen sich daher gegen eine »Vollrente« und für eine »Grundrente« aus, die als Umlage finanziert bei keinem Beschäftigten mehr als die Hälfte des letzten Nettolohns betragen sollte. Nur in dieser eher sparsamen Variante bliebe den Privathaushalten genug finanzieller Spielraum, sich privat abzusichern. Die staatliche Lohnrente müsste, so empfahl es Schreiber, durch eine private Sparrente ergänzt werden. Nur dieses Zweisäulen-System würde in den Bürgern die Eigenverantwortlichkeit wach halten und das gesamte System der Alterssicherung schwankungsfreier gestalten. In einem solchen Mischsystem könnte man eben von beidem profitieren: von den Kindern und vom verzinsten Kapital. Adenauer lehnte ab und setzte die Vollrente durch, die einem Altersgeld in Höhe von 75 Prozent des letzten Nettolohns entsprach. Der Beitragssatz, der vom Start weg bei 14 Prozent des Lohns lag und auf heute 20 Prozent gestiegen ist, wo er mit milliardenschweren Staatszuschüssen künstlich 198
gehalten wird, ließ von Anfang an kaum Spielraum für die Privatvorsorge. Die Sozialversicherung diente nun als Eigentumsersatz. Hätte die Rentenformel beides enthalten, Kinderprämie und Lebenslohn, sie hätte funktionieren können. So aber verteilt sie Ansprüche, die sie nicht erfüllen kann, weil die Rentenbezieher sie zuvor auch nicht erfüllt haben: Sie lieferten zunächst noch ausreichend Lohn, aber keine ausreichende Kinderzahl, wodurch sich wiederum die Lohnsumme über die Jahre derart verkleinerte, dass die Renten der vielen durch die Einzahlungen der wenigen nicht gedeckt waren. So gerät die lohnbezogene Rente automatisch aus dem Lot, wenn die andere wichtige Einflussgröße unberücksichtigt bleibt. Der Adenauerschen Rentenformel fehlt die »dritte Dimension«, meinte Biedenkopf. Diese Erkenntnis ist mittlerweile unter Fachleuten unbestritten. Bereits 1980/81 sagte der Sachverständigenrat auch öffentlich, dass »wohl gar nichts anderes in Betracht kommen wird als sowohl eine Erhöhung der Abgabenlast wie auch eine Einschränkung der Leistungsansprüche, und zwar beides in massiver Form«. Der im August 1991 verstorbene Volkswirt und Jesuitenpater Professor Oswald von Nell-Breuning, ein namhafter Vertreter der katholischen Soziallehre und Mitverfechter der damaligen Rentenreform, ist der einzige Akteur, der später den Jahrhundert-Irrtum einräumte. Er forderte die Politiker zum Abschied vom Erbe der Ära Adenauer auf. Die politische Führung sollte endlich vor das Volk treten und die Wahrheit aussprechen: »Liebe Leute, was wir euch da erzählt haben von der bruttolohnbezogenen Rente ist Unsinn. Wir haben den Unsinn selber geglaubt. Wir haben den Strukturwandel im Altersaufbau der Bevölkerung nicht vorausgesehen, und wir haben seine Bedeutung völlig verkannt. Aber wir Politiker sind nur 199
Menschen und Menschen können sich irren.« Doch die Volksparteien zögern bis heute. Denn der Jahrhundert-Fehler war einer, der sich für den, der ihn begangen hatte, doppelt und dreifach auszahlte, was Politikern aller Lager sehr imponiert. Am Ende von Adenauers Amtszeit waren die Gewerkschaften dank des Sozialstaatswunders domestiziert. Der Triumph des Alten war auch der Triumph des Parteienstaates. »Dies heißt nicht, dass andere gesellschaftliche Gruppen keine Macht hätten, aber sie müssen ihre Macht innerhalb des Parteienstaates zur Wirkung bringen«, urteilte der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer: »Alle Macht ist durch Parteien vermittelt.« Unvergessen ist bis heute vor allem der Wahlausgang vom 15. September 1957. Adenauer, der sich so erfolgreich für die Alten geschlagen hatte, fuhr den größten Wahlsieg der CDU-Geschichte ein, holte die absolute Mehrheit. Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach registrierte eine Euphorie im Wahlvolk wie nie mehr danach: »Bisher ist kein Beispiel dafür bekannt, dass irgendein Gesetz, eine Institution oder sogar Verfassung und Symbole des Staates eine auch nur annähernd so positive Resonanz gehabt haben wie die Rentenreform.« Bis heute hält sich in Politikerkreisen die Magie des Adenauererfolgs. Der falsch konstruierte »Generationenvertrag« wurde zum Heiligtum erklärt, das nicht berührt werden darf: »Schon die sich aufdrängenden Fragen«, so Biedenkopfs Erfahrung, »werden bekämpft.«
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KAPITEL 5 GEISTERSTUNDE
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Willy wählen! Entspannt in die Krise Die großen Erfolge der SPD-Kanzler Brandt und Schmidt sind bekannt. Der eine war Außenpolitiker von historischem Format, der den Deutschen passgenau zur Westintegration die Ostaussöhnung nachlieferte. Der andere brannte sich als Tatmensch und Ökonom ins Gedächtnis ein, als Mann mit viel Verstand und wenig Humor. Beide sind vor Ablauf der Wahlperiode aus dem Amt geschieden, der eine durch Rücktritt, der andere wurde vom Parlament abgewählt. Beide sprachen hinterher von Verrat, halblaut murmelnd der eine, dem die eigenen Leute eine Agentenaffäre ans Bein banden; lautstark der andere, den der Partner FDP über Nacht verlassen hatte, zwei Jahre nach siegreich beendetem Koalitionswahlkampf. Beide zählten zu den ersten politischen Opfern des deutschen Abstiegs. Sie waren in die Globalisierungsfalle getappt, zumindest der Erste von beiden, Brandt, ohne es zu merken, vielleicht sogar ohne es merken zu können. Die Funktionsstörungen im Innern der Volkswirtschaft, die bei Brandt eher schemenhaft, in der Amtszeit von Schmidt bereits deutlicher zu erkennen waren, behandelten sie mit den damals gebräuchlichen Hausrezepten, also einem milliardenschweren Investitionsprogramm plus einiger Sozialkürzungen, was vor allem die Staatsschuld in die Höhe trieb. Dem Kanzler Brandt fehlte für einen Kurswechsel am Ende die Kraft. Schmidt war vital genug, ihm mangelte es an innerparteilicher Gefolgschaft. Das Ergebnis war dasselbe. Die beiden SPD-Kanzler hinterließen ein Deutschland, in dem sich das Wort Krise 202
eingenistet hatte. Die Geschichte dieses doppelten Scheiterns lässt sich an verschiedenen Orten der Erde beginnen, in den Hinterzimmern der Hauptstadt Bonn, im Weltfinanzzentrum New York, am besten aber vielleicht irgendwo in Asien. Denn unbemerkt von den Anhängern ihrer Partei und unter Ausschluss nahezu der gesamten deutschen Bevölkerung hatte sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre Großes ereignet. Wieder mal wurde Weltwirtschaftsgeschichte geschrieben, nur anderswo. Ein Kontinent, den man mit Ausnahme Japans zur Dritten Welt zählte, den man sich angewöhnt hatte, mit Sorge und Mitleid zu betrachteten, zeigte erstmals seine Muskeln. Die Asiaten waren hungrig nach Arbeit, Wohlstand, Aufstieg, ihre Volkswirtschaften hatten 1970 gerade in einem ersten eruptiven Schub den Warenausstoß enorm erhöht. Auch Japan, das bis dahin schon erfolgreich, aber doch merkwürdig abgeschottet vor sich hin gewirtschaftet hatte, machte seit Anfang der siebziger Jahre als gut geschmierte Exportmaschine auf sich aufmerksam. Die Beschäftigten, von denen bis 1950 noch jeder Zweite in der Landwirtschaft arbeitete, produzierten nun in ihrer Mehrzahl für den Weltmarkt. Wurden 1970 bereits 23 Prozent aller japanischen Autos exportiert, waren es zehn Jahre später knapp 60 Prozent. In den USA stieg der Marktanteil von Toyota und anderen japanischen Autofirmen von 4 Prozent (1970) auf knapp 30 Prozent, innerhalb nur eines Jahrzehnts. Wall Street half den asiatischen Angreifern mit immer neuen Kapitalspritzen auf die Beine. Ohne das weltweite Anlagekapital, das sich in New York jeden Tag aufs Neue versammelt, um von dort in kleinen oder größeren Dosen in die entlegensten Winkel der Welt gespritzt zu werden, wäre der Kraftakt nicht zu schaffen gewesen. Erst das 203
plötzliche Aufeinandertreffen von motivierten Arbeitskräften und frischem Kapital, wir wissen das aus der eigenen deutschen Nachkriegserfahrung, sorgte für jene Wachstumsraten, die man später als »asiatisches Wunder« empfand. In Deutschland sollte es noch ein Jahrzehnt dauern, bis das Wort »Globalisierung« Einzug in den Sprachgebrauch hielt. Und noch ein weiteres Jahrzehnt würde ins Land gehen, bis Helmut Schmidt, im Gespräch mit Pulitzerpreisträger Daniel Yergin, zugeben konnte, die Wucht der Ereignisse seinerzeit unterschätzt zu haben: »Ich sah nicht die großen Veränderungen. Ich glaubte nicht so recht an den Erfolg Japans oder der Tigerstaaten.« Beide große Parteien lebten Anfang der siebziger Jahre im Stande der Unwissenheit. Sie sahen und sie spürten nicht, dass die Welt weit außerhalb des eigenen Landes sich nach anderen Gesetzen zu entwickeln begann, die bald auch zu Hause die Regeln verändern würden. Die traditionellen Handelsströme, die jahrhundertealte Form des Warenaustausches zwischen Ländern und Kontinenten, für die man früher die Maultiere auf der Seidenstraße und später dann das Containerschiff auf dem Atlantik nutzte, hatten Konkurrenz bekommen. Nicht mehr nur fertige Produkte wie Kühlschränke, Autos, Gewürze und Teppiche wurden um die Welt geschickt, das Kapital selber machte sich auf den Weg. Die neuen Informationstechnologien lieferten die Transportsysteme, um den Austausch von Kapital und Wissen zu beschleunigen. Der Wohlstand des Westens, der in Lebensversicherungen, Aktienpaketen und Pensionsfonds zwischengelagert wird, bildet den Grundstock jenes Kapitals, das in der Erwartung hoher Verzinsung nun weltweit verschickt wird. Dieses vagabundierende Kapital sollte die Spielregeln des globalen Kapitalismus nach204
haltig verändern. Heute wissen wir: Die Globalisierung entzieht dem industriellen Kern der entwickelten Länder einen Teil des bisher dort investierten Kapitals, weil die Kapitalrentabilität andernorts höher ist. Der Wettbewerb der Waren findet seine Fortsetzung in einem Wettbewerb der Investitionsstandorte. Globalisierung beschleunigt damit den Strukturwandel in den alten Industrieländern. Die traditionellen Industrien – Stahl, Textil, Werften – sterben ab, ziehen um oder verkleinern sich. Im günstigsten Fall wird die Entwicklung einer modernen Dienstleistungsgesellschaft beschleunigt. Die Globalisierung bringt Menschen unterschiedlicher Kontinente in Wettbewerb zueinander. Vor allem einfache Tätigkeiten geraten unter Kostendruck, derweil viele hochqualifizierte Jobs davon unberührt bleiben. Die Globalisierung spaltet den Arbeitsmarkt. Dem Sozialstaat, der bisher von neuen Jobs mit neuen Sozialabgaben lebte, wird so der Nachschub entzogen. Während seine Einnahmen sinken, steigen mit der Arbeitslosigkeit seine Ausgaben. Die Globalisierung trocknet den Wohlfahrtsstaat alter Prägung aus. Politisch führt sie zumindest zur Ernüchterung, denn die Staatsmänner schrumpfen auf Normalmaß zurück. Sie machen sich untereinander Konkurrenz, was Milliarden von Steuergeldern verschlingt. Sie verbessern die Angebotsbedingungen für die Unternehmer, was sie die Sympathie der kleinen Leute kostet. Jeder spürt heute: Die Globalisierung bedeutet auch Souveränitätsverluste. Genau diese epochale Umwälzung nahm damals ihren Anfang. Der Dollarverfall des Jahres 1971, der für das 1944 im US-Kurort Bretton Woods verabredete System stabiler Währungen das Aus bedeutete, war der Start205
schuss. Die Kapitalströme, bislang staatlich kontrolliert, flossen nun frei. Der weltweite Devisenhandel im Jahr 1973 umfasste ein tägliches Volumen zwischen 10 und 20 Milliarden Dollar, 1986 waren es schon 200 Milliarden Dollar, 1995 bereits l,3 Billionen Dollar pro Tag. Helmut Schmidt sprach nun von einer »Globalisierung des Spekulationismus«. Die Geburtsstunde der Globalisierung wurde in Deutschland regelrecht verschlafen. In dem wohligen Glauben, die eigene Souveränität gerade wiedergewonnen zu haben – die Verleihung des Friedensnobelpreises am 20. Oktober 1971 an Brandt war für viele der eigentliche Tag der Befreiung –, wandte sich das Land von der Weltwirtschaft ab. Es geschah ausgerechnet das, was im Angesicht der bevorstehenden Gefahr besser unterblieben wäre: Deutsche Politiker setzten auf das bewährte Erfolgsrezept, um Wahlen zu gewinnen. Der traditionelle, über Aufschläge zum Arbeitslohn finanzierte Sozialstaat wurde ausgebaut, die einfache Arbeit damit verteuert, die alten, nun kriselnden Industrien subventioniert. Den großen Erfolgen des Außenpolitikers Brandt, der sich sensibel nach vorn tastete, mit dem Osten den Ausgleich suchte, ohne dabei den Westen zu verlieren, der bei seinem Amtsverzicht ein ausbalanciertes, friedfertiges Deutschland hinterließ, steht in der Wirtschafts-, Finanzund Sozialpolitik nichts Vergleichbares gegenüber. Nahezu die gesamte Politik dieser Jahre muss heute rückabgewickelt werden, unter enormen Entzugsschmerzen. Es war die Zeit zwischen den Zeiten, der Wiederaufbau galt als erfolgreich abgeschlossen, die krisenhafte Zukunft hatte sich für die Mehrzahl der Deutschen noch nicht zu erkennen gegeben. Nur kurzfristig sorgte die kleine konjunkturelle Delle des Jahres 1966 für Aufregung. Doch 206
Karl Schiller und Franz Josef Strauß, der eine als Wirtschafts-, der andere als Finanzminister der Großen Koalition, steuerten die Volkswirtschaft mit Bravour darüber hinweg. Man konnte sich wieder den Annehmlichkeiten des neuen Wohlstandes zuwenden: Die Fresswelle wurde gerade durch die Reisewelle überrollt, der bald eine Fitnesswelle folgen sollte. Deutschland entspannte sich, nicht nur gegenüber dem Ostblock. Der Wohlstand schien gesichert, warum sollte man nicht befreit über das reden, was im Innern noch fehlte. Nun endlich war Raum und Zeit für große politische Debatten, die heute wirr erscheinen und damals, nach den geistig bleiernen Adenauerjahren, belebend wirkten. Es gab nichts, was auf deutschem Boden nicht gefordert wurde: freier Sex und Sozialismus, freie Fahrt und Revolution. Zwei große politische Strömungen rangen miteinander und beide hatten nicht im Sinn, den Wohlstandsausstoß zu erhöhen, das Wachstum zu beschleunigen. Nennen wir die beiden Strömungen der Einfachheit halber die guten und die bösen Geister. Die guten Geister lebten im Hochgefühl des geglückten Wiederaufbaus. Sie wollten, da die Wirtschaftsmaschine nun wieder hochtourig lief, sich dem weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates widmen. Dieses Lager war stark in der SPD und den Gewerkschaften, nicht minder freilich im Rest der Bevölkerung. Ganz Deutschland schwelgte zu Beginn der siebziger Jahre in einer Wohlstandsillusion, die sich selbst durch Ölpreisschock und Währungsturbulenz nicht auf die Schnelle vertreiben ließ. Für die guten Geister waren die späten Sechziger und die frühen Siebziger die vielleicht unbeschwertesten Jahre ihres Lebens, visionär, frech, naiv, enthemmt, eben auch im Umgang mit der Staatskasse. Die bösen Geister schauten verächtlich auf die guten Geister, die sie nach Herzenslust als Spießer oder Sozial207
demokraten beschimpften, wobei unklar blieb, welche Beschimpfung schwerer wog. Sie nannten sich »die 68er« und verstanden ihresgleichen als die wahren Träger der neuen Zeit, sie wollten nicht nur den Wohlstand anders verteilen, gerechter, wie sie glaubten. Sie wollten auch die Hausordnung des Landes revidieren. Ob es sich um die »unruhige Suchbewegung« einer Generation handelte, wie Michael Rutschky meinte, oder doch nur um Eva Demskis »längste Kindheit der Geschichte«, muss uns hier nicht interessieren. Fest steht, dass die bösen Geister das Bürgertum mächtig erschreckten. Was in den Nachkriegsjahren unter Aufsicht der Alliierten nicht gelungen war, nun sollte es erreicht werden: Vergesellschaftung und Verstaatlichung. Oder doch zumindest der Abmarsch in eine gemischte Wirtschaft, die von einer planenden Politik begleitet werden müsste. Den Jungsozialisten, heute unbedeutend, damals die Speerspitze der 68er innerhalb des Parteienspektrums, gelang es, ganze SPD-Ortsvereine unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie beantragten gleich für den ersten Parteitag nach der legendären Willy-Wahl 1972 »die Umwandlung der heutigen SPD in eine konsequent sozialistische Partei«. Die Tante SPD sollte »ihre Rolle als Grenzgängerin kapitalistischer Herrschaft« endlich aufgeben. Der Anti-Kapitalismus war wieder modern. Ausgerechnet in der Stunde ihres großen ökonomischen Erfolges trachtete man der noch jungen Marktwirtschaft schon wieder nach dem Leben. Die Produktivkräfte, die sich so segensreich vor den Augen der Jüngeren entfaltet hatten, war ihnen plötzlich unheimlich geworden. Der Effizienzbegriff der Alten galt als kontaminiert. Der Publizist Gerd Koenen, der »Das rote Jahrzehnt« durchlebt und analysiert hat, erklärt die 68er Unruhen auch als Reflex auf den ökonomischen Erfolg der Eltern208
generation: »Auf die damit eröffneten, nie gekannten Lebensmöglichkeiten und Entwicklungspotenziale reagierte ein Großteil der Jüngeren – ähnlich wie zu Beginn des Jahrhunderts – keineswegs mit frisch-fröhlichem Optimismus, sondern mit apokalyptischen Weltgefühlen und mit dem Impuls, diese übermächtigen Produktivkräfte wieder ›in den Griff‹ zu bekommen.« Viele neue Mitglieder, Akademiker und solche, die es werden wollten, strömten in die Traditionspartei der Arbeiterklasse. Zwischen 1968 und 1972 erhöhte sich die Zahl der Genossen um fast ein Drittel, stieg danach weiter an und hatte 1976 die Millionengrenze überschritten. Die Neuen verlangten nach einer anderen Politik: Gefordert wurden staatliche Koordinierungsgremien für die Investitionen der Wirtschaft, Umverteilung von oben nach unten und eine Sozialpolitik, die präventiv wirken sollte und sich nicht länger als Reparaturbetrieb des Kapitalismus verstand. Dem Kanzler empfahl man, mehr Sozialismus zu wagen. Brandt pendelte zwischen den guten und den bösen Geistern. Er hörte zu und verstand – auch die 68er Rebellen, die in Gestalt seiner Söhne bei ihm am Abendbrottisch saßen. Die normalen Bürger, die von der Umtrieben linker Studenten wenig hielten, durften sich bei ihm nicht minder aufgehoben fühlen. Sie hielten zwar nichts von den Ängsten der Studenten, die von Konsum- und Leistungsterror redeten, aber auch sie wollten nicht noch schneller drehen im Rad der Ökonomie, sehnten sich nach Brückentag und Arbeitszeitverkürzung. Gegen mehr Urlaub, mehr Kündigungsschutz, mehr Arbeitslosengeld und mehr Rechte für den Betriebsrat war nichts einzuwenden. Dafür musste man nicht Sozialist werden. Willy Brandt wirkte beruhigend auf die beiden großen Lager, auf Pragmatiker und Utopisten. Seine Stimme, 209
seine bedächtige Art zu entscheiden, sein Sowohl-alsauch, das er nur unter größtem Zwang zu einer klaren Position komprimierte, vermochten es, Bürgerliche und Rebellen gleichermaßen zu besänftigten. Einer mit seiner Vita – Widerstandskämpfer im norwegischen Exil – konnte unmöglich Teil einer faschistischen Erweckungsbewegung sein, die viele 68er damals vermuteten. Einer wie er – Kennedy-Verehrer und Amerika-Freund – konnte genauso unmöglich Kommunist sein, wovor man sich in bürgerlichen Kreisen gruselte. Virtuos verstand es Brandt, beide Lager zu beglücken. Für die einen hatte er Karl Schiller im Angebot; die anderen konnte er auf Günter Grass verweisen. Für sie wurde im Wahlkampf der Sticker »Willy wählen« verteilt; die anderen bekamen den Anstecker »Bürger für Brandt« überreicht. Und er selbst? Machte bella figura mittendrin. Auf die Frage nach den Fernzielen seiner Kanzlerschaft – »Wird es dann noch freie Unternehmer geben, oder haben wir dann eine sozialistische Wirtschaft?« – antwortete er im stern-Interview: »Wir leben in einer Zeit, in der Sozialismus und Kapitalismus nicht mehr schematisch unterschieden werden können.« Das gefiel den bösen Geistern. Auf die ähnlich gestellte Frage im Spiegel-Gespräch – »Schließen Sie auch langfristig eine Vergesellschaftung aller Produktionsmittel aus?« – trat dann der andere Brandt auf: »Es fällt mir schwer, auf eine so wirre Frage zu antworten.« Nun waren die guten Geister beruhigt. So hielt er die Balance, beide Lager zusammen bescherten ihm den Wahltriumph des Jahres 1972. Die SPD und große Teile der Gewerkschaften fühlten sich endlich eins mit ihrem Land. Es kam nicht der Sozialismus, nur mehr Sozialstaat. Es gab keine Investitionslenkung, nur staatliche Investitionsprogramme. Und immer neue Schulden gab es auch. Betrug die Staatsschuld des Bundes 1966 210
noch knapp 20 Milliarden Mark, war diese Summe 1970 bereits um ein Viertel gestiegen. Am Ende, als die Generation Willy im Mai 1974 abtrat, wurde die Rechnung präsentiert: noch mal ein Plus bei der Staatsverschuldung gegenüber 1970 von mehr als 45 Prozent. So hatte bis dahin noch kein deutscher Kanzler über die Stränge geschlagen. Hätte Brandt die Chance gehabt, sich für eine andere Politik im Innern zu entscheiden? Wohl kaum. Die Gefahr, die wir heute kennen, kannte er nicht. Hätte er, wenn er sie gekannt und richtig eingeschätzt hätte, eine andere Politik gemacht? Wahrscheinlich ist auch das nicht. Sein politischer Spielraum war enger als eng. Die noch junge Republik erlebte ihre Sturm-und-Drang-Zeit, die eine gefühlvolle Antwort erforderte, auch aus politischem Kalkül. Denn die Partei, der er vorstand, hatte sich innerhalb kürzester Zeit reideologisiert. Den Boden der Tatsachen, den die SPD zehn Jahre zuvor auf ihrem Godesberger Parteitag betreten hatte, wollte die Mehrzahl der Mitglieder Ende der sechziger Jahre schon wieder verlassen. Zwei Finanzminister musste Brandt ziehen lassen, darunter den Star des Kabinetts, Wirtschaftsprofessor Schiller, weil sie einen Kurswechsel hin zu mehr Sparsamkeit und weniger Traumtänzerei gefordert hatten, den der Regierungschef nicht bewerkstelligen konnte. Die Führer der Gewerkschaften waren die Männer, auf die es für Brandt wirklich ankam. In ihnen fand er jene Bündnispartner, die seiner mit nur wenigen Stimmen Vorsprung regierenden rot-gelben Koalition im Innern Halt gaben. Zwischen den wütenden Protesten der Studenten und den allergischen Reaktionen auf der Rechten sorgten sie für Stabilität in der Mitte der Gesellschaft. »Mitbestimmung und Mitverantwortung werden eine 211
