Der Tod im Eis von Timothy Stahl
Dezember 1996, Polarmeer, Alaska »Verdammt, Gideon, stell das Ruder fest und hilf mir...
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Der Tod im Eis von Timothy Stahl
Dezember 1996, Polarmeer, Alaska »Verdammt, Gideon, stell das Ruder fest und hilf mir endlich!« Unbeholfen stocherte Trimble Foxglove mit der hölzernen Stange zwischen den Eisschollen nach der reglosen Gestalt und versuchte sie an die Bordwand der Ardent heranzuholen. »Wozu die Eile?« rief Gideon Lavrakas zurück. »Der Kerl ist mausetot. Im eiskalten Wasser überlebt keiner länger als ein paar Minuten.« Er kletterte die eisumkrusteten Stufen vom Ruderstand herab und trat an die Reling. »Oder siehst du irgendwo ein anderes Schiff, von dem er gerade gefallen sein könnte?« Das breite Grinsen schien sein Gesicht in zwei ungleiche Hälften zu spalten. Trotzdem packte er mit zu, und gemeinsam schafften sie es schließlich, den bleichen Körper an Bord zu hieven.
Was bisher geschah Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Landru, einer der ältesten Vampire und Kelchhüter, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäupter auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen, den sie nicht löschen können. Sie altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält den Auftrag, auch die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah einen Knaben. Als kurz darauf ein infizierter Vampir eintrifft, wird er von dem Kind geheilt! Doch die Vampire, die daraufhin zum Nonnenstift pilgern, werden getäuscht. Der Knabe entzieht ihnen alle Kraft und Erfahrung und wächst dabei um gut drei Jahre. Sowohl die Vampirseuche als auch die Geburt des Kindes haben das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene erschüttert. Rund um den Erdball träumen parasensible Menschen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Eine geheime Organisation, die dem Anschein nach mit dem Vatikan in Verbindung steht, schickt »Gesandte« aus, um diese Menschen anzuwerben. Neben den Vampiren gibt es noch ein weiteres uraltes Volk: die Werwölfe. Zu ihnen gehört Nona, die Landru seit Urzeiten kennt und begehrt, seit sie sein Blut aus dem Lilienkelch trank. Nona bricht auf, um die Herkunft der Seuche zu ergründen. Sie glaubt, daß Landrus Erzfeindin Lilith Eden dahintersteckt. Nona will ihr aber nicht allein gegenübertreten. Sie sucht einen Indianerstamm auf, den Landru einst zu Vampiren machte. Makootemane, der Sippenführer, hat die Seuche vorausgesehen und sich rechtzeitig zurückgezogen, um seine »Kinder« nicht ins Verderben zu reißen. Was
Nona nicht ahnt: Die indianischen Vampire haben durch die Verbindung mit ihren Totemtieren, den Adlern, dem Bösen entsagt. Sie leben in »Symbiose« mit einem Dorf, von dessen Einwohnern sie sich ernähren, ohne sie zu töten. Auch können sie sich statt in Fledermäuse in Adler verwandeln. Hidden Moon, ein Krieger des Stammes, begleitet Nona, als diese ihm von einer »guten Vampirin« erzählt. Als sie die Halbvampirin stellen und Nona Lilith töten will, verhindert Hidden Moon dies und offenbart seine Gesinnung. Lilith beteuert, nicht selbst hinter der Seuche zu stecken, und Nona muß sich mit dieser Aussage zufriedengeben, bevor sich Hidden Moon wieder mit ihr zurückzieht. Gleichzeitig gelingt es Makootemane, die magische Pest in einem spirituellen Duell zu besiegen …
Der Mann, den sie aus den eisigen Fluten gezogen hatten, war kein Inuit, wie die Eskimos sich selbst nannten. Körperbau und Gesichtszüge waren die eines – wenn auch nicht gerade schönen – Europäers mit auffallend bleicher Haut und schulterlangem, dunklem Haar. Gideon Lavrakas hatte recht gehabt. Der Mann war zweifelsfrei tot. Und tief in sich hatte auch Foxglove nicht daran gezweifelt, daß sie den Nackten nur noch tot würden bergen können. Aber wer der Tote auch sein mochte, er hatte zumindest ein anständiges Begräbnis verdient. Hier draußen wäre er nur ein Fraß des Meeresgetiers geworden. Und ein solches Ende gönnte Trimble Foxglove seinem ärgsten Feind nicht. Er hatte schon eine ganze Reihe angefressener Leichen gesehen und selbst mit aus dem Wasser gefischt – während der Krebsfangsaison verloren alljährlich Hunderte von Männern ihr Leben vor den Küsten Alaskas, wenn meterhohe Wellen sie über Bord spülten oder ganze Crabber unter dem Gewicht eisiger Panzer kenterten. Verdammt kein schöner Anblick … Foxglove spuckte aus. Ausgestreckt lag der Tote auf dem Boden der Kabine, steif und nackt. Vermutlich hatten die scharfkantigen Eisschollen im Wasser ihm die Kleidung regelrecht vom Leib gefetzt. Seine Haut hatte die Farbe von Porzellan, und wie Foxglove beim Hereintragen der Leiche festgestellt hatte, fühlte sie sich auch so an, hart und glatt. Widerlich. Er würde froh sein, wenn sie ihren makabren Fund in Barrow wieder von Bord schaffen konnten. Aber das würde noch eine Weile dauern. Noch zwei Tage. Wenn sie Glück hatten. Das Wetter und die See waren zu dieser Jahreszeit unberechenbar. Aus dem Nichts konnte ein Sturm aufkommen und sie im Zeitplan um Stunden zurückwerfen. Wenn sie ihn überhaupt überstanden. Auch damit mußte man hier rechnen – daß jede Fahrt die letzte sein konnte. Bisher hatten Trimble Foxglove und Gideon Lavrakas mit der Ar-
dent noch jedem Unwetter getrotzt. Foxglove hatte schon vor langem aufgehört, für jeden überstandenen Sturm eine Kerbe in die Reling zu schlagen. Weil zu befürchten war, daß er die Bordwand damit irgendwann ruiniert haben würde. Seit fast dreißig Jahren bildeten die beiden Inuit ein Team, ein Zwei-Mann-Unternehmen. Ihr Geschäft bestand darin, die Arbeiter und Mannschaften von weit abgelegenen Forschungscamps und Bohrinseln mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen. Begonnen hatten Foxglove und Lavrakas damit Ende der sechziger Jahre, als in Alaska das Ölgeschäft boomte. Die Firmen hatten damals nur ihren Profit im Kopf gehabt; die Versorgung ihrer Arbeiter war ihnen erst in den Sinn gekommen, als man festgestellt hatte, daß es kaum Wege und Möglichkeiten der Nachschublieferung gab. Trimble Foxglove und Gideon Lavrakas hatten die Marktlücke damals erkannt und geschlossen, soweit es ihnen möglich gewesen war. Von ihrem eigenen Volk waren die beiden Inuit mit Verachtung gestraft worden, weil sie dem Naluaqmiu, dem weißen Mann, zuarbeiteten. Heute, nachdem ihr Geschäft seit Jahren mehr oder weniger florierte, wußten Foxglove und Lavrakas, daß ihre Entscheidung die richtige gewesen war. Denn ein Großteil ihrer Stammesbrüder und -schwestern lebte heute von der Sozialhilfe oder von dem wenigen, was die Natur ihnen noch zu geben bereit war. Ansonsten trauerten sie den Traditionen nach, die Zeit und Fortschritt verschlungen hatten. Jetzt waren sie mit der Ardent, dem Kutter, der ihnen seit Jahr und Tag treue Dienste leistete, unterwegs nach Icy Cape, wo amerikanische Wissenschaftler, die sich der Erforschung der verschiedenen Schichten der arktischen Eisdecke widmeten, auf frische Lebensmittel und technisches Gerät warteten. Foxglove sah erneut auf die Leiche hinab und seufzte schwer. In Icy Cape würden sie den Toten nicht lassen können. Sie mußten ihn mit zurück nach Barrow nehmen, um ihn dort den Behörden zu
melden. Man würde dann versuchen, ihn zu identifizieren. »Verflucht, wenn nur das Wetter hält«, grummelte Trimble Foxglove, doch es klang nicht annähernd so mißmutig, wie er es sich gewünscht hätte – sondern mehr ängstlich. Er wußte nicht, weshalb der Anblick des Toten ihm solches Unbehagen einflößte. Es war nicht die erste Wasserleiche, die er sah, und es war auch nicht die erste, die sie an Bord der Ardent hatten. Es lag auch nicht daran, daß feiner Dampf den bleichhäutigen Leichnam umwaberte wie Nebel. Das war ein normaler Vorgang, wenn steifgefrorene Leichen in der »Wärme« (die nur ein paar Grad über Null lag) der Kabine »auftauten«, und hatte nichts mit »sich verabschiedenden Lebensgeistern« oder etwas anderes in der Art der Geschichten zu tun, die die Angatkuq, die Schamanen, erzählt hatten. Und doch – etwas war anders an diesem Toten. Etwas, das sich mit jedem Blick, den Foxglove auf ihn warf, kaum merklich verstärkte und inzwischen schon eine Intensität erreicht hatte, die es ihm unmöglich machte, das daraus erwachsende Gefühl zu ignorieren. Vielleicht, überlegte Foxglove, hatte es ja schon begonnen, bevor sie den Körper aus dem Wasser holten. Denn eigentlich hätte er Lavrakas’ Ansicht, daß der Mann tot wäre, teilen müssen. Aber er hatte es nicht getan. Als hätte ihm jemand eine gegenteilige Meinung eingeflüstert … Foxglove fröstelte bei dem Gedanken, und er schüttelte sich regelrecht, als er ein weiteres Mal auf den Toten hinabsah. Die fast unsichtbaren Schwaden, die von seiner Haut aufstiegen, schufen die Illusion unnatürlicher Bewegung. Nur die Illusion? Trimble Foxglove zuckte zusammen wie unter einem schwachen elektrischen Schlag, und für eine endlose Sekunde grub das Erschrecken tiefe Spuren in sein flaches Inuit-Gesicht. Und für die Dauer genau dieser Sekunde hätte Foxglove Stein und
Bein geschworen, daß der Tote die Lider geöffnet und ihn aus nachtfarbenen Augen angestarrt hatte! Der Inuit blinzelte, doch als er wieder hinschaute, lag der Tote so auf dem Boden, wie er und Lavrakas ihn abgelegt hatten. Starr und steif, mit geschlossenen Augen – tot eben. Hastig warf Trimble Foxglove einen Blick zur Uhr, die an der Wand der zweckmäßig eingerichteten Kabine hing. Es war an der Zeit, Gideon am Ruder abzulösen. Und so sehr es Foxglove vor der beißenden Kälte da draußen graute – er hätte im Moment nichts auf der Welt lieber getan, als den Platz dort oben in dem zugigen Unterstand einzunehmen. Es war immer noch besser, als hier unter Deck zu bleiben – und stückchenweise den Verstand zu verlieren. Er knöpfte den Parka aus Karibufell zu, zog die Mütze über die Ohren und steckte die Hände in lederne Fäustlinge. Dann stapfte er die Stufen zum Ausstieg hoch, öffnete die niedrige Tür – – aber er kam nicht mehr dazu, die Kajüte zu verlassen. Hände krallten sich von hinten in seinen Parka. Foxglove stürzte die Stiege hinab und prallte irgendwo hart mit dem Kopf auf. Die Welt um ihn herum wurde dunkel. Und als sie nur noch aus Schwärze bestand, entdeckte Trimble Foxglove an ihren Rändern mächtige weiße Zähne, nadelspitz und widernatürlich lang. Dann schwand auch dieser Anblick. Schmerz trat an seine Stelle. Schmerz, der für Trimble Foxglove irgendwann vergessen war. Ebenso vergessen wie sein Leben vor diesem Schmerz.
* Gegenwart Las Vegas, Nevada
Die Luft selbst schien zu glimmen und zu blitzen und jedes noch so kleine Licht in dem riesigen Saal zu reflektieren. Der verwirrende Effekt betäubte die Sinne der Besucher – wenn sie nicht ohnedies schon völlig aufgegangen waren in dieser irrealen Welt des »Caesars Palace«. Hier hatte jeder Gedanken an die Wirklichkeit fast etwas Frevelhaftes. Die verspiegelten Wände ringsum ließen den geradezu verschwenderisch großen Showpalast ins schier Unermeßliche wachsen. Jede Bewegung fand darin ein Echo – nun, fast jede … »Unforgetable, that’s what you are. Unforgetable, so near or far …« Die Stimme, die den alten Nat King Cole-Song ins Mikrofon hauchte, schien nicht allein von der Bühne am Kopfende des Saals zu kommen, sondern von überall her. Sie füllte den mit marmornem Prunk ausstaffierten Raum, und das rauchige Timbre darin löste im Publikum so manchen wohligen Schauder aus. Nur einen Zuhörer ließ sie offenbar unbeeindruckt. Er saß jenseits des Rampenlichts in Schatten gehüllt, und nur die kreuzförmige Narbe auf seiner Wange war in der Dunkelheit zu erahnen. Als würde sie schwach unter einem inneren Feuer glosen. sein Haar war im Nacken zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden, und seine Kleidung ging mit den Schatten ein finsteres Bündnis ein. Einer Aura gleich lag etwas spürbar Düsteres über ihm, das selbst den Widerschein der Lichtkaskaden verschlang. Der Mann schaute nur scheinbar interessiert zur Bühne. Hätte ihn jemand beobachtet, so hätte er unschwer erkannt, daß seine schwarzen Augen im Moment Dinge sahen, welche sich allein ihnen offenbarten. Dinge, die von furchtbarem Sterben kündeten, von tiefster Verzweiflung – und von heillosem Zorn. Und all das manifestierte sich im Blick des Unheimlichen in einer Stärke, die kein Mensch ertragen hätte, ohne darüber dem Wahnsinn zu verfallen. Manchmal glaubte sich Landru all dem selbst kaum mehr gewach-
sen … Der mächtigste der Vampire, dessen Leben nach Jahrtausenden zählte, stöhnte unter der Last der jüngsten Vergangenheit; die Geschehnisse weniger Wochen waren ihm zum Joch geworden. Er zerbrach fast am Tod seines Volkes. Die Alte Rasse starb. Landru zweifelte nicht länger daran. Alles, was er in den vergangenen Wochen gesehen und erlebt hatte, war untrüglicher Beweis für den Untergang der Vampire. Er hatte eine Vielzahl von Städten auf dem nordamerikanischen Kontinent bereist, und überall hatte sich ihm das gleiche grauenhafte Szenario geboten: Die Vampirsippen waren allerorten in einen wahren Blutrausch verfallen. Sie tranken ihr lebenserhaltendes Elixier nicht mehr, sie soffen es! Doch ihr Durst war unstillbar geworden, und das Blut ihrer Opfer vermochte sie nicht mehr zu kräftigen. Die Vampire alterten rapide, verfaulten bei untotem Leibe – und gingen kläglich zugrunde. Allein die Oberhäupter der Sippen blieben verschont. Wie auch Landru selbst. Eine Erklärung für all das hatte er indes noch nicht gefunden. Nach wie vor war Landru auf Vermutungen angewiesen, und auf das, was sich aus dem Aneinanderreihen von Fakten ergab. Es war wenig. Doch dieses Wenige genügte, um ein Entsetzen zu schüren, das Landru mit blanker Wut niederzuringen versuchte – vergebens, denn es gab nichts Greifbares, gegen das er seinen Zorn hätte richten können. Außer – gegen den Kelch … Denn mit dem Lilienkelch hatte alles begonnen. So vielversprechend begonnen … Bis vor annähernd drei Jahrhunderten war Landru als Kelchhüter inkognito von Sippe zu Sippe gezogen, um mit dem Unheiligtum der Alten Rasse für »Nachwuchs« zu sorgen. Die Sippenführer gaben ihr eigenes Blut in den Kelch, geraubte Menschenkinder tranken
es daraus – und starben an dem schwarzen Trunk. Um schließlich vom Tode aufzuerstehen – als Vampire. Doch dann, nach tausend Jahren, war Landru der Lilienkelch geraubt worden. Der Hüter wurde zum Jäger des Grals. 268 Jahre lang verfolgte er jeden noch so geringen Hinweis auf den Verbleib des Kelches, ohne den es keine neuen Vampire geben konnte. Nur wenn Landru ihn wiederfand, konnte er den Fortbestand seines Volkes sichern. Am Ausgang des Korridors durch die Zeit hatte er das Unheiligtum endlich gefunden. Der Kelch lag da, als hätte ihn jemand dort für ihn hingelegt. Im nachhinein wußte Landru, daß allein die Einfachheit dieses Wiederfindens sein Mißtrauen hätte wecken müssen. Doch das war nicht geschehen. Im Gegenteil – regelrechte Euphorie hatte ihn beseelt und ihn dazu gedrängt, den Kelch wieder seinem ursprünglichen Zweck zuzuführen. Und unter diesem Einfluß hatte Landru es getan, ohne zu zögern. Er hatte den Kelch benutzt, um die fast schon ausgelöschte Vampirsippe von Kairo »neu zu beleben«. Und das Verhängnis hatte seinen Lauf genommen … Einfach alles war falsch gewesen an der Zeremonie. Landru hatte es gespürt, kaum daß das Ritual begann. Aber es war zu spät gewesen, um es abzubrechen. Das Kind, das der erste neue Vampir hatte werden sollen, war nicht wieder erwacht. Statt dessen hatte etwas den Kelch verlassen. Etwas wie ein Keim, ein Virus, der sich auf Wegen, die selbst Landru verschlossen blieben, verbreitet hatte. Über den ganzen Globus. Er hatte statt vampirischem Leben den Tod erweckt – den Tod für die Blutsauger in aller Welt. Wie Landru auf seiner bisherigen Reise festgestellt hatte, schienen allein die Oberhäupter von dieser tödlichen Seuche ausgenommen. Das ergab nur Sinn, wenn sie die Träger des Keims waren. Sie, de-
ren Blut einst in den Kelch geflossen war, auf daß neue Kinder ihres Volkes daraus erstanden. Nun mochten sie dazu verdammt sein, eben diese Kinder des Lilienkelches mit dem todbringenden Keim zu infizieren. Ein Kreis schloß sich. Ein Kreis, aus dem es kein Entkommen gab. Dies schien Landru nach allem, was er mitangesehen und erfahren hatte, offensichtlich. Auf die Frage indes, wer oder welche Macht dahintersteckte, hatte er noch keine Antwort gefunden. Wie auch nicht auf jene düstere Ahnung, daß er selbst, Landru, zum Todesboten geworden war … Trug auch er den Keim in sich? Würde er ihn von nun an auf alle Vampire übertragen, die zufällig seinen Weg kreuzten und nicht zu den Sippenführern zählten? Einsamkeit war in all den Jahrhunderten Landrus einziger steter Begleiter gewesen. Doch sie war keine Bürde gewesen, weil er sich ihrer zu jeder Zeit hatte entledigen können. Nun jedoch war sie zum Fluch geworden, den er nicht zu brechen vermochte, wollte er nicht etwaige Überlebende der Alten Rasse ins Verderben stürzen … Doch als wäre dies noch nicht genug, gab es noch mehr, was zentnerschwer auf Landru lastete. Kaum hatte er den Verdacht bestätigt gefunden, daß sein Volk dem Tode geweiht war, hatte er über Möglichkeiten nachgesonnen, es zu retten – oder neu erstehen zu lassen. Und dabei hatte er sich der Versuche Heraks erinnert. Damals, vor Ausbruch der Seuche, hatte Landru das Vorhaben des Oberhaupt der Sydney-Sippe verdammt: eine neue Rasse von Vampiren zu schaffen – auf künstlichem Wege, in einem Labor unter Einsatz modernster Gentechnologie. Sie sollten stärker und mächtiger sein als ihre »Vorfahren«, eine neue Rasse eben, geboren für ein Leben in einer neuen Welt, resistent gegen christliche Symbole und alles andere, was der Alten Rasse gefährlich werden konnte.
Landru hatte damals befürchtet, diese »neuen« Vampire könnten ihres bloßen Namens nicht würdig sein, und er war deswegen manchesmal scharf mit Herak aneinandergeraten. Aber nun schien ihm dessen Forschung wie das berühmte Licht am Ende des Tunnels. Wenn die Alte Rasse starb – vielleicht würde die neue ihren Platz einnehmen können, stärker und mächtiger als je zuvor! Doch in Sydney hatte Landru eine Enttäuschung erlebt. Der Laborkomplex, der zugleich als Versammlungsort der Sippe gedient hatte, war verlassen. Ein dort verbliebener Vampir hatte ihm berichtet, daß man ein einziges Exemplar der neuen Rasse nach New York gebracht hatte, nachdem es vor Ort Probleme gegeben hatte. In einem dortigen Speziallabor sollte der Homunkulus zur vollen Reife gebracht und schließlich »erweckt« werden. Landru hatte sich auf den Weg nach New York gemacht – und dort ein Bild des Schreckens vorgefunden. Das »House of Awakening«, so der Name der Spezialklinik, war verwüstet; der Tod hatte reiche Ernte gehalten. Und der Gen-Vampir war verschwunden gewesen. Alle Nachforschungen brachten Landru nicht weiter. Er fand keine Spur des Retortenwesens. So blieb dem einstigen Hüter des Kelches keine andere Möglichkeit mehr, als andere nach Hinweisen, die eine solche Kreatur zwangsläufig hinterlassen mußte, suchen zu lassen – und selbst abzuwarten. Landru hatte die Zeit seither damit verbracht, sich ein umfassenderes Bild von der Situation der Vampire zu machen. Er hatte Städte aufgesucht, die er vor langer Zeit als Hüter schon bereist hatte, und überall hatte er die Saat, die er mit dem Kelch einst gelegt hatte, zerstört oder im Untergang begriffen vorgefunden. Die Vampire, deren Natur es bis dahin gewesen war, sich im Hintergrund zu halten und aus dem Geheimen die Fäden der Macht zu ziehen, waren zu blutrünstigen Monstren mutiert. Sie trachteten nicht länger, ihre Existenz zu verheimlichen – nun, da sie ohnehin
nicht mehr lange währen würde. Ein abseitiges Lächeln wischte über Landrus bleiche Lippen, als er daran dachte, wie sehr die Behörden sich bemühen würden, plausible Erklärungen für das Massenmorden zu finden. Die Öffentlichkeit würde mit Geschichten über wahnsinnige Serienkiller und dergleichen abgespeist werden. Und dumm wie die Menschen seit Anbeginn waren, würden sie die Lügen fressen. Obwohl die Hinweise auf die wahren Drahtzieher kaum augenfälliger sein konnten. Nun hatte sein Weg ihn also nach Las Vegas geführt. Hier gab es keine Sippe im eigentlichen Sinn. Las Vegas war erst 1829 als grüner Fleck – daher auch der Name »Las Vegas«, der »die Wiesen« bedeutete – inmitten der Wüste von mexikanischen Händlern entdeckt worden, und zu dieser Zeit war der Lilienkelch schon verschollen gewesen. Nach Machtkämpfen innerhalb einer Sippe an der Westküste hatte sich jedoch eine »junge« Rebellin mit einigen Getreuen abgesetzt und war in Las Vegas ansässig geworden. Im Machtgefüge der Alten Rasse spielte diese Gruppe kaum eine Rolle, doch man hatte es hier stets verstanden, dem Leben die angenehmsten Seiten abzugewinnen. Landru war immer gern bei den Vegas-Vampiren eingekehrt. Nicht zuletzt wegen der rebellischen Cheree … »… that’s why, darling, it’s incredible, that someone so unforgetable thinks that I am unforgetable, too.« Getragen auf den verwehenden Klängen von Klavier und Saxophon geisterten die letzten Worte des Liedes durch den dämmrigen Saal. Sie erreichten auch Landru, und er spürte sie wie eine leise Berührung, noch ehe er sie wirklich verstand. Sein leichtes Zusammenzucken konnte niemandem auffallen, doch es zerrte seine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Und es machte ihn empfänglich für den Blick, den die betörend schöne Sängerin ihm von der Bühne aus zusandte. Er kam nicht dazu, ihn zu erwidern. Eine im altrömischen Stil ge-
wandete Schönheit trat selbst für sein sensibles Ohr kaum hörbar neben ihn und legte wortlos ein kleines Kuvert auf den Tisch, um dann sich gleich wieder zurückzuziehen. Landru nahm das Kärtchen aus dem Umschlag. Erwarte Dich in meinem Penthouse, bebend vor Sehnsucht. C. Wieder lächelte Landru. Doch diesmal war es von anderer Art, kaum mehr als ein bloßes Verziehen der Lippen. Hatte er nicht eben noch darüber nachgedacht, ob er selbst den Keim auf andere Vampire übertragen würde? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden: Er mußte es darauf ankommen lassen. Landru erhob sich und verließ den Showpalast, das Kärtchen mit der eindeutigen Aufforderung in den Fingern drehend. Sein Lächeln vertiefte sich um eine Nuance. Cheree hatte ihre Angebote schon immer sehr unmißverständlich formuliert.
