KLEINE JUGENDREIHE
Rolf Guddat
Der Weg durchs Moor VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1958
9. Jahrgang, 2. Dezembe...
8 downloads
174 Views
328KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE JUGENDREIHE
Rolf Guddat
Der Weg durchs Moor VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1958
9. Jahrgang, 2. Dezemberheft Veröffentlicht 1958 im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin W 8, Taubenstraße 10 Lizenz-Nr. 3 – 285/49/58 Alle Rechte vorbehalten Umschlag und Illustrationen: Rudolf Lipus Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden III-9-5 185
„Es ist ein Jammer, daß ich den alten Hegebusch nicht mehr kennengelernt habe.“ Willi Hölzer, der junge Förster, wies mit seinem Pfeifenstiel auf ein kleines Ölgemälde an der Wand. Es stellte das Porträt eines rauschbärtigen Weidmanns dar. Die Augen des Alten schienen spöttisch auf die beiden Männer herabzublinzeln, die auf dem Sofa im Wohnzimmer der Försterei saßen. „Wann war das eigentlich, als der Hegebusch starb und du die Försterei übernahmst?“ fragte Leutnant Heinz Jablonski. „Es sind jetzt gut drei Jahre her. Hätte man mich nur früher hier eingeführt. Aber der alte Hegebusch soll ein eigensinniger Mensch gewesen sein. Er sträubte sich, die Försterei abzugeben, obwohl er schon hoch in den Siebzig war.“ „Und du meinst, daß er den Weg gekannt hat?“ „Der hat ihn gekannt“, sagte Willi Hölzer überzeugt. Dann schwiegen sie beide. Leutnant Jablonski seufzte und öffnete den obersten Knopf seiner Uniform mit den grünen Kragenspiegeln der Grenzpolizei. Der mächtige Kachelofen strömte behagliche Wärme aus. In die Stille hinein begann die Kuckucksuhr zu schnarren, und der possierliche braune Vogel rief elfmal. „Zeit, daß ich zum Kommando gehe“, sagte Jablonski. „Ach, was ich dich noch fragen wollte: Könnt ihr mir helfen, den Sechzehnender zur Strecke zu bringen?“ „Du meinst diesen wilden Hirsch, von dem du neulich schon mal sprachst?“ Der Förster mußte lächeln. „Wilder Hirsch ist gut. – Ja, den meine ich. Er hat mir vorgestern meinen besten Platzhirsch zu Tode geforkelt. Der Bursche ist einfach nicht zu fassen. Wenn ich auf ihn pirsche, wechselt er über die Grenze nach drüben. Einmal habe ich ihn unten im Tannengrund vor die Büchse bekommen. Zwanzig Schritt entfernt und gutes Schußlicht. Aber du weißt ja, der Tannengrund liegt im Fünfhundertmeter-
streifen.“ „… und da darfst du nicht schießen“, vollendete Leutnant Jablonski den Satz des Försters. „Aber du kannst mir glauben, daß es mich in den Fingern gejuckt hat.“ „Und du meinst, daß wir dir helfen können?“ „Ja. Ich habe festgestellt, daß er ziemlich regelmäßig durch den Tannengrund wechselt. Man müßte ihm den Weg zur Grenze versperren. Er wird dann wahrscheinlich südlich zum Moor ziehen. Wenn wir Glück haben, kommt er mir dabei auf der Schneise im Jagen 17 vor die Büchse.“ „Du weißt, daß ich höchstens sechs Genossen dafür zur Verfügung habe. Der Streifen- und Postendienst darf darunter nicht leiden.“ „Das würde schon reichen. Von den Waldarbeitern machen auch ein paar mit.“ „Also gut. Wann schlägst du vor?“ „Wenn das Wetter günstig ist, übermorgen.“ Leutnant Jablonski verabschiedete sich. Auf dem Weg zum Grenzpolizeikommando ging ihm die Geschichte mit dem Moor nicht aus dem Kopf. Da gab es Leute, die ungeschoren die Grenze nach Hessen passierten, weil sie den Weg durchs Moor kannten. Deshalb mußte man diesen Weg herausbekommen. Aber wie? Nur wenigen Einheimischen sollte der Pfad durch den schwarzen Morast bekannt sein. Zu ihnen hatte auch der alte Förster Hegebusch gehört. Aber Hegebusch war tot, und wer von den Einwohnern Fichtensteins des Weges kundig war, das wußte niemand zu sagen. Fest stand nur, daß der geheime Weg durchs Moor, das bis dicht an die Grenze reichte, benutzt wurde. Der entlang der Grenze laufende Zehnmeterkontrollstreifen wies häufig Fußspuren auf, die aus dem Moor kamen. Was nützte aller Streifen- und Postendienst der zwölf in Fichtenstein stationierten Grenzpolizisten, wenn das Moor
wie unerforschtes Niemandsland in ihrem Kontrollabschnitt lag? Seit sechs Monaten war Leutnant Heinz Jablonski nun schon Kommandoleiter in Fichtenstein. Damals hatte man ihn hierher versetzt, weil er weit über den Bereich der Grenzpolizeibereitschaft hinaus für seinen Spürsinn und seine daraus resultierenden Erfolge bekannt war. „Genosse Leutnant“, hatte der Major zu ihm gesagt, „wir übertragen Ihnen das Kommando Fichtenstein, da wir der Überzeugung sind, daß Sie binnen kurzer Zeit diesen Abschnitt unserer Staatsgrenze für Diversanten und Schmuggler unpassierbar machen werden.“ Das klang sehr ehrenvoll, und Heinz Jablonski hätte brennend gern dem Major gemeldet, daß sein Abschnitt für illegale Grenzgänger tatsächlich unpassierbar geworden war. Aber da gab es diese Fußspuren, ein-, zweimal in der Woche. Es war zum Verzweifeln! Die Genossen taten ihr Bestes. Zusätzlicher Streifendienst, zusätzliche Posten; gut getarnt lagen sie manchmal stundenlang auf der Lauer. Doch alles vergebens. Gefreiter Bornemann, ein alter Fuchs, der in seiner achtjährigen Dienstzeit mehr als zweihundert Festnahmen zu verzeichnen hatte, zog Dutzende von Malen mit seinem Diensthund Harras los. Zweimal war er einem Grenzgänger dicht auf den Fersen – dann aber kam das Moor, unwegsam für jeden, der nicht den Pfad kannte. Einmal war Bornemann bis zu den Knien im Morast versunken und hatte Mühe gehabt, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Harras schlich ihm winselnd und mit eingekniffenem Schwanz um die Beine. Hier nützte auch die beste Hundenase nichts. Wasser nahm keine Witterung an. Leutnant Jablonski dachte an die unzähligen Male, da sie von allen Seiten versucht hatten, Schritt für Schritt den Weg durchs Moor zu erkunden. Da waren scheinbar trockene Stellen, trügerisch mit Moos bewachsen. Aber wenn man den Fuß daraufsetzte, gab der Boden laut schmatzend nach.
Heinz Jablonski war zu der Einsicht gelangt, daß man des Grenzgängerunwesens auf andere Weise Herr werden mußte. Es galt den oder die Grenzführer ausfindig zu machen. Soviel wußte man wenigstens, daß nicht nur Schmuggelware nach drüben gebracht wurde, sondern daß auch Personen, wahrscheinlich gegen gute Bezahlung, nach hüben und drüben geführt wurden. Aber wer sollte sich an den Grenzführer heranmachen? Die Grenzpolizisten? Fichtenstein war ein kleines Nest, knapp zweitausend Einwohner zählte es. Die zwölf Grenzpolizisten waren jedem bekannt. Den Volkspolizisten erging es nicht anders. Nein, ein Fremder müßte einmal in Fichtenstein Umschau halten. Jablonski hatte mit seinem Vorgesetzten darüber gesprochen. Vielleicht sollte man jemand von der Kriminalpolizei oder vom Staatssicherheitsdienst heranziehen. Aber da hatte es geheißen, wollen wir Genossen Grenzpolizisten uns solch ein Armutszeugnis ausstellen lassen? Jablonski war anderer Meinung. Hier ging es doch nicht um Konkurrenz! Er war entschlossen, bei der nächsten Gelegenheit dem Genossen Major seinen Vorschlag zu unterbreiten. Leutnant Jablonski hatte sich dem Kommando genähert. Durch die Fichten sah er bereits die erleuchteten Fenster schimmern. Kurz darauf wurde er vom Hausposten nach dem Losungswort gefragt. Der Gefreite Bornemann hatte an diesem Abend Wache. Jablonski ging zuerst ins Wachzimmer. Der Diensthabende war Unteroffizier Franz Jungnickel, der Politische Kommissar des Kommandos, kurz PK genannt. Als der Leutnant eintrat, erhob er sich hinter dem Schreibtisch, grüßte und meldete, daß es keine besonderen Vorkommnisse gebe. „Und was machen Sie hier?“ fragte Jablonski einen ihm fremden Gefreiten, der bei seinem Eintreten in einem Buch gelesen und jetzt Haltung angenommen hatte. „Gefreiter Werner Brink meldet sich abkommandiert zum
Dienst in diesem Kommando von der Bereitschaft.“ Der Gefreite verhaspelte sich und wurde puterrot im Gesicht. „Na, nun mal langsam, langsam“, sagte Jablonski begütigend und musterte den Neuankömmling freundlich. „Bin von der Bereitschaft hierher kommandiert worden, Genosse Leutnant.“ „Davon weiß ich ja gar nichts.“ Jablonski sah fragend den PK an. „Die Bereitschaft hat vorhin angerufen“, sagte Jungnickel. „Dann ist es gut. Sind Sie schon eingewiesen worden, Genosse Gefreiter?“ „Jawohl, Genosse Leutnant.“ „Ich habe ihn oben beim Genossen Schutt in die Dachkammer einquartiert“, erklärte der Unteroffizier, „Ist gut.“ Jablonski wandte sich wieder dem Gefreiten zu. „Na, dann kommen Sie mal auf einen Sprung mit zu mir ms Zimmer.“ In seinem Dienstzimmer bot Jablonski dem Neuen eine Zigarette an. „Danke, Genosse Leutnant, ich bin Nichtraucher.“ „Bravo! Der einzige Nichtraucher im Kommando. Hoffentlich macht Ihr Beispiel Schule. So, nun erzählen Sie mal, Genosse Gefreiter, wir wollen uns doch kennenlernen.“ Werner Brink drehte verlegen an seinen Fingern, „Tja, da gibt’s nicht viel zu erzählen, Genosse Leutnant, Ich bin dreiundzwanzig Jahre und Traktorist von Beruf.“ „So, Traktorist. Gefällt Ihnen Ihr Beruf?“ „Ja, er macht mir Freude. War eine schöne Zeit auf der MTS.“ „Und nun wollen Sie bei uns bleiben?“ „Ich habe mich für zwei Jahre verpflichtet. Ein Jahr ist schon rum.“ „Und Sie können es gar nicht erwarten, bis das zweite Jahr
auch noch vergangen ist, ja?“ „Nein, so ist das nicht. Ich bin gerne bei der Grenzpolizei.“ „Haben Sie schon mal Grenzdienst gemacht?“ „Ja, ich komme von der Oder.“ „Eine ruhige Ecke dort, was?“ „Kann man nicht sagen, Genosse Leutnant. Streifen-und Postendienst genau wie hier.“ „Ja, ja, das schon. Aber hier ist Westgrenze. Und dann warten Sie mal ab, wenn es Winter wird. Voriges Jahr hatten wir minus fünfundzwanzig Grad in dieser Gegend. Schneeverwehungen bis drei Meter. – Können Sie Ski laufen?“ „Jawohl, Genosse Leutnant.“ Werner Brinks Augen leuchteten auf. „Ich bin aus dem Erzgebirge.“ „Ausgezeichnet! – Sind Sie verheiratet oder verlobt?“ „Nein, Genosse Leutnant.“ „Kein Mädchen irgendwo?“ „Auch das nicht.“ „Sie können es mir ruhig sagen. Es ist nur wegen Urlaub und so. Wenn’s zu machen geht, richte ich das schon so ein.“ „Schönen Dank, Genosse Leutnant, aber mich zieht’s nicht weg von hier.“ „Haben Sie dieses Jahr schon Urlaub gehabt?“ „Nein, Genosse Leutnant. Ich sollte am nächsten Sonnabend gehen. Aber nun kam die Versetzung.“ „Wohin wollten Sie fahren?“ „Ich hatte noch keine Pläne. Na, jetzt wird ja doch nichts draus.“ „Warum nicht?“ „Ich kann doch nicht hierherkommen und dann gleich in Urlaub fahren.“ „Ich wußte nicht, daß Sie uns zugeteilt werden. Nehmen Sie ruhig erst Ihren Urlaub.“ „Danke, Genosse Leutnant.“
„Haben Sie schon eine Ahnung, was Sie hier bei uns erwartet?“ „Wie meinen Sie das, Genosse Leutnant?“ „Hier gibt’s ein Moor.“ „Ja, ich hörte schon davon.“ „Und dieses Moor macht uns ganz schön zu schaffen. Nun, davon werden Sie noch früh genug erfahren.“ Leutnant Jablonski sah zur Uhr. „Es ist spät geworden. Also dann schlafen Sie gut.“ „Danke, Genosse Leutnant.“ Werner Brink grüßte und verließ das Zimmer. Während er die Treppe emporstieg, dachte er über die Andeutung auf das Moor nach. Seltsam, auch der PK hatte so geheimnisvoll davon gesprochen. Was war denn schon dabei? In seinem Heimatort gab es auch ein Moor. Da wurde Torf gestochen, und die alten Frauen erzählten den Kindern Geschichten von den Irrlichtern im Moor. Das sollten die wandernden Seelen Verstorbener sein. Darüber hatte er schon als Junge gelacht. Aber der Leutnant Jablonski, das war ein Pfundskerl. Mit diesem Gedanken schlief er ein. Werner Brink fühlte sich bald im Kommando heimisch. Schon am Abend des nächsten Tages kannte er jeden Kameraden, wußte, daß der Jungverheiratete PK Sehnsucht nach seiner Frau in Dresden hatte und in Fichtenstein um eine Wohnung für sie bemüht war, daß Gefreiter Bornemann nichts auf seinen Harras kommen ließ und über einen schier unerschöpflichen Schatz von Erlebnissen und Anekdoten aus seiner langjährigen Grenzertätigkeit verfügte, daß sich der kleine Berliner Strohbach in jeder freien Stunde auf sein Maschinenbaustudium vorbereitete, daß sein Bettnachbar Karl Schutt Schweißfüße hatte und ihn unbedingt zum Rauchen verleiten wollte, ansonsten aber ein prima Kerl war, und daß man den Genossen Michel zu jeder Tages- und Nachtzeit zu einer Partie Schach auffordern konnte.