bewegende Kraft der kommenden Jahre sein«, rief Brandt schon am 28. Oktober 1969, in seiner ersten Regierungserklärung, ihnen zu. Den Gewerkschaften bescheinigte er vor der gesamten Nation eine »überragende Bedeutung«, was sich dann auch bewahrheiten sollte. Mit dem Einstieg der SPD in die Große Koalition begann die Rückzahlung eines lange zuvor gewährten politischen Kredits. In Gestalt von Georg Leber zog erstmals in der Nachkriegszeit ein Gewerkschaftsvorsitzender ins Kabinett ein. Die von Schiller bereits zur Jahreswende 1966/67 ins Leben gerufene »Konzertierte Aktion«, ein runder Tisch, an dem Vertreter von Regierung, Kartellamt, Bundesbank, Sachverständigenrat, Arbeitgebern und DGB ihre Plätze einnahmen, verlieh den Arbeitnehmerorganisationen zusätzlich Gewicht. Innerhalb der SPD war der »Gewerkschaftsrat« installiert worden, ein bis heute routinemäßig tagendes Gremium, das sich aus den sozialdemokratischen Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften und dem SPDPräsidium zusammensetzt. So viel Mitsprache war nie. Die DGB-Gewerkschaften fühlten sich nun regelrecht zum Mitreden und Mitregieren ermuntert. Da es keine Arbeiterparteien »alten Stils« mehr gebe, so der Gewerkschaftsvorsitzende Heinz Oskar Vetter auf einem außerordentlichen Bundeskongress im Mai 1971, müsste sich der DGB »mehr noch als bisher« in die Politik einmischen. Er sei nicht nur Sozialpartner, sondern auch »politische Bewegung«. Gemeinsam regierten nun DGB/SPD/FDP in einer informellen Koalition, deren schwächster Part die 1969 vom Wähler nahezu halbierte FDP war: Ein beispielloser Ausbau des Sozialstaates kam in Gang, in dessen Zentrum nicht die Minderbemittelten der Gesellschaft standen, sondern jene »neue Mitte« aus Arbeitern und Angestellten, von der Brandt als Erster sprach und die das Fundament 212
der neuen Regierung gelegt hatte. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bisher nur bei 90 Prozent des Lohnes, wurde 1969 per Gesetz auf 100 Prozent festgelegt. Die Bezüge aus der Arbeitslosenversicherung stiegen ebenfalls, auf nunmehr knapp 70 Prozent des letzten Nettogehalts. Neue Arbeit war nur dann zumutbar, wenn sie in etwa dem vorherigen Beruf und dessen Bezahlung entsprach. Die Sozialhilfe wurde massiv aufgestockt, von 117 Mark im Jahr 1965 auf 254 Mark im Jahr 1975, und ebenso wie unter Adenauer die Renten wurde nun auch sie »dynamisiert«: Stiegen die Löhne, stieg auch der Lohnersatz. Die Sozialhilfe entwickelte sich damit praktisch zum Mindestlohn. Als sei Brandt bei Adenauer in die Lehre gegangen, wurden per Beschluss vom 13. Dezember 1969 auch die Kriegsopferrenten »dynamisiert«, das heißt der allgemeinen Einkommensentwicklung angepasst. Den übrigen Rentnern wurde ebenfalls Neues geboten, die flexible Altersgrenze. Wer wollte, konnte nach Verabschiedung des Rentenreformgesetzes vom 21. September 1972 schon ab 63 in Rente gehen, der DGB hatte eine Absenkung der Altersgrenze auf 60 Jahre gefordert. Später kam es noch zur Verdoppelung des Sparerfreibetrages, der Einführung von Konkursausfallgeld und einheitlichem Kindergeld, und eine Steuerreform, die den Spitzensteuersatz hochschraubte, um die unteren Einkommensgruppen zu entlasten, wurde ebenfalls beschlossen. Durch diese Gesetze verminderten sich die Steuereinnahmen um 12 Milliarden Mark. Eine Vielzahl neuer Arbeitnehmerrechte passierte das Kabinett: Der Kündigungsschutz wurde ausgeweitet und in Firmen mit mehr als fünf Beschäftigten durfte nun ein Betriebsrat gegründet werden. Das neue Betriebsverfassungsgesetz wurde für Kanzleramtsminister Horst Ehmke 213
das »Prunkstück der Reformpolitik«, es sicherte die Rolle der Gewerkschaften in den Betrieben. Vetter würdigte es als das, was es unbestreitbar auch war, »ein großer Erfolg des DGB«. Die Union protestierte hier und da – und stimmte den wichtigen Sozialgesetzen in aller Regel zu. »Die Sozialpolitik lag in der Hand einer real existierenden inoffiziellen Koalition der Arbeitnehmerflügel beider großer Volksparteien«, erinnert sich Richard von Weizsäcker. Der Sozialstaat hatte damit seinen Spitzenwert, den er noch unter Adenauer erreicht hatte, weiter ausgebaut. Wurden 1950 erst 17 Prozent des deutschen Sozialprodukts, also die Summe aller im Lande erwirtschafteten Waren und Dienstleistungen, fürs Soziale ausgegeben, waren es 1970 bereits 25 Prozent und 1980 sogar schon über 30 Prozent, was nichts anderes bedeutet, als dass der Sozialstaat doppelt so schnell wuchs wie die Volkswirtschaft. Niemand störte sich daran. Das Land tickte im Takt der Nationalökonomie alten Schlages. Der global geführte Wettbewerb um die Ware Arbeitskraft sollte erst Jahre später die deutsche Debatte bestimmen. Die Arbeitnehmerorganisationen spürten vom Gezeitenwechsel noch nichts. Sie erlebten ihre Blütezeit, wer modern sein wollte, ob Politiker oder Student, legte sich ein Gewerkschaftsbuch zu. Die Mitgliederzahlen erhöhten sich von 6,5 Millionen im Jahr 1966 auf 7,4 Millionen im Jahr 1976. Der Organisationsgrad, also der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Gesamtzahl der Beschäftigten, stieg auf nunmehr knapp 37 Prozent, womit Deutschland weit vor den USA (28 Prozent) und Frankreich (25 Prozent) lag, allerdings noch immer deutlich hinter Schweden (87 Prozent), Österreich (66 Prozent) und England (50 Prozent) zurückblieb. Parallel zur politischen Bedeutung entwickelte sich auch die Gemeinwirtschaft, was den Gewerkschaftsführern 214
Geld und ökonomischen Einfluss verschaffte. Die einzelnen Konsumgesellschaften wurden Ende der sechziger Jahre zur Coop-Gruppe zusammengefasst, aus der später die coop AG entstand. Die Neue Heimat verwaltete in ihren besten Zeiten rund 400000 Wohnungen, errichtete pro Jahr 12000 bis 15000 neue Wohneinheiten und wurde schließlich mit der »Neue Heimat International« auch im Ausland aktiv. Sie war profitabel und, fast noch wichtiger für das Ego der Beteiligten, sie nannte sich zu Recht das größte Wohnungsbauunternehmen Westeuropas. Der Versicherungskonzern »Volksfürsorge«, dessen Versicherungssumme 1977 mehr als 34 Milliarden Mark ausmachte, und die Bank für Gemeinwirtschaft, deren Bilanzsumme von 133 Millionen Mark im Jahr 1950 auf 35 Milliarden im Jahr 1978 emporgeschnellt war, rundeten den Aktionsradius ab. Die Gewerkschaftsbank unterhielt sogar Filialen in New York, Sao Paulo und Hongkong. Die Gewerkschaftsbosse waren mit der Zeit gegangen, hatten gewagt und gewonnen, so schien es viele Jahre lang. Der Organisation tat beides gut, das viele Geld und das neue Selbstbewusstsein. Wer in der Lage war, diese Konglomerate zu managen, wem es gelungen war, ökonomische Expansion und innerbetriebliche Sozialpolitik zu verbinden, der durfte auch draußen mitreden. Die Gewerkschaft als Gegenmacht, wie sie von den eigenen Mitgliedern gewünscht und den Arbeitgebern gefürchtet wurde, war in den siebziger Jahren real. Vorneweg der strenge Heinz Oskar Vetter vom DGB, ein ehemaliger Luftwaffenoffizier, der nach dem Krieg den »dritten Weg« propagierte. Dicht dahinter der kämpferische IG-MetallVorsitzer Otto Brenner, der 1946 den ersten Streik nach dem Krieg organisierte, für den Lohnpolitik »im letzten Grund Machtpolitik« war und den die eigenen Leute als »eisernen Otto« verehrten. Nicht zu vergessen der bullige 215
ÖTV-Boss Heinz Kluncker, in der Spitze 270 Pfund schwer, Jazzfan und Gewerkschaftssekretär von der Pieke auf, der sich nicht scheute, Arbeiter und Angestellte des Öffentlichen Dienstes gegen Willy Brandt in den Ausstand zu schicken. Der eigenen Mitgliedschaft gefiel’s: So sahen damals moderne Helden aus. Der Verlierer hieß Karl Schiller. Er hatte die Überdehnung des Staates früh schon zum Thema gemacht. »Lasst die Tassen im Schrank«, rief er 1971 dem SPD-Sonderparteitag in der Bonner Beethovenhalle zu, ohne jede Resonanz. Die Mehrheit der Delegierten, die sich wieder mit der in Godesberg ausrangierten Formel »liebe Genossinnen, liebe Genossen« anredete, befand sich in einem modernen Religionskrieg gegen das, was gestern noch Marktwirtschaft und nun wieder Kapitalismus hieß. Der Parteitag beschloss einen Spitzensteuersatz für die Besserverdiener von 60 Prozent. Dem Professor, von seinem Nachfolger Helmut Schmidt als gleichermaßen »genial« wie »eitel« charakterisiert, ging es nicht besser als dem Mahner Erhard, der von Adenauer an den Rand gedrängt worden war. Doch Schiller erwies sich als weniger leidensfähig; wund gescheuert trat er zurück, später verließ er auch die Partei. Schriftlich legte er am 2. Juli 1972 seine Rücktrittsmotive nieder, nicht nur für den Kanzler, an den das Schreiben adressiert war, sondern für die Nachwelt gedacht: »Ich bin nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die nach außen den Eindruck erweckt, die Regierung lebe nach dem Motto: »Nach uns die Sintflut«. Ich bin auch nicht bereit, dann womöglich noch von einem Amtsnachfolger gleicher oder anderer Couleur in einer neuen Regierung als Hauptschuldiger für eine große so genannte Erblast haftbar gemacht zu werden. Ein Finanzminister, 216
der monatelang stumm bleiben sollte, wie das viele Kollegen wünschen, weil man in solchen Zeiten nicht von Geld redet, ist von mir nicht darzustellen. Die Regierung hat die Pflicht, über den Tellerrand des Wahltermins hinauszublicken und dem Volk rechtzeitig zu sagen, was zu leisten ist und was zu fordern ist. ( … ) Bei nüchterner und verantwortungsvoller Würdigung des von mir geschilderten Sachverhalts kann ich aus den Gegebenheiten nur die Konsequenz eines Rücktritts ziehen.« Der deutsche Sozialstaat expandierte just in dem historischen Moment, in dem er hätte innehalten müssen. Er verteilte Ansprüche, die auf der Annahme eines Endloswachstums von hohem Tempo beruhten. Er sorgte mit der Art seiner Finanzierung über lohnbezogene Sozialaufschläge, den so genannten Lohnnebenkosten, für eine Verteuerung einfacher Arbeit, die im Zuge der Globalisierung bald schon unter die Räder geraten sollte. Die veränderten Spielregeln der Weltwirtschaft, sie waren erst unscharf zu erkennen, aber sie hatten schon zu wirken begonnen: Das Wachstum verlangsamte sich zu Beginn der 70er Jahre spürbar, 1974 wuchs die Volkswirtschaft nur noch um unsichtbare 0,2 Prozent, bevor 1975 mit minus 1,3 Prozent ein Schrumpfungsprozess zu vermelden war. Die Ölpreiskrise im Gefolge des ägyptisch-israelischen JomKippur-Krieges vom Herbst ’73 überlagerte die Störungen im Innern der Volkswirtschaft. Doch es gab seither kein Zurück mehr zu den Wachstumsraten Anfang der siebziger Jahre. Der Arbeitsmarkt begann schon damals zu schrumpfen, die alten Industrien im Ruhrgebiet und an der Küste bauten ab, in den modernen Industrien – Automobilbau, Chemieproduktion, Maschinenbau – wurde rationalisiert wie nie zuvor. 217
Vor allem einfache Industriearbeit war nun nicht mehr gefragt. Waren 1971 erst knapp l Prozent aller Erwerbsfähigen arbeitslos, stieg diese Quote 1974 auf 2,6 Prozent, und dann auf 5,5 im Jahr 1981. Die Zeit der Vollbeschäftigung endete mit der Ära Brandt. Das Kapital veränderte seine Fließrichtung. 1971 bis 1974 waren die letzten Jahre, in denen sich das nach Deutschland hineinströmende und das herausströmende Kapital die Waage hielten; deutsche Firmen investierten im Ausland, die Ausländer bei uns, so soll es sein. Dann der Bruch: Der Strom des hereinfließenden Geldes wurde schmaler, der Strom des herausfließenden Geldes verbreiterte sich enorm, plus 100 Prozent bis 1981, plus 700 Prozent bis zum Jahr 1991. Beide Kurven sind sich nie wieder begegnet. Halb so schlimm, versuchten Oskar Lafontaine und sein ökonomischer Berater Heiner Flassbeck die Deutschen noch Jahre später zu beruhigen. Die Exportnation habe aufgrund der enormen Handelsüberschüsse nicht nur das Geld, sondern auch die Pflicht, bei den großen Handelspartnern zu investieren. Aber das allein war es eben nicht: Das Land hatte mit dem Ende des Wiederaufbaubooms bereits den Zenit seines Aufstiegs erreicht, die Kapitalrentabilität war rapide gesunken, anderswo war jetzt mehr zu holen. »Die Unternehmer lieben kein Land, sie lieben den Gewinn«, wie Lafontaine erst 1998, dann allerdings leicht beleidigt, erkennen sollte. Die Gewerkschaften ließen ihren Kanzler und Koalitionspartner Brandt bekanntermaßen im Stich. Zum Dank für die gemeinsamen Jahre erpressten sie ihn. Obwohl das Wirtschaftswachstum 1974 kaum messbar war, trotzte ÖTV-Boss Kluncker dem Staat eine Lohnerhöhung von 11 Prozent ab. Brandt hatte sich zunächst gegen die »überzo218
genen und ultimativen Forderungen« gewandt und knickte dann zügig ein. In den Augen vieler SPD-Wähler, zumindest denen der Neuen Mitte, war Brandt seither nur noch bedingt regierungsfähig. Seine Amtszeit, die so hoffnungsfroh begonnen hatte, endete in einem Meer der Melancholie, dessen Spätausläufer bis in die Berliner Republik schwappen. Die verrückte Zeit zwischen den Zeiten ging zu Ende, die konstruktive Kraft der 68er war erschöpft, das Destruktive blieb noch eine Weile. Es wurde merklich kühler und rauer, nicht nur in Deutschland. »Weder Willy Brandt noch sein Kanzleramtsminister hatten ein Augenmaß für die Belastbarkeit der Volkswirtschaft«, wird Schmidt drei Jahrzehnte später seinem Biographen Michael Schwelien anvertrauen. Mit den Worten »Der Helmut muss das machen« übergab Brandt im Mai 1974 an seinen Wirtschaftsminister Schmidt.
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Helmut Schmidt. Annäherung an die Wirklichkeit Helmut Schmidt hatte von Anfang keine Chance – aber er nutzte sie. Ausgerechnet der bekennende Nicht-Visionär, der die 68er als »halbfertige Akademiker« titulierte, die seiner Ansicht nach »unverständliches Kauderwelsch« daherredeten, begab sich in eine Schlacht, deren Ausgang rückblickend nicht überraschen kann. Er musste sie verlieren. Die ideologisch aufgeheizte SPD der siebziger Jahre konnte auf einen wie ihn nur allergisch reagieren. Der ehemalige Oberleutnant der Wehrmacht und studierte Volkswirt Helmut Schmidt befeuerte den Ehrgeiz aller Linken, ihn zur Strecke zu bringen. Ein Mann mit seinem Verstand, den er nur selten bereit war, zugunsten von Liebenswürdigkeit zu verstecken, war für alle Träumer eine Provokation. Dachte der Parteilinke Erhard Eppler an Schmidt, empfand er eine »Atmosphäre geistiger Ödnis«. Schmidt verstand sich nicht als Therapeut seiner Partei, auch nicht als Sozialarbeiter einer spätpubertären Jugendbewegung, sondern als Leitender Angestellter seines Landes, was in linken Parteikreisen mit Kapitalistenknecht übersetzt wurde. Das Wunder seiner Kanzlerschaft bestand darin, dass sie nicht gleich zerbrach und am Ende mit acht Jahren länger gedauert hatte als die seines Vorgängers. Schmidt ließ nichts unversucht, seine Unbeliebtheit gleich zu Beginn seiner Amtszeit noch zu steigern. Die Wahl im Bundestag war am 16. Mai 1974 mit 267 von 492 Stimmen zu seinen Gunsten entschieden, die Kanzlerurkunde aus der Hand des Bundespräsidenten aber hielt er noch nicht in Händen, da stauchte er die eigene Fraktion 220
schon gehörig zusammen. Sie hätten die »Tuchfühlung« zum Wähler verloren, der Partei fehle es an »Augenmaß«, die SPD müsse aufpassen, dass man sie in der Öffentlichkeit nicht als Partei von »Hochstaplern« wahrnehme. So sollten aus Gegnern Feinde werden. Auch die folgenden Parteitage waren geprägt von einem Helmut Schmidt, der all seinen Frust über die letzten Brandt-Jahre, das Unverständnis der Linken gegenüber den ökonomischen Realitäten, wie er sie sah, aus sich herausdonnerte. »Die Weltwirtschaft ist in eine Krise geraten, die ihr nicht begreifen wollt. Ihr beschäftigt euch mit der Krise des eigenen Hirns statt mit den ökonomischen Bedingungen, mit denen wir es zu tun haben«, so Schmidt, der »Abkanzler« (Strauß), vor seinen Hamburger Parteifreunden. Um den Vorsitz der SPD hat er sich nie bemüht, er hätte ihn wohl auch nicht erreicht. Schmidts Amtszeit war von Krisen aller Art geprägt, von denen uns hier vor allem die Wirtschaftskrisen interessieren. Ihr äußerer Anlass waren die Ölpreisschocks. Doch diese in erpresserischer Absicht verordneten Höchstpreise der Ölförder-Staaten trafen auf eine Volkswirtschaft, die im Innern bereits kränkelte. Schillers »Globalsteuerung« lieferte in dieser Situation keine akzeptablen Resultate, was nicht überraschen kann. Mit »global« meinte er ja nicht »weltweit«, sondern im Unterschied zum passiven Staat einen Staat, der umfassend, also unter Berücksichtigung der Geld-, Haushaltsund Arbeitsmarktpolitik, in das Geschehen eingreift. Doch darum ging es jetzt gar nicht mehr. Der Schillersche Handwerkskasten war zu klein geraten. Die Wirtschaft stagnierte und die Inflation beschleunigte sich, es herrschte Stagnation, was die Experten auch deshalb so aufregte, weil dieser Fall in ihrem Lehrbuch gar nicht vorgesehen war. 221
Selbst innerhalb der Volkswirtschaft leistete die »Globalsteuerung« nicht jene Heldentaten, die man ihr vorhergesagt hatte. Sie hatte eigentlich keine andere Möglichkeit, als die Erwartungen ihrer Anhänger zu enttäuschen. Den »Aufschwung nach Maß«, von dem Schiller träumte, kann es in einem pluralistisch verfassten Staat, in dem Regierung und Opposition, Arbeitgeber und Gewerkschaften geradezu beauftragt sind, im Konflikt miteinander zu leben, nicht geben. Die Vorgaben der Wirtschaftsplaner aus Konjunkturrat, Sachverständigenrat und Konzertierter Aktion waren für niemanden verbindlich. Ihre bis hinters Komma exakt berechneten Lohnabschlüsse musste ein beherzter Tarifpolitiker als Herausforderung begreifen, sie zu überbieten – was dann auch geschah. Die in den »Orientierungsdaten« festgelegten »volkswirtschaftlich vertretbaren« Lohn- und Gehaltserhöhungen wurden (ebenso wie die Unternehmergewinne) in keinem Schiller-Jahr erreicht: 1969 lagen die Löhne um 3,8 Prozent über der Planzahl, 1970 um 1,1 Prozent, 1971 um 1,5 Prozent. Auch die »Tarifpolitik nach Maß« blieb ein frommer, aber deshalb eben auch unerfüllbarer Wunsch. Hinzu kamen Fehlprognosen des Sachverständigenrates, die jeder Planungsarbeit ohnehin die Grundlage entzogen: Für 1975 sagten die »Wirtschaftsweisen« einen realen Anstieg des Bruttosozialprodukts um 2 bis 2,5 Prozent voraus. Daraus wurde in der Realität ein Minus von l,3 Prozent, das schlechteste Wirtschaftjahr der Ära Schmidt. Der Glanz der Globalsteuerung war also schnell erloschen. Ihr großes Ziel – den Abbau der Arbeitslosigkeit durch inflationsfreies Wachstum – hat sie nicht erreicht. Mit großer Verlässlichkeit führte sie zur Erhöhung der Staatsschuld und heizte damit die Geldentwertung weiter an. 222
Schmidt behielt die einmal geschaffenen Instrumente bei, aber er misstraute ihnen. Sie begleiteten seine Politik, aber sie prägten sie nicht mehr. Der Mann war, im Rückblick lässt sich das ohne Übertreibung feststellen, weitsichtig. Er sah eine Zukunft vorher, die sich damals erst skizzenhaft abzeichnete, er prognostizierte Entwicklungen, deren Vorgeschichte gerade erst begonnen hatte. In dem unter seinem Einfluss formulierten »Orientierungsrahmen für die Jahre 1975 bis 1985«, das damals entscheidende programmatische Dokument der SPD, hieß es: »Der erreichte Grad der internationalen Verflechtung gebietet es, die Beschränkungen unserer eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zum Ausgangspunkt einer realistischen und langfristig orientierten Wirtschaftspolitik zu machen. ( … ) Bei hoher Exportquote und großer Abhängigkeit von Rohstoff- und Energieimporten, bei zunehmender internationaler Verflechtung auf den Waren- und Kapitalmärkten, bei übernationaler Mobilität der Arbeitskräfte, bei zunehmendem Gewicht der multinationalen Unternehmen, die ihre Investitionsentscheidungen ohne Rücksicht auf die Zielsetzungen nationaler Regierungen weltweit planen und verwirklichen können, muss der Versuch einer bloßen ›Globalsteuerung‹ des Wirtschaftsablaufs im nationalen Rahmen immer problematischer, wenn nicht undurchführbar werden.« Eine politische Strategie allerdings wurde aus den Erkenntnissen nicht abgeleitet. Schmidt besaß zwei Brillen, die er virtuos zu wechseln verstand. Er war ökonomischer Weitseher, was ihn noch Jahrzehnte später herausstechen lässt, und er war Pragmatiker mit den üblichen politischen Kurzfristreflexen, was die Resultate seines Handelns (mit Ausnahme der Währungspolitik) in die Mittelmäßigkeit zurückwarf. Politik verstand auch er als die Kunst des Möglichen, wobei seine damaligen Analysen ihn hätten 223
antreiben müssen, sich in der Kunst des Notwendigen zu probieren. Schmidt entschied sich bekanntermaßen anders. Nach den dahingeblafften Belehrungen an die Adresse der Partei, die den Beginn seiner Kanzlerschaft kennzeichneten, folgten milliardenschwere Streicheleinheiten, die sich Investitions-, Beschäftigungs- oder Infrastrukturprogramme nannten. Auch international war er zur Geschmeidigkeit verpflichtet – und durchaus willig, sich verpflichten zu lassen. Als Erfinder der Weltwirtschaftsgipfel, deren Erster 1975 in Rambouillet bei Paris stattfand und die nun ein ums andere Mal seinen Ruf als Weltökonom festigten, musste er zuweilen tief in die Staatskasse greifen. Als Jimmy Carter sich 1978 auf dem Bonner Weltwirtschaftsgipfel eine »Lokomotivfunktion« der deutschen Wirtschaft für den Rest der Welt wünschte, legte Schmidt von Staats wegen eine Schippe drauf. Ein Programm aus Steuererleichterungen und Zusatzausgaben in zweistelliger Milliardenhöhe wurde vom Kabinett verabschiedet. Das Amt hat ihn mehr geschliffen, als Schmidt es jemals zugeben würde. Er redete noch immer kantig und scharf, er analysierte schonungslos, er verformte seine Partei – aber sie ihn auch. Schmidts Politik schwankte zwischen ökonomischer Erkenntnis und politischem Zwang, zwischen Haushaltskonsolidierung und versuchter Stimulierung am Arbeitsmarkt, mal beschloss das Kabinett den Rückbau des Sozialstaates und wenig später ein neues Investitionsprogramm. Schmidts Politik war nicht das Produkt einer wissenschaftlichen Leitidee und auch nicht das alleinige Ergebnis seines Wollens, sie folgte den Gesetzmäßigkeiten des politischen Krisenmanagements. Was Adenauer mit Erhard und Brandt mit Schiller auszukämpfen hatten, das Ringen also mit einer politischen Rationalität, die der ökonomischen oft den Weg versperrt, 224
