Science Fiction
Science Fiction Lektorat: Ronald M. Hahn Ullstein Buch Nr. 31093 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/...
98 downloads
418 Views
1007KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Science Fiction
Science Fiction Lektorat: Ronald M. Hahn Ullstein Buch Nr. 31093 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Titel der Originalausgabe: Annihilation Factor Aus dem Englischen übersetzt von Harald Pusch Deutsche Erstausgabe Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Umschlagillustration: Angus McKie Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1972 by Barrington J. Bayley Übersetzung Copyright © 1985 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Printed in Germany 1985 Scan by Brrazo 03/2008 Gesamtherstellung: Eisnerdruck GmbH, Berlin ISBN 3 548 31093 1 Januar 1985 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bayley, Barrington J.: Der Vernichtungsfaktor: Roman/
Barrington J. Bayley. [Aus d. Engl,
übers, von Harald Pusch]. Frankfurt/M; Berlin; Wien:
Ullstein, 1985.
(Ullstein-Buch; Nr. 31093:
Science-fiction)
Einheitssacht.: Annihilation
factor
ISBN 3-548-31093-1
NE:GT
Barrington J. Bayley
Der Vernichtungsfaktor Roman
Science Fiction
1. Kapitel Jundrak kam als Überbringer unsicherer Nachrichten. Die Art seiner Ankunft allerdings war alles andere als unsicher. Mit kreischenden Triebwerken fetzte er durch die fast endlose Raumfalte. Noch mehrere Lichtjahre von Smorn entfernt schaltete er den An trieb ab, um die verbliebene Strecke mit immer noch unwahrscheinlicher Geschwindigkeit entlangzustür zen. Schließlich benutzte er die negative Energie, um zu einem abrupten Stillstand zu kommen. Seine Navigation erwies sich als präzise. Er konn te jetzt genau auf Peredans fünfzig Jahre altes Lager hinabschauen, ohne daß es nötig gewesen wäre, seine Position auch nur um einen einzigen Meter zu korri gieren. Das winzige Imperium des angeblichen Prin zen lag, erstaunlich deutlich zu erkennen in dieser kristallklaren Luft, ein paar hundert Meter unter ihm ausgebreitet. Alles war so, wie er es erwartet hatte: steif, bunt und geschäftig. Prächtig bemalte Raumschiffe stan den auf dem Startplatz. Hübsche Pavillons, in engen Halbkreisen angeordnet, erstreckten sich über zehn Meilen und schienen einen Wirbel zu bilden rund um die Quartiere, Baracken und die ungeheuren Mengen an Ausrüstungsmaterial der stets kampfbereiten Ver teidigungskräfte. Auf einer Seite des Lagers ragten, groß wie Wohnblocks und mit roten Plastikplanen überzogen, die mit Waffen und militärischem Zube 6
hör aller Art gefüllten Hallen auf – Peredans Lebens zweck. Die gesamte Ausrüstung war einsatzbereit. Nur der Einsatzbefehl war nie gekommen. Im gleichen Moment, in dem sein Schiff über der Basis erschien, erhielt Jundrak eine kostenlose De monstration der militärischen Effektivität des Lagers. Sechs Warnraketen explodierten um ihn herum: je eine über und unter ihm und die übrigen an allen vier Seiten. Er war beeindruckt, wenn auch nicht über rascht. Ein paar gefährliche Sekunden lang zögerte er, setzte aber schließlich zu einer langsamen Lan dung am Rande des Startplatzes an. Die Raketen waren nicht die einzige Vorsichts maßnahme gewesen. Ein eigentümlicher Druck be fiel seinen Körper, als er die Hände von den Kontrol len nahm, und quer über seinem Nasenrücken emp fand er einen sonderbaren Schmerz. Er kannte dieses Gefühl. Ein Sperr-Feld hatte sein kleines, glocken förmiges Schiff erfaßt. Unter diesen Umständen würde kein Gerät inner halb des Schiffes arbeiten. Versuchsweise betätigte er den Türöffner. Nichts. Er würde sie manuell öff nen müssen. Was immer auch geschehen würde, er war jetzt hilflos. Allerdings bestand kein Anlaß zu besonderer Unruhe – er war eher als Bote denn als Feind ge kommen. Er legte seine Hände auf die Türverriegelung. Ein leichter Druck, und die Kabinenwand schwang hinab 7
und berührte den Boden. Er trat hinaus, reckte seinen Körper und atmete tief in der belebenden, sauerstoff reichen Luft. Dann betrachtete er sein Schiff, dessen goldene Silhouette unangemessen klein wirkte vor den monströsen, jenseits des Lagers aufragenden Schlachtkreuzern. Er hatte das geheimnisvolle glo ckenförmige Schiff absichtlich ausgewählt, weil er genau wußte, daß es den Rebellen höchst sonderbar erscheinen mußte. Sie würden beeindruckt und er staunt darüber sein, daß dieses kleine Boot die glei chen Reisen machen konnte wie ihre riesigen Schlachtschiffe. Da sie seit fünfzig Jahren in der Iso lation lebten, hatten sie höchstwahrscheinlich noch nichts von der neuartigen Antriebsart gehört, die na türliche Raumfalten, auch Schlupflöcher genannt, ausnutzte und es seinem zerbrechlich wirkenden, kleinen Glockenschiff erlaubte, die Galaxis zu durch reisen. Zwei Männer erwarteten ihn bereits, gekleidet in Hemden und Hosen aus schimmernder schwarzer Raumseide und mit Laser-Pistolen an den schmalen Hüften. Wie alle Offiziere Peredans trugen sie keine Hoheitszeichen. »Ich bin hier, um mit Peredan zu sprechen«, sagte Jundrak ohne lange Vorrede. »Prinz Peredan«, antwortete der kleinere der bei den, »redet nicht mit jedem hergelaufenen Raum tramp. Wollen Sie sich anwerben lassen?« Jundrak schaute den Mann direkt an. »Ersparen Sie mir das Geschwätz«, sagte er mit harter Stimme. 8
»Ich bin Jundrak aus der Familie Sann – alten Freun den von Peredans Vorfahren. Und jetzt bringt mich zu ihm.« Der Offizier lächelte schief. »Viele alte Freunde sind heutzutage nicht mehr so freundlich. Aber wie auch immer, der Prinz wird von Ihrer Ankunft unter richtet werden. Zuvor müssen wir allerdings um Ihre Waffen bitten.« Jundrak griff in seine Kleidung und übergab ihnen einen hochfrequenten Neutronenstrahler, einen schmalen Dolch sowie eine handliche Version des Standard-Energiewerfers. Der Offizier überprüfte die Sachen, lächelte abermals und gab die letzte Waffe höflich zurück. »Dies hier können Sie behalten. Ein Energiewerfer wird nirgendwo innerhalb des Lagers funktionieren.« Genau das hatte Jundrak bereits erwartet. Seine durch langes militärisches Training verfeinerten Sin ne meldeten zahlreiche durch die Luft vibrierende Energiearten. Er hatte sogar erhebliche Zweifel, ob sich der Neutronenstrahler als sonderlich effektiv erweisen würde – aber natürlich wollten die Offiziere nicht alles enthüllen. Sie legten den Weg zu Peredans Zelt schweigend zurück. Interessiert betrachtete Jundrak die Kon struktion. Sie wirkte wie ein Märchenpalast aus Plas tikdraperien, Planen, Türmen und Kuppeln, die un tereinander farblich abgestimmt waren. Das Plastik material war speziell präpariert worden, um es hart und dauerhaft zu machen, und Jundrak hegte keinen 9
Zweifel, daß dieses »Zelt« die Solidität von Granit besaß. Die provisorische Erscheinung des Lagers war eine Illusion. »Warten Sie hier«, sagte der größere Offizier, während er hineinging und Jundrak in der Obhut sei nes Kameraden ließ. Als er zehn Minuten später wieder erschien, schaute er weniger selbstsicher drein als zuvor. Wortlos nickte er und machte eine einladende Bewe gung. Jundrak folgte ihm durch den überdachten Eingang ins Innere des Zeltes. Hier wurde Jundraks erster Eindruck bestätigt. Sie gingen durch weite Hallen und endlos erscheinende Gänge, gehalten in grünen, blauen oder gelben Pas telltönen und sanft erleuchtet von erfrischend küh lem, grünem Licht. Die Wände selbst trugen kaum Verzierungen, aber die Möbel – Tische, Stühle und Truhen – waren hervorragend gearbeitet, ebenso wie zahlreiche andere Gegenstände, deren Zweck Jun drak zwar nicht erkannte, in denen er aber Kommu nikatoren und Datenspeicher und dergleichen vermu tete. Peredan hatte Zeit gehabt, sich luxuriös einzu richten. In Seide gekleidete Offiziere schauten gleichgültig auf, als er vorüberschritt, aber der Mann an Jundraks Seite ignorierte sie. Tiefer im Zelt wurde die Atmosphäre ruhiger, küh ler und auch öder. Zum ersten Mal sah Jundrak Frauen – junge Frauen, die an langen, teuren Tischen saßen und offensichtlich nichts taten. Sekretärinnen? über legte er. Mätressen? Oder einfach nur Zierat? 10
Am Ende einer langen Halle hielt der Offizier vor einer Art Eingangstür. »Gehen Sie hinein«, sagte er. Jundrak drückte gegen die Holztäfelung. Die Tür schien in glitzernde Bruchstücke zu zerspringen und verschwand. Dahinter lag Peredans Büro. Er trat ein, während hinter ihm die Tür wieder ent stand. Peredan erwartete ihn neben einem polierten Tisch stehend, die Fingerknöchel leicht auf die la ckierte Oberfläche gestützt. Die beiden Männer blickten einander an, Jundrak höchst aufmerksam, Peredan hingegen mit lediglich beiläufigem Interesse, als ob ein Teil seiner Gedan ken andernorts sei. Jundrak zog seine schwarzen Handschuhe aus und legte sie auf den Tisch – eine nach militärischen Gepflogenheiten entgegenkom mende Geste, die andeuten sollte, daß er keine ver steckten Waffen an den Fingern trug. »Ich gebe zu, daß ich schon lange den Wunsch hegte, einen Blick auf dieses Lager zu werfen«, sagte er mit sanfter Stimme. Er erinnerte sich daran, Prinz Peredan gesehen zu haben, als er noch sehr jung ge wesen war. Damals hatte ihn sein Vater zum königli chen Palast gebracht, um ihn bei Hofe einzuführen. Aus irgendeinem Grund hatte Peredans Gesicht da mals einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und jetzt betrachtete er es sehr aufmerksam, um zu sehen, ob er eine Veränderung entdecken konnte. Die Züge des Prinzen waren noch immer weich und jugendlich und ließen ihn eher wie einen siebzigjährigen Jüngling erscheinen, statt die dreihundert Jahre zu verraten, 11
die er tatsächlich gelebt hatte. Doch auf den zweiten Blick erwies sich die Jugendhaftigkeit als künstlich. Wie Jundrak später herausfand, änderte sich das Ge sicht mit den Umständen und der Gefühlslage, so daß mitunter der Eindruck entstand, er habe einen ganz anderen Menschen vor sich. Selbst jetzt huschte eine kurze Änderung der Stimmung über die Züge des Prinzen und verwandelte ihn in einen älteren, sor gengebeugten Menschen. »Diesen Wunsch werden schon viele Militärs ver spürt haben – aus den verschiedensten Gründen«, raunzte Peredan mit sonderbar schwacher Stimme. »Sagen Sie mir, weshalb Sie hier sind.« Jundrak richtete sich auf, schlug die Hacken zu sammen und neigte den Kopf zu einer steifen Ver beugung. »Ich bin der offizielle Gesandte Seiner Ma jestät König Maxims. Seine Majestät hat mich beauf tragt, Ihnen und Ihren Anhängern volle Amnestie in Verbindung mit generöser Wiedergutmachung anzu bieten, sofern Sie bereit sind, in einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit mit uns zu kooperieren.« »Eine Amnestie!« Der Prinz betrachtete ihn un gläubig und amüsiert. »Ist das ernst gemeint? So leicht wird Maxim mich nicht loswerden!« »Etwas … hat sich erhoben«, sagte Jundrak schwerfällig und überlegte, wie er das Thema ange hen sollte. »Etwas, das uns zwingt, unsere Differen zen beizulegen und uns gegen diese Bedrohung zu sammenzuschließen.« »Erklären Sie das.« 12
»Das Königreich ist von der Vernichtung be droht.« Jundrak holte tief Luft, bevor er weiter sprach. »Eine unbekannte Lebensform ist in den Nordost-Sektor eingedrungen. Sie steht der mensch lichen Rasse außerordentlich feindselig gegenüber. Alle unsere Verteidigungsbemühungen vermochten sie nicht aufzuhalten … wir müssen ein Bündnis schließen und gemeinsam kämpfen!« »So«, sagte Peredan nachdenklich, »eine Invasion von Aliens!« Er wirkte interessiert, aber kaum über rascht oder gar beunruhigt. »Nicht ganz. Zunächst vermuteten wir das auch, aber soweit wir jetzt wissen, ist der Eindringling ein einzelner Organismus, der sich durch den Raum be wegt. Ja, nicht einmal ein Organismus, mehr ein … also, man nennt es den Fleck. Zuerst hielten es die Wissenschaftler nicht einmal für eine Einheit, son dern eher für einen sich bewegenden Raumsektor mit ungewöhnlichen Eigenschaften. Sie wurden jedoch gezwungen, ihre Ansicht zu ändern. Seine Größe ist unbestimmt, aber seine Bewegungen deuten auf ei nen Willensakt hin.« »Und?« »Wie es scheint, ernährt es sich von Lebensener gie. Planeten, die durch es hindurchwandern, bleiben völlig ausgestorben zurück! Menschen, Tiere, selbst die Pflanzen! Alles ist tot!« Ein Unterton des Schre ckens mußte in seiner Stimme mitgeschwungen ha ben, denn Peredan fröstelte und sah düster drein. »Meine Beobachter meldeten mir ungewöhnliche 13
Vorgänge im Nordost-Sektor, aber ich schenkte dem wenig Aufmerksamkeit. Mit Sicherheit erwähnten sie aber nichts dieser Art.« »Alle Nachrichtenmedien werden natürlich rigoros zensiert und alle Gerüchte unterdrückt. Außerhalb der betroffenen Welten wissen nur wenige Menschen von der Sache.« »Und wie viele Welten sind bisher vernichtet wor den?« »Das wissen noch weniger Leute. Ich würde sa gen, nicht mehr als fünfzig.« »Nicht mehr als fünfzig!« Peredan wirkte wie be täubt. »Maxim würde natürlich erst ernstlich beunru higt sein, wenn mindestens die Hälfte der Mensch heit ausgelöscht wäre. Typisch!« Der Prinz schritt ruhelos auf und ab, sein einfaches, violettes Gewand bauschte sich hinter ihm. »Immerhin hat er seine Un fähigkeit eingestanden, indem er Sie hierher schickte. Erzählen Sie mir, was bis jetzt gegen die Bedrohung unternommen wurde.« Kurz zählte Jundrak auf, welche Maßnahmen die königlichen Streitkräfte bei ihren immer verzweifel ter werdenden Versuchen, mit dem Unbekannten fer tig zu werden, ergriffen hatten. Die LangzeitBomben (aufeinanderfolgende nukleare Explosionen über einen Zeitraum von einem Monat), die gewalti gen Gammastrahl-Projektoren (zu horrenden Kosten extra angefertigt.) Der Fleck hatte alles geschluckt, ohne eine erkennbare Reaktion zu zeigen. Gewaltige 14
Mengen radioaktiven Materials, die ihm in den Weg gelegt wurden, machten ihm ebenfalls nichts aus. Es gab sogar eine Theorie, wonach der Fleck diese Kit zeleien mochte. Jundrak vergaß auch nicht, von den bewaffneten Raumschiffen zu berichten, die er verschlungen hatte. Peredan senkte den Blick, als er seinen Bericht been dete. »So etwas hat es nie zuvor gegeben. Was erwartet Maxim von mir?« »Sicher muß ich darauf nicht antworten. Die Hilfsquellen hier sind beträchtlich. Und abgesehen von der Bewaffnung, zu der möglicherweise auch uns noch unbekannte Neuentwicklungen zählen, be finden sich einige der besten Wissenschaftler in Ih rem Gefolge. Der Bestand des Königreiches steht über politischen Streitigkeiten.« »Maxim denkt also, er könne einen Notstand aus nutzen, um mich zu schlucken.« Peredan lächelte verächtlich. »Sagen Sie ihm, wenn die Sicherheit des Reiches tatsächlich sein Hauptanliegen ist, dann soll er seine Streitkräfte meinem Befehl unterstellen – und ich werde sofort handeln.« »Er wird dem kaum zustimmen.« »Und genausowenig werde ich einer Sache zu stimmen, die auf das gleiche hinausläuft.« Festgefahren. Jundrak hatte gewußt, daß es dazu kommen mußte. Er hatte sogar fest damit gerechnet. Dennoch spielte er den Schockierten. »Frieden und Sicherheit sind immer Ihr Wahlspruch gewesen. 15
Wieviel ist er noch wert, wenn Sie abseits stehen können, während ganze Systeme vernichtet wer den?« »Maxim ist der Usurpator, nicht etwa ich oder mein Vater.« »Aber wer weiß? Vielleicht … in der allgemeinen Aufregung könnte sich die Gelegenheit ergeben, Maxim abzusetzen und Ihrem Vater den Thron wie derzugeben.« Jundraks Stimme klang jetzt schmei chelnd, fast listig. »Vielleicht! Wenn meine Strategie auf einem Viel leicht beruhen würde, hätte ich nicht die letzten fünf zig Jahre hier auf Smorn gesessen, weit entfernt vom Zentrum der Macht.« Peredan machte eine gleichgül tige Handbewegung. »Mit dem, was wir hier haben, könnte ich schon jetzt das Reich herausfordern. Aber ich werde meine Hilfsmittel nicht aufs Spiel setzen und die Galaxis mit einem neuerlichen Bürgerkrieg überziehen, solange ich nicht die Gewißheit des Sie ges habe. Junger Mann, ich spiele, um zu gewinnen. Also glauben Sie nicht, ich würde meine Kräfte für andere Ziele vergeuden, oder diese Organisation könnte für einen anderen Zweck eingesetzt werden als für jenen, für den sie geschaffen wurde.« Er beendete die kurze Rede in einem ruhigen, fast belanglosen Ton. Während dieser Rede aber gewann Jundrak seinen ersten richtigen Eindruck von diesem Mann: Einen Eindruck von Härte unter dem schlaf fen Äußeren, von einem halsstarrigen, fast verzwei felten Willen. Dies war ein Mann, der niemals 16
zugeben würde, auf verlorenem Posten zu stehen, und dessen Fanatismus seine Gefolgsleute zu uner schütterlicher Treue getrieben hatte. »Wie dem auch sei«, fügte der Prinz hinzu, »Ihr Vorschlag scheint kaum zu Ihrer Rolle als Maxims Botschafter zu passen.« »Vergeben Sie mir, Hoheit. Ich sprach nicht als Botschafter, sondern als Privatperson.« Peredan hob kaum merklich die Augenbrauen. Er wandte sich einer schmalen Täfelung in der Wand zu und entnahm ihr zwei Gläser und eine Flasche. Wäh rend er Jundrak zu einem Stuhl wies, schenkte er aus der Flasche eine grüne Flüssigkeit ein und fügte Wasser hinzu. Die Flüssigkeit wurde milchig. »Pernod«, sagte er. »Ein altes Getränk aus einer längst vergangenen Zeit – und eine erfreuliche Berei cherung des Lebens. Ein Freund, der Herzog von Re turse, entdeckte das Rezept kurz vor unserem Gang ins Exil. Aus diesem Grund ist dieses Lager der ein zige Ort im ganzen Universum, wo man es bekom men kann.« Jundrak nippte an dem Getränk. Es hatte einen an genehmen, erfrischenden Anisgeschmack. »Jetzt erzählen Sie mir, was die Menschen in die sen dunklen Jahren von mir halten, diese von Maxim unterdrückten Milliarden.« Peredan setzte sich Jun drak gegenüber und gab sich keine Mühe, anders als ausschließlich hämisch zu wirken. »Es ist schwierig, die Meinung des Volkes heraus zufinden. Die königlichen Streitkräfte sehen in Ihnen 17
natürlich eine Gefahr – wenn auch nicht die absolute Gefahr. Offiziell könnte man mit Ihnen fertig wer den, man läßt Sie aber in Frieden, um keine Unruhen auszulösen.« »Propaganda. Sie sind noch nicht hergekommen, weil sie es nicht wagen. Sprechen Sie vom Volk.« »Ich glaube, man verliert Sie langsam aus dem Gedächtnis.« »Natürlich.« Peredan wirkte bitter. »So wird es sein. Es war zu erwarten. Aber alles wird sich än dern, wenn ich erst den Usurpator besiegt und meiner Familie wieder zum Thron verholfen habe. Sie wer den sehen, es wird sich ändern. Aber erzählen Sie von sich selbst. Sie müssen zur Zeit des Bürgerkrie ges noch ein Junge gewesen sein. Ich erinnere mich an Ihren Vater; ein loyaler Herzog, er starb unter dem Banner des alten Königs. Sie selbst sind offen bar ein Herzog des neuen geworden. Wenn ich mich recht entsinne, ist Ihre Loyalität gegenüber dem neu en Herrscher in Unimm niemals bezweifelt worden.« »Und doch … meine Gefühle für die alte Ordnung sind noch nicht gestorben.« Jundrak fühlte sich un behaglich. Es war ihm bewußt, daß er gefährlichen Boden betrat. »Meine Familie und die Ihre waren unter der alten Monarchie enge Freunde. Ich habe das nicht vergessen.« »Würde es Ihnen gefallen, diese Monarchie wieder aufleben zu sehen? Reden Sie ruhig frei, Maxim kann Sie hier nicht hören.« Jundrak gab keine Antwort. 18
»Nun gut«, fuhr der andere gelassen fort, »versu chen wir es auf einem anderen Weg. Wollen Sie mich – als loyaler Offizier der königlichen Streitkräfte – vernichtet sehen? Antworten Sie jetzt. Früher oder später muß sich jeder für den einen oder anderen Weg entscheiden.« »Es ist meine Pflicht, Sie besiegt zu sehen.« »Gut gesagt!« antwortete Peredan bitter. »Und dennoch … König Maxim ist ein Empor kömmling. Seine Herrschaft ist ein Flickwerk aus Not lösungen und stürzt Tausende von Planeten in wirt schaftliche Schwierigkeiten. Ihre Familie hingegen bietet die Stabilität einer tausendjährigen Monarchie – und den rechtmäßigen Anspruch auf den Thron.« »Eine Stabilität, die so groß war, daß das ganze Reich auseinanderbrach«, höhnte Peredan. »Es wäre mir lieber, Sie würden nicht länger versuchen, mich auszustechen. Reden wir lieber von der Wirklichkeit. Sie erwähnten die Rechtmäßigkeit? Maxim selbst entstammt dem Hochadel. Das Haus Grechen erhebt Anspruch auf den Thron aufgrund der Heirat seiner Mutter mit meinem Großvater. Er hat eine ganze Horde von Anwälten darauf angesetzt, seinen An spruch gegen den unseren auszuspielen. Und was Stabilität und Sicherheit betrifft – hat nicht Maxim sein Bestes getan, diese Dinge zu gewährleisten? Strenge Maßnahmen gegen Ungehorsam, eine wohl bewaffnete Armee, sogar die Beschneidung der Rechte der Oligarchie sowie die Vergabe von Teilen ihrer Güter an die Armen.« Er lächelte säuerlich. 19
»Kluge Maßnahmen. Zwar nicht ein Bruchteil des sen, was wirklich hätte getan werden müssen, aber immerhin ausreichend, um die Massen für einige Zeit ruhig zu halten. Und so betrachtet, bin da nicht ich es, der die Gefahr für den Frieden darstellt? Ich un terhalte eine Privatarmee. Ich beabsichtige zugege benermaßen einen umfassenden Aufstand. Ich warte auf meine Chance, Zerstörung zu bringen.« Er versucht mich auszuhorchen, dachte Jundrak, indem er Maxims Fürsprecher spielt. »Wenn Sie wirklich so denken«, sagte er unge rührt, »weshalb wechseln Sie dann nicht die Seiten?« Der Prinz lachte. »Ein Mann wie Sie könnte mir hilfreich sein. Es wäre ein wahrer Schatz an Informa tionen, den Sie, als hochrangiger Offizier, mir liefern könnten. Die Feuerkraft von Maxims Armeen. Wel che neuen Waffen er besitzt. Und, wichtiger noch, das Geheimnis des neuen Raumantriebs, der Sie her brachte. Ich hörte, Ihr Schiff habe eine ziemlich unüb liche Form und sei überdies erstaunlich klein für eine derartige Reise. Tatsächlich ist die Lagerverteidigung über die Geschwindigkeit, mit der Ihre Annäherung erfolgte, etwas außer Fassung geraten. Wie Sie wis sen, versucht Ihre Seite immer wieder, eine Nuklear bombe durch unsere Schirme zu jagen. Sie hatten eine gute Chance, schon am Rand des Systems in Staub verwandelt zu werden, bevor wir uns davon überzeugt hatten, daß Sie unbewaffnet gekommen sind.« »Es tut mir leid.« Jundrak erhob sich und benahm sich wieder steif und formell. »Meine Sympathien 20
für Ihre Seite berühren keineswegs meine Loyalität als Offizier. Ich bin nicht käuflich.« »Ich hätte Sie unter Arrest stellen und Ihr Schiff bis zur letzten Schraube analysieren lassen können.« »Das wäre eine erhebliche Verletzung der diplo matischen Immunität!« protestierte Jundrak entrüstet. Er hielt es für unnötig zu erwähnen, daß sich das glockenförmige Schiff schon bei der geringsten Ma nipulation selbst zerstören würde, zumal er sicher war, daß auch Peredan mit dieser grundsätzlichen Vorsichtsmaßnahme rechnete. »Das Amnestieangebot Seiner Majestät bleibt für drei Monate bestehen. Vielleicht werden wir uns abermals treffen.« Er wandte sich um, aber Peredan rief ihn zurück. »Warten Sie. Es gibt etwas, das Sie für mich tun können.« Jundrak betrachtete ihn mißtrauisch. »Nichts Unehrenhaftes«, versicherte der Prinz. »Kennen Sie einen Mann namens Grame Liber?« »Der Historiker? Man sieht ihn gelegentlich bei Hofe.« »Geht es ihm gut?« »Ich glaube schon. Ich kenne ihn kaum.« »Er ist ein alter Freund von mir. In den letzten fünfzig Jahren habe ich fast nichts von ihm gehört. Ich würde es für einen großen Gefallen halten, wenn Sie ihn an meiner Stelle aufsuchen würden.« »Ja, natürlich.« »Bestellen Sie ihm bitte meine Grüße. Ich bin si 21
cher, Sie werden nichts tun, was dem alten Mann schaden könnte. Und zweifellos werden Sie gut mit ihm auskommen.« Jundrak fühlte sich seltsam berührt. Er zögerte und kam dann zu einem plötzlichen Entschluß. »Es gibt noch etwas, das ich für Sie tun kann«, sagte er. »Maxim würde mich töten, wenn er davon wüßte, deshalb hoffe ich, auf Ihre Diskretion vertrau en zu können.« Peredan nickte. »Ich habe strengste Anweisung, Ihnen dies nicht mitzuteilen. Der Fleck bewegt sich in dieser Rich tung. Sie sollten das Lager besser sofort verlegen.« Peredan sah plötzlich sehr, sehr alt aus. »Wieviel Zeit bleibt uns?« »Manchmal bewegt er sich schnell, manchmal langsam.« »Hierdurch erhält alles ein anderes Gesicht, sogar Maxims Motive. Danke.« Er schaute Jundrak scharf an. »Was, um alles in der Welt, hat er sich dabei ge dacht, als er Sie für diesen Auftrag auswählte?« Jundrak zuckte die Achseln. »Er ist in vielerlei Hinsicht ziemlich sorglos. Er braucht jemanden, den Sie um der alten Zeiten willen anhören würden, je manden, der zu einer alten, angesehenen Familie ge hört – wie etwa dem Haus Sann. Sie sehen, selbst Maxim wird nervös.« Er verließ einen nachdenklich an seinem Pernod nippenden Peredan.
22
Als Jundrak von Smorn gestartet war, berührte Pere dan einen der farbigen Knöpfe, die in die Ecke der Tischplatte eingelassen waren. Eine andere Stelle der Tischoberfläche wurde stumpf und verwandelte sich dann in das farbige Bild einer jungen Frau mit grün gefärbtem Haar. »Geben Sie mir General Drap«, befahl er. »Ja, Hoheit.« Der Blick des Mädchens senkte sich auf die vor ihr befindlichen Kontrollen. Ihr Bild verschwand und wurde durch Draps frisches, rundliches Gesicht er setzt. »Hoheit!« »Drap«, sagte Peredan, »gerade war ein junger Mann aus Unimm hier. Ich möchte die Richtigkeit einer Sache überprüfen, die er mir erzählt hat. Sobald er außer Reichweite ist, entsenden Sie ein Schlacht schiff zum Nordost-Sektor …« Er machte weitere Angaben und entließ Drap. Eine Stunde später ertönten die Warngongs. Eines der großen, jenseits der Zelte ruhenden Schlachtschiffe hob mit heulenden Startsirenen ab und entschwand in den tiefen Raum, hervorragend gegen Suchstrahlen abgeschirmt. Unterdessen saß Prinz Peredan in seinem Arbeits raum und widmete sich dem gewohnten Ritual, seine Gedanken zu sammeln und seine Gefühle zu analy sieren. Wie stets kostete es ihn Mühe, die Verzweiflung, die ihn wiederholt überkam, zu bekämpfen. Alle Ge 23
spräche wie jenes, das gerade hinter ihm lag, ließen ihn mit dieser Empfindung zurück. Diplomatie, Poli tik, Manöver, alles, was die Natur eines Spiels auf wies, in dem menschliche Wesen die Figuren waren, erregte seinen Widerwillen und war weit entfernt von seinen tatsächlichen Vorlieben. Seiner Neigung nach war er Wissenschaftler, und wäre nicht der unglück liche Verlauf der jüngsten Geschichte gewesen, hätte er zweifellos sein Leben mit Studien verbracht und sich seinem Lieblingsprojekt gewidmet, einer Analy se der Phänomenologie historischer Zivilisationen. Doch die Loyalität gegenüber seiner Familie, dem Haus Lorenz, seine Verbundenheit mit dem altherge brachten Recht und sein Haß auf Maxims Tyrannei und dessen angeschlagene, auf Gewalt gestützte Herrschaft hatten es ihm unmöglich gemacht, ein derartiges Leben zu führen. Statt dessen hatten ihn die Umstände gezwungen, sich mit Strategie und Menschenführung zu beschäftigen. Seit das Haus Grechen die Thronbesteigung seines Vaters in Frage gestellt und sich die Auseinandersetzung zu einem das ganze Reich umfassenden Bürgerkrieg ausgewei tet hatte, war er gezwungen gewesen, genau das Spiel zu spielen, das er bislang nur verachtet hatte. Nach der ersten Niederlage hatte er alle Möglich keiten ausgeschöpft, die ihm geblieben waren. Er hatte die loyalen Überreste der Armee zur effizien testen Organisation zusammengeschweißt, die je exi stiert hatte. Mit der Zeit war aus ihr eine hervorra gend funktionierende Maschine mit enormer Macht 24
geworden, ein Speer, der ununterbrochen auf das Herz des Reiches zielte. Und geduldig hatte er den richtigen Moment erwartet, um ihn auf seinen Weg zu schicken. Das Verhalten seines letzten Besuchers bestärkte ihn in der Vermutung, daß Maxims Regime im Kern verfault war und von falscher Loyalität gestützt wur de, die lediglich auf Bequemlichkeit und persönli chen Vorteilen beruhte. Maxim dürfte ziemlich damit beschäftigt sein, dieses Gebilde aufrechtzuhalten, dachte er. Ein guter Tritt, und alles würde zusam menbrechen. Und doch waren solche optimistischen Gedanken gefährlich. Ob korrupt oder nicht, noch immer konn te Maxim auf die Hilfsmittel des Reiches zählen. Pe redans Chancen, den Coup zu landen, von dem er träumte, waren noch zu gering, um das Spiel bereits in diesem Stadium zu wagen. Jäher Angriff würde lediglich einen weiteren, blutigen Konflikt auslösen, in dem man ihn – wenn auch unter Schwierigkeiten – zum zweitenmal besiegen würde. Wo, überlegte er schmerzlich, war der Große Plan, der unwiderstehliche Zug, der das Schachmatt be deutete? In der nächsten Generation würde es zu spät sein. Zu viele Milliarden würden dann der anderen Seite angehören. Wie viele mochten es schon jetzt sein? Peredan wußte es nicht. Nachrichten aus dem Reich waren in diesen Zeiten schwer zu erhalten.
25
2. Kapitel Das Sternenreich erstreckte sich grob gerechnet über ein Fünftel der Galaxis, von den GarloweSternhaufen im Norden bis zu den Schleiern der Dunkelheit – massiven schwarzen Wolken aus Staub und Gas – im Süden. Angesichts dieser Ausdehnung waren bewohnbare Planeten zwar selten, insgesamt aber doch so zahl reich, daß sie nach Zehntausenden gezählt werden konnten. Die exakte Anzahl der zum Reich gehören den Welten war eine Angelegenheit der Statistiker: der Durchschnittsbürger kümmerte sich nicht um die Größe der Gesellschaft, der er angehörte, denn für ihn war das Reich gleichbedeutend mit dem Univer sum. Es gab keine anderen Reiche, und er konnte sich dergleichen auch nicht vorstellen. Er wußte le diglich, daß zahlreiche Schiffe durch die Dunkelheit pendelten, um die über Tausende von Lichtjahren verstreuten Provinzen miteinander zu verbinden; Provinzen, die – zumindest theoretisch – dem die blauweiße Sonne Rigel umkreisenden Thron Treue schuldeten. Das Reich hatte keinen besonderen Na men: es war einfach »das Reich«. In weiten Bereichen verlor jedoch die Zentralge walt an Einfluß. Für viele von Maximilia – oder Unimm, wie es früher hieß – weit entfernte Systeme war der Bürgerkrieg kaum mehr als ein vages Ge rücht gewesen, und der Wechsel der Herrscherfamilie 26
hatte wenig Interesse hervorgerufen. In ihrem Fall bedeuteten die üblichen Steuern nichts anderes als eben Steuern. Hier in Maximilia jedoch war Politik von höchster Wichtigkeit. Jundrak wußte, daß er König Maxim Bericht erstatten mußte, sobald sein Glockenschiff in der Inneren Stadt gelandet war. Er ließ das Schiff in der Obhut von Spezialisten, die als Geheimnisträger vereidigt worden waren, ging zu seinem Quartier, um sich frisch zu machen, und meldete sich dann. Der König war bereits über seine Ankunft infor miert worden. Jundrak wurde in ein privates Gemach geführt, wo der König ungeduldig auf die Neuigkei ten wartete. »Ist es erledigt?« »Ja, Euer Majestät.« »Gut!« kicherte der König mit einem jovialen Glitzern in seinen strahlendbraunen Augen. Trotz all seiner Schläue und Doppelzüngigkeit verfügte der König unzweifelhaft über natürlichen Charme. Sein Gesicht, obgleich grundsätzlich eher düster, konnte doch sehr leicht Freude ausdrücken. Zweifellos war er auffällig genug, um überall be merkt zu werden, mit dem schmalen, dünnen Mund, der vorstehenden, knochigen Nase und den weit aus einanderliegenden, starken Augen, die wirkten, als wollten sie jedermann in Schach halten. Überdies trug er das Haar schulterlang, obwohl kurzgeschnit tenes Haar seit Jahrhunderten üblich gewesen war. Mitunter wirkte er leicht verrückt, wenn er mit den 27
Lippen blubberte, die Augenbrauen in übertriebener Weise hochzog und an seiner langen, scharfen Nase vorbeischielte. Es gab manche, die beteuerten, der König sei tatsächlich verrückt. Für die meisten war er jedoch lediglich ein Komiker, ein lustiger Mo narch, dessen Clownerie möglicherweise eine tief greifende Melancholie enthüllte. »Wie befohlen, bot ich Peredan die Amnestie an. Natürlich lehnte er ab. Er schien nicht zu argwöhnen, daß das Angebot lediglich ein Vorwand für meinen Besuch war.« »Trotzdem wird es ihn ein bißchen nervös ma chen, nehme ich an. Und wie sieht’s aus? Ist die Spur gelegt?« »Alles ging perfekt. Ich kreuzte den Weg des Flecks und flog von dort aus durch die Schlupflöcher zu Pere dans Lager auf Smorn. Die Instrumente bestätigten, daß die Schlupflöcher ausreichend verstärkt wurden.« »Gut! Gut!« Selbst Jundrak, der sich für durchaus erfahren hielt in der Kunst der Doppelstrategie, mußte Maxim für diese besonders gelungene Hinterlist bewundern. Sein Plan war scheußlich bis zum Extrem. Man hatte herausgefunden, daß die fremdartige Wesenheit, die das Reich bedrohte und von den Aufklärungsmann schaften als »Fleck« bezeichnet wurde, eine Fortbe wegungsmethode benutzte, die der der neuen Schlupfloch-Schiffe ähnelte, um sich mit Überlicht geschwindigkeit entlang der natürlichen Raumfalten zu bewegen. Es gab jedoch einen Unterschied. Wäh 28
rend der Fleck die Schlupflöcher unverändert ließ, wurden sie durch die Passage der Schiffe verstärkt. Und der Fleck zeigte die Neigung, diesen intensivier ten Raumfalten zu folgen. Zuerst hatten die Untersuchungsteams versucht, diese Entdeckung zur Lenkung des Flecks zu benut zen, indem sie einen Pfad durch das Labyrinth der galaktischen Raumfalten zogen, der ihn von den be wohnten Welten fort und aus dem Reich hinausfüh ren sollte. Doch der Fleck zeigte eine Hartnäckigkeit, die zu den wichtigsten Beweisen gehörte, daß er so etwas wie ein rudimentäres Bewußtsein aufwies; er hungerte nach bewohnten Planeten. Wenn das künst lich verstärkte Schlupfloch nicht zu einem derartigen Planeten führte, handelte er offenbar nach eigenem Ermessen und schlug eine andere Richtung ein. Die Teams konnten daher auswählen, welche Pla neten vernichtet werden sollten, aber mehr auch nicht. Dieser wenig erfreuliche Umstand hatte zu verzweifelten Auseinandersetzungen zwischen Adli gen und Industriellen geführt, die ihre wirtschaftli chen Interessen bedroht sahen. Dann hatte König Maxim seine brillante Idee entwickelt. Indem er ein Schlupfloch-Schiff nach Smorn schickte, konnte er seinem alten Feind den Fleck auf den Hals jagen. Der König brach in Gelächter aus. »Er wird nie herausfinden, was ihn getroffen hat! Ich sende die 4. und 5. Flotte dorthin, für den Fall, daß er Wind von der Sache kriegt und zu fliehen versucht. So oder so, Peredan ist erledigt!« 29
Ein einziger Punkt interessierte Jundrak noch. »Was wäre gewesen, wenn Peredan die Amnestie akzeptiert hätte?« Der König zuckte die Achseln. »Wenn er dumm genug ist, seine Schiffe in dieses Ding zu schicken, dann verdient er auch, was er bekommt. Egal wie, ich konnte nicht verlieren. Ach, übrigens … Ich nehme an, Sie haben keine Aufnahme des Ge sprächs hingekriegt?« »Ich fürchte nein, Majestät. Die Sperr-Felder wa ren überall im Lager sehr stark. Der Rekorder hat nicht funktioniert.« »Hm. Ja, natürlich.« Maxim schaute einen Mo ment lang zweifelnd drein. Jundrak entschied, daß er das Gespräch besser auf ein anderes Thema brachte. »Es ist eine bewundernswerte Strategie«, erklärte er unterwürfig, »doch der Fleck bleibt.« »Ich weiß«, sagte der König düster, »doch was können wir tun? Wir müssen unsere Verluste ertra gen. Wenn der Fleck sich stetig weiterbewegt, wird er das Reich durchqueren, und wir sind wieder si cher.« Das hoffst du wohl, du alter Narr, dachte Jundrak. Als er den Raum verließ, stand er hoch im Anse hen des Königs. Sein Erfolg gefiel ihm, doch er be mühte sich, nicht selbstgefällig zu werden. Es war leicht, zwei Parteien gleichzeitig zu belügen, wenn es keine weiteren Kontakte zwischen ihnen gab. Die Motive für sein Doppelspiel waren unklar, so gar ihm selbst. Als jemand, der in den Wirren des 30
Bürgerkriegs aufgewachsen war, sah er keinen Grund, einer dieser Parteien mehr zu trauen als der anderen. Doch als er Peredan gegenübergestanden hatte, hatte er den irrationalen Drang verspürt, beiden Seiten eine faire Chance einzuräumen. Das war na türlich nicht alles. Er war überdies zu dem Schluß gelangt, daß die Vernichtung der Rebellen ihm selbst keinerlei persönliche Vorteile bringen würde. Er zog eine fließende Situation vor, in der ein talentierter junger Offizier, dessen Einfluß schnell zunahm, ei gene Ziele verfolgen konnte. Durch die – wenn auch nicht vollständige – Warnung Peredans stand er jetzt zu beiden Seiten in heimlicher Beziehung und konnte abwarten, was an Gewinn dabei herauskommen wür de. Jundrak verspürte keine Gewissensbisse wegen seiner Handlungsweise. Ihm erschien alles durchaus normal: Der Geist Machiavells beherrschte diese Zeit. Überdies hatte ein sonderbarer Ehrgeiz von ihm Besitz ergriffen, der zwar manchmal fast gänzlich verschwand, zu anderen Zeiten jedoch, etwa wenn er allein im Bett lag, beinahe ein Ausmaß von Größen wahn erreichte, und das ungeachtet der Tatsache, daß er nicht einmal ein bestimmtes Ziel anstrebte. Im merhin überlegte er schon jetzt, wie er das große Schlupfloch-Schiff, das auf der anderen Seite des Planeten entstand und dessen Bau der König seiner Aufsicht unterstellt hatte, für seine eigenen Zwecke nutzen könnte. Mit einem leicht euphorischen Gefühl überquerte 31
er den zentralen Hof des königlichen Palastes. Die Turmspitzen und Dachverzierungen des gewaltigen Gebäudes zeichneten sich dunkel vor dem grünen Abendhimmel ab und bildeten phantastische Arabes ken. Der nahende Abend war kühl und reich an Düf ten. Hinter dem Palast ragten die kleineren Zinnen, Türme und Bögen der Inneren Stadt auf, die den Sitz der Monarchie umgab und die direkte Sicht auf die zwar pittoreske, aber keineswegs anmutige Alte Stadt verwehrte. Der Wiederaufbau war fast vollständig. Lediglich an einigen Türmen standen noch die fast tausend Me ter hohen Baugerüste. Maxim hatte bei seinem An griff auf die Innere Stadt zwar keine Atomwaffen eingesetzt (schließlich wollte er sie für sich selbst haben), immerhin aber ein schweres Bombardement veranlaßt. Mit einem Frösteln erinnerte sich Jundrak an das Versprechen, das er Prinz Peredan gegeben hatte. Besuche Grame Liber, den Historiker. Er erinnerte sich vage an den alten Mann, der stets mit einem un ordentlichen Stoß alter Dokumente aus der Palastbib liothek unter dem Arm durch das Schloß geschlichen war. Möglicherweise bedeutete Peredans Wunsch nicht mehr, als dieser behauptet hatte: Eine sentimentale Geste zwischen alten Freunden. Jundraks intrigenge schultes Gehirn vermutete dahinter allerdings eher den Versuch, ihn in die Kreise der Rebellen einzu führen und so die Kommunikation zwischen ihm und 32
Smorn aufrechtzuerhalten. Aber wie auch immer, angesichts der mißtrauischen Natur Maxims würde es nicht schaden, das Versprechen erst in einigen Ta gen einzulösen. Für diese Nacht schwebte ihm eine wesentlich angenehmere Mission vor. In dem Moment, als er die Grenzlinie zu Maxim ilias Alter Stadt überschritt, befand sich Jundrak in einer anderen Welt. Er trug einen langen, weichen Mantel, den er fest um sich gewickelt hatte, um seine Uniform zu ver bergen. Hier in der Alten Stadt fühlte er sich fehl am Platze, und überdies konnte er Feindseligkeiten auf sich ziehen. Man mußte schon mit einer gewissen Dummheit und Brutalität der unteren Klassen rech nen. Die Innere Stadt wurde durch einen ununterbro chenen Ring hoher Gebäude von der Alten Stadt ge trennt. Lediglich einige Torbögen boten Durchlaß durch diesen Schutzwall. Da die Innere Stadt auf ei ner Anhöhe stand, hatte man, sobald man sich einmal außerhalb des Walls befand, einen umfassenden Blick auf die Alte Stadt, den Jundrak durchaus ge noß, auch wenn sich viele andere abschätzig darüber äußerten. Der Hügel, der die Innere Stadt trug, war eingeeb net worden und wies jetzt eine flache Kuppel auf. In der Alten Stadt jedoch war die ursprüngliche Struk tur der Landschaft erhalten geblieben. Sie wirkte un geplant und natürlich gewachsen. Jundrak ließ seinen Blick über die chaotische Menge der Häuser schwei 33
fen, von denen die meisten alt und baufällig waren und lediglich zwei (und höchstens zwanzig) Stock werke aufwiesen, wenn man von einigen Sozialbau ten absah – massiven, langweilig bemalten Klötzen, die vierhundert Meter hoch aufragten und Zehntau sende von Menschen beherbergten. Zu seiner Linken verschwand die Stadt hinter einem Dunstvorhang. Die Stadt erstreckte sich über viele Meilen, viel weiter, als der Blick reichte. Über allem hing ein staubiger Schleier, der im Sonnenlicht schimmerte. Staub war zweifellos eines der charakteristischsten Merkmale der Alten Stadt. Jundrak marschierte den Hügel hinab. Seinen Wa gen hatte er auf der anderen Seite des Walls gelassen – er trug die Abzeichen seines Regiments –, und nach einem kurzen Fußmarsch nahm er das in der Alten Stadt übliche öffentliche Verkehrsmittel, einen großen, ungeschlachten Wagen, der auf stromführen den Schienen lief. Ein paar Meilen fuhr er zusammen mit dem gemeinen Volk, musterte resignierte, grobe Gesichter und genoß die Fremdartigkeit dessen, was ihn umgab. Schließlich verließ er das Fahrzeug, ging eine Seitenstraße entlang und wandte sich dann ei nem Durchgang zu, der ihn auf einen kleinen Innen hof führte, der ringförmig von Reihen winziger Bal kons umgeben war. Er pfiff hastig einen einzigen Ton und wartete dann. Sehr lange mußte er nicht warten. Ein Fenster öff nete sich, und Rondana lehnte sich lächelnd über die Brüstung. 34
Als er zurücklächelte, spürte er, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Eine Minute später er schien sie an der Haustür und ließ ihn herein. Über gebrechlich wirkende Treppen gingen sie zu ihrem Zimmer. Sie lachte, als er sich auf das Bett sinken ließ und sie dabei sanft mit sich zog. Rondana war jung, hatte ein hübsches, fröhliches Gesicht und einen lebhaften Charakter. Im Vergleich zu den Frauen seines eigenen Standes mit ihrem kosmetisch perfektionierten Aussehen und ihren hochmütigen Blicken, erschien Jundrak dieses Un terklassen-Mädchen als richtige Frau, neben der die anderen nur bemalte Puppen waren. Plötzlich richtete sie sich auf. Ihr Gesichtsaus druck wurde ernst. »Die alte Frau von oben ist sehr krank.« Er schaute sie fragend an. »Tatsächlich?« »Wirst du nach ihr sehen?« bat Rondana. »Was könnte ich da tun? Ich bin kein Arzt.« Rondana erhob sich und ging zur Tür hinaus, als hätte sie ihn nicht gehört. Widerstrebend folgte er ihr, ein Stockwerk, zwei Stockwerke, nur schwach erhellt durch blinde Fenster. Mehrmals schaute sie zurück, um zu sehen, ob er ihr noch folgte. Sie betraten Growooms Gemach. Es war baufällig und schmutzig. Jundrak erkannte, daß es vom Grund riß her identisch war mit dem Rondanas, aber wäh rend das immerhin recht wohnlich wirkte, stank die ses hier geradezu nach Armut. Die Frau lag stöhnend auf dem Bett. Sie war alt, 35
sehr alt. Jundrak kam näher. Ihr Gesicht erschien farblos, fast grünlich. Offenbar hatte sie Fieber. Jun drak wußte nicht, woran sie litt. Menschen seiner Klasse bekamen solche Krankheiten nicht. Er starrte auf die fast bewußtlose Frau. Sie mußte fünf- oder sechshundert Jahre alt sein … Dann korrigierte er sich selbst. Sie war keineswegs fünfhundert Jahre alt. Vermutlich nicht einmal ein hundert. Jundrak fühlte sich plötzlich unbehaglich bei dem Gedanken, daß Rondana erst zwanzig war, während er, obgleich er körperlich ebenso jung wirk te wie sie, bereits achtzig Jahre zählte – was vermut lich dem Alter der Frau auf dem Bett entsprach. Ge rade der Unterschied in der medizinischen Versor gung gab den unteren Klassen Anlaß zu Mißgunst, insbesondere, da ihre Lebenserwartung nur ein Vier tel der der Oberschicht betrug. »Sie stirbt«, sagte Rondana. »Was können wir tun?« »Sie braucht einen Arzt.« »Dann hol einen. Schick sie ins Krankenhaus.« Jundrak fühlte sich von der ganzen Situation unsäg lich angeödet. Rondana zögerte. »Wirst du dafür bezahlen?« fragte sie leise. »Ja, natürlich.« Jundrak lächelte beruhigend. Rondana ging hinaus, um das Krankenhaus anzu rufen. Während sie fort war, verließ er das armselige Gemach und begab sich in den annehmlicheren Raum weiter unten. Der Besuch war ihm verdorben 36
worden. Er war hergekommen, um sich zu amüsie ren, und nicht, um mit sozialen Realitäten konfron tiert zu werden. Er setzte sich auf Rondanas Bett und blickte durch das Fenster auf den staubigen Hof hinaus. Die politi schen Streitigkeiten der Adelshäuser schienen vorü bergehend in ein anderes Universum entschwunden zu sein. War dies die Wahrheit, die hinter allen Intri gen, hinter den endlosen Kämpfen um die Macht lag? Eine Frau, die elendiglich in einem herunterge kommenen Haus starb, in das nicht einmal das Licht der Sonne fiel? Jundrak machte ein finsteres Gesicht und schob die unwillkommenen Gedanken beiseite. Selbst wenn es stimmte, konnte doch niemand etwas daran än dern. Die Politische Wissenschaft hatte nachgewie sen, daß es unmöglich war, die Armen zu bereichern; sie hatte schon vor Jahrhunderten die Theorie der sozialen Gerechtigkeit ad absurdum geführt. Die un ausrottbare Polarität zwischen Reichtum und Armut war ein Naturgesetz, das auch von jeglichem wissen schaftlichen Fortschritt unberührt blieb. Eine Stunde später, er hatte schon mit Rondana geschlafen, kam ein Krankenwagen, um Growoom abzuholen. Jundrak unterzeichnete die Gebühren rechnung, eine für ihn unbedeutende Summe, doch hier in der Alten Stadt der Gegenwert eines Men schenlebens. Schaudernd überlegte er, wie die Alte Stadt ausse hen würde, wenn der Fleck diesen Weg nahm. 37
3. Kapitel Weit entfernt im All kümmerte sich der Fleck nicht um das von Jundrak verstärkte Schlupfloch. Dennoch dauerte es fast zwei Wochen, bevor das von Peredan entsandte Schlachtschiff nach Smorn zurückkehrte. Es war dem Fleck nicht sonderlich nahe gekom men; das war auch unnötig gewesen und zudem wohl auch riskant angesichts der Beobachter, die sich in jener Region aufhielten. Trotzdem hatte es alle nöti gen Informationen erhalten, indem es die von den Un tersuchungsschiffen ausgestrahlten Berichte abfing. Peredan las die Berichte mit kalter Wut. Der Fleck bewegte sich keineswegs auf Smorn zu. Statt dessen entfernte er sich unter einem Winkel von etwa hun dertdreißig Grad in entgegengesetzter Richtung. »Also hat dieser junge Bursche doch versucht, mich reinzulegen«, dachte er. »Noch einer von Ma xims schmutzigen Tricks.« Der Sinn der Sache lag auf der Hand. Hätte Pere dan angesichts von Jundraks Warnung sein Lager evakuiert, hätte Maxim seine kurzfristige Verwund barkeit ausnutzen können, um zum Vernichtungs schlag auszuholen. »So also steht es um das Haus Sann!« Peredan lachte bitter. Grame Libers Haus schmiegte sich an den Stamm einer riesigen mutierten Eiche in einem der Parks, 38
