Das neue Abenteuer 408
Joseph Conrad: Der Vorposten
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel des engli...
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Das neue Abenteuer 408
Joseph Conrad: Der Vorposten
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel des englischen Originals: "An outpost of progress" Ins Deutsche übertragen von Günter Löffler Illustrationen von Dieter Schmidt © Verlag Neues Leben, Berlin 1980 Lizenz Nr. 303 (305/67/80) LSV 7324 Umschlag: Dieter Schmidt Typografie: Walter Leipold Schrift: 9/10 p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 079 4 DDR 0,25 M
1
Zwei Europäer leiteten die Handelsniederlassung. Kayerts, der Chef, war klein und dick; Carlier, sein Assistent, ein Mann mit auffallend großem Kopf, sehr breitem Oberkörper und langen, dünnen Beinen, überragte ihn. Der dritte Angestellte war ein Neger aus Sierra Leone. Er behauptete, Henry Price zu heißen. Die Leute am Fluß stromabwärts nannten ihn jedoch Makola. Dieser Name hatte ihn auf allen seinen Wanderungen durch das Land begleitet. Er sprach englisch und französisch mit einem trillernden Akzent, verfügte über eine schöne Handschrift, verstand etwas von Buchhaltung und war im innersten Herzen der Verehrung böser Geister treu geblieben. Seine Frau, sehr umfangreich und geräuschvoll, kam aus Loanda. Drei Kinder tummelten sich vor der Tür seiner niedrigen, schuppenartigen Hütte in der Sonne. Makola war schweigsam und verschlossen. Er verachtete die beiden weißen Männer. Ihm unterstand ein kleiner Lagerraum aus Lehm mit Grasdach, und er gab vor, über die vorrätigen Glasperlen, Baumwollballen, roten Halstücher, Kupferdrahtrollen und sonstigen Handelswaren genau Buch zu führen. Außer dem Lagerraum und Makolas Wohnhütte stand auf dem gerodeten Boden der Niederlassung noch ein größeres Haus. Es war hübsch aus Rohr gebaut und hatte eine Veranda, die nach allen vier Seiten offen war. Im Inneren gab es drei Räume: das Wohnzimmer, das zentral gelegen und mit zwei roh gezimmerten Tischen und einigen Schemeln ausgestattet war, und die beiden Schlafgemächer für die Europäer. Jeder der zwei Männer hatte ein Bettgestell und ein Moskitonetz, und das war das ganze Mobiliar. Auf dem gedielten Fußboden standen und
lagen alle möglichen Habseligkeiten wirr durcheinander: offene, halb geleerte Schachteln, städtische Kleidung, alte Stiefel, alles dreckig, alles zerschlissen - ein wüster Haufen, die Siebensachen unordentlicher Leute. Es gab noch eine Ruhestätte, die sich nicht weit von den erwähnten Gebäuden befand. Dort, unter einem großen, stark zur Seite geneigten Kreuz, lag der Mann, der die Gründung der Faktorei miterlebt, der diesen Vorposten des Fortschritts danach überwacht hatte. Zu Hause ein erfolgloser Maler - war er es nun müde, mit leerem Magen Ruhm zu erhoffen. Protektion seitens höherer Stelle hatte ihm zu diesem Arbeitsplatz verholten, und Makola hatte zugesehen, wie dieser energiegeladene Künstler, der erste Chef der Niederlassung, am Fieber zugrunde gegangen war in dem gerade fertiggestellten Haus und mit einer seiner üblichen lakonischen Bemerkungen auf den Lippen: "Hab ich's nicht gesagt." Nach seinem Ableben blieb Makola zunächst allein mit seiner Familie, den Kontobüchern und dem bösen Geist, der die Länder am Äquator beherrscht. Sein Gott schien ihm sehr gnädig gesonnen. Vielleicht hatte er ihn durch das Versprechen besänftigt, ihm nach und nach mehr weiße Männer als Spielgefährten zukommen zu lassen. Jedenfalls der Direktor der großen Handelskompanie, der auf einem ungeheuerlichen, an eine Sardinendose erinnernden Dampfer mit einem flachen Aufbau eintraf, fand die Niederlassung in guter Ordnung vor und Makola so still und fleißig wie gewöhnlich. Der Direktor ließ über dem Grab des ersten Agenten das Kreuz aufstellen und ernannte Kayerts zu seinem Nachfolger. Carlier wurde als zweiter Verantwortlicher eingesetzt. Der Direktor war ein skrupelloser Erfolgsmensch. Manchmal, wenngleich nicht vordergründig, war er zu finsterem
Humor aufgelegt. Er richtete eine Rede an Kayerts und Carlier und erläuterte ihnen die vielversprechenden Aussichten, die ihnen ihre Stellung bot. Der nächste Handelsposten befände sich rund dreihundert Meilen entfernt. Eine ungewöhnlich günstige Gelegenheit also, sich hervorzutun und Prozente einzustreichen. Diese Ernennung sei eine Auszeichnung für Anfänger. Kayerts war beinah zu Tränen gerührt von derlei Freundlichkeit seines Direktors. Er werde, sagte er, sein Bestes tun, um sich dieses schmeichelhaften Vertrauens würdig zu erweisen und so weiter und so fort. Kayerts hatte vorher in der Telegrafenverwaltung gearbeitet und wußte sich richtig auszudrükken. Carlier dagegen, ehemaliger Kavallerieunteroffizier in einer Armee, deren Sicherheit durch verschiedene europäische Mächte garantiert wurde, zeigte sich weniger beeindruckt. Wenn sich eine Provision erzielen ließ, um so besser. Sein Blick schweifte über den Fluß, die Wälder, den undurchdringlichen Busch, der die Faktorei vom Rest der Welt zu scheiden schien, und er murmelte: "Wir werden sehr bald sehen." Nachdem am nächsten Tag einige Ballen Baumwollstoffe und wenige Behälter mit Lebensmitteln ans Ufer geworfen worden waren, legte der wie eine Sardinenbüchse gebaute Dampfer ab. Sechs Monate später wollte er wiederkommen. An Deck tippte der Direktor mit der Hand an die Mütze und und grüßte seine beiden Agenten, die hutschwenkend dastanden. Dann wandte er sich einem bewährten Mitarbeiter zu, der ihn schon oft auf seinen Fahrten zum Hauptsitz der Gesellschaft begleitet hatte, und sagte: "Sehen Sie sich diese Schwachköpfe an. Sie müssen zu Hause den Verstand verloren haben, mir solche Exemplare zu schicken. Ich habe den beiden aufgetragen, einen Gemüsegarten anzule-
gen, neue Lagerhäuser und Zäune zu bauen und eine Landungsstelle zu schaffen. Könnte wetten, nichts dergleichen wird geschehen! Sie wissen überhaupt nicht, wie sie es anfangen sollen. Ich habe die Faktorei am Fluß immer für nutzlos gehalten, und die Herrschaften passen zu dieser Faktorei."
"Sie werden sich zu Hause fühlen", bemerkte der alte Praktikus mit ruhigem Lächeln.
