Nr. 363
Der Ruf des Wächters Odin kehrt zurück von Kurt Mahr
Pthor, der Kontinent des Schreckens, der dank Atlans und...
22 downloads
879 Views
205KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 363
Der Ruf des Wächters Odin kehrt zurück von Kurt Mahr
Pthor, der Kontinent des Schreckens, der dank Atlans und Razamons Eingreifen der Erde nichts anhaben konnte, liegt nach jäh unterbrochenem Hyperflug auf Loors, dem Planeten der Brangeln, in der Galaxis Wolcion fest. Pthors Bruchlandung, die natürlich nicht unbemerkt geblieben war, veranlaßte Sperco, den Tyrannen von Wolcion, seine Diener, die Spercoiden, auszuschicken, damit diese den Eindringling vernichten. Daß es ganz anders kam, als Sperco es sich vorstellte, ist allein Atlans Eingreifen zu verdanken. Denn der Arkonide übernahm beim Auftauchen von Spercos Dienern sofort die Initiative und ging systematisch daran, die Macht des Tyrannen zu untergraben. Inzwischen haben dank Atlans Hilfe die von Sperco Unterdrückten ihre Freiheit wiedererlangt. Der Tyrann von Wolcion ist tot. Er starb in dem Augenblick, als sein Raumschiff bei der Landung auf Loors zerschellte. Atlan selbst, der als einziger die Schiffskatastrophe überlebte, kehrt in Begleitung »Feiglings«, seines mysteriösen neuen Gefährten, zur FESTUNG zurück, wo sich entscheidende Ereignisse anbahnen. Als Einleitung zu diesen Ereignissen erschallt DER RUF DES WÄCHTERS …
Der Ruf des Wächters
3
Die Hautpersonen des Romans: Heimdall, Sigurd und Balduur - Die Odinssöhne beschäftigen sich mit Mordplänen. Thalia - Der falsche Odin wird entlarvt. Odin - Ein Vater, dessen man sich schämt. Atlan - Der Arkonide kehrt zur FESTUNG zurück. Razamon und Grizzard-Kennon - Sie geraten unter Berserker.
1. Heimdall wartete. Aus der Nische, in der er sich versteckt hatte, überblickte er ein weites Stück der gewundenen Rampe, die von der Region der Hallen und Säle heraufführte zu den Wohngemächern. Boden, Decken und Wände des steil ansteigenden Ganges bestanden aus Metall, und doch wirkten sie, als seien sie aus groben, kaum behauenen Natursteinen aufgeführt. In den Wänden staken Lampen, die Fackeln nachgebildet waren und ähnlich blakten. Die Luft war kalt und feucht – wie überall in dem ehemaligen Sternenschiff, das einst den Herren der FESTUNG als Sitz gedient hatte. Heimdall, der Düstere, wich ein wenig tiefer in den Schatten der Nische zurück, als er von unten Schritte und halblautes Klirren hörte. Das mußte Odin sein, der sich auf dem Weg zu seinen Gemächern befand. Er hatte ein ausgiebiges Mahl hinter sich. Es war anzunehmen, daß er es, wie es seine Gewohnheit war, mit einigen Bechern Wein hinuntergespült hatte. Er trank ebenso unmäßig, wie er aß. Heimdall fragte sich, warum er sich in diese Nische verkrochen habe. Gab es überhaupt noch einen berechtigten Zweifel daran, daß der Hüne, der vor kurzem mit Blitz und Donner aus dem Nichts erschienen war, wirklich das Recht hatte, sich Odin zu nennen? War nicht alle Ungewißheit längst beseitigt – besonders, seitdem der Wassermagier Tonkuhn, der die Unsicherheit der drei Odinssöhne auszunützen suchte und ihnen einreden wollte, Odin sei nicht der, für den er sich ausgab, als Scharlatan entlarvt worden war? Hatte er selbst, Heimdall, auch nur
die Spur eines Zweifels in seinem Herzen, daß Odin wirklich Odin war? Diese Frage konnte der Düstere nicht beantworten. Er wußte, daß Unruhe in ihm war. Er konnte die Jahre nicht zählen, die er zusammen mit Sigurd und Balduur sehnsüchtig auf die Rückkehr des Vaters gewartet hatte – es waren ihrer zuviele. Jetzt, da Odin nach Pthor zurückgekehrt war, hätte er sich glücklich und erlöst fühlen müssen. Warum aber empfand er nichts dergleichen? Auch darauf wußte er keine Antwort. Die Unruhe war in ihm. Ihretwegen war er hierhergekommen, um Odin zu beobachten. Er wollte wissen, ob er sich auch in der Abgeschlossenheit seiner Gemächer so gab wie in der Gegenwart seiner Söhne. Die mächtige Gestalt des Göttervaters kam die Rampe heraufgewankt. Die hehre Gestalt, gekleidet in eine silberne Rüstung und wallende, samtene Gewänder in kräftigem Rot, litt unter der Wirkung des allzu reichlich genossenen Weines. Mitunter blieb Odin stehen und ruhte sich aus, wobei er sich gegen die Wand lehnte. Wenn er ging, hatte er Mühe, die Füße einen vor den anderen zu setzen. Aber trotz der Last der silbernen Rüstung und trotz der Steilheit des Weges stand ihm kein einziger Schweißtropfen auf der Stirn. Heimdall verhielt sich ruhig, während Odin an der Nische vorbeischritt. Dann, als der Göttervater außer Sicht war, wandte er sich um und nahm im Hintergrund der Nische einige Hantierungen vor. Das schmale Stück Metallwand wich plötzlich zur Seite und legte einen engen, unbeleuchteten Gang frei, der nahezu ebenso steil in die Höhe führte wie die Rampe. In diesen Gang drang Heimdall ein. Die geheime Tür schloß sich hinter ihm. Mit ra-
4
Kurt Mahr
schen Schritten eilte er durch die Finsternis – einen Weg, den er schon oft gegangen war.
* Der aber, der sich aller Welt gegenüber als Odin ausgab, hatte inzwischen schweren Schrittes die Tür zu seinen Gemächern erreicht. Das komplizierte Schloß machte ihm eine Zeitlang zu schaffen. Aber schließlich gab es nach. Odin stieß die Tür nach innen und wankte über die Schwelle. Er gelangte in einen düsteren Vorraum. Ächzend ließ er sich in einen der Sessel fallen und streckte die Beine weit von sich. Thalia – denn niemand anders verbarg sich unter der Maske des Göttervaters – hatte Mühe, ihre Gedanken beisammenzuhalten. Sie wollten nach allen Richtungen gleichzeitig davonspringen, und wenn sie den Kopf nicht gerade hielt, dann begann die düstere Welt des Vorzimmers, sich wie auf einem Karussell zu drehen. Das hatten die Magier der Großen Barriere von Oth nicht bedacht, als sie Thalia in die Maske kleideten, die ihr das Aussehen Odins verlieh: Daß der Göttervater ein unmäßiger Esser und Trinker war. Die Gefräßigkeit ließ sich leicht simulieren – Thalias Taschen in dem wallenden Umhang waren voll von Speiseresten, die sie in unbeachteten Augenblicken zu sich gesteckt hatte. Aber der Wein ließ sich in keine Tasche gießen, und wer die Rolle Odins überzeugend spielen wollte, der mußte ebensoviel trinken können wie der Göttervater. Thalia wäre am liebsten eingeschlafen. Aber sie wußte, daß sie am anderen Tag nur ein halber Mensch sein würde, wenn sie sich vom Rausch übermannen ließ. Ihre Rolle aber erforderte mehr als einen halben Menschen. Sie raffte sich schließlich auf. Durch mehrere Räume hindurch erreichte sie ihr Schlafgemach. Dort ließ sie das samtene Gewand von sich fallen und entledigte sich mit einiger Mühe der schweren Rüstung. Nackt,
wie sie da stand, bot sie immer noch den Anblick eines ehrfurchtgebietenden Hünen. Denn die Magier hatten ihr eine lebende Körpermaske angepaßt, die sie auch in der Nacktheit genauso erscheinen ließ, wie die Legende den Göttervater Odin schilderte. Neben dem Schlafgemach befand sich ein Raum, in dessen Boden eine große, tiefe Schüssel eingelassen war. In den Wänden über der Schüssel gab es Auslässe für warmes und kaltes Wasser. Thalia wußte nicht, für wen dieses Bad ursprünglich hergerichtet worden war. Sicherlich nicht für die Herren der FESTUNG, die sich in ihre Behälter eingesperrt hatten. Aber das war im Augenblick unwichtig. Sie öffnete den Hahn, der eiskaltes Wasser entließ, und als die Schüssel sich zu drei Vierteln gefüllt hatte, sprang sie hinein. Die Kälte des Wassers war so intensiv, daß sie selbst die massive Substanz der Körpermaske durchdrang. Thalia stöhnte vor Schmerz. Sie begann, sich im Wasser zu bewegen, um sich warm zu arbeiten. Dabei spürte sie, wie der Rausch allmählich von ihr wich. Als sie aus der Schüssel stieg, war sie noch immer alles andere als nüchtern, aber wenigstens hatte die Welt ringsum aufgehört, sich um sie zu drehen. Sie räumte die Rüstung beiseite. Dann kam die Reihe an das samtene Gewand. Sie ging damit in den Raum, der für die Zubereitung von Speisen eingerichtet war – allerdings mit fremdartigen Armaturen, die Thalia nicht verstand und die aus einem Reservoir gespeist wurden, von dem niemand wußte, ob es genießbare Substanzen enthielt. Ein einziges Gerät in diesem Raum war Thalia vertraut: Sie benutzte es jedesmal, wenn sie eine der typisch Odin'schen Mahlzeiten verzehrt hatte. Es bestand aus einem tonnenförmigen Behälter, der in den Boden eingelassen war, und einem Öffnungsmechanismus, den man betätigte, indem man die Fußspitze auf eine bestimmte Stelle in unmittelbarer Nähe des Behälters setzte. Thalia tat dies. Die Tonne öffnete sich. Sie leerte die Taschen ihres roten Gewands
Der Ruf des Wächters und warf die Essensreste in den Behälter. Als sie zurücktrat, schloß sich dieser von selbst. Der Behälter hatte die Fähigkeit, sich selbst zu reinigen. Würde Thalia ihn in einer Stunde wieder öffnen, so fände sie ihn leer und rein. Sie hatte sich oft gefragt, wie das zuging, aber keine Antwort gefunden. Atlan, der Fremde, hatte ihr erzählt, daß die Pyramide, die die Festung darstellte, einst ein Sternenschiff gewesen sei. Womöglich war die Abfallbeseitigung eine der automatischen Funktionen des Schiffes gewesen. Thalia kehrte in das Schlafgemach zurück und ließ sich auf das gewaltige Bett sinken, das das einzige Möbelstück des großen Raumes darstellte. Der Schlaf würde den Rest des Rausches beseitigen, der noch in dem Körper unter der Maske stak. Odins Tochter schloß die Augen. Im selben Augenblick wurde ihr klar, daß sie nicht würde einschlafen können. Etwas war nicht in Ordnung! Sie fühlte instinktiv, daß sie beobachtet wurde.
* Sie wußte nicht, woher das Gefühl kam. Copasallior, der Weltenmagier, hatte ihr zusätzlich zu der Maske ein Repertoire magischer Kräfte mitgegeben. Mochte sein, daß darunter sich die Fähigkeit befand, Dinge wahrzunehmen, die mit den herkömmlichen Sinnen nicht wahrgenommen werden konnten. Wie dem auch immer war – Thalia wußte, daß sie beobachtet wurde, und sie wußte auch, daß derjenige, der sie beobachtete, sich irgendwo über ihr befand. Sie richtete sich auf. Sie gab sich den Anschein, als sei ihr kurz vor dem Einschlafen noch etwas Wichtiges eingefallen. Sie stieg aus dem Bett, schritt langsam durch den weiten Wohnraum und näherte sich der Küche. Während sie ging, lauschte sie den Signalen, die der geheimnisvolle Wahrnehmungssinn ihr vermittelte. Sie spürte, wie
5 sie dem unheimlichen Beobachter näher kam. Dann, als sie die Schwelle der Küche überschritt, wußte sie, daß er sich genau über ihr befand. Sie ging ein paar Schritte weiter und blieb stehen. Sie fuhr mit einem Ruck herum, musterte die Decke in der Nähe der Schwelle mit finsterem Blick und schrie: »Decke, höre meine Worte, komm herab!« Sie spürte mit Erleichterung den Ruck, der ihr Bewußtsein immer dann durchfuhr, wenn die magischen Fähigkeiten zu wirken begannen. In der Decke knisterte es. Metall wurde spröde. Einzelne Bruchstücke fielen herab. Dann aber barst das Metall mit einem lauten Knall. Ein mehrere Quadratmeter großes Stück Decke löste sich und stürzte donnernd herab. In der Höhe erscholl ein Schrei. Eine menschliche Gestalt stürzte durch die Öffnung und prallte hart zu Boden. Thalia traute ihren Augen nicht. Das war Heimdall, ihr Bruder! Heimdall war von dem Sturz eine Zeitlang benommen. Mühselig richtete er sich auf. Verwirrung und Verlegenheit standen ihm im Gesicht geschrieben. Thalia überwand ihre Überraschung. Mit der tiefen Stimme, die sie seit ihrer Rolle als der Göttersohn Honir beherrschte, donnerte sie den Verdutzten an: »Was hast du dort oben zu suchen?« »Ich … ich … fand einen Gang, der dort hinaufführte … und wollte wissen …« Heimdall, der Düstere, stotterte erbärmlich. »Lüge nicht!« fuhr Thalia ihn an. »Gib zu, daß du mich belauschen wolltest!« Heimdall, dem der Schreck über den völlig unerwarteten Sturz durch die metallene Decke noch immer in den Knochen stak, senkte den Blick. »Nun?« erklang Odins Stimme fordernd, befehlend. »Ja, ich habe gelauscht und beobachtet«, bekannte Heimdall mit Niedergeschlagen-
6
Kurt Mahr
heit in der Stimme. »Ich bin schuldig, und die Strafe, die du mir anmißt, werde ich wortlos erdulden.« Thalia wußte nicht recht, was sie mit der Situation anfangen solle. Am liebsten wäre sie Heimdall so schnell wie möglich losgeworden. Aber sie mußte erfahren, weshalb er gelauscht hatte. Zweifelte er noch immer an Odins Echtheit? Warum? Sie beschloß, die Rolle des gütigen, vergebenden Vaters zu spielen. »Wir haben einander lange nicht gesehen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Ich will nicht, daß Zwietracht herrscht zwischen mir und meinen Söhnen. Sag mir, warum du lauschen wolltest!« Heimdall, durch Odins gelassene Redeweise halbwegs beruhigt, blickte auf. Im selben Augenblick aber zuckte es wie Schreck über sein Gesicht. Thalia achtete kaum darauf, denn sie war ihrerseits abgelenkt. Sie spürte, wie das mächtige Gewicht der Körpermaske, das an ihren Muskeln zerrte, sich ruckartig verringerte!
* Den geheimen Gang hatte Heimdall bei einem seiner ausgedehnten Streifzüge durch die Festung gefunden. Er endete in einem kleinen Gemach, das auf dem halben Weg zwischen zwei Stockwerken oder Decks lag. Das Gemach war angefüllt mit fremdartigen Gerätschaften, die Heimdall alsbald zu untersuchen begonnen hatte. Dabei machte er durch Zufall eine Entdeckung, die ihm damals eher amüsant als wichtig erschienen war. Jetzt jedoch kam sie seinem Vorhaben sehr zustatten. Es schien, daß die Erbauer des mächtigen Raumschiffs damit gerechnet hatten, daß das Fahrzeug fremde Gäste an Bord haben werde, die der Überwachung bedurften. Die Gäste wurden in den Räumlichkeiten untergebracht, die jetzt der Götterfamilie als Wohnquartiere dienten, und von dem kleinen Gemach aus konnte man in fast alle Räume Einblick nehmen und auch hören, was darin
vor sich ging. Wie die fremdartige Technik funktionierte, versuchte Heimdall erst gar nicht zu verstehen. Vorerst genügte es ihm, die Bedienungsweise der Geräte zu erlernen. So stellte er an diesem Tag die Instrumente auf Odins Gemächer ein. Er sah den Göttervater in einem Sessel des Vorraums sich lange Zeit ausruhen. Er beobachtete ihn, wie er in das Schlafgemach trat und sich entkleidete. Er sah ihn ein kaltes Bad nehmen und hörte ihn dabei ächzen. Er beobachtete, wie er die silberne Rüstung forträumte. Und dann geschah etwas, was Heimdall zu denken gab. Der nackte Odin raffte das rote Samtgewand auf und trug es in die Küche. Dort förderte er aus den Taschen allerhand Speisereste zutage, die gewiß mehr als die Hälfte dessen darstellten, was er in den unteren Gemächern verspeist zu haben vorgegeben hatte. Heimdall fragte sich, was das bedeuten solle – zumal Odin die Reste nicht etwa für spätere Verwendung aufhob, sondern geradewegs in den Abfall warf. Er sah, wie Odin ins Schlafgemach zurückkehrte und sich zur Ruhe legte. Heimdall wollte sich gerade auf den Weg machen, da erhob sich der Göttervater wieder. Er gebärdete sich eigenartig, aber Heimdalls Gedanken waren noch zu sehr mit den Speiseresten beschäftigt, als daß er die nahende Gefahr hätte rechtzeitig erkennen können. Als der Boden unter ihm zu knirschen begann, hatte er zu fliehen versucht. Da aber war es schon zu spät. Er stürzte mitsamt einem Teil des Bodens, auf dem er stand, in Odins Küche hinunter und mußte noch froh sein, daß er sich bei dem harten Sturz nichts gebrochen hatte. Die unerwartete Gegenüberstellung brachte ihn in maßlose Verlegenheit. Er getraute sich nicht einmal, die Sache mit den Speiseresten zur Sprache zu bringen. Er wäre am liebsten in den Boden versunken und empfand Odins Zorn als im höchsten Maße gerecht. Die Verlegenheit wich ein wenig, als der Göttervater mit sanfterer Stimme zu
Der Ruf des Wächters sprechen begann. Heimdall blickte auf und schickte sich an, ihm zu antworten. Da sah er das Unglaubliche, das Entsetzliche! Zuerst war es ihm, als sei rings um Odin ein dünner, wabernder Nebel entstanden. Binnen eines Atemzugs jedoch erkannte er, daß es nicht ein Nebel war, sondern die Konturen des Göttervaters, die sich in Bewegung befanden. Er schien zu schrumpfen. Die mächtigen Muskeln fielen in sich zusammen, der Körper verlor die hünenhafte Größe und wurde zu einem schlanken, fast zierlichen Gebilde. Ein Blick ins Gesicht des sich wandelnden Odin aber brachte Heimdall vollends fast um den Verstand. Das war nicht die männlich harte Miene des Göttervaters mehr! Das war ein weiches Gesicht! Das Gesicht einer Frau! Thalias Gesicht …! Einige Augenblicke stand Heimdall wie gelähmt. Sein Verstand hatte zeitweise aufgehört zu funktionieren. Plötzlich aber begriff er das Ungeheuerliche. Thalia, ausgerechnet sie, die verachtete Schwester, hatte die Rolle des Göttervaters Odin gespielt! Er schrie auf. Es war ein gellender Schrei. Heimdall, der Düstere, war in der Tiefe seiner Seele verwundet. Er wandte sich um. Torkelnd verließ er die mit Trümmern übersäte Küche. Er gelangte in den Vorraum. Dort endlich gewann der Zorn die Oberhand. Er drehte sich noch einmal zurück. »Das wirst du uns büßen!« schrie er mit überschnappender Stimme. Dann riß er die Tür auf und eilte wie von den Furien gehetzt hinaus.
* War Heimdall entsetzt, so brach für Thalia eine Welt zusammen. Die Welt des Scheins, die sie den Magiern erlaubt hatte, um sie herum aufzubauen. Sie fühlte sich nackt und hilflos. Sie konnte sich nicht er-
7 klären, was geschehen war. Sie fühlte sich körperlich leicht, als sei die Maske plötzlich von ihr abgefallen. Aber sie verstand nicht, warum so etwas hätte geschehen sollen. Schließlich setzte sie sich mechanisch in Bewegung. Sie ging, mit immer rascher werdenden Schritten, in den Baderaum, an dessen einer Wand ein halb erblindeter, metallener Spiegel hing. In der Metallplatte sah sie ihr Ebenbild. Das Unglaubliche war geschehen! Die Maske hatte sich aufgelöst! Da wußte Thalia, was sie zu tun hatte. Heimdall hatte keine leere Drohung ausgestoßen. Das Schlimmste, was den drei Göttersöhnen hatte zustoßen können, war, daß ausgerechnet ihre Schwester sich als wiedererstandener Vater ausgab. Thalia wußte, daß sie sich in Gefahr befand. Sie konnte nicht in diesen Gemächern bleiben. Der Zorn der Brüder würde fürchterlich sein. Am besten wäre es, wenn sie die Festung verließ. Aber der einzige Weg, den sie kannte, führte durch die tiefer gelegenen Räume, wo sie den Brüdern geradezu in die Arme laufen würde. Nein – die Flucht hatte nach oben zu gehen. In der Spitze der Pyramide gab es noch Räumlichkeiten, in die bisher keiner der drei Odinssöhne vorgestoßen war – so glaubte Thalia. Sie eilte in die Küche zurück und warf sich das samtene Gewand über, das nach Gebratenem roch. Dann rannte sie in den Schlafraum und barg das Schwert, das zu der silbernen Rüstung gehörte. Es war die einzige Waffe, die sie besaß – abgesehen von den Zauberfähigkeiten, die die Magier ihr verliehen hatten und von denen sie nicht wußte, ob sie nicht mitsamt der Maske verschwunden waren. Mit einem wallenden, viel zu großen roten Samtgewand angetan und ein glitzerndes Schwert in der Rechten schwingend, trat sie hinaus in den Gang, der an den Wohngemächern vorbeiführte. Sie sicherte kurz nach beiden Seiten. Dann wandte sie sich nach links. Denn dort, wo der Gang endete, gab es eine Rampe, die zu den höher gelegenen
8
Kurt Mahr
Stockwerken emporführte.
* Wie hatte das Unglaubliche geschehen können? Als Copasallior, der Weltenmagier, den Magiern der Großen Barriere von Oth die Pläne darlegte, die er mit Thalia hatte, da fand er unter seinen Zuhörern keineswegs nur Zustimmung. Es gab eine Gruppe übelgesinnter Magier, die grundsätzlich alles ablehnten, was Copasallior vorschlug. Und diese Magier hatten dafür gesorgt, daß Thalias Maske sich auflösen werde, sobald Atlan, der Fremde, in ihre Nähe kam. Die Barriere von Oth war von der übrigen Welt abgeriegelt. In jüngster Zeit waren nur wenige Magier »draußen« gewesen. Copasallior wußte aber, daß Atlan das Land Pthor längst verlassen hatte. Er mochte sich irgendwo auf der weiten Welt befinden, auf der Pthor nach dem Sturz aus dem Hyperraum gelandet war, oder er mochte selbst diese Welt hinter sich gelassen haben und in den Weltraum vorgedrungen sein. Copasallior wenigstens fühlte sich sicher, daß Atlan in naher Zukunft keine ernsthafte Bedrohung der Maske darstellte, die er Thalia anzulegen gedachte. Thalia erhielt also ihre Maske und reiste als Göttervater Odin zur Festung, wo sie sich mit großem Getöse und vor dem Hintergrund eines weltuntergangsähnlichen Unwetters manifestierte. Copasallior hatte keine Ahnung, daß die Gefahr, die er für geringfügig erachtete, so schnell materialisieren würde.