die überall in der Inneren Stadt verstreut lagen. Eines Nachts, ungefähr zur gleichen Zeit, als Peredan die Berichte in Händen hielt, entschloß sich Jundrak, den Historiker aufzusuchen, wobei er sich natürlich ver gewisserte, nicht verfolgt zu werden. Der Park wirkte unheimlich im Licht der hochste henden Monde und der ringsum liegenden Stadt. Me tergroße Eichenblätter, die das Haus umrahmten und das aus den Fenstern fallende Licht auffingen, neig ten sich ihm zu, als er sich näherte. Jundrak drückte auf den Klingelknopf. Nach einer Weile öffnete sich die Tür zu einem kleinen Vor raum. Wieder gab es eine Pause, in der er, wie er an nahm, beobachtet wurde, dann öffnete sich eine zweite Tür am anderen Ende des Raumes. Liber, ein weißhaariger, würdevoller Mann, der schon ein relativ hohes Alter erreicht hatte, saß an einem von Papieren und Buchrollen bedeckten Tisch. Der Raum war klein und gemütlich. Er wurde von einer Stehlampe schwach erleuchtet, und längs der Wände standen Regale, die weitere Rollen enthielten – und sogar ein paar altmodische, gebundene Bücher. Eine Aura von Ruhe und Frieden herrschte an diesem Ort. Liber erhob sich und begrüßte ihn freundlich. »Ich habe nicht oft Besuch in diesen Tagen. Bitte nehmen Sie Platz. Möchten Sie etwas trinken? Raneaul? Whisky? Oder vielleicht einen Likör?« »Vielen Dank, Whisky wäre mir recht.« Jundrak wartete auf sein Glas. Sein Blick glitt über die Papiere, 39
mit denen sich Liber beschäftigt hatte. Er entdeckte auch einige Holographien – alte Holographien, den Farben nach zu urteilen. In einem der Bilder erkannte er die berühmte Kollision zweier gegnerischer Schlachtschiffe während des Kampfes um Unimm. Die übrigen stammten ebenfalls aus dem Bürger krieg. Liber hatte einen Briefschreiber benutzt, um eine ziemlich dicke Rolle zu beschriften. Wenn er den Kopf leicht neigte, vermochte Jundrak die säuberlich gedruckten Worte zu lesen. »… der Krieg wurde um den Besitz des Thrones geführt, einen anderen Grund gab es nicht. Andere Gruppen, die sich gegen ihr armseliges Los unter der alten Monarchie auflehnten und den Konflikt für eine Möglichkeit hielten, weitreichende Reformen durch zusetzen, wurden von beiden Seiten erbarmungslos unterdrückt.« Jundrak hob den Kopf wieder, als sich Liber, die gefüllten Gläser in der Hand, umwandte. Für geraume Zeit plauderten sie angenehm. Der al te Mann erwies sich als vorzüglicher Gesellschafter, und nachdem er noch mehr Whisky getrunken hatte, fühlte sich Jundrak weit weniger angespannt. Liber fragte nicht einmal, warum er gekommen war. Vermutlich dachte er, wenn Jundrak etwas zu sagen hätte, würde er schon selbst darauf zu sprechen kommen. Und so verstrichen fast zwei Stunden, bis Jundrak sagte: »Ich habe eine Nachricht von Prinz Peredan.« 40
Sein Gegenüber hob die Augenbrauen. »Tatsäch lich? Wie lautet sie?« »Es ist nicht viel. Er ist bei guter Gesundheit und … Er schickt einfach seine Grüße.« Liber wirkte geschmeichelt. »Gut, gut! Nach all dieser Zeit! Er muß sich einsam fühlen. Können Sie eine Antwort überbringen?« »Leider nicht.« Jundrak beugte sich vor. »Bedeutet die Botschaft etwas für Sie?« fragte er eifrig. »Kann ich irgendwie helfen?« Der Historiker lachte laut. »Junger Mann, ich dachte mir schon, daß Sie mit einer solch uninteres santen Absicht gekommen sind. Wenn die Botschaft mehr bedeutet, als sie besagt, dann weiß ich nichts davon. Möglicherweise glaubt Peredan, ich hätte all die Jahre für ihn gearbeitet. Falls es so ist, irrt er sich.« »Demnach stehen Sie loyal zu König Maxim?« Jundrak war plötzlich beunruhigt. Vielleicht verriet er sich selbst an diesen verschmitzten Alten. Liber lachte abermals. »Ihr gebt doch nie auf!« Verwirrt senkte Jundrak den Kopf und rieb sich das Kinn. Mit einem Seufzer erhob sich Liber. »Spielen Sie Schach?« Jundrak zuckte die Achseln. »Nicht oft.« »Ich schon, aber jetzt habe ich ein besseres Spiel. Kommen Sie mit.« Er führte Jundrak in einen angrenzenden Raum, der sich vom ersten erheblich unterschied. Auf einer 41
an der Wand stehenden Bank lagen sauber aufgereiht Teile elektronischer Geräte in verschiedenen Stadien des Zusammenbaus. Regale waren gefüllt mit vorge fertigten Einheitsteilen, und eine Reihe von Schrän ken, alle säuberlich beschriftet, enthielt offenkundig noch mehr Gerätschaften. »Elektronik ist mein Hobby«, erklärte Liber. »Sie verschafft mir wieder einen klaren Kopf für meine Versuche, die Verirrungen der menschlichen Ge schichte zu durchschauen.« Er führte Jundrak zu einem kleinen runden Tisch in der Mitte des Raumes, nahm auf einem der beiden Sitze Platz und bot seinem Gast den anderen an. Der Tisch war leer, doch Jundrak bemerkte ein Kabel, das aus einem der Tischbeine kam und zu einem Schrank in der Nähe führte. »Ziehen Sie die kleine Schublade unter dem Tisch heraus«, sagte Liber, während er gleichzeitig eine ähnliche Schublade auf seiner Seite hervorzog. Sie saßen einander gegenüber, genau wie bei einem Schachspiel, nur gab es kein Brett und auch keine Figuren. Jundraks Schublade enthielt Reihe um Reihe klei ner Knöpfe. »Dies ist eine verfeinerte Weiterent wicklung des Schachspiels«, erläuterte Liber. »Bes ser ausgearbeitet und auch subtiler. Während Schach nach einem Katalog künstlicher Regeln gespielt wird, habe ich die Regeln für dieses Spiel dem wirk lichen Leben entnommen.« Er drückte auf einen Knopf. Die Oberfläche des 42
Tisches erwachte zum Leben. Figuren sprangen aus ihr hervor – dreidimensionale, farbige Holographien. Auf einem schachbrettartig gemusterten Boden stan den Dutzende kleiner, sanft schimmernder Figuren. Und die meisten von ihnen trugen königliche Klei dung! Liber drückte einen weiteren Knopf. Die Figuren bewegten sich, sprachen, gestikulierten! »Meisterlich!« hauchte Jundrak. »Die Kontrolle hat ein Computer – übrigens eine der vier großen Erfindungen der Menschheit neben dem Feuer, dem Rad und der Atomenergie. Er er zeugt die Personen, die Sie hier sehen, und er leitet ihre Handlungen. Er schafft das mit Hunderten gleichzeitig. Doch ich schweife ab. Wir wollten ja spielen! Am besten beginnen wir mit dem Aufbau.« Indem er die Kontrollen bediente, leerte er das Spielfeld und setzte dann eine einzige Figur ein. Es war der König in voller Amtstracht. »Das ist er. Das Zentrum, der Knotenpunkt aller Dinge! Herrscher über alles, worauf sein Auge fällt.« Jundrak beugte sich vor und versuchte, das Ge sicht zu erkennen. Obgleich es vereinfacht worden war wie das Gesicht einer hölzernen Puppe, so waren die Züge doch eindeutig und charakteristisch. Es war Maxim, ohne Zweifel! Doch als sich die Figur umwandte, um ihn direkt anzuschauen, hatte sie sich verändert. Der König hat te jetzt ein ganz anderes Gesicht. Liber narrte ihn. Der Historiker lachte wieder. »Wie ich schon sagte: 43
Sie geben nie auf! Versuchen Sie nicht, die Spielfi guren zu identifizieren. Sie sind alle fiktiv. Auf diese Weise werden Sie meine politischen Vorlieben nicht entdecken.« »Ich habe Ihre politischen Neigungen bereits ent deckt«, antwortete Jundrak. »Sie sind ein Radikaler, ein Anti-Royalist.« »Falsch, falsch. Werfen Sie nicht mit Anschuldi gungen um sich, das macht mir Angst. Sehen wir mal nach, was wir sonst noch haben.« Eine weibliche Spielfigur entstand neben dem Kö nig. »Die Königin! Und natürlich herausgeputzt wie eine echte. Beachten Sie, wie sie sich auf den Arm des Königs stützt. Doch wir können sicher sein, daß sie auch ihre eigenen Interessen im Auge behält!« In gleitendem Wechsel zeigte die Königin nach einander ein Dutzend verschiedene Gesichter und Kostüme, als Liber die erstaunliche Vielseitigkeit seiner Maschine vorführte. Jundrak schaute fasziniert zu, wie der Historiker dann eine scheinbar endlose Reihe farbiger Charaktere einführte. Er spielte Jun drak sogar ein paar kurze Dramen vor. Es war zwar nicht ganz einfach, der komplexen Symbolik des Spiels zu folgen, aber dennoch interessant – und manchmal auch komisch. »Nun, so sieht es aus«, sagte Liber schließlich, dem Jundraks Bewunderung offensichtlich schmei chelte. »Man könnte diese Maschine als idealen poli tischen Sublimierer bezeichnen. Wir könnten Stel lung beziehen und unsere sämtlichen Wunschvorstel 44
lungen ausleben, ohne daß irgendjemand zu Schaden käme – sofern man die Spielfiguren nicht mitzählt, heißt das.« »Das ist phantastisch! Wie spielen Sie damit?« Liber seufzte. »Das ist der Haken. Ich verstehe die Regeln, weil ich sie erfunden habe. Doch jeder ande re scheint sie etwas zu schwierig zu finden. Daher – kein Spiel. Meist spiele ich gegen den Computer; manchmal lasse ich die Figuren auch eine Weile al lein spielen. Sie würden staunen, wie erfinderisch sie sein können!« Er nahm die Hand von den Kontrol len. Die rund dreißig Figuren auf dem Feld fuhren fort zu gestikulieren, zu kämpfen, zu diskutieren und Bündnisse zu schließen. »Ja, das hier ist eine richtige kleine Welt. Sie ist der unseren so ähnlich, wie ich es machen konnte. Einen Unterschied gibt es aller dings.« »Und der wäre?« fragte Jundrak. »Ich kann die Regeln für meine holographischen Püppchen ändern, wenn ich will. Für uns stehen die Regeln fest. Das Spiel ist endgültig.« »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Jundrak scharf. Er hatte das Empfinden, Liber wolle ihn auf irgendeine Weise belehren, und das behagte ihm nicht. »Ich sage nur, daß die Welt uns kontrolliert, und nicht wir die Welt. Es ist alles ein Spiel, und wir sind winzige Figuren, deren Leben vom Spiel beherrscht wird. Jede Figur wird durch äußere Einflüsse auf den Platz geschoben, den sie jeweils innehat. So hat Pe 45
redan die letzten fünfzig Jahre auf Smorn gesessen, Maxim in seinem Palast – und Sie und ich sitzen hier.« »Ich bin mir gar nicht so sicher, ob diese Philoso phie nicht aufrührerisch ist«, sagte Jundrak säuerlich. »Möglicherweise erscheint sie so – Ihnen jeden falls. Sie kamen her, um herauszufinden, auf welcher Seite ich stehe. Doch weshalb sollte ich überhaupt auf irgendeiner Seite stehen? Warum sollte ich mehr für diese umherwieselnden Figuren – diese Könige und Staatsmänner unserer Welt – empfinden, als ich für die umherwieselnden Figuren aus meinem Com puter empfinde? Tut mir leid, ich werde Ihnen nicht von Nutzen sein. Ich bin nur ein müder, alter Gelehr ter. Das Ränkeschmieden überlasse ich anderen.« Jundrak hielt Libers Ansichten für unsinnig und pessimistisch. Doch als er etwas später die entspann te Atmosphäre des Hauses hinter sich ließ, blickte er zufällig zu den am Himmel über Maximilia leuch tenden Sternen empor. Für einen Augenblick schien das Gewicht des ganzen Universums auf ihm zu las ten und ihn mal in die eine, mal in die andere Rich tung zu zwingen, ganz so, als würde er durch ein La byrinth geschoben.
46
4. Kapitel Die Untersuchungsteams umschwirrten den Fleck, der das All durchstreifte, wie ein Schwarm nervöser Mücken, hielten sich jedoch stets außer Reichweite seines unheilvollen Einflusses. Trotz all ihrer Anstrengungen wußten sie noch immer sehr wenig über ihn. Er war ein Fleck aus Pseudo-Partikeln und durchmaß ein Lichtjahr. Sein spezifisches Gewicht war sogar noch geringer als das des interstellaren Wasserstoffs, durch den er sich bewegte, doch dessenungeachtet war er vage zu er kennen – als schwaches Aufblitzen von Photonen, die durch das Zusammenspiel seiner fremdartigen, diffusen Partikel ausgesandt wurden. Die Teams vermuteten, daß es sich ausschließlich um virtuelle Teilchen handelte, ein Fachausdruck, der besagte, daß sie keine dauerhafte Existenz aufwiesen, sondern ihre Energie in einer endlosen Kette vom einen zum nächsten übertrugen und bei diesem Vorgang ver schwanden. Sogar die Photonen, die die Wissen schaftler erreichten, waren außergewöhnlich. Sie taten, was normale Photonen niemals tun – sie zer fielen und riefen dabei in den Instrumenten geister hafte Phänomene hervor, die sich nicht analysieren ließen. Schon vor Monaten hatten die Wissenschaftler aufgehört, von dem Eindringling im Plural zu spre chen. Er war kein Schwarm, wie sie zunächst vermu 47
tet hatten. Jedes entweichende Teilchen war irgend wie mit dem Ganzen verbunden, und als Gesamtheit war der Fleck stabil. Woher war er gekommen? Wie hatte er sich ent wickelt? Vergeblich hatten die Teams Experiment auf Experiment durchgeführt – in dem Bemühen, ei nes der ihn umgebenden Energiefelder zu analysie ren, das sich dann bei einem massiven, wissenschaft lich durchgeführten Angriff als verwundbar erweisen mochte. Doch keiner ihrer Versuche lieferte ein brauchbares Ergebnis. Und als der Fleck weiterzog und ein bewohntes System nach dem anderen ver schlang, verweilte er über jedem einige Zeit. Bei je dem dieser Aufenthalte erzeugte er ein weiteres Phä nomen: gleichmäßig oszillierende Radiowellen, die in den Kopfhörern der Beobachter wie ein kreischen des Lallen klangen. Diese Sendungen lieferten ihnen den letzten Be weis, daß der Fleck keineswegs ein zufälliger energe tischer Effekt war, sondern organisiert und lebendig. Hilflos folgten sie ihm zu seinen Aufenthaltsorten und lauschten erschreckt und zugleich fasziniert dem hörbaren Zeugnis seiner grauenhaften Freßorgien. Yi-yi-yi-yi-yi-yi-yi-yi-yi-yi … In den ersten Sekunden nach der Rückkehr in seinen Körper glaubte Castor Krakhno, aus einem Alptraum zu erwachen; doch nein: die schmerzhafte Realität seiner Erinnerungen, das schlichte Wissen um das, was geschah, der spürbare Kontakt zu etwas Monst 48
rösem, Erschreckendem, all dies schloß sein Erlebnis aus dem Reich der Wahnvorstellungen aus. Er schwitzte und schnappte krampfhaft nach Luft, als sei er gerade dem Erstickungstod entronnen. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, daß er auf harten Pflastersteinen lag. In der Nähe lagen weitere Kör per, zusammengebrochen wie Stoffpuppen. Langsam rappelte er sich auf und schaute die Fres sia Avenue entlang. Von einer Ausnahme abgesehen erblickte er die gleiche Szenerie, die ihm für den größten Teil seines Lebens vertraut gewesen war. Die Frontseiten der Geschäfte und Bürohäuser er streckten sich zu beiden Seiten in Richtung auf den Versandhafen, lediglich unterbrochen durch die klei nen Yan-Bäume, die dort in Abständen von etwa dreißig Metern standen. Der Unterschied bestand darin, daß die Einwohner, die sich sonst durch die Straße drängten, jetzt ohne Ausnahme leblos am Bo den lagen. Die Fahrzeuge, die den mittleren Teil der Avenue benutzt hatten, waren außer Kontrolle gera ten und entweder einfach stehengeblieben oder aber gegen Bäume oder in Schaufenster gekracht. Es sah aus wie nach einem der Gasangriffe, die Krakhno in Filmen über den Bürgerkrieg gesehen hatte. Aber er wußte, daß es kein Gasangriff gewesen war. Und auch nicht die Folge eines Wiederauffla ckerns des Konfliktes. Keine menschliche Macht war hierfür verantwortlich. Er kniete nieder, um einen der in der Nähe liegen den Körper zu untersuchen, und fand bestätigt, was 49
er bereits wußte. Er war tot. Sie alle waren tot. Die ganze Stadt, ja der gesamte Planet Carole war tot. Und ebenso die Schwesterwelt Herne, die einzige andere bewohnte Welt des Systems. Er wußte, daß es so war, denn das Ding, das Ge dankenmonster, der Bewußtseinsdieb, wie er es mitt lerweile nannte, hatte nicht mit den Bildern gegeizt, die automatisch jeden kurzen Kontakt zu ihm beglei teten. Und es waren nicht nur Bilder gewesen. Sardonisch grinsend stieg Castor Krakhno über die Leichen seiner früheren Mitbürger hinweg und setzte den Weg fort, der so gewaltsam unterbrochen wor den war. Er bemerkte, daß die Bäume bereits welkten und ihre Blätter verloren, obgleich noch Hochsom mer war. Ein Stück weiter die Straße hinab wandte er sich einem Eingang zu und stieg ein paar Stufen em por. Das geheime Büro der Gesellschaft »Tod dem Le ben« befand sich im winzigen Hinterzimmer eines Geschäftes. Als Krakhno eintrat, entdeckte er drei seiner Mitverschwörer – den harten Kern seiner revo lutionären Partei –, zusammengebrochen über dem Tisch, an dem sie auf ihn gewartet hatten. Während er die Tür hinter sich schloß, ließ Krakh no seinen Blick abschiednehmend durch den Raum schweifen, vom zweiten, mit primitiv gedruckten Schriften beladenen Tisch über das große Kopierge rät, auf dem sie hergestellt worden waren, bis hin zu dem verschlossenen Schrank, der ihr kleines Waf fenversteck verbarg. 50
Er war jetzt allein. Keiner seiner Kameraden hatte den kosmischen Anschlag überlebt. Er schritt quer durch den Raum zum Fenster und stieß dabei gegen einen Körper, der schwerfällig zu Boden stürzte. Minutenlang starrte er auf den mit Unkraut bedeckten Hinterhof hinab, der von der Zie gelmauer einer Fabrik begrenzt wurde, die jegliche weitere Sicht verwehrte. Er brauchte diese paar Mi nuten, in denen er nichts sah als die beengte, nieder drückende Szenerie, um mit sich selbst und den un glaublichen Dingen, die ihm widerfahren waren, ins reine zu kommen. Castor Krakhno war etwas kleiner als der Durch schnitt, und obgleich seine Gestalt leicht untersetzt wirkte, war er durchaus beweglich und schnell. Er war vierzig Jahre alt (natürlich Jahre, also nicht durch die dem Adel zur Verfügung stehenden Mittel ein Verjüngter), und sein schwarzes Haar wurde be reits schütter. Auf seinem Gesicht hatte sich ein Ausdruck ständiger Wildheit eingebrannt. Die tief liegenden Augen glommen zuweilen wachsam wie die eines Tieres, um dann wieder unstet zu flackern und jedem anderen Blick auszuweichen, wie es die Art erfolgloser Verbrecher ist. Und er war der unumstrittene Führer der Lehre von »Tod dem Leben« – oder war es zumindest ge wesen. Krakhno hatte sein ganzes Leben auf Carole ver bracht. Geboren worden war er als uneheliches Kind eines Fabrikmädchens in einem Slum, einige hundert 51
Meilen von hier. Er erinnerte sich noch immer an seine Mutter. Wie sie, erschöpft von der Tagesarbeit, in ihr ärmliches Einzelzimmer zurückgekehrt war, das sie in einem zwanzigstöckigen Betonklotz be wohnt hatten. Er erinnerte sich allerdings auch ohne jegliches Mitleid an sie. Mit fünfzehn, nachdem er gesehen hatte, wie sie Jahr um Jahr dünner und schwächer wurde, war er fortgelaufen und hatte eine Zeitlang verschiedene Städte und Dörfer durchwan dert, bevor er sich hier in Kinn, der Hauptstadt, nie dergelassen und sein Leben der Zerstörung der Ge sellschaft gewidmet hatte, die er durch Anarchie er setzen wollte. Es hatte immer Anarchisten gegeben; doch Krakh no hatte der Bewegung neues Leben eingehaucht und ihre – von der Geschichte längst widerlegte – Lehre in eine Handlungsanweisung umgewandelt. Sein größter Erfolg war die Auslöschung einer ganzen Adelsfamilie gewesen, als sie das Hadcrany-Theater in die Luft gejagt hatten. Eine Zeitlang hatten er und seine engsten Verbün deten vom Ertrag diverser Verbrechen gelebt – die sie natürlich nicht selbst begangen hatten, denn das wäre zu gefährlich gewesen; man hatte vielmehr Un terstützung durch Caroles kriminelle Unterwelt er halten, die teilweise mit ihnen sympathisierte – und sich derweil der Verbreitung von Krakhnos neuen anarchistischen Lehrsätzen gewidmet; dem Credo des Nihilismus: Die Zerstörung alles Bestehenden – ein Schlag 52
wort, womit die Vernichtung all dessen gemeint war, was zur gegenwärtigen Ordnung der Gesellschaft, ihrer Klassen, ihrer Gesetze und ihrer Institutionen gehörte. Tod dem Leben – was bedeutete: Tod der gegen wärtigen Lebensweise und Tod dem künstlich ver längerten Leben des Adels, der hierdurch die Leiden der unteren Klassen noch verstärkte. Tief in seinem Inneren hatten diese Schlagworte jedoch noch eine zweite, mit seinem Haß auf alles Lebende verknüpfte Bedeutung, einem Haß, der un stillbar war und die Existenz schlechthin als etwas Böses ansah. Nie war dieses Gefühl intensiver gewesen als zwanzig Minuten zuvor. Das Ding war ohne Vorwarnung über die Bevöl kerung gekommen. Krakhno allerdings war sicher, daß ein paar davon gewußt hatten, denn das würde eine Sache erklären, die ihm während der letzten Wochen Kopfzerbrechen bereitet hatte. Zum Teil durch die routinemäßigen Berichte seiner Spione, zum Teil auch aus den Nachrichten hatte er erfahren, daß sämtliche höheren Adligen und Großindustriel len nacheinander den Planeten aufgrund von »Ge schäftsreisen« verlassen hatten. Die Nachrichtensen dungen hatten allerdings nicht gemeldet, daß sie stets auch ihre Familien mitgenommen hatten. Bis jetzt hatte er nicht gewußt, welche Bedeutung er diesem Umstand beimessen sollte, falls er überhaupt eine hatte. 53
»Sie wußten es also«, murmelte er bei sich. »Ty pisch für sie, diese Ratten!« Und wenn sie gewußt hatten, was sich ihnen nä herte, dann hatten sie auch gewußt, was es war und was es tat – ebenso, wie es jetzt auch Krakhno wuß te, allerdings aus einer wesentlich näheren, persönli cheren Quelle. Und diese Quelle war noch hier, ob wohl sie sich gerade anschickte zu verschwinden. Krakhno spürte ihre Gegenwart, und er spürte auch die unbeschreibliche Veränderung in seinem Inneren, als sie endgültig verschwand. Nach dem, was er über dies Ding wußte, vermutete er, daß es sehr schnell durch das All reisen konnte, sicher sogar schneller als das Licht. Und wenn es Lebendem begegnete, absorbierte es die Lebenskraft, das Bewußtsein, die Individualität aller Geschöpfe. Es verschlang ihre Seelen. Mit ei nem fast schon angenehmen Gefühl des Grauens er innerte sich Krakhno an das Verschlucken, das Steh len dessen, was unberührbar war und einen Men schen – ihn selbst – ausgemacht hatte. In dieses erregende Gefühl des Grauens mischte sich so etwas wie nagende Scham, ein Groll darüber, daß der Eindringling ihn am Leben gelassen hatte. Denn während der aufregenden, atemberaubenden Minuten, als seine Seele herausgerissen, zerschlagen, vergewaltigt und einer unvorstellbaren Prozedur un terworfen worden war, hatte eine kontinuierliche, gewaltige Ablehnung auf sein Bewußtsein einge schlagen – N-e-i-i-i-i-n … 54
Das fressende Monster hatte ihn zurückgewiesen. Ihn einfach wieder ausgespuckt! Für Krakhno, der auf einer hingemordeten Welt stand, umgeben von Abermillionen Toten, und des sen Verstand so klar und scharf arbeitete wie nie zu vor in seinem Leben, für ihn war der Gedanke, daß der Räuber allen Lebens, der zweifellos größte aller Diebe, sein Leben zurückgewiesen hatte, eine uner trägliche Demütigung – gleichsam die Summe von Jahrzehnten voller Frustrationen und Ablehnungen. Es erschien ihm furchtbar ungerecht, daß all die Mil lionen, die er gehaßt hatte, tot waren, entkommen, während man ihn, der um den Wert von Leben und Tod wußte, übergangen hatte. Ein paar Tränen des Selbstmitleids quollen aus seinen Augen und rannen die Wangen hinab, doch rasch wischte er sie fort, ging zum Waffenschrank, schloß ihn auf und nahm einen langläufigen Neutro nenstrahler heraus. Unter diesen Umständen gab es keinen Grund, irgendwohin unbewaffnet zu gehen. Ohne seinen langjährigen Kameraden – der eine lag etwas sonderbar da, die Beine noch auf dem Stuhl, den Kopf auf dem Boden und mit idiotenhaft offen stehendem Mund, während die anderen beiden mit gesenkten Köpfen am Tisch hockten, als wären sie erschöpft – noch einen weiteren Blick zu schenken, ging er hinaus. Als er die Stufen hinter sich hatte und auf die Straße trat, wurden ihm einige Dinge bewußt. Seine Sinne waren schärfer, genauer. Die Fressia Avenue 55
erschien ihm wie ein Ausschnitt aus einem visionä ren Gemälde. Zum anderen wurde ihm plötzlich klar, wie schnell er sich auf eine derart radikale Änderung der Dinge eingestellt hatte, und mit dieser Erkenntnis verspürte er einen Anstieg seiner Vitalität, einen enormen Zuwachs an Kraft und persönlicher Aus strahlung. Der Kontakt mit dem Gedankenmonster hatte seine Seele aufgeladen und ihn auf ein neues Energieniveau gehoben. Zusätzlich hatte es seinem Unterbewußtsein einen Vorrat an außergewöhnlichen Gedanken und Ein sichten mitgegeben, auf die er zurückgreifen konnte, wenn sich die Notwendigkeit ergab, und die ihm bei der Karriere, die er bereits vor sich sah, sehr zustat ten kommen würden. Er fand rasch ein brauchbares Fahrzeug und fuhr damit zum am Rande der Stadt gelegenen Raumha fen, wobei er höhnisch jeden einzelnen Körper, der in seinem Weg lag, überfuhr. Am Hafen angekom men, mußte er ein Schiff auswählen, mit dem er auch allein ein nahe gelegenes, bewohntes (und unbetei ligtes) System erreichen konnte. Da er noch nie zuvor ein Raumschiff geflogen hat te, hätte Krakhno diese Aufgabe normalerweise weit von sich gewiesen. Doch dank seiner neuen Fähig keiten, derentwegen er sich schon beinahe über menschlich vorkam, zögerte er nicht eine Sekunde lang. Er suchte sich einen kleinen, schnellen Flitzer aus, die Privatjacht eines Industriekapitäns, mit einer Reichweite von hundert Lichtjahren. Während er sich 56
eifrig mit den Karten und Kontrollen vertraut mach te, gewann er rasch einen erstaunlich guten Einblick in die technischen Zusammenhänge und hielt sich anmaßenderweise schon für fähig, die Flucht zu be werkstelligen. Er hatte sich bereits grundsätzlich dagegen ent schieden, den Raumkommunikator für einen Hilferuf zu benutzen. Sein erster Raumflug zum Nachbarsys tem war zwar erfolgreich, brachte ihn jedoch nur zu einer Welt, die ebenso gründlich allen Lebens be raubt worden war wie seine eigene (was er durchaus vermutet hatte). Danach führten seine astrogatori schen Anstrengungen mehr und mehr in die Irre. Schließlich nahm er Zuflucht zu einem Notsignal und wurde von einem Frachtraumer aufgefischt, des sen Kapitän er eine verworrene Geschichte über ei nen defekten Computer erzählte. Der Kapitän, er schreckt durch die verwirrenden Ereignisse, die sich in dieser Gegend abspielten, und zudem verwirrt durch den Strom einander widersprechender Befehle, die von den Behörden ausgingen, schenkte ihm we nig Aufmerksamkeit. Bei der ersten Landung schlüpfte Krakhno vom Schiff und verschwand im Gewimmel einer Großstadt, wo er seine Anstrengun gen darauf richtete, eine Passage zu seinem wahren Bestimmungsort zu erhalten – zum Herzen des Rei ches Maximilia, dem Ort, wo (wie ihm sein Instinkt verriet) der erste Ausbruch einer gewaltsamen Revo lution sinnvollerweise in die Wege geleitet werden konnte. 57
Etwa zur gleichen Zeit, als Castor Krakhno in Ma ximilia landete und sich sofort in der Alten Stadt vergrub, berührte der Fleck Jundraks heimtückisch angelegtes Schlupfloch, das zu Prinz Peredans Lager führte. Er wartete. Schlupflöcher erstreckten sich durch das Universum wie ein unendliches Spinnennetz, und da er in den letzten Monaten reichlich gefressen hatte, gab es keinen Grund zur Eile. Nachdem er an diesem Ort eine Woche verweilt hatte, setzte er sich langsam in Richtung des ver stärkten Schlupfloches in Bewegung, wobei er noch immer das Aroma seiner letzten Mahlzeiten genoß und sie so voll auskostete. Die gemächliche Reise sollte mehrere Monate dauern.
58
5. Kapitel Da er den Smorn betreffenden Auftrag erledigt hatte, kehrte Jundrak wieder zu seinen normalen Pflichten als Oberst der königlichen Streitkräfte zurück. Einen Teil seiner Zeit verbrachte er auf recht an genehme Weise in der Hauptstadt, wo er in die auf regende, wenn auch etwas gekünstelt wirkende Ge sellschaft der Inneren Stadt eintauchte und gelegent lich abendliche Ausflüge in die Alte Stadt zu Ronda na unternahm. Sein Kommando machte es allerdings erforderlich, den größten Teil seiner Zeit auf der an deren Seite des Planeten zuzubringen, wo ein gehei mer Aufzug ihn in ein System riesiger unterirdischer Höhlen im Inneren des Kontinents trug. Jundraks hauptsächliche Qualifikation für den Smorn-Schachzug bestand (abgesehen von dem Um stand, daß der König ihn für einen »willigen jungen Burschen« hielt, der sich für alles hergab) vor allem darin, daß er an der Entwicklung des SchlupflochAntriebs beteiligt war. Dies allein war schon ein Be weis für die Absichten, die Maxim mit ihm hatte, denn vor dem Auftauchen des Flecks hatte der König gehofft, der neue Raumantrieb würde ihm den Sieg über Prinz Peredans Streitkräfte sichern. Was Jundrak betraf, so hielt er das Vertrauen, das König Maxim in ihn setzte, für eine Fehlkalkulation. Er hatte seine eigenen Vorstellungen davon, wie das wunderbare neue Schiff genutzt werden konnte. 59
Der in einer Felsspalte am Rande einer Schlucht verborgene Aufzug, der auf seinen Eigengeruch rea gierte – eine Methode, die erheblich fälschungssiche rer war als Stimmaufzeichnungen, Fingerabdrücke oder optische Überprüfungen –, sank mit hoher Ge schwindigkeit und stoppte schließlich bei den Ver waltungsbüros der Schiffswerft. Oberstleutnant Heen Sett, stellvertretender Kommandeur und, wenn die Wahrheit bekannt gewesen wäre, auch Jundraks eng ster Komplize, erwartete ihn bereits. Die Büros waren hoch oben in die Wand einer der größten Höhlen eingelassen. Breite, geschwungene Fenster gaben den Blick frei auf das, was Jundrak jedesmal in höchste Erregung versetzte: die Rümpfe von zwölf großen Schlupfloch-Schiffen, hintereinan der aufgereiht im gelben Licht der Deckenlampen. Die golden schimmernden Schiffe waren riesig und ließen die über ihre Flanken wimmelnden Monteure wie Ameisen erscheinen. Der in der Höhle herrschende Lärm wurde durch die schalldämmenden Fenster in ein Summen ver wandelt. Die Freude, die Jundrak in den letzten Wo chen verspürt hatte, steigerte sich, denn die Schlupf loch-Flotte war nun fast einsatzbereit oder zumindest weit genug, um die ersten Testflüge zu unternehmen, was nach seinem Plan auf das gleiche hinauslief. Und er konnte es kaum erwarten, daß diese goldenen Schiffe zur Oberfläche emporstiegen. Es gab eine Gesetzmäßigkeit beim SchlupflochAntrieb, wonach seine Effektivität im Verhältnis zur 60
bewegten Masse abnahm, und zwar unabhängig da von, welche Kräfte die benutzte Antriebseinheit ent wickelte. War ein Schiff klein genug, so wie etwa der glockenförmige Raumer, mit dem Jundrak nach Smorn gereist war, konnte es mit geradezu unglaub licher Geschwindigkeit das All durcheilen; doch auch die gigantischen Schlachtschiffe in der Höhle waren entschieden schneller als jedes andere Kriegs schiff und wiesen überdies – vorausgesetzt, sie be fanden sich in einer Raumfalte – eine Manövrierfä higkeit auf, mit der kein anderes Schiff mithalten konnte. Noch wesentlicher allerdings war ihre unbe grenzte Reichweite. »Schön, Sie zu sehen, Heen«, sagte Jundrak. »Wie sieht’s aus?« Der Oberstleutnant spähte durch die Glastür seines Büros, um sich zu vergewissern, daß die technischen Zeichner im Nebenraum alle mit ihrer Arbeit be schäftigt waren und kein ungebührliches Interesse an dieser Unterhaltung zeigten. Er hatte bereits einen lippenlesenden Spion, der von der Inneren Stadt ein geschleust worden war, ausgemerzt. »In technischer Hinsicht gut. Wir sind dem Plan voraus. Was die … andere Sache betrifft, müssen wir allerdings aufpassen.« »Hat es Ärger gegeben?« »Kommt drauf an, wie man es sieht. Ihre Idee, die se Basis komplett abzuschotten, war sehr gut. Ein paar der Beobachter und Agenten in unserer Mann schaft überreizten ihre Karten, als ihre normale Ver 61
bindung zur Außenwelt abgeschnitten wurde. Jetzt kennen wir sie natürlich – und es sind mehr, als wir dachten.« »Was haben Sie mit ihnen gemacht?« »Ein oder zwei besonders Unvorsichtige einge sperrt. Die übrigen gehen weiter ihren geheimen Ge schäften nach und fühlen sich sicher. Später können wir sie alle wegen Sabotage einkassieren.« Jundrak verzog amüsiert die Lippen. »Das ist et was enttäuschend. Ich hatte gedacht, Maxim hätte mehr Vertrauen zu mir.« »Nehmen Sie’s sich nicht zu Herzen. Er weiß ver mutlich nicht einmal, welches Ausmaß die Überwa chung hat. Ich bin ziemlich sicher, daß die meisten Spione auf eigene Faust von der Politischen Polizei hier eingeschleust wurden. Andere kommen mögli cherweise von anderen Abteilungen, die schlicht wissen möchten, was für Arbeiten hier durchgeführt werden. Spionage zwischen den einzelnen Ministe rien ist die natürliche Folge von Maxims Regie rungsstil. Da sind regelrechte bürokratische Reiche entstanden, die einander beargwöhnen und mit allen Mitteln nach Macht streben.« Jundrak, der die Schlupfloch-Flotte als sein per sönliches Reich ansah, verstand Heens Ausführungen genau. Heen trank einen großen Schluck trüben, dunkel braunen Whiskys, schenkte sich nach und gab auch Jundrak ein Glas. »Richtigen Ärger machen momen tan die Königstreuen, die sich über die Sicherheits 62
maßnahmen und die fehlende Kontrolle durch den Palast beschweren. Diese Maximiten sind eine wahre Plage. Draußen ist eine Abordnung, die Sie sprechen will.« »Und wann kann die Flotte starten?« »In weniger als einem Monat«, sagte Heen trium phierend und schluckte seinen Whisky. »Das ist früh genug. Lassen Sie sie herein.« Heen zuckte die Achseln, drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch und sprach in den Kommunika tor. Von allen Mitgliedern der riesigen Mannschaft der unterirdischen Werft war lediglich Heen Sett umfas send in Jundraks privates Vorhaben eingeweiht, das letztlich darauf hinauslief, die Schlupfloch-Flotte in seinen Besitz zu bringen. Bereits jetzt wirkte die Schiffswerft wie ein privates Reich: Über einen lan gen Zeitraum hinweg hatte er Männer seiner Wahl hierhergebracht und andere, deren Treue zur herge brachten Ordnung ihm zu stark erschien, wieder aus sortiert. Er sorgte dafür, daß jeder, der in dieser klau strophobischen Welt eingeschlossen war, auch häufi gen Kontakt zu ihm hatte, und bemühte sich dabei, sie durch seine Gegenwart zu beeindrucken und an zufeuern. Viele der übrigen Offiziere, die das Projekt überwachten, waren auch privat seine Freunde; er spürte, daß er sich auf sie verlassen konnte. Unglück licherweise war es in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich gewesen, sich des Wohlwollens des gesamten Stabes zu versichern, und jetzt be 63
schwerten sich einige über die Abschottung zur Au ßenwelt, die er ihnen aufgezwungen hatte. Die fünf tausend Mechaniker hatten natürlich nichts zu sagen, doch Offiziere und Konstrukteure mit einflußreichen Beziehungen innerhalb der gesellschaftlichen Hierar chie nahmen diesen Affront übel. Jundrak hoffte, Maxim könne, sofern er das Pro jekt erst einmal beendet und den Wert der Flotte nachgewiesen hatte, geneigt sein, ihm das Komman do darüber zu übertragen. Tatsächlich zielten all sei ne Intrigen, die er in der Inneren Stadt gesponnen hatte, darauf ab, seinen Fall zu unterstützen. Erging davon aus, daß König Maxims Herrschaft morsch, ja wankend war. Jedermann rätselte, ob sie sich doch noch zu einem dauerhaften (wenngleich tyranni schen) politischen Gebilde konsolidieren oder aber auseinanderbrechen würde. Jundrak ließ allerdings auch nicht den möglichen Einfluß der Rebellen auf die zukünftige Entwicklung außer acht, wobei er al lerdings der Ansicht war, ein vollständiger Sieg Prinz Peredans würde seinen eigenen Interessen kaum dienlich sein. Schließlich würde die Rückkehr des alten Königs zugleich die Rückkehr einer stabilen, gesetzestreuen Regierung bedeuten, die wenig Raum ließ für abenteuerlustiges, unverantwortliches Han deln – was Jundraks Leben erst die rechte Würze ver lieh. Nun, die Wiederherstellung der alten Monarchie besaß in seiner Vorstellungswelt ohnehin die ge ringste Wahrscheinlichkeit (insbesondere angesichts des Flecks). Was ihm vorschwebte, war irgendeine 64
Auseinandersetzung, eine Revolte oder etwas Derar tiges, die es der Schlupfloch-Flotte erlauben würde, Zünglein an der Waage zu spielen, und zwar zuguns ten der Seite, für die sich Jundrak entschied. Die Macht, die dem Kommandeur einer derartigen Flotte zufiel, war nahezu unvorstellbar, und falls das uralte Königreich, wie bereits einmal fast geschehen, in verschiedene Einzelreiche zerfiel, dann würde er in der Lage sein, sich den wahnwitzigsten all seiner Träume zu erfüllen – sein eigenes Reich. Jundrak nippte an seinem Whisky und dachte dar über nach, daß Ehrgeiz, wenn er sich einmal in die Seele eines Menschen eingenistet hatte, nicht mehr auszumerzen war. Von Jundrak und seinem Stellvertreter mit kalten Blicken empfangen, betrat die Abordnung der unzu friedenen Konstrukteure im Gänsemarsch das Büro. Jundrak kannte diese Sorte. Sie gehörten zu denen, die die Revolution unterstützt hatten und auch jetzt noch zu Maxim standen, weil sie glaubten, er vertrete soziale Reformen und könne, was sie als Verfall der Sitten betrachteten, aufhalten. Unfähig zu erkennen, daß Maxim sie lediglich für seine eigenen Zwecke benutzt hatte und das Leben unter ihm eher noch ausschweifender und zügelloser geworden war, ar beiteten sie weiterhin pflichtbewußt und führten zweifellos ein entweder abstinentes oder monogames Sexualleben. Ihre Kleidung war konservativ und ihre Aus drucksweise spröde. Unbehaglich wurde sich Jun 65
drak des Kontrastes bewußt, den sie im Vergleich zu ihm selbst und Heen in ihren aggressiven militäri schen Uniformen boten, deren bizarres Aussehen so vorzüglich dem politischen Klima dieser Zeit ent sprach: blitzende, schwarze Schaftstiefel, die bis zum Knie reichten, Tuniken mit leichtgerafften Röcken, die nur teilweise die übertrieben großen, gepanzerten Penishalter verbargen. In die Tuniken eingearbeitete Verstärkungen trugen die Waffen und sonstigen Aus rüstungen, die zur normalen Offizierskleidung gehör ten. Die spitzen Kopfbedeckungen, die sich teilweise nach hinten klappen ließen und dann kampffeste Helme waren, trugen das glitzerndschwarze Symbol M (für Maxim). Dieser Buchstabe war auf dramati sche Weise verfremdet worden. Die steil aufragenden Spitzen und die verschlungenen Enden verliehen ihm ein finsteres, abartiges Aussehen, das ihn wie einen Raubvogel erscheinen ließ, der über all den anderen Abzeichen und Insignien lauerte. »Sie wollten mich sprechen?« erkundigte sich Jundrak barsch. »Jawohl, Herr Oberst. Zuvor möchten wir uns je doch für die Inanspruchnahme Ihrer kostbaren Zeit entschuldigen.« Jundrak nickte knapp. Der Bursche sieht lächerlich aus, dachte er. Sein schwarzes, ölig glänzendes Haar hatte er in der Mitte gescheitelt und zu beiden Seiten herabgekämmt, und seine Hände hielt er in einer sal bungsvollen Geste vor dem Bauch gefaltet, als wolle er beten. Diese Haartracht war üblich bei jenen Leu 66
ten, man konnte praktisch alle daran erkennen. Jun drak erinnerte sich vage an diesen Mann. Er hieß Horrensott oder so ähnlich. »Fahren Sie bitte fort, dann verschwenden wir nicht noch mehr davon.« »Wir alle«, sagte der Sprecher, »sind von dieser andauernden Kontaktsperre betroffen. Sie ist eine große Belastung, zumal viele von uns Familie haben …« »Na, na«, unterbrach ihn Jundrak sanft. »Durch Ih re Arbeit hier wissen Sie sehr genau, daß es sehr gute Gründe für die Sicherheitsmaßnahmen gibt. Oder haben Sie etwa noch nicht bemerkt, wie wichtig dies Projekt ist? Dann will ich Ihnen anvertrauen, daß die Sicherheit des ganzen Reiches von uns abhängt. Überdies werden Sie für dies Opfer vorzüglich ent schädigt werden, das verspreche ich Ihnen.« »Wenn wir wenigstens an unsere Familien schrei ben könnten …« meinte ein anderer der Bittsteller. Mit einem einfachen Kopfschütteln schnitt ihm Jun drak das Wort ab. »Eine Sperre ist eine Sperre. Niemand, ich wie derhole, niemand außer mir darf Informationen in diese Basis hinein- oder herausbringen.« Sie blickten einander bedeutungsvoll an. »Mit Ver laub«, sagte der erste Sprecher, »in gewisser Weise betrachten wir gerade dies nicht als besonders sicher. Ein weiterer Grund unseres Hierseins bezieht sich nämlich auf den Fortgang des Projektes. Ohne irgend eine Überwachung, Beobachtung oder Kontrolle, wie 67
immer man das nennen will, durch übergeordnete Staatsorgane – wie kann da sichergestellt werden, daß das Projekt nicht von innen her sabotiert wird?« »Erklären Sie das«, sagte Jundrak mit einem war nenden Funkeln in den Augen. »Wir glauben, man müßte sich über die große Zahl zweifelhafter Individuen, die an diesem Projekt mit arbeiten, Gedanken machen«, fuhr Horrensott in sei nem salbungsvollen Tonfall fort. »Individuen, deren Kleider und Gewohnheiten fremdländisch wirken, mit dekadenten Sitten und ausschweifendem Le benswandel. Kurz gesagt, Individuen, die ungeeignet erscheinen, dem Wohl Seiner Majestät zu dienen.« Jundrak war leicht amüsiert über diese Darstellung seiner Freunde. »Ihr seid lange Zeit nicht mehr in der Hauptstadt gewesen«, erklärte er ihnen, »sonst wür det ihr erkennen, daß sie keineswegs fremdländisch, sondern durchaus normal gekleidet sind. Tatsächlich hinken sie sogar um mehr als eine Saison der modi schen Entwicklung hinterher, was zweifellos daran liegt, daß sie sich mehr um ihre Arbeit kümmern als um die Gewohnheit ihrer Kollegen.« Bei diesen letz ten Worten klang seine Stimme verärgert. Natürlich hatte Horrensott seine Rede auswendig gelernt. Der Mann trat vorsichtig auf und fürchtete sich, die Dinge so darzulegen, wie er sie sah: Daß nämlich irgend etwas falsch lief, wenn er auch nicht so recht wußte, was denn eigentlich. So wünschte er sich verzweifelt, nach draußen zu gelangen, um die Angelegenheit höheren Stellen zu unterbreiten. 68
In einem gespielten Anfall von Wut hieb Jundrak mit der Faust auf den Tisch. »Ihr besitzt die Unver schämtheit, hierherzukommen und meine Entschei dungen, meine Loyalität anzuzweifeln. Was wißt Ihr denn schon von den Hintergründen dieses Projektes, ihr, die ihr an euren Tischen hockt und ein paar Schrauben konstruiert …« Mit einem Ausdruck des Abscheus wandte er sich ab. Die Leute erröteten. Er hatte sie erfolgreich in die Enge getrieben. »Wir fragen uns, ob der König weiß, was hier un ten vorgeht«, platzte einer hitzig heraus, »ob er weiß, wie seine Untertanen hier behandelt werden.« Die übrigen murmelten beifällig. »Das wollt ihr wissen, ja? Dann fragt ihn doch!« Jundrak lehnte sich zum Kommunikator hinüber und drückte eine Reihe von Knöpfen. Das wohlbekannte Signal der Zentrale des königlichen Palastes drang aus dem Lautsprecher. »Kommt her, ihr könnt mit dem König sprechen. Ich werde das in die Wege leiten. Ich zeige euch auch den Umgang mit dem Zerhacker.« Er schaute sie lauernd an. »D… Der König? Ihn selbst? Jetzt?« Horrensott stotterte vor Schreck. »Wie ist das möglich?« »Habe ich euch nicht gesagt, wie wichtig unsere Arbeit ist? Der König ist zu jeder Tages- und Nacht zeit bereit, einen Anruf von mir anzunehmen. Das zeigt, wie er die Arbeit hier einschätzt. Er erwartet, daß ihm jegliche Entwicklung sofort mitgeteilt wird. 69
Er selbst war es, der die Sicherheitssperre angeordnet hat, und er selbst gibt auch seine Zustimmung zu al len größeren Entscheidungen.« Diese nackte Lüge ging ihm glatt über die Lippen. Sein entrüsteter »Ich bin heiliger als ihr«-Tonfall und die Furcht, plötzlich mit ihrem Herrscher konfrontiert zu werden, hatte sie verängstigt und eingeschüchtert. Sie glotzten dümm lich auf den Bildschirm, der im Moment lediglich die hübschen, aber sinnlosen Farbspiele des Zerhackers zeigte. »Wollt ihr ihn nun sprechen?« Horrensott schüttelte betäubt den Kopf. Erleichtert schaltete Jundrak, der den König genausowenig hätte erreichen können wie den Tod persönlich, das Gerät ab. Der Bildschirm und das Empfangssignal erlo schen. »Entschuldigen Sie … bitte, Herr Oberst«, sagte Horrensott bewußt demütig. »Mit Ihrer Erlaubnis werden wir uns zurückziehen.« »Schon gut, schon gut.« Jundrak streckte ihnen demonstrativ seine Hand entgegen. »Ihr sollt wissen, daß, obgleich eure Besorgnis unbegründet war, eure Wachsamkeit gleichwohl zu loben ist.« Als die Besucher gegangen waren, stieß Heen ein häßliches Lachen aus. »Alter Halunke!« Jundrak zuckte die Achseln und grinste, höchst zu frieden mit sich selbst. »Mit Leuten wie denen kann man am leichtesten fertig werden. Fanatiker.« »Sollen wir weitere Schritte unternehmen?« 70
»Nein, wir müssen jetzt nur dafür sorgen, die Din ge im Griff zu behalten, bis die Flotte startbereit ist. Sobald die Zeit reif ist, werden wir improvisieren müssen. Ich muß Maxim davon überzeugen, daß die Leute, die ich hergebracht habe, zum Betrieb der Flotte gebraucht werden. Vermutlich kann ich darauf hinweisen, daß die neuen Maschinen besondere Kenntnis und Erfahrung voraussetzen. Und falls sonst jemand Ärger macht, werden wir zusehen müs sen, wie wir ihn loswerden. Möglicherweise müssen wir eine Explosion im Testgebiet arrangieren oder etwas dergleichen.« Heen trank den letzten Rest seines Whiskys. »Sie sind richtig cool, das muß man Ihnen lassen. Fürch ten Sie nicht, all dies könnte auf Sie zurückschla gen?« »Kann ich mir nicht vorstellen. Spielen Sie manchmal Schach? Der Witz dabei ist, die eigenen Züge zu verbergen. Man darf nicht Irreversibles tun, solange nicht die Situation selbst irreversibel ist. Die Flotte wird in einem Monat startklar sein, haben Sie gesagt. Die Versuchsflüge geben uns die Möglich keit, eine Basis einzurichten.« »Eine Basis?« »Genau. Wir brauchen einen Stützpunkt, von dem aus wir im Notfall operieren können. Ein paar Licht jahre von hier hält sich eine Gruppe zwielichtiger Burschen in einigen Asteroiden versteckt. Soviel ich hörte, haben sie mehrere dieser Felsbrocken ausge höhlt und recht ordentlich ausstaffiert. Das wäre ge 71
nau, was wir brauchen. Wir werfen die Burschen da raus und schaffen dann alles herbei, was wir benöti gen, um daraus eine richtige Basis für die Flotte zu machen. Außerdem setzen wir eine Notbesatzung dort ab, die sich um die weiteren Lieferungen küm mert. Wenn wir das richtig aufziehen, wird niemand davon erfahren.« »Diese Leute, die jetzt schon dort sind – was sind das für Burschen? Flüchtige Verbrecher?« »Ach, das ist nur Raummüll. Sie kennen das sicher. Sie fangen als ordentliche Bergwerksgesellschaft an, kriegen den Laden nicht ans Laufen und sind schon bald nichts weiter als eine Bande, die zu allem bereit ist.« Er lachte hohl. »Genau das, was auch dem Reich passiert ist, wenn man mal darüber nachdenkt.« Er schaute hinab auf die riesigen Schiffe. Sie schimmerten golden, voller Verheißung. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang – und fast drei Monate nach Jundraks Besuch – läutete eine Glocke in Prinz Peredans Schlafgemach. Er erwachte sofort, glitt aus seinem Bett und drückte einen Knopf an seinem Nachttisch. Ein kleiner Videoschirm, ver steckt zwischen Blumen und juwelenbesetzten Käst chen, leuchtete farbig auf. »Ja?« Ein kräftiges, junges Gesicht, dessen roter, grob haariger Schnurrbart und die entsprechenden Kotelet ten den Kopf wie den eines eifrigen jungen Ebers erscheinen ließen, starrte aus dem Schirm heraus.
