Gruselspannung pur!
Der Satansrächer von Greifswald
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Es war schon nach Mitte...
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Gruselspannung pur!
Der Satansrächer von Greifswald
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Es war schon nach Mitternacht, als Thorsten Lambrecht den himmelblauen Trabant seines Vaters mit quietschenden Reifen vor der Parkanlage zum Stehen brachte. Thorsten war in Siegerstimmung, denn endlich hatte er es geschafft, mit Julia Weidemann allein zu sein! Hier, in der Klosterruine Eldena. In einer lauen Juninacht. Thorsten kannte Julias romantische Ader. Dies hier war bestimmt die richtige Umgebung, um das blonde Mädchen in Stimmung zu bringen. Er federte aus dem Wagen, ging um die Motorhaube herum und öffnete die Beifahrertür. Seine Hände waren feucht. Auch sie verrieten deutlich die Vorfreude. Von dem grauenhaften Monster, das in nächster Nähe
lauerte, sahen und hörten die beiden jungen Menschen nichts! Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
Julia Weidemann warf ihre langen, blonden Haare zurück. Die Siebzehnjährige strich über ihren superkurzen Minirock und versuchte ihn um ein paar Millimeter nach unten zu ziehen. Oder sie tat zumindest so. Sie fand Thorsten ja eigentlich ganz nett. Wenn er sie nur nicht immer so begierig angeglotzt hätte! In ihren Augen mußte ein Junge ein Märchenprinz sein, der auf einem kraftstrotzenden Schimmel herangesprengt kam und sie zu sich in den Sattel hob. Ein Held wie aus ihren Liebesromanen. Ein Mitschüler, der einmal in der Woche den alten Kleinwagen seines Vaters benutzen durfte, fiel gegenüber ihrem Märchenprinzen natürlich stark ab. Und trotzdem hatte sie sich überreden lassen, an diesem Mittwochabend mit Thorsten Lambrecht hierher zu fahren. Heraus aus Greifswald, der kleinen Universitätsstadt in Ostseenähe. Hin zur wenige Kilometer vom Zentrum entfernt liegenden Ruine des 1199 gegründeten Zisterzienserklosters. Die Mauerreste hatten durch die Bilder des romantischen Malers Caspar David Friedrich Unsterblichkeit erlangt, der Greifswald u.a. seine Gemälde »Abtei im Eichwald« und »Klosterruine Eldena« gewidmet hatte. Julia Weidemann kannte diese Werke nicht. Sie interessierte sich nicht für Kunst, sondern für ihre Phantasiewelten. Doch die waren harmlos gegenüber dem, was hier in wenigen Minuten ablaufen würde. Und auch Thorsten Lambrecht hatte herzlich wenig Sinn für Caspar David Friedrich. Wenn überhaupt Kunst, dann kam für ihn höchstens Modedesign in Frage. Zum Beispiel Julias grellbuntes Top und das dunkelblaue Flatterröckchen. Und auch an diesen schrillen Klamotten interessierte ihn letzten Endes nur, wie er sie so schnell wie möglich seiner Mitschülerin ausziehen konnte. Der Junge und das Mädchen stapften durch das wadenhohe Gras
auf die Überreste des Brunnenhauses zu. Die Sommernacht war hell genug, daß sie sehen konnten, wohin sie traten. Das seltsame Geschöpf bewegte sich derweil vorsichtig hinter Mauerresten, war von den beiden jedoch immer noch nicht bemerkt worden, obwohl sie darauf zugingen. Irgendwo in den dunklen Mauern ertönte das Rufen eines Käuzchens. Die Lichter des Dorfes schienen Lichtjahre entfernt zu sein. »Ist das nicht herrlich hier?« fragte Julia und breitete die Arme aus. Ganz wohl war ihr nicht in diesem Augenblick. Thorsten sah seine Stunde gekommen. Er zog das Mädchen an sich. Er hielt es einfach nicht mehr länger aus. Während er Julia umarmte, fingerte er unter das Röckchen und grabschte nach den Pobacken. Er stöhnte, als hätte er das Paradies bereits erreicht. Wie eine Schlange wand sich die Blondine jedoch aus seinem Griff. »Du bist so stürmisch!« hauchte sie. »Wenn uns jetzt die alten Mönche sehen könnten!« »Die hätten bestimmt bedauert, keine Ferngläser zu besitzen, um dich aus der Nähe zu betrachten«, gab Thorsten schlagfertig zurück. »Julia Weidemann, die fleischgewordene Sünde.« Wieder lachte die langbeinige Schönheit. Sie ging rückwärts um das Brunnenhaus herum, während Thorsten sie verfolgte. »Würdest du es als Mönch aushalten, Torti? Ich meine - ohne Sex…« »Nenn mich nicht so«, brummte Thorsten. Julia wußte schon, wie sie ihren Mitschüler auf die Palme brachte. »Torti, Torti, Torti!« sang sie laut vor sich hin. »Torti, mach's dir doch selbst! Mach's dir doch selbst! Mach's dir doch…« »Na warte!« Der muskulöse Junge mit dem kantigen Kinn war wirklich sauer. Solche Spielchen schätzte er überhaupt nicht. Für Spinnereien oder Witze auf seine Kosten hatte er nichts übrig. Julia dafür um so mehr. Thorsten kränkte es, daß sie ihm diesen albernen Spitznamen
verpaßt hatte. Daß sie es getan hatte, weil sie ihn auch mochte - auf diesen Gedanken wäre er nie gekommen. »Fang mich doch!« rief das Mädchen neckend und machte unbewußt einen Riesensatz auf die widerwärtige Kreatur zu, die hinter einem Mauervorsprung lauerte. Die Augen des Wesens glommen in der Dunkelheit. Thorsten schnaufte wütend und versuchte, seine Mitschülerin zu fangen. Doch die Kleine war schnell. Sie schlug einen Haken, duckte sich unter seinen Armen hinweg. Das dunkle Monster richtete sich langsam auf. Die beiden waren so in ihr Spiel vertieft, daß sie das Wesen noch immer nicht bemerkt hatten. Nun hatte der Junge das Mädchen doch erwischt. Kreischend landeten sie im hohen Gras. Er auf ihr. Thorsten war nicht mehr ganz so sauer. Um so überraschter war er, als Julia ihm plötzlich die Arme um den Nacken legte. Gleichzeitig spürte, er ihre Schenkel auf seinen Hüften. Würde sie ihn nun endlich erhören? In dieser herrlichen, lauen Sommernacht. »Warum spielst du so mit mir?« fragte er etwas dümmlich. »Wenn du es doch auch willst.« »Du redest zuviel, Torti!« erwiderte das Mädchen mit einem schelmischen Grinsen. »Küß mich lieber!« Ihre Lippen näherten sich einander. Und Thorstens Wut war inzwischen völlig verflogen. Jetzt kam die Freude. Sie wuchs mit jeder Sekunde! Plötzlich jedoch fuhr Julia Weidemann mit einem Schreckensschrei zurück. Sie sah es trotz des schwachen Lichtscheins ganz deutlich. Thorstens Gesicht wuchs zu! Er mußte selbst bemerkt haben, was mit ihm los war. Entsetzt schlug er sich die Hand vor den Mund. Schien die Veränderung stoppen zu wollen. Und als er die Hand wieder wegzog, war sein Mund komplett verschwunden!
Julia hatte den ersten Schreck überwunden. Sie traute sich sogar, mit ihrer schmalen und zarten Hand über sein Gesicht zu streichen. Doch dort, wo eben noch seine Lippen gewesen waren, befanden sich nur noch trockene Haut und ein paar Bartstoppeln. Thorstens Augen waren weit aufgerissen. Er schlug sich mit beiden Fäusten verzweifelt gegen die Stirn. Er will schreien, fuhr es Julia durch den Kopf. Er will schreien, aber er kann es nicht mehr! Sie war hin- und hergerissen zwischen Panik und Mitleid. Am liebsten wäre sie weggerannt. Weit weg. Zurück nach Greifswald, zu Fuß durch die Nacht. Nur, um das nicht miterleben zu müssen! Aber sie bekämpfte diesen Impuls. Thorsten brauchte ihre Hilfe. Sonst würde er sich womöglich noch etwas antun. »Atme tief durch die Nase!« versuchte sie ihn zu beruhigen. Sie kam sich vor wie bei der Fahrtenschwimmer-Prüfung der DLRG. »Wir steigen jetzt in den Wagen. Und dann fahren wir ins Krankenhaus nach Greifswald. Die Ärzte werden schon… O nein! Was ist das denn?« Während sie sprach, hatte sie instinktiv ihre Hand auf seinen Unterarm gelegt. Plötzlich spürte sie an ihren Fingerspitzen, wie kalt und schleimig sich seine Haut anfühlte. Wie der Körper einer gigantischen Nacktschnecke. Julia mußte sich Gewißheit verschaffen. Deshalb griff sie kurzentschlossen in Thorstens Jeanstasche, in der sie vorhin sein Feuerzeug hatte verschwinden sehen. Sie rieb mit ihrem Daumen über den Zündstein. Die Flamme spendete genug Licht, um die gräßliche Wahrheit zu erkennen. Thorstens Haut wurde grünlich und schuppig. Wie bei einem riesigen Reptil. Mit zitternden Fingern hielt sie die Flamme vor sein Gesicht. Und blickte in große, schwarze Lurchaugen, die sie ausdruckslos anstarrten. Diesmal konnte sich die junge Frau nicht mehr beherrschen. Diesmal schrie sie sich die Seele aus dem Leib.
Was zuviel war, war zuviel. Sie wollte nur noch flüchten. Julia machte einen Sprung weg von dem verwandelten Thorsten, der sich nur noch träge bewegte. Da prallte die Schülerin wieder zurück, denn hinter ihr stand eine entsetzliche Kreatur. Sie war mindestens drei Meter groß!
* »Hellmann!« Ich erhob mich aus dem orangefarbenen Plastikstuhl, der diese Wartezone des Einwohnermeldeamtes von Weimar verunzierte. Wenn ich etwas hasse, dann sind es Behördengänge. Das war schon zu DDR-Zeiten so. Und daran hat sich auch nichts geändert. Zumal man oft mit denselben Spaßvögeln auf der anderen Seite des Schreibtisches zu tun hat wie vor der Wende. Seit Jahren wurden einige dieser Altgedienten auch durch kunterbunte Westimporte ersetzt. Ich kann nicht sagen, welche Sorte ich mehr schätze. Aber man ist als Bürger auf die Ämter angewiesen. Wenn man beispielsweise einen Personalausweis verlängern lassen will. Da wird ein Journalist oder ein Kämpfer des Rings nicht bevorzugt behandelt. Man reiht sich ein und wartet. Und wartet und wartet… Die Dame, die mich soeben zackig aufgerufen hatte, schien sich schon fast im Alter des seligen bzw. unseligen Erich zu befinden. Auf jeden Fall schien sie ihre Brille beim selben Optiker bestellt zu haben. Damals. Sie musterte mich mehr als kritisch. Ich blieb breitbeinig vor ihrem Schreibtisch stehen, die Daumen in den Gürtel meiner verwaschenen Jeans gehakt. Meine Frisur schien ebensowenig auf ihre Zustimmung zu treffen wie mein bedrucktes TShirt. Aber ich war hier ja nicht auf einer Modenschau, sondern bei einer deutschen Behörde. Das wurde mir im nächsten Moment klar. »Hellmann - in voller Lebensgröße, gnädige Frau«, sagte ich freundlich.
Die Dame im grauen Kostüm giftete mich an, als ob ich wegen dreifachen Mordes angeklagt wäre. Dabei wollte ich doch nur meinen Personalausweis abholen. Zum Glück gibt es Beamtinnen, die Charme, Ausstrahlung und Flair haben. Meine Dauerfreundin Tessa Hayden, von der Kripo Weimar, beispielsweise… Ich seufzte wohlig auf, als ich an ihre Vorzüge dachte. »Markus Nikolaus Hellmann?« »Niemand anders. Aber sie dürfen mich auch gerne Mark nennen«, bot ich der Dame mit einem Augenzwinkern an. Aber da war ich an die falsche Adresse geraten. »Sie haben das Formular falsch ausgefüllt. Deshalb kann ihr Ausweis nicht ordnungsgemäß verlängert werden.« Ich verdrehte die Augen Richtung Himmel. Schon auf der Uni hatte ich mit den Behörden häufig im Klinsch gelegen. Als ich nach meinem Völkerkundestudium sogar einen Job als Wissenschaftlicher Assistent bekam, hatte, ich ihn bald wieder an den Nagel gehängt. Ich hatte keine Lust, jahrzehntelang in diesen erstarrten Strukturen vor mich hinzudämmern und erst kurz vor der Rente Karriere zu machen. Da gab es eine starke Kraft in meinem Inneren, die mich ständig in Bewegung hielt. Die mich ruhelos und neugierig machte. In diesem Augenblick war ich allerdings eher genervt. »Falsch ausgefüllt? Aber wieso?« Die Beamtin knallte mir den Antrag hin wie ein Todesurteil. »Unter der Rubrik Geburtsdatum haben Sie statt der Jahreszahl ein Fragezeichen eingetragen!« Und sie schnappte Luft angesichts dieses unglaublich dreisten Vergehens. Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kenne mein Geburtsdatum nicht. Meine Eltern, also, meine Pflegeeltern haben mich gefunden, als ich etwa zehn Jahre alt war. An die Zeit davor habe ich keine Erinnerung.« »Das gibt es nicht!« behauptete der alte Drachen. Dann klappte sie ihr Stempelkissen auf, nahm einen Stempel vom Karussell und
knallte ein wunderschönes rotes »Abgelehnt!« auf meinen Antrag. »Das gibt es nicht?« wiederholte ich ungläubig. »Soll das heißen, ich lüge?« »Kommen Sie mit Ihrer Geburtsurkunde wieder«, empfahl mir die Frau mit der Hornbrille. »Aber ich habe keine Geburtsurkunde!« rief ich aufgebracht. »Wie denn auch? Ich habe Ihnen doch gerade erklärt…« »Keine Geburtsurkunde, kein neuer Personalausweis!« entschied sie. »Wieso wurde Ihnen überhaupt ein solches Dokument ausgestellt, Herr Hellmann? Das ist offenbar ein Irrtum gewesen.« Ich schenkte ihr mein charmantestes Lächeln. »Dann muß ich wohl durch diese Wand gehen und auf dem fliegenden Teppich davonschweben, den ich vor der Tür geparkt habe. Vergessen Sie mich einfach, gnädige Frau. Sie haben es messerscharf erkannt. Ich bin wohl nur ein Geist!« Als ich draußen vor dem Einwohnermeldeamt stand und den wolkenlosen Himmel über dem frühsommerlichen Weimar betrachtete, kehrte meine gute Laune schlagartig zurück. Ich hatte schon gegen ganz andere Gegner gekämpft. Schwarzmagische Ungeheuer und Dämonen. Allen voran Mephisto höchstpersönlich, der offenbar eine Rechnung mit mir offen hatte. Den Grund wußte ich bis heute nicht. Aber ich hatte mich in hoffnungslosen Situationen befunden und war immer wieder als Sieger daraus hervorgegangen. Und da sollte ich mich von einer solchen Paragraphenreiterin aus der Bahn werfen lassen? Zum Trost für den unerfreulichen Behördengang kaufte ich mir eine große Eiswaffel und schleckte sie, während ich durch die Fußgängerzone schlenderte. Ich dachte an den Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg, für den sollte ich einen Fernsehbeitrag über ein angebliches Spukhaus in Potsdam produzieren. Ich war schon vor Ort gewesen, aber zur Zeit war alles verschlossen und verriegelt. Das Haus stand unter Denkmalschutz. Den Schlüssel würde ich von der Kulturbehörde bekommen. Auf Antrag. Und über den Antrag entschied ein Ministerialrat, der gerade die Sommergrippe hatte.
Also mußte ich warten. Und während ich das tat, schlenderte ich durch meine Heimatstadt Weimar und erfreute mich am Anblick der leicht bekleideten jungen Thüringerinnen. Ein Schrei riß mich aus meinen Träumen! Ich wirbelte herum. Das jahrelange Training als Zehnkämpfer hat meine Reflexe geschult. Seit ich mich auf unerklärliche Ereignisse spezialisiert habe und dabei gegen die Mächte der Finsternis antreten muß, hat mir diese Fähigkeit schon oft das Leben gerettet. Doch an diesem schönen Sommertag schien es nur allzu irdische Probleme zu geben. Ein halbwüchsiger Bengel flitzte auf Rollerskates zwischen den überraschten Passanten herum. Fünfzig Meter weiter hinten lag eine alte Dame auf dem Pflaster der Fußgängerzone. Der Typ in seinem teuren bunten Trainingsanzug hatte eine abgeschabte Handtasche unter dem Arm. Man brauchte keine große Phantasie, um zu erkennen, daß sie nicht ihm gehörte. Der Dieb machte einen entscheidenden Fehler. Er wollte an mir vorbei. So schnell konnte er gar nicht sein. Ich war schneller. Mit einem Bodycheck sprang ich ihn an. Jeder Eishockeyspieler wäre auf diese Attacke stolz gewesen. Ich hatte den Handtaschendieb völlig überrascht. Wir beide krachten ziemlich unsanft zu Boden. Nun erwiesen sich die Rollerskates als Nachteil. Der Dieb versuchte aufzustehen. Aber das war nicht so einfach. Jedenfalls rutschte er aus und setzte sich wieder auf sein Hinterteil. Ich war schon wieder auf den Beinen und packte ihn am Kragen. »Gib die Tasche her!« herrschte ich ihn an. Ich war wirklich sauer auf ihn. So eine wehrlose alte Frau zu bestehlen! Sie bekam sicherlich nur eine kleine Rente, und da schmerzte jede gestohlene Mark mehrfach. In dem heimtückischen Gesicht des Straßenräubers arbeitete es. Er überlegte sich offenbar, ob er sich mit mir anlegen sollte. Dann war die Entscheidung gefallen. Der Dieb zog ein Butterfly-
Messer aus der Hosentasche! Ich federte zurück und ging in Abwehrstellung. Doch ich brauchte nichts zu tun. Bevor mich der Rollerskater verletzen konnte, hatte jemand die Messerhand mit einem eisernen Griff gepackt und auf den Rücken gedreht. Das Butterfly klirrte auf das Pflaster. Ich grinste. Denn ich hatte den Mann erkannt, der den Dieb so elegant entwaffnet hatte. Es war mein Freund Pit Langenbach. Der Hauptkommissar der Weimarer Kripo war zusammen mit einem ebenfalls in Zivil gekleideten Kollegen offenbar hinter dem Handtaschenräuber hergewesen. Jedenfalls atmeten die beiden Polizisten schwer. Es sah ganz so aus, als ob sie ihn zu Fuß hätten verfolgen müssen. »Ihr solltet Dienst-Rollschuhe beantragen«, riet ich Ihnen und mußte lachen. »Keine Chance«, gab Pit zurück, während er dem jammernden und tobenden Räuber Handschellen anlegte. Pits Kollege forderte einen Wagen an, um den Gefangenen abzutransportieren. »Sparmaßnahmen.« »Mußt du als Hauptkommissar deshalb Streife gehen!« Langenbach schüttelte den Kopf und wurde wieder ernst. Sein Mund verzerrte sich verächtlich unter dem mächtigen Schnauzbart. »Das Raubdezernat hat eine Art Sonderkommission gebildet. Straßenraub. Und sie haben mich für ein paar Stunden dorthin ausgeliehen. Um solchen Typen hier das Leben schwerzumachen. Überhaupt sind jetzt mehr Kollegen in Zivil unterwegs als früher.« Ich nickte. Die zunehmende Gewaltkriminalität war wirklich ein Problem. Gut, daß es solche entschlossenen und mutigen Polizisten wie meinen Freund Pit Langenbach gibt. Ein VW-Bus der Weimarer Polizei bahnte sich seinen Weg durch die Menge der Gaffer, die sich inzwischen eingefunden hatte. Wenn die Gefahr vorbei ist, wollen die Leute immer etwas sehen. Ich wünschte mir, sie würden genauso zahlreich herbeistürmen, wenn
jemand Hilfe braucht. Pit schaute auf seine Armbanduhr. »Hast du was zu erledigen?« Ich schob meine Hände in die Hosentaschen. »Ist das Antwort genug?« »Aber immer doch. Was hältst du von einer gemeinsamen Mittagspause? Das Protokoll der Festnahme kann ich auch noch später schreiben.« Er schnaubte höhnisch. »Heute abend ist unser Handtaschenräuber sowieso wieder auf freiem Fuß, weil er noch unter das Jugendstrafrecht fällt.« Pit verabredete sich noch kurz mit seinem Kollegen, der ebenfalls essen gehen wollte. Dann verabschiedeten sich die uniformierten Polizisten mit dem Gefangenen. Und mein Freund und ich gingen weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Keine fünfzig Meter weiter fanden wir ein Fisch-Schnellrestaurant, das erst vor kurzem eröffnet hatte. Wir gaben ihm eine Chance. Zwischen pausierenden Angestellten und Hausfrauen, die sich vom Shopping erholen wollten, fanden wir noch einen Zweiertisch für uns. »Hast du wirklich keine Aufträge zur Zeit?« wollte der Hauptkommissar wissen, während er sich seine Heilbuttschnitte schmecken ließ. »Doch. Diese Gespensterhausgeschichte, von der ich dir erzählt habe. Aber es gibt da bürokratische Hindernisse.« Pit Langenbach nickte nachdenklich vor sich hin. Ich nahm einen Bissen von meinem Schollenfilet. Es war kross gebraten, ganz ausgezeichnet. Mit einem großen Schluck alkoholfreien Bieres spülte ich es hinunter. Ich hatte das Gefühl, daß ich noch einen klaren Kopf brauchen würde… »Ich hätte da nämlich einen Job für dich«, kündigte mein Freund an. Ich horchte auf. Ich hatte mit Pit Langenbach zusammen schon einige Kämpfe gegen das Böse überstanden. Der anfängliche Skeptiker war inzwischen durch eigene schmerzliche Erfahrungen überzeugt worden, daß es Mächte gab, die für uns Menschen nicht
faßbar waren. Böse Mächte, die seit Urzeiten vorhanden waren. »Spann mich nicht auf die Folter, Pit«, sagte ich daher. »Auf den ersten Blick ist es nur eine normale Vermißtenmeldung«, begann mein Freund, wobei er seine Stimme senkte. »Die Kollegen in Mecklenburg-Vorpommern suchen nach einem jungen Mann. Er ist spurlos verschwunden. Ein gewisser Thorsten Lambrecht aus Greifswald.« »Was ist daran für mich interessant?« »Er hatte ein nächtliches Stelldichein mit seiner Freundin, einer gewissen Julia Weidemann. Sie ist die letzte, die ihn lebend gesehen hat.« »Besteht Mordverdacht, Pit?« Er zuckte mit den Schultern. »Konkret nicht. Die Eltern von Thorsten Lambrecht haben eine Vermißtenmeldung aufgegeben.« »Und dieses Mädchen? Diese Julia?« »Die befindet sich in einer Nervenklinik. Eine Funkstreife hat sie frühmorgens aufgegriffen. Sie hat von einem entsetzlichen Ungetüm erzählt. Und davon, daß sich Thorsten in ein grauenhaftes Wesen verwandelt haben soll.« Mein Adrenalinspiegel stieg. »Was soll das bedeuten?« »Die Kollegen in Greifswald können sich darauf auch keinen Reim machen. Sie haben das Mädchen sogar im Verdacht, diesen Thorsten Lambrecht selbst getötet zu haben.« »Aber warum?« »Wenn ihr Geist umnachtet ist, erübrigt sich diese Frage. Das weißt du so gut wie ich, Mark.« Wir schwiegen beide und hingen für einen Moment unseren Gedanken nach. Pit zündete sich einen langen Zigarillo an. Seit ich ihn kenne, will er sich das Qualmen dieser Stinkbolzen abgewöhnen. Wenn es einmal wirklich soweit sein sollte, werde ich mir - als überzeugter Nichtraucher - diesen Tag rot im Kalender anstreichen. »Aber die Pointe habe ich dir noch gar nicht verraten«, meinte der
Hauptkommissar unschuldig. Das macht er immer so. Das Beste kommt zum Schluß. »Die Greifswalder Lokalpresse berichtet angeblich von einem seltsamen Amphibienwesen, das in der Nähe der Stadt gesichtet worden sein soll. Eine Art Riesenlurch.« »Solche Meldungen tauchen in einer Polizeifahndung auf?« staunte ich. »Normalerweise nicht. Aber diese Beobachtung von mehreren Zeugen paßt zu einer Aussage der angeblich geistig so verwirrten Julia Weidemann.« »Wieso?« »Diese geheimnisvolle Gestalt hat keinen Mund, kein Maul, keine Schnauze oder Ähnliches. Und Thorsten Lambrechts Mund, das habe ich dir noch nicht gesagt, ist in dieser unglückseligen Nacht ebenfalls zugewachsen!«
* Die Gestalt lag im flachen Wasser. Hier fühlte sie sicher einigermaßen sicher. Wenn es in ihrem Leben überhaupt noch so etwas wie Sicherheit geben konnte. Und falls man diese jämmerliche Existenz als Leben bezeichnen wollte. Das Wesen hatte sein Versteck gut gewählt. Der Greifswalder Vorort Eldena liegt direkt am Greifswalder Bodden. Einer großen, geschützten Ostseebucht zwischen den Inseln Usedom und Rügen. Dort, wo sich die halb menschliche Amphibie in den ufernahen Schlamm gewühlt hatte, gab es keinen Badestrand. Für den Moment brauchte die Kreatur keine Feinde zu fürchten. Der Horror kam von innen. Erstens verspürte die Amphibie einen mörderischen Hunger. Sie konnte ja nichts essen, weil sie keinen Mund hatte. Doch diese Qual
war gar nichts gegen die Gedankenblitze, die immer wieder durch ihr gepeinigtes Gehirn zuckten. Das Wesen sah jemanden, dem es sich sehr verbunden fühlte. Einen Menschen. Es konnte sogar den Namen dieses Menschen in seinem halb tierischen Bewußtsein behalten. Thorsten Lambrecht. Das Monstrum sah verblichene Bilder von diesem Thorsten Lambrecht. Bilder wie aus einem alten Fotoalbum. Thorsten beim 10.000-Meter-Lauf, der Sieger des Schulsportfestes. Thorsten, schwitzend über einer Mathearbeit. Thorsten bei der »Jugendweihe«, zum ersten Mal in seinem Leben in einem Anzug mit Schlips und Kragen. Thorsten mit Freunden im Zeltlager, beim Bier. Thorsten mit seinen Eltern. Eine Träne rann aus dem ausdruckslosen Auge des Wesens. Ihm wurde klar, daß es selbst einmal dieser Thorsten gewesen sein mußte. Aber weswegen es nun in diesem völlig anderen Körper steckte - das verstand es nicht. Ein Pfeifen ertönte. Kurz darauf ein wütendes Kläffen. Instinktiv duckte sich das Monstrum Thorsten tiefer in den ufernahen Schlamm hinein. Es sah einen Mann in Gummistiefeln, der am Wasser entlanglief. Seine Angelrute hatte er geschultert. Wahrscheinlich ein Urlauber. Zu ihm gehörte ein Hund, eine fette Promenadenmischung. Dieser Kläffer verbellte nun das geheimnisvolle Wesen im Wasser. Immerhin verfügte der Vierbeiner über genug Verstand, Thorsten nicht anzugreifen. Er hätte vielleicht den Hund mit seinen kräftigen Krallen in Stücke gerissen. Und das Herrchen gleich mit. Aber der so unglückselig verwandelte junge Mann wollte keinen Ärger machen. Er wollte nur seine Ruhe. Und endlich erlöst werden von den quälenden Bildern in seinem Kopf. »Was hast du denn, Akbar!« rief der Angler ärgerlich. »Da ist doch nichts! Komm! - Braver Hund!« »Thorsten« sah, wie der Angler einen Flachmann zum Mund
führte. Nachdem sich die Promenadenmischung wieder einigermaßen beruhigt hatte, trottete sie auf krummen Beinen hinter dem Angler her. Dem Monstrum fiel ein Stein vom Herzen. Es war selbst erstaunt, wie leicht es ihm gefallen war, sich an die Kiemenatmung zu gewöhnen. An Land bekam es nach wie vor durch die Nase Luft. Aber mit den Kiemen konnte es auch unbegrenzte Zeit unter Wasser bleiben. Wenn Thorsten im Biologieunterricht besser aufgepaßt hätte, dann hätte er begriffen, daß er zu einer echten Amphibie geworden war. Doch das hätte ihn auch nicht glücklicher gemacht. Bevor er es verhindern konnte, überschwemmten ihn wieder diese Wahnbilder. Wie eine riesige Übelkeit kamen sie in Wellen. Und es gab kein Mittel, sich dagegen zu schützen. »Thorsten« sah dieses Ding. Das Ding. So hatte er es schon in dieser verfluchten Nacht getauft, als seine Verwandlung begonnen hatte. Es kam dem Wesen vor, als wäre es schon mehrere Jahrhunderte her. Julia, die Klosterruine, sein Mund, die ersten Wahnbilder - und dann das Ding. Es hatte plötzlich hinter Julia gestanden. Und als es sich auf das Mädchen stürzen wollte, hatte sich »Thorsten« dazwischengeworfen. Was danach passiert war, wußte er nicht mehr. Filmriß. Schlimmer als beim heftigsten Besäufnis. Durch »Thorstens« Bewußtsein tobte das Ding wie ein Nachtmahr, den man nicht mehr los wird. In den Augen des Dings glomm das unaussprechlich Böse. Die Schlechtigkeit, die seit Beginn aller Zeiten vorhanden war. Die Gestalt des Dings veränderte sich ständig. Es war wie eine Geschwulst, die sich im Zeitraffertempo immer weiter verschlimmert. Das. Ding stank. Der Pesthauch des Todes umgab es. Seine Klauen waren furchterregend. Und im Gegensatz zu dem unglücklichen mundlosen Monster hatte es messerscharfe Zähne. Wie die eines Menschenhais. Das Ding strahlte eine mächtige Aura aus. »Thorstens« Instinkt sagte ihm, daß eine sehr mächtige Gestalt ihre Hand über diese
Kreatur halten mußte. »Thorsten« konnte sich niemanden vorstellen, der es im Kampf mit diesem Ding aufnehmen konnte. Aber das war bei weitem noch nicht das Schlimmste. Am schlimmsten war, daß es irgendeine besonders perverse und unaussprechliche Verwandtschaft zwischen »Thorsten« und dem Ding geben mußte.