* Dezember 1996 Icy Cape, Alaska Während der meisten Tage und Nächte machte es Dr. Dennis Murphy nichts aus, am Arsch der Welt zu sitzen und sich bei 20 Grad unter Null den eigenen fast abzufrieren. Diese Nacht allerdings zählte zu jenen seltenen, in denen er gerne anderswo gewesen wäre. Zu Hause in San Diego bei seiner Familie beispielsweise. Murphys sah durch den Vorhang wirbelnder Schneeflocken hin zu der Ansammlung flacher Betonbauten. Im allgegenwärtigen Weiß,
dem die Nacht jedoch einen geheimnisvollen Stich ins Blaue verlieh, fielen die Gebäude kaum auf. Sein Blick hing wie gebannt an einem der dunklen kleinen Fenstervierecke, die wie in die weiße Wand hineingestanzte Löcher aussahen. Und in dem Grau darin schimmerten winzig kleine Lichtpunkte. Die elektrischen Kerzen eines kleinen Weihnachtsbaumes. Wenn er genau hinhörte, glaubte Murphy über dem steten Heulen des beißenden Windes sogar Stimmen zu hören. Den Gesang seiner Kollegen da drinnen: Santa Claus is comin’ to town … Murphy grinste. Es tat weh, weil selbst seine Lippen schon einzufrieren drohten und unter der geringsten Bewegung aufplatzten. O ja, dachte er, Santa Claus würde zu ihnen kommen heute nacht. Und er selbst stand hier in der eisigen Kälte als Empfangskommitee. Nur würde der Weihnachtsmann ihnen die Geschenke nicht durch den Schornstein werfen, sondern er, Murphy, würde mit zupacken müssen, um sie hinein in die Station zu tragen. Sie würden nicht aufwendig verpackt sein, die Geschenke, aber dafür waren sie lebenswichtig. Überlebenswichtig. Denn Dennis Murphy wartete natürlich nicht auf den »echten« Weihnachtsmann, sondern »nur« auf das Versorgungsteam, das ihnen regelmäßig Vorräte und technische Gerätschaften lieferten, die ihnen ihre Arbeit hier oben, rund 230 Meilen nördlich des Polarkreises, erst ermöglichten. Sie taten im Grunde nichts anderes als im Eis zu bohren und zu versuchen, möglichst große Bohrkerne herauszuholen, deren Schichten dann wissenschaftlich untersucht wurden. Der Schnee konservierte Chemikalien, Gase und atmosphärischen Staub und preßte sie schließlich zu Eis zusammen. Daraus ließen sich Erkenntnisse über die Entwicklung der Erde gewinnen. Fast 100.000 Jahre geologischer Geschichte umfaßte dieses »Eisarchiv«. Vor etwa vierzig Minuten hatten die beiden »Weihnachtsmänner« über Funk gemeldet, daß sie mit ihrem Schiff angelegt hatten und
sich in ein paar Minuten auf den Weg zur Station machen würden. Die genaue Zeit, die sie für die kaum drei Meilen lange Strecke brauchten, ließ sich nicht schätzen. Sie differierte von Mal zu Mal. Es kam ganz auf das Wetter und die Schneehöhe und ein Dutzend anderer Unwägbarkeiten an. Dennis Murphy begann auf der Stelle zu hüpfen und mit den Armen gegen seinen Oberkörper zu schlagen, als wollte er gewaltsam irgendwelche Wärmereserven wecken, die noch in ihm schlummerten. Aber er fürchtete, die letzten schon vor mindestens fünf Minuten aufgebraucht zu haben. Was ihm half, war der Gedanke an Zuhause. An die glänzenden Augen seiner Töchter, wenn sie morgen früh ihre Geschenke auspacken würden. An den Duft nach Weihnachten, der ihr Haus in San Diego füllen würde, das Sondra, seine Frau, sicher wieder liebevoll dekoriert hatte. Etwas stach wie eine Nadel in die Haut dicht unterhalb seines rechten Auges. Hastig wischte Murphy die festgefrorene Träne fort. Wer hier draußen weinte, konnte diese Sentimentalität leicht mit dem Augenlicht bezahlen … Murphy hielt im Hüpfen inne, die Arme halb von sich gestreckt. Wie in der Bewegung gefroren stand er da, eine groteske Statue inmitten der tanzenden Flocken. Er hörte etwas, das zunächst fast noch im Pfeifen des Windes unterging und das er deshalb im ersten Moment für eine Täuschung hielt. Für etwas, das er gern gehört hätte, das aber noch immer auf sich warten ließ. Doch dann vernahm er es wieder. Und diesmal verstummte das Geräusch nicht wieder, sondern wurde beständig lauter, kam näher. Halbwegs erleichtert aufzuatmen erlaubte Dennis Murphy sich allerdings erst, als er den klobigen Schatten hinter dem wehenden Weiß entdeckte, der immer mehr an Kontur gewann, bis ein kettenbespanntes Fahrzeug daraus wurde. Rasselnd und dröhnend kroch
der große Motorschlitten auf ihn zu. Foxglove und Lavrakas hatten das Gefährt in Küstennähe in einem wettergeschützten Unterstand abgestellt, um die Waren damit auf der kurzen Überlandstrecke bis zur Station zu transportieren. Eine aufwendige Aktion, die bei jeder Lieferung vonstatten ging. Der Preis, den die beiden Inuit dafür verlangten, war entsprechend gesalzen. Aber bedachte man, welche Mühen sie dafür auf sich nahmen, war er wohl auch gerechtfertigt. Wie ein aus dem Eis gebrochenes Ungeheuer schob sich das eigentümliche Gefährt auf Murphy zu, schien ihn aus weißglühenden Augen anzustarren. Als ihn die Scheinwerfer so sehr blendeten, daß seine Augen zu tränen begannen, hob er schützend den Arm vors Gesicht. Kaum fünf Schritte vor ihm stoppte der Motorschlitten und hüllte ihn eben noch in eine stinkende Dieselwolke, bevor der wummernde Motor hustend erstarb. Murphy trat aus dem Lichtteppich, den die Scheinwerfer über den Schnee breiteten. Er hörte Türen schlagen, dann näherte sich ihm eine dunkle Gestalt. »Fröhliche Weihnachten«, wünschte Dennis Murphy dem anderen, von dem er zunächst nicht wußte, ob es sich um Trimble Foxglove oder Gideon Lavrakas handelte. Als sein Gegenüber stumm blieb, vermutete er, daß es sich um Lavrakas handelte. Er war der wortkargere der beiden Inuit. Und als die Gestalt sich ein wenig drehte, so daß die Ausläufer des Scheinwerferlichts ihr Gesicht streiften, wußte er, daß er richtig lag. Obwohl er immer noch Mühe hatte, die beiden auseinanderzuhalten. Die Züge der Eingeborenen ähnelten sich in den Augen Fremder zu sehr. »Kennt euer Volk den Weihnachtsmann?« fragte Murphy leutselig. Es störte ihn nicht, daß er keine Antwort bekam. Es genügte ihm schon, einfach wieder einmal zu jemand anderem sprechen zu kön-
nen. Im Kreis der Kollegen in der Station kamen kaum noch Gespräche auf. Murphy hatte sich schon einige Male dabei ertappt, daß ihm der bloße Klang der einen oder anderen Stimme da drinnen auf die Nerven ging. Erste Anzeichen von Stationskoller, hatte er für sich selbst diagnostiziert. Es wurde wohl doch Zeit, daß sie abgelöst wurden. Na ja, ein paar Wochen noch … »Verdammt, was …?« Murphy kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Vorher traf ihn das dunkle Etwas an der Schläfe, das er erst im allerletzten Augenblick als Lavrakas’ rechte Faust erkannte. Aber da fühlte er sich auch schon von den Füßen gerissen. Er stürzte in den Schnee, kam im Leuchtbereich der Scheinwerfer zu liegen und sah, daß Lavrakas ihm nachsetzte. Der Inuit warf sich über ihn, drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Murphy war noch immer zum einem zu benommen von dem Hieb und zum anderen einfach zu überrascht, um an Gegenwehr auch nur zu denken. Obendrein war er kein Sportler und schon gar kein Kämpfer. Beinahe unbeteiligt und merkwürdige Laute ausstoßend, die in seinen eigenen Ohren beschämend lächerlich klangen, ließ er zu, daß Lavrakas sich am Kragen seines Parkas zu schaffen machte, seinen Hals freilegte … Ein Schatten fiel über ihn. Trimble Foxglove beugte sich zu ihm herab, half Lavrakas bei seinem Tun. Moment, schoß es Dennis Murphy durch den Sinn, Lavrakas? Foxglove? Verdammt, das waren nicht die beiden Inuit, die er kannte! Nicht mehr jedenfalls! Ihre flachen Gesichter verformten sich zu etwas Monströsem, wobei sie ihre Ähnlichkeit zueinander jedoch nicht verloren. Jede Falte darin verzerrte und vertiefte sich, warf Schatten, die Teile dieser
Fratze in Schwärze hüllten. Die Augen in diesen Grimassen begannen düster zu glosen. Dann öffneten die Kreaturen, zu denen Lavrakas und Foxglove mutiert waren, die Mäuler, bleckten fauchend spitze Fangzähne – – und wurden von Dennis Murphy fortgerissen! Von einer dritten Gestalt, die sich wie ein Raubtier auf ihn warf – und Murphy antat, was sie ihren beiden Dienerkreaturen verwehrt hatte. Minuten vergingen. Dann regte Dennis Murphy sich wieder. Er stand auf, klopfte sich den Schnee von der Kleidung und schloß den Parka bis zum Kinn hinauf. Als wäre nichts geschehen, begannen er und die beiden untoten Inuit, den Motorschlitten zu entladen und die Sachen zur Station zu schleppen. Here comes Santa Claus … Der Gesang wehte ihnen entgegen und in die Nacht hinaus, als sie die Tür öffneten.
* Icy Cape, Alaska Drei Tage später Dampfschwaden trieben in dem engen Raum, so dicht, daß man glauben konnte, die Luft nicht atmen zu können, sondern trinken zu müssen. Das Wasser, das aus dem Brausekopf rieselte, war beinahe brühheiß, und die Röte von Dr. Marion McDeeres Haut hätte jeden Hummer vor Neid erblassen lassen. Doch die Hitze des Wassers war machtlos gegen die Kälte, die in Marion McDeere herrschte. Das eisige Gefühl klammerte sich wie etwas Lebendiges an allem fest, was tiefer als einen halben Zentimeter
unter ihrer Haut lag. Kälte war nichts Ungewöhnliches in der Station in Icy Cape. Aber die, die Dr. McDeere seit ein paar Tagen in sich spürte, war von einer Art, die sich auf keine Weise abschütteln ließ. Im Gegenteil, sie wurde mit jedem Tag, fast schon mit jeder Stunde hartnäckiger. Und eisiger. Begonnen hatte es an dem Tag, als Denny Murphy über Da Silva hergefallen war. Als hätte er plötzlich die Tollwut bekommen – oder etwas Schlimmeres. Inzwischen wußten sie, daß es etwas Schlimmeres war … Vor allem sie selbst wußte es. Zwei Tage und vor allem Nächte hatte sie mit den Untersuchungen zugebracht. Sie hatten Blutproben von Murphy als auch von Da Silva genommen, und Marion McDeere hatte alle möglichen und auch unmöglichen Tests durchgeführt. Und sie hatte etwas gefunden. Aber die Definition dessen, was sie im Blut der beiden Infizierten entdeckt hatte, beschränkte sich auf genau diesen Begriff. Etwas. Sie konnte es noch nicht einmal mit Worten »einkreisen«. Es entzog sich jeder Beschreibung, weil es etwas völlig Fremdartiges war. Etwas, das vielleicht noch nie zuvor jemand gefunden hatte, und von dem noch nie zuvor jemand befallen worden war. Und für das es deshalb auch kein Gegenmittel gab. Doch damit nicht genug, begann sich Mißtrauen unter der Stationsbesatzung auszubreiten. Denn niemand wußte, ob dieses Etwas allein durch Hautkontakt übertragen wurde. Vielleicht genügte es schon, ihm nahe zu kommen. Vielleicht waren sie ihm alle schon zu nahe gekommen. Denn Marion McDeere hatte den Fehler begangen, die Vermutung zu äußern, der Virus – oder was es auch sein mochte – könnte sich in dem Eis befunden haben, das sie aus dem Boden Alaskas holten.
Schicht um Schicht trugen sie es ab, um zu erforschen, was darin im Laufe von Jahrtausenden eingefroren worden war. Und möglicherweise fand sich unter all diesen Dingen ja auch etwas, das Menschen in den Wahnsinn treiben konnte … Vielleicht, dachte Marion McDeere, während sie das Duschwasser noch ein kleines bißchen heißer stellte, ist ja auch diese Kälte Teil dessen, was das Etwas bewirkt. Eine Art Vorbote des Irrsinns … In jedem Fall wünschte sie sich nun, daß sie nie ihre Unterschrift auf jenes Dokument gesetzt hätte, das sie praktisch hierher ans Ende der Welt befördert hatte – oder zumindest an deren äußersten Rand. Aber sie hatte es aus freien Stücken getan. Hatte sich freiwillig als einzige Frau für dieses Projekt gemeldet. Und sie wußte ganz genau, daß man in der Zentrale nie zugestimmt hätte, eine Frau mit fast einem Dutzend Männern hierher zu schicken, wenn nicht gerade sie, Marion McDeere, diese Frau gewesen wäre. Denn ihr Ruf war gefürchtet. Gerüchte besagten, daß sie mit vierunddreißig Jahren immer noch unberührt war – und böse Zungen behaupteten sogar, daß man den Begriff »unberührt« in ihrem Fall sogar wörtlich nehmen konnte … Sie selbst wußte, daß es nicht so war. Es war einfach nur so, daß sie sich auf kein Techtelmechtel – und schon gar nicht auf »mehr« – mit Kollegen einlassen wollte. Früher oder später waren immer Probleme die Folge; sie hatte solche Beziehungen oft genug beobachten können. Natürlich hatten schon viele Mitarbeiter versucht, wenigstens mit ihr zu flirten, und die meisten hatten keinen Hehl daraus gemacht, daß sie es beim Flirt nicht belassen wollten. Also hatte Marion McDeere sich im Laufe der Zeit – zwangsläufig, wie sie meinte – einen burschikosen Ton und wenig zimperliche Manieren angewöhnt, die allein schon die Kerle einschüchterten. Von da bis zum Prädikat »alte Jungfer« war es nicht weit gewesen …
Auch hier in der Station hatten schon ein paar der Kollegen wissen wollen, wieviel denn nun dran war an den Geschichten um die »Iron Lady«. Aber sie hatten sich die Zähne an ihr ausgebissen, und zumindest in einem Fall traf es fast wörtlich zu. Denn Tanner Youngblood hatte seine Aufdringlichkeit mit einem Kinnhaken bezahlt und dabei einen Schneidezahn verloren. Ein widerlicher Bursche, dem McDeere nicht erst seit diesem Zwischenfall aus dem Weg ging. Er hatte etwas an sich, daß man glauben konnte, er würde eine Schleimspur hinterlassen, auf der man ausrutschen mußte. Noch nicht einmal die erste Schmach, die Marion McDeere ihm beschert hatte, hatte Youngblood davon abbringen können, es bei ihr zu versuchen. Schon kurz nach ihrer Ankunft in Icy Cape hatte er den starken Mann markiert und alles daran gesetzt, mindestens die Hälfte ihrer Alkoholvorräte höchstpersönlich zu vernichten. Dabei hatte er McDeere aufgefordert, ihm Gesellschaft zu leisten. Was sie auch getan hatte. Als Youngblood fast besinnungslos unter dem Tisch gelegen hatte, hatte sie noch ein Glas auf sein Wohl getrunken und ihn dann selbst in sein Zimmer geschleift, wo sie ihn nackt mit den Füßen nach oben an seinen mit Pin-up-Fotos gepflasterten Spind gebunden hatte. Aber selbst damit hatte sie Tanner Youngblood nicht kurieren können. Er war und blieb ein Arschloch. Marion McDeere verstand nicht, wie man einen solchen Typen für ein Projekt entsenden konnte, bei dem zwei Handvoll Menschen für Monate auf relativ engem Raum zusammen leben, arbeiten und miteinander auskommen mußten. Youngblood war als unanpassungsfähiger Idiot bekannt, und er war fachlich keineswegs so hochqualifiziert, wie er selbst meinte. McDeere war fest entschlossen, eine entsprechende Beschwerde an die Verantwortlichen zu schicken, wenn sie zurückkehrten. Wenn sie zurückkehrten …
Die Gedanken hatten die Kälte aus Marion McDeere zwar nicht vertreiben können, aber sie hatten sie das Gefühl, von innen heraus langsam zu erfrieren, zumindest für eine Weile vergessen lassen. Jetzt meldete es sich mit Brachialgewalt zurück. Als sie die Bewegung hinter der vom Dampf fast undurchsichtigen Plastiktür der Duschkabine ausmachte! Es gelang McDeere gerade noch, einen Aufschrei zu unterdrücken. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Vielleicht waren es nur die Dunstschwaden, die sie genarrt hatten … Nein. Etwas bewegte sich dort draußen. Etwas, etwas, etwas … Das an sich harmlose Wörtchen hatte seit ein paar Tagen einen geradezu widerwärtigen Beigeschmack für Marion McDeere. Und sie atmete beinahe erleichtert auf, als sie feststellte, daß es nicht etwas war, das sich jenseits der Plastiktür befand, sondern jemand. Ein Jemand, der näherkam. So nahe, daß sie ihn wirklich sehen konnte. Seine Silhouette zumindest, denn der beschlagene Kunststoff hemmte ihre Sicht wie Nebel. Das änderte sich, als der andere sein Gesicht so fest gegen die Tür preßte, daß sie sich als plattgedrückte Horrorfratze abzeichnete. Youngblood. Sie hätte es sich eigentlich denken können. Mit einem Ruck riß sie die Schiebetür zur Seite. Für Youngblood kam es so überraschend, daß er das Gleichgewicht verlor und voll angezogen in die Duschkabine kippte. Er schrie weibisch auf, als ihn das heiße Wasser traf. Marion McDeere wartete zwei, drei Sekunden, damit Youngblood auch wirklich etwas davon hatte. Dann krallte sie ihre Hände in sein nasses Haar, zerrte ihn hoch und stieß ihn hinaus. Er prallte gegen die gekachelte Wand und rutschte daran entlang zu Boden.
»Verdammt, bist du irre, Puppe?« keuchte er. »Wie kann man so heiß duschen? Das ist ja lebensgefährlich!« McDeere baute sich vor ihm auf, ohne ihre Blöße zu bedecken. Sollten ihm ruhig die Augen aus dem Kopf fallen. »Es hat dich keiner eingeladen, mir Gesellschaft zu leisten, oder?« Er rappelte sich mühsam hoch. »Nun hör auf, dich zu zieren, Mädchen«, sagte er mit einem Grinsen, das in McDeere die unbändige Lust zum Aus-dem-Gesicht-wischen weckte. »Ich weiß es, und du weißt es«, fuhr er fort. »Was?« »Daß wir es wollen«, griente er. Sein Atem verriet ihr, daß er sich vor seinem Auftritt Mut angetrunken hatte. »Ach?« machte Marion McDeere mit gespielt überraschtem Augenaufschlag. »Wissen wir das?« »Natürlich«, erwiderte er. »Und ich sehe, daß du endlich bereit bist, es dir einzugestehen.« »Vielleicht bin ich das …«, sagte sie leise. Seine Hände berührten ihre Arme und glitten hinauf zu ihren Schultern. Sie ließ es zu, und sie unternahm auch nichts, als er sie mit einer brutalen Bewegung, die er für »sanfte Gewalt« halten mochte, gegen die Wand drückte. Nur als sein Gesicht sich dem ihren näherte, wandte sie den Kopf. Doch sie tat es so, daß er glauben mußte, sie wollte ihn reizen … »Hey, was soll das, Kleines?« knurrte er. »Komm schon, gib dem alten Tann ein Küßchen. Erst eins, dann zwei …« »Mmmh«, schnurrte sie, »ich wüßte da etwas Besseres.« »So? Was denn?« In Youngbloods Augen trat ein gieriges Glitzern. McDeeres Hand berührte sein Bein, wanderte höher, bis hinauf an den Bund seiner nassen Hose, wo sie am Gürtel zu nesteln begann. Youngblood stieß einen erstickten Laut aus, dann löste er sich von ihr.
»Oh, Mann«, keuchte er, »ich wußte es. Ich wußte, daß heute die Nacht der Nächte ist. Warte, Puppe, Tann macht das für dich.« Er öffnete Gürtel und Knopf, dann ließ er die Hose bis zu den Knien herab. Er mochte das Bild, das er abgab, für mega-männlich halten, Marion McDeere fand es nur lächerlich, dicht an der Grenze zur Albernheit. Er trat wieder an sie heran, und sie schickte ihre Hand auf eine neue Wanderung. Ihre Finger trippelten seinen nackten Oberschenkel hinauf, und sie überwanden die Ekelgrenze, als sie sich zur Seite bewegten – und zupackten. Tanner Youngblood mutierte innerhalb allerkürzester Zeit zur Sirene. Er schrie so laut, daß es Marion McDeere in den Ohren schmerzte. Und dann rutschte seine Stimme noch um eine Oktave höher, als er im Reflex in die Knie gehen wollte, während sie ihren Griff um keinen Deut lockerte. Der körperliche Schaden, dem sie ihm zufügte, mußte dicht unterhalb der Grenze des Irreparablen liegen. Daß sie schließlich doch losließ, war keineswegs ihrer Gnade zuzurechnen. Etwas drang an ihr Ohr, laut genug, um selbst Youngbloods Gebrüll zu übertönen. Es waren – Schreie! Nicht nur ausgestoßen von einer Stimme, sondern von vielen. Und sie kamen von draußen! Youngblood kippte einfach zur Seite, als sie ihn fahren ließ. Sie öffnete die Tür zum Flur, und die Schreie gewannen augenblicklich an Lautstärke. Dazwischen mengten sich andere Geräusche. Laute, die auf einen Kampf hindeuteten. Auf einen sehr heftigen Kampf. Daß sie noch immer naß und nackt war, bemerkte Marion McDeere erst, als sie den halben Gang schon hinter sich gelassen hatte. Als sie die offenstehende Tür in den Lagerraum erreichte, aus dem die Schreie und Laute kamen, war plötzlich Tanner Youngblood
hinter ihr. Sie verschwendete eine Sekunde darauf, sich zu fragen, wie es ihm noch möglich sein konnte zu laufen. Dann wurde diese Frage unwichtig. Denn das Bild, das sich ihnen jenseits der Tür bot, war so schrecklich, daß alles andere seine Bedeutung verlor. Und wenig später verlor wirklich alles seine Bedeutung. Für Marion McDeere. Für Tanner Youngblood. Und für jeden anderen ihrer Kollegen. Denn sie fanden den Tod. Für einige Zeit zumindest.
* Gegenwart Las Vegas, Penthouse des »Caesars Palace« Alles schien mit Blut bestrichen. So zumindest sahen Landrus Augen das Penthouse auf dem Dach des gewaltigen Show-Spiel-Hotelpalastes. Keine der Lampen brannte, und so nutzten seine vampirischen Sinne das von draußen durch die deckenhohen Glasfronten einfallende vielfarbige Licht, in dem Las Vegas zu dieser späten Stunde geradezu badete, und verwandelten es in unterschiedlichste Schattierungen von Rot, so daß Landru wie durch eine getönte Brille sehen konnte. Der Vampir blieb einen halben Schritt hinter der Tür des Lifts, der ihn heraufgetragen hatte, stehen und ließ den Blick durch den Raum wandern. Dieser unterschied sich in seiner verschwenderischen Pracht kaum vom Rest des »Caesars«. Jedes einzelne Möbelstück und jedes Accessoire mußte mehr gekostet haben, als ein Durchschnittstourist während eines einwöchigen Aufenthalts in Las Vegas in den Casinos verzockte. Auch das Penthouse war im altrömischen Stil gehalten. Mittel-
punkt des Raumes und Blickfang zugleich war ein riesiges rundes Bett, mit seidenen Decken und Kissen beinahe überladen. Doch abgesehen davon war es leer. So leer wie auch das Penthouse. Scheinbar … Landru spürte die Anwesenheit eines anderen Vampirs als feines Kribbeln, das unter seiner Haut dahinrieselte. Doch bevor er ihn ausmachen konnte, verdunkelte ein massiger Schatten sein Blickfeld. Und ehe er den Schatten identifizieren konnte, entpuppte der sich als kräftiger Körper, der gegen ihn prallte und ihn zu Boden riß. Noch im Sturz leitete Landru die Transformation ein. Innerhalb einer einzigen Sekunde verformte sich sein Skelett. Fleisch und Muskeln veränderten sich. Und als der Angreifer Landru eigentlich unter sich hätte begraben müssen, war es ein kraftstrotzender Wolf, dessen Läufe sicher den Boden berührten. Landru schüttelte den anderen ab und schnellte herum. Mit gebleckten Fängen ging er seinerseits zur Attacke über. Wie ein Rammbock sprang er in den anderen Wolf hinein, traf ihn in der Flanke und brachte ihn zu Fall. Im Nu stand er über dem weißen, prachtvollen Tier. Mit den Vorderpfoten nahm er dem Kopf des anderen die Bewegungsfreiheit, und noch im selben fauchenden Atemzug senkte er das aufgerissene Maul. Die Kiefer legten sich blitzschnell um die Kehle des Weißen – – doch sie schnappten nicht vollends zu. Nur so weit, daß sie durch den Pelz hindurch die Haut darunter berührten und sich den Bruchteil eines Millimeters hineingruben. Landru schmeckte schwarzes Blut, doch er ließ um keinen Deut nach. So lange nicht, bis sich der Ausdruck in den bernsteinfarbenen Lichtern des weißen Wolfes änderte. Bis die Kampfeslust darin erlosch und etwas an deren Stelle trat; etwas, das Landru erst vor ein
paar Minuten gesehen hatte. Drunten im Showsaal … Und die Lefzen des Weißen verzogen sich zur wölfischen Abart eines – Lächelns … Fast gleichzeitig wich das unangenehme Kitzeln, mit dem der weiße Pelz Landrus empfindliche Wolfsschnauze bis dahin malträtiert hatte. Eine Sekunde lang lag wieder jenes feuchte Knirschen in der Luft, mit dem Landru sich selbst erst vor Sekunden in seine tierische Gestalt verwandelt hatte. Und dann – nach einem Augenblick, der vielleicht genügt hätte, einem Menschen den Verstand zu rauben oder ihn zumindest daran zweifeln zu lassen – lag sie vor ihm. Nackt, aber noch mit demselben verheißungsvollen Ausdruck im bezaubernd schönen Gesicht wie unten auf der Bühne. Cheree. Landru ließ von ihr ab. Noch im Aufstehen setzte auch bei ihm jene magische Verwandlung ein, die ihm sein ursprüngliches Aussehen zurückgab. »Du hast noch immer ein Faible für unser kleines Begrüßungsritual, wie ich sehe«, sagte er. Dabei ließ er Cheree nicht aus den Augen. Kam sie ihm verändert vor? Reagierte sie auf seine Nähe, auf den Keim, den er womöglich in sich trug? Anscheinend nicht. Vielleicht noch nicht … In jedem Fall stärkte die Tatsache, daß sie sich seit ihrer letzten Begegnung nicht nennenswert verändert hatte, Landrus Theorie, daß der Keim von den Führern einer Sippe auf deren Mitglieder übertragen wurde. Denn Cheree und ihre Freunde hatten seit mehr als hundert Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem einstigen Oberhaupt gehabt. Sie waren Teil von Las Vegas geworden, fügten sich ein in diese Stadt der Träume und Illusionen und verkörperten die dunkelsten von ihnen.