72
»Meldung von den Beobachtungsschiffen, Euer Ho heit. Feindliche Streitkräfte haben in acht Lichtjahren Entfernung Stellung bezogen. Sieht aus wie die Vier te Flotte.« Es war also geschehen! »Nur die Vierte?« fragte er nach. »Nun, wahr scheinlich lauern noch andere weiter draußen. Haben Sie es Drap mitgeteilt?« »Er wird soeben informiert, Euer Hoheit!« »Sagen Sie ihm, er soll mich sofort im Komman doraum treffen. Ach, übrigens – die Vierte Flotte liegt still, oder? Sie bewegt sich nicht auf uns zu?« »Sie liegt still, Euer Hoheit!« bellte das glotzende Gesicht. »Und welche Antriebsart haben sie benutzt?« »Konventionelle Triebwerke, soweit wir feststel len konnten, Euer Hoheit. Natürlich hervorragend abgeschirmt. Normalerweise hätten wir sie nie so weit draußen entdecken können.« Peredan nickte zufrieden und trennte die Verbin dung. Dann tippte er ein bestimmtes Muster auf der Konsole, die ebenfalls zwischen den Blumen auf sei nem Nachttisch lag, und löste Großalarm aus. Hastig zog er sich an, spritzte sich parfümiertes Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit einem flauschigen Handtuch. Unterdessen ließ er alle we sentlichen Punkte vor seinem inneren Auge ablaufen und überprüfte sie zum hundertsten Mal unter allen möglichen Blickwinkeln. Dies war die Nachricht, auf die er gewartet hatte. 73
Seit der Aufdeckung von Jundraks Betrug hatte er einen besonderen Wachdienst eingerichtet, der au ßerhalb des Smorn-Systems stationiert war, um den Raum jenseits der normalen Überwachungsgrenzen zu beobachten. Er war sicher gewesen, daß Maxim in der Erwartung, er werde das Lager räumen, diesen Moment der Schwäche für einen Angriff nutzen und deshalb seine Streitkräfte in den Tiefen des Alls ver bergen würde, wo sie unbeobachtet auf ihre Chance warten konnten. Doch Peredan steckte keineswegs inmitten einer Umquartierung, sondern befand sich in voller Kampfbereitschaft und war willens, den ersten gro ßen Schlag seit vielen Jahren zu wagen. Und er war durchaus fähig, Maxim eine blutige Nase zu verpas sen. Diener und Ordonnanzen umlagerten aufgeregt die Tür seines Schlafgemaches. Er stürmte zwischen ih nen hindurch und strebte schnellen Schrittes zum Kommandoraum. Dumpfer Lärm drang vom Lager her zu ihnen: Das tiefe Grollen startender Schlacht schiffe. General Drap wartete bereits im Kommandoraum, genau wie die übrigen Mitglieder des Generalstabs, die ebenfalls aus ihren Betten geholt worden waren: Emshaller, Koryd, Freer, Vourd. Diensteifrige junge Offiziere standen längs der Wände und folgten auf merksam den Vorgängen, wie es ihrer Pflicht ent sprach, denn zu gegebener Zeit würden sie einmal ähnliche Verantwortung tragen. 74
Bei seinem Eintritt nahmen die Anwesenden Hab acht-Stellung ein. Mit einer Handbewegung bedeute te er ihnen, sich zu rühren. »Plan A scheint brauchbar, Drap. Sind Sie einver standen?« sagte er ohne Einleitung. Drap nickte. Sein rundes, rotes Gesicht wirkte ernst. Er beobachtete unter buschigen Augenbrauen hervor einen Startvorgang auf einem der zahlreichen Wandschirme. »Kein anderer wäre besser. Aber wir müssen schnell dort sein.« »In sechs oder sieben Stunden kann der Angriff beginnen.« Während er sprach, überprüfte Peredan ebenfalls den Startvorgang, indem er Informationen in eines der zahlreichen Computer-Terminals einspeiste. Die Besatzung des Kommandoraums nahm ihre Plätze ein, als sich die Angriffsflotte im Orbit um Smorn formierte, und prüfte, rechnete und überwachte. Allein die Vorbereitung eines Angriffs dieser Grö ße war eine Operation, deren Abwicklung langjähri ger Übung bedurfte. Und während der Stunden zwi schen dem Start aus der Umlaufbahn und der An kunft im Zielgebiet ging die Arbeit weiter in Form einer permanenten Interaktion zwischen der Kom mandozentrale und den einzelnen Einsatzgruppen, wobei Kurse, Schlachtordnung und selbst die Aus rüstung immer wieder überprüft wurden. Und als der kritische Punkt näherrückte, stellte die Zentrale be friedigt fest, daß jeder einzelne seine Aufgabe kannte 75
und daß jedes Teil in erstklassigem Zustand war, also hundertprozentig funktionierte. Vertrautheit selbst mit den unwichtigeren Teilen der Kriegführung war etwas, das Peredan nachdrücklich von seinem Gene ralstab gefordert hatte, und gerade aus diesem Grund hatten seine Mitglieder spezielle Kurse zum Ge dächtnistraining absolviert. Die Arbeit lief reibungslos, und Stunde um Stunde wuchs die Spannung im Kommandoraum. Als die Angriffsflotte sich dicht vor Erreichen der Schuß distanz befand, nahm Peredan auf einem thronähnli chen Sitz Platz, von dem aus er auf einen großen, runden Tisch in der Mitte des Raumes hinabschauen konnte. General Drap setzte sich ihm gegenüber auf den einzigen anderen Platz. Als Peredan die in der Armlehne eingelassenen Kontrollen berührte, wurde die mahagonifarbene Oberfläche des Tisches durchsichtig und zu einem Fenster ins All, gesprenkelt mit diamantenen Ster nen. Dieser große Bildschirm war das wichtigste Hilfsmittel zur Steuerung der Schlacht. Er vermochte sowohl visuelle als auch graphische Darstellungen zu liefern, und darüber hinaus konnte er auch zur Über prüfung von Alternativen benutzt werden, denn sein Computer vermochte gesprochene Worte in optisch wiedergegebene Prognosen umzuwandeln. Ange spannt wartete Peredan auf das Signal des Flagg schiffs, das ihm anzeigen würde, wann die Kampf distanz erreicht war. 76
Peredan berührte eine andere Taste. Auf dem Schirm erschien eine Reihe farbiger Punkte, die die Positionen der Vierten Flotte anzeigten, so wie sie von den Wachschiffen beobachtet wurden. Die kö nigliche Flotte (aus Peredans Sicht die Flotte des Usurpators) hielt eine recht enge Formation ein. Of fenbar rechnete der Gegner nicht mit einem Angriff, sondern erwartete in aller Ruhe die Nachrichten, die ihm seine Spione aus dem Smorn-System zukommen lassen würden. Die verschlüsselte Meldung des Flaggschiffes kam klar durch. Peredan entnahm den Speichern die Posi tion seiner eigenen Flotte, fügte die kontinuierlich von den Schiffen ausgesandten Daten hinzu und überspielte sie auf den Schirm. Er und Drap beugten sich aufmerksam vor, als er anfing, Befehle aus zugeben. Was Anzahl und Kampfkraft betraf, so waren die Rebellen der von König Maxim ausgesandten Vier ten Flotte knapp überlegen. Prinz Peredan hatte je doch stets gewußt, daß er sich kaum auf eine zah lenmäßige Überlegenheit hätte verlassen können und deshalb das Schwergewicht auf überlegene Strategie, überlegene Ausbildung und überlegene Waffen ge legt. Falls die Vierte Flotte alles war, was ihm gegen überstand, dann hielt er den Ausgang für sicher. Die Streitkräfte der Rebellen hatten sich bereits über ein weites Gebiet verteilt und ein Netz gebildet, das sich jetzt um die Vierte Flotte zuzog. Ein Schwarm von Atomraketen jagte auf den Feind zu. 77
Der Vorteil der Überraschung währte nur etwa zehn Minuten, doch das genügte, um die Vierte Flot te von einem Ende bis zum anderen zu erschüttern. Schiff um Schiff verschwand in den weißen Glutbäl len der nuklearen Explosionen, bis die Flotte aus schwärmte, um dem tödlichen Bombardement zu entfliehen. Dann, als sie den Ring der Angreifer er reichte, begann eine Periode des wirren, ungesteuer ten Kampfes. Jedes Schiff manövrierte unabhängig und setzte sich gegen einen oder mehrere Angreifer zur Wehr, teilte Garben tödlicher Strahlen aus und versuchte, den Gegenschlägen auszuweichen. Hauptwaffe beider Seiten waren Atomraketen ver schiedener Stärke, die einzeln oder in Gruppen abge feuert wurden. Wenn sie trafen, führte das zu soforti ger, totaler Vernichtung, doch die Ausweichfähigkeit der Kampfschiffe war groß und direkte Treffer daher selten, abgesehen von gelegentlichen zufälligen Zu sammenstößen mit den Tausenden ungezielt umher fliegender Raketen, die schon bald das Kampfgebiet bedeckten. Häufiger waren Beinahe-Treffer, die blu tige Zerstörungen zur Folge hatten, die wenig Hoff nung auf Rettung ließen. Die zweite Waffe der Schif fe stellten starke Gamma-Strahler dar, mit denen sie versuchten, einander gegenseitig die außenbords an gebrachten Geräte – Raketenwerfer, optische Erfas sung und dergleichen – zu zerstören, um den Gegner kampfunfähig zu machen oder so weit zu behindern, daß er einem Raketenangriff nicht mehr ausweichen konnte. 78
Peredan ließ den Einzelkampf eine Weile andau ern und unterhielt sich unterdessen mit Drap über diesen oder jenen Aspekt der Schlacht. Nach einem erfolgreichen Erstschlag gab es stets eine Periode, in der auch die Einzelkämpfe zugunsten des Angreifers ausfielen, zumindest so lange, bis die andere Seite ihren Kampfgeist wiedergefunden hatte. Der ganze Trick bestand darin, den Kampf zum richtigen Zeit punkt abzubrechen und sich neu zu organisieren. Inzwischen lieferte der blitzende, funkelnde Schirm Bilder aus allen Teilen des Kampfgebietes. Sie sahen Schiffe, die zerbrachen, sich auflösten. Sie sahen sie Wolken von Menschen in den Raum schleudern, verzweifelte Männer, die von Schiffen flüchteten, deren Instrumente anzeigten, daß sie in den nächsten Sekunden explodieren würden. Nur wenige dieser Flüchtlinge konnten den sich rasch ausdehnenden Feuerbällen entkommen, und diejeni gen, die es schafften, konnten sich glücklich schät zen, falls man sie auffischte. Als er den Zeitpunkt für gekommen hielt, sandte Peredan einen Befehl zum mehrere Lichtjahre ent fernten Flaggschiff. Als der Ruf hinausging, lösten sich alle Schiffe, die dazu noch in der Lage waren, aus den Kämpfen und flogen mit Höchstgeschwindigkeit mehrere Millionen Meilen in südlicher Richtung, wo sie sich zu einem großmaschigen, aber regelmäßigen Gitter formierten. Unter der Leitung des Flaggschiffes wählte das Gitter ein Ziel nach dem anderen aus und vernichtete es durch konzentriertes Feuer. 79
Die Antwortsalven der Vierten Flotte schadeten dem driftenden, tanzenden Gitter kaum. Zahlenmä ßig jetzt erheblich unterlegen, herrschte bei ihren Kommandeuren offensichtlich eine gewisse Unsi cherheit bezüglich des nächsten Zuges. Die Alterna tiven allerdings waren eindeutig: Angriff oder Flucht. Peredan wartete gelassen ab, wie die Ent scheidung ausfallen würde, und genoß derweil, wie alle paar Minuten eines der Feindschiffe aufflammte und dann vom Schirm verschwand. Dann drehten die Überreste der Vierten Flotte bei, nahmen Fahrt auf und versuchten, außer Reichweite der Rebellen zu gelangen. General Drap schaute Peredan erwartungsvoll an. Eine Frage stand in seinen Augen: Sollten sie die Jagd freigeben? Peredan zögerte. Sein Verstand, sei ne Erfahrung und sein Instinkt sagten ihm, daß die Schlacht nicht einmal zur Hälfte vorbei war, daß eine Verfolgung sie in eine Falle locken würde, daß sie das fünfzig Jahre alte Lager auf Smorn ungeschützt zurücklassen mußten. Er schüttelte den Kopf und war sich dabei der Mißbilligung der jüngeren Offiziere und sogar eini ger Mitglieder des Generalstabes bewußt – zumin dest diese, sagte er sich verärgert, müßten es eigent lich besser wissen. »Position halten«, befahl er. Er berührte die Kontrollen in der Armlehne. Die glühenden Punkte, die die Kampfschiffe verkörper ten, schossen auf das Zentrum des Schirms zu, als 80
sich der Abbildungsmaßstab mit schwindelerregen der Schnelligkeit vergrößerte. Es gab eine lange, spannungsvolle Pause, als sie zuschauten, wie die geschlagene Vierte Flotte langsam auf den Rand des Schirms zukroch. Und dann wurde Peredans Entscheidung vollauf gerechtfertigt. Eine neue Wolke von Punkten tauchte am Rand auf: Die Nachhut von Maxims Streitkräften nahm den Kampf auf. »Neuankömmlinge identifiziert als Fünfte Flotte«, sagte eine geschäftsmäßig klingende Stimme. Peredan fröstelte. Nur die Fünfte Flotte? Er hätte erwartet, daß Maxim alles aufbot, was ihm zur Ver fügung stand, die Dritte Flotte und vielleicht auch noch die Achte, obgleich letztere auf der anderen Seite des Reiches operierte und möglicherweise nicht transferiert werden konnte. Hatte Maxim ihn unter schätzt? Oder war die Dritte Flotte irgendwo in der Galaxis damit beschäftigt, Angst und Schrecken zu verbreiten? Eine dritte Möglichkeit beunruhigte ihn besonders. Was, wenn die eben eingetroffene Fünfte Flotte mit dem neuen Antrieb ausgerüstet war, der Jundrak nach Smorn gebracht hatte? Eine neue Art der Fort bewegung, die seine eigenen Schiffe völlig deklas sieren würde? Der nächste Kampf würde die Antwort liefern. Die Fünfte Flotte näherte sich in der Form eines großen Rades. Zum Zentrum hin, dort, wo sich die Kom 81
mandoeinheiten befanden, hatten die Schiffe dichter aufgeschlossen und strebten von dort aus spiralför mig nach außen. Das ganze Gebilde rotierte langsam. Die »Galaktische Formation«, wie sie genannt wurde, hatte ihre Vorteile: Es war unmöglich, an die Kommandoeinheiten heranzukommen, ohne sich gleichzeitig dem konzentrierten Feuer der gesamten Scheibe auszusetzen. »Plan C durchführen«, sagte Peredan. In dem Bewußtsein, daß seine frühere zahlenmä ßige Überlegenheit jetzt dahin war, lauschte er, wie sein Befehl mit einem Strom zusätzlicher Daten und Befehle angereichert wurde. Plan C war ein takti scher Rückzug, eigens entworfen, um gleichzeitig mehrere Effekte zu erzielen. Er verlangte ein Beidre hen in Richtung auf Smorn sowie einen Halt etwa ein Lichtjahr oberhalb der Ekliptik. Dadurch blieb Smorn geschützt, man gewann Zeit für eine Neuord nung und vermittelte überdies dem Gegner das unan genehme Gefühl, in eine Falle zu laufen. Die königlichen Schiffe folgten zögernd und stoppten schließlich in sicherer Entfernung, wobei sie ihre Formation beibehielten. Die Überreste der Vierten Flotte schlossen zu ihnen auf, um Flanken schutz zu geben. »Taktik F«, ordnete Peredan an. Die Gitterformation brach zusammen und verwan delte sich in eine kugelförmige Masse. Noch bevor das Manöver vollendet war, stürzte sich die gesamte Flotte auf den Gegner. 82
Die Schiffe beschleunigten mit Höchstwerten. Die heranrasende Masse sandte einen heißen, tödlichen Stab aus Raketen und Gamma-Strahlen aus, der alles in seinem Weg vernichtete. Dann durchschlugen die zusammengeballten Schwadronen wie ein solides Geschoß das vergleichsweise dünne Rad im oberen Drittel. Der Kontakt dauerte höchstens einige Sekun den, doch in dieser Zeit riß die Kugel, die auf alles feuerte, was in ihrer Reichweite lag, ein klaffendes Loch in die feindliche Formation. Der Schwung der Kugel trug sie lichtjahrweit über ihr Ziel hinaus. Mit einer Rücksichtslosigkeit, die alle Maschinen kreischen ließ, machte die Formation kehrt und pflügte sich abermals durch den Feind – diesmal aus der anderen Richtung. Eine von Peredans Fragen war damit bereits be antwortet: Die feindliche Flotte reagierte nicht schnell genug, als daß sie einen neuartigen Antrieb besitzen konnte. Oder falls sie ihn besaß, konnte er nur geringfügig besser sein als das alte Modell. Beim dritten Versuch, die tödliche Kugel durch seine Reihen zu jagen, war der Feind jedoch vorbe reitet. Abrupt zog sich das Rad zu einer ähnlich dichtgepackten Masse zusammen und bildete die gleiche Formation wie die Rebellen – und damit auch ein ebenso gutes Ziel für weitreichende Waffen. Für einen kurzen Moment entstand ein dicker, fast greifbarer Doppelstrahl aus Energie und Raketen zwischen den beide Flotten. Langsam lösten sich beide Formationen auf, um dem unwiderstehlichen 83
Strahl zu entgehen, näherten sich dabei einander und befanden sich alsbald im gleichen chaotischen Hand gemenge wie zuvor. »Ich brauche eine Kampfauswertung«, sagte Pere dan. Im gleichen Moment schwankte die Szene auf dem Schirm und erlosch; das Aufklärungsschiff war getroffen worden. »Verdammter Mist«, kommentierte Drap das Er eignis mit seiner grummeligen Stimme. »Sollten wir nicht irgendwas tun? Wie wäre es mit Taktik Y?« Peredan schaute trübe in Draps rundes Gesicht. »Ich glaube nicht. Alles, was wir tun konnten, haben wir bereits getan. Durch weitere Manöver ist nichts mehr zu gewinnen. Von jetzt an bleibt nur noch der harte Einzelkampf.« Während sie sprachen, herrschte ringsum hekti sche Aktivität, da die unteren Ränge sich bemühten, den Kommandoraum wieder mit Informationen zu versorgen. Mit beeindruckender Schnelligkeit wurde ein anderer Aufklärer eingesetzt, und das Bild auf dem Schirm erwachte zu neuem Leben. Vier Stunden waren bereits seit dem ersten Schlagab tausch verstrichen, was, wenn man den Hinflug mit zählte, insgesamt zehn Stunden Streß und Anspan nung ergab. Als der Kampf Stunde um Stunde wei terging, nahm Peredan Aufputschmittel, um sich einsatzfähig zu halten. Langsam, aber unaufhaltsam verhießen die Schlachtauswertungen seiner Seite den Sieg. 84
Schließlich, mehr als die Hälfte von Maxims Flot te war bereits vernichtet, versuchten die Überleben den, sich abzusetzen. Peredan hatte dieser Absicht bereits vorgebeugt, indem er trotz des heftigen Feu ers eine Reihe von Schiffen abgezogen hatte, die den Rückzug verhindern sollten. Er wollte dem Gegner den größtmöglichen Schaden zufügen. Der Kampf wurde immer verzweifelter. Er wurde jetzt von Män nern geführt, die nicht mehr an den Sieg dachten, sondern nur noch ums Überleben kämpften. In einem letzten, großen Aufbäumen brachen die Reste der Vierten und Fünften Flotte durch und setz ten sich heimwärts ab. Den Berechnungen nach wür de nur ein Drittel der königlichen Expedition zu ihrer Basis zurückkehren. Als der Schirm die geschlagenen Gegner zeigte, die das Schlachtfeld mit Höchstgeschwindigkeit ver ließen und sich dabei nicht um das Schicksal ihrer Kameraden kümmerten, die mit defekten Antrieben zurückblieben, wurden Hochrufe im Kommandoraum laut. Doch Peredan unterbrach das Jubelge schrei ärgerlich. Mit steinernem Gesicht lauschte er bereits den Schadens- und Verlustmeldungen, wäh rend sich die Flotte noch zur Bestandsaufnahme sammelte. Er mußte herausfinden, ob sie nötigenfalls tiefer ins Reich vorstoßen und eine weitere Schlacht überstehen konnten. In diesem Stadium war das allerdings weitgehend reine Ansichtssache. Prinz Peredan frohlockte zwar innerlich über den Ausgang der Schlacht, doch als er 85
sich vorbeugte, um die Berichte zu empfangen, wur de sein Gesicht nur noch sorgenvoller. Auch am Tag nach dem Sieg herrschten im Lager der Rebellen noch immer Freude und höchstes Selbstver trauen. Auf der Siegesfeier, die er anberaumt hatte, wurde Peredan mit dem drängenden Wunsch bom bardiert, den neugewonnenen Vorteil auszunutzen. Die Feier war tatsächlich ein wichtiger Punkt für Peredans weiteres Vorgehen. Alle Mitglieder jener Familien, die noch zu seiner Anhängerschaft gehör ten, waren anwesend, desgleichen alle Offiziere vom Rang eines Kapitäns aufwärts mit Ausnahme derer, die Wachdienst hatten. Selbst der alte König erschien kurz, von brandendem Beifall empfangen, bevor er sich wie üblich in seine Privatquartiere zurückzog. Die allgemeine Erwartung weiterer Schritte empfand Peredan als starken Druck, dem er sich nur schwer widersetzen konnte. »Die Tore des Königreiches stehen weit offen!« behauptete ein junger Major lauthals. »Wir können uns die Schlachtplätze selbst aussuchen und sie nach und nach fertigmachen, bis nichts mehr übrig ist!« Der Mann hatte viel getrunken, wie alle anderen auch, und stürmischer Beifall begleitete seine Worte. Lediglich General Drap und ein paar andere unter den älteren Offizieren blieben still. Drap saß mit nie dergeschlagenen Augen da, sein rundes, blühendes Gesicht zeigte keine Regung. Sie verstehen es, dachte Peredan. Die anderen sind 86
bereit, ein Spiel zu wagen, wollen sich ins Abenteuer stürzen. Zu lange Zeit kannten sie nichts als Drill, und jetzt haben sie Blut geleckt. Doch Drap weiß, was ich im Sinn habe. Es war eine Tatsache, daß fünfundzwanzig Pro zent der Schiffe, die am Kampf teilgenommen hat ten, zerstört worden waren. Weitere dreißig Prozent bedurften aufwendiger Reparaturen, die Wochen und Monate dauern würden. Bei einem sofortigen Einsatz konnte er somit nur mit der Hälfte dessen rechnen, was er zuvor eingesetzt hatte. Maxim besaß dagegen noch drei intakte Flotten – die Dritte, die Achte und die Elfte (die Nummern entsprachen der Reihenfolge ihrer meist Jahrhunderte zurückliegenden Gründung; Lücken in der Zahlen folge wiesen auf Flotten hin, die nicht mehr existier ten). Überdies wurde jede dieser Flotten durch zahl reiche Jagdgeschwader unterstützt. Und selbst wenn diese Flotten völlig vernichtet waren, wäre der Kampf noch nicht vorüber, denn dann stünde man vor der mühsamen und schwierigen Aufgabe, Ma xims landgestützte Macht auf Tausenden von Plane ten zu unterwerfen. Zugegebenermaßen waren die Verluste seiner ei genen Flotte nur unwesentlich höher, als er erwartet hatte, und wenn er sich vor Augen hielt, daß Maxims Flotten innerhalb des riesigen Königreiches verstreut und überdies wohl kaum geschlossen stationiert wa ren, dann standen die Aussichten, sie Stück um Stück zu überrennen, durchaus gut. Doch trotz allem 87
schätzte Peredan die Wahrscheinlichkeit eines end gültigen Sieges nicht größer als fünfzig zu fünfzig ein; anders ausgedrückt, er konnte genauso leicht al les verlieren wie alles gewinnen. Den jungen Leuten ringsum genügte das. Doch Pe redan reichte es nicht. Eine weibliche Stimme bohrte sich in seine Über legungen. »Es wäre wunderbar, wieder in Unimm zu sein. Ich habe es furchtbar vermißt!« Die Frau war die Herzogin von Alavar, deren Ehemann, der Herzog von Alavar, während des Bür gerkriegs gefallen war. Peredan lächelte in ihre Rich tung. »Das haben wir alle, Madame. Unglücklicherweise lassen sich politische Probleme nicht durch private Wünsche lösen. Es kann noch eine Weile dauern, bis wir unseren rechtmäßigen Status wiedererlangt haben.« Die Herzogin wandte ihm fragend ihr kosmetisch perfektioniertes Gesicht zu. Der Offizier, der zuvor gesprochen hatte, unterbrach ihre Unterhaltung mit einem beunruhigten Gesichtsausdruck. »Aber Euer Hoheit! Ist nicht jetzt die richtige Zeit, dem Usurpator den Todesstoß zu versetzen? Nie zu vor hatten wir eine Chance wie diese!« »Ich gebe zu, Major, daß unsere Lage besser ist denn je. Doch eine sorgfältige Analyse der Situation zeigt, daß unsere Zeit noch nicht gekommen ist. Wir haben unsere militärische Stärke bewiesen, und das muß für den Moment reichen.« 88
»Aber, Euer Hoheit, wieso?« Peredan übersah diese Impertinenz, wußte er doch, daß seine Worte einen Mißklang in die Feier ge bracht hatten. »Militärische Entscheidungen und po litische Entscheidungen sind untrennbar miteinander verknüpft«, sagte er. »Und nicht nur die militärische Situation muß besser sein, als sie jetzt ist, sondern auch die politische Lage muß dem entsprechen.« »Und wann wird das sein?« fragte die Herzogin mit einem ätzenden Unterton in der Stimme. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt dürfte der Usurpa tor Maxim Angst haben. In seiner tölpelhaften Art wird er wahrscheinlich Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ergreifen und dadurch die Erinnerung an die Regierungszeit meines Vaters wieder wachru fen. Unterdessen sollten wir detaillierte Analysen der Schlacht erstellen, die uns befähigen, den nächsten Kampf noch besser zu überstehen.« »Das hoffe ich«, erwiderte die Herzogin hochmü tig. »In den letzten fünf Dekaden ist unser Grundbe sitz auf Alavar regelrecht ruiniert worden durch die se dreckfressenden Bauern, die Maxim dort ausge setzt hat. Ich warte mit Ungeduld darauf, sie in ihre Slums zurückzujagen und das Land wieder in einen angemessenen Zustand zu versetzen.« Peredan kehrte zu seinen Überlegungen zurück und ignorierte das veränderte Verhalten ringsum. Die Gründe, die er angeführt hatte, stimmten zwar prin zipiell, doch er selbst sah sie detailliert, komplexer und daher auch schwerer zu erklären. Zum einen gab 89
es zu viele Unbekannte in der Gleichung. Er rätselte noch immer, weshalb Maxim nicht auch die Dritte Flotte der Expedition zugeschlagen hatte. Es wäre erklärlich, wenn die Flotte andernorts im Einsatz ge wesen wäre, um irgendwelche Unruhen niederzu schlagen, doch Peredans Agenten innerhalb des Rei ches hatten nichts dergleichen berichtet. Konnte es sein, daß er übervorsichtig war, daß er sich selbst überlistete, indem er aus purer Angst un erfüllbar perfekte Bedingungen verlangte? Er konnte es sich nicht vorstellen … schließlich wäre es eine Erleichterung, alles zu riskieren, wie es seine Kame raden forderten, denn wenn er verlor, war er auch die Last der Verantwortung los. Nein, sagte er zu sich selbst und schob alle Zweifel beiseite, wenn wir zuschlagen, muß dieser Schlag ent scheidend, unwiderruflich und unwiderstehlich sein. Nur ein Schachmatt zählt. Lichtjahrhunderte entfernt beschleunigte der Fleck seine Bewegung langsam. Er fühlte sich nicht mehr so überfressen, und sein Appetit auf Lebenskraft kehrte allmählich zurück. Er wußte nicht, was am Ende dieser bequemen, anziehenden Raumfalte lag, doch er spürte, daß sich irgend etwas dort befand. Etwas Schmackhaftes. 6. Kapitel »Verschwinde, Mann. Stör uns nicht.« Die Stimme des Sprechers klang ängstlich, aber 90
auch trotzig. Jundrak grinste und schaute zu seinem Helfer hinüber. Ein ähnlich grausames Lächeln er schien auf dem adlerartigen Gesicht Heen Setts. Der Bildschirm war leer, der Mann unten im Aste roiden weigerte sich, sein Gesicht zu zeigen. Zwei fellos legte er keinen Wert darauf, ebenso erschreckt auszusehen, wie seine Stimme klang. Zuerst hatten sich die Bewohner des Asteroiden geweigert, überhaupt auf ihre Anrufe zu reagieren. Wie Kaninchen hatten sie in ihrem Unterschlupf ge hockt und so getan, als gäbe es sie gar nicht. Doch als ein paar Schüsse des Gammastrahl-Werfers den sonnendurchglühten Felsen trafen, hatten sie sich sehr schnell ans Funkgerät begeben. Und jetzt ver suchten sie, die Besucher verbal zu vertreiben. »Ich wiederhole, öffnet im Namen des Königs«, befahl Jundrak. »Leck den König!« gellte eine sich überschlagen de, verzweifelte Stimme anstelle der ersten. »Wenn ihr uns haben wollt, dann holt uns doch!« »Nichts lieber als das«, seufzte Jundrak und unter brach die Verbindung. Der Hauptteil des Unterschlupfes dieses Packs be stand aus fünf großen Asteroiden, die einen gemein samen Kurs verfolgten, wobei eventuelle Abwei chungen mittels kleiner, automatischer Triebwerke korrigiert wurden. Da er die Neigung der Bergarbei ter, wie Maulwürfe zu buddeln, kannte, vermutete Jundrak noch eine Reihe weiterer Höhlen in diesem aus Felsen zusammengesetzten Gürtel, der sich um 91
eine rötliche Sonne wand. Sie würden sich ebenfalls als nützlich erweisen, doch zweifellos waren sie zu meist verlassen und konnten dabei auch später noch aufgespürt werden. Der Wert dieses Asteroidengürtels bestand für Jundrak in seiner relativen Dichte. Er bestand aus Tausenden und Abertausenden schroffer Planetoiden, Überreste irgendeines Planeten, der vor Milliarden Jahren explodiert war. Seine gegenwärtigen Besitzer waren keine Gegner für einen Adligen, der die Macht des Reiches hinter sich hatte: Sie waren miserabel ausgerüstet, und da sie keinen Angriff erwarteten, hatten sie sich wohl kaum die Mühe gemacht, ener getische Abschirmungen zu errichten oder die viel sagenden Hitzeabstrahlungen zu kaschieren, die ihre Unterkünfte auf den einzelnen Asteroiden verrieten – was ihnen im übrigen auch wenig genützt hätte, da Jundrak ihre Schlupfwinkel schon vorher gekannt hatte. Doch für jemanden mit der entsprechenden Ausrüstung und mit den verheerenden Waffen, die Jundrak zur Verfügung standen, war dieser Asteroi dengürtel eine angenehm nahe gelegene und unbe zwingbare Festung. Und da die nötigen Ausschach tungen bereits zum größten Teil existierten, konnte die Basis schnell und ohne Aufsehen, mit einem Wort heimlich, eingerichtet werden. Die gesamte Schlupfloch-Flotte unternahm Übungsflüge, und diese Flüge erfüllten Jundraks Er wartungen vollkommen. Sicher, verglichen mit einer der großen Flotten war diese recht klein – nur fünfzig 92
Großkampfschiffe gegenüber Hunderten –, doch dank ihrer Geschwindigkeit, ihrer Beweglichkeit und ihrer ungeheuer verstärkten Feuerkraft war er zuver sichtlich, es mit jeder dieser Flotten aufnehmen und sie vernichten zu können. Der größte Teil der Flotte war Lichtjahre entfernt und führte noch immer die Tests durch, die die Kon strukteure ausgearbeitet hatten. Ihre geballte Feuerkraft würde auch kaum für die vor ihm liegende Aufgabe benötigt werden. Jundrak hatte zwei der goldenen Monster von der Hauptgruppe abgezogen. Das eine, von dem aus er gerade sein Ultimatum abge schickt hatte, war in den Gürtel vorgedrungen, um dem versteckten Pöbel einen Schrecken einzujagen. Das zweite Schiff wartete außerhalb; es diente als Frachter und enthielt die Arbeitstrupps, die Ausrüstungen und die Vorräte, die er hier zurücklassen wollte. »Was sollen wir machen?« überlegte Heen Sett laut. »Sie braten, wo sie sind? Oder Löcher in ihre Schlupfwinkel bohren?« Jundrak grinste. »Die Reinigung hinterher wäre etwas zu mühsam. Wir gehen einfach hinein – das ist eine ganz gute Übung.« Er stellte eine andere Verbindung her und gab Be fehle an die wartenden Kampftruppen aus. Er und Sett gingen zur anderen Seite des Raums, wo ihnen Ordonnanzen in die Kampfanzüge halfen. Jundrak schaute zu Sett hinüber und bewunderte dessen furchterregende, fast bösartige Erscheinung hinter der halb durchsichtigen Helmscheibe. 93
Die Anzüge waren in einem matten Kastanienrot gehalten, ein Farbton, der unter den meisten Bedin gungen, denen sich ein Raumfahrer üblicherweise ausgesetzt sah, Schutz vor Entdeckung bot. In Brust stücke und Helme war das leuchtendschwarze, ge schwungene M eingelassen. Trotz ihrer hervorragenden Schutzwirkung bestan den die Anzüge aus leichtem, allerdings hochveredel tem Stahl, der Bewegungen nicht erschwerte. Von Heen gefolgt, marschierte Jundrak den grauen, zu den Ausstiegsschleusen führenden Gang entlang. Hundert Männer standen in Zehnergruppen vor den Ausstiegsrutschen. Bei jeder der Gruppen befand sich ein Offizier. Sobald er und Heen ihre Plätze ein genommen hatten, schlug sich Jundrak mit der Faust auf den Brustpanzer. Ein gongartiger Ton erklang – das Aufbruchssignal. Sie betraten die Röhren, die Offiziere jeweils zu letzt. Als die Druckplatten sich hinter ihnen ge schlossen hatten, bildete sich ein schimmernder, wasserähnlicher Film an den Wänden der Röhre. Die Männer packten die eigens zu diesem Zweck ange brachten Handgriffe. Dann glitten sie langsam ins All hinaus. Sobald sie die Röhre verlassen hatten, blähte sich der wässerige Film zu einer elastischen, transparen ten Blase auf, die durchaus einer Seifenblase ähnelte und durch einen leichten, fragilen Rahmen, an dem auch die Handgriffe angeflanscht waren, gestützt wurde. Die Blase war luftgefüllt, so daß auch jemand 94
mit einem defekten Raumanzug darin überleben konnte, und schützte überdies vor dem grellen Son nenlicht sowie bis zu einem gewissen Grad auch vor harter Strahlung. Zehn dieser Kugeln glitten an der Schiffswand entlang und nahmen dann Kurs auf den größten Aste roiden. An seinen Handgriffgeklammert beobachtete Jundrak aufmerksam das Terrain. Die Asteroiden des Gürtels hatten im Schnitt einen Durchmesser von etwa zehn Meilen. Die größten mochten an die hundert Meilen durchmessen, doch in dieser Größe war keiner in Sicht. Derjenige, dem sie sich näherten, besaß einen Durchmesser von etwa dreißig Meilen. Er bestand weitgehend aus solidem Fels, abgesehen von einer meilentiefen Aushöhlung, die geschaffen worden war, um Lebensraum zu er halten. Es war nicht schwierig, die Eingangstore zu entdecken, doch Jundrak ließ seinen Blick über die restliche Oberfläche schweifen. Irgendwo dort unten, verborgen unter einem Felsüberhang, mußte sich das Raumschiff der ehemaligen Bergarbeiter befinden, ein zweifellos heruntergekommener, kaum noch raumtauglicher alter Kahn. Vermutlich wurde jetzt innerhalb des Asteroiden debattiert, ob man es für einen Fluchtversuch benutzen sollte, doch da die Be völkerung dieses Felsens erheblich größer sein dürfte als das Fassungsvermögen des Schiffes, würde diese Diskussion lediglich in einem fruchtlosen Streit en den. Jundrak hielt überdies Ausschau nach Verteidi 95
gungswaffen. Irgend etwas dieser Art mußte vorhan den sein. Und er hatte recht. Es glitzerte zwischen den Fel sen, als Abschußrohre und Werfernadeln sich auf die herankommenden Blasen richteten. Veraltete Strahler und ein oder zwei Raketen. Sie mußten verrückt sein, wenn sie das wagten, doch dann kam Jundrak zu der Überzeugung, daß Leute, die in so einem Versteck lebten, ohnehin verrückt sein mußten. Im selben Moment, in dem er die Waffen entdeckt hatte, drang Sperrfeuer vom Schiff herüber. Lautlos schossen heiße Gammastrahlen an ihnen vorbei und schlugen in die Geschützstellungen ein, schufen Bä che aus geschmolzenem Metall und lösten Explosio nen aus, die im Sonnenlicht aufblitzende Steinsplitter emporschleuderten. Sie landeten in einem Kreis rings um die Gruppe der Eingangstore. Die Blasen zerplatzten, als sie den Boden berührten, während sich die skelettartigen Rahmen zu koffergroßen Kisten zusammenfalteten. Als sie sich vorwärts bewegten, schossen im Licht der Sonne deutlich sichtbare Gaswolken aus den Schultern der Männer. Es handelte sich um kleine Raketendüsen, die sie trotz der praktisch nicht vor handenen Schwerkraft des Asteroiden sicher am Bo den hielten und ihnen somit einen normalen Gang erlaubten. Es gab insgesamt drei Eingänge, die offensichtlich in großen Zeitabständen entstanden, aber allesamt nicht sonderlich sorgfältig eingebaut worden waren. 96
Mit einer Handbewegung schickte Jundrak zwei Männer vor. Sie eilten zum nächstgelegenen Tor und brachten Haftladungen an. Dann liefen sie zurück, um zusammen mit den übrigen Männern hinter di versen Felsbrocken in Deckung zu gehen. Mit einem flachen, blechernen Knall, den sie durch die Sohlen ihrer Stiefel vernahmen, und be gleitet von einem grellen, rauchlosen Blitz, wurde die runde Tür aus ihrer Verankerung gerissen. Die Einsatzgruppen rückten auf das klaffende Loch vor. Es zeigte sich jedoch kein plötzlicher Nebel, der angedeutet hätte, daß die Luft aus dem Inneren des Asteroiden ins All entwich. Jundrak spähte in den Tunnel hinein und entdeckte in etwa fünfundzwanzig Metern Entfernung die Sicherheitsschleuse. »Sie passen gut auf ihre Luft auf«, sagte er nach denklich. »Wir sollten das auch tun. Bringt eine Not schleuse an.« Es dauerte nur wenige Minuten, die eine Seite der Notschleuse mit der zerstörten Eingangstür zu ver binden. Im Moment hing das schirmähnliche Gebilde noch schlaff herab, doch sobald Luft in den Tunnel eindrang, würde es sich zu einer flachen Kuppel auf blähen und jeglichen Druckabfall verhindern. Mittlerweile hatte man kleinere Spezialladungen an der Schleusentür angebracht. Als alles fertig war, lockerte Jundrak den Druckstrahler in seinem Half ter, um ihn schneller ziehen zu können, nahm einen hochfrequenten Neutronenstrahler in seine Linke und gab dem Sprengmeister das Zeichen, die Ladung zu 97
zünden. Eine grellweiße Flamme zuckte auf und dehnte sich im Lauf der nächsten Minute zu einer Feuerscheibe von knapp fünf Metern Durchmesser aus. Sie fräste das Schleusentor regelrecht weg und ließ nur rauchende Metallreste zurück. Jundraks Gruppe befand sich bereits im Schacht, den sie mit einer Geschwindigkeit von etwa einem Meter pro Sekunde hinabsanken. Falls die Bewohner des Asteroiden ein künstliches Schwerefeld benutz ten, dann reichte es nicht bis hierhin. Sie hielten sich in der Nähe der Wände. Sobald das Tor weitgehend zerstört zu sein schien, hatte Jundrak eine Reihe von Schüssen hindurchgejagt, obgleich er durch das grel le Licht der noch immer brennenden Ladung nichts erkennen konnte. Er sprach in sein Helmmikro, dessen Frequenz alle Mitglieder der Einsatzgruppe empfangen konnten. »Wir brechen jetzt durch.« Er warf sich in Richtung der Öffnung. Die übrigen folgten ihm. Als er durch das klaffende Loch fiel, summte ein Neutronenstrahl an ihm vorbei, streifte leicht seine Rüstung und ließ sie kirschrot aufglühen. Da benutzt jemand eine erschöpfte Energieladung, sagte er zu sich, während seine eigene Waffe einen erheblich stärkeren Strahl aussandte. Schlurfende Geräusche wurden laut, als sich das Empfangskomitee zurückzog. Jundrak stellte fest, daß sich der Tunnel jenseits der Schleuse in vier Richtungen gabelte. All diese Gänge lagen im Dun keln. Anhand ihrer Lage und auch aufgrund des Ge 98
räusches, das er gehört hatte, ahnte er jedoch, in wel cher Richtung die wichtigsten Unterkünfte lagen. Ein starker Lichtstrahl schoß aus der Mitte seines Anzugs hervor und wurde sofort durch die Lampen seiner Männer verstärkt. Jundrak vermutete eine Fal le, doch im Vertrauen auf ihre überlegene Ausrüs tung befahl er seinen Männern vorzurücken und stürzte sich ebenfalls in die Dunkelheit. Plötzlich dröhnten vor und hinter ihnen Explosio nen auf. Der Tunnel füllte sich mit Rauch und Trümmern. Jundrak ließ sein Licht hin und her zu cken und erkannte, daß der Tunnel in beiden Rich tungen durch Schuttmassen versperrt war. Gleichzei tig bemerkte er, daß dieser Durchgang sich noch im Rohzustand befand – die Tunnelwände bestanden aus unverkleidetem Fels, der noch die Spuren der Bohr maschinen zeigte. Die Schwerkraft des Asteroiden war so gering, daß die herausgesprengten Felsen nicht abstürzten, son dern mehr oder weniger im Schacht schwebten, wobei sie eine lose miteinander verbundene Masse bildeten. Jundrak arbeitete sich hindurch und traf auf Heen. »Wir haben uns die anderen Durchgänge ange schaut«, teilte ihm sein Stellvertreter mit. »Sie führen zu Lagerräumen, Wiederaufbereitungsanlagen für Luft und Nahrung, und was dergleichen mehr ist. Auf Widerstand sind wir kaum gestoßen. Was war das für ein Lärm, den ich eben gehört habe?« »Sie haben versucht, uns zwischen ein paar Felsen festzusetzen. Das wird uns aber nicht lange aufhal 99
