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T. N. Murari wurde in Indien geboren und hat verschiedene von der Kritik hochgelobte Bücher veröffentlicht, von denen »Taj« in neun Sprachen übersetzt wurde. T. N. Murari lebt in Indien und Amerika, wo er auch Drehbücher schreibt und Filme macht.
Deutsche Erstausgabe November 1990 © 1990 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Titel der Originalausgabe »The Oblivion Tapes« © 1990 T.N. Murari Umschlaggestaltung Manfred Waller Umschlagfoto Photodesign Mall Satz Compusatz GmbH, München Druck und Bindung Elsnerdruck, Berlin Printed in Germany 5 4 3 2 1 ISBN 3-426-02.978-2
T. N. Murari:
Der Virus von Cochos Roman Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr
Knaur
In Liebe für meine Schwestern Nalini und Padmini.
Erstens: Die Infektion ist nicht ansteckend. Damit möchte ich sagen, daß sie nicht von Menschen übertragen wird, wie das etwa bei einer Erkältung der Fall ist. Zweitens: Wir gehen davon aus, daß die Infektion durch die Luft übertragen wird und nicht etwa über die Wasserversorgung oder vergiftete Nahrung. Drittens: Da die Infektion durch die Luft übertragen wird, greift sie den Körper über das Atemsystem an. Bei vielen Autopsien haben wir Gerinnsel in den Lungen festgestellt. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf Lähmungserscheinungen, von denen verschiedene Körperteile betroffen sind. Wir können aber bis jetzt noch nicht mit Gewißheit sagen, was im Körper passiert, sobald die Luft erst einmal in die Lunge eingedrungen ist. Viertens: Wir gehen von der Annahme aus, daß die Infektion von einem mutierten Virus ausgelöst wird, doch ist es uns bis jetzt noch nicht gelungen, den Virus zu isolieren. Solange wir damit keinen Erfolg haben und den Virus nicht identifizieren können, ist es unmöglich, ein Gegenmittel zu entwickeln. Es gibt Grund für die Annahme, daß der Bevölkerungszuwachs die Wahrscheinlichkeit einer tödlichen weltweiten Seuche oder eines thermonuklearen Krieges erhöht. Beide Phänomene würden für das Bevölkerungsproblem eine unerwünschte »Lösung über die Sterblichkeitsrate« liefern, und beide bergen sie die Gefahr einer möglichen Auslöschung der Zivilisation oder sogar der Ausrottung des Homo sapiens. Paul Ehrlich und Anne Ehrlich in: Population, Environment, W. H. Freeman & Co, San Francisco
Resources,
1 Der Soldat mit dem Fernglas, ein kräftiger neunzehnjähriger Mann aus den nördlichen Provinzen, stand auf dem schmalen Laufsteg des Kontrollturms gute hundert Meter über dem Erdboden und sah zu, wie die Boeing 747 aus New York sich auf die Landebahn senkte. Der Krach war so unerträglich, daß er die Handflächen gegen die Ohren preßte. Es war die fünfzehnte Maschine, die er an diesem Tag beobachtete. Er schwitzte, und er langweilte sich. Seit zwei Tagen tat er nichts anderes, als Flugzeugen beim Start und bei der Landung zuzusehen. Mit einem feuchten Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Gegen die dunklen Flecken, die sich auf seiner Uniform unter den Armen und rund um den Bauch abzeichneten, konnte er wenig tun. Er sah sich um. Viel lieber wäre er ja im klimatisierten Kontrollraum gestanden, aber die vielbeschäftigten Techniker fühlten sich durch seine Gegenwart gestört. Unter ihnen kam er sich unbeholfen und überflüssig vor, und deshalb ertrug er lieber die Hitze. Die Gangways wurden an die offenen Türen des Flugzeugs gerollt, und der Soldat zog ein postkartengroßes Foto aus seiner Gesäßtasche. Mitten durch das Gesicht, das er nun betrachtete, ging ein großer Knick, die Ecken des Fotos hatten Eselsohren. Er sah sich das Foto an, um sich das Gesicht noch einmal einzuprägen, und suchte dann die eben aussteigenden Passagiere mit einem Blick durch das Fernglas ab. Der Mann, den er suchte, war Mitte fünfzig, glattrasiert und hatte schütteres Haar. Sein Gesicht war nicht besonders einprägsam. Er hatte eine gerade Nase, hohe Wangenknochen und einen scheuen Blick, den er auch nicht auf die Kamera gerichtet hatte. Da er versuchte, den Mann zu finden, drehte der Soldat seinen Kopf und das Fernglas ein Stück, um die zweite Tür ins Blickfeld zu bekommen. Er wußte nicht, warum er diesen Mann suchte. Er hatte einen Befehl erhalten und führte diesen bloß aus. Einen Augenblick lang schloß er die Augen, die vom angestrengten Schauen schmerzten. Dann streckte er sich und warf noch einmal einen flüchtigen Blick auf das Foto. Kurze Zeit verfolgte er einen Mann, der gerade die Gangway herunterkam, verlor aber gleich wieder das Interesse. Er fluchte leise, wäre er doch jetzt am liebsten wieder in den kühlen Bergen gewesen. Es kamen nur noch sehr vereinzelt Passagiere aus der Maschine, aber er nahm das Fernglas nicht von den Augen. Der
letzte Mann, der das Flugzeug verließ, trug eine Aktentasche in der rechten Hand. Während er sein leichtes Sommersakko auszog und eine Sonnenbrille aufsetzte, hielt die Stewardeß seine Tasche. Der Soldat sah, wie der Mann die Stewardeß dankend anlächelte, die Tasche entgegennahm und langsam die Treppe hinunterging. Der Soldat bemerkte, daß der Mann sich auf dem Weg zur Abfertigungshalle keineswegs beeilte, sondern bewußt so weit wie möglich hinter den anderen Passagieren zurückblieb. Der Soldat faßte nach hinten an die Wand und griff nach dem Sprechfunkgerät. Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, schaltete er es ein und sagte: »Er kommt gerade rein.« Der Soldat wartete, bis der Mann im Gebäude verschwunden war, ließ dann erfreut das Fernglas sinken, nahm seine Maschinenpistole in die Hand und ging auf den Aufzug zu. In einer Stunde würde er wieder in der Kaserne sein, sich unter die kalte Dusche stellen und sich hinterher ein kaltes Bier genehmigen. Im Inneren der Abfertigungshalle war es dunkel und kühl, und es roch nach frischer Farbe und Lack. Die ganze Anlage war brandneu, und einige Teilbereiche waren noch gar nicht fertiggestellt. Daß dieses Gebäude weniger aussah wie eine Flughafenhalle, sondern eher wie eine geräumige bewässerte hacienda, war durchaus beabsichtigt. Man hatte keine Kosten gescheut, um hier den schönsten Flughafen der Welt zu bauen. Doch gab es unter den hier durchkommenden Passagieren Zweifel, ob es auch der effektivste war. Einige der Neuankömmlinge durchquerten die Transitlounge, um auf ihre Anschlußflüge nach Rio, Lima oder in andere Städte dieses Kontinents zu warten. Die Mehrheit stellte sich allerdings vor den drei Einwanderungsschaltern an. Es sah ganz nach einer längeren Wartezeit aus, da die Beamten die Pässe sehr sorgfältig kontrollierten. Der Mann, den der Soldat beobachtet hatte, setzte sich an ein Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Er ignorierte sein Spiegelbild und versuchte halbherzig, seine widerspenstigen Haare glattzustreichen. Er ließ sich in den Sessel sinken. Der lange Flug aus New York hatte ihn erschöpft, und obwohl er für die Konfrontation mit den Behörden eigentlich hellwach hätte sein müssen, brachte er die Energie dafür nicht auf. Durch das Fenster beobachtete er, wie das Flugzeug, mit dem er eingetroffen war, entladen wurde. Bei dem Gedanken, daß sein Koffer
vom Zoll geöffnet würde, biß er sich besorgt auf die Lippe. Er konnte nur das Beste hoffen. Es dauerte fünfundvierzig Minuten, bis die Warteschlangen abgenommen hatten, und dann suchte sich der Mann seinen Beamten sehr sorgfältig aus. Der linke sollte es sein. Er sah ungeduldig aus, so, als wollte er die Arbeit schnell hinter sich bringen. Der Mann ging zu diesem Beamten und legte seinen Paß auf den Tisch. »Mister…« Der Beamte blätterte in dem dünnen grünen US-Paß. »… Whitlam. Wie lange werden Sie im Land bleiben?« »Vier… fünf Tage. Dann kehre ich nach New York zurück.« »Geschäftsreise?« Er blätterte noch einmal und hielt beim Einreisevisum an. Er hob die Augenbrauen. Es war kein gewöhnliches von der Botschaft. Das Visum war vom Außenministerium ausgestellt. Der Beamte stempelte es dankbar und gab Whitlam den Paß zurück. Wichtige Visa bedeuteten weniger Arbeit, und das hieß, daß er fünf Minuten früher gehen konnte. Whitlam dankte ihm mit einem Nicken und ging zur Gepäckausgabe. Sein alter blauer Koffer drehte sich einsam und alleine auf dem Transportband. Er nahm ihn und sah sich die Zollbeamten genau an. Es war unmöglich, sich den richtigen auszusuchen, sie machten alle einen sehr geschäftigen und gründlichen Eindruck. So stellte er sich bei der kürzesten Schlange an und merkte erst beim Näherrücken, daß er einen Fehler gemacht hatte. Der Beamte, mit dem er es zu tun haben würde, versuchte, besonders gründlich zu sein, und nun war es zu spät, um noch die Schlange zu wechseln. Whitlam stand eingeklemmt zwischen einer schönen Frau, die er schon im Flugzeug bewundert hatte, und ihrer Mutter, einer üppigen Matrone im Blümchenkleid. So sah er nur starr geradeaus und hielt seinen Koffer fest umklammert. Durch den Mann und die Frau, die wenige Meter hinter dem übereifrigen Beamten standen, sah er einfach hindurch. Dieser Mann war etwa im gleichen Alter wie Whitlam, sah aber ganz anders aus. Die schwarzen Haare waren grau meliert, und er hatte ein stolzes, gutaussehendes Gesicht. Er wirkte körperlich fit und trug einen makellosen leichten Anzug in Rehbraun. Die Frau neben ihm hätte sehr schön sein können, aber leider war ihr fast perfekt ovales, sinnliches Gesicht von einer Schmollschnute entstellt. Hätte Whitlam gewußt, wer dieser Mann war, der die Zollbeamten zu erhöhter Aktivität antrieb, er hätte sich umgedreht und wäre wieder ins Flugzeug gestiegen. Aber er
hatte Glück, daß Colonel Carlos Lopez mit eigenen Problemen zu kämpfen hatte. Der hätte eigentlich mehr als zufrieden sein sollen, trat er doch eben seinen ersten Urlaub seit drei Jahren an und war doch alles bis ins kleinste vorbereitet. In eineinhalb Stunden würde er am Pier in Fortaleza sein und fünf Minuten später auf der Luxusjacht des Präsidenten. Dort wartete dann kaltes Bier auf ihn, genug gutes Essen für mindestens eine Woche und eine sehr aufmerksame Mannschaft, die ihm alle Wünsche erfüllen würde. Inez verdarb ihm die Freude. Er sah sie an. Sie wirkte nur noch mürrischer, und er war überzeugt, daß sie ihm die Hölle heiß machen würde, noch bevor sie die Küste erreichten. Lopez war Witwer und Inez seine Geliebte für ein Jahr. Sie wußte, daß ihre Zeit bald um war, und hatte deshalb die Absicht, soviel Unheil wie möglich anzurichten. Sie war ein typisches Mädchen aus der Stadt, das es haßte, auch nur eine Woche von seinen Freundinnen, den Geschäften, Clubs und Cafes getrennt zu sein. »Überleg doch mal«, zischte Lopez leise, »du wirst sicher viel Spaß haben. Das Meer…« »Ich werde schon in der Badewanne seekrank«, keifte Inez. Lopez gab auf. Am liebsten hätte er sie zu Hause gelassen, aber schließlich brauchte ein Mann noch andere Gesellschaft als die Fische. »Ihr Flug wird in zwei Minuten aufgerufen, Sir«, meldete ein junger Uniformierter, der dabei salutierte. Er hielt sich in ehrerbietiger Entfernung und wartete darauf, Lopez zum Flugzeug zu begleiten. Lopez nickte und beachtete ihn nicht weiter. Er war sich der Unterwürfigkeit des Mannes und auch der Wirkung, die er auf alle Leute in seiner Umgebung hatte, durchaus bewußt. Lopez war ein gefährlicher Mann, und die meisten Männer und Frauen wurden nervös, wenn er auftauchte. Er war der Chef der Sonderabteilung Innere Sicherheit (SAIS), und die Leute hatten allen Grund, sich vor ihm zu fürchten. Lopez ging ruhelos auf und ab. Da war noch etwas anderes, das ihm Sorgen machte, aber er wußte nicht genau, was. Es war eher ein unbestimmtes Gefühl als ein Gedanke oder eine wirkliche Sorge. Seit zehn Tagen herrschte Ruhe in seiner Unterwelt der Verschwörungen, Intrigen und Überwachungen. So, als würde jeder, der gegen seinen Präsidenten arbeitete, darauf warten, daß etwas passierte. Aber was?
Immer und immer wieder hatte er sein Informantennetz ausgeforscht. Keiner seiner Agenten hatte etwas zu berichten, in keinem Teil des Landes gab es irgendwelche Probleme. Die Generäle waren zu Manövern im Norden. Präsident Bolivar wollte den Ostprovinzen einen geheimen Besuch abstatten, denn in den dortigen Kupferminen hatte er seine überzeugtesten Anhänger, und Lopez war sicher, daß es dort keine Probleme geben würde. Die Studenten waren ruhig und zufrieden in ihren Universitäten. Und die übriggebliebenen Störenfriede saßen alle im Gefängnis. Doch das ungute Gefühl blieb, und Lopez machte gedankenverloren einen Schritt vorwärts. Den Zollbeamten trieb das zu noch größerem Eifer an. Er öffnete Whitlams Koffer und durchsuchte flüchtig den Inhalt. Es waren die üblichen Dinge – Sommerkleidung, Schuhe und Toilettenartikel, darunter zwei große Dosen Deodorant. Der Inspektor schob sie achtlos beiseite. Weder er noch Lopez bemerkten das nervöse Zucken in Whitlams Augen, als die Dosen zum Vorschein kamen. Sobald der Beamte den Koffer geschlossen und sein Kreidezeichen daraufgekritzelt hatte, war das Zucken verschwunden. Whitlam verschloß den Koffer und wollte schnell weggehen. »Mister…« Der Beamte warf einen Blick in den Paß. »… Whitlam, ihr Paß.« Whitlam brauchte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, daß man ihn rief, und kehrte dann verwirrt zurück. Während er seinen Paß nahm, traf sich sein Blick zufällig mit dem von Lopez. Einen Moment lang hatte Lopez den Eindruck, als würde der Mann seinen eigenen Namen nicht kennen. Er zuckte mit den Schultern – es war wirklich sehr laut in der Halle – und vergaß den Mann wieder. Bei ihrem nächsten Zusammentreffen sollte einer von ihnen tot sein. »Ihr Flug ist bereit, Sir«, flüsterte der junge Mann, und Lopez nickte. Er war fest entschlossen, seinen Urlaub zu genießen, und verdrängte deshalb das ungute Gefühl in seinem Hinterkopf. Er ging weg, ohne darauf zu achten, ob Inez ihm folgte. Der Mann, Whitlam, fluchte über sich selbst, weil er auf seinen Paß vergessen hatte. Aber dennoch hatte niemand etwas bemerkt. Vor dem Ausgang blieb er einen Augenblick stehen, atmete in der kühlen Luft noch einmal tief durch und trat dann in die Hitze hinaus. Sie traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube und nahm ihm den Atem. Er winkte nach einem Taxi und stieg ein.
»Zum Carlton«, sagte er und lehnte sich zurück. Als das Taxi anfuhr, sah er aus dem Fenster. Ein Soldat starrte ihn an. Whitlam war verwirrt. Einen Augenblick lang hatte er den Eindruck, als hätte der Mann ihn erkannt. Es waren sechs Meilen bis nach Sao Amerigo, in die Hauptstadt von Menaguay. Whitlam sah neugierig aus dem Fenster. Vor sieben Jahren war er zum letztenmal im Land gewesen, und in der Zwischenzeit hatte sich viel verändert. Der Flughafen war neu, entlang der Straße standen Häuser, freie Grundstücke gab es nicht mehr. Zwei Meilen vor der Stadt änderte sich die Landschaft plötzlich. Häßliche, verkommene barrios entstellten sie. Sie waren aus dem Boden gewachsen wie Unkraut in einem früher schönen Garten. Bei diesem Anblick stieg Whitlam die Galle hoch, er wurde wütend. Die Armen waren immer gleich: zerlumpt, schmutzig und viel zu viele. Sie wohnten überall in den gleichen Blechhütten, drängten sich um die gleichen schmutzigen Pumpen; und die Kinder spielten in überall gleichen schlammigen, vom Unrat verdreckten Gassen. Whitlam wurde traurig, als er sie sah. Die eine Hälfte der Kinder würde an einer entsetzlichen Krankheit oder einfach am Hunger sterben, bevor sie erwachsen wurden, die andere Hälfte sich durch ein elendes Leben in erdrückender Arbeit quälen. Einen Augenblick lang fühlte er sich glücklich. Er würde ihre Zukunft ändern; die Kinder würden ihre Chance erhalten. Das Taxi erreichte die Randbezirke von Sao Amerigo und steckte bald im mittäglichen Verkehrsstau. Die Stadt hat sich verändert, dachte Whitlam. Sie ist reicher, geschäftiger geworden und sieht aus wie eine beliebige amerikanische Stadt. Es gab Wolkenkratzer, Tunnel und Überführungen und all die anderen Unannehmlichkeiten urbanen Lebens. Aber es war der Stadt auch gelungen, ihre alte Schönheit zu bewahren. Es gab Parks und stille plazas, die alten Häuser im portugiesischen Stil standen noch. Doch das Zentrum war von Glas, Beton und teuren Geschäften beherrscht, und es schien Whitlam, als hätten sich die gesamten sechs Millionen Einwohner der Stadt dort versammelt. Das Taxi bog in die Avenida Peron ein. Whitlam lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er haßte Sao Amerigo. Vor sieben Jahren war es eine ruhige, schläfrige Stadt gewesen. Warum wollte der Mensch immer nur Wachstum und Veränderung und damit die Zerstörung seiner Welt? Beim Anflug hatte Whitlam vom Flugzeug aus gesehen, daß der Urwald immer mehr zurückwich – ganz so wie bei ihm selbst der Haaransatz. Er
wußte, daß dort unten Männer die Bäume fällten, das Land zerstörten, die Tiere töteten und die primitiven Stämme ausrotteten, damit sie selber reich werden konnten. Whitlam vermutete, daß das auf gemächlichere Art und Weise sicher schon seit vielen Jahren passierte, doch nun beschleunigte der neue Herrscher des Landes, Juan Jesus Bolivar, diesen Prozeß. Whitlam dachte nur mit Entsetzen an ihn. Bolivar war ein tonnenförmiger Mann mit den Instinkten eines Straßenkämpfers und dem Verstand eines Napoleon. Es gab nur sehr wenig Fakten über ihn, dafür um so mehr Geschichten und Legenden. Er hatte keinen Vater, und seine Mutter war angeblich eine puta. Er war ein aggressiver, ehrgeiziger Mann, der aus einem barrio gekrochen war und in einer der großen Kupferminen gearbeitet hatte. Dort hatte er sich mit Kraft und List bis an die Spitze der Union des los Trabajadores vorgekämpft, und der Schritt in die Politik war dann fast automatisch gekommen. Er war ein fanatischer Sozialist, fast schon ein Kommunist; und bei der letzten Wahl hatte er eine hauchdünne Mehrheit erhalten. Das war nun bereits zwei Jahre her, und seitdem war die Welt nicht mehr dieselbe. Das Taxi hielt plötzlich an, und Whitlam sah, daß sie vor dem Carlton standen. Es war ein kleines, aber ordentliches Hotel drei Blocks südlich der Avenida Bolivar, dem Stadtzentrum. Er hätte auch im Hilton oder Sheraton wohnen können, aber dieses ruhige Hotel in einer Nebenstraße entsprach genau seinen Zwecken. Solange es nur eine Dusche und ein bequemes Bett hatte. Das Carlton sah aus, als hätte es beides. Er folgte dem Hotelpagen zur Rezeption. »Ich glaube, Sie haben ein Zimmer für mich. Charles Whitlam.« Das Mädchen hinter der Rezeption blätterte eine Liste durch und schob ihm dann schweigend eine Karte zu. Während er seine Personalien eintrug, merkte er, daß sie ihn beobachtete. Er sah schnell auf und blickte ihr in die Augen. Es lag eine nervöse, fast ängstliche Neugier darin, die aber sofort verschwand. Er unterzeichnete schwungvoll, und sie streckte die Hand nach seinem Paß aus. »Wann bekomme ich ihn wieder?« fragte Whitlam. »Morgen früh.« Sie gab dem Pagen einen Schlüssel. Whitlam folgte ihm zum Aufzug und stieg ein. Er drehte sich um. Selbst als die Türen sich schlossen, beobachtete ihn das Mädchen noch immer mit derselben Neugierde. Während der Aufzug nach oben schwebte, nahm das Mädchen die Karte, die Whitlam eben ausgefüllt
hatte, zerriß sie und warf die Fetzen in den Papierkorb. Ohne ihn anzusehen, steckte sie den Paß in einen Umschlag, klebte ihn zu und gab ihn einem zweiten Pagen. Der nahm ihn wortlos und lief damit in das Büro des Managers. Das Zimmer hatte alles, was Whitlam nun brauchte. Das Bett wirkte bequem, und im Badezimmer gab es eine Dusche. Er gab dem Pagen ein Trinkgeld und zog sich dann sofort aus, um erst zu duschen und danach lange zu schlafen. Als er wieder aufwachte, war es draußen dunkel. Er zog die Vorhänge auf und sah, daß die Straßenbeleuchtung brannte und sich auf den Gehwegen die Spaziergänger drängten. Er zog sich rasch an und ging hinunter zum Abendessen. Er bestellte ein Steak mit gebackenen Kartoffeln, und nach dem Essen überlegte er, ob er ebenfalls einen Spaziergang unternehmen sollte. Aber er entschied sich dagegen. Er mußte am nächsten Morgen früh aufstehen und hatte noch einiges zu erledigen, bevor er ins Bett ging. Von seinem Zimmer aus bestellte er einen Leihwagen ohne Chauffeur. Er versicherte sich, daß sie ihm das neueste Modell vollgetankt bereitstellten. Das Frühstück bestellte er für sechs Uhr auf sein Zimmer. Dann packte er seinen Koffer aus, hängte die Anzüge auf Bügel und legte Hemden und Unterwäsche in den Schrank. Seine Bewegungen waren sparsam und präzise. Nun lagen nur noch die beiden Deodorantdosen im Koffer. Er öffnete die Aktentasche und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Es waren einige Bücher, eine Zeitschrift und Notizpapier. Er runzelte die Stirn. Zwischen den Notizblättern lagen zwei ordentlich mit Schreibmaschine beschriebene und mit Diagrammen versehene Seiten. Er hob sie verärgert hoch. Sie gehörten zu einer Akte, die eigentlich nie aus seinem Büro hätte gelangen dürfen. Er las sie. Wenn man den ganzen Bericht nicht kannte, waren diese beiden Seiten unverständlich. Er zerknüllte sie und sah sich nach einem Abfallkorb um. Er stand neben dem Bett. Whitlam zielte mit dem Papierknäuel danach, verfehlte ihn aber und sah zu, wie es unter das Bett rollte. Nun nahm er die Dosen aus dem Koffer. Sie sahen genauso aus wie die einer bekannten Deodorantmarke, beim Hochheben fühlten sie sich allerdings etwas schwerer an als ihre Vorbilder. Wäre der Zollbeamte nicht so nervös gewesen, hätte er den Unterschied gemerkt. Whitlam legte die Dosen behutsam in die Aktentasche und verschloß sie.
Um sieben Uhr am nächsten Morgen war er bereit. Er drückte die Zigarette aus, trank den letzten Schluck Kaffee und nahm die Aktentasche. Er kontrollierte noch einmal, ob er alles bei sich hatte, was er für die lange Reise brauchte. Es würde ein anstrengender Tag werden, und er wollte nicht schon am Anfang einen Fehler machen. Er nahm die Straßenkarte mit den beiden winzigen Markierungen und verließ das Zimmer. Während er auf den Aufzug wartete, kam der Etagenkellner, ein kleiner, verschlafener Mann in einer unordentlichen weißen Jacke, den Gang entlang. »Kann ich bitte den Schlüssel haben, damit ich Ihr Zimmer aufräumen kann, Señor?« fragte er. Whitlam warf ihm den Schlüssel zu und betrat den Aufzug. Der Kellner rührte sich nicht, sondern beobachtete die Etagenanzeige. Erdgeschoß. Er gähnte, lehnte sich gegen die Wand und wartete. Whitlam ging quer durch das Foyer zur Rezeption. Ein junger Mann hatte Dienst. »Mein Name ist Whitlam. Kann ich meinen Paß haben?« »Wir haben noch nicht alle Formalitäten erledigt.« Der Mann zuckte die Achseln und lächelte entschuldigend. »Heute abend vielleicht…« »Ich werde ihn morgen abholen.« Whitlam war verärgert. Er hätte ihn bei seiner Reise gern dabeigehabt für den Fall, daß er irgendwo übernachten mußte. »Wo kann ich mein Auto abholen?« Der Mann zeigte ihm die Richtung. »Den Gang entlang, Sir.« Der Mann, der stellvertretende Manager, wartete, bis Whitlam um die Ecke verschwunden war, und ging gleich darauf ans andere Ende des Flurs. Er sah gerade noch, wie Whitlam das Verleihbüro betrat. Dann setzte er sich und wartete. Whitlam füllte eilig das Formular aus und unterschrieb besonders schwungvoll. Er war fröhlich, weil er nun endlich aufbrach. Das Mädchen nahm seine Kreditkarte, ließ sie durch die Registriermaschine laufen und gab ihm die Autoschlüssel. »Der Wagen steht vor der Tür.« Das Mädchen lächelte. »Eine schöne Reise, Mr. Whitlam.« Sie drehte sich um. »Kann ich bitte eine Kopie des Formulars haben?« »Das ist nicht notwendig, Mr. Whitlam.«
»O doch, das ist es schon. Wenn ich das Auto zurückbringe, setzen Sie eine höhere Kilometerzahl ein, und ich habe dann keinen Beweis. Geben Sie her.« Das Mädchen wurde plötzlich unsicher, und das verwunderte ihn. Er mietete häufig Autos und erhielt dabei immer den Durchschlag des Vertrags. Nun schnippte er ungeduldig mit den Fingern. Das Mädchen sah sich um. Sie war alleine. Sie zuckte mit den Achseln und gab ihm den Durchschlag, den er sich siegesbewußt in die Tasche steckte. In Sao Amerigo mußte man wirklich auf der Hut sein. Das Auto war ein zwei Jahre alter, im Land hergestellter Chevy. Zumindest von außen sah er aus, als wäre er in einem guten Zustand. Whitlam legte die Aktentasche in den Kofferraum und setzte sich hinter das Steuer. Das Auto sprang sofort an, und er fuhr vorsichtig die Auffahrt hinunter. Das Mädchen sah ihn wegfahren und zerriß sofort den Vertrag. »Haben Sie Ihre Anweisungen befolgt?« fragte der stellvertretende Manager, sobald er das Büro betreten hatte. »Ja, Sir«, erwiderte das Mädchen hastig. »Die Nummernschilder sind ausgetauscht, und man kann das Auto nicht mehr bis zu uns zurückverfolgen. Aber…« »Was?« fuhr der Manager sie an. »Er bestand auf einem Durchschlag. Ich konnte ihn nicht davon abbringen.« – »Sie dumme Kuh.« Doch der Manager schien weniger verärgert, sondern eher verängstigt zu sein. »Aber da kann man jetzt nichts mehr machen.« Er eilte zum Aufzug und stieg im siebten Stock wieder aus. Der Etagenkellner schien zu schlafen. Der stellvertretende Manager schnippte mit den Fingern und hastete zu Whitlams Zimmer. Der Kellner überholte ihn und schloß die Tür auf. »Alles.« Der Befehl klang herrisch. Hastig öffnete der Kellner Whitlams Koffer und warf die Anzüge, die sauber gebügelten Hemden und die Toilettenartikel hinein. Der stellvertretende Manager folgte ihm durchs Zimmer und kontrollierte, ob wirklich alles, auch die Bücher und Zeitschriften, eingepackt wurde. Der Kellner verschloß den Koffer, der Manager nahm ihn und schleppte ihn zum Aufzug. Er fuhr damit in den Keller und öffnete die Tür des Brenners. Stück für Stück warf er den ganzen Inhalt des Koffers ins Feuer. Schon bald lief ihm der Schweiß übers Gesicht, und er wünschte
sich, er hätte diese niedere Arbeit jemand anderem auftragen können. Aber er hatte den Befehl, das persönlich zu erledigen. Den leeren Koffer warf er in die Mülltonne. Dann wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und ging zum Telefon. Er rief den Manager zu Hause an. »Es ist alles so geschehen, wie Sie befohlen haben, Sir, aber das dumme Mädchen von der Autoverleihfirma hat ihm den Durchschlag des Vertrags überlassen.« Er ließ sich widerspruchslos vom Manager beschimpfen und legte schließlich auf. Während er sich im Badezimmer das Gesicht wusch, überlegte er, wem wohl der Manager Bericht erstattete. Nach einer halben Stunde hatte Whitlam die Außenbezirke von Sao Amerigo erreicht. Es war eine einfache Fahrt gewesen. Vom Hotel aus war er ins Zentrum der Stadt gefahren und auf die achtspurige Hauptdurchgangsstraße eingebogen. Da es noch früh war, herrschte wenig Verkehr. Sobald er die Stadt verlassen hatte, machte er es sich für die lange Fahrt bequem. Bis zum Nachmittag mußte er über dreihundertfünfzig Meilen fahren. Doch er rechnete dabei mit keinerlei Schwierigkeiten. Die Straßen waren breit und in einem ausgezeichneten Zustand. Einer der Vorteile von Bolivars Zivilisierung des Dschungels war das Straßen- und Autobahnnetz. Whitlam folgte einem der Nebenarme des Flusses, der nach Süden in die Serra dos Paroces floß. Er wußte, daß es keine eintönige Fahrt werden würde. Seit seinem letzten Besuch gab es einfach zu viel Neues zu sehen. Er schüttelte traurig den Kopf. Alles hatte sich verändert, und seiner Meinung nach zum Schlechteren. Es war alles häßlich und überfüllt. Nie blieb etwas gleich. Aus einer Handelsstation war ein Dorf, aus einem Dorf eine Stadt geworden. Der Dschungel hatte keine Chance gegen soviel Gier nach Raum und Nahrung. Und überall waren Menschen. Sie saßen auf Fahrrädern, in Bussen, auf Pferden, sie gingen zu Fuß oder kauerten einfach neben der Straße. Er wußte, daß sich die Bevölkerungszahl in sieben Jahren verdoppelt hatte, aber es erschütterte ihn doch, als er bemerkte, wie präsent all die vielen Menschen waren. Wohin wollten sie nur alle? Was wollten sie mit ihrem Leben anfangen? Zugegeben, Menaguay war ein reiches Land. Im Nordwesten gab es Öl, im Osten die reichen Kupferminen, und vor einem Jahr war man hundertundfünfzig Meilen nördlich der Kupferminen in den Ausläufern
der Anden auf ein ergiebiges Molybdänvorkommen gestoßen. Das Land hatte all die Mineralien und Energieressourcen, die die westlichen Industrienationen so verzweifelt brauchten, aber der Ackerboden barg sehr viel weniger an Schätzen als das Gestein darunter. Nur im Süden gab es einen zweihundert Meilen breiten Gürtel, wo der Boden fruchtbar genug war und es auch genug Wasser gab, um Weizen anbauen zu können. Aber es reichte nicht, um all die Leute zu ernähren. Bei seiner Wahl hatte Bolivar seinem Volk ein Wunder versprochen, und um es in die Tat umzusetzen, trieb er die industrialisierte Welt an den Rand der Zerstörung. Um halb zwölf hatte Whitlam Manicore erreicht. Es war eine kleine, aber geschäftige Stadt am Ufer eines kleinen Sees. Er beschloß, eine Pause einzulegen, parkte am Ufer und kaufte sich eine Flasche kühle Limonade. Während er trank, beobachtete er die Kinder, die ohne viel Begeisterung fischten. Er hätte sie am liebsten gestreichelt, weil sie so verletzlich und unschuldig aussahen. Sie wußten nicht, daß sie für viele Jahre die letzten Kinder sein würden. Er wandte sich schnell ab und stieg wieder ins Auto. Bald würde er durch eine sonnenverbrannte, halbverlassene Landschaft fahren. Der Himmel und die Erde waren dort fast weiß von der Sonnenglut, und die Straße flimmerte in der Hitze. Er blieb noch eine halbe Stunde auf der Autobahn und wandte sich dann bei Porto Beilha nach Westen. Die Landschaft blieb fast unverändert. Whitlam lehnte sich zurück und versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Dann seufzte er plötzlich. Es war ein trauriges, von Nostalgie bestimmtes Geräusch – als wäre ihm eine alte, vergessene Erinnerung wieder in den Sinn gekommen, von der er wünschte, er könnte sie wieder zum Leben erwecken. Er wurde langsam alt, die Welt veränderte sich für ihn zu schnell. 1931, bei seiner Geburt, war die Welt noch einfacher gewesen, und wie die Kinder, die er eben beobachtet hatte, war sie noch unschuldig gewesen. Seitdem schien alles schiefzulaufen, und in den letzten fünf Jahren hatte sich der Eindruck verstärkt, als würde die ganze geordnete Struktur zerfallen. Er war sich nicht ganz sicher, wer daran schuld war. Wahrscheinlich wir alle, dachte er. Das Paradies auf Erden, von dem wir in den westlichen Ländern immer träumten, ist zu Staub zerfallen. Dabei war das Problem eigentlich recht einfach. Die Reichen wollten reich bleiben, und die Armen wollten nicht arm bleiben. Das erste Gefahrensignal waren das OPEC-Embargo und
die Ölpreiserhöhungen des Jahres 1972 gewesen. Sobald die Krise beigelegt war, vergaßen die Menschen in den Industrieländern das Problem wieder. Aber die Büchse der Pandora war geöffnet. Die Dritte Welt erkannte plötzlich, daß sie die Macht hatte, Zugeständnisse zu erzwingen, und nutzte diese Macht während der folgenden fünf Jahre brutal aus. 1975 versuchten die beiden Blöcke, in Paris zu einem Dialog zu kommen – die industrielle Welt mit den Vereinigten Staaten, den europäischen Ländern und Japan auf der einen, mit Indien, den OPECLändern und einigen weiteren auf der anderen Seite. Die Gespräche blieben jedoch erfolglos, weil keine Seite Zugeständnisse machen wollte. Nach Unterzeichnung des Abrüstungsvertrages 1977 trat die Sowjetunion auf Seiten der Industrienationen in die Verhandlungen ein (unter anderem auch deshalb, weil die Staaten der Dritten Welt das Vertrauen in die Sowjets verloren hatten), fast alle verbliebenen DritteWelt-Staaten auf der anderen Seite. 1979 verloren die Industrienationen einen wertvollen, wenn auch kompromittierenden Verbündeten – Südafrika. In einer blutigen Revolte, die die ganze Welt schockierte, wurde die weiße Regierung von Südafrika von dem schwarzen Nationalistenführer Odu gestürzt, der sich und die chaotische Wirtschaft seines Landes sofort auf die Seite der Dritten Welt stellte. Im selben Jahr trat auch Bolivar in Aktion. Er verstaatlichte die Ölquellen und Kupferminen und warf alle amerikanischen Gesellschaften ohne einen Cent Entschädigung aus dem Land. Die konservativen Mitglieder des Senats und die Armee drohten mit einer Invasion, aber nichts geschah. Doch Bolivar ließ es dabei nicht bewenden. Er reduzierte die Exporte von Öl, Kupfer und Molybdän in die Vereinigten Staaten. Ein ökonomisches Chaos war die Folge. Vom nationalistischen Standpunkt aus hatte er durchaus recht – sein Land brauchte die Rohstoffe selbst, um die eigene Industrie zu entwickeln. Die Krise, die er auslöste, brachte die Weltwirtschaft zum Stillstand. Bolivar versuchte nun, zusammen mit Odu, den Ölscheichs, Mrs. Gandhi und dem Chinesen Liu, das Embargo auszuweiten. Eine Niederlage der Industrienationen stand unmittelbar bevor. Und was dann? dachte Whitlam traurig. Wir wissen nicht mehr, wie wir miteinander leben sollen. Whitlam fühlte sich erschöpft; die Fahrt und die Hitze waren zermürbend. Er richtete sich auf. Tags darauf würde alles vorbei sein,
und in zwei Tages würde er wieder zu Hause sein bei seiner Frau in West Caldwell. Um halb zwei kam er nach Port Velho. Es war eine große Stadt, und anstatt sie zu durchqueren, wandte Whitlam sich nach Westen. Bei einem kleinen Cafe hielt er an, um sich die Beine zu vertreten, zu tanken und zu Mittag zu essen. Er aß ein paar Bananen und trank eine kalte Cola. Dann fuhr er weiter in westlicher Richtung. Zu dieser Tageszeit wirkte das Land verlassen, aber er wußte, daß dem nicht so war. Überall in der Umgebung von Port Velho sah er neue Orte und Straßen und Fabriken. Zahllose Menschen, Millionen. Die Welt konnte sie nicht alle ernähren, das wußte er nur zu gut. Länger als fünf Jahre hielt es die Welt nicht mehr aus, und er wußte, danach würde es zu spät sein. Noch eine Stunde bis zu seinem ersten Ziel. Er fuhr durch Rio Zinho und hielt zwanzig Meilen nördlich von Rio Branco an. Rio Branco lag am Rand der Ebene. Von dort aus stieg das Land in sanft gewellten Hügeln langsam an und wurde schließlich zu den mächtigen Anden. Er zögerte. Die Hauptstraße war zu offen. Er bog in eine kleine Nebenstraße ein, an der ein Hinweisschild nach Cochos stand, und fuhr etwa eine Meile. Er hielt an, stieg aus und beschirmte die Augen mit der Hand. Cochos lag hinter der nächsten Kurve. Nach Norden hin war das Land flach. Die ersten Hügel lagen etwa eine halbe Meile im Westen. In der Ferne sah er eine Gruppe Bauern, die in seine Richtung kamen, aber sonst entdeckte er niemand. Weil er und sein Pferd bewegungslos im Schatten eines Baumes auf einem Hügel im Südwesten von Whitlam standen, blieb Xinhama unentdeckt. Ohne jede Regung in seinem fetten, runzligen und sonnenverbrannten Gesicht beobachtete er Whitlam. Er war ein alter Mann, der aus der Gegend nördlich des großen Flusses stammte. Manchmal – und gerade war wieder so ein Augenblick – versuchte er, sich an seine Leute zu erinnern. Es war nur ein kleiner Stamm gewesen, kaum mehr als fünfzig, und sie hatten tief in den Wäldern gelebt. Als er acht oder zehn oder zwölf Jahre alt gewesen war – er wußte nicht, wie alt er war –, waren die Jäger gekommen und hatten die Erwachsenen getötet. Ihn hatte man stromabwärts gebracht und an den Bauern verkauft, für den er jetzt noch arbeitete. Ein Tag hatte sich an den nächsten gereiht, und nun war er alt. Er dachte an die Morde und glaubte, daß die Leute, die seinen Stamm wegen des Bodens ausgerottet
hatten, eines Tages selbst vernichtet werden würden. Es war der Wille der Götter. Ohne jede Neugier sah er zu, wie der Mann dort unten eine Tasche aus dem Kofferraum seines Autos holte. Whitlam öffnete die Tasche, zögerte kurz und nahm dann in einem Akt des Trotzes, den bloß er allein verstand, nur eine der Dosen heraus. Zum Teufel mit meinen Instruktionen, dachte er. Ich bin noch immer davon überzeugt, daß zwei Orte besser sind als einer. Das heißt zwar noch eine Stunde Fahrt, aber ich werde beweisen, daß ich recht habe. Er nahm die weiße Plastikkappe ab und drehte am Sprühkopf der Dose. Er ließ sich leicht abnehmen. Dann ließ Whitlam behutsam den Metallkolben herausgleiten und warf die leere Dose weg. Der Kolben bestand aus einem glatten, fast seidigen Material und hatte in etwa die Farbe von stumpfem Silber. Der Deckel paßte genau auf den Behälter und war von zwei durch einen Zapfen verbundenen parallelen Ringen verschlossen. Whitlam brauchte fünf Minuten, um den Zapfen zu lösen, der sich offensichtlich verklemmt hatte, und als er es dann endlich geschafft hatte, war er schweißgebadet. Der Zapfen sprang heraus, und die beiden Ringe ließen sich nun in entgegengesetzter Richtung aufschrauben. Er brauchte jetzt nur noch den Deckel abzunehmen. Whitlam schloß die Tasche und legte sie in den Kofferraum. Die Bauern kamen immer näher, und er beschloß, noch ein Stückchen zu fahren, damit ihn niemand sah. Er hob den Kopf. Noch regte sich kein Lüftchen, aber er hoffte, daß bald Wind aufkommen würde. Er ließ das Auto an und fuhr, den Kolben in der Hand, vorsichtig die Straße entlang. Oben auf dem Hügel spürte Xinhama eine schwache Brise an seiner Wange. Der Wind war zwar heiß, aber trotzdem willkommen, und sein Pferd bewegte sich unter ihm. Whitlam war nervös. Unbeholfen zündete er sich eine Zigarette an. Inzwischen war er etwa hundert Meter von der Hauptstraße entfernt. Er hielt den Kolben aus dem Fenster und warf ihn in einen Graben. Er sah, wie der Deckel davonrollte, während ein Windstoß den Zigarettenrauch aus dem Auto wehte…
2 Piers Shatner spähte durch den Sucher seiner Sony-655-Videokamera. Die Kamera lag auf seiner Schulter, während er den Rückspulknopf drückte. Die Sony war sein Lieblingsgerät. Sie war etwas größer als eine 16mm-Filmkamera. Er benutzte sie nun seit drei Jahren, und obwohl inzwischen bessere und neuere Maschinen auf dem Markt waren, hielt er stur an der 655 fest. Sie gehörte ebenso zu ihm wie seine Hände und Augen. Er betrachtete die rückwärts vorbeilaufenden Bilder und hielt sie gelegentlich an. Es waren die Nachrichten, die er vor dem Abflug nach Sao Amerigo aufgenommen hatte, und er hatte erst jetzt Gelegenheit, sich die Aufnahmen anzusehen. Es gab Botschaften von Präsident Carter, Giscard d’Estaing, Mrs. Thatcher, Mrs. Gandhi, Trudeau. Er ließ sie schnell durchlaufen, weil sie alle sehr ähnlich klangen, und hielt erst an, als John Darrigan, der amerikanische Außenminister, auf dem Bildschirm erschien. Darrigan sprach offensichtlich aus Genf, wo er an einer Konferenz des Rates für die Ökonomische Stabilisierung der Industrienationen teilnahm. Neben ihm standen die beiden anderen Mitglieder, Andrej Solotow aus der Sowjetunion und Claude Mercer von der Europäischen Gemeinschaft. Piers mochte Darrigan nicht besonders. Vor einem Jahr war er während der Dreharbeiten für eine Dokumentation über den Rat mit Darrigan zusammengestoßen. Darrigan war wie sein Vorgänger Henry Kissinger ein strenger, gerissener Mann, akademisch brillant, intellektuell arrogant und mit zu viel Vertrauen in die Macht seiner verschiedenen Ämter: Außenminister, Chef des Nationalen Sicherheitsrates NSA und eines halben Dutzends anderer Geheimdienstorganisationen und Ständiger Vertreter beim Rat, seiner eigenen Erfindung. Der Rat war nach dem Zusammenbruch der Pariser Gespräche drei Jahre zuvor als alleiniger Verhandlungspartner mit der Dritten Welt ins Leben gerufen worden. Kanada, Großbritannien und einige andere Länder hatten ebenfalls Mitglieder werden wollen, aber man hatte sie behutsam davon abgebracht, da der Rat sonst an Flexibilität verloren hätte. In diesen drei Jahren war die Macht des Rates sprunghaft angestiegen, da die industrialisierte Welt erkannt hatte, daß sie gegen die immer stärker werdende Feindseligkeit in den Forderungen der
Dritten Welt vereint vorgehen mußte. Inzwischen kontrollierte der Rat im wesentlichen das Wachstum und die Preise für Energie und Rohstoffe in der westlichen Welt. In letzter Zeit machten sich die Leitartikler der New York Times, der Washington Post, des Manchester Guardian, des Figaro und einiger anderer gutinformierter Zeitungen zunehmend Sorgen um die Macht des Rates. Wenn sie in ihre magischen Kristallkugeln blickten, überkam sie alle das Gefühl, daß der Rat eines Tages das gesamte wirtschaftliche Leben der Nationen, die er repräsentierte, kontrollieren würde. Piers drückte auf den Abspielknopf, und Darrigan und die anderen beiden erwachten wie durch ein Wunder zum Leben. Darrigan verlas eine vorbereitete Erklärung. FERNSEHAUFZEICHNUNG: Mit großer Bestürzung und Trauer haben wir von der entsetzlichen Tragödie erfahren, die das Volk von Menaguay getroffen hat. Wir vom Rat möchten all jenen, die gelitten haben, unser tiefstes Mitgefühl ausdrücken. Darüber hinaus und in konkreterem Sinne bieten wir auch unsere Hilfe an. Die Industrienationen haben sofort auf die Tragödie reagiert, und die Ratsmitglieder überwachen persönlich die Entsendung von Hilfsgütern und Personal. Die Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und andere westliche Länder haben mit über hundert Flugzeugen eine Luftbrücke nach Menaguay eingerichtet. Über zweihundertfünfzehn Schiffe befinden sich, beladen mit Hilfsgütern und Nahrungsmitteln, auf dem Weg. Ich kann allen Nationen der Dritten Welt versichern, daß die Industrienationen sich nicht der Verantwortung entziehen werden, die sie für alle Völker dieser Erde haben. In letzter Zeit haben gewisse Kreise versucht, die sehr guten Beziehungen zwischen der Dritten Welt und den Industrienationen zu stören. So tragisch die gegenwärtigen Umstände auch sind, so sind wir doch entschlossen, zu beweisen, wie tief uns diese Katastrophe getroffen hat. Rund um die Uhr werden Hilfsgüter und Personal entsandt, und dabei handelt es sich nicht nur um medizinische Hilfe, sondern auch um Techniker, die Menaguay beim Wiederaufbau beistehen werden. Darüber hinaus hat der Rat ein Hilfsprogramm über eine Milliarde Dollar bewilligt, das Menaguay bei seinen Wiederaufbaubemühungen unterstützen soll. Ich habe von General Peres persönlich die Versicherung erhalten, daß
seine Ernennung zum Präsidenten nur vorübergehend ist. Sobald die Normalität im Staat wiederhergestellt ist, wird er zugunsten von Senor Bolivar zurücktreten. Piers hielt das Band an und spulte zum Anfang zurück. Er spielte es ein zweites Mal ab. Man brauchte nicht sonderlich viel Intelligenz, um zu erkennen, daß Darrigan sich nicht an die Überlebenden in Menaguay oder an die Völker der Industrienationen wandte. Seine Rede war an Odu, Liu, Mrs. Gandhi und Sadat gerichtet, und an Bolivar, wenn der wirklich noch lebte. Piers fragte sich, warum. Piers war ein untersetzter Mann Mitte vierzig. Er sah älter aus, sein Gesicht wirkte verbraucht, lange, tiefe Falten umrahmten seine schiefergrauen, müde wirkenden Augen. Seine Nase hatte einen Höcker in der Mitte, und seine Haare waren sehr kurz geschnitten, so daß man Mühe hatte, ihnen eine Farbe zuzuordnen. Manchmal sahen sie blond aus, dann wieder braun. Sein linkes Ohr war verschrumpelt, und er hatte die Gewohnheit, immer am Läppchen zu zupfen. Seine Handlungen waren effektiv, waren die eines Mannes, der daran gewöhnt war, Zeit zu sparen und unter starkem Druck gut zu arbeiten. Piers ließ das Band ein Stück vorlaufen und hielt es an. Die letzten Sekunden eines Werbespots huschten vorbei, bevor das Band bei Odu stehenblieb. Auch zusammengeschrumpft auf wenige Zentimeter wirkte er noch wie ein großer Mann. Er hatte ein breites, fleischiges, kräftiges Gesicht. Seine grauen Haare wirkten weiß, und in seinen Augen funkelte der Glanz des zu grellen Scheinwerferlichts. Er sprach aus seinem Büro in Kapstadt und legte dabei die Überzeugtheit und das Selbstvertrauen eines Mannes an den Tag, der einen langen und harten Kampf gewonnen hatte. FERNSEHAUFZEICHNUNG: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß mein Freund Bolivar die entsetzliche Seuche, die über sein Land gekommen ist, überlebt hat. Ich möchte ihm mein tiefstes Beileid ausdrücken, und zwar nicht nur für die Millionen seiner Landsleute, sondern auch für den persönlichen Verlust seiner Frau. Ich bin tief beeindruckt, daß die Industrienationen… hm… so schnell reagiert haben und einem Land der Dritten Welt zu Hilfe gekommen sind. Offen gesagt hatte ich das nicht erwartet. Ich gebe gern zu, daß ich damit einen Fehler gemacht habe. Ich kann dem Rat versichern, daß er mit seiner schnellen Hilfe unsere Bewunderung und
unsere Freundschaft gewonnen hat. Und ich hoffe, daß der Rat alles tun wird, um das Leben von Senor Bolivar zu schützen und um sicherzustellen, daß er nach Überwindung der Tragödie seinen angestammten Platz als Präsident wieder einnehmen kann. Piers spielte das kurze Band noch einmal ab und drückte sich dabei den Abhörknopf fester ins Ohr. Der Ton war schlecht, aber er glaubte, eine gewisse Gereiztheit in Odus Stimme zu bemerken. Warum hatte er die Hilfe der Industrienationen nicht erwartet? Piers dachte kurz darüber nach und kam schließlich zu dem Schluß, daß wohl seine Fantasie mit ihm durchgegangen war. Er schaltete das Gerät ab und legte es unter seinen Sitz. Dann lehnte er sich zurück und versuchte zu schlafen. Er freute sich nicht gerade auf Sao Amerigo und die unzähligen Toten. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hatte er zu viele gesehen. Er war sehr müde. Doch lag das weniger an seiner körperlichen Erschöpfung, es ging viel tiefer. Die Müdigkeit berührte seine Seele. Am Anfang war es aufregend gewesen, Zeuge von Kriegen, Katastrophen und dem Sterben von Menschen zu sein, später hatte er dann seine Rolle als Voyeur stumm akzeptiert, doch nun war er am Ende. Das sollte sein letzter Auftrag sein, er hatte es sich fest vorgenommen. Marion Hyslop sah zu, wie Piers sich schlafen legte. Sie saß neben ihm und war hellwach. »Bequem so?« flüsterte sie. Piers nickte und kuschelte sich tiefer in den Sitz. Marion lächelte ihn an. Sie war etwas neidisch. Piers konnte überall schlafen, auch wenn er gerade an einer Story arbeitete. Sie war immer nervös und aufgeregt. Er hatte versucht, ihr den Trick mit dem Schlafen beizubringen, aber sie hatte es nie geschafft. Seit drei Jahren arbeiteten sie nun schon gemeinsam als Nachrichtenteam für Channel 14 aus New York. Dieser war ihr achter internationaler Auftrag. Für Marion waren die Geschichten in vieler Hinsicht ähnlich: Kriege, Hungersnöte und jetzt eine Seuche. Aber sie wurde es nie müde, über immer neue Tragödien zu berichten. Sie war zehn Jahre jünger als Piers, und als sie das erstemal zusammengearbeitet hatten, hatte sie Angst vor ihm gehabt. Er war der Kriegsberichterstatter Piers Shatner, und sie war ein Niemand. Am Anfang war es nicht einfach gewesen. Piers war ein Mann mit viel Machismo, und er bevormundete sie nicht nur, allem Anschein nach
lehnte er sie auch ab. Er hatte den Studiochef gebeten, ihm einen Mann als zweiten Videokameramann zu geben, aber Marion hatte auf ihren Rechten beharrt, und das Studio hatte schließlich eingelenkt. Danach arbeitete sie doppelt schwer, um sich vor Piers zu beweisen, aber zu ihrer Verwirrung wurde seine Abneigung nur stärker. Erst als sie über den Bürgerkrieg in Irland berichteten und sie dabei verwundet wurde, fand sie heraus, warum. Sie bedrohte seine Männlichkeit, indem sie mit ihm konkurrieren wollte. Doch Marion war eine kluge Frau. Sie wußte, daß er sie nur beschützen und so seine eigene Stärke beweisen wollte, und so ließ sie es zu, daß er sie im Krankenhaus fürsorglich pflegte. Danach gingen sie gelegentlich miteinander ins Bett und wurden ein gutes Nachrichtenteam. Piers war ein verdammt guter Reporter und ließ sich nie eine Story entgehen; und sie gab den Reportagen einen pragmatischeren, menschlicheren Zug. Marion sah sich im Flugzeug um und nickte vielen vertrauten Gesichtern zu. Lewis Simon von der Washington Post war da, Don McCullum von der Londoner Sunday Times und mit ihm der immer elegante Bryan Wharton, Richard Blume von der New York Times, Jack Newman von CBS. Marion kannte sie fast alle. Sie bildeten einen exklusiven Club, der immer zusammenkam, wenn es irgendwo eine Katastrophe gab. Mit zwei von ihnen hatte sie sogar geschlafen. Sie hatte erkannt, daß Männern und Frauen, die unter starkem Druck standen, ein Ventil zur Verfügung stand – ein leidenschaftlicher Liebesakt. Marion schob sich die Haare aus der Stirn. Sie wußte, daß sie keine schöne Frau war, aber eine attraktive. Sie war dreißig, ziemlich groß, hatte einen wohlgeformten Busen und aschblonde schulterlange Haare. Ihre haselnußbraunen Augen wirkten wachsam und intelligent, und wenn sie lachte, sah man winzige Fältchen in den Augenwinkein. Seit sie ihre Lektion bei Piers gelernt hatte, wußte sie, daß die meisten Männer gern in ihrer Gesellschaft waren, und das gab ihr einen enormen Vorteil gegenüber anderen Frauen. Sie zündete sich eine kurze, dünne Zigarre an und lehnte sich zurück. Flüchtig sah sie zu Piers hinüber; er schlief tief, und sein Mund stand leicht offen. In einer halben Stunde würden sie in Sao Amerigo landen. Marion wußte, daß er dann keinen Augenblick mehr nachlassen würde, bis sie nicht ihre Story abgeschlossen hatten.
Sie selbst war noch nie in Menaguay gewesen, Piers jedoch schon. Er hatte ganz alleine eine Dokumentation über Bolivar gedreht, die sie für sehr gut, wenn auch für ein bißchen zu parteiisch hielt. Wäre sie damals mit dabeigewesen, hätte sie für etwas mehr Ausgewogenheit sorgen können, da sie nicht so idealistisch war wie Piers. Bolivar war… nun, er war nicht die romantische Gestalt, zu der Piers ihn gemacht hatte. Bolivar hatte zwar eine demokratische Wahl gewonnen, aber seitdem nichts als Probleme geschaffen. Das Maschinengeräusch des Flugzeugs veränderte sich. Piers wachte sofort auf und sah sich um. Er hob fragend die Augenbrauen. »Noch zwanzig Minuten«, sagte sie ihm, und er griff unter den Sitz nach seiner Videokamera. »Soll ich auch filmen?« »Nein. Aus dieser Höhe haben wir nur einen einzigen Blickwinkel.« Sie berührte seine Hand. »Wenn ich ehrlich sein soll, freue ich mich überhaupt nicht darauf, da runterzugehen. Es klingt alles so… entsetzlich.« »Ich weiß.« Der Pilot verkündete, daß sie sich dem Flughafen von Sao Amerigo näherten. Piers drehte sich zum Fenster und richtete die Kamera nach unten. Er sprach leise in das eingebaute Mikrofon. VIDEOBERICHT: Es ist wenige Minuten vor Sonnenaufgang, und wir befinden uns auf einer Höhe von tausend Fuß. In einer Viertelstunde werden wir landen. Was Sie dort unten sehen und was aussieht wie funkelnde Edelsteine auf einem samtschwarzen Tuch, sind keine Lagerfeuer. Es sind die Scheiterhaufen für die unzählbaren Toten. Unzählbar ist das richtige Wort. Niemand weiß, wie viele Opfer die Seuche forderte, die dieses Land überfiel. Schätzungen sprechen von fünfzehn Millionen Toten. So unvermittelt, wie die Seuche ausbrach, so schnell verschwand sie auch wieder. Doch nicht ganz. Noch werden einige tausend an bekannteren Krankheiten wie Ruhr und Cholera sterben. Im Augenblick hat die Medizin nicht die geringste Ahnung, was diese Seuche eigentlich ist. Bis jetzt ist sie auf Südamerika beschränkt. Aber die Wissenschaftler stehen im Wettlauf mit der Zeit, um den Ursprung der Seuche zu entdecken und ein Gegenmittel zu entwickeln – denn Seuchen, das weiß jeder, machen an keiner Landesgrenze halt. Es gab viele davon im Laufe der Jahrhunderte. Die berühmteste, oder sollte ich sagen, die berüchtigtste,
war die Pest, die in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts Europa verwüstete. Wir wissen von anderen in Indien, in Afrika, in China. Das letztemal bedrohte 1921 eine Seuche die Welt. Es war eine Virusgrippe, die einundzwanzig Millionen Opfer forderte. Seuchen sind zu schnell und hinterlassen zu viele Tote. Es bleibt keine Zeit für Begräbnisse, die Angst vor dem Ausbruch anderer Krankheiten ist zu groß. Deshalb hat die Armee zur Beseitigung der Opfer riesige Scheiterhaufen errichtet und Kalkgruben ausgehoben. Ein Bericht von Piers Shatner von Channel 14 aus New York, im Anflug auf Sao Amerigo. Piers ließ den Aufnahmeknopf los und richtete sich auf. Er schüttelte den Kopf, um das Gefühl der Benommenheit zu vertreiben. Fünfzehn Millionen. Die Worte waren ihm so leicht über die Lippen gekommen. Wütend drückte er auf den Rückspulknopf und klemmte den Abhörknopf fest. Er kontrollierte die Aufnahme. Das Bild war etwas verschwommen, aber es genügte den Ansprüchen. Er gab Marion das Gerät, die danach mit einem Kopfnicken ihr Einverständnis gab. Sie spürten beide, daß sich jemand über sie beugte, und sahen hoch. Marion beschäftigte sich mit der Kamera, um ja nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es war Richard Harris von ITN in London. Harris war ein rotgesichtiger runder Mann. Er hatte einen runden kahlen Kopf und einen runden weichen Körper. Er sah aus, als würde ihm die Luft ausgehen, sobald man ihn anpiekste. Er und Piers kannten sich seit vielen Jahren. Sie hatten über dieselben Ereignisse berichtet, im Mittleren Osten, in Afrika, in Asien, wo immer es Probleme gab, aber keiner konnte ehrlich sagen, daß er den anderen mochte. Harris liebte das süße Leben, und jeder Auftrag war für ihn nur ein Vorwand, um Spesen zu machen und so wenig wie möglich zu arbeiten. Er mochte Piers nicht, weil der immer im Dreck herumwühlte – das war sein Lieblingsausdruck – und nie die brisanten Informationen weitergab, die er sich so erarbeitete. Im Augenblick sah Harris alles andere als glücklich aus. »Ich wollte diesen verdammten Auftrag wirklich nicht haben.« Piers roch den Whisky in Harris’ Atem, als der sich über ihn beugte und aus dem Fenster sah. »Bestimmt hol ich mir jede verdammte Krankheit, die’s da unten gibt.«
»Die würden sich doch gar nicht an dich heranwagen«, erwiderte Piers. »Außerdem soll’s ja inzwischen sicher sein.« »In solchen Ländern gibt’s so was wie ›sicher‹ doch gar nicht«, sagte Harris und machte ein betrübtes Gesicht. »Ich hab vor, so schnell wieder zu verschwinden, wie’s nur geht. Ein paar Meter Videoband, und das reicht dann. Also fang du um Gottes willen nicht wieder an, im Dreck herumzuwühlen. Nicht mal du findest da ‘ne Geschichte außer der Seuche.« »Man weiß ja nie.« Piers lächelte. »Vielleicht eine über dich, weil du ‘ne vergiftete Pflanze gegessen hast.« »Ich werde da unten nichts trinken und nichts essen. Und wenn ich du wäre, würde ich es auch nicht tun.« Sein rundes Gesicht wurde noch unglücklicher, und einen Augenblick lang glaubte Piers, er würde anfangen zu weinen. Aber es war nur die Vorbereitung für ein Rülpsen. Als er wieder ging, streckte Marion ihm die Zunge heraus. Der Pilot kündigte die Landung an, und Piers sah zum Fenster hinaus. Im Morgengrauen wirkte Sao Amerigo wie geschwärzt von den Feuern in der Stadt. Der Rauch stieg einige hundert Meter hoch und zog dann nur widerstrebend und träge nach Süden. Es schien kaum Wind zu wehen, und Piers stellte sich auf eine drückende Hitze in der Stadt ein. Es war noch kühl, als sie ausstiegen, die Luft roch sauber und frisch. Aber während sie auf das Flughafengebäude zugingen, brachte ein leichter Wind den Geruch der Stadt mit sich – Rauch und Gestank. Sie alle würgten, hielten sich Taschentücher vors Gesicht und suchten Schutz im Inneren des Gebäudes. Lieutenant Henriquo Geddes sah zu, wie sie über den Asphalt liefen, und lächelte. Aber in seinem Gesicht lag kein Humor, denn nach dem kurzen Zucken wurde der Mund wieder zu einer dünnen, geraden Linie. Geddes war ein junger Mann Anfang zwanzig, ein Karriereoffizier, der mit seinem gegenwärtigen Auftrag nicht besonders glücklich war. Er war von Kopf bis Fuß Soldat. Seine Uniform war etwas zu makellos, sein Gesicht etwas zu attraktiv. Er war zur Armee gegangen, weil sein Onkel General Orantes war und sein Vater der General im Ruhestand Velaz. Er selbst konnte sich nicht vorstellen, was er sonst tun sollte, und sogar noch unter Bolivar war die Armee etwas Ehrenhaftes. Im Augenblick hätte Geddes es vorgezogen, wenn er entweder seinem Onkel zugeteilt gewesen wäre oder das Kommando über eine der Städte
gehabt hätte. Statt dessen erwartete man von ihm, daß er für dieses Dutzend Reporter aus der ganzen Welt das Kindermädchen spielte. Seine Befehle waren ziemlich einfach: sie sorgfältig beobachten und aufpassen, daß sie nicht zu sehr umherstreunten. Vorkehrungen, die ihrer eigenen Sicherheit dienten, wie sein Onkel ihm versichert hatte. Geddes konnte sich damit trösten, daß der Job nur wenige Tage dauern würde. Er wartete, bis alle versammelt waren, und trat dann vor. Sorgfältig musterte er jedes Gesicht und verglich es im Geiste mit den Unterlagen in seinem Büro. Große Probleme erwartete er nicht, da es an der Katastrophe, die sein Land heimgesucht hatte, nichts Geheimes gab. Das einzig Gute an dieser schrecklichen Tragödie war, daß Bolivar die Macht verloren und die Armee wieder ihren angestammten Platz eingenommen hatte. »Mein Name«, verkündete er, »ist Lieutenant Geddes. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, daß Sie jede Möglichkeit erhalten, der Welt von dieser entsetzlichen Tragödie zu berichten. Die Stadt Sao Amerigo und das Land unterliegen im Augenblick von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang einer Ausgangssperre. Dies soll nur verhindern, daß geplündert wird und asoziale Elemente von dieser unsicheren Lage profitieren. Zu Ihrer eigenen Sicherheit möchte ich Ihnen raten, nicht ohne Begleitung auszugehen.« Piers hatte diese Empfehlung schon oft gehört und sich nie daran gehalten. Sie diente immer nur dem Vorteil der jeweiligen Staatsmacht. Piers kam schnell zur Sache und fragte: »Was ist mit Präsident Bolivar geschehen?« Geddes starrte in das Videoobjektiv. »Wegen der Notsituation« erklärte er, »ist im Augenblick General Peres Präsident. Nur die Armee konnte, natürlich mit Unterstützung der Industrienationen, eine so umfangreiche Rettungsoperation organisieren. Sobald die Krise beigelegt ist, wird General Peres zurücktreten.« Das glaubten weder Geddes noch Piers. Und auch Schmidt von Radio Hamburg nicht. »Wann können wir den Expräsidenten Bolivar sehen?« fragte er. »Bald. Er trauert, denn wie Sie wissen, ist seine Frau unter den Opfern der Seuche.« Piers senkte kurz den Kopf. Während seiner Arbeit an der Dokumentation über ihren Gatten hatte er mit Madame Bolivar viel Zeit
verbracht, und er hatte sie sehr gemocht. Nach einigen weiteren Fragen über die allgemeine Lage führte Geddes die Journalisten zu einer Reihe Telefone. Piers nahm den erstbesten Hörer ab und sah Geddes fragend an. »Es gibt keine Zensur«, sagte Geddes. »Es handelt sich ja weder um einen Krieg noch um einen Staatsstreich.« Piers wählte New York an. »Shatner«, sagte er, als sich dort das Aufnahmegerät einschaltete. Er schraubte die Sprechmuschel ab, schloß das Übertragungskabel des Videos an und drückte auf die Übertragungstaste. Sein Gerät konnte bis zu einer Entfernung von zehn Meilen mit der eigenen Energieversorgung senden. Über größere Entfernungen mußte das Signal verstärkt werden. Nach Ende der Übertragung löste Piers das Kabel wieder. »Okay?« fragte er nach New York. »Teilweise etwas unscharf, aber ansonsten okay.« Piers wartete einen Augenblick und sah sich dann um. Die anderen überspielten noch. Er wählte neu und schloß das Kabel noch einmal an. Nun überspielte er dieselben Bilder, doch diesmal an sein eigenes Aufnahmegerät in seinem Studio. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß es immer gut war, eine eigene Sicherheitskopie zu haben, denn bei Channel 14 gingen seine Bänder gern verloren, wenn es für den Sender von Vorteil war. Wie alle anderen löschte er nach dem Ende der Übertragung die Kassette in seiner Kamera. Geddes wartete, bis sie alle fertig waren, und führte sie dann nach draußen zu einem Armeelastwagen. An der Ladeklappe stand ein Soldat mit dem Arm voller Gasmasken. Hinter ihm stand ein zweiter mit einer Maschinenpistole. Beim Einsteigen erhielt jeder Reporter eine Maske. »Wir werden uns doch nichts holen, oder?« Harris’ besorgte Stimme stieg um eine Oktave, als er seine Maske nahm. »Die ist nur für den Rauch und den Gestank«, sagte Geddes barsch. Er mochte es nicht, daß Männer ihre Angst zeigten; vor allem, wenn die Frauen sich furchtlos gaben. Während der ersten Meilen in Richtung Stadt blieb die Luft noch kühl und angenehm. Doch die Straße war leer, und die einzigen anderen Fahrzeuge, an denen sie vorbeikamen, waren ebenfalls Armeelastwagen. Die Sonne stieg höher, und Piers spürte die erste Hitze des Tages auf dem Rücken. Er bewegte sich. Bald würde die Hitze unerträglich sein. Und kurz darauf wurde es wirklich unerträglich. Der Wind drehte sich, und die Hitze und der Rauchgestank trafen Piers wie ein Faustschlag ins
Gesicht. Der ekelerregende Geruch brennenden Fleisches nahm ihm den Atem. Es war, als würde man ihm dicke, schleimige Tentakel in den Rachen stopfen. Er hustete, versuchte zu atmen und schluckte nur noch mehr Rauch und Gestank. Durch den Tränenschleier vor seinen Augen sah er, daß auch die anderen zusammengekrümmt nach Luft schnappten. Er setzte sich die Maske auf und versuchte, regelmäßig zu atmen. Die Luft roch etwas sauberer, aber staubig. Die anderen taten das gleiche. Er warf einen flüchtigen Blick auf Geddes und die beiden Soldaten. Es sah aus, als würden sie hinter ihren Masken grinsen. Als der Lastwagen um eine Kurve bog, sah Piers das erste der riesigen Feuer. Es brannte im barrio, und der Lärm war furchteinflößend. Die Flammen knisterten und loderten, die Blechwände der Hütten bogen und krümmten sich, und wenn sie zusammenstürzten, klang es wie menschliche Schreie. Manchmal war das Feuer wegen der Hitze gar nicht zu erkennen. Es verschwamm mit dem Himmel und der strahlenden Sonne, und nur die flimmernden Hitzewellen waren dann zu sehen. Die ganze Szenerie sah aus wie ein mittelalterliches Gemälde der Hölle, denn um das Feuer standen Soldaten in Asbestanzügen und mit Bazookas in den Händen. Am Rand des barrio standen riesige Lastwagen mit den Opfern der Seuche, reich und arm, Menschen und Tiere. Man warf sie in das Feuer, und die Soldaten feuerten mit ihren Bazookas in die frischen Haufen. Piers sprang vom Lastwagen und ging so nah wie möglich an die Flammen heran. Er verfilmte etwa zwanzig Meter Band. Er hätte noch mehr aufgenommen, aber die Hitze versengte ihm die Haut, und er lief schnell zum Auto zurück. Die anderen Reporter blieben alle auf ihren Plätzen und filmten mit ihren Teleobjektiven. Einen Augenblick lang sah Piers den Soldaten bei der Arbeit zu. Die Hitze leckte noch immer an seiner Stirn und an seinen nackten Armen. Seine Augen blickten allerdings unbeteiligt, und es stand in ihnen nichts zu lesen als Neugierde. Es wirkte, als würde nichts, was er sah, ihn je im Herzen anrühren. Er drehte sich um, und Geddes half ihm wieder auf den Lastwagen. »Beim nächstenmal sagen Sie mir vorher, wenn Sie springen wollen«, sagte Geddes knapp. »Ich bin für Ihre Sicherheit verantwortlich.« »Schon gut«, erwiderte Piers, »tut mir leid.« Er ging zu Marion in den hinteren Teil des Lastwagens. Sie sah sehr blaß aus.