Der Dienst machte ihm Spaß, zumal für ihn alles den Reiz des Neuen besaß und die herrliche Thüringer Waldlandschaft, besonders jetzt im Herbst, nicht ihren Eindruck auf ihn verfehlte. Am Abend des zweiten Tages wurde er mit dem Gefreiten Schutt, seinem Bettnachbarn, zur Nachtstreife eingeteilt. Nachdem sie die Kaltverpflegung in den Brotbeuteln verstaut und ihre Feldflaschen mit Tee gefüllt hatten – der Streifendienst dauerte immerhin acht Stunden –, meldeten sie sich beim Wachhabenden. Leutnant Jablonski kam hinzu. „Na, Genosse Brink, zum erstenmal heute bei uns auf Streife?“ „Jawohl, Genosse Leutnant.“ Jablonski wandte sich an Karl Schutt: „Weisen Sie den Genossen Brink gut in das Gelände ein. Er soll unseren Dienstbereich bald wie seine Hosentasche kennen.“ Dann kontrollierte Jablonski Waffen und Munition, sagte ihnen die zur Zeit gültigen Leuchtsignale und führte sie an das Sandkastenmodell des Grenzabschnittes. Er wies sie in die Route ihres Streifengangs ein. „Und wenn’s mal knallt, dann ist das wahrscheinlich Förster Hölzer. Der will heute im Jagen 17 einen Hirsch zur Strecke bringen. Wir gehen übrigens mit raus, um das Vieh vom Grenzübergang abzuhalten. Sie wissen also Bescheid. Das heutige Losungswort heißt ,Gänseblume’.“ Karl Schutt wiederholte den Auftrag. Dann stiefelten sie los, zuerst ein Stückchen die Straße auf Fichtenstein zu. Bald aber schon bogen sie auf einen Waldweg ein, der von dichten Fichtenschonungen gesäumt wurde. Halblaut erklärte Karl Schutt seinem Kameraden das Gelände: „Diesen Weg immer geradeaus, dann kommst du in den Tannengrund. Südlich davon beginnt das Moor. Wir halten uns aber mehr rechts, stoßen dann auf den Zehnmeterstreifen, den wir entlanggehen, also westlich direkt am Moor vorbei.“
Werner Brink prägte sich die Worte seines Kameraden gut ein. Als sie ein paar hundert Schritte gegangen waren, fing es an, leicht zu regnen. Bald verließen sie, nach rechts abbiegend, den Weg. Sie gingen durch Laubwald. Der Regen tropfte monoton durch das Geäst, fiel ins welke Laub und rief tausend Geräusche hervor, die immer wieder die angespannten Sinne narrten. Die beiden Grenzpolizisten zogen ihre erdfarbenen Wetterumhänge fester um die Schultern und achteten darauf, daß ihre Maschinenpistolen nicht naß wurden. Bei jedem Schritt auf dem schmalen Waldweg quietschte der moosbedeckte Boden unter den Stiefelsohlen. Die beiden blieben stehen, horchten in das Dunkel hinein. Aber außer dem Rauschen des Regens hörten sie nur den Wind leise klagend durch die kahlen Baumkronen streichen. Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Plötzlich knackte es zur Linken im Unterholz, kaum zehn Schritte von ihnen entfernt. Sie rissen wie auf Kommando ihre Maschinenpistolen in Anschlag. Metallisch klickten die Sicherungsflügel. Dann wieder Stille. Doch bewegte sich da nicht ein Schatten? Jetzt abermals das Knacken und Rascheln. In langen Sätzen lief dort jemand. „Bö, bö“, rief es sich entfernend. Die Männer lachten leise und hängten ihre Waffen wieder um. Ein Rehbock hatte sie zum besten gehalten. Von jenseits des Tannengrundes orgelte der heisere Brunstschrei eines Hirsches herüber. Werner Brink fielen die Worte des Leutnants ein. Vielleicht war das der Hirsch, den der Förster heute schießen wollte? Karl Schutt fragte, ob er das Röhren eines Hirsches nachahmen könne. Brink verneinte es erstaunt. Schutt erzählte, Genosse Bornemann könne es täuschend ähnlich mit dem Lauf einer Leuchtpistole. Einmal hätte er einen Hirsch bis auf wenige Schritte angelockt. Allmählich ließ der Regen nach. Im Westen über dem Berghang stieg lautlos eine Leuchtkugel in den nächtlichen Himmel, vergoß grelles Magnesiumlicht über dunkle Fichtenwipfel,
blieb eine Weile zitternd hängen und verlöschte ebenso lautlos, wie sie aufgestiegen war. Schutt erklärte, der Berghang liege schon drüben. Die Leuchtkugel sei wahrscheinlich vom Bundesgrenzschutz abgeschossen worden. Etwa eine halbe Stunde nach Verlassen des Kommandos erreichten sie den Kontrollstreifen an der Grenze. Sie verbargen sich in einem Kieferngestrüpp. Von hier aus konnten sie den Kontrollstreifen nach beiden Seiten etwa fünfzig Schritt einsehen. Der Wind hatte die Wolkendecke aufgerissen, die Sicht war besser geworden. Am Himmel blinkten vereinzelt Sterne. Abwechselnd sahen sie durch das Nachtglas. Alles schien wie ausgestorben. Nur vom Tannengrund her röhrte ab und zu ein Hirsch. Nachdem sie längere Zeit aus dem Kieferngestrüpp heraus den Zehnmeterstreifen beobachtet hatten, führte Karl Schutt seine Armbanduhr dicht vor die Augen. „Wir sollten weitergehen, sonst schaffen wir unsere Runde nicht.“ Werner Brink erhob sich. Die Glieder waren ihm vom langen Kauern steif geworden. Plötzlich zupfte ihn Karl Schutt am Arm und hob hastig das Nachtglas vor die Augen. „Dort geht jemand!“ flüsterte er. „Wo?“ Karl Schutt deutete nach links und entsicherte die Maschinenpistole. „Der Kerl ist von drüben gekommen. Wir müssen ihm den Weg abschneiden. Halte du den Zehnmeterstreifen in Schach, ich versuche ihn zu dir zurückzudrängen.“ Werner Brink nickte. Der Kamerad glitt lautlos davon. Brink kam der Gedanke, daß dort vielleicht einer der Genossen ging, die den Hirsch vom Grenzübergang abhalten sollten. Aber dann erinnerte er sich, daß Karl gesagt hatte, die Gestalt sei von drüben gekommen, habe also den Zehnmeterstreifen überquert. Demnach ein illegaler Grenzgänger. Ein Irrtum war ausgeschlossen Er verließ das Kieferngestrüpp und tastete sich vorwärts. Die Maschinenpistole hielt er schußbereit an der
Hüfte. Weder von Schutt noch von dem Grenzgänger war etwas zu sehen oder zu hören. Langsam ging er weiter, den Kontrollstreifen nicht aus den Augen lassend. Links im Walde knackte plötzlich ein Ast. Wie angewurzelt blieb Werner stehen, mit der linken Hand griff er schnell nach der Taschenlampe, die an der Uniformjacke festgeknöpft war. Er wollte schon auf den Kontaktknopf drücken, da überlegte er sich, daß vielleicht Schutt auf einen Ast getreten war und er den Kameraden anleuchten könnte. Er ließ die Hand wieder sinken, lief weiter. Das welke Laub raschelte unter seinen Schritten. „Halt! Stehenbleiben! Deutsche Grenzpolizei!“ Das war Karl Schutts Stimme. Im Wald flammte ein Lichtkegel auf, glitt suchend zwischen den Baumstämmen hindurch. Werner begann zu laufen, stolperte über eine Wurzel, schlug schwer hin, wobei er mit der Hüfte schmerzhaft auf einen Baumstumpf prellte. Fluchend erhob er sich. In dieser Sekunde hämmerte eine Maschinenpistolengarbe in die nächtliche Stille. „Stehenbleiben!“ hörte er wieder Schutts Stimme. Der Lichtkegel aus der Lampe des Kameraden verlöschte. Werner stürmte weiter, ohne auf die Schmerzen in der Hüfte zu achten. Wir müssen den Kerl fassen! war sein einziger Gedanke. Dann blieb er wieder stehen, lauschte, um den Kameraden nicht zu verfehlen. Vor sich hörte er Geäst unter schnellen Schritten brechen. „Karl!“ brüllte er. Schutt antwortete: „Gib Signal!“ Werner Brink riß die Leuchtpistole hervor, schob eine rote Patrone in den Lauf, feuerte den Schuß in die Luft. Mit einem trockenen Knall schoß die grellrote Kugel in den Himmel. Hastig lud er eine grüne Patrone nach, drückte ab. Rot-grün, das verabredete Signal, wenn ein Grenzverletzer in das Gebiet der DDR eingedrungen war, Werner beruhigte der Gedanke, daß die Kameraden nicht allzuweit entfernt stehen mußten, da sie
doch dem Förster bei der Hirschjagd helfen wollten. Noch hing die grüne Leuchtkugel über dem Wald und warf ihr gespenstisch-fahles Magnesiumlicht herab. Werner Brink sah Karl Schutt in schnellem Lauf durch eine niedrige Schonung eilen. Dann verlöschte die Leuchtkugel, und in der plötzlich eingetretenen Finsternis vermochte Werner fast nichts mehr zu sehen. Er mußte sekundenlang die Augen schließen, bevor er weiterlaufen konnte. Als er die Schonung erreicht hatte, blieb er lauschend stehen, vernahm zur Linken Geräusche und lief weiter. Jenseits der Schonung fiel das Gelände stark ab. Werner Brink hatte das Gefühl, als laufe er über Gummi. Der Boden gab unter jedem Schritt elastisch nach. Je weiter er lief, um so fester schien der Waldboden die Stiefelsohlen anzusaugen. Das mußte das Moor sein! Werner verhielt den Schritt. Kein Rascheln, keine knackenden Zweige waren mehr zu hören. Stille ringsum. Werners linkes Bein sank allmählich tiefer. Nur mit Mühe zog er es aus dem Modder. Sein Atem ging keuchend und schnell. Wo war Schutt? Hatte er den Kameraden verfehlt? Er legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief: „Karl.“ Keine Antwort. Nur ein Käuzchen schrie sein „Kiewitt, kiewitt“ durch die Nacht. Werner Brink rief noch einmal. Lauschte. Wartete. Nervöse Unruhe ergriff ihn. Irgend etwas stimmte da nicht. Unmöglich, daß sich Karl in der kurzen Zeit so weit entfernt hatte, daß er die Rufe nicht mehr hören konnte. War ihm etwas zugestoßen? Werner Brink begann zu schwitzen. Verflucht noch mal! Hätten sie sich doch nicht getrennt! Er mußte weiter, durfte hier nicht tatenlos stehenbleiben und kostbare Zeit verstreichen lassen. Vielleicht brauchte ihn Karl gerade in diesem Moment dringend. Aber wo suchen? Vor ihm lag das Moor, daran gab es keinen Zweifel. Die Kameraden hatten von mysteriösen Grenzgängern erzählt, die den geheimen Weg durch den Sumpf kannten. Vielleicht gehörte der Grenzverletzer zu den Weg-
kundigen, und Schutt war bei seiner Verfolgung ins Moor geraten. Aber so schnell konnte man doch nicht versinken. Zeit zum Rufen wäre auf jeden Fall noch geblieben. Werner Brink stand vor einem Rätsel. Etwa einen Kilometer entfernt stieg eine weiße Leuchtkugel auf. Das waren Leutnant Jablonski und die Genossen. Sie suchten und forderten Orientierungssignal. Brink schoß ebenfalls eine weiße Patrone ab. Zu dumm, daß er das Gelände kaum kannte. Doch er nahm an, Jablonski und die Kameraden müßten jenseits des Moores sein. Er versuchte weiterzulaufen. Aber schon nach wenigen Schritten sank er bis über die Knöchel ein. Hier gab es kein Weiterkommen. Er ging zurück, verlor das Gleichgewicht, weil er mit einem Bein tief eingesunken war, konnte sich im Fallen an eine dünne Birke klammern und richtete sich mühsam wieder auf. Er mußte weiter. Wo lag die Schonung? Da! Nein – dort! Schmatzend und gurgelnd gab der moorige Boden immer wieder unter seinen Schritten nach. Werner hatte die Orientierung verloren! Das war ihm noch nie passiert. Schwer atmend blieb er stehen. Und noch immer kein Lebenszeichen von Karl Schutt. Die Sorge um den Kameraden wurde riesengroß. Verdammt, warum mußte man ihn auch gleich auf Nachtstreife in ein Gelände schicken, das er nicht kannte? Aber das war ja Unsinn. Wer konnte denn ahnen, daß die Verbindung zwischen ihm und Karl abriß? Doch hier durfte er nicht bleiben. Seine Füße versanken schon wieder im Morast. Er brach einen Ast vom Baum und tastete ringsum den Boden ab. Aber das Holz glitt hinein wie in einen Brei. Links, rechts, überall dasselbe. Er ließ die Taschenlampe aufleuchten. Auch das nützte nicht viel. Das Aussehen des Bodens trog. Der Ast sank auch an jenen Stellen tief ein, die fest schienen. Wie lange mochten die Kameraden brauchen, um ihm zu Hilfe zu kommen? Zwanzig Minuten, eine halbe Stunde? Er hatte
keine Ahnung. Sicherlich mußten sie das Moor umgehen. Zwei, drei Kilometer betrug der Weg bestimmt. Sollte er Notsignal schießen? Er dachte daran, daß es galt, den Grenzverletzer zu stellen. Vermutlich würde er versuchen, auf der anderen Seite des Sumpfes zu entfliehen. Schoß er jetzt das Notsignal, würden alle Genossen zu ihm eilen und das Gelände jenseits des Moores dadurch entblößen. Wieder stieg eine weiße Leuchtkugel auf. In ihrem Schein erkannte Werner einen knorrigen Baumwipfel, der ihm bereits bei der ersten Leuchtkugel aufgefallen war. Er hatte die Orientierung wiedergefunden. Die Leuchtkugel, die jetzt am Himmel hing, mußte weiter nördlich als die erste abgeschossen worden sein. Das bestätigte seine Vermutung, daß die zu ihm eilenden Kameraden das Moor umgingen. Er schoß das Antwortsignal und schaute auf seine Armbanduhr. Sechs Minuten vor Mitternacht. Es war erst eine Viertelstunde vergangen, seit Karl Schutt am Kontrollstreifen den Fremden entdeckt hatte. Im verlöschenden Licht der Leuchtkugel sah Werner einen kleinen Tümpel. Er prüfte mit dem Ast die Wassertiefe und war überrascht, als das Holz auf festen Untergrund stieß. Mit einem langen Satz sprang er in den Tümpel. Das eiskalte Wasser spritzte hoch auf und lief ihm in die Stiefelschäfte. Aber, was schadete das schon, er hatte wenigstens festen Boden unter den Füßen. Langsam watete er durch das glucksende Wasser. Ob er jetzt endlich einen Weg aus dem Moor fand? Am anderen Ende des Tümpels stand ein mächtiger Baum, dessen Äste tief herabhingen – aber hinter dem Baum begann das Moor. Doch er mußte in dieser Richtung weitergehen, denn nur sie führte zur Schonung. Das Gelände war unwegsam. Sobald Werner versuchte, sich einen Schritt vom Baum zu entfernen, versank er im Morast. Es war zum Verzweifeln! Er mußte sich an den Ästen hochziehen, um wieder auf die Baumwurzeln zu gelangen. Plötzlich kam ihm eine Idee: Wenn er sich nun vor-
wärts tastete und dabei die herabhängenden Äste zu Hilfe nahm? Kurz entschlossen wagte er es. Zwar sank er tief ein, aber sich an den Ästen festhaltend, konnte er sein Gewicht erheblich verringern. Es war ein beschwerlicher Weg. Die Uniform lag ihm klatschnaß am Körper, so schwitzte er, obwohl es empfindlich kühl war. Nach wenigen Metern fühlte er aufatmend, daß der Untergrund weniger nachgab. Nun konnte er die Äste loslassen. Endlich stand er keuchend auf festem Boden. Er ging zurück zur Schonung, schlug den Weg zum Zehnmeterstreifen ein. Zehn Minuten später stieß er auf Leutnant Jablonski und drei Genossen. Hastig berichtete er, was geschehen war. Das mysteriöse Verschwinden des Gefreiten Schutt löste die schlimmsten Befürchtungen aus. Der Leutnant schickte einen Genossen zum nächsten Telefon des Grenzmeldenetzes. Er sollte im Kommando Alarm auslösen, die Genossen der Volkspolizei in Fichtenstein informieren und eine entsprechende Meldung an den Operativstab der Grenzpolizei durchgeben lassen. Sie suchten die ganze Nacht und den Vormittag des darauffolgenden Tages. Gefreiter Bornemann ließ Harras an Kleidungsstücken des Gefreiten Schutt Witterung nehmen. Aber es war alles vergebens. Die Spuren endeten am Rande des Sumpfes. Werner Brink war der Verzweiflung nahe. Er fühlte sich mitschuldig am Verschwinden des Kameraden und machte sich die heftigsten Vorwürfe, weil er ihn in der Nacht aus den Augen verloren hatte. Unermüdlich beteiligte er sich an der Suchaktion. Er vergaß zu essen, kümmerte sich nicht um sein total durchnäßtes Schuhwerk. Erst als ihm Leutnant Jablonski den Befehl gab, zum Kommando zu gehen und zu schlafen, gehorchte er schweren Herzens.