2. Atlans und seines Begleiters Flug mit dem zugorähnlichen Fahrzeug, das der Arkonide in der Feste Grool erbeutet hatte, war weitgehend ereignislos verlaufen. Atlans Weggenosse war ein kleiner, schmächtiger Mann schwer bestimmbaren Alters, der den Namen »Feigling«, den ihm
der Arkonide gegeben hatte, in vollem Umfang verdiente. Atlan hätte selbst nicht sagen können, warum er den Fremden nicht schon längst von sich gewiesen hatte. War es Mitleid mit dem kümmerlichen Wesen? War es ein anderes Empfinden? Auf jeden Fall befand sich Feigling noch immer an seiner Seite, und jedesmal, wenn Gefahr entstand, mußte er gewärtig sein, daß der Kleine ihm die Machete über den Schädel hieb, um die eigene Haut zu retten. Sie waren gekleidet in Fellgewänder, die sie im Blutdschungel erbeutet hatten, nachdem sie von Loors durch den Wölbmantel nach Pthor zurückgekehrt waren. Das mit dem Zurückkehren durfte man allerdings, wenigstens in Feiglings Fall, nicht allzu wörtlich nehmen. Der Kleine gab mit keinem Zeichen zu erkennen, daß ihm Pthor bekannt war. Im Gegenteil: Während des Fluges von der Feste Grool benahm er sich wie einer, der alles, was unter ihm dahinglitt, zum erstenmal sah. Wenn er aber nicht irgendeine Art von Affinität zu Pthor gehabt hätte, hätte er den Wölbmantel nicht durchdringen können. Als er durch den geheimnisvollen Energieschirm kroch, waren ihm ebenso wie Atlan die Kleider vom Leib gerissen worden, weil sie aus nichtpthorischem Material bestanden. Der nackte Feigling jedoch hatte den Mantel unbeschadet passiert – ebenso wie der Arkonide. Hinzu kam noch etwas anderes. Feigling sprach Pthora. Die Sprache, der er sich bediente, war ein antiquierter Dialekt – aber sie war ganz ohne Zweifel Pthora. Atlan hatte versucht, den Kleinen über seine Vergangenheit auszuforschen, aber dabei so gut wie nichts in Erfahrung gebracht. Feigling erinnerte sich entweder nicht an das, was früher gewesen war, oder er wollte dem Arkoniden nichts davon erzählen. Und da das Verhalten der beiden Männer alles andere als ein freundliches war, gab es auch keine Gelegenheit, den Kleinen durch ein paar Worte von Mann zu Mann zu mehr Offenheit anzuregen.
Der Ruf des Wächters Ein dritter Aspekt kam schließlich noch hinzu, von dem der Arkonide allerdings nicht wußte, ob er ihn für bedeutsam oder lediglich einen Zufall halten sollte. Manchmal, wenn Atlan den kleinen Mann von der Seite her betrachtete, schien er eine gewisse Ähnlichkeit mit Balduur, Heimdall und Sigurd zu haben. Auf die Frage, ob er die drei kenne, hatte Feigling, als sie sich noch draußen auf Loors herumtrieben, derart hysterisch reagiert, daß Atlan sie nicht ein zweites Mal hatte stellen wollen. Eine Antwort allerdings hatte sein zeterndes Gekreisch nicht enthalten. So blieb Feigling ein Fremder, den ein ganzer Mantel von Geheimnissen umgab. Atlan hatte Kurs auf die ehemalige Festung nicht nur deswegen genommen, weil er dort Razamon zu treffen hoffte und weil überhaupt Pthors Schicksal von den rätselhaften Mechanismen im Gelände der Festung bestimmt wurde. Er hoffte außerdem, er werde dort ein paar der Geheimnisse entschleiern können, die Feigling so sorgsam hütete.
* Als die Festung am Horizont auftauchte, erschrak Feigling. Denn anhand der Entfernung und der scheinbaren Größe der Pyramide konnte er sich leicht ausrechnen, daß es sich um ein wahrhaft gigantisches Gebilde handeln müsse. »All ihr gerechten Geister!« stieß er entsetzt hervor. »Was ist das?« »Die Festung«, antwortete der Arkonide. »Ein Bauwerk, das früher ein Raumschiff war. Fürchtest du dich auch vor Gebäuden?« »Es … es wirkt bedrohlich«, stotterte der Kleine. Er hockte sich nieder und blickte von da an nicht mehr über den Rand des Zugors hinweg. Atlan drosselte die Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Die Umgebung der Festung war schon immer bedrohliches Gelände gewesen. Bei der Unberechenbarkeit der jetzigen Bewohner ließ sich nicht ausschließen, daß ein Teil der heimtückischen Sicherheits-
9 vorkehrungen, die die ehemaligen Herren der FESTUNG hatten einrichten lassen, reaktiviert worden war. Unter dem düsteren Himmel von Pthor wirkte die Szene friedlich. Ragnarök, der Weltenuntergang, hatte im einstmals paradiesischen Garten der Festung Spuren hinterlassen, die noch jahrzehntelang sichtbar sein würden. Die Riesenpyramide erhob sich im Mittelpunkt eines Sechsecks, dessen Ecken von kleineren Pyramiden markiert wurden, die einst Beiboote des großen Sternenschiffs gewesen waren. Als Atlan den Zugor nach unten steuerte, sah Feigling auf. »Landen wir jetzt?« fragte er ängstlich. »Ja.« »Was für Wesen gibt es dort unten? Sind sie gefährlich?« Atlan antwortete nicht sofort. Da stieß Feigling hastig hervor: »Sie sind gefährlich, nicht wahr? Gib's doch zu!« »Halt den Mund, Angsthase!« fuhr der Arkonide seinen Begleiter an. »Wir werden sehen, wie gefährlich sie sind.« Feigling sprang auf. Er faßte Atlans Fellgewand und klammerte sich an den Arkoniden. »Lande nicht!« flehte er. »Von diesem gewaltigen Bauwerk geht eine finstere Drohung aus! Laß uns fliehen!« Atlan stieß den Wimmernden von sich. »Vor jedem anderen Platz im Universum hättest du genausoviel Angst«, knurrte er, »und der Zugor kann nicht ewig in der Luft bleiben. Reiß dich zusammen, Mann, und hör auf zu winseln!« Aber er wußte, daß seine Mahnungen in den Wind gesprochen waren. Atlan landete den Zugor unweit des torbogenförmigen Eingangs an der Nordseite der riesigen Pyramide. Mit einem gewandten Satz sprang er nach draußen. Feigling hatte die Wahl, allein in dem Fahrzeug zu bleiben oder sich an der Seite des starken Gefährten einer feindlichen Umgebung auszuliefern. Die Furcht vor dem Alleinsein gab den Aus-
10
Kurt Mahr
schlag. Er kletterte auf den Rand des Zugors und sprang von dort unbeholfen in das kniehohe Gras. Atlan sah sich um. In einem Gebüsch hörte er Rascheln und das Knacken von Ästen. »Komm hervor!« rief er. Das Gebüsch teilte sich, und die Gestalt eines Dellos kam zum Vorschein. Die Dellos waren Androiden, die von den Kelotten in Aghmonth als Diener und Arbeiter für die Herren der FESTUNG gezüchtet worden waren. Mittlerweile hatten sie Balduur, Heimdall und Sigurd als ihre neuen Herren anerkannt und standen in ihren Diensten. »Wo sind die Herrscher von Pthor?« fragte der Arkonide. Noch im selben Augenblick erkannte er, daß er von diesem Dello keine Antwort erhalten würde. Er war anscheinend für das Auflesen von Gegenständen oder das Einsammeln von Früchten konstruiert worden. Er besaß sechs Arme mit langen, feinfingrigen Händen. Sein annähernd kugelförmiger Schädel war mit großen Augen und Ohren ausgestattet, aber die Nase war verkümmert, und der Mund bildete eine ovale Öffnung, die offenbar nur zur Nahrungsaufnahme, nicht aber zum Sprechen bestimmt war.
* »Sie sind im Innern der Pyramide«, ertönte plötzlich eine helle Stimme aus dem Gebüsch, aus dem der Dello zum Vorschein gekommen war. »Wer spricht da?« fragte der Arkonide verwundert. »Die Stimme«, lautete die Antwort. »Wessen Stimme? Komm hervor und zeig dich!« »Bist du sicher, daß du mich sehen willst? Warum genügt es dir nicht, mich zu hören?« Atlan hätte um ein Haar laut aufgelacht. »Zeig dich!« rief er von neuem. Es raschelte ein wenig im Gebüsch, und dann kam ein Wesen zum Vorschein, das höchstens einen Meter groß war. Es besaß humanoide Gestalt, aber das Größenverhält-
nis zwischen Schädel und Körper war etwa das eines Säuglings. Außerdem besaß der Fremde eine tonnenförmig gewölbte Brust. »Wer bist du?« fragte der Arkonide, halb überrascht, halb amüsiert. »Ich sagte es schon«, antwortete der Zwerg laut und hell: »Ich bin die Stimme!« »Du bist ein Dello?« »Ja. Ich wurde erschaffen, um für die Dellos zu sprechen, die keine Stimme haben.« »Von wem? Ich meine – auf wessen Geheiß?« »Die neuen Herrscher fanden es unpraktisch, daß manche ihrer Diener ihnen nicht antworten konnten. Deswegen sandten sie nach Aghmonth zu den Kelotten und erteilten ihnen den Befehl, Wesen herzustellen, die den stimmlosen Dellos aushelfen konnten. Aufgrund dieses Befehls bin ich hier.« Atlan fand dies alles höchst verwirrend. Wie konnte der Zwerg als Stimme eines sprachlosen Dellos funktionieren, ohne zu wissen, was im Verstand des Stimmlosen vorging? Aber er hatte keine Zeit, seine Neugierde zu befriedigen. Er mußte Razamon finden und seinen Begleiter den Odinssöhnen gegenüberstellen. »Wo sind die Herrscher von Pthor?« fragte er deshalb. Die Stimme wies auf den Torbogen. »Die Söhne Odins befinden sich irgendwo dort drinnen«, antwortete der Zwerg. »Genauer kann ich dir es nicht sagen.« »Und der Knyr?« »Knyr? Ich kenne keinen Knyr.« »Razamon – der Hinkende«, versuchte Atlan, der Erinnerung des Zwergs auf die Beine zu helfen. »Ich kenne ihn nicht«, antwortete die Stimme. »Also kann ich dir auch nicht sagen, wo er sich befindet.« Der Arkonide begriff, daß er hier nicht mehr ausrichten könne. Er wandte sich dem Eingang zu. Dabei sah er sich nach Feigling um. »Komm mit!« forderte er ihn auf. Normalerweise schenkte er Feigling nicht viel Beachtung. In diesem Augenblick aber
Der Ruf des Wächters fiel ihm das eigenartige Verhalten des kleinen Mannes auf. Er hätte eigentlich vor Entsetzen zittern müssen. Denn fremdartige Dinge versetzten ihn in Angst – und es gab sicherlich weit und breit nichts Fremdartigeres als den sechsarmigen Dello und seinen zwergenhaften Genossen. Feigling aber zeigte alles andere als Furcht. Seine Augen leuchteten. Er schien erregt. Er hatte sogar gewagt, sich etliche Schritte von dem Arkoniden zu entfernen. »Worauf warten wir noch?« fragte er ungeduldig. »Gehen wir hinein!«
* Hinter dem Torbogen führte eine gewundene Rampe hinauf zu einem großen, düsteren Saal, der mit einem Mobiliar ausgestattet war, das für Zyklopen gemacht zu sein schien. An den Wänden blakten kleine Lampen, die in der fensterlosen Halle nicht mehr als ein ungewisses Halbdünkel erzeugten. Feigling sah sich um. »Wo sind sie?« fragte er herausfordernd. »Wer?« »Die Odinssöhne!« Die forsche Art, mit der er sich seit neuestem gab, erregte Atlans Mißtrauen. Er hatte Feigling bislang verachtet und sich vor seiner Heimtücke gehütet. Er wußte nicht, welch neuer Charakter da in der Seele des kleinen Mannes wuchs. Er beschloß, ihn auf die Probe zu stellen. »Du meinst Balduur, Heimdall und Sigurd?« fragte er. Feigling zuckte mit keiner Wimper. »Nein, ich meine Sigurd, Balduur und Heimdall«, lautete seine Antwort. Der Arkonide wußte nicht, was er daraus machen sollte. Das letzte Mal, als er Feigling gegenüber die Namen der drei Odinssöhne erwähnte, hatte Feigling hysterische Schreikrämpfe entwickelt. Jetzt aber sprach er die Namen völlig gelassen aus. »Was ist mit Thalia?« faßte Atlan nach. Feigling zuckte zusammen. »Thalia? Ich kenne keine Thalia!«
11 »Honir …?« Feigling machte die Geste des Nichtwissens. Atlan konnte nicht entscheiden, ob ihm die beiden Namen in der Tat unbekannt waren oder er sich mittlerweile so gut unter Kontrolle hatte, daß er keine Reaktion mehr zeigte. »Hast du noch mehr Fragen?« erkundigte sich Feigling. »Eine Menge«, bekannte der Arkonide. »Aber sie können warten.« »Dann sollten wir uns auf den Weg machen«, schlug der kleine Mann vor. »Wohin?« »Weiß ich es? Du bist derjenige, der dieses Gebäude kennt. Führe mich!« Der Arkonide musterte Feigling mit einem abschätzenden Blick, dann setzte er sich in Bewegung. Von der Seitenwand des Saales führte eine breite, mäßig steile Rampe in die Höhe. Sie war düster und nur eine kurze Strecke weit zu überblicken, da sie sich seitwärts krümmte. Atlan wog unwillkürlich die Machete in der Rechten, seine einzige Waffe. Als Feigling dies sah, war sein Tatendurst fast schon wieder verflogen. »Dort willst du hinauf?« fragte er zaghaft. »Ich nicht«, antwortete der Arkonide grob. »Ich bin bereit, hier unten auf die drei Odinssöhne zu warten. Aber du! Du willst sie ja unbedingt sofort sehen!« Feiglings Augen glitzerten. »Ja!« stieß er hervor. »Das will ich! Aber geh du voran!« Atlan lachte verächtlich. Dann begann er, die Rampe hinanzusteigen. Sie zog und wand sich schier endlos und erreichte schließlich ein anderes Stockwerk, das wenigstens sechzig Meter höher liegen mußte als der Saal. Hier gab es eine Reihe leerer und halb eingerichteter Räume, von den drei Asen fand sich jedoch auch hier keine Spur. Plötzlich blieb Feigling stehen. »Hörst du das?« wisperte er. Atlan hielt an. Von weither kam ein Geräusch, das sich wie gedämpftes Rumoren und Dröhnen anhörte. Der Arkonide ver-
12
Kurt Mahr
suchte zu ermitteln, aus welcher Richtung es kam, und gelangte schließlich an den Fuß einer steilen Treppe, die mit großen Stufen aufwärts führte. Das Geräusch kam den Treppenschacht herab. Es war jetzt deutlicher und klang, als seien sich da oben zwei schwerbewaffnete Hünen in die Haare geraten. »Ein Kampf!« stieß Atlan hervor und eilte die hohen Stufen hinauf. Um Feigling kümmerte er sich in diesem Augenblick nicht. Wann immer es in der Festung zu rumoren begann, fürchtete der Arkonide, Thalia könne darin verwickelt sein. Er hatte sich aber vorgenommen, Odins Tochter vor allen Gefahren zu schützen.
* Die Treppe war ziemlich lang und gerade. Am oberen Ende gelangte Atlan in einen schmalen Flur. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in diesem Teil der Festung gewesen zu sein. Das Geräusch der Streitenden war jetzt ganz deutlich: Es klang wie Krachen und Bersten und dazwischen das wütende Geknurre männlicher Stimmen. Der Arkonide wandte sich nach Feigling um. Aber der kleine Mann war verschwunden. Anscheinend hatte die Angst doch zu guter Letzt die Oberhand behalten. Atlan schlich den Flur entlang. Es bestand keine Gefahr, daß er von den Streitenden gehört wurde. Aber er wußte nicht, unter welchem Winkel er in ihrem Blickfeld auftauchen würde. Er wollte den Streit erst eine Zeitlang beobachten, bevor er sich an ihm beteiligt – wenn das überhaupt notwendig war. Schließlich erreichte er die Kampfszene. Sie befand sich in einer kuppelförmigen Halle, die durch eine in die gewölbte Decke eingelassene Milchglasfläche Licht erhielt, womöglich sogar Tageslicht. An den Wänden entlang gab es in regelmäßigen Abständen riesige Türen und dazwischen die Mündungen anderer Korridore, die aus allen Teilen der Pyramide zu kommen schienen. Die Kuppeldecke selbst wurde von drei Balu-
straden umzogen, eine immer höher und von geringerem Umfang als die andere. Zu der ersten und untersten führten von da, wo Atlan stand, Stufen hinauf. Der Kampf aber spielte sich in der Mitte der Halle ab. Jemand hatte dort, offenbar in Eile, alles mögliche Gerümpel zusammengetragen und eine Art Ringwall gebildet. Als Bestandteile des Walles erkannte der Arkonide grotesk geformte, riesige Statuen, die früher auf den Podesten gestanden haben mußten, die jetzt nackt und kahl zwischen den großen Türen aufragten. Um den Wall herum waren Odins drei Söhne, mit voller Rüstung angetan, damit beschäftigt, eine Bresche zu schlagen. Sie verfuhren dabei nach ihrer charakteristischen Taktik: mit viel Muskelkraft und wenig Besonnenheit. Soeben war es dem düsteren Heimdall gelungen, eine der quer liegenden Statuen wenigstens halbwegs beiseite zu räumen. Ein Teil des Walles stürzte ein. Schon sah es so aus, als müsse es dem ältesten der Odinssöhne nun gelingen, ins Innere der primitiven Festung einzudringen. Da aber kam durch die Bresche hindurch ein Wurfgeschoß geflogen, ein Balken von der Größe, wie ihn selbst eine ausgewachsene Männerhand nicht umfangen konnte. Mit fürchterlicher Wucht kam das Projektil an. Heimdall sah es im letzten Augenblick. Mit einem wütenden Schrei wollte er beiseite springen. Aber der Balken faßte ihn an der Schulter, wirbelte ihn herum und schleuderte ihn zu Boden. Die Odinssöhne standen einen Augenblick lang ratlos. Sie starrten zuerst auf den schwer angeschlagenen Bruder, dann auf den Wall. In dieser Sekunde sah Atlan an einer anderen Stelle der Barrikade ein schmales Gesicht mit hoher Stirn und blondem Haarschopf erscheinen. Das war Thalia! Er hatte also recht gehabt, daß sie sich in Gefahr befand. Aber er hatte nicht erwartet, daß sie in eine derart mörderische Auseinandersetzung mit ihren Brüdern verwickelt wäre. Und wer hatte den Balken geschleudert? Doch sicher nicht
Der Ruf des Wächters Thalia! Ihre Körperkräfte waren zwar bedeutend, aber an die ihrer Brüder reichten sie nicht heran. Die kleine Kampfpause gab dem Arkoniden Zeit, sich über seine Handlungsweise klar zu werden. Er mußte Thalia helfen. Er konnte einfach von hier aus auf die drei Odinssöhne eindringen, aber wahrscheinlich wäre er mit seiner armseligen Bewaffnung in Kürze erlegen. Das Goldene Vlies! schoß es ihm durch den Kopf. Er hatte den Anzug der Vernichtung an sicherem Ort verborgen, bevor er Pthor verließ. Mit dem Goldenen Vlies angetan, war er so gut wie unbesiegbar. Aber es blieb ihm keine Zeit, das Versteck aufzusuchen und den Anzug zu holen. Da fiel sein Blick auf eine Art Kronleuchter, der von der hohen Decke herabhing. Er war an einer Kette befestigt, die genau im Zenit der Kuppel aufgehängt war. Von der obersten Balustrade aus konnte man, wenn man etwas vom Springen verstand, die Kette erreichen. Sie war aus massiven, stählernen Gliedern gefertigt, die mühelos die zusätzliche Last eines Mannes tragen würden. Der Leuchter reichte bis auf eine Höhe von etwa sieben Metern herab und hing exakt über der Mitte der primitiven Festung. Atlans Plan stand fest. Er würde den Leuchter benützen, um zu Thalia ins Innere der Barrikade zu gelangen. Das ergab für die Angreifer einen Überraschungseffekt, den man würde ausnützen können. Im übrigen glaubte der Arkonide, an der Seite des unbekannten Schleuderers der Balken, noch dazu geschützt von einem Wall, stark genug zu sein, um die Bemühungen der Odinssöhne zunichte zu machen.
* In der Mitte des Saales herrschte noch immer Ratlosigkeit. Heimdall wand sich auf dem Boden. Er war bei Bewußtsein, schien aber arge Schmerzen zu empfinden. Unbemerkt schlich Atlan sich die Treppe hinauf und erreichte unangefochten die unterste Balustrade. Er sah sich um. Hier oben gab es
13 keine Treppe, die weiter in die Höhe führte. Aber es gab wiederum Türen und Gänge, die auf die Balustrade mündeten. Er untersuchte eine Reihe von Fluren und fand schließlich einen, aus dem eine Rampe zum nächsthöheren Rundgang emporführte. Auf diesem befand er sich nun in halber Höhe der Kuppel und brauchte nur noch einen weiteren Aufgang zu finden, um ans Ziel zu kommen. Hinter dem Geländer hervor beobachtete er die Vorgänge unten in der Halle. Heimdall hatte sich erhoben. Er hielt die linke Schulter gesenkt, und der linke Arm baumelte schlaff herab, als sei er ausgerenkt oder gebrochen. Der älteste Sohn Odins gab ein paar grollende Worte von sich, die der Arkonide auf seinem Lauscherposten jedoch nicht verstand. Dann humpelte Heimdall davon und verschwand durch eine der großen Türen. Balduur und Sigurd indes begannen, die Barrikade von neuem mit viel Ungestüm und wenig Glück zu berennen. Atlan bemerkte fasziniert, daß jedesmal, wenn sie eine Lücke gefunden zu haben schienen, aus dem Innern des Walls etwas geflogen kam: ein Balken, ein Stück Stein, der Teil einer Statue. Zwar wurde der Treffer, den Heimdall erhalten hatte, nicht wiederholt. Aber Sigurd und Balduur steckten eine Reihe derber Knüffe ein und wurden vor allen Dingen von jedem Treffer so weit zurückgeworfen, daß all ihre bisherige Mühe umsonst war. Atlan eilte davon. Mittlerweile wußte er, wie die Suche nach dem Aufgang zu betreiben war. Er fand ihn nach wenigen Minuten und stand kurze Zeit auf der höchsten Balustrade. Von hier waren es zwischen drei und vier Metern bis zu der Kette, an der der Leuchter hing. Der Arkonide befestigte die Machete am Gürtel, so gut es ging. Aber bevor er auf das Geländer stieg, um den gefährlichen Sprung zu wagen, warf er einen Blick in die Tiefe. Von hier aus konnte er ins Innere der Barrikade blicken, und als er sah, daß sich darin nur eine einzige Gestalt befand, stockte ihm der Atem.