* »Meinen Sie wirklich, Hellmann?« Der Chefredakteur dieser großen Hamburger Illustrierten klang am Telefon, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. »Ich meine gar nichts«, erwiderte ich. »Soweit sollten Sie mich kennen. Bisher habe ich nur eine winzige Meldung aus einer Lokalzeitung. Ich muß nach Greifswald und vor Ort Informationen sammeln. Vielleicht ist das eine Geschichte für Sie, vielleicht auch nicht.« »Sie meinen so was wie >Fischmensch terrorisiert Ostseeküste« fragte der mächtige Mann in der fernen Hansestadt sensationsgierig. »Ich meine gar nichts«, wiederholte ich. »Und außerdem terrorisiert dieses Wesen offenbar niemanden, sondern ist selbst ein Opfer mysteriöser Umstände, die…« »Schon gut, schon gut!« Das plötzliche Desinteresse des Chefredakteurs war nicht zu überhören. Für ihn schienen Menschen und deren Schicksale nur interessant zu sein, wenn man damit die Auflage steigern konnte. Aber er kannte mich als zuverlässigen freien Journalisten. Vor allem bei Geschichten mit rätselhaftem Hintergrund. »Ich sage Ihnen was«, fuhr der Mann am anderen Ende der Leitung fort. »Ich gebe der Buchhaltung durch, daß Ihnen noch heute ein angemessener Spesenvorschuß überwiesen wird. Und Sie fahren nach Greifswald und machen eine Exklusivstory für uns. Wenn es
den Fischmenschen nicht gibt, machen wir uns eben ein bißchen über die Einheimischen lustig. Alt-Kommunisten sehen Gespenstern oder so ähnlich. Bis dann.« Und schon hatte er aufgelegt. Mit gemischten Gefühlen steckte ich mein Handy weg. Einerseits konnte ich solche Typen wie ihn nicht ausstehen. Andererseits verhalfen sie mir zu meinem Einkommen. Niedrig genug war es ja. Doch am meisten reizte mich die Chance, nun dem Rätsel der Klosterruine von Eldena auf die Schliche kommen zu können. Als nächstes rief ich meine Freundin Tessa Hayden an. »Nach Greifswald willst du? Und was für eine Story steckt dahinter? Gespenster am Nacktbadestrand? Oder sind da noch nicht mal Gespenster, sondern nur Nackte?« »Erstens liegt Greifswald gar nicht direkt an der Ostsee, Tessa. Und zweitens höre ich da etwas den Neid einer überarbeiteten Polizistin heraus, die im Sommer keinen Urlaub bekommt.« »So ist das eben!« antwortete sie spitz. »Als Junggesellin ohne Kinder stehe ich in der Ferienzeit auf der Urlaubsliste ganz hinten. Wenn ich verheiratet wäre…« »… dann müßtet du mich ein Leben lang ertragen«, ergänzte ich ihren Satz. »Das ist wirklich ein entsetzlicher Gedanke, Mark.« »Dann wirst du mich ja für ein paar Tage entbehren können.« »Wenn es unbedingt sein muß«, stimmte sie zu. »Vorausgesetzt…« »Ja?« »Vorausgesetzt, die paar Tage beginnen erst morgen früh.« »Schon überredet.« Nach dem Mittagessen mit Pit Langenbach und dem Telefongespräch mit dem Hamburger Chefredakteur war es inzwischen heller Nachmittag geworden. Obwohl ich einen schnellen BMW hatte, würde ich erst mitten in der Nacht an der Ostsee ankommen. Dann konnte ich dort auch nichts mehr ausrichten.
Besser war es, am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe zu fahren. So konnte ich die Nacht wenigstens noch mit Tessa verbringen.
* Mephisto lachte. Es gefiel ihm gut, wie sich die Dinge entwickelten. Sehr gut sogar. Der Höllenfürst saß auf einer umgefallenen Steinsäule. Am Rande der Wiesen, mit denen die Klosterruine in Eldena umgeben war. In der hellen Sommernacht waren seine Umrisse nur schemenhaft zu erkennen. Aber es sah ihn sowieso niemand außer dem Ding, wie Thorsten es genannt hatte. Das Ding kauerte ehrerbietig zu Füßen des Höllenfürsten. Es schaute zu seinem Meister auf. In dieser Nacht war Mephisto ganz in einer traditionellen Jäger-Tracht erschienen, wie man sie von Teufelsbildern der Romantik kannte. Samtbarett mit einer roten Feder. Spitzbart. Degen und Pumphosen. Ein weiter Umhang verbarg den mageren Körper. Und in den Augen glomm das Feuer der Hölle. Im meckernden Lachen Mephistos schien das Entsetzensschreien der Gemarteten widerzuhallen, die in seinem finsteren Reich die ewige Verdammnis zu ertragen hatten. »Raku…« Nun hatte der Höllenfürst das Ding direkt angesprochen. Seine Stimme hatte dabei fast zärtlich geklungen. Wenn er zu solchen Gefühlen fähig gewesen wäre. Aber das war er natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Jede warme menschliche Regung verursachte bei ihm „Abscheu. Er empfand sogar jetzt noch einen Anflug von Angst und Widerwillen bei dem Gedanken an die Mönche, die auf diesem Boden vor Jahrhunderten zu ihm gebetet hatten. Zu ihm dort oben, dem Mephisto seinen Höllensturz zu verdanken hatte. In ohnmächtigem Zorn schüttelte der Teufel für einen Moment
seine schwarze Faust in Richtung Sternenzelt. Dann hatte er sich wieder in der, Gewalt. Er war eben der perfekte Schauspieler. »Du mußt vorsichtig sein, Raku.« Das Ding gab einen Laut von sich, den man mit viel Wohlwollen als Lachen hätte deuten können. »Vor wem soll ich mich fürchten? Vor diesen Menschen? Was können sie ausrichten gegen die Kraft, die Ihr mir gegeben habt?« »Das stimmt. Aber du mußt trotzdem aufpassen. Du weißt, daß ich auf jemanden warte.« »Mark Hellmann.« »Ja, auf Mark Hellmann. Er wird kommen. Ich weiß es. Er ist neugierig. Er hat von diesem Thorsten Lambrecht erfahren. Genau wie ich es geplant habe. Er wird schon morgen in Greifswald eintreffen. Und dann wird er dich kennenlernen, Raku.« Das Ding schlug voller Vorfreude mit seiner rechten Klaue auf den Boden. Die Erde schien zu beben. Es bleckte seinen Zähne. Schauer einer perversen Zerstörungslust jagten durch den widerwärtigen Körper. Raku stellte sich vor, wie er Mark Hellmann in Stücke reißen würde. Und er war sich nicht sicher, ob er noch so lange würde warten können. Mephisto schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Keine Extratouren, Raku! Ich habe dich geschaffen. Und ich kann dich jederzeit wieder vernichten, vergiß das nie! Du wirst dir Mark Hellmann vorknöpfen. Aber vorher gehst du auf Tauchstation. Er muß erst in Sicherheit gewiegt werden, verstehst du? Und wenn wir ihn dann da haben, wo wir ihn haben wollen - dann schlägst du zu. Aber nicht vorher!« Das Ding senkte seinen mächtigen Schädel. Eine Geste der Unterwerfung. »Ich werde tun, was Ihr mir befehlt.« Und nach einer Pause: »Vater.«
* Job oder Urlaub? Diese Frage konnte ich mir wirklich stellen, als ich mein stahlblaues BMW-Coupe auf der Europastraße 251 Richtung Norden lenkte. Gerade hatte ich die Landesgrenze von Brandenburg hinter mir gelassen und befand mich nun schon in MecklenburgVorpommern. Oder Mec-Pomm, wie wir Thüringer schon zu DDRZeiten scherzhaft gesagt hatten, um die »Nordlichter« ein wenig aufzuziehen. Erinnerungen an meine Jugendzeit wurden wach. In der DDR hieß die Ostseeküste nur »Cote d'Azur der Werktätigen«. Ich kannte die Gegend zwischen Wismar und Pasewalk hauptsächlich durch FDJZeltlager, an denen ich mehrmals in den Sommerferien teilgenommen hatte. Das organisierte sozialistische Freizeitleben hatte mir zwar schon damals nicht gepaßt. Aber ich war erfinderisch genug gewesen, um meinen Spaß zu haben. Denn meistens fanden sich doch einige gutaussehende »Genossinnen«, die dasselbe wollten wie ich… Nein, alles war wirklich nicht schlecht gewesen in der alten DDR. Ob sich wohl meine armen FDJ-Vorgesetzten von damals noch an die Streiche erinnerten, die ich ihnen gespielt hatte? »Blonder Teufel« hatten sie mich zeitweise genannt. Das hatte ich jedenfalls gehört. Diese Gedankenverbindung war, im nachhinein betrachtet, ein böses Omen gewesen. Mephisto. Oberster Dämon der Hölle. Mein persönlicher Erzfeind. Ob er wohl hinter dieser geheimnisvollen Geschichte in Greifswald steckte? Zuzutrauen wäre es ihm, keine Frage. Eine innere Stimme sagte mir, daß ich schon bald wieder mit ihm zu tun haben würde. Das war der Moment, als die Tramperin am Straßenrand auftauchte. Ich nehme die Erlebnisse, wie sie kommen. Aber vorsichtig war ich trotzdem geworden seit meinen letzten Begegnungen mit dem Höllenfürsten. Ich nahm zwar das Tempo zurück und brachte den
BMW schließlich zum Stehen. Aber ich achtete konzentriert auf meinen Siegelring, der jede dämonische Aktivität in meiner Umgebung anzeigt. Dieses Schmuckstück ist der einzige Gegenstand, den ich aus meiner unbekannten Kindheit habe. Als Ulrich und Lydia Hellmann mich im Alter von zehn Jahren in der Nähe von Weimar fanden, trug ich den Ring mit den Initialen M und N an einem Lederband um den Hals. Doch im Moment schien keine schwarzmagische Gefahr zu drohen. Die Anhalterin kam eilig zu meinem BMW gelaufen. Der Ring begann weder zu glimmen noch Wärme auszustrahlen. Es war also auszuschließen, daß diese Dame böses im Schilde führte. Ich ließ das Beifahrerfenster herunter. »Ich muß nach Greifswald!« rief die junge Frau. »Da will ich auch hin. Steig ein! Die Reisetasche kannst du auf den Rücksitz werfen.« Das tat sie auch. Dann ließ sie sich auf den Beifahrersitz fallen, schloß den Sicherheitsgurt und die Tür. Ich drehte den Zündschlüssel, gab vorsichtig Gas und fädelte mich wieder in den träge dahinfließenden Verkehr ein. Die nächste größere Stadt würde Neubrandenburg sein. Die Anhalterin war so braungebrannt und strohblond, daß man sie für eine Dänin oder Schwedin hätte halten können. Ihre langen Haare waren im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. »Du hast Stil bewiesen, indem du mich angehalten hast«, sagte ich. Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Was ist denn mit dir los? Schwerer Fall von Selbstüberschätzung, oder was? Wenn du meinst, ich wäre wegen deinem tollen Auto eingestiegen, dann…« Ich lachte. »Nein, mit Stilbewußtsein meine ich, daß du dir einen Wagen ausgesucht hast, der zu deiner schönen Augenfarbe paßt.« Nun lachte auch sie. »Auf direktem Weg nach Greifswald, mit einem Komiker am Steuer! Was will man mehr? Ich heiße übrigens Karin Hagen.« »Ich bin Mark Hellmann. Und ich bin sehr erleichtert, daß du mit
mir fährst.« »Wieso?« »Weil ich ein anständiger Kerl bin. Du weißt doch sicher, daß dir beim Trampen schlimme Sachen zustoßen können.« »Fragt sich, wem hier was zustößt!« bot Karin Paroli und ließ plötzlich ihre Handkante in Richtung Windschutzscheibe vorschnellen. »Zufällig habe ich den Schwarzen Gürtel in Karate!« »Dann haben wir ja ein gemeinsames Hobby, Karin. Obwohl ich mich nie zwischen Karate, Kung Fu, Taekwon-Do und Boxen entscheiden konnte. Da mußte ich eben alles trainieren.« »Sportskanone, was?« »Ich bin eben gerne fit. Und du? Was machst du noch so, außer aufdringliche Kerle zu vermöbeln?« »Ich studiere Deutsch und Geschichte. An der altehrwürdigen Ernst-Moritz-Arndt-Universität zu Greifswald.« Mein Blick fiel zwischendurch immer wieder einmal auf ihren durchtrainierten schlanken Körper. Sie sah eigentlich nicht aus wie eine graue Seminarmaus, die vom Leben außerhalb der Hochschulmauern keine Ahnung hat. Anscheinend mußten sich meine Gedanken auf meinen Gesichtszügen widergespiegelt haben. Jedenfalls lachte Karin plötzlich schallend. »Staun mich nicht so an, Mark! Ich stehe mit beiden Beinen im Leben. Irgendwelche Zweifel?« Ich schüttelte den Kopf so heftig, daß meine blonden Haare hin und her flogen. »Nein, bestimmt nicht.« Eine Weile starrten wir beide auf die Fahrbahn - und sagten nichts. Genossen nur die weiten mecklenburgischen Wiesen. In der Ferne war ein Gutshof zu erkennen. Wahrscheinlich ein Gestüt. Jedenfalls sah man viele Stallungen. Dann brach die Studentin das Schweigen. Sie klang nachdenklich. »Obwohl die Realität manchmal nicht so einfach zu fassen ist. Es gibt Gestalten, die nicht in unser Weltbild hineinpassen.« Ich war hellhörig geworden. »An was für Gestalten denkst du
dabei, Karin?« »An Dämonen.«
* Gisela Lambrecht saß am Küchenfenster. Am Stadtrand von Greifswald ging der Abend in die Nacht über. Langsam fuhr der Ziehharmonika-Bus vorbei. Nur wenige Menschen waren ausgestiegen. Bepackt mit Einkäufen strebten sie den schlichten Einfamilienhäusern zu, die das Stadtbild dieser Gegend prägen. Das kleine Haus an der Güstrower Landstraße war dunkel. Bis auf eine Kerze, die von der unglücklichen Mutter Thorsten Lambrechts auf dem Fensterbrett angezündet worden war. Die Fünfundfünfzigjährige hatte den alten Brauch befolgt, ohne sich dabei etwas zu denken. Seit Jahrhunderten stellten die Menschen hier an der Küste eine Kerze ins Fenster, wenn Angehörige auf See verschollen waren. Und obwohl nichts dafür sprach, daß dies bei ihrem Sohn der Fall war, hatte Gisela Lambrecht seit dem spurlosen Verschwinden ihres Sohnes jede Nacht eine Kerze ins Fenster gestellt. Die Frau saß in der dunklen Küche. Außer von der kleinen weißen Kerze wurde ihr sorgendurchfurchtes Gesicht nur ab und zu vom Aufglimmen ihrer Zigarette für Momente erhellt. Eigentlich hatte sie das Rauchen vor fünf Jahren aufgegeben. Aber seit ihr Junge nicht nach Hause zurückgekehrt war, hing sie wieder an der Kippe. Auf der Güstrower Landstraße näherte sich das vertraute Knattern von Karls Trabant. Für fremde Ohren hätte sich der Kleinwagen genauso angehört wie die noch verbliebenen Fabrikate derselben Baureihe. Aber Gisela Lambrecht erkannte den Wagen ihres Mannes an seinem ganz typischen Geräusch. Nun hörte sie, wie das Auto langsam in die offenstehende Garage gelenkt
wurde. Dann kamen schlurfende Schritte näher. Eine Tür klappte. »Wo bist du?« »In der Küche.« Karl Lambrecht kam herein und drehte sofort das Licht an. Grelles Neon fiel auf das blitzsaubere Resopal der Arbeitsflächen, auf den Herd und die bunte Wachstuchtischdecke des Küchentisches. Und auf das angespannte Gesicht seiner Frau. Im Gegensatz zu Thorstens zierlicher Mutter war sein Vater ein breiter und stämmiger Kerl. Ein Mann, der es nicht ertragen konnte, mit seinen siebenundfünfzig Jahren nicht mehr gebraucht zu werden. Aber man hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß er wohl keine Arbeit mehr finden würde. Schon gar nicht mit einer solchen politischen Vergangenheit. »Was sitzt du hier im Dunkeln?« grummelte der Arbeitslose seine Frau an. »So arm sind wir noch nicht, daß wir uns kein elektrisches Licht mehr leisten können.« »Nein, Karl.« »Und jetzt machst du schon wieder diesen Quatsch mit der Kerze! Hast du das von den alten Betschwestern im Dom? Soll der liebe Gott vielleicht unseren Sohn zurückbringen? Oder ein Engel mit einem Schwert?« höhnte er. Thorstens Mutter seufzte. Ihr Mann war ein unverbesserlicher Kommunist. Für ihn zählte nur, was er sehen und anfassen konnte. Mit dem Glauben oder höheren Mächten durfte man ihm nicht kommen. Er gehörte zu der Generation, die nichts anderes kannte als den DDR-Sozialismus. Er war mit der Partei aufgewachsen, hatte für die Partei gelebt und hatte sich nach der Wende in eine beleidigte Leberwurst verwandelt. Im Grunde lebte er nur noch in der Vergangenheit. »Hast du was erreicht?« lenkte Gisela ab. Sie wollte nicht mit ihm diskutieren. Tief in ihrem Inneren spürte sie, daß ihr Sohn noch lebte. Und daß er sehr unglücklich war. Aber ihrem Mann konnte sie das nicht erzählen. Er hätte sie nur gefragt, ob sich solche Gefühle messen ließen. Oder ob es einen wissenschaftlichen Beweis dafür gäbe. Oder was er sonst an Standardphrasen benutzte.
»Erreicht? Ich war zum x-ten Mal bei der Polizei. Aber für die ist unser Junge doch bloß ein unwichtiger Fall. Ja, wenn so ein Kapitalistenknabe verschwunden wäre! Dann würden die gleich alles mobilmachen, um den wiederzufinden. Aber ein einfacher Sohn eines roten Vaters…« Gisela Lambrecht ließ ihn weiterreden. Vielleicht war das seine Art, Trauer zu zeigen. Sie wußte nicht, ob er seinen Sohn für tot hielt oder nicht. Karl Lambrecht ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Bier und eine Platte mit kaltem Aufschnitt heraus. »Ich will jetzt Abendbrot essen, verflucht noch mal!« grollte er. »Es ist niemandem geholfen, wenn uns unsere Kräfte verlassen, Gisela. Und morgen früh fahre ich wieder zum Polizeirevier, das schwöre ich dir! Die sollen sehen, daß ich mich nicht abwimmeln lasse! Ich…« Ein Entsetzensschrei seiner Frau ließ ihn herumfahren. »Karl! Da…!« Der zitternde Arm von Gisela Lambrecht deutete auf das Küchenfenster. Eine schemenhafte Gestalt hockte draußen und schaute herein. Dem Arbeitslosen blieb fast das Herz stehen, als er das Wesen sah. Es hatte starre Augen. Eine schuppige Haut. Lange vordere Gliedmaßen wie ein Mensch. Doch es bewegte sie steif und insektenhaft. Sie endeten in grünschwarzen Pfoten mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Soweit man das bei den Lichtverhältnissen erkennen konnte. Und mit dieser Extremität kratzte die Kreatur am Fenster! Doch das Merkwürdigste entdeckte Karl Lambrecht erst beim zweiten Blick. Dieses Monstrum hatte keinen Mund. Gisela hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Ihr Mann stand da wie vom Donner gerührt. Er spürte, wie das Blut durch seine Adern toste. Aber er bekam keinen Schlaganfall, nein. Diesmal spielte sein Körper das alte Spiel vom Überleben noch mit. Die Sekunden schlichen dahin wie Stunden. Die einzige Aktivität kam von dem nächtlichen Besucher, der sich an der Fensterscheibe zu
schaffen machte. Endlich fiel die Passivität von dem kräftigen Mann in der Küche ab wie ein zu enger Mantel. »Dir werde ich es zeigen!« grölte er. Er stand immer noch mitten im Raum, auf den blankgeputzten Fliesen. In der einen Hand die Aufschnittplatte, in der anderen die Bierflasche. Er pfefferte den Wurstteller auf den Tisch und griff sich die Flasche nun anders. Am Hals. Wie eine Waffe. Und damit stürmte er hinaus. Mit jedem Schritt wuchs seine Wut. Diese verfluchten nichtsnutzigen Jugendlichen! Stiegen in Kostüme, um friedliche Menschen zu Tode zu erschrecken! Damals hätte es das nicht gegeben! Solche und ähnliche Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, daß dort vor seinem Fenster vielleicht jemand saß, der kein Kostüm trug. Dessen Körper durch unglückliche Umstände diese Gestalt angenommen hatte. Karl Lambrecht glaubte an den Sozialismus, nicht aber an Tiermenschen und Dämonen. Als er zornbebend in seinem kleinen Garten angekommen war, mußte der Störenfried schon verschwunden sein. Der Arbeitslose ging noch einmal um sein Anwesen herum, die Bierflasche schlagbereit. Aber es fehlte jede Spur von Eindringlingen. Er schaute die Güstrower Landstraße in beide Richtungen. Der Autoverkehr war spärlich. Aber von irgendwelchen Jugendlichen war weit und breit nichts zu sehen. Leise fluchend tappte er in die Küche zurück. Und sah, wie seine Frau lächelte. Während kleine Tränen über ihre Wangen rannen. »Was freut dich denn so?« giftete er. »Daß uns diese Taugenichtse nachts terrorisieren?« Gisela Lambrecht schüttelte nur verständnislos den Kopf. »Was für ein Vater bist du nur?« fragte sie. Karl Lambrecht verstand nicht. »Das da am Fenster«, fuhr sie weihend und lachend fort, »das war
unser Sohn Thorsten! Hast du ihn nicht erkannt?«
* »Dämonen?« Ich konnte es kaum glauben, daß die Tramperin Karin Hagen das Gespräch auf diese schwarzblütigen Kreaturen gebracht hatte. Deshalb fragte ich lieber noch einmal nach. Das Thema paßte nicht recht zu diesem strahlenden Sommertag. Und auch nicht zu ihr, der charmanten jungen Frau aus Greifswald. Aber sie nickte noch einmal bestätigend. »Ja, Mark. Bösartige, nichtmenschliche Wesen. Ich hoffe, du lachst mich deswegen nicht aus.« »Nein, warum sollte ich?« »Viele Menschen haben kein Verständnis dafür. Sie laufen mit Scheuklappen durch das Leben.« »Hast du selber Erfahrungen mit Dämonen gemacht?« erkundigte ich mich vorsichtig. »Ich nicht, aber eine Freundin. Sie hat mit einigen anderen Mädchen Beschwörungen unternommen.« »Beschwörungen? Was für welche?« »Ich weiß nicht, Mark. Ich will es auch gar nicht wissen. Sie haben jedenfalls Kräfte erweckt, mit denen sie nicht umgehen konnten.« »Was ist passiert, Karin?« »Meine Freundin hat sich umgebracht«, erklärte die Studentin mit tonloser Stimme. »Sie muß einen entsetzlichen Tod gehabt haben. Und seitdem sammle ich jede Information, die ich über Dämonen bekommen kann. Versteh mich richtig, Mark. Ich will selber nichts mit diesen grauenhaften Kreaturen zu tun haben. Ich will nur, daß die Menschen die Finger von solchen Dingen lassen. Damit es ihnen nicht so geht wie meiner Freundin.« Ich nickte stumm.