Am Abend kehrten die Suchtrupps zum Kommando zurück. Mit einem LKW waren in der vergangenen Nacht von der Bereitschaft noch ein Oberleutnant und fünfzig Grenzpolizisten nach Fichtenstein gekommen und hatten an der Suche teilge-
nommen. Aber es hatte alles nichts genutzt. Gefreiter Karl Schutt blieb spurlos verschwunden. Es gab keine andere Erklärung: Er mußte im Moor versunken sein. Rätselhaft war nur, warum Werner Brink ihn nicht hatte rufen hören. „Vielleicht hat dieser Schweinehund von Grenzverletzer seine Finger im Spiel gehabt“, mutmaßte Manfred Bornemann und sah betrübt auf seinen Diensthund. „Dieses dreimal verfluchte Moor!“ stieß Leutnant Jablonski in ohnmächtiger Wut hervor. Es blieb ihnen nur die Hoffnung, daß die fieberhaft weitergeführten Ermittlungen der Kriminalpolizei das Rätsel um Karl Schutts mysteriöses Verschwinden lösen würden. Werner Brink wachte auf, als der Morgen bereits dämmerte. Sein erster Blick fiel auf Karl Schutts leeres Bett. Er mußte wieder an die Nacht im Moor denken und die ergebnislose Suche. Konnte man wirklich nichts unternehmen? Stand man diesem Moor tatsächlich hilflos gegenüber? Würden noch mehr Kameraden in ihm den Tod finden? Sollte es ein ständiger Durchschlupf für zwielichtige Elemente bleiben? Und heute begann sein Urlaub. Es war für ihn ein geradezu lächerlicher Gedanke. Sein Blick ruhte abermals auf dem leeren Bett. Und da wußte er, daß er Karls Stelle zu vertreten hatte. Er wollte das gleich dem Genossen Leutnant sagen. Hastig stand er auf, zog sich an. Die geprellte Hüfte schmerzte. Aber was tat es schon? Ein bißchen blutunterlaufen, das würde sich wieder geben. Und der Schnupfen, den er sich im Moor geholt hatte? Nicht der Rede wert. Es war gegen sechs Uhr. Der Leutnant würde sicherlich schon wach sein. Werner Brink ging ins Erdgeschoß und klopfte an Jablonskis Tür. „Guten Morgen, Genosse Leutnant!“ „Guten Morgen, Genosse Gefreiter. Nun, was gibt’s’?“‘ „Genosse Leutnant, ich möchte Sie bitten, meinen Urlaub zu
streichen.“ „Abgelehnt!“ sagte Jablonski. Alles hätte Werner erwartet, aber das nicht. „Aber Genosse Leutnant“, stammelte er fassungslos. „Bitte nehmen Sie Platz!“ Jablonski wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Und warum wollen Sie nicht in Urlaub gehen? Wegen Karl Schutt?“ Werner nickte. „Ja, Genosse Leutnant. Ich möchte den Dienst des Genossen Schutt übernehmen.“ „Hören Sie mal“, sagte Jablonski in väterlichem Tone. „Ich verstehe Sie, aber den Urlaub brauchen Sie. Wenn Sie zurückkommen, werden Sie ausgeruht sein und Ihren Dienst noch einmal so gut verrichten können.“ „Ich werde im Urlaub doch keine Ruhe haben.“ „Das denken Sie jetzt.“ Leutnant Jablonski sah den Gefreiten nachdenklich an. „Sagen Sie mal“, meinte er dann gedehnt, „Sie hatten doch noch kein bestimmtes Urlaubsziel, nicht wahr?“ „Nein, Genosse Leutnant. Ich mache mir jetzt darüber auch keine Gedanken.“ „Aber ich mache mir Gedanken darüber.“ Wie von einer plötzlichen Eingebung befallen, beugte sich Jablonski über den Schreibtisch zu Werner Brink und sagte: „Wie wäre es, wenn Sie Ihren Urlaub in Fichtenstein verbringen würden?“ „In Fichtenstein? Das fehlte mir gerade noch. Untätig zusehen, wie die Genossen ihren Dienst verrichten? Ich bitte Sie, Genosse Leutnant, tun Sie mir das nicht an.“ „Doch, ich werde es Ihnen antun. Kennt man Sie im Ort?“ „Nein. Ich war nur am ersten Abend in Fichtenstein, um mit dem Bus hierherzufahren.“ „Das ist sehr gut. Sie sind also in Fichtenstein noch nicht als Angehöriger der Deutschen Grenzpolizei bekannt. Wollen Sie uns einen großen Dienst erweisen? Von einem richtigen Urlaub
kann man dann allerdings nicht sprechen.“ „Ja, wenn ich dazu imstande bin“, sagte Brink langsam; er überlegte, worauf der Leutnant hinauswollte. „Hören Sie mal, Genosse Brink: Sie wissen doch, daß es einen Weg durchs Moor gibt, den nur wenige Einheimische kennen?“ „Ja, ich habe davon gehört.“ „Und da ist jemand im Ort, der bringt nicht nur Schmuggelgut über die Grenze, sondern – sicherlich gegen gute Bezahlung – manchmal auch Personen, denen bei uns in der DDR der Boden unter den Füßen zu heiß geworden ist.“ Werner Brink wurde plötzlich hellhörig. Er begriff, was Jablonski von ihm wollte. „Genosse Leutnant“, rief er aufgeregt, „ich werde diese Kerle in Fichtenstein ausfindig machen!“ „Genau das will ich. Sie sind also bereit, Ihren Urlaub sofort anzutreten und ihn hier in Fichtenstein zu verbringen?“ „Sofort, Genosse Leutnant. Und ich werde ihn nicht als Urlaub, sondern als Dienst auffassen.“ „Richtig! Aber denken Sie daran: Dem Anschein nach müssen Sie wirklich Urlaub machen. Sie müssen ein ganz harmloser Urlauber sein, verstehen Sie? Nur dabei etwas die Augen und Ohren offenhalten. Doch niemand darf ahnen, daß Sie Angehöriger der Deutschen Grenzpolizei sind. Das heißt also, jeglichen Verkehr mit den Genossen meiden und mit keinem von uns sprechen, wenn Sie uns in Fichtenstein begegnen.“ „Ist klar, Genosse Leutnant. Nur…“ – Werner Brink machte ein ratloses Gesicht – „wie ist denn das mit meinem Ausweis? Wenn ich mich in Fichtenstein als Urlauber einquartiere, dann muß ich mich doch polizeilich melden und einen Personalausweis vorzeigen. Ich habe doch aber nur meinen Dienstausweis.“ „Halb so schlimm.“ Jablonski winkte ab. „Ich lasse Ihnen sofort einen aus der Kreisstadt besorgen. Am besten, Sie nehmen
ein Zimmer im Gasthof ,Zur Sonne’. Der Laden ist ziemlich anrüchig. Wenn es Ihnen gelingen sollte, tatsächlich Kontakt mit diesem Grenzgänger zu bekommen, dann dort, am ehesten. Und die Genossen von der VP in Fichtenstein informiere ich selbstverständlich.“ „Ja, so wird es gehen.“ „Gut! Alles Nähere besprechen wir nachher. Machen Sie inzwischen Ihr Urlaubsgepäck fertig.“ „Jawohl, Genosse Leutnant.“ Erleichtert und von seinem Auftrag beseelt, verließ Werner Brink das Zimmer des Leutnants. Nach dem Morgenappell hatte Werner Brink mit Leutnant Jablonski und dem PK, Unteroffizier Jungnickel, eine Aussprache, die bis Mittag dauerte. Jede Einzelheit des Unternehmens wurde erörtert, und weder der Leutnant noch der PK sparten mit guten Ratschlägen. Endlich glaubten die drei, daß sie jede Frage besprochen hatten. Der Kradfahrer mit Werners neuem Personalausweis war auch schon aus der Kreisstadt zurückgekehrt. Werner Brink hatte bereits Zivilkleidung angezogen und sein Köfferchen gepackt. Um jeden Verdacht von vornherein auszuschalten, sollte Genosse Strohbach Werner mit dem Dienstkrad zur nächsten Ortschaft fahren. Dort konnte er den regulären Omnibus nach Fichtenstein besteigen. Bald knatterte das Motorrad mit den beiden Grenzern auf dem Waldweg hinter dem Kommando davon. Leutnant Jablonski stand am Fenster seines Dienstzimmers und sah den beiden Genossen nach. Er dachte in diesem Augenblick an den Gefreiten Schutt. „Ich habe nicht viel Hoffnung“, bemerkte Unteroffizier Jungnickel und brannte sich eine Zigarette an. Jablonski wandte sich vom Fenster ab. „Sagen Sie das nicht, Genosse Unteroffizier. Der Brink ist in Ordnung.“ „Daran zweifle ich nicht. Aber glauben Sie; daß er auf An-
hieb Verbindung mit dem Grenzgänger bekommt? Er ist immerhin ein Fremder. Man wird ihm mit Mißtrauen begegnen. Vor allem nach der Sache mit Schutt. Die Leute werden sich ausrechnen können, daß wir die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen.“ „Brink hat drei Wochen Zeit. Und in drei Wochen läßt sich allerhand machen, auch das Mißtrauen bestimmter Leute zerstreuen.“ „Und wer sagt uns, daß sie wildfremde Menschen über die Grenze führen? Möglicherweise haben sie in anderen Orten Vertrauensleute, die ihnen Personen mit einer Empfehlung schicken.“ „Das kann schon sein“, gab Jablonski zu. „Dennoch wollen wir es auf einen Versuch ankommen lassen.“ Unteroffizier Jungnickel nickte zustimmend. Werner Brinks Fahrt verlief programmgemäß. Als die ersten Häuser des Nachbarortes zu sehen waren, hatte Strohbach seinen Fahrgast abgesetzt. Werner Brink erreichte noch rechtzeitig die Omnibushaltestelle und langte eine gute Viertelstunde später auf dem Marktplatz des alten thüringischen Städtchens Fichtenstein an. Der Gasthof „Zur Sonne“ lag gegenüber dem idyllischen Rathaus, einem Fachwerkbau aus dem siebzehnten Jahrhundert. Das Schankzimmer des Gasthofes war zu dieser frühen Nachmittagsstunde leer. Nur hinter der Theke stand der Wirt, Herr Kappe, und wusch, ungeniert gähnend, Gläser im Spülbecken. Werner Brink grüßte und stellte seinen Koffer neben der Theke ab. „Sagen Sie, Meister, kann ich bei Ihnen meinen Urlaub verbringen?“ Der Wirt maß den jungen Mann mit einem verwunderten Blick. „Ihren Urlaub bei mir verbringen?“ „Ja. Vermieten Sie keine Zimmer?“
„Doch, doch, das schon. Aber Sie sind ja gar nicht angemeldet.“
„Ich dachte, zu dieser Jahreszeit ist es nicht mehr ganz so schlimm mit den Urlaubern.“ „Sie haben Glück, junger Mann. Gestern ist ein Einbettzimmer frei geworden. – Sie sind doch allein, nicht wahr?“ Werner bejahte. Der Wirt nannte den Preis pro Nacht und wies darauf hin, daß die Beköstigung selbstverständlich nicht mit einbezogen sei. Werner willigte in den Preis ein, hatte er doch schon befürchtet, in der „Sonne“ kein Zimmer mehr zu bekommen. Er wollte aber auf alle Fälle in der „Sonne“ wohnen, denn, wie Leutnant Jablonski ihm ja gesagt hatte, gäbe es hier am ehesten eine Möglichkeit, mit zwielichtigen Elementen Verbindung aufzunehmen. Der Wirt war für seine reaktionäre Einstellung bekannt und hatte schon einige Strafen wegen kleinerer Wirtschaftsvergehen erhalten. Sein Verhalten ließ den Verdacht aufkommen, daß er noch mehr auf dem Kerbholz habe. Vielleicht sogar so viel, um einige Jahre hinter „schwedischen Gardinen“ zu sitzen. Leutnant Jablonski war fest davon überzeugt gewesen. Aber es gab keine Beweise. Kappe war ein schlauer Fuchs und hatte dafür ge-
sorgt, daß man ihm nicht allzuviel am Zeuge flicken konnte. Jetzt kam er hinter der Theke hervor und führte Werner Brink in den ersten Stock des Gasthofes. Er zeigte ihm sein Zimmer. Es gefiel Werner ganz gut, wenn es auch nicht gerade den Eindruck peinlicher Sauberkeit erweckte. Nachdem Kappe wieder in die Gaststube hinuntergegangen war, packte Werner seinen Koffer aus. Dann trat es ans Fenster. Der Gasthof „Zur Sonne“ stand etwas erhöht. Werners Blick schweifte weit in das Land hinein. Die Nachmittagssonne lag über den dunklen Fichtenwäldern, in denen die darin verstreuten Laubgehölze wie bunte Farbkleckse leuchteten. Dort drüben mußte irgendwo das Moor liegen. Werner entdeckte die knorrige alte Eiche, an deren Wipfel er sich im Schein der Leuchtpatronen orientiert hatte. Da hinten war es geschehen. Vor zwei Tagen erst. Werner schien es, als läge alles schon viel länger zurück. Dann sah er auf die Dächer Fichtensteins. Die vom Alter gedunkelten Dachschindeln waren etwas außer Reih und Glied geraten. Krumm und bucklig, wie auch das Kopfsteinpflaster der Straßen, reihte sich Dach an Dach. Pferdefuhrwerke rumpelten gemächlich durch die Gassen, in einem Hof spielten Jungen Fußball. Das Tor hatten sie mit Kreide an eine abgebröckelte Putzwand gezeichnet. Hier schien die Zeit stillzustehen. Blaßgrauer Rauch stieg aus rußgeschwärzten Kaminen in den herbstlichen Himmel. Vom jenseitigen Stadtrand grüßten aus luftiger Höhe die Türme und Zinnen des Wehrschlosses, einst von fronenden Bauern in harter Arbeit für die Feudalherren errichtet. Und Werner Brink war es, als schaue ihn das Städtchen aus Hunderten von Fensterhöhlen mit feindlichen Blicken an; Aber rechter Hand standen helle Neubauten. Er glaubte spielende Kinder und eine Schaukel zu erkennen. Sicherlich ein Kindergarten, dachte er und fühlte sich etwas erleichtert. Die neue Zeit war auch in dieses alte Städtchen eingezogen. Dennoch: Irgendwo unter den Dächern wohnten Menschen, die