14 Thalia war alleine! Sie hatte keinen Helfer! Sie selbst war die Schleuderin der Balken! Der Gedanke bewegte den Arkoniden so, daß er mechanisch auf die Brüstung kletterte, ohne eigentlich zu wissen, was er tat, die Entfernung zur Kette noch einmal abzuschätzen und mit voller Kraft zu springen. Der Schwung trug ihn mühelos bis zu den schweren Gliedern der Kette. Atlan klammerte sich daran fest. Das Gehänge war so massiv, daß sein Aufprall die Kette kaum in Bewegung versetzte. Unten, auf dem Boden der Halle, hatte man nichts von seinem gewagten Manöver bemerkt. Sigurd und Balduur waren schon wieder dabei, gegen die Barrikade anzurennen. Atlan blickte in die Höhe. Hier, aus unmittelbarer Nähe, konnte er erkennen, daß die Kette nicht an der Decke der Kuppel befestigt war, sondern durch ein Loch hing. Das Loch war weit genug, daß man an den stählernen Kettengliedern vorbei in einen hell erleuchteten Raum blicken konnte, ohne doch dort etwas zu erkennen. Der Arkonide machte sich an den Abstieg. In diesem Augenblick fuhr ein bedrohlicher Ruck durch die Kette. Aus der Höhe drang eine heisere, gehässige Stimme: »Das ist dein Verderben, Fremder!« Atlan blickte von neuem empor. Diesmal erblickte er Heimdalls wutverzerrtes Gesicht. Er sah die furchtbare Streitaxt blinken und wußte instinktiv, was der Odinssohn vorhatte. »Du tötest die eigene Schwester?« entfuhr es ihm. Heimdall blickte an der Kette entlang in die Tiefe. »Ja!« stieß er hervor. »Der Leuchter wird sie zerschmettern!« Das zweischneidige Blatt der Axt geriet in Bewegung. Irgendwo dort oben mußte es eine Halterung geben, die Heimdall durchtrennen wollte. Atlan warf einen verzweifelten Blick in die Tiefe. Heimdall hatte recht: Der Sturz des Leuchters mußte Thalia unweiger-
Kurt Mahr lich zerschmettern. Ein zweiter Ruck fuhr durch die Kette. Von oben ertönte ein knirschender Krach, wie wenn Metall auf Metall fährt. »Thalia!« schrie der Arkonide in höchster Verzweiflung. »Sieh dich vor!« Sein Schrei gellte weithin durch die große Halle und wurde von den Wänden vielfach zurückgeworfen. Die Kette hatte sich aus der Halterung gelöst. Atlan empfand das unangenehme Gefühl des freien Falls. Aus dem Innern der Barrikade starrte Thalia nach oben, und ihre Augen waren von Entsetzen erfüllt.
3. Feigling hatte erst ein paar Stufen der steilen Treppe bezwungen, da kam es ihm in den Sinn, daß diese Sache eigentlich viel zu gefährlich für ihn sei. Er blieb stehen. Und als er erkannte, daß Atlan sich nicht um ihn kümmerte, wandte er sich um und stieg die Treppe wieder hinab. An ihrem Fuß witterte er nach rechts und links, um sich zu vergewissern, daß sich nichts und niemand in der Nähe befinde. Schließlich schritt er in den weiten Gang hinaus, auf den die Treppe mündete, öffnete ein paar Türen und verkroch sich in einem kleinen, halbdunklen Raum, dessen Boden mit Staub bedeckt war, der unschwer erkennen ließ, daß schon seit Jahrzehnten niemand mehr hier gewesen war. In diesem Raum, der übrigens bar jeden Mobiliars war, versuchte Feigling, es sich so bequem wie möglich zu machen. Dabei allerdings wirbelte er Staub auf, der ihm in die Nase stieg und ihn zum Niesen reizte. Dadurch entstand eine Kettenreaktion, denn je heftiger der kleine Mann nieste, desto mehr wurde der Staub in der Luft herumgewirbelt. Feigling mußte schließlich die Tür öffnen und einen Teil des angesammelten Staubes in den Gang hinaus entweichen lassen. Erst dann hatte er Ruhe. Er hockte sich auf den Boden und lehnte den Rücken gegen die Wand. In dieser Position begann er, über
Der Ruf des Wächters seine Lage nachzudenken. Sie war nicht gerade das, was er sich wünschte. Die Furcht hatte ihn veranlaßt, in diesem vergessenen Gelaß Zuflucht zu suchen. Der Verstand sagte ihm, daß er hier nicht lange werde bleiben können. Von jetzt an war er auf sich selbst gestellt. In diesem Licht betrachtet, war sein Entschluß, Atlan allein die Treppe emporsteigen zu lassen, womöglich nicht besonders klug gewesen. Aber Feigling war nicht nur feige, sondern auch ein Fatalist. Es ließ sich jetzt nichts mehr daran ändern, sagte er sich. »Du wirst hier jämmerlich verhungern«, drang plötzlich eine helle, klare Stimme aus dem Halbdunkel des kleinen Raumes. Feigling erschrak fürchterlich. Er fuhr kerzengerade in die Höhe und sah sich aus schreckgeweiteten Augen um. Er erblickte niemand. »Oder kannst du dich vielleicht von Staub ernähren?« fragte die Stimme. »In diesem Fall hast du einen Vorrat für mehrere Monate.« »Wer … wer bist du?« ächzte Feigling. »Kennst du mich nicht mehr? Ich bin die Stimme. Wir sind einander bereits begegnet.« Feigling drehte sich mehrmals um die eigene Achse. »Wo steckst du?« wollte er wissen. »Gib dir keine Mühe«, erwiderte die Stimme. »Du kannst mich nicht sehen. Ich wollte dich nur fragen, wie du dir deine weitere Zukunft vorstellst. Und wenn du mit mir darin übereinstimmst, daß du in dieser Kammer nicht immer bleiben kannst, dann läßt du dich womöglich dazu bewegen, aus deinem Versteck hervorzukommen und etwas Gutes zu tun.« »Etwas Gutes?« fragte Feigling erstaunt. »Odins Söhne sind im Begriff, zwei Morde zu begehen«, sprach die Stimme. Sie klang in diesem Augenblick so eindringlich und besorgt, daß in Feiglings Seele eine Saite berührt wurde, die schon lange nicht mehr geschwungen hatte. »Und du meinst … ich kann helfen?«
15 stotterte er. »Ich glaube, du kannst helfen«, sagte die Stimme. »Was habe ich zu tun?« »Folge mir! Ich werde dich geleiten. Öffne die Tür und tritt auf den Gang!«
* Atlan fühlte sich elend und zerschlagen. Es gab nicht einen Nerv an seinem Körper, der nicht schmerzte. Es fiel ihm zunächst schwer, sich an die jüngsten Ereignisse zu erinnern. Stück um Stück fügten sich Bilder aus seinem Gedächtnis zu einem verständlichen Ganzen zusammen. Er war mitsamt der Kette und dem Leuchter in den Mittelpunkt der Halle gestürzt! Unter diesem Aspekt betrachtet, war es ein Wunder, daß er überhaupt noch denken konnte. Der Leuchter hatte Thalia zerschmettert! Diese Vorstellung verhalf seinem Bewußtsein vollends auf die Beine. Hatte Thalia wirklich den Tod erlitten? War wirklich kein Wunder geschehen, sie vor dem Aufprall der mörderischen Metallmasse zu retten? Er mußte Gewißheit haben. Er spannte die Muskeln und stemmte sich in die Höhe, noch bevor er die Augen geöffnet hatte. Da hörte er unmittelbar vor sich eine höhnische Stimme: »Schaut her! Die Teufel sind mit dem Fremden im Bund! Er lebt noch!« Atlan öffnete die Augen. Die Helligkeit, so gering sie auch sein mochte, blendete ihn. Schwindel griff nach seinem Bewußtsein. Er hatte Mühe, die Augen so auszurichten, daß sie ihm ein klares Bild vermittelten. Vor ihm kauerte Balduur. Es war seine Stimme, die Atlan gehört hatte. Der Odinssohn trug noch immer die volle Rüstung. Atlans Blick wanderte zur Seite. Er sah Trümmer, die zu einem Wall aufgehäuft waren, der mittlerweile jedoch zahlreiche Breschen besaß. In Atlans unmittelbarer Nähe lagen ein paar Glieder einer mächtigen, stählernen
16 Kette. Es durchfuhr ihn wie ein Schauer, als er daran dachte, daß die Kette ihn ebensogut unter sich hätte begraben können. »Wo ist Thalia?« entfuhr es ihm, und seine Stimme hatte einen heiseren, krächzenden Klang. Balduur grinste hämisch. »Wir haben sie auch«, antwortete er. »Du und sie, ihr werdet das gleiche Schicksal erleiden.« »Welches?« »Ihr sterbt!« erklärte der Ase hart. Dann stand er auf und schritt mit klirrender Rüstung davon. Er war Atlans Blickfeld bald entschwunden. Der Arkonide lauschte. Als Balduurs Schritte verklungen waren, gab es kein Geräusch mehr in seiner Umgebung. Hatten die Odinssöhne ihn allein gelassen? Vertrauten sie so sehr auf die Wirkung des fürchterlichen Sturzes, daß sie ihm keinen Wächter gaben? Atlan war noch immer benommen. Seine Gedanken bewegten sich träge unter dem dumpfen Druck, der auf seinem Bewußtsein lastete. Die Muskeln gehorchten dem Befehl seines Gehirns nur zögernd. Er war unbeholfen, aber es gelang ihm, auf die Beine zu kommen. Er befand sich ohne Zweifel im Innern der Barrikade, hinter der sich Thalia mit verzweifeltem Mut gegen die Brüder verteidigt hatte. Der Innenraum war leer bis auf ein paar Trümmerstücke, die hier und da verstreut lagen. Atlan kam zu Bewußtsein, was Balduur gesagt hatte: Du und sie, ihr werdet das gleiche Schicksal erleiden. Thalia! Sie war noch am Leben! Er mußte sie finden. Zusammen vielleicht konnten sie etwas gegen die mordlustigen Brüder ausrichten. Wenn nur der lähmende Schmerz im Hinterkopf nicht gewesen wäre! Der Arkonide hielt inne, als er plötzlich halblautes Schluchzen hörte. Er wandte sich nach rechts und räumte ein paar Balken zur Seite. Dahinter kam eine kleine Fläche freien Raumes zum Vorschein, und dort hockte
Kurt Mahr Thalia, die Beine an den Leib gezogen, die Arme über den Knien verschränkt und den Kopf gesenkt. Auf der rechten Wange war die Haut aufgeschürft und blutig. Thalia hatte den Absturz des Leuchters nicht gänzlich ohne Schaden überstanden. Trockenes Schluchzen schüttelte den Körper der jungen Frau in unregelmäßigen Abständen. Unendliches Mitleid ergriff den Arkoniden. Er kniete nieder und berührte vorsichtig Thalias Schläfe. Die Frau sah auf: Die tränenverschleierten Augen erkannten den Fremden zuerst nicht. Doch dann stöhnte Thalia auf: »Atlan …!« Sie griff nach ihm. Er zog sie an sich und bettete ihren Kopf auf seiner Schulter. Er sprach beruhigend auf sie ein, halblaute Worte, die keinen Sinn ergaben, sondern nur besänftigen sollten. Plötzlich ertönten laute Geräusche in der Nähe. Das Gerümpel, aus dem die Barrikade bestand, wurde beiseite geschleudert. In Atlans Blickfeld erschien ein geschientes Bein. Ein Fuß, angetan mit einem klobigen Stiefel, wurde knallend zu Boden gesetzt. Atlan sah auf. Vor ihm stand der düstere Heimdall. In seinen Augen glomm ein gefährliches Licht. »Habt ihr euch gefunden?« dröhnte seine Stimme. »Der Verräter und die Hochstaplerin! Steht auf und geht vor mir her! Euer Schicksal wird sich in wenigen Minuten vollziehen!«
* Feigling wußte nicht, wie ihm war. Er stieg die Treppe hinauf, obwohl er sich vor dem fürchtete, was ihn oben erwartete. Er hatte es sogar eilig, die hohen, steilen Stufen emporzuklimmen, obwohl das Herz ihm flatterte, wenn er an die Gefahren dachte, die ihn erwarteten. Wenn aber die Furcht die Oberhand gewinnen wollte und Feigling den Schritt verlangsamte, dann erklang von irgendwoher die Stimme:
Der Ruf des Wächters »Du hast versprochen, Gutes zu tun! Ermanne dich!« Die Stimme war Feigling unheimlich. Er wußte, daß sie dem kleinen Androiden gehörte, dem er mit Atlan draußen vor der Festung begegnet war – einem künstlichen Geschöpf, das die Kelotten von Aghmonth hergestellt hatten. Plötzlich jedoch schien die Stimme körperlos geworden. Sie erklang einmal von hier, ein andermal von dort. Feigling hielt nach dem Zwerg Ausschau. Aber der war nirgendwo zu sehen. Vom oberen Ende der Treppe kam das Geräusch von Leuten, die laut miteinander sprachen. Feigling verspürte mit einemmal Ungeduld. Er wollte wissen, worüber da gesprochen wurde. Noch schneller als zuvor hastete er die Stufen hinan. Es war ihm gelungen, die Furcht zu bezwingen. Schließlich erreichte er das obere Ende der Treppe. Er kletterte nicht bis zur obersten Stufe, sondern blieb auf der drittobersten stehen. Von dort sah er etwa auf der Ebene des Fußbodens in eine große Halle hinein, die für die Verhältnisse der Festung ungewöhnlich hell erleuchtet war. In der Mitte der Halle hatte jemand einen Haufen Schutt abgeladen. So wenigstens sah es aus Feiglings Perspektive aus. Und in der Nähe des Schutthaufens standen drei mächtige, gewappnete Gestalten in einem Halbkreis. Im Mittelpunkt des Halbkreises hockten eine Frau und ein Mann auf dem Boden. Der Mann war Atlan! Feigling begriff intuitiv, daß es sich hier um ein Tribunal handelte. Die drei Gewappneten entschieden über das Schicksal des Mannes und der Frau. Dem kleinen Mann zog sich unwillkürlich das Herz zusammen, als er die Tragweite des Geschehens begriff. Die Brüder saßen über die Schwester zu Gericht! Der Größte unter den drei Odinssöhnen erklärte soeben mit schwerer Stimme: »Sie hat das verabscheuungswürdigste aller Verbrechen begangen! Sie hat sich in eine Maske verhüllt und sich in betrügerischer
17 Absicht als Odin ausgegeben. Sie, das schwache Weib, hat uns den Stärksten unter den Starken vorgespielt! Darauf steht der Tod!« »Der Tod!« echoten Sigurd und Balduur. Da hielt es Feigling nicht länger mehr auf seinem Lauscherposten. Er stieg die beiden letzten Stufen hinauf. Niemand nahm ihn wahr. Die drei Brüder waren zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Atlan und Thalia dagegen wandten der Treppe den Rücken zu. Feigling trat näher. Es wollten ihm schon Zweifel kommen, ob er seinen Auftritt eindrucksvoll genug werde gestalten können, um die Brüder von ihrem wahnsinnigen Unterfangen abzuhalten. Da aber kam ihm die Stimme zu Hilfe. Laut und durchdringend verkündete sie: »Haltet ein, ihr Mordgierigen! Denn hier kommt ein Mächtigerer, der eure Gedanken mißbilligt!«
* Atlan hatte Thalia den Arm um die Schulter gelegt. Seite an Seite traten sie durch eine Bresche der Barrikade, hinter der sich Odins Tochter so tapfer verteidigt hatte. Heimdall stapfte hinter ihnen drein. Draußen standen Sigurd und Balduur, die Mienen düster und die Augen voller Haß. Balduur zog das Schwert und wies mit der Spitze der Waffe auf den Boden. »Hier setzt euch nieder! Es geziemt euch nicht, zu stehen, während Odinssöhne über euch Gericht halten.« Atlan hielt vergebens nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau. Geradewegs voraus lag die Mündung der Treppe, über die er gekommen war. Aber es gab keine Aussicht, daß er mit Thalia die abwärts führenden Stufen hätte erreichen können. Die Odinssöhne geboten den beiden Angeklagten, wie sie sie nannten, sich so zu setzen, daß sie der Treppe den Rücken zuwandten. Dann begann Heimdall: »Wir stehen hier zusammen, um ein Ur-
18 teil zu fällen über einen Verräter und eine Hochstaplerin. Einen Verräter, der versucht hat, sich in unsere Herzen zu schleichen, um Pthor feindlichen Mächten auszuliefern und uns der Macht zu berauben, die uns als den Söhnen Odins zusteht. Und eine Hochstaplerin, die billigen Zauber und heimtückische Magie miteinander verband, um uns das Ebenbild des Vaters vorzugaukeln.« Atlan hörte kaum hin. Das waren großsprecherische Worte, die so voller Unwahrheiten staken, daß es schwerfiel zu bestimmen, wo eine Verteidigung hätte ansetzen sollen. Solange Heimdall sprach, war der Tod noch nicht in der Nähe. Atlan benützte die Gelegenheit, um einen Fluchtweg zu suchen. Je mehr er sich aber umsah, desto hoffnungsloser erschien ihm die Lage. Ihm allein hätte das Entkommen wohl gelingen mögen. Aber es kam ihm nicht ein einziges Mal in den Sinn, sich selbst in Sicherheit zu bringen und Thalia ihren mordgierigen Brüdern zu überlassen. Er fragte sich, wie das alles gekommen war. Er hatte geglaubt, Heimdall ziehe sich vom Kampf zurück, weil der wuchtig geschleuderte Balken ihn verletzt hatte. Statt dessen jedoch hatte der Düstere in Wirklichkeit eine andere Möglichkeit erspäht, das Gefecht zu seinen und seiner Brüder Gunsten zu entscheiden. Der Zufall und das Unglück hatten es gewollt, daß er den Ort, an dem der Leuchter aufgehängt war, ausgerechnet in dem Augenblick erreichte, in dem Atlan an der Kette entlang in die Tiefe klettern wollte, um Thalia zu Hilfe zu kommen. Die mächtige, zweischneidige Streitaxt hatte der Aufhängung im Handumdrehen den Garaus gemacht. Atlan, die Kette und der Leuchter waren in die Tiefe gestürzt. Ein weiteres Mal dankte der Arkonide dem Schicksal, das bei dem gräßlichen Unfall sein und Thalias Leben bewahrt hatte. Inzwischen hatten auch Balduur und Sigurd ihre Ansichten zu den vermeintlichen Verbrechen geäußert, die Atlan und Thalia begangen hatten. Heimdall, der die Rolle des Hauptanklägers spielte, faßte noch einmal
Kurt Mahr zusammen: »Wahrhaftig – schlimmer sind die Söhne Odins noch nicht betrogen worden als durch diese beiden. Wohingegen der Verrat gemeinhin ein häßlicheres Verbrechen ist als die Hochstapelei, muß man in diesem Fall gesondert bedenken, was die Hochstaplerin im Schilde führte. Sie hat das verabscheuungswürdigste aller Verbrechen begangen! Sie hat sich in eine Maske verhüllt und sich in betrügerischer Absicht als Odin, den mächtigen Vater der Götter ausgegeben. Sie, das schwache Weib, hat uns den Stärksten unter den Starken vorgespielt! Darauf steht der Tod!« »Der Tod!« hallte es von Balduur und Sigurd dumpf wider. Die Verzweiflung ergriff von Atlan Besitz. Wie, wenn die drei Wahnsinnigen vorhatten, die Todesstrafe an Ort und Stelle zu vollziehen? Gab es wirklich keine Rettung mehr? Da plötzlich ertönte eine laute, klare Stimme: »Haltet ein, ihr Mordgierigen! Denn hier kommt ein Mächtigerer, der eure Gedanken mißbilligt!«
* Verblüfft wandten die drei Odinssöhne sich um. Auch Atlan fuhr herum, um sehen zu können, wer da sprach. Als er Feigling erblickte, war er überrascht und verwirrt zugleich. Denn es war nicht Feiglings Stimme gewesen, die er gehört hatte. Wie aber hatte der kleine Mann den Mut aufgebracht, ihm zu folgen? Es konnte ihm nicht entgangen sein, was hier vorging. Hatte er keine Angst, daß die düsteren, dem Wahnsinn verfallenen Brüder ihn als unerwünschten Eindringling betrachten und ebenfalls hinrichten würden? Angst hatte er, das sah Atlan ihm an. Gleichzeitig aber glomm ein Licht in Feiglings Augen, das der Arkonide nie zuvor bemerkt hatte. Der kleine Mann war – in diesem Augenblick wenigstens – fest entschlos-
Der Ruf des Wächters sen, die Furcht zu unterdrücken und das zu tun, was er sich vorgenommen hatte. »Wer bist du?« knurrte Sigurd feindselig. »Und welcher Größenwahn bewegt dich dazu, dich einen Mächtigeren zu nennen?« Feigling machte eine fahrige Geste. »Das war nicht ich«, sagte er. »Das war die Stimme.« Beim Klang seiner Worte fuhren die drei Odinssöhne zusammen. Verwundert sah Atlan, wie Balduurs Gesicht sich zu einer Grimasse verzerrte. Balduur stand seitwärts von ihm. Die Gesichter Sigurds und Heimdalls konnte der Arkonide nicht sehen. Aber er spürte, daß die beiden anderen Odinssöhne dieselbe Art ungläubigen Entsetzens empfanden wie Balduur. »Diese Stimme …«, ächzte Heimdall. »Woher … woher …?« Der Schreck hatte ihn so gepackt, daß ihm die Worte fehlten. Inzwischen sah Feigling sich angelegentlich um. Er musterte den Trümmerhaufen, der einst eine Barrikade gewesen war. Sein Blick glitt über Atlan, ohne daß er dabei ein Zeichen des Erkennens gegeben hätte. Auf Thalia, die sich nicht gerührt hatte, blieb er längere Zeit haften, dann wanderte er weiter. Feigling musterte die drei Brüder sorgsam und ausgiebig. So verging mehr als eine Minute, während deren in dem großen Kuppelsaal tödliche Stille herrschte. Schließlich begann der kleine Mann zu sprechen. »Ihr Narren!« begann er. »Was habt ihr vor? Das eigene Fleisch und Blut und einen Unschuldigen zu töten? Was ist euch in den Sinn gefahren? Haben die Nebel von Kalmlech euch den Verstand getrübt? Ich erinnere mich jetzt! Wo ich war, herrschten Ruhe und Friede. Ihr aber, ihr Narren, konntet mich nicht in Ruhe lassen! Ihr wart es, die mich hier manifestierten!« Atlan traute seinen Ohren nicht. Konnte es wirklich sein, daß …? »Odin …!« schrie in diesem Augenblick Heimdall auf. Es war ein wilder Schrei, den die Wände
19 der Halle in vielfachem Echo hin und her warfen. Heimdall geriet ins Wanken, als habe ihm der Anblick des Vaters das Gleichgewicht geraubt. Er ging langsam in die Knie und sank zu Boden. Dann warf er sich vornüber und begann, mit beiden Fäusten auf den Boden zu trommeln und dabei zu schreien, als habe er den Verstand verloren. Balduur und Sigurd standen wie Statuen. Aber auch Feigling rührte sich nicht. Er hatte seinen Spruch gesagt, so kam es einem vor, und nun stand er da, mit einem verlegenen, wie um Entschuldigung bittenden Lächeln auf dem Gesicht. Atlan war nicht sicher, ob nicht im nächsten Augenblick die Angst wieder Gewalt über den kleinen Mann gewinnen und ihn in ein zitterndes Nervenbündel verwandeln würde. Der Arkonide schüttelte den Bann der Überraschung ab. Er begriff mit einemmal, welch einmalige Gelegenheit ihm in diesen Augenblicken geboten wurde. Heimdall gebärdete sich wie ein Rasender, der Rest der Szene war zur Bewegungslosigkeit erstarrt. Atlan sprang auf. Im Aufspringen faßte er Thalias Arm und zog sie mit sich. »Lauf um dein Leben!« raunte er ihr zu. Sie rannten zwischen Sigurd und Balduur hindurch, an Heimdall und Feigling vorbei. Niemand kümmerte sich um sie. Binnen weniger Sekunden erreichten sie die Treppe, die nach unten und damit in die Sicherheit führte.
