Gordon R. Dickson
DER WOLFLING
Herausgegeben von Hans Joachim Alpers
MOEWIG
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Gordon R. Dickson
DER WOLFLING
Herausgegeben von Hans Joachim Alpers
MOEWIG
MOEWIG Band Nr. 3648 Moewig Taschenbuchverlag Rastatt Titel der Originalausgabe: Wolfling Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Crass Copyright © 1968/69 by Gordon R. Dickson Copyright © 1984 der deutschen Ausgabe by Arthur Moewig Verlag Taschenbuch GmbH, Rastatt
Umschlagillustration: Schlück Umschlagentwurf und -gestaltung: Franz Wöllzenmüller, München Redaktion: Hans Joachim Alpers Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300, A-5081 Anif Printed in Germany 1984 Druck und Bindung: Elsnerdruck GmbH, Berlin ISBN 3-8118-3648-X
Auf der Thronwelt des galaktischen Reiches gilt der Terraner James Kell nur als eine Art Haustier ohne Rechte. Aber Kell gibt sich mit dieser Rolle nicht zufrieden…
1
Der Stier wollte nicht angreifen. James Kell stampfte mit dem Fuß auf den Boden und rief zu dem Tier hinüber, aber es wollte noch immer nicht angreifen – und dazu war es programmiert. Genauer gesagt, war es dazu programmiertem diesem Stadium des Stierkampfs noch Angriffsbereitschaft an den Tag zu legen. Daran war nichts zu ändern. Die besten Tests, die für die äußere Verfassung des Stiers zur Verfügung standen, konnten keine Aussagen über die wahrscheinliche Ausdauer oder Angriffslust des Tieres machen. Der Stier war müde. Das zwang Jim dazu, den Programmabschluß zu beschleunigen und ihn jetzt zu töten. Er ging auf den Stier zu, stampfte und brüllte wieder, und es gelang ihm, das müde Tier zu einem weiteren Angriff zu bewegen. Als ein Horn an ihm vorbeifuhr und ihn an Hüfte und Taille streifte, zog er mit aller Kraft seinen Bauch ein und spürte ein Band innerer Kälte, wo er berührt worden war. Er war wie der Stier programmiert; solange sie beide ihrer Programmierung folgten, war er sicher. Er war jedoch erst seit sechs Wochen intensiver Ausbildung Stierkämpfer. Außerdem besaß er im Gegensatz zu dem Stier freien Willen – und der freie Wille schloß die Fähigkeit ein, die Programmierung zu durchbrechen und Fehler zu machen. Wenn er einen Fehler machte, konnte ihn dieser Stier durchaus töten. Er bemühte sich daher, keine Fehler zu machen, sogar jetzt, wo der Stier fast am Ende seiner Kräfte angelangt war. Er brachte ihn vorsichtig noch zu einigen weiteren Angriffen.
Dann zog er sein Schwert und setzte es hinter den Hörnern zum Todesstoß an. Der Stier grunzte, senkte sich auf die Knie und rollte auf die Seite, als er die Klinge herauszog. Während er mit unbewegtem Gesicht seine Todeszuckungen beobachtete, erschien im Sand der Arena neben ihm eine weibliche Gestalt und sah auf den gefallenen Stier herab. Er drehte sich ihr zu. Es war Prinzessin Afuan, Tante des Groß-Kaisers und Leiterin der Delegation von Hochgeborenen, die in der offiziellen Loge auf der anderen Seite der Arena saßen. Sie waren von den kleinen, braunhäutigen menschlichen Einwohnern von Alpha Centauri III umringt. Afuan war weder klein noch braun – und auch einem auf der Erde geborenen Weißen wie Jim selbst ähnelte sie weder in ihrer Größe noch ihrer Farbe im geringsten. Ihre Bekleidung – wenn man es so nennen wollte – bestand aus einer Art weißem, hauchdünnen, wolkigen Tuch. Es ließ ihre Arme frei, bedeckte sie aber sonst von den Achselhöhlen bis zu den Knöcheln und teilte sich nur mit der Bewegung ihrer Beine beim Gehen. Auch ihre Haut über dem wolkigen Material war weiß, aber nicht in dem Sinn, wie Jims Haut ,weiß’ war. Afuans Haut trug die Farbe von weißem Onyx, und Jim konnte die blauen Adern erkennen, die dunkel in der Marmorsäule ihres Halses pulsierten. Ihr Gesicht war schmal, und ihre großen Augen zeigten eine verblüffende zitronengelbe Farbe. Sie machten daher unter den weißlichen Wimpern und Brauen auf beiden Seiten ihrer langen, geraden Nase den Eindruck, als seien sie geschlitzt und katzenartig obwohl ihnen die Mongolenfalte der Orientalen fehlte. Man hätte sie in einer gemeißelten, abstrakten Art sogar schön nennen können – und sie war so groß wie Jim selbst, der zwei Meter emporragte.
„Sehr unterhaltsam“, sagte sie nun zu Jim. Sie sprach die Reichssprache mit einem schnellen, fast zischenden Akzent. „Ja, dich nehmen wir auf jeden Fall mit, äh… wie lautet dein Weltenname, Wolfling?“ „Erdenmensch, Hochgeborene“, antwortete Jim. „Aha. Na gut – komm mit zu unserem Schiff, Erdenmensch. Die Thronwelt wird dich zu schätzen wissen“, sagte sie. Sie sah an ihm vorbei zu den anderen Mitgliedern der Cuadrilla. „Aber nicht die anderen da, deine Gehilfen; es hat keinen Sinn, wenn wir das Schiff vollstopfen. Wenn wir erst einmal auf der Thronwelt sind, können wir dir alles stellen, was du für deine Nummer brauchst.“ Sie begann, sich herumzudrehen, aber Jim sprach. „Entschuldigen Sie, Hochgeborene“, sagte er. „Neue Gehilfen können Sie mir stellen, aber Kampfstiere nicht. Sie sind seit Generationen genetisch ausgewählt worden. Ich habe hier noch sechs davon kyrogenisch gelagert. Die möchte ich noch mitnehmen.“ Sie drehte sich um und sah ihn an. Ihr Gesicht war völlig undurchdringlich. Einen Augenblick lang war Jim sich nicht sicher, ob er sie durch seine Worte so sehr verärgert hatte, daß sie nun die Arbeit von fünf Jahren zunichte machen und ihn doch nicht zur Thronwelt mitnehmen würde. Dann aber begann sie zu sprechen. „Gut“, sagte sie. „Sage dem, der dich an Bord unseres Schiffs bringt, wer es auch sein mag, daß diese Tiere für dich ebenfalls verschifft werden sollen. Sage ihm, ich hätte den Befehl dazu gegeben.“ Sie drehte sich endlich wieder um und blieb stehen, um interessiert auf den toten Stier hinabzusehen. Plötzlich, als sei ihre Bewegung ein Zeichen gewesen, waren ein Dutzend oder mehr Mitglieder ihrer Gefolgschaft im Sand der Arena erschienen und musterten den Stier und sogar Bekleidung und
Ausrüstung der anderen Mitglieder der Cuadrilla. Keine der Frauen war mehr als vier oder fünf Zentimeter kleiner als Afuan – und die großen, schlanken Männer mit ihrer Onyxhaut waren zwischen zwei Meter und zwei Meter zehn groß. Im Gegensatz zu den weiblichen Hochgeborenen trugen die Männer kurze Kilts und Umhänge aus einem Material, das mehr gewöhnlichem Stoff glich. In fast allen Fällen aber war die Farbe ihrer Kleider weiß, bis auf ein einzelnes Muster in einer anderen Farbe, das sich entweder auf der Vorder- oder auf der Rückseite ihrer Umhänge befand. Niemand machte Anstalten, Jim so zu untersuchen, wie sie das bei dem Rest der Cuadrilla taten. Er steckte sein Schwert in die Scheide, drehte sich um, ging durch den Sand unter den Sitzen der Arena bis zu einem abschüssigen betonartigen Gang, der von einer Lichtquelle, die sich offensichtlich in den Wänden selbst befand, erleuchtet wurde – ein Teil des Luxus aus dem Reich, den die lokalen Menschen von Alpha Centauri III zu gebrauchen schienen, ohne eine Anstrengung zu unternehmen, seine Funktionsweise zu verstehen. Er erreichte die Tür zu seinem Zimmer, öffnete sie und trat ein. In dem fensterlosen Raum sah er zwei Dinge mit einem Blick. Zunächst war da Max Holland, der Beauftragte des Spezialkomitees der UN. Das zweite waren seine eigenen Koffer, die er in der Hoffnung auf die Reise zur Thronwelt, die nun Wirklichkeit geworden war, bereits vorsorglich gepackt hatte. Nun aber waren die Koffer geöffnet und ihr Inhalt auf dem Mobiliar des Zimmers verstreut worden. „Was soll das?“ sagte Jim. Er blieb stehen und sah auf den kleineren Mann herab. Hollands Gesicht hatte sich vor Zorn dunkel gefärbt. „Glauben Sie ja nicht…“, fing er mit erstickter Stimme an und bekam sich dann wieder unter Kontrolle. Seine Stimme
festigte sich. „Wenn sich Afuan dazu bereit erklärt hat, Sie mitzunehmen, so heißt das noch lange nicht, daß Sie manche von diesen Dingen hier mit auf die Thronwelt nehmen werden!“ „Sie sind also schon über die Einladung informiert?“ fragte Jim. „Ich kann gut von den Lippen ablesen“, antwortete Max mit kehliger Stimme. „Ich habe Sie von dem Augenblick an, in dem Sie mit Ihrem Stierkampf begonnen haben, bis gerade jetzt, als Sie weggegangen sind, mit einem Fernglas beobachtet.“ „Und dann sind Sie vor mir hier heruntergekommen und haben sich entschlossen, sich mein Gepäck anzusehen?“ sagte Jim. „Ganz genau!“ sagte Max. Er drehte sich scharf um und riß zwei Gegenstände an sich, die auf der Couch neben ihm gelegen hatten. Der eine war ein schottischer Kilt in dem Muster der Schwarzen Wache, an dem ein kurzes Messer in einer Scheide hing. Der zweite war ein kurzärmliges Hemd mit Schulterklappen, deren eine mit einem Schultergurt an einem Lederkoppel befestigt war, an dem ein Halfter mit einem Revolver vom Kaliber fünfundvierzig hing. Max schüttelte diese beiden Gegenstände praktisch unter Jims Nase. „Sie gehen auf die Thronwelt eines Reichs von Menschen, das hunderttausend Jahre alt ist! Eine Welt, in der sie über primitive Waffen von der Art hier schon so lange hinaus sind, daß sie sich an sie wahrscheinlich nicht einmal mehr erinnern.“ „Genau deshalb nehme ich sie mit“, sagte Jim. Er nahm Max den Kilt mit dem kurzen Messer und das Hemd mit dem Koppel so schnell aus der Hand, daß er einen Augenblick lang nicht zu bemerken schien, daß sie nicht mehr da waren. Jim trug beide Kleidungsstücke zu den offenen
Koffern zurück und legte sie hinein. Er fing ruhig wieder damit an, sein Gepäck neu zu packen. „Was heißt: nehme ich sie mit?“ fuhr Max ihn empört an. „Jim, Sie meinen offenbar, Sie seien für das ganze Projekt allein verantwortlich! Ich darf Sie daran erinnern – hundertzweiundsechzig Regierungen, ungefähr zwei Milliarden Dollar und die Arbeit von Tausenden von Menschen waren dazu nötig, Sie auszubilden und hierher zu bringen, wo Sie sich dazu einladen lassen konnten, auf der Thronwelt Stierkämpfer zu spielen!“ Jim antwortete nicht, sondern legte den Kilt zusammen und in einen der offenen Koffer zurück. „Hören Sie mir zu, verdammt noch mal!“ knurrte Max ihn von hinten an. Der kleinere Mann packte Jim am Arm und versuchte, ihn herumzureißen. Jim drehte sich um. „Ich sage Ihnen – Sie nehmen diese Dinge nicht mit!“ sagte Max. „Doch, ich nehme sie mit“, sagte Jim. „Ich sage, Sie nehmen sie nicht mit!“ brüllte Max ihn an. „Wofür halten Sie sich eigentlich? Sie sind nur der Mann, der dazu ausgesucht worden ist, auf die Thronwelt zu gehen und zu beobachten. Haben Sie das verstanden? Beobachten! Nicht, um Leute mit Messern zu erstechen oder sie mit Revolvern zu erschießen oder sonst irgendwie das Reich dazu zu bringen, der Erde mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als es das bisher tut. Sie sind Anthropologe, der einen Stierkämpfer spielt, und nicht irgendein romantischer Spion!“ „Das trifft für mich alles zu“, sagt Jim schnell und ein wenig kühl. Langsam verschwand die Farbe aus Max’ Gesicht. „Mein Gott…“, sagte der Kleinere. Seine Hand fiel von Jims Arm herab. „Vor zehn Jahren wußten wir noch nichts von Ihrer Existenz – ein ganzes Reich von Welten, die von Menschen
bewohnt werden, das sich von Alpha Centauri bis zum Mittelpunkt der Galaxis erstreckt. Vor fünf Jahren waren Sie nur ein Name auf einer Liste. Ich hätte Sie durchstreichen können, und dann wären Sie jetzt nicht hier. Selbst noch vor einem Jahr war ich dazu bereit, in Frage zu stellen, ob wir den richtigen Mann ausgebildet haben – und genau den Zeitpunkt haben Sie sich dazu ausgesucht, Ihre Sache so gut zu machen, daß niemand auf mich gehört hätte. Jetzt stellt sich heraus, daß ich eigentlich doch recht hatte. Ein Reich von tausend Welten – und eine einzige kleine Erde. Sie haben uns schon einmal vergessen, und vielleicht vergessen sie uns wieder – wenn Sie zur Beobachtung zu ihnen gehen. Ich hatte vor einem Jahr also recht. Sie haben mit diesen Hochgeborenen eine Privatrechnung zu begleichen…“ Seine Stimme überschlug sich und verstummte. Er holte tief Luft und richtete sich auf. „Vergessen Sie es“, sagte er ruhiger. „Sie gehen nicht. Ich breche das gesamte Projekt ab – auf meine eigene Verantwortung. Wenn das Schiff des Reichs erst einmal weg ist, können sie mich von der Erde so viel fragen, wie sie wollen…“ „Max“, sagte Jim fast sanft. „Es ist zu spät. Sie können mich nicht mehr aufhalten. Ich bin von Prinzessin Afuan eingeladen worden. Weder Ihnen noch dem gesamten Projekt oder auch der gesamten Erde würde es jetzt noch gestattet, gegen die Einladung etwas zu unternehmen. Glauben Sie wirklich, sie ließe das zu?“ Max stand da und starrte Jim aus dunkel umrandeten, blutunterlaufenen Augen an. Er gab keine Antwort. „Es tut mir leid, Max“, sagte Jim, „aber früher oder später mußte es ja dazu kommen. Von jetzt an kann ich mich nicht mehr von dem Projekt leiten lassen, sondern muß meinem eigenen Urteil folgen.“
Er drehte sich wieder um und fuhr mit dem Packen fort. „Ihrem Urteil!“ Etwas Feuchtigkeit begleitete die Worte in der Luft und berührte den seitlichen und hinteren Teil von Jims Hals. „Sind Sie sich Ihres Urteils so sicher? Im Vergleich mit diesen Hochgeborenen wie Afuan sind Sie ebenso ignorant und primitiv, der gleiche Wilde wie wir alle von der Erde! Sie wissen überhaupt nichts! Vielleicht ist die Erde tatsächlich eine von ihren Kolonien, die sie vergessen haben… Oder vielleicht ist es auch nur Zufall, daß wir zur gleichen Rasse wie sie und die Menschen gehören, die wir hier auf Alpha Centauri III vorgefunden haben? Was wissen wir davon? Ich jedenfalls nichts – das gleiche gilt für alle Erdenmenschen. Für Sie auch! Erzählen Sie mir also nichts von Ihrem Urteil, Jim! Nicht, wenn die gesamte Zukunft der Erde davon abhängt, was Sie tun werden, wenn Sie dort an den kaiserlichen Hof kommen!“ Jim zuckte die Achseln. Er wendete sich wieder seinen Koffern zu und spürte, wie sein Arm heftig gepackt und daran gezerrt wurde, als Max versuchte, ihn wieder herumzudrehen. Dieses Mal drehte sich Jim schnell um. Mit der Kante seiner rechten Hand lockerte er den Zugriff von Max und legte dann die gleiche Hand scheinbar beruhigend auf die Schulter des Kleineren. Der Daumen aber hob sich aus dem Griff der anderen vier Finger hoch und legte sich auf Max’ Hals an den richtigen Punkt hinter den Kieferknochen. Er drückte leicht zu. Max wurde blaß und schnappte nach Luft. Er atmete kurz ein und versuchte zurückzutreten, aber der Griff von Jims Hand hielt ihn fest. „Sie… Sie sind verrückt!“ stotterte Max. „Sie würden mich umbringen, oder etwa nicht?“ „Wenn es sein müßte“, sagte Jim ruhig. „Das ist einer der Gründe dafür, daß ich der richtige Mann für diese Aufgabe bin.“
Er lockerte seinen Griff, wendete sich ab, schloß den offenen Koffer, in den er den Kilt und das Koppel gepackt hatte, und nahm die beiden schweren Koffer auf. Er drehte sich um und ging zur Tür hinaus, bog nach links in den Gang ein, der zur Straße und zu dem Fahrzeug führte, das vor der Arena auf ihn wartete. Er sah über seine Schulter zurück zu dem anderen Mann, der aus dem Zimmer herausgekommen war, im Gang stand und ihm nachstarrte. „Beobachten!“ brüllte Max in Englisch hinter ihm in den Gang. „Wenn Sie sonst etwas tun, bei den Hochgeborenen die Erde in Schwierigkeiten zu bringen, dann erschießen wir Sie wie einen tollen Hund, wenn Sie wieder zurückkommen!“ Jim antwortete nicht. Er trat in das helle, gelbe Sonnenlicht von Alpha Centauri III hinaus, stieg in das offene, vierrädrige, jeepähnliche Fahrzeug ein, das mit dem Fahrer hinter dem Steuer auf ihn wartete.
2
Der Fahrer gehörte zum Stab der Handelsdelegation von der Erde, die sich zusammen mit zwei anderen Handelsdelegationen von Sonnensystemen des Reichs und den Bewohnern von Alpha Centauri III zu verschiedenen kulturellen Darbietungen aus ihrem lokalen Bereich für die besuchenden Hochgeborenen getroffen hatten. Hinter solchen Darbietungen stand für die Teilnehmer immer die Hoffnung, bei den Hochgeborenen für sich einen Vorteil herauszuschlagen. Für die Erde hatten die Chancen, Interesse zu erwecken, am besten gestanden, da sie theoretisch ein kürzlich wiederentdeckter Teil des Reichs war. Nun sollte ihre Vorführung der Kunst des Stierkampfes zur Belustigung des Kaisers von den Besuchern zurück auf die Thronwelt gebracht werden. Der Fahrer brachte Jim und sein Gepäck durch die sie umgebende Stadt zu dem offenen Raumhafen, einer endlosen Fläche aus bräunlichem, betonartigem Material. In einem Bereich davon stand isoliert ein riesiges eiförmiges Gebilde, das das Schiff der Hochgeborenen war. Der Fahrer brachte Jim zu diesem Schiff und hielt an. „Soll ich warten?“ fragte der Fahrer. Jim schüttelte den Kopf. Er hob die beiden Koffer aus dem Fahrzeug und sah zu, wie der Fahrer es wieder in Bewegung setzte und wegfuhr, bis es in Spielzeuggröße auf der Fläche des Raumhafens in der Entfernung verschwand. Jim setzte seine Koffer ab und drehte sich um, um das Schiff anzusehen. Von außen sah es völlig glatt aus. Es besaß keine Luken, keine Luftschleusen, kein Anzeichen von Öffnungen
oder Eingängen nach innen. Niemand in dem riesigen Raumschiff schien Jims Anwesenheit zu bemerken. Er setzte sich auf einen seiner Koffer und begann zu warten. Etwas mehr als eine Stunde lang passierte nichts. Dann, während er noch auf seinem Koffer saß, fand er sich abrupt in einem eiförmigen Raum mit grünen Wänden und einem Teppich in etwas dunklerem Grün auf dem Boden wieder. Das Mobiliar bestand aus Kissen in allen Farben und Größen, deren Durchmesser von zwanzig Zentimetern bis zu zwei Metern reichte. „Hast du lange gewartet, Wolfling?“ fragte eine Frauenstimme. „Das tut mir leid. Ich war beschäftigt und habe mich um die anderen Tiere gekümmert.“ Er stand auf und drehte seinen Koffern den Rücken zu. Dann sah er sie. Nach Hochgeborenenmaßstab war sie klein – wahrscheinlich nicht größer als einen Meter fünfundsiebzig. Ihre Haut, auch wenn sie dem Onyx-Weiß von Prinzessin Afuan und den anderen gleichkam, zeigte einen Braunton – der helle Schatten von Braun, wie er bei den nordamerikanischen Indianern zu finden ist. Dieses Braun erstreckte sich auch auf ihre Augen, die golden gefärbt waren und kleine rötliche Lichtpunkte zeigten – nicht wie das Zitronengelb, das Jim bei Afuan gesehen hatte. Ihr Gesicht war nicht so länglich wie bei Afuan, und das Kinn war stärker abgerundet. Sie lächelte auf eine Art, die dem undurchdringlichen Gesichtsausdruck Afuans ganz und gar nicht glich. Und wenn sie lächelte, erschienen die Schatten von etwas, das Sommersprossen sehr ähnlich sah, auf ihrer Nase und ihren Wangen. Sogar ihr Haar, das sie wie die anderen hochgeborenen Frauen, die Jim in der Arena gesehen hatte, gerade nach hinten herunterhängen ließ, war deutlich gelblich-blond und nicht weiß. Es fiel außerdem nicht so gerade wie bei Afuan, sondern zeigte merkliche Locken und war dichter.
Ihr Lächeln verschwand, und ihr Gesicht verdunkelte sich abrupt durch einen plötzlichen Blutzufluß unter der Haut. Sie wurde buchstäblich rot – das letzte, was Jim in dem Gesicht einer Hochgeborenen erwartet hätte. „So ist es richtig, glotz mich nur an!“ sagte sie heftig. „Ich schäme mich nicht deshalb!“ „Schämen? Weshalb?“ fragte Jim. „Na…“ Sie unterbrach sich plötzlich. Ihre Röte verflog, und sie sah ihn zerknirscht an. „Das tut mir leid. Natürlich – du bist ja ein Wolfling. Du würdest den Unterschied nicht einmal erkennen, oder?“ „Offensichtlich nicht“, sagte Jim. „Ich scheine nämlich nicht zu verstehen, wovon Sie reden.“ Sie lachte – aber ein wenig traurig, wie es Jim schien, und sie tätschelte ihm mit einer leichten, beruhigenden Berührung den Arm. Das hatte er nicht erwartet. „Du wirst es bald genug erfahren“, sagte sie, „auch wenn du ein Wolfling bist. Ich bin ein Rückfall, verstehst du. Irgend etwas in meiner Genstruktur ist atavistisch. Oh, mein Vater und meine Mutter sind ebenso hochgeboren wie jeder, der nicht dem königlichen Geschlecht entstammt. Afuan wird mich nie aus ihrem Haus verbannen. Auf der anderen Seite kann sie sich aber mit mir kaum brüsten. Mir bleiben also Aufgaben wie die Versorgung ihrer Haustiere. Das ist der Grund, warum ich dich gerade eben auf das Schiff gebracht habe.“ Sie sah auf seine beiden Koffer herab. „Ist das da deine Ausrüstung?“ fragte sie. „Ich bringe sie für dich weg.“ Sofort verschwanden die beiden Gepäckstücke. „Augenblick mal“, sagte Jim. Sie sah etwas verwirrt zu ihm hoch.
„Wolltest du sie noch nicht verstaut haben?“ fragte sie. Im gleichen Augenblick standen die beiden Koffer wieder zu ihren Füßen. „Nein“, antwortete Jim. „Es müssen nur noch einige andere Dinge an Bord gebracht werden. Ich habe Ihrer Prinzessin Afuan schon gesagt, daß ich die Stiere brauche – das sind die Tiere, mit denen ich in meiner Show arbeite. Davon sind sechs in der Stadt kyrogenisch gelagert. Sie hat mir zugesagt, daß ich sie mitbringen darf. Ich soll hier der oder dem – wer immer mich auf das Schiff bringt – ausrichten, daß sie gesagt hat, das gehe in Ordnung.“ „Oh!“ sagte die Frau nachdenklich. „Nein, versuche nicht, es mir zu sagen. Stell dir nur den Platz vor, an dem sie sich in der Stadt befinden.“ Jim führte die Anweisung aus und erstellte vor seinem geistigen Auge ein Bild des Kühlhauses hinter der Siedlung der Handelsdelegation von der Erde, wo seine Stiere gelagert wurden. Er spürte in seinem Kopf eine merkwürdige leichte Berührung – eine Art flüchtiges Gefühl, als sei sein nacktes Gehirn leicht mit einer Feder gestreift worden. Plötzlich standen er und die Frau in dem Kühlraum vor einem Stapel von sechs riesigen Verpackungskisten, von denen jede den gefrorenen Körper eines Kampfstiers mit reduzierten Vitalfunktionen enthielt. „…ja“, sagte die Frau nachdenklich. Abrupt standen sie wieder woanders. Dieser neue Ort war ein großer Raum mit Metallwänden, in dem eine Ansammlung von Kisten und anderen Gegenständen in ordentlichen Haufen mit Zwischenräumen über den Fußboden verteilt waren. Auch der Stapel von Kisten mit den gefrorenen Stieren war darunter. In dem Raum herrschte deutlich angenehme Zimmertemperatur. „Diese Tiere sind
eingefroren“, sagte er zu der Frau. „Und sie müssen eingefroren bleiben…“ „Oh, darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen“, unterbrach sie ihn. Dann lächelte sie ihm halb fröhlich und halb, so schien es zumindest, entschuldigend zu, weil sie ihn unterbrochen hatte. „An ihrem Zustand wird sich nichts ändern. Ich habe bei der Zentralstelle Anweisung erteilt, daß man sich darum kümmert.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Na los“, sagte sie. „Strecke deine Hand aus und fühle selbst.“ Jim streckte seine Hand nach der Seite der nächsten Kiste aus. Die Temperatur änderte sich nicht, bis sich seine Finger bis auf ein oder zwei Zentimeter der Kiste genähert hatten – dort tauchten sie plötzlich in eisige Kälte ein. Er wußte, daß die Kälte nicht von den Kisten selbst kommen konnte, da die ausgezeichnet isoliert waren. Er zog seine Hand zurück. „Ich verstehe“, sagte er. „In Ordnung. Ich mache mir keine Gedanken um meine Stiere mehr.“ „Gut“, antwortete sie. Sofort befanden sie sich an einer anderen Stelle. Nicht in dem eiförmigen Raum, sondern in einem anderen, langgestreckten Raum, dessen eine Seite aus Glas zu bestehen schien, das den Blick auf ein Stück Strand und die Brandung einer Meeresküste freigab – die Küste eines Meeres, das sich bis zum Horizont erstreckte. Der Blick aus einem Raumschiff heraus auf einen Ozean war jedoch nicht weniger verblüffend als die anderen Dinge, die es in dem rechteckigen Raum mit seinen Glaswänden zu sehen gab. Hier fanden sich eine Reihe von Wesen, von einem kleinen Eichhörnchen mit purpurrotem Fell bis hin zu einer Kreatur auf der anderen Seite des Zimmers, die groß und mit
schwarzem Fell bedeckt war – mehr als ein Affe, aber noch weniger als ein Mensch. „Das sind meine anderen Haustiere“, hörte er die Frau an seinem Ellbogen sagen. Er sah auf ihr lächelndes Gesicht herab. „Ich meine – in Wahrheit sind es Afuans Haustiere. Ich pflege sie nur für sie. Das hier…“ Sie blieb stehen und streichelte das kleine Eichhörnchen mit dem purpurroten Fell, das unter ihrer Hand wie eine zufriedene Katze einen Buckel machte. Es schien genausowenig wie irgendeines der anderen Tiere angekettet oder auf andere Art eingeschränkt zu sein. Trotzdem hielten sie alle etwas Abstand voneinander. „…das hier“, wiederholte die Frau, „heißt Ifny…“ Sie hörte plötzlich auf und sprang auf die Füße. „Entschuldige bitte, Wolfling“, sagte sie. „Du hast sicher auch einen Namen. Wie heißt du?“ „James Kell“, antwortete er ihr. „Nennen Sie mich Jim.“ „Jim“, sprach sie ihm versuchsweise mit zur Seite geneigtem Kopf nach. In ihrem Reich-Akzent wurde der Laut für das ,m’ verlängert, so daß die kurze, vertraute Form von James aus ihrem Mund musikalischer klang als im Englischen. „Und wie heißen Sie?“ fragte Jim sie. Sie fuhr auf und sah ihn fast schockiert an. „Aber du solltest mich mit Hochgeborene anreden!“ sagte sie ein wenig steif. Im nächsten Augenblick aber war ihre Steifheit geschmolzen, als könne die innere Wärme ihres Charakters sie nicht ertragen. „Aber ich habe natürlich einen Namen. Ich habe sogar einige Dutzend davon. Wie du aber weißt, werden wir gewöhnlich nur mit einem Namen angeredet. Mich nennt man gewöhnlich Ro.“ Jim neigte seinen Kopf. „Vielen Dank, Hochgeborene“, sagte er.
„Ach, nenn mich Ro…“ Sie brach ab, als würde sie selbst bei dem erschrecken, was sie da sagte. „Wenn wir allein sind, jedenfalls. Du bist schließlich ein Mensch, auch wenn du ein Wolfling bist, Jim.“ „Da ist noch etwas, das Sie mir sagen können, Ro“, sagte Jim. „Was ist das, dieses Wolfling, das jeder zu mir sagt?“ Sie starrte ihn einen Moment lang fast ausdruckslos an. „Aber du… nein, natürlich bist genau du derjenige, der nicht Bescheid weiß!“ sagte sie. Wieder wurde sie auf die erstaunliche Art rot, die er schon vorher bemerkt hatte. Zweifellos war ihre helle Haut trotz ihres Brauntons dafür verantwortlich, daß der Blutzustrom in ihrem Gesicht so deutlich sichtbar war. Jim erschien es jedoch ungewöhnlich, eine so deutliche Reaktion bei einer erwachsenen Frau zu sehen. „Das… das ist kein sehr freundlicher Name für dich, fürchte ich. Er bedeutet… er bedeutet etwas wie… du bist schon ein Mensch, aber einer, der in den Wäldern verlorengegangen und von wilden Tieren aufgezogen worden ist, so daß er keine Ahnung davon hat, was es wirklich heißt, ein Mensch zu sein.“ Wieder schoß ihr die Röte ins Gesicht. „Es tut mir leid…“, sagte sie und sah zu Boden. „Ich selbst hätte dich nicht so nennen dürfen, aber ich habe nicht nachgedacht. Von jetzt an werde ich dich immer Jim nennen.“ Jim lächelte. „Das spielt keine Rolle“, sagte er. „Doch, das tut es!“ sagte sie heftig und sah abrupt zu ihm hoch. „Ich weiß, wie es ist, wenn man sich Schimpfnamen anhören muß. Ich lasse es nie zu, daß jemand meine – Afuans – Haustiere beschimpft, und ich werde es nicht zulassen, daß jemand zu dir Schimpfnamen sagt, wenn ich etwas dagegen tun kann.“ „Also dann vielen Dank“, sagte Jim sanft. Sie tätschelte ihn wieder beruhigend am Arm.
„Komm mit, ich stelle dir meine anderen Haustiere vor“, sagte sie und ging in den Raum hinein. Er ging mit ihr. Die Kreaturen in dem Raum schienen sich frei bewegen zu können, waren aber zur gleichen Zeit von einer unsichtbaren Barriere umgeben und beschützt, die sie davon abhielt, einander näher als ein oder zwei Meter zu kommen. Es handelte sich deutlich bei allen Lebewesen um Tiere. Sie schienen außerdem merkwürdigerweise zumindest in einem gewissen Maß Tierarten zu ähneln, die entweder auf der Erde lebten oder zu irgendeinem Zeitpunkt in der geologischen Geschichte auf der Erde gelebt hatten. Das allein war bereits interessant. Es schien die Annahme des Reichs zu unterstützen, daß die Menschen der Erde von dem gleichen Grundstock wie die des Reichs abstammten – verloren und vergessen, um wieder entdeckt zu werden, als sie sich aus eigener wissenschaftlicher Kraft bis Alpha Centauri vorgewagt hatten. Die Alternative dazu war die Annahme, daß für Menschen bewohnbare Planeten in ihrer Evolution Parallelen in einem extrem unwahrscheinlichen Ausmaß aufwiesen. Auf der anderen Seite war auch dies möglich – Parallelen in der Fauna auf verschiedenen Welten waren noch nicht der absolute Beweis für gemeinsame Vorfahren der herrschenden Spezies. Jim bemerkte noch etwas, das bei Ro selbst sehr interessant war. Die meisten Tiere reagierten sehr freundlich, wenn sie mit ihnen sprach oder sie streichelte. Selbst die, die sich nicht so verhielten – sie berührte auch die wildesten unter ihnen ohne Zögern –, zeigten keinerlei Feindseligkeit. Das war zum Beispiel bei einem großen katzenartigen Tier der Fall. Es war mindestens so groß wie der südamerikanische Jaguar und ähnelte ihm auch mit seinem gefleckten Fell, obwohl ein großer pferdeartiger Kopf das Bild etwas störte. Dieses katzenartige Tier gähnte und ließ sich streicheln, machte aber
keine besonderen Anstalten, auf Ros Liebkosungen zu reagieren. Im Gegensatz dazu klammerte sich das affenartige Tier mit dem schwarzen Fell traurig an ihrer Hand fest und sah ihr ins Gesicht, als sie mit ihm sprach und seinen Kopf streichelte. Weitere Reaktionen zeigte es jedoch nicht. Ro ließ schließlich seine Hand los – eigentlich zog sie sie weg – und drehte sich zu Jim um. „Jetzt hast du sie gesehen“, sagte sie. „Vielleicht hilfst du mir manchmal bei ihrer Pflege. Eigentlich brauchen sie mehr Zuwendungen, als ich ihnen allein geben kann. Afuan vergißt manchmal monatelang, daß sie sie besitzt… Oh, dir wird das nicht passieren…“ Sie unterbrach sich plötzlich. „Verstehst du? Du sollst für den Kaiser auftreten, wenn wir auf die Thronwelt zurückkommen. Außerdem bist du kein Tier, wie ich schon sagte.“ „Vielen Dank“, sagte Jim ernst. Sie sah ihn überrascht an und lachte dann. Sie tätschelte ihn mit der Geste am Arm, an die er sich bei ihr zu gewöhnen begann. „Jetzt“, sagte sie, „wirst du wohl in dein eigenes Quartier gehen wollen.“ Ohne Übergang standen sie in einem Raum, in dem sie bisher noch nicht gewesen waren. Er hatte wie der Raum mit den Haustieren eine durchsichtige Glaswand, die den Blick auf den Strand und das Meer dahinter freigab. Die Wogen rollten, real oder als Illusion, bis auf zehn Meter an die Glaswand selbst heran. „Hier wirst du wohnen“, sagte Ro. Jim sah sich um. In den Wänden fand sich kein Anzeichen einer Tür. „Meinen Sie nicht“, sagte er, „es wäre besser, wenn Sie diesem Wolfling verraten würden, wie er von einem Raum in den anderen kommen kann?“
„In den anderen?“ wiederholte sie und runzelte fragend die Stirn. Ihm wurde plötzlich klar, daß sie ihn wörtlich genommen hatte. Er überlegte sich, was das bedeutete. „Ich bitte um Entschuldigung“, sagte er. „Ich meine einfach: von diesem Raum in irgendeinen anderen. Welcher Raum liegt übrigens – nur interessenhalber – direkt hinter der Wand dort?“ Er zeigte auf die kahle Wand, die der Glaswand mit dem Strand und dem Meer direkt gegenüber lag. Sie starrte die Wand an, runzelte wieder die Stirn und schüttelte schließlich den Kopf. „Ich… ich weiß es nicht“, sagte sie. „Aber was macht das schon aus? Man betritt alle Räume auf die gleiche Art, also gibt es eigentlich keinen Unterschied. Es ist gleich, wo sie sich im Schiff befinden.“ Jim heftete diese Information im Kopf für zukünftige Verwendung ab. „Ich sollte aber doch wohl darüber Bescheid wissen, wie man von einem Zimmer in das andere kommt, nicht wahr?“ fragte er. „Ach so“, sagte sie. „Das tut mir leid. Du weißt das natürlich nicht. Das wird alles vom Schiff erledigt. Du mußt dich auf das Schiff einstellen, und dann macht es alles, was du willst.“ Plötzlich strahlte sie auf. „Möchtest du gern sehen, wie es auf dem Rest des Schiffs aussieht?“ fragte sie. „Ich führe dich herum. Mach es dir hier bequem, oder pack deine Koffer aus – oder was du auch sonst tun willst. Ich komme bald zurück. Wie bald soll ich zurückkommen?“ Jim nannte ihr eine Zeitspanne in den Zeiteinheiten des Reichs, die ungefähr fünfzehn Minuten entsprach. „In Ordnung“, sagte Ro und lächelte ihm zu. „Wenn die Zeit um ist, komme ich sofort zurück.“ Sie verschwand.
Jim blieb allein zurück und untersuchte das Zimmer. Es war mit Polstern und Kissen in allen Größen ausgestattet – ganz ähnlich wie der erste Raum auf dem Schiff, den er gesehen und wo er Ro getroffen hatte. Ein großes Polster, das einen Meter dick war und einen Durchmesser von fast drei Metern hatte, hielt er für das Bett. Es lag an dem einen Ende des Raums auf dem Boden. Zunächst fand er nichts, was nach einem Bad aussah, aber sobald ihm der Gedanke gekommen war, glitt ein Teil der Wand gehorsam zur Seite und öffnete sich zu einem kleineren Raum mit einem vollständigen Bestand deutlich erkennbarer sanitärer Einrichtungen. Sogar ein Schwimmbecken war dabei – sowie einige sanitäre Installationen, denen er keinen Sinn abgewinnen konnte. Er sah zum Beispiel ein flaches, völlig trockenes Becken, das groß genug war, um sich darin ausstrecken zu können. Er wandte sich wieder dem Hauptraum zu und sah aus den Augenwinkeln, daß die Tür zu dem Bad hinter ihm wieder zuglitt. Er hob seine beiden Koffer auf, legte sie auf das bettartige Polster und öffnete sie. Er hatte das kaum getan, als sich eine weitere Sektion der Wand öffnete und ihm den Blick in eine schrankähnliche Kammer eröffnete, die jedoch keine Stangen oder Bügel enthielt. Versuchsweise – langsam kam er dahinter, wie die Dinge hier an Bord abliefen – begann er sich vorzustellen, daß seine Kleider in dem Schrank hingen. Gehorsam befanden sie sich plötzlich darin – der einzige ungewöhnliche Aspekt ihres Aussehens und ihrer Aufbewahrung bestand darin, daß sie zwar so hingen, wie er sich das vorgestellt hatte, aber nichts Sichtbares sie hielt. Sie hingen senkrecht in der Luft, als würden sie von unsichtbaren Bügeln an einer unsichtbaren Stange gehalten. Jim nickte. Er wollte gerade den Schrank gedanklich schließen, überlegte es sich dann aber anders und nahm die
schottische Tracht mit dem Kilt und dem Messer von ihrem Platz in der leeren Luft herab. Er zog sie an und hing seinen leichten Anzug, den er vorher getragen hatte, an ihre Stelle, wo er mit unsichtbarer Befestigung zusammen mit den anderen Kleidern hängen blieb. Der Schrank schloß sich, und Jim wandte sich gerade davon ab, als ein Besucher in der Mitte des Raums erschien. Es war jedoch nicht Ro, sondern einer von den männlichen Hochgeborenen – ein Mann mit onyxweißer Haut und von mindestens zwei Meter zehn Größe. „Da bist du ja, Wolfling“, sagte der Hochgeborene. „Komm mit. Mekon möchte dich sehen.“ Plötzlich standen sie in einem Raum, in dem Jim bisher noch nicht gewesen war. Es war ein rechteckiges, langgestrecktes Zimmer, und sie standen ungefähr in der Mitte. In dem Raum befanden sich sonst keine Menschen, aber an seinem hinteren Ende lag auf einem kissenbesäten Podest zusammengerollt eine Großkatze, die in jeder Hinsicht der ähnelte, die er unter Ros Haustieren gesehen hatte. Bei ihrem Anblick hob sie ihren Pferdekopf und heftete ihre Augen auf Jim. „Warte hier“, sagte der Hochgeborene, der Jim abgeholt hatte. „Mekon wird gleich kommen.“ Der hochgewachsene Mann verschwand. Jim fand sich mit dem katzenartigen Tier allein, das sich nun langsam erhob und ihn durch das Zimmer anstarrte. Jim stand bewegungslos da und starrte zurück. Das Tier gab ein merkwürdiges, winselndes Geräusch von sich – ein fast lächerlich unbedeutendes Geräusch von einem körperlich deutlich so starken Tier. Sein buschiger Stummelschwanz begann, sich steif von oben nach unten zu bewegen. Es senkte seinen schweren Kopf, bis sein Unterkiefer fast den Boden berührte, und sein Maul öffnete sich langsam und zeigte dicke Fleischfresserzähne.
Es winselte noch immer und setzte sich langsam in Bewegung. Sanft, fast zierlich, setzte es seine Vorderpfote von dem Podest herab – und dann die andere. Es bewegte sich geduckt und winselnd langsam auf ihn zu. Seine Zähne waren jetzt völlig entblößt, und das Winseln wurde lauter, als es näher kam, bis es zu einer Art singender Bedrohung wurde. Jim wartete. Er bewegte sich weder vorwärts noch zurück. Immer näher kam das Tier. Ungefähr ein Dutzend Meter von ihm entfernt blieb es stehen und kauerte sich allmählich nieder. Sein Schwanz zuckte jetzt wie ein Metronom, und das singende Winseln aus seiner Kehle erfüllte den gesamten Raum. Es schien lange vor ihm mit aufgerissenem Maul winselnd zu kauern. Dann hörte das Winseln ohne Warnung auf, und es sprang durch die Luft an Jims Kehle.
3
Das katzenartige Tier sprang blitzschnell vorwärts nach oben in Jims Gesicht – und verschwand. Jim hatte sich nicht bewegt. Einen Augenblick lang stand er allein in dem langgestreckten, rechteckigen Zimmer – und dann umgaben ihn plötzlich drei männliche Hochgeborene. Einer von ihnen trug das drachenartige Emblem auf der Vorderseite seines Hemds oder Umhangs. Er war derjenige, der Jim hierhergebracht hatte. Einer von den beiden anderen war nach dem Standard der Hochgeborenen fast klein – kaum acht Zentimeter größer als Jim. Der dritte war der größte von den dreien – ein schlanker, fast graziös aussehender Mann. Er trug auf seinem Gesicht einen Ausdruck, der einem Lächeln ähnelte – das war das erste Mal, daß Jim einen solchen Ausdruck auf einem rein onyxfarbenen Gesicht gesehen hatte. Dieser letzte der drei Hochgeborenen trug ein rotes Emblem, das einem Hirsch mit Geweih ähnelte. „Ich habe dir ja gesagt, daß sie tapfer sind, diese Wolflinge“, sagte dieses letzte Mitglied der Gruppe. „Dein Trick hat nicht geklappt, Mekon.“ „Mut!“ sagte derjenige, der als Mekon angesprochen worden war, ärgerlich. „Das war zu gut, um wahr zu sein. Er hat noch nicht einen Muskel gerührt! Man könnte glauben, er sei…“ Mekon brach abrupt ab und sah hastig zu dem großen Slothiel hinüber, der sich anspannte. „Weiter. Sprich nur weiter, Mekon“, sagte der Hochgeborene nun mit einer gewissen Schärfe in seiner Stimme. „Du wolltest etwas wie… gewarnt sagen?“
„Natürlich wollte Mekon nicht so etwas sagen.“ Es war Trahey, der sich nun fast buchstäblich zwischen die beiden anderen Männer drängte, die sich unverwandt anstarrten. „Das möchte ich gern von Mekon selbst hören“, murmelte Slothiel. Mekon senkte die Augen. „Ich… ich habe natürlich nichts Derartiges gemeint. Ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen wollte“, sagte er. „Dann darf ich wohl davon ausgehen“, sagte Slothiel, „daß ich gewonnen habe. Geht ein Lebenspunkt an mich?“ „Ein…“ Mekon wollte es zugeben, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Sein Gesicht verdunkelte sich durch einen Blutzufluß, der dem ähnelte, der, wie Jim bemerkt hatte, allzu leicht in Ros Gesicht stieg. „Ein Lebenspunkt an dich.“ Slothiel lachte. „Nimm’s nicht so schwer, Mann“, sagte er. „Du kannst jederzeit eine Chance bekommen, ihn zurückzugewinnen, wenn du eine anständige Wette vorzuschlagen hast.“ Mekons Wut war wieder aufgeflammt. „Na gut“, schnappte er, fuhr herum und sah Jim an. „Den Punkt habe ich abgegeben – aber ich möchte trotzdem gern wissen, warum der Wolfling nicht einmal gezuckt hat, als das Tier ihn angriff. Das ist irgendwie unnatürlich.“ „Warum fragst du ihn nicht?“ kam es lässig von Slothiel. „Ich frage ihn ja!“ sagte Mekon und sah Jim mit brennenden Augen an. „Mach’s Maul auf, Wolfling! Warum hast du keinerlei Zeichen einer Reaktion gezeigt?“ „Prinzessin Afuan bringt mich auf die Thronwelt, um mich dem Kaiser vorzuführen“, antwortete Jim ruhig. „Ich kann wohl kaum vorgeführt werden, wenn ich von einem Tier wie dem dort schwer verletzt oder getötet werde. Deshalb mußte derjenige, der dafür verantwortlich war, daß die Katze mich
angegriffen hat, sicherstellen, daß ich von ihr nicht verletzt werde.“ Slothiel war den Kopf zurück und lachte laut. Mekons Gesicht, das seine normale blasse Farbe wieder angenommen hatte, färbte sich vor Wut wieder dunkelrot. „So!“ fuhr Mekon ihn an. „Du glaubst also, du kannst nicht berührt werden – ist es so, Wolfling? Dir werd’ ich’s zeigen…“ Er brach ab, denn plötzlich war Ro neben ihnen im Raum erschienen, und nun schob sie sich buchstäblich zwischen Jim und den wütenden Hochgeborenen. „Was machst du mit ihm?“ rief sie. „Er soll doch bei mir bleiben! Er ist kein Spielzeug für euch andere…“ „Na, du kleine, dreckige Wilde!“ fuhr Mekon sie an. Seine Hand zuckte zu dem kleinen schwarzen Stab, der an zwei Schleifen an dem seilartigen Material hing, das sie als Gürtel über ihrem weißen Gewand trug. „Gib den Stab da her!“ Als sich seine Hand darüber schloß, griff sie selbst danach. Einen Moment lang zerrten sie beide daran herum. Er löste sich von dem Gürtel, und sie hielten ihn beide in der Hand. „Laß los, du kleine…“ Mekon hob eine Hand, ballte seine Finger zu einer Faust, als wolle er auf Ro einschlagen. In diesem Augenblick ging Jim auf ihn zu. Der Hochgeborene schrie plötzlich auf – beinahe hätte man es ein Kreischen in Moll nennen können –, ließ den Stab los, trat hastig zurück und hielt seinen rechten Arm mit seiner linken Hand. Seinen gesamten Unterarm entlang lief es rot aus einem dünnen Stich, und Jim steckte sein kleines Messer in die Scheide zurück. In dem Raum herrschte plötzlich völlige, eingefrorene Stille. Trahey, der vorher beherrschte Slothiel und sogar Ro waren völlig still und starrten auf das Blut, das von Mekons Unterarm herablief. Wären die Wände des Schiffs um sie herum zu Staub
zerfallen, hätten sie nicht verblüffter und entsetzter dreinschauen können. „Er… der Wolfling hat mich beschädigt“, stotterte Mekon und starrte wild auf seinen blutenden Arm. „Habt ihr gesehen, was er getan hat?“ Langsam hob Mekon seine Augen zu seinen beiden Gefährten hoch. „Habt ihr gesehen, was er getan hart?“ schrie Mekon auf. „Holt mir einen Stab! Steht nicht so herum! Holt mir einen Stab!“ Trahey machte eine langsame Bewegung, als wolle er auf Ro zugehen, aber Slothiel, der plötzlich seine Augen zusammengezogen hatte, hielt Trahey am Arm fest. „Nein, nein“, murmelte Slothiel. „Unser kleines Spiel ist plötzlich kein Spiel mehr. Wenn er Stäbe will, soll er sie sich selbst holen.“ Trahey blieb stehen. Ro verschwand plötzlich. „Blind sollst du werden, Trahey!“ brüllte Mekon. „Dafür wirst du bezahlen! Hol mir einen Stab, sage ich!“ Trahey schüttelte langsam den Kopf, obwohl seine Lippen fast blutleer waren. „Einen Stab – nein. Nein, Mekon“, sagte er. „Slothiel hat recht. Das mußt du schon selber tun.“ „Das werde ich!“ schrie Mekon – und verschwand. „Ich sage noch immer, du bist ein tapferer Mann, Wolfling“, sagte Slothiel zu Jim. „Ich darf dir vielleicht einen Rat geben. Wenn Mekon dir einen Stab anbietet, dann nimm ihn nicht an.“ Trahey gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, wie jemand, der gerade etwas sagen wollte, es sich dann aber anders überlegt hatte. Slothiel richtete seine Augen auf den anderen Hochgeborenen.
„Wolltest du etwas sagen, Trahey?“ fragte er. „Du hast vielleicht Einwände dagegen, daß ich dem Wolfling Ratschläge erteile?“ Trahey schüttelte den Kopf, warf aber Jim einen bitteren Blick zu. Mekon erschien wieder. Sein Arm blutete noch, aber in seiner Hand hielt er zwei kurze schwarze Stäbe, die von der gleichen Art wie der waren, den Ro in den Schleifen an ihrem Gürtel getragen hatte. Einen von ihnen hielt er in der unverletzten Hand. Er trat nach vorne und schob ihn zu Jim. „Nimm das, Wolfling!“ fuhr er ihn an. Jim schüttelte den Kopf und zog das kleine Messer aus seinem Gürtel. „Nein, danke“, sagte er. „Ich glaube, ich bleibe bei dem hier.“ Mekons Gesicht leuchtete wild auf, und er warf den Stab, den er in der Hand gehalten hatte, durch den Raum. „Wie du willst!“ sagte er. „Mir ist das gleich…“ „Aber mir nicht!“ unterbrach eine neue Stimme. Es war eine Frauenstimme hinter Jim. Jim drehte sich schnell um und trat einen Schritt zurück, um jeden im Raum vor sich zu halten. Er sah, daß Ro wieder erschienen war – bei ihr war eine große Hochgeborene, die Jim als Afuan zu erkennen glaubte. Hinter den beiden Frauen ragte ein schlanker Hochgeborener auf, der möglicherweise sogar noch vier oder fünf Zentimeter größer als Slothiel war. „Na?“ fragte Afuan, wenn sie es wirklich war. „Ist etwas vorgefallen, das die Rangabstufung geändert hat, weil du meinst, eines von meinen Haustieren niederbrennen zu können, Mekon?“ Mekon war erstarrt. Selbst sein Gesichtsausdruck, zwischen Wut und Erstaunen gefangen, schien durch eine Art Lähmung festgelegt.