musste Schmidt mit sich selbst ausmachen. Die Rangfolge allerdings blieb die gleiche: Der Kanzler Schmidt dominierte den Ökonomen Schmidt, wie sich an der immer gleichen Abfolge von Widersprüchen in der Wirtschaftspolitik ablesen lässt. Am 10. September 1975 beschloss das Kabinett ein erstes größeres Sparpaket: Ausgabenkürzungen vor allem bei der Arbeitsförderung und beim Öffentlichen Dienst standen an. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung wurden erhöht. Im Herbst folgte ein Bauinvestitionsprogramm über knapp sechs Milliarden Mark, im Januar 1976 ein erneutes Sparpaket, im März 1977 ein weiteres Investitionsprogramm, diesmal eines, das der Verbesserung der Wohnumwelt dienen und die Nutzung umweltfreundlicher Energien voranbringen sollte (16 Milliarden Mark in vier Jahren). Im November 1977 und im Mai 1978 schob die Regierung zwei Wohnungsbauprogramme hinterher, ausgestattet mit einem Gesamtvolumen von 4,5 Milliarden Mark. Die mittlerweile steil angestiegene Staatsverschuldung und die anhaltende Wirkungslosigkeit der Programme am Arbeitsmarkt führten nun zu einem Vorrang der Sparmaßnahmen. Die in Öffentlichkeit und SPD umstrittenste war die 1981 verabschiedete »Operation 82«, die zu Einschnitten bei der Arbeitslosenunterstützung, zur erneuten Anhebung der Lohnnebenkosten auf nun insgesamt 30 Prozent des Bruttolohns und zur Kürzung des Kindergeldes führte. Im Gesundheitssystem wurde erstmals eine Selbstbeteiligung eingeführt, die Ausbildungsförderung und der Zuschuss zur privaten Lebensversicherung mussten gekürzt werden. IG-Metall-Bezirkschef Franz Steinkühler rief auf einer Großdemonstration vor 70000 Teilnehmern zum »Widerstand gegen Sozialabbau« auf. Die Antwort der SPD-geführten Regierung war ein 225
neues Investitionsprogramm, das sich »Gemeinschaftsinitiative für Arbeitsplätze, Wachstum und Stabilität« nannte. Durch staatliche Investitionszuschüsse (vier Milliarden Mark) an die Privatwirtschaft, was man heute auch als Subvention bezeichnen würde, sollte ein Gesamtvolumen von 40 Milliarden Mark erreicht werden. Doch in Ermangelung neuer Absatzchancen setzten die Firmen mit dem Staatszuschuss auf Rationalisierung, die Arbeitsproduktivität stieg, die Arbeitslosigkeit auch. Es war, als hätten der stimulierende Staat und der Sozialstaat einen teuflischen Pakt geschlossen. Die Rentenpolitik zeigte die ganze Widersprüchlichkeit des damaligen Geschehens. 1976 ging es für Schmidt darum, den Herausforderer Helmut Kohl niederzuringen, also wandte er sich direkt an die Rentner und solche, die es bald sein wollten: »Ich versichere Ihnen – Ihre Altersversorgung ist sicher«, so Schmidt, der Wahlkämpfer. Es blieb nicht bei dieser eher allgemeinen Feststellung, Schmidt lockte in einer TV-Diskussion mit fettestem Wahlkampfspeck: Eine Rentenerhöhung wurde zugesagt, zehn Prozent, zum l. Juli kommenden Jahres. Die Wähler zeigten sich beeindruckt. Nach gewonnener Wahl wurde dann die Wahrheit nachgereicht. Bis 1984, so die nun vorgelegten Zahlen, fehlten 96 Milliarden Mark in der Rentenkasse, die zugesagte Rentenerhöhung war damit unverantwortlich, was die SPD nicht hinderte, ihren Kanzler auf die Einlösung seines Versprechens zu drängen. Die Arbeitnehmer sollten zur Finanzierung mit höheren Beiträgen ran, wie bereits mehrfach geschehen. Die FDP lehnte ab, der Ökonom Schmidt auch, die Opposition rief »Rentenlüge«. Auf Drängen der eigenen Fraktion musste Schmidt sein Wort schließlich doch noch halten, die Renten wurden zum 1. Juli um zehn Prozent erhöht. 226
Das Problem aber war damit nicht gelöst, sondern vergrößert. Das Rententhema kam 1978 mit gewaltiger Wucht zurück auf die Tagesordnung. Jetzt beschloss das Kabinett, dass Rentner ihren Krankenkassenbeitrag künftig selbst bezahlen sollten. Zugleich wurden nun doch die Beiträge der Arbeitnehmer erhöht. Seit Einführung der Adenauer-Rente handelte es sich bereits um das 20. Rentenanpassungsgesetz. Mit dem Makel der »Rentenlüge« und dem Etikett des »Schuldenkanzlers« (Strauß) zog Schmidt in den 1980er-Wahlkampf – und gewann. Die Botschaft der Schmidtschen Politik ist tröstlich und alarmierend zugleich. Auch ein Kanzler der Zumutungen kann Wahlen gewinnen, so die gute Nachricht für alle, die es heute erneut probieren und jene, die noch auf ihre Chance warten. Der trostlose Befund allerdings sollte auch nicht verschwiegen werden: Selbst der Zupacker Schmidt erreichte nur eine Linderung, keine Lösung der Probleme. Seine kräftezehrende Politik, die auf das Verbreiten von Illusionen weitgehend verzichtete und sich daranmachte, die Tassen wieder in den Schrank zu stellen, berührte die ökonomische Realität des Landes kaum. Die Prozesse der Zerstörung, verursacht durch die Zangenbewegung von außen und von innen, ließen alle Kostendämpfungsprogramme weitgehend wirkungslos verpuffen. Gemessen an den relevanten volkswirtschaftlichen Daten stand das Land nach seinem Abgang schlechter da als vorher: Die Arbeitslosigkeit war von 580000 im ersten Schmidt-Jahr auf l,8 Millionen im letzten Jahr seiner Regierung gestiegen. Die Staatsverschuldung hatte sich im gleichen Zeitraum fast vervierfacht. Die Geldentwertung betrug im Durchschnitt der acht Jahre fünf Prozent, wofür er noch am wenigsten haftbar gemacht werden kann. Als er abtreten musste, wählte die Gesellschaft für Deutsche Sprache den Ausdruck des Jahres: 227
»Talfahrt der Wirtschaft«. Alle strukturellen Probleme des Landes – der Jahrhundert-Irrtum in der Rentenpolitik, die hohe Sozialleistungsquote, das Emporschnellen der Lohnnebenkosten und damit das Abschmelzen einfacher Arbeit, die erschlaffende Innovationstätigkeit, die hohen staatlichen Konsumausgaben – pflanzten sich fort. Die volle Wahrheit über eine Volkswirtschaft im Niedergang wollte oder konnte ein Helmut Schmidt seinem Land nicht zumuten. Auch er nährte die Hoffnung, dass im Grunde nicht alles, aber vieles bleiben kann, wie es ist: Ein bisschen Krisenbewältigung, ein mehr an Sparsamkeit, Zurückhaltung bei den Lohnabschlüssen und dann wird’s schon werden. In Wahrheit aber war das »Modell Deutschland«, entstanden unter den Bedingungen einer Nationalökonomie, schon damals dabei, sich zu verabschieden. Das asiatische Zeitalter hatte begonnen, wie in deutschen Autohäusern und Supermärkten zu besichtigen war. Die deutschen Importe aus den asiatischen Staaten, die 1975 noch hinter denen aus USA lagen, hatten 1985 gleichgezogen und legten bis 1995 nochmals um 100 Prozent zu. Hinter jedem Importboom steckt der Aufstieg einer Region, die im Wettbewerb der Ideen, der Arbeitskräfte, der Summe aller Produktionsfaktoren, besser abschneidet als andere. Der US-Journalist Yergin, der für sein Buch Staat oder Markt Helmut Schmidt in seinem Herausgeber-Büro bei der Zeit besuchte, traf einen nachdenklichen Altkanzler: »Ein kritischer Faktor beim Niedergang Europas ist die übermäßige Ausbeutung des Wohlfahrtsstaates. Der Wohlfahrtsstaat ist eine so gute Idee, aber er wurde in Schweden, Frankreich, Deutschland, in allen europäischen Ländern auf die Spitze getrieben. ( … ) Viel zu lange glaubten alle, die Staaten seien finanziell abgesichert. Nun wissen wir, dass sie es nicht sind. Jedenfalls manche von 228
uns wissen das.« Die SPD von damals wollte es so genau nicht wissen. Noch im Wahlprogramm des Jahres 1976 heißt es: »Der Sozialstaat macht uns widerstandsfähiger gegen krisenhafte Einflüsse von außen. ( … ) Selbst während der, ja gerade wegen der Weltwirtschaftskrise haben wir 1974 das Netz der sozialen Sicherung noch enger geknüpft.« Auch 1982 beharrte Schmidt darauf, der »Sozialstaat ist Produktivkraft«, was er in der Tat sein kann, aber damals schon nicht mehr war. Was hätte Schmidt anderes sagen sollen? Die Wahrheit war unbeliebt, unerwünscht, ausgesperrt. Die Gewerkschaften, verwöhnt von den Zeitläufen und von Brandt, hatten kein Einsehen. DGB-Chef Vetter forderte 1977 ungerührt eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich – zum ersten Mal. Seine Mitstreiter in IG Metall, IG Druck und Papier und ÖTV verlangten von Schmidt weitere Investitionsprogramme, finanziert durch eine Ergänzungsabgabe für Besserverdienende. Sie haderten und zankten mit der Schmidt-SPD, nach langer Inkubationszeit kam dann der Bruch: Der DGB organisierte den ersten Protestmarsch gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung. Nun standen beide, die linke Friedensbewegung und die klassische Arbeiterbewegung, gegen Schmidt. Die magnetischen Anziehungskräfte der BrandtSPD hatten sich verflüchtigt. Die Schmidt-SPD stand alleine da – von allen Geistern verlassen. Im Rückblick sieht es so aus, als hätten sich Sozialdemokraten und Gewerkschaften zum Abmarsch in die Opposition untergehakt. Die Mitgliederzahlen von DGB und SPD begannen schon wieder zu schrumpfen, die große Zeit der Gemeinwirtschaft endete im Desaster, als Anfang 1982 die Manipulationen der Neuen Heimat aufflogen. Ausgerechnet der Neue Heimat-Chef Albert 229
Vietor, den sie alle nur »König Albert« nannten, von der sozialliberalen Regierung 1969 mit dem Bundesverdienstkreuz und 1972 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz dekoriert, hatte den Konzern in den Abgrund gewirtschaftet und sich selbst bereichert. Bei seinem Tode hinterließ der Gewerkschafter neben Villen in Hamburg Wedel und bei Ascona 24 Wohnungen in Hamburg und Beteiligungen an 217 Berliner Wohnungen. Eine Ära war zu Ende gegangen, der Machtwechsel lag in der Luft, genau besehen war die Macht schon vorher abhanden gekommen. Schmidts Wirtschaftsminister, Otto Graf Lambsdorff von der FDP, musste nur noch den Wechsel organisieren, was er dann auch tat. War Schmidts Wirken am Ende erfolglos? Das wäre zu streng geurteilt. Zwei ökonomische Erfolge sind zu nennen, die historischen Rang besitzen. International wurden seine Weltwirtschaftsgipfel zur Institution. In Europa schob Schmidt als Reaktion auf das Scheitern von Bretton Woods die Zusammenarbeit in der Währungspolitik an. Als Gegengewicht zum freien Dollar installierten er und Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing eine Europäische Währungsordnung mit dem ECU als Recheneinheit, aus dem später der Euro und die Europäische Währungsunion hervorgingen. Innenpolitisch stünde die SPD ohne die Erfahrungen der Schmidt-Jahre heute nackt da, als wirtschaftspolitische Kraft fehlte ihre jede vorzeigbare Erinnerung. Für Deutschland allerdings war die Ära Schmidt noch nicht die Zeit des Aufwachens, eher des unruhigen Dämmerschlafs, dem dann das Erwachen folgte. Aber der Unterschied zu Brandt war dennoch unverkennbar: Der erste SPD-Kanzler der Bundesrepublik verhielt sich mit seiner Strategie der gezielten Einkommens-, Prestige- und Statusverbesserung von Arbeitern und Angestellten durch230
gehend politisch »rational«. Die Ware, die er feilbot, hieß »Soziale Sicherheit«. Irrational im Sinne von unvernünftig waren die Ergebnisse für die Volkswirtschaft, die immer weniger in der Lage war, die ihr abverlangten Leistungen zu liefern. Mit Schmidt regierte – erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte – ein Kanzler auch politisch »irrational« gegenüber großen Teilen seiner eigenen Wählerschaft, indem er ihr Einkommens- und Statusverluste zumutete. Die Politik der Annäherung an die Realitäten nahm für den Mann an der Spitze bekanntlich keinen erfreulichen Ausgang. Nach seiner Kanzlerschaft landete er in der innerparteilichen Isolation. Anders als Brandt konnte er danach keine Rolle mehr spielen, die Positionen seiner Amtszeit waren schneller geräumt als die Kisten im Kanzleramt. Die Mehrheit der Sozialdemokratie zog sich in den Schmollwinkel zurück, wollte nun lieber »neue soziale Bewegung« sein, schwor dem Wachstumsgedanken und damit der Wohlstandsmehrung ab. Für die Mehrheit der Wähler, von der wir ja wissen, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht als Frieden nach Außen und Wohlstandssteigerung im Innern, war die SPD damit mehr als anderthalb Jahrzehnte lang unwählbar geworden.
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KAPITEL 6 AUFBAU-OST DURCH ABBAUWEST
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Reform nach Vorschrift Während der 16-jährigen Amtszeit Helmut Kohls haben wir drei verschiedene Kanzler erlebt, wovon der mittlere die anderen deutlich überragte. Kohl I. wäre kaum der Erinnerung wert. Den dritten hätte es ohne den zweiten wahrscheinlich gar nicht mehr gegeben. In Phase eins, die mit der Amtsübernahme im Oktober 1982 begann und im Sommer 1989 endete, war Kohl der Kanzler des Erwartbaren. Er fing an, jene Arbeiten zu erledigen, die das Vorgänger-Kabinett aus den bekannten Gründen nicht mehr geschafft hatte. Die Wirtschaft war in krisenhafter Verfassung, der Staat ächzte unter der Schuldenlast, weshalb die Gefahr der Geldentwertung weiterhin drohte. Es musste also gehandelt werden, was die neue Regierung zunächst auch tat. Kohl I. kürzte die Arbeitslosenunterstützung, steigerte die Eigenbeteiligung der Krankenversicherten, strich das Schüler-Bafög. Auch mit Hilfe eines weltweiten Aufschwungs gelang es ihm, die Neuverschuldung des Bundes erstmals seit langem wieder sinken zu lassen – von 31,5 Milliarden Mark im Jahr 1983 auf 22 Milliarden Mark 1985 und 1986. Ein schöner Erfolg – der allerdings Episode blieb. In der erneut einsetzenden Wirtschaftsflaute stieg die Kreditaufnahme des Bundes wieder an, von 27,5 Milliarden Mark 1987 auf erneut über 35 Milliarden Mark 1988. Kohl hatte ein paar schnelle Etatkürzungen mit Reformen verwechselt, wie es zuletzt auch SPD-Finanzminister Hans Eichel passiert ist, der sich selbst für einen beherzten Sparminister und aussichtsreichen Reserve-Kanzler hielt, bis die erste Konjunkturflaute ihn nahe an die Rekordverschuldung führte. Von 233
beidem ist nun nicht mehr die Rede. Früh wusste man also auch über Kohl Bescheid: Er war Kostendämpfer und Ausgabenbremser, aber nicht Staatssanierer. Das Inszenieren von Tatkraft lag ihm deutlich besser als das tatsächliche Tun. Die konservativ-liberale Regierung hatte gleich nach der Übernahme der Amtsgeschäfte eine »Kommission zur Entbürokratisierung« einberufen, einen »neuen Marshallplan für Deutschland« kündigte Kohl im Herbst 1983 an, Deregulierung und Flexibilisierung wurden der Wirtschaft versprochen, was die Gewerkschafter derart erschreckte, dass sie in jeder mittleren deutschen Stadt »gegen Sozialabbau« demonstrierten. Die große Aufregung hat sich für beide Seiten nicht gelohnt. Bürokraten blieben wie sie waren, zahlreich und mächtig; das Rentensystem erfuhr keine wirkliche Reform; die Einkommenssteuer wurde gesenkt, die Verbrauchssteuern dafür erhöht; ein Erziehungsgeld eingeführt; der Steuervorteil für die Bausparer um 50 Prozent auf 936 Mark erhöht; das Betriebsverfassungsgesetz verändert, aber nur so, dass nun auch die Christlichen Gewerkschafter eine Chance hatten, in die Betriebsräte einzuziehen. Kohl verkörperte vom ersten Tag an das, was Guy Kirsch und Klaus Mackscheidt in ihrer psychologischen Politikbetrachtung Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber als den typischen Amtsinhaber charakterisieren: »Er steht wie ein Fels im Meer; er ist so unbeweglicher als jene, die befürchten müssen, von den Wellen dorthin getragen zu werden, wo sie nicht hinwollen dürfen und können. Dies gibt ihm in den Augen der Wähler den Anschein der Kraft, der »force tranquille«, während er in Wirklichkeit lediglich von einer neurotischen Borniertheit ist, die unanfechtbarer ist als die des gemeinen Bürgers. Die Solidität seiner Abwehrmechanismen gibt ihm jene Robust234
heit, die eine Bedingung für seinen Aufstieg und Erfolg ist. In aphoristischer Kürze: Der politische Erfolg des Amtsinhabers gründet auf seiner überdurchschnittlichen Durchschnittlichkeit.« Was auch immer Kohls »geistig-moralische Wende« bedeuten sollte, mit der er am Anfang sein Dahinregieren zu erleuchten versuchte, den Anti-Gewerkschaftsstaat bedeutete sie nicht. Er war kein deutscher Ronald Reagan und keine germanische Thatcher-Variation, hatte es von sich allerdings auch nie behauptet. In ihm steckte auch kein sozial gesinnter Modernisierer, wie sie in Holland, Schweden oder Finnland von sich Reden machten. Helmut Kohl ging visionsfrei seinen Amtsgeschäften nach, war ein Mann von dröhnendem Mittelmaß, wie ihn die Volksparteien immer wieder hervorbringen. Er hatte seine politische Kraft in den eigenen Aufstieg investiert, und das heißt in die Beseitigung von Gegnern und Rivalen, was sich für ihn hochprozentig verzinste. Dem Land hat Kohl so keinen rechten Dienst erweisen können. Sein Ziel hätte dann ja von Anfang an lauten müssen: weniger Arbeitslose, weniger Schulden, weniger Bürokratie. Sein Ziel aber hieß: weniger Strauß, minimal Späth, gar kein Biedenkopf. Die Politiker bekämpfen lieber einander als die Zustände. Mit bloßem Auge ist der Regierungswechsel von Schmidt zu Kohl auf dem Armaturenbrett der Volkswirtschaft kaum zu erkennen, auch wenn viele Konservative das noch immer glauben: Ja, die Sozialleistungsquote sank, bis zur deutschen Einheit um immerhin 12 Prozentpunkte. Nein, die Ware Arbeitskraft hat sich deswegen nicht verbilligt. Die Lohnnebenkosten stiegen weiter – bei durchschnittlich verdienenden Arbeitern oder Angestellten von 34 Prozent des Bruttogehalts im ersten Regierungsjahr auf 36 Prozent im letzten Jahr vor der 235
deutschen Einheit. Ja, die Staatsquote schrumpfte, also der Staat nahm sich zurück. Aber: Die Schuldenquote, der Anteil dieser Staatstätigkeit, der mit Leihgeld bezahlt wird, stieg seit dem Abgang von Schmidt kontinuierlich an, lag an keinem einzigen Kohl-Tag unter dem, was die Sozialliberalen ihm vererbt hatten. Natürlich fiel das den innerparteilichen Gegnern als Erstes auf. Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Franz Josef Strauß diagnostizierte im Frühjahr 1988 öffentlich »einen erschreckenden Mangel an politischer Linie«; der baden-württembergische Landeschef Lothar Späth stellte in deftigen Worten fest, dass es die Regierung nicht vermocht hatte, die Reformideen der Oppositionszeit in Regierungshandeln umzusetzen: »Die Perlen liegen vor den Säuen.« Und dieser Helmut Kohl, das fügten Späth und seine Freunde gern hinzu, wenn auch etwas leiser, werde sie niemals zu einem wirklichen politischen Schmuckstück zusammensetzen können. Auch die Größen der Wirtschaft fingen bereits zum Jahreswechsel 1987 mit ihren Klagen an, die mit kurzer Unterbrechung die Ära Kohl von nun an begleiten sollten. In einem vertraulichen Protokoll der Präsidiumssitzung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie vom 23. November 1987 heißt es: »Im Inland läuft die Bundesregierung Gefahr, die ihr bisher in wirtschafts- und finanzpolitischer Hinsicht zuerkannte Kompetenz ernsthaft zu verspielen.« Der damalige BDI-Präsident Tyll Necker hatte ausweislich des Protokolls sogar den Eindruck, dass »die zentralen wirtschaftlichen Probleme von Politik und Öffentlichkeit leider immer noch nicht in ihrer Tragweite verstanden sind«. Die Stimmung war mies in diesen Wochen. Die Kohl-Regierung bereitete gerade die Anhebung der Steuern auf Tabak, Alkohol und Benzin vor, um entgegen der versprochenen Steuersenkungspolitik schnell 236
noch ein Loch im Haushalt zu stopfen. Die Beständigkeit des Unbeständigen hat die Industrie an Kohl stets irritiert, der schwankende Kanzler war ihnen gleichermaßen Rätsel wie Ärgernis. Parteifreunde wussten dagegen sehr genau, dass ihr Vormann groß im Kleinlichen war, auf dem Feld der Ökonomie aber ein Suchender blieb, der beim Einzug ins Kanzleramt und auch nach seiner Wiederwahl 1986 über keine Marschroute verfügte, die die Laufrichtung des Landes in Richtung Aufstieg hätte verändern können. »Der Wahrheit halber sollte angemerkt werden«, so Wolfgang Schäuble rückblickend, »dass die Regierungszeit der Union mit allergrößter Wahrscheinlichkeit bereits 1990 geendet hätte, wenn nicht der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung die Karten völlig neu gemischt hätten.« In der eigenen Partei war damals von »Kanzlerdämmerung« die Rede, ohne dass Kohls Sonne bis dahin wirklich gestrahlt hätte. Eine Rebellentruppe aus der eigenen Partei, vorneweg Lothar Späth, Heiner Geißler, Rita Süssmuth und Kurt Biedenkopf, spielte sogar mit der Idee, ihn als Parteichef zu stürzen. Doch da war der rettende Sommer 1989 schon erreicht. Im Ostblock brodelte es, die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Budapest wurden zum Fluchtpunkt einer Bewegung, die Europa – und bald auch Helmut Kohl – verändern sollte. Der Amtsinhaber wachte auf: Die Geschichte gab ihm eine zweite Chance, wie sie im politischen Alltag nicht allzu häufig vorkommt. Kohl hatte nichts getan, sie vorzubereiten, zu beschleunigen oder sonstwie zu befördern. Er wurde Geschichte, bevor er daranging, sie zu machen. Henry Kissinger hatte über die Ära Schmidt gesagt: »Die Geschichte hat ihm übel mitgespielt, weil sie ihm nicht die große Chance gab, die seinem Talent entsprochen hätte.« Kohl dagegen wurde reich beschenkt; als Kanzler im Ab237
wind, dessen Beliebtheit mäßig und dessen ökonomische Bilanz mittelmäßig war, hätte er auf der hinteren Bank der deutschen Kanzler Platz nehmen müssen: Irgendwo zwischen Kiesinger und Erhard, in Sichtweite von Schmidt, weit weg von Adenauer und Brandt. Im Herbst 1989 trat dann zwar kein neuer, aber doch ein anderer Kohl vor das Publikum. Ein Mann, der zupackte, nicht zauderte, der die Gelegenheit erkannte und nutzte, der sich von seiner Grundüberzeugung, die deutsche Einheit vollenden zu wollen, von niemandem mehr ablenken ließ: Nicht von den DDR-Regierenden, die ihm in der Stunde allergrößter Not eine Vertragsgemeinschaft zweier deutscher Staaten andienten, nicht von den Sozialdemokraten, die an eine Konföderation dachten und damit auf dem Weg zur Einheit einen Zwischenschritt eingelegt hätten und erst recht nicht von seinem Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, der in den entscheidenden Sitzungen des Kohlschen Küchenkabinetts auf enge Abstimmung mit den Westalliierten drängte. Kohl stand nun mit auffälliger, ja beeindruckender Selbstsicherheit da und tat, was er bisher nur im Ausnahmefall getan hatte: Er führte.