»Aber warum erzähle ich dir das alles?« fuhr sie fort. »Du bist ein fremder Mann mit einem schönen Auto, das sogar in der Farbe zu meinen Augen paßt. Was hast du zum Thema Dämonen zu sagen, Mark Hellmann?« Ich entschied mich, nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Schließlich konnte ich später meine Karten immer noch auf den Tisch legen. Aber im Moment wäre es zu verwirrend und vielleicht auch zu unglaubwürdig, wenn ich mich als der »Kämpfer des Rings« zu erkennen gab. Als der Mann, der gegen das Böse antritt. »Vielleicht hast du gespürt, daß ich mich auch schon mit übersinnlichen Dingen befaßt habe«, sagte ich deshalb. »In meinem Studium«, fügte ich schnell hinzu. »Ich habe, nämlich Völkerkunde studiert. In den Seminaren bin ich den unglaublichsten Wesen begegnet. Leopardenmenschen aus Afrika, Yetis aus Tibet, chinesischen Drachen - allen natürlich nur theoretisch und zwischen Buchdeckeln!« Karin lachte. Während unseres angeregten Gesprächs hatte mein BMW schon die Dörfer Jarmen und Grubenhagen hinter sich gelassen. Nach Greifswald konnten es jetzt nur noch wenige Kilometer sein. »Aber das Wichtigste hast du noch nicht verraten, Mark Hellmann! Was führt dich in meine schöne Heimatstadt?« »Leider nicht der Urlaub, obwohl ich ein paar Wochen Ferien vertragen könnte. Ich bin freier Journalist und arbeite an einer Geschichte über einen verschwundenen jungen Mann.« »Klingt spannend«, sagte die Studentin. Sie schien es wirklich so zu meinen. »Wenn du zwischendurch mal Zeit hast…« »Zeit für dich?« Ich flirtete sie an. Sie machte mit. »Für wen denn sonst? Für Dämonen vielleicht?« In diesem Moment passierten wir das Ortseingangsschild von Greifswald. Ich hätte ihren Witz komisch finden sollen. Aber aus irgendeinem Grund blieb mir in diesem Moment das Lachen im Hals stecken.
Die Stadt lag friedlich vor mir. Ich konnte die Kirchtürme Doms St. Nikolai, der St. Marien-Kirche und von St. Jakob vor aufragen sehen. Eine verwunschene Universitätsstadt nahe polnischen Grenze. Doch ich hatte das Gefühl, mich mitten einem Höllentrip zu befinden.
des mir der auf
* Raku lag auf der Lauer. Vergessen waren Mephistos Ermahnungen. Sicher, der dämonische Vater des Dings war mächtig und stark. Aber in diesem Moment war die Mordgier des bösen Wesens noch viel stärker. Raku hatte seinen widerwärtigen Körper in den Schatten am Fuß des Fangelturms geduckt. Dieser Turm ist der letzte Rest der mittelalterlichen Stadtmauer Greifswalds. Er befindet sich direkt am Ufer des kleinen Flusses Ryck, in der Nähe des Museumshafens. Abends war das hier eine einsame Gegend. Wie geschaffen für das, was Raku vorhatte. Unmenschliche Laute drangen aus seinem Maul. Seine Klauen zitterten voller Vorfreude. Er konnte nicht auf Mark Hellmann warten. Er mußte seine dunklen Triebe jetzt befriedigen. Zu lange hatte er in seinem jahrhundertelangen Todesschlaf gelegen. Bevor Mephisto ihn wieder zum Leben erweckt hatte. Und nun spürte Raku, daß er viel nachzuholen hatte… Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Einen Steinwurf entfernt, am Hansering, gab es einen großen Parkplatz. Und obwohl Raku diese moderne Welt nicht so recht verstand, hatte er doch schon gelernt, was dieser Klang zu bedeuten hatte. Eine Autotür wurde zugeschlagen… Witternd hob das Monstrum seinen Schädel in den Nachtwind. Es roch Menschen. Menschen, mit denen es sein Spiel treiben würde. Rakus Aufmerksamkeit war zum Zerreißen gespannt. Denn nun kamen Schritte. Schritte von zwei Menschen. Sie steuerten direkt auf
den Fangelturm zu. Der Mercedes 600 mit Düsseldorfer Kennzeichen fiel auf dem Parkplatz zwischen den Mittelklassewagen auf wie eine Tomate zwischen lauter Kartoffeln. Und Harry Schlüter, der Mann am Steuer des Luxusschlittens, paßte zu seinem Gefährt. Am linken Handgelenk die Rolex, am rechten ein schweres Goldkettchen. Sein Seidenhemd war stets so weit aufgeknöpft, daß gelangweilte Mitmenschen seine Brusthaare durchzählen konnten. Alle drei Minuten fuhr er sich mit der linken Hand durch sein immer noch volles, dauergewelltes Haar. Harry Schlüter war dreiundfünfzig. Und er setzte alles daran, für zwanzig Jahre jünger gehalten zu werden. Deshalb suchte er sich seine Begleiterinnen auch mit Bedacht aus. Als er an diesem Abend seine Angeberschleuder unweit des Hanserings geparkt hatte, war er mit sich und der Welt zufrieden. Auf dem Beifahrersitz schlug Tatjana Kowalski die Beine übereinander. Und was für Beine, dachte Schlüter und leckte sich lüstern seine aufgeworfenen Lippen. Diese süße Achtzehnjährige war die schärfste Braut, die er in den vergangenen drei Monaten vernascht hatte. Ein Wahnsinnskäfer, wie sich der Düsseldorfer auszudrücken pflegte. Voller Besitzerstolz tätschelte er ihren linken Oberschenkel, der durch den Minirock so richtig zur Geltung kam. Dann öffnete er die Fahrertür und schwang sich aus dem Mercedes, wobei er durch seine Bierwampe etwas behindert wurde. Wenn man Harry Schlüter nach seinem Beruf fragte, antwortete er stets: »Geschäftsmann.« Und das stimmte sogar. Obwohl seine Geschäfte selten astrein waren. Seriösen Unternehmervereinigungen sagte sein Name nichts. Dafür verschiedenen PolizeiBetrugsdezernaten in ganz Nordrhein-Westfalen umso mehr. Dies war auch der Grund, warum sich der Düsseldorfer in den Osten abgesetzt hatte. Momentan schien es ihm gesünder, auf Tauchstation zu gehen. Und auch in Mecklenburg-Vorpommern hatte er schon genug Leute gefunden, auf deren Kosten er sich bereichern konnte.
Im Schutz der Dunkelheit wollte er sich am Fangelturm mit einem Mann treffen, der angeblich eine ganze Wagenladung originalverpackter Handys loswerden wollte. Genau das Richtige für jemanden mit Schlüters Verbindungen. Er würde den Dieb weitervermitteln und natürlich die Provision kassieren. Solche Geschäfte liebte er. Wenig Arbeit, viel Verdienst. Er zündete sich mit seinem goldenen Ronson-Feuerzeug eine Zigarette an, während er langsam Richtung Ryck ging. Das Wasser des Flusses gluckste träge gegen die Kaimauern. Tatjana Kowalski stakste auf High Heels neben ihrem ältlichen Liebhaber her. Der Düsseldorfer hätte nicht sagen können, ob sie aus Polen oder aus dem Ruhrgebiet kam. Er hatte halt noch nicht viel mit ihr gesprochen, seit er sie vor einer Woche in einer Nachtbar in Schwerin aufgelesen hatte. Seitdem war sie ihm überall hin gefolgt. Und wenn ihm nicht das Geld ausging, würde das auch noch eine Weile so bleiben. »Auch eine?« Gönnerhaft hielt er ihr seine Zigarettenpackung hin. Artig nahm das Mädchen einen Glimmstengel und ließ sich Feuer geben. Schlüter tätschelte ihr die prallen Pobacken. Eigentlich pflegte er bei seinen »Transaktionen« keine Zeugen mitzuschleppen. Aber andererseits war er ein hoffnungsloser Angeber. Er mußte seinem unbekannten »Geschäftsfreund« vorführen, was für tolle Frauen er abschleppen konnte. Dann blähte sich sein Ego zu einem gigantischen Windbeutel auf. Breitbeinig stellte sich Harry Schlüter mit dem Rücken zum Fangelturm. Sein Blick fiel auf die antiken Segler, die im Museumshafen vertäut waren. Er paffte an seiner Zigarette, als würde ihm die ganze Welt gehören. Und so fühlte er sich in diesem Moment auch. Ein echter Gewinner. »Du bist echt ein Glückskind, daß du mir über den Weg gelaufen bist, Tatjana-Schätzchen.« Die junge Frau mit der Model-Figur lehnte an der Kaimauer. Sie mußte sich eingestehen, daß ihr schon schlimmere Männer über den
Weg gelaufen waren als dieser aufgeblasene Knallfrosch. »Ja, Harry.« Mehr erwiderte sie nicht. Tatjana war klar, daß er auch gar nicht mehr hören wollte. Was sie wirklich dachte, interessierte ihn doch sowieso nicht. Ihr machte in diesem Moment etwas ganz anderes Sorgen als ihr bierbäuchiger Lover. Ein Gefühl der drohenden Gefahr meldete sich zu Wort. Es kam tief aus ihrem Inneren heraus. Ein siebter Sinn, wie ihn schon die Steinzeitmenschen gehabt haben müssen, wenn sie vor dem Säbelzahntiger Reißaus genommen hatten. Plötzlich bildete sich auf den nackten Armen der jungen Frau eine Gänsehaut. Sie rieb sich mit den Händen darüber. Auch die waren eiskalt. Mit dem nabelfreien Top und dem superkurzen Minirock war sie allerdings auch nicht gerade warm angezogen. Doch sie fror nicht, weil es vielleicht kühler geworden wäre, nein, diese Kälte kam von innen. »Was hast du?« Ausnahmsweise hatte Harry Schlüter mal mitgekriegt, daß etwas mit ihr nicht stimmte. »Mir ist kalt. Müssen wir hier rumhängen, Harry?« »Geschäfte, Süße. Habe ich dir doch gesagt. Nun zerbrich dir mal nicht dein hübsches Köpfchen. Es kann nicht mehr lange dauern, dann bringt der liebe Harry alles unter Dach und Fach. Und wenn der Deal besiegelt ist, fließt der Schampus in Strömen…« Tatjana sah sich um. Die Alarmsirenen in ihrem Kopf schrillten immer lauter. Aber wie konnte sie Harry das mitteilen? Es war ja weit und breit nichts zu sehen. Noch nicht mal ein Streifenwagen, der auf dem Hansering Patrouille fuhr. Ihr Freund würde sie auslachen, wenn sie ihm etwas von Gefahren erzählte. »Was ist bloß los mit dir?« Harry schnipste seine Zigarettenkippe mit einem Anflug von Ärger in die Ryck. »Du solltest dankbar sein, daß du bei mir bist - und nicht mehr in diesem Bumsschuppen…« Tatjana würde nie erfahren, was er noch sagen wollte.
Denn in diesem Augenblick wurde Harry Schlüter von einer widerwärtigen Kreatur angefallen!
* Karin Hagen hatte ihre Telefonnummer auf eine Tankquittung gekritzelt und war verschwunden. Nicht ohne mir vorher noch einen Kuß auf die Wange zu hauchen. »Als Dank fürs Mitnehmen!« hatte sie gemeint. Ich fand das Girl nett, war aber gebunden, und zunächst mußte ich mir eine Bleibe suchen. Ich quartierte mich direkt im Stadtzentrum ein. Das »Hotel am Dom« in der Langen Straße bietet nicht nur eine schöne Aussicht auf eine der ältesten Kirchen Greifswalds, sondern ist auch nicht weit von der Redaktion des Lokalblättchens entfernt. Das hatte ich meinem Stadtplan entnommen. Ich warf meine Reisetasche auf das Podest und machte mich sofort auf, um mir das Honorar der berühmten Hamburger Illustrierten zu verdienen. Ein Rundgang durch Greifswald ist wie eine Reise in die Vergangenheit. Die Universitätsstadt gehört zu den wenigen deutschen Städten, die im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurden. Vierzig Jahre Sozialismus haben zwar einige schöne alte Gebäude ziemlich verrotten lassen, aber seit der Wende wird mit Volldampf restauriert. Besonders das Hauptgebäude der Universität mit seinen Renaissance- und Barockelementen kann sich sehen lassen. Doch ich interessierte mich momentan für ein Gebäude, das man neugierigen Touristen normalerweise nicht zeigt: die psychiatrische Abteilung der Universitätskliniken. Es war nicht schwierig, das Haus auf dem weitläufigen Krankenhausgelände zu finden. Doch dann stieß ich auf ein Hindernis. Eine resolute Oberschwester. »Zu wem wollen Sie?« herrschte sie mich an. Dabei verstellte sie
mir den Weg wie ein japanischer Sumoringer, der sich gleich auf seinen Gegner stürzen will. »Ich möchte Julia Weidemann besuchen. Wenn das möglich ist.« »Was wollen Sie von ihr?« »Ich bin ein alter Freund aus Weimar«, schwindelte ich. Als Journalist wollte ich mich hier nicht zu erkennen geben, sonst würde ich nie zu der Patientin durchgelassen werden. Julia selbst würde ich natürlich die Wahrheit sagen. »Ich habe gehört, was Schreckliches mit Julia passiert ist. Und da wollte ich mal nach ihr sehen.« »Sie sollte keinen Besuch empfangen!« entschied die Oberschwester. »Das ist nicht gut für sie.« »In diesem Fall vielleicht doch.« »Wie wollen Sie das beurteilen?« Sie maß mich mit einem Blick, der unter die Haut ging. »Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Markus Nikolaus Hellmann. Dr. Hellmann. Der Doktor Hellmann.« Mit diesen Wort richtete ich mich zur vollen Größe auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Wo ich nun schon dabei war, kam es auf einen Bluff mehr oder weniger auch nicht an. »Ich bin sicher, daß Sie schon von mir gehört haben«, fügte ich hinzu. »Äh - nein.« Die stämmige Frau in Weiß war immer noch ablehnend. Aber ich spürte, wie ihre Abwehrmauer zu bröckeln begann. Mit einem Doktortitel zu wedeln, kam immer gut an. Besonders in Krankenhäusern, wo viele Ärzte auf Schwestern und Pfleger herabsehen. Ich fand das zwar selbst nicht gut. Aber wenn es mir dabei half, zu Julia Weidemann vorzudringen, wollte ich es. ausnutzen. Ich schüttelte mißbilligend den Kopf. »Das ist aber schade. Obwohl Sie in der Psychiatrie arbeiten, haben Sie noch nichts von Dr. Hellmann gehört? Ich habe doch diese international beachtete Untersuchung über präokkupale Mimesis von Pseudokrypten bei Langzeitkarnivoren gemacht.« Was immer das sein mochte. Ich hatte es mir gerade ausgedacht. Immerhin klang es respekteinflößend, wie
ich hoffte. Und es klappte auch diesmal. Die Oberschwester bekam den Mund gar nicht mehr zu. »Äh, ach ja. Der Dr. Hellmann sind Sie. Ich verstehe. Warten Sie bitte. Ich hole Herrn Dr. Sandler.« Ich winkte ihr freundlich zu, als sie auf dem frischgebohnerten Linoleum davoneilte. Wenn Ärzte etwas wollen, muß man sofort springen. Diesen Grundsatz hatte das Pflegepersonal schon in der DDR beherzigen müssen. Und daran hatte sich auch nach der Wende nichts geändert. Ich verschränkte die Arme auf dem Rücken und versuchte wie ein Psychiater auszusehen. An den Wänden hingen Kunstdrucke. Es waren Reproduktionen von Werken Caspar David Friedrichs. Stille Landschaftsbilder, die die Patienten wahrscheinlich beruhigen sollten. Meine eigene Spannung stieg von Minute zu Minute. Es dauerte verdammt lange, seit die Schwester verschwunden war. Sollte ich hier vielleicht als Hochstapler verhaftet werden? Doch dann kam sie mit einem kleinen Mann im Schlepptau zurück. Er trug einen weißen Kittel und hatte nur noch wenige Haare auf dem Kopf, obwohl er nicht älter als Vierzig sein konnte. Dafür sproß sein Vollbart um so üppiger. »Sandler«, stellte er sich mir vor. Ich schüttelte ihm die Hand. »Hellmann. Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Darf ich Sie in mein Büro bitten, Herr Kollege?« Er machte eine einladende Handbewegung. Ich folgte ihm in sein Büro. Er nahm hinter dem überladenen Schreibtisch Platz, und ich ließ mich auf den Besucherstuhl fallen. Der Psychiater zwinkerte mir zu. »Sie sind also der berühmte Neuerer der Psychoanalyse. Der Erforscher der präokkupalen Mimesis von Pseudokrypten bei Langzeitkarnivoren. Kann es sein, daß es so etwas überhaupt nicht gibt?« »Hören Sie, Dr. Sandler…« Ich mußte lachen. »Was wollen Sie wirklich von Frau Weidemann?« rief er mir zu.
Ich beschloß, meine Tarnung fallenzulassen. »Ich heiße Mark Hellmann. Und ich befasse mich beruflich mit übersinnlichen Erscheinungen. Geistern, Dämonen, bösen Mächten.« Ich hatte eigentlich erwartet, daß der Nervenarzt mich auslachen würde. Mir war klar, daß die Psychofritzen normalerweise alle mystischen Phänomene als Hinweise auf eine Geisteskrankheit einstuften. Würde ich nach diesem Gespräch in eine Zwangsjacke gesteckt werden? Doch der Psychiater stützte nur sein Kinn auf die Hand und sah mich ruhig an. »Julia Weidemanns Freund ist verschwunden«, fuhr ich fort. »Ich habe bisher sehr wenig Informationen. Aber ich glaube. daß die beiden auf etwas Unheimliches gestoßen sind, das sich unserer normalen Realität entzieht. Auf etwas Böses.« »Wissen Sie was? Das glaube ich auch.« Ich mußte ihn ziemlich erstaunt angesehen haben. Diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Der Doktor grinste. »Sie wundern sich, daß ich Ihnen zustimme. Nun, Herr Hellmann, Sie kennen sich bestimmt besser mit unheimlichen Erscheinungen aus als ich. Aber ich bin Nervenarzt. Und ich sage Ihnen: Julia Weidemann ist geistig vollkommen gesund. Sie hat aber einen Schock erlitten, weil sie etwas Furchtbares gesehen haben muß. Aber das ist auch alles.« »Das ist alles?« fragte ich ungläubig. »Und trotzdem wird sie hier in der Psychiatrie festgehalten?« Dr. Sandler machte eine hilflose Geste. »Ich würde sie sofort als geheilt entlassen. Aber mein Chef spielt nicht mit. Er behauptet, daß sie eine schwere Psychose hätte und gemeingefährlich sei.« Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich weiß, was Sie jetzt von mir denken, Herr Hellmann. Aber ich bin nur ein kleines Licht hier im Krankenhaus. Wenn ich einen Zwergenaufstand mache, ist damit niemandem gedient. Ich habe Familie. Wissen Sie, wie wenige Stellen es für Nervenärzte gibt? Gerade hier in Mecklenburg-Vorpommern? Obwohl wir noch jede Menge Kollegen brauchen könnten.« .
Ich merkte, wie peinlich ihm seine Feigheit war. Deshalb wechselte ich das Thema. »Kann ich Julia Weidemann nun sehen?« Er nickte erleichtert. »Kommen Sie!« Am anderen Ende der Station gab es einen Gemeinschaftsraum. Er sah aus wie ein riesiges Wartezimmer mit bequemen, aber unmodernen Sesseln und Sofas. Dort hockten etwa zehn Frauen und starrten vor sich hin. Einige hatten ihre leeren Blicke auf den Fernsehapparat gerichtet, der in einer Ecke an der Wand befestigt war. Gerade gab es die quietschbunten Abenteuer der »Power Rangers« zu sehen. Eine Frau redete monoton vor sich hin. Ab und zu schlug sie sich mit der Faust gegen die Stirn. Und alle rauchten. Das Zimmer war blau vom Tabakqualm. Dr. Sandler ging auf eine blasse junge Frau mit langen, blonden Haaren zu. »Besuch für Sie, Frau Weidemann.« Das Mädchen blickte auf. Ich bin ein medizinischer Laie. Aber ich sah sofort, daß sie unter starken Beruhigungsmitteln stand. Sie wirkte fast so leblos wie eine Mumie. »Besuch? Ich kenne Sie nicht.« Der Arzt verabschiedete sich und bat mich, beim Verlassen der Station noch kurz in seinem Dienstzimmer vorbeizuschauen. »Darf ich mich setzen?« fragte ich. Julia Weidemann nickte stumm. Ich ließ mich auf dem Sofa neben ihr nieder. Sie hielt mir ihre Packung mit billigen Supermarktzigaretten hin. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« »Ich habe auch nicht geraucht, bevor ich hier eingeliefert wurde«, erzählte sie. »Aber das ist das einzige, was man hier tun kann. In diesem - diesem Kerker.« »Ich will Ihnen helfen, hier rauszukommen, Julia.« Sie schnaubte durch die Nase. Ihr Gesichtsausdruck war halb verächtlich, halb ungläubig. »Und wie wollen Sie das machen?« »Indem ich beweise, daß es keine Wahnbilder waren, die Sie in dieser Nacht gesehen haben. Sondern die Wahrheit.«
Mißtrauisch kniff sie die Augen zusammen. »Wer sind Sie?« »Ich heiße Mark Hellmann und komme aus Weimar. Ich arbeite für…« Und ich nannte den Namen der großen Hamburger Illustrierten. »Aber ich will Ihre Geschichte nicht ausschlachten«, fügte ich schnell hinzu, bevor sich Julia Weidemann wieder einigeln konnte. »Mir geht es darum, diesem Grauen entgegenzutreten. Den Menschen zu zeigen, daß sie dem Bösen gegenüber wachsam sein müssen.« »Dem Bösen«, wiederholte das Mädchen. Als sie noch keine schwarzen Ringe unter den Augen gehabt hatte, mußte sie einmal sehr schön gewesen sein. »Ich habe das Böse gesehen.« »Was genau haben Sie gesehen, Julia? Jede Kleinigkeit kann wichtig sein für mich.« »Thorsten und ich sind nach Eldena gefahren. Zu der Klosterruine. Wir haben herumgeblödelt, nichts Besonderes gemacht. Und dann ist es passiert.« »Was?« »Thorsten hat sich verwandelt, verstehen Sie? Plötzlich wuchs sein Mund zu. Es war ganz seltsam. Als wäre der Mund eine Wunde, die im Zeitraffertempo geheilt wäre. Mir müssen die Haare zu Berge gestanden haben. Aber dann ging es noch weiter.« Sie nahm einen Zug aus ihrer Zigarette und sog den Rauch tief in die Lungen. »Seine Haut veränderte sich«, fuhr sie mit tonloser Stimme fort. Eine der geisteskranken Frauen am anderen Ende des Raumes lachte laut und schrill auf, während Julia erzählte. »Thorstens Körper wurde schuppig. Wie bei einem Fisch oder einem Reptil. Und seine Augen. Seine armen Augen.« Tränen rannen über Julia Weidemanns Wangen. »Sie wurden schlagartig zu Insektenaugen. Stierten mich tot und kalt an. Der arme Kerl!« Sie schluchzte auf und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ich legte den Arm um sie. Es dauerte eine Weile. Dann hatte sie sich wieder halbwegs beruhigt. »Und was passierte danach?« fragte ich vorsichtig.
»Plötzlich stand dieses andere Wesen hinter mir. Es war entsetzlich. So stelle ich mir eine Ausgeburt der Hölle vor. Unförmig, mit gräßlichen Klauen und bösen Augen. Ich habe noch nie soviel Bosheit gesehen. Soviel Schlechtigkeit. Es wollte mich angreifen, glaube ich. Aber Thorsten hat sich schützend vor mich gestellt. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist.« »Und Sie?« »Ich bin gerannt, als ob der Leibhaftige hinter mir her gewesen wäre. Vielleicht war er das ja auch. Ich kann ganz gut laufen. Bin aktive Sportlerin. Eigentlich wollte ich nach Greifswald zurücklaufen, zu meinen Eltern. Aber in der Aufregung habe ich den Weg verfehlt. Ich weiß überhaupt nicht mehr viel. Gedächtnislücken. Das liegt an dem Schock, sagt Dr. Sandler. Jedenfalls kam ich an der Holzklappbrücke in Wieck wieder zu mir. Dort haben mich zwei Streifenpolizisten gefunden. Und direkt hierher gebracht. ich kann sie sogar verstehen. Nach dem, was ich erzählt habe!« Sie schnaubte ironisch und zündete sich eine frische Zigarette an der Kippe der letzten an. Ich schaute ihr in die Augen. »Ich glaube Ihnen, Julia. Es gibt ähnliche Fälle, in denen ich helfen konnte. Und ich werde alles tun, damit Sie sobald wie möglich hier rauskommen. Und ich werde auch herausfinden, was mit Thorsten passiert ist. Sie müssen mir vertrauen. Ich bin Ihr Freund.« Die Blondine versuchte ein schüchternes Lächeln. »Jedenfalls sind Sie der einzige, der mir glaubt.« »Nicht der einzige. Auch Dr. Sandler hält Sie für geistig normal. Ich werde gleich noch einmal mit ihm reden. Es muß doch möglich sein, etwas zu tun.« Auch wenn es der Krankenhausbürokratie nicht paßt, fügte ich in Gedanken hinzu. »Ich werde Sie bald wieder besuchen«, kündigte ich an, während ich aufstand. »Lassen Sie sich nicht unterkriegen! Und versuchen Sie, nicht soviel zu rauchen.« Mit geballten Fäusten ging ich den langen Gang zurück. Man konnte doch nicht eine gesunde junge Frau hier einsperren, nur weil
ein Chefarzt eine Fehldiagnose gestellt hatte! Ich wollte Dr. Sandler davon überzeugen, die Krankengeschichte noch einmal aufzurollen. Und ihm vielleicht einen berühmten Kollegen als Gutachter zur Seite stellen. Ich klopfte an die Tür des Dienstzimmers. Keine Antwort. Dann lege ich ihm einen Zettel auf den Schreibtisch, entschied ich mich. Und drückte die Türklinke herunter. Dr. Sandler war da. Aber er würde Julia Weidemann nicht mehr helfen können. Sein Körper war verkrümmt und nach hinten gebogen. Jemand mußte ihn mit übermenschlicher Kraft über seinen Schreibtisch gezerrt haben. Seine Hüften standen in einem unnatürlichen Winkel vor. Sein Rückgrad schien gebrochen zu sein. Als ob das noch nicht gereicht hätte, hatte jemand einen riesigen rostigen Nagel durch die Stirn des Arztes in den Tisch getrieben. Und ich wußte auch, wer das gewesen war. Erstens roch es in dem Zimmer stark nach Schwefel. Zweitens gab mir mein Ring ein Signal. Hier mußte noch vor kurzem dämonische Aktivität stattgefunden haben. Und drittens war mit dem Blut des Psychiaters ein Satz an die Wand geschrieben worden. Er lautete: »Willkommen in Greifswald!«
* »Waaaas?« Harry Schlüter strauchelte und stürzte zu Boden. Ein riesiges Wesen hatte ihn von den Beinen gerissen. Es stank nach Hölle und Teufel. Die bösen Augen hatten sein Opfer fixiert. Die Pranken standen von dem unförmigen Körper ab. Bereit, in das Fleisch des Mannes geschlagen zu werden. Ihm die Haut in Fetzen zu reißen. Mit gefletschten Zähnen näherte sich der gewaltige Schädel dem am Boden Liegenden.