"Jedenfalls bin ich sie für die nächsten sechs Monate los", entgegnete der Direktor säuerlich. Die beiden Männer sahen dem Dampfer nach, bis er um eine Biegung verschwunden war. Dann stiegen sie Arm in Arm das abschüssige Ufer hoch und kehrten zur Faktorei zurück. Sie waren erst seit sehr kurzer Zeit in dem großen, düsteren Land und bislang stets unter anderen weißen Männern gewesen, im Blickfeld ihrer Vorgesetzten, die sie angeleitet hatten. Für die Schönheiten ihrer Umgebung unempfindlich, fühlten sie sich jetzt sehr einsam, da sie plötzlich auf sich selbst gestellt waren und sich der Wildnis allein gegenübersahen, einer Wildnis, die durch die geheimnisvollen Wahrzeichen eines ihr innewohnenden kraftvollen Lebens nur um so fremder, um so unbegreiflicher wirkte. Sie waren zwei völlig unbedeutende und unfähige Individuen, deren Dasein erst durch die hohe Organisation einer zivilisierten Gesellschaft möglich wurde. Nur wenige Menschen erkennen, daß ihr Leben, das ureigenste Wesen ihres Charakters, ihre Fähigkeiten und ihre Kühnheit lediglich ein Ausdruck des Vertrauens zur sicheren Umgebung sind. Mut, Gelassenheit, Zuversicht, Gefühle und Prinzipien, jeder große wie jeder unbedeutende Gedanke gehören nicht dem Individuum, sondern der Menge - der Menge mit ihrem blinden Glauben an die unwiderstehliche Kraft ihrer Institutionen und Moral, an die Macht ihrer Polizei und öffentlichen Meinung. Doch im Kontakt mit unverfälschter Natur, mit primitiver Urwüchsigkeit und elementarem Menschsein flößt sich dem Herzen plötzlich tiefes Unbehagen ein. Zum Gefühl, allein zu sein, zu der klaren Erkenntnis der Einsamkeit des eigenen Denkens und Empfindens, zur Negation des Gewohnten, der eigenen Gedanken des als
gesichert Erscheinenden gesellt sich die Bestätigung eines Ungewohnten, das gefährlich ist. Etwas Vages, Unkontrollierbares und Abstoßendes deutet sich an, und die verwirrende Fülle der Eindrücke erregt die Phantasie und strapaziert die Nerven der Törichten und der Klugen gleichermaßen. Kayerts und Carlier gingen Arm in Arm. Sie schmiegten sich aneinander wie Kinder in der Finsternis, und sie empfanden beide das nicht ganz unangenehme Gefühl einer Bedrohung, die man zur Hälfte für Einbildung hält. Sie plauderten pausenlos vertraulich miteinander. "Unsere Faktorei liegt hübsch im Grünen", sagte der eine. Der andere stimmte begeistert zu und erging sich in Lobreden über die Schönheit der Umgebung. Dann kamen sie am Grab vorüber, und Kayerts sagte: "Armer Teufel!" "Er hatte Fieber", murmelte Carlier. "Nicht wahr?" fügte er hinzu und verstummte. "Na ja", entgegnete Kayerts entrüstet. "Ich habe gehört, der Bursche hätte sich in verantwortungsloser Weise der Sonne ausgesetzt. Das Klima hier ist überhaupt nicht schlimmer als zu Hause, solange man die Sonne meidet, das sagen alle. Verstehen Sie, Carlier? Ich bin der Chef hier, und meine Anweisung lautet, daß Sie sich sich nicht der Sonne auszusetzen haben." Er spielte sich scherzhaft als Vorgesetzter auf, aber seine Worte waren doch ernst gemeint. Bei dem Gedanken, Carlier begraben und allein bleiben zu müssen, verspürte er einen inneren Schauer. Er fühlte plötzlich, daß ihm Carlier in Zentralafrika mehr bedeutete als ein Bruder in einem anderen Teil der Welt. Carlier ging auf den Ton seines Kollegen ein, erwies ihm
eine militärische Ehrenbezeigung und erwiderte forsch: "Werde Ihre Anweisungen stets befolgen, Chef!" Dann brach er in Gelächter aus, schlug Kayerts auf den Rücken und rief: "Wir werden uns das Leben leicht machen! Einfach dasitzen und das Elfenbein einsammeln, das uns die Wilden bringen. Dieses Land hat bestimmt auch seine Annehmlichkeiten." Sie lachten beide laut, während Carlier dachte: Der arme Kayerts - ist so fett und sieht so ungesund aus. Es wäre schrecklich, wenn ich ihn hier begraben müßte. Es ist ein Mann, den ich achte. Ehe sie die Veranda ihres Hauses erreichten, nannten sie sich gegenseitig "mein lieber Freund". Am ersten Tag waren sie sehr rührig, hantierten mit Hämmern und Nägeln und und rotem Kattun herum, um Vorhänge anzubringen und ihr Haus hübsch wohnlich einzurichten. Sie beschlossen, es sich in ihrem neuen Lebensabschnitt recht gemütlich zu machen, aber das war für sie eine unlösbare Aufgabe. Schon um die rein materiellen Probleme erfolgreich anzupacken, mußte jemand gelassener sein und mehr frohen Mut aufbringen, als sie es sich träumen ließen. Man kann sich schwerlich zwei Leute vorstellen, die für diesen Kampf weniger geeignet waren. Die Gesellschaft hatte sich der beiden Männer angenommen - nicht aus Milde, sondern weil sie zu nicht sonderlich sinnvollen Tätigkeiten gebraucht worden waren. Dafür hatte man sie verpflichtet, allem unabhängigen Denken zu entsagen, aller Initiative, jeder Abweichung von der Routine - bei Strafe ihres Untergangs auf Eigenmächtigkeiten zu verzichten. Sie konnten nur noch leben, wenn sie wie Maschinen behandelt wurden; und nun, entlassen aus der Obhut von Leuten mit Federhaltern
hinterm Ohr oder mit Goldlitze an den Ärmeln, glichen sie zu lebenslanger Haft Verurteilten, nach vielen Jahren aus dem Strafvollzug Entlassenen, die der neu gewonnenen Freiheit hilflos gegenüberstanden. Da sie aus Mangel an Übung ihren Kopf nicht gebrauchen konnten, waren ihnen die Hände gebunden. Am Ende des zweiten Monats pflegte Kayerts des öfteren zu sagen: "Wenn ich es nicht für meine Melie täte, wäre ich nicht hier." Obwohl er bei der Telegrafenverwaltung siebzehn Jahre restlos glücklich gewesen war, hatte er seine Stellung dort aufgegeben, um für das Mädchen eine Mitgift zu verdienen. Seine Frau war gestorben, und das Kind wuchs bei seinen Schwestern auf. Er sehnte sich nach den Straßen, Fußwegen, Cafes und langjährigen Freunden, nach allem, was er tagtäglich zu sehen gewohnt gewesen war, nach den flachen, einförmigen, einschläfernden Gedanken der Regierungsangestellten, dem Geschwätz, den Anfeindungen, der Gehässigkeit, den bescheidenen Behördenwitzen. "Wenn ich einen anständigen Schwager hätte", pflegte Carlier zu bemerken, "einen Kerl mit Herz, wäre auch ich nicht hier." Er hatte die Armee verlassen und sich durch seine Faulheit und Unverschämtheit in der Familie so verhaßt gemacht, daß ein empörter Schwager übermenschliche Anstrengungen unternahm, um ihn bei der Handelskompanie als zweiten Agenten unterzubringen. Da Carlier selbst völlig mittellos war und aus den Verwandten offensichtlich keinen Penny mehr herausquetschen konnte, hatte er gezwungenermaßen eingewilligt, den Posten zum Zwecke des Broterwerbs zu akzeptieren. Doch dachte er ebenso
wie Kayerts bedauernd an sein altes Leben zurück. Er sehnte sich nach Säbelrasseln und Sporenklirren, nach schönen Nachmittagen, den Witzeleien der Kasernenstuben, den Mädchen der Garnisonstädtchen. Er wurde nie müde zu schmollen, denn er kam sich schrecklich ungerecht behandelt vor. Das machte ihn manchmal launisch. Trotzdem kamen die beiden Männer gut miteinander aus. Dummheit und Faulheit verbanden sie miteinander. Sie frönten gemeinsamem Nichtstun und freuten sich, die Hände in den Schoß legen zu können und dafür noch bezahlt zu werden. Mit der Zeit empfanden sie so etwas wie Zuneigung zueinander. Sie lebten wie Blinde in einem großen Raum, als ob sie nur mit den Fingern "sahen" (selbst ihr "Tastsinn" war unvollkommen entwickelt), und sie erkannten keine großen Zusammenhänge. Der Fluß, der Wald, das riesige, von pulsierendem Leben erfüllte Land waren wie eine gewaltige Leere. Auch die strahlende Sonne verhalf ihnen zu keiner Offenbarung. Grund- und ziellos erschienen und verschwanden die Dinge vor ihren Augen. Der Fluß kam nirgendwoher und floß nirgendwohin. Er durchströmte eine ausgedehnte Öde. Aus dieser Öde tauchten manchmal Boote auf. Darin saßen Männer, die Speere in den Händen hielten und plötzlich den Hof der Faktorei bevölkerten. Sie waren nackt, von vollkommener Gestalt, schwarzglänzend, mit schneeweißen Muscheln und blitzendem Kupferdraht geschmückt. Ihre Sprache klang wie Geplätscher. Sie bewegten sich majestätisch und blickten schnell und ruhelos um sich. Diese Krieger hockten in langen Reihen vor der Veranda, vier oder mehr hintereinander, während ihre Häuptlinge mit Makola stundenlang um einen Elefantenstoßzahn feilschten.
Kayerts saß auf seinem Stuhl, sah dem Geschehen zu und verstand nichts. Er starrte mit seinen großen blauen Augen auf die Eingeborenen und rief Carlier zu: "Schau dir mal diesen Kerl dort an - und den da, links. Hast du jemals so ein Gesicht gesehen? Nein, der komische Kauz!" Carlier, der in einer kurzen Holzpfeife einheimischen Tabak rauchte, zwirbelte großtuerisch seinen Schnurrbart nach oben, ließ den Blick herablassend über die Krieger schweifen und sagte: "Prächtige Tiere. Haben Elfenbein gebracht, ja? Wird auch Zeit. Guck mal, was für Muskeln dieser Bursche hat, der dritte. Von dem möchte ich keinen auf die Nase bekommen. Schöne Arme, aber die Unterschenkel taugen nichts. Man könnte keinen Kavalleristen aus ihm machen." Nachdem er wohlgefällig die eigenen Reiterbeine betrachtet hatte, beendete er seine Rede jedesmal mit den Worten: "Puh! Die stinken aber! Sie, Makola! Treiben Sie die Herde zum Fetisch rüber!" Als "Fetisch" wurde in jeder Faktorei der Lagerraum bezeichnet, vielleicht wegen des Geistes der Zivilisation, der ihm innewohnte. "Gib ihnen was von dem Plunder, den du dort aufbewahrst", fügte Carlier hinzu, "ich möchte ihn lieber voll Knochen als voll Lumpen sehen." Kayerts stimmte dem zu. "Ja, ja! Gehen Sie und hören Sie mit dem Palaver auf, Mister Makola. Wenn Sie fertig sind, komme ich, um den Zahn zu wiegen. Wir müssen sehr vorsichtig sein." Dann wandte er sich an seinen Gefährten. "Die sind von dem Stamm, der am Fluß unten lebt. Ziemlich würziger Geruch. Ich erinnere mich, daß sie schon einmal hier waren. Nun hör dir diesen Krach an! Was einem Menschen in diesem Hundeland zugemutet wird! Mir zerspringt der Schädel."