ten. Suchen Sie weiter, vielleicht gibt es noch andere Wege zu ihrem Schlupfwinkel.« »Wir haben auch ihre Energiezentrale besetzt. Wir könnten ihnen jetzt das Licht abdrehen.« »Nicht nötig. Ich sehe ganz gern, worauf ich schieße.« Er zog seinen Druckstrahler und rief seinen Leuten zu: »Macht jetzt den Tunnel frei!« Die Männer stellten ihre Strahler auf volle Ener gieabgabe und zielten gemeinsam auf die Felsmas sen. Die Bruchstücke knirschten, als die vereinten Druckfelder gegen sie prallten, und setzten sich lang sam in Bewegung. Der stetige Druck trieb sie aus einander und weiter den Tunnel hinab, so daß der Weg bald frei war. Jundrak sicherte seine Waffe und strebte vorwärts, wobei er sich mühsam zwischen den driftenden Fel sen hindurchschlängeln mußte. Die von Staubmassen erfüllte Luft erschwerte die Sicht ganz erheblich. Die Männer fluchten, wenn sie gegeneinander oder gegen die treibenden Felsen stießen. Schließlich erblickte Jundrak einen Lichtschein voraus. Der Tunnel öffnete sich in einem eleganten Bogen, und urplötzlich durchbrach Jundrak die Staubwolken und konnte wieder sehen. »Royalistenhunde!« Der Schrei war Ausdruck des wilden, wahnwitzi gen Hasses, der den Angriffstruppen entgegenschlug, als sie in geduckter Haltung aus dem Tunnel heraus stürmten. Gleichzeitig wurde ein wahres Trommel feuer auf sie eröffnet. 100
Jundraks militärisch ausgebildete Sinne nahmen die Szene mit einem Blick auf. Die Höhle war relativ groß und besaß eine niedrige, gewölbte Decke, von der herab Lichtkugeln einen düsteren, gelblichen Schein verbreiteten. Möbel aller Art bedeckten den Boden. In die Wände waren Balkone und kleinere Wohnungen eingelassen, und von dort her kam der überwiegende Teil des Beschüsses. Nur ein paar tap fere Gestalten hockten in der Mitte der Höhle und feuerten aus ihren Waffen. Glücklicherweise schienen sie nur über wenige der besonders gefährlichen Druckstrahler zu verfügen; man traf sie aber auch nur höchst selten außerhalb der königlichen Streitkräfte an. Aber sie hatten Neut ronenstrahler und Hitzemaser, und wenn er die Schläge, die seine Rüstung erschütterten, richtig ein schätzte, dann besaßen sie sogar altmodische, me chanische Maschinengewehre. Sie überstanden den Angriff unverletzt. Ihre An züge, diese Wunderwerke, die jeden Infanteristen in die Lage versetzten, jeden beliebigen Ort ohne Furcht zu betreten, reagierten sofort. Dünne Metallscheiben glitten aus den Anzügen heraus und bilde ten eine sich überlappende Struktur, die den Körper in einem Abstand von rund dreißig Zentimetern umgab. Diese Struktur schützte den eigentlichen Kampfanzug, indem sie auftreffende Energien ein fing und ableitete, so daß jeder der Soldaten plötz lich aufleuchtete wie eine lebende Flamme. Durch diese Schutzvorrichtung vermochte man in praktisch 101
jeder Situation ein paar wertvolle Sekunden zu ge winnen. Und genau diese Sekunden waren alles, was Jun drak und seine Leute brauchten. Der Neutronenstrah ler in seiner Linken schickte den Tod in die Mitte der Halle. In weniger als einer Sekunde glitt der Druck strahler aus seinem Halfter und rastete wie durch Magie in einer Halterung an der Innenseite seines ausgestreckten rechten Arms ein. Auf diese Weise benutzt, verströmte der Strahler nicht nur unwiderstehliche Gewalt, sondern war ab solut tödlich. Mit seinem behandschuhten Daumen berührte er die Kontrollen der Waffe und stellte den Strahl auf Bleistiftstärke ein. Jetzt mußte er nur noch an seinem Arm entlangblicken, um alles zu treffen, was er sah. Und wenn er den Strahl verbreiterte, vermochte er jedes Hindernis, sei es aus Stein oder aus Stahl, aus seinem Weg zu räumen. SSST! SSST! Während er gleichzeitig mit dem rechten Arm und der linken Hand tödliche Strahlen aussandte, schleuderte ein Granatwerfer an seiner Hüfte hochexplosive Geschosse in Richtung auf die Balkonreihen am jenseitigen Ende der Höhle. Die Ziele der Granaten bestimmte er durch Bewegungen seines Kopfes. Die Auslösung des Schusses erfolgte durch den Druck auf einen Kontakt in seinem linken Handschuh. Wie die übrigen neun Männer seiner Gruppe stell te er eine erschreckende, über enorme Feuerkraft ver fügende Kampfmaschine dar. Die meisten der Män 102
ner hatten sich hingekniet, um ein kleineres Ziel ab zugeben, während sie ihr Sperrfeuer legten. Mit ihren ausgestreckten, erhobenen Armen boten sie dabei ein unheimliches Schauspiel. Trotzdem verachtete Jun drak in der Hitze des Gefechtes ihre strenge Befol gung des Reglements. Ein paar Sekunden später ließ er das Feuer einstellen. Seine Stimme schallte aus den Lautsprechern sei nes Anzugs. »Ergebt euch, dann verschonen wir viel leicht euer Leben!« Tiefe Stille folgte seinen Worten, lediglich unter brochen durch das Stöhnen der Verwundeten. Dann stolperte ein Mann in ihr Blickfeld, aus dessen zer fetzten Kleidern Blut drang. Er hielt einen Gegens tand in seiner Hand, von dem aus ein Draht zu dem zerstörten Balkon führte, den er gerade verlassen hat te. »Wenn schon, dann sollen auch alle drauf…« Bevor er das nächste Wort aussprechen konnte, wurde er nach vorn geschleudert und stürzte zu Bo den. Hinter ihm tauchte aus dem Schatten die Gestalt Heen Setts auf, den rechten Arm wie zu einem bizar ren Gruß ausgestreckt. Hinter ihm folgte seine Einsatzgruppe. Als er den Körper des Toten erreicht hatte, drehte er ihn mit dem Fuß um und trat den Gegenstand bei seite, den der Mann in der Hand gehalten hatte. »Das ist der Auslöser für einen Sprengstoffzün der.« Jundrak vernahm seine Stimme über den Helm lautsprecher. »Als ehemalige Bergleute verfügen sie 103
bestimmt über genug Sprengstoff, um den ganzen verdammten Asteroiden in die Luft zu jagen – und uns mit.« »Wenn’s so ist, bin ich froh, daß Sie aufgetaucht sind«, sagte Jundrak. Sett gab seinen Leuten die Anweisung, sich in re gelmäßigen Abständen längs der Höhlenwände auf zustellen, steckte seine Waffe weg und gesellte sich zu Jundrak. »Sie hatten recht, diese Tunnels stehen alle mit einander in Verbindung.« »Ist das hier die größte Höhle?« »Keineswegs. Hier leben sie zwar, aber es gibt mehrere, erheblich größere Höhlen, die jedoch ver lassen sind. Wie es scheint, werden wir reichlich Platz haben, um unsere Schiffe unterzubringen, wenn einmal dieser Zeitpunkt kommt.« Ein paar Leute schauten jetzt furchtsam und auf Deckung bedacht von ihren Balkonen herab. Jundrak klappte das Visier seines Helms zurück und unter suchte die Höhle genauer. Die Luft enthielt den dumpfen, unangenehmen Geruch menschlicher Ausdünstungen. Der Boden war bedeckt von einem wirren Labyrinth aus Betten, Liegen, Tischen, Stühlen und anderen Möbelstücken, die meisten davon in einem desolaten Zustand. Zwei fellos waren sie alle irgendwie am Boden befestigt, da sie sonst angesichts der geringen Schwerkraft schon beim geringsten Stoß davonschweben würden. Die Möbel fanden sich allerdings nicht nur auf dem 104
Boden. Man sah sie auch auf Plattformen an den Wänden und unter der Decke in locker angeordneten Gruppen, wodurch dieser Gemeinschaftsraum einen dreidimensionalen Effekt erhielt. Schmutz und Verfall zum Trotz herrschte hier je doch eine Atmosphäre degenerierter Behaglichkeit. Auf eine schäbige Weise vermittelte die Höhle die Geborgenheit einer Gebärmutter. »Die leben wie die Tiere«, bemerkte Heen mit Widerwillen. Jundrak schickte diejenigen seiner Kämpfer, die auch als Sanitäter ausgebildet waren, aus, damit sie sich um die Verwundeten unter den Höhlenbewoh nern kümmerten. Wieder erscholl seine Stimme. »Zeigt euch! Kommt ins Freie – ihr habt nichts mehr zu befürchten!« Langsam kamen sie heraus. Männer, Frauen und auch Kinder, alle in schäbige Fetzen gekleidet. Als sie näher kamen, konnte man Tränen auf den Gesich tern der Kinder erkennen. Doch obgleich sich bei ihnen noch die Spuren des gerade überstandenen Schreckens zeigten, schauten sie sich doch staunend und mit weit aufgerissenen Augen um. Einige der Erwachsenen standen offensichtlich noch unter ei nem Schock, doch andere, verwegen aussehende Ge stalten, bewegten sich mit der Frechheit echter Des perados. Die Bewohner des Asteroiden hatten eine Methode gefunden, sich unter der fast nicht vorhandenen Schwerkraft fortzubewegen, indem sie schnell über 105
den Boden glitten und sich nur gelegentlich mit Ze hen oder Fersen abstießen. Im Vergleich dazu wirk ten Jundraks Männer, die sich unter der durch die Schultertriebwerke simulierten Schwerkraft fortbe wegten, langsam und unbeholfen. Viele der Männer schienen der sonderbaren Mode anzuhängen, ihre halbnackten Körper mit Blumenmustern zu tätowieren. Jundrak ging auf einen von ihnen zu, der sich ein wenig von den übrigen abge sondert hatte und die beiden Offiziere unverschämt anstarrte. Als er näher kam, entdeckte Jundrak auf seiner Brust eine obszöne Tätowierung, die ein Paar bei ei ner wohlbekannten sexuellen Variante zeigte. Wenn der Mann seine Muskeln bewegte, zuckte das Paar wie in wahnwitziger Ekstase. Bei Jundraks Annähe rung verzog er den Mund zu einem höhnischen Grin sen und enthüllte dabei schwarze, verfaulte Zähne. Jundrak, der noch nie zuvor schlechte Zähne gesehen hatte, verspürte Brechreiz. »Hallo, du aristokratischer Dreck«, sagte der Mann mit einem Blick auf das Familienwappen an Jundraks Kampfanzug, »warum verschwindest du nicht wieder in deinem Palast und läßt uns in Ruhe!« »Ihr seid meine Gefangenen«, erklärte Jundrak. »Da du dich offensichtlich als eine Art Führer auf spielst, kannst du auch deinen Freunden sagen, sie sollen ihre Waffen übergeben und keinen Ärger ma chen.« »Wir haben keine Führer, du …« Der Mann stieß 106
eine Reihe wüster Beleidigungen aus. »Wir sind An archisten! Wir tun nur, was uns gefällt!« Jundrak lachte. »Von jetzt ab werdet ihr tun, was mir gefällt.« »Mörder wie ihr glauben immer, ein Mann hätte Angst zu sterben …« Der Mann schnaufte und ballte die Fäuste, als wolle er ihn wie ein Tiger anspringen. Jundrak hielt ihn mit dem Neutronenstrahler in Schach und bedeutete ihm, sich zu seinen Gefährten zu begeben. Unter Heens Leitung brachten die Soldaten die an anderen Stellen des Asteroiden gemachten Gefange nen in die Höhle zu den anderen, entwaffneten und fesselten sie trotz ihres Wutgeschreis und ihrer Ver suche, sich zu wehren, und trieben sie schließlich in den Tunnel, der zur Oberfläche führte. Jundrak stieß seinen Gesprächspartner grob zu ei nem der Soldaten hinüber. Über sein Funkgerät wandte er sich an Heen. »Bringt sie mit den Blasen zum Schiff«, sagte er. »Wir werden sie in der Basis auf Maximilia festhal ten müssen.« Er hatte im Vertrauen auf ihre anti gesellschaftliche Einstellung hin mit dem Gedanken gespielt, sie in seinen eigenen Stab einzugliedern, doch offensichtlich waren sie zu undiszipliniert, um von irgendeinem Nutzen zu sein. »Castor Krakhno macht dich fertig!« heulte der Mann, mit dem er eben gesprochen hatte, verzweifelt auf, als er weggeschleift wurde. »Wartet nur! Krakh no macht euch alle fertig!« 107
Jundrak achtete kaum auf diese Bemerkung. Er überprüfte die Höhle und plante bereits ihre Um wandlung in einen Kommandostand. Auch die übrigen vier Asteroiden wurden ohne große Mühe besetzt. Der erbittertste Widerstand schlug ih nen auf dem letzten entgegen, wo die ehemaligen Bergarbeiter mit Sprengstoff und alten Ausschacht maschinen kämpften. Jundrak verlor fünf Männer. Als die letzten der heruntergekommenen Verteidi ger weggebracht wurden, geschah etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Einer der an ihm vorbeischlurfenden Männer rich tete sich plötzlich auf, schaute ihm direkt in die Au gen und sagte: »Keine Sorge, du langlebige Ratte. All deine Medizin wird dir nicht mehr helfen, wenn Castor Krakhno dich erst mal hat.« »Was war das?« Jundrak machte ärgerlich einen Schritt vorwärts, packte den Mann am Arm und zog ihn aus der Reihe. Er wehrte sich, doch die durch den Kampfanzug verstärkte Kraft des Offiziers war stär ker. Jundrak zwang ihn auf die Knie und ragte dro hend über ihm auf. Die Kraftverstärker summten lei se, als er seine Muskeln spannte. »Wer ist Krakhno?« raunzte er. »Das wirst du schon merken«, antwortete der Gefan gene mit Überzeugung. Jundrak erkannte durch das zer fetzte Hemd, daß der Körper des Mannes mit Schlan gen tätowiert war, die sich um Hals und Arme wan den und deren Köpfe in seinen Handflächen ruhten. 108
Heen, der den Wortwechsel mitgehört hatte, trat näher. »Antworte, du Aas«, schnarrte er, während er den Mann weiter von der Marschkolonne fortzerrte und dann zu Boden schleuderte. In einer gleitenden Bewegung beugte er sich nieder und riß ihm das Hemd vom Leib. »Wenn du nicht willst, wird dich die Nervenpeitsche sehr schnell gesprächig machen.« Der Mann blickte furchterfüllt auf die kurzstielige Peitsche, deren lange, dünne Enden metallisch glit zerten. Die Stromstöße, die sie verteilten, waren exakt so berechnet, daß sie ein menschliches Nervensystem in unerträgliche Agonie versetzen konnten. Heen ließ die Peitschenschnur niederzucken. Sein Opfer brüllte, wand sich und versuchte sich wegzurollen. Heen stieß einen Fuß in seine Kniekehle und hielt ihn so fest. »Rede!« Wieder hob er die Peitsche. »Genug!« unterbrach ihn Jundrak hastig. »Er kann gehen.« Sein Stellvertreter ließ den Mann los und schaute zu, wie er schmerzgekrümmt davonschlich. »Sie ha ben ein Gewissen«, beklagte er sich. »Ich brauchte die Information nicht so dringend«, sagte Jundrak ohne besonderen Nachdruck. »Tatsache ist, daß ich die Frage vermutlich so oder so beantworten kann«, sagte Heen. »Ich habe diesen Namen hier schon mehrfach gehört. Soweit ich fest stellen konnte, ist dieser Krakhno ein Agitator ir gendwo in Maximilia – natürlich bei den Unter schichtlern. Sieht so aus, als hätte es kürzlich einen 109
Kontakt zwischen Maximilia und den Asteroiden ge geben. Hier, sehen Sie, das habe ich einem der Ge fangenen abgenommen. Sonderbar, nicht wahr?« Er reichte Jundrak eine kleine Karte mit einem aufgedruckten Stereobild. Im Vordergrund war das hübsche Gesicht eines Mädchens zu sehen. Doch beim zweiten Blick schien sich das Fleisch aufzulö sen, wurde durchsichtig und enthüllte einen grinsen den Totenschädel. Aus dem Hintergrund quoll grauer Nebel auf und bedeckte die Karte. Dann blitzten plötzlich die Worte TOD DEM LEBEN auf. »Ja, wirklich sonderbar …« Aus einem Grund, der ihm selbst nicht klar war, hatte ihn der Nebel an den Fleck erinnert, jene große, unbekannte Entität, die all ihre Pläne zunichte machen konnte. »Irgendeine obskure Organisation ist entschlossen, die Aristokratie niederzuwerfen«, fuhr Heen fort. Er lachte kurz. »Vielleicht sollte ich mich ihnen an schließen.« Heen gehörte genaugenommen nicht zum Adel, sondern war der uneheliche Sohn eines unbe deutenden Grafen. Es gab Heerscharen solcher illegi timen Sprößlinge überall im Königreich. Viele san ken in die Unterschicht ab oder wurden bestenfalls mittlere Beamte. Einige wenige, wie Heen, schafften es, sich bis zum Offizierskorps oder in eine ver gleichbare Position hochzuarbeiten. »Es geschehen viele merkwürdige Dinge in der Alten Stadt«, stimmte Jundrak geistesabwesend zu. Er betastete die Karte mit der unheimlichen, unver ständlichen Botschaft. Verzweiflung, dachte er. Ver 110
zweiflung mußte dahinterstecken. Plötzlich, und nur für einen Moment, schämte er sich dessen, was er hier tat. Er fragte sich, wie viele Asteroidennester noch über das Reich verstreut sein mochten, armseli ge Refugien für diejenigen, die von der Gesellschaft ausgestoßen worden waren. Nicht, daß es darauf wirklich ankam. Sollte der Fleck sie alle verschlingen. 7. Kapitel N-e-e-e-ei-i-i-n … Castor Krakhno erwachte aufheulend. Er fiel auf sein Kissen zurück und atmete schwer. Irgend etwas bewegt sich in dem halbdunklen Raum und beugte sich über ihn. »Ist alles in Ordnung mit dir, Castor?« »Ja, ich bin in Ordnung«, antwortete der Anarchis tenführer atemlos. Horris Dagele, sein Stellvertreter, war an die Anfälle seines Chefs gewohnt und machte sich ihretwegen keine übertriebenen Sorgen mehr. Krakhno erhob sich zitternd, wischte sich mit dem Ärmel seines Nachtgewandes kalten Schweiß aus dem Gesicht und stolperte zum Fenster, wo er die Rollos hochzog. Dämmerung über der Alten Stadt. Die aufgehende Sonne sandte ihre ersten tastenden Strahlen über die ausgedehnte Stadtballung, ließ je doch die zahllosen Senken und dunstigen Täler noch im Dunkeln. Aus den Tälern stiegen weit entfernte 111
Hupgeräusche zu Krakhno im obersten Stockwerk des zwanziggeschossigen Wohngebäudes hoch, in dem er wohnte: die ohrenbetäubenden Sirenen, die Zehntausende daran erinnerten, daß ein neuer Ar beitstag bevorstand. Ganz links konnte Krakhno ein hohes Gebilde sehen, das wie ein märchenhafter Berg dastand und wie die Sonne selbst funkelte und leuchtete – der abgeschottete Teil der Inneren Stadt. Das unkontrollierte Zittern verging. Seine Anfälle brachten stets ein kurzes, aber heftiges Fieber mit sich, als befände sich seine Lebenskraft noch immer in der Gefahr, aus ihm herausgesaugt zu werden. Krakhno schloß die Augen, umklammerte den Fens tersturz und bemühte sich, die Überbleibsel des Alp traums – falls es sich dabei wirklich um einen sol chen handelte – niederzuringen und die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Die Zurückweisung, die gräßliche, hohnvolle Zu rückweisung war immer noch da wie ein schlechter Geschmack im Mund. Krakhno fühlte sich wie ein Insekt, das ein Fuß getroffen und zerquetscht hatte. Ob das alles nur eine Erinnerung war oder ob immer noch ein Teil der Bestie von jenseits der Galaxis in ihm wohnte, konnte er nicht genau unterscheiden. Irgendwann war ihm der Gedanke gekommen, daß der Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkei ten nicht sehr groß sein würde. Seit dem Zeitpunkt, an dem er nach Maximilia ge kommen war, hatte er versucht, mittels seiner Spio nageverbindungen mehr über die Bestie herauszufin 112
den. Daß viele aus den oberen Schichten eine ganze Menge über die Bestie wußten, war nicht schwer zu ermitteln gewesen. Aber wo diese Kreatur sich heute aufhielt, wo sie hergekommen war und wie und ob sie naturwissenschaftlich faßbar war … diese Fragen und noch einige mehr schienen zu den bestgehüteten Geheimnissen des Königreichs zu gehören. Nicht ausgeschlossen, sagte er sich, daß er bereits jetzt mehr über die Bestie wußte als jeder andere im Uni versum. In gewisser Weise war sie immer noch in ihm, belebte ihn, verlieh ihm Macht – und quälte ihn. »Die Morgenversammlung wartet, Castor«, sagte Dagele ruhig. Er war hinter ihn getreten. »Gut, ich bin in fünf Minuten unten.« Krakhno zog sich rasch an. Er spürte von Sekunde zu Sekunde, wie er wieder der alte wurde. Ob die Bestie Macht über ihn hatte, spielte nun keine Rolle mehr. Es scherte ihn nicht, ob er seine Seele verkauft hatte oder nicht, Hauptsache, der Preis stimmte, den er dafür erhalten hatte. Es kam nun vielmehr darauf an, daß er wieder fit war, daß seine latenten Fähig keiten durch sein Erlebnis stärker geworden waren; und jetzt verfügte er regelmäßig über die Fähigkeit, Menschen umzuformen, während sie früher nur kurz und ungreifbar über ihn gekommen war. Nach einem letzten Blick auf die wachsende Son ne verließ er seine Wohnung und begab sich auf den Weg nach unten. Die Morgenversammlung hatte sich als geeignetes Verfahren beim Aufbau der sich rasch entwickelnden »Tod dem Leben«-Bewegung erwie 113
sen. Hier wurden neue Mitglieder gewonnen und hier wurden am effektivsten die ausgesiebt, die nur aus Neugierde oder durch Zufall gekommen waren. Das Morgengrauen war die Zeit, in der alles in Bewegung geriet, aber noch nichts im eigentlichen Sinne statt fand. Daher entzogen sich diese Versammlungen in der Regel auch den wachsamen Augen der Polizei. Nur besonders ausgebildete Agenten konnten sich in diese Versammlungen einschleusen, und mit denen wurde Krakhno im Handumdrehen fertig. Etwa zwanzig Menschen waren in der kleinen Versammlungshalle, sowohl Männer als auch Frau en, sowohl Junge als auch Alte. Die meisten von ih nen gehörten zur Arbeiterschicht und trugen die graue Arbeitskleidung, in der sie wenig später an ih rem Arbeitsplatz erscheinen würden. Einige von ih nen waren Lehrlinge mit jugendlichen Gesichtern, die noch für die Jobs der erwachsenen Arbeiter aus gebildet wurden. Krakhno hörte nie auf, sich darüber zu wundern, wie die unteren Schichten ihre eigenen Fähigkeiten regelmäßig unterschätzten. In einer Ära, in der die Automation so weit fortgeschritten war, daß es selbst für den billigsten ungelernten Arbeiter nichts mehr zu tun gab, brachten die Männer und Frauen der Unterschicht im Gegenzug für einen mi serablen Lohn höchste handwerkliche und technolo gische Erfahrung ein. Viele von den Menschen, mit denen Krakhno zusammengetroffen war, waren auf ihrem – wenn auch begrenzten – Fachgebiet wahre Genies, und ganz ohne Frage hätte die herrschende 114
Klasse ohne den Erfindungsgeist und den Fleiß der arbeitenden Schichten nie ihren überwältigenden ökonomischen Reichtum erwerben können. Und dennoch maßen die unteren Schichten ihrer Kompe tenz kaum Bedeutung zu, hielten sich selbst für Kre tins und Unwissende und schauten voller Ehrfurcht zu ihren Herren, den Managern und dem Adel, auf. Bei den Menschen jedoch, die hier zusammenge kommen waren, hatte der Prozeß des Nachdenkens zumindest begonnen. Krakhno rechnete sich das stolz als Verdienst seiner Agitationskampagnen wäh rend der letzten Monate an. Nun war es an der Zeit festzustellen, ob jemand unter den Neuen die nötige Kraft, den Stahl, in sich hatte. Krakhno marschierte zur Plattform und inspizierte unverzüglich die Anwesenden mit einem intensiven Blick. Er sah den Männern und Frauen reihum nur kurz in die Augen. Seit seinem furchtbaren Erwachen auf Carole reichte ihm ein Blick völlig, um alles zu erfah ren, was er über die betreffende Person erfahren wollte. Nur bei einem verweilte sein Blick etwas länger: ein blonder junger Mann, der in einer Ecke saß. Als Krakhno auf ihn sah, durchfuhr beide wie ein Schock das unterbewußte Erkennen. Nur daß der Fremde nichts damit anzufangen wußte. Er verspürte höchs tens ein leichtes Unbehagen. Wie nett, daß die Politische Polizei immer noch Spitzel schickt, sagte sich Krakhno. Obwohl er sich wie ein Arbeiter angezogen hatte, war dieser junge Mann ohne Zweifel ein Infiltrant. 115
Natürlich war Krakhno kein Gedankenleser im ei gentlichen Sinn, aber sein auf künstliche Weise ge steigertes Bewußtsein konnte jedem Menschen bis auf den Grund schauen, dessen eigentlichen Kern sehen. Niemand war in der Lage, ihn länger als ein paar Sekunden über seine wahren Absichten zu täu schen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Po litische Abteilung von König Maxims Polizei die Unmöglichkeit ihrer Bemühungen erkannte, jeman den in die geheimnisvolle Gesellschaft »Tod dem Leben« einzuschleusen, und danach zu anderen, här teren Methoden greifen. Sobald dieser Zeitpunkt kam, würde Krakhno darauf vorbereitet sein. Im Au genblick jedenfalls brauchte er sich darüber noch keine Gedanken zu machen. Er setzte zu seiner An sprache an. Kaum hatte Krakhno den Raum betreten, da war ihm auch schon der Effekt bewußt gewesen, den sei ne Anwesenheit auf andere hatte. Sein Zusammen treffen mit der Bestie hatte seine bereits vorhandenen Fähigkeiten deutlich verstärkt und ihm eine magneti sche Persönlichkeit verliehen; ein unerklärliches Charisma, das aus allen Menschen, die ihm zum ers tenmal begegneten, binnen Minuten oder gar Sekun den entweder treue Gefolgsleute oder geschworene Feinde machte. Im ersten Stadium seiner Arbeit in Maximilia hatte erst diese Ausstrahlung es ermög licht, die verschiedenen chaotischen Anarchisten gruppen der Stadt zu einer mächtigen Waffe zusam menzuschweißen. Nun halfen Krakhno diese inneren 116
Kräfte dabei, auf die gewöhnlichen Menschen ein zuwirken, um aus ihnen ein Werkzeug der Revolte zu machen. Seine Bewegung streckte schon im ge samten, riesigen Untergrund des Königreiches ihre Fühler aus. Der Aura von Faszination, Überredungskunst und Furcht, die schon beim ersten Anblick seine poten tiellen Revolutionäre gefangengenommen hatte, füg te Krakhno Faktenwissen und Argumentationskunst hinzu. Er stellte die Armut, die Frustration und die Hoffnungslosigkeit der Alten Stadt in einen scharfen Gegensatz zum Überfluß, zum Müßiggängertum und zum Luxus der Reichen. Er trug Fall um Fall vor: Machtmißbrauch und Willkür, die Hoffnungslosig keit der Anliegen von Arbeitern vor den Gerichten, die ständige Verächtlichmachung der unteren Schich ten und ihrer Werte. All dies war nicht mehr als Rou tine für Krakhno. Er unterhielt ein kleines, aber ef fektives Büro, in dem nichts anderes getan wurde, als solche Beispiele zu sammeln. Schließlich verglich er den Lebensstandard der Arbeiter und ihren beschei denen Lohn mit dem unaufhörlichen Strom des Reichtums, den ihre Arbeit für andere produzierte. »Aber wir haben weder Maschinen noch Fabriken, weder Rohstoffe noch sonst etwas«, wandte ein Mann in den mittleren Jahren unentschlossen ein. »Haben sich die Eigentümer der Maschinen ihren Reichtum nicht schon dadurch verdient? Sie bezah len uns für die Arbeit an ihren Maschinen, und das scheint mir nur recht und billig zu sein.« 117
Entweder war dieser Mann ziemlich einfältig oder so intelligent, daß er Krakhno auf diese Weise auf den Zahn fühlen wollte. Dem Anarchistenführer war das eben gehörte Gegenargument nicht fremd. Es saß tief in den Menschen und war die Folge von Jahr hunderten der Indoktrination der unteren Klassen. Er winkte ab. »Später werdet ihr alle ausreichend Gelegenheit zum Studium der Überschußtheorie erhalten«, erklär te er, »und die zeigt euch, wie ihr ausgebeutet wer det. Für den Augenblick solltet ihr euch die Frage stellen, wer hat die Maschinen gebaut!« Krakhno wandte sich jetzt einem Thema zu, von dem er wußte, daß es nie seine Wirkung auf die Her zen der Arbeiter verfehlte. »Sie«, sagte er aggressiv und zeigte auf eine junge Frau. »Wie alt sind Sie?« »Fünfundzwanzig.« Sie starrte ihn erschrocken an und biß sich auf die Unterlippe. »Die Herzogin von Makine ist vierundneunzig Jahre alt und sieht genauso jugendlich aus wie Sie. – Und Sie dort«, sagte er und zeigte auf einen Mann, »wie alt sind Sie?« »Sechsundvierzig.« »Jeder Adlige, der die gleiche Kondition wie Sie aufweisen kann, wäre sicher zwei- oder dreihundert Jahre alt.« Krakhno ließ den Blick wandern, bis er den In filtranten erreichte. »Und wie viele Jahre zählen Sie, mein Freund?« »Dreißig.« Der Agent errötete leicht. 118
Höchstwahrscheinlich war er zwei oder drei Jahr zehnte älter. Wenn er im Politischen Büro zur Zu friedenheit seiner Vorgesetzten arbeitete, man ihm dort Vertrauen entgegenbrachte und er über die rich tigen Beziehungen verfügte, würde er sich die richti ge medizinische Versorgung leisten können, die ihm eine Lebenserwartung von knapp zwei Jahrhunderten ermöglichte. Ein leises Lächeln erschien auf Krakhnos Lippen. Es befriedigte ihn, den Spitzel zusammenzucken zu sehen. »Also dreißig? Na ja.« Die Sonne schien jetzt kräftig durch die Fenster herein. In wenig mehr als einer halben Stunde wur den alle Anwesenden an ihrem Arbeitsplatz erwartet, oder sie würden einen vollen Arbeitstag von ihrem Lohn abgezogen bekommen. Aber Krakhno war noch nicht fertig. »Einst wuchsen in diesen Tälern wunderbare Bäume, Blumen und Gräser. Wenn die Reichen hier leben würden, wären die Täler sicher immer noch so schön, nur hier und da unterbrochen von einem prächtigen Haus. Genauso leben die Reichen. Und auf diesem Planeten gibt es mehr als genug Gegen den, in denen es immer noch wunderschön ist. Auf allen Planeten finden sich solche Gebiete – viel mehr wunderbares Land ist vorhanden, als die Reichen je gebrauchen können. Aber ihr, die ihr nicht reich seid, fristet ein Dasein in Qualm, Dreck, Enge und Schweiß. Wie eine Herde hat man euch hier zusam mengepfercht, hat um euch herum ein Gatter aus Ge 119
setzen errichtet, die ihr nicht gemacht habt. Ihr wur det in ein Leben hineingeboren, in dem ihr weder euch selbst noch euren Kindern helfen könnt, wäh rend ihr gleichzeitig dort oben …« Er zeigte mit bei den Händen auf das gewaltige, glitzernde Gebilde der Inneren Stadt, das sich aus der Alten Stadt erhob. »… die Paläste von genau den Leuten sehen könnt, die euch unterdrücken und in den Staub treten.« Das Timbre von Krakhnos Stimme schien die Wände des Raumes unter der Wucht seiner Worte vi brieren zu lassen. »Alle Herrschaft ist auf Unterdrü ckung angelegt. Herrschaft beraubt die Menschen ih rer Individualität. Herrschaft hindert die Menschen daran, sich das zu nehmen, was ihnen zusteht und die Natur ihnen anbietet. Herrschaft zwingt euch, in Schmutz, Schweiß und bedrückender Monotonie ei nem Herrn zu gehorchen. Der Staat ist das Instrument der Herrschaft. Und der einzige Weg zur Freiheit ist die Zerstörung der Herrschaft! Zerstört den Staat!« Er ließ diese Worte auf die Zuhörer einwirken. Sie waren nur ein Vorspiel für die volle Kraft seiner an archistische Philosophie. Er konnte bei Neuen nicht erwarten, daß sie gleich alles verstanden. Aber als er sich umsah, entdeckte er, daß seine Botschaft die Herzen der meisten erreicht hatte. »Morgen findet zur gleichen Zeit eine weitere Versammlung statt«, schloß er seine Ansprache. »Da uns noch ein wenig Zeit bleibt, könnt ihr jetzt gern Fragen stellen.« Ein Mann von etwa sechzig Jahren kratzte sich am 120
Kopf und runzelte die Stirn. »Was Sie gesagt haben, hat vielleicht früher einmal gestimmt und mag teil weise auch heute noch zutreffen«, sagte er mit lang samer, unregelmäßiger Stimme, »aber seit König Maxim herrscht, hat sich doch einiges gebessert, oder etwa nicht? Heutzutage können wir Land bekommen, zumin dest einige von uns. Unter dem Haus Lorenz war das noch nicht möglich.« Krakhno sah ihn düster an. »Glauben Sie wirklich, daß hier etwas verschenkt wird?« »Wieso, ganze Planeten sind verteilt worden, das weiß doch jeder. Meinem Sohn wurden tausend Hek tar auf dem Land Herzog Ambroids zur Bebauung zugewiesen. Er hat sie zum halben Preis bekommen und braucht weder Pacht noch Zins entrichten. Na türlich erwartet ihn dort harte Arbeit, aber das wird es doch wohl wert sein, wenn man eigenes Land be ackert. Bald bin ich in der Lage, ihm dorthin zu fol gen. Deshalb dürfen Sie nicht sagen, daß das Haus Grechen nichts für das Volk tut.« Krakhno stieß ein furchtbares, bösartiges Geläch ter aus, ein Lachen, das mit Humor nichts mehr zu tun hatte. »In etwa sechzig Jahren wird dein Sohn tot sein. Aber Herzog Ambroid lebt dann noch hundert Jahre weiter. Er verlangt den Siedlern keine Pacht ab, weil er sie dazu mißbraucht, sein Land kostenlos ur bar zu machen, damit er später Gewinn aus der Ernte erzielen kann. Er kann es sich leisten, den Siedlern für die Dauer ihres Lebens den Zins zu erlassen, 121
denn er ist ja immer noch am Leben, wenn sie ge storben sind. Dann wird er den Kindern der Siedler eine schwere Pacht aufbürden oder sie ganz von sei nem Besitz vertreiben. Nein, der Herzog ermöglicht dir keinen Start in ein neues Leben. Er will sich vielmehr kostenlos sein Land veredeln lassen und trifft alle Vorbereitungen, euren Kindern und Enkeln das Blut aus den Adern zu saugen!« Trauer und Verwirrtheit zogen über das Gesicht des alten Mannes. Kurz und knapp beendete Krakhno die Versammlung, gab dabei aber Horris Dagele ein verstohlenes Zeichen. Schließlich hatten sie sich noch mit einem Spitzel zu befassen. Sie fingen ihn auf dem Gang ab, während die an deren in den Aufzügen nach unten verschwanden. »Auf ein Wort, bitte«, sagte Horris. »Hören Sie, ich komme zu spät zur Arbeit …« »Es dauert bestimmt nicht lange.« Pflichtgefühl und Angst vor Bedrohung mischten sich – sichtbar für Krakhnos geistiges Auge – im Bewußtsein des Spitzels. Er bemerkte, daß die letz ten der Versammlung in den Aufzügen verschwan den. Der Agent machte eine besorgte Miene. »Filz ihn, Horris«, sagte Krakhno, als die Fahr stuhltüren sich hinter dem letzten Arbeiter geschlos sen hatten. Als Morris sich ihm näherte, wollte sich der Agent, der einen kräftigen Eindruck machte, wehren, aber Krakhno bedrohte ihn mit einer Laserpistole. Horris fand nur ein Messer. 122
»Das ist alles, Castor.« »Nach oben, mein Freund.« Mit finsterer Miene stieg der Spitzel die Treppe hinauf. »Mit ihrer dummen Vorstellung kommen Sie nicht weit, Sie aufrührerischer Abschaum«, giftete er Krakhno an. »Wir haben unsere Methoden, um mit solchem Geschmeiß wie Ihnen aufzuräumen.« »Wir kennen auch den einen oder anderen Trick«, murmelte Krakhno. Sie brachten den Mann in seine Wohnung. Krakhno öffnete die Tür zu einem klei nen, leeren Zimmer. »Dort hinein, bitte.« Als der Agent über die Schwelle trat, reichte Krakhno Dagele seine Pistole. »Es wird nicht lange dauern«, sagte er leise. »Dieser Bursche gehört nicht zu den Widerstandsfähigen.« Als Krakhno die Tür hinter sich schloß, machte der Agent zunächst einen verdutzten Eindruck, dann stürzte er sich auf ihn. Ohne sichtbare Anstrengung stieß Krakhno ihn zurück. Es schien, als würde der Agent vom kräftigen Körper seines Gegenübers wie von Gummi abprallen. Der junge Mann wagte keinen zweiten Angriff. Er war physisch stärker als Krakh no, aber irgend etwas machte den anderen überlegen. Krakhnos Augen. Eine ausgereifte, starke Kraft ging von seinen Au gen aus, unter deren Blick der Mann aus der Inneren Stadt sich plötzlich wie ein kleines Kind vorkam. Er konnte nur blinzelnd dastehen und sich mit dem Rü cken an die nackte Wand stützen, obwohl er ganz allein mit dem Anarchisten war; aber allein mit ei 123
nem älteren, weiseren und in jeglicher Hinsicht über legeneren Kopf. »Ich dachte mir, wir beide plaudern ein wenig«, sagte Krakhno und lehnte sich mit einem Ellbogen an die Tür. Und damit fing er an. Sanft zunächst, doch mit kumulativer Gewalt, gegen die keine physische Kraft ankam. Krakhno redete nur und stellte Fragen. Aber die Art und Weise, wie er sprach, und die durchdringen de Kraft seiner Fragen waren wie Speere, gegen die kein Schild half. Zuerst versuchte der Agent, beharr lich zu schweigen und vorzugeben, Krakhnos Fragen nicht zu verstehen. Aber es war ihm unmöglich, der überwältigenden Stärke des anderen länger zu wider stehen. Erfahren und gnadenlos stieß Krakhno in ge wisse Lücken vor, und er brachte jene Dinge ans Ta geslicht, von denen man glaubt, man wisse nur allein davon. Binnen zwanzig Minuten starrte der Agent mit lee rem Blick an die Wand, war rot angelaufen und wünschte sich nichts sehnlicher, als augenblicklich von hier zu verschwinden. Aber das war erst der An fang. Krakhno, der sein Opfer keine Sekunde aus seiner Schußlinie ließ, ganz gleich, wie sehr es sich auch drehen und wenden mochte, fuhr damit fort, Schicht um Schicht von der Persönlichkeit des Man nes zu reißen. Dann waren die tieferliegenden Schichten an der Reihe. Und schließlich drang er gnadenlos in die innersten, die nächsten, die unsicht 124
baren Schichten vor, deren Beschädigung das psy chische Überleben einer Person nachhaltig beein trächtigen konnte. Aber Krakhno wollte ja einen ge nau geplanten Angriff auf das Ich des Mannes durch führen. Er wollte die Grundlagen seiner Existenz er schüttern. Nach vierzig Minuten befand sich der Agent in ei nem fortgeschrittenen Stadium der Schizophrenie. Nach fünfundvierzig Minuten, in denen Krakhno ihm weitere psychische Pein bereitet hatte, verlor er sogar das Bewußtsein für seine schizoide Identität und brach mit offenem Mund und ausdruckslosen Augen auf dem Boden zusammen. Vorsichtig, aber präzise brachte Krakhno ihn bis zu dem Punkt zurück, an dem er zumindest seine Umgebung wiedererkennen konnte. Dort angelangt, machte der Restverstand des Mannes eine letzte An strengung, sich zu verteidigen. »Laß mich in Ruhe!« schrie er schluchzend. »Gro ßer Gott, laß mich doch endlich in Ruhe!« Krakhno sprang vor und packte den Mann an den Schultern. »Sehen Sie mich an!« befahl er. »Sehen Sie mich an, sehen Sie mich an, sehen Sie mich an, sehen Sie mich an! Sie wissen es, nicht wahr? Sie wissen, Sie wissen, Sie wissen Sie wissen Siewissen Siewissen Siewissen!« Der Anarchist legte alle Kraft dessen, was er in Gedanken seine Fremdtod-Macht nannte, in diese Worte und seinen Blick. Der Agent erschlaffte, sein Unterkiefer zuckte. 125
Krakhno ließ ihn los, trat an die Tür und öffnete sie. Dagele stand draußen. »Wir haben unsere kleine Plauderei beendet«, sag te der Anarchist freundlich. »Unser Freund möchte jetzt gehen.« Lahm stolperte der Agent aus dem Zimmer. Dage le gab ihm sein Messer zurück und half ihm dabei, es in die Scheide zu stecken. »Gehen Sie jetzt«, sagte Krakhno ganz ruhig. Der Agent warf ihm einen verzweifelten, bittenden Blick zu, doch als er die steinerne Miene auf dem Gesicht des Anarchisten sah, drehte er sich um und lief fort. Krakhno hatte in seiner Gegenwart erwähnt, daß er ihn für einen Spitzel hielt. Der junge Mann würde nun vielleicht eine Weile in der Alten Stadt umher wandern. Möglicherweise nahm er auch seine Tar nung wieder an und meldete sich an seinem Arbeits platz in einer Fabrik oder einem Büro zurück. Nicht auszuschließen, daß er sogar in die Innere Stadt zu rückkehrte, obwohl er seine Vorgesetzten mit keiner lei brauchbaren Informationen versorgen konnte. Wie dem auch sein mochte, innerhalb von sechs Stunden, wahrscheinlich sogar in noch viel kürzerer Zeit, würde er sich das Leben nehmen. Er würde es freiwillig tun, ohne einen Grund dafür zu wissen. Im Innenleben des Mannes gab es nichts mehr, das Krakhno nicht zerstört hatte. Ein normaler Mensch hätte ähnliches unter Umständen bei einem anderen Menschen auch bewirken können, vorausgesetzt, er hatte den nötigen Scharfblick und die erforderliche 126
Einsicht und eine Begabung für Aktionen dieser Art. Alles, was er dazu brauchte, waren etliche Monate, in denen er ungestört arbeiten konnte. Krakhno gelang dies in weniger als einer Stunde, was daran lag, daß eine Kreatur seine Psyche auf besondere Weise ver stärkt hatte – ein Geschöpf, zu dem es im ganzen Universum keine Parallele gab. Der Lebensnehmer selbst hatte den Anarchisten gelehrt, wie man das Leben anderer zugrunde richtete. Krakhno hatte dem Agenten sein Leben in schrecklichen Farben vorgeführt: ein flüchtiges, sinn loses Dasein ohne Klang und Ziel. Er hatte ihm das gezeigt, was er schon vorher in ihm gesehen hatte, doch nun intensiviert und beschleunigt durch die psychische Maschinerie, die er für sich in Bewegung setzen konnte. Der Agent hatte sein Leben scho nungslos klar und deutlich vor sich gesehen und eine Intensität erlebt, die alles Pflichtgefühl und jeden Auftrag auf ein Nichts reduzierte. Niemand (viel leicht mit Ausnahme von Krakhno) konnte dermaßen gründlich demoralisiert lange überleben. Der Todes wunsch triumphierte – sobald er erwacht war – im Endeffekt immer. Krakhno hätte auch dann noch überleben können. Andere waren zwar bis an den Moment ihres Todes gelangt, hatten dann doch weitergelebt und davon berichten können, aber er war über diesen Punkt hi nausgekommen – und dennoch zurückgekehrt. Er wußte, worum sich das Leben drehte. Um nichts.