4. In einem kleinen Tal am Osthang des Taam-Bergs hockten zwei Männer vor einem Zugor und verzehrten schweigend eine Mahlzeit, die aus getrockneten Fleischstücken bestand. Es ging gegen Abend. Die hohen Zinnen des Taam-Massivs warfen ihre Schatten in das Tal und schafften Abhilfe von der Hitze des Tages. Von den beiden Männern war der eine jung, mittelgroß und kräftig gebaut. Mit der bronzenen Hautfarbe, den braunen Augen und dem kühn geschnittenen Gesicht erinnerte er an einen nordame-
20 rikanischen Indianer. Sein Gefährte dagegen war lang und hager, von schwer bestimmbarem Alter und mit einem Hauch von Düsterkeit behaftet. Der dunkle Haarschopf umrahmte den schmalen, hohen Schädel wie ein Mantel und reichte bis in den Nacken herab. Nachdem die beiden Männer ihre Mahlzeit beendet hatten, schritten sie zu einem kleinen Wasserlauf, der nur wenige Meter von ihrer Raststätte floß, beugten sich nieder und schöpften mit hohlen Händen Wasser, um ihren Durst zu stillen. Auf dem kurzen Weg zum Bach war zu sehen, daß der ältere der beiden leicht hinkte. Zum Rastplatz zurückgekehrt, sagte der Hagere: »Wir bleiben die Nacht über hier. Es hat keinen Zweck, in der Dunkelheit umherzuirren.« Ein feines, spöttisches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Jüngeren. »Du fürchtest dich, den Weg zu verlieren?« Der Hagere gab einen kurzen, mißbilligenden Laut von sich. Dann antwortete er: »Es geht nicht um den Weg. Den finde ich auf jeden Fall. So ein Zugor ist ein verläßliches Fahrzeug. Es dreht sich um die Festung. Ich war ein paar Tage unterwegs. Niemand weiß, was sich inzwischen dort getan hat. Die drei Odinssöhne sind so zuverlässig und berechenbar wie ein angeschossenes Nashorn. Ich möchte mich umsehen, bevor ich in der Nähe der Festung lande, und das kann ich am besten bei Tag.« »Klar«, nickte der Jüngere. »Du sorgst dich um Thalia?« »Und ob!« knurrte der andere. »Wenn Balduur, Sigurd und Heimdall dahinter kommen, daß ihre eigene Schwester ihnen den mächtigen Odin vorspielt, dann reißen sie das Mädchen bei lebendigem Leib in Stücke.« Das Seltsame an der Unterhaltung der beiden Männer war, daß sie in einer Sprache geführt wurde, die man auf Pthor so gut wie nie zu hören bekam: Interkosmo. Das hatte
Kurt Mahr seinen Grund. Der Jüngere sprach kein Pthora. In dem indianischen Körper, der einst einem Schläfer namens Grizzard gehört hatte, stak kein anderer als Sinclair Marout Kennon, auch unter dem Namen Lebo Axton bekannt, der bei seiner Suche nach Atlan die Dimensionskorridore durchkreuzt hatte und schließlich auf Pthor gelandet war. Sein Begleiter war Razamon, der Gefährte des Arkoniden, der mit diesem auf Pthor gefangen war, seitdem sie den Wölbmantel durchdrungen hatten, um die Gefahren zu untersuchen, die von dem so unerwartet materialisierten Atlantis ausgingen.
* In der Nacht erwachte Razamon. Er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Wie es seine Art war, blieb er zunächst liegen, um zu lauschen. Nachdem ein paar Minuten vergangen waren, ohne daß er etwas Verdächtiges gehört hatte, richtete er sich auf. In diesem Augenblick fielen sie über ihn her – hagere, verbissene Gestalten, die wie Schatten aus der Nacht wuchsen und mit einer Unerbittlichkeit zu Werke gingen, der Razamon nichts Wirksames entgegenzusetzen hatte. Einer der wüsten Gesellen bekam ihn an der Gurgel zu fassen und drückte zu, bis der Pthorer das Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, spürte er ein jämmerliches Pochen im Schädel. Ihm war übel, und die Zunge lag ihm wie ein Stück Pelz im Mund. Er versuchte, sich aufzurichten. Aber das gelang ihm nicht. Man hatte ihn mit Fesseln umschnürt. Es war noch immer dunkel, aber von irgendwoher drang ein matter, unbestimmbarer Schein, als sei der Tag am Dämmern. Aus der näheren und weiteren Umgebung kamen schnarchende und ächzende Geräusche von Leuten, die anscheinend in tiefstem Schlaf lagen. Razamons Augen gewöhnten sich schließlich so weit an die Dunkelheit, daß er eine finstere Felswand erkennen konnte, die dicht hinter ihm aufragte. Auf der anderen Seite, kaum sechs oder sie-
Der Ruf des Wächters ben Meter entfernt, gab es eine ähnliche Wand. Die nächtlichen Angreifer hatten ihre Gefangenen – denn der Pthorer nahm als sicher an, daß Grizzard dasselbe Schicksal erlitten hatte wie er – in eine Schlucht geschleppt. Razamon stemmte sich gegen die Fesseln. Er wälzte sich hin und her und versuchte die Bande so weit zu lockern, daß er wenigstens die Hände freibekommen konnte. Da ertönte über ihm eine barsche Stimme: »Laß das, Schwächling! Gegen Berserkerfesseln kommst du nicht an!« Gleichzeitig erhielt der Pthorer einen heftigen Tritt in die Seite. Er verzichtete daraufhin auf alle weiteren Befreiungsversuche. Die Angreifer hatten also einen Posten aufgestellt. Razamon konnte nicht erkennen, wo der Kerl Station bezogen hatte. Auf jeden Fall war es besser, ihn nicht zu reizen. Der Pthorer bedachte seine Lage. Sie hätte, so versuchte er sich klarzumachen, schlechter sein können. Er war Berserkern in die Hände gefallen. Die Berserker hausten seit jeher im Massiv des Taam-Bergs. Sie gehörten zu den gefürchtetsten Räubern von Pthor, und wenn Pthor auf einer anderen Welt materialisierte, waren es die Berserker, die nächst den wilden Horden der Bestien von Kalmlech auf der Gastwelt den größten Schaden anrichteten. Razamon aber war ein Abkömmling der Familie Knyr. Die Knyr gehörten zu den geachtetsten und einflußreichsten Sippen der Berserker. Sie waren nicht ohne Feinde. Aber Razamon glaubte dennoch, daß er den berühmten Namen in die Waagschale werde werfen können, um sein und Grizzards Los zu verbessern. Als die Zeit verstrich, konnte Razamon in der Nähe ein Stück Firmament ausmachen, das allmählich heller wurde. Der Tag graute, und das aufbrechende Licht rückte die Umrisse der Umgebung langsam aus der Finsternis hervor. Das Gelände war tatsächlich eine schmale, aber nicht sonderlich tief eingeschnittene Schlucht. Die Wände stiegen zu beiden Seiten in
21 zerklüfteten, unregelmäßigen Stufen bis zu einer Höhe von rund zehn Metern auf. Auf den Stufen hatte sich Pflanzenwuchs, darunter ein paar ausgewachsene Bäume, festgesetzt. Der Boden der Schlucht, im Mittel etwa sechs Meter breit, war mit Geröll bedeckt. Zur linken Hand reichte die Kluft noch etwa zwanzig Meter bis an eine steil und glatt aufragende Wand, an deren Fuß ein kleiner Quell entsprang, der jedoch alsbald wieder im Boden versickerte. Nach rechts konnte Razamon die Ausdehnung der Schlucht nicht überbrücken, da die Felswände dort eine Biegung beschrieben. Auf der Sohle der Kluft ruhten auf Lagern, die aus trockenem Laub und Fellen errichtet worden waren, etwa dreißig Berserker. Grizzard entdeckte Razamon schließlich auch. Man hatte ihn von ihm abgesondert und in der Nähe der Quelle zu Boden gelegt. Er war ebenso gefesselt wie der Pthorer. Das bedeutete, daß er noch am Leben war, und dies wiederum nahm Razamon mit Erleichterung zur Kenntnis. Das wüste Lager erwachte allmählich. Die Berserker erhoben sich schlaftrunken und wankten zur Quelle, um sich die Müdigkeit aus den Augen zu reiben und die Lebensgeister mit einem kühlen Schluck anzuregen. Den Gefangenen schenkte man keine Beachtung. Gesprochen wurde nur wenig, und aus den spärlichen Worten konnte der Pthorer nichts über die weiteren Absichten der Räuber erfahren. Der Wächter, erkannte Razamon, hatte unmittelbar an der Schluchtbiegung gestanden. Deswegen hatte er ihn nicht wahrnehmen können. Die Berserker verzehrten eine primitive Mahlzeit, deren Bestandteile sie den verschiedenen Taschen ihrer samt und sonders nicht eben sauberen Kleidung entnahmen. Den Gefangenen wurde nichts angeboten, was Razamon beim Anblick des Proviants nicht sonderlich störte. Nach dem Frühstück kam allmählich Ordnung in das Ganze. Die Berserker hockten sich in zwei Reihen an den beiden Felswän-
22 den entlang. In unmittelbarer Nähe der Quelle, auf leicht erhöhtem Gelände, bezog ein Mann Stellung, der gut und gerne zwei Meter hoch und in den Schultern an die fünf Fuß breit war. Die mächtige Gestalt war in ein Fellgewand gekleidet. Ein roher Strick hielt das Gewand um die Taille herum zusammen, und an dem Strick war in einem primitiven Gehänge ein Schwert befestigt, das so breit und lang war, daß ein mit normalen Kräften ausgestatteter Mensch es sicherlich nur mit zwei Händen schwingen konnte. Der Riese trug wilden, verfilzten Haarwuchs, der ihm bis auf die Schultern herabreichte, und einen derart profusen Bart, daß von seinem Gesicht nur noch die Augen und die rot gefärbte Knolle der Nase zu sehen war. Es war nicht schwer zu erraten, daß dieser Mann der Anführer der Berserker sein müsse. Razamon suchte nach einer Familienähnlichkeit und wollte erkennen, welcher Sippe der Gigant angehörte. Bei dem üppig sprossenden Haarwuchs war das jedoch ein vergebliches Unterfangen. Der Riese stampfte mit dem rechten Fuß auf den Boden. Sofort erstarb jegliche Unterhaltung. »Man bringe die Gefangenen vor mich!« forderte er mit dröhnender Stimme. Drei Berserker eilten herzu, hoben Razamon auf und schleppten ihn vor den Anführer. Vor dessen Füßen legten sie ihn zu Boden. Bei Grizzard brauchte man sich solche Mühe nicht zu machen. Er lag ohnehin schon in der Nähe. Er bekam ein paar Tritte, bis er sich in einer Position befand, aus der er den Anführer anblicken konnte. Der Riese hatte es ausgerechnet zuerst auf Grizzard abgesehen. Er gab ihm mit dem Fuß einen derben Stoß und herrschte ihn an: »Wer bist du? Was hast du im Land der Berserker verloren? Wer sind deine Freunde, und wieviel sind sie willens, für deine Freiheit zu bezahlen?« Grizzard verstand die Worte nicht. Er begriff jedoch die Gefahr, die darin lag, den
Kurt Mahr Anführer der Berserker zu mißachten. Er machte daher krampfhafte Bewegungen mit dem Mund, die andeuten sollten, daß er nicht sprechen könne. Der Berserker musterte ihn verdutzt. Dann wandte er sich an Razamon. »Was will er damit sagen?« fragte er. »Er ist stumm. Er kann nicht sprechen.« »Versteht er die Gestensprache der Stummen nicht?« »Nein. Er hat die Sprache erst vor kurzem verloren, bei einem Unfall.« Der Anführer erklärte: »So wirst du mir Rede und Antwort stehen. Er ist dein Gefährte?« »Ja.« »Gut. Du kennst seine Verhältnisse?« Razamon wußte inzwischen, daß es um reine Wegelagerei, um das Erpressen eines Lösegeldes ging. Er entschloß sich, Grizzard völlig aus der Sache herauszuhalten. »Er ist ein armer Schlucker«, sagte er. »Er kommt aus Moondrag, aber seine Familie wurde getötet, und sein gesamtes Hab und Gut ging verloren, als die Stadt zerstört wurde.« Der Anführer verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse und stieß einen düsteren Fluch aus. »Und du?« fuhr er Razamon an. »Bist du auch mittellos? Ich warne dich! Wenn ihr beide nichts habt, bringen wir euch beide um. Uns nützen nur Gefangene etwas, die sich loskaufen können.« »So kann nur einer fragen, der noch nicht besonders weit im Taam-Berg herumgekommen ist«, erwiderte Razamon spöttisch. »Sieh mich an? Erkennst du nicht, daß ich einer der euren bin?« Der Berserker kratzte sich an der Schläfe und sah nachdenklich drein. »Bei allen Geistern – da ist etwas dran! Du bist selber ein Berserker?« »Meine Vorfahren waren Berserker«, antwortete Razamon ausweichend. »Von der berühmtesten aller Sippen.« Es blitzte in den Augen des Anführers. »Welcher?« wollte er wissen.
Der Ruf des Wächters »Wie viele gibt es schon, die Anspruch darauf erheben können, die berühmteste Sippe genannt zu werden?« Der Anführer versetzte ihm einen Tritt. »Welcher?« schrie er. »Halt mich nicht zum Besten!« »Ich bin ein Knyr!« antwortete Razamon.
* Dumpfes Gemurmel rollte durch die Schlucht. Die Augen des Anführers leuchteten in einem eigenartigen Glanz. Razamon wurde unangenehm zumute. Er hatte das Gefühl, einen kapitalen Fehler gemacht zu haben. Die Bestätigung ließ nicht lange auf sich warten. Der Riese trat ihm mit solcher Wucht in die Seite, daß der Pthorer sich trotz der Fesseln krümmte. »Hund!« gellte der zornige Schrei des Berserkers. »Weißt du, vor wem du im Dreck liegst? Sag es: Weißt du es?« »Ich weiß es nicht!« würgte der Pthorer hervor. »So höre und lasse deine Seele zittern: Ich bin Kimean aus der Sippe der Xohr. Und wenn du die Geschichte dieses Berges kennst, dann weißt du, daß es nirgendwo zwei Sippen gegeben hat, die ärger miteinander verfeindet waren als die Xohr und die Knyr.« Er stieß ein dröhnendes Gelächter aus, als er Razamons erschrecktes Gesicht bemerkte. »Jetzt ist ihm das Entsetzen in die Knochen gefahren!« rief er seinen Leuten zu. »Dem vornehmen Knyr, dessen Familie auf die Sippe der Xohr immer mit Verachtung herabgeblickt hat!« Er beugte sich zu Razamon nieder und sagte halblaut, als wolle er dem Pthorer etwas Vertrauliches mitteilen: »Weißt du, was ich mit dir machen werde?« Razamon antwortete nicht. »Ich verzichte auf dein Lösegeld«, fuhr Kimean fort. »Statt dessen mache ich mir einen Spaß. Ich habe schon lange keinen
23 Knyr mehr sterben sehen. Du wirst diesem Mangel abhelfen!« Mit einem Ruck richtete er sich wieder auf. Seine Augen sprühten, als er seinen Leuten befahl: »Schafft ihn dort hinauf und stürzt ihn herab – gefesselt, wie er ist. Die Knyr haben weiche Schädel, er wird sich zu Tode stürzen!« Vier, sechs, acht Hände griffen nach Razamon. Er wurde bis zu einer Stelle der Felswand geschleppt, an der sie leichter zu ersteigen war als anderswo. Drei Berserker, mit Seilen bewaffnet, kletterten voraus. Auf der untersten Stufe der Felswand blieben sie stehen. Die Seile wurden an Razamons Fesseln befestigt, dann zog man ihn herauf. So ging es weiter, Stufe um Stufe. Der Pthorer kam unsanft mit dem Felsen in Berührung. An Armen und Beinen und im Gesicht wurde ihm die Haut abgeschürft. Er verlor allmählich jedes Gefühl und spürte, wie er langsam in die Bewußtlosigkeit hinüberglitt. Aber da geschah es auf der zweitobersten Stufe, daß er beim Einwickeln in die Seile so gedreht wurde, daß er einen Blick nach unten in die Schlucht werfen konnte. Er sah Grizzard, und Grizzard schaute seinerseits in Razamons Richtung. Grizzard lächelte! Sein Blick schien den Pthorer aufmuntern zu wollen. Razamon war sofort hellwach. Hatte Grizzard etwas gesehen? Gab es Hoffnung auf Rettung? Das einzige, was er tun konnte, war, den Berserkern die Arbeit so schwer wie möglich zu machen. Während er weiter emporgezogen wurde, versetzte er die Seile in leichte Schwingungen und bewerkstelligte es mehrere Male, daß seine Fesseln sich in Zweigen verfingen. Das kostete Zeit, denn die Berserker mußten zu ihm herab- bzw. heraufklettern, um ihn wieder loszumachen. Am Rand der Schlucht wurde Razamon auf die Beine gestellt. Kimean, der Xohrer, blickte herauf. »Schafft ihn ein paar Schritte weiter nach rechts!« schrie er. »Dort ist die Wand steiler!« Die Berserker nahmen Razamon auf und
24
Kurt Mahr
schafften ihn dorthin, wo Kimean ihn haben wollte. »Jetzt fragt ihn, ob er noch eine letzte Entschuldigung an die Sippe der Xohr zu richten hat!« rief der Anführer höhnisch. Bevor jedoch die Berserker dazu kamen, Razamon zu fragen, erscholl unten aus der Schlucht ein gellender Schrei. Er kam von dort, wo die Kluft eine Biegung beschrieb. Dort hatte der Posten gestanden. Was war geschehen? Razamon fühlte sich plötzlich gepackt und rückwärts gerissen. Er stürzte schwer zu Boden, aber wenigstens drohte ihm nun der Sturz in die Tiefe nicht mehr. In seinem Blickfeld wimmelte es mit einemmal von fremdartigen Gestalten. Sie drangen auf die völlig verdutzten Berserker ein und schlugen sie mit Knütteln zu Boden. Einer der Räuber wurde so sehr vom Entsetzen gepackt, daß er Hals über Kopf davonstürmte – allerdings in die falsche Richtung: Er stürzte mit gurgelndem Schrei in die Schlucht hinab.
* Razamon konnte nicht sehen, was unten vor sich ging. Aber er hörte eine laute, durchdringende Stimme: »Wir sind Odins Schwert! Odin hat das Gesetz erlassen, daß Raub, Verstümmelung und Mord in diesem Lande aufzuhören haben! Ich sehe, daß ihr diesem Gesetz nicht gehorcht. Nennt mir wenigstens einen Grund, warum ihr nicht die Strafe erleiden sollt, die Odin für die Übertreter seines Gesetzes anmißt: Lebenslange Verbannung in das Land der Eisküste und, im Wiederholensfall, den Tod!« Razamon spürte plötzlich, daß er keine Fesseln mehr trug. Benommen richtete er sich auf. Ringsum sah er Dutzende von Gestalten, in denen er Dellos der verschiedensten Formen erkannte. Sie waren mit Knütteln, Lanzen und Skerzaals bewaffnet. Sie hatten den Rand der Schlucht hüben und drüben nahtlos besetzt. Die Stimme aber war aus der Tiefe gekommen. Also hatten die
Dellos auch den Schluchteingang in der Hand. Jetzt ertönte Kimeans mächtiges Organ. »Was kümmert mich euer Odin?« brüllte er. »Und welcher hergelaufene Narr maßt sich an, einem Xohr zu sagen, was er zu tun und zu lassen hat?« Razamon robbte nach vorne bis an den Rand der Schlucht und blickte hinab. Er sah eine Schar von wenigstens fünfzig gut bewaffneten Dellos, die bis zur Krümmung in die Schlucht vorgedrungen waren und den Ausgang so verschlossen hatten, daß kein einziger Berserker entkommen konnte. Aus dieser Schar, die aus Wesen der verschiedensten Formgebung bestand, löste sich in diesem Augenblick ein Hüne, der Kimean an Gestalt wohl kaum unterlegen war. Er trug eine Skerzaal im Anschlag, als er hinter der Krümmung hervortrat. »Du sollst hören, wer dir Anweisungen erteilt!« rief er. »Ich bin Phansegar, ein Hundertführer in Odins Schwert. Und wenn du auch nur mit einem Finger nach deinem Schwert greifst, bist du ein toter Mann! Sieh nach oben! Meine Leute stehen dort. Ihr seid umzingelt! Es bleibt euch keine andere Wahl, als euch zu ergeben.« Kimean blickte in die Höhe und sah die Dellos Schulter an Schulter entlang dem Schluchtrand stehen. Phansegars Drohung hatte Eindruck auf ihn gemacht. Er hielt die Arme leicht angewinkelt und die Hände nach außen gestreckt, so daß jedermann erkennen konnte, daß er keine Absicht hatte, nach dem Schwert zu greifen. »Was hast du mit uns vor?« fragte er den Anführer der Dellos grollend. »Du hast es gehört«, antwortete Phansegar. »Ihr habt Odins Gesetz gebrochen, also werdet ihr in das Land an der Eisküste verbannt.« »Wie willst du uns dort hinbringen?« verlangte Kimean zu wissen. »Das ist einfach«, erwiderte der Dello. »Als erstes legt ihr eure Waffen ab. Danach fordern wir euch auf, daß ihr euch aus eurer eigenen Beine Kraft in Bewegung setzt, und
Der Ruf des Wächters zwar nach Nordwesten, zur Eisküste hin. Wenn ihr aber dieser Aufforderung nicht Folge leistet, werden wir euch bis ins Land eurer Verbannung prügeln!« In Kimeans Gesicht zuckte es gefährlich. »Ich gebe mein Schwert nicht her!« knurrte er. Er hatte das letzte Wort kaum gesprochen, da surrte es von Phansegars Skerzaal. Das schwere Geschoß fuhr dicht an Kimeans Schädel vorbei und knallte unmittelbar hinter ihm gegen die Felswand. Kimean zuckte zusammen. Phansegar dagegen brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um die Skerzaal neu zu laden. »Laß das meine Antwort sein«, erklärte er ruhig. »Ich bekomme dein Schwert, ob du willst oder nicht. Es fragt sich nur, ob du dann noch am Leben bist!« Das gab den Ausschlag. Kimean – wie viele Wesen seiner Statur – war ein Wüterich und ein Draufgänger, solange er sich in der Meute seiner Krieger befand und den Sieg vor Augen sah. Allein einem anderen gegenübergestellt, der ihm überlegen war, bekam er es mit der Angst zu tun. Er reckte den rechten Arm in die Höhe, um seine Friedfertigkeit zu zeigen, und löste mit der linken Hand vorsichtig den Strick, der sein Gewand gürtete. Das Schwert stürzte polternd zu Boden. Das war auch für die übrigen Berserker das Zeichen, die Waffen niederzulegen. Phansegar wies sie an, die Mordwerkzeuge nahe der Schluchtkrümmung auf einen Haufen zu werfen. Es dauerte kaum fünf Minuten, da besaß kein Berserker eine Waffe mehr. Inzwischen war Razamon an der Felswand entlang in die Tiefe geturnt. Es gab keine Stelle seiner Haut, die nicht schmerzte. Aber die Freude über die Rettung, mit der er nicht mehr gerechnet hatte, ließ ihn alle Pein vergessen. Die Berserker hinderten ihn nicht daran, Grizzard zu befreien. Razamon raffte seine Besitztümer an sich, die dort lagen, wo Kimean die Nacht verbracht hatte. Grizzard tat
25 es ihm nach. »Ich sah sie kommen«, sagte er dabei auf Interkosmo. »Sie kauerten oben am Schluchtrand und streckten manchmal die Köpfe vor, um zu spähen. Ich konnte mir vorstellen, in was für einer Lage du dich befandest, und wollte dir ein Zeichen zukommen lassen.« »Das ist dir gelungen, Freund«, antwortete der Pthorer dankbar. »Ich stand kurz vor dem Aufgeben. Wenn dein Zeichen nicht gewesen wäre, hätte die Ohnmacht mich gehabt. Und wer weiß: Vielleicht wäre es den Berserkern dann geglückt, mich in die Tiefe zu stürzen, bevor die Dellos eingreifen konnten.« »Was sind das für Burschen?« wollte Grizzard wissen. »Androiden, künstliche Geschöpfe. In Aghmonth und in der Umgebung der Festung gibt es sie zu Tausenden. Was aber das Schwert Odins ist, das weiß ich auch nicht. Ich nehme an, wir werden es in Kürze erfahren.« Phansegar trat auf die beiden Männer zu. »Diese Leute haben euch Schaden zugefügt«, erklärte er. »Bevor ich sie wegschaffen lasse, frage ich euch: Habt ihr Ansprüche gegen eure Peiniger?« Razamon richtete sich auf und sah Kimean an. »Dieser räudige Fleischkloß wollte mich umbringen lassen«, sagte er. »Nach dem Gesetz des Landes könnte ich sein Leben fordern.« Er machte eine verächtliche Geste. »Aber wer will sich an einem Xohr schon die Finger schmutzig machen. Bringt ihn an die Eisküste. Wenn ihm das Gehirn eingefroren ist, wird er niemand mehr Schaden zufügen können.« Kimean vermied Razamons Blick. Er sprach kein Wort; aber an der Art und Weise, wie sich seine Brust hob und senkte, ließ sich erkennen, daß er voller Wut steckte. Die Berserker wurden aus der Schlucht geführt.
