Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 597 Der Planetenwall
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 597 Der Planetenwall
Der Planetenwall von Kurt Mahr Hidden-X rüstet zum letzten Gefecht In den mehr als 200 Jahren ihres Fluges durch das All haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt – inzwischen schreibt man nach einem zweiten Sturz in die Zukunft das Jahr 3807 Bordzeit – geht es bei den Solanern um Dinge, die die weitere Existenz aller ernstlich in Frage stellen. Immer noch ist Hidden-X, das versteckte Unbekannte, aktiv, obwohl dieser Gegner der SOL durch Atlan und seine Getreuen schon mehr als eine Schlappe erlitten hat. Gegenwärtig hat man jedoch mit der Dimensionsspindel die Möglichkeit, zum Gegner, der sich mit seinem Flekto-Yn ins Sternenuniversum zurückgezogen hat, zu gelangen und ihm den entscheidenden Schlag zu versetzen. Da die SOL zu groß ist, um die Dimensionsspindel passieren zu können, übernimmt Atlan mit fünf Kreuzern diese gefährliche Mission. Seine Raumschiffe treffen auf die letzte Verteidigungslinie des Gegners. Diese Linie ist DER PLANETENWALL …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide unternimmt einen Vorstoß durch die Dimensionsspindel. Bjo Breiskoll, Sanny und Argan U - Sie landen auf einer Welt des Planetenwalls. Druska - Eine Bewohnerin von Thalia. Hidden-X - Der Gegner der Solaner rüstet zum letzten Gefecht.
1. Es war gespenstisch still in der mächtigen Halle. Glitzernden Ungetümen gleichend, ragten fremdartige Maschinenkolosse in die Höhe – Erzeugnisse einer Technologie, die noch niemand bislang in vollem Umfang verstanden hatte. Aus den großflächigen Leuchtplatten unter der hohen Decke brach grelles Licht, das das menschliche Auge irritierte und es die Umgebung in ungewohnten Farbnuancen sehen ließ. In der Luft schwebte die Erinnerung fremder Gerüche, die letzte Spur einer fremden Spezies, die bis vor wenigen Tagen hier geschaltet und gewaltet hatte. Die Zyaner waren abgezogen. Zurück blieben die Maschinen, die Einrichtungsgegenstände, die Kenntnisse und die Arbeitsmethoden, die sie den Solanern hinterlassen hatten. Und der Geruch, jene persönlichste aller Emanationen, mit der eine intelligente Art ihre Umgebung modifiziert. Ein Hauch aller Ausdünstung geschuppter Körper, fremder Kosmetika, exotischer Speisen und Getränke. Die Technik und das Mobiliar würden die Solaner für ihren eigenen Gebrauch herrichten, die Kenntnisse absorbieren und die Methodik ihren Gewohnheiten anpassen, bis keine Spur der Zyaner mehr da war. Aber mit dem Geruch war es etwas anderes. Er blieb. Sie würden ihn selbst dann noch wahrnehmen, wenn das unermüdlich arbeitende Klimasystem längst das letzte Molekül zyanischer Provenienz hinweggespült hatte. Denn es ist etwas Eigenartiges um die menschliche Nase: Sie vergißt nicht. Atlan trat auf die riesige Glaswand zu, die die Halle nach dem Transferkanal hin abschloß.
Seine Schritte hallten durch die Stille. Durch die Wand blickte er hinab in den Kanal, eine gewaltige Röhre von mehr als 500 Metern Durchmesser, der die Dimensionsspindel in ihrer gesamten Länge durchzog. Von links her kam er aus dem vertrauten Kontinuum – aus jenem Universum, das die Solaner in schöner Einfachheit »das ihre« nannten. Nach rechts hin verschwand er über eine unsichtbare Dimensionsgrenze hinweg in einem fremden Raum. Der Blick des Arkoniden versuchte, dem Verlauf des Kanals nach rechts zu folgen. Es war zwecklos. Unmittelbar jenseits der Grenze begannen die Konturen zu verschwimmen. Das massive Gebilde aus schimmerndem Metall wurde zu einem verwirrenden Nebel, in dem merkwürdige Farberscheinungen spielten. Die Maschinen im Hintergrund der Halle erwachten mit leisem Summen zum Leben. Aus einem Lautsprecher drang eine knarrende Stimme: »Letzter Test. Die Sonde fliegt in den Kanal ein.« Atlan blickte nach unten. Von links her näherte sich ein kugelförmiges Gebilde. Die Sonde besaß einen Durchmesser von zwanzig Metern, aber die Abmessungen des Transferkanals degradierten sie zum bedeutungslosen Staubkorn. Lichter spielten, als die geheimnisvollen Kräfte der Dimensionsspindel zu wirken begannen. Eine Leuchterscheinung entstand vor der metallenen Wand der riesigen Röhre und ahmte die Form eines Trichters nach, der sich in Richtung der Dimensionengrenze hin verjüngte. Die Sonde trat in den Trichter ein. Sie bewegte sich mit mäßiger Geschwindigkeit, so daß ihr der Blick ohne Mühe folgen konnte. Je weiter sie in den Trichter vordrang, desto heller strahlten dessen immaterielle Wände. Es war ein Vorgang, den Atlan schon mehrmals beobachtet hatte und der ihn dennoch immer wieder von neuem faszinierte. Die Kugel geriet in den Strudel der Energieströme, die die Grenze zwischen den Universen aufrissen. Das spitze Ende des Trichters war die Öffnung, durch die die Sonde
in ein fremdes Kontinuum vordringen würde. Welches war es? Hatte Oggar recht gehabt? War es wirklich das Sternenuniversum, das die SOL bereits kannte, in dem sie wochenlang umhergeirrt war und aus dem sie sich nur hatte lösen können, indem sie das Opfer einer mehrjährigen Zeitverschiebung auf sich nahm? In das Sternenuniversum – einen Raum, der nur Sonnen und so gut wie keine Planeten enthielt – hatte sich nach Oggars Aussage Hidden-X mit seiner Festung, dem Flekto-Yn, geflüchtet. Atlan war fest entschlossen, diesen Sektor des Universums erst zu verlassen, wenn er das Ungeheuer unschädlich gemacht hatte. Die kugelförmige Sonde hatte die Aufgabe, Daten zu sammeln, aus denen hervorging, ob Oggar die Solaner auf den richtigen Weg gewiesen hatte. Sie sollte den Zeitablauf innerhalb des fremden Kontinuums prüfen und Orterreflexe sammeln. Wenn sich das Flekto-Yn nicht allzu weit von dem Transferpunkt, an dem die Dimensionsspindel die Grenze zwischen den beiden Universen öffnete, entfernt befand, konnte sie den empfindlichen Nachweisgeräten nicht entgehen. Die Kugel schien zu schrumpfen, als sie sich der engsten Stelle des Trichters näherte. Eine lautlose Entladung bunter, zuckender Blitze blendete den Beobachter. Als sich das Blickfeld klärte, war die Sonde verschwunden. Die knarrende Lautsprecherstimme verkündete: »Testobjekt erfolgreich transferiert. Rückkehr in dreiundvierzig Minuten Eigenzeit.«
* »Und wenn es mich fünfzig schlaflose Nächte kostet, ich gehe hier nicht eher fort, als bis ich das Geheimnis des Transfermechanismus enträtselt habe.« Maginot Mernbeks Stimme war voll finsterer Entschlossenheit. Die
Hyperphysikerin studierte die Konsole, mit deren Hilfe sie soeben die Kugelsonde in ein anderes Universum befördert hatte, so eindringlich, als käme sie ihr das erste Mal vor Augen. Sie hatte Schaltungen vorgenommen und Befehle erteilt, wie es ihr von den Fachkräften der Zyaner geraten worden war. Den Erfolg konnte ihr niemand streitig machen: Die Sonde war planmäßig verschwunden. Aber was die Tastendrucke bewirkten, welche Kräfte ihre Anweisungen aktivierten, davon hatte sie keine Ahnung. Und wer Maginot Mernbek kannte, der wußte, daß sie dies im Grund ihrer Seele störte. Ihr Mitarbeiter, ein hochgewachsener, hagerer Mann mit einem deutlich ausgebildeten Adamsapfel und abenteuerlich kurz geschnittenem Haar, machte sich an einer Batterie von Meßgeräten zu schaffen. Mit Hilfe dieser Geräte würde er der Sonde bei ihrer Rückkehr die Daten entlocken, die sie während des Vorstoßes in das fremde Kontinuum aufgezeichnet hatte. Apram Nungess hatte die entschlossenen Worte seiner Vorgesetzten wohl gehört und empfand die Verpflichtung, darauf zu antworten. Wie es seine Art war, tat er dies erst nach reiflicher Überlegung. »Liebe Maginot«, begann er. Das war dasselbe knarrende Organ, das Atlan wenige Minuten zuvor aus dem Lautsprecher gehört hatte. »Ich verstehe durchaus …« »Nenn mich nicht ›liebe Maginot‹« fiel ihm die Hyperphysikerin scharf ins Wort. »Ich gewinne sonst den Eindruck, daß du hinter mir her bist.« Apram Nungess richtete sich auf und bedachte seine Vorgesetzte mit einem schiefen Blick. Er war kein Frauenheld. Aber wer ihm unterstellte, er habe es auf Maginot Mernbek abgesehen, der tat ihm einen Tort an. Maginot war einen Meter sechzig groß, fett und Besitzerin eines dünnen, schwarzen Oberlippenbarts. Sie kleidete sich in helle Gewänder, die ihre Korpulenz unterstrichen, und bediente sich, wenn sie in Rage geriet, einer Sprache, die selbst ein Bierkutscher als wenig salonfähig empfunden hätte.