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Kohl II. Zum Glanzstück geriet ihm jener »Zehn-Punkte-Plan«, der zugleich sein Fahrplan zur Deutschen Einheit werden sollte. Mit der Ausarbeitung war der außenpolitische Berater Horst Teltschik am 23. November 1989 beauftragt worden. »Es war der Zeitpunkt gekommen, öffentlich die Meinungsführerschaft zu übernehmen«, notierte Teltschik in seinem Tagebuch. Die Vorarbeiten im Kanzleramt waren abgeschlossen, als Helmut Kohl am Wochenende vom 25. auf den 26. November 1989 im heimischen Oggersheim daranging, dem Plan seinen Stempel aufzudrücken. Ehefrau Hannelore tippte auf der Reiseschreibmaschine, steuerte »manch wertvolle Anregung« bei, wie die beiden Journalisten Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth in ihrer präzisen Rekonstruktion der Ereignisse festhielten. Aus der Ferne war mehrfach der Staatsrechtler und ehemalige CDU-Verteidigungsminister Rupert Scholz zugeschaltet, vor Ort saßen dem Ehepaar Kohl zwei Geistliche zur Seite, die Gebrüder Ramstetter. Studiendirektor im Ruhestand der eine; Stadtdekan in Ludwigshafen der andere. Beiden hatten des Öfteren schon an Kohls Redemanuskripten mitgewirkt. Der Zehn-Punkte-Plan knüpfte jede weitere Wirtschaftshilfe für die DDR an das Abhalten allgemeiner und freier Wahlen. »Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren«, heißt es da. Nur demokratisch legitimierte Regierungen könnten neue Formen der institutionellen Zusammenarbeit verabreden. Das war keine Absage an die von der DDR-Regierung vorgeschlagene Vertragsgemeinschaft zweier deutscher Staaten, aber es war nun eine Hürde zu überspringen, die sich als zu hoch erwies, um 239
von der SED noch genommen zu werden. In Punkt 5 folgte das zentrale Anliegen des Plans: »Wie das wiedervereinigte Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Dass die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen – dessen bin ich mir sicher.« Das klang wie eine der wolkigen Beschwörungsformeln aus den Jahren der Teilung, war es aber nicht. Kohl hatte mit Bedacht »die Menschen in Deutschland« zur letzten Instanz ihrer Geschichte ernannt, was angesichts westeuropäischer Zögerlichkeit und sowjetischer Widerstände ein mutiger, fast schon tollkühner Schritt war. Der Kanzler, den viele seiner Parteifreude bis dahin als Zauderkünstler beschrieben hatten und dessen Unsicherheit sich oftmals hinter schneller Reizbarkeit zu erkennen gab, war nun ganz bei sich. Kohl-Biograph Jürgen Leinemann: »Unter neuer Beleuchtung wirkte auf einmal positiv, was bisher als Nachteil galt. Dass er phantasiearm ist, schützte den Kanzler jetzt vor den Ängsten über den Ungewissen Ausgang seines Tuns. Er ließ sich auch keine einreden.« In der Stunde der Entscheidung strahlte er jene unbeirrbare Selbstsicherheit aus, die ihm bislang gefehlt hatte. Vom Parteipolitiker hatte er es zum Amtsinhaber gebracht, nun stieg er zum Staatsmann auf. Er gab in den folgenden Monaten ziemlich genau jene politische Überfigur ab, die Kirsch und Mackscheidt in der Theorie schon beschrieben hatten: »Während der Amtsinhaber die neurotische Enge und Ängstlichkeit der ihn politisch tragenden Bürger teilt, hat der Staatsmann sie für seine Person überwunden. ( … ) In der Folge bedeutet dies, dass der Staatsmann, im Gegensatz zum Amtsinhaber, seinen politischen Erfolg nicht darauf gründet, dass er borniert ist, wo seine Wähler dies auch sind, nur eben unerschütterlicher, sondern dass 240
er bei seiner Klientel auf Resonanz stößt, weil er jene Grenzen überwunden hat, die sie einengen.« Kohl II. traute sich Dinge zu, die Kohl I. sich strikt untersagt hätte. Ausgerechnet der Mehrfachabsicherer verzichtete darauf, Briten und Franzosen vorab über seinen Zehn-Punkte-Plan zu informieren. Selbst dem US-Präsidenten ließ er erst wenige Stunden vor seiner Verkündung auf einer verschlüsselten Datenleitung das historische Dokument übermitteln, mit der ausdrücklichen Aufforderung, in den anstehenden Gesprächen mit den Sowjets »keinen Festlegungen zuzustimmen, die den Handlungsspielraum unserer Deutschlandpolitik einschränken könnten«. Schon das war deutlich, aber Kohl wurde in dem damals vertraulichen, mittlerweile öffentlichen Begleitschreiben an George W. Bush senior noch deutlicher. Er sprach der Supermacht rundweg das Recht zum Einschreiten ab: »Freiheit, Menschenrechte und Selbstbestimmung sind die Grundwerte, auf denen unser Bündnis beruht. Sie sind auch der Kern der deutschen Frage. Niemand hat das Recht, sie den Deutschen in der DDR zu verwehren.« Die Amerikaner akzeptierten, die Russen reagierten hinter den Kulissen schroff, Gorbatschow nannte Kohls Plan im Gespräch mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher »ein Diktat«, öffentlich allerdings wagte auch er nicht den Frontalangriff. Die internationale Reaktion war weltweit vielversprechend, was die deutsche Parteipolitik nicht davon abhielt, sich auf dem kleinsten Karo auszutoben. Oskar Lafontaine, der damals starke Mann der SPD, sprach von einem »diplomatischen Fehlschlag« und von »Kohlonialismus«, Richard von Weizsäcker, leidenschaftlicher Kohlfeind seit Jahren schon, warnte vorm »Zusammenwuchern« der beiden Teile Deutschlands, was aus Sicht des Kanzlers, so sagte er später, »alles andere als hilfreich war«. 241
Der Kohl-Skeptiker Rudolf Augstein hatte längst vor aller Welt »Glückwunsch Kanzler!« gerufen, doch Weizsäcker brauchte mehrere Jahre, um die Leistungen des Parteifreundes anerkennen zu können, und auch das gelang ihm nur unter Qualen. »Die kraftvoll wahrgenommene Chance zur nationalen Einheit war für Kohl ein durchaus unverhofftes Glück«, heißt es in seinem Buch Drei Mal Stunde Null? 1949 – 1969 – 1989. Dabei war nur die Chance ein großes Glück. Kraftvoll wahrnehmen musste sie der Kanzler schon selbst. Die Wiedervereinigung des zweigeteilten Landes wurde Realität und zwar schneller, als viele gedacht hatten. Innerhalb weniger Monate katapultierte sich Kohl, der »Kanzler der Einheit«, in die erste Reihe der deutschen Nachkriegskanzler. Sein Platz im Geschichtsbuch war damit gesichert, neben Adenauer und Brandt, wenn nicht gar in der Reihe davor. Allerdings ist dieses Kapitel deutscher Geschichte noch nicht zu Ende geschrieben. Der Preis der Einheit, von dem so häufig die Rede ist, war kein Festpreis. Er steigt von Monat zu Monat, addierte sich in den dreizehn Jahren, die seither vergangen sind, auf über l250 Milliarden Euro. Das bedeutet ökonomisch nichts anderes, als dass der Volkswirtschaft im Westen in beträchtlichem Maße Energie entzogen wird, ohne dass ein eigener Energiekreislauf im Osten bisher in Gang kam. Denn die dortige TransferÖkonomie ist allein nicht lebensfähig und, bedenklicher noch, sie ist diesem Ziel in den letzten Jahren auch nicht näher gekommen. Der Aufbau-Ost trägt seinen Namen zu Unrecht, er ist in allererster Linie ein Aushalten-Ost und hat die Kernschmelze der gesamten Volkswirtschaft enorm beschleunigt. Die Politiker schweigen, weil sie die Gefühle von 16 Millionen ehemaliger DDR-Bürger nicht verletzten wollen und die Westdeutschen nicht aus der 242
Solidarität entlassen können. Öffentlich finden sie am Aufbau im Osten die Ergebnisse falsch, aber nicht das, was diese Ergebnisse produziert.
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Der Westen wird zur Kolonie des Ostens Es geht hier nicht um die großen Irrtümer des Helmut Kohl. Die hat es reichlich gegeben, sie waren in einer historischen Situation wie dieser unvermeidbar. Kohl konnte das Ausmaß seiner Entscheidungen zum Zeitpunkt, als er sie fällte, nicht absehen. Er musste die Experten übergehen, wollte er das politische Ziel nicht gefährden. Das Risiko des Irrtums ist für den, der daran geht, Geschichte zu gestalten, Teil der Geschäftsbedingungen. Betrachten wir noch einmal den 18. Mai 1990, als Kohl anlässlich der Unterzeichnung des Vertrages zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zu den Bürgern der DDR sprach. Wir stellen schnell fest, dass der Einheitskanzler keine andere Möglichkeit hatte als die, den Menschen die Unwahrheit zu sagen: »Die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft bietet Ihnen alle Chancen, ja die Gewähr dafür, dass Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, dass Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder blühende Landschaften in Deutschland sein werden, in denen es sich für jeden zu leben und zu arbeiten lohnt.« Heute wissen wir, dass von »blühenden Landschaften« ökonomisch nicht die Rede sein kann und dass sich das Arbeiten für sehr viele als echte Unmöglichkeit herausstellt, die Marktwirtschaft bietet eben, wenn sie funktioniert, die Chance zum Aufstieg, aber niemals »die Gewähr«. Diese Übertreibungen, später der Grund mancher Enttäuschung im Osten, dürfen wir Kohl nicht vorwerfen: Erstens glaubte er, was er sagte, weil es viele glaubten. Zweitens schienen derartige Lockgesänge angesichts der starken Fluchtbewegung von Ost nach West 244
politisch geboten, denn drittens war die staatliche Einheit noch nicht erreicht und jede politische Destabilisierung konnte die Alliierten zurück auf den Plan rufen. Das kühne und am Ende unerfüllbare Versprechen war also Teil des Einigungswerkes. Alle damaligen Kabinettsmitglieder versuchten die Erregungswellen im Osten zu glätten und durch Versprechungen die Nerven der Nischengesellschaft DDR, die nun auf einmal so grell ausgeleuchtet wurde, zu beruhigen. Am weitesten ging Finanzminister Theo Waigel, als er den Ostdeutschen am 23. Mai in einer Bundestagsrede zurief: »Der Staatsvertrag bringt unsere erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft, unsere stabile Währung sowie unsere soziale Vorsorge und damit die Perspektive entscheidend verbesserter Lebensbedingungen. Er steht für eine bessere Zukunft und nicht für Verzicht und Entbehrung, wie manche unseren Mitbürgern in der DDR einflüstern wollen.« Selbst da, wo Kohls Fehler von Anfang an absehbar war, beim Umtausch weitgehend wertloser Mark der DDR in die Deutsche Mark, glaubte er sich politisch alternativlos. Das Gegenteil können wir ihm nicht beweisen, weshalb die Debatte darüber sinnlos ist. Eines allerdings lässt sich heute mit Gewissheit sagen: Die Befürchtungen, die damals zum Rücktritt des Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl führten, erwiesen sich als unberechtigt. Der hohe Umtauschkurs, der für ein Handgeld von 4000 Mark eins zu eins und für Sparguthaben und Schulden zwei zu eins lautete, führte nicht zu der von Pöhl befürchteten, das Lande ruinierenden Inflation. Die Männer von der Bundesbank hatten sich geirrt, weil sie mit der Klugheit der Ostdeutschen nicht gerechnet hatten: Diese schaufelten das neue Geld, das zweifellos einen Geldüberhang bedeutete, dem rechnerisch kein entsprechender Warenwert gegenüberstand, eben nicht mit vollen 245
Händen in die Kassen der Warenhauskonzerne, sondern portionierten den Geldabfluss. Sie dachten an die Zukunft – und verhinderten so die große Inflationsblase, die auch im Westen zur Entwertung der Löhne und des Ersparten geführt hätte. Noch etwas muss zu Kohls Entlastung angeführt werden. Er war in den Jahren der historischen Entscheidungen weitgehend auf sich gestellt. Seine Wirtschaftsminister hatten allesamt nicht das Format, das schon zu normalen Zeiten in der Führung der drittgrößten Industrienation der Welt erwartet werden darf. Graf Lambsdorff war im Strudel der Flick-Affäre untergegangen und was die FDP dem Kanzler als Ersatz bot, löst noch im Nachhinein Befremden aus, wenn man bedenkt, dass es sich um die Erben von Erhard, Schiller und Schmidt handelte. Auf den Genussmenschen Martin Bangeman folgte der schwäbische Mittelstandspolitiker Helmut Haussmann, ein Mann mit guten Manieren und ohne jedes Gespür für die Größe der Aufgabe. Schließlich zog der Grund- und Hauptschullehrer Jürgen Möllemann im Wirtschaftsministerium ein, der zwischen privatem und öffentlichem Nutzen nicht so Recht zu unterscheiden vermochte und daher bald wieder ersetzt werden musste. Ihm folgte eine Berliner Lokalgröße namens Günter Rexrodt. Der hatte die Politik eigentlich schon an den Nagel gehängt, um als Vorstandsvorsitzender zur deutschen Niederlassung der Citibank nach Frankfurt zu wechseln. Die Bilanzsumme des Instituts in Deutschland war damals kleiner als die der Stadtsparkasse in Nürnberg. Diese Männer haben die Komplexheit der Aufgabe, eine Staatswirtschaft in die Marktwirtschaft zu überführen, nicht etwa unterschätzt, sie haben sie nicht verstanden. Als Rexrodt zum Amtsantritt das Bonmot entfuhr, »Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt«, hätte man ihn freundlich, 246
aber bestimmt wieder zur Citibank geleiten müssen. Die Vereinigung war politisch, historisch, kulturell und sicherheitspolitisch ein Zugewinn. Ökonomisch war sie nicht nur ein schlechtes Geschäft, sie war ein Desaster. Rund 110000 Quadratkilometer Land mit 16 Millionen Menschen sind hinzugekommen, deren Wohnungsbestand zu 70 Prozent aus der Zeit vor Gründung der DDR stammte, deren industrielle Produktivität bei weniger als einem Drittel der westdeutschen lag. Diese Produktivität wurde erzielt mit einem Kapitalstock, der weitgehend verschlissen war und, wie sich später herausstellte, unter Weltmarktbedingungen sogar einen Minussaldo in dreistelliger Milliardenhöhe aufwies. Die Grundstücke waren oft chemisch kontaminiert, der Schwefeldioxidausstoß lag um das Siebenfache über dem westdeutschen und um 50 Prozent über dem ungarischen Niveau, die Fabriken waren mit Schulden belastet, die im Zuge der Währungsumstellung den Neuanfang erschwerten und vielerorts unmöglich machen sollten. Selbst die niedrige Produktivität war nur so lange real, wie die Märkte für deren Waren existierten. Mit der Einführung frei konvertierbarer Westmark aber, dem nun einzigen Zahlungsmittel, war der bisherige Markt in Osteuropa entfallen. Rund 900000 Arbeitsplätze in der DDR hingen allein vom Handel mit der Sowjetunion ab, rund 10 Prozent aller Beschäftigten also. Die neuen Preise in der neuen Währung konnte dort niemand zahlen. Die DDR fiel als Handelspartner aus, womit die gesamte Arbeitsteilung im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zusammenbrach. Am 28. Juni 1991 löste sich dieser ökonomische Staatenverbund offiziell auf. Der mehr oder minder wertlos gewordene Produktionsapparat der DDR wurde von der Treuhandanstalt privatisiert oder liquidiert und oftmals beides hintereinander. Die 247
geglückte Privatisierung zählte eher zur Ausnahme, weshalb die Superbehörde ihre Arbeit Ende 1994 ohne große Feierlichkeiten einstellte. Die Bilanz ihres Wirkens fiel bescheiden bis beschämend aus: Von den alten Arbeitsplätzen wurden drei Viertel vernichtet. »Niemals zuvor in der Geschichte einer Industrienation«, sagt HansWerner Sinn, Chef des Müchner ifo-Instituts, »hat es einen so starken Einbruch der Wirtschaftstätigkeit gegeben.« Klaus von Dohnanyi fügt hinzu: »Die neuen Länder wurden nach 1989 weitgehend entindustrialisiert.« Die Rückwirkungen auf die Volkswirtschaft des gesamten Landes sind unmittelbar und sie sind gravierender, als es den Einheitspolitikern der ersten Stunde bewusst war. Die erweiterte Bundesrepublik ist seit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und dem wenig später von Wolfgang Schäuble und Günther Krause ausgehandelten Staatsvertrag ein Land, dessen unproduktive Kruste sich über Nacht enorm ausgeweitet hatte, ohne dass der Energiekern nennenswerten Zuwachs erhielt. Aus der kaum gewachsenen Kernenergie, erwirtschaftet von 27,5 Millionen Sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und zwei Millionen Selbstständigen, muss nun eine zweistellige Millionenzahl an Ostbürgern mitfinanziert werden. Selbst ein großer Teil der Beschäftigten der ExDDR, die offiziell mit sechs Millionen angegeben werden, sind keine Beschäftigten im produktiven Sinne, sie liefern nicht die Energie, die sie verbrauchen. Das Kapital ihres Arbeitsplatzes und oft auch das Geld für die Auszahlung ihres Lohnes wurden zuvor im Westen verdient: Der öffentliche Dienst weist noch einen politisch gewollten Überhang von 30 Prozent gegenüber der Westversorgung mit Staatsbediensteten aus. In der Privatwirtschaft werden viele Ostbetriebe trotz fehlender Gewinne mitgeschleppt, die Bankenfilialen beispielsweise arbeiten zu einem 248
Großteil defizitär. Die Gewinne der Handwerksbetriebe und Baufirmen speisen sich zu einem Großteil aus Aufträgen, die der Steuerzahler-West zuvor erteilt und erwirtschaftet hat. Die Einkünfte in Kleingewerbe, Tourismus und Gastronomie sind Einkünfte, die scheinbar am Markt erzielt werden. Aber erst nachdem dieser Markt durch milliardenschwere Sozialtransfers des Westens ausgestattet wurde. Beim Einzelhandel bietet sich ein ähnliches Bild: Das Geld, das in den Kassen der Ost-Warenhäuser und Supermärkte landet, wurde vorher zu einem großen Teil im Westen Deutschlands verdient. 47 Prozent aller Erwachsenen in Ostdeutschland bestreiten ihren Lebensunterhalt nach Berechnungen des ifo-Instituts überwiegend aus Sozialtransfers.
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Jährlich muss der Westen, so die derzeit bindende Vertragslage, die fünf neuen Bundesländer mit einem Geldgeschenk von rund 85 Milliarden Euro beliefern, weitere knapp 28 Milliarden kommen durch Kredite der Ostländer und andere Kapitalimporte hinzu, so dass die ehemalige DDR einen Großteil der von ihr konsumierten Energie über Steueraufschläge (Solidaritätszuschlag) und gestiegene Sozialabgaben direkt aus dem Kraftzentrum der deutschen Volkswirtschaft absaugt, was die unternehmerische und private Rentabilität der Arbeitsplätze dort spürbar verschlechtert. Nur 18 Milliarden Euro von den insgesamt 113 Transfermilliarden pro Jahr sind privat investiertes Geld. Kulturell ist es sicher so, dass der Westen den Osten dominiert; politisch hat der Westen dem Osten zweifellos sein System übergestülpt, ökonomisch allerdings verhalten sich die Dinge anders: Der Westen wurde im Zuge der Wiedervereinigung zur Kolonie des Ostens. Der zwangsweise erhobene Solidaritätszuschlag und die Sonderleistungen im Rahmen der Sozialkassen entsprechen der von den deutschen Kolonialherren 1910 in Deutsch-Südwestafrika eingeführten Eingeborenen-Kopfsteuer. Der wichtigste Unterschied ist die Höhe der Zahlungen: Alle fünf großen deutschen Übersee-Besitzungen, Kamerun, Togo, Neuguinea, Deutsch-Südwestafrika und DeutschOstafrika, brachten dem Deutschen Reich zu besten Zeiten nur rund 60 Millionen Mark, was heute rund 300 Millionen Euro entsprechen würde. Die Ex-DDR kassiert im Westen weitaus beherzter ab, um jene »Einheit in Würde« zu erreichen, die der letzte Parteichef der OstCDU, Lothar de Maiziere, von Kohl gefordert hatte. Jährlich liefert Westdeutschland rund 4,6 Prozent seines Warenausstoßes im Osten ab, was etwa einem Drittel des Bundeshaushalts entspricht. Da der Westen selbst gar 250
nicht um 4,6 Prozent wächst, sondern in den vergangenen beiden Jahren sogar stagnierte, erfolgt die Belieferung des Ostens aus der Substanz, was sich mittlerweile mit bloßem Auge am Zerfall der öffentlichen Infrastruktur (des Westens) erkennen lässt. Die kommunalen Investitionen der westlichen Bundesländer befinden sich seit zehn Jahren auf Talfahrt, von den einst 30 Milliarden Euro sind 2002 nur 20 Milliarden Euro geblieben. Klaus von Dohnanyi urteilt: »Diese Leistungen zehren seit Jahren an der Wirtschaftskraft des ganzen Landes. Im Westen, dem Kraftzentrum, beginnen Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen unmittelbar zu leiden.«
Der Osten zapft seine Westkolonie keineswegs zur Ertüchtigung der eigenen Wirtschaftskraft an. Das gibt es auch, aber fast schon nebenbei. Die Milliarden fließen zu zwei Dritteln in den Konsum der Ostbürger, werden ausgegeben für Renten, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und Kindergeld. Beim Nachrechnen ergeben sich erstaunliche Proportionen: Die Rentner im Osten stehen, selbst unter Hinzurechnung der westlichen Betriebsrenten, heute besser da als die Pensionäre im alten Bundesgebiet. Ökonomisch ist dieser Konsumtransfer dem 251
zumindest verkündeten Ziel, den Aufbau-Ost voranzubringen, eher hinderlich. Die einfache Arbeitskraft wird durch hohe Löhne und hohe Lohnersatzleistungen praktisch stillgelegt, weil jeder Unternehmer nun den Staat überbieten muss. Aber wie soll ihm das gelingen? Das Lohnniveau (77,5 Prozent West in 2002) und das Produktivitätsniveau (71,1 Prozent West) machen die Schaffung neuer Arbeitsplätze fast unmöglich. Ostdeutschland ist damit für Kapitalisten das am wenigsten attraktive Land der Europäischen Union. Zwischen Preis und Leistung der Ware Arbeitskraft klafft eine Lücke, für die kaum ein Investor Verständnis aufbringt. Das Wohlstandsniveau lässt sich mit Hilfe der Westmilliarden steigern, ein sich selbst tragender Wirtschaftskreislauf allerdings kommt so niemals in Gang. Seit etlichen Jahren schon ist klar, dass die Aufbauhilfen für den Osten in Wahrheit einen Transferstaat begründeten, der für die Ewigkeit konzipiert ist. Denn die Angleichung von West-Wirtschaft und Ost-Ökonomie, die Voraussetzung für ein Ende der westlichen Kolonialdienste, ist nicht zu beobachten und auch nicht zu erwarten. Der Osten müsste den Westen dann ja im Wachstumswettbewerb schlagen, Monat für Monat, Jahr für Jahr, um irgendwann gleichzuziehen. Wir beobachten seit fünf Jahren das genaue Gegenteil: Der Osten driftet weg, verschlechtert seine Ausgangslage, lässt die beabsichtigte und notwendige Niveauangleichung damit zur Fiktion werden, ohne dass sich einer in Ostdeutschland daran stört. Die Produktivität der erwerbsfähigen Personen, also der Anteil derer am Bruttoinlandsprodukt, die arbeiten könnten, hat in den ersten fünf Nachwendejahren einen Sprung von zunächst 30 Prozent auf 60 Prozent des Westniveaus gemacht, ist dort drei Jahre verharrt, um seit 1999 wieder zurückzufallen, auf zuletzt 58 Prozent des westlichen 252
Produktivitätsniveaus. Diese Zahlen sind geschönt, weil, wie wir wissen, auch hier die zugrunde liegende Berechnung des Bruttoinlandsprodukts nicht danach fragt, woher das Geld für die Löhne kommt: Es kommt aber zu einem Gutteil aus dem Westen, nicht nur bei den Gehältern der Staatsbediensteten. Die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts fragt auch nicht, wie der Auftrag für den Malermeister, den Maschinenbauer, das Straßenbauunternehmen bezahlt wurde, ob aus Steuermitteln-West, aus SchuldenOst oder aus echten Gewinnen und Gehältern. Aber das Verrückte ist eben: selbst diese staatlich schöngeschminkten Produktivitätskennziffern nehmen ab, was die Dramatik der Lage erahnen lässt. Der Rückfall der Ost-Produktivität mag viele verwundern, angesichts der massiven Investitionen von Staat und Privatwirtschaft. Die ostdeutschen Straßen und das Telefonnetz sind mittlerweile hochmodern, viele Betriebe wurden rundum erneuert, bilden regelrechte HightechInseln, deren Kapitalausstattung oft noch vor der des Stammbetriebs im Westen liegt. Doch erstens stehen diese Inseln inmitten einer Zone stillgelegter Produktivität, nur 15 Prozent aller Ostbeschäftigten arbeiten überhaupt in der Industrie, im Westen sind es doppelt so viele. Zweitens steht diesen hochproduktiven Jobs die noch immer steigende Zahl von Arbeitslosen gegenüber, deren Produktivität mit dem letzten Arbeitstag auf null schrumpft. Eine steigende Produktivität senkt eben, wenn sie mit dem Aussteuern von Mitarbeitern einhergeht, die volkswirtschaftliche Produktivität. Denn einer leistet zwar mehr, aber zwei andere nichts mehr, so dass der Durchschnitt automatisch sinkt. Nach Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit hat sich die Zahl der Beschäftigten von 1990 bis 1994 um ein Drittel reduziert und ist seither noch mal um knapp 20 Prozent gefallen. Selbst innerhalb der 253
Ostwirtschaft wächst also die Kruste der Volkswirtschaft, derweil der ohnehin kleine Energiekern schmilzt. Die versicherungspflichtige Beschäftigung geht kontinuierlich zurück, »ohne dass sich eine Verlangsamung der Fallgeschwindigkeit und eine Bodenbildung abzeichnen würden«, sagt ifo-Chef Sinn. Auf Dauer hält das keine Volkswirtschaft durch. Die alten Probleme des Westens – ein überdehnter Sozialstaat, die zu hohe Staatsverschuldung, fehlende Innovationskraft und eine zunehmend zerschlissene öffentliche Infrastruktur – potenzieren sich seither.