nachts durch das Moor schlichen. Werner Brink gestand sich ein, daß er nicht gerade hoffnungsvoll den nächsten Tagen entgegensah. Ja, im Kommando, als er mit Leutnant Jablonski und Unteroffizier Jungnickel das Unternehmen durchgesprochen hatte, da schien alles ganz leicht zu sein. Aber von hier aus kam ihm das viel schwieriger und komplizierter vor. Der Wirt, ein undurchsichtiger Geselle, war verschlagen und vorsichtig. Aus dem etwas herauszuholen… Und wie an ihn herankommen? So vielleicht: „Ach, Herr Wirt, ich möchte übrigens gerne nach drüben. Würde mir die Sache natürlich auch was kosten lassen. Wissen Sie nicht jemand, der mich führen könnte? Wenn’s geht, durchs Moor. Habe gehört, daß es da einen sicheren Weg geben soll?“ Werner lächelte vor sich hin. Blödsinn, ausgemachter Blödsinn! Und wer sagt denn, daß der Wirt überhaupt eingeweiht war? Vielleicht jagte er hier einem Phantom nach, einer Einbildung, die bei den Genossen zur fixen Idee geworden war. Aber dann vergegenwärtigte er sich wieder die Begegnung mit dem Grenzgänger am Kontrollstreifen, Karls rätselhaftes Verschwinden, die Fußspuren auf dem Zehnmeterstreifen, von denen die Kameraden berichtet hatten, die Fährten, die sich im Moor verloren. Nein, hier hatte er es mit Gespenstern aus Fleisch und Blut zu tun, mit Gespenstern, die vor nichts zurückschreckten! Seufzend setzte sich Werner auf das knarrende Bett und überlegte. Wo sollte er mit den Nachforschungen beginnen? „Viel in der Gaststube aufhalten, den Leuten aufs Maul schauen, ein paar Bekanntschaften schließen, dem Wirt zu verstehen geben, daß man ja im Grunde auch gegen das Regime ist und daß es ein paar hundert Meter weiter westlich ja viel besser sei. Wenn man dort…“ So ungefähr hatte ihm der Leutnant die Taktik entwickelt. Nun schaue aber mal den Leuten aufs Maul, wenn kein Mensch in der Gaststube sitzt. Werner erinnerte sich, daß
er unten an der Gasthaustür flüchtig ein Plakat gesehen hatte, auf dem für den Abend eine Tanzveranstaltung angekündigt war. Er beschloß, in der Gaststube ein Glas Bier zu trinken und sich das Plakat noch einmal anzuschauen. Gegen neunzehn Uhr begann die Kapelle im großen Saal des Gasthofes „Zur Sonne“ zum Tanz zu spielen. Die Veranstaltung war gut besucht; es gab fast keinen freien Stuhl mehr. Werner Brink hatte gerade noch einen Platz erwischt, ihm gegenüber saß ein Liebespärchen. Er fühlte sich einsam und verlassen. An seinem Bier nippend, sah er zur Tanzfläche hinüber, auf der sich die Paare zu den Takten eines Walzers drehten. Werner tanzte gern, aber heute fehlte ihm die Lust. Er mußte fortwährend an Karl Schutt denken. Und Karl Schutt war tot. Werner machte sich keine Hoffnungen mehr. Irgendwo im kalten, schwarzen Morast lag der Kamerad. Und er selbst saß hier in einer Tanzveranstaltung. Scheußlich. Grübelnd sah er vor sich hin. Er mußte den Grenzgängern auf die Spur kommen. Doch wo gab es einen Ansatzpunkt? Auf der anderen Seite der Tanzfläche saßen zwei Kameraden vom Kommando; sie hatten heute abend dienstfrei. Werner hätte sich am liebsten zu ihnen an den Tisch gesetzt. Aber für ihn mußten die Kameraden jetzt Fremde sein. Vorhin, als sie sich im Flur begegnet waren, hatten die beiden an ihm vorbeigeschaut, als sei er Luft. Natürlich hatten sie richtig gehandelt, es war ja alles so verabredet worden; trotzdem fühlte sich Werner wie ausgestoßen. Niemand, mit dem er ein Wort wechseln konnte. Am liebsten wäre er auf sein Zimmer gegangen, hätte seinen Koffer gepackt, und sich zu Leutnant Jablonski aufs Kommando begeben. Aber dann schämte er sich seiner Mutlosigkeit. Was hatte er sich bei der Suche nach Karl Schutt geschworen? Na also! Aber so kam er nicht weiter. Vor allem mußte er sich wie ein normaler Urlauber bewegen. Kontakt mit den Menschen ist das wichtigste, hatte der Leutnant gesagt. Die
Kapelle begann einen Foxtrott zu spielen. Werner beschloß zu tanzen. Er stand auf und ging zwei Tische weiter. Vor einem der dort sitzenden Mädchen machte er eine steife Verbeugung und sagte: „Darf ich bitten?“ Das Mädchen nickte und folgte ihm auf die Tanzfläche. Er setzte die Füße rein mechanisch, war mit seinen Gedanken ganz woanders. Er hielt das Mädchen wie ein Brett im Arm, führte schlecht und stieß mehrmals andere Paare an. Verwirrt entschuldigte er sich, bat auch seine Tanzpartnerin um Verzeihung. „Warum machen Sie denn so ein böses Gesicht?“ fragte ihn schließlich das Mädchen, nachdem sie zweimal die Tanzfläche umrundet hatten, ohne daß dabei zwischen ihnen eine Unterhaltung in Gang gekommen war. Werner errötete. Er fühlte es deutlich und war ärgerlich darüber. Zu dumm, daß er immer gleich rot wurde, wenn man ihn in Verlegenheit brachte. „Sie müssen es entsetzlich langweilig finden, mit mir zu tanzen, nicht wahr? Außerdem führe ich auch schlecht.“ „Finde ich gar nicht“, meinte das Mädchen. Aber Werner glaubte, sie sage es nur aus Höflichkeit. Er sah sie zum erstenmal genauer an. Verblüfft stellte er fest, daß sie sehr hübsch war. Ich bin ein großer Esel, schalt er sich. Sie ist das hübscheste Mädchen hier im Saal, und ich benehme mich wie ein Holzklotz. Doch sie mußte ihm gleichgültig sein. Seine Gedanken begannen wieder um den Punkt zu kreisen, wie er Verbindung zu den Grenzgängern bekommen könnte. Aber trotzdem mußte er ein Gespräch mit ihr anknüpfen. Er durfte nicht unhöflich sein. Sie war heute abend hierhergekommen, um ein paar nette Stunden zu verleben. Und wenn er sie zum Tanz aufforderte, dann verpflichtete das auch. „Sind Sie hier aus Fichtenstein, oder verbringen Sie nur Ihren Urlaub hier?“ Endlich hatte er sich einen Ruck gegeben. Er
wünschte, daß der Tanz bald zu Ende sein möge und er wieder an seinen Tisch zurückkehren könne. „Ich wohne in Fichtenstein. Aber Sie sind sicherlich ein Urlauber, nicht wahr?“ Er nickte. „Bleiben Sie noch lange hier?“ Er sah überrascht auf. Er glaubte zu bemerken, daß das Mädchen wegen der so schnell herausgerutschten Frage verlegen wurde. „Ja, ich bin heute erst angekommen.“ Als der Tanz beendet war, brachte er sie an ihren Tisch zurück und verbeugte sich förmlich. „Vielen Dank.“ Sie nickte ihm lächelnd zu. Leicht verwirrt kehrte er an seinen Platz zurück. Er trank einen Schluck Bier und sah dabei unwillkürlich zum Tisch des Mädchens hinüber. Ihre Blicke begegneten sich sekundenlang. Ihm wurde dabei merkwürdig warm. Er sah schnell weg und schaute zu seinen Kameraden. Aber die waren beschäftigt; sie hatten inzwischen Damengesellschaft gefunden. Werner glaubte, daß es besser sei, wenn er den Saal verlasse. Er hatte Angst, er könnte sich in das Mädchen verlieben. Aber dann sagte er sich ärgerlich, daß er doch wohl noch würde Herr seiner Gefühle sein. Die Kapelle begann wieder zu spielen. Seine Tanzpartnerin wurde gleich von drei Jünglingen zum Tanz gebeten. Sie zögerte einen Augenblick und gab dann einem hübschen schwarzhaarigen Burschen den Vorzug. Werner gestand sich ein, daß es ihm nicht ganz gleichgültig war. So ein Blödsinn! dachte er gleich darauf wütend. Das fehlt mir gerade noch, daß ich mich jetzt in dieses Mädchen verliebe! Er versuchte ein gleichmütiges Gesicht zu machen und schaute zu den schwitzenden Musikern auf die Bühne. Aber dann ertappte er sich doch dabei, wie seine Blicke im Gewoge der Tanzenden das
Mädchen suchten. Sie lachte und unterhielt sich angeregt mit ihrem Tänzer. Der Schwarze tanzte wirklich gut. Werner stellte es nicht ohne Neid fest. Die nächste Runde war Damenwahl. Er starrte finster vor sich hin. Hoffentlich forderte ihn niemand auf; immerhin waren die Mädchen im Saal den Jungen gegenüber in der Mehrzahl. Plötzlich stand seine Tanzpartnerin vor ihm. Er hatte sie gar nicht kommen sehen. Sie lächelte ihn freundlich an und bat ihn zum Tanz. Er stand schnell auf, etwas zu schnell, da er sich doch einzureden versuchte, ihm liege nichts an einer näheren Bekanntschaft mit dem hübschen Mädchen. Aber sie war nicht zu dem schwarzhaarigen Jungen gegangen. Sie hatte ihn aufgefordert, obwohl er doch vorhin bestimmt kein sehr unterhaltender Tanzpartner gewesen war. Werner fand plötzlich, daß es sogar gut sei, mit dem Mädchen ins Gespräch zu kommen. Schließlich war sie eine Einheimische. Vielleicht erfuhr man etwas über die Verhältnisse in Fichtenstein. Und wenn es auch nur scheinbare Belanglosigkeiten waren. Der Anfang war dann wenigstens gemacht. Werner Brink war plötzlich wie verwandelt. Er tanzte mit Hingabe und Begeisterung, hielt sie fest in den Armen, plauderte leicht und gewandt. „Sie sind ja nicht wiederzuerkennen“, sagte das Mädchen erstaunt. Als er sie an ihren Tisch zurückbrachte, wußte er, daß sie Ingeborg hieß, neunzehn Jahre alt war und als Verkäuferin im Konsum arbeitete. Er ließ jetzt keinen Tanz mehr aus. Nach dem dritten setzte er sich an den Tisch des Mädchens. Die anderen Burschen hatten das Nachsehen. Auch der Schwarzhaarige bekam von Ingeborg einen Korb und zog, mit einem wütenden Blick auf Werner, in das andere Saalende ab. Als der Tanzabend zu Ende war, brachte Werner das Mädchen nach Hause. Er hatte ihr gesagt, er sei Traktorist. Das entsprach vollkommen der Wahrheit. Doch er verschwieg ihr na-
türlich, daß er jetzt Angehöriger der Deutschen Grenzpolizei war. Sobald er seinen Auftrag erfüllt hatte, sollte sie es erfahren. Werner malte sich freudig aus, was sie wohl sagen würde, wenn er ihr zum erstenmal in Uniform gegenüberstand und sie erfuhr, daß er in Fichtenstein stationiert sei. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie seine Gefühle erwiderte und ihre Freundschaft nicht mit dem heutigen Abend enden würde. Daran änderte auch nichts, daß sie sich beim Abschied nicht von ihm küssen ließ. Er hatte es zwar nur zaghaft versucht, aber sie war ihm schnell durch die Haustür entschlüpft; er hatte ihr nur noch leise ,Gute Nacht’ wünschen können. Andererseits freute es ihn sogar, denn er hielt nicht viel von einem Mädchen, das sich gleich küssen ließ. Froh und beschwingt ging er zum Gasthof zurück. Und beinahe hätte er vergessen, daß dieser Urlaub mehr als ein Urlaub sein sollte. Gut gelaunt frühstückte er am nächsten Morgen in der Gaststube. Der Wirt persönlich bediente ihn. Werner nutzte die Gelegenheit und begann ein Gespräch. „Schön ist’s hier an der Grenze.“ „Finden Sie, Herr Brink?“ Werner zog den süßlichen Rauch ein, der von der Zigarette des Wirts ausging. Zwar war er Nichtraucher, aber trotzdem fiel ihm dieser Geruch auf. „Was rauchen Sie denn für eine Marke? Wohl eine gute von drüben?“ Der Wirt lächelte hintergründig. „Ein kleines Geschenk“, antwortete er ausweichend. „Schade“, sagte Werner. „Ich dachte schon, Sie könnten mir ein paar davon verkaufen.“ Der Wirt warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu und meinte dann halblaut: „Eine Schachtel kann ich Ihnen ja ablassen. Aber Sie müssen den Mund halten.“ Werners Herz hüpfte vor Freude. „Aber ist doch Ehrensache“, versicherte er im Brustton der Überzeugung.