Mit katzenhafter Gewandtheit, wie sie ihr seit Anbeginn zu eigen war, kam Cheree auf die Füße. Landru wußte, daß der rötliche Ton ihrer Haut nicht allein ein Effekt seiner vampirischen Nachtsichtigkeit war. In Cherees Adern war auch das Blut der Ureinwohner dieses Kontinents geflossen. Damals, vor Jahrhunderten, als es noch rot gewesen war. Geschmeidig wie eine Schlange schob sie sich an Landrus kräftigem Körper empor, rieb sich aufreizend daran, und ihre Finger zerrten und zupften an seiner Kleidung. Dann spürte er kühle Feuchte an seinem Hals und schließlich über sein Kinn hoch zu den Lippen gleiten. Doch ehe er sie öffnen konnte, um Cherees tänzelnde Zunge einzulassen – – fand er sich am Boden wieder! Cheree fiel über Landru, und ihre Arme und Hände kamen nicht zufällig so um seinen Kopf und Nacken zu liegen, daß sie ihm mit einem Ruck das Genick hätte brechen können. Dazu mußte er nur in ihre Augen sehen: Sie waren nicht mehr nur von der dunklen Farbe eines sturmgepeitschten Meeres; es schien nun auch dessen aufgewühlte Bewegung darin zu sein. Alle Weichheit verschwand aus ihren betörenden Zügen, jede Linie darin schien plötzlich wie mit einem Messer gezogen. »Was soll das?« Landru wußte, daß dies nicht mehr Teil ihres Spieles war. Aber seine Überraschung währte nicht lange. Obwohl er in der im wahrsten Sinne des Wortes unterlegenen Position war, fand er seine Selbstsicherheit fast sofort wieder. In seiner Stimme schwang der gewohnt überhebliche Ton mit, und nur das Funkeln tief in seinen kohleschwarzen Augen mochte Zeichen dafür sein, daß er nicht recht wußte, was in Cheree gefahren war. Wenngleich eine Ahnung in ihm empordämmerte. Eine Ahnung, die Cherees Worte zur Gewißheit machten. »Was geschieht mit unserem Volk?« fragte sie heiser, und lauernd
fügte sie hinzu: »Und was hast du damit zu schaffen, Landru?« Sein kehliges Lachen irritierte sie sichtlich. Cherees Kopf wich eine Handbreit zurück – und Landru nutzte den Augenblick der Verunsicherung sofort. Mit einer Bewegung, die selbst für vampirische Augen kaum nachvollziehbar war, hatte er sich aus dem Griff der schönen HalbblutVampirin befreit. In einer fließenden Bewegung kam er auf die Beine, zerrte Cheree mit sich in die Höhe. Seine Rechte fuhr in ihren Schritt, stemmte sie mühelos hoch. Einen Moment lang hielt er die verwirrte Schöne so über seinen Kopf, dann stieß er sie mit einem wilden Schrei von sich, so daß sie auf dem Bett landete. Den Schwung des Wurfes nutzend, setzte Landru ihr nach und stürzte über sie. Sein Körper drückte die Vampirin in die seidigen Laken und Kissen. »Wovon sprichst du?« fragte er maliziös lächelnd, als wäre nichts geschehen. Der Sturm in Cherees Augen gewann an Gewalt. »Unsere Rasse stirbt!« fauchte sie, und Wut ließ die Bestie durch ihre Züge scheinen. »Allerorten siechen die Vampire dahin, und niemand weiß, weshalb. Sie erbrechen das Blut, das sie nicht mehr zu kräftigen vermag, und …« »… ihr bleibt verschont«, vollendete Landru ihren Satz in anderer Weise, als sie es beabsichtigt hatte. Seine kleine Geste schloß die ganze Stadt ein, deren Lichterflut wie flackernde Gischt gegen die Glaswände des Penthouses brandete. »So ist es.« »Was beklagst du dich dann?« wollte Landru in aufgesetzter Verwunderung wissen. »Wer weiß, ob der Fluch, oder was immer hinter allem stecken mag, nicht auch Las Vegas erreicht?« erwiderte Cheree. »Ich mag kein Sippenoberhaupt im wahren Sinne sein, aber ich fühle mich für die unseren in dieser Stadt verantwortlich. Und es ist an mir, sie zu
schützen, so es in meiner Macht liegt.« In deiner Macht …, dachte Landru, hinter den Lippen verächtlich grinsend. Es liegt nicht einmal in meiner Macht. Was willst du dann dagegen tun, lächerliches Geschöpflein? Doch er sprach kein Wort dieses Gedankens aus. Statt dessen fragte er, nur scheinbar leichthin und ohne den Druck auf Cheree um einen Deut zu verringern: »Und was, glaubst du, habe ich damit zu tun?« »Es gab nie etwas, das die Alte Rasse betraf, von dem du nicht gewußt hättest«, entgegnete Cheree. Und wie beiläufig setzte sie hinzu: »Und man sagt, du hättest den Kelch wiedergefunden …« »So? Sagt man das?« Landru hatte alle Mühe, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Er wußte, daß Nachrichten sich in seinem Volk rasch verbreiteten. Aber davon, daß der Lilienkelch wieder aufgetaucht war und sich in seinen Händen befand, hatten bislang nur zwei (noch lebende) Vampire Kenntnis gehabt: Barabbas, der zurückgekehrte Führer der Kairo-Sippe, und Tanor, das Oberhaupt der Delhi-Vampire in Indien. »Ich sehe dir an, daß es mehr als ein Gerücht ist«, behauptete Cheree. »Und?« »Ist es nicht merkwürdig, daß der Untergang der Alten Rasse mit dem Wiederauffinden des Kelches einhergeht?« Der lauernde Ton in Cherees Stimme konnte die Provokation in ihren Worten nicht übertünchen. Und als sie das Funkeln in Landrus Augen bemerkte, kroch etwas in ihren Blick, das Landru als Angst erkannte. Ihr war bewußt geworden, daß sie eine Grenze überschritten hatte, der man besser fernblieb, wollte man nicht zum Opfer von Landrus Zorn werden … »Was wagst du mir ins Gesicht zu sagen?« knurrte er. Seine Hände schlossen sich um Cherees Hals, in einer Weise, die ihre Nackenwir-
bel hörbar knacken ließen. Was sich seit Wochen in Landru aufgestaut hatte, ohne ein Ventil zu finden, drohte sich in dieser einen Bewegung zu entladen. Und vielleicht wäre es geschehen, hätte sich nicht augenblicklich der Ausdruck in Cherees Zügen geändert. Die Bestie zog sich binnen eines einzigen Lidschlags zurück, verbarg sich hinter einer anrührenden Mischung aus Unschuld und Demut, die Landru zwar noch in derselben Sekunde als Maske entlarvte, doch die Verheißung darin besänftigte ihn. Oder schaffte es zumindest, seine Kraft in andere, für sie beide angenehmere Bahnen zu lenken. Landrus Lächeln signalisierte Cheree, mit dem fortzufahren, weswegen er eigentlich den Weg hier herauf gekommen war. Und der Blick ihrer Augen bedeutete ihm, daß er sich getrost von ihr lösen konnte, ohne zu riskieren, daß sie erneut gegen ihn anging. Dennoch zuckte er kurz zusammen, als er sah, wie sich Cherees Fingernägel zu Krallen auswuchsen. Doch sie schlug sie »nur« in Landrus Kleidung – und fetzte sie ihm vom Leib! Nackt kniete er schließlich auf dem Bett; Cheree kauerte fast unterwürfig vor ihm. Mit Händen und Lippen trachtete sie ihn versöhnlich zu stimmen. Landru genoß, was sie mit ihm tat, den Kopf in den Nacken gelegt, während er ihre Bewegungen mit seinen Händen in ihrem blauschwarzen Haar steuerte. Ihre Berührungen, das Spiel ihrer Zunge und nicht zuletzt ihr gedämpftes Stöhnen ließen sein Glied schwellen. Dennoch – Landru vergaß nicht, welche Schmach sie ihm eben noch anzutun bereit war. Und er »revanchierte« sich auf seine Weise. Wild, animalisch und hart. Brutal riß er Cherees Kopf zurück und stieß sie auf das Bett nieder. Grollend wie der Wolf, der er vorhin noch gewesen war, warf er sich über ihren schlanken Körper. Die Laute, die das Penthouse füllten, waren nicht die eines Liebesaktes, sondern die eines Kampfes,
der mit unkonventionellen Mitteln geführt wurde. Landrus Hände walkten Cherees kleine, feste Brüste, so daß sie laut aufschrie – vor Schmerz und Lust in einem. Doch in der nächsten Sekunde war es Landru, der schrie. Als ihre messerscharfen Krallen sich in die Haut seines Rückens gruben und tiefe Spuren hineinzogen. Ohne sie loszulassen, rollte Landru zur Seite. Schwarzes Blut besudelte die Laken, während sich die Wunden schon wieder schlossen. Ein paar Sekunden gönnte er Cheree den scharfen Ritt, den sie im Sattel seiner Lenden genoß. Dann richtete er sich auf, bog ihren Oberkörper zurück und legte alle Kraft, die er in sich fand, in seine Stöße, trieb sie dem Gipfel entgegen. Als das Pochen in seinem Unterleib unerträglich wurde und sich glühend entlud, schrie auch Cheree auf, und ihr Leib bebte wie unter einem gewaltigen Stromstoß. Ermattet und stöhnend sanken sie beide in die Laken. Minuten verstrichen in völligem Schweigen. Nur ihre Erschöpfung lag hörbar im Raum. Dann beugte Cheree sich zur Seite, griff nach dem Telefonhörer und sagte etwas, das Landru wegen des dumpfen Rauschens in seinen Ohren nicht verstand. »Was …?« fragte er. »Ich habe uns eine Erfrischung bestellt«, lächelte Cheree, und es war ein seltsam – müdes Lächeln, wie Landru beunruhigt bemerkte … Es dauerte nicht lange, bis sich die Türen des Liftes, der mitten im Raum endete, öffneten. Ein blondes Mädchen trat heraus, gekleidet wie eine Dienerin im alten Rom. Cheree befahl die Blonde mit einem Wink zu sich. Gehorsam legte sich das Mädchen zu ihnen, und Cheree nahm ihm Schmuck und Schal vom Hals. Landru sah die beiden dunklen Male über der Schlagader der blonden Schönen. Sie war also noch keine Dienerkreatur, sondern
»nur« ein Opfer, an dessen Blut Cheree sich von Zeit zu Zeit labte. »Nach dir«, sagte Cheree und wies einladend auf die Kehle des Mädchens. »Mir scheint, du hast eine Stärkung nötig.« »Werde du erst einmal so alt wie ich«, grinste Landru mit gebleckten Zähnen. Seine Zunge fuhr wie prüfend über die Spitzen seiner Fänge, dann beugte er sich über den einladend dargebotenen Hals und biß zu. Der Trunk hätte besser gemundet, wenn er den Kreislauf der Schönen vorher etwas »aufgepeitscht« hätte. Nichts übertraf den Geschmack von Blut, das im Moment höchster Lust genossen wurde. Aber es kräftigte ihn auch so, und er beendete das Mahl, als er spürte, daß er wieder »der Alte« war. Mit der Zungenspitze leckte er letzte Reste von seinen Lippen, während Cheree sich an dem Mädchen gütlich tat. Als auch sie gesättigt war, schickte sie es wieder fort. Lautlos, wie sie gekommen war, aber geschwächt bis an den Rand der Bewußtlosigkeit verschwand die Schöne. Nachdem sie wieder allein waren, schnitt Cheree von neuem jenes Thema an, mit dem sie Landru vorhin schon gereizt hatte. Dabei schmiegte sie sich an seine breite Brust, als hoffte sie, damit seinen Zorn besänftigen zu können, noch ehe er aufflammte. »Was also hat es mit dem Sterben unseres Volkes auf sich?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Landru. Ihr stummer Blick bewies ihm, daß sie ihm nicht glaubte. »Nicht sicher jedenfalls«, schränkte er ein. »Und was vermutest du?« wollte Cheree wissen. »Hat es tatsächlich mit dem Kelch zu tun?« Das unaufdringliche Läuten des Telefons enthob ihn einer Antwort. Cheree nahm ab, lauschte und reichte den Hörer dann verwundert an ihn weiter. »Es ist für dich«, sagte sie, »FBI, Washington.« Die Dunkelheit verschwand für einen Sekundenbruchteil aus
Landrus Blick. Etwas blitzte darin auf – etwas wie … Hoffnung? Er meldete sich knapp und hörte dann nur zu. Etwa eine halbe Minute lang. »Ich komme«, sagte er schließlich und reichte den Hörer zurück, während er sich auch schon vom Bett schwang. »Was ist?« fragte Cheree verwirrt. »Ich muß gehen.« Er sah hinab auf die Fetzen, die von seiner Kleidung übriggeblieben waren. Cheree wies stumm auf einen Schrank. Darin fand Landru Herrenkleidung in verschiedenen Größen – und nur der namhaftesten Hersteller. Offensichtlich war Cheree auf solche »Zwischenfälle« vorbereitet. Während er einen passenden Anzug aussuchte, fragte sie erneut: »Was geschieht nun mit unserer Rasse?« »Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher … aber ich bin dabei, etwas dagegen zu unternehmen.« Sein Blick fiel dabei wie zufällig auf das Telefon. Cheree glitt vom Bett. Nackt kam sie zu ihm. Er schloß die Augen, sog ihren Duft ein … Roch sie nicht schon irgendwie – anders …? Landru nahm ihr Kinn zwischen die Finger, hob ihren Kopf, so daß er Cheree in die Augen sehen konnte. In ihre Augen, denen auch das Blutmahl nicht den alten Glanz hatte wiedergeben können … »Werden wir alle sterben?« fragte sie, mit dem Ausdruck und in dem Ton des kleinen Mädchens, das sie vor sehr langer Zeit einmal gewesen war. Landru fühlte sich davon in einer Weise berührt, die ihn selbst erschreckte, fast entsetzte. Weil diese Regung für ihn neu und ungewohnt war. »Ich weiß es nicht«, sagte er. Er log. Und er wußte, daß er log. Er wußte es spätestens in dem
Moment, da er sanft über Cherees nackte Arme fuhr, ihren bloßen Rücken berührte. Ihre Haut hatte schon ein kleines bißchen ihrer samtenen Geschmeidigkeit verloren. Er ging zum Lift. »Sehen wir uns wieder?« rief sie ihm nach. Er antwortete erst, als sich die Türhälften schon geschlossen hatten, und er tat es trotzdem ganz leise. »Nein.« Als die Kabine sich nach unten in Bewegung setzte, hörte er es. Ersticktes Keuchen, Würgen … Cheree erbrach das Blut, das sie getrunken hatte. Weil Landru den Tod zurückgelassen hatte.
* Icy Cape, Alaska Dr. Xander Hodges hatte die Größe der Forschungsstation in den vergangenen Wochen so manches Mal verflucht. Heute wünschte er, sie wäre zehn- oder zwanzigmal größer. Groß genug eben, daß man sich wirklich in ihren Gängen und Räumen verirren konnte. Oder verstecken. Hodges warf die schwere Stahltür hinter sich zu. Noch während das dumpfe Donnern, das damit einherging, den Boden unter ihm vibrieren ließ, drehte er den Schlüssel im Schloß. Gehetzt sah er sich um, ging zu einem Schreibtisch und zerrte ihn keuchend zur Tür, um sie damit zusätzlich zu verbarrikadieren. Dann besah er sich sein Werk. Und grinste. Hätte ihn jemand beobachtet, hätte er unschwer festgestellt, daß es kein zufriedenes Grinsen war, das Xander Hodges’ schmales Gesicht auf fast diabolische Weise verzerrte. Eher schon kündete es von etwas, das sich al-
lenfalls noch hinter einer hauchdünnen Membran im Innern des Wissenschaftlers verbarg, bereit, sie zu durchstoßen und den Verstand des hageren Mannes zu verzehren. Mit beiden Händen wischte sich Hodges übers Gesicht, und er wischte damit nicht nur den kalten Schweiß weg, sondern auch diesen beinahe irrsinnigen Ausdruck. Übrig blieben Angst, die eindeutig an Panik grenzte, und Verzweiflung, die seinen Blick flimmern ließ, als spiegelte sich darin das flackernde Licht einer kaputten Leuchtstoffröhre. Mit kleinen Schritten wich Dr. Hodges zurück, ohne die Tür aus den Augen zu lassen. Als er mit den Oberschenkeln gegen die Kante eines weiteren Tisches stieß, ließ er sich dagegensinken. Eine Minute lang tat er nichts anderes als dem Dröhnen seines Herzens zu lauschen – und natürlich die Tür zu beobachten. Doch sobald er auch nur den kleinsten Teil eines Gedankens dem widmete, was jenseits der Tür war, begann sein Puls zu rasen, und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren erreichte eine Lautstärke, als stünde er direkt unter einem Wasserfall. Hodges schüttelte den Kopf, schnell und ruckartig, und über seine Lippen flogen wimmernde Laute, für die er sich vor sich selbst schämte. Was dort draußen geschah, war schlichtweg unmöglich! Und doch wahr. Er hatte es selbst miterlebt, mit eigenen Augen gesehen, und er hatte daran gezweifelt wie alle anderen. So lange, bis er der einzige war, den es noch nicht erwischt hatte. Es … Hodges weigerte sich selbst jetzt noch, es beim Namen zu nennen. Es hatte sich wie schleichendes Gift unter der Besatzung der Station ausgebreitet. Begonnen hatte es nach dem Weihnachtsabend, und wie alle anderen hatte er es zunächst für eine besonders krasse Form von »Stationskoller« gehalten, als Denny Murphy wie ein Wahnsin-
niger über Da Silva hergefallen war und ihn – gebissen hatte! Schließlich waren sie zu der Meinung gekommen, daß Murphy sich mit etwas infiziert haben mußte, das ihn so ausrasten ließ. Daraus war Überzeugung geworden, nachdem auch Da Silva Anzeichen von Tobsucht gezeigt hatte. Offensichtlich hatte Murphy ihn angesteckt – mit etwas wie Tollwut … Sie hatten Murphy und Da Silva überwältigt, und die Stationsärztin hatte sich darangemacht, nach dem Virus – oder was immer es sein mochte – zu forschen. Ohne Erfolg. In der übernächsten Nacht hatten sich die beiden Befallenen befreit – oder waren befreit worden. Denn bald schon hatten sich die Hinweise gemehrt, daß sie in der Station nicht mehr unter sich waren. Mißtrauen hatte sich einer erstickenden Wolke gleich über die Station gelegt. Niemand hatte niemandem mehr vertraut; jeder fürchtete, der andere könnte ebenfalls schon von der unheimlichen Krankheit befallen sein und nur auf einen günstigen Augenblick warten, um zuzuschlagen. Auf der Suche nach Murphy und Da Silva hatten sie dann die – Eier gefunden. Hüfthohe, ovale Gebilde, die in Kokons aus Schleim gehüllt waren, den wiederum etwas wie ein dunkles Aderwerk durchlief. Adern, die im Takt eines unsichtbaren Herzens pulsierten und schwarzes Blut führten. Die Dinger hatten in einem kaum genutzten Lagerraum der Station gestanden, und vielleicht wären sie nicht darauf aufmerksam geworden, wenn das dröhnende Pochen, das sie aussandten, sie nicht angelockt hätte. Doch sie waren nicht dazu gekommen, die widerwärtigen Eier näher zu untersuchen. Denn kaum daß die Wissenschaftler die Gebilde entdeckt hatten, erfolgte der Angriff! Murphy und Da Silva waren wieder aufgetaucht, und mit ihnen
zwei weitere Männer, die Hodges als die beiden Inuit erkannt hatte, die die Station regelmäßig mit Nachschub belieferten. Und außer ihnen ein weiterer Mann. Oder – eine Kreatur … Der andere war nackt gewesen, unnatürlich bleich, und die Blässe war durch sein langes dunkles Haar noch unterstrichen worden. Sein Gesicht war das eines normalen, wenn auch nicht gerade schönen Menschen gewesen – eine Sekunde lang zumindest. Dann hatte es sich verzerrt, so rasch, daß man glauben konnte, der andere hätte sich eine grauenerregende Maske übergestülpt. Er war innerhalb eines Lidschlags zum Monstrum mutiert, wie Hodges es noch in keinem Film furchterregender gesehen hatte. Er hatte mindestens drei seiner Kollegen sterben sehen. Und die Schreie der anderen hatten Hodges auf seiner Flucht hinaus in die Station begleitet, als klebten sie auf widernatürliche Weise an ihm. Wenn er sich konzentrierte, glaubte er sie noch jetzt zu hören, da er sich in diesem Raum eingeschlossen hatte. Aber das war pure Einbildung, ein Streich seines gequälten Geistes. Die anderen mußten längst tot sein. Und sollte es tatsächlich einem oder gar mehreren gelungen sein, zu entkommen, würden sie sich hüten, durch Schreie auf sich aufmerksam zu machen. Wieder fuhr Xander Hodges sich über Stirn und Wangen, als könnte er die grausamen Bilder damit fortwischen. Dann wandte er sich endlich dem zu, weswegen er ausgerechnet diesen Raum aufgesucht hatte, obwohl andere näher gelegen hätten. Sein Blick tastete unstet über die Videofunk-Apparatur, die an der Stirnseite des Raumes stand. Er war nicht sonderlich versiert im Umgang damit, aber er hoffte, sie in Gang bringen zu können. Er drückte den Hauptschalter und berührte dann eine Reihe von Sensortasten, bis alle Anzeigen grün strahlten. Als seine Hand nach dem Schalter der Videokamera langte, schien sein Arm zu vereisen. Sein Finger blieb ein paar Millimeter von der
Taste entfernt in der Luft hängen. Ein Geräusch hatte ihn erreicht. Schritte. Draußen auf dem Flur. Hodges’ Kopf flog herum, sein Blick ging zur Tür, zur Klinke. Sie bewegte sich. Zentimeter um Zentimeter wurde sie nach unten gedrückt, bis zum Anschlag. Dann drückte jemand von draußen gegen die Tür. Vorsichtig erst, dann heftiger, und schließlich warf sich ein Körper so kräftig dagegen, daß der Stahl dröhnte und vibrierte. Xander Hodges zitterte, und sein Finger fand den Schalter der Kamera erst beim zweiten Versuch. Er hielt sich nicht länger mit Feinjustierungen auf. Er wollte nur eines: seine Meldung absenden, ehe die Tür aufgebrochen wurde. Ehe sie hereinkamen, um ihn … Es dauerte kaum zwei Sekunden, bis die »Ready«-Meldung im Display erschien, doch Hodges erschienen sie wie mindestens zwei Ewigkeiten. Das Objektiv der Kamera glotzte ihn wie eine leere Augenhöhle an. Man würde ihn in der Zentrale für verrückt halten, für völlig übergeschnappt. Aber das war ihm egal. Sie würden ihn ohnehin nicht mehr lebend antreffen, wenn sie Hilfe schickten. Wichtig war nur, daß sie jemanden schickten. Jemanden, der diese Bestien stoppte! »Hier spricht Dr. Xander Hodges von der Forschungsstation Icy Cape, Alaska«, begann er mit bebender Stimme. »Etwas hat von unserer Station Besitz ergriffen, und ich fürchte, ich bin der einzige Überlebende. Wir hielten es zunächst für einen Krankheitserreger, den wir womöglich aus dem Eis zu uns in die Station geholt hatten …« Das Dröhnen hinter Hodges wurde lauter und lauter, und er glaubte das Zittern schon unter seinen Füßen zu spüren. »… aber inzwischen weiß ich, worum es sich wirklich handelt. Es
ist unfaßbar, und Sie werden es mir nicht glauben. Aber das verlange ich auch gar nicht. Sie müssen nur eines tun: Schicken Sie Hilfe! Die Station befindet sich in den Händen von …« Das Dröhnen in seinem Rücken wurde zum Krachen. Mit einem berstenden Knall flog die Tür aus Schloß und Angeln. Rumpelnd rutschte der davorgeschobene Schreibtisch über den Boden. Die schlanke Gestalt einer nackten Frau erschien im Rahmen. Marion McDeere! Ihr Körper war über und über mit Blut beschmiert. Ihr einstmals hübsches Gesicht war zu einer Fratze des Grauens mutiert, und spitze Eckzähne ragten aus ihrem Kiefer. Und hinter ihr drängten sich die anderen Stationsmitglieder herein. Oder vielmehr das, was aus ihnen geworden war … Dr. Xander Hodges schrie noch ein letztes Wort. Dann erstickten Körper, die sich über ihn stürzten, seine Stimme. Und alles andere.