5.
26 Es hatte bei der Auseinandersetzung nur einen Verwundeten gegeben: jenen Berserker, der im ersten Schreck in die Kluft hinabgesprungen war. Er hatte sich einige Brüche zugezogen und wurde von seinen Genossen auf einer primitiven Bahre transportiert. Ansonsten war der Zwischenfall unblutig verlaufen. Razamons Zugor fand sich unweit des Schluchtausgangs. Die Berserker hatten ihn als verdiente Beute betrachtet und in einem Dickicht versteckt. Erst jetzt stellte sich heraus, daß Phansegars Truppe in Wirklichkeit weitaus stärker war, als man angenommen hatte. Sie bestand aus mehr als dreihundert Kämpfern. Einhundert davon hatte Phansegar inzwischen für den Transport der Berserker zur Eisküste abgestellt. Weitere einhundertundfünfzig durchkämmten die felsige und dicht bewaldete Gegend nach weiteren Berserker-Verstecken, gelangten jedoch letztlich zu dem Schluß, daß Kimeans Trupp der einzige war, der in dieser Zone gehaust hatte. Nachdem Phansegar alle nötigen Anweisungen erteilt und die Berichte der Zurückkehrenden entgegengenommen hatte, trat er auf Razamon und Grizzard zu. »Ich habe dich nie zuvor gesehen, aber du bist mir beschrieben worden«, sagte er zu dem Pthorer. »Dein Name ist Razamon?« »Das ist richtig«, bestätigte der Angesprochene. »Ich bin auf dem Weg zur Festung.« »Es scheint, daß deine Wege gefährlich sind«, bemerkte der Dello. »Ich gebe dir zwanzig Begleiter mit, die dich sicher ans Ziel bringen.« Razamon hob die rechte Hand zu einer um Einsicht ersuchenden Geste. »Ich bitte dich – wir sind schon zu tief in deiner Schuld, als daß wir noch mehr Dienstleistungen annehmen könnten«, erklärte er. »Wir sind dir und deinen Leuten zu Dank verpflichtet, daß du uns vor dem sicheren Tod gerettet hast. Wir werden die Festung ohne weiteren Zwischenfall erreichen, weil wir nicht mehr so dumm sein werden, in einer gefährlichen Gegend ohne jegliche
Kurt Mahr Vorsichtsmaßnahme zu übernachten.« »Der Krieger Odins tut seine Pflicht, ohne daß jemand sich deswegen in seiner Schuld zu wähnen braucht«, erwiderte Phansegar. »Ich höre es gerne, wenn du von Dank sprichst. Aber der Dank des Kriegers ist die Anerkennung des mächtigen Odin, von dem er seinen Auftrag erhält. Du bist sicher, daß du mit deinem Gefährten die Festung unbehelligt erreichen wirst?« »Ich bin sicher«, bestätigte Razamon. »Doch sag mir: Ihr nennt euch Odins Schwert. Wer hat euch diesen Namen gegeben?« »Odin selbst. Der Mächtige hat ein Gesetz erlassen, wonach im Lande Pthor Ruhe und Friede herrschen sollen. Odins Schwert, das sind die Truppen, die Odin um sich geschart hat, um dem Gesetz Gehör zu verschaffen.« »Odin stellt eine Armee auf?« fragte Razamon verwundert. »In kurzer Zeit wird es wohl eine Armee werden«, antwortete der Dello. »Vorläufig aber sind wir die erste und einzige Truppe.« Impulsiv streckte Razamon dem Dello die Hand entgegen. »Ich habe dich handeln sehen!« sagte er. »Wenn Krieger wie du am Werke sind, wird Odins Gesetz die Oberhand behalten.« Phansegar erwiderte die Geste. Er ließ sich nicht anmerken, ob er beeindruckt war. Es geschah in der Tat sehr selten, daß ein Mensch einen Dello eines Handschlags für würdig befand. Phansegar und seine Leute brachen kurze Zeit später auf. Der Dello ging nicht näher darauf ein, was er als nächstes zu tun beabsichtigte. Er gab jedoch zu verstehen, daß er es für seine Aufgabe hielt, die Gegend rings um den Taam-Berg zu befrieden. Razamon und Grizzard blieben alleine zurück. Grizzard hatte die ganze Zeit über kein Wort gesprochen. Bei dem kurzen Wortwechsel mit Razamon, als sie an Kimeans Lagerplatz ihre Habe an sich rafften, waren sie nicht belauscht worden. Grizzard stellte sich auf die Rolle des Stummen ein, die der Pthorer in einem Augenblick der Verlegen-
Der Ruf des Wächters heit erfunden hatte, als er sah, daß sein Gefährte sonst mißhandelt werden würde. Jetzt jedoch waren sie unter sich. Razamon nahm die Gelegenheit wahr, Grizzard über die Dinge in Kenntnis zu setzen, die er von Phansegar erfahren hatte. »Das hört sich alles sehr beruhigend an«, schloß er. »Odin scheint fest im Sattel zu sitzen. Er beginnt, das Land befrieden, und niemand ahnt, daß sich hinter seiner Maske Thalia verbirgt.« Er zuckte zusammen, als eine seiner zahlreichen Wunden ihm plötzlich einen stechenden Schmerz bereitete. »Wird Zeit, daß ich mich selbst einmal betrachte«, knurrte er. »Es sieht so aus, als könnte ich ein wenig Fürsorge gut vertragen. Da die Dinge in der Festung zum Besten zu stehen scheinen, macht es wohl nichts aus, wenn ich mir ein paar Stunden gönne, mich um meine Wunden zu kümmern.« Es gab für ihn keine Möglichkeit zu wissen, daß er einem Trugschluß aufsaß. Wenn er sofort zur Festung aufgebrochen wäre, hätte er womöglich den Kampf im Leuchtersaal verhindern können. So aber hatte das Schicksal inzwischen seinen Lauf genommen.
* Am Fuß der langen Treppe hatte Atlan ein paar Sekunden lang gelauscht. Von oben war kein Geräusch zu vernehmen. Er wußte nicht, was er daraus machen sollte. Waren die drei Brüder auf eine neue Teufelei aus, oder hatte sie das unerwartete Auftauchen des wahren Odin so vor den Kopf geschlagen, daß ihnen die Sprache und die Fähigkeit, sich zu bewegen, abhanden gekommen waren? Thalia gab ebenfalls keinen Laut von sich. Sie wirkte teilnahmslos. Ihr Blick war in weite Fernen gerichtet. Sie folgte willig, wenn Atlan sie führte. Aber sie antwortete ihm nicht, wenn er sie ansprach. Der eilte die breite, gewundene Rampe hinab, die zu den unteren Geschossen der
27 Pyramide führte. In der Haupthalle wandte er sich nach rechts und erreichte den Ausgang. Draußen waren etliche Dellos zu sehen, die sich jedoch um den Arkoniden und seine Begleiterin nicht kümmerten. Atlan nahm Richtung auf eine der sechs kleineren Pyramiden, die das Hauptgebäude der Festung in engem Kreis umgaben. Er hatte das kleine Bauwerk mit der zerschrundenen Oberfläche fast schon erreicht, da spürte er plötzlich Widerstand in der Hand, mit der er Thalia führte. Er blieb stehen. »Bitte, halte mich jetzt nicht auf!« sagte er. »Wir haben keine Zeit!« »Odin … Vater …«, hauchte die junge Frau. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Die Stimme gehorchte ihr kaum. »Ich will ihm helfen, so gut ich kann!« versprach der Arkonide. »Aber wenn ich mich mit deinen drei Brüdern anlegen will, dann brauche ich eine Rüstung, die mich schützt. Verstehst du?« Langsam und zögernd belebte sich der Ausdruck der großen, blauen Augen. Atlan begriff plötzlich, daß Thalia die ganze Zeit über nicht schlechthin teilnahmslos gewesen war, sondern infolge des Auftauchens ihres Vaters einen Schock erlitten hatte, der womöglich noch intensiver war als der ihrer Brüder. »Rüstung?« wiederholte sie. »Woher willst du eine Rüstung nehmen?« »Erinnerst du dich an das Goldene Vlies?« »Ja, ich erinnere mich. Es ist verschwunden, nicht wahr?« Atlan lächelte. »Nein. Ich versteckte es, bevor ich Pthor verließ. Komm mit!« Er hatte bisher derart geraden Kurs auf die kleine Pyramide gehalten, daß die Vermutung nahe lag, sein Versteck befinde sich dort drinnen. Unmittelbar vor dem kleinen Bauwerk blieb er jedoch stehen und sah sich um. Er vergewisserte sich, daß sich kein Beobachter in der Nähe befand. Dann tauchte
28 er mit rascher Bewegung in ein dichtes Gebüsch, das zur linken Hand der Pyramide wuchs, und zog Thalia hinter sich her. Auf einem schmalen, schon halb überwucherten Pfad gelangten sie an eine Gruppe mannshoher Felsen, die ein regelmäßiges Fünfeck bildeten. Atlan ging auf einen der Steine zu und hantierte an ihm herum. Plötzlich verschwand eine Seitenfläche des Felsens und legte eine kastenförmige Öffnung frei. In diesem Kasten befand sich das Goldene Vlies, der Anzug der Vernichtung. Während der Arkonide sich das seltsame Kleidungsstück überstreifte, erklärte er Thalia: »Ich fand diese Felsengruppe, als wir kurz nach Ragnarök die kleinen Pyramiden zu untersuchen begannen. Die regelmäßige Anordnung kam mir verdächtig vor. Ich sah mir die Steine aus der Nähe an und machte diese Entdeckung.« Dabei wies er auf das Versteck. »Ganz so harmlos war die Sache aber nicht«, fuhr er fort. »Dieser Kasten enthielt früher eines jener heimtückischen Mordinstrumente, mit dem die Herren der FESTUNG sich gegen unerwünschte Eindringlinge schützten. Die Falle war zum Teil noch aktiv. Es wäre mir um ein Haar an den Kragen gegangen.« Das Goldene Vlies bestand aus quadratischen Segmenten, die äußerst elastisch waren und dem Anzug daher eine gewisse Anschmiegsamkeit verliehen. Das Material besaß einen goldenen Schimmer, dem die Montur ihren Namen verdankte. In der Höhe der Hüften drang beiderseits je ein ballförmiger Stummel von silbergrauer Farbe und ungewöhnlicher Härte hervor. Über den Armansätzen ragten spitze, antennenähnliche Gebilde in die Höhe. Zu dem Anzug gehörten klobig wirkende Schuhe und Handschuhe sowie ein Helm, der aus einem silbernen, zerbrechlich erscheinenden Gespinst gefertigt war, jedoch bereits in vielen Situationen eine verblüffende Widerstandskraft gezeigt hatte. Das Goldene Vlies wirkte auf den unbefangenen Be-
Kurt Mahr trachter ein wenig altmodisch. Atlan war überzeugt, daß der Anzug bis in die früheste Geschichte Pthors zurückreichte. Seine wunderbaren Fähigkeiten waren bis jetzt erst wenig erforscht. Er machte seinen Träger so gut wie unverwundbar, soviel wußte man. Der Arkonide ging ein paar Schritte, um sich an die eigenartige Kleidung zu gewöhnen. Dann erklärte er: »Jetzt will ich sehen, was ich für … Odin tun kann!« Fast hätte er ihn Feigling genannt, wie er es gewöhnt war. Aber es war ihm klar, daß er diesen Namen von nun an vermeiden mußte. Die Erkenntnis, daß der Vater keine Heroengestalt, sondern eher ein Kümmerling war, belastete Thalia genug. Atlan wollte ihren Kummer nicht dadurch vergrößern, daß er den verächtlichen Namen aussprach. »Ich wäre dir dankbar, wenn du hier zurückbliebest«, sagte er. »Hier bist du einigermaßen sicher.« Thalia lehnte schroff ab. »Ich sorge mich um den Vater!« erklärte sie. »Wenn du ihm Hilfe bringen willst, gehöre ich an deine Seite.« Da erinnerte sich der Arkonide an eine Beobachtung, die er oben im Leuchtersaal gemacht hatte. »Wenn du immer noch so gut Balken schleudern kannst«, meinte er, »dann gewinne ich in dir womöglich einen brauchbaren Kampfgefährten.« Thalia verstand ihn zunächst nicht. Als sie aber begriff, senkte sie beschämt den Blick zu Boden. »Das war der Zauber, den mir die Magier aus der Großen Barriere von Oth mitgaben«, sagte sie. »Er wirkt nicht mehr.« Mit knappen Worten berichtete sie von der Maske, die der Weltenmagier Copasallior für sie angefertigt, und von den Zauberfähigkeiten, mit denen er sie ausgestattet hatte. »Beide verschwanden, als du in die Nähe kamst«, berichtete sie mit trauriger Stimme. »Zuerst die Maske, und dann die magischen Fähigkeiten.« Atlan legte ihr den Arm um die Schulter.
Der Ruf des Wächters »Laß uns gehen!« forderte er sie auf. »Wie ich Odin und deine Brüder kenne, braucht dein Vater unsere Hilfe.«
* Währenddessen näherten sich Razamon und Grizzard in ihrem Zugor der Festung. Grizzard hatte lange Zeit geschwiegen. Als er aber die Umrisse der riesigen Pyramide am Horizont auftauchen sah, sagte er: »Es ist möglich, daß wir im Gebiet der Festung auf den Arkoniden treffen, nicht wahr?« »Möglich«, bestätigte der Pthorer. »Es hat ihn seit geraumer Zeit keiner mehr gesehen, und niemand weiß, wo er sich herumtreibt. Wenn er aber wieder auftaucht, wird die Festung sein erstes Ziel sein.« Grizzard dachte kurze Zeit nach. »Ich bitte dich um einen Gefallen«, begann er schließlich von neuem. »Welchen?« »Ich spreche kein Pthora. Ich glaube, ich werde es leicht verstehen lernen, aber bis ich die Sprache vollkommen beherrsche, wird eine Weile vergehen. Atlan kennt diesen Körper nicht. Er weiß nicht, daß in ihm ein anderes Bewußtsein steckt als das, mit dem ihn die Natur ursprünglich ausgestattet hatte. Ich habe dir davon berichtet, daß der Arkonide und ich Freunde sind – in mehr als einer Zeit und mehr als einem Raum. Ich möchte ihn überraschen. Willst du mein Geheimnis wahren, bis ich selbst es preisgebe?« »Das läßt sich machen«, brummte Razamon. »Wie soll ich dich nennen?« »Den Stummen«, schlug Grizzard vor. »Ich kann nicht sprechen.« »Höre, das wird uns in Schwierigkeit bringen!« warnte der Pthorer. »Denn du kannst außerdem auch nicht verstehen. Willst du für taubstumm gehalten werden?« »Nein, nur für stumm. Ich sagte schon, ich werde die Sprache schnell verstehen lernen. Nur mit dem Sprechen dauert es etwas länger.«
29 Razamon nickte. »Abgemacht! Du bist der Stumme.« Der Zugor schwenkte auf den Innenhof der Festung ein, jene kahle Fläche, die sich zwischen der großen und den sechs kleineren Pyramiden erstreckte. In den Gärten jenseits des Sechsecks waren Dellos mit verschiedenen Verrichtungen beschäftigt. Plötzlich jedoch erschien in unmittelbarer Nähe einer der kleinen Pyramiden zwei Gestalten. Sie zögerten kurz am Rand der kahlen Fläche. Dann eilten sie mit hastigen Schritten auf das Zentrum der Festung zu. »Da soll doch gleich …!« knurrte Razamon und riß den Gleiter herum. In steilem Gleitflug schoß das Fahrzeug auf den Eingang der großen Pyramide zu. Der Pthorer versuchte, den beiden Gestalten den Weg abzuschneiden. Das wäre ihm womöglich nicht gelungen. Aber die beiden hörten das Sausen, das der Zugor verursachte, blieben stehen und sahen sich um. Razamon stand aufrecht an den Kontrollen des Fahrzeugs. Seine hagere Gestalt ragte weit über den Rand des Zugors hinaus. So wie der Pthorer in einer der beiden Personen Thalia erkannte, so erkannte diese ihn. Thalias Begleiter dagegen war in ein Gewand gekleidet, das Razamon nur zu gut kannte: das Goldene Vlies. Der Helm war geschlossen, so daß der Pthorer nicht erkennen konnte, wer die Montur trug. Aber er hatte eine Ahnung. »Wenn mich nicht alles trügt«, sagte er zu Grizzard, »dann haben wir unsere Abmachung im letzten Augenblick getroffen.« »Wie meinst du das?« fragte Grizzard unsicher. »Wenn der Mann in der goldenen Rüstung nicht Atlan ist, dann will ich mit Kimean zusammen in die Verbannung gehen!« Grizzard sprang auf. »Zeig mir – wo?« stieß er hervor. Das war jedoch gerade der Augenblick, in dem der Pthorer den Zugor zu Boden setzte, und zwar nicht besonders sanft. Es gab einen Ruck, der Grizzard den Boden unter den Beinen hinwegzog. Grizzard wurde über den
30 Rand des Zugors hinausgehoben und landete wenig elegant auf dem Rücken, unmittelbar zu Füßen der jungen Frau und des Mannes in dem goldenen Anzug. Inzwischen hatte Atlan sich den Helm vom Schädel gestreift. »Razamon …!« rief er freudig. Die beiden Männer lagen einander in den Armen. »Ich dachte nicht«, knurrte der Pthorer mit einer Stimme, die vor Rührung zitterte, »daß der Augenblick je kommen würde, in dem ich mir eine solche Begrüßung von dir gefallen lasse!« Der Arkonide löste die Arme, packte Razamon bei den Schultern und hielt ihn von sich ab, um ihn besser mustern zu können. »Laß dich ansehen, Freund!« rief er lachend. »Du hast dich nicht verändert. Es scheint dir nicht allzu viel Unheil in den Weg gekommen zu sein!« »Genug!« wehrte der Pthorer ab. »Aber wie erging es dir? Man hat dich lange nicht mehr gesehen.« »Davon später«, vertröstete ihn der Arkonide. »Im Augenblick gibt es Wichtigeres zu tun. Wer ist dein Gefährte, der auf so merkwürdige Art aus einem Zugor aussteigt?« Grizzard hatte sich inzwischen erhoben. Er bedachte zuerst Thalia, dann Atlan mit einem freundlichen Lächeln. »Ich nenne ihn den Stummen«, antwortete Razamon. »Ich bin ihm in der Senke der Verlorenen Seelen begegnet, und er hat sich mir angeschlossen. Er ist ein tüchtiger Kämpfer, aber er redet kein Wort.« Der Arkonide schlug Grizzard auf die Schulter. »Wer du auch immer bist«, sagte er: »Als Razamons Gefährten heiße ich dich willkommen!« Der Stumme lächelte noch immer. »Was ist das Wichtige, das es hier zu verrichten gibt?« erkundigte sich Razamon. »Auch das ist eine lange Geschichte«, antwortete Atlan. »Odin ist zurückgekehrt, aber er sieht nicht so aus und handelt nicht so, wie die Welt es erwartet. Er hat sich sei-
Kurt Mahr nen Söhnen zu erkennen gegeben. Aber ich glaube, das wird er bald bereuen.« Razamon wandte sich an Thalia. »Sei mir gegrüßt, du Holde!« begann er ohne Spott. »Vor wenigen Stunden glaubte ich dich noch in Sicherheit und sah dich in Gedanken auf Odins Thron sitzen, von wo aus du die Welt Pthor mit Weisheit und Güte regiertest. Was ist geschehen?« »Der Zauber ist geschwunden«, antwortete Thalia trübe. »Die Magie hat sich in Nichts aufgelöst. Atlan erschien, und alles war dahin!« Razamon blickte durch den Eingang der großen Pyramide. »Da drinnen scheint alles ruhig zu sein«, bemerkte er. »Aber wenn du meinst, daß Odin sich in Gefahr befindet, dann sollten wir uns um ihn kümmern.« »Recht gesprochen, Freund!« stimmte Atlan ihm zu. »In ihrer derzeitigen Stimmung würden die drei Brüder nicht davor zurückschrecken, den eigenen Vater umzubringen.« Razamon grinste. »Im übrigen bin ich begierig, den sagenhaften Odin kennenzulernen! Besonders, da er so aussieht, wie ihn sich niemand vorgestellt hat!«
* Die Halle im Untergeschoß war ebenso leer wie zuvor. Atlan steuerte sofort die Rampe an, die in Windungen nach oben führte. Als er die höher gelegene Etage erreichte, hielt er an, um zu lauschen. Er stand in unmittelbarer Nähe der Treppe, die zum Leuchtersaal hinaufging. Aber es war kein Laut zu hören. Zu viert stiegen sie die Treppe hinauf. Oben war alles noch so, wie Atlan und Thalia es in Erinnerung hatten. In der Mitte des Saales lagen die Trümmerstücke, aus der Thalia ihre Barrikade gebaut hatte, und darauf die Überreste des schweren Leuchters, der um ein Haar Atlan und Thalia zum Verhängnis geworden wäre.