Die Reporter waren alle sehr schweigsam, und eine der Frauen, die Russin, sah aus, als würde sie gleich weinen. Piers berührte Marion. Vor allem dann, wenn sie versuchte, sich zu beherrschen, sah sie sehr verletzlich aus. »Ist mit dir alles in Ordnung?« fragte er. Sie nickte. Piers hatte es sich schon vor langer Zeit antrainiert, sich von keiner der Tragödien, die er sah, aus der Fassung bringen zu lassen. So als hätte er die Kälte eingebaut. »Es ist schrecklich«, sagte Marion und wiederholte es noch einmal. »Ich dachte, ich würde es aushalten, aber…« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Sei froh, daß du etwas fühlst.« »Ja.« Sie nickte in Richtung Videokamera. »New York wird deine Nahaufnahmen nicht senden. Die Zuschauer sehen so was nicht gerne.« »Wenn ich es kann, können sie es auch. Ich dreh hier doch keine Werbefilme. Ich weiß, daß sie nie gesendet werden, aber ich tu meine Arbeit, für die man mich hierhergeschickt hat, und ich kann eben kein Blatt vor den Mund nehmen.« Er wußte, daß diese Unfähigkeit eine gefährliche Angewohnheit war und ihn endlos in Schwierigkeiten mit den Behörden brachte. Aber er war kein Mann, der sich um der Behörden willen ändern konnte. Der Lastwagen fuhr wieder an und durchquerte den Park. Nach einer letzten Kurve waren sie in Sao Amerigo. Die Stadt wirkte leer und beunruhigend still. Straßen, Plätze und Gehwege waren verlassen. Nur hier und dort sah Piers durch den Sucher seiner Kamera eine Bewegung, doch sie waren alle zu kurz und zu schnell. Sie fuhren an geparkten Jeeps vorbei und an Lastwagen voller Soldaten, die sie argwöhnisch ansahen. Die Stadt hatte trotz allem ihre Schönheit behalten. Doch es war eine einsame Schönheit, ohne jedes Leben. Piers fragte sich, ob Bolivar wirklich noch lebte, denn diese Stadt war Bolivars Denkmal. Er hatte von Größe für sich und sein Volk geträumt. Und das Volk hatte ihm und seiner Vision der Zukunft vollkommen vertraut. Und nun war alles zu diesem gemeinen und unvorhersehbaren Ende gekommen. Aus dem Augenwinkel entdeckte er eine plötzliche Bewegung und richtete instinktiv die Kamera darauf. Ein junger Mann, der kaum älter als zwanzig wirkte, schlug ein Schaufenster ein und raffte zusammen, was er tragen konnte. Er drehte sich um und lief mit dem Arm voller Nahrungsmittelkonserven davon. Aber er kam nicht weit. Ein Jeep bog
um die Ecke, und einer der Soldaten feuerte eine kurze Salve auf den laufenden Jungen. Es sah aus, als wäre der Junge gestolpert. Er fiel hin und verstreute seine armselige Beute auf der Straße. Aufstehen würde er nie wieder. Der Lastwagen fuhr an der Leiche vorbei. Sie sahen alle hinunter. Eine Blutlache breitete sich langsam unter dem Jungen aus. Sie konnten sein Gesicht nicht sehen, aber sein Tod berührte sie trotzdem, denn er war faßlich. Die anderen auf den Scheiterhaufen waren für sie nur Nummern. »Ich habe Sie ja bereits gewarnt«, bemerkte Geddes mit Zufriedenheit in der Stimme. »Die Soldaten schießen zuerst und fragen erst hinterher. Sie müssen also im Hotel bleiben oder sich von mir oder einem Soldaten begleiten lassen. Nun…« Er sah auf die Uhr, als sie sich dem Hotel näherten. »… gegen Mittag gibt General Peres eine Pressekonferenz. Nach der Konferenz ist eine Besichtigungstour durch die Krankenhäuser und Notfallstationen angesetzt. Sie werden so mit eigenen Augen sehen können, wie die Armee mit der Unterstützung der Hilfskräfte der Industrienationen die Katastrophe bewältigt.« »Ich sehe überall Soldaten«, sagte Piers ruhig. »Wurde die Armee von der Seuche denn nicht getroffen?« »Auch wir sind nur Menschen«, erwiderte Geddes. »Wir hatten Glück, denn wir haben nur ein Drittel unserer Männer verloren. Expräsident Bolivar hatte uns ja über das ganze Land verteilt.« Er lächelte über die Ironie, zu der Bolivars Taktik geführt hatte. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Sie fuhren an weiteren Feuern vorbei, doch sie sahen alle aus wie das erste. Der Gestank, die Hitze, die Soldaten, die Leichen, die Lastwagen – es war überall das gleiche. Aber im Stadtzentrum gab es auch einige Anzeichen zivilisierten Lebens. Eine kleine Menschenschlange wartete vor einem Lebensmittelgeschäft. Die Wartenden wirkten verwundert und wie abwesend. Als der Lastwagen eine Einfahrt hinauffuhr, schaute Piers sich um. Man hatte sie im besten Hotel einquartiert, dem Amerigo. Es war ein anmutiges kreisförmiges Gebäude in strahlendem Weiß. Piers kannte es noch als Lebensmittelpunkt des Jet-set, der beständig voller schöner Männer und Frauen gewesen war. Doch das waren bloß Erinnerungen. Das Foyer war düster, lag still und leer da. In den Swimming-pools schwammen abgestorbene Blätter, und die Bars waren verlassen.
Während sie das Foyer durchquerten, flüsterten die Reporter, als wollten sie die Geister der Leute nicht stören, die früher das Leben so intensiv genossen hatten. Piers fiel ein Mädchen ein, das er hier kennengelernt hatte – Cecilia. Er hatte ihre Nummer noch und beschloß, sie anzurufen, sobald er sein Zimmer bezogen hatte. Man gab ihnen Zimmer im vierten Stock, und da es kein Personal gab, trugen sie ihr Gepäck selbst. Es gab zwar Strom, aber die Aufzüge funktionierten nicht. Marion stieg neben Piers die Treppen hoch. Sie hatten wie immer getrennte Zimmer. Marion sah noch sehr mitgenommen aus, und Piers hatte Mitleid mit ihr. »Ich hab’ Brandy im Koffer«, sagte er. »Wenn du ausgepackt hast, komm vorbei und trink einen. Der richtet dich wieder auf.« Sie nickte schwach, und er zeigte ihr seinen Schlüssel. Sein Zimmer wirkte verwahrlost. Das Bett war zerwühlt, auf den Möbeln lag dick der Staub, die Luft roch abgestanden. Piers probierte die Klimaanlage aus. Sie funktionierte. Er packte die wenigen Dinge aus, die er mitgebracht hatte, und kontrollierte das Material, das er auf dem Weg vom Flughafen aufgenommen hatte. Die Bilder waren viel zu deutlich, sie zeigten das Entsetzen in allen Einzelheiten. Er wußte, daß es Schwierigkeiten geben würde, als er New York anwählte und das Gerät anschloß. Während das Band überspielt wurde, legte er sich aufs Bett. Er überlegte, was er eigentlich gesehen hatte. In gewisser Weise war er neidisch auf Marion. Sie hatte Schmerz und Entsetzen empfunden. Er überhaupt nichts. Es lebte wie in einem Traum, in dem nichts, was er im Lauf der Jahre gesehen hatte – Tod, Schmerz und Leiden –, wirklich existierte. Manchmal schien er auf einem anderen Planeten und viel zu weit weg zu sein, als daß die Dinge auf ihn hätten Einfluß haben können. Er war schon viel zu lange in diesem Job, eine Art von Tod hatte ihn gestreift. Das würde wirklich sein letzter Auftrag sein. Er dachte an Marion und merkte, daß er lächelte. Er liebte sie, und darin war sie ihm manchmal wie eine gute Freundin, manchmal wie eine Geliebte. Sie hatten viel Zeit miteinander verbracht, und er vertraute ihr. Sie waren ein gutes Team. Sie würde so gut werden wie er. Aber eigentlich würde sie seine Klasse nie ganz erreichen. Ihr fehlte der Drang nach der Wahrheit, der Drang, sie zu finden und in Erfahrung zu bringen. Auch seine Neugierde fehlte ihr. Für sie war eine Story nur ein Job, den man gut erledigte und es dabei bewenden ließ. Wenn er
aufhörte, würde sie übernehmen. Oder vielleicht – er zögerte – würde sie mit ihm aufhören. Sie konnten andere Dinge tun. Das Summen des Übertragungsgeräts unterbrach seine Gedanken. New York wollte mit ihm sprechen. Er löste das Übertragungskabel und nahm den Hörer in die Hand. »Verdammt noch mal, was soll das denn werden, Piers?« schrie Frank Kolok, sein Chefredakteur, in die Leitung. »Du weißt doch verdammt gut, daß ich keine Bilder von brennenden Kindern und Hunden senden kann. Das ist doch viel zu aufwühlend. Jetzt arbeitest du schon fünfzehn Jahre für mich, und du schaffst es immer noch, mich auf die Palme zu bringen. Halt dich an Distanzaufnahmen. Jetzt muß ich die Bilder von Chicago oder London nehmen. Die sind diskreter.« »Und was zeigen die? Alice im Wunderland?« »Distanzaufnahmen«, rief Kolok. Dann war die Leitung tot. Piers zuckte mit den Achseln, wählte sein Studio an, spulte zurück und überspielte erneut. Wegen Kolok machte er sich keine Sorgen. Die beiden zankten sich mehr als ein altes Ehepaar, und Piers wußte, daß es nicht Koloks Fehler war. Das Fernsehpublikum mochte eben nicht zu viel Wirklichkeit auf den Bildschirmen. Wenn es den Zuschauern bei den Bildern den Magen umdrehte, schalteten sie auf ein anderes Programm. Nach Ende der Überspielung löschte Piers das Band und spulte zurück. Er beschloß, Cecilia anzurufen, während er auf Marion wartete, und blätterte in seinem Notizbuch. Er wählte ihre Nummer und wartete. Er ließ es fünfzehnmal klingeln und legte dann behutsam wieder auf. Das Echo lieferte ihm die Antwort. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie ausgesehen hatte. Sie war sehr schön gewesen, aber er konnte sich nur noch an ihr Lachen erinnern und eigenartigerweise an den schwachen Duft ihres Körpers nach dem Liebesakt. Marion wusch sich sorgfältig das Gesicht. Sobald sie ihr Zimmer betreten hatte, war sie in die Toilette gelaufen und hatte ihr Frühstück erbrochen. Diese Story, dachte sie, während sie ihr bleiches Gesicht im Spiegel betrachtete, ist anders – entsetzlich. Sie hatte bereits Frauen und Männer eines gewaltsamen Todes sterben sehen, 1978 im ArabischIsraelischen Krieg und bei den südafrikanischen Massakern, aber noch nie in so großer Zahl. Sie wischte sich das Gesicht und nahm sich Zeit für das Make-up. Das beruhigte ihre Nerven und gab ihrem Magen Zeit zur Erholung. In wenigen Minuten würde sie wieder auf die Straße
treten und die zahllosen Toten sehen und riechen müssen. Vielleicht war ein Schluck Brandy wirklich gut. Sie packte schnell aus, nahm ihre Videokamera, überprüfte sie und verließ das Zimmer. Sie klopfte an Piers’ Tür und hörte, wie er vom Bett aufstand. Sie war froh, daß sie bei ihm sein durfte; diesen Auftrag hätte sie alleine nie geschafft. Es gab Zeiten, und die kamen immer häufiger, in denen sie den Eindruck hatte, daß Piers aufhören wollte. Eine gewisse unwirsche Gereiztheit war ein Anzeichen dafür, aber sie erwartete, daß das vorübergehen würde. Jeder Reporter, den sie kannte, träumte davon, aufzuhören und ein Buch zu schreiben, einen Film zu drehen, im Gras zu liegen oder irgend etwas anderes zu tun. Sie nie. Sie kannte Piers lang genug, um zu wissen, daß diese Gereiztheit vorübergehen würde, und zwar sobald sie anfingen, an der Story zu arbeiten. Sie hoffte nur, daß nicht zuviel dahintersteckte. Ihr Magen hielt das nicht durch. Piers gab ihr den Brandy, sobald sie das Zimmer betrat. Sie trank, mußte würgen, behielt ihn aber unten. Er wärmte ihr den Bauch. »Okay?« Marion nickte. »Dann mal los.« Sie gingen ins Foyer, wo Geddes schon auf sie wartete. Beim Abzählen merkte er, daß einer fehlte. Sie mußten fünf Minuten warten, bis Harris zu ihnen stieß. »New York ist ja nicht gerade glücklich mit dir«, sagte Harris mit einem höhnischen Grinsen und ging neben Piers her. »Shatner, ich sag’s dir ja immer wieder: Mach sie nicht unglücklich. Überspiel ihnen nur, was sie wollen. Es macht das Leben für dich einfacher.« »Wenn ich ein einfaches Leben wollte, würde ich in New York bleiben.« Die Fahrt zur Großen Versammlungshalle dauerte fünf Minuten. Sie hätten die Strecke ebensogut zu Fuß zurücklegen können. Auf der Plaza Bolivar vor dem Saal drängten sich die Soldaten, Zivilisten waren praktisch keine zu sehen. Piers betrachtete Soldaten eigentlich nie als Menschen, sie gehörten für ihn zu der großen kampfanzugsgrünen Maschine, die er in hundert Staaten auf der ganzen Welt gesehen hatte. Sobald sie das Gebäude betreten hatten, nahmen sie die Gasmasken ab. Der Saal war leer, ihre Schritte hallten über den Boden. Reihen leerer Stühle waren auf ein Podium ausgerichtet, und ihre Leere ließ den Saal nur noch größer und trauriger wirken. Eigentlich sollte er die Großartigkeit des Landes und des Volkes widerspiegeln. Für Piers’ Geschmack war der Dekor zu üppig. Ein zweieinhalb Meter hohes gold-
blau-rotes Wappen beherrschte die Wand hinter dem Podium. Die anderen Wände, die den Fahnenschmuck aus den verschiedenen Provinzen trugen, waren rot. Die Reporter setzten sich in die erste Reihe und warteten fünf Minuten, bis die Regierungsjunta, die aus acht Generälen und einem Colonel bestand, wie ein Marionettenchor von den Seitenflügeln her das Podium betrat. VIDEOBERICHT: Als die Katastrophe dieses Land vor sieben Tagen heimsuchte, war es der zivilen Regierung Präsident Bolivars nicht gelungen, die Situation in den Griff zu bekommen. Eine solch massive Hilfs- und Rettungsoperation konnte nur von der Armee organisiert werden. Aufgrund der Notlage wurde der Oberkommandierende der Streitkräfte, General Emilio Peres, zum vorläufigen Präsidenten ernannt, und er verhängte das Kriegsrecht. General Perez, ein Karriereoffizier, der sich nicht durch besondere militärische Leistungen auszeichnete, steht in der Mitte. Er ist derjenige mit der Sonnenbrille, und seine Uniform scheint heute besonders schwer zu sein durch all die zusätzlichen Goldtroddeln und Orden. Zu seinen Seiten stehen die anderen Mitglieder der Übergangsregierung. Er wird zunächst eine kurze Erklärung verlesen und danach unsere Fragen beantworten. Meine Herren. Eine entsetzliche Traurigkeit lastet auf mir. Ich betrauere den Tod unzähliger Menschen meines Volkes durch diese teuflische Seuche. Die Armee arbeitet Tag und Nacht, damit das Land nicht vollständig zusammenbricht. Ich möchte an dieser Stelle den Führern und den Völkern der Industrienationen für ihre Beileidsbezeugungen und auch für die Arzneimittel, Lebensmittel und Ärzte danken, die sie so schnell in dieses Land gesandt haben. Ich möchte aber auch den Führern der Dritten Welt danken, die uns so viel Unterstützung und Hilfe sandten, wie sie es für möglich hielten. Und ich möchte hier vor der ganzen Welt versichern, daß ich zurücktreten und die Führung dieses Landes wieder an Senor Bolivar übergeben werde, sobald die Normalität wiederhergestellt ist. Vielen Dank. Harris von ITN in London: Präsident General, glauben Sie, daß Ihr Land ohne die Hilfe der Industrienationen hätte überleben können? Nein. Die Hilfe Ihrer Länder ist unschätzbar. Personal aus den Industrienationen arbeitet in unseren Krankenhäusern, verteilt
Nahrungsmittel und Decken und stellt die Energieversorgung wieder her. Sobald wir uns erholt haben, werden wir diese Aufgaben selbst übernehmen. Hyslop von Channel 14 in New York: Präsident General, haben die Ärzte bereits den Ursprung dieser Seuche ermittelt? Nein. Sie werden sie ja heute nachmittag treffen, und am besten fragen Sie sie dabei selbst nach ihren Fortschritten. Shatner aus New York: Was ist mit Präsident Bolivar geschehen? Senor Bolivar ist gesund und in Sicherheit. Dies hier ist kein Staatsstreich. Die Armee verfügte als einzige Organisation über die Möglichkeiten, die Situation zu meistern. Können wir ihn sehen? Im Augenblick ist das nicht möglich. Wie Sie wissen, wurde seine Frau ein Opfer der Seuche, und die Tragödie, die sie und sein Volk traf, hat ihn sehr erschüttert. Ich wiederhole, dies ist keine politische Angelegenheit. Ich verspreche, mein Amt niederzulegen, sobald die Normalität wiederhergestellt ist. Vielen Dank. Die Generäle verlassen hinter dem Präsidenten den Saal. Die Frage nach Bolivar bleibt unbeantwortet. Lebt er? Wenn ja, warum dürfen wir ihn dann nicht sehen? Vielleicht ist er ebenfalls an der Seuche gestorben. Ein Bericht von Marion Hyslop von Channel 14 in New York aus der Großen Versammlungshalle in Sao Amerigo. Die Konferenz war beendet, und Geddes hatte es eilig, sie weiterzutreiben. Als er wieder auf den Lastwagen kletterte, merkte Piers, daß es ein langer Tag werden würde. Geddes hatte ein aufreibendes Programm zusammengestellt. Man zeigte ihnen die Armee in Aktion: bei der Verteilung von Nahrungsmitteln, als Personal in Informationszentren, bei der Krankenpflege und der Verbrennung der Leichen. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, und der offene Lastwagen bot keinen Schutz. Sie wurden schlaff und verloren langsam das Interesse an der Tour. Sogar Piers hatte Schwierigkeiten, die Kamera zu heben und die Entsetzlichkeiten der Seuche zu filmen. Als sie schließlich das Zentralkrankenhaus, das Sao Amerigo General Hospital, erreichten, hatten sie gerade noch genug Kraft, um sich in den Hörsaal zu schleppen. Piers nahm die Gasmaske ab und wischte sich das Gesicht. Die kühle Luft erfrischte ihn ein wenig, aber Marion sah aus, als würde sie gleich
ohnmächtig werden. Er brachte sie zu einem Stuhl und ließ sich dann neben sie fallen. Das Krankenhaus und die Forschungseinrichtungen waren Teil der Universität von Sao Amerigo und lagen im Schulsektor der Stadt. In diesem Viertel, das eigentlich nur ein einziger riesiger Campus war, befanden sich alle Erziehungseinrichtungen von der Grundschule bis zur Universität. Es gab einige Ideen Bolivars, die Piers nicht mochte, und eine davon war die Zentralisierung jeder Form von Ausbildung in einem Stadtteil. Es war, als würde man in eine Schublade gesteckt, und in dieser mußte ein Kind zwanzig Jahre zubringen. Drei Männer betraten das Podium. Einer sah aus wie ein Amerikaner, die anderen wie Südamerikaner. Obwohl der Amerikaner der Jüngste war, akzeptierten ihn die anderen offensichtlich als ihren Sprecher. Zumindest war er der einzige, der Unterlagen bei sich hatte. Er war ein junger Mann, Piers schätzte ihn auf Anfang dreißig, mit einem glatten, ungeduldigen Gesicht und einer Oberlippe, die im Bewußtsein überlegener Intelligenz zitterte. Er raschelte ungeduldig mit den Papieren, um die Reporter zu größerer Eile beim Aufbau ihrer Geräte anzutreiben. VIDEOBERICHT: Mein Name ist Dr. Kevin O’Brien. Dies sind meine Kollegen Dr. Seguira und Dr. Henriques. Ich möchte zunächst eine Erklärung verlesen. Ich hoffe, sie wird all Ihre Fragen beantworten, damit wir nicht länger aufgehalten werden. Wie Sie vielleicht verstehen werden, ist meine Arbeit sehr dringend. Meine Kollegen und ich haben im Augenblick sehr wenig zu berichten. Wir arbeiten außergewöhnlich hart, um die Ursache der Seuche zu ermitteln, die dieses Land verwüstet hat. Aufgrund der umfangreichen Tests, die wir angestellt haben, sind wir zu einigen Schlußfolgerungen gekommen. Erstens: Die Infektion ist nicht ansteckend. Damit möchte ich sagen, daß sie nicht von Menschen übertragen wird, wie das etwa bei einer Erkältung der Fall ist. Zweitens: Wir gehen davon aus, daß die Infektion durch die Luft übertragen wird und nicht etwa über die Wasserversorgung oder vergiftete Nahrung. Drittens: Da die Infektion durch die Luft übertragen wird, greift sie den Körper über das Atemsystem an. Bei vielen Autopsien haben wir Gerinnsel in den Lungen festgestellt. Darüber hinaus gibt es Hinweise
auf Lähmungserscheinungen, von denen verschiedene Körperteile betroffen sind. Wir können aber bis jetzt noch nicht mit Gewißheit sagen, was im Körper passiert, sobald die Luft erst einmal in die Lunge eingedrungen ist. Viertens: Wir gehen von der Annahme aus, daß die Infektion von einem mutierten Virus ausgelöst wird, doch ist es uns bis jetzt noch nicht gelungen, den Virus zu isolieren. Solange wir damit keinen Erfolg haben und den Virus nicht identifizieren können, ist es unmöglich, ein Gegenmittel zu entwickeln. Vielen Dank. Bruyere von ILTV in Paris: Wie lange wird es dauern, bis der Virus isoliert ist und damit Tests durchgeführt werden können? Das kann man nicht sagen. Was wird passieren, wenn es Ihnen nicht gelingt, ein Gegenmittel zu entwickeln? Ich bin sicher, daß wir es schaffen, wenn wir nur genug Zeit haben. Hyslop von Channel 14 in New York: Wenn die Seuche entweder in diesem Land oder irgendwo anders ausbricht, dann ist die Bevölkerung also ohne Schutz? Nur, wenn man davon ausgeht, daß die Seuche wieder ausbricht. Ich persönlich bin nicht dieser Ansicht. Der Virus scheint mit dem Opfer zu sterben. Shatner aus New York: Was genau meinen Sie mit Lähmungserscheinungen? Muskelverkrampfungen in Armen, Beinen, Unterleib und am Herzen. Was genau passiert mit jenen, die sich infiziert haben? Ich meine jetzt physisch. Nach Augenzeugenberichten wird das Opfer des Virus gelähmt. Wie lange dauert es, bis die betroffene Person stirbt? Maximal ein oder zwei Minuten. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Schmidt von Radio Hamburg: Sind die Arbeitsmöglichkeiten ausreichend, um diese Tests durchzuführen? Sie sind ausgezeichnet. Und die Wissenschaftler und Ärzte von Sao Amerigo sind eine großartige Hilfe. Es fehlen einige wenige Einrichtungen, aber das behindert meine Arbeit nicht. Ich fürchte, für mehr habe ich nicht Zeit. Wir müssen zu unserer Arbeit zurückkehren. Vielen Dank.
Alexejew von TASS in Moskau: Nur noch eine letzte Frage, Dr. O’Brien. Können Sie es bitte kurz machen? Natürlich. Halten Sie es für möglich, daß dieser… Virus… einen außerirdischen Ursprung hat? Ich habe diese Möglichkeit bei meinen Forschungen nicht ausgeschlossen. Es ist also sehr wahrscheinlich? Ich sprach von einer Möglichkeit. Bitte legen Sie mir keine Worte in den Mund. Ich möchte hinzufügen, daß es gegenwärtig keine Berichte über Meteoriten oder unidentifizierte Objekte gibt, die in diesem Teil der Hemisphäre niedergegangen wären. Ich muß diese Konferenz nun beenden. Vielen Dank. Shatner aus New York: Ist es möglich, Ihre Kollegen zu befragen? Dr. Seguira, können Sie mir sagen…? Ich fürchte, wir haben einfach keine Zeit mehr. Vielen Dank. Obwohl Dr. O’Brien, der als Sprecher für seine Kollegen auftrat, die selbst keine einzige Frage beantworteten, die möglichen Ursachen der Seuche eingrenzen konnte, hat er die genaue Beschaffenheit des Virus, der so viele Millionen Menschen tötete, noch nicht entdeckt. Die Isolierung des Virus kann Tage, Wochen, ja Monate dauern. Ist ihm dies dann gelungen, wird er erst noch das Gegenmittel entwickeln müssen, was wiederum Wochen oder Monate dauern kann. Trotz seiner Versicherung, die Seuche werde nicht wieder aufflammen, gibt es dafür keine Garantie. Sie kann zurückkehren oder in einem anderen Land ausbrechen. Seuchen kennen keine Landesgrenzen. Solange Dr. O’Brien und seine Kollegen nicht beide Aspekte des Problems gelöst haben, können wir nur hoffen und beten, daß es zu keinem neuen Ausbruch kommt. Piers Shatner und Marion Hyslop von Channel 14 in New York berichteten aus Sao Amerigo. Piers senkte die Kamera. Er wünschte sich, daß auch O’Briens Kollegen Fragen beantwortet hätten. Manchmal hatte es so ausgesehen, als würden sie Englisch verstehen, aber Piers hatte bemerkt, daß ihre Blicke dauernd zur linken Seite des Raumes huschten, von der Warnungen zu kommen schienen. Er hatte einmal in diese Richtung gesehen: Ihre Blicke hingen an Geddes. Obwohl er stumm und unbeweglich dastand, wirkte er drohend und schien bereit, sofort einzugreifen, falls die Fragen
zu unbequem würden. Piers zupfte an seinem Ohrläppchen und fragte sich, warum Geddes nicht wollte, daß auch die einheimischen Wissenschaftler Fragen beantworteten. Zur gleichen Zeit fragte sich O’Brien, warum er allein die Konferenz hatte bestreiten müssen. Er haßte Pressekonferenzen und war froh, daß es nun vorbei war. Er war Wissenschaftler und, verdammt noch mal, kein Politiker, der sich von idiotischen Reportern rösten lassen mußte. Doch er war auch noch in anderer Hinsicht froh, daß die Konferenz vorüber war: Er war sich nicht sicher, ob er die Wahrheit gesagt hatte. Die Weltgesundheitsorganisation hatte ihn mit dem Auftrag nach Sao Amerigo geschickt, so schnell wie möglich den Ursprung der Seuche zu ermitteln und ein Gegenmittel zu entwickeln. Nicht mehr und nicht weniger. Als er den Auftrag erhielt, hatte er zunächst geglaubt, er dürfte sein Laborteam und seine Ausrüstung nach Sao Amerigo mitnehmen. Aber nein, so erfuhr er dann, nur er selbst sollte reisen, die Wissenschaftler vor Ort würden ihn unterstützen. Entweder verlangten sie von ihm eines von diesen dämlichen Wundern, wenn sie ihn allein da hinschickten, oder… Er zögerte. Vielleicht wollten sie das Wunder gar nicht. O’Brien nahm die Brille ab und wischte sich das Gesicht. Er war ein großer, dünner Mann – Piers hatte richtig vermutet – Anfang dreißig. Er war brillant in seinem Forschungsgebiet, doch in allem, was darüber hinausging, wie ein Kind. Im Augenblick fühlte er sich allerdings etwas unbehaglich. Er wußte nicht genau, warum. Wie Wolkenfetzen über einen klaren Sommerhimmel, so zogen jetzt Zweifel durch die Randbereiche seines Verstands. Da war etwas an den Symptomen der Seuche, das ihm überhaupt nicht gefiel. Sie war zu schnell aufgetaucht und zu schnell wieder verschwunden, und diese Methode des Angriffs auf das menschliche Leben kam ihm irgendwie bekannt vor. Wenn er jetzt nur in seinem eigenen Labor in Boston wäre…
3 Piers und die anderen befanden sich nun im eigentlichen Krankenhaus. Es war eines der beiden Zweitausendbetten-Krankenhäuser der Stadt, die man bei ihrer Erbauung für ausreichend gehalten hatte. Aber eine Katastrophe wie diese war nicht eingeplant, und nun lagen die Opfer der Seuche in jedem Winkel. Piers bemerkte, daß die meisten nur teilweise von der Seuche betroffen waren; sie waren entweder halb gelähmt oder standen unter Schock. Neu hinzukommende Patienten litten an Krankheiten, die als Folge des Zusammenbruchs der Wasser- und Lebensmittelversorgung und der mangelnden sanitären Einrichtungen ausgebrochen waren. Die Ärzte und Schwestern sahen aus, als hätten sie seit Wochen nicht geschlafen, und gingen umher wie Zombies. Piers löste sich unauffällig von der Gruppe, hob die Kamera und ging auf einen Mann mittleren Alters zu, der in einem der Betten lag. VIDEOBERICHT: Entschuldigen Sie, Sir, sprechen Sie Englisch? Ein wenig. Können Sie sich noch daran erinnern, was genau mit Ihnen passiert ist? Ich kann kaum sprechen. Mein Hals… Lassen Sie sich Zeit. Ich weiß nur noch wenig. Ich bin Busfahrer. Ich fahre die Calle Allende hinunter, und ich atme ein, und plötzlich ist es wie Feuer im Hals. Es brennt. Und dann? Es wird… wie sagt man… taub. Wie ein kalter Stein. Ich kann nicht mehr atmen, und es ist, als würde man mir die Brust eindrücken. Ich sehe, wie die anderen Leute auf der Straße umfallen, und ich kann den Bus nicht mehr kontrollieren. Das ist alles. Ich wache wieder auf und bin gegen ein Geschäft geprallt… viele Leute im Bus sind tot. Aber nicht wegen dem Unfall, Sie verstehen? Was glauben Sie, warum haben Sie überlebt? Fragen Sie Gott. Wie wirkt sich die Seuche bei Ihnen aus? Ich kann das rechte Bein und den rechten Arm nicht bewegen. Die Ärzte wissen nicht, ob ich wieder gesund werde.
Können Sie mir sagen, wann das passiert ist? Um fünf nach halb neun am Morgen. Ich weiß es genau, weil ich spät dran war und mich beeilen mußte. Können Sie beschreiben…? Mr. Shatner, Sie belästigen einen sehr kranken Mann mit Ihren Fragen. Lieutenant Geddes, ich habe nicht den Eindruck, daß er sich belästigt fühlt. Sie sind kein Arzt. Kehren Sie bitte zu den anderen zurück. Wir müssen weitergehen. Ich wurde eben von offizieller Stelle unterrichtet, daß ich diesen Mann nicht länger befragen darf. Piers Shatner von Channel 14 in New York sandte Ihnen einen Direktbericht von einem Krankenbett im Sao Amerigo General Hospital. Wütend schaltete Piers seine Videokamera aus. Geddes sah ungerührt zu. »Mußten Sie diese letzte Bemerkung noch hinzufügen?« fragte Geddes. »Ich habe doch nur versucht, dem Mann Leiden zu ersparen.« »Für meine Begriffe ging es ihm wirklich recht gut«, erwiderte Piers. »Außerdem entspricht die letzte Bemerkung der Wahrheit. Sie haben mich davon abgehalten.« Geddes zuckte mit den Achseln und winkte Piers höflich zum Rest der Gruppe. Piers ging ohne Hast zu den anderen. Als er sie erreicht hatte, sah er sich um. Geddes sprach mit dem Busfahrer. Piers wünschte sich ein Richtmikrofon, damit er hören könnte, was gesprochen wurde. »Mir wäre lieber, wenn du nicht so viel Schwierigkeiten machen würdest«, sagte Harris verdrießlich. »Die stornieren unsere Visa und werfen uns raus, wenn du sie weiter reizt. Dann haben wir gar keine Story.« »Welche Story denn?« entgegnete Piers. »Alles, was ich bis jetzt habe, ist Propaganda über die tapfere Armee und die tapferen Ärzte aus den Industrienationen.« »Das ist die einzige Story, die ich sehe«, sagte Harris. »Du brauchst deine Kamera ja nicht einem Sterbenden ins Gesicht zu schieben, um was anderes zu erfinden.« »Das war kein Sterbender.« »Jetzt bist du also auch noch Arzt.« »Und du bist ein Pferdearsch.«
Einen Augenblick lang starrten sich die beiden Männer wütend an. Dann drehte Harris sich um und stapfte auf Geddes zu. »Er ist ein Schleimscheißer.« Marion schüttelte sich neben Piers. Piers hob die Schultern. »Wir mögen uns gegenseitig einfach nicht besonders.« »Hast du von dem Mann etwas erfahren?« »Nicht viel. Nur, daß er sich um fünf nach halb neun am Morgen angesteckt hat.« Piers zupfte sich am Ohrläppchen. »Ich frage mich, um welche Zeit es die anderen Landesteile getroffen hat.« »Warum?« »Neugier. Es kann ja schließlich nicht überall zur gleichen Zeit passiert sein.« Geddes kehrte zu ihnen zurück und führte sie die Gänge entlang. Er ließ sie noch einige Krankenstationen filmen und Ärzte und Schwestern aus Paris, London und Moskau interviewen. Piers hielt sich im Hintergrund der Gruppe. Er fragte auch nichts. Die Antworten waren immer dieselben. Ab und zu sah Geddes sich hektisch um und entspannte sich wieder, wenn er Piers entdeckte. Beim drittenmal schnitt Piers eine Grimasse. Er hatte sich verdächtig gemacht, aber das ließ sich nicht vermeiden. Auf dem Rückweg erhielt er dann seine Chance. Geddes wurde zum Telefon gerufen, und so waren sie einige Minuten lang der Verantwortung eines einfachen Soldaten unterworfen, der eine alte Maschinenpistole im Arm hielt. Ganz offensichtlich hatte er Befehl, sie bloß zu beobachten. Piers sah sich um. Dr. Seguira, einer von O’Briens Kollegen, kam langsam auf sie zu. Er mußte früher ein stattlicher Mann gewesen sein, aber in den letzten Tagen war er sichtbar zusammengesunken. Die Haut an seinem Hals war schlaff, sein Anzug zu weit. VIDEOBERICHT: Entschuldigen Sie, Dr. Seguira, dürfte ich Ihnen wohl ein paar Fragen stellen? Tut mir leid. Ich muß zuerst Lieutenant Geddes um Erlaubnis fragen. Bevor er ging, sagte er, ich könne Sie befragen. Sind Sie aus Sao Amerigo? Nein. Ich komme aus einer kleinen Stadt ungefähr vierhundert Meilen nördlich von hier. Sind Sie sicher, daß Lieutenant Geddes sagte, ich dürfe ein Interview geben?
Ja. Und wie ist die Lage dort? Wenn Sie hier sind, vernachlässigen Sie da nicht die Menschen in Ihrer Stadt? Die Menschen dort brauchen mich nicht. Sind sie alle tot? Nein. Sie leben alle. Uns hat die Krankheit nicht getroffen, und deswegen wurde ich nach Sao Amerigo gebracht, um Dr. O’Brien zu unterstützen. Er ist ein sehr kluger Mann und… Ja… ja. Sind Sie sicher wegen Ihrer Stadt? Ja. Nur das Zentrum wurde von der Seuche erfaßt. Wenn man Sao Amerigo als Mittelpunkt nimmt, würde ich schätzen, das verseuchte Gebiet umfaßt einen Kreis von etwa drei bis vierhundert Meilen. Außerhalb dieses Bereichs ist das Leben normal. Was glauben Sie, warum das so ist? In einigen Gebieten außerhalb dieses Kreises, den Sie beschreiben, muß es doch Opfer geben? Soviel ich weiß, nicht. Ich vermute, daß das Zentrum am schwersten getroffen wurde, weil es so dicht besiedelt ist. Je weiter man sich von Sao Amerigo entfernt, desto dünner ist das Land besiedelt. Glauben Sie, daß es einen Ausgangspunkt für diese Seuche gibt? Den gibt es bestimmt, aber er ist sicher nur schwer zu finden. Ein Mann steckt sich an, und die Krankheit breitet sich aus wie ein Buschfeuer. Nur Gott weiß, wer dieser erste Mann war. Dr. Seguira, Sie haben keine Erlaubnis, diesem Mann ein Interview zu geben. Er sagte mir, Sie hätten die Erlaubnis gegeben, Lieutenant Geddes. Deshalb habe ich mit ihm gesprochen. Mr. Shatner hat Sie – das darf ich wohl annehmen – hinters Licht geführt. Ich bin sicher, Sie werden mir gestatten, daß ich das Band sehe, Mr. Shatner. Klar. Er hat ja keine Staatsgeheimnisse verraten. Das heißt, wenn Sie überhaupt etwas zu verbergen haben. Esg ibt nichts zu verbergen. Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, Dr. Seguira. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Kamera nicht auf mich zu richten, Mr. Shatner? Offensichtlich kommt eine gewisse Feindseligkeit auf, sobald Fragen das Ausmaß der Seuche und die betroffenen Gebiete berühren. Wir wissen nun, daß nur das Zentrum, das am dichtesten besiedelte Gebiet Menaguays, in Mitleidenschaft gezogen wurde. Warum sich die Seuche nicht weiter ausbreitete, ist eine Frage, die die Wissenschaftler
beantworten müssen. Aus dem Sao Amerigo General Hospital berichtete Piers Shatner von Channel 14 in New York. Piers ließ die Kamera sinken und ging langsam davon. Geddes stellte sich ihm mit ausgestreckter Hand in den Weg. »Das war ernst gemeint«, sagte Geddes. »Ich will das Band sehen.« »Und ich sagte klar.« Piers spulte zurück. »Sind Sie auch für die Nachrichtenzensur verantwortlich?« »Es gibt keine Zensur«, entgegnete Geddes. »Wir wollen nur nicht, daß Sie… nun, sagen wir… die ganze Sache zu sehr dramatisieren.« Er nahm das Videogerät und sah sich Dr. Seguiras Interview an. Dann nickte er und gab Piers das Gerät zurück. »Sie hätten mir diese Fragen ebenso stellen können. Ich hätte sie Ihnen beantwortet.« »Sie wollen sich doch nur selbst im Fernsehen sehen, oder, Lieutenant? Aber ich bin im Augenblick nicht auf Talentsuche.« Geddes führte ihn aus dem Krankenhaus. Der Soldat ging wenige Schritte links hinter Piers, und da er den Blick starr auf seinen Rücken gerichtet hatte, nahm Piers an, daß der Soldat von Geddes Befehl erhalten hatte, ihn besonders im Auge zu behalten. Auf der Einfahrt zum Krankenhaus stauten sich Armeelastwagen, die Kranke anlieferten und die Toten abtransportierten. Der Staub, den sie aufwirbelten, machte ihnen trotz der Gasmasken, die alle trugen, das Atmen fast unmöglich. Die Sonne, die inzwischen viel tiefer stand und nicht mehr so heiß brannte, verschwand beinahe hinter dieser Staubwolke. Auf Piers machte es den Eindruck, als würde der leuchtend orangefarbene Ball langsam zu einem anämischen rötlichen Grau verblassen. Piers war froh, wieder auf den Lastwagen zu kommen. Wie die anderen ließ er sich auf die harten Holzbänke fallen. Seine Beine schmerzten, und die linke Gesichtshälfte zuckte wie immer, wenn er sehr müde war. Außerdem war der Staub seinen Augen nicht gut bekommen. Sie waren gerötet und tränten. Er rieb sie erschöpft. Sogar Geddes machte nun langsam schlapp. Seine Uniform war zerdrückt, und sein Rücken krümmte sich unter der Last des langen Tages. »Wo fahren wir jetzt hin?« fragte Marion. Ihre Stimme klang erschöpft, und Piers hatte Mitleid mit ihr. »Zurück zum Hotel«, sagte Geddes, und ein Freudenschrei ging durch die Menge. »Gerade noch rechtzeitig, damit Sie Ihre Bänder überspielen können. Zumindest einige von ihnen.«
Piers war noch nicht zu müde, um während der Rückfahrt ins Hotel nicht noch nachzudenken. Etwas machte ihm Sorgen. Er hatte ein komisches Gefühl im Magen, und er war sich nicht sicher, ob es der Schmerz war, den er wegen dieses verwüsteten Landes empfand, oder ob sich einfach sein Reporter-Instinkt rührte. Piers war ein Mann, der Empfindungen mißtraute, und er versuchte, alle Gefühle für die Situation zu unterdrücken. Er glaubte an die innere Distanz, und wenn er dem komischen Gefühl im Magen traute, blieb nur noch sein Instinkt. Er konnte die Spannung in seiner Umgebung spüren – bei Geddes, Seguira, O’Brien. Es war, als würden sie alle versuchen, etwas zu verbergen. Piers warf einen kurzen Blick auf Geddes und schüttelte dann den Kopf. Der Mann hatte als Offizier einen viel zu niedrigen Dienstgrad, um zu wissen, was er tat. Er war ein Mann, der Befehlen folgte, sie aber nicht gab. Aber wer gab sie dann? Nicht O’Brien oder Seguira. Die beiden waren bloß kluge Wissenschaftler. Die Generale? Da mochte sich Piers kein endgültiges Urteil bilden. Er hielt Generale selten für intelligente Männer, und diejenigen, die er an diesem Vormittag gesehen hatte, glichen eher vergoldeten stutzerhaften Marionetten. Okay, sagte sich Piers, vergiß mal die Frage, wer die Befehle gibt. Warum diese Spannung? Warum erlaubte man ihnen nur, Leute der ausländischen Hilfstruppen zu interviewen? Warum rückte Geddes ihm immer auf den Pelz, wenn er Leute wie Seguira oder den Busfahrer befragen wollte? Piers schüttelte den Kopf. Das Problem verwirrte ihn. Es war eine einfache und tragische Geschichte. Millionen waren an der Seuche gestorben, und er versuchte doch nur, die Geschichte hinter der Katastrophe herauszufinden. »Du siehst besorgt aus.« Marion beugte sich zu ihm. Geddes hob sofort den Kopf und sah zu Piers hinüber. »Nichts Besonderes. Irgendwas gefällt mir nicht, aber ich weiß nicht, was.« »Du hast ‘ne Story. Erzähl.« »Später. Ich hab das Gefühl, da bekommt jemand große Ohren.« Der Lastwagen verließ die Avenida Peron und fuhr auf einer Seitenstraße zum Hotel. Piers kannte die Gegend flüchtig und sah sich um. Er freute sich, daß er recht gehabt hatte. In einiger Entfernung erkannte er über den Hausdächern die Spitze der Kathedrale von Sao
Amerigo. Sie war das höchste Gebäude der Stadt und angeblich die größte Kathedrale der Welt. Sie war, wie Piers sich nun erinnerte, ein zartes Gespinst aus Bögen, Buntglasfenstern und hoch aufragenden Pfeilern. Er zeigte sie Marion, und während sie an einer Öffnung zwischen den Häusern vorbeifuhren, sah er den Platz vor der Kathedrale. Die Erschöpfung war sofort vergessen. Er packte seine Kamera und bedeutete Geddes, er solle den Lastwagen anhalten. Geddes schüttelte den Kopf. Piers zuckte mit den Achseln, ging an die Wagenkante und sprang. Der Lastwagen fuhr schneller, als er geschätzt hatte, vielleicht war es aber auch seine Müdigkeit: Er stolperte und fiel auf die Knie. Der scharfe Schmerz ließ ihn zusammenzucken, als er wieder aufstand. Er bewegte das Knie und humpelte auf die Kathedrale zu, während der Lastwagen quietschend zum Stehen kam. Er hatte sich gefragt, warum die Stadt so leer war, und nun sah er den Grund vor sich. Alle Überlebenden der Seuche waren vor der Kathedrale versammelt. Jeder Quadratzentimeter war bedeckt mit knienden Menschen, und die gebeugten Köpfe reichten, so weit er durch seine Kamera sehen konnte. Das Schweigen war ehrfurchtgebietend und hing beinahe wie eine sichtbare Kraft über all den Köpfen. Ihre Gebete, ihre Gedanken, ihre Bestürzung, ihre Fragen an einen Gott, der sie verlassen zu haben schien – sie flüsterten sie nur in ihren Köpfen, denn Piers hörte keinen einzigen Ton. Es gab auch kaum Bewegung. Hier und dort hob ein Kind den Kopf, und eine Frau, wahrscheinlich die Mutter, drückte ihn dann zärtlich wieder zu Boden. Hier und dort veränderte jemand die Haltung, aber ansonsten knieten sie alle auf dem harten Stein und schienen keine Schmerzen zu spüren. Und wenn sie wirklich Schmerz empfanden, so wurde der bei weitem übertroffen von ihrer Trauer. Sobald er fertig war, zog Piers sich wieder zurück. Das Schweigen war wirklich körperlich zu spüren, es schien ihn in den Kummer dieser Leute mit hineinziehen zu wollen. Es war, als würde die Frau mit dem Kind die Hand nach ihm ausstrecken. Wie zu einer sprachlosen Verweigerung schüttelte er den Kopf. Die anderen Reporter schossen ihre Bilder, er hörte ihre geflüsterten Kommentare. Geddes’ Blick traf ihn. »Man sollte die Menschen in ihrem Schmerz allein lassen«, flüsterte der ärgerlich, »und ihn nicht in der ganzen Welt herzeigen. Sie haben keine Ehrfurcht vor der Tragödie.«
»Das habe ich schon einmal gehört. ›Unmoralisch‹ ist das Wort, das Sie suchen.« Er ging zum Lastwagen und wartete auf die anderen. Beim Geräusch des startenden Lastwagens hob ein Mann am Rand der Menge den Kopf und drehte sich, um ihm nachzusehen. Für Lopez war es eine willkommene Ablenkung von der Betäubung, die er schon so lange spürte. Er wurde sich plötzlich bewußt, daß seine Knie schmerzten, und er rappelte sich langsam hoch. Er sah auf die Uhr und versuchte, nachzurechnen, wie lange er nun schon kniete, aber er wußte nicht mehr, wann er zu der Menge vor der Kathedrale gestoßen war. Er war gekommen, um die Leute um sich zu spüren, um ein Teil der Lebenden und nicht der Toten zu sein. Als Lopez nun von der Kathedrale wegging, wäre es für jemand, der ihn noch von früher kannte, schwierig gewesen, ihn wiederzuerkennen. Verschwunden war der immer makellose, attraktive Mann. Eine abgerissene, ausgezehrte Gestalt hatte seine Stelle eingenommen. Diese Gestalt war unrasiert, und unter ihren Augen lagen tiefe, dunkle Schatten. Die Kleidung war schmutzig und verschwitzt. Auf der Avenida Peron zögerte Lopez. Er konnte nach Hause gehen oder… Er versuchte, sich eine Alternative zu überlegen. Aber es gab keine, und er beschloß, in seine Wohnung zurückzukehren. Er wußte, daß sie leer sein würde. Damals, bei seiner Rückkehr aus Fortaleza, war sie es noch nicht gewesen. Er fürchtete sich damals vor dem Betreten der Wohnung, und als er dann wirklich die Tür öffnete, war alles genau so, wie er es befürchtet hatte. Er fand die Leichen seiner Mutter, seiner Schwester, ihres Gatten und ihrer beiden Kinder. Sie waren vermutlich zu Besuch gewesen, als die Seuche sie überfallen hatte. Er war dankbar, daß er keine Kinder hatte, denn der Schmerz hätte ihn wahrscheinlich in den Selbstmord getrieben. Trotz seiner hohen Position hatte die Armee ihm damals nicht erlaubt, sie alle zu begraben. Mit Tausenden anderer anonymer Leichen waren sie auf einem Scheiterhaufen gelandet. Die Straßen, durch die er jetzt ging, waren verlassen. Ab und zu huschte jemand vorbei, oder eine Jeep-Patrouille beobachtete ihn aufmerksam, bis er um eine Ecke verschwunden war. Lopez sah zum Glockenturm in der Nähe seiner Wohnung hoch. Noch eine Stunde bis zur Ausgangssperre. Das Licht wurde immer schwächer, sein Schatten verschwand. Die Menge fehlte ihm nun – das Gefühl, den Atem eines anderen im Nacken oder die Bewegung eines Menschen neben sich zu
spüren, und trotz des Gestanks, der durch die Stadt zog, den warmen, säuerlichen Schweiß ihrer Körper zu riechen. Er fühlte sich unermeßlich einsam und versuchte zu beten, aber er konnte es nicht. Er hatte es zuvor schon versucht, als er kniete, aber außer einem Murmeln hatte er nichts zustande gebracht. Er empfand einen verwirrten Zorn auf das, was geschehen war, aber es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Verbittert dachte er an seinen kurzen Urlaub. In den ersten eineinhalb Tagen war er sich vorgekommen wie im Paradies. Zugegeben, einen Makel gab es noch, Inez, aber nach und nach gewann sie damals ihre gute Laune zurück. Es würde wohl noch einen Tag dauern, bis sie wieder das normale, sinnliche Wesen wie sonst auch sein würde. Doch bis dahin würde er vor Langeweile bestimmt schon verrückt geworden sein. Schon von seinem Beruf her war er ein sehr aktiver Mann. An jenem ersten Tag seines Urlaubs war er stundenlang in der Sonne gelegen, hatte halbherzig gefischt, eine Stunde lang seinen Lieblingskomponisten Ravel gehört und sich schließlich im Salon der Yacht zwei Cowboyfilme angesehen. Der Gedanke, noch einmal fünfeinhalb Tage lang dasselbe zu machen, widerte ihn an. Allmählich machte er sich auch Gedanken über seine Arbeit und seine dunklen Vorahnungen. Nur weil er Ferien machte, mußte das nicht heißen, daß es die Feinde seiner Regierung auch taten. Irgendwo gab es immer Leute, die versuchten, sich einen Plan auszudenken, um seinen Präsidenten, Juan Jesus Bolivar, zu stürzen, und Lopez liebte es leidenschaftlich, schlauer zu sein als sie. Am Morgen seines zweiten Urlaubstages hatte er genug. Sobald er aufwachte, rief er den Kapitän an. »Wo sind wir jetzt?« fragte er über das Telefon neben seinem Bett. »Vor Rocas, Sir.« Das war eine kleine Insel, die Lopez hatte erkunden wollen. »Ich habe es mir anders überlegt. Kehren Sie nach Fortaleza zurück«, sagte er. Inez lag schlafend neben ihm. Er weckte sie, indem er seine Hand zärtlich zwischen ihre Schenkel gleiten ließ. Sie murmelte etwas und schob ihn weg. Er wartete einen Augenblick und versuchte es dann wieder. Langsam öffneten sich ihre Schenkel. Als er einen Finger in sie hineinsteckte, stöhnte sie und drehte sich ihm zu. Schläfrig streichelte sie seinen Bauch und hielt seinen Schwanz. Er lächelte in sich hinein.
Sie war wieder normal, und es wurde ja auch langsam Zeit. Nun verschwendete er keine Zeit mehr. Er drehte sie so, daß sie mit dem Rücken zu ihm lag, umklammerte ihre festen runden Brüste und drang langsam in sie ein. Es war, als würde er in ein tröstendes, nasses Feuer gleiten. Das Telefon klingelte. Er achtete nicht darauf. Sie bewegten sich rhythmisch gegeneinander. Er drückte ihre Brustwarzen, als er spürte, daß sie heftiger gegen ihn stieß. Sie schrie vor Schmerz und Lust, und er wußte, daß sie kommen würde. Er paßte sich ihrem Rhythmus an und kam zur selben Zeit zum Orgasmus wie sie. Benommen und erschöpft schmiegten sie sich aneinander. Im Hintergrund klang ein irritierendes Geräusch, und er bemerkte, daß das Telefon noch immer klingelte. »Was ist los?« rief er in den Hörer. Der Kapitän stammelte Unverständliches. »Beruhigen Sie sich!« befahl Lopez. Ein kurzes Schweigen folgte. »Eine Seuche… in unserem Land… Berichte… Tausende sterben…« Lopez zögerte nicht lange. Er packte seinen Bademantel und lief in den Funkraum. Der Kapitän sah erschüttert aus, als er ihm das Mikrofon reichte. »Was ist mit dieser… Seuche?« rief Lopez ins Mikrofon. »Wir wissen nicht, was es ist«, antwortete eine krächzende Stimme. »Wir bekommen gerade erst die Berichte… Tausende sterben, nicht nur in Sao Amerigo, sondern im ganzen Land…« »Mutter Gottes.« Lopez war kein religiöser Mensch, aber er bekreuzigte sich trotzdem. Er hatte keine Angst vor dem Tod, aber eine Seuche… »Wie lange brauchen wir zur Rückfahrt?« fragte er den Kapitän. »Eineinhalb Tage, Sir«, erwiderte der Kapitän zögernd. »Aber wir müssen vorsichtig sein…« »Feigling«, rief Lopez. Er spürte die gleiche Angst in sich, aber er bezwang sie, weil er nach Sao Amerigo zurückkehren mußte. »Wir sind In eineinhalb Tagen im Hafen«, sagte er zu dem Mann am anderen Ende der Leitung. »Stellen Sie ein Flugzeug bereit, das mich nach Sao Amerigo bringt.« »Das ganze Gebiet steht unter Quarantäne. Es fliegen keine Flugzeuge«, erwiderte der Mann. »Dann chartern Sie eines.« »Sie werden keinen Piloten finden, der die Reise macht.«
»Ich bin Colonel Garcia Lopez, der Chef der SAIS. Ich befehle einem Piloten…« »Sie könnten Gott sein«, sagte der Mann. »Niemand will wegen Ihnen sterben.« »Ich habe meine Befehlsgewalt direkt von Präsident Bolivar.« Er wollte schon schreien, aber dann hielt er inne. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. »Was ist mit ihm passiert. Lebt er noch?« »Wir haben noch keine Nachrichten von ihm. Ich weiß es nicht. Aber wenn er lebt, dann ist er nicht mehr länger Präsident. General Alvaro Peres, der Oberkommandierende der Streitkräfte von Menaguay, hat vor einer Stunde das Kriegsrecht ausgerufen. Und er hat sich selbst für eine Übergangszeit bis zur Normalisierung der Lage zum Präsidenten erklärt.« Lopez antwortete nicht. Schweigend gab er dem Kapitän das Mikrofon zurück. Inez stand in ihrem dünnen Nachthemd neben ihm und weinte. Er sah sie gar nicht, als er aufs Deck hinausstürmte. Die Yacht beschleunigte, und vielleicht war der Fahrtwind dafür verantwortlich, aber jedenfalls spürte Lopez, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, und er konnte sie nicht aufhalten. Als er die Wohnung aufsperrte, dachte er kurz an Inez. So wie er war auch sie sofort nach Hause geeilt, und er fragte sich, ob sie das gleiche vorgefunden hatte wie er. Er ging ziellos durch die Wohnung. Auf den Möbeln lag dick der Staub, die Luft war abgestanden. Wegen des Gestanks konnte er die Fenster nicht öffnen. Er ging ins Wohnzimmer. Das Strickzeug seiner Mutter lag noch dort, wo sie es fallengelassen hatte. Er ließ es dort liegen. Er wollte nichts berühren. Plötzlich blieb er stehen. Aus dem angrenzenden Zimmer kam ein leises Geräusch. Er schlich zum Schreibtisch, öffnete leise die Schublade und nahm seine Automatik heraus. Die Stadt war voller Plünderer, und die hatten keine Achtung vor dem Eigentum eines anderen. Er zog die Schuhe aus und huschte leise zur Tür. Dort zögerte er einen Augenblick, spannte die Muskeln und öffnete die Tür. Er stützte das Knie auf und zielte. Der Mann hob die Hände über den Kopf. »Ich bin’s, Santos«, sagte er schnell. Lopez ließ die Waffe sinken und stand auf. Er ging durchs Zimmer, und einen Augenblick starrten sich die beiden Männer an, als würden sie Geister sehen. Dann fielen sie sich in die Arme.
»Ich hatte gehört, du seist tot«, sagte Santos. Er war ein schwerer, gutgebauter Mann. Die Augen hinter der goldgerahmten, fast fraulichen Brille waren wachsam, der Mund zusammengekniffen. »Wenn ich es nur wäre«, antwortete Lopez. »Wie geht’s Bolivar?« Es war eine fast sinnlose Frage. Santos und Bolivar waren beinahe ein und derselbe. Solange er sich erinnern konnte, war Santos Bolivars persönlicher Leibwächter. Es gab Gerüchte, die beiden seien Brüder oder Cousins, und sie waren nie sehr weit voneinander entfernt. Plötzlich lächelte Lopez bitter in sich hinein. Ihm war plötzlich eingefallen, daß er ja nun keine Arbeit mehr hatte. Da die Armee an der Macht war, hatte sie auch die SAIS übernommen. Und er bezweifelte, daß sie Verwendung für ihn hatten. Er war Bolivars Mann. »Er ist gesund und wohlbehalten«, sagte Santos. »Wir hatten großes Glück. Wir saßen gerade im Flugzeug in den Ostteil des Landes, als wir von der Seuche hörten. Bolivar wollte sofort umkehren, aber ich ließ ihn nicht. Als wir dann drei Tage später zurückkamen, hatten die Generale das Kriegsrecht ausgerufen.« Santos hielt inne. »Er will dich sofort sehen.« »Wozu?« »Wir haben Nachforschungen angestellt«, erwiderte Santos, »und herausgefunden, daß alle Generale und ihre Familien diese verdammte Seuche überlebt haben. Die Frauen und Kinder wurden fünf Tage vor Ausbruch der Seuche außer Landes gebracht. Die Generale waren in den Bergen, angeblich bei Manövern. Bolivar wußte das, aber es beunruhigte ihn nicht. Sorgen macht man sich schließlich erst, wenn sie ihre Manöver in der Hauptstadt abhalten.« Lopez schwieg eine ganze Minute. Er sah Santos in der Dämmerung an und erschauerte. Die Kälte kam nicht von außen, sondern von tief in ihm. Es war, als wären seine Knochen zu Eis erstarrt. »Was will Bolivar von mir?« fragte er schließlich leise, und seine Stimme war so kalt, wie er sich fühlte. »Komm, wir müssen gehen«, entgegnete Santos und ging zur Tür. Lopez folgte ihm. »Er wird es dir selber sagen, und so kann ich es ebensogut tun. Du sollst herausfinden, wie und warum die Generale und ihre Familien überlebten. Bolivar weiß, daß du das schaffst. Du bist immer noch der beste Jäger in diesem Land.« »Dann muß ich sie aber töten dürfen, einen nach dem anderen«, sagte Lopez, während sie die Wohnung verließen.
»Nein«, antwortete Santos. »Überlaß das Bolivar. Er wird sie und jeden, der mit ihnen zu tun hatte, in das Feuer stoßen, in dem unser Volk jetzt brennt.«
4 Liste der Journalisten in Sao Amerigo, Anfrage von John Darrigan vom Rat: Minor, R. Towne, K. Shatner, P. Hyslop, M. Schmidt, C. Harris, R. Meunier, T.
Martinelli, N. Medwedew, M. Valery, F. Alexejew, B. Sachow, S. Liste wird fortgesetzt…
»Shatner, P.!« John Darrigan lehnte sich zurück und starrte auf den Monitor. Er drückte einen Knopf, und die Namen verschwanden. »Verdammt noch mal, wer hat diesem Scheißkerl erlaubt, dorthin zu fahren?« »Warum sollte er nicht dort sein?« fragte Charles Mercer. Darrigan ignorierte ihn so wie immer, wenn er eine Frage für unbedeutend hielt. Mercer trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Er hatte genug von Darrigan und Solotow. Eigentlich sollten sie ja vollkommen gleichberechtigt sein, und deshalb saßen sie ja immer an dem runden Mahagonitisch im Konferenzzimmer. Aber in welche Richtung er auch sah, er schien immer zwischen den beiden gefangen zu sein. Mercer wünschte sich sehnlichst einen anderen Posten als den des Ständigen Vertreters Europas beim Rat, obwohl er wußte, daß dies die privilegierteste Position war, die man in der Welt einnehmen konnte. Zusammen mit Darrigan und Solotow kontrollierte er einen Großteil des Wirtschaftslebens der Industrienationen. Innen- und Außenhandel, industrielles Wachstum, Finanzpolitik und die Verhandlungen mit der Dritten Welt lagen in seiner Macht. Und da der Rat die Wirtschaftssysteme seiner Mitgliedsländer kontrollierte, gewann er die Kontrolle über das politische, soziale und kulturelle Leben der Völker. Nach außen hin war jede Nation politisch unabhängig. Aber jeder Politiker wußte, daß er kein einziges Wahlversprechen, ob nun Ausgabenerhöhungen oder Sparmaßnahmen, ob Wachstumsförderung oder -reduzierung, ohne vorher den Rat um Erlaubnis gefragt zu haben.