Der Wirt holte eine bunte Packung aus der Tasche und gab sie seinem Gast. „Stecken Sie gleich weg. Braucht ja keiner zu sehen.“ Werner tat, wie ihm geheißen. Er zahlte den vom Wirt verlangten recht hohen Betrag, ohne mit der Wimper zu zucken. Was machten die paar Mark schon aus? Jetzt hatte er wenigstens einen Beweis dafür in den Händen, daß der Wirt krumme Geschäfte machte. Werner war der festen Überzeugung, daß die Zigaretten hier über die Grenze geschmuggelt wurden. Und da der Wirt sie verkaufte, mußte er doch irgendwie mit Grenzgängern in Verbindung stehen. Werner freute sich schon auf das Zusammentreffen mit Leutnant Jablonski. Der würde Augen machen, wenn er ihm schon nach einem Tag den ersten, wenn auch nur kleinen Erfolg melden konnte. Werner hatte das Frühstück beendet. Der Wirt kam wieder an seinen Tisch und hielt eine Schachtel Streichhölzer in der Hand. „Probieren Sie mal eine!“ Werner erschrak. Doch er mußte in den sauren Apfel beißen, wollte er den Wirt nicht argwöhnisch machen. Er brach also die Packung auf und ließ sich Feuer geben. Der Wirt sah ihn erwartungsvoll an. „Na?“ „Prima“, sagte Werner und hätte die Zigarette am liebsten wieder ausgedrückt. „Aber wenn Sie bloß so paffen, ist’s ja schade drum“, sagte der Wirt enttäuscht. Ach du Schreck! Nun hatte er sich doch falsch benommen. Um seinen Fehler wieder gutzumachen, tat Werner meinen Lungenzug. Die Wirkung stellte sich augenblicklich in Form eines Hustenanfalls ein. Der Wirt lachte scheppernd. Aber Werner war beruhigt, als er merkte, wie der Wirt seinen Husten verstanden hatte: „Ja, das ist etwas anderes als eine östliche, was?“
Werner nickte eifrig. „Da haben Sie recht. Man muß sich nur erst an die Sorte gewöhnen. Ich wünschte, ich könnte sie immer rauchen.“ „Na, solange Sie hier sind, wird sich das schon machen lassen.“ „Ist wohl nicht ganz einfach, immer genügend davon zu beschaffen, wie?“ fragte Werner und suchte seiner Stimme einen möglichst gleichgültigen Ton zu verleihen. Aber der Wirt war auf der Hut. „Nun ja, man muß so seine Verbindungen haben. Hab da ‘nen Freund, der mir manchmal ein paar aus Gefälligkeit schickt.“ Werner nickte. Er verzichtete darauf, weiter in den Wirt zu dringen. Er wollte ihn nicht durch auffällige Fragen mißtrauisch machen. Neue Gäste traten ein und beanspruchten den Wirt. Werner war mit seinem Anfangserfolg durchaus zufrieden. Schritt für Schritt würde er Kappe und seinen Kumpanen hinter die Schliche kommen. Er blickte den nächsten Tagen zuversichtlich entgegen. Und die Zigaretten, die er vor den Augen des Wirtes würde ab und zu rauchen müssen, wollte er standhaft ertragen. Im Laufe des Nachmittags sah sich Werner wieder Fichtenstein an und kam dabei – natürlich nicht rein zufällig – in die Nähe des Konsumgeschäftes, in dem Ingeborg als Verkäuferin arbeitete. Er betrat den Laden und richtete es so ein, daß sie ihn bedienen mußte. Als sie ihn sah, lächelte sie. Aber sonst ließ sie sich nichts anmerken. Werner sagte sich, daß es ihr wohl nicht recht sei, daß die Kolleginnen von ihrer Bekanntschaft etwas merkten. Er kaufte ein Stück Rasierseife, obwohl in seinem Zimmer im Gasthof noch ein neues Stück lag. Als er schon bezahlt hatte, verlangte er noch eine Packung Konfekt. Sie sah ihn etwas erstaunt an, sagte aber nichts. Dann fragte er sie leise, ob sie heute abend mit ins Kino gehen wolle. „Vielleicht“, entgegnete sie so leise, daß es ihre Kolleginnen nicht
hören konnten. Werner nickte und verließ den Laden. Er hegte keinen Zweifel, daß sie kommen würde. Wenn ein Mädchen „vielleicht“ sagt, dann meint sie „ja“. Das war seine feste Überzeugung. Und jetzt hatten sie sogar schon ein Geheimnis miteinander, wenn es auch nur ihre Verabredung für den Kinobesuch betraf. Aber Werner fand, dieses kleine Geheimnis hatte sie einander noch nähergebracht. Das Konsumgeschäft lag am Ortsrand. Werner setzte sich auf eine von Büschen verdeckte Bank. Von hier aus konnte er die Ladentür beobachten, ohne daß er von dort gesehen wurde. Er wartete bis Ladenschluß. Endlich war es soweit, und Ingeborg verließ das Geschäft. Er sah ihr blondes Haar, ihre schlanke Gestalt, bewunderte ihren leichten Gang. Doch er folgte ihr nicht. Vielleicht wollte sie nicht auf der Straße mit ihm gesehen werden. In solch einem kleinen Nest wie Fichtenstein kam man ja zu schnell ins Gerede. Das aber mußte auf alle Fälle vermieden werden. Da sie sich erst seit zwei Tagen kannten, glaubte er kein Recht zu haben, sie auf der Straße anzusprechen. Und dann dauerte es ja auch nicht mehr lange bis zur Kinovorstellung. Als sie seinen Blicken entschwunden war, erhob er sich von der Bank und ging quer durch den Wald zum Kommando. Er wollte unbedingt Leutnant Jablonski sprechen. Jablonski empfing ihn mit freudigem Gesicht und einem erwartungsvollen „Na?“ Werner folgte ihm in sein Dienstzimmer und legte mit einem triumphierenden Lächeln die Zigarettenpackung auf den Tisch. „Was soll denn das?“ fragte der Leutnant und sah ihn verständnislos an. „Hat mir der Wirt verkauft“, rief Werner strahlend aus. Jablonski pfiff durch die Zähne und nahm die Schachtel begutachtend in die Hand. „Sieh mal an. Von drüben“, sagte er und warf die Schachtel auf den Tisch zurück. „Und ich lege dafür meine Hand ins Feuer, Genosse Leut-
nant, daß er sich das Zeug von dem Grenzgänger besorgen läßt.“ „Das ist anzunehmen. Fragt sich nur, ob er über Einzelheiten unterrichtet ist.“ „Da mach ich jede Wette mit.“ Werner berichtete dem Leutnant Wort für Wort seiner Unterhaltung mit dem Gastwirt Kappe. Jablonski lachte schallend, als Werner ihm von seinem mißglückten Rauchversuch erzählte. „Nun werden Sie doch noch zum Rauchen verleitet. Und dazu durch illegal eingeführte Zigaretten.“ Werner lächelte süßsauer. „Ich hoffe nicht.“ „Und wie soll es weitergehen?“ fragte Jablonski. „Ich werde mich Schritt für Schritt herantasten. Demnächst lasse ich durchblicken, daß ich gerne rüber möchte.“ „Überstürzen Sie nichts. Wir dürfen Kappe nicht mißtrauisch machen.“ „Klarer Fall, Genosse Leutnant. Steter Tropfen höhlt den Stein. Ich werde ja sehen, wie er darauf reagiert.“ Jablonski nickte. „Wir haben Zeit. Hauptsache, wir kommen ans Ziel.“ Sie unterhielten sich noch eine Weile. Für Schutts Verschwinden gab es noch immer keine rechte Erklärung. Alle Untersuchungen und Nachforschungen der Kriminalpolizei waren ergebnislos verlaufen. Werner hatte auch nicht mehr damit gerechnet, etwas anderes zu erfahren. Für ihn wie auch für die Genossen vom Kommando stand es fest: Schutt war bei der Verfolgung des Grenzgängers ins Moor geraten. Wahrscheinlich hatte der Kerl nachgeholfen, sonst hätte Werner ja zumindest Karls Hilferufe hören müssen. Werner verabschiedete sich. Von seiner Mädchenbekanntschaft hatte er Leutnant Jablonski nichts erzählt. Das gehörte wohl nicht hierher und hätte ihn vielleicht in ein falsches Licht gebracht, sagte er sich. Und daß er seine Pflicht nicht vernach-
lässigte, auch wenn er bis über die Ohren in die blonde Ingeborg verliebt war, das verstand sich von selbst. Obwohl die Kinovorstellung erst um acht Uhr beginnen sollte, wartete Werner schon um halb acht Uhr vor dem Kino. In der Tasche trug er die Packung Konfekt, die er Ingeborg schenken wollte. Ungeduldig lief er auf und ab und schaute fortwährend nach der Uhr. Endlich ging es auf acht zu. Die ersten Filmbesucher fanden sich ein. Er hatte schon zwei Karten gekauft und spähte nun aufgeregt die Straße entlang. Aber jedesmal, wenn ein blonder Haarschopf auftauchte, entpuppte sich seine Trägerin beim Näherkommen als ein anderes Mädchen. Dann war es acht Uhr, und im Kino begann die Reklamevorführung. Werner wurde nervös. Er redete sich zwar ein, daß sich Ingeborg bestimmt nur ein paar Minuten verspätet, hatte, dennoch wuchs mit jeder Minute bei ihm die Befürchtung, sie würde nicht kommen. „Vielleicht“ hatte sie gesagt, das war keine feste Zusage, obwohl es nach Werners Standpunkt soviel wie ein „Ja“ bedeutete. ,Der Augenzeuge’ wurde gezeigt und schließlich der Hauptfilm. Es war dreiviertel neun. Werner gab die Hoffnung auf. Aber trotzdem blieb er noch vor dem Kino stehen. Eine verzweifelte Hartnäckigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Wo sollte er sie sonst heute abend finden, wenn nicht hier? Um halb zehn Uhr war er endlich des Wartens überdrüssig. Obwohl er tausend Möglichkeiten für ihr Fernbleiben als Entschuldigung gelten ließ, war er wütend. Er ging in den Gasthof und legte sich ins Bett. Ein wenig wollte er noch lesen, aber es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu konzentrieren. Schließlich aß er die Konfektschachtel leer. Das hatte Ingeborg nun davon! Am nächsten Vormittag strich er ruhelos in der Umgebung des Konsumgeschäftes umher. Schließlich faßte er sich ein Herz und betrat den Laden. Ingeborg sah ihn schuldbewußt an. Augenblicklich verflog sein Zorn.