Schlüter erschrak zu Tode. Er hatte noch kein Tier gesehen, das annähernd so aussah. Aber das Monster war auch eindeutig kein Mensch. Nein, es konnte kein Mensch sein. Raku hob seine messerscharfen Krallen. Da überwand der Angegriffene seine Schocksekunde. Seine Hand fuhr in die rechte Hosentasche und zauberte ein Springmesser hervor. Das aalglatte Gehabe des Geschäftemachers fiel von ihm ab. Harry Schlüter war wieder das Kind aus der Düsseldorfer Altstadt, das bei Straßenschlägereien ums Überleben kämpft. Seine Hand stieß vor, wie sie es bei ungezählten Bandenkämpfen getan hatte. Raku verteidigte sich nicht. Er blieb steif und starr stehen, während der Düsseldorfer seine Klinge bis zum Anschlag in den Leib der Kreatur rammte. Ein Triumphschrei des Mannes gellte über die Ryck. Für Sekunden gewann er seine Überheblichkeit zurück. Niemand sollte sich mit Harry Schlüter anlegen! Das würde jedem schlecht bekommen! Dann war das Gefühl verflogen. Es machte einer grenzenlosen Panik Platz. Denn Rakus Körper stieß das Messer ab, als wäre es in Gummi gefahren. Es blieb keine sichtbare Verletzung zurück. Dafür wurde aber der Höllenodem immer penetranter. Denn Raku näherte sich nun weiter seinem Opfer. Langsam. Um die Situation auszukosten. Schlüter taumelte zurück. Er befand sich nun schon in der Nähe der Kaimauer. Verzweifelt blickte er über die Schulter zurück. Überlegte, ob er ins Wasser springen sollte. Raku mußte seinen Gedanken durchschaut haben. Ein Prankenhieb traf den Brustkorb des bierbäuchigen Mannes. Er schrie auf. Der Schlag warf ihn mehrere Meter weit über das Pflaster, in Richtung Fangelturm. Obwohl er über zwei Zentner wog, war er für die ekelhafte Kreatur leicht wie ein Federball. Raku gab unmenschliche Laute von sich, während er seinem Opfer nachsetzte. Einmal kam der Mann noch auf die Beine. Dann war das Höllenwesen über ihm. Tatjana Kowalski schlug die Hände vor das Gesicht. Sie kam sich
vor wie in einem Alptraum. Ein Alptraum, in dem man weglaufen möchte, aber immer langsamer wird. Es reichte ihr, was sie hören mußte. Die Schmerzensschreie des Düsseldorfers, die leiser und leiser wurden. Fast übertönt von den Lauten des Monsters, diesen schmatzenden Klängen. Immer wieder unterbrochen von lautem Knacken. Wie durch, ein Wunder löste sich die junge Frau aus ihrer Erstarrung. Sie setzte ein Bein vor das andere. Machte einen Schritt in Richtung Museumshafen. Nur weg von diesem Teufelsbiest! Noch ein Schritt. Ihre Knie zitterten wie Wackelpudding. Sie schaute nicht zurück. Und begann zu laufen. Durch Tränen verschleiert sah sie die Straße vor sich. Kein Mensch weit und breit zu sehen. Hört denn niemand diese Geräusche? fragte sie sich. Oder hallten sie nur in ihrem Kopf wider? Wäre ich doch nie zu Harry an den Tisch gegangen, sagte sie sich. Er wirkte so sicher, so mächtig, so - reich. Und nun? Ein Klumpen Fleisch an der Kaimauer… Wie weit sie wohl schon gekommen war? Tatjana Kowalski wollte den Hansering überqueren. Sie kannte sich in Greifswald nicht aus. Aber das war auch nicht nötig. Auf der rechten Seite gab es nur den um diese Zeit wie ausgestorben liegenden Museumshafen. Rechts führten kleine Straßen in die Innenstadt. Dort gab es Häuser, Menschen. Über den Dächern konnte das Mädchen den Turm einer nahen Kirche erkennen. Sie lief mit unsicheren Schritten über den Hansering. Dort vorne brannte Licht. War da eine Gaststätte? Noch fünfzig Meter bis dorthin. Vierzig… Da riß eine Klaue an ihrem linken Fußgelenk. Die junge Frau knallte schmerzhaft zu Boden. Bevor sie sich von dem Sturz erholt hatte, packte Raku sie wie ein Spielzeug. Und schleuderte sie mit seiner ganzen Kraft gegen eine Mauer. Tatjanas Genick brach bei dem Aufprall. Sie war sofort tot. Ihr blieben die langen qualvollen Minuten erspart, mit denen Harry Schlüter sein Leben abschließen mußte.
* Kommissar Jansson sah mich an. In seinem Blick lag soviel Sympathie, als wäre ich eine tote Vogelspinne. Ich konnte den Beamten von der Greifswalder Kripo sogar verstehen. Was sollte man von ihm erwarten? Man hatte ihn in die Psychiatrie gerufen. Dort sollte er den Tod eines Nervenarztes untersuchen, dem man das Rückgrat gebrochen und einen Nagel durch die Stirn getrieben hatte. Und dann war da dieser Mann, der den Doktor vermutlich als letzter lebend gesehen hatte. Ich. Mark Hellmann. Kein Patient und kein Kollege. Dafür aber jemand, der behauptete, übersinnlichen Gewalttaten auf der Spur zu sein. Nein, man konnte von Kommissar Jansson wirklich keine Begeisterungsstürme erwarten. Ich saß ihm in seinem Büro im Greifswalder Präsidium gegenüber. Ein zweiter Kriminalbeamter hockte neben der Tür und bediente das Tonbandgerät, mit dem das Verhör aufgezeichnet wurde. In dem Raum war es trockener als in der Wüste Gobi und langweiliger als auf einer FDJ-Politikschulung. Aber ich machte das Beste draus. Obwohl ich jetzt wirklich gerne ein gutes Thüringer Bier gehabt hätte. Notfalls sogar ein norddeutsches. »Also noch einmal, Herr Hellmann. Was wollten Sie von Dr. Sandler?« »Ich habe ihn gebeten, die Patientin Julia Weidemann besuchen zu dürfen.« »Warum?« »Weil sie in eine geheimnisvolle Affäre verwickelt ist.« »Etwas genauer, bitte, Herr Hellmann.« »Julias Freund Thorsten ist spurlos verschwunden. Er…« »Das wissen wir. Seine Eltern haben bei uns eine Vermißtenanzeige aufgegeben. Die Polizei kümmert sich darum.« »Auch um seine Verwandlung?«
»Wie bitte?« »Julia Weidemann sagte mir, daß sich Thorsten in ein Tierwesen verwandelt hätte, bevor er verschwand. Sein Mund wuchs zu. Seine Haut wurde schuppig…« Der Kommissar lachte ungläubig. »Sind Sie sicher, daß Sie nicht doch als Patient in der Klinik waren, Herr Hellmann?« Ich wurde sauer, blieb aber sachlich. »Dr. Sandler hat Julia Weidemann geglaubt. Er hielt sie für geistig gesund.« »Aber Dr. Sandler ist nun mal tot. Und mir ist noch nicht klar, welche Rolle Sie dabei spielen, Herr Hellmann.« »Warum hätte ich ihn töten sollen? Außerdem habe ich mich mit Frau Weidemann unterhalten, während er ermordet wurde. Das können ein Dutzend Patientinnen bezeugen.« »Sie kennen sich ja aus«, räumte der Beamte unwillig ein. Er war ein dünner Mann mit Tränensäcken unter den Augen. Sein Name klang skandinavisch. Wahrscheinlich war er ein alteingesessener Greifswalder. Vorpommern war schließlich bis 1815 schwedisch. Deshalb trifft man dort auch heute noch auf viele Leute mit schwedischen Namen. »Wieso sind Sie so gut mit Polizeiarbeit vertraut, Herr Hellmann?« »Vielleicht, weil ich schon oft für die Polizei gearbeitet habe«, gab ich cool zurück. »Bei unerklärlichen Kriminalfällen werde ich gerne als Gutachter hinzugezogen. Ich sagte Ihnen bereits, daß ich mich auf unerklärliche Phänomene spezialisiert habe. Genauere Auskunft über mich kann Ihnen beispielsweise Hauptkommissar Peter Langenbach bei der Polizeidirektion Weimar geben. Er kennt mich und meine Arbeit gut.« Kommissar Jansson wirkte nicht beeindruckt. Aber er notierte sich den Namen. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf. Schien nachzudenken. »Haben Sie eine Erklärung für die mit Blut geschriebenen Worte: Willkommen in Greifswald, Herr Hellmann?« »Ich glaube schon, Herr Kommissar. Dieser Satz galt mir. Der
Mörder hat ihn an die Wand geschrieben, um mich herauszufordern.« »Demnach wissen Sie, wer der Mörder ist?« »Mephisto.« Der Beamte schien sich nur mühsam beherrschen zu können, um nicht zu explodieren. Mit gepreßter Stimme sagte er: »Mephisto. Sehr schön. Bis dieser Fall geklärt ist, werden Sie Greifswald nicht verlassen, Herr Hellmann!« »Kein Problem, ich habe hier sowieso noch sehr viel zu erledigen.«
* Karl Lambrecht hatte feste Gewohnheiten entwickelt. Das half ihm, die Arbeitslosigkeit zu verkraften. Nach seinen Ritualen konnte man die Uhr stellen. Jeden Morgen ging er um Punkt acht Uhr aus dem Haus, um sich die Lokalzeitung zu kaufen. Dafür benutzte er nicht seinen Trabant, sondern sein altes Fahrrad. Für die Fahrt dorthin brauchte er sieben Minuten. Und dort wechselte er stets einige Worte mit der Zeitungsfrau. Aber um 8.15 Uhr ging es weiter. Die nächste Station seiner Morgenrunde war die Wohnung seines alten Schulfreundes Krause. Mit dem trank er immer einen Kaffee zusammen. Die beiden Männer hatten praktisch ihr ganzes Leben zusammen verbracht. Trotzdem hatten sie sich immer noch etwas zu erzählen. Obwohl es inzwischen meist Erinnerungen waren. Um 9.15 Uhr schwang sich Thorstens Vater wieder auf sein Rad, um zu seiner Wohnung zurückzuradeln. Doch an diesem Morgen wurde seine Routine unterbrochen. Er fuhr durch eine stille Kleingartenstraße, als plötzlich eine Gestalt vor ihm auf den Weg sprang. Karl Lambrecht betätigte die Rücktrittbremse, daß der Kies wegspritzte. War das wieder dieser Bengel, der durch das Küchenfenster geglotzt hatte? Der Arbeitslose zog die Augenbrauen zusammen und
wollte schon zu einer gewaltigen Schimpfkanonade ansetzen, als eine kalte, schwarze Hand nach seinem Herzen zu greifen schien. Dieses seltsame Wesen da vor ihm war sein Sohn Thorsten! Am vorigen Abend hatte der Kommunist noch seine Frau verhöhnt, weil sie in dem Störenfried ihr Kind zu erkennen glaubte. Aber nun, im hellen Tageslicht, mußte er ihr zustimmen. Diese sich insektenhaft bewegende Kreatur war niemand anders als Thorsten Lambrecht! Irrtum ausgeschlossen, auch wenn sich der Junge stark verändert hatte. Trotz der unheimlichen Insektenaugen war es immer noch sein Gesicht unter der schuppigen Haut. Und einen Mund hatte dieses Wesen tatsächlich nicht! In diesem Moment war es Vater Lambrecht schmerzhaft klar, daß ihm sein Sohn keinen verrückten Streich spielen wollte. Dies war verdammt noch mal kein Kostüm! Aber was war mit ihm geschehen. »Thorsten«, würgte der Alte hervor, während eine Träne aus seinem Augenwinkel trat. »Thorsten, mein Junge!« Das Wesen streckte vorsichtig seine Pfote aus. Karl Lambrecht hielt ihm seine zitternde Hand entgegen. Für Sekunden berührten sich der Mensch und das Wesen. Thorsten fühlte sich kalt und feucht an. Was war das da hinter seinen Ohren? Waren das etwa Kiemen? Der entsetzte Vater glaubte, verrückt zu werden. Der Tritt von menschlichen Füßen ertönte. Vielen menschlichen Füßen. Aus Richtung Wieck kam eine Gruppe von sechs oder sieben Joggern, die hintereinander durch diesen grünen Weg liefen. Abseits der Verkehrsstraßen. Bevor Karl Lambrecht es verhindern konnte, war sein unglücklicher Sohn wieder zwischen den Büschen und Sträuchern abgetaucht. Der Vater bestieg sein Fahrrad. Versuchte, Thorsten zu folgen. Aber vergeblich. Obwohl er noch eine halbe Stunde das Kleingartengebiet durchsuchte, blieb das Wesen spurlos verschwunden. Gisela Lambrecht kannte die Morgenroutine ihres Mannes genau. Deshalb war sie beunruhigt, als er an diesem Morgen nicht um Punkt zehn Uhr wieder zu Hause war. Auch nicht um fünf nach zehn. Oder um zehn nach zehn. Es ging schon auf Mittag zu. Da kam er endlich
die Güstrower Landstraße heraufgeradelt. Seine Frau stand händeringend am Gartenzaun, ganz krank vor Sorgen. Das leichenblasse Gesicht ihres Mannes trug nicht dazu bei, dieses Gefühl abzuschwächen. »Wo bist du gewesen?« rief sie ihm entgegen. »Was ist passiert?« Der Mann wirkte, als wäre er gegen einen Baum geprallt. Wie ein Zombie machte er automatische Bewegungen. Stieg langsam von dem alten Fahrrad herunter und schob es hinter das Haus. Seine Frau lief hinter ihm her. »So rede doch! Hast du dich bei Krause festgequatscht? Oder warst du wieder auf der Polizei? Hättest du nicht anrufen können?« »Ich habe Thorsten gesehen«, sagte Karl Lambrecht mit zitternder Stimme. Dabei starrte er seine Frau an. »Thorsten?« Sie schwankte. Ihr Mann hielt sie fest. Nahm sie in die Arme. »Du hattest recht, Gisela. Es war unser Junge, der da durch das Küchenfenster geschaut hat. Unser armer, verstrahlter Junge!« »Verstrahlt?« Thorstens Mutter verstand überhaupt nichts mehr. »Natürlich verstrahlt!« Der alte Kommunist ballte die Fäuste. »Wahrscheinlich ist aus diesem verfluchten Atomkraftwerk irgend etwas Schädliches ausgetreten. Und unser Junge ist damit in Berührung gekommen. Weshalb sollte wohl sonst sein Körper so verunstaltet sein? Er ist ein Monster, Gisela!« Die Frau schlug die Hände vor das Gesicht. »Aber dafür wird jemand bezahlen!« knirschte Karl Lambrecht, während der Haß aus seinen Augen sprühte. »Das schwöre ich dir!«
* Nachdenklich verließ ich das Polizeirevier und ging zum Parkplatz an der Fischstraße hinüber, wo ich meinen BMW abgestellt hatte.
Mein Hotel befand sich zentral mitten in der Fußgängerzone der alten Hansestadt. Wieder hatte Mephisto seine grausamen Spuren hinterlassen. Ich wettete mein blaues Coupe gegen ein Spielzeugauto, daß er auch die graue Eminenz hinter diesem Höllenwesen war, von dem Julia Weidemann mir erzählt hatte. Aber warum hatte sich Thorsten Lambrecht in der alten Klosterruine verwandelt? Ich beschloß, dem Rätsel an Ort und Stelle auf den Grund zu gehen. Deshalb schwang ich mich in meinen fahrbaren Untersatz und fuhr zum Hansering, der ziemlich voll war. Die vielen Nummernschilder aus anderen Orten deuteten auf die Badesaison hin, die so langsam in Gang kam. Auch ich hätte mich lieber im heißen Sand geaalt, mit einer gutaussehenden Frau neben mir. Am Stadttheater bog ich nach links ab und lenkte den BMW Richtung Eldena. Am Ortseingang des Greifswalder Vororts passierte es. Mein massiv silberner Ring glühte auf. Meine Muskeln spannten sich an. Mit allen Sinnen wurde ich wachsam. Hier mußte es etwas geben, das nicht von dieser Welt war. Etwas Böses. Etwas Bedrohliches. Und dann sah ich sie. Die Bockwindmühle. Sie stand auf einem kleinen Hügel. Anscheinend war sie liebevoll restauriert worden. Auf den ersten Blick ein schönes Erinnerungsstück an vergangene Jahrhunderte. Passend zu den reetgedeckten Fischerhäusern dieses Dorfes zwischen Greifswalder Bodden und dem eigentlichen Stadtgebiet. Aber mein Magen krampfte sich zusammen. Eine innere Stimme sagte mir, daß etwas nicht stimmte mit der Mühle. Ich lenkte den BMW an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Hinter mir flutete der Verkehr weiter. Die Menschen wollten ans Wasser, sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Ich war bestimmt der einzige weit und breit, der sich mit Tod und Vernichtung beschäftigte. Vorsichtig stieg ich aus und näherte mich der Bockwindmühle. Mein Ring reagierte immer stärker. Wie eine Wünschelrute, die den
Gänger zu einem verborgenen Wasserlauf hinführt. Ich sah mir das Gebäude an. Es schien zu flimmern. Aber mir war klar, daß das nicht an der Hitze lag. Dämonische Aktivität lag über der Mühle. Die Luft um sie herum waberte. Ich kam näher. Plötzlich hatte ich das Gefühl, gegen einen Sturm anzulaufen. Einen heißen Wüstenwind. Oder den Atem der Hölle. Einbildung oder Realität? Es gab jedenfalls eine Macht, die mich am Betreten der Mühle hindern wollte. Ich hatte den Kopf gesenkt. Meine Haare flogen nach hinten. Ich mußte die Augen zusammenkneifen, weil es so wehte. Nein,“ das konnte keine frische Ostseebrise sein! Ich hob den Kopf und sah mir wieder die Mühle an. Ihr Holzkörper schien sich plötzlich in eine riesige Teufelsfratze verwandelt zu haben! Und die Mühlenflügel drehten sich. An einem hing Julia Weidemann. Am zweiten Dr. Sandler. Am dritten Karin Hagen, die Tramperin. Und am vierten ich, Mark Hellmann. Und wir alle waren mit Nägeln durchbohrt! Ein unvorstellbar grausamer Anblick! Mir war klar, daß mein Erzfeind hier seine höllischen Späße mit mir trieb. Sein Sinn für Humor war makaber und menschenverachtend. Das hatte ich schon öfter feststellen müssen. Deshalb ließ ich mich nicht beirren und nahm den Anblick als das, was er war. Das Trugbild eines Dämonen. Doch dann sank ich in die Knie. Denn Kopfschmerzen glitten in einer riesigen Welle durch meinen Schädel. Ich glaubte, er müsse platzen. Und nun waren die Bilder in meinem Kopf. Wie im Zeitraffer sah ich die Bockwindmühle. Sie war wie das Zentrum eines Orkans. Eines Orkans des Bösen. Ein Mann in Kniehosen tauchte auf, mit einem verrückten Ausdruck im Gesicht. Er hatte eine Sense in der Hand. Und im nächsten Moment schlug er dem arglosen Müller den Kopf ab. Soldaten umstanden die Mühle, in den bunten Uniformen der napoleonischen Zeit. Hohnlachend schlugen sie mit ihren Gewehrkolben einen wehrlosen Zivilisten tot. Ein junges Mädchen ging die Straße nach Eldena hinauf, barfuß und mit einem Korb. Ein
Mann sprang aus seinem Versteck unter der Mühle hervor und erwürgte sie, wobei er unmenschliche Laute ausstieß. Die Bockwindmühle schien dabei im Rot des Höllenfeuers zu erglühen. Sekunden später war der Spuk vorbei. Ich stützte mich auf meine Hände und kam langsam wieder hoch. Einige Nachwehen der Migräne rollten noch durch mein Gehirn. Aber im Vergleich zu den grausamen Visionen der letzten Minuten waren sie harmlos. Leicht torkelnd stellte ich mich aufrecht hin. Nun sah die Mühle wieder so harmlos aus wie zuvor. Ein Schmuckstück dörflichen Lebens an der Ostseeküste. Wieder versuchte ich, in die Mühle einzudringen. Doch die Lust darauf verging mir, als abermals dieser dämonische Sturm zu toben begann. Nein, noch so eine Kopfschmerzattacke konnte ich nicht einstecken. Nicht, solange ich kein wirksames Gegenmittel gefunden hatte. Deshalb mußte ich für den Moment aufgeben. Das Rätsel hatte sich noch vergrößert. Warum war dieser Ort so böse? Woher kam das Ungeheuer, von dem mir Julia Weidemann berichtet hatte? Ich nahm mir vor, in der Universitätsbibliothek von Greifswald nach Legenden zu forschen, die sich um diese Mühle rankten. Wie man so etwas macht, habe ich ja zum Glück in meinem Völkerkunde-Studium gelernt. Aber zuvor wollte ich mir noch die Ruine des Zisterzienserklosters ansehen. Dort war die Verwandlung von Thorsten Lambrecht geschehen. Und dort war auch dieses unheimliche Wesen aufgetaucht. Ich fuhr weiter in den Ort Eldena hinein. Da die Baureste nicht zuletzt wegen der Gemälde von Caspar David Friedrich weit bekannt sind, fand ich schnell dorthin. Ich parkte den BMW am Rand der romantischen Parkanlage und besah mir das Gelände. Es war eine Enttäuschung. Nichts, aber auch gar nichts deutete auf eine dämonische Aktivität hin. Ich lief durch das hohe Gras und beobachtete meinen Ring dabei genau. Überall stieg ich über umgefallene Mauern, durchsuchte bestimmt jeden Quadratmeter des ehemaligen Klosters. Doch die
Ruinen schwiegen. Sie hatten die Ereignisse um Julia Weidemann und Thorsten Lambrecht mitbekommen, konnten mir aber nichts erzählen, was mir weiterhelfen würde. Enttäuscht gab ich nach einigen Stunden auf. Es dämmerte schon. Das leere Gefühl in meinem Bauch war sicher nicht auf schwarzmagische Aktivität zurückzuführen. Sondern schlicht und einfach auf Hunger. Ich sah auf die Uhr. Nach sieben. Zu spät für die Universitätsbibliothek. Aber nicht für ein ausgiebiges Abendessen. Ich lief durch den Ort Eldena und fand in einem urigen alten Dorfkrug genau das, was ich suchte. Hier servierte man noch Schollenfilets von Lenkradgröße mit gebratenem Speck und selbstgemachtem Kartoffelsalat. Ich ließ es mir schmecken. Dazu trank ich ein alkoholfreies Bier. Schließlich habe ich noch zu DDRZeiten Autofahren gelernt. Und deshalb ist mir die 0-PromilleRegelung in Fleisch und Blut übergegangen. Nicht alles, was es damals gab, war schlecht. Wirklich nicht. Während ich aß, füllte sich allmählich die Gaststube. Zunächst sah alles ganz gemütlich aus. Doch plötzlich brach eine ganze Busladung Touristen über die Fischerkaten-Idylle herein. Auf einen Schlag waren so gut wie alle Plätze belegt. Das mußte auch ein mindestens neunzigjähriger Einheimischer feststellen. Er kam auf seinen krummen Beinen in das Lokal geschlurft und bemerkte, daß sogar der Stammtisch von der johlenden Horde besetzt war. »Kommen Sie doch zu mir!« rief ich ihm zu. Direkt neben mir, auf der Eckbank, war noch etwas Platz. Er wackelte nachdenklich mit seinem kantigen Kopf und kam dann langsam zu mir herüber. Ich schob meinen leeren Teller weg. Das Essen war ausgezeichnet gewesen. »Viel Betrieb heute«, bemerkte er stockend. Ich hörte, daß Hochdeutsch für ihn eine Fremdsprache war. Ich hätte mich ja gerne in Mecklenburger Platt mit ihm unterhalten. Aber da hätte ich nun wiederum passen müssen. »Ich gehöre nicht zu denen«, sagte ich fast schon entschuldigend. »Ich bin beruflich hier.«
Er blinzelte neugierig. »Ich bin so eine Art Altertumsforscher«, behauptete ich. Wenn man den Leuten erzählt, daß man auf der Jagd nach Dämonen und Ungeheuern ist, stößt man meistens auf pures Unverständnis. Bestenfalls. »Ich sammle Legenden und Sagen. Für die Nachwelt.« »So, so«, meinte der Alte. Das schien ihn nicht vom Hocker zu reißen. Er hatte in seinem langen Leben zweifellos einiges erlebt. Und viel mitgemacht. Das merkte man nicht nur an den vielen Runzeln und Falten, sondern an seiner ganzen Art. Er war einer, der überlebt hatte. Seine abgearbeiteten Hände stopften eine krumme Pfeife, während ihm die Bedienung unaufgefordert ein Pils und einen Korn brachte. Es war nicht nötig, zu fragen, was er trinken wollte. Ich bestellte mir auch noch ein alkoholfreies Bier. »Was gefunden?« fragte der Mann, der inzwischen seine Schippermütze abgenommen hatte. Darunter verbargen sich schlohweiße Haare. »Sagen und Legenden, meine ich.« »Ich weiß noch nicht so genau. Da ist doch diese Mühle am Ortseingang. Gibt es da nicht…?« »Die Teufelsmühle?« fragte der Alte zurück. „ . »Teufelsmühle?« Ich war sofort hellhörig geworden. »So wird sie genannt. Davor haben wir uns schon als Kinder gegraust. Damals, vor 14/18, vor dem Ersten Weltkrieg.« »Möchten Sie mir davon erzählen, während ich Sie zu einem Schnaps einlade? Ich heiße übrigens Mark Hellmann.« »Heinrich Lübsch.« Er schüttelte meine Hand. »Ja, die Teufelsmühle. Die steht schon verdammt lange da. Seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert, glaube ich. Und sie soll verhext sein.« »Warum?« »Der Teufel soll es da selbst getrieben haben«, flüsterte mir Heinrich Lübsch zu. Dabei zwinkerte er verschwörerisch mit den Augen. »Mit einer Hexe, verstehst du? Der Müller hatte die Frau dort versteckt. Ob sie wirklich hexen konnte, weiß niemand. Jedenfalls war sie eine Mörderin. Deshalb wurde sie gejagt. In ganz
Mecklenburg. Aber der Teufel hat ihr geholfen. Muß gut ausgesehen haben, die Frau. Jedenfalls hat sie sogar den Leibhaftigen verführt.« Ich schwieg. Mein Gesprächspartner mußte von meinem Gesichtsausdruck den furchtbaren Verdacht abgelesen haben, der nun aufkeimte. »Ja, er hat sie geschwängert, Mark Hellmann. Jedenfalls erzählen das die Leute. Um uns Kinder zu erschrecken, war das Teufelsbalg allemal noch gut.« »Teufelsbalg?« »Sie soll es ausgetragen haben, munkelte man. Versteckt in der Mühle, irgendwo. Mutterseelenallein. Da hat sie es dann zur Welt gebracht. Aber - «, seine Stimme senkte sich noch weiter, »es war kein Mensch!« Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Jetzt wurde mir einiges klar. »Hast du das Teufelsbalg einmal gesehen, Heinrich?« Er riß seine verkniffenen Augen auf. »Niemals! Das ist doch nur eine Legende, ein Ammenmärchen. Glaubst du etwa an so was, Mark?« Ich antwortete nicht. Der Alte war mir auf Anhieb sympathisch gewesen. Deshalb hatten wir uns auch spontan geduzt. Ich wollte ihm gegenüber ehrlich sein. »Es geschehen seltsame Dinge in Greifswald, Heinrich. Und ich glaube, daß dieses Teufelsbalg etwas damit zu tun hat.« Er lachte meckernd. »Dann muß sich das Ding aber ganz schön gehalten haben. Als ich die Geschichten als Junge gehört habe, sollten sie schon hundert Jahre her sein. Also sind inzwischen fast zweihundert Jahre vergangen. Und ich habe nie etwas von dem Teufelsbalg gesehen. Obwohl ich mein Leben lang aus Eldena nicht rausgekommen bin. Außer im Ersten Krieg. Und im Zweiten.« Sein Gesichtsausdruck hatte sich verhärtet. Er blickte nach innen. Dort sah er in diesem Moment wahrscheinlich Dinge, die schlimmer waren als die Legende, von der er mir berichtet hatte. Aber ich hatte
endlich eine Spur. »Weißt du noch mehr über das Teufelsbalg?« hakte ich nach. »Ein Mönch soll einen Bannspruch auf die Brut gelegt haben«, brummte Heinrich Lübsch nachdenklich. Man sah ihm an, daß er sich an Geschichten zu erinnern versuchte, die er vor einer Ewigkeit gehört hatte. »Dieser Bannspruch sollte das Böse in Schach halten. Aber es gab eine Möglichkeit, ihn zu brechen. Ein Jüngling, der eine Jungfrau… Verdammt, es fällt mir nicht mehr ein.« Ich klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Das macht nichts. Du hast mir schon sehr geholfen. Ich bin sicher, daß mich deine Geschichte auf meiner Suche voranbringt.« Er kippte seinen Schnaps. »Gern geschehen, Mark. Vielleicht fällt mir noch was ein. Du findest mich jeden Abend hier.« Er hatte wohl gemerkt, daß ich auf heißen Kohlen saß. Und wirklich, ich konnte es kaum erwarten, nach Greifs-Wald zurückzufahren und am nächsten Morgen mit meinen Recherchen in der Bibliothek weiterzumachen. Diesmal würde mich Mephisto nicht an der Nase herumführen! Und wenn er hier wirklich schwarzblütiges Leben gezeugt haben sollte, dann mußte ich es vernichten! Ich stieg in meinen BMW und bog in die Hauptstraße, die in das fünf Kilometer entfernte Greifswald führte. Doch ich kam nicht weit. Schon an der nächsten Kreuzung schnitt mich ein Opel Omega und drängte mich an den Straßenrand. Ich stieg fluchend in die Eisen und brachte den schleudernden BMW mit viel Glück zum Stehen. Das Adrenalin schoß in mir hoch wie eine Fontäne. Ich wollte schon die übelsten Beschimpfungen aus meinem Wortschatz hervorkramen, als ich mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge biß. Und das hatte seinen Grund. Trotz der schlechten Beleuchtung konnte ich es genau erkennen. Der Opel Omega war ein Streifenwagen der Polizei. Bevor ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, sprang einer der Beamten aus dem Fahrzeug und rannte zu meinem BMW herüber. Riß die Fahrertür auf.