Bei Gründung des Rates hatten einige Länder versucht, ihre Muskeln spielen zu lassen und innenpolitische Unabhängigkeit zu fordern. England war eines dieser Länder gewesen. Doch der Rat hatte es sich sehr schnell gefügig gemacht, indem er ihm seinen Anteil an den raren Rohstoffen verweigert hatte. Innerhalb von zwei Wochen war das Land auf den Knien gerutscht. Frankreich war als nächstes an der Reihe gewesen und danach Italien. Aber nach einem Jahr hatten sie alle ihre Lektion gelernt. Man überlebte gemeinsam oder ging gemeinsam unter. Wirtschaftliche Gleichheit brachte schließlich soziale Konformität. Das war ein natürlicher Prozeß, der schon Jahre vor Gründung des Rates in den Mitgliedsländern begonnen hatte. Mercer erinnerte sich, wie er in den Fünfzigern in seinem geliebten Paris an den Champs Elysees gesessen und sich darüber gefreut hatte, wie unterschiedlich die Leute doch alle waren. Im Verlauf der Sechziger und Siebziger wurden sich die Leute dann allmählich immer ähnlicher. Ein Franzose sah aus wie ein Amerikaner, ein Amerikaner wie ein Deutscher, ein Engländer wie ein Schwede. Sie waren alle gleich gut genährt, gleich gut gekleidet, gleich behäbig. Sie sprachen gleich, sie dachten gleich, und sie zogen sich gleich an. Sie genossen alle die gleiche Erziehung, gingen zu der gleichen Sorte Ärzte und lebten das gleiche Leben. Es war eine der Notwendigkeiten des Lebens, daß sie sich gleich wurden, sonst wäre das zerbrechliche ökonomische Gleichgewicht zwischen den Mitgliedsstaaten gestört worden. Ein Amerikaner durfte nicht besser sein als ein Russe, ein Italiener nicht besser als ein Tscheche. Mercer dachte an die Leitartikel in den Zeitungen. Was hatte die Times gleich wieder geschrieben: »… die wirtschaftliche Macht des Rates greift in das soziale und kulturelle Leben der Menschen ein. Bald wird er auch ihre Freiheit beeinträchtigen…« Andere hatten mehr oder weniger das gleiche gesagt. Er nahm es ihnen gar nicht übel, daß sie sich Sorgen machten. Der Rat wurde zu mächtig, aber gab es denn eine andere Möglichkeit? Wie sollte man umgehen mit der OPEC, den Kupferkartellen, dem Kartell der Kaffeeproduzenten, der Baumwollproduzenten…? Die Liste war endlos. Die Dritte Welt organisierte sich. Sie war nicht länger bereit, nur Holzhacker und Wasserträger der Industrienationen zu sein. Ohne den Rat, der Verhandlungen führte und die Rohstoffpreise festsetzte, hätte das Chaos geherrscht.
Er sah zum Fenster hinaus. Vom sechzehnten Stock sah er auf die ruhige, glatte Oberfläche des Genfer Sees hinunter. Es war ein schöner, warmer, fast windstiller Tag. Am anderen Ufer des Sees bemerkte er den Zug von Genf nach Lausanne. Er sah automatisch auf die Uhr. Zehn Uhr fünfundvierzig. Bei den Schweizern gab es keine Verspätungen. Er mochte die Schweizer nicht. Sie waren ihm zu antiseptisch, zu kalt. Sein Blick kehrte ins Zimmer zurück. Vor ihm standen Telefone, Fernsehschirme, Gegensprechanlagen. Jeden Teil der Welt – Paris, Washington, Moskau – konnte er sofort erreichen, über Telefon oder über Fernsehen. Im Stockwerk über ihm war das raffinierteste Kommunikationssystem der Welt installiert. Sender, Empfänger, TVStudios, Kodierungs- und Dekodierungscomputer – und alles überwacht von Dutzenden von Technikern und Hilfskräften. Mercer setzte sich auf und zwang sich, mit seinen Gedanken wieder zu seiner Frage zurückzukehren. Ich bin fünfundsechzig, fett, weißhaarig und verantwortlich. Nicht nur für das, was wir aus dieser Welt gemacht haben, sondern auch für das, was wir im Augenblick tun. Er war so müde. Seit einer Woche hatte er nicht mehr geschlafen, und er fragte sich, ob er je wieder Schlaf finden würde. Bestimmt keinen Schlaf mehr, der ihm erlaubte, einen friedlichen Morgen zu begrüßen. »Geben Sie mir den Direktor von Channel 14 in New York«, sagte Darrigan zu dem Monitor, »und sagen Sie mir seinen Namen, bevor Sie ihn durchstellen.« Er wandte sich Solotow zu und schaffte es, auch Mercer in den Blick mit einzubeziehen. »Was sollen wir mit Shatner tun?« Solotow sah beim Sprechen aus, als würde er die Lippen überhaupt nicht bewegen. »Lassen Sie ihn ausweisen oder…« Er brauchte den Satz nicht zu beenden. »Was hat er getan?« wollte Mercer wissen. Seine Stimme klang unnatürlich laut. »Okay, seine Berichte sind ziemlich brisant, und er stellt ein paar unbequeme Fragen. Aber das wird ja nicht gesendet, oder? Ich verstehe nicht, welchen Schaden er anrichtet.« »Bolivar ist noch am Leben, und Shatner kennt ihn«, erwiderte Darrigan geduldig. »Diese verdammten Generäle schaffen es ja nicht einmal, ihre Uhren richtig aufeinander einzustellen.« »Es war ja nicht ihre Schuld, daß Bolivar im Flugzeug saß, als Sao Amerigo…« Darrigan bemerkte Mercers Zögern und wartete. »… getroffen wurde.«
»Wenn die ein bißchen Grips hätten, dann hätten sie ihm einen Jagdbomber nachgeschickt. Das hätte allen viel Ärger erspart. Aber so stellt Shatner seine Fragen, und Bolivar ist noch am Leben. Wenn die beiden zusammentreffen, ist der Teufel los.« »Wir haben den Teufel bereits losgelassen«, sagte Mercer leise. Darrigan musterte Mercer kurz. Der Mann sah mindestens zehn Jahre älter aus, als er wirklich war. Seine Haut war fahl, und er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sein Gesicht und seine Körperhaltung verrieten eine verzweifelte Erschöpfung. Es sah fast so aus, als würde er sich physisch langsam auflösen. Der Mann war schwach, und Darrigan mochte den Europäer deswegen noch weniger. Es wurde langsam Zeit, daß Mercer abtrat und ein neuer Mann seinen Platz einnahm. Im Rat war kein Platz für Schwächlinge. Darrigan respektierte Solotow. Die beiden waren sich sehr ähnlich. Er suchte nach dem passenden Ausdruck. Pragmatische Männer. Aber er hatte keine Illusionen. Sie konnten zusammenarbeiten, solange es ihren jeweiligen Zielen diente. Und Darrigan war zuversichtlich, daß er die Oberhand behalten würde, falls es zu Unstimmigkeiten kommen sollte. Aber er ging nicht davon aus, daß dies in nächster Zeit passieren würde. Ein Assistent erschien auf dem Bildschirm. »Ich habe den Direktor von Channel 14 in New York, Sir. Er heißt Tom Brauer. Er ist seit drei Jahren Direktor des Senders. Er fing an als…« »Sagen Sie ihm, er soll dranbleiben«, erwiderte Darrigan barsch und wandte sich den beiden anderen zu. »Was sollen wir mit Shatner tun?« »Warum diese Fixierung auf diesen Mann?« fragte Solotow leise. »Gleichgültig, was er herausfindet, es wird nie gesendet werden, also lassen wir ihn doch sein Spielchen spielen. Wir haben Wichtigeres zu tun.« Er öffnete die Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag, und erklärte damit das Problem Shatner für erledigt. Er las die Papiere. Am Schweigen merkte er, daß Darrigan ihm Aufmerksamkeit schenkte. »Wie ich sehe, sind bis heute zehntausend Amerikaner nach Menaguay entsandt worden. Wie viele sind noch geplant?« »In der nächsten Zeit fünfzehntausend. Sobald sich die Situation stabilisiert hat, können wir darüber reden, wie viele wir noch in den Süden schicken können.« »Und diese zehntausend?« Solotow hob den Kopf und sah Darrigan an.
»Kein Militärpersonal«, antwortete Darrigan. »Das hatten wir doch beschlossen. Es sind nur Zivilisten. Ingenieure, Techniker, Agrarwissenschaftler, Geologen. Ich kann Ihnen eine komplette Liste der Namen und Berufe geben.« »Die hätte ich gerne«, entgegnete Solotow. »Sobald wie möglich. Und sie sollte auch Informationen enthalten über all die anderen, die Sie in den nächsten Wochen hinschicken werden.« »Natürlich erwarte ich ein entsprechendes Verhalten auch von Ihnen beiden, wenn es soweit ist«, sagte Darrigan und sah die zwei Männer an. »Natürlich«, erwiderte Solotow knapp. Mercer nickte nur. Darrigan bemerkte, daß der Gedanke daran Mercer nur noch unglücklicher und grauer werden ließ. »Und wo wird Ihr Personal bis jetzt eingesetzt?« »Im ganzen Land«, antwortete Darrigan. »Wir versuchen, die Minen, die Ölfelder und die Farmen wieder aufzubauen. Sie werden noch zwei oder drei Wochen brauchen. Sie werden verstehen, daß es einen Mangel an Arbeitskräften gibt. Die Generäle haben versprochen, Arbeitskräfte von außerhalb der betroffenen Zone in Gebiete zu verlegen, die wir bestimmen. Wir können sie im Augenblick natürlich nicht zu sehr unter Druck setzen. Wir müssen den Eindruck aufrechterhalten, daß sie auch weiterhin die Kontrolle haben. Das ist lebenswichtig, wie Sie vielleicht verstehen werden. Wenn Odu oder die anderen, von denen ich annehme, daß sie die Situation sehr genau beobachten, Verdacht schöpfen, dann ist, um es altmodisch auszudrücken, die Kacke am Dampfen.« Zufrieden registrierte er, daß die anderen nickten. »Und das ist auch der Grund, weshalb ich glaube, daß man etwas gegen Shatner unternehmen sollte. Falls der irgendwas herausfindet, könnte er diese Information an Bolivar weitergeben. Oder an Odu. Dem Kerl ist das durchaus zuzutrauen. Er hat keinen Patriotismus.« Darrigan hatte mehr Grund als die anderen, Shatner zu hassen. Er erinnerte sich mit Unbehagen daran, daß Shatner ihn bei seiner Ernennung zum Außenminister und Ständigen Vertreter der USA beim Rat interviewt hatte. Shatner war vollkommen feindselig gewesen, und das nicht nur ihm als Person gegenüber, sondern auch gegenüber der Tatsache, daß man gerade ihn, Shatner, geschickt hatte. Irgendwie war es ihm gelungen, ein Papier auszugraben, das Darrigan als stellvertretender Wirtschaftsberater des amerikanischen Präsidenten zur Zeit des ersten arabischen Öl-Embargos geschrieben hatte. Es war bloß
eine knappe Gedächtnisstütze gewesen, in der er eine Kontrolle aller überlebenswichtigen Rohstoffquellen durch die Industrienationen befürwortet hatte. Darrigan zweifelte nicht daran, daß Shatner dieses Papier in Sao Amerigo wieder einfallen würde. Er erwähnte dies vor den anderen nicht, denn seine Bemerkung, Shatner sei kein Patriot, traf in gewisser Hinsicht durchaus zu. Shatner hatte keine Achtung vor hohen Ämtern. Eigentlich – Darrigan zuckte bei dem Gedanken zusammen – machte er sich darüber lustig. Shatner hatte damals eine raffinierte kleine Dokumentation zusammengestellt, die angeblich zeigen sollte, wie der Rat arbeitete. Erst beim zweiten Ansehen, nachdem sie bereits gesendet worden war, hatte Darrigan erkannt, daß Shatner sich über den Rat lustig gemacht hatte. Und Darrigan war kein Mann, der leicht verzieh. »Er war derjenige, der diese Sendung über uns gemacht hat«, sagte Mercer, dem es jetzt auch wieder einfiel. Er hatte sich darüber amüsiert, doch die anderen hatten seine Meinung wie gewöhnlich nicht geteilt. »Ach das«, sagte Solotow. »Lassen Sie ihn ausweisen, und damit ist die Sache dann erledigt.« Er wandte sich wieder seiner Akte zu. »Was ich hier nicht verstehe, ist, daß die Zahl der Opfer im Zentralbecken nur bei etwa dreißig Prozent liegt. Sie sollte doch eigentlich viel höher sein, oder?« »Ich lasse das überprüfen«, warf Darrigan dazwischen, »weil ich es auch nicht verstehe.« Er drückte auf den Knopf. »Ich werde sofort mit Brauer sprechen.« Dann sah er Solotow an. »Ich glaube nicht, daß eine Ausweisung Shatners eine gute Idee ist. Bolivar wird Verdacht schöpfen.« »Dann lassen Sie ihn doch töten.« Darrigan ignorierte Mercers Sarkasmus. »Das wird Bolivar nur noch argwöhnischer machen. Man muß ihn beobachten, und wenn er etwas herausfindet oder versucht, mit Bolivar in Kontakt zu kommen, werde ich handeln.« Solotow zuckte mit den Achseln, und Mercer sah aus dem Fenster. »Brauer!« Der Mann, der ihm aus dem Monitor heraus entgegenblickte, richtete sich auf. »Wer hat Shatner nach Sao Amerigo gesandt?« »Höchstwahrscheinlich Frank Kolok. Er ist der Nachrichten…« »Kolok, Frank.« Darrigan notierte sich den Namen. »Überspielen Sie mir Shatners Berichte, sobald sie bei Ihnen eintreffen. Wir zensieren nichts, wir wollen nur sehen, worüber er berichtet. Vielen Dank.«
Darrigan drückte auf den Knopf, bevor Brauer noch etwas erwidern konnte, und sprach mit einem Assistenten: »Setzen Sie unseren Agenten unter den Journalisten auf Shatner an. Ich will genau wissen, was er tut.« Vorsichtig traten Lopez und Santos auf die Straße. Seit einer halben Stunde herrschte Ausgangssperre, und die Straße war menschenleer. Der Halbmond verbarg sich hinter einer dünnen Wolkenschicht, und in dem milchigen Licht schienen die Gebäude beinahe zum Leben zu erwachen. Wegen der Energiesparmaßnahmen war die Straßenbeleuchtung abgeschaltet, und dies war ihr großer Vorteil. So konnten die JeepPatrouillen sie nicht so leicht entdecken. Sie warteten ein paar Minuten, bis ihre Augen sich an das eigenartige Licht gewöhnt hatten, und gingen dann in östlicher Richtung davon. Wie Lopez wußte, brauchte man bis zu Bolivars Haus normalerweise eine halbe Stunde. Da die Patrouillen kontrollierten, würde es länger dauern. Es war eine warme, beinahe windstille Nacht. Ab und zu brachte ein kleiner Windstoß den Geruch der Feuer mit sich. In solchen Momenten hielten sie den Atem an. Lopez ging schnell hinter Santos her. Ein Teil seines Bewußtseins nahm die Umgebung wahr – die Stille, die entfernten Geräusche der Patrouillen, den Zwang, im tiefsten Schatten gehen zu müssen. Der andere Teil versuchte, die Informationen zu verarbeiten, die er von Santos erhalten hatte. Hin und wieder schüttelte er wie ein Boxer, der sich von seiner Benommenheit zu befreien versucht, den Kopf. Er kam sich vor wie auf einer Wippschaukel. In dem einen Augenblick glaubte er, was Santos ihm erzählt hatte, so daß ihn eine unkontrollierbare Wut vorwärtstrieb, im nächsten versank er wieder in kaltem Unglauben. »Zurück«, flüsterte Santos und wies mit dem Finger in die Dunkelheit. Sie standen am Rande eines Platzes und wollten ihn eben überqueren. Lopez folgte dem Fingerzeig. Genau wie Santos spürte er den Jeep, der in der Dunkelheit geparkt stand, mehr, als daß er ihn sah. Sie brauchten zehn Minuten, um den Jeep auf dem Weg durch Seitenstraßen zu umgehen. Und sie mußten noch zwei weitere Umwege machen, bis sie den Anfang der Straße, in der Bolivar wohnte, erreichten. Vor dem Tor standen Jeep-Patrouillen. »Wie kommen wir hinein?« fragte Lopez flüsternd.
»Du solltest ihn inzwischen doch kennen. Er hatte immer mehr als einen Ein- oder Ausgang.« Santos bog in eine Seitenstraße ab und ging dann in einer kleinen Gasse wieder auf das Haus zu. Lopez war nur einige Male im Haus gewesen, um die Sicherheitsvorkehrungen zu überprüfen. Bolivar benutzte es nur selten, da er die offizielle Residenz des Präsidenten etwas außerhalb des Stadtzentrums vorzog. Soweit Lopez sich erinnern konnte, gab es nur einen Ein- und Ausgang. Beim letzten Haus der Gasse blieb Santos stehen. Es lag knappe fünfzehn Meter von der Mauer um Bolivars Garten entfernt. Santos öffnete mit einem Schlüssel, und Lopez folgte ihm. Während er sich in der Dunkelheit hinter Santos hertastete, spürte er, daß das Haus leer war, ja, daß hier noch nie jemand gewohnt hatte. Vorsichtig stiegen sie in den Keller hinunter, kamen schließlich zu einer Tür und betraten den dahinterliegenden Tunnel. Santos schaltete das Licht ein, und Lopez sah die Wände eines geschwungenen Gangs, der, wie er vermutete, auf Bolivars Haus zuführte. »Warum habe ich davon nichts erfahren, als ich die Sicherheitsvorkehrungen überprüfte?« »Ein paar Geheimnisse behält Bolivar gerne für sich.« Im Weitergehen sagte Santos: »Und für mich.« Der Tunnel war etwa fünfzig Meter lang und endete vor einer Tür. Santos öffnete sie, und Lopez fand sich im Keller von Bolivars Haus wieder. Nun sah er sich die Tür von innen an und verstand, warum er sie zuvor nicht bemerkt hatte. Sie hatte dieselbe Farbe wie die Wand und war perfekt in sie eingepaßt. Bolivar erwartete sie in seinem Arbeitszimmer. Das Zimmer mit seinen Bücherregalen an den Wänden war mit schweren Vorhängen verdunkelt und nur von einer einzelnen Tischlampe beleuchtet. Hinter dem Lichtkegel konnte Lopez Bolivar gerade noch erkennen. Nicht einmal seine Schmeichler, von denen es viele gab, würden behaupten, Bolivar sei ein gutaussehender Mann. Obwohl er ein Mestize war, sah er eher aus wie ein Indio und weniger wie ein Neger oder ein Indoeuropäer. Er hatte ein plattes, breites Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer wulstigen Unterlippe, die sich rosig und fast obszön wölbte. Seine schwarzen Augen leuchteten hell, waren aber unter Hängelidern und buschigen Augenbrauen fast verborgen. Seine Nase hatte in der Mitte einen Höcker. Der Legende nach – und sein Leben bestand zur einen Hälfte aus Legende, zur anderen aus
Wirklichkeit – war sie ihm einst in einem barrio, einem Urwalddorf oder auf der Straße bei einem Kampf abgebissen worden, und ein vorbeiziehender Arzt, der keine Zeit für den armen Bauern hatte, hatte sie ihm mit Pflaster wieder abgeklebt. Seine Hände waren, wie die Brust unter dem offenen Hemd, dick und mit Narben übersät. Nackt sah er aus wie eine aus fleischfarbenem Marmor gehauene Statue, die der Künstler nur zur Hälfte fertiggestellt hatte. Messerwunden und Einschußnarben waren die Meißelspuren. Der Legende nach – die von ihm durchaus gefördert wurde – war er der Sohn einer Hure und des Geistes des wahren Bolivar. Die Wahrheit kannte nur er, und er sprach nie darüber. Wie alle anderen kannte Lopez nur einen kleinen Teil seiner Herkunft. Er hatte Bolivar als Gewerkschaftsführer in den Bergwerken kennengelernt und war bei ihm geblieben, während er in der Hierarchie der Confederacion de los Trabajadores bis zur politischen Macht in Menaguay aufgestiegen war. Seit zwanzig Jahren war Lopez nun schon bei ihm, und er vergaß nie Bolivars Lieblingsspruch. Angeblich stammte er von Juan Peron. »Im Jahr 2000 ist Südamerika entweder eine geeinigte Nation oder versklavt.« Während Lopez nun vor Bolivar stand, hatte er den Eindruck, als könne der alte Mann durchaus recht behalten. Er fragte sich nur, mit welchem Teil der Voraussage. Bolivar erhob sich und drückte Lopez fest die Hand. »Ich bin froh, daß du überlebt hast, mein amigo«, sagte er. Seine Stimme klang überraschend weich und sanft. »Ich brauche dich.« »Mein Beileid wegen Madame Bolivar«, erwiderte Lopez, ohne die Hand loszulassen. Bolivar nickte und ließ los. »Es wird dich überraschen, zu hören, daß die Generäle und all ihre Familien am Leben sind«, sagte Bolivar und bemerkte, daß Lopez gar nicht überrascht war. »Ich nehme an, Santos hat es dir bereits gesagt.« »Entschuldigung, Präsident…« setzte Santos an. Bolivar brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Wie hast du das mit den Familien erfahren?« fragte Lopez. »Die Botschaften halten mich immer auf dem laufenden über die Bewegungen der… sagen wir unserer wichtigeren Bürger. Ich erhielt Routineberichte über ihre Anwesenheit in London, New York und Rom. Sie sind alle innerhalb weniger Tage in diesen Städten eingetroffen. Bis jetzt habe ich mir darüber nicht viel Gedanken gemacht. Aber jetzt gefällt es mir ganz und gar nicht.«
»Willst du damit sagen, daß die Generäle verantwortlich sind für…« Lopez’ Stimme zitterte. In einer hilflosen Geste ließ er die Hand sinken. Er fand nicht die richtigen Worte, um seinen Abscheu auszudrücken. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Bolivar. »Alles, was ich habe, sind zu viele Zufälle.« Er streckte einen Finger in die Luft. »Zufall eins: Die Generale Peres, Bardez und mit ihnen sechs andere beschließen, mit ausgesuchten Truppen der Armee und der Luftwaffe achthundert Meilen nördlich von Sao Amerigo ein Manöver abzuhalten, und zwar in einer Gegend, die, wie ich jetzt weiß, von dieser mörderischen Krankheit nicht betroffen wurde. Ja, sie haben mich um Erlaubnis gefragt, und ich habe sie ihnen gegeben. Aus dieser Entfernung konnten sie ja nichts anrichten. Zufall zwei: Die Familien von acht Generalen befinden sich zur fraglichen Zeit zufällig außerhalb Menaguays. Zufall drei: Du bist in Urlaub. Zufall vier: Ich sollte eigentlich an diesem Tag in Sao Amerigo sein. Ich habe ganz spontan beschlossen, schon früher als öffentlich angekündigt in den Osten zu fliegen. Mehr habe ich nicht. Von einer unumstößlichen Tatsache natürlich abgesehen.« »Welche?« »Ich bin nicht mehr Präsident, und die sitzen an meinem Platz.« Bolivar lehnte sich zurück und schwieg. Er wirkte wirklich wie eine Statue. Lopez wußte, daß er stundenlang so sitzen konnte, ohne einen Muskel zu rühren. Er wartete fünf Minuten und stand dann auf. Er nahm an, daß die Konferenz beendet sei. Bolivar bewegte sich. Er schob Lopez zwei Papiere zu. Auf dem ersten erkannte Lopez die Namen der Generale und die Aufenthaltsorte ihrer Familien. Auf dem zweiten standen Dutzende von Namen, und einer davon war eingekreist. »Shatner?« Lopez hob die Augenbrauen. »Er hat mich vor zwei Jahren interviewt«, sagte Bolivar. »Du erinnerst dich vielleicht nicht daran. Er war … simpatico mit unserer Sache. Er kann uns vielleicht nützlich sein.« »Wie?« fragte Lopez. »Ich traue diesen Amerikanern nicht.« »Ich glaube, er ist anders. Er hat einen wachen Verstand und eine Schwäche. Er liebt die Wahrheit zu sehr. Ein gefährlicher Fehler, und ich kann ihn mir zunutze machen. Arbeite mit ihm. Er hat Kontakte, und er kann uns vielleicht helfen.« »Wenn du meinst«, erwiderte Lopez beleidigt. »Wenn ich erfahre, daß die Generale verantwortlich sind, was soll ich dann tun? Sie töten?«
»Überlaß sie mir«, sagte Bolivar. »Odu will mir helfen, wieder an die Macht zu kommen, wenn die Zeit reif ist.« Bolivar stand auf und gab Lopez die Hand. »Sei vorsichtig, mein amigo. Generale sind gefährliche Tiere. Und diese Generale haben vielleicht Hintermänner, die wir noch nicht kennen.« Lopez blieb stehen. »Was soll das heißen?« »Das kann ich jetzt noch nicht sagen.« Bolivar zögerte. »Erst, wenn wir Beweise haben. Aber sei vorsichtig. Wo wohnt Shatner?« »Im Amerigo«, antwortete Santos. »Zimmer neunundvierzig.« »Sieh zu, daß Shatner alles filmt, was du herausfindest«, sagte Bolivar. »Wir brauchen Beweise, die wir Odu und vielleicht den anderen zeigen können.« Santos führte Lopez hinaus. Bolivar blieb alleine sitzen. Er spürte die Leere des Hauses, in sich selbst und in allem, was ihn umgab. Das Land außerhalb dieses Hauses, in dem es früher von Menschen nur so wimmelte, war plötzlich ebenfalls leer. Einen Augenblick lang saß er noch aufrecht in seinem Stuhl, dann ließ er die Schultern sinken. Vor Lopez und Santos hatte er Zuversicht gezeigt – waren nur noch diese beiden übrig von all den Millionen, die ihm gefolgt waren? Erhob sich vielleicht noch eine Handvoll anderer aus der Asche? Aber nun, da er allein war, kam es ihm vor, als würde er nach Strohhalmen greifen. Auch wenn Lopez wirklich Beweise fand – und so sehr er die Generale auch haßte, ein Teil seines Bewußtseins schreckte davor zurück, zu glauben, daß sie wirklich verantwortlich waren –, was konnte er denn schon tun? Seine Stärke lag im Volk, aber er hatte kein Volk mehr. Solange das Volk lebte, hatte kein General es je gewagt, die Hand gegen ihn zu erheben. Ohne das Volk war er ein Kopf ohne Körper. Er hatte keine Waffen außer seinen Händen. Bolivar öffnete sie. Sie lagen ruhig und kräftig in seinem Schoß. Sie hatten ihm oft gute Dienste geleistet, aber nun waren sie ebenso nutzlos wie er. Odu und die anderen Führer der Dritten Welt würden versuchen, ihm zu helfen, aber er brauchte Beweise, bevor sie eingriffen. Er ballte eine Faust. Stichhaltige Beweise waren seine einzige Waffe, denn die würde er schwingen wie ein Schwert. Als er Santos zurückkehren hörte, setzte er sich wieder auf. Er zog sich einige Papiere heran und beugte sich darüber. Dann dachte er an sein Volk und an seine Frau. Für beide empfand er dasselbe. Als die Tür aufging, begannen seine Hände zu zittern. Er ballte sie zu Fäusten und zwang sie, still in dem
Lichtkegel zu liegen, damit Santos nur seine steinerne Unbeweglichkeit zu sehen bekam.
5 Lopez fühlte sich müde und erschöpft, als er wach wurde. Er setzte sich im Bett auf und sah an sich hinunter. Er trug noch immer seinen Straßenanzug. Wahrscheinlich war er kurz vor der Morgendämmerung eingeschlafen. Der Wecker neben dem Bett zeigte halb neun. Mehr als vier Stunden hatte er nicht geschlafen, und das spürte er auch. Er dachte an die vergangene Nacht. Ohne Probleme war er in seine Wohnung zurückgekehrt. Die Probleme kamen erst hinterher, als er im Wohnzimmer saß und darüber nachdachte, was Bolivar ihm erzählt hatte. Es war ein Alptraum, und er hatte den Auftrag, das Problem zu lösen. Müde hob er die beiden Blätter neben dem Bett auf. Sie waren inzwischen zerknüllt, und Santos’ Handschrift war auch im besten Fall unleserlich. Namen. Die Liste mit den Journalisten ließ er wieder fallen. Er verstand nicht, wie ihm dieser Shatner nutzen sollte. Die anderen Namen gehörten Leuten aus der ganzen Welt. Lopez schüttelte den Kopf. Er war hungrig und hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Und – er betastete sein Hemd – auch nicht gebadet. Steifbeinig ging er ins Badezimmer. Aus dem Hahn kam nur ein dünnes Rinnsal. Die Wasserversorgung funktionierte noch nicht. Er wusch sich das Gesicht, so gut es ging, und rasierte sich schnell. Sein Kopf war nun etwas klarer, und er ging in die Küche. Bis auf zwei Obstkonserven gab es nichts zu essen. Er öffnete beide Dosen und aß die Früchte. Nun fühlte er sich etwas besser, obwohl der süße Sirup einen klebrigen Geschmack im Mund hinterließ. Im Schlafzimmer hielt Lopez mit einem frischen Hemd in der Hand plötzlich inne. Wenn jemand das Land verlassen wollte, so brauchte diese Person die Erlaubnis des Gatten, sofern es sich um eine Frau handelte, oder die des Vaters, wenn sie unter achtzehn war. Und darüber hinaus die Erlaubnis des Innenministeriums. Wollte die betreffende Person ein südamerikanisches Land besuchen, dauerte die Ausstellung eines Visums eine Woche, im Falle von Europa oder Amerika einen Monat oder mehr. Außerdem mußten Angaben über die Gründe für den Besuch, das Reiseziel, das Datum der Rückkehr, die mitgeführten Devisen und noch einiges andere gemacht werden.
Irgend jemand im Ministerium mußte doch innerhalb weniger Tage all diese Anträge erhalten haben, dachte Lopez, während er sich langsam und vorsichtig anzog. Oder vielleicht sogar alle auf einmal. Und diesem Jemand mußte doch aufgefallen sein, daß acht Generäle wie zufällig alle zur gleichen Zeit ihre Familien nach Norden schicken. Aber diese wichtige Information war weder an die SAIS noch an Bolivar weitergegeben worden. Bolivar hatte von den Familien ja nur in den bürokratischen Routinemeldungen der Botschaften erfahren. Lopez zog sich fertig an und betrachtete sich im Spiegel. Er sah nun wieder ein wenig wie früher aus, sauber und gut gekleidet. Sein eingefallenes Gesicht und die tiefen Ringe unter den Augen veränderten sich allerdings nicht. Die Augen selbst aber waren schmal und funkelten. Nun hatte er einen Grund weiterzumachen, und nichts würde ihn aufhalten können. Er steckte sich seinen SAIS-Ausweis in die Tasche, hoffte aber, keinen Offiziellen zu treffen, der seine, Lopez’, Position in Frage stellen würde. Schließlich kontrollierte er das Magazin seiner Automatik und steckte sie sich in den Hosenbund. Das Innenministerium befand sich im Zentrum der Stadt gegenüber der Versammlungshalle. Auf dem kreisrunden Platz standen Lastwagen und Soldaten, die alle Eingänge der Gebäude bewachten. Lopez stellte sein Auto auf dem leeren Parkplatz ab. Zügig und, wie er hoffte, auch selbstbewußt stieg er die Stufen zum Haupteingang hoch. Drei Soldaten standen mit Maschinenpistolen in der Hand vor der Tür und beobachteten ihn. Drei Meter vor ihnen ließ er vorsichtig die Hand in die Tasche gleiten. Einer der Pistolenläufe hob sich. Er zog seinen Ausweis heraus, öffnete ihn und ging durch die Tür. Die Soldaten verdrehten die Hälse, um das Foto und den Stempel sehen zu können. Lopez ging unbeirrt weiter. Er hoffte, daß sein selbstbewußtes Auftreten sie etwas einschüchtern würde. Aus den Augenwinkeln sah er einen der Soldaten – wahrscheinlich der ranghöchste und derjenige, der lesen konnte – nicken. Die beiden anderen entspannten sich, und er war im Haus. An der Treppe drehte er sich um. Einer der Soldaten beobachtete ihn. Lopez lief in den ersten Stock. Seine Schritte hallten durch die Gänge. Er merkte, daß das ganze Gebäude leer war. Es gab keine geschäftigen Angestellten, keine klappernden Schreibmaschinen, keine Stimmen. Im zweiten Stock hielt er an. Der Korridor. Er erstreckte sich auf beiden
Seiten, und nirgends war ein Mensch zu sehen. Lopez hatte sich darauf verlassen, jemand zu finden, der ihm sagen konnte, wo sich die Unterlagen über die Ausreisevisa befanden. Nun mußte er das ganze Gebäude durchsuchen. Neben den Aufzügen hing eine Hinweistafel. Ausreisevisa gab es im vierten Stock. Lopez lief die nächsten beiden Treppen hinauf und mußte dann stehenbleiben, um Atem zu holen. Er hatte einfach keine Kondition mehr. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Es war ein kleines Wartezimmer, mit einer Schalterreihe an der einen und einer langen Bank an der gegenüberliegenden Wand. Direkt vor ihm befand sich eine Tür. Er versuchte, sie zu öffnen. Sie war verschlossen. Er ging einen Schritt zurück und trat das Schloß ein. Die Tür splitterte und schwang auf. Er stöhnte. Was er sah, war weniger ein Zimmer, sondern ein Saal mit Reihen von Schreibtischen und Aktenschränken. Überall lagen Papiere verstreut. Auf den Tischen, den Stühlen, auf dem Boden. Offensichtlich war seit über einer Woche niemand mehr hiergewesen. Eines der Fenster war geöffnet, auf dem Boden lag eine dicke Staubschicht. Er sah auf die Uhr. Er war sich nicht sicher, wieviel Zeit er hatte. Einfache Soldaten dachten zwar langsam, aber gründlich, und er zweifelte nicht daran, daß einer der drei daran denken würde, seine Anwesenheit zu melden. Lopez wußte nicht, wo er anfangen sollte. Er nahm eine Akte vom nächsten Schreibtisch und blätterte sie durch. Doch sie half ihm nicht weiter. Er ging zum ersten in der langen Reihe von Aktenschränken. Es war noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Die Schubkästen hatten Nummern, keine Buchstaben. Wie sollte er da je die Namen der Generalsfamilien finden. Er öffnete einen Kasten und zog einen Ordner heraus. Ganz oben stand eine Nummer und darunter der Name und die Initialen der Vornamen. In der rechten oberen Ecke steckte ein Paßfoto. Er sah die Schrankreihe entlang. Es gab mindestens tausend solcher Ordner, und er würde eine ganze Woche brauchen, um alle durchzusehen. Außer, wenn er irgendwo in dem Saal einen Kreuzkatalog mit Namen und Zahlen entdeckte. Lopez sah sich die Nummern der Schublade an: 800-900. Nun ging er zuerst langsam und dann immer schneller bis zur Schublade mit den Nummern 0 -100. Wenn er Glück hatte, und in ihm flammte kurz die Hoffnung auf, daß er es haben würde, steckte der Kreuzkatalog im Ordner mit der Nummer 1. Er zog die Schublade auf und nahm den
Ordner heraus. Das Deckblatt war ohne Foto. Er klappte den Ordner auf. Die Namen waren alphabetisch geordnet, die Zahlen standen daneben. Lopez suchte die Namensliste ab. P… Peres, M. 732/ 809. Er brauchte fünf Minuten, bis er in aller Hast die acht Ordner zusammengesucht hatte. Nachdem er alle Papiere, die einen der Schreibtische bedeckten, auf den Boden geworfen hatte, ließ er die Ordner auf die Schreibplatte fallen. Er öffnete die Akte über General Peres’ Frau. Am Neunten hatte sie den Antrag gestellt, mit ihren beiden Kindern das Land verlassen zu dürfen. Lopez sah auf den Kalender. Das war acht Tage vor Ausbruch der Seuche gewesen. Er blätterte den Antrag hastig durch und hielt plötzlich an. Das Visum war am Zehnten genehmigt worden. Irgend jemand hatte genug Einfluß gehabt, um einen Monat Wartezeit auf einen einzigen Tag zu verkürzen. Langsam blätterte Lopez zur letzten Seite. Die Unterschrift stammte von Bison, dem Innenminister. Lopez kontrollierte nun auch die anderen Ordner. Alle Visa waren innerhalb weniger Tage um den Zehnten herum ausgestellt worden, und jedes war von Bison persönlich abgezeichnet. Lopez schob die Ordner zusammen und steckte sie sich unter den Arm. Er lief aus dem Büro und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Nun mußte er dringend mit Bison sprechen, der ja angeblich ein enger Freund Bolivars war. Lopez hoffte nur, daß Bison noch am Leben sein würde. Er freute sich schon auf die Unterhaltung. Kurz vor dem Haupteingang wurde er langsamer. Es standen nur noch zwei Soldaten Wache, und beide drehten sich um, als sie ihn hörten. Einer verstellte ihm den Weg. Lopez war darauf vorbereitet. Er öffnete die Peres-Akte und zeigte sie dem Soldaten. »Ich habe Auftrag von General Peres, diese Akten abzuholen. Hier ist seine Unterschrift. Es ist streng vertraulich.« Der Soldat zögerte erst, trat aber dann zur Seite. Lopez salutierte lässig und ging zu seinem Auto. Er erwartete, daß der dritte Soldat mit einem Offizier zurückkommen würde, aber es versuchte niemand, ihn aufzuhalten, als er ins Auto stieg und davonfuhr. Lopez fuhr direkt zu Bisons Residenz im Vorort Santa Maya. Sie war fünf Blocks von Bolivars Haus entfernt. Er hielt an und stieg aus. Der Garten und das Haus wirkten verlassen. Lopez versuchte es an der Haustür. Sie war verschlossen. Er klingelte. Das Geräusch hallte durch das Haus. Er beschloß, es an der Hintertür zu versuchen. Aber auch die
war verschlossen. Lopez sah sich um. Es war niemand zu sehen. Mit dem Ellbogen schlug er das Glas ein. Nach wenigen Sekunden hatte er den Riegel geöffnet und war hineingestiegen. Er sah sich in der Küche um. Sie war geräumig und ordentlich. Im Waschbecken standen keine schmutzigen Teller, alle Dosen waren an ihrem Platz. Von der Staubschicht abgesehen, sah es aus, als hätten die Bewohner erst vor wenigen Augenblicken aufgeräumt. Er ging ins Eßzimmer. Der Tisch war sauber, die Gläser auf der Anrichte glänzten matt. Er nahm einen Weinkelch in die Hand, blies den Staub weg und schlug dagegen. Reines Kristall. Das Wohnzimmer zeigte denselben Reichtum wie die anderen beiden Zimmer. An der einen Wand hingen einige Picassos, ein großer Louis de Wet an der anderen. Er bewunderte den de Wet kurz und sah sich in dem Raum um. Wirklich alles war an seinem Platz. Lopez durchquerte die marmorgeflieste Diele und öffnete eine Tür. Er hatte richtig geraten. Es war Bisons Arbeitszimmer, das Zimmer eines offensichtlich vielbeschäftigten Mannes. Auf dem Schreibtisch lagen Papiere verteilt, das ganze Büro machte einen gemütlichen, benutzten Eindruck. Lopez ließ seine Ordner auf den Schreibtisch fallen und setzte sich. Sorgfältig las er die verstreuten Papiere. Es waren nur Routineangelegenheiten aus dem Ministerium. Dann durchsuchte er die Schubladen. In der obersten rechten lag eine Automatik. Er ließ das Magazin herausgleiten. Mit der Pistole war seit längerem nicht mehr geschossen worden. In den anderen Schubladen fand er nichts von Interesse. Lopez lehnte sich zurück und sah sich im Zimmer um. Er versuchte, sich zu erinnern, wo Bison seinen Safe hatte. Entweder hier oder im Schlafzimmer. Sein Blick blieb an einem schmalen Spalt in der Holzverkleidung an der gegenüberliegenden Wand hängen. Er runzelte die Stirn und ging darauf zu. Die äußere Abdeckung des Wandsafes war bereits geöffnet. Er schob sie zurück und zog am Safegriff. Er ließ sich leicht öffnen. Lopez griff hinein und zog zwei Bündel Banknoten und eine mit Samt ausgeschlagene Schatulle mit einer Halskette heraus. Beides ließ er zu Boden fallen. Ganz hinten lagen noch einige Papiere. Er sah sie durch. Da es private Aufzeichnungen waren, ließ er sie ebenfalls zu Boden fallen. Irgend jemand hatte sämtliche anderen Unterlagen aus dem Safe entfernt. Und so wie Lopez war auch dieser Jemand weder an Schmuck
noch an Geld interessiert gewesen. Lopez bückte sich, um alles wieder aufzuheben, was er auf den Boden geworfen hatte. Dabei strich er mit dem Handrücken über den dunklen Teppich. Er steckte das Geld, die Schatulle und die Papiere wieder in den Safe, und als er ihn verschloß, fiel sein Blick auf seine Hand. Dunkle Streifen liefen über den Handrücken. Er roch an der Hand, kniete sich dann hin und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über den Teppich. Als er sie wieder hob, waren auch sie schwarz. Asche! Irgend jemand, und zwar entweder Bison selbst oder ein Besucher, hatte in diesem Zimmer Papiere verbrannt. Im ersten Moment fand Lopez den Abfalleimer nicht, er mußte ihn suchen. Dann entdeckte er ihn hinter dem luxuriösen schwarzen Ledersofa. Offensichtlich war eine ganze Menge Papiere in dem Eimer verbrannt worden. Der Außenanstrich war schwarz und aufgesprungen und blätterte ab. Wer immer die Papiere verbrannt hatte, er hatte ganze Arbeit geleistet. Allem Anschein nach befand sich in dem Eimer nur noch feine schwarze Asche. Sie war sicher bereits durchwühlt worden, aber Lopez war ein gründlicher Mann. Er holte die Papiere vom Schreibtisch, breitete sie auf dem Teppich aus und verteilte die Asche darauf. Dann zerteilte er die Asche sehr sorgfältig mit den Fingern. Falls sich wirklich noch ein intaktes Fetzchen darunter befand, wollte er es nicht zerstören. Hier und dort fand er kleine Stückchen verkohlten Papiers. Er sah sich jedes Fragment genau an. Nur vereinzelte Buchstaben, kein komplettes Wort. Plötzlich zitterte seine Hand. Er dachte daran, wie ähnlich diese Asche menschlicher Asche war. Er zwang sich, langsam und geduldig weiterzusuchen. Plötzlich sah er, was er suchte. Am Rand des Häufchens lag ein angesengtes, dunkelbraunes, etwa drei Zentimeter langes Stück Papier. Er ließ es liegen, damit es nicht zerbröselte, und kniete sich darüber wie ein Mann im Gebet. Nach einer Leerstelle stand ein einzelnes Wort. Er entzifferte es sehr sorgfältig: Agua. Nach dem a kam noch ein geschwärzter Halbkreis, der ein o hätte sein können. Lopez kauerte sich hin. Aguao. Es ergab keinen Sinn. Agua hieß »Wasser«. Und das o? Er zuckte mit den Achseln. Im Augenblick sah er keine Bedeutung darin. Er schrieb das Wort genau so ab, wie er es sah, holte dann einen Umschlag vom Schreibtisch und schob das Fragment vorsichtig hinein. Da es offensichtlich nicht zerbröselte, steckte er den Umschlag in einen der Ordner.
Er fragte sich, was mit Bison passiert war. Höchstwahrscheinlich war er an der Seuche gestorben. Aber nein, dachte Lopez dann, bestimmt nicht. Bison mußte doch gemerkt haben, daß etwas passieren würde. Lopez fluchte. Er hätte im Ministerium nach Ausreisevisa für Bison und seine Familie suchen sollen. Für Bison war es ja kein Problem, sich seine eigenen Papiere auszustellen. Lopez dachte an die Küche und das Eßzimmer. Beide waren sauber und aufgeräumt. In seinem eigenen Haus waren Mutter und Schwester eben beim Frühstück gesessen. Lopez nahm deshalb an, daß Bison gleichzeitig mit den Generälen verschwunden war. Er nahm seine Ordner und ging in die Diele hinaus. Nach kurzem Zögern stieg er die Treppe hinauf. Er öffnete die erste Tür. Es war das Schlafzimmer. Er wollte die Tür schon wieder schließen, als ihm die Betten auffielen. Die Decken waren zerdrückt. Es starrte die beiden Betten an, als würden sie ihm ein Rätsel aufgeben. Eine Frau, die in Küche und Eßzimmer aufgeräumt hatte, wäre nie verreist, ohne auch die Betten zu machen. Er betrat das Zimmer und zog die Decke des rechten Bettes weg. Das Laken war steif und fast schwarz von einem riesigen Blutfleck. Im linken Bett fand er den gleichen Fleck. Er untersuchte die Decke genauer. Etwa in Brusthöhe war ein kleines Loch. Die zweite Decke brauchte er sich gar nicht erst anzusehen. Bison und seine Frau waren im Schlaf erschossen worden. Lopez öffnete den Schrank und fand zwei gepackte Koffer. Eine Aktentasche stand daneben. Er öffnete sie und nahm die Pässe heraus. In beiden waren Ausreisevisa für den Zehnten eingestempelt. Nun, Bison hatte für seinen Verrat an Bolivar bezahlt. Zweifellos war seine Leiche nun ebenso Asche wie die Papiere, die ihn hätten belasten können. Lopez verließ das Haus durch die Hintertür. Zwei Stunden hatte er dort verbracht. Er war zufrieden, aber müde. Der Schlafmangel machte ihm zu schaffen, und er beschloß, in seine Wohnung zurückzukehren, bevor er sich die nächsten Schritte überlegte. Im Augenblick schien er sowieso in einer Sackgasse gelandet zu sein. Bei Bison hatte er nicht mehr gefunden als ein Häufchen kalter Asche und das Wort Aguao. Er schlief ein, sobald er sich aufs Bett legte, und wurde drei Stunden später von einem ungeduldigen Santos wieder geweckt. »Bolivar wartet auf dich, und du schläfst«, sagte Santos wütend.
»Ich hab ja nicht den ganzen Tag geschlafen«, erwiderte Lopez verärgert. Er griff nach den Akten und warf sie ihm zu. Santos studierte sie gründlich und betrachtete dann die Pässe. »Der Schweinehund!« bellte Santos schließlich und spuckte auf Bisons Paßbild. »Diese Hurenfotze. Wenn er noch am Leben wäre, würde ich ihm das Herz aus dem Leib reißen.« Santos fluchte noch eine Weile, doch dann wurde seine Stimme beinahe sanft. »Die Generäle haben Bison also benutzt, um ihre Familien am Zehnten aus dem Land zu bringen, und ihn dann umgebracht.« Er hielt inne. Es war fast, als hätte er Angst vor dem Weiterdenken. »Und dann besuchen die Generäle Manöver, während ihre Familien im Ausland in Sicherheit sind. Das heißt, sie wußten, daß die Seuche das Land heimsuchen würde. Es war also kein Fluch Gottes, sondern ein Fluch des Menschen.« Die Stille im Zimmer, während der sich die beiden Männer nur ansahen, schien ewig zu dauern. »Du hättest über Bison und die Generäle Bescheid wissen müssen«, sagte Santos schließlich wütend und frustriert. »Wie denn?« fragte Lopez kalt. »Bison war bis zum Ende mit Bolivar befreundet. Ich habe nie Information erhalten, daß er ein Verräter war. Und ich kann auch nicht voraussagen, was ein Mann in der Zukunft tun wird. Ich kann nur herausfinden, was er in der Vergangenheit getan hat, und dafür sorgen, daß ihn seine Vergangenheit einholt. Bisons Vergangenheit war makellos. Ich hab’ das nicht nur einmal, sondern hundertmal überprüft. Der Sohn eines Fabrikarbeiters, der Stipendien für die besten Universitäten des Landes erhielt. Seit fünf Jahren arbeitete er für Bolivar, und in dieser Zeit tat er nichts, was meinen Verdacht erregt hätte.« Seine dunklen Vorahnungen erwähnte er gar nicht, dafür war es jetzt zu spät. Santos nickte, streckte die Hand aus und klopfte seinem Freund auf die Knie. Dann hob er den Umschlag auf, doch Lopez nahm ihm den vorsichtig wieder aus der Hand. »Da ist ein Wort, das ich in der Asche gefunden habe«, sagte er. »A-gu-a, und zum Schluß ein Buchstabe, der aussieht wie ein o. Weißt du, was das heißen soll?« Santos dachte darüber nach und schüttelte schließlich den Kopf. »Ich werde Bolivar fragen. Vielleicht weiß er, was das ist. Sonst noch etwas, das ich ihm sagen soll?« »Nichts. Willst du ihm diese Akten zeigen?«
»Nein. Die sind gefährlich. Diese Schweine von Soldaten gehen im Haus ein und aus, als würde es ihnen gehören. Wenn sie die finden, bringen sie ihn um. Sie haben noch immer Angst vor ihm und vor dem, was er tun kann. Wir dürfen ihnen keinen Vorwand liefern. Bring die Ordner in ein sicheres Versteck, bis er nach ihnen fragt. Aber zeig sie Shatner, wenn du ihn siehst.« Er sah, daß Lopez das Gesicht verzog. »Bolivar braucht jemand, der die Geschichte an die Öffentlichkeit bringt. Besuche ihn noch heute abend.« »Schon gut«, erwiderte Lopez mit wenig Begeisterung. »Aber ich kann nicht ewig mit ihm Händchen halten, ich muß herausfinden, wo dieses… Ding… angefangen hat. Die Seuche hatte einen Ursprung, und dort muß noch etwas sein, das uns den endgültigen Beweis liefert.« »Wenn du den gefunden hast, kann Bolivar sich damit der Welt stellen.« »Was ist«, fragte Lopez leise, »wenn die Generäle nur Marionetten sind und die Drahtzieher woanders sitzen?« »Bolivar wird schon wissen, was er tun muß, wenn du das herausfindest.« Santos stand auf. Die beiden Männer gaben sich die Hand und gingen auf die Tür zu. Plötzlich blieb Santos stehen und kehrte zu den Ordnern zurück. Er sah sie noch einmal sorgfältig durch und warf sie dann aufs Bett. »Ich wollte mir nur einprägen, wann die Familien zurückkehren. Die glauben, dem Tod entkommen zu sein, aber da täuschen sie sich. Auf jeden einzelnen werde ich warten, und ich werde sie alle töten.« Lopez brachte Santos zur Tür und kehrte dann ins Schlafzimmer zurück. Er nahm den Umschlag in die Hand und ließ den Papierfetzen herausgleiten. Lange betrachtete er das Wort. Er war sicher, daß es etwas zu bedeuten hatte. Aber was? Er hoffte, daß Bolivar dieses Problem lösen konnte. Distanziert betrachtete Piers die Frau, die unter ihm lag. Im trüben Licht des Zimmers und mit den Schatten, die ihr Gesicht verhüllten, sah sie aus wie eine Fremde. Er bewegte den Kopf, das Licht schien Marion ins Gesicht. Es war noch immer verzerrt. Der Mund war halb geöffnet, die Augen zugekniffen. Sie wartete angespannt auf den Orgasmus. Piers bewegte sich gleichmäßig und sah zu, wie die Spannung langsam anwuchs.
Wie immer war Marion in der ersten Nacht trostsuchend in sein Zimmer gekommen. Er brauchte ihren Körper ebenso wie sie den seinen. Er war frustriert. Bei dieser Geschichte passierte einfach überhaupt nichts, und in dieser Nacht wurde er seine Verwirrung in Marion los. Marion stöhnte, worauf er das Tempo erhöhte. Drei Tage lang hatte man sie nun schon im Lastwagen von einem Ende der Stadt zum anderen und sogar hundert Meilen ins Landesinnere gekarrt. Sie hatten die Erlaubnis, Sprecher der Armee zu interviewen, Sprecher der Industrienationen, Sprecher… Sprecher… Sprecher. Seit seinem Interview mit dem Arzt hatte er es nicht mehr geschafft, mit einem Einheimischen zu sprechen. Geddes war beständig an seiner Seite, und dies verstärkte bei Piers nur noch das Gefühl, daß man ihn ganz bewußt davon abhielt, etwas anderes zu erfahren als das, was man ihm offiziell mitteilte. Diese Einsicht nagte beständig an ihm. Es schien, als hielte man ihn hinter unsichtbaren Schranken eingesperrt und als werde er bei jedem Schritt, den er machte, wieder zurückgedrängt. Immer und immer wieder sprach er mit Marion darüber, doch auch sie konnte nicht erkennen, was sie verbargen. Er vertraute ihrem Instinkt, und doch… Marion schrie auf. Sie hatte die Augen geöffnet, aber sie sah nichts. Ihr Mund hing offen, die Lippen waren feucht, und Piers spürte, wie sie sich gierig gegen ihn drückte. Piers senkte den Kopf und schob ihr seine Zunge in den Mund. Er drückte ihren Körper auf das Bett und spürte ihre Finger auf seinem schweißnassen Rücken. Während er immer schneller in sie stieß, roch er den Duft ihres Parfüms und ihres Schweißes. Ihre Körper kämpften mit- und gegeneinander, selbstsüchtig suchte jeder seine eigene Lust. Marion kam zuerst. Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, klammerte sich fest an Piers und erschlaffte dann, während sie sich den Wogen überließ, die durch ihren Körper strömten. Piers stieß ein letztes Mal in sie, erstarrte und lag dann schlaff auf ihr. Piers kam als erster wieder zu sich und rollte von Marion herunter. Sie streichelte ihn zärtlich, ohne sich zu bewegen. Sie seufzte nur und kuschelte sich an ihn. Piers sah sie an. Ihr Gesicht war vollkommen entspannt. Marion lächelte in sich hinein. Sie fühlte sich so entspannt, so friedlich. So könnte es ewig bleiben. Halb formulierte Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Am liebsten wäre sie jetzt in ihrer Wohnung an der East Fifty, am Fluß, in New York, wo sie dösen und schlafen könnte.
Sie wollte abreisen, aber… Piers. Den Gedanken ans Aufhören hatte er längst wieder verdrängt. Er hatte eine Story – aber welche? Sie wußte es nicht genau. Piers würde es schon herausfinden. Er war wie ein Spürhund, und sie folgte ihm einfach. Süßer, kluger Piers. Sie wünschte sich, er wäre nicht so klug und so stur. Diesmal zum Beispiel. Am liebsten hätte sie geflüstert: »Laß uns heimfahren, Piers, laß es sein.« »He, schlaf nicht ein.« Marion hörte Piers Stimme wie aus weiter Ferne. »Nein, nein«, flüsterte sie. Piers sah auf die Uhr. Fünf Minuten gab er ihr noch, dann konnte sie in ihr Zimmer zurückkehren. Die anderen beiden Nächte hatte sie bei ihm verbringen dürfen, aber an diesem Abend war er müde. Seine Gedanken drehten sich immer nur im Kreis. Sie drehten sich um die Lösung eines Problems, das er nicht erkennen konnte. Und dann auch noch New York, dachte er. Er war sich zwar nicht ganz sicher, glaubte aber, aus Harris’ Bemerkungen herauslesen zu können, daß sie seine Berichte nicht sendeten. Harris schien einen direkten Draht zu Channel 14 zu haben, und Piers wußte, daß jemand Kolok unter Druck setzte. Er war deswegen nicht sonderlich überrascht, weil das schon öfter passiert war. Nur wußte er diesmal nicht genau, warum. Es gab ja keine Enthüllungen, die man hätte zensieren müssen. Einige seiner Filmszenen waren ziemlich hart, und er nahm an, daß der Grund darin lag. Aber das war nur eine Vermutung. Von Sao Amerigo aus konnte er nichts anderes tun. Er hatte bloß einmal mit Kolok gesprochen, und Frank war kälter gewesen als gewöhnlich. Aber Frank war oft so, wenn er den Eindruck hatte, Piers und Marion hielten sich nicht an seine Anweisungen. »Zeit zum Gehen.« Piers stieß Marion an. Sie protestierte schläfrig und setzte sich langsam auf. Er nahm ihren Busen in die Hand. Er war rund und fest. »Du bist ziemlich gut, weißt du das?« bemerkte sie und küßte ihn. »Ich weiß.« »Saukerl.« Sie lachte. Doch dann hörte sie abrupt auf und fügte ernsthaft hinzu: »Ich hatte es nötig.« Er nickte. Es war eine verzweifelte Sehnsucht nach dem Gefühl, am Leben zu sein und in der Lage, die Leidenschaften des eigenen Körpers zu spüren und bei jemand zu liegen, der einen wärmte und vor den bedrohlichen Feuern draußen schützte.
Sie zog sich an, nahm ihre Schuhe in die Hand, beugte sich über Piers und küßte ihn. »Bis morgen. Und, Piers« – er sah auf – »mach dir nicht so viele Gedanken. Laß es sein.« Sie verließ das Zimmer, und Piers schaltete das Licht aus. Lopez sah die Frau aus dem Zimmer kommen und drückte sich in den Schatten des Treppenhauses. Seit zwanzig Minuten stand er schon da und hatte beinahe die Hoffnung aufgegeben, daß sie je gehen würde. Er war schon drauf und dran gewesen, das Zimmer zu betreten, doch dann hatte er noch gerade rechtzeitig die Geräusche gehört. Er empfand einen tiefen Abscheu, während er zuhörte. Sie hatten kein Recht, sich so leidenschaftlich zu lieben ohne Rücksicht auf die Tragödie seines Landes. Er steigerte sich so sehr in seine selbstgerechte Wut hinein, daß er schon fast mit gezogener Pistole ins Zimmer gestürzt wäre und sie erschossen hätte. Während der Wartezeit im Treppenhaus beruhigte er sich jedoch wieder. Aber seine Meinung über Shatner änderte sich nicht. Nur Gott wußte, wie Bolivar auf die Idee kam, Shatner wäre simpatico. Kein Mann mit einem Funken Mitleid würde daran denken, mit einer Frau zu schlafen, wenn es unzählige Tote… Ermordete, dachte Lopez… im Land gab. Fairerweise hatte er versucht, sich Inez auf der Yacht vorzustellen. Jetzt, wo sie den Korridor entlangging, dachte er auch an diese Frau hier. Aber sein Körper zeigte keine Reaktion. Die Kälte steckte tief in seinem Inneren. Er sah sie in ihrem eigenen Zimmer verschwinden, wartete noch eine Minute und ging dann langsam den Korridor entlang. Bei Shatners Tür steckte er den Dietrich ins Schloß und trat schnell und leise ein. Er sah, wie die Gestalt im Bett sich hochrappelte und gleichzeitig nach dem Lichtschalter tastete. Lopez packte das Handgelenk und spürte heftigen Widerstand. »Wer sind Sie?« »Colonel Lopez von der SAIS. Bolivar schickt mich.« Er spürte, wie Shatner sich entspannte, und sah ein schwaches Nicken. »Ich muß hinzufügen, daß ich ohne Bolivars Befehl nicht gekommen wäre.« Piers ignorierte ihn. »Wie geht es Bolivar?« »Er lebt, wird aber bewacht. Gott weiß, wie lange sie ihn noch am Leben lassen.« »Ich will ihn sehen.«
»Jetzt nicht. Später vielleicht. Es kommt darauf an.« Lopez ging zum Fenster und sah hinaus. Bis auf die flackernden Feuer war die Stadt dunkel. Sie waren nun schon kleiner, schwächer. Wie ein in der Zeit verlorener Gedanke, dachte Lopez. In ein paar Jahren ist all das schon vergessen. Aber nicht, solange er noch lebte. »Worauf kommt es an?« hörte er Shatner fragen. Lopez antwortete nicht. Er konnte seine Zweifel nicht ganz unterdrücken. Die Frage wurde wiederholt. Schließlich sagte Shatner: »Also, wenn Sie nur die Aussicht bewundern wollen, dann suchen Sie sich ein anderes Zimmer aus.« Die Geschwindigkeit des Mannes überraschte Piers. In einer Sekunde war er aufs Bett geworfen, und ein Pistolenlauf drückte gegen seine Kehle. »Was glauben Sie eigentlich, wo Sie sind?« fragte Lopez wütend. »Ich gebe hier die Befehle.« Piers würgte und begann zu husten. Er hob vorsichtig die Hand und schob sich den Pistolenlauf von der Kehle weg. »Dann gehorchen Sie den Befehlen, die man Ihnen gegeben hat«, sagte er zwischen zwei Hustenanfällen. »Bolivar hat Ihnen befohlen, mich aufzusuchen. Weswegen?« Lopez steckte die Pistole in den Hosenbund zurück und ließ Piers aufstehen. Vorsichtig betastete Piers seine Kehle. Er würde es Lopez schon zurückzahlen, wenn der einmal keine Waffe trug. »Wer ist die Frau?« fragte Lopez kalt. Am Ton von Lopez’ Stimme erkannte Piers, daß er an der Tür gelauscht hatte. Er wollte ihm schon sagen, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, als ihm die Pistole wieder einfiel. Es war am besten, wenn er den Mann nicht weiter gegen sich aufbrachte. Vor allem, wo er der Chef der SAIS war. Piers wußte nicht genau, welche Macht der Mann in der augenblicklichen Situation noch hatte, aber er hatte Gerüchte gehört, die SAIS könne einen Mann für immer verschwinden lassen, wenn das notwendig war. »Marion Hyslop. Sie arbeitet mit mir.« »Was ich Ihnen sage, dürfen Sie ihr nie weitererzählen.« Piers schüttelte den Kopf. »Wir sind ein Team. Bei einer Story weiß sie, was ich weiß, und umgekehrt. Tut mir leid.« Lopez zögerte. Von einem Team hatte ihm Bolivar nichts erzählt. Er biß sich auf die Lippe und zuckte dann mit den Achseln. Bolivar hatte
ihm aufgetragen, mit Shatner zu reden. Wem es Shatner dann weitererzählte, das war nicht sein Problem. So berichtete er schnell, was er bis zu diesem Augenblick in Erfahrung gebracht hatte. Er hielt sich knapp, da er nicht zuviel Zeit mit diesen Gringo-Journalisten vergeuden wollte. Wie der Bolivar nutzen konnte, wußten nur Bolivar und Gott. Ein langes Schweigen folgte seinem Bericht. »O mein Gott«, flüsterte Shatner schließlich. »Es ist schlimmer, als ich erwartet hatte.« »Erwartet?« Piers erzählte ihm kurz von seinen Versuchen, einheimische Ärzte und gewöhnliche Leute zu interviewen, und davon, wie er dauernd von Geddes daran gehindert wurde. »Ich nahm an, daß die Armee die Zahl der Opfer übertreibt, damit sie den Ausnahmezustand verlängern und den Industrienationen mehr Hilfsgüter abpressen kann«, sagte Piers. »Oder daß irgendwelche Mauscheleien passieren. Sie wissen schon, daß die Hilfsgüter in der Tasche eines Generals verschwinden und nicht im Magen eines Bedürftigen.« Er schüttelte den Kopf. »O Gott, aber nicht das. Nicht in tausend Jahren. Aber es ist doch ihr eigenes Volk, das sie getötet haben.« »Töten Generäle nicht immer ihre eigenen Leute?« fragte Lopez bitter. »Generäle messen die Siege nicht an den verlorenen Leben, sondern an gewonnenem Territorium. Und im Augenblick haben sie dieses Land gewonnen – eines der reichsten Fleckchen Erde auf dieser Welt – und außerdem die Macht. Aber ihr Triumph wird nur kurz sein. Ich werde herausfinden, wie sie diese Seuche ausgelöst haben, und sobald Bolivar das weiß, wird er den Kampf aufnehmen. Die Menschen, die überlebt haben, werden aufstehen und die Generäle in Stücke reißen. Und Odu und Liu und die anderen werden ihnen helfen.« »Ich brauche eine Story«, sagte Piers. Lopez sah ihn kalt an. »Sie sorgen sich um nichts außer um Ihre Story, oder? Empfinden Sie denn keine Wut, keinen Haß oder vielleicht Mitleid? Ich glaube nicht. Für einen Mann wie Sie zählt nur die Story.« »Die Gefühle überlasse ich Ihnen«, erwiderte Piers kurz. »Was ist, wann kann ich diese Akten über die Familien der Generäle filmen? Wann kann ich Bolivar interviewen? Am besten fange ich gleich mit Ihnen an.« Er rollte sich vom Bett, holte seine Kamera aus dem Koffer und richtete sie auf Lopez.