Doch solche einträglichen Geschäfte gab es selten. Tagelang betrachteten diese beiden Pioniere des Handels und des Fortschritts ihren leeren Hof, über dem die Luft vor Hitze flimmerte. Dahinter floß am hohen Ufer gleißend und ruhig der stille Fluß dahin. Auf den Sandbänken in der Mitte des Stromes sonnten sich Nilpferde und Alligatoren, die einträchtig nebeneinander lagen. Und ringsum erstreckten sich in alle Richtungen gewaltige Wälder voll phantastischen Lebens und erfüllt von Schicksalsschweren Kämpfen. Sie lagen in stummer Größe da und umgaben den unbedeutenden gerodeten Fleck, auf dem die Handelsniederlassung stand. Die beiden Männer begriffen nichts, scherten sich um nichts außer um die Zeitrechnung. Sie zählten die Tage, die bis zur geplanten Rückkehr des Dampfers verblieben. Ihr Vorgänger hatte einige zerrissene Bücher hinterlassen. Sie nahmen die Wracks zur Hand, und da sie nie zuvor einen Roman gelesen hatten, überraschte und belustigte sie diese Art Literatur. Während der langen Tageszeit führten sie dann endlose und alberne Gespräche über Handlungen und Personen. So machten sie sich im Zentrum Afrikas mit Richelieu und d'Artagnan vertraut, so lernten sie Falkenauge, Vater Goriot und viele andere Figuren kennen. Um diese Phantasiegestalten drehte sich ihr Geschwätz, als ob es wirkliche, lebende Freunde wären. Sie stellten ihre Tugend in Frage, argwöhnten unlautere Motive, schmälerten ihre Erfolge, entsetzten sich über ihre Doppelzüngigkeit oder zweifelten ihren Mut an. Die Schilderung von Verbrechen erfüllte sie mit Entrüstung, während gefühlvolle oder pathetische Stellen sie zutiefst rührten. Carlier räusperte sich und sagte mit soldatischer Härte: "Was für ein Blödsinn!"
Kayerts aber rieb sich den kahlen Schädel, seine feisten Wangen bebten, Tränen traten ihm in die kugelrunden Augen, wenn er erklärte: "Das ist ein wunderbares Buch. Ich hatte keine Ahnung, daß es solche schlauen Kerle in der Welt gibt."
Sie fanden auch ein paar alte Exemplare einer Zeitung,
die sich dazu verstieg, hochtrabend von "unserer kolonialen Expansion" zu berichten. Dann wurde da viel über
Rechte und Pflichten der Zivilisation geschrieben, über ihr heiliges Werk, und das Blatt pries die Verdienste jener Männer, die auszogen, um Licht, Glauben und Handel m die finstern Stätten der Erde zu bringen. Carlier und Kayerts lasen es, grübelten darüber nach und dachten fortan besser von sich. Carlier sagte eines Abends mit ausholender Handbewegung: "In hundert Jahren wird vielleicht eine Stadt hier stehen. Hafenanlagen, Lagerhäuser, Kasernen und Billardzimmer. Zivilisation, mein Junge, Tugend und alles. Dann werden die jungen Burschen lesen, daß da einst zwei gute Leute waren, Kayerts und Carlier, die als erste zivilisierte Männer genau an dieser Stelle lebten." Kayerts nickte. "Ja, es ist ein Trost, daran zu denken." Ihren toten Vorgänger schienen sie vergessen zu haben. Eines schönen Tages ging Carlier jedoch sehr früh hinaus und setzte das Kreuz neu und fest ein. "Ich mußte immer hinschielen, wenn ich vorbeikam", erklärte er beim Morgenkaffee. "Es tat mir weh, daß es so schief stand. Darum habe ich es aufgerichtet, und sehr solide, das kann ich dir sagen. Ich habe mich mit beiden Händen an den Querbalken gehängt. Keine Bewegung. Oh, ich habe ganze Arbeit geleistet." Manchmal kam Gobila zu Besuch. Gobila war der Häuptling des Nachbardorfes, grauhaarig, hager und schwarz, bekleidet mit einem weißen Lendentuch und einem Pantherfell, das ihm über den Rücken hing. Er nahm mit seinen skelettdürren Beinen große Schritte und schwang dabei einen Stab, der so lang wie er selbst war. Wenn er den Aufenthaltsraum betreten hatte, hockte er sich links von der Tür hin. Dort kauerte er, beobachtete Kayerts und hielt ab und zu eine kleine Rede, die der
Europäer nicht verstand. Kayerts sagte von Zeit zu Zeit, ohne sich im geringsten ablenken zu lassen, freundlich: "Wie geht es, alter Götze?" Dann lächelten sie sich gegenseitig an. Die beiden Weißen hatten den Greis, obwohl sie ihn nicht verstehen konnten, gern und nannten ihn "Vater Gobila", denn er war fürsorglich zu ihnen und schien sämtliche weißen Männer ins Herz geschlossen zu haben. Sie kamen ihm alle sehr jung vor. In seinen Augen glich einer dem anderen (abgesehen von der Statur), und er glaubte zu wissen, daß sie alle Brüder seien und außerdem unsterblich. Der Tod des Künstlers, des ersten Weißen, den er näher kennengelernt hatte, trübte diesen Glauben nicht, denn er nahm an, daß der Fremdling nur aus irgendeinem geheimen Grund zu sterben vorgegeben hatte, nach dem zu forschen zwecklos war. Vielleicht wollte er auf diese Art heimgehen in sein eigenes Land? Jedenfalls nannte Gobila sie seine Brüder, und er schenkte ihnen seine sonderbare Zuneigung, die sie auf ihre Weise erwiderten. Carlier tätschelte ihm den Rücken und entzündete unbekümmert ein Streichholz nach dem anderen, um ihn zu ergötzen. Kayerts war jederzeit bereit, ihn an seiner Ammoniakflasche riechen zu lassen. Kurzum, sie benahmen sich genau wie jenes andere weiße Geschöpf, das in ein Erdloch gekrochen war. Gobila betrachtete sie oft aufmerksam. Vielleicht waren sie sogar jener andere, zumindest einer von ihnen. Es blieb ein Rätsel, das er nicht lösen konnte, aber er verhielt sich immer sehr freundlich. Es war eine Folge dieser Freundschaft, daß aus Gobilas Dorf jeden Morgen die Frauen im Gänsemarsch durchs hohe Gras kamen, um Geflügel, Süßkartoffeln und Palmwein zur Faktorei zu bringen und
manchmal auch eine Ziege. Die Handelskompanie versorgte ihre Niederlassungen nie ausreichend mit Lebensmitteln, so daß die Agenten auf solche Abgaben angewiesen waren. Gobila ließ sie reichlich versorgen, und es ging ihnen gut. Hin und wieder hatte einer von ihnen einen Fieberanfall. Dann pflegte ihn der andere mit sanfter Hingabe. Sie machten sich deswegen keine Gedanken. Zwar wurden sie schwächer und veränderten sich äußerlich zu ihrem Nachteil, Carlier war bald hohläugig und reizbar, und Kayerts sah abgespannt aus und hatte ein schlaffes Gesicht und einen runden Bauch, was recht sonderbar wirkte, aber da sie täglich zusammen waren, bemerkten sie nicht die Veränderungen, die mit ihrem Körper und auch mit ihrem Wesen vor sich gingen. So verstrichen fünf Monate. Dann, als Kayerts und Carlier eines Morgens unter der Veranda bequem auf ihren Stühlen saßen und über den bald eintreffenden Dampfer sprachen, trat eine Gruppe Bewaffneter aus dem Wald und näherte sich der Faktorei. Es waren Fremde in diesem Teil des Landes, hochgewachsene Menschen, schlank, vom Hals bis zur Ferse in blaue, mit Fransen verzierte Tücher gehüllt, und sie trugen Gewehre auf der fechten Schulter. Makola zeigte sich aufgeregt. Er verließ das Warenlager, in dem er seine Tage verbrachte, und lief den Besuchern entgegen. Sie kamen zum Hof, wo sie sich selbstbewußt und spöttisch umsahen. Der Anführer, ein kraftvoller, energiegeladener Mensch mit blutunterlaufenen Augen, stand vor der Veranda und hielt eine lange Rede. Er gestikulierte lebhaft und hörte plötzlich auf zu sprechen. Etwas Beunruhigendes lag in seinem Ton und klang aus seinen Worten, die den beiden Weißen unverständlich
blieben und die ihnen doch irgendwie vertraut vorkamen, so wie undeutliches Raunen in einem Traum. "Was für eine Sprache ist das?" fragte der verblüffte Carlier. "Zuerst dachte ich, daß der junge Mann französisch sprechen wollte. Aber so ein Kauderwelsch habe ich noch nie gehört." "Stimmt", bestätigte Kayerts. "He, Makola, was erzählt er da? Wo kommen sie her? Wer sind sie?" Makola benahm sich, als ob er auf heißen Ziegelsteinen stände. "Keine Ahnung", erwiderte er hastig. "Sie kommen von sehr weit her. Vielleicht versteht Mistreß Price besser. Vielleicht sind es schlechte Menschen." Der Anführer sagte nach einer Pause etwas Barsches zu Makola, der den Kopf schüttelte. Dann sah sich der Mann um, erblickte die Hütte, in der Makola wohnte, und ging hinüber. Im nächsten Augenblick hörte man Mistreß Makola, die sehr laut sprach. Die anderen Ankömmlinge insgesamt sechs - wanderten ungezwungen umher, steckten den Kopf durch die Tür des Lagerschuppens, umringten das Grab, deuteten verständnisvoll auf das Kreuz und fühlten sich überhaupt wie zu Hause. "Ich mag die Kerle nicht, sie müssen von der Küste kommen, weißt du, Kayerts, sie haben Feuerwaffen", bemerkte der scharfsinnige Carlier. Auch Kayerts gefielen sie nicht. Da wurden sich die beiden bewußt, daß unter ihren Lebensbedingungen das Ungewöhnliche Gefahr bedeuten konnte und daß es keine Macht der Erde gab, die sich schützend zwischen sie und dieses Ungewöhnliche stellen würde. Sie fühlten Unbehagen, gingen ins Haus und luden die Revolver.