Ich blickte in seine Dienstwaffe. »Aussteigen! Hände über den Kopf!« Ich wußte zwar nicht, was los war, aber ich gehorchte. Dieser Polizist war sehr nervös. Es konnte ins Auge gehen, jetzt den Helden spielen zu wollen. Wahrscheinlich war alles nur ein Mißverständnis. Mit langsamen Bewegungen löste ich meinen Sicherheitsgurt und stieg aus. Ich sah, wie der andere Polizist an der Fahrertür des Streifenwagens stand und seine Pistole im Anschlag hatte. Sie war auf mich gerichtet. Sein Partner schubste mich gegen das Autodach und grätschte meine Beine auseinander. Dann spürte ich, wie sich Handschellen um meine Gelenke schlossen. Der Polizist hinter mir schien erleichtert aufzuatmen. Der Mann am Streifenwagen bückte sich zum Funkgerät hinunter. Er gab eine Meldung durch: »Hier Obermeister Schröder, Wagen 11. Standort Ortseingang Eldena. Wir haben den mutmaßlichen Mörder verhaftet!«
* Die Frau schrie auf. Julia Weidemann zuckte zusammen. Direkt neben ihr schlug eine ältere Dame den Kopf gegen die Wand. Wahrscheinlich, weil sie in ihrem Inneren Dinge sah, die sie nicht ertragen konnte. Julia seufzte. Die Patientinnen taten ihr leid, aber sie konnte nichts für sie tun. Sie selbst war jedenfalls nicht geisteskrank. Das wußte sie genau. Doch wenn nicht bald etwas geschah, würde sie es vielleicht werden. Sie nahm einen tiefen Zug aus der billigen Zigarette. Noch fünf Minuten, bis ihre Arbeit begann. An diesem Abend war die Blondine der Gruppe zugeteilt, die das Abendessen für die ganze Station vorbereiten mußte. Den Tisch decken, Tee, Brot und Aufschnitt verteilen. Füttern, spülen,
aufräumen… Julia Weidemann hatte sich angestrengt, in diese »Beschäftigungstherapie« hineinzukommen. Denn sie wollte die Gelegenheit nutzen. Zur Flucht! Mark Hellmann kam ihr in den Sinn, während sie ihre Kippe ausdrückte und sich langsam Richtung Speiseraum aufmachte. Sie hatte spontan Vertrauen gefaßt zu dem jungen Mann mit den blonden Haaren. Aber auch er hatte ihr nicht zur Freiheit verhelfen können. Und seit der brutalen Ermordung von Dr. Sandler waren ihre Chancen für eine Entlassung noch weiter gesunken. Sie schüttelte sich. Man hatte versucht, die Aufregung von den Patienten so gut wie möglich fernzuhalten. Aber es war doch etwas durchgesickert vom grausigen Ende des Nervenarztes. Seitdem glaubte Julia Weidemann, daß es ihr ebenso ergehen würde, wenn sie hier noch länger blieb. Natürlich machte sie nicht den Fehler, das ihrer Ärztin bei der Gesprächstherapie zu erzählen. Denn sonst würde man sie erst recht in der Psychiatrie belassen. Das war ihr klar. Und sie brauchte keinen Doktor, um zu wissen, daß sie gesund war. Und daß sie ihren Augen vertrauen konnte. Das Böse existierte wirklich. Mark Hellmann hatte ihr ja auch geglaubt. Die junge Frau war pünktlich. Mit ihr zusammen waren noch drei weitere Patientinnen zum Küchendienst eingeteilt. Zwei von ihnen kannte Julia nur vom Sehen. Die dritte hieß Maria. Jedenfalls nannte sie sich so. Man wußte bei ihr nie, woran man war. Sie redete hauptsächlich mit sich selbst. Das vertraute Räderquietschen ertönte. Da kam der Küchenwagen. Geschoben von einem Pfleger der Männerstation. Er klingelte. Schwester Gabriele kontrollierte, wer draußen war. Dann ließ sie ihn herein. Julia Weidemann biß sich enttäuscht auf die Lippen. Schwester Gabriele galt als die schärfste Kontrolleurin unter dem Pflegepersonal. Wenn sie die Küchenmannschaft beaufsichtigte,
dann konnte die junge Frau ihre Pläne vergessen. Die Krankenschwester klatschte in die Hände. »So. Es ist alles bereit! Julia und Anne übernehmen die Teekannen. Vier Stück auf die großen Tische, zwei auf die kleinen, kapiert? Maria und Sonja decken die Teller. Für jeden Stuhl einen Teller, ist das klar? Also bewegt euch!« Murrend machten sich die Frauen ans Werk. Maria redete mit einem Mann in ihrer Phantasie, den sie »Sultan Saladin« nannte. Aber trotzdem schien sie zu verstehen, was Schwester Gabriele von ihr wollte. Jedenfalls übernahm sie einen großen Stapel von den Kunststofftellern. Julia ließ sich von dem Pfleger zwei große Thermoskannen aus Plastik geben. Sie waren schwer. In jeder Hand schleppte sie eine zu den Tischen. Der Pfleger stützte sich mit beiden Händen auf seinen Wagen. »Hast du heute Spätdienst, Gabi?« Julia war trotz der Medikamente aufmerksam geblieben. Und sie spürte sofort, daß dieser Mann in Weiß - laut Namensschild hieß er Hartmut - auf die Krankenschwester stand. Und tief in ihrem Inneren hoffte sie, das für sich auszunutzen. »Warum willst du das wissen?« fragte Schwester Gabriele zurück. Es kam Julia Weidemann vor, als würde sie jetzt nicht ganz so kratzbürstig klingen wie gegenüber den Patientinnen. »Weil ich auch Spätdienst habe. Die Nacht ist dann doch sowieso im Eimer. Vielleicht könnten wir in die Disco gehen…« »In die Disco!« Schwester Gabriele lachte. Aber sie schien nicht abgeneigt zu sein, seinem Vorschlag zu folgen. »Du bist ein Spinner, Hartmut. Um die Zeit sind doch alle Läden in Greifswald geschlossen.« »Weiß ich. Aber heute nacht ist Tanzparty in Wieck. Großes Sommerfest. Das geht bis morgen früh. Und ich habe ein Auto.« »Ein Auto mit Liegesitzen, was?« Schwester Gabriele zwinkerte ihm zu. Julia hatte sie noch nie in so guter Laune gesehen, seit sie auf
der Station war. Vielleicht sollte Pfleger Hartmut häufiger das Essen vorbeibringen, dachte die Patientin. Julia holte noch zwei weitere Teekannen. Schwester Gabrieles Bedenken waren noch nicht ausgeräumt. »Ich glaube, daß ich morgen Rufbereitschaft habe, Hartmut. Und dann wird mir das wirklich zu stressig. Wenn ich dann arbeiten muß und kaum geschlafen habe…« »Kannst du das nicht eben nachsehen, Gabi? Bitte!« Und er blickte sie treuherzig mit seinen braunen Hundeaugen an. Julia Weidemann konnte schon verstehen, warum die Krankenschwester dahinschmolz. Hartmut war attraktiv und liebenswert. »Also gut, ich schau mal auf den Dienstplan. Hier ist ja alles ruhig.« Ihre Schritte entfernten sich Richtung Schwesternzimmer. Hartmut gähnte. Es standen noch vier kleine und zwei große Teekannen auf seinem Wagen. Wenn sie abgeräumt waren, würde er die Station verlassen. Schwester Gabriele hatte die Tür des Schwesternzimmers aufgelassen. Julia Weidemann konnte sie sehen, wie sie im Licht einer Neonröhre den Dienstplan durchging, der unübersehbar an einer Wand hing. In diesem Moment passierte es. »Saladin, du Schwein!« kreischte Maria. Und pfefferte die Kunststoffteller durch den Speisesaal, als würde sie für die Olympiade trainieren. Der Pfleger erwachte sofort aus seiner passiven Haltung und ging auf sie zu. »Immer mit der Ruhe, Gnädigste!« Doch nun rastete die Patientin wirklich aus. Sie griff sich eine der schweren Teekannen und schlug damit um sich. Hartmut wehrte die Bewegung routiniert ab. Sonja, die sich bisher still wie ein Mäuschen verhalten hatte, begann durchdringend zu kreischen. Die Szene machte ihr offenbar Angst. Schwester Gabriele kam herbeigerannt. Sie glaubte irrtümlich, daß Sonja den Ärger verursacht hatte und stürzte sich auf die zierliche
Person. Darauf wurde das Mädchen noch unberechenbarer und zog mit beiden Händen an den Haaren der Krankenschwester. Sekunden später lagen die beiden auf dem Boden und kämpften im Damenfreistil. Wütend und mit vollem Einsatz. Julia Weidemann versuchte sich inzwischen unsichtbar zu machen. Niemand achtete auf sie. Langsam schlich sie auf die Stationstür zu. Gleich würde mehr Pflegepersonal zur Verstärkung herbeigeeilt kommen. Die Patientin versuchte sich zu erinnern, wie viele Pfleger und Schwestern noch auf Station waren. Drei, vier? Ihr blieben jedenfalls höchstens dreißig Sekunden für ihre Flucht. Allerhöchstens. Noch zehn Schritte bis zur Tür. Hartmut hatte inzwischen Maria überwältigt. Doch dann stolperte er über einen umgefallenen Stuhl. Die Rasende entwand sich seinem Griff und trat nach dem jungen Mann. Noch fünf Schritte. Bisher hatte niemand bemerkt, was Julia Weidemann vorhatte. Die zwei weiteren Mitpatientinnen waren zu fasziniert von dem Kampf, der vor ihren Augen stattfand. Noch ein Schritt. Vorsichtig drehte sich Thorstens Freundin um. Da! Hartmut hatte bemerkt, was sie vorhatte! Doch im selben Moment schlug Maria dem Pfleger die Thermosflasche gegen den Kopf. Er schrie vor Schmerzen auf. Julia nahm mit klopfendem Herzen den Schlüssel in die Hand, der im Schloß steckte. Er klemmte leicht. Sie bekam ihn nicht herumgedreht. Ein Schwächeanfall schien in ihre Beine schießen zu wollen. Laß es doch, sagte eine innere Stimme. Das bringt doch nur Ärger ein. Es wird sich schon herausstellen, daß du gesund bist. Es wird schon alles gut werden! Aber Julia Weidemann glaubte nicht mehr daran. Sie war einer Ohnmacht nahe. Sie ruckelte den Schlüssel etwas im Schloß. Und dann sprang die schwere Tür wirklich auf! Wie ein Schemen huschte das Mädchen auf den Gang hinaus. Kaum war sie der Psychiatrischen Frauenstation entronnen, als ihre Gedanken schon wieder besser zu arbeiten begannen. Die unterschiedlichsten Stationen gab es in dieser Klinik. Von der Unfallchirurgie über die Neurologie bis zur Kinderstation. Sie, Julia
Weidemann, trug Jeans und T-Shirt. Sie war also nicht sofort als psychiatrische Patientin zu erkennen. Wenn sie erst einmal vom Klinikgelände herunter war, hatte sie es geschafft. Sie lief zu den Fahrstühlen hinüber. In letzter Minute entschied sie sich anders und stieß die Tür zum Treppenhaus auf. Ein Lift war wie eine Falle. Es würde nur Minuten dauern, bis ihre Flucht entdeckt würde. Bis dahin mußte sie weg sein, verdammt noch mal! Die junge Frau jagte die Treppen hinunter. Zum Glück hatte sie Tennisschuhe an, in denen sie ziemlich schnell laufen konnte. Wenn ihre Lungen nur nicht so pfeifen würden! In ihrer Jeanstasche befand sich noch eine Packung mit den billigen Zigaretten. Angeekelt warf sie sie weg. Das letzte Andenken an die Psychiatrie. Im Erdgeschoß verließ gerade eine größere Besuchergruppe die Unfallchirurgie. Offenbar war es ein gemischter Kegelclub, der einen Kegelbruder oder eine Kegelschwester besucht hatte, wie Julia den Gesprächen entnahm. Und alle wollten noch zusammen in die Stammkneipe. Es gelang der Blondine, sich unauffällig in den Pulk zu mischen. Unbehelligt gelangte sie im Schutz der zwei Dutzend Körper hinaus. Durch die große Eingangshalle. Bildete sie es sich ein, oder starrten sie wirklich alle an? Und dann fiel es ihr selbst auf. Sie stank entsetzlich nach Zigarettenqualm. Auf dem Parkplatz nahm sie die Beine in die Hand. Sie lief und lief. Runter vom Krankenhausgelände. Es war wie in der Nacht, als sich Thorsten Lambrecht so unheilvoll verwandelt hatte. Doch diesmal war sie nicht ganz so verzweifelt. Denn sie hatte es geschafft! Sie war frei! Die Ernüchterung kam erst später, als sie sich in einer versteckten Ecke der Grünanlage Am Schießwall verschnaufte. Wohin sollte sie nun gehen? Zu ihren Eltern? Dort würden sie die Ärzte aus der Klinik zuerst suchen. Und von Papa und Mama konnte sie in diesem Fall keine Unterstützung erwarten. So bitter das auch war. Sie hatten ihr die ganze Zeit nicht geglaubt, was sie in jener Nacht gesehen hatte. Und sie würden es auch jetzt nicht tun. Nein, von ihrem Elternhaus führte eine Einbahnstraße direkt zurück in die
Psychiatrie! Zu einer Freundin? Dasselbe Problem. Alle Mädchen, die sie kannte, lebten noch bei ihren Eltern. Wie sollte sie sich dort verstecken? Alle Bekannten wußten bestimmt schon, daß sie im »Irrenhaus« gelandet war. Verzagt stützte sie den Kopf in die Hände. Sie hatte nicht eine müde Mark bei sich. Keine Papiere, noch nicht einmal eine jämmerliche Telefonkarte. Nur die Kleider, die sie auf dem Leib trug. Es gab nur eine Möglichkeit. Das wurde Julia Weidemann nun klar. Es gab nur einen Menschen, der ihr helfen konnte.
* Mark Hellmann. Äußerlich lammfromm ließ ich mich abführen. Doch innerlich kochte ich vor Wut. Der Polizist schob mich in den Fonds des Opel Omega und setzte sich neben mich. Sein Kollege startete den Motor. Und dann ging es nach Greifswald. »Was passiert mit meinem BMW?« fragte ich. »Wird abgeholt«, lautete die einsilbige Antwort. Fragt sich nur, von wem, dachte ich. Aber ich biß mir auf die Lippen. Momentan konnte ich nichts tun. War zur Ohnmacht verdammt. Mephisto hätte es nicht besser einfädeln können. Plötzlich kam mir ein schlimmer Verdacht. Was, wenn diese Polizisten gar nicht echt waren? Sondern Schwarzblüter, die mich in eine Falle gelockt hatten? Ich konnte meinen Siegelring nicht sehen. Meine Hände waren ja auf dem Rücken gefesselt. Aber immerhin spürte ich, daß er sich nicht erwärmte. Also kein Hinweis auf dämonische Aktivität. Immerhin.
Es war nicht schwer zu erraten, wohin die Reise ging. Und wirklich. Eine halbe Stunde später stand ich wieder vor dem Schreibtisch von Kommissar Jansson. Der magere Mann sah bleich und übernächtigt aus. In seinen Augen war ein Grauen abzulesen, das ihn von Grund auf erschüttert zu haben schien. »Guten Abend, Herr Jansson. Ein überraschendes Wiedersehen. Dürfte ich auch erfahren, wen ich umgebracht haben soll?« Er war sauer. Zündete sich eine Zigarette der Marke »Club« an. Noch so jemand, der nicht von seinen gewohnten DDRGlimmstengeln lassen konnte. »Sparen Sie sich Ihre blöden Sprüche, Hellmann. Ich habe Sie gebeten, Greifswald nicht zu verlassen. Trotzdem sind Sie geflohen!« »Geflohen? Ich war in Eldena! Und ich dachte, dieser Ort gehört zu Greifswald!« »Stellen Sie sich nicht dumm! Wo waren Sie heute abend zwischen 21 Uhr und 21.30 Uhr?« »In Eldena. Im >Fischerkrug<. Dort habe ich Abendbrot gegessen.« »Wie schön. Dann werden Sie ja sicher Zeugen dafür haben. Am Fangelturm waren Sie nicht zufällig?« »Zeugen gibt es jede Menge, Herr Kommissar. Und vom Fangelturm höre ich zum ersten Mal. Und ich möchte schon wissen, was man mir zur Last legt. Außer, daß ich ein Fremder bin.« Er überhörte meine Ironie. »Vor wenigen Stunden wurden in der Nähe des Fangelturms an der Ryck zwei Menschen ermordet. Bestialisch abgeschlachtet. Es handelte sich um eine gewisse Tatjana Kowalski und um einen Harry Schlüter. Motiv: unbekannt. Ebenso wie bei der Ermordung von Dr. Sandler. Und Sie…« Ich hatte seinen Worten mit wachsender Aufregung zugehört. Mephisto plante wieder einen seiner Vernichtungsfeldzüge gegen mich. Und wie immer war es ihm egal, wie viele unschuldige Menschen dabei auf der Strecke blieben. »Herr Jansson, ich weiß, daß es unglaublich klingt, was ich sage. Aber Sie haben es hier nicht
mit menschlichen Verbrechern zu tun. Die Kräfte, die hier in Greifswald freigesetzt worden sind, stammen aus der Hölle.« Der Polizeikommissar sah mich an, als wäre ich übergeschnappt. Er kämpfte mit sich. Einerseits klang es zu unglaublich, was ich behauptete. Andererseits paßten die drei Morde offenbar in kein kriminologisches Schema, das er kannte. Jansson rauchte schweigend. »Ich habe Hauptkommissar Langenbach in Weimar angerufen«, sagte er schließlich langsam. »Er hat Sie als einen absolut zuverlässigen Mann geschildert. Und er hat mir auch von anderen unheimlichen Fällen erzählt, mit denen Sie zu tun gehabt haben. Er scheint selbst an diese Dinge zu glauben.« »Er glaubt nicht daran, Herr Jansson. Er hat sie gesehen. Bevor das geschah, war er genauso skeptisch wie Sie.« Der Kommissar nickte. »Ich muß umdenken. Wir haben seit 1989 in so vielen Dingen umdenken müssen, da kommt es auf Dämonen und Teufel vielleicht auch nicht mehr an.« Ein dünnes Lächeln erschien auf seinem erschöpften Gesicht. »Überprüfen wir Ihr Alibi.« »Am besten sofort«, sagte ich eifrig. »Ich habe mich lange mit einem alten Mann unterhalten. Er heißt Heinrich Lübsch. Vielleicht sitzt er noch im >Fischerkrug<. Und zischt sich ein Bierchen.« Der Kommissar nahm noch einen zweiten Beamten mit. Wir fuhren in einem zivilen Audi der Greifswalder Kripo nach Eldena. Ich saß auf dem Rücksitz. Die Handschellen hatte ich nach wie vor um meine Gelenke. Jansson war ein vorsichtiger Mann. Die Scheinwerfer erfaßten am Ortseingang diese verdammte Mühle. Sie drehte ihre Flügel in der leichten Nachtbrise. Wollte mir Mephisto wieder einen üblen Streich spielen? »Halt!« rief ich gellend. »Was ist das?« Die beiden Kripomänner waren sofort alarmiert. Aber sie hatten nicht bemerkt, was ich sah. Der Fahrer stoppte den Wagen. »Was haben Sie, Hellmann?« fragte der Kommissar unwirsch. »Da, an der Mühle! Da ist was!«
Ich ahnte es mehr, als daß ich es sah. Es war ja schließlich schon ziemlich dunkel. Und in der Nähe der Bockwindmühle fehlte eine gute Straßenbeleuchtung. »Also gut. Sehen wir mal nach«, entschied Jansson, »Aber wenn das ein Trick ist…« Die beiden Polizisten stiegen aus und nahmen mich in die Mitte. Der Fahrer hatte eine starke Taschenlampe dabei, mit der er uns vorausleuchtete. Wir stiegen den kleinen Hügel zur Mühle hoch. Knarrend drehten sich die Windmühlenflügel. Es war, als wollten sie uns verhöhnen. Diesmal hatte sich der Höllenfürst keine Visionen ausgedacht, um mich zu schocken. Die Realität war viel gruseliger. »Da, Chef!« rief der Kripobeamte Jansson zu. Seine Stimme vibrierte vor Grauen. Und er leuchtete auf den hölzernen Körper der Mühle. Ein Mann war mit langen, rostigen Nägeln an die Bockwindmühle geschlagen worden. Mindestens ein Dutzend ragten aus seinem leblosen Körper heraus. Die Augen waren geöffnet, ebenso der Mund. Ein dicker Nagel war durch seine Kehle getrieben worden. »Mein Gott!« entfuhr es Kommissar Jansson. »Wer ist das?« »Ich kenne ihn«, würgte ich hervor. »Er heißt Heinrich Lübsch.«
* Es wurde eine lange, schlaflose Nacht. Doch am nächsten Morgen um acht Uhr verließ ich als freier Mann das Polizeirevier. Stöhnend massierte ich meine Handgelenke und Unterarme. Es tat gut, die Fesseln nicht mehr zu spüren. Als wir die Leiche von Heinrich Lübsch entdeckt hatten, war ich außer mir vor Zorn über die feige Ermordung des alten Mannes gewesen. Ich schwor Mephisto fürchterliche Rache. Denn es gab für mich keinen Zweifel, wer hinter dieser gräßlichen Tat steckte. Durch Lübschs Tod schien
mein Alibi nun auf tönernen Füßen zu stehen. Das Mißtrauen von Kommissar Jansson war erneut erwacht. Immerhin wurde ich entlastet, was den Doppelmord am Fangelturm anging. Denn unter den Gästen und dem Personal im »Fischerkrug« gab es genügend Zeugen, die sich an mich erinnern konnten. Besonders die Kellnerin, die mir während meines Besuchs in dem Lokal die ganze Zeit schöne Augen gemacht hatte wieder einmal beglückwünschte ich mich dazu, so intensiv auf Frauen zu wirken. Doch den Ausschlag für meine Freilassung ergab die Obduktion der Leichen von Harry Schlüter und Tatjana Kowalski. Kommissar Jansson hatte den Gerichtsmediziner dazu verdonnert, die Nacht durchzuarbeiten. »Ich bin hin- und hergerissen, Herr Kommissar«, hatte der Arzt gesagt und seine Nickelbrille abgenommen. »Wieso?« »Ein Mensch kann den Mann und die Frau nicht getötet haben. Es gibt Spuren von Zähnen und Klauen, die eindeutig auf ein Tier hinweisen. Ein Raubtier.« Er machte eine Pause. »Aber kein Raubtier, von dem ich jemals gehört hätte. Kein Wolf, kein Luchs, kein Bär. Und Tiger und Löwen gibt es bei uns in Vorpommern ja sowieso nicht. Aber selbst deren Gebiß kommt nicht in Frage. Die Todesursache lautet: Gerissen durch unbekanntes Tier.« Und davon war der Mediziner nicht abzubringen gewesen. Ich spürte, wie die ablehnende Haltung von Kommissar Jansson immer mehr bröckelte. Er begann mir zu glauben. Er verstand allmählich, daß hier Kräfte im Spiel waren, von denen er noch nie etwas gehört hatte. »Können Sie etwas tun, Herr Hellmann?« hatte er mich zum Abschied fast unterwürfig gefragt. »Gegen diesen Terror, der Greifswald überzieht?« »Es gibt hier ein Rätsel, Herr Jansson. Wenn ich es gelöst habe, werde ich mich dem Bösen zum Kampf stellen.«
Und nun saß ich in einem Straßencafe am Marktplatz von Greifswald und erholte mich bei einem ausgiebigen Frühstück von den Strapazen der vergangenen Stunden. Hinter den Patrizierhäusern ragte die Silhouette der wuchtigen Marienkirche auf. Nachdenklich betrachtete ich sie, während ich in ein frisches Honigbrötchen biß. Ein großer Kaffee brachte mir meine Lebensgeister zurück. Heute war Freitag. Die Universitätsbibliothek würde gleich aufmachen. Dort konnte ich hoffentlich mehr über die »Teufelsmühle« erfahren. Doch zunächst wollte ich in mein Hotel, eine heiße Dusche nehmen und mich umziehen. Ich bezahlte das Frühstück bei der lächelnden Kellnerin und ging am Rathaus vorbei die Lange Straße hoch. »Den Schlüssel von Zimmer 12, bitte!« Der Portier im »Hotel am Dom« reichte ihn mir. Ich stapfte die Treppe hinauf. Ich war doch müder, als ich mir eingestanden hatte. Aber es war sinnlos, jetzt zu schlafen. Außerdem fühlte ich mich durch die Ereignisse getrieben. Es hing nur von mir und meiner Geschicklichkeit ab, weitere Bluttaten zu verhindern und das dämonische Treiben in der alten Hansestadt zu beenden. Ich dachte mir nichts dabei, daß die Tür zu meinem Zimmer nicht abgeschlossen war. Um diese Zeit waren die Zimmermädchen mit Bettenmachen und Staubsaugen beschäftigt. Doch ich hatte mein Bett nicht benutzt. Weshalb war es denn trotzdem zerwühlt? Hatte jemand mein Zimmer durchsucht? In der Naßzelle ertönte ein Geräusch. Geistesgegenwärtig nahm ich mir einen Stuhl und schwang ihn über meinem Kopf. Bereit, ihn auf jeden Eindringling niedersausen zu lassen. Die Tür öffnete sich. Eine junge Frau mit nassen Haaren kam aus dem Bad. »Julia!« rief ich. Und ließ erleichtert den Stuhl sinken.