VIDEOBERICHT: Colonel Lopez, der Chef der SAIS, des Nachrichtendienstes von Menaguay, hatte eine erschreckende Entdeckung gemacht. Auf Befehl von Señor Bolivar, dem früheren Präsidenten von Menaguay, dem geheimen Informationen über eine mögliche Verwicklung der Junta in die Entstehung der Seuche, die dieses Land verwüstete, vorliegen, begann Colonel Lopez seine Ermittlungen. Colonel Lopez, was genau brachte den Expräsidenten Bolivar zu dem Verdacht, daß diese Seuche keine natürlichen Ursachen haben könnte? Kurz gesagt geht es um eine Reihe von Zufällen. Erstens befanden sich alle Generäle der Junta achthundert Meilen nördlich von Sao Amerigo und damit bei Ausbruch der Seuche außerhalb des Zentrums. Zweitens hielten sich die Familien der Generäle ausnahmslos im Ausland auf. Drittens war ich selbst nicht in der Hauptstadt. Viertens hätte Präsident Bolivar eigentlich hier sein sollen. Als Sao Amerigo von der Seuche befallen wurde, saß er nur zufällig in einem Flugzeug in den Osten des Landes. Und es gibt noch eine unumstößliche Tatsache: Er ist nicht mehr Präsident. Ich glaube, die Tatsache, daß Bolivar zum fraglichen Zeitpunkt in der Luft war, können wir außer acht lassen. Das hätte unter allen möglichen Umständen passieren können. Was haben Sie über die Familien in Erfahrung gebracht? Um dieses Land zu verlassen, muß man gewisse Formalitäten beachten. Dies dauert im Durchschnitt vier bis sechs Wochen. Bei meiner Überprüfung der Unterlagen über diese Familien stellte ich fest, daß ihre Visa innerhalb eines Tages, am Zehnten nämlich, genehmigt wurden. Das war acht Tage vor Ausbruch der Seuche. Wer hat diese Visa genehmigt, Colonel Lopez? Eduardo Bison, der Innenminister. Ich wollte ihn in seiner Residenz befragen, aber er war nicht zu finden. Starb er an der Seuche? Ist es denn nicht eigenartig, daß ein Mann, der, wie Sie glauben, Teil dieser Verschwörung war…? Er starb weder an der Seuche, noch floh er aus dem Land. Sein Laken und das seiner Frau waren blutgetränkt. Ich kann nur annehmen, daß sie ermordet wurden. Von den Generälen?
Wer weiß? Was werden Sie nun tun? Herausfinden, wie die Seuche entstand und wo. Ist denn das nicht eine unmögliche Aufgabe? Sie müssen ein Gebiet von einigen Tausend Quadratmeilen absuchen. Die Generäle werden zweifellos annehmen, daß es unmöglich ist. Aber für mich ist nichts unmöglich. Es gibt einen Ursprungsort, und es muß jemanden geben, der ihn kennt. Ich werde ihn finden. Unterbrechung der Aufnahme… Piers ließ die Kamera sinken und starrte ins Nichts. Seine Augen wurden zu Schlitzen, während er sich zu erinnern versuchte. »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen«, sagte er schließlich. Lopez hob die Augenbrauen. Sein Gesicht zeigte, daß er Piers nicht glaubte. Piers achtete nicht darauf und versuchte, sich an die genauen Worte zu erinnern. »Ich habe O’Brien interviewt«, sagte er. »Das ist der amerikanische Wissenschaftler. Er sagte etwas darüber, daß die Infektion nicht ansteckend sei. Soweit ich verstanden habe, wird sie nach der Inkubationszeit nicht von einem Menschen zum anderen übertragen. Er vermutete, daß sie durch die Luft übertragen werde und nicht durch Wasser oder Nahrungsmittel.« »Warum durch die Luft?« »Irgendwas mit dem Atmungssystem…« »Haben Sie denn keine Kopien von Ihren Bändern?« Piers zögerte einen Augenblick und log dann: »Nein.« Je weniger Leute von den Kopien in seinem Studio wußten, desto besser. »Okay«, sagte Lopez. »Also trug der Wind die Seuche mit sich. Dann muß der Ursprung mit Hilfe der Strömungsrichtung zu finden sein.« »Fragen Sie beim Wetterdienst nach den Windrichtungen.« »Daran habe ich schon gedacht«, erwiderte Lopez kurz. »Es hängt davon ab, wie groß das Gebiet ist, das sie überwachen. Wenn es das ganze Land ist, dürfte es uns weiterhelfen. Ich werde das morgen tun.« »Melden Sie sich wieder«, entgegnete Piers. »Ich würde ja mitkommen, aber Geddes läßt mich nicht aus den Augen.« »Kontrolliert er Sie alle so?« »Nur mich.«
»Dann stellen Sie sich gut mit ihm, damit Sie Bewegungsfreiheit haben, wenn es soweit ist.« Lopez lächelte plötzlich. Er schien erfreut. »Wenn nicht, dann muß ich allein arbeiten und Bolivar berichten, daß Sie nicht helfen konnten.« »Verdammt noch mal, Sie brauchen überhaupt nichts zu berichten. Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden, und wir sind die besten Freunde.« »Sie haben keine vierundzwanzig Stunden«, sagte Lopez und verließ das Zimmer. Im Korridor blieb er stehen, weil er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Aber es wiederholte sich nicht, obwohl er eine ganze Minute bewegungslos stehenblieb. Als er die Treppe erreichte, öffnete sich die Tür zu Zimmer 47 einen Spaltbreit. Sie ging ganz auf, während Lopez verschwand, und Harris trat auf den Korridor. Er trug Hemd, Sakko und Krawatte, aber keine Hose, und er ging barfuß. Einen Augenblick lang betrachtete er Piers’ Tür und kehrte dann in sein Zimmer zurück. Piers war hellwach. Die Müdigkeit von zuvor war verschwunden, und er überlegte fieberhaft, wie er Geddes am besten von seiner Spur abbringen konnte. Es würde schwer werden, das wußte er. Marion! Er hatte gesehen, daß Geddes sie oft sehr aufmerksam betrachtete. Er würde sie bitten, Geddes eine Zeitlang abzulenken. Das würde ihre größte Exklusivstory werden. Kurz fühlte Piers Wut auf die Generäle in sich aufflammen. Aber er verdrängte sie sofort wieder. In seinem Gewerbe gab es keinen Platz für Gefühle.
6 Die meteorologische Station befand sich im obersten Stockwerk des Universitätsgebäudes von Sao Amerigo. Lopez lief die Treppen hinauf und trat ein. Militär war auf dem Campus nirgends zu sehen, offensichtlich erwartete man aus dieser Richtung keine Probleme. Und das traf durchaus zu. Soweit Lopez das erkennen konnte, existierte die studentische Bevölkerung praktisch nicht mehr. Noch vor zwei Wochen war es der größte Campus Südamerikas gewesen, mit über 250.000 Studenten. Nun gab es nur noch winzige Grüppchen junger Männer und Frauen, die schweigend und verwirrt umherstanden. Er fragte sich, wie lang sie wohl so bleiben würden, wenn sie wüßten, was er wußte. Während Bolivars Regierungszeit hatte Lopez die Universität nur selten besuchen müssen. Fast der ganze Campus hatte Bolivar unterstützt – mit einigen wenigen Ausnahmen natürlich. Auf Bolivars Befehl war Lopez mit diesen so sanft wie möglich umgegangen. Die meisten waren für ein Jahr relegiert und über das ganze Land verteilt worden. Lopez lief die Treppe hinauf. Er hoffte nur, jemanden zu finden, der ihm helfen konnte. Denn er erwartete nicht, das gleiche Glück zu haben wie tags zuvor im Ministerium. Auf der Fahrt zum Campus hatte Lopez bemerkt, daß sich in der Stadt allmählich wieder Leben regte. Einige Busse fuhren wieder, aber sie transportierten nur wenige Leute. Hier und dort wurden Geschäfte wieder eröffnet. Und vor Büros bildeten sich Schlangen, die eingelassen werden wollten. Lopez war sehr stolz auf die Zähigkeit seines Volkes. Und dieser Stolz verstärkte nur seine Entschlossenheit, die Beweise zu finden, die Bolivar haben wollte. Er betrat das meteorologische Labor. Eine herbe Enttäuschung: Es war totenstill. Die Computer zu seiner Linken waren leblos, die Tischreihen leer. »Jemand da?« rief er. Keine Antwort. Er ging zu einer Landkarte an der Wand und studierte sie. Sie war bedeckt mit Linien und Berechnungen, die er jedoch nicht verstand. Er blätterte durch ein Bündel Tabellen, die auf einem Tisch lagen, und legte sie dann wieder hin. Er hatte keine Ahnung von diesem Fachgebiet und wußte nicht einmal, wonach er genau suchen sollte. »Was wollen Sie?«
Lopez schrak hoch. Während er sich langsam der unerwartet lauten Stimme hinter sich zudrehte, griff seine Hand nach der Automatik. Er hatte sie schon halb herausgezogen, als er sah, wer ihm da gegenüberstand. Eine rundliche Frau mittleren Alters mit traurigen, rotgeränderten Augen. Er sah, wie sie seine Hand anstarrte, und steckte die Automatik verlegen in den Bund zurück. »Wer sind Sie?« »Colonel Lopez von der SAIS.« Er zeigte ihr seinen Ausweis. Sie sah ihn überhaupt nicht an. »Ich brauche Hilfe.« »Ich bin alleine hier, Sie dürfen also nicht zuviel erwarten. Die anderen…« Ihre Stimme brach, und sie begann zu schniefen. Lopez stand verlegen da, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. »Jede Hilfe, die Sie mir geben können, ist von unschätzbarem Wert. Ich will wissen, wie die Windrichtungen im Zentralbecken am Sechzehnten und Siebzehnten letzten Monats aussahen. Je detaillierter, um so besser.« »Das ist der Tag, als die Seuche nach Sao Amerigo kam, und der Tag davor.« Sie musterte ihn eingehend. »Will die SAIS versuchen, den Wind zum Reden zu bringen? Ich weiß, daß ihr Leute Mittel und Wege habt, aber…« »Ich will nur die Windrichtungen wissen«, warf er geduldig dazwischen. Sie ging zu einem Aktenschrank und zog eine Schublade heraus. Aus einem Ordner nahm sie ein Bündel Tabellen. Sie blätterte sie durch und schüttelte schließlich den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Die Berichte sind nicht hier.« »Wurden Sie gestohlen?« Sie lachte über seinen Verdacht. »Wer sollte denn Wetterberichte stehlen? Nein. Die Karten werden normalerweise erst am Morgen darauf vervollständigt. Denn dann haben wir alle Informationen über die Wetterbedingungen vom Tag zuvor erhalten und ausgewertet. Und dann werden sie in so eine Karte eingetragen.« Sie gab ihm eine Reliefkarte, die mit Bewegungslinien, Wolkenformationen und Temperaturangaben bedeckt war. Sie zeigte nur wenige hundert Quadratmeilen im Umkreis von Sao Amerigo. »Sie beobachten also nicht das ganze Land?«
»Nein. Der Bericht, den Sie hier haben, ist vom Fünfzehnten. Wahrscheinlich sind die Informationen für den Sechzehnten noch da drin.« Sie zeigte auf die Computer. Lopez betrachtete die Karte in seiner Hand. Er hatte zuviel erwartet. Aber auch wenn er nur eine ungefähre Vorstellung der Windrichtung über diesen wenigen hundert Quadratmeilen an diesem Tag hätte, würde das seine Suche eingrenzen. »Können Sie sich die Informationen aus dem Computer beschaffen?« »Ich könnte«, antwortete die Frau, »aber es geht nicht.« Sie sah, wie seine Augen sich verengten. »Es funktioniert nicht, sie sind alle ausgebrannt. Am Sechzehnten war niemand da, der sich um sie gekümmert hätte. Ich kam erst gestern und versuchte zu arbeiten. Um mich abzulenken…« Sie machte eine unbestimmte Geste. Lopez nickte mitfühlend und dankte ihr. Als er ging, saß sie an einem der Tische und starrte die Computer an. Sie wirkte entsetzlich einsam. Manchmal fand man sich plötzlich bei einer nutzlosen Arbeit, bei der nichts mehr getan werden konnte. Lopez verstand, wie sich die Frau fühlte, weil er in seiner Magengrube das gleiche Gefühl der Nutzlosigkeit verspürte. Er war wieder in einer Sackgasse gelandet und wußte nicht, wohin er sich nun wenden sollte. Er kehrte nicht sofort zu seinem Auto zurück. Statt dessen setzte er sich im Schatten eines Baumes auf eine Bank. Es war etwas kühler dort, er schloß gegen den Sonnenschein die Augen und versuchte nachzudenken. In Gedanken ging er alle Informationen durch, die er bis jetzt erhalten hatten. Eine halbe Stunde später stand er wieder in derselben Sackgasse. Wie sollte er den genauen Ursprungsort der Seuche herausfinden? Er öffnete die Augen und sah sich auf dem Campus um. Alles war friedlich und ruhig, und er wäre am liebsten den ganzen Tag unter dem Baum sitzengeblieben und hätte seine Probleme vergessen. Doch er rutschte ruhelos hin und her. Er konnte doch nicht einfach aufgeben und sich unter einen Baum legen. So zog er ein Blatt Papier aus der Tasche und zeichnete abwesend eine Karte des Zentralgebiets. Es war ein unregelmäßiges Oval. Dann zog er durch den Mittelpunkt eine senkrechte und eine horizontale Linie. Nun war das Oval in vier Teile unterteilt. Er setzte sich auf. Sorgfältig zog er nun links und rechts der Mittellinie je vier weitere vertikale Striche. Das gleiche wiederholte er auf der horizontalen Achse. Nun lag ein Raster über dem Oval. In das
Quadrat am Mittelpunkt des Ovals schrieb er: zwischen acht und neun in S. A. Das war zumindest ein Anfang. Wenn er nun herausfand, wann die Seuche in den anderen Gebieten ausgebrochen war, konnte er sich seine eigene Windkarte zeichnen. Das konnte er nur herausfinden, wenn er sich an die SAIS-Agenten in den jeweiligen Quadraten wandte und sie fragte, wann die Seuche in ihrem Gebiet ausgebrochen war. Auch wenn er nur fünfzig Prozent von ihnen erreichte, bekäme er doch eine ungefähre Vorstellung, wo er weitersuchen mußte. Die Nummern und die Codenamen seiner SAISAgenten standen in seinem Buch. Er lief zu seinem Auto und stieg ein. Bis zu seiner Wohnung brauchte er fünfzehn Minuten. Er ging direkt zu seinem Wandsafe im Wohnzimmer und öffnete ihn. Zuerst ruhig und dann immer hektischer durchsuchte er seine Papiere. Das Buch fehlte. Er legte die Papiere auf den Tisch und durchsuchte sie methodisch ein drittes Mal. Das Buch war eindeutig nicht dabei. Er lehnte sich zurück und versuchte nachzudenken. War das Buch gestohlen, so schwebten seine Agenten in Lebensgefahr. Nein. Er schüttelte den Kopf. Wäre das Buch gestohlen worden, dann wären auch alle anderen Papiere verschwunden. Darunter war auch ein vertraulicher Bericht an Bolivar, an dem er vor seinem Urlaub gearbeitet hatte. Urlaub! Das Buch war in der SAIS-Zentrale! Er hatte es am Abend vor seinem Urlaub im Bürosafe zurückgelassen. Er war der einzige, der das Versteck dieses Safes und die Kombination kannte, und er hatte sich ausgerechnet, daß dieser Safe der sicherste Aufbewahrungsort für das Buch sein würde. Nun hoffte er nur, daß er recht behalten hatte. Er lief die Treppe hinunter und zu seinem Auto. Die SAIS-Zentrale befand sich an der Calle Trabajadores. Es war ein kleines, unauffälliges Gebäude in einer kleinen, unauffälligen Straße. Er parkte hundert Meter vor dem versteckten Eingang und stieg nicht sofort aus, sondern beobachtete das zweistöckige Haus. Es wirkte ruhig und friedlich und verlassen. Er wartete. Zwanzig Minuten später kam ein Soldat aus der Tür, vertrat sich die Beine und verschwand wieder. Lopez richtete sich auf. Wenn nur ein einziger Soldat das Haus bewachte, konnte er… Er hielt inne. Ein Jeep fuhr vor, zwei Offiziere betraten das Haus. Er ließ sein Auto an und fuhr langsam davon. Er mußte an den Safe kommen, bevor die Armee ihn fand. Wenn nicht, dann waren er und Bolivar und
hundert andere so gut wie tot. Die kommende Nacht war seine einzige Chance. »O mein Gott… o mein Gott…« Marion bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und wiegte sich leicht. Einen Augenblick lang sah sie aus wie eine trauernde alte Bäuerin. Piers wartete schweigend, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. »Bist du sicher? Ich meine, er könnte dir ja eine Falle stellen…« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Piers. »Auf jeden Fall sucht er noch, und Bolivar will, daß ich mit ihm arbeite. Ich werde noch früh genug herausfinden, wie authentisch sein Material ist. Wir sind an der dicksten Story unseres Lebens dran.« »Wie kannst du nur so begeistert sein?« fragte Marion wütend. »Mir ist schlecht… und ich weiß nicht, was ich denken soll.« »Wir müssen die Wahrheit herausfinden.« Piers beugte sich über den Frühstückstisch und nahm ihre Hand. Ihr Essen war unberührt, seines ebenso. Beide fühlten sich, als könnten sie nie mehr etwas essen. »Ich weiß nicht«, sagte Marion. Sie bemerkte, daß Piers vor Überraschung über ihr Zögern die Augen aufriß. »Du mußt Geddes ablenken. Schaff ihn mir vom Hals, damit ich mit Lopez arbeiten kann.« Marion nickte schweigend. Es war zu spät. Piers würde nun nicht mehr loslassen, und sie würde ihm wie immer folgen. Sie sah, daß Piers Geddes fröhlich angrinste. Der Lieutenant musterte ihn argwöhnisch. »Warum sind Sie heute morgen so froh, mich zu sehen?« »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Piers. »Ich möchte Dr. O’Brien interviewen. Hier sind die Fragen. Ich weiß, daß Sie mich begleiten werden, und ich verspreche, ich werde keine Dummheiten machen.« Er gab Geddes ein Blatt Papier. Der las die Fragen sorgfältig durch. Schließlich nickte er. »Ich werde es für heute vormittag arrangieren«, sagte er. »Will sonst noch jemand O’Brien befragen?« »Fragen Sie die anderen«, sagte Piers und hoffte, daß nicht zu viele Interesse zeigen würden. Er sah zu, wie Geddes zu den einzelnen Tischen ging und sich Namen aufschrieb. Harris war offensichtlich darunter, und dann die Französin. Sie hieß Meunier. Die anderen sahen zu erschöpft aus, um sich zu bewegen. Sie wollten anscheinend einen ruhigen Tag im Hotel verbringen, Karten spielen oder allgemeine Lageberichte an ihre Sender
überspielen. Geddes nickte einem Soldaten zu, der plötzlich viel wachsamer wurde, und verließ den Raum. Zehn Minuten später kam er wieder zurück. »Dr. O’Brien sagt, er wird Ihnen ein paar Minuten opfern. Wir müssen sofort aufbrechen.« Er ging zu Harris und Meunier, und zu viert folgten sie Geddes zum Lastwagen. O’Brien sah älter aus, das sah Piers, als er dessen provisorisches Büro betrat. Sein Gesicht war bleicher und schmaler. Seine Nase war spitz, sein markiges Kinn hatte den entschlossenen Schwung verloren. Er sortierte nervös seine Papiere, während er darauf wartete, daß die Journalisten sich gesetzt hatten. Mein Gott, dachte Piers, er ist in wenigen Tagen um ein Jahrzehnt gealtert. Es war da noch etwas anderes, aber im Augenblick wußte Piers noch nicht genau, was. VIDEOBERICHT: Wie ich zuvor schon Lieutenant Geddes am Telefon sagte, habe ich nichts Neues zu berichten. Bei unserer Suche nach den Ursachen der Seuche sind noch keine Fortschritte zu melden. Allerdings ist, wie ich annehme, einiges richtigzustellen. Shatner von Channel 14 in New York: In Ihrer Pressekonferenz haben Sie behauptet, die Seuche sei durch die Luft übertragen worden. Darf man dann annehmen, daß Sie damit meinten, der Wind habe den Virus, oder was immer es war, über das Becken getragen? Ich… ich… ich kann diese Frage erst beantworten, wenn wir die Art dieser Krankheit genauer erforscht haben. Aber Sie sagten doch, daß er über das Atmungssystem in den Körper eindringe und Gerinnsel in der Lunge verursache. Haben Sie Ihre Meinung geändert? Bei der Pressekonferenz habe ich nur eine Arbeitshypothese aufgestellt. Sie wirkten aber sehr bestimmt. Tut mir leid, wenn ich einen solchen Eindruck vermittelt habe. Doktor, können Sie mir erklären, was die Lähmung verursacht? Ich habe Ihnen doch eben gesagt, daß dies nur eine Arbeitshypothese war. Ja, das weiß ich. Aber könnten Sie mir dennoch erklären, was im Körper passiert, wenn ein Mensch gelähmt wird? Nun… solange Sie begreifen, daß das nichts mit dem Virus zu tun hat, kann ich es Ihnen erklären. Wenn ein Schlüsselenzym des
menschlichen Nervensystems, das man Acetylcholinesterase nennt, beeinträchtigt wird, kann es zur Lähmung kommen. Und wie funktioniert dieses Acet…? Laienhaft ausgedrückt, könnte man sagen, daß es im Nervensystem Millionen von Kreuzungen gibt. An diesen Kreuzungen transportiert eine vom Körper produzierte Chemikalie namens Acetylcholin die Nervensignale. Wenn Acetylcholin ein Signal vom Hirn erhält, springt es über diese Kreuzung und aktiviert die Muskeln oder die Nervenzellen auf der anderen Seite. Wenn in der Nervenzelle genügend Aktivität stattgefunden hat, produziert der Körper Acetylcholinesterase, um die überschüssige Menge Acetylcholin zu neutralisieren oder zu zerstören. Wird in diesen Prozeß in irgendeiner Weise eingegriffen, kommt es im menschlichen Körper zu Lähmungen. Dies heißt nicht notwendig, daß der Tod die Folge ist. Haben Sie das verstanden? Natürlich, Dr. O’Brien. Vielen Dank. Hyslop von Channel 14 in New York: Können Sie in etwa die Zahl der Opfer in diesem Land abschätzen? Würden fünfundzwanzig oder dreißig Prozent zutreffen? Oder sind es weniger? Diese Frage müssen Sie Lieutenant Geddes stellen. Harris von ITN in London: Welche Rolle spielt Großbritannien bei der Versorgung der Menschen in diesem Land? Die Hilfe, die Ihr Land entsandt hat, ist von unschätzbarem Wert. Ich muß… Piers schaltete seine Kamera ab. Er erwartete weder von Harris noch von Meunier irgendwelche enthüllenden Fragen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Geddes sich über Marion beugte. Der Lieutenant sah sehr besorgt aus. »Was meinen Sie mit ›weniger‹?« wollte Geddes wissen. »Was glauben Sie, was ich meine?« erwiderte Marion. »Sie könnten die Zahlen ja übertreiben.« Piers schloß die Augen. Er war dankbar, daß sie hier war, um ihm zu helfen. Sie hatte Geddes’ uneingeschränkte Aufmerksamkeit und würde sie auch nicht verlieren, bis er ihr bewiesen hatte, daß die Armee nicht log. Wie er so plapperte, sah es aus, als stünden seine Integrität und seine Ehre auf dem Spiel. Während Piers nun diese echte Entrüstung betrachtete, erkannte er, daß Geddes und sehr wahrscheinlich ein großer
Teil der ganzen Armee keine Ahnung davon hatte, was die Generäle angestellt hatten. »Ich werde Ihnen beweisen, daß die Armee genaue Zahlen veröffentlicht hat«, sagte Geddes eben. »Sie kommen mit mir ins Hauptquartier, und dann werde ich Sie General Orantes, dem Oberbefehlshaber über die Hilfsaktionen, vorstellen. Er wird Ihnen die Berichte zeigen.« »Na gut«, sagte Marion und stand auf. Geddes warf Piers einen flüchtigen Blick zu. »Aber erst, nachdem wir die anderen im Hotel abgeliefert haben.« Piers wandte seine Aufmerksamkeit wieder Dr. O’Brien zu. Obwohl die Fragen, die Meunier ihm stellte, harmlos waren, begann er zu schwitzen. Er stand, das bemerkte Piers nun, am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Das ist es, dachte Piers. Er weiß etwas. Irgendwann hat er etwas über die Seuche herausgefunden, und jetzt hat er Angst. O’Brien stand nun abrupt auf und ließ dabei seine Papiere auf den Boden fallen. Er schien noch etwas sagen zu wollen, änderte dann aber offensichtlich seine Meinung. Er drehte sich um und stürzte aus dem Zimmer. »Er ist müde.« Geddes beeilte sich mit der Erklärung. »Die haben alle zuviel gearbeitet.« In der Gasse, die einen Block von der Calle Trabajadores entfernt abging, war es stockdunkel. Lopez tastete sich bis zum Ende vor, suchte den Hintereingang des Gebäudes und steckte den dünnen Dietrich ins Schloß. Er drehte ihn, und die Tür öffnete sich. Ohne zu zögern lief er die Treppe hinauf und stieg zur Dachluke hinaus. Er ging an den Rand des Daches. Zwischen ihm und dem Dach der SAIS klaffte eine etwa drei Meter breite Lücke. Das war bei Tageslicht ein einfacher Sprung, aber nachts und mit einem Soldaten, der unten den Eingang bewachte, würde es schwierig werden. Lopez sah hinüber. Er mußte weit über die Kante des anderen Daches hinausspringen, da er sich beim Aufkommen nirgendwo festhalten konnte. Aber er hatte keine Zeit zu verlieren. Er ging ein paar Meter zurück, lief an und sprang. Der Aufprall auf dem anderen Dach war schmerzhaft, und er bekam einen Augenblick lang keine Luft. Als er aufstand, zuckte er zusammen. Er hatte sich den
rechten Ellbogen aufgeschürft und spürte, wie das Blut an seinem Arm hinunterlief. Er öffnete die Dachluke. Die Treppe war unbewacht. Vermutlich nahm die Armee nicht an, daß jemand in die SAIS-Zentrale einbrechen wollte. Ausbrechen vielleicht, aber bestimmt nicht einbrechen. Auf dem Absatz der Treppe, die ins Erdgeschoß führte, blieb er stehen. Zwei Soldaten saßen neben der Haustür und spielten Karten. Also mußte er die rückwärtige Treppe benutzen, um in den Keller zu kommen. Als er an seinem Büro vorbeikam, gab es ihm einen Stich, so sehr sehnte er sich danach. Es war ein bequemes Zimmer, sorgfältig eingerichtet mit Dingen, die er mochte. Ein Schlafzimmer und ein Bad grenzten an. Er hatte es sich angewöhnt, bis spät in die Nacht zu arbeiten, und oft verließ er sein Büro für achtundvierzig Stunden nicht. Leise schlich er über die Treppe ins Erdgeschoß. Wenn die Soldaten nun aufsahen, war er tot. Er drückte sich eng an die Tür zum Keller und drehte langsam den Knauf. Er sah zu, wie die Soldaten über ihren Karten lachten und sich vor der nächsten Runde zurücklehnten. Er betete, daß keiner auf die Idee kommen würde, den Korridor zu kontrollieren. Plötzlich begann er zu schwitzen. Der Knauf ließ sich nicht weiter drehen. Die Tür war verschlossen. Er drehte fester. Sie war nur verklemmt. Er öffnete die Tür und huschte hindurch. Er schaltete das Licht an. Von außen täuschte man sich über die Größe des Kellers. Er war in Wirklichkeit zweimal so groß wie die übrigen Stockwerke, denn es gab einen riesigen Komplex von Räumen unter der Straße. Der Keller war schalldicht und mit den modernsten Verhörinstrumenten bestückt. Als Direktor der SAIS hielt Lopez nichts von körperlicher Gewalt. Er hatte es auf die Psyche abgesehen, und mit Hilfe der medizinischen Ausrüstung und der Spezialzimmer bekam er fast alle Informationen, die er wollte, ohne jemandem Schmerzen zufügen zu müssen. Es ging nur darum, die Gedanken der Männer zu lesen, die Rätsel zu lösen, die sie geschaffen hatten, und so den Staat zu beschützen, dem er diente. Aber er mußte zugeben, daß er zumindest zeitweilig versagt hatte. Er lief die Treppe hinunter. Wie er erwartet hatte, waren die Zimmer zu beiden Seiten des Korridors leer. In seinem Gewerbe ging es bei einem Staatsstreich zu wie beim Stühlerücken. Diejenigen, die gefangen waren, wurden befreit, und die eben noch Freien nahmen deren Stelle ein. Er betrat die Zelle am Ende des Korridors. Sie sah nicht anders aus
als die andern, wirkte bequem eingerichtet und absolut gewöhnlich. Aber er wußte, daß dahinter eine komplexe Elektronik versteckt war. Videokameras kontrollierten jeden Zentimeter der Zelle, die Wände und die Decke konnten als Leinwände für verborgene Projektoren verwendet werden, in den Wänden waren Lautsprecher und Mikrofone versteckt, und sogar die Landschaft vor dem Fenster war eine Illusion. Er legte den Lichtschalter um und sagte: »Ich bin Garcia Lopez.« Er wartete einen Augenblick, und plötzlich glitt einer der Blöcke im Boden zurück. Er kniete sich hin und wiederholte: »Ich bin Garcia Lopez.« Nun mußte er etwas länger warten, während der Computer Lopez’ Stimmuster mit seiner Speicheraufzeichnung verglich. Dann hörte er den Schließmechanismus klicken, griff in die Öffnung und hob die Safetür an. Das Buch war da. Es war dunkelgrün und etwa von der Größe eines kleinen Notizbuches. Er sah nach, ob es auch wirklich das Buch war, das er suchte, und verschloß dann die Tür wieder. Es lagen noch immer wichtige Papiere in dem Safe. Vielleicht entdeckte die Armee ihn nie, aber das Risiko konnte er nicht eingehen. »Zerstören.« Er senkte den Kopf und horchte. Ein schwaches Klicken war zu hören. Die Säure strömte aus. In wenigen Sekunden würden nur noch Asche und Rauch übrig sein. Er steckte das Buch in seine Tasche und verließ die Zelle. An der Kellertür spähte er in den Gang. Nur einer der beiden Soldaten saß am Kartentisch. Lopez nahm an, daß der andere auf die Toilette gegangen war. Er lief über die Treppe ins Obergeschoß und riß die Tür auf. Er rannte direkt in den fehlenden Soldaten. Sie waren beide gleich überrascht. Der Unterschied war nur, das Lopez sich einen Sekundenbruchteil schneller wieder unter Kontrolle hatte. Während der Mann den Lauf seiner Maschinenpistole hob, rammte ihm Lopez seine Automatik in der Bauch und drückte ab. Der Schuß klang unnatürlich laut, aber Lopez wußte, daß er ein paar Meter weiter schon nicht mehr zu hören war. Er spürte, wie das Blut auf seine Hand spritzte. Einen Augenblick später war sein ganzer Arm fleckig. Er zerrte den sterbenden Soldaten hoch, schleppte ihn in eine Kammer und versperrte die Tür. Es würde einige Minuten dauern, bis man ihn fand, und bis dahin war Lopez mit etwas Glück schon wieder auf der Straße.
Er lief aufs Dach und wischte sich den Arm am Hemd ab. Lieber hätte er sich gewaschen, denn wenn eine Jeep-Patrouille ihn jetzt entdeckte, würde er kaum das Glück haben, gleich erschossen zu werden. Zweifellos würde er dann entweder in einer Kaserne oder in einer seiner eigenen Zellen landen. Lopez erreichte sicher die Straße. Der Soldat stand nun nicht mehr vor der Tür zur SAIS. Man hatte ihn sicher ins Haus gerufen, um seinen Kameraden zu suchen, und bald würde sich die Suche auch auf die Straße ausdehnen. Lopez joggte zu seiner Wohnung zurück. Am liebsten wäre er richtig gelaufen, aber er wußte, daß er in seiner Panik direkt einer Patrouille in die Arme gerannt wäre. Als er seine Wohnung erreichte, war er schweißnaß. Er wusch sich und zog sich rasch um und setzte sich dann ans Telefon. Es war ein Uhr morgens, und es würde noch eine lange Nacht werden. Er öffnete das Buch, holte seine grobe Skizze mit dem Raster heraus und nahm den Hörer ab. Doch dann zögerte er und legte langsam wieder auf. Wenn man selber Telefone anzapfte, bekam man mit der Zeit einen Argwohn gegen dieses Gerät. Er mußte sicher sein, daß niemand mithörte. Denn es war das erstemal, daß er in Sprechkontakt mit seinen Agenten trat und ihre Identität preisgab. Lopez verließ seine Wohnung und ging zwei Etagen höher. Während er langsam den Korridor entlangging, horchte er an den Türen. Er mußte das Risiko eingehen. Er steckte seinen »Schlüssel« ins Schloß, drehte ihn und öffnete die Tür. Die Wohnung roch modrig und verlassen. Um sicherzugehen, kontrollierte er alle Zimmer und setzte sich dann zum Telefon. Er machte es sich so bequem wie möglich, nahm den Hörer ab und wählte die erste Nummer. Es war neun Uhr dreißig, als er endlich fertig war. Er ließ sich in den Sessel zurücksinken und blinzelte überrascht in die Sonne. Vom vielen Reden und Erklären und Fragen hatte er einen trockenen Mund, und sein Kopf schmerzte vor Erschöpfung. Aber er war zufrieden. Sechsunddreißig seiner Agenten hatte er nicht erreicht, und er nahm an, daß sie an der Seuche gestorben waren. Aber diejenigen, die er erreicht hatte, hatten ihm genau das erzählt, was er wissen wollte. Lange betrachtete er die Karte vor sich auf dem Tisch. Er hatte die Zeiten eingetragen, zu denen die Seuche nach dem Bericht seiner Agenten in den jeweiligem Gebieten aufgetreten war. Mit »Nein« hatte er die Gegenden markiert, die nicht betroffen waren, und diejenigen, in denen
er seine Agenten nicht erreicht hatte, hatte er schraffiert. Nun hatte er eine Karte mit allen zeitlichen und direktionalen Veränderungen des Windes im Zentralbecken. Einige »Neins« standen mitten zwischen betroffenen Gebieten. Zunächst hatte ihn das verwirrt. Im weiteren Verlauf erkannte er aber, daß der Wind aus einer Laune des Schicksals heraus seine Richtung geändert hatte und so die Menschen in diesen Gebieten verschont geblieben waren. Auf den unteren Rand der Karte zeichnete er einen Pfeil und setzte bedächtig eine Spitze darauf. Die Windrichtung war Nordost. Dann brütete er über den beiden südlichsten schraffierten Rechtecken. Irgendwo in dieser Gegend hatte es angefangen. Wenn er für die beiden nun noch den genauen Zeitpunkt herausfinden konnte, grenzte sich die Suche noch weiter ein. Im Augenblick hatte er nur noch ein paar hundert Quadratmeilen zu überprüfen. Und das war bedeutend besser als die vielen tausend zu der Zeit, als er seinen Befehl von Bolivar erhalten hatte.
Er konnte das Gebiet sogar noch stärker eingrenzen. Wenn der Wind in nordöstlicher Richtung blies, war das untere der beiden Rechtecke zuerst betroffen gewesen. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Er mußte nun in dieses Gebiet fahren und es, wenn nötig, Meter für Meter absuchen, um zu finden, was dort auch immer zu finden war. Doch dann
stutzte er. Das würde viel Zeit kosten, und er hatte keine Zeit. Er dachte einen Augenblick nach und griff schließlich wieder zum Telefon. Am Ende hatte er, was er wollte. Er steckte das Buch und die Karte ein und verließ die Wohnung. Er fragte sich kurz, wer früher wohl hier gewohnt hatte. Vielleicht war er ihnen täglich im Treppenhaus begegnet und hatte ihnen im Vorübergehen einen guten Morgen gewünscht. Er war zu Tode erschöpft, fiel ins Bett und schlief sofort ein.
7 Mercer lehnte sich im Stuhl zurück und starrte den leeren Monitor an. Darrigan und Solotow taten das gleiche. Das schweigende Warten war erdrückend. Ungeduldig drückte Darrigan auf einen Knopf. »Wir sind bereit. Spielen Sie es ab.« Auf Befehl erhellte sich der Monitor. VIDEOAUFZEICHNUNG des Wortwechsels Shatner und O’Brien. Aufgenommen am 11. 7. um 11 Uhr 30, Sao Amerigo General Hospital… Wie ich zuvor schon Lieutenant Geddes am Telefon sagte, habe ich nichts Neues zu berichten. Bei unserer Suche nach den Ursachen der Seuche sind noch keine Fortschritte zu melden. Allerdings ist, wie ich annehme, einiges richtigzustellen. Shatner von Channel 14 in New York: In Ihrer Pressekonferenz haben Sie behauptet, die Seuche sei durch die Luft übertragen worden. Darf man dann annehmen, daß Sie damit meinten, der Wind habe den Virus, oder was immer es war, über das Becken getragen? Ich… ich… ich kann diese Frage erst beantworten, wenn wir die Art dieser Krankheit genauer erforscht haben. Aber Sie sagten doch, daß er über das Atmungssystem in den Körper eindringe und Gerinnsel in der Lunge verursache. Haben Sie Ihre Meinung geändert? Bei der Pressekonferenz habe ich nur eine Arbeitshypothese aufgestellt. Sie wirkten aber sehr bestimmt. Tut mir leid, wenn ich einen solchen Eindruck vermittelt habe. Doktor, können Sie mir erklären, was die Lähmung verursacht? Ich habe Ihnen doch eben gesagt, daß dies nur eine Arbeitshypothese war. Ja, das weiß ich. Aber könnten Sie mir dennoch erklären, was im Körper passiert, wenn ein Mensch gelähmt wird? Nun… solange Sie begreifen, daß das nichts mit dem Virus zu tun hat, kann ich es Ihnen erklären. Wenn ein Schlüsselenzym des menschlichen Nervensystems, das man Acetylcholinesterase nennt, beeinträchtigt wird, kann es zur Lähmung kommen.
Und wie funktioniert dieses Acet…? Laienhaft ausgedrückt, könnte man sagen, daß es im Nervensystem Millionen von Kreuzungen gibt. An diesen Kreuzungen transportiert eine vom Körper produzierte Chemikalie namens Acetylcholin die Nervensignale. Wenn… »Dieser Scheißkerl weiß etwas.« Darrigan schlug auf den Tisch. »Und er nimmt O’Brien auf den Arm.« »Ich kann da nichts Schlimmes entdecken«, sagte Mercer. »Er geht doch bei seinen Fragen nur von dem aus, was O’Brien bei seiner ersten Pressekonferenz sagte.« Bestätigung suchend wandte er sich Solotow zu. Der Blick, dem er begegnete, war trüb und leer und wanderte zu Darrigan. »Er weiß etwas«, sagte Solotow. »Seine Fragen sind sehr spezifisch. Er fischt damit nicht nur im Trüben, er sucht mit ihnen Bestätigung.« »Sehen Sie sich nur sein Gesicht an, wenn die anderen ihre Fragen stellen.« Darrigan drückte auf den Knopf. Das Bild auf dem Monitor verschwamm kurz und wurde dann wieder scharf. Es war eine Nahaufnahme von Shatners Gesicht. Die Augen waren sehr wachsam, Mercer konnte regelrecht sehen, wie der Mann dachte. Plötzlich kniff Shatner die Augen zusammen und entspannte sich dann, als hätte er etwas entdeckt, das seine Fragen beantwortete. Das Bild verschwamm wieder, während das Band vorwärtsgespult wurde. Dann sah man O’Brien hastig das Zimmer verlassen. Der Monitor wurde dunkel. »Auch O’Brien weiß etwas«, sagte Mercer und versuchte, sich seine Befriedigung nicht über die Stimme anmerken zu lassen. Er empfand eine fast masochistische Freude, als Darrigan ihm einen bösen Blick zuwarf. »Wir werden O’Brien zurückrufen und ihn unter Bewachung stellen müssen.« Darrigan sah Solotow an, der nur nickte. Darrigan drückte auf seinen Knopf, und der Assistent erschien auf dem Monitor. »Rufen Sie O’Brien zurück und lassen Sie ihn bewachen. Und« – diesmal sah er beim Sprechen sowohl Solotow wie Mercer an – »lassen Sie Shatner außer Landes weisen. Sorgen Sie dafür, daß es einen legalen, wenn auch nicht unbedingt tatsächlich vorliegenden Grund für die Ausweisung gibt. Ich bin sicher, daß er den Generälen mehr als genug Anlaß
gegeben hat, ihn hinauszuwerfen.« Der Monitor erlosch, noch bevor die Hilfskraft den Auftrag bestätigen konnte. Dem machen seine kleinen Knöpfe einen verdammten Spaß, dachte Mercer. Damit kann er je nach Laune Leute erscheinen oder verschwinden lassen. Aber im wirklichen Leben konnten er und die anderen beiden die Leute nur verschwunden halten. Eine Wiedererweckung überstieg sogar die Macht des Rats. Er sah, wie Solotow den Ordner vor sich öffnete und die Papiere herausnahm. Der war anscheinend noch durch die alte Bürokratenschule gegangen, dachte Mercer. Mit diesen Papieren geht er um, als würde er seinen Penis streicheln. Nur ein Bürokrat kann Papier so sehr lieben. Mercer berührte seine Akte nur, er öffnete sie nicht. Ihm wurde schon schlecht, wenn er sie bloß ansah. »Nachforschungen haben ergeben, daß die Zahlen hundertprozentig präzise sind«, sagte Solotow mit seiner monotonen Stimme. »Bevor wir das Operationsgebiet ausdehnen, müssen wir feststellen, warum die Zahl der Opfer in Menaguay geringer ist als angenommen. Wir dürfen kein Risiko eingehen.« »Müssen wir es überhaupt ausdehnen?« fragte Mercer gequält. »Ich würde einen Aufschub vorzieh…« »Keine Zeit«, warf Darrigan barsch dazwischen und wandte sich an Solotow. »Die Diskrepanz zwischen der vorausgesagten Zahlen und den wirklichen liegt zwischen fünfzig und fünfundsechzig Prozent. Berücksichtigt man eine gewisse Fehlerspanne unserer Wissenschaftler, bedeutet das, daß nur die Hälfte des angenommenen Potentials realisiert wurde.« »Warum verwenden Sie nicht das Wort ›Kolben‹, Mann«, sagte Mercer wütend. »Nur ein Kolben wurde geöffnet. Also existiert noch ein zweiter Kolben mit dem Virus. Und der liegt irgendwo in diesem armen gottverlassenen Land.« »Sie werden ja hysterisch«, erwiderte Darrigan kalt, »und das hilft uns überhaupt nichts. Sie waren doch an der Entscheidung beteiligt. Mir geht Ihre negative Haltung langsam auf die Nerven.« »Ich habe dagegen gestimmt, falls Sie sich noch erinnern«, sagte Mercer laut. »Wir wissen das«, sagte Solotow. »Aber das liegt in der Vergangenheit. Wir müssen den Kolben wiederbeschaffen. Wenn ihn ein anderer findet…« Er beendete den Satz nicht, sondern drückte auf
seinen Knopf. Er tat das sehr umständlich und sah den Assistenten, der auf dem Monitor erschien, lange an. Der junge Mann wurde langsam nervös. Es war, als würde Solotow sich im Geiste eine Rede zurechtlegen. »Senden Sie Befehl nach Sao Amerigo. Ein Kolben Amerigo intakt. Er muß unter allen Umständen wiederbeschafft werden.« »Ja, Sir«, antwortete die Hilfskraft und verschwand vom Bildschirm. Solotow nickte zur Bestätigung und lehnte sich zufrieden zurück. Piers lag voll angezogen und mit seinen Armeestiefeln an den Füßen auf dem Bett. Die Kamera lag neben ihm, die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Er machte den Eindruck eines Mannes, der so geduldig, wie er nur konnte, darauf wartete, daß etwas geschah. Obwohl kein Licht brannte, konnte er alle Einzelheiten des Zimmers erkennen. Er war immer wieder überrascht, wie hell und klar das Mondlicht in diesem Teil der Welt war. Er konnte fast dabei lesen. Bei diesem Gedanken hob er das Stück Papier auf, das auf seinem Nachttischchen lag, und las es. »Heute abend um zehn. L.« Piers seufzte und sah auf die Uhr: halb elf. Pünktlichkeit war offensichtlich nicht Lopez’ Stärke. Er nahm die Videokamera und betrachtete das Zimmer durch den Sucher. Mit dem Restlichtverstärker und dem Filter war alles taghell. Piers setzte sich auf. Jemand kratzte an der Tür. Im Aufstehen hoffte er, daß es nicht Marion war. Er hatte ihr gesagt, er sei erschöpft und brauche Schlaf. »Wer ist da?« »Lopez.« Piers öffnete die Tür und trat zur Seite, aber Lopez blieb draußen stehen. »Haben Sie meine Nachricht erhalten?« »Ja. Was haben Sie herausgefunden?« Die Nachricht hatte auf seinem Kopfkissen gelegen. »Wir müssen gehen.« Lopez drehte sich um und ging hastig den Gang entlang. Piers nahm seine Videoausrüstung und folgte ihm. »Wo gehen wir hin?« fragte er atemlos, während sie die Treppe hinunterliefen. »Später«, sagte Lopez und öffnete vorsichtig die Tür. »Wir müssen aufpassen wegen der Patrouillen. Folgen Sie mir und machen Sie mir alles nach.«
Es war zwanzig vor zehn, und seit dreieinhalb Stunden herrschte Ausgangssperre. Die Straßen waren menschenleer und sahen aus, als hätte man sie den Windstößen und dem Unrat, den diese vor sich her trieben, überlassen. Es war Vollmond, die Schatten scharf und lang. Piers ging zwei Schritte hinter Lopez und folgte ihm in allem, so gut ihm das gelang. Er hätte lieber gewußt, wohin sie gingen. Plötzlich blieb Lopez stehen und lauschte. Piers brauchte eine Weile, bis er ebenfalls den sich nähernden Jeep hörte. Sie tauchten in eine Gasse und drückten sich an eine Tür. Die Patrouille aus vier Soldaten mit alten automatischen Gewehren donnerte vorbei. Lopez und Piers warteten eine Weile und traten dann wieder auf die Straße. »Wo gehen wir hin?« fragte Piers nach zehn Minuten des Schweigens ungeduldig. »In die Außenbezirke der Stadt. Es ist ein langer Weg, also sparen Sie sich den Atem.« Es war wirklich ein langer Weg, doch nach einer Dreiviertelstunde hatten sie die Stadtgrenze endlich erreicht. Piers klebte der Staub auf der schweißnassen Haut. Sie waren noch von einigen Patrouillen gestört worden, aber Probleme hatte es keine gegeben. Nun bogen sie von der Haupt- in eine Nebenstraße ein und gingen weiter bis zu einem offenen Feld. Lopez wies auf eine Baumgruppe in etwa hundert Metern Entfernung. Sie mußten laufen, da sie sich im Mondlicht deutlich abhoben. Beide duckten sich so tief wie möglich, und Lopez lief hakenschlagend als erster. In dreißig Metern Abstand folgte ihm Piers in der Erwartung, jeden Augenblick eine Kugel im Rücken zu spüren. Doch es passierte nichts, und sie erreichten außer Atem, aber sicher die Bäume. Dort wartete ein Auto auf sie, mit einem Jungen als Fahrer. Lopez sprang hinein und ließ sich in den Sitz fallen. Sobald auch Piers saß, fuhr das Auto mit rasendem Tempo davon. »Werden Sie mir jetzt sagen, wo es hingeht?« »Ungefähr dreihundert Meilen in den Süden.« »In diesem Ding da?« Der junge Fahrer besaß mehr Begeisterung als fahrerisches Können. »Nein.« Lopez lachte. »Wir fliegen in Bolivars Privatjet.« »Und was suchen wir dort?« »Ich sagte Ihnen doch, daß für Colonel Lopez nichts unmöglich ist. Ich glaube, ich habe den Ausgangspunkt der Seuche gefunden. Von meinen
Agenten, das heißt von denen, die am Leben geblieben sind, habe ich erfahren, wann die Seuche ihr Gebiet traf. Damit konnte ich die Suche auf wenige hundert Quadratmeilen eingrenzen. Wenn wir in der Gegend eintreffen, dürfte sich die Suche auf ein paar Quadratmeilen eingeschränkt haben. Alle Agenten haben Befehl, ihre Arbeit dort zu konzentrieren.« »Was glauben Sie, was sie dort finden werden?« Lopez zuckte mit den Achseln. Das Auto raste über eine Lichtung, an deren Ende Piers einen gut getarnten Hangar entdeckte. Als sie näherkamen, sprangen dröhnend die Turbinen eines Jets an. Es war eine Harrier VTOL. Sobald Piers und Lopez sich hineingezwängt hatten, hob der Pilot, der seine Befehle offensichtlich bereits erhalten hatte, ab. »Es sind nur vierzig Minuten«, rief Lopez Piers ins Ohr, während die Maschine beschleunigte. »Wird die Armee uns nicht entdecken?« schrie Piers zurück. »Wir werden sehr tief fliegen. Ich hoffe nur, daß die am Boden uns für eine Armeemaschine halten, wenn sie uns sehen.« Piers hoffte, daß Lopez recht behielt. Bei dem hellen Mondlicht mußte ein Beobachter schon blind sein, um die nichtmilitärischen Zeichen an dem Flugzeug nicht auch als solche zu identifizieren. Natürlich nur, wenn sie nicht zuerst abstürzten. Sie flogen so tief, daß Piers manchmal den Eindruck hatte, die Baumwipfel lägen höher als das Flugzeug. Und wenn er nach unten sah, konnte er auf der Straße, die sie gerade überflogen, die Bremsspuren erkennen. Er schloß die Augen und wartete. Er öffnete sie erst wieder, als die Maschine zur Landung ansetzte. Er sah auf die Uhr. Seit dem Start waren vierzig Minuten vergangen. Das Flugzeug setzte auf, und Piers entdeckte zwei Männer, die sich hinter einem Baum verbargen. Sobald die Harrier stand, liefen die Männer darauf zu. Colonel Lopez sprang hinaus, duckte sich und lief ihnen entgegen. Die drei steckten die Köpfe zusammen und gestikulierten, während Piers, der sich auf dem offenen Gelände umsah, sich fragte, wo sie nun eigentlich waren. Vor zehn Minuten hatten sie eine größere Stadt überflogen, aber da Piers nie in diesem Teil des Landes gewesen war, hatte er sie nicht erkannt. Lopez kam zurück und kletterte wieder in die Maschine. Er sprach kurz über die Bordanlage mit dem Piloten, und die Maschine erhob sich sofort wieder in die Luft.
»Wir müssen noch weiter südlich«, rief Lopez Piers zu. »Einer meiner Agenten hat einen alten indianischen Viehhirten aufgespürt, der behauptet, etwas gesehen zu haben. Ich will diesen Mann befragen.« »Wo ist er?« »Ungefähr dreißig Meilen außerhalb einer Stadt namens Rio Branco.« Lopez lächelte triumphierend. »Ich wußte, daß ich jemanden finden würde, der etwas weiß. Meine Männer haben den ganzen Tag gearbeitet und jeden in dieser Gegend befragt. Zwei gingen zu einer der großen Ranches westlich von Rio Branco, weil sie von einem Indianer gehört hatten, der behauptete, etwas gesehen zu haben. Niemand glaubte ihm. Er ist alt, träumt von der Vergangenheit und glaubt, daß Gott die Menschen straft. Außerdem traute sich niemand an die Stelle, weil angeblich ein Fluch auf ihr lastet. Der Indianer und meine Agenten warten in der Nähe eines Dorfes namens Cochos.« Nach zehn Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht. Beim Landeanflug entdeckte Piers das Dorf. Es bestand aus etwa neun Hütten zu beiden Seiten einer schmalen, staubigen, von Ost nach West verlaufenden Straße, sowie einer cantina und einer Bushaltestelle. Im Mondlicht sah es gespenstisch aus. Nichts rührte sich, während das Flugzeug langsam tiefer sank. Die dunklen Gestalten, die Piers aus fünfzig Metern Höhe gesehen hatte, erwiesen sich nun als Hunde, Ziegen und Hühner, und auch die rührten sich nicht. Während das Flugzeug ausrollte, sah Piers drei Männer auf sie zulaufen. Der in der Mitte bewegte sich langsam und vorsichtig. Er wurde von den beiden anderen gestützt und schien Angst zu haben. Der Pilot schaltete die Motoren ab, und die folgende Stille war so plötzlich und unnatürlich, daß Piers einen Augenblick lang überhaupt nichts hörte. Doch langsam drangen die Geräusche der Nacht auf ihn ein. Grillen, Frösche, Kies, der unter den Schuhen knirschte. Piers hob die Kamera ans Auge, als Lopez aus dem Flugzeug sprang und auf den uralten Indianer zuging. Der Indianer deutete nach Osten. Piers sprang nun ebenfalls heraus und folgte den Männern in wenigen Schritten Abstand. Bis auf diese Männer war das weite Land vollkommen verlassen. Eine plötzliche Einsamkeit überfiel ihn, als er daran dachte, daß sie viele Quadratmeilen die einzigen Menschen waren. Vielleicht war es nur Einbildung, aber er hatte den Eindruck, daß der urzeitlicht Dschungel, der diesen Teil der Welt Jahrmillionen lang beherrscht hatte, bereits nach wenigen Tagen der Vernachlässigung wieder erwachte und sein Recht forderte.
Die Männer vor ihm kamen zu einer Gruppe von Leichen. Sie lagen ausgestreckt auf der Straße, ihre bäuerlichen Werkzeuge lagen um sie verstreut. Am Gestank merkte Piers, daß sie bereits eine ganze Woche dort lagen, und das Summen der Fliegen klang in der Stille wie tausend Düsenjets. »Warum wurden sie nicht begraben oder verbrannt?« fragte Piers. »Die Leute haben Angst, sich ihnen zu nähern«, erwiderte der kleinere der beiden. »Dort unten an der Straße hat der Indianer das Auto gesehen.« Er zeigte in die Richtung. »Warum wurde er nicht getötet?« »Der Wind«, entgegnete Lopez. »Ihr Wissenschaftler habt offensichtlich richtig geraten. Der Indianer stand oben auf dem Hügel, und von dem Mann im Auto aus gesehen war das die dem Wind abgewandte Seite…« Wie auf ein Zeichen blieb der Indianer stehen und kauerte sich hin. Bis hierher und nicht weiter, hieß das. Das Auto stand noch fünfzig Meter entfernt. Vorsichtig gingen Lopez und seine Agenten darauf zu. Piers ging an dem Indianer vorbei und blieb plötzlich stehen. Er schloß für einen Augenblick die Augen. Als er sich dann nach dem Indianer umsah, bemerkte er, daß der Mann ins Nichts starrte. Seine Augen waren geöffnet, aber auf etwas gerichtet, das für Piers’ Videokamera viel zu weit entfernt war. Und plötzlich wußte Piers, daß er einen Fehler gemacht hatte. Der Indianer markierte eine Grenzlinie. Wenn Piers jetzt weiterging, würde der Schutzwall, den er um sich herum aufgebaut hatte, einstürzen. Wenn er wußte, was sich in dem Auto befand, würde er seine Distanz nicht mehr wahren können. Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen. Immer hatte er sich den Schmerz der Menschen vom Leib gehalten. Immer war er durch den schmalen Tunnel seiner Videokamera davon getrennt gewesen. Nun war es, als würde das Glas der Linse zersplittern und als würde er in den Tunnel gezogen. Wenn das geschah und er plötzlich auf der anderen Seite stand, würde er teilhaben an allem Leid, das er je gesehen hatte. Ein Zurück durch den Tunnel gab es dann nicht mehr. Piers hatte Angst vor dem Auto und der gewaltigen Landschaft. Er war ein Stadtmensch, war gewöhnt an Menschenmengen, an staubige
Straßen und Gebäude, und hier gab es keinen Schutz und keinen Unterschlupf. »Schauen Sie sich das an, Reporter«, sagte Lopez leise. Piers holte einmal tief Atem und ging, mit der Kamera vor dem Auge, langsam vorwärts. Hinter dem Steuerrad des Autos saß ein Mann. Die Augen dieses Mannes starrten zum Autodach, der Ausdruck der Überraschung war auf seinem Gesicht für immer eingefroren. Es sah aus, als hätte er den Tod nicht erwartet. Seine Leiche war im gleichen Zustand wie die der Bauern an der Straße, und die Agenten verscheuchten mit Taschentüchern vor dem Gesicht die Fliegen. Zögernd begann Colonel Lopez, den Mann zu durchsuchen, während die Agenten die Gegend absuchten. Piers blieb in einiger Entfernung stehen und hielt alles mit seiner Kamera fest. Lopez ächzte und zog vorsichtig ein Blatt Papier aus einer der Taschen des Mannes. Während Lopez las, kam Piers näher. Er sah, daß sich Kälte und Wut auf Lopez’ Gesicht breitmachten. »Was ist das?« fragte Piers. »Der Durchschlag des Automietvertrags. Der Mann heißt Charles Whitlam. Als Adresse ist hier 245 East Thirty-Fifth Street, New York, angegeben. Das Auto wurde im Carlton Hotel gemietet an dem Tag, als die Seuche ausbrach.« Schweigend gab Lopez Piers das dünne Stück Papier. Lopez’ Gesicht war wie eine Maske, aber Piers sah die Anspannung in seinem Körper. Der Mann, der dieses Papier hielt, zitterte, als würde er etwas Kaltes und Böses berühren. »O mein Gott«, flüsterte Piers. Lopez wandte sich nun wieder der Leiche zu, und Piers kam näher. Auf dem linken Oberschenkel des Mannes war ein langer schmaler Brandfleck. An den Rändern des Flecks hingen winzige graue Aschepartikel. »Eine Verbrennung von einer Zigarette«, sagte Piers. »Er muß sie sich Sekunden vor seinem Tod angezündet haben. Er konnte gar nicht gewußt haben, was passieren würde.« »Warum nicht?« fragte Lopez. »Eine letzte Zigarette, das ist doch das Klischee bei Hinrichtungen und Selbstmorden, oder?« »Aber es gibt noch keinen Beweis dafür, daß er verantwortlich war.« »Colonel!« rief einer der Agenten drängend.
Er stand in einem Graben und zeigte auf die Stelle zu seinen Füßen. Lopez und Piers liefen hinüber und entdeckten einen halb im Gras verborgenen Gegenstand, der aussah wie ein kleiner Zylinder. Er war von matt silberner Farbe und an einem Ende offen. Piers lief es kalt den Rücken hinunter, als Lopez sich ein Taschentuch um die Hand wickelte und den Zylinder aufhob. Langsam, sehr langsam hob er sich das offene Ende an die Nase. Er stand unter Hochspannung und war bereit, das Ding jeden Augenblick wieder fallen zu lassen. Er schnupperte und wurde dann sicherer. Da war nichts. Er sah Piers an. Seine Augen waren feucht, als würde er gleich weinen. Schweigend sah Lopez lange Zeit in die Kamera. Nun, da er sein Ziel erreicht hatte, schien es, als würde er überrascht feststellen, daß er geschlagen war. »Colonel!« Es war der zweite Agent, der ihn nun rief, und die drei Männer gingen langsam und schwerfällig auf ihn zu. Nun gab es keinen Ausweg mehr. Fast wie unter Hypnose wurde ihnen bewußt, daß sie gleich den letzten Beweis sehen würden, den sie noch suchten. Der Agent hielt in der einen Hand einen Gegenstand, der aussah wie der Deckel des Zylinders, und in der anderen eine leere Deodorantdose. Lopez schraubte den Deckel auf und steckte den Zylinder in die Dose. Er weinte und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Dann gab er Piers die Dose, als wäre sie ein ermordetes Kind. »Mein Volk… meine Mutter… mein Volk… « Er brach ab. Er hatte zuviel Wut und Schmerz in sich, um fortfahren zu können. Früher hätte Piers ihn durch die Kamera beobachtet und jeden Augenblick der Tragödie festgehalten, aber nun schien das unmöglich. Er ließ die Kamera sinken, öffnete dann wie im Traum den kreisrunden Deckel am Boden und zog die Stativbeine heraus. Dann nahm er das Mikrofon ab, klemmte es sich ans Hemd und schaltete auf Automatik. Die Kamera stellte beim Filmen nun automatisch scharf. Piers ging auf Lopez zu. Es war, als würde er eine kalte, fremde Welt betreten, eine Welt aus dunkelster Verzweiflung, in der es für ihn keinen Schutz mehr gab. Auch wenn er nicht den gleichen Schmerz verspürte, war er doch bestürzt über Lopez’ Wut und Verwirrung und über die Monstrosität ihrer Entdeckung. Er sah die Dose an, die Lopez in der Hand hielt, und schüttelte den Kopf. Was war das für ein Mann, der fähig war, so viele Menschen zu töten?
Lopez begann, obszön zu fluchen. Zuerst war es nur ein Murmeln, das aber immer lauter wurde und schließlich in einem Schrei gegen den Himmel endete. Keiner der beiden bemerkte den Agenten, der mit einer Aktenmappe in der Hand in der Nähe stand. Er wartete, bis Lopez nicht mehr fluchte und zeigte ihm dann die Mappe. Eine Deodorantdose lag darin, ähnlich der, die Lopez in der Hand hielt. Lopez brauchte nur wenige Sekunden, um den Sprühkopf abzunehmen und den silbrigen Zylinder herausgleiten zu lassen. »Glauben Sie, daß die beiden identisch sind?« fragte Piers. »Sie sehen gleich aus. Wir werden es testen müssen.« Lopez wog ihn in der Hand. Er hatte sich nun wieder unter Kontrolle, hatte sich versteckt hinter der Maske des professionellen Jägers. »Wenn dieser Mann zwei Kolben bei sich hatte, dann wollte er auch beide benutzen. Und dann hätten wir die doppelte Anzahl Opfer. Aber warum hat er nicht beide benutzt?« »Vielleicht wollte er ihn an einer anderen Stelle aussetzen.« »Ein toter Mann kann nicht fahren«, erwiderte Lopez. »Aber wen kümmert das jetzt noch? Ich habe Bolivars Auftrag erfüllt. In meiner linken Hand habe ich den Beweis, in der rechten die geladene Waffe. Wie ich diesen Whitlam hasse.« Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Lopez seine Automatik und ging zu der Leiche. Er zielte und leerte das ganze Magazin in das verwesende Fleisch. Der Knall ließ die anderen hochschrecken. Die Haut der Leiche zerriß wie Baumwolle. »Hai!« rief der Indianer, und einer der Agenten lief zu ihm. Sie flüsterten, dann rief der Agent die anderen. »Er hört einen Lastwagen näherkommen. Er glaubt, daß er in fünfzehn Minuten hier sein wird.« Colonel Lopez steckte die beiden Dosen in die Aktentasche und lief auf das Flugzeug zu. Piers packte sein Videogerät und folgte ihm. Während die Maschine abhob, sah er die Agenten und den Indianer über die Felder laufen. »Wer ist in dem Lastwagen?« rief Piers. »Eine Patrouille«, sagte Lopez und drückte die Tasche an seine Brust. Auf dem Rückflug verlor keiner ein Wort. Piers versuchte verzweifelt nachzudenken, aber seine Gedanken kamen an dem massiven Hindernis, das Whitlam und die beiden Kolben bildeten, nicht vorbei. Sie füllten
seinen ganzen Verstand aus und drohten ihn zu ersticken. Er zitterte, was jedoch nicht an der kalten Luft im Flugzeug lag. Er hatte Angst. Wenn überhaupt, dann hätte er erwartet, einen Soldaten als Verantwortlichen für diese Seuche zu finden. Aber nicht einen Charles Whitlam, wer immer dieser arme Kerl auch war, einen Amerikaner. Wenn die Industrienationen darin verwickelt waren… Piers konnte nicht weiterdenken. Er begann zu schwitzen und sah Lopez an. Der schlief fest. Das attraktive Gesicht, im Profil vor dem immer heller werdenden Himmel im Fenster, sah friedlich aus. Wie das eines Raubtieres, das seine Beute geschlagen hatte und nun satt war. Piers senkte den Blick. Die Aktenmappe lag auf Lopez’ Schoß. Seine rechte Hand lag auf der Tasche und hielt locker den Griff der Automatik fest. Piers genoß vielleicht Bolivars Vertrauen, doch er wußte, daß er das von Lopez nie erringen würde. Es war halb sechs, als sie die Außenbezirke von Sao Amerigo erreichten. Noch war es angenehm kühl, und obwohl der Schlafmangel ihn allmählich etwas langsamer machte, fühlte Piers sich nicht müde. Die innere Spannung war zu echten Magenschmerzen geworden. Im Gegensatz dazu sah Lopez noch immer gelassen aus. Er hatte seinen Auftrag erledigt, und er hatte jetzt nichts mehr zu tun, als Bolivar die Information zu überbringen. Bolivar würde dann über die nächsten Schritte entscheiden, und genau davor hatte Piers Angst. Die Rückkehr zum Hotel war einfacher. Die Ausgangssperre war um fünf Uhr aufgehoben worden, und obwohl noch nicht viele Leute unterwegs waren – nur einige Bauern, die frisches Gemüse brachten, und Straßenkehrer, die träge den Asphalt fegten –, war die Bewegungsfreiheit nun um einiges größer. Zwar waren die Patrouillen noch in der ganzen Stadt verteilt, aber die Soldaten dösten zum Großteil in ihren Jeeps. »Ich gehe ins Carlton, um noch mehr über diesen Whitlam herauszufinden«, sagte Lopez, als sie sich dem Amerigo näherten. »Wollen Sie mitkommen?« Am liebsten hätte Piers abgelehnt. Er mochte gar nicht daran denken, was sie alles über Whitlam herausfinden könnten. Aber er wußte, er mußte sich der Sache stellen ohne Rücksicht darauf, was er entdeckte, und deswegen nickte er. Seine Magenschmerzen wurden nur noch schlimmer, als sie die Lobby des Carlton betraten.
