R. L. Stine • Der Schneemann geht um
DER AUTOR R. L Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio gebore...
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R. L. Stine • Der Schneemann geht um
DER AUTOR R. L Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit neun Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben. DIE SERIE Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L Stine
Der Schneemann geht um Aus dem Amerikanischen von Charlotte Schauer
Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von Bertelsmann Band 20659 Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS erschienenen Titel der Serie.
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt Deutsche Erstausgabe Dezember 1999 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps # 51: Beware, the Snowman« bei Scholastic, Inc., New York © 1997 by The Parachute Press, Inc. All rights reserved Published by arrangement with Scholastic, Inc., 555 Broadway, New York, NY 10012, USA »Goosebumps«™ and »Gänsehaut«™ and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 1999 für die deutsche Übersetzung C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München Übersetzung: Charlotte Schauer Umschlagkonzeption: Klaus Renner bm Herstellung: Stefan Hansen Satz: FUU-Uhl + Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20659-9 Printed in Germany 10 987654321
Wenn der Schnee fällt im Wind Und es abends dunkel wird, Hüte dich vor dem Schneemann, mein Kind. Hüte dich vor dem Schneemann, Denn er macht, dass die Kälte klirrt. Warum musste ich andauernd an dieses Gedicht denken? Es war ein Gedicht, das mir meine Mutter immer zuzuflüstern pflegte, als ich ein kleines Mädchen war. Fast konnte ich Moms sanfte Stimme hören, eine Stimme, die ich nicht mehr gehört hatte, seit ich fünf war... Hüte dich vor dem Schneemann, Denn er macht, dass die Kälte klirrt. Mom starb, als ich fünf war, und seitdem wohne ich bei meiner Tante Greta. Inzwischen bin ich zwölf und meine Tante hat mir dieses Gedicht nie vorgelesen. Was ließ mich also daran denken, als Tante Greta und ich aus dem Umzugswagen stiegen und unser neues, vom Schnee bedecktes Heim betrachteten? »Jacky, du siehst aus, als würdest du dir Sorgen machen«, sagte Tante Greta und legte eine Hand auf meine Schulter. »Woran denkst du?« Ich zitterte. Nicht wegen Tante Gretas Berührung, sondern wegen der Kälte, die der stetig wehende Wind von den Bergen heruntertrug. Ich starrte auf das Häuschen mit dem fast flachen Dach, das unser neues Zuhause war. Hüte dich vor dem Schneemann. Das Gedicht hat eine zweite Strophe, dachte ich. Warum kann ich mich nicht daran erinnern?
Ob wir die alte Gedichtsammlung wohl noch besaßen, aus der Mom mir immer vorgelesen hatte? »Was für ein gemütliches kleines Haus«, sagte Tante Greta. Ihre Hand lag noch immer auf meiner Schulter. Ich war so traurig, so schrecklich unglücklich. Aber ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ja, gemütlich«, murmelte ich. Schnee bedeckte die Fensterbänke und füllte die Ritzen zwischen den Dachschindeln. Eine Schneekappe lag auf dem niedrigen Dach. Tante Gretas üblicherweise blasse Wangen waren von der Kälte rot geworden. Sie ist nicht sehr alt, aber sie hat weißes Haar, solange ich denken kann. Es ist lang, und sie trägt es immer zu einem Zopf geflochten, der ihr fast bis zur Taille reicht. Sie ist groß und dünn. Und irgendwie hübsch, mit einem zarten Gesicht und großen, traurigen dunklen Augen. Ich sehe meiner Tante überhaupt nicht ähnlich. Keine Ahnung, wem ich ähnlich sehe. Ich erinnere mich nicht sehr gut an meine Mom. Und meinen Vater kenne ich nicht. Von Tante Greta weiß ich, dass er sich kurz nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht hat. Ich habe gewelltes dunkelbraunes Haar und braune Augen. Ich bin groß und sportlich. Ich war die beste Basketballerin an meiner alten Schule in Chicago. Ich rede wahnsinnig gern und tanze und singe. Tante Greta kann einen ganzen Tag lang kaum etwas sagen. Ich hab sie gern, aber sie ist so ernst und still... Manchmal wünschte ich, sie wäre gesprächiger. Ich werde hier jemanden brauchen, mit dem ich reden kann, dachte ich traurig. Erst gestern waren wir in Chicago aufgebrochen, aber schon jetzt vermisste ich meine Freunde. Wie soll ich bloß in diesem Kaff am Polarkreis Freunde finden?, fragte ich mich.
Ich half meiner Tante beim Ausladen des Umzugswagens. Unter meinen Stiefelsohlen knirschte verkrusteter Schnee. Ich schaute an den weißen Berghängen empor. Schnee, Schnee, überall Schnee. Ich konnte nicht erkennen, wo die Berge aufhörten und die Wolken anfingen. Die kleinen quadratischen Häuschen entlang der Straße sahen in meinen Augen nicht echt aus. Eher, als wären sie aus Lebkuchen. Als wäre ich in einem Märchen gelandet. Nur, dass es kein Märchen war. Es war mein Leben. Mein total verrücktes Leben. Ich meine ja nur, warum mussten wir in dieses winzige, eisige Bergdorf ziehen? Tante Greta hat's mir nie richtig erklärt. »Zeit für einen Wechsel«, hat sie gemurmelt. »Zeit, weiterzuziehen.« Es war so schwer, mehr als diese paar Worte aus ihr rauszubekommen. Ich wusste, dass Mom und sie in einem Dorf wie dem hier aufgewachsen waren. Aber warum mussten wir gerade jetzt hierher ziehen? Warum musste ich meine Schule verlassen und alle meine Freunde? Sherpia. Allein der Name. Kannst du dir vorstellen, von Chicago nach Sherpia zu ziehen? Glück gehabt, he? Ach was! Es ist noch nicht mal ein Schidorf. Der ganze Ort ist praktisch ausgestorben. Ob's hier überhaupt jemanden in meinem Alter gibt? Tante Greta schob den Schnee vor unserem Eingang weg. Dann zerrte sie an der Haustür. »Das Holz hat sich verzogen«, schnaufte sie. Sie rammte die Schulter gegen die Tür - und auf war sie.
Tante Greta ist dünn, aber sie ist stark. Ich fing an, die Sachen ins Haus zu tragen. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas im verschneiten Vorgarten auf der anderen Straßenseite. Neugierig wandte ich mich um und schaute genauer hin. Was ist das? Ein Schneemann? Ein Schneemann mit einer Narbe? Als ich die Augen zusammenkniff, um es genauer erkennen zu können, fing der Schneemann an, sich zu bewegen.
Ich rieb mir die Augen. Nein. Der Schneemann bewegte sich nicht. Sein roter Schal flatterte in der aufkommenden Brise. Laut knirschte der Schnee unter meinen Stiefeln, als ich hinüberging und mir den Schneemann genauer anschaute. Was für ein seltsamer Schneemann! Dünne Äste waren seine Arme. Einer war zur Seite geneigt, der andere stand kerzengerade in die Luft, als würde er mir zuwinken. Jeder Ast hatte am Ende drei Zweige, die wie Finger von ihm abstanden. Zwei dunkle runde Steine bildeten die Augen des Schneemanns, eine krumme Karotte die Nase. Und eine Reihe kleinerer Kiesel einen fies grinsenden Mund. Warum hatten ihn die Leute so gemein aussehen lassen?, fragte ich mich. Ich konnte den Blick nicht von der Narbe auf der
rechten Seite seines Gesichtes abwenden. Sie war lang und tief eingeschnitten. »Komisch!«, stieß ich aus. Mein Lieblingswort. Tante Greta sagt immer, ich brauchte einen größeren Wortschatz. Aber wie sonst soll man einen fies aussehenden, übel grinsenden Schneemann mit einer Narbe im Gesicht bezeichnen? »Jacky, komm und hilf mir!« Auf Tante Gretas Ruf hin wandte ich mich von dem Schneemann ab. Ich rannte über die Straße zurück zu unserem neuen Haus. Es dauerte eine ganze Weile, den Umzugswagen zu entladen. In der letzten Kiste, die wir ins Haus schleppten, fand Tante Greta einen Topf. Dann machte sie uns heißen Kakao auf dem kleinen, altmodischen Herd in der Küche. »Gemütlich«, wiederholte sie. Sie lächelte. Aber ihre dunklen Augen musterten mein Gesicht. Ich glaube, sie versuchte herauszufinden, ob ich unglücklich war. »Wenigstens ist es hier drin schön warm«, sagte sie und legte ihre knochigen Finger um den weißen Becher mit heißem Kakao. Ihre Wangen waren immer noch rot vor Kälte. Ich nickte bedrückt. Ich wollte besser gelaunt sein. Aber ich konnte einfach nicht. Immer wieder dachte ich an meine Freunde zu Hause. Ob sie heute Abend wohl zu einem Spiel gingen? Meine Freunde waren alle verrückt nach Basketball. Hier werd ich bestimmt nicht viel zum Spielen kommen, dachte ich traurig. Selbst wenn die hier Basketball spielen, dann sind es bestimmt nicht genügend Leute im Dorf für 'ne richtige Mannschaft. »Da oben wirst du's warm haben«, unterbrach Tante Greta meine Gedanken. Sie deutete zu der niedrigen Decke. Das Haus hatte nur ein Schlafzimmer. Das war das Zimmer meiner Tante. Meins war die kleine Kammer unter dem Dach. »Ich seh's mir mal an«, sagte ich und stand auf. Der Stuhl
schrappte über den Holzboden. In mein Zimmer kam man nur über eine Metallleiter, die an die Wand gelehnt war. Ich kletterte hoch, stieß das flache Brett in der Decke beiseite und zog mich hoch auf den niedrigen Speicher. Es war gemütlich, keine Frage. Meine Tante hatte das treffend gesagt. Das Dach war so niedrig, dass ich mich nicht aufrichten konnte. Bleiches weißes Licht strömte durch das einzige kleine runde Fenster an der Giebelseite. Ich kroch zum Fenster und schaute hinaus. Schnee lag auf der Fensterbank. Ich konnte die Straße sehen und die zwei Reihen kleiner Häuschen, die sich den Berghang hinaufzogen. Niemand war da draußen zu sehen. Keine Menschenseele. Wahrscheinlich sind die alle nach Florida gegangen, dachte ich trübsinnig. Es waren Winterferien. Die Schule war geschlossen. Tante Greta und ich waren auf unserem Weg durchs Dorf an ihr vorbeigefahren. Ein kleines, graues Steinhaus, kaum größer als eine Doppelgarage. Wie viele würden in meine Klasse gehen?, fragte ich mich. Drei oder vier? Keiner außer mir? Und würden sie alle Englisch sprechen? Ich schluckte schwer. Und schimpfte mit mir selbst, dass ich so mies drauf war. Kopf hoch, Jacky, dachte ich. Sherpia ist ein süßes kleines Dorf. Vielleicht triffst du hier ein paar richtig nette Leute. Mit eingezogenem Kopf ging ich zurück zur Leiter. Ich werde Poster an die Wände hängen, beschloss ich. Das wird den Speicher gleich viel freundlicher wirken lassen. Und vielleicht muntert es mich ja auch ein bisschen auf.
»Kann ich beim Auspacken helfen?«, fragte ich Tante Greta, als ich die Leiter hinunterkletterte. Sie warf sich ihren langen weißen Zopf in den Nacken. »Nein. Ich will erst mal die Küche auf Vordermann bringen. Geh doch ein bisschen spazieren. Schau dich um.« Ein paar Minuten später war ich draußen und zog die Bänder an meiner Anorakkapuze fest. Ich zog meine fellgefütterten Handschuhe an und wartete darauf, dass meine Augen sich an die gleißende Helligkeit gewöhnten. Wohin sollte ich gehen? Die Schule, den Tante-Emma-Laden, eine kleine Kirche und das Postamt die Straße hinunter hatte ich schon gesehen. Und so beschloss ich, die Straße weiter hinaufzugehen, zum Gipfel des Berges. Der Schnee war fest. Meine Stiefel hinterließen kaum einen Abdruck, als ich mich gegen den Wind stemmte und losging. In der Straßenmitte hatten Reifenspuren zwei Rillen in den Schnee gezogen. Ich beschloss, in einer davon zu laufen. Ich kam an einigen Häusern vorbei, die so groß waren wie unseres. Sie wirkten dunkel und leer. In der Einfahrt eines großen Steinhauses stand ein Jeep. Ich sah einen Rodelschlitten im Vorgarten. Einen altmodischen aus Holz. Eine schwarze Katze mit bernsteinfarbenen Augen starrte mich vom Wohnzimmerfenster aus an. Ich winkte ihr mit einer Hand. Sie bewegte sich nicht. Noch immer hatte ich keinen einzigen Menschen gesehen. Der Wind pfiff kälter, je höher ich kam. Die Straße wand sich immer steiler den Berg hinauf. Die Häuser lagen jetzt weiter auseinander. Der Schnee funkelte, als die Sonne hinter den Wolken hervorkam. Plötzlich war es so schön! Ich drehte mich um und
schaute auf die Häuser hinunter, an denen ich vorbeigegangen war. Kleine Lebkuchenhäuschen, die sich in den Schnee duckten. Es ist wirklich hübsch, dachte ich. Vielleicht wird es mir hier doch noch gefallen. » Oh!«, schrie ich auf, als sich eisige Finger um meinen Nacken legten.
Ich schnellte herum und entriss mich der eisigen Umklammerung. Und starrte einem grinsenden Jungen ins Gesicht. Er trug eine braune Lammfelljacke und eine rot-grün gestreifte Schimütze. »Hab ich dich erschreckt?«, fragte er und grinste noch breiter. Bevor ich ihm antworten konnte, trat ein Mädchen in meinem Alter hinter einem weit ausladenden immergrünen Busch hervor. Sie trug eine lila Daunenjacke und lila Handschuhe. »Beachte ihn einfach nicht«, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Eli ist ein totaler Idiot.« »Danke, danke«, grinste Eli. Sie mussten Geschwister sein. Sie hatten beide ein rundes Gesicht, glattes schwarzes Haar und himmelblaue Augen. »Du bist neu hier«, sagte Eli und musterte mich. »Eli findet es lustig, Neulinge zu erschrecken«, erzählte mir seine Schwester und verdrehte dabei die Augen. »Mein kleiner Bruder ist doch echt die Wucht, oder?«
»Angst zu haben ist so ungefähr das Einzige, was man in Sherpia tun kann«, sagte Eli. Sein Grinsen verschwand. Was für ein komischer Satz, dachte ich. Ich stellte mich vor. »Ich bin Jacky DeForest«, sagte ich. Sie hießen Rolonda und Eli Browning. »Wir wohnen da«, sagte Eli und zeigte auf das weiße Haus. »Und du?« Ich deutete die Straße hinunter. »Weiter unten«, antwortete ich. Ich wollte sie etwas fragen - und hielt den Mund, als ich den Schneemann sah, den sie bauten. Er hatte einen Arm zur Seite abgewinkelt und den anderen hoch in die Luft gereckt. Ein roter Schal war um seinen Kopf geschlungen. Und eine tiefe Narbe zog sich über die rechte Seite seines Gesichtes. »D-d-der Schneemann«, stotterte ich. »Der sieht aus wie einer, den ich gegenüber unserem Haus gesehen habe.« Rolondas Lächeln erstarrte. Eli senkte den Blick auf den Schnee vor seinen Füßen. »Wirklich?«, murmelte er. »Warum habt ihr ihn so gebaut?«, wollte ich wissen. »Er sieht so merkwürdig aus. Warum habt ihrv ihm diese Narbe ins Gesicht gemacht?« Sie schauten einander nervös an. Sie antworteten nicht. Schließlich zuckte Rolonda mit den Schultern. »Echt keine Ahnung«, murmelte sie und wurde rot. Hatte sie gelogen? Warum wollte sie mir nicht antworten? »Wohin gehst du?«, fragte Eli und zog den roten Schal des Schneemanns fest. »Nirgendwohin. Nur ein bisschen in der Gegend rum«, antwortete ich. »Habt ihr zwei Lust mitzukommen? Ich hab mir gedacht, ich lauf zum Gipfel.« »Nein!«, stieß Eli aus. Seine blauen Augen weiteten sich
vor Angst. »Das geht nicht!«, rief Rolonda. »Das geht nicht!«
»Wie bitte?« Ich starrte sie überrascht an. »Wieso kann ich nicht hoch zum Gipfel?«, wollte ich wissen. Die Angst war schnell aus ihren Gesichtern gewichen. Rolonda warf ihr schwarzes Haar zurück. Eli gab vor, mit dem roten Schneemann-Schal beschäftigt zu sein. »Du kannst da nicht rauf, weil die Straße wegen Bauarbeiten gesperrt ist«, antwortete Eli schließlich. »Haha. Erinnere mich später dran zu lachen«, zischte Rolonda. »Also, was ist der echte Grund?«, fragte ich. »Och, also, wir... wir gehen da einfach nie rauf«, stotterte Rolonda und warf ihrem Bruder einen Hilfe suchenden Blick zu. Sie wartete darauf, dass er etwas sagte. Aber er tat es nicht. »Es ist so was Ähnliches wie eine alte Sitte«, fuhr Rolonda fort und vermied es dabei, mir in die Augen zu sehen. »Ich will damit sagen..., also ... wir gehen da einfach nicht rauf.« »Es ist zu kalt«, fügte Eli hinzu. »Deshalb. Es ist da oben zu kalt für Menschen. In dreißig Sekunden würdest du zu Eis gefrieren.« Ich wusste, dass er log. Ich wusste, dass das nicht der wirkliche Grund war. Aber ich beschloss, es gut sein zu lassen. Sie wirkten plötzlich so nervös und besorgt. »Woher kommst du?«, fragte Rolonda. Tief vergrub sie
ihre Hände mit den Handschuhen in ihren Jackentaschen. »Aus dem Nachbardorf?« »Nein, aus Chicago«, erzählte ich ihr. »Wir lebten in einer Wohnung direkt am See.« »Und dann seid ihr hierher gezogen?«, rief Eli verwundert. »Von Chicago nach Sherpia? Warum?« »Gute Frage«, murmelte ich und verdrehte die Augen. »Ich wohne bei meiner Tante, o.k.? Und Tante Greta beschloss, hierher zu ziehen. Und deshalb...« Ich konnte die Traurigkeit in meiner Stimme nicht unterdrücken. Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten. Sie erzählten mir, dass sie ihr ganzes Leben in Sherpia gewohnt hatten. »Es ist nicht wirklich schlimm. Man gewöhnt sich dran, nicht so viele Leute zu sehen«, erzählte Rolonda. »Und es ist ganz nett, wenn man Schnee mag«, fügte Eli hinzu. »Sehr viel Schnee.« Wir lachten. Ich sagte: »Bis später«, und machte ein paar Schritte die Straße hinauf. »Du willst doch nicht wirklich zum Gipfel, oder?«, rief Eli. Er klang wieder richtig verängstigt. »Nein«, rief ich zurück und zog meine Kapuze enger. »Es wird ganz schön windig. Ich geh nur noch ein kleines Stück.« Die Straße wand sich höher. Mein Weg führte an einem großen, baumbestandenen Grundstück voller Kiefern vorbei, deren Stämme kaum dicker waren als Bleistifte. Die Bäume krümmten sich in alle Richtungen. Kein einziger war gerade gewachsen. Ich sah Tierspuren im Schnee. Ein Waschbär vielleicht, oder ein Eichhörnchen? Nein, dafür waren sie zu groß. Ein Reh? Keine Ahnung. Ich hob den Blick - und schrie vor Überraschung auf.