„Sie müssen vielmals entschuldigen“, sagte sie, ohne Rücksicht darauf, daß ihre Kolleginnen es hören konnten. „Ich konnte gestern abend beim besten Willen nicht kommen. Mein Vater hat sich den Arm gebrochen.“ „Oh“, sagte Werner betroffen. „Das tut mir aber leid.“ Er schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Und ich glaubte schon, Sie wollten nicht kommen.“ „Ich bin doch noch dagewesen. Um zehn Uhr, als die Vorstellung aus war. Ich dachte, ich würde Sie unter den Kinobesuchern finden.“ Werner hätte sich in dieser Sekunde am liebsten geohrfeigt. Sie war also doch noch gekommen. Er sagte ihr, daß er bis halb zehn Uhr draußen gewartet hatte. „Das tut mir leid. Nun haben Sie den Film gar nicht gesehen, und die Karten sind auch verfallen.“ „Ach“, wehrte er schnell ab. „Das ist nicht so wichtig. Ich hatte mich nur darauf gefreut, daß wir uns ein bißchen unterhalten könnten.“ Ingeborg lächelte verführerisch, und ihm wurde ganz sonderbar zumute. Sie verabredeten sich für den Abend, diesmal aber nicht für die Kinovorstellung. Bevor Werner sich verabschiedete, kaufte er abermals eine Schachtel Konfekt, doppelt so groß wie die am Vortage. Nachdem das Mittagsgeschäft im Gasthof „Zur Sonne“ abgeflaut war, bot sich Werner Brink eine günstige Gelegenheit, mit Gastwirt Kappe ein paar Worte zu wechseln. Der Wirt schimpfte auf die Verhältnisse in der DDR. Werner tat so, als sei er der gleichen Ansicht. Schließlich glaubte er die Situation reif, um vorsichtig sein Ziel ansteuern zu können. „Ja, ja, alles großer Mist hier. Drüben müßte man sein.“ „Ja, drüben“, pflichtete ihm Kappe bei. „Was glauben Sie, wie mein Geschäft gehen würde, wenn ich drüben wäre.“ „Dabei sitzt man nun hier ganz dicht an der Grenze und ist
doch so weit entfernt, als läge ein Ozean dazwischen.“ „Genau so ist es.“ „Wissen Sie“, Werner Brink dämpfte seine Stimme zum vertraulichen Flüsterton, obwohl sie allein in der Gaststube waren, „ich hatte ja gehofft, daß man hier eine Möglichkeit finden würde, die Fakultät zu wechseln.“ „Sie wollen nach drüben gehen?“ erkundigte sich Kappe interessiert. Werner nickte eifrig. „Deshalb bin ich extra hierher in Urlaub gefahren. Ich denke mir, es kann doch hier gar nicht so schwierig sein, über die Grenze zu kommen. Nur – man müßte eben die Gegend ein wenig kennen, damit man nicht den Grenzern in die Hände läuft.“ „So einfach ist es nicht, wie Sie sich’s vorstellen, Herr Brink.“ „Aber für einen Einheimischen gibt es doch bestimmt Möglichkeiten, oder nicht?“ „Sicherlich kann man rüberkommen, ein kleines Risiko muß man natürlich dabei in Kauf nehmen.“ „Und glauben Sie nicht, daß es hier in Fichtenstein jemand gibt, der einem behilflich sein würde?“ „Warum soll’s den nicht geben?“ sagte der Wirt ausweichend. „Ich würde mir die Sache natürlich etwas kosten lassen“, lockte Werner. „Ich weiß doch, was es mir wert ist, wenn ich nach drüben könnte.“ Der Wirt nickte. Werner wartete darauf, daß Kappe ihm einen Tip geben würde. Aber der Wirt schwieg und sah gedankenverloren vor sich hin. „Und Sie kennen niemand, an den ich mich mal wenden könnte?“ „Ich?“ Der Wirt tat baß erstaunt, als sei dieses Ansinnen an ihn das Abwegigste auf der Welt.
„Ja, Sie, ich dachte, Sie könnten mir helfen“, meinte Werner. „Nee, junger Freund. Mit solchen Sachen befasse ich mich nicht. Zu gefährlich. Weiß auch gar nicht, ob es hier welche gibt, die so was machen. Wird wohl allerhand geredet, wissen Sie. Aber ob was dran ist…?“ Er machte eine bedauernde Geste. „Aber Sie sagten doch selber, daß es in Fichtenstein Leute gibt, die einem behilflich sein könnten.“ „Ich habe gesagt, möglich, daß es welche gibt. Aber wissen tu ich’s nicht.“ Und der Wirt fing an, von etwas anderem zu reden. Werner war tief enttäuscht. Und dabei hatte die Unterhaltung so vielversprechend begonnen. Er fragte sich verzweifelt, wodurch der Wirt stutzig geworden sein könnte. Aber er war sich nicht bewußt, einen Fehler begangen zu haben. Ursprünglich hatte Werner beabsichtigt, am Nachmittag Leutnant Jablonski im Kommando aufzusuchen. Aber jetzt fand er das überflüssig. Es gab nichts Neues zu berichten. Im Gegenteil, er steckte in einer Sackgasse. Alle Hoffnungen und Kombinationen hatten sich als Fehlspekulation erwiesen. Kappe war nicht so leicht zu überrumpeln. Jetzt tauchte natürlich auch die Frage auf, ob der Wirt überhaupt in die Machenschaften des Grenzgängers eingeweiht war. Die Sache mit den Zigaretten gab zwar zu denken, aber vielleicht verschaffte er sich die Zigaretten doch auf andere Art als durch einen Grenzgänger aus Fichtenstein. An diesem Abend erschien Ingeborg pünktlich zur verabredeten Zeit. Er überreichte ihr strahlend die Schachtel Konfekt und erzählte ihr auch vom Schicksal der ersten. Ingeborg mußte herzlich lachen. „Und ich dachte schon, Sie verschenken laufend Pralinen an jemand anders.“ „Und wenn es so gewesen wäre?“ Sie schaute ihn lächelnd an und beantwortete seine Frage
nicht. Sie ließen die letzten Häuser Fichtensteins hinter sich. Die Dunkelheit des Herbstabends umhüllte sie. Werner sog den kräftigen Harzgeruch des Waldes tief ein. Er dachte an den Abend, als er mit Karl Schutt auf Streife gezogen war. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Er nahm ihre Hand in die seine. Sie ließ es geschehen. Am klaren Himmel blinkten die Sterne. Werner erklärte ihr das Sternbild des Großen Bären. Ihre Köpfe berührten einander. Er roch den Duft ihres Haares. Da schloß er sie in seine Arme. Sie widerstrebte diesmal nicht. Lange küßten sie sich. Dann sagten sie „du“ zueinander und gingen engumschlungen weiter. Werner glaubte, noch nie so glücklich gewesen zu sein. Sie trafen sich jeden Tag. Werner fiel es schwer, Ingeborg nicht erzählen zu dürfen, daß er bei der Grenzpolizei diente und Fichtenstein nicht verlassen mußte, wenn sein Urlaub zu Ende war. Aber auch bei Ingeborg durfte er keine Ausnahme machen, obwohl er ihr gern die volle Wahrheit gesagt hätte. Sicherlich würde sie Verständnis dafür haben; einmal war sie ein gescheites Mädchen und zum anderen liebte sie ihn. So vergingen die Tage, glückliche Tage. Manchmal hatte Werner Gewissensbisse. Vernachlässigte er nicht seine Nachforschungen? Aber er versuchte doch alles. Es hieß sich eben mit Geduld wappnen. Manchmal hatte er Ingeborg gegenüber vorsichtig das Gespräch auf die Dinge gelenkt, die ihn interessierten. Aber sie verstand seine Neugier nicht. Warum wollte er wissen, ob da welche über die Grenze gingen oder nicht? Schließlich war er ja kein Grenzpolizist. Und außerdem wußte sie auch nichts, so sagte sie jedenfalls. Am Sonnabendvormittag, Werner Brink hatte gerade sein Frühstück beendet, trat der Wirt an seinen Tisch. Außer ihnen beiden war niemand im Raum. Kappe begann zunächst lang und breit über das Wetter zu sprechen und fragte dann Werner unvermittelt: „Sagen Sie, Herr Brink, haben Sie noch die Ab-
sicht, nach drüben zu gehen?“ Ein freudiger Schreck durchzuckte Werner. Er hatte die Hoffnung längst aufgegeben, mit dem Wirt noch einmal über das Thema reden zu können. Und nun fing dieser von selber damit an. „Aber natürlich. Wenn es eine Möglichkeit gibt“, antwortete Werner schnell und sah den Wirt erwartungsvoll an. „Ich weiß nicht, ob es eine Möglichkeit gibt. Übrigens, da ist ein Herr, der möchte Sie gerne mal sprechen.“ „Mich sprechen?“ fragte Werner verwundert. . „Ja. Er wartet im Vereinszimmer auf Sie.“ Der Wirt deutete mit dem Daumen über die Schulter auf eine Tür am anderen Ende der Gaststube. Werner erhob sich rasch und fragte: „Hat derjenige, der mich sprechen will, etwas mit dem Grenzübertritt zu tun?“ Der Wirt zuckte mit den Achseln und sagte, gleichmütig dreinschauend: „Kann schon sein. Genaues weiß ich nicht. Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu schaffen. Sie verstehen?“ Werner nickte. „Natürlich.“ Ein schlauer Fuchs, dachte er. Wenn irgend etwas schiefgeht, tut er so, als habe er von nichts gewußt. Während Werner durch die Gaststube schritt, überlegte er, wie er sich verhalten sollte. Langsam öffnete er die Tür. Dämmerlicht erfüllte das Vereinszimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. In der hintersten Ecke entdeckte Werner eine Gestalt, sie saß am Tisch. Ihm war etwas unheimlich zumute. Was sollte dieses Theater? Er schloß die Tür und blieb zögernd stehen. „Treten Sie näher! Ich beiße nicht“, sagte die Gestalt mit heiserer Stimme und bewegte sich unmerklich. Werner ging an den Tisch, setzte sich aber nicht. „Sie wollten mich sprechen?“ „Ich glaube, umgekehrt ist es der Fall.“ „Ich kenne Sie nicht“, sagte Werner vorsichtig. „Um so besser“, erwiderte der Fremde und lachte leise vor sich hin.
Werner glaubte zuerst, er habe es mit einem Geistesgestörten zu tun. Aber bald schon stellte er fest, daß der Mann am Tisch genau wußte, was er wollte. „Setzen Sie sich doch. Es spricht sich dann besser.“ Werner folgte der Aufforderung und suchte sich die Gesichtszüge des Fremden einzuprägen. Das war nicht einfach, denn der Mann hatte sich so gesetzt, daß sein Gesicht dem Fenster abgewandt war. Außerdem ließen die dichten Gardinen wenig Licht in den Raum. „Sie wollen nach drüben?“ „Ja. Wissen Sie in der Gegend Bescheid?“ „Schon möglich.“ Der Fremde brannte sich eine Zigarette an. Im Schein der Streichholzflamme konnte Werner sekundenlang das Gesicht des Mannes erkennen. Er schätzte ihn auf Anfang Dreißig. Der Mann war von kräftiger, etwas untersetzter Statur und hatte grobe Gesichtszüge. Viel zu schnell erlosch das Streichholz wieder, und der Fremde sprach weiter: „Ich kann Sie rüberbringen, wenn Sie wollen.“ Werner gab sich keine Mühe, seine Freude über diese Mitteilung zu verbergen. „Das wäre großartig. Hat Ihnen der Wirt gesagt…“ „Nein!“ unterbrach ihn der Fremde hart. „Sie müssen sich eins merken: Niemand hat etwas gesagt.“ „Ist gut“, stimmte Werner schnell zu. „Wir gehen morgen nacht.“ „Ich bin einverstanden.“ „Was haben Sie an Gepäck?“ „Nur einen Koffer.“ „Groß?“ Werner deutete die Größe mit einer Handbewegung an. „Gut. Es kostet zweihundert Mark.“ Der Mann sagte es nüchtern, in einem geschäftsmäßigen Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Werner nickte. „Sie müssen das Geld vorher zahlen!“ „Warum vorher?“ „Das Risiko beginnt, wenn wir losgehen. Sie verstehen?“ „Ist es denn sicher…?“ „Ziemlich.“ „Ich möchte nicht, daß sie uns erwischen.“ „Ich auch nicht. Wenn wir einmal im Wald sind, haben wir es geschafft.“ „Und der Grenzübertritt?“ Der Fremde winkte geringschätzig ab. „Man muß die Gegend kennen.“ „Ich wäre ja allein gegangen, aber ich habe gehört, daß an der Grenze ein Moor ist.“ Trotz des Dämmerlichtes konnte Werner bemerken, wie über das Gesicht des Grenzführers ein Grinsen huschte, „Keine Sorge. Das Moor tut uns nichts. Sie sind also einverstanden? – Gut. Morgen abend um dreiundzwanzig Uhr hole ich Sie in Ihrem Zimmer ab. Mitternacht sind Sie drüben.“ Der Fremde erhob sich unvermittelt und gab Werner die Hand. Es war eine große, harte Hand. Werner schmerzte der kräftige Druck. Der Mann hat unheimliche Kräfte, fuhr es ihm durch den Sinn. Ob diese Hand Karl Schutt…? Der Fremde wartete, daß Werner das Vereinszimmer verließ. Er selber ging nicht mit. Der Wirt war nicht mehr in der Gaststube. Werner glaubte, er habe sich absichtlich entfernt, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. So beschloß Werner, sofort zum Kommando zu gehen und Leutnant Jablonski von der überraschenden Wendung zu unterrichten. Jetzt mußte man unverzüglich Vorbereitungen zum Gelingen des Unternehmens treffen. Werner Brink schritt schnell aus. Er konnte es kaum erwarten, dem Leutnant von seinem Erfolg zu berichten. Dieser würde aber Augen machen! Hatten sie doch beide nicht mehr allzuviel
Hoffnung gehabt, nachdem der Gastwirt so plötzlich umgeschwenkt war. Im Kommando erfuhr Werner zu seiner Enttäuschung, daß Leutnant Jablonski vor einer halben Stunde mit dem Krad zur Bereitschaft gefahren war und erst am nächsten Tag zurückerwartet wurde. Der PK, Unteroffizier Jungnickel, hatte ihn begleitet. Gefreiter Bornemann, der Wachhabende, zuckte bedauernd die Achseln. „Nichts zu machen, Werner. Ist es denn so dringend?“ Werner nickte, sagte aber nicht, worum es sich handelte. Das mußte er Jablonski persönlich mitteilen. „Wann kommt Jablonski denn morgen zurück?“ „Er wollte nachmittags um vier Uhr wieder dasein, wegen der Streifen- und Posteneinteilung. Aber soviel ich weiß, muß er eine Stunde später schon wieder weg. Er hat sich mit dem Nachbarkommando verabredet. Sie wollen da etwas wegen des Streifendienstes besprechen.“ Werner Brink war niedergeschlagen. Er hatte es sich auf dem Weg zum Kommando so schön ausgemalt, wie er Leutnant Jablonski alles berichten würde. Nun mußte er das auf den nächsten Tag verschieben. Morgen blieb dann aber nicht mehr viel Zeit, um alles gründlich vorzubereiten. Wie sollte man überhaupt vorgehen? Das einfachste wäre natürlich, den Grenzführer festzunehmen, wenn er abends in den Gasthof kam, ihn abzuholen. Aber damit wußte man noch immer nicht den Weg durchs Moor. Und das war doch das wichtigste. Vielleicht könnten die Genossen unbemerkt folgen und den Weg markieren? Nun, das würde er morgen alles mit Leutnant Jablonski besprechen. Werner verabschiedete sich von Manfred Bornemann und trat nachdenklich den Rückweg nach Fichtenstein an. Dabei kam er auch an der Stelle vorbei, an der er Ingeborg zum erstenmal geküßt hatte. Glück erfüllte ihn bei dem Gedan-
ken an sein Mädchen, und er freute sich schon auf den Abend mit ihr. Sie hatten sich zum Tanz im Gasthof „Zur Sonne“ verabredet. Trotz der Freude über den greifbaren Erfolg war Werner Brink unruhig und nervös. Zu gern hätte er sich jetzt mit jemand ausgesprochen. Immerhin war das bevorstehende Unternehmen nicht ungefährlich. Nicht, daß er Angst hatte, aber das Schicksal seines Kameraden Karl Schutt ging ihm nicht aus dem Sinn. Heute hatte er wahrscheinlich Karls Mörder gegenübergesessen. Er glaubte noch immer den harten Händedruck des unheimlichen Grenzführers zu spüren. Erst am Abend, als er sich mit Ingeborg traf, zerflogen seine düsteren Gedanken. Sie tanzten fast jeden Tanz und flüsterten sich zärtliche Liebesworte ins Ohr. Bis spätabends ein Ereignis eintrat, das jäh die heitere Stimmung zerstörte. Während einer Tanzpause standen Werner und Ingeborg im Flur des Gasthauses. Sie wollten sich ein wenig von der drükkenden Luft im Saal erholen. In einem Augenblick, da sie niemand beobachtete, versuchte Werner Ingeborg zu küssen. Sie schob ihn aber mit einer hastigen Bewegung von sich und flüsterte: „Bitte nicht! Mein Bruder…“ Er hob den Kopf, und sein Blick fiel auf das Gesicht des Grenzführers! Er war mit einer Gruppe junger Männer in den Flur getreten. Ingeborg zog Werner schnell in den Saal zurück. „Es ist nicht nötig, daß er uns zusammen sieht“, sagte sie. „Es geht ihn ja nichts an, aber…“ Werner hörte nur mit halbem Ohr hin. Er war wie benommen von dem Gedanken, daß der Grenzführer, der wahrscheinlich Karl Schutt auf dem Gewissen hatte, Ingeborgs Bruder war. Was sollte nun werden? Konnte er noch länger mit der Schwester eines gefährlichen Verbrechers befreundet sein? Aber er liebte sie doch! Noch nie zuvor hatte er ein Mädchen so geliebt!