Die Rezeption war unbesetzt, und sie gingen schnell zur Treppe. Beide atmeten schwer, als sie den siebten Stock erreicht hatten. Piers blieb stehen, um Atem zu holen, aber Lopez ging einfach weiter. Vor der Tür mit der Nummer 708 blieb er stehen und steckte seinen Dietrich ins Schloß. Einen Augenblick später war er im Zimmer. Piers folgte langsam, und als er die Tür erreichte hatte, atmete er tief durch, hob die Videokamera vors Auge und betrat das Zimmer. VIDEOBERICHT…Fortsetzung… Hier sehen Sie Charles Whitlams Zimmer im Carlton Hotel in Sao Amerigo. Colonel Lopez durchsucht eben gründlich das Zimmer, um mehr über Whitlam in Erfahrung zu bringen. Wer war er? Woher kam er? Ist er wirklich aus Amerika? Nach zehn Minuten hat Colonel Lopez absolut nichts gefunden. Die Schränke und Schubladen sind leer, im Badezimmer war nicht einmal ein Stück Zahnseide zu finden. Colonel Lopez’ Enttäuschung ist offensichtlich, aber er gibt nicht auf. Er fängt von neuem an. Diesmal durchsucht er auch verstecktere Stellen – die Höhlungen hinter den Schubladen, hinter den Schränken. Er hebt das Laken und sieht darunter. Er legt sich auf den Bauch und späht unter das Bett. Nun holt er ein zusammengerolltes Knäuel Papier hervor. Es sind zwei Blätter, die er auf den Tisch legt. Das eine ist mit Maschine beschrieben, auf dem anderen befindet sich eine Art Diagramm. Alles zusammengenommen sind wir der Auffassung, daß es unerläßlich ist, unser Projekt zur E. B. W. in größtmöglicher räumlicher Ausdehnung in die Tat umzusetzen. Wird dies nicht mit unserem System der U. R. S. geschehen, wird sich die Menschheit innerhalb von fünf Jahren im Zustand der T. O. befinden. Sobald T. O. eintritt, ist die Lage absolut irreversibel. Colonel Lopez, was haben diese Papiere Ihrer Meinung nach zu bedeuten? Bei dem Diagramm ist das schwer zu sagen, wenn man nicht weiß, was T. O., U. R. S. und E. B. W. zu bedeuten haben. Wenn wir uns aber um diesen Textauszug kümmern, was glauben Sie wohl, was der Ausdruck »größtmögliche räumliche Ausdehnung« zu bedeuten hat? Er könnte sich auf das Gebiet dieses Landes beziehen. Oder auf andere Teile der Welt, mein Freund.
Wenn Colonel Lopez recht hat, dann haben wir mit Whitlam und dem, was in Menaguay passiert ist, bisher nur die Spitze eines Eisbergs gesehen. Aber noch ist nicht ganz klar, wer dieser Whitlam nun genau ist. Er könnte ein bezahlter Handlanger der Generäle sein, ein Sündenbock mit der einzigen Aufgabe, den Virus freizusetzen. Noch gibt es über ihn keine weiteren Informationen als seinen Namen und seine Adresse auf dem Durchschlag eines Automietvertrags.
Wir werden das sofort kontrollieren. Jeder, der sich in diesem Land in einem Hotel einschreibt, muß seinen Paß abgeben. Kommen Sie, wir werden den Manager fragen. Unterbrechung der Aufnahme… Fortsetzung der Aufnahme…
Der Manager ist nicht mehr am Leben. Ebenso ein Großteil des Hotelpersonals. Der junge Mann, der das Hotel vorübergehend leitet, zeigt Colonel Lopez nervös die Gästeliste. Ein Charles Whitlam ist nicht eingetragen. Auch wird, wie Colonel Lopez entdeckt, im Hotel kein Paß mit diesem Namen aufbewahrt. Am Schalter der Verleihfirma versucht Colonel Lopez, das Original des Mietvertrages zu finden. Aber aus einem unerfindlichen Grund existiert dieses Original nicht. Es gibt auch niemanden, den man befragen könnte. Der Übergangsmanager des Hotels gibt an, das Verleihbüro sei seit Ausbruch der Seuche unbesetzt. Die Figur Charles Whitlam wird immer geheimnisvoller. Er existiert als Leiche, aber von ihm als Lebendem gibt es offensichtlich keine Spur. Nach unserem gegenwärtigen Wissensstand ist es nicht einmal sicher, ob der Name und die Adresse nicht etwa gefälscht sind. In diesem Fall wäre der Durchschlag des Vertrages, unser einziges Indiz, nur eine Spur, die ins Nichts führt. Es berichtete für Sie Piers Shatner von Channel 14 in New York, der mit Colonel Lopez in Sao Paulo unterwegs ist. Lopez sah jetzt gar nicht mehr gelassen aus. Er war frustriert und wütend, daß er schon wieder in einer Sackgasse gelandet war. Wäre der Durchschlag nicht der einzige Beweis für Whitlams Existenz gewesen, hätte er ihn zerrissen und wäre auf den Fetzen herumgetrampelt. Doch so gab er sich alle Mühe, die Beherrschung nicht zu verlieren. Er faltete den Durchschlag ordentlich zusammen und steckte ihn in die Aktentasche. Piers warf einen schnellen Blick auf die Flaschen. Im Sonnenlicht hatte das stumpfe Silber etwas böse Funkelndes. »Vielleicht hat er gar nicht in dem Hotel gewohnt«, überlegte Piers. Lopez schüttelte den Kopf. »Ich spüre es, daß er hier gewohnt hat. Dieses Diagramm und der Textauszug…« Er zögerte und sagte schließlich bestimmt: »Sie gehörten ihm. Ich fühle es. Ich werde die Fingerabdrücke in dem Zimmer überprüfen lassen. Ich wette, daß es dieselben sind wie auf dem Kolben.« »Okay, dann wohnte er also im Carlton. Aber wer ist er?« Als Piers das fragte, schnitt Lopez eine Grimasse. »Soweit ich das sehe«, fuhr Piers fort, »ist folgendes passiert: Er wirft den Kolben aus dem Fenster, fährt los und zündet sich eine Zigarette an. Hätte er gewußt, was sich in dem Kolben befand, dann hätte er anders
reagiert. Wenn er es nicht wußte, dann glaubte er wahrscheinlich, daß sich in der Flasche etwas anderes befand. Genauso wie in der noch intakten.« »Vielleicht war er ja auch verrückt«, sagte Lopez frustriert. »Dann hätte er sich an den Straßenrand gesetzt und auf seinen Tod gewartet.« Lopez zuckte vielsagend und voller Verzweiflung mit den Achseln. Am liebsten hätte er die Frage nach Whitlams Identität und Geisteszustand als unwichtig abgetan. Er hatte die Beweise, die Bolivar wollte, aber er wußte auch, daß Whitlam auf eigenartige und frustrierende Weise der Schlüssel zur Lösung des ganzen Rätsels war. Whitlam war derjenige, der direkt zu den Schuldigen führte. Auf wessen Kopf sollte Bolivar seine Waffe richten? Auf die der Generäle? Oder auf die derjenigen, die Whitlam mit den beiden Kolben nach Cochos geschickt hatten? Whitlam? Whitlam? Whitlam? Wer hat dich hierher geschickt? Am liebsten hätte Lopez laut geschrien. »Vielleicht weiß Bolivar eine Lösung«, sagte er schließlich. Er selbst wußte bei Whitlam nicht mehr weiter. Dann streckte er Piers die Hand entgegen. »Bitte geben Sie mir alle Aufnahmen, die Sie bis jetzt gemacht haben.« Piers sah Lopez überrascht an. »Ach, gehen Sie doch…« – Sein Blick fiel auf Lopez’ Automatik, die auf seinen Bauch gerichtet war. Inzwischen würde ich diese verdammte Pistole überall wiedererkennen, dachte er müde. – »… zum Teufel…!« Er spulte das Band zurück, nahm es heraus und gab es Lopez. »Ich werde es Ihnen heute nacht zurückgeben«, sagte Lopez und steckte es in die Aktentasche. »Wir werden Bolivar besuchen, und Sie werden ihm das Band zeigen. Es ist zu Ihrer und meiner Sicherheit. Wenn Geddes erfährt, daß Sie in der vergangenen Nacht nicht in Ihrem Zimmer waren, wird er zuallererst Ihre Bänder überprüfen. Und wenn er sieht, was wir gefunden haben, sind wir beide…« Er fuhr sich mit dem Finger am Hals entlang. »Wann heute nacht? Wird Bolivar mir ein Interview geben?« »Ja. Ich werde Sie um halb elf vor dem Hotel abholen. Sorgen Sie dafür, daß Ihnen niemand folgt.« Lopez verschwand durch den Hinterausgang. Piers ging langsam zum Hotel Amerigo zurück. Der Adrenalinstoß, der ihn die ganze Nacht wachgehalten hatte, flaute nun plötzlich ab, und er spürte, wie sich eine angenehme Müdigkeit in seinem Körper breitmachte. Er hoffte nur, daß
Geddes an diesem Tag keine Pläne für ihn hatte. Aber vor allem hoffte er, daß seine Abwesenheit unbemerkt geblieben war. Er schlüpfte ins Hotel und lief die Treppe hinauf. Es war noch früh, der Korridor war leer. Als er seine Tür erreichte, hörte er, wie eine andere hinter ihm geöffnet wurde. Er drehte sich um. Harris stand mit halb rasiertem Gesicht vor seinem Zimmer. »War spazieren«, sagte Piers als Erklärung. »Muß aber ein langer Spaziergang gewesen sein«, erwiderte Harris sarkastisch. »Um Mitternacht wollte ich mir eine Kassette ausborgen, aber du warst nicht in deinem Zimmer. Was hast du schon wieder vor, Shatner, verdammt noch mal?« Er watschelte über den Korridor. »Du hast etwas, und ich will wissen, was es ist, sonst…« »Sonst steckst du Geddes etwas.« »Schon möglich.« Piers versuchte, Zeit zu schinden. »Jetzt bin ich müde. Wenn ich aufwache, erzähle ich dir, was ich entdeckt habe.« Er hoffte, daß ihm inzwischen eine Ausrede einfallen würde. Nun war er dankbar, daß Lopez das Band mitgenommen hatte. Auch wenn Harris Geddes nichts sagte – es war besser, wenn er nichts Belastendes bei sich hatte. »Das würde ich dir auch raten.« Harris’ Worte klangen wie eine Drohung. In seinem Zimmer schloß Piers die Vorhänge, zog seine Stiefel aus und legte sich auf das Bett. Er war schläfrig und schloß die Augen. Dann öffnete er sie wieder und schnupperte. Parfüm. Schwach, aber noch auszumachen. Marion hatte also auch nach ihm gesucht. Er hätte sie jetzt gern neben sich gehabt. Nicht, um mit ihr zu schlafen, sondern damit sie ihn tröstete. Denn hinter seiner Erschöpfung lauerte die Angst, was Bolivar wohl mit dem unbenutzten Kolben tun würde.
8 VIDEOAUFZEICHNUNG: General Costa Goncalves. Aufgenommen am 13. 7. um 4 Uhr 15 an der Freisetzungsstelle. Bericht an General Peres, Präsident von Menaguay. Ich traf mit meinen Männern gegen 4 Uhr 08 hier ein. Auf unserem Weg zur Freisetzungsstelle hörten wir etwa gegen 3 Uhr 50 ein Flugzeug. Ein Sichtkontakt kam nicht zustande, und ich gab den Befehl, daß sich alle Militärflugzeuge, die sich um 3 Uhr 50 in der Umgebung der Freisetzungsstelle befanden, sofort bei mir melden sollten. Es war uns nicht, ich wiederhole, nicht möglich, den Kolben zu bergen. Eine Untersuchung der Umgebung ergab, daß sich kurz vor unserer Ankunft vier Männer hier aufhielten. Es ist möglich, daß sie den Kolben haben und das Flugzeug ihnen gehörte. Ich ging zunächst von der Beteiligung einiger Anwohner an der Entfernung des Kolbens aus. Doch dies erwies sich als unrichtig. Wie Sie sehen können, wurde mindestens viermal auf die Leiche geschossen. Ich werde meine Männer zur Bewachung der Freisetzungsstelle hierlassen. Am Morgen wird eine gründlichere Untersuchung durchgeführt werden. In der Zwischenzeit werde ich zur Basis zurückkehren, um Ihnen diesen Bericht zu übermitteln und Ihre Befehle zu erwarten. Der Monitor wurde dunkel. Darrigan, Solotow und Mercer warfen sich kurze Blicke zu und vermieden es dann, etwas Beunruhigenderes anzusehen als den Tisch vor ihnen. In der folgenden Stille hörte Mercer, wie Darrigan ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch klopfte. Das Geräusch wurde lauter und immer lauter, bis es Mercers Kopf ausfüllte und er nicht mehr denken konnte. Während er den Monitor betrachtete, spürte er eine schwache, aber gefährliche Freude in sich aufsteigen. Jemand auf dieser Welt war dem allmächtigen Rat einen Schritt voraus und hatte die Absicht, diesen Vorsprung auch auszunützen. Es konnte nur Bolivar sein, und Mercer fragte sich, wie weit er wohl kommen würde. Wenn er es bis zum Äußersten trieb, bedeutete dies das Ende, das wußte Mercer. Aber er hatte nicht die Absicht, sein Geld auf den Mann zu verwetten. Der Rat war im Vorteil. Das ist fast schon ein ehernes Gesetz, dachte Mercer gereizt.
»Hören Sie bitte damit auf«, sagte Mercer. Die Finger hörten auf zu trommeln und fingen dann leise wieder an. »Bolivar«, sagte Darrigan zu niemand im besonderen. Solotow nickte. Darrigan drückte seinen Knopf, und der Monitor wurde wieder hell. »Den Bericht über Bolivar«, befahl Darrigan dem Assistenten, der nun auf dem Bildschirm erschien. »Ja, Sir, und…«, fügte der Assistent schnell hinzu, bevor Darrigan ihn wieder abschalten konnte, »… da ist soeben ein Bericht aus Sao Amerigo hereingekommen.« Darrigan nickte. VIDEOAUFZEICHNUNG: Major Vasco Soares, Kommandierender von Bolivars Wache. Aufgenommen 13. 7. um 8 Uhr. In den letzten vierundzwanzig Stunden hat Señor Bolivar sein Haus nicht verlassen. Befehlsgemäß wurden stündliche Überprüfungen durchgeführt. Santos, sein Begleiter, hat das Haus ebenfalls nicht verlassen. Auch wurden in den letzten vierundzwanzig Stunden Telefongespräche weder getätigt noch entgegengenommen. Ende des… »Jeden Tag der gleiche verdammte Bericht«, sagte Darrigan wütend. »Bloß um Ihretwegen können die sie nicht verändern«, entgegnete Mercer. »Bolivar hat sich in den letzten drei Wochen nicht gerührt. Könnte er auch gar nicht; mit all den Soldaten um ihn herum.« »Bolivar muß sich nicht rühren, um Probleme zu machen. Er hat Gefolgsmänner, und irgendwie setzt er sich mit ihnen in Verbindung. Und diese blöden Soldaten sind nur zu faul, um herauszufinden, wie.« »Worum geht es in dem anderen Bericht?« fragte Solotow. VIDEOBERICHT: General Alvaro Peres an den Rat. Aufgenommen 13. 7. um 9 Uhr 30. Wie Sie wissen, war es uns bis jetzt nicht möglich, den Kolben sicherzustellen. Ich und mein Kabinett würden es sehr begrüßen, wenn der Rat uns versichern könnte, daß keiner seiner Agenten im Besitz des Kolbens ist. Wir erwarten die Antwort innerhalb einer Stunde. Ansonsten sind wir gezwungen, entsprechende Schritte einzuleiten.
Mercers humorloses Kichern unterbrach das Schweigen. »Er glaubt, wir haben das Ding und öffnen es direkt unter seiner fetten Nase.« Darrigan und Solotow ignorierten ihn. »Ich glaube, dieser Gedanke spukt unserem Freund, dem General, schon lange im Kopf herum«, sagte Solotow schließlich ruhig. »Es ist ja nicht schlecht, ihn auch weiterhin zappeln zu lassen, aber ich glaube, wir sollten ihm sofort versichern, daß wir den Kolben nicht haben.« Er drückte auf den Knopf. VIDEOAUFZEICHNUNG: Solotow an General Alvaro Peres. Aufgenommen 13. 7. um 10 Uhr. Ich und der Rat können dem General und seinem Kabinett versichern, daß keiner unserer Agenten im Besitz des Kolbens ist. Wir möchten diese Gelegenheit benutzen, um erneut zu versichern, daß der Rat nur Frieden und Wohlstand für Menaguay im Sinn hat und ausschließlich für dieses Ziel arbeitet. Nur als Zeichen des Vertrauens in den General und sein Kabinett haben wir diese Informationen bezüglich des Kolbens übermittelt. Ich und der Rat möchten vorschlagen, daß Sie Ihre Bemühungen, den Kolben wiederzuerlangen, verdoppeln. In den falschen Händen könnte er unser gemeinsames Ziel, Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern zu erreichen, vereiteln. »Es war unser größter Fehler«, sagte Darrigan mißmutig, »daß wir sie gebeten haben, den Kolben zu suchen.« Er drückte auf den Knopf. »Kontaktieren Sie unsere Agenten in Sao Amerigo«, sagte er dem Assistenten, »und sagen Sie ihnen, es sei unumgänglich, daß sie die Generäle bei der Suche nach dem Kolben unterstützen. Sollten sie ihn selber finden, müssen sie, ich wiederhole, müssen sie die Generäle davon unterrichten.« Er ließ den Knopf wieder los. Darrigan betrachtete seinen Finger und nagte dann vorsichtig daran. »Ich glaube«, sagte er langsam, »wir sollten jede Ausdehnung des Operationsgebiets verzögern. Ich würde sagen, wir schieben sie auf, bis wir den Kolben wiedergefunden haben.« »Ja«, sagte Mercer schnell und versuchte gar nicht, die Erleichterung in seiner Stimme zu verbergen. »Es wäre gefährlich, wenn er später gefunden und benützt würde, um…« Er beendete den Satz nicht. Sie warteten auf Solotows Antwort. Er sah sie beide an. Sein Gesicht verriet nichts. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er
bestimmt. »Jeder Aufschub würde Ihnen einen Vorteil bringen. Ich vertrete die Völker der UdSSR…« – er wandte sich an Mercier – »… und es ist unumgänglich, daß wir mit Ihrer wirtschaftlichen Entwicklung Schritt halten.« Mercer setzte eine ausdruckslose Miene auf. Er wußte, daß er nun von Solotow eine lange Rede zu erwarten hatte. Und danach eine von Darrigan. Der Rat mußte zu einer Mehrheitsentscheidung kommen, und wer von den beiden ihn überreden konnte, auf seiner Seite zu stimmen, hatte einen zeitweiligen Vorteil über den anderen. »Ich sagte bereits, daß ich Darrigan zustimme«, sagte Mercer laut und schnitt Solotow das Wort ab. »Wir müssen jede Ausdehnung des Operationsgebiets aufschieben.« Darrigan versuchte, sich die Freude nicht anmerken zu lassen, aber obwohl sein Gesicht ausdruckslos blieb, verrieten die Augen seine Zufriedenheit. Solotow zwinkerte Mercer zu, und der rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. Eigentlich sollte man ja erwarten, daß der Mann wütend wird wie Darrigan, dachte er, aber der zeigt überhaupt keine Reaktion. Zwinkert nur wie eine Eule. »Ich möchte einen Kompromiß vorschlagen«, sagte Solotow einlenkend. »Ein Aufschub von vierundzwanzig Stunden bringt mehr als ausreichend Zeit, um den Kolben wiederzufinden. Wir wissen, daß Bolivar ihn hat.« Darrigan nickte. »Okay, vierundzwanzig Stunden. Was glauben Sie, was Bolivar damit anfangen wird?« Mercer merkte, daß er die Initiative verloren hatte. Sie hatten sich über seinen Kopf hinweg auf etwas geeinigt, und er war für ihre Beratungen nicht länger notwendig. »Er wird ihn nicht einsetzen«, antwortete Solotow. »Wahrscheinlich wird er ihn Odu, Liu und den anderen zeigen, um ihnen zu beweisen, was passiert ist.« »Wir müssen dafür sorgen, daß er sich nie mit Odu trifft. Oder mit einem von den anderen.« Mitten in einem ruhelosen, von Schweißausbrüchen begleiteten Alptraum kam sie zu ihm. Der Traum war nicht beängstigend, er war schwarz und lähmend und zog ihn wie klebriger Schleim immer tiefer in sein erstickendes Zentrum. Piers spürte sie neben sich. Sie war warm,
sie duftete, und sie rief ihn. Er berührte sie und wachte auf. Das Zimmer war dunkel, und einen Augenblick lang meinte er, noch zu träumen. »Bist du in Ordnung?« Er nickte. Durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen sah er die Sonne. Er drehte sich zur Seite, um sie anzusehen. Sie sah besorgt aus, doch es war, als würde sie dadurch nur noch schöner. Er berührte ihr Gesicht und ließ dann die Hand langsam zu ihrem Busen, dem Bauch und den Schenkeln wandern. Eigentlich wollte er nur, daß sie ihn in die Arme nahm und tröstete. Er senkte den Kopf und vergrub ihn zwischen ihren Brüsten. Sie nahm ihn in die Arme. »Nur ein Traum«, flüsterte er. »Erzähl ihn mir. Ich bin da.« Piers antwortete lange nicht, und sie wiederholte ihre Aufforderung nicht. Schweigend lagen sie beieinander, jeder getröstet von der Gegenwart des anderen. Piers hatte Angst, und er wollte Marion nicht damit anstecken. Langsam und zögernd erzählte er ihr schließlich von Whitlam und dem Kolben. Marion hörte zu. Sie starrte an die Decke, und manchmal hörte sie ihn, dann wieder nicht. Jedes Wort, das er sagte, war wie tödliches Eis, das sie langsam gefühllos machte, so, als würde sie Stück für Stück eingefroren, damit sie, wenn das Messer dann zustach, den Schmerz nicht mehr spürte. Erst allmählich merkte sie, daß er aufgehört hatte zu reden und ihr eine Frage stellte. »Und…?« wiederholte er. Marion schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte sie leise. »Ich kann nicht mehr denken.« Sie spürte, daß es eigentlich schon zu spät war, aber sie mußte es versuchen. »Piers, laß uns von hier weggehen, laß uns das alles vergessen.« Sie spürte, daß er den Kopf schüttelte. Er war wie ein Spielzeug, das man aufzog und das immer weiterlief, bis die Feder brach oder er seine Story gefunden hatte. Sie kannte ihn zu gut. »Ich kann nicht«, flüsterte er. »Ob es nur ein Mensch ist oder fünfzehn Millionen… jemand muß dafür zur Verantwortung gezogen werden.« Marion spürte, wie einen Moment lang Wut in ihr aufstieg. »Du hörst dich an wie ein Richter. Du legst fünfzehn Millionen in die eine Waagschale und dich selbst in die andere. Aber du kannst sie nicht aufwiegen, Piers. So bekommst du nur fünfzehn Millionen und einen. Die werden alles tun, um dich zu töten.«
»Ich weiß.« Es klang endgültig. »Und deswegen mußt du dich auch aus der Sache heraushalten.« »Das kann ich nicht«, sagte Marion. »Wir sind Shatner und Hyslop.« Er drehte sich um und küßte sie auf die Wange, aber sie reagierte nicht. Sie lagen schweigend da, wie gefangen von dem, was sie wußten. Marion horchte. Piers Atem wurde allmählich regelmäßiger. Sie wartete noch eine Weile, setzte sich dann langsam auf und sah ihn an. In dem schwachen Licht, das in das Zimmer sickerte, sah er aus wie ein kleiner Junge. Und ich, dachte Marion bitter, bin die alterslose Mutter. Die Männer ändern sich nie, ihre Gesichter behalten den Stempel der Kindheit bis zu ihrem Tod. Aber wir ändern uns. Wir verlieren unsere Schönheit, unsere Figur, wir verändern uns so sehr, daß das Kind und die Frau nicht mehr dieselbe sind. Sie strich ihm zärtlich mit dem Finger über die Lippen und glitt leise aus dem Bett. In ihrem eigenen Zimmer zündete sie sich dann eine Zigarre an, setzte sich auf das Bett und sah in den Sonnenschein hinaus. Piers, Piers, Piers, dachte sie immer wieder. Aber es half nichts. Sie kannte das Ende. Sie rasten aufeinander zu wie zwei Eilzüge auf demselben Gleis. Bei der Kollision konnten sie beide überleben oder sterben, aber wer überlebte, würde die Narben bis zum Ende seines Lebens tragen. Sie hatte versucht, es ihm zu sagen, aber er wollte nicht hören. Er war kein Mensch mehr. Er konnte weder hören noch sehen, noch spüren. Er würde weiterdrängen, bis sie zusammenstießen, und dann…? Sie konnte alleine nach New York zurückkehren, aber das würde weder ihm noch ihr helfen. Das Telefon klingelte. Sie ließ es dreimal läuten, bevor sie abhob. Sie wußte bereits, was sie sagen würde. »Nichts«, sagte sie barsch und legte auf. Dann drückte sie die Zigarre aus und legte sich wieder zurück. Es war später Nachmittag, als Piers aufwachte. Er griff neben sich, aber sie war verschwunden. Es war wie ein Traum, und er fragte sich, ob sie ihn wirklich besucht hatte oder ob es nur ein Zwischenspiel in seinem Alptraum gewesen war. Er war noch immer erschöpft, wußte aber, daß bis um zehn Uhr alle Müdigkeit verschwunden sein würde. Er würde Bolivar treffen, und dazu war es wesentlich, daß er Geddes vom Hals hatte. Er wählte Marions Zimmer an. Sie antwortete müde. »Kannst du dich um Geddes kümmern?« fragte er.
Sie willigte nur kurz ein und legte wieder auf. Er sah verwundert den Hörer an und zuckte dann mit den Achseln. Wahrscheinlich hatte sie Angst um ihn. Piers duschte und rasierte sich und ging zu einem frühen Abendessen in den Speisesaal. In der Lobby sah er Marion mit Geddes reden. Sie nickte ihm über die Schulter des Lieutenants hinweg zu. Er war ihr dankbar und warf ihr einen Kuß zu. Harris sah er nirgends, und obwohl er auch dafür dankbar war, machte der Mann ihm Sorgen. Er zweifelte nicht daran, daß Harris mit Geddes reden würde. Er aß schnell und kehrte in sein Zimmer zurück. Da er noch zwei Stunden warten mußte, legte er sich aufs Bett und starrte an die Decke. Er dachte an den intakten Kolben, den Lopez bei sich trug. Beim erstenmal hatte er so unschuldig und harmlos ausgesehen, aber nun wurde er mit jeder Sekunde größer und bedrohlicher. Das war die Waffe, die Bolivar wollte, hatte Lopez gesagt, und Piers begann zu schwitzen. Was würde Bolivar damit tun? Es war eine Waffe, die man nicht mehr kontrollieren konnte, sobald sie einmal freigesetzt war. Bolivar würde sie benutzen, um sich zu rächen. Aber wie? Diese Frage konnte nur Bolivar beantworten, und er würde sie ihm noch in dieser Nacht stellen. Piers drehte sich unruhig hin und her und dachte an den toten Whitlam. Charles Whitlam. So ein harmloser Name. Er klang… falsch. Verdammt noch mal, wer war der Mann? Ein Sterbender konnte keine Überraschung mimen, und es war Überraschung, die er in Whitlams Gesicht gesehen hatte. Da war er sich ganz sicher. Er versuchte, sich über die Sache klarzuwerden, aber Whitlam war im Augenblick zu eindimensional, als daß er etwas anderes als Vermutungen hätte anstellen können. Und auch bei der Frage danach, warum die Generäle zu so drastischen Maßnahmen gegriffen hatten, um Bolivar zu stürzen, erging es ihm nicht anders. Es war einfach nicht logisch, daß sie Millionen töteten, um einen einzigen Mann von der Macht zu vertreiben. Es wäre doch nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Bolivar die Zügel aus der Hand geglitten wären. Dann hätte ein schneller Staatsstreich mit nur wenigen toten Soldaten auf beiden Seiten die Sache erledigt. Piers schüttelte sich angewidert. Aber Millionen? Die einzige Möglichkeit war, daß Bolivar etwas vorgehabt hatte und den Generalen deshalb keine Zeit mehr geblieben war. Noch eine Frage mehr, die er Bolivar stellen wollte.
Piers rollte sich vom Bett und nahm seine Videokamera in die Hand. Manchmal war es ein Trost für ihn, die abgenutzte, glatte Oberfläche zu spüren. Diesmal war es nicht so, und er wußte auch, warum. Er hatte sie verletzt. Er war durch den Tunnel geschlüpft, und sie war nun nicht mehr sein Schutz vor der Welt. Indem er Lopez getröstet hatte, war er zu einem Teil des Schmerzes geworden, und es war nun unmöglich, wieder auf die andere Seite zurückzukehren. Der Tunnel war eine Einbahnstraße, und Piers wußte das. Der Apparat in seinen Händen fühlte sich nicht mehr vertraut an, und er fummelte unsicher herum, als er eine neue Kassette einlegte und ein paar Meter verschoß. Es war, als würde sich der Apparat von ihm zurückziehen. Piers sah auf die Uhr. Es war Zeit zu gehen. Er spähte auf den Korridor hinaus – es war niemand zu sehen. Er eilte zur Feuertreppe und sah sich noch einmal um, bevor er hinunterlief. Der Korridor blieb leer. Unten drückte er vorsichtig die Tür auf und trat ins Freie. In dieser Nacht schien kein Mond, alles war vollkommen dunkel. Er hob die Kamera vor die Augen und suchte mit dem Restlichtverstärker die Straße ab. Als Lopez ihn anstieß, schrak er hoch. »Sie sind spät dran«, flüsterte er. »Wir müssen uns beeilen.« Er zeigte auf die Kamera. »Können Sie in der Nacht damit sehen?« »Ja, und filmen auch.« »Das wird uns helfen. Ohne Mond können wir die Patrouillen nicht sehen.« Als sie losgingen, sah Piers, daß Lopez die Aktenmappe fest an sich gedrückt hielt. Sie schwiegen und beobachteten die Umgebung. An jeder Kreuzung winkte Lopez, und Piers suchte mit der Kamera die Straße ab. Sie waren froh über diese Vorsichtsmaßnahme, denn auf der Calle Cunhal entdeckte Piers eine Patrouille. Der Jeep stand an der finstersten Stelle, und die Soldaten saßen still wie Spinnen, die auf eine Fliege lauern. Es dauerte fünf Minuten, bis sie den Jeep umgangen hatten. An der Avenida Esta hatte Piers schon das Okay zum Überqueren gegeben, als Lopez plötzlich stehenblieb. »Da ist nichts«, flüsterte Piers. Lopez drehte sich um und zeigte nach hinten. Piers suchte die Straße ab. »Ich habe hinter uns ein Geräusch gehört«, sagte Lopez. »Ich kann aber nichts sehen«, erwiderte Piers.
Trotz der Versicherung, die Piers ihm gegeben hatte, blieb Lopez eine ganze Minute lang unbeweglich stehen. Als sie schließlich weitergingen, sah er sich immer wieder um. »Ich bin sicher, daß ich etwas gehört habe«, sagte Lopez. »Es ist Ihnen doch niemand vom Hotel aus gefolgt?« »Bestimmt nicht.« »Und Sie haben niemandem etwas von Ihrem Ausflug erzählt.« »Nein.« Seine Entrüstung führte dazu, daß sein Flüstern ziemlich laut klang. »Wie weit ist es noch bis Bolivars Haus?« »Wir werden nicht gleich zu ihm gehen.« »Sie haben es versprochen!« »Wir müssen erst noch etwas anderes untersuchen. In Bisons Haus habe ich ein Wortfragment entdeckt: a-g-u-a – und der letzte Buchstabe sah aus wie ein o. Aber von Bolivar habe ich erfahren, daß es kein o, sondern ein d ist. Das Wort heißt Aguada.« »Und was ist Aguada?« »Ein Militärlager eine Stunde außerhalb der Stadt. Ich will sehen, was dort passiert. Wir müssen uns beeilen.« Nach einer halben Stunde hatten sie die Stadtgrenze erreicht, doch waren sie, soweit Piers das sehen konnte, diesmal an einer anderen Stelle als in der Nacht zuvor. Er nahm an, daß sie westlich davon waren. »Warten Sie hier«, flüsterte Lopez und ging den Weg, den sie gekommen waren, ein Stück zurück. Nach fünf Minuten tauchte er kopfschüttelnd wieder auf. Als er Piers zu dem wartenden Auto führte, wirkte er außergewöhnlich nervös. Genauso wie gestern saß wieder der Junge am Steuer, und sein Fahrstil war höchstens noch schlimmer geworden. Er schien das Fahrzeug nur nach dem Instinkt zu steuern. Da er die Scheinwerfer nicht einschalten konnte, sah er die Straße vor sich nicht. Wahrscheinlich hat er ein eingebautes Nachtsichtgerät, dachte Piers, als sie um eine Kurve schleuderten. Sie brauchten zwei Stunden bis Aguada, das sie schon aus großer Entfernung bemerkten. Jeder Scheinwerfer des Luftwaffenstützpunktes schien eingeschaltet zu sein, und auf der schmalen Straße um das Gelände patrouillierten ständig Jeeps. Lopez ließ das Auto kurz vor dem Lichtkegel anhalten und ging mit Piers langsam zu Fuß weiter. Je näher sie kamen, desto heller wurde es, und nun erkannte Piers auch den Grund dafür. Der Stützpunkt lag neben einem Fluß, und das Wasser reflektierte das Licht wie ein Spiegel. Sie mußten nur darauf achten,
nicht gesehen zu werden, denn der Lärm vom Stützpunkt war ohrenbetäubend. Er war belebt wie der John-F.-Kennedy-Flughafen um die Mittagszeit. Transportflugzeuge landeten und starteten. Offensichtlich wurde hier rund um die Uhr eine Luftbrücke aufrechterhalten. Schlangen von Soldaten entluden die Hilfsgüter, aber Piers richtete sein Zoomobjektiv auf die Zivilisten, die aus den Flugzeugen stiegen. Lopez nahm Piers den Apparat aus der Hand, doch Piers schien das gar nicht zu bemerken. Wie elektrisiert von dem, was er sah, starrte er die undeutlich zu sehenden Gestalten an, die auf das Flughafengebäude zugingen. Piers hatte die Kennzeichen der Flugzeuge und die Leute, die damit ins Land strömten, erkannt. Er schloß die Augen. Die Operation lief Tag und Nacht. Inzwischen mußten Tausende von Europäern und Amerikanern im Land sein. Aber er hatte bis jetzt nur vereinzelt Techniker und Mediziner gesehen. »Wie erklären Sie sich das?« flüsterte Piers. Lopez antwortete nicht. Er beobachtete den Stützpunkt, und als er die Kamera schließlich sinken ließ, bemerkte Piers eine starre Kälte in seinem Gesicht. »Die Generäle holen Tausende von Leuten ins Land, die unsere Industrien übernehmen.« Er spuckte aus. »Was sollte es sonst bedeuten.« »Vielleicht ist es nur eine vorübergehende Maßnahme, bis ihr Land wieder auf eigenen Füßen stehen kann.« Sogar für Piers’ eigene Ohren klang seine Stimme flach und hoffnungslos. Lopez stand auf und ging geduckt zum Auto zurück. Piers folgte ihm, die Kamera gegen den Bauch gedrückt. »Glauben Sie das wirklich?« fragte Lopez leise. »Wenn ja, dann belügen Sie sich selbst. Warum wurden denn wir nicht informiert, daß diese Leute kommen? Können Sie mir das sagen?« Piers schüttelte den Kopf. »Vielleicht werden sie es bald bekanntgeben.« »Das ist mir nicht bald genug«, sagte Lopez und stieg ins Auto. »Die bleiben, und diese verdammten Generäle haben wahrscheinlich mit den Industrienationen ein Abkommen getroffen. Ich schwöre bei Gott, daß ich sie töten werde, ob Bolivar es befiehlt oder nicht.« Keiner sprach auf der Rückfahrt zur Stadt. Piers bemerkte nicht einmal, wie schnell das Auto fuhr. Ab und zu warf er einen flüchtigen
Blick auf Lopez. Der Mann sah düster und gewalttätig aus. Piers selbst war wie gelähmt. Er versuchte, seinen Verstand zum Nachdenken zu zwingen, aber der weigerte sich. Er wollte nicht wahrhaben, was er eben gesehen hatte. Zuerst die Seuche und jetzt die Invasion dieser Leute. Allmählich paßte alles zusammen, paßte fast zu perfekt. Lopez und Piers brauchten beide einige Sekunden, bis sie merkten: das Auto hatte angehalten, sie hatten die Stadtgrenze erreicht. Wieder waren sie an einer anderen Stelle, und Piers hatte nun vollkommen die Orientierung verloren. Sie stiegen aus, und beide hatten das Verlangen, zu rennen, zu Bolivar zu laufen, denn der konnte sicherlich interpretieren, was sie gesehen hatten. Zehn Minuten später hatten sie die Straße erreicht, in der Bolivar wohnte. Piers suchte die Straße ab. Ein halbes Dutzend Soldaten lungerte vor dem Tor herum. Lopez bog in eine Nebenstraße ein und betrat ein Haus. Piers folgte ihm in den Keller und durch den Tunnel, der zu Bolivars Arbeitszimmer führte. Santos begrüßte sie und bestand darauf, Piers nach verborgenen Waffen abzutasten. Piers mochte Santos nicht besonders. Er kannte ihn seit dem Interview vor einigen Jahren, und er wußte, daß Santos diese Abneigung erwiderte. Piers’ Meinung nach war Santos nur Bolivars Leibwächter, der auf Bolivars Befehl hin bedenkenlos jeden töten würde. Sie folgten ihm ins Arbeitszimmer, und dort sah Piers Bolivar in genau derselben Haltung, wie Lopez ihn beim erstenmal gesehen hatte. Bolivar saß bewegungslos hinter seinem Schreibtisch, auf dem nur eine Leselampe brannte. Er wartete, bis Piers die Schreibtischkante erreicht hatte, und erhob sich dann halb. Er legte Piers die Hand auf die Schulter. »Wie geht es Ihnen, Piers?« sagte er leise. »Gut, Sir. Es tut mir leid, was mit Ihrem Land passiert ist.« Bolivar wies auf einen Stuhl. »Wenn Sie mein Volk wieder auferwecken könnten, indem Sie einfach sagen, daß es Ihnen leid tut, würde ich es Sie millionenfach wiederholen lassen. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich muß handeln.« Er wandte sich an Santos. »Behalte die Soldaten im Auge, während ich mir anhöre, was Lopez und Piers herausgefunden haben.« Santos verließ zögernd das Zimmer, während Colonel Lopez die Aktentasche auf den Tisch stellte. Bolivar öffnete sie, blätterte die Akten aus dem Ministerium durch und warf sie auf den Tisch. Sein Gesicht war ausdruckslos. Es sah aus wie aus braunem Granit
gemeißelt. Bison war ein enger Freund gewesen, sein Verrat war deswegen um so niederträchtiger. Als nächstes sah Bolivar den Durchschlag des Automietvertrages an und legte ihn behutsam auf die Akten. Er seufzte, als er den Kolben entdeckte. Dieses Seufzen war das erste Geräusch im Zimmer. Er nahm den Kolben in die Hand, der in seiner Hand klein und zerbrechlich wirkte. Zuerst schien er nur leicht zuzufassen, doch dann wurde sein Griff immer fester, bis seine Knöchel weiß hervortraten und die Adern an seiner Stirn beinahe zu zerplatzen drohten. Er zitterte vor Kraft und Haß, aber das Metall des Kolbens war sogar für ihn zu stabil. Er warf ihn auf den Tisch und hielt den Atem an Schweißperlen standen ihm auf Stirn und Oberlippe. Er zog die oberste rechte Schublade auf, holte ein Jagdmesser heraus und stach auf den Kolben ein, aber die Spitze glitt ab und grub sich tief in das Holz des Tisches. Er riß daran, die Klinge brach ab. Schließlich nahm er den Kolben in die Hand und starrte ihn an, während er ihn wie eine Granate hielt. »Was glauben Sie, Piers, woraus ist das Ding gemacht?« fragte er, ohne die Augen zu heben. »Vielleicht eine Titanlegierung. Es ist leicht, aber sehr stabil. Einen Augenblick dachte ich, Sie würden es zerdrücken.« »Wenn Sie nur meinen Haß kennen würden. Ich habe genug davon in mir, um einen Mann zu zerbrechen wie ein Streichholz.« Er stieß die leere Dose beiseite und nahm behutsam die zweite in die Hand. »Diese hier fasziniert mich. Ich möchte sie öffnen und sehen, was dieses… Ding… da drin ist. Der Zerstörer meines Volkes. Was ist es? Würmer? Rauch? Eine Flüssigkeit? Es klappert nicht. Es ist wie die Büchse der Pandora. Ich möchte sie wirklich gern öffnen und meine Nase hineinstecken. Aber ich werde es nicht tun. Es wird eine Zeit und einen Ort geben für dieses kleine Spielzeug… und dann… werden Millionen sterben auf die gleiche Art, wie mein Volk gestorben ist.« Er legte den Zylinder beiseite und betrachtete die zerknitterten Blätter aus Whitlams Zimmer. Er studierte sie lange und richtete sich dann auf, als hätte er das Rätsel gelöst. VIDEOBERICHT: Ich kann Ihnen sagen, was TO bedeutet. Terminierte Optimalbedingungen. Es ist das gefährlichste Wort in der Geschichte. Sie haben noch nie davon gehört, nicht wahr? Nein, Señor Bolivar.
Laienhaft ausgedrückt, ist das der Punkt ohne Wiederkehr. Nimmt man die bekannten verfügbaren Rohstoff- und Nahrungsmittelreserven als Voraussetzung, so kommt es beim Eintreten von TO dazu, daß die Industrienationen auf das ökonomische Niveau der Dritten Welt absinken. Und die Dritte Welt sinkt noch tiefer hinunter bis ans Existenzminimum. Innerhalb von fünf Jahren nach dem Eintreten von TO setzt eine massive Völkerwanderung von Süden nach Norden ein. Die Geschichte wiederholt sich immer, Piers. Wir werden wieder Ziegen und Kühe hüten und unsere Nahrung jagen müssen. Und wie die alten Nomadenhorden werden wir die nördlichen Länder überschwemmen. Wie gesagt, ich habe vor drei Monaten von dem Begriff TO erfahren und entsprechende Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, daß die Dritte Welt noch tiefer ins Elend gestoßen wird. Ich nehme an, daß ich das Eintreten von TO durch mein Vorgehen für die Industrienationen um fünf Jahre beschleunigt habe. Worin bestand dieses Vorgehen, Señor Bolivar? Um sich zu schützen und die Dauer ihres Überlebens zu verlängern, haben die Länder der Dritten Welt die Kapstadt-Konferenz anberaumt. Die Konferenz ist eigentlich nur eine Formalität. Wir sind uns im wesentlichen über meine Vorschläge einig. Und die lauten? Embargo im Bereich aller Lebensmittel, Energieträger und Rohstoffe. Sofortiger Abbruch aller Handelsbeziehungen zwischen dem Westen und der Dritten Welt. Das hätte uns kurzfristig Probleme bereitet, aber langfristig hätten wir so durch den Erhalt unserer Rohstoffe unsere Wirtschaft expandiert. Von der Kapstadt-Konferenz habe ich noch nie etwas gehört. Sie wohl nicht, aber der Rat bestimmt. Die Konferenz hätte vor vierzehn Tagen stattfinden sollen. Wegen der Katastrophe konnte ich nicht teilnehmen, und die Führer der anderen Länder beschlossen, auf mich zu warten. Ich werde mich morgen mit ihnen treffen, und ich werde ihnen einiges zu zeigen haben. Wenn dieses Embargo zustande gekommen wäre, Señor Bolivar, wie hätten Sie es dann verteidigt? Wie Sie bereits sagten, hätte es die Industrienationen näher an TO herangebracht. Da mußten Sie doch mit gewissen Reaktionen rechnen.
Statt eine Antwort zu geben, steht Señor Bolivar auf und geht zur Wand. Er drückt auf einen Knopf, eine Verkleidung gleitet zur Seite und enthüllt eine Weltkarte. Es gibt auf der ganzen Welt nur sechs solcher Karten. Drei im Norden und drei im Süden. Diese Nadeln hier sind Raketenstellungen. Sie werden feststellen, daß es im Norden etwa fünfmal so viele gibt wie im Süden. Was glauben Sie, was nach Abschluß der Abrüstungsverhandlungen geschehen ist? Glauben Sie, daß Amerika, Rußland und Europa all ihre Raketen zerstört haben? Natürlich nicht. Sie haben einige einfach um neunzig Grad gedreht. Sie zielen jetzt nach Süden, nicht mehr nach Osten oder Westen. Wir wären in der Lage gewesen, einen solchen Angriff zu vergelten, wenn auch nicht mit dem gleichen Vernichtungspotential. Die Katastrophe, die mein Land getroffen hat, habe ich nicht erwartet. Aber auch wenn ich so etwas erwartet hätte, hätten wir uns dagegen nicht verteidigen können. Señor Bolivar, Sie beschuldigen die Industrienationen, mit Präventivmaßnahmen die Kapstadt-Konferenz, auf der das Embargo festgeschrieben worden wäre, verhindert zu haben. Nein. Ich glaube, sie haben Präventivmaßnahmen ergriffen, um TO bis in alle Ewigkeit hinauszuzögern. Wenn Sie sich dieses Diagramm hier ansehen, werden Sie bemerken, daß dieses URS, was immer es ist, vielleicht der Inhalt dieser Flasche, die Kurve des Bevölkerungsanstiegs verändert. Ich würde jetzt gerne Ihre Aufnahmen sehen, Piers. Unterbrechung der Aufnahme… Piers spulte die Kassette zurück, legte die ein, die Lopez ihm abgenommen hatte, und gab Bolivar den Apparat. Nachdem er den Abhörknopf für Bolivar überreicht hatte, setzte er sich. Während Bolivar sich das Band ansah, versuchte er nachzudenken. Es war viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Er wollte diskutieren und die Völker des Westens verteidigen. Wollte versuchen, Bolivar zu erklären, daß sie nichts mit dem zu tun hatten, was hier geschehen war, und daß sie, sobald sie davon erführen – Piers schwor sich, daß sie davon erfahren würden, und wenn es das letzte wäre, was er je tat –, von dem gleichen starren Entsetzen gerührt sein würden wie er. Er Schüttelte den Kopf. Es würde Bolivar keinen Millimeter von seinem Vorhaben abbringen. Hatten die anderen Führer der Dritten Welt Bolivars Beweise
erst einmal gesehen, würden sie mit Sicherheit Vergeltungsmaßnahmen ergreifen. Es wäre nur in ihrem Interesse, denn es gab keinen Zweifel, daß sie die nächsten auf der TO-Liste waren. Piers wußte, daß der Teufel los sein würde, sobald Bolivar sich mit ihnen traf. Wann sollte das sein? Morgen, fiel Piers jetzt wieder ein, und es gab nichts, was er tun oder sagen konnte, um Bolivar davon abzuhalten. Gesetzt den Fall, daß ich ihn aufhalten könnte, dachte Piers, würde ich es tun? Wenn nicht, wäre ich verantwortlich für den Tod von Millionen Menschen in anderen Teilen der Welt. Die Last einer solchen Verantwortung könnte ich nicht ertragen. Wenn ich zulasse, daß er sich mit Odu trifft, wird der Vergeltungsschlag der Dritten Welt die ganze Welt zerstören. Piers sah Bolivar an. Er war vollkommen in die Betrachtung der Aufnahmen versunken. Lopez stand etwa drei Meter weg und hatte wie ein treuer Hund nur Augen für Bolivar. Piers warf einen flüchtigen Blick auf die Automatik in Lopez’ Hosenbund. Er würde bloß eine Sekunde brauchen, um hinüberzuspringen und die Waffe zu packen. Und eine weitere Sekunde, um Bolivar zu töten. Aber wäre er dazu fähig? Nein. Würde er ihn wenigstens als Gefangenen halten? Piers verkrampfte sich. Er wußte nicht, was er eigentlich wollte. Er fühlte sich so, als hätte sein Verstand aufgehört zu arbeiten. Plötzlich gluckste Bolivar. Es war ein tiefer, polternder Ton voller Humor. »Ich sehe, daß Lopez Ihnen nicht so vertraut wie ich. Sie müssen sich vor ihm in acht nehmen, Piers. Er ist ein Jäger.« Die Gelegenheit zum Eingreifen war vorbei. Lopez drehte sich um, sah Piers an und schien zu spüren, was Piers dachte. Er drehte seinen Stuhl so, daß er Piers direkt ansah, und schob den Griff der Automatik weiter nach hinten, damit sie schwerer zu erreichen war. Piers sackte im Stuhl zusammen. Er berührte seine Schläfen. Sie schmerzten. Nun blieb ihm nichts anderes mehr, als den distanzierten Beobachter zu spielen für eine Tragödie, die in Kürze bevorstand. Doch er wußte, daß es selbst für diese Rolle schon zu spät war. »Jetzt zeigen Sie mir das Aguada-Band.« Bolivar gab Piers den Apparat zurück, und Piers legte das neue Band ein. Bolivar brauchte nur wenige Minuten, dann gab er ihm den Apparat zurück. VIDEOBERICHT: Fortsetzung der Aufnahme…
Sie fragen, wie lange die bleiben, Piers? Die sind für immer da. Außer… wenn ich wieder an die Macht komme. Es wird schwieriger sein, als ich dachte. Mit amerikanischem und europäischem Personal in Schlüsselpositionen haben die Generäle das Land gut im Griff. Ich werde einen konventionellen Guerillakrieg führen müssen, und das wird Jahre dauern. Und noch viel mehr Menschen werden sterben. Aber warum sind es so viele? Was haben Sie auf dem Weg nach Cochos gesehen? Nichts. Eben nicht. Sie haben menschenleeres Land gesehen, Tausende Quadratmeilen menschenleeres Land. Wenn Sie damit sagen wollen, Señor Bolivar, daß die Leute, die wir gesehen haben, dieses menschenleere Land besetzen sollen, warum machen sie sich dann erst von den Generälen abhängig? Sie hätten unter den gegebenen Umständen doch als Hilfskräfte ins Land kommen und auch ohne Unterstützung der Generäle bleiben können. Die Generäle sind die Fassade der Freiheit dieser Nation. Indem der Westen die Generäle vorschiebt, kann er den Eindruck aufrechterhalten, daß er bloß alles daransetzt, diesem Land zu helfen. Ich weiß, daß Odu und die anderen Führer der Dritten Welt dies glauben. Ich hätte es auch geglaubt, wenn die Generäle nicht so dumm gewesen wären. Wer sind Ihrer Meinung nach die Verantwortlichen, Señor Bolivar? Vielleicht die Regierungen von Amerika, Europa und Rußland. Vielleicht über den Rat. Ich weiß, daß die Menschen im Westen ebenso entsetzt sein werden wie ich, wenn sie erfahren, was in ihrem Namen verbrochen wurde. Piers… Piers, Sie sind ein Idealist. Natürlich wissen es die Menschen in Ihrem Land nicht, vielleicht werden sie es auch nie erfahren. Das hängt von Ihnen ab und davon, ob Sie es schaffen, daß diese Bänder ausgestrahlt werden. Ich kann nur hoffen, daß Sie es schaffen, und so wie Sie hoffe auch ich, daß die Menschen darauf reagieren werden. Ich bin ein Zyniker, was die Menschen betrifft, Piers, und der Rat ist zu mächtig. Und zu skrupellos. Und wenn es das letzte ist, was ich tue, ich werde dafür sorgen, daß diese Aufnahmen gesendet werden. Versuchen Sie nicht, Ihr eigenes Schicksal vorauszusagen, Piers. Die Zeit wird knapp. Lopez, pack das Zeug zusammen und hol Santos.
Eine letzte Frage, Señor Bolivar. Empfinden Sie denn keine Wut? Die Wut ist verbraucht, und es ist zu spät. Ich muß jetzt kalt und gelassen bleiben. Das Geschehene war unvermeidlich. Wenn es in einem abgestorbenen Meer nur mehr eine halbe Quadratmeile kahlen Felsens gäbe, würde ich Sie töten, Piers, um dadurch wenigstens ein kleines bißchen länger zu überleben. Die Menschheit hat keine Felsen mehr, an die sie sich klammern kann. Irgendjemand muß ins Wasser gestoßen werden. Aber ich schwimme noch, Piers, und von Ihnen verlange ich nur, daß Sie mir einen Tag Zeit geben, bevor Sie diese Bänder ausstrahlen. Warum zögern Sie mit der Antwort, Piers? Armer Piers. Sie sind gefangen zwischen zwei Erdrutschen, und Sie können nichts dagegen tun. In Ordnung. Ich werde einen Tag warten, Señor Bolivar. Sie werden vielleicht ewig warten müssen, bis Sie diese Aufnahmen senden können, aber in dem Augenblick, da Sie es versuchen, wird der Rat wissen, was ich vorhabe. Kommen Sie, lassen Sie uns den letzten Schluck von diesem guten Scotch trinken und dann auseinandergehen. Piers Shatner von Channel 14 in New York traf für Sie in Sao Amerigo zu einem Gespräch mit Juan Jesus Bolivar zusammen. Piers nahm das Glas, und Bolivar füllte es drei Finger hoch mit Scotch. Sich selbst goß er etwas mehr ein. Sie stießen die Gläser aneinander und tranken. Der Schnaps brannte Piers in der Kehle, aber er vertrieb das Gefühl der Betäubung. Der Alkohol schien seinen Körper wieder zum Leben zu erwecken, und Piers war dankbar dafür. »Können Sie sich noch an das letztemal erinnern, als Sie hier waren«, sagte Bolivar und legte Piers den Arm um die Schulter. »Wir haben viele Flaschen geleert, und die Frauen… wahrscheinlich sind sie jetzt alle tot. Ihre Schönheit ist für immer verloren. Meine Frau hat mich immer verstanden. Ich bin ein urzeitlicher Mann, Piers. Ich stehe mit beiden Beinen fest auf der Erde und sehe mit Ehrfurcht zum Himmel hoch. Die Erde ernährt meinen Körper und der Himmel meinen primitiven Geist.« Santos kam mit einem Mantel über dem Arm ins Zimmer. Lopez gab Bolivar die Aktenmappe. »Nein, mein guter Lopez«, sagte Bolivar. »Du wirst noch einen weiteren Befehl ausführen. Du wirst die Generäle töten, die wirst ihre Frauen töten, ihre Kinder und ihre Hunde. Ja, du wirst sogar die Ratten
töten, die durch ihre Häuser laufen. Ich werde bald zurückkehren, um mir wiederzuholen, was uns gehört, und du mußt dann bereit sein.« Er umarmte zuerst Lopez und dann Piers. Lopez führte Piers aus dem Zimmer. Bevor die Tür sich schloß, sah er sich noch einmal um. Santos half Bolivar behutsam in den Mantel. »Er ist ein großartiger Mann, ein großartiger Mann.« Lopez weinte, während sie sich durch den Tunnel auf die Straße schlichen. Die Soldaten standen noch auf ihren Posten. Bei ihrem nächsten Kontrollgang würden Bolivar und Santos bereits verschwunden sein. Schweigend gingen Piers und Lopez den Weg zurück. Beide waren in Gedanken versunken, aber doch nicht so sehr, daß sie achtlos geworden wären. Der Weg zurück kam Piers entschieden kürzer vor. Wahrscheinlich, weil mein Verstand so angestrengt arbeitet, vermutete er. Er war erleichtert, als Lopez stehenblieb und die Hand ausstreckte. »Dort ist Ihr Hotel. Vielleicht treffen wir uns wieder, aber das weiß nur Gott. Sie müssen Ihr Wort halten, das Sie Bolivar gegeben haben, sonst werde ich Sie töten.« »Sie hören wohl nie auf, es zu versuchen«, witzelte Piers. Lopez lächelte. Eigentlich wollten sie sich umarmen, aber daraus wurde nur ein Händeschütteln. »Viel Glück«, sagte Piers, und Lopez winkte. Piers ging auf das Hotel zu. Er kam nur wenige Meter, als er plötzlich einen Schuß hörte. Er ließ sich auf den Boden fallen und spähte durch die Videokamera. Mit dem Restlichtverstärker war die Straße taghell. VIDEOBERICHT: Nachdem ich mich vor wenigen Sekunden von Colonel Lopez verabschiedet hatte, fiel plötzlich ein einzelner Schuß, der jedoch nicht in meine Richtung kam. Im Augenblick kann ich nirgends eine Bewegung entdecken. Nun fällt ein zweiter Schuß, die Kugel schlägt etwa einen Meter links von mir in die Wand ein. Colonel Lopez sehe ich nirgends… doch. Dort ist er. Er kniet. Vielleicht sieht er, von wo geschossen wird, aber ohne Deckung ist er in einer sehr gefährlichen Lage. Er kommt jetzt auf mich zugelaufen. Er ist getroffen… Nun fällt ein weiterer Schuß. Der Aufprall wirft Colonel Lopez auf mich zu. Am entfernten Ende der Straße bewegt sich etwas, aber ich kann nicht sehen, wer es ist. Nun ist er verschwunden. In der Ferne ist der Lärm einer Patrouille zu hören. Sie wird in wenigen Minuten hier sein…
Unterbrechung der Aufnahme… Piers rannte zu Lopez. Die Patrouille kam immer näher. Lopez lebte noch, doch das würde nicht mehr lange so bleiben. Piers sah förmlich, wie das Leben aus ihm entwich. Lopez lächelte Piers kurz an. »Ich habe meine Arbeit getan, ich habe Bolivar gedient«, flüsterte er. »Eigentlich keine schlechte Zeit zum Sterben, oder?« Piers nickte, aber Lopez hörte ihn nicht mehr. Die Patrouille war nur noch einen Block entfernt, und er konnte hier nichts mehr tun. Er nahm seine Kamera, und während er zum Hotel rannte, fragte er sich, wer nun wohl die Generäle töten würde.
9 Das Amerigo Hotel war dunkel. Piers hob die Kamera und suchte langsam das Gebäude und die Einfahrt ab. Er zitterte so, daß das Bild unscharf wurde. Er zwang sich, die Hände ruhig zu halten. Doch er zitterte am ganzen Leib und schwitzte. Seine Erschöpfung und die Wucht, mit der Lopez’ Tod ihm Angst eingejagt hatte, waren der Grund dafür. Aber er mußte es riskieren. Er holte tief Luft, rannte auf die Hintertür zu und stieß mit der Schulter dagegen. Sie war abgeschlossen und gab nicht nach. Er versuchte es erneut, denn er war vollkommen sicher, daß er sie beim Hinausgehen offengelassen hatte. Dann sah er sich um und lief an der Wand entlang zum Haupteingang. Das große elegante Foyer war nur schwach beleuchtet und sah verlassen aus. Das Licht reichte nicht einmal bis zum Haupteingang. Er huschte hinein und schob sich an der Wand entlang zur Treppe. An der Rezeption saß ein Mann, doch der schien zu schlafen. Im Treppenhaus war es stockdunkel, aber Piers suchte mit seiner Kamera jeden Winkel ab, während er langsam höherstieg. Er zweifelte nicht daran, daß Lopez’ Mörder es auch auf ihn abgesehen hatte. Beim erstenmal hatte er ihn nur knapp verfehlt. Es war niemand von der Armee, das wußte er. Denn die hätte ganz offen im Hotel auf ihn gewartet. Im Korridor brannte in der Nähe des Treppenaufgangs ein einzelnes Licht. Er schaltete es schnell aus und suchte den Korridor mit der Kamera ab. Nichts, außer… Er hielt an. Unter einer Tür war ein hauchdünner Lichtstreifen zu erkennen. Piers ging vorsichtig darauf zu. Er hörte Bewegungen und leise Stimmen. Er klopfte und trat zurück. Harris öffnete die Tür. Er war im gleichen Aufzug wie vor einigen Nächten – Pyjama mit Halstuch. »Was willst du, Shatner?« fragte er unwirsch. »Ich bin gerade dabei, ein Band nach London zu überspielen.« Dann sah er Piers genauer an. »Du siehst aus, als wärst du schon wieder draußen gewesen und hättest zum Abschluß noch einen Dauerlauf gemacht. Sagst du mir jetzt endlich, was du vorhast? Sonst…« »Warst du gerade eben draußen?« fragte Piers. Für Harris’ Spielchen hatte er jetzt keine Zeit. Er schob sich an ihm vorbei und durchsuchte das Zimmer.