Ein weiterer fieser Schneemann glotzte mich an mit seiner krummen Nase und den kohlschwarzen Augen. Sein roter Schal wehte im starken Wind. Ich starrte auf die tiefe Narbe in seinem Gesicht. Seine dürren Ärmchen bewegten sich im Wind, als grüßten sie mich. »Warum bauen sie hier bloß diese gruseligen Schneemänner?«, fragte ich laut. Ich drehte mich um - und sah noch einen im Vorgarten auf der anderen Straßenseite. Die gleichen Astärmchen. Der gleiche rote Schal. Die gleiche Narbe. Das muss eine Art Dorfschmuck sein, entschied ich. Aber warum wollten Rolonda und Eli mir nichts davon erzählen? Schwere dunkle Wolken schoben sich vor die Sonne. Der Schatten des Schneemanns schien sich zu strecken, bis er auf mich fiel. Ich fühlte ein plötzliches Frösteln. Ich trat zurück. Der Himmel verdunkelte sich schnell. Ich schaute hoch zum Berggipfel. Kieferngrüppchen verbargen den Gipfel vor meinem Blick. Sollte ich mich auf den Rückweg machen oder noch weiter gehen? Ich erinnerte mich an die Angst auf Elis Gesicht, als ich gesagt hatte, ich wollte zum Gipfel. Und ich erinnerte mich an Rolondas Schrei: »Das geht nicht!« Es machte mich nur noch neugieriger. Wovor hatten die beiden Angst? Was war da oben? Ich beschloss weiterzugehen. Ein Kleinbus in der nächsten Einfahrt lag unter einer dicken Schneedecke begraben. Er sah aus, als wäre er den ganzen Winter über nicht gefahren worden. Ich folgte der Straße, als sie von den Häusern
wegführte. Der Schnee wurde tiefer und weicher. Meine Füße sanken ein, während ich ging. Ich stellte mir vor, ich wäre auf einem anderen Planeten unterwegs, einem Planeten, der noch niemals zuvor erkundet worden war. Die Straße stieg steiler an. Große weiße Felsbrocken lugten aus dem Schnee hervor. Grüppchen schlanker Kiefern waren über das Gelände verstreut. So weit oben gab es keine Häuser. Alles, was ich sah, waren Bäume und schneebedeckte Büsche und zerklüftete Felsen. Wieder machte die Straße eine Biegung. Der Wind pfiff. Ich rieb mir Wangen und Nase, um sie zu wärmen. Dann stemmte ich mich gegen den Wind und ging weiter. Ich blieb stehen, als ich eine kleine Blockhütte erblickte. Eine Blockhütte? So weit oben? Warum sollte irgendjemand so weit oben wohnen wollen? Weit von allen anderen entfernt? Die Hütte stand mitten auf einer quadratischen Lichtung und war von mickrigen Kiefern umgeben. Ich konnte kein Auto und keinen Schlitten entdecken. Auch keine Stiefelspuren im Schnee. Ich schlich mich näher an die Hütte heran. Die Fenster waren beschlagen. Ich konnte nicht sagen, ob drinnen Licht brannte oder nicht. Ich trat noch näher, mein Herz raste wie verrückt. Ich lehnte meine Arme auf eine Fensterbank und presste meine Nase an das Glas. Aber ich konnte nicht hineinsehen. »Ist da jemand?«, rief ich. Stille. Der Wind pfiff um die Ecken der Hütte. Ich klopfte an die Tür. »Hallo?« Keine Antwort. »Komisch«, murmelte ich.
Ich versuchte es an der Tür. Ich drückte sie nur ein bisschen. Vielleicht hätte ich das besser nicht getan. Aber dafür war es zu spät. Die Tür öffnete sich. Ein Schwall warmer Luft schlug mir entgegen. »Ist da jemand?«, rief ich noch einmal. Ich warf einen Blick ins Hütteninnere. Ganz schön dunkel. »Hallo?« Ich trat über die Schwelle. Wollte mich nur kurz umsehen. Der Schnee draußen war so hell gewesen. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Dämmerlicht. Und bevor ich richtig scharf sah, erkannte ich einen weißen Fleck. Einen knurrenden weißen Fleck. Er sprang mich an. Heißer Atem. Heißer Atem an meinem Gesicht. Und ein knurrendes weißes Etwas warf mich zu Boden.
»Sitz! Sitz, Wolf!« Das Knurren hörte sofort auf. Das Wesen ließ von mir ab. »Sitz, Wolf!«, befahl eine feste männliche Stimme. Nach Luft schnappend, wischte ich mir heißen Geifer vom Gesicht. Und stellte fest, dass ich einen weißen Wolf anstarrte.
Auch der Wolf atmete schwer. Seine Schnauze war offen und seine Zunge hing ihm fast bis auf den Hüttenboden hinunter. Sein Kopf war gesenkt, als bereite er einen neuen Angriff vor. Seine runden, dunkelbraunen Augen musterten mich argwöhnisch. »Sitz, Wolf! Alles in Ordnung, Junge.« Ich rollte mich von dem keuchenden Wesen weg und kniete mich hin. Zwei Hände wurden mir entgegengestreckt, erfassten meine Hände und zogen mich hoch. »Alles in Ordnung?« Der Mann musterte mich aus runden silbergrauen Augen. Er war groß und dünn und trug nur Jeans. Er hatte langes graues Haar, das er in einem kurzen Pferdeschwanz trug. Und einen dichten schneeweißen Bart. Seine Augen glühten wie Stahlmurmeln. Es kam mir so vor, als könnte ich es fühlen, wie sein Blick mich durchbohrte. »Ist das... wirklich ein Wolf?«, wollte ich wissen. Er nickte mit ernster Miene, seine unheimlichen Augen bewegten sich nicht. Er zwinkerte nicht mal. »Er tut dir nicht weh. Wolf ist gut erzogen.« »Aber er...« Meine Kehle war plötzlich so trocken, dass es schwer fiel, etwas zu sagen. »Du hast uns erschreckt«, sagte der Mann und schaute mich unverwandt an. »Wir waren im Hinterzimmer.« Er deutete auf einen Durchgang an der Wand gegenüber. »Das tut mir Leid«, murmelte ich. »Ich wusste nicht, dass jemand hier war. Ich dachte...« »Wer bist du?«, wollte der Mann verärgert wissen. Er starrte mich mit finsterer Miene an. Unter seinem weißen buschigen Bart rötete sich sein schmales Gesicht. »Ich wollte nicht...« »Wer bist du?«, wiederholte er. »Ich bin nur ein bisschen spazieren gegangen«, versuchte ich zu erklären. Wenn doch nur mein Herz nicht so
wahnsinnig rasen würde. Wenn doch nur meine Kehle nicht so ausgedörrt wäre. Der weiße Wolf stieß ein tiefes Knurren aus. Er stand mit gesenktem Kopf da und ließ mich nicht aus den Augen, als wartete er nur auf den Befehl, mich anzugreifen. »Warum bist du in mein Haus eingebrochen?«, fragte der Mann und machte einen Schritt auf mich zu. Er ist gefährlich, schoss es mir durch den Kopf. Irgendwas an ihm ist merkwürdig. Er ist sehr zornig. »Ich bin nicht eingebrochen«, setzte ich an. »Ich hab nur...« »Du bist in mein Haus eingebrochen«, beharrte er. »Kapierst du nicht, wie gefährlich das ist? Wolf ist darauf abgerichtet, Fremde anzugreifen.« »T-tut mir Leid«, brachte ich mühsam hervor. Er kam noch einen Schritt auf mich zu. Er hatte immer noch kein einziges Mal gezwinkert. Vor Angst konnte ich kaum atmen. Was hatte er vor? Ich hatte keine Lust, das herauszufinden. Ich atmete tief ein. Dann drehte ich mich rasch um und rannte zur Tür hinaus. Konnte ich entkommen?
Hinter mir schlug die Tür hart gegen die Hüttenwand. Ich warf einen Blick über die Schulter - und sah ihn hinter mir herlaufen. »Wohin willst du?«, rief er. »He, warte! Wohin willst du?« »Auf den Gipfel!«, rief ich zurück.
»Das wirst du nicht!«, brüllte er mich an. »Kapiert? Du gehst da nicht rauf!« Er ist verrückt!, schoss es mir durch den Kopf. Er hat kein Recht, mich so anzubrüllen! Und ich kann gehen, wohin ich will. Er ist verrückt. Es hatte zu schneien begonnen, große, schwere Schneeflocken, die der Wind herumwirbelte. Ich wischte mir eine Schneeflocke von der Stirn und rannte zur Straße. Zu meinem Schrecken folgte mir der Bärtige halb gehend, halb laufend durch den tiefen Schnee. »Hüte dich vor dem Schneemann!«, rief er mir zu. »Was?« Ich drehte mich zu ihm um. »Was haben Sie gesagt?«, stieß ich nach Atem ringend hervor. Das alte Gedicht schoss mir zum zweiten Mal an diesem Tag durch den Kopf. Wenn der Schnee fällt im Wind Und es abends dunkel wird, Hüte dich vor dem Schneemann, mein Kind. Hüte dich vor dem Schneemann, Denn er macht, dass die Kälte klirrt. Ich glaub das einfach nicht!, dachte ich. Ich hab keinen Gedanken mehr an dieses Gedicht verschwendet, seit ich fünf bin. Und jetzt kommt es mir zweimal an einem Tag in den Sinn. Wir starrten uns von den gegenüberliegenden Straßenseiten an. Ich sah, dass der Mann zitterte. Er trug nur sein Jeanshemd, keine Jacke. Dicke Schneeflocken lagen auf seinem weißen Haar und seinen Schultern. »Was haben Sie da gerade gesagt?«, fragte ich.
»Der Schneemann lebt in der Eishöhle!«, rief er und formte dabei seine Hände wie einen Trichter, damit er im pfeifenden Wind zu hören war. »Was? Ein Schneemann?« Der ist wirklich verrückt, entschied ich. Warum steh ich hier rum und höre ihm zu? Der Mann lebt in einer einsamen Hütte in den Bergen, ganz allein, nur einen weißen Wolf zur Gesellschaft. Und jetzt brüllt er irre Sachen von irgendeinem Schneemann! »Hüte dich vor dem Schneemann!«, wiederholte er. »Du kannst da nicht raufgehen! Kapiert?« »Warum nicht?«, schrie ich. Meine Stimme war viel höher und schriller als üblich. »Du willst dem Schneemann nicht über den Weg laufen!«, rief der Mann. Die dicken Schneeflocken bedeckten seinen Bart. Seine silbrigen Augen funkelten unheimlich. »Wenn du dem Schneemann begegnest, dann wirst du nie mehr wiederkommen!« Total verrückt! Keine Frage. Deshalb lebt er hier oben ganz allein. Ich drehte mich abrupt um. Ich wusste, ich war zu lange geblieben. Stolpernd rannte ich durch den tiefen Schnee. Rannte so schnell ich konnte. Kalte Schneeflocken peitschten mir ins heiße Gesicht, mein Herz hämmerte. Die Straße hinunter. Immer die gewundene Straße hinunter. Keuchend. Atmete ich so schwer? Waren das die Geräusche meiner Schritte? Nein. Als ich einen Blick über die Schulter warf, sah ich den weißen Wolf hinter mir herrennen. Er holte schnell auf.
Gefletschte Zähne. Den Kopf zum Angriff gesenkt. »Neiiin!«, schrie ich. Schneeflocken nahmen mir die Sicht, während ich rannte. Der weiße Boden verschwamm vor meinen Augen. Ich strauchelte, rannte aber weiter. Ich fühlte mich plötzlich wie in einer dieser Zauberkugeln, in denen es schneit, wenn man sie schüttelt. Ich stolperte abwärts. Die Schneeflocken umwirbelten mich aus allen Richtungen. Der ganze Berg schien in Bewegung. Die Straße! Wo war die Straße? Ich hatte sie im wirbelnden Schnee verloren. Meine Stiefel sanken in tiefe Schneewehen. Doch ich lief weiter, immer weiter abwärts. Das regelmäßige Klopfen der Wolfspfoten in den Ohren. Ich schaute rasch zurück und sah ihn mehr und mehr aufholen. Leicht bewegte er sich über die Schneewehen. Seine Zähne waren gefletscht. Dampfender Atem kam aus seinem offenen Maul. Ich rannte so schnell, dass ich die Felsen nicht bemerkte. Mit einem Fuß blieb ich an einem Vorsprung hängen. »Oh!«, schrie ich auf, als mir der Schmerz ins Bein schoss. Ich verlor das Gleichgewicht. Taumelte vorwärts. Knallte auf den Bauch. Ich rang nach Luft. Der Sturz hatte mir für einen Augenblick den Atem genommen. Als ich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, beobachtete ich hilflos, wie der Wolf immer näher kam.
Zu meiner Überraschung blieb der Wolf in einigen Metern Entfernung stehen. Er senkte den Kopf und starrte mich keuchend an. Unter dem dichten weißen Fell hoben und senkten sich seine Flanken. Schneeflocken schmolzen auf seiner Zunge. Voller Angst schaute ich hinüber und stand auf. Ich strich mir das Haar zurück und klopfte mir den Schnee von der Vorderseite meines Anoraks. Holte der Wolf nur kurz Luft? Würde er mich angreifen, sobald ich wegzulaufen versuchte? »Geh nach Hause, Junge«, flüsterte ich. »Geh nach Hause.« Meine Stimme war wegen des Windes kaum zu hören. Der weiße Wolf starrte mich immer noch hechelnd an. Langsam machte ich einen Schritt zurück. Ich hatte Angst, ihn auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen. Dann machte ich noch einen Schritt. Und noch einen. Der Wolf beobachtete mich, aber er regte sich nicht. Meine Stiefelsohlen fanden die Straße. Ja! Da war sie! Ich ging weiter rückwärts. Der Wolf richtete sich etwas auf. Senkte die Rute. Straffte den Rücken. Seine braunen Augen folgten mir. Augen wie die eines Menschen. Was dachte er? Warum hatte er mich verfolgt? Wollte er nur sichergehen, dass ich den Berg wieder verließ? Hatte der merkwürdige Mann ihn geschickt, um mich vom Gipfel fern zu halten? Ich machte noch einen Schritt zurück. Und noch einen. Der Wolf bewegte sich nicht.
Die schneebedeckte Straße wand sich hinab. Ich ging immer weiter rückwärts, bis ich das Tier nicht mehr sehen konnte. »Uff!« Ich seufzte erleichtert auf. Drehte mich um. Und ging eilig weiter in Richtung Dorf und mein neues Zuhause. Alle paar Sekunden blickte ich zurück. Doch der Wolf folgte mir nicht. Es schneite stark. Ich zog mir die Anorakkapuze über den Kopf, hielt sie mit beiden Händen unterm Kinn zusammen und fiel in einen Trott. Ob Tante Greta sich wohl Sorgen um mich machte? Ich war viel länger weggeblieben als geplant. Tiefe Schneewolken verdeckten die Sonne. Der Himmel war fast so dunkel, als wäre es Nacht. Ich kam an den ersten Häusern vorbei. In einigen konnte ich Licht sehen. In einem brannte ein prasselndes Feuer im Kamin. Schwarzer Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Ich kam an einem der merkwürdigen, narbengesichtigen Schneemänner vorbei. Seine Ästchenarme zitterten im Wind. Es schien, als würde er mir zuwinken, als ich an ihm vorüberging. Ich rannte los. Ein weiterer Schneemann winkte mir zu, als ich um die nächste Straßenkehre kam. Ich hasse dieses Dorf!, dachte ich. Es ist zu komisch, einfach zu komisch. Ich werde mich hier nie wohl fühlen. Niemals! Warum hat uns Tante Greta hierher gebracht? Da! Ein dumpfes Geräusch hinter mir. Ich werde verfolgt. Der Wolf? Nein. Diese Schritte klangen anders. Wie die eines Menschen.