127
8. Kapitel Noch bevor Jundrak Sann die Innere Stadt betrat, wußte er, daß etwas Außergewöhnliches bevorstand. Sein Gleiter sauste durch die Spätabenddunkelheit, die die nördliche Hemisphäre bedeckte. Als er der Stadt Maximilia näher kam, schaltete er auf Subsonic um. Vor ihm breitete sich das vielfarbige Glühen des riesigen Komplexes aus und beleuchtete wie ge wöhnlich den Nachthimmel. Warnsignale ertönten von seinem Kontrollbord. Da er einen Militärgleiter flog, konnte er die Signale als Strahlen des Radarnetzes identifizieren, das die Polizei rund um die Stadt errichtet hatte. Bald sah Jundrak den beeindruckenden, leuchtenden Schaft vor sich, der sich vertikal aus Maximilia ins All er hob. Immer wieder schossen blitzende Punkte daraus hervor. Jundrak wußte, daß es sich dabei um Sonder kuriere handelte, die Instruktionen zu den Klasse-AVerteidigungsanlagen im Orbit beförderten. Alles ließ auf einen größeren Notfall schließen. Jundrak verlangsamte den Flug, bis er nur noch glitt, und schaltete seinen Transceiver ein. Auf allen Kanä len brodelte es vor Aktivität. Er stellte die Verbin dung zur Schlupfloch-Basis her. Nach etwas Schnee vom Zerhacker erschien Heen Sett auf dem Bild schirm. »Wenn man das alles so sieht«, sagte Jundrak, »dann scheint hier ja ganz schön was los zu sein. Haben Sie irgend etwas Besonderes erfahren?« 128
»Man hat uns nur in Alarmbereitschaft versetzt«, antwortete Sett. »Sieht aber so aus, als sei das ganze Reich in Alarmstufe Eins versetzt worden. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was vorgefallen ist?« »Nein, aber ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe.« »Vielleicht sollten Sie herkommen, solange noch Zeit dazu ist.« Jundrak dachte darüber nach. »Nein«, entschied er dann, »das wäre sicher etwas voreilig. Ich rufe zu rück. Aber bereiten Sie sich auf jeden Fall darauf vor, schnellstmöglich abzuhauen.« Setts Gesicht verschwand im Schnee, und Jundrak steuerte weiter die Innere Stadt an. Nicht lange da raufstieß er an die elektronischen Verteidigungsanla gen. Nachdem er seinen Code durchgegeben hatte, wurde er zu seinem Ziel durchgelassen, einem In nenhof im prächtigen Palast des Königs. Der Grund seines Besuches war ein Ball, zu dem der König höchstpersönlich eingeladen hatte. Zu nächst begab sich Jundrak in das Gemach, das man für ihn im Gästeflügel reserviert hatte. Dort legte er seine Galauniform an, die ihm sein Kammerdiener auf der anderen Seite des Planeten vorbereitet hatte. Als er im vollen Amtsschmuck und in den bunten Farben seiner Uniform dastand, begab er sich auf einen müßigen Spaziergang durch die ungezählten Hallen, Salons und Zimmerfluchten des Hofes, um so viel in Erfahrung zu bringen, wie ihm nur möglich war. 129
In den Gängen tummelten sich bereits die gelade nen Gäste, aber über dem Ganzen lag nicht nur Ball stimmung. Nervosität und Unbehagen verbargen sich unter der aufgesetzten Fröhlichkeit. Offiziere mit verschlossenen Gesichtern eilten unentwegt zu ir gendwelchen Aufträgen, über die nichts bekannt wurde. Immer wieder ertönten Gongs und Sirenen, die nicht so recht zu diesen gesellschaftlichen Ereig nissen passen wollten. Hin und wieder wurden mili tärische Führer aufgerufen, die sich anschließend so fort auf den Weg machten. Und bislang hatte noch niemand den König oder ein Mitglied seiner Familie zu Gesicht bekommen. Jundrak hielt einen Major an, den er kannte und der zur Palastordonnanz gehörte. Die beiden setzten sich an einen eleganten Tisch in einem Alkoven. Jundrak winkte einen Diener heran und orderte kalte Getränke. »Die Nachricht ist erst vor wenigen Stunden ge kommen«, antwortete der Major auf seine Fragen. »Vor Smorn ist es zu einer größeren Schlacht ge kommen. Und dabei haben die 4. und die 5. Flotte ganz schön was abbekommen. Besser gesagt, beide Einheiten wurden vollständig aufgerieben.« »Die 4. und die 5. Flotte …?« Jundrak war so ver blüfft, daß er die Frage nicht beenden konnte. Der Major zwirbelte seine Schnurrbartspitzen und sah sich besorgt um. »Ich habe auch keine Ahnung, was sie dort zu suchen hatten. Wahrscheinlich haben sie einen Einsatzbefehl der höchsten Geheimhal 130
tungsstufe erhalten. Aber verdammt merkwürdig ist die ganze Sache schon.« In Jundraks Bewußtsein rollten in langer Reihe die Erinnerungen heran. Vor allem erinnerte er sich an die Kontroverse, die er nach seiner Rückkehr von Smorn mit dem König gehabt hatte. Dann dämmerte ihm, daß Maxim kurz erwähnt hatte, er wolle die 4. und die 5. Flotte zum Schutz nach Smorn schicken, falls Prinz Peredan etwas von der ihm drohenden Ge fahr durch den Fleck in Erfahrung bringen sollte. Of fensichtlich war der Prinz aber aufgrund des Erschei nens der königlichen Streitkräfte erst recht mißtrau isch geworden. »Der König hat einen Wutanfall bekommen«, fuhr der Major fort. Er sprach in einem leisen, vertrauli chen Tonfall. »Die ersten Köpfe rollen schon. Ich wünsche mir, ich wäre jetzt tausend Lichtjahre von hier entfernt.« Jundrak war auch schon der Gedanke gekommen, daß eine ähnlich weit entfernte Gegend seiner Ge sundheit sicher zuträglicher wäre. »Und was ist seit der Schlacht geschehen? Hat sich irgend etwas auf Smorn getan?« »Noch nicht, aber das kann ja noch werden. Ich meine, wir dürfen uns über nichts mehr wundern. Jetzt, wo die 4. und die 5. Flotte ausgelöscht sind, hat sich in unserer Verteidigung ein Riesenloch aufge tan. Peredan müßte schon ein verdammter Narr sein, um daraus kein Kapital zu schlagen. Hier ist eine ganze Menge im Busch, das kann ich Ihnen versi 131
chern.« Nachdenklich trank Jundrak an dem Cocktail, den der Diener gebracht hatte. Obwohl es mehr als un wahrscheinlich war, daß man es ihm gestattete, den Palast zu verlassen, fühlte er doch eine starke Versu chung in sich, auf der Stelle zur Schlupfloch-Basis zurückzufliegen. In diesem Augenblick ertönte ein Trillern, das den Beginn des Balls signalisierte. Jundrak bemühte sich, seine Furcht zu unterdrücken, und schloß sich der Schlange an, die sich durch üppig ausgemalte Gänge zum großen Ballsaal schob. Angenehmste Parfümund sonstige Düfte erfüllten die Luft. Fast schon au tomatisch musterte er die Frauen und suchte nach einer Schönen, mit der er die Zeit nach dem Tanz verbringen konnte. Unter normalen Umständen wäre er schon voller angenehmer Erwartungen gewesen. Der Ballsaal war so angelegt, daß seine enorme Größe weder das Auge erschlug noch dem einzelnen das Gefühl gab, sich hier hoffnungslos zu verlieren. Seine Grundform war weder kreisrund noch recht eckig, sondern bestand aus einer Reihe von Biegun gen und Kurven in variierenden Radien und vermit telte so den Eindruck eines Bündels von Enklaven, die sich um ein Zentrum gruppierten. In diesen Ni schen befanden sich Sitz- und Ruhezonen, Salons und Speisezimmer. Auf die Decke über dem Zentrum war reich verziert und überdimensioniert das Wap pen der Grechen gemalt. Das Orchester saß nicht auf einer Plattform, sondern war vertikal über eine Reihe 132
von kleinen Balkonen verteilt, die die gesamte gege nüberliegende Wand einnahmen. Im Augenblick wimmelte der Ballsaal von bereit stehenden Dienern. Die Gäste standen am Rand der Zentralfläche und plauderten. Von ihnen ging eine summende Geräuschkulisse aus. Nichts durfte begin nen, ehe nicht der König erschienen war. Jundrak, der sich in der Masse instinktiv sicher fühlte, hatte sich einer Gruppe von Offizieren zugesellt. Endlich erschienen – nach einem grellen und schmetternden Fanfarenstoß – der König und die Königin auf einer grünen Plattform, die aus einem Hohlraum irgendwo in der Decke auftauchte und langsam zu Boden schwebte. Ein besonders typi sches Beispiel für den märchenhaften Pomp, den Maxim pflegte. Während des Hinuntergleitens stan den der König und die Königin starr auf der Platt form und hielten sich an den Händen. In der freien Hand schwang Maxim demonstrativ ein blitzendes Zepter. Der König trug einen langen, purpurroten Umhang. Auf seinem Haupt saß die Krone, von der die Königin eine etwas kleinere Version trug, und in beiden Stücken waren Dutzende der kostbarsten Edelsteine des gesamten Universums eingelassen: Elluxe, elektrisch aktive Steine, die konstant Licht in allen Regenbogenfarben verbreiteten. Neben ihrem Gatten wirkte Königin Galatea klein und zierlich. Obwohl ihre Schönheit unvergleichlich war, neigte sie dazu, diesen Eindruck durch eine Miene tiefempfundenen Desinteresses zu zerstreuen. 133
In der Konversation zeigte sie sich dumm und vor laut. Insgesamt wirkte sie eher wie ein Besitzstück des Königs statt wie seine Partnerin. Dennoch hatten ihre Couturiers wieder einmal äu ßerste Geschicklichkeit und Kreativität bewiesen und sie in das bemerkenswerteste und anziehendste We sen der Inneren Stadt verwandelt. Sie trug das Haar kurz wie ein Junge, und ihr Kleid aus schaumgepreß tem Stoff fiel in transparenten Falten von ihrem Hals über die Schultern und dann in einem Bogen bis auf ihre Hüften. Durch die Falten preßten sich die War zen ihrer kleinen, doch vollendet festen Brüste. Das Kleid endete in einem hauchdünnen, kurzen Rock, der ihre schlanken Beine bloß ließ und so raffiniert geschlitzt war, daß jeder im Saal, sobald Galatea sich bewegte, eindeutige Blicke auf ihr Schamhaar erha schen konnte, das an den Rändern sauber rasiert, ge kämmt und lavendelfarben getönt war. Als es von der Plattform stieg, befreite man das königliche Paar von seinen Kronen, und Maxim ließ sich von herbeieilenden Pagen zusätzlich den Umhang abnehmen. Darunter trug der König Stücke, in denen er sich auf dem Ball etwas freier bewegen konnte: ein verschwenderisch ausgelegtes Samtwams und silber ne Pumphosen mit silberner Filigranstickerei. Jundrak fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, als der König etwas grotesk dastand und die Anwe senden anstarrte. Seine Arme hingen herab wie die eines Affen, und er hatte den Kopf vorgeschoben. Selbst von seinem etwas entfernten Platz aus spürte 134
Jundrak den Ärger und das unvergleichliche Charis ma des Königs. Er erinnerte sich daran, daß der Kö nig den Thron nicht ohne seine außergewöhnlichen Fähigkeiten hätte besteigen können, und in ihm steckte viel mehr als der Tölpel oder Clown, den er jetzt spielte. Und selbst wenn er wirklich wahnsinnig sein sollte, wie manche behaupteten, so war er doch ein Wahnsinniger, den man auf keinen Fall unter schätzen durfte. Im Augenblick hatte sein Zorn sicher etwas Para noides an sich. Als sein Blick auf die Gruppe von Offizieren fiel, stolzierte er auf sie zu und riß die Königin recht unsanft hinter sich her. »Aha! Unser Generalstab!« rief er mit lauter, ver wegener Stimme. »Die Playboys, die wir eigentlich dazu auserwählt hatten, unser Königreich zu be schützen!« Es war Jundrak bei früheren Gelegenhei ten schon aufgefallen, daß der König in Krisensitua tionen gern in den Pluralis majestatis verfiel; wie ein Schmierenkomödiant, dem nach einem langen Hän ger plötzlich wieder der Text eingefallen war. Die Militärs standen in Habachtstellung und mit ausdruckslosen Mienen da. Ein unwiderstehliches Sexualaroma drang in Jundraks Nase, als die Königin näher kam, und erfüllte ihn mit einem nahezu unkon trollierbaren Verlangen. Er war in diesem Augen blick dankbar dafür, daß seine Uniform geschickt genug geschnitten war, um die automatische Reakti on seines Körpers zu verbergen. Jundrak wußte, daß es den anderen Offizieren ähnlich erging. Schuld 135
daran war das aphrodisiakische Parfüm, das die Kö nigin gern auflegte. Dem König gefiel es, wenn an dere Männer sie begehrten, denn er wußte genau, daß nur er sie besitzen konnte. Maxim fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum und brachte etliche Offiziere dazu, um ihr Gleichgewicht zu ringen. »Eins dürft ihr nie verges sen, ihr hübschen Buben: Wenn wir untergehen, geht ihr mit.« Er drehte sich zu der Gruppe der Adligen um, ball te beide Fäuste und reckte sie in die Luft, während seine ungleichmäßige und vibrierende Stimme dies mal laut und deutlich brüllte: »Ich hoffe, es ist nie mand unter euch, der sich auch nur im entferntesten vorstellen kann, daß wir uns in Gefahr befinden und daß die Krone auf unserem Haupt manchmal eine arge Last werden kann. Denn ganz im Gegenteil be finden wir uns in einer sichereren und geschützteren Position als je zuvor! Wir ruhen glücklich in der tief verwurzelten Liebe unserer Milliarden und Abermil liarden von Untertanen und stützen uns fest auf die unerschütterlichen Grundlagen unserer politischen Macht. Die Verantwortlichen für diesen gemeinen Schlag gegen unser friedliebendes Reich werden sich schon recht bald in der Obhut unserer Spezialisten wiederfinden, die sich der Kunst der Nervenanre gung verschrieben haben. O ja, diese Herren haben einige Erfahrung im Umgang mit Verrätern, Spionen und Wehrkraftzersetzern – das können wir versi chern, und wie wir das versichern können!« 136
Kein einziger Laut ertönte aus den Reihen der er schrockenen Gäste, von denen kaum einer laut zu atmen wagte. Die Königin starrte in einer anderen Richtung Löcher in die Luft und kaute träge auf einer Zuckerstange mit Erdbeergeschmack herum. »Und Sie, Oberst!« Maxim war wie ein Blitz he rumgefahren und stieß Jundrak einen Finger in die Brust. »Vielleicht sind Sie in der Lage, uns zu erläu tern, wie es den Rebellen gelungen ist, meine Streit kräfte zu überraschen? Nun? Wie, mein Herr? Wie? Wer hat ihnen den Standort verraten?« Seine Stim me überschlug sich. »Ich nicht, Euer Majestät!« erwiderte Jundrak atemlos. »Haben wir in irgendeiner Weise angedeutet, Sie könnten der Verräter gewesen sein? Und sehen wir jetzt so etwas wie Schuld in Ihren Zügen? Nun? Wir warten auf Antwort!« »Darf ich in aller Bescheidenheit der Vermutung Ausdruck verleihen, daß der Aufmarschbefehl Eurer Majestät für die 4. und die 5. Flotte möglicherweise ein wenig übereilt war?« sagte Jundrak und war im gleichen Augenblick von seiner eigenen Tollkühn heit verblüfft. Er hatte in einem leisen Tonfall gesprochen, so daß nur die ihn verstehen konnten, die ihm am nächs ten standen. Dennoch konnte er das allgemeine Zit tern spüren, das seine Bemerkung auslöste, das De saster sei dem König selbst anzulasten. Maxim hatte sich schon halb abgewandt. Er gefror 137
mitten in der Bewegung. Die erhobene Hand mit den sonderbar ausgestreckten Fingern blieb in der Luft stecken. Endlich warf er Jundrak einen Blick von der Seite zu. Seine dünnen Lippen verzogen sich zu ei nem amüsierten Lächeln, während aus seinen wal nußbraunen Augen Blitze schossen. »Ach …?« sagte er sanft. Dann war der Moment der Ruhe in ihm vergan gen, und die Wut bemächtigte sich seiner wieder. »Auf!« fuhr er die Anwesenden barsch an und breitete die Hände aus. »Tanzt!« Er nahm die Königin am Arm und bewegte sich auf die Tanzfläche zu. Scharenweise folgten ihm die anderen Pärchen. Alle nahmen ihre höfische Ein gangsposition ein. Die Musik ertönte, und der Tanz begann. Die Melodien basierten in gewisser Weise auf dem Swing und älteren Jazzformen, uralter Musik, die von Palastbeamten wiederentdeckt worden war. Schmetternde, gewundene Bläsersätze, die von einer flotten, aber monotonen Rhythmusgruppe unterstützt wurden. Eine ähnliche Kombination aus Monotonie und Leblosigkeit charakterisierte die Bewegungen der Tänzer. Diese waren bis zum letzten vorge schrieben: synkopatisch, steif und in regelmäßigen Abständen von kleinen Sprüngen unterbrochen. Und es war streng vorgeschrieben, daß sie in extremer Exaktheit und ohne einen einzigen Fehltritt durchge führt wurden. Auf einen uneingeweihten Beobachter mußten 138
diese Bewegungen etwas lächerlich wirken. Aber der Tanz galt als politisches Mittel zur Konditionierung des Nervensystems auf größere Konformität hin. Die sorgfältig abgefaßte Folge der Bewegungen, die be sonders auf das menschliche Nervensystem zuge schnitten waren, war von außerordentlicher Effekti vität bei denen, die sich automatisch einer Autorität unterordneten. In dieser Umgebung bedeutete es nicht mehr und nicht weniger als die völlige Identifi kation mit der Person des Königs, mit dem Charisma seiner Herrschaft und mit der Richtigkeit seiner Ziele. Somit war der Tanz ein probates Mittel, jedermann in den symbolischen Tanz der Herrschaft des Königs einzuspannen, und Maxim hatte in letzter Zeit immer häufiger auf »Tanzvergnügen« bestanden. Politische Tanzinstruktoren bewegten sich zwi schen den Pärchen und sorgten dafür, daß jedermann die vorgeschriebenen Bewegungen ausführte. Jun drak sah sich gerade nach einer Partnerin um, als ihm jemand leicht auf die Schulter klopfte. »Bitte folgen Sie uns, Oberst.« Zwei uniformierte Beamte der Politischen Polizei standen hinter ihm. »Was, um alles in …« begann Jundrak, brach dann aber ab. Die Offiziere in seiner Nähe zogen sich schleu nigst zurück, mieden seinen Blick und bemühten sich um eine unverdächtige Miene. Ein Polizist gab Jun drak kurz das Zeichen, ihm zu folgen, und marschier te los. Der Oberst folgte ihm. Wut und das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, hielten sich in ihm die 139
Waage. So hatte er sich das Ende dieses Abends nicht vorgestellt. Eigentlich hatte er sich zu etwas späterer Stunde mit der Gattin oder Tochter eines Adligen in eines der vielen Boudoirs im Palast zu rückziehen wollen … Die Polizisten führten ihn breite Marmorstufen hin auf und dann über einen Balkon, der über die gesamte Länge des Ballsaals verlief. Unten drehten, hüpften, sprangen und zuckten die Pärchen ungestört weiter. Jundrak hätte weniger Sorgen um die Konsequenzen des Tanzes und die Zukunft des Reiches im allgemei nen gehabt, wenn der König nicht höchstpersönlich darin verwickelt gewesen wäre. Maxim verstrickte sich immer tiefer in seine eigenen Phantasien, und das Reich war in Gefahr, ihm auf diesem Weg zu folgen. Am anderen Ende des Ballsaals entdeckte Jundrak Hinkin, den Schöpfer dieses Tanzes, der aus dem Schatten einer Nische zusah. Eine finstere Gestalt, die in einen enganliegenden, schwarzen Einteiler gekleidet war. Hinkin war klein und dürr und hielt sich so gebeugt, daß man ihn leicht für einen Buckligen halten konnte. Der politische Wis senschaftler und Nervenspezialist – man sagte ihm nach, daß sein liebstes Steckenpferd die Folter sei – verfolgte die Bewegungen der Tänzer mit einem bos haften Lächeln auf dem verwachsenen Gesicht. Er selbst tanzte nicht, nur seine Schultern zuckten auf ge radezu widerwärtige Weise im Rhythmus der Musik. Kaum hatten sie den Ballsaal verlassen, verebbten die Geräusche der Menschenmenge rasch. Man führ 140
te Jundrak durch neutrale, graue Korridore in den Flügel, in dem sich die Büros der Politischen Abtei lung der Palastpolizei befanden. Eine eigentümliche Stimmung von Bedrückung und Bedrohung ging von diesen Räumlichkeiten aus. Jundrak war schon früher hier gewesen, aber nie war er zu einem Verhör ge führt worden. Durch eine Tür, die sich automatisch hinter ihnen schloß, gelangten sie in einen größeren, mit weichen Teppichen ausgelegten Vorraum, und von dort durch eine ähnliche Tür in einen zweiten, nahezu identi schen anderen. Eine tödliche Stille herrschte hier, trotz der Sekretärinnen (allesamt Lesbierinnen – nur solche Frauen wurden für den Dienst bei der Politi schen Polizei zugelassen), die hinter mehreren Ti schen saßen. Jundrak wurde sich bewußt, daß man ihn in eine Art Sanktuarium beförderte. Die beiden Polizisten schlossen die letzte Tür hin ter ihm, ohne ihm zu folgen. Jundrak stand vor einem Schreibtisch, auf dem eine Lampe stand; die einzige Lichtquelle in diesem Raum. Hinter dem Schreib tisch saß Grenesect, der gefürchtete Chef der Politi schen Abteilung. Er starrte ihn eisig an. Jundrak kannte den Polizeichef nur flüchtig. Jeder im Reich fürchtete ihn – zu Recht. Er war wie aus Stahl. Stärke ging von ihm aus, und Unerbittlichkeit war sein vornehmster Charakterzug. Seine grauen, humorlosen Augen glitzerten im Licht der Lampe, als er Jundrak zunickte und ihn anwies, Platz zu nehmen. 141
»Der König ist von Ihnen etwas enttäuscht«, sagte er mit einer vollen, doch gefühllosen Stimme. »Sie stehen unter Verdacht.« »Aber was wirft man mir vor?« protestierte Jun drak. »Ich bin dem König treu ergeben. Immerhin hat er mich, und das nicht nur einmal, für Spezialaufträ ge ausersehen …« Jundrak hielt inne, er war etwas verwirrt. Er wußte nicht, bis zu welchem Ausmaß Grenesect mit Ma xims Taktiken und Plänen vertraut war. »Sie können hier offen reden«, erklärte Grenesect mit einer lässigen Handbewegung. »Ich kenne mich mit allen Ihren Spezialaufträgen aus und kenne auch deren Hintergründe. Wo wir gerade dabei sind, wol len wir uns doch einmal über Ihren Besuch auf Smorn unterhalten …« »Ich habe meine Arbeit dort so ausgeführt, wie man sie mir aufgetragen hat«, erklärte Jundrak er hitzt. »Mir kann man keinen Vorwurf daraus ma chen, wenn der Plan aufgrund anderer Faktoren schiefgegangen ist.« »Das müssen Sie ja wohl sagen. Nur Sie können den Wahrheitsgehalt Ihrer Behauptungen überprüfen … zumindest für den Augenblick.« »Die vernichteten Flotten wurden erst nach meiner Abreise nach Smorn beordert. Ich hätte den Rebellen also nichts davon mitteilen können.« »Aber Sie haben den Historiker Grame Liber auf gesucht, nicht wahr?« »Äh, ja, warum? Ja, das habe ich getan.« 142
»Und warum haben Sie das getan?« »Prinz Per… der falsche Prinz Peredan bat mich, ihm seine Grüße zu überbringen«, antwortete Jun drak und verzog das Gesicht. »Das war alles.« Grenesect nickte kurz angebunden. »Wir alle wis sen über den Historiker Liber Bescheid«, sagte er hintergründig. »Sie geben also zu, daß Ihre Bezie hungen zum Hause Lorenz nicht nur rein offizieller Natur sind? Daß Sie – so gesehen – Informationen weitergegeben oder übermittelt haben könnten?« »Warum sollte ich so etwas tun?« explodierte Jun drak. »Dazu besteht bei mir nicht die geringste Ver anlassung. Was ist mit dem Fleck? Ist das ganze Pro jekt fehlgeschlagen?« »Der Fleck ist auf Kurs nach Smorn«, erklärte Grenesect. »Ob Peredan dort sein wird, um ihm zu begegnen, oder ob er sich dann zehntausend Licht jahre entfernt befindet und Wasserstoffbomben über königlichem Eigentum abwirft, vermag nur die Zeit zu klären.« Jundrak fing an, sich unbehaglich zu fühlen. Die Wände des Raumes waren bei dem trüben Licht kaum auszumachen. Die Lampe verbreitete nur eine kleine Lichtinsel, die schwach Grenesects Züge auf der einen und seine eigenen auf der anderen Seite erhellte. Während Jundrak schwitzte, war der Polizeichef ganz ruhig und bedrängte ihn mit seinen von eiskalter Lo gik geprägten Fragen. Grenesect machte ganz den Eindruck, als hielte er noch einen Trumpf in der Hin terhand, als spiele er Katz und Maus mit Jundrak. 143
»Warum haben Sie Ihren Besuch bei Liber nicht gemeldet?« fragte Grenesect freundlich. »Und wa rum haben Sie vor allem nicht über die Bitte Pere dans Meldung gemacht?« Jundrak schwieg. »Gut, dann wollen wir uns über etwas anderes un terhalten. Das Schlupfloch-Projekt, zum Beispiel. Sie haben ungehinderten Zugang, sogar unbeschränkte Vollmacht. Eine bemerkenswerte Verantwortung für einen so jungen Mann.« »Das allein sollte doch schon als Beleg dafür aus reichen«, fuhr Jundrak sein Gegenüber an, »wie sehr der König meine Fähigkeiten schätzt und welches Vertrauen er in mich setzt!« »Oberst Sann, Sie werden hier befragt, nicht der König. Der Ort, an dem die Arbeiten durchgeführt werden, untersteht strikter Geheimhaltung, nicht wahr?« »Jawohl.« »Ist das nicht etwas merkwürdig?« »Warum sollte es merkwürdig sein? Seit meiner Mission weiß Peredan von der Existenz eines neuen Antriebstyps. Man darf also getrost annehmen, daß er alles unternimmt, um mehr darüber herauszufin den. Daher betrachte ich die strikte Geheimhaltung als durchaus gerechtfertigt.« »Auch wenn damit meine Männer von dem Pro jekt ausgeschlossen sind?« Grenesect beugte sich vor, und sein steinernes Gesicht drückte Grausamkeit aus. »Wissen Sie, wenn man Sie von dem Projekt 144
abzieht, wird der König sich einverstanden erklären, das Unternehmen meiner Organisation zu unterstel len. Danach kann es zu keinen Treuebrüchen mehr kommen.« »Aber das wäre doch mehr als töricht!« Plötzlich entschloß Jundrak sich dazu, um seine Stellung zu kämpfen. »Ich habe dieses Projekt seit seinem Be ginn überwacht, und ich habe nicht vor, bei seinem Ende nicht mehr dabeizusein!« Grenesect tat so, als hätte er nichts gehört. Er öff nete statt dessen eine Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Jundrak merkte, daß sie erst vor kurzer Zeit von einem Computer ausgedruckt worden war und seinen Namen trug. Er wollte noch etwas sagen, aber Grenesect igno rierte ihn und beugte den Kopf, um in der Akte zu le sen. Fast zehn Minuten lang blätterte er darin herum und überließ Jundrak seiner angespannten Nervosität. Plötzlich stand der Polizeichef auf, reckte sich und lief im Halbdunkel auf und ab. »Der König pflegt Männer durch seinen Instinkt einzuschätzen«, erklärte er langatmig. »Er schaut sich den Betreffenden an, spürt ihn, läßt ihn auf sich einwirken und trifft dann seine Entscheidung. Meine Methode hingegen ist wissenschaftlicher Natur. Ich studiere einen Mann und sammle Fakten über ihn. Ich befasse mich mit seinen Angewohnheiten, seiner Mimik und seinen Gesten. Danach analysiere ich diese Fakten, bis ich herausgefunden habe, was sich im Innern dieses Mannes verbirgt.« 145
Während Grenesect sich weiter über dieses Thema verbreitete, maß Jundrak unwillkürlich die Statur seines Gegenübers. Er bemerkte, wie breit Grene sects Rücken war. Seine graue Kleidung und die über Kreuz angelegten Doppelgurte verstärkten diesen Eindruck. »Natürlich haben wir uns von Zeit zu Zeit er laubt«, fuhr der Polizeichef fort, »Sie zu observieren. Sie sind uns daher kein Unbekannter mehr.« Er hielt inne und berührte einen Knopf auf seinem Schreib tisch. Etwas machte »Klick«, und eine neue Licht quelle ließ Jundrak nach links sehen. Ein Bildschirm hing dort plötzlich an der Wand. Zu seiner großen Überraschung sah er sich selbst in einer Nische des Palastes, wie er während eines früheren Besuches in der Inneren Stadt mit einem befreundeten Offizier sprach. Die Spionkamera fuhr näher heran und entfernte sich wieder, fing Jundraks Haltung, seine Gesichtsmimik und all die kleinen Bewegungen ein, die man bei einem Gespräch von sich gibt, ohne daß man sich ihrer bewußt wäre. Eine angeschlossene Audioanlage zeichnete jedes einzelne Wort ihrer Unterhaltung auf. »Wissen Sie was«, sagte Grenesect beinahe herz lich, »wir beide wollen uns nun einmal über Gott und die Welt unterhalten. Was halten Sie, zum Beispiel, von den Klagen der Armen?« Der Polizeichef setzte sich wieder hin und drückte auf einen weiteren Knopf. Jundrak hatte sich in Gedanken gerade einige 146
überzeugende und ideologisch unverdächtige Platitü den zurechtgelegt, um sein Desinteresse an den unte ren Schichten zu bekunden, als er mit dem nächsten Filmausschnitt eine dringende Warnung erhielt, die ihn lehrte, noch vorsichtiger aufzutreten. Er sah sich in der Alten Stadt, wie er in einer klapprigen elektri schen Straßenbahn fuhr und mit einigem Interesse auf die Mitfahrer sah. Ein gutes Dutzend flüchtiger Emo tionen lösten einander auf seiner Miene ab: Mitleid, Ekel, Bewunderung, Erstaunen … Sie widersprachen zu eindeutig seiner Absicht, sich mit Plattheiten aus der Affäre zu ziehen. Jundrak fragte sich, wie extensiv die Politische Polizei die Alte Stadt observierte. »Grundsätzlich gesagt«, fing er vorsichtig an, »ist das wohl eher eine Frage für einen Politologen.« Der Bildschirm verdunkelte sich abrupt. Bevor wieder ein Bild auf ihm erschien, verschafften Jundrak eini ge Bandgeräusche – Stöhnen, Ächzen und spitze Schreie – eine Vorahnung von dem, was jetzt kom men würde. Und er behielt recht damit. Er sah sich in Rondanas Wohnung, wo er mit ihr nackt im Bett lag und sie gerade einen heftigen Liebesakt vollzogen. Wütend sprang er auf und stürzte sich mit einem Knurren auf Grenesect. Der große Mann erhob sich ebenfalls und stieß Jundrak mit einer einzigen Bewe gung seiner riesigen und außerordentlich kräftigen Hand zurück. »Setzen Sie sich wieder hin, Sie Tölpel, und spie len Sie hier nicht den wilden Mann. Wir observieren, wen wir wollen und wann wir wollen.« 147
Jundrak fiel in seinen Stuhl und starrte in das aus druckslose Gesicht des Mannes. Er konnte es nicht fassen, über welche Kraft der Polizeichef verfügte. Jundrak hatte gehört, daß die Eliteoffiziere der Politi schen Abteilung sich täglich einer schmerzhaften Spezial-Nervenbehandlung unterzogen, um sich ihre Zähigkeit und Unerbittlichkeit zu bewahren. Auf dem Bildschirm hatte er gerade einen gewal tigen, ungehemmten Orgasmus erlebt und machte sich gleich darauf wieder über Rondana her. Was er mit der Frau anstellte, ließ ihn nachträglich erröten. Grenesect wandte sich dem Schauspiel auf dem Bild schirm zu und betrachtete alles mit sichtlichem Ver gnügen. Zum erstenmal in diesem Verhör durchbrach ein höhnisches Lächeln die Starre seines Gesichts. Dieser Mann ist ein Monstrum, sagte sich Jundrak, wandte sich von den Szenen auf dem Bildschirm ab und ballte die Fäuste. Man sollte ihn abknallen. »Hübsch«, spottete der Polizeichef, als der Filmausschnitt endlich zu Ende war. »Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen, Oberst, das war das einzige Mal, wo wir eine Spionkamera im Schlafzimmer Ih res kleinen Flittchens angebracht haben. Wir bringen unsere kleinen ›Hilfen‹ nie permanent an. Es würde gegen unsere Unsichtbarkeit verstoßen, wenn wir die Geräte längere Zeit irgendwo herumliegen ließen.« Er räusperte sich. »Nun, dann erzählen Sie mir doch bitte, wie Sie zur Lage der unteren Schichten stehen …«
148
Einige Stunden lang unterhielt sich der unermüdliche Grenesect mit ihm über »Gott und die Welt«. Sie sprachen über Politik, Sex, soziale Probleme und kulturelle Fragen, über den König und die desinteres sierte Königin an seiner Seite und über einige Per sönlichkeiten, die sie beide kannten. Jundrak fiel auf, daß Grenesect überhaupt keine Skrupel hatte, über die Schwächen bestimmter Menschen zu sprechen, nicht einmal über die seines Herrn. Später unterhielten sie sich über Sport, Religion und Musik. Grenesect fragte ihn, wer seiner Meinung nach in diesem Jahr beim Wettfliegen rund um den Planeten siegen würde. Auf dem Gebiet der Musik erwies sich der Polizeichef als Verehrer der abstrak ten, extrem intellektualistischen Klassik, die im ver gangenen Jahrhundert mit Skonorbal ihren Höhe punkt erreicht hatte. Ganz gleich, worüber sie sprachen, ständig er schienen Bilder und Filme über Jundrak auf dem Bildschirm. Grenesects geschultes Auge konnte dar an stets den Wahrheitsgehalt von Jundraks Äußerun gen erkennen. Der Oberst sah sich in ein intellektuel les Spiel verwickelt, in dem für ihn alles darauf an kam, jeden Zweifel an seiner Person zu kaschieren und sich der Wahrheit weit genug zu nähern, daß er glaubhaft wirkte, ohne sich selbst eine Falle zu stel len. Er wußte nicht, inwieweit Grenesects Behaup tung zutraf, einen Menschen durch seine wissen schaftliche Analyse durchschauen zu können, aber er wußte, daß es Forscher gab, deren Disziplin die 149
»Körpersprache« war, die zweite, instinktive Spra che, mit der Menschen auf der Ebene des Unterbe wußtseins kommunizierten; die Sprache der Gesten und Posen, die sich unabhängig von der gesproche nen Sprache äußerte. Einige der gezeigten Szenen aus seiner Vergan genheit waren selbst ihm neu, was Grenesect sicht lich amüsierte. Eine davon zeigte ihn beim Karten spiel mit dem alten Herzog Bruorn. Er hatte dabei über fünfzehntausend Quadratkilometer Land an den Adligen verloren. Der Film zeigte, daß der Herzog ihn im Spiel betrogen hatte. Eine andere Szene zeigte ihn im Bett der Ehefrau von einem Offizier Grenesects. »Weiß er davon?« fragte Jundrak. Grenesect lachte wie eine rostige Gießkanne. »Aber selbstverständlich. Er hat dieses Band gleich am nächsten Tag gesehen. Leider vertritt Hauptmann Harst in diesem Punkt nicht den modischen ›laissez faire‹-Standpunkt. Er hat den Wunsch geäußert, Sie umzubringen. Natürlich habe ich ihn durch eine Er innerung an seine Dienstpflichten davon abhalten können. Aber das gelang nur gegen mein Verspre chen, daß er höchstpersönlich die ›Nervenbehand lung‹ bei Ihnen durchführen darf, sobald wir Ihnen eine Verfehlung nachgewiesen haben.« Grenesect lehnte sich zurück und legte die Hände flach auf den Schreibtisch. »Wie würde es Ihnen ge fallen, wenn ich Harst die weitere Befragung durch führen ließe?« Jundrak seufzte tief. 150
»Unter Umständen gäbe es da eine Möglichkeit, wie Sie sich aus diesem Dilemma befreien könnten. Dazu müßten Sie allerdings die Gunst des Königs zurückerlangen. Ich meine, Sie sind zwar nicht in der Alten Stadt ansässig, aber Sie pflegen dort recht häu fig zu verkehren.« »Wie bitte?« Jundrak war verwirrt. »Wir benötigen einige Informationen über eine neue Bewegung in der Alten Stadt.« Grenesect wirk te gebieterisch mit der Hand. »In den unteren Schich ten tauchen immer wieder abartige Persönlichkeiten auf, die mit ihren Programmen die Köpfe der Arbei ter vergiften. In diesem speziellen Fall sieht es aller dings so aus, daß wir aus irgendeinem Grund keinen geeigneten Agenten dort stationiert haben, der Kon takt zu dieser Bewegung aufnehmen könnte.« »Und Sie glauben, ich könnte diese Lücke füllen?« »Wie Sie selbst gesagt haben, verfügen Sie über einige außerordentliche Fähigkeiten und haben für das Reich schon die unterschiedlichsten Aufgaben erledigt. Wie es der Zufall so will, hat Ihr Püppchen, dieses Flittchen aus der Unterschicht, einigen – wenn auch nur marginalen – Kontakt zu dieser Bewegung. Dies ist uns durch einen unserer wenigen Drähte dorthin bekanntgeworden.« »Das habe ich nicht gewußt«, sagte Jundrak leise und ignorierte die schmerzliche Verachtung für alle Unterschichtler, die aus Grenesects Worten troff. »Was ist das für eine Bewegung? Ist sie gefährlich? Plant sie einen Aufstand?« 151
»Sie nennt sich ›Tod dem Leben‹-Gesellschaft.« Jundrak griff in die Tasche, öffnet seine Börse und zog ein Kärtchen heraus. »Meinen Sie die?« Der Polizeichef studierte die Karte. »Ja, genau. Wie sonderbar. Wo haben Sie sie her?« Jundrak zuckte die Achseln. »Während der Kampfmanöver mit den neuen Schiffen hatte einer meiner Offiziere die Gelegenheit, ein Nest von Aste roidenratten auszuräuchern. Bei einem der Getöteten fand er das Kärtchen. Der Offizier hielt es für ir gendwie amüsant und gab es mir.« Grenesect reichte sie ihm zurück. »Vielleicht kann Ihnen das bei Ihren Nachforschungen hilfreich sein. Sie werden natürlich meinen Auftrag annehmen, nicht wahr?« »Selbstverständlich.« In diesem Moment drangen Stimmen von draußen in den Verhörraum, und plötzlich öffnete sich die Tür. Licht erfüllte das Zimmer. König Maxim stand auf der Schwelle und schwankte leicht. »Euer Majestät!« Grenesect und Jundrak sprangen gleichzeitig auf. Maxim trat ins Zimmer und sah die beiden mit leicht betrunkenem Blick an. »Soso, Sie sind also noch bei uns!« sagte er freundlich und klopfte Jundrak auf die Schulter. »Ich hatte angenommen, unser teurer Mitarbeiter hätte das, was von Ihnen übriggeblieben wäre, längst in den Ausguß gekippt.« Maxim kicherte. Trotz seines schwarzen Humors schien die frühere 152
Wut des Königs völlig erloschen zu sein. Er war wieder ganz der joviale, undurchschaubare Alte. Im hellen Licht sah das Büro des Polizeichefs ganz anders aus. Nichts Besonderes oder Ungewöhnliches war mehr an ihm, ein ganz normales Büro mit abge nutzten grünen Aktenschränken. Jundrak kam es so vor, als sei durch einen Knopfdruck ein Alptraum von ihm genommen. Nur Grenesect wirkte auch jetzt noch beeindru ckend. Obwohl Jundrak schon nicht gerade klein war, überragte ihn der Polizeichef deutlich und wirk te wie ein unerschütterlicher Fels. Neben ihm wirkte Maxim mit seinem ungewöhnlich hektischen und rastlosen Naturell klein und zappelig. »Oberst Sann hat soeben seine Bereitschaft zum Ausdruck gebracht«, erklärte Grenesect, »in der Alten Stadt Nachforschungen aufzunehmen. Ich kann seine Freiwilligenmeldung nur unterstützen.« Der König sah Jundrak an, nickte und lächelte. »Es ist keine gewaltige Aufgabe, aber dennoch eine, deren Ausführung uns erfreuen wird. Diene uns er geben, Freund. Wir brauchen deine Loyalität.« »Sie werden nie Grund erhalten, daran zu zwei feln, Euer Majestät!« »Davon gehe ich auch aus«, sagte der König mü de. »Nun, Sie gönnen sich besser noch etwas Ruhe, bevor Sie Ihre Arbeit antreten. Diese Nacht war für uns alle recht anstrengend.« Jundrak begriff, daß er entlassen war, salutierte und verließ den Raum. 153
Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, wandte sich Maxim an sein politisches Fallbeil und schüttelte traurig den Kopf. »Ich sollte mich wohl schämen, dieses Lamm ei nem Wolf wie Ihnen zum Fraß vorzuwerfen.« »Euer Majestät unterschätzen den Herrn Oberst.« »Vielleicht. Wie viele Männer, sagten Sie, haben Sie schon an diese Größenwahnsinnigen in der Alten Stadt verloren?« »Fünf Männer sind bislang auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Wir haben wenig Belege, auf ein direktes Verschulden der Bewegung an ihrem Tod zu schließen. Viel störender ist allerdings, daß unsere Agenten wie gegen eine Mauer rennen, ein fach keinen Zutritt zu den Verschwörern bekom men.« »Nun, wenn Sann sich nicht geschickter anstellt als Ihre Männer, dann erhalten sie die SchlupflochBasis, wie ich es bereits versprochen habe.« »Dann wünsche ich ihm natürlich alles andere als Glück. Nichts wäre eine größere Gnade für mich, Euer Majestät. Leider kann ich mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß Sanns Chancen eher gut sind.« 9. Kapitel Jundrak war weise genug, sich nicht zu lange von seiner Begegnung mit Grenesect verwirren zu lassen. Solche unwillkommenen Erlebnisse waren in dem 154
Spiel, das er spielte, eben nicht zu vermeiden, wenn er weiterhin am Ball bleiben wollte. Das Risiko und die Gefahr gehörten als feste Bestandteile zu diesem Spiel. Er bemühte sich auch, seine Unsicherheit nicht zu stark werden zu lassen. Maxim und Grenesect hatten ihn nur der Sicherheit des Reichs wegen in Schre cken versetzt, so wie sie in dieser Zeit der äußeren Bedrohung jedermann Angst einjagen wollten. Kei ner von ihnen beiden schien eine Ahnung von Jun draks Spiel hinter den Kulissen zu haben. Am Unter gang der 4. und 5. Flotte fühlte er sich vollständig unschuldig. Schließlich hätte so etwas nur schlecht zu seiner gegenwärtigen Doppelrolle gepaßt. Er ge wann den Eindruck, daß dieses militärische Desaster genauso überraschend für ihn wie für den König ge kommen war. Jundrak hatte nicht die leiseste Ah nung, woher die Rebellen vom Standort der beiden Flotten erfahren hatten und wie es ihnen gelungen war, die königlichen Streitkräfte so entscheidend zu schlagen. Außer, sie verfügten über einen neuartigen Detektor. Jundrak hielt sich nicht damit auf, seine neuen Aufgaben zu überdenken und vielleicht sogar um eine Befreiung von ihnen zu bitten. Er war fest davon überzeugt, daß man ihn bei einem erfolgreichen Ab schluß dieser Geheimmission wieder zum Oberbe fehlshaber der Schlupfloch-Flotte machen würde. Zuerst rief er unter allen Sicherheitsvorkehrungen Heen Sett an (er war sich ziemlich sicher, daß die 155
Politische Polizei seinen Verzerrer-Code noch nicht geknackt hatte, aber er wollte zum jetzigen Zeitpunkt lieber nichts riskieren) und begab sich dann auf schnellstem Wege in die Alte Stadt. Er entledigte sich seiner Uniform und zog einen einfachen Anzug an, in dem er nicht auffallen würde. Seine Eitelkeit hinderte ihn jedoch daran, allzu großer Ärmlichkeit Raum zu geben. Er instruierte seinen Schneider, ihm einen Anzug aus einem relativ guten Stoff zu machen und ihn mit einer Andeutung des Exhibitionismus zu versehen, die seinem Charakter entsprach. Die Haustür des Wohnungskomplexes, in dem Rondana lebte, stand offen. Jundrak stieg die Stufen bis zu ihrem Apartment hinauf, klopfte kurz – aber heftig – an die Tür und trat ein, ohne auf eine Ant wort zu warten. Sie fuhr überrascht herum und sah ihn an. »Oh, du bist es.« Sie saß an einem Schminktisch und bereitete sich offensichtlich aufs Ausgehen vor. Ihr Tonfall, sagte sich Jundrak, hatte nicht besonders erfreut, sondern eher mürrisch geklungen. Dann fiel ihm ein, daß er sich seit fast sechs Wochen nicht mehr bei ihr hatte blicken lassen. »Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?« sagte er so heiter, als wäre etwas anderes als eine po sitive Antwort für ihn undenkbar. Aber Rondana zuckte nur die Achseln und sah in eine andere Rich tung. »Tut mir leid, aber für heute abend habe ich schon 156
eine Verabredung. Du hättest mir Bescheid sagen sollen, daß du heute kommst.« Das klang gar nicht nach Rondana. »Du hast dich mit einem anderen Mann getroffen!« rief er empört. »Kannst du mir einen Grund nennen, warum ich das nicht tun sollte? Du kommst hierher, oder du kommst einfach nicht, ganz wie es dir gerade in den Kram paßt. Denkst du denn, ich würde bis an mein Lebensende hier herumsitzen und geduldig warten, bis der gnädige Herr sich hierherbequemt?« »Aber, Rondana, so kannst du das nun wirklich nicht sehen … Hör mal, wir beide, du und ich …« Sie stand auf, öffnete einen Kleiderschrank und musterte ihre bescheidene und nicht allzu kostspieli ge Garderobe. »Ich muß jetzt gehen. Mach’s gut.« Jundrak packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. »Wer ist er? Sag schon, wer ist er? Wollen wir doch mal sehen, ob du ihm soviel wert bist, daß er mir mit einem Messer oder einer Pistole entgegentritt!« Wütend schob sie seine Arme fort. »Das sieht dir ähnlich! Wie toll von dir, einem ausgebildeten Solda ten, gegen einen Arbeiter anzutreten, der in seinem ganzen Leben noch keine Waffe in der Hand gehal ten hat! Du Mörderschwein!« Diese ungewohnte Schimpftirade erschütterte Jun drak. »Was ist denn geschehen, daß du so zu mir bist?« Er drehte an seinen Schnurrbartspitzen und runzelte die Stirn. Rondana setzte sich überdrüssig auf einen Stuhl 157
und kehrte ihm den Rücken zu. »Was bin ich denn schon für dich? Nichts als die billige kleine Hure aus den Slums. Ich bin jetzt zwanzig, und wie alt bist du? Neunzig? Hundert? Ich wette, du hattest schon dei nen Spaß mit kleinen Mädchen wie mir, als meine Mutter noch nicht geboren war. Besuchst du sie ei gentlich hin und wieder mal, deine abgelegten Lieb schaften, jetzt, wo sie alt und voller Runzeln sind? Wirst du mich noch besuchen kommen, wenn ich alt und grau bin, du aber immer noch so jung aussiehst wie heute? Mach dir und mir doch bitte nichts vor.« Jundrak fühlte sich unbehaglich und hüstelte irri tiert. Auf ihre Worte gab es keine vorformulierte Antwort. Die Lage war zwar ungerecht, aber sie war eben so, wie sie war. Andererseits war er nicht in ei ner Welt aufgewachsen, die sich durch ihre Gerech tigkeit auszeichnete, und daher hatte er weder danach gesucht noch sie je erwartet. Natürlich bestand für ihn kaum die Möglichkeit, Rondana zu heiraten, sie in die höheren Klassen einzuführen und für sie all die Dinge zu arrangieren, die ein solcher Aufstieg mit sich brachte – vor allem die Lebensverlängerung. Daß er sich überhaupt bei den Unterschichten herum trieb, war für ihn nur Abenteuerlust, eine Frage des Wagemuts, und viele aus seiner Bekanntschaft in der Inneren Stadt hätten darüber die Nase gerümpft, hät ten sie davon erfahren. »Wenn ich eine Möglichkeit wüßte, wie die Welt verändert werden kann, würde ich sofort danach grei fen«, erklärte Jundrak. »Mir kann man meine Geburt 158