Vor dem mit Vorhängen verdunkelten Fenster standen ein Tisch und ein Stuhl. Harris’ Video stand darauf. Er überspielte gerade. Um ganz sicher zu sein, sah Piers auch im Bad nach. Es war leer. »Erzählst du mir’s jetzt?« fragte Harris ungeduldig. Doch mit einemmal lächelte er einschmeichelnd, nahm eine Flasche Cognac und goß Piers einen Drink ein. »Du siehst aus, als könntest du einen vertragen. Ich genehmige mir immer ein paar Schluck vor der Arbeit, zur Nervenberuhigung, du weißt schon.« Er hielt inne. »Ich weiß, daß du eine Story hast. Gib mir nur ‘nen Tip, mehr verlang ich doch gar nicht.« Piers stürzte den Cognac hinunter. Er wußte, daß Harris Geddes nichts erzählen würde. Harris wollte nur etwas, um seine Redakteure in London zufriedenzustellen. »Ja, ich habe eine Story«, sagte Piers beim Hinausgehen. »Aber die ist exklusiv für mich. Du hörst noch früh genug davon.« Bei Marions Zimmer blieb Piers stehen und horchte. Da er die Dusche hörte, wartete er, bis das Prasseln aufhörte, und klopfte dann. »Wer ist da?« »Piers.« »Ich will mich nur schnell abtrocknen«, rief Marion. »Ich komme dann zu dir.« In seinem Zimmer spulte Piers das Band zurück und legte sich dann müde aufs Bett. Er wollte aufstehen und etwas tun, irgend etwas, aber er wußte, daß er nichts tun konnte außer zu warten. Marion kam ins Zimmer. Sie trug einen Morgenmantel, ihr Gesicht glänzte vor Sauberkeit und ihre Haare waren mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sah jünger aus, als sie wirklich war, und wirkte in ihrem Bademantel verletzlich – wie eigentlich alle Frauen. Sie war bereit, ins Bett zu gehen, und zwar entweder mit ihm oder allein. »Du bist noch spät auf«, sagte er. Sie beugte sich zu ihm. Er küßte sie und roch den süßen Duft von Seife und Schweiß. »Ich konnte nicht schlafen.« »Das wirst du jetzt nie mehr können. Lopez wurde vor dem Hotel getötet. Sie wollten auch mich erschießen, haben aber nicht getroffen. Ich habe es aufgenommen, aber man sieht praktisch nichts.«
»Tut mir leid wegen Lopez.« Marin nahm die Kamera. »Beim nächstenmal schießen die Soldaten nicht daneben, Piers. Die kriegen dich.« »Die Armee war das nicht.« Piers schwang sich vom Bett und zog sich aus. »Die würden mich im Hotel schnappen. Da draußen ist noch jemand anderes.« »Wer?« »CIA wahrscheinlich. Oder jemand vom Rat.« »Woher willst du das wissen?« Sie schien schockiert. Piers wies auf die Kamera und ließ sie allein die Aufnahmen betrachten, während er duschte. Er stand lange unter der Dusche und wünschte sich, das kalte Wasser würde ihn beruhigen und die Erinnerung an Lopez und Bolivar und alles andere von ihm abwaschen. Er merkte nun, daß Lopez ihm sehr ähnlich gewesen war. In einer anderen Zeit und unter anderen Umständen wären sie Freunde geworden. Sie arbeiteten auf die gleiche Art, hatten die gleichen Gedanken, und wenn dazu Gelegenheit gewesen wäre, hätten sie auch herausgefunden, daß sie die gleiche Art Frauen mochten. Als er die Dusche verließ, fühlte er sich weder sauber noch entspannt. Das Wissen um das, was in diesem Land passiert war, hatte ihn gebrandmarkt für den Rest seines Lebens. Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, war Marion verschwunden. Die Kamera lag auf dem Bett, als wäre sie dort überstürzt hingeworfen worden. Piers hob sie auf und kontrollierte die Aufnahmen. Das eingeschrumpfte Bild von Lopez’ Tod huschte vorbei. Er steckte die Kamera behutsam in den Koffer zurück, legte sich ins Bett und löschte das Licht. Die Tür ging auf. Er sah einen leuchtend orangefarbenen Schein auf sich zuschweben. Er rutschte zur Seite, und Marion legte sich neben ihn. »Ich habe nur meine Zigarren geholt«, flüsterte sie. Er spürte, daß sie zitterte. »Was hast du jetzt vor, Piers? Wenn Bolivar erzählt, was hier passiert ist, dann ist der Teufel los.« »Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht. Im Augenblick möchte ich am liebsten ewig schlafen.« Als er dann still in der Dunkelheit lag, dachte er darüber nach, was er eben gesagt hatte. Er sah auf die Uhr. Dieses »ewig« konnte die nächsten vierundzwanzig Stunden bedeuten. Er fragte sich, ob er es je schaffen würde, seine Reportage zur Ausstrahlung zu bringen, und er
kam sich absolut nutzlos vor. Es war, als wäre sein Verstand in einem lichtlosen Vakuum gefangen. Erst Marions zärtliche Hand durchbrach die Verzweiflung, die ihn lähmte. Sie sahen sich an. Aus Marions Gesicht strahlte ein solches Maß an Jugend und Unschuld. Er wollte sie lieben. Aber weder behutsam noch zärtlich, und auf gar keinen Fall mechanisch, wie er es sein ganzes Leben lang mit Frauen getan hatte. Er dachte an Bolivar, der in den Himmel hinaufsah mit seiner urzeitlichen Ehrfurcht und der Gier nach den Früchten der Erde. Im Vergleich dazu war sein Leben unbedeutend und leer. Sie berührten sich, zärtlich zuerst, küssend und streichelnd. Marion wußte genau, wie er sich fühlte. Es hatte Zeiten gegeben, da war sie selbst am Abgrund des Todes gestanden und hatte sich dann nichts mehr gewünscht als sinnliche Befriedigung. Daß man ihr die Angst aus dem Leib fickte. Sie sprachen nicht, sie kommunizierten nur mit Geräuschen, guttural und primitiv. Sie kämpften gegeneinander mit ebenbürtiger Wildheit und waren am Ende erschöpft und zerschunden und leer. Im letzten Augenblick des Wachseins sah Piers auf die Uhr. Es waren noch neunzehn Stunden übrig, und er spürte, wie der Schlaf von seinem Körper Besitz ergriff. In panischer Angst wachte er auf. Zunächst verstand er gar nicht, warum diese schlimme Vorahnung in ihm rumorte. Das Licht im Zimmer war wie ein matter, beruhigender Schein, und er sah Marion neben sich schlafen. Er setzte sich auf. Plötzlich fiel ihm wieder alles ein. Noch vierzehn Stunden. Er stand auf und öffnete die Vorhänge. Die Sonne brannte noch nicht, und der Himmel war strahlend blau. Es war ein vollkommen banaler Anblick, und doch sah er lange hinaus, bis er hörte, daß Marion aufwachte und sich aufsetzte. Er drehte sich um. Ihre Haut war zerschunden von ihrer Liebesnacht. »Du siehst nicht schlecht aus.« »Machoschwein.« Sie griff nach ihrem Morgenmantel, zog ihn an und setzte sich dann einen Augenblick lang still aufs Bett. Schließlich zuckte sie mit den Achseln. »Nun, ein neuer Tag…« Sie drehte sich um. »Und was machen wir heute, Boß?« »Abwarten, was passiert.« »Nach dem Frühstück mache ich einen kurzen Bericht über O’Briens Abreise.« »Er reist ab?«
»Das habe ich jedenfalls gehört.« Sie ging zur Tür und verließ das Zimmer. Piers wählte die Nummer seines Privatstudios in New York und überspielte die Bänder. Danach löschte er alles bis auf Lopez’ Tod. Mit der richtigen Ausrüstung hätte er die Bilder vergrößern und so vielleicht den Mörder erkennen können. Gerade, als er unter die Dusche wollte, klingelte das Telefon. Es war ein Anruf aus New York, und Piers wußte, worum es sich handelte. Das Geplärre aus dem Hörer dröhnte in sein gutes Ohr. »Shatner! Was macht ihr beiden da unten, verdammt noch mal? Ferien? Seit vier Tagen habe ich nichts mehr von euch gehört. Seit vier Tagen. Ich mußte den Bericht aus Chicago nehmen. Ich hab dich nicht da runter geschickt, damit du schmollst. Bist du überhaupt noch dran?« Verunsichert hielt Frank Kolok inne. Das Schweigen war sehr untypisch für Piers. Normalerweise schrien die beiden sich gegenseitig an. »Ich bin da, Frank«, erwiderte Piers gelassen. »Was ist denn los mit dir und Marion?« fragte Kolok besorgt. »Seid ihr krank?« »Nichts ist los. Sooft wir die Bänder überspielen, benutzt du sie nicht. Und deswegen frage ich mich, warum wir uns die ganze Mühe machen sollen.« »Überlaß das Denken gefälligst mir, du Scheißkerl«, schrie Kolok. »Ich verschwende gutes Geld für euch, und der Chef macht mir wegen deinen Bändern die Hölle heiß.« Er hielt inne, um Atem zu holen, und flehte dann: »Hast du denn gar nichts für mich?« »Ich habe eine Story, und gleich die größte überhaupt.« Piers sah auf die Uhr. Noch dreizehn Stunden. »Aber du wirst sie nicht verwenden, Frank, das weiß ich.« »Das entscheide immer noch ich, was ich verwende oder nicht. Schick sie uns einfach.« Piers legte auf und ging zum Frühstücken. Er fragte sich, ob Frank die Bänder verwenden würde, wenn er sie erst einmal gesehen hatte. Er brauchte mehr als nur den guten Willen. Erbrauchte eine gußeiserne Garantie, daß sie von einer Küste zur anderen ausgestrahlt würden. Und im Augenblick sah es so aus, als wären seine Chancen so groß wie die eines Schneeballs in der Hölle. Er und Marion hatten eben ihr Frühstück beendet, als Geddes den Saal betrat. Der Lieutenant sah sehr fröhlich aus, während er auf Piers
zukam, gerade so, als wäre er eben befördert worden. Zwei Soldaten mit Maschinenpistolen gingen einige Schritt hinter ihm. Nun bemerkte Piers auch das zusammengefaltete Blatt Papier in Geddes’ Hand. Piers streckte die Hand aus, und Geddes legte ihm das Papier in die geöffnete Handfläche. »Dann wissen Sie also, was es ist?« fragte Geddes. »Habe ich noch Zeit zum Packen, oder geht’s gleich im Eiltempo zum Flughafen?« »Sie haben Zeit«, sagte er. »Bis morgen früh gibt es keinen Flug. Interessiert es Sie denn nicht, warum Sie ausgewiesen werden?« Er schien über Piers’ mangelnde Neugier enttäuscht zu sein. »Ich habe dem General auf die Sonnenbrille gehaucht. Warum denn sonst?« »Das ist nicht zum Lachen«, erwiderte Geddes steif. »Wir mögen es nicht, wenn jemand unserem Land und seinen Führern gegenüber eine feindliche Haltung an den Tag legt. Und deshalb werden Sie ausgewiesen. Einer dieser Männer wird Sie bewachen. Oder« – er schöpfte wieder Hoffnung – »wir bringen Sie in der Kaserne unter.« »Ich bin allergisch gegen Uniformen. Ich bleibe brav.« »Was ist mit mir?« fragte Marion ungehalten. »Gegen Ihre Anwesenheit in unserem Land haben wir nichts einzuwenden, Señora Hyslop«, antwortete Geddes galant. Dabei hätte er beinahe die Hacken zusammengeschlagen. »Wenn er geht, gehe ich auch«, sagte Marion. Geddes hob kaum merklich die Schultern und wandte sich den anderen Journalisten zu. »General Peres hat für Mittag eine Pressekonferenz einberufen. Er wird eine sehr wichtige Erklärung abgeben.« »Worüber?« wollte Marion wissen. »Das wird Ihnen General Peres selber sagen.« »Dürfen wir dabei sein?« Geddes zögerte erst und nickte dann. Er gab einem der beiden Soldaten ein Handzeichen, worauf der sich abrupt an den Nebentisch setzte. Er nahm seinen Auftrag offensichtlich sehr ernst, denn er hielt den Blick starr auf Piers gerichtet und sah aus, als würde er ihn nicht mehr von ihm abwenden, bis der Auftrag vorüber war. Es war alles so sinnlos, daß Piers lachte. »Was ist denn so witzig?« fragte Geddes. »Sie würden es nicht verstehen.«
Um halb zwölf verließen sie das Hotel und gingen zur Versammlungshalle. Piers war so in Gedanken versunken, daß er die Veränderung zunächst gar nicht bemerkte. Erst als ihnen eine kleine Gruppe, die mitten auf dem Gehweg stand, den Weg versperrte, bemerkte er das absolute Schweigen der Leute. Sie standen an Straßenecken, in Toreinfahrten, in großen Gruppen oder zu zweit oder zu dritt. Niemand sprach ein Wort. Es war, als würden sie alle auf etwas horchen, das Piers nicht hören konnte. Ein Ton, der so leise war und aus so großer Entfernung kam, daß er höchstens noch als Vibration spürbar war. Es ging von einem zum anderen, von Gruppe zu Gruppe, und diejenigen, die es berührte, schienen um einige Millimeter zu schrumpfen. VIDEOBERICHT: Fortsetzung der Aufnahme… Es ist jetzt 11 Uhr 35, und irgend etwas stimmt nicht. Es ist überall zu spüren. Es ist dieses Schweigen, diese gedämpfte Stille, dieses Warten auf etwas, das nicht zu sehen ist. Es sind nicht nur die Leute auf der Straße, die sich nicht bewegen. Man meint fast, daß auch der Wind sich gelegt hat. Die Autos sind stehengeblieben, die Busse parken mitten auf der Straße. Ein Mann setzt sich auf den Asphalt und läßt den Kopf sinken. Eine dünne Bäuerin dreht ihr verwittertes Gesicht zur Wand. Nun spüre ich etwas. Eine Bewegung, ein Flüstern… aber keiner spricht. Man müßte schon das Ohr an die Herzen der Leute legen, die so still und unbeweglich dastehen, um ihre Botschaft zu erfahren. Lieutenant Geddes, was ist geschehen? Sie werden es bei der Pressekonferenz erfahren. Wir betreten die Plaza Bolivar, das heißt wir versuchen es zumindest. Eine riesige, fast beängstigend stille Menge versperrt uns den Weg. Sie alle starren die Versammlungshalle mit solcher Eindringlichkeit an, daß es scheint, als könnten sie durch Marmor, Stein und Beton direkt ins Innere sehen… Piers Shatner von Channel 14 in New York berichtete für Sie aus Sao Amerigo. Soldaten bahnten den Journalisten einen Weg durch die Menge. Es war, als würden sie schreckensstarre Schafe beiseite schieben. Plötzlich wußte Piers, wohin sie sahen. Er wußte, was sich im Inneren der Halle befand. Jetzt hörte er den Ton, die Vibration durchströmte ihn. Das
Erkennen nahm ihm den Atem, kam wie ein Schlag aufs Herz und füllte ihn mit Schmerz. Er taumelte und schloß einen Augenblick lang die Augen. Sie erreichten den Eingang zur Versammlungshalle, blieben stehen und sahen hinein. Das Podest vor dem riesigen Wappen war leer. Darunter stand ein Tisch und darauf ein Sarg. VIDEOBERICHT: Es ist ein einfacher Sarg, nicht aus Messing oder Gold oder Mahagoni. Nur gewöhnliche zusammengenagelte Bretter. Eine einzelne Kerze ist zu sehen, aber kein Priester. Die Trauernden warten draußen in ehrfürchtigem Schweigen. Dieses riesige Gebäude mit den Insignien der Macht, diese großartige Stadt, dieses fruchtbare Land, das er dem urzeitlichen Dschungel, in dem er geboren wurde und den er nach seinen Träumen formte, entrissen hat, all dies ist nun sein Grab. Juan Jesus Bolivar ist tot. Bolivar ist tot, und geringere Männer betreten nun die Bühne, um seinen Platz einzunehmen. Ihre Messingorden glänzen matt im Licht der Scheinwerfer, ihre goldenen Epauletten ringeln sich wie Schlangen um ihre Schultern. Ihre Uniformen sind hübsch und ordentlich, ihre leeren Gesichter lassen sie aussehen wie die Karikaturen von Kriegern. General Peres sieht den geschlossenen Sarg nicht an. Er will eine vorbereitete Erklärung verlesen. Mit tiefem Bedauern muß ich den Tod des früheren Präsidenten von Menaguay, Juan Jesus Bolivar, verkünden. Seine Leiche wurde in den frühen Morgenstunden von einer Patrouille etwa fünf Meilen außerhalb der Stadt gefunden. Soweit wir wissen, war das Auto, in dem er fuhr, in einen Unfall verwickelt. In dem daraus entstandenen Feuer starb Señor Bolivar. Er hatte einen Begleiter bei sich, aber wir haben diesen Mann noch nicht aufspüren können. Wir hoffen jedoch, ihn bald zu finden, um Näheres über den Unfall zu erfahren. Ich vermute, daß Señor Bolivar auf dem Weg zu seinem Privatflugplatz war, wo ein Flugzeug, das ihn außer Landes bringen sollte, auf ihn wartete. Zum Andenken an diesen unseren großen Führer verfüge ich eine Woche Staatstrauer. Der Sarg mit seiner sterblichen Hülle wird aufgebahrt bleiben, damit sein Volk ihm die letzte Ehre erweisen kann. Das Begräbnis wird übermorgen stattfinden. Ich möchte allen Anwesenden versichern, daß die gegenwärtige Regierung die Tradition, die Grundsätze und die Ideale Señor Bolivars wahren wird.
Menaguay wurde im letzten Monat zweifach von einer Tragödie getroffen. Ich bete zu Gott, daß der Geist Señor Bolivars mich und mein Kabinett führen möge. Vielen Dank. General Peres setzt sich nun, und in der Halle breitet sich im Andenken an Juan Jesus Bolivar Schweigen aus. Shatner von Channel 14 in New York: »Wann ist dieser… Unfall… passiert, General Peres?« Etwa gegen halb drei Uhr nachts. Wegen des schlechten Zustands der Leiche sind genauere Angaben nicht möglich. Ist es möglich, die Leiche Señor Bolivars zu sehen? Wir möchten die Leiche lieber nicht ausstellen. Das Feuer hat den Körper zerstört. Wir konnten ihn nur unter größten Schwierigkeiten identifizieren. Erst gewisse Charakteristika und einige persönliche Habseligkeiten ermöglichten schließlich eine Identifikation. Sind Sie ganz sicher, daß es er ist? Absolut sicher. Und ich möchte Ihnen versichern, Mr. Shatner, daß es ein Unfall war. Alexejew, TASS, Moskau: Sind Sie sicher, daß er auf dem Weg zu seinem Privatflugzeug war und die Absicht hatte, das Land zu verlassen, General Peres? Ich glaube, daß dies seine Absicht war. Der Unfall passierte zwei Meilen vor dem Flughafen. Schmidt, Radio Hamburg: Warum hätte er das Land verlassen sollen? Schließlich sind Sie ja bloß Interims-Präsident. Sie hatten doch erklärt, daß Sie zurücktreten würden, sobald die Situation wieder unter Kontrolle sein würde. Ich weiß nicht, warum er das Land verlassen wollte. Und ich werde jetzt mein Versprechen wiederholen, daß ich zurücktrete, sobald die Lage sich normalisiert hat. Shatner, Channel 14, New York: Was wurde in dem Auto an persönlichem Besitz gefunden? Das Übliche: Kleidung, Bücher, Papiere… Marion Hyslop von Channel 14 in New York berichtete für Sie aus der Großen Versammlungshalle in Sao Amerigo. Piers drehte sich um, bevor General Peres geendet hatte, und ging langsam die schräge Ebene zum Ausgang hoch. Er sah den Sarg nicht an. Bolivar war wirklich tot, und er fühlte sich wie betäubt.
Auf halber Höhe blieb er stehen und setzte sich. Unter ihm nahm die Farce ihren Fortgang. Während das Gefühl der Betäubung langsam verflog, spürte Piers eine Welle hilfloser Wut über den Tod dieses Mannes in sich aufsteigen. Sie rumorte in seinem Inneren wie ein wütendes Kind im Mutterleib, das mit Gewalt aus seinem Gefängnis will. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß die Generäle nun den Kolben hatten und daß er und die anderen Beweisstücke zusammen mit Bolivar in einem bombastischen, kalten Mausoleum begraben würden. Er sah auf die Uhr. Noch zehn Stunden. Für Bolivar hatte es hier geendet, aber nicht für die anderen. Für sie wurde die Zeit langsam knapp, und es gab keinen Bolivar mehr, der sie hätte warnen können. Piers betrachtete die Generäle und machte sich Gedanken über sie. Wenn man doch auf den Gesichtern der Menschen bloß das Gute und das Böse ablesen könnte, daß sie begangen haben. Ein Symbol, vielleicht nur ein Buchstabe, würde alles so einfach machen. Die Stirn, die Wangen, die Nasen wären gebrandmarkt mit dem Zeichen ihrer Untaten. Aber so sah man nichts. Das Gewissen war nicht der Herrscher über alle Menschen, vor allem nicht über die, die an der Macht waren. Die Wut kehrte zurück, eine kalte Wut. Bolivar hatte ihm eine Story gegeben, und er würde die Ausstrahlung erzwingen. Die Dokumente und der Kolben waren nun nicht mehr verfügbar, aber er hatte seine Bänder, und er war sicher, noch andere Beweise finden zu können. Da war dieser Whitlam, ein toter Mann ohne Vergangenheit. Piers wußte, daß er eine Spur finden würde, die zum Rat führte, wenn er nur lange genug suchte. Er fragte sich, wieviel Zeit er noch hatte. Vielleicht war es schon zu spät… Meunier setzte sich neben ihn. Sie war eine gut vierzigjährige Frau mit der spröden Härte aller Frauen in diesem Gewerbe. Piers nickte ihr nur zu. Er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um mehr zu tun. »Da kann einem ja schlecht werden«, hörte er sie sagen. »Diese blöden Generäle ziehen eine solche Farce ab, während ihr Land dermaßen viel Leid zu ertragen hat…« Sie fuhr fort, und Piers grunzte jedesmal, wenn sie einen Kommentar erwartete. »… und sie haben noch immer nicht herausgefunden, was dieser Virus genau ist. Er könnte jeden Tag in einem anderen Land ausbrechen. Niemand ist sicher. Ich hoffe nur, daß O’Brien es bis zum Ende der Woche schafft.«
»Wenn der erst mal wieder in Amerika ist, hat er wenig Gelegenheit dazu.« »Wer sagt, daß er zurückkehrt?« »Das habe ich zumindest gehört«, antwortete Piers und richtete sich auf. Meunier schüttelte den Kopf. »Ich wünschte mir, ich würde solche Sachen auch erfahren.« Die Generäle verließen die Bühne, die Pressekonferenz war beendet. Geddes und die anderen kamen langsam den Gang hoch. Piers runzelte die Stirn. Wer hatte ihm das von O’Brien erzählt? Marion. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was sie genau gesagt hatte, aber dann gab er es auf. Er folgte den anderen nach draußen und blieb auf der Treppe stehen, die zum Platz hinunterführte. Die Menge schien noch größer geworden zu sein, doch sie war ebenso still wie zuvor. Soldaten drängten die Leute von der Treppe zurück, obwohl die gar nicht versuchten, weiter nach vorne zu drängen. »Ist sein Tod schon bekanntgegeben worden?« fragte Piers Geddes. »Nein«, antwortete er. »Das ist nicht nötig.« An der Seitenmauer des Gebäudes öffneten ihnen die Soldaten eine schmale Gasse, durch die sie einer nach dem anderen hindurchgingen. Piers betrachtete die Gesichter der Menschen. Die Trauer in ihren Augen ließ sie alle gleich aussehen. Alle Einzelpersönlichkeiten schienen in ein einziges riesiges Wesen zusammengeschmolzen zu sein. Als Piers an den hinteren Rand der Menschenmenge kam, spürte er, daß jemand nach seiner Hand griff. Ein Stück Papier wurde hineingelegt, und er ballte sie zur Faust. Er versuchte, zu sehen, von wem es kam, aber alle Gesichter waren der Halle zugewandt. Da er nicht riskieren konnte, sich das Stück Papier sofort anzusehen, steckte er es in die Tasche, wo es an seinem Schenkel brannte wie ein Stück glühender Kohle. Bei ihrer Ankunft vor dem Hotel wartete der Soldat bereits auf Piers. Er folgte ihm zu seinem Zimmer und wäre auch eingetreten, wenn Piers nicht den Kopf geschüttelt hätte. Der Soldat zögerte und holte sich schließlich einen Stuhl aus Piers’ Zimmer. Er stellte ihn vor die Tür und ließ sich mit der ganzen Schwere seines Körpers darauf nieder. Es war klar, daß er den ganzen Tag dort sitzen bleiben würde. Piers schloß die Tür und las die Botschaft: »Kirche zur Hl. Theresa, Mitternacht.« Die Mitteilung war schlecht zu lesen und fahrig
geschrieben. Piers fragte sich, von wem sie stammte und was es damit auf sich hatte. Doch auf die Antwort würde er einen ganzen langen Tag warten müssen. Das Zimmer schien mit jeder Stunde enger zu werden, und Piers versuchte, sich zu beschäftigen, indem er sein Filmmaterial im Geiste für die Sendung redigierte. Er spielte das Band ab, auf dem Lopez’ Tod zu verfolgen war, und stoppte es, sobald er die undeutliche Gestalt im Hintergrund sah. Er konnte aber nichts erkennen. Zwischendurch ging er immer wieder ruhelos im Zimmer auf und ab. Dieses Eingesperrtsein machte ihn wahnsinnig. Die Zeit wurde knapp, und er war in einem Zimmer eingesperrt. Es gab nur noch einen anderen Ausgang – den Balkon vor dem Zimmer. Piers befand sich zwar im vierten Stock, aber es war eben noch möglich, zum nächsten Balkon zu springen und von dort in das Nachbarzimmer einzudringen. Aber dazu brauchte er jemand, der den Wachposten ablenkte. Ihm fiel nur Marion ein. Piers suchte im Telefonbuch nach der Adresse der Kirche und sah sich dann den Stadtplan an. Er mußte absolut sicher sein, denn nun hatte er niemand mehr, der ihn in der Nacht durch die Stadt führte. Marion und der zweite Soldat, der als Wachablösung gekommen war, begleiteten ihn zum Abendessen. Es war eine peinliche Situation, da sie sich beide vor dem schweigenden hungrigen Mann, der alles hinunterschlang und beständig den angebotenen Wein ablehnte, gehemmt fühlten. Piers hatte gehofft, ein oder zwei Flaschen würden ihn so müde machen, daß er einschlief, aber anscheinend hatte Geddes ihm mit dem Tod gedroht, falls er seine Pflicht vernachlässigte. Als Piers Marion nach dem Essen mit zu sich ins Zimmer nahm, grinste der Soldat neidisch und setzte sich auf den Stuhl. Die Maschinenpistole hielt er auf die Tür gerichtet. Sie liebten sich nicht, sondern lagen nur schweigend nebeneinander. Ab und zu hörten sie den Soldaten husten und ausspucken. »Es tut mir leid um Bolivar«, flüsterte Marion. »Du hast ihn sehr gemocht, nicht?« Sie spürte, daß Piers nur nickte. »Was glaubst du, was mit dem Kolben passiert ist?« »Ich vermute, diese … verdammten Generäle haben ihn.« Er hatte den ganzen Tag überlegt, ob er Marion die Botschaft zeigen sollte. Wenn ihm etwas passierte, war es wichtig, daß sie Bescheid wußte. Er gab ihr den Fetzen Papier. »Gehst du hin?«
»Ja.« »Man wird dich töten. Geh nicht, Piers. Bitte. Das ist eine Falle.« Sie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und drehte es dem ihren zu. Er sah, daß tiefe Sorgenfalten Stirn und Augenwinkel furchten. »Und wenn es keine Falle ist? Ich muß es herausfinden.« »Dann komme ich mit dir«, sagte Marion und spürte, daß Piers es ablehnen wollte. Sie hob die Stimme. »Ich komme mit, und du weißt ganz genau, daß du mich noch nie von irgend etwas hast abbringen können.« Piers wußte, wie stur Marion sein konnte. »Okay, aber du mußt irgendwie die Wache ablenken. Ich gehe über den Balkon und werde am Hinterausgang auf dich warten.« »Was soll ich tun?« »Zeig ihm deinen Busen oder was anderes.« Er küßte sie und stand auf. Während er seine Kamera überprüfte und zum Balkon ging, trat Marion auf den Gang. Piers hängte sich die Kamera über die Schulter und stemmte sich auf das Geländer des Balkons. Die Lücke war etwa drei Meter breit, doch in dieser Höhe wirkte sie gleich doppelt so breit. Er spannte die Muskeln, kauerte sich hin und sprang. Er schlug mit der Brust an das gegenüberliegende Geländer, klammerte sich mit den Armen daran fest und zog sich langsam hoch. Es war ein schlechter Sprung gewesen, und er bekam einen Augenblick lang keine Luft. Aber für Selbstmitleid war nun keine Zeit. Er betrat das dunkle Zimmer, ging zur Tür und spähte hinaus. Marion zeigte der Wache zwar nicht ihren Busen, aber eine Menge Bein, und sie versperrte dem Soldaten den Blick. Piers huschte aus dem Zimmer und lief, ohne sich umzusehen, zur Treppe. An der Hintertür blieb er stehen und während er auf Marion wartete, massierte er seine geprellte Brust. Er mußte zehn Minuten warten, bis sie zu ihm kommen konnte. Als sie losgingen, war es halb zwölf. Eine schmale Mondsichel gab schwaches Licht. Die Ausgangssperre war noch in Kraft, doch Piers hatte gehört, daß die Leute, die auf der Plaza Bolivar standen, unter der Bewachung durch einen Kordon Soldaten, die um sie herum Aufstellung genommen hatten, dort auch bleiben durften. Piers vermißte Lopez’ beruhigende Begleitung. Marion war zwar auch Gesellschaft, aber er fühlte sich, als würde ein Blinder einen anderen führen. Nach fünfundzwanzig Minuten hatten sie die kleine Kirche erreicht. Voller Überraschung blieben sie
auf der anderen Straßenseite stehen. Es sah aus, als stünde die Kirche in Flammen, und das Licht, das aus den Fenstern strömte, erhellte auch die umliegenden Häuser. Es war totenstill, und die Kirche wirkte so unheimlich wie ein überstürzt verlassener Palast. »Ich glaube, es ist eine Falle«, flüsterte Marion. Piers schwieg und beobachtete sorgfältig die Straße und die dunklen Stellen ringsum. »Warte ein paar Sekunden und folge mir dann«, flüsterte er und rannte plötzlich auf die Tür zu. In Erwartung einer Gewehrsalve zuckte er bei jedem Schritt zusammen, und die wenigen Meter, die er hinter sich zu bringen hatte, kamen ihm vor wie Meilen. Er erreichte die Tür, schlüpfte hinein und fand sich in einer leeren Kirche wieder. Er kniff die Augen zusammen, um in dem Glanz der unzähligen Kerzen etwas sehen zu können, von denen wohl jede als ein ruhig und beständig brennendes Gebet zu verstehen war. Es war heiß und stickig, und Piers spürte, wie ihm der Schweiß über den Körper lief. Er hörte ein Rascheln hinter sich. Marion kam in die Kirche. Sie sah sich verwundert um und wandte sich gleich darauf mit fragendem Blick an Piers. Er hob die Schultern. Es war fünf Minuten nach Mitternacht. Fünf Minuten lang suchten sie die Kirche ab, aber sie konnten niemanden entdecken. Piers stand mit dem Rücken zum Portal, als er Marions Gesichtsausdruck sah. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf etwas hinter ihm. Zunächst sah er nur den Lauf der schweren Magnum. Dann schob sich eine Faust ins Licht, schließlich ein Gesicht. Piers kannte den Jungen nicht, der sich vorsichtig in die Kirche umherschaute. Durch einen Wink mit seiner Pistole gab er den beiden zu verstehen, daß sie näher zusammenrücken sollten. Sein Blick huschte nervös in der Kirche umher. Schließlich trat er befriedigt zurück und öffnete die Tür ein Stück weiter. Bolivars Leibwächter Santos betrat die Kirche und schloß die Tür. Er hielt eine Beretta in der Hand und wirkte seit seinem letzten Zusammentreffen mit Piers sehr verändert. Sein Gesicht war schmutzig und unrasiert, das rechte Glas seiner Brille war zerbrochen, und die linke Seite seines Hemdes war von der Schulter bis zur Hüfte fleckig und steif von Blut und Schmutz. Er sah erschöpft aus, aber die Grausamkeit in seinen immer noch eigenartig femininen Augen wirkte noch bedrohlicher als früher. »Wo ist Colonel Lopez?« »Tot.«
Die Pistole in Santos’ Hand wurde ruhiger. Sie war direkt auf Piers’ Bauch gerichtet. Piers sah, wie die Handknöchel weiß wurden. »Er wurde gestern nacht vor unserem Hotel erschossen«, fügte Marion schnell hinzu. Santos achtete nicht auf sie. »Zuerst Bolivar, dann Lopez. Sie sind der einzige, der mit beiden zusammen war.« »Außer Ihnen.« Piers wußte, daß er nur Sekundenbruchteile vom Tod entfernt war, doch dann entspannte Santos sich plötzlich. »Ich hätte mein Leben für Bolivar gegeben«, sagte Santos leise. »Ohne ihn ist es mir nichts mehr wert.« Er ging zu einer Bank und setzte sich. Der Junge allerdings blieb an der Tür stehen und ließ sie nicht aus den Augen. »Was ist passiert?« fragte Piers und sah aus den Augenwinkeln heraus, daß Marion die Kamera hob und auf Santos richtete. »Wir waren auf dem Weg zum Flugplatz. Wir fahren um eine Kurve, und da warten die Soldaten schon auf uns. Sie beschießen das Auto. Ich reiße das Steuer herum. Das Auto prallt gegen einen Baum und fängt Feuer. Ich rolle heraus… ich kehre zurück und versuche, Präsident Bolivar zu retten, aber ich kann ihn nicht mehr erreichen.« Santos machte eine hilflose Geste. »Und der Kolben?« Piers hoffte, er wäre im Feuer verschwunden. »Der ist sicher.« Santos merkte nicht, daß Piers zusammensackte. »Sorgen mache ich mir darüber, wie die Soldaten davon erfahren haben. Sie hätten es ihnen sagen können, und Lopez auch. Ich habe Bolivar davor gewarnt, Ihnen zu trauen.« »Ich kann beweisen, daß ich ihn nicht getötet habe. Ich habe eine Aufnahme von dem Mord.« Hastig legte Piers die Kassette in die Kamera und reichte diese an Santos weiter. Santos gab dem Jungen die Pistole. Piers zeigte ihm, wie die Kamera funktionierte. VIDEOAUFZEICHNUNG: Nachdem ich mich vor wenigen Sekunden von Colonel Lopez verabschiedet hatte, fiel plötzlich ein einzelner Schuß, der jedoch nicht in meine Richtung kam. Im Augenblick kann ich nirgends eine Bewegung entdecken. Nun fällt ein zweiter Schuß, die Kugel schlägt etwa einen Meter links von mir in die Wand ein. Colonel Lopez sehe ich nirgends… doch. Dort ist er. Er kniet. Vielleicht sieht er, von wo geschossen wird, aber ohne Deckung ist er
in einer sehr gefährlichen Lage. Er kommt jetzt auf mich zugelaufen. Er ist getroffen… Nun fällt ein weiterer Schuß. Der Aufprall wirft Colonel Lopez auf mich zu. Am… Santos ließ die Kamera in den Schoß sinken. Er schien nicht genau zu wissen, was er nun tun sollte. Er sah aus wie ein Mann, dem man eben seine Träume genommen hat. Piers war froh, daß der Junge die Waffe sinken ließ, und nahm Santos die Kamera aus den Händen. Santos stand langsam auf, und der Junge lief zu ihm, um ihm zu helfen. »Der Kolben ist in Lopez’ Wohnung«, sagte Santos. »Ich wollte dort auf ihn warten, aber da er nicht kam, habe ich ihn dortgelassen. Er ist im Wohnzimmer, auf einem Tisch.« Santos musterte Piers einen Augenblick lang und lächelte dann. Es war ein unfreundliches Lächeln. »Bolivar wollte ihn der Welt zeigen als Beweis für das, was hier passiert ist. Er vertraute Ihnen, also werde ich es auch tun. Nun müssen Sie diese Aufgabe übernehmen.« »Das kann ich nicht«, schrie Piers in Panik. »Sie haben Angst.« Es klang verächtlich. »Sind Sie mit dem einverstanden, was hier passiert ist?« Er wies um sich und wandte sich dann zur Tür. »Was soll ich tun?« Santos hob nur die Schultern. Seine Erschöpfung wurde immer deutlicher sichtbar. »Bolivar hätte es Ihnen sagen können. Ich bin nur ein paisano.« Er stand mit der Hilfe seines Begleiters auf. »Ich muß mich um anderes kümmern. Jetzt, da Lopez tot ist, muß ich die Generäle töten.« Er beschrieb Piers den Weg zu Lopez’ Wohnung und verließ dann auf seinen Begleiter gestützt mit langsamen und steifen Bewegungen die Kirche. Das nachfolgende Schweigen lastete schwer im Raum. Piers konnte kaum atmen, so sehr hatte er das Gefühl, ein schweres und unverrückbares Gewicht lege sich auf seine Brust. Es dauerte eine Weile, bis er merkte, daß ihm Marion die Hand auf die Schulter gelegt hatte. »Ich bitte dich, Piers, laß ihn, wo er ist«, flehte Marion. Sie zerrte an ihm, so daß er einen Schritt in ihre Richtung machte. »Du kannst da nichts tun.« Sie zog ihn noch einen Schritt weiter, doch er blieb mit einemmal stehen. Er hörte die Panik in ihrer Stimme. »Piers, wenn du
den Kolben anrührst, werden sie dich töten müssen, und dann ist gar nichts erreicht.« »Und wenn ich es sein lasse, was passiert dann?« fragte Piers dumpf. »Er wird dort bleiben, wo er ist. Vielleicht wird ihn kein Mensch je finden.« Marions Stimme klang immer drängender. »Nicht mit dem Kolben.« Piers schüttelte den Kopf. »Was passiert irgendwo anders? Was hier geschehen ist, wurde mit der Zustimmung der Industrienationen getan. Es muß so sein, sonst hätte Rußland…« Er hielt inne und zwinkerte. »Das hat der Rat ausgeheckt. Wir schnappen uns Menaguay, die Sowjets schnappen sich China. Und niemand stellt Fragen.« »Und was willst du tun, Piers?« Sie schüttelte ihn, als wäre er ein törichtes Kind. »Ganze Nationen aufhalten?« Piers befreite sich behutsam und setzte sich einem großen Ölbild der Hl. Theresa gegenüber. »Bolivar hat mir gesagt, ich sei gefangen zwischen zwei Erdrutschen, die sich aufeinander zubewegen.« Marion schüttelte den Kopf. Piers sprach mit sich selbst. »Der Rat und er. Das stimmt nun nicht mehr. Ich habe jetzt den Kolben, und da Bolivar tot ist, bin ich der zweite Erdrutsch. Sieh dir diese Kerzen an. Ich frage mich, wie viele Kirchen so aussehen wie diese. Wahrscheinlich alle. O Gott, was soll ich tun? Ich könnte den Kolben lassen, wo er ist. Ich könnte Bolivar vergessen, das Volk, alles. Ich könnte meine Bänder löschen. Ich bin nicht verantwortlich für das, was hier geschehen ist. Ich bin nur verantwortlich für mich selbst. Aber wie soll ich all das Wissen löschen? Nur auf einen Knopf drücken? Das funktioniert nicht. Der Schmerz wird ein Messer sein, das in mir wühlt…« Piers wünschte sich verzweifelt, ein anderer zu sein. Jemand, der einfach hier rausgehen konnte und sich kein einziges Mal umzudrehen brauchte. Piers stand auf, und Marion wußte, was er vorhatte. Sie hätte ihn am liebsten angeschrien, er solle es sein lassen, aber er hätte nicht auf sie gehört. »Nimm einmal an«, versuchte sie es ein letztes Mal, »diese Leute wären an einer natürlichen Seuche gestorben. Da könntest du auch nichts tun. Stell es dir so vor.« »Das kann ich nicht.« Nebeneinander verließen sie die Kirche. Marion sah sich noch einmal um. Ihre Augen glänzten in dem Licht. Sie wußte, daß sie an diesem Punkt innerhalb ihrer Beziehung nicht mehr zurückkehren konnten. Drei Jahre der Freundschaft, der Liebe näherten sich dem Ende. Schweigend
gingen sie nebeneinander her. Sie achteten fast nicht darauf, wohin sie gingen. Aus der Entfernung wirkten sie wahrscheinlich wie zwei Maschinen, die sich in zwei getrennten Welten bewegten. Piers fand Lopez’ Wohnblock. Vor der Wohnungstür blieb er stehen. Die Tür stand einen Spalt offen; als würde jemand sie erwarten. Piers wunderte sich mehr über die offene Tür, als daß er sich deswegen Sorgen machte. Er verstand einfach nicht, warum sie offenstand. Als er es dann später verstand, war es bereits zu spät. Sehr vorsichtig betraten sie den langen Flur, doch Piers stieß gegen einen Tisch und warf ihn um. Sie warteten angespannt und horchten, hörten aber nur das Echo des umgefallenen Tisches. Piers tastete hinter sich nach Marions Hand. Er war überrascht. Seine Hand war schweißfeucht und heiß, ihre kühl und trocken. Er trat in eines der Zimmer. Der Tisch war ordentlich gedeckt, in einer runden Holzschüssel lag verfaultes Obst. Es sah alles aus wie auf einem alten Gemälde. Sie versuchten es noch in drei anderen Zimmern, bevor sie ins Wohnzimmer kamen. Auf dem Tisch neben dem Stuhl lag die Deodorantdose. Piers nahm sie, riß den Sprühkopf ab und ließ den Kolben in seine Hand gleiten. Er war so glatt und kalt, daß er das Metall zuerst gar nicht spürte. Seine Hand zitterte. Wie Bolivar hatte er das unstillbare Verlangen, den Kolben zu öffnen und hineinzusehen. Marion nahm ihm den Kolben ab, und sein Blick fiel auf eine Fotografie in einem Silberrahmen. Sie zeigte Lopez, eine alte Frau und eine junge Frau mit einem Mann und zwei Kindern. Sie saßen an einem Tisch im Garten und lächelten in die Kamera. »Wir gehen wohl besser«, sagte Piers und drehte sich um, weil er Marion den Kolben wieder abnehmen wollte. »Was soll…« Sie stand nicht mehr hinter ihm, sondern an der Tür. Den Kolben hatte sie in der einen Hand, eine kleine Automatik in der anderen. Kopfschüttelnd ging sie langsam rückwärts. »Warum hörst du nie auf mich, Piers? Warum hörst du nur nie auf mich?« Sie war wütend und schrie ihn an, doch er verstand das alles nicht. »Ich hab es dir immer und immer wieder gesagt. Aber du bist einfach ein sturer Bock.« Piers konnte nicht klar denken. Sein Verstand weigerte sich, das aufzunehmen, was seine Augen sahen. Er wollte reden, irgend etwas
sagen, aber er brachte nur eins heraus: »Jetzt mach doch keinen Unsinn.« »Ich mache keinen Unsinn« schrie Marion. »Du verstehst immer noch nicht. Ich kann dich hier nicht rauslassen und zusehen, wie du vor der ganzen Welt mit diesem Kolben herumfuchtelst und deine Filme zeigst.« Piers trat einen Schritt zurück, spürte die Kante eines Stuhls an der Kniekehle und setzte sich schwer. Die Pistole in Marions Hand folgte ihm nach unten. Piers hob die Hand. »Was soll das heißen?« fragte er sanft. »Ich kann nicht zulassen, daß du…« »Nein«, sagte Piers. »Nicht das. Das mit der Pistole und warum du mich nicht gehen lassen kannst.« Die Pistole vollführte eine entschuldigende Bewegung. »Früher habe ich für die CIA gearbeitet, und später kam ich zum Rat. Aber ich schwöre dir, Piers, ich habe bis jetzt noch nie etwas gegen dich unternommen.« »Seit wann?« »Fünf, sechs Jahre. Wirklich, Piers. Das ist das erste…« »Warum?« Es war ein kaum verständlicher Schrei. Marion schüttelte den Kopf. Es war unmöglich, das zu erklären. Er würde weder verstehen noch verzeihen. Der Verlauf ihres Lebens – die glückliche Kindheit in Champaign, das College in Michigan, wo sie die Radikalen unter ihren Bekannten fast verachtet hatte, das Bedürfnis, ihrem Land zu dienen und es zu heilen, das auch der Grund dafür gewesen war, daß sie sich am Beginn ihrer Journalistenlaufbahn von der CIA hatte anwerben lassen – dieses Leben war so sehr verschieden von seinem. Sie hatte nie nach Sao Amerigo geschickt werden wollen und hatte auch versucht, den Auftrag abzulehnen, aber es war eben ihre Aufgabe, auf Reporter wie Piers aufzupassen. Ihr »erstes Mal« war es nur, weil Piers in den letzten drei Jahren nichts getan hatte, was wichtig genug gewesen wäre, um ihre Chefs zu beunruhigen. Das konnte sie ihm nicht sagen, es wäre zu grausam gewesen. Aber diesmal war es soweit, sie hatte gewußt, daß dieser Augenblick kommen würde, und sich darauf vorbereitet. Der Schmerz würde erst später kommen, wenn sie sich den Luxus des Nachdenkens darüber gestattete. »O Gott.« Piers lehnte sich zurück. Er hatte es so oft gesehen: Jugendliche und Männer und Frauen und Kinder, Amerikaner,
Vietnamesen, Araber, Israelis, Inder, Pakistani und Menschen aus anderen Ländern, wie sie verwundert ihre geöffneten Hände in die von Granaten aufgerissenen Wunden an ihren Seiten legten und zusahen, wie diese Hände in ihren Körpern verschwanden. Und er hatte doch nie gewußt, was für ein Gefühl das war. So, als wäre einem wirklich eine ganze Hälfte aus dem Körper gerissen worden, dachte er, und man weiß, daß man sterben muß, es aber nicht aufhalten kann. Er versuchte, an die drei gemeinsamen Jahre zu denken. So viele Orte, so viele Storys. Welche war wahr, welche gefälscht gewesen? Man hatte ihn kontrolliert, benutzt, in bestimmte Bahnen gelenkt. Eine dämliche Puppe, die gar nicht wußte, daß sie an Fäden baumelte. »Hast du Lopez getötet?« Ihm fiel ein, daß sie geduscht hatte, er erinnerte sich an den vertrauten Geruch nach Seife und Schweiß. »Ja. Ich versuchte dich zu warnen.« Sie zitterte sichtlich, und Piers hatte Mitleid mit ihr. So wie er war auch sie gefangen zwischen zwei Kräften. Sie kam näher. »Wenn du es noch nie getan hast, warum dann ausgerechnet jetzt?« »Weil es keine Spielereien mehr sind, sondern Ernst. Es geht nicht mehr um die Aufdeckung einer Korruption oder den Sturz eines Präsidenten. Diese Geschichte wird die ganze Welt zerstören und alles, was wir haben. Wenn sie bekannt wird, gibt es Krieg mit der Dritten Welt.« Marion beugte sich leicht über ihn. Ihre Stimme klang geduldig, wie die einer Mutter, die mit ihrem Kind spricht. »Wir mußten es tun, Piers. Weißt du, Bolivar hatte recht, es gibt nicht genug Platz, nicht genug Nahrung und nicht genug Rohstoffe für uns und für sie. Einer muß überleben, und im Augenblick sind wir die Stärkeren. Wir müssen unsere Kultur, unsere Zivilisation, unsere Errungenschaften bewahren. Darum haben wir das getan.« »Und du glaubst wirklich, das alles ist es wert, gerettet zu werden?« »Ich glaube schon«, sagte Marion. »Und deshalb kann ich dich nicht…« Sie beendete den Satz nicht. Sie sahen sich lange an. Marions Augen wirkten traurig und suchend. Piers war wütend. Nicht auf Marion, sondern auf die, die sie benutzt hatten, die auch ihn benutzt und in kalter Berechnung ein ganzes Land zerstört hatten. Er rutschte mit dem Fuß hin und her und spürte etwas. Er ließ die Hand zwischen die Füße gleiten und betastete den Gegenstand geistesabwesend mit den Fingerspitzen. Es war ein Wollknäuel mit einer dicken kalten Nadel.
»Hast du ihnen von Bolivar erzählt?« »Ja. Wenn Santos sich nicht mit dem Kolben aus dem Staub gemacht hätte, wäre es gar nicht so weit gekommen. Wir hätten heimfahren können…« Er zog an der Nadel und spürte, daß sie sich löste. »Wir können noch immer heimfahren.« Marion schüttelte den Kopf, wobei ihr die Haare über die Augen fielen. »Du wirst diese Story nie aufgeben, Piers. Sie würde dich einfach nicht loslassen«, sagte sie sanft. »Tut mir leid, ich werde…« Piers wußte, daß er sterben mußte, aber er wollte nicht. Er mußte sich die vornehmen, die ihnen beiden so sehr weh getan hatten. Er riß die Nadel hoch und stieß mit ihr nach Marions Pistole, aber er traf daneben. Marion schrie, als die Nadel in ihren Unterarm eindrang und dort steckenblieb wie ein Pfeil. Die Pistole und der Kolben fielen zu Boden, und Piers rührte sich nicht, um sie aufzuheben. Marion aber, die nun plötzlich Angst vor ihm hatte, drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Piers lief ihr nach. Er mußte sie aufhalten, denn er wußte, daß sie viel zu entschlossen war, ihn am Transport des Kolbens und der Bänder außer Landes zu hindern. »Marion!« rief er, während sie bereits die Treppe hinunterlief. Er wußte nicht, wie er sie am Reden hindern sollte, wenn er sie erst einmal hatte. Er wußte nur, daß er sie nicht töten konnte. Stolpernd und taumelnd jagte er die Treppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal. Sie war schon an der Haustür, während er noch ein Stockwerk vor sich hatte. Schlagartig wurde ihm klar, daß er bereits verloren hatte. Er lief auf den Bürgersteig. Marion rannte quer über die Straße und war schon fast auf der anderen Seite. Dann hörte Piers plötzlich das bedrohliche Kreischen eines Jeeps und wußte, daß er nun keine Chance mehr hatte. Marion rannte auf das Geräusch zu. Der Jeep bog um die Ecke. Im Licht der Scheinwerfer zeichnete sich Marions Silhouette deutlich ab. Sie hob die Arme und lief schreiend auf die Soldaten zu. Piers drückte sich in einen Hauseingang. Ein Soldat stand auf. Er hielt seine Maschinenpistole in Hüfthöhe und zielte direkt auf Marion. Piers wußte plötzlich, was passieren würde, und wollte ihr eine Warnung zuschreien. Aber auch Marion verstand, was vor sich ging. Piers sah sie stehenbleiben, ausweichen und halbherzig zu ihm zurücklaufen, als wollte sie bei ihm Schutz suchen. Der Soldat führte nur seine Befehle aus. Die erste Kugel trieb sie weiter
auf Piers zu, die anderen warfen sie auf die Straße. Piers rührte sich nicht. Der Jeep kam neben Marions Leiche zum Stehen, der Soldat sprang herunter, stieß sie mit dem Fuß an und stieg wieder ein. Man würde sie am Morgen abholen. Piers wartete, bis die Patrouille verschwunden war, und näherte sich dann langsam ihrer Leiche. Er kauerte sich neben sie. Ihren zerfetzten Körper sah er gar nicht an, nur ihr Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen, ihr Gesicht war friedlich und wunderschön. Er wußte nicht, wie lange er so gekauert und ihr Gesicht angesehen hatte, aber als er wieder aufstand, schmerzten ihm Knie und Rücken. Er sah sich um. Der Wind trieb ein Stück Papier vor sich her, und Piers fühlte sich sehr einsam. Auf der Straße konnte er sie nicht liegenlassen. Er bückte sich und hob sie behutsam auf. Ihr Blut durchtränkte sein Hemd, und er spürte es warm und klebrig auf seiner Haut, während er sie in Lopez’ Wohnung trug. Er fand ein Schlafzimmer, legte sie ins Bett und deckte sie zu. Doch noch bevor er das Gesicht bedeckt hatte, hielt er plötzlich inne. Er sah eine vollkommen Fremde an. In den drei Jahren hatte er nur an der Oberfläche ihres Lebens gekratzt, es hatte in ihren Gedanken Biegungen, Windungen und Labyrinthe gegeben, die er nie hatte entdecken und erkunden können. Im Tod, wenn der eine Mensch sich weiter und immer weiter entfernt, während der andere dableibt, enthüllen sich, während sie schon zerreißen, die zarten Verbindungsfäden zwischen den beiden. Die, von denen Piers nicht wußte, waren plötzlich sichtbar, und die, an deren Existenz er glaubte, erwiesen sich als nicht existent. Während er ihr Gesicht bedeckte, fragte er sich, wer sie wohl war, ob sie wirklich Marion Hyslop war. Piers verließ das Zimmer und verschloß die Tür. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück, hob den Kolben auf und steckte ihn wieder in die Dose. Marions Videokamera lag auf dem Stuhl. Er nahm das Band heraus, zögerte einen Augenblick, trug die Kamera schließlich ins Schlafzimmer und legte sie zärtlich neben sie. Mehr konnte er für sie nicht mehr tun. Er nahm seine eigene Kamera und warf einen flüchtigen Blick auf das Foto auf dem Tisch. Nun gab es niemanden mehr, der diese glücklichen Leute ansehen konnte. Er legte das Foto mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch, bevor er die Wohnung verließ.
10 Um fünf Uhr morgens wurde Piers durch ein lautes Hämmern an der Tür unsanft geweckt. Es klang, als würde der Soldat den Gewehrkolben dazu benutzen, und Piers zuckte zusammen, während er sich aufsetzte. »Okay«, rief er. »Ich komme gleich.« Das Hämmern hörte auf, und Piers stieg langsam aus dem Bett. Er betrachtete sich im Spiegel. Er war mit blauen Flecken übersät. In der vergangenen Nacht hatte es ihn eine halbe Stunde und einiges an körperlichen Schmerzen gekostet, wieder in sein Zimmer zurückzukommen. Der Soldat war hellwach gewesen, und diesmal war niemand da, der ihn hätte ablenken können. Piers mußte aus dem Fenster im Treppenhaus auf einen etwa fünf Meter langen und zwanzig Zentimeter breiten Wandvorsprung klettern. Der führte zum Balkon des ersten Zimmers, und die einzige Möglichkeit zum Festhalten bot das Abflußrohr der Regenrinne, die genau zwischen Fenster und Balkon nach unten führte. Piers hatte sich die Kamera über die Schulter gehängt und war dann vorsichtig über den Vorsprung bis zum Balkon balanciert. Doch der schwierige Teil hatte ihm erst dann bevorgestanden – die sechs Balkone bis zu seinem Zimmer. Bei den ersten beiden Sprüngen hatte er sich nur die Schienbeine angeschlagen und die Arme aufgeschürft. Aber beim dritten hatte er sich verschätzt und wäre beinahe abgestürzt. Noch jetzt schmerzten seine Finger, weil er sich am Geländerrand festgekrallt und daran hochgezogen hatte. Für die letzten drei Sprünge hatte er sich Zeit gelassen und schließlich erschöpft sein Zimmer erreicht. Bevor er ins Bett gefallen war, hatte er noch die Bänder in sein privates Studio überspielt und sie anschließend gelöscht. Piers zog sich sorgfältig an und zuckte dabei jedesmal zusammen, wenn er eine Prellung berührte. Er verpackte seine Kamera und warf die Deodorantdose achtlos auf den Boden seines Koffers. Es hatte wenig Sinn, sie zu verstecken. Mit der Hand am Türknauf blieb Piers schließlich stehen. Der Schmerz in seinem Inneren war stärker und ging tiefer als die oberflächlichen Wunden seines Körpers. Er dachte an Marion, aber es war nur ein kurzes Aufblitzen – so, als hätte er sich gezwungen, alles aus seinem Gedächtnis zu verdrängen, was mit ihr zusammenhing. Doch die Wunde, die sie ihm zugefügt hatte, würde
bleiben. Ohne sie fühlte Piers sich sehr einsam, aber er wußte auch, daß ihn nun niemand mehr kontrollierte und manipulierte wie eine Puppe. Der Wachposten hämmerte schon wieder an die Tür, und Piers öffnete. Der Mann grüßte mürrisch und führte Piers zu einem bereitstehenden Jeep. Geddes wartete mit drei weiteren Soldaten auf ihn. »Wo ist Señora Hyslop?« fragte Geddes. »Sie hat beschlossen, doch zu bleiben«, antwortete Piers leise und stieg ein. Geddes versuchte, seine Befriedigung zu verbergen, und gab dem Fahrer ein Zeichen. Auf dem Flughafen ließ Geddes Piers und sein Gepäck durchsuchen und die Bänder überprüfen. Er schien verwundert, weil die Bänder leer waren, aber er sagte nichts. »Ich werde Sie persönlich zum Flugzeug bringen«, meinte er schließlich. »Keine Ehrengarde?« »Die sind zugleich auch Erschießungskommando und haben heute morgen einiges zu tun«, erwiderte Geddes ruhig, während sie auf die wartende 747 zuliefen. Piers sah Geddes ins Gesicht. Es war ausdruckslos. Doch dann fielen ihm Geddes’ Augen auf. Sie funkelten fröhlich, und plötzlich merkte Piers überrascht, daß Geddes wirklich einen Witz gerissen hatte. Noch beim Einsteigen schüttelte Piers verwundert den Kopf. Sobald das Flugzeug in der Luft war, vergaß er Geddes. Er versuchte, sich zu überlegen, was er mit dem Kolben und den Bändern, die nun in seinem Studio in New York auf ihn warteten, tun sollte. Sie Odu und Liu und Sadat und den anderen Führern der Dritten Welt zeigen? Die waren zu weit weg, und so viel Zeit hatte er nicht. »Größtmögliche räumliche Ausdehnung…« war ein furchteinflößender Ausdruck. Wer hatte ihm gesagt, daß es »kein Spiel mehr sei, sondern Ernst«? Er versuchte, sich daran zu erinnern, aber es fiel ihm nicht mehr ein. Er wußte nur, daß er den Rat davon abhalten mußte, noch Millionen weiterer Menschen zu töten. Der einzige Ausweg, der ihm einfiel, war eine Information der Öffentlichkeit. Aber wer würde seinen Bericht bringen? Channel 14? Die New York Times? Und was würde dann passieren? Weiter konnte Piers nicht denken. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, und schließlich gab er es auf. Sein Kopf schmerzte bald
ebensosehr wie seine Prellungen und Abschürfungen, und er beschloß, sich in den Gängen etwas die Beine zu vertreten. Auf den ersten Blick erkannte er O’Brien gar nicht. Es sah aus, als hätte sich der Alterungsprozeß bei dem Mann extrem beschleunigt. Er hatte die Fäuste geballt, und unter seinen Augen lagen tiefe dunkle Ringe. Seine Haare waren ungekämmt, die Kleidung nachlässig. Der Mann stand kurz vor dem Zusammenbruch, erkannte Piers. Er wollte sich schon neben ihn setzen, ließ es dann aber sein. O’Briens Nachbar, ein junger, etwa dreißigjähriger Mann mit Brille und ordentlichem Anzug, hatte einen zu wachsamen Blick. O’Brien wurde unter Bewachung nach Amerika gebracht. Piers hoffte, später in seinem Labor in der Rockefeiler University mit ihm sprechen zu können. Mercer kniff überrascht die Augen zusammen, als er Solotow ansah. Er sah Solotow zum ersten Mal wütend. Es war keine leidenschaftliche, wortreiche Wut, wie bei Darrigan etwa. Für einen Fremden sah Solotow wahrscheinlich so gelassen aus wie immer. Aber Mercer sah, wie Solotows Wangenmuskeln krampfhaft zuckten. Der Mann biß wirklich die Zähne zusammen, um seine Beherrschung nicht zu verlieren. Darrigan hatte seinen Wutausbruch bereits vor fünf Minuten gehabt und saß nun steif und aufrecht in seinem Sessel. Mercer war nur kurz verärgert gewesen, aber aus etwas anderen Gründen als die beiden anderen. »Verflucht noch mal, wer hat denen erlaubt, Bolivar zu töten?« wiederholte Darrigan nun zum drittenmal. Mit jedemmal klang er noch verwunderter. Er war wirklich überrascht, daß jemand etwas tat, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. »Die hätten uns informieren sollen, bevor sie zu einer solch drastischen Maßnahme griffen«, sagte Solotow. Die Muskelstränge in seinem Gesicht traten immer stärker hervor. Die haben sich so an ihre Macht und die Tatsache, daß man ihnen gehorcht, gewöhnt, erkannte Mercer, daß sie sich jetzt wie Kinder benehmen, denen man etwas abschlägt. Aber er mußte zugeben, daß auch er über Bolivars Tod bestürzt war. Wir sind so daran gewöhnt, Menschen als Produktionseinheiten zu betrachten, die jedem unserer Befehle gehorchen, daß wir überrascht und schockiert sind, wenn einer beschließt, aus eigenem Antrieb heraus eine Dummheit zu begehen. Er bedauerte Bolivars Tod. Er hatte kaum eine Chance gehabt, und
ironischerweise war diesmal der Rat nicht dafür verantwortlich. Ein Zinnsoldat hatte sie übers Ohr gehauen. »Die führen sich auf wie Banditen aus dem neunzehnten Jahrhundert«, sagte Darrigan. »Das sind sie aber doch auch«, erwiderte Mercer. »Wir wußten das doch schon, als wir mit ihnen verhandelten. Sie haben doch wohl nicht erwartet, daß die sich über Nacht ändern, nur weil der Rat es verlangt.« »Wir hatten keine andere Wahl«, sagte Solotow kalt. »Wir mußten sie benutzen. Jemand mußte Bolivar stürzen. Es war der einzige Weg, der uns zur möglichen Ausbeutung des Landes brachte, ohne daß wir den Verdacht der übrigen Länder der Dritten Welt erregten.« »Und jetzt ist der Teufel los«, sagte Mercer mit einiger Befriedigung. »Man wird natürlich uns verdächtigen, aber vielleicht wird auch General Peres die Kontrolle über die Lage verlieren. Das Volk liebte Bolivar.« »Das war nur ein Gefühl«, entgegnete Darrigan. »Er gab ihnen einen Traum und wirtschaftliche Unabhängigkeit.« Er grinste verächtlich. »Und dann versucht er so was Blödes wie dieses Embargo.« Er drückte auf seinen Knopf und bellte den Assistenten auf dem Monitor an: »Wie ist die Lage in Menaguay?« »Noch stabil, Sir«, antwortete der Assistent. »Nach dem letzten Bericht trauern die Menschen noch.« »Wenn es nur so bleibt.« »Soeben kommt ein Bericht von General Peres herein, Sir.« »Spielen Sie ihn rein. Ich will sehen, was dieser Scheißkerl zu sagen hat. Wahrscheinlich wird er uns ein Märchen auftischen, daß Bolivar eine geheime Revolte gegen ihn angezettelt hat. Und ich hoffe für ihn, daß er den Kolben aufgetrieben hat.« VIDEOAUFZEICHNUNG: General Alvaro Peres an den Rat. Aufgenommen am 16. 7. um 11 Uhr 45. Wie Sie zweifellos bereits erfahren haben, ist Señor Bolivar tot. Weder ich noch mein Kabinett sind in irgendeiner Form für seinen Tod verantwortlich. Ich wiederhole, wir haben mit seinem Tod nichts zu tun. Wie ich bereits in der Pressekonferenz erklärt habe, fand eine Patrouille die Überreste seines Autos und seiner verbrannten Leiche. Militärärzte haben die Leiche untersucht und sie als die Bolivars identifiziert. Wir gehen davon aus, daß er sich auf dem Weg zu seinem Privatflugzeug befand, als der Unfall passierte. Wir wissen nicht
sicher, wohin er fliegen wollte. Vermutlich nach Kapstadt. Ich bin mir ebensowenig sicher, ob er den Kolben bei sich hatte. Eine Durchsuchung der Unfallstelle blieb ergebnislos. Möglicherweise ist sein Begleiter Santos nun im Besitz des Kolbens. Das sind natürlich nur Spekulationen, da wir zu keiner Zeit sicher wußten, ob Bolivar den Kolben überhaupt hatte. Die Patrouillen im ganzen Land wurden alarmiert und suchen nun nach Santos. Sobald wir ihn finden, werden wir alle Informationen erhalten, die wir benötigen. Die Lage hier ist stabil, und ich möchte den Rat daran erinnern, daß es nur so bleiben wird, solange ich an der Macht bin. Die Armee ist mir treu ergeben. Zum Schluß möchte ich eines noch einmal wiederholen, wie ich es auch schon auf die Frage Ihres New Yorker Reporters getan habe: Weder ich noch mein Kabinett sind in irgendeiner Weise verantwortlich für Bolivars Tod. In der gegenwärtigen Lage nutzt sein Tod weder uns noch dem Rat. Darrigan, Solotow und Mercer starrten auch dann noch voller Überraschung auf den Monitor, als der bereits lange wieder dunkel geworden war. Mercer sprach als erster: »Glauben Sie, daß er lügt?« »Vielleicht«, antwortete Darrigan. »Aber ich glaube es nicht.« »Aber wie starb Bolivar dann?« fragte Solotow. »Ich glaube einfach nicht, daß es nur ein Unfall war.« »Möglich wäre es schon«, erwiderte Mercer bitter. »Wir haben ja diesbezüglich keine Befehle gegeben.« Beide ignorierten ihn. Die Verwunderung wurde langsam zur Sorge. Der Rat mochte es nicht, wenn Dinge einfach »passierten«. Es mußte eine Erklärung dafür geben. Darrigan drückte auf den Knopf und befahl dem Assistenten: »Lassen Sie das Auto, in dem Bolivar fuhr, untersuchen. Ich will wissen, warum es zu dem Unfall kam. Und zwar sofort.« »Jawohl, Sir«, antwortete der Assistent und verschwand vom Bildschirm. Darrigan rief ihn zurück. »Der Reporter aus New York ist Shatner, nehme ich an?« »Ja, Sir.« »Ich hatte seine Ausweisung schon vor Tagen angeordnet.«
Der Assistent sah besorgt aus, und Mercer hatte Mitleid mit ihm. Er fragte sich, wie der Assistent wohl hieß und welcher Mensch hinter diesem Gesicht auf dem Monitor steckte. »Sir, wir haben Ihre Befehle an General Peres weitergeleitet. Sein Adjutant teilte uns mit, General Peres würde selbst über die Ausweisung von Personen aus seinem Land entscheiden. Shatner hat Sao Amerigo inzwischen verlassen und wird in einer halben Stunde in New York eintreffen.« »Gut.« »Moment«, warf Solotow schnell dazwischen, »Ich will die Wiederholung eines Ausschnitts von Peres’ Bericht. Ich werde Ihnen sagen welchen.« »Ja, Sir.« WIEDERHOLUNG: General Alvaro Peres an den Rat. Aufgenommen am 16. 7. um 11 Uhr 45. Wie Sie zweifellos bereits… … Die Lage hier ist stabil, und ich möchte den Rat daran erinnern, daß es nur so bleiben wird, solange ich an der Macht bin. Die Armee ist mir treu ergeben. Zum Schluß möchte ich… »Danke«, sagte Solotow, und der Monitor wurde wieder dunkel. »Sehen Sie … er droht uns. Das können wir nicht zulassen. Wer würde an die Macht kommen, falls General Peres etwa zustößt?« Er öffnete den Ordner, der vor ihm lag, und Darrigan machte es ihm nach. Mercer schloß die Augen. Nun würde ein weiterer Mann beiseite geschafft werden. Ursprünglich war der Rat ja ins Leben gerufen worden, um mit der Dritten Welt zu verhandeln. Macht verdirbt nicht, dachte Mercer, sie verhärtet nur die Arterien. Sie verknöchert den Verstand und vernichtet die Toleranz. »Er droht uns doch nur, weil er Angst vor uns hat«, sagte Mercer. »Wir haben ihn aber doch überhaupt nicht bedroht«, entgegnete Solotow und sah kurz von seiner Akte hoch. »Wir waren immer kooperativ.« Es ist unmöglich, diesen beiden irgend etwas zu erklären, dachte Mercer. Nein, korrigierte er sich dann, ich will es einfach nicht. Auch ich habe Angst vor ihnen. Die stürmen vorwärts wie Dampfwalzen. Obwohl er ihnen gar nicht im Weg stehen wollte, wußte er doch, daß er
den Mut zum letzten Schritt nicht aufbringen würde. Und auch wenn er es täte, sie würden ihn überstimmen und in seinen Sessel zurückdrücken. »Bardez«, sagte Solotow. Darrigan nickte, und die beiden schlossen ihre Akten. Noch bevor sie einen Befehl geben konnten, erschien der Assistent auf dem Monitor. »Sir, wir haben eine Ansprache von Odu abgefangen. Wollen Sie sie sehen?« »Ja«, sagte Solotow. VIDEOSENDUNG: Odu. Aufgenommen am 16. 7. um 12 Uhr 15. Mit tiefer Bestürzung und Trauer habe ich vom plötzlichen Tod des Präsidenten Juan Jesus Bolivar erfahren. Ich möchte dem Volk von Menaguay, das im letzten Monat dermaßen leiden mußte, das Beileid meines Volkes übermitteln. Ich glaube, daß die Junta Fragen in bezug auf die genauen Umstände von Bolivars Tod beantworten müssen wird. Wie die anderen Führer der Dritten Welt warte ich auf die Ergebnisse ihrer Untersuchung. Wir werden diese und andere Fragen im Gedächtnis behalten, wenn wir nächste Woche in Kapstadt zusammenkommen. »Er nimmt Bolivars Platz ein«, sagte Darrigan, »und er wird das Embargo gegen uns in Kraft setzen.« »Wir haben keine Zeit mehr. Wir müssen das Operationsgebiet ausdehnen«, sagte Solotow. »Wir haben eine Woche«, entgegnete Mercer. Er mußte sie so lange wie möglich aufhalten. Und Odu etwas Zeit geben. »Noch weiß er nicht genau, was mit Bolivar und in Menaguay passiert ist. Erst wenn er den Kolben wirklich in seinen Besitz bringt… dann müssen wir anfangen zu schwitzen.« »Wir können es uns nicht leisten, ihm diese Chance zu geben«, sagte Solotow. »Ich weiß nicht«, bemerkte Darrigan nachdenklich. »Sie haben uns einen Termin genannt – nächste Woche, wenn wir es richtig timen.« Solotow zögerte und nickte schließlich. »Wir müssen entsprechende Befehle ausgeben, und ich glaube, wir sollten in angemessener Weise auf Odus und General Peres’ Botschaften reagieren.« Der Assistent erschien auf dem Monitor.