Hinter den beiden Frauen lächelte der außergewöhnlich große Hochgeborene langsam. Sein Lächeln ähnelte dem lässigen Lächeln Slothiels, aber hinter ihm verbarg sich mehr Macht – und vielleicht mehr Grausamkeit. „Ich fürchte, du hast Ihre Majestät verletzt, Mekon“, sagte er. „Das könnte dich mehr als einige Lebenspunkte kosten. Menschen sind schon aus geringeren Gründen in die KolonieWelten verbannt worden.“ Überraschenderweise kam Slothiel dem gelähmten Mekon zu Hilfe. „Vielleicht nicht in einem solchen Fall“, sagte Slothiel. „Der Wolfling hat Mekon zuerst angegriffen. Ein Mann wie Galyan wird sicherlich verstehen können, wie ein Mann auf so etwas reagieren kann.“ Die Augen des großen Hochgeborenen, der mit Galyan angeredet worden war, wandten sich Slothiel zu. Sie schienen sich beide mit einer Belustigung anzusehen, die direkt an der Grenze zu Feindseligkeit lag. Eines Tages, so schienen die Blicke zu sagen, werden wir zusammenstoßen, aber jetzt noch nicht. Prinzessin Afuan bemerkte den Austausch, und sofort veränderte sich ihre Haltung zu energischer Vernunft. „Unsinn!“ sagte sie. „Er ist schließlich nur ein Wolfling! – Siehst du eigentlich gern ekelhaft aus, Mann?“ Dieser letzte Satz war an Mekon gerichtet. „Heile dich!“ Mekon wachte abrupt aus seiner Trance auf und sah auf seinen verwundeten Arm herab. Auch Jims Blick richtete sich darauf. Er sah, wie der lange, oberflächliche Schnitt sich langsam schloß und festigte – ohne die üblichen Anzeichen von Schorf bei einer Heilung. Es dauerte ungefähr anderthalb Sekunden, und die Wunde war verschwunden. Zurück blieb nur die onyxweiße Haut, die aussah, als sei sie nie verletzt worden. Das getrocknete Blut auf dem Arm blieb, aber einen Augenblick später fuhr Mekon mit der Hand darüber, und auch
das verschwand. Zum Schluß war sein Arm nicht nur geheilt, sondern auch sauber. Jim schob sein Messer in die Scheide an seinem Gürtel zurück. „So ist es besser“, sagte Afuan. Sie wandte sich dem großen Mann neben ihr zu. „Ich überlasse das jetzt dir, Galyan. Sieh zu, daß Mekon eine Art von Strafgebühr zahlt.“ Sie verschwand. „Du kannst auch gehen, Mädchen“, sagte Galyan und sah auf Ro herab. „Ich hatte nicht die Möglichkeit, den Wolfling hier bei seiner Show auf dem Planeten zuzusehen. Wenn ich mit Mekon fertig bin, möchte ich mir den Wilden gern selbst näher ansehen.“ Ro zögerte. Ihr Gesicht sah unglücklich aus. „Geh nur“, sagte Galyan leise, aber scharf. „Ich werde deinem Wolfling nichts tun! Du bekommst ihn eher in perfektem Zustand zurück, als du glaubst.“ Ro zögerte noch eine Sekunde lang, und dann verschwand auch sie. Kurz davor warf sie Jim noch einen seltsam flehentlichen Blick zu, als wolle sie ihn vor jeder Handlung warnen, die noch zu weiteren Schwierigkeiten führen könnte. „Komm mit mir, Wolfling“, sagte Galyan. Er verschwand. Nach einer Sekunde erschien er wieder und lächelte Jim fragend an. „Du weißt also noch nicht, wie du dich auf dem Schiff bewegen sollst, nicht wahr?“ sagte er. „Also gut, Wolfling. Ich werde dir den Antrieb verleihen.“ Sofort fand Jim sich in einem großen, ovalen Raum mit niedriger Decke und gelben Wänden wieder, der mehr als alle anderen Räume, die er bisher an Bord des Schiffs gesehen hatte, wie ein Büro oder ein Arbeitsplatz aussah. Drei Männer waren an drei Platten, die wie Stein aussahen und in der Luft schwebten, mit etwas beschäftigt – keiner von ihnen ein Hochgeborener.
Zwei Männer waren braun und gedrungen – ungefähr die Farbe eines Weißen von der Erde mit tiefer Sonnenbräune. Sie waren nicht größer als einen Meter fünfundsechzig. Der dritte, der etwas untersuchte, das wie eine Karte aussah, war vielleicht fünfzehn Zentimeter größer und hundert Pfund schwerer als die beiden anderen. Sein Gewicht war nicht durch Fett bedingt, sondern durch ein sehr schweres, ja massives Knochengerüst und die entsprechende Muskulatur. Im Gegensatz zu den beiden kleineren Männern, die ihr langes, gerades, braunes Haar in der gleichen Frisur wie die Frauen trugen, war er völlig kahlköpfig. Sein runder, haarloser Schädel mit der grau-weißen Haut, die sich straff über die Knochen darunter spannte, fiel am stärksten ins Auge, so daß seine Augen, seine Nase und sogar seine recht großen Ohren im Vergleich dazu klein aussahen. Dieser dritte Mann stand auf, als er bemerkte, daß Galyan und Jim im Raum erschienen waren. „Nein, nein. Es ist alles klar, Reas“, sagte Galyan. „Geh wieder an deine Arbeit.“ Der stark aussehende Mann setzte sich wortlos wieder hin und studierte weiter seine Karte. „Reas“, sagte Galyan, machte eine Handbewegung in seiner Richtung und sah auf Jim herab. „Du würdest ihn als meine Leibwache bezeichnen, obwohl ich genausowenig wie irgendeiner der Hochgeborenen eine Leibwache brauche. Überrascht dich das?“ „Ich weiß darüber noch nicht genug, um entweder überrascht oder nicht überrascht zu sein“, antwortete Jim. Überraschenderweise nickte Galyan, als billige er das. „Nein, natürlich nicht“, sagte er. Er setzte sich auf das nächste Kissen und streckte einen langen Arm aus. „Zeig mir mal dein Werkzeug“, sagte er. „Das, was du benutzt hast, um Mekon zu verletzen.“
Jim zog das Messer und reichte es mit dem Griff nach vorn hinüber. Galyan nahm es vorsichtig an und packte es mit einem Daumen und zwei gegenüberliegenden Fingern. Er hielt es hoch und berührte sanft seine Spitze und die Schneiden mit dem langen Zeigefinger seiner rechten Hand. Dann gab er es Jim zurück. „Ich nehme an, einen gewöhnlichen Menschen könntest du mit so etwas töten“, sagte er. „Ja“, sagte Jim. „Sehr interessant“, sagte Galyan. Er blieb einen Moment lang still sitzen, als sei er in seine eigenen Gedanken versunken. Dann richteten sich seine Augen wieder auf Jim. „Ich nehme an, dir ist klar, daß du nicht umherlaufen und Hochgeborene mit solchen Geräten beschädigen darfst?“ Jim sagte nichts. Galyan lächelte auf sein Schweigen hin ganz ähnlich, wie er Slothiel zugelächelt hatte – ein wenig rätselhaft, ein wenig grausam. „Du bist sehr interessant, Wolfling“, sagte er langsam. „Ausgesprochen interessant. Dir scheint nicht klar zu sein, daß du wie ein Insekt in der Hand von uns Hochgeborenen existierst. Also – jemand wie Mekon hätte schon lange vorher seine Hand geschlossen und dich erdrückt. Genau das wollte er gerade tun, als Afuan und ich ihn aufgehalten haben. Ich aber bin nicht ein Hochgeborener wie Mekon. Im Grund bin ich völlig anders als jeder Hochgeborene, den du je treffen wirst, abgesehen vom Kaiser – und da wir Cousins ersten Grades sind, ist das nicht überraschend. Ich werde meine Hand also nicht um dich schließen, Wolfling. Ich werde mich mit dir unterhalten – als seist du selbst ein Hochgeborener.“ „Danke“, sagte Jim. „Du bedankst dich nicht bei mir, Wolfling“, sagte Galyan sanft. „Du bedankst dich nicht bei mir oder verfluchst mich oder bettelst mich an oder lobpreisest mich. Was mich betrifft,
tust du gar nichts – du hörst nur zu und antwortest, wenn dir Fragen gestellt werden. Fangen wir also an. Wie bist du mit Mekon, Trahey und Slothiel in diesen Raum gekommen?“ Jim berichtete es ihm kurz und emotionslos. „Ich verstehe“, sagte Galyan. Er faltete seine langen Hände um ein Knie, lehnte sich ein wenig auf seinem Kissen zurück und sah mit leicht geneigtem Kopf zu Jim hoch. „Du hast dich also auf die Tatsache verlassen, daß die Prinzessin dich dem Kaiser vorführen will und dich aus diesem Grund niemand zu verletzen wagen würde. Selbst wenn eine solche Überzeugung berechtigt wäre, Wolfling, so hast du trotzdem bewiesen, daß du deine Nerven außergewöhnlich gut unter Kontrolle hast. Du hast es fertiggebracht, völlig bewegungslos stehen zu bleiben, als das Tier dir ins Gesicht gesprungen ist.“ Er hörte auf zu sprechen, als wolle er Jim die Gelegenheit geben, etwas zu sagen. Als Jim das nicht tat, murmelte er fast abschätzig: „Ich gestatte es dir zu sprechen.“ „Worüber soll ich sprechen?“ fragte Jim. Galyans zitronengelbe Augen glühten fast wie die einer Katze im Dunkeln. „Stimmt“, murmelte er und zog dabei das ,S’ in die Länge. „Du bist äußerst ungewöhnlich – sogar für einen Wolfling. Ich habe allerdings bisher noch nicht viele Wolflinge getroffen und kann das daher vielleicht nicht besonders gut beurteilen. Für jemanden, der kein Hochgeborener ist, bist du recht gut gewachsen. Die übrigen Erdenmenschen sind wohl nicht so groß wie du, oder?“ „Im Durchschnitt nicht“, sagte Jim. „Dann gibt es also bei euch größere Männer?“ „Ja“, sagte Jim und äußerte sich zu dem Thema nicht weiter. „So groß wie die Hochgeborenen?“ fragte Galyan. „Gibt es Männer, die so groß sind wie ich?“ „Ja“, sagte Jim.
„Aber nicht viele“, sagte Galyan mit leuchtenden Augen. „Eigentlich sind sie selten. Ist es nicht so?“ „Das stimmt“, sagte Jim. „Im Grunde“, sagte Galyan und drückte seine Hände über seinem Knie zusammen, „könnte man sie, ehrlich gesagt, als Mißgeburten bezeichnen – sehe ich das richtig?“ „So könnte man es sagen“, antwortete Jim. „Ja, ich dachte mir schon, daß wir die Wahrheit herausbekommen“, sagte Galyan. „Du mußt verstehen, daß wir Hochgeborenen keine Mißgeburten sind, Wolfling. Wir sind eine echte Aristokratie – eine Aristokratie, die sich nicht nur in einer geerbten Macht äußert, die allem anderen überlegen ist, was die verschiedenen Menschenrassen besitzen. Wir verfügen über eine physische, geistige und emotionelle Überlegenheit. Das ist eine Tatsache, die du wahrscheinlich bisher noch nicht erfaßt hast – und die normale Praxis sieht so aus, daß wir das von dir auf die schwere Art selbst entdecken lassen. Du aber hast mein Interesse geweckt…“ Er drehte sich zu Reas um. „Bring mir zwei Stäbe“, sagte er. Der grobknochige Leibwächter erhob sich von seiner Karte, durchquerte das Zimmer und kam mit zwei schwarzen Stäben in der Hand zurück. Sie sahen aus wie der in Ros Gürtel und die beiden, die Mekon geholt hatte, nachdem Jim sein Messer gegen ihn eingesetzt hatte. Ein weiterer schwarzer Stab steckte, wie Jim bemerkte, in Schleifen in dem seilartigen Gürtel, der um Reas dicke Taille geschlungen war. „Danke, Reas“, sagte Galyan und nahm die beiden Stäbe in Empfang. Er drehte sich zu Jim um. „Ich habe dir gesagt, daß du keine weiteren Hochgeborenen wie mich finden wirst. Ich hege bemerkenswert wenige Vorurteile gegenüber niedrigeren Menschenrassen – nicht aus Sentimentalität, sondern aus praktischen Gründen. Ich möchte dir aber etwas vorführen.“
Er drehte seinen Kopf und winkte einem der kleinen, braunhäutigen Männer mit dem braunen Haar, das gerade nach hinten herabhing. Der Mann stand auf, kam zu ihnen herüber und stellte sich neben Reas. Galyan gab ihm einen der schwarzen Stäbe. Der Mann steckte ihn in seinen Gürtel. „Reas ist, wie ich schon sagte“, erklärte Galyan, „nicht nur zum Leibwächter ausgebildet, sondern sogar dazu gezüchtet. Jetzt sieh dir an, wie er im Vergleich mit seinem Gegner hier mit seinem Stab umgeht.“ Galyan wandte sich Reas und dem anderen Mann zu, die sich nun in ungefähr anderthalb Meter Entfernung gegenüberstanden. „Ich klatsche jetzt zweimal in die Hände“, sagte Galyan zu ihnen. „Beim ersten Mal fängst du an zu ziehen. Reas beginnt erst beim zweiten Mal. Paß auf, Wolfling!“ Galyan hob die Hände und klatschte leise zweimal. Das zweite Klatschen folgte ungefähr eine halbe Sekunde auf das erste. Auf den Laut des ersten Klatschens hin riß der kleine braune Mann den Stab aus seinem Gürtel und hob ihn gerade an, um auf Reas zu zielen, als Galyan zum zweiten Mal klatschte. Reas zog seinen Stab schnell mit einer einzigen flüssigen Bewegung. In diesem Augenblick gab das eine Ende des Stabs, den der kleine Mann in der Hand hielt, etwas von sich, das wie eine Mischung aus der Flamme eines Schweißgeräts und der Funkenstrecke einer elektrischen Entladung aussah. Der Strahl war direkt auf Reas Brust gezielt, erreichte aber nie sein Ziel. In dem Moment, in dem es aus dem Ende des Stabs herausbrach, hatte Reas seinen Stab bereits in Stellung gebracht. Er betätigte den Stab, und die Entladung aus ihm traf auf die aus dem Stab des Kleineren, so daß beide Entladungen nach oben abgelenkt wurden.
„Sehr gut“, sagte Galyan. Die Entladungen aus beiden Stäben rissen ab, beide Männer senkten ihre Stäbe und drehten sich zu dem Hochgeborenen um. Galyan streckte die Hand aus, nahm dem kleinen braunen Mann seinen Stab ab und schickte ihn mit einer Handbewegung an die Arbeit zurück. „Jetzt paß genau auf, Wolfling“, sagte Galyan. Er schob den Stab, den er in der Hand gehalten hatte, in zwei Schleifen in seinem eigenen Gürtel. Reas tat das gleiche mit seinem Stab, als reagierte er auf ein unsichtbares Signal. „Jetzt sieh her, Wolfling, wie ich schon sagte“, sagte Galyan sanft. „Reas kann ziehen, wann er will.“ Reas trat nach vorne, bis er weniger als eine Armlänge entfernt vor dem sitzenden Hochgeborenen stand. Einen Augenblick lang blieb er völlig bewegungslos, dann sah er in eine Ecke des Raums. Im gleichen Moment zuckte seine Hand zu seinem Gürtel. Plötzlich ertönte ein scharfes Klicken. Galyans Arm war ausgestreckt, und der Stab in seiner Hand hielt Reas Stab fest, der halb aus den Schlingen in seinem Gürtel herausgezogen war. Galyan lachte leise und lockerte den Druck, den er auf den anderen Stab ausübte. Er gab seinen Stab Reas zurück, der dann beide auf der anderen Seite des Raums verstaute. „Siehst du?“ sagte Galyan zu Jim gewendet. „Jeder Hochgeborene verfügt über schnellere Reflexe als jeder einzelne Mensch der anderen Menschenrassen, von Wilden wie dir ganz zu schweigen. Nun weißt du also, warum Mekon dich durch das Herbeiholen der Stäbe zu einem Duell zwingen wollte, in dem du keinerlei Chancen gehabt hättest. Wie ich schon sagte: Wir sind eine echte Aristokratie. Nicht nur meine Reflexe sind besser als die von Reas, sondern mein Gedächtnis ist es auch. Meine Intelligenz ist größer, meine Wahrnehmungsfähigkeit und Unterscheidungsvermögen sind schärfer als bei jedem anderen Menschen – ja, das gilt sogar
für die Hochgeborenen selbst. Trotzdem beschäftige ich mehr Niedriggeborene als jeder andere Hochgeborene. Fragst du dich jetzt, warum ich das tue, wo ich doch alles besser als sie erledigen kann, und zwar durch und für mich?“ „Ich nehme an“, sagte Jim, „einfach deshalb, weil Sie nicht an zwei Stellen zur gleichen Zeit sein können.“ Galyans Augen leuchteten mit neuer Intensität. „Was ist das für ein brillanter Wolfling!“ sagte er. „Ja, andere Menschen sind mir nützlich, auch wenn sie mir unterlegen sind, und mir kommt da gerade der Gedanke, daß du und dein kleines Gerät, mit dem du Mekon beschädigt hast, mir eines Tages vielleicht nützlich werden könntet. Überrascht es dich, das zu hören?“ „Nicht, nachdem Sie mir so viel Zeit gewidmet haben“, sagte Jim. „Immer besser“, murmelte er. „Der Wolfling hier hat ein Gehirn – natürlich nur eine grobe, graue Materie. Aber trotzdem ein Gehirn. Ich habe mich nicht getäuscht. Ja, ich werde dich vielleicht gebrauchen können, Wolfling – und weißt du, warum du mir nützlich werden könntest, wenn die Zeit dazu gekommen ist?“ „Sie haben sicherlich vor, mich auf die eine oder andere Art zu bezahlen“, sagte Jim. „Genau“, sagte Galyan. „Uns Hochgeborenen sieht man das Alter nicht an. Ich sage es dir also jetzt gleich, Wolfling. Ich bin nach unserer Lebensspanne zwar durchaus noch nicht in den mittleren Jahren, aber auf der anderen Seite auch kein ungeschliffener Jüngling mehr, und wir haben es gelernt, mindere Menschenrassen für unsere Zwecke einzusetzen. Ich gebe ihnen als Belohnung oder Bezahlung, was auch immer sie sich am meisten wünschen.“ Er hörte auf zu sprechen. Jim wartete.
„Na, Wolfling“, sagte Galyan nach einer Minute, „was wünschst du dir am meisten? Wenn du nicht ein Wilder wärst, brauchte ich dich nicht zu fragen, aber ich kenne Wolflinge noch nicht gut genug, um über ihre Wünsche Bescheid zu wissen. Was wünschen sie sich am meisten?“ „Freiheit“, sagte Jim. Galyan lächelte. „Natürlich“, sagte er. „Was alle wilden Tiere sich wünschen – oder zu wünschen glauben. Freiheit. In deinem Fall bedeutet Freiheit das Recht, jederzeit gehen zu dürfen, nicht wahr?“ „Das ist die Voraussetzung dafür“, sagte Jim. „Besonders das Recht zu gehen, würde ich meinen“, murmelte Galyan. „Du hast dir das zweifellos noch nicht überlegt, Wolfling, aber es ist einfach eine Tatsache, daß es dir unmöglich sein wird, jemals wieder an den Ort zurückzukehren, von dem wir dich mitgenommen haben, wenn wir dich erst einmal auf die Thronwelt gebracht haben. Ist dir das klar? Daß du nie wieder nach Hause zurückkehren kannst, nachdem du dich uns zu unserer Reise auf die Thronwelt angeschlossen hast?“ Jim starrte auf ihn herab. „Nein“, sagte er. „Ich hatte durchaus vor, irgendwann in meine Heimat zurückzukehren.“ „Jetzt kennst du deine Lage“, sagte Galyan. Er hob einen schlanken Zeigefinger. „Es sei denn, du erweist dich für mich als nützlich. Wenn du dich für mich als nützlich erweisen solltest, kümmere ich mich vielleicht darum, daß du wieder nach Hause kommst.“ Er ließ sein Knie los und stand plötzlich auf. Er überragte Jim. „Ich schicke dich jetzt wieder zu Ro zurück“, sagte er. „Behalte den Gedanken, den ich dir gerade mitgegeben habe, im Hinterkopf. Deine einzige Hoffnung, die Welt
wiederzusehen, von der du gekommen bist, liegt darin, mir in irgendeiner Weise zu gefallen.“ Der Hochgeborene machte keine weitere Bewegung, aber abrupt befand sich Jim wieder in dem Raum mit der Glaswand mit den Haustieren. Ro kauerte an einem Ende und weinte über der Leiche eines der katzenartigen Tiere. Es war nicht jenes, das er vorher bei den Haustieren gesehen hatte, denn das stand nun ängstlich winselnd knapp außerhalb der Reichweite der weinenden Frau. Es war ein anderes, das tot dalag – und es sah ganz so aus, als sei es von einem Blitz in zwei Teile geschnitten worden.
4
Jim ging zu der Frau. Sie bemerkte nichts von seiner Gegenwart, bis er nach ihr griff und sie in seine Arme schloß. Sie sah verblüfft auf und verkrampfte sich plötzlich. Dann aber erkannte sie ihn und klammerte sich an ihm fest. „Dir geht es gut. Wenigstens dir geht es gut…“, brachte sie mühsam heraus. „Woher kommt das Tier?“ fragte Jim und deutete auf die tote Großkatze. Die Frage löste eine neue Gefühlsaufwallung aus, aber dann kam die Geschichte langsam heraus. Sie hatte diese Katze genau wie die andere, die zu den Haustieren gehörte, aufgezogen. Sie war dann vor einiger Zeit von Afuan an Mekon verschenkt worden, und der hatte ihr beigebracht, auf Kommando anzugreifen. „Sie war aber doch noch völlig in Ordnung, als ich sie das letzte Mal gesehen habe“, sagte Jim. „Wie kommt es, daß sie jetzt tot ist?“ Sie zog sich ein wenig von ihm zurück und starrte ihn zitternd und überrascht an. „Hast du nichts davon gehört?“ fragte sie. „Afuan hat es Galyan überlassen, Mekon für das, was er getan hat, eine Buße aufzuerlegen. Und Galyan hat entschieden, daß die Buße…“ Sie schluchzte auf und deutete auf das Tier. „Das ist aber eine merkwürdige Buße“, sagte er langsam. „Merkwürdig?“ Sie sah verwirrt zu ihm auf. „Aber das ist doch genau die Art von Buße, die Galyan verhängen würde. Er ist ein Teufel, Jim. Jemand anders, der auf Anweisung der Prinzessin handelt, hätte ihm als Buße einen seiner
Lieblingsdiener oder sonst etwas auferlegt, was er schätzt, aber Galyan hat sich dieses arme Tier ausgesucht – weil Mekon mit ihm zusammen einen Punkt verliert. O nein, keinen Lebenspunkt. Galyan ist zu schlau, um gegen jemanden wie Mekon so streng zu sein. Ein Einjahrespunkt wird es aber sicherlich werden, und Mekon hat schon zu viele Punkte, Lebenspunkte und andere, gegen sich angesammelt. Jetzt kann er sich dann und wann ernsthaft Gedanken darüber machen, daß vielleicht irgendein Unfall ihm die Verbannung einbringt.“ „Verbannung?“ fragte Jim. „Aber natürlich. Verbannung von der Thronwelt…“ Ro unterbrach sich plötzlich und wischte sich über die Augen. Sie richtete sich auf und sah auf den Körper des toten Tieres herab. Er verschwand sofort. „Ich vergesse immer wieder, daß du nichts davon verstehst“, sagte sie und drehte sich zu Jim um. „Es gibt so vieles, das ich dir noch beibringen muß. Alle Hochgeborenen spielen um Punkte. Das ist das einzige Spiel, das auch der Kaiser nicht verbieten kann – wenn man zu viele Punkte angesammelt hat, bedeutet das, daß man die Thronwelt für immer verlassen muß, aber das erkläre ich dir alles später. Jetzt sollte ich dir vielleicht besser beibringen, wie du von einem Raum in den anderen kommst…“ Ros Worte hatten Jim jedoch einen neuen Gedanken eingegeben. „Einen Augenblick“, sagte er. „Sag… sagen Sie mir eines, Ro. Wenn ich jetzt noch etwas zu besorgen hätte, bevor das Schiff abfliegt, und wollte noch einmal in die Stadt – könnte ich das?“ „Oh!“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Ich dachte, wenigstens das wüßtest du. Das Schiff ist von der Außenwelt, auf der wir waren, schon vor einiger Zeit abgeflogen. Wir kommen nach Schiffszeit in drei Tagen auf der Thronwelt an.“
„Ich verstehe“, sagte Jim grimmig. Ihr Gesicht wurde abrupt blaß, und sie ergriff ihn mit beiden Händen am Arm, als wolle sie ihn davon abhalten, vor ihr zurückzuweichen. „Mach nicht so ein Gesicht!“ sagte sie. „Worum es auch immer geht, ein solches Gesicht solltest du nicht machen!“ Jim zwang sein Gesicht dazu, sich zu glätten. Er unterdrückte die plötzliche Wut, die in ihm explodiert war. Er zwang sich dazu, Ro zuzulächeln. „In Ordnung“, sagte er. „Ich verspreche Ihnen, nicht so ein Gesicht zu machen.“ Ro hielt ihn noch immer an den Armen fest. „Du bist so seltsam“, sagte sie. „In jeder Beziehung so seltsam. Was hat dich dazu gebracht, so finster dreinzuschauen?“ „Etwas, das Galyan zu mir gesagt hat“, antwortete er. „Nach seinen Worten kann ich nie mehr in meine Heimat zurückkehren.“ „Aber… du wirst gar nicht in deine Heimat zurückkehren wollen!“ sagte Ro ein wenig verwundert. „Du hat die Thronwelt noch nie gesehen, und deshalb weißt du natürlich nichts darüber, aber von ihr will niemand weggehen. Die einzigen, die bleiben dürfen, sind die Hochgeborenen, die im Spiel ihre Punktzahlen niedrig genug halten, sowie ihre Diener und Besitztümer. Selbst die Gouverneure der Kolonie-Welten dürfen die Thronwelt nur für kurze Zeitperioden besuchen. Wenn ihre Zeit um ist, müssen sie wieder gehen. Die Hochgeborenen aber und Menschen wie du und ich – wir dürfen bleiben.“ „Ich verstehe“, sagte er. Sie runzelte die Stirn und sah auf seine Arme herab, die sie noch in den Händen hielt. Ihre Finger spürten sie durch die Ärmel seiner Jacke hindurch.
„Du hast so harte Muskeln wie ein Starkianer“, sagte sie verwirrt. „Außerdem bist du für jemanden, der kein Hochgeborener ist, sehr groß. Ist das auf der wilden Welt, von der du kommst, üblich, daß jemand so groß ist wie du?“ Jim lachte etwas abgehackt. „So groß war ich schon, als ich zehn Jahre alt war“, sagte er. Der Ausdruck von leichtem Unverständnis auf ihrem Gesicht veranlaßte ihn, noch hinzuzufügen: „Zu der Zeit war erst die Hälfte meiner normalen Wachstumsperiode vorbei.“ „Und dann bist du nicht mehr weitergewachsen?“ fragte Ro. „Man hat mich nicht mehr weiterwachsen lassen“, sagte er ein wenig grimmig. „Einige unserer Ärzte haben eine Reihe von Tests mit mir veranstaltet, weil ich für mein Alter so groß war. Sie konnten keinen Fehler finden, aber sie gaben mir einen Extrakt aus der Hypophyse, um mein Wachstum zu beschränken, und das funktionierte. Ich bin nicht mehr weiter gewachsen – physisch. In anderer Beziehung aber bin ich weiter gewachsen.“ Jim unterbrach sich selbst abrupt. „Das ist jetzt gleich“, sagte er. „Sie wollten mir doch zeigen, wie ich mich innerhalb des Schiffs von einem Raum zum anderen bewegen kann.“ „Das – und noch mehr!“ Sie schien vor seinen Augen plötzlich einige Zentimeter zu wachsen, und etwas von der kalten Unnahbarkeit von Prinzessin Afuan trat in ihre Züge. „Meine Tiere können sie mir wegnehmen und verschenken oder umbringen, aber dir werden sie nichts tun. Wenn ich mit deiner Unterweisung fertig bin, weißt du mehr als genug, um überleben zu können. Ich bin ein Atavismus, mag sein, aber ich bin trotzdem eine Hochgeborene wie sie. Sogar der Kaiser selbst darf mich nicht ohne Grund von der Thronwelt verbannen – ich habe die gleichen Rechte wie jeder Hochgeborene! Komm mit, und ich fange damit an, dir zu
zeigen, wie das Leben eines Hochgeborenen und Bürgers der Gesellschaft der Thronwelt aussieht!“ Zuerst brachte sie ihn zu einem Teil des Schiffs, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Er bestand aus einem großen Raum mit hoher Decke und Metallwänden. Eine Wand war von flackernden Lichtstrahlen in verschiedenen Farben bedeckt. An dieser Wand hielt sich einer der kleinen, braunen Männer mit dem gerade herabhängenden Haar auf. Wie Jim herausfand, stellte er die gesamte Mannschaft des Schiffs dar – und eigentlich war er noch nicht einmal das. Im Grunde war er nichts weiter als ein Ingenieur für Notfälle, der für den unwahrscheinlichen Fall bereitstand, daß an dem Schiff eine kleine Reparatur oder Neueinstellung vorgenommen werden mußte. Eigentlich wartete sich das Schiff selbsttätig. Es war nicht nur für den eigenen Betrieb verantwortlich, sondern lieferte dazu noch die Energie für die Beförderung von Menschen von einem Raum zum anderen und den Transport von sichtbaren und unsichtbaren Geräten an Bord. Es gehorchte wie ein riesiger künstlicher Hund sofort allen geistigen Launen von Prinzessin Afuan und stand in geringerem Maß für die Ausführung der Wünsche aller an Bord befindlichen Personen bereit. „Jetzt“, wies Ro Jim an, „stellst du dich einfach hierher und entspannst dich. Laß es den Kontakt mit dir herstellen.“ „Kontakt mit mir herstellen?“ kam es von Jim als Echo zurück. Er nahm an, daß sie von Telepathie sprach, und versuchte ihr das zu sagen, fand aber dann heraus, daß er das Wort dafür in der Sprache des Reichs nicht wußte. Ro aber verstand ihn und gab ihm zu seiner erheblichen Überraschung eine vollständige und äußerst komplizierte Erklärung der Funktionsweise des Schiffs. Kurz gesagt sah es einfach so aus, daß das Schiff die elektrische Aktivität von einzelnen Gehirnen
prüfte. Es gewann dadurch so etwas wie einen individuellen Code für die Handlungen und Aktivitäten einer Person. Gedanken, die man sich deutlich genug vorstellte, so erklärte Ro, lösten im Körper minimale Aktivitäten aus – kurz gesagt, reagierte der Körper auf einer sehr niedrigen Ebene auf die vorgestellte Szene, als sei diese Szene real. Das Schiff paßte seine elektrischen Impulse dieser Szene an und versetzte die entsprechende Person dadurch in diese Szene, indem sie buchstäblich zerlegt und am konkreten Ort der vorgestellten Szene wieder zusammengesetzt wurde. Der Prozeß, mit dem das Schiff Lichtjahre von leerem Raum überbrückte, bestand in der gleichen Methode von Zerlegung und Zusammensetzung, nur auf einer größeren Ebene. Das bedeutete, daß das Schiff mit seinem gesamten Inhalt zerlegt und ein Stück weiter auf seinem Weg wieder zusammengesetzt wurde. Die Entfernung, die während dieser Sprünge zurückgelegt wurde, war bestimmten Beschränkungen unterworfen, aber da jeder Sprung mit Computergeschwindigkeit vorgenommen wurde, äußerte sich dieser Effekt als mühelose Überlichtgeschwindigkeit. „… im Grunde“, faßte Ro zusammen, „bewegt sich das Schiff eigentlich nie wirklich, sondern verändert einfach die Koordinaten seiner Position…“ Dann folgte eine Erklärung in technischen Einzelheiten, denen Jim nicht mehr folgen konnte. Nachdem Jim seine Vorstellungskraft ein wenig geübt hatte, spürte er trotzdem das gleiche Gefühl – wie eine Feder, die die Oberfläche seines Gehirns kitzelte –, das er empfunden hatte, als er nach Ros Anweisung vor seinem geistigen Auge ein Bild der Halle hatte entstehen lassen, in dem die gefrorenen Stiere gelagert waren. Bei seinem ersten Versuch transportierte er sich von einem Ende des Raums, in dem sie sich befanden, bis zum anderen, aber bereits Minuten später hatte er die Technik voll im Griff und bewegte sich mit Leichtigkeit im Schiff von
einem Raum zum anderen. Er war jedoch auf die Räume beschränkt, die er bereits gesehen hatte. Ro brachte ihn in ihr Quartier, und die sozialen Aspekte seiner Ausbildung begannen. Es überraschte sie beide, wieviel er in den wenigen Tagen bis zu der Landung des Schiffs auf der Thronwelt erreichte. Jim stellte verblüfft fest, daß Ro wie alle Hochgeborenen über eine enorme Fülle von Informationen über wissenschaftliche und soziale Aspekte aller Bereiche ihres Alltags verfügte. Hier fand sich eine Parallele zu ihrem Wissen um die Funktionsweise des Schiffs. In ihrem ganzen Leben würde es von ihr nie verlangt werden, auf das Muster von blinkenden Lichtern in der zentralen Steuerung des Schiffs auch nur einen Blick zu werfen, aber im Notfall hätte sie das gesamte Schiff bauen können, wenn ihr die dazu notwendigen Werkzeuge und Materialien zur Verfügung standen. Auf der anderen Seite war Ro von der Entdeckung verblüfft, daß sie Jim alles nur einmal zu erklären brauchte. „… bist du auch wirklich sicher, daß du das alles behältst?“ Mit dieser Frage an Jim unterbrach sie sich immer wieder selbst. „Ich habe bisher noch von niemandem außer Hochgeborenen gehört, der sich nicht sehr anstrengen müßte, um Dinge zu behalten.“ Jims Antwort darauf war die wörtliche Wiederholung ihrer Erklärungen. Beruhigt, aber nicht wirklich überzeugt, stürzte sie sich dann in weitere detaillierte Ausführungen – und Jim saugte weiter Informationen über die Thronwelt, die Gesellschaft der Hochgeborenen und das Reich, das die Thronwelt und die Hochgeborenen gemeinsam beherrschten, auf wie ein Schwamm. Ein Gesamtbild setzte sich langsam vor seinen Augen zusammen, wie ein zusammenhängender Umriß schließlich erscheint, nachdem eine bestimmte kritische Anzahl von Stücken eines Puzzles zusammengesetzt worden sind.
Merkwürdigerweise waren die Hochgeborenen keine direkten Nachkommen der Ureinwohner der Thronwelt, die sich zur Kolonisierung der anderen bewohnten Welten des Reichs aufgemacht hatten. Sie, die nicht nur theoretisch die Herrscher des Reichs waren, hatten diese Führungsposition durch Schwäche und nicht durch Stärke erreicht. Es war wohl richtig, daß die Thronwelt am Anfang versucht hatte, die Kontrolle über die anderen kolonisierten Welten auszuüben. Dieser Versuch war jedoch durch die zwischen ihnen liegenden Entfernungen und die zeitliche Trennung, die sie mit sich brachten, schon bald zum Scheitern verurteilt. Die neueren Welten erreichten sehr schnell ihre Autonomie. Und als sich das Reich mehrere tausend Jahre später nach allen Seiten so weit ausgedehnt hatte, daß es in einigermaßen erreichbarer Nähe keine Sterne mit bewohnbaren Planeten mehr gab, war die Thronwelt praktisch vergessen. Man kannte sie nur noch als Ausgangspunkt der Ausbreitung der Menschheit im Kosmos. Schon bevor diese Ausbreitung ihre Grenzen erreicht hatte, hatten die älteren kolonisierten Welten die Vorteile einer zentralen Organisation erkannt. Man brauchte eine normale Autorität und einen zentralen Punkt, der als Umschlagplatz für wissenschaftliche und andere Entwicklungen dienen konnte, die nicht auf der eigenen Welt erreicht worden waren. Die Thronwelt war daher mit allseitigem Einverständnis wieder in das Zentrum gerückt und als eine Art kosmische Bibliothek und Informationszentrum eingerichtet worden. Das – obwohl es zu dieser Zeit noch niemand wußte – war der Ursprung der Hochgeborenen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die wichtigsten Wissenschaftler und kreativsten Geister der Kolonie-Welten sich langsam auf der Thronwelt sammelten. Sie bildete das intellektuelle Zentrum des von Menschen bewohnten
Universums, und daher war das Leben dort am gewinnbringendsten – nicht nur, was die konkrete Bezahlung für intellektuelle Arbeit betraf, sondern auch durch die geistige Gemeinschaft und den Zugang zu neuen Informationen über ein spezifisches Feld. Im Verlauf der nächsten Jahrtausende nahm diese Einwanderung einen Umfang an, der von der Thronwelt selbst eingeschränkt werden mußte. Die Thronwelt war in der Zwischenzeit im Vergleich mit den Koloniewelten sowohl reich als auch mächtig geworden, weil die meisten technologischen Neuentwicklungen von ihr stammten. Ihre intellektuelle Bevölkerung entwickelte sich bereits zu einer Elite, die durch die besten Köpfe der Kolonie-Welten nur spärlich vergrößert wurde und der die Bewohner der KolonieWelten, die nicht das Zeug dazu hatten, sich dieser Elite anzuschließen, aber den starken Wunsch verspürten, unter den Mächtigen zu leben, beflissen ihre Dienste antrugen. Im Verlauf der letzten zehntausend Jahre stagnierte die Ausbreitung des Reichs nicht nur, sondern sein Hoheitsgebiet war sogar etwas geschrumpft, und die Elite der Thronwelt war zu Hochgeborenen geworden – mit speziellen eugenischen Eingriffen und Kontrollen, die ihnen die äußeren Anzeichen der Aristokratie verliehen. Die onyxweiße Haut, die zitronengelben Augen, die weißen Haare, Augenbrauen und Wimpern – all das, so erfuhr Jim, wurde nur aus dem Bedürfnis heraus entwickelt, denen, die das Reich von der Thronwelt aus regierten, äußere Merkmale ihrer Überlegenheit zu verleihen. Statt Abzeichen oder Wappen als Zugehörigkeitssignale der Aristokratie hatten sie sich außergewöhnlich große Körper und Gehirne verliehen und damit zur gleichen Zeit sichergestellt, daß niemand, der nicht dieser Elite angehörte, sich als einzelner mit ihnen messen konnte. Sie suchten sich noch immer die Genies und
Hochbegabten aus den, wie sie sie nannten, niedrigeren Menschenrassen aus, aber diese Auswahl war inzwischen äußerst streng geworden, und die Ausgewählten wurden nicht selbst Mitglieder der Elite, sondern bekamen lediglich die Möglichkeit, ihre Großenkel durch Inzucht zu großen, weißhaarigen onyxhäutigen Herrschern des Imperiums zu machen. „… du siehst“, sagte Ro schließlich zu Jim, als sie endlich die Thronwelt erreicht hatten und sich darauf vorbereiteten, das Schiff zu verlassen, „es gibt eine Möglichkeit – sogar für einen Wolfling wie dich. Oh, sie werden versuchen, dich zu vernichten, alle Hochgeborenen, wenn sie erst einmal beginnen, Verdacht zu schöpfen, daß du den Wunsch hegst, zu einem der ihren zu werden. Wenn du aber ausgebildet und darauf vorbereitet bist, werden sie es nicht schaffen. Ich helfe dir, und dann werden wir sehen, daß es ihnen nicht gelingt!“ Ihre Augen blitzten triumphierend. Jim lächelte ihr zu und lenkte die Konversation darauf, was er als nächstes zu erwarten hatte, wenn sie das Schiff verließen. Plötzlich sah sie ernüchtert aus. „Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Afuan sagt es mir nicht. Sie wird dich sicher so bald wie möglich dem Kaiser vorführen wollen.“ Mit dieser Antwort im Kopf war er infolgedessen zumindest teilweise vorbereitet, als ungefähr eine Stunde nach Landung des Schiffs auf der Thronwelt seine Umgebung plötzlich verschwand und er sich in einer Arena vorfand. Sein Gepäck lag zu seinen Füßen, und vor ihm stand eine vollständige Cuadrilla – Banderilleros, Pikadores und Pferde in vollständiger Ausrüstung –, ein genaues Duplikat der Cuadrilla, die er auf Alpha Centauri III benutzt hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, daß die Männer in ihren
Stierkämpferanzügen ohne Ausnahme der Rasse der kleinen, braunen Männer mit dem glatten, langen Haar entstammten. „Sie sind künstlich, diese Tiere“, sagte eine Stimme neben ihm. Er drehte sich um und bemerkte Afuan, die einige Meter von ihm entfernt dastand. „Das schließt auch den Stier ein, mit dem du trainierst. Sowohl das künstliche Tier als auch die Männer sind dazu programmiert, genau das zu wiederholen, was wir dich haben tun sehen, als wir dir das erste Mal zugeschaut haben. Laß sie das nur immer wiederholen, bis sie es gelernt haben.“ Die Prinzessin verschwand. Sie war offensichtlich der Meinung, sie habe alles gesagt, was gesagt werden mußte. Jim blieb mit seiner Imitations-Cuadrilla und den mechanischen Pferden allein zurück. Er sah sich um. Die Arena war eine genaue Nachbildung der riesigen Arena auf Centauri III, in der er gegen die beiden Stiere gekämpft hatte – nur mit dem Unterschied, daß sie in einem geradezu lächerlichen Ausmaß gereinigt worden war. Die Tribünen der Arena, die auf Alpha Centauri III aus einem braunen, betonartigen Material erbaut worden waren, schienen hier aus weißem Marmor zu bestehen. Alles war weiß, so weit das Auge reichte – selbst der Sand auf dem Boden der Arena war schneeweiß. Jim bückte sich, öffnete einen seiner Koffer und holte das große Cape, das kleine Cape und das Schwert heraus. Er machte sich nicht die Mühe, den Stierkämpferanzug herauszuholen. Er schloß den Koffer und stellte beide hinter eines der Bretter am Rand. Eine unbekannte Quelle begann plötzlich, Musik auszustrahlen. Es war die richtige Musik. Jim paßte seine Bewegungen ihr an, stellte sich vor seine Cuadrilla und ging langsam durch das Rund auf eine rot umrandete Reihe von Sitzen zu, die deutlich die kaiserliche Loge darstellten.
Von Jims Standpunkt aus war der Blick fast unheimlich. Die langhaarigen, braunen Männer vollzogen ihre Bewegungen nicht nur mit einer professionellen Sicherheit, sondern ahmten auch noch exakt die Bewegungen der Männer nach, die er auf Alpha Centauri III zurückgelassen hatte. Sogar unbedeutende, nutzlose, persönliche Aktionen wurden kopiert. Offensichtlich hatte sich Prinzessin Afuan oder jemand anders von den Hochgeborenen genau an sie erinnert und sie in allen Einzelheiten in das Programm eingegeben, das die Männer steuerte, die nun ihre Rolle mit dem Stier zusammen spielten. Hatte sich ein Mann in einem ruhigen Moment an die Bande gelehnt, ahmte sein Duplikat auf der Thronwelt seine Haltung an der gleichen Bande genau nach, und sein Ellbogen ruhte auf den Zentimeter genau an der Stelle, wo der Ellbogen des Originals geruht hatte. Die Unheimlichkeit dieser Verdopplung verstärkte sich jedoch noch, als Jim begann, mit dem Stier selbst zu üben, wobei er sein großes Cape benutzte, denn hier handelte es sich um die Kopie einer Kopie. Nach Jims Meinung war der Effekt eine gewisse trockene Ironie. Die Hochgeborenen hatten einen imitierten Stier hergestellt, der so programmiert war, daß er genau den Bewegungen des Stiers folgte, den sie gesehen hatten. Was sie allerdings dabei nicht wußten war, daß auch er von den Biologen der Erde dazu programmiert gewesen war, genau diese Bewegungen zu vollziehen. Sie führten das ganze Schauspiel bis zu dem Augenblick des Todesstoßes durch. Als sich Jims Schwert in den Stier senkte, brach das mechanische Tier gehorsam zusammen, genau wie es das echte auf Alpha Centauri III getan hatte. Jim sah sich nach seinen Gehilfen um, da er sich überlegte, ob es an der Zeit sei aufzuhören. Sie machten jedoch noch einen durchaus frischen Eindruck und erwarteten offensichtlich von ihm, daß er weitermachte.
Während die ganze Pantomime zum zweiten Mal aufgeführt wurde, richtete Jim einen Teil seiner Aufmerksamkeit nicht mehr auf seine eigene Arbeit, sondern sah sich das Verhalten der Männer, die er ausbildete, genau an. Ihm fiel zum ersten Mal auf, daß sie sich zwar sehr sicher bewegten, aber in ihren Bemühungen ein gewisses Ungeschick zeigten. Es war nicht so sehr geistiges Ungeschick, sondern äußerte sich in ihren Muskeln. Diese Männer führten das aus, wozu sie programmiert worden waren oder was man ihnen beigebracht hatte – und sie machten das schnell und gut. Die instinktiven Reaktionen des Körpers fehlten ihnen jedoch noch. Jim zog das gesamte Programm noch zweimal durch, bevor er Schluß für heute machte. Obwohl seine Reaktionen auf den künstlichen Stier automatisch und ohne Anspannung erfolgt waren, war er doch rechtschaffen müde, als er das geschafft hatte. Trotzdem führte er in den nächsten vier Tagen den Stierkampf, der auf Alpha Centauri vorgeführt worden war, immer wieder durch, bis die Reaktionen der kleinen Männer mit dem langen Haar langsam nicht mehr auf Programmierung, sondern auf Erfahrung und natürlichen Reflexen basierten. Im Verlauf dieser Zeit fand er heraus, daß er das Verhalten des Stiers durch die gleiche Art von bewußten Vorstellungen variieren konnte, deren Gebrauch ihm Ro an Bord des Schiffs beigebracht hatte. Irgendwo auf der Thronwelt befand sich eine Energiequelle, die für ihn in der Arena die gleiche Funktion wie ihr Äquivalent an Bord erfüllte. Deshalb führte er am sechsten Tag seine Cuadrilla in eine neue Version des Stierkampfes ein. Dahinter stand die Tatsache, daß jeder von den Stieren, die kyrogenisch gelagert waren, anders programmiert worden war – nur für den Fall, daß überhaupt eine Programmierung vermutet werden sollte. Jim selbst hatte jedes einzelne Programm durchgetestet. Nun übte er mit seinen Gehilfen das
Programm ein, mit dem sie konfrontiert werden würden, wenn der letzte gelagerte Stier zum Einsatz kam. Er wählte absichtlich den letzten Stier dafür aus, weil er hoffte, daß er ihn nie wirklich einsetzen mußte und seine Cuadrilla in der Zwischenzeit vergessen hatte, daß er immer wieder die gleichen spezifischen Aktionen ohne die geringste Veränderung durchführte, falls es tatsächlich zu seinem Einsatz kam. Im Verlauf dieser Tage fand er heraus, daß er eine Suite in einem endlosen einstöckigen Gebäude bewohnte, die aus mehreren Räumen zu bestehen schien. Im Gegensatz zu den Räumen an Bord hatten die Zimmer hier Türen und Gänge davor. Darüber hinaus schien es ihm freizustehen zu gehen, wohin er wollte, und das tat er auch. Obwohl er jedoch das Gebäude von seinen Räumen aus nach außen in einigen Teilen erforschte, traf er keine Hochgeborenen und nur einige wenige Frauen und Männer, die deutlich niedrigeren Rassen angehörten – offensichtlich Dienstboten hier auf der Thronwelt. Ro hatte sich nicht sehen lassen. Afuan dagegen war mehrere Male aufgetaucht, hatte sich kurz nach den Fortschritten bei seinem Training erkundigt und war wieder verschwunden. Sie zeigte wegen der Zeit, die er brauchte, weder Befriedigung noch Ungeduld. „Sie könnten mir dabei helfen, diese Kleider hier anzulegen“, sagte er. Unerwarteterweise kicherte sie, und er starrte sie verwirrt an. „Nein, nein, ist schon gut“, sagte sie. „Es ist nur so, daß für solche Aufgaben ein Diener, ein Mensch von den niedrigeren Rassen, zuständig ist, und er führt sie für Hochgeborene aus. Nicht umgekehrt.“ Sie hob seinen Hut auf. „Wohin kommt das?“ fragte sie.