Das wirkliche Versäumnis Kohls liegt in der Nichtbeachtung dieser Fehlentwicklungen. Er konnte sie nicht kennen, als er die Währungsunion verhandelte, den Staatsvertrag unterschrieb und den Solidarpakt mit den Ländern schmiedete. Danach aber konnte er sie sehen, hören, fühlen, wenn er nur offenen Auges sein Land bereist hätte: Aber er wollte nun nichts mehr sehen, hören, fühlen. Mit 254
der gleichen Sturheit, die ihm in den entscheidenden, den historischen Stunden zur Übergröße verhalf, hatte er nun alle Fehlsteuerungen, die sich aus der überstürzten deutschen Einheit ergaben und zum Teil geradezu zwangsläufig ergeben mussten, einfach ignoriert. »Der Kanzler muss die gravierenden Irrtümer der Anfangsphase endlich korrigieren«, mahnte bereits im März 1992 Kurt Biedenkopf, damals Ministerpräsident in Sachsen. »Helmut Kohl hat politisch alles richtig und wirtschaftlich alles falsch gemacht«, sagt auch Lothar Späth, seit nunmehr 12 Jahren Vorstandschef der ostdeutschen Jenaoptik AG. Doch Kohl II. war früh schon erloschen. Der erneut zum Amtsinhaber geschrumpfte Regierungschef lavierte nach vollbrachter Großtat zwischen den Machtblöcken der Gesellschaft hin und her, wie er es vorher auch getan hatte. Maximal war er bereit, begrenzte Konflikte mit den Interessengruppen zu riskieren, mehr nicht. Er wollte sich weder im Westen noch im Osten unbeliebt machen, schon gar nicht durch Korrekturen am eigenen Werk. Alle Diskussionen um einen Neustart in der Einheitspolitik beendete er, bevor sie richtig begonnen hatten. Eine Sanierungspolitik der Treuhand, die Idee eines Niedrigsteuergebietes seines Vizes Genscher, ein Lohnstopp, die Einführung staatlicher Lohnsubvention, die Beteiligung der Ostdeutschen am Firmenvermögen im Gegenzug für einen Lohnverzicht? Kohl schüttelte jedes Mal den Kopf, in der einzig erkennbaren Absicht, die jeweils nächsten Wahlen unbeschadet zu überstehen. Keine Zumutungen für niemanden und schon gar nicht für ihn, den Einheitskanzler, der sein Werk für unantastbar erklärte. An jedem Jahrestag entfuhren ihm die gleichen Durchhalteparolen wie im Jahr zuvor: »Auf dem gemeinsamen Weg zu einheitlichen Lebensverhältnissen in Deutschland ist die Aufbauhilfe der alten Länder weiter 255
unverzichtbar«, rief er dann. Anders als es Lafontaine gemeint hatte, war nun doch ein Kohlonialismus entstanden, in dem der Westen den Osten mit den Früchten seiner Arbeit belieferte und es ohne Korrektur bis in alle Ewigkeit tun wird. Die Meinungsforscher des AllensbachInstituts, auf die Kohl sich stützte, hatten nach all den Turbulenzen eine gewisse Reformmüdigkeit im Wahlvolk geortet und der Regierung mehr oder minder das Nichtstun angeraten, was Schäuble schon damals als »Verhängnis« empfand. Kohl folgte dem Rat der Meinungsforscher, der seinem Gespür, der eigenen Erschöpfung, dem wieder gesunkenen Mut aufs Schönste entgegenkam. Die Modernisierung der Volkswirtschaft, jenes Versprechen zum Amtsantritt 1982, war von der Agenda verschwunden. Er wollte das im Osten erreichte finanziell und politisch absichern, also organisierte er Steuererhöhungen, um den Ostaufbau zu finanzieren, führte die Frühverrentung auf Kosten der Sozialkassen ein, um den Arbeitsmarkt zu entlasten, schenkte dem Land als neueste soziale Errungenschaft die Pflegeversicherung, um vor allem den Westlern das Gefühl zu nehmen, sie müssten nur noch für andere schuften. Die politische Rationalität hatte gesiegt, die krisenhaften Symptome des Landes wurden durch Notbehelfe gelindert, scheinbare Erfolgsmeldungen und neue Kreditaufnahmen verlängerten eine Normalität, die als Normalität aufgehört hatte zu existieren. Ökonomisch bedeuteten alle Maßnahmen jener Zeit die zusätzliche Verkleinerung des produktiven Kerns: Die Frühverrentung beförderte rund 500000 Menschen von der Plus- auf die Minusseite der Bilanz, die dadurch steigenden Lohnnebenkosten fraßen weitere Jobs. Auch die Einführung der Pflegeversicherung, obwohl der Altersaufbau bekannt und die Schwierigkeiten des Umlageverfahrens offensichtlich waren, wurde entsprechend 256
dem alten, längst kollabierten System abgewickelt. Kohl wusste, dass die Zahlungsschwierigkeiten erst nach seiner Amtszeit beginnen würden. Angesichts einer SPD, die schon bei kleineren Sparbeschlüssen von »Sozialem Kahlschlag«, von einer klaffenden »Gerechtigkeitslücke«, einer »Umverteilung von unten nach oben« sprach, versuchte die Union sich Mitte der neunziger Jahre als die sozialere Volkspartei zu präsentieren. Im deutschen Bundestag wurden denkwürdige Debatten geführt. So hatte die SPD, in der seinerzeit die Traditionalisten das Wort führten, der Regierung am 22. Oktober 1993 mal wieder den »Weg in eine andere Republik« unterstellt: »Ihre Einsparungen sind überwiegend nicht fiskalisch motiviert. Dahinter steckt vielmehr die Ideologie von der Ellenbogengesellschaft. Diese Regierung möchte bewusst den Starken gefallen, die Schwächeren und Leistungsgeminderten drängt sie dagegen weiter an den Rand«, rief Adolf Ostertag, heute ein Niemand, damals ein aufstrebender Sozialpolitiker seiner Fraktion. Er beendete seine Rede mit der seinerzeit klassischen Schlussformel: »Den Weg in eine andere Republik, die Demontage des Sozialstaates machen wir Sozialdemokraten nicht mit.« Norbert Blüm trat ans Rednerpult, in der Absicht, die Vorwürfe zurückzuweisen, was ihm glaubwürdig gelang. In wenigen Sätzen fasste er dabei die volkswirtschaftliche Unmöglichkeit der Konischen Politik zusammen: »Deshalb am Ende der Debatte ein paar Bemerkungen, nur zur Erinnerung. Die Sozialausgaben pro Kopf sind seit 1989 um 12 Prozent gestiegen. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf ist in der gleichen Zeit um 15 Prozent gesunken. ( … ) Wir sind nach wie vor ein Sozialstaat, wie es kaum einen zweiten in der Welt gibt.« Das war nichts als die absurde Wahrheit. 257
Erst später, in seinen im Jahr 2000 veröffentlichten Erinnerungen, sprach Kohl von den Versäumnissen dieser Zeit. »Es war ein Fehler, die Reformdiskussion bis in die Mitte der Legislatur zu schieben«, notierte er unmittelbar nach der verlorenen Bundestagswahl des Jahres 1998. Denn die Bilanz der gesamten Ära ist ökonomisch verheerend: Die Staatsverschuldung plus 65 Prozent, die Arbeitslosigkeit plus 60 Prozent, das Wachstum erschlafft und nicht eines der Probleme, mit deren Lösung er 1982 beauftragt worden war, hatte er gelöst. So führte der dritte Kohl noch hinter den ersten zurück, was den Amtsinhaber erkennbar verunsicherte. Wieder fing er an zu suchen, zu zaudern, zu warten, zu telefonieren, zu tänzeln, zurückzuweichen, maulig zu sein, nach vorn zu rücken, in Bewegung zu bleiben, auch wenn diese Bewegung ihn im Kreis herumführte. Kohl III. war eine eher traurige Gestalt, der seine stolzesten Momente dann erlebte, wenn er auf Gedenkfeiern und Auslandsreisen an sich selbst erinnern konnte. Diese Rückversicherung in der Geschichte verlieh ihm für einige Stunden wieder historische Größe, die allerdings von nur flüchtiger Beschaffenheit war. Kohl führte von nun an eine Scheinehe mit sich selbst, wobei die Gewichte in dieser Partnerschaft ungleich verteilt waren. Der erstarrte Amtsinhaber betete den Einheitskanzler an, rief ihn zu Hilfe, wann immer er in Bedrängnis kam. Auf Wahlkämpfen stellte er ihn neben sich, als großen Bruder und Bewacher, als spirituelle Erscheinung, die das fahle Gesicht des Amtsinhabers mit dem milden Glanz der Geschichte versorgte. Heute wissen wir: Kohl ist für beides verantwortlich, die deutsche Einheit und den seither beschleunigten Abstieg des Landes. Deutschland wurde von ihm vereint – und geschwächt.
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KAPITEL 7 WAS TUN?
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Auf den Kanzler kommt es nicht an Stünde Deutschland heute besser da, wenn es nicht von Gerhard Schröder regiert würde? Käme das Land wieder nach vorn, so müsste die Frage korrekt lauten, wenn das Doppelgespann an der Spitze, rechts der sozialdemokratische Amtsinhaber, links sein grüner Vize, zügig ausgewechselt würde? Denn wir leben im Land der Koalitionsregierungen. Nehmen wir für einen Augenblick an, die CDUVorsitzende Angela Merkel und der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle hätten das Sagen, würden einer schwarz-gelben Koalition vorsitzen, dürften und müssten tun, was sie von Schröder und Fischer zu Recht verlangen: Deutschland aus dem Schlamassel führen, in den das Land schon vor längerer Zeit geraten ist und seither sich immer tiefer hineinbewegt. Der FDP-Mann ist es, der einem das Weiterdenken verleidet, das Gedankenexperiment gerät unversehens zur Polemik. Der Mann wirkt sprunghaft und überdreht. Erkennbar sucht hier einer nach Orientierung, so dass er sie anderen kaum wird geben können. Er ist der erste FDP-Vorsitzende, der noch nie ein Staatsamt bekleidet hat und über keine Erfahrung im Führen von Apparaten verfügt. Sein bisheriges politisches Wirken besteht aus einer Vielzahl von Marketingaktionen, die mit der Selbstkrönung zum Kanzlerkandidaten einen zumindest theatralischen Höhepunkt fanden. Eine Frage vor allem drängt wieder nach vorn, die sich im letzten Wahlkampf festgehakt hat: Was unterscheidet ihn eigentlich von seiner großen Hassliebe Jürgen Möllemann? Im letzten Bundeswahlkampf hatten beide versucht, fette Beute zu machen, 260
waren dafür bereit, im Trüben antisemitischer Ressentiments zu fischen. Erst als das Publikum sich empörte, zog Westerwelle zurück. Das immerhin unterscheidet ihn von Möllemann, er besitzt jene letzte Sicherung, die ihn vom politischen Selbstmord bewahrt, den der andere Hasardeur zu begehen bereit war. Um es frei heraus zu sagen: Mit Westerwelle als Vizekanzler ist der gedankliche Reiz eines Neuanfangs dahin. Unwillkürlich ertappt man sich, der jetzigen Regierung ein langes, erfülltes Leben zu wünschen. Sie ist das bessere Übel. So leicht allerdings sollten wir es uns nicht machen. Nehmen wir also an, Westerwelle ließe sich gegen einen jungen Hans-Dietrich Genscher austauschen, ein politisches Kraftpaket der ersten Garnitur, gewitzt, gebildet, charmant, und dazu noch anerkannt bei Freund und Feind. Schon sähe die Sache anders aus. Ihm vorneweg stünde eine Angela Merkel, die im Laufe der Jahre an Erfahrung und Statur gewonnen hat. Die innerparteilichen Kämpfe haben ihr jene Härte verliehen, die sie zur Führung des Landes braucht. Ihre anfängliche Einsamkeit in der Union, Folge der ostdeutschen Herkunft, ist verflogen. Eine stabile Gefolgschaft hat sie sich aufgebaut, die vor allem aus den Jüngeren in der Partei besteht. In die Wirtschaftspolitik, der sie zunächst fremdelnd, dann abwartend und fast schon lethargisch gegenüberstand, hat sie sich hineingedacht. Die neueren Beschlüsse klingen revolutionär, stehen damit aber allesamt im Kontrast zum Regierungshandeln jener Kohl-Regierung, der auch sie schon angehörte. Sie sind der Wahlkampfspeck von morgen und damit nicht zum Nennwert zu nehmen. Andererseits ist die Zielstrebigkeit der Frau nicht zu unterschätzen. Die Physikerin und Pfarrerstochter besitzt eine Glaubwürdigkeit, die von hohem Wert sein kann. Vor allem, wenn man anderen etwas abverlangen will. So wie 261
Kanzler Schröder nicht aus Eitelkeit, sondern aus politischem Kalkül seine Herkunft aus kleinsten Verhältnissen anführt, könnte auch eine Kanzlerkandidatin Merkel auf einen Lebensweg verweisen, der nach Schweiß und Entbehrung riecht. Die Leute mögen das. In Sachen Charakterfestigkeit ist sie ohnehin den meisten Politikern überlegen. Sie ist die wohl Einzige, die dafür sogar eine Art Zertifikat besitzt. Wenn man sich fragt, wo ein beliebiger Spitzenpolitiker einer beliebigen Partei in Zeiten der Diktatur wohl gelandet wäre, wohin sein Ehrgeiz ihn geführt hätte, hätten wir ihn nicht im Heer der Mitläufer, Mitbrüller, vielleicht auch der Mittäter wiedergefunden? Bei ihr besteht Klarheit. Sie war in der Lage, trotz eines auf die Ewigkeit angelegten DDRSystems, ihren Ehrgeiz einzufrieren. Viele werden diesen Vorzug der Angela Merkel erst nach und nach erkennen, zumal sie ihn bisher nicht übermäßig zur Eigenwerbung eingesetzt hat. In der Außenpolitik, darüber können wir bei einer Oppositionspolitikerin nur mutmaßen, würde sie kaum anderes unternehmen als Schröder und Fischer. Sie müsste am Europäischen Haus weiterbauen, die Nähe zu Franzosen und Briten suchen, freundschaftliche Bande zu unseren Ostnachbarn knüpfen. Die Bundeswehr würde auch unter einer Kanzlerin Merkel immer öfter zu so genannten Friedensmissionen ausrücken. Bliebe das Verhältnis zu den USA: Hier hat sie sich kolossal geirrt, als sie der Großmacht quasi blanko die deutsche Gefolgschaft im Irakkonflikt andiente, als sie den 130000 Soldaten der Vereinigten Staaten, die mit schwerem Gerät, aber ohne Mandat der Völkergemeinschaft ausrückten, ein deutsches Hurra hinterherrief. Was sich da artikulierte, war nicht deutsches Interesse, sondern parteitaktisches Kalkül. Ein falsches noch dazu. Sie hatte auf einen schnellen Sieg der 262
US-Soldaten spekuliert und wollte sich und ihre CDU auf dem Treppchen der Kriegsgewinner platzieren. Die deutsche Regierung, so ihre Hoffnung, würde öffentlich als kleinmütig, gefühlsduselig und amerikafeindlich erscheinen. Es kam bekanntlich anders, was uns zweierlei lehrt: In der Opposition steht ein Talent, aber kein Genie bereit. Und: Außenpolitik lässt sich nur im Regierungsamt erlernen. Hinterm großen Schreibtisch im 7. Stock des Bundeskanzleramtes würde sie ihre Sache, nach allem was wir übersehen können, trotzdem nicht schlechter machen als Schröder. Aber unsere Ausgangsfrage war eine andere: Würde sie es besser machen? Betrachten wir die beiden, die zur Zeit auf der Kommandobrücke der Regierung stehen. Wir sehen zwei Politiker, bei denen die enorme Anpassungsleistung, die sie auf dem Weg nach oben zu erbringen hatten, die politische Spontanität, den Sprachwitz und eine gewisse Raubauzigkeit im Umgang untereinander nicht hat verkümmern lassen. Die ideologischen Häutungen sind abgeschlossen, so dass zwei Pragmatiker das Steuer in der Hand halten, die alles schon gedacht, gesagt und ihm Falle Fischers auch gemacht haben, was ihnen Authentizität verleiht. Ihre Willensstärke ist ohnehin ausgeprägt, ihr Machtinstinkt intakt, das Verhältnis untereinander bedarf von Zeit zu Zeit der Klärung, aber das wird, wie Fischer sich mit Blick auf die unionsinternen Machtkämpfe ausdrückt, »untereinander ausgebissen«. Charakterfragen sind wichtig, aber nicht für alle gleichermaßen. Die Politiker der Opposition, die nur durch das Wort auffallen können, lassen dem Wähler keine andere Wahl: er muss zum Begutachter von Biographien werden. Regierungen werden mit anderem Maßband vermessen. Hinter ihren Worten stehen Taten, ihre Ver263
sprechen wurden gehalten, gebrochen oder beizeiten zurückgenommen. Der Kanzler, und daraus speist sich in aller Regel der so genannte Kanzlerbonus, wird an der Wählerbörse eher als Substanz- nicht als Hoffnungswert gehandelt, er kann testierte Bilanzen vorweisen anstelle wolkiger Geschäftspläne. Wir erinnern uns noch gut: die Ankündigungen von Schröder und Fischer endeten an dem Tag, an dem die beiden von der Oppositionsbank auf die Regierungssessel wechselten. Ihre Worte sind seither kleiner geworden, die Ausrufezeichen haben sich davongeschlichen, die Zeiten, als sie mit Prophetenmine vom rot-grünen Projekt, der anderen Republik, der neuen Zeitrechnung erzählten, liegen weit zurück. Nur noch ungern lassen sich die beiden daran erinnern, wie sie ihren Wählern mit allerlei Kühnheiten den Hof machten. Und dass die alte Zeitrechnung weiterläuft, lässt sich an den ökonomischen Daten so präzise ablesen, dass man sich schon kräftig kneifen muss, um überhaupt zu erinnern, dass es einen Wechsel im Kanzleramt gegeben hat. Das ist nicht normal. Das war so nicht zu erwarten. Das muss irritieren und tut es auch. Zumal dieser Kanzler etwas von Wirtschaft versteht. Er ist die letzten, die entscheidenden Jahre seiner Karriere im Windschatten von Industriekapitänen und Mittelständlern gesegelt. Die Beschimpfungen der eigenen Klientel als »Auto-Politiker« und »Genosse der Bosse« trug er wie Ehrennadeln. Er weiß, was sie wollen. Er weiß, was sie wissen. Es gibt in der Staatsführung keine Wissenslücken, was die Sache nur bedrückender macht. Ein zweite Irritation ist größer als die erste: Dieser Kanzler hat nicht alles, aber einiges versucht, den Abstieg des Landes zu stoppen oder wenigstens zu verlangsamen. Aus dem Wissenden ist mit dem Regierungswechsel ein Wol264
lender geworden, auch wenn die eigene Sprunghaftigkeit und taktische Rücksichtnahmen auf eine reformunwillige SPD ihn zuweilen hinderten. Unterschiedlichste Rezepturen kamen zum Einsatz: Erst lud er die Funktionäre von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in sein Kanzleramt, um mit ihnen ein Bündnis für Arbeit zu schmieden. Man trennte sich ein ums andere Mal ohne Ergebnis, bis ein zorniger Schröder die Herren im März 2003 noch vor dem verabredeten Abendessen verabschiedete. An der gedeckten Tafel speisten die Mitarbeiter des Kanzlers dann unter sich. Schröders Glaube, dass ihn die Gewerkschaften, Kampfgefährten der SPD seit Urzeiten, bei der anstehenden Reformarbeit unterstützen würden, ist seither verloren. Er setzte seither auf Machtworte und brach mit einer Tradition, die zu brechen noch kein Kanzler vor ihm gewagt hatte. Er entließ seinen Arbeitsminister und holte keinen neuen mehr an Bord. Die Verantwortung für die Arbeitsplätze trägt nun der Wirtschaftsminister. Der Abschied des vorerst letzten deutschen Arbeitsministers, ein ehemaliger Fliesenleger, der sich in der IG Metall bis zum Vize hochgerackert hatte, fand denn auch stilecht statt. Im Büro des Kanzlers habe man sich mit feuchten Augen in den Armen gelegen, wie beide Teilnehmer übereinstimmend berichten. Unterstützt und ermuntert von einem kraftvollen SPDFraktionschef Franz Müntefering, der seit neuestem auch die Partei führt, startete Schröder im März vergangenen Jahres die Agenda 2010, ein Kürzungsprogramm im Bereich des Sozialstaates, das zugleich am Arbeitsmarkt für mehr Beweglichkeit sorgen sollte. Das Ergebnis auch dieser kräftezehrenden Operation steht in keinem vernünftigen Verhältnis zum Energieaufwand. Mögen die Spitzen der Koalition abends erschöpft in den Tiefschlaf 265
sinken, im Glauben, einiges für das Land bewegt zu haben. Draußen rührt sich bisher nicht viel. Die ökonomische Ausbeute allen Tuns und Treibens der Regierungszentrale ist sogar derart gering, dass ein Außenstehender auf die Idee kommen könnte, die Regierung regiere gar nicht. Wir haben mehr Arbeitslose, mehr Schulden, mehr Sozialhilfeempfänger als jemals zuvor. Der Osten steht still, die relevanten ökonomischen Daten entfernen sich vom Westen. Pro Kopf ist unser Wohlstand, gemessen an den sechziger und siebziger Jahren, noch immer hoch, aber seit den Neunzigern schrumpft er, Monat für Monat ein bisschen. Die Prognosen sind eher ungünstig. Die Probleme einer Gesellschaft, die erfreulich alt wird und dabei erschreckend kinderarm ist, sind von einer solchen Wucht, dass sich die Zukunftsszenarien wie Science Fiction lesen. Eine Zukunft, die das Prädikat »rosig« verdient, sieht anders aus. Das Auswechseln des Kanzlers ist in der Demokratie nicht Drama, sondern Normalfall, auch wenn es die betroffenen Kanzler anders erleben. Ein solcher Neuanfang kann dem Land nutzen oder schaden oder, und damit haben wir es heute zu tun, seine Wirklichkeit kaum mehr berühren. Wenn ein Regierungswechsel wie der von Helmut Kohl, konservativ in Sprache und Denken, ein Mann, der Provinzialität und Pathos ausstrahlte, hin zu Gerhard Schröder, Typus pragmatischer Macher, der mit Zeitverzögerung sich der inneren Reformarbeit verschrieb, wenn ein solcher Wechsel praktisch ohne Veränderungen an der ökonomischen Basis bleibt und sich alles Neue notgedrungen auf das Atmosphärische verlagert, ist Gravierendes passiert. Auf den Kanzler kommt es an, plakatierte die CDU 1969. Durch den Bundeskanzler hindurch, staunte Fischer nach dem ersten Wahlsieg der rot-grünen 266
Koalition, würden die Kraftlinien der Republik verlaufen. Das sollte so sein, doch so ist es nicht mehr. Es ist offensichtlich fast egal, wer auf der Kommandobrücke des leck geschlagenen Schiffes steht – tun kann er (oder sie) nur wenig. Deshalb muss die Reform des Landes bei der Reform des Staates beginnen. Der deutsche Defekt sorgt dafür, dass Deutschland derzeit zwar regierungsfähig, aber weitgehend reformunfähig ist. Will das Land seinen Abstieg stoppen, muss Führung möglich und gewollt sein. Allein das Auswechseln von Personen und Koalitionen, wie wir es in der Geschichte der Bundesrepublik nun bereits mehrfach erlebt haben, verspricht keinen Erfolg. Deutschland wurde 36 Jahre lang von konservativen und 19 Jahre von sozialdemokratischen Kanzlern regiert, mit dem seit geraumer Zeit immer gleichen Ergebnis: Den Abstieg, der Mitte der siebziger Jahre einsetzte und sich mit der Deutschen Einheit beschleunigte, hat niemand zu stoppen vermocht. Wirkliche Richtungsentscheidungen hat es nicht gegeben, nur ein Abbremsen oder Beschleunigen der Zerfallsprozesse. Im Folgenden sollen skizzenhaft die drei wichtigsten Reformprojekte beschrieben werden, mit denen eine Trendumkehr möglich wäre. Im Zentrum stehen die Begriffe Führung, Arbeit und Eigentum. Von diesen Projekten, die heute zum Teil als politisch nicht durchsetzbar oder nicht opportun gelten, die allesamt deutlich über den Kraftakt der Agenda 2010 und das in den Parteiprogrammen der Oppositionen Festgehaltene hinausgehen, wird der Erfolg einer Gegenbewegung abhängen. Das Ziel ist die Modernisierung der Volkswirtschaft, das In-GangSetzen von Wachstumsprozessen unter den Bedingungen der Globalisierung, die Weiterentwicklung des Sozialstaates, nicht seine Beseitigung. 267
Die zweite Staatsgründung Das Wollen und das Können der Politiker stehen sich heute wie Feinde gegenüber. Das Modell des schwachen Anti-Führer-Staates hat sich in der Krise nicht bewährt. Der Staat schlittert sehenden Auges den Abhang hinunter, ohne dass die Kräfte der Regierung stark genug wären, ihn aufzuhalten. Die Folgen dieser Entwicklung sind Legitimationsverluste für das politische System und Wohlstandseinbußen für die Bewohner des Landes. Der Bundeskanzler, das müsste das Ziel einer Verfassungsreform sein, wird ein ganz normaler Regierungschef, wofür man seiner Kanzlermehrheit im Parlament das wichtigste Instrument an die Hand geben müsste: Für die Innenpolitik braucht sie die Verfügungsgewalt über die Staatskasse, sie benötigt also das Budgetrecht. Das liegt heute, anders als es in den Schulbüchern steht, irgendwo zwischen Bundestag und Bundesrat, deshalb kann der Regierungschef über Einnahmen und Ausgaben des Staatswesens weder allein noch im Kabinett verfügen. Selbst die aus freien Wahlen hervorgegangene Kanzlermehrheit braucht für die Anhebung oder Senkung der relevanten Steuern und der maßgeblichen Subventionen die Zustimmung des politischen Gegners. Ohne diese Vorfestlegungen lässt sich derzeit kein Staatsbudget aufstellen. Keine Firma der Welt könnte existieren, wenn der Konkurrent über die Unternehmenskasse verfügte.