Kayerts sagte: "Wir müssen Makola befehlen, ihnen mitzuteilen, daß sie vor dem Dunkelwerden abzutreten haben."
Die Fremden zogen am Nachmittag davon. Vorher hatten sie eine Mahlzeit zu sich genommen, die von Mrs. Makola für sie zubereitet worden war. Die starke Frau hatte viel und aufgeregt mit den Besuchern gesprochen, schrille Laute ausgestoßen, immer wieder auf die Wälder und den Fluß gezeigt. Makola hatte abseits gesessen und beobachtet, war manchmal aufgestanden, um seiner Frau etwas zuzuflüstern. Er begleitete die Besucher durch die
Schlucht hinter dem Faktoreigelände und kehrte mit sehr nachdenklicher Miene langsam zurück. Als die Weißen ihn befragten, war er seltsam, schien sie nicht zu verstehen, schien sein Französisch vergessen und überhaupt zu sprechen verlernt zu haben. Kayerts und Carlier glaubten, daß er dem Palmwein zu reichlich zugesprochen habe. Eine umschichtige Wache wurde in Erwägung gezogen. Jedoch am Abend wirkte alles so ruhig und friedlich, daß sich die beiden Männer wie gewöhnlich schlafen legten. Die ganze Nacht hindurch störte sie lautes Trommeln aus den Dörfern. Einem tiefen Grollen in der Nähe folgte von fern her eine Antwort, dann war es still. Bald erklangen hier und da kurze Wirbel, die verschmolzen, anschwollen, heftig wurden und andauerten, sich über den Wald ausbreiteten, pausenlos durch die Nacht rollten, von nah und fern, als hätte sich das ganze Land in eine gewaltige Trommel verwandelt, um in einem mächtigen Appell den Himmel anzurufen. Manchmal übertönten plötzlich Aufschreie den Lärm. Wie Liedfetzen aus einem Irrenhaus stiegen sie schrill weit über dem Wald auf, als wollten sie allen Frieden unter den Sternen vertreiben. Carlier und Kayerts schliefen schlecht. Am Morgen glaubten beide, während der Nacht Schüsse gehört zu haben, konnten sich jedoch nicht über die Richtung einig werden. Makola war verschwunden. Er kehrte gegen Mittag zurück. Einer der Fremden vom Vortag begleitete ihn. Kayerts versuchte ihn anzusprechen, aber Makola wich ihm aus. Er stellte sich taub. Kayerts dachte darüber nach. Carlier, der am Ufer geangelt hatte, kam wieder und bemerkte, als er seinen Fang vorzeigte: "Die Nigger sind ganz aus dem Häuschen. Möchte wissen, was los ist. In
den zwei Stunden, während ich geangelt habe, sind etwa fünfzehn Boote übergesetzt." Kayerts fragte besorgt: "Ist dieser Makola nicht reichlich sonderbar heute?" "Halte unsere Leute zusammen", riet Carlier, "für den Fall, daß es Ärger gibt."
2
Zehn Leute waren vom Direktor in der Faktorei zurückgelassen worden. Für sechs Monate hatten diese sich der Handelskompanie verdingt, ohne daß sie wußten, wie lange das war. So dienten sie der Sache des Fortschritts schon seit über zwei Jahren. Da der Stamm, dem sie angehörten, in einem sehr fernen Teil des finsteren und sorgenreichen Kontinents siedelte, entliefen sie nicht, denn sie nahmen zu Recht an, daß die anderen Stämme sie als wandernde Fremde töten würden. Sie lebten in Strohhütten, gleich hinter den Gebäuden der Faktorei am Hang einer Schlucht, die von hohem Gras bewachsen war. Sie fühlten sich nicht glücklich, dachten sehnsüchtig zurück an ihre Heimat mit ihren Festlichkeiten, ihrem Zauberkult, ihren Menschenopfern. Dort waren ihre Eltern, Brüder, Schwestern, bewunderten Häuptlinge, verehrten Magier, geliebten Freunde. Mit diesem Lande verbanden sie auch andere als allgemein menschlich anerkannte Bande. Außerdem bekamen ihnen die Reisrationen nicht, die ihnen die Handelskompanie verabreichte. Es war ein Nahrungsmittel, das man in ihrem Land nicht kannte und an das sie sich nicht gewöhnen konnten. Da das vorgesetzte Essen nicht anschlug, kränkelten sie und fühlten sich elend. Wären sie von einem anderen Stamm gewesen, hätten sie
sich längst zu sterben entschlossen, um diesem Leben zu entrinnen; denn einigen Afrikanern fällt nichts so leicht wie Selbstmord. Da sie aber einem kriegerischen Stamm mit gespitzten Zähnen angehörten, bewiesen sie mehr Charakterstärke und erduldeten ein Leben voll Krankheit und Kummer. Sie arbeiteten sehr wenig und hatten längst ihre großartige Körperkraft verloren. Carlier und Kayerts doktorten fleißig an ihren herum, ohne sie wieder recht auf die Beine zu bringen. Sie wurden jeden Morgen inspiziert und mit verschiedenen Aufgaben betraut: Gras zu mähen, Zäune zu errichten, Bäume zu fällen und so weiter und so fort - lauter Arbeiten, die ordentlich zu verrichten sie keine Macht der Erde veranlassen konnte. Die beiden Weißen hatten sie praktisch kaum unter Kontrolle. Am Nachmittag kam Makola zum großen Haus herüber und sah, wie Kayerts drei mächtige Rauchsäulen beobachtete, die über den Wäldern aufstiegen. "Was ist das?" fragte Kayerts. "Einige Dörfer brennen", antwortete Makola, der die Sprache wiedergefunden zu haben schien. Dann sagte er unvermittelt: "Wir haben sehr wenig Elfenbein. Schlechtes Handelsergebnis nach sechs Monaten. Hätten Sie gern ein bißchen mehr Elfenbein?" "Ja", sagte Kayerts eilfertig. Er dachte an die Anteile, die niedrig genug waren. "Die Männer, die gestern kamen, sind Händler aus Loanda. Sie haben mehr Elfenbein, als sie nach Hause tragen können. Soll ich kaufen? Ich kenne ihr Lager." "Gewiß", sagte Kayerts. "Was sind das für Händler?" "Schlechte Menschen", antwortete Makola gleichmütig, "Kampfhähne, fangen Frauen und Kinder weg. Schlechte Menschen und haben Gewehre. Herrscht große Unruhe im
Land. Wollen Sie Elfenbein?" "Ja", erwiderte Kayerts. Darauf schwieg Makola. Dann sagte er: "Unsere Arbeiter sind überhaupt nicht gut." Er murmelte es nur und sah sich dabei im Kreise um. "Faktorei in sehr schlechter Verfassung, Sir. Direktor wird schimpfen. Beschaffen Sie lieber eine schöne Menge Elfenbein. Mehr sage ich nicht." "Ich kann nichts machen, die Leute werden nicht arbeiten", entgegnete Kayerts. "Wann werden Sie das Elfenbein bekommen?" "Sehr bald", erklärte Makola. "Vielleicht heute abend. Überlassen Sie die Sache mir, Sir, bleiben Sie im Haus. Ich glaube, Sie sollten unsern Männern Palmwein geben, damit sie am Abend tanzen. Heute amüsieren. Morgen besser arbeiten. Wir haben viel Palmwein. Ist schon ein bißchen sauer." Kayerts sagte ja, und Makola schleppte eigenhändig große Gefäße vor die Tür seiner Hütte. Dort standen sie bis zum Abend, und Mrs. Makola sah sich jedes genau an. Bei Sonnenuntergang wurden sie ausgegeben. Als Kayerts und Carlier zu Bett gingen, loderte ein großes Lagerfeuer vor den Hütten der Leute. Sie hörten deren Schreie und das Dröhnen der Trommeln. Einige Männer aus Gobilas Dorf hatten sich zu den Faktoreiarbeitern gesellt. Das Fest war ein großer Erfolg. Mitten in der Nacht wurde Carlier von einem Schrei geweckt. Dann fiel ein Schuß. Nur einer. Carlier lief hinaus und traf Kayerts auf der Veranda. Sie waren beide erschrocken. Als sie den Hof überquerten, um Makola zu rufen, sahen sie Schatten durch die Finsternis huschen. Jemand rief: "Nicht schießen! Ich bin's, Price." Makola näherte sich ihnen. "Gehen Sie zurück, bitte gehen Sie