genausowenig vorwerfen wir dir deine. Der Grund, warum ich zu dir komme, ist der, daß ich dich viel lieber mag als jede andere dort oben.« Er zeigte mit dem Daumen auf die Innere Stadt. »Nun, deine Chancen, die Welt zu verändern, sind entschieden größer als meine.« »Das stimmt doch gar nicht. Kein Adliger kann an irgend etwas Veränderungen bewirken. Würdest du unter ihnen leben, wüßtest du, wie absurd allein schon die Vorstellung ist. Alle Veränderungen müs sen von hier unten kommen – müssen von den Mas sen gefordert werden.« »Ein Herzog, der den Volksaufstand predigt!« sag te sie spöttisch. »Warum nicht?« Heimlich schlich er sich an sie heran, legte ihr die Hände auf die Schultern und ließ die Finger zärtlich ihre Arme hinabwandern. Diesmal wehrte sie ihn nicht ab. »Sei bitte ehrlich«, murmelte er ihr sanft ins Ohr. »Du magst mich doch lieber als den anderen Bur schen, nicht wahr? Du kannst dich nicht gegen deine Gefühle für mich wehren.« »Nein«, hauchte sie und lehnte sich gegen ihn. Sie schloß die Augen und ließ sich von seinen Zärtlich keiten verwöhnen. Es dauerte nicht lange, bis bei beiden das Blut heiß durch die Adern rauschte, bis sie im Bett lagen und wieder die atemlose Erregung genossen, wenn ein Mann eine Frau entdeckt und erforscht. Einmal richtete sich Jundrak ein Stück auf und 159
studierte die gegenüberliegende Wand. Dort irgend wo war damals die Spionkamera angebracht gewe sen, als er zu einer früheren Gelegenheit mit Ronda na im Bett gelegen hatte. Jeder kleine Fleck dort konnte ein Spionauge verbergen. Grenesect hatte ihm zwar versprochen, die Kamera entfernen zu lassen, aber wie weit konnte man dem Chef der Politischen Polizei schon trauen? Aber was machte das jetzt schon aus? Jundrak widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder dem zuckenden, keuchenden Mädchen unter ihm und ver drängte alle Fragen nach Wanzen und Kameras aus seinem Bewußtsein. Was hätte er schon dagegen un ternehmen können, ihm blieb nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren. Immerhin tat er auch das hier für den König. Jundraks Rivale war ein junger Genosse der »Tod dem Leben«-Bewegung. Rondana hatte ihn in der Kneipe kennengelernt, in der sich die Mitglieder der Bewegung trafen. Jundrak benötigte zwei Tage der sanften Überredung, der Schmeicheleien und der Heuchelei, bis Rondana, ohne mißtrauisch zu wer den, bereit war, ihn in die Kneipe mitzunehmen. Das »Herzog von Freen« (Jundrak war fasziniert davon, wie viele Kneipen in der Alten Stadt nach Ad ligen benannt waren) befand sich zwischen zwei mas siven Fabrikkomplexen. Der Ausschank fand haupt sächlich in einem großen, verrauchten Keller statt. Und hier atmete Jundrak auch zum erstenmal den Ge 160
ruch der Rebellion ein – den der echten, altmodischen Rebellion, die so gut wie gar nichts mit dem Gezänk und den Intrigen der Aristokraten zu tun hatte. Was hier beredet wurde, war ihm oft genug fremd und unverständlich. Junge Männer mit ungekämmten Haaren diskutierten Themen wie die »Dialektik der Unterdrückung«, die »Expropriation der Expropria teure«, die »Befreiung des kreativen Potentials« und die »Negation der Negation«. Das meiste davon vermittelte ihm den Eindruck, mitten in ein surrealis tisches Theaterstück hineingeraten zu sein. Selbstverständlich hatte er Rondana schwören müssen, seine wahre Identität hier niemals zu offen baren. Nach einiger Zeit beschloß er, auf den Jargon der Bewegung zu verzichten und seine Empörung und seinen Wunsch nach Veränderung auf rein emo tionaler Basis Ausdruck zu verleihen. Mit dieser Tarnung gelang es ihm, die Aufmerksamkeit be stimmter Personen auf sich zu lenken, die er bereits als heimliche Anwerber der Bewegung durchschaut hatte. Nach relativ kurzer Zeit erhielt er die Einla dung zu einer Morgenversammlung. Bis jetzt war alles für Jundrak recht einfach ver laufen, aber er wußte ja nicht, daß er sich auf der gleichen Route bewegte wie so viele von Grenesects Agenten zuvor. Erst als er die Mündung von Harris Dageles Pistole in seinen Rippen spürte – wenige Minuten nachdem die Morgenversammlung beendet worden war –, begriff Jundrak, daß vielleicht doch nicht alles so einfach sein würde. 161
Dagele führte ihn in denselben kleinen und leeren Raum, in dem Krakhno bereits fünf von Grenesects Infiltratoren verhört und zerstört hatte. Doch dieses Mal standen zwei dünnbeinige Stühle in dem Zim mer. Die Tür schloß sich hinter Jundrak – er erinner te sich sofort wieder an die Konfrontation mit dem Polizeichef –, und er war allein mit dem Führer der Anarchisten. Jundrak hatte noch nie etwas von Castor Krakhno gehört und sah ihn jetzt zum ersten Mal. Er legte den Arbeiter ab und stellte sich aufrecht wie ein Offizier hin. Mit forschem Blick studierte er den kleinen Mann. Krakhno, der ihn bereits während der Versamm lung und jetzt wieder seit seinem Eintritt in dieses Zimmer beobachtet hatte, brach plötzlich in schal lendes Gelächter aus. Jundrak war verwirrt und beschloß rasch, auch die letzte Tarnung aufzugeben. Selbst jetzt war es unvor stellbar für ihn, daß ein gewöhnlicher Slumbewohner es wagen würde, einem Mann seiner Stellung zu na hezutreten. »Ich verlange unverzüglich meine Freilassung«, erklärte er barsch. »Sie werden Ihre hochmütigen Handlungen augenblicklich bedauern, sobald Sie er fahren haben, wer vor Ihnen steht.« »Zumindest sind Sie nicht auf den Mund gefal len«, gab Krakhno zu und wischte sich die Lachträ nen aus den Augen. »Aber bitte, mit wem habe ich denn das Vergnügen?« 162
»Ich bin der Herzog von Sann«, fuhr Jundrak den kleinen Mann in befehlsgewohntem Ton an. Er er wartete Ehrfurcht oder Verlegenheit, aber Krakhno brach nur wieder in schallendes Gelächter aus. »Wer so redet, kann kein anderer sein!« Zum ersten Mal zeigten sich Risse in Jundraks Selbstvertrauen. Von diesem unauffälligen Mann mit der gummiartigen Gesichtshaut, der sich so offen sichtlich über ihn belustigte, ging etwas unangenehm Unerschütterliches aus. Nicht unerschütterlich wie bei anderen Männern, sondern eine bewegliche, eine offensive Unerschütterlichkeit. »Ich heiße Krakhno, Castor Krakhno«, sagte der Mann und streckte einladend eine Hand aus. »Möch ten Sie sich nicht setzen?« Vorsichtig ließ Jundrak sich nieder. Vielleicht hat te er sich zu früh enttarnt. »Was finden Sie eigentlich so komisch?« fragte er verärgert. »Sie sind so ungeheuer amüsant. Ich nehme an, Grenesect hat Sie hierher geschickt.« »Anscheinend bin ich in Ihrer Hand«, sagte Jun drak langsam. »In gewisser Weise ja. Aber auch in der von Gre nesect.« Jundrak spürte wie einen elektrischen Schlag die Macht des Anarchisten, als dieser ihm in die Augen sah und bis in seine Seele vordrang. »Wissen Sie, Grenesect hat Sie als der erkannt, der Sie sind. Ein Opportunist, ein Mann mit zwei Gesichtern, der ständig versucht, nach allen Seiten offen zu sein und 163
gleichzeitig in der Mitte zu bleiben. Aus diesem Grund hat er Sie auch für diesen Auftrag ausgewählt. Irgendwie hat er erraten – oder auch intuitiv erfaßt –, daß ich in der Lage bin, seine Agenten an ihrer kom promißlosen, gleichwohl verborgenen Feindseligkeit zu erkennen. Aus diesem Grund ist es Grenesect bis lang auch noch nicht gelungen, jemanden in meine Organisation einzuschleusen. Die geheimen Intentio nen seiner Agenten liegen so überdeutlich vor mei nem geistigen Auge, daß ich sie mit Leichtigkeit entweder auf eine falsche Fährte schicken oder direkt umbringen kann. Grenesect sagt sich nun, daß Sie aufgrund Ihrer opportunistischen Persönlichkeit möglicherweise eine Chance haben, unentdeckt in meinen Reihen zu wirken.« »Sie kennen mich erst seit wenigen Sekunden und können unmöglich jetzt schon so viel über mich he rausgefunden haben.« »Vergeben Sie mir, aber das kann ich doch. Oh, ich verstehe mich darauf, in der menschlichen Natur wie in einem Buch zu lesen. Bis zu einem gewissen Grad hat auch Grenesect diese Fähigkeit.« Dieses Schwein, dachte Jundrak. Die Erklärungen des Anarchisten waren so gezielt und zutreffend, daß er nicht eine Sekunde lang daran dachte, Krakhno könne sich das nur ausgedacht oder einfach auf gut Glück geraten haben. »Also gut, und was nun?« Krakhnos Blick schien in sein Innerstes vorzusto ßen. »Wie ich bereits sagte, der Dreh- und Angel 164
punkt Ihres Charakters ist Ihre Selbstsucht, Ihre Schauspielerei, Ihre Doppelzüngigkeit. Geradezu un geheuerlich, daß erst ein Mann wie Grenesect kom men muß, um das zu erkennen … Die Aristokraten sind doch wirklich nicht mehr als eine Bande von Einfaltspinseln …« Krakhno schien sich für einen Augenblick einem Tagtraum hingeben zu wollen. »Mitarbeiter aus den Reihen des Adels fehlen mir noch in meiner Organisation.« »Wenn Sie glauben, ich würde mit dem Pöbel aus den Slums gemeinsame Sache machen …« Jundrak war von der Vorstellung so angewidert, daß er kaum weitersprechen konnte. »Erschießen Sie mich lieber, Sie Abschaum, los doch, erschießen Sie mich!« »Sparen Sie sich doch bitte Ihre Dramatik für eine andere Gelegenheit auf. Sie verfolgen im Grunde mehrere Ziele, nicht wahr? Und wir leben in beweg ten Zeiten; zumindest nehme ich an, daß wir das tun, sonst würde sich doch die Politische Polizei von meinen vergleichsweise moderaten Aktivitäten nicht so aus der Ruhe bringen lassen. Ihre Interessen sind von den meinen gar nicht so weit entfernt.« »Worauf wollen Sie hinaus?« Jundraks Neugier war geweckt. »Müssen wir einander in Feindschaft begegnen? Jetzt verstehe ich: Ich hätte Sie nicht einer so bedroh lich wirkenden Umgebung aussetzen sollen. Gehen wir doch ins Nebenzimmer. Dieser Raum hier er weckt auch in mir eher unangenehme Assoziatio nen.« 165
Krakhno öffnete die Tür und führte ihn in ein viel größeres Zimmer, in dem vor sehr langer Zeit zum letztenmal aufgeräumt und geputzt worden war. Der Raum schien Schlafzimmer, Wohnzimmer und Büro zugleich zu sein. Die Fenster waren geschlossen, und ein unangenehmer Geruch hielt sich hier, der offen sichtlich davon herrührte, daß Krakhno sich die meiste Zeit in diesem Raum aufhielt und nie frische Luft hereinließ. Horris Dagele erwartete sie. Krakhno setzte sich in einen schweren Ledersessel. »Suchen Sie sich doch bitte einen Platz«, sagte er gastfreundlich zu Jundrak. »Ich denke, Horris wird uns gleich eine Erfrischung reichen.« Der Stellvertreter des Anarchistenführers ver schwand in der Küche und kehrte nach kurzer Zeit mit reichlich bemessenem Whisky in gesprungenen Tassen zurück. Jundrak nahm nur einen kleinen Schluck. »Was meinten Sie eben mit den mehreren Zielen, die ich verfolge?« »Da wir davon ausgehen müssen, daß Grenesect Ihren Charakter durchschaut hat, befinden Sie sich wahrscheinlich in einer gefährlicheren Lage, als es Ihnen im Augenblick bewußt sein dürfte. Man hat Sie nicht wegen Ihrer Vertrauenswürdigkeit für diese Mission ausgewählt, sondern wegen Ihrer Unzuver lässigkeit. Mit anderen Worten, Sie sind so lange nicht in direkter Gefahr, wie Sie sich in diesem Sinne als nützlich erweisen. Was sollte Sie also daran hin 166
dern, Ihre Kontakte zu den Revolutionären zu pfle gen und für mich zu arbeiten? Damit wären Sie na türlich auch aus dem Schneider, wenn das Blutbad der Revolution beginnt – und daß es in absehbarer Zeit kommt, kann ich Ihnen versichern.« »Sie scheinen ja erstaunlich viel über Grenesect zu wissen.« »Ich bin ihm noch nie begegnet. Aber ich kenne ihn durch seine Methoden, auch wenn nur andere darunter zu leiden hatten. Mehr noch, seine Persön lichkeit ist mir vertraut. Er ist ein Mann nach mei nem Herzen: ohne Illusionen, ohne Weichheit, ohne Schwächen. Grenesect liebt den Tod mehr als das Leben. Wir beide verstehen die menschliche Natur. Daher ist es mir auch ein besonderes Vergnügen, ihn zum Gegner zu haben.« »Er ist ein Monstrum«, sagte Jundrak dumpf. »Er verdient es nicht, ein Mensch genannt zu werden.« »Was für ein Lob!« sagte Krakhno augenzwin kernd. »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Ei ner meiner Männer – einer meiner besten – wurde von der Politischen Polizei verhaftet. Zu seinem Un glück hatte er nicht viel zu verraten. Dennoch hat man ihn gnadenlos gefoltert, bis er auf dem Boden kroch und darum bat und bettelte, entweder auf der Stelle getötet oder freigelassen zu werden. Als der Mann kaum mehr als ein hysterisches Kind war, ließ Grenesect ihn von der Folterbank nehmen und legte sich selbst dorthin. Auf seinen Befehl hin verabreich te man ihm die gleiche Behandlung wie vorher dem 167
Rebellen. Grenesect hat alles ertragen und höchstens einmal mit den Zähnen geknirscht. Als seine Be handlung beendet war, stieg er von der Folterbank und erklärte: ›So hat ein Mann zu reagieren!‹ Danach ließ er meinen Mann frei, nicht wahr, Horris?« Der Stellvertreter, der sich im Hintergrund auf hielt, nickte. »Ja, Horris war dieser Gefangene. Damals war er noch ein einfacher Genosse der Bewegung. Und das war auch Grenesects einzige Botschaft an mich.« Jundrak wußte nicht, was er sagen sollte. Der Whisky, die fremde Umgebung und die unerwartete Freundlichkeit des Anarchisten hatten eine merk würdig beruhigende Wirkung auf ihn. Darüber hin aus war er auch schon unter den Einfluß Krakhnos geraten. Alle anderen schienen nur noch schattenhaf te Halbwesen zu sein, solange sich der Anarchisten führer bei ihnen aufhielt. »Sie schlagen also vor, ich solle mich als Doppel agent betätigen«, sagte er. »Sozusagen als Ihr Mann in der Inneren Stadt?« »Nichts so Einfaches. Wie ich schon sagte, vermu tet Grenesect irgendwie, daß ich in der Lage bin, sei ne Agenten durch einen psychologischen Trick zu entlarven – nämlich dadurch, daß ich irgendwie er kenne, daß ihre vorgebliche Übereinstimmung mit meinen Ansichten eine Lüge ist und sie in Wahrheit genau auf der anderen Seite stehen. Deswegen hat er den Versuch unternommen, mir jemanden zu schi cken, dessen Ambitionen so zwielichtig sind, daß 168
man von ihm nicht sagen kann, er stünde irgend je mandem in Opposition gegenüber. Jemanden, der nur seinen eigenen Ehrgeiz pflegt – Sie. Ich habe jedoch einen Vorteil, denn meine Einsicht ist größer, als Grenesect denkt. Ihre Standpunktlosigkeit ist für mich wie ein offenes Buch. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie in den Palast zurückkehren und Berichte über Ihr Vorankommen schreiben, solange Sie sie in Grenzen halten und nicht zu viel Wirbel erzeugen. Auf diese Weise wird Grenesect nicht unruhig und tut nichts Gewalttätiges. Außerdem wird es ihn da von abhalten, Ihnen allzu sehr zuzusetzen. Was mei ne Seite des Handels angeht, so verlange ich nicht mehr als hin und wieder ein kleines Schwätzchen mit Ihnen, so wie jetzt. Dies wird mir etwas einbringen, an dem es mir gegenwärtig noch mangelt: das Wis sen, wie die Aristokratie denkt und fühlt. – Was hal ten Sie davon? Immerhin stehen Sie nicht wirklich auf irgend jemandes Seite. Ich bin sicher, daß Sie so viele Eisen im Feuer haben wie nur irgend möglich.« Ich als eine Art adliges Haustier, dachte Jundrak mit einem Anflug von Selbstverachtung. Welch ein gerissener Hundesohn. Und dennoch hat er recht. Irgendeines Tages in der Zukunft könnte ich mir – wenn sich die Dinge so weiterentwickeln – einen Rie senvorteil verschaffen, indem ich die ganze Ver schwörung auffliegen lasse. »Und später«, sagte Krakhno triumphierend, »könnte es Ihnen einige Orden einbringen, indem Sie uns alle an die Behörden ausliefern.« 169
Jundrak schaute auf. Krakhno lachte freundlich. »Nein, ich lese Ihre Gedanken nicht. Aber hin und wieder fällt es mir sehr leicht, den Leuten zu sagen, was sie denken. Übrigens würde ich mich nicht fürchten, wenn Sie den Versuch unternähmen, uns auffliegen zu lassen. Unsere Organisation ist schon sehr weit entwickelt. Wir werden mit sämtlichen Eventualitäten fertig.« »Ihr seid doch alle verrückt«, sagte Jundrak. »Re volution, Befreiung – das sind doch alles Spinnerei en. Was, beim großen Kosmos, glauben Sie, werden Sie damit erreichen?« »Es wird einige Zeit dauern, aber wir kriegen es hin.« Vielleicht dauert es Jahrhunderte, dachte Krakhno. Vielleicht erlebe ich es nicht einmal mehr mit, weil ich nicht so lange leben werde. Aber ein paar von den Schweinen, die jetzt leben, werden noch dasein, wenn der Tag der Abrechnung anbricht. Jundrak sah ihn ernüchtert an und versuchte, die Überlegenheitsgefühle, die er angesichts des unge schlachten Animalismus des anderen empfand, zu verbergen. »Ihre Theorien erscheinen mir ziemlich konfus«, sagte er gelassen, »und außerdem sind sie ganz schön einseitig. Als Sie eben unten Ihre Anspra che gehalten haben, war nur von Zerstörung die Rede. Sie sagen, Sie werden die gegenwärtige Ordnung ver nichten. Aber womit wollen Sie sie ersetzen?« »Mit einem Zustand der Freiheit, in dem alle Macht in den Händen des Individuums liegt, statt in denen des Staates oder des Gesetzes.« 170
Jundrak schnaubte höhnisch. »Lächerlich! Man hat doch aufgrund von naturwissenschaftlichen, mathe matischen, logischen und geschichtlichen Berech nungen einwandfrei bewiesen, daß die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur langfristig gesehen die einzig mögliche ist. Selbst wenn man sie irgendwie mit Gewalt verändert – innerhalb einer gewissen Zeitpe riode wird sie wieder auf den alten Kurs einschwen ken.« Es war kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß dieses Theorem so tief im Geist der herrschenden Klasse verankert war, daß Jundrak beinahe ein unge schriebenes Gesetz brach, indem er es auch nur zu ließ, sich auf eine Argumentation darüber einzulas sen. »Natürlich kann man mit der Wissenschaft nicht streiten«, gab Krakhno ihm sarkastisch recht. »Selbst wenn ich Ihnen zugestehen würde, daß das, was Sie sagen, richtig ist, ich würde doch immer ein unnach giebiger Gegner der Klassengesellschaft bleiben. Wenn Haß alles ist, was übrigbleibt, dann soll der Haß mein Gott sein. Wenn ich die Welt in Flammen aufgehen lassen muß und anschließend nichts ande res mehr herrscht als Verzweiflung, dann sei es so.« Horris Dagele füllte Jundraks schmutzigen Becher erneut. Etwas an der Innenwelt des Anarchisten be rührte Jundrak gegen seinen Willen. »Sie sind ein seltsamer Mensch«, murmelte er kopfschüttelnd. »Aber da ist noch etwas, das ich wis sen muß. Sie haben so getan, als wüßten Sie alles über mich – nach einem ersten Blick. Na schön. Ich 171
bin überzeugt. Aber wie machen Sie es? Wo haben Sie das gelernt?« »Sie würden es mir doch nicht glauben, wenn ich es sagte«, erwiderte Krakhno. 10. Kapitel Tage und Wochen vergingen. Dann sogar Monate. Die erwartete Invasion der Rebellenstreitkräfte fand nicht statt. König Maxim und sein Hofstaat gestatteten sich einen erleichterten Seufzer; dennoch weigerte sich der Monarch, den auf der Bevölkerung lastenden Druck zurückzunehmen. Er erging sich in fortwährenden Anklagen und Verfolgungen, denn seine Verärge rung machte keineswegs einer Erleichterung Platz. Für den größten Teil von Maximilia und das ge samte Reich vergingen die Tage ohne Zwischenfall. Aber über einige Menschen – nämlich jene, die mit politischen Dingen zu tun hatten oder die man ver dächtigte, damit zu tun zu haben – brach eine Welle von Verhaftungen und Exekutionen herein. Was Grame Liber anging, so hatte bei ihm noch nie eine Razzia stattgefunden. Er war gerade dabei, sich ins Bett zu begeben, als es an seiner Tür klingel te und vier Polizisten eintraten. Es waren keine gewöhnlichen Stadtpolizisten. Er erkannte an ihren Dienstmarken, daß sie einer Spezi aleinheit angehörten, die ihre Befehle direkt aus dem Palast bekam. Und außerdem gehörten sie zur be rüchtigsten Abteilung dieser Organisation. 172
Politische Polizei! dachte er überrascht und sah blinzelnd auf die Vollmacht, die sie ihm unter die Nase hielten. »Sie werden mit uns kommen, Historiker Liber.« Seine Fragen ignorierten sie; er hatte keine andere Wahl, als mit ihnen zu gehen. Des weiteren nahmen sie sich die Freiheit, sein Haus zu durchsuchen, wo bei sie nach Büchern und Schriften Ausschau hielten – einschließlich der dicken Rolle seiner halb fertig geschriebenen Geschichte des Bürgerkrieges. Später an diesem Abend fand er sich in den Hän den eines Individuums wieder, das sich selbst als öf fentlicher Ankläger bezeichnete. Der raubvogelhaft wirkende Mann sah ihn mit einem höhnischen Blick von oben bis unten an. »Wo sind Ihre Freunde?« »Freunde?« Der Ankläger knirschte mit den Zähnen, um seine Wut zu demonstrieren. »Streiten Sie etwa ab, daß Sie Mitglied der Historischen Gesellschaft sind?« »Aber nein. Warum sollte ich?« »Ich stelle hier die Fragen. Dann geben Sie also auch zu, daß Sie ein Komplize Murnor Gelacts sind, des Präsidenten der Historischen Gesellschaft?« »Nun, als sein Komplize würde ich mich wohl kaum bezeichnen. Die Gesellschaft beschäftigt sich nur mit historischer Forschungsarbeit. Wir sind schon aus Prinzip eine neutrale Kraft.« »Kommen Sie mir doch nicht mit diesem Wischi waschi-Liberalismus! Wir leben in Zeiten, in denen 173
jede Zusammenfassung der geschichtlichen Ereignis se, die nicht von der Politischen Polizei geschrieben wurde, automatisch einem Verrat nahekommt.« Der Ankläger warf diverse Lesespulen auf den Schreib tisch. Dazu gehörte auch die Rolle, die Libers Mag num Opus enthielt. »Sehen Sie sich das mal an! Ver rat, Zersetzung, Verleumdungen des Königs – auf jeder einzelnen Rolle!« »Das stimmt nicht«, sagte Liber, jetzt aufrichtig empört. »Mein Werk enthält nichts dergleichen. Ich habe mich bemüht, eine objektive Geschichte der Kriegsereignisse …« »Spielen Sie nicht mit meiner Geduld, Sie aufge blasener Intellektueller! Wenn Sie wirklich unschul dig sind, warum sind Murnor Gelact und die anderen Mitglieder der Gesellschaft dann in den Untergrund gegangen? Gibt es etwa einen besseren Beweis für ihren Verrat?« Der Ankläger warf Liber einen haßer füllten Blick zu. Seit Kriegsende wußte er, daß dieser Mann ein potentieller Sympathisant der Rebellen war, denn es war allgemein bekannt, daß er in den alten Zeiten zum Freundeskreis Prinz Peredans ge hört hatte. Der Ankläger war der Meinung, daß man ihn nur deswegen bei Hofe duldete, um ihn besser im Auge zu behalten. Nur hatten die letzten Wochen es ziemlich einfach gemacht, genügend Beweismaterial gegen die nach außen hin unschuldig wirkende His torische Gesellschaft zu sammeln. »Weder Gelact noch einer der anderen hat sich meines Wissens auf ihnen abträgliche Aktivitäten 174
eingelassen«, sagte Liber unsicher. »Wenn Ihre Vermutungen dennoch zutreffen sollten, müssen sie sich zu einer Untergruppe formiert haben, deren Exi stenz mir unbekannt ist. Aber persönlich bin ich der Ansicht, daß Ihre Vermutungen lächerlich sind. Murnor ist kein Dummkopf. Er würde sich nie dazu hinreißen lassen, an einem Verbrechen gegen den Staat teilzunehmen.« »Ja, ja, quatschen Sie nur, soviel Sie nur wollen, Sie alter Narr.« Der öffentliche Ankläger winkte ungeduldig ab. »Leider sind Ihre Freunde uns – im Augenblick – entwischt. Aber ich zweifle nicht daran, daß Sie wissen, wo sie sich versteckt hal ten.« Er beugte sich unangenehm nahe vor. »Sie sollten sich schon etwas Besseres einfallen lassen, Sie Zwerg.« Polizeichef Grenesect sah sich in seinem Büro alles auf dem Bildschirm an. Er war von Dutzenden weite rer Schirme umgeben, die miteinander verbunden waren und Hintergrundgeräusche von sich gaben, die hauptsächlich aus Stöhnen und Schreien bestanden. In den Verhörkammern des Palastkellers wurde hart gearbeitet. Die Tätigkeit der Beamten erfüllte die Luft beinahe mit dem gleichen Klima wie der Terror, mit dem König Maxim neuerdings herrschte. Grenesect hielt den alten Gelehrten für eine inte ressante Figur. Später würde er sich vielleicht einmal persönlich mit ihm vergnügen. Eine Klingel an seinem Schreibtisch signalisierte 175
ihm, daß der König ihn höchstpersönlich anrief. So fort machte Grenesect die Leitung frei. Maxims Gesicht musterte ihn begierig. »Haben Sie sich schon den kleinen Speichellecker vorge nommen?« Er bezog sich damit auf einen Mann, den sie erst kürzlich festgenommen hatten: einen Spion, der im Palast des Königs für die Rebellen gearbeitet hatte. »Er ist momentan in der Nervenkammer, Majes tät.« »Ich will ihn sehen! Ich will ihn sehen!« Grenesect nahm ein paar nötige Schaltungen vor und verband den Monarchen mit der Nervenkammer. Maxim, dessen Gesicht noch immer auf dem Bild schirm des Polizeichefs zu sehen war, brach vor Er regung in Schweiß aus, als er den glücklosen Agen ten auf der Folterbank ausgestreckt sah. Der Mann stieß ein verhaltenes Stöhnen aus. Um ihn herum – in der Dunkelheit – standen die Spezialisten, die seine Schmerzen schrittweise verstärkten. Der König leckte sich die Lippen. Dann fröstelte er verhalten. Als sei der Anblick plötzlich zuviel für ihn, streckte er die Hand aus. Er schaltete den Schirm ab, der die Szene übertrug, und wandte sich wieder Grenesect zu. »Haben Sie nichts aus ihm herausbekommen?« »Doch, aber wir wollen ihn ganz ausquetschen, bevor er fertig ist. Möglicherweise weiß er von ge wissen Dingen, ohne sich selbst darüber im klaren zu sein.« 176
»Gehen Sie nicht zu eilig vor. Quetschen Sie es langsam aus ihm heraus. Für eine Ratte wie diese ist mir nichts teuer genug.« »Verlassen Sie sich darauf, Majestät.« »Gut. Ich sehe Sie heute abend während des Ban ketts. Ich hoffe, Sie werden Ihren Spaß haben.« Der Bildschirm wurde leer. Grenescet lächelte geistesabwesend vor sich hin. Die paranoiden Anwandlungen des Königs wurden in letzter Zeit immer deutlicher sichtbar. Grenesect hielt dies für eine gute Sache. Er war der Meinung, daß das von ihm verehrte System nur dann hundert prozentig funktionieren konnte, wenn der Inhaber der absoluten Macht auch eine absolute, eingehende Kontrolle über die Bevölkerung ausübte – und dazu mußte er ein hundertprozentiger Monomane sein. Nur dann konnten die ihn umgebenden Bürokraten ungehindert ihren Willen durchsetzen. Die Geschich te wimmelte von Beispielen dieser Art. Grenesect schaltete das Verhör Libers ab und wandte sich anderen Dingen zu. Der junge Herzog von Sann hatte Kontakt mit der »Tod dem Leben« Gesellschaft aufgenommen und seinen Einstiegsbe richt abgeliefert. Eine interessante Lektüre, fand Gre nesect. Zum ersten Mal hörte er nun den Namen Cast ro Krakhno. Dieser Mann war der Kopf der Organisa tion – möglicherweise einmal ein wirklich ebenbürti ger Gegner. Irgendwie empfand er es als erfrischend, auf jemanden zu treffen, der ihn dazu zwingen würde, seine geistigen Fähigkeiten voll auszuspielen. 177
Für Jundrak waren die nächsten Wochen nicht nur erschöpfend, sondern auch nervenbelastend. Erschöpfend waren sie deswegen, weil Grenesect nach Eingang seines Einstiegsberichts ihm gegen über ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag ge legt hatte und plötzlich den Eindruck erweckte, als sei er an einer Freundschaft mit ihm interessiert. Er unterhielt sich mit Jundrak gelöst über Dinge, die ihn interessierten: Musik (wobei er Jundrak nicht nur nach seiner Meinung befragte, sondern auch gedul dig seinen Antworten lauschte), Literatur (über die er unglaublich viel zu wissen schien) und Soziologie, ein Gebiet, über das er tatsächlich Faszinierendes zu berichten wußte. Er lud Jundrak mehrere Male in seine Wohnung ein, wo sie unterhaltsame Abende damit verbrachten, Grenesects Musik zuzuhören. Jundrak war überrascht, daß der Polizeichef, ein im ganzen Königreich gefürchteter Mann, sich als soli des Oberhaupt einer Familie entpuppte: Er hatte eine stille, aber intelligente Frau, drei wohlerzogene Kin der und ein bescheiden eingerichtetes Heim, das kei nerlei übertriebenen Prunk aufwies. Jundrak fühlte sich geschmeichelt, daß dieser mächtige und beein druckende Mann ihm dermaßen viel Aufmerksam keit entgegenbrachte. Allmählich verdichtete sich in ihm die Ansicht, daß er zum ersten Mal in die Er wachsenenwelt vorgedrungen war, in eine Zone, in der Kultur und soziale Ordnung etwas bedeuteten. Alternierend mit diesen Zusammenkünften kam es 178
aber auch zu solchen, die ihren eigenen Reiz hatten: Begegnungen mit Krakhno. Jedesmal wenn Jundrak mit einem der beiden Männer zusammen war, über schattete der Einfluß seines jeweiligen Gesprächs partners den des anderen. Er wurde das Gefühl nicht los, daß er zwischen zwei Stühlen saß – zwischen zwei außergewöhnlichen Geistern, denen er kaum das Wasser reichen konnte. Und so war es auch. Grenesect war keinesfalls so naiv, um über Jundraks wahre Position in der Alten Stadt nichts zu wissen. Beide Gruppen benutzten ihn lediglich zu Prüfungszwecken. Auch Krakhnos Interesse unterschied sich in Wirklichkeit von dem, was er vorgab. Im Grunde scherte es ihn nicht, etwas über die geistige Haltung der Aristokratie zu erfahren. Er kannte die Einstel lung des Adels und verabscheute sie wie nichts ande res. Aber er rechnete damit, von Jundrak Informatio nen zu bekommen, die etwas betrafen, über das sie bisher noch kein Wort verloren hatten: den Fleck. Da er sich darüber im klaren war, daß die Existenz des Flecks zu den Staatsgeheimnissen des Reiches gehörte, mußte er Jundrak zunächst einmal ins Ver trauen ziehen. Das war nicht schwierig, denn der junge Edelmann hatte eine überraschend hohe Auf fassungsgabe. Krakhno fing allmählich an, Jundrak gerade deswegen zu mögen, weil er überhaupt keine festen Standpunkte oder politischen Ansichten hatte: ihm war im Grunde alles egal, was für ihn nicht von persönlichem Vorteil war. 179
Es gab noch einen anderen Grund außer dem of fensichtlichen, warum Krakhno etwas über den Fleck herausfinden mußte: Ihm war klargeworden, daß die Struktur des Flecks es einem möglicherweise erlaub te, ihn in eine außergewöhnliche Waffe umzufunkti onieren. Und er hatte das Glück, im Wirkungsfeld dieser Waffe gewesen zu sein. Seine Erfahrungen hatten ihm gezeigt, daß der Fleck sich von der Le bensenergie und dem Geist lebender Dinge ernährte, und er glaubte daran, daß dieser Effekt möglicher weise mit Hilfe diverser Chemikalien und elektri scher Ströme reproduzierbar war. In zahllosen Kel lern der Alten Stadt befanden sich seitdem Fässer, in denen übelriechende Verbindungen vor sich hin blubberten: Krakhno hatte den Versuch in Angriff genommen, ein »Todeselixier« zu destillieren. Seine Theorien zielten darauf ab, daß das Elixier ihm eine ausgezeichnete Möglichkeit liefern würde, die Aristokratie auszuradieren und das Universum an die Armen zu verteilen. Es würde kein Mittel geben, um sich dagegen zu verteidigen: noch durchdringen der als Gas würde das Elixier jedwede Materie über winden. Und nicht nur das, denn Krakhno glaubte, daß er es dazu bringen konnte, selektiv vorzugehen. Der Fleck nahm einem das Leben, indem er einem Lebewesen die Erfahrungen entzog. Vielleicht war es möglich, das Elixier so zu steuern, daß es lediglich bestimmte Menschen angriff. Etwa diejenigen, die über hundert Jahre alt waren. Bisher war ihm jedoch ein Erfolg versagt geblie 180
ben. Was Krakhno brauchte, waren die Forschungs ergebnisse der offiziellen Untersuchungen, die den Fleck – oder die Bestie, wie er ihn nannte – bestimmt schon seit seinem ersten Auftauchen unter Beobach tung hielten. Ihre Berichte konnten ihm vielleicht helfen, seine Wissenslücken zu schließen. Als Jundrak und er in einem der zahlreichen Schlupfwinkel, die die Anarchisten in der Alten Stadt angelegt hatten, bei einem Glas zusammensaßen, hielt er den richtigen Moment für gekommen. Jun drak spürte, daß er die Stirn runzelte, als Krakhno das seltsame Phänomen beschrieb, das das König reich unsicher machte. »Mit Ihren Informationen ist etwas nicht in Ord nung«, sagte er gestelzt. »Ein solches Ding gibt es nicht,« »Nun aber mal halblang«, sagte Krakhno. »Keine Beleidigungen, wenn ich bitten darf. Ich habe Plane ten gesehen, auf denen nicht mal mehr ein Grashalm wuchs. Millionen Tote. Ich weiß möglicherweise mehr über die Bestie als irgendein anderer. Wie, glauben Sie, bin ich nach Maximilia gekommen?« Ohne eine Pause zu machen, beschrieb er sein vorheriges Leben auf Carole, seine klimakterische Erfahrung und seine anschließenden Reisen. »Sie sehen also«, schloß er, »daß ich durchaus weiß, was da vor sich geht. Ich weiß auch, daß die schleimigen Würmer, die über unser Leben bestim men, kein Wort darüber verlieren. Und jetzt wissen Sie auch, daß ich mehr darüber erfahren muß.« 181
»Ja … Ich verstehe«, erwiderte Jundrak, den die Geschichte Krakhnos ziemlich in Erstaunen versetzt hatte. Der Blick seines Gegenübers durchbohrte ihn und schien zu verschwimmen. Jundrak hatte plötz lich den Eindruck, als würde sein eigenes Ich sich verflüchtigen. Es weichte auf. »Ja … Ich werde sehen, was ich herausfinden kann.« Auf dem weit entfernten Planeten Smorn hatte Prinz Peredan den Entschluß gefaßt, sich für ein, zwei Stunden hinzulegen. Er hatte den ganzen Tag über verbissen in seinem Privatquartier gearbeitet und die eingegangenen Be richte der verschiedenen Sektionen studiert. Die Re paraturarbeiten an den beschädigten Schlachtschiffen gingen und gingen nicht voran. Man hatte eine Werft errichtet, um die verlorengegangenen Einheiten durch neue zu ersetzen, aber eine Arbeit wie diese zehrte an der Substanz seines Stützpunktes. Peredan hatte sich Gedanken darüber gemacht, ob er nicht irgendeine abgelegene, schwache Welt überfallen sollte, um sich mit einigen neuen Schiffen zu versor gen. Es waren auch diverse Berichte von Agenten eingegangen, die man auf bewohnten Welten abge setzt hatte. Auch diese lagen auf seinem Schreib tisch. Der Raum lag im Halbdunkel. Der Prinz lag schla fend auf einem an der Wand stehenden Sofa. Und dann, in der Stille, bewegte er sich. Er fühlte 182
sich unangenehm berührt. In seinem Geist geschah etwas, das Unheil verkündete. Er hatte einen bösen und unerfreulichen Traum gehabt. Dann hatte ein ziehendes Gefühl sein schla fendes Ich mit der Warnung versehen, daß irgend etwas nicht stimmte. Peredan zwang sich zum Wachwerden und rollte sich von seinem Lager. Er fühlte sich schwindlig und krank, als würde er das Bewußtsein verlieren. Als würde er innerlich austrocknen. Ohne darüber nachdenken zu müssen, wußte er plötzlich, es konnte mit ihm zu Ende gehen. Indem er all seine Kräfte zusammenriß, um bei Bewußtsein zu bleiben, konzentrierte sich sein Blick auf den Raum, und er zwang sich dazu, ihn in seinem Inhalt und seinen Formen und Farben deutlich wahrzunehmen. Schritt für Schritt fühlte er sich besser. Aber das war nicht alles. Er registrierte, daß der Raum zitterte und vibrierte. Gegenstände fielen aus den Regalen. Er hatte den Eindruck, daß er das Gleichgewicht verlor. Peredan stolperte aus seinem Quartier und ge langte in die hellen Außenbüros. Ein Grollen erfüll te die Luft. Es war das Geräusch von Gebäuden, die irgendwo in der Ferne einstürzten. In den Büros stieß er auf die besinnungslosen Gestalten seiner Sekretärinnen – jener jungen Frauen, die vor Jahren sein Bett geteilt hatten. Er ging von einer zur ande ren und untersuchte sie. Einige schienen im Sterben zu liegen, andere erweckten nur den Eindruck, als 183
schliefen sie einen tiefen, von Drogen erzeugten Schlaf. Er bewegte sich weiter durch das Zelt. Sämt liche Frauen – und die meisten der Männer – waren zu keiner Bewegung fähig. Ein paar der Männer taumelten in unterschiedlichen Stadien der Verwir rung herum. Einer der Männer, dem es besser zu gehen schien als den anderen, klammerte sich an eine Säule und schrie: »Hoheit! Es muß ein Angriff sein!« Peredan ignorierte ihn und eilte durch das unge trübte Grün des Zeltes. Draußen angekommen, schaute er zum Himmel hinauf. Es gab nichts zu sehen. Nur wenige waren in der Lage, ihm zu helfen. Die plötzliche Hilflosigkeit seiner Organisation schockier te ihn; ohne irgendeine Warnung hatte man das ge samte Lager außer Gefecht gesetzt. Immer noch in einem leicht geschwächten Zustand befindlich, fand er einen Wagen und fuhr etwa drei Meilen weit, bis zu den Hauptlabors. Nachdem er sich Zutritt verschafft hatte, stellte er fest, daß es hier noch Anzeichen von Leben und Tätigkeit gab. Viele der Wissenschaftler hatten ihre Handlungsfähigkeit zurückgewonnen und gingen eilig irgendwelchen Tätigkeiten nach. »Was ist passiert?« übertönte Peredan das Dröh nen eines Generators. Erst jetzt nahm man ihn wahr. Einer der Wissen schaftler sah auf und näherte sich ihm. Obwohl die Augen des Mannes lebendig und wissend wirkten, 184
schien er fortwährend einen inneren Kampf mit sich selbst auszufechten. »Es ist die Lebensform aus dem Nordosten – der Fleck. Warum haben die Agenten uns nicht gewarnt, daß er diese Richtung einschlägt?« Peredan ignorierte die Frage. Er folgte dem Wis senschaftler an eine große, von Instrumenten überla dene Werkbank, wo dessen Kollegen damit beschäf tigt waren, mehrere Geräte zu justieren, die für Stan dardexperimente gebraucht wurden. Die Männer hat ten außerdem einige andere Geräte daran angeschlos sen, die sie aus einem anderen Teil des Labors her angeschafft hatten. »Was haben Sie vor?« fragte Peredan. »Wir wollen versuchen, uns über die Natur dieser Sache Informationen zu verschaffen. Aber jeder Ge danke, jede Bewegung ist eine Anstrengung für uns. Wir sind ziemlich fertig. Ich glaube nicht, daß wir es noch lange aushalten.« Ein in der Nähe stehender Wissenschaftler, der ei nen weißen Kittel trug, stieß plötzlich ein schwaches Stöhnen aus und fiel zu Boden. Seine Kollegen zogen ihn schnell aus dem Weg und setzten ihre Arbeit fort. »Warum sind wir noch nicht tot?« fragte Peredan. »Keine Ahnung.« Als die Nachricht einging, brach König Maxim in ein langes und lautes Gelächter aus. »Er hat sie also gefressen! Ich wußte, daß es klap pen würde!« 185
Grenesect, der vor ihm stand, zeigte keinerlei Emotionen. »Man kann Eure Majestät nur dazu be glückwünschen, über einen derartigen Wagemut zu verfügen.« »Ersparen Sie mir die Schmeichelei, Grenesect. Hier geht es um Staatsgeschäfte.« Der König nahm einen tiefen Zug aus einem sil bernen Kelch und reichte ihn dann einer Bedienste ten, die ihn wieder füllte. »Ah, ich kann es immer noch nicht richtig glauben! Endlich ist das Haus Lo renz vernichtet!« »Gibt es irgendwelche detaillierteren Meldungen?« fragte Grenesect. »Natürlich nicht, Sie Tölpel! Die Forschungs gruppen sind noch Lichtjahre von hier entfernt. Und es ist fast unmöglich, etwas über einen Planeten he rauszufinden, der sich im Inneren des Flecks befin det. Irgendwie stört er die Kommunikation. Aber Sie haben jetzt gesehen, was mit einer Welt ge schieht, die er berührt. Es kann jetzt keinen Zweifel mehr geben.« Der Polizeichef rieb sich verhalten die Hände, als sei er über etwas besonders zufrieden. »Die einzige potentielle politische Opposition ist nicht mehr. Jetzt, Majestät, ist es an der Zeit, das Reich zu disziplinie ren und eine totale politische Einheit zu erreichen.« »Nun, Sie wissen, was Sie zu tun haben. Warten Sie, bis der junge Sann davon gehört hat. Er wird er freut sein! Ich werde ihm ein paar Planeten schenken, weil er seine Aufgabe so glänzend gelöst hat.« 186
Grenesect, der eigentlich hatte vorschlagen wol len, Jundrak einem weiteren Verhör zu unterziehen, schwieg. 11. Kapitel Mächtige Wolken wälzten sich über Maximilia, trie ben durch den grünlichen Himmel. Castor Krakhno betrachtete sie durch das Fenster seines Appartements und dachte flüchtig an seine Heimatwelt Carole. Dort war der Himmel blaß-orange und die Wolken zitro nengelb. »Ich vermute, daß Sie wissen, was Sie tun«, sagte er zu Jundrak, »doch ich habe immer noch das Ge fühl, ich müßte Sie einen Narren heißen. Habe ich Ihnen erzählt, daß ich neulich Vorahnungen hatte? Das Zeichen der Bestie an mir erweist sich in neuen Symptomen … etwas Seltsames geschieht. Ich kann es fühlen. Sie würden bei uns in Sicherheit sein.« Minuten vorher hatte Krakhno überraschend vor geschlagen, Jundrak möge seinen Posten verlassen, alle Bindungen aufgeben und sich von den Anarchis ten verstecken lassen. Jundrak fand diese Vorstellung lächerlich. »Sicher, ich habe unsere Liaison zu meinem eige nen Vorteil gebildet«, stimmte Krakhno zu. »Ich glaube jedoch, daß Ihr Nutzen rasch zu einem Ende kommt. Aber obwohl ich Ihre Klasse und Erziehung nicht besonders liebe, liefere ich Sie nur widerstre bend Grenesects Fleischwolf aus.« 187
»Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte Jundrak leichtfertig. »Er und ich sind die besten Freunde.« Krakhno schnauzte. »Grenesect hat keine Freunde. Sogar ich, der ich ihm niemals begegnet bin, kann Ihnen das sagen. Erinnern Sie sich: Er hat Sie für dieses Doppelspiel ausgewählt, weil er Ihre natürli che Begabung für derartige Doppelzüngigkeiten er kannt hat. Er bildet sich ein, daß Sie mehr über mei ne Organisation erfahren haben, als Sie in Ihren Be richten mitteilen; und er kennt eine sichere Methode, alles aus Ihnen herauszuholen. Vielleicht befragt er schon in diesem Moment seine Karten.« Zugegebenermaßen hatten die guten Nachrichten von Smorn nicht die Entspannung in die offizielle Politik eingebracht, die Jundrak erwartet hatte. Ob wohl verrückt vor Freude, als das Lager der Rebellen im Fleck verschwunden war, hatte Maxim einfach den Enthusiasmus verdoppelt, mit dem er die Ab weichler verfolgte und Verräter hetzte, während die Politische Polizei ihre Wachsamkeit verstärkte. Der gesamte Regierungsapparat ächzte allmählich unter dem Druck des Terrors. Trotzdem fürchtete er Grenesect nicht. »Was? Dieser nervtötende Jemand, der in den Augen des Königs genausoviel bedeutet wie ich? Er würde es nicht wagen!« Krakhno sah ihn sardonisch an. »Ich weiß über haupt nicht, warum ich mich noch mit Ihnen abgebe. Also gut, machen Sie sich auf den Weg.« Die blauroten Wolken jagten noch immer über den 188
grünen Himmel, als Jundrak durch einen der großen Bögen, die den Rest Maximilias abtrennten, in die Innere Stadt ging. In einer nahen Lücke hatte er sei nen Gleiter geparkt, wie immer, wenn er die Alte Stadt besuchte. Er glitt die breiten, weißen Avenuen auf der Regulationshöhe von drei Fuß entlang, bis er den Palastbezirk erreichte, wo er den Gleiter hinauf zog, um ihn in siebenhundert Fuß Höhe an der Fas sade eines massigen Gebäudes zu verankern. Nachdem er den Gleiter verlassen hatte und durch das Portal geschritten war, entriegelte Jundrak die Sicherheitsvorrichtungen und trat in sein kleines, aber komfortables Büro. Er goß sich ein Glas klares, eiskaltes Wasser ein und setzte sich nieder, um einen neuen Bericht zu schreiben. Er hatte etwa zwei Stunden gearbeitet, als aus dem Telecom der Dringend-Ton schrillte. Sofort schaltete er es an und wurde von einem kurzen Rauschen und Flimmern begrüßt; dann er schien das ängstliche Gesicht von Heen Sett. »Was gibt’s, Heen?« »Die Politische Polizei ist hier – die Aktionsabtei lung«, stieß der Oberstleutnant hervor. Die Aktionsabteilung war ein schnell wachsendes Department der Politischen Exekutive: eine voll aus gerüstete Militäreinheit, ausgebildet für den Kampf unter einer Vielzahl von Bedingungen. Jundrak glaubte jedoch schon seit einiger Zeit, daß das Schwergewicht ihrer Ausbildung in erster Linie dar auf gerichtet war, im Endeffekt gegen die königli 189
chen Kampftruppen in einer disziplinierenden und gegen Meuterei gerichteten Rolle zu operieren. »Was meinen Sie mit hier!« schnauzte er. »Im In nern der Basis?« »Ja.« »Wie sind sie reingekommen?« »Haben sich einen Weg gesprengt! Sie sagen, sie seien gekommen, um sowohl die Basis als auch die Flotte zu übernehmen. Und sie sind hier mit einer Anklage – daß wir unsere Arbeit beendet hätten, schon vor Monaten. Und daß wir es nicht gemeldet hätten.« Obwohl das ganz richtig war – Jundrak hatte den günstigsten Moment abwarten wollen, dem König die Nachricht zu präsentieren –, bezweifelte er, daß dies mehr als eine Vermutung der Politischen Polizei war. »Wo sind sie jetzt?« »Immer noch auf Ebene Eins. Ich habe sie hin gehalten.« Bevor er antworten konnte, erregte ein rumpelndes Geräusch vom Himmel seine Aufmerksamkeit. »Warten Sie eine Minute«, sagte er und ging zum Fenster. Er blickte hinauf und sah Blitze und ein Glühen, das aus dem Himmel selbst zu kommen schien. Er runzelte die Stirn, blickte hinab und überflog so viel von der Inneren Stadt, wie er von seinem hohen Standpunkt wahrnehmen konnte. Er spürte ein schwaches Vibrieren. Teile der Stadt ordneten sich neu in einer gigantischen, fließenden Operation: eini 190