Der Ruf des Wächters Aber die drei Odinssöhne und vor allen Dingen Odin selbst waren verschwunden. Atlan untersuchte die Umgebung der Barrikade aufmerksam. Wenn hier ein Kampf stattgefunden hatte, nachdem Odin vor seine Söhne hingetreten war, dann mußten Spuren zu finden sein. Es gab jedoch keine Spuren. Der Arkonide war ratlos. »Wo sind sie alle?« fragte er. »Was ist geschehen?« Thalia, die sich im Schutz der Gefährten wieder sicher fühlte und ihre Unbefangenheit zurückgewonnen hatte, rief laut die Namen der Brüder. Aber es kam keine Antwort. Auch der Ruf »Vater!« brachte keine Reaktion. Thalia sah eine Zeitlang vor sich hin. Plötzlich lächelte sie. »Wißt ihr – es kann sich alles ganz harmlos aufgelöst haben«, sagte sie. »Balduur, Heimdall und Sigurd haben sich über die unerwartete Erscheinung des Vaters beruhigt und ihn anerkannt.« »Aber wo sind sie?« drängte Atlan. »Und vor allen Dingen: Wo ist Odin?« Thalia fuhr fort zu lächeln. »Wenn es so ist, wie ich denke, wo anders sollte er dann sein als in dem Quartier, das eigens für Odin hergerichtet wurde?« »Wo du untergebracht warst?« fragte Razamon überrascht. »Eben da!« meinte Thalia. »Wir müssen wieder die Treppe hinab. Von hier oben kann ich die Gemächer nicht finden.« Besorgnis und Neugierde beflügelten die Schritte des kleinen Trupps. Thalia wies den Weg. Sie führte die Gefährten in den Gang, den sie damals entlanggestapft war, den Kopf schwer vom Wein und die Taschen voll von Essensresten. Atlan machte die Vorhut und sicherte. Das war unnötig. Er fand den Korridor völlig leer. Vor der Tür, die zu Odins Gemächern führte, hielt man an. Der Arkonide pochte mit der behandschuhten Faust gegen das schwache Metall. Es dauerte eine Zeitlang, bis sich drinnen etwas rührte.
31 »Wer wünscht den mächtigen Odin zu sprechen?« erklang von drinnen eine Stimme, die durch die massive Tür bis zu einem Wispern gedämpft wurde. »Freunde, die den Vater der Götter zu sehen wünschen!« dröhnte Atlans Antwort. »Wie sind eure Namen?« »Ich bin Atlan!« Ein paar Sekunden vergingen. Dann öffnete sich die Tür. In der Öffnung erschien die schwächliche Gestalt des Mannes, den Atlan unter dem Namen Feigling gekannt hatte und der in Wirklichkeit Odin war. Als der Arkonide ihn zum letzten Mal sah, hatte er ein Fellgewand getragen, das noch aus der Zeit stammte, da er von dem Volk der Nedolks im Blutdschungel als ein Häuptling gefeiert wurde. Jetzt jedoch war er in eine kostbare Toga gekleidet, von der der Himmel wissen mochte, wo er sie aufgetrieben hatte. Sein Gehabe, sein Blick waren ganz anders als die des Mannes, an den sich der Arkonide erinnerte. Er war frei von Furcht, dagegen voll von Überheblichkeit. »Es bedarf mehr als einer gemeinsamen Wanderschaft«, sagte er zu Atlan, »um aus einem Menschenwesen einen Freund Odins zu machen.« »Ich lege keinen besonderen Wert auf deine Freundschaft«, antwortete der Arkonide leichthin. »Aber ich mache mir Sorgen um deine Sicherheit. Wo sind deine drei Söhne?« »Ich weiß es nicht.« »Wie haben sie dich behandelt?« »Sie erwiesen mir die Ehrfurcht, die Söhne dem Vater schuldig sind.« »Das glaube ich nicht!« erklärte Atlan hart. Odin sah zu Boden. »Nun, dann sagen wir es eben anders«, meinte er. »Sie standen eine Zeitlang ratlos um mich herum, dann gingen sie davon. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte, und wartete. Nach geraumer Zeit kam eine Schar von Dellos, die mich zu dieser Unterkunft geleiteten und mir neue Gewänder ga-
32 ben. Sie sagten, Balduur, Heimdall und Sigurd hätten ihnen den Auftrag gegeben, sich um mich zu kümmern und mir zu dienen. Ich sage also keine Lüge, wenn ich erkläre, daß mir von meinen Söhnen die angemessene Ehrfurcht erwiesen wird. Wenn ich mich zu beklagen hätte, dann nur über eines: der Raum, in dem man die Speisen zubereitet, sieht sehr unordentlich aus. Dort scheint die Decke eingestürzt zu sein.« Atlan wandte sich um und sah nach Thalia. Odins Tochter stand im Hintergrund und blickte den Vater unverwandt und mit starrem Gesichtsausdruck an. Odin dagegen schenkte ihr keinerlei Beachtung. War das eine Fortsetzung jener Abneigung, die Odin seiner Tochter gegenüber angeblich empfinden sollte, oder erkannte er die junge Frau einfach nicht? »Ich fürchte, du verstehst die Lage nicht richtig«, sagte der Arkonide schließlich zu Odin. »Du magst der sein, für den du dich ausgibst. Das bedeutet immer noch nicht, daß deine Söhne dich akzeptieren müssen. Ich kenne Balduur, Heimdall und Sigurd besser als du. Glaube mir: Du als Odin bist die bitterste Enttäuschung, die sie je erlebt haben! Die Ereignisse der jüngsten Wochen und Monate haben sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie sind seelisch unstabil, dem Wahnsinn nahe. Wenn es ihnen in den Sinn kommt, daß du nicht dem Bild entsprichst, das sie sich von ihrem Vater Odin machen, dann ist es um dich geschehen!« Atlan hatte eindringlich gesprochen. Aber es wurde alsbald offenbar, daß seine Worte keinerlei Wirkung erzielten. Odins Gesicht war hochmütig, als er antwortete: »Ich brauche darüber mit dir nicht zu diskutieren. Ich bin Odin. Meine Söhne haben mich auf dieser Welt manifestiert. Das sagt alles. Ich bin nicht freiwillig gekommen – sie haben mich geholt. Was du mir vorhältst, ist Unsinn.« Der Arkonide wollte noch nicht aufgeben. Er wollte einen letzten Versuch unternehmen, dem kleinen Mann die Gefährlichkeit seiner Lage klarzumachen. Aber er kam
Kurt Mahr nicht mehr dazu. Etwas gänzlich Unerwartetes geschah und machte Atlans Aussichten, mit seinen Warnungen durchzudringen, vollends zunichte. Von links her kam ein scharrendes Geräusch. Im schwachen Licht der fackelähnlichen Lampen sah man ein großes Tier, das in gemächlichem Trott den Gang entlang kam. »Aufgepaßt! Das ist Fenrir!« rief Razamon. Seine Warnung war nicht mutwillig. Manchmal in letzter Zeit hatte sich der Wolf als ebenso unberechenbar gezeigt wie seine Herren. In diesem Augenblick jedoch schien er an den Fremden nicht interessiert zu sein. Er hielt plötzlich an, als habe er eine neue Witterung aufgenommen. Dann stieß er ein kurzes, triumphierendes Geheul aus und eilte auf Odin zu. Atlan stand bereit, seinem ehemaligen Gefährten zu Hilfe zu kommen, falls der mächtige Wolf ihm etwas anhaben wollte. Aber es lag etwas ganz anderes in Fenrirs Sinn. Zu Odins Füßen ging er zu Boden, den schlanken Körper langgestreckt. Er richtete den intelligenten Blick aufmerksam und erwartungsvoll auf den kleinen Mann und gab durch Gehabe und Haltung zu erkennen, daß er diesen als seinen Herrn betrachtete. Odin grinste hämisch, als er sich an Atlan wandte. »Manchmal hat das Tier mehr Verstand als der Mensch«, sagte er. »Zweifelt Fenrir an mir? Nein. Er kennt seinen Herrn. Meine Söhne kennen ihren Vater. Und du willst mir einreden, ich befände mich hier in Gefahr? Laß dich nicht auslachen!« Mit seiner hohen Fistelstimme stimmte er ein dünnes Gelächter an und trat gleichzeitig von der Tür zurück. Der Fenris-Wolf folgte ihm auf dem Fuß. Die schwere Tür fiel mit donnerndem Krach ins Schloß. Atlan wandte sich niedergeschlagen an seine Begleiter. »Es sieht nicht so aus, als könnten wir hier viel ausrichten.« »Warum sollen wir uns über den alten Narren den Kopf zerbrechen?« meinte Raza-
Der Ruf des Wächters mon ärgerlich. »Es sind andere Dinge im Gang, die weit eher unserer Aufmerksamkeit bedürfen.« Er sagte das mit solchem Nachdruck, daß der Arkonide unwillkürlich aufhorchte. »Von welchen Dingen sprichst du?« »Nun – zum Beispiel von dem VONTHARA.«
6. Atlan war überrascht. Es war offenbar, daß er nicht wußte, was er mit diesem Namen anfangen solle. »Vonthara«, wiederholte er. »Das heißt auf Pthora – der Wächter, oder so etwas Ähnliches. Was ist es?« »Ein seltsames Gebilde, das ich mit Kolphyr entdeckte, als wir die Pyramide erforschten. Es befindet sich in einem abgelegenen Raum, den ich den Odinssaal genannt habe. Damals kam mir dieser Name recht, weil der Vonthara ein eindrucksvolles Objekt ist, von dem man ohne weiteres annehmen kann, daß nur Odin selbst Zutritt zu ihm habe. Als der Wassermagier Tonkuhn Thalias Maskierung preisgeben wollte, trat ich ihm entgegen und erklärte, daß der, der als einziger Bewohner der Festung den Odinsaal kenne, niemand anders als Odin sein könne. Die drei Brüder nahmen den Saal daraufhin in Augenschein und waren überzeugt.« Der Arkonide machte eine ungeduldige Geste. »Gut. Und was ist nun der Vonthara?« »Äußerlich erscheint er als große, schimmernde Kugel, in deren Innerem sich merkwürdige geometrische Gebilde befinden. Die Kugel ruht auf einem dünnen Sockel. Von dem Ganzen geht ein bedrohlich klingendes Summen aus. Der Name VONTHARA erscheint auf einem Plättchen, das an einer Seite des Sockels angebracht ist.« »Und was, meinst du, ist die Funktion des Gebildes?« »Warte, ich bin mit meiner Schilderung noch nicht fertig«, antwortete Razamon.
33 »Ich untersuchte die Kugel näher. Ich wollte wissen, wie man sie öffnet und an die geometrischen Strukturen in ihrem Innern gelangt. Da entdeckte ich ein Schloß. Es wirkte kompliziert und entstammt ohne Zweifel einer Technik, die uns unbekannt ist. Ich hatte den Eindruck, es handle sich um ein Zeitschloß. Und ich wußte ganz bestimmt, daß ich es nicht würde öffnen können.« Atlan war ungewöhnlich ernst. »Ich fürchte, ich weiß, worauf du hinaus willst«, sagte er. »Die Existenz des VONTHARA war den Odinssöhnen unbekannt? Und auch den Raum, in dem er sich befindet, hat keiner der jetzigen Bewohner der Festung je zuvor zu Gesicht bekommen?« »So ist es!« bestätigte Razamon. »Die Herren der Schwarzen Galaxis!« sagte Atlan unvermittelt. Thalia sah ihn überrascht an. »Genau das habe ich mir auch gedacht«, erklärte der Pthorer. »Die aus der Schwarzen Galaxis hatten mit den Herren der FESTUNG ein mächtiges Regime über Pthor errichtet. Aber sie wußten, daß es nicht unbesiegbar war. Sie installierten in dieser Pyramide den VONTHARA, der sie darüber in Kenntnis setzen soll, wenn Pthor nicht den Weg nimmt, den sie ihm vorgeschrieben haben.« »So muß es sein«, pflichtete der Arkonide ihm bei. »Ich muß den VONTHARA sehen! Gelangt man leicht zu ihm?« »Ich habe vor kurzem einen zweiten Zugang gefunden«, erklärte Razamon. »Er ist beschwerlich, aber er hat den Vorteil, daß ihn die Odinssöhne nicht kennen!« Atlan und seine Gefährten schritten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die gewundene Rampe jedoch, die zur unteren Geschoßebene hinabführte, ließen sie seitwärts liegen. Razamon führte sie in einen schmalen, unbeleuchteten Gang, der alsbald steil abzufallen begann.
*
34 Keiner der vier hatte die hochgewachsene, hagere Gestalt bemerkt, die sich aus dem Schatten einer der vielen Säulen löste und mit fast unhörbaren Schritten in der entgegengesetzten Richtung davoneilte, kaum daß Atlan mit seinen Begleitern in den schmalen Gang eingedrungen war. Heimdall hatte die Rüstung abgelegt und trug ein langes, bequemes Gewand. Er wandte sich nach rechts, stieg eine kurze Treppe hinauf und gelangte über diese in einen runden Raum, in dem ein mächtiger Tisch stand. Der Tisch war umgeben von einer Serie klobiger, hochlehniger Stühle. In zweien dieser Stühle saßen Balduur und Heimdall. Jeder hatte einen Humpen jenes Gebräus vor sich stehen, das man in der Festung Bier nannte, ohne zu wissen, woraus es hergestellt war. Heimdall ließ sich in einem der Stühle nieder. Auch vor ihm stand ein Humpen. Er hatte ihn noch nicht angerührt. »Es ist, wie ich befürchtete«, erklärte er nach einer Weile mit düsterer Stimme. »Der Pthorer namens Razamon ist mit einem Fremden zurückgekehrt, der kein Wort spricht, aber sehr kriegerisch aussieht. Atlan und Thalia haben sich zu den beiden gesellt. Sie waren bei Odin. Wie ich die Lage einschätze, haben wir es nur der Dummheit des Alten zu verdanken, daß er sich ihnen nicht anschloß, um unserem Zorn zu entgehen.« Balduur hob das Trinkgefäß, nahm einen langen Schluck und setzte den Humpen mit lautem Knall wieder zurück auf den Tisch. »Die Schmach muß gelöscht werden!« stieß er hervor. »Je eher, desto besser!« »Die Kunde, daß Odin ein Schwächling ist, darf nicht ins Land hinaus gelangen!« pflichtete Sigurd dem Bruder bei. »Aber er ist unser Vater!« wandte Heimdall ein. Balduur ruckte vorwärts. Er hatte viel getrunken. Über den mächtigen Tisch herüber starrten seine hervorquellenden Augen Heimdall mit gläsernem Blick an. »Wer weiß es?« zischte er. »Erinnerst du dich der Bilder, die wir von Odin im Herzen
Kurt Mahr trugen? Der, der sich Odin nennt – sieht er ihnen auch nur in einem einzigen Zug ähnlich?« »Das tut er nicht«, bekannte Heimdall. »Aber woher hat unser Gedächtnis diese Bilder? Wir sprachen oft von den Zeiten, da der Vater noch unter uns lebte. Aber wir sprachen davon, um uns gegenseitig Mut zu machen. Wir sprachen über etwas, wovon wir in Wirklichkeit nichts wußten. Oder hast du, Balduur, hast du, Sigurd, eine unmittelbare Erinnerung an Odin?« »Was spielt das für eine Rolle …?« wies Balduur das lästige Argument gehässig zurück. »Die Antwort ist nein«, erklärte Sigurd. »Ich habe keine direkte Erinnerung an den Vater. Aber ich weiß, wie er aussieht. Er hat die Erscheinung eines unbezwingbaren Helden. Er ist ein unbezwingbarer Held! So glauben wir, und so haben wir die Welt glauben gemacht. Wenn auf Pthor bekannt wird, daß Odin sich manifestiert hat, und wenn die Leute herausfinden, daß Odin körperlich ein Schwächling ist, dann ist es mit unserer Herrschaft für alle Zeiten dahin.« »Körperlich und geistig!« verbesserte ihn Heimdall. Sigurd sah ihn verblüfft an. »Wie? Ich dachte, du ergriffest für den Schwächling Partei?« Heimdall nahm einen Schluck aus dem großen Becher. »Ich wollte, daß wir uns genau durch den Kopf gehen lassen, was wir vorhaben. Der Schwächling ist mir ebenso zuwider wie euch. Aber es besteht die Möglichkeit, daß er trotzdem unser Vater ist. Ich wollte wissen, ob diese Überlegung euch berührt. Ich für meine Person bin fest davon überzeugt, daß er so rasch wie möglich der Vergessenheit überantwortet werden muß – gleichgültig, ob er wirklich Odin ist oder nicht. Mir war nicht klar, wie ihr darüber dachtet.« Balduur leerte seinen Humpen und lallte: »E … ebens … so wie du!« Sigurd pflichtete ihm bei. »Dann haben wir einige Vorsichtsmaß-
Der Ruf des Wächters nahmen zu treffen«, erklärte Heimdall und stand auf. »Wenn Atlan und seine Genossen merken, daß wir dem Schwächling ans Fell wollen, werden sie uns zu stören versuchen.« »Du hast sie belauscht. Wo sind sie jetzt?« erkundigte sich Sigurd. »Sie sind auf dem Weg in den Odinssaal. Der Pthorer namens Razamon hat einen zweiten Zugang zu dem Raum des VONTHARA entdeckt. Ich glaube, dieser Zugang eignet sich vorzüglich für unsere Zwecke.« »Wieso?« fragte Sigurd. »Bewaffnet euch!« riet Heimdall. »Dann kommt mit mir und seht!« »Steh!« schrie Sigurd zornig. »Ich gehe keinen Schritt, bis ich nicht weiß, was du vorhast. Du bist der Älteste von uns, aber du gibst uns keine Befehle.« Heimdall erkannte, daß es besser war einzulenken. »Was willst du wissen?« fragte er. »Der Odinssaal steht nur den Herrschern von Pthor offen. Der Weg dorthin führt durch Räume, die nur von Odins Söhnen betreten werden dürfen. Was haben die Eindringlinge dort zu suchen?« Heimdall war sehr geduldig. »Ich sagte doch, Razamon hat beim Herumschnüffeln einen zweiten Gang zum Saal gefunden. Er ist ziemlich lang und gewunden, wie ich weiß, denn ich habe den Gang selbst untersucht, ohne dabei allerdings zu wissen, daß er in den Odinssaal führt. Er muß an einer maskierten Tür enden. Wenn es uns gelingt, die Tür zu finden und zu versperren, und wenn wir obendrein den Ausgang des Korridors verbarrikadieren, dann sind die Schnüffler gefangen, und wir haben freie Hand.« Sigurd war zufriedengestellt. »Das hört sich wie ein guter Plan an«, meinte er. »Wie gehen wir vor?« Sie einigten sich darauf, daß Heimdall und Sigurd die verborgene Tür im Odinssaal finden und versperren würden, während Balduur den oberen Ausgang des geheimen
35 Korridors verbarrikadierte. Heimdall und Sigurd eilten alsbald davon. Sie hatten keine Zeit zu verlieren, denn es war bereits eine Weile her, seit Atlan mit seinen Gefährten in den Korridor eingedrungen war. Balduur dagegen ließ sich Zeit. Als die Brüder gegangen waren, zapfte er sich erst noch einmal den Humpen voll und leerte ihn mit langen, gierigen Zügen. Dann schwankte er davon, um die Rüstung anzulegen. Wenn Atlan und seine Genossen eingesperrt waren, fuhr es ihm durch den vernebelten Sinn, dann war es an der Zeit, die Schande zu tilgen, die Odin mit seiner lächerlichen Gestalt über die Herrscher von Pthor gebracht hatte.