Der irre, bärtige Mann - er verfolgt mich! »Oh!« Ein ängstliches Stöhnen kam mir über die Lippen. Ich atmete tief ein und schnellte herum.
»Jacky! Hallo!« Ich holte tief Luft und stierte durch den fallenden Schnee auf Rolonda. Sie überquerte die Straße. Schneeflocken lagen auf ihrem schwarzen Haar. »Du bist direkt an unserem Haus vorbeigerannt«, rief sie etwas außer Atem und deutete auf ihren Vorgarten. »Hast du uns nicht gesehen?« Ich schaute an ihr vorbei und sah ihren Bruder Eli, der mir von ihrer Einfahrt aus zuwinkte. »Nein. Ich... äh... der Schnee fiel so dicht, und ich ... ich ...«, stotterte ich. »Ist alles okay mit dir?«, wollte Rolonda wissen. »Also ...« Ich zögerte. »Ein weißer Wolf hat mich gejagt!«, stieß ich schließlich hervor. »Und ein irrer Mann. Er hat eine Hütte in der Nähe des Gipfels. Sein Wolf hat mich verfolgt und er ...« »Du bist Conrad begegnet?«, rief Rolonda überrascht. »Conrad?« Der Wind wehte mir die Kapuze vom Kopf. Ich blinzelte Rolonda an. »Heißt er so?« Sie nickte. »Er wohnt in einer Hütte, die er selbst gebaut hat. Und er hält sich einen weißen Wolf namens Wolf. Ich wollte dich warnen, Jacky ...« »Mich warnen?«, fiel ich ihr ins Wort. »Hmhm. Dass du ihm aus dem Weg gehst. Er und
dieses Vieh, das er sich hält - die sind mir beide nicht geheuer.« »Erzähl«, seufzte ich und verdrehte die Augen. »Geht ihr wegen ihm nicht auf den Gipfel?« Rolonda senkte den Blick. »Tja ... nicht nur.« Ich wartete darauf, dass sie fortfuhr. Aber sie tat's nicht. Sie starrte nur weiterhin zu Boden. Mit einem Fuß streifte sie sich einen Klumpen nassen Schnee ab. Hinter ihr stand Eli und beobachtete uns, die Hände tief in seinen Jackentaschen vergraben. »Warum wohnt Conrad da oben? So weit entfernt von allen anderen?«, wollte ich wissen. Rolonda zögerte. Sie warf ihrem Bruder einen nervösen Blick zu. »Das weiß niemand so genau«, sagte sie schließlich. »Er... vielleicht arbeitet er für den Schneemann. Ich meine ...« Ihre Stimme brach ab. »Was?« Ich war mir sicher, dass ich mich verhört haben musste. »Was hast du da eben gesagt, Rolonda? Er arbeitet für den Schneemann? Was meinst du damit? Was soll das heißen?« Sie antwortete nicht. Wieder schaute sie nervös zu ihrem Bruder. »Komm schon, Rolonda. Was meinst du damit?«, wiederholte ich. »Was soll das heißen, er arbeitet für den Schneemann?« Sie wich zurück und strich sich die Schneeflocken vom Haar. »Ich muss jetzt rein«, sagte sie. »Zeit fürs Abendessen.« Ich ging ihr hinterher. »Aber erst musst du mir das noch erklären!«, beharrte ich. »Das kann ich nicht«, flüsterte sie. »Wegen Eli. Er hat zu viel Angst.« »Aber, Rolonda ...«, setzte ich an. Eli beobachtete uns von der Einfahrt aus.
»Hau ab«, fuhr mich Rolonda an. »Hau einfach ab.« »Nicht, bevor du mir nicht erklärt hast, was das alles soll.« Ich kann ganz schön stur sein, wenn ich will. »Schon gut, schon gut«, flüsterte sie und warf Eli einen besorgten Blick zu. »Wir treffen uns morgen Abend, okay? Morgen Abend bei der Kirche - dann erzähl ich dir alles.«
»Hallo, ich bin wieder da!« Ich stürzte ins Haus. In der kleinen Küche beugte sich Tante Greta gerade über einen Umzugskarton, holte Kaffeebecher heraus und stellte sie in den Schrank. Sie drehte sich um, als ich eintrat. »Schneit es?«, fragte sie. Ich nickte heftig und schüttelte mir die Schneeflocken aus den Haaren. »Die dicksten Flocken, die ich je gesehen habe«, antwortete ich schnaufend. Tante Greta zog die Stirn kraus. »Ich war hier drin so sehr beschäftigt, dass ich noch nicht mal einen Blick aus dem Fenster geworfen habe.« Ich zog meinen Anorak aus und trug ihn zum Schrank in der Diele. Aber da gab es noch keine Bügel. Deshalb warf ich die feuchte Jacke auf einen Kistenstapel. Dann ging ich zurück in die Küche und rubbelte die Ärmel meines Pullovers aneinander. »Tante Greta, weißt du irgendetwas über einen Schneemann?« Ich hörte, wie sie die Luft anhielt. Doch als sie sich zu mir umdrehte, war ihr Gesicht völlig unbewegt. »Was hast du gesagt?«
»Weißt du irgendetwas über einen Schneemann am Berggipfel?« Tante Greta biss sich auf die Unterlippe. »Nein. Nein, keine Ahnung, Jacky.« Ihre Stimme zitterte. Warum sah sie so nervös aus? Sie beugte sich wieder herunter, um weitere Becher aus der Kiste zu holen. Ich durchquerte das Zimmer, um ihr beim Auspacken zu helfen. »Jemand hat mir gesagt, ich sollte wegen des Schneemanns nicht zum Berggipfel gehen«, erzählte ich. »Wegen des Schneemanns, der dort oben lebt.« Tante Greta sagte gar nichts. Sie reichte mir zwei Becher, die ich in den Küchenschrank stellte. »Da war ein Mann, der hat mir erzählt, dass ich nie mehr ins Dorf zurückkehren würde, wenn ich den Schneemann da oben träfe«, fuhr ich fort. Meine Tante lachte trocken auf. »Dorffolklore«, murmelte sie. Ich schaute sie fragend an. »Glaubst du wirklich?« »Na klar«, antwortete sie. »Diese kleinen Dörfer haben alle ihre unheimlichen Geschichten. Jemand hat sich einen Scherz mit dir erlaubt und dir einen kleinen Schrecken eingejagt.« »Nur so zum Spaß?« Ich runzelte die Stirn. »Das glaub ich nicht.« Dieser komische Kerl mit dem weißen Bart, Conrad, hatte mich angebrüllt, ich dürfte nicht auf den Gipfel gehen. Das war kein Scherz. Es war ihm bitterernst. Er hatte mich bedroht. Das war für ihn kein Spiel gewesen. Niemals. »Tante Greta, erinnerst du dich an ein Gedicht über einen Schneemann?«, fragte ich. Sie richtete sich auf und streckte sich, wobei sie sich die
Hände ins Kreuz stemmte. »Ein Gedicht?« »Ich hab mich heute an ein Gedicht erinnert. Von früher, als ich noch klein war. Es kam mir einfach so in den Sinn.« Tante Greta biss besorgt auf ihrer Unterlippe herum. »Ich kann mich an kein Gedicht erinnern«, sagte sie. Sie schaute weg und mied meinen Blick. »Ich kann mich bloß an die erste Strophe erinnern«, sagte ich. Und dann trug ich vor: »Wenn der Schnee fällt im Wind Und es abends dunkel wird, Hüte dich vor dem Schneemann, mein Kind. Hüte dich vor dem Schneemann, Denn er macht, dass die Kälte klirrt.« Als ich geendet hatte, schaute ich in Tante Gretas Gesicht und fand dort den merkwürdigsten Ausdruck, den ich je bei jemandem gesehen hatte. In ihren Augen standen Tränen, und ihr Kinn zitterte. Ihre Wangen waren noch blasser als sonst. »Tante Greta, geht's dir gut?«, fragte ich. »Was ist passiert?« »Nichts«, antwortete sie kurz angebunden und wandte ihr Gesicht von mir ab. »Überhaupt nichts, Jacky. Ich kann mich an das Gedicht nicht erinnern. Ich glaube, ich habe es noch nie in meinem Leben gehört.« Sie fingerte nervös an ihrem langen weißen Zopf herum. »Ganz sicher?«, fragte ich vorsichtig. »Natürlich bin ich mir sicher«, fuhr sie mich an. »Komm und hilf mir hier ein bisschen, damit ich das Abendessen vorbereiten kann.« Was ist denn jetzt auf einmal los?, fragte ich mich.
Warum ist sie sauer auf mich? Und warum habe ich das Gefühl, dass sie nicht die Wahrheit sagt? Tante Greta hat mich noch nie angelogen. Warum verhält sie sich auf einmal so komisch?
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Meine neue Matratze war hart. Und ich wurde die Vorstellung nicht los, dass sich die niedrige Decke immer mehr absenkte und mich zerdrückte. Die Schneewolken hatten sich verzogen und der Halbmond stand nun tief am Himmel. Das Mondlicht fiel durch mein rundes Zimmerfenster. Mich fröstelte unter meiner Decke. Es war alles so neu und anders. Ich fragte mich, ob ich wohl jemals hier oben würde gut schlafen können. Ich schloss die Augen und versuchte an etwas Schönes, Beruhigendes zu denken. Ich stellte mir meine Freunde aus Chicago vor. Einen nach dem anderen. Ich dachte darüber nach, was sie wohl an diesem Tag erlebt hatten, während ich mein Angst einflößendes Abenteuer auf dem Berg gehabt hatte. Ob sie mich wohl vermissten? Ich war gerade am Einschlafen, als das Heulen anfing. Wolfsgeheul? Ich kletterte aus dem Bett und kroch zum Fenster. Draußen ließ der Mondschein den Schnee leuchten, fast so hell wie am Tag.
Büsche bewegten sich in der leichten Brise. Der Wind trug ein weiteres Angst einflößendes Heulen zu mir herüber. Ich ließ meinen Blick den Berg hinauf wandern. Doch ich sah nur Häuser, die dunkel und still dalagen, und die silbrig glänzende Straße, die sich den Berg hinaufwand. Es kribbelte mich am ganzen Körper. Mir war klar, dass ich jetzt nicht einschlafen könnte. Es war kühl hier oben in meiner kleinen Kammer, und die Luft war schwer und feucht. Ich beschloss einen Spaziergang zu machen. Vielleicht bringt mich das ein bisschen zur Ruhe, überlegte ich. Ich zog Jeans an und einen Sweater. Dann schlich ich mich nach unten - ganz vorsichtig, damit ich Tante Greta nicht weckte - und fand meinen Anorak und meine Stiefel. Ich trat hinaus in die Nacht und schloss leise die Haustür hinter mir. Mein Blick schweifte über den glitzernden Schnee in unserem Vorgarten. Ich ging zur Straße. Mein Atem bildete kleine Nebelwölkchen. »Wow«, murmelte ich. »Wow!« Die kalte, frische Luft fühlte sich wahnsinnig gut an. Der Wind hatte sich gelegt. Die ganze Welt schien stehen geblieben zu sein. Keine Autos. Keine trötenden Hupen. Keine Busse, die an einem vorbeirauschten. Keine lachenden oder rufenden Leute auf den Straßen. Ich bin hier ganz allein, sagte ich mir. Die ganze Welt gehört mir. Ein lang gezogenes, Angst einflößendes Heulen riss mich aus meinen verrückten Gedanken. Ich erschauerte und hob den Blick zum Berggipfel. War das der weiße Wolf, der da oben heulte? Tat er das jede Nacht? Wieso klang das Heulen so sehr wie das eines Menschen? Tief sog ich die kalte Luft ein und hielt sie einen
Augenblick lang an. Dann ging ich langsam die Straße hinunter. Meine Stiefelsohlen scharrten über den verharschten Schnee. Ich kam an einigen Häusern vorbei und ging weiter. Und blieb stehen, als ein Schatten auf meinen Weg fiel.
Ich erstarrte. Zuerst dachte ich, dass mir jemand folgte. Doch dann erkannte ich den langen Schatten eines Schneemanns. Der Schatten fiel auf die Straße. Die Ästchenarme, einer in die Luft gestreckt, der andere seitlich abgewinkelt, wirkten gefährlich. Ich trat über den Schatten und wechselte die Straßenseite. Doch ein anderer Schatten fiel auf mich. Ein anderer Schneemann. Identisch mit dem ersten. Die Schatten der seltsamen Schneemänner vermischten sich miteinander. Plötzlich hatte ich das Gefühl, mich in einer schwarz-weißen Welt aus schattenhaften Köpfen, flatternden Schals und astgleichen Armen zu bewegen, die mir alle zuwinkten. Warum gab es hier so viele davon? Warum bauten die Leute aus dem Dorf die Schneemänner alle gleich? Ein erneutes Heulen ließ mich von den sich vermischenden Schatten auf dem Schnee aufblicken. Dieses Heulen war ganz nah. Und es stammte definitiv von einem Menschen! Ein Schauer rann mir über den Rücken. Ich drehte um. Es war an der Zeit, wieder nach Hause zu gehen. Mein Puls raste. Das Heulen hatte mir echt Angst
eingejagt. Ich ging schneller und lehnte mich gegen den auffrischenden Wind. Beim Blick auf den narbengesichtigen Schneemann in der Auffahrt vor mir blieb ich stehen. Und konnte es nicht fassen, als er mir zunickte. »Nein!«, schrie ich leise auf. Er nickte mir zu. Der Schneemann nickte mir zu! Dann fiel sein Kopf zu Boden und zerbrach mit einem dumpfen Knall. Jetzt erst verstand ich, was passiert war. Der Wind hatte den Schneemann nicken lassen. Und der Wind hatte ihm den Kopf von den Schultern geblasen. Was will ich eigentlich hier draußen?, schoss es mir durch den Kopf. Es ist spät und außerdem kalt. Und es ist komisch. Und irgendein Wesen ganz in der Nähe heult sich die Seele aus dem Leib. Ich schaute zu dem Rumpf des Schneemanns. Sein Kopf lag als zerschmetterter weißer Haufen direkt daneben. Aber der Schal war am oberen Ende des runden Körpers hängen geblieben. Er flatterte im kalten Wind. Wieder fröstelte ich. Ich wandte mich ab und rannte nach Hause. Rannte durch die blauschwarzen Schatten der Schneemänner. Meine Stiefelsohlen scharrten über die Schatten ihrer winkenden Arme und narbigen Köpfe. Schneemänner in jedem Vorgarten. Schneemänner, die wie Nachtwächter die Straße säumten. Dieser Spaziergang war eine verrückte Idee, dachte ich und fühlte die Angst in mir hochsteigen. Ach, wäre ich doch schon zu Hause. Wäre ich doch sicher in meinem neuen Heim. Ein Schneemann winkte mir mit seiner dreifingrigen
Hand und grinste böse, als ich an ihm vorbeirannte. Und während ich nach Hause lief, musste ich immer wieder an das Gedicht denken ... Wenn der Schnee fällt im Wind Und es abends dunkel wird, Hüte dich vor dem Schneemann, mein Kind. Hüte dich vor dem Schneemann, Denn er macht, dass die Kälte klirrt. Endlich kam am Ende der Straße unser Haus in Sicht. Ich holte tief Luft und rannte schneller. Seit meiner Ankunft im Dorf war mir das Gedicht nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Es war mir aus meiner Kindheit zu diesem neuen, seltsamen Zuhause gefolgt. Warum erinnerte ich mich gerade heute daran? Was wollte es mir sagen? Warum waren diese Worte nach so langer Zeit wieder hochgekommen? Ich musste mich auch an den Rest erinnern. Ich musste mich an die zweite Strophe des Gedichtes erinnern. Ein unheimliches Heulen, das anstieg wie ein Martinshorn, ertönte so dicht hinter mir, dass ich mich erschreckt umdrehte. Ich suchte mit dem Blick die Straße und die Vorgärten ab. Doch da war niemand. Kein Wolf. Kein Mensch. Ein erneutes Heulen klang noch näher. Verfolgte mich jemand? Ich hielt mir mit den Händen die Ohren zu, um diesen grässlichen Geräuschen zu entkommen - und flog regelrecht über den Schnee, flog den Rest des Heimweges. Ich erreichte die schmale Haustür, als ein erneutes lang gezogenes Heulen mir am ganzen Körper eine Gänsehaut versetzte.
Noch näher. Es ist so unglaublich nah. Jemand ist hinter mir her! Hastig griff ich nach dem Türknauf. Drehte ihn. Presste mich gegen die Tür. Nichts. Die Tür rührte sich nicht. Wieder drehte ich am Türknauf. Nach rechts. Nach links. Presste mich gegen die Tür. Zog an ihr. Wieder nichts. Ich hatte mich selbst ausgesperrt.