„Noch nirgendwohin. Das ist der letzte Teil“, antwortete er. Sie legte ihn gehorsam wieder hin und half ihm nach seinen Anweisungen, den Rest des Anzugs anzulegen. Als er voll bekleidet war, sah sie ihn voller Interesse an. „Du siehst seltsam aus – aber gut“, sagte sie. „Haben Sie mich in der Arena auf Alpha Centauri III nicht gesehen?“ fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf. „Ich war auf dem Schiff beschäftigt – und ich hatte es eigentlich auch nicht für übermäßig interessant gehalten.“ Sie starrte ihn interessiert an, als er seine beiden Capes und sein Schwert aus dem größeren Koffer nahm. „Wofür dienen die?“ „Die Stoffstücke“, sagte er, „dienen dazu, die Aufmerksamkeit des Stiers zu erregen. Das Schwert…“ – er zog es ein Stückchen aus der Scheide, um ihr die Klinge zu zeigen – „… dient dazu, ihn zum Schluß zu töten.“ Ihre Hände flogen vor ihren Mund. Sie wurde blaß und trat zurück. Ihre Augen waren riesig groß. „Was gibt es?“ fragte er. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber das einzige Geräusch, das sie ihrer Kehle entlocken konnte, hörte sich mehr wie ein kurzer Schrei als ein verständliches Wort an. Er runzelte heftig die Stirn. „Was gibt es?“ wiederholte er. „Was stimmt denn nicht?“ „Du hast mir nicht gesagt…“ Endlich kamen die Worte klagend aus ihrem Mund. „Du hast mir nicht gesagt, daß du ihn töten wirst!“ Sie schluchzte auf, wirbelte herum und war verschwunden. Er stand da und starrte die Stelle an, wo sie gestanden hatte. Hinter ihm ertönte überraschend eine andere Frauenstimme. „Ja“, sagte sie. Es war Prinzessin Afuans Stimme. Er selbst drehte sich schnell um und sah sie vor sich. Sie musterte ihn eindringlich. „Offenbar kann sogar ein Wolfling wie du Fehler
machen. Ich dachte, du hättest in der Zwischenzeit gelernt, daß Ro eine Schwäche für alle Tier hat.“ Er sah sie kalt an. „Sie haben recht“, sagte er ausdruckslos. „Daran hätte ich mich erinnern müssen.“ „Es sei denn…“, sagte sie und stockte. Sie beobachtete ihn mit ihren zitronengelben Augen. „Es sei denn, du wolltest sie aus irgendeinem Grund vorsätzlich ärgern. Du hast für einen Wolfling in der kurzen Zeit einen beachtlichen Eindruck gemacht. Du hast dir nicht nur die kleine Ro zur Freundin gemacht, sondern auch noch Mekon zum Feind, und du hast nicht nur Slothiels, sondern auch das Interesse von Galyan selbst geweckt.“ Sie musterte ihn mit einem scharfen Blick, hinter dem sich etwas zu verbergen schien. „Siehst du mich?“ „Natürlich“, sagte er. Und dann verkrampfte er sich innerlich, obwohl er sorgsam Gesicht und Körper regungslos hielt. Afuan veränderte sich nämlich plötzlich vor seinen Augen. Es war eine seltsame Veränderung, denn nicht die geringste Einzelheit an ihrer äußeren Erscheinung wandelte sich. Sogar ihr Gesichtsausdruck blieb der gleiche, aber mit einemmal war sie völlig anders. Plötzlich, so groß, onyxhäutig, gelbäugig und weißhaarig wie sie war, wurde sie attraktiv. Nein, nicht nur attraktiv – sie strahlte eine fast überwältigende Wollust aus. Sie projizierte mehr als nur sinnliche Anziehung. Sie erfüllte ihn mit einer fast hypnotischen Begierde. Nur die langen, einsamen Jahre innerlicher Isolation gestatteten es ihm, sich der Faszination zu widersetzen, die Afuan nun auf ihn ausstrahlte. Allein die Tatsache, daß er sich darüber klar war, daß die Lust, die sie in ihm zu erwecken versuchte, für ihn die Preisgabe von alldem bedeutete, was er
auf einsamen Reisen des Geistes und der Seele gesucht und gefunden hatte, Reisen in Bereiche, in denen Geist und Seele des Menschen noch nie vorher gesucht hatten – allein das gestattete es ihm, still, entspannt, ruhig und ohne Reaktion stehen zu bleiben. Abrupt, wieder ohne ein Anzeichen von äußerlicher Veränderung, war Afuan wieder die, die sie vorher gewesen war: kalt und unnahbar in ihrem Aussehen, auffällig, aber nicht unbedingt attraktiv nach dem Geschmack der Menschen von der Erde. „Verblüffend“, sagte sie in einem fast sanften Ton und sah ihn aus Augen an, die – wenn es auch keine Schlitzaugen waren –leicht mongolisch aussahen. „Völlig verblüffend, besonders für einen Wolfling. Ich glaube aber, jetzt verstehe ich dich, Wilder. Irgend etwas in dir hat dich irgendwann ehrgeizig gemacht, dich mit einem Ehrgeiz erfüllt, der größer als das Universum ist.“ Eine Sekunde später vollzog Jim die geistige Übung, mit der er sich in die Arena transportierte. Als er dort erschien, waren die Tribünen bereits von weißgekleideten Hochgeborenen gefüllt. Nicht nur das – in dem rot umrandeten Gebiet, bei dem es sich deutlich um die kaiserliche Loge handelte, saß eine Gruppe von sechs Männern und vier Frauen. Als er näher kam, erkannte er, daß auch Afuan zu dieser Gruppe gehörte. Sie saß links von jemandem, der Galyan zu sein schien. Er nahm den zentralen Platz ein, und rechts von ihm saß ein außergewöhnlich breit gebauter Hochgeborener mit leicht gelblichen Augenbrauen. Als Jim aber näher an die Loge herankam, erkannte er, daß es sich bei dem Mann, der Galyan ähnelte, nicht um Galyan handelte. Trotzdem war die Ähnlichkeit verblüffend, und plötzlich fiel es Jim ein, daß Galyan einmal bemerkt hatte, der
Kaiser sei sein Cousin ersten Grades. Das war also ganz offensichtlich der Kaiser. Zunächst einmal war er größer als Galyan selbst. Er saß lockerer auf seinem Stuhl als die anderen Hochgeborenen in seiner Nähe, und in seinem Blick lag für einen Hochgeborenen sehr viel Offenheit, Toleranz und dazu hohe Intelligenz. Er lächelte zu Jim herab, als er seine Zustimmung zum Beginn des Stierkampfs erteilte. Afuan sah in der Zwischenzeit mit kalten Augen auf ihn herab. Jim hatte die Prozedur abgeschafft, den Stier einem Mitglied der Zuschauerschaft zu widmen, und auch dieses Mal führte er sie nicht wieder ein. Er ging zusammen mit seiner Cuadrilla zurück in die Mitte der Arena und fing den Stierkampf direkt an. Seine Männer wurden mit dem ungewohnten Verhalten des Stiers gut fertig, den Afuan oder ein anderer Hochgeborener offensichtlich beliebig aus den sechs kyrogenisch gelagerten Stieren ausgesucht hatte. Zum Glück war jeder Stier ein wenig anders, und Jim erkannte die Unterschiede, so daß es ihm gelang, sich an das Verhaltensmuster des Stiers in dem Augenblick anzupassen, in dem er in die Arena gestampft kam. Trotzdem hatte er mit ihm ebenso wie in der Arena auf Alpha Centauri III alle Hände voll zu tun. Darüber hinaus wurde der kleine Freiraum, der für seine Gedanken blieb, vollständig von Afuans Bemerkung über seinen Ehrgeiz eingenommen. Die Prinzessin besaß eindeutig einen fast tödlichen Scharfblick. Der Stierkampf ging weiter und trat schließlich in sein Endstadium. Dieser Stier behielt im Gegensatz zu seinem Artgenossen auf Alpha Centauri III bis zu dem geplanten Punkt in der Programmierung seine volle Stärke. Schließlich hob Jim fast direkt vor der kaiserlichen Loge sein Schwert über die Hörner für den Todesstoß. Danach zog er sein Schwert wieder heraus, drehte sich um und ging einige Schritte auf den Kaiser zu – sowohl aus eigenem Interesse an der Reaktion des
Kaisers auf das Spektakel als auch deshalb, weil Ro ihm auf dem Schiff gesagt hatte, daß von ihm erwartet wurde, nach Abschluß seiner Darbietung dem Kaiser seine Referenz zu erweisen. Er ging bis zu der Bande selbst und sah schräg nach oben in das Gesicht des Kaisers, der nur wenige Meter von ihm entfernt saß. Der Kaiser lächelte herab. Seine Augen schienen ungewöhnlich hell zu leuchten – obwohl Jim plötzlich entdeckte, daß sie ins Leere blickten. Der Kaiser lächelte breiter. Ein dünner Speichelfaden lief aus einem Mundwinkel. Sein Mund öffnete sich, und er sprach zu Jim. „Wah“, sagte er, lächelte die ganze Zeit und starrte direkt durch Jim hindurch. „Wah…“
5
Jim blieb bewegungslos stehen. Nirgends fand sich eine Andeutung darauf, wie er sich verhalten sollte. Die restlichen Hochgeborenen in der kaiserlichen Loge – eigentlich alle Hochgeborenen in Sichtweite – schienen absichtlich den Anfall oder Gehirnschlag oder was immer es auch war, das den Kaiser gepackt hatte, völlig zu ignorieren. Nach Jims Einschätzung wurde das offensichtlich auch von ihm erwartet. Afuan und alle anderen, die in der kaiserlichen Loge saßen, verhielten sich einfach so, als sei der Kaiser in eine Privatunterhaltung mit Jim vertieft. Diese Reaktion, die keine Reaktion war, war so überzeugend und heftig, daß sie etwas von der gleichen hypnotischen Qualität gewann, die Afuan vorher eingesetzt hatte. Der einzige Unterschied in diesem Fall war die vorherrschende Entschlossenheit, nicht nur Jim, sondern auch sich selbst davon zu überzeugen, daß das, was dem Kaiser dort geschah, nicht wirklich passierte. Dann war auf einmal alles vorbei. Der Speichel verschwand vom Kinn des Kaisers, als habe eine unsichtbare Hand ihn weggewischt. Sein Lächeln wurde fester, und seine Augen richteten sich direkt auf Jim. „… wir sind darüber hinaus sehr stark daran interessiert, mehr über dich zu erfahren“, sagte der Kaiser plötzlich, als führte er eine Unterhaltung weiter, die schon einige Zeit im Gang war. „Du bist der erste Wolfling, den wir seit vielen Jahren hier an unserem Hof gesehen haben. Wenn du dich ausgeruht hast, mußt du mich besuchen, und wir werden uns unterhalten.“
Der Kaiser lächelte offen, frei und charmant, seine Stimme klang freundlich, und er trug einen intelligenten Ausdruck in den Augen. „Danke, Oran“, gab Jim zurück. Ro hatte ihn angewiesen, sich auf den Kaiser immer als ,der Kaiser’ zu beziehen, solange er ihn nicht direkt ansprach – in einer direkten Unterhaltung mit ihm redete man ihn einfach mit seinem Vornamen an: Oran. „Keine Ursache“, sagte der Kaiser und lächelte fröhlich. Er verschwand, und eine Sekunde später war kein einziger Hochgeborener mehr auf den Tribünen zu sehen. Jim stellte sich sein eigenes Quartier vor und befand sich sofort wieder darin. Tief in Gedanken versunken begann er, seinen Anzug auszuziehen. Er mühte sich gerade mit der engen Jacke ab, als er plötzlich von hinten Hilfe dabei spürte. Er drehte sich um und sah Ro vor sich, die ihn unterstützte. „Vielen Dank“, sagte er und lächelte ihr über die Schulter hinweg zu, als er die Jacke ausgezogen hatte. Sie half ihm weiter mit zu Boden gesenktem Blick, aber eine dunkle Röte überzog ihr Gesicht. „Ich bin immer noch der Meinung, daß es schrecklich ist!“ murmelte sie nach unten. „Mir war aber nicht klar…“ Plötzlich hob sie ihr wieder blasses Gesicht. „Mir war das wirklich nicht klar. Dieses Tier hat versucht, dich zu töten.“ „Ja“, sagte Jim. Wieder schämte er sich insgeheim leicht, wie er das immer tat, wenn er sich daran erinnerte, daß seine Stierkämpfe programmiert und nicht ehrlich waren. „So sieht es aus.“ „Wie auch immer“, sagte Ro mit einem fast grimmigen Ton in der Stimme, „wenn wir Glück haben, brauchst du das nie wieder zu tun. Es ist wirklich ein Glücksfall, daß der Kaiser von Anfang an Interesse an dir gezeigt hat. Und – rate mal!“
Sie hörte auf, ihm zu helfen. Er stand halb ausgezogen da und sah fragend auf sie herab. „Was?“ fragte er. „Ich habe einen Sponsor für dich gefunden!“ brach es aufgeregt aus ihr heraus. „Slothiel! Es hat ihm gefallen, daß du nicht gezuckt hast – als er dich zum ersten Mal gesehen hat. Außerdem ist er bereit, dich zu seinen Bekannten zu zählen. Weißt du, was das bedeutet?“ Sie sagte nichts mehr und wartete auf seine Antwort. Er schüttelte den Kopf. Sie hatte sich auf dem Schiff nicht über das geäußert, was sie jetzt ansprach. „Das bedeutet, daß du von jetzt an nicht mehr wirklich zu der Klasse der Diener gehörst!“ platzte sie heraus. „Ich hatte die Hoffnung, für dich einen Sponsor zu finden – aber noch nicht so bald. Ich habe das bei dir nicht erwähnt, weil ich dir nicht zuviel Hoffnung machen wollte. Aber Slothiel ist sogar zu mir gekommen!“ „Tatsächlich?“ Jim runzelte innerlich die Stirn, achtete aber sorgfältig darauf, sie für Ros Blicke nach außen glatt zu halten. Er fragte sich, ob Slothiel etwas mit Afuans Besuch bei ihm zu tun hatte – oder mit dem, was Galyan ihm an Bord des Schiffs gesagt hatte. Er stand knapp davor, Ro danach zu fragen, überlegte es sich aber dann anders. Er dachte sich, daß er Ro von Afuans Besuch und der Reaktion, die sie bei ihm hatte provozieren wollen, vielleicht besser nichts sagte – zumindest zur Zeit noch nicht. Er schreckte abrupt aus diesen Gedanken auf, als ihm zu Bewußtsein kam, daß Ro immer noch eifrig damit beschäftigt war, ihn auszuziehen, sich dabei aber nichts zu denken schien. Auch er machte sich darüber weiter keine Gedanken, aber Ros Haltung erweckte in ihm zu sehr den Eindruck der besorgten Eigentümerin. Sie erschien ihm wie eine Tierhalterin, die liebevoll ein Pferd oder einen Hund für eine Vorführung
herrichtete. Außerdem brauchte Jim Hilfe und nicht liebevolle Umsorgung und Pflege. „So ist es gut – es genügt“, sagte er und entzog sich ihrem Griff. „Mit dem Rest werde ich allein fertig.“ Er hob seinen Kilt mit dem Muster der Schwarzen Wache von dem Polster auf, auf das er ihn geworfen hatte, als er sich hastig für die Arena angezogen hatte. Er zog ihn zusammen mit einem kurzärmligen grünen Hemd an. Ro beobachtete ihn voller Stolz und Zuneigung. „Erzählen Sie mir noch mehr von dieser SponsorenAngelegenheit“, sagte Jim. „Sponsor wofür?“ „Na“, sagte Ro und machte große Augen, „für die Adoption durch die Thronwelt natürlich! Weißt du das nicht mehr? Das habe ich dir doch erzählt! Dann und wann wird es einigen wenigen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten oder Talenten gestattet, von einer der Kolonie-Welten auf die Thronwelt umzuziehen und zu Mitgliedern der Hochgeborenen zu werden. Das sind dann natürlich keine echten Hochgeborenen – sie können bestenfalls darauf hoffen, daß ihre Urgroßenkel echte Hochgeborene werden. Also, dieser gesamte Vorgang heißt auf der Thronwelt Adoption, und der Adoptionsvorgang wird von einem Hochgeborenen in Gang gesetzt, der bereit ist, für den Adoptivling als Sponsor zu fungieren.“ „Denkst… denken Sie daran, mich als Hochgeborenen adoptieren zu lassen?“ fragte Jim und lächelte leicht. „Natürlich nicht!“ Ro umarmte sich buchstäblich selbst vor Freude. „Wenn du aber erst einmal einen Sponsor gefunden hast, wird der Adoptionsvorgang eingeleitet, und du stehst als eventueller zukünftiger Hochgeborener unter dem Schutz des Kaisers, bis er dazu kommt, dich entweder anzunehmen oder abzulehnen. Das Gute dabei ist, daß niemand jemals abgelehnt wird, wenn er erst einmal einen Sponsor gefunden hat, wenn er nicht ein so schlimmes Verbrechen begeht, daß keine
Alternative bleibt, als ihn von der Thronwelt zu verbannen. Wenn du Slothiel für dich als Sponsor gewinnst, dann darf dir keiner der Hochgeborenen etwas tun, wie sie sich das bei einem Diener leisten könnten. Ich meine, damit ist dein Leben geschützt. Keiner von den Hochgeborenen – nicht einmal Afuan oder Galyan – darf ohne weiteres etwas gegen dich unternehmen. Sie müssen beim Kaiser eine Beschwerde gegen dich vorbringen.“ „Ich verstehe“, sagte Jim nachdenklich. „Soll ich erwähnen, daß Slothiel das vorhat, wenn ich mit dem Kaiser spreche?“ „Mit dem Kaiser sprechen?“ Ro starrte ihn an und brach in Gelächter aus, hörte damit aber sofort wieder auf und legte ihm entschuldigend eine Hand auf den Arm. „Es tut mir leid. Ich hätte nicht lachen sollen, aber es ist gut möglich, daß du dein ganzes Leben hier verbringst und nie mit dem Kaiser sprichst.“ „Dann ist es eben dieses Mal doch möglich“, sagte Jim. „Der Kaiser hat mir nämlich nach dem Stierkampf gesagt, daß ich ihn besuchen soll, sobald ich mich ein wenig ausgeruht habe.“ Ro starrte ihn an und schüttelte langsam den Kopf. „Das verstehst du nicht, Jim“, sagte sie mitleidig. „Das hat er nur so gesagt. Niemand besucht den Kaiser. Man sieht ihn nur dann, wenn man von ihm geholt wird. Wenn du den Kaiser sehen solltest, wirst du dich plötzlich in seiner Gegenwart finden. Bis dahin wirst du einfach warten müssen.“ Jim runzelte die Stirn. „Das tut mir leid, Jim“, sagte sie. „Du konntest das nicht wissen, aber der Kaiser sagt oft solche Sachen, und dann kommt etwas anderes, und er vergißt es wieder. Manchmal sagt er es auch und meint es nicht wirklich, bloß weil er etwas sagen will. Das ist für ihn so, als würde er ein Kompliment machen.“ Jim lächelte langsam, und Ro wurde wieder blaß.
„Mach nicht so ein Gesicht!“ sagte sie und packte ihn wieder am Arm. „Niemand darf so wild dreinschauen.“ „Keine Sorge“, sagte Jim. Er wischte sich das Grinsen vom Gesicht. „Aber ich fürchte, Sie täuschen sich. Ich besuche den Kaiser. Wo ist er jetzt?“ „Um diese Tageszeit in Vhotans Dienstzimmer…“ Sie stockte plötzlich und sah ihn an. „Jim, du meinst es ernst! Verstehst du denn nicht? Du kannst da nicht hingehen…“ „Zeigen Sie mir nur, wo es ist“, sagte Jim. „Nein, das tue ich nicht!“ sagte sie. „Dann gibt er nur seinen Starkianern den Befehl, dich zu töten! Vielleicht töten sie dich auch schon ohne Befehl.“ „Oh? Und warum sollten die Starkianer unseren Wilden töten wollen?“ unterbrach sie Slothiels Stimme unerwartet. Sie drehten sich um und entdeckten, daß der große Hochgeborene gerade bei ihnen im Raum erschienen war. Ro fuhr auf ihn zu, als sei er der Grund für den Streit zwischen ihr und Jim. „Nach dem Stierkampf hat der Kaiser zu Jim gesagt, er solle sich ein wenig ausruhen und ihn dann besuchen kommen!“ sagte Ro. „Jetzt verlangt Jim von mir, ich solle ihm sagen, wie er zum Kaiser kommt! Ich habe ihm gesagt, von mir erfährt er es nicht!“ Slothiel brach in Gelächter aus. „Zum Kaiser hingehen!“ wiederholte er lachend. „Und warum sagst du es ihm nicht? Wenn du es nicht machst, werde ich es tun.“ „Du!“ brauste Ro auf. „Und du hast gesagt, du willst als Sponsor für ihn auftreten!“ „Richtig“, meinte Slothiel lässig, „und das werde ich auch tun – weil ich den Mann bewundere und mich auf Galyans Gesicht freue, wenn er davon hört. Wenn aber – wie, sagst du, war sein Name? – Jim fest entschlossen ist, sich umbringen zu lassen,
bevor ich mich um die Sponsorenschaft kümmern kann – wer bin ich denn, in sein Schicksal einzugreifen?“ Er sah Jim über Ros Kopf hinweg an, die sich zwischen die beiden Männer gedrängt hatte. „Willst du wirklich hingehen?“ fragte Slothiel. Wieder lachte Jim grimmig. „Ich bin ein Wolfling“, sagte er. „Ich weiß es nicht besser.“ „Richtig“, sagte Slothiel und ignorierte Ros krampfhafte Bemühungen, ihn durch ihre Stimme und ihre Hand über seinem Mund zum Schweigen zu bringen. „Einen Augenblick. Ich schicke dich hin. Der Kaiser und Vhotan werden denken, daß du den Weg selbst gefunden hast.“ Sofort stand Jim in einem anderen Raum. Es war ein sehr großes, rundes Zimmer mit einer durchsichtigen Decke, die einen wolkigen Himmel darüber zeigte – oder waren der Himmel und die Wolken nur eine Illusion über ihm? Jim blieb keine Zeit, darüber eine Entscheidung zu fällen, denn seine gesamte Aufmerksamkeit wurde von den sechs Menschen in Anspruch genommen, die sich bereits in dem Raum befanden und ihn gerade entdeckt hatten. Einer von dem halben Dutzend in dem Zimmer war der Kaiser. Er hatte sich bei Jims Erscheinen plötzlich mitten im Satz unterbrochen. Er stand halb von dem älteren, schwer gebauten Hochgeborenen abgewandt, der während des Stierkampfs rechts von ihm gesessen hatte. Ein weiterer Hochgeborener, den er nicht kannte, stand in ihrer Nähe mit dem Rücken zu Jim. Er drehte sich gerade um, um zu sehen, was den Kaiser unterbrochen hatte. Die drei anderen Männer in dem Raum waren muskelbepackte, grauhaarige, kahlköpfige Männer von der Art jenes Burschen, den Galyan als seinen Leibwächter bezeichnet hatte. Sie trugen lederne Lendenschurze, und in Schleifen in den Gürteln um ihren Hüften staken schwarze Stäbe. Um Körper, Arme und Beine
hatten sie Bänder aus einem metallähnlichen Material geschlungen. Nach der Art zu urteilen, wie sie sich an die Konturen anschmiegten und an ihrer Stelle blieben, handelte es sich jedoch wahrscheinlich eher um Streifen aus dickem, elastischem Stoff als um Metall. Bei Jims Anblick hatten sie sofort ihre Stäbe gezogen und zielten auf ihn, als ein scharfer, kurzer Befehl des Kaisers sie aufhielt. „Nein!“ sagte der Kaiser. „Das ist…“ Er schien Jim eine Sekunde lang genau anzusehen, ohne ihn zu erkennen. Dann breitete sich ein frohes Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Ach, richtig, das ist ja der Wolfling!“ „Genau!“ schnappte der ältere Hochgeborene. „Und was tut der hier? Neffe, du solltest…“ „Nein, nein“, unterbrach der Kaiser ihn. Er ging auf Jim zu und lächelte ihn breit an. „Ich habe ihn hierher eingeladen. Weißt du das nicht mehr, Vhotan? Ich habe die Einladung nach dem Stierkampf ausgesprochen.“ Nun hatte sich der hochgewachsene Körper des Kaisers zwischen Jim und die drei muskulösen, bewaffneten Leibwächter geschoben. Er blieb eine Schrittlänge seiner langen Beine von Jim entfernt stehen und lächelte zu ihm herab. „Du bist natürlich gekommen“, sagte der Kaiser, „sobald du konntest, nicht wahr, Wolfling? Sicher wolltest du uns nicht beleidigen, indem du uns warten ließest.“ „Ja, Oran“, antwortete Jim. Inzwischen war der ältere Mann namens Vhotan, der offensichtlich der Onkel des Kaisers war, vorgetreten und stand neben seinem Neffen. Die zitronengelben Augen unter den buschigen, gelblichen Augenbrauen sahen wütend auf Jim herab. „Mein Neffe“, sagte er, „du darfst diesen Wilden auf keinen Fall mit so etwas durchkommen lassen. Wird das Protokoll erst
einmal durchbrochen, so ist damit ein Präzedenzfall für tausend Wiederholungen geschaffen!“ „Na, na, Vhotan“, sagte der Kaiser, drehte dem älteren Hochgeborenen beschwichtigend den Kopf zu und lächelte. „Wie viele Wolflinge haben wir denn hier auf der Thronwelt, die die Palastgesetze nicht kennen? Nein, ich habe ihn hierher eingeladen. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ihm sogar gesagt, ich sei an einer Unterhaltung mit ihm interessiert – und jetzt glaube ich, das bin ich auch.“ Er trat zur Seite, bückte sich und setzte sich auf eines der großen, polsterartigen Kissen, die für die Hochgeborenen die Rolle der Möbel übernommen hatten. „Setz dich, Wolfling“, sagte er. „Du auch, Onkel – und du, Lorava…“ Er sah zu dem dritten Hochgeborenen auf, einem schlanken jungen Mann, der gerade zu ihnen gekommen war. „Setzen wir uns doch alle hierher und unterhalten uns ein wenig mit diesem Wolfling. Woher kommst du, Wolfling? Du kommst doch aus dem Teil unseres Reichs, der am Rand der Galaxis liegt, oder?“ „Ja, Oran“, antwortete Jim. Er hatte sich bereits hingesetzt. Auch Vhotan ließ sich widerwillig auf einem Polster neben dem Kaiser nieder. Der junge Hochgeborene namens Lorava ging hastig zwei Schritte auf sie zu und setzte sich auf ein Kissen neben ihnen. „Eine verlorene Kolonie. Eine verlorene Welt“, meinte der Kaiser nachdenklich fast zu sich selbst, „voller wilder Menschen – und zweifellos noch wilderer Tiere?“ Er sah Jim fragend an. „Ja“, sagte Jim, „bei uns gibt es noch eine recht stattliche Anzahl von wilden Tieren – obwohl im Verlauf besonders der letzten Jahrhunderte ihre Anzahl zurückgegangen ist. Der Mensch neigt dazu, wilde Tiere zu verdrängen.“
„Der Mensch neigt dazu, selbst andere Menschen manchmal zu verdrängen“, sagte der Kaiser. Einen Augenblick lang schien hinter seinen Augen ein kleiner Schatten vorbeizuziehen, als erinnere er sich an einen eigenen privaten Kummer. Jim beobachtete ihn interessiert genau. Es war kaum zu glauben, daß das der gleiche Mann war, der in der Arena gesabbert und zusammenhanglose Geräusche von sich gegeben hatte. „Aber die Männer dort – und die Frauen – sind sie alle wie du?“ fragte der Kaiser und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Jim. „Wir sind alle verschieden, Oran“, sagte Jim. Der Kaiser lachte. „Natürlich!“ sagte er. „Und da ihr gesunde Wilde seid, schätzt ihr die Unterschiede und versucht nicht, euch alle in eine allgemeine Schablone einzupassen. Wie wir überlegenen Wesen, wir Hochgeborenen von der Thronwelt!“ Seine Hochstimmung ließ etwas nach. „Wie ist es gekommen, daß wir zufällig eure Welt gefunden haben, nachdem sie vor so vielen Jahrhunderten – oder Jahrtausenden – verlorengegangen ist?“ „Das Reich hat uns nicht gefunden“, sagte Jim. „Wir sind auf eine abgelegene Welt des Reichs gestoßen.“ Eine Sekunde lang herrschte Stille in dem Raum, bis sie durch prustendes, wieherndes Gelächter des jungen Lorava unterbrochen wurde. „Er lügt!“ brach es aus Lorava heraus. „Sie haben uns gefunden? Wenn sie uns finden konnten, wie kommt es dann, daß sie überhaupt verlorengegangen sind?“ „Ruhe!“ fuhr Vhotan Lorava an. Er wandte sich wieder Jim zu. Er und der Kaiser machten ernste Gesichter. „Sagst du uns hier, daß dein Volk in völlige Barbarei zurückgefallen ist, nachdem es den Kontakt mit dem Reich verloren hat, dann
eine Wende vollzogen hat und selbst wieder eine Zivilisation entwickelt hat – dabei auch die Beherrschung des Raumflugs?“ „Ja“, sagte Jim knapp. Für eine lange Sekunde starrte Vhotan durchdringend in Jims Augen. Dann wandte er sich dem Kaiser zu. „Das wäre vielleicht eine Überprüfung wert, Neffe“, sagte er. „Überprüfung wert… ja…“, murmelte der Kaiser, aber er schien mit seinen Gedanken nicht bei der Sache zu sein. Er sah Jim nicht mehr an, sondern schaute durch den Raum ins Leere. Ein Ausdruck sanfter Melancholie war in sein Gesicht getreten. Vhotan sah ihn an und stand auf. Der ältere Hochgeborene trat zu Jim hinüber, tippte ihm mit einem langen Zeigefinger auf die Schulter und bedeutete ihm, er solle aufstehen. Jim erhob sich. Hinter dem Kaiser, der noch immer dasaß und geistesabwesend vor sich hinstarrte, stand auch Lorava auf. Vhotan führte sie beide ruhig zum anderen Ende des Zimmers und wandte sich an Lorava. „Ich rufe dich später zurück, Lorava“, sagte er brüsk. Lorava nickte und verschwand. Vhotan wandte sich wieder Jim zu. „Wir haben hier einen Antrag von Slothiel. Er will die Sponsorschaft für deine Adoption übernehmen“, sagte Vhotan schnell. „Prinzessin Afuan hat dich hierhergebracht, und du hattest, soviel ich weiß, auch mit Galyan Kontakt. Entspricht das alles den Tatsachen?“ „Ja, das ist richtig“, sagte Jim. „Aha…“ Vhotan blieb einen Augenblick mit nachdenklich gesenkten Augen stehen. Dann richtete er seinen scharfen Blick wieder auf Jim. „Hat jemand von diesen dreien dich auf die Idee gebracht, hierherzukommen?“ „Nein“, antwortete Jim. Er lächelte dem großen, breitschultrigen alten Mann leicht zu, der ihn mit seiner Masse
überragte. „Es war meine eigene Idee, hierherzukommen – als Antwort auf die Einladung des Kaisers. Ich habe das lediglich zwei Menschen gegenüber erwähnt: Slothiel und Ro.“ „Ro?“ Vhotan runzelte die Stirn. „Ach ja, die Kleine, die Rückentwicklung in Afuans Haushalt. Bist du sicher, daß sie dich nicht auf die Idee gebracht hat hierherzukommen?“ „Völlig sicher. Sie hat versucht, mich aufzuhalten“, sagte Jim. „Und was Slothiel anbetrifft – als ich ihm von meinem Plan erzählt habe, hat er gelacht.“ „Gelacht?“ wiederholte Vhotan und schnaubte. „Schau mir in die Augen, Wolfling!“ Jim richtete seinen eigenen Blick auf die beiden zitronengelben Augen unter den buschigen, leicht gelblichen Augenbrauen. Unter seinem Blick schienen die Augen stärker zu leuchten und vor dem Gesicht des Alten zu schwimmen, bis sie zu verschmelzen drohten. „Wie viele Augen habe ich?“ hörte er Vhotans tiefe Stimme brummen. Zwei Augen schwammen wie zwei gelb-grüne Sonnen aufeinander zu, die vor ihm leuchteten. Sie versuchten, sich zu vereinigen. Jim spürte einen Druck auf sich, der dem hypnotischen Einfluß ähnelte, den Afuan vor dem Stierkampf auf ihn auszuüben versucht hatte. Er spannte sich innerlich an, und die Augen trennten sich. „Zwei“, sagte er. „Du täuschst dich, Wolfling“, sagte Vhotan. „Ich habe nur ein Auge. Ein einziges!“ „Nein“, sagte Jim. Die beiden Augen blieben getrennt. „Ich sehe zwei.“ Vhotan schnaubte wieder. Sein Blick hörte abrupt auf, in Jim zu brennen, und der hypnotische Druck ließ nach. „Na gut, ich sehe, so bekomme ich es nicht heraus“, sagte Vhotan fast zu sich selbst. Er richtete wieder einen scharfen
Blick auf Jim, aber auf die normale und nicht die hypnotische Art. „Ich nehme aber an, dir ist klar, daß ich es leicht herausbekommen kann, ob du lügst oder die Wahrheit sagst.“ „Davon bin ich ausgegangen“, sagte Jim. „Ja…“ Vhotan machte wieder ein nachdenkliches Gesicht. „Hier gibt es eine Menge mehr, als man bei oberflächlicher Betrachtung glauben möchte… Also, der Kaiser kann natürlich Slothiels Antrag auf eine Sponsorenschaft genehmigen, aber ich glaube, du wirst mehr als das brauchen. Laß mich überlegen…“ Vhotan drehte abrupt seinen Kopf nach rechts und sprach in die leere Luft. „Lorava!“ Der dünne, junge Hochgeborene erschien. „Der Kaiser verleiht diesem Wolfling hier ehrenhalber eine Offiziersstelle als Kommandeur einer Starkianer-Einheit. Kümmere dich um die Einzelheiten und weise ihm eine Sektion der Palastwache zu… und schicke mir Melness her.“ Lorava verschwand wieder. Ungefähr drei Sekunden später erschien ein anderer, kleinerer Mann an seiner Stelle. Er war ein schlanker, drahtiger Mann in dem typischen weißen Umhang und dem Kilt. Sein Haar war kurz geschnitten, und seine Haut trug fast die gleiche Farbe wie Jims, aber sie hatte einen stumpfen, gelblichen Ton. Sein Gesicht war klein und scharf geschnitten, und die Pupillen seiner Augen waren buchstäblich schwarz. Er gehörte deutlich nicht zu den Hochgeborenen, aber ihn umgab eine Aura von Sicherheit und Autorität, die selbst die der bewaffneten Leibwächter überschritt, die Starkianer genannt wurden. „Melness“, sagte Vhotan, „dieser Mann ist ein Wolfling – er ist derjenige, der vor einigen Stunden in der Arena seine Künste vorgeführt hat.“
Melness nickte. Seine schwarzen Augen zuckten von Vhotan zu Jim und dann wieder zurück zu dem großen, alten Hochgeborenen. „Der Kaiser verleiht ihm ehrenhalber eine Offiziersstelle bei den Starkianern der Palastwache. Ich habe Lorava angewiesen, sich um die Einzelheiten zu kümmern, aber du sollst zusehen, daß seine Verpflichtungen genau festgelegt werden.“ „Ja, Vhotan“, antwortete Melness. Seine Stimme war ein fester, männlicher Tenor. „Ich kümmere mich darum – und um ihn.“ Danach verschwand auch er seinerseits. Vhotan sah noch einmal Jim an. „Melness ist der Majordomo des Palasts“, sagte Vhotan. „Eigentlich hat er zumindest theoretisch den Befehl über alle Bewohner der Thronwelt, die keine Hochgeborenen sind. Wenn du irgendwelche Schwierigkeiten hast, wende dich an ihn. Du kannst jetzt in dein Quartier zurückkehren. Und komme nicht wieder hierher, wenn du nicht gerufen wirst!“ Jim stellte sich den Raum vor, in dem er Ro und Slothiel zurückgelassen hatte. Er spürte die federleichte Berührung in seinem Kopf und befand sich sofort wieder dort. Wie er sah, waren beide noch da. Ro rannte in dem Augenblick, in dem sie ihn sah, auf ihn zu und umarmte ihn. Slothiel lachte. „Du bist also zurückgekommen“, sagte der Hochgeborene lässig. „Ich hatte bereits das dumpfe Gefühl, daß dir das gelingen würde. Ich habe sogar Ro deshalb eine Wette um einen Punkt angeboten – aber sie mag Wetten nicht. Was ist dir geschehen?“ „Ich bin ehrenhalber zum Offizier bei den Starkianern befördert worden“, sagte Jim ruhig. Er sah Slothiel in die Augen. „Außerdem sagt Vhotan, daß der Kaiser dein Angebot, für mich als Sponsor aufzutreten, prompt bearbeiten wird.“
Ro ließ ihn los, trat zurück und starrte ihn erstaunt an. Slothiel ging so weit, überrascht eine Augenbraue zu heben. „Jim!“ sagte Ro voller Bewunderung. „Was… was ist denn wirklich passiert?“ Jim berichtete es ihnen kurz. Als er fertig war, stieß Slothiel einen fröhlichen, bewundernden Pfiff aus. „Entschuldigt mich“, sagte er. „Das sieht mir nach einer guten Möglichkeit aus, einige kleine Wetten abzuschließen, bevor der Rest der Thronwelt von deiner Beförderung erfährt.“ Er verschwand. Ro dagegen hatte sich nicht gerührt. Jim sah auf sie herab und erkannte die Sorgenfalten, die sich in ihr Gesicht eingegraben hatten. „Jim“, sagte sie zögernd, „Vhotan hat über mich genau diese Frage gestellt, ja?… Ob ich vielleicht vorgeschlagen hätte, daß du so zum Kaiser vordringst? Und das hat er gefragt, nachdem ihm eingefallen ist, daß ich eine Angehörige von Afuans Haushalt bin?“ „Ganz richtig“, sagte Jim. Er lächelte etwas dünn. „Interessant, nicht?“ Ro schüttelte sich plötzlich. „Nein, keineswegs!“ sagte sie eindringlich, aber mit leiser Stimme. „Beängstigend ist das! Ich wußte, daß ich dir verschiedenes beibringen und dir dabei helfen kann, unter normalen Umständen hier zu überleben. Wenn aber hier etwas vor sich geht, wofür andere Hochgeborene dich benutzen wollen…“ Ihre Stimme erstarb. Ihre Augen waren dunkel vor Besorgnis. Jim sah sie einen Augenblick lang prüfend an. Dann sprach er. „Ro“, sagte er langsam, „sag mal: Fehlt dem Kaiser etwas?“ Sie sah erstaunt zu ihm auf.
„Fehlt etwas?… Du meinst, ob er krank ist?“ Plötzlich lachte sie. „Jim, von den Hochgeborenen wird keiner jemals krank – am allerwenigsten der Kaiser.“ „Irgend etwas stimmt mit ihm nicht“, sagte Jim. „Und allzu geheim kann es nicht sein, wenn es so auftritt wie in der Arena nach dem Stierkampf. Hast du bemerkt, wie er sich verändert hat, als er anfing, mit mir zu sprechen, nachdem der Stier tot war?“ Sie schien es nicht zu registrieren, daß er sie geduzt hatte. „Verändert?“ Sie starrte ihn buchstäblich an. „Verändert? In welcher Beziehung?“ Jim erzählte es ihr. „… und du hast seinen Blick nicht bemerkt oder die Laute gehört, die er von sich gegeben hat?“ fragte Jim. „Natürlich nicht – wenn ich es mir jetzt überlege, war dein Platz wahrscheinlich nicht so nahe.“ „Aber, Jim!“ Sie legte ihm mit der bekannten, eindringlichen Geste ihre Hand auf den Arm. „Jeder Platz in der Arena verfügt über seine eigene Sichtanlage. Als du mit diesem Tier gekämpft hast…“ – Sie brach kurz ab und schüttelte sich, sprach dann aber hastig weiter – „,… konnte ich dich so nahe sehen, wie ich wollte, als stünde ich so nahe bei dir wie jetzt. Als du dich der kaiserlichen Loge zugewandt hast, hatte ich dich noch genau in meiner Sicht. Ich habe genau zugesehen, als der Kaiser zu dir sprach, und wenn er etwas Ungewöhnliches getan hätte, dann hätte ich das auch bemerkt!“ Er starrte sie an. „Du hast das nicht gesehen, was ich beobachtet habe?“ fragte er nach einer Sekunde. Sie sah ihm weiter mit offensichtlich ehrlichem Ausdruck ins Gesicht, aber er hatte mit plötzlicher innerlicher
Empfindsamkeit das sichere Gefühl, daß sie irgendwie seinem Blick auswich – ohne das aber selbst zu bemerken. „Nein“, sagte sie. „Ich habe gesehen, wie er mit dir gesprochen hat, und ich habe gehört, wie er dich einlud, ihn zu besuchen, nachdem du dich ein wenig ausgeruht hast. Nicht mehr als das.“ Sie stand weiter da und sah ihm weiter in dieser äußerlichen Ehrlichkeit in die Augen, wandte aber zur gleichen Zeit innerlich ihren Blick von ihm ab. Sie bemerkte das nicht, aber für ihn war es offensichtlich. Die Sekunden verstrichen, und plötzlich wurde ihm klar, daß sie konditioniert war. Sie war nicht in der Lage, den tranceähnlichen Zustand zu durchbrechen, in dem sie sich befand. Er war derjenige, der ihn unterbrechen mußte. Er wandte gerade rechtzeitig den Kopf von ihr weg, um den grauhäutigen, kahlköpfigen Starkianer ungefähr zwei Meter entfernt von ihnen im Raum erscheinen zu sehen. Jim richtete sich auf und starrte ihn an. „Wer bist du?“ fragte Jim. „Mein Name ist Adok I“, antwortete der Neuankömmling. „Aber ich bin du.“
6
Jim runzelte die Stirn und sah den Mann mit finsterem Gesicht an, der jedoch keinerlei Reaktion auf seinen Gesichtsausdruck zeigte. „Du bist ich?“ wiederholte Jim. „Das verstehe ich nicht.“ „Aber Jim!“ mischte sich Ro ein. „Er ist natürlich dein Stellvertreter. Du kannst ja schließlich nicht selbst ein Starkianer sein. Genausowenig wie ein…“ Sie suchte nach einem Vergleich, gab es aber wieder auf. „Sieh ihn dir doch an! Und im Vergleich dazu dich!“ sagte sie erklärend. „Die Hochgeborene hat völlig recht“, sagte Adok I. Er hatte eine tiefe, flache, emotionslose Stimme. „Offizierspatente werden in der Regel ehrenhalber an solche Personen vergeben, die nach Geburt und Ausbildung keine Starkianer sind. In solchen Fällen wird immer ein Stellvertreter gestellt.“ „Er ist also ein Stellvertreter“, sagte Jim. „Wie wirst du denn in diesem Fall offiziell in den Akten geführt?“ „Wie ich schon sagte, bin ich offiziell du“, antwortete Adok I. „Ich heiße offiziell James Kell. Ich bin ein Wolfling von einer Welt, die sich…“ – die Zunge des Starkianers hatte etwas Schwierigkeiten mit der Aussprache des unbekannten Wortes – „… Erde nennt.“ „Hast du mir nicht gesagt, du heißt Adok I?“ sagte Jim. Der extrem ernste Gesichtsausdruck des Starkianers führte ihn in Versuchung zu lächeln, aber ein Instinkt hielt das Lächeln innerlich und von seinem Gesicht fern. „Inoffiziell, und nur für dich, Jim“, sagte der andere, „heiße ich Adok I. Enge Bekannte von dir, wie die Hochgeborene
Dame hier, können entweder Adok I oder Jim Kell zu mir sagen – das ist gleichgültig.“ „Ich werde dich Adok I nennen“, sagte Ro. „Und du darfst Ro zu mir sagen.“ „In Ordnung, Ro“, sagte Adok I in einem Tonfall, als wiederhole er einen gerade erteilten Befehl, und versicherte gleichzeitig, daß er bereit und in der Lage sei, ihn auszuführen. Jim schüttelte den Kopf. Die Mischung von Charakteristika, die der Starkianer an den Tag legte, amüsierte ihn. Der Mann schien bis zur Hölzernheit humorlos, gehorsam bis zur Unterwürfigkeit und schien es in Verbindung mit diesen Eigenschaften für bestes Benehmen zu halten, Jim mit der vertrauten Kurzform seines Namens anzureden und zu duzen. Darüber hinaus schien Adok I Jim gegenüber in einer seltsamen Mischung zur gleichen Zeit unterwürfig und überheblich zu sein. Es hatte deutlich den Anschein, als käme es dem Starkianer nicht entfernt in den Sinn, Jim die Fähigkeiten zuzutrauen, die Aufgaben auszuführen, für die er selbst vorgesehen war. Auf der anderen Seite hielt er sich offensichtlich selbst für eine Kreatur für jegliche Launen Jims – seinen ergebenen Diener. Abrupt überlegte sich Jim jedoch, daß für eine Untersuchung des Charakters von Adok I auch noch später Zeit war. Eine dringlichere Frage stand an. „Also gut“, sagte Jim, „da ich dich jetzt schon einmal habe – aber was soll ich mit dir anfangen?“ „Zunächst sollte ich etwas mit dir anfangen, Jim“, sagte Adok. Er sah zu Ro hinüber. „Wenn Ro uns entschuldigt, kann ich sofort mit deiner Einweisung in Notwendigkeiten und Pflichten eines Offiziers beginnen – die jene übersteigen, die ich für dich übernehmen kann.“ „Ich muß mich sowieso um meine Tiere kümmern“, sagte Ro. „Ich komme später und besuche dich, Jim.“ Sie berührte ihn leicht am Arm und verschwand.