* FBI-Zentrale, Washington D.C. »… Vampire!« Das Bild auf dem kleinen Monitor sah aus, als würde es zwischen dem Kameraobjektiv und der aufzunehmenden Person schneien. Das Gesicht des Mannes war schon bisher kaum zu erkennen gewesen, und immer wieder hatten Rauschen und Flimmern Teile der Worte verschluckt, die er hastig hervorgestoßen hatte, während hinter ihm irgend etwas geschehen war. Jetzt sah es aus, als würde er gegen Unsichtbare kämpfen. Er wehrte sich gegen Angreifer, die die Kamera nicht erfassen konnte. Nur wenn man ganz genau hinsah, konnte man dort, wo sie sich befinden mußten, kaum wahrnehmbare Schemen ausmachen. Wenn Landru noch einen Beweis gebraucht hätte, so wäre diese
Beobachtung ausschlaggebend gewesen. Aber er war sich schon zuvor fast sicher gewesen, daß er hier die Spur gefunden hatte, nach der er gesucht hatte – oder hatte suchen lassen. Der zweite Mann, der sich in dem Raum im Kellergeschoß des J.Edgar-Hoover-Gebäudes aufhielt und einen schlichten schwarzen Anzug trug, schaltete den Monitor per Fernbedienung ab. Landru musterte den anderen sekundenlang. »Du siehst nicht gut aus, Aurelius«, stellte er dann nüchtern fest. »Man könnte glauben, die Seuche hätte auch dich befallen.« Der andere winkte müde ab. »Keine Sorge, alter Freund«, erwiderte Aurelius, »deine Vermutung, diese verfluchte Krankheit würde die Sippenoberhäupter verschonen, scheint sich zu bewahrheiten. Es ist nur so, daß mir die Arbeit hier über den Kopf zu wachsen beginnt.« Seine kreisende Handbewegung schloß das ganze Gebäude ein. Und vermutlich noch ein bißchen mehr. Die ganze Hauptstadt nämlich. Landru nickte. Natürlich war ihm klar, wie schwer die Aufgabe war, die zur Zeit auf Aurelius, dem Führer der Washington-Sippe, lastete. Und eigentlich hatte er ein wenig Anteilnahme in seine Worte legen wollen, doch solcherlei Gefühlsäußerungen waren ihm einfach zu fremd, als daß er sie zum Ausdruck hätte bringen können. In Washington, der Machtzentrum der USA, hatte die örtliche Sippe in besonders verantwortungsvoller Position gewirkt. Hier gab es eine fast unüberschaubare Zahl von Schaltstellen, die man mit Vampiren und Dienerkreaturen besetzt hatte – im Weißen Haus, in den Büros der Geheimdienste und nicht zuletzt im Hauptquartier des FBI eben. Von hier aus hatte sich die geheime Herrschaft der Vampire hervorragend steuern lassen. Doch mit dem Beginn der unheilvollen Seuche waren all diese Stühle nach und nach verwaist, denn der Tod ihrer Herren ließ auch die Dienerkreaturen dahinsiechen oder, ihrer
geistigen Führung beraubt, dem Wahnsinn anheim fallen. Aurelius hatte in den vergangenen Wochen alle Hände voll zu tun gehabt, das Schlimmste zu verhindern. Er hatte neue Dienerkreaturen geschaffen, um wenigstens ein paar der wichtigsten Machtpositionen wieder zu besetzen. Aber all seine Bemühungen waren nicht mehr als Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Er selbst bekleidete momentan eine ganze Reihe von wichtigen Ämtern in den Schaltzentralen der Macht, und die Organisation dieser Mehrfachidentitäten kostete Kraft in einem Maße, das sich nicht so ohne weiteres kompensieren ließ. »Vielleicht solltest du andere Sippenoberhäupter bitten, nach Washington zu kommen, um mich zu unterstützen«, meinte Aurelius. »Dieses Terrain ist für die Alte Rasse zu wichtig, um es verloren zu geben.« Landru nickte, winkte aber gleichzeitig besänftigend ab. »Alles zu seiner Zeit«, sagte er. Er wies mit dem Kinn auf den erloschenen Monitor. »Im Moment beschäftigt mich eine mindestens ebenso dringliche Sache.« »Du teilst also meine Auffassung, daß dies die gesuchte Spur ist?« erkundigte sich Aurelius, Landrus Blickrichtung folgend. »Natürlich. Ich frage mich zwar, wie der Bursche nach Alaska gelangen konnte, aber sei’s drum. Tatsache ist, daß ich ihn dort finden werde.« »Die Meldung ist bereits achtundvierzig Stunden alt«, erklärte Aurelius. »Sie erreichte zunächst die A.I.P.-Forschungszentrale in Seattle und machte dort die Runde, ehe sie dem FBI zugespielt wurde. Und dann vergingen ja noch einige Stunden, bis du aus Las Vegas hergekommen bist. Leider haben auf diesem Wege und in dieser Zeit eine ganze Reihe von Leuten davon erfahren.« »Was bedeutet das für uns?« wollte Landru wissen. »Das heißt, ich muß offiziell eine Untersuchung des Vorfalls anordnen und einen FBI-Agenten hinschicken, wenn ich nicht mehr
Mißtrauen als nötig wecken will.« »Hast du schon jemanden ins Auge gefaßt?« Aurelius lächelte schief, doch auch diese Regung konnte über seine Erschöpfung nicht hinwegtäuschen. Er öffnete eine Schublade des Schreibtischs und holte etwas heraus, das er Landru zuwarf. Reflex-artig fing der es auf und warf einen Blick auf den in Plastik eingeschweißten Ausweis. »Special Agent Hector Landers«, las Landru grinsend. Das kleine Foto auf dem Dokument sah ihm zum Verwechseln ähnlich. Als wäre tatsächlich jemandem das unmögliche Kunststück gelungen, ihn, einen Vampir, abzulichten. »Ein Computerspezialist in der Fahndungsabteilung hat das Bild gezaubert«, erklärte Aurelius. »Er war mir noch einen Gefallen schuldig.« Dabei fuhr er sich wie zufällig mit der Zunge über die Zähne. Landru befestigte den Ausweis am Revers seines Jacketts. Aurelius zog noch einen Schnellhefter hervor und reichte ihn herüber. »Hier steht alles drin, was du über die Reise nach Alaska und die örtlichen Gegebenheiten wissen mußt«, sagte er. »Viel Glück, aber jetzt mußt du mich entschuldigen. Der Präsident plant eine Neubesetzung seines Kabinetts, und da möchte ich ein Wörtchen mitreden.« Er zwinkerte Landru zu und ging zur Tür. »Ich komme gleich mit.« Landru folgte Aurelius hinaus auf den Gang. Seite an Seite liefen sie in Richtung der Treppe, zwei Männer, die sich kaum von den FBIlern unterschieden, die ihren Weg kreuzten. Und der kleine Unterschied fiel nur deswegen niemandem auf, weil man gemeinhin nicht darauf achtete, ob jemand einen Schatten warf … Aurelius stieg die Stufen empor, und als er den ersten Absatz erreichte, fiel ihm auf, daß Landru am Fuß der Treppe zurückgeblie-
ben war. Das Sippenoberhaupt sah zu seinem Begleiter hinab, der dort in seltsamer Haltung stand – witternd wie das Raubtier, das sich hinter der menschlichen Maske verbarg. »Was ist?« fragte Aurelius verwirrt. Landru antwortete nicht gleich. Er sah sich lauernd aus geschmälten Augen nach allen Seiten um. Seine Nasenflügel bebten kaum merklich. »Ich fühle etwas«, sagte er dann, dumpf und leise. »Eine Präsenz, die ich lange nicht mehr …« Er schüttelte den Kopf, als müßte er sich selbst von etwas überzeugen, und folgte Aurelius. Aber er konnte nichts dagegen tun, daß sich sein Blick wieder und wieder verselbständigte und auf Wanderschaft ging, in jeden Winkel, den sie auf ihrem Weg nach draußen passierten. Denn das Gefühl wich nicht von ihm, hing ihm an, als beanspruchte es die Stelle seines nicht existenten Schatten. Eine Präsenz, die Landru lange nicht mehr verspürt hatte. Seit dem Anfang der Zeit nicht mehr …
* Der Anblick war im höchsten Grade bizarr. Doch es war weit und breit niemand, der sich darüber hätte wundern können. Einsamkeit war alles, was allgegenwärtig war in der schneebedeckten Landschaft am Fuße der Brooks Range im Norden Alaskas. Ganz allein ging der Mann durch die weiße Wüste und die beißenden Eiswirbel seines Weges. Allein – und nackt. Sein Haar war weiß vor Eis, und Rauhreif bedeckte seine totenbleiche Haut. Doch die Kälte konnte ihm nichts anhaben. In ihm brannte ein Feuer, das ihn mit Energie speiste und ihn unempfindlich machte für alles, was um ihn herum war.
Seine Lippen kerbte ein Zug, der das war, was seiner Gefühlsarmut ein Lächeln bedeutete. Er war zufrieden mit der Entwicklung der Dinge. Er hatte damit begonnen, seine Aufgabe zu erfüllen, die einzig hieß, sich zu vermehren. Er hatte seine Brut zurückgelassen. Sie würde ihm nach kurzem Wachstum völlig gleich sein, denn sie waren vom selben Blute. Und seine Nachkommen – Brüder eigentlich – würden es ihm nachtun: Sie würden sich mehren, um sich diese Welt Untertan zu machen. Nur zu diesem Zwecke waren sie geschaffen. Einen Moment hielt er in seiner Wanderung durch Schnee und Eis inne. Was würde geschehen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten? Wenn sie diese Welt beherrschten? Wenn sie – sich selbst ihrer Nahrung beraubt hatten? Denn das würde die zwangsläufige Folge sein, wenn sie erst einmal über die ganze Menschheit gekommen waren … Die Flexibilität seines Geistes reichte nicht aus, um den Gedanken weiterzuverfolgen. Noch nicht … Aber er hatte sich im Laufe ganz kurzer Zeit solcherart verändert, daß ihm auch eine Lösung dieses Problems einfallen würde. Wie von selbst. Er mußte dem, was ihn beseelte, nur Zeit lassen, weiterzuwachsen. Das Lächeln auf seinen Lippen veränderte sich, als seine Gedanken sich veränderten. Als er sich an seine Ursprünge erinnerte. An die warme Geborgenheit eines gläsernen Tanks, an die stimulierenden Berührungen von Drähten und Sensoren – und an das, was in ihn gefahren war. Eine Kraft von geradezu göttlicher Größe … Göttlich? Was bedeutete das? Er verstand den eigenen Gedanken nicht.
Aber er formte ihn zu etwas Nachvollziehbarem. Göttlich – er war göttlich, er und die seinen. Und Götter mußten herrschen. Es war ihr einziger Sinn. Er lief weiter und weiter. Dorthin, wo er seine Herrschaft weiter würde festigen können. Obgleich er noch viele Meilen davon entfernt war, konnte er es spüren. Es leitete und lockte ihn. Blut. Das Blut von Menschen, die ihm nichts anderes als Opfer waren. Opfer seiner göttlichen Allmacht. Der Vampir lachte. So laut, donnernd und machtvoll, daß sich ihm für Sekunden selbst der tosende Wind beugte.
* »Ich dachte immer, ihr FBI-Agenten würdet drunten im Süden den lieben langen Tag einen roten Jaguar nach dem anderen bei irgendwelchen Verfolgungsjagden zu Schrott fahren und den Rest der Zeit damit verbringen, wasserstoffblonde Gangsterliebchen zu verhören. Daß es euch auch mal hier herauf in den Norden verschlägt, noch dazu in eine Ecke, in der sich neulich erst das letzte Walroß zu Tode gelangweilt hat …« Maggie Conolly schüttelte den Kopf, so heftig, daß ihr fast die Sonnenbrille von der Stupsnase rutschte. Wozu sie die überhaupt trug, war Landru ein Rätsel. Die junge Pilotin ließ die kleine Cessna nämlich so dicht unter der grauen Wolkendecke entlang schrammen, daß das Cockpit ständig wie in wattigen Nebel getaucht war. Wie Maggie Conolly auf diese Weise den Kurs halten konnte, war ein weiteres Rätsel, das der Vampir nicht zu knacken vermochte. Denn die meisten Instrumente im Armaturenbrett schienen nicht zu funktionieren oder Phantasiewerte anzuzeigen.
Die pagenköpfige Pilotin hatte noch vor dem Start in Kotzebue mit dem Quasseln begonnen, und ihr Repertoire schien noch lange nicht erschöpft. Und wenn sie sich doch wiederholte, so verwandte sie neue Worte für bereits Gesagtes. Auf diese Weise hatte Landru einiges über Alaska und die Menschen hier gelernt. Zum Beispiel, daß alle anderen US-Bundesstaaten unter den Sammelbegriff »der Süden« fielen, und daß der Rest der Amerikaner »die Leute aus dem Süden« waren. Ferner wußte Landru jetzt, daß zumindest Maggie ihre Kenntnisse über alles, was außerhalb Alaskas vorging, aus schlechten Fernsehserien oder Romanheften bezog. Ihre Vorstellung von FBI-Beamten war ein Paradebeispiel dafür. Er hätte zeitweise nicht übel Lust gehabt, ihr das süße Plappermaul zu stopfen. Doch wenigstens lenkte sie ihn von seinen düsteren Gedanken ein wenig ab. Überhaupt wunderte er sich darüber, weshalb Maggie Conolly in seiner Gegenwart so gesprächig war. Landru war es gewohnt, daß Menschen sich von seiner bloßen Anwesenheit eingeschüchtert fühlten, als erstickte etwas, das ihn unsichtbar umgab, alle Lust auf Konversation, um statt dessen latente Angst zu wecken. Vielleicht lag es in Maggies Fall ja daran, daß hier am Rande der Welt jeder Tag ein Kuriosum war und sie sich durch nichts erschrecken oder auch nur aus der Fassung bringen ließ. Aber es gab noch etwas, das Landru beschäftigte. Nämlich jenes eigenartige Gefühl einer fremden und zugleich wohlbekannten Präsenz, das sich seiner schon in Washington bemächtigt hatte und das er nach wie vor verspürte, wenn auch nicht mehr in der Stärke des ersten Moments. Doch es war noch da, so wie der Geschmack von schlechtem Blut, den man über Tage hinweg einfach nicht los wurde, ganz egal, was man auch dagegen zu tun versuchte. Erst als er dieses Gefühl verspürt hatte, war Landru bewußt ge-
worden, wie lange er nicht mehr an sie gedacht hatte. Aus dem einfachen Grund, weil er sie für tot gehalten hatte, endlich tot – oder wenigstens verschollen im eingestürzten Korridor durch die Zeit. Aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz war es Landru in Washington zumindest möglich erschienen, daß er sich nicht getäuscht und sie ihn aus einer sicheren Deckung heraus beobachtet hatte. Hier jedoch, in diesem kleinen Flugzeug, in dem es fast schon für zwei Personen zu eng war, konnte er diese Möglichkeit ausschließen. Und die zwangsläufige Folgerung daraus war, daß sein vampirischer Instinkt ihn narrte. Was ihn nach all den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit nicht einmal wirklich beunruhigte. Im Gegenteil war er eher schon zufrieden damit, daß sich die Belastung nur in einer Überreizung seiner Sinne ausdrückte. Das Grau um Landru herum veränderte sich ein wenig, wurde heller und trat schließlich so weit zurück, daß es nicht mehr die Welt vor seinen Blicken verbarg. Wenn auch das, was er jetzt sehen konnte, nicht wirklich sehenswert war. An die Stelle von Grau trat Weiß, in unterschiedlichen Schattierungen und weiter entfernt, als es die Wolken gewesen waren. Die verschneite Tundra tief unter der Cessna, die Flüsse und Berge waren ebenso grandios wie abweisend und unwirtlich. Die Küstenlinie weiter im Westen war ein gezacktes Band aus verkanteten Eisschollen; abstrakte Formen, die in einem Licht strahlten, das gleißend hell und von beinahe überirdischer Kraft war. Das kleine Flugzeug zog eine Schneise in die Wand aus wirbelnden Schneeflocken, die sich hinter dem Heckruder sofort wieder schloß. Aus zusammengekniffenen Augen erkannte Landru weit unter ihnen eine Ansammlung flacher Schatten, deren Konturen mit jedem Meter, den sie näher herankamen, an Kontur gewannen und schließlich zu Gebäuden wurden. »Das ist die Station«, erklärte Maggie Conolly und beendete damit ihren unaufhörlichen Redefluß.
»Wo wollen Sie landen?« fragte Landru. »Da.« Ihr ausgestreckter Finger zeigte über die Schnauze der Cessna hinweg, mitten in das Weiß unter ihnen, das sich an dieser Stelle um keinen Deut vom Rest unterschied. Landru spürte etwas Kaltes über seinen Rücken kriechen. Auch nach Tausenden von Jahren hing er noch am Leben … Die Pilotin betätigte ein paar Schalter und Knöpfe, dann drückte sie den Steuerknüppel nach vorne, ein bißchen schneller und heftiger, als es für eine sanfte Landung angeraten schien. Die schneebedeckte Landschaft schien der Cessna entgegenzukippen, und plötzlich – sehr plötzlich – konnte Landru Details darin ausmachen. Verwehte Erhebungen, weiß getarnte Felsbrocken … Alles schien in geradezu rasantem Tempo zu wachsen, als das Flugzeug rasch tiefer ging. Und noch immer fand Landru da unten nichts, was einer Landepiste auch nur ähnelte. »Ach so«, bemerkte Maggie grinsend, »fast hätte ich es vergessen: Bitte stellen Sie das Rauchen ein und legen Sie die Sicherheitsgurte an.« Landru ertappte sich dabei, daß er tatsächlich eine Sekunde lang nach dem Gurt suchte, den es in dieser fliegenden Sardinendose natürlich nicht – oder wohl eher nicht mehr – gab. Als er Maggie Conollys belustigte Miene registrierte, notierte er sich in Gedanken, sich hinterher dafür zu revanchieren. Wenn ihm das Wunder eines Hinterhers vergönnt sein sollte … Ein Ruck ging durch die Cessna, der Landru nicht wegen seiner Heftigkeit, sondern allein wegen seines plötzlichen Auftretens überraschte. Er hatte nicht gemerkt, daß sie den Boden schon erreicht hatten, weil das Weiß ringsum Entfernungsschätzungen zum bloßen Ratespiel machte. Das Flugzeug hüpfte wie ein flacher Kiesel, den man übers Wasser warf, über das, was Maggie für eine Landebahn halten mochte.
Schnee und Eis stoben auf, hüllten die Cessna in blendend weiße Wolken, die die Sicht nicht einfach nur behinderten, sondern unmöglich machten. Landru wartete förmlich darauf, daß gleich ein sehr viel stärkerer Ruck die Maschine in ihre Einzelteile zerlegen würde. Als er ein gänsehauterzeugendes Knirschen vernahm und die Cessna spürbar »vom Kurs« abkam, war er überzeugt, daß es soweit war. Doch statt eine Warnung auszustoßen – die eh viel zu spät gekommen wäre –, beugte Maggie Conolly sich vor und schaltete die Motoren aus, wandte sich dann ihrem Passagier zu und strahlte ihn an. »Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, und ich würde mich freuen, Sie wieder an Bord von Conolly-Airlines begrüßen zu dürfen.« »Was bleibt mir anderes übrig?« knurrte Landru. Die glitzernden Schnee- und Eiskristalle senkten sich allmählich, und Landru erkannte, kaum einen Steinwurf entfernt, die Gebäude der Forschungsstation. Wie verlassen lag sie da, nichts rührte sich da drüben. Der Vampir hoffte, daß der Schein trog. Zum einen wollte er diesen Flug nicht umsonst gemacht haben. Zum anderen stand zu befürchten, daß wiederum Wochen verstreichen würden, ehe er eine neue Spur des Retortenvampirs fand – und damit zumindest den Ansatz einer Chance, das Fortbestehen ihrer Rasse zu sichern … »Verraten Sie mir jetzt endlich, was das FBI hier zu suchen hat?« fragte die Pilotin. Sie sah hinüber zu den Flachbauten, als fürchtete sie, dort drüben würden versteckte Schützen gleich das Feuer auf die Cessna eröffnen. »Nein.« »Nein?« echote Conolly enttäuscht. Landru hatte nicht vergessen, was er sich vor ein paar Minuten geschworen hatte, für den Fall, daß sie den Erdboden heil erreichen sollten. Ein dunkles Lächeln auf den Lippen beugte er sich zu der Pilotin hinüber, und ehe sie etwas tun oder auch nur sagen konnte,
hielt seine Hand ihr Kinn umfaßt und zwang sie, seinen Blick zu erwidern. Er knebelte ihren Geist gerade soweit, daß sie unterbewußt noch mitbekam, was geschah. Und er weidete sich förmlich an dem ängstlichen Flackern, das er hinter ihren blauen Augen fand. »Was …?« brachte sie mühsam und kaum noch verständlich hervor, ehe Landrus Zunge ihre Lippen verschloß. Sein Gesicht näherte sich ihrem Hals, und er lauschte dem Tosen ihres Blutes, das die Furcht regelrecht durch ihre Adern peitschte. Blut, das von Angst aufgewühlt wurde, war ein beinahe adäquater Ersatz für jenen Genuß, der nur im Moment höchster Erregung möglich war. Und Landru war versucht, davon zu kosten. Doch er versagte es sich. Den Trunk aus diesem Körper würde er sich aufheben. Für später, wenn er Maggie Conolly nicht mehr brauchte. Zuvor würde er ihr Blut so aufbereiten, daß sie glaubte, es müßte ihre Adern verbrennen. Und all das ließ er die junge Pilotin wissen, ehe er aus dem Flugzeug stieg und sie allein zurückließ. Allein mit ihrer Todesangst, deren Kälte die der eisigen Luft draußen um Längen schlug.
* Das dumpfe Donnern, mit dem Schnee von den Zweigen rutschte, und das geisterhafte Knacken, mit dem eisbeladene Äste brachen, erfüllten den dämmrigen Wald. Es waren neben seinem keuchenden Atem die einzigen Geräusche, die Benji Hosteen wahrnahm. Der kleine Inuit-Junge war auf Bärenjagd. In seiner kindlichen Vorstellung zumindest. Dennoch ging er mit dem Geschick eines erfahrenen Jägers vor.
Er hatte oft genug in der Runde der Alten gesessen, vor allem in den Winternächten, die kein Ende zu nehmen schienen. Dann erzählten sie von Zeiten, die lange zurücklagen und die sie doch nie ganz hinter sich gelassen hatten. Als ihr Volk noch nicht seßhaft gewesen war. Als es noch dem Zug der wandernden Karibu-Herden gefolgt war. Bevor der weiße Mann in ihr Land gekommen war und ihnen schließlich Orte zugewiesen hatte, an denen sie fortan zu wohnen hatten. Orte, die Beaver oder Venetie oder Arctic Village hießen – oder Nuiqtak, das Dorf am Colville River, wo auch Benji Hosteen zu Hause war. Der Junge war regelrecht aufgegangen in den Geschichten der Alten. Unsichtbar hatte er all jene Jagden miterlebt, von denen sie berichteten, ihre anstrengenden Wanderungen mitgemacht. Und auf diese Weise war er vielleicht ebenso eins geworden mit der Natur, wie seine Vorfahren es einmal gewesen waren. Jedenfalls war er ihr näher als andere Kinder seines Dorfes, die für die Erzählungen der Alten, wenn überhaupt, nur ein Lächeln übrig hatten. Benji verstand es, aus Holz, Knochen, Steinen und dem Elfenbein der Walrösser Werkzeuge und Waffen zu fertigen; er wußte, wie man aus Tierhäuten und Pflanzenfasern Kleidung, Zelte, Behälter, Seile und Decken machte; und er konnte aus Grassoden und den Stämmen von Sitkafichten und Hemlocktannen eine Hütte bauen. Was er auch schon bewiesen hatte, wenn auch nur sich selbst, denn die kleine Behausung inmitten des Waldes hütete Benji wie ein Geheimnis. Niemand wußte von ihrer Existenz, aber selbst die Alten hätten gestaunt, was er da vollbracht hatte. Vor einer Weile hatte der Junge die Hütte aufgesucht und sich dort für die »Jagd« bewaffnet: mit Pfeil und Bogen sowie einer kleinen Steinaxt, mit der er im Wurf auf zwanzig Meter Entfernung einen beindicken Baumstamm treffen konnte. Solchermaßen ausgerüstet strich Benji Hosteen nun durch den Wald, aus dem jetzt zur Winterszeit auch tagsüber die Dunkelheit nicht recht weichen wollte. Doch Benji hatte gelernt, sich nicht allein
auf seine Augen zu verlassen. Er nutzte all seine Sinne, während er durch das Dämmerlicht schlich, und er hätte seinen Weg auch bei völliger Dunkelheit gefunden. Genau daran mochte es wohl liegen, daß er von einer Sekunde zur anderen spürte, daß er nicht mehr allein war. Doch als er innehielt und mit Blicken um sich tastete, sah er niemanden. Natürlich war er auch zuvor nicht wirklich allein gewesen. Der Wald war voller Leben und schattenhafter Bewegung, aber dies alles war Teil des Waldes, dem sich auch Benji zugehörig fühlte. Die Veränderung jedoch, die er nun wahrnahm, war ungewohnt. Sie gehörte nicht hierher. Sie harmonierte nicht mit der Seele des Waldes, und Benji spürte dieses Andere wie einen lautlosen Mißton in einer Melodie, die nur sein Ohr auffangen konnte. Etwas erwachte in dem Jungen, etwas wie ein Instinkt, der in den meisten seiner Altersgenossen verkümmert war. Er verwandelte ihn fast, machte ihn zu einem jener Menschen, die vor langer Zeit in friedlicher Symbiose mit Flora und Fauna dieses Landes gelebt hatten. Lautlos, ohne sich dafür sonderlich anstrengen zu müssen, schlich er in einem Zickzackkurs dahin. So spürte Benji, wenn jenes Andere schwächer wurde, und konnte sofort die Laufrichtung ändern, bis er es wieder deutlicher wahrnahm. Er folgte einer fremden Witterung, getrieben von dem, was die Jäger einst ausgezeichnet hatte – und zu einem Gutteil auch von kindlicher Neugierde. Letzteres war es, was den Leichtsinn nährte. Ein wirklich erfahrener Jäger hätte sich nie und nimmer so leichtfertig etwas Unbekanntem genähert. Er wäre sich der potentiellen Gefahr bewußt gewesen, die in allem Fremden lauern konnte. Doch in dieser Hinsicht war Benji entscheidend benachteiligt, denn wahre Gefahr hatte er in seinem jungen Leben nicht kennengelernt. Noch nicht … Wieder und wieder verhielt der kleine Inuit, sah sich nach allen
Seiten um, griff mit Blicken in die Schatten zwischen den Bäumen und dem Gesträuch. Bis er auf einen stieß, den er nicht zu durchdringen vermochte! Einen Moment lang fürchtete Benji, tatsächlich auf einen Bären gestoßen zu sein, der sich auf die Hinterbeine erhoben hatte, um gleich zum Angriff überzugehen. Groß und mächtig war dieser Schatten, der im entfernten Dunkel stand. Doch er rührte sich nicht, und er gab auch keinen Laut von sich. Daß Benji trotzdem mit der Axt ausholte und sie warf, entsprang eher einem Reflex als seinem eigenen Willen. Ein dumpfer, unangenehm feuchter Laut bewies ihm, daß er getroffen hatte, was immer auch dort stand. Doch der Schatten schien Schmerzen nicht zu kennen, denn er ließ mit keiner Regung erkennen, daß er verletzt worden war. Benji biß die Zähne zusammen. Rasch nahm er den Bogen von der Schulter, zog fast in der gleichen Bewegung einen Pfeil aus dem ledernen Köcher und legte ihn auf die Sehne. Die Spitze des Pfeils wies auf den Schatten, als der Junge, noch immer vorsichtig und leise, weiterging. Das Gefühl des Fremdartigen wuchs in Benji zu etwas Frostigem, das jedes Organ wie mit Rauhreif umhüllte. Dennoch schaffte er es nicht, einfach stehenzubleiben. Fast war es, als zöge ihn das an, was dort im wattigen Dämmerlicht stand – und das sich nun doch endlich bewegte. Wenn es auch nur einen einzigen Schritt tat. Doch dieser Schritt brachte es heraus aus dem undurchschaubaren Schattengespinst. Benji sah es jetzt – und schrie auf! Es war kein Bär, auch sonst kein Tier. Obwohl es im allerersten Augenblick auch nicht wie ein Mensch aussah. Dann, als müßte sein Blick sich erst eine halbe Sekunde lang klä-
ren, erkannte der Junge, was ihm da entgegengetreten war. Ein Mann. Oder etwa nicht? Die Gestalt war nackt, und doch konnte Benji kein Geschlecht ausmachen. Doch im Moment war diese Feststellung allenfalls am Rande irritierend für den Jungen – denn das Gesicht des anderen schlug ihn förmlich in seinen Bann. Mehr noch – es entsetzte ihn! Es war kein Gesicht, sondern eine Fratze mit wulstiger Stirn und einem wie eine Wunde klaffenden Mund, in dem spitze Zähne blitzten. Strähniges Haar umgab das Gesicht wie schwarzes Gewürm. Und die Augen glühten wie im Widerschein eines niederbrennenden Feuers. In der Brust des Unheimlichen steckte die Steinaxt, doch es trat kaum Blut aus der Wunde. Und während Benji noch entsetzt starrte, packte das Wesen den Stiel der Axt, zog sie mit einem Ruck aus seinem Fleisch und ließ sie in den Schnee fallen. Die Wunde schloß sich, so schnell, daß Benji dabei zuschauen konnte. Nicht einmal eine schorfige Narbe blieb zurück. Eine ganze Weile standen Kind und Monstrum einander gegenüber, maßen sich mit Blicken; angsterfüllt die des einen, bannend die des anderen. Doch mit jeder Sekunde verlor sich die Furcht aus Benjis Blick, als würde sie durch ein Ventil abfließen – oder verdrängt von einer fremden Kraft. Und schließlich ließ der Junge Pfeil und Bogen achtlos fallen und trat auf den anderen zu. Es gab keinen Grund, dieses Wesen zu fürchten. Im Gegenteil … Auf einer tieferen Ebene seines Denkens, über die er noch verfügen durfte, wunderte der Junge sich, weshalb er nicht gleich darauf gekommen war, daß ihm mit dieser Begegnung etwas ganz Großes widerfuhr. Denn er kannte diese Gestalt aus den Geschichten der Alten.