Wieder ertönte ein Furcht einflößendes Heulen. Ganz nah. Direkt neben unserem Haus. Ich zitterte am ganzen Körper. Angst schnürte mir die Kehle zu. Strauchelnd wich ich von der Haustür zurück. Da sah ich, dass das Fenster, das einzige Fenster auf dieser Seite des Hauses, einen Spalt offen stand. Schnee bedeckte den Fensterrahmen und lag auf dem schmalen Fensterbrett. Ich starrte auf den schmalen Spalt zwischen Fensterbrett und Fenster. Dann atmete ich tief ein und sprang mit einem Satz hoch. Ich ergriff den Holzrahmen. Ächzend versuchte ich das Fenster hochzuschieben. Ich schob mit aller Kraft. Zu meiner eigenen Überraschung gab es nach und glitt sanft nach oben. Ich schob es bis zum Anschlag. Dann ergriff ich das Fensterbrett mit beiden Händen, zog mich selbst daran hoch. Im selben Moment drang ein weiteres Heulen durch die
Nacht.
Es war so nah. So nah und so furchtbar. Ich stürzte kopfüber ins Haus. Landete unsanft auf Händen und Knien auf dem Parkett. Stöhnend richtete ich mich auf und schloss das Fenster. Dann stand ich da, an die Wand gelehnt, und lauschte. Versuchte wieder zu Atem zu kommen. Hatte ich Tante Greta geweckt? Nein. Nichts rührte sich. Das einzige Geräusch, das ich hörte, war mein eigenes flaches Atmen. Wieder ein Heulen. Diesmal etwas weiter weg. Hatte ich mir nur eingebildet, dass ich verfolgt wurde? Kam das Furcht einflößende Heulen von fern und wurde vom Wind von den Bergen herübergetragen? Immer noch schwer atmend, machte ich einen Schritt in den Raum. Langsam tappte ich durch die Dunkelheit und ging zu dem kleinen Hinterzimmer, wo wir die Umzugskisten aufgestapelt hatten. In einer waren meine Bücher. Ich war mir jetzt sicher, dass ich den alten Gedichtband eingepackt hatte, aus dem mir Mom immer vorgelesen hatte. Weißes Mondlicht strömte durch das Fenster und fiel auf die gegenüberliegende Wand. Ich fand die Kiste mit den Büchern ganz oben auf dem Stapel und zog sie herunter auf den Boden. Meine Hände zitterten, als ich an dem festen Klebeband herumfummelte, um sie zu öffnen. Ich muss das Gedicht finden, sagte ich mir. Ich muss die zweite Strophe lesen. Endlich war die Kiste auf und ich begann die Bücher herauszunehmen. Ganz oben hatte ich einen Stapel Taschenbücher eingepackt. Darunter kamen einige Sammelbände zum Vorschein, die ich in der Schule gebraucht
hatte.
Als ich sie herausnahm und vorsichtig auf dem Boden auftürmte, hörte ich ein Husten. Und dann Schritte. Hier ist noch jemand!, schoss es mir durch den Kopf. »Tante Greta? Bist du das?«, rief ich. Doch die Stimme, die mir antwortete, war nicht die von Tante Greta. »Was machst du da?«, flüsterte diese fremde, heisere Stimme.
Das Deckenlicht ging an. Ich blinzelte. Schluckte schwer. Und starrte auf Tante Greta. »Du hast mir Angst eingejagt, Jacky!«, krächzte sie. Ich sprang auf. »Du mir aber auch!«, antwortete ich und wartete darauf, dass mein Puls sich wieder beruhigte. »Was ist mit deiner Stimme?« Tante Greta rieb sich den bleichen Hals. »Sie ist weg«, ächzte sie. »Eine furchtbare Erkältung. Es muss am Wetter liegen. Ich bin die Kälte in diesem Dorf noch nicht gewöhnt.« Ihr glattes weißes Haar hing ihr lose den Rücken herunter. Mit einer Hand zog sie es aus dem Kragen ihres Flanellnachthemdes. »Was machst du da, Jacky? Warum bist du mitten in der Nacht hier unten?« »Das Gedicht«, antwortete ich. »Ich muss es finden. Ich kann mich nicht an die zweite Strophe erinnern. Ich ...« »Wir packen die Bücher morgen aus«, unterbrach sie
mich. Sie gähnte. »Ich bin schrecklich müde. Und mein Hals tut furchtbar weh. Lass uns schlafen.« Plötzlich kam sie mir klein und zerbrechlich vor. »Tut mir Leid«, sagte ich und folgte ihr aus dem Zimmer. »Ich wollte dich nicht wecken. Ich konnte nicht schlafen und deshalb ...« Ihr Blick fiel auf meinen Anorak, den ich auf einen der Wohnzimmersessel geworfen hatte. »Du warst draußen?«, rief sie und fuhr zu mir herum. Ich konnte die Besorgnis auf ihrem Gesicht sehen. »Äh... ja«, gab ich zu. »Ich dachte, vielleicht würde ein kurzer Spaziergang...« »Du darfst nicht mitten in der Nacht rausgehen«, schimpfte sie. Sie rieb sich den Hals und schaute mich mit zusammengekniffenen Augen böse an. »Tut mir Leid«, murmelte ich. »Aber wieso der ganze Aufstand? Was ist denn so schlimm daran, nachts aus dem Haus zu gehen?« Sie zögerte und biss sich auf die Unterlippe, wie sie es immer tut, wenn sie angestrengt nachdenkt. »Es ist gefährlich, deshalb«, flüsterte sie schließlich. »Wenn du nun im Schnee stürzen würdest oder so? Wenn du dir ein Bein brechen würdest? Es ist niemand da, der dir helfen könnte.« »Ich würde nach Hause kriechen «, scherzte ich. Ich lachte, aber sie stimmte nicht ein. Ich war mir sicher, dass sie an etwas ganz anderes dachte. Sie sorgte sich nicht, dass ich stürzen könnte. Sie sorgte sich wegen etwas völlig anderem. Doch sie wollte es mir nicht sagen. Hing es mit dem Heulen der Tiere zusammen? Hing es mit dem Schneemann auf dem Berg zusammen, vor dem Conrad mich gewarnt hatte? Mit dem Schneemann, von dem Tante Greta behauptete, er sei nur Dorffolklore?
Ich gähnte. Endlich war ich müde. Zu müde, als dass ich noch darüber nachdenken konnte. Ich legte meinen Arm um Tante Gretas schmale Schultern und ging mit ihr zu ihrem Zimmer. »Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe«, flüsterte ich. Dann wünschte ich ihr eine gute Nacht und kletterte die Leiter zu meinem Dachzimmer hoch. Gähnend schlüpfte ich aus meiner Jeans und dem Sweatshirt und ließ beides zu Boden fallen. Dann warf ich mich ins Bett und zog die Decke hoch bis ans Kinn. Fahles Mondlicht fiel durch das runde Fenster am gegenüberliegenden Giebel. Ich schloss die Augen. Kein Heulen war zu hören. Gar nichts war zu hören. Ich kuschelte mich in das weiche Kopfkissen. Mein neues Bett war immer noch zu hart. Aber jetzt war ich zu müde, als dass mir das etwas ausmachte. Ich war gerade am Einschlafen, als ein Flüstern zu mir drang... »Hüte dich vor dem Schneemann, Jacky... Hüte dich vor dem Schneemann...«
Keuchend fuhr ich auf. »Ist da jemand?«, brachte ich mühsam hervor. Ich starrte zum Fenster. Die Umrisse meiner neuen Möbel schimmerten silbrig und gespenstisch im fahlen Mondlicht. »Hüte dich vor dem Schneemann...«, flüsterte es wieder. »Jacky, hüte dich vor dem Schneemann.«
»Wer ist da?«, rief ich. »Woher kennen Sie meinen Namen?« Da saß ich in einem fremden Bett, hielt das Ende der Decke in den Händen, hielt es furchtbar fest, zerrte regelrecht daran. Und lauschte. Plötzlich: Stille. »Wer sind Sie?« Meine Stimme kaum hörbar und gepresst. Stille. »Wer sind Sie?« Stille... Ich weiß nicht, wie lange ich da noch saß und auf eine Antwort wartete. Doch nach einer Weile fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Am nächsten Morgen erzählte ich Tante Greta von der geflüsterten Warnung. Sie nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie mir antwortete. Dann beugte sie sich über den Tisch und drückte meine Hand. »Ich habe letzte Nacht auch schlecht geträumt«, sagte sie heiser. »Geträumt?«, fragte ich. »Glaubst du, es war ein Traum?« Tante Greta nickte und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Was sonst?«, krächzte sie. Ich verbrachte den Tag damit, meiner Tante beim Auspacken der Kisten und Einräumen des Hauses zu helfen. Ich suchte in jedem Karton nach dem Gedichtband, konnte ihn aber nicht finden. Mir war gar nicht klar gewesen, wie viel Zeug wir aus unserer Wohnung in Chicago mitgebracht hatten. Das Haus war so klein. Es war wirklich hart, für alles einen geeigneten Platz zu finden.
Bei der Arbeit musste ich plötzlich an Rolonda denken. Sie hatte versprochen, mich nach dem Abendessen an der kleinen Dorfkirche zu treffen. Sie hatte gesagt, dass sie mir heute Abend die Wahrheit über den Schneemann erzählen würde. Die Wahrheit... Ich hatte den verängstigten Eli vor Augen, als er in der verschneiten Einfahrt gestanden und Rolonda und mich beobachtet hatte. Und ich erinnerte mich daran, wie viel Angst sie plötzlich bekommen hatten, als ich ihnen erzählte, dass ich auf den Berg gehen wollte. Es gab so viel Angst im Dorf. Und alles nur aus Aberglauben? Nach dem Abwasch zog ich meinen Anorak und meine Stiefel an und machte mich auf, Rolonda zu treffen. Ich sagte Tante Greta die Wahrheit. Ich erzählte ihr, dass ich mich mit einem gleichaltrigen Mädchen aus dem Dorf verabredet hatte, das ich bei meinem Spaziergang kennen gelernt hatte. »Es schneit ziemlich stark«, sagte Tante Greta heiser. »Bleib nicht zu lange weg, Jacky.« Ich versprach ihr, vor neun zurück zu sein. Dann stülpte ich mir die Kapuze über, zog meine Handschuhe an und ging hinaus. Schneit es hier eigentlich jeden Tag?, fragte ich mich und schüttelte ungläubig den Kopf. Ich hatte Schnee immer sehr gemocht. Aber irgendwann reichte es. Der Schnee fiel dicht und ein starker Wind trieb ihn mir in Böen entgegen. Ich zog den Kopf ein und schleppte mich die Straße hinunter in Richtung Kirche. Schneeflocken flogen mir ins Gesicht und verklebten mir die Augen. Ich konnte kaum etwas sehen.
Der reinste Schneesturm! Ich fragte mich, ob Rolonda überhaupt kommen würde. Die kleine steinerne Kirche stand direkt gegenüber der Post. Es war gar nicht so weit von unserem Haus. Doch in diesem Schneesturm kam es mir vor, als seien es Meilen. Mit eingezogenem Kopf trat ich in eine tiefe Schneewehe. Eiskalter Schnee rutschte oben in meine Stiefel und durchnässte meine Socken. »Huah! Ich frier mich noch zu Tode!«, rief ich laut. Es war niemand in der Nähe, der mich hätte hören können. Die Straße war leer. Nichts bewegte sich. Ich kam an einem hell erleuchteten Haus vorbei, konnte aber niemanden sehen. Der Schnee trieb mir ins Gesicht und gegen die Brust, als versuchte er, mich zurückzudrängen. Als wollte er mich wieder nach Hause jagen. »Das ist verrückt«, murmelte ich. »Total verrückt. Keine Chance, dass Rolonda mich heute Abend hier trifft.« Ich blinzelte ins graue Abendlicht und erblickte den Kirchturm, der sich weiß von dem fallenden Schnee abhob. »Hoffentlich ist sie auf«, sagte ich laut. Mit gesenktem Kopf rannte ich über die Straße -und stieß gegen etwas Hartes. Gegen etwas sehr Kaltes. Böse schwarze Augen musterten mich. Und ich schrie auf.
Sekunden später riss mich jemand zurück. Und eine Stimme rief: »Jacky, was ist los?« Der Schrei blieb mir in der Kehle stecken. Ich taumelte
zurück, meine Stiefelsohlen schlitterten über den rutschigen, nassen Schnee. Ich drehte mich um und sah Rolonda, die an meinem Anorakärmel zerrte. »Ich hab gesehen, wie du direkt in den Schneemann hier reingerannt bist«, sagte sie. »Aber wieso schreist du so?« »Ich... äh... ich«, stotterte ich. Ich kniff die Augen zusammen und musterte den Schneemann durch den fallenden Schnee, musterte seine dunklen Augen, die Narbe in seinem runden Gesicht. »Ich... ich hab mich furchtbar erschrocken«, stammelte ich. Ich schimpfte innerlich mit mir, dass ich mich so blöd benahm. Jetzt muss Rolonda denken, ich bin ein totaler Idiot, dachte ich unglücklich. Was stimmt nicht mit mir? Zu schreien, nur weil ich in einen Schneemann gerannt bin! »Wieso hat jemand so einen Schneemann vor die Kirche gebaut?«, fragte ich. Rolonda antwortete nicht. Ihre dunklen Augen bohrten sich in meine. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. Ich nickte. »Ja, alles okay. Lass uns nur aus diesem Schnee hier rauskommen.« Ich warf einen letzten Blick auf den fies grinsenden Schneemann. Dann folgte ich Rolonda zu einer Holztür an der Seite der kleinen Kirche. Wir gingen hinein und traten uns auf einer Matte den Schnee von den Stiefeln. »Hört's hier eigentlich jemals auf zu schneien?«, grummelte ich, während ich mir die Kapuze vom Kopf zog und den Reißverschluss meines Anoraks öffnete. »Klar. Einmal hat es für zehn Minuten aufgehört. Wir haben dann alle Sommerferien gemacht«, scherzte Rolonda. Sie schüttelte ihr langes schwarzes Haar. Ich schaute mich neugierig um. Wir waren in einer Art
Wartezimmer. Eine lange hölzerne Bank stand an der einen Längsseite. Zwei Lampen, die aussahen wie altmodische Straßenlaternen, hingen an der Wand neben der Bank und tauchten alles in ein sanft schimmerndes Licht. Wir ließen unsere Jacken neben der Bank zu Boden fallen und setzten uns. Ich rubbelte mir die Hände und versuchte, sie warm zu kriegen. Meine Wangen kribbelten. »Es ist schön warm hier drin«, sagte Rolonda leise. »Der Pfarrer stellt die Heizung immer ziemlich hoch. Er friert nicht gerne.« »Wer tut das schon?«, murmelte ich und rieb mir die tauben Ohren. »Es ist ein netter, ruhiger Ort, um sich zu unterhalten«, fuhr Rolonda fort. »Vor allem, wenn man sich über etwas unterhalten will, was ... irgendwie beängstigend ist.« »Beängstigend?«, wiederholte ich. Ihr Blick huschte durch den kleinen Raum. Plötzlich schien sie angespannt. Unsicher. »Hat dir deine Tante irgendetwas über das Dorf erzählt?«, flüsterte Rolonda. »Irgendetwas über die Geschichte des Dorfes?« Ich musste mich näher zu ihr beugen, weil sie so leise sprach. Warum ist sie so nervös?, fragte ich mich. Außer uns ist keine Menschenseele hier. »Nein«, antwortete ich. »Gar nichts. Ich glaube auch nicht, dass Tante Greta viel über das Dorf weiß.« »Warum seid ihr dann hierher gezogen?«, wollte Rolonda wissen. Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Tante Greta hat darüber nie ein Wort verloren. Sie sagte nur, es sei an der Zeit, Chicago zu verlassen.« Rolonda lehnte sich nervös vor und schaute mir
direkt in die Augen. »Ich erzähl's dir«, flüsterte sie. »Ich erzähl dir die Geschichte des Dorfes. Sie ist wirklich merkwürdig. Die Leute reden nicht viel darüber.« »Wieso nicht?«, fiel ich ihr ins Wort. »Weil sie so Furcht einflößend ist«, antwortete Rolonda. »Mein Bruder Eli hat die ganze Zeit Angst. Deshalb hab ich dich hier an der Kirche getroffen. Er will nicht, dass ich über irgendetwas rede, was damit zu tun hat. Er will nicht, dass ich über den Schneemann rede.« »Über den Schneemann?« Ich schaute sie fragend an. »Was ist mit dem Schneemann?«
Rolonda verlagerte ihr Gewicht. Die Holzbank unter uns knarrte. Rolonda holte tief Luft und begann zu erzählen. »Vor vielen Jahren lebten zwei Zauberer im Dorf. Ein Mann und eine Frau. Jeder wusste, dass sie Zauberer waren. Und jeder ließ sie in Ruhe.« »Waren es böse Zauberer?«, wollte ich wissen. Rolonda schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, dass sie böse waren. Jedenfalls nicht absichtlich.« Wieder ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Ich lehnte mich zurück und wartete ungeduldig darauf, dass sie fortfuhr. »Eines Tages machten die Zauberer Quatsch, sie spielten ein bisschen rum. Sie belegten einen Schneemann mit einem Fluch. Und der Schneemann erwachte zum Leben.« Ich hielt den Atem an. »Echt?« Rolonda schaute mich böse an. »Bitte, unterbrich mich nicht dauernd, Jacky. Lass mich erst alles erzählen.«
Ich entschuldigte mich. Sie lehnte sich dicht an mich und fuhr flüsternd fort. »Die Zauberer erweckten den Schneemann zum Leben. Doch dann verloren sie die Kontrolle. Der Schneemann war mächtig. Und er war böse. Die Zauberer hatten ihn zum Leben erweckt, aber ihnen war nicht klar, was sie da getan hatten. Und sie wussten auch nicht, dass der Schneemann versuchen würde, das ganze Dorf mit Mann und Maus zu vernichten. Die Zauberer taten alles, um den Schneemann wieder unschädlich zu machen. Aber ihre Magie war nicht stark genug. Die Dorfbewohner versammelten sich und schafften es irgendwie, den Schneemann auf den Gipfel des Berges zu treiben. Es gibt da oben eine große Höhle. Sie ist in den Gletscher gehauen und jeder nennt sie die Eishöhle. Die Dorfbewohner jagten den Schneemann also in die Eishöhle. Dann verließen die meisten Leute das Dorf. Wenige wollten hier bleiben, obwohl sie von dem Monster auf dem Berg wussten. Die meisten Leute zogen also weg«, fuhr Rolonda fort und flüsterte so leise, dass ich sie kaum verstand. »Die beiden Zauberer zogen wahrscheinlich auch fort. Niemand weiß genau, was aus ihnen wurde. Und hier kommt Conrad ins Spiel«, sagte Rolonda. Ich starrte sie an. »Conrad. Dieser komische Typ mit dem weißen Rauschebart?« Rolonda nickte. »Nachdem der böse Schneemann in die Eishöhle gejagt worden war, zog Conrad dort hinauf. Er baute sich eine Hütte direkt unterhalb der Höhle. Niemand weiß genau, warum. Versucht Conrad, das Dorf zu beschützen?«, erzählte Rolonda weiter. »Arbeitet er für den Schneemann? Hilft er dem Schneemann? Oder glaubt er, dass er den Schneemann in Schach halten kann, wenn er so nah bei ihm lebt? Das weiß keiner so genau. Conrad kommt nur sehr
selten vom Berggipfel herunter. Und wenn er dann mal im Dorf ist, spricht er mit niemandem. Keiner weiß zu sagen, wer er ist oder warum er dort oben lebt. Niemand hat irgendetwas mit ihm zu tun. Wir haben keine Ahnung, ob er böse ist oder verrückt. « Sie seufzte. Wieder wanderte ihr Blick durch den Raum. Sie schien furchtbar nervös, als hätte sie Angst, jemand sonst könnte erfahren, dass sie mir die Geschichte des Dorfes erzählte. »In manchen Nächten können wir den Schneemann oben auf dem Berggipfel hören«, fuhr sie fort. »In manchen Nächten können wir ihn vor Wut rasen hören. Und in manchen Nächten können wir ihn heulen hören wie einen Wolf. Alle haben wir Schneemänner gebaut. Schneemänner, die aussehen wie er. Jeder im Dorf baut sie.« Ich sprang auf. »Deshalb stehen die also überall hier rum!«, rief ich aus. Rolonda legte einen Finger an die Lippen. Sie gab mir ein Zeichen, dass ich mich setzen sollte. Ich ließ mich wieder auf die Bank fallen. »Warum baut ihr die Schneemänner?«, wollte ich wissen. »Warum steht in jedem verflixten Vorgarten einer davon?« »Um ihn zu ehren«, antwortete Rolonda. »Was? Um ihn zu ehren?«, fragte ich. »Du weißt, wie ich das meine«, sagte sie scharf. »Die Leute hoffen, dass der böse Schneemann, wenn er eines Tages vom Gipfel ins Dorf kommen sollte, die vielen kleinen Schneemänner sieht, die ihm alle ähneln. Und dass ihn das milde stimmt und er uns deshalb nichts tut.« Rolonda umklammerte meine Hand. Ihre dunklen Augen schauten mich intensiv an. »Verstehst du jetzt?«, flüsterte sie. »Verstehst du jetzt, warum wir solche Angst
haben?« Ich schaute sie an - und prustete los.