„Also gut, Adok“, sagte Jim und wandte sich wieder dem Starkianer zu. „Womit fangen wir an?“ „Wir sollten mit einer Inspektion der Quartiere deiner Einheit beginnen“, sagte Adok. „Wenn ich dir vielleicht den Weg zeigen darf, Jim…“ „Na los“, sagte Jim und befand sich sofort mit Adok in einem riesigen, fensterlosen Raum mit einer hohen Decke. Trotz der Größe des Raums spürte Jim in sich ein Gefühl von Enge, das ihn bedrückte, als sei er eingesperrt. „Wo sind wir?“ fragte er Adok, denn der spiegelblanke Fußboden, der sich vor ihnen erstreckte, war in allen Richtungen über weite Strecken hinweg leer. Nur einige weit entfernte Gestalten waren zu erkennen, die sich in der düsteren Beleuchtung und der Entfernung fast verloren. „Wir sind auf dem Exerzierplatz.“ Adoks Kopf drehte sich Jim zu, und er sah mit den ersten Gefühlsregungen, die er bisher gezeigt hatte, zu ihm hinüber. Nach einer Sekunde wurde es Jim klar, daß Adok Überraschung zeigte. „Wir befinden uns außerdem unter der Planetenoberfläche.“ Adok sagte ihm in Längenmaßen des Reichs, wie tief der Exerzierplatz lag. Es entsprach ungefähr einer halben Meile unter der Oberfläche des Planeten. „Beunruhigt dich das? Die Hochgeborenen beunruhigt es, aber von den Dienern nur wenige.“ „Nein, es beunruhigt mich nicht“, sagte Jim. „Etwas gespürt habe ich allerdings.“ „Wenn dich das beunruhigen sollte, mußt du es vor mir zugeben“, sagte Adok. „Wenn dich irgend etwas stört oder dir Angst macht, solltest du es mir sagen, selbst wenn du es sonst niemand mitteilen willst. Das braucht außer mir niemand zu wissen, aber ich muß unbedingt darüber informiert werden, wenn du emotionell geschwächt bist, damit ich Maßnahmen
ergreifen kann, um dich vor einer solchen Schwäche zu schützen und sie vor anderen zu verbergen.“ Jim lachte, und das Geräusch hallte unheimlich durch die sie umgebenden Entfernungen. Es war für Humor ein seltsamer Ort und Moment, aber Jim fand Adok I eigentlich sympathisch. „Mach dir keine Gedanken“, sagte Jim zu dem Starkianer. „Gewöhnlich fühle ich mich nicht emotionell geschwächt. Wenn es aber doch der Fall sein sollte, werde ich es dich wissen lassen, das verspreche ich dir.“ „Gut“, sagte Adok ernst. „Also, ich habe dich zuerst an diesen Punkt des Exerzierplatzes gebracht, weil ich bei einigen Paraden nicht deine Stelle übernehmen kann. Bei manchen Paraden müssen wir beide anwesend sein. Jetzt, da du zu diesem Punkt gebracht worden bist, kannst du sofort an ihn zurückkehren, falls du dich aus irgendeinem Grund für die Parade verspätet hast. Jetzt gehen wir in die Waffenkammer, und dort holen wir deine Waffen und Ausrüstungsgegenstände. Zur gleichen Zeit kannst du dir auch diesen Ort einprägen.“ Der nächste Raum, in dem sie erschienen, war heller erleuchtet und bedeutend kleiner als der Exerzierplatz. Es war ein langer schmaler Raum, dessen beide Längsseiten aus aneinandergereihten Fächern bestanden. Darin befanden sich die Lederbänder und die Bänder aus dem silbrigen Material, wie sie Adoks Beine, Arme und Körper umgaben und die Jim an den gleichen Stellen bei den Starkianern, beim Kaiser und bei Vhotan gesehen hatte. Er forderte Jim jedoch vorerst noch nicht dazu auf, sie anzulegen, sondern ging nur mit ihm direkt zu einigen Fächern und suchte sich eine Reihe davon aus. Er trug sie selbst, während er Jim zuerst zu den Kasernen, in denen die Starkianer lebten – die Unterkünfte seiner Einheit waren denen nicht unähnlich, die man ihm selbst zugewiesen hatte; sie waren nur kleiner und lagen unterirdisch –, und dann
zu einer Sporthalle, einem Speiseraum, einer Art von unterirdischem Park, in dem Gras und Bäume unter einer künstlichen Sonne wuchsen, und schließlich zu einer Art Vergnügungs- und Einkaufszentrum führte, wo zahlreiche Starkianer sich unter eine weit größere Menge von anderen Dienern aus den niedrigeren Rassen mischten. Adok schloß schließlich diese kurze Besichtungstour zu den verschiedenen Lokalitäten dadurch ab, daß er Jim in einen großen Raum brachte, der ganz ähnlich wie der ausgestattet war, in dem er den Kaiser und Vhotan getroffen hatte. Er war nicht nur genauso groß und ebenso gut ausgestattet, sondern Jim spürte außerdem noch, wie sich das Gefühl verflüchtigte, das er unter der Erde so warnend und bedrückend gespürt hatte. Dieser Raum, wozu immer er auch dienen mochte, lag offensichtlich über der Erde. „Wer…“, wollte er gerade Adok fragen, fand seine Frage aber bereits beantwortet, bevor er sie aussprechen konnte. Der olivenhäutige Mann namens Melness erschien vor ihnen und sah nicht Jim, sondern Adok an. „Ich habe ihn zu den Stellen geführt, die mit seiner Einheit zu tun haben“, sagte Adok zu dem höchsten Diener der Thronwelt. „Und nun habe ich ihn zu dir gebracht, wie du es befohlen hattest, Melness.“ „Gut“, sagte Melness in seinem klaren Tenor. Seine schwarzen Augen zuckten zu Jim hinüber. „Die Sponsorenschaft für deine Adoption ist vom Kaiser angenommen worden.“ „Vielen Dank für die Mitteilung“, sagte Jim. „Ich sage dir das nicht, weil ich dir einen Gefallen tun will“, sagte Melness, „sondern weil es notwendig ist, dir die Lage klarzumachen. Als Kandidat für eine Adoption bist du theoretisch ein Hochgeborener auf Bewährung, und als solcher stehst du über mir wie über allen Dienern. Auf der anderen
Seite bist du als Offizier der Starkianer, der weniger als zehn Einheiten befehligt, sowie als Angehöriger einer der niedrigeren Menschenrassen meinem Befehl unterstellt.“ Jim nickte. „Ich verstehe“, sagte er. „Das hoffe ich!“ sagte Melness scharf. „Wir haben hier einen Widerspruch – und solche Widersprüche werden hier dadurch gelöst, daß dir zwei offizielle Persönlichkeiten zugewiesen werden, die du beide ausfüllst. Das bedeutet, daß du in jeder Tätigkeit, Beschäftigung oder Verpflichtung, die du als Hochgeborener zur Probe, als Kandidat für eine Adoption erfüllst, mein persönlicher Vorgesetzter bist. Deinen Pflichten als Offizier der Starkianer gehst du auf der anderen Seite als Diener nach – und in allem, was damit zu tun hat, bist du mir unterstellt. Bei Tätigkeiten, in denen keine der offiziellen Persönlichkeiten beteiligt ist, kannst du dir aussuchen, welche Stellung du einnehmen möchtest – Hochgeborener oder Diener. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du dich oft für den Diener entscheidest.“ „Wahrscheinlich nicht“, sagte Jim und beobachtete den kleineren Mann ruhig. Die Blicke der schwarzen Augen zuckten zu ihm wie Blitze. „Wegen dieses Konfliktes von Persönlichkeiten“, sagte Melness, „habe ich keine direkte Autorität über dich. Ich kann dich aber, wenn nötig, von deinem Dienst bei der StarkianerEinheit suspendieren und beim Kaiser eine formelle Beschwerde gegen dich vorbringen. Komme bloß nicht auf die dumme Idee, daß der Kaiser nicht auf eine Beschwerde von mir reagieren würde.“ „Nie und nimmer“, sagte Jim sanft. Melness sah ihn noch einen Moment lang an und verschwand. „Also, Jim“, sagte Adok bei seinem Ellbogen, „wir können jetzt wieder in deine Unterkunft zurückkehren, wenn du willst,
und ich werde dir den Gebrauch deiner Waffen und Ausrüstungsgegenstände erklären.“ „Einverstanden“, sagte Jim. Sie transportierten sich in Jims Quartier zurück. Dort legte Adok Jim die Bänder und Gurte an, die sie aus der Waffenkammer geholt hatten. „Es gibt zwei Waffenarten“, sagte Adok, nachdem Jim alles angelegt hatte. „Das…“ – er tippte auf den kleinen schwarzen Stab, den er in die Schleifen in dem Gürtel an Jims Lendenschurz gesteckt hatte – „… verfügt über eine unabhängige Energieversorgung und ist unter normalen Umständen die einzige Waffe für den Dienst auf der Thronwelt.“ Er machte eine Pause, streckte dann eine Hand aus und berührte das silbrige Band um Jims Oberarmmuskulatur leicht. „Die hier dagegen“, sagte Adok, „gehören zu den Waffen zweiter Klasse. Im Moment sind sie noch völlig nutzlos, weil sie erst durch eine drahtlose Energieübertragung eingeschaltet werden müssen. Diese Bänder sind sowohl eine Waffe als auch ein Kraftverstärker.“ „Kraftverstärker?“ fragte Jim. „Ja“, sagte Adok. „Sie beschleunigen deine Reflexe, indem sie deine körperlichen Reaktionen in einer bestimmten, vorher eingestellten Geschwindigkeit erfolgen lassen – die bei allen, die nicht den Hochgeborenen angehören, erheblich über der natürlichen Reflexgeschwindigkeit liegt. Später werden wir die Funktion des Kraftverstärkers als Waffe zweiten Grades einüben. Vielleicht bekommst du dann irgendwann die Genehmigung dazu, das Testgelände zu benutzen, damit du konkrete Erfahrungen mit den Waffen selbst sammeln kannst. Es liegt ziemlich tief unter der Oberfläche der Thronwelt.“ „Ich verstehe“, sagte Jim und musterte die silbernen Bänder. „Dann kann ich wohl annehmen, daß sie sehr stark sind?“
„Ein ausgebildeter Starkianer“, sagte Adok, „der voll mit betriebsbereiten Waffen der zweiten Klasse ausgerüstet ist, entspricht ungefähr zwei bis sechs Einheiten vollbewaffneter Männer von den Kolonie-Welten.“ „Die Kolonie-Welten haben also keine Starkianer?“ fragte Jim. Adok gelang es zum zweiten Mal, eine kaum merkliche Gemütsbewegung zu zeigen. Dieses Mal schien er schockiert zu sein. „Die Starkianer dienen dem Kaiser – und nur dem Kaiser!“ sagte er. „So?“ sagte Jim. „Auf dem Schiff, das mich zur Thronwelt gebracht hat, habe ich mit einem Hochgeborenen namens Galyan gesprochen, und Galyan hatte einen Starkianer – oder zumindest jemanden, der genau wie ein Starkianer aussah. Er war sein Leibwächter.“ „Dabei gibt es nichts Ungewöhnliches, Jim“, sagte Adok. „Der Kaiser leiht seine Starkianer an andere Hochgeborene aus, wenn die Hochgeborenen sie brauchen, aber sie sind eben nur ausgeliehen. Sie bleiben trotzdem Diener des Kaisers, und letzten Endes erhalten sie ihre Befehle nur vom Kaiser.“ Jim nickte. Adoks Worte riefen ihm die Erklärungen ins Gedächtnis zurück, die ihm Melness vor kurzem gegeben hatte. Jims Gedanken verfolgten die Verbindung weiter. „Der unterirdische Bereich der Thronwelt wird nur von Dienern bewohnt. Ist das richtig, Adok?“ fragte Jim. „Das ist richtig, Jim“, sagte Adok. „Wenn mich meine dienstlichen Verpflichtungen von jetzt an hier unten festhalten“, sagte Jim, „möchte ich doch noch mehr davon sehen. Wie groß ist das Gelände?“ „Es gibt ebenso viele unterirdische Räume wie überirdische“, sagte Adok. „Vielleicht sogar noch mehr, denn ich kenne sie nicht alle.“
„Wer weiß besser Bescheid?“ fragte Jim. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle Adok mit den Achseln zucken, aber diese Geste hätte seiner Natur wenig entsprochen. „Ich weiß es nicht, Jim“, sagte er. „Vielleicht… Melness.“ „Ja“, sagte Jim nachdenklich. „Sicher. Wenn jemand das weiß, dann ist es Melness.“ Im Verlauf der nächsten Wochen nahm Jim an verschiedenen Paraden auf dem unterirdischen Exerzierplatz teil. Er fand heraus, daß seine Verpflichtungen bei solchen Angelegenheiten nur darin bestanden, daß er sich mit der entsprechenden Bekleidung vor seine Einheit zu stellen hatte. Sie bestand aus achtundsiebzig Starkianern, einem Unteroffizier, Adok und ihm selbst. Als er aber an der ersten Parade teilnahm, bedeutete es für ihn einen Schock, den riesigen unterirdischen Raum vollständig, Reihe um Reihe, von leidenschaftslosen, kahlköpfigen, kleinen und grobknochigen Männern ausgefüllt zu sehen, die die Starkianer waren. Jim hatte angenommen, daß die Thronwelt als Planet von voller Größe eine große Menge von Dienern aller Arten beherbergte, unter denen die Zahl der Starkianer einen gewissen Prozentsatz ausmachte. Bis er es mit eigenen Augen sah, war es ihm jedoch nicht klar gewesen, wie viele Starkianer es gab. Nach einer kurzen anschließenden Berechnung auf der Grundlage dessen, was Adok ihm über die Größe des Exerzierplatzes gesagt hatte, kam er zu der Schätzung, daß er in dem Gelände mindestens zwanzigtausend bewaffnete Männer gesehen hatte. Wenn Adoks Worte tatsächlich zutrafen, daß jeder Starkianer vier oder fünf Einheiten von achtzig Soldaten von den Kolonie-Welten entsprach, dann waren die Starkianer, die er gesehen hatte, militärisch in etwa einer Dreiviertelmillion Männern ebenbürtig. Und Adok hatte ihm gesagt, daß dieser
Exerzierplatz nur einer von fünfzig war, die unterirdisch über die Thronwelt verteilt waren. Es war vielleicht nicht so sehr überraschend, daß die Hochgeborenen der Thronwelt sich jeder Bedrohung gewachsen fühlten, die von einer Kolonie-Welt oder einer Verbindung von Kolonie-Welten ausgehen könnte. Jim fand heraus, daß neben den Paraden seine Pflichten auf eine Trainingssitzung mit Adok beschränkt waren, die alle zwei Tage unter Benutzung der Waffen der zweiten Klasse in der Sporthalle stattfanden. Die Silberbänder, die die Bewaffnung zweiter Klasse darstellten, waren noch immer nicht als Waffen in Betrieb genommen worden, aber in der Sporthalle wurden sie in ihrer Eigenschaft als Kraftverstärker aktiviert. Daher bestanden die Übungen, die er auf Anweisung von Adok auszuführen hatte, nur aus Laufen, Springen und der Überwindung verschiedener Hindernisse mit der Unterstützung der Kraftverstärker. Diese Übungen dauerten auf Anweisung Adoks beim ersten Mal nur ungefähr zwölf Minuten. Anschließend brachte er Jim behutsam, fast zärtlich in sein Quartier zurück und ließ ihn sich auf das Polster legen, das dort als Bett diente. Währenddessen nahm Adok sanft die Silberbänder ab. „Jetzt mußt du mindestens drei Stunden lang ruhen“, sagte Adok ihm. „Warum?“ fragte Jim und sah neugierig zu der gedrungenen Gestalt hoch, die über ihm stand. „Weil sich der Körper nicht sofort an den Effekt gewöhnt, den diese Kraftverstärker ausüben“, sagte Adok. „Denke daran, daß deine Muskeln zu schnelleren Bewegungen gezwungen worden sind, als das von Natur aus für sie vorgesehen war. Du meinst vielleicht jetzt, du fühlst dich steif und müde, aber das ist noch gar nichts gegen das Gefühl, das du in drei Stunden spüren wirst. Die beste Methode, um den Muskelkater und die
Müdigkeit, die sich beim ersten Gebrauch des Kraft Verstärkers einstellen, so gering wie möglich zu halten, besteht in völliger Ruhe für drei Stunden nach der Übung. Mit der Zeit wirst du durch den Gebrauch abgehärtet werden, und dein Körper wird sich daran gewöhnen, zu für ihn unnatürlich schnellen Reflexen gezwungen zu werden. Dann wirst du keine Auswirkungen mehr spüren, wenn du dich nicht wirklich überanstrengst, und dann brauchst du dich nicht mehr nach jeder Übung auszuruhen.“ Jim hielt sein Gesicht ausdruckslos, und Adok verschwand, nachdem er vorher aufmerksamerweise das Licht des Raumes verdunkelt hatte. In der düsteren Beleuchtung sah Jim nachdenklich an die weiße Decke über seinem Kopf. Er spürte in seinen Muskeln keinerlei Ermüdung oder Schmerzen, aber die Hauptwirkung würde sich laut Adok erst in drei Stunden einstellen. Er wartete deshalb gewissenhaft diese drei Stunden lang, bevor er sich von dem Bett rührte. Als aber diese Zeit verstrichen war, fühlte er sich immer noch nicht anders. Er war nicht steif, und nichts tat ihm weh. Er fügte diese Information seinem allmählich wachsenden Wissensschatz über die Thronwelt und ihre Bewohner in seinem Kopf hinzu. Sie paßte nicht sofort zu den anderen Stücken des Puzzles, das sich in seinen Gedanken zusammensetzte. Seit jenem Tag aber, an dem er als kleiner Junge endlich der Tatsache ins Auge geblickt hatte, daß ihm keine andere Wahl blieb, als die Einsamkeit seines Lebens schweigsam zu ertragen, hatte er sich eine fast unendliche Geduld erworben, und die half ihm auch jetzt. Das Bild, das sich in seinem Kopf bildete, war noch nicht zu entziffern. Noch nicht. Bis es soweit war… Adok hatte angenommen, daß er nach Ablauf der drei Stunden durch seine allgemeine körperliche Ermüdung praktisch zur Unbeweglichkeit verurteilt sein würde. Da es ihm bisher noch
nicht gelungen war herauszufinden, ob er überwacht wurde – und in der letzten Zeit hatte er auch in Erwägung gezogen, daß nicht nur die Hochgeborenen ihn aus ihren eigenen Gründen überwachten, sondern auch die Diener aus ihren eigenen Gründen – fand er sich damit ab zu bleiben, wo er war. Er blieb auf seinem Polster-Bett ausgestreckt liegen und zwang sich selbst durch reine Willenskraft zum Einschlafen. Er wachte auf, weil Ro ihn sanft schüttelte. Sie stand in seinem halbdunklen Zimmer neben seinem Bett. „Galyan möchte, daß du jemanden triffst“, sagte sie. „Er hat das durch Afuan ausrichten lassen. Es ist der Gouverneur der Kolonie-Welten auf Alpha Centauri.“ Einen Augenblick lang blinzelte er schläfrig. Doch dann wurde ihm die Bedeutung ihrer Worte klar, und er war sofort hellwach. „Welchen Grund hätte ich denn dafür, den Gouverneur der Welten von Alpha Centauri treffen zu wollen?“ fragte er und richtete sich abrupt von seinem Polster auf. „Aber er ist dein Gouverneur!“ sagte Ro. „Hat dir das noch niemand gesagt, Jim? Jede neue Koloniewelt wird sofort dem räumlich nächsten Gouverneur zugewiesen.“ „Nein“, sagte Jim, schwang seine Beine über die Bettkante und stand auf. „Nein, das hat mir noch niemand gesagt. Heißt das, daß ich dem Gouverneur gegenüber irgendwelche Verpflichtungen habe?“ „Also…“ Ro zögerte. „Theoretisch kann er dich sofort von der Thronwelt wegbringen, weil du unter seine Autorität fällst. Auf der anderen Seite ist die Sponsorenschaft für deine Adoption angenommen. Das heißt für ihn praktisch, daß er davon erfährt, und dann wird er es besser wissen und nichts tun, um einem möglichen zukünftigen Hochgeborenen auf die Füße zu treten. Du mußt auch daran denken, daß es für seine Welten einen enormen Prestigegewinn bedeutet, wenn jemand
aus seinem Verfügungsbereich zumindest Hochgeborener auf Probe wird. Mit anderen Worten: Er kann dir eigentlich nichts tun. Du kannst auf der anderen Seite die Möglichkeit eines Besuchs bei ihm nicht ablehnen, wenn er schon einmal hier ist. Das verbietet die Höflichkeit.“ „Ich verstehe“, sagte Jim grimmig. „Sie haben dich hierhergeschickt, um mich abzuholen?“ Ro nickte. Er streckte eine Hand aus, und sie ergriff sie. Das war eine einfache, mühelose Methode, jemanden an eine Stelle zu bringen, an der er vorher noch nicht gewesen war. Man hatte Jim gesagt, daß eine gewisse geistige Anstrengung dazu notwendig war, jemanden ohne physischen Kontakt an einen Ort zu transportieren, der ihm unbekannt, dem Führer aber bekannt war. Adok wählte natürlich, wie früher auch Ro, die distanziertere Methode, aber Ro hatte es sich inzwischen angewöhnt, ihn bei der Hand zu nehmen, wenn sie irgendwohin zusammen mit ihm gelangen wollte. Sofort standen sie in einem relativ kleinen Raum – einem Raum jedoch, der durch die zahlreichen in der Luft hängenden Schreibflächen, die sparsame Verteilung von Sitzkissen und seinen allgemeinen Charakter auf die gleiche Funktion als Büro verwies, wie er das bereits in dem Raum vorgefunden hatte, in den er von Galyan an Bord des Schiffes gebracht worden war. In dem Raum befanden sich die üblichen Arbeitskräfte und die einzelne Starkianer-Leibwache. Außerdem fanden sie noch Galyan und einen Mann mit der Gesichtsfarbe der nordamerikanischen Indianer vor, wie sie für die Bewohner von Alpha Centauri typisch war. Dieser Mann aber war fast einen Meter achtzig groß, ein gutes Stück größer als die meisten Bewohner von Alpha Centauri III, die Jim während seines Aufenthalts dort getroffen hatte.
„Da bist du ja, Jim – und du auch, Ro“, sagte Galyan bei ihrem Erscheinen leise und drehte sich zu ihnen um. „Jim, ich dachte, du würdest vielleicht gern den Herrn deiner Region treffen wollen – Wyk Ben von Alpha Centauri III. Wyk Ben, darf ich dir Jim Kell vorstellen. Für ihn ist hier auf der Thronwelt eine Sponsorenschaft angeboten worden.“ „Sehr angenehm“, antwortete Wyk Ben, drehte sich hastig um und lächelte Jim zu. Im Gegensatz zu der zischenden Aussprache der Hochgeborenen, die für Jim inzwischen fast natürlich klang, lispelte der Gouverneur von Alpha Centauri leicht. „Ich wollte dich nur kurz treffen, um dir Glück zu wünschen, Jim. Deine Welt ist gerade erst in unseren Verfügungsbereich gekommen… und… äh… ich bin sehr stolz!“ Wyk Ben lächelte Jim glücklich zu. Er schien es nicht zu bemerken, wie die übrigen drei Leute reagierten, die an der Unterhaltung beteiligt waren. Ro runzelte mit leichten Vorahnungen die Stirn, Galyans zitronengelbe Augen zeigten einen sardonischen Humor, und Jim verhielt sich nüchtern und reserviert. „Also… das wollte ich dir nur sagen. Ich werde nicht mehr von deiner Zeit in Anspruch nehmen“, sagte Wyk Ben eifrig. Jim starrte auf ihn herab. Es war absurd, daß er wie ein kleiner Hund, der mit dem Schwanz wedelte, seinen Diensteifer und Stolz zeigte. Damit verband sich eine gewisse Unkenntnis der allgemeinen Verhältnisse auf der Thronwelt. Jim konnte nicht verstehen, warum Galyan ein Zusammentreffen mit diesem Mann gewünscht hatte, aber er heftete die Tatsache geistig ab, daß Galyan tatsächlich ein Zusammentreffen zwischen ihm und dem Gouverneur von Alpha Centauri arrangiert hatte. „Noch einmal vielen Dank“, sagte Jim. „Ich bin tatsächlich beschäftigt. Ich bin mit dem Starkianer, der mein Stellvertreter
ist, für eine Übungsstunde verabredet.“ Er sah zu Ro hinüber. „Ro?“ „Schön, dich wiederzutreffen, Jim“, sagte Galyan langsam in einem Tonfall, der der amüsiert schleppend klingenden Stimme Slothiels sehr ähnelte. Er hatte deutlich das erreicht, was er sich von einer direkten Gegenüberstellung von Jim und Wyk Ben erhofft hatte, aber es hatte keinen Sinn, dieser Sache hier und jetzt weiter nachzugehen. Jim drehte sich zu Ro um und streckte seine Hand aus. Sie ergriff sie, und sofort befanden sie sich wieder in seinem Zimmer. „Worum drehte sich das alles?“ fragte Jim. Ro schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich weiß es nicht“, sagte sie unglücklich. „Und wenn auf der Thronwelt etwas passiert, das man nicht versteht, ist das ein Gefahrensignal. Ich werde versuchen, das herauszubekommen, Jim – bis später.“ Sie verschwand hastig. Jim blieb allein zurück und rekonstruierte in seinen Gedanken noch einmal die Begegnung mit Wyk Ben. Ihm kam der Gedanke, es könne die Gefahr bestehen, daß sich die Dinge zu schnell entwickelten und er überrollt wurde. Er sprach laut in dem leeren Raum. „Adok!“ Es dauerte vielleicht drei Sekunden – nicht mehr –, und die Gestalt des Starkianers erschien vor ihm. „Wie geht es dir?“ fragte Adok. „Brauchst du…“ „Nichts“, sagte Jim brüsk. „Adok, gibt es im Bereich der Diener dort unten irgendwelche Bibliotheken?“ „Bibliotheken?“ Einen Moment verzog sich Adoks Gesicht zu dem Ausdruck, den Jim langsam als Äußerung von extremer Verwirrung zu interpretieren lernte. Doch dann hellten sich seine Züge wieder auf. „Ach ja, natürlich, du
meinst ein Lernzentrum. In Ordnung, Jim, ich bringe dich hin. Ich war zwar selbst noch nie da, aber ich weiß, wo es ist.“ Adok wagte sich so weit vor, Jim am Arm zu berühren, und sie standen in dem unterirdischen Park, durch den Jim schon vorher mit Adok gegangen war. Adok zögerte, wandte sich nach links und ging auf eine Seitenstraße zu. „Hier entlang, denke ich“, sagte er. Jim ging hinter ihm her aus dem Park heraus und die Straße hinunter, bis sie zu einer breiten Treppenflucht kamen, die zu einem hohen, offenen Portal in einer Mauer aus polierten braunen Steinen führte. Einige Menschen gingen die Stufen herab oder herauf und betraten das Portal oder kamen aus ihm heraus – alles Diener, keine Starkianer. Jim beobachtete sie genau, wie er das bereits unterwegs bei allen Dienern getan hatte. Nun, als sie die Stufen emporstiegen, wurde seine Aufmerksamkeit belohnt. Als er und Adok gerade die erste Stufe betraten, kam ein Mann, gelbhäutig und schwarzäugig wie Melness, aus dem Portal. Als er die Treppe hinunterging, richteten sich seine Augen auf einen der Diener, der gerade eintrat – einer der kleinen, braunen Männer mit dem langen, glatten Haar. Der braune Mann fuhr sich scheinbar zufällig mit der Handfläche über die Taille in Höhe des Gürtels. Der gelbhäutige Mann, der wie Melness aussah, wechselte seinen Schritt nicht und beantwortete die Geste, indem er lässig die rechte Hand hob und zwei Finger an den Oberarm legte. Es dauerte nur einen Augenblick, und er ließ seinen Arm wieder an seine Seite herabsinken. Die beiden gingen mit einer anderen Geste aneinander vorbei, ohne sich anzusehen, und entfernten sich in entgegengesetzten Richtungen. „Hast du das gesehen?“ fragte Jim mit leiser Stimme Adok, als sie das Portal betraten. „Diese Gesten? Worum ging es da?“
Adok ließ mit seiner Antwort ungewöhnlich lange auf sich warten, so daß Jim sich umdrehte, um ihn anzusehen. Soweit Jim das erkennen konnte, hatte Adok eine ernste Miene aufgesetzt. „Das ist merkwürdig“, sagte der Starkianer fast zu sich selbst. „In der letzten Zeit hat es davon tatsächlich mehr gegeben.“ Er hob seine Augen zu Jim hoch. „Das ist ihre stumme Sprache.“ „Was haben sie denn gesagt?“ fragte Jim. Adok schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Es ist eine alte Sprache – die Hochgeborenen haben davon zum ersten Mal vor Tausenden von Jahren bei der ersten Diener-Revolte erfahren. Die Diener haben sie schon immer benutzt, aber wir Starkianer waren davon ausgeschlossen. Das kommt daher, daß wir immer loyal dem Kaiser gegenüber sind.“ „Aha, so ist das“, sagte Jim. Er verlor sich in seinen Gedanken. Sie gingen durch eine große Halle aus dem gleichen polierten braunen Stein in einen ausgedehnten Innenraum, der Reihe um Reihe von rotierenden, leuchtenden Kugeln angefüllt war – wie kleine Sonnen. Sie rotierten – wenn sie das wirklich taten – zu schnell, um der Bewegung mit dem Auge folgen zu können, bewegten sich aber offensichtlich ständig. Adok blieb stehen. Er zeigte auf die Miniatursonnen. „Das ist eines der Archive“, sagte er. „Ich weiß nicht, welches, weil sie nicht für unsere Benutzung vorgesehen sind, sondern eines der überirdischen Lernzentren für junge Hochgeborene speisen. Auf der rechten Seite dort hinten gibt es aber Lesenischen, in denen man die gespeicherten Informationen abrufen kann, und zwar nicht nur von hier, sondern aus allen Archiven der Thronwelt.“
Er führte Jim aus dem Raum mit den Miniatursonnen in einen langen, schmalen Korridor mit einer Reihe von offenen Türen auf seiner rechten Seite. Adok ging vor ihm her durch den Korridor und in eine der Türen hinein. Sie führte in einen kleinen Raum – der erste, der nicht bereits benutzt wurde – mit einem Stuhl und einer Art Tisch oder Schreibtisch mit einer erhabenen Fläche, die in einem Winkel von fünfundvierzig Grad anstieg. Jim setzte sich vor diese Fläche. Bis auf zwei kleine schwarze Knöpfe oder Rädchen an ihrer Unterkante schien sie völlig leer zu sein. Adok aber reichte über Jims Schulter und berührte einen der Knöpfe, und aus der schrägen Fläche wurde sofort ein weißer Bildschirm. In seiner Mitte hob sich schwarz ein einziges Wort in der Kurzschrift des Reiches ab. Das Wort hieß bereit. „Sprich damit“, sagte Adok. „Ich möchte die Berichte über die Expeditionen des Reichs einsehen, die in den hiesigen Archiven vorhanden sind“, sagte Jim langsam zu dem Schirm. „Ich möchte dabei besonders über jene informiert werden, die über…“ – hier gab er die Bezeichnung des Reichs für Alpha Centauri – „… hinausgegangen sind.“ Die Buchstaben der Reichsschrift, die für bereit standen, verschwanden von dem Schirm. An ihre Stelle trat eine geschriebene Zeile, die sich langsam von links nach rechts bewegte. Jim saß da und las. Es hatte den Anschein, als sei das Abrufsystem des Archivs nicht dafür ausgerüstet, die von ihm gewünschte Information direkt herauszusuchen. Es konnte ihm nur eine riesige Fülle von Angaben über solche Expeditionen liefern, die in der Vergangenheit in die allgemeine Richtung, in der Alpha Centauri von der Thronwelt aus lag, gestartet worden waren. Jims Aufgabe war es nun, alle Berichte über
Expeditionen in diese allgemeine Richtung durchzusuchen, wenn er die finden wollte, die bis zur Erde gekommen war – wenn das überhaupt jemals einer Expedition gelungen war. Jim war es klar, daß diese Aufgabe nicht in einer Sitzung zu bewältigen war. Das würde Stunden, Tage, vielleicht sogar Wochen dauern. „Ist es möglich, das hier zu beschleunigen?“ fragte er und sah zu Adok auf. Adok streckte seine Hand nach dem zweiten Knopf aus und drehte an ihm. Die Schriftzeile begann, sich schneller über den Schirm zu bewegen. Adoks Hand senkte sich herab, und Jim nahm den Knopf selbst in die Hand. Er beschleunigte die Schrift weiter, bis der Knopf bis zum Anschlag durchgedreht worden war und damit offensichtlich seine größtmögliche Geschwindigkeit erreicht hatte. Adok gab ein leises Geräusch von sich, das sich wie ein schlecht unterdrücktes überraschtes Grunzen anhörte. „Was gibt’s?“ fragte Jim, ohne seine Augen von der schnell vorbeihuschenden Zeile zu heben. „Du liest fast so schnell wie ein Hochgeborener“, sagte Adok. Jim machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Er blieb bewegungslos vor dem Schirm sitzen und bemerkte kaum, wie die Zeit verstrich, bis das Ende eines Satzes von Berichten zu Ende kam und eine kurze Unterbrechung auftrat, bis der nächste begann. In diesem Augenblick bemerkte er, daß er fast verkrampft dasaß, weil er sich so lange nicht von der Stelle gerührt hatte. Er richtete sich auf, schaltete die Maschine für einen Moment aus und sah sich um. Unvermittelt drang in sein Bewußtsein ein, daß Adok noch immer neben ihm stand. Der Starkianer hatte sich offensichtlich auch nicht gerührt. „Hast du die ganze Zeit hier gewartet?“ fragte Jim. „Wie lange habe ich gelesen?“
„Einige Zeit“, sagte Adok ohne sichtbare Emotion. Er nannte Jim einen Zeitraum in den Einheiten des Reichs, der etwas mehr als vier Stunden entsprach. Jim schüttelte den Kopf und stand auf. Doch dann fiel ihm etwas ein, und er setzte sich wieder hin, um den Schirm wieder anzuschalten. Er bat um Informationen über die stumme Sprache. Der Schirm antwortet ihm – aber nicht mit einer stummen Sprache, sondern mit zweiundfünfzig. Offensichtlich hatten zweiundfünfzig Revolten der Diener stattgefunden, über die Aufzeichnungen existierten. Jim machte sich eine geistige Notiz, sich bei seinem nächsten Besuch des Archivs über diese Revolten zu informieren. Allem Anschein nach hatten die Hochgeborenen nach jedem Aufstand Nachforschungen angestellt und waren den Geheimnissen der jeweiligen stummen Sprache auf die Spur gekommen. Als sich jedoch einige Hunderte oder Tausende von Jahren später die nächste Revolte erhob, hatte sich in der Zwischenzeit eine völlig neue Sprache entwickelt. Es handelte sich dabei im Grund weniger um Sprachen als um eine Reihe von Zeichen – wie die Zeichen, die der Werfer und der Fänger in einem Baseballspiel oder die Spieler und der Trainer am Spielfeldrand austauschen. Man rieb die Finger aneinander oder kratzte sich an der Nase, und das war ein deutlich sichtbares Signal – oder ein Teil der jeweiligen stummen Sprache. Das Problem lag nicht darin, das Signal wahrzunehmen, sondern es zu interpretieren. Es war die Frage, was es dieses Mal bedeutete. Jim überflog die Angaben über die stumme Sprache, schaltete die Maschine aus und stand auf. Er und Adok verließen das Archiv und gingen unter Jims Führung aus dem Gebäude, die Treppen hinunter und zurück in den Wohnbereich in der Nähe des Parks.
Sie spazierten fast eine Stunde lang durch die Straßen, sahen sich die Läden und Vergnügungsbetriebe an, und Jim achtete im stillen auf weitere Zeichen und Signale aus der neuesten stummen Sprache. Er sah viele davon, aber keines von ihnen ergab nach den vorausgegangenen zweiundfünfzig Versionen der Sprache einen Sinn. Er prägte sich trotzdem sorgfältig jedes Signal ein, das er sah, und merkte sich auch die Bedingungen, unter denen es verwendet wurde. Nach einiger Zeit verließ er Adok und kehrte in sein eigenes Zimmer zurück. Er war kaum fünf Minuten zurück, als Ro in Begleitung von Slothiel erschien. Jim nahm sich vor, Ro irgendwann danach zu fragen, welches Warnsystem ihr mitgeteilt hatte, daß er in sein Quartier zurückgekehrt war, und wie man ihm ausweichen oder es abschalten konnte. Als er jedoch aufstand, um die beiden zu begrüßen, stellte er diesen Gedanken zurück, als er den leicht besorgten Gesichtsausdruck bei Ro und den grimmigen Humor bei Slothiel bemerkte. „Ich nehme an, es ist etwas passiert?“ fragte Jim. „Deine Annahme ist richtig“, sagte Slothiel. „Deine Adoption wird genehmigt, und Galyan hat gerade den Vorschlag gemacht, daß ich zu deinen Ehren eine große Party geben soll. Mir war gar nicht klar, daß er so sehr mit dir befreundet ist. Also, was ist deiner Meinung nach der Grund für ein solches Verhalten?“ „Wenn Sie solch eine Party geben“, sagte Jim, „wird der Kaiser dann auch daran teilnehmen?“ „Der Kaiser und Vhotan“, antwortete Slothiel. „Ja, sie werden fast sicher kommen. Warum?“ „Weil“, sagte Jim, „das der Grund ist, aus dem Galyan Ihnen vorgeschlagen hat, die Party zu geben.“
Slothiel runzelte die Stirn. Er tat das auf eine leicht hochnäsige Art und deutete damit an, ein Angehöriger der niedrigeren Rassen solle keine Äußerungen von sich geben, die ein Hochgeborener nicht völlig verstehen kann. „Warum sagst du das?“ fragte Slothiel. „Weil Melness ein sehr kluger Mann ist“, sagte Jim.
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Slothiel richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Das reicht jetzt, Wolfling!“ bellte er. „Das sind jetzt genug Frage-und-Antwort-Spielchen!“ „Jim…“, begann Ro warnend. „Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Jim und sah den größeren Mann fest an. „Die Erklärung betrifft nicht mich – sie betrifft den Kaiser, und deshalb werde ich sie nicht Ihnen geben. Sie werden mich auch nicht dazu zwingen. Erstens einmal können Sie das nicht, und zweitens wäre es von Ihnen unhöflich, es zu versuchen, da Sie es sind, der als Sponsor für meine Adoption auftritt.“ Slothiel stand völlig unbeweglich. „Glauben Sie mir“, sagte Jim, dieses Mal aber eindringlich, „wenn es mir freistünde, Ihnen zu antworten, würde ich es tun. Ich darf Ihnen vielleicht etwas versprechen. Wenn Ihnen bis zum Ende der Party der Kaiser oder Vhotan noch nicht die Zusicherung gegeben haben, daß ich gute Gründe dafür hatte, Ihnen nichts zu sagen, werde ich jegliche Fragen zu dem gesamten Bereich beantworten, die Sie mir zu stellen haben. Einverstanden?“ Für eine weitere lange Sekunde blieb Slothiel stocksteif stehen und sah mit brennenden Augen auf Jim herab. Dann verschwand die Spannung abrupt von ihm, und er lächelte sein altes, träges Lächeln. „Weißt du was, Jim, damit hast du mich festgenagelt“, sagte er mit schleppender Stimme. „Ich kann wohl kaum genau den niedrigeren Menschen unter Zwang befragen, dessen Sponsor für die Adoption ich bin, oder? Besonders, weil ich die
Tatsache unmöglich geheimhalten könnte. Du wirst es einmal gut verstehen, um Punkte zu wetten, wenn du durch einen seltsamen Zufall tatsächlich einmal adoptiert werden solltest. Na gut, behalte dein Geheimnis für dich – für jetzt.“ Er verschwand. „Jim“, sagte Ro, „ich sorge mich um dich.“ Aus irgendeinem Grund nahmen die Worte für ihn eine ungewöhnliche Bedeutung an. Er sah sie scharf an und erkannte den Grund dafür. Sie sah ihn besorgt an, aber es war eine andere Art von Sorge als die, die sie ihren Haustieren angedeihen ließ und die sie bisher für ihn gehegt hatte. Auch ihr Tonfall ließ einen entsprechenden Unterschied hören. Er war plötzlich unerwartet tief berührt. Niemand, Mann oder Frau, hatte sich seit sehr, sehr langer Zeit Sorgen um ihn gemacht. „Kannst du nicht wenigstens mir verraten, warum du sagst, daß Galyan die Party vorschlägt, weil Melness ein sehr kluger Mann ist?“ fragte Ro. „Das hört sich so an, als wolltest du sagen, daß es zwischen Galyan und Melness eine Verbindung gibt. Das ist aber doch zwischen einem Hochgeborenen und einem Mitglied der niedrigeren Rassen unmöglich.“ „Und wie steht es zwischen dir und mir?“ sagte Jim, der sich an ihren neuen Tonfall erinnerte. Sie wurde rot, aber, wie er inzwischen erfahren hatte, bedeutete das nicht so viel, wie es das vielleicht bei einer anderen Frau getan hätte. „Ich bin anders!“ sagte sie. „Galyan aber nicht. Er gehört zu den Höchsten der Hochgeborenen. Nicht nur durch Geburt – auch in seiner Haltung.“ „Aber er hat sich doch immer bemüht, Menschen von niedrigeren Rassen so viel wie möglich einzusetzen.“ „Das ist wahr…“ Sie überlegte. Dann sah sie wieder zu ihm auf. „Aber du hast mir immer noch nicht erklärt…“
„Da gibt es nicht viel zu erklären“, sagte Jim. „Nur so viel: Ich habe gesagt, das betrifft eher den Kaiser als mich, und dazu stehe ich. Was Melness und seine Klugheit betrifft, so kann ich nur sagen, daß Menschen auch aus zuviel Klugheit Fehler machen können, ebenso wie aus Dummheit. Sie können sich zu sehr bemühen, etwas zu verstecken. Im Fall von Melness sieht das so aus, daß er sich sehr bemüht hat, den Anschein zu erwecken, als passe es ihm ganz und gar nicht, daß er für mich die Verantwortung zu übernehmen hatte, als Adok mich zum ersten Mal zu ihm brachte.“ Ro runzelte die Stirn. „Aber warum sollte es ihm nicht passen…“ „Das kann natürlich eine ganze Menge Gründe haben“, sagte Jim. „Um nur einen zu nennen – und das ist die einfachste Antwort –, die Tatsache, daß es ihm nicht gefällt, was hier passiert. Ein Wolfling wie ich bekommt einen Sponsor für eine Adoption, während ein Mann wie er nie diese Chance bekommen würde, weil er als Diener zu nützlich ist. Auf der anderen Seite hätte Melness viel zu klug sein müssen, um mir diese ablehnende Haltung zu zeigen, besonders deshalb, weil die Möglichkeit besteht, daß aus mir ein Hochgeborener wird, der es ihm dann mit gleicher Münze heimzahlen kann.“ „Warum hat er es dann getan?“ fragte Ro. „Vielleicht hat er gedacht, ich bin ein Spion, den die Hochgeborenen ausgeschickt haben, um die Welt der Diener auszuforschen“, sagte Jim. „Außerdem hat er vielleicht einen Grund dafür gebraucht, um mich zu schikanieren und zu beobachten, während ich mich im unterirdischen Bereich der Diener aufhalte, und dieser Grund hätte mich dann nicht auf den Gedanken gebracht, er hätte mich als Spion im Verdacht.“ „Aber warum sollst du ihm denn nachspionieren?“ fragte Ro. „Das weiß ich noch nicht“, sagte Jim.
„Aber warum meinst du, das hat etwas mit dem Kaiser und mit Galyan zu tun?“ fragte Ro. Jim lächelte auf sie herab. „Du willst zuviel zu schnell wissen“, sagte er. „Du willst eigentlich schon mehr wissen, als ich selbst weiß. Siehst du jetzt ein, warum ich mich mit Slothiel nicht auf Fragen und Antworten einlassen wollte?“ Sie nickte langsam. Dann sah sie ihn wieder besorgt an. „Jim…“, sagte sie unerwartet. „Was warst du von Beruf? Ich meine, außer Stierkämpfer, als du noch auf deiner eigenen Welt unter deinen eigenen Leuten gelebt hast?“ „Ich war Anthropologe“, sagte er ihr. „Zum Stierkampf bin ich… erst später gekommen.“ Sie runzelte verwirrt die Stirn. Soweit er nämlich wußte, existierte das Wort Anthropologe in der Sprache des Reichs nicht, und so hatte er es einfach wörtlich aus seiner lateinischen Wurzel mit Menschenkunde übersetzt. „Ich habe mich mit dem primitiven Hintergrund und Ursprung des Menschen befaßt“, sagte er. „Besonders den Wurzeln der Menschheit und ihrer Kulturen – aller Kulturen – und ihrer Verbindung mit der grundsätzlichen Natur des Menschen.“ Er konnte fast sehen, wie sie blitzschnell den riesigen Erinnerungsschatz der Hochgeborenen absuchte. Sie strahlte auf. „Ach, du meinst – Anthropologie!“ Sie nannte ihm das Wort aus der Reichssprache, nach dem er gesucht hatte. Dann nahm ihr Gesicht einen sanften Ausdruck an, und sie berührte seinen Arm. „Jim! Armer Jim – kein Wunder!“ Wieder – wie er das schon so oft hatte tun müssen – mußte er den Impuls unterdrücken, ihr zuzulächeln. Er hatte sich bisher im Verlauf seines Lebens schon sehr unterschiedlich eingeschätzt, aber bis jetzt war es ihm noch nie in den Sinn
gekommen, sich für ,arm’ zu halten – in keiner Bedeutung des Wortes. „Kein Wunder?“ wiederholte er. „Ich meine, es ist kein Wunder, daß du bei jedem Hochgeborenen einen so kalten und distanzierten Eindruck machst“, sagte sie. „Oh, damit meine ich nicht mich! Ich meine die anderen. Es ist aber kein Wunder, daß du dich so verhältst. Als ihr von uns und dem Reich erfahren habt, hat das für euch das Ende aller eurer Studien bedeutet, nicht wahr? Ihr mußtet euch mit der Tatsache abfinden, daß ihr nicht von den Affen und Urmenschen eurer eigenen Welt abstammt. Das hat bedeutet, daß ihr die gesamte Arbeit, die ihr bis dahin getan hattet, wegwerfen mußtet.“ „Nicht ganz“, sagte Jim. „Jim, ich darf dir etwas sagen“, meinte sie. „Uns ist genau das gleiche passiert, weißt du. Ich meine uns – den Hochgeborenen. Vor einigen tausend Jahren haben die früheren Hochgeborenen geglaubt, daß sie von den Ureinwohnern dieser einen Thronwelt abstammen. Schließlich mußten sie sich eingestehen, daß noch nicht einmal das wahr war. Die Tierformen haben sich auf allen Welten, die von unseren Leuten besiedelt worden waren, zu sehr geglichen. Zum Schluß mußten sogar wir uns mit der Tatsache abfinden, daß offensichtlich alle diese Welten mit den gemeinsamen Vorfahren der gegenwärtigen Fauna und Flora ausgestattet worden sind. Dafür muß eine intelligente Rasse verantwortlich sein, die noch weit älter als selbst wir ist. Darüber hinaus gibt es noch recht deutliche Anzeichen dafür, daß unsere Vorfahren, mit denen diese Welt aufzuwarten hat, von einer überlegenen Rasse von Urmenschen abstammen, die von einem anderen Ort hierher gebracht wurde. Wie du also siehst, mußten auch wir uns mit der Tatsache abfinden, daß wir nicht die ersten intelligenten Wesen im Universum waren.“
Dieses Mal gestattete sich Jim ein Lächeln. „Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte er. „Wenn es überhaupt ein Schock für mich war, von der Existenz des Reichs zu erfahren, dann habe ich ihn inzwischen überwunden.“ Seiner Meinung nach hatte er sie beruhigt. Es stellte sich heraus, daß die Party zur Feier der Sponsorenschaft, die Slothiel für seine Adoption übernommen hatte, in knapp drei Wochen steigen sollte. Jim verbrachte seine Zeit damit, sich bei Adok über Gebräuche und Kriegsführung der Starkianer zu informieren. Dann und wann kam er seinen wenigen nominellen Verpflichtungen bei der Militärkaste nach und arbeitete in den unterirdischen Archiven, in die Adok ihn eingeführt hatte. In der Zwischenzeit ging er in den unterirdischen Bereichen der Diener umher und beobachtete und prägte sich alle Signale ein, die er bemerkte. In seiner Freizeit versuchte er, diese Signale aufzuzeichnen und sie in eine zusammenhängende Form zu bringen, die ihm vielleicht gestatten würde, sie zu verstehen. Zwei Tatsachen halfen ihm dabei. Zunächst einmal wußte er als Anthropologe, daß jede Zeichensprache ihre Wurzeln in der gemeinsamen, grundsätzlichen Natur des Menschen hatte. Einer der frühen Forscher hatte über seine diesbezüglichen Erlebnisse während seines Aufenthalts bei nordamerikanischen Eskimos berichtet: Man brauche niemanden, um die grundsätzlichen Kommunikationssignale zu lernen – man kannte sie bereits. Die Drohgebärde, die Aufforderung herzukommen, die Geste für Hunger, nämlich auf den Mund zu zeigen und dann den Magen zu reiben – alle diese und noch eine Menge mehr kamen jedem Menschen instinktiv in den Sinn, der versuchte, mit Handsignalen oder Körpersprache zu kommunizieren.
Zweitens war eine Sprache, die hauptsächlich aus Handzeichen bestand, notwendigerweise beschränkt. Die Botschaften, die mit einer solchen Sprache vermittelt wurden, hingen zwangsläufig in großem Ausmaß von dem Kontext ab, in dem die betreffende Geste vollzogen wurde. Daher mußte das gleiche Signal für jeden Beobachter, der über lange Zeiträume darauf achtete, häufig erscheinen. Daher waren Jims Bemühungen letztlich von Erfolg gekrönt. Im Grund dauerte es kaum mehr als zwei Wochen, bis er das Erkennungszeichen identifizierte – die Handbewegung, die als Gruß und zur gleichen Zeit als Erkennungszeichen für die Benutzer der stummen Sprache diente. Es bestand aus nicht mehr als aus einer Berührung der Spitze des rechten Daumens mit der Seite des benachbarten Zeigefingers. Von diesem Punkt an enthüllten sich verschiedene Handzeichen ihm schnell in ihrer Bedeutung. Seine Suche in den Archiven nach einer Expedition von der Thronwelt – oder auch von einer der damals existierenden Koloniewelten – aus in die allgemeine Richtung der Erde und ihr Sonnensystem war jedoch nicht so erfolgreich. Vielleicht gab es Aufzeichnungen über eine solche Expedition in den Archiven, vielleicht aber auch nicht. Die Aufzeichnungen, die Jim selbst dazu zu überprüfen hatte, um alle Möglichkeiten abzudecken, waren einfach zu umfangreich. Es war im Grunde etwa so, als hätte er sich vorgenommen, den gesamten Bestand einer kleinen öffentlichen Bibliothek durchzulesen. „Und außerdem“, sagte Adok, als Jim eines Tages endlich das Problem ihm gegenüber aussprach, „mußt du bedenken, daß du sämtliche Aufzeichnungen, die du einsehen darfst, durchlesen könntest und vielleicht trotzdem nichts von einer solchen Expedition erfahren würdest, selbst wenn es Aufzeichnungen darüber gibt.“
Sie gingen gerade durch einen unterirdischen Park. Jim blieb plötzlich stehen und drehte sich zu Adok um, der automatisch ebenfalls stehenblieb und sich Jim zuwendete. „Wie war das?“ fragte Jim. „Du hast da gerade etwas gesagt, daß ich nur einen Teil der Archivbestände einsehen darf?“ „Verzeih mir, Jim“, sagte Adok. „Ich weiß natürlich nicht, ob irgendwelche Aufzeichnungen über solche Expeditionen geheim sind. Ich meine nur – woher willst du sicher wissen, ob sie es nicht sind? Und woher willst du außerdem wissen, daß die, nach der du suchst, nicht zu denen gehört, die geheim sind?“ „Das kann ich natürlich nicht“, sagte Jim. „Mich beunruhigt nur der Gedanke, daß ich nicht auf die Idee gekommen bin, daß irgendein Teil der Geschichte dieses Planeten nicht voll zugänglich ist.“ Er dachte einen Moment lang nach. „Wer hat denn Zugang zu den geheimen Beständen des Archivs?“ „Na“, sagte Adok in dem leicht überraschten Tonfall, der für ihn der stärkste Ausdruck dieses Gefühls war, „alle Hochgeborenen haben selbstverständlich Zugang zu allen Informationen. Da du sowohl über der Erde als auch unterirdisch gehen kannst, wohin du willst, brauchst du eigentlich nur zu einem der Lernzentren für die Kinder der Hochgeborenen zu gehen…“ Er brach plötzlich ab. „Nein“, sagte er mit leiserer Stimme. „Daran habe ich nicht gedacht. Du kannst natürlich zu einem der Lernzentren für die Hochgeborenen gehen, aber das wird dir nichts nützen.“ „Du meinst, die Hochgeborenen werden mir die Benutzung ihrer Lernzentren nicht gestatten?“ fragte Jim. Er beobachtete Adok genau. Auf der Thronwelt war nichts sicher, auch nicht die durchsichtige Ehrlichkeit einer Person wie Adok. Wenn Adok ihm nun sagte, es gäbe so etwas wie eine Bestimmung dagegen, daß er das Lernzentrum benutzte, dann war das erst
das zweite Verbot auf einer einzigartig verbotslosen Welt, auf das er auf der Planetenoberfläche gestoßen war. Die erste war selbstverständlich die Bestimmung, daß niemand den Kaiser aufsuchen durfte, wenn er nicht ausdrücklich gerufen wurde. Adok aber schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte Adok. „Ich glaube nicht, daß dich jemand aufhalten würde. Es ist nur so, daß du die Lesegeräte an der Oberfläche nicht benutzen können wirst. Sie sind nämlich für den Gebrauch der jungen Hochgeborenen eingestellt, und die lesen so schnell, daß normale Menschen nicht folgen können.“ „Du hast mich doch lesen sehen“, sagte Jim. „Lesen sie noch schneller?“ „Viel schneller“, sagte Adok. Er schüttelte wieder den Kopf. „Viel, viel schneller.“ „Das macht nichts“, sagte Jim. „Bring mich zu einem der Lernzentren.“ Adok zuckte die Achseln nicht – eigentlich war es fraglich, ob er zu einer solchen Geste an seinen Schultern nicht ohnehin zu viele Muskeln hatte, selbst wenn seine Natur sie zugelassen hätte. Sofort befanden sie sich über der Erde in einem großen Gebäude, das einer enormen Loggia ähnelte – oder vielmehr einem griechischen Tempel mit einem Dach, Säulen, auf denen es ruhte, einem Fußboden, aber ohne deutliche Außenwände. Durch die Säulen waren ein grüner Rasen und ein blauer Himmel sichtbar. Auf dem Boden saßen auf verstreut liegenden Polstern Kinder aller Altersgruppen, die offensichtlich von Hochgeborenen abstammten. Jedes von ihnen sah auf einen Schirm, der geneigt vor ihnen in der Luft schwebte. Wenn sich die Kinder auf ihren Polstern bewegten, folgte er ihren Bewegungen, so daß er immer mit dem gleichen Neigungswinkel von fünfundvierzig Grad vor ihnen in der Luft hing, wie es Jim von den Lesenischen im unterirdischen Archiv her vertraut war.