Dieses Wesen war ohne jeden Zweifel – Tattu. Der zweigeschlechtliche Weltenschöpfer vom Anfang der Zeit. Sie würden Augen machen im Dorf, wenn er Tattu mitbrachte! Benji sah ehrfürchtig auf zu der großen Gestalt. Dann nahm er die totenkalte Hand des anderen und führte ihn nach Nuiqtak.
* Die Tür schwang auf, kaum daß Landru sie berührt hatte. Es kam ihm vor wie eine Einladung. Doch er trat nicht sofort ein. Auf der Schwelle blieb er stehen und sah den Flur entlang, der sich dahinter anschloß. Kahl und dunkel erstreckte er sich tief ins Innere des Hauptgebäudes. Türen unterschiedlicher Größe zweigten zu beiden Seiten ab, und am jenseitigen Ende des Baus gabelte sich der Korridor, um in die Nebengebäude weiterzuführen. Nichts rührte sich. Wahrhaftige Totenstille herrschte. Eine Stille, deren Wirkung sich selbst Landru nicht entziehen konnte. Sie ließ ihn zögern, weil sie jenseits des Eingangs wie eine massive Mauer stand, die ihn daran hinderte, einzutreten. Landru wußte nicht, was er vorzufinden erwartet hatte. Weil er nicht einmal wirklich darüber nachgedacht hatte. Es gab zuviel Unbekanntes in dieser Angelegenheit, so daß es sich nicht lohnte, vorauszuplanen oder sich über Eventualitäten den Kopf zu zerbrechen. Er wußte im Grunde nichts über die neue Rasse, mit deren Zucht Herak in Sydney begonnen hatte. Oder zumindest nichts über ihren tatsächlichen Werdegang. Die Information, daß es schon in Australien zu Schwierigkeiten gekommen war, war zu vage gewesen, um wirklich Aufschluß über die Entwicklung des Homunkulus zu geben. Was Landru schließlich in jenem Labor in New York vorgefunden
hatte, konnte schon eher Anlaß zur Sorge geben. Denn hier war mit Sicherheit etwas nicht so abgelaufen, wie es hatte ablaufen sollen. Doch Landru wußte nichts über die Hintergründe, und so versuchte er sich auch davon nicht verunsichern zu lassen. Es gab nur eines, was er tun konnte: Er mußte handeln und reagieren, wenn es erforderlich war. Und dazu mußte er zunächst einmal diese Station betreten. Langsam und wie gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfend ging Landru vor. Was Aurelius mit den Mitteln des FBI herausgefunden hatte, mußte nicht zwangsläufig bedeuten, daß der Weg des Retorten-Vampirs tatsächlich hierher geführt hatte. Aber die Wahrscheinlichkeit war sehr groß. Denn Alaska war bislang etwas wie eine »vampirfreie Zone« gewesen. Landru hatte dieses Land in seiner Eigenschaft als Kelchhüter nie bereist, um vampirischen Nachwuchs zu schaffen. Dazu war diese Ecke der Welt seinerzeit zu unbedeutend gewesen. Zwar war es denkbar, daß sich zwischenzeitlich Angehörige der Alten Rasse aus freien Stücken hier niedergelassen hatten, aber Landru schloß diese Möglichkeit nahezu aus. Er hätte mit großer Sicherheit davon erfahren, wenn es so gewesen wäre. Denn auf seiner fast dreihundert Jahre währenden Suche nach dem Lilienkelch hatte es kaum einen Flecken auf dem Globus gegeben, den er nicht betreten hätte – und ebensowenig etwas, das ihm nicht zu Ohren gekommen wäre. Spätestens nach jedem zweiten Schritt blieb Landru witternd stehen. Er versuchte etwas aufzuspüren. Eine verwandte Schwingung. Oder den Geruch des Todes. Aber er nahm nichts von all dem wahr. Als wäre die Station nicht einfach nur menschenleer, sondern völlig verlassen. Auch von jenem Wesen, dessentwegen er hier war. Der einstige Hüter öffnete jede der Türen zu beiden Seiten des
Ganges und warf einen gründlichen Blick in die zugehörigen Räume. Eine ganze Reihe davon waren unzweifelhaft Labors, angefüllt mit teils utopisch, teils aber auch ganz simpel aussehenden Gerätschaften und Instrumenten. Landru kannte die Funktion von beiden Gattungen nicht, obwohl er aus den Unterlagen, die er von Aurelius erhalten hatte, wußte, welcher Art die Forschungen waren, die hier betrieben wurden – oder vielmehr betrieben worden waren. Denn daß hier seit Tagen niemand mehr etwas angerührt hatte, war zwar nicht unbedingt offensichtlich – in der klaren Luft dauerte es Jahre, bis sich auch nur eine dünne Staubschicht über alles gebreitet hatte –, auf unbestimmbare Weise war es allerdings zu spüren. Vielleicht auch nur für ein Wesen wie Landru. Aber auch von der Gegenwart eines anderen Wesens konnte er nichts wahrnehmen. Dies konnte bedeuten, daß dieser Erste einer neuen Vampirrasse tatsächlich nicht oder nicht mehr hier war. Es konnte aber auch ein Zeichen dafür sein, daß diese neue Rasse um soviel anders war, daß keine Verwandtschaft zur Alten bestand … Und dieser Gedanke nagte in Landru; nicht schmerzhaft zwar, aber das Gefühl war doch lästig und unangenehm. Vor allem wenn Landru bedachte, was die Vermutung in der Konsequenz bedeuten konnte … Er erreichte das Ende des Korridors und entschied sich aus keinem besonderen Grund dazu, nach rechts zu gehen, wo der Gang nach ein paar Schritten einen scharfen Knick machte, um etwas verschmält weiterzuführen. Hier gab es nur Türen auf der rechten Seite. Dahinter lagen, wie Landru feststellte, die Quartiere der Wissenschaftler – allesamt verlassen. Der Vampir verzichtete darauf, sich in jedem davon näher umzusehen, nachdem er schon in den ersten beiden Zimmern nichts gefunden hatte, was ihn auf seiner Suche weiterbrachte.
Dieser Flur endete vor einer Tür, die sich von den anderen unterschied. Sie bestand aus Metall, und sie war abgeschlossen. Landru brauchte trotzdem nicht mehr als einen kräftigen Ruck, um sie zu öffnen. Hinter der Schwelle lag ein Raum, der so vollgestopft mit allen möglichen Dingen war, daß sich seine Größe nicht erkennen ließ. Ein Lager, oder eher noch eine Art Rumpelkammer. Zwischen den abgestellten Sachen – Geräte, Maschinen, Kleiderbündel und alles mögliche mehr – führten labyrinthartig verzweigte Gänge hindurch. Obwohl ihm das Licht, das durch zwei kleine Fenster in den Raum fiel, ausgereicht hätte, drückte Landru den Schalter neben der Tür. Diffuse Helligkeit legte sich über alles, und die Schatten, die darin entstanden, erschwerten die Sicht eher noch. Für ein paar Sekunden blieb Landru einen Schritt hinter der Schwelle stehen und lauschte, den Kopf leicht vorgereckt. Er konzentrierte seine Sinne auf etwas, das ihm schon im Moment des Eintretens aufgefallen war und von dem er sich jetzt überzeugte, daß es weder eine Täuschung noch etwas war, das von draußen hereindrang. Ein Klopfen. Ein regelmäßiges Pochen, dumpf wie das gleichförmige Schlagen eines – Herzens? Landru assoziierte das Geräusch automatisch mit Angst. Mit der Furcht eines Menschen, der sich hier in diesem Raum vor ihm verbarg. Doch er vermißte den dazugehörigen, nur für Vampire wahrnehmbaren süßen Duft von Blut … Landru ging weiter, die schmalen Wege zwischen den gelagerten Sachen entlang. Er orientierte sich an dem Geräusch, ging zurück, sobald es leiser wurde. Er mußte wegen der wirren Anordnung der Gänge regelrechte Umwege in Kauf nehmen, doch schließlich fand er die Quelle jenes Pochens. Sie lag in einer Nische zwischen zwei mannshohen Holzkisten und
mußte für menschliche Augen unsichtbar sein in den nistenden Schatten. Landru fühlte ein wirres Konglomerat von Empfindungen in sich aufsteigen. Es war kein Mensch, den er hier entdeckt hatte. Damit hatte er auch nicht wirklich gerechnet, und er sich nicht sicher, ob er sich überhaupt Vorstellungen von dem gemacht hatte, worauf er treffen könnte. Das hatte er jedenfalls nicht erwartet. Es war ein – Ei. So sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Wie ein großes schwarzes Ei. Erst auf den zweiten wurde ein nur ei-ähnliches Gebilde daraus, das mehr einer Avocado ähnelte. Etwa hüfthoch, mit einer Schale aus glänzendem, seltsam festen Schleim, der von dunklen Strängen durchzogen wurde. Und diese Stränge, in denen eindeutig etwas floß, waren es auch, die das dumpfe Pochen aussandten … Landru kam nicht mehr dazu, sich näher mit dem widerlichen Ding zu befassen. Hinter ihm geschah etwas, das ihn ablenkte. Geräusche. Schritte! Er fuhr herum. Und erstarrte, noch ehe er die Drehung ganz beendet hatte. Ohne ihm je gegenüber gestanden zu haben, wußte er, wen er da vor sich hatte. Die elfenbeinfarbenen Zähne, die unter der Oberlippe des Anderen hervorragten, verrieten die Herkunft des Geschöpfs. Sie und das fehlende Geschlecht … Erspüren konnte Landru die Präsenz des anderen Vampirs jedoch noch immer nicht. Sie entstammten nicht verschiedenen Generationen ein- und desselben Volkes. Landrus Ahnung verdichtete sich zu Gewißheit. Sie waren Ange-
hörige zweier verschiedener Rassen. Zweier Rassen, die einander fremd waren. Fremd – und feindlich gesonnen? Denn das war etwas, das Landru fühlen konnte: die Feindseligkeit des anderen. Sie schlug ihm entgegen wie stinkender Brodem. Und darin verbarg sich noch etwas – das fühlbare Wissen, daß der andere nichts neben sich duldete, was nicht von seiner Art war. Alles, was anders war als er selbst, taugte nur als Nahrung. Und wenn nicht dazu, dann eben nur zum Sterben. Tod lag in der Luft, fast wie etwas Greifbares. Landru konnte ihn sogar riechen. Den Duft des Todes, den Geruch von Verwesung. Er wehte jenen voran, die sich nun aus dem Sichtschutz von Kisten und Stapeln lösten und an die Seite ihres Herrn traten. Untote. Dienerkreaturen des Homunkulus. Sie waren spürbar bereit, alles zu tun, was er ihnen befahl. Und er gab ihnen einen Befehl. »Tötet ihn!«
* Eine dünne Rauchsäule stieg kerzengerade von der offenen Feuerstelle in der Mitte des Raumes auf und verschwand durch eine kleine Öffnung im gewölbten Dach der Hütte. Kleine, kaum fingerlange Flammen tanzten auf dem Holz in dem runden Loch im Boden, und sie und die wabernde Glut darunter waren die einzige Lichtquelle in der Hütte. In ihrem diffusen, flackernden Schein zeichneten sich zwei Schatten an den Wänden ab. Obwohl es drei Gestalten waren, die um die Feuerstelle herum saßen. Ein kleiner Junge, ein großer nackter Mann und ein weiterer, der so gebeugt dahockte, als lasteten die vielen Jahre, die sein Leben schon währte, wie ein tatsächliches Gewicht auf ihm. Das Faltenge-
wirr seines Gesichts sah aus wie mit einem Messer in die ledrige Haut geschnitzt, und der Widerschein des Feuers vertiefte die Falten zu kleinen Gräben und machte aus den Frostnarben schroffe Grate. Benji Hosteen hatte das fremde Wesen nicht, wie er es zuerst vorgehabt hatte, öffentlich durch das Dorf geführt. Auf dem Weg hierher hatte Tattu stumme Zwiesprache mit ihm gehalten, hatte vieles über den Ort, zu dem sie unterwegs waren, wissen wollen, und so war die »Rede« auch auf Maniilaq gekommen, den Ältesten des Dorfes, den Angatkuq. Er war es, den Tattu hatte kennenlernen wollen. Und so hatte Benji den Nackten im Schutz des Waldes um den Ort herumgeführt bis zur Hütte des Schamanen, die fast am Rande des Dorfes lag. Das dämmrige Licht hatte sie zusätzlich vor Entdeckung geschützt, und nun saßen sie hier in der Hütte des Alten. Maniilaq hatte die Begegnung mit dem zweigeschlechtlichen Weltenschöpfer fast teilnahmslos hingenommen. Benji war darüber ein klein wenig enttäuscht gewesen, doch er tröstete sich damit, daß die Überraschung in den Zügen des Alten wohl von dessen Falten verschluckt worden war. Seit sie am Feuer Platz genommen hatten, war kein Wort mehr gefallen. Das Knistern des brennenden Holzes war seit Minuten das einzige Geräusch in der Hütte. Nun brach Maniilaq das Schweigen. Er wandte den Blick der schmalen Augen von den Flammen und der Glut ab und sah zu dem Wesen hin, das der Junge zu ihm geführt hatte. »Wenn du der Weltenschöpfer bist, aus welchem Grund bist du dann zurückgekehrt, nachdem dein Werk lange schon vollbracht ist?« fragte der Schamane mit rauchiger Stimme. Der Vampir sah weiter in die Flammen hinein, und das Glosen der Glut spiegelte sich in seinen Augen wider. »Weil es die Welt neu zu schaffen gilt«, antwortete er nach einer Weile. »Weil ein neues Volk sich aufmachen wird, sie sich Untertan
zu machen.« »Ein neues Volk?« fragte Maniilaq. Der Vampir nickte. »Mein Volk.« Tattu … Der Name gefiel ihm. Und er hatte von dem kleinen Jungen viel erfahren über dieses Wesen. Er hatte Parallelen entdeckt zwischen sich und dem mythischen Weltenschöpfer. Und es gefiel ihm, daß der Junge und auch der Alte ihn tatsächlich für den zurückgekehrten Tattu hielten. Dies war eine Sache, die er sich zunutze machen konnte – obwohl er bis vor kurzem noch nicht einmal gewußt hatte, was es hieß, sich »etwas zunutze zu machen« … Doch das Wissen darüber war in ihm gewesen, als er es gebraucht hatte. Wie alles in ihm war, stets in dem Moment, da er es brauchte … »Dein Volk?« fragte Maniilaq. »Du hast … Nachkommen?« »Nicht wirklich Nachkommen. Sie sind wie ich. Brüder.« »Dann müssen es Götter sein«, flüsterte der Schamane. »Götter …«, echote »Tattu«, und ein Lächeln machte seine Visage noch häßlicher. »Ja, wir sind Götter. Geboren, um zu herrschen.« »Was wird mit all den anderen Völkern, die auf der Welt leben?« Benji hatte die Frage gestellt, und in seiner Stimme schwang ein ängstlicher Tonfall mit, der ihn beinahe selbst erstaunte. Er hatte all die Zeit über keine Furcht verspürt, obwohl allein der Anblick dieser … Kreatur fürchterlich genug war, um mehr als nur Angst heraufzubeschwören. Doch was immer die Angst in Benji bislang bezähmt und unterdrückt hatte, es verlor mit einemmal an Macht – – solange, bis das Wesen ihn ansah. Etwas geschah. Ein Lächeln spielte wieder um Benjis Lippen, und er sah den anderen strahlend an. Tattu … »Sie werden sterben«, antwortete der Vampir. »Natürlich«, erwiderte Benji. Was sollten jene Völker auch anderes
tun als sterben, wenn Tattu und seine Brüder die Welt für sich beanspruchten? »Wo sind deine Brüder?« fragte Maniilaq. »In mir.« Der Angatkuq sah den Nackten nur an, stummes Nichtverstehen im Blick. »Ich zeige es dir«, sagte der Vampir. Er erhob sich und trat etwas vor, so daß sowohl Maniilaq als auch der Junge ihn genau beobachten konnten. Dann ging er in die Hocke nieder, verschränkte die Arme über den Knien und barg den Kopf darin. Lange Zeit geschah nichts. Minuten vergingen, reihten sich aneinander, bis eine halbe Stunde daraus wurde, in der Maniilaq und der Junge nichts anderes taten, als starr dazusitzen und den Nackten im Blick zu behalten. Dann hob ein schauerliches Stöhnen an, wie das eines Mannes, der schwerste Arbeit zu verrichten hatten. Es wehte gespenstisch durch die Hütte, und obwohl Tattu es ausstoßen mußte, schien es von überall her zu kommen. Als wäre alles um sie herum zu Leben erwacht. Doch das war erst der Anfang. Der Vampir veränderte sich. Erst sah es wie eine Täuschung aus, hervorgerufen vielleicht vom Spiel von Licht und Schatten. Der gebeugte Rücken Tattus begann sich zu bewegen. Als wäre etwas unter seiner Haut, etwas, das sich sammelte und schließlich vereinte, zusammenballte – und wuchs! Wie eine Geschwulst wucherte es unter der Haut des Vampirs, blähte sich pulsierend, und ein seltsames Knirschen war zu hören, als die Haut sich auf unmögliche Weise dehnte, so sehr, daß sie platzen mußte. Was sie schließlich auch tat. Entlang des Rückgrats schnappte die bleiche Haut auf wie an einer
Naht und entließ, was darunter gewuchert war. Ein eiförmiges Gebilde, schleimig und von dunklen Adern überzogen. Eine Sekunde lang lag es noch auf Tattus Rücken, dann rollte es herab und landete mit einem feuchten Laut auf dem Boden. Ein dumpfes Pochen füllte die Hütte. Die Wunde des Vampirs schloß sich, als würden unsichtbare Hände die Hautlappen zusammenpressen, bis sie wieder miteinander verwuchsen. Dann erhob der Nackte sich, um sich zwischen dem Schamanen und dem Jungen niederzulassen. Er wies auf das, was er geboren hatte. »Darin schläft mein Bruder. Eure Aufgabe soll es sein, ihn zu hüten«, erklärte er, und die beiden nickten stumm. Der Vampir fuhr an Maniilaq gewandt fort: »Gibt es mehr von deiner Art an diesem Ort?« »Von meiner Art?« »Menschen, die zu glauben bereit sind«, präzisierte Tattu. Der Schamane nickte. »Die Alten glauben an jene Dinge, die einst Bestand hatten. Die Jungen lachen nur noch darüber.« Maniilaq ließ den schleimglänzenden, pulsierenden Kokon nicht aus den Augen, während er antwortete. Die Faszination schien ihm ein paar der Jahre, die auf ihm lasteten, zu nehmen, seine Züge schienen sich ein klein wenig zu glätten. »Holt sie herbei«, befahl der Vampir. »Sie sollen die Diener der neuen Götter werden.« »Es wird ihnen eine Ehre sein«, hauchte Maniilaq. Dann sah er zu Benji hin. »Geh, Junge, hole die Alten des Dorfes. Sag ihnen, daß die Zeit von neuem beginnt.« Der Junge stand auf und wollte hinausgehen, um zu tun, wie ihm geheißen ward. Doch der Vampir hielt ihn an der Hand zurück und zwang ihn zu sich herab. Er umfaßte Benjis Nacken und zog ihn nä-
her. Dann öffnete er das Maul und senkte seine Zähne in die Schlagader des Jungen, um daraus zu trinken, viel mehr aber noch, um etwas hineinzupflanzen. Als er von ihm abließ, hatte sich der Ausdruck in Benjis Gesicht abermals verändert. Das Lächeln war noch da, aber es sah aus wie aufgemalt. Und der Glanz in seinen Augen war trübe geworden. »Nun geh«, sagte der Vampir. »Ja, Herr«, erwiderte der Junge und verschwand. »Was war das?« wollte Maniilaq wissen. Der Vampir lächelte grausam. »Sicher ist sicher.«
* Verwesungsgestank schlug über Landru zusammen wie eine Woge, als die Dienerkreaturen näherrückten. Sie taten es steif und ungelenk, dennoch verrieten ihre Bewegungen eine Kraft, über die sie als Menschen gewiß nicht verfügt hatten. Aber es war nicht die Gefahr, die für ihn in dieser kollektiven Bewegung lag, die Landru entsetzte. Sondern die Tatsache, daß sich auch die Diener dieser neuen Rasse um so vieles von denen der Alten unterschieden. Er sah sich tumben Kreaturen gegenüber, die den Funken Leben, der ihnen geschenkt worden war, nicht wert waren. Sie waren zu nichts nutze. Mit Hilfe solcher Gestalten war die Stellung der Alten Rasse nicht zu festigen. Es war undenkbar, sie an verantwortlichen Positionen im Machtgefüge der Welt einzusetzen. Die Diener des Homunkulus waren – Zombies. Nichts weiter. Ihn zu töten hatte ihr Herr ihnen befohlen. Und sie gehorchten. Oder wollten es zumindest. Landru trat ein paar Schritte zur Seite; nicht um zu flüchten, sondern um mehr Raum zu haben. Dann erwartete er die Angreifer in
kalter Gelassenheit, während der Retorten-Vampir selbst unverändert stehenblieb und beobachtete. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, gegen wen er seine Kreaturen da vorschickte. Als sie zum Angriff übergingen, wurden ihre Bewegungen ein kleines bißchen geschmeidiger. Der erste warf sich vor, direkt auf Landru zu. Der Vampir fing den Gegner im Sprung ab und drehte ihm mit einer routinierten Bewegung das Gesicht auf den Rücken. Das Geräusch seines brechenden Genicks schien seinen Artgenossen als Startschuß zu gelten. Denn nun versuchten sie es gemeinsam. Wie ein Mann stürzten sie sich auf den Vampir. Und obwohl jeder einzelne kaum eine Chance gegen Landru gehabt hätte, schafften sie es gemeinsam, ihn niederzuringen. Es hatte nichts mit Kraft oder Geschicklichkeit zu tun, doch Landru besaß nur zwei Hände, um sich vieler zu erwehren, die an ihm zogen und zerrten. Ein Knäuel von Leibern begrub ihn regelrecht, und aus dem Gewirr von Leibern tasteten kalte Klauen nach seinem Gesicht und schafften es schließlich, sich um seinen Kopf zu legen – – und ihn zu drehen! Mit einem Ruck fühlte Landru seinen Kopf herumgerissen, und ein Schmerz, den er noch nicht spüren konnte, raste von seinem Nacken das Rückgrat hinab. Doch dieser imaginäre Schmerz war es, der auslöste, was Landru in der nächsten Sekunde willentlich getan hätte. Der Berg von Leibern schien zu explodieren! Und daraus erhob sich ein brüllendes Wesen, das nur noch entfernte Ähnlichkeit mit Landru hatte. Das Gesicht war vor Wut zur Fratze entstellt. Bis dahin im Zaum gehaltene Kräfte durchliefen zuckend jeden Muskel seines Körpers und formten ihn fast neu, bis er eher der eines Monstrums als der eines Menschen war. Arme wirbelten, Klauen blitzten auf, fuhren in untote Körper, zer-
rissen sie. Doch es spritzte kein Blut mehr aus den Leibern der Zombies. Landru beschränkte sich nicht darauf, ihnen die Hälse zu brechen, denn er wollte sie nicht einfach nur erlösen. Er wollte ein Exempel statuieren. Um zu zeigen, welcher Rasse diese Welt gehörte. Seine messerscharfen Krallen hatten eine fürchterliche Wirkung. Er hörte nicht auf, die Körper zu verwüsten, selbst als sie längst vollends tot zu seinen Füßen lagen. Das schwarze Blut toste in seinen Adern; sein Atem ging schwer, als er sich endlich aufrichtete. Die Bestie zog sich nur zögernd aus seinen Zügen zurück. Sein Blick suchte den Homunkulus, doch er fand ihn nicht. Aber er war noch da. Hinter ihm! Landru hatte ihn wiederum nicht spüren können, doch er spürte den derben Stoß, der ihn taumeln ließ und schließlich zu Fall brachte. Er stürzte in die feuchten, stinkenden Reste, die von den Dienerkreaturen übriggeblieben waren. Noch im Fallen drehte Landru sich, kam auf dem Rücken auf. Doch da war der andere schon über ihm. Sein Gewicht nagelte den einstigen Kelchhüter förmlich am Boden fest. Und eine ewig lange Sekunde konnte Landru absolut nichts zu seiner Gegenwehr unternehmen. Denn es gab ein Entsetzen, das stark genug war, selbst ihn zu lähmen.