zurück", flehte er. "Sie verderben alles." "Es sind fremde Leute hier", erklärte Carlier. "Ich weiß", entgegnete Makola. "Machen Sie sich nichts draus." Dann flüsterte er: "Alles in Ordnung. Bringen Elfenbein. Sagen Sie nichts. Ich weiß, was ich tue." Die beiden zogen sich widerstrebend ins Haus zurück, schliefen jedoch nicht mehr ein. Sie hörten Schritte, Geflüster, Stöhnen. Leute schienen zu kommen, schwere Lasten abzuwerfen und wieder zu gehen. Kayerts und Carlier lagen auf ihren harten Betten und dachten: Dieser Makola ist unbezahlbar. Am Morgen trat Carlier sehr müde ins Freie und läutete die große Glocke. Wenn sie erklang, waren die Arbeiter sonst immer herausgekommen. An diesem Morgen zeigte sich niemand. Kayerts schlürfte gähnend herbei. Auf der anderen Seite des Hofs erblickten sie Makola, der seine Hütte verließ. Er hatte ein Zinnbecken mit Seifenwasser in der Hand. Makola war zivilisiert und sehr reinlich. Er schüttete die Lauge über den kleinen gelben Köter, den er hielt, drehte sich zu den Weißen um und rief ihnen zu: "Alle Leute sind heute nacht verschwunden." Sie verstanden ihn deutlich, waren aber so überrascht, daß sie wie aus einem Munde riefen: "Was!" Dann starrten sie sich an. "Da sitzen wir jetzt ganz schön in der Klemme", brummte Carlier. "Es ist unglaublich", murmelte Kayerts. "Ich will mal zu den Hütten gehn und nachschaun", sagte Carlier und entfernte sich. Als Makola herantrat, stand Kayerts allein da. "Ich kann es kaum fassen", bekannte er weinerlich. "Wir haben für sie gesorgt wie für unsere eigenen Kinder."
"Sie sind mit den Küstenbewohnern gegangen", erklärte Makola nach kurzem Zaudern. "Was interessiert es mich, mit wem sie gegangen sind, die undankbaren Ochsen!" rief Kayerts aus. Dann argwöhnte er plötzlich etwas. Er sah Makola forschend an und fragte: "Was wissen Sie darüber?" Makola zuckte die Schultern. "Was ich weiß?" Er senkte den Blick. "Ich überlege nur. Möchten Sie mitkommen und sich das Elfenbein ansehen, das ich dort habe? Es ist eine schöne Menge. So was haben Sie noch nie gesehen." Er ging zum Lager. Kayerts folgte ihm wohl oder übel. Er grübelte noch über die undankbaren Leute, die sie verlassen hatten. Vor der Fetischtür lagen sechs prachtvolle Stoßzähne auf der Erde. "Was haben Sie ihnen dafür gegeben?" erkundigte sich Kayerts, nachdem er den Haufen zufrieden gemustert hatte. "Kein richtiger Handel", erklärte Makola. "Sie brachten das Elfenbein und gaben es mir. Ich sagte ihnen, sie sollten sich nehmen, was sie am nötigsten brauchten. Es ist eine schöne Menge. Keine Faktorei kann solche Stoßzähne aufweisen. Die Fremden brauchten dringend Träger, und unsere Männer taugten hier nicht viel. Kein Handel, keine Buchung. Alles gut." Kayerts explodierte fast vor Entrüstung. "Was!" rief er aus. "Ich glaube gar, Sie haben unsere Leute gegen Stoßzähne verschoben?" Makola stand still und teilnahmslos da. "Ich - ich - werde - ich", stotterte Kayerts. "Sie Teufel!" brüllte er. "Ich habe für Sie und die Handelsgesellschaft das Beste getan", sagte Makola ungerührt. "Warum schreien Sie so viel? Sehen Sie sich die Stoßzähne an!"
"Sie sind entlassen! Ich werde einen Bericht aufsetzen. Ich sehe mir die Stoßzähne nicht an, ich will nicht. Ich verbiete Ihnen, sie zu berühren. Ich erteile Ihnen den Auftrag, sie in den Fluß zu werfen. Sie - Sie ." "Sie sehen sehr rot aus", erklärte Makola unbeeindruckt. "Wenn die Sonne Sie so aufregt, kriegen Sie Fieber und sterben - wie der erste Chef." Sie standen reglos da, belauerten sich aufmerksam, blinzelnd. Kayerts erschauerte. Makola hatte nicht mehr gemeint als gesagt, aber seine Worte klangen unheilvoll, eine düstere Drohung. Kayerts drehte sich brüsk um und ging zum Haus. Makola kehrte in den Schoß der Familie zurück. Das Elfenbein, das vor der Tür lag, sah in der Sonne riesig und besonders wertvoll aus. Carlier kam auf die Veranda. "Alle weg, was?" fragte Kayerts gedämpft vom anderen Ende des Gemeinschaftszimmers her. "Keinen angetroffen?" "O doch", antwortete Carlier. "Einen von Gobilas Leuten habe ich vor den Hütten gefunden - tot, glatter Durchschuß. In der Nacht war der Knall deutlich zu hören." Kayerts lief schnell ins Freie. Er bemerkte, wie sein Gefährte über den Hof weg finster das Elfenbein anstarrte. Da erzählte Kayerts von seinem Gespräch mit Makola. Carlier hüllte sich in Schweigen. Zu Mittag aßen sie sehr wenig. Auch anschließend wechselten sie kaum ein Wort. Eine große Stille schien die Faktorei erfaßt zu haben und ihnen die Lippen zu verschließen. Makola öffnete den Speicher nicht. Er verbrachte den Tag beim Spiel mit seinen Kindern, lag ausgestreckt auf einer Matte vor der Tür, die Kleinen kletterten ihm über Brust und Arme. Es war ein rührendes Bild. Mrs. Makola hatte wie üblich alle
Hände voll zu tun und kochte den ganzen Tag. Die beiden Weißen aßen zu Abend etwas mehr. Danach schlenderte Carlier, die Pfeife zwischen den Zähnen, zum Lager hinüber. Dort stand er lange vor dem Elfenbein, trat hier und dort dagegen, versuchte das größte Stück am spitzen Ende anzuheben. Dann ging er wieder zu seinem Chef, der auf der Veranda geblieben war. Er warf sich in einen Stuhl und sagte: "Mir ist alles klar. Sie wurden im Schlaf überwältigt - kein Kunststück nach dem Palmwein, den du Makola auszuschenken erlaubt hast. Eine abgekartete Sache. Verstehst du? Am schlimmsten ist, daß auch einige von Gobilas Leuten dort waren und ebenfalls weggeschleppt wurden. Der Nüchternste wurde erschossen. Er wachte auf, weil er zu wenig getrunken hatte. Seltsames Land. Was machst du nun?" "Wir können uns da nicht einmischen", sagte Kayerts. "Natürlich nicht", bestätigte Carlier. "Sklaverei ist eine häßliche Sache", stammelte Kayerts unsicher. "Furchtbar, dieses Leid", grunzte Carlier im Brustton der Überzeugung. Sie glaubten an ihre Worte. Jeder zeigt eine gewisse Hochachtung vor den eigenen Bemerkungen oder denen seiner Freunde, aber von Gefühlen verstehen die Menschen wirklich nichts. Wir sind entrüstet oder begeistert, sprechen von Unterdrückung, Grausamkeit, Verbrechen, Hingabe, Aufopferung, Tugend - und kennen nichts als das Wort. Niemand vermag zu erkennen, was sich dahinter verbirgt. Wer kann sich Leiden und Entbehrungen recht vorstellen? Höchstens das betroffene Opfer selbst. Am nächsten Morgen sahen sie, wie Makola geschäftig die große Elfenbeinwaage auf dem Hof aufstellte.