Einige der Kinder sahen kurz zu Jim und Adok hinüber, aber keines von ihnen widmete den Neuankömmlingen mehr als eine Sekunde Aufmerksamkeit. Jim kam zu der Überzeugung, die Tatsache, daß weder er noch Adok Hochgeborene waren, machte sie beide praktisch unsichtbar, solange sie nicht gebraucht wurden. Jim ging zu einem der Kinder hinüber und stellte sich dicht dahinter – ein Junge, der so groß wie Jim selbst war, jedoch einen extrem dünnen Körper und das Gesicht eines Zehn- oder Zwölfjährigen hatte. Vor dem Jungen lief die gleiche Linie von Buchstaben über den Schirm, an die sich Jim unter der Erde gewöhnt hatte. Jim sah sich diese Linie an. Sie bewegte sich mit enormer Geschwindigkeit unscharf über den Schirm. Jim runzelte die Stirn, starrte genau darauf und versuchte, seine Wahrnehmung der Geschwindigkeit anzupassen, um den unregelmäßigen, geschwungenen schwarzen Strich in lesbare Buchstaben zu verwandeln. Erstaunlicherweise gelang ihm das nicht. Plötzlich durchzuckte ihn ein Gefühl, das Zorn sehr nahe kam. Er war noch nie auf etwas gestoßen, das jemand anders schaffte, das er innerhalb der Grenzen seiner eigenen physischen Fähigkeiten nicht ebenfalls zustande brachte. Er war sich darüber hinaus völlig sicher, daß das Problem nicht in seiner eigenen Aufnahmefähigkeit begründet lag. Seine Augen sollten ebenso wie die Augen jedes Hochgeborenen in der Lage sein, die verschwommene Linie in Buchstaben aufzulösen. Das Problem lag in seinem Gehirn, das es ablehnte, die Informationen in der Geschwindigkeit zu entziffern, in der sie angeboten wurden. Grimmig unternahm er eine innerliche Anstrengung. Das Sonnenlicht, der Rasen, die Säulen, die Decke und der Fußboden – sogar der Junge selbst, der ungestört weiterlas – verschwanden aus seinem Gesichtsfeld. Jim richtete seine
gesamte Aufmerksamkeit auf die Schriftlinie vor ihm – allein auf die Linie. Der Druck seiner Bemühungen, sie aufzulösen, legte sich wie eine Schnur, die eng zusammengezogen wird, um seine Schläfen. Enger, immer enger… Eine Sekunde lang hätte er es fast geschafft. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als könne er in der Linie einzelne Buchstaben erkennen, und er hatte den Eindruck, als habe der Text etwas mit der Organisation der Starkianer selbst zu tun. Doch dann verwischte sich wieder alles – es war seinem Körper einfach unmöglich, die Konzentration beizubehalten. Er schwankte ein wenig, und der Rest des Universums mit den Säulen, Wänden und der Decke erschien wieder in seinem Blickfeld. Plötzlich bemerkte er, daß der Junge auf dem Polster endlich seine Anwesenheit registriert hatte. Der junge Hochgeborene hatte aufgehört zu lesen und starrte Jim mit einem deutlichen Ausdruck des Erstaunens auf seinem Gesicht an. „Wer bist du…?“ begann der Junge mit heller Stimme, aber Jim gab ihm keine Antwort, sondern berührte Adok am Arm und transportierte sie beide zurück in Jims Quartier, bevor die Frage beendet werden konnte. In dem vertrauten Raum holte Jim einen Augenblick lang tief Luft und setzte sich dann auf eines der Polster. Er bedeutete Adok, auch er solle sich hinsetzen, und der Starkianer gehorchte. Nach kurzer Zeit beruhigte sich Jims Atmung, und er lächelte leicht. Er sah zu Adok hinüber. „Du sagst ja gar nicht: ,Ich habe es dir ja gesagt’!“ sagte Jim. Adok schüttelte den Kopf mit einer Geste, die deutlich ausdrücken sollte, daß es ihm nicht zustand, solche Dinge zu sagen. „Na ja, du hast ja recht gehabt“, sagte Jim. Er wurde nachdenklich. „Aber nicht aus dem Grund, den du dir überlegt hast. Was mich gerade aufgehalten hat, ist die Tatsache, daß
eure Sprache nicht meine Muttersprache ist. Wenn das ein Text in meiner eigenen Sprache gewesen wäre, hätte ich ihn lesen können.“ Er wandte seinen Kopf abrupt von Adok ab und sprach ins Leere. „Ro?“ sagte er. Adok und er warteten, aber es kam keine Antwort, und Ro erschien nicht. Das war nicht überraschend. Ro war eine Hochgeborene und hatte im Gegensatz zu Adok, Messen einzige Verpflichtung es war, auf Jims Ruf zu warten und ihm zu dienen, ihre eigenen Aufgaben und Verpflichtungen. Jim transportierte sich in Ros Apartment. Als er es leer fand, ließ er ihr einen Zettel zurück, in dem er sie bat, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, sobald sie zurückkam. Ungefähr zweieinhalb Stunden später erschien sie plötzlich neben ihm und Adok im Hauptraum seines Quartiers. „Das wird eine große Party“, sagte sie übergangslos. „Jeder wird kommen. Man wird den großen Versammlungsraum benutzen müssen. Es muß sich herumgesprochen haben, daß es mit dieser Feier etwas Besonderes auf sich hat…“ Sie brach plötzlich ab. „Das hatte ich vergessen. Du wolltest mich aus irgendeinem Grund sprechen, Jim?“ „Richtig“, sagte Jim. „Könntest du einen von diesen Leseschirmen aus den Lernzentren in deinem Apartment aufstellen lassen?“ „Aber natürlich!“ sagte Ro. „Möchtest du einen benutzen, Jim? Warum läßt du dir nicht einen Schirm bei dir hier aufstellen?“ „Mir wäre es lieber, wenn es nicht allgemein bekannt ist, daß ich damit arbeite“, sagte Jim. „Es ist doch wohl nicht zu ungewöhnlich, daß jemand wie du einen solchen Schirm bei sich zu Hause haben möchte?“
„Nicht ungewöhnlich. Nein…“, sagte Ro. „Wenn du es so haben möchtest, dann wird es natürlich auch so gemacht. Aber worum geht es denn?“ Jim berichtete ihr von seinem Versuch, mit der gleichen Geschwindigkeit wie der junge Hochgeborene zu lesen, hinter dem er in dem Lernzentrum gestanden hatte. „Und du meinst, deine Lesegeschwindigkeit wird sich durch Übung erhöhen?“ fragte Ro. Sie runzelte die Stirn. „Vielleicht solltest du dir nicht zuviel erhoffen…“ „Das tue ich nicht“, sagte Jim. Innerhalb von wenigen Stunden war der Schirm eingerichtet und schwebte in einem der weniger benutzten Räume von Ros Apartment. Von da an verbrachte Jim die Zeit, die er vorher für das Archiv in dem unterirdischen Bereich verwendet hatte, in Ros Apartment. Im Verlauf der nächsten Woche machte er jedoch kaum Fortschritte. Er gab es völlig auf und benutzte die letzten Tage vor der Party damit, mit Adok in dem unterirdischen Dienstbotenbereich umherzuwandern und die stumme Sprache zu beobachten, die dort im Gebrauch war. Er verstand sie inzwischen völlig, aber lästigerweise war das meiste, was er aufnahm, durch Handzeichen weitergegebener Klatsch, aber auch Klatsch konnte sich durchaus als nützlich erweisen, wenn er richtig gesammelt und ausgewertet wurde. Jim kehrte von dem letzten dieser Ausflüge nur ungefähr eine Stunde vor der Party zurück. Er fand in dem Hauptraum seines Quartiers Lorava vor, der dort stand und auf ihn wartete. „Vhotan erwartet dich“, sagte Lorava abrupt, als Jim erschien. Ohne weitere Vorwarnung fand sich Jim zusammen mit Lorava in einem Raum wieder, in dem er bisher noch nicht gewesen war. Adok stand an seiner anderen Seite. Die
Einladung war also offensichtlich auch an den Starkianer ergangen. Vhotan saß auf einem Polster vor einer in der Luft schwebenden Platte, an deren Oberseite einige Knöpfe in verschiedenen Farben und Formen angebracht waren. Er drückte scheinbar ziellos diese Knöpfe oder drehte an ihnen, tat das aber mit einem Ernst und einer Intensität, die andeuteten, daß seine Handlungen keineswegs unwichtig waren. Trotzdem unterbrach er seine Tätigkeit bei ihrem Erscheinen, erhob sich von seinem Polster und kam zu Jim herüber. „Dich brauche ich etwas später, Lorava!“ sagte er. Der dünne, junge Hochgeborene verschwand. „Wolfling“, sagte Vhotan zu Jim, und seine gelblichen Augenbrauen zogen sich zusammen, „der Kaiser wird an deiner Party teilnehmen.“ „Ich glaube nicht, daß das meine Party ist“, antwortete Jim. „Meiner Ansicht nach ist das Slothiels Party.“ Vhotan wischte den Einwand mit einer kurzen Bewegung seiner schmalen Hand zur Seite. „Du bist der Anlaß dafür“, sagte er. „Und du bist der Grund, warum der Kaiser daran teilnehmen will. Er möchte sich noch einmal mit dir unterhalten.“ „Selbstverständlich“, sagte Jim. „Ich kann jederzeit kommen, wenn der Kaiser mich rufen möchte. Dazu bedarf es keiner Party.“ „Er zeigt sich in der Öffentlichkeit von seiner besten Seite!“ sagte Vhotan scharf. „Aber das ist jetzt gleich. Es geht darum, daß der Kaiser während der Party mit dir sprechen will. Er wird dich zur Seite nehmen und dir wahrscheinlich eine Menge Fragen stellen wollen.“ Vhotan zögerte.
„Ich werde gern jede Frage des Kaisers beantworten“, sagte Jim. „Ja… genau das wirst du tun“, sagte Vhotan mürrisch. „Du mußt jede seiner Fragen vollständig beantworten. Verstehst du? Er ist der Kaiser, und ich möchte, daß du seine Fragen so lange beantwortest, bis er die nächste stellt, auch wenn er dir nicht seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken scheint. Du sprichst also weiter, bis er die nächste Frage stellt oder dir sagt, du sollst still sein. Verstehst du?“ „Völlig“, sagte Jim. Er sah in die zitronengelben Augen des älteren Hochgeborenen. „Ja. Na gut“, sagte Vhotan, drehte sich abrupt um, ging zu seiner Konsole von Knöpfen zurück und setzte sich wieder davor. „Das ist alles. Du kannst jetzt in deine Unterkunft zurückkehren.“ Seine Finger begannen wieder, sich über die Knöpfe zu bewegen. Jim berührte Adok am Arm und transportierte sich in den Hauptraum seines Apartments zurück. „Was hältst du davon?“ fragte er Adok. „Was ich davon halte?“ fragte Adok langsam zurück. „Ja“, sagte Jim. Er sah den Starkianer scharf an. „Meinst du nicht, daß das, was er da gesagt hat, zum Teil recht merkwürdig war?“ Adoks Gesicht blieb völlig ausdruckslos. „Nichts, wobei es um den Kaiser geht, kann je merkwürdig sein“, sagte er. Seine Stimme klang seltsam abgeklärt. „Der Hochgeborene Vhotan hat dir die Anweisung erteilt, alle Fragen vollständig zu beantworten. Das ist alles. Mehr kann nicht dahinterstecken.“ „Ja“, sagte Jim. „Adok, du bist als mein Stellvertreter an mich ausgeliehen worden, aber du gehörst doch noch immer dem Kaiser, nicht wahr?“
„Das habe ich dir bereits gesagt, Jim“, sagte Adok mit der gleichen ausdruckslosen, abgeklärten Stimme. „Alle Starkianer gehören immer dem Kaiser, ganz gleich, was sie sind oder was sie tun.“ „Ich erinnere mich“, sagte Jim. Er wandte sich ab, um hinauszugehen und die StarkianerGurte und Bänder abzulegen, die er getragen hatte. Er legte das weiße Gewand an, das alle männlichen Hochgeborenen trugen. Er hatte es sich für die Gelegenheit ausgesucht, trug aber keine Wappen oder sonstige Kennzeichen darauf. Er hatte sich kaum angezogen, als Ro erschien. Sie erschien so kurz, nachdem er sich umgezogen hatte, daß er sich zum wiederholten Male fragte, ob er nicht doch stärker überwacht wurde – und zwar nicht nur von Ro, sondern auch von anderen –, als er dachte, aber jetzt hatte er keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. „Hier“, sagte sie etwas atemlos, „zieh das an.“ Er bemerkte, daß sie ihm etwas hinhielt, das wie ein schmales Band aus weißem Satin aussah. Als er zögerte, nahm sie seinen linken Arm und legte es um sein Handgelenk, ohne auf seine Zustimmung zu warten. „Jetzt“, sagte sie, „berühre meines.“ Sie hob ihr eigenes linkes Handgelenk, an dem sie ein ähnliches Stück weißen Stoff trug, das an ihr haftete, als habe es ein Eigenleben. Es war das einzige stoffähnliche Material, das sie trug. Im übrigen war sie von den Schultern bis zu den Knöcheln mit dem gleichen halb durchsichtigen, wolkigen Material bekleidet, wie er es bei Afuan und den anderen hochgeborenen Frauen bei dem Stierkampf auf Alpha Centauri III gesehen hatte. Sie nahm Jims Handgelenk und legte es mit seinem Band auf ihres. „Was ist das?“ fragte Jim.
„Ach, das weißt du natürlich nicht“, sagte sie. „Bei einer Party, besonders bei so einer großen wie dieser hier, bewegen sich die Leute so viel umher, daß es unmöglich ist, jemanden im Auge zu behalten, um ihn bei Bedarf finden zu können. Wir beide haben aber jetzt unsere Sensoren einander angepaßt, und du brauchst dich nur auf mich zu konzentrieren, und sofort bist du da, wo ich mich in dem großen Versammlungsraum gerade aufhalte. Du wirst schon sehen.“ Sie lachte leicht. Zu seiner Überraschung hatte sie blanke Augen und war ziemlich aufgeregt. „Bei solchen Gelegenheiten wie der hier geht immer alles sehr durcheinander!“ Als sie sich ungefähr vierzig Minuten später zu dem großen Versammlungsraum aufmachten, sah Jim sofort, was sie gemeint hatte. Der große Versammlungsraum war ein Gebäude ohne Wände wie das Lernzentrum, dessen Dach auf Säulen ruhte, nur daß es größer war. Der tiefschwarze, polierte Boden, auf dem die weißen Säulen zu schweben schienen, hatte deutlich einen Umfang von einigen Quadratmeilen. Auf diesem Boden standen Gruppen von weiblichen und männlichen Hochgeborenen in ihren üblichen weißen Gewändern und unterhielten sich. Zwischen ihnen liefen Diener umher und boten auf Tabletts verschiedene Speisen und Getränke an. Auf den ersten Blick machte das Fest bis auf die Größe und das Aussehen der Hochgeborenen einen recht normalen Eindruck. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Jim jedoch, daß nicht nur die Hochgeborenen selbst, sondern auch die Diener ständig überall auftauchten und wieder verschwanden. Einen Augenblick lang war die Größe und Bewegung in der Menge etwas verwirrend. Dann tat er das, was er in Situationen bisher immer getan hatte, in denen eine geistige oder emotionelle Überlastung drohte: Er heftete das, was er momentan nicht bewältigen
konnte, geistig ab und konzentrierte sich auf das, womit er fertig wurde. „Adok“, sagte er und wandte sich dem Starkianer zu. „Ich möchte, daß du dich umsiehst. Versuche, einen bestimmten Diener für mich zu finden. Ich weiß nicht, wie er aussieht, aber er wird sich insofern etwas von den anderen unterscheiden, als er erstens einen festen Standort hat, irgendwo in dem Raum hier – dieser Standort wird zweitens relativ isoliert sein, so daß jeweils nur ein einziger Diener in der Halle ihn sehen können wird. Er wird möglicherweise von einer ganzen Reihe von Dienern nacheinander beobachtet werden, aber nie von mehr als einem auf einmal, und dieser eine Diener, der ihn jeweils beobachtet, wird ihn nie aus dem Auge verlieren. Würdest du dich bitte sofort daranmachen?“ „Ja, Jim“, sagte Adok. Er verschwand. „Warum hast du das von ihm verlangt?“ fragte Ro ihn verwirrt mit leiser Stimme und drängte sich eng an ihn. „Das erzähle ich dir später“, sagte Jim. An ihrem Gesichtsausdruck konnte er erkennen, daß sie ihn trotz dieser Antwort gern noch mehr gefragt hätte. Sie hätte das vielleicht auch getan, aber in diesem Augenblick erschienen der Kaiser und Vhotan neben ihnen. „Da ist er – mein Wolfling!“ sagte der Kaiser gutgelaunt. „Komm und sprich mit mir, Wolfling!“ Bei diesen Worten verschwand Ro sofort. Auch die anderen Hochgeborenen in der Nähe begannen sich zu entfernen, bis der Kaiser, Vhotan und Jim von einem offenen, leeren Kreis von ungefähr zwanzig Metern Durchmesser umgeben waren, in dem sie sich in normaler Lautstärke unterhalten konnten, ohne daß irgend jemand nahe genug war, um sie verstehen zu können. Der Kaiser richtete seinen Blick auf den älteren Hochgeborenen.
„Geh nur“, sagte er. „Einmal sollst du auch deinen Spaß haben. Ich brauche niemanden.“ Vhotan zögerte kurz und verschwand dann. Der Kaiser wandte sich wieder Jim zu. „Ich mag dich – wie heißt du, Wolfling?“ fragte er. „Jim, Oran“, antwortete Jim. „Ich mag dich, Jim.“ Der Kaiser neigte sich herab. Er mußte sich von seinen fast zwei Meter zwanzig ein wenig herabbücken, legte eine schmale Hand auf Jims Schulter und ließ einen Teil seines Gewichtes auf ihm ruhen, als sei er müde. „Ist das eine wilde Welt, von der du kommst, Jim?“ „Bis vor ungefähr einem Jahrhundert“, sagte Jim, „sehr wild.“ Sie waren ungefähr sechs Schritte in einer Richtung gegangen. Der Kaiser drehte sich um, und sie gingen langsam wieder zurück. Während der gesamten Unterhaltung behielten sie diese Bewegung bei – sechs Schritte in einer Richtung, sechs Schritte zurück, hin und zurück. „Willst du damit sagen, daß ihr eure Welt in fünfzig oder hundert Jahren gebändigt habt?“ fragte der Kaiser. „Nein, Oran“, sagte Jim. „Wir hatten die Welt schon vorher gebändigt. Es ist uns nur vor fünfzig Jahren gelungen, uns selbst zu bändigen.“ Oran nickte. Sein Blick war nicht auf Jim, sondern beim Gehen ein wenig vor ihm auf den Boden gerichtet. „Ja, das ist der menschliche Teil davon. Die Selbstzähmung ist immer am schwierigsten“, sagte er fast zu sich selbst. „Weißt du, mein Vetter Galyan würde euch ansehen und denken, was für wunderbare Diener ihr abgeben würdet. Und vielleicht hat er recht. Vielleicht hat er recht… aber…“ – sie drehten sich am Ende ihres kurzen Wegs wieder um, und einen Augenblick lang sah der Kaiser vom Boden auf und richtete
mit einem freundlichen Lächeln seinen Blick auf Jim – „… ich glaube das nicht. Wir hatten schon zu viele Diener.“ Das Lächeln verschwand. Kurze Zeit gingen sie schweigend weiter. „Habt ihr eure eigene Sprache?“ murmelte der Kaiser in Jims Ohr und sah dabei wieder auf den Boden. „Eure eigene Kunst, Musik, Geschichte und eure Legenden?“ „Ja, Oran“, sagte Jim. „Dann verdient ihr ein besseres Schicksal, als Diener zu sein. Zumindest…“ – noch einmal lächelte der Kaiser Jim kurz freundlich zu und sah dann wieder vor sich auf den Boden – „… zumindest du verdienst Besseres, das weiß ich. Es würde mich nicht im geringsten überraschen, wenn ich eines Tages tatsächlich meine Zustimmung für deine Adoption geben würde, so daß du zumindest technisch gesehen einer von uns wirst.“ Jim sagte nichts. Nach einer Sekunde, und nachdem sie eine weitere Wende vollzogen hatten, sah der Kaiser ihn von der Seite an. „Hättest du das gern, Jim?“ fragte Oran. „Ich weiß es noch nicht, Oran“, sagte Jim. „Eine ehrliche Antwort“, murmelte der Kaiser. „Eine ehrliche Antwort… Man sagt, wie du vielleicht weißt, Jim, daß auf irgendeiner Wahrscheinlichkeitsebene alle Ereignisse früher oder später eintreten.“ „Auf einer Wahrscheinlichkeitsebene?“ fragte Jim. Der Kaiser aber sprach weiter, als habe er ihn nicht gehört. „Irgendwo“, sagte der Kaiser, „muß es eine Wahrscheinlichkeitsebene geben, auf der du, Jim, der Kaiser bist und alle Einwohner deiner Welt Hochgeborene sind. Dann wäre ich der Wolfling, den man hierherführt, um vor dir und deinem Hof irgendeine barbarische Fertigkeit zu demonstrieren…“
Der Griff an Jims Schulter war fester geworden. Jim sah seitlich nach oben und bemerkte, daß die Augen des Kaisers nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel gerichtet waren, sondern ins Leere zu starren schienen. Er drängte Jim zwar noch immer mit seinem Griff an der Schulter vorwärts, aber inzwischen hatte es den Anschein, als sei er blind und ließe Jim für ihn den Weg finden. So folgte er nun Jim und führte ihn nicht mehr, wie er das zu Beginn ihrer Wanderungen getan hatte. „Hast du schon einmal etwas von einer blauen Bestie gehört, Jim?“ murmelte er. „Nein, Oran“, sagte Jim. „Nein…“, murmelte der Kaiser. „Nein, ich auch nicht. Ich habe mir sogar alle Aufzeichnungen über alle Legenden auf allen Welten angesehen, und nirgends gab es eine blaue Bestie. Wenn es aber bisher noch nie so etwas wie eine blaue Bestie gegeben hat, warum sehe ich dann eine, Jim?“ Der Griff um Jims Schulter war inzwischen so fest wie ein Schraubstock geworden. Trotzdem war die Stimme des Kaisers noch ein sanftes Murmeln, fast träumerisch, als spräche er im Schlaf. Für die Hochgeborenen, die sie vom Rand des die beiden umgebenden Kreises aus beobachteten, mußte es aussehen, als führten sie eine völlig vernünftige, wenn auch leise Unterhaltung. „Ich weiß es nicht, Oran“, antwortete Jim. „Ich auch nicht, Jim“, sagte der Kaiser. „Das macht es ja so merkwürdig. Ich habe sie jetzt dreimal gesehen, und immer stand sie vor mir in einer Tür, als wollte sie mir den Weg versperren. Weißt du, Jim… manchmal bin ich ganz genau wie alle anderen Hochgeborenen, aber es gibt auch Situationen, in denen ich plötzlich einen völlig klaren Kopf bekomme… und dann sehe ich Dinge und verstehe sie, weit besser als irgend jemand von denen, die mich umgeben. Das ist der Grund, warum ich weiß, daß du anders bist. Als ich dich nach diesem
Stierkampf zum ersten Mal gesehen habe, habe ich dich angesehen… und plötzlich hatte es den Anschein, als sähe ich dich durch ein umgekehrtes Fernglas – sehr klein, aber sehr scharf. Und ich habe sehr viele kleine, sehr scharfe Details erkannt, die keiner von den anderen bemerkt hat. Du kannst Hochgeborener werden oder es bleibenlassen, Jim. Ganz wie du willst. Das ändert nämlich nichts… Das habe ich bei dir erkannt. Es ändert nichts.“ Die Stimme des Kaisers verstummte, aber er drängte Jim immer weiter vorwärts und ging blind neben ihm her. „So sieht es aus bei mir, Jim…“, fing er nach einem Moment wieder an. „Manchmal sehe ich Dinge sehr klein und sehr deutlich. Dann wird es mir klar, daß ich die anderen Hochgeborenen einen Schritt hinter mir gelassen habe. Und es ist merkwürdig – ich bin das, wofür wir seit Generationen gearbeitet haben, dieser eine Schritt weiter. Für diesen einen Schritt sind wir aber nicht gebaut, Jim… Verstehst du mich?“ „Ich denke schon, Oran“, sagte Jim. „Bei anderen Gelegenheiten aber…“, sprach der Kaiser weiter. Jim wußte nicht zu sagen, ob Oran seine Antwort registriert hatte oder nicht. „… bei anderen Gelegenheiten aber fangen die Dinge bloß an, scharf und deutlich zu werden – und wenn ich versuche, genauer hinzusehen, werden sie ganz verschwommen, unklar und groß, und dann verliere ich die Fähigkeit, innerlich so genau und scharf sehen zu können. Dann träume ich eine Zeitlang schlecht –und diese Träume kommen, ganz gleich, ob ich schlafe oder wach bin. In solchen Träumen habe ich die blaue Bestie gesehen, jetzt schon dreimal…“ Die Stimme des Kaisers verlor sich wieder, und Jim dachte, sie seien bloß bei einer weiteren kurzen Pause in der Unterhaltung angelangt, aber die Hand des Kaisers senkte sich abrupt von seiner Schulter.
Jim blieb stehen und sah sich um. Er fand Oran vor sich, der ihm mit klaren Augen freundlich zulächelte. „Na ja, ich will dich jetzt nicht aufhalten, Jim“, sagte Oran in völlig normalem Konversationston. „Das ist wohl deine erste Party – und du bist schließlich praktisch der Ehrengast. Warum gehst du nicht ein wenig umher und unterhältst dich? Ich muß Vhotan finden. Er macht sich um mich zu viele Gedanken, wenn ich nicht bei ihm bin.“ Der Kaiser verschwand. Jim blieb bewegungslos stehen, und langsam begann sich der Kreis um ihn zu füllen, als die Umstehenden langsam näher kamen und Neuankömmlinge erschienen. Er sah sich nach Ro um, konnte sie aber nicht finden. „Adok“, sagte er mit leiser Stimme. Der Starkianer erschien neben ihm. „Verzeih mir, Jim“, sagte Adok. „Ich wußte nicht, daß dein Gespräch mit dem Kaiser beendet ist. Ich habe den Diener gefunden, den ich suchen sollte.“ „Bring mich an eine Stelle, von der aus ich ihn, aber er nicht mich sehen kann“, sagte Jim. Abrupt standen sie auf einem engen, schattigen Platz zwischen zwei Säulen, von dem aus sie Sicht auf eine andere Stelle hatten, wo eine Säulengruppe einen kleinen offenen Bereich einschloß, in dem eine Anzahl von Tabletts sauber übereinandergestapelt mit Speisen und Getränken beladen in der Luft hingen. Zwischen diesen Tabletts stand ein Diener, einer der kleinen braunen Männer mit den langen Haaren. Jim und Adok standen hinter ihm. Wenn sie an ihm vorbeisahen, konnten sie einen anderen Diener erkennen, der mit einem Tablett voll Speisen umherging. „Gut“, sagte Jim. „Adok“, sagte er leise, „Ich werde versuchen, ständig in Sichtweite des Kaisers zu bleiben. Ich möchte, daß du in
meiner Sichtweite, aber nicht direkt bei mir bleibst. Behalte mich im Auge, und wenn ich verschwinde, dann gehst du zu Vhotan, der dann sicherlich beim Kaiser ist, und sagst ihm, daß ich ihn gern als Zeuge für etwas hätte. Dann bringst du ihn zu der Stelle, wo der Diener steht. Hast du verstanden?“ „Ja, Jim“, sagte Adok emotionslos. „Und jetzt“, sagte Jim. „Wie finde ich den Kaiser?“ „Ich kann dich zu ihm hinbringen“, sagte Adok. „Alle Starkianer können immer und überall den Kaiser finden. Das ist für den Fall vorgesehen, daß einer von uns gebraucht werden sollte.“ Plötzlich standen sie an einer anderen Stelle in dem großen Versammlungsraum. Jim sah sich um und bemerkte den Kaiser, der in ungefähr vier Meter Entfernung von ihm stand – dieses Mal ohne den Kreis der Vertraulichkeit um ihn herum. Er unterhielt sich lachend mit einigen anderen Hochgeborenen. Vhotan stand mit finster zusammengezogenen gelblichen Brauen am Ellbogen des jüngeren Mannes. Jim sah sich wieder um und entdeckte Adok, der aus einer Entfernung von vielleicht sieben Metern zu ihm herübersah. Jim nickte und begann in eine Richtung davonzugehen, die ihn zwar immer durch die Menge führte, aber zur gleichen Zeit in unveränderter Entfernung vom Kaiser halten würde. Zweimal veränderte der Kaiser plötzlich seine Position, und zweimal fand sich Jim von Adok in die neue Position in Sichtweite des Kaisers transportiert. Während dieser ganzen Zeit kümmerte sich überraschenderweise keiner der Hochgeborenen um Jim herum sonderlich um ihn. Sie schienen nicht besonders erpicht darauf zu sein, den Wolfling zu sehen, zu dessen Ehre die Party veranstaltet wurde, und wenn ihre Augen zufällig auf ihm zu ruhen kamen, hielten sie ihn offensichtlich für einen von den Dienern.
Die Zeit zog sich in die Länge. Fast eine Stunde war vergangen, und Jim begann bereits, seine vorherige Sicherheit zu bezweifeln, als er plötzlich das bemerkte, worauf er gewartet hatte. Auf den ersten Blick sah es nicht nach viel aus. Der Kaiser hatte sich halb von Jim abgewendet, und nur eine plötzliche Spannung in seinem langen Körper verriet seinen veränderten Zustand. Er war etwas unbeweglich und steif geworden. Hastig ging Jim zwei Schritte nach links, um das Gesicht des Mannes sehen zu können. Oran starrte durch den anderen Hochgeborenen, mit dem er sich unterhalten hatte, hindurch und an ihm vorbei. Sein Blick war starr, sein Lächeln eingefroren, und wie bei dem Stierkampf stand in einem der Mundwinkel etwas Feuchtigkeit, die in der Sonne blitzte. Keiner der Umstehenden schien von seinem Zustand das geringste zu bemerken, aber Jim verschwendete keine Zeit darauf, sie zu beobachten. Er drehte sich statt dessen um und schaute sich nach Dienern um. Er hatte kaum eine halbe Umdrehung vollzogen, als er den ersten Mann bemerkte. Es war ein dünner, schwarzhaariger Angehöriger der niederen Rasse, der ein Silbertablett mit kleinen Plätzchen trug. Der Mann bewegte sich nicht. Er stand unbeweglich, in seiner Stellung so eingefroren wie der Kaiser. Jim drehte sich hastig ganz um. Er sah drei weitere Diener, die still und unbeweglich wie Statuen dastanden. Unter Jims Blick begannen die anderen umstehenden Hochgeborenen ebenfalls diesen seltsamen Mangel von Aktivität in ihrer Mitte zu bemerken. Jim jedoch wartete die Entwicklung ihrer Reaktion darauf nicht ab. Er transportierte sich sofort in den schattigen Bereich hinter dem Diener mit den Tabletts – an die Stelle, wo er vorher mit Adok gestanden hatte. Der Mann mit den Tabletts befand sich noch an der gleichen Stelle und sah sich um. Er aber war nicht eingefroren – so
wenig wie der Diener ungefähr sechs Meter hinter ihm, der von Hochgeborenen umringt war. Jim bückte sich tief herab und rannte schnell und lautlos hinter die Tabletts, bis er zu dem sich umsehenden Diener kam. Er packte den Mann sofort mit beiden Händen. Eine Hand setzte er in sein Genick direkt unter den Schädelansatz, und die andere so von hinten unter seine Achselhöhle, daß sein Daumen auf einem Druckpunkt etwas links vom Schulterblatt ruhte. „Eine Bewegung“, flüsterte Jim schnell, „und ich breche dir das Genick.“ Der Mann verkrampfte sich, gab aber keinen Laut von sich und rührte sich nicht. „Jetzt“, flüsterte Jim weiter, „machst du genau das, was ich dir sage…“ Er unterbrach sich und sah sich um. Dort, im Schatten, erkannte er Adoks gedrungene Gestalt und neben ihm einen ihn weit überragenden Mann, einen Hochgeborenen, der Vhotan sein mußte. Jim drehte sich wieder zu dem Diener um. „Lege zwei Finger deiner rechten Hand auf deinen linken Oberarm“, flüsterte Jim dem Mann zu. Der andere bewegte sich nicht. Jim, der noch immer gebückt hinter dem Körper des Dieners versteckt kauerte, drückte seinen Daumen gegen den Druckpunkt. Einen langen Augenblick lang leistete der Mann Widerstand. Dann hob er langsam und ruckartig wie ein Roboter seinen rechten Arm hoch und legte zwei zu einem V gespreizte Finger über seinen linken Oberarm. Die bewegungslosen Diener draußen begannen plötzlich, sich zu bewegen, als sei nichts geschehen. Eine kleine Gruppe von interessierten und verwirrten Hochgeborenen folgte ihnen. Jim legte schnell eine Hand über den Mund des Mannes, den er festhielt, und zerrte und hob ihn halb zurück in den Schatten.
Vhotan und Adok traten nach vorne und sahen auf den Mann herab. „Also…“, begann Vhotan grimmig, aber in diesem Augenblick gab der Diener ein seltsames, leises Geräusch von sich und sank in Jims Griff schwer in sich zusammen. „Ja“, sagte Vhotan, als sei es eine ausgesprochene Antwort von Jim gewesen, als er den Mann hinlegte, „wer immer das auch geplant hat, wollte sicherlich das Risiko nicht eingehen, ihn am Leben zu lassen, damit er von uns befragt werden kann. Sicher ist auch die Gehirnstruktur zerstört worden.“ Er hob die Augen und sah über die Leiche hinweg zu Jim hinüber. Sein Hochgeborenen-Gehirn hatte deutlich schon viel von dem erkannt, was Jim ihm hier vorführen wollte, aber Vhotans Augen behielten trotzdem einen Teil ihrer Kühle. „Weißt du, wer dahintersteckt?“ fragte er Jim. Jim schüttelte den Kopf. „Aber du hast das ja deutlich erwartet“, sagte Vhotan. „Du warst dir sicher genug, um deinen Starkianer anzuweisen, mich hierherzubringen. Warum mich?“ Jim sah ihn ruhig an. „Weil ich zu dem Entschluß gekommen bin, daß Sie der einzige von den Hochgeborenen sind, der es vor sich selbst bewußt zugeben mußte, daß der Geist des Kaisers nicht ganz so ist, wie er sein sollte – oder vielleicht“, sagte Jim, dem eine Sekunde lang das Gespräch einfiel, das er mit dem Kaiser geführt hatte, während sie auf dem polierten Boden auf und ab gegangen waren, „ist sein Geist etwas zu viel von dem, was er sein müßte.“ Ein leises Klicken schien aus Vhotans Kehle zu kommen. Es dauerte einige Sekunden lang, bis er etwas sagte – und als er zu sprechen begann, ging es um ein anderes Thema. „Wie hast du das herausbekommen – was die Diener hier geplant haben?“ fragte Vhotan.
„In dem Sinne herausgefunden, daß ich absolut sicher war, daß es passieren würde, habe ich es nicht“, sagte Jim. „Ich habe mir aber die stumme Untergrund-Sprache der Diener selbst beigebracht, und ich habe erfahren, daß etwas im Busch ist. Zusammen mit der Party und der bekannten Krankheit des Kaisers hat mir das eine Vorstellung davon gegeben, wonach ich zu suchen hatte. Als ich also herkam, habe ich Adok danach suchen lassen. Und als er es gefunden hatte, habe ich gehandelt, wie Sie es gerade gesehen haben.“ Vhotan hatte sich bei der Erwähnung der Worte Kaiser und Krankheit wieder verkrampft. Als Jim aber zu Ende redete, entspannte er sich und nickte. „Das hast du gut gemacht, Wolfling“, sagte er – und die Worte waren deutlich genug, auch wenn sie in barschem Ton gesagt worden waren. „Von jetzt an nehme ich die Sache in die Hand, aber wir sollten dich vielleicht eine Zeitlang von der Thronwelt entfernen, Sponsorenschaft für die Adoption hin oder her.“ Er stand da und dachte eine Sekunde lang nach. „Ich denke, der Kaiser wird dich befördern“, sagte er schließlich. „Zu einem Dienstgrad, der deinem Hochgeborenenstatus als potentiellem Adoptivling mit Sponsor angemessener ist. Er wird dich zu einem Kommandeur von zehn Starkianer-Einheiten befördern und zu einem Polizeieinsatz auf einer der Kolonie-Welten abkommandieren.“ Er wandte sich von Jim, Adok und dem toten Diener ab, als wolle er verschwinden. Doch dann änderte er offensichtlich seine Meinung, drehte sich schnell um und sah Jim wieder an. „Wie heißt du?“ fragte er scharf. „Jim“, antwortete Jim.
„Jim. Also, du hast deine Sache gut gemacht, Jim“, sagte Vhotan grimmig. „Der Kaiser weiß das zu schätzen. Und… ich auch.“ Mit diesen Worten verschwand er.
8
Der Planet Athiya, auf den Jim mit seinen zehn StarkianerEinheiten, Adok und Ham II – der der eigentliche Kommandeur der zehn Einheiten war, jetzt aber als Jims Adjutant eingesetzt wurde – geschickt worden war, war einer der vielen Planeten, die von den kleinen, braunen Männern mit den langen, gerade nach hinten herabhängenden Haaren bevölkert war. Der Gouverneur, ein kleiner, rundlicher Mann, vermied jegliche Erwähnung des Aufstands, zu dessen Unterdrückung er bei den Hochgeborenen die Hilfe der Starkianer angefordert hatte. Er bestand auf einer langen und formellen Begrüßungszeremonie, während der er jeglichen Bezug zum Aufstand vermied und Fragen, die Jim ihm darüber stellte, aus dem Weg ging. Die Erklärungen konnten jedoch nicht ewig hinausgeschoben werden. Schließlich trafen sich Jim, Adok, Ham II und der Gouverneur in den privaten Diensträumen des Gouverneurs, die in der Hauptstadt von Athiya lagen. Die Bemühungen des Gouverneurs, sich damit zu beschäftigen, für sie Kissen und Erfrischungen zu besorgen, wurden von Jim unterbrochen. „Das ist jetzt gleich“, sagte Jim. „Wir wollen jetzt nichts essen oder trinken. Wir wollen uns über diesen Aufstand informieren – wo sein Zentrum ist, wie viele Leute daran beteiligt sind und über welche Waffen sie verfügen.“ Der Gouverneur sank auf einem der Polster zusammen und brach abrupt in Tränen aus. Einen Augenblick war Jim völlig verblüfft. Dann aber beruhigte ihn das Wissen, das er sich nicht so sehr auf der Thronwelt, sondern im Verlauf seiner anthropologischen
Studien auf der Erde angeeignet hatte und das ihm den Schluß erlaubte, daß der Gouverneur einer Kultur angehörte, in der es nicht ungewöhnlich war, wenn Männer weinten – sogar so öffentlich und lautstark, wie das der Gouverneur gerade tat. Jim wartete daher, bis der Gouverneur mit seinem ersten Gefühlsausbruch fertig geworden war. Dann stellte er seine Frage noch einmal. Der Gouverneur wischte sich schluchzend die Tränen aus dem Gesicht und versuchte dann zu antworten. „Ich hätte nie gedacht, sie würden mir nicht einen Hochgeborenen als Kommandeur der Starkianer schicken!“ sagte er mit erstickter Stimme zu Jim. „Ich wollte mich seiner Gnade anvertrauen… aber du bist kein Hochgeborener…“ Seine Erklärungen drohten wieder in Tränen zu ersticken. Jim sprach ihn mit scharfer Stimme an, um ihn daraus herauszureißen. „Aufstehen!“ fuhr Jim ihn an. Reflexartig gehorchte der Gouverneur. „Ich darf Ihnen vielleicht mitteilen, daß ich einen Sponsor für die Adoption in die Hochgeborenenschaft habe, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Der Kaiser hat Ihnen genau das geschickt, was in dieser Situation notwendig ist.“ „Aber das stimmt doch nicht!“ brach es mit erstickter Stimme aus dem Gouverneur heraus. „Ich… ich habe gelogen. Das ist nicht einfach ein Aufstand. Das ist eine Revolution! Alle anderen Familien auf dem Planeten haben sich miteinander verbündet – selbst mein Vetter Cluth ist daran beteiligt. Er steht sogar an der Spitze. Sie alle haben sich zusammengetan, um mich umzubringen und hier Cluth an meine Stelle zu setzen!“ „Wie war das?“ fragte Jim. Es war ihm klar, daß alle Kolonie-Welten Miniaturhöfe hatten, die dem auf der Thronwelt nachgebildet waren. Diese Höfe bestanden aus den vornehmen Familien der Kolonie und wurden von der Familie
und der Person des Gouverneurs angeführt, der im Grund ein kleiner lokaler Kaiser war. „Warum haben Sie es soweit kommen lassen?“ warf Ham II ein. „Warum haben Sie nicht schon vorher Ihre Kolonialtruppen eingesetzt, um die Sache niederzuschlagen?“ „Ich… ich…“ Der Gouverneur rang die Hände. Er war offensichtlich nicht in der Lage zu sprechen. Jim beobachtet ihn und hatte keinerlei Zweifel an dem bisherigen Ablauf. Seine Studien im Verlauf der letzten Wochen, sowohl in dem unterirdischen Bereich als auch vor dem Lernzentrumschirm in Ros Apartment, hatten ihm, nachdem er es sich erst einmal selbst beigebracht hatte, mit der Geschwindigkeit der Hochgeborenen zu lesen, einen recht guten Einblick nicht nur in die Gesellschaft der Thronwelt, sondern auch in die der Kolonie-Welten gewährt. Der Gouverneur hatte sich das Heft deshalb so weit aus der Hand nehmen lassen, weil er sich noch bis vor kurzer Zeit dessen sicher gewesen war, daß es ihm gelingen würde, mit den aufrührerischen Elementen auf seiner Welt zu einer Einigung zu kommen. Er hatte die Opposition offensichtlich unterschätzt. Als er dann die Sache erst einmal nicht mehr im Griff gehabt hatte, war er zu feige gewesen, das der Thronwelt gegenüber zuzugeben, und hatte daher weit weniger Starkianer-Truppen angefordert, als zur Bereinigung der Situation notwendig gewesen wären. Er hatte es sich wahrscheinlich so vorgestellt, daß er die Ankunft der Starkianer als Drohung benutzen und so doch noch zu einer Einigung mit den Rebellen kommen konnte. Diese Einsicht half ihnen jedoch jetzt nicht weiter. Die Thronwelt war verpflichtet, die Gouverneure zu unterstützen, weil sie sie mit der Wahrung ihrer Interessen beauftragt und
mit den dazu notwendigen Machtbefugnissen ausgestattet hatte. „Sir“, sagte Ham II und berührte Jim am Ellbogen. Er winkte Jim zu, und die beiden gingen zum anderen Ende des Raums, wo sie sich unterhalten konnten, ohne belauscht zu werden. Adok ließ den Gouverneur stehen und ging hinter ihnen her. Er stand einsam in der Mitte des Raums, eine kleine braune Gestalt, von Polstern und schwebenden Bedienungspulten umringt. „Sir“, sagte Adok mit leiser Stimme, als sie am anderen Ende des Raums angekommen waren, „ich empfehle dringend, daß wir hier bleiben und von der Thronwelt zusätzliche Starkianer anfordern. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was der Mann sagt, haben seine Gegner bereits den größten Teil der bewaffneten Kolonialstreitmächte unter ihrer Kontrolle. Zehn Starkianer-Einheiten erreichen viel, aber man kann nicht erwarten, daß sie ganze Armeen besiegen. Ich sehe keinen Grund dafür, daß wir Männer verlieren, weil er einen Fehler gemacht hat.“ „Nein“, sagte Jim. „Natürlich nicht. Auf der anderen Seite möchte ich mir die Sache gern selbst noch etwas näher ansehen. Wir müssen selbst herausbekommen, womit wir zu rechnen haben, bevor wir nach Hilfe schreien. Bisher haben wir nur den Bericht des Gouverneurs. Es ist durchaus möglich, daß alles ganz anders aussieht, als er glaubt, selbst wenn alles stimmt, was er befürchtet.“ „Sir“, sagte Ham II, „ich muß Ihnen widersprechen. Jeder Starkianer ist durch seine Ausrüstung und Ausbildung sehr kostspielig. Sie sollten nicht für sinnlose Experimente aufs Spiel gesetzt werden – ich muß Ihnen als ihr ehemaliger Kommandeur sagen, daß es ihnen gegenüber nicht fair ist, sie so in Gefahr zu bringen.“
„Sir“, sagte Adok – seit sie die Thronwelt verlassen hatten, hatte auch Adok Jim mit militärischer Ehrerbietung angeredet –, „der stellvertretende Kommandeur hat recht.“ Jim sah die beiden Starkianer nacheinander an. Sie erinnerten ihn unauffällig an die Tatsache, daß Jim zwar nominell bei dieser Expedition das Kommando über sie hatte, Ham aber der einzige in dem Raum war, der echte Erfahrungen als Kommandeur über zehn Starkianer-Einheiten hatte. „Ich verstehe Ihre Einwände, Adjutant“, sagte Jim nun langsam zu Ham II. „Ich möchte mir die Situation aber trotzdem ansehen.“ „Jawohl, Sir“, sagte Ham II. Er zeigte nicht die geringste Spur von Emotion darüber, daß seine Argumente keine Berücksichtigung fanden. Jim konnte nicht sagen, wieviel davon die normale Selbstkontrolle der Starkianer und wieviel es Hams eigene Entscheidung war, sich mit der Situation abzufinden. Er drehte sich aber nun um und ging vor den beiden Starkianern her durch das Zimmer zu dem Gouverneur zurück, der hoffnungslos aufsah, als sie zu ihm kamen. „Da gibt es eine Menge Dinge, die ich gern wissen möchte“, sagte Jim. „Aber zunächst einmal können Sie mir sagen, welche Mittel Ihr Vetter – oder wer auch sonst der Anführer dieses Aufstands sein mag – eingesetzt hat, um die anderen dazu zu bringen, sich ihm anzuschließen.“ Der Gouverneur fing wieder an, seine Hände zu ringen und ein weinerliches Gesicht zu machen, überlegte es sich aber dann anders, als er Jims Blick bemerkte. „Ich weiß es nicht… ich weiß es nicht!“ sagte er. „Da hat es Gerüchte über Unterstützung gegeben, die sie von außen bekommen. Unterstützung…“ Seine Stimme erstarb ängstlich. „Weiter“, sagte Jim. „Sprechen Sie das nur zu Ende, was Sie sagen wollten.“
„Unterstützung… von jemandem von der Thronwelt“, sagte der Gouverneur voller Angst in der Stimme. „Unterstützung von einem Hochgeborenen?“ fragte Jim unverblümt. „So direkt haben sie das nicht gesagt, soweit ich weiß!“ antwortete der Gouverneur hastig und wurde blaß. „Ich persönlich habe das nie direkt gehört!“ „Machen Sie sich darüber keine Gedanken“, sagte Jim. „Also, hören Sie jetzt genau zu. Ihr Vetter und seine Verbündeten haben zweifellos bewaffnete Verbände auf ihrer Seite. Wo halten sie sich auf, und wie stark sind sie?“ Nachdem es nun nicht mehr um Hochgeborene, sondern um seine eigenen Leute ging, erholte sich der Gouverneur rasch wieder. Seine runden, kleinen Schultern zuckten, und seine Stimme wurde tiefer, während er sich umdrehte und durch die Wände seines Amtsraums zeigte. „Nördlich von hier.“ Er nannte eine Entfernung in ReichsEinheiten, die einer Entfernung von knapp unter sechzig Meilen entsprach. „Sie lagern in einer Ebene, die von einem Ring von Hügeln umgeben ist. Auf diesen Hügeln haben sie Posten aufgestellt, die von den besten Leuten in unserer Kolonialarmee besetzt sind.“ „Wieviel von dieser Armee haben die anderen auf ihrer Seite?“ „Drei… drei…“, stotterte der Gouverneur mit neuer Angst. „Vielleicht drei Viertel davon.“ „Wahrscheinlich eher achtundneunzig Prozent davon“, unterbrach Ham II und sah den Gouverneur an. „Wenn er schon drei Viertel schätzt.“ „Warum haben sie bisher noch nicht die Hauptstadt besetzt?“ fragte Jim. „Ich… ich habe ihnen gesagt, daß Sie… du kommst“, sagte der Gouverneur verzweifelt. „Ehrlich gesagt… ich habe ihnen
angeboten, dich wegzuschicken, wenn sie sich zu Verhandlungen bereiterklären.“ „Hier verhandelt nur einer“, sagte Ham II zu dem kleinen Mann, „und das ist er.“ Er deutete auf Jim. „Wieviel Mann sind achtundneunzig Prozent der kolonialen Streitmacht?“ „Drei Divisionen“, stammelte der Gouverneur. „Ungefähr vierzigtausend bewaffnete und ausgebildete Männer.“ „Sechzig- bis siebzigtausend“, verbesserte Ham II und sah Jim an. Jim nickte. „Also gut“, sagte er. Er sah durch ein langgestrecktes, niedriges Fenster auf der einen Seite des Raums hinaus. „Hier geht bald die Sonne unter. Gibt es hier einen Mond?“ fragte er und wandte sich dem Gouverneur zu. „Zwei sogar…“, fing der Gouverneur an, aber Jim unterbrach ihn. „Einer wäre auch schon genug, wenn sein Licht für uns hell genug ist“, sagte er. Er drehte sich Ham und Adok zu. „Sobald es dunkel ist, gehen wir hinauf und sehen uns dieses Lager an, das sie aufgeschlagen haben.“ Er sah wieder zu dem Gouverneur, der heftig mit dem Kopf nickte und lächelte. „Und Sie nehmen wir mit“, sagte Jim. Der freudige Gesichtsausdruck verschwand so plötzlich wie bei einer Karikatur, der der Zeichner das Lächeln herausradierte. Vier Stunden später, als der erste der beiden Monde sich gerade als rötliche Scheibe über den niedrigen Hügeln in der Nähe der Hauptstadt erhob, starteten sie in einem kleinen, rundum gepanzerten Späh-Gleiter in die Dunkelheit des Nachthimmels direkt unter dem schwarzen Bauch einer tiefhängenden Wolke. Jim, Ham und Adok saßen vorne und der Gouverneur auf dem Rücksitz. Sie glitten nach Norden und flogen lautlos in die Richtung, die der Gouverneur
ihnen angab. Ungefähr fünfzehn Minuten später senkten sie sich in Bodennähe herab und näherten sich dem Hügelring um die Ebene, die ihr Ziel war. Sie flogen so niedrig, daß die Unterseite des Gleiters die Spitzen der einen Meter hohen Grashalme berührte und sie wie im Slalom Gruppen von ulmenartigen Bäumen ausweichen mußten. Als der Boden begann, sich zu der Hügelkette selbst zu heben, versteckten sie den Spähgleiter in einer Gruppe von Büschen und jungen Bäumen und gingen zu Fuß weiter. Die beiden Starkianer gingen mit einem Zwischenraum von ungefähr fünf Metern vor. Sie bewegten sich mit einer verblüffenden Lautlosigkeit, die Jim nur wegen seiner Erfahrungen bei der Jagd auf der Erde erreichen konnte. Die größte Überraschung aber war der kleine Gouverneur. Es stellte sich heraus, daß es ihm völlig vertraut schien, sich lautlos durch den ständigen Wechsel von Mondlicht und tiefem Schatten zu schleichen. Als Jim sich sicher war, daß der kleine Mann mit ihnen mithalten konnte und keinen Lärm machte, sonderte er sich von ihm ab, bis er in der gleichen Entfernung wie zwischen Adok und Ham neben ihm herging. Sie hatten den Gipfel des Hügels fast erreicht, der ihnen endlich einen Blick auf die dahinter liegende Ebene gestatten würde, als die beiden Starkianer sich plötzlich flach in das Gras fallen ließen und verschwanden. Jim und der Gouverneur folgten sofort ihrem Beispiel. Einige Minuten verstrichen. Dann tauchte Adok unvermittelt direkt vor Jim aus dem Gras auf. „Alles klar, Sir. Es geht weiter. Den Rest des Weges können Sie aufrecht gehen“, sagte er. „Der Posten hat geschlafen.“ Jim und der Gouverneur standen auf und gingen hinter den Starkianern her den Hang hinauf bis zu einer kleinen Lichtung von ungefähr vier Meter Durchmesser, die mit einem silbern aussehenden Maschendraht von ungefähr dreißig Zentimeter
Höhe eingezäunt war. In der Mitte der Lichtung stand ein Gerät, das wie ein Sonnenschirm ohne Stoff aussah. Der Wachtposten, von dem Adok gesprochen hatte, war nirgends zu sehen. „Da liegt das Lager“, sagte Adok und deutete über den hinteren Teil des Zauns auf eine weitere Steigung. „Es ist alles in Ordnung. Innerhalb des Zauns können Sie laut sprechen, Sir. Man kann uns jetzt nicht mehr sehen oder hören.“ Jim ging zu Ham hinüber, stellte sich neben ihn und schaute herab. Was er sah, ähnelte nicht so sehr einem militärischen Lager, sondern sah eher wie eine kleine Stadt oder ein Dorf aus kuppelartigen Gebäuden aus, das durch Straßen in regelmäßige Segmente aufgeteilt war. „Kommen Sie hierher“, sagte er und sah zu dem Gouverneur zurück. Der Gouverneur trat gehorsam zu dem Maschendraht vor. „Sehen Sie sich das an. Sagen Sie mir, ob Ihnen an dem Lager da unten etwas als ungewöhnlich auffällt.“ Der Gouverneur sah hinab und schüttelte schließlich den Kopf. „Sir“, sagte Ham, „das Lager ist nach einem der gängigen militärischen Muster angelegt. Jedes Segment hat verschiedene Gruppen oder Einheiten, und jede Einheit stellt Wachen, so daß das gesamte Lager von ihnen umringt ist.“ „Nur mit dem Unterschied, daß sie ein Versammlungsgebäude aufgestellt haben!“ sagte der Gouverneur voller Selbstmitleid. „Das haben sie einfach getan! Als sei ich schon abgesetzt – oder sogar tot!“ Er schluchzte. „Was macht Sie mißtrauisch, Sir?“ fragte Ham. Adok war direkt hinter sie getreten. Jim konnte ihn aus den Augenwinkeln sehen. „Ich weiß es nicht genau“, sagte Jim. „Adjutant, welche Waffen haben unsere Starkianer, die diese Kolonialsoldaten vielleicht nicht haben?“
„Unsere individuellen Schutzschirme sind weit besser“, antwortete Ham. „Darüber hinaus ist jeder einzelne von unseren Männern einer ihrer schweren Kompanien ebenbürtig.“ „Das heißt also, daß unsere Waffen im Grund die gleichen sind, nur besser?“ sagte Jim. „Ist das richtig?“ „Sir“, sagte Ham, „die stärkste Waffe der Starkianer ist der ausgebildete einzelne Starkianer selbst. Er…“ „Ja, das weiß ich“, unterbrach Jim ihn ein wenig scharf. „Wie steht es mit…“ – er suchte sein Gehirn nach Übersetzungen der Ausdrücke von der Erde in die Sprache des Reichs ab – „… wie steht es mit schweren stationären Waffen? Ungewöhnlich starke Sprengkörper – Waffen aus dem Bereich der Kernspaltung oder -fusion?“ „Den Kolonien wird der Zugang zu Technologien nicht gestattet, die zur Herstellung von schweren stationären Waffen notwendig sind“, sagte Ham. „Es ist möglich, daß sie heimlich einen Atomsprengkörper gebaut haben – aber unwahrscheinlich. Und was Antimaterie-Waffen anbetrifft – das ist völlig unmöglich…“ „Augenblick mal“, unterbrach Jim. „Haben die Starkianer auf der Thronwelt Zugang zu solchen Waffen? Zu… wie war das doch gleich? Antimaterie-Waffen?“ „Natürlich. Es ist aber seit Tausenden von Jahren nicht mehr nötig gewesen, sie einzusetzen“, sagte Ham. „Wissen Sie, was eine Antimaterie-Waffe ist, Sir?“ „Ich weiß nur so viel“, sagte Jim grimmig. „Wenn ein klein wenig Antimaterie mit einem kleinen Stück Materie in Berührung kommt, wird sehr viel Zerstörung ausgelöst.“ Er stand einen Augenblick lang wortlos da und sagte dann abrupt: „Na, Adjutant, Sie haben ja jetzt gesehen, wie die Dinge hier aussehen. Wollen Sie immer noch Hilfe von der Thronwelt anfordern?“
„Nein, Sir“, antwortete Ham prompt. „Wenn der Posten, den wir überrascht haben, auch nur im geringsten repräsentativ ist, steht es um die Armee hier unglaublich schlecht. Das Lager haben sie außerdem mehr unter Berücksichtigung ihrer eigenen Bequemlichkeit als ihrer Kampffähigkeit angelegt. Das allgemeine Muster stimmt wohl, aber es gibt, soweit ich das sehen kann, weder Patrouillen auf den Straßen noch an der Lagergrenze und – was mich am meisten verblüfft – keinerlei Vorwarnsysteme gegen Luftangriffe. Die Leute da unten tun nur so, als seien sie eine Armee.“ Ham hörte auf zu sprechen, als wolle er Jim die Möglichkeit für einen Kommentar geben. „Sprechen Sie weiter, Adjutant“, sagte Jim. „Sir“, führte Ham weiter aus, „unter Berücksichtigung von dem, was ich Ihnen gerade gesagt habe, und der Tatsache, daß alle ihre Anführer in einem Gebäude konzentriert sind, wie wir eben entdeckt haben, ist die militärische Lösung dieser Situation extrem leicht. Ich schlage vor, wir schicken Adok sofort zurück, damit er die übrigen Männer herholt. Sobald sie hier sind, führen wir einen Sturmangriff auf dieses eine Gebäude durch, und zwar direkt von oben, um ihre Verteidigungsanlagen am Lagerrand nicht auszulösen. Dabei nehmen wir die Anführer entweder gefangen, oder sie kommen um. Wenn wir sie gefangennehmen, bringen wir sie in die Hauptstadt zurück und machen ihnen den Prozeß.“ „Und was ist“, fragte Jim, „wenn das Gerücht, das der Gouverneur gehört hat, zutrifft – daß diese Rebellen Freunde unter den Hochgeborenen auf der Thronwelt haben?“ „Sir?“ sagte Ham. Soweit das einem Starkianer möglich war, hörte er sich verwirrt an. „Es ist für einen Hochgeborenen selbstverständlich völlig ausgeschlossen, mit Kolonialrevoluzzern wie denen da unten gemeinsame Sache zu machen. Aber selbst wenn wir annehmen, daß sie einen
solchen Freund haben, könnte er nichts tun, um uns aufzuhalten. Darüber hinaus sind wir Starkianer nur dem Kaiser verantwortlich.“ „Ja“, sagte Jim. „Ich werde Ihrem Rat aber trotzdem genausowenig folgen, wie ich ihm vorher gefolgt bin, als Sie vorgeschlagen haben, wir sollen von der Thronwelt Verstärkung kommen lassen.“ Er drehte Ham den Rücken zu und wandte sich dem kleinen Gouverneur zu. „Eure vornehmen Familien liegen in ständigem Kampf miteinander, nicht wahr?“ fragte er. „Also – sie intrigieren fast ständig gegen mich, und zwar alle!“ sagte der kleine Gouverneur. Dann kicherte er unerwartet. „Ah, ich verstehe, was du meinst, Kommandant. Ja, sie haben tatsächlich viel Streit miteinander. Wenn das nicht so wäre, hätte ich ziemlich Schwierigkeiten, mit ihnen fertig zu werden. O ja, ihr Lieblingssport ist es, gegeneinander zu intrigieren und sich alles mögliche gegenseitig vorzuwerfen.“ „Natürlich“, sagte Jim halb zu sich selbst. „Sie sind Noyaux.“ „Sir?“ sagte Ham neben ihm. Auch der kleine Gouverneur schien ihn nicht zu verstehen. Der wissenschaftliche Ausdruck aus der Erdensprache hatte für ihn keine Bedeutung. „Das ist jetzt gleich“, sagte Jim. Er sagte weiter zu dem Gouverneur: „Gibt es dort unten unter den Anführern einige Männer, mit denen Ihr Vetter gewöhnlich nicht gut auskommt?“ „Jemand, mit dem Cluth…“ Der kleine Gouverneur versank in nachdenkliches Schweigen. Er stand eine Sekunde lang da und starrte auf das mondbeschienene Gras zu seinen Füßen. „Notral! Ja, wenn es jemanden gibt, mit dem er wahrscheinlich nicht auskommt, dann ist das Notral.“ Er drehte sich um und deutete zu dem Lager herab.