Ich hätte nicht lachen sollen. Aber ich konnte nicht anders. Also, Rolonda schien mir ein wirklich intelligentes Mädchen. Sie konnte diese Geschichte doch nicht wirklich glauben - oder? Es ist ein Witz, entschied ich. Eine Geschichte, die die Dorfbewohner erzählen, um neu Zugezogene zu erschrecken. Ich hörte auf zu lachen, als ich Rolondas bestürzte Miene sah. »Komm schon«, sagte ich. »Du nimmst mich doch auf den Arm, stimmt's?« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Ihre dunklen Augen funkelten im fahlen Licht. Solche ernsten Augen. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ein Schneemann laufen kann?«, wollte ich von ihr wissen. Meine Stimme erfüllte schrill den kleinen Raum. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ein Schneemann lebendig sein kann?« »Doch, das glaube ich«, antwortete Rolonda mit leiser, zitternder Stimme. »Das ist kein Witz, Jacky. Ich glaube es. Und alle andern im Dorf auch.« Ich starrte sie an. Die Decke knarrte. Wahrscheinlich wegen des Schnees auf dem Dach. Ich rutschte auf der harten Holzbank hin und her. »Aber hast du ihn je gesehen?«, fragte ich. »Hast du den Schneemann jemals laufen sehen?« Sie blinzelte. »Äh ... nein«, gab sie dann zu. »Aber ich habe ihn nachts gehört, Jacky. Ich habe sein Heulen gehört und sein wütendes Geschrei.«
Sie stand auf. »Ich geh nicht nah genug hin, um ihn zu sehen. Ich hab Angst«, sagte sie. »Ich geh nicht zur Eishöhle. Das tut niemand.« »Aber, Rolonda ...«, setzte ich an. Dann hielt ich inne. Ihr Kinn zitterte. Ich konnte die Panik in ihrem Blick sehen. Allein über den Schneemann zu reden, machte ihr Angst. Ich wollte ihr sagen, dass die Geschichte einfach nicht wahr sein konnte. Ich wollte ihr sagen, dass sie wie ein blödsinniger Aberglaube klang. Wie ein Märchen. Aber ich wollte sie nicht kränken. Vielleicht würde ich hier keine andere Freundin finden, dachte ich. Ich stand auf und zog meinen Anorak an. Dann verließen wir die Kirche. Es hatte zu schneien aufgehört. Doch ein böiger Wind wehte den Berg herunter und ließ den frisch gefallenen Schnee um unsere Stiefel wirbeln. Ich setzte meine Kapuze auf und zog den Kopf ein. Nie im Leben würde ich so eine abenteuerliche Geschichte glauben, dachte ich. Warum merkt Rolonda nicht, wie verrückt das Ganze ist? Wir gingen die Straße entlang; unsere Stiefel sanken in den frischen Pulverschnee ein. Keiner von uns sprach. Unsere Stimmen wären im lauten Heulen des Windes untergegangen. Ich brachte Rolonda nach Hause. Am Fuß ihrer schneebedeckten Einfahrt blieben wir stehen. »Danke, dass du mir von dem Schneemann erzählt hast«, sagte ich. Sie sah mir direkt in die Augen. »Jemand musste es dir erzählen«, sagte sie ernst. Und dann fügte sie hinzu: »Du musst mir glauben, Jacky. Es ist wahr. Alles.« Anstelle einer Antwort verabschiedete ich mich. Dann
drehte ich mich um, stemmte mich gegen den Wind und machte mich auf den Heimweg. Ich war fast dort angekommen, als ich ein Geräusch im Getöse des Windes hörte. Ein dumpfes TAPP TAPP TAPP, das schnell hinter mir herkam.
Wie angewurzelt blieb ich stehen. Einen Augenblick lang dachte ich, ich hätte es mir eingebildet. Ich stellte mir einen gigantischen bösen Schneemann vor, so groß wie ein Haus, der hinter mir hertapste. »Oh nein!«, entfuhr es mir. Dann schnellte ich herum. Und sah Rolondas Bruder Eli auf mich zurennen. Seine schweren Stiefel stampften durch den Schnee. Seine offene Lammfelljacke wehte im Wind, während er rannte. »Eli, es ist schon spät!«, rief ich. »Was machst du hier draußen?« Er antwortete nicht. Schwer atmend beäugte er mich misstrauisch. »Sie hat's dir erzählt, nicht wahr?«, fragte er ganz außer Atem. »Was?« Wir stellten uns hinter einen ausladenden Baum, wo wir vor dem Wind geschützt waren. »Eli, was willst du?« »Rolonda hat's dir erzählt, nicht wahr?«, wiederholte er. »Sie hat dir von dem Schneemann erzählt.« Er zeigte auf den Berggipfel.
»Ja ... schon«, antwortete ich. Schnee fiel vom Baum auf meinen Anorak. Ich wischte ihn weg. »Eli, hast du sie noch alle? Es ist saukalt hier draußen. Mach den Reißverschluss von deiner Jacke zu!« »Rolonda weiß eins nicht«, fuhr Eli, immer noch nach Luft schnappend, fort. »Sie weiß nicht, dass ich ihn gesehen habe. Ich hab den Schneemann mit eigenen Augen gesehen.« Ich starrte ihn an. »Du hast den Schneemann gesehen? Den lebenden Schneemann?« Eli nickte. »Ja, habe ich. Aber das ist nicht das Furchtbare.« »Eli, was ist das Furchtbare?«, wollte ich wissen.
Er sah mich unverwandt an. Der Wind zerzauste sein dunkles Haar, aber sein Blick blieb hart. »Was ist das Furchtbare?«, wiederholte ich. »Das Furchtbare«, antwortete Eli, »das Furchtbare ist, dass der Schneemann mich gesehen hat.« Der Wind pfiff um den Baum. Ich zog Eli an die Längsseite des nächst gelegenen Hauses. Wir pressten uns an die Wand. Schaudernd zog er schließlich den Reißverschluss seiner Jacke hoch. »Eli, die Geschichte ist verrückt«, beharrte ich. »Ich glaube wirklich nicht...« »Lass mich einfach erzählen, was passiert ist«, bat er. »Danach kannst du entscheiden, ob sie verrückt ist.« Er erschauerte noch einmal. »Er hat mich gesehen, Jacky. Der Schneemann hat mich direkt angesehen. Er hat mich erkannt. Er weiß, wer ich bin. Er weiß, dass ich ihn
gesehen habe. Und deshalb habe ich solche Angst vor ihm.« »Aber Eli...«, setzte ich an. Beschwichtigend hob er eine Hand. »Warte. Bitte.« Er holte tief Luft. »Es war vor ein paar Wochen. Zwei von meinen Freunden und ich - wir sind auf den Berg geklettert. Wir wollten uns die Eishöhle ansehen. Deshalb haben wir uns an Conrads Hütte vorbeigeschlichen.« »Das kapier ich nicht«, sagte ich. »Was hat Conrad damit zu tun?« »Er lässt keinen in die Nähe der Eishöhle«, antwortete Eli. »Er verscheucht jeden. Conrad ist so komisch. Einige glauben, dass er für den Schneemann arbeitet. Dass er den Schneemann beschützt, indem er die Leute aus dem Dorf von ihm fern hält.« »Aber du hast dich an ihm vorbeigeschlichen?«, fragte ich. Eli nickte. »Ja. Ich und meine Freunde. Und wir kletterten ganz in die Nähe der Eishöhle. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen.« »Wie sieht sie aus?«, fragte ich. Eli machte eine ausladende Bewegung mit seinen Händen, um die Ausmaße der Höhle anzudeuten. »Es ist eine riesige Höhle an der Seite des Berges«, sagte er. »Sie besteht aus Eis. Ganz glatt und glänzend. Es sieht aus wie Glas. Der Höhleneingang ist breit und total schwarz. Und vorne hängen überall riesige Eiszapfen herunter. Ihre Spitzen sind messerscharf.« »Uih!«, murmelte ich. »Klingt irgendwie hübsch.« »Ja, eigentlich schon«, stimmte Eli mir zu. »Aber wir fanden es nicht mehr hübsch, als der Schneemann rauskam.« Ich blickte Eli fest ins Gesicht. »Du hast wirklich gesehen, wie der Schneemann lief?«, fragte ich. Eli nickte. »Wir hörten ein polterndes Geräusch, der
Boden begann zu beben. Meine Freunde und ich bekamen Angst. Wir dachten, es wäre ein Erdbeben oder eine Lawine oder irgendsowas. Meine Freunde rannten den Berg hinunter. Aber ich blieb. Und ich sah ihn. Der Schneemann streckte seinen Kopf aus der Höhle. Er war so groß wie ein Grizzly-Bär. Und er hatte eine tiefe Narbe in seinem Gesicht. Suchend blickte er umher. Und dann sah er mich. Und sein Mund öffnete sich zu einem zornigen Brüllen. Er... er...« Eli atmete tief durch. Dann begann er von neuem: »Der Schneemann trat aus der Höhle. Die Erde bebte. Wirklich. Überall wirbelte Schnee auf. Der Schneemann starrte mich an. Und er brüllte noch einmal. Und ich ... ich machte, dass ich davonkam«, fuhr Eli atemlos fort. »Ich rannte an Conrads Hütte vorbei. Ich rannte den ganzen Berg hinunter. Und ich habe mich nicht einmal umgedreht.« »Was war mit deinen Freunden?«, fragte ich. »Sie warteten am Fuß des Berges auf mich«, antwortete Eli. »Wir gingen dann einfach heim. Wir haben nie wieder darüber gesprochen.« »Warum nicht?«, wollte ich wissen. »Zu viel Angst, glaube ich«, sagte Eli mit gesenktem Blick. »Wir haben niemals darüber gesprochen. Wir haben es nie erwähnt. Ich habe es nicht einmal Rolonda erzählt. Es war einfach zu schrecklich.« Er hob den Blick. »Aber jetzt hab ich Albträume«, gestand er. »Schlimme Träume von dem Schneemann. Jede Nacht.« Ich schaute ihn an, unschlüssig, was ich sagen sollte. Sein ganzer Körper zitterte. Vor Kälte?, fragte ich mich. Oder vor Angst? Er sah mich mit starrem Blick an und wartete offenbar,
dass ich etwas sagte. »Eli, du hast Rolonda nichts davon erzählt. Warum erzählst du's mir?«, fragte ich. »Damit du die Geschichte glaubst«, antwortete er ernst. »Du bist neu hier, Jacky. Du glaubst wahrscheinlich, es ist alles Blödsinn. Aber du musst von der Eishöhle wegbleiben.« »Aber Eli...«, setzte ich an. »Du hast meiner Schwester nicht geglaubt, stimmt's?«, warf er mir vor. »Du hast ihr ihre Geschichte nicht abgenommen.« »Ja ...« Ich zögerte. »Deshalb hab ich auf dich gewartet«, erklärte er. »Ich hab gewartet, um dir meine Geschichte zu erzählen. Glaubst du mir, Jacky? Glaubst du, dass ich den Schneemann gesehen habe?« »Ich ... ich weiß nicht recht«, sagte ich. Der Wind wirbelte die Hauswand entlang. Ich strich mir über die Wangen. Mein ganzes Gesicht war taub. »Ich muss jetzt heim«, sagte ich. Eli griff nach dem Ärmel meines Anoraks. »Jacky, geh nicht hoch zur Eishöhle«, bat er. »Bitte, glaube meine Geschichte. Sie ist wahr.« Ich zog meinen Arm weg. Dann begann ich über den Schnee nach Hause zu joggen. »Geh heim, Eli«, rief ich zurück. »Geh heim, bevor du erfrierst.« Ich rannte den ganzen Weg nach Hause. Es war ein gutes Gefühl, zu laufen und über nichts nachzudenken. Auf frischem Pulverschnee zu joggen war schwierig. Meine Stiefelsohlen rutschten immer wieder über den glatten, harten Untergrund. Als ich zu Hause ankam, taten mir die Beine weh. Schwer atmend stieß ich die Haustür auf. Zu meiner Überraschung war das Haus völlig dunkel. Ich zog einen Handschuh aus und warf einen Blick auf
meine Armbanduhr. Erst neun Uhr. War Tante Greta wirklich so früh ins Bett gegangen? Sie blieb doch sonst immer mindestens bis Mitternacht auf. Ich machte das Deckenlicht an und schaute mich in dem kleinen Wohnzimmer um. Eine Zeitschrift lag aufgeschlagen auf dem Sofa. Sonst war alles an seinem Platz. Ich stützte mich an der Tür ab, als ich meine nassen Stiefel auszog. Dann stellte ich sie in die Ecke. Danach schlüpfte ich aus meinem Anorak und ließ ihn aufs Sofa fallen. Mein Blick blieb an der Tür zu Tante Gretas Schlafzimmer hängen. Die Tür stand offen. Dahinter war es dunkel. Schnell durchquerte ich den Raum und spähte in Tante Gretas Schlafzimmer. »Tante Greta?«, rief ich leise. . Keine Antwort. Ich trat ins Zimmer. »Tante Greta? Bist du hier drin?« Ich fummelte an der Lampe auf ihrer Kommode herum und schaffte es endlich, sie anzumachen. »Tante Greta?« Nein. Nicht in ihrem Bett. Nicht im Zimmer. »Tante Greta, bist du zu Hause?«, rief ich laut. Ich ging zur Tür. »Oh!«, schrie ich auf, als ich in etwas trat. Etwas Kaltes und Nasses drang durch meine Socken. »Huch!« Ich blickte zu Boden und sah dort eine große Eiswasserpfütze. »Wo kommt das denn her?«, murmelte ich. Auf einmal machte ich mir Sorgen. »Tante Greta?«, rief ich und eilte zurück ins Wohnzimmer. »Tante Greta? Wo bist du?«
Angst überkam mich. Wo konnte sie nur sein? Ich war auf dem Weg zur Küche, als mich ein klapperndes Geräusch an der Haustür innehalten ließ. War jemand dabei einzubrechen? Ich hielt den Atem an, als die Tür langsam quietschend aufging. Tante Greta kam geschäftig herein und wischte sich den Schnee von ihrem langen schwarzen Mantel. Sie lächelte mir zu. Aber ihr Lächeln erstarb, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Jacky, was ist los?« »Ich... ich... ich...«, stotterte ich. »Tante Greta, wo bist du gewesen? Ich hatte solche Angst!« Sie zog den Mantel aus. »Hast du meinen Zettel nicht gefunden?« »Was für einen Zettel?« »Ich hatte ihn am Kühlschrank befestigt«, sagte sie. »Ich habe heute früh ein nettes Paar im Laden kennen gelernt. Sie sind vorbeigekommen und haben mich auf ein Glas Wein eingeladen.« »Oh, das ist wirklich nett«, brachte ich hervor. Mein Herz schlug immer noch heftig. »Warum hast du Angst gehabt? «, wollte Tante Greta wissen und hängte dabei ihren Mantel in den Dielenschrank. Sie zog ihren langen weißen Zopf gerade. »Weißt du, ich war in deinem Zimmer. Habe dich gesucht. Und dann bin ich in eine kalte Pfütze auf dem Boden getreten«, antwortete ich. »In eine Pfütze? Zeig sie mir«, forderte mich Tante
Greta auf. Ich ging vor ihr her zum Schlafzimmer und zeigte auf den großen nassen Fleck auf dem Boden. Tante Greta schaute zur Decke. »Vielleicht ist das Dach undicht«, murmelte sie. »Wir werden morgen früh nachsehen müssen.« »Ich... ich dachte, es hätte was mit dem Schneemann zu tun«, platzte ich heraus. »Ich weiß, es ist verrückt, aber ich dachte, er wäre vielleicht hier gewesen. Ich dachte, er wäre ins Haus eingebrochen und ...« Ich brach ab, als ich das Entsetzen auf dem Gesicht meiner Tante sah. Ihr Mund blieb offen stehen und ihr entfuhr ein leises Keuchen. »Jacky, wovon redest du?«, fragte sie. »Was haben dir deine Freunde erzählt? Noch mehr Unsinn über einen Schneemann?« »Ja«, gestand ich. »Rolonda und Eli, die zwei Kinder aus dem Dorf, die ich getroffen habe. Alle beide haben sie mir eine verrückte Geschichte über einen lebendigen Schneemann erzählt. Er soll in einer Eishöhle auf dem Berggipfel wohnen. Sie sagten ...« »Das ist alles Aberglaube«, unterbrach mich Tante Greta. »Alte Geschichten, die immer weitererzählt wurden. Alles erfunden. Du bist doch klug genug, das zu erkennen, Jacky.« »Ja«, stimmte ich zu. »Aber Rolonda und Eli kommen mir so verängstigt vor. Die glauben die Geschichte wirklich. Und Eli beschwor mich, nicht zu der Eishöhle zu gehen.« »Wahrscheinlich ein guter Rat«, sagte Tante Greta. Sie durchquerte den Raum und legte eine Hand sanft auf meine Schulter. »Du solltest wahrscheinlich wirklich nicht auf den Berggipfel steigen, Liebes«, sagte sie sanft. »Warum nicht?«, wollte ich wissen. »Da oben muss es etwas wirklich Gefährliches geben.