"Was hat der gemeine Schuft vor?" frage Carlier und schlenderte hinaus. Kayerts folgte. Sie beobachteten beide Makola, der keine Notiz von ihnen nahm. Als sich die Waagschalen das Gleichgewicht hielten, versuchte er einen Stoßzahn anzuheben. Er war zu schwer für einen Mann allein. Er sah hilf- und wortlos auf. Eine Minute lang umringten sie stumm wie drei Statuen die Waage. Dann sagte Carlier unvermittelt: "Nehmen Sie das andere Ende, Makola, Sie Vieh", und sie rissen den Zahn gemeinsam hoch. Kayerts zitterte an allen Gliedern. "Ich muß schon sagen", murmelte er, "ich muß schon sagen ." Er kramte in der Tasche, fand ein schmutziges Stück Papier und einen Bleistiftstummel, drehte sich um, als ob er mit ihnen nichts mehr zu tun haben wollte, und notierte verstohlen das Gewicht, das Carlier unnötig laut genannt hatte. Als sie fertig waren, flüsterte Makola vor sich hin: "Die Sonne ist zu heiß für das Elfenbein." Carlier sagte beiläufig zu Kayerts: "Chef, ich kann ihm ja helfen, den Haufen ins Lager zu schaffen." Später, auf dem Rückweg zum Haus, bemerkte Kayerts mit einem Seufzer: "Es mußte wohl sein", und Carlier entgegnete: "Es ist bedauerlich, aber da die Männer Faktoreiarbeiter waren, ist das Elfenbein Kompanieeigentum. Wir müssen uns schon darum kümmern." "Ich werde das Vorkommnis natürlich dem Direktor melden", erklärte Kayerts. "Natürlich", bestätigte Carlier, "mag er entscheiden, was werden soll." Zu Mittag speisten sie ausgiebig. Manchmal seufzte Kayerts. Sooft Makola erwähnt wurde, versahen sie seinen
Namen mit einem Schimpfwort. Das beruhigte ihr Gewissen. Makola gönnte sich ein kleines Fest und badete seine Kinder im Fluß. Diesen Tag kam kein Dorfbewohner in die Nähe der Faktorei, auch am nächsten und den darauffolgenden blieb es so. Eine ganze Woche verstrich, ohne daß sich Gobila oder seine Leute sehen ließen. Es war, als ob sie gestorben und begraben wären. Doch sie trauerten nur um ihre Stammesbrüder, die sie verloren hatten. Schuld daran waren die Weißen. Sie hatten durch Hexerei böse Männer ins Land gerufen. Die bösen Männer waren fort, aber die Furcht war geblieben, wie sie immer bleibt. Alles andere kann der Mensch in sich zerstören: Liebe, Haß und Glauben, sogar den Zweifel, aber solange er am Leben hängt, vermag er nicht ohne Angst zu sein. Heimtückisch, unzerstörbar, entstellt sie sein Wesen, verdirbt sein Denken, nagt ihm am Herzen, begleitet in seinem Todeskampf den letzten Atemzug der Lippen. Aus Furcht brachte der sanftmütige alte Gobila allen bösen Geistern, die über seine weißen Freunde Gewalt bekommen hatten, neue Menschenopfer. Das Herz war ihm schwer. Einige Krieger rieten zum Brandschatzen und Töten, aber der vorsichtige alte Mann redete es ihnen aus. Wer konnte voraussehen, welches Unglück heraufbeschworen wurde, wenn man sie erzürnte? Man sollte einen Bogen um sie machen. Vielleicht würden sie sich nach gewisser Zeit in die Erde verkriechen, wohin auch der erste weiße Mann verschwunden war. Seine Leute durften ihnen nicht zu nahe kommen. Sie mußten das Beste hoffen. Kayerts und Carlier verschwanden nicht, sondern blieben auf der Erde, die größer und sehr leer geworden zu sein schien. Es war jedoch weniger die vollkommene und dumpfe Einsamkeit, die sie belastete, als vielmehr ein
namenloses Gefühl, daß etwas in ihnen zerbrochen war, etwas, was für ihre Sicherheit gewirkt und die Wildnis gehindert hatte, ihre Herzen zu bezwingen. Die Vorstellungen von der Heimat, die Erinnerungen an Menschen, die ihnen gleich waren, die dachten und fühlten, wie sie selbst einst gedacht und gefühlt hatten, rückten in die Ferne, verschwammen unter den grellen Strahlen der Sonne am wolkenlosen Himmel. Und aus der großen Stille der Wildnis ringsum schienen Hoffnungslosigkeit und Unerbittlichkeit näherzurücken, sie sanft an sich zu ziehen, sie anzustarren und in unwiderstehliche, traute und abstoßende Einsamkeit zu hüllen.
Die Tage reihten sich zu Wochen, die Wochen zu Monaten. Bei jedem Neumond trommelten und sangen Gobilas Leute wie eh und je, aber sie blieben der Faktorei fern. Einmal versuchten Makola und Carlier, mit einem Boot
die Verbindung wiederherzustellen, wurden jedoch von einem Pfeilschauer empfangen und mußten, wollten sie ihr Leben retten, zur Niederlassung fliehen. Dieser Versuch versetzte das Land stromab und stromauf in einen Aufruhr, der tagelang deutlich zu hören war. Und der Dampfer verspätete sich. Zuerst sprachen sie gereizt von der Verzögerung, dann ängstlich, dann finster. Die Sache begann ernst zu werden. Die Vorräte gingen zur Neige. Carlier warf vom Ufer Angeln aus, aber der Fluß war flach, und die Fische hielten sich in der Mitte auf. Die beiden Männer wagten nicht, zur Jagd auszuziehen. Außerdem gab es in den Wäldern kein Wild. Einmal erlegte Carlier ein Nilpferd im Fluß, doch sie hatten kein geeignetes Boot, um die Beute zu holen. Das Tier versank und wurde abgetrieben. Weiter stromabwärts warteten Gobilas Leute und zogen es an Land. Es war der Anlaß für ein großes Fest. Carlier erlitt einen Wutanfall und sprach davon, daß es nötig wäre, alle Nigger auszurotten, ehe das Land bewohnbar gemacht werden könnte. Kayerts lungerte untätig herum, betrachtete stundenlang das Bild seiner Melie. Die Aufnahme zeigte ein kleines Mädchen mit hellem Haar und ziemlich saurer Miene. Seine Beine waren stark geschwollen. Er konnte kaum noch laufen. Carlier, vom Fieber gezeichnet, stolzierte nicht mehr umher, sondern torkelte nur, bewahrte sich jedoch seine hochmütige Haltung, wie es einem Mann geziemt, der in einem schneidigen Regiment gedient hat. Er sprach heiser, war sarkastisch und neigte dazu, unangenehme Dinge zu sagen. "Um ganz offen zu sein", nannte er es. Sie hatten sich längst ihre Provision ausgerechnet, einschließlich des Anteils am Erlös aus dem letzten Geschäft "dieses infamen Makola". Sie hatten beschlossen, nicht die Wahrheit
zu sagen. Kayerts zögerte zunächst. Er fürchtete den Direktor. Carlier lachte heiser. "Der hat Schlimmeres gesehn, er kennt die stille Tour", behauptete er. "Ihm vertrauen! Er dankt es dir nicht, wenn du plauderst. Er ist keinen Deut besser als du oder ich. Wer soll ihm was sagen, wenn wir den Mund halten? Es ist keiner da." Das war die Wurzel allen Übels: niemand da. Sie sind sich selbst überlassen - trotz ihrer Schwäche. Von einem Tag zum anderen glichen sie mehr zwei Komplizen als zwei guten Freunden. Seit acht Monaten hatten sie keine Nachricht aus der Heimat erhalten. Jeden Abend sagten sie: "Morgen werden wir den Dampfer sehen." Aber einer der beiden Dampfer, die für die Handelskompanie fuhren, war gestrandet, und der Direktor benutzte den anderen, um zunächst die Ware von den fernsten und wichtigsten Faktoreien zu holen. Die unnütze Niederlassung und die unnützen Männer, so dachte er, konnten warten. Kayerts und Carlier lebten von ungesalzenem Reisbrei, verfluchten die Handelsgesellschaft, ganz Afrika, den Tag ihrer Geburt. Man muß solche Diät genossen haben, um zu verstehen, wie widerwärtig es werden kann, etwas essen zu müssen. Außer Reis und Kaffee gab es keine Nahrungsmittel mehr in der Faktorei. Den Kaffee tranken sie ohne Zucker. Die letzten fünfzehn Würfel hatte Kayerts zusammen mit einer halben Flasche Kognak feierlich unter Verschluß genommen. "Für den Krankheitsfall." Das war seine Erklärung gewesen. Carlier dachte ebenso. "Wenn einer krank ist, möbelt ihn jedes kleine Extra auf", hatte er bemerkt. Sie warteten. Üppiges Gras wucherte auf dem Hof. Nie mehr ertönte die Glocke. Die Tage vergingen still, zer-
mürbend, langsam. Wenn die beiden Männer sprachen, murrten sie, und ihr Schweigen war bitter, von häßlichen Gedanken geprägt. Als sie eines Tages ihren gekochten Reis gegessen hatten und Kaffee tranken, setzte Carlier, ohne gekostet zu haben, die Tasse ab und sagte: "Verflucht noch mal, laß uns endlich einen anständigen Kaffee trinken. Hol den Zucker her, Kayerts." "Nur für Kranke", murmelte Kayerts mit gesenktem Blick. "Nur für Kranke", äffte ihm Carlier nach. "Himmelherrgott - ich bin krank!" "Du bist nicht schlimmer dran als ich, und ich verzichte", bemerkte Kayerts friedfertig. "Los! Her mit dem Zucker, du stinkiger alter Sklavenhändler!" Kayerts blicke auf. Carlier grinste betont unflätig. Plötzlich kam es Kayerts so vor, als hätte er diesen Mann nie gesehen. Wer war er? Was konnte er? Er wußte nichts von ihm. Unbändige Wut wallte plötzlich in ihm auf. Eine ungeahnte, endgültige Gefahr schien ihnen zu drohen, aber er brachte es fertig, selbstbeherrscht zu sagen: "Dieser Witz zeugt von sehr schlechtem Geschmack. Wiederhole ihn nicht." "Witz!" höhnte Carlier, der sich auf seinem Stuhl weit vorlehnte. "Ich habe Hunger. Ich bin krank. Mir ist nicht zum Scherzen zumute. Ich hasse Heuchler. Du bist ein Heuchler. Du bist ein Sklavenhändler. Ich bin ein Sklavenhändler. Es gibt nichts anderes als Sklavenhändler in diesem verfluchten Land. Egal. Heute will ich Zucker in meinen Kaffee."