* Er war der Dritte einer neuen Rasse. Doch das wußte er nicht. Die Zahl der Gedanken in ihm war noch gering. Wie sie es bei ei-
nem Neugeborenen eben waren. Sie beschränkten sich auf das Notwendigste. Und das hieß in seinem Fall: auf das Stillen seines Durstes. Denn nur dann würde er zu Kräften kommen, erstarken, wachsen. Und in der Lage sein, neue Gedanken zu denken, neues Wissen, das noch brachlag in ihm, zu nutzen. Weiße Wirbel tanzten um seinen Körper, legten sich auf seine bleiche Haut, ohne zu schmelzen. Er war schon vor einer Weile aus der Station in das Schneetreiben getreten. Er wußte, daß hinter ihm, in den Gebäuden, etwas geschah. Doch es kümmerte ihn nicht. Etwas hatte ihn hier heraus gelockt. Eine Witterung. Ein Geruch. Der Geruch von Blut … Alles ringsum war weiß. Oder …? In einiger Entfernung erhob sich etwas Graues, ein langgestreckter Schatten mit weit ausgebreiteten, gewaltigen Armen … Was ein Flugzeug war, wußte der Homunkulus nicht. Aber er spürte, daß die Witterung von dort kam, und ging näher. Nicht zögernd oder vorsichtig. Es gab nichts, was ihm gefährlich werden konnte. Und diese Information war ein Teil des Wissens, das in ihm war und sich Stück für Stück offenbarte. Vor der Cessna blieb der Vampir stehen. Er sah in die dunklen, gläsernen Augen, die das Cockpit für ihn waren, und er entdeckte etwas dahinter. Etwas, das sich bewegte … und nach Blut duftete. Der nackte Homunkulus trat näher. Auch hier war über dem Metall Glas, und dahinter sah er die Bewegung jetzt deutlicher. Ein Gesicht, weit aufgerissene Augen, die ihn anstarrten, ein Mund, der sich zu einem Schrei öffnete, als er den seinen vor Gier aufriß. Die Fäuste des Vampirs stießen durch das Glas und bekamen Maggie Conolly zu packen. Er zerrte ihren Körper aus dem zerbrochenen Fenster und zog ihn an sich. Brutal krallte er eine Hand in ihr kurzes Haar, riß ihren Kopf zurück, so daß die Haut ihres Halses
sich straff spannte. Es knirschte leise, als er seine Hauer nicht einfach hineingrub, sondern schlug. Der Vampir saugte das dampfende Rot gierig in sich auf und ließ die Pilotin erst los, als kein Tropfen mehr in ihr war. Bleich und tot fiel sie in den Schnee. Der Homunkulus fühlte, wie der Trunk ihn vitalisierte, wie die Kraft darin seine eigene weckte. Doch er kam nicht dazu, sie in irgendeiner Weise zu nutzen. Nur eine Erfahrung durfte er noch machen. Er lernte, was Schmerz bedeutete. Er spürte ihn an seinem eigenen Hals, kurz und stechend. Und dann nichts mehr.
* Was Landru über sich sah, war nicht mehr der nackte Homunkulus, dem er vorhin gegenübergestanden hatte. Es war ein Monster, tausendmal schlimmer anzusehen als jenes, in das Landru sich eben verwandelt hatte. Die Haut des ungestalten Körpers glänzte schleimig feucht wie die jenes pulsierenden Kokons, und das Gesicht sah aus, als hätte es sich in das eines Wolfes verwandeln sollen, wäre aber mittendrin zu etwas anderem geworden. Die Mundpartie wölbte sich weit vor, und die Reißzähne darin waren so groß, daß die Kiefer sich nicht mehr zu schließen vermochten. Die Augen waren zu rotglühenden Kohlestücken geworden, deren Hitze Landru sengend heiß über sein Gesicht streichen spürte. Vielleicht war es dieser Hauch, vielleicht auch nur ein Reflex, den er so lange nicht mehr genutzt hatte, daß er ihn fast vergessen hatte – jedenfalls kehrte die Bestie in Landru aus den Kerkern zurück, in die sie sich eben zurückgezogen hatte. Und sie beherrschte sein Denken und Handeln, als die monströsen Hauer des Homunkulus nach
seinem Gesicht schnappten, um es zu zerreißen. Landru stieß den anderen von sich und kam in der gleichen Bewegung hoch. Er setzte dem Retorten-Monster nach, die Klauen vorgereckt, um sie in den vom Schleim dunklen Leib zu stoßen. Doch der andere vollführte eine Bewegung, die Landru im Sprung traf und zur Seite stieß. Er prallte gegen etwas Weiches, stürzte und hörte ein feuchtes Platzen direkt neben seinem Ohr. Und dann sah er, wogegen er gestoßen war. Das Ei. Es hatte seine Landung abgefangen, aber die Wucht des Aufpralls hatte den Kokon zerstört. Die Haut und Adern rissen, stinkende Schwärze besudelte Landru, der wie gebannt auf das – unfertige Ding starrte, das nun offen vor ihm lag. Ein ungeborener Homunkulus. Zusammengekrümmt wie ein menschlicher Fötus, nur größer – und häßlicher! Aber er lebte. Er bewegte sich! Er gab seine kauernde Haltung auf, wollte auf Landru zukriechen und schlug mit fingerlosen Ärmchen nach demjenigen, der seine Ruhe gestört hatte. Landru überwand Entsetzen und Ekel, packte das Ding – und zerriß es! Nicht aus purer Lust am Töten, sondern aus einer Ahnung heraus. Und sie erfüllte sich. Das Monster, zu dem der andere Vampir mutiert war, brüllte und bäumte sich auf, als sein ungeborener Artgenosse starb. Zumindest dies hatten ihre beiden Rassen gemeinsam. Den Todesimpuls. Sie spürten, wenn einer starb, der von ihrem Blute war. Und bei der neuen Rasse schien dieser Impuls ungleich stärker zu sein, wie Landru feststellte. Denn der Genvampir wand sich regelrecht vor Schmerz. Daß im gleichen Augenblick auch draußen vor der Station ein An-
gehöriger der neuen Rasse verging, wußte Landru nicht … Er ergriff die Chance, auf die er gehofft hatte. Er nutzte die Ablenkung des anderen, um sich abermals auf ihn zu stürzen. Und wenn Landru zuvor schon wie vom Irrsinn befallen gewütet hatte, so tobte er nun einem Berserker gleich. Er ließ nichts, gar nichts über vom Leib des Retorten-Vampirs übrig … Als Landru erschöpft innehielt, ging sein Blick wieder hinüber zu der Stelle, an der er das Wesen aus dem Ei getötet hatte. Und der Anblick erfüllte ihn mit etwas, das er lange nicht gespürt hatte. Mit Angst. Was, wenn es solche Eier auch noch anderswo gab? Oder wenn hier schon weitere Vampire »geschlüpft« waren, die bereits das Weite gesucht hatten, um sich anderswo zu vermehren und nach Nahrung umzutun? Landru wußte, daß seine Suche noch nicht vorbei war. Nur ihr Zweck hatte sich geändert. Er war nicht länger unterwegs, um etwas zu finden, das seinem Volk neuen Nachwuchs bedeuten konnte. Jetzt ging es nur noch darum, zu vernichten, was den kläglichen Überresten der Alten Rasse gefährlicher werden konnte als alles, was sie je zuvor bedroht hatte. Nachdem er auch alle weiteren Räume durchsucht und weder einen weiteren Genvampir noch deren Brut gefunden hatte, verließ Landru mit schweren Schritten die Station. Vor dem Eingang blieb er kurz stehen, und für einen Augenblick trat der Wolf in ihm zutage. Landru nutzte die Fähigkeit jenes Tieres, um zu wittern. Und zu seinem Erstaunen nahm er etwas wahr, das ihm in seiner menschlichen Gestalt entgangen war. Er fand eine Spur. Eine Fährte, die hinaus in die schneebedeckte Weite führte … Seine Befürchtung bewahrheitete sich. Die Suche nach dem Genvampir war nicht länger Suche – sie wurde zur Jagd.
Landru wandte sich in Richtung des Flugzeugs. Bereits auf halbem Wege dorthin sah er die beiden dunklen Erhebungen im Schnee. Zwei leblose Körper … Der Vampir rannte und blieb schließlich wie vor eine unsichtbare Wand gelaufen stehen. Der eine Leichnam war der von Maggie Conolly. Er sah die blutumkrusteten Male auf ihrem Hals. Doch sie würde sich nicht zur Dienerkreatur erheben. Jemand hatte ihr vorsorglich das Genick gebrochen. Aber es war nicht der Anblick der Pilotin, der ihn entsetzte, sondern der des anderen Toten. Es handelte sich um einen weiteren Angehörigen der neuen Rasse. Und auch seine Kehle wies die Male eines Vampirbisses auf. Jemand hatte ihm sein schwarzes Blut ausgesaugt!
* Landrus Blick glitt über die weiße Landschaft ringsum. Doch er entdeckte weder eine Bewegung noch einen Schatten oder sonst etwas, was nicht hierher gehört hatte. Er lauschte und witterte – nichts. Wer hatte den Vampir getötet? Die Frage blieb unbeantwortet. Landru hatte nie ein Wesen kennengelernt, das sich von schwarzem Blut ernährte. Und er hatte viele sonderbare Kreaturen getroffen in seinem nach Jahrtausenden zählenden Leben. Konnte es sein, daß ein Artgenosse des Retorten-Vampirs über diesen hier hergefallen war? Tranken sie alles Blut, egal, von welcher Farbe es war? Landru mochte die Möglichkeit nicht ausschließen, auch wenn er sie für unwahrscheinlich hielt. Schon deshalb, weil, wäre es so gewesen, der überlebende Vampir wohl auch über ihn hergefallen wäre.
Minuten verstrichen, in denen Landru nichts anderes tat, als seine Umgebung aufmerksam zu beobachten. Aber er fand nichts, was sein Mißtrauen erregt hätte. Und es fiel ihm nichts ein, womit er das Rätsel hätte lösen können. Und so blieb ihm nur eines zu tun. Jener anderen Fährte zu folgen, um weiteren Schaden zu verhindern. Schaden, der in seiner Tragweite den völligen Untergang der Alten Rasse bedeuten konnte. Wenig später hetzte ein grauer Wolf hinaus in die verschneite Tundra. Und hoch über ihm und in sicherer Entfernung folgte ein dunkles, kleines Etwas seinem Weg.
* Niemand im Dorf hatte sich darüber gewundert, daß sich die Alten alle zugleich auf den Weg zur Hütte des Angatkuq gemacht hatten. Sie trafen sich häufig dort, und es war auch nichts Ungewohntes daran, daß Benji Hosteen in ihrer Mitte war. Nur gelächelt hatten jene, die Zeuge des prozessionsartigen Zuges geworden waren. Spöttisch die einen, bedauernd die anderen. Verständnis hatte keiner für diese Ewiggestrigen, die sich verzweifelt an nutz- und sinnlos gewordene Traditionen und Werte klammerten, als wäre ein Leben im Heute nicht möglich. Schade nur, dachten einige, daß sie den Jungen mit ihren Spinnereien schon angesteckt hatten. So schwand die Chance, daß mit dem Tod der Alten die Vergangenheit endgültig zu Grabe getragen werden konnte … In der Hütte des Schamanen hatten sich – den Jungen und Maniilaq selbst nicht gezählt – zwölf Menschen versammelt. In weitem Kreis saßen sie um das Feuer herum, und in der Mitte der Runde stand der Nackte.
Tattu … Jeden einzelnen hatte der Weltenschöpfer persönlich willkommen geheißen, und sein glosender Blick hatte jeden Zweifel in ihnen erstickt, daß er nicht jenes zweigeschlechtliche Wesen sein könnte, von dem die Geschichten der Ahnen berichteten. Der Grund seiner Wiederkehr lag auf der Hand. Die Welt, die Tattu einst geschaffen hatte, war nicht länger gut. Die Alten hatten es seit jener Zeit gewußt, da die Naluaqmius, die weißen Männer, in ihr Land gekommen waren. Sie hatten es geplündert und geschändet, Tattus Schöpfung verhöhnt. Daß er sie ihnen fortnahm, um sie mit seinem eigenen Volk neu zu beleben, war nur verständlich. Und daß sie selbst zu Dienern dieses neuen Volkes erhoben wurden, war den Alten nicht nur eine Ehre, sondern zugleich eine Bestätigung dafür, daß es richtig gewesen war, all die langen Jahre an der Vergangenheit festzuhalten. Wenn man es recht bedachte, wurden sie sogar zu mehr als Dienern – zu Brüdern. Denn Tattu nahm vom Blut eines jeden, und damit verband sie etwas mit dem Weltenschöpfer, das nichts zu trennen vermochte. Nur der Tod. Aber der Gedanke an Tod war etwas, das fast augenblicklich, nachdem Tattu von ihnen getrunken hatte, verblaßte. Starr und gebannt lauschten sie seinen Worten. Er erzählte von einer Zukunft, die nur jenen düster erscheinen konnte, die Schuld auf sich geladen hatten und die nun mit ihrem Leben für den Frevel wider aller Tradition büßen mußten. Die Alten sahen, daß es gut war, und nickten. Sie erfuhren, was Tattu von ihnen verlangte, und sie waren bereit dazu. Stunden verrannen. Stunden, in denen Tattu weitere Brüder gebar. Sie lagen noch im Schutz von Kokons, und ein jeder der Alten hatte einen dieser Kokons mitzunehmen, um ihn zu hüten und darauf zu achten, daß nichts und niemand ihm zu nahe kam.
Während Tattu müde von seinem Schöpfungswerk in der Hütte des Schamanen ruhte, nahmen die Alten ihre Geschenke auf und gingen. Die Nacht, die sich fast schon ihrem Ende zuneigte, verbarg sie vor den Blicken jener, die als erste sterben würden. Nur Maniilaq und Benji blieben zurück. Sie wachten über Tattus Schlaf. Sorgten dafür, daß er zu neuen Kräften kam. Gaben ihm zu trinken, wenn den Vampir danach verlangte.
* In einem fort änderte der Wind seine Stärke. In der einen Sekunde strich er als sanfte Brise über die Tundra, in der nächsten war er der stürmische Atem eines unsichtbaren Riesen, um dann übergangslos fast vollends einzuschlafen. Der pelzige Körper flatterte deswegen wie taumelnd durch die Luft, und das ewige Auf und Ab zehrte zusätzlich zu der weiten Strecke an den Kräften der Fledermaus. Lilith Eden hatte ihr Blut gewiß schon tausendmal verflucht, weil es zur Hälfte das eines Vampirs war. Doch jetzt, hoch über der tiefverschneiten Tundra Nordalaskas, wünschte sie sich, zur Gänze Vampir zu sein. Dann hätte auch sie sich in ein Tier verwandeln können wie jenes, dessen Spur sie in sicherer Entfernung folgte – in einen Wolf. Wie Landru. So aber war ihr nur die Transformation zur Fledermaus möglich. Und als solche bedeutete der scheinbar endlose Weg einen Kraftakt, der kaum zu bewältigen war. Jeder einzelne Flügelschlag fraß spürbar an ihren Kräften, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis Lilith jene geheimen Reserven antasten mußte, über die wohl jedes Wesen verfügte und die nur dann nutzbar wurden, wenn scheinbar nichts mehr ging.
Jetzt beglückwünschte sie sich dazu, den Retorten-Vampir vor der Station ausgesogen zu haben bis zum letzten Tropfen, obwohl sie schon von der Hälfte seines schwarzen Blutes satt gewesen war. Es hatte fürchterlich geschmeckt, künstlich eben, aber sie hatte sich selbst daran erinnert, daß es womöglich lange dauern konnte, bis sie ein neues vampirisches Opfer fand. Eine »Quelle«, aus der sie jenes Elixier trinken konnte, das sie in dem Maße kräftigte, wie es früher menschliches Blut getan hatte. Und das sie so nötig brauchte, wie ein Mensch Nahrung zu sich nehmen mußte. Also hatte sie den Homunkulus förmlich leergesoffen, obwohl ihr beinahe schlecht davon geworden war. Aber Lilith hatte neben allem Ekel festgestellt, daß dieses »Blut aus der Retorte«, so wenig wohlschmeckend es auch gewesen sein mochte, sie mehr gestärkt hatte als echtes Vampirblut. Als wäre es ein Konzentrat all dessen, was an Nahrhaftem im schwarzen Blut der Alten Rasse steckte. Wäre dem nicht so gewesen, hätten ihre Kräfte wohl längst schon nachgelassen. Jeder Flügelschlag schmerzte, und es lag nicht allein an der schwindenden Kraft. Lilith war keineswegs derart gefeit gegen Kälte wie die Angehörigen ihres Stiefvolkes. Ihr Blut war warm, ihr Körper nicht tot, und so machte ihr die schneidende Kälte arg zu schaffen. Wie mit eisigen Zähnen biß sie sich in ihrer Haut fest, um an Wärme herauszusaugen, was sie nur irgend fand. Lilith versuchte sich abzulenken. Denn jeder Gedanke, den sie an diese Qualen verschwendete, forcierte die Pein nur noch. Und so ließ sie ihrer Erinnerung das Kommando über ihr Denken, dachte daran zurück, was diesem Höllenflug über Alaska vorausgegangen war … Begonnen hatte es damit, daß Lilith sich darauf besonnen hatte, weswegen sie überhaupt in die Vereinigten Staaten von Amerika gereist war. Von Sydney aus war sie der Spur des Genvampirs gefolgt, den die dortige Sippe gezüchtet und schließlich nach New York verbracht hatte.
Dort aber hatten sich im Laufe der folgenden Wochen die Ereignisse schier überschlagen, und darüber hatte Lilith nicht nur die Spur des künstlichen Vampirs verloren, sondern ihn beinahe sogar vergessen. Zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, ihrer neuen Bestimmung gerecht zu werden, die da hieß: Tod den Vampiren! Eine geheimnisvolle Seuche raffte die Alte Rasse dahin, ließ nur die Oberhäupter der Sippen übrig. Sie zu vernichten, war Liliths Aufgabe, die ihr von Gott selbst aufgebürdet worden war. Auf diese Weise sollte sie büßen, was sie in ihrem »vorherigen« Leben an Schuld auf sich geladen hatte: Auf der Suche nach ihrer Berufung hatte sie Leid und Tod über Menschen gebracht – auch über die, die ihr nahegestanden hatten. Daß sie ihre wahre Schuld damit nicht wirklich abtrug, wußte Lilith längst. Denn auch wenn sie tausend Vampire tötete; Freunde, wie Beth MacKinsay und Duncan Luther sie ihr gewesen waren, brachte auch dieser Akt nicht ins Leben zurück. Und vielleicht war dieses Wissen auch die eigentliche Strafe, die ihr auferlegt worden war, nachdem sie den ursprünglichen Zweck ihrer Existenz erfüllt gehabt hatte: Im Garten Eden, in den sie durch einen inzwischen eingestürzten Zeitkorridor gelangt war, hatte sie die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß sich Adams erstes Weib, ebenfalls Lilith mit Namen, mit Gott versöhnen konnte. Denn die Ur-Lilith hatte sich damals, am Anfang der Zeit, dem Bösen zugewandt und das Geschlecht der Vampire begründet. Dafür war sie von Gott mit Zustand gestraft worden, der ihren Körper schlafend, ihren Geist jedoch wach hielt, so daß sie von ihrem Grab aus die Geschicke der Welt sehen mußte, ohne selbst daran teilhaben zu können. Mit Liliths Hilfe, die sie selbst aus ihrer Stasis heraus nur für diesen Zweck geschaffen hatte, war es ihr gelungen, vor den Allmächtigen zu treten und Vergebung zu erflehen. Sie war ihr gewährt worden. Die Ur-Lilith war in der Manifestation Gottes aufgegangen –
– und Lilith selbst, das Kind zweier Welten, war in ihre eigene Gegenwart zurückgekehrt. In eine Gegenwart allerdings, die sich verändert hatte und es noch immer tat. Denn indem er der Ur-Lilith vergab, kam der Zorn Gottes über ihre Kinder, und Lilith sollte zur Henkerin der Verbliebenen werden. Aus diesem Grunde nährte sie sich nicht länger von Menschenblut, sondern vom schwarzen Blut der Vampire. Das sollte ihre Motivation sein, nicht nachzulassen bei ihrer Jagd … Es war eine Aufgabe, an der sie schon jetzt, da sie noch am Anfang stand, fast zu zerbrechen drohte. Und es lag nicht allein daran, daß sie kaum zu bewältigen schien, denn es mochte noch tausend und mehr Oberhäupter auf der Welt geben, die die Seuche überstanden; womöglich wurden gar ganze Sippen ausgespart in dem kollektiven Sterben. Aber das war nicht der einzige Grund, aus dem Lilith zu verzweifeln drohte, wenn sie allzu lange über ihr Schicksal nachsann; es war vielleicht nicht einmal der wahre Grund. Viel schwerer wog die Einsamkeit, zu der sie sich verdammt fühlte. Wie sie es früher schon gewesen war. Denn in ihrem Gefolge hatte sie stets den Tod bei sich, und er wurde früher oder später jedem zum Verhängnis, der Lilith länger auf ihrem Weg begleitete. Daran hatte sich nichts geändert … Doch die menschliche Hälfte in ihr sehnte sich nach Gesellschaft, mehr noch nach Wärme und Geborgenheit, die sie nur bei einem anderen Menschen gefunden hätte. Aber sie hätte diesen Gefährten zwangsläufig verloren, wie sie schon früher jeden verloren hatte. Und der Schmerz darüber würde schlimmer sein als die Qual des Alleinseins … Vor einigen Tagen war Lilith der Retorten-Vampir also wieder in den Sinn gekommen. Vielleicht sogar, weil es keine Hinweise auf seinen Verbleib gegeben hatte. Denn Lilith hatte Fernsehnachrichten und Zeitungsmeldungen aufmerksam verfolgt, weil sie daraus ihre
Informationen bezog über Orte, an denen sterbende Vampire dem Blutrausch verfallen waren. Zwar war in den Berichten nie die Rede von Vampiren, immer wurde das Offensichtliche kaschiert, doch Lilith verstand zwischen den Zeilen zu lesen, zwischen den Worten zu hören und zwischen den Bildern zu sehen. Auf diese Weise war sie in etliche Städte gereist, um die Letzten der Alten Rasse zu tilgen. Schon weil ihr Durst nach schwarzem Blut sie trieb. Und schließlich hatte sie beschlossen, sich auch um den Genvampir zu kümmern. Denn was nutzte es, wenn sie eine Gefahr eindämmte, während anderswo eine neue heranwuchs und womöglich übermächtig wurde? Sie hatte nach einer Quelle gesucht, die ihr Hinweise auf das Auftauchen des Retorten-Vampirs geben konnte, und sie hatte sie in Washington gefunden. In der Zentrale des FBI mündete eine unüberschaubare Zahl von Informationskanälen. Es war Lilith nicht schwergefallen, einen Special Agent dazu zu »überreden«, ihr Einblick in die Berichte zu verschaffen. So war sie letztlich auf jene Videoübertragung gestoßen, in der ein Wissenschaftler in einer Forschungsstation in Alaska scheinbar von Unsichtbaren angegriffen wurde und im Moment, ehe die Übertragung abbrach, noch vor Vampiren warnte. Der junge Agent hatte Lilith den Gefallen getan und herausgefunden, was in dieser Sache unternommen werden sollte. Und was er entdeckt hatte, war für Lilith wie eine Bombe gewesen. Das FBI schickte einen Agenten namens Hector Landers nach Alaska! Lilith kannte jenen Namen. Viel zu gut. Landru, der mächtigste der Alten Rasse und nebenbei noch ihr Todfeind, benutzte ihn, wenn er inkognito agierte. Über den Ereignissen der vergangenen Wochen hatte sie den ehemaligen Kelchhüter fast vergessen oder wenigstens tief in ihrem Unterbewußtsein vergraben. Jetzt hatte er sich gewissermaßen mit ei-
nem Paukenschlag in Erinnerung gebracht. Und wenig später war Lilith ihm persönlich begegnet! Daß er sie im FBI-Hauptquartier in Washington nicht gesehen hatte, war nur einem Zufall zu verdanken. Denn gespürt hatte sie seine Gegenwart nicht, so wie sie überhaupt nicht mehr imstande war, die Nähe von Vampiren zu »wittern«. Wohl aber hatte er sie gespürt. Das hatte Lilith nicht übersehen, als sie ihn um die Ecke, hinter der sie sich gerade noch hatte verstecken können, herum beobachtete. Zusammen mit einem anderen Mann, der womöglich ebenfalls ein Vampir gewesen war, hatte Landru das Gebäude verlassen. Und Lilith Eden war zu seinem »Schatten« geworden. Sie hatte keinen Zweifel daran gehabt, daß auch Landru auf der Suche nach dem Genvampir war. Wenn auch vermutlich aus anderen Beweggründen als sie. Und so folgte sie ihm also, in der Hoffnung, am Ende vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können. Vielleicht gelang es ihr ja, nicht nur den Homunkulus zu vernichten … Die Strecke von Kotzebue nach Icy Cape war der härteste Teil gewesen. Lilith hatte ihn als Fledermaus hinter sich gebracht – versteckt im Fahrwerk der kleinen Cessna, mit der Landru sich in den Norden hatte fliegen lassen. Wie ein Stein hatte sich Lilith nach der Landung und nachdem Landru endlich verschwunden gewesen war, fallen lassen. Ihr kleiner Körper war fast zu Eis erstarrt gewesen nach dem Flug durch die eisige Luft, und es hatte eine Weile gedauert, bis sie überhaupt in der Lage gewesen war, genug Konzentration aufzubringen, um sich in ihre menschliche Gestalt zurückzuverwandeln. Es hatten nur ein paar Sekunden gefehlt. Ein paar Sekunden, die das Leben der jungen Pilotin gekostet hatten. Lilith war erst zur Stelle gewesen, als der künstliche Vampir Maggie Conolly schon ausgesaugt hatte. Und so war ihr nichts anderes
mehr geblieben, als die junge Frau vor einem Dasein als untote Dienerkreatur zu bewahren. Sie hatte ihr das Gesicht auf den Rücken gedreht. Nachdem sie sich des Vampirs angenommen hatte … Als Landru zurückgekehrt war, hatte Lilith ihren ärgsten Widersacher aus einem Versteck heraus beobachtet. Zwar war sie nicht in der Lage gewesen, seine Gedanken zu lesen, aber sein Mienenspiel und jede seiner Bewegungen hatten ihr verraten, was in ihm vorging. Es war eine Überraschung für sie gewesen. Offensichtlich hegte Landru der neuen Rasse gegenüber keineswegs freundschaftliche Gefühle; im Gegenteil. Er schien ihr tiefste Abscheu entgegenzubringen, die nur mit Tod auszulöschen war – dem Tod der neuen Vampire! Schließlich hatte Landru sich aufgemacht, um eben dies zu tun. Und Lilith war ihm gefolgt … Sie sah den Wolf längst nicht mehr. Er war auf vier Pfoten und zu ebener Erde schneller als sie hier oben, wo sie mit ihren Kräften haushalten und gegen den kalten Atem der Natur bestehen mußte. Sie konnte nur der Spur des grauen Jägers folgen, die sich unter ihr als etwas dunkleres Band im Weiß des Schnees abzeichnete. Und bald konnte Lilith auch das nicht mehr. Nicht, weil sie die Fährte verlor, sondern weil die ledrigen Schwingen ihr den Dienst versagten. Ihre Kräfte waren restlos aufgebraucht. Weil nicht nur die Anstrengung, sondern auch die zunehmende Kälte ihren Tribut verlangten. Lilith hatte das Dickicht eines Nadelwaldes erreicht, als ihre Flügel sich kurzerhand weigerten, sich auch nur noch ein einziges Mal zu bewegen. Wie eingefroren kamen ihr die Muskeln ihres Körpers mit einemmal vor, und vielleicht waren sie das ja auch. Lilith stürzte ab. Nicht tief genug, um sich zu ernsthaft zu verletzen, aber der Aufprall war zumindest hart genug, um ihr die Luft
aus den kleinen Lungen zu pressen. Mit ausgestreckten Flügeln blieb sie auf dem schneebedeckten Boden liegen. Minutenlang. Dann zwang sie ihren Körper mit einer fast schmerzhaften Willensanstrengung in menschliche Gestalt. Weil sie nur so in der Lage war, dem Symbionten Befehle zu erteilen. Sie wies ihn an, sie in Kleidung zu hüllen, und die Schwärze floß, wenn auch zögerlich und zäh, über ihre nackte Haut wie flüssiger Teer und formte sich schließlich zu zweckmäßiger und vor allem warmer Kleidung. Die verlangsamte Reaktion des Symbionten war ihr nicht entgangen. Und sie wußte, was sie bedeutete: Früher hatte der Symbiont, der sehr viel mehr war als ein »formbares« Stück Stoff, sich von schwarzem Blut genährt. Dann war ein abgetrenntes Teilstück von Herak »umgezüchtet« worden, weil das Oberhaupt der Sydney-Sippe den Symbionten selbst hatte tragen wollen. Der Plan war mißlungen und Herak längst tot, doch seither verlangte es dieser »lebende Schwärze« – die Lilith als einziges geblieben war, nachdem der restliche Symbiont seinen Platz als Haut der Ur-Lilith wieder eingenommen hatte – nach Menschenblut. Lilith hatte es ihm viel zu lange vorenthalten. Und die Chance, hier in dieser Ödnis auf einen »Spender« zu treffen, war ausgesprochen gering … Ein Stück entfernt von ihrer »Absturzstelle« entdeckte Lilith die Spur des Wolfes. Sie folgte ihr, langsam, um ihre wiedererwachenden Kräfte zu schonen, und sie lief dabei etwa einen Meter neben der Fährte her. In der nächsten Minute mußte sie feststellen, daß sie besser in Landrus Spur getreten wäre. Als der Schnee unter ihrem rechten Fuß aufwirbelte, einhergehend mit einem metallischen Klacken. Und als sich im selben Sekundenbruchteil stählerne Kiefer um ihren Knöchel schlossen. Messerscharfe Zähne gruben sich in ihr Fleisch. Der Schmerz war nicht schlimm genug, um daran zu sterben.