* Der Weg war mühselig. Der finstere Gang wand sich hin und her, dabei führte er stets mehr oder weniger steil in die Tiefe. Manchmal wurde er so schmal, daß man sich seitwärts zwischen den Wänden entlangschieben mußte. Dann wieder war er so niedrig, daß ein weiteres Vordringen nur kriechend möglich war. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde Atlan. Es gab für ihn keinen Zweifel daran, daß Odin sich in Gefahr befand. Wie sollte er ihm helfen können, wenn er in diesen Stollen eingezwängt war? Er hatte, als er das Verlangen äußerte, den VONTHARA zu sehen, sich nicht erkundigt, wie lang der Weg sei. Das ärgerte ihn jetzt. Er brachte seine Besorgnis zum Ausdruck. Razamon, der sich eben breitseits durch eine besonders schmale Stelle des Stollens quetschte, antwortete mit gepreßter Stimme: »Wir sind nicht mehr weit vom Ziel entfernt. Welchen Nutzen würde es uns jetzt bringen, den ganzen Weg zurückzugehen?« Diesem Argument hatte Atlan nichts entgegenzusetzen. Er quetschte sich ebenfalls durch die enge Stelle und erinnerte sich dabei daran, daß dies das Innere eines ehemaligen Raumschiffs war. Wer immer diesen
36 Stollen angelegt haben mochte, dem mußte es darum gegangen sein, Leuten, die auf diesem Wege den VONTHARA erreichen wollten, das Leben so sauer wie möglich zu machen. Kurze Zeit später aber weitete sich der Gang. Der Boden wurde eben, das Gefälle hörte auf. In der Dunkelheit hörte Atlan, wie Razamon vor ihm munter ausschritt. Dann kam das dumpfe Geräusch eines Aufpralls, und danach der halblaute Fluch des Pthorers. »Ich glaube, wir sind am Ziel«, hörte der Arkonide ihn knurren. »Laßt mich sehen – ja, das ist die Tür.« Aus der Finsternis kamen kratzende und klickende Geräusche. Razamon war am Manipulieren. Dann aber wurde es plötzlich still. »Was ist?« erkundigte sich Atlan. »Der Riegel ist blockiert!« stieß Razamon zornig hervor. »Kann man der Tür mit Gewalt beikommen?« fragte der Arkonide. »Sie besteht aus solidem Stahl«, antwortete Razamon. »Da der Riegel blockiert ist, besteht unsere einzige Chance darin, daß wir die Angeln brechen.« Glücklicherweise war der Stollen breit genug, so daß drei Leute nebeneinander das Hindernis in Angriff nehmen konnten. Razamon erinnerte sich daran, daß die Tür sich auf der rechten Seite öffnete. Die Angeln befanden sich also links. Atlan, der Pthorer und der Stumme postierten sich vor dem Hindernis. Dann gingen sie mit ihren Schultern zu Werke. Der Erfolg war gleich Null. Die Tür rührte sich um keinen Millimeter. »Da kommen wir nicht durch!« seufzte Razamon. »Horcht!« rief Atlan plötzlich. Es wurde still. Und in die Stille hinein hörte man ein leises Wispern, das von jenseits der Tür zu kommen schien. Atlan trat vor und preßte das Ohr gegen den Stahl. Da hörte er, auf einmal ganz laut und deutlich, eine Stimme, deren Klang von dem Metall der Tür wie durch eine Membrane übertra-
Kurt Mahr gen wurde. Die Stimme gehörte Heimdall, dem Düsteren. Und Heimdall sprach: »Ich weiß, daß ihr da draußen seid und lauscht. Höret also, was euch erwartet! Diese Tür ist versperrt. Ihr werdet sie nicht durchdringen können. Ebenso versperrt ist der obere Ausgang des Stollens. Ihr seid gefangen. Euer Geschick liegt in unserer Hand. Wir werden eine Zeitlang brauchen, um darüber zu entscheiden, was mit euch geschehen soll. In der Zwischenzeit gibt es Wichtigeres zu erledigen!« Atlan wandte sich an die Gefährten und berichtete ihnen, was er gehört hatte. Thalia schrie entsetzt auf. »Wichtigeres zu erledigen!« rief sie. »Das kann nur bedeuten, daß Odin in Gefahr ist.« »Ich fürchte, du hast recht«, stimmte der Arkonide zu. »Und wir sitzen in der Falle. An dieser Tür können wir nichts ausrichten. Vielleicht gelingt es uns, die Barrikade am anderen Ende zu durchbrechen. Kommt!«
* Balduur hatte ganze Arbeit geleistet – so wenigstens sah er selbst die Sache. Er hatte aus den umliegenden Räumen alles Mobiliar, herbeigeschafft, daß er hatte bewegen können. Einen Teil der Stücke hatte er in den Gang hineingeschoben und untereinander verkeilt. Der Rest war vor der Gangmündung aufgebaut worden und bildete eine Barriere, die nach Balduurs Ansicht niemand würde durchbrechen können. Als er fertig war, versuchte der Odinssohn, sich zu erinnern, was als nächstes zu tun sei. Hatte Heimdall irgendeine Anweisung gegeben? Jetzt war die Zeit, sich um Odin zu kümmern und ihn unschädlich zu machen, bevor zuviele ihn zu sehen bekamen und es ruchbar wurde, daß der mächtige Odin in Wirklichkeit ein kümmerlicher Zwerg war. Aber wie sollte das vor sich gehen? Was hatte Heimdall gesagt? Balduurs alkoholumnebelter Verstand erinnerte sich nicht. Das
Der Ruf des Wächters Klügste war, fand er, an Ort und Stelle auf die Brüder zu warten. Balduur wankte davon – in den Korridor hinein, zu dessen beiden Seiten die Wohngemächer lagen. Mit starker Faust pochte er an die Tür, die zu Odins Wohnung führte. Es dauerte nicht lange, da drang von der anderen Seite eine hohe, dünne Stimme: »Geht fort! Ich habe mit euch nichts mehr zu schaffen! Ich bin Odin, der Mächtige, und brauche eure Fürsorge nicht!« »Mach auf!« brüllte der Betrunkene. »Ich bin's, Balduur!« Die Tür wurde geöffnet. Odin trug noch immer das seltsame Gewand, das die Dellos ihm beschafft hatten. Er strahlte. »Balduur, mein Sohn! Ich hatte dich nicht erwartet. Tritt ein!« Balduur schwankte über die Türschwelle. Zur rechten Hand erblickte er einen Sessel. In diesen ließ er sich fallen und schob das Schwert zur Seite, daß es ihn nicht beim Sitzen behinderte. »Was führt dich zu mir, mein Sohn?« erkundigte sich Odin liebevoll. »Ich will dich bewirten. Wonach steht dir der Sinn? Einem Trunk?« Balduur rülpste heftig. Die Szene verursachte ihm Übelkeit. Der lächerliche Wicht und sein komisches Gehabe – das sollte Odin sein? »Ich warte hier auf Heimdall und Sigurd«, erklärte Balduur. »Wir werden dich beseitigen!« »Du wartest hier auf deine Brüder«, sprudelte Odin selig hervor. »Sie kommen, um …« Der kleine Mann unterbrach sich abrupt, als er begriff, was Balduur gesagt hatte. »Ihr werdet was?« »Dich beseitigen. Du bist eine Schande für das Geschlecht der Herrscher von Pthor. Odin ist ein Hüne, ein unerschrockener Kämpfer, ein Held in der Schlacht! Was aber bist du? Ein Zwerg! Ein verächtliches Häuflein Haut und Knochen!« Odin war bleich geworden. Er zitterte. »Das … das könnt ihr nicht tun!« brachte
37 er stotternd über die Lippen. »Ich bin euer … euer Vater. Ich wollte nicht hierher zurückkehren. Ihr habt mich hier manifestiert!« »Das war ein Fehler«, brummte Balduur teilnahmslos. »Bist du sicher, du sprichst im Ernst?« fragte Odin hastig, denn er hatte inzwischen an Balduurs Atem gerochen, daß sein Sohn dem Alkohol ziemlich heftig zugesprochen hatte. »Ich bin ganz sicher!« knurrte Balduur. »Und damit du erfährst, wie ernst es mir ist, habe ich mich soeben entschlossen, nicht auf Heimdall und Sigurd zu warten. Ich brauche sie nicht. Dich jammerndes Häuflein Elend kann ich mit einer Hand abservieren!« Er wollte aufstehen und gleichzeitig sein Schwert ziehen. Dabei geriet er jedoch infolge der Trunkenheit mit der Koordination durcheinander. Die Scheide des Schwerts fuhr ihm zwischen die Beine, als er sich halbwegs erhoben hatte und sandte ihn mit einem dumpfen Plumps wieder in den Sessel zurück. »Nein …!« kreischte Odin, der inzwischen begriffen hatte, daß es Balduur wirklich ernst war. Er rannte davon, so schnell ihn die Füße trugen. Die Tür stand noch offen. Schneller, als Balduurs trunkener Blick ihm zu folgen vermochte, war er durch die Öffnung hinaus und verschwunden. Balduur gelang es schließlich, auf die Beine zu kommen. Der Mißerfolg hatte ihn zornig gemacht. Mit wütendem Knurren setzte er zur Verfolgung an. Allerdings war sein Eifer größer als die Fähigkeit seiner Beine. In der Nähe der Tür geriet er aus dem Gleichgewicht. Das hatte zur Folge, daß er mit voller Wucht und mit dem Schädel gegen den stählernen Türpfosten prallte. Daraufhin ging er ächzend zu Boden. Er war bei Bewußtsein, aber der Schmerz wühlte ihm im Gehirn. Er kam zu dem Schluß, daß es besser für ihn sei, wenn er sich fürderhin aller anstrengenden Tätigkeit enthalte. Der Schmerz in seinem Schädel
38
Kurt Mahr
war so gewaltig, daß er sich flach auf den Boden legte, um ihn besser ertragen zu können. Dann tat das Bier seine Wirkung. Es vergingen nur ein paar Augenblicke, da war Balduur, der ausgezogen war, um eigenhändig die Schande zu tilgen, die der Zwerg Odin auf das Geschlecht der Herrscher von Pthor gehäuft hatte, fest eingeschlafen, und sein Schnarchen drang durch die offene Tür bis weit in den Gang hinaus. Ein paar Minuten später erschien Fenrir, der Wolf, auf der Szene. Er hatte sich in den rückwärtigen Gemächern der Wohnung befunden. Bei dem Schlafenden blieb er kurz stehen und schnupperte an ihm. Dann trottete er hinaus. Er sah aus, als wittere er das bevorstehende Unheil.
7. Der Verhau, der aus durcheinander geworfenen und ineinander verkeilten Möbelstücken bestand, wirkte nicht besonders fachmännisch. Aber fürs erste erwies er sich als ein unüberwindliches Hindernis. Das ging solange, bis Thalia eine langgestreckte Bank zu fassen bekam, deren eines Ende nur ein paar Zentimeter weit aus dem Wirrwarr hervorragte. Sie zog daran, und mit donnerndem Getöse stürzte ein Teil der Barrikade in sich zusammen. Mit großem Eifer stürzten sich die drei Männer auf die Möbel, die Thalias Manöver aus der Verkeilung befreit hatte, und schleuderten sie hinter sich. Meter um Meter kämpften sie sich zur Mündung des Stollens vor. Dort freilich wartete ein noch größeres Hindernis auf sie: der Turm, den Balduur errichtet hatte. Razamon griff nach dem Bein eines klobigen Stuhls, der mit zu den Stücken gehörte, die die Basis des Turmes bildete. Er zerrte daran, aber der Stuhl rührte sich nicht. Er versuchte es ein zweites Mal und spürte ein leises Zittern, das durch das schwere Holz rann. »Helft mir!« rief er. »Wenn wir alle im gleichen Rhythmus ziehen, bringen wir das
Ding ins Wanken!« Atlan, Thalia und der Stumme griffen zu. Razamon kommandierte: »Eins und – zwei und – drei …« Im Innern des Turmes begann es zu knistern und zu knirschen. Und als Razamon bis elf gezählt hatte, da stürzte das ganze Gebilde um. Es krachte und knallte, und die Bruchstücke, aus denen Balduur sein vermeintlich unüberwindliches Hindernis gebaut hatte, kollerten nach allen Seiten davon. Der Arkonide war der erste, der hurtig über die überall verstreuten Möbelstücke hinwegturnte und in den Gang hineineilte, an dem Odins Gemächer lagen. Thalia, von der Sorge um den Vater getrieben, folgte ihm dichtauf. Atlan pochte an die schwere Tür. Als sich auf der anderen Seite nichts rührte, stemmte er sich gegen die Türfüllung. Das metallene Gebilde gab nach. Atlan blickte in einen kleinen Vorraum. Odin war nirgendwo zu sehen. »Odin!« schrie er. Und dann, weil der kleine Mann auf den vertrauteren Namen vielleicht eher reagieren würde: »Feigling!« Er bekam keine Antwort. »Er ist nicht mehr hier! Ich spüre es!« sagte Thalia mit zitternder Stimme. Nichtsdestoweniger eilte sie davon, um die hinteren Räume der Wohnung zu untersuchen. Binnen einer Minute kehrte sie zurück. »Er ist nicht da«, stieß sie hervor. »Sie haben ihn geholt!« Atlan versuchte, sie zu beruhigen. »Wir gehen davon aus, daß sie ihn töten wollen«, sagte er. »Das hätten sie hier ebenso gut tun können wie sonstwo. Daß er nicht mehr hier ist, scheint mir eher ein gutes Zeichen zu sein.« »Meinst du?« fragte sie unsicher. »Aber wohin soll er sein?« »Wir werden jemand finden, der ihn gesehen hat«, antwortete der Arkonide. Sie eilten über die gewundene Rampe in die unteren Stockwerke. Inzwischen senkte sich draußen der Tag zur Neige. Die große
Der Ruf des Wächters Halle war leer. Atlan hielt sich dort nicht auf, sondern stürmte durch das Tor hinaus ins Freie. Da erblickte er eine Schar Dellos, die damit beschäftigt waren, die kahle Fläche, die die große Pyramide umgab, zu reinigen. Er rief einen von ihnen herbei. »Wer hat den kleinen Mann gesehen, der sich Odin nennt?« fragte er. »Wir alle haben ihn gesehen«, antwortete der Androide. »Er kam dort durch das Tor gerannt.« »Wohin ging er?« »Er wollte in den Garten hinaus. Aber er kam nicht weit.« »Warum nicht?« »Heimdall und Sigurd holten ihn ein und brachten ihn zurück.« »Wann war das? Wie lange ist das her?« »Nur ein paar Minuten.« »Welchen Weg sind sie gegangen? Dort durch das Tor?« »Nein. Sie eilten an der Seite der Pyramide entlang und müssen einen der Nebeneingänge benützt haben.« Razamon und Thalia hatten den kurzen Wortwechsel mitgehört. Thalia fieberte vor Sorge. »Wir müssen hinter ihnen her!« drängte sie. »Sie werden Odin töten!« Sie wandten sich in die Richtung, die der Dello gewiesen hatte. Sie eilten an der Seite der Pyramide entlang. Atlan spähte nach dem Nebeneingang aus, den der Androide erwähnt hatte. Da hörte er plötzlich ein eigenartiges Geräusch. Es klang wie ein hohles Pfeifen, das aus der Erde zu dringen schien. Der Arkonide blieb unwillkürlich stehen. Thalia rannte noch ein paar Schritte weiter. Dann hielt auch sie an und lauschte. Der Pfeifton wurde heller. Er hatte eine eigenartig durchdringende Wirkung, obwohl er nicht sonderlich laut war. Allerdings glaubte Atlan zu bemerken, daß die Intensität sich steigerte. »Hast du eine Ahnung, was das ist?« fragte er Razamon.
39 »Eine Ahnung schon«, antwortete der Pthorer. »Ich glaube, der VONTHARA ist in Tätigkeit getreten.«
* Hämisch grinsend erwartete Heimdall die Reaktion auf seine Worte. Er rechnete damit, daß die Leute auf der anderen Seite der Tür ihren Angriff erneuern oder daß sie versuchen würden, mit ihm zu verhandeln. Aber nichts dergleichen geschah. Es blieb still jenseits der Tür. »Sie haben eingesehen, daß sie hier nicht durchkommen«, sagte Sigurd. »Sie sind auf dem Weg nach oben!« »Meinst du?« reagierte Heimdall enttäuscht. Er hatte sich darauf gefreut, Atlan seine Genossen noch eine Zeitlang bei ihrem erfolglosen Mühen beobachten zu können. Noch mehr Spaß hätte es ihm gemacht, wenn Atlan zu verhandeln versucht hätte. Sigurd trat vor und legte das Ohr an die Tür. »Kein Laut!« berichtete er. »Sie sind umgekehrt. Es wird Zeit. Komm!« Ein wenig widerstrebend folgte Heimdall dem Bruder. Mit scheuem Blick musterte er die große, schimmernde Kugel, die in ihrem Innern fremdartige Gebilde barg. Es schien ihm, als habe die geometrische Struktur im Kugelinnern ihre Form verändert, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Aber das mochte eine Täuschung sein. Sigurd und Heimdall eilten zu den oberen Geschossen der Pyramide hinauf. Sie kamen durch die Halle, in die der Gang mündete, und sahen die Barrikade, die Balduur errichtet hatte. »Das sieht solide genug aus«, knurrte Heimdall befriedigt. »Da kommen sie nicht durch!« Er machte sich jedoch nicht die Mühe, Balduurs Werk aus der Nähe zu inspizieren. Sie drangen in den Korridor ein, der zu Odins Gemächern führte. Das erste, was sie verdächtig fanden, war, daß die Tür offen stand. Heimdall trat ein. Als er seinen Bru-
40 der Balduur schnarchend am Boden liegen sah, stieß er einen wüsten Fluch aus. Er bückte sich und riß Balduur in die Höhe. Mit der flachen Hand schlug er dem Bruder zwei-, dreimal hart ins Gesicht. Balduurs Schädel baumelte haltlos hin und her. »Wach auf!« schrie Heimdall in maßlosem Zorn. Balduur blinzelte. »Wa … was ist?« lallte er. »Was hast du hier verloren?« fuhr Heimdall ihn an. »Wo ist Odin?« Balduurs Blick wirkte stupide. Er sah sich um. Es bereitete ihm Mühe, sich zu erinnern. »Tür!« stieß er hervor. »Ich bin … gegen den Türpfosten gerannt. Odin? Odin ist …« Da ging es wie ein Ruck durch ihn. »Odin ist entkommen!« keuchte er. Heimdall stieß den Bruder wütend von sich. »Tauch deinen Schädel in kaltes Wasser und sieh, daß du zu dir kommst!« schrie er ihn an. »Sigurd – komm!« Sie eilten hinaus. Es gab keinen Zweifel, daß der trunkene Balduur dem Schwächling verraten hatte, welches Schicksal ihm bestimmt war. Für Odin konnte es nur einen einzigen Fluchtweg gegeben haben: hinaus aus der Festung. Wenn er sein Leben retten wollte, dann mußte er in möglichst kurzer Zeit eine möglichst große Distanz zwischen sich und die Pyramide legen. Als Heimdall und Sigurd durch das nördliche Tor in den Hof hinausstürmten, sahen sie Odin, der eben im Begriff war, an einer der kleinen Pyramiden vorbei in den Garten zu rennen. Er schien seiner Sache noch immer nicht ganz sicher zu sein. Denn er blieb mitunter stehen und sah sich um. Als er die beiden Brüder erblickte, stieß er einen entsetzten Schrei aus und wandte sich mit erhöhter Geschwindigkeit zur Flucht. Heimdall und Sigurd aber brauchten nicht einmal eine Minute, da hatten sie ihn eingeholt. Odin schrie und zappelte eine Zeitlang, als sie ihn zur Pyramide zurückschleppten. Schließlich jedoch sah er ein, daß all sein Zetern umsonst war. Da hörte er auf zu jam-
Kurt Mahr mern und sich zu winden und ergab sich in sein Schicksal.
* Das Pfeifen hatte einen merkwürdigen Effekt nicht nur auf Atlan und seine Gefährten, sondern auch auf die Dellos, die in der Nähe bei der Arbeit waren. Der Pfeifton lenkte jedermanns Aufmerksamkeit auf sich und ließ ihn vergessen, was ihm noch vor Sekunden wichtig und dringend erschienen war. Selbst Thalia, vor kurzem noch voller Sorge um das Los ihres Vaters, war in diesem Augenblick nur noch daran interessiert, zu erfahren, was es mit dem pfeifenden Geräusch auf sich hatte. Die Dellos hatten aufgehört zu arbeiten. Sie standen in Gruppen beieinander und unterhielten sich aufgeregt über das geheimnisvolle Phänomen. Atlan schritt hin und her und versuchte, zu erkennen, aus welcher Richtung das eigenartige Geräusch kam. Das war ein mühseliges Unterfangen, denn das Pfeifen war überall gleich intensiv. Es durchdrang die Luft und den Boden in gleicher Weise. Gerade weil es aber auch aus dem Boden zu kommen schien, war der Arkonide geneigt, Razamons Hypothese für plausibel zu halten. Der VONTHARA war in Tätigkeit getreten. Das pfeifende Geräusch ging von der schimmernden Kugel aus. Es übertrug sich den massiven Wänden der Pyramide und von dorther dem Boden. Atlan horchte auf, als plötzlich ein neues Geräusch das grelle Pfeifen übertönte. Für wenige Sekunden war ein grollendes Rumpeln zu hören, das an fernen Donner gemahnte. Es kam aus dem Garten, der das Rund der sechs kleinen Pyramiden umgab. Voller Staunen gewahrte der Arkonide, wie sich an einer Stelle der Boden öffnete und ein kuppelförmiges, bunkerähnliches Bauwerk gebar, das bis zu einer Höhe von zwei Metern aufwuchs und dann anhielt. Er eilte darauf zu. Noch hatte er das seltsame Gebilde nicht erreicht, da öffnete sich im oberen Teil der Kuppel eine Klappe, und
Der Ruf des Wächters eine schimmernde Kugel kam zum Vorschein, in deren Innerem merkwürdige, vibrierende Gebilde ein eigenartiges geometrisches Muster bildeten. Er hörte ein Keuchen hinter sich, wandte sich um und sah Razamon. »Ist das der VONTHARA?« fragte er ihn. »Nein, ein verkleinertes Abbild!« stieß der Pthorer hervor. »Der richtige VONTHARA sieht genauso aus, nur größer.« In diesem Augenblick begann das Gebilde oben auf der Kuppel zu pfeifen. Der Pfeifton hatte dieselbe Frequenz wie der, den man schon die ganze Zeit über gehört hatte. Das Resultat war, daß das Pfeifen noch lauter, noch durchdringender wurde. Atlan griff unwillkürlich nach dem Helmgespinst, das ihm wie eine Kapuze auf der Schulter ruhte. In dem Augenblick, in dem er den Helm des Goldenen Vlieses über den Kopf streifte, spürte er, wie die Wirkung des infernalischen Geräusches nachließ. Razamon starrte unverwandt auf das Abbild des VONTHARA, in dessen Inneren die geometrischen Strukturen flimmernd vibrierten. Er bot den Anblick eines müden, erschöpften Mannes. Die Schultern hingen nach vorne, und die Arme baumelten kraftlos. »Ich weiß nicht, was das ist«, brummte er. »Aber plötzlich bin ich ganz entsetzlich schläfrig.« Atlan versuchte ihn aufzumuntern. »Wir haben Wichtiges vor«, erinnerte er den Pthorer. »Odin ist in den Händen seiner Söhne. Es ist unsere Pflicht, ihm beizustehen!«
* Heimdall wußte sich selbst keine Rechenschaft darüber zu geben, warum er Odin durch einen der Seiteneingänge in die Festung zurückschleppte. Wahrscheinlich war es die unterbewußte Furcht vor dem Fremdling namens Atlan, der zwar eingesperrt war, von dem man aber nie wußte, wie lange es ihn selbst in der geschicktest angelegten Fal-
41 le halten würde. Auf jeden Fall fühlte Heimdall sich sicherer, als er den Zwerg mit Sigurds Hilfe durch abgelegene, selten betretene Gänge und Rampen der Festung zu den oberen Geschoßebenen transportierte. Odins Resignation wies schockähnliche Züge auf. Er rührte sich nicht mehr. Er war wie leblos. Seine großen Augen nahmen die Umgebung nicht mehr wahr. Heimdall, der ihn an den Füßen trug, wandte sich manchmal nach ihm um, um ihn zu mustern. Er ertappte sich dabei, daß er Mitleid mit der kümmerlichen Gestalt empfand, die eigentlich nichts dafür konnte, daß sie nicht dem Bild entsprach, das die Legende gezeichnet hatte. Je länger der Weg wurde, desto mehr Verwirrung entstand in Heimdalls Gehirn. Es schien ihm auf einmal, als sei er mit Odin und seinen Brüdern in einem Komplott gefangen, das das Schicksal gegen sie ersonnen hatte. Im Geist sah er sich bei Odins Hinrichtung – und eine Zeit später den Flüchen der Menschen von Pthor ausgesetzt, die ihn einen Vatermörder nannten und ihm die Fähigkeit des Herrschens absprachen. So groß wurde schließlich seine Verzweiflung, daß er den Entschluß faßte, Odin nicht alleine sterben zu lassen. Der Fluch des Schicksals lastete nicht nur auf dem Zwerg, sondern auf dem gesamten Geschlecht der Herrscher von Pthor. Der Forderung des Geschicks war nicht allein damit Genüge getan, daß Odin starb. Seine Söhne gehörten ebenfalls unter das Schwert! So beschloß Heimdall, daß er nicht nur Odin, sondern auch Sigurd und Balduur töten werde. Und wenn er das Werk vollbracht hatte, würde er sich mit der Khylda die Kehle aufreißen und hinter dem Vater und den Brüdern her in das Land der Schatten reisen. So weit war er mit seinen Gedanken gekommen, als ihn ein schrilles, durchdringendes Pfeifen aufschreckte. Er hielt unwillkürlich an; fast wären Odins Füße seinem Griff entglitten. »Was ist das?« fragte er. »Ich weiß es nicht«, knirschte Sigurd, der
42 Odin unter den Armen gepackt hielt. »Nur immer weiter! Das Geräusch geht mir in den Verstand! Ich kann es nicht ertragen!« Sie hasteten eine steile, gerade Rampe hinan. Oben gelangten sie in einen Gang und von diesem in die Kuppelhalle, in der sie den Kampf gegen Thalia ausgefochten hatten und in der Odin ihnen zum ersten Mal gegenübergetreten war. Denn dies war der Ort, an dem nach Heimdalls Willen das tragische Schicksal der Herrscher von Pthor sich vollziehen sollte. Vor dem Trümmerhaufen, in dem sich Thalia vor ihnen barrikadiert hatte, legten die beiden Brüder den reglosen Odin ab. Heimdall trug Sigurd auf: »Geh und bringe Balduur! Sieh auch zu, ob du den Wolf irgendwo finden kannst.« Sigurd schritt mürrisch davon. Heimdall hockte sich auf das Bruchstück einer der Statuen, die Thalia herbeigeschleppt hatte, um die Barrikade zu verstärken. Das pfeifende Geräusch machte ihm zu schaffen. Es bohrte in seinem Gehirn. Er empfand ein fast unwiderstehliches Verlangen, sich hinzulegen und zu schlafen. Nur die finstere Entschlossenheit hielt ihn wach: Erst mußte das Urteil vollzogen werden. Dann kam die Ruhe. Die ewige Ruhe! Schlurfende Schritte ließen Heimdall aufhorchen. Sigurd kam über die steile Treppe, die von unten heraufführte. Hinter sich her zog er Balduur, dessen verzerrtem Gesicht man ansah, daß er entweder unter den Folgen des Alkohols litt oder von dem durchdringenden Pfeifen ebenso behelligt wurde wie Heimdall und Sigurd. Heimdall erhob sich. »Fenrir ist nirgendwo«, erklärte Sigurd dumpf. »Wir kommen ohne ihn zurecht«, antwortete Heimdall. Dann hob er die Stimme und fuhr fort: »Wir sind in wichtiger Sache hier zusammengekommen. Wir, die Herrscher von Pthor, sind für den Namen und den Ruf unseres Geschlechts verantwortlich. Vor uns
Kurt Mahr liegt einer, der sich Odin nennt und unser Vater zu sein vorgibt. Wir haben keine Möglichkeit, die Richtigkeit seiner Angaben zu prüfen. Andererseits aber ist eine solche Prüfung nicht notwendig. Er ist entweder ein Verräter, der ohnehin den Tod verdient hat, oder er ist wirklich Odin, unser Vater, der sterben muß, weil er mit seiner zwergenhaften Gestalt Schande über die Familie der Herrscher von Pthor gebracht hat. Seid ihr alle meiner Ansicht?« »Ja, wir sind es«, brummte Balduur ungeduldig. »Aber mach schneller – das Pfeifen bringt mich langsam um!« »Einverstanden«, erklärte Sigurd mit schmerzverzerrtem Gesicht. Heimdall hob die Khylda. »Ergreift mit mir den Schaft dieser Waffe!« forderte er die Brüder auf. »Diese Aufgabe hat uns das Schicksal gemeinsam zugedacht. Wir müssen …« Er fuhr sich mit der freien Hand über die Stirn. »Was … was habe ich eben gesagt?« stotterte er. »Wen kümmert es!« fuhr Balduur ihn an. »Mach schneller, oder wir verlieren alle den Verstand.« Sigurd trat herzu und faßte den Schaft der Streitaxt. Balduur tat es ihm nach, aber er hielt die Augen geschlossen, weil der Schmerz, den das pfeifende Geräusch erzeugte, ihn zu übermannen drohte. »Hebt an!« befahl Heimdall. Die Khylda wuchtete in die Höhe. Odin, der wie ein Käfer tot gespielt hatte, in der Hoffnung, dadurch dem Zorn seiner Söhne zu entgehen, bäumte sich plötzlich auf. Er schrie vor Todesangst. Aber es war keine Kraft mehr in seiner Bewegung, noch in seinem Schrei. »Schlagt …«, gurgelte Heimdall. Schlagt zu, hatte er sagen wollen. Aber die Stimme versagte ihm den Dienst. Der Schmerz, der in seinem Verstand wühlte, übermannte ihn. Der Befehl, den das Gehirn an die Muskeln des Armes sandte, wurde nicht mehr ausgeführt.