Keinen lebendigen Schneemann. Aber etwas anderes Bedrohliches.« Sie seufzte. »So entstehen diese alten Geschichten. Irgendetwas Schlimmes ist auf dem Gipfel passiert. Und dann wurde die Geschichte jedes Mal, wenn sie erzählt wurde, ein bisschen verändert. Nach Jahren erinnert sich niemand mehr daran, was wirklich passiert ist. Mittlerweile glauben alle an diese verrückte Idee von einem lebendigen Schneemann.« Sie schüttelte den Kopf. »Hast du diese merkwürdigen Schneemänner überall im Dorf gesehen?«, fragte ich sie. »Diese vielen Schneemänner mit den Narben im Gesicht und den roten Schals? Findest du die nicht auch gespenstisch?« »Es ist eine merkwürdige Dorftradition«, gestand Tante Greta. »Aber irgendwie originell. Ich finde, sie sehen interessant aus.« »Interessant?« Ich schaute sie zweifelnd an. »Versprich mir etwas«, sagte sie gähnend. »Was?« »Versprich mir, dass du nicht auf den Gipfel klettern wirst, um dir die Eishöhle anzusehen. Es ist wahrscheinlich gefährlich.« »Also...« Ich zögerte. »Versprich's mir«, bedrängte mich Tante Greta. »Okay, versprochen«, willigte ich ein und verdrehte die Augen. Doch wenige Minuten später nahm ich mir vor, mein Wort zu brechen. Ich lag im Bett in meiner Dachkammer, die Augen fest geschlossen. Ich lauschte. Lauschte dem merkwürdigen Heulen, das vom Berggipfel zu mir herunterdrang. War das ein Tier? Oder war es ein Mensch? Ich hasse Geheimnisse. Ich muss wissen, um was es
geht.
Ich gehe da rauf, entschied ich. Es ist mir egal, was ich meiner Tante versprochen habe. Ich gehe zur Eishöhle. Morgen.
In dieser Nacht träumte ich nicht von Schneemännern. Ich träumte von wuscheligen weißen Kätzchen mit himmelblauen Augen. Dutzende davon. Die weißesten Kätzchen, die man sich nur vorstellen kann. Sie krabbelten übereinander. Zuerst ganz still. Und dann fingen sie an zu maunzen und zu fauchen. Ein Furcht einflößendes, schreckliches Geräusch. Plötzlich trugen sie alle einen roten Schal um den Hals. Sie schlugen nacheinander und machten riesige, schneeweiße Buckel. Sie fauchten und maunzten. Bis ich schließlich aufwachte. Gelbe Sonnenstrahlen fielen durch das runde Fenster am gegenüberliegenden Giebel. Von unten drang der Geruch von gebratenem Speck zu mir herauf. Tante Greta war schon auf den Beinen. Ich beschloss, gleich nach dem Frühstück auf den Berg zu gehen. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Ich wollte da hoch und das Rätsel lösen. Mir war klar, dass der weißbärtige Conrad ein Problem darstellte. Wenn er mich zu Gesicht bekäme, würde er versuchen mich aufzuhalten. Er und sein Wolf. Aber ich hatte einen Plan. Wenn mir Rolonda und Eli doch nur helfen würden ...
Es ergab sich dann, dass ich erst nach dem Mittagessen aus dem Haus kam. Tante Greta brauchte meine Hilfe beim Anbringen der Gardinen. Und dann hängten wir die Bilder und Poster auf, die sie aus Chicago mitgebracht hatte. Das Haus war winzig und ziemlich voll gestellt. Aber es fühlte sich immer mehr nach einem echten Zuhause an. »Wohin willst du?«, rief Tante Greta, als ich meinen Anorak und die Handschuhe anzog und mich auf den Weg zur Tür machte. »Öh... nirgends hin, eigentlich«, schwindelte ich. »Nur ein bisschen zu Rolonda und Eli.« Im selben Augenblick sah ich die beiden unsere Auffahrt heraufkommen. Ich schloss die Haustür hinter mir und eilte ihnen entgegen. Eli trug eine Schneeschaufel. Rolonda zerrte zwei dünne Äste hinter sich her. Sie ließ sie vor meine Füße fallen. »Wofür soll das denn gut sein?«, fragte ich. »Was wollt ihr beide hier?« »Wir müssen euren Schneemann bauen«, entgegnete Rolonda ernst. »Was?«, rief ich. »Du bist nicht sicher, solange du keinen Schneemann im Vorgarten stehen hast«, sagte Eli. »Hört zu, Leute«, fing ich an. »Der Schnee ist sehr pappig«, sagte Rolonda. »Genau richtig zum Schneemannbauen. Wir brauchen nicht lange. Eli und ich haben alles mitgebracht, was wir brauchen.« »Aber ich hab keine Zeit, einen Schneemann zu bauen«, protestierte ich. »Ich will heute noch zur Eishöhle.« Beide erschraken. Eli umklammerte den Griff der Schaufel und schaute mich entgeistert an. »Das geht nicht!«, rief er. »Jacky, ich habe dich gewarnt«, sagte Rolonda.
»Ich muss sie mit eigenen Augen sehen«, erklärte ich ihnen. Und dann fügte ich hinzu: »Ich möchte, dass ihr mit mir kommt.« »Nein!«, stieß Eli atemlos hervor. Rolonda schüttelte bloß den Kopf. »Du weißt doch, dass ich nicht zur Eishöhle hochgehen werde, Jacky. Und wir wollen auch nicht, dass du das machst.« »Aber wenn wir alle zusammen gehen...«, bedrängte ich sie. »Nein!«, schrien beide. Ich konnte echte Angst in ihren Augen sehen. Während ich sie noch anguckte, hatte ich plötzlich eine Idee. »Okay, okay«, sagte ich. »Ich mach euch einen Vorschlag.« Sie musterten mich misstrauisch. »Was für einen Vorschlag?«, wollte Rolonda wissen. »Ich bleibe hier und baue mit am Schneemann wenn ihr mir helft, wenn wir damit fertig sind«, sagte ich. »Nein. Wir werden nicht mit dir kommen«, beharrte Rolonda. »Du bringst uns nicht dazu, zu der Eishöhle hoch zu gehen, Jacky.« »Daraus wird nichts«, fügte Eli nachdrücklich hinzu. »Ihr müsst nicht bis zur Eishöhle mitkommen«, sagte ich. »Ihr müsst einfach nur Conrad ablenken, damit ich an ihm vorbeischleichen kann.« »Hm. Wie sollen wir das machen?«, fragte Eli und stützte sich auf die Schaufel. »Wir denken uns was aus, wenn wir oben sind«, antwortete ich. »Wenn ihr ihn in ein Gespräch verwickelt, dann könnte ich mich vielleicht an ihm vorbei und hoch zur Höhle schleichen.« »Wir wollen aber nicht, dass du zur Eishöhle gehst«, beharrte Rolonda.
»Ich mach es so oder so«, sagte ich zu ihr. »Mit oder ohne euch. Werdet ihr mir nun helfen, oder nicht?« Sie warfen sich nervöse Blicke zu. Eli flüsterte seiner Schwester etwas zu, Rolonda flüsterte etwas zurück. Dann wandte sich Rolonda wieder mir zu. »Wirst du erst den Schneemann bauen?«, fragte sie. »Du bist nicht sicher ohne den Schneemann«, fügte Eli hinzu. Ich wollte ihnen sagen, dass das Bauen eines Schneemanns mich vor gar nichts schützen würde. Ich wollte ihnen sagen, wie blödsinnig das Ganze war. Aber ich brauchte ihre Hilfe. Ich wusste, dass ich ohne sie niemals an Conrad und seinem Wolf vorbeikommen würde. »Gut, einverstanden. Wir werden zuerst den Schneemann bauen«, lenkte ich ein. »Dann helfen Eli und ich dir«, versprach Rolonda. »Aber wir kommen nicht weiter mit als bis zu Conrads Hütte«, wiederholte Eli mit zittriger Stimme. »Klasse«, antwortete ich. »Lasst uns anfangen.« Ich bückte mich und begann eine Kugel für den Körper des Schneemanns zu rollen. Rolonda hatte Recht. Der Schnee pappte gut zusammen. Ich rollte die Kugel kreuz und quer durch den verschneiten Vorgarten, bis sie so groß war, dass wir sie nur noch zu zweit bewegen konnten. Rolonda und ich machten den Körper. Eli machte den Kopf. Einen dieser merkwürdigen Schneemänner zu bauen, gab mir ein unheimliches Gefühl. Ich kam mir vor, als habe der Aberglaube von mir Besitz ergriffen. Ich nahm an einer alten Dorftradition teil. Einer Tradition, die auf Angst gründete. Die Leute aus dem Dorf bauten all diese Schneemänner aus Angst. Und jetzt baute auch ich einen.
Musste ich Angst haben?, fragte ich mich. Ich war froh, als der Schneemann fertig war. Rolonda zog einen roten Schal aus ihrer Jackentasche und wir wickelten ihn dem Schneemann um den Hals. Die dunklen Augen des Schneemanns schienen mich zornig anzustarren. Die Mundwinkel verzogen sich zu einem bösartigen Grinsen. Die Arme bewegten sich sanft im Wind auf und ab. »Okay. Gute Arbeit«, sagte ich zu meinen neuen Freunden. »Auf jetzt!« Ich deutete zum Berggipfel. »Bist du dir sicher, dass du das wirklich willst?«, fragte Eli zaghaft. »Klar bin ich mir sicher«, tönte ich. Doch als wir uns auf den Weg die Straße entlang machten, fühlte ich mich nicht so sicher, wie ich vorgab. Die Straße wand sich den Berg hinauf. Bald hörten die Häuser auf und wir gingen durch verschneite Wälder. Keiner sprach. Wir blickten stur geradeaus. Die Nachmittagssonne verschwand langsam hinter den Bäumen. Blaue Schatten fielen auf den Schnee. Während wir aufstiegen, wurde die Luft kälter. Als Conrads niedrige Hütte in Sichtweite kam, begann mein Herz heftig zu pochen. Ich versuchte ruhig und klar zu denken. Aber unzählige Fragen schwirrten mir im Kopf herum. War Conrad in seiner Hütte? Wo war der weiße Wolf? Würde mein Plan klappen?
Alle drei blieben wir am Ende der Straße stehen und schauten hoch zur Hütte vor uns. Die Spätnachmittagssonne war hinter den Bäumen verschwunden. Der Schnee vor uns schimmerte in Grauschattierungen. Links der Hütte sah ich eine Reihe niedriger immergrüner Sträucher, die mit Schnee überzogen waren. »Ich werde mich hinter den Büschen dort verstecken«, sagte ich zu Rolonda und Eli. »Lauft ihr hoch zu der Hütte und sorgt dafür, dass Conrad und der Wolf mich nicht entdecken.« »Das klappt nie«, murmelte Eli mit Blick auf die Hütte. »Es wird schon dunkel«, zeterte Rolonda. »Vielleicht sollten wir morgen wieder kommen.« »Vielleicht sollten wir das Ganze sein lassen«, schlug Eli vor. Ich sah sein Kinn zittern. Er bebte am ganzen Körper. »He, ihr habt es versprochen!«, rief ich. »Und versprochen ist versprochen und wird nie gebrochen. Stimmt's?« Sie antworteten nicht. Beide starrten sie über den grauen Schnee hoch zur Hütte. »Wo ich schon so weit bin, werde ich nicht umkehren«, sagte ich heftig. »Helft ihr mir jetzt, oder nicht?« Ich schnappte nach Luft, als ich ein tiefes Knurren aus Richtung der Hütte vernahm. Der Wolf musste uns gehört oder gewittert haben. Ich wusste, dass er jeden Moment herauskommen würde. »Los jetzt!«, drängte ich halblaut. Und ich rannte auf die schneebedeckten Sträucher zu. Ich war gerade in Deckung gegangen, als Conrad und
der Wolf aus der Hütte stürzten. »Hallo!«, rief Rolonda Conrad zu. »Hi!«, rief Eli hinterher. Ich sah wie Rolonda und Eli hoch zu Conrad rannten. Der Wolf duckte sich und beobachtete sie aufmerksam. Ich sah Rolonda und Eli, wie sie beide gleichzeitig auf Conrad einredeten. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Sie machen es wirklich!, sagte ich mir mit klopfendem Herzen. Sie lenken ihn ab. Zeit, mich zu bewegen. Zeit, es zu versuchen. Ich konnte Rolonda mit Conrad reden hören. Ich spähte über den Busch. Der Wolf wandte mir das Hinterteil zu. Conrad fuhr sich durchs Haar, während er Rolonda zuhörte. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber ich vermutete, er war äußerst verwirrt und überrascht. Ich wusste, dass er nie Besuch bekam. Sicher fragte er sich, was Rolonda und Eli hier oben zu suchen hatten. Ich zwang mich, nicht mehr daran zu denken. Es war höchste Zeit, es zu versuchen. Ich holte tief Luft. Geduckt lief ich los. Meine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Meine Stiefel versanken tief im Schnee. Mit eingezogenem Kopf flitzte ich den steilen Berghang hinauf. Höher und höher. Ich hatte die Büsche gerade hinter mir gelassen, als ich Conrad wütend rufen hörte: »Halt!«
Ich blieb so abrupt stehen, dass ich nach hinten kippte. Ich landete unsanft. Der Schnee schien hochzufliegen in mein Gesicht, schien mich zu bedecken, mich einzuschließen. Alles wurde weiß. Er hat mich erwischt, schoss es mir durch den Kopf. Mein Plan hat nicht geklappt. Ich stand auf und drehte mich zu Conrad um. Überrascht stellte ich fest, dass er mich nicht verfolgte. Er und der Wolf rannten den Hang hinunter. Sie verfolgten Eli und Rolonda. Ich hörte den Wolf knurren. Dann verschwanden sie hinter einer Kurve. Ich stand wie zur Salzsäule erstarrt und schaute unverwandt dorthin, wo sie eben noch gewesen waren. Würde Conrad Eli und Rolonda wehtun? Sollte ich hinter ihnen her und versuchen ihnen zu helfen? Nein. Ich musste weiter. So lautete der Plan. Das war meine Chance. Ich atmete noch einmal tief durch, drehte mich um und rannte den Berg hinauf. Der Abhang war steil. So steil, dass ich eine Zeit lang nicht sicher war, ob ich es schaffte. Doch dann wurde es flacher. Ich befand mich auf einem breiten Pfad. Der Pfad war glatt. Meine Sohlen rutschten auf dem Eis. Ich presste meinen Rücken gegen den Abhang. Und starrte hoch zur Eishöhle. Ja! Da war sie. Genau über mir. Eine Höhle so groß wie ein
Haus. Glatt und glänzend reflektierte sie die Wolken am Himmel darüber. Ich konnte den Eingang nicht sehen. Der Pfad verengte sich auf seinem Weg zur Höhle. Ich blieb mit dem Rücken fest an die Bergwand gedrückt, als ich mich langsam, Schritt für Schritt, auf den Höhleneingang zu bewegte. »Bloß nicht nach unten gucken«, murmelte ich vor mich hin. Aber im selben Moment, in dem ich das gesagt hatte, musste ich runtergucken. Es war weit, sehr weit von dem Felsvorsprung, auf dem ich balancierte, bis zum Fuß des Abhangs. Wenn ich jetzt ausrutschte und hinfiel... Ich werde nicht ausrutschen und hinfallen!, machte ich mir selbst Mut. Ein tiefes, rumpelndes Geräusch ließ mich zusammenfahren. Ich grabschte mit beiden Händen nach der Felswand hinter mir, um nicht zu stürzen. Unter mir erbebte der Felsvorsprung. Ein weiteres tiefes Rumpeln ließ mich vor Angst aufschreien. Der Felsvorsprung erbebte erneut. Der ganze Berg schien zu vibrieren. Das Geräusch kam aus der Höhle. Bewegt sich da etwas?, fragte ich mich. Oder ist das das normale Geräusch eines Berggipfels im Wind? Ich nahm all meinen Mut zusammen und tastete mich vorwärts, Zentimeter für Zentimeter. Ich war so weit gekommen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Felsvorsprung wurde immer schmaler, immer
rutschiger, je näher ich dem Höhleneingang kam. Ein weiteres Rumpeln ließ mir den Atem stocken. Irgendwie gelang es mir, die Balance zu halten. Und ich folgte der letzten Kehre. Es schien ewig zu dauern. Doch dann kam der Höhleneingang in Sicht. Und dann sollte ich das Schrecklichste sehen, was man sich nur vorstellen kann.