Aber er reichte, um Liliths Bewußtsein auszulöschen.
* Der Wolf war in einen kräftesparenden Trab verfallen, so daß er das Tempo über die gesamte Strecke hatte beibehalten können. Die Art des Laufens hatte er sich einst von den Ureinwohner dieses Kontinents abgeschaut, denen es auf diese Weise gelang, stundenlang zu laufen, ohne eine Rast einlegen zu müssen. Gepaart mit Landrus widernatürlichen Kraft war diese Methode geradezu perfekt. Irgendwann hatte sich zu der Fährte, der er seit Stunden und die ganze Nacht hindurch gefolgt war, eine zweite hinzugesellt. Eine menschliche. Nun fiel es seinem wölfischen Geruchssinn um ein Vielfaches leichter, ihr nachzuspüren. Und es dauerte nicht lange, bis er am Ziel anlangte. Das Dorf, eher eine kleine Stadt, lag in einer Senke, deren Hänge sanft anstiegen und an ihrem Kämmen schließlich in den Wald übergingen, in dessen Schutz Landru sich hielt. Das Dämmerlicht des beginnenden Tages mochte ihn vor menschlichen Blicken verbergen, aber er wußte nicht, wie es um die Sichtweise der neuen Rasse bestellt war. Zwei Straßen durchzogen den Ort da unten; in der Mitte der Ansammlung von Häusern kreuzten sie sich. Die Gebäude selbst boten einen kuriosen Anblick, denn sie waren von unterschiedlichster Bauart. Es gab einige, die jenen ähnelten, wie man sie auch »drunten im Süden« in den Kleinstädten und Vororten fand. Andere waren bloße Hütten, errichtet aus rohen Stämmen und Grassoden, und sie sahen aus wie übriggeblieben aus einer Zeit, die selbst hier längst vergangen sein mußte. Sie standen vor allem zum Ortsrand hin, ein paar von ihnen schon auf den Hängen, während das Städtchen in der Mitte von durchaus »südlichem« Charakter war mit seinen buntge-
strichenen Holz- und Steinbauten, unter denen sich auch ein paar Geschäfte und ein Restaurant befanden. Landru brachte Minuten damit zu, den Ort zu beobachten. Ein einziges Auto fuhr während dieser Zeit eine der beiden Straßen entlang. Der eine intakte Scheinwerfer des Fahrzeugs wanderte wie der Finger eines Gespenstes durch das Zwielicht. Ansonsten rührte sich nichts. Zumindest nicht in der Ortsmitte. Aber an dem Hang, der links von ihm lag, machte Landru schließlich eine Bewegung aus. Und dann mehrere. Männer liefen dort. Der ungelenken Art ihrer Bewegungen nach zu schließen waren sie nicht die Jüngsten, und sie kamen allesamt aus einer Richtung: aus einer der Hütten, wie der Wolf schließlich feststellte. Und sie strebten anderen Hütten zu. Landru beobachtete sie weiter. Ihm fiel auf, daß jeder der Männer etwas trug. Etwas offensichtlich Schweres oder zumindest Unhandliches. Der Wolf knurrte, gereizt und unruhig, als er erkannte, was die Männer da mit sich schleppten. Eier. Eiförmige Kokons, wie er einen in der Station gefunden hatte. Die Männer schafften die Brut des Retorten-Vampirs fort! Demzufolge befand sich der Vampir selbst in jener Kate, aus der die Männer gekommen waren. Landru überlegte. Zwei Möglichkeiten boten sich ihm. Die eine war, die »Höhle des Löwen« zu stürmen, um das Übel gleich an der Wurzel zu packen. Die andere war, sich erst der Brut anzunehmen. Er wußte nicht, wie lange es dauerte, bis die Kokons platzten, um den vampirischen Nachwuchs in sein unseliges Leben zu entlassen. Aber es schien ihm die bessere Lösung, hier zuerst zuzuschlagen. Er würde wohl einen Großteil der Eier vernichten können, ehe die Vampire »schlüpfen« konnten. Der Wolf sah sich kurz um, wartete, bis auch der letzte der Män-
ner mit seiner Last in einer der Behausungen verschwunden war. Dann lief er los, in die Richtung der nächstgelegenen Hütte.
* Lilith glaubte in Wärme zu schweben wie auf Wolken. Die Luft um sie herum war regelrecht angefüllt mit würzigen Naturdüften. Sie fühlte sich so wohl wie seit Wochen nicht mehr, und sie weigerte sich auch dann noch beharrlich, die Augen zu öffnen, als ihr Bewußtsein längst emporgetaucht war aus jener Schwärze, in die es zuvor – irgendwann – gestürzt war. Es konnte nur ein Traum sein, den sie da erlebte, und sie wollte unter keinen Umständen, daß er endete. Ein zufriedenes Schnurren drang an ihr Ohr, wie von einem Kätzchen, das es sich auf der Ofenbank bequem gemacht hatte, und Lilith brauchte eine ganze Weile, ehe sie merkte, daß sie selbst es war, die da vor Behaglichkeit schnurrte. Um so mehr, als kräftige Hände ihren rechten Fuß zu massieren begannen. Sanft und kräftig in einem glitten sie zu ihrem Knöchel hoch, der vorhin zwischen stählerne Kiefer und Zähne geraten war … Die Erinnerung an den Schmerz ließ Lilith die Augen aufreißen! Ihr schreckgeweiteter Blick fiel zuallererst auf ihren rechten Knöchel. Völlig makellos und unverletzt ragte er aus dem Hosenbein. Dann erst hob sie den Kopf ein wenig und sah den Rest des Körpers, zu dem die Händen gehörten, die ihren Fuß und Knöchel massierten. Lilith registrierte sofort den seltsamen Ausdruck in den meerblauen Augen des Mannes. Und sie wußte, woher dieser Ausdruck rührte. Denn der Mann hatte ganz bestimmt noch nie in seinem Leben gesehen, daß eine solche Verletzung in so kurzer Zeit verheilte, im wörtlichen Sinne zusehends verschwand. Liliths Selbstheilungskraft
hatte auch während ihrer Ohnmacht funktioniert … »Hallo«, sagte er, als er bemerkte, daß sie aufgewacht war. Seine Stimme klang angenehm – tief, aber nicht brummig, sanft und doch männlich. Und sie paßte zu ihm. Er war groß und kräftig, ohne unansehnlich muskulös zu sein. Sein dunkelblondes Haar reichte ihm fast bis auf die Schultern, und sein dichter Vollbart ließ ihn wohl ein wenig älter wirken als er tatsächlich war. Er sah aus wie Vierzig, und so schätzte Lilith sein wahres Alter auf knapp über Dreißig. »Es tut mir leid«, sagte er. »Was?« fragte Lilith. »Das mit dem Fangeisen«, erwiderte er und hob ihren Fuß, den er noch immer festhielt, ein bißchen an. Dabei veränderte sich der Ausdruck in seinem wettergegerbten Gesicht um eine Spur. Verwirrung stahl sich hinein. Lilith lächelte ihn stumm an, nahm den Blick seiner herrlich blauen Augen mit den ihren gefangen, und im nächsten Moment verschwand die Verwunderung aus seinem Gesicht. Das Lächeln, das an ihre Stelle trat, gefiel Lilith bedeutend besser. »Ich hatte eigentlich gehofft, mein Frühstück oder Mittagessen in der Falle zu finden«, erklärte er. »Aber …« »Aber?« hakte Lilith nach, als er zögerte, weiterzusprechen. »Dieser Fang ist auch nicht schlecht«, grinste er lausbübisch. Lilith grinste zurück. »Zumal ja nichts passiert ist.« Er nickte, und die Verwirrung kehrte für einen ganz kleinen Moment in seine Züge zurück. Behutsam entzog Lilith ihr Bein seinem Griff, dann richtete sie sich in eine sitzende Position auf und ließ den Blick schweifen. Sie befand sich in einer Blockhütte, die aus einem einzigen Raum zu bestehen schien, der Küche, Wohn- und Schlafzimmer in einem war. Obendrein war dieser Raum urgemütlich. Die Einrichtung war rustikal, ohne schlicht zu wirken. Und die zahllosen Dinge an den
Wänden und unter der Decke erzählten das Leben des Mannes in einer anschaulichen Weise nach, wie es mit Worten kaum möglich gewesen wäre. In einem offenen Kamin an der Stirnseite des Raumes knisterten brennende Holzscheite. »Mein Name ist Lilith. Lilith Eden«, stellte sie sich vor, nachdem ihr Blick sich zumindest halbwegs sattgesehen hatte. »Oh, Verzeihung«, erwiderte der Blonde eindeutig erschrocken, »Sie müssen meine schlechten Manieren verzeihen, aber ich treffe hier draußen so selten auf Menschen, die mich nicht kennen … Ich heiße Parker Beauchamp. Für Sie einfach nur Parks.« »Fein. Parks.« Lilith lächelte. »Was führt eine junge Lady wie Sie in diese Wildnis?« wollte er wissen. Lilith umging die Frage, und sie half ein klein wenig nach, daß Parks Beauchamp sich nicht mehr für ihre Antwort interessierte. Statt dessen fragte sie: »Was treibt Sie in diese Einsamkeit?« »Die Großstadt hat mich aufgefressen. Ich konnte es spüren. Jeden Tag verschlang sie ein Stückchen mehr von mir. Und bevor sie mich mit Haut und Haaren fressen konnte, bin ich vor dem Leben dort geflohen. Hier habe ich ein neues gefunden. Ich wurde Trapper, habe eine Lizenz erhalten und – nun ja, hier bin ich.« »Fühlen Sie sich nicht manchmal furchtbar einsam hier?« Beauchamp schüttelte den Kopf. »Man ist nie allein hier draußen, wenn man gelernt hat, die Natur als Partner zu betrachten«, sagte er, und nach einer kurzen Pause fügte er etwas leiser hinzu: »Und wenn man dann noch solch reizenden Besuch bekommt …« Lilith spürte seine Nähe. Er stand ganz dicht hinter ihr, und es war vielleicht sogar Zufall. Vielleicht aber auch nicht. Aber sie war sicher, daß er von sich aus nie die Initiative ergriffen hätte, wenn sie ihm nicht ihre Bereitschaft für eine noch intensivere Nähe signalisiert hätte.
Sie tat es, indem sie sich umdrehte und zu ihm aufsah, unter halbgeschlossenen Lidern hervor und die Lippen leicht geöffnet. Sie spürte seine Wärme, als sein Gesicht sich dem ihrem näherte und es schließlich – endlich – berührte. Sie bebte, als sie seine Arme fühlte, die sich um sie schlossen. Und sie erwiderte seine Zärtlichkeit in einem Maß, das ihn fast erschrecken mußte. Als seine Hände beginnen wollten, ihre Kleidung abzustreifen, befahl sie dem Symbionten, sich vorsichtig zurückzuziehen. Sie nahm Parks das Erstaunen über die seltsame Art, sich zu entkleiden, und schälte ihn aus Jeans und Baumwollhemd. Dann mußten sie sich nur noch fallen lassen, um in dem weichen Bett zu landen, das samtene Pelze zu einem richtigen Kuschelnest machten. Parks verwöhnte Lilith, wie sie es lange nicht mehr erfahren hatte. Es war viel mehr als Sex, was sie miteinander teilten. Es war zunächst ein Austausch fast zaghafter Berührungen, die an Kraft gewannen, je länger sie währten. Sie erforschten ihre Körper mit allen Sinnen, und sie fanden immer wieder Neues, das die wunderbare Wirkung des vorher Entdeckten übertraf. Lilith wand sich, während sie Parks’ Zunge und Hände überall zugleich zu spüren meinte, und sie entzog sich ihm, bevor das Feuer in ihr verzehrend wurde. Dann revanchierte sie sich auf gleiche Weise, endlos lange, während sie das Pochen seines vor Lust kochenden Blutes riechen, hören und schmecken konnte. Und sie war glücklich, daß sie es ihm nicht nehmen mußte … Irgendwann glitt sie über ihn. Mit der Hand dirigierte sie sein steil aufgerecktes Glied in ihren Schoß, und dann begann sie mit einem sanften Ritt, dessen Tempo sie genau bemaß, um ihn auszukosten, so lange es nur möglich war. Irgendwann sah sie ein kurzes Zucken, das Parks’ Gesicht überlief, als hätte ihn etwas gestochen. Doch der Ausdruck wich noch in derselben Sekunde wieder dem von Glück und Lust.
Nur Lilith sah die beiden haarfeinen Stränge, die sich von dem schmalen Gürtel, den der Symbiont um ihre Hüften gebildet hatte, gelöst hatten und deren Enden in Parker Beauchamps Bauchdecke verschwanden. Dort zapfte der Symbiont, nunmehr auf Menschenblut angewiesen, sein Lebenselixier ab. Aber er ging behutsam vor und hatte sich längst wieder zurückgezogen, als Lilith und Parks mit Schreien, die sich zu einem einzigen vereinigten, zurücksanken. Lilith wünschte, sie hätte ewig so liegenbleiben können, am liebsten in genau dieser Haltung: an Parks’ Brust gelehnt, die Finger in seinem Haar. Aber sie durfte es nicht. Und sie mußte es beenden, bevor es ihr noch schwerer fiel, Abschied zu nehmen. »Ich muß gehen«, sagte sie und half ihm mit ihrer suggestiven Kraft, seine Enttäuschung darüber im Zaum zu halten. »Wo willst du hin?« fragte er. Sie erzählte ihm von der Spur, der sie folgte. »Sie führt vielleicht nach Nuiqtak«, meinte Beauchamp. »Nuiqtak?« »Eine kleine Stadt, ein Dorf, einige Meilen entfernt. Ich fahre ab und zu dorthin, um Vorräte einzukaufen oder um Waren zu verkaufen oder zu tauschen.« »Du fährst?« fragte Lilith. Die bloße Vorstellung, als Fledermaus durch die eisige Nacht fliegen zu müssen, um den Rest des Weges hinter sich zu bringen, ließ sie frösteln. »Natürlich.« »Könntest du mich … hinbringen?« bat sie ihn, und sie überließ ihm die Entscheidung selbst. Er nickte. »Natürlich. Gern.« Während er sich ankleidete, befahl Lilith dem gesättigten Symbionten, sie wieder in Winterkleidung zu hüllen.
»Wenn es einen Wettbewerb im Schnellanziehen gäbe, würdest du ihn wohl gewinnen«, meinte Parks, als er sich umwandte. »Gut möglich«, lächelte Lilith. »Wenn die Schiedsrichter nicht so genau hinsehen würden.« »Bitte?« Sie winkte ab. »Schon gut.« Gemeinsam traten sie aus der Hütte. Hoch über ihnen graute bereits der Morgen, doch hier, unter dem Dach der Baumwipfel, war es noch dunkel. Parks verschwand in einem kleinen Anbau, und wenig später begann drinnen ein sterbender Dinosaurier sein Totenlied anzustimmen. So klang es jedenfalls für Liliths Ohren. Und der Urweltgigant wählte offenbar eine Feuerbestattung, denn dichter Qualm drang aus dem Anbau, in dem er sich zum Sterben niedergelegt hatte. Dann bewegte sich etwas in dem Verschlag, und eingehüllt in eine Wolke aus Lärm und Gestank rumpelte ein Snowmobil heraus. Die Tür auf der Beifahrerseite schwang auf. Lilith rutschte neben Parks Beauchamp auf die ungepolsterte Bank. Im Licht der Scheinwerfer folgten sie der Spur des Wolfes. Bis Nuiqtak.
* In Wolfsgestalt strich Landru um die Hütte herum. Er lauschte auf Geräusche, die aus dem Inneren dringen mochten, aber er hörte nichts. Vielleicht hatte der Alte, den er zuvor beobachtet hatte, sich zwischenzeitlich hingelegt und schlief, weil er vom Tragen des Kokons erschöpft war. Und wenn nicht, war es auch egal. Landru würde kurzen Prozeß mit ihm machen, wenn er ihm in die Quere kam. Vor der Tür verwandelte er sich in seine menschliche Gestalt.
Dann drückte er die Klinke nieder und fand die Tür unverschlossen. Er schob sie auf und warf einen Blick in die Hütte. Niemand war zu sehen. Seltsam … Aber auch das interessierte den Vampir nicht weiter. Er hatte entdeckt, weswegen er hergekommen war. Er sah und hörte es. Das Ei, den pulsierenden Kokon. Es stand an der jenseitigen Wand des Raums, glänzte schwach im Licht, das von der Tür hereinfiel. Ohne zu zögern, schritt Landru darauf zu. Das Innere der Hütte war mittels Fellen und Planen in verschiedene Kammern unterteilt. In einer davon mochte sich der Alte aufhalten. Doch ehe er Landrus Eindringen bemerken konnte, wollte der die Behausung schon wieder verlassen haben. Nach getaner Arbeit … Landru befahl die Bestie in sich herauf. Seine Hände verformten sich, wuchsen, und aus den Nägeln wurden dolchartige Krallen, die er hob, um sie in den Kokon hineinzustoßen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Die Welt um Landru herum explodierte in grellem Schmerz, und ihre Trümmer versanken in einer Finsternis, die seine schwindenden Sinne nicht mehr zu durchdringen vermochten. Sein letzter Gedanke war: Eine Falle …!
* Kurz zuvor Wovek schloß die Tür und wandte sich um. Da stand es.
Tattus Geschenk. Ein Bruder des Weltenschöpfers ruhte darin. Noch schlief er, doch irgendwann – vielleicht bald schon, denn Tattu hatte ihnen nicht gesagt, wie lange seine Brüder noch schlafen mußten – würde er hervorkommen. Und dann würde er in ihm, Wovek, einen treuen Diener finden. Der Alte trat näher, langsam und andächtig. Vor dem Kokon ließ er sich in die Knie sinken. Das Knacken der Gelenke blieb aus. Was Tattu in ihn gepflanzt hatte, stärkte ihn nicht einfach nur; es ließ ihn die Jugend spüren. Seine Hände streckten sich wie von selbst aus, doch dicht über der glänzenden, pulsierenden Hülle des Gebildes verharrten sie. Nein, er würde es nicht berühren. Nichts sollte die Ruhe des darin Schlafenden stören. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, und Wovek wollte nicht daran denken, wie Tattu ihn strafen würde, wenn seinem Bruder etwas geschähe. Doch wer sollte dem Kokon oder dem Wesen darin auch ein Leid zufügen wollen? Wovek schmale Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, in dem sich Verachtung und Faszination paarten. Niemand außer ihnen wußte von dem, was in dieser Nacht geschehen war. Und selbst wenn jemand sie beobachtet hätte; niemand würde die Wahrheit erahnen. Kein einziger dieser ungläubigen Narren da draußen, die nichts im Sinn hatten als mit der Welt der weißen Männer Schritt zu halten und sie doch nie einholen würden. Weil es diese Welt schon bald nicht mehr geben würde. Wenn erst Tattus Brüder erwacht waren … Wovek wollte sich aufrichten, doch er verharrte auf halbem Wege und blieb in grotesker Haltung stehen. Etwas hatte ihn erreicht … Kein Geräusch, wie er es bisher gekannt hatte, und doch etwas ähnliches. Etwas, das er weder mit seinen Ohren noch mit seinen Augen wahrgenommen, sondern einfach – gespürt hatte …
Und es war immer noch da. Es bewegte sich. Um die Hütte herum. Und vor der Tür verharrte es schließlich. Wovek zog sich hinter einen der Vorhänge zurück und verhielt sich absolut still. Selbst das Atmen vergaß er. Was auch immer es war, das da draußen war, es bedeutete Gefahr. Gefahr für Tattus Bruder. Woveks Hand fand blindlings jene mächtige Keule, mit der sein Vater einst auf die Jagd gezogen war. Dann wurde die Tür geöffnet. Wieder sah Wovek es nicht, aber er wußte, daß es geschah. Er hörte Schritte, die eigentlich zu leise waren, um sie wirklich hören zu können. Sie näherten sich dem Kokon. Wovek wartete, bis der Eindringling ihn passiert hatte, dann trat er hinter dem Tuch hervor. Eine mächtige Gestalt stand vor dem Ei, die Arme erhoben und bereit, zehn Dolche zugleich in die Hülle zu schlagen. Wovek war schneller. Er ließ die Jagdkeule mit einer Kraft, die ihn selbst einen Augenblick lang entsetzte, auf den Kopf des Mannes herabsausen. Und er führte den Hieb nicht, um den anderen zu betäuben. Sondern um ihn zu töten. Die Gestalt fiel um wie ein gefällter Baum. Die Dolche in ihrer Hand verschwanden, als würden sie sich in Luft auflösen. Eine schwarze Lache breitete sich um den Kopf des Liegenden herum aus, deren Zufluß jedoch rasch versiegte. Wovek beugte sich hinab und untersuchte den Fremden. Er tastete nach dessen Puls, konnte aber keinen ausmachen. Trotzdem wußte er, so wie er zuvor die bloße Gegenwart des Fremden wahrgenommen hatte, daß er immer noch lebte. Auf eine unwirkliche, falsche Art. Wovek mußte nicht lange darüber nachdenken, was zu tun war.