"Ich verbiete dir, in dem Ton mit mir zu sprechen", sagte Kayerts, wobei er ziemlich überzeugend Entschlossenheit demonstrierte. "Du, was!" brüllte Carlier und sprang hoch. Auch Kayerts erhob sich. "Ich bin dein Chef", sagte er, bestrebt, die Brüchigkeit seiner Stimme zu verbergen. "Was?" rief der andere gellend aus. "Wer ist mein Chef? Hier gibt's keinen Chef. Hier gibt's bloß dich und mich. Hol den Zucker, du Fettwanst!" "Hält's Maul, verschwinde aus dem Zimmer!" Jetzt schrie auch Kayerts. "Du bist entlassen, du Schuft!" Carlier schwang einen Schemel. Plötzlich wirkte er gefährlich ernst. "Du schlaffer, nichtsnutziger Zivilist, du, da hast du!" heulte er. Kayerts tauchte unter den Tisch, und der Schemel traf die innere Graswand des Raums. Dann, als Carlier den Tisch umzukippen versuchte, stürzte er verzweifelt vor, den Kopf wie ein in die Enge getriebenes Schwein gesenkt. Er warf den Freund zu Boden, lief die Veranda entlang in sein Zimmer. Dort verschloß er die Tür, ergriff seinen Revolver, stand keuchend da. Keine Minute später trat Carlier wütend gegen die Tür, heulend. "Wenn du den Zucker nicht rausrückst, knalle ich dich ab wie einen Hund, sobald ich dich erwische. Also vorwärts! Eins zwei - drei . Du willst nicht? Dann werde ich dir zeigen, wer hier der Herr ist." Kayerts dachte, die Tür werde einstürzen, und zwängte sich durch das quadratische Loch, das ihm als Fenster diente. Nun lag das ganze Haus zwischen ihnen. Doch Carlier war offenbar nicht kräftig genug, die Tür aufzubrechen, und Kayerts hörte ihn rennen. Da lief er ebenfalls angestrengt mit seinen geschwollenen Beinen. Er lief, so
schnell er konnte, den Revolver in der Hand, unfähig zu begreifen, wie ihm geschah. Nacheinander sah er Makolas Haus, den Lagerschuppen, den Fluß, die Schlucht, die niedrigen Büsche. Als er ein zweites Mal ums Haus lief, erblickte er das alles erneut. Noch ein drittes Mal huschten die Dinge vorbei. Am Morgen hätte er keinen Yard, ohne zu ächzen, zurücklegen können. Aber jetzt lief er. Er lief so schnell, daß der andere ihn nicht sehen konnte. Schwach und verzweifelt dachte er: Ehe ich die nächste Runde schaffe, muß ich sterben. Er hörte, wie der andere stolperte, dann stehenblieb. Auch er stand still. Er befand sich hinter dem Haus, Carlier davor. Er hörte, daß sein Widersacher fluchend auf einen Stuhl sank. Da knickten ihm die Beine ein. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, rutschte er langsam in eine Hockstellung. Sein Mund war trocken wie Zunder, sein Gesicht naß von Schweiß und Tränen. Was ging da eigentlich vor? Er dachte, es müsse alles ein schrecklicher Alpdruck sein. Er glaubte zu träumen, glaubte wahnsinnig zu werden! Nach einer Weile kam er zur Besinnung. Worum stritten sie? Um diesen Zucker! Wie absurd. Er würde ihn herausgeben, wollte ihn selbst nicht. Er richtete sich langsam auf, fühlte sich plötzlich sicher, aber bevor er ganz stand, meldete sein gesunder Menschenverstand Bedenken an und stürzte ihn wieder Verzweiflung. Er überlegte: Wenn ich mich diesem Vieh von Soldaten jetzt beuge, wird er mich morgen terrorisieren und übermorgen wieder, täglich, immer neue Vorwände erfinden, um auf mir herumzutrampeln, mich zu martern, mich zu seinem Sklaven zu machen, und ich werde verloren sein. Verloren! Der Dampfer kann noch lange auf sich warten lassen. Vielleicht kommt er nie.
Er bebte so, daß er sich hinhocken mußte. Er schauderte hilflos, fühlte, daß er nicht mehr weiterkonnte, nicht wollte, eine ungeheuerliche Einsicht zermürbte ihn völlig. Die Lage war ausweglos. Tod und Leben schienen gleichermaßen schwierig und schrecklich geworden. Plötzlich hörte er, wie der andere den Stuhl zurückschob und äußerst leichtfüßig aufsprang. Er lauschte und dachte verwirrt: Muß wieder laufen! Links oder rechts? Er hörte Schritte, stürzte, den Revolver umklammert, nach links. Fast gleichzeitig prallten sie heftig zusammen. Beide schrien überrascht auf. Es knallte laut zwischen ihnen. Eine rote Flamme zuckte, dann war dichter Rauch. Betäubt, geblendet jagte Kayerts zurück. Er dachte: Ich bin getroffen, alles ist aus. Er wartete, daß der andere um die Ecke kommen, sich an seiner Todesangst weiden würde. Er griff nach einem Pfosten. Aus und vorbei! Dann hörte er das Geräusch eines schweren Falls von der anderen Hausseite her, als ob jemand mit dem ganzen Körper über einen Stuhl gestürzt wäre. Danach Stille. Nichts geschah mehr. Er starb nicht, nur eine Schulter schmerzte wie verrenkt, und er hatte den Revolver verloren. Er war entwaffnet, hilflos! Sein letztes Stündchen hatte geschlagen. Der andere war still. Eine Kriegslist! Er pirschte sich an! Von welcher Seite her? Zielte er schon auf ihn? Nach wenigen Augenblicken einer entsetzlichen und törichten Todesangst entschloß er sich, seinem Verderben entgegenzugehen. Er war zur bedingungslosen Kapitulation bereit. Mit einer Hand stützte er sich gegen die Wand, als er um die Ecke bog. Er ging noch ein paar Schritte und fiel beinah in Ohnmacht. Auf dem Boden der Veranda sah er zwei Füße, nackte weiße Füße, die in roten Hausschuhen steckten und nach oben zeigten. Er fühlte sich
todkrank und stand zunächst völlig ratlos da. Dann tauchte Makola vor ihm auf und sagte ruhig: "Kommen Sie, Mister Kayerts, er ist tot." Kayerts vergoß Tränen der Dankbarkeit. Ein langes Aufschluchzen, ein Weinkrampf folgten. Schließlich wurde er gewahr, daß er auf einem Stuhl saß und den lang ausgestreckten Carlier anstarrte. Makola kniete vor der Leiche. "Ist das Ihr Revolver?" fragte er, indem er aufstand". "Ja", antwortete Kayerts. Dann fügte er rasch hinzu: "Er kam hinter mir her. Er wollte mich umbringen. Sie haben es gesehen." "Ja, ich habe es gesehen", sagte Makola. "Aber es ist nur ein Revolver da. Wo ist seiner?" "Keine Ahnung", flüsterte Kayerts schwach, als ob es ihm die Sprache verschlagen hätte. "Werde gehen", erbot sich Makola und fügte sanft hinzu: "ihn suchen." Er schritt die Veranda ab, rund um das Haus, während Kayerts stumm die Leiche betrachtete. Makola kehrte mit leeren Händen zurück, stand in Gedanken versunken da, ging dann ruhig in das Zimmer des Toten und kam von dort mit einem Revolver, den er hochhielt. Kayerts schloß die Augen. Alles drehte sich in einem Kreis. Das Leben, fand er, war schlimmer und schwieriger als der Tod. Er hatte einen Unbewaffneten umgebracht. Makola dachte lange nach. Dann deutete er auf den Toten, der vor ihnen lag und dessen rechtes Auge ausgeschossen war. "Er ist an Fieber gestorben", sagte er. Kayerts starrte wie versteinert auf den Toten. "Ja", beteuerte Makola nachdenklich, schritt über die Leiche hinweg und betonte: "Ich glaube, er starb an Fieber. Werde ihn morgen begraben." Er ging gemächlich zu seiner schwangeren Frau. Die beiden Weißen ließ er auf
der Veranda zurück. Die Nacht kam. Kayerts saß reglos auf seinem Stuhl. Er saß so ruhig da, als ob er eine Dosis Opium genommen hätte. Die heftigen Gefühle, die er durchlebt hatte, waren der Erschöpfung gewichen.