Ich sah es nicht sofort. Zuerst erblickte ich eine Schicht festen Eises, die den Pfad bedeckte. Die schimmernde Höhle erhob sich dahinter. Der gähnende Höhleneingang war schwärzer als die tiefste Nacht. Ich stand da und starrte in die Dunkelheit. Versuchte, tief durchzuatmen. Versuchte, meinen rasenden Pulsschlag zu beruhigen. Wolken spiegelten sich im Eis und segelten schnell nach rechts. Sie bewirkten, dass die Höhle aussah, als würde sie sich bewegen. Spitze Eiszapfen hingen von der Decke des Höhleneingangs. Sie erinnerten mich an die scharfen Reißzähne einer Raubkatze. Ich spähte in die dunkle Höhlenöffnung und wartete. Wartete, ob sich irgendetwas zeigen würde. Ich musste nicht lange warten. Ein Rumpeln laut wie ein Donnerschlag ließ den Felsvorsprung erzittern. Aus Angst auszurutschen ließ ich mich auf alle viere
nieder. Das Rumpeln wurde immer lauter. Und ein riesiges weißes Wesen trat aus der Dunkelheit der Höhle. Ein gigantischer Schneemann. Ich keuchte - und starrte voller Angst auf den Berg aus Schnee, der sich auf mich zubewegte. »Nein!«, schrie ich. Ich vergaß, wo ich war. Ich vergaß, dass ich auf einem schmalen Felsvorsprung kauerte. Ich wich zurück. Zurück von dem riesigen Monster. Und dann rutschte ich aus. Rutschte über die Kante. Und ich fühlte, wie ich abstürzte.
Ich warf meine Arme hoch. Und hieb meine Finger in die Kante. Ich umklammerte den eisigen Rand. Hielt mich fest. Mit einem verzweifelten Aufstöhnen zog ich mich hoch, krabbelte zurück in Sicherheit. Zitternd. Am ganzen Körper bebend. Mein Atem schnell und flach. Ich kniete auf dem eisigen Vorsprung und beobachtete den Schneemann. Er starrte auf mich herab. Sein blutroter Schal flatterte im Wind. Seine runden, schwarzen Augen waren so groß wie Türknöpfe. Sein dunkler Mund verzog sich zu einem fiesen, zornigen Grinsen. Und dann die Narbe. Die Narbe, die sich über die eine Hälfte seines Gesichtes zog, lang und tief, wie eine schwarze Schlange. »Ohhh!« Er stieß ein furchtbares Stöhnen aus, als seine
Ästchenarme sich nach mir streckten. Ich erschauerte in der eisigen Kälte. In einer Kälte, wie ich sie nie zuvor verspürt hatte. Ich konnte sehen, wie sich Wellen gefrorenen Wassers vom Körper des Schneemannes ausdehnten. Dann neigte er seinen großen runden Kopf. Die schwarzen Augen wurden noch weiter aufgerissen. Und der Schneemann fragte mit tiefer grollender Stimme: »Wer bist du?« Ich erstarrte in der Kältewelle, die von seinem Körper ausging. Er konnte sprechen! Die Geschichten, die Rolonda und Eli mir erzählt hatten, stimmten. Es war alles wahr! Er schaute mir fest in die Augen. Und kam näher. Noch näher. Ich wollte aufstehen. Ich wollte weglaufen. Aber ich war wie festgefroren. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nicht zurück. Ich konnte ihm nicht entkommen. »Wer bist du?«, brüllte der Schneemann wieder und der ganze Berg erbebte. »Ich... ich...« Meine Stimme war ein zittriges Piepsen. »Bitte«, gelang es mir hervorzupressen. »Bitte, ich... ich wollte Sie nicht stören. Ich...« »Wer bist du?«, donnerte das riesige Schneewesen zum dritten Mal. »Wer ich bin?«, piepste ich. »Ich bin Jacky. Jacky DeForest.« Die Ästchenarme des Schneemannes schossen in die Höhe. Sein dunkler Mund blieb ihm vor Überraschung offen stehen. »Sag das noch mal!«, befahl er.
Ich bibberte in den Kältewellen. »Jacky DeForest«, wiederholte ich mit kaum wahrnehmbarer, verängstigter Stimme. Der Schneemann musterte mich lange schweigend. Er ließ die Arme neben seinen runden Körper fallen. »Weißt du, wer ich bin?«, wollte er wissen. Ich schluckte schwer. Die Frage hatte mich völlig überrascht. Ich machte den Mund auf und brachte doch keinen Ton hervor. »Weißt du, wer ich bin?«, fragte der Schneemann donnernd. »Nein«, flüsterte ich. »Wer sind Sie?« »Ich bin dein Vater!«, brüllte der Schneemann.
»Neiiiin!« Ein lang gezogenes Heulen entrang sich meiner Kehle. Ich wollte dort weg. Ich wollte weglaufen, den Berg hinunterrutschen, wegfliegen. Aber ich konnte mich nicht rühren. Der Schneemann hielt mich in seiner eisigen Umklammerung. Hielt mich dort auf dem Felsvorsprung fest. Gefror mich in einer Kältewelle nach der anderen. »Jacky, ich bin dein Vater«, wiederholte der Schneemann und senkte seine donnernde Stimme. Er starrte mit diesen Furcht einflößenden runden Augen auf mich herab. »Glaub mir.« »Das... das kann nicht sein!«, stammelte ich. Ich schlang die Arme um mich und versuchte mein Zittern zu unterdrücken. »Sie sind ein Schneemann! Sie können nicht
mein Vater sein!« »Hör mir gut zu!«, donnerte der Schneemann. »Ich bin dein Vater. Deine Mutter war eine Hexe. Wie auch deine Tante. Deine Tante vollführt alle möglichen Zauberkunststücke.« »Nein!«, protestierte ich. Seine Lügen ließen mich all meinen Mut zusammennehmen. Ich richtete mich auf. »Das stimmt nicht!«, rief ich zornig. »Ich habe nie gesehen, dass Tante Greta irgendwelche Zauberkunststücke vollführte. Sie lügen!« Der Schneemann wankte von einer Seite auf die andere. Der Felsvorsprung unter mir vibrierte. Fast verlor ich das Gleichgewicht. »Ich lüge nicht, Jacky«, beharrte er. Er hob die Arme, als wollte er mich beschwichtigen. »Ich sage die Wahrheit.« »Aber wie ... wie ...«, stotterte ich. »Deine Mutter hat mir das angetan«, erzählte der Schneemann. »Sie hat mich verhext und in einen Schneemann verwandelt. Du warst gerade zwei Jahre alt. Sie verwandelte mich in einen Schneemann. Sie versuchte, es wieder rückgängig zu machen. Aber es hat nicht geklappt. Dann haben sie und deine Tante Greta dich genommen und sind aus dem Dorf geflohen.« »Ihre Geschichte ergibt keinen Sinn!«, entgegnete ich. »Wenn das, was Sie sagen, wahr wäre, warum sind wir dann wieder hierher gezogen? Warum hat uns Tante Greta in dieses Dorf zurückgebracht?« »Deine Tante hat einen guten Grund, wieder zurückzukommen«, erklärte der Schneemann. »Sie weiß, dass nach zehn Jahren der Zauber aufhört zu wirken.« »Das ... das verstehe ich nicht!«, stammelte ich. Mein Kopf fühlte sich an, als sei er ein Eisblock. Es war schwierig, nachzudenken. Ich kämpfte darum, den Sinn seiner Worte zu
erfassen. »Nach zehn Jahren hört der Zauber auf zu wirken«, wiederholte der Schneemann. »Deine Tante kam zurück, um den Fluch zu erneuern. Sie will, dass ich ein Schneemann bleibe. Sie will mich für immer als Gefangenen hier oben halten. Sie will sichergehen, dass ich niemals jemandem erzählen kann, was mit mir passiert ist. Und sie will dich für sich behalten!« »Tante Greta ist keine Hexe!«, protestierte ich. »Ich habe mit ihr fast mein ganzes Leben verbracht. Und ich habe niemals gesehen, dass sie irgendwen verhext hätte. Sie...« »Bitte!«, brüllte der Schneemann und hob einen seiner Arme, um mich zum Schweigen zu bringen. »Wir haben nicht viel Zeit. Ich bin dein Vater, Jacky. Dein echter Vater! Du musst mir glauben!« »Aber ich ... ich ...« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte nicht klar denken. Es war alles zu ... zu verrückt. »Du kannst mir aus diesem Schlamassel helfen«, sagte der Schneemann. »Du kannst mich retten. Aber du musst dich beeilen. Deine Tante Greta wird den Fluch bald erneuern. Wenn du mir nicht hilfst, werde ich weitere zehn Jahre lang ein Schneemann sein.« »Aber was kann ich tun?«, weinte ich. »Ich bin keine Hexe. Ich kann nicht zaubern. Was kann ich tun?« »Du kannst mich retten«, beharrte das riesige Schneemonster. »Aber ich darf dir nicht verraten wie.« Er stieß ein verbittertes Seufzen aus. »Wenn ich dir verrate, wie du mich retten kannst, dann verstärkt das nur noch den Fluch«, fuhr er fort. »Du musst es selbst herausfinden.« »Aber wie?«, wollte ich wissen. »Ich kann dir einen Hinweis geben«, antwortete der Schneemann. »Ich darf dir nicht sagen, wie du mich retten
kannst. Aber ich kann dir einen Hinweis geben.« »Gut«, sagte ich leise. Ich schlang die Arme fester um mich. Und ich hörte zu, wie der Schneemann mit seiner tiefen, donnernden Stimme das wohl bekannte Gedicht aufsagte: »Wenn der Schnee fällt im Wind Und es abends dunkel wird, Hüte dich vor dem Schneemann, mein Kind. Hüte dich vor dem Schneemann, Denn er macht, dass die Kälte klirrt.« Ich starrte ihn bestürzt an. »Du... du kennst das Gedicht!«, stammelte ich. »Das ist dein Hinweis«, sagte der Schneemann sanft. »Es ist der einzige Hinweis, den ich dir geben darf. Jetzt musst du selbst herausfinden, wie du mich retten kannst.« Ich wusste bereits, wie ich ihn retten konnte. Ich hatte es sofort gewusst, als er das alte Gedicht aufsagte. Die zweite Strophe. Das Geheimnis lag in der zweiten Strophe. In der Strophe, an die ich mich nicht erinnern konnte. »Bitte, Jacky.« Der Schneeman schaute mich flehend an. »Bitte, hilf mir. Ich bin dein Vater, Jacky. Ich bin wirklich dein Vater.« Ich sah ihm in die Augen. Versuchte mich zu entscheiden. Versuchte so sehr, mich zu entscheiden. Konnte ich ihm glauben? Sollte ich ihm helfen?
Ja. Ja, ich würde ihm helfen. Ich würde nach Hause laufen. Den alten Gedichtband finden. Und ich würde die zweite Strophe des Gedichtes aufsagen. »Ich bin bald zurück!«, rief ich dem Schneemann entgegen. Ich wandte mich von ihm ab und riss mich aus seinem unsichtbaren, kalten Griff. Ich rannte los. Und mir stockte der Atem, als ich fast mit Tante Greta zusammengestoßen wäre. »Tante Greta!«, stieß ich bestürzt aus. »Ich habe versucht dich zu warnen«, rief sie mir zu. »Ich versuchte dir Angst einzujagen, Jacky. Um dich davon abzuhalten, hier hoch zu gehen.« Es war also Tante Greta gewesen, die mitten in der Nacht in meinem Zimmer geflüstert hatte. Die mich gewarnt hatte, ich solle mich vor dem Schneemann hüten! Ihre dunklen Augen funkelten wirr. Ihr normalerweise so blasses Gesicht war feuerrot. Ihr langer Mantel stand offen und flatterte hinter ihr im Wind. In einer Hand hielt sie ein großes schwarzes Buch in die Höhe. »Jacky, suchst du das hier?«, wollte sie mit schriller Stimme wissen. »Ist das der Gedichtband?«, rief ich. Meine Tante nickte. Sie hielt das Buch hoch über ihren Kopf. »Tante Greta, stimmt das, was er sagt?«, fragte ich und warf einen Blick auf den riesigen Schneemann. »Ist er wirklich mein Vater?« Überrascht verzog meine Tante das Gesicht. »Dein Vater?«, rief sie aus. »Hat er das gesagt? Dass er dein Vater ist? Das ist eine Lüge! Eine schreckliche Lüge!«
»Neiiin!«, brüllte der Schneemann. Ich fuhr zusammen. Doch Tante Greta ignorierte das donnernde Brüllen. »Es ist eine Lüge, Jacky«, wiederholte sie und funkelte den Schneemann böse an. »Er ist nicht dein Vater! Er ist ein grässliches Monster!« »Neiiin!«, brüllte der Schneemann wieder. Der ganze Berg erbebte bei seinem Protest. »Deine Eltern waren Zauberer«, fuhr Tante Greta ungerührt fort. »Sie haben Tag und Nacht an ihren Fähigkeiten gearbeitet. Aber eines Tages gingen sie zu weit. Sie haben ihn versehentlich erschaffen.« Tante Greta deutete mit finsterer Miene auf den Schneemann. »Er ist ein grässliches Monster«, wiederholte sie mit zusammengepressten Zähnen. »Als deine Eltern sahen, was sie angerichtet hatten, waren sie entsetzt. Sie verzauberten das Monster in einen Schneemann. Bald danach verschwand dein Vater. Deine Mutter und ich nahmen dich mit und verließen das Dorf. Wir liefen davon, um vor dem grässlichen Monster sicher zu sein!« »Du lügst!«, tobte der Schneemann. Wild warf er seine Arme in die Luft. Sein Schal flatterte um ihn herum wie Adlerschwingen. Eine Frostwelle nach der anderen verließ seinen riesigen Körper. »Jacky, glaub ihr kein Wort«, bat mich der Schneemann. »Rette mich, bitte. Ich bin dein Vater.« Er streckte die Arme nach mir aus. »Bitte«, flehte er mich an. »Ich weiß, es ist schwer zu glauben. Aber deine Tante ist hier die Böse. Sie ist eine Hexe. Sie selbst, deine Mutter und ich, wir alle waren Zauberer. Ich bin nicht böse. Ich bin kein Monster. Bitte!« »Lügner!«, schrie Tante Greta. Zornig umklammerte sie mit beiden Händen das große Buch, als wollte sie es auf ihn
werfen. »Ich kann nicht zaubern!«, rief Tante Greta. »Ich kenne keine Flüche. Ich bin keine Hexe!« Sie schlug das Buch auf und begann hektisch darin zu blättern. »Ich bin keine Hexe. Aber ich habe dieses Buch hier mitgebracht, weil ich um sein Geheimnis weiß. Ich weiß, was ich tun muss, damit du für immer ein Schneemann bleibst.« Der Schneemann streckte mir immer noch seine Arme entgegen. »Jacky, rette mich. Rette mich, bitte!«, flehte er mich an. Ich wandte mich von ihm zu meiner Tante und wieder zurück. Wem sollte ich glauben? Wer von ihnen sagte die Wahrheit? Plötzlich hatte ich eine Idee.
Ich riss meiner Tante den aufgeschlagenen Gedichtband aus den Händen. »Was um alles in der Welt machst du da?«, kreischte sie. Schnell kam sie auf mich zu, um es mir zu entreißen. Beide zerrten wir daran. Die alten Seiten gingen aus dem Leim und stoben auseinander. Der feste Einband riss. Tante Greta versuchte verzweifelt, das Buch zu erhaschen. Doch ich zog es ihr weg. Dann lehnte ich mich mit dem Rücken an die Außenwand der Eishöhle. Tante Greta trat einen Schritt auf mich zu. Dann warf sie einen Blick auf den Schneemann und entschied, ihm nicht zu nahe zu kommen.