„Siehst du das?“ sagte er. „Cluths Leute wohnen wahrscheinlich in diesem Teil des Lagers, und Notral wird dort drüben lagern, fast direkt auf der anderen Seite. Je weiter sie voneinander entfernt sind, desto lieber ist es ihnen!“ „Adjutant, Adok“, sagte Jim und wendete sich den beiden Starkianern zu. „Ich habe einen Sonderauftrag für euch. Glaubt ihr, ihr schafft es, leise dort hinunterzugehen und mir einen Außenposten lebend und in guter Verfassung direkt vom äußeren Rand von Notrals Lagerteil hochzubringen?“ „Selbstverständlich, Sir“, antwortete Ham. „Sehr gut“, sagte Jim. „Seht auf jeden Fall zu, daß ihr ihm die Augen verbindet, wenn ihr ihn euch vom Lagerrand holt, und ebenso, wenn ihr ihn wieder zurückbringt. Jetzt…“ – er drehte sich wieder zu dem Gouverneur um – „… zeigen Sie ihnen noch einmal Notrals Teil des Lagers.“ Der Gouverneur gehorchte. Die beiden Starkianer glitten aus dem umzäunten Bereich heraus und verschwanden praktisch – so als hätten sie sich nach der auf der Thronwelt üblichen Art wegtransportiert. Es dauerte nach der Zeitrechnung der Erde knapp über eine halbe Stunde, bis sie zurückkehrten und Jim die Tür zu der Lichtung aufschwingen sah. Er hatte mit untergeschlagenen Beinen mit dem kleinen Gouverneur an seiner Seite auf dem Boden gesessen. Nun stand Jim auf, und auch der Gouverneur erhob sich hastig, als ihm das befohlen wurde. Er stellte sich neben Jim, und seine extreme Kleinheit betonte Jims Größe. Adok kroch in die Lichtung. Eine Sekunde später folgte ihm ein kleiner junger Mann, der Gurte trug, wie sie in ähnlicher Form auch die Starkianer verwendeten. Der junge Kolonialsoldat hatte so sehr Angst, daß er deutlich sichtbar zitterte. Ham folgte direkt hinter ihm und schloß das Tor, als er sich im eingezäunten Bereich befand.
„Bringt ihn her“, sagte Jim und ahmte dabei den zischenden Akzent der Hochgeborenen von der Thronwelt nach. Er stand so, daß sein Rücken dem aufgehenden Mond zugewendet war, dem sich endlich auch sein Partner am Himmel angeschlossen hatte. Ihr vereintes Licht strömte über seine Schultern und zeigte ihm deutlich das Gesicht des jungen Soldaten mit den langen Haaren, ließ sein eigenes Gesicht aber tief im dunklen Schatten. „Weißt du, wen ich mir als euren endgültigen Führer ausgesucht habe?“ fragte Jim mit harter, tiefer Stimme, nachdem der junge Soldat fast buchstäblich von den beiden Starkianern zu ihm hingetragen und vor ihm aufgestellt worden war. Der Kolonialsoldat klapperte so sehr mit den Zähnen, daß er keine zusammenhängende Antwort herausbekam, aber er schüttelte heftig seinen Kopf. Jim gab ein kurzes Geräusch von Ärger und Verachtung von sich, das tief aus seiner Kehle kam. „Ganz gleich jetzt“, sagte er rauh. „Weißt du, wer den Bereich neben deiner Sektion im Außenbereich kontrolliert?“ „Ja…“ Der junge Soldat nickte eifrig. „Geh zu ihm“, sagte Jim. „Du sagst ihm, daß ich meinen Plan geändert habe. Er soll jetzt sofort ohne Verzögerung das Kommando über deine Leute übernehmen.“ Jim wartete. Der junge Soldat zitterte. „Verstehst du mich?“ fuhr Jim ihn an. Der Gefangene verfiel in einen wahren Krampf von Nicken. „Gut“, sagte Jim. „Adok, bring ihn hinaus. Ich möchte noch ein Wort mit meinem Adjutanten sprechen, bevor ihr geht.“ Adok jagte den Gefangenen auf die andere Seite des Maschenzauns. Jim drehte sich um und winkte sowohl Ham als auch den Gouverneur zu sich. Er deutete auf das Lager unter ihnen.
„Jetzt“, sagte er zu dem Gouverneur, „zeigen Sie Ham den Teil der Lagergrenze, der vor dem Lagerbereich liegt, in dem Cluth wohnt.“ Der Gouverneur wich vor Jim zurück, offensichtlich von der Angst des Gefangenen angesteckt, und streckte einen zitternden Zeigefinger aus, um Ham den von Jim erwähnten Bereich zu zeigen. Ham stellte noch einige Fragen, um sich der genauen Lage zu versichern, und drehte sich dann zu Jim um. „Soll ich den Gefangenen dorthin zurückbringen?“ fragte er Jim. „So ist es, Adjutant“, sagte Jim. „Jawohl, Sir“, sagte Ham und ging durch den Maschenzaun hinaus. Dieses Mal brauchten sie für ihr Unternehmen fast eine Stunde nach Erdenzeit. In dem Augenblick, als sie mit der Meldung zurückkamen, daß sie den Gefangenen vorwärts geschickt und gehört hatten, wie Soldaten vor Cluths Bereich ihn angerufen und mitgenommen hatten, befahl Jim ihnen, die Lichtung zu verlassen und wieder den Abhang hinunter zum Gleiter zu gehen. Auf Jims Befehl hin entfernten sie sich schnell. Erst als sie sich wieder in der Luft befanden, entspannte sich Jim. Er befahl Adok, der am Steuer saß, den Gleiter hochzuziehen und bis zu der größtmöglichen Entfernung wegzufliegen, aus der sie das Lager auf ihren Nachtsichtschirmen noch im Auge behalten konnten. Adok gehorchte. Ungefähr sechs bis acht Minuten später schwenkten sie in eine Umlaufbahn in ungefähr fünftausend Meter Höhe in einer Entfernung von zehn Meilen vom Lager ein. Lautlos wie eine Wolke schwebte das Aufklärungsfahrzeug wie ein riesiges Spielzeug am Ende einer unsichtbaren Schnur von mehr als zehn Meilen Länge über dem schläfrigen Lager unter ihm.
Jim saß bewegungslos auf seinem Sitz und sah auf den Nachtsichtschirm vor Adok in der Steuerung des Gleiters in seinem vorderen Teil. Neben ihm saßen Ham, der Gouverneur und natürlich auch Adok selbst. Sie alle sahen auf den Schirm, hatten aber, mit Ausnahme von Jim, keine Ahnung, worauf sie lauerten. Für eine relativ lange Zeit hatte es den Anschein, als würde sich aus ihrer Beobachtung nichts Außergewöhnliches ergeben. Von Zeit zu Zeit streckte Jim die Hand aus, verstellte die Vergrößerung des Nachtschirms und holte die Straßen und Gebäude näher heran. Die Nachtpatrouillen zogen ohne besondere Vorkommnisse ihre Runden. Die meisten Gebäude blieben dunkel, und so schien es auch zu bleiben. Doch dann zuckte ohne Warnung ein kleiner Lichtblitz auf, kaum heller als eine Laterne. Er schien aus dem Mittelpunkt des Versammlungsgebäudes des Gouverneurs zu kommen. „Ich denke, das ist…“, fing Jim an, als Ham sich an ihm vorbeiwarf, Adok buchstäblich die Steuerung aus der Hand riß, den kleinen Gleiter herumzog und mit Höchstgeschwindigkeit von der Szene wegflog, die sie gerade beobachtet hatten. Adok wehrte sich als der ausgebildete Soldat, der er war, nicht gegen seinen vorgesetzten Offizier. Nach einem kurzen, instinktiven Griff nach der Steuerung in dem Augenblick, in dem sie ihm aus der Hand genommen wurde, glitt er aus dem Führersitz und überließ Ham seinen Platz. Jim lehnte sich nach vorne und sprach in Hams Ohr. „Antimaterie?“ fragte Jim. Ham nickte. Einen Moment später erreichte sie die Druckwelle und wirbelte den kleinen Gleiter wie ein unbedeutendes Insekt, das von der Hand eines Riesen getroffen wird, durch den Nachthimmel. Ham klammerte sich an der Steuerung fest, und schließlich gelang es ihm, das Schiff wieder unter Kontrolle zu
bekommen. In seinem Innenraum hatten sie alle einige Schläge einstecken müssen. Der kleine Gouverneur hatte halb das Bewußtsein verloren und blutete aus der Nase. Jim half Adok dabei, den kleinen Mann aufzurichten und ihn an seinem Sitz festzuschnallen. Ironischerweise war in dem Augenblick, in dem sie von der Druckwelle erreicht worden waren, niemand von ihnen angeschnallt gewesen. „Hat es irgendeinen Sinn zurückzufliegen?“ fragte Jim Ham. Der Adjutant schüttelte den Kopf. „Da gibt es nichts mehr zu sehen“, sagte er. „Nur noch einen Krater.“ „Wieviel Antimaterie war Ihrer Ansicht nach dazu notwendig?“ fragte Jim. Ham schüttelte den Kopf. „Mit den Mengen kenne ich mich nicht genau aus, Sir“, sagte er. „Der gesamte Sprengkörper ist ungefähr so groß, daß Sie ihn bequem in einer Hand halten könnten, aber das ist die Gesamtkonstruktion. Das Element selbst darin ist vielleicht nicht größer als ein Sandkorn, soviel ich weiß… Sir?“ „Ja?“ sagte Jim. „Darf ich Sie vielleicht fragen, Sir“, sagte Ham mit ruhiger Stimme, „was Sie zu der Überzeugung gebracht hat, daß sich in dem Lager dort unten Antimaterie befindet?“ „Das war eine Vermutung, Adjutant“, sagte Jim düster. „Auf einer ganzen Anzahl von Faktoren begründet – hier und auf der Thronwelt.“ „Dann war es also eine Falle“, sagte Ham ohne eine spürbare Emotion in seiner Stimme. „Eine Falle für mich und meine – ich bitte um Entschuldigung, Sir – und Ihre Starkianer. Wir sollten durch die Tür eindringen, die sie offengelassen haben – der unbewachte Zugang direkt von oben zum Hauptgebäude. Die gesamten zehn Einheiten wären ausgelöscht worden.“ Er versank in Schweigen.
„Aber, Sir“, sagte Adok, sah zuerst ihn an und wandte sich dann an Jim, „die Kolonialtruppen müssen doch gewußt haben, daß auch sie vernichtet werden würden…“ „Wie kommst du darauf, daß sie Bescheid wußten, Starkianer?“ sagte Ham. „Es gibt keinerlei Grund für die Annahme, daß derjenige, der ihnen die Antimaterie geliefert hat, ihnen mitteilen sollte, was sie da bekamen.“ Adok gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Kurze Zeit später richtete sich Ham wieder an Jim. „Sir?“ sagte er. „Darf ich den Kommandanten fragen, was Noyaux sind?“ „Soziale Gruppen, Adjutant“, sagte Jim. „Familiengruppen, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, andere Familiengruppen auf jede erdenkliche Art zu belästigen, zu beleidigen und gegen sie zu intrigieren, aber nicht wirklich gegen sie zu kämpfen.“ „Sie…“ – Ham sah kurz zu dem Gouverneur hinüber – „… bilden Noyaux?“ „Ihre vornehmsten Familien“, sagte Jim. „Gewöhnlich sind ihre Streitereien nur ein Zeitvertreib, weil sie im Unterbewußtsein nicht wirklich vorhaben, sich gegenseitig zu verletzen, so fest sie auch bewußt glauben mögen, daß sie bei der leisesten Provokation zum Kampf bereit sind. Es geht aber im Grund darum, daß Noyaux sich nie gegenseitig vertrauen. Als wir uns den Posten von Notrals Wachbereich zur Befragung geholt haben, hat Cluth daraus sofort geschlossen, daß die Person von der Thronwelt, die ihm die Antimaterie geliefert hat, wer immer das auch sein mag, ihn verraten hat. Er hat versucht, sie von ihrem bewachten Aufbewahrungsort zurückzuholen, und dabei ist sie zufällig detoniert. Eigentlich hatte ich nicht darauf gehofft, sondern ich wollte das Lager aufspalten. Dann hätten wir die Möglichkeit bekommen, durch
einen Überraschungsangriff auf Cluths Partei die Antimaterie in unsere Hand zu bekommen.“ „Ich verstehe, Sir“, sagte Ham. Einen Moment lang blieb er still. „Und jetzt, Sir?“ „Jetzt“, sagte Jim grimmig, „machen wir uns so schnell wie möglich auf den Heimweg zur Thronwelt.“ „Jawohl, Sir!“ bestätigte Ham. Danach sagte er nichts mehr, und sowohl Jim als auch Adok saßen wortlos im Gleiter. In der kleinen Kabine herrschte Stille, bis der Gouverneur das volle Bewußtsein wiedererlangte und seinen toten Vetter zu betrauern begann und unter unterdrücktem, leisem Schluchzen Cluths Namen zu murmeln begann.
9
Das Schiff, das Jim und die Starkianer auf diese Welt gebracht hatte, war eine kleinere Ausgabe des Raumschiffs, mit dem Jim von Alpha Centauri III hergekommen war. Es war gerade groß genug, um die zehn Einheiten aufzunehmen, und benötigte nur eine Person als Wache in der Zentrale des Schiffs. Es wurde auf die gleiche ökonomische Weise gelenkt, wie das für die meisten Dinge aus dem Besitz der Hochgeborenen zutraf. Wer auch immer für die Leitung des Schiffs verantwortlich war, brauchte sich nur sein Ziel vorzustellen und konnte es dann dem Schiff überlassen, diese Vorstellung aufzulösen, sie dem Ziel selbst anzupassen und es dann dorthin zu bringen. Bei ihrem Wegflug von der Thronwelt hatte Ham II das Schiff geführt, weil Jim kein geistiges Bild von dem Bestimmungsort hatte. Nun, auf der Rückreise zur Thronwelt, brauchte Jim keine Hilfe. Er mußte sich nur eine beliebige Stelle auf der Oberfläche der Thronwelt vorstellen – sein eigenes Quartier, wenn es sein mußte –, und den Rest übernahm das Schiff. Er machte sich also ein geistiges Bild, und das Schiff gehorchte. Kurz vor der Landung aber nahm er Ham II und Adok beiseite. „Adjutant“, sagte er zu Ham, „halten Sie Ihre Männer an Bord zurück, wenn wir gelandet sind. Gehen Sie nicht direkt in Ihr Quartier zurück, um sich zurückzumelden. Warten Sie hier im Schiff, bis ich Sie rufen lasse.“ Ham blieb eine lange Sekunde lang wortlos stehen. „Das verstößt gegen die normalen Gepflogenheiten“, sagte er schließlich. „Ich nehme an, das ist ein Befehl?“
„Das ist ein Befehl“, sagte Jim. „In diesem Fall…“, sagte Ham, „kann ich mich darüber nur auf einen Befehl des Kaisers hin hinwegsetzen, oder wenn wir Grund zu der Annahme haben, daß es gegen den Wunsch des Kaisers verstößt, wenn wir an Bord bleiben. Nach dem, was wir erlebt haben, bin ich nicht geneigt zu glauben, daß diese Ihre Befehle den Wünschen des Kaisers widersprechen könnten.“ „Sie dürfen mir glauben, Adjutant“, sagte Jim langsam. „Ich habe nur das Wohlergehen des Kaisers im Auge, und im Interesse dieses Wohlergehens ist es wahrscheinlich besser, wenn Sie und Ihre Leute außer Sicht an Bord dieses Schiffs bleiben und noch nicht in Ihr Quartier zurückkehren.“ „Jawohl, Sir“, sagte Ham II bestätigend. „Gehen Sie in Ihr eigenes Quartier zurück, Sir?“ „Ja“, sagte Jim, „und Adok nehme ich mit.“ Er berührte Adok am Arm und transportierte sie beide in sein Quartier zurück. Es war leer. Er suchte Ros Apartment auf. Er fand Ro mit all ihren Haustieren vor – ihren und Afuans –, und sie war damit beschäftigt, die Nägel des affenartigen Tiers zu schneiden, aber sie ließ in ihrer Wiedersehensfreude ihre Geräte fallen und sprang ihn praktisch an. „Jim!“ sagte sie. „Jim!…“ Er ließ sich einen Augenblick lang von ihr umarmen und drückte sie ebenfalls kurz an sich. Dann streichelte er kurz ihren Kopf und griff hinter sich, um ihre Hände zu lösen und ihrer Umarmung zu entkommen. „Es tut mir leid“, sagte er sanft. „Aber die Situation drängt etwas.“ Sie kicherte fast lasziv und ignorierte die Tatsache, daß er ihre Hände festhielt. Ihr Blick tastete ihn ab.
„Ist das deine Starkianer-Uniform?“ fragte sie. „Wie groß du darin aussiehst… Sind die Bänder, die du da trägst, noch aktiviert?“ „Ja“, sagte Jim, der nicht wußte, was er mit ihrer etwas überdrehten Stimmung anfangen sollte, und hoffte, daß eine ruhige Antwort auch sie beruhigen würde. „Tatsächlich?“ kicherte sie wieder. „Zeig’s mir! Brich für mich durch die Wand dort…“ Sie unterbrach sich plötzlich und wurde ernst. „Nein, nein, was sage ich denn?“ Ihre übermütige Stimmung war plötzlich von ihr gewichen. Sie sah ernst zu ihm hoch. „Was ist los, Jim? Du siehst besorgt aus!“ „Besorgt?“ Er ließ ihre Handgelenke los. „Eigentlich nicht – obwohl sich vielleicht etwas abspielt, worüber man besorgt sein könnte. Sag mal, Ro, was ist hier auf der Thronwelt blau?“ „Blau? Du meinst die Farbe Blau?“ fragte sie. Er nickte mit dem Kopf. „Also… normalerweise ist Weiß die Farbe, die wir verwenden. Das weißt du. Manchmal ein wenig Rot. Ich glaube nicht, daß es heutzutage auf der Thronwelt noch viel gibt, das blau ist – bis auf den einen oder anderen Gegenstand, den vielleicht ein Hochgeborener von einer der KolonieWelten mitgebracht hat.“ „Überlege es dir“, sagte Jim und starrte sie unverwandt an. „Überlege es dir genau.“ „Aber da gibt es wirklich keine… oh“, unterbrach sich Ro selbst. „Es sei denn, du willst die gewöhnlichen Dinge mitrechnen. Der Himmel hier ist blau. Und das Wasser ist blau. Oh, und…“ – sie unterbrach sich wieder und lächelte – „… irgendwo im Palast ist noch die blaue Bestie des Kaisers versteckt, wenn du die mitrechnen willst.“ „Blaue Bestie?“ Seine Frage kam so scharf und abrupt, daß sie blaß wurde.
„Aber ja, Jim“, sagte sie und starrte ihn an, „aber das ist nichts. Das ist nur ein Spielzeug, das er früher hatte, als er noch ein kleines Kind war. Er hat dann nur angefangen, nachts schlimm davon zu träumen, und da haben sie es vor ihm versteckt. Ich weiß nicht, wer es versteckt hat oder wo es sich befindet, und ich glaube auch nicht, daß das heute noch jemand weiß. Es wurde aber dann so schlimm, daß alles, was blau war, ihn… durcheinanderbrachte. Das ist der Grund, warum nie etwas Blaues herumliegen darf, wo der Kaiser es sehen könnte. Warum ist das für dich so wichtig?“ Er hörte zwar die Frage am Ende ihres Berichts, aber sie klang für ihn wie ein unwichtiges Geräusch in weiter Ferne. Seine Gedanken rasten, und er machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten. „Ich muß sofort Vhotan treffen“, sagte er. „Wie kann ich ihn finden, Ro?“ „Jim, was ist denn nur los?“ Nun war sie wirklich besorgt. „Vhotan ist beim Kaiser. Beim Kaiser kannst du nicht einfach so hereinplatzen. Oh, ich weiß, du hast das schon einmal getan und bist damit durchgekommen, aber jetzt kannst du das wirklich nicht machen. Besonders jetzt nicht.“ „Warum besonders jetzt nicht?“ fragte Jim. „Jim…“, sagte sie unsicher und trat einen Schritt vor ihm zurück. „Bitte nicht…“ Jim brachte unter größter Anstrengung einen ruhigen Ausdruck in sein Gesicht. „Also gut“, sagte er. „Sag es mir. Warum ist Jetzt so besonders wichtig?“ „Es ist nur so, daß zur Zeit gerade auf den Kolonie-Welten diese Schwierigkeiten aufgetaucht sind“, sagte Ro. „Vhotan hat Starkianer losgeschickt, um den Gouverneuren der niedrigeren Rassen bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten zu helfen, so daß hier auf der Thronwelt jetzt keine mehr
zurückgeblieben sind. Er hat keine Sekunde lang Zeit, um mit irgend jemandem zu reden…“ Sie unterbrach sich und starrte ihn wieder an. „Jim, wirst du mir vielleicht jetzt sagen, was los ist!“ Aber wieder hörte er sie kaum. Seine Gedanken hatten sich nach dieser neuen Information in rasender Schnelligkeit in eine neue Richtung in Bewegung gesetzt. Einen Moment lang starrte er mit leeren Augen aus dem durchsichtigen Fenster des Haustier-Raums auf das Meeresufer… Auch hier ein Meeresufer? Die Vorstellung, daß Afuan einen Sandstrand und ein Stück Ozean mit sich herumtransportieren mußte, um Afuans Haustieren eine Aussicht zu liefern, war so lächerlich, daß sie seine Gedanken mit einem Ruck wieder praktischen Überlegungen zuführte. „Ich möchte mich mit Slothiel in Verbindung setzen“, sagte er und sah wieder Ro an. „Dann müssen wir vier – du, ich, Slothiel und Adok – losgehen und Vhotan aufsuchen, ob er beim Kaiser ist oder nicht.“ „Bist du verrückt, Jim?“ sagte sie. „Du kannst nicht so mit Kraftverstärkern um die Arme zum Kaiser gehen! In seiner Gegenwart darf niemand mehr als einen Stab tragen. Seine Starkianer würden dich automatisch im gleichen Moment töten, in dem du so auftauchst. Wenn du schon mit dieser Verrücktheit weitermachen willst, dann lege wenigstens diese Bänder ab! Auch du, Adok!“ Sie sah an ihm vorbei zu dem Starkianer. Ihre eigenen Hände entfernten bereits die Kraftverstärker vom Jims linkem Oberarm. Was sie sagte, war zweifellos völlig berechtigt, und nach einer Sekunde begann er, ihr zu helfen. Kurze Zeit später besaß er bis auf den Stab an den Schlaufen an seinem Gürtel keine Waffen mehr. Er sah sich um und bemerkte, daß auch Adok seine Bänder abgelegt hatte.
„Jetzt“, sagte er zu Ro, „auf zu Slothiel. Du mußt ihn für uns finden. Ich weiß noch nicht einmal, wo er wohnt.“ Sie berührte seinen Arm, und ohne Übergang standen sie sofort in einer anderen Wohnung. „Slothiel!“ rief Jim, aber aus keiner der drei Türen zu dem Raum, in dem sie erschienen waren, kam eine Antwort. „Er ist nicht hier“, sagte Ro. „Und es hat keinen Sinn, überall auf der Thronwelt nach ihm zu suchen. Möglicherweise ist er uns einen Sprung voraus, und wir holen ihn so nie ein. Am besten wäre es wohl, hier auf ihn zu warten, Jim.“ „Warten?“ sagte Jim. „Warten ist das einzige, was wir uns nicht leisten können. Wir können es einfach nicht…“ Er stockte, denn Slothiel war vor ihm erschienen. „Willkommen zu Hause, Jim“, sagte Slothiel. „Du bist der erste unserer siegreichen Helden, der zurückkommt. Ich habe gehört, daß dein Schiff gelandet ist, aber in deinem Quartier habe ich dich gerade eben nicht angetroffen. Ich habe es bei Ro versucht – und dort habe ich nur einen Haufen abgelegter Kraftverstärker gefunden. Also bin ich hierher zurückgekehrt, um nachzusehen, ob eine Nachricht für mich da ist – und da bist du also!“ Er lächelte und winkte Ro und Jim höflich zu Polstern hin. Adok ignorierte er. „Setzt euch“, sagte Slothiel. „Wie wäre es mit etwas zu essen und zu trinken? Ich kann euch…“ „Nichts!“ unterbrach Jim. „Slothiel, sind Sie dem Kaiser gegenüber loyal?“ Slothiel hob seine Augenbrauen. „Mein lieber Ex-Wolfling“, sagte er mit schleppender Stimme, „alle Hochgeborenen sind dem Kaiser gegenüber loyal. Wie könnten wir denn sonst uns selbst gegenüber loyal sein?“
„Es gibt Loyalität und Loyalität“, sagte Jim unverblümt. „Ich habe Sie nicht danach gefragt, ob sie im akademischen Sinn loyal sind. Ich habe Sie gefragt, ob sie loyal sind, wie das – sagen wir einmal – ein Starkianer ist?“ Slothiel wurde etwas steifer. Seine weißen Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was ist das hier für ein hochnotpeinliches Verhör, Jim?“ fragte er, aber in einem Tonfall, der über spöttische Distanziertheit hinausging. Unter einer oberflächlichen Distanziertheit klang deutliches Interesse mit. „Sie haben mir noch nicht geantwortet, Slothiel“, sagte Jim. „Muß ich denn antworten?“ murmelte Slothiel im Tonfall eines Mannes, der sich zwischen zwei Gerichten auf einem Tablett entscheidet. Seine Augen aber waren weiter unverwandt auf Jim gerichtet. „Ich bin schließlich ein Hochgeborener, und das hier ist nur ein Ex-Wolfling, ein Angehöriger der niedrigeren Rassen… ja, ich werde antworten. Ich bin loyal, Jim.“ Seine Stimme war plötzlich hart geworden und hatte jede Spur von sanftem Spott verloren. „Also, worum geht es? Und ich erwarte eine unumwundene, direkte Antwort!“ „Meine zehn Einheiten von Starkianern“, sagte Jim ruhig, „sind auf Athiya in eine militärische Falle gelockt worden, die keinerlei Falle gewesen wäre, wenn man sie nicht mit Antimaterie-Waffen bestückt hätte.“ „Antimaterie?“ Slothiels Gesicht verzog sich kurz erstaunt, entspannte sich aber schnell wieder, als sein Hochgeborenenverstand die unglaubliche Aussage akzeptierte und schnell weiterarbeitete, um ihre Implikationen zu überprüfen. „Ja, du hast recht, Jim. Darüber müßten wir uns mit Vhotan unterhalten.“
„Das hatte ich schon die ganze Zeit vor“, sagte Jim. „Ich wollte nur noch warten, bis ich Sie gefunden habe, damit ich Sie mit uns anderen mitnehmen kann.“ „Mit uns anderen?“ Slothiel sah Ro und Adok an. „Du und ich reichen aus.“ „Nein“, sagte Jim. „Ich brauche Adok als Zeugen für das, was geschehen ist. Und Ro bleibt bei uns, weil das für sie am sichersten ist.“ „Am sichersten?“ Slothiel warf Ro, die die beiden Männer verwirrt beobachtete, einen schnellen Blick zu. „Ah ja, ich verstehe, was du meinst. Wer auch immer dahintersteckt, könnte sie gefangennehmen und sie als Geisel gegen uns verwenden, wenn wir sie ungeschützt lassen. Also los, Starkianer!“ Er winkte Adok nahe an sich heran, und die vier transportierten sich als Gruppe an ihr Ziel. Sie erschienen in einem Raum, der nicht der gleiche wie der war, in dem Jim Vhotan und den Kaiser zum ersten Mal getroffen hatte. Dieser Raum war größer, etwa so groß wie ein Ballsaal, und hatte einen Wohnbereich an seinem einen Ende. Alle anderen Wände des Saals, bis auf die, vor der sich der Wohnbereich befand, waren bis zu der hohen, weißen Decke mit hellgrünen Wandbehängen bedeckt. In der Mitte des Saals stand ein merkwürdiges Instrument mit einem basketballartigen Kopf, der sich langsam drehte. Dieser Drehung folgend, spielten verschiedene Muster in vielen Farben außer Blau blitzend an der Decke. Der Kaiser saß – fast lag er – auf einem großen Polster am Rande des Saals und starrte angespannt auf diese Muster. In seiner Nähe standen drei Starkianer, die Stäbe trugen und mit Kraftverstärkern ausgerüstet waren. Vhotan stand in ungefähr sechs Meter Entfernung vom Kaiser über eine mit Knöpfen ausgestattete Fläche gebeugt. Dieses Mal saß er zwar
nicht, aber sonst entsprachen seine Position und seine Handlungen denen bei Jims letztem Besuch. Beim Erscheinen der vier Menschen hatten die Starkianer automatisch ihre Stäbe gezogen. Vhotan sah scharf auf, bemerkte Slothiel und winkte die Stäbe in die Schlaufen am Gürtel zurück. Er wandte sich von der Fläche ab und sah die Gruppe an. Jim warf er einen etwas finsteren Blick zu. „Man hat mich noch nicht von der Rückkehr deiner zehn Einheiten in ihr Quartier benachrichtigt“, sagte er zu Jim. „Die Leute kann ich jetzt gut gebrauchen.“ „Das ist der Grund, warum ich ihnen befohlen habe, noch nicht in ihr Quartier zurückzukehren“, antwortete Jim. Vhotan runzelte heftig die Stirn. „Was meinst du damit?“ fragte er scharf. „Und wer hat dir die Autorität verliehen…“ Er wurde von dem plötzlichen Erscheinen eines Dieners unterbrochen – eines Mannes von dem gleichen Aussehen wie Melness, der eine kleine weiße Schachtel trug. „Das ist gerade für Sie abgegeben worden, Vhotan“, sagte der Diener. „Es wurde über Afuan geschickt, und zwar von dem Gouverneur von…“ Der Diener nannte den Reichsnamen für Alpha Centauri. „In Ordnung“, sagte Vhotan finster. Der Diener verschwand. Vhotan trug die Schachtel zu seinem Tisch hinüber, betastete sie einen Moment und hob dann ihren Deckel an. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch weiter. „Was ist das?“ fragte er. Er wollte sich gerade wieder zu ihnen umdrehen, als eine neue Stimme ihn unterbrach. „Das ist doch Erz“, sagte die Stimme. Es war der Kaiser, der aus seiner träumerischen Betrachtung der fließenden Muster an der Decke erwacht war und nun herüberkam, um interessiert in die Schachtel zu sehen. Seine Hand senkte sich herab und erschien wieder mit etwas, das wie ein grobgeschnittener
Granit brocken von ungefähr acht Zentimeter Durchmesser aussah. „Da ist auch noch ein Brief.“ Er holte eine Karte aus der Schachtel und sah darauf. „Darauf steht ,Auf Bitten meines guten Freundes Jim Kell’“, sagte der Kaiser und drehte sich beim Lesen wieder Vhotan und der Gruppe zu, „,sende ich diese Gesteinsprobe von seiner Heimat, dem Planeten Erde, als Souvenir für den Hochgeborenen Vhotan.’“ Der Kaiser lächelte begeistert und hob seine Augen zu Vhotan. „Das ist ein Geschenk für dich, Vhotan“, sagte er vergnügt, „von unserem Ex-Wolfling hier! Da, du nimmst es wohl besser an dich!“ Der Kaiser warf das Gesteinsstück dem älteren Hochgeborenen zu, dessen lange Hände sich automatisch hoben, um es in der Luft aufzufangen. Vhotans Hände schlossen sich um den fliegenden Gegenstand, und sofort war er in gleißend blaues Licht getaucht – in ein Licht, das in die Augen stach und seine Umrisse veränderte, so daß aus seiner menschlichen Gestalt etwas Undeutliches, aber Schweres, Dickes und Tierisches wurde. Der Kaiser schrie, stolperte rückwärts und hob die beiden langfingrigen Hände, um sein Gesicht vor dem Anblick zu schützen. „Neffe…“ Es war die Stimme Vhotans, aber sie war verändert und zu einem brummenden Baß verzerrt. Er hob leuchtend blaue, prankenartige Arme aus Licht und ging einen Schritt auf den Kaiser zu. Der Kaiser schrie wieder auf und stolperte nach hinten. Beinahe wäre er über ein Polster gefallen, konnte sich aber auf den Beinen halten. Seine Absätze klapperten laut auf dem
nackten Boden vor dem Wohnbereich. Er hob einen langen Arm und streckte einen Finger aus. „Die blaue Bestie!“ schrie er zu den Starkianern hinüber. „Tötet sie! Tötet sie!“ Wenn die Starkianer überhaupt zögerten, so dauerte das nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde. Die drei Stäbe wurden zur gleichen Zeit gezogen, hoben sich, und die blau leuchtende Gestalt Vhotans, der noch immer mit ausgestreckten Armen auf den Kaiser zuging, wurde mit Feuer überschüttet. Die Gestalt brach zusammen. Das blaue Licht erlosch. Ein kleines Stück rötlichen Gesteins rollte unbeachtet auf den teppichbedeckten Boden des Wohnbereichs. Auf diesem gleichen Teppich lag Vhotan still und unbeweglich. Sein Gesicht war unberührt, aber sein Körper und seine Gliedmaßen waren durch unglaubliche Brandlinien fast voneinander getrennt. Im Raum herrschte völlige Stille, und nichts rührte sich. Der Kaiser stand da und starrte auf Vhotan. Er starrte ihn eine lange Zeit an, bis sein Gesicht und seine Augen sich zu verändern begannen. „Onkel?“ sagte er mit seiner zitternden, unsicheren Stimme. „Onkel?“ Langsam ging er auf Vhotan zu. Als er näher kam, senkten sich seine Schultern, und sein Gesicht verzerrte sich, als werde er gefoltert. Langsam erreichte er Vhotan und blieb über ihm stehen. Er sah auf Vhotans unberührtes Gesicht herab. Trotz seines gewalttätigen Todes war das Gesicht merkwürdig heiter und gelassen. Seine Augen und sein Mund waren geschlossen, seine Gesichtszüge hatten sich entspannt. Vom Hals an aufwärts sah er wie ein Mann aus, der für einen Moment in stille Meditation oder in Gedanken versunken ist. „Vhotan…“, begann der Kaiser mit gequälter Stimme, aber dann erstarb die Stimme in ihm wie bei einer sprechenden
Puppe, deren Mechanismus abgelaufen ist. Er fror unbeweglich in der Stellung ein, die er gerade einnahm, über Vhotan gelehnt, die Arme halb nach dem älteren Mann ausgestreckt. Einen Augenblick lang erschien es Jim unmöglich, eine solche Stellung aufrechtzuerhalten. Der Kaiser aber blieb unbeweglich wie der Gipsabdruck einer Statue stehen. Hinter Jim rührte sich Slothiel. Er ging nach vorn auf den Kaiser zu. „Oran“, sagte Slothiel. Plötzlich kam vom anderen Ende des Saals amüsiertes Gelächter. Aus seinen Augenwinkeln sah Jim, wie die drei Starkianer blitzschnell herumwirbelten und ihre Stäbe zogen. Dann ertönten drei seltsame, hustende Geräusche, und als Jim seinen Kopf ganz erhoben hatte, sah er die drei Starkianer stolpern und fallen. Sie blieben so still wie Vhotan auf dem polierten Boden des Saals liegen. Jim drehte sich um und sah zum hinteren Ende des polierten Bodens. Dort stand Galyan direkt vor einem der grünen Vorhänge und hielt einen schwarzen Stab in der rechten und eine seltsame Handfeuerwaffe mit einem langen, gewundenen Lauf in der linken Hand. Hinter Galyan standen Afuan und Melness. Als Jim sie bemerkte, warf Galyan die Handfeuerwaffe verächtlich von sich. Sie rutschte über den polierten Boden, bis ihr Weg durch ein Bein eines der toten Starkianer blockiert wurde. Von Melness und Afuan gefolgt, ging Galyan auf das andere Ende des Saals zu, in dem sich der Wohnbereich befand. Seine Absätze hallten merkwürdig laut auf der polierten Fläche des Bodens. Als er näher kam, lachte er wieder über die kleine Gruppe, die dort stand. „Du bist ein ziemliches Problem, Wolfling“, sagte er zu Jim.
„Du kommst nicht nur lebend zurück, sondern zwingst mich auch noch, früher zu handeln, als das geplant war, nachdem du zurückgekommen bist. Aber es ist ja doch noch gut ausgegangen.“ Er erreichte das Ende des polierten Bodens und betrat den Teppich. Er blieb stehen und richtete seinen Blick von Jim auf Slothiel. „Nein, Slothiel“, sagte er spöttisch. „Nicht ,Oran’… ,Galyan’. Wir werden dir beibringen müssen, ,Galyan’ zu sagen.“
10
Galyans Worte schienen wie ein Echo um sie herumzuhallen. Jim sah Slothiel an und bemerkte, daß der andere Hochgeborene sich versteifte und aufrichtete. Mit Ausnahme des Kaisers selbst war Galyan der größte aller Hochgeborenen, die Jim gesehen hatte, aber Slothiel war fast genauso groß. Erst jetzt, als er seine sorgfältig lässig gebeugte Haltung aufgab, konnte man sehen, wie groß er wirklich war. Die beiden Männer, beide über zwei Meter zehn groß, standen sich in einer Entfernung von ungefähr vier Metern auf dem Teppich gegenüber. „Du hast mir noch nie etwas beibringen können, Galyan“, sagte Slothiel mit trockener, harter Stimme. „An deiner Stelle würde ich nicht davon ausgehen, jetzt damit beginnen zu können.“ „Slothiel, sei kein Idiot!“ mischte sich Afuan ein, aber Galyan unterbrach sie. „Das ist ohne Belang“, sagte er scharf. Seine zitronengelben Augen waren noch immer unverwandt auf Slothiel gerichtet. „Wer sind wir denn, daß wir Slothiel sagen sollten, was er zu tun hat? Wie er schon sagte – wir haben ihm noch nie etwas beibringen können.“ „Wir?“ Slothiel lachte bitter. „Sprichst du schon im Pluralis majestatis, Galyan?“ „Habe ich wir gesagt?“ antwortete Galyan. „Da muß ich mich versprochen haben, Slothiel.“ „Du willst ihn also nicht umbringen?“ sagte Slothiel und deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf die gefrorene Gestalt des Kaisers.
„Ihn umbringen?“ sagte Galyan. „Natürlich nicht. Ihn pflegen – das werde ich tun. Vhotan hat sich nie richtig um ihn gekümmert. Ihm geht es nämlich nicht gut, mußt du wissen.“ „Und Ihnen?“ fragte Jim. Galyans Augen zuckten einen kurzen Moment lang zu Jim hinüber. „Nur Geduld, kleiner Wolfling“, schnurrte Galyan. „Du bist bald dran. Im Augenblick amüsiere ich mich noch mit Slothiel.“ „Du amüsierst dich?“ sagte Slothiel mit grimmiger Ironie, die sich dem grausamen Humor in Galyans Stimme anpaßte. „Du solltest dir besser Erklärungen überlegen, wie Vhotan gestorben ist.“ „Ich?“ lachte Galyan leise. „Die Starkianer des Kaisers haben auf den Befehl des Kaisers hin Vhotan getötet. Das hast du gesehen.“ „Und wer hat die Starkianer getötet?“ fragte Slothiel. „Du natürlich“, sagte Galyan. „Du bist verrückt geworden, als du mit ansehen mußtest, wie ohne Grund Vhotans Tod befohlen wurde…“ „Ohne Grund?“ wiederholte Slothiel. „Und was ist mit dem getarnten blauen Zerrlicht? Jim hat das nie über den Gouverneur von Alpha Centauri schicken lassen. Dafür bist du verantwortlich.“ Galyan zuckte mit einem Finger. Melness hastete nach vorn und zur Seite, um das kleine granitartige Felsstückchen vom Teppich aufzuheben und es in eine Tasche seines Kilts zu stecken. Er zog sich hastig wieder hinter Galyan zurück. „Welches Zerrlicht?“ fragte Galyan. „Ich verstehe“, sagte Slothiel. Er holte tief Luft. „Aber ich habe die Starkianer natürlich nicht umgebracht.“ „Das würde ich an deiner Stelle bei anderen Hochgeborenen nicht verbreiten“, sagte Galyan. „Der Kaiser wird jetzt
jemanden brauchen, der sich um ihn kümmert – jetzt, wo Vhotan tot ist, nehme ich die Stelle unseres Onkels ein. Wenn du herumläufst und solche wilden Geschichten erzählst, ist es gut möglich, daß der Kaiser beschließt, für dich zu deinem eigenen Nutzen Isolation und Behandlung anzuordnen.“ „So? Aber selbst wenn ich nichts sage“, meinte Slothiel mit schleppender Stimme, „sind diese drei Starkianer dort mit einem schweren Interdisperser getötet worden. Wenn die anderen Starkianer zurückkommen, werden sie sich darüber Gedanken machen, daß drei von ihnen mit einem Stab allein getötet worden sind, obwohl sie alle drei voll aktivierte Kraft Verstärker trugen, und sie werden sich fragen, wie das möglich war. Ich kann beweisen, daß ich seit Jahren nicht mehr im Arsenal für schwere Waffen war.“ „Ohne Zweifel“, sagte Galyan. „Du hast aber gesagt: ,wenn die anderen Starkianer zurückkommen’. Sie werden nicht zurückkommen, verstehst du?“ Slothiel sah sich plötzlich nach Jim um. Jim nickte. „Der Wolfling hat also die Nachricht über unsere kleinen Fallen auf den Kolonie-Welten zurückgebracht, nicht wahr?“ meinte Galyan. Sowohl Jim als auch Slothiel sahen wieder auf den großen Hochgeborenen. „Du weißt also Bescheid, Slothiel. Die Starkianer kommen nicht zurück. Ich habe vor, neue Starkianer zu schaffen – und die werden mir gehorchen und nicht dem Kaiser. Du siehst auf jeden Fall die Wahl, vor der du stehst. Halte den Mund – oder du wirst von der Bildoberfläche entfernt.“ Slothiel lachte, griff neben sich und zog den Stab aus den Schlaufen in Adoks Gürtel. Auch Galyan lachte, aber mit einem halb ungläubigen Ton von Verachtung in seiner Stimme. „Hast du tatsächlich den Verstand verloren, Slothiel?“ sagte er. „Wir haben als Jungen gefochten. Deine Reflexe sind
schnell, aber du weißt, daß niemand schneller ist als ich. Außer…“ Er nickte zu der noch immer gelähmten Gestalt des Kaisers hinüber. „Als Männer haben wir es aber noch nicht versucht“, sagte Slothiel. „Außerdem habe ich die ganze Schauspielerei hier auf der Thronwelt satt. Ich glaube, ich möchte dich gern umbringen.“ Er trat einen Schritt vor. Galyan ging hastig auf den polierten Boden des Saals zurück und zog langsam den Stab aus den Schlaufen in seinem eigenen Gürtel. „Wie wäre es mit einer Wette?“ sagte er. „Wetten wir um genug Lebenspunkte, daß es zu einer Verbannung reicht, Slothiel. Wie wäre es mit fünfzig Lebenspunkten? Damit dürften wir beide über das Limit kommen.“ „Erzähl mir hier nichts von Spielereien“, sagte Slothiel. Fuß um Fuß ging er langsam auf Galyan zu, der seinerseits ebenso langsam in einem großen Bogen vor ihm zurückwich. „Ich glaube, an Wetten habe ich keinen Spaß mehr. Ich brauche etwas Aufregenderes.“ Sie hatten inzwischen fast die Mitte des Bereichs mit dem polierten Fußboden erreicht. Noch immer trennten sie ungefähr vier Meter, aber sie neigten sich in ihrer Größe nach vorn und zogen ihre breiten Schultern vor, so daß es den Anschein hatte, als trenne sie kaum mehr als eine Armlänge. Aus Slothiels Stab zuckte abrupt der weiße Blitz seiner Entladung. Zur gleichen Zeit lehnte er sich zurück und zur Seite in dem Versuch, Galyan auszumanövrieren und von der Seite zu erreichen. Galyan aber duckte sich unter den weißen Blitzstrahl, der an die Stelle zuckte, wo sich gerade eben noch sein Kopf befunden hatte, drehte sich, noch immer geduckt, pfeilschnell auf seinem Absatz herum, so daß er sich Slothiel zuwandte. Auch sein Stab spuckte nun weißes Feuer.
Wäre er ein wenig schneller gewesen, hätte es Galyan schaffen können, mit seinem Feuerstrahl die Entladung aus Slothiels Stab zu unterlaufen. Die Zeit aber, die Galyan für seine Wendung brauchte, reichte für Slothiel aus, um seine eigene Waffe zu senken, so daß die Entladung aus Galyans Waffe direkt auf Slothiels Blitz traf und die beiden Ströme aus weißem Feuer sich harmlos in einem Funkenregen verloren. Von diesem ersten Augenblick an verloren die Feuerströme aus den beiden Stäben nie mehr den Kontakt zueinander. Nach diesem ersten riskanten Manöver der beiden Männer (und Jim hatte mit Adok den Gebrauch der Stäbe oft genug geübt, um einschätzen zu können, wie groß das Risiko gewesen war) – Slothiels Angriff und Galyans Abwehr – kämpften die beiden Hochgeborenen defensiv und vorsichtig und führten mehr als ein Dutzend einigermaßen herkömmliche direkte Begegnungen durch. Wie Jim während seiner Übungen mit Adok festgestellt hatte, war der Kampf mit den Stäben dem Säbelfechten sehr ähnlich, wenn man sich Säbel vorstellte, die oft und unerwartet ihre Länge änderten. Der Entladungspunkt des Feuerstroms aus den Stäben – der Punkt, an dem die Entladung ihre größte Zerstörungskraft entwickelte – lag an der Spitze eines inneren Kegels aus rein weißem Licht, und dieser Kegel konnte von demjenigen, der den Stab in der Hand hielt, beliebig von einer Entfernung von zehn Zentimetern bis zu vier Metern verschoben werden. An diesem Punkt entwickelte der Stab seine größtmögliche Energie. Bei einer direkten Abwehr konnte die Kegelspitze eines Stabes nur durch die Kegelspitze eines anderen blockiert und neutralisiert werden. Verfehlte aber eine Kegelspitze ihr Ziel, so konnte der gegnerische Stab seine Kegelspitze in den Feuerstrom hinter den Entladungspunkt des Gegners richten und den Kegel ablenken, so daß der Kegel des Angreifers ungehindert sein Ziel erreichte.