Der Ruf des Wächters Sigurd und Balduur erging es nicht besser. Die mächtige Khylda trat nicht in Aktion. Der Schmerz und die Müdigkeit hatten die Brüder ebenso wie ihr Opfer übermannt. Odins Hinrichtung wurde nicht vollzogen. Die Szene im Kuppelsaal wirkte wie das Werk eines kranken Bildhauers: die drei Brüder, gemeinsam die Streitaxt haltend, waren zusammengesunken. Entschlossenheit und der Reflex des Schmerzes prägten ihre starren Mienen. Auf dem Boden vor ihnen lag Odin, die Muskeln im letzten verzweifelten Aufbäumen verkrampft. Über allem aber lag das durchdringende Pfeifen, das von dem VONTHARA, dem Wächter, ausging.
* Sie fanden den Nebeneingang. Dahinter war ein Korridor, der steil in die Höhe führte. Atlan eilte voran. Nach kurzer Zeit jedoch bemerkte er, daß die Gefährten weit hinter ihm zurückgeblieben waren. »Gebt euch mehr Mühe!« rief er ungeduldig. »Allein kann ich wenig ausrichten. Ich brauche eure Hilfe, wenn wir Odin retten wollen!« Razamon war der erste, der zu ihm aufschloß. Sein Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck, und der Schweiß stand ihm in dicken Tropfen auf der Stirn. »Nimm mir's nicht übel, Freund«, stieß er hervor, »aber ich kann nicht mehr! Das Pfeifen macht mich … verrückt!« Atlan blickte den Gang hinab. Der Stumme und Thalia hatten weiter unten angehalten. Der Stumme war zu Boden gesunken und rührte sich nicht mehr. Thalia hielt sich an der Wand fest. Es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis auch ihr die Kräfte versagten. Der Arkonide sah, daß er auf den Beistand der Freunde nicht mehr rechnen konnte. »Bleibt hier und ruht euch aus!« sagte er zu Razamon. »Ich sehe zu, was ich ausrichten kann.«
43 Mit diesen Worten eilte er davon. Auch er hörte, durch das Gespinst des Helmes hindurch, das seltsame Pfeifen, das immer intensiver zu werden schien. Aber ihm machte es nichts aus. Es war ein lästiges Geräusch, weiter nichts. Er begriff jedoch, daß es eben dieses Pfeifen war, das Razamon, Thalia und den Stummen in die Knie zwang. Es schien dem Geräusch eine psychische Kraft innezuwohnen, die nur deswegen nicht auf ihn wirkte, weil er das Goldene Vlies trug. Er verirrte sich ein paarmal. Des öfteren blieb er stehen, um zu lauschen; denn er meinte, daß es dort, wo die Odinssöhne ihren Vater hinrichten wollte, ziemlich laut zugehen würde. Aber er hörte nichts außer dem infernalischen Pfeifen, und schließlich fand er die steile Rampe, die zum Kuppelsaal hinaufführte. Da sah er die unglaubliche Szene – und sah sie mit abgrundtiefer Erleichterung: die drei Brüder mit der Streitaxt und den kleinen Mann am Boden. Er trat hinzu. Er betastete die Körper der drei Brüder. Die Haut war warm und weich. Sie lebten, daran bestand kein Zweifel. Sie waren in einen tiefen Schlaf versunken. Er untersuchte auch Odin. Auch er schlief. Dann kehrte Atlan zurück. Er fand die Gefährten in dem Gang, in dem er sie zurückgelassen hatte. Der Schlaf hatte sie ebenso übermannt wie die drei Odinssöhne und ihren Vater. Atlan ließ sie ruhen. Durch den Nebenausgang verließ er die Pyramide. Er hatte eine ungute Ahnung, daß das unheimliche Pfeifen dieselbe Wirkung auf alle Lebewesen von Pthor haben würde. Seine Vermutung wurde rasch bestätigt. Die Dellos, die in Gruppen beieinander gestanden hatten, lagen reglos am Boden und schliefen. In den Büschen und Bäumen des Gartens rührte sich kein Vogel, kein Insekt mehr. Es war, als habe der Mantel des Todes die Welt Pthor eingehüllt. Atlans Ohr hatte sich mittlerweile an das allgegenwärtige Pfeifen gewöhnt. Er nahm es nicht mehr wahr, und die Welt kam ihm unheimlich still vor.
44
Kurt Mahr
Er fragte sich, was dies alles zu bedeuten haben mochte. Razamons Theorie, daß der VONTHARA zum Leben erwacht sei, weil die Herren der Schwarzen Galaxis fürchteten, daß Pthor allmählich auf einen falschen Kurs gerate, erschien ihm von Minute zu Minute glaubhafter. Welche Funktion aber übte das kleine Abbild des VONTHARA aus, das auf der Spitze der Kuppel im Garten der Festung stand und aus Leibeskräften dasselbe Pfeifgeräusch von sich gab wie der VONTHARA selbst? Auf diese Frage gab es eigentlich nur eine Antwort. Welche Aktion die Herren der Schwarzen Galaxis auch immer planen mochten: sie erforderte anscheinend, daß ganz Pthor in einen tiefen Schlaf versank. Ganz Pthor! Nicht nur die Gegend rings um die Festung. Die bunkerähnliche Kuppel, die da so unversehens aus dem Boden aufgetaucht war, stellte nicht den einzigen Vertreter ihrer Gattung dar. Atlan malte sich aus, daß ringsum im Land Hunderte, wenn nicht gar Tausende solcher Kuppeln unvermittelt aus dem Boden gefahren waren und begonnen hatten, Pthor mit ihrem Pfeifgeräusch zu sättigen. Es hielt den Arkoniden nicht mehr in der Nähe der Festung. Er mußte hinaus und sich Gewißheit verschaffen, ob seine Hypothese richtig war. War sie es, dann mußte er damit rechnen, daß die Herrscher der Schwarzen Galaxis demnächst unmittelbar auf Pthor eingreifen würden. Die Tätigkeit des VONTHARA war nicht mehr als ein Vorspiel. Für diese Entwicklung wollte Atlan gerüstet sein. Zu seiner Vorbereitung gehörte, daß er sich einen Überblick über die Lage auf ganz Pthor verschaffte.
8. Zur selben Zeit wollte es der Zufall, daß in der weit entfernten Stadt Wolterhaven der Bürger Moonkay seinem würdigen Diener Iwain den Auftrag gab, den Herrn Geraint, der mit Moonkay und anderen zusammen zu
den Herrschern der Stadt gehörte, eine Botschaft zu überbringen. Der Herr Moonkay formulierte deren Text sehr sorgfältig, denn er wußte, daß sein Diener Iwain bisweilen übermütig wurde und unterwegs an verschiedenen Stellen halt machte, was mitunter dazu führte, daß er vergaß, was ihm aufgetragen worden war. Der Herr Moonkay sagte: »Du hast dem Herrn Geraint folgendes auszurichten: Von der FESTUNG kommt die Nachricht, daß der Herr Odin zurückgekehrt ist, dem alles auf Pthor zu gehorchen hat. Es scheint mithin, daß in dem Land Pthor wieder Ruhe und Ordnung einkehren wird. Denn der Herr Odin ist keiner von denen … was ist das?« Der Herr Moonkay unterbrach sich irritiert, denn es war plötzlich ein helles, durchdringendes Pfeifen zu hören. Der Herr Moonkay war ein Roboter, und sein elektronisches Innere war gegen allerlei Einflußnahme gefeit, die einen Menschen leicht aus dem Gleichgewicht hätte bringen können. Dieses Pfeifen allerdings ging auch dem Herrn Moonkay auf das robotische Äquivalent der Nerven. Iwain schob den klobigen Kopf hin und her, um zu lauschen. »Ich wrrrrß es nicht«, antwortete er. »Wrrrso wrrrßt du es nicht?« erkundigte sich der Herr Moonkay aufgebracht. Iwain knickte in sich zusammen und stürzte zu Boden. Während der Herr Moonkay ihn noch erstaunt beobachtete, überkam auch ihn selbst die unwiderstehliche Müdigkeit, die von dem pfeifenden Geräusch über das ganze Land verbreitet wurde. Er knickte ebenfalls in sich zusammen. Aber er stürzte selbstverständlich nicht zu Boden. Seine Gestalt war eine andere als die des Dieners Iwain, und schließlich war er der mächtigste unter den Herren von Wolterhaven.
* In Zbahn hatte sich vieles geändert, seit es die Herren der FESTUNG nicht mehr gab.
Der Ruf des Wächters Die drei Initiatoren, die früher in Zbohr residiert und per Telepathie die Befehle der Herren ins Industriezentrum Zbahn übertragen hatten, waren wahnsinnig geworden, als die Befehle ausblieben. Seitdem war Eisenkaiser mit seinen Arbeitern auf sich selbst angewiesen. Das Ausbleiben der telepathischen Impulse hatte ihm zunächst schwer zu schaffen gemacht, und um ein Haar hätte auch er den Verstand verloren. Dann hatte er sich mit seinem bisher ärgsten Feind, Aminomeister, zusammengetan. Aminomeister litt unter denselben Entzugserscheinungen. Es war ihnen gelungen, einen Magier aufzutreiben, der in Zbahn wohnte, seitdem er von der Gilde der Magier ausgestoßen und gezwungen worden war, die Große Barriere von Oth zu verlassen. Dieser Magier brachte ihnen bei, wie sie einander dieselben Anweisungen erteilen konnten, die sie früher von den drei Initiatoren in Zbohr erhalten hatten. Seitdem residierte Eisenkaiser wieder auf der großen Empore in dem düsteren Raum im Innern des schneckenhausförmigen Gebäudes, und unter den Ausstrahlungen seines Gehirns glänzten die silbernen Werkzeuge der blinden Sklaven, und sie gingen ihrer Arbeit nach, wie sie es früher getan hatten. Es kümmerte Eisenkaiser wenig, daß die Gegenstände, die seine Sklaven erzeugten, von niemand mehr gebraucht wurden und sich auf Halden häuften. Für ihn war wichtig, daß die Arbeit ihren Fortgang nahm. Alles andere zählte nicht. Bis auf einmal das Pfeifen begann. Eisenkaiser erwachte aus der Trance, als er das durchdringende Geräusch hörte. Sogleich wurden die schimmernden Geräte der Arbeitssklaven stumpf, und die Arbeit kam zum Stillstand. Eisenkaiser befahl einem seiner Aufseher, nach draußen zu gehen und zu ermitteln, was es mit dem Pfeifen auf sich hatte. Der Aufseher kehrte nach wenigen Minuten zurück. Mühselig, als fehle es ihm an Kraft, stieg er zu Eisenkaisers Empore hinauf und berichtete: »Auf der Straße draußen
45 ist eine Kuppel aus dem Boden gefahren. In der Kuppel hat sich ein Luk geöffnet, und eine schimmernde Kugel mit merkwürdigen Gebilden in ihrem Innern ist zum Vorschein gekommen. Es ist diese Kugel, von der das Pfeifen ausgeht.« »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Eisenkaiser. »Das weiß ich nicht, oh Herr«, antwortete der Aufseher und gähnte. »Geh wieder hinab und beaufsichtige die Sklaven!« befahl ihm Eisenkaiser und gähnte dabei ebenfalls. »Ich will Verbindung mit Aminomeister aufnehmen, damit die Arbeit ihren Fortgang nimmt.« Er versuchte, in den Zustand der Trance zu versinken und Aminomeisters Mentalimpulse zu empfangen. Es gab aber entweder keine Impulse mehr, oder das lästige Pfeifen beeinflußte ihn so sehr, daß er sich nicht richtig konzentrieren konnte. Bei all der Mühe, die er sich machte, bemerkte Eisenkaiser gar nicht, daß drunten in der düsteren Halle die Sklaven ebenso wie die Aufseher längst zu Boden gegangen und eingeschlafen waren. Er selbst fühlte sich durch die vergebliche Anstrengung schließlich so erschöpft, daß er ebenfalls einschlief. Der große Schlaf senkte sich über Zbahn, die Stadt der Technos. Das schrille Pfeifen hielt an, aber in Zbahn gab es niemand mehr, der es hören konnte.
* Häbnar Als war mit fünf Knechten von Orxeya zum Blutdschungel unterwegs. Häbnar arbeitete im Auftrag des »Gewichts«, Typon Hasset, und war ausgezogen, um für Hasset eine Ladung Blätter des BmuuhrBaumes zu beschaffen, die dieser wiederum an den Seelenerschaffer Tynär Stump verschacherte, der daraus Seelenscheine verfertigte. Häbnar Als hatte mit seinen Leuten auf sechs Yassels die Stadt kurz vor Morgengrauen in östlicher Richtung verlassen. Das
46 war deshalb notwendig, weil Orxeya von Westen her von den vereinten Stämmen der Ornaquor und der Ninikit berannt wurde, die aus dem Blutdschungel gekommen waren, um sich an den Schätzen der Händler zu bereichern. Infolge der Belagerung war es Häbnar Als unmöglich, die bekannten Sammelstätten aufzusuchen. Er mußte vielmehr einen weiten Bogen nach Norden schlagen und näherte sich dem Rand des Blutdschungels erst wieder, als er bereits die Hälfte der Entfernung bis zum Dämmersee zurückgelegt hatte. Die Nacht verbrachte Häbnar Als in einem Lager, das am Rand der Ebene Kalmlech und immer noch etliche Kilometer vom Blutdschungel entfernt lag. Diese Vorsicht war notwendig, denn in dieser Gegend des Dschungels hausten die angriffslüsternen und blutdürstigen Opelti – kleine, humanoide Kreaturen, die ein affenähnliches Fell trugen, grüne Augen hatten und die steinernen Spitzen ihrer Lanzen mit einem Gift tränkten, das binnen weniger Sekunden den Tod brachte, wenn es in die Blutbahn eindrang. Am nächsten Morgen ging es weiter. Häbnar Als fand nach kurzer Suche eine Gruppe von Bmuuhr-Bäumen, die Blätter gerade der richtigen Größe trugen. Er ließ drei seiner Knechte mit dem Einsammeln beginnen. Mit den übrigen beiden patrouillierte er am Rand des Dschungels auf und ab, um die Sammler vor den Opelti zu schützen. Aber die Opelti waren schlau. Sie griffen nicht sofort an, sondern warteten, bis es Mittag wurde. Um diese Zeit war die Hitze beträchtlich. Die Männer waren müde und ließen in ihrer Wachsamkeit nach, zumal fünf Stunden der Ereignislosigkeit sie so gut wie überzeugt hatten, daß es keine Gefahr gab. Häbnar Als und seine Knechte wären wahrscheinlich den Lanzen der Opelti zum Opfer gefallen, wenn nicht im letzten Augenblick etwas Unerwartetes eingetreten wäre, das sowohl die Opelti, als auch Häbnar Als und seine Leute in beträchtliche Verwir-
Kurt Mahr rung stürzte. Häbnar hörte, während er am Dschungelrand entlangschritt, ein grollendes Geräusch draußen auf der Ebene. Er sah sich um und entdeckte eine Kuppel, die aus dem Boden wuchs. Das obere Ende der Kuppel öffnete sich, und eine schimmernde Kugel kam zum Vorschein, aus der ein durchdringender, anhaltender Pfeiflaut erscholl. Wenige Sekunden später griffen die Opelti an. Inzwischen war Häbnar ein paar Meter weit auf die Kuppel zugegangen, um sie sich aus der Nähe anzusehen, dann aber wieder umgekehrt, weil er das Pfeifen nicht vertragen konnte. Es wirbelte ihm die Gedanken durcheinander und machte ihn müde. Eine Gruppe Opelti stürzte auf ihn zu. Lanzen wurden geschleudert, aber die Opelti schienen ebenfalls unter dem Pfeifen zu leiden, denn die Würfe waren schlecht gezielt. Häbnar empfing die Angreifer mit den Fäusten. Ohne ihre vergifteten Lanzen waren die Opelti keine ernst zu nehmenden Gegner. Häbnar verabreichte dem vordersten Angreifer einen Kinnhaken, der diesen in die Luft und wieder zu Boden schleuderte. Da gaben die übrigen Opelti auf: Sie kehrten um und wollten davonlaufen. Mitten im Lauf aber übermannte sie die Müdigkeit. Sie sanken zu Boden und blieben reglos liegen. Häbnar kam nicht mehr dazu, sich darüber zu wundern. Sekunden später ging auch er in die Knie. Seine drei Knechte waren aus den Zweigen der Bmuuhr-Bäume gefallen und lagen schlafend auf dem Boden des Waldes. Die übrigen zwei hatten sich im Schatten eines Busches gebettet. Häbnar Als sank vornüber. Er war unendlich müde. Er schlief schon, als sein Gesicht den Boden berührte.
* Atlan wurde auf seinem Rundflug über das Land zwar nicht Augenzeuge der Ereignisse, in deren Verlauf der Herr Moonkay, der Techno Eisenkaiser und der Händler Häbnar Als in den Schlaf versanken. Aber er erkannte auch so, was mit Pthor geschehen
Der Ruf des Wächters
47
war: an Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Stellen waren die Kuppeln aus verborgenen Bunkern ans Tageslicht gefahren, und auf der höchsten Stelle einer jeden Kuppel erhob sich die schimmernde Kugel, das Abbild des VONTHARA, von der ein durchdringendes Pfeifen ausging, das weit hinaus übers Land hallte und alles Leben binnen weniger Minuten in den Tiefschlaf wiegte. Atlan suchte nach solchen, die so wie er der Wirkung des infernalischen Geräuschs verschont geblieben waren. Er fand niemand. Auf Pthor schliefen alle Menschen und Tiere. Für Atlan stand fest, daß das Einschläfern von Pthor von den Herrschern in der Schwarzen Galaxis ausgelöst worden war. Er rechnete damit, daß in nächster Zukunft eines von zwei Ereignissen eintreten werde: Entweder erhielt Pthor Besuch von Spähern aus der Schwarzen Galaxis, die sich hier umsehen würden, um ihren Herren Bericht zu erstatten, oder Pthor setzte sich wieder in Bewegung, verließ Loors und kehrte in die Region der Dimensionskorridore zurück. Atlan als der einzige Wache auf dem kosmischen Materiebrocken fühlte sich für Pthor verantwortlich. Er begann zu planen, wie er sich in dem einen oder anderen Fall verhalten würde. Er gab sich keinen Illusionen darüber hin, daß er den Herren aus der Schwarzen Galaxis an Macht und Mitteln etwa ebenbürtig sei. Sie waren ihm hoffnungslos überlegen. Der einzige Vorteil, den er ins Spiel bringen konnte, lag darin, daß sie nicht wußten, daß es noch eine wache Seele auf Pthor gab.
* Allerdings, so zeigte es sich, hatte der Arkonide unrecht, wenn er sich für den einzigen Wachen hielt. Etwa vierzig Kilometer südlich der Stelle, an der Häbnar Als mitten in dem seltsamen Kampf gegen die Opelti eingeschlafen war, begann es an diesem Nachmittag plötzlich zu knistern, zu knacken und zu rauschen. Und alsbald trat eine beeindruckende Gestalt aus dem Dschungel hervor. Die Eingeborenen des Blutdschungels, wenn sie noch wach gewesen wären, hätten beim Anblick dieses Giganten Hals über Kopf die Flucht ergriffen. Denn es hätte ihnen erscheinen müssen, als sei der eiserne Porquetor wieder erstanden. Es war allerdings die Rüstung des Riesen, die da am Rand des Dschungels stand. Nur steckte in ihrem Innern nicht mehr Yunthaal von Galsär, denn den hatten längst die Geister geholt, sondern der kleine, verkrüppelte Körper, der früher Sinclair Marout Kennon gehört hatte und in dem jetzt das Bewußtsein des verzweifelten Grizzard stak. Grizzard war auf der Suche nach seinem ursprünglichen Körper. Er hatte keine Ahnung, wo er diesen suchen solle. Daher wandte er sich dem Ziel zu, das ihm am nächsten lag: der Händlerstadt Orxeya.
ENDE
ENDE