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Es geht nicht um eine Kahlschlag-Sanierung an unserem Grundgesetz, sondern um wenige, aber wesentliche Veränderungen der deutschen Verfassung. Ein Begriff, den die Verfassungsväter und die Alliierten gering schätzten, gehört ins Zentrum gerückt: politische Führung. Vor allem die zwischen Bund und Ländern parzellierte Macht müsste wieder zusammengefügt werden. Die Erfahrungen der vergangenen 55 Jahre zeigen, dass die damals von Landesfürsten und Alliierten verabredete Machtbalance, die in Wahrheit eine starke Führung verhindern wollte, den Anforderungen an modernes, das heißt auch schnelles Regieren nicht genügt. Die Denkrichtung des Staatskonstrukts verläuft von unten nach oben, wobei die Verfassung auch »oben« keine Führung zulässt, sondern nur das Nebeneinander von Bundesregierung und Bundesrat. Die Denkrichtung müsste von oben nach unten verlaufen, wobei »oben« eine Zentralinstanz mit letzter Entscheidungsgewalt stehen muss. Deutschland braucht, in dieser Lage dringender als in den guten Zeiten der Republik, eine funktionstüchtige Kanzlerdemokratie. Der Regierungschef muss zugleich das sein, was er heute nicht ist: der Chef des Landes, demokratisch legitimiert und gewählt auf Zeit, versteht sich. Wird die Verfassung oder auch nur eines der dort garantierten Grundrechte und Prinzipien verletzt, besitzen das Parlament und das Verfassungsgericht eine Korrekturfunktion. Das muss reichen. Das Parlament überwacht den dann Mächtigen permanent. Karlsruhe ist letzte Instanz – und nicht eine beliebige Zwischenstation im politischen Meinungskampf. Der politische Poker zwischen Opposition und Regierungsfraktion sollte mit der Entscheidung der Bundesregierung in aller Regel beendet sein und darf sich nicht, wie heute üblich, über Monate, oft Jahre im Bundesrat oder vor den Schranken der Verfassungsrichter fortsetzen. In groben Zügen könnte eine 270
solche Verfassungsreform so aussehen: l. Deutschland erhält eine funktionsfähige Zentralgewalt, die weitgehende Gestaltungsmacht besitzt – von der Polizeigewalt über die Verkehrswege bis zur Bildung. Auch die Sozialpolitik, die heute konkurrierend von Ländern und Kommunen betrieben wird, fällt künftig als Rahmengesetzgebung in die Bundeskompetenz. Der Bund erhält das Recht, die zu seiner Finanzierung notwendigen Steuern sowie alle steuerlichen Subventionen allein festsetzen zu dürfen. Die bisherigen Gemeinschaftssteuern werden aufgelöst. Es gibt nur noch Steuern des Bundes, des Landes oder der Kommune. Der Bund könnte beispielsweise, wie es ein Modell der BertelsmannStiftung vorsieht, die gesamten Einnahmen der Umsatzsteuer (rund 140 Milliarden Euro) erhalten, die er sich heute mit den Ländern teilt. Die Länder erhalten im Gegenzug die gesamten Einnahmen aus Lohn- und Einkommenssteuer, also ebenfalls rund 140 Milliarden Euro jährlich, die sie sich bisher mit Bund und Kommunen teilen. Auch umgekehrt ist die Sache sinnvoll, die USA sind so organisiert. Die bisherigen Landessteuern (Kfz-Steuer, Erbschaftssteuer) fallen künftig in die Bundeskompetenz, weil sie keinerlei regionalen Bezug aufweisen. Sie sind wichtige Steuerinstrumente, auf die keine Bundesregierung verzichten sollte. Die Kommunen behalten ihre Steuerrechte, dürfen also weiterhin Hunde-, Getränke-, Grund- und Gewerbesteuer von ihren Bürgern und Unternehmern einziehen. Auch die kommunalen Gebühren dienen ihrer Finanzautonomie. Die Kommunen müssen von den Ländern in die Lage versetzt werden, die notwendigen Investitionen zu tätigen. Der Bundesrat hat in dieser klaren Kompetenzverteilung keine Berechtigung mehr und kann, wie seinerzeit von 271
Adenauer vorgeschlagen, durch einen Senat nach amerikanischem Vorbild ersetzt werden. Die Senatoren werden vom Volk direkt gewählt, sind aber nicht Teil der Exekutive ihrer Länder. Ihr Einfluss ist groß, sie sind ebenfalls Teil eines Systems von »checks and balances«, aber mit deutlich weniger Blockademacht ausgestattet. Sie sind Korrektiv, aber handeln nicht mit der Detailversessenheit einer Nebenregierung, als die sich unser Bundesrat versteht. Die Einführung des Mehrheitswahlrechts ist nicht zwingend, würde aber das Regieren enorm erleichtern. Das heutige Verhältniswahlrecht weist den Parteien ziemlich exakt jene Sitze im Parlament zu, die ihren bundesweiten Durchschnittsprozenten entsprechen. Auch Männer und Frauen, die in ihrem Leben noch keinen Wahlkreis gewonnen haben, »rutschen über die Liste«, wie es bei den Parteien heißt, in den Bundestag. Das Mehrheitswahlrecht kennt dagegen nur den direkt vom Volk gewählten Parlamentarier, der Bundestag wäre eine Versammlung von lauter kleinen Siegern. Die Stimmen für die heute so zahlreichen politischen Gruppen und Grüppchen wären von Anfang an verloren, weshalb ihre Kandidaten aus dem Parlament und damit aus dem politischen Leben verschwinden würden. Nahezu in allen führenden westlichen Ländern, in Frankreich, den USA, England und Kanada gilt das Mehrheitswahlrecht, wie es auch im Deutschen Reich von 1871 bis 1918 galt. Es fördert die Demokratie, entsorgt die Funktionärstypen, schafft im Parlament klare Verhältnisse, kennt nur im Ausnahmefall die Koalitionsregierung und muss daher auch staatspolitisch als das kraftvollere Modell gelten. Es liefert keine Garantie für eine bessere Regierung, aber die Wahrscheinlichkeit, auf diese Art eine Regierung mit direktem Wählerauftrag und daher mehr Mut und mehr Tatendrang zu bekommen, 272
wäre deutlich erhöht. Mittelmäßige Regierungen werden zügiger abgewählt, weil das Mehrheitswahlrecht der Stimmung Stimme verleiht, die durch keine Koalitionsarithmetik gedämpft wird. Verluste wären Verluste und könnten sich nicht länger mit den Zugewinnen eines kleineren Partners zum Sieg hochrechnen lassen.
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Schon einmal waren sich die großen Parteien in dieser Frage handelseinig. Herbert Wehner und Helmut Schmidt rechtfertigten im Dezember 1966 den Eintritt in die Große Koalition mit der CDU/CSU damit, »dass nur auf diese Weise die Einführung des Mehrheitswahlrechts durchgesetzt werden« könnte. Kanzler Kiesinger kündigte in seiner Regierungserklärung an, »ein neues Wahlrecht grundgesetzlich zu verankern«; ihm und der Union ginge es um ein Wahlrecht, das »klare Mehrheiten ermöglicht«, mehr noch, das aus sich selbst heraus »mehrheitsbildend« sei. Der FDP-Vorsitzende witterte zu Recht die Absicht, den »Liberalismus meuchlings zu töten«. »Parteienmord aus Staatsräson?«, fragte auch das Wochenblatt Die Zeit. Die Sozialdemokraten, in Sorge um ihre eigene Mehrheitsfähigkeit, rückten schließlich von dem Ansinnen ab, bis der Verzicht nur noch eine Frage des Preises war. Die FDP zahlte ordentlich, sie verhalf der SPD erstmals zur Kanzlerschaft. Die wichtigste Bedingung hatte Willy Brandt vorab akzeptiert, denn die FDP war verständlicherweise nicht bereit, »Maßnahmen zu ihrer Liquidation« (Karl-Hermann Flach) zuzustimmen. Der Schwüre von einst sind verjährt, die Frage könnte neu gestellt werden. Sie mit ja zu beantworten hieße, zwei große, starke Volksparteien ins Rennen zu schicken – und PDS, FDP und Grüne in ihrer bundespolitischen Bedeutung zu eliminieren. Schade wäre es am ehesten noch um die PDS, die als letzte politische Gruppierung an die untergegangene DDR erinnert und im politischen Spektrum auf Singularität verweisen kann. Sie hätte allerdings auch als Regionalpartei des Ostens durchaus eine Chance, zu überleben. »Blut von unserem Blute«, hatte Egon Bahr sie einst genannt. Da dürfte auch die Rückfusion nicht allzu schwer fallen, zumal die alten SED-Kader in der Partei kaum noch eine Rolle spielen. 274
Ohne die heutige FDP würde Deutschland nicht viel vermissen. Personell ist die Partei ausgetrocknet, ihre Repräsentanten nennen sich noch so, obwohl sie kaum mehr repräsentieren als sich selbst. Über den Vorsitzenden hatten wir gesprochen, die Riege ihrer Landesfürsten ist lang, aber ohne politisches Schwergewicht. Wir sehen Wegelagerer in der politischen Landschaft, die zu diesem und jenem ihre Meinung kundtun, ohne dass sich daraus ein Großes oder auch nur Ganzes ergeben würde. Die heutigen FDP-Politiker betreiben im Wesentlichen Klientelpflege, was man getrost auch den Verbänden der Apotheker, der Mediziner und den Rechtsanwaltsvereinigungen überlassen könnte. Der einzig Ehrwürdige in dieser Runde, FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhard, gilt den anderen Gesellen als unkomisch, zu seriös und damit langweilig, sie haben ihn gestürzt, als er noch Vorsitzender ihrer Organisation war. Die Partei von Thomas Denier, Karl-Hermann Flach, Erich Mende, Hans-Dietrich Genscher, Walter Scheel, Lord Dahrendorf, Otto Graf Lambsdorff ist das ohnehin nur noch dem Namen nach. Der Demokratie ist es abträglich, wenn eine Partei, deren Mitgliedschaft gerade mal 0,11 Prozent der Wahlberechtigten entspricht und deren Liste bei der letzten Bundestagswahl nur 7,4 Prozent der Wähler überzeugte, so häufig den Kanzler bestimmt. In den 55 Jahren deutscher Nachkriegsparlamente regierte die FDP 38 Jahre lang mit. Die Amerikaner und auch die Franzosen leben nicht schlecht ohne eine eigenständige liberale Partei. Da gerade die FDP-Führung in aller Regel mit gläubigen Augen nach Amerika schaut, kann sie das Mehrheitswahlrecht eigentlich nicht rundweg ablehnen. Kämpfen könnten die FDPKandidaten im Übrigen auch – um die Mehrheit in ihren Hochburgen zum Beispiel. In England schaffen die Liberalen, trotz Mehrheitswahlrecht, seit jeher den Sprung ins 275
Unterhaus. Auch die CSU würde die Einführung des Mehrheitswahlrechts unbeschadet überstehen. Ihre Kandidaten, verankert in der Partei und Tradition ihres Landstrichs, sichern sich von Wahl zu Wahl nahezu alle Direktmandate. Ihr Einfluss würde, angesichts des Verschwindens der anderen Kleinparteien, eher wachsen. Nun zu den Grünen: Sie haben ihren Zenit, soweit ersichtlich, überschritten. Heute sind sie eine sachkompetente Kleinpartei in der Mitte der Gesellschaft. Umweltschutz und Minderheitenrechte, ihre Schlager von einst, werden mittlerweile auch in den Volksparteien gespielt. Der Pazifismus wurde mit den Latzhosen aufgetragen. Anderes ist nachgekommen, aber darunter nichts originär Neues. Personell hat die Partei nach Joschka Fischer keinen zweiten politischen Elefanten geboren. Respektable Männer und Frauen sind am Werke, die sich in Herkunft und Habitus allerdings kaum von ihren sozial- oder christdemokratischen Kollegen unterscheiden. Wenn die Repräsentanten der Gründergeneration, vornean Politiker wie Daniel Cohn-Bendit, Christian Ströbele und Jürgen Trittin, aus dem Rampenlicht abtreten, wird schnell auffallen, dass sich die grüne Partei als eigenständige sozial-kulturelle Formation vor längerem schon selbst aufgelöst hat. Das Mehrheitswahlrecht würde dem Wähler zweifelsfrei eine deutlich größere Macht verschaffen. Er wäre endlich das, was er heute nicht ist: der Souverän. Das Geschacher der Koalitionsregierungen, das davon lebt, den »Wählerauftrag« nach Gusto zu interpretieren, um zuweilen auch der zweitstärksten Kraft das Kanzleramt zu verschaffen, wäre ein für alle Mal vorbei. Der Wahltag würde zum Tag einer echten Richtungsentscheidung, für die politischen Spitzen gäbe es keine Ausreden mehr. Die beiden großen Parteien wären dann wirkliche Gegenspieler, denn die Arbeitsteilung zwischen Regierung und Reserveregierung 276
könnte klarer nicht sein, was für die Rekrutierung von Politikernachwuchs im Übrigen kein Nachteil sein muss. Der Beruf des Politikers wäre aufgewertet, aus den heutigen Teilnehmern eines großen Palavers würden Entscheider, die mit ihren Erfolgen und Misserfolgen kenntlich wären. Das Land käme jedenfalls mit Hilfe der beiden Beschleuniger – Föderalismusreform plus Mehrheitswahlrecht – spürbar schneller voran.
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Arbeit zuerst Die Schlüsselfrage aller Reformüberlegungen muss lauten: Wie gelingt es, den produktiven Kern des Landes zu vergrößern? Nur wer es schafft, hier wieder Wachstum zu erzeugen, also die Energieintensität der Volkswirtschaft im Innern zu erhöhen und den Energieverbrauch in den Außenbezirken entsprechend zu senken, kann den Abstieg des Landes stoppen. Drei Punkte sind von Bedeutung, über die vorab Klarheit herrschen sollte: Vollbeschäftigung ist machbar: Ein Land mit 82,5 Millionen Einwohnern, die besser ausgebildet sind als die meisten Völker der Erde und in der Vergangenheit bewiesen haben, dass sie zu enormer Kraftanstrengung in der Lage sind, hat alle Chancen, die chronische Unterbeschäftigung zu überwinden. Die Arbeit stirbt ja nicht aus und verschwindet auch nicht auf geheimnisvolle Weise. Sie hat sich in den letzten Jahrzehnten nur verlagert – ins Ausland, ins Illegale, ins Private. Jede Arbeit ist besser als keine: Da menschliche Arbeit die einzige Quelle für wachsenden Wohlstand ist, muss die Politik sich sehr bewusst für das Prinzip »Arbeit zuerst« entscheiden. Das Stilllegen menschlicher Arbeitskraft – ob durch ABM-Programme, Frühverrentung oder andere Maßnahmen der Sozialpolitik – hätte zu unterbleiben. Die Arbeitsunfähigen lässt der Staat in Ruhe, sie sind mit ihrem Schicksal schwer geschlagen. Die Arbeitsunwilligen aber verwirken ihr Recht auf Lohnersatzleistung, wenn sie sich der angebotenen Arbeit verweigern. 3. Sozialstaat ja – aber anders: Bislang hat jede Regierung zwei Dinge getan: der Faktor Arbeit wurde 278
durch neue Sozialabgaben verteuert und die leicht zugänglichen Lohnersatzleistungen ausgeweitet. Eine Reformregierung muss das Gegenteil tun: Den Zugang zu diesen Ersatzlöhnen begrenzen und den Faktor Arbeit weitgehend von den Sozialaufschlägen befreien. Der Arbeitsplatz würde wieder ein Ort der Wertschöpfung, keine Außenstelle des Wohlfahrtsstaates. Die Kosten des einen und des anderen wären entkoppelt. Der Schutz vor den kollektiven Risiken Krankheit, Alter und Pflegebedürftigkeit bliebe gewährleistet. Er wird nur anders organisiert, sogar effizienter, wie wir gleich sehen werden. Der hier vorgeschlagene Umbau ist gewaltig, daran besteht kein Zweifel. Er käme einer Revolution gleich, wenn auch einer längst überfälligen. Ein System, das bislang überwiegend aus Zwangsbeiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern besteht, würde in ein System umgewandelt, das sich aus minimalen Sozialaufschlägen, privaten Prämien und allgemeinen Steuern finanziert. Die internationalen Experten sprechen vom »welfare mix«, der heute alle erfolgreichen Sozialstaaten auszeichnet. Es geht um ein Volumen von rund 350 Milliarden Euro, das heute auf 27,5 Millionen Erwerbstätigen lastet und künftig von allen erwachsenen Deutschen aufgebracht werden müsste. Das Volumen entspricht in etwa dem addierten Umsatz der Konzerne Daimler-Chrysler, Volkswagen, Siemens und Eon, den vier Industrieriesen des Landes. Warum dieser Aufwand? Lohnt die Kraftanstrengung überhaupt? Ginge es nicht auch im bisherigen System, werden manche fragen. Also: Was genau ist der Nutzen dieser Revolution? Und warum ist sie überfällig? Der Sozialstaat des »Modells Deutschland« war die Antwort auf eine nationale, industrialisierte VollerwerbsGesellschaft mit hohem Wirtschaftswachstum. Diese 279
Grundvoraussetzungen sind mittlerweile entfallen, woraus sich alle Probleme des Modells ergeben: Der globale Wettbewerb hat die Arbeit mobil gemacht. Sie ist heute wie das Kapital auch ein normaler Produktionsfaktor, der sich die für ihn günstigsten Bedingungen sucht. Nationale Preisaufschläge, auch solche, die der sozialen Absicherung dienen, werden somit zum Wettbewerbsnachteil. Die Nationalökonomie hat aufgehört zu existieren. Der Vormarsch von Teilzeitstellen und neue Formen der Selbstständigkeit lassen die Beitragsbasis der heutigen Sicherungssysteme erodieren. 1980 waren knapp 90 Prozent aller Erwerbstätigen normale VollzeitArbeitnehmer, heute sind es nur noch gut 70 Prozent. Die Dienstleistungsgesellschaft entsteht und löst die alte Industriegesellschaft ab. Der Unterschied ist gravierend: Im Unterschied zur klassischen Industriearbeit lässt sich die Produktivität der neuen Dienstleistungsjobs nicht beliebig durch Kapitaleinsatz steigern. Die Jobs im Kundenservice, in der Vermögensberatung, in der Softwareinstallation sind arbeitsintensiv, was bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein enormer Vorteil sein kann. Aber: Diese Jobs leiden eben besonders unter der ständigen Verteuerung der Arbeit, sie sind sehr viel anfälliger als die alten Arbeitsplätze. Schon die 1998 von Kanzleramtsminister Bodo Hombach installierte Reformarbeitsgruppe kam zu dem Ergebnis: »Dienstleistungen brauchen, das zeigen andere Länder, ein anderes Arbeitsregime als die Industrie: andere Arbeitszeiten, andere Entlohnungsformen, andere Formen der sozialen Sicherung.« Die Erwerbsarbeit, das kommt erschwerend noch hinzu, 280
befindet sich insgesamt auf dem Rückmarsch. Standen 1980 noch jedem Rentner vier Beschäftigte gegenüber, werden es 2050 nur noch 1,2 Beschäftigte sein. Dem Sozialstaat heutiger Prägung, der sich im Wesentlichen an die Erwerbsarbeit klammert, wird dadurch die Grundlage entzogen. Die Entkoppelung des Wohlfahrtsstaates von der Arbeitswelt zieht aus diesen Entwicklungen die klare Konsequenz. In allen Ländern mit überdurchschnittlich hoher Beschäftigungsquote und überdurchschnittlich niedriger Arbeitslosigkeit sind diese weitgehend entkoppelten Welten Realität. Die internationale Forschung zu den Ursachen und Ausprägungen von Massenarbeitslosigkeit ist längst zu dem Ergebnis gekommen, dass die strukturelle, die verhärtete und durch keinen Aufschwung zu beeindruckende Arbeitslosigkeit einer »path dependency« unterliegt, also abhängig ist vom Pfad der eingeschlagenen Sozialstaatsfinanzierung. Deutschland, und das erklärt den Niedergang unserer Erwerbsgesellschaft, verteidigt hartnäckig wie kein anderes Land des Westens sein »Modell«, versucht es zu retten, nicht zu reformieren: »Den Mittelpunkt zur Absicherung der Risiken Alter, Arbeitslosigkeit und Krankheit innerhalb des bundesstaatlichen Wohlfahrtssystems stellt auch nach mehr als 20 Jahren des Umbaus die lohnzentrierte staatliche Sozialleistungspolitik dar«, urteilt das Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Es hat bei uns viele Reformen gegeben, aber nicht eine Revolution. Anders sieht es in den erfolgreichen Staaten aus, die mit deutlich geringeren Arbeitslosenzahlen beeindrucken – bei unterschiedlichster Höhe der Sozialausgaben. Denn das Entscheidende ist offenbar nicht das Volumen des nationalen Sozialbudgets, sondern die Art und Weise, wie es finanziert wird. Trotz unterschiedlichster Ausprägung des 281
Sozialstaates in den USA, Japan und den skandinavischen Ländern haben diese Staaten eines gemeinsam: Die Belastung des Faktors Arbeit ist deutlich geringer als hierzulande – mit beeindruckenden Erfolgen. Ein kurzer Blick genügt und wir sehen, dass die Frage der Verantwortlichkeit für das Soziale die entscheidende ist. Wer die Betriebe zum Hauptverantwortlichen erklärt, erntet Massenarbeitslosigkeit. Wer diese Aufgabe der gesamten Gesellschaft überträgt, erzielt Resultate, die über jeden Zweifel erhaben sind.