VIDEOAUFZEICHNUNG: Solotow am 16. 7. um 13 Uhr. Mit tiefer Bestürzung und Trauer hat der Rat von Señor Juan Jesus Bolivars Tod erfahren. Wir möchten General Alvaro Peres und seinem Volk unser Mitgefühl ausdrücken. Der Rat ist davon überzeugt, daß General Peres fortfahren wird, seinem Land Stabilität zu bringen und die Zweifel derjenigen auszuräumen, die glauben, Señor Bolivars Tod sei etwas anderes gewesen als ein Unfall. Der Rat ist zuversichtlich, daß die Führer der Dritten Welt das Wesen der Krise in Menaguay verstehen und mit ihrer gewohnten Weisheit darauf reagieren werden. Solotow sah Mercer und Darrigan an. Als Bestätigung erhielt er nur unverbindliches Nicken. Darrigan zog es vor, die öffentlichen Erklärungen selbst abzugeben, da er glaubte, er habe das beste Image von ihnen dreien. Doch in letzter Zeit genoß Solotow seine Auftritte immer mehr, und Darrigan hielt es für das beste, ihn gewähren zu lassen. Zweifellos verlasen inzwischen alle Führer der Industrienationen ähnliche Erklärungen. »Sir«, berichtete der Assistent, »Shatner ist in New York eingetroffen. Er kam mit demselben Flugzeug wie Dr. O’Brien. Dr. O’Brien steht unter Bewachung.« Der Assistent zögerte einen Augenblick. »Shatner versuchte, in ein Flugzeug nach Kapstadt umzusteigen. Aber da er nicht das notwendige Visum hatte, erhielt er kein Ticket.« »Wohin?« wollte Darrigan wissen. »Kapstadt, Sir, über Paris und Rom.« Solotow beugte sich erregt vor. Manchmal wirkten er und Darrigan wie Bluthunde, die eine Spur aufgenommen haben. »Zuerst versucht Bolivar, nach Kapstadt zu kommen«, sagte Darrigan ruhig. »Und jetzt Shatner…« »Dieser unpatriotische Saukerl«, rief Darrigan. »Er wird versuchen, mit Odu in Kontakt zu kommen.« Dann hielt er inne, und die Überraschung breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Aber ohne Beweise kann er das nicht tun. Er hat diesen gottverdammten Kolben oder etwas anderes, das er Odu zeigen kann.« »Stand er in Sao Amerigo denn nicht unter Beobachtung?« fragte Solotow den Assistenten.
»Doch, Sir. Aber wir haben unsere Agentin bis jetzt noch nicht erreicht. Sie ist seit heute morgen aus dem Hotel verschwunden.« »Vergessen Sie sie und O’Brien«, sagte Darrigan. »Schnappen Sie sich Shatner. Und zwar sofort.« »Was ist, wenn er sich der Verhaftung widersetzt, Sir?« »Habe ich etwa Verhaftung gesagt?« erwiderte Darrigan kalt und ließ den Assistenten verschwinden. Piers schloß die Augen. Er war erschöpft, und alle Glieder taten ihm weh. Er hatte zu schlafen versucht, aber sein Verstand wollte keine Ruhe geben. In seinen Gedanken jagten sich die Probleme, bis ihm schwindlig davon wurde. Er zuckte vor Schmerz zusammen, als das Taxi über ein Schlagloch fuhr, und er war froh, daß es auf der Autobahn nach New York keinen Stau gab. Die ökonomische Stagnation des Westens hatte wenigstens eine positive Konsequenz – es gab keine Verkehrsstaus mehr. Dies machte die Fortbewegung einfacher, aber auch teurer. Er nahm seine Kamera und stellte sie auf das Auto ein, das ihnen schon seit dem Flughafen folgte. Er verfluchte sich selbst, weil er versucht hatte, nach Kapstadt zu fliegen. Wenn er nicht so müde gewesen wäre, hätte er diesen Fehler nicht gemacht. Er wußte, daß es sowieso nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, bis der Rat entdeckte, daß er den Kolben hatte. So hatte er es ihnen nur einfacher gemacht. In dem Auto saßen zwei Männer. Der Beifahrer hatte einen Gegenstand in der Hand. Piers hielt die Kamera ruhig. Es war ein Telefon, und der Mann erhielt offensichtlich einen Befehl. Er sprach nur einsilbige Wörter, die aussahen wie Ja’s. Dann legte er auf und sprach mit dem Fahrer. Der drückte sofort aufs Tempo. Piers drehte sich schnell seinem Fahrer zu. Sie näherten sich eben dem Queens Midtown Tunnel, und New York sank unter den Horizont. »Können Sie noch was zulegen?« »Für vierzig Eier kann ich alles«, entgegnete der Fahrer. Piers gab ihm das Geld, und das Taxi wurde augenblicklich schneller. Piers sah nach hinten. Einen Augenblick lang schien das Verfolgerauto langsamer zu werden. Doch dann beschleunigte es, und der Abstand wurde wieder kleiner. Piers stellte die Kamera scharf. Der Beifahrer hatte nun eine Waffe in der Hand und beugte sich aus dem Fenster. Das Taxi überholte ein anderes Auto, und Piers verlor den Schützen einen
Augenblick lang aus den Augen. Doch dann kam er wieder ins Blickfeld, als die Verfolger das Auto zwischen ihnen überholten. Vielleicht merkte der Fahrer des dritten Wagens nicht, daß er überholt wurde, denn als das Verfolgerauto auf halber Höhe mit ihm war, scherte er plötzlich aus. Piers zuckte zusammen. Das Verfolgerauto krachte gegen die weiße Tunnelwand, überschlug sich und schlidderte funkensprühend auf dem Dach weiter. Das dritte Auto richtete sich aus, wurde zunächst etwas langsamer und beschleunigte dann erneut. »Den sind wir los«, sagte Piers und sah zu, wie das dritte Auto die Autobahn verließ. »Ihr Geld bekommen Sie trotzdem nicht zurück«, erwiderte der Fahrer und sah ihn verächtlich im Rückspiegel an. »Behalten Sie es. Setzen Sie mich an der Ecke Park und Forty-Fourth ab.« Piers blieb nicht lange an der Ecke stehen. Hastig betrat er durch die Drehtür das PanAm-Gebäude, durchquerte das riesige, düstere Foyer und stieg auf die Etage der Grand Central hinunter. Der Bahnhof war überfüllt, und Piers bahnte sich einen Weg zu den Schließfächern. Er öffnete seinen Koffer, nahm die Deodorantdose heraus und stellte den Koffer in das Schließfach. Seine Wohnung an der Sixty-Second Street wurde zweifellos beschattet. Er brauchte etwas Zeit zum Nachdenken, und obwohl er eigentlich keine hatte, beschloß er, Kaffee zu trinken. Die Männer, die ihm vom Flughafen aus gefolgt waren, hatten sicher schon gemeldet, daß sie ihn verloren hatten, und es würde nicht lange dauern, bis andere seine Spur wieder aufnahmen. Er fühlte sich wie eingesperrt. Panik stieg in ihm hoch. Wohin er sich auch wandte, überall sah er Barrieren aus gesichtslosen Menschen, und er sehnte sich nach der endlosen Weite von Cochos. Dort gab es Land und Leere und einen weit entfernten Horizont. Er verstand sehr gut, was Bolivar gemeint hatte. New York erinnerte ihn immer an ein großes verwundetes Tier, das entsetzt war über seine eigene Sterblichkeit und seine Eingeweide hinter sich herschleppte. Aber den Zerfall sah er nicht nur in dieser Stadt, sondern in allen urbanen Zentren der westlichen Welt. Sie waren überfüllt und bankrott, die Gebäude vernachlässigt, die Straßen nicht repariert. Überall herrschte ein Gefühl der Lethargie. Seine Hand zitterte, als er versuchte, den schwarzen Kaffee zu trinken. Er war heiß und schmeckte entsetzlich, aber ein paar Tropfen erreichten seinen Mund. Piers war müde, und er hatte Angst. Er mußte mit dem
Kolben und seinen Aufnahmen etwas anfangen, und er bedauerte Bolivars Tod, denn er selbst war unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Bolivar hätte alles selbst getan, und er, Piers, hätte bloß mit seiner Kamera die Folgen aufzeichnen müssen. Aber nun stand er selbst im Mittelpunkt und begriff nicht, wie es dazu gekommen war. Piers trank den Kaffee aus und suchte sich eine leere Telefonzelle. Seine Augen waren in ständiger Bewegung. Er bemühte sich, nicht gesehen zu werden, und wartete doch darauf, daß jemand ihn bemerkte und absichtlich auf ihn zukam. Von der Vermittlung erhielt er die Nummer, die er brauchte. Er hatte gerade noch genug Kleingeld für den Anruf, und so wählte er die Nummer in Washington. »Kann ich bitte mit dem Botschafter sprechen?« fragte er, sobald sich jemand meldete. Piers hatte beschlossen, sich an Odu zu wenden und die Sache ihm zu überlassen. Eine neue Stimme meldete sich, und Piers wiederholte seine Frage. »Er ist nicht anwesend«, sagte der Mann. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich bin der Erste Sekretär, Charles Ndolo.« Piers zögerte, doch er hatte keine andere Wahl. »Ich bin ein Freund Bolivars. Er gab mir etwas für Ihren Präsidenten. Es ist sehr, sehr dringend.« Eine lange Pause folgte, und Piers nahm an, daß der Mann nachdachte. Es dauerte eine ganze Ewigkeit, bis er antwortete: »Bolivar ist tot.« »Ich weiß«, sagte Piers geduldig. »Ich komme eben aus Sao Amerigo, und er gab mir etwas, bevor er starb. Odu muß es sehen.« »Was ist es?« »Das werde ich Ihnen sagen, wenn wir uns treffen«, erwiderte Piers. »Ihr Präsident wird wissen, was er damit anfangen soll. Ich kann den Drei-Uhr-Flug nehmen und…« »Das wäre nicht klug«, sagte Ndolo. »Ich werde nach New York kommen, wenn mein Präsident der Ansicht ist, daß wir uns treffen sollten.« »Okay, ich werde um ein Uhr auf Sie warten. Stellen Sie Ihr Auto an der Nordseite der Grand Army Plaza auf der Sixtieth ab, und zwar fünfzig Meter westlich von der Fifth. Ich werde zu Ihnen kommen, okay?« Piers legte auf, sobald der Mann dies bestätigt hatte. Falls Ndolo verfolgt werden sollte, war das auf einem so offenen Platz leicht zu sehen.
Es waren noch andere Anrufe zu erledigen, und obwohl es gefährlich war, mußte er sich auf R-Gespräche einlassen. Er wählte die Null, gab der Vermittlung die Nummer und hörte, wie Frank den Anruf akzeptierte. »Zum Teufel noch mal, was geht eigentlich vor, Piers?« rief er sofort. »Du hast ‘ne ganze Meute schwerer Jungs auf den Fersen. Bist du in Ordnung? Wie geht’s Marion? Was hast du denn angestellt, um so unter Druck zu kommen?« »Marion…« Piers zögerte. »Ihr geht’s gut; sie ist noch in Sao Amerigo. Du wolltest doch eine Story… na, und jetzt hab ich eine. Deshalb suchen diese Typen nach mir. Du mußt die Story senden, und wenn’s das letzte ist, was du tust.« Es gab eine lange Pause. »Ich hoffe für dich, daß sie gut ist, Piers. Wir haben alle Bilder von der Seuche dort unten schon gesehen, und das Publikum will keine Geschichten aus Südamerika mehr. Ein Jahr ist genug.« »Meine hat aber auch mit dem Rat zu tun.« »Ach, deshalb sind sie dir auf den Fersen«, sagte Frank. »Wann kann ich die Bänder sehen?« »Gib mir ‘nen Tag Zeit.« Piers hängte ein und ging schnell vom Telefon weg. Frank würde alles versuchen, aber er war nicht der Direktor des Senders. Als Piers das Gebäude durch den PanAmAusgang wieder verließ, sah er die Polizeiautos auf der Vanderbilt und der Forty-Second Street. Dutzende von Männern stiegen aus den Autos und liefen in die Grand Central. Piers ging einfach weiter und gab sich alle Mühe, nicht zu laufen. In dieser Hitze – das Thermometer der City Bank zeigte fünfunddreißig Grad – wäre er nach zwei Blocks sowieso zusammengebrochen. Nach fünf Blocks betrat er wieder eine Telefonzelle. Wenn sie die Grand Central abgeriegelt hatten, dann war er nun außerhalb des Kordons. Piers ließ sich mit Hai Ginsberg verbinden. Hal war ein rundlicher bärtiger Mann, der als Berichterstatter für Finanzfragen bei der kleinen, aber renommierten Investmentberatungsfirma Beresford and Seligmann arbeitete. Hai drohte ständig, er wolle kündigen und für ein seriöses Blatt schreiben, aber seit er verheiratet war, scheute er jeden Wechsel. »Zuerst läßt du dich aus diesem gottverdammten Land hinauswerfen, und dann darf ich noch für deine Anrufe zahlen«, sagte Hal, sobald Piers
mit ihm verbunden war. Hai war fast immer grob, aber er war es auf eine etwas unsichere, humorvolle Art. »Tut mir leid, Hal, ich brauch’ auf die schnelle ein paar Informationen von dir.« »Da wirst du Pech haben. Auf die schnelle kann ich nur bei Frauen.« »Ich versuch’s trotzdem«, sagte Piers. »Was würde passieren, wenn dieses Land plötzlich unbegrenzten Zugriff auf billige Energie und Rohstoffe hätte?« »Hast du schon mal ‘ne Rakete starten sehen?… Genau das würde passieren. Das reale Wachstum würde von den 0,5 Prozent, die wir jetzt haben, auf vier bis fünf Prozent hochschnellen.« Hal dachte einen Augenblick nach und fügte dann ruhig hinzu: »Komisch, daß du das fragst. Ich krieg’ grade Vibrations rein, daß so etwas passieren könnte. Irgendein Land macht die Verstaatlichung von US-Eigentum rückgängig, und ein Energieabkommen steht kurz vor der Unterzeichnung. Wer ist deine Quelle?« Piers ignorierte die Frage: »Was passiert mit Europa, wenn sich die US-Wirtschaft erholt?« »Was glaubst du denn, was passiert? Die fangen dann wieder an zu essen. Du weißt doch was, Piers. Also erzähl.« »Nur noch eins, Hal. Hast du je von TO gehört?« »Klingt wie ein schlechter Drink. Nein, noch nie gehört.« »Danke.« Kurz bevor er auflegte, hörte Piers, daß Hal ihn anschrie. Er grinste. Er mochte Hai und wollte nicht, daß er da mit hineingezogen wurde. An der Ecke Forty-Seventh und Fifth zögerte Piers etwas. Er holte einmal tief Luft und spürte zumindest einen Augenblick lang die panische Angst und die Erschöpfung von sich abfallen. Er hielt den Atem an und spürte den vertrauten New Yorker Gerüchen nach, die in seiner Lunge gefangen waren. Die Hitze der Straße, der Schweiß und die Parfüms der Leute um ihn, der Duft des Gebäcks von einem Straßen Verkäufer ganz in der Nähe. Der Benzingestank war am schwächsten. Es gab nicht genug Verkehr, um die Luft zu verpesten, da die Leute während der Energiekrise U-Bahn und Busse benutzten und ihre Autos in der Garage ließen. Ein Taxi hielt vor der Ampel, und Piers kam zu einem Entschluß. Er stieg ein und ließ sich zur Rockefeller University fahren. Er mußte sein Glück versuchen. Vielleicht war O’Brien schon wieder in seinem Büro
und wurde nicht mehr beobachtet. Das Taxi hielt einen Block vor dem weißen dreieckigen Gebäude, und Piers gab dem Fahrer sein Geld. Der Rasen vor dem Gebäude war von einem saftigen, einladenden Grün, und während Piers ihn überquerte, hätte er so wie früher in der Kindheit am liebsten die Schuhe ausgezogen und wäre barfuß durch das Gras gelaufen. Der Informationstafel konnte er entnehmen, daß O’Brien im dritten Stock arbeitete. Piers lief die Treppen hoch, ohne einem Menschen zu begegnen. Da die Universität ausschließlich Forschungszwecken gewidmet war, herrschte eine einsame, fast ehrfürchtige Atmosphäre. Piers sah sich auf dem Gang um. Niemand zu sehen. Er mußte ganz sicher gehen und betrat das nächstgelegene Zimmer. Es war das Büro eines gewissen Dr. Atkinson. Neben dem Telefon lag eine Liste mit den Nummern der einzelnen Büros. Er fand O’Briens Nummer und wählte sie. »Sind Sie allein?« fragte er, sobald er O’Briens zittrige Stimme erkannt hatte. »Ja, aber wer sind Sie?« Piers legte auf und verließ das Zimmer. O’Briens Büro war das letzte auf der Nordseite des Korridors, und Piers ging schnell dorthin. Er war sich nicht ganz sicher, warum sie O’Brien jetzt wieder in Ruhe ließen. Vielleicht war es eine Falle. Vor der Tür blieb er kurz stehen, trat dann aber rasch ein. O’Brien saß an seinem Tisch und schien Piers nicht zu bemerken. Er starrte ins Leere und ließ ununterbrochen seine Knöchel krachen. Piers nahm den Zylinder aus der Dose und legte ihn behutsam vor O’Brien auf den Tisch. O’Briens Blick wurde langsam wieder klar und senkte sich auf den Zylinder. Sobald seine Augen den Zylinder erfaßt hatten, huschten sie wieder weg wie verängstigte Bienen. Einen Augenblick lang sah er aus, als würde er gleich weinen, als wäre aus seinem Unterbewußtsein plötzlich eine Kindheitsangst nach oben gekommen. Seine Hände schwebten über dem Tisch und fielen dann knapp neben dem Zylinder mit großer Schwere darauf. »O mein Gott«, flüsterte er, denn er wußte, daß sein Alptraum ihn über die ganze Welt verfolgte. Seit Tagen, Wochen, Monaten, Jahren hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Die Zeit war wie erstarrt und nagelte ihn an seine Ängste. Er war kein tapferer Mann, und er hatte gehofft, der Alptraum,
den er in Menaguay entdeckt hatte, würde irgendwann verschwinden, wenn er nur seine Gedanken dagegen verschloß. »Sie müssen nicht beten, Doc.« Piers klang erbarmungslos. Er wußte, daß der Mann einfach zusammenbrechen würde, wenn er Mitleid zeigte. Und so etwas konnte er sich nicht leisten. »Sie brauchen es nur zu testen und zu bestätigen, daß es der Virus ist, der in Menaguay freigesetzt wurde.« Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis O’Brien den Kolben in die Hand nahm. Mechanisch und wie abwesend ging er damit in sein Labor. Piers nahm an, daß der Mann unter Schock stand, daß er innerlich vielleicht schon gestorben war. Das Labor war ein glänzendes Grabgewölbe voller Glas und elektronischer Ausrüstung. O’Brien stellte den Zylinder in einen Container und verschloß die Glasabdeckung. Piers bemerkte, daß der Container knapp unterhalb der Abdeckung zwei handgelenkbreite Öffnungen besaß. In seinem Inneren ragten zwei mechanische Hände starr nach vorne. Im Lauf seiner Arbeit veränderte sich O’Briens Haltung vollkommen. Piers sah, wie er sich aufrichtete und immer selbstbewußter wurde, während er geschickt mit den Maschinen hantierte. Die meiste Zeit ignorierte er Piers und sprach nur sehr knapp und in akademischem Tonfall, wenn er es für notwendig hielt. »Ich umhülle den Kolben mit flüssigem Stickstoff. Er wird das Gas verflüssigen, damit es leichter zu bearbeiten ist… Nun befestige ich eine Vakuumleitung und eine Infrarotzelle, die mit einem Spektrometer verbunden ist. Jede chemische Verbindung hat eine andere Struktur, und der Spektrometer liefert uns, wenn Sie so wollen, den Fingerabdruck des Inhalts des Kolbens.« O’Brien ging zum Spektrometer, sah sich das Ergebnis an und fiel in sich zusammen wie eine Puppe, aus der man das Sägemehl entfernt hat. »Ich könnte«, sagte er tonlos, »die Information in den Computer eingeben, aber…« VIDEOBERICHT: Was ist in dem Kolben, Dr. O’Brien? Ich muß noch weitere Tests durchführen. Sie wissen es doch bereits, Doktor, also kneifen Sie nicht. Was ist es? In den fünfziger Jahren haben wir einen Virus namens Sarin entwickelt. Der Kodename dafür war GB. Der Virus lähmte und tötete
jeden, der ihn einatmete. Er blieb in der Atmosphäre etwa vierundzwanzig Stunden wirksam. Dies hier halte ich für eine fortgeschrittenere Version von Sarin. Er wirkt und verteilt sich schneller. Ich muß diese Hypothese natürlich erst noch bestätigen. Natürlich. Vielen Dank, Dr. O’Brien. Unterbrechung der Aufnahme… Sie warteten eine halbe Stunde, bis der Kolben gründlich sterilisiert war, und in der ganzen Zeit rührte O’Brien sich nicht. Er starrte nur immer den Monitor des Spektrometers an. Er sprach nur einmal. Tonlos sagte er: »Ich haßte Sao Amerigo, ich haßte die Toten, und sobald ich wußte, wie sie starben, haßte ich mich noch mehr. Ich habe mein ganzes Leben hier im Labor mit Forschung verbracht. Sinnlos. Ich wußte nicht, daß dies passieren würde… Ich wußte es nicht.« Nach Ende der Sterilisierungszeit griff O’Brien in den Container und holte den Kolben heraus. Er war feucht. O’Brien wischte ihn ab und übergab ihn an Piers. »Was werden Sie damit tun?« Er klang uninteressiert, und Piers antwortete nicht. O’Brien war kein Mann, dem man vertrauen konnte. Piers stand vor dem Eingang und sah über den Rasen. Der Abend warf bereits dunkle Schatten über das Gras, aber noch immer lag eine heimelige Ruhe über der Universität. Es war wie eine Welt, die er seit langem nicht mehr bewohnte, so, als würde er sich die Wiederholung eines Traums mit trägem Schweigen ansehen. Er sehnte sich danach, für immer darin zu bleiben. Müde ging er über den Rasen zur York Avenue. Es war erst fünf. Er hatte noch viel Zeit bis zu seinem Treffen mit Ndolo. Ruhe war das, was er jetzt unbedingt brauchte. Seine Beine und sein Rücken taten weh, in seiner Schläfe wühlte ein pochender Schmerz. Doch Piers fühlte nichts, das über diese Schmerzen hinausgegangen wäre. Manchmal, oft nur wenige Sekunden lang, versuchte er, sich zu überlegen, was er eigentlich tat. Er hatte den Kolben, er hatte Bänder, und er brachte sie zu jemandem – zu Ndolo – und dann? Er wußte es nicht. Manchmal hatte er den Eindruck, er interessiere sich für etwas Dunkles und Tröstendes, und dieses Etwas legte Teile seines Verstandes still – so, als würden am Abend in einem Wolkenkratzer die Lichter eines nach dem anderen ausgeschaltet. An der Third Avenue blieb er lange vor einem Kino stehen. Erst allmählich merkte er, daß in dem Kino eine Wiederholung von Pasolinis
Matthäusevangelium lief. Er kannte den Film bereits und ging hinein. Es würde ihm guttun, nur dazusitzen, sich auszuruhen und die Leinwand anzustarren. Es war elf, als Piers plötzlich wieder aufwachte. Verständnislos starrte er die Bilder auf der Leinwand an, verfiel einen Augenblick lang in Panik und stand dann auf. Er hatte noch zwei Stunden Zeit, und da er seit seinem Abflug aus Sao Amerigo nichts gegessen hatte, beschloß er, essen zu gehen. An der Ecke Third Avenue und Sixty-Seventh gab es ein Steakhouse – Burke’s. Piers überquerte die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten, und betrat das Restaurant. Drinnen war es kühl, der Schweiß auf seinem Gesicht trocknete und spannte auf der Haut. Die meisten Tische waren leer. An der Bar saßen ein halbes Dutzend Männer vor ihrem Bier. Der Fernseher am anderen Ende beschien ihre Gesichter wie ein Technicolor-Mond. Piers bestellte sich Steak und ein Bier. Bei dem Blick, den die Kellnerin ihm zuwarf, wurde ihm bewußt, daß er sich seit Tagen nicht rasiert hatte und seine Augen ganz verklebt waren. Auf der Toilette betrachtete er neugierig sein Gesicht. Die Augen war gerötet, die Tränensäcke geschwollen, und die Falten um seinen Mund sahen aus wie Abgründe. Er wusch sich und kehrte an seinen Tisch zurück. Das Essen war gut, und danach genoß er die Trägheit, die ein voller Magen macht. Er lehnte sich zurück und betrachtete den Fernseher. Am liebsten wäre er ewig hier sitzengeblieben und hätte die sinnlosen Bilder wie ein Hypnosependel an sich vorbeizucken lassen. Dieser halbleere Raum war ein Zufluchtsort, in den er nie mehr zurückkehren konnte, sobald er ihn verlassen hatte. Kurz vor Mitternacht stand er widerwillig auf und bezahlte. Er war schon fast an der Tür, als er die vertraute Melodie hörte. Es waren die Spätnachrichten. FERNSEHSENDUNG: Hier ist Robert Wylie mit den Zwölf-UhrNachrichten. Zuerst die Schlagzeilen. Der Dow Jones stieg heute um fünfzehn Punkte, sank aber kurz vor Börsenschluß wieder um fünf. Die Nation erwacht wieder, während immer mehr Firmen ihre Türen öffnen und ihre Angestellten wieder zur Arbeit rufen. Der Präsident erwartet voller Zuversicht eine Rückkehr zum Wirtschaftswachstum und sagt einen Boom voraus. In Menaguay wird weiterhin versucht, die Folgen der Seuche unter Kontrolle zu bringen, das Leben kehrt dank der Unterstützung der Industrienationen langsam wieder zur
Normalität zurück. Aber drei Generäle wurden ermordet. Hier bei uns in Amerika jagen die Behörden einen Killer. In wenigen Augenblicken sehen wir uns wieder. Piers setzte sich auf den Hocker neben der Tür und bestellte einen Whiskey. Daß der Dow Jones am Ende wieder gefallen war, gehörte bestimmt nicht zum Plan. Die Generäle waren dem Rat offensichtlich wichtig gewesen, und Piers wollte wissen, um welche es sich handelte. Er zweifelte nicht daran, daß Santos seinen Schwur gehalten hatte, und er fragte sich, ob er noch lebte, um den Rest von Bolivars Befehlen auszuführen. Robert Wylie erschien wieder auf dem Bildschirm. Piers lächelte ihm zu. Seit über fünf Jahren kannte er Bob, und er mochte ihn. Auf dem Bildschirm erschienen nun Diagramme und Ziffern, und Piers sah nur mit halbem Auge hin. Dann gab es eine weitere Unterbrechung, und schließlich erschien Ralph Minor von NBC auf dem Bildschirm. FERNSEHSENDUNG: Heute um 16 Uhr 30 wurden General Alvaro Peres, Präsident der Notstandsregierung von Menaguay, sowie zwei seiner Kabinettsmitglieder, General Bardez und General Villar, auf dem Weg von der Großen Versammlungshalle zum Armeehauptquartier ermordet. Der Angriff fand auf der Avenida Peron statt. Die Angreifer feuerten zunächst eine Maschinengewehrsalve auf das Auto der Generäle und warfen dann Granaten. Neben den Generalen wurden auch der Chauffeur und zwei Soldaten getötet. Die Mörder konnten entkommen. General Viterbo, einer der Jüngsten in General Peres’ Kabinett, übernahm das Amt des Präsidenten. Ralph Minor von NBC News berichtet aus Sao Amerigo. Piers trank hastig seinen Whiskey aus. Dabei prostete er insgeheim Santos zu. Wahrscheinlich würden in nächster Zeit noch mehr Generäle sterben. Während er die Tür öffnete, sah er sich noch einmal um. Es traf ihn wie ein Schlag. Sein Gesicht war auf dem Bildschirm, und aus den Augenwinkeln sah er, daß der Barmann sich nach ihm umdrehte. FERNSEHSENDUNG: Piers Shatner, ein ehemaliger Reporter von Channel 14 in New York, wird heute von den Behörden im ganzen
Land gesucht. Shatner ermordete heute nachmittag den berühmten Mikrobiologen Dr. Kevin O’Brien und… Piers warf die Tür zu und rannte die Straße entlang. Er sah sich um, aber aus dem Steakhouse verfolgte ihn niemand. Doch er konnte sich vorstellen, daß der Barkeeper bereits am Telefon hing. Nun brauchte er Zeit zum Nachdenken, bevor er sich mit Ndolo traf. O’Brien war tot, doch als er ihn verlassen hatte, war er noch am Leben gewesen – zumindest gerade noch. Nun hatte man sich also doch um ihn gekümmert, und indem der Rat Piers diesen Mord in die Schuhe schob, hatte er die Jagd nach ihm legitimiert. Er blieb stehen und hätte am liebsten aufgegeben. Nun hatte er nicht mehr die geringste Chance, auf der Straße zu überleben, und er würde auch kaum noch die Gelegenheit haben, seine Aufnahmen zur Ausstrahlung zu bringen. Der Rat hatte ihn ausmanövriert. Beim Gehen fühlte er sich verletzlich, er hatte den Eindruck, als würde jeder Passant ihm ins Gesicht starren und ihn erkennen. Er mußte sich ein Auto beschaffen. Obwohl sein eigener Wagen, ein Mustang, nur ein paar Straßen entfernt in einer Garage stand, hielt er es für zu gefährlich, ihn zu benutzen. Während er die Third und dann in östlicher Richtung die Seventieth entlangging, probierte er so verstohlen wie möglich die Türgriffe der geparkten Autos. Der Knopf eines Ford, der knapp unterhalb der First Avenue vor einem Antiquitätengeschäft parkte, gab unter dem Druck seines Daumens nach. Ohne sich umzusehen, öffnete Piers die Tür und sprang hinein. Da kein Schlüssel im Zündschloß steckte, bückte er sich unter das Armaturenbrett und riß die Drähte heraus. Das Auto sprang an, sobald sich die blanken Drähte berührten. Die Tankanzeige stand nur ein kleines bißchen über der Leerposition, aber für seine Zwecke reichte der Sprit. Bis Viertel vor eins fuhr Piers ziellos durch die Straßen und bog schließlich in westlicher Richtung in die Sixtieth ein. Er parkte östlich der Fifth Avenue in Sichtweite der Grand Army Plaza. Noch immer stand eine lange Schlange von Pferdedroschken vor dem Eingang des Central Park, die Flaggen vor dem Plaza Hotel flatterten in der warmen Brise, und die Lichter aus dem Foyer erhellten den Gehweg vor dem Hotel. An der Sixtieth Street parkte kurz vor der Fifth Avenue ein Auto. Dahinter standen noch einige andere. Der Platz selbst war noch ziemlich
bevölkert, von Touristen, wie es Piers schien, die zu ihren Hotels zurückkehrten. Piers nahm die Kamera aus der Tasche und richtete sie auf das erste Auto. VIDEOBERICHT: Fortsetzung der Aufnahme… Ich warte darauf, den Kolben dem Ersten Sekretär Ndolo übergeben zu können. Am liebsten würde ich hinüberlaufen, dem Mann wie ein Staffelläufer alles übergeben und ihn die Last tragen lassen. Aber ich bezweifle, daß der Rat deshalb aufhören würde, mich zu jagen. Der Mann in dem Auto sieht aus wie ein Afrikaner, es könnte Ndolo sein. Ich beobachte ihn eine Minute. Er dreht plötzlich den Kopf und nickt. Entweder ist da noch jemand im Auto, oder er hat ein Sprechfunkgerät. Die Leute, die ich zuerst für Touristen gehalten habe, sind nur ein Täuschungsmanöver. Ich sehe Bewegung und zähle zehn Männer… Ich fühle mich, als hätte man mir ein Loch in den Bauch geschlagen, das sich nun langsam mit Verzweiflung füllt. Ich stehe vor einer endlosen schwarzen Wand und bin zu müde, um… Zwei Männer treten aus der Dunkelheit und kommen auf mich zu. Sie behalten alles sehr sorgsam im Blick, wie Männer, die erwarten, daß die Erde sich gleich öffnet… Unterbrechung der Aufnahme… Im gleichen Augenblick, in dem Piers den Schuß hörte, stieg er aufs Gas. Er hatte zwar keine Zeit, genauer nachzusehen, aber offensichtlich hatte der Schuß nicht ihm gegolten. Die Männer, die sich auf ihn zubewegten, drehten sich überrascht um und rannten dann um so schneller in seine Richtung. Eine entsetzliche Sekunde lang reagierte das Auto nicht auf den Druck seines Fußes, aber dann machte es einen Satz und schoß vorwärts. Die Ampeln standen auf Rot, aber er mußte es riskieren. An der Fifth hörte er, wie die Autos, die nach Süden fuhren, bremsten, schleuderten und zusammenstießen. Als er in den westlichen Teil der Sixtieth einbog, hörte er weitere Schüsse. Diesmal waren sie für ihn bestimmt. Er zuckte zusammen. Das hintere Fenster zersplitterte und wurde undurchsichtig. Plötzlich kam ein Auto aus der Dunkelheit und versperrte ihm den Weg in den Park, aber er konnte nach rechts ausweichen, in Richtung auf den Platz zu. Nun fuhr auch ein zweites Auto an, aber noch war die Lücke etwa zweieinhalb Meter breit. Piers hielt darauf zu, stieß gegen den Randstein und schleuderte auf die Central Park South. Während er das Auto wieder ausrichtete, sah er in
den Rückspiegel – ein Auto hatte die Verfolgung aufgenommen. Er überquerte bei Grün die Avenue of the Americas. Das Auto hinter ihm kam immer näher. Plötzlich begann es zu schlingern. Zuerst nur leicht, dann immer heftiger. Der Fahrer verlor schließlich ganz die Kontrolle, und das Auto jagte quer über die Straße in den Verkehr auf der Gegenfahrbahn. Piers schlidderte die Seventh Avenue entlang. Seine Verfolger waren verschwunden. Das Auto ruckte, der Motor setzte aus. Piers packte seine Kamera und sprang heraus, bevor das Auto ganz zum Stillstand gekommen war. Während er die Treppe zur U-Bahn an der FiftySeventh Street hinunterlief, hörte er, wie es in einem Laden krachte und Leute aufschrien. Er hatte keine Zeit mehr, eine Fahrkarte zu kaufen, der Zug war schon eingefahren. Er setzte über das Drehkreuz, lief die Treppe hinunter und sprang in den Zug, während die Türen sich bereits schlossen. Am Times Square stieg er um und kam schließlich an der ThirtyFourth Street wieder an die Oberfläche. Auf den Bürgersteigen drängten sich die Menschen, die Pizzerias und Delikatessenläden waren hell erleuchtet und voll besetzt. Piers lief die Thirty-First Street entlang und bog dann nach Westen ab. Etwa auf halber Höhe der Straße gab es eine billige Pension, das Amersham Grand. Piers kannte den Mann an der Rezeption und hoffte, dort bis zum folgenden Tag in Sicherheit zu sein. Es war ein kleines, schäbiges Haus. In der Lobby standen einige abgenutzte Couches, der Teppich war fadenscheinig. Ein grauer Dunst hing in der Luft, es roch nach kaltem Tabak. Das ganze Gebäude sah aus, als würde es vor aller Augen sterben. Der Mann, der hinter der Rezeption döste, war alt und schwarz und fett. Seine riesigen Hände auf dem hervorquellenden Bauch hoben und senkten sich rhythmisch. Piers klopfte auf die Platte, und der Mann öffnete ein Auge. »Hast du ein Zimmer für mich, Gus?« Gus griff hinter sich, nahm einen Schlüssel, vom Haken und warf ihn Piers zu. »Wie läuft das Geschäft?« Piers ging zum Aufzug und drückte auf den abgesplitterten Knopf. »Scheiße, welches Geschäft denn? Niemand kann sich’s mehr leisten, in so ‘nem Palast zu wohnen. Sogar die Nutten sind pleite.« Gus lachte;
ein tiefes, abgehacktes Geräusch. »Gott weiß, wie die jetzt ihr Geld verdienen.« »Die arbeiten im Stehen.« Die Tür ging geräuschvoll auf. »Hast du den wirklich umgebracht, wie’s heißt?« Gus öffnete nun auch das zweite Auge und musterte Piers. »Nein.« Beide Augen schlossen sich wieder. »Du glaubst mir nicht, hm?« »Ich sag’ nicht, daß ich dir nicht glaube. Aber ich sag’ auch nicht, daß ich’s tu’. Ich sag nur eins: Ich hab dich nicht gesehen.« Während die Tür sich schloß, sah er ganz so aus, als würde er wieder einschlafen. Das Zimmer war klein und die Luft ebenso abgestanden wie im Foyer. Aber je nachdem, was passierte oder wieviel Glück er hatte, würde es für mindestens ein oder zwei Nächte sein Zuhause sein. Er konnte nicht mehr davonlaufen, er mußte sich der Sache stellen. Aber darüber dachte er im Augenblick nicht nach. Eröffnete das Fenster – mit Aussicht auf das nächste Haus –, warf die Kamera in den Schrank und legte sich in den Kleidern aufs Bett.
11 Darrigan sah aus dem Fenster. Es begrenzte einen beinahe perfekten blauen Himmel mit kleinen Schäfchenwolken an den Rändern. Es war ein Tag, an dem ein Mann seines Alters eigentlich eine gemächliche Runde Golf spielen sollte, anstatt an einem Konferenztisch zu sitzen. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er das letztemal gespielt hatte. Vor acht Monaten, bei seinem Kurzurlaub in Kalifornien. Er hörte Mercer empört schnauben, weil er mit den Fingern auf den Tisch trommelte. Zur Hölle mit dir, dachte er, ich brauche das, wenn ich nachdenke, und im Augenblick habe ich einiges, über das ich nachdenken muß. Ganz im Gegensatz zu dir, denn du bist ja nur ein runder weicher Schlabbersack, der sich langsam auflöst. Er trommelte noch lauter. Alles ging schief. Als er zum erstenmal von TO erfahren hatte, war ihm klar gewesen, daß dem Rat nur eine Möglichkeit blieb, um die Industrienationen zu retten. Der Preis war hoch, aber jemand mußte ihn zahlen, und er würde dafür sorgen, daß es nicht die Industrienationen waren. Seine Aufgabe war es, sie zu erhalten und zu beschützen, und nicht, sie zu zerstören, nur weil er wie Mercer vielleicht zu schwach gewesen wäre, um entschlossen zu handeln. Sie hatten alle Details genau ausgearbeitet, und nach dem Plan hätte die Ausdehnung des Operationsgebietes bereits stattfinden müssen. Aber nun war alles anders gekommen. Die Kapstadt-Konferenz würde stattfinden, und obwohl er selbstbewußt vorgeschlagen hatte, daß der Beginn der Konferenz der ideale Zeitpunkt zur Ausdehnung des Operationsgebietes sein würde, war er nicht allzu glücklich darüber. Er haßte Improvisationen, führten sie doch nur zu Fehlern. Seine Handlungen plante er gerne in allen Einzelheiten. Solotow unterbrach seine Gedanken. Der solide, geduldige Solotow. Was ging hinter dessen verschlossener Miene wohl im Augenblick vor, dachte Darrigan, als er aus seiner Träumerei aufwachte. »Wer ist General Viterbo?« fragte Solotow ruhig und sah Darrigan erwartungsvoll an. »Ich habe noch nie von ihm gehört«, gestand Darrigan verlegen. »Er ist einundfünfzig und ein Karriereoffizier, der sich von unten hochgedient hat.«
»Das weiß ich auch«, erwiderte Solotow und tippte auf seinen Ordner. »Aber in welcher Beziehung steht er zu uns?« Darrigan trommelte noch lauter und spürte, wie Mercer ihn beobachtete. Bestimmt hatte er ein sanftes Lächeln um die Lippen. Der Mann schien es wirklich zu genießen, gegen den Rat zu arbeiten. Er, Darrigan, würde nun wirklich einen Austausch vorschlagen. Er machte sich eine Notiz dazu. »Wir versuchen gerade, das herauszufinden«, sagte Darrigan. »Aber ich habe doch Befehl gegeben, nur Peres wegen seiner Drohung beiseite zu schaffen.« »Wir hatten nichts damit zu tun«, erwiderte Darrigan unglücklich. »Es passierte, bevor unsere Leute den Befehl ausführen konnten. Ich glaube, die Mörder waren Anhänger Bolivars.« »Dann haben sie uns ja einen Gefallen getan«, warf Mercer dazwischen. »In Bardez hatten wir einen guten Mann«, bellte Darrigan. »Und wir wissen nicht, in welche Richtung Viterbo sich bewegt.« Er drückte auf seinen Knopf, der Assistent erschien. »Haben Sie schon Neuigkeiten über Viterbo?« »Nein, Sir. Er hat bis jetzt noch keine Erklärung abgegeben. Wir warten noch auf eine Sendung.« »Aber ich nehme doch an, daß Shatner gefunden und der Kolben sichergestellt ist?« fragte Solotow leise. Der Assistent rutschte unbehaglich hin und her. Er ignorierte Solotows Frage und gab den Schwarzen Peter weiter. »Ich habe einen Bericht von Anderson von der National Security in New York, Sir.« Und bevor Solotow seine Frage wiederholen konnte, schaltete er den Bericht ein. VIDEOBERICHT: Anderson von der National Security an den Rat. Aufgenommen am 18. 7. um 9 Uhr 30. Die Suche nach dem Journalisten Piers Shatner läuft auf Hochtouren, wie vom Rat angeordnet. Wir haben die Telefone von Shatners Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen angezapft. Wir haben sein Bild in vier Nachrichtensendungen ausgestrahlt und ihm den Tod O’Briens zur Last gelegt, der gestern abend etwa gegen 20 Uhr 15 Selbstmord begangen hat. Um 1 Uhr heute morgen versuchte Shatner, den Kolben an einen Mann zu übergeben, den er für den Ersten Sekretär Ndolo hielt. Wir hatten Ndolo gesagt, Shatner sei gefährlich, und einer
unserer Agenten nahm seine Stelle ein. Aber leider konnte Shatner fliehen. Es war das zweitemal innerhalb eines Tages, daß er unseren Männern entkam. Da ich nicht verstand, wie dies passieren konnte, ließ ich das Auto, das ihn um 1 Uhr 10 auf der Central Park South verfolgte, gründlich untersuchen. Die beiden Vorderreifen waren zerplatzt. Eine eingehende Untersuchung ergab, daß auf sie geschossen worden war. Ich bin fest überzeugt, das Shatner von irgend jemand Deckung erhält. Im ersten Fall wurde unser Verfolgerauto von der Straße abgedrängt. Wir hatten zuerst keinen Grund zur Annahme, daß es sich dabei nicht um einen Unfall handelte. Inzwischen haben wir aber das Auto aufgespürt und es verlassen vorgefunden. Wie Sie aus diesen Bildern ersehen können… Darrigan schaltete ab und begann zu trommeln. Der Rhythmus war viel schneller als zuvor. Solotow blinzelte den Monitor an, und sogar Mercer begann langsam, Interesse zu zeigen. »Verbinden Sie mich mit diesem Mann… Anderson. Sofort«, befahl er dem Assistenten. Es war still im Zimmer, während sie auf die Verbindung nach New York warteten. Nach zwei Minuten erschien Anderson auf dem Monitor. »Zum Teufel noch mal, was meinen Sie damit, daß Shatner von jemand Deckung erhält?« fragte Darrigan. »Das ist doch nur eine Ausrede für Ihre Unfähigkeit.« »Nein, Sir«, sagte Anderson beharrlich. »Sie haben doch die Videoaufzeichnung von den Reifen und dem Auto gesehen. Jemand deckt ihn.« »Wer?« wollte Solotow wissen. »Wir wissen das noch nicht, Sir, aber meine Männer ermitteln.« »Weiß Shatner von dieser… Deckung?« fragte Mercer. »Ich bin nicht sicher, Sir. Aber ich habe das Gefühl, daß er es nicht weiß.« »Wo ist er jetzt?« Anderson sah sehr unglücklich aus. »Wir haben ihn verloren, Sir.« »Wenn Sie ihn verloren haben, dann die anderen auch«, rief Darrigan. »Finden Sie ihn, bevor sie es tun, und stellen Sie fest, wer sie sind.« Er schlug auf den Knopf und brach sich dabei den Fingernagel ab.
Darrigan zwang sich zur Ruhe. Denk nach, befahl er seinem Verstand, denk kalt und schnell. Die beiden anderen machten es ebenso. »Jemand« – Mercer lächelte – »hält uns zum Narren.« Darrigan wollte die Bemerkung schon überhören, dachte dann aber darüber nach. Ja, jemand hielt sie wirklich zum Narren, und er spürte, wie die Wut über diese Unverschämtheit in ihm hochstieg. Doch er beherrschte sich. Okay, dachte er, und wer? Wer weiß, daß Shatner den Kolben hat? Odu nicht. Er ahnt vielleicht etwas, aber er weiß es nicht sicher. Der Kolben wäre für ihn der einzige Beweis. Deshalb würde er Shatner nicht decken, sondern ihm den Kolben abnehmen. Und Shatner würde ihn an Odu weitergeben. Das hat er ja letzte Nacht bereits versucht. Dieser Scheißkerl, weiß der denn nicht, was auf dem Spiel steht? Für einen Haufen Bauern versucht der, seine eigene Zivilisation und Kultur zu zerstören. Darrigan nahm sich zusammen. So kam er nicht weiter. Wer wußte sonst noch, daß Shatner den Kolben hat? Der Rat natürlich, und seine Agenten. Darrigan schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht, daß jemand im Inneren ein doppeltes Spiel spielte. Wer dann? Wer dann? Er versuchte, nicht daran zu denken, und kehrte doch immer wieder zur selben Antwort zurück. Die Person, von der Shatner den Kolben erhalten hatte: Bolivar. Aber Bolivar war tot. Darrigan warf Solotow einen Blick zu. Der Russe schien zum gleichen Schluß gekommen zu sein. Er drückte auf seinen Knopf. »Ist der Bericht über Bolivars Auto schon da?« »Ja, Sir. Wir bereiten ihn gerade vor.« VIDEOBERICHT: Bozeman vom CIA an den Rat. Aufgenommen am 18. 7. um 8 Uhr 10. Auf Mr. Darrigans Befehl haben wir das Auto, in dem Señor Bolivar zum Zeitpunkt seines Todes fuhr, eingehend untersucht. Das Auto wurde von Maschinengewehrsalven aus relativ kurzer Entfernung getroffen. Wir gehen von insgesamt etwa dreißig Schüssen aus. Sie beschädigten den Steuermechanismus des Fahrzeugs, zerstörten die Reifen und trafen den Tank. Acht Schüsse steckten im Fahrer- und im Beifahrersitz. Die Kugeln, die den Steuermechanismus trafen, machten das Fahrzeug zweifellos unkontrollierbar, und die im Tank verursachten wahrscheinlich das Feuer. Aber das Feuer war ausgedehnter, als zu erwarten gewesen wäre. Eine Untersuchung
ergab, daß zusätzlich Benzin ins Feuer gegossen wurde, um Auto und Insassen vollkommen zu vernichten. Darrigan drückte auf seinen Knopf, bevor Solotow den seinen erreichte. »Ich will, daß sofort ein Ärzteteam nach Sao Amerigo geflogen wird«, befahl er dem Assistenten. »Sie werden Bolivars Leiche exhumieren und dem Rat schnellstmöglich mitteilen, ob er es wirklich ist.« Als Piers aufwachte, war es zehn Uhr morgens. Draußen war es anscheinend schön, aber von seinem Bett aus konnte er die Sonne nicht sehen, und er fragte sich, ob je ein Sonnenstrahl das düstere kleine Zimmer getroffen hatte. Sein Körper schmerzte noch immer, aber nicht mehr so schlimm wie am Tag zuvor. Er ließ Wasser ins Becken laufen, weil er hoffte, daß irgendwann heißes kommen würde. Aber es kam nicht, und so wusch er sich Gesicht und Körper mit eiskaltem Wasser. Er hätte gern frische Wäsche angezogen, wußte aber, daß es unmöglich war. Seine Wohnung wurde sicher überwacht, und die Grand Central ebenso. Er trocknete sich mit dem rauhen Laken ab und stellte sich ans Fenster. Wenn er steil nach oben blickte, konnte er ein kleines Fleckchen blauen Himmel sehen. Danach holte er die Videokamera und stellte sie neben den Kolben vor sich auf das Bett. Seine Bewegungen waren mechanisch, waren wie die eines Mannes, der bei der Arbeit an etwas anderes dachte. Aber er dachte überhaupt nicht. Sein Verstand arbeitete nur in einer einzigen Richtung, auf ein einziges Ziel hin: die Reportage fertigzustellen und zu senden. O’Briens Bestätigung des Virus, seine eigene erschöpfte, einsame Jagd, Marions Tod… sein Verstand war umgekippt. Wut und Traurigkeit, die sich seit Jahren in ihm angesammelt hatten, verbanden sich nun in seinem Bauch wie Stränge aus Stahl und Seide zu einem harten Knoten. Die Ausstrahlung seiner Story würde seine persönliche Abrechnung sein. Er brauchte keinen Schlaf, kein Essen, keine Liebe, keine Menschen mehr. Alles, was er brauchte, lag vor ihm auf dem Bett. Er lächelte schwach und verträumt, während er den Kolben streichelte. Fast liebevoll berührte er ihn, als wolle er ein Teil von ihm werden. Er nahm die Kamera, steckte den Kolben in die Tasche und verließ das Zimmer. Gus schlief in einem Zimmer am Ende des Korridors. Piers klopfte. Ein schläfriges Grunzen war die Antwort, und Piers ging hinein.
Das Zimmer war übersät mit Kleidungsstücken, Bierdosen und Aschenbechern. »Ich will mein Zimmer bezahlen, Gus.« »Wenn du unbedingt willst«, sagte Gus und nahm das Geld. »Hast du die Frühnachrichten gesehen?« fragte Piers. »Ist vielleicht irgendwo wieder ‘ne Seuche ausgebrochen?« »O Gott, hoffentlich seh ich so was nie wieder.« Er schüttelte den Kopf. »Sie suchen dich immer noch.« Auf dem Tisch lag eine Sonnenbrille. Piers setzte sie auf. Mit dem Dreitagebart und der Brille sah er dem glattrasierten Shatner in den Nachrichten nicht mehr sonderlich ähnlich. »Bist du okay?« fragte Gus. »Klar. Wieso?« »Siehst aus, als ob du träumst.« »Ich bin okay«, entgegnete Piers. In dem Imbiß einen Block vom Hotel entfernt trank er Kaffee. Keiner der Gäste drehte sich nach ihm um, und er fühlte sich etwas sicherer. Nach dem Kaffee ging er zu der Telefonzelle an der Ecke. Irgendwann in der Nacht hatte er einen Plan gefaßt, aber zunächst mußte er noch einiges erledigen. Er rief Frank Koloks Büro an und legte ein Taschentuch über die Sprechmuschel, um nicht erkannt zu werden, bis er Frank selbst am Apparat hatte. »Er ist nicht im Büro«, sagte die Sekretärin. »Wann erwarten Sie ihn?« »Er ist im Urlaub. Mit wem spreche ich, bitte?« Piers hängte ein. Frank hatte erst eine Woche vor dem MenaguayAuftrag Urlaub genommen. Und er war ein zu gewissenhafter Mann, um so bald schon wieder freizunehmen. Piers ging zwei Blocks weiter und versuchte es dann mit Franks Privatanschluß. »Frank«, sagte er, als er die Stimme erkannte. »Ich hab’ die Geschichte jetzt fast zusammen. Da ist nur noch eine Spur…« »Großartig«, erwiderte Frank. Seine Stimme klang enthusiastisch und herzlich. »Ich kann’s gar nicht erwarten. Ach, übrigens, ich werd’s zu deiner Party bei Pearls nicht schaffen.« Diesmal hängte Piers nicht ein. Er ließ Frank mit einer leeren Telefonzelle sprechen und lief zu einem Hauseingang einen halben Block weiter nördlich. Er sah auf die Uhr und wartete. Es dauerte nur dreieinhalb Minuten, bis ein halbes Dutzend Straßenkreuzer mit
quietschenden Reifen vor der Zelle zum Stehen kamen. Piers drehte sich um und ging los. Er hatte einen langen Weg vor sich. Als er die Thirty-Fifth Street erreichte, schwitzte er. Er suchte die Hausnummer, die auf Whitlams Durchschlag stand. Er fand sie, aber da war nichts. Nur ein unbebautes Grundstück voller Unkraut und Müll. Die Häuser zu beiden Seiten waren Wohnblocks. Auf der anderen Straßenseite stand ein einsamer Feinkostimbiß. Er war makellos sauber und leer und roch nach gutem, gesundem Essen. Der alte Mann hinter der Theke schnitt Wurst, und Piers wartete, bis er fertig war. »Was ist denn da drüben passiert?« Er wies quer über die Straße. Der Mann lehnte sich auf die Theke und betrachtete das leere Grundstück. »Na, da kommt eines Tages dieser Typ im blauen Kostüm und mit dem großen S auf der Brust dahergeflogen, packt das Haus und fliegt damit wieder weg.« »Er hätt’s hier auf den Schuppen fallen lassen sollen.« »Schön wär’s. Dann hätt’ ich die Versicherung kassiert und war’ nach Miami gezogen.« »Wann war das?« »Vor ‘nem Jahr.« Er nahm ein Stück von der Polnischen. »Mein ganzes Leben hab’ ich zugesehen, wie sie abgerissen und wieder aufgebaut haben. Und ich hab gewußt, eines Tages reißen die bloß ab und verschwinden dann. Da drüben hat’s angefangen.« Er sah Piers nachdenklich an. »Ich kenn’ Sie doch von irgendwoher, oder?« »Die Johnny Carson Show gestern abend«, erwiderte Piers und verließ den Laden. Die Adresse war also falsch, und Whitlam schien immer unwirklicher zu werden. Piers fragte sich, ob er das Auto da draußen vor Cochos wirklich gesehen hatte. Es hätte ja auch nur eine Illusion sein können. Dann schüttelte er den Kopf. Er hatte es auf Band. Whitlam hatte wirklich gelebt, und er mußte herausfinden, wer er gewesen war. Das war die letzte noch offene Frage seiner Story. Piers ging die Forty-Third Street entlang und betrat einen halben Block westlich des Broadway ein schmales Haus, das zwischen einem Fotogeschäft und einem Steakhouse eingeklemmt war. Er ging vorsichtig die mit Teppichen ausgelegte Treppe hinauf, zögerte kurz vor der Tür am Ende der Treppe und öffnete sie schließlich. Das spärlich bekleidete Chinesenmädchen hinter dem Empfang lächelte ihn automatisch an, nahm sein Geld und wies auf die Hintertür. Der Massagesalon »Paradies« behauptete von
sich, den absoluten Höhepunkt luxuriöser Dekadenz zu bieten. Es sah alles ein wenig abgenutzt und schäbig aus. Piers zog sich schnell aus, lehnte die Dienste des Mädchens ab und verschwand in der Sauna. Eine halbe Stunde später tastete sich Frank Kolok in die Sauna. Ein dünner, blasser Kerl mit gepflegtem Bart und beschlagener Brille. Er setzte sich zögernd etwa einen halben Meter von Piers entfernt auf das heiße Holz und ignorierte wie Piers die Mädchen. Sie hatten schon einige Abende zusammen in diesem Salon verbracht, manchmal mit Frauen, aber oft nur, um sich zu entspannen. Johnny Pearls war der Besitzer einer ganzen Kette solcher Salons, alle mit exotischen Namen, und da sie ihn beide kannten, zogen sie seinen Namen dem des Salons vor. »Das Telefon war angezapft«, sagte Piers. »Hab ich mir schon gedacht.« Kolok zwinkerte Piers wie eine Eule zu. »Hast du diesen O’Brien umgebracht?« »Also komm, ich bin doch kein Mörder. Ich brauche deine Hilfe, Frank.« »Bei der Meute, die dir auf den Fersen ist, würd’ ich’s mal mit Gott versuchen. Er ist derjenige, der in diesem Teil der Welt die Wunder vollbringt. Aber jetzt rückst du besser mit deiner Geschichte raus.« »Das werde ich, sobald ich alle Fäden zusammenhabe.« Frank betrachtete Piers. Trotz seiner beschlagenen Brille merkte er, daß mit dem Mann neben ihm etwas nicht stimmte. Piers wirkte abwesend, er blickte starr und ohne zu blinzeln geradeaus. Wie ein Kind, das von einem weit entfernten glitzernden Geist, den niemand außer ihm selbst sah, hypnotisiert wurde. »Marion hat sich nicht wieder gemeldet, und im Hotel kann ich sie auch nicht erreichen.« Piers zuckte nur mit den Achseln. Es war, als würde Frank über eine vollkommen Fremde reden. »Okay, was willst du?« »Ich muß zwei Dinge herausfinden. Sie sollten in der Studiobibliothek zu finden sein.« »Scheiße.« Mehr sagte Frank nicht. »Du kannst mich doch an der Gasse bei der Fortieth reinlassen.« »Sag mir, was es ist. Ich werd’s für dich suchen.« Piers schüttelte den Kopf. »Es ist schwer zu erklären, was ich eigentlich suche, aber ich werde es erkennen, wenn ich es sehe.«
Frank fühlte sich gar nicht wohl, während sie über den Broadway zum Studio gingen. Piers sprach nicht viel, er ging schweigend neben Frank her. Sooft Frank versuchte, ein Gespräch anzufangen oder ihn nach der Story zu fragen, erhielt er nur einsilbige Antworten. An der Ecke trennten sie sich. Piers ging die Fortieth hinunter, bog dann in die Gasse ein und wartete, bis Frank ihm die Hintertür öffnete. Es war Mittagszeit, und Piers nahm an, daß ein Großteil des Personals außer Haus war. Frank brauchte fast zehn Minuten, und als er schließlich die Tür öffnete, schob sich Piers ungeduldig an ihm vorbei. Beinahe hätte Frank ihm gesagt, er solle bloß verschwinden, aber er wußte, wie Piers war, wenn er an einer Story arbeitete. Piers war der beste Reporter, den er hatte, und wenn Piers sagte, die Story sei ein Knüller, weil der Rat verwickelt sei, wollte er eine Weile mitspielen. Sie gingen schnell über die dicken Teppiche des Gangs zu Franks Büro. Es war ein spärlich möbliertes Zimmer mit Büchern an den Wänden und drei Fernsehapparaten. »Ich habe drei Abkürzungen. Sie bezeichnen Linien auf einem Diagramm, das ich in einem Hotelzimmer gefunden habe. Die erste ist TO, die zweite URS, die dritte EBW.« Frank setzte sich an seinen Schreibtisch und bediente die Tastatur vor den Monitoren. Der Bibliothekscomputer konnte die Information schneller finden als ein Mensch. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis auf dem Monitor die Information erschien. TO auf Anfrage von Frank Kolok. TA TAC TCC TEA TNT TOA TWS Die Liste war ziemlich lang, aber Terminierte Optimalbedingungen gab es im Speicher des Computers nicht. Piers schüttelte den Kopf. Frank löschte die Daten und gab die nächsten Initialen ein. URS auf Anfrage von Frank Kolok.
UAA UDT UMB UTS Auch von URS wußte der Computer nichts. EBW auf Anfrage von Frank Kolok. EAT EBL EBW »Sieh da mal nach.« Piers wartete geduldig. EBW: Einschränkung des Bevölkerungswachstums. Siehe PickardReport. »Das letzte da, Frank, kann ich das mal sehen?« EBW auf Anfrage von Frank Kolok. Einschränkung des Bevölkerungswachstums, Pickard-Report. Eine Studie über die Notwendigkeit einer Einschränkung des Bevölkerungswachstums von Dr. Hedley Keylor (Stanford), Dr. Peter Woys (Harvard), Professor I. Korda (Moskau), P. Zokor (Moskau), Dr. Andre Bruyere (Paris), Dr. Jack Stephenson (London). Piers wußte, daß er gefunden hatte, was er suchte. Der Report war vierhundert Seiten dick und steckte voller Statistiken, Tabellen und Diagramme. Auf dem hinteren Umschlagdeckel des Berichts waren Fotos und Kurzbiografien der Autoren. VIDEOBERICHT: Fortsetzung der Aufnahme… Ich habe jetzt entdeckt, was EBW bedeutet. Die Einschränkung des Bevölkerungswachstums. Es ist der Titel eines sehr eindringlichen Berichts des renommierten Pickard Institute über die historische Notwendigkeit einer drastischen Einschränkung des Bevölkerungswachstums in bestimmten Schlüsselländern der Dritten Welt. Zusammengefaßt analysiert dieser Berieht die politische
Situation und das Bevölkerungswachstum in diesen Ländern und sagt eine Politik des Territorialen Expansionismus (TE) in diesen Ländern voraus. Nach diesem Bericht tritt TE immer dann ein, wenn die Notwendigkeit zusätzlichen Territoriums aufgrund der Bevölkerungsentwicklung überlebensnotwendig wird. Um TE nicht eintreten zu lassen, sind drastische Maßnahmen nötig, durch die der Bevölkerungsdruck in dem betreffenden Land gesenkt werden kann. Aber noch viel wichtiger als die trockene Studie über die historischen Bedingungen für den Territorialen Expansionismus von Völkern sind die Fotos auf der Rückseite des Berichts. Wie Sie sehen, besteht eine sehr große Ähnlichkeit zwischen Dr. Peter Ways aus Harvard und dem Toten von Cochos, Charles Whitlam. Ich bin erstaunt, daß ein Mann wie Ways an der Vernichtung eines großen Bevölkerungsteils beteiligt sein sollte, da in keinem Teil des Berichts die Massentötung als endgültige Lösung des Problems empfohlen wird. Er schlägt obligatorische Geburtenkontrolle in verschiedenen Variationen vor, aber nie die Vernichtung. Unterbrechung der Aufnahme… Warum machte er, mit zwei todbringenden Kolben in der Tasche, die weite Reise nach Cochos, wenn er gar nichts von der Massenvernichtung hielt, überlegte sich Piers. Wahrscheinlich hatte Ways angenommen, daß sich etwas anderes in diesen Kolben befinde, etwas, das dieses Problem einfach und harmlos löste. Die Kolben waren sicher ohne sein Wissen vertauscht worden. Nun mußte er zum Pickard Institute fahren und die anderen Autoren befragen. Sie konnten ihm sicher helfen. Frank schüttelte Piers unsanft, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen. »Von was redest du überhaupt?« Er machte sich nun ernstliche Sorgen um Piers, der aussah, als würde er gleich zusammenbrechen. »Vernichtung eines großen Bevölkerungsteils … Charles Whitlam … Ways… Verdammt noch mal, Piers, was ist da los?« »Das ist die Story.« »Welche Story?« »Die Seuche in Menaguay hatte keine natürlichen Ursachen – sie wurde aus wirtschaftlichen Gründen von Menschen produziert.« Geduldig erklärte Piers Frank alles, was er wußte.