„Was hast du denn?“ fragte Ingeborg. Sein plötzlich verändertes Wesen war ihr nicht entgangen. Werner hob ruckartig, wie erwachend, den Kopf und versuchte zu lächeln. „Ach, nichts. – Du hast mir noch gar nicht erzählt, daß du einen Bruder hast.“ „Nein?“ Sie sah ihn unschuldig an. „Ich dachte, ich hätte es dir gesagt. Er will mich immer bevormunden“, fügte sie schnell hinzu. „Er kann sich einfach nicht daran gewöhnen, daß ich kein kleines Mädchen mehr bin.“ „Wie alt ist dein Bruder?“ „Sechsundzwanzig.“ Ich hatte ihn älter geschätzt, dachte Werner. Ob sie wußte, was ihr Bruder nachts trieb? Er warf Ingeborg einen mißtrauischen Blick zu. Nein, das konnte einfach nicht möglich sein. Er wollte es nicht glauben. Aber wer vermochte in das Herz eines Menschen zu sehen? „Was ist dein Bruder von Beruf?“ „Schmied“, sagte sie. Werner mußte an den harten Händedruck des Grenzführers denken. Ja, das war der eiserne Griff eines Schmiedes gewesen. Karl Schutt… Es war zum Verzweifeln. Es fehlte nicht viel, und Tränen wären ihm in die Augen getreten. „Wollen wir nicht tanzen?“ fragte ihn Ingeborg, als die Musik wieder zu spielen begann. „Ja, natürlich“, sagte er und erhob sich mechanisch. Warum mußte er denn auch Grenzpolizist sein, warum ausgerechnet diesen Auftrag bekommen? Aber war es nicht auf seinen Wunsch hin geschehen? Er war doch aus eigenem Antrieb zu Leutnant Jablonski gegangen und hatte ihn gebeten, seinen Urlaub zu streichen und ihn einzusetzen. Plötzlich erschrak er über seine Gedanken. Wollte er sich wirklich vor der Entscheidung drücken? Dann fragte er sich hoffnungsvoll, was das alles eigentlich mit Ingeborg selbst zu tun hatte. Freilich, es war ihr
Bruder, aber sie wußte nichts von seinen dunklen Geschäften. Vielleicht würde sie ihren Bruder verabscheuen, erführe sie, was er getan hatte. Aber Werner war sich dessen nicht sicher. Für wen würde sie sich entscheiden – für den Bruder oder für ihn? Was würde sie wohl sagen, wenn er ihr jetzt erzählte, daß er ihren Bruder in der nächsten Nacht in die Falle locken wollte? Bestimmt wird man ihn zu einer hohen Zuchthausstrafe verurteilen, und dann die Sache mit Karl… Mord! Ja, Mord war es gewesen! Und jetzt tanzte er mit der Schwester des Mörders! Er schaute ihr ins Gesicht. Er liebte sie. Sie war schuldlos. Sie wußte nichts, und sie sollte nichts erfahren! Die Liebe zwischen ihnen durfte nicht zerstört werden. Und in seiner Hand lag es. Wenn er nun die Sache einfach auf sich beruhen ließ? Wenn er dem Grenzführer sagte, er habe es sich überlegt und wolle nicht mehr über die Grenze? Aber da waren die Kameraden. Doch die wußten ja noch nichts. Er hatte Leutnant Jablonski nicht angetroffen. Sollte er das als einen Wink des Schicksals auffassen? Scham erfüllte ihn. Was waren das für scheußliche Gedanken! Wollte er seine Kameraden verraten? Hatte er Karl Schutt vergessen? Morgen wollte er alles mit Leutnant Jablonski besprechen. Auch von seiner Freundschaft zu Ingeborg würde er erzählen. Bestimmt wußte der Leutnant einen Ausweg. Werner hatte Vertrauen zu Jablonski. Als der Tanzabend zu Ende war, brachte er Ingeborg nach Hause. Und er glaubte, daß ihre Liebe stark genug sei, um alle Wirrnisse zu überdauern. Er lag im Bett seines Gasthauszimmers. Nur das Fenster hob sich als helles Viereck von der Dunkelheit ab. Obwohl Werner müde war, fand er keinen Schlaf. Ruhelos wälzte er sich im Bett von einer Seite auf die andere. Er sah die harten Züge des Grenzführers vor sich, fühlte den kräftigen Händedruck, blickte in das geliebte Gesicht Ingeborgs. Zweifel kamen ihm, Zweifel daran, ob sie ihm auch weiter ihre Zuneigung schenken würde,
wenn er ihren Bruder als Verbrecher entlarvte. In dieser Nacht schlief Werner Brink nicht. Müde und zerschlagen ging er am Morgen in die Gaststube und frühstückte lustlos. Später trat der Wirt an seinen Tisch und kassierte die Übernachtungsgelder. Es war ihm also bekannt, daß sein Gast in der kommenden Nacht über die Grenze gehen wollte. Er gab Werner jedoch keine Quittung für den erhaltenen Betrag. Kappe baute vor. Falls etwas schiefging, sollte man keinen Beleg bei seinem Gast finden. Ziellos schlenderte Werner durch Fichtenstein. Nach dem Mittagessen legte er sich ins Bett. Er war todmüde und schlief sofort ein. Als er aufwachte, erfüllte Dämmerlicht das Zimmer. Er blickte zur Uhr und erschrak. Es war halb sechs. Leutnant Jablonski! durchzuckte es Werner Brink. Um vier Uhr wollte Jablonski von der Bereitschaft zurück sein und um fünf Uhr zum Nachbarkommando fahren, hatte Bornemann gesagt. Und jetzt war es schon halb sechs! Werner Brink begann sich hastig anzukleiden. Aber seine Bewegungen wurden immer langsamer, und schließlich setzte er sich auf den Bettrand. Was hatte das jetzt alles noch für einen Sinn? Jablonski konnte er nicht mehr erreichen. Aber er mußte doch die Kameraden informieren! Er blieb regungslos auf dem Bett sitzen und grübelte. Und ohne die Kameraden? Plötzlich kam ihm eine Idee. Und wenn er das Unternehmen allein ausführte? Niemand in Fichtenstein brauchte ihn dann zu sehen, er war nicht dabei, wenn der festgenommene Grenzführer zur Volkspolizei gebracht wurde. Er brauchte den Kameraden morgen nur die Adresse von Ingeborg zu geben. Sie aber würde dann niemals erfahren, daß er den Bruder überführt hatte. War das der Ausweg aus allen Konflikten? Werner ließ keinen anderen gelten, obwohl der Gedanke ihn bedrückte, daß seine Liebe zu Ingeborg dann durch eine Lüge belastet, war. Er
versank erneut in Grübeln. Und es erschien ihm nun sogar als ein besonders glücklicher Zufall, daß er die Zeit verschlafen hatte und nicht mehr rechtzeitig Jablonski informieren konnte. Zwar fühlte er sich nicht ganz wohl dabei, denn sicherlich würden ihn die Genossen später fragen, warum er das Risiko allem aul sich genommen habe. Aber das fand er jetzt längst nicht so schlimm, als wenn zwischen ihm und Ingeborg alles aus wäre. Sogleich begann er einen Plan zu entwerfen. Der Grenzführer konnte nicht entwischen, er wohnte in Fichtenstein und ahnte ja nicht, daß Werner etwas anderes im Sinne hatte, als nur über die Grenze gebracht zu werden. Kappe würde seiner gerechten Strafe ebenfalls nicht entgehen. Blieb der Weg durchs Moor. Werner war sich darüber im klaren, daß er sich nachts den Weg nicht merken konnte. Man müßte ihn markieren, damit man ihn am nächsten Tag wiederfand. Markieren, aber wie? Vielleicht Kerben in die Bäume schlagen? Werner lächelte resigniert. Welch ein lächerlicher Einfall! Aber dann wußte er plötzlich, was zu tun war. Als er aus dem Papiergeschäft in den Gasthof zurückkam, trug er eine Rolle blaues Kreppapier unter dem Jackett. Er verschloß das Zimmer und begann das Papier in kleine Schnipsel zu zerreißen. Die Stunden bis zum späten Abend verbrachte er auf seinem Zimmer in fieberhafter Erwartung. Immer wieder durchdachte er seinen Plan, er konnte nicht mißlingen. Noch heute nacht würde er im Kommando auftauchen und Leutnant Jablonski melden können, daß nicht nur der Grenzführer, sondern auch der so lange gesuchte Weg durchs Moor bekannt war. Gegen dreiundzwanzig Uhr wurde an Werners Zimmertür geklopft. Er öffnete. Aber statt des erwarteten Grenzführers stand Gastwirt Kappe auf dem Korridor. Er trat schnell in das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Sein Blick flackerte
ängstlich, als er sagte: „Herr Brink, es ist soweit. Kommen Sie!“ Werner war verwundert, daß sich der Wirt einschaltete. Aber ohne zu fragen, nahm er seinen Koffer und folgte ihm. Kappe führte ihn durch eine Hintertür auf den Hof des Gasthauses. Aus der Dunkelheit löste sich eine Gestalt: der Grenzführer. Der Wirt verabschiedete sich schnell und kehrte ins Haus zurück. „Haben Sie das Geld?“ fragte der Grenzführer. Werner händigte ihm die zweihundert Mark aus. „Gut. Dann können wir gehen.“ Sie schlüpften durch ein Loch im Zaun auf das Nachbargrundstück. Dann überquerten sie eine Wiese, die sich an den Nachbargarten anschloß, und kamen schließlich auf einen Weg, der ein ganzes Stück vom Gasthof „Zur Sonne“ entfernt verlief. Wortlos schritten sie nebeneinander her. Werner sagte sich, daß die Genossen, wenn sie benachrichtigt gewesen wären, ihnen wahrscheinlich gar nicht hätten folgen können, weil sie den Gasthof nicht auf dem üblichen Wege verlassen hatten. Der Grenzführer war ein gerissener Bursche. Aber heute sollte er seinen Meister finden, schwor sich Werner. Heute trat der Verbrecher zum letztenmal den Weg durchs Moor an. Wenn er wüßte… Werner schmunzelte bei diesem Gedanken und strich über seine Hosen- und Jackettaschen, in denen die Papierschnipsel lagen. Sein Plan war, alle paar Schritte einige Stückchen des blauen Kreppapiers fallen zu lassen. Bei Tageslicht, so sagte sich Werner, würde er mit den Kameraden den Weg dann mit Hilfe seiner Markierungen schon wiederfinden. Er fühlte sich besonders schlau und listig. Vor allem auf seinen Einfall, blaues Papier zu verwenden. war er sehr stolz. Weiße Schnipsel hätte der Grenzführer vielleicht entdecken können, wenn er nachher den Weg durchs Moor zurückging.