Alle internationalen Vergleiche setzen die Sozialabgaben ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, damit die unterschiedlichen Beitragsbemessungsgrenzen den Vergleich nicht verzerren können. Danach liegt Deutschland mit Sozialabgaben in Höhe von 18 Prozent des Sozialprodukts weltweit an der Spitze. In den USA und Großbritannien werden Sozialbeiträge nur in Höhe von rund sieben Prozent des Sozialprodukts erhoben, in Japan sind es elf, in Dänemark zwei Prozent. Die Beschäftigungsquoten fallen in diesen Ländern hoch aus, 73 Prozent aller Erwerbsfähigen in den USA gehen regelmäßig arbeiten, 80 Prozent sind es in Dänemark, 68 Prozent in Japan, in 282
Großbritannien sind 73 Prozent aller Erwachsenen als Beschäftigte registriert. Die deutsche Beschäftigungsquote liegt dagegen mit 66 Prozent am unteren Ende, was nach jahrelanger Aussteuerung von Menschen durch Umschulung, ABM und Vorruhestand kein Wunder ist. Das für Deutsche vielfach verblüffende Ergebnis: Die Arbeitslosenquoten andernorts sind, obwohl so viele Menschen zusätzlich arbeiten, deutlich niedriger als in Deutschland. Die dänische Arbeitslosenquote liegt um 54 Prozent unter unserer, die amerikanische um 41 Prozent, Großbritannien unterbietet um 48 Prozent, Japan um 45 Prozent die deutsche Vorgabe. Niedrigere Sozialabgaben bringen also weltweit, absolut und relativ, eine hohe Beschäftigung zustande, was dem Innersten der Volkswirtschaften erkennbar gut tut. Niemand denkt heute international noch daran, das »Modell Deutschland« zu kopieren, weil es eben ein Auslaufmodell ist. Es stammt aus einer anderen Zeit, und mit dem Verschwinden dieser Zeit schwand eben auch die Funktionstüchtigkeit des Modells. Schon 1982 sprühten einfallsreiche Graffiti-Künstler an einen Bauzaun vis-a-vis des Kanzleramtes: »Modell Deutschland – leicht beschädigt. Gegenüber abzuholen – bei Herrn Schmidt.« Doch damals und noch immer versucht die Politik, das Leben dieser urdeutschen Variante sozialstaatlicher Organisation künstlich zu verlängern, mit Staatszuschüssen und Sparmaßnahmen innerhalb des Systems. Das mittelmäßige Ergebnis kennen wir. Die Politik täte sich selbst den größten Gefallen, wenn sie das Repertoire gescheiterter Methoden endlich ad acta legen würde. Nur wer den Faktor Arbeit von den Fesseln der Sozialaufschläge befreit, verändert den Entwicklungspfad unserer Volkswirtschaft. Erstens sinkt der Preis der Arbeit, was ihr Abwandern ins Ausland verhindern oder doch 283
zumindest verlangsamen dürfte. Zweitens: Neue Arbeitsplätze, vor allem im Bereich privater Dienstleistungen, die heute nicht existieren oder über den Schwarzmarkt abgewickelt werden, könnten nun legal entstehen. Die Firmengründer, die eine Schlüsselrolle beim Wiederaufstieg spielen müssten, könnten endlich mehr Menschen als sich selbst beschäftigen. Die Ich-AG kann nur Notbehelf, nicht Ziel der Wirtschaftspolitik sein. Grundvoraussetzung, damit diese Verbilligung am Arbeitsmarkt auch zur Belebung führt, ist drittens eine schärfere Zugangskontrolle zu allen Lohnersatzleistungen. Für alle Erwerbsfähigen (nur von denen, die arbeiten können, ist hier Rede) würde damit ein bedeutender Konkurrent zum Arbeitsplatz ausgeschaltet – der Sozialstaat. Da er für seine Lohnersatzleistungen bisher praktisch keine Gegenleistung verlangt, den Menschen damit nicht nur Geld, sondern auch Zeit schenkt, ist auch er eine Quelle von Arbeitslosigkeit. Gleicher Lohn für keine Arbeit, heute eine hunderttausendfache Realität, darf es nicht länger geben. Das ist ein unmoralischen Angebot des Staates, welches er schleunigst zurückziehen sollte. Der Faktor Arbeit wird künftig nur noch mit jenen Sozialbeiträgen belastet, die wirklich mit dem Job zu tun haben, weil sie der Absicherung von Berufsunfällen und dem Risiko der Arbeitslosigkeit geschuldet sind. Alle anderen Vorsorgeaufwendungen – von der Rente bis zur Gesundheit – werden künftig anders finanziert. Sie verlassen, und nur darauf kommt es uns an dieser Stelle an, die Fabrik und das Bürogebäude, hören damit auf, Teil der betrieblichen Kostenkalkulation zu sein. Die Arbeit in Deutschland verbilligt sich auf einen Schlag in dreistelliger Milliardenhöhe. Nur noch rund 50 Milliarden Euro oder 5,5 Prozent Sozialaufschlag sind durch Sozialabgaben von Arbeitern und Angestellten aufzubringen. Die 284
Arbeit wäre entfesselt. Anders als bei den gängigen Niedriglohnmodellen werden nicht nur die Jobs am unteren Ende der Einkommensskala von den Kosten des Sozialen befreit, vielmehr profitieren alle Arbeitnehmer und Angestellten. Drei Gründe sind entscheidend für diese Radikalreform: Die internationale Lohnkonkurrenz attackiert zunehmend auch die mittleren Gehaltsstufen. Der bürokratische Aufwand hat bisher alle Versuche, in Deutschland einen Niedriglohnsektor zu etablieren, zunichte gemacht. Der Perfektionswahn der Reformer war nicht lebensnah und endete mit immer neuen Fehlschlägen. Und: Eine Zweiteilung des Arbeitsmarktes, wie sie zuletzt die rot-grüne Regierung versucht hat, führt zur Umwandlung von regulären in die dann steuerlich begünstigten Beschäftigungsverhältnisse. So lädt die Politik nur die Trickser ein, verunsichert das Publikum und führt am Ende zu Reformfrust. Und viertens ist der vielleicht entscheidende Punkt: Das neue System verschafft dem deutschen Arbeitsmarkt, der bisher unter den welthöchsten Sozialabgaben litt und entsprechend schlechte Resultate im internationalen Vergleich produzierte, erstmals seit Jahrzehnten einen Wettbewerbsvorteil. Die deutschen Lohnnebenkosten wären die niedrigsten in Europa. Die Welt würde über Deutschland reden – und zwar anders reden als heute. Sie würde vor allem nicht mehr staunend spotten. Die Geringverdiener profitieren am stärksten und damit genau jene Gruppe, die auf dem heutigen Arbeitsmarkt am härtesten ums Überleben kämpft. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat in einer Studie über die Entkoppelung von Arbeitsmarkt und Sozialstaat festgestellt: »Durch den weitgehenden Wegfall der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung sinkt die Grenzbelastung für Arbeitnehmer mit geringem potentiellem Markteinkom285
men, so dass die Aufnahme einer regulären Beschäftigung im Vergleich zum Status quo wesentlich attraktiver wird.« Eine Lücke zwischen Angebot und Nachfrage wird dennoch bleiben. Sie könnten die halbstaatlichen Verleihfirmen des Arbeitsamtes schließen. Diese von VW-Vorstand Peter Hartz erfundenen Personalservice-Agenturen sind die kollektive Antwort, wenn es darum geht, das Heer der heute Arbeitslosen zu integrieren. Schafft Deutschland damit jene »working poor« wie in den USA? Die Frage ist berechtigt, die Antwort heißt eindeutig nein. Niemand besitzt hinterher weniger im Portemonnaie als vorher, sonst kann der »aktivierende Sozialstaat«, wie Bodo Hombach ihn nennt, nicht funktionieren. Durch die Auszahlung der bisherigen Arbeitnehmerbeiträge zu Rente, Pflege und Gesundheit werden die Nettolöhne spürbar aufgestockt. Wer von »working poor« spricht, mit sorgenvollem Unterton, sollte eines nicht vergessen: Auch die heutigen Arbeitslosen sind ja nicht reich. Sie machen zwar den Staat arm, aber nicht, weil sie so viel bekommen, sondern weil sie so viele sind. Es sind unsere »jobless poor«. Auch sie brauchen in aller Regel zwei Einkommen, um zu überleben, eines vom Staat und ein weiteres aus der Schattenwirtschaft. Es gibt auch eine private Antwort auf die Integration von Arbeitskraft in den normalen Wirtschaftskreislauf, die deutlich erfolgversprechender ist als die kollektive. Mit einer einfachen Steuerrechtsänderung, die aus wenigen Sätzen besteht, würden die privaten Haushalte in private Arbeitgeber verwandelt. Das neue Steuergesetz könnte im Kern so lauten: »Alle Tätigkeiten familienfremder Personen in Haus, Hof und Garten sind ab dem l. Januar 2005 steuerlich absetzbar. Die Ausgaben werden vom persönlich zu versteuernden Einkommen des privaten Arbeitgebers abge286
zogen und schmälern somit entsprechend dem tatsächlich geleisteten Aufwand die Steuerbasis.« Mit einem Schlag wäre der privaten Schwarzarbeit die Grundlage entzogen, weil niemand mehr Putzfrau, Gärtner oder Babysitter ohne Lohnsteuerkarte beschäftigen würde. Der Preis der Schwarzarbeit würde nun, je nach persönlichem Spitzensteuersatz des privaten Arbeitgebers, in jedem Fall deutlich über dem der legalen Arbeit liegen. Die illegal beschäftigte Putzfrau wäre fortan ein schlechtes Geschäft für den Familienvorstand und würde schnell der Vergangenheit angehören. Der Begriff »Hauswirtschaft« könnte neuen Sinn erfahren, wenn aus Konsumenten auch offiziell Arbeitgeber geworden wären. Und der Staat? Hätte trotz zu erwartender Steuerausfälle einen Gewinn davon: Das doppelte Kassieren von Schwarzarbeiterlohn und Sozialtransfer wäre nicht mehr möglich, was die Sozialkassen aufatmen lässt. Die neuen legalen Beschäftigungsverhältnisse, so sie oberhalb des Mindesteinkommens liegen, würden außerdem für zusätzliche Einnahmen sorgen. Der Staat darf nur nicht auf die Idee kommen, diese Dienstleistungsjobs mit den anderswo gültigen Kündigungsschutz- und Urlaubsregeln zu belasten. Heute sind diese Beschäftigten mehr oder minder vogelfrei, morgen sollten sie einen Mindestschutz genießen, wie er in Frankreich für haushaltsnahe Dienstleistungen existiert, mit kleinem Urlaubsanspruch und geringer Kündigungsfrist. Die Übertragung der von der Arbeiterbewegung erkämpften Standards der Industriearbeit auf den Privathaushalt würde diese kleinen Beschäftigungsverhältnisse im Handstreich vernichten. Eine wirklich erfolgversprechende Alternative zu dieser dreistufigen Reform – Entkoppelung von Arbeit und Sozialstaat, Sozialleistung nur bei Gegenleistung, Einführung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Arbeit – 287
gibt es derzeit nicht. Wer nur Teile davon herausgreift, wird scheitern: Die Verbilligung der Arbeit ohne Druck auf die potentiellen Anbieter dieser Arbeit bringt nicht viel. Der Druck auf die Anbieter der Arbeit ohne die Schaffung eines Angebotes ist Schikane, die politisch bekämpft würde und ökonomisch keinen Nutzen verspricht. Das professionelle und das private Angebot aber wird nur durch die Verbilligung der Arbeit entstehen. Im Fall der privaten Haushalte muss es mit der Schwarzarbeit konkurrieren können. Die rot-grüne Bundesregierung, die wie ihre Vorgängerinnen auch auf kleine Schritte der Kostendämpfung und Beitragsdeckelung im alten, überholten, nicht lebensfähigen Modell setzte, sorgte für einen enormen Unruheschub in der Wählerschaft, ohne jeden Erfolg an der ökonomischen Basis der Volkswirtschaft. Die Beträge steigen in der Regel schon nach kurzer Zeit wieder an, der Arbeitsmarkt hat auf keinen dieser Trippelschritte bisher reagiert. Denn es geht für ihn nicht in erster Linie um die Effizienzreserven in der Krankenkasse, um eine verzögerte Rentenauszahlung oder weniger Fortbildungskurse beim Arbeitsamt. Diese richtigen Sparbeschlüsse im falsche System nützen nicht viel, weil der Faktor Arbeit in seiner Wettbewerbskraft durch sie nicht spürbar verändert wird. Zwei Prozent mehr oder weniger, was der maximale Erfolg aller traditionellen Reformen war, sind für die Grenzanbieter der Wirtschaft entscheidend, für die Masse der Firmen aber nicht. Angesichts schwankender Inflationsraten, sich verändernder Bankkonditionen und einem Eurokurs, der sich täglich neu herausbildet, verflüchtigen sich die Effekte einer kleinen Absenkung der Soziallasten. Auch mit der strafrechtlichen Ahndung von Schwarzarbeit, wie sie der Finanzminister Ende Januar 2004 der Öffentlichkeit androhte, handelt sich die Politik nur Ärger 288
und keine Erfolge ein. Der Dreiklang ist das Entscheidende: Nur so entstehen die magnetischen Kräfte, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder zueinander finden lassen. Der Sozialstaat, das ist die Lektion, die es zu lernen gilt, hat auf dem Arbeitsmarkt künftig nichts mehr zu suchen, er verdirbt nur alles – erst die Preise, dann die Arbeitsmoral, zuletzt die Jobs, die er schützen wollte.
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Die neue soziale Frage Der neue Sozialstaat ist individueller als der alte, aber nicht weniger verlässlich: Die Arbeitslosigkeit und die Berufsunfähigkeit sind weiterhin in der Firma versichert, automatisch mit dem Arbeitsvertrag, wie bisher. Die Lohnnebenkosten betragen nun nicht mehr 40 Prozent vom Gesamtlohn, sondern nur noch 5,5 Prozent. Alle übrigen Sozialleistungen, die Gesundheit, das Altersruhegeld, die Pflegeleistung, sind entkoppelt – aber wohin eigentlich? Die Befürchtung, sie hätten sich ins Nichts verflüchtigt, ist verständlich. Wir sollten sie allerdings gar nicht erst aufkommen lassen. Entkoppeln von Arbeit und Sozialstaat heißt nicht, den Sozialstaat zu liquidieren. Es heißt auch nicht, ihn gering zu schätzen, es heißt nur eines, ihn anders zu organisieren, so dass er der Arbeit nicht das Leben schwer macht. In einer Gesellschaft, in der die lebenslange Vollzeitbeschäftigung schrumpft, hat das alte System nicht nur seine ökonomische Basis, sondern auch seine soziale Logik verloren. Krank, alt oder pflegebedürftig wird schließlich jeder, ob er arbeitet oder nicht. Es kann also 82,5 Millionen Menschen in Deutschland treffen, nicht nur die 27,5 Millionen Erwerbstätigen, die heute in die Sozialversicherung einzahlen. Was als gerechtes System startete, ist heute zutiefst ungerecht, weil es sehr einseitig nur eine Gruppe der Gesellschaft belastet – die Arbeitnehmer. Der Abschied vom Prinzip der Sozialversicherung hat daher längst begonnen, wenn auch heimlich. Die Rentenkasse speist sich bereits zu einem Drittel aus staatlichen Zuschüssen, nicht zuletzt aus der Ökosteuer. Diese Subventionen aus der Staats- in die Rentenkasse sind allein in 290
der rot-grünen Regierungszeit von 51,4 Milliarden auf 77,2 Milliarden Euro gestiegen. Ohne diese Finanzspritze aus dem allgemeinen Steuertopf würde der Beitragssatz zur Rente heute schon um knapp 50 Prozent über dem liegen, was wir derzeit zahlen. Auch die Arbeitslosenversicherung wird mit Milliardentransfers aus dem Steuertopf subventioniert. Die Politik müsste sich also nur entscheiden, ihre Rückzugsgefechte einzustellen. Die neue Realität, vor der sie ständig zurückweicht, wird sie ohnehin nicht aufhalten können. Den Rentnern müssten die Parteien vielleicht als Ersten die Wahrheit sagen. Was eigentlich leicht fallen sollte, denn die Realität frisst sich allmählich in die Alltagsdebatten durch. Wenn sich nichts ändert, braucht der Staat im Jahr 2050 rund 80 Prozent seines Budgets nur für den Zuschuss zur Rente, hat der Finanzminister errechnen lassen. Das wäre ein derart schlanker Staat, dass ihn selbst die FDP als klappriges Gerippe empfinden dürfte. Der Staat wäre in erster Linie eine Rentenversicherungsanstalt, ohne Polizei, Straßenbau, Müllabfuhr, Schulen, Gerichtswesen, und die Armee müsste wohl auf die Größe eines Freicorps zusammengeschmolzen werden. Da wir so lange nicht warten sollten, können wir auch gleich sagen, was zu sagen ist: Die erste Wahrheit wäre diese: Die Rentenauszahlungen der letzten Jahrzehnte sind – allen Schlagzeilen von der Rentenkürzung zum Trotz – ständig gestiegen. Angesichts der längeren Lebenszeit und Ruhestandszeit ist die gesamte Auszahlsumme nach oben geschnellt. Womit wir bei Wahrheit Nummer zwei wären: Das wird so nicht weitergehen können, die monatliche Auszahlung dürfte bald schon hinter der Geldentwertung zurückbleiben. Wahrheit Nummer drei: Von der heutigen Rente wird über die Jahre nicht viel mehr übrig bleiben als eine staatliche Garantierente, die dann freilich ergänzt werden muss 291
durch eine Privatrente. Eine bewusste Entscheidung der Politik wäre fairer, und hilfreich für die Betroffenen wäre sie auch. Denn erst die weitgehende Abschaffung der Sozialbeiträge versetzt die Arbeitnehmer in die Lage, bei der privaten Altersvorsorge deutlich aufzustocken. Ohne diese Rückübertragung von Souveränität klingt der Ruf nach Eigenvorsorge, wie er heute überall angestimmt wird, wie eine Verhöhnung derer, die Sparen sollen und nicht wissen wovon. Die Entkopplung von Arbeitswelt und Sozialstaat dagegen bedeutet für sie einen Einkommenszuwachs, wie ihn so keine Tarifrunde je gebracht hat. Ein Durchschnittsbeschäftigter könnte laut Berechnungen des DIW rund 3000 Euro pro Jahr netto mehr verdienen als heute, weil die eine Hälfte seiner Sozialbeiträge, der Arbeitnehmeranteil von insgesamt über 150 Milliarden Euro, ihm künftig mit dem Gehalt überwiesen würde. Die Schere zwischen Brutto und Netto hätte sich enorm verkleinert. Der kleine Mann wäre endlich erwachsen geworden. Mit dem Geld überträgt der Staat ihm auch mehr Verantwortung: Vom Lohn muss er die privaten Rentensparpläne mitfinanzieren, denn die staatliche Garantierente allein wird zur Sicherung des Lebensstandards nicht ausreichen. Diese Garantierente würde eine Einheitsrente sein, wie sie Biedenkopf schon vor Jahrzehnten vorgeschlagen hat und wie sie in der Schweiz seit 1948 existiert. Dort beträgt diese über Steuern finanzierte Grundrente rund 1400 Euro pro Monat, und ist damit von der in Deutschland möglichen Höchstrente von 1900 Euro nicht allzu weit entfernt. Biedenkopf und sein Mitstreiter Meinhard Miegel dachten eher an 800 Euro pro Monat, was sich wohltuend auf die Steuersätze auswirkt. Denn beide, Garantie- und Privatrente, verhalten sich zueinander wie kommmunizierende Röhren – eine hohe Grundrente erfordert hohe 292
Steuersätze und lässt damit wenig Raum für die Privatrente. Eine niedrigere Grundrente ist mit deutlich geringeren Steuersätzen zu finanzieren und räumt der Privatrente eine stärkere Rolle ein. Die private Vorsorge muss jeder Deutsche in Eigenregie vornehmen, durch den Kauf von Aktien, Lebensversicherungen, Investmentfonds, den Erwerb eines Eigenheims oder eine Kombination von allem. Auch die von Rot-grün eingeführte Riesterrente, ein risikoarmes und daher auch renditeschwaches Investment, ist geeignet, den Einzelnen im Alter absichern. Der Vorteil der Privatrente: Sie hängt nicht vom Altersaufbau in Deutschland ab, sondern vom Wachstum der Weltwirtschaft. Mit zwei gleich starken Säulen wäre die Rente insgesamt besser gegen Krisen geschützt. Im Gesundheitsbereich würde ein ähnliches ZweiSäulen-Modell das heutige System ablösen: eine staatliche Pflichtversicherung deckt die elementaren Risiken ab, private Zusatzversicherungen den Rest. Um die staatliche Pflichtpolice für alle bezahlbar zu halten ist die eine Gesundheitsprämie für alle, wie sie die CDU auf ihrem Leipziger Parteitag beschlossen hat, nicht praktikabel. Der Vorstandschef und die Sekretärin müssten dann in der Tat das Gleiche zahlen, was sie natürlich nicht können. So entsteht, neben der einheitlichen Gesundheitsprämie für alle, in der Vorstellung der CDU ein milliardenschweres Umverteilungssystem, das aus Steuergeldern beglichen werden müsste. Diese undurchschaubare Mischfinanzierung ist das Gegenteil von Ordnungspolitik. Einfacher und konsequenter wäre die Lösung der sozialen Frage innerhalb des Systems, zum Beispiel durch die Einführung einer dreistufigen Gesundheitsprämie. Sie würde auch zu dem von vielen Experten empfohlenen dreistufigen Steuersystem gut passen. In der Gesundheit hieße das: 293
Eine Gesundheitsprämie, die für Menschen mit wenig Einkommen und ohne Vermögen nur 70 Euro pro Monat, für Bessergestellte 200 Euro im Monat und für die wirklich Gutbetuchten 400 Euro im Monat betragen könnte. Da alle Krankenkassen nun für alle offen stehen, würde sich ein Wettbewerb um die effizienteste Krankenversorgung entwickeln, der das heutige System der Verschwendung wenn nicht beseitigen, so doch begrenzen könnte. Die Gesundheitskosten dürfen ansonsten ja ruhig steigen, sie stören nicht, sie beleben sogar, uns alle und die Volkswirtschaft gleich mit. Die Begriffe Kostendämpfung und Sparrunde sind überflüssig und sollten daher in Parteitagsprogrammen am besten gar nicht mehr vorkommen. Wir dürfen ruhig aufhören, uns über jede Kürzungsidee zu freuen. Über weniger Autos, weniger Urlaubsreisen, weniger Computer freuen wir uns ja schließlich auch nicht. Wir sollten sogar eher mehr als heute üblich für unsere Gesundheit ausgeben und werden das in absehbarer Zeit auch tun, so wie wir auch für Auto, Computer und Urlaub im Laufe der Zeit die Budgets aufstocken. Wir müssen nur aufhören, die Gesundheitskosten über die Arbeitsplätze zu finanzieren. Erst so entsteht ja dieser ungute und oft schon beklagte Zusammenhang, dass man die Gesundheit der Deutschen an der Höhe der Arbeitslosigkeit ablesen kann, weil der medizinische Fortschritt und also unser aller Wohlergehen sofort die Arbeitskosten erhöht, was in den Firmen zu neuer Rationalisierung führt. Was wir brauchen ist ein Gesundheitssystem neben der Arbeit, das von unseren Einkünften lebt, aber eben von allen Einkünften, die wir haben, von der Rente, der Erbschaft, dem Aktiengewinn, dem Immobilienkauf, dem Arbeitslohn. Denn alle Einkunftsarten aller Deutschen dienen künftig als Berechnungsgrundlage für die verschiedenen Gesund294
heitsprämien. Der Sozialstaat wäre nicht mehr allein auf die Löhne angewiesen. Dasselbe gilt für die private Altersvorsorge. Wer mehr anlegt, mehr investiert, ein größeres Haus oder Grundstück erwirbt und dafür seinen heutigen Warenkonsum zurückschraubt, ist für die Volkswirtschaft kein Problem. Niemand käme auf die Idee, die Expansion der Kapitalmärkte oder der Eigenheime mit einem Aktionsprogramm zur Kostendämpfung zu bekämpfen. Das Problem ist ausschließlich in der Koppelung dieser Ausgaben an die Arbeitskosten begründet. Nach der Entkoppelung kann beides wachsen. Dann reden wir nicht länger über die Problemfelder Gesundheitssystem oder Rentenkasse, sondern über den Wachsumsmarkt Gesundheit und den Boom der privaten Investoren. Die Umstellung des Systems wird daher auch ein Umdenken in den Köpfen mit sich bringen. Der nur scheinbar technische Vorgang der Entkoppelung könnte, nach allem, was wir in den Reformstaaten beobachten, enorme Wachstumskräfte entfalten. So wie die Privatisierung der Deutschen Bundespost, die mit der Abspaltung des Telefongeschäftes begann und mit dem Börsengang der Telekom endete, einen modernen Kommunikationsmarkt in Deutschland erst geschaffen hat. würden mit der Teilprivatisierung der Gesundheitsdienstleistungen und der Altersvorsorge zwei bisher staatlich beaufsichtigte Märkte in Schwung kommen. Die CDU, das immerhin, hat mit ihren Beschlüssen zur Gesundheitsprämie den Einstieg in den Ausstieg aus dem »Modell Deutschland« zumindest gedanklich vollzogen. Die SPD bekämpft ihn, wider besseres Wissen. Als Wirtschaftsminister Wolfgang Clement seinen Job in Berlin antrat, hatte er sich dasselbe vorgenommen. Denn was Merkel weiß, weiß auch er. Am Ende fehlten ihm der 295
Rückhalt des Kanzlers und vor allem der Mut, dennoch für seine Idee zu werben.