Alle Tiefen des Entsetzens und der Verzweiflung hatte er
an diesem kurzen Nachmittag ausgelotet. Jetzt fand er
Ruhe in der Überzeugung, daß das Leben für ihn keine
Geheimnisse mehr bergen konnte, ebensowenig wie der Tod. Er saß bei der Leiche und dachte ruhig nach. Es waren sehr neuartige Gedanken, die ihm da kamen, als ob er seinem eigenen Ich ganz entrückt wäre. Alles, was er früher überlegt, geglaubt, geliebt und gehaßt - die Dinge, die er hochgeschätzt und verabscheut hatte, erschienen ihm plötzlich in ihrem wahren Licht. Er fand sie verachtenswert und kindisch, verlogen und lächerlich. Er schwelgte in seiner neuen Weisheit, während er neben der Leiche des Mannes saß, den er getötet hatte. Er haderte mit sieh selbst über alles zwischen Himmel und Erde und spürte dabei ein starrköpfiges Erleuchtetsein wie ein Geisteskranker. Gedanken schossen ihm durch den Kopf, daß der Tote ein Schädling gewesen sei, daß täglich Tausende, vielleicht Hunderttausende starben - wer wußte das schon genau? - und bei solchen Zahlen der Tod eines einzelnen nicht ins Gewicht fiel, bedeutungslos war, wenigstens für ein denkendes Individuum. Er, Kayerts, war ein denkendes Individuum. Sein ganzes bisheriges Leben hatte er wie viele Menschen, wie alle diese Narren, eine Menge Unsinn geglaubt. Jetzt war ihm die Erleuchtung gekommen. Er dachte! Er war wissend! Er lebte in Frieden, höchster Weisheit teilhaftig! Dann versuchte er sich vorzustellen, daß er selbst tot wäre und Carlier statt seiner neben ihm säße und ihn beobachtete. Der Versuch führte zu einem so unerwarteten Erfolg, daß er bald nicht mehr wußte, wer von ihnen tot war und wer lebte. Diese außerordentliche Leistung seiner Phantasie erschreckte ihn. Durch einen klugen Kunstgriff zur rechten Zeit hinderte er sich im letzten Augenblick daran, Carlier zu werden. Sein Herz klopfte, und er schwitzte am ganzen Körper, als er daran dachte, in welcher Gefahr er sich befunden hatte.
Carlier! Welche Gemeinheit! Um seine Nerven zu beruhigen, beschloß er zu pfeifen. Dann schlief er ein. Zumindest glaubte er, geschlafen zu haben, als er den Nebel bemerkte und einen Pfiff hörte. Er stand auf. Der Tag war angebrochen. Schwerer Nebel hatte sich herabgesenkt, wälzte sich lautlos durchs Gras, hüllte das Land ein. Der Morgennebel der Tropen. Ein Nebel, der haftet und tötet, ein weißer, vernichtender, makelloser, giftiger Nebel. Er stand auf, sah die Leiche, warf die Arme hoch und schrie wie ein Mann, der aus einer Trance erwacht und sich für immer in ein Grab gesperrt sieht. "Hilfe! . Mein Gott!" Ein Schrillen, das nichts Menschliches an sich hatte, durchdrang pfeilscharf den weißen Nebel dieses Landes. Drei kurze, ungeduldige Pfiffe folgten, dann wogten die Nebelmassen lange ungestört in einer beklemmenden Stille. Und wieder zerrissen Pfiffe die Luft, gellend, in schneller Folge, durchdringend wie Wutgebrüll eines wilden Tieres. Es war der Fortschritt, der Kayerts vom Fluß her rief. Der Fortschritt, die Zivilisation mit allen ihren Tugenden. Die Gesellschaft rief ihr eigen Kind, zurückzukehren in die gewohnte Obhut, um zur Rechenschaft gezogen, abgeurteilt, um verdammt zu werden. Sie rief ihn auf den Schutthaufen, dem er entronnen war. Sie rief, damit ihm Gerechtigkeit widerfahre. Kayerts hörte es und begriff. Er verließ taumelnd die Veranda. Zum erstenmal, seit er die Leiche entdeckt hatte, trennte er sich von ihr. Er tastete sich durch den Nebel, flehte naiv den verhüllten Himmel an, sein Werk ungeschehen zu machen. Makola flitzte im Nebel vorbei. "Dampfer! Dampfer! Sie
können nichts sehen. Sie heulen für uns. Ich laufe die Glocke läuten. Gehen Sie zur Landestelle, Sir. Ich läute." Er verschwand. Kayerts stand still. Er hob den Kopf. Der Nebel wogte über ihm. Er sah sich wie ein Verirrter um und erblickte einen verschwommenen kreuzförmigen Fleck im sauberen, wallenden Nebel. Während er darauf zutorkelte, läutete die Glocke dem ungeduldig heulenden Dampfer laut und tosend ihre Antwort.
Der Direktor der Great Civilizing Company (wir wissen ja, die Zivilisation folgt dem Handel auf dem Fuße) ging als erster an Land und konnte den Dampfer nicht mehr sehen. Im Fluß unten war der Nebel besonders dicht. Von der Faktorei her läutete pausenlos und ehern die Glocke. Der Direktor rief zum Dampfer hinüber: "Ist niemand runtergekommen, um uns abzuholen. Vielleicht stimmt etwas nicht. Aber sie läuten. Begleiten Sie mich lieber!" Er arbeitete sich das steile Ufer hinauf. Der Kapitän und der Steuermann folgten. Während sie hochkraxelten, lichtete sich der Nebel, und sie konnten ein gutes Stück voraus ihren Direktor erkennen. Plötzlich stürzte er vorwärts und rief ihnen über die Schulter zu: "Laufen Sie! Laufen Sie zum Haus! Ich habe einen gefunden. Laufen Sie, suchen Sie den andern!" Den einen hatte er gefunden! Und sogar er, ein Mensch mit vielfältiger und nervenkitzelnder Erfahrung, war leicht verwirrt durch diesen Fund. Er kramte in den Taschen nach einem Messer, während er vor Kayerts stand. Kayerts hing an einem Lederriemen vom Kreuz. Er mußte auf den hohen, schmalen Hügel geklettert sein, das Ende des Riemens an den Querbalken geknüpft und sich abgestoßen
haben. Seine Zehen befanden sich wenige Zoll über dem Boden, seine Arme hingen schlaff herab, als ob er sich in gespannter Aufmerksamkeit recke; aber der Kopf ruhte mit der einen purpur gefärbten Wange neckisch auf der Schulter, und er streckte seinem Direktor respektlos die geschwollene Zunge heraus.
Heft 409 Hans Ahner Der Mann mit den Flügeln Ein biografischer Bericht über Otto Lilienthal
In Stölln hat es sich herumgesprochen, der Mann mit den Flügeln ist wieder da. Hunderte Einwohner laufen zum Gellenberg, um die große Sensation, einen fliegenden Menschen, nicht zu verpassen. Und als der Ingenieur Otto Lilienthal, wie schon viele Male zuvor, die selbstgebaute Flugmaschine aufnimmt, anläuft und sich von den Schwingen aus Weidengeflecht und Leinen durch die Lüfte tragen läßt, da herrscht bange Stille. Plötzlich steigt der Apparat steil nach oben, eine Böe hat unter die Flügel gegriffen. Lilienthal wirft sofort die Beine nach vorn, damit sich der Bug wieder neigt, doch die Maschine kippt und schießt pfeilschnell nach unten .