Es ging daher nicht nur darum, den Feuerstrom aus dem Stab des Gegners abzulenken, sondern er mußte mit einem Teil des eigenen Feuerstroms abgelenkt werden, und zwar mit dem Teil, der stärker als der Strom des Gegners am Berührungspunkt war. Slothiel und Galyan bewegten sich auf dem polierten Fußboden und vermieden es sorgfältig, sich an eine der grün verhangenen Wände drücken zu lassen. Die Begegnungen ihrer Waffen erzeugten einen ständigen Funkenregen, der plötzlich zu Lichtfontänen explodierte, wenn die beiden Kegelspitzen in direkten Kontakt miteinander kamen. Galyan lächelte grimmig mit dünnen Lippen und schmalen Nasenflügeln. Slothiel auf der anderen Seite kämpfte nach seinem ersten wilden Angriff mit einer Art träumerischer Grazie und entspanntem Gesicht, als sei dies nicht ein Duell bis zum Tod, sondern ein unbedeutender sportlicher Wettkampf, bei dem er vielleicht einen kleinen Betrag auf seinen Sieg gewettet hatte. Slothiels offensichtliche Lässigkeit war jedoch kein echter Hinweis auf den Verlauf des Duells. Vor kaum mehr als vor einigen Wochen hätte es für Jim eher wie ein perfekt einstudierter Tanz ausgesehen, den zwei große Männer mit Fackeln in ihrer Hand durchführten – ein Tanz, mit dem mehr als alles andere der Bewegungsrhythmus der Männer und die Schönheit des Feuers in ihren Händen vorgeführt werden sollte. Inzwischen wußte er es jedoch besser, und weil er es besser wußte, konnte er erkennen, daß für dieses Duell nur ein Ende denkbar war. So elegant und schnell Slothiel auch war – Galyan hatte ihn doch schon ein halbes Dutzend Male beinahe am Schluß einer Begegnung der Kegelspitzen der beiden Waffen erwischt. Früher oder später würden es Slothiels Glück und Geschick nicht verhindern können, daß er bei der Ablenkung des Feuers aus der Waffe seines Gegners ein wenig zu langsam war.
Galyan war tatsächlich der schnellere der beiden, und das hieß in einem solchen Duell alles. So konnten sie auch alle das Ende beobachten. Galyan sprang plötzlich nach links, hob seine Flamme etwas an, senkte sie unter Slothiels abwehrenden Feuerstrom, hob sie sofort wieder an und führte sie über Slothiels linken Oberschenkel und seinen linken Oberarm, mit dem er seine Waffe hielt. Slothiel sank auf dem polierten Boden auf sein rechtes Knie. Sein linker Arm hing nutzlos herab, sein Stab fiel auf den Boden und rutschte etwas von ihm weg. Er lachte in Galyans Gesicht hoch. „Das findest du also witzig, was?“ keuchte Galyan. „Ich werde dir dein Lächeln vom Gesicht wischen!“ Galyan hob seinen Stab und richtete ihn auf Slothiels Gesicht. „Galyan!“ brüllte Jim und rannte nach vorn. Der Klang seiner Stimme hielt Galyan nicht auf, aber die schnellen Schläge von Jims Schuhen auf dem polierten Boden schafften es. Galyan fuhr wie eine Katze herum. Jim hatte beim Laufen seinen eigenen Stab aus dem Gürtel gezogen. Es blieb ihm gerade genug Zeit, um ihn anzuheben und die Flamme aus ihm herauszujagen, bis Galyans Stab sich ebenfalls entlud und mit einem Funkenregen auf sie traf. Jim schob die Flammen aus beiden Stäben nach oben, löste sich und trat zurück. Galyan lachte. „Wolfling, Wolfling…“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Dir ist wohl nie wirklich klargeworden, was es heißt, ein Hochgeborener zu sein, nicht wahr? Ich werde dir wohl eine Lektion erteilen müssen, meinst du nicht auch?“ „Jim!“ rief Slothiel vom Boden hinter Galyan aus. „Tu’s nicht! Du hast keine Chance! Lauf!“ „Ihr täuscht euch beide“, sagte Jim. Nun, da er sich tatsächlich mit Galyan eingelassen hatte, arbeitete sein
Verstand eiskalt, und die entfernte Kühle seiner Stimme reflektierte diese Eiseskälte in seinem Innern. Er begann den Kampf gegen Galyan, und sie führten mindestens ein Dutzend Angriffs- und Verteidigungsmanöver durch. Galyans Augenbrauen hoben sich. „Gar nicht schlecht“, sagte er. „Für jemanden, der kein Hochgeborener ist, sogar sehr gut – und für einen Wilden unglaublich gut. Es tut mir wirklich leid, dich zu verschwenden, Wolfling.“ Jim antwortete nicht. Er kämpfte konservativ und vorsichtig weiter und war nur bemüht, die Kegelspitze aus Galyans Waffe immer vor der aus seiner eigenen zu halten und sicherzustellen, daß er nicht an die Wand gedrückt wurde. Hätte er nicht schon auf der Erde Fechterfahrung mit Florett, Degen und Säbel sammeln können, wäre es ihm in den wenigen Wochen, in denen er mit Adok den Gebrauch des Stabs eingeübt hatte, nie gelungen, genug davon lernen zu können. Diese Erfahrung aber, kombiniert mit seiner angeborenen Begabung, zahlte sich nun aus. Langsam wurden seine Bewegungen im Verlauf des Duells immer sicherer. „Wenn ich es mir überlege – warum soll ich dich eigentlich verschwenden?“ keuchte Galyan während einer der Begegnungen, in der sich ihre Gesichter bis auf einige Zentimeter einander genähert hatten. Die weiße Gesichtshaut des Hochgeborenen glänzte vor Schweiß. „Sei vernünftig, Wolfling, und zwinge mich nicht dazu, dich zu töten. Slothiel muß sowieso sterben – jetzt. Für dich aber hatte ich große Pläne. Ich hatte dich als Anführer meiner neuen Starkianer vorgesehen.“ Jim blieb weiter still, steigerte aber die Geschwindigkeit seines Angriffs. Plötzlich hörte er seitlich das Geräusch laufender Füße auf dem kahlen Boden und Ros Stimme, die rief:
„Bleib zurück!“ Jim wagte im Augenblick nicht aufzusehen, aber einige Sekunden später fand er sich mit dem Gesicht auf den Wohnbereich gerichtet. Mit einem schnellen Blick sah er Ro neben dem gefallenen Slothiel stehen und Afuan mit dem Stab in Schach halten, den Slothiel fallen lassen hatte. Melness lag zu Adoks Füßen ausgestreckt, und es sah so aus, als sei das Genick des obersten Dieners gebrochen. Nur die unbewegliche Gestalt des Kaisers über dem toten Vhotan war unverändert. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ fuhr Galyan plötzlich Jim an. „Ich erwarte eine Antwort, wenn ich mit dir spreche, Wolfling!“ Jim wehrte einen hohen Angriff der größeren Gestalt ab und trat, sich daraus lösend, wortlos nach links. „Also gut!“ sagte Galyan und zeigte mit einem fast mechanischen Lächeln seine Zähne. „Jetzt reicht es mir! Bisher habe ich mit dir nur gespielt, weil ich hoffte, du würdest zur Vernunft kommen. Damit ist es jetzt vorbei. Jetzt stirbst du, Wolfling!“ Der Hochgeborene griff plötzlich mit einem Funkenregen an, und Jim mußte um sein Leben kämpfen. Galyan hatte durch seine größere Reichweite einen enormen Vorteil, und der größere Mann nutzte diese Reichweite und die Sprungkraft seiner langen Beine nach besten Kräften zu seinem Vorteil aus. Jim parierte zwar ständig und schnell, sah sich aber gezwungen zurückzuweichen. Er trat langsam zurück, aber Galyan bedrängte ihn aus der Nähe und zwang ihn damit noch weiter zurück. Jim versuchte, nach rechts einen Bogen zu schlagen, sah diesen Weg aber durch den grellweißen Blitz aus Galyans Waffe abgeschnitten. Er versuchte, nach links auszubrechen, doch Galyans Reichweite war größer. Jim konnte aus den Augenwinkeln die anderen Wände des Raums erkennen und schätzte aus ihrer Entfernung, daß die vierte Wand dicht hinter
seinem Rücken sein mußte. Wenn es Galyan gelang, ihn an diese Wand zu drängen, so bekam der Hochgeborene dadurch einen Vorteil, der das Duell schnell zu seinem Ende führen mußte. Galyan bleckte nun ständig die Zähne, und von seinem Kinn tropfte der Schweiß. Seine weit überlegene Reichweite verhinderte jedes Ausweichen nach rechts oder links, und sehr bald war für Jim auch der Weg nach hinten versperrt. Aus diesem Flammengefängnis, mit dem Galyan ihn umgab, blieb nur ein einziger Ausweg. Er mußte Galyan in seiner größten Stärke übertreffen. Jim mußte Galyans Angriff mit einem eigenen Angriff begegnen und ihn damit zunächst zum Abstoppen bringen, um ihn dann seinerseits zum Rückzug zu zwingen. Bei einem solchen Angriff konnte es auf Galyans überlegene Reichweite nur eine Antwort geben – und das war Geschwindigkeit. Jim mußte schneller sein als der Hochgeborene. Es hatte keinen Sinn, länger zu zögern. Jim beendete eine Abwehr und griff heftig an. Galyan zog sich unter der ersten Wut von Jims Angriff überrascht und rein reflexiv drei Schritte zurück, aber dann hielt er seine Stellung. Er lachte, kurz keuchend. Er schien etwas sagen zu wollen, entschloß sich aber dann offensichtlich, seinen Atem zu sparen, denn weder er noch Jim konnten viel davon erübrigen. Sie führten mehr als ein Dutzend Angriffe und Verteidigungen praktisch in direkter Berührung durch, und keiner von beiden gab auch nur einen Zoll nach. Dieses mörderische Tempo konnte keiner der beiden Männer noch eine weitere Minute durchhalten, ohne aus Erschöpfung und Atemlosigkeit zusammenzubrechen, aber Jim ließ nicht nach, und langsam wurden Galyans Augen immer größer. Er starrte Jim über die beiden zusammenstoßenden Feuerströme und durch den Funkenregen an.
„Du… kannst… doch… nicht…“, keuchte er. „Ich kann…“, schnaufte Jim. Unerwarteterweise verzog sich Galyans Gesicht zu einer Grimasse rasender Wut. Er löste sich aus Jims Angriff und begann sofort, mit seinem Stab einen Kreis von Feuer zu schlagen – fast wie das Manöver, das man beim Kampf mit Stäben Moulinet nennt. Es handelte sich um den einfachen, brutalen Versuch, mit seiner Kegelspitze die aus Jims Waffe zu überholen. Wenn es Galyan gelang, schneller als der abwehrende Kegel zu werden, blieb ihm der Bruchteil einer Sekunde, in der er Jims Abwehr von oben durchbrechen und ihn vernichten konnte. Galyans Flamme zog ihren Kreis und hielt die Geschwindigkeit mit seinem Stab. Dieses verzweifelte Rennen hielt für einen vollen Kreisbogen an, ohne daß Galyans Waffe einen Vorsprung herausholen konnte – und dann war es Jims Kegelspitze, die vorzog. Er holte einen Vorsprung heraus, begann den nächsten Kreis, brach über den Feuerstrahl aus Galyans Waffe durch und schoß die volle Kraft seiner Flamme in die ungeschützte Brust des größeren Mannes. Galyan schwankte und fiel. Dabei schwang er seine Waffe herum nach unten und berührte mit dem Ende seines Stabs Jim direkt unter den Rippen an seiner Seite, bevor er ihm aus der Hand und auf den Boden fiel. Jim spürte in seinem Innern eine plötzliche Kälte und Leere. Dann sank Galyan zu seinen Füßen zu Boden. Jim hob langsam den Kopf. Er atmete schwer, um seinen erschöpften Körper wieder mit Sauerstoff zu versorgen. Er sah durch schweißüberströmte Augen, daß Slothiel jetzt den Stab in der Hand hielt, den vorher Ro an sich gebracht hatte, und Afuan damit bedrohte. Nicht nur das, sondern Jim stellte auch noch verblüfft fest, daß Slothiel wieder auf den
Beinen war, wenn er sich auch schwer auf Ro stützte. Sobald er zum Gehen wieder genug Luft geschnappt hatte, bewegte sich Jim langsam von Galyans Leiche auf Slothiel und Ro zu. „Jim…“, sagte Slothiel voller Verwunderung, sah ihn an und steckte den Stab zurück in die Schlaufen an seinem Gürtel. Er ignorierte Afuan, als Jim näher kam. „Was bist du?“ „Ein Wolfling“, sagte Jim. „Wie kommt es, daß du wieder auf den Beinen bist?“ Slothiels Lachen enthielt nicht nur Freude. „Mit der Hilfe unserer Energiequellen heilen unsere Wunden schnell. So ist das bei uns Hochgeborenen“, sagte er. „Aber wie steht es bei dir?“ „Es geht“, sagte Jim. Er hielt seinen Ellenbogen fest gegen die Seite seiner Brust gedrückt. „Aber ich habe noch eine Leiche zum Wegräumen zurückgelassen. Ich glaube, für mich ist es Zeit, wieder nach Hause zu gehen.“ „Nach Hause?“ wiederholte Slothiel. „Zurück zur Erde – auf den Planeten, von dem ich gekommen bin“, sagte Jim. „Je besser das alles vertuscht wird, desto besser ist es für den Kaiser. Mich wird niemand vermissen, wenn ich verschwinde, und den anderen Hochgeborenen kann man ja erzählen, daß Galyan in einem Wahnsinnsanfall Vhotan und die Starkianer getötet hat und ihr ihn daher töten mußtet, bevor er auch noch den Kaiser umbrachte.“ Er sah zu Afuan hinüber, die wie eine große, weiße Statue dastand. „Das heißt“, sagte Jim, „wenn ihr die Prinzessin dazu überreden könnt, den Mund zu halten.“ Slothiel sah nur kurz zu ihr hinüber. „Afuan wird mir nicht widersprechen“, sagte Slothiel. „Galyan hatte den Plan, vom Kaiser die Entscheidung treffen zu lassen, daß ich Isolierung und Behandlung brauche, wenn
ich ihm widerspreche. Das gleiche kann nun sehr gut für sie zutreffen.“ Er drehte sich um, ließ Ro los und ging, zwar ein wenig hinkend, aber völlig aus eigener Kraft, von dem polierten Boden auf den Teppich und zur unbeweglichen Gestalt des Kaisers. Jim und Ro folgten ihm. Slothiel berührte den Kaiser leicht am Arm. „Oran“, sagte er sanft. Einen Augenblick lang rührte der Kaiser sich nicht. Dann richtete er sich langsam auf, drehte sich um, und ein warmes Lächeln erfüllte dabei seine Züge. „Slothiel!“ sagte er. „Schön von dir, so schnell zu kommen. Weißt du, daß ich Vhotan nirgends finden kann? Vor ein paar Minuten noch war er hier, und ich könnte schwören, daß er den Raum nicht verlassen hat, aber er ist vollständig verschwunden.“ Der Kaiser schaute über die große Fläche des polierten Fußbodens, sah auf die behängten Wände, zurück in den Wohnbereich und an die Decke, wo noch immer die bunten Muster spielten. Er sah überallhin, nur nicht auf die stille Gestalt zu seinen Füßen. „Weißt du, Slothiel, ich hatte einen Traum“, sprach der Kaiser weiter und sah den anderen Hochgeborenen verträumt an. „Das war gerade letzte Nacht – oder zumindest irgendwann kürzlich. Ich habe geträumt, daß Vhotan tot sei, Galyan tot sei und alle meine Starkianer tot seien. Und als ich mich im Palast und auf der Thronwelt umsah, um andere Hochgeborene zu finden und ihnen das zu erzählen, war niemand da – weder im Palast noch auf der ganzen Welt. Ich war völlig allein. Du meinst doch wohl auch, man sollte mich nicht so allein lassen, nicht wahr, Slothiel?“ „Solange ich lebe, wird das nicht geschehen, Oran“, sagte Slothiel.
„Ich danke dir, Slothiel“, sagte der Kaiser. Er sah sich jedoch noch einmal im Raum um, und seine Stimme wurde ein wenig ärgerlich. „Trotzdem hätte ich gern gewußt, was aus Vhotan geworden ist. Warum ist er nicht hier?“ „Er mußte für eine Zeitlang weggehen, Oran“, sagte Slothiel. „Er hat mir gesagt, ich soll bei dir bleiben, bis er wiederkommt.“ Das Gesicht des Kaisers strahlte wieder mit einem warmen Lächeln auf. „Na, dann ist ja alles in Ordnung!“ sagte er vergnügt. Er legte eine Hand um Slothiels Schulter und sah sich erneut im Raum um. „Da ist ja auch Afuan – und die kleine Ro und unser kleiner Wolfling. Ex-Wolfling, sollte ich wohl sagen.“ Er sah Jim an, und langsam verschwand sein Lächeln und machte einem feierlichen, fast traurigen Gesichtsausdruck Platz. „Du gehst weg, nicht wahr – Jim?“ Er hatte den Namen offensichtlich mühsam aus einer Ecke seines Gedächtnisses hervorgekramt. „Ich meine doch, ich habe gerade jemanden so etwas sagen hören.“ „Ja, Oran“, sagte Jim. „Ich muß jetzt gehen.“ Mit noch immer feierlichem Gesicht nickte der Kaiser. „Ja, das habe ich gehört“, sagte der Kaiser halb zu sich selbst. Seine Augen richteten sich auf Jim. „Weißt du, manchmal höre ich Dinge, auch wenn ich nicht wirklich zuhöre. Ich verstehe sie auch – manchmal verstehe ich sie besser als jeder andere Hochgeborene. Es ist gut, daß du wieder zu deiner Heimatwelt zurückkehrst, Jim.“ Die Hand des Kaisers glitt von Slothiels Schulter herab. Er trat einen Schritt vor, blieb vor Jim stehen und sah auf ihn herab.
„Da draußen seid ihr noch voll von junger Energie, Jim“, sagte er. „Und wir hier sind müde. Manchmal sehr müde. Für dich und deine Wolflinge wird alles in Ordnung gehen, Jim. Das kann ich sehen, weißt du – solche Dinge sehe ich sehr oft ganz klar…“ Seine zitronengelben Augen schienen sich zu umwölken und in eine unendliche Ferne zu schauen, so daß er nicht auf Jim, sondern durch ihn hindurchsah. „Ich habe bemerkt, daß du deine Sache gut machst, Jim“, sagte er. „Du und die anderen Wolflinge. Und was für dich gut ist, das ist gut für alle – für uns alle.“ Seine Augen wurden wieder klar und sahen direkt auf Jim. „Irgend etwas sagt mir, daß du mir einen sehr wertvollen Dienst erwiesen hast, Jim. Ich meine, ich sollte deine Adoption zu Ende bringen, bevor du weggehst. Ja, ich erkläre dich von diesem Augenblick an zum Hochgeborenen, Jim Kell.“ Plötzlich lachte er leicht. „… Ich gebe dir nichts, was du nicht schon besitzt.“ Er richtete sich auf und drehte sich wieder zu Slothiel um. „Was soll ich jetzt tun?“ fragte er Slothiel. „Ich denke, Sie sollten Afuan jetzt in ihre Wohnung zurückschicken“, sagte Slothiel, „und ihr sagen, sie soll dort bleiben, bis sie wieder von Ihnen hört.“ „Ja.“ Der Kaiser ließ seinen Blick herumschwenken und richtete ihn auf Afuan, aber sie sah ihn nur einen Augenblick lang an und wandte sich dann wütend Jim und Ro, die neben ihm stand, zu. „Dreckskerl! Wilder!“ fauchte sie. „Kriech in die Büsche und deck sie!“ Jim verkrampfte sich, aber Ro hielt seinen linken Arm fest. „Nein!“ sagte sie fast stolz. „Das ist nicht nötig. Siehst du das nicht – sie ist eifersüchtig! Eifersüchtig auf mich!“ Sie hielt ihn noch immer fest am Arm und sah in sein Gesicht hoch.
„Ich gehe mit dir, Jim“, sagte sie. „Mit zurück auf deine Welt.“ „Ja“, sagte der Kaiser unerwartet, aber nachdenklich. „Ja, das ist richtig. So habe ich es gesehen. Die kleine Ro sollte mit ihm gehen…“ „Afuan!“ sagte Slothiel scharf. Die Prinzessin warf ihm einen Blick zu, der ebenso haßerfüllt war wie der, den sie gerade auf Jim und Ro gerichtet hatte. Sie verschwand. Jim verschwamm plötzlich alles vor den Augen. Er nahm sich unter größter Anstrengung zusammen, und der Raum um ihn herum beruhigte sich wieder. „Dann müssen wir uns schnell auf den Weg machen“, sagte er. „Ich schicke dir die Starkianer von meinem Schiff, Slothiel. Du kannst sie ja in der Nähe des Kaisers stationieren, bis es dir gelungen ist, so viele wie möglich von den Einheiten zurückzurufen, die zu den Kolonie-Welten geschickt wurden. Wenn du den Befehl schnell erteilst, dürften nicht allzu viele in Galyans Antimaterie-Fallen geraten.“ „Das werde ich tun. Adieu, Jim“, sagte der Kaiser. Er trat nach vorne und streckte seine Hand aus. Jim befreite seinen linken Arm aus Ros Griff und nahm die langen, schmalen Finger ungeschickt in seine eigene linke Hand. „Adok“, sagte der Kaiser, ohne Jims Hand loszulassen. Er sah dabei jedoch den Starkianer an. „Hast du eine Familie?“ „Nicht mehr, Oran“, sagte Adok in seinem üblichen, neutralen Tonfall. „Mein Sohn ist erwachsen, und meine Frau ist in die Frauensiedlung zurückgegangen.“ „Möchtest du mit Jim gehen?“ fragte der Kaiser. „Ich…“ Zum ersten Mal, seit Jim ihn kannte, schienen dem Starkianer die Worte zu fehlen. „Ich habe keine Erfahrung in Mögen oder Nichtmögen, Oran.“
„Wenn ich dir den Befehl erteile, mit Jim und Ro zu gehen und für den Rest deines Lebens bei ihnen zu bleiben“, sagte der Kaiser, „gehst du dann gern mit?“ „Ja, Oran – gern“, sagte Adok. Der Kaiser ließ Jims Hand los. „Du wirst Adok brauchen“, sagte er zu Jim. „Vielen Dank, Oran“, sagte Jim. Ro packte ihn wieder fest am Arm. „Adieu, Oran. Adieu, Slothiel“, sagte Ro. Sofort standen sie nicht mehr in dem Saal im Palast, sondern am Dock im Raumflughafen, wo Jim das Schiff mit seinen zehn StarkianerEinheiten zurückgelassen hatte. Als sie erschienen, stand Ham wie eine Wache direkt vor dem Schiff. Er drehte sich schnell Jim zu. „Gut, Sie wiederzusehen, Sir“, sagte er. Unerwarteterweise spürte Jim, wie das Schiff und das Dock vor seinen Augen wieder zu schwanken und sich zu drehen begannen. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, sich wieder einen klaren Kopf zu verschaffen, um zu hören, was Adok zu Ham sagte. „Der Hochgeborene Vhotan und Prinz Galyan sind tot“, teilte er ihm hastig mit. „Außerdem sind drei Starkianer umgekommen. Der Hochgeborene Slothiel hat Vhotans Stelle eingenommen. Du und deine Leute sollen sich beim Kaiser melden.“ „Jawohl, Sir“, bestätigte Ham und verschwand. Abrupt standen Jim, Ro und Adok im Schiff. Wieder verlor Jim kurz die Orientierung, und er spürte, wie Ro ihm sanft dabei half, sich auf die ebene Fläche eines Polsterbetts zu legen. „Was ist los – Adok!“ Er hörte ihre Stimme, aber wie aus weiter Entfernung, als stünde sie am hinteren Ende eines abschüssigen Gangs, in dem er immer schneller und immer
weiter von ihr wegrutschte. Er konzentrierte sich mit aller Kraft und stellte sich in Gedanken zuerst den Raumhafen auf Alpha Centauri III und danach den Raumhafen auf der Erde vor, von dem aus er abgeflogen war. Das war seine letzte Anstrengung – von jetzt an mußte das Schiff übernehmen. Nach dem zu urteilen, was er in den Archiven der Lernzentren auf der Thronwelt gelesen hatte, zweifelte er jedoch nicht daran, daß es dem Schiff gelingen würde, nach den Anweisungen, die er erteilt hatte, die Erde zu finden. Er entspannte sich und ließ sich weiter den abschüssigen Gang hinabgleiten. Eines blieb ihm aber noch zu tun. Er kämpfte sich für eine Sekunde zurück ins Bewußtsein und zu Ro. „Galyan hat mir im Sterben die Seite verbrannt“, murmelte er ihr zu. „Ich sterbe jetzt. Deshalb mußt du es ihnen an meiner Stelle auf der Erde sagen, Ro. Sag ihnen… alles…“ „Aber du wirst nicht sterben!“ Ro weinte und umklammerte ihn fest mit beiden Armen. „Du stirbst nicht… das darfst du nicht…“ Aber noch während sie ihn hielt, entglitt er ihrem Griff und rutschte – dieses Mal ohne weitere Unterbrechung oder Hoffnung auf Wiederkehr – jenen langen, abschüssigen Gang hinunter in bodenlose Finsternis.
11
Als Jim nach dieser langen Reise in die Dunkelheit endlich wieder die Augen öffnete und Licht sah, brauchte er mit der Hilfe dieses Lichts lange, um die Umrisse der Gegenstände um ihn herum zu erkennen. Er fühlte sich, als sei er jahrelang tot gewesen. Allmählich aber schärfte sich sein Blick. Die Aufnahmefähigkeit kehrte zurück. Es drang ihm in das Bewußtsein ein, daß er auf dem Rücken auf einer Fläche lag, die härter als jedes Polster war – und die Decke, die er anstarrte, war zwar weiß, hatte aber eine merkwürdig körnige Struktur und war nahe über ihm. Unter größter Anstrengung gelang es ihm, seinen Kopf zur Seite zu drehen. Er bemerkte Umrisse, die er allmählich als kleinen Nachttisch, einige Stühle und einen weißen Wandschirm erkannte, wie er in Krankenhäusern verwendet wird. Alles in allem sah er ein einzelnes Zimmer mit einem Fenster am hinteren Ende, das ein gelbes Sommersonnenlicht einließ, wie er es nun einige Zeitlang nicht mehr gesehen hatte. Durch das Fenster konnte er nur den Himmel sehen, einen blauen Himmel, auf dem vereinzelte weiße Wolkenfetzen verteilt waren. Er lag da, starrte in den Himmel und versuchte langsam, sich Klarheit über die Ereignisse zu verschaffen. Offensichtlich befand er sich auf der Erde. Das bedeutete, daß mindestens fünf Tage vergangen sein mußten, seit er bewußtlos geworden war. Wenn er aber auf der Erde war, was hatte er dann hier zu suchen? Wo war hier? Und wo waren Ro und Adok, von dem Schiff ganz zu schweigen? Von der Tatsache, daß er am Leben zu sein schien, wozu er sicherlich kein Recht hatte, gar nicht zu reden.
Er lag bewegungslos da und überlegte. Nach kurzer Zeit berührte er geistesabwesend die Stelle an seiner Seite, wo die Flamme aus Galyans Stab in ihn eingedrungen war, als der Hochgeborene starb. Seine Seite fühlte sich jedoch glatt an und schien in Ordnung zu sein. Voller Neugier schob er die Decken zur Seite, hob das blaue Schlafanzugoberteil, das er trug, hoch und untersuchte seine Seite. Soweit er sehen konnte, sah sein Körper aus, als sei er nie verwundet worden. Er deckte sich wieder zu und lehnte sich zurück. Er fühlte sich gut, wenn auch ein wenig schwer, als hafte die Schlaffheit eines langen Schlafs noch an ihm. Er drehte seinen Kopf um und sah auf den kleinen Tisch neben seinem Bett. Darauf stand eine Isolierkanne aus Plastik, ein Glas mit Wasser, in dem noch Reste von Eis schwammen, und eine kleine Schachtel mit Papiertaschentüchern. Die Anzeichen sprachen unübersehbar dafür, daß er sich in einem Krankenhaus befand. Das wäre nicht weiter überraschend gewesen, wenn er an seiner Seite noch die tiefe Wunde getragen hätte, die Galyans Stab ihm zugefügt hatte. Die Wunde fehlte jedoch. Er sah sich weiter um. Unter der obersten Platte des Tischs neben seinem Bett befand sich eine senkrechte Platte, an der ein Telefon magnetisch befestigt war. Er nahm den Hörer auf und lauschte, aber es kam kein Rufzeichen. Probeweise versuchte er, auf der Wählscheibe auf der Innenseite des Hörers einige Nummern zu wählen, aber das Telefon blieb tot. Er brachte es auf seinen Platz zurück und entdeckte dabei einen Knopf auf der senkrechten Fläche. Er drückte den Knopf. Nichts geschah. Nach einer Wartezeit von ungefähr fünf Minuten drückte er wieder darauf. Dieses Mal dauerte es nur Sekunden, bis die Tür aufging. Ein Mann kam herein – ein kräftig gebauter junger Mann, der kaum kleiner als er selbst war. Er trug weiße Hosen und eine
weiße Jacke. Er kam zu dem Bett, sah wortlos auf Jim herab und griff nach Jims linkem Handgelenk. Er hob das Handgelenk, zählte den Puls und sah dabei auf seine Armbanduhr. „Ja, ich bin noch am Leben“, sagte Jim zu ihm. „Welches Krankenhaus ist das hier?“ Der Pfleger, denn das schien er zu sein, gab einen kehligen, unverbindlichen Laut von sich. Er hörte auf zu zählen, ließ Jims Handgelenk wieder auf das Bett fallen und drehte sich zur Tür um. „Augenblick mal!“ sagte Jim und richtete sich in seinem Bett auf. „Nur liegen bleiben!“ sagte der Mann mit einer tiefen, barschen Stimme. Er öffnete hastig die Tür, ging hinaus und warf sie praktisch hinter sich zu. Mit einer einzigen, schnellen Bewegung schob Jim die Decken zur Seite und sprang aus dem Bett. Er ging die drei Schritte bis zur Tür und packte den Griff, aber seine Finger rutschten auf dem glatten, unbeweglichen Metall ab, als er versuchte, ihn zu drehen. Sie war verschlossen. Er schüttelte einmal den Griff und trat zurück. Sein erster Impuls – sofort nach seiner Geburt durch die Vorsicht seines nun vollständig wachen Verstandes wieder unterdrückt – war, gegen die Tür zu hämmern, bis jemand kam. Statt dessen stand er jetzt davor und sah sie nachdenklich an. Dies alles erschien ihm immer weniger wie ein Krankenhaus und sah immer mehr wie eine Anstalt für gefährliche Geisteskranke aus. Er drehte sich schnell um und ging zum Fenster. Was er dort sah, bestätigte seinen wachsenden Verdacht über die Art seiner Umgebung. Vom Bett aus unsichtbar, bedeckte ein Geflecht aus dünnem Draht die gesamte Fensteröffnung und ging stellenweise ungefähr zehn Zentimeter über das Fenster selbst
hinaus. Der Draht sah verhältnismäßig dünn aus, war aber zweifellos stark genug, um jemanden an der Flucht zu hindern, der über keine Werkzeuge verfügte. Jim sah aus dem Fenster heraus nach unten, aber was er sah, sagte ihm kaum etwas – nur eine grüne Rasenfläche, die auf allen Seiten von großen Pinien begrenzt wurde. Die Bäume waren hoch genug, um jede Sicht auf das zu versperren, was hinter ihnen lag. Jim drehte sich um, ging zu seinem Bett zurück und setzte sich nachdenklich auf den Rand. Kurze Zeit später legte er sich hin und deckte sich wieder zu. Mit der Geduld, die ihm in so hohem Maß angeboren war, wartete er. Es dauerte mindestens noch zwei Stunden, bis wieder etwas passierte. Dann öffnete sich die Tür ohne vorherige Warnung, und der Pfleger kam wieder herein. Hinter ihm erschien ein schmächtiger Mann in den späten Vierzigern oder frühen Fünfzigern. Sein Haar über dem schmalen Gesicht lichtete sich bereits. Er trug einen weißen Ärztekittel. Sie traten gemeinsam an das Kopfende des Bettes, und der schmächtige Mann in dem weißen Ärztekittel sah Jim an. „Also gut“, sagte er und drehte seinen Kopf leicht zu dem Pfleger um. „Wir brauchen Sie nicht.“ Der Pfleger ging hinaus und schloß die Tür leise hinter sich. Der Arzt, denn das mußte er sicher sein, griff nach Jims Hand und fühlte ihm wie der andere Mann den Puls. „Ja“, sagte er nach einem Moment wie zu sich selbst. Er ließ den Arm fallen, schlug die Decke zurück, hob die Schlafanzugjacke und untersuchte Jims Seite – jene Seite, die verwundet worden war. Seine Finger tasteten hier und da. Abrupt verkrampfte Jim sich. „Schmerzen?“ fragte der Arzt. „Ja“, sagte Jim mit neutraler Stimme.
„Aha, das ist interessant“, sagte der Arzt. „… wenn es wahr ist.“ „Doktor“, sagte Jim ruhig. „Stimmt mit Ihnen etwas nicht? Oder mit mir?“ „Nein, bei Ihnen ist alles in Ordnung“, sagte der Arzt, zerrte Jims Schlafanzug wieder herunter und deckte ihn zu. „Was mich betrifft – ich glaube es nicht. Ich glaube nur das, was ich bei Ihrer Einlieferung gesehen habe – und das war eine kleine Perforation an Ihrer rechten Seite.“ „Und was glauben Sie nicht?“ fragte Jim. „Ich glaube nicht, daß Sie an der Stelle, wo ich diese Perforation vorgefunden habe, eine Verbrennung erlitten haben, einen verbrannten Bereich von mindestens fünf Zentimeter Breite und fünfzehn Zentimeter Tiefe, und daß die Verletzung erst sechs Tage alt sein soll“, sagte der Arzt. „Ja, ich habe im Fernsehen Bilder von Ihrem Schiff gesehen, und ich weiß, was diese große Frau mir erzählt hat, aber ich glaube es nicht. Zunächst einmal wären Sie bei derartigen inneren Verletzungen schon lange tot gewesen, bevor Sie hier angekommen sind. Ich bin bereit zu glauben, daß eine kleine Perforation ohne sichtbare Narbe verheilt, aber die ganze Geschichte, die nehme ich Ihnen nicht ab.“ „Gibt es irgendeinen Grund dafür, daß Sie das sollten?“ fragte Jim sanft. „Nein, den gibt es nicht“, sagte der Arzt. „Deshalb mache ich mir darüber auch keine Gedanken. Was mich betrifft, so geht es Ihnen gut, und Sie sind für alles bereit – und das werde ich ihnen sagen.“ „Wer ist ,ihnen’?“ Der Arzt starrte auf ihn herab. „Doktor“, sagte Jim ruhig, „aus irgendeinem Grund scheinen Sie von mir eine schlechte Meinung zu haben. Das können Sie halten, wie Sie wollen. Sie sind aber meiner Meinung nach
nicht dazu berechtigt, einen Patienten im unklaren zu lassen – nicht nur darüber, wo er ist, sondern auch darüber, wer die Leute sind, die sich offensichtlich für ihn verantwortlich fühlen. Sie haben von einer großen Frau gesprochen, die Ihnen von mir erzählt hat. Ist sie jetzt draußen?“ „Nein, das ist sie nicht“, sagte der Arzt. „Was die Antwort auf Ihre Frage betrifft: Die Leute, die die Verantwortung für Sie übernommen haben, sind Beamte der Weltregierung. Mir hat man die Anweisung erteilt, mit Ihnen nur über Ihre Behandlung zu sprechen und über sonst nichts. Sie brauchen keine Behandlung mehr, und daher fehlt mir eine Entschuldigung für weitere Gespräche mit Ihnen.“ Er drehte sich um und ging auf die Tür zu. Mit dem Türgriff in der Hand schien er gelinde Gewissensbisse zu verspüren, denn er blieb stehen und drehte sich wieder zu Jim um. „Sie schicken bald jemanden zu Ihnen, wenn ich ihnen gesagt habe, daß es Ihnen gut geht“, sagte er. „Dem können Sie dann alle Fragen stellen, die Sie auf dem Herzen haben.“ Er wandte sich wieder von Jim ab, versuchte die Tür zu öffnen und fand sie verschlossen. Er hämmerte mit der Faust dagegen und rief nach jemandem, der offensichtlich auf der anderen Seite stand. Nach einem Moment wurde sie vorsichtig aufgeschlossen, und es wurde ihm erlaubt, durch die geringstmögliche Öffnung hindurchzuschlüpfen. Die Tür wurde zugeworfen, und der Riegel fiel mit einem Klicken ins Schloß. Die Wartezeit war dieses Mal erheblich kürzer. Es dauerte nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Minuten, bis die Tür wieder aufging – und sofort wieder verschlossen wurde – und einen Mann mit einem braunen, sonnenverbrannten Gesicht und einem grauen Anzug einließ. Er kam herein, nickte Jim ohne zu lächeln zu und zog energisch einen der Stühle ans Bett. Jim richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante.
„Mein Name ist Daniel Wylcoxin“, sagte der Mann. „Sie können mich Dan nennen, wenn Sie wollen. Sie werden vor einem Untersuchungsausschuß der Regierung auftreten müssen, und ich bin Ihnen als Rechtsbeistand zugewiesen worden.“ „Was ist, wenn ich Sie nicht will?“ fragte Jim mild. „Dann brauchen Sie mich natürlich nicht zu nehmen“, sagte Wylcoxin. „Die Befragung durch den Untersuchungsausschuß hat eigentlich mit einem Prozeß nichts zu tun. Der kommt später, falls sich der Ausschuß zu einem solchen Schritt entschließen sollte. Sie brauchen nach dem Gesetz eigentlich keinen Rechtsbeistand, und wenn Sie mich nicht haben wollen, werde ich Ihnen nicht aufgezwungen. Es ist auf der anderen Seite unwahrscheinlich, daß der Untersuchungsausschuß einen anderen Rechtsbeistand für Sie akzeptieren würde, da Sie – wie ich schon sagte – im Grund keinen Rechtsbeistand brauchen.“ „Ich verstehe“, sagte Jim. „Ich möchte Ihnen gern einige Fragen stellen.“ „Nur zu“, sagte Wylcoxin, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Arme flach auf die Armlehnen. „Wo bin ich?“ fragte Jim unverblümt. „Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen“, sagte Wylcoxin. „Das hier ist ein Regierungskrankenhaus für besondere Fälle und Situationen, die Geheimhaltung verlangen. Ich selbst bin auch in einem verschlossenen Wagen hierhergebracht worden. Ich weiß nicht, wo wir sind – nur so viel, daß wir nicht mehr als zwanzig Minuten Fahrt vom Regierungszentrum entfernt sind, wo ich mein Dienstzimmer habe.“ „Wo ist mein Raumschiff? Und wo sind die Frau und der Mann, die mit mir gekommen sind?“
„Ihr Schiff steht auf dem Raumflughafen des Regierungszentrums“, sagte Wylcoxin. „Es ist von Wachen umringt, die jedermann eine Viertelmeile davon entfernt halten. Ihre beiden Begleiter sind noch an Bord des Schiffs – wofür Sie sich bei dem Gouverneur von Alpha Centauri III bedanken können. Er befindet sich zur Zeit auf der Erde, und als die Leute von der Regierung Ihre beiden Freunde herauswerfen und das Schiff mit ihren eigenen Männern besetzen wollten, hat der Gouverneur ihnen das offensichtlich ausgeredet. Es sieht so aus, als sei die Frau eine sogenannte Hochgeborene, und der Gouverneur hat offensichtlich vor jedem, der diese Bezeichnung trägt, die Hosen gestrichen voll. Man kann es ihm wahrscheinlich nicht übelnehmen, schätze ich…“ Wylcoxin unterbrach sich und sah Jim neugierig an. „Soviel ich weiß, führen die Hochgeborenen das Reich?“ fragte er schließlich. „Ganz richtig“, sagte Jim in neutralem Tonfall. „Was tue ich hier?“ „Diese Frau, diese Hochgeborene…“ „Ihr Name ist Ro“, unterbrach Jim ihn grimmig. „Also gut, Ro“, sagte Wylcoxin. „Sie hat die ersten Regierungsvertreter empfangen, als sie nach der Landung des Raumschiffs an Bord kamen. Soweit ich weiß, war das eine recht prominente Gruppe, weil der Gouverneur von Alpha Centauri III, der der Weltregierung hier einen Besuch abstattet, es als eines der Schiffe der Hochgeborenen erkannt hat. Wie auch immer, Ro hat sie an Bord gelassen und ihnen eine recht beachtliche Geschichte erzählt, unter anderem auch darüber, daß Sie im Verlauf eines Duells gegen einen Prinzen des Reichs verwundet wurden. Sie sagte, es ginge Ihnen schon viel besser, hatte aber keine Einwände, als die Regierung eines ihrer Krankenhäuser zu Ihrer Pflege anbot. Es ist ihnen
offensichtlich gelungen, sie davon zu überzeugen, daß die Art von medizinischer Pflege, die Sie gewohnt sind, Ihnen auf Dauer mehr helfen würde als alles, was sie hätte tun können.“ „Ja“, murmelte Jim. „Sie gehört nicht zu den mißtrauischen Naturen.“ „Offensichtlich nicht“, sagte Wylcoxin. „Sie hat es auf jeden Fall zugelassen, daß man Sie mitnahm. Und jetzt sind Sie hier. Der Untersuchungsausschuß soll zusammentreten, sobald es Ihnen gut genug geht, um vor ihm erscheinen zu können. Soviel ich weiß, hat der Arzt Ihnen das bereits bescheinigt. Deshalb wird die Anhörung wahrscheinlich morgen früh beginnen.“ „Wozu wollen sie mich denn anhören?“ fragte Jim. „Also…“ Wylcoxin lehnte sich in seinem Stuhl vor. „Das ist das Problem. Die Befragung vor dem Untersuchungsausschuß hat, wie ich schon sagte, nichts mit einem Prozeß zu tun. Er wird theoretisch nur zusammengerufen, um die Regierung zu informieren, damit sie weiß, wie sie sich Ihnen, Ihren Freunden und dem Schiff gegenüber verhalten soll. Ich nehme an, Sie haben so etwas erwartet. Es handelt sich nur um eine Art Konferenz, die herausfinden soll, was dagegen spricht, gegen Sie einen Prozeß wegen Hochverrats einzuleiten.“ Der letzte Teil von Wylcoxins Satz senkte sich sanft in die Stille des Krankenhauszimmers. Jim sah ihn eine Sekunde lang an. „Sie sagten, ich hätte das erwartet?“ fragte Jim ruhig. „Was bringt Sie zu der Annahme, daß ich nach meiner Rückkehr so etwas erwartet habe?“ „Also…“ – Wylcoxin machte eine kurze Pause und sah ihn scharf an – „… nach Ihrer Abreise mit den Hochgeborenen von Alpha Centauri III zur Thronwelt ist Maxwell Holland zurückgekommen und hat offensichtlich berichtet, nach Ihren eigenen Worten hätten Sie nicht vor, sich an Ihre Befehle zu
halten, sondern auf der Thronwelt so viele Schwierigkeiten zu machen, wie es Ihnen beliebe. Holland wird morgen auf jeden Fall eine Aussage machen, die in diese Richtung geht. Haben Sie das nicht gesagt, was Sie nach seinen Worten gesagt haben sollen?“ „Nein“, sagte Jim. „Ich habe gesagt, daß ich von jetzt an meinem eigenen Urteil folgen müsse.“ „Das kann sich vielleicht für den Ausschuß gleich anhören“, sagte Wylcoxin. „Das hört sich so an“, sagte Jim, „als sei der Ausschuß bereits fest entschlossen, mich wegen – wie war das doch – Hochverrats schuldig zu befinden?“ „Davon bin ich überzeugt“, sagte Wylcoxin. „Ich stehe natürlich persönlich automatisch auf Ihrer Seite. Und Ihre Seite sieht nach meiner Beurteilung nicht gut aus. Sie sind sorgfältig als der Mann ausgewählt worden, der auf die Thronwelt geschickt werden sollte, und Sie sind dafür unter großen Mühen und Kosten ausgebildet worden, damit Sie sich unter diesen Hochgeborenen bewegen können, um sie zu beobachten. Dann sollten Sie sich mit Ihren Beobachtungen wieder auf der Erde melden, damit die Regierung eine Entscheidung darüber fällen kann, ob wir wirklich ein verlorener Teil des Reichs sind und uns nun als solchen bezeichnen müssen, oder ob es auch die Möglichkeit gibt, daß wir uns hier auf der Erde davon getrennt entwickelt haben – und wirklich eine völlig andere Rasse als diese sogenannten Menschen des Reichs sind. Richtig?“ „Ja, das ist richtig“, sagte Jim. „So weit, so gut“, sagte Wylcoxin. „Sie haben aber nun nach den Berichten dieser Ro keineswegs nur beobachtet, sondern gleich zu Anfang schon einen Streit mit einem der Hochgeborenen angefangen und ihn an Bord des Schiffs unterwegs zur Thronwelt mit einem Messer verletzt. Als Sie
dort einmal angekommen waren, haben Sie sich einer militärisch organisierten Leibwache des Kaisers angeschlossen, und zu guter Letzt sind Sie in eine Intrige verwickelt worden, in deren Verlauf der Onkel und der Vetter des Kaisers umgekommen sind und dazu noch einige Leibwachen. Ist das richtig?“ „Damit werden die konkreten Ereignisse berichtet“, sagte Jim mit ruhiger Stimme, „aber in verzerrter Form. Das gleiche gilt für das Vorspiel zu den Ereignissen. Sie werden ebenso bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.“ „Sagen Sie damit, daß diese Ro eine Lügnerin ist?“ fragte Wylcoxin. „Ich sage, daß sie es nicht in dieser Form erzählt hat“, sagte Jim. „Bitte sagen Sie mir, ob Sie die Geschichte direkt von ihr oder aus zweiter Hand von jemandem gehört haben, dem sie es erzählt hat?“ Wylcoxin lehnte sich nachdenklich in seinem Stuhl zurück und rieb sich das Kinn. „Ich habe sie aus zweiter Hand“, gab er zu. „Wenn aber der Mann, von dem ich sie gehört habe, sie so darstellen kann, wie ich sie Ihnen gerade dargestellt habe, dann wird das auch die Version sein, die die Zeugen der Regierung morgen vor dem Ausschuß vortragen werden.“ „Mehr denn je hört es sich so an, als sei ich für den Ausschuß bereits schuldig“, sagte Jim. „Vielleicht…“ Wieder rieb sich Wylcoxin nachdenklich am Kinn. Plötzlich sprang er auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. „Ich werde es Ihnen sagen“, sagte er und blieb direkt vor Jim stehen. „Ich war nicht überglücklich, Ihnen als Rechtsbeistand zugewiesen zu werden. Vielleicht hat man mich selbst einer leichten Gehirnwäsche unterzogen.“ Er stockte kurz.
„Ich sage das nicht, weil Sie bisher etwas gesagt haben, was meine Einschätzung und mein Gefühl Ihnen und der Situation gegenüber geändert hätte“, sagte er hastig. „Ich sage das einfach nur deshalb, weil Sie mir darüber die Augen geöffnet haben, daß vielleicht – ich sage vielleicht – auf der anderen Seite ein gewisses Maß von Vorurteilen vorhanden ist.“ Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl vor Jim. „Also gut“, sagte er, „hören wir uns doch einmal Ihre Seite an. Was hat sich von der Zeit an, als Sie Alpha Centauri III verlassen haben, bis zu Ihrer Landung hier abgespielt?“ „Ich bin auf die Thronwelt gebracht worden“, sagte Jim und sah den anderen direkt an, „um, wie Sie sagten, herauszubekommen, ob die Thronwelt von mit uns verwandten Menschen bewohnt wird, oder ob wir eine völlig andere Rasse sind. Alles, was sich darüber hinaus abgespielt hat, war von den Notwendigkeiten diktiert.“ Wylcoxin blieb einige Sekunden lang, nachdem Jim zu Ende gesprochen hatte, ruhig sitzen, als erwartete er, daß Jim weitersprach. „Ist das alles, was Sie zu sagen haben?“ fragte er dann. „Im Augenblick ist das alles“, sagte Jim. „Ich werde dem Ausschuß morgen eine vollständigere Geschichte erzählen, wenn er mir zuhören will.“ „Sie sagen mir also absichtlich nichts von dem, was Sie wissen und was Ihnen helfen könnte“, sagte Wylcoxin. „Verstehen Sie denn nicht, daß ich Ihnen nur helfen kann, wenn Sie mir gegenüber so offen wie möglich sind?“ „Ich verstehe das“, sagte Jim. „Aber offen gesagt vertraue ich Ihnen nicht. Ich vertraue Ihrem guten Willen und Ihrer Ehrlichkeit mir gegenüber, aber ich habe kein Vertrauen in Ihre Fähigkeit, das zu verstehen, was ich Ihnen sagen könnte. Ich würde irgend jemand anders, der noch nicht auf der Thronwelt gewesen ist, genausowenig vertrauen.“
„Hören Sie mal, Mann“, sagte Wylcoxin, „das schließt die gesamte Bevölkerung der Erde ein!“ „Ganz richtig“, sagte Jim. „Ich glaube nicht, daß jemand von der Erde mir viel helfen könnte. Nicht wenn Max Holland, wie Sie sagen, gegen mich aussagen wird und es so aussieht, als sei der Ausschuß entschlossen, Gründe dafür zu finden, mich wegen Hochverrats vor Gericht zu stellen.“ „Dann kann ich Ihnen unmöglich etwas nützen!“ Wylcoxin sprang von seinem Stuhl auf und ging auf die Tür zu. „Augenblick noch“, sagte Jim. „Sie können mir vielleicht nicht durch Ihre Verteidigung helfen, aber vielleicht auf andere Art.“ „Wie?“ Wylcoxin drehte sich fast aggressiv mit einer Hand am Türgriff um. „Zunächst einmal“, sagte Jim ruhig, „könnten Sie mich für unschuldig halten, bis mir meine Schuld nachgewiesen ist.“ Eine Sekunde lang blieb Wylcoxin mit dem Türgriff in der Hand stehen, dann senkte sie sich herab. Er kam langsam zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl. „Ich entschuldige mich“, sagte er und sah zu Jim hoch. „Also gut. Sagen Sie mir, was ich tun kann.“ „Als erstes“, sagte Jim, „können Sie morgen mit mir als mein Rechtsbeistand vor den Ausschuß gehen. Weiter können Sie mir einige Fragen beantworten. Erstens – warum sind der Ausschuß und die Regierung und die Leute hier allgemein so versessen darauf, mich wegen Hochverrats als schuldig zu befinden? Ich habe doch weiter nichts getan, als mit einem wertvollen Raumschiff und zwei Menschen von dieser Thronwelt zurückzukehren. Ich vermag keinen Grund dafür zu sehen, warum eines von beiden ein Hinweis darauf sein soll, daß ich während meines Aufenthalts auf der Thronwelt hochverräterische Gedanken gehegt habe. Da ist natürlich Max
Holland, der mich hereinlegen will, aber wenn es nur er ist, muß ich mir meiner Ansicht nach nicht übermäßig Gedanken machen.“ „Verstehen Sie das denn nicht?“ Wylcoxin sah mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. „Dieses ganze Gerede von Hochverrat – das kommt doch nur davon, daß man Angst davor hat, Sie hätten auf der Thronwelt etwas angestellt, wofür sich das Reich bei der Erde schadlos halten will – in Form von Bezahlung oder von Rache.“ „Warum?“ fragte Jim. „Warum…“ Wylcoxin stotterte nicht, aber er stand nahe davor. „Vielleicht sind Sie daran schuld, daß ein Onkel und ein Vetter des Kaisers tot sind. Ist es denn nicht möglich, daß der Kaiser jemanden für diese Todesfälle bezahlen lassen will?“ Jim lachte leise. Wylcoxins Augenbrauen hoben sich in Erstaunen und Verwirrung. „Halten Sie das für witzig?“ fragte der andere. „Nein“, sagte Jim. „Ich sehe jetzt nur, woher das alles kommt, diese Angst, die zu einer Anklage wegen Hochverrats gegen mich führt. Auf Hochverrat steht die Todesstrafe, nicht wahr?“ „Manchmal…“, sagte Wylcoxin widerwillig. „Aber wovon sprechen Sie denn?“ „Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht erklären“, sagte Jim. „Sagen Sie mal, können Sie Ro auf dem Raumschiff aufsuchen?“ Wylcoxin schüttelte den Kopf. „Das habe ich bereits versucht“, sagte er. „Die Behörden wollen mich nicht an das Schiff heranlassen.“ „Können Sie ihr eine Botschaft zukommen lassen?“ fragte Jim.