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Wer gewinnt? Wer verliert? Die Veränderung der Sozialstaatsfinanzierung hat Folgen für die Beschäftigung – deshalb unternehmen wir ja diesen Kraftakt. Sie hat aber auch Folgen für das Steuersystem, weshalb wir uns auch darüber Gedanken machen müssen. Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Steuersystem werden erfolgreich nur in einem Arbeitsgang reformiert. Bevor wir über das richtige Steuersystem sprechen, eines, das zu den anderen Veränderungen passt, sie ergänzt und befördert und nicht behindert, müssen wir einen Blick auf die großen ökonomischen Potenziale werfen, die zur Besteuerung überhaupt anstehen: Einkommen aus Lohnarbeit auf der einen; Unternehmergewinn und privates Eigentum auf der anderen Seite. Das Einkommen kann man auf zwei Arten besteuern – direkt über die Lohn- und Einkommenssteuer oder indirekt über Verbrauchssteuern, also in der Sekunde, wenn Einkommen sich in Konsum verwandelt. Aber die Quelle ist immer gleich: das Einkommen. Das Eigentum ist eine ökonomische Potenz ganz eigener Art, seine Herkunft ist oft schwer zu ergründen. Es war mal Einkommen aus ganz normaler Lohnarbeit; oft ist es aber auch geronnener Unternehmergewinn. Weil seine Abstammung im Dunkeln liegt und es ein ganz eigenes Leben führt, wird das Eigentum von den Finanzexperten zu Recht als eine eigenständige Einkunftsart betrachtet. Es erwirtschaftet bisweilen ohne großes Zutun seiner Besitzer Zinsen, Aktiengewinne, Mieten, Pachten, Veräußerungserlöse und Leasingraten. Eigentum kann sich darstellen als ein Schloss, eine Firma, eine Villa, ein Wohnblock, ein Goldbarren – oder unsichtbar sein wie Aktien, Options297
scheine und Währungskonten. Es bleibt immer Eigentum und wenn es nicht stillgelegt wurde, schafft es Einkommen, von dem man leben, sparen oder eben Steuern zahlen kann. Das gesamte Vermögen der privaten Haushalte addiert sich auf mittlerweile über acht Billionen Euro, das vierfache des Bruttosozialprodukts oder das 30-fache eines Bundeshaushaltes. Die Hälfte davon ist in Immobilien angelegt, 40 Prozent in Geldanlagen aller Art, der Rest in Schmuck, Autos und Möbeln. Allein das Erbvermögen in Deutschland hat sich von 1990 (75 Milliarden Euro) auf nun 130 Milliarden Euro fast verdoppelt. Angesichts über die Jahrzehnte steigender Grundstückspreise und aufwärts strebender Weltbörsen wächst dieses Vermögen weiter an. Der Effekt der Zinseszins-Rechnung, der die Staatsverschuldung steil in die Höhe schnellen lässt, treibt auch die Werthaltigkeit der privaten Vermögen nach oben. Es gibt seit langem schon keine andere ökonomische Größe mehr, die derart kräftig wächst. Risikolose Vermögensbildung wird zunehmend selbstverständlich, Wohlstand durch Erbschaft zum Massenphänomen. Die Zahl derer, die auf Erwerbsarbeit nicht angewiesen sind, die sich alles leisten können, ohne dafür etwas für andere zu leisten, wird weiter zunehmen. Die durchschnittliche Erbschaft beträgt heute 150000 Euro. Allerdings sind an der wundersamen Geldvermehrung nicht alle in gleicher Weise beteiligt. Das große Geld wird im oberen Drittel der Gesellschaft weitergereicht, derweil das untere Drittel des Landes in der Summe leer ausgeht. So driften Arm und Reich lautlos auseinander, die Gesellschaft teilt sich zunehmend in geborene Gewinner und geborene Verlierer. Roman Herzog war zu seiner Zeit als Bundespräsident einer der wenigen Politiker, der »die neuen sozialen Unterschiede« thematisierte. 298
Der Staat hat darauf in Deutschland bis heute nicht reagiert. Der Beitrag der privaten Vermögen zu der Staatsfinanzierung ist seit Jahrzehnten rückläufig. Die Vermögenssteuer wurde 1996, nach Einwänden des Verfassungsgerichts gegen die Art der damaligen Berechnung, zum letzten Mal erhoben. Sie gehört zu den wenigen Steuern von Belang, die jemals abgeschafft wurden. Mit einem Beitrag von zuletzt rund 2 Milliarden Euro (1,1 Prozent aller Steuereinnahmen) spielte sie nie eine nennenswerte Rolle; nur in der öffentlichen Debatte. Die Erbschaftssteuer und die Steuern auf Grundbesitz bringen auch nicht viel – zumindest hierzulande. Deutschland ist für Erben ein Niedrigsteuerland. Mit zuletzt jährlich nur 4,5 Milliarden Euro sind sie nur doppelt so hoch wie die Einnahmen aus der Branntweinsteuer. In den USA ist die gesamte Vermögensbesteuerung, vor allem auf Erbschaften und Grundbesitz, viermal so hoch wie in Deutschland; in Großbritannien und Kanada sogar fünfmal so hoch. Werden in Europa 250000 Euro vererbt, muss ein Franzose effektiv 15 Prozent an den Staat abführen, ein Deutscher nur ein Prozent. In den USA käme dieser Erbe ebenfalls ungeschoren davon, derweil die ganz großen Erben bis zur Hälfte ihrer Reichtümer dem Fiskus übertragen müssen. Würde der deutsche Staat Erben und Grundbesitzer entsprechend dem US-Niveau besteuern, könnte er über 40 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen. Das entspricht den Kosten der heutigen Arbeitslosigkeit. Das oberste deutsche Gericht für solche Fälle, der Bundesfinanzhof, hat die Parteien schon mehrfach ermuntert, endlich die Erbschaftssteuer zu reformieren. Sie ist den Richtern zu niedrig – vor allem im Vergleich zur Steuer auf das erarbeitete Einkommen. Warum zahlt ein Erbe, der 100000 Euro bekommt, aufgrund hoher Freibeträge keinen Cent, während ein Beschäftigter, der aus ei299
gener Anstrengung 100000 Euro erwirtschaftet, von dieser Summe 30000 Euro an den Staat überweisen muss? Bei der Gewinnbesteuerung herrscht im Übrigen die gleiche Ungerechtigkeit: Ein Selbstständiger, der 300000 Euro Gewinn erwirtschaftet, führt davon rund 130000 Euro ab, ein Börsenspekulant jedoch, dessen Aktienpaket sich nach einem Jahr verdoppelt hat, bleibt in Deutschland steuerfrei. Für Aktienspekulanten ist Deutschland eine echte Steueroase, wie man sie selbst in Liechtenstein, der Schweiz und der Südsee so nicht findet. Unser Staat hat sich, als er aus Trümmern und Ruinen entstand, für die Besteuerung der menschlichen Arbeit entschlossen, weil es viel anderes zum Besteuern noch nicht gab. Heute ist das anders, ohne dass unser Staat sich daran schon gewöhnt hätte. Das aber sollte er nun tun. Denn es wäre besser, er würde sich aus allen Einkunftsarten finanzieren. Warum sollte ausgerechnet die Lohnarbeit, die im internationalen Wettbewerb besonders unter Druck steht, den gesamten Wohlfahrtsstaat schultern? Die Unternehmen zum Beispiel sind in unserem Modell durch die Entkoppelung ihrer Firma vom Sozialstaat leistungsfähiger geworden. Sie dürfen die Hälfte der alten Lohnnebenkosten behalten, was für sie zur Senkung der Lohnkosten führt. Wo die Firmen im harten Wettbewerb miteinander ringen, kommt es zu Preissenkungen, anderswo zu erhöhten Gewinnen. Beides kann der Steuerstaat in Ruhe abwarten. Denn anders als der alte Sozialabgaben-Staat lässt er zunächst Einkommen entstehen, wobei Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Einkommen aus Lohnarbeit ihm beide gleich viel wert sein sollten. Erst wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber miteinander aktiv waren, schlägt die Stunde des modernen Steuerstaates. Im Unterschied zu den Sozialaufschlägen, die eine Pauschalsteuer sind, deren 300
Höhe von Anfang an feststeht, sind die Lohnsteuer und die Gewinnbesteuerung staatliche Instrumente, die nur im Erfolgsfall zum Einsatz kommen. Sind große Gewinne und hohe Einkommen entstanden, kassiert der Staat entsprechend mehr. Insofern erhält die Kapitalseite im Zuge der Entkopplung kein Geschenk. Das Geld wird bei den im Wirtschaftsleben Erfolgreichen und damit Leistungsfähigen, den Gewinnmaschinen der Konzerne und den privat Vermögenden zum Teil wieder eingesammelt. Ein Staat, der das Soziale nicht suspendieren und zugleich die Arbeit nicht ausrotten will, hat keine andere Chance, als bei den hohen Einkommen, egal ob sie aus Unternehmergewinn, Spitzen-Lohnarbeit, Erbschaften oder Börsengeschäften stammen, stärker zuzugreifen. Nicht Ideologie leitet ihn, sondern ökonomische Vernunft. Allerdings: Wer den Staat will, der auch das Eigentum als Quelle seiner Finanzkraft stärker einsetzt, muss über das Tun und Treiben derer, die über Eigentum verfügen, besser im Bilde sein. Der Fiskus ist heute weitgehend blind: Nicht was die Arbeitnehmer angeht, deren Einkommen, Abzüge, Familienstand und religiöse Vorlieben sind ihm gut bekannt. Die Meldepflicht der Firmen für die Lohn- und Einkommenssteuer ist so detailliert wie fast nirgends auf der Welt. Der Steuerstaat kennt also seine Arbeitnehmer ganz genau. Vermögen und die Vermögenden hingegen sind für ihn nur hinter einer Milchglasscheibe zu erkennen. Will er sie erfassen, braucht er mehr Informationen. Was beim Arbeitnehmer das Lohnbüro der Firma leistet, das als Agent des Staates die Finanzverwaltung lückenlos aufklärt über Gehalt, Tantiemen, Weihnachts- und Urlaubsgeld, Dienstwagen und alle anderen Formen des geldwerten Vorteils, kann beim Vermögenden nur die Bank leisten. Sie führt die Buchhaltung der Reichen, verfügt über alle Daten, die 301
für eine steuerliche Erfassung nötig sind: Depotstand, Aktienverkäufe, Auslandsüberweisungen, Zinsgewinne, Pacht- und Mieteinnahmen, Bareinzahlungen größeren Umfangs. Wer also die Vermögenden gerecht, das heißt nach ihrer Leistungsfähigkeit, besteuern will, muss sich zuallererst die dafür nötigen Daten besorgen. Es gibt dazu keine wirkungsvolle Alternative: Das Bankgeheimnis, das die Amerikaner so strikt nicht kennen wie wir, müsste gelockert werden. Der neue Steuerstaat, soll er kein schwacher Staat sein, braucht Klarheit und darf sich nicht auf die Auskunftsfreudigkeit seiner Bürger verlassen. Wobei ein Unterschied bedeutend ist: Die Aufhebung des Bankgeheimnisses gegenüber dem Fiskus ist nicht zu verwechseln mit der Aufhebung des Steuergeheimnisses. Jeder Bürger hat und hätte auch danach ein Recht auf Diskretion. So wie die Lohnbuchhaltung ihre Daten auch nur der Finanzverwaltung und nicht der Belegschaft zur Verfügung stellt, bleibt der Vermögende gegenüber der Öffentlichkeit weiterhin ein Unbekannter. Wir wollen ihn ja nicht bloßstellen, nicht ärgern und schon gar nicht vertreiben. Wird der Rückzug des Sozialstaates aus der Arbeitswelt also mit einer Aufrüstung des Steuerstaates bezahlt? Sind höhere Steuern automatisch der Preis für die sinkenden Lohnkosten? Ja, der Steuerstaat muss da, wo er heute Informationsdefizite besitzt, besser versorgt werden. Das geht nur, wenn die Träger der Informationen – das Lohnbüro und die Bank – zur Zusammenarbeit mit ihm verpflichtet sind. Die zweite Frage lässt sich mit »nein« beantworten. Eine generelle Steuererhöhung ist nicht gewollt, nicht erwünscht, sie wird auch nicht billigend in Kauf genommen. Die schlichte Verlagerung des Sozialstaates – weg von der Arbeit hin zum Steuerstaat – ist keine Perspektive, sie bringt auch nicht die Effekte, die 302
wir uns erhoffen: Der Steuerstaat, der sich wie eine Betonplatte über das wirtschaftliche Treiben legt, tut dem Innersten der Volkswirtschaft nicht gut. Er erstickt die ökonomische Energie, wie wir aus allen Hochsteuerstaaten wissen. Er lässt die Behörden wachsen, aber nicht die Wirtschaft. Wir brauchen daher beides: Einen Steuerstaat, der gut informiert ist. Diese Information soll ihm zusätzliche Einnahmen verschaffen von den Menschen, die große Vermögen besitzen, und den Firmen, die gute Gewinne machen und schöne Veräußerungsgewinne realisieren. Da die bisherige Grundlage unseres Steuersystems, die Lohnarbeit, schrumpft, und es nur zwei ökonomische Aggregate gibt, die zulegen, die privaten Vermögen und die Konzerngewinne, wird sich der Steuerstaat überall in der westlichen Welt hier stärker bedienen müssen, ob er will oder nicht. Bei der Lohn- und Einkommenssteuer brauchen wir aber auch einen Steuerstaat, der sich zurückhält und sich sogar spürbar aus dem Leben seiner Bürger zurückzieht. Sinnvoll ist ein Steuersystem, das mit dem Geldeinsammeln erst dann beginnt, wenn der Lohn zum Lebensunterhalt ausreicht. Es ist unsinnig, etwas wegzubesteuern, um es dann in Form von Zuschüssen wieder zu gewähren, obwohl genau das heute der Fall ist. Nahezu alle steuerlichen Subventionen, von denen die Eigenheimzulage mit zehn Milliarden Euro die größte ist, müssten gestrichen oder doch deutlich abgebaut werden. So entsteht jener Freiraum, der für eine staatliche Garantierente gebraucht wird, die als einzige soziale Großleistung in Staatsverantwortung bleibt. Die Arbeitslosigkeit ist in der Firma abgesichert, die Gesundheitsprämien werden von den Bürgern selbst aufgebracht. Mit der Rente und ihrer Finanzierung hat der Staat noch genug zu tun. Alle 303
Staatssubventionen zusammen betragen 60 Milliarden Euro, so die Aussage der Bundesregierung. Der Subventionsbericht des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel rechnet mit 156 Milliarden Euro. Das Verrückte an der Subvention ist, und schon deshalb muss sie bekämpft werden: Ein unsichtbarer Dritter profitiert, weil er bei allen Verteilvorgängen die Hand aufhält – der Staat. Rund 20 Prozent der Aufwendungen für das staatliche Wohngeld gehen allein für dessen Verwaltung verloren, von den knapp 90000 Beschäftigten der Bundesanstalt für Arbeit befassen sich auch nach ihrer Reform nur rund 15000 mit der eigentlichen Vermittlungsarbeit. Die übrigen berechnen das Arbeitslosengeld, von dem, während sie rechnen, immer weniger für die eigentliche Zielgruppe übrig bleibt. Bund und Länder geben für ihre Apparate, die in großem Umfang reine Verteilungsfunktionen erfüllen, jährlich 160 Milliarden Euro aus. Fassen wir also kurz zusammen: Das Steuersystem, das wir bisher skizziert haben, hat also zwei Funktionen: Erstens soll es Arbeit und damit Wirtschaftswachstum fördern, um damit, zweitens, die heutigen Stilllegeprämien für Arbeit, die wir mit falschem Pathos gern auch »Sozialleistungen« nennen, zu reduzieren. Dieser Steuerstaat speist sich aus drei Quellen: Die Lohn- und Einkommenssteuer wird vereinfacht und nach Möglichkeit in drei Stufen zusammengefasst. Die Steuerbasis wäre durch die Ausschüttung der Arbeitnehmerbeiträge automatisch verbreitert, weil die Bruttolöhne um rund 20 Prozent steigen. Eine Anhebung der Lohn- und Einkommenssteuer ist nicht sinnvoll und der Staat könnte viel von dem verloren gegangenen Vertrauen zurückgewinnen, würde er die Steuersätze für den Zeitraum einer Dekade für unantastbar erklären. 304
Die Steuern auf Grundbesitz, Aktiengewinne und Erbschaften würden entsprechend dem Vorbild der USA und Großbritanniens erhöht. Die Einnahmen aus der Gewinnbesteuerung der Unternehmen erhöhen sich im Zuge der Rückübertragung ehemaliger Arbeitgeberbeiträge von allein. Auch hier gilt: Das System muss einfach und über einen größeren Zeitraum verlässlich sein. Die Ausgaben des Staates in Form von Subventionen werden radikal eingeschränkt. Hier liegen die enormen Potentiale zur Finanzierung der staatlichen Garantierente. Dieses Steuersystem wäre ein Vorteil gegenüber dem heutigen, weil es einfacher, gerechter und leistungsstärker ist. Reicht es aber aus, den Faktor Arbeit zu fördern? Es belastet ihn nicht mehr; damit ist viel gewonnen. Aber wir können noch mehr tun. Denn nicht jeder Beruf erwirtschaftet die Mindestausstattung, die wir von ihm verlangen: Lebensunterhalt plus Gesundheitspolice plus private Rentenvorsorge. Aber deshalb sollte niemand diesen Arbeitsplatz gering achten, der Einzelne nicht und der Staat auch nicht. Vor allem hat alles zu unterbleiben, um diesen Arbeitsplatz zu diskreditieren oder in seiner eher geringen Rentabilität weiter zu schwächen. Bisher hat der Staat genau das mit Vorliebe getan: Er redet von Minijobs oder McJobs, und er verlangt, kaum dass sie dem untersten Stadium entwachsen sind, unerbittlich seine Sozialaufschläge. Der kluge Steuerstaat hilft der Beschäftigung und zerstört sie nicht: Er gewährt einen Lohnzuschuss, wenn die Mindestausstattung durch das bisherige Arbeitsentgelt nicht gewährleistet ist. Diese Lohnsubvention, die nur an Arbeitende gezahlt wird, ist die einzige Subvention, die es heute nicht gibt. Restaurantrechnungen werden steuerlich gefördert, Dieselkraftstoff, Produktionsanlagen, es gibt Zuschüsse für alle – die Berufspendler, die Hausbauer, die 305
Käufer von Sonnenkollektoren. Dabei ist die Lohnsubvention die einzige Unterstützungsleistung, die dem Einzelnen und der Gesellschaft wirklich nützt: Sie ist billiger als Arbeitslosengeld und Sozialhilfe und sie hilft den Energiekern des Landes zu vergrößern. Sie ermöglicht das Überleben eines Grenzanbieters, der, wenn er keine andere Chance bekommt, sich unweigerlich von der Plus- auf die Minusseite unserer Volkswirtschaft bewegt. Da aber wollen wir ihn nach Möglichkeit nicht haben. Die Einwände gegen eine solche radikale Reform von Arbeitsmarkt, Steuersystem und Sozialstaat sind schnell zusammengezimmert, aus jenen Bedenken, die in unserer bisherigen deutschen Debatte schon reichlich zum Einsatz kamen – zu eng, zu tollkühn, zu unpolitisch, zu riskant, zu wenig ausgewogen, zu teuer, zu billig, zu arbeitnehmerfreundlich oder auch zu kapitalistisch. Was werden die Gewerkschaften sagen? Was die Arbeitgeber? Wie werden die Wähler wohl reagieren? Die werden natürlich erschrocken sein, werden jene die Zukunft ausblendende Heimeligkeit vermissen, in der es sich die Nachkriegsgesellschaft gemütlich gemacht hat. »Beitragsgerechtigkeit« und »Leistungsgerechtigkeit« waren die Worte, die jahrzehntelang so vertrauenseinflößend klangen. »Arbeitnehmerbeitrag« und »Arbeitgeberbeitrag«, das versprach eine harmonische Welt der Sozialpartnerschaft. »Generationenvertrag«, das enthielt neben der Rente auch ein Weltbild, das nun zu zerbrechen droht. Die Deutschen, meint Klaus von Dohnanyi, erkennen sich im Sozialstaat vielmehr wieder als in allem, was der Staat an Traditionsbezügen sonst noch zu bieten hat. »Der Sozialstaat ist für die Deutschen die Nation«, sagt er. Das könnte einen Teil des Beharrungsvermögens erklären. Die Politik hat darauf Rücksicht zu nehmen – und sie hat es bisher 306
schon reichlich getan. Nach Jahren der Debatte und des vorgezogenen Abschiedsschmerzes drängt nun die Zeit. Die Wohlstandsverluste sind enorm, mit jedem Jahr weiteren Zuwartens verliert das Land ein Stück seiner Zukunftsfähigkeit. Das »Modell Deutschland« ist im Nebel verschwunden, das Neue zeigt sich erst schemenhaft. Noch greifen die Deutschen nicht danach, sie halten sich vielmehr die Hand vors Gesicht. Die Politiker registrieren das sehr genau und reagieren entsprechend verzagt. »Die Kapazitäten der parlamentarischen Demokratie scheinen überfordert«, meint sogar der Soziologe Rolf Heinze. Das Land, so viel steht fest, tritt seit Jahren auf der Stelle, gereizt, nervös, ohne jede Neugier auf das, was danach kommt. Das Wort Reform löst Befürchtungen aus, die weit über das Materielle hinausgehen. Deutschland befindet sich in einer jahrelangen Angststarre, die zu durchbrechen der Politik bisher nicht gelungen ist. »Wir brauchen einen Pragmatismus mit Visionen«, hatte Schröder in Anlehnung an Tony Blairs »Think the Unthinkable« den Deutschen beim Einzug ins Kanzleramt zugerufen – und viele haben es als Drohung verstanden, weil sie nicht aus ihrer Ruhe aufgestört werden wollten. Der Abstand zu den Nachbarländern wird größer, das Zeitfenster für Reformen schließt sich, weil schon die Ankündigung von Veränderung Millionen Deutsche mittlerweile in eine aggressive Abwehrhaltung versetzt – vor allem auch große Teile der Kanzlerpartei. Sicher ist, dass der einstige Superstar Deutschland den Wiederaufstieg noch einmal schaffen kann. Unklar ist, ob er diese Chance auch nutzen wird.
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DANKSAGUNG Was auch immer die Schwächen dieses Aufsatzes sind, sie wären zahlreicher ohne die Hilfe von Freunden, Kollegen und Experten. Ich danke sehr herzlich Professor Dr. Norbert Walter für unbestechlichen ökonomischen Rat, Professor Dr. Klaus Zimmermann und seinem Team für Reformfreude und aufwändige Rechenarbeit, Bernd Musa für Engagement und akribische Dokumentation, Jan Fleischhauer, Dr. Hans Halter, Konstantin von Hammerstein, Dirk Kurbjuweit, Wolfgang Nowak und Michaela Schießl für Leselust und Diskussionsfreude, Armin Mahler für seine wertvollen Anregungen, Martin Brinker für sonntägliche Arbeit am Grafikcomputer, Thomas Bonnie für kreative Coverideen, Sandra Latz für Fleiß und Fröhlichkeit, Stefan Aust für Kritik und Unterstützung.
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