* »Ich habe es nicht mehr ausgehalten«, berichtete Julia Weidemann, während sie ein Hörnchen in sich hineinstopfte. - Ich hatte für sie ein Frühstück auf mein Zimmer kommen lassen und hörte mir ihre Abenteuer an, während sie ihren großen Hunger stillte. »… und so konnte ich von der geschlossenen Station entkommen«, beendete sie ihre Erzählung. »Ich bin durch Greifswald gestreift und habe mich versteckt. Gestern abend habe ich begonnen, die Hotels abzuklappern. So viele gibt es ja zum Glück nicht. Und habe nach dem Gast Mark Hellmann gefragt. Und seiner Zimmernummer. Das >Hotel am Dom< stand ganz oben auf meiner Liste. Ich habe mich dann die Treppe hochgeschlichen. Und Ihr Zimmer war zum Glück nicht abgeschlossen. Erst habe ich noch auf Sie gewartet. Aber Sie sind nicht gekommen. Und dann bin ich zu müde geworden.« »Kein Problem«, beruhigte ich sie. »Am besten bleiben Sie hier in meinem Hotelzimmer, bis die ganze Geschichte beendet ist. Und das wird nicht mehr lange dauern. Das habe ich so im Gefühl.« Julia Weidemann lächelte mich dankbar an. »ich hoffe, ich bin Ihnen nicht im Weg.« »Bestimmt nicht, doch ich werde die ganze Zeit zu tun haben«, erwiderte ich.
* »Ein Monster?« fragte der Kofferträger. »Was du nicht sagst…« »Ein richtiges Untier!« betonte der Page. »Mit rollenden Augen. Und es soll Feuer gespien und nach Schwefel gestunken haben.« »Und wo ist das passiert? Am Fangelturm?« »Habe ich wenigstens gehört. Die Polizei schweigt. Dabei gab es zwei Tote. Kam heute morgen im Radio. Aber nichts über den Täter.
Die wissen schon, warum sie nichts erzählen« » Weil sie nicht die geringste Spur haben.« Ich hatte das Gespräch der beiden Hotelangestellten aufgeschnappt, als ich mir an der Rezeption ein paar Informationen über die Greifswalder Universitätsbibliothek besorgt hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Wenn sich die Nachricht von dem Doppelmord und dem dämonischen Täter weiter verbreitete, konnte es zu einer Massenpanik kommen. Und das ging meist ins Auge. Eine halbe Stunde später saß ich im Lesesaal der Ernst-MoritzArndt-Universität über verstaubten Wälzern aus früheren Jahrhunderten. In dieser Abteilung wurden geistliche Schriften ebenso gesammelt wie Märchen und Legenden aus Vorpommern. Wenn ich irgendwo auf eine Spur des »Teufelsbalgs« stoßen konnte, dann hier. Das war klar. Ich hatte mich schon durch einige Kubikmeter alten Papiers gewühlt, als mich plötzlich zwei Hände von hinten packten! Sie hielten mir die Augen zu. Instinktiv wollte ich einen Abwehrstoß ausführen, um den unbekannten Gegner zurückzuschlagen. Da hörte ich eine verführerische Stimme: »Warum so nervös, blonder Jüngling aus Weimar?« Ich atmete erleichtert auf. Denn ich hatte erkannt, wer da sprach. Ich drehte mich um. Karin Hagen stand vor mir. Die Geschichtsstudentin mit dem großen Interesse für Dämonen. Beinahe hätte ich die Tramperin nicht wiedererkannt. Mit dem Schriftzug »Universität Greifswald« auf dem prall gefüllten T-Shirt kam sie mir noch ein paar Jährchen jünger vor. »Wirst du von der Uni-Leitung für Außenwerbung bezahlt?« fragte ich. »Das ist ja ein Blickfang aller ersten Klasse«, sagte ich und gaffte länger hin, als zum Lesen des Schriftzuges notwendig war. Es war aber auch ein fesselnder Anblick! Da lief einem ja das Wasser im Mund zusammen.
Sie kniff das rechte Auge zu. »Ich soll gutaussehende Thüringer in den Norden locken. Aber sag es nicht weiter, sonst werden sie in der Landeshauptstadt noch eifersüchtig.« Ich lachte. »Schön, dich zu sehen, Karin. Du kennst dich nicht zufällig mit Greifswalder Legenden aus?« Sie parkte ihren hübschen Hintern auf dem Stuhl neben mir. »Zufällig doch. Was willst du denn wissen?« »Hast du von der Teufelsmühle gehört?« Ihre Miene verfinsterte sich. »Dieses alte Gebäude am Ortseingang von Eldena? Was ist damit?« »Das frage ich dich, Karin.« »Ich werde nicht gerne daran erinnert«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Von meiner Freundin habe ich dir ja schon erzählt. Sie hat Selbstmord begangen. Bei einer Dämonen-Beschwörung.« Ich ahnte etwas. »Und diese Beschwörung…« »… fand in der Mühle in Eldena statt«, vollendete die Geschichtsstudentin meinen Satz. »Ich habe später alles gelesen, was an Legenden um dieses Bauwerk existiert.« »Erzähl mir davon, Karin.« »Gebaut wurde die Mühle im Jahre 1736. Der Teufel oder ein anderes satanisches Wesen soll in dieser Bockwindmühle eine Frau geschwängert haben, eine Verbrecherin. Sie hat ein Wesen zur Welt gebracht, das eine Art Tierdämon war. Jedenfalls hatte es nichts Menschliches an sich. Diese Bestie versetzte ganz Vorpommern in Angst und Schrecken. Doch dann kam ein Mönch. Er kannte die Geheimnisse der Weißen Magie. Und ihm gelang es, den Dämon zu bannen. Doch du weißt sicher, daß jeder Bannfluch auch wieder gelöst werden kann.« Meine Spannung wuchs von Minute zu Minute. »Ja. Es müssen bestimmte Bedingungen passen.« »Richtig«, sagte die bezaubernde junge Frau. »Bei dem Dämonenbann war es eindeutig. Wenn eines Tages ein Mann eine Jungfrau begehrt, dann…«
»Das kommt aber ziemlich häufig vor«, meinte ich. »Habe ich zumindest gehört.« Karin grinste. »Ich bin ja auch noch nicht fertig, mein superschlauer Mark Hellmann. Also: Dieser Mann muß selbst auf dem bösen Boden der Windmühle gezeugt worden sein. Und er muß die Jungfrau an einem heiligen Ort begehren. Dadurch fallen die Fesseln von der Kreatur. Das Biest wird auf der Stelle freigesetzt, kommt herbei und - o nein!« Von einer Sekunde zur nächsten war Karin Hagen totenbleich. Ich wirbelte herum. Und verstand zunächst ihre Aufregung nicht. Hinter einem der Bücherregale war ein junges Mädchen erschienen. Es sah ganz unauffällig aus. Trug ein Buch unter dem Arm. Wie so viele hier in der Universitätsbibliothek. Mit zitterndem Zeigefinger deutete die Geschichtsstudentin auf die Unbekannte. »Das ist meine Freundin Monika, Mark! Meine tote Freundin! Die sich umgebracht hat!« Zorn flammte in mir auf. »Du irrst dich, Karin!« brüllte ich. »Ich weiß, wer das ist!« Mephisto kann die Gestalt eines jeden Menschen annehmen. Es sah ihm ähnlich, in diesem Körper hier aufzutauchen. Aber wenn er den Kampf wollte, mußte ich mich stellen. Im Regal hinter mir standen zahlreiche Bibelausgaben aus verschiedenen Jahrhunderten. Ich überlegte nicht lange, griff mir ein möglichst schwergewichtiges Exemplar und schleuderte es mit aller Kraft auf den zierlichen Mädchenkörper. Mephisto hatte meine Schnelligkeit unterschätzt. Er konnte nicht mehr ausweichen. Das Buch der Bücher erwischte ihn an der Schulter. Das tote Mädchen schrie auf. Ihr Arm begann zu dampfen, als ob ich Salzsäure auf sie geschüttet hätte. Und genauso mußte das Wort Gottes auf den Herrscher der Hölle wirken. Die Augen der jungen Frau schmolzen. Darunter kam der durch und durch böse Blick Mephistos zum Vorschein. Ich hatte schon die nächste Bibel in der Hand. Warf sie. Diesmal verfehlte ich ihn. Der Mädchenkörper verwandelte sich plötzlich in, eine geleeartige
Masse. Er hatte seine Schuldigkeit getan. Der Mega-Dämon brauchte ihn nicht mehr. Nun präsentierte er sich in seiner furchtbaren Gestalt, wie sie von mittelalterlichen Malern auf die Leinwand gebannt worden ist. Giftnattern wanden sich um sein böses Haupt. Aus dem struppigen schwarzen Bart schlugen rote Flammen. Seine Krallen griffen nach mir. Und als er sein Maul aufriß, ragten gelbe Fangzähne auf wie die Richtschwerter eines erbarmungslosen Henkers. Mephisto stampfte mit seinem Bocksfuß auf. Jemand schrie Durchdringender Schwefelgestank erfüllte den Raum. Wieder hatte ich mir eine Bibel gegriffen. Mit meinen weißmagischen »Wurfgeschossen« konnte ich Mephisto nicht besiegen. Das war klar. Aber es gelang mir wenigstens, ihn mir eine Weile vom Leib zu halten. Um ihn zu vertreiben, würde ich mir etwas Besseres ausdenken müssen. Aber ich durfte ihn auf keinen Fall an mich heranlassen. Als ich diesen Fehler einmal begangen hatte, endete die Episode für mich in der Notaufnahme der Berliner Charite. Ich schleuderte also das Buch der Bücher, und Mephisto sprang zurück. Doch der schweinsledergebundene Foliant erwischte ihn am Knie. Wieder stieg Qualm auf, als ob Säure auf feste Materie getroffen wäre. »Mark Hellmann!« donnerte der Höllenherrscher. »Du bist nur ein Staubkorn unter meinen Füßen!« »Dieses Staubkorn verursacht dir aber Schmerzen, was?« antwortete ich frech. Mephisto kam wieder einen Schritt in meine Richtung. Hinter mir stoben die anderen Besucher der Bibliothek in wilder Panik zu den Ausgängen. Ich konnte sie verstehen. Mephisto war inzwischen mindestens drei Meter groß. Er ragte über mir auf wie ein rotglühendes Höllengebirge. Ich lud mir den Arm voll mit Bibeln. Doch mir war klar, daß ich nur auf Zeit spielen konnte. Der Höllenfürst riß ein schweres Bücherregal aus Eiche um wie ein Kartenhaus. Ich sprang zurück. Wenn ich nicht so
reaktionsschnell gewesen wäre, hätten mich die Bücherberge begraben. Und das wäre mein sicheres Ende gewesen. Die nächste Bibel verfehlte Mephisto. Sie flog zwischen seinen Beinen hindurch. Triumphierend heulte er auf. Nun hatte ich nur noch eine einzige Heilige Schrift zur Verfügung. Mephisto schlug mit seiner Klauenhand nach mir. Ich wich ihm aus. Und dann fiel ich auf die Knie. Der Höllenherrscher röhrte. Er glaubte mich schon besiegt. Doch ich hatte meine Chance erkannt. Meine letzte Chance. In einer dunklen Ecke des Querganges befand sich in einer Mauernische eine Statue der Mutter Gottes. Vor ihr kniete ich. Meine Hände falteten sich zum Gebet. Mephisto tobte. Er stieß unmenschliche Schreie aus. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Qualen der Hölle. Aber ich ließ mich nicht ablenken. Durch das Gebet wurde eine Art weißmagisches Energiefeld zwischen der Marienfigur und mir aufgebaut. Der Höllenfürst sandte mir wieder entsetzliche Visionen. So wie die Bilder, die er vor der Mühle in mein Bewußtsein gebrannt hatte. Aber diesmal waren sie nur blaß. Wie schlecht belichtete Fotos. Ich wußte, daß sie mir nichts anhaben konnten. Nicht, solange ich die Kraft des Gebetes in meiner Seele behielt. Der Schwefelgestank wurde immer stärker. Mephisto war mir nun sehr nahe. Ich konnte ihn nicht sehen, denn ich hielt die Augen fest geschlossen. »Mark!« Der Schrei drang mir durch Mark und Bein. Vor meinem geistigen Auge erschien mein Adoptivvater, Ulrich Hellmann. So wie ich ihn kannte, mit seinem vollen weißen Haar und seinem Schnauzbart. Sehr kräftig für seine fünfundsechzig Jahre, obwohl sein linkes Handgelenk steif war. Er grinste mich teuflisch an. Seine rechte Hand krallte sich um die Kehle meiner Adoptivmutter, Lydia Hellmann. Ich seufzte auf. Die beiden Gestalten waren satanische Gaukelbilder, nichts weiter. Niemals würde Ulrich seine Hand gegen Lydia erheben. Dafür kannte ich die beiden viel zu gut. Für mich
waren sie wie meine richtigen Eltern, die ich ja nie kennengelernt hatte. Ich ließ mich in meinem Vertrauen zu ihrer Liebe nicht erschüttern. Und sofort verschwamm die Horrorvision. Höllische Hitzewellen prallten gegen mich. Doch das Energiefeld des Guten hielt. Mephisto konnte nicht zu mir durchdringen. Dann hörte ich einen ohrenbetäubenden, gotteslästerlichen Fluch. Trotz meiner geschlossenen Augenlider spürte ich einen hellen Schein. Und ich wußte, daß sich Mephisto verabschiedet hatte. Mit einem Kugelblitz. Wie das so seine Art war. »Mark!« Vorsichtig blinzelte ich. Karin Hagen stürzte auf mich zu. Sie hatte sich am anderen Ende des Lesesaals versteckt gehalten. Jetzt schlang sie die Arme um mich. Die Luft wurde rasch besser. Die Schwefelschwaden vergingen. »Mark! Das war entsetzlich!« Sie zitterte am ganzen Leib. Ich streichelte ihren Rücken. »Deine Freundin ist tot und begraben, Karin. Mephisto mag solche üblen Streiche. Von ihm kommt das Böse in der Welt. Und was er gerade gemacht hat, war durch und durch böse.« »Aber du hast gegen ihn gekämpft, Mark. Und gesiegt!« Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Nicht gesiegt. Ich habe ihn nur für den Moment vertrieben. Mehr ist nicht drin.« Ich stand auf und zog sie mit hoch. Vorsichtig näherten sich nun auch die anderen Leser und Angestellten, die zuvor den Saal bevölkert hatten. Sie sahen mich an wie ein Fabelwesen. Die meisten von ihnen mußten beobachtet haben, wie ich mich dem Leibhaftigen in den Weg gestellt hatte. Und ihn verscheuchen konnte. Vorsichtig nahm ich eine der Bibeln in die Hand. »Hilfst du mir, sie ins Regal zurückzustellen, Karin?« Während wir noch mit Aufräumen beschäftigt waren, kam ein älterer Mann mit Halbbrille auf mich zugestürzt. »Ich bin Peter Harm. Der Leiter der Universitätsbibliothek.« »Mark Hellmann.«
Wir schüttelten uns die Hände. »Herr Hellmann, hier müssen sich gerade unglaubliche Dinge abgespielt haben.« »Unglaubliche Dinge, für die es aber jede Menge Augenzeugen gibt.« »Ich weiß, ich weiß«, beschwichtigte Harm. »Einige meiner zuverlässigsten Mitarbeiter haben gesehen, wie Sie gegen eine Art Geist gekämpft haben.« »Dieser Geist nennt sich Mephisto. Über ihn hat schon der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe kluge Dinge geschrieben.« »Hm - wie auch immer. Jedenfalls haben wir es nur Ihnen zu verdanken, daß dieser ungebetene Besucher so schnell wieder verschwunden ist. Verstehen Sie mich recht, Herr Hellmann. Ich möchte Ihnen danken. Es fällt mir schwer, solche Dinge zu glauben. Doch ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.« »Ich akzeptiere das, Herr Harm«, beruhigte ich ihn. »Ich würde es auch nicht glauben, wenn es mir nicht passiert wäre.« Der Bibliotheksdirektor schien ziemlich durcheinander zu sein. Er wackelte mit dem Kopf. »Hm, hm. Sehr gut. Jedenfalls, Herr Hellmann, wenn ich einmal irgend etwas für Sie tun kann, melden Sie sich.« Mit diesen Worten drückte er mir seine Visitenkarte in die Hand. »Ich werde drauf zurückkommen«, versprach ich und schob sie in die linke Vordertasche meiner Jeans. Dann machte ich mich davon, bevor die Polizei auftauchte und ich mich wieder endlosen Verhören unterzog. Ich lief die breite Freitreppe hinunter. Karin Hagen blieb mir dicht auf den Fersen. Sie starrte mich seltsam an. »Du bist ein Profi, stimmt's?« »Was meinst du?« »Ich habe dich durchschaut, Mark Hellmann. Das da eben war nicht dein erster Kampf gegen das Böse. Bist du so eine Art Exorzist?«
Ich lachte. »Ein Exorzist ist ein Priester, der Teufelsaustreibungen macht. Und ein Priester bin ich nicht, wie du siehst. Stell dir einfach vor, daß ich für das Gute kämpfe. Und deshalb gegen dämonische Kräfte aller Art antrete. Dann kommst du der Realität ziemlich nahe.« »Aber warum hast du mir das nicht gesagt?« »Weil mich die meisten Leute für wahnsinnig halten, wenn ich ihnen so etwas erzähle. Aber du bist anders. Du hast durch das schreckliche Schicksal deiner Freundin am eigenen Leib erfahren, daß es solche Mächte gibt.« Ihre Miene verfinsterte sich für einen Moment. Doch dann lächelte sie tapfer. »Es ist gut zu wissen, daß sich andere Kräfte dieser dunklen Brut entgegenstellen. Daß du auf der richtigen Seite stehst, Mark. Und eigentlich gefällt es mir auch, daß du kein Priester bist.« »Wieso?« Sie legte die Arme um meinen Nacken und brachte ihre vollen Lippen in die Nähe meines Mundes. Bevor ich mich versah, spürte ich ihre kleine flinke Zunge zwischen meinen Lippen. Ehrlich gesagt, ich tat nicht viel, um diese Attacke abzuwehren. Ihr geschmeidiger Körper drängte sich voller Wohlbehagen an mich. »Jetzt verstehe ich dich«, sagte ich, als sich unsere Lippen wieder voneinander lösten.