Tattu selbst sollte entscheiden, wie der Frevler zu strafen war. Als wäre der große Fremde leicht wie eine Feder, so mühelos lud ihn sich der alte Inuit über die Schulter und verließ die Hütte.
* Die Fahrt durch den Wald verlief schweigend. Zum einen, weil Lilith Parks nicht ablenken wollte. Er folgte der Spur des Wolfes unbeirrbar, lenkte das Snowmobil durch Lücken zwischen den Bäumen hindurch, die ihr selbst viel zu schmal für das Fahrzeug schienen. Zum anderen wollte sie ihn nicht belügen müssen. Wenn er Fragen über sie und ihr Leben stellte, würde sie ihm nicht die Wahrheit erzählen können, wenn sie vermeiden wollte, daß er eine Irre in ihr sah. Und sie wollte ihn auch nicht noch mehr mit Hypnose beeinflussen. Das hatte er nicht verdient; zu schön war gewesen, was sie miteinander geteilt und getan hatten. »Die Fährte führt tatsächlich nach Nuiqtak«, sagte der Trapper nach einer ganzen Weile. »Seltsam …« Lilith verzichtete darauf, etwas zu erwidern, und so verfiel auch Parks wieder in Schweigen. Das Licht des neuen Tages begann nun allmählich auch hier unten an Kraft zu gewinnen. Der sichtbare Ausschnitt der Welt wuchs für Lilith über die Ränder des Scheinwerferlichtes hinaus. Die mächtigen Baumriesen standen jetzt weniger dicht gedrängt, und das mußte wohl ein Zeichen dafür sein, daß sie sich dem Rand des Waldes näherten. So war es in der Tat. Parks stoppte das Snowmobil und wies durch die Windschutzscheibe. »Nuiqtak.« Lilith nickte nur, als sie die Ansammlung von Häusern in der Senke sah, die sich vor ihnen erstreckte. Vereinzelt waren die Lichter von Fahrzeugen auszumachen, die zu dieser frühen Stunde unter-
wegs waren, und dazwischen bewegten sich ein paar einsame Fußgänger. Wie auch jener, der nicht weit entfernt den Hang überquerte. Mit einer seltsamen Last auf der Schulter … Liliths Blick war von der Schärfe eines Raubtiers. Scharf sog sie den Atem ein. Parks sah erschrocken zu ihr herüber. »Was …?« Lilith schüttelte hastig den Kopf. »Nichts. Ich danke dir. Für alles.« Sie hauchte ihm einen Kuß auf die bärtige Wange. »Und nun verschwinde.« Sie sprang aus dem Snowmobil und eilte dem Mann hinterher. Dem Mann, über dessen Schulter Landru hing. Wie tot.
* »He! Halt!« Der Mann, gewandet in der Art der Eingeborenen, blieb tatsächlich stehen. Er drehte sich um, und erst jetzt konnte Lilith sehen, daß er alt war. Sehr alt. Viel zu alt in jedem Fall, um jemanden von Landrus Gewicht mühelos tragen zu können. Und doch tat der Inuit es, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Anstrengung oder gar Erschöpfung zu zeigen. Nicht das kleinste Schweißtröpfchen glänzte auf seiner runzligen Stirn. Doch Lilith war zu aufgeregt, um den Gedanken weiter zu verfolgen. Der Alte sah ihr entgegen, fragend und abweisend. »Was ist mit ihm?« wollte Lilith wissen und deutete auf Landru. Sein Gesicht war überzogen von einem schwarzen Muster getrockneten Blutes. Sie spürte, wie der Durst in ihr erwachte … Unwillkür-
lich wischte ein knappes Lächeln über ihr Gesicht. Wie mochte Landrus Blut wohl schmecken? Anders als das anderer Vampire? War es kräftigender? Oder schmeckte es einfach nur – edler, so wie die Menschen fanden, daß alte, lange gereifte Weinbrände besser mundeten? »Er muß bestraft werden«, erwiderte der Inuit. »Ist er tot?« »Noch nicht«, sagte der Alte. »Was hast du mit ihm vor?« fragte die Halbvampirin. »Ich bringe ihn zu Tattu. Er mag über seine Strafe entscheiden.« »Tattu?« »Der Weltenschöpfer.« »Ich begleite dich«, sagte Lilith bestimmt. »Nein!« Der Alte ließ seine Last fahren. Landru fiel schwer in den Schnee. Und ehe Lilith es sich versah, ging der Inuit sie an! »Niemand wird Tattus Vorhaben stören!« keifte er. Im Sprung verschob sich die Kleidung des Alten, so daß Lilith seinen Hals sehen konnte. Und die beiden punktförmigen Male darauf. Den Biß eines Vampirs. Nun wußte sie, weshalb er die Kraft besaß, Landru mit solcher Leichtigkeit zu tragen. Und sie spürte sie selbst, als die mageren Fäuste des Alten ihr Gesicht trafen. Lilith taumelte zurück, versuchte einem weiteren Hieb auszuweichen, der aber trotzdem noch ihre Schläfe streifte. Schmerz durchglühte die Gesichtshälfte. Wattige Schwärze umflorte ihr Bewußtsein. Und als sie wieder einen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte, fand Lilith sich im Schnee liegend wieder. Der alte Inuit kauerte über ihr. Seine Hände lagen um ihren Hals und drückten mit einer Kraft zu, die ihr die Kehle regelrecht zu zerquetschen drohte.
Gleich mußte es soweit sein, schneller, als sie irgend etwas dagegen unternehmen konnte! Die Luft wurde ihr nicht einfach knapp, sie wurde ihr abgedrückt, als wären ihre Atemwege plötzlich verplombt. Schlieren aus Rot und Schwarz stiegen vor ihrem Blick auf. Doch dann ließ der mörderische Druck um ihren Hals nach. Von einem Moment zum anderen. Gleichzeitig klang ein schmerzerfülltes Stöhnen auf. Liliths Blick klärte sich rasch. Sie sah auf den Hinterkopf des Inuit, der wie in Zeitlupe zur Seite sank. Doch als er aus ihrem Blickfeld verschwand, sah Lilith nicht etwa in den grauen Himmel hinauf. Sie sah – Landru. Turmhoch schien er sie zu überragen. In seinem Blick lag ein Haß von solcher Stärke, daß Lilith sich davon förmlich niedergepreßt fühlte. Und er wußte nicht, welche Ironie in seinen Worten lag, als er fragte, was Lilith sich selbst in ähnlicher Weise vor kaum einer Minute gefragt hatte. »Wie wohl dein Blut schmecken wird, Hurenkind …?«
* Von irgendwoher nahm Lilith Kraft und Geistesgegenwart, zur Seite zu rollen, als Landru sich auf sie stürzen wollte. So schlug er in den Schnee, an der Stelle, wo sie eben noch gelegen hatte. Aber er rollte sich augenblicklich herum, um wieder auf die Füße zu kommen. Lilith hatte die halbe Sekunde genutzt, um aufzuspringen und gleichzeitig eine Schrittweite zwischen sich und Landru zu bringen. Sie erwartete ihn in geduckter Haltung, mit dem linken Arm ihre Kehle schützend, die rechte Hand zur Kralle gekrümmt und bereit, zuzustoßen.
Landru zögerte. Das Moment der Überraschung war vertan. Zum Kampf bereit war Creannas Balg kein so leichtes Opfer mehr, wie er es sich gewünscht hätte. »Was tust du hier?« knurrte er, während sein funkelnder Blick nichts anderes wollte, als Lilith zu verbrennen. »Ich folgte derselben Spur wie du«, antwortete Lilith, keinen noch so winzigen Moment in ihrer Achtsamkeit nachlassend. Landrus rechte Braue wanderte ein Stückchen seine Stirn hinauf. »Ach?« machte er. Lilith nickte. »Der Vampir aus der Retorte. Ich bin gekommen, ihn zu vernichten. Wie du.« »Du weißt …?« entgegnete Landru zögernd. »Ja. Du warst so freundlich, mich mit nach Icy Cape zu nehmen. Hast du es etwa nicht bemerkt? Du enttäuschst mich, alter Junge.« Lilith grinste frech, obwohl ihr in der Gegenwart dieses Wesens ganz und gar nicht nach Grinsen zumute war. »Hüte deine Zunge«, knurrte Landru. Also hatte er sich doch nicht geirrt, war keiner Täuschung seiner strapazierten Sinne erlegen. Schon in Washington war das Hurenbalg in seiner Nähe gewesen. Der Vampir verfluchte sich selbst für seinen Leichtsinn. »Du solltest mich eher bitten, meine Zähne im Zaum zu halten«, erwiderte Lilith. »Ich hätte nämlich nicht übel Lust, sie in deinen alten Hals zu schlagen.« »Du abartige Kreatur«, zischte Landru voll Abscheu. »Du bist nicht einmal die Hälfte unseres Blutes wert, das in deinen Adern fließt.« »Wie fühlt man sich, wenn das eigene Volk um einen herum elend verreckt?« Lilith genoß den Triumph des Moments. Sie ergötzte sich schier daran, Landru zu provozieren, ihn mit Worten zu demütigen. Vielleicht würde sie nie mehr Gelegenheit dazu haben. In den Augen des Vampirs blitzte etwas auf, das nur Mißtrauen sein konnte.
»Verdammtes Balg!« fuhr er sie an. »Was weißt du darüber? Und was hast du damit zu schaffen?« Lilith zuckte scheinbar gelangweilt die Schultern. »Ich wünschte, ich hätte etwas damit zu tun. Aber ich bin leider nur das AufräumKommando.« »Was redest du?« »Ich rede davon, daß deine verdammte Vampirbrut qualvoll zugrunde geht. Und wer nicht von dieser Seuche dahingerafft wird, stirbt durch meine Hand. So wahr mir …« Lilith lächelte, und nun blitzte es eindeutig vergnügt in ihren Augen. »… Gott helfe!« vollendete sie den Satz. Landru schrie auf wie unter körperlichem Schmerz. Und vielleicht bereitete ihm dieses eine Wort tatsächlich spürbare Qual. Geifernd starrte er ihr entgegen. »Wenn es so ist, was schert dich dann diese neue Rasse? Sie arbeitet dir nur in die Hände.« »Alle Vampire müssen sterben«, sagte Lilith hart, und dabei strichen die Finger ihrer Rechten über die Handfläche, wo sie das Tattoo zwar nicht fühlen konnte, aber doch wußte. Mit jedem verbliebenen Vampir, den sie hinrichtete, verblaßte es um eine Winzigkeit. Und irgendwann einmal sollte es ganz verschwunden sein. Irgendwann … Der Vampir vor ihr entspannte sich um eine Winzigkeit, und seine nächsten Worte überraschten Lilith: »Wenn wir beide das gleiche Ziel haben, für den Moment wenigstens, warum sollten wir es dann nicht gemeinsam erreichen?« Landrus plötzlicher Umschwung irritierte sie, aber Lilith blieb für einen Angriff gewappnet. »Was soll das heißen?« fragte sie lauernd. »Wir gehen zusammen daran, diese Brut hier zu vernichten. Ohne einander in den Rücken zu fallen.« Und Landru berichtete, was er zwischenzeitlich in Erfahrung ge-
bracht hatte. Daß die alten Männer Kokons mit ungeborenen Genvampiren in ihre Behausungen gebracht hatten. Daß er den »Vater« dieser Brut selbst in einer der Hütten vermutete. »Sie vermehren sich aus sich selbst?« fragte Lilith erstaunt. Landru nickte. »Damit würde der Lilienkelch überflüssig«, sagte sie. »Wo ist er eigentlich? Vernichtet? Oder verschwunden?« »Ich wünschte …«, setzte Landru dunkel an, doch er verkniff sich den Rest seiner Worte. Dennoch hatte Lilith Verdacht geschöpft. »Du hast ihn zurückbekommen?« »Das geht dich nichts an, Bastard. Laß uns tun, weshalb wir hergekommen sind.« »Ich traue dir nicht«, sagte Lilith. »Das solltest du auch nicht«, erwiderte Landru geheimnisvoll lächelnd. Doch er drehte sich um, bot ihr den Rücken ungeschützt dar und ging. »Nun komm. Worauf wartest du?« Lilith folgte ihm. Zu ihrem eigenen Erstaunen.
* Hütte um Hütte suchten sie auf. Und sie gingen vor wie ein lange aufeinander eingespieltes Team. Während sich Lilith der alten Inuits annahm, in die der Genvampir ausnahmslos seinen Keim gesät hatte, vernichtete Landru die Kokons. Er zerriß ihre Hüllen mit seinen Klauen und holte die Brut heraus. Daß er dabei mit wesentlich mehr »Sorgfalt« vorging, als vonnöten gewesen wäre, bemerkte Lilith sehr wohl, und sie vermied es, so gut es ging, ihm bei seinem Tun zuzusehen. Die Wächter der Kokons zu erlösen bereitete ihr kaum Probleme. Zwar setzten sie sich alle zur Wehr, doch sie vermochten Lilith mit ihrer Kraft nicht zu überraschen. Sie war darauf vorbereitet und ließ
die Gegner nicht zum Zuge kommen. Elfmal mußte sie es tun. Dann war zumindest dieser Teil ihrer Aufgabe beendet. »Dort drüben«, sagte Landru, dessen Kleidung und Haut von schwarzem Blut glänzte, schließlich. »In dieser Hütte muß der Homunkulus sich aufhalten.« »Dann laß uns die Sache beenden«, erwiderte Lilith und ging voran. Sie nahmen zu beiden Seiten der Tür Aufstellung, drückten sich gegen die Wand. »Du zuerst«, zischte Lilith und fügte hinzu, wobei sie lächelnd auf den eingeschweißten Ausweise deutete, den Landru noch immer am Revers trug: »Ist schließlich dein Job, Special Agent Landers.« »Schwätzerin«, knurrte Landru, riß das Plastikkärtchen ab und warf es fort. Dann stieß er sich von der Wand ab, drehte sich und nutzte den Schwung der Bewegung, um sich mit der Schulter gegen die Tür zu werfen. Sie platzte förmlich aus Schloß und Angeln, kippte nach innen, und Landru setzte hinterher, rollte sich schulmäßig ab und kam wieder auf die Beine. Lilith stand bereits hinter ihm, nicht minder aufmerksam. Das Innere der Hütte lag vor ihnen im flackernden Schein des Feuers, das in einer Bodenöffnung inmitten des Runds brannte. Der Vampir war tatsächlich hier. Doch er lag so reglos jenseits des Feuers an der Wand, daß sie ihn beide erst auf den zweiten Blick bemerkten. Er wandte Lilith und Landru das Gesicht zu, und vielleicht wußte er sogar, weswegen sie gekommen waren. Doch er war nicht imstande, etwas dagegen zu unternehmen, geschweige denn sie anzugreifen. Sein nackter Körper wirkte ausgemergelt und dürr. Die Geburt von zwölf Nachkommen hatte ihn in einem Maße geschwächt, daß er sich noch nicht wieder hatte erholen können.
Vielleicht hatten auch die Todesimpulse dazu beigetragen, vermutete Landru. Er hatte in der Station gesehen, wie stark der Vampir dort reagiert hatte, als er die Brut vernichtete. Ein solcher Schock in zwölfmaliger Folge mußte dieser Kreatur hier regelrechte Höllenqualen beschert haben. Er gönnte dem Monster jedes Quentchen davon … »Nun tu es endlich«, verlangte Lilith. Landru trat vor, aber er tat es aufreizend langsam. Er beugte sich zu dem geschwächten Retorten-Vampir hinab, legte die Hände um seinen Kopf. Sekundenlang ergötzte er sich noch an der stummen Qual, die etwas in diese Fratze fließen ließ, das Lilith fast anrührte. Sie wandte den Kopf, weil sie es nicht mitansehen wollte. Doch es vergingen weitere, peinigend lange Sekunden, ehe das erlösende Knacken brechender Wirbel aufklang … Schweigend verließ Lilith die Hütte. Es dauerte eine ganze Weile, bis Schritte hinter ihr laut wurden. Zusammen mit einem knisternden Geräusch, von dem Lilith wußte, was es zu bedeuten hatte, noch ehe sie sich umwandte und es sah. Aus dem Dach der Hütte schlugen erste Flammen. Landru leistete ganze Arbeit. »Ich sage dir nicht auf Wiedersehen«, erklärte Lilith. Die Linien ihres Gesichtes wurden hart. »Das mußt du auch nicht.« Landru lächelte verschlagen. Lilith sah ihm noch einmal ins Gesicht, doch bevor ihre Beunruhigung wirklich Gestalt annehmen konnte, wandte sie sich ab. Ein Fehler! Und Landru sagte es ihr auf den Kopf zu. »Habe ich dir nicht geraten, mir nicht zu vertrauen, tumbes Balg?« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Lilith auch schon seine Klauen in ihrem Haar spürte. Brutal riß er ihren Kopf nach hinten, während er mit der anderen Hand nach ihrer Kehle schlug …
*
… und ein Schuß krachte! Das Donnern rollte über die Hänge, zersplitterte in hundert Echos, in die sich das Krachen weiterer Schüsse mischte, bis Lilith sich wie inmitten eines Feuergefechts vorkam, das mit Dutzenden von Gewehren geführt wurde. Doch es war nur ein Gewehr, das wieder und wieder abgefeuert wurde. Dazwischen hörte Lilith ein metallisches Schnappen. Immer dann, wenn die Waffe nachgeladen wurde. Beim fünften Mal hörte sie auf zu zählen. Irgendwann war es vorbei. Lilith rappelte sich hoch. Der Schütze stand inmitten einer Wolke aus Pulverdampf, und eine Sekunde lang erkannte sie ihn tatsächlich nicht. Dann aber … »Parks!« Der Trapper nahm ihre Hand und zog sie fort. Zurück blieb ein verkrümmter, zerfetzter Körper, der in schwarzem Blut schier gebadet war. Wäre es der eines Menschen gewesen, wäre er so tot gewesen, wie es ein Mann nur sein konnte. Dieser hier jedoch begann sich schon wieder zu regen … »Ich habe keine Ahnung, was hier vorgeht«, sagte Parker Beauchamp im Laufen, »aber ich habe eurem Treiben lange genug zugesehen, um zu wissen, daß es jetzt ernst für dich wurde.« »Du hast zugesehen?« fragte Lilith verwundert. Sie stolperte, weil sie kaum Schritt mit Parks halten konnte. Er zerrte sie weiter. »Ja.« »Und …?« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »Du meinst, warum ich mich darüber nicht wundere? Oder nicht verrückt geworden bin?« Lilith nickte stumm. »Mädchen, ich habe in diesem Land Dinge gesehen, die selbst du für unmöglich halten würdest.« Er grinste ihr zu, aber es war kein
Funken Belustigung darin. »Ich bringe dich in Sicherheit«, fuhr er fort. Lilith blieb stehen. Seine Finger lösten sich von ihrer Hand. Nach drei Schritten blieb auch Parks stehen. »Was ist?« fragte er. Er sah sie an, und sein Tönfall klang gehetzt und sogar ein kleines bißchen verärgert, zumindest aber ungeduldig. »Ich kann nicht mit dir kommen«, erklärte sie. »Du mußt!« Sie schüttelte den Kopf, traurig lächelnd. »Nein. Ich darf es nicht.« »Was redest du für Sachen? Wer sollte es dir verbieten?« fragte er erregt. Lilith berührte die Stelle unter ihrer linken Brust. Sie sagte nichts, aber Parks wußte, was sie meinte. »Kann es sein, daß dein Herz eine Fremdsprache spricht, die du nicht kennst?« fragte er. Lilith lächelte. Wie gern wäre sie bei diesem natürlichen, lebensfrohen Mann geblieben. Aber gerade deshalb durfte sie es sich nicht erlauben: Damit er am Leben blieb … »Nein«, erwiderte sie dann, »ich verstehe sie leider nur zu gut.« Ohne ein weiteres Wort wollte Parker Beauchamp wieder nach ihrer Hand greifen, um sie einfach mit sich zu ziehen, doch Lilith wich zurück. »Du hast gesagt, du hättest schon eine Menge Dinge gesehen, die sogar ich für unmöglich halten würde«, erinnerte sie ihn. »Ja.« Liliths Lächeln vertiefte sich eine Spur, und es glitt eine Winzigkeit ins Lausbübische. »Auch so etwas schon?« fragte sie. Und verwandelte sich vor seinen Augen in eine Fledermaus. Hastig mit den Flügeln schlagend stieg sie empor. Für Parker Beauchamp mußte es aussehen, als winkte sie ihm zum
Abschied mit ihren Schwingen zu … Epilog Die Hütte lag so tief im Wald, der hier fast einem Dschungel glich, daß kaum jemand sie je finden würde. Selbst wenn jemand in der Nähe vorüberging, würde er sie nicht ohne weiteres sehen. Sie fügte sich perfekt ein in die Umgebung, und Benji hatte sie mittlerweile noch ein wenig mehr mit Zweigen getarnt. Selbst Maniilaq hatte Mühe gehabt, seine Hütte zu entdecken. Benji Hosteen drehte sich nicht um, als der Schamane eintrat. Der Junge wußte, wer da gekommen war, ohne ihn sehen zu müssen. »Tattu ist tot«, sagte der Alte. Benji schüttelte ungläubig den Kopf. »Wesen, die seiner Art ähnlich waren, haben ihn vernichtet«, fuhr Maniilaq fort. »Der Weltenschöpfer ist unsterblich«, behauptete der Junge. »Und er ist weise. Er trifft Vorsorge für den Fall, daß ihm sein Körper geraubt werden sollte.« Der Schamane ließ sich dem Benji gegenüber nieder. »Ja, das hat er getan«, sagte er. »Was glaubst du, wie lange es dauern wird?« fragte der Junge. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Maniilaq. »Aber was ist schon Zeit für ein Wesen wie ihn?« Mit dem spitzen Kinn wies der Schamane auf den schleimumhüllten Kokon, der, pulsierend im Rhythmus seines schwarzen Blutes, zwischen ihm und dem Jungen stand. ENDE
Glossar Garten Eden – Ein mythischer Ort, auch Paradies genannt. Er existiert noch heute am Anfang der Zeit – in einer Art Kontinuum, in das Lilith durch einen Zeitkorridor (>) gelangen konnte, um dort den Plan der Ur-Lilith zu erfüllen. Liliths Nachname Eden ist daher kein Zufall, sondern weist auf ihre Bestimmung hin. Wenn Gott präsent ist (wenn er also die Geschicke der Menschen beobachtet), ist der Garten Eden seine Heimstatt. Genvampire – Schon vor »Gottes Zorn«, der Seuche, die alle Sippenkinder befiel, gab es Überlegungen, den Fortbestand der Alten Rasse zu sichern. Denn Nachwuchs konnte es nur mit Hilfe des Lilienkelchs geben – und der war für 268 Jahre verschollen. So begann Herak, das Oberhaupt der Sippe in Sydney (>), damit, Genmaterial von Menschen und Vampiren zu kreuzen. Durch die Einbringung von Magie entstanden Homunkuli, künstliche, zweigeschlechtliche Wesen, die in Tanks mit Nährlösung heranwuchsen und unempfindlich sein sollten gegen christliche Symbolik. Doch nur einer dieser Genvampire überlebte – und erwachte in dem Moment, als der »Seuchenimpuls« über die Erde raste. Dadurch verloren die Blutsauger die Kontrolle über ihre Schöpfung. Der Genvampir floh auf einen Tanker Richtung Alaska. Dort wurde die Brut, die er unterwegs aus sich selbst zeugte, bei einem Feuer vernichtet; ihm jedoch gelang die Rettung ins Eismeer. Sydney – Stadt an der Ostküste Australiens. Hierher zogen sich Liliths Eltern, Sean Lancaster und die Vampirin Creanna, zurück, um vor den Nachstellungen der Alten Rasse sicher zu sein. Hier wurde auch Lilith geboren, schlief 98 Jahre in einem magisch gesicherten Haus und erwachte schließlich zwei Jahre zu früh, um den von der Ur-Lilith bestimmten Plan zu erfül-
len. Die Sydneyer Vampirsippe unter Herak (zuvor Hora) hatte in der Folge unter Liliths Erwachen am meisten zu leiden und wurde reichlich dezimiert. Zeitkorridor – Schier endloser Tunnel, der im antiken Uruk (im heutigen Irak) begann und durch alle Epochen, in denen Vampire Geschichte schrieben, zurückführte bis zum Anfang der Zeit: in den Garten Eden (>). Nachdem Lilith ihre Bestimmung erfüllt und Gott der Ur-Lilith vergeben hatte, zerfiel der Korridor. Nur Lilith und Landru gelangten in die Gegenwart zurück: der ehemalige Kelchhüter mit der von Gott im Lilienkelch verankerten Seuche, und Lilith mit der Aufgabe, die Vampire, die von der Seuche verschont blieben, zu vernichten.
Im Bann des Kindes von Timothy Stahl Raphael Baldacci ist ein »Gesandter«, ein Mann des Glaubens, von einer höheren Macht dazu auserkoren, das Gleichgewicht von Gut und Böse zu erhalten. Doch dieses Gleichgewicht wurde durch die Seuche der Vampire empfindlich gestört! Lilith Eden hat ihn bereits in ihren Träumen gesehen: den Widderköpfigen. Ein Wesen, das überirdische Macht ausstrahlt. Und durch den flüchtigen Kontakt mit der Halbvampirin gerät nun auch Baldacci in den Bannkreis des Unheimlichen. Er jedoch sieht ihn als das, was er wirklich ist. Als Kind …