ge Gebäude verschwanden im Boden; andere beweg ten sich auf massiven Rollen und verbanden sich miteinander, während der Boden, auf dem sie ge standen hatten, sich öffnete, um einer Vielzahl von gen Himmel gerichteten Waffen und RaketenAbschußbasen Platz zu machen. Noch mehr Gebäude schienen sich auszubreiten und wieder zusammenzu klappen, bildeten sich um in waffenstarrende Festun gen, die auf die Atmosphäre gerichtet waren. Maximilias Notverteidigungssystem war in Gang gesetzt worden. Er konnte sein Versagen, keine Nachricht von dem Angriff erhalten zu haben, nur der Tatsache zu schreiben, daß er offiziell keine Kampfaufgabe hatte. Erstaunt und verwirrt ging er zurück zum Telecom. »Irgend etwas geschieht. Die Stadt wird angegrif fen.« »Was! Von wem?« »Das weiß der Himmel, aber es sieht so aus, als sei es ernst.« »Was soll ich Ihrer Meinung nach mit diesem Schlägerkommando hier machen?« fragte Sett. Jundrak dachte schnell. Sein Instinkt sagte ihm, daß dies ein entscheidender Moment war, und keine Zeit, um ängstlich zu sein. »Schießen Sie sie über den Haufen«, befahl er wüst. »Sie sollten in der Lage sein, diese Hunde zu erledigen. Dann bereiten Sie sich auf den Take-off vor. Ich komme runter, sobald ich kann.« »Genau!« antwortete Sett. Er grinste freudig beim 191
Gedanken an die folgende Aktion. »Passen Sie auf sich auf!« Jundrak schaltete den Schirm ab und blickte wild um sich. Er fragte sich, ob es irgend etwas im Büro gab, das er mitnehmen oder zerstören sollte. In sei nem Hinterkopf machte sich der Gedanke breit, daß er, wenn der Angriff – woher er auch kommen sollte – sich als Fehlalarm oder kleinerer Zwischenfall er wies, seine Handlungsweise immer noch rechtferti gen konnte. Er hatte nichts getan, was nicht wieder gutzumachen wäre. Ich kann sagen, wir hätten ge glaubt, Grenesects Leute hätten die Basis im Zuge eines gutorganisierten Coups betreten, sagte er sich. Ich kann immer noch auf Loyalität zum König po chen. Dann kam ihm ein anderer Gedanke: Was ist, wenn es tatsächlich ein Coup Grenesects ist? Egal, nur schnell weg, bevor irgendjemand anfängt, unvor sichtig mit seinen Waffen umzugehen. Er wollte sich gerade dem Portal zuwenden, wo sein Gleiter vertäut lag, als die Tür eingeschlagen wurde. Ein Hauptmann und ein Unteroffizier der Po litischen Polizei stürzten mit auf ihn gerichteten La serpistolen herein. »Sie stehen unter Arrest, Oberst. Nehmen Sie sei ne Waffen, Unteroffizier.« Geschickt befreite ihn der Mann von seinen Waf fen. »Das scheint alles zu sein, Sir.« »Das ist es also!« ereiferte sich Jundrak. »Ein Putsch!« 192
»Was?« Der Hauptmann starrte ihn mit leicht ge runzelter Stirn an. »Halten Sie die Klappe, bis wir Sie zum Politischen Flügel bringen. Da haben Sie genug Gelegenheit zu reden, das verspreche ich Ih nen.« Jundrak ließ sich schicksalsergeben und schwit zend vor Besorgnis durch die endlosen Korridore des Bürogebäudes führen. Die Politische Polizei trat an jeder Ecke in Erscheinung: die grauuniformierten Männer waren überall und nahmen Verhaftungen unter dem Büropersonal vor – meistens Offiziere der Kampftruppen, wie Jundrak. Als Jundraks Gruppe die Aufzüge erreichte, steckten sie jedoch in einem Flaschenhals: Sämtliche Aufzüge waren pausenlos in Betrieb. »Bestimmt herrscht da unten das totale Chaos«, knurrte der Hauptmann. »Wir nehmen einen Gleiter.« Auf der Landeplattform, die auf der anderen Seite aus dem Gebäude ragte, herrschte ein ähnlicher Ver kehr. Sämtliche regulären Mietgleiter waren ver schwunden, und jene, die landeten, starteten sofort wieder. Jundraks Häscher hatten jedoch offensicht lich Priorität. Der Hauptmann holte einen Signalge ber hervor und betätigte den Knopf. Ein kreisendes Polizeifahrzeug mit dem unheilvollen, gezackten M löste sich aus der Menge der Fahrzeuge, die die Luft anzufüllen schien, und ließ sich nahe bei ihnen nie der. Jundrak wurde hineingeschoben, und die drei beeilten sich, zum Hauptquartier der Politischen Po lizei zu kommen. 193
Trotz seiner Bewachung hatte Jundrak Gelegen heit, die plötzliche bienenstockähnliche Betriebsam keit zu beobachten, die die Stadt ergriffen hatte. Das Rumpeln und die schwachen Blitze aus den Wolken waren näher gekommen, so daß gelegentlich der ganze Himmel von einem verweilenden Flackern er leuchtet schien. Die Explosionen hörten sich an wie Donner. Die Geschützstellungen in der Stadt – einige waren, bemerkte Jundrak, auch in der Alten Stadt – spuckten Strahlen und Raketen gegen den unsichtba ren Feind im All; ihr Einsatz bedeutete, daß das orbi tale Verteidigungssystem zusammengebrochen war. Ein unglaubliches Verkehrschaos erfüllte die Luft. Tausende von Luftgleitern flohen aus der Hauptstadt, wie Flöhe, die einen ertrinkenden Hund verlassen. Und nicht nur Gleiter. Unter ihnen glänzte ein lan ges, flügelloses Gebilde – ein kleines Raumschiff, das auf einer niedrigen Flugbahn zwischen ihnen da hinsauste, mit der Absicht, erst einmal halb um den Globus zu rasen, ehe es raumwärts entschwand. König Maxim und seine Familie machten sich auf und davon, solange sie noch konnten. Jundrak stellte sich die Bilder der Panik vor, wei ter unten, am Boden und in den Gebäuden, wo jeder nach Schutz suchte. In der Alten Stadt würde es eine wirkliche Panik geben, weil es dort keine Schutzvor richtung gegen Atomexplosionen gab. Einige Minuten später hatte der Polizeigleiter sie zum Hauptquartier gebracht. Ehe Jundrak hineinge führt wurde, erhaschte er einen letzten Blick nach 194
draußen, der alle seine Vermutungen ad absurdum führte: Er erblickte den massigen Leib eines Schlachtschiffes der Rebellen, das tiefersank, um die Übergabe von Unimm zu verlangen. Grenesect stand mit grimmigem und haßerfülltem Gesicht im Aufnahmeraum und spielte mit einem Polizeiknüppel, als die Gefangenen gebracht wurden. Unter den Verhafteten waren viele prominente Per sönlichkeiten, von denen Jundrak niemals geglaubt hätte, Grenesect sei mutig genug, um sie festzuneh men. »Da haben wir Sie also, eh?« sagte Grenesect vol ler Hohn, als Jundrak zu ihm gezerrt wurde. »Ich ha be dem Militär niemals getraut.« Jundrak sah in sein Gesicht, um eine Spur jener Kameradschaft zu finden, die er früher für ihn ge zeigt hatte. Sie war gänzlich verschwunden. »Was ist denn los?« fragte er. »Wer greift uns an?« »Als wenn Sie das nicht wüßten! Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden dafür bezahlen!« Jundrak öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Grenesect schlug ihm mit dem Knüppel quer über das Gesicht. Seine Nerven zuckten. Jundrak taumelte zurück und warf die Hände hoch, als sein Gesicht vom Schmerz gelähmt wurde. »Macht aber keinen Unterschied. Ich wollte Sie sowieso verhaften. Steckt ihn zu seinem Freund, dem Historiker«, befahl er den anderen. »Ich werde ihn mir bald vornehmen.« 195
Grob, ohne weitere Erklärung, wurde Jundrak durch Flure gestoßen, die immer enger wurden. Als er end lich in der Lage war, den Schmerz in seinem Gesicht zu vergessen, fand er sich in einer kleinen, einfach möblierten Zelle wieder. Grame Liber starrte ihn an. »Willkommen in unserm Verein«, meinte der Akademiker trocken. Jundrak starrte zurück, fragte sich, ob der andere einer Gehirnwäsche unterzogen worden war. »Ich habe gehört, daß man Sie verhaftet hat«, sagte er, »aber es gab nichts, was ich hätte tun können, um Ihnen zu helfen … Ich hoffe, daß Sie das verstehen.« »Sicher. Auf alle Fälle schulden Sie mir nichts … Aber warum hat man Sie verhaftet? Ich habe schon seit einiger Zeit nichts mehr von draußen gehört.« Bestimmt wurde alles, was in diesen Zellen ge schah, automatisch aufgezeichnet, aber Jundrak sah keinen Grund, den alten Mann nicht auf dem laufen den zu halten. Er beschrieb die wichtigsten Ereignis se seit seiner Verhaftung: das Heranrücken des Flecks an das Lager der Rebellen und den plötzlichen Überraschungsangriff auf die Stadt. Trotzdem ver heimlichte er jede Anspielung auf das Gespräch, das er mit Prinz Peredan geführt hatte. »Außergewöhnlich«, murmelte Liber. »Wer ist es, der angreift, was glauben Sie?« »Nun, das eine Schlachtschiff, das ich gesehen ha be, trug die Kennzeichen des Hauses Lorenz.« »Aber nach dem, was Sie erzählt haben, wäre ein Angriff aus dieser Gegend unmöglich.« 196
»Ja, ist es. Vielleicht ist es der Vergeltungsschlag jener Schiffe, die gerade nicht in Smorn waren, als …« Er ließ den Satz unvollendet. »Oder vielleicht steckt Grenesect hinter allem und schickt ein gekapertes Rebellenschiff vor, um Verwirrung zu stiften. Ich weiß es nicht.« Er hustete nervös. »Übrigens, hat man Sie …?« »Gefoltert? Nein, noch nicht. Ich nehme an, daß Grenesect mich nur zu seinem eigenen Vergnügen hat verhaften lassen. Er muß an sich wissen, daß ich höchstens eine geistige Bedrohung für dieses Regime darstelle und keine aktive.« Der weißhaarige Liber seufzte, als sei er unsagbar müde. »Ich bin wirklich zu alt für diese Art Unsinn. Grenesect ist nur ein schlechterzogener Bulle, der es an sich besser wissen sollte.« Nach einigen weiteren Bemerkungen folgte zwi schen beiden ein längeres Schweigen. Grenesects Entschluß, die beiden zusammenzulegen, hatte of fensichtlich den Zweck, einen Nutzen aus dem zu ziehen, was sie einander mitteilten, und Kenntnis von ihrem Gespräch zu erlangen. Gleichwohl erzitterte Jundrak bei dem Gedanken an das, was kommen könnte. Selbst wenn die Stadt dem unbekannten Feind in die Hände fiel, würde dies erst in einigen Stunden oder Tagen der Fall sein, was dem Polizei chef genügend Zeit ließ, seine sadistischen Absichten an ihm zu vollziehen. Etwa eine Stunde verstrich, ehe die Zellentür wie der geöffnet wurde. Als es geschah, drückte sich 197
Jundrak unwillkürlich an die Wand, wobei er sich nicht schämte, Liber seine Angst zu zeigen. Doch die Männer, die die Zelle betraten, würdig ten ihn kaum eines Blickes. Sie sahen Liber an und lächelten. »Beste Grüße, Historiker Liber. Seine Hoheit Prinz Peredan hat uns geschickt, um nach Ihnen zu sehen. Geht es Ihnen gut?« Ihre Uniform war die der Lorenz-Rebellen. Er erfuhr erst später, daß Prinz Peredans unerwar tet schnelle Eroberung der Stadt Maximilia (vermut lich hieß sie mittlerweile wieder Unimm) durch eine Kombination aus Überraschung, Taktik und Techno logie vollbracht worden war. Peredans Schiffe wa ren, nachdem der Verteidigungsschirm am Rande der Atmosphäre nicht mehr funktionierte, auf die Haupt stadt hinabgestoßen, wo jede militärische Erfahrung zu der Annahme geführt hätte, ein langer und bluti ger Kampf müsse stattfinden – oder aber die voll ständige Auslöschung durch Kernwaffen, was aber keiner Partei infolge des Status’ der Stadt annehmbar erschien. Doch während der Jahre, die sie in Smorn zuge bracht hatten, hatten Peredans Wissenschaftler origi näre Forschungen betrieben und waren zu überra schenden Resultaten gekommen. Eins dieser Resulta te war eine Waffe mit einer schrecklichen Wirkung bei kurzen Entfernungen: die Rebellenschiffe waren in der Lage, Strahlen zu projizieren, die WasserstoffIonen zu einer kontrollierbaren Fusion brachten. In 198
der Tat konnte so die Energie einer Wasserstoffbom be auf einen eng begrenzten Bereich konzentriert werden. Die Idee eines nuklearen Fusionsstrahls war in der Militärwissenschaft sehr alt, doch aus technischen Gründen hatte man sie lange Zeit für undurchführbar gehalten. Peredans Exilanten hatten das Unmögliche möglich gemacht. Um sich selbst eine Landezone zu schaffen, hatte die Invasionsflotte ganze Gebäude gruppen verdampft, die während König Maxims Herrschaft entstanden waren – auch jenen Block, in dem sich Jundraks Büro befand. Die Erfahrung, ganz gezielt Wolkenkratzer ver schwinden zu sehen, um durch die Schiffe, die sie weggezaubert hatten, ersetzt zu werden, war eine gründliche Lehre für jeden in der Inneren Stadt ge wesen. Die Stadt hatte kapituliert, und man hatte ihre Besetzung ohne Murren akzeptiert. So war Grene sect, der an der Vorstellung Geschmack gefunden hatte, inmitten eines blutigen Konflikts ein straffes, schreckliches Terrorregime zu etablieren, um sein Vergnügen gebracht worden. Doch Jundrak war dies alles noch nicht klar, als er in seiner Zelle auf und ab schritt, um eine Erklärung für die Wendung der Ereignisse zu finden. Fast drei Stunden vergingen, ehe sich die Zellentür erneut öff nete und zwei von Peredans lindgrün gekleideten Soldaten ihn hinauswinkten. Als er durch den Palast geführt wurde, konnte er sehen, daß die Rebellen die Macht ergriffen hatten. 199
Grüne Uniformen waren überall. Der Palast trug ei nige Zeichen des Kampfes, doch nicht so viele, wie er erwartet hatte. Einige Wände waren versengt, Mö bel verbrannt. Wandbehänge waren heruntergerissen, verbrannt oder blutbefleckt. In den meisten Fällen hatte man die Feuer, die im Palast gewütet hatten, unter Kontrolle gebracht: nur einige der geräumige ren Wohnungen waren ausgebrannt; und nur hier und da gab es Schutthaufen zu sehen. Schließlich fand er sich in einem abgeschlossenen Teil des Palastes wieder, von dem er wußte, daß er König Maxims Wohnquartier gewesen war. Nun hat te ihn Peredan offensichtlich zu seinem Hauptquar tier gemacht. Jundrak mußte einige Minuten in einem prächtigen Raum warten, der vollständig mit bedeu tenden Kunstschätzen ausgestattet war; dann öffnete sich eine getäfelte Tür, und er wurde in einen kleine ren, einfacheren Raum geführt, in dem Peredan ge bieterisch stand. Schon jetzt war dieser Raum Peredans persönliche Wohnstatt. Seine persönlichen Besitztümer schmück ten ihn: Figürchen, Statuen, Bilder und Wandbehän ge. Als Jundrak eintrat, verließen gerade einige Ar beiter den Raum, die Schreibtische und Regale mit antik aussehenden Büchern angebracht hatten. All diese Zeichen seines persönlichen Geschmacks hatte Peredan, sofort nachdem der Palast abgesichert war, von seinem Flaggschiff herbringen lassen. Er konnte nur in einer Umgebung arbeiten, die ihm vertraut war. 200
Auf dem Ehrenplatz an der gegenüberliegenden Wand hing ein dreidimensionales, bewegliches Port rät seines Vaters, des alten Königs. Jundrak starrte es fasziniert an. In ihm wurde eine alte Kindheitserinne rung lebendig; man hatte ihn an den Hof gebracht und diesem König vorgestellt. Der lorenzianische Monarch war einer jener selt samen genetischen Rückschläge, die in seiner Linie bekanntermaßen rezessiv waren – ein vollblütiger Zulu. Groß, schlank, langgliedrig und ebenholzfar ben. Aber er war alt, sehr alt: über sechshundert Jah re. Seine Haut war trocken und runzlig, sein Haar gekräuselt und weiß. Auf dem Porträt durchlief er eine endlose Abfolge von winzigen, beinahe natürli chen Bewegungen, atmend, blinzelnd, milde lä chelnd, tolerant. Es gab eine mathematische Formel, um zu be rechnen, wie oft, oder vielmehr wie selten reine Beispiele dieser alten Rassen wieder zum Vor schein kamen, die sich vor langer Zeit miteinander zur homogenen Bevölkerung von heute vermischt hatten. Prinz Peredan trug nur Spuren der negroi den Merkmale seines Vaters: leicht gekräuseltes Haar, eine unbedeutende Verbreiterung der Nase; doch seine Haut war hell, seine Augen blau und seine Lippen dünn. »Hier ist Ihr neuer Monarch«, sagte er, als er be merkte, in welche Richtung Jundraks Aufmerksam keit ging. »Wenn Sie ihn akzeptieren wollen.« Jundrak versuchte verbindlich zu lächeln. »Ich 201
freue mich, Sie unter zufriedenstellenderen Umstän den wiederzutreffen, Hoheit.« »Ich werde Beweise für Ihre Worte verlangen.« Zum ersten Mal bemerkte Jundrak, daß auch Gra me Liber im Raum war. Er lungerte an den Bücher borden herum und starrte auf die Titel. Der Histori ker scheint verdrossen zu sein, dachte er. »Wie ich sehe, haben Sie meine Warnung ernst genommen«, sagte Jundrak zögernd. »Sie meinen Ihre Warnung wegen des Flecks? Ja. Grame und ich haben darüber gesprochen.« Peredans Ton war gefährlich sarkastisch. Liber schnaubte. »Das ist tatsächlich eine Komödie! Eine wirkliche Farce! Wir sollten Sie ins Bild setzen, damit Sie aufhören, sich lächerlich zu machen. Mitt lerweile weiß der Prinz, daß der wirkliche Grund Ihres Besuches auf Smorn darin bestand, den Fleck auf ihn zu lenken. Aus irgendwelchen Gründen, so scheint es, haben Sie ihn trotzdem gewarnt – oder wenigstens halbwegs gewarnt. Was Sie aber nicht wissen: nach Ihrer Abreise überprüfte er Ihre Information und fand heraus, daß der Fleck damals genau in die entgegenge setzte Richtung vordrang, woraus er schloß, daß Sie gelogen und versucht hatten, ihn zu hintergehen. Folg lich erreichte der Fleck Smorn völlig unerwartet.« Jundrak leckte sich die Lippen. »Tatsächlich? Was geschah denn? Warum seid ihr nicht alle tot?« Peredan starrte ihn einen Moment intensiv an. »Viele von uns sind es. Es gab keine Warnung. Aber eine Sache rettete uns.« 202
Er machte eine Pause und blickte Liber an, ehe er fortfuhr. »Unser Lager wurde durch die stärkste Konzentration von Dämpferfeldern in der Galaxis geschützt. Irgendwie hielt dies die Todeszone des Flecks für eine Weile auf. Als wir das Feld weiter verstärkten, nahm das tödliche Zerren ab, und wir konnten wieder einigermaßen klar denken und han deln.« »Ich verstehe …« murmelte Jundrak nachdenklich. »Das war eine sehr glückliche Denkpause.« »Ja. In der Zeit, die wir so gewannen – was nur vorübergehend war, weil wir wußten, daß der Fleck schließlich doch unsere schützenden Wellenschirme verschlingen würde –, fanden wir uns in der einzigar tigen Position wieder, mitten in diesem Fleck zu sein, und zwar lebend.« »So nutzten Sie diese Zeit zur Evakuierung und zur Vorbereitung des Angriffs?« »Nein, das wäre nicht möglich gewesen. Unser Schutzschild war nicht effektiv genug.« Peredan blickte hinab und spielte mit einer Statue. Es wider strebte ihm fortzufahren. »Sagen Sie es ihm!« sagte Liber mit einem wenig umgänglich wirkenden Gesichtsausdruck und erröte te leicht. »Sie werden in Kürze sowieso eine öffentli che Erklärung abgeben, also gibt es keinen Grund, jetzt schüchtern zu sein.« Der Prinz nickte zustimmend. »Dank der Intelli genz meiner wissenschaftlichen Abteilung waren wir in der Lage, einen Vorteil aus unserer einmaligen 203
Situation zu ziehen. Meine Wissenschaftler suchten erfolgreich nach der Natur des Flecks: was er will, was er tut. Später kommunizierten wir mit ihm.« »Sie sprachen mit ihm?« Jundrak war fassungslos. »Gewissermaßen. Man kann nicht sagen, daß der Fleck im eigentlichen Sinne empfindend ist, nicht so, wie wir es verstehen. Aber er hat ein gewisses Ge fühlsleben, das primitiv und fremdartig ist, aber wenn man über die geeigneten Techniken verfügt, kann man Kontakt mit ihm aufnehmen und Verein barungen treffen. Wir boten ihm ein Geschäft an, dem er schließlich auch zugänglich wurde. Deshalb wählte ich diesen Augenblick, um den Gegenangriff auf das Haus Grechen zu starten, denn es ist jetzt un denkbar, daß ich noch verlieren könnte. Ich verfüge nun über die Macht, über Leben und Tod der Galaxis zu entscheiden.« »Soll das heißen, Sie haben den Fleck gezähmt? Sie werden der Bevölkerung mit der Vernichtung drohen, wenn Sie sich Ihnen nicht unterwirft?« Viel leicht, dachte Jundrak insgeheim, ist Maxim doch gar nicht so schlimm gewesen. »Nicht ganz. Das könnten wir natürlich tun – teil weise lag es nur an der Hilfe des Flecks, daß wir uns Unimm so weit nähern konnten, ohne einen Alarm auszulösen. Doch wir wären abgeneigt, auf der Basis solcher Drohungen zu herrschen. Nein, ich bin ins Reich gekommen als Retter, nicht um zu drohen. Der Fleck sucht nach Nahrung. Doch ist es Nahrung ganz besonderer Art. Er verschlingt die Individualität 204
organischer Wesen, jene geheimnisvolle Essenz, die jeden Mann, jede Frau und jedes Tier zu der bewuß ten Entität macht, die sie von anderen unterscheidet. Sobald der Fleck diese Essenz absorbiert, geht die Individualität verloren; dann folgt der Tod, und der Körper zerfällt in seine chemischen Bestandteile. Das ist interessant genug, wenn man davon ab sieht, daß wir selbst diesem Schicksal so nahe waren, doch es war mehr oder weniger das, was wir schon wußten. Allerdings hatte man angenommen, der Fleck wandere bloß zufällig und blindlings durch den von Menschen bewohnten Raum. Und man nahm an, er werde ihn irgendwann auch wieder verlassen, so daß die Überlebenden sicher seien. Stellen Sie sich vor, wie entsetzt wir waren, als wir feststellten, daß der Fleck die Ausdehnung des Reiches kannte und nicht vorhatte, es zu verlassen, ehe er nicht alles ver schlungen hatte.« Liber murmelte im Hintergrund: »Bei lebendigem Leibe gefressen.« Peredan ignorierte ihn. »Einige Tage später zeig ten uns weitere Untersuchungen einen Ausweg. Ein Teil dessen, was der Fleck an uns Geschöpfen liebt, die er verschlingt, sind unsere Erfahrungen. Aber das ist nur das Gewürz, der pikante Geschmack, der sei ne Nahrung veredelt. Der Hauptbestandteil seiner Nahrung ist das einfache Sein, die Tatsache, daß et was lebt. Deshalb muß das Individuum nicht ausge wachsen sein. Jedes Entwicklungsstadium reicht aus.« 205
Die Richtung dieses Arguments verwirrte Jundrak. »Was wollen Sie damit andeuten? Daß wir ihm unse re Neugeborenen ausliefern?« »Kaum. Der Fleck kann Nährkraft und Befriedi gung aus viel früheren Phasen des Lebens beziehen. Um auf den Punkt zu kommen: Er kann sie aus frisch befruchteten Eiern erhalten. Daraus ergibt sich die Lösung unseres Problems: Von den Frauen benötigen wir einen Teil ihrer unbefruchteten Eier, und von den Männern regelmäßige Samenspenden. Eier und Sa menzellen werden in Gegenwart des Flecks verei nigt. Milliarden auf einmal. Sie werden einsehen, daß stets dann, wenn eine Samenzelle ein Ei befruchtet, theoretisch ein neues Individuum entsteht. Für den Fleck ist dies keine Theorie, sondern eine Tatsache; er wird essen, wird ein Äquivalent für Milliarden menschlicher Individuen verschlingen. Er hat bereits zugestimmt, einmal pro Monat – als Ausgleich für eine unbelästigte Bevölkerung – dieses Arrangement zu akzeptieren. Zusätzlich …« – Peredan warf gleichgültig eine Hand in die Luft – »werden wir ihm hin und wieder als Delikatesse gewisse Gruppen von Erwachsenen geben. Tausende werden jedes Jahr im Reich zum Tode verurteilt. Diese Leute können ge nausogut einen nützlichen Tod sterben. Dann wird es kein weiteres Problem mehr geben.« Jundrak war entsetzt. »Aber jede befruchtete Ei zelle ist ein sich entwickelndes Lebewesen, eine po tentielle Person. Das haben Sie selbst gesagt!« »Bloß eine Zygote. Ein einzelliges Geschöpf, in 206
dem – soweit wir wissen – kaum etwas Menschliches ist. Doch Sie haben recht, dies ist eine Abgabe, die nur schwer zu erheben sein wird. Es wird Ärger ge ben.« »Warum nehmen wir keine Tiere?« »Der Fleck wäre nicht zufrieden. Er hat menschli che Wesen am liebsten – ihre Individualität. Obwohl er eine uns fremde und geheimnisvolle Substanz ist, schmeckt ihm menschliche Individualität besser als die geringerer Geschöpfe.« Plötzlich fühlte sich Jundrak an eine antike Le gende erinnert, die er einst gehört hatte. Darin ging es um ein Volk, das man dazu gezwungen hatte, je des Jahr einen Teil ihrer Kinder einem Monster zu opfern. »Welcher Mann oder welche Frau würden ihre Keimzellen für einen solchen Zweck hergeben?« protestierte er. »Es ist widerwärtig!« »Ja, es ist widerwärtig«, stimmte Peredan ihm zu, »doch leider gibt es keine andere Alternative als den Tod unserer Rasse. Betrachten Sie es einmal logisch: Was könnten wir eher entbehren als unsere Keimzel len? Sie werden zu Trillionen erzeugt, nur um wieder weggeworfen zu werden. Und unter den Millionen ist eine, die einen Partner findet und eine Zygote bildet. Noch weniger werden reif.« »Drehen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Jundrak in einem rebellischen Tonfall, den er normalerweise nicht benutzt hätte. »Ich kann mich immer noch nicht damit anfreunden, und ich habe auch nicht vor, es jemals zu tun.« 207
»Keiner wird davon ausgenommen sein«, sagte Peredan in einem härteren Ton, »nur der König. Kommen Sie, Sann. Ich glaube, daß ich Ihren Cha rakter richtig gelesen habe. Sie sind nicht der Mann, der von rührseliger Sentimentalität bewegt wird; Sie sind Realist. Ich kann Ihre Fähigkeiten gebrauchen. Ich habe nach Ihnen schicken lassen, um Ihnen ein Patent für die wiederhergestellten königlichen Kampftruppen anzubieten, und ich bin bereit, einen neuen Treueeid von Ihnen zu hören.« Jundrak blickte Liber hilfesuchend an, aber der al te Mann schien verlegen zu sein und sah meist in ei ne andere Richtung. Normalerweise wäre er auf das Angebot eingegangen. Tatsächlich wußte er nicht genau, was ihn eigentlich zurückhielt – außer, daß ein Teil von ihm immer noch nicht glauben konnte, daß er den Plan des Prinzen richtig verstanden hatte. Irgend etwas in ihm revoltierte trotz seines besseren Wissens dagegen. »Was ist, wenn ich mich weigere?« fragte er. Ein finsterer Blick des Mißfallens erschien auf dem müden Gesicht seines Gegenübers. »Weigern? Aber welche Wahl haben Sie denn? Allein die Tatsa che, daß ich den Fleck abwehren kann, nimmt dem Haus Grechen seine Macht. Wo kann sich Maxim mit seinen Günstlingen verstecken? Auf wen kann er zählen? Das Reich fällt an mich oder geht zugrunde.« Er sah Jundrak scharf an. »Eins muß Ihnen ganz klar sein. Dieser Moment ist entscheidend und le benswichtig für den Erfolg meiner Mission. Die Re 208
organisation des Reiches schließt unerfreuliche Ent scheidungen mit ein – ich meine, Andersdenkende aus dem Weg zu räumen. Und zwar konsequent. Sei en Sie vorsichtig, daß Sie nicht plötzlich zu den Tau senden gehören, die stündlich hingerichtet werden.« Jundrak nickte, glaubte zu verstehen. »Unter die sem Gesichtspunkt bin ich natürlich auf Ihrer Seite«, sagte er. »Ich freue mich zu hören, daß Grenesect und seine schreckliche Bande schon den verdienten Lohn bekommen haben.« Als er dieses sagte, sah Liber ihn zynisch an. Doch es war eher der Blick auf dem Gesicht des Prinzen, der Jundrak verriet, daß er etwas Falsches gesagt hat te. »Nun sagen Sie nicht, Sie haben sie laufen las sen!« »Sie sind sicher hinter Schloß und Riegel.« Liber mischte sich mit einem trockenen, bitteren Lachen in ihr Gespräch ein. »Grenesect und seine Leute sind die erfahrenste existierende Politische Po lizei«, erklärte er Jundrak. »Und sie kennen das Reich in- und auswendig. Es würde Jahre dauern, bis eine Nachfolgeorganisation ihren Standard erreicht.« Einen Moment war Jundrak nicht fähig zu spre chen. »Sie … Sie wollen sie selbst benutzen«, meinte er dann mit flacher, ungläubiger Stimme. »Aber natürlich«, belehrte ihn der Prinz. »Der Machtapparat ist derselbe, egal, in wessen Händen er sich befindet.« Es schien Jundrak, als er Peredans Worte hörte, 209
daß er sein ganzes Leben in einer Welt des Bösen verbracht hatte, in einer Welt, in der niemals etwas Gutes geschehen konnte. Es erschien ihm nun lächer lich, daß er das Böse noch nie als das erkannt hatte, was es wäre. »Ich bin froh, daß ich nicht Sie bin«, keuchte er mit schneeweißem Gesicht. »Sie sind noch schlim mer als Maxim! Schließlich kann er sich damit ent schuldigen, verrückt zu sein!« Das junge-alte Gesicht des Prinzen verfinsterte sich; dann warf er den Kopf zurück und lachte. Es war ein langes, unerfreuliches und hoffnungsloses Lachen. »Ich muß Sie doch falsch eingeschätzt haben! Ich hielt Sie für einen Mann des Ehrgeizes, für einen Re alisten. Aber nun offenbaren Sie sich als wirrköpfi ger Idealist! Gut, Situationen wie diese sind dazu da, die Männer von den Knaben zu scheiden!« Jundrak sagte: »Vergeben Sie mir, Hoheit, wenn ich die Freiheit – und wenn es auch nur eine geistige Freiheit ist – dem Dienst vorziehe, den Sie mir anbie ten …« »Sie Idiot, es gibt keine Freiheit«, erkläre Peredan. »Das materielle Universum ist ein Netz, dem wir nicht entkommen können, wieviel wir auch stram peln mögen. In der ganzen Geschichte haben Men schen solche Ideale hochgehalten, wie Sie sie hier an den Tag legen, was aus dieser peniblen Abneigung herrührt, die Sie anscheinend haben. Doch das Uni versum spottet solcher Ideale. Immer bietet es etwas 210
noch Seltsameres, noch Monströseres auf als das, was wir zu bieten haben – etwa wie den Fleck.« Als Jundrak nicht antwortete, zeigte Peredan voller Aufregung auf die Reihen der Bilder, die ihn umga ben. Es waren sowohl alte Blätter als auch moderne Schriftrollen. Er fuhr mit dem Finger die Reihen ent lang. »Glauben Sie, daß ich die Rolle genieße, die man mir aufgebürdet hat? Ich will mit Politik überhaupt nichts zu tun haben. Es ist nur die Pflicht meinem Vater, meiner Familie und dem Reich gegenüber, das eines Tages mir gehören muß. In Wahrheit würde ich mich lieber meinen Studien und dem Versuch wid men, einen anderen Lebenssinn zu finden. Sehen Sie sich diese Schriften an: Spieltheorie, Kabbala, Scien tology – von der einmal gesagt wurde, sie sei die Wissenschaft des Lebens! Psychokinese. Motivati onstheorie. Da ist etwas besonders Interessantes: Das Treffen von Entscheidungen und die Struktur des Nervensystems. Wissen Sie, was mir meine Studien der vergangenen und heutigen Lehren gezeigt haben? Daß wir keine Wahl haben, sondern das Spiel spielen müssen, das uns die Umstände vorgeben. Ich beteili ge mich an diesem Spiel, um zu gewinnen, und nun kann ich den unschlagbaren Zug tun. Schachmatt.« »Das ist es also, was Ihnen dies alles bedeutet«, erwiderte Jundrak matt. »Persönlicher Gewinn.« »Sie besiegeln Ihr Schicksal, Herzog.« Hier unterbrach Grame Liber. »Ich fürchte, ich muß Sann zustimmen«, bedauerte er. »Peredan, vor 211
einigen Minuten baten Sie mich, eine offizielle Ge schichte zu verfassen, die Ihren Bedürfnissen ange paßt ist. Selbst Maxim erlaubte mir, auch wenn er verrückt war, in Frieden zu arbeiten und Berichte zu schreiben, die objektiv waren, wenn sie ihm auch we nig schmeichelten. Vielleicht handelte er so, weil er verrückt ist. Egal – trotz unserer früheren Beziehung muß ich ablehnen. Ich werde nicht für Sie arbeiten.« »Und ich lehne Ihr Patent ab«, unterstützte ihn Jundrak, obwohl er wußte, daß er damit sein eigenes Todesurteil unterzeichnete. »Ich werde Ihr Monster auch nicht mit meinem Samen füttern.« »Idiotisch, idiotisch.« Peredan wandte sich Grame Liber zu. »Es betrübt mich, die Todesstrafe über ei nen Freund zu verhängen. Doch in gewisser Hinsicht bin ich kein Mensch, der sich normale Gefühle er lauben kann. Ich bin ein zukünftiger König. Die Notwendigkeiten des Staates kommen vor jeder an deren Sache und dulden keinen Widerspruch.« Er winkte den Wächtern, die an der Tür bereit standen. »Führt sie zurück in ihre Zelle. Und achtet darauf, daß es ihnen während der letzten Stunden an nichts fehlt.« Als sie abgeführt wurden, bemerkte Jundrak, daß der Prinz sich weigerte, Liber anzusehen. Er hatte den Kopf abgewandt und senkte ihn, während er sich mit einer Hand auf den Tisch stützte. Sein Körper zitterte. »Glauben Sie, er wird uns wirklich erschießen las sen?« fragte Jundrak, als sie wieder in der Zelle sa 212
ßen. »In Ihrem Fall scheint es keinen besonderen Grund dafür zu geben.« »Ich fürchte, er wird es tun. Er sieht keine Alterna tive.« Liber seufzte. »Ach, es ist schrecklich, ein Monarch zu sein. Es verwirrt den Geist und bringt die Sinne durcheinander.« »Das ist aber nur ein kleiner Trost für uns.« Selt samerweise bereute Jundrak seinen Entschluß nicht, selbst wenn er sich durch eine Zusammenarbeit hätte retten können. Er sah dem über ihm schwebenden Tod zwar nicht so gelassen entgegen, wie Liber es scheinbar tat, doch er hatte sich einfach entschieden, nicht mehr zu kriechen, egal, welche Konsequenzen dies mit sich brachte. War es möglich, so fragte er sich, daß seine Welt anschauung vom harten Individualismus Castor Krakhnos beeinflußt worden war? »Und dann müssen Sie sehen, daß er in einer schrecklichen Lage ist«, sann Liber nach. »Er muß die Zygoten-Steuer im großen Stil in kürzester Zeit organisieren, sonst wird der Fleck vielleicht unruhig und verschlingt noch ein paar Milliarden Menschen. Stellen Sie sich vor, was es bedeutet, der Bevölke rung verständlich zu machen, was getan werden muß! Die nächsten Monate werden sehr hart werden. Ich bin sicher nicht der einzige Freund Peredans, der als Leiche enden wird.« »Mir blutet das Herz«, sagte Jundrak gereizt, wäh rend er in der Zelle auf und ab schritt. Nach einer Stunde schwermütiger Gefangenschaft 213
hörte er klopfende Geräusche von draußen. Er legte ein Ohr an die Tür, um besser hören zu können, und sprang dann zur Seite, als sie sich öffnete. »Sir?« Jundrak glotzte. Draußen standen drei zerlumpte Soldaten, die immer noch die Uniform der königli chen Kampftruppen trugen. Sie blickten in die Zelle. Er brauchte ihre Regimentsabzeichen gar nicht erst zu sehen, um sie zu identifizieren: Er erkannte in ih nen sofort Angehörige jenes Regiments, das er selbst befehligt hatte – das Königliche ArmageddonRegiment. »Ich will verdammt sein! Was, in aller Welt, tut ihr hier?« Der Unteroffizier warf einen flüchtigen Blick in den Korridor. »Es ist besser, wenn wir schnell ver schwinden, Sir.« »Da haben Sie verdammt recht.« Jundrak schnipp te mit den Fingern. »Kommen Sie, alter Junge«, sag te er zu Liber, »wir verschwinden.« »Gehen Sie ruhig allein. Ich bin zu müde, um noch zu kämpfen.« »Leider habe ich es lieber, wenn Sie leben, statt tot zu sein.« Jundrak packte den alten Mann am Arm und zerrte ihn aus der Zelle. Auf dem Boden des Korridors lagen zwei grünuniformierte Wachen. Die steifen, gefederten Baretts, die alle nichtkämpfenden Truppen Peredans trugen, waren ihnen vom Kopf gerollt und lagen in der Blutlache, die ihnen ent strömte. 214
»Wohin?« Die Soldaten führten sie eilig ans Korridorende, um eine scharfe Biegung und dann durch eine Lücke in der Mauer. Sobald sie hindurch waren, glitt ge räuschlos eine Platte in die Lücke. »Wir sind in den Kellern des Politischen Flügels«, erklärte der Unteroffizier. »Hier gibt es ein Labyrinth geheimer Gänge.« »Richtig«, sagte Jundrak fest. »Aber nun erklärt mir, was ihr hier macht.« »Das ganze Regiment wußte von Ihrer Verhaf tung, Sir. Als der Kampf in der Stadt tobte, drehte die Politische Polizei völlig durch und verhaftete praktisch jeden, der eine Uniform trug. So sind wir hierhergekommen. Natürlich sind etliche Offiziere des Regiments in letzter Zeit verhaftet worden, wie Sie wissen.« Jundrak, der während der letzten Monate kaum Kontakt zu seinem Regiment gehabt hatte, wußte es nicht. Trotzdem nickte er. »Alles war ein bißchen chaotisch, als die Rebellen die Gefängnisblocks übernahmen«, fuhr der Unterof fizier fort. »Es gelang uns, einen der Politischen zu schnappen, einen Leutnant. Er sah zäh aus, doch es stellte sich heraus, daß er weich wie Wasser war. Er erzählte uns einiges über diese geheimen Gänge. Nun, natürlich wollten wir Sie nicht zurücklassen, Sir.« Jundraks Herz wurde warm. Es gab also doch noch so etwas wie Loyalität. 215
Die Soldaten studierten eine geheime Inschrift an der Wand des Tunnels. »Es sieht so aus, als würden sie sich durch die ganze Innere Stadt erstrecken. Meist enden sie in geheimen Eingängen offizieller Gebäude, manchmal aber auch in den Straßen.« Jundrak überlegte schnell. »Hmm. Die Rebellen werden die Innere Stadt mittlerweile völlig abgerie gelt haben. Wenn wir es bis in die Alte Stadt schaf fen können, weiß ich, wo wir sicher sind.« »Das käme dem Versuch gleich, durch eine Wand aus Stahl zu gehen, Sir. Die Rebellen werden sicher alles bewachen, besonders die Ausgänge. Und wir sind immer noch in Uniform!« »Wenn wir es zu meiner Hütte im Park schaffen, bin ich vielleicht in der Lage zu helfen«, meinte Liber. »Wie?« fragte Jundrak. »Ich habe Ihnen doch erzählt, daß die Elektronik mein Hobby ist. Ich kenne verschiedene Kniffe, die uns durch die Kontrollen bringen müßten.« »Tja, wir können den Park erreichen«, stimmte der Unteroffizier zu, während er mit gerunzelter Stirn das Diagramm betrachtete. »Gehen wir, Sir?« Jundrak nickte. »Wir werden es versuchen. Vor wärts, bewegt euch.« Der Unteroffizier reichte Jundrak einen HandNeutronenstrahler, den er einem toten Rebellen ab genommen hatte. Sie machten sich auf den Weg durch die metallverkleideten Tunnels, wobei sie hin und wieder die Wegweiser-Diagramme befragten, die sich nach gewissen Intervallen wiederholten. 216
Jundrak konnte sich vorstellen, daß Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Gefangenen diesen Weg ge gangen waren. Das unterirdische Netzwerk versetzte die Politische Polizei in die Lage, Verhaftungen vor zunehmen und ihre Opfer auf dem schnellsten Weg aus dem Verkehr zu ziehen. Bald darauf erstiegen sie eine Wendeltreppe. Der Unteroffizier öffnete vorsichtig eine Luke und spähte hinaus, dann winkte er den anderen. Sie kletterten hinauf und befanden sich in der Stille und Reglosig keit des Eichenparks. Niemand war zu sehen. Liber führte sie durch Gruppen großer, mutierter Eichen, bis sie seine Hütte erreichten, die unter den weitverzweigten Ästen eines Baumes lag. Jundrak und seine Leute zogen die Waf fen, doch die Hütte schien verlassen zu sein. »Peredan wird noch nicht hier gewesen sein, um meine Papiere zu durchwühlen«, brummte Liber und öffnete die Tür. »Egal, er braucht nicht weiter zu ge hen als bis zu Grenesects Akten.« Das Innere der Hütte war so, wie Jundrak es in Er innerung hatte: schlicht, ordentlich und sauber. Der alte Mann verschloß die Tür hinter sich, dann ging er in den nächsten Raum. Durch die offene Tür konnten sie ihn in Schränken und Schubladen wühlen sehen, wobei er Haufen unbekannter, faszinierender Appa rate hinauswarf. »Auf eine Art hasse ich es, dies alles zurückzulas sen«, meinte Liber. »Ich habe viel Arbeit in dieses Zeug gesteckt – aha, hier haben wir’s.« 217
Er brachte eine Handvoll schwarzer Strippen zum Vorschein, auf denen in bestimmten Abständen glän zende scheibenförmige Prismen befestigt waren, je weils vier auf einer Strippe. »Glücklicherweise ferti ge ich immer gleich ein Dutzend an, wenn ich so simple Dinge wie das hier erfinde. – Ich habe eine automatische Fertigungsmaschine für diese Sachen – deshalb sind genug für uns alle da. Bindet sie euch um den Kopf.« »Was ist es?« fragte Jundrak mißtrauisch, indem er das Stirnband befingerte, das Liber ihm gegeben hatte. »Es wird Ihnen ermöglichen, unbemerkt an den Wachen der Stadtmauer vorbeizukommen.« Die anderen legten sich sofort die Strippen um. Jundrak war jedoch noch nicht zufriedengestellt. »Ich würde mich besser fühlen, wenn Sie es mir erklärten.« »Die Vorrichtung ist wirklich sehr einfach. Die Theorie, die dahintersteckt, ist ein bißchen kompli zierter, aber immer noch leicht zu verstehen. Die Wahrnehmungsbereiche des Gehirns arbeiten so, daß bekannte Formen und Muster der Umgebung wieder erkannt werden. Die Prismen auf diesen Stirnbändern sind Projektoren, die nach dem holographischen Prinzip funktionieren. Wenn sie eingeschaltet wer den, hüllt sich der Körper in eine Maske aus niedrig frequentem Licht, in Formen und Muster, die sich ständig ändern. Die Muster sind jedoch sorgfältig entworfen, so daß sie absolut keine Ähnlichkeit mit irgend etwas aus der gewöhnlichen Erfahrung auf 218
weisen. Ihre Geometrie ist von einem Typ, der in der natürlichen Welt einfach nicht vorkommt.« Liber zuckte die Achseln und lächelte. »Dieser Teil lag natürlich außerhalb meiner Kompetenz. Ich mußte die Palastcomputer benutzen, um die ho lographischen Zeichnungen zu bestimmen. Jedenfalls besteht das Ergebnis darin, daß jeder, der einen an blickt, nichts sehen kann. Weil sein Wahrnehmungs vermögen mit den Bildern, die es empfängt, einfach nichts anfangen kann, sieht er gar nichts.« »Sie meinen – diese Dinger machen uns unsicht bar?« Jundrak zweifelte noch immer. »Gewissermaßen, ja. Zwar werden die Wachen ein unsicheres Gefühl haben, aber sie werden einige Mi nuten lang überhaupt nichts bemerken, und zwar so lange, wie ihre konzeptbildenden Gehirnteile benöti gen, die wiederkehrenden Elemente der neuen Mus ter auszusieben, um etwas von Bedeutung daraus zu machen.« »Sir, ich verstehe kein Wort davon«, warf der Un teroffizier ein, »aber ich würde es gern mal versu chen.« »Gut, ich glaube, daß uns nichts anderes übrig bleibt.« Jundrak band sich das Stirnband um und blickte Liber an. »Können wir jetzt gehen?« »Ja. Wir schalten die Prismen an, wenn wir den Park verlassen – der Schalter ist der kleine Knopf da. Aber vorher gibt es da noch etwas anderes zu tun.« Er ging hinüber zu einem Musikgerät, zog es von der Wand und betätigte offenbar einen Schalter. 219
Der Raum – die ganze Hütte – verschwand. Jun drak und seine Leute standen im Zentrum eines un heimlichen, bunten Labyrinths, dessen Korridore sich endlos in alle Richtungen erstreckten. Sie wan den und krümmten sich mit einem jeglicher Logik widersprechenden Einfallsreichtum. Auch von Grame Liber war nichts mehr zu sehen. »Zum Teu…« begann Jundrak wütend. Doch brach er mitten im Wort ab, als Liber wieder auf tauchte – was so aussah, als träte er aus einer nahen Wand. »Keine Aufregung«, versicherte er. »Das ist nur ein Spaß, um die Leute zu verwirren, die Peredan schicken wird, um meine Hütte zu durchsuchen.« Jundrak blickte in das offensichtlich solide, be ängstigende Labyrinth, das hinter ihm lag. »Auch Holographien?« »Richtig. Das ganze Labyrinth ist eine Illusion, die auf die Mauern und die Decke projiziert wird. In Wirklichkeit stehen wir im vorderen Raum meiner Hütte.« »Es sieht wirklich echt aus«, murmelte einer der Soldaten. »Der Vorteil einer gutgemachten Holographie be steht darin, daß sie von der Realität nicht zu unter scheiden ist«, erklärte Liber. »Ich muß eingestehen, daß ich auf diese Vorrichtung besonders stolz bin. Dieses Labyrinth ist derart geschickt entworfen, daß niemand auf geradem Weg wieder hinausfinden kann. Es gibt noch einige andere visuelle Tricks, die 220
einen glauben machen, man sei schon meilenweit gegangen, während man in Wirklichkeit nur in einem Kreis von wenigen Metern gelaufen ist. Die Mauern des Labyrinths sind Bilder, und natürlich nicht soli de, so daß man hindurchgehen könnte; doch dann befände man sich lediglich in einem anderen Teil des Labyrinths. Der einzige Ausweg besteht darin, die Augen zu schließen, um sich an den echten Mauern der Hütte hinauszutasten. Wir brauchen aber nicht soweit zu gehen. Folgt mir einfach.« Während er geradeaus starrte, ging er schräg durch die nächste »Wand«. Jundrak nahm sich zusammen und folgte ihm. Die nächsten Augenblicke waren heller Wahnsinn. Als er durch die Holographien schritt, traf ein Schau er unmöglicher Impressionen seine Augen. Sein In stinkt sagte ihm, er solle diesen Weg nehmen oder jene Richtung einschlagen. Und nur, weil er seine Augen auf den Rücken des vor ihm gehenden Histo rikers gerichtet hielt, war er in der Lage, eine gerade Linie einzuhalten und durch die Tür der Hütte an die frische Luft zu treten. Der Unteroffizier und einer der anderen Soldaten erschienen gleich hinter ihm. Der dritte kam nicht zum Vorschein. Lächelnd streckte Liber einen Arm durch die Tür (die dem Augen das Bild eines un schuldig aussehenden Flurs bot), griff durch eine matte Wand und zog den verlorenen Soldaten her aus.