* »Das ist alles, was ich weiß.« Der Lokalreporter zuckte bedauernd mit den Achseln. Er mußte Mitte Zwanzig sein, also etwas jünger als ich. Trotzdem gingen ihm schon die Haare aus, was er mit einer Baseballkappe zu tarnen versuchte. Er gehörte zu den vielen Studenten, die neben ihren Vorlesungen für eine Zeitung schreiben! Und auf die große Karriere in den Medien hofften. Und bei der Hoffnung bleibt es meist. Die
Mehrheit von ihnen muß wohl bis an ihr Lebensende über Schützenfeste, Kaninchenzüchtertreffen und Goldene Hochzeiten berichten. Für fünfzig Pfennig pro Druckzeile, wenn sie Glück haben. Doch dieser Jungjournalist, der sich mir als Thomas Berghoff vorgestellt hatte, war für die Meldung über das Lurchwesen verantwortlich. Der Zeitungsbericht, auf den mich mein Freund Pit Langenbach aufmerksam gemacht hatte. Ich saß Berghoff in einem Eiscafe in der Straße Schuhhagen gegenüber. Ein kleiner Zeilenschinder wie er hatte natürlich keinen eigenen Schreibtisch in der Redaktion. Ich hatte ihn mit einem riesigen Spaghettieis bestochen, damit er mir alles über die Hintergründe seiner Story erzählte. Aber da schien es nichts zu geben. »Fassen wir zusammen«, seufzte ich. »Jemand hat in der Redaktion angerufen und von einem geheimnisvollen Wesen erzählt, das sich am Greifswalder Bodden herumtreibt. Du bist hingefahren und hast danach gesucht. Aber an der genannten Stelle hast du nichts gesehen als einen schwarzen Schatten.« »Das könnte aber auch ein kleiner Algenteppich gewesen sein«, beeilte sich Berghoff zu sagen. »Oder ein Quallenschwarm.« »Warum hast du das nicht genauer gecheckt, Thomas?« Er zuckte mit den Achseln. Ich konnte mir die Antwort selbst zusammenreimen. Einerseits hatte er wohl Angst gehabt, wirklich einer Bestie gegenüberzustehen. Nicht unwahrscheinlich, nach dem, was ich in den letzten Stunden erlebt hatte. Und andererseits lohnte es sich bei dem miserablen Honorar nicht, für eine 30-ZeilenMeldung stundenlang nachzuforschen. Also hatte er einfach das geschrieben, was der anonyme Informant am Telefon behauptet hatte. »Geheimnisvolles Lurchwesen im Greifswalder Bodden gesichtet« war der Artikel überschrieben gewesen. Mehr hatte eigentlich auch nicht dringestanden. »Und wie soll dieses Wesen ausgesehen haben, Thomas?« »Schwarze Haut, schleimig, wie ein Fisch. Also auch schuppig. Mit Schwimmhäuten an Händen und Füßen. Aber schon so groß wie
ein Mensch. Und einer menschlichen Gestalt ähnlich. Aber eben kein Mund.« »Kein Mund?« »Nee, Mark. Augen so insektenhaft. Aber kein Mund, kein Maul, keine Schnauze.« Das paßte genau zu dem, was mir Julia Weidemann gesagt hatte. Dieses Lurchwesen mußte ihr Freund Thorsten Lambrecht sein. Er hatte unter dem Bann des Bösen diesen Körper bekommen. Aber warum? Und dann fiel mir die Prophezeiung wieder ein, von der mir Karin erzählt hatte. Ein Mann mußte eine Jungfrau begehren. Die Jungfrau war offenbar Julia Weidemann. Und dieser Mann Thorsten Lambrecht - mußte auf dem Boden der verfluchten Windmühle gezeugt worden sein. Aber daß er selbst verwandelt wurde, wenn der weißmagische Bannfluch von dem »Teufelsbalg« abfiel, darüber sagte die Legende wohl nichts aus. Oder? Ich bezahlte meinen Cappuccino und Thomas' Eis und verabschiedete mich von dem Zeitungskollegen. Mein nächster Weg würde mich zu den Eltern von Thorsten Lambrecht führen. Ich mußte mir Gewißheit verschaffen, ob ich mit meinen Vermutungen richtig lag. Auf dem Weg zum Parkplatz fielen mir die Gruppen von jungen Männern auf, die in der Fußgängerzone herumstanden und erregt diskutierten. Der Doppelmord an Tatjana Kowalski und Harry Schlüter schien wirklich in aller Munde zu sein. Die Menschen waren wütend und verängstigt. Eine explosive Mischung. Immer wieder schnappte ich Gesprächsfetzen auf. »Totschlagen das Monster«, »Kreatur«, »Teufelsaustreibung«. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Die Leute hatten keine Ahnung, worauf sie sich einließen. Wenn sie wirklich gegen ein von Mephisto gezeugtes Wesen antraten, würde es ein fürchterliches Blutbad geben. Denn gegen eine schwarzmagische Kreatur konnte auch die stärkste Menschenmenge nichts ausrichten. Es gab nur eine Lösung. Ich mußte selbst den »Teufelsbalg« finden und mich zum Kampf stellen, bevor noch mehr Menschen
durch Mephistos Heimtücke zu Schaden kamen. Es dauerte nicht lange, bis ich die Ausfallstraße Güstrower Landstraße hinabgefahren war. Die Adresse von Thorstens Eltern hatte mir Kommissar Jansson verraten. Er bot mir jede mögliche Unterstützung an. Inzwischen hatte er wohl erkannt, daß ich mit meinem Wissen über dämonische Kräfte in der Lage war, etwas zu bewirken. Und den Alptraum von Greifswald möglicherweise zu beenden. Das Haus der Lambrechts lag etwas von der Straße zurück. Ich parkte direkt davor. Das schlichte, aber blitzsaubere Häuschen mit den grünen Fensterläden erinnerte mich an das Heim meiner Eltern in Weimar. Eine ältere Frau riß die Tür auf, kaum daß ich geläutet hatte. Ihr Blick flackerte ängstlich. »Ja, was ist?« fragte sie. »Gibt es etwas Neues von - von meinem Kind?« Ich versuchte, ihr beruhigend zuzulächeln. »Deshalb bin ich hier, Frau Lambrecht. Weil ich Ihrem Sohn helfen will.« »Laß mich mal!« Eine Stimme polterte aus dem Hintergrund. Dann kam ein kräftiger Mann herbeigestapft. Er schien angefüllt von ohnmächtiger Wut. Mit seinem Zeigefinger wies er auf mich wie mit einer Waffe. »So, und nun will ich Ihnen mal etwas sagen! Was ich von diesem Karnevalsverein halte, der sich Polizei nennt!« Ich zuckte mit den Achseln. »Gern, Herr Lambrecht. Aber ich bin nicht von der Polizei. Ich glaube sowieso, daß die Polizei hier nichts machen kann.« Sein Mund stand offen. Als hätte er in ein großes Brötchen beißen wollen, es sich jedoch kurz vorher anders überlegt. Meine Antwort hatte ihn so verblüfft, daß sein Zorn für den Moment verraucht schien. »Wer sind Sie dann? Was wissen Sie von meinem Jungen?« »Wollen Sie mich nicht hereinlassen?« fragte ich zurück. Einen Augenblick später saß ich Thorstens Eltern in ihrer gemütlichen Küche gegenüber. Als ob sie auf mich gewartet hätten,
war die Kaffeemaschine gerade durchgelaufen. Ich bekam eine große Tasse vorgesetzt. »Vielen Dank«, sagte ich. »Mein Name ist Mark Hellmann. Ich komme aus Weimar. Und ich habe mich auf Fälle spezialisiert, die auf den ersten Blick unglaublich erscheinen.« »Aber Sie sind kein Polizist?« »Nein, Herr Lambrecht. Obwohl mich die Polizei häufig um Hilfe bittet. Auch das Verschwinden Ihres Sohnes und einige andere Ereignisse scheint mein Eingreifen zu erfordern.« »Was meinen Sie mit anderen Ereignissen?« brauste Vater Lambrecht nun wieder auf. »Den Doppelmord am Fangelturm und den Mord an der Mühle in Eldena meine ich.« Gisela Lambrecht schlug die Hände vor das Gesicht. Ihre Schultern zuckten. Die Faust von Karl Lambrecht krachte auf die Tischplatte, daß die Becher hüpften. Aber er sah aus, als hätte er sie mir lieber ins Gesicht geschleudert. »Mein Sohn ist kein Mörder, Sie Geisterbändiger!« »Ich weiß«, antwortete ich schlicht. Schweigen lastete in dem Raum, wo es so appetitlich nach Kartoffelpuffern roch. Ich würde hier einen schweren Stand haben. Thorstens Eltern schienen noch überzeugte Kommunisten zu sein. Jedenfalls hatte ich auf dem kurzen Weg von der Tür zur Küche Fotos von Erich Honecker und diverse Parteiabzeichen als Wandschmuck gesehen. Für solche Leute kam alles Böse von der Kapitalistenklasse. »Ich glaube, den Mörder zu kennen«, fuhr ich fort. »Und es ist mit Sicherheit nicht Ihr Sohn.« »Wer dann?« flüsterte Thorstens Mutter. »Ein Tierdämon, ein höllischer Wechselbalg«, sagte ich todernst. Karl Lambrecht lachte höhnisch auf. »Wollen Sie uns für dumm verkaufen? So etwas gibt es doch gar nicht! Solche Ammenmärchen werden doch nur von den Imperialisten in die Welt gesetzt, um von
der Unterdrückung des Volkes abzulenken.« Er steigerte sich in seine Uralt-Parolen hinein. Ich schaltete meine Ohren auf Durchzug. Wie ich es schon zu DDR-Zeiten bei solchen Vorträgen getan hatte. Doch zum Schluß bemerkte er: »Und daß unser Thorsten jetzt so schrecklich aussieht, das liegt nicht an irgendwelchen Dämonen. Dafür ist dieses verfluchte Atomkraftwerk verantwortlich.« »Schrecklich?« hakte ich nach. »Wie sieht er denn aus, Herr Lambrecht?« Der ältere Mann verstummte. Ich sah ihm an, daß er sich am liebsten die Zunge abgebissen hätte. »Ich will es Ihnen sagen, Herr Lambrecht. Thorsten hat eine dunkle, schuppige Haut. Seine Augen sind wie die eines großen Insekts. An Händen und Füßen hat er Schwimmhäute. Und sein Mund ist zugewachsen.« Statt einer Antwort packte mich der Vater über den Tisch hinweg am Kragen. »Was weißt du von unserem Sohn? Rede, oder ich prügele es aus dir raus!« Ich zuckte mit keinem Muskel, sondern sah ihn nur ruhig an. Ich war ihm körperlich weit überlegen. Aber ich wollte keinen Ärger haben. Sondern mehr über das Schicksal des unglücklichen jungen Mannes erfahren. »Könnte ich ein Foto von Thorsten sehen?« bat ich. »Eines, das noch aktuell ist?« »Selbstverständlich.« Frau Lambrecht sprang auf. Offenbar froh, von dem Streit ablenken zu können. »Sie haben Ihren Sohn nach seiner Verwandlung gesehen«, unterstellte ich Karl Lambrecht. Unwillig zwinkerte er mich an. »Na ja, gut. Es stimmt. Er sieht so aus, wie Sie sagen. Aber woher wußten Sie von seinem Aussehen?« »Er ist noch von anderen Menschen bemerkt worden. Und er befindet sich in großer Gefahr, Herr Lambrecht. Ich erwarte nicht, daß Sie von heute auf morgen an Dämonen glauben. Aber ich tue es. Weil ich sie, gesehen habe. Und weil ich weiß, daß sie Ihren Sohn
bedrohen. Deshalb will ich alles tun, um ihm zu helfen.« »Sie?« Ich sah ihm an, daß er mich wieder verhöhnen wollte. Doch ich blickte ihm ernst in die Augen. Nach einer Weile konnte er meinem Blick nicht mehr standhalten. Sein Weltbild schien wirklich ins Wanken zu geraten. Im Grunde tat er mir leid. In diesem Moment kehrte die Frau mit dem Foto zurück. Es zeigte einen muskulösen jungen Mann am Strand. Im Hintergrund die typische Bäderpromenade von Kühlungsborn. Ich prägte mir sein Gesicht genau ein. »Kann man ihn noch erkennen, Herr Lambrecht?« Der Vater nickte langsam. »Diese verfluchten Insektenaugen. Aber es ist immer noch unser Junge.« Er machte ein Gesicht, als müsse er gleich weinen. »Es gibt einen Ort, der für die Verwandlung von Thorsten verantwortlich ist«, erzählte ich. »Jedenfalls glaube ich das. Dieser Ort ist die alte Bockwindmühle am Ortseingang von Eldena. Thorsten muß unwissentlich einen Bann gebrochen haben. Und dadurch hat das Unglück seinen Lauf genommen.« »Was für einen Bann?« »In dieser Mühle hat Mephisto mit einer Verbrecherin ein Wesen gezeugt, Herr Lambrecht. Ein böses Wesen. Ein Mönch hat es mit einem weißmagischen Bann belegt, der nur gebrochen werden konnte, wenn ein Mann, der selbst in der Mühle gezeugt wurde, eine Jungfrau begehrt.« Gisela Lambrecht errötete. »Sie meinen…?« »Ich meine, daß Thorsten dieser Mann ist, Frau Lambrecht.« »Es stimmt«, flüsterte sie. »Es könnte damals passiert sein. Weißt du noch, Karl? Die alte Mühle? Wir waren so verliebt. Und wir hätten nie gedacht, daß dort das Unglück…« Sie begann wieder zu weinen. Ihr Mann nahm ihre Hände. Ich, hatte genug gehört und stand auf. »Vielen Dank für den Kaffee«, sagte ich. »Und vor allem für Ihre
Ehrlichkeit. Ich weiß jetzt, wie ich das unselige Band zwischen Ihrem Thorsten und der dämonischen Kreatur durchschneiden kann.« »Und wie?« wollte Thorstens Vater wissen. »Indem ich den Sohn Mephistos vernichte.«
* »Tötet ihn!« Wie ein Schlachtruf gellte der Schrei über die Straße. Ich stand mit meinem BMW gerade vor einer roten Ampel am Hansering, als ich ihn sah. Thorsten Lambrecht. Er mußte es sein! Es war kein Zweifel möglich. Er sah genauso aus, wie Thomas Berghoff und Karl Lambrecht ihn beschrieben hatten. Eine Art Lurch in Menschengestalt. Mit schwarzen Insektenaugen. Er war klatschnaß. Offenbar war er gerade aus dem Wasser gestiegen. Vermutlich aus der Ryck. Verzweifelt lief er über die Straße. Gefolgt von einem Lynchmob. Sie warfen Steine nach ihm. Bisher schien ihn noch keiner getroffen zu haben. »Verdammt!« sagte ich zu mir selbst. Die Autofahrer vor mir hupten. Ob verängstigt oder wütend, wüßte ich nicht. Es war mir auch egal. Die jungen Männer kamen näher. Viele von ihnen hatten Knüppel oder Steine in den Händen. Es mußten mindestens zwei Dutzend sein. Sie würden Thorsten totschlagen, wenn sie ihn in die Finger bekamen. Obwohl manche von ihnen vielleicht sogar mit ihm zur Schule gegangen waren. Aber in diesem Moment waren sie blind vor Haß, und sie erkannten ihn nicht. Aber soweit würde ich es nicht kommen lassen. Blitzschnell löste ich den Sicherheitsgurt und öffnete den Wagenschlag. Mit ein paar Sprüngen war ich zwischen der Meute und dem Flüchtenden. Gerade noch rechtzeitig. Denn Thorsten war gestolpert und hingefallen. Er wollte sich wieder aufrichten. Da traf ihn ein Stein zwischen den
Schulterblättern. Ein Triumphgeheul erklang. Es war keine Zeit für Erklärungen. Ich mußte handeln, wenn ich sein Leben retten wollte. Den vordersten Verfolger rannte ich einfach um. Er ging zu Boden. »Stop!« brüllte ich. »Wer ihn anfaßt, kriegt es mit mir zu tun!« Wie ich erwartet hatte, ließen sie sich davon nicht beeindrucken. Sie glaubten in Thorsten den dämonischen Mörder gefunden zu haben, der Greifswald terrorisierte. Aber ich hatte sie gewarnt. Was nun passierte, hatten sie sich selbst zuzuschreiben. Der nächste Gegner wollte mir mit einem Baseballschläger den Scheitel nachziehen. Ich unterlief ihn, hebelte ihn aus. Und wie ein Wrestler im Ring packte ich den Überraschten und ließ seinen Körper in die Masse seiner Kumpane krachen, die ebenfalls nachdrängten. Immer noch glaubten sie, leichtes Spiel mit mir zu haben. Mit einem einzelnen Mann. Doch in Wirklichkeit sind drei oder vier eingespielte Gegner viel gefährlicher als zwanzig Mann, die sich gegenseitig im Weg stehen. Ich besann mich auf meine asiatischen Kampfsportkünste. Da kam mir der Baseballschläger am Boden gerade recht. Ich hob ihn auf. Keine Sekunde zu früh. Ein paar Tage hatte ich mal chinesisches Stockfechten trainiert. Das kam mir jetzt zugute. Ein Knüppel sauste auf meinen Kopf los. Doch ich parierte mit dem Baseballschläger. Eine Drehung, die ich häufig geübt hatte, gelang mir in diesem Moment fast perfekt. Der Holzstab flog in weitem Bogen weg. Ich grinste. Schade, daß mich mein alter Trainer jetzt nicht sehen konnte. Er hatte mich nämlich für einen aussichtslosen Fall gehalten. Nun wollten gleich drei Mann mit Schlagstöcken auf mich los. Ich verpaßte dem in der Mitte einen Tritt in den Bauch. Dadurch zerbrach die Phalanx. Ich stürzte mich zwischen sie und ließ meine Waffe wirbeln. Mit Erfolg.
Mit einem kurzen Seitenblick checkte ich, was Thorsten machte. Nichts. Er lag völlig verängstigt auf dem Straßenpflaster und hatte die Hände - oder sollte man Pfoten sagen? - schützend über seinen kahlen Schädel gelegt. Dann mußte ich mich wieder auf den Kampf konzentrieren. Mein Baseballschläger zerbrach unter der stürmischen Attacke eines ZweiMeter-Mannes. Seine Kumpane johlten. Bevor sie sich zu sehr begeistern konnten, machte ich eine Drehung. Und schickte den Angreifer mit einem High-Kick Parterre. »Was ist das für ein Spinner?« rief jemand. Aber inzwischen hatte ich der Bande Respekt beigebracht. Mit leeren Händen stand ich ihnen gegenüber. Aber inzwischen hielten sie Abstand. Mehr als drei Minuten konnten nicht vergangen sein, seit ich an der Ampel zum ersten Mal Thorsten Lambrecht mit eigenen Augen gesehen hatte. Ich handelte ganz aus dem Bauch heraus. Es würde vielleicht keine Sekunde dauern, bis sie sich wieder auf mich stürzten. Ich ging einen Schritt zurück und packte die Kreatur auf dem Boden an der Schulter. »Ich heiße Mark!« rief ich ihm zu. »Ich will dir helfen! Komm mit mir!« Die schwarzen Insektenaugen starrten mich an. Und dann stand das Wesen wirklich auf. Ich nahm es am Arm und zog es in die Richtung, wo mein BMW stehen mußte. Die Autofahrer umrundeten inzwischen unter Protesthupen meinen Wagen, der immer noch vor der Ampel >wartete<. Und die war inzwischen grün. Doch viele von ihnen behinderten selbst den Verkehrsfluß, weil sie sich in Gaffer verwandelt hatten. Thorsten und ich legten einige Schritte zurück. Dann kam wieder Bewegung in den Lynchmob. Ich hörte sie hinter uns. Und dann spürte ich es schmerzhaft. Ein Stein flog. Diesmal traf er mich. Direkt hinter dem Ohr. Für einen Moment sah ich Sterne und ging zu Boden. Die Menge heulte begeistert auf. Thorsten stand unschlüssig da. Wußte nicht, was er tun sollte. Diesmal würden sie nicht nur ihn totschlagen wollen. Sondern auch mich. Um die Schmach von sich
abzuwaschen, nicht mit einem einzigen Mann fertiggeworden zu sein. Sie rannten auf uns zu und schwangen ihre Knüppel. »Tötet sie!« Die jungen Männer umringten uns. Ein Entkommen schien unmöglich. Thorsten Lambrecht zitterte vor Angst. Ich war noch wie benommen von dem Steinwurf. Aber jetzt hing alles von mir ab. Mit diesem Gedanken griff ich nach meiner »SIG Sauer«. Die Meute verharrte wie vom Blitz getroffen, als ich einen Warnschuß in die Luft abgab. »Keinen Schritt weiter! Wer uns angreift, fängt sich eine Kugel! Ich meine es ernst!« Den letzten Satz hätte ich mir sparen können. Daß ich mich nicht zum Spaß mit einer erdrückenden Übermacht angelegt hatte, konnten sie sich denken. Ich hielt die Pistole vor meinen Körper und richtete mich wieder auf. In den Augen der Angreifer las ich neben Haß auch Angst. Keiner wollte sich als erster auf mich stürzen. Keiner wollte sich eine Kugel einfangen. »Bleib dicht bei mir!« sagte ich zu Thorsten. Und dann gingen wir zu meinem BMW. Ich lief rückwärts, um unsere Angreifer im Auge zu behalten. Aber sie waren wie gelähmt beim Anblick der Waffe. Ich öffnete für Thorsten die Beifahrertür. Er kroch in den Wagen. Wie man so etwas machte, hatte er anscheinend noch nicht verlernt. Wie stark waren seine Erinnerungen an sein Leben als Mensch? Ich würde es später herausfinden. Wenn ich uns in Sicherheit gebracht hatte. Nun ließ ich mich hinter das Lenkrad fallen, drehte den Zündschlüssel und legte einen Kavalierstart hin. Nun kam wieder Bewegung in die Menge. Ein Steinhagel folgte meinem BMW, den ich nun in Richtung Polizeiwache knüppelte. Einer der Steine krachte mit einem dumpfen Dröhnen auf meinen Kofferraumdeckel. Das konnte ich noch verschmerzen.
* Kommissar Jansson fiel die Zigarette aus dem Mund, als ich den immer noch vor Angst zitternden Thorsten vor den Schreibtisch des Polizeibeamten führte. Und auch die uniformierten Kollegen schienen zu glauben, in die Dreharbeiten eines Horrorfilms geraten zu sein. Doch das hier war die harte Wirklichkeit. »Was ist das denn, Herr Hellmann?« schaffte Jansson schließlich zu fragen. Und aufgeregt zündete er sich eine neue »Club« an. »Das ist Thorsten Lambrecht. Die vermißte Person, die in der Klosterruine von Eldena spurlos verschwunden ist.« »Wollen Sie mich verkackeiern?« »Sie haben doch bestimmt ein Foto des Vermißten, Herr Kommissar: Lassen Sie es holen!« Das tat er. Als es ihm gebracht wurde, verglich er sorgfältig die Gesichtszüge von dem Bild mit denen des Wesens. Schließlich lehnte er sich in seinem Bürosessel zurück. »Ich verstehe zwar die Welt nicht mehr, Herr Hellmann. Aber eine gewisse Ähnlichkeit ist wirklich vorhanden.« Der verwandelte Thorsten Lambrecht rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Obwohl er der unmittelbaren Todesgefahr entronnen war, schien er immer noch hochgradig erregt zu sein. Das konnte ich gut verstehen. Bevor es jemand verhindern konnte, hatte er nach dem Foto gegriffen, das der Kommissar in den Händen hielt. »Was zum Henker…?!« begann Jansson zu fluchen. Aber dann hielt er inne. Denn er sah dasselbe, was auch ich sah. Das Wesen betrachtete das Foto, auf dem sein früherer Körper zu sehen war. Und dann kullerten aus den schwarzen Insektenaugen dicke Tränen. »Können wir mit ihm Kontakt aufnehmen?« fragte der Kommissar nach einer peinlichen Pause. »Kann er uns verstehen, Herr Hellmann?«
»Ich glaube schon. Wie Sie sehen, hat es keinen Mund. Aber versuchen wir es doch mal mit Papier und Bleistift.« Der Polizeibeamte holte das Gewünschte aus seiner Schreibtischschublade. Die Kreatur schien zu begreifen, was wir vorhatten. Jedenfalls nahm sie den Schreibblock und schaffte es sogar, mit ihren plumpen Pfoten den Stift irgendwie zu halten. »Ganz langsam, Thorsten«, sagte ich beruhigend zu ihm. »Schreib auf, was seit jener Nacht in der Klosterruine passiert ist. Was du empfunden hast. Laß dir Zeit. Verstehst du, was ich sage?« Das Wesen neigte seinen Lurchschädel. Es sah wirklich zum Fürchten aus. Dabei war es ganz harmlos. Der verwandelte Thorsten setzte den Stift oben auf dem Blatt Papier an. Wollte losschreiben. Da passierte es. Der Bleistift ging in Flammen auf! Schlagartig erwärmte sich mein Ring. Ich wollte schon eine Beschwörungsformel sprechen, um Mephisto zu bannen. Doch da war der Spuk wieder vorbei. Zum zweiten Mal innerhalb einer Viertelstunde fiel Kommissar Jansson aus allen Wolken: »Was war das?« »Ein Intermezzo unseres ungebetenen Gastes aus der Hölle, vermute ich. Er wird verhindern wollen, daß Thorsten uns mitteilt, was er erlebt hat« Das Wesen hielt sich die Pfote. Es mußte sich verbrannt haben, als der Stift ein Raub der Flammen wurde. Ich bat den Kommissar, sich um eine Brandsalbe zu kümmern. Doch bevor er noch zum Telefon greifen konnte, stürzte ein uniformierter Beamter herein. »Herr Kommissar! Eine Menschenmenge rottet sich vor der Wache zusammen! Sie fordern, das Wesen herauszugeben! Sonst wollen sie das Revier anzünden!« Wir eilten in den vorderen Teil der Polizeiwache und spähten durch das Fenster. Ich erkannte in den Lynchmob draußen einige Gesichter von der Schlägerei wieder. Aber sie mußten inzwischen Verstärkung bekommen haben. Jedenfalls waren es jetzt über hundert Mann, die draußen standen und drohend mit Knüppeln und
Eisenstangen herumfuchtelten. »Ich fordere Bereitschaftspolizei an!« knirschte Kommissar Jansson. »Die sind in einer halben Stunde hier. Bis dahin können wir sie mit Tränengas in Schach halten.« »Tun Sie das«, erwiderte ich. »Aber vielleicht kann ich sie ja auch so zur Vernunft bringen.« Und bevor einer der Polizisten mich daran hindern konnte, hatte ich den Haupteingang erreicht und war vor die Tür getreten. Allein. Schlagartig wurde es still. »Das ist er!« rief einer der Belagerer. »Das ist das Schwein, das dem Monster geholfen hat!« »Richtig«, erwiderte ich. Mit den Händen in den Taschen ging ich auf die Menge zu. Ich durfte keine Furcht zeigen. »Weil dieses Wesen da drinnen nämlich die Menschen am Fangelturm nicht zerfleischt hat!« »Nicht zerfleischt?« brüllte ein besonders Aufgebrachter. »Die sollen förmlich zerfetzt worden sein! Mit Reißzähnen und Krallen!« Zustimmendes Gemurmel erklang. »Richtig!« bestätigte ich. »Das habe ich auch gehört. Obwohl ich die Leichen nicht gesehen habe. Genausowenig wie ihr, übrigens. Aber ich habe das Wesen gesehen. Und einige von euch auch, oder?« Die jungen Männer nickten grimmig. Es waren jene, mit denen ich gekämpft hatte. Sie standen ganz vorne. Aber sie griffen mich nicht an. Vielleicht, weil sie sich noch an meine Pistole erinnerten. Nun nahm ich die Hände aus meinen Taschen und stemmte sie in die Hüften. Und brüllte die Menge an: »Das Wesen hat keinen Mund! Kein Maul! Keine Schnauze! Und an seinen Pfoten sind keine Krallen! Das habt ihr selbst gesehen! Könnt ihr mir verraten, wie so ein Wesen zwei Menschen abschlachten soll?« Wieder herrschte Totenstille. Dann schlurften einige der Männer weg. Andere folgten ihnen. Nach fünf Minuten hatte sich die Menge zerstreut. Möglich, daß sich einige von ihnen sogar schämten.