Danach lehnte sich Frank langsam in seinem Stuhl zurück. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Es war entsetzlich, aber… Er musterte Piers. Wie lange kannten sie sich jetzt schon? Fünfzehn Jahre? Sie hatten zusammen bei der Times gearbeitet und waren dann gemeinsam zum Fernsehen gegangen. In dieser Zeit war Piers berühmt geworden, während er sich mehr im Hintergrund gehalten hatte. Piers hatte oft Schwierigkeiten gemacht, war für ihn und das Studio eine richtige Nervensäge gewesen, aber er hatte ihm noch nie eine Ente geliefert. Doch es gab für alles ein erstes Mal: Vielleicht war es ein Egotrip, oder vielleicht war er – dies schien wahrscheinlich – beim Anblick von so vielen Toten einfach durchgedreht. »Kannst du das alles beweisen?« »Ich hab’ es alles auf Band.« Piers streichelte liebevoll seine Kamera. Dann war es also kein Egotrip. Frank versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Das war nun wirklich eine Story, aber, verdammt noch mal, wie ging man mit so was um? Behutsam, sehr behutsam. Frank hatte im Lauf seiner Karriere schon unzählige Entscheidungen treffen müssen – Korruption in der Stadt, Watergate, CIA-Morde –, aber er wußte, daß keine so schwer gewesen war wie diese. Die meisten hatten nur interne Auswirkungen gehabt, hatten Tage, oft Wochen des Nachdenkens und der Gewissenserforschung verlangt. Aber diese Story… Frank wagte gar nicht, darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn die an die Öffentlichkeit kam. Wer war davon betroffen? Amerika, Europa, Rußland, Südamerika, Afrika, Asien – die ganze verdammte Welt. Frank wußte, daß manchmal – und er rutschte unbehaglich hin und her, weil es schon ziemlich häufig der Fall gewesen war – die Wahrheit am besten erst enthüllt wurde, wenn man sicher war, daß niemand davon betroffen wurde. Über diese Sache mußte er mit den Studiodirektoren, dem Präsidenten (ob er es wohl wußte?) und natürlich mit Darrigan und dem Rat sprechen. Frank wünschte sich, er hätte von der ganzen Sache nie etwas gehört. Kein Wunder, daß Piers von allen gejagt wurde. »Wo sind die Bänder und der Kolben?« »Versteckt.« Piers’ Blick bekam plötzlich etwas Verschmitztes. »Sieh mal«, sagte Frank, »vielleicht passiert das woanders gar nicht mehr. Das vermutest du ja nur.« »Dann fahren wir zum Pickard Institute und fragen die anderen.« Piers stand auf. »Und ich muß herausfinden, was Whitlam – Ways – glaubte,
in dem Kolben zu haben.« Frank sah Piers direkt in die Augen. »Was ist mit Marion passiert?« Piers zog den Kopf ein, als wollte er einem Schlag ausweichen. Er kämpfte mit der Erinnerung, und dann platzte er plötzlich damit heraus und stammelte: »Auf der Straße erschossen… ist vor mir davongelaufen… arbeitete für den CIA und den Rat. Ich hatte es nicht gewußt.« »O Gott!« Auch er hatte es nicht gewußt, aber er war bestürzter über ihren Tod als über ihre Verbindungen. Sie war eine gute Reporterin gewesen, und er hatte sich blendend mit ihr verstanden. Er würde eine Meldung in die Nachrichten setzen lassen. »Wie kommen wir zu diesem Institut?« »Mit dem Auto.« »Vor allen Tunnels und Brücken gibt es Straßensperren. Ich hab’s aus den Elf-Uhr-Nachrichten.« »Die Fähre?« »Wir können es versuchen.« Frank stand auf und ging zur Tür. Eigentlich sollte man ihn nicht zusammen mit Piers sehen, aber er mußte einfach herausfinden, ob die Seuche noch in einem anderen Land ausbrechen würde und wann. Vielleicht konnte man mit starkem Druck an der richtigen Stelle die Situation wieder unter Kontrolle bringen. Außerdem wollte er bei Piers bleiben, wußte man doch nie, was der noch vorhatte. Frank steckte den Kopf auf den Gang hinaus, nickte einem Techniker zu, wartete, bis niemand mehr zu sehen war, und winkte schließlich Piers. Sie eilten auf die Gasse hinaus, wo Frank Piers warten ließ, bis er sein Auto aus der Garage auf der anderen Straßenseite geholt hatte. Piers wollte eben einsteigen, als Frank in die Gasse zurückstieß. »Du steigst besser in den Kofferraum.« Zusammengerollt wie ein Embryo lag Piers in dem heißen und stickigen Kofferraum. Den Deckel hielt er einen Spalt geöffnet, damit Licht und Luft hereinkamen, aber nicht weit genug, um sehen zu können, wohin sie fuhren. Manchmal schien Frank direkt über die größten Schlaglöcher der Stadt zu fahren, und Piers versuchte, sich so gut wie möglich gegen die harten Schläge zu schützen. Als das Auto langsamer wurde und abwärts rollte, sah er auf die Uhr. Er hörte das Wasser gegen den Pier schwappen, dann traf das Auto irgendwo auf und blieb stehen. Vorsichtig begann Piers,
den Deckel zu heben, aber er spürte, wie der mit aller Kraft nach unten gedrückt wurde. »Die Bullen sind an Deck«, hörte er Frank zischen. »Ich bleibe im Auto sitzen, falls…« Piers schloß die Augen und versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Er spürte, wie er im rechten Fuß einen Krampf bekam, und der Schweiß lief in Strömen an ihm herunter. Die Hitze zwang ihm eine ruhelose Schläfrigkeit auf, er nickte immer wieder ein und fragte sich zwischendurch, was er im Institut wohl finden würde. Vielleicht Aufklärung über den Inhalt der Flasche. Doch das hing davon ab, ob Keylor, Korda und die anderen überhaupt anwesend waren, um seine Fragen zu beantworten. Er spürte, wie die Fähre schwankend anhielt und die Autos losfuhren. Nach zehn Minuten hatte Frank die Rampe verlassen und die Straßeneinmündung erreicht. Er fuhr noch fünf Minuten und blieb dann stehen. Piers blinzelte in die Abendsonne, als Frank plötzlich den Kofferraum öffnete. »Auf dieser Seite des Flusses dürfte es sicher sein«, sagte Frank. »Du hast in der heißen Kiste doch sicher ein paar Pfund verloren.« Er half Piers aus dem Kofferraum und sah ihm dabei zu, wie er sich die Beine massierte und sich streckte. Die Kleidung klebte ihm am Körper, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Er roch, und Frank nahm an, daß Piers seit Tagen nicht mehr geduscht hatte. Schweigend und in jeweils eigene Gedanken versunken, fuhren die beiden durch das unendlich sich ausbreitende Vorstadthäusermeer von New Jersey. Eine Stadt ging in die andere über, und sie sahen alle so gleich aus, daß man nicht mehr unterscheiden konnte, wo die eine aufhörte und die andere begann. Frank bog in die Passaic Avenue ein und fuhr an einem grünen Schild vorbei: West Caldwell. Sie fuhren zehn Minuten im Kreis, bis sie das Pickard Institute fanden. Es lag gegenüber einem großen neuen Industriegelände, und sie hatten es verfehlt, weil es aussah wie eine der Fabriken. Erst als Frank in die Einfahrt bog, sahen sie, daß es sich noch mindestens eine halbe Meile von der Straße weg erstreckte. Das Institut war die berühmteste »Denkfabrik« des Westens und wurde ausschließlich von den Industrienationen finanziert. Wissenschaftler aus der gesamten industrialisierten Welt arbeiteten an Problemen, die von der Umweltverschmutzung bis zu einer möglichen Besiedelung des Mondes im Jahre 2001 reichten. Es war ein kalter,
antiseptischer Bau, umgeben von einem gepflegten Rasen und hübschen Bäumen. »Willst du warten?« »Ich komme mit«, sagte Frank und folgte Piers zum Eingang. »Und ich werde reden, okay?« Der Sicherheitsbeamte wußte nicht genau, ob er sie einlassen durfte, aber Franks Presseausweis verschaffte ihnen schließlich eine Einladung von Keylors Sekretärin. »Was Verrückteres ist dir wohl nicht eingefallen«, sagte Piers, während sie über den Teppichboden des langgezogenen Flurs marschierten. »Jetzt werden sie sich an uns beide erinnern.« »Wie wären wir sonst hineingekommen?« Piers hob die Schultern, und als sie vor Dr. Keylors Büro standen, trat er beiseite, um Frank zuerst eintreten zu lassen. Die Sekretärin wartete gespannt und mit fragendem Blick auf sie. Sie war eine Frau Anfang dreißig, hübsch und drall, mit dunklen Haaren. »Kann ich Ihnen helfen, Mr….« Sie sah von einem zum anderen und wandte sich schließlich an Frank, als der nickte. »… Kolok. Ich möchte gerne mit Dr. Keylor sprechen.« »Der ist auf einer Exkursion. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« »Dr. Korda?« fragte Piers scharf. »Auch der ist nicht im Haus. Wenn Sie mir sagen…« »Und Ways und Zokor und Bruyere und Stephenson ebenso, nehme ich an.« Die Frau musterte ihn sorgfältig und versuchte, ihren Unmut über Piers’ Ungeduld zu verbergen. »Ja. Ich kann Sie an den Direktor des Instituts weiterleiten.« »Wo ist Dr. Ways?« »Ich glaube in Alberta.« »Für das Institut?« »Nein.« Sie sprach langsam und runzelte die Stirn, als wollte sie Piers’ Gesicht irgendwo einordnen. »Das Institut erhält seine Aufträge immer entweder von der Industrie oder von der Regierung. Dieser Auftrag kam vom Rat der Ind…« Sie unterbrach sich. »Sie sind der…« Piers schlug sie. Sie taumelte zurück, fiel gegen die Tischkante und glitt zu Boden, wo sie wie eine achtlos weggeworfene Puppe liegenblieb. Piers hob die Hände. Die Geste war gemeint als Entschuldigung, die er nicht über die Lippen brachte.
»Scheiße, mußte das sein?« fragte Frank. Piers antwortete nicht. Er ging in Keylors mit Büchern vollgestopftes Büro. Auf dem Tisch stand ein Monitor. Alberta war weit weg von Cochos, und er war überzeugt, daß auch alle anderen falsche Bestimmungsorte für ihre »Exkursionen« angegeben hatten. Er hatte nur eine kleine Chance. Langsam tippte er auf der Tastatur das Kürzel URS ein. Der kleine Bildschirm wurde hell. URS-Systeme. Unfreiwillige respiratorische Sterilisation. Formeln. Tests. Ergebnisse. Analysen, Zusammenfassung, Anwendung. Piers und Frank setzten sich und sahen zu, wie die Information über den Bildschirm flimmerte. Es waren fast nur Fachausdrücke und Statistiken, und zunächst verstand Piers kein Wort. Doch dann beruhigte er sich, las die Informationen geduldig ein zweitesmal, und allmählich begriff er. Er wußte nun, was Ways in dem Kolben zu haben glaubte und warum er ihn so bedenkenlos geöffnet hatte. In den Industrienationen war es bereits verwendet worden. VIDEOBERICHT: Fortsetzung der Aufnahme… URS. Unfreiwillige respiratorische Sterilisation ist die Perfektionierung der Geburtenkontrolle. Bereits vor sieben Jahren erfanden Mediziner ein geruchloses Gas, das auf die Fortpflanzungsfähigkeit des Menschen dieselbe Wirkung hat wie die Pille oder eine Injektion. Während letztere Methoden die Einwilligung der betreffenden Person voraussetzen, ist diese Einwilligung bei der Methode der respiratorischen Sterilisation nicht notwendig. Durch Freisetzung des Gases über einem bestimmten Gebiet kann man 78 Prozent der Frauen, die das Gas einatmen, zweieinhalb Jahre lang unfruchtbar machen. Das ergaben zumindest die Tests, die in weiten und sehr unterschiedlichen Gebieten der Industrienationen bereits durchgeführt wurden. Darunter Teile von New York, Chicago, Los Angeles und andere Städte in Amerika, sowie London, Paris, Mailand, Lissabon. Die Tests wurden vorwiegend in Stadtgebieten mit einem hohen Unterschichtanteil an der Bevölkerung durchgeführt. Die Geburtenrate in diesen Gebieten, die bis zu dreißig pro Tausend betrug, fiel nach einem Jahr auf fünf pro Tausend. Das Gas wird alle zweieinhalb Jahre erneut freigesetzt, um das Wachstum einer
unerwünschten Gesellschaftsschicht kontrollieren zu können. Und genau dieses URS-Gas wollte Dr. Peter Ways unter dem Decknamen Whitlam in der Nähe des Dorfes Cochos freisetzen. Aber statt dessen wurde eine weiterentwickelte Variante von Sarin verwendet. Da der Zustand der Terminierten Optimalbedingungen erreicht war, reichte nach Ansicht des Rats die Zeit nicht mehr für eine graduelle Verminderung der Weltbevölkerung. Piers Shatner von Channel 14 in New York berichtet aus dem Pickard Institute. Im Anschluß daran fühlte Piers sich vollkommen leer. Ohne etwas zu denken oder zu tun, saß er einfach nur da. Die Story hatte ihren Abschluß gefunden. Aus dem anderen Zimmer kam ein Stöhnen. Das Mädchen versuchte aufzustehen. Er fesselte sie mit Klebeband behutsam an Händen und Füßen und trug sie ins Büro. Er legte sie auf die Couch und strich ihr entschuldigend übers Gesicht, konnte ihr aber nicht in die Augen sehen. Frank strich ihr verlegen den Rock glatt. Als er sich wieder umdrehte, hatte Piers das Büro bereits verlassen und war auf dem Weg zum Auto. Frank fand ihn auf dem Beifahrersitz, wo er starr ins Leere blickte und mit den Fingern rhythmisch auf den Kamerakoffer trommelte. »Hast du gesehen, was sie getan haben?« Es war eine rhetorische Frage, und Frank spürte die unterdrückte Wut hinter den Worten, während er auf der Fahrerseite einstieg. »Seit drei Jahren sterilisieren sie heimlich die Armen und merzen sie so langsam aus, bis sie uns nicht mehr stören.« »Sterilisieren ist ein hartes Wort«, protestierte Frank. »Die Wirkung hält ja nur zweieinhalb Jahre an.« »Um Himmels willen, ob jetzt zweieinhalb oder zweitausend, die Menschen sollten doch wissen, was mit ihnen geschieht. Man benutzt doch nicht einfach Frauen, menschliche Wesen, wie Meerschweinchen zum Nutzen der« – er spuckte aus – »Gesellschaft.« »Sei doch nicht so verdammt naiv. Seit tausend Jahren untergraben Regierungen die individuelle Freiheit um der Gesellschaft willen. Das muß geschehen, damit das Ganze überlebt und nicht nur ein Teil. Ich stimme dir ja zu, daß die Gesellschaftsschichten, die man als Meerschweinchen benutzt, erfahren sollten, daß man sie nach und nach sterilisiert, damit sie eine bessere Überlebenschance haben. Aber wenn du es ihnen sagst und sie um Erlaubnis fragst, werden sie sich weigern.«
»Und dazu haben sie auch das Recht, verdammt noch mal. Schließlich manipulieren wir ihr Leben.« »Dieses URS-Gas tötet sie ja nicht. Es kontrolliert nur ihre Fortpflanzung.« Frank ließ den Motor an und fuhr auf die Straße. »Statt sechs oder acht Kinder haben sie eines oder zwei, für die sie besser sorgen können. Und zwar hier oder in London, Rom oder Indien.« Sie verließen die Passaic Avenue und fuhren auf New York zu. »Aber sie werden manipuliert und kontrolliert wie Schafe.« »Das werden wir doch alle«, erwiderte Frank zornig. »Von Gott, unserer eigenen Gier oder von einem Staat.« »Ich…« Piers dachte an Marion. Er fühlte sich einsam und auf eigenartige Weise frei. Er konnte sehen, wurde aber nicht mehr gesehen. »Ich nicht.« Diese Freiheit war wirkliche Macht, obwohl er sich dessen gar nicht bewußt war. Er verfügte über Wissen, das niemand sonst hatte, und er hatte eine Waffe, um den Unwissenden dieses Wissen aufzuzwingen. Erst jetzt merkte er, wohin sie fuhren. Frank spürte Piers’ plötzliche Anspannung und lächelte rasch, um ihn zu beruhigen. »Sie blockieren die Straßen nur stadtauswärts. Es reicht, wenn du eine Meile vor dem Tunnel in den Kofferraum steigst.« »Wirst du die Story jetzt senden?« fragte Piers. »Es ist dringend. Wir müssen verhindern, daß Keylor und die anderen den Virus freisetzen.« Frank wartete seit Stunden auf diese Frage, wußte aber noch immer keine Antwort. Er hatte gehofft, Keylor und Korda und die anderen im Institut anzutreffen, was die Entscheidung um einige Tage aufgeschoben hätte. Doch nun hatten sie beide das Ende ihres Wegs erreicht. Piers hatte seine Story, und Frank mußte ja oder nein sagen. »Es ist nicht so einfach.« Frank versuchte, Zeit zu schinden. »Du weißt doch ganz genau, daß wir bei so etwas gemeinsame Entscheidungen treffen. Das ist keine Meldung, die ich einschätzen kann, das ist eine verdammte Bombe.« »Frank, entweder du bringst es, oder ich mache das.« »Wie?« Piers lächelte nur und wartete. Einen Augenblick lang war Frank verwirrt. Wie wollte er es selbst bringen? Es CBS, NBC, der Times oder der Post zeigen? Er würde überall die gleiche Reaktion erhalten. Niemand wagte sich so ohne weiteres an eine Geschichte wie diese. Frank nahm an, daß Piers nur bluffte.
»Ich habe die Wahrheit«, sagte Piers geduldig. »Also?« »Nun, man kann es wie ein Skalpell oder wie einen Knüppel benutzen. Und du versuchst es mit dem Knüppel. Du begreifst nicht, was mit deiner Story alles zusammenhängt, Piers. Sobald das bekannt…« »Blödsinn. Alles Ausreden.« »Sobald wir zurück sind, werde ich mich mit den anderen absprechen, und du wirst dabeisein.« »Nein. Das machst du alleine«, entgegnete Piers. »Vielleicht«, sagte Frank vorsichtig, »könnten wir es so darstellen, als hätte Whitlam auf eigene Faust gehandelt. Du weißt schon, ein Wahnsinniger. Die Welt würde das besser verstehen. Sobald du Darrigan, den Staatssekretär, Mercer, den europäischen Außenminister, und Solotow, einen Vertreter des Kreml, mit hineinziehst, hebst du die Welt aus den Angeln. Ich werd’s so machen, okay?« »Und was ist mit Keylor und den anderen? Auch lauter Verrückte?« »Sobald es nach oben durchdringt, daß ich diese Story habe, wird man sie alle zurückrufen.« »Und in hundert Jahren, wenn alles vergessen ist, können wir dann die Wahrheit erzählen.« »Vermutlich.« Es könnte funktionieren, dachte Piers. Es könnte den Rat zwingen, die anderen zurückzurufen. Es würde die nicht wieder zum Leben erwecken, die an dem Virus gestorben waren, auch Bolivar und Marion nicht, aber es wäre ein Anfang. Und danach würde die Büchse weit geöffnet werden. »Okay, aber ich muß es bis heute abend wissen.« »Ich ruf dich an.« Piers schüttelte den Kopf. »Dann rufst du mich an.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Wie dann?« »Alle Telefone sind angezapft. Wenn du… Marions Tod verkündest, was du ja wahrscheinlich tun wirst, sag einfach…« Er dachte nach. »… daß sie nicht umsonst gestorben ist.« Frank nickte und sah auf die Uhr. Noch vier Stunden bis zu den ZehnUhr-Nachrichten. Es war einfach nicht mehr genug Zeit, aber wenn er wenigstens etwas in Bewegung setzen konnte, würde er damit Piers aufhalten und, was noch wichtiger war, den Rat. Er bremste und fuhr an
den Straßenrand. Sie warteten, bis die Straße für einen Augenblick leer war, und dann kletterte Piers in den Kofferraum. Als Frank sich dem Holland Tunnel näherte und anhielt, um die Maut zu zahlen, dachte er daran, durch die Stadt zu rasen und Piers der Polizei zu übergeben. Er kam an einem einzelnen Polizisten vorbei, der den Verkehr an der Tunneleinfahrt beobachtete, und war dann bereits zwischen den weißen Wänden des Tunnels. Als er auf der anderen Seite wieder herauskam, sah er, daß sich in der Gegenrichtung ein langer Stau gebildet hatte, weil die Polizei alle Autos, die Manhattan verließen, durchsuchte. Was würde mit der Story passieren, wenn er Piers auslieferte, fragte er sich. Würde sie sich einfach in Luft auflösen? Während Frank die Avenue of the Americas entlangfuhr, überlegte er, wo er Piers herauslassen sollte. Bei dem dichten Verkehr würde es schwierig werden. An der Christopher blieb er vor einer roten Ampel stehen und spürte plötzlich, wie sich das Auto hinten minimal hob. Er drehte sich nicht um, damit er nicht sah, wohin Piers lief. Piers ging hastig die Christopher entlang und bog dann in die Bleecker ein. An einem Buchladen an der Ecke blieb er stehen, beobachtete die schwachen Reflexionen im Schaufenster und verschwand dann hastig in einer kleinen Tür zwischen der Buchhandlung und einer Lederwarenhandlung. Er lief die kurze Treppe hinauf und schloß die Tür am Ende des Korridors auf. Es war ein kleines Studio mit Eisenstäben vor dem Fenster und einer stahlverstärkten Tür. In einer Ecke standen eine Studiocouch, ein Tisch und ein Stuhl. Der Rest des Zimmers wurde von seiner Videoausrüstung ausgefüllt. Den meisten Platz nahm ein Videomischpult von Ampex ein. Der Apparat war ziemlich alt, der graue Lack schon etwas zerkratzt. Das Ding war etwa einsfünfzig breit und ebenso hoch. Die linke Hälfte des Aufbaus beherrschte ein Fernsehschirm, auf der rechten befanden sich zwei leere Videokassettenlaufwerke. Darunter war das Kontrollpult. Die Ampex war eine der besten Maschinen auf dem Markt, man konnte damit auch die Qualität der Bilder verbessern. Auf einem Tisch stand der mit dem Telefon verbundene Videorekorder von Sony mit einer fast vollen Kassette. Außerdem gab es einen RCA-Farbfernseher und zwei Videokameras. Piers spulte den Rekorder zurück und schloß ihn an den Fernseher an. Die Qualität der Bilder aus Sao Amerigo war nicht perfekt, die Farben waren zu grell, aber mit der Ampex ließ sich das auf dem Masterband
korrigieren. Piers zog den Rolladen herunter und schaltete das Licht an. Soweit er wußte, kannte niemand dieses Studio und die Ausrüstung. Hierher flüchtete er sich, hier spielte er mit seinen Bändern, und hier jonglierte er mit Bildern. Er stellte den Wecker auf zehn Uhr und machte sich an die Bearbeitung der Aufnahmen. Als ihn um zehn der Wecker aus seiner konzentrierten Versunkenheit riß, schaltete er Channel 14 ein und lehnte sich zurück. Bob Wylie und Sally Fabic moderierten die Sendung. Piers arbeitete weiter, interessierten ihn doch die wirtschaftliche Erholung oder die Tatsache, daß er noch immer gesucht wurde, nicht mehr. Er hörte erst auf, als Bob kurz vor der Werbung ankündigte, Channel 14 habe anschließend die traurige Pflicht, den Tod zweier seiner Mitarbeiter zu verkünden. Piers starrte verständnislos auf den Monitor. Zwei? Sobald die beiden Bilder auf dem Monitor erschienen, das von Marion links und das von Frank rechts, und Wylies sonore Stimme aus dem Off verkündete, Frank Kolok sei bei einem Unfall mit Fahrerflucht getötet worden, schaltete Piers ab. Er war eigentlich gar nicht überrascht, nur traurig. So plötzlich endeten fünfzehn Jahre, und wieder war er dafür verantwortlich. Einen Augenblick lang ließ er den Kopf sinken. Vielleicht war es ein Zeichen der Ehrerbietung oder nur der Müdigkeit, aber der Augenblick war schnell vorüber, und Piers machte sich wieder an die Arbeit. Er war gefangen in seiner Rolle als Erdrutsch, und in vierundzwanzig Stunden würde er wissen, wer der Sieger war. Es war Morgen, als er fertig wurde. Sein Körper schmerzte vor Erschöpfung, aber er gönnte ihm keine Erholung. Seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz und quollen beinahe aus den Höhlen. Wenn er sich jetzt hinlegte, würde er nie wieder aufwachen. Er kontrollierte die Bänder und die Ausrüstung ein letztes Mal – zwar nicht perfekt, aber ausreichend. Er legte die Kassetten in die drei Kameras ein, testete sie und verließ mit zwei der Kameras das Studio. Die Straßen waren voller Menschen, die sich sonnten, spazierengingen, miteinander sprachen. Piers ging schweigend und schnell an ihnen vorbei. Mit der U-Bahn fuhr er zur Thirty-Fourth Street und ging zum Amersham Grand. Der Portier, ein dicker junger Mann, sah nicht auf, als Piers in den Aufzug stieg. Eine halbe Stunde lang überprüfte und kontrollierte Piers, dann verschloß er das Zimmer und verließ das Hotel mit der letzten Kamera.
Draußen zögerte er kurz, doch dann winkte er entschlossen ein Taxi herbei. Der Fahrer, der ihn zum Union Square brachte, bekam keine Gelegenheit, sein Gesicht zu sehen. Piers zahlte schnell und verschwand in der Menge. Er spazierte durch die Straßen, bis er fand, was er suchte. Eine kleine, ordentliche Pension, die Greenwich Palace hieß. Er bezahlte das Zimmer im voraus und verbrachte eine halbe Stunde darin. Danach hängte er das »Bitte nicht stören«-Schild an die Tür und verließ das Hotel mit leeren Händen über die Feuerleiter. Bei der Rückkehr zu seinem Studio in der Bleecker summte er vor sich hin. Es war ein wilder, unmelodischer Gesang, über den er offensichtlich keine Kontrolle hatte. Er brach aus ihm heraus, ein Crescendo von wilden, disharmonischen Tönen. Die schmale Studiocouch sah einladend aus, aber dazu hatte er kein Zeit. Er kehrte zu seiner Arbeit zurück, und am Ende beklatschte er sich zynisch selbst. Wenn nur Marion und Frank sehen könnten, was er getan hatte. Er lächelte. An diesem Abend würden sie es sehen. Er war bereit für den Rat.
12 Mercer pfiff leise vor sich hin, als er das Konferenzzimmer betrat. An der Schwelle blieb er stehen. Darrigan und Solotow saßen bereits und sahen ihn verärgert an. Normalerweise hätte er sich nun leise in seinen Sessel gesetzt. Aber an diesem Morgen pfiff er weiter, während er seinen Platz einnahm. Er war fröhlich, weil er den Rat bald verlassen konnte – er hatte Darrigans Empfehlung gesehen. Sie trug auch Solotows Unterschrift. Seine Tage beim Rat waren gezählt, und nun brauchte er keine Rücksichten mehr zu nehmen. Er konnte sich in seine Villa in Cap Ferrat zurückziehen und die Memoiren eines Mannes schreiben, der ein Drittel der Macht über die Menschen der Industrieländer in Händen gehalten hatte. Sie würden ein interessantes Ende haben, das wußte er. Er öffnete den Ordner vor sich. Statistiken, Berichte, Produktionszahlen. Er überflog sie und schob sie beiseite. Auf die trockene Routine des Verhandlungsalltags mit der Dritten Welt hatte er keine Lust. Er sah sich um. Die anderen beiden hatten auch keine Lust. Alle drei warteten, wußten aber nicht genau, worauf. Plötzlich lächelte Mercer. Er hatte den Eindruck, als wären nicht nur seine Tage gezählt. Auch die beiden anderen sahen aus, als würden sie zählen. »Wir haben ein Videoband von Shatner erhalten, Sir«, verkündete der Assistent vom Monitor. »Spielen Sie es ab. Konnte Anderson es zurückverfolgen?« »Die Zeit reichte nicht. Es dauert nur 28,6 Sekunden.« VIDEOBERICHT: Piers Shatner an den Rat. Aufgenommen am 19. 7. um 7 Uhr. Hier spricht Piers Shatner. Sie wissen, wer ich bin, ich werde deshalb keine Zeit vergeuden. Ich habe den Kolben, und ich habe Videoaufzeichnungen über alles, was wirklich in Menaguay passiert ist. Es wird nicht, ich wiederhole, nicht an irgendeinem anderen Ort der Erde passieren. In den Neun-Uhr-Nachrichten heute abend wird man sehen, wie Keylor, Korda, Zokor, Bruyere und Stephenson von ihren Bestimmungsorten nach New York zurückkehren. Um zehn Uhr werden Sie mir für meine Reportage eine Stunde Sendezeit in Channel 14 geben. Werden meine Bedingungen nicht Punkt für Punkt erfüllt,
werde ich den Kolben öffnen. Diese Bedingungen sind nicht verhandelbar. Ich wiederhole, nicht verhandelbar. »Er ist verrückt«, sagte Darrigan leise. »Haben Sie ihn gesehen? Er ist verrückt.« Solotow nickte, und Mercer erschauderte leicht. Im Licht der Scheinwerfer sah Shatners Haut kreidebleich aus, die Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen, und seine Stimme zitterte. Der Fünftagebart gab ihm ein bedrohliches Aussehen. »Er meint es ernst«, sagte Mercer und drückte auf den Knopf. »Verbinden Sie mich mit dem Experten für diesen… gottverdammten Virus. Er soll mir sagen, welche Auswirkungen ein Öffnen des Kolbens auf New York und die Umgebung hat. Sofort.« Er hob die Stimme, als der Blick des Assistenten zu Darrigan huschte. Er drückte auf den Knopf, bevor der Blickkontakt zustande kam. Dann fiel ihm etwas ein, und er rief den Assistenten zurück. »Kontaktieren Sie Keylor und die anderen und lassen Sie sie sofort zurückkehren. Sie müssen spätestens um 20 Uhr wieder in New York sein. Sorgen Sie für Sondermaschinen, wenn notwendig. Beeilen Sie sich.« Die anderen beiden rührten keinen Finger. Sie sahen ihm nur neugierig zu. »Und was werden Sie wegen der Sendezeit tun?« fragte Darrigan sarkastisch. »Sie ihm gewähren, wahrscheinlich.« »Natürlich«, erwiderte Mercer gelassen. »Wir haben keine andere Wahl.« »Von wegen«, sagte Darrigan. Er drückte auf den Knopf und befahl dem Assistenten: »Anderson soll jeden verfügbaren Mann auf Shatner ansetzen. Er hat die Erlaubnis, jedes Gebäude der Stadt zu durchsuchen. Schicken Sie ihm die Genehmigung.« Darrigan lehnte sich zufrieden zurück. »In einer halben Stunde haben sie ihn.« »Und was passiert, wenn sie ihn bis heute abend um zehn nicht haben?« »Dann sind wir in Schwierigkeiten«, sagte Solotow ruhig. »Wenn die Regierungschefs der einzelnen Nationen und die Bevölkerung die Sendung sehen, wird man uns… vernichten. Wir haben ohne Ermächtigung der Einzelstaaten gehandelt. Und wenn Odu, Mrs. Gandhi, Liu, Sadat und Scheich Saheer die Sendung sehen…« Er
beendete den Satz nicht, sondern schloß nur für einen Augenblick die Augen. Darrigan drückte auf seinen Knopf. »Informieren Sie Channel 14 von der Möglichkeit, daß sie Shatners Sendung ausstrahlen müssen. Aber sie sollen auf eine Genehmigung von mir warten, bevor sie es tun. Die Sendung wird, falls es wirklich dazu kommt, auf New York beschränkt werden. Außerhalb läuft das normale Programm.« »Warum befehlen Sie nicht einfach allen New Yorkern, sie sollen zwischen zehn und elf die Augen schließen?« schlug Mercer vor. »Das wäre einfacher.« »Ich mag auch Ihre Witze nicht«, fuhr ihn Darrigan an. »Es war kein Witz«, keifte Mercer zurück. Er richtete sich auf und starrte Darrigan und Solotow böse an. »Wir haben den Menschen so ziemlich alles befohlen. Wir versuchen, ihnen zu sagen, wann, wo, was und wie sie arbeiten sollen. Wir manipulieren, was, wann und wie sie denken. Bald werden wir ihnen sagen, welche Bücher sie lesen und welche Fernsehprogramme sie sich ansehen sollen. Wir haben einem Drittel der Bevölkerung ohne seine Zustimmung das Recht auf Kinder genommen. Alles im Namen wirtschaftlicher und politischer Einigkeit und Stärke. Ihnen zu sagen, wann sie die Augen öffnen und schließen sollen, ist doch nur der nächste logische Schritt. Beim Volk von Menaguay haben wir das ja bereits für immer getan, und wir haben vor, es auch bei anderen Völkern zu tun. Und das alles nur, weil wir diese verfluchte ›Zivilisation‹ bewahren wollen, die wir uns geschaffen haben.« Er sank erschöpft in sich zusammen. »Eine großartige Rede, Mercer«, sagte Darrigan verächtlich. »Aber Sie vergeuden nur unsere Zeit. Heben Sie sich’s für Ihre Memoiren auf.« Der Assistent erschien auf dem Monitor und sah Mercer an. »Ich habe einen Bericht von Dr. Vernon Mitchell aus Fort Omaha hier, Sir.« VIDEOBERICHT: Dr. Vernon Mitchell an den Rat. Aufgenommen am 19. 7. um 11 Uhr. Auf Anfrage des Rats habe ich die mögliche Wirkung des BZ-Virus auf New York errechnet. In der Stadt selbst wird es fünfundfünfzig Prozent Todesfälle geben. Die Wirkung des Virus außerhalb des Zwölfmeilenradius hängt von der Stärke und der Richtung des Windes ab. Um 10 Uhr 45 zum Beispiel wehte der Wind aus NNW mit fünf Meilen pro Stunde. Wir können eine Linie von Ottawa über Toronto
und Chicago nach St. Louis ziehen. Innerhalb dieses Gebiets wird die Todesrate so hoch sein wie in New York. Also zwischen fünfzig und sechzig Prozent. Da der Virus vierundzwanzig Stunden aktiv bleibt, kann er je nach Änderung der Windrichtung auch noch andere Gebiete des Landes befallen. Und diese wiederum… Mercer drückte auf seinen Knopf, und Vernon Mitchell verschwand vom Bildschirm. »Unterbinden Sie ab 18 Uhr jeden Luft- und Oberflächenverkehr in dem von Mitchell angegebenen Gebiet. Verlängern Sie die Linie bis nach Jacksonville. Nördlich von New York ziehen Sie sie von Quebec nach Halifax. Ab 18 Uhr jede halbe Stunde Bericht über die Wetterlage in New York. Und ab 21 Uhr alle fünfzehn Minuten.« Der Assistent nickte und verschwand vom Monitor. Allmählich zeigten sich Sorgenfalten auf seinem jungen Gesicht. »Warum evakuieren Sie New York nicht«, schlug Solotow ruhig vor. Er sah auf die Uhr. 11 Uhr 30. »Wir können zwölf Millionen Menschen nicht in zwölf Stunden evakuieren«, erwiderte Darrigan. »Das ist unmöglich.« Er drückte auf den Knopf. »Schon Nachrichten von Anderson?« »Er hat sich gemeldet, Sir«, antwortete der Assistent. »Aber ohne Erfolgsmeldung. Ich habe einen vorläufigen Bericht von Dr. Fulton, Sir.« Darrigan verstand nicht, deshalb fügte der Assistent hinzu: »Er ist mit einem Team in Sao Amerigo, um Señor Bolivars Leiche zu obduzieren.« VIDEOBERICHT: Dr. Henry Fulton an den Rat. Aufgenommen am 19. 7. um 10 Uhr 50 in Sao Amerigo. Auf Anfrage des Rats habe ich an der Leiche von Señor Juan Jesus Bolivar eine Autopsie durchgeführt. Ich will Sie nicht lange mit Details aufhalten. Ein schriftlicher Autopsiebericht ist mit einem Kurier unterwegs. Der Körper, den ich untersuchte, hat sehr große Ähnlichkeit mit dem von Señor Bolivar. Der Zahnbefund zum Beispiel paßt exakt zu den zahnärztlichen Aufzeichnungen über Señor Bolivar. Es dauerte einige Zeit, bis wir Unterschiede feststellten. Señor Bolivar hat eine knapp ein Zentimeter breite Lücke im Nasenbein. Das Nasenbein war gebrochen und wurde nie wieder richtig
zusammengesetzt. Die Leiche, die wir untersuchten, weist aber diese Lücke im Nasenbein nicht auf. Die Hautproben… Darrigan unterbrach als erster die nachfolgende Stille. »Er lebt«, sagte er ruhig und gelassen. »Das dachte ich mir«, ergänzte Solotow nickend. Er schien sich zu freuen, daß er richtig geraten hatte. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber warum ließ er dann alle – sein Volk, die Generäle, uns – in dem Glauben, er wäre tot?« »Lebendig wäre er eine viel größere Bedrohung gewesen«, sagte Mercer mit der gleichen Verwunderung in der Stimme. Die drei Männer schwiegen. Darrigan begann, auf den Tisch zu trommeln. Er haßte es, wenn ihn etwas verwirrte. »Okay«, sagte er schließlich laut. »Wir wollen überlegen, was passiert wäre, wenn Bolivar nicht ›gestorben‹ wäre. Als Lebender wäre seine Bewegungsfreiheit in Sao Amerigo äußerst eingeschränkt gewesen. Wäre er geflohen und am Leben geblieben, hätte die Armee ihn zur Strecke gebracht. Indem er aber ›starb‹, verschwand er aus dem Bewußtsein der Armee, und er kann sich nun frei im Land bewegen.« »Aber vielleicht ist er gar nicht im Land geblieben«, gab Mercer zu bedenken. »Mit dem Kolben wäre er wahrscheinlich zu Odu…« »Und was hätte Odu getan?« fragte Darrigan triumphierend. »Ich werd’s Ihnen sagen – nichts. Und die anderen Führer der Dritten Welt – ebenfalls nichts.« »Da stimme ich Ihnen nicht zu«, entgegnete Mercer. »Wenn sie erfahren hätten, daß wir für den Vorfall in Sao Amerigo verantwortlich sind, hätten sie sehr heftig reagiert.« »Natürlich hätten sie heftig reagiert«, sagte Darrigan. »Sie hätten schreckliche Angst gehabt, als nächste auf der Liste zu stehen, aber wie hätten sie wirklich darauf reagiert? Zunächst hätten sie die Grenzen geschlossen, damit der Virus nicht ins Land kommt. Was ja auch wirklich nicht geschehen wäre. Wir hätten doch nie das Operationsgebiet ausgedehnt, wenn wir sicher gewußt hätten, daß Bolivar mit dem Beweis bei Odu ist. Überlegen wir den nächsten Schritt. Ein Angriff auf die Industrienationen. Negativ. Sie wissen, daß sie keine Chance hätten – noch nicht. Und hätten sie dennoch angegriffen, hätten wir zurückschlagen können. Die westlichen
Regierungen erklären nur dann den Krieg, wenn sie beweisen können, daß sie angegriffen werden. Eine Rakete in diese Richtung reicht als Beweis. Und Krieg wäre das letzte, was die Dritte Welt will. Odu und die anderen hätten nichts anderes getan, als sich nicht vom Fleck zu rühren und auf TO zu warten.« »Oder auf einen Angriff von uns«, warf Mercer ein. Darrigan schüttelte den Kopf. »Das haben wir schon durchgespielt. Es würde fünf Jahre dauern, bis sich die Strahlung verflüchtigt, und dann hätten wir nur verseuchte Erde und verseuchtes Wasser.« Zögernd schlich sich ein bewundernder Tonfall in Darrigans Stimme. »Bolivar hat dies begriffen. Er wußte, daß die Reise nach Kapstadt nur Zeitverschwendung sein würde.« »Und er hat auch begriffen«, ergänzte Solotow leise, »wie wir reagieren würden, wenn wir glaubten, er versuche, mit dem Kolben zu Odu zu gelangen. Wir würden alles tun, um dies zu verhindern, und wir würden uns nur darauf konzentrieren.« »Also beschließt er, sich nicht mit einem Hilfeersuchen an Odu zu wenden«, sagte Mercer. »Aber er hat den Kolben. Als Vergeltung kann er ihn in New York, London oder Rom öffnen – wo er gerade will.« Darrigan schüttelte ablehnend den Kopf. »Das ist nicht Bolivars Stil. Ein paar Millionen Tote im Westen würden ihm nichts einbringen. Ja, ein Ausbruch der Seuche in den Industrienationen hätte bei Odu und den anderen auch den letzten Zweifel am wahren Sachverhalt in Menaguay ausgeräumt. Und sie hätten sich eine Blöße gegeben. Der Hund ist viel gerissener.« »Shatner«, warf Mercer in das Schweigen. »Shatner«, zischte Darrigan. »Er hat etwas, das noch entschieden wirkungsvoller ist als der Kolben. Die Bänder. Er hat alle Informationen auf Band, und er wird sie heute abend um zehn ausstrahlen. Der Virus, URS und alles andere. Bolivar wußte, was für ein Mann Shatner war. Sie kannten sich. Was macht er also? Er füttert ihn mit Informationen, weil er weiß, daß Shatner nicht aufgibt, bis er tot umfällt. Um seine Reportage ausstrahlen zu können, braucht er allerdings ein Druckmittel, mit dem er die Genehmigung erzwingen kann. Bolivar gibt ihm dem Kolben und sagt, mach damit, was du willst. Bring ihn zu Odu oder mach was anderes damit. Aber Bolivar sorgt dafür, daß Shatner Odu nie erreicht, und er gibt ihm Deckung. Damit schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe: Er schützt ihn vor uns und hindert ihn daran, den Kolben
jemand anderem zu geben. Shatner ist ein eigenartiger Mann. Er ist ein Einzelgänger und hat eine fixe Idee von Gerechtigkeit und Wahrheit. Er wird seine Story senden, komme, was wolle, und er wird den Kolben einsetzen, wenn wir ihm nicht die Genehmigung erteilen.« Gedankenversunken am Tisch sitzend, sahen Darrigan, Solotow und Mercer aus wie drei Puppen. Keiner rührte einen Muskel. Sogar das Atmen schienen sie eingestellt zu haben. »Man hat uns nicht nur zum Narren gehalten«, sagte Mercer. »Um es umgangssprachlich auszudrücken, man hat uns in die Pfanne gehauen.« Darrigan nahm sich zusammen. Er würde sich niemals von einem südamerikanischen Bauern schlagen lassen, der nicht einmal eine vollständige Schulbildung aufweisen konnte. »Schon Nachricht von Anderson?« schrie er den Assistenten an, der eben auf dem Bildschirm erschien. »Nein, Sir.« »Wenn er noch mehr Männer braucht, kann er sie haben. Er muß Shatner finden.« »Ja, Sir«, wiederholte der Assistent. »Wir haben Keylor, Zokor, Bruyere und Stephenson benachrichtigt, Sir. Sie sind bereits unterwegs nach New York.« »Da fehlt einer«, sagte Mercer. »Korda, Sir«, sagte der Assistent. »Wir versuchen noch, ihn zu erreichen.« »Wo ist er?« »In Shenjang, Sir.« Darrigan sah Solotow an. Sein Gesicht war wie immer eine Maske. Die Schultern hatte er leicht hochgezogen, den Blick abgewandt. Darrigan spürte eine furchteinflößende Ruhe in ihm. Er merkte, daß Solotow etwas wußte, was er nicht wußte. »Können Sie Korda erreichen? Er ist einer von Ihren Männern.« »Er ist ein Mann des Instituts, wie alle anderen auch«, erwiderte Solotow kühl. »Der Rat hat ihn dorthin geschickt, und ich bin sicher, daß ihn der Rat auch wieder zurückholen kann.« Er wandte sich an den Assistenten. »Versuchen Sie weiterhin, ihn zu erreichen.« Darrigan lehnte sich zurück, starrte Solotow an und sah aus dem Fenster, als der Mann ihn ignorierte. Der Himmel war bewölkt. Wahrscheinlich Regen, dachte Darrigan. Doch das sprach nicht unbedingt gegen eine Runde Golf, und Darrigan wünschte sich, er hätte auf dem Platz sein können. Er fühlte sich plötzlich alt und gefangen.
Zuerst hatte Bolivar ihn ausmanövriert, und jetzt sagte ihm sein Instinkt, daß Solotow etwas ausbrütete. Wenn er nur Shatner erreichen könnte. Er war überzeugt, daß er mit dem Mann reden und ihn von einem so törichten Vorhaben abbringen konnte. Niemand wußte, wo Shatner sich aufhielt. Anderson war einer seiner besten Männer. Darrigan richtete sich auf. Vielleicht konnte er Shatner über das Fernsehen erreichen. Ihm sagen, daß Bolivar am Leben war und daß der ihn skrupellos ausnutzte. Nein, dann würde er beweisen müssen, daß Bolivar wirklich am Leben war, und dafür war keine Zeit. Zeit, Zeit, Zeit. Für nichts war Zeit. »Ein Bericht von General Viterbo, Sir«, meldete der Assistent. VIDEOBERICHT: General Viterbo an den Rat. Aufgenommen am 19. 7. um 14 Uhr 30. Ich habe soeben von Dr. Henry Fultons Bericht erfahren. Ich und mein Kabinett hätten über Ihren Verdacht schon früher informiert werden sollen. Daß Bolivar am Leben ist, ändert die Situation kurzfristig. Mein Kabinett und ich haben beschlossen, alle Personaltransporte aus den Industrienationen in unser Land einzustellen, bis die Lage geklärt ist. Den bereits Anwesenden wird nichts geschehen, sie werden mit uns zum Wohle von Menaguay und der ganzen Welt weiterarbeiten. Über eine Evakuierung zu einem späteren Zeitpunkt wird noch entschieden. Der Seufzer der drei Männer kam wie aus einem Munde. Das ökonomische Rettungsseil, das sie ausgeworfen hatten, schien nun kurz vor dem Zerreißen zu sein. Wenn sie sich nur ruhig genug verhielten, würde General Viterbo vielleicht nicht auf der »Evakuierung« bestehen. Er war ganz einfach pikiert. Generäle hatten es gern, wenn man sie konsultierte und ihnen das Gefühl von Wichtigkeit gab, und sie selbst hatten über ihren Sorgen wegen Bolivar einfach vergessen, ihn zu informieren. VIDEOBERICHT: Der Rat an General Viterbo, aufgenommen am 19. 7. um 16 Uhr. Wir bedauern zutiefst, den General nicht über den Verdacht bezüglich Bolivars Tod informiert zu haben. Zu der Zeit war es ja nur ein Verdacht, und wir waren der Ansicht, wir sollten Sie nicht damit belasten. Wir wußten ja, daß Sie nach dem Tod von General Peres
vollauf damit beschäftigt waren, Ihr Kabinett zu bilden und die Regierungsgeschäfte zu ordnen. Wir verstehen Ihre Entscheidung, die Flüge vorübergehend einzustellen. Sobald die augenblickliche Krise beigelegt ist, wird es sicher zwischen Ihnen und Ihrem Kabinett und dem Rat zu einer Einigung kommen, die beide Seiten zufriedenstellt. »Ich hoffe, das wird ihn hinhalten«, sagte Darrigan und schwieg. Anderson hatte sich noch nicht gemeldet, obwohl dermaßen viele Männer nach Shatner suchten. Er hatte sich in einem Loch versteckt, das nur er kannte. Und die Zeit war zu kurz, um ganz New York nach genau diesem Loch abzusuchen. Wahrscheinlich war die ganze Stadt ein Labyrinth aus Zimmern und Kellern und Löchern, dachte Darrigan. Um 17 Uhr meldete sich der Assistent. »Die Kampfflieger haben Keylor, Zokor und Bruyere an Bord genommen, und Stephenson sollte innerhalb der nächsten Stunde eintreffen, Sir.« »Und Korda?« fragte Mercer und wartete atemlos auf die Antwort. »Er hat Shenjang verlassen, Sir«, sagte der Assistent, und Mercer holte wieder Atem. »Und von unseren Agenten wissen wir, daß er auf dem Weg in das Einsatzgebiet ist. Es gibt keine Möglichkeit, ihn zu erreichen.« »Aber hat er denn nicht ebenfalls den Befehl zum Abwarten erhalten, den wir vor zwei Tagen ausgegeben haben? Die anderen haben ihn offensichtlich erhalten, da sie so leicht zu lokalisieren waren.« »Wir haben Ihre Instruktionen an alle ausgegeben, Sir«, sagte der Assistent. »Ich verstehe nicht, warum er sie nicht erhalten hat.« »Schon gut«, sagte Darrigan. Er beobachtete Solotow. Der Mann sah einfach zu gleichgültig aus. »Ich glaube, ich habe eine Idee. Sie müssen Korda zurückrufen«, sagte er zu Solotow. »Wenn er nicht in den NeunUhr-Nachrichten erscheint, öffnet Shatner den Kolben.« »Ich unternehme alles, um ihn daran zu hindern.« Solotow klang so ernsthaft, wie er nur konnte. »Aber wie soll ich einen Mann erreichen, den unsere Leute nicht erreichen können? Es ist zu spät, um dorthin zu fliegen, und ich weiß auch nicht, warum er unsere früheren Befehle nicht erhalten hat. Wahrscheinlich ist die Verbindung unterbrochen. In Shenjang kann das schon passieren.« Darrigan wußte, daß er Solotow die Manipulation der Instruktionen an Korda vorwerfen konnte, bis er blau im Gesicht wurde, ohne daß Solotow sich dazu bekennen würde. Beweise gab es erst, wenn in der
Mandschurei wirklich etwas passierte. Darrigan betete zu Gott, daß nichts passierte. Um ihn herum stürzten Berge ein. Ein Gefühl der Lähmung ergriff von ihm Besitz. Wie ein in die Ecke getriebener Kämpfer wollte er am liebsten nach allen Seiten ausschlagen. Aber der Feind war nicht faßbar. »Verflucht noch mal, was ist mit Anderson passiert?« schrie Darrigan den Assistenten an. »Geben Sie ihm den Befehl, das Gebäude von Channel 14 in New York abzuriegeln. Shatner muß sein Band ja noch abliefern, und da werden wir ihn schnappen.« Irgendwie hatte Mercer Mitleid mit Darrigan. Der Mann kämpfte gegen unüberwindliche Hindernisse an. Und dennoch hatte er die Niederlage verdient. Drei Jahre lang hatte er eine gigantische Macht in Händen gehalten und war mit den Menschen nach seinem Gutdünken umgesprungen. Nun lernte er Demut auf die härtestmögliche Art. Und damit er sie lernte, mußten sehr viele Menschen sterben, und sie konnten kaum etwas dagegen tun. Außer wenn sie Shatner fanden. Um 18 Uhr 30 erschien der Assistent auf dem Monitor. »Der Wind weht NNW mit 3,5 Meilen pro Stunde. Ich habe einen Bericht von Anderson, Sir.« »Spielen Sie ihn sofort ab.« VIDEOBERICHT: Anderson von der National Security an den Rat. Aufgenommen am 19. 7. um 18 Uhr 25. Es ist mir bis jetzt noch nicht gelungen, Shatner zu finden. Das Fernsehen strahlt beständig sein Bild aus, da er sein Aussehen verändert hat. Unzählige Leute behaupteten, ihn gesehen zu haben, aber keine der Angaben erwies sich als korrekt. Offensichtlich versteckt ihn jemand, und meine Männer überprüfen alle möglichen Kontaktpersonen. Nach Erhalt Ihrer Anordnung, das Gebäude von Channel 14 in New York abzuriegeln, habe ich mit Carl Mott gesprochen. Er ist hier bei mir. Mott, der Präsident der HBO-Gesellschaft, war ein dicker Mann mit vor Wut rotem Gesicht. Carl Mott an Mr. Darrigan: Verdammt noch mal, was ist denn eigentlich los? Dieser Anderson hat mir befohlen, meine Programmplanung umzuwerfen. Sie wissen,
was wir senden – Myers De Sade, den ersten Porno, der von einer Küste bis zur anderen ausgestrahlt wird. Wir haben 110 Millionen Zuschauer, die drehen ja durch. Ich habe mit meinem Cheftechniker gesprochen. Es ist möglich, diese obskure Sendung nur auf die Gegend um New York zu beschränken. Verdammt, die werden Amok laufen. Bob Bush, der Techniker, sagt, wir müssen die Erdstation auf dem Dach unseres Hauses in der Twenty-Third Street benutzen. Der Porno geht dann über den RCA-Mikrowellenkanal raus und über Valley Forge ins restliche Amerika. Ich weiß nicht, was passiert, wenn dieser… Verrückte… jemand in LA oder woanders sitzen hat, der ihn empfängt und weiterleitet. Er hat sich bereits mit Bush in Verbindung gesetzt, will aber seinen Film nicht rausgeben. Shatner hat Bush nur die Wellenlänge gegeben, auf der er senden wird, direkt von seiner Videokamera aus. Die hat eine Reichweite von fünf bis zehn Meilen, und wir können das Signal dann aufnehmen und verstärken. Wenn er über Kabel arbeiten würde, dann könnte er überall sitzen, aber dann würden sie ihn wahrscheinlich aufspüren. Ich werde kooperieren, aber am liebsten wär’s mir ja, wenn Sie hier sitzen und hören würden, was in meiner Telefonzentrale los ist. Darrigan löschte Mott wütend vom Bildschirm. »Geben Sie mir Anderson. Sofort.« Er trommelte auf den Tisch. »Anderson, wie lange wird es dauern, bis Sie Shatners Video lokalisiert haben, wenn er zu senden beginnt?« Anderson wandte sich ab, um jemand zu fragen, und kehrte dann wieder zurück. »Ungefähr zehn Minuten, um das Signal zu orten, Sir. Und dann noch mal fünf, bis wir dort sind.« »Besetzen Sie die Fünfmeilenzone mit Ihren Männern und machen Sie eine Minute draus, wenn Sie können.« Anderson wirkte niedergeschlagen und unsicher. »Ach, machen Sie eben so schnell, wie’s irgend geht, und machen Sie ihn unschädlich, bevor er den Kolben öffnen kann.« Darrigan wandte sich triumphierend den beiden anderen zu. »Jetzt haben wir ihn. Shatner hat nicht mehr als zehn Minuten für seine Sendung.« Er lehnte sich zurück und entspannte sich zum erstenmal an diesem Tag. Um 21 Uhr meldete der Assistent Windrichtung und -geschwindigkeit. Der Wind hatte sich nach Westen gedreht, die Geschwindigkeit war gleich geblieben.
FERNSEHSENDUNG: Hier ist Robert Wylie mit den Neun-UhrNachrichten. Zuerst die Schlagzeilen: Die wirtschaftliche Lage im Westen bessert sich weiter. Der Dow Jones steigt beständig. Bei einer Rede vor den Studenten der Universität von Kalifornien erklärte der Präsident, daß wir die letzte Hürde überwunden haben. Die Behörden suchen weiter nach Piers Shatner. In Menaguay hat General Viterbo die Regierungsgeschäfte in der Nachfolge des ermordeten Generals Peres übernommen. Doug Howard gewinnt das Masters mit einem Punkt Vorsprung. Vier Wissenschaftler des Pickard Institute kehren von einer weltweiten Expedition nach New York zurück. Einen Augenblick… wir erhalten eben die Nachricht vom Ausbruch einer Seuche in der chinesischen Provinz Mandschurei. In wenigen Augenblicken sehen wir uns wieder… »Die sollen den letzten Punkt unterdrücken«, schrie Darrigan dem Assistenten zu. Dann starrte er Solotow wütend an. »Ich habe mich also doch nicht getäuscht. Sie und Ihre Regierung haben das geplant.« »Und der Rat hatte seine Genehmigung erteilt«, erwiderte Solotow gelassen. »Wie für die Operation in Menaguay.« »Wir haben sie aber wieder zurückgezogen«, sagte Mercer wütend. »Sie haben den Rat mißachtet. Weder ich noch Darrigan waren dafür. Jetzt haben Sie das Leben von Millionen Menschen in New York und wer weiß, wo sonst noch, in Gefahr gebracht.« »Ihnen wäre es doch am liebsten gewesen, wenn ich die Hände in den Schoß gelegt und mit dem Kopf genickt hätte wie eine Puppe«, bellte Solotow. »Während Nordamerika und Europa einen riesigen ökonomischen und politischen Vorsprung gewonnen hätten.« »Aber Sie hätten doch die gleichen Rohstoff- und Energielieferungen erhalten wie wir«, sagte Mercer geduldig. »Das wußten Sie doch. Es war doch so vereinbart.« »Und dann wären wir bei der Zuteilung der Rohstoffe auf Ihren guten Willen angewiesen gewesen, während Sie unsere Expansionspläne behindert hätten.« Er schüttelte den Kopf. »Wir mußten es tun. Die Bedrohung, die für uns von dieser Grenze ausgeht, ist größer als die rein ökonomische, die Sie von der Dritten Welt erfahren. Die Menschen in New York tun mir leid. Aber es geht nicht anders.«
Sie stritten sich, obwohl sie wußten, daß es sinnlos war. Sobald Shatner wußte, was in der Mandschurei passiert war, würde er den Kolben öffnen. Der Beitrag dazu war unterdrückt worden, wie Darrigan es befohlen hatte, aber vielleicht hatte Shatner die Ankündigung schon gesehen. Um zehn Uhr wurde der Bildschirm für einen Augenblick dunkel und erhellte sich dann wieder. Darrigan sah auf die Uhr. VIDEOSENDUNG: Die Seuche von Cochos. Reporter Piers Shatner. Am sechzehnten Juni dieses Jahres traf ein Mann, der sich Charles Whitlam nannte, in Sao Amerigo, der Hauptstadt von Menaguay, ein. Er sah aus wie ein vollkommen harmloser Mann, etwa Mitte fünfzig, mit einem Gelehrtengesicht und schütteren Haaren. Als er an diesem Tag in Sao Amerigo durch den Zoll ging, konnte der Inspektor die beiden großen Deodorantdosen in seinem Koffer gar nicht übersehen. Wahrscheinlich nahm er sie sogar in die Hand, ohne zu wissen, daß die Dosen nur Tarnung waren. Whitlam wußte zwar von den Kolben in den Dosen, hatte aber keine Ahnung von deren Inhalt. Er glaubte, die Kolben enthielten ein Gas namens URS. Dieses Gas… Die drei Männer sahen gar nicht mehr zu. Sie saßen da und waren wie hypnotisiert von den Ziffern, die auf der elektronischen Uhr vorbeitickten. Zehn Minuten vergingen. Elf. Zwölfeinhalb. Dreizehn Minuten fünfundvierzig Sekunden. Bei vierzehn Minuten erlosch der Bildschirm. »Er hat ihn«, jubelte Darrigan. »Er hat ihn…« Bei vierzehn Minuten und dreißig Sekunden flammte der Bildschirm wieder auf. Colonel Lopez, der Chef von SAIS, des Nachrichtendienstes von Menaguay, hatte eine erschreckende Entdeckung gemacht. Auf Befehl von Señor Bolivar, des früheren Präsidenten von Menaguay, dem geheime Informationen über eine mögliche Verwicklung der Junta in die Entstehung der Seuche, die dieses Land verwüstete, vorliegen, begann Colonel Lopez mit seinen Ermittlungen. Colonel Lopez… »Geben Sie mir Anderson. Schnell«, rief Darrigan. Als Anderson auf dem Monitor erschien, sah er noch besorgter aus. »Er ist wieder auf Sendung.«
»Wir konnten den Apparat, von dem aus er sendete, lokalisieren, Sir«, sagte Anderson. »Er stand in einem kleinen Hotel namens Greenwich Palace. Das Zimmer hatte er heute morgen gemietet. Als wir das Zimmer stürmten, war Shatner nicht da. Der Apparat war ferngesteuert. Ich nehme inzwischen an, daß Shatner in ganz New York verteilt noch zwei oder drei andere Apparate aufgestellt hat. Sobald der eine ausgeschaltet wird, übernimmt ein anderer die Übertragung. Meine Männer lokalisieren eben das Gerät, das im Augenblick sendet, Sir.« »Dieser gerissene Kerl.« Mercer schüttelte den Kopf. »Das ist ein harter Schlag. Was er bis jetzt gesendet hat, ist schon mehr als genug.« »Bevor Sie einen Shatner-Fanclub eröffnen«, sagte Darrigan müde, »sollten Sie daran denken, daß er noch immer den Kolben hat.« Solotow würdigte er keines Blickes. »Wir haben ihm jeden Grund zum Öffnen gegeben, und er ist verrückt genug, seine Drohung wahrzumachen.« Der Assistent erschien auf dem Monitor. Er sah so besorgt aus wie Darrigan und Solotow und Mercer. »Der Wind weht jetzt SW. Gleiche Geschwindigkeit. Das Wetterbüro meint, es besteht die Möglichkeit, daß er sich noch weiter nach Süden dreht.« »Aufs Meer hinaus.« Darrigan lächelte. »Noch können wir ihn schlagen. Ja.« Der Assistent wartete. »Wir erhalten die Meldung, daß die Sendung in Baltimore empfangen wurde. Aber sie kommt nicht von HBO, Sir. Ein Unabhängiger fängt Shatners Signal auf und sendet es verstärkt bis Washington und Chicago. Wir können das Signal auch nicht blockieren.« Darrigan nickte und starrte hilflos den Bildschirm an. Nun konnte sich jeder die Sendung kopieren und sie von einem zum anderen weiterreichen, bis sie um die ganze Welt gegangen war. Er konnte nichts mehr tun. Der Rat hatte das Spiel verloren, aber er mußte die Menschen in New York retten. Wie auf ein Zeichen erlosch der Monitor, den er blind anstarrte, plötzlich wieder. Diesmal jubelte er nicht. Statt dessen zählte er angespannt die Sekunden. Zehn. Zwanzig. Dreißig. Der Schirm blieb dunkel, und Darrigan schöpfte langsam wieder Hoffnung. Es waren also nur zwei Apparate. Er merkte, daß er lächelte. … und so spielte jemand ein falsches Spiel mit diesem Mann, der sich Charles Whitlam nannte. Der Kolben, von dem er glaubte, er enthalte
das Sterilisierungsgas, enthielt ihn Wirklichkeit etwas viel Tödlicheres. Sehen Sie sich den Kolben an. Er sieht eigentlich recht klein und harmlos aus. Und doch tötete er zwischen zehn und fünfzehn Millionen Menschen. Warum mußten sie sterben? Sie starben, weil der Rat glaubte, die einzige Möglichkeit, das Eintreten von TO zu verhindern, sei die Vernichtung eines Großteils der Bevölkerung in der Dritten Welt. Mit dieser Aktion haben sich die Industrienationen mit Sicherheit einen gewissen Aufschub erkauft, anders kann man es nicht sagen. Aber TO kann nicht auf ewig hinausgezögert werden. Wer wird beim nächstenmal die Rechnung bezahlen? Es könnte… Mercer griff nach dem Knopf. Darrigan sah aus, als hätte Shatners Bild ihn hypnotisiert. »Geben Sie mir Anderson«, befahl Mercer dem Assistenten. Es dauerte ein paar Minuten, bis Anderson auf dem Monitor erschien. »Ich glaube, er sendet jetzt live, Anderson. Es ist der letzte Apparat. Sie müssen ihn finden, bevor er den Kolben öffnet.« »Wir versuchen im Augenblick, das Signal zu lokalisieren.« »Viel Glück«, sagte Mercer leise. Er zweifelte nicht daran, daß Anderson sehr wohl wußte, daß auch er ein toter Mann war, wenn Shatner den Kolben öffnete. Aber er zeigte keine Angst. »Mr. Darrigan, Sir«, sagte der Assistent leise zu dem wie betäubt dasitzenden Mann. »Der Präsident möchte Sie sprechen, Sir.« Die Sendung wurde also auch auf einem Golfplatz in Kalifornien empfangen. Mercer wußte, daß er als nächster an der Reihe war. In gewisser Hinsicht war er froh und erleichtert, daß alles schiefgegangen war. Es stimmte, was Shatner gesagt hatte – der Preis war zu hoch. Aber sie hatten keine andere Wahl gehabt. Für ihn würde es nun keinen Ruhestand mehr geben. Er war zu einem Drittel verantwortlich für das, was geschehen war, und für alle noch ausstehenden Konsequenzen, die sowohl auf den Rat als auch auf die Industrienationen zukommen würden. »Mr. Mercer, Sir«, sagte der Assistent, »der Premierminister möchte…« Mercer winkte ab. »Sagen Sie den beiden, sie sollen sich einen Augenblick gedulden.« Solotow lächelte beide Männer kalt an. Zum erstenmal seit Jahren war er mit seinem Leben wirklich zufrieden. Mercer erkannte, daß Solotow
genoß, was passierte. Zweifellos würde er nach seiner Rückkehr für seine Arbeit den Leninorden erhalten. Solotow drückte auf seinen Knopf und befahl: »Geben Sie mir Moskau.« Er wartete und sah desinteressiert zu, wie Shatner auf dem Fernsehschirm moralisierte. Es dauerte lange. »Ich sagte, ich will mit Moskau sprechen«, wiederholte er wütend. Der Assistent wirkte nervös. »Tut mir leid. Keine der Verbindungen funktioniert, Sir. Wir erhalten aber Meldungen, daß in diesem Gebiet eine Rakete detoniert sei. Die Meldung konnte bis jetzt noch nicht bestätigt werden, aber ich glaube…« Solotow hörte nicht mehr zu. Er war weiß wie die Wand, und seine Hand zitterte, als er den Finger vom Knopf nahm. Darrigan drehte sich ihm zu. Es schien, als wollte er dem Russen eine Menge sagen, aber dann kam nur ein einziges Wort: »Übel.« … Als ich meine Forderung um Sendezeit bekanntgab, nannte ich als eine der nicht verhandelbaren Bedingungen, daß alle fünf Männer, die man zur Ausdehnung des Operationsgebietes ausgesandt hatte, sofort zurückgerufen würden. Ich drohte damit, daß ich ansonsten zum Abschluß meines Programms diesen Kolben öffnen würde. Es tut mir wirklich sehr leid, daß der Rat diese Bedingung ignoriert hat. Ich hatte gehofft, mit dieser Sendung allein weiteres Leiden verhindern zu können. Aber in den Neun-Uhr-Nachrichten sah ich dann, daß einer der Männer, Korda, nicht mit den anderen zurückgekehrt ist. Ohne Zweifel liegt er, ähnlich wie Charles Whitlam, tot in einem entfernten Winkel der Mongolei. Und mit ihm sind Millionen anderer Menschen gestorben. Ich entschuldige mich schon jetzt bei allen, die innerhalb der Reichweite des Virus in diesem Kolben hier sind, aber es ist notwendig, daß ich ihn öffne. Die Dritte Welt muß erkennen, daß die Menschen im Westen entsetzt sind über das Vorgehen des Rats. Ich hoffe und bete, daß die Zukunft eine menschlichere Antwort auf unsere Probleme bringen wird. Ein Bericht von Piers Shatner… Der Bildschirm wurde dunkel. Eine Minute lang herrschte Schweigen. »Glauben Sie, daß Anderson ihn rechtzeitig gefunden hat?« fragte Darrigan leise. Solotow antwortete nicht. Mercer zuckte mit den Achseln.