221
Wie zuvor vereinbart, entfernte Jundrak sein Stirn band und schaltete es ab, als er ein Warenhaus am Abhang zur Alten Stadt erreicht hatte. Er war der erste. Doch innerhalb weiterer fünf Mi nuten erschienen die anderen vier – einer nach dem anderen, als kämen sie geradewegs aus dem Nichts. Dieses Erlebnis war etwas Besonderes gewesen. Jundrak hatte nicht die geringste Spur von seinen Ge fährten gesehen. Nicht, daß er durch sie hätte hin durchsehen können – es war eher so gewesen, als sei er sich nicht sicher, was er überhaupt sah. Doch als es geschehen war, hatte er nicht mehr lange probiert. Er war am veränderten Erscheinungs bild der Inneren Stadt interessiert gewesen. Die Ge gend wimmelte von uniformierten Rebellen. Viele der prächtigen Gebäude waren einfach verschwunden – ihr Platz wurde jetzt von großen, grauen Schlacht schiffen eingenommen. Da Jundrak noch nichts von der Existenz des Nuklearfusionsstrahls wußte, war er beeindruckt und auch ein wenig erschüttert. »Tja, Chronist«, sagte er, als Liber erschienen war, »nun weiß ich, warum Sie keine Partei ergreifen. Keine Partei, zu der Sie gehören würden, könnte je mals verlieren.« »Sie schmeicheln mir. Aber den nächsten Schritt müssen Sie machen.« Die Straßen waren ungewöhnlich ruhig. An eini gen Stellen der Stadt stieg in dicken Schwaden Rauch empor. Das Krachen einer Explosion erreichte sie aus einem der angrenzenden Täler. 222
Entweder war es das Werk von plündernden Stra ßenbanden – oder Krakhno und seine Bande waren am Werk. Obwohl sie einige Zeichen von Unordnung be merkten, kümmerte sich für den Rest des Weges niemand um sie, bis sie das Versteck erreichten, wo Jundrak Krakhno zu finden dachte. Zu seiner Überra schung war die unterirdische Höhle nahezu leer und zeigte Anzeichen einer hastigen Evakuierung. Der einzige Anwesende war ein junger, bärtiger und ag gressiver Mann von etwa dreißig Jahren, der in der Mitte des Raumes einen Stapel Dokumente verbrann te. Er griff nach einer Neutronenwaffe, als sie eintra ten. Dann erkannte er Jundrak und ließ sie sinken. »Oh, Sie sind es. Endlich einmal in Ihrem wirkli chen Aufzug, wie ich sehe.« »Wo ist Krakhno, Pieret?« wollte Jundrak wissen. »Wir brauchen Hilfe.« »Unten bei der Station, zusammen mit den ande ren. Wir verschwinden. Wenn ich Sie wäre, würde ich auch gehen.« Jundrak runzelte die Stirn. »Werden Sie uns be gleiten?« »Sie schaffen es alleine. Es gibt keine Probleme. Wir haben die Station in der Hand. Wir könnten die ganze verdammte Stadt übernehmen, aber wo liegt der Nutzen?« Eilig marschierten sie hinaus. Die elektrische Bahn wurde nicht betrieben, und die große Magnet 223
bahn-Station war über drei Meilen entfernt. Sie brauchten fast eine Stunde, um sie zu erreichen, wo bei sie einmal einer gefährlich aussehenden Menge ausweichen mußten, die gerade eine Statue König Maxims vom Sockel riß. Die Station wurde von brutal aussehenden Anar chisten bewacht, die sie nach einem kurzen, beider seitig bissig geführten Wortwechsel passieren ließen. Innen boten die großen Hallen das Bild einer chaoti schen, aber zweckmäßigen Betriebsamkeit. Das Netzwerk der Magnetbahn diente einer planetenweiten Art der Fortbewegung. Allerdings wurde es in erster Linie für Frachtgut verwendet, doch auch bis zu einem gewissen Grad von der arbeitenden Klasse und sogar – in allerdings luxuriöseren Kabi nen – vom niederen Management. Da sie auf Mag netkissen schwebten, konnten die Züge eine maxima le Geschwindigkeit von etwa zweitausend Meilen pro Stunde erreichen, was bedeutete, daß die weites ten Ziele, die Nonstop erreichbar waren, nur sechs Stunden entfernt lagen. Zwei große Züge waren abfahrtsbereit, wofür dem Anschein nach die Angehörigen von Krakhnos Or ganisation gesorgt hatten. Das normale Personal hat te man offensichtlich fortgejagt. Jundrak entdeckte den Anführer der Anarchisten in der großen verglas ten Kabine, aus der die Haupthalle zu überwachen war. Krakhno schwitzte und war nervös, aber ande rerseits hatte er sich auch unter Kontrolle und leitete die Operation geschickt. 224
»Hallo, Oberst, ich dachte, Sie wären erledigt. Ich freue mich, Sie zu sehen. Wer sind Ihre Freunde?« Jundrak stellte Liber vor, doch er ignorierte die Soldaten, die steif in Habachtstellung dastanden. »Ich habe von Ihnen gehört, Chronist«, grüßte Krakhno. »Ich würde mich gern mit Ihnen unterhal ten, wenn einmal Zeit ist.« »Warum dieser Schritt, Castor?« fragte Jundrak. »Ich hatte nicht mit einer Invasion des Prinzen ge rechnet«, murrte der Anarchist. »Er wird diese Stadt Stein für Stein auseinandernehmen. Man wird nicht einmal mehr furzen können, ohne verhaftet zu werden. Wir ziehen in eine der Provinzstädte um, wo alles ru higer sein wird. Nach Endecaur, um genau zu sein.« »Werden Sie es schaffen? Es ist eine weite Reise. Was ist, wenn die Weichensteller sich weigern, Sie durchzulassen?« »Werden sie nicht. Wir haben unsere Anweisun gen im voraus gegeben. Sie wissen, was mit ihnen geschieht, wenn sie uns nicht gehorchen.« Jundrak spielte ohne weitere Verzögerung seine Karten aus. Er setzte Krakhno von der Existenz der Schlupfloch-Basis in Kenntnis und schlug vor, daß er sich dorthin wenden sollte, statt nach Endecaur, um sich später mit den Renegaten, die in den Asteroiden Zuflucht gesucht hatten, zu vereinigen. Krakhno hör te ohne sichtbare Überraschung zu und nickte hin und wieder als Zeichen des Verstehens. »Und wie weit ist die Basis von der nächsten Ma gnetbahn-Station entfernt?« fragte er. 225
»Etwa hundert Meilen. Mein Stellvertreter könnte uns dort auflesen, wenn die Flotte den Stützpunkt noch nicht verlassen hat. Es hängt alles davon ab, ob es mir gelingt, überhaupt mit ihm in Kontakt zu kommen.« »Das können wir arrangieren.« Krakhno schnippte mit den Fingern, was einen nahen Helfer herbeizitier te. »Ich möchte, daß du eine Telecom-Verbindung herstellst. Oberst Sann wird dir die Frequenz mittei len.« Der zerlumpte Techniker machte sich an die Ar beit. Inzwischen musterte Krakhno Liber und be merkte dessen Müdigkeit. Er bot ihm an, seine priva te Magnetbahn-Kabine zu benutzen, um sich darin auszuruhen. »Danke«, antwortete der Historiker dankbar. »Die letzten paar Stunden … waren sehr ermüdend …« Jetzt geruhte Jundrak, seine Soldaten zu bemerken. Er schickte sie hinab, um beim Verladen zu helfen, und befahl ihnen, den Zug zu besteigen, sobald die Expedition reisebereit war. Als sie gegangen waren, schien Krakhno, der wäh rend der Unterredung seine umsichtige Gemütsruhe bewahrt hatte, plötzlich zusammenzubrechen. Er starrte Jundrak mit einem unnatürlichen Ausdruck an und packte den Ärmel des Offiziers. Er schwitzte. »Er ist hier, Jundrak. Er ist hier«, sagte er mit tie fer, zitternder Stimme. »Wer?« Jundrak war verwirrt. »Der Fleck!« 226
Jundrak trat zurück und befreite seinen Arm aus dem Griff des Anarchisten. »Himmel«, murmelte er. »Ich kann ihn fühlen. Er ist in meinem Hirn, in meinen Knochen, in meiner Seele. Wie ein übler Ge schmack, wie eine Migräne …« Krakhno stand auf, taumelte jedoch und stützte sich mit den Händen auf den Tisch. »Es ist unerträglich! Ich verstehe nicht, wieso alle noch am Leben sind!« Jundrak sah ihn mitleidig an. »Ich denke, daß es noch etwas gibt, das Sie wissen sollten …« sagte er langsam. Er erzählte von seinem kürzlichen Gespräch mit Prinz Peredan. Krakhno, der seine Selbstkontrolle wiedererlangt hatte, hörte ihm erneut regungslos zu. »Aber ich wußte nicht, daß er den Fleck mitge bracht hat«, schloß Jundrak. Er schüttelte sich leicht. »Es ist wirklich unheimlich. Wir sind mittendrin!« Der andere schüttelte verwundert den Kopf. Dann warf er Jundrak einen langen Seitenblick zu. »Eine Zygoten-Abgabe! Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe!« Plötzlich lachte er heiser. »Was ist denn los mit Ihnen? Sie schrecken doch wohl nicht vor einer monatlichen Samenspende zurück, oder? Sie würden es sonst doch nur dem Bettlaken geben!« »Kann sein, daß es Sie überrascht«, erwiderte Jun drak gereizt. »Um die Wahrheit zu sagen, überrascht es mich auch. Aber ich habe eine Linie gezogen. Ich werde es nicht mehr hinnehmen.« »Sind Sie sicher? Es kann bedeuten, daß Sie die 227
Wahl haben zwischen dem Hinnehmen und dem Ge nommenwerden durch den Fleck. Peredan hat nun die ultimative Waffe zur Verfügung – vorausgesetzt, daß er sie kontrollieren kann, was ich bezweifle –, und Stinktiere wie er tun alles für die Macht.« Als er aufgehört hatte zu reden, war die TelecomVerbindung hergestellt. Jundrak ging zum Schirm, der ein Alarmsignal auf der Frequenz der Basis aus sandte. Nach etwa zwei Minuten erschien Heen Setts erregtes Gesicht. »Jundrak! Wo, zum Teufel, stecken Sie eigentlich? Was ist mit Ihrem Zerhacker?« »Ich habe keinen mehr«, erklärte Jundrak. Wenn irgend jemand die Frequenz überwachte, hatten sie Pech gehabt. »Ich hatte eine Menge Ärger. Wie sieht es bei Ihnen aus?« Heen lächelte boshaft. »Wir haben uns sofort um Grenesects Bullen gekümmert. Aber dann erhielten wir eine Botschaft aus einer Entfernung von etwa fünf Lichtjahren. König Maxim persönlich befahl uns, abzuheben und ihm zu folgen. Wir sind natür lich hiergeblieben. Können wir Sie noch erwar ten?« »Ja. Aber ich werde nicht allein kommen. Ich habe einige Freunde aufgelesen, zwei Zugladungen, um genau zu sein. Wir kommen irgendwann in der Nacht mit der Magnetbahn. Kennen Sie den Haltepunkt et wa hundert Meilen nördlich von Ihnen? Ich würde es gutheißen, wenn Sie einen Gleiter abkommandieren würden, um auf unser Eintreffen zu warten.« 228
Sett nahm seine Anordnungen ohne weitere Fra gen hin. Jundrak unterbrach die Verbindung und wandte sich ab, um die Aktivitäten auf dem Hallen boden zu beobachten, was durch die schrägen Glas verkleidungen des Büros möglich war. Es gab viel Lärm und Geschrei; die Methoden der Anarchisten schienen kaum organisiert und dazu noch überhastet zu sein. Aber dennoch waren sie kraftvoll und effek tiv. Waffen und Ausrüstungsgegenstände, die Jun drak nicht genau erkennen konnte, verschwanden rasch in den großen Güterwagen. »Wir werden nicht fahren, ehe es dunkel ist«, sag te Krakhno. »Das verringert die Chancen, daß wir von Peredans Luftpatrouillen oder seiner orbitalen Überwachung ausfindig gemacht werden! Außerdem haben wir so fast zwölf Stunden Dunkelheit vor uns, um zur Basis zu gelangen.« Jundrak zeigte auf eine Anzahl versiegelter, fa ßähnlicher Behälter, die zu Krakhnos Zug gerollt wurden. »Was ist das?« »Oh, das.« Krakhno lächelte. Jundrak wußte nichts von dem geplanten Todeselixier. »Nur ein kleines Hobby von mir.« Er fügte hinzu: »An sich wollten wir eine Wasser stoffbombe hinter uns zurücklassen, mit einem Zeit zünder, der sich nach unserer Abreise aktiviert hätte. Aber …« – Er zuckte die Achseln – »sie konnte nicht rechtzeitig zusammengesetzt werden.«
229
12. Kapitel Da Jundrak nun Zeit hatte, konnte er sich einer Sache zuwenden, die ihn schon seit längerem beschäftigte. Er suchte ein kleineres Fahrzeug und fuhr los, um Rondana zu holen. Er fand sie in ihrem Zimmer, wo sie sich halsstarrig seinem Flehen widersetzte, mit ihm zu kommen. Als sie jedoch erkannte, daß er be reit war, Gewalt anzuwenden, fügte sie sich recht schnell. Als er mit ihr zurückkehrte, brach die Dämmerung herein, und die Expedition war zum Aufbruch bereit. Die beiden Züge gaben ein seltsames Bild: Man hatte Artillerieteile (der Himmel mochte wissen, woher Krakhno sie hatte) auf die Dächer einiger Wagen ge schweißt, wo sie von stromlinienförmigen Schutz blechen geschützt wurden. Jundrak fand für sich und Rondana Platz in einem der komfortablen Kabinen, die Krakhnos Quartier in einem der Züge bildeten. Ein lauter werdendes Krei schen erscholl, als die Züge sich über die Stahlschie nen erhoben. Ein lautes Pfeifen gab den letzten Be fehl zum Einsteigen. Männer und Frauen kamen aus allen Ecken der Station gerannt. Rufend und schrei end vor Aufregung sprangen sie auf und drängten sich in die mittlerweile in Fahrt kommenden Wagen. Langsam bewegten sie sich aus der riesigen Halle heraus. Krakhnos Zug war vorn. Dann glitten sie ge schmeidig durch die vorgelagerten Höfe. Später, in der Dämmerung, flog mit zunehmender Geschwin 230
digkeit der Schmutz der alten Stadt an ihnen vorbei, die hier und da von wogenden Flammen erleuchtet wurde. Hinter ihnen, auf einer Anhöhe, lag die Innere Stadt wie eine goldene Krone in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Sie waren unterwegs. Auf dem offenen Land beschleunigte der Zug und erreichte schnell seine Höchstgeschwindigkeit. Ron dana preßte ihre Nase an die Scheibe. Jundrak, der noch nie zuvor mit einem Zug gefahren war, genoß es ebenso. »Wir fahren!« sagte Rondana. »Wo wird das alles enden?« Nach kurzer Zeit ließ er sie zurück und ging auf Erkundung. Der größte Teil des Zuges bestand nicht aus Passagier-, sondern aus Güterwagen; dort hatten sich die Anarchisten fröhlich niedergelassen und verbrachten die ganze Reise mit einer lärmenden Fe te. Trotz ihres ungestümen Benehmens, so stellte Jundrak zu seiner Überraschung fest, waren die An archisten nach außen hin nicht aggressiv. Es gab kei ne Prügeleien oder ernsthaftes Gezänk – ganz anders, als es bei den Leuten seines Regiments der Fall ge wesen wäre. Es schien, als habe sich bei den Anar chisten die Aggressivität nach innen gewandt. Sie hatten die Angewohnheit, sich gegenseitig zu selbstmörderischen Heldentaten anzustacheln, und das laute Lachen und die gebrüllten Lieder wurden gelegentlich vom Krachen eines Schusses unterbro 231
chen, der das Ergebnis eines tödlichen Spiels oder einer trunkenen Zurschaustellung war. Leicht angetrunken kehrte Jundrak nach einigen Stunden zurück, um Grame Liber allein im Korridor zu finden. Er lehnte an einem Geländer und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Einer von Maximilias Monden stand am Himmel und warf ein gespenstig silbriges Glühen über die Landschaft, die mit ver schwommenen Bewegungen an ihnen vorbeiraste. Der Historiker grüßte ihn humorlos. »Hallo!« sagte Jundrak. »Können Sie Krakhnos Gegenwart nicht mehr ertragen?« »Gerade habe ich ein langes Gespräch mit ihm be endet«, gab Liber zu. »Vielleicht ist es so.« »Er ist bestimmt ein seltsamer Bursche. Wissen Sie, daß er der einzige Mensch ist, den der Fleck le bendig wieder ausgespuckt hat?« »Ja, das weiß ich. Und ich weiß auch, warum.« »Ja?« Jundrak runzelte die Stirn. Der Gelehrte nahm ihn ernster, als er beabsichtigt hatte. »Thanatophilie: eine morbide Liebe zum Tod. Der Zustand ist klinisch erfaßt, obwohl er sehr selten vorkommt. Deshalb hat der Fleck ihn zurückgewie sen. Er liebt das Leben, er ernährt sich vom Leben. Die Liebe zum Leben und die Erfahrungen des Le bens sind die Nahrung, die er in seinen Opfern sucht. Krakhno hat einen solch starken Todeswunsch, daß der Fleck ihn ungenießbar fand.« Etwas nüchterner rieb sich Jundrak das Kinn. »Das paßt zusammen. Die Zerstörung von allem, was exis 232
tiert. Tod dem Leben. All dieses nihilistische Zeug. Wie fühlt er sich?« »Übel. Er hatte eine Art Anfall. Stöhnte wie ein Besessener. Er meint, er hätte eine persönliche Be ziehung zum Fleck – die muß er wirklich haben, weil er der einzige ist, der fühlt, daß der Fleck hier ist. Er kann seine Gegenwart nicht vertragen. Der Fleck weigert sich, ihn zu verschlingen; er verdammt Krakhno zum Leben. Für ihn ist es ziemlich schlimm.« Jundrak nickte langsam. »Danke für die Beleh rung. Ich glaube, ich sehe mal nach, ob wir fahr planmäßig sind.« Er trat hinter Liber und öffnete die Tür zu Krakh nos Abteil. In der Schlupfloch-Basis hatte Oberstleutnant Heen Sett ein allgemeines Treffen anberaumt. Offiziere und Mannschaften, Ingenieure und Techniker ver sammelten sich in der Halle, wo auch Jundrak selbst so oft gesprochen hatte, um die Richtung zu bestim men. Sett überprüfte heimlich die Stimmung der Leute. Die meisten von ihnen standen jetzt schon als festgelegte Renegaten hinter ihm: Jundrak und er hatten sich lange und eifrig bemüht, das sicherzustel len. »Mittlerweile wissen wir, daß Rebellentruppen, angeführt von Prinz Peredan Lorenz, ins Reich ein gedrungen sind und die Hauptstadt erobert haben«, begann er. »Der König ist geflohen. Die Situation ist 233
verworren, doch an diesem Scheidepunkt müssen wir die Ereignisse in die eigene Hand nehmen und über unsere Zukunft entscheiden. Wenn wir uns zum Kampf entschließen, verbrau chen wir uns – egal, auf welcher Seite – in einem weiteren unnützen Konflikt. Wenn wir überlegen, wie hart wir gearbeitet haben, um etwas zu erreichen, müssen wir zu dem Schluß gelangen, daß wir eine Belohnung unserer Mühen verdient haben!« Die Männer, die er und Jundrak wirksam zu einer Privatarmee verschweißt hatten, ließen ihn laut hoch leben. Er streckte die Arme aus, damit es wieder ru hig wurde, und fuhr fort: »Wir werden die Schlupfloch-Flotte requirieren und in eine unabhängige Basis überführen, die schon vorbereitet ist. Niemand wird gezwungen, und es soll niemandem ein Nachteil erwachsen, wenn er nicht mit uns kommen will. Wer will, kann jetzt an die Oberfläche gehen.« Ein Offizier, einer der wenigen Monarchisten, die Jundrak nicht aus der Militärverwaltung hatte elimi nieren können, sprang auf. »Verräter! Wenn wir unsere Schiffe jetzt nach Maximilia schickten, könnten wir die Stadt für den König zurückerobern!« Verstreute Gruppen von Zivilisten schlossen sich schockiert seinen Worten an. Sett winkte einer Grup pe bewaffneter Wächter. »Setzen Sie Major Fuil unter Arrest, bringen Sie ihn nach oben und lassen Sie ihn frei. Sie haben alle 234
gehört, was ich sagte. Jeder, der die Situation nicht mag, kann gehen, ohne daran gehindert zu werden. Für den Rest: in die Höfe und vorbereiten zum Start!« Von den sechstausend Leuten, die zur Basis gehör ten, nahmen nur etwas mehr als tausend die Aufzüge zur Oberfläche. Als Jundrak das Abteil betrat, saß Krakhno am Tisch und stützte seinen Kopf mit den Händen. Horris Da gele und einige andere seiner Unterführer lungerten in der Nähe herum und warfen ihm nur gelegentlich einen Blick zu. »Liegen wir gut in der Zeit?« fragte Jundrak in den Raum hinein. Dagele nickt abwesend. Jundrak trat zu Krakhno an den Tisch und blickte betroffen auf den zitternden Mann. Langsam hob Krakhno den Kopf. »Geben Sie mir Ihre Pistole«, murmelte er mit kaum hörbarer Stim me. »Was?« »Geben Sie mir Ihre Pistole.« Krakhno sprach nun zischend und flüsternd. Verwirrt nahm Jundrak die Laserpistole aus dem Holster. Dagele sprang schnell zwischen sie und hielt ihm die Hand fest. »Tun Sie’s nicht, Oberst. Wir ha ben Castor schon alle Waffen abgenommen. Er will sich umbringen.« Krakhno zeigte keine Reaktion, sondern murmelte 235
bloß: »Keine Bange. Ich bin wieder in Ordnung, so bald wir von Rigel weg sind – weg von dem ver dammten Biest.« In diesem Moment zuckte ein fahles Licht durch die Nacht. Der Wagen schwankte ein wenig. Krakhnos Kopf fuhr hoch, seine Augen blitzten. Vom Dach hörte man das schnelle zip, zip der Rake tenwerfer und das tiefe Brummen der GammaStrahler. »Was ist los?« bellte Krakhno wild in ein notdürf tig installiertes Mikrophon auf dem Tisch. Ein kleiner Lautsprecher antwortete mit blecherner Stimme: »Luftangriff. Wir haben ihn. Ging runter wie ein toter Vogel!« »Also wissen die Rebellen von uns«, sagte Jun drak. »Nicht unbedingt«, äußerte Krakhno. »Sie lassen immer ein paar von den Dingern in der Luft herum sausen. Der hier war vielleicht nur aus Spaß unter wegs. Wollte sich einfach mal die Freude machen, eine Magnetbahn zu zerstören.« Der Lautsprecher ertönte wieder. »Weitere Punkte auf dem Bildschirm. Sieht so aus, als hätte der Lümmel noch drei Kumpane.« Der Zug schwankte nach einer Anzahl kurzer, scharfer Explosionen, stockte aber nicht. Jundrak er innerte sich, daß die Atmosphärenflieger Raketen trugen, die so gestaltet waren, daß sie eher ein weites Gebiet als ein spezifisches Ziel angreifen konnten. Die Flieger waren ohne Zweifel über die von ih 236
nen hervorgerufene Reaktion erstaunt. Der Zug vib rierte, als die auf dem Dach montierten Verteidi gungseinrichtungen eine minutenlange Kakophonie erzeugten. Doch bevor die Raketenwerfer aufhörten, gab es einen harten Ruck, und die Fahrgäste in den Abteilen wurden gegen die vorderen Wände ge schleudert, während der Zug rasch und fauchend langsamer wurde. Schließlich milderte sich der Druck. Jundrak klet terte gepeinigt wieder hoch. Horris Dagele war schneeweiß. »Wir fahren mit der Notversorgung – direkt auf den Schienen«, keuchte er. »Geht das denn?« fragte Jundrak überrascht. »Ja, wenn der Hauptantrieb zusammenbricht. Aber es ist keine Art, vernünftig zu reisen – wir können nicht mehr als zweihundert Meilen pro Stunde ma chen.« Der Lautsprecher knackte. »Ende der Aktion. Aber wir haben sie fertiggemacht. Alle drei.« Eine Pause. »Äh, wißt ihr was? Zug Nummer Zwei ist nicht mehr hinter uns.« Dagele griff nach einem Mikrophon, das mit der Führerkabine des Zuges verbunden war. »Nummer Zwei ist getroffen. Volle Kraft zurück.« Dieses Mal war die Bremsung weniger abrupt; schon bald glitten sie langsam rückwärts. Sie sind verrückt, dachte Jundrak. Diese Atmosphä renflieger sind doch nur Spielzeuge. Was ist, wenn die Rebellen einen Kreuzer schicken oder gar eine orbita le Angriffsplattform? Wir werden einfach ausgelöscht. 237
Doch das würde wahrscheinlich nicht geschehen? Im Moment waren sie für jeden Rebellenoffizier nur eine Kleinigkeit, und die Rebellen hatten nicht genü gend Material, um sich um Kleinigkeiten zu küm mern. Aus derselben Überlegung heraus wäre es al lerdings auch von Heen Sett verrückt, ein Suchschiff um den Planeten zu schicken, um nach ihnen Aus schau zu halten: Ein solcher Schritt mußte bemerkt werden und entsprechende Feuerkraft-Entsendung nach sich ziehen. In der daraus resultierenden Schlacht würde die Magnetbahn schon von der Ener gie zerstört werden, die die Schlachtschiffe im Kampf gegeneinander losließen. Aber so würde es Tage dauern, um die Schlupf loch-Basis mit einer Geschwindigkeit von zweihun dert Meilen pro Stunde zu erreichen, dachte Jundrak trübselig. Als der rückwärtsgleitende Zug schließlich hielt, öffneten sich Dutzende von Türen, und Ströme von Leuten quollen heraus, um zu sehen, was geschehen war. Aus beiden Zügen strahlte Licht über die dunkle Landschaft; etwa eine Meile entfernt war der lodern de Schrotthaufen eines Kampffliegers zu erblicken. Der zweite Zug sah aus wie ein tödlich verwunde tes Insekt. Der dritte Wagen war von einem direkten Treffer völlig zerstört worden, doch die Hauptenergie der eingeschlagenen Rakete hatte sich vermutlich nicht voll entwickeln können, denn acht der zwölf langen Wagen waren wunderbarerweise auf den Schienen geblieben. Sie hatten sich jedoch ineinan 238
dergeschoben und waren zusammengeknüllt wie eine Raupe. Die entgleisten Wagen schwankten trunken hin und her, und die Scheinwerfer des vordersten durchstachen in einem grotesken Winkel die Dun kelheit. Schreien und Stöhnen fluteten durch die Nachtluft. Die Anarchisten strömten auf den zertrümmerten Zug zu und fingen an, ihn systematisch zu durchsu chen. Sie versuchten die Eingeschlossenen zu retten und halfen jenen, die nicht schwerverletzt waren, in den Schutz des anderen Zuges. Jundrak schaute fins ter drein, als er ein Kind sah, das auf einer improvi sierten Bahre herausgetragen wurde. »Es ist Wahnsinn, Kinder auf einen solchen Trip mitzunehmen«, warf er Krakhno vor. »Kinder?« erwiderte der andere düster. »Es gibt keine Kinder. Es sind alles Erwachsene, die nicht lange gelebt haben, die glücklichen Schweine.« Jundrak folgte ihm in die Führerkabine des ersten Zuges. Zwei Ingenieure unterhielten sich leise und eindringlich miteinander. »Ich nehme an, daß man uns die Hauptenergiever sorgung abgeschaltet hat«, meinte Krakhno flach. »Offenbar nicht. Eine Transformatorenstation ist einige hundert Meilen von hier zusammengebrochen. Vielleicht wurde sie von einer Rakete getroffen.« Krakhno schnaubte. »Das ist mal eine gute Nach richt! Kann sie repariert werden?« »Das werden wir erst wissen, wenn wir dort sind und sie untersuchen.« 239
Sie verließen die Kabine und gingen zurück in Krakhnos Abteil. Eine halbe Stunde später waren sie wieder unterwegs. Ohne das Magnetkissen fuhr der Zug mit einer singenden, merklich vibrierenden Be wegung, die einschläfernd wirkte. Sobald sie sich gesetzt hatten, nahm Krakhno ei nen Neutronenstrahler aus der Tasche und legte ihn mit einem Lächeln auf den Tisch. Die Hand hielt er um den Griff gelegt. Jundrak machte eine schnelle Bewegung, um ihm die Waffe abzunehmen, aber Krakhno erhob sie und richtete sie auf sich. Dagele trat hinzu, die anderen standen dahinter. »Gib mir die Waffe, Castor«, forderte er müde. »Sei verdammt«, knurrte der Anarchist. »Ich sag te, ich würde bei euch bleiben, bis alles vorbei ist. Und das werde ich auch. Ich lasse euch nicht im Stich. Aber ich muß wissen, daß ich sterben kann, wenn ich es möchte.« »Er muß ihn während des Haltens irgend jeman dem abgenommen haben«, sagte ein Mann hinter Dagele. Dagele seufzte müde und nickte Jundrak dann zu. »In Ordnung. Soll er ihn behalten.« Trotzdem verbrachte Jundrak den Rest der Reise damit, Krakhno auf Anzeichen eines bevorstehenden Selbstmordes zu überprüfen. Sie brauchten anderthalb Stunden, um die Trans formatorenstation zu erreichen. Nach einer eiligen Untersuchung berichteten die Ingenieure, daß die 240
volle Funktionstüchtigkeit innerhalb von fünf Stun den wieder herzustellen sei. Während die Arbeiten durchgeführt wurden, verging langsam die Nacht. Jundrak glaubte, daß die Rebellen nur deshalb nicht weiter nach ihnen geforscht hatten, weil sie den de molierten Zug gefunden hatten und annahmen, er sei der einzige gewesen. Schließlich waren die Reparaturarbeiten beendet. Der Zug erhob sich aufsein Magnetkissen und trieb voran. Krakhno lag halb bewußtlos über einem Tisch, während sich die anderen Gedanken darüber machten, ob sie ihr Ziel noch vor Anbruch des Tages erreichen würden. Und tatsächlich war es schon fast Tag, als sie beim Anblick der Güterhallen langsamer wurden. Im grau en Licht zeichneten sich die riesigen Konturen nur undeutlich ab, glänzend von Tau. Jundrak spähte ängstlich aus dem Fenster, um nach einem Schlacht schiff der Schlupfloch-Basis Ausschau zu halten. Doch statt dessen näherte sich ihnen ein scheiben förmiges Objekt auf einer schrägen Flugbahn und verdunkelte den Ball der aufgehenden Sonne. Jun drak schrie entsetzt auf. Es war eine orbitale An griffsplattform – entwickelt, um in die Atmosphäre einzutauchen, das Ziel zu vernichten und dann wie der schnell in den Orbit zurückzukehren. Sofort er wachte Krakhno, blickte kurz aus dem Fenster und schrie in sein Mikrophon. »Schießt, ihr Hunde! Schnappt ihn, ehe …« Und schon spuckte der Zug wildes, wirkungsloses 241
Feuer in den Himmel. Doch das war es nicht, was sie rettete. Die Sonne funkelte auf einem großen, golde nen Zylinder, der der fliegenden Plattform um die Krümmung gefolgt war. Der Zylinder ließ einen schimmernden Strahl aufblitzen; die orbitale An griffsplattform explodierte in einen Regen von Trümmern. Und noch eine zweite goldene Silhouette folgte im Kielwasser der ersten. Heen Sett war – wie verspro chen – angekommen. Sie waren in Sicherheit. 13. Kapitel Ein Jahr war vergangen. Ein Jahr, in dem sich die entkommene Flotte in der fast uneinnehmbaren Umgebung des Asteroidengür tels eingerichtet hatte; ein Jahr, in welchem die Höh len erweitert, neu ausgestattet und für Verteidigungs zwecke elektronisch ergänzt worden waren. Kein Eindringling konnte mehr sagen, welcher dieser ge zackten Felsbrocken unschuldig und verlassen und welcher eine tödliche Festung war. Prinz Peredan wußte dies aus eigener Erfahrung: er hatte bereits zwei Flottenkommandeure bei dem teuren Versuch verloren, die Renegaten aufzustöbern. Daß seine Anstrengungen ein solches Ausmaß an nahmen, diese Gruppe von Abweichlern zu vernich ten, lag weniger an seiner Unversöhnlichkeit als dar an, daß sie immer lauter und wirkungsvoller gegen seine Herrschaft opponierte. Fast ein ganzes Jahr 242
lang war aus dem Asteroiden-Refugium eine energie reiche Fernsehkampagne geführt worden, die Krakh nos Propagandisten gestaltet hatten, um das Haus Lorenz, den Charakter von Peredans Herrschaft und besonders die Zygoten-Abgabe zu verunglimpfen, die man leicht lächerlich und unwürdig machen konnte. So waren die Schwierigkeiten, denen sich der Prinz beim Eintreiben der Abgabe ausgesetzt sah, enorm gewachsen. Jundraks Sender hatten eine Reichweite von mehreren tausend Lichtjahren, und trotz effektiver Störsender in vielen Sektoren und ei nes Gesetzes, das den Empfang der illegalen Wellen länge strikt untersagte, schätzte man, daß das Pro gramm täglich von einigen Milliarden gesehen wurde. Die Bewohner des Refugiums hatten ihrerseits gleichfalls einige interessante Programme empfan gen. Sobald Peredans neues Regime in Schwung ge kommen war, hatten sie das miterlebt – wenngleich viele es ablehnten –, was alle gewöhnlichen Unterta nen kraft eines Gesetzes mitansehen mußten: die öf fentliche Hinrichtung des Ex-Königs Maxim und seiner ganzen Familie, einschließlich eines Neffen und einer Nichte, die beide nicht einmal fünf Jahre alt waren, durch die entsetzliche Methode des lang samen Strangulierens. Durch diese und andere Anzeichen einer sich ste tig konsolidierenden Macht wurde klar, daß Grene sects Politische Polizei nun für ihren neuen Herrn mit einem Eifer zu Werke ging, den sie nicht einmal un ter Maxim gezeigt hatten. Jundrak machte dies 243
krank. Lediglich Grame Liber schien in der Lage zu sein, die Entwicklung der Ereignisse mit Gleichmut zu tragen. Er schüttelte bloß traurig den Kopf, als er Jundraks entrüstete Flüche hörte. »Es beweist doch nur, was ich dir über die Natur der Macht gesagt habe. Herrscher über Milliarden von Menschen zu sein, kann den Verstand eines Mannes nicht unberührt lassen. Prinz Peredan muß sich schon auf dem Weg zur Geisteskrankheit befin den; noch nicht wahrnehmbar, aber er hat die ersten Schritte schon hinter sich.« Er seufzte. »Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die einzige Hoffnung für die Menschheit darin besteht, daß das Imperium in viele einzelne Staaten auseinanderbricht. Man kann es sich nur sehr schwer vorstellen.« Liber war nicht da, als ein gebündelter Strahl mit einer Botschaft von Rigel den Asteroidengürtel nach einem Empfänger abtastete. Die »Alarm-Truppe« des Tages identifizierte den Strahl sehr schnell, schaltete ihn von der gleichzeitigen Transportwelle ab, die ihn auf der Reise über die Lichtjahre begleitet hatte, und dekodierte ihn. Es war eine streng geheime Botschaft vom Prinzen selbst. Jundrak starrte auf das Bild auf dem Schirm. Wäh rend des vergangenen Jahres hatte sich der Prinz ent scheidend verändert. Seine jugendliche Ruhe war einer Art felsenfester Unbeweglichkeit gewichen, und Peredan blickte ihn voll hochmütiger Selbstge rechtigkeit an. 244
»Ich fühle mich geehrt, daß ich für würdig befun den werde, mit der Bestie persönlich reden zu dür fen«, spotte Jundrak. »Oder soll ich sagen: mit dem Freund der Bestie?« »Ich will keine formelle Art der Anrede verlangen, denn es hat keinen Zweck, von Barbaren und Verrä tern zivilisierte Umgangsformen zu erwarten«, sagte der Prinz unbeirrbar. »Ich widme Ihnen so viel Auf merksamkeit als Zeichen meiner Gnade. Ich möchte Sie zum letzten Mal warnen und Ihnen eine Chance geben, sich meiner Gnade auszuliefern.« »Ich glaube mich erinnern zu können, daß meine ersten Worte auf Smorn irgendwie ähnlich waren«, erwiderte Jundrak mit einem schwachen Lächeln. »Unsere Positionen haben sich tatsächlich umge kehrt, mit der einen Ausnahme, daß Sie schwächer sind, als ich es war, und daß ich mächtiger bin, als es je ein Mensch gewesen ist.« »Bestimmt sind Sie das. Ich kann es den ganzen Weg von Unimm bis hierher spüren.« Jundrak ließ den Ekel auf seinem Gesicht zutage treten. Er fühlte sich versucht, den Empfänger abzuschalten. »Verschwenden Sie nicht meine Zeit mit Beleidi gungen. Ich wollte Sie sprechen, um Ihnen zu sagen, daß wir nun in der Lage sind, Sie und Ihre Gefolgs leute zu vernichten.« »Das haben Sie schon früher versucht. Wir sind immer noch hier. Unsere Stellung ist uneinnehmbar – mit unseren Schiffen und den Befestigungen. Wir wissen uns selbst zu helfen.« 245
»Tatsächlich. Ich kann Sie zwar nicht verändern, aber ich kann Sie immer noch töten.« Jundrak fühlte, was kommen würde. »Dann mal los.« »Wenn Sie sich nicht ergeben, veranlasse ich den Fleck, in Ihre Gegend zu ziehen und Sie alle zu ver schlingen.« »Diese Möglichkeit haben wir doch schon früher diskutiert«, meinte Jundrak nach einer Pause. Auf einer Schalttafel unter dem Bildschirm gab er Signa le, um Krakhno, Liber und Heen Sett in die Konver sation einzubeziehen. »Wir kamen zu dem Schluß, daß es nicht durchführbar sei. Sie mögen den Fleck durch Ihre monatlichen Zahlungen abgewehrt haben, aber es ist zu risikoreich, den Versuch einzugehen, ihn nach Ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Er könnte wieder gierig werden und die Abmachung kündi gen.« »Ihre Überlegung ist vernünftig, aber leider etwas veraltet. Im vergangenen Jahr haben wir in unserer Beziehung zum Fleck gute Fortschritte gemacht. Meine Wissenschaftler meinen, daß es nun möglich ist, ihn in eine bestimmte Gegend zu leiten, wo er in begrenztem Umfang schlingen kann.« »Wir ergeben uns nicht«, erklärte Jundrak hölzern. »Wir ziehen fort.« »Aber verstehen Sie denn nicht?« Der Prinz schien verärgert zu sein. »Sie können nirgendwohin! Es gibt keinen Ort im ganzen Imperium, an dem ich Sie nicht zu fassen bekäme!« 246
»Dann verlassen wir das Imperium«, sagte Jun drak. Schließlich hatte man sich schon vor langer Zeit entschieden. 14. Kapitel Das Schlimmste war geschehen. Tief in seinem Her zen hatte Jundrak schon immer gefühlt, das es so weit kommen würde. Die Flotte der Auswanderer raste mit kreischen dem Antrieb durch den Raum. Hinter der Flotte, die weit entfernten Galaxien entgegenflog, verwuchsen die Heimatsterne langsam zu einem schillernden Vorhang aus Licht von Milliarden Sonnen und einem Dunst glühenden Gases. Der Anblick schüchterte sie ein, denn selbst aus dieser Entfernung war das ge samte Imperium, das sich von den GarloweSternwolken bis hin zu den Schleiern der Dunkelheit erstreckte, noch mit bloßem Auge zu erkennen. Die Flotte, die sich aus der Vereinbarung Jundraks mit Prinz Peredan ergeben hatte, war eine bunte Mi schung aus vielen hundert Schiffen, in die sich fast eine halbe Million Leute hineingequetscht hatten: Passagier-Linienschiffe, herrenlose Schlachtschiffe, Frachttransporter; alles, was man dieser neuen Funk tion hatte anpassen und in das man die Einheiten des Schlupfloch-Antriebs hatte einbauen können, die in aller Eile in den Fabriken des Imperiums hergestellt worden waren. 247
Jundraks erstes Angebot, das Imperium zu verlas sen, hatte der Prinz bereitwillig angenommen. Doch er hatte mehr verlangt: Nicht nur ein Exil in einem anderen Teil der Galaxis, wie Jundrak vorgeschlagen hatte, sondern Exil in der äußeren Dunkelheit hinter der Galaxis, die die Anarchisten niemals verlassen durften. Daraufhin hatte Jundrak nicht nur eine grö ßere Expedition verlangt, sondern auch die Möglich keit, daß sich ein Teil der Milliarden des Imperiums anderswo eine neue menschliche Zivilisation aufbau en konnte. Diesem hatte der Prinz gleichfalls zugestimmt. So fand sich Jundrak gegen seinen Willen erneut in ein Spiel um die Macht verstrickt, und dieses Mal war er sich selbst beinahe ein hilfloser Partner. Denn es war nicht schwer zu erraten, daß Peredan die Überein kunft als eine Gelegenheit ansah, verschiedene Prob leme auf einen Schlag zu lösen. Er wurde nicht nur das störende Anarchistenversteck los, sondern es war ihm auch klar, daß sich auch die Zahl derer reduzie ren würde, die freiwillig auf Jundraks TV-Appelle reagiert hatten: jene Tausende von politisch Unzu friedenen, die Grenesects Polizei als geeignetes Ma terial für den Abtransport ausgesucht hatte. Der dritte Punkt in Peredans Handel gab eher Grund zur Sorge. Jundrak hielt es für mehr als wahr scheinlich, daß der Prinz die verstärkte Schlupflinie, die die Flotte hinter sich zurücklassen würde, als Köder benutzte, um den Versuch zu unternehmen, den Fleck für immer vom Reich fortzulocken: auf die 248
gleiche Weise, wie Jundrak ihn damals über ihn ge bracht hatte. Diese Wahrscheinlichkeit verursachte heiße De batten. Grame Liber hatte leidenschaftlich für die Fortführung des Projekts plädiert, egal, was dabei herauskam. Die Opferung ihres Lebens war ein klei ner Preis, wenn die Menschheit aus der Knechtschaft des fremden Ungeheuers gerettet würde. Jundrak hat te ihm teilweise zugestimmt. Schließlich hatte er den Streit entschieden: »Wir haben in keinem Fall eine große Wahl. Wenn wir bleiben, sterben wir; wenn wir verschwinden, werden wir vielleicht am Leben bleiben. Soweit wir wissen, bewegt sich der Fleck relativ langsam: unsere Schiffe können zehnmal schneller fliegen als der Fleck, deshalb kann er uns niemals einholen. Auch können wir nicht sicher sein, ob es Peredans Wissenschaftlern überhaupt gelingt, ihn von seinem sicheren Freßplatz wegzulocken.« »Warum sonst will er, daß wir eine halbe Million Menschen mitnehmen?« murrte Heen Sett verdrieß lich. Nur er hatte standhaft gegen Jundraks Entschei dung opponiert: Er war dafür, ihre Kräfte aufzuteilen, um in einem letzten ruhmvollen Auflodern zu kämp fen. Aber Jundrak hatte ihn rechthaberisch über stimmt. Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen. Auf der Brücke des Flaggschiffes knackten und summten die Reihen der Instrumente und Überwa chungsmonitore in der angespannten Stille. »Wir könnten unsere Geschwindigkeit um weitere acht 249
Prozent erhöhen«, sagte Jundrak ruhig zu Sett und Krakhno, die mit ihm auf der Brücke waren. »Doch das ist dann schon der Gefahrenbereich; wir gehen das Risiko ein, daß die Düsen beschädigt werden. Einige Schiffe werden unweigerlich zurückfallen.« Der Fleck folgte ihnen tatsächlich. Und als sie die Galaxis verlassen hatten, nahm seine Geschwindig keit unglaublich zu. Krakhno schwitzte. »Laßt es sein«, knurrte Sett. »Wir sind auf jeden Fall erledigt.« Jundrak nickte und gab der ganzen Flotte über Sprechfunk den Befehl. Das Metall des Schiffes ächzte schwach, als der Schlupfloch-Antrieb die Grenzen seiner Kraft erreichte. Es machte keinen Unterschied. Der Fleck kam von Minute zu Minute näher. »Tja«, sagte Jundrak und drehte sich zu den ande ren um, während er versuchte, das Pochen seines Blutes zu unterdrücken. »Das war’s dann wohl.« Etwas auf einem der Schirme erregte seine Auf merksamkeit. Er hatte die Nachricht von ihrer mißli chen Lage bis jetzt vor der Flotte zurückgehalten, aber irgendwie mußte man die Wahrheit herausbe kommen oder vermutet haben. Die Flotte wich in Panik von der Hauptroute ab und verteilte sich über den angrenzenden Raum. Doch außerhalb der räum lichen Verwerfungslinie wurden die Antriebseinhei ten langsam und plump. Sie konnten wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig entkommen. Denn schon konnte man auf der Brücke ein elekt 250
risches Prickeln spüren. Die Männer warfen sich ge genseitig betroffene Blicke zu. Ich war von Anfang an in der Falle … Zu viele mächtige Gegner in diesem Spiel … Von Anfang an mußte es so kommen … Die Gedanken jagten aus eigenem Antrieb durch Jundraks Hirn. »Tut mir leid, Castor«, sagte er, »nun werden wir die Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sind, doch nicht schaffen können.« »Und wo jedes Individuum Macht hat«, korrigierte Krakhno ihn. Er lächelte verzerrt, bekämpfte seine Angst. »Ich habe im Grunde nie daran geglaubt, daß eine solche Gesellschaft möglich ist. Der Mensch ist nicht dafür geschaffen.« Jundrak dachte: Ich muß gehen, um nach Rondana zu sehen, ehe … Krakhnos Schrei war das letzte, was er hörte. Es war, als würde die Luft aus einem Raum in die Leere entweichen. Es war ein Donnerschlag, dem Stille und Dunkel heit folgten. Es waren Stimmen in der Leere. KOMM, KOMM, KOMM, KOMM, KOMM, KOMM …. NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN …. LÖSE DICH LOS, LÖSE DICH LOS, LÖSE DICH LOS, LÖSE DICH LOS, LÖSE DICH LOS, LÖSE DICH LOS, LÖSE DICH LOS … Explosionen in der Psyche. Der Verstand reißt sich vom Körper. 251
Vergewaltigung der Seele. Die Kakophonie der Pseudo-Energie griff auf eine halbe Million sterbender Nervensysteme in Form geisterhaften Schreiens und Heulens über; fremdarti ge Töne, unmöglich zu beschreiben, wirbelten aus unbestimmbaren Entfernungen heran, treibende Wolken vergänglicher Partikel, die infolge ihrer ei genen Gesetzmäßigkeiten existent wurden und wie der vergingen. Innerhalb von Sekunden, die einem wie Jahrhunderte erschienen, baute sich der unerträg liche Angriff zu einem anschwellenden Höhepunkt auf – und ihre Agonie hatte ein Ende, wie das Fallen eines Vorhangs. Vergessen. Es war der Tod. Es war das Leben. Es war das Leben. Und doch war es auch Tod. Es war ein Mysterium, das jeder Überlegung trotzte. Jundrak saß auf einem Büschel Gras und beobach tete im Fluß regenbogenfarbige Fische. Gelegentlich schaute er über die Wiesen, Wälder und Ströme. Oder er blickte zum Himmel hinauf. Ein Ruf hinter ihm veranlaßte ihn, sich umzudre hen. Und er sah Rondana Creele und Grame Liber über die Hügelkuppe kommen. Freude wogte in ihm auf. Er stand auf und lächelte der strahlenden Ron dana entgegen. »Also hier bist du!« sagte sie. »Wir hörten, daß du hier irgendwo lebst.« 252
»Ich habe euch gesucht«, entschuldigte er sich. »Doch konnte ich euch nicht finden. Es ist alles so groß …« »Sie hätten es weiter versuchen müssen«, ermahn te ihn Liber. »Jeder taucht in einem ziemlich genau bestimmba ren Gebiet wieder auf, innerhalb einer vernünftigen Entfernung zu einem anderen. Das scheint ein Cha rakteristikum der Eßgewohnheiten des Flecks zu sein.« Jundrak zeigte auf eine Hütte, die er ein Stück weiter am Abhang gebaut hatte. »Kommt rein.« An der Tür hielt Liber inne und betrachtete die unglaubliche Welt, die sie umgab. Da war der Him mel. Da war das Land, das aus wogenden Wiesen und sich windenden Flüssen bestand. Bäume und Sträucher. Aber es gab keinen Horizont: in der Ferne schien sich alles in sich selbst aufzulösen, bis man nichts Bestimmtes mehr sehen konnte. Er folgte Rondana und Jundrak hinein. Jundrak stellte eine Schüssel mit Früchten auf den Tisch und versorgte sie mit Tassen und einem Krug mit einer scharf schmeckenden Flüssigkeit. »Ich brauchte ziemlich lange, um das ganze Zeug herzustellen«, erklärte er. Er setzte sich und schlug mit einer Tasse auf den Tisch. »Erklären Sie es mir«, forderte er Liber auf. »Wir müßten tot sein. Wir sind tot. Und doch sind wir lebendig. Wir sind körperlich anwesend und leben in einer wirklichen, materiellen Welt – oder zumindest ist sie in vielen Dingen der 253
alten materiellen Welt ähnlich. Und doch weiß ich, daß wir uns im Fleck aufhalten, und daß der Fleck nur leerer Raum ist.« Liber seufzte und befingerte eine von Jundraks Früchten. »Es ist komisch, daß wir den Fleck immer für etwas Böses und Schreckliches gehalten haben. In Wahrheit ist er das Leben an sich, ein reines Geistwesen. Obwohl er nur rudimentär entwickelt ist und kaum etwas empfindet, ist er doch ein Nährbo den für jeden anderen Geist, dem er begegnet. Er er hält sich, indem er andere Lebensformen intakt in sich aufnimmt.« »Aber die Solidität. Alles ist so real.« »Nennen Sie es eine Illusion, wenn Sie wollen. Sobald der Fleck Entitäten absorbiert, entsteht eine passende Umgebung für sie. Und doch ist dies viel leicht genaugenommen keine Illusion. Sicher, wis senschaftlich gesehen ist der Fleck nur eine Reihe energetischer Prozesse, die ein Gebiet weitgehend leeren Raums besetzt halten. Doch der Fleck beinhal tet mehr, als unsere Beobachtungen zeigen: er hat seine eigenen Dimensionen, und diese Welt ist sozu sagen ›geistige Materie‹. Aber wenn Sie darauf be harren wollen, daß es eine Illusion ist, das sie nicht existiert, müssen Sie auch zugeben, daß die Welt, aus der wir gekommen sind, ebenfalls eine Illusion war.« In gewisser Weise, so erinnerte sich Jundrak, wa ren die Naturgesetze dieser neuen Welt nicht ganz dieselben wie in der alten. Durch reine Willensan strengung, obwohl es einen große Kraft kostete, 254
konnte man, wenn man wollte, um eine Laune zu befriedigen, selbst neue Materie erschaffen. Er nippte an seinem leicht alkoholischen Getränk. »Der Fleck hat einen Durchmesser von fast einem Lichtjahr«, bemerkte er. »Das ist eine ziemlich große Welt.« »Sie ist sogar noch größer. Wir leben nicht unter normalen räumlichen Bedingungen. Der Fleck schafft geistigen Raum jeder Größe, wie er ihn selbst gerade braucht. Im Grunde ist er so groß wie das ge samte Universum.« Jundrak stellte seine Tasse hin und starrte Liber wie betäubt an. »Wir werden nie erfahren, wie groß er wirklich ist«, fuhr Liber fort. »Jedes Geschöpf, das er ver schlungen hat, ist irgendwo hier. Und jedes dieser Geschöpfe hat eine zu ihm passende Umgebung. Ei nige davon dürften so seltsam sein, daß wir sie uns kaum vorstellen können. Es gibt hier, wie ich glaube, sicher auch einige Zonen, die draußen nicht existie ren. Ich glaube auch nicht, daß der Fleck der einzige seiner Art ist«, sann Liber weiter. »Ich nehme an, daß sie äußerst zahlreich sind – vielleicht sind es un endlich viele –, daß sie alle durch das Universum streifen und die räumlichen Verwerfungslinien als eine Art kosmisches Leitgitter benutzen. Ich kann mir sogar vorstellen, daß sie die primäre Lebensform des Universums darstellen. Organische Wesen wie wir sind zweitklassig und werden von ihnen nur als Futter gebraucht.« 255
Rondana schüttelte sich, doch Liber fügte hinzu: »Und noch etwas: Hier stirbt man nicht.« Es wurde still. Schließlich sagte Jundrak: »Tja, Rondana, nun werde ich dich doch nicht überleben.« Sie errötete und sah verärgert aus. Dann sagte sie: »Was ist mit deinem schrecklichen Freund gesche hen? Mit dem, der sich Heen Sett nannte? Lebt er auch hier?« »Als ich hier ankam«, antwortete Jundrak lä chelnd, »war er die einzige Person in meiner Nähe. Aber jetzt ist er verschwunden. Er hat einige unserer Leute zusammengeholt und ist auf der Suche nach Abenteuern. Wir hörten, es gäbe irgendeinen Krieg in weiter Ferne.« »Und dann dieser Krakhno«, warf Liber ein. »Ich frage mich, was aus ihm geworden ist.« NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein … Stöhnend und wimmernd öffnete Castor Krakhno die Augen. Seine Gefühle waren eine Mischung aus Selbstmitleid und Ekel vor sich selbst. Er lag auf dem Boden der Brücke. Alles schien normal zu funktionieren: die Instrumententafeln fla ckerten kalt; das stets wiederkehrende Summen ver steckter Apparaturen durchbrach alle paar Sekunden die Stille. Nur die Leichen, die überall herumlagen, verrieten, daß etwas nicht stimmte. Es war nicht fair … das alles zweimal zu erle 256
ben. Kein Mensch sollte dies durchmachen müs sen … Nach und nach ließen diese Gedanken nach. Ein Teil seiner Kraft kehrte zurück. Er richtete sich auf und drehte einige der Körper herum. Herzog-Oberst Jundrak von Sann, Oberstleutnant Heen Sett, etwa ein halbes Dutzend jüngerer Offiziere. Im Schiff mußten noch Tausende von weiteren Leichen sein. Er würde Ärger mit all den Toten be kommen. Plötzlich fühlte sich Krakhno äußerst unwohl. Nachdem er sich erbrochen hatte – lange nachdem er etwas gegessen hatte –, stolperte er zu einer In strumententafel und bemühte sich, die angezeigten Werte zu verstehen. Der Fleck befand sich bereits weit vor der Flotte und trieb schnell auf die ferne Ga laxis am Ende der Schlupflinie zu. Offenbar hatte er den leicht abzugrasenden Boden des Reiches schon vergessen. Krakhno hatte jedoch nichts vergessen. Er fühlte neue Kraft und neuen Haß durch seine Adern fließen. Sogar mehr als früher, als er noch nicht gewußt hatte, daß er Menschen seinem Willen unterwerfen konnte. Er lachte ein häßliches, verzweifeltes Lachen. Dann überlegte er sich ausführlich, wie er das Schiff wenden konnte, um seinen alten Feinden erneut ge genüberzutreten.
257