Nein – man mochte Apram Nungess Anspruchslosigkeit vorwerfen, wenn es um die Züge ging, die er am anderen Geschlecht attraktiv fand. Aber hinter Maginot Mernbek war er nicht her. »Meinetwegen«, sagte er gutgelaunt. »Also: Verehrte Chefin, ich kann dein Unbehagen durchaus verstehen. Aber ob du zu deinen fünfzig schlaflosen Nächten kommen wirst, das hängt allein von Atlan ab. Und der, fürchte ich, hat nichts Dringenderes im Sinn, als mit ein paar Fahrzeugen in das unbekannte Kontinuum vorzustoßen und nach dem Flekto-Yn zu suchen.« »Na und?« brummte Maginot. »Was geht das mich an?« »Bei solchen Unternehmungen wird Sachverstand gebraucht«, antwortete Apram. »Ich glaube nicht, daß der Arkonide auf eine seiner besten Hyperphysikerinnen verzichtet.« Maginot wandte sich um. Ihr feistes Gesicht strahlte. Sie breitete die Arme aus und rief: »Nur weiter so, mein Junge! Schmeichelei öffnet dir die Tore des Himmels.« Apram Nungess ignorierte die einladende Geste geflissentlich und widmete sich mit intensivem Eifer seinen Meßgeräten. Maginot ließ die Arme sinken und gab ihrer Enttäuschung durch ein melodisches Seufzen Ausdruck. Ihr Kummer war jedoch offenbar von geringer Dauer, denn schon Augenblicke später beschäftigte sie sich höchst interessiert mit dem Innenleben der Konsole, deren Deckplatte abzuheben ihr mittlerweile gelungen war. Das eigenartige Team gehörte jener neuen Generation von Wissenschaftlern an, die Atlan nach dem Sturz der SOLAG und der Beseitigung des technophobischen Kasten-Systems »gezüchtet« hatte. Apram Nungess war Spezialist für Xenotechnik, Maginot Mernbek hatte sich die Hyperphysik als Spezialgebiet ausgesucht. Maginots Ausbildung war umfassender gewesen, ihre Kenntnisse tiefer schürfend als die Aprams. Sie galt daher als Vorgesetzte, und Apram war ihr »Mitarbeiter«, wie es seit neuestem in den
humanisierten zwischenmenschlichen Beziehungen der SOLGesellschaft hieß. Apram und Maginot gingen beide in ihrem Beruf auf und hatten auf experimentellem wie auf theoretischem Gebiet bereits eine Anzahl von Entdeckungen zu verzeichnen, die die Hoffnung wach werden ließen, die Naturwissenschaft an Bord der SOL sei endlich aus ihrer jahrzehntelangen Stagnation erwacht. Infolge ihrer ständigen Beschäftigung mit Dingen, die weit außerhalb des Erfahrungsbereichs des Nichtfachmanns lagen, hatten sie individuelle Verschrobenheiten entwickelt. Sie waren auf dem besten Weg, zu den »eigentümlichen, vergeßlichen Professoren« zu werden, die in grauer Vergangenheit eines der menschlichen Standard-Klischees gewesen waren und denen die Legende eine freundliche Erinnerung bewahrt hatte. Maginot gebärdete sich als die mannstolle Jungfer – eine Attitüde, die in Anbetracht ihres Mangels an weiblicher Schönheit auf groteske Weise glaubwürdig wirkte –, und Apram war der geplagte Untergebene, der die Hälfte seines Arbeitstages damit verbrachte, sich den Avancen seiner Chefin zu entziehen. Obendrein spielte er noch eine zweite, ernster zu nehmende Rolle: Er brachte die Dinge wieder ins Lot, wenn Maginot sich gegenüber der Schiffsleitung mißliebig gemacht hatte. Dies alles war ein Spiel, mit dem die beiden in ihren Beruf verliebten Menschen sich den Alltag auflockerten, und nur ein Uneingeweihter hätte sich davon irreleiten lassen. Bei denen, auf die es ankam, galten Maginot und Apram als Experten erster Güte – und nicht zuletzt deswegen waren sie dazu auserwählt worden, den abschließenden und zugleich entscheidenden Versuch mit der zyanischen Dimensionsspindel durchzuführen. Aprams Meßautomatik meldete sich mit einem hellen Pfeifsignal. »Noch drei Minuten bis zur Rückkehr der Sonde«, sagte Apram. Hinter ihm öffnete sich die Tür eines der Aufzugschächte. Apram sah sich um und erkannte den Arkoniden, der den Aufbruch der Sonde in der großen Beobachtungshalle mit verfolgt hatte. Atlan bedeutete ihm mit einem freundlichen Wink, er solle sich nicht
stören lassen, und machte es sich abseits in einem Sessel bequem, dessen Dimensionen noch auf die hünenhaften Körpermaße der Zyaner zugeschnitten waren. Aprams Bildgeräte kontrollierten die Eintrittsöffnung des Transferkanals – jenen Querschnitt, der unmittelbar diesseits der Dimensionengrenze lag. Er sah eine bunte Leuchterscheinung entstehen. Sie breitete sich aus und wurde zum Gegenstück des Feldtrichters, der beim Start der Sonde zu sehen gewesen war. Glühende Schlieren bildeten sich in der Trichterwand und vollführten eine rotierende Bewegung, die ständig an Geschwindigkeit zunahm. Die Sonde war da. Man hatte sie nicht kommen sehen. Sie war aus dem Nichts materialisiert. Langsam bewegte sie sich das diesseitige Ende des Transferkanals entlang. Ein künstliches Gravitationsfeld zehrte die verbleibende Fahrt auf und brachte das kugelförmige Gebilde zur Ruhe. Aprams Meßinstrumente arbeiteten. Er sah es an der Konstellation und den Farben der Kontrolleuchten. »Uhrenvergleich«, sagte er. Die akustischen Servos der Zyaner waren so hergerichtet worden, daß sie Interkosmo verstanden. Auf einer Videofläche entstanden zwei Zahlenkolonnen: links die Uhrencharakteristiken an Bord der Dimensionsspindel, rechts die Meßwerte der Sonde. Apram Nungess' Gesicht zog sich in die Länge. Seine Enttäuschung war so offensichtlich, daß Atlan sich aus dem monströsen Sessel erhob und näher kam. »Was gibt es?« fragte er. »Kein Unterschied«, murmelte Apram. »Die beiden Zeitabläufe sind im Rahmen der Meßgenauigkeit identisch.« »Verdammter Mist!« schrie Maginot zornig. »Die Resultate des Experiments sind alles andere als eindeutig«, sagte Atlan. »Dennoch bin ich der Ansicht, daß uns keine andere Wahl bleibt, als in das fremde Kontinuum vorzustoßen.« In einem Besprechungsraum an Bord der SOL hatte er sie um sich
versammelt: Mitglieder des Atlan-Teams und die Führungsgruppe der SOL mit ihren Stabsspezialisten. Der große Bildschirm an der Seitenwand des Raums zeigte die computergestützte Darstellung der Dimensionsspindel, die eine Lichtminute von der SOL entfernt im Raum schwebte. Dem Unvoreingenommenen bot sie den Anblick eines altmodischen Megaphons. Aus einem ringförmigen Gebilde ragte ein konischer Stutzen, dessen engster Querschnitt sich dort befand, wo er aus dem Ring zum Vorschein trat. Aus der anderen Seite des Ringes, symmetrisch zu dem konischen Stutzen, ragte ein Gebilde, dessen Umrisse sich nur schwer definieren ließen. Wer die Augen anstrengte, der glaubte, einen zweiten Stutzen zu erkennen; aber er war seiner Sache nicht sicher. Das seltsame Objekt schien aus flüchtigem Nebel zu bestehen, und seine Konturen waren in ständiger, fließender Bewegung. Die beiden Stutzen, einer so real wie der andere, waren das Gehäuse, innerhalb dessen der Transferkanal verlief. Der dicke Ring in der Mitte, mit einem Maximaldurchmesser von 1,7 Kilometern, beherbergte die Kontrollstationen der Spindel sowie eine Reihe technischer Anlagen. Die verwaschenen Konturen des zweiten Stutzens rührten daher, daß er mitsamt dem Kanal, den er umhüllte, nicht mehr eindeutig diesem Kontinuum angehörte, sondern mit dem größten Teil seiner Substanz bereits in das angrenzende Universum hineinragte. Die Gesamtlänge der Dimensionsspindel betrug 3,7 Kilometer. Breckcrown Hayes, die beiden Brick-Zwillinge, Bjo Breiskoll und Joscan Hellmut hörten aufmerksam zu, während Atlan von den Meßergebnissen berichtete, die Apram Nungess und Maginot Mernbek mit Hilfe der Sonde erzielt hatten. Sanny, die zierliche Molaatin, saß Breiskoll auf der Schulter. Ihre großen, dunklen Augen folgten dem Arkoniden, während dieser bei der Berichterstattung auf und ab schritt. Seitwärts standen Solania von Terra, die sich früher Brooklyn genannt hatte, und Lyta Kunduran, ehemalige Magnidinnen, die sich während der Umschichtung der
SOL-Gesellschaft frühzeitig auf die Seite des Arkoniden geschlagen hatten und verantwortliche Positionen innerhalb der Hierarchie einnahmen. Noch weiter abseits hielten sich Apram Nungess und Maginot Mernbek auf. Sie fühlten sich fehl am Platz und unbehaglich. Maginot war gereizt. Sie hatte sich mit der Kontrollautomatik der Dimensionsspindel befassen wollen. Statt dessen war sie mitsamt Apram hierher beordert worden, damit sie den Versammelten erklären könne, was es mit dem fremden Universum auf sich habe. Ihr wissenschaftlicher Verstand sträubte sich gegen die Vorstellung, Laien erklären zu müssen, wozu ihnen von Natur aus das Verständnis fehlte. Sie haßte es, präzise Erkenntnisse um des Allgemeinverständnisses willen in vage und mehrdeutige Ausdrücke der Alltagssprache kleiden zu müssen. Als es ans Erklären ging, schob sie daher Apram vor. »Unsere beiden Experten werden euch die Dinge etwas deutlicher auseinandersetzen, als ich es kann«, sagte Atlan. Apram bekam einen kräftigen Stoß in den Rücken, prellte drei Schritte nach vorne und sah sich sogleich im Zentrum der Aufmerksamkeit. »Von der Gleichheit des Zeitablaufs habt ihr schon gehört«, begann er. »Die Genauigkeit unserer Messung liegt bei fünf Pikosekunden. Die Sonde befand sich rund vierzig Minuten im Bereich des fremden Kontinuums. Die Abweichung der beiden Zeitabläufe voneinander beträgt also weniger als zweimal zehn hoch minus fünfzehn. Mit anderen Worten: Wenn es sich bei dem fremden Kontinuum in der Tat um den Raum handelt, den wir als Sternenuniversum kennen, dann haben die Uhren dort aufgehört, anders als unsere zu gehen.« »Es gibt aber auch positive Hinweise«, erinnerte ihn Atlan, der zu fürchten begann, daß Aprams Darstellung zu negativ ausfiele. »Oh, durchaus«, beeilte sich der Xenotechniker zu versichern. »Die Sonde registrierte über zehntausend Himmelskörper, ausschließlich
Selbststrahler, das heißt Sonnen. Die neunzehn am nächsten gelegenen wurden auf das Vorhandensein von Planeten analysiert. Das Ergebnis war negativ.« »Das aber war«, erinnerte Atlan, dem Aprams Darstellung nicht überzeugend genug klang, »eines der hervorstechendsten Charakteristika des Sternenuniversums: Sonnen, aber keine Planeten.« »Gut und schön«, sagte Joscan Hellmut. »Das war unsere letzte Beobachtung. Oggar aber sprach von einer großen Menge von Planeten, die er im Sternenuniversum gefunden haben wollte.« »Denk daran, daß von mehr als zehntausend nur die neunzehn nächstliegenden untersucht wurden«, mahnte Atlan. »Wer weiß, was wir weiter drinnen finden werden.« »Komm endlich auf den springenden Punkt, Apram«, rief Maginot »Oh, ja, der springende Punkt«, brachte Apram Nungess schuldbewußt hervor. »Fast hätte ich ihn vergessen. In einer Entfernung von rund zwölf Lichtjahren vom Transferpunkt befindet sich ein Objekt, das optisch nicht wahrnehmbar ist, jedoch eine beeindruckende Menge Hyperstrahlung von sich gibt.« Er schwieg. »Na und?« zeterte Maginot. »Mach dein Maul auf und sag ihnen, was sie hören wollen!« Ein amüsiertes Lächeln huschte über Atlans Gesicht. »Die … die Hyperstrahlung«, stotterte Apram, »hat Cha … hat Charakteristiken, die sich nur dem Flekto-Yn zuschreiben lassen.« Unter den Zuhörern entstand erregtes Gemurmel. Apram zog sich raschen Schritts zurück. Der Arkonide breitete die Arme aus und bat um Ruhe. »Wir sind unserer Sache also nicht vollends sicher«, sagte er. »Die Daten, die die Sonde uns gebracht hat, sind zweideutig. Wenn wir wissen wollen, was wirklich jenseits der Dimensionengrenze liegt, bleibt uns nur eine Wahl: hingehen und nachsehen.«
2. Vor der ULTRAHEXE dehnte sich die riesige, hell erleuchtete Einflugöffnung der Dimensionsspindel. Bis in die Ewigkeit schien sich der Transferkanal zu erstrecken, in dessen Hintergrund energetische Entladungen darauf hinwiesen, daß das Transferfeld sich zu stabilisieren begann. Der Kanal verjüngte sich in Richtung der Dimensionengrenze. Dort, wo die Entladungen zuckten, herrschte düsteres Halbdunkel. Wie der Schlund der Hölle, dachte Bjo Breiskoll und wehrte sich vergeblich gegen das Unbehagen, das von ihm Besitz zu ergreifen drohte. Vor sich hatte er die GIRGELTJOFF, Kommandant Atlan. Der kugelförmige, mit einem Äquatorwulst versehene Umriß des Kreuzers zeichnete sich deutlich gegen die Helligkeit der Einflugöffnung ab. Hinter der ULTRAHEXE kamen die FERNWEH unter dem Befehl von Joscan Hellmut, die STERNLOK mit Solania von Terra als Kommandantin und schließlich die OSERFAN unter der Leitung von Lyta Kunduran. Fünf Kreuzer, die sich vorgenommen hatten, den Vorstoß in das fremde Universum zu wagen. Für Bjo gab es nichts zu tun. Der Transferprozeß verlief automatisch. Die ULTRAHEXE stand unter der Kontrolle der Dimensionsspindel. Vorlan Brick, der Pilot, hatte sich bis vor kurzem per Radiokom mit seinem Zwillingsbruder Uster unterhalten, der die GIRGELTJOFF steuerte. Wie üblich war es darum gegangen, wer bei dem bevorstehenden Unternehmen die größeren Heldentaten begehen werde. Sanny, die kleine Molaatin, saß in einem eigens für sie gefertigten Spezialsitz und verfolgte mit ungeteilter Aufmerksamkeit das eigenartige Farbenspiel der energetischen Entladungen im Hintergrund des Transferkanals. Argan U, das possierliche, bärenähnliche Geschöpf mit dem
orangefarbenen Schuppenfell, machte sich an seinem Videogerät zu schaffen. Der Puschyde hatte inzwischen das Handwerk eines Astrographen erlernt. Anhand der Orter- und Tasteranzeigen bestimmte er Sterntypen, berechnete Sternbahnen und kalkulierte die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins von Planeten. Obwohl ihm die menschliche Technik niemals ganz vertraut werden würde und er Schwierigkeiten hatte, abstrakt-logisch zu denken, hatte er sich im Lauf der vergangenen Monate zu einer tüchtigen Fachkraft gemausert. Im Hintergrund der Zentrale hatten Apram Nungess und Maginot Mernbek sich eingerichtet. Es hatte eine Menge Gezeter gegeben, bevor man Maginot zur Teilnahme an dieser Expedition hatte überreden können. Ihr Wunsch war gewesen, an Bord der Dimensionsspindel bleiben und die Prinzipien des TransferMechanismus untersuchen zu dürfen. Atlan jedoch hatte entschieden, es sei wichtiger, die fähige Hyperphysikerin beim Vorstoß in das fremde Universum dabei zu haben. Aprams besänftigender und vermittelnder Aktivität war es schließlich zu verdanken gewesen, daß Maginot sich dazu bequemt hatte, die Sache mit Atlans Augen zu sehen. »GIRGELTJOFF unmittelbar vor dem Transferpunkt.« Das war die Stimme des Arkoniden. Den Beobachtern in der Kommandozentrale der ULTRAHEXE bot sich ein eigenartiger Anblick. Die Umrisse der GIRGELTJOFF hatten zu flattern begonnen. Die massive Kugel blähte sich und schrumpfte, veränderte ihre Gestalt und begann, von innen heraus zu leuchten. Vom Innern des Transferkanals aus stellte sich der Übergang über die Dimensionengrenze gänzlich anders dar als aus der konventionellen Geborgenheit der Beobachtungshalle. Der seltsame Vorgang dauerte nicht länger als zehn Sekunden. Ein greller Blitz zuckte auf, und als die Augen den Schock überwunden hatten, war die GIRGELTJOFF verschwunden. Ein unangenehmer Gedanke schoß Bjo durch den Sinn. Gesetzt
den Fall, dort drüben lag wirklich das Sternenuniversum und in ihm befand sich das Flekto-Yn, Hidden-X' Festung. Angenommen weiterhin, Hidden-X hatte die Sonderaktivität bemerkt und sich auf die Lauer gelegt. Was hinderte ihn daran, die GIRGELTJOFF im Augenblick der Materialisierung zu vernichten? Und nach ihr die ULTRAHEXE, die FERNWEH, die STERNLOK und die OSERFAN? Er zwang sich zur Ruhe. Seine Gedanken suchten nach Sternfeuer, die sich an Bord der GIRGELTJOFF befand. Aber er bekam keine Verbindung. Zwischen ihnen lag die Dimensionengrenze, die die para-psionischen Impulse der Telepathie nicht zu überschreiten vermochten. »Transferpunkt in fünfzehn Sekunden«, meldete Apram Nungess. Bjo Breiskoll schloß die Augen. Er war der bunten Blitze und der wabernden Lichtschleier müde. Er kapselte sein Bewußtsein nach außen ab und horchte in sich hinein – begierig zu erfahren, ob sich der Übergang von einem Universum ins andere auf geistiger Ebene bemerkbar machen würde. Er spürte nichts. Sannys Ausruf schreckte ihn auf. »Kein Zweifel – es ist das Sternenuniversum!« Bjo öffnete die Augen. Vom Bildschirm herab leuchteten ihm fremde Sterne entgegen, eine ungeheure Vielfalt bunter Lichtpunkte, die auf monotone Art gleichmäßig verteilt zu sein schienen. Sanny, die Paramathematikerin, hatte die Sachlage wesentlich quantitativer erfaßt. Ihr Verstand arbeitete mit einer Geschwindigkeit, der selbst hochspezialisierte Computer nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen hatten. Sie hatte die Fülle der Sternbilder erfaßt und in Sekundenschnelle ausgewertet. Sie hatte »berechnet«, wie sie es nannte. Er wandte den Blick zur Seite. Es überraschte ihn, zu sehen, wie weit die ULTRAHEXE bereits von der Dimensionsspindel entfernt war. Die Spindel erschien nur noch als ein breiter, verwaschener Lichtfleck, dessen Konturen sich kaum mehr erahnen ließen. Sie
schimmerte rot im Widerschein einer kleinen Sonne vom M-Typ, die nach Angabe des Orters nicht mehr als zehn Lichtminuten entfernt war. Der Radiokom meldete sich. Atlan sagte: »Willkommen, ULTRAHEXE, im fremden Universum.«
* Hunderte von Meßgeräten arbeiteten. Dutzende von Sonden durchforschten den Raum in der unmittelbaren Umgebung. Ströme von Daten mündeten in die Computer, wurden verarbeitet und in der einen oder anderen Form auf Sichtgeräten den Experten zur Begutachtung vorgelegt. Atlan interessierte in erster Linie die unsichtbare Quelle hyperenergetischer Strahlung, die beim letzten Sondenexperiment entdeckt worden war. Die entsprechenden Messungen wurden ihm vorgespielt. Er verglich sie mit den Aufzeichnungen, die bei der ersten Begegnung mit Hidden-X' Festung angefertigt worden waren. Der Vergleich war nicht auf Anhieb eindeutig. Das Flekto-Yn – wenn es wirklich das war, was sich hinter der geheimnisvollen Quelle verbarg – war energetisch wesentlich aktiver, als aus den früheren Daten hervorging. Es tat sich etwas. Hidden-X traf Vorbereitungen. Wußte es, daß ihm eine neuerliche Auseinandersetzung mit den Gegnern von der SOL bevorstand? Atlan forderte eine Feinanalyse an und ließ eine Kreuzkorrelation erstellen. Da allerdings zeigte sich deutlich, daß eine enge statistische Verwandtschaft zwischen den alten Daten und der soeben angefertigten Aufzeichnung bestand. Ein solch klarer Zusammenhang ließ nur eine Deutung zu: Die unsichtbare Quelle war mit dem Flekto-Yn identisch. Ihre Entfernung vom derzeitigen Standort der GIRGELTJOFF betrug zwölf Lichtjahre. Zwei von Oggars Aussagen hatten sich somit bewahrheitet. Das
fremde Kontinuum war das Sternenuniversum, und das Flekto-Yn befand sich in greifbarer Nähe. Die Bestätigung der dritten Behauptung, die Oggar aufgestellt hatte, ließ vorläufig noch auf sich warten. Oggar hatte von einer Fülle von Planeten gesprochen, die das Sternenuniversum beherberge. Diese Feststellung deutete an, daß bei einer Rückkehr in das fremde Kontinuum eine Lösung des Rätsels gefunden werden könne, das die Wissenschaftler der SOL bei deren erstem Aufenthalt im Sternenuniversum intensiv beschäftigt hatte: Warum es in diesem Raum mit seinen ungezählten Milliarden von Sternen so unnatürlich wenige Planeten gebe. Oggar schien die fehlenden Satelliten gefunden zu haben. Was Wunder, daß jetzt mit jedem verfügbaren Instrument nach ihnen gesucht wurde. Aber in diesem einen Punkt schien Oggar unrecht gehabt zu haben. Eine Sonne nach der anderen wurde vermessen. Die Instrumente der Feinmeßtechnik waren durchaus in der Lage, minimalste Bahnschwankungen nachzuweisen, winzigste Helligkeitsschwankungen zu erfassen, durch die sich die Präsenz eines oder mehrerer Planeten unweigerlich hätte verraten müssen. Und doch: Eine Analyse nach der andern wurde angefertigt, ohne daß sich auch nur ein einziger Satellitenkörper zeigte. Andere Expertengruppen waren damit beschäftigt, den gegenwärtig gen Standort der GIRGELTJOFF (die übrigen vier Einheiten des Konvois waren inzwischen ebenfalls materialisiert) relativ zum früheren Operationsgebiet der SOL zu fixieren. Wo waren sie, die Sonnen der Welten Aqua, Jupiter II und Dormigan? Bis jetzt lagen noch keine brauchbaren Ergebnisse vor. Der Ort, an dem sich die Dimensionsspindel befand, schien Lichtjahrmillionen von der Gegend entfernt, in der die SOL damals operiert hatte. Atlan sah auf, als sich neben ihm jemand räusperte. Er erkannte Hage Nockemann, den verschrobenen Galakto-Genetiker, und hinter ihm seinen Privatroboter Blödel, dessen großes Auge im Halbdunkel der Kommandozentrale wie eine altmodische
Rheumalampe leuchtete. »Was gibt's?« erkundigte sich der Arkonide. »Ich … äh … wir haben eine Beobachtung gemacht«, begann der Galakto-Genetiker, »von der du wissen solltest.« »Welche?« fragte Atlan. Bevor Nockemann antworten konnte, plärrte Blödel, der Roboter mit der Ofenrohr-Gestalt: »Die Spindel bewegt sich in Richtung Schlupfloch.« Atlan krauste die Stirn. »Läßt sich das so ausdrücken, daß ich es verstehe?« »Schlupfloch haben wir die Sonne genannt, die in unmittelbarer Nähe der Dimensionsspindel steht«, erklärte Nockemann. »Den kleinen roten M-Stern. Es fiel mir auf, daß keiner sich für ihn interessierte. Zusammen mit Blödel stellte ich ein paar Messungen an. Dabei stellten wir fest, daß die Spindel sich in Richtung der roten Sonne bewegt.« Atlan horchte auf. »Gefährlich?« wollte er wissen. »Durchaus«, antwortete Hage Nockemann sachlich. »Der Kurs der Spindel ist unmittelbar auf den Stern gerichtet, und wenn niemand etwas unternimmt, wird sie im Lauf der nächsten sechzig Stunden mit ihm kollidieren.« Atlan hatte eine Taste gedrückt, als die Unterhaltung interessant zu werden begann. Nockemanns und Blödels Aussagen waren aufgezeichnet worden. Per akustischen Befehl verlangte der Arkonide eine Auswertung der gemachten Angaben. Der Computer bestätigte den Empfang des Auftrags und meldete sich zwei Sekunden später zurück: »Die genannte Gefahr besteht tatsächlich.« Zahlen und Zeichen materialisierten auf der Videofläche. Atlan war beeindruckt. Mit dieser Möglichkeit hatte niemand gerechnet. Der einzige bekannte Weg zurück ins bekannte Universum führte durch die Spindel. Sie mußte vor Schaden bewahrt werden. Er
wandte sich an Nockemann. »Ich danke dir«, sagte er. »Ohne deine Aufmerksamkeit hätte uns das leicht entgehen können. Willst du dich weiter darum kümmern?« »Selbstverständlich«, krähte Blödel. »Klar«, sagte Hage Nockemann. »Was erwartest du von uns?« »Genaue Bahndaten. Ich rechne, daß wir in zwei Stunden startbereit sind. Bis dahin muß ich wissen, ob eine Kollision wirklich unvermeidlich ist. Es ist …« »Wenn ja, was dann?« fiel ihm Nockemann ins Wort. Atlan hob die Schultern. »Wir müßten den Aufbruch verzögern«, sagte er unsicher. »Eines der Schiffe durch die Spindel zurück ins andere Universum schicken. Die Spindel kann nur von dort aus manövriert werden. Man müßte versuchen, sie auf einen anderen Kurs zubringen.« Nockemann nickte. »Du bekommst deine Daten«, sagte er.
* Allmählich formte sich das Bild des fremden Kosmos. Daten strömten und wurden ausgewertet, dreidimensionale Kartenbilder entstanden – um so detaillierter, je näher das Gebiet, das sie beschrieben, dem Flekto-Yn war. Interstellare Energieströme wurden aufgezeichnet. Die Astrogationscomputer errechneten Kursund Sprungdaten für den geplanten Vorstoß. Hage Nockemann schickte Blödel, um Atlan zu berichten, er habe noch kein endgültiges Ergebnis vorliegen, aber es bestehe eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß die Dimensionsspindel haarscharf an dem roten M-Stern vorbeiziehe. In diesem Fall reichte es womöglich aus, zur Vermeidung ernsthaften Schadens die Feldschirme zu aktivieren. Auch dieses freilich hatte von jenseits der
Dimensionengrenze aus zu geschehen. In dieses Kontinuum herein ragte nur der eine Stutzen der Spindel. Der andere Stutzen sowie das ringförmige Kontrollteil befanden sich drüben, im »heimatlichen« Universum. Atlan überdachte die Lage und nahm sich vor, das Problem der Dimensionsspindel mit geringer Priorität zu versehen. Immerhin blieben ihm sechzig Stunden Zeit. Der Himmel mochte wissen, wie sich die Lage bis dahin entwickelt hatte. Der Starttermin wurde festgesetzt. Das Ziel war ein fiktiver Punkt in der Weite des Alls, acht Lichtstunden vom Flekto-Yn entfernt. Die Kontrollcomputer überprüften Waffen- und Feldschirmsysteme. Die fünf Kreutzer rüsteten sich zum Kampf. Atlans Konsole war der zentrale Punkt, an dem die gesiebten und auf das Notwendige konzentrierten Informationen zusammenliefen. Üblicherweise hatte der Arkonide keine Bedenken, sich auf die Aussagen der Computer zu verlassen. Aber in dieser kritischen Situation verschaffte er sich zusätzliche Gewißheit, indem er alle wichtigen Resultate eigenhändig nachprüfte. Daß sich dadurch der Aufbruch um zwanzig Minuten verzögerte, störte ihn nicht. Er war mit solcher Konzentration in seine Aufgabe vertieft, daß er die Bedeutung des Augenblicks verkannte, als eine Stimme in seinem Bewußtsein zu sprechen begann: »Hört mir zu, ihr alle!« »Nicht jetzt«, wehrte er ärgerlich ab. »Ich habe zu tun.« »Ihr alle«, beharrte die Stimme, »die ihr gekommen seid, um euch von mir vernichten zu lassen – hört meine Worte!« Verwirrt sah der Arkonide auf. »Welcher Narr …«, begann er. Er sah bleiche Gesichter, schreckgeweitete Augen. Unheimliche Stille hatte sich in der Zentrale ausgebreitet, deren Atmosphäre Sekunden zuvor noch von knisternder Aktivität erfüllt gewesen war. Atlan begriff. Die Worte, die er hörte, wurden ihm nicht durch das Ohr übermittelt. Sie entstanden unmittelbar in seinem
Bewußtsein. Er schüttelte die Befangenheit von sich ab. Vergessen waren die Daten, die ihm die Computer vorspielten. Er mußte zuhören. Es war wichtig! Er hatte die Mentalstimme erkannt. Sie gehörte Hidden-X. »Ihr kommt, um mich zu vernichten. Ihr Narren!« Hohn troff aus jedem einzelnen Wort. »Wie armselig seid ihr gegen mich. Eure Niederlage ist beschlossene Sache. Sie ist ein Naturgesetz, dem ihr nicht entrinnen könnt. Wohl habt ihr einen unter euch, dem die Aura der Mächtigen aus dem Jenseits anhaftet. Wohl besitzt dieser starke Helfer. Wohl hat er in diesem Universum seine Schergen ans Werk geschickt und eine Kraft erschaffen, die gegen mich um den richtigen Ablauf der Zeit ringt. Aber was ist das alles gegen die Macht, die mir zur Verfügung steht? Ihr habt euch blenden lassen. Geringfügige Rückschläge, die ich in der Vergangenheit erlitten habe, legt ihr als Zeichen aus, daß ihr die Oberhand über mich gewinnen könntet. Ich verlache euren kindischen Eifer. Bisher habe ich mit euch gespielt. Von nun an wird es ernst. Freut euch mit mir auf die Überraschungen, die ich für euch parat halte. Ihr werdet ihnen nicht entgehen. Kommt getrost auf mich zu. Ihr werdet erkennen, wer der Stärkere ist. Fast möchte mich eure Dummheit dauern. Ich und ihr – wir hätten den Kosmos aus den Angeln heben können! Aber ihr entschlosset euch, in mir den Feind zu sehen. Ich werde euch vernichten und danach unangefochten herrschen. Dies ist meine letzte Warnung. Macht euch gefaßt!« Die Stimme schwieg. Einen Augenblick noch herrschte Stille im Rund der Kommandozentrale; dann begann das Raunen aufgeregter Stimmen. Jedermann hatte Hidden-X gehört. Atlans Blick glitt über die Kontrollkonsole. Vier Radiokom-Gespräche warteten darauf,
daß er sie entgegennähme – eines von jedem der vier anderen Schiffe. Was hätte er sagen sollen? »Ja, ich habe es auch gehört.« Er ignorierte die blinkenden Lichter. Mit harter Stimme wandte er sich an den Kontrollcomputer. »Startbereitschaft?« »Besteht.« Es blitzte in den rötlichen Augen des Arkoniden. Hidden-X hatte ihm die Fehde angesagt. Gut. Um Fehde zu führen, war er mit seinen fünf Schiffen durch die Dimensionsspindel geflogen. HiddenX hatte ihn früher erkannt, als zu erwarten gewesen war, und aus seinen Worten ging hervor, daß es von Zuversicht strotzte. Sei's drum. Der Plan wurde deswegen nicht geändert. »Wir starten«, sagte Atlan. »Sofort!«
3. Das Weltall hatte sich zu verändern begonnen. Es schien zu einem bunten Tunnel geworden zu sein, durch den die ULTRAHEXE auf dem Weg zum Übergangspunkt in den Linearraum dahinraste. Das Schiff bewegte sich mit mehr als 90 % der Lichtgeschwindigkeit und beschleunigte noch immer. Die Sterne in Fahrtrichtung leuchteten in tiefem Blau. Bjo Breiskoll nahm das farbenreiche Schauspiel nicht wahr. Er lauschte. Er horchte auf ein heimliches, fremdes Wispern, das seit Minuten versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war keine kräftige, wohlmodulierte Stimme wie die des Hidden-X, die jeder an Bord der fünf Schiffe gehört hatte. Er war nicht einmal sicher, daß das Wispern überhaupt eine Botschaft enthielt. Es kam aus unbestimmter Ferne. Vielleicht war es gar nicht an ihn gerichtet. Womöglich kreuzte er rein zufällig den Pfad des mentalen
Wellenbündels. Er schloß die Augen und konzentrierte sich voll und ganz auf das eigenartige Geraune, das sein Bewußtsein gefangen hielt. Er begann zu verstehen. Es waren keine Gedanken, die auf ihn einströmten, sondern Emotionen. Mut, Zuversicht, Gelassenheit. Das Empfinden, daß das Ziel trotz bestehender Gefahren erreichbar sei. Das Vertrauen in Freunde und Helfer, die dasselbe Ziel verfolgten und auf deren Unterstützung im kritischen Augenblick gerechnet werden konnte. Je länger Bjo Breiskoll lauschte, desto sicherer war er, daß er diese Sendung nicht zufällig empfing. Ihre Aussagen waren vage; aber sie fügten sich so nahtlos in die gegenwärtige Situation ein, daß der Zusammenhang unverkennbar war. »Sternfeuer«, dachte er. »Hier«, kam die Antwort aus der GIRGELTJOFF, die Tausende von Kilometern vor der ULTRAHEXE auf den Übergangspunkt zueilte. »Hörst du es?« »Ich – weiß nicht.« Ungewißheit sprach aus Sternfeuers Gedanken. »Ich empfange irgend etwas. Ein Flüstern. Ich verstehe es nicht.« »Konzentriere dich darauf«, drängte Bjo. »Es sind Emotionen, die uns etwas zu verstehen geben wollen.« »Ich versuche es. Wenn ich …« Der Gedankenstrom riß ab. Bjo Breiskoll öffnete die Augen. Der leuchtende Punkt, der den Standort der GIRGELTJOFF auf dem Orterbild markierte, war verschwunden. Atlans Kreuzer hatte den Übergang in den Linearraum vollzogen. Sternfeuer hörte es also auch! Ihre telepathische Begabung war weniger deutlich entwickelt als Bjos. Sie war darauf angewiesen, sich hin und wieder an den paranormalen Potentialen anderer Mutanten aufzuladen. Daß sie die Botschaft nicht verstanden hatte, störte ihn nicht. Wichtig war allein, daß das geheimnisvolle Wispern auch in Sternfeuers Bewußtsein hörbar geworden war. Er war
dauernd auf Horchposten, ständig auf der Suche nach mentalen Botschaften, die irgendwo in diesem fremden Universum ihren Ursprung hatten. Wie leicht konnte es geschehen, daß Streß und überstrapazierte Phantasie ihm etwas vorgaukelten, das es in Wirklichkeit nicht gab. Insofern war Sternfeuers Bestätigung wichtig. Die ULTRAHEXE sprang in den Linearraum. Konturloses Grau breitete sich auf den Bildschirmen aus. Höllischer Lärm! Das Kreischen überbeanspruchten Metalls, dazwischen das gellende Pfeifen der Alarmgeräte. Das Schiff bockte und stampfte. In das Inferno der Geräusche mischte sich krachendes Klirren. Schreie gellten. Bjo Breiskoll wurde in den Gurten, die ihn an den Sessel banden, hin- und hergerissen. Qualm stieg ihm in die Nase. Auf der Bildoberfläche vor ihm zuckte in blutroten Buchstaben eine Alarmmeldung: UNPLANMÄSSIGER ABBRUCH DES LINEARFLUGS. AUSWEICHMANÖVER. Bjo löste die Gurte. Das Deck unter seinen Füßen war eine schiefe Ebene, die sich wand und auf beulte wie unter dem Einfluß eines schweren Erdbebens. Auf den großen Bildschirmen loderten fahle Blitze. Die Beleuchtung flackerte. Er kämpfte sich den steilen Hang hinan, bis er die Konsole erreichte, die Apram Nungess und Maginot Mernbek zu ihrem Hauptquartier erklärt hatten. Ein Speicheraggregat hatte sich aus der Halterung gelöst und gegen die Kante der Konsole verkeilt. Maginot war nirgendwo zu sehen. Apram saß steil aufgerichtet in seinem Sitz und krallte sich an der Kante des Arbeitstischs fest. Sein Gesicht war blaß, der Blick außer Fokus. »Was ist los?« schrie Bjo durch den Lärm. Apram hob die Schultern. Bjo reichte über den Tisch hinweg, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn hin und her. »Was ist los, will ich wissen«, brüllte er ihn an.
Eine Spur von Leben materialisierte in Aprams Blick. »Hindernisse …«, stammelte er. »Wir wären … um ein Haar … gegen eine Mauer geprallt!« Die Beleuchtung stabilisierte sich. Der Boden der Kommandozentrale besaß noch immer eine gewisse Schräge, aber die stampfenden Bewegungen wurden allmählich schwächer. Bjos Blick fiel auf die Orterbildfläche. Sie zeigte eine Menge schwach leuchtender, großflächiger Reflexe. Der Lärm verstummte. Die Meldungen des Zentralcomputers wurden verständlich. »… Ansammlung nicht-leuchtender, natürlicher Objekte inmitten des Linearkurses. Abbruch des Linearflugs stand unmittelbar bevor. Manöver nach Plan hätte unweigerlich zur Kollision geführt. Daher erschien vorzeitiges Auftauchen aus dem Linearraum geraten. Die Kontrolle des Schiffes liegt bis auf weiteres beim Autopiloten …« Inzwischen hatte Apram Nungess sein inneres Gleichgewicht wiedergewonnen. »Planeten!« stieß er hervor. »Es müssen die Planeten sein, von denen Oggar gesprochen hat. Wir suchten sie in der Umgebung von Sonnen, aber in Wirklichkeit waren sie …« »Hört endlich auf mit dem Geschwätz und helft mir unter diesem Koloß hervor!« unterbrach eine keifende Stimme Aprams wissenschaftliche Darlegung. »Mein Gott, das ist Maginot!« stöhnte Apram. Gemeinsam mit Bjo wuchtete er den Kasten des Speicheraggregats zur Seite. Maginot schob sich darunter hervor, äußerlich zerrupft, aber noch immer im Vollbesitz ihrer Würde. Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, musterte den armen Apram mit vernichtendem Blick und brachte mit Stentorstimme ihr Mißfallen zum Ausdruck: »War aber auch verdammt Zeit, daß jemand Zugriff.«
*
Fassungslos starrte Atlan auf die riesige, träge Masse, die sich weit unter der GIRGELTJOFF bewegte. Der Taster hatte das Bild in Einzelheiten aufgelöst. Die Masse bestand aus Hunderttausenden von Himmelskörpern und bewegte sich relativ zu Atlans Kreuzer nur mit geringer Geschwindigkeit. Die GIRGELTJOFF hatte dasselbe Schicksal erlitten wie die ULTRAHEXE. Sie wäre in unmittelbarer Nähe der gigantischen Massenkonzentration materialisiert, wenn der Autopilot nicht in der ersten Mikrosekunde des Auftauchens die Gefahr bemerkt und ein rigoroses Ausweichmanöver eingeleitet hätte. Es hatte Schäden gegeben. Die Antigravaggregate hatten die plötzlich auftauchenden Beharrungskräfte nicht zur Gänze neutralisieren können. Menschen waren verletzt worden. Die Schadensmeldungen liefen ein, während Atlan zu begreifen versuchte, was es mit der riesigen Ansammlung fremder Himmelskörper auf sich hatte. Der Schwarm dehnte sich zwanzig Lichtstunden in die Länge – das war zweimal der Durchmesser des Solsystems! Die Breite betrug dreihundert Lichtminuten. Die fremden Himmelskörper besaßen keine Eigenstrahlung. Ohne Zuhilfenahme des Tasters wären sie unsichtbar geblieben. Irgendwann in der Vergangenheit mußten sie als Planeten um Sonnen gekreist haben. Das war es! Oggars Feststellung. Er hatte Planeten im Sternenuniversum gefunden. Niemand hatte anders geglaubt, als daß Oggar in seiner Rolle als Seher in eine Gegend des Sternenuniversums gelangt sei, in dem wie in anderen Universen auch Planeten um ihre Zentralgestirne kreisten. Aber so hatte es Oggar offenbar nicht gemeint. Er mußte auf das Versteck der Himmelskörper gestoßen sein – denn daß sie sich bis vor kurzem nicht in diesem Abschnitt des Sternenuniversums aufgehalten hatten, stand fest. Wie hätte eine solch titanische Masse den empfindlichen Meßgeräten entgehen können. Über 500.000 Planeten hatte der Computer inzwischen gezählt. Sie
bewegten sich in Richtung des Flekto-Yns, wie auch die GIRGELTJOFF und die vier übrigen Einheiten der kleinen Expedition. Atlan prüfte die Geschwindigkeit. Sie betrug 92 % Licht in bezug auf den Zielpunkt, Hidden-X' Nickelfestung. Somit gab es kaum noch einen Zweifel, daß zwischen dem mächtigen Planetenschwarm und Hidden-X eine kausale Beziehung bestand. Eine abenteuerliche Idee bildete sich im Bewußtsein des Arkoniden. Hatte Hidden-X – irgendwann in grauer Vergangenheit, als es zu ahnen begann, daß es irgendwann Schutz brauchen würde – die Sonnen dieses Universums ihrer Planeten beraubt und die geraubten Himmelskörper an einem abgelegenen Ort versteckt, damit es sich ihrer bedienen könne, wenn es in Not geriet? Dem Verstand schwindelte bei dem Versuch, sich die ungeheuren Kräfte und Energien auszumalen, die für ein solches Vorhaben erforderlich wären. Aber hatte Hidden-X in der Vergangenheit nicht schon mehrmals bewiesen, daß es mit kosmischen Kräften spielte wie ein Kind mit seinem Ball? Wozu sollten ihm die Planeten dienen? Das war die Frage, die beantwortet werden mußte. Gehörten sie zu den Überraschungen, von denen es in seiner Mentalbotschaft gesprochen hatte? In diesem Fall würde ihr Verwendungszweck bald offenbar werden. Die Entfernung vom Flekto-Yn schrumpfte unter dem Einfluß der relativistischen Zeitverzerrung rascher, als aus den Geschwindigkeitsangaben entnommen werden konnte. Atlan wurde abgelenkt. Die Bildfläche des Interkoms leuchtete auf. Uster Brick wirkte ernst, aber in den hellen, offenen Augen glomm ein Funke der Zuversicht. »Nicht so schlimm, wie wir es uns ursprünglich vorgestellt hatten«, meldete er. »Elf Verwundete, kein schlimmer Fall darunter. Die Materialschäden sind in spätestens zwei Stunden behoben.« Atlan atmete auf. »Wie steht's bei den anderen Einheiten?« wollte er wissen. »Die FERNWEH, STERNLOK und OSERFAN sind glimpflich davongekommen. Sie waren weit genug vom Schuß. Die
ULTRAHEXE hat's ähnlich gebeutelt wie uns. Vier Verwundete und unerhebliche Schäden.« »Dem Himmel sei's gedankt«, seufzte Atlan. »Uster, du hättest mir keine größere Freude machen können.« Unter normalen Umständen hätte die Verbindung jetzt unterbrochen werden müssen. Aber Uster Brick sah den Arkoniden an, als habe er noch eine schwere Sorge auf dem Herzen. Er war der kleinere der beiden Brüder und galt allgemein als der weniger umgängliche. Das lag daran, daß er bei den ewigen Kabbeleien mit Vorlan durch ein spitzes Mundwerk aufwiegen mußte, was der Bruder ihm an Körpergröße voraus hatte. Atlan kannte Uster Brick anders. Seine scharfe Zunge war nur Fassade. Er war aufrichtig und empfindsam. »Was gibt es, Uster?« fragte er freundlich. »Was ist mit den fünfhunderttausend Planeten?« wollte der Pilot wissen. »Woher kommen sie, und was haben sie hier verloren?« Einen Augenblick lang war Atlan in Versuchung, mit der gewagten Hypothese herauszurücken, die ihm vor wenigen Minuten durch den Sinn gegangen war. Dann überlegte er es sich anders. Es hatte keinen Zweck, harmlose Gemüter mit unausgegorenen Ideen zu verschrecken. »Ich nehme an, daß sie etwas mit Hidden-X zu tun haben«, antwortete er. »Woher sie kommen, was sie hier verloren haben? Wer weiß es. Wenn sie eine der Überraschungen sind, die Hidden-X uns versprochen hat, dann werden wir es bald erfahren. Im Augenblick bleibt uns nichts anderes übrig, als sie ständig zu beobachten.« Uster nickte. Er war nicht beruhigt; aber er wollte nicht besorgter erscheinen als der Arkonide. Der Bildschirm erlosch.
4. Im Lauf der nächsten Stunden enthüllte sich ein Szenarium von so
gewaltiger Größe, wie Menschenaugen es nie zuvor zu sehen bekommen hatten. Seit kurzer Zeit war das Flekto-Yn als winziger, silberner Lichtpunkt in der Tiefe des Alls sichtbar. Der riesige Planetenstrom hatte sich ausgebreitet. Er bewegte sich nicht mehr im Inert-Flug, sondern wurde von unsichtbaren, titanischen Kräften gesteuert. Die Meßgeräte der GIRGELTJOFF und ihrer vier Schwesterschiffe zeigten keine Reaktion. Die Energien, mit denen Hidden-X arbeitete, entzogen sich dem Verständnis der terranischen Wissenschaft. Auch Sanny war ratlos. Es gab keine Anhaltspunkte, auf die sie eine paramathematische Berechnung der Fremdkräfte hätte stützen können. Dafür hatte sie sich inzwischen mit einem anderen Problem befaßt, und ihre Resultate waren durchaus dazu angetan, einige Verwunderung zu erregen. »Hidden-X ist nachhaltig geschwächt«, erklärte sie kategorisch. Ihr dreidimensionales Bild, von der ULTRAHEXE herübergestrahlt, schwebte inmitten der kleinen Kabine, die Atlan sich als zusätzlichen Arbeitsraum hergerichtet hatte. Hage Nockemann, der zusammen mit Blödel erschienen war, gab, als er Sannys Feststellung hörte, einen glucksenden Laut der Überraschung von sich. Uster Brick bewies mehr Selbstbeherrschung; aber auch in seinen Augen entstand ein glasiger Glanz. Atlan sah überrascht auf. »Das, fürchte ich, mußt du mir erklären«, sagte er. »Wir haben bisher von Hidden-X eine einzige Nachricht erhalten«, antwortete Sannys Abbild. »Früher war es stets zur Hand, wenn es darum ging, mit seiner Überlegenheit zu prahlen. Erinnert euch an die Vorstöße ins Ysterioon. Damals war es ein richtiger Schwatzbold. Keine zehn Minuten vergingen, ohne daß wir nicht irgend etwas von ihm zu hören bekamen.« »Vielleicht ist es beschäftigt«, warf Nockemann ein und wies auf den Bildschirm. »Da draußen geht einiges vor.«
»Kann sein.« Das Argument schien die kleine Molaatin nicht zu beeindrucken. »Wie weit sind wir vom Flekto-Yn entfernt?« »Wir sind weiter vorgestoßen, als ursprünglich geplant«, antwortete Uster Brick. »Dreißig Lichtminuten.« »Wo bleibt der Mentaldruck?« fragte Sanny mit heller Stimme. »Bei keiner der früheren Gelegenheiten hätten wir uns so weit vorarbeiten können, ohne daß Hidden-X uns mit aller mentalen Energie, die ihm zur Verfügung steht, angesprungen hätte.« Atlan wechselte einen unsicheren Blick mit Hage Nockemann. Diesem Punkt hatte man bislang keine Beachtung geschenkt. Dann lenkte der Bildschirm seine Aufmerksamkeit auf sich. Fünfhunderttausend Tasterreflexe hatten sich zu deinem Vorhang glitzernder Funken ausgebreitet, der nahezu die halbe Bildfläche bedeckte. »Sieh dir das an«, sagte er zu Sanny. »Da ist ein Wesen, das eine Zehntelmilchstraße von Planeten wie am Gängelband hinter sich herzieht. Und du meinst, es sei geschwächt?« Sanny lächelte. »Sieh lieber du«, riet sie ihm. »Erinnerst du dich an die Tricks, mit denen Hidden-X in der Vergangenheit aufzuwarten pflegte? Spiegelungen, hypnotische Barrieren, Kosmopsychologie intergalaktischen Maßstabs. Gewiß, Hidden-X ist eine Kreatur, die wir aufgrund unserer Vorstellungen als böse bezeichnen. Aber es gab Zeiten, da waren ihre Methoden nahezu genial.« Sie machte eine wegwerfende Geste in Richtung der Bildfläche. »Und was bietet es uns jetzt an? Ich kann die Kräfte nicht berechnen, mit denen es arbeitet; aber ich kenne seine Pläne. In weniger als zwei Stunden werden fünfhunderttausend Planeten einen Wall um das Flekto-Yn bilden. Einen mechanischen Wall. Welche Einfallslosigkeit! HiddenX' letztes Aufgebot! Ich sage euch – es ist dem Ende nahe.« Die Diskussion wurde nicht zu Ende geführt. Trotz aller klugen Argumente war Sanny bis zuletzt die einzige, die Optimismus bezüglich Hidden-X' gegenwärtigen Zustands empfand. Die anderen
blieben skeptisch – gebannt von dem titanischen Schauspiel, das sich vor ihren Augen abspielte. In einem allerdings behielt Sanny recht. Die Masse der 500.000 Planeten verwandelte sich in einen Wall, der das Flekto-Yn kugelförmig umschloß. Der Halbmesser des Walls betrug fünf Lichtminuten, seine Dicke – bestimmt durch den Durchmesser der größten Planeten – rund 21.000 km. Der Wall hatte Löcher, riesige Löcher sogar. Selbst fünfhunderttausend Planeten reichten nicht aus, die Oberfläche einer Kugel von zehn Lichtminuten Durchmesser lückenlos abzudecken. Aber die Orter registrierten hyperenergetische Entladungen, die sich zwischen den Planeten in den Innenraum des Walls hinein ausbreiteten. Hidden-X war im Begriff, das Bollwerk zu vervollständigen. Kein Zweifel, daß jedes Fahrzeug, das zwischen den Planeten hindurch vorzustoßen versuchte, in eine gefährliche, wenn nicht gar tödliche Falle geriet. »Wunder sind mir zuwider«, knurrte Maginot Mernbek, »aber ich glaube, in diesem Fall muß ich mich mit ihnen abfinden.« Apram Nungess ließ ein schmerzliches Lächeln sehen. »Was ist so wunderbar?« wollte Bjo Breiskoll wissen. Maginot machte eine halb verzweifelte, halb entrüstete Geste in Richtung der großen Bildfläche. »Der Planetenwall«, antwortete sie seufzend. »Er dreht sich wie eine solide Kugel. Zwar langsam, aber immerhin. Vom Flekto-Yn geht eine gewisse Schwerkraft aus. Die Planeten entlang des Walläquators überkompensieren mit ihrer Rotation die Gravitationswirkung; sie müßten eigentlich nach außen davonfliegen. Planeten in einer schmalen Zone zu beiden Seiten des Äquators haben gerade die richtige Bahngeschwindigkeit, aber sie rotieren nicht um das Flekto-Yn, sondern um einen imaginären Punkt im Raum. Und was ist vollends mit den Himmelskörpern am Pol der Wallkugel? Sie rotieren überhaupt nicht, höchstens um sich selbst, und müßten, nach allem, was wir wissen, auf das Flekto-Yn
hinabstürzen. Sie tun es aber nicht. Ich habe keine Ahnung, welche Kräfte hier am Werk sind. Meine Instrumente können sie nicht nachweisen, und …« Sie unterbrach sich mitten im Satz, als Apram Nungess plötzlich heftig zusammenzuckte. »Was war das?« fragte sie scharf. Apram rang um seine Fassung. »Ich habe … habe einen der Planeten etwas schärfer ins Auge gefaßt«, stammelte er. »Es ist unglaublich … aber er hat eine Atmosphäre!« Im ersten Augenblick war Bjo unklar, worüber Apram sich aufregte. Was sollte Erstaunliches daran sein, daß ein Planet eine Atmosphäre besaß? Viele der Bestandteile des Walles waren große, massive Körper mit Durchmessern weit über 10.000 Kilometer, durchaus in der Lage, dichte Gashüllen an sich zu fesseln. Aber dann begriff er. Seit unvordenklicher Zeit hatten sich diese Planeten in einem abgelegenen Versteck befunden, dorthin bugsiert von Hidden-X, das sie bei Bedarf wieder hervorzuholen gedachte. Es war unwahrscheinlich, daß das Versteck eine Sonne enthielt, die 500.000 planetarische Himmelskörper mit Licht und Wärme versorgen konnte. Eher war zu vermuten, daß die Planeten in einem leeren Abschnitt des Raumes zusammengezogen worden waren, Hunderte von Lichtjahren vom nächsten Stern entfernt. Die Temperatur ihrer Oberflächen mußte nahe dem absoluten Nullpunkt liegen. Was immer sie früher an Atmosphären besessen haben mochten, war längst zu Schnee und Eis erstarrt. Auch das Flekto-Yn brachte ihnen keine Erlösung. Die elektromagnetische Strahlung, die von Hidden-X' Nickelfestung ausging, war minimal. In so kurzer Zeit konnte es ihr unmöglich gelungen sein, die gefrorenen Gashüllen aufzutauen. »Wir haben also«, sagte Maginot, »ein weiteres Wunder an der Hand. Wenn das so weitergeht, hänge ich meinen Beruf an den Nagel. Was nützt euch eine Physikerin, die die Gegebenheiten der
Natur nicht mehr deuten kann?« Während Apram Nungess seine Messungen vervollständigte, um einen abgeschlossenen Bericht an die GIRGELTJOFF liefern zu können, erschien Sanny auf der Szene, Sie hatte sich vor etlichen Stunden zurückgezogen, weil sie ein längeres Gespräch mit Atlan führen wollte, und war seitdem nicht mehr gesehen worden. Einer längst vertrauten Gewohnheit folgend, nahm Bjo Breiskoll das kleine Geschöpf auf und setzte es auf die Konsolenkante. Die Molaatin wirkte ungewöhnlich ernst. »Ich habe etwas berechnet«, begann sie. »Ich brauche eure Hilfe. Ihr müßt ein paar Messungen anstellen, damit ich erfahre, ob meine Berechnung richtig ist.« »Worum geht es, Sanny?« erkundigte sich Bjo. »Hidden-X hat fünfhunderttausend Planeten dieses Universums für sich beschlagnahmt. Das ist wahrscheinlich ein Großteil der Gesamtplanetenbevölkerung dieses planetenarmen Universums. Viele dieser Himmelskörper machen allein vom Umfang her den Eindruck, daß sie früher in der Lage gewesen sein könnten, Leben hervorzubringen. Gehen wir von der Überlegung aus, daß auf der einen oder anderen der Welten in der Vergangenheit intelligentes Leben existiert hat, dann sollten wir uns fragen, was daraus geworden ist.« »Hidden-X hat es abgemurkst«, grollte Maginot. »Was soll sonst geschehen sein?« »Das paßt nicht in sein Verhaltensmuster«, bestritt Sanny. »Schon einmal haben wir Hidden-X vorgeworfen, daß es ohne Bedenken ganze planetarische Zivilisationen ausgelöscht hätte. Damals ging es um mein Volk, die Molaaten. Aber plötzlich tauchten die Molaaten wieder auf. Hidden-X hatte sie nicht mitsamt ihren Heimatwelten vernichtet, sondern sie zum Hilfsvolk degradiert.« »Dasselbe, meinst du, könnte auch mit den Bewohnern dieser Planeten geschehen sein?« versuchte Bjo, sie zu verstehen. »Ja. Allerdings kommt eines hinzu. Wir haben im Innern des
Flekto-Yns nur wenige Fremdvölker gefunden, vor allem Molaaten und Bakwer. Inzwischen hielten sich auch die Zyaner dort auf, aber das war ein vorübergehender Einsatz, der wohl nur der Reparatur des großen Hohlspiegels diente. Man könnte argumentieren, daß wir nur einen winzigen Teil des Flekto-Yns zu sehen bekommen haben und nicht wissen, welche Fremdwesen sich in anderen Abschnitten herumtreiben. Aber ebenso gut läßt sich argumentieren, daß Hidden-X sich dieses Hilfsvolkpotential – ebenso wie die Planeten selbst – als Reserve aufbewahrt hat. Darauf sollen eure Messungen abzielen.« Bjo starrte sie fassungslos an. Der Gedanke war zu ungeheuerlich, als daß der Verstand ihn ernsthaft in Erwägung ziehen wollte. »Du glaubst … du glaubst …«, stotterte er und schwieg im selben Augenblick, als Sannys mattes Gedankenbild in seinem Bewußtsein materialisierte. »Ich glaube an die Möglichkeit«, nahm die Molaatin den begonnenen Satz auf, »daß auf einigen Planeten dort draußen noch intelligentes Leben existiert.« Die Videofläche war in Spalten aufgeteilt: Abstand, Intensität der elektromagnetischen Strahlung, Gravitation, hyperenergetische Flußdichte. Zahlen blinkten, veränderten ihre Werte, verschwanden und tauchten wieder auf. Am unteren Rand der Bildfläche blinkte ein strahlend grüner Balken: Die Sonde lebte noch. Atlan verfolgte die Anzeigen mit gespannter Konzentration. Die Sonde war der erste Versuch, den Planetenwall zu durchdringen. Der Arkonide hatte wenig Hoffnung auf Erfolg. Er rechnete damit, daß er das kleine, kompakte Gerät verlieren würde. Seine Berechnung lief darauf hinaus, daß sich der Verlust durch die gesammelten Daten bezahlt machte. Die Sonde zielte auf eine der kleineren Lücken des Walles. Es stand so gut wie fest, daß die großen Zwischenräume – mit Maximalabmessungen von 500.000 km aufwärts -durch energetische Felder und sonstige Vorrichtungen bis zur Undurchdringlichkeit
abgeriegelt waren. Dort brauchte er sich erst gar nicht zu bemühen. Das Ziel der Sonde war eine Fläche, die von drei Planeten umrahmt wurde – einem Riesen von 18.000 km Durchmesser und zwei kleineren Welten. Ihr größtes Ausmaß betrug knapp einhunderttausend Kilometer. Die Meßgeräte hatten schwache energetische Aktivität an den Rändern der Fläche nachgewiesen. Das Zentrum schien frei von fremden Einflüssen zu sein. Der große Planet war noch aus einem anderen Grund von Interesse. Vor kurzer Zeit war Apram Nungess' Bericht von der ULTRAHEXE empfangen worden. Apram hatte der Welt den Namen »Thalia« gegeben und nachgewiesen, daß sie eine mehrere hundert Kilometer hohe, dichte, sauerstoffhaltige Atmosphäre besaß. Weitere Untersuchungen, über deren Zweck sich Apram allerdings nicht ausgelassen hatte, waren im Gang. »Sonde auf Äquatorhöhe des großen Planeten«, meldete Hage Nockemann. Er arbeitete an einer zweiten, größeren Bildfläche, die eine dreidimensionale Darstellung des Dreiplanetensystems sowie mehrere Graphen und Diagramme enthielt. »Sprunghafter Anstieg des hyperenergetischen Flusses«, berichtete er eine Minute später. »Energieform unbekannt.« Atlan musterte besorgt den