Werner wollte sich bis zum Zehnmeterstreifen führen lassen. Von da ab beabsichtigte er dann die Wegroute zum Kommando einzuschlagen, die er in jener verhängnisvollen Nacht mit Karl Schutt zurückgelegt hatte. Bald hatten sie den Wald erreicht. Werner wußte, daß es darauf ankam, sich gut die Stelle einzuprägen, wo der Weg durchs Moor begann. Alles Weitere würden dann schon die Papierstückchen am nächsten Morgen besorgen. Der Grenzführer schien jeden Quadratmeter des Waldes zu kennen. Sicher und ohne zu zögern führte er Werner schmale, kaum sichtbare Pfade entlang, durchquerte Schonungen, kürzte ab, indem er Wegbiegungen ausließ und schnurgeradeaus lief. Plötzlich packte er Werner hart am Arm, zog ihn zu Boden. Sie lagen auf der nassen Erde und spähten durch die Gräser. Vor ihnen auf dem Weg lief jemand. Das fahle Mondlicht sickerte spärlich durch die Baumwipfel. Schließlich erkannte Werner, daß es der Förster sein mußte. Der Lauf seiner Jagdflinte und der Gamsbart am Jägerhut waren sekundenlang zu sehen. Sie warteten, bis die Nacht den Förster wieder verschluckt hatte. „Los, weiter!“ befahl der Grenzführer leise und erhob sich. Werner nahm seinen Koffer auf und folgte dem Mann. Und dann hatte er, wie damals in jener unheilvollen Nacht, wieder das Gefühl, als laufe er über Gummi. Sie waren jetzt am Moor. Werner prägte sich drei große Eichen ein, die eine war vom Blitz zur Hälfte gespalten. Er griff in seine Jackentasche und holte eine Handvoll Schnipsel hervor. Dabei fiel das Taschentuch zu Boden. Er bückte sich jedoch nicht danach, um den Grenzführer nicht auf die Papierschnipsel aufmerksam zu machen. Während er den vor ihm laufenden Mann im Auge behielt, streute er in regelmäßigen Abständen die Papierstückchen. „Halten Sie sich jetzt immer genau hinter mir“, sagte der Grenzführer. „Wenn Sie im Moor vom Weg abkommen, ist das
sehr unangenehm.“ Er lachte mit heiserer Stimme über seine Worte, als hätte er einen guten Witz gerissen. Sie kamen jetzt langsamer voran. Es war mehr ein Tasten. Manchmal versank Werners Fuß im Morast, aber nie so tief, daß es gefährlich geworden wäre. Er dachte an die Nacht, da er es fast schon aufgegeben hatte, wieder aus dem Moor herauszukommen. Er hielt sich dicht hinter dem Grenzführer. Sie mochten etwa eine gute Viertelstunde durch das Moor gelaufen sein, als Werner, den Blick zu den Baumwipfeln hebend, jene knorrige Eiche entdeckte, an der er sich schon einmal orientiert hatte. Da wußte er, daß er am Ziel war. Ein heißes Gefühl des Triumphes durchrann ihn. Er hatte es doch allein geschafft! Plötzlich schlug ihm ein harter Gegenstand gegen die Brust. Er taumelte, verlor den Koffer, suchte nach einem Halt und spreizte, um nicht zu fallen, das rechte Bein. Aber es glitt in moorige Tiefe. Er klatschte mit dem Rücken auf den kalten Modder. Dabei hatte er noch immer nicht recht begriffen, warum er vom Weg gestoßen worden war. Alles hatte sich in Sekundenschnelle abgespielt. War er gegen einen Ast gestoßen? Er kam gar nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. „Warten Sie!“ rief er schnell aus Furcht, der Grenzführer habe seinen Sturz in der Dunkelheit nicht bemerkt und sei weitergegangen. Doch dessen Stimme klang ganz nah. „Ich warte schon. Ich warte sogar so lange, bis du verfluchter Hund abgesoffen bist.“ Werner glaubte nicht richtig verstanden zu haben. Kaltes Entsetzen packte ihn, während er spürte, wie er allmählich, aber unaufhaltsam tiefer sank. „Du kommst nicht besser weg als vorige Woche einer von den Grenzern, für die du spitzelst!“ rief der Grenzführer höhnisch, und Werner wußte, daß er verspielt hatte. „Ich geh euch nicht auf den Leim. Du glaubst wohl, ich habe nicht gesehen, wie du dir dauernd in die Taschen
gegriffen und den Weg markiert hast? Aber das nützt nichts. Ich werde schon dafür sorgen, daß das Zeug nicht lange liegenbleibt. Und dir wird gleich der Morast die Schnauze verstopfen, für immer, hörst du?“
Werner brüllte aus Leibeskräften um Hilfe. „Da hast du Hilfe!“ vernahm er die Stimme des Grenzführers. Zugleich traf ihn ein wuchtiger Schlag auf den Kopf, und er sah über sich die Baumwipfel kreisen. Sein Oberkörper sank nach hinten. Das höhnische Lachen des Grenzführers hörte er schon nicht mehr. Als erstes sah Werner einen weißen Fleck, der schmerzhaft in die Augen stach. Er schloß sie wieder. Im Kopf rauschte und dröhnte es. So lag er eine Weile ganz still. Von fern drang ein monoton plätscherndes Geräusch an sein Ohr. Es kam langsam näher. Dann wußte er, daß es Stimmen waren. Er öffnete wieder die Augen. Der weiße Fleck schmerzte nicht mehr so sehr. Wie aus einem Nebel auftauchend, nahm er Formen an, und Werner Brink erkannte eine Lampe, eine einfache Kugellampe aus weißem Glas. Er senkte den Blick und erfaßte die Gegenstände des Zimmers: ein Schrank, ein Fenster. Das Sehen strengte an; der Kopf begann wieder zu schmerzen. Werner schloß die Augen. Er wollte denken, sich erinnern. Aber es waren nur Bruchstücke, die sein Erinnerungsvermögen aus der Vergangenheit losriß: das Gesicht der Mutter, der Blick durch das Fenster seines Pioniertraktors auf ein Rapsfeld, die lächelnde Ingeborg, ein knorriger Baumwipfel, der sich vom Nachthimmel abhob. Da dachte er: Ich bin doch tot. Warum kann ich das sehen? Aber ich sehe es ja gar nicht. Ich erinnere mich nur. Ich habe ja die Augen geschlossen. Aber ich hatte doch eine Lampe gesehen, einen Schrank, ein Fenster… ich muß nur die Augen öffnen. Er sah in das lächelnde Gesicht Leutnant Jablonskis. Werner bewegte fragend die Lippen. Jablonski legte schnell den Zeigefinger auf den Mund und schüttelte den Kopf. „Nicht sprechen, Werner. Ganz stilliegen.“ Dann sah der Leutnant auf den Arzt, der am Fußende des Bettes stand. Werner verfolgte alles. Es war Wirklichkeit, er lag tatsächlich in einem Bett, warm und
geborgen. Der Arzt nickte dem Leutnant zu und verließ leise das Zimmer. Werner schloß die Augen und schlief. Auf seinem Gesicht lag ein mattes, aber glückliches Lächeln. Am nächsten Tag fühlte sich Werner schon etwas besser. Er konnte leise sprechen, wenn es ihn auch noch immer anstrengte. Allmählich, wie Steinchen für Steinchen in feinem Mosaik, hatte er die jüngsten Ereignisse in seinem Gedächtnis wieder zusammengesetzt. Der schmerzhafte Hieb auf den Kopf war das letzte, woran er sich erinnern konnte. Was weiter mit ihm geschah, das erfuhr er von Leutnant Jablonski, der in jeder freien Stunde an seinem Bett saß. Willi Hölzer, der Förster, war an jenem Abend wieder auf der Pirsch nach dem gefährlichen Sechzehnender gewesen. In der Nähe der Grenze – Hölzer befand sich schon auf dem Heimweg – hörte er Werners Hilferufe. Er setzte sich sofort mit einer Streife der Grenzpolizei in Verbindung, die über das Telefonsystem des Grenzmeldenetzes das Kommando informierte. In Fichtenstein hatte sich kurz nach dreiundzwanzig Uhr folgendes ereignet: Der Gastwirt Kappe war aufgeregt bei der Volkspolizei erschienen und hatte gemeldet, daß sein Gast Werner Brink verschwunden sei, ohne die Rechnung beglichen zu haben. Kappe hatte angenommen, durch diese Anzeige würde er nicht mit der Flucht seines Gastes in Verbindung gebracht. Die Volkspolizisten, die von Werners Auftrag wußten, riefen sofort das Kommando an. Für Leutnant Jablonski, der gegen zweiundzwanzig Uhr vom Nachbarkommando zurückgekommen war, stand es fest, daß Werner Brink die Aktion auf eigene Faust gestartet hatte. Sofort setzte Jablonski alle Genossen ein. Als er von dem Hilferuf erfuhr, ließ er das Moor umstellen. Gefreiter Bornemann, der mit seinem Diensthund Harras ebenfalls aufgebrochen war, fand an den drei Eichen Werners Taschentuch. Im Schein von Blendlaternen suchten die
Grenzpolizisten die Umgebung ab und, unterstützt durch den Spürsinn des Hundes, folgten sie der Schnipselspur ins Moor. Mitten im Moor hatte Harras plötzlich wütend einen Baum verbellt. Die Grenzpolizisten leuchteten in das Astwerk hinauf und entdeckten eine Gestalt, die sich eng an den Stamm geschmiegt hatte. Erst nach mehrmaliger Aufforderung bequemte sich der Fremde herunterzuklettern. Unten angekommen, gab er plötzlich einen Schuß ab und versuchte zu fliehen. Da schossen die Polizisten. Der Grenzführer war sofort tot. In seiner Tasche entdeckten sie den noch blutbeschmierten Totschläger, mit dem er Werner Brink bewußtlos geschlagen hatte. Sie fanden Werner, bis zu den Hüften im Moor versunken, mit dem Rücken über einer Baumwurzel hängend. „Das war deine Rettung“, sagte Leutnant Jablonski und sah Werner an, der dem Bericht atemlos gelauscht hatte. „Du mußt beim Fallen nach hinten gekippt sein. Der Grenzführer hatte geglaubt, du würdest versinken, genauso wie damals Karl Schutt.“ Jablonski zog eine Fotografie aus der Tasche und hielt sie Werner vors Gesicht. „Erkennst du den Kerl?“ „Ja. Das ist er.“ Jablonski steckte die Fotografie wieder ein. „Der Wirt übrigens wurde noch in der gleichen Nacht verhaftet, und der Prozeß gegen ihn findet statt, sobald du wieder gesund bist und als Zeuge aussagen kannst.“ Werner tastete nach seinem Kopfverband. Ihm schien es noch immer wie ein Wunder, daß er lebend aus dem Moor herausgekommen war. „Der Major hat dich übrigens beglückwünscht“, fuhr Jablonski fort und zeigte auf einen Strauß Astern, der neben dem Bett auf einem Schränkchen inmitten vieler anderer Blumensträuße stand. „Außerdem bist du zum Unteroffizier befördert worden.“ „Ich habe das doch gar nicht verdient“, sagte Werner leise.
„Ich wollte doch…“ „Schon gut, schon gut“, unterbrach ihn der Leutnant. „Diesmal ist es ja noch gut gegangen. Und in Zukunft wirst du nicht wieder auf eigene Faust handeln.“ Werner schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht.“ „Wie fühlst du dich?“ „Es geht. Nur der Kopf schmerzt sehr.“ „Ein ganz schönes Loch hat dir der Kerl gehauen. Der Doktor meinte, du hättest einen Schädel wie aus Eisen. Vom medizinischen Standpunkt aus hätte dir der Hieb den Rest geben müssen. Aber es sah auch so böse aus. Wir haben tagelang um dich gebangt.“ Werner begriff nicht. „Tagelang?“ fragte er. „Du warst vier Tage ohne Bewußtsein. Die Ärzte hier im Kreiskrankenhaus haben alles getan, um dich durchzubringen. Aber jetzt bist du über den Berg, hat der Arzt gesagt.“ „Im Kreiskrankenhaus?“ fragte Werner und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. „In Fichtenstein gibt es doch kein Krankenhaus.“ Eine Schwester kam ins Zimmer und sagte leise etwas zu Jablonski, Der Leutnant lächelte Werner an und kniff ein Auge zu: „Du bekommst Damenbesuch.“ „Damenbesuch? Aber es weiß doch niemand, daß ich hier…“ „Was glaubst du, was für eine Aufregung es in Fichtenstein gegeben hat, als wir den alten Kappe verhaftet haben. Außerdem wurde von den Genossen der Volkspolizei und uns gemeinsam eine Einwohnerversammlung durchgeführt, auf der wir über den Fall berichtet haben, – Aber nun will ich nicht länger stören. Das Mädchen war schon zweimal vergebens hier, als du noch ohne Bewußtsein gelegen hast.“ Jablonski verließ das Zimmer. An der Tür begegnete ihm Ingeborg. Sie kam mit schnellen Schritten ans Bett. „Werner!“ Sie küßte ihn und strich behutsam über seinen
Kopfverband. Werner sagte nichts. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Wußte sie denn nicht, daß durch ihn ihr Bruder…? Nach einer Weile konnte er nicht mehr an sich halten. „Ingeborg. Dein Bruder…“ „Was ist mit meinem Bruder?“ fragte sie arglos. „Es tut mir sehr leid, doch ich mußte…“ „Aber Werner! Ich habe ihm längst alles gesagt. Er hat endlich eingesehen, daß er nicht mein Vormund ist. Er hat mich sogar auf seinem Motorrad von Fichtenstein hierhergefahren.“ Sie stand schnell auf und ging zur Tür. Werner sah ihren Bruder wie ein Gespenst an. Er konnte auch nicht einen Funken Ähnlichkeit mit dem Grenzführer entdecken. „Aber du hast doch an dem Abend im Gasthof…“ Er erzählte es ihr. Sie lachte und sagte: „Das muß eine Verwechslung gewesen sein. Ich kann mich jetzt erinnern, daß noch mehr junge Männer in den Flur kamen. Darunter war sicherlich auch dieser scheußliche Kerl.“ Werner lächelte befreit. „Ich riesengroßes Kamel!“ sagte er unendlich erleichtert und ließ sich von Ingeborg zärtlich küssen.