„Ich glaube, das könnte ich schaffen.“ Wylcoxin runzelte die Stirn. „Ich weiß allerdings nicht, ob ich eine Antwort für Sie übermitteln darf.“ „Eine Antwort ist nicht notwendig“, sagte Jim. „Ro hat mich ohne Widerspruch an die Ärzte von der Erde übergeben. Sie muß ihnen also vertrauen, was mich betrifft. Das bringt mich zu der Überzeugung, daß sie keine Ahnung davon hat, was der Ausschuß morgen mit mir vorhat. Können Sie ihr sagen, wie seine Pläne aussehen und welche Haltung er mir gegenüber morgen wahrscheinlich einnehmen wird?“ „Ich glaube schon“, sagte Wylcoxin und fügte noch energischer hinzu: „Ja, ich weiß sogar, daß ich das kann! Wenn nichts anderes möglich ist, kann ich es ihr ja morgen sagen, wenn sie herkommt. Sie werden sie wohl vorladen, damit sie vor dem Ausschuß ihre Geschichte wiederholt. Sie kommt ohne Zweifel morgen dorthin.“ „Mir wäre mehr daran gelegen, wenn Sie es ihr noch heute abend mitteilen könnten“, sagte Jim. „Das müßte für mich eigentlich möglich sein.“ Wylcoxin sah ihn seltsam an. „Was erwarten Sie denn von ihr? Sie kann ja wohl schlecht eine andere Geschichte als vorher erzählen.“ „Das erwarte ich auch nicht von ihr“, sagte Jim. „Sie haben aber doch gesagt, daß niemand auf der Erde Ihnen helfen kann. Damit bleiben nur Ro und der andere Passagier, den Sie von der Thronwelt mitgebracht haben“, sagte Wylcoxin. „Ich kann Sie nur warnen. Die beiden sind jetzt schon praktisch die Hauptbelastungszeugen der Anklage. Sie haben, kurz gesagt, niemanden, der für Sie aussagt.“ „Vielleicht doch.“ Jim lächelte leicht. „Da ist noch der Gouverneur von Alpha Centauri III.“ „Der!“ Wylcoxins Augen leuchteten auf. „An ihn hatte ich nicht gedacht! Richtig – er hat für Ihre Ro ein gutes Wort
eingelegt, als sie an Bord des Raumschiffs bleiben wollte. Vielleicht sagt er morgen zu Ihrer Verteidigung aus… Soll ich mich mit ihm in Verbindung setzen?“ Jim schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Überlassen Sie das mir.“ Wylcoxin schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht“, sagte er hilflos. „Ich weiß es einfach nicht. Aber wahrscheinlich bin ich jetzt in der Sache drin. Sonst noch etwas?“ Er sah zu Jim auf. „Nein“, sagte Jim. „Überbringen Sie nur diese Nachricht an Ro, wenn Sie können.“ „In Ordnung.“ Wylcoxin stand auf. „Ich komme morgen ungefähr eine halbe Stunde, bevor es für Sie Zeit ist, ins Regierungszentrum gebracht zu werden, vorbei und begleite Sie.“ Er ging zur Tür, schüttelte den Türgriff und hämmerte mit der Faust an die Tür. „Hier ist Wylcoxin!“ rief er durch die Tür. „Laßt mich raus!“ Eine Sekunde später ging die Tür vorsichtig auf. Wylcoxin sah zu Jim herüber. „Also gute Nacht“, sagte er. „Und viel Glück.“ „Vielen Dank“, sagte Jim. Wylcoxin ging hinaus, und hinter ihm wurde die Tür geschlossen und verriegelt. Jim legte sich auf das Bett und schloß die Augen. Einen Moment lang drohte die Fülle von Gedanken, die ihn sofort bestürmten, ihn zu überwältigen, aber mit eiserner Selbstkontrolle bot er ihnen Einhalt und brachte sie zum Schweigen. Kurze Zeit später schlief er wie ein bewaffneter Soldat im Feld ein.
12
Daniel Wylcoxin kam am nächsten Morgen um acht Uhr fünfzehn und begleitete Jim auf seiner Fahrt im verschlossenen Wagen zum Sitzungszimmer in einem der Regierungsgebäude im Regierungszentrum. Wylcoxin teilte ihm mit, daß die Befragung durch den Untersuchungsausschuß für neun Uhr angesetzt war. Jim fragte den anderen nur, ob es ihm gelungen sei, sich mit Ro in Verbindung zu setzen. Wylcoxin nickte. „Sie wollten mich nicht an das Schiff heranlassen, um dort mit ihr zu reden“, sagte Wylcoxin, „aber ich habe sie über ein Feldtelefon von der Wache um das Schiff herum erreicht, das eingerichtet worden ist, damit sie mit ihr und dem anderen Mann an Bord in Verbindung bleiben können. Ich habe ihr eine Menge Fragen gestellt, deren Antworten ich angeblich als Ihr Rechtsberater brauchte. Die Information, die ich ihr übermitteln sollte, habe ich dabei sozusagen zwischen den Zeilen einfließen lassen.“ „Gut“, sagte Jim. Danach aber und während der halbstündigen Fahrt in das Regierungszentrum zog Jim sich in sich selbst zurück und ignorierte die Fragen, die Wylcoxin ihm stellte. Das ging so weit, daß dem anderen endlich der Geduldsfaden riß und er Jim am Ellbogen schüttelte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Jetzt hören Sie doch einmal zu. Wollen Sie mir nicht ein paar Antworten geben?“ fragte Wylcoxin. „In einer halben Stunde muß ich mich da oben hinstellen und dem Anschein nach als Ihr Rechtsberater auftreten. Zumindest theoretisch soll
ich Sie unterstützen. Einige Antworten sind Sie mir einfach schuldig! Sie dürfen nicht vergessen, daß ich mich für Sie mit Ro in Verbindung gesetzt habe, und das war nicht leicht. Es gab nur eine einzige Kommunikationsmöglichkeit vom Raumhafen zu Ihrem Schiff und ihr, und das war das Feldtelefon.“ Jim sah ihn an. „Das Regierungszentrum liegt weniger als zehn Minuten von seinem Raumhafen entfernt“, sagte er. „Ist das richtig?“ „Also… ja“, sagte Wylcoxin verwirrt. „Wenn man mich im Regierungszentrum eingesperrt hätte, dann hätte ich Sie nicht gebraucht, um mich mit Ro in Verbindung zu setzen“, sagte Jim. „Aus dieser Entfernung hätte ich direkt mit dem Schiff sprechen können.“ Wylcoxin sah ihn mit einer Mischung von Unglauben und Verwirrung auf seinem Gesicht an. „Ich möchte Ihnen das nur klarmachen“, sagte Jim ruhig. „Es hat für mich keinen Zweck, wertvolle Zeit darauf zu verschwenden, Ihnen Antworten zu geben, die Sie dann nicht verstehen können, selbst wenn Sie sie glauben wollten. Was die Angehörigen des Ausschusses, Max Holland und die anderen Zeugen anbetrifft – es ist völlig gleichgültig, was sie sagen oder mich fragen. Ich verlange von Ihnen jetzt, da Sie Ro Bescheid gesagt haben, nur noch, daß Sie neben mir sitzen und das tun, was Ihnen notwendig erscheint, wenn sich diese Angelegenheit weiterentwickelt.“ Jim versank wieder in seinen Gedanken, und dieses Mal ließ Wylcoxin ihn mit ihnen allein. Sie erreichten das Regierungszentrum und das Gebäude, in dem der Untersuchungsausschuß tagen sollte. Jim wurde bis zum Eintreffen seiner Mitglieder in einem kleinen Nebenraum festgehalten. Dann wurden er und Wylcoxin in den bereits gefüllten Sitzungsraum gebracht.
Jim und Wylcoxin wurde ein Platz direkt vor dem Podest mit einem langen Tisch angewiesen, an dem die sechs Mitglieder des Ausschusses sitzen sollten. Als er hereinkam, bemerkte er Max Holland und Styrk Jacobsen – die Leiter des Programms zu seiner Ausbildung für die Reise zur Thronwelt – und Ro sowie eine Handvoll von anderen, unbedeutenden Persönlichkeiten aus der Zeit, in der er für die Ausbildung und den Auftrag ausgesucht worden war. Sie saßen inmitten der Menge einige Reihen hinter den vorderen Tischen. Als er hereinkam, fing Ro seinen Blick auf. Sie machte einen etwas blassen und besorgten Eindruck. Sie trug einen Überwurf und einen Rock aus einfachem, weißem, stoffähnlichem Material, und ihre Kleidung unterschied sich nicht nennenswert von den leichten Kleidern in Sommerfarben, die die Frauen von der Erde in dem Raum trugen, aber der allgemeine Gesamteindruck ihrer Erscheinung hob sie aus der Masse heraus, als sei ein Scheinwerfer auf sie gerichtet. Jims Augen hatten sich an die Größe und die scharfgeschnittenen Gesichter der Hochgeborenen auf der Thronwelt gewöhnt, und nun machten die Menschen von seiner eigenen Welt gegen seinen Willen mit ihrem Gedränge im Sitzungsraum einen kleinen, eingeschrumpften und unbedeutenden Eindruck. Ro ignorierte alle anderen und sah besorgt zu ihm herüber. Als Jim sich hinsetzte, lächelte er ihr beruhigend zu, bevor er ihr und den anderen Menschen auf den Sitzen hinter ihm notgedrungenerweise den Rücken kehren mußte. Die sechs Ausschußmitglieder, Repräsentanten der verschiedenen Verwaltungsbereiche der Erde, kamen herein. Auf eine Anweisung hin erhob sich das Publikum und wartete, bis die Ausschußmitglieder sich gesetzt hatten. Zur gleichen Zeit erhob sich ein erregtes Raunen in der Menge, denn mit dem Ausschuß kam ein kleiner, rötlich-brauner Mann herein und setzte sich rechts neben Alvin Heinmann, den Abgeordneten
des mächtigen mitteleuropäischen Sektors. Jim sah mit feierlichem Gesichtsausdruck zu ihm zurück. Der Ausschuß nahm Platz, und dem Publikum wurde mitgeteilt, es könne sich nun wieder hinsetzen, während der Ausschuß die Verhandlung eröffnete. „… und im Protokoll soll festgehalten werden“, sagte Heinmann etwas nasal in die Aufnahmesensoren, die in dem vor ihm stehenden Tisch eingebaut waren, „daß der Gouverneur von Alpha Centauri III sein Einverständnis dazu gegeben hat, diesem Untersuchungsausschuß inoffiziell beizuwohnen, um ihm seine Erfahrungen und Kenntnisse zu dem zu untersuchenden Thema zugute kommen zu lassen.“ Heinmann schlug mit dem zeremoniellen Hammer auf den Tisch und rief den Untersuchungsbeamten der Regierung dazu auf, über den Gegenstand der Sitzung zu berichten. Der Untersuchungsbeamte kam der Aufforderung nach. Der Begriff Hochverrat wurde sorgfältig vermieden, aber der Beamte kreiste ihn mit seinen Worten geschickt ein, bis es im Bewußtsein der Zuhörerschaft über das Ziel dieser Befragung keinen Zweifel mehr geben konnte. Der Untersuchungsausschuß war nicht zusammengetreten, um die Frage zu klären, ob die Regierung gegen Jim einen Hochverratsprozeß in Gang setzen solle, sondern ob der leiseste Zweifel daran bestehen könne, daß sie das nicht tat. Der Untersuchungsbeamte setzte sich wieder hin, und Styrk Jacobsen wurde aufgerufen, um Fragen des Ausschusses zu beantworten. Die Fragen gingen hauptsächlich um Jims Hintergrund und den Vorgang, mit dem er aus einigen hundert Kandidaten ausgewählt worden war, die ihrerseits vorher nach einer weltweiten sorgfältigen Vorauswahl bestimmt worden waren, um für die Reise zur Thronwelt ausgebildet zu werden.
„… James Kell“, sagte Jacobsen, „verfügte in vielfacher Hinsicht über außergewöhnliche Qualifikationen. Sein allgemeiner körperlicher Zustand war ausgezeichnet – was er auch sein mußte, denn wir hatten vor, den Mann, den wir entsenden wollten, als Stierkämpfer auszubilden. Darüber hinaus hatte Jim zu der Zeit, als er unsere Aufmerksamkeit erregte, nicht nur Abschlüsse in Geschichte, Chemie und Anthropologie, sondern sich darüber hinaus noch einen beachtlichen Ruf als Autorität in dem Feld sozialer und kultureller Studien erworben.“ „Würden Sie sagen“, unterbrach Heinmann ihn, „daß er sich charakterlich deutlich von den anderen Kandidaten unterschied?“ „Er war ein starker Individualist. Das waren sie allerdings alle“, sagte Jacobsen trocken. Er war ein hagerer, aufrechter Mann in den Sechzigern und stammte ursprünglich aus Odense in Dänemark. Jim erinnerte sich daran, daß Jacobsen ihn von Anfang an, im Gegensatz zu Max Hollands direkter instinktiver Abneigung, offenbar instinktiv gern gemocht hatte. „… das gehörte zu den Voraussetzungen für den Auftrag“, sagte Jacobsen gerade. Danach führte er der Reihe nach diese Voraussetzungen an, wie sie ursprünglich verlangt worden waren. Sie bestanden, grob gesagt, aus außergewöhnlichen intellektuellen und physischen Fähigkeiten, emotioneller Stabilität und einer weitgefächerten akademischen Ausbildung. „Noch einmal zu dieser emotionellen Stabilität“, hakte Heinmann wieder ein. „Fanden Sie ihn nicht ungewöhnlich, sagen wir einmal… unsozial? Bis zu dem Punkt, daß er sich unkommunikativ verhielt und sich von den ihn umgebenden Menschen absonderte? Ich meine damit, ob er nicht von Anfang an ein recht deutlicher Einzelgänger war?“ „Ja. Aber wieder“, sagte Jacobsen, „gehörte das genau zu den Eigenschaften, die wir suchten. Unser Mann sollte mitten in
eine unbekannte Kultur geworfen werden – weit unbekannter als alles, was er hier auf der Erde antreffen könnte. Wir wollten ihn so selbständig wie möglich haben.“ Jacobsen war keinen Schritt zurückgewichen. Obwohl Heinmann die Befragung noch einige Zeit weiterführte, weigerte sich der silberhaarige Mann nachzugeben. Nach seiner Aussage war Jim nicht mehr und nicht weniger als das, was der Projektleiter für die Ausbildung und die Aufgabe gesucht hatte. Bei Max Holland, der nach Jacobsen vor den Ausschuß gerufen wurde, sahen die Antworten völlig anders aus. „… die übrigen Mitglieder des an dem Projekt beteiligten Teams“, sagte Holland und lehnte sich mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern nach vorn über den Tisch, „waren nicht in der Lage, die auf dem Spiel stehenden Risiken abzuschätzen – ich meine damit das Risiko für die Erde als Ganzes. In ihren Mitteln und ihrer Bevölkerung ist die Erde im Vergleich zum Reich wie ein Küken im Vergleich zu einem Elefanten. Das Küken ist so klein, daß es wahrscheinlich sicher ist, weil es ignoriert wird, solange es nicht zufällig oder durch einen Fehler unter einen der Füße des Elefanten gerät. Dann ist es verloren. Nach meiner Einschätzung bestand für das gesamte Projekt die ernste Gefahr, daß es uns unter die Elefantenfüße des Reichs brachte, und zwar entweder zufällig oder durch einen Fehler des Mannes, den wir zur Erforschung und Beobachtung ihrer Thronwelt ausschicken wollten. Und meine Befürchtungen wurden durch Charakter und Verhalten von James Kell selbst verstärkt…“ Holland wurde wie Jacobsen von Heinmann und einigen anderen Ausschußmitgliedern eingehend befragt. Im Gegensatz zu Jacobsen war Holland aber durchaus gewillt, von Jim ein gefährliches Bild zu entwerfen. Nach seiner Aussage war Jim ihm dadurch aufgefallen, daß er ein geradezu
paranoider Sonderling und bis zum Größenwahn selbstsicher und arrogant war. Dann gab er kalt die Unterhaltung wieder, die er unter den Tribünen auf Alpha Centauri III mit Jim geführt und in der Jim ihm mitgeteilt hatte, daß er von jetzt an seine eigenen Entscheidungen treffen müsse. „Dann war dieser Mann also Ihrer Meinung nach schon vor seiner Ankunft auf der Thronwelt fest entschlossen“, sagte Heinmann, „die ihm erteilten Anweisungen zu ignorieren und nach eigenem Ermessen zu handeln, ganz gleich, welche Konsequenzen sich daraus auch für die übrigen Bewohner der Erde ergeben mochten?“ „Ja“, sagte Holland so inbrünstig wie ein Bräutigam bei der Trauung. Damit war sein Auftritt vor dem Untersuchungsausschuß beendet. Ro wurde als nächste aufgerufen, aber ihr Auftritt bestand nur darin, daß sie dasaß und einer Aufzeichnung ihres Berichts darüber zuhörte, was mit Jim vom Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung an Bord des Raumschiffs von Prinzessin Afuan bis zu ihrer Ankunft auf dem Raumflughafen des Regierungszentrums auf der Erde geschehen war. Nach dem Ende dieser Aufzeichnung räusperte sich Heinmann und lehnte sich nach vorne, als wolle er mit ihr sprechen, aber der Gouverneur von Alpha Centauri III neben ihm lehnte sich hastig zu ihm herüber und flüsterte dem Vorsitzenden des Ausschusses etwas ins Ohr. Heinmann hörte ihm zu und sank dann auf seinem Stuhl zurück. Ro wurde ohne weitere Fragen vom Ausschuß entlassen. Während dieses gesamten Vorgangs war Wylcoxin neben Jim unruhig auf seinem Sitz herumgerutscht. Jetzt lehnte er sich herüber und sprach eindringlich mit leiser Stimme auf Jim ein. „Sehen Sie sich das an!“ sagte er. „Lassen Sie mich wenigstens von meinem Recht Gebrauch machen, sie ins Kreuzverhör zu nehmen. Dieser Gouverneur von Alpha
Centauri hat einen Fehler gemacht, als er Heinmann daran hinderte, ihr Fragen zu stellen. Es war vielleicht ihr gegenüber gut gemeint, aber für Sie war das keine Hilfe. Sie will ja für Sie aussagen. Ich bin sicher, wir könnten mit ihr im Zeugenstand einen guten Eindruck machen!“ Jim schüttelte den Kopf. Die Diskussion war sowieso sinnlos, denn Jim blieb keine Zeit mehr, weil er nun seinerseits zur Beantwortung von Fragen vom Untersuchungsausschuß aufgerufen wurde. Heinmann fing recht milde mit einer Aufzählung von Jims Qualifikationen für seine Entsendung als Beobachter auf die Thronwelt an. Danach aber drang er allmählich immer weiter in problematischere Bereiche vor. „Haben Sie jemals die Berechtigung für dieses Projekt angezweifelt?“ fragte er Jim. „Nein“, sagte Jim. „Aber zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Ihrer Nominierung als Beobachter und Ihrer Ankunft auf der Thronwelt scheinen sich bei Ihnen solche Zweifel eingestellt zu haben.“ Heinmann durchwühlte die Notizen auf dem Tisch vor sich, bis er endlich fand, was er gesucht hatte. „Nach Mr. Hollands Aussage haben Sie auf Alpha Centauri III folgendes gesagt… ich zitiere:… Max, es ist zu spät. Sie können nicht mehr eingreifen. Ich bin eingeladen worden. Von jetzt an treffe ich meine eigenen Entscheidungen. Ist das richtig?“ „Nein“, sagte Jim. „Nein?“ Heinmann sah ihn über die Notizen, die er in der Hand hielt, mit gerunzelter Stirn an. „Die Formulierung stimmt nicht“, sagte Jim. „Tatsächlich habe ich folgendes gesagt: ,Es tut mir leid, Max, aber früher oder später mußte es ja dazu kommen. Von jetzt an kann ich mich nicht mehr von dem Projekt leiten lassen, sondern muß meinem eigenen Urteil folgen.“ Heinmanns Stirnrunzeln verstärkte sich.
„Da sehe ich keinen entscheidenden Unterschied“, sagte er. „Max Holland offensichtlich auch nicht“, sagte Jim. „Aber ich – sonst hätte ich es nicht mit diesen Worten gesagt.“ Jim spürte, wie ihn unter der Tischoberfläche jemand krampfhaft am Ärmel zupfte. „Langsam!“ zischte ihm Wylcoxins Stimme leise ins Ohr. „Bremsen Sie sich um Gottes willen!“ „Tatsächlich?“ sagte Heinmann mit einem leichten Anklang von Triumph in seiner Stimme. Er lehnte sich zurück und sah sich nach rechts und links zu den anderen Ausschußmitgliedern am Tisch um. „Und Sie streiten ab, daß Sie in Ihrem Gepäck gegen den Einwand von Mr. Holland ein Messer und einen Revolver mitgenommen haben?“ „Nein“, sagte Jim. Heinmann hustete trocken, zog ein weißes Taschentuch heraus und betupfte sich damit die Lippen, verstaute dann das Taschentuch wieder und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Na bitte“, sagte er. „Damit wäre die Sache wohl klar.“ Er griff nach einem frischen Blatt Papier und schrieb mit Bleistift etwas darauf. „Sie haben…“ – fing er an und lehnte sich wieder über den Tisch vor – „… den Bericht über Ihre Aktionen von Ihrer Abreise von Alpha Centauri III bis zu Ihrer Rückkehr auf die Erde gehört, den uns Miß… äh, die Hochgeborene Ro gegeben hat. Haben Sie gegen diesen Bericht irgendwelche Einwände?“ „Nein“, sagte Jim. Wieder verspürte er Wylcoxins Finger, die an seinem Ärmel zupften. Er kümmerte sich jedoch nicht darum. „Keine Einwände“, sagte Heinmann und lehnte sich wieder zurück. „Dann darf ich wohl annehmen, daß Sie für Ihr außergewöhnliches Benehmen, das zu dem ursprünglichen Grund, aus dem heraus Sie auf die Thronwelt geschickt
worden sind, in totalem Widerspruch steht, keinerlei Erklärungen haben?“ „Das habe ich nicht gesagt“, sagte Jim. „Der Bericht, der Ihnen vorliegt, ist richtig. Ihre Interpretation dieses Berichts ist jedoch falsch. Ebenso falsch wie Ihre Annahme, daß meine Absichten oder Handlungen gegen den Grund verstoßen, aus dem ich von der Erde auf die Thronwelt geschickt worden bin.“ „Dann sollten Sie uns diese Absichten vielleicht besser erklären, meinen Sie nicht auch, Mr. Kell?“ sagte Heinmann. „Das habe ich vor“, sagte Jim. Die Antwort brachte etwas Farbe in Heinmanns graue Wangen, aber der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses entschied sich offensichtlich dafür, die unausgesprochene Herausforderung zu übergehen. Er forderte Jim durch eine Handbewegung zum Weiterreden auf. „Die Erklärung ist im Grunde recht einfach“, sagte Jim. „Die Hochgeborenen von der Thronwelt des Reichs…“ – er sah zu dem Gouverneur hinüber – „… und ich bin sicher, der Gouverneur von Alpha Centauri III wird mir da beipflichten, sind wahrhaft überlegene Wesen, und zwar nicht nur im Vergleich zu den, wie sie sagen, niedrigeren Rassen auf ihren eigenen Kolonie-Welten, Menschen, wie der Gouverneur selbst einer ist…“ – Jim sah den Gouverneur an, aber dieses Mal wich der kleine Mann seinen Augen aus –, „… sondern auch zu uns Menschen auf der Erde. Daher konnte jede Planung meines Verhaltens, so sorgfältig und gewissenhaft sie auch hier auf der Erde durchgeführt worden sein mochte, für mich in einer unbekannten Kultur kein Leitfaden sein, deren geringstes Mitglied den Besten der Erde weit überlegen ist. Ich mußte mich daher schon früh im Verlauf meiner Ausbildung mit der Tatsache abfinden, daß ich gezwungen sein würde, meine Reaktionen auf die Situation auf der Thronwelt
auszurichten, meiner eigenen Urteilskraft zu folgen und mich nicht darum zu kümmern, wie die Menschen auf der Erde entschieden hätten.“ „Ich nehme an, Sie haben Ihren Vorgesetzten während der Ausbildung von dieser Entscheidung nicht unterrichtet?“ fragte Heinmann und lehnte sich noch immer in seinem Stuhl zurück. „Nein“, antwortete Jim. „Wenn ich es ihnen früh genug in meiner Ausbildung mitgeteilt hätte, wäre ich zweifellos abgelöst worden.“ Jim hörte rechts von sich eine kleine Explosion von Atemluft, ein lautstarker Verzweiflungsseufzer von Wylcoxin. „Sicher, sicher“, sagte Heinmann freundlich. „Sprechen Sie weiter, Mr. Kell.“ „Dementsprechend“, sagte Jim ruhig, „habe ich dann bei meiner Ankunft auf der Thronwelt festgestellt, daß ich den Interessen der Erde am besten dadurch dienen konnte, indem ich mich in die Ereignisse um den Kaiser einmischte, statt meine neutrale Beobachterposition beizubehalten. Der Kaiser war geisteskrank, und sein Vetter Galyan hatte schon seit langem ein Komplott ausgeheckt, ihn durch Ausschaltung des Mannes, der das Reich wirklich führte, Vhotan, unter seine Kontrolle zu bekommen. Vhotan war übrigens sowohl Galyans als auch des Kaisers Onkel. Nach Galyans Plan war vorgesehen, Vhotan und die Starkianer auszuschalten, die dem Kaiser unbedingt treu ergeben sind. Galyan wollte dann Vhotans Stelle einnehmen, die Thronwelt und das ganze Reich in seine Hand bringen und eine neue Starkianer-Truppe aufbauen, die nicht dem Kaiser, sondern ihm treu ergeben sein sollte. Die Starkianer sind eine besondere Menschenzüchtung, die ursprünglich durch Genmanipulation und gezielte Zucht über mehrere Generationen hinweg erschaffen wurden. Galyan aber wußte, daß er innerhalb von zwei oder drei Generationen eine neue Rasse züchten konnte, wenn er dazu die Mittel und
das Rohmaterial zur Verfügung hatte. Und dieses Rohmaterial sollte von uns kommen – von der Erde.“ Er hörte auf zu sprechen und sah die Mitglieder des Untersuchungsausschusses hinter ihrem langen Tisch an.
13
Es dauerte eine Sekunde oder zwei, nachdem Jim zu sprechen aufgehört hatte, bis seine letzten, ruhigen Worte seinem erdgeborenen Publikum explosionsartig ins Bewußtsein eindrangen. Die Wirkung war auf eine unbedeutende Weise dramatisch. Heinmann richtete sich kerzengrade auf. Alle anderen Mitglieder des Ausschusses an ihrem langen Tisch reagierten mit der gleichen und plötzlichen Wachheit. „Wie war das, Mr. Kell?“ fragte Heinmann. „Sie beschuldigen Prinz Galyan – er gehört zu denen, die umgekommen sind, nicht wahr? –, er habe vorgehabt, uns genetisch zu einer Art einfältiger Leibwache für seine eigenen Belange umzubauen?“ „Ich beschuldige ihn nicht“, sagte Jim gleichmütig. „Ich berichte Ihnen eine Tatsache – die erwiesene Tatsache von Galyans Absichten. Er hat diese Absichten mir persönlich erklärt. Er hat genau das geplant, was ich berichtet habe. Ich glaube, Sie verstehen nicht…“ – zum ersten Mal schlich sich eine Spur von Ironie in Jims Stimme ein –, „… daß das für die Hochgeborenen auf der Thronwelt gar nicht so schrecklich ausgesehen hätte. Die niedrigeren Rassen von den Koloniewelten standen schon immer für den Gebrauch der Hochgeborenen zur Verfügung. Und wir waren nicht einmal so wichtig. Wir waren Wolflinge – wilde Frauen und Männer, die jenseits der Grenze der zivilisierten Welt lebten.“ Heinmann lehnte sich zurück und drehte sich um, um dem Gouverneur von Alpha Centauri neben ihm etwas zuzuflüstern. Jim blieb wortlos sitzen, bis die geflüsterte Konversation
abgeschlossen war. Heinmann wandte sich wieder Jim zu und lehnte sich vor. Sein Gesicht hatte sich leicht gerötet. „Sie haben uns vor kurzem gesagt“, sagte Heinmann, „daß die Hochgeborenen von der Thronwelt überlegene Wesen sind. Wie können Sie die Tatsache, daß sie überlegene Wesen sind, mit derartig inhumanen Plänen von Prinz Galyan in Übereinstimmung bringen? Abgesehen von der Tatsache, daß er nach Ihren Worten geplant hat, seinen Onkel umzubringen und seinen Kaiser zu beherrschen? Wenn die Hochgeborenen wirklich das sind, als das Sie sie bezeichnen – und der Gouverneur von Alpha Centauri III hier stimmt zumindest darin mit Ihnen überein –, dann mußte doch Prinz Galyan viel zu zivilisiert gewesen sein, um solche wilden und mörderischen Absichten zu hegen.“ Jim lachte. „Ich halte es für unwahrscheinlich, daß Sie oder die anderen Mitglieder dieses Ausschusses die kulturellen Beziehungen zwischen den Hochgeborenen und den Menschen von den Kolonie-Welten verstehen – auch zu uns übrigens“, sagte er. „Galyans Komplott gegen den Kaiser war ein Verbrechen, wie es dort größer kaum denkbar ist. So würde es zumindest jeder anständige Hochgeborene wie etwa Slothiel empfinden. Aber seine Pläne mit uns waren keineswegs unmenschlich, zumindest nicht aus der Sicht eines Hochgeborenen. Im Grund wären die meisten Hochgeborenen der Meinung, wir seien glücklich zu schätzen, wenn uns Galyan seiner Aufmerksamkeit für würdig befände. Er würde Sie darauf hinweisen, daß wir von Krankheiten befreit würden und eine gesündere, glücklichere und gleichartigere Rasse wären, wenn er uns zu Starkianern gemacht hätte. Genau wie die Starkianer des Kaisers: Sie sind frei von Krankheiten, glücklich und sehen alle gleich aus.“
Wieder führte Heinmann eine geflüsterte Unterhaltung mit dem Gouverneur. Als sie aber dieses Mal zu Ende war, machten beide einen etwas verärgerten und unzufriedenen Eindruck. „Mr. Kell, Sie versichern uns also, daß alle Ihre Handlungen auf der Thronwelt berechtigt waren“, sagte Heinmann, und mehr als bei jeder anderen Frage, die der Ausschußvorsitzende bisher gestellt hatte, schien es sich dieses Mal um eine offene, ehrliche Bitte um Information zu handeln, „und zwar nicht nur im Interesse des Kaisers, sondern auch noch der Menschen der Erde hier?“ „Ja“, sagte Jim. „Ich möchte Ihnen gern glauben“, sagte Heinmann, und im Augenblick hörte es sich tatsächlich so an, als würde er Jim gern glauben. „Aber Sie verlangen von uns ein ganzes Stück Gutgläubigkeit. Wie war es denn zum Beispiel möglich, daß Sie von diesen Plänen des Prinzen Galyan erfahren haben, obwohl er sie doch offensichtlich hätte extrem geheimhalten müssen?“ „Sie sind geheimgehalten worden“, sagte Jim. „Aber bestimmte Gouverneure und Adlige von den Kolonie weiten…“ – seine Augen ruhten einen Augenblick lang auf dem Gouverneur von Alpha Centauri – „… mußten den Plan, die Starkianer loszuwerden, auf jeden Fall kennen. Prinzessin Afuan und Melness, der oberste Diener im Palast auf der Thronwelt, mußten um andere Teile wissen, aber Galyan behielt so viel wie möglich für sich.“ „Wie ist es Ihnen denn dann gelungen, dies alles herauszubekommen?“ fragte ein anderes Ausschußmitglied – ein kleingewachsener, fetter Mann in den mittleren Jahren, den Jim nicht kannte. „Ich bin Anthropologe“, sagte Jim trocken. „Mein hauptsächliches Interessengebiet ist die menschliche Kultur in
all ihren Erscheinungsformen und Veränderungen. In der Kultur der Menschheit gibt es eine gewisse Grenze der Veränderlichkeit, wenn eine bestimmte Bevölkerungsdichte erreicht ist, ganz gleich, wie hochentwickelt die Kultur ist. Die soziale Ordnung der Hochgeborenen auf der Thronwelt und des Adels auf den Koloniewelten, wo man sich nach dem Vorbild der Thronwelt richtete, stand im Widerspruch zu der kulturellen Ebene, die die Hochgeborenen selbst erreicht zu haben glaubten. Die Hochgeborenen – und entsprechend die Adligen aus den Kolonien – waren in kleine künstliche Cliquen oder Gruppen gespalten, die in ihrer Funktion den Noyaux grundsätzlich entsprachen.“ Jim hörte auf zu sprechen und wartete darauf, daß jemand ihn nach der Bedeutung des Wortes Noyaux fragte. Heinmann stellte diese Frage. „Der französische Ethnologe Jean-Jacques Petit prägte den Begriff Noyaux als Bezeichnung für eine Gesellschaft innerer Widersprüche und Konflikte“, antwortete Jim. „Robert Ardrey bezeichnete sie einige Jahre später als ,nachbarschaftliche Gruppierung von Territoriumsbesitzern, die durch eine HaßLiebe-Beziehung verbunden wird’. Der Callicebus-Affe ist ein natürliches Beispiel für das Noyaux-Syndrom. Jede CallicebusFamilie verbringt ihre Zeit damit, solange sie nicht ißt oder trinkt, an die Grenzen ihres Territoriums oder Reviers zu gehen, das sie in den Baumwipfeln als ihr eigenes markiert hat, und die nächste Callicebus-Familie anzuschreien und zu bedrohen, die ebenfalls zu diesem Zweck an die Grenze ihres Reviers gekommen ist. Damit wird die noyaux-ähnliche Situation unter den Hochgeborenen exemplarisch deutlich gemacht. Der Unterschied besteht nur in der Tatsache, daß das konkrete Revier mit Position beziehen und Geschrei und Drohungen durch Intrigen ersetzt wird, um der nächsten Person oder Gruppe einen Statusverlust zuzufügen. Davon
waren nur Hochgeborene wie Ro ausgenommen, weil sie ein Atavismus war – eine Rückentwicklung zu dem Stadium, als die geistige und körperliche Spezialisierung des Hochgeborenentyps noch nicht abgeschlossen war – und die anderen sie daher nicht für konkurrenzfähig hielten… obwohl sie es durchaus war.“ Wieder legte Jim eine Pause ein. Einen Augenblick lang sagte niemand etwas. Dann erhob Heinmann wieder seine Stimme. „Vor kurzem“, sagte er, „haben Sie diese Hochgeborenen als überlegene Wesen im Vergleich mit uns hier auf der Erde bezeichnet. Jetzt vergleichen Sie sie mit einer Gesellschaft von Affen. Beides können sie nicht sein.“ „O doch, das können sie“, sagte Jim. „Ebenfalls von Ardrey stammt der Satz: Nationen bringen Helden hervor, Noyaux aber Genies. Im Fall der Thronwelt, die den Gouverneuren und Adligen der Kolonien als Beispiel diente, war der Prozeß umgekehrt. Genies brachten Noyaux hervor. Der CallicebusAffe lebt praktisch in einem Utopia. Essen und Trinken sind direkt in den Bäumen greifbar. Ebenso leben die Hochgeborenen auf der Thronwelt in einem Utopia, denn ihre Technologie deckt für sie jeden möglichen Wunsch und jedes Bedürfnis ab. Unter normalen Bedingungen hätte das zu einer Verweichlichung geführt, und sie wären durch ihre utopischen Bedingungen leichte Beute für die Menschenrassen der Kolonie-Welten geworden, denen es nicht ganz so gut ging. So sieht der historische Umschwung in einer Gesellschaft aus, in der die Aristokratie schwach wird und von den Schichten darunter ersetzt wird.“ „Warum ist das mit den Hochgeborenen nicht geschehen?“ fragte Heinmann. „Weil ihnen etwas Einzigartiges gelungen ist – eine praktische, sich selbst tragende Aristokratie“, sagte Jim. „Das
Reich hat ursprünglich alle seine besten Köpfe auf dem Planeten versammelt, der später zur Thronwelt werden sollte. Als er dann später zur Thronwelt geworden war, zog er weiterhin jeden Hochbegabten an, der irgendwo in den Kolonien geboren wurde. Damit war ein dünner, aber kontinuierlicher Fluß von frischem Blut sichergestellt. Darüber hinaus ist der Aristokratie, die sich auf der Thronwelt entwickelte und zu den Hochgeborenen wurde, etwas gelungen, was vorher noch keine andere Aristokratie geschafft hat. Sie verlangte von jedem ihrer Angehörigen, alles über die Technologie zu wissen, die das Reich funktionieren läßt. Die Hochgeborenen waren mit anderen Worten nicht nur Universalgenies, sondern auch Universalexperten. Die Hochgeborene Ro, die hier hinter mir sitzt, könnte, hätte sie das notwendige Material, die Zeit und das Personal, die Erde in jeder technologischen Beziehung in eine perfekte kleine Kopie des Reichs verwandeln.“ Heinmann runzelte die Stirn. „Ich sehe keinen Zusammenhang dazwischen und ihrem Noyaux-Status“, sagte der Vorsitzende. „Eine unendlich sich selbst tragende Aristokratie“, sagte Jim, „widerspricht dem instinktiven menschlichen Evolutionsprozeß. Praktisch wird eine künstliche Situation geschaffen, in der soziale und damit individuelle Evolution nicht mehr stattfinden kann. Eine solche Aristokratie kann zwar von außen nicht zerstört werden, muß sich aber deshalb schließlich selbst zerstören. Kurz gesagt – den Hochgeborenen blieb nach einiger Zeit keine andere Alternative als die Dekadenz. Und sie sind dekadent.“ Der Gouverneur lehnte sich zu Heinmann hinüber und flüsterte ihm eindringlich ins Ohr, aber Heinmann zuckte fast ärgerlich die Achseln.
„… sobald ihnen ihre Dekadenz klargeworden war“, sagte Jim und behielt nicht nur Heinmann, sondern auch den Gouverneur im Auge. „Mir ist klargeworden, daß der Keim der Zerstörung des Reichs bereits vorhanden war. Die Noyaux, zu denen sich ihre Sozialordnung gespalten hatte, waren der Beweis ihrer Dekadenz. Mit anderen Worten: Es konnte höchstens noch einige Jahrhunderte dauern, bis das Reich begann auseinanderzubrechen, und dann blieb ganz sicher niemandem die Zeit, sich um uns hier auf der Erde Gedanken zu machen. Unglücklicherweise entdeckte ich zur gleichen Zeit Galyans Plan, selbst die Macht zu ergreifen. Nicht alle Hochgeborenen waren mit dem Ventil völlig zufrieden, das der Noyaux-Status für ihre Emotionen und Wünsche lieferte. Einige wenige – wie Galyan, Slothiel und Vhotan – wollten und brauchten echte Konflikte und Siege statt ihrer Schatten, wie sie die ständigen Streitereien zwischen den Noyaux und das Spiel um Lebenspunkte ihnen lieferten. Außerdem war Galyan gefährlich. Wie der Kaiser war er geisteskrank – aber er war auf eine praktische Weise geisteskrank, ein Mann, der im Gegensatz zu seinem Vetter seine Krankheit praktisch einsetzte. Und Galyan hatte mit der Erde Pläne. Er hätte uns in die Dekadenz des Reichs hineingesogen, bevor das Reich Zeit hatte, unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen.“ Jim stockte. Er verspürte ein plötzliches Verlangen, sich zu Ro umzusehen, um festzustellen, wie sie seine Enthüllungen aufnahm, aber er wagte es nicht. „Daher“, sagte er, „habe ich mich darangemacht, Galyan zu vernichten – und es ist mir gelungen.“ Er hörte auf zu sprechen. Der Untersuchungsausschuß an seinem Tisch, der Gouverneur, sogar das Publikum, das still in dem Raum hinter ihm saß, blieb weiter einige Sekunden lang ohne einen Laut bewegungslos sitzen, als erwarte man von ihm, daß er weitersprach. Endlich erfolgte eine langsame
Welle von Bewegungen an dem langen Tisch des Ausschusses. Man hatte erkannt, daß er mit seinen Ausführungen am Ende war. „Das ist also Ihre Erklärung“, sagte Heinmann, lehnte sich langsam nach vorne und sah Jim direkt an. „Sie haben das getan, was Sie getan haben, um die Erde vor einem dekadenten Wahnsinnigen zu retten. Woher wüßten Sie aber, daß Sie recht hatten?“ „Das werde ich Ihnen sagen“, sagte Jim. Er lächelte ein wenig grimmig. „Weil ich in den Archiven der Thronwelt ausreichende Beweise gefunden habe, um mich davon zu überzeugen, daß die Erde tatsächlich ursprünglich von der Thronwelt aus kolonisiert worden ist – von einer Gruppe, die mehrere Hochgeborene enthielt, wie man damals gerade begann, sie zu nennen. Und…“ – er zögerte, sprach aber dann sehr langsam und deutlich – „… ich selbst bin eine Rückentwicklung zu diesen Hochgeborenen, genau wie Ro eine Rückentwicklung ist. Ich bin ein Hochgeborener. Sonst hätte ich gegen Galyan und andere Hochgeborene niemals das geschafft, was mir gelungen ist. Ich bin eine Rückentwicklung zu einer früheren, gesünderen Version ihrer Aristokratie, und mein Aussehen würde das auch noch deutlicher bestätigen, wenn nicht im Alter von zehn Jahren mein Wachstum durch Behandlungen aufgehalten worden wäre!“ In der Stille, die auf diese Erklärung folgte, drehte Jim sich um und sah dem Gouverneur voll ins Gesicht. Der Gouverneur saß wie angefroren da. Sein Mund war leicht geöffnet, und er starrte Jim mit seinen braunen Augen unverwandt an. Jim spürte, wie die Sympathie und der Glaube an ihn, der sich im Verlauf seiner Erklärung aufgebaut hatte – selbst bei dem Untersuchungsausschuß, selbst bei Heinmann – durch eine abkühlende Reaktion von Ungläubigkeit und Mißtrauen weggewischt wurden.
„Ein Hochgeborener? Sie?“ sagte Heinmann mit leiser Stimme und starrte ihn an. Es hatte fast den Anschein, als stellte der Vorsitzende die Frage an sich selbst. Einen langen Augenblick starrte er Jim noch an – dann schüttelte er sich und bekam sich wieder unter Kontrolle. Es war ihm deutlich eingefallen, wer er war und wo er war. „Das ist schwer zu glauben“, sagte er, und in seiner Stimme klang wieder der gleiche Sarkasmus mit, wie er ihn zu Beginn von Jims Befragung gezeigt hatte. „Welchen Beweis haben Sie, um eine solche Behauptung zu unterstützen?“ Jim nickte ruhig dem Gouverneur von Alpha Centauri III zu. „Der Gouverneur kennt die Hochgeborenen“, sagte Jim. Seine Augen waren auf den kleinen Mann gerichtet. „Nicht nur das, sondern er hat mich auch auf der Thronwelt zwischen den dort geborenen Hochgeborenen gesehen. Es müßte ihm eigentlich möglich sein, Ihnen zu sagen, ob ich ein Hochgeborener bin oder nicht… Das heißt natürlich, wenn Sie seine Aussage als Beweis anerkennen.“ „Oh“, sagte Heinmann und lehnte sich nicht nur zurück, sondern kippte sogar seinen Sessel etwas zurück. „Ich denke, wir können die Aussage des Gouverneurs akzeptieren.“ Er wandte sich der kleinen Gestalt neben ihm zu und fragte laut genug, daß es alle im Raum hören konnten: „Mr. Kell hier behauptet, zu den Hochgeborenen zu gehören. Was meinen Sie, Gouverneur?“ Der Gouverneur starrte Jim unverwandt an. Er öffnete den Mund, zögerte und sprach dann mit hartem Akzent in der Erdensprache. „Nein, nein“, sagte er. „Er ist kein Hochgeborener. Nie könnte er ein Hochgeborener sein. Nein…Nein!“
Eine Art leises Seufzen, ein Stöhnen von Reaktion, durchlief das Publikum hinter Jim. Jim stand langsam auf und verschränkte die Arme. „Setzen Sie sich hin, Mr. Kell!“ fuhr Heinmann ihn an, aber Jim ignorierte ihn. „Adok!“ sagte er in die Luft. Plötzlich war Adok da und stand vor Jims Tisch in dem kleinen freien Raum zwischen ihm und dem Podest, auf dem der Tisch des Untersuchungsausschusses stand. Er stand wortlos da. Sein kraftvoller Körper glänzte leicht unter der Beleuchtung, und die weißen Kraftverstärker an seinen Armen und Beinen und um seinen Körper traten kraß hervor. Aus dem Raum kam wieder ein zitternder Seufzer. Dann herrschte Stille. Jim drehte sich um und deutete auf eine lange Wand des Raums. „Adok“, sagte er. „Dies ist eine Außenwand. Ich möchte, daß du sie öffnest. Ich will keinen Schutt oder zuviel Wärme. Sie soll nur geöffnet werden.“ Adok drehte sich leicht zu der Wand hin, auf die Jim gezeigt hatte. Sonst schien sich der Starkianer nicht zu bewegen, aber dann folgte ein kurzer Lichtblitz, der hell genug schien, um sie alle zu blenden, wenn er nicht so extrem kurz angehalten hätte, und etwas wie ein unerträgliches Geräusch von ebenso kurzer Dauer. Wo früher die Wand gestanden hatte, war nun eine unregelmäßige Öffnung von drei Meter Höhe und fünfzehn Meter Länge mit glatten Kanten zu sehen, als seien die Steine der Mauer geschmolzen. Durch die Öffnung war über die Dächer einiger benachbarter Gebäude der blaue Himmel zu sehen, in dem sechs massige Wolken schwebten. Jim deutete an den Himmel. „Die Wolken da, Adok“, sagte er leise. „Schaff sie weg.“
Fünf oder sechs kurze, pfeifende Geräusche ertönten – wieder wie mächtige Geräusche, die so kurz anhielten, daß das menschliche Ohr sie ohne Schaden hören konnte. Der Himmel war wolkenlos. Jim drehte sich wieder zu dem Tisch auf dem Podest um. Er hob langsam den Arm und deutete auf den Gouverneur von Alpha Centauri III. „Adok…“, begann er. Die gedrungene braune Gestalt sprang über den Tisch vor sich, von dem Podest herunter und eilte zu Jims Tisch, wo sie flehentlich die Hände hob. „Nein, nein, Hochgeborener!“ rief der Gouverneur in der Sprache des Reichs. Dann fiel er verzweifelt wieder ins Englische. „Nein!“ rief er und verdrehte den Kopf, um über die Schulter zurück zu dem Untersuchungsausschuß zu sehen. Seine Stimme klang mit ihrem starken Akzent wild durch die Stille im Raum. „Ich hatte unrecht! Unrecht! Er ist ein Hochgeborener. Ich sage euch, er ist es!“ Der Gouverneur hob verzweifelt seine Stimme, denn Heinmann und die anderen Ausschußmitglieder starrten ihn in einer Mischung von Schrecken und Ungläubigkeit auf ihren Gesichtern an. Er drehte sich zu ihnen um. „Nein, nein!“ rief er mit erstickter Stimme. „Ich sage das nicht, weil er auf mich gedeutet hat. Nein! Es ist wegen des Starkianers! Ihr versteht das nicht! Starkianer gehorchen nur dem Kaiser und solchen Hochgeborenen, denen sie vom Kaiser unterstellt werden. Der Starkianer könnte niemandem als einem Hochgeborenen so gehorchen! Es ist wahr! Er ist tatsächlich ein Hochgeborener, und ich hatte unrecht! Ich hatte unrecht! Ihr müßt ihn wie einen Hochgeborenen behandeln, weil er das ist!“
Der Gouverneur brach hysterisch weinend auf der Tischplatte zusammen. Jim spürte, wie sich eine Hand in seine schob. Er sah auf und bemerkte Ro, die plötzlich neben ihm stand. „Ja, so ist es“, sagte Ro langsam in sorgfältigem, aber ungeübtem Englisch zu Heinmann. „Ich bin eine Hochgeborene, und ich sage euch, daß auch Jim ein Hochgeborener ist. Der Kaiser hat ihn als solchen adoptiert, aber sogar er hat gesagt, daß er Jim nichts gäbe, was er nicht schon besitze. Jim hat für euch alle sein Leben aufs Spiel gesetzt, und er hat mich und Adok mit hierhergebracht, um aus euch das Volk zu machen, das eines Tages das Reich erben wird.“ Sie stockte, drehte sich um und deutete auf den schluchzenden Gouverneur. „Dieser Mann“, sagte sie, „muß zu den Kolonialisten gehören, die an Galyans Komplott beteiligt waren. Er hat in Jims Namen einen Stein von der Erde geschickt. Es war aber kein Stein, sondern ein Gerät, das über Vhotan ein blaues, verzerrendes Licht projiziert hat – und als dieser Effekt eintrat, hat der arme Kaiser geglaubt, er sähe die blaue Bestie aus seinen Alpträumen, und so sehr Angst bekommen, daß er, wie Galyan es geplant hatte, Vhotan töten ließ. War das nicht der Mann, von dem der Vorschlag kam, Jim wegen Hochverrats anzuklagen?“ „Ich habe gelogen. Ich habe ihnen gesagt, Prinzessin Afuan werde in Kürze den Hochgeborenen Slothiel beseitigen und dann müsse die Erde für das bezahlen, was Jim getan hat“, stöhnte der Gouverneur und schwankte, die Hände vor das Gesicht gepreßt. „Aber ich hatte unrecht – unrecht! Er ist ein Hochgeborener! Nicht nur durch Adoption, sondern durch Geburt. Ich hatte unrecht, unrecht…“ In Heinmanns Gesicht stritten sich die Empfindungen, aber allmählich siegte ein Ausdruck, der ihn wie einen Mann
aussehen ließ, der gerade aus einem viele Meilen langen, dunklen Tunnel herauskam und das Tageslicht als viel heller empfindet, als er das erwartet hatte, so daß es für ihn fast schmerzhaft ist, es zu ertragen. Jim sah ihn an, deutete mit einem Nicken auf den weinenden Gouverneur herab, um dann seinen Blick grimmig wieder auf Heinmann zu richten. „Ja“, sagte Jim. „Jetzt verstehen Sie also… Und jetzt werden Sie auch verstehen, warum das Reich um jeden Preis von der Erde ferngehalten werden mußte.“