»Jacky, du machst einen großen Fehler«, warnte mich Tante Greta. Mit dem Rücken an der glatten Höhlenwand blätterte ich hektisch die Seiten des alten Buches durch. »Ich werde das Gedicht finden«, sagte ich zu ihr. »Ich werde die zweite Strophe vorlesen. Nur so kann ich die Wahrheit herausfinden.« »Danke, Tochter!«, brüllte der Schneemann. Tante Greta protestierte. »Ich sage die Wahrheit, Jacky. Ich habe mich all die Jahre um dich gekümmert. Ich würde dich nie belügen.« Aber mein Entschluss war gefasst. Ich musste die zweite Strophe vorlesen. Es war die einzige Möglichkeit herauszufinden, wer von den beiden mich anlog und wer die Wahrheit sagte. »Er ist ein Monster!«, schrie Tante Greta. Der Schneemann stand stocksteif da und beobachtete mich, wie ich mit wachsender Nervosität in dem Buch herumblätterte. Wo war das Gedicht? Wo nur? Ich blickte auf. »Tante Greta?« Sie bückte sich gerade, um eine zerrissene Seite aus dem Schnee zu ziehen. Als ihr Blick über die Seite wanderte, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Der Wind blähte ihren Mantel auf. Ihre Augen funkelten. Das Blatt flatterte im Wind. »Jacky, ich kann nicht zulassen, dass du das Gedicht liest«, sagte sie. »Du ... du hältst es in der Hand?«, rief ich aus. »Ich kann nicht zulassen, dass du es liest«, wiederholte Tante Greta. Und warf das Blatt in den Abgrund.
Ich schrie auf. Ich sah die Seite über dem Abgrund schweben. Ich sah, wie sie von einem Windstoß erfasst und nach oben gewirbelt wurde und dann wieder langsam herabsank. Vorbei, schoss es mir durch den Kopf. Jetzt ist alles vorbei. Der Wind wird die Seite den Berg hinuntertragen. Niemand wird sie je wieder sehen. Und dann schrie ich noch einmal auf - als nämlich ein erneuter Windstoß die Seite wieder nach oben trug, immer weiter nach oben. Und direkt vor meine Hände. Ich griff danach. Starrte sie erstaunt an. Und bevor Tante Greta sie mir wieder entreißen konnte, hob ich die Seite vor mein Gesicht und begann die zweite Strophe des Gedichtes laut vorzulesen: »Wenn der Schnee schmilzt Und die warme Sonne scheint, Hüte dich vor dem Schneemann...« »Neiiinn!«, kreischte Tante Greta. Sie stürzte sich auf mich. Mit einem verzweifelten Aufschrei riss sie mir das Papier aus der Hand. Und zerfetzte es. Dem Schneemann entfuhr ein entsetztes Stöhnen. Er bückte sich. Versuchte Tante Greta zu fassen. Zu spät.
Die Papierfetzen wurden vom Wind aufgewirbelt. »Tante Greta ... wieso hast du das gemacht?«, stieß ich hervor. »Ich durfte es nicht zulassen«, antwortete sie. »Er ist ein Monster, Jacky. Er ist nicht dein Vater. Ich durfte nicht zulassen, dass du ihn befreitest.« »Sie lügt«, beharrte der Schneemann. »Sie will nicht, dass du mich kennst, Jacky. Sie will nicht, dass du deinen eigenen Vater kennen lernst. Sie will mich für immer im Körper eines Schneemanns gefangen halten.« Ich drehte mich wieder zu meiner Tante um. Ihre Miene war ernst und unbewegt. Sie schaute mich aus kalten Augen an. Ich atmete tief ein. »Tante Greta, ich muss die Wahrheit herausfinden«, sagte ich zu ihr. »Ich habe sie dir erzählt«, beharrte sie. »Ich muss ganz sichergehen«, antwortete ich. »Ich... ich habe die letzte Zeile von dem Gedicht gesehen. Bevor du es in die Hände bekamst und zerrissen hast. Ich kenne das ganze Gedicht, Tante Greta.« »Tu's nicht«, flehte mich meine Tante an und streckte die Arme nach mir aus. Doch ich lehnte mich an die eisige Höhlenwand und sagte die Strophe auswendig auf: »Wenn der Schnee schmilzt Und die warme Sonne scheint, Hüte dich vor dem Schneemann, Denn das macht ihn frei.« »Nein, Jacky. Nicht! Oh, nein, nein, nein!«, jammerte Tante Greta. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und wiederholte ihr Klagen. »Oh, nein, nein, nein!«
Ich wandte mich zu dem Schneemann um und sah, wie er anfing zu schmelzen. Der weiße Schnee tropfte ihm vom Gesicht und vom Körper wie Speiseeis in der Sonne. Die schwarzen Augen fielen zu Boden. Das Gesicht zerfloss und verteilte sich über dem Körper. Der Schnee rann den runden Bauch hinab. Die Ästchenarme schlugen schwer auf dem Boden auf. Langsam kam sein wahres Gesicht zum Vorschein. Langsam zeigte sich sein wahrer Körper unter dem Schnee. Ich zuckte mit keiner Wimper, als der Schnee dahinschmolz. Und dann öffnete ich den Mund, um einen schrillen Verzweiflungsschrei auszustoßen.
Ein Monster! Ein hässliches, zischendes rotes Monster stampfte unter dem schmelzenden Schnee hervor. Tante Greta hatte die Wahrheit gesagt. Ein Monster war in dem Schneemann verborgen gewesen. Nicht mein Vater. Nicht mein Vater! Stattdessen ein Monster, ein schreckliches Monster! Sein Kopf und sein Körper waren von krustigen roten Schuppen bedeckt. Seine gelben Augen rollten wild in seinem bulligen Kopf. Eine lila Zunge hing ihm aus dem Maul. »Nein, nein, nein!«, wiederholte Tante Greta immer wieder. Sie hielt die Hände immer noch vors Gesicht gepresst. Tränen rannen ihr über die Wangen und Hände.
»Was habe ich bloß getan?«, jammerte ich. Das Monster warf den Kopf zurück und lachte rau. Es hob den Gedichtband mit seinen dreifingrigen schuppigen Händen vom Schnee auf. Dann warf es ihn den Abhang hinunter. »Jetzt bist du dran!«, brüllte es mich an. »Nein, bitte ...«, flehte ich. Ich ergriff Tante Greta bei den Schultern und zog sie vom Abgrund weg. Wir pressten uns gegen die kalte Höhlenwand. »Auf Nimmerwiedersehen«, grunzte das Monster. »Auf Nimmerwiedersehen, ihr zwei.« »Aber ich habe dich gerettet«, wandte ich ein. »Ist das der Dank? Den Abhang hinuntergeworfen zu werden?« Die rot geschuppte Bestie nickte. Ein ekelhaftes Grinsen gab den Blick auf noch mehr scharfkantige Zähne frei. »Ja. Genau das ist der Dank.« Sie hob mich mit einer kräftigen Hand hoch. Dabei quetschte sie meine Taille. Quetschte sie so sehr, dass ich nicht mehr atmen konnte. Mit der anderen Hand hob das Monster Tante Greta hoch. Es hielt uns beide hoch über seinen Kopf. Dann gab es ein grässliches, bösartiges Stöhnen von sich - und hielt uns über den Abgrund.
Mit seinen kräftigen Händen hielt es uns fest und schleuderte uns herum. Ich äugte hinab, hinab auf die senkrechte Felswand, auf
den schneebedeckten Boden, der kilometerweit unter uns zu sein schien. Zu meiner Überraschung ließ das Monster uns nicht los. Es drehte sich um und ließ meine Tante und mich auf den Felsvorsprung fallen. »Oh!«, stieß ich überrascht hervor. Das Monster blickte jetzt den Pfad hinunter. Es interessierte sich nicht mehr für Tante Greta und mich. Nach Atem ringend, wandte ich mich um und schaute in dieselbe Richtung. Dann sah ich, was das Monster erschreckt und mir das Leben gerettet hatte. Eine Parade! Eine Schneemann-Parade, um genau zu sein. Alle Schneemänner aus dem Dorf. Sie kamen einer hinter dem anderen den Weg zur Eishöhle hoch. Ihre roten Schals flatterten im Wind. Ihre Ästchenarme schwangen vor und zurück, als sie den Berg emporklommen. Wie Soldaten marschierten sie auf uns zu. Sprangen, stampften, rumpelten vorwärts. Alle gleich. Alle mit einer Narbe im Gesicht, ernst und höhnisch grinsend. »Ich ... ich fass es nicht!«, stammelte ich. Ich ergriff Tante Gretas Arm. Voller Angst blickten wir den Schneemännern entgegen. »Sie alle kommen, dem Monster zu dienen«, flüsterte Tante Greta. »Das ist das Ende, Jacky. Das Ende.«
Die Schneemänner polterten den vereisten Felsvorsprung hoch. Das andauernde Stampfen wurde lauter, als sie sich uns näherten. Das Geräusch hallte von den schneebedeckten Berghängen wider, bis es klang, als wären tausend Schneemänner zum Angriff gegen uns übergegangen. Tante Greta und ich machten uns ganz klein und kauerten uns zusammen. Es gab keinen Ausweg. Das Monster blockierte den Höhleneingang. Die marschierenden Schneemänner schnitten uns jeden Fluchtweg den Abhang hinunter ab. Immer näher kamen die Schneemänner. Noch näher. So nah, dass man den Zorn in ihren runden schwarzen Augen funkeln sehen konnte. So nah, dass man die schlangenähnlichen Narben in ihren Gesichtern deutlich erkennen konnte. Tante Greta und ich konnten nirgendwohin. Wie zur Abwehr hielten wir die Hände über uns. Und dann atmeten wir überrascht auf, als die Schneemänner direkt an uns vorbeimarschierten. Sie rumpelten auf das Monster zu. Preschten schnell vor, stampften über das Eis. Mit schwingenden Armen und dunkel glühenden Augen. Sie sprangen das überraschte Monster an. Drängten es zurück. Immer weiter zurück. Die Schneemänner rempelten es an. Erst einer. Dann zwei. Schließlich zehn. Sie rempelten gegen seinen schuppigen roten Körper. Drängten es immer weiter zurück. Das Monster warf wütend den Kopf hin und her und
brüllte laut. Doch das Brüllen wurde von einem Schneemann erstickt, der sich über den Kopf des Monsters rollte. Verwundert beobachteten Tante Greta und ich, wie die Schneemänner über das Monster herfielen. Sie drängten es gegen die Höhlenwand. Wir sahen, wie das Monster mit seinen starken Armen wild um sich schlug. Doch ohne Erfolg. Und dann verschwand das Monster hinter einer Wand aus Schneemännern. Die Schneemänner schoben sich weiter vorwärts. Unnachgiebig. Stumm. Wie eine lautlose Lawine. Und als sie endlich von ihm abließen, stand das Monster vor Kälte erstarrt da, die Arme wie zum Angriff erhoben. Bewegungsunfähig. In der Eiswand gefangen. Die Schneemänner hatten es ins Eis gepresst und dort eingeschlossen. Tante Greta und ich standen zitternd am Höhleneingang. Wir hielten uns immer noch fest umklammert. Meine Knie waren weich und wie aus Gummi. Ich konnte fühlen, wie Tante Greta unter ihrem Mantel schlotterte. »Was hat die ganzen Schneemänner hierher gebracht?«, fragte ich sie. »Warst du das, Tante Greta?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren immer noch vor Erstaunen weit aufgerissen. »Ich war's nicht, Jacky«, sagte sie sanft. »Ich habe dir die Wahrheit gesagt. Ich habe keine magischen Kräfte. Deine Eltern waren Zauberer. Ich nicht.« »Wer hat sie dann dazu gebracht, auf den Berg zu kommen und uns zu retten?«, wollte ich wissen. »Das war ich!«, erklang eine Stimme.
Ich drehte mich in Richtung des Abhangs. Dort stand Conrad. Sein graues Haar war windzerzaust. Der weiße Wolf stand neben ihm. »Sie haben es geschafft, dass die Schneemänner marschiert sind?«, rief ich. »Sind Sie denn auch ein Zauberer?« Conrad nickte. Er sah zu dem im Eis gefangenen Monster hinüber. Ein Lächeln breitete sich über seinem Gesicht aus. »Ja. Ich habe sie losgeschickt, um euch zu retten«, sagte er. Tante Greta musterte Conrad mit zusammengekniffenen Augen. Während sie sein Gesicht genau betrachtete, blieb ihr der Mund offen stehen. »Du!«, rief Tante Greta. »Bist du's wirklich?« Conrads Lächeln wurde noch breiter. »Ja, ich bin's«, sagte er zu meiner Tante. »Wer... wer ist er denn?«, wollte ich wissen. Tante Greta drehte sich zu mir um und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Jacky«, sagte sie sanft. »Ich bin wieder hierher gezogen, weil ich hoffte, dass er vielleicht noch hier wäre. Und wirklich, ich hatte Recht. Er ist noch hier!« Sie drückte meine Schulter und lächelte mich mit Tränen in den Augen an. »Conrad ist dein Vater«, flüsterte sie. Conrad und ich stießen gleichzeitig einen Schrei aus. Er eilte über den vereisten Felsvorsprung und schloss mich in die Arme. Sein langer Bart kratzte an meinem Gesicht, als er seine Wange an meine drückte. »Ich kann's einfach nicht glauben«, rief er und trat mit Tränen in den Augen einen Schritt zurück. »Es ist so viele Jahre her - ich habe dich nicht wieder erkannt, Jacky. Ich bin so froh, dass Greta dich ins Dorf zurückgebracht hat.« »Du... du bist wirklich mein Vater?«, stammelte ich.
Conrad kam nicht dazu zu antworten. Rolonda und Eli kamen zu uns hochgerannt. »Alles in Ordnung?«, riefen sie. Conrad deutete auf Rolonda und Eli. »Sie haben euch das Leben gerettet«, erzählte er uns. »Sie haben mir gesagt, dass du vorhattest, zur Eishöhle hochzuklettern. Als ich das hörte, habe ich meine magischen Kräfte eingesetzt. Ich schickte die Schneemänner zu eurer Rettung.« »Boah!«, rief Eli aus, als er das im Eis eingefrorene Monster sah. »Guckt mal!« »Das war der böse Schneemann«, erklärte Conrad. »Er wird das Dorf nie wieder bedrohen.« Rolonda und Eli machten einige Schritte auf das Monster zu, um es aus der Nähe zu betrachten. Ich wandte mich meinem Vater zu. »Eins verstehe ich nicht«, sagte ich. »Warum bist du im Dorf zurückgeblieben, als Mom und Tante Greta weggingen? Warum wohnst du hier oben bei der Eishöhle?« Er strich sich über den Bart und seufzte. »Das ist eine lange Geschichte. Als du klein warst, verfügten deine Mutter und ich über starke Zauberkräfte. Wir verloren die Kontrolle darüber. Und so haben wir versehentlich dieses Monster erschaffen.« Er zeigte auf das Monster und schüttelte den Kopf. »Wir froren das Monster in einen Schneemann ein«, erzählte er weiter. »Deine Mutter... sie wollte daraufhin fort. Sie hatte schreckliche Angst. Sie wollte so weit wie möglich von dem Dorf weg, wollte das Ganze vergessen.« »Warum bist du geblieben?«, fragte ich. »Ich blieb, weil ich glaubte, es den Leuten im Dorf schuldig zu sein«, erklärte er. »Ich musste dafür sorgen, dass der Schneemann in seiner Höhle blieb. Dass er niemandem wehtat.« Wieder seufzte er traurig. »Und deshalb blieb ich hier
oben, in der Nähe des Monsters, das wir beide geschaffen hatten. Aber ... dass ich dich dabei verlassen musste, Jacky, das war das Schwerste, was ich je tun musste.« Er legte seinen Arm um meine Schultern. Wieder kratzte mich sein Bart im Gesicht. »Ich habe immer davon geträumt, dass ich eines Tages den Berg verlassen würde, um nach dir zu suchen«, sagte er sanft. »Und jetzt ist das Monster tot. Der Schrecken hat ein Ende. Und Greta hat dich zu mir zurückgebracht. Vielleicht...« Seine Stimme erstarb. Er lächelte zunächst Tante Greta an und dann mich. Er holte tief Luft und setzte noch einmal an. »Vielleicht... können wir versuchen eine ganz normale Familie zu sein.« Er ließ den Arm auf meiner Schulter liegen, als wir uns auf den Heimweg machten. »He!«, rief ich aus, als ich sah, dass die Schneemänner uns den Weg versperrten. Bei all der Aufregung hatte ich die ganze Mannschaft völlig vergessen. Jetzt bilden sie einen Kreis um uns. Schlossen uns ein. Starrten uns mit ihren schwarzen Kohleaugen an. So kalt. »Was ... was haben sie vor?«, stammelte ich. Bevor mein Vater antworten konnte, löste sich einer der Schneemänner aus der Gruppe und rumpelte auf uns zu. Seine Arme schwangen hin und her, seine Augen funkelten. Ich griff nach Dads Arm. Die Schneemänner hatten uns eingekreist. Es gab keinen Fluchtweg. Keine Möglichkeit zu entkommen. Der Schneemann blieb einige Zentimeter vor meinem Vater stehen - und fing an zu sprechen. »Können wir jetzt wieder runtergehen?«, fragte der
Schneemann. »Es ist wirklich kalt hier oben.« ENDE