* Karin Hagen lebte in einem Studentenwohnheim. Es befand sich mitten im »Rekonstruktionsviertel« von Greifswald, zwischen der Friedrich-Loeffler-Straße und der Ryck. Die Plattenbauten wirkten durch die Nähe des Flusses und der Grünanlagen nicht ganz so trist wie anderswo. Ich klopfte an ihrer Tür. Eigentlich wollte ich mit der Geschichtsstudentin und Dämonenexpertin meine weiteren Pläne im Kampf gegen Mephistos Sohn besprechen. Aber wenn man sie sah, vergaß man schon mal was. »Mark!« jauchzte sie in den höchsten Tönen und umarmte mich. »Ganz schön stürmisch!« hauchte ich, hielt aber still. »Ich pauke gerade Latein!« verkündete sie, während sie an meinem Hemd zerrte. »Weißt du, was >Carpe diem!< heißt.« »Nutze den Tag«, erinnerte ich mich. »Sehr gut, Mark Hellmann! Eins! Setzen!« »Wenn ich nur wüßte, wie ich ihn besiegen soll!« stieß ich hervor. Karin wußte, wen ich meinte. »Diesen Teufelsbalg?« Ich nickte. »Ich brauche eine wirklich mächtige Waffe, Karin. Wenn ich an das grauenhafte Ende von Tatjana Kowalski und Harry Schlüter denke… Dieses Monstrum ist nicht nur einfach stark. Seine Macht ist dämonisch. Dem muß ich etwas entgegensetzen können. Da werden mir Pistolenkugeln wenig helfen.« Die Geschichtsstudentin legte nachdenklich einen Finger an ihre vollen, sinnlichen Lippen. »Du mußt also eine geballte Kraft des Guten haben, mit der du die Kreatur besiegen kannst.« »Genau. Ich habe schon an Weihwasser gedacht. Darauf reagieren Schwarzblüter ziemlich allergisch. Aber ob das gegen ein Wesen reichen wird, das von Mephisto höchstpersönlich gezeugt wurde?« »Das allein vielleicht nicht. Aber wie wäre es, wenn du das
Weihwasser in den Lutherbecher füllst?« »Lutherbecher?« »Das ist ein vergoldeter Pokal, den die Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald besitzt. Er stammt aus dem Nachlaß des 1712 verstorbenen Generalsuperintendenten Johann Friedrich Mayer, falls dich das interessiert. Der Legende nach war der Pokal ursprünglich ein Geschenk der Wittenberger Universität an Martin Luther.« Ich pfiff anerkennend durch die Zähne. »Ich verstehe. Du meinst, ein Gegenstand aus dem Besitz eines so wichtigen und mächtigen Kirchenmannes.« »Einen Versuch wäre es wert, Mark. Aber der Lutherbecher ist eine Kostbarkeit. Ich glaube nicht, daß du ihn so einfach ausleihen kannst.« »So einfach wohl nicht, aber ich habe da schon eine Idee.«
* Es war schon dunkel, als ich zu meinem Hotel zurückkehrte. Auf den BMW hatte ich bei meinem Besuch bei Karin Hagen verzichtet. In der Innenstadt von Greifswald kommt man besser zu Fuß zurecht. Bis man einen Parkplatz gefunden hat, hat man sein Ziel auf Schusters Rappen längst erreicht. Ich bog von der Friedrich-Loeffler-Straße in die Fischstraße, als ich das Gefühl bekam, verfolgt zu werden. Schritte ertönten hinter mir. Waren das vielleicht noch ein paar dieser rachsüchtigen Jugendlichen vom Nachmittag, die eine Revanche haben wollten? Abrupt drehte ich mich um. Doch in der schmalen Straße mit den restaurierten Wohnhäusern war nichts zu sehen. Einer der wenigen Wartburgs fuhr langsam vorbei. Eine dicke Frau saß am Steuer. Sie würdigte mich keines Blickes. Mein Ring zeigte keine dämonische Aktivität an. Das müssen die Nerven sein, dachte ich. Doch während ich weiter
in Richtung Fußgängerzone steuerte, blieb ich wachsam. Da! Wieder ertönten die Schritte. Leicht zwar, aber unüberhörbar für jemanden, der aufmerksam ist. Und das war ich in diesem Moment. Fast unmerklich wurde ich schneller. Auch mein Verfolger paßte sich meinem Tempo an. Wieder wandte ich den Kopf über die Schulter. War da ein Schatten, der in einen Hauseingang glitt? Meine Hand tastete nach der »SIG Sauer«, die ich im Gürtelhalfter trug. Wenn ein nichtdämonischer Helfershelfer von Mephisto hinter mir her war, würde ich mich damit zu wehren wissen. Da trat vor mir eine riesenhaft erscheinende Gestalt aus dem Schatten einer Ulme. Ich fixierte sie mit meinem Blick. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Im nächsten Moment sprang mich jemand von hinten an! Ich keuchte überrascht auf, wollte einen Judowurf anbringen. Doch dann ließ ich es sein. Das Parfüm verriet mir, wer da an meinem Hals hing. Es war niemand anderes als meine Freundin Tessa Hayden. »Überraschung!« trompetete sie in mein linkes Ohr. Ich legte die Hände um ihre Hüften und schwang sie einmal um mich herum. Der große Schatten löste sich von der Ulme und kam langsam auf uns zu. Nun erkannte ich auch ihn. Es war mein Freund Pit Langenbach. Ich muß wohl ziemlich einfältig aus der Wäsche geguckt haben. Jedenfalls lachten Tessa und Pit wie im Chor und zeigten mit den Fingern auf mich. »Frag jetzt nicht, was wir hier machen«, keuchte Tessa, nachdem ich sie wieder auf dem Boden abgesetzt hatte. »Wir haben uns nämlich auf der ganzen Fahrt hierher ausgemalt, wie du reagieren würdest. Und wenn du diesen Satz sagst, gewinne ich eine Wette.« »Die Erklärung ist ganz einfach«, brummte Pit, während er sich genüßlich ein Zigarillo ansteckte. »Als schwer arbeitende Polizeibeamte schieben wir beide einen Überstundenberg vor uns
her. Und dieses freie Wochenende mußten wir nehmen, damit es nicht verfällt. Also haben wir es der Gewerkschaft zuliebe getan. Obwohl wir viel lieber Dienst geschoben hätten.« »Ich wollte mal sehen, was du hier so treibst«, ergänzte Tessa. »Und Pit ist momentan Strohwitwer. Susanne ist auf einem Klassentreffen ihrer ehemaligen Schule. Und hat die Kleine mitgenommen. Und da dein lieber Freund solche Gesellschaften langweilig findet, habe ich ihn zu einem Kurztrip an die Ostsee überredet. Den lieben Mark Hellmann besuchen. Vor einer Stunde sind wir in Greifswald angekommen. Wir waren gerade dabei, die Stadt zu durchstreifen. Da sahen wir dich die Straße herunterkommen. Und konnten uns nicht beherrschen, dich ein bißchen zu ärgern.« »Das schöne Sommerwetter hat unsere Entscheidung für den Kurztrip natürlich erleichtert«, sagte Pit. Doch dann wurde er wieder ernst. »Hast du schon was rausgefunden über diesen vermißten Jungen?« »Er ist wieder aufgetaucht«, berichtete ich. »Aber er hat sich ziemlich verändert.« In einer Hausbrauerei am Marktplatz von Greifswald fanden wir noch einen kleinen Tisch in einer abgelegenen Ecke. Bei einem Pils berichtete ich meinen Freunden ausführlich von den Abenteuern der letzten Tage. Auf Karin Hagen ging ich dabei aus verständlichen Gründen nicht näher ein. »Dann sind wir ja sozusagen wie aufs Stichwort erschienen«, meinte Pit und nahm einen großen Schluck von dem kalten Bier. Den Schaum wischte er sich mit einer Stoffserviette aus seinem imposanten Schnurrbart. »Beim Kampf gegen dieses Teufelsbalg wirst du jede Unterstützung benötigen, die du bekommen kannst.« »Es ist wirklich gut, daß ihr da seid«, sage ich. »Vielleicht können wir es folgendermaßen machen…« Und wir steckten die Köpfe zusammen wie ein American FootballTeam.
* »Wer ist das?« Ich zog den Kopf ein, um den Wurfgeschossen zu entkommen, zu denen Tessa die Einrichtungsgegenstände meines Hotelzimmers umfunktionierte. Erwartungsgemäß reagierte sie ziemlich sauer auf den Anblick von Julia Weidemann, die in meinem Hotelbett friedlich schlummerte. In der Aufregung der letzten Stunden hatte ich ganz vergessen, daß sie sich ja immer noch in meinem Zimmer versteckt hielt. »Das ist die Freundin eines Jungen, der sich in eine Art Lurchmenschen verwandelt hat«, erklärte ich, während ich Tessas Handgelenke festhielt. »Sie war in der Psychiatrie, weil sie unter Mordverdacht stand. Von dort ist sie aber entkommen. Und weil ich absolut von ihrer Unschuld überzeugt bin, habe ich ihr Unterschlupf gewährt.« »Das ist die dämlichste Ausrede, die ich jemals gehört habe, du du…« Und wieder ließ ein neuer Wutanfall ihr hübsches Gesicht rot anlaufen. Inzwischen war Julia Weidemann von dem Lärm aufgewacht. Sie bestätigte Tessa alles, was ich gesagt hatte. Und weil das Mädchen so ernsthaft und glaubwürdig auftrat, glaubte mir meine Freundin die Story, die ich vom Stapel gelassen hatte. Tessa entschuldigte sich sogar bei mir. Was mir nun wiederum peinlich war. Das Leben ist schon kompliziert, philosophierte ich. Und dann machte ich es mir zum Schlafen in einem Sessel bequem. Die beiden Frauen teilten sich das Bett. Am nächsten Morgen fühlte ich mich, als hätte ich den Kampf gegen die Bestie schon hinter mir. Jedenfalls taten mir alle Knochen
weh. Aber eine heiße und kalte Dusche, dreißig Liegestütze und ein ausgiebiges Frühstück brachten die Lebensgeister schnell wieder in Schwung. Der Tag der Entscheidung war da.
* »Das ist völlig unmöglich, Herr Hellmann!« Obwohl es Samstagmorgen war, hatte ich Peter Harm in seinem Büro erwischt. Der Leiter der Universitätsbibliothek von Greifswald wollte wohl noch einiges aufarbeiten. Und hätte es sich wohl nicht träumen lassen, daß ein Fremder aus Weimar bei ihm vorbeischauen würde, der den Lutherbecher für einen Kampf gegen Dämonen ausleihen wollte! Ich schaute ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich weiß, was ich Ihnen versprochen habe«, wand er sich. »Aber verstehen Sie doch, der Pokal ist ein unersetzbares Einzelstück. Wenn er beschädigt würde, wäre ich meinen Job los. Und damit wäre das noch nicht erledigt.« »Mit Sicherheit«, warf ich ein. Er starrte mich ungläubig an, als hielte er mich für einen Wahnsinnigen. Wahrscheinlich tat er das sogar. Ich stand auf und kehrte meine Handflächen nach außen. »So muß ich heute gegen das Böse antreten, Herr Harm. Mit leeren Händen. Sie werden von den Morden gehört haben. Vier Menschenleben sind der dunklen Macht in Greifswald bereits zum Opfer gefallen. Dieses Monstrum hat übermenschliche Kräfte. Niemand kann es mit normalen Mitteln stoppen. Ich werde versuchen, es zu vernichten. Der Lutherbecher soll dabei meine Waffe sein. Vielleicht wird er wirklich dadurch zerstört. Aber es können Menschenleben gerettet werden!« Der Leiter der Bibliothek senkte den Kopf. Er schien mit sich
selbst zu ringen. Dann holte er einen schweren Schlüsselbund aus seiner Schublade. »Also gut, Herr Hellmann. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Vielleicht, weil ich nie in meinem Leben etwas gewagt habe. Und weil ich Ihren Mut bewundere. Man wird mir die Hölle heißmachen für das, was ich nun tun werde. Kommen Sie mit!« Und er führte mich durch einen stillen Gang unter griechischen Säulen hinweg in einen Nebenflügel des Gebäudes. Es war wie eine Reise durch die Zeit. Wir befanden uns immerhin in der Zweitältesten Universität Norddeutschlands. In einer Glasvitrine stand der Lutherbecher, dezent beleuchtet. Wie ein Dieb blickte sich Peter Harm scheu um. Aber an diesem frühen Samstagmorgen waren wir die einzigen Menschen weit und breit. Mit zitternden Händen schloß er die Vitrine auf und übergab mir den Pokal. Er hielt ihn so vorsichtig wie ein neugeborenes Baby. Ich bedankte mich höflich, schlug den Lutherbecher in ein weiches Tuch ein und verstaute ihn in meinem kleinen Rucksack. Der Bibliothekschef sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. Ich ließ ihn mit seinen Schuldgefühlen allein.
* Der Sonnenuntergang, tauchte die Bockwindmühle von Eldena in blutrotes Licht. Der Wind strich durch die Bäume. Es wurde merklich kühler. Breitbeinig stand ich etwa dreißig Schritte vor der Mühle. Und bereitete mich auf das vor, was kommen würde. Mein Siegelring vermeldete dämonische Aktivität. Mein Feind saß dort in dem Gebäude aus dem Jahre 1736. Daran gab es für mich keinen Zweifel. Wenn ich ihn besiegen konnte, würde auch dieser böse Ort wieder zu einer ganz normalen Mühle werden. Und Thorsten Lambrecht konnte seine alte Gestalt zurückbekommen. Hoffentlich. Der Lutherbecher war bis zum Rand mit Weihwasser gefüllt. Ich
glaubte, die Kraft zu spüren, die von dem Gefäß ausging. Es war ein gutes Gefühl. Langsam schritt ich auf die Bockwindmühle zu. Vorsichtig, um keinen Tropfen zu verschütten. Ich würde alles Weihwasser bitter nötig haben. Wieder vibrierte das Bild der Mühle vor meinen Augen. Wie bei meiner ersten Annäherung. Aber diesmal war ich besser vorbereitet. Und ich hatte Freunde, die in der Nähe lauerten. Und jede meiner Bewegungen genau beobachteten. Ich legte noch eine kleine Strecke zurück. Der höllische Wind blies mir entgegen. Ich murmelte Beschwörungsformeln, um das Böse zu bannen. Und den schweren Kelch hielt ich mit beiden Händen vor mir ausgestreckt. Ich spürte, wie eine Art Schneise in die Kräfte geschlagen wurde, die mir entgegenströmten. »Zeige dich!« rief ich meinem Feind entgegen. »Stell dich zum Kampf! Komm zu mir, Mephistos Bastard!« Das letzte Wort hatte ich wie einen Fluch ausgespien. Ich wußte nicht, ob das Wesen die menschliche Sprache überhaupt verstehen konnte. Sein höllischer Vater war dazu jedenfalls in der Lage. Und er sollte merken, daß ich mich nicht vor seinem mörderischen Wechselbalg fürchtete. Diesmal konnten mich die dämonischen Kräfte nicht am Näherkommen hindern. Ich hatte mich der Mühle soweit angenähert, wie ich es zuvor nicht geschafft hatte. Da wackelten die Holzwände des Gebäudes von einem infernalischen Gebrüll. Ich kniff die Augen zusammen. Die Ohren konnte ich mir nicht zuhalten. Meine Trommelfelle schlackerten. Das war schlimmer als jeder TechnoRave. Der Lärm schien sogar ein Wort zu bilden. »Raaaakuuuu!« tönte es mir tosend entgegen. »Raaaakuuuuuu« War das der Name des Monstrums? Oder hatte es einen Schlachtruf, der die Menschen in Angst und Schrecken versetzen sollte? Die Luft schien sich in flüssiges Blei zu verwandeln. Denn nun passierte es. Die Tür der Mühle wurde aufgestoßen. Und eine Bestie sprang ins Freie. Es gab keinen Zweifel. Raku mußte die Kreatur sein, die für den
Tod von Tatjana Kowalski und Harry Schlüter verantwortlich war. Den Psychiater Dr. Sandler und den alten Heinrich Lübsch hatte vermutlich sein dämonischer Vater selbst auf dem Gewissen. Die Klauen und die zwei Reihen mit Reißzähnen waren furchtbare Waffen. Wenn mich Raku damit erwischte, würde nicht viel von mir übrigbleiben. In seinen bösen Augen loderte das Feuer der Hölle, als er auf mich losging. Ich mußte schnell sein. Das war meine einzige Chance. An Größe und Kraft konnte ich es mit der dämonischen Kreatur nicht aufnehmen. Sie ragte mindestens drei Meter vor mir auf. »Mark Hellmann!« Es klang schaurig, wie der Teufelsbastard meinen Namen lauthals in die Nacht krächzte. Wie ein Fluch. »Ich hole dich, Mark Hellmann! Ich hole dich zu meinem Vater!« Ich mußte warten, bis er nahe genug an mich herangekommen war. Sonst würde der Angriff mit dem Weihwasser nichts nutzen. Aber es war gefährlich. Verdammt gefährlich. Konzentriert stand ich da, während die Erde unter Rakus Schritten bebte. Er schien keine Ahnung zu haben, was ich mit dem Becher bezweckte. Jedenfalls zeigte er keine Furcht. Hatte ich mich verrechnet? Konnte Weihwasser ihm nichts anhaben, weil seine dämonischen Kräfte so stark waren? Dann war das mein Ende. Sein widerwärtiger Körper veränderte sich pausenlos. Ein Höllengestank ging von ihm aus. Allein der Gedanke, seine Haut zu berühren, hätte jeden Menschen mit Ekelgefühlen erfüllt. Ich blieb sprungbereit stehen. Den Lutherbecher senkte ich Zentimeter für Zentimeter. Es würde für mich nur einen Abwehrversuch gegen seinen Angriff geben. Nicht mehr. Raku hatte seine oberen Gliedmaßen ausgebreitet, als wollte er mich umarmen. Nun hatte ich den Pokal bis auf Hüfthöhe gesenkt. Der Höllenbalg war vielleicht noch zwei Meter von mir entfernt. Ich rührte keinen Finger. Sein Brodem erfüllte die Luft mit Schwefelgestank. Es war widerlich. Er kam noch einen weiteren Schritt auf mich zu.
Mit einer katapultierenden Bewegung schüttete ich das Weihwasser auf seinen Körper! Raku brüllte auf wie die Verdammten in der Hölle. Die Flüssigkeit ätzte Wunden in seine Haut. Einige verfaulende Knochen waren bereits zu erkennen. Die Augen mußte ich voll erwischt haben. Aus leeren Augenhöhlen starrte er mich nun an. Aber sein böses Herz schlug immer noch. Das Weihwasser hatte es nicht geschafft, ihn zu vernichten. Lange konnte ich mir darüber keine Gedanken machen, denn im nächsten Moment erwischte mich ein Hieb der verletzten Kreatur. Ich flog mindestens fünf Meter durch die Luft und landete unsanft im Gras. Ich sah schon mein letztes Stündlein gekommen. Da hörte ich schnelle Schritte. Sie näherten sich von zwei Seiten. Es waren Pit Langenbach und Tessa Hayden. Jeder von ihnen hatte einen Benzinkanister in den Händen. Beide hinterließen eine breite Treibstoffspur hinter sich. Ihre Wege überkreuzten sich. Was sie vorhatten, zeigte sich im nächsten Moment. Die beiden Benzinspuren überlappten sich. Es entstand ein riesiges christliches Kreuz. Pit Langenbach brauchte nur noch einbrennendes Streichholz zuwerfen. Und das tat er. Das Kreuz loderte auf. Wie wir es uns in unserem Plan ausgemalt hatten. Wieder brüllte Raku vor Entsetzen auf. Nun wurden weitere starke weißmagische Kräfte freigesetzt, die dem Monster seine dämonische Existenz schwermachten. Doch sie reichten immer noch nicht aus, um es zu vernichten. »Stirb, Mark Hellmann!« kreischte Raku mit sich überschlagener Stimme. Er konnte mich zwar nicht sehen, schien mich aber genau zu wittern. Das wurde mir im nächsten Moment schmerzlich bewußt. Ich hatte mich vom Boden aufgerappelt und wollte mich zum Kampf stellen. Raku ließ sich in seiner ganzen Länge auf den Bauch fallen und packte mit unerbittlichem Griff mein rechtes Fußgelenk. Und
zog mich langsam, zu sich hin. Pit Langenbach griff ein. Der Polizeibeamte war in Combatstellung gegangen und feuerte seine Dienstwaffe auf die Kreatur ab. Ein Geschoß nach dem anderen schlug in den Rücken des Monstrums ein. Aber das machte ihm überhaupt nichts aus. Ich versuchte, mich der Macht des Höllenbastards entgegenzustemmen. Aber ich war im Vergleich zu Raku so kraftlos wie eine Spielzeugpuppe. Pit warf seine Waffe zur Seite. Gemeinsam mit Tessa holte er ein provisorisches Holzkreuz, das wir am Nachmittag zusammengezimmert hatten. Es war ziemlich groß und schwer. Und am vorderen Ende angespitzt. Raku konnte nicht sehen, was die beiden machten. Es schien ihm auch gleichgültig zu sein. Er wollte mich! Das war eindeutig. Langsam richtete sich die Bestie vom Boden auf und starrte mich aus toten Augenhöhlen an. Noch einen Moment; dann würde sie mich in ihren Klauen haben. Ich hörte schnelle Schritte hinter mir. Pit und Tessa kamen an mir vorbeigerannt. Beide hatten das Holzkreuz gepackt. Und rammten es mit aller Kraft in den Leib von Raku. Sie mußten die Bestie knapp unterhalb des Herzens getroffen haben. Mephistos Sohn jaulte auf. Aber dann kam ein schwarzes Feuer aus seinem Körper. Und griff auf das Holzkreuz über. Raku war einfach zu stark. Sein dämonischer Vater hatte ihm enorme Kräfte verliehen. Innerhalb von Sekunden verbrannte die weißmagische Waffe zu nutzloser Asche. Wenn es schon zu Ende ging, wollte ich wenigstens kämpfend sterben. Ich hatte immer noch den Lutherbecher in der rechten Faust. Damit hieb ich auf den Körper der Bestie ein, der mir nun immer näher kam. Raku heulte auf. Die Schläge schienen ihm Schmerzen zu bereiten. Aber sie reichten nicht, um ihn zu vernichten. Mir blieb fast die Luft weg bei dem infernalischen Gestank, mit
dem sich die Kreatur nun über mich beugte. Mit der einen Klaue hatte er unbarmherzig mein Fußgelenk umschlungen. Ich konnte nicht entkommen. Blut sickerte aus meiner Wade. Ich sah es, spürte aber in diesem Moment nichts. Mit der anderen Tatze verpaßte er mir einen Hieb, der fast spielerisch wirkte. Doch ich litt entsetzlich unter dem Treffer. Dann spürte ich seine Krallen in meinem Rücken. Er drückte mich immer näher zu sich heran. Zu seinem aufgerissenen Maul hin. Dem Maul mit den Haifischzähnen. Verzweifelt rang ich nach Atem. Wahrscheinlich würde ich ohnmächtig werden, bevor er mir den Kopf abbeißen konnte. Aber ich bin Mark Hellmann. Der Kämpfer des Rings. Ich gebe nicht auf. Rakus Maul stand vor mir so offen wie ein Scheunentor. Die Zähne schienen so scharf zu sein wie Rasierklingen. Es gab für mich nur noch eine Chance. Aber die nutzte ich. Mit der rechten Faust umklammerte ich den Fuß des Lutherbechers. Und dann stieß ich meinen Arm mit dem Pokal weit in den Rachen der Bestie. Die Zähne fetzten die Haut von meinem Fleisch, aber das war nicht zu verhindern. Als ich sicher sein konnte, daß der Becher tief in Rakus Kehle versenkt war, ließ ich los und zog mich schnell zurück. Die Bestie würgte. Sie griff sich mit beiden Klauen von außen an den Hals. Versuchte, den Pokal auszuspucken. Aber das würde nicht gehen. Er klemmte so fest im Hals wie der Korken in einer Sektflasche. Und nun sprühten Funken aus dem immer noch offenstehenden Maul von Raku. Weiße und Schwarze Magie prallten aufeinander. Ein Regenbogenlicht hüllte das Wesen ein. Raku stieß Laute höchster Not aus. Er versuchte, die eine Klaue in seinen Hals zu schieben. Aber er kriegte den Lutherbecher nicht zu fassen. Seine Pfote war zu klobig, um das filigrane Gefäß packen zu können. Außerdem saß es wahrscheinlich schon zu tief in seinem Hals. Das Licht um ihn herum wurde immer intensiver. Ich mußte
meine Augen mit der Hand bedecken, um nicht geblendet zu werden. »Mephisto!« jaulte Raku auf. »Mephisto! Vater! Hilf mir!« Aber es war vergebens. Die Macht des Guten war zu stark. Ich konnte nicht sehen, was geschah. Aber es schienen Blitze zu zucken, die in den bösen Körper von Raku trafen. Hitzewellen rollten heran und ebbten wieder ab. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern glaubte ich einen Erzengel zu sehen. Aber er tauchte nur kurz auf, schemenhaft. Vielleicht habe ich es mir ja auch nur eingebildet. Minuten oder Stunden später öffnete ich die Augen wieder. Durch mein Gesichtsfeld schwammen rote Punkte. So, als ob ich in ein zu starkes Licht gesehen hätte. Dort, wo Raku gestanden hatte, befand sich nur noch eine riesige Pfütze mit stinkendem Matsch. Erschöpft erhob ich mich und ging darauf zu. Mitten in dieser ekelhaften Masse lag der Lutherbecher. Merkwürdigerweise unversehrt. »Na«, rief Pit Langenbach erleichtert und lachte, während er mir auf meine nicht verletzte Schulter klopfte. »Den Pokal wirst du wohl gründlich abwaschen müssen, bevor du ihn der Universität zurückgeben kannst!«
* Nach der Vernichtung von Raku war an der Bockwindmühle keine dämonische Aktivität mehr festzustellen. Aber ich machte mir keine Illusionen über Mephistos Reaktion. Seine Rache für den Tod des Teufelsbastards würde nicht lange auf sich warten lassen. Auf der Polizeiwache erwartete uns eine positive Überraschung. Thorsten Lambrecht hatte seinen normalen menschlichen Körper wiederbekommen. Ein Uhrenvergleich ergab, daß seine »Rückverwandlung« in den Minuten geschah, als Raku durch die Macht des Guten ausgelöscht worden war. Nun saß der junge Mann im Aufenthaltsraum der Polizeistation.
Jemand hatte ihm eine Decke gegeben, in die er sich hüllen konnte. Und er aß und trank, was er nur in die Finger bekommen konnte. Der riesige Berg mit belegten Broten vor seiner Nase wurde unglaublich schnell kleiner. Wie im Zeitraffer. Kein Wunder. Thorsten hatte ja nichts zu sich nehmen können, als er keinen Mund gehabt hatte. »Weißt du noch, was mit dir geschehen ist, nachdem Julia und du die Klosterruine betreten hattet?« fragte ich ihn. Thorsten Lambrecht schüttelte den Kopf. »Es war ein Alptraum. Sie kamen auch darin vor. Aber vor allem der Satan. Immer wieder der Satan. Ich kann mich an keine Einzelheiten erinnern.« Das ist vielleicht auch ganz gut so, sagte ich zu mir selbst. Pit Langenbach, der inzwischen mit Kommissar Jansson geredet hatte, schleifte mich am Kragen hinaus. »Du läßt dir jetzt erst mal deine Wunden verbinden, du Held«, brummte er. Wir stiegen in einen Streifenwagen, der uns zur Klinik brachte. »Wo ist eigentlich Tessa?« fragte ich. »Sie war auch mit auf der Wache. Hast du sie nicht gesehen? Du bist wirklich ganz schön angeschlagen, Mark. Sie wollte ins Hotel und Julia Weidemann abholen. Damit sie endlich wieder ihren Thorsten in die Arme schließen kann.« Im Krankenhaus wollte man mich eigentlich dabehalten. Aber ich fand meine Verletzungen selbst zu harmlos. Es waren praktisch nur Fleischwunden, die schnell verheilen würden. Nein, ich wollte jetzt nur noch meine Ruhe haben. Aus der Story für die Hamburger Illustrierte würde wohl auch nichts werden. Nun gab es ja keine dämonische Aktivität mehr in Greifswald. Aber das war auch gut so. Ein Taxi brachte Pit und mich zurück zum Hotel. Tessa Hayden hatte in einem Straßencafe gegenüber auf uns gewartet und kam nun auf mich zugestürmt. Fast gleichzeitig radelte Karin Hagen die Hunnenstraße hinunter. Sie erblickte mich und betätigte strahlend die Fahrradklingel. »Ruf mich an - wenn du Lust hast!«
Tessa fuhr herum. Ich stand auf halbem Weg zwischen den beiden Frauen. »Wer ist das?« fauchte Tessa und starrte Karin an. »Wer ist das?« echote Karin und erdolchte Tessa mit ihren Blicken. Und dann stürmten sie beide auf mich los und riefen wie aus einem Mund: »Mark Hellmann!« Es klang verdammt drohend. »Eventuell wäre ich doch besser im Krankenhaus geblieben!« meinte ich zu Pit Langenbach. Doch mein Freund wandte sich nur grinsend ab und zündete sich einen Zigarillo an. ENDE In der Nähe des Bansiner Friedhofs wurde eine Ruine gesprengt, die schon lange Ahlbecks Bäderstraße auf der Insel Usedom verschandelt hatte. Die Sprengung verlief ohne Komplikationen. Bis auf einige Risse in einer verwitterten Friedhofsmauer und dem Umkippen einiger alter Grabsteine gab es keine Schäden zu beklagen. Aber in diesen Sekunden begann eine Serie unglaublicher Ereignisse, die auch dem abgebrühtesten Usedomer das Blut in den Adern gefrieren ließ. - Mark Hellmann notierte seine Erfahrungen unter dem Titel Das Blutbad von Usedom Interessiert? Dann holt Euch Hellmann«- Roman von C.W. Bach!
diesen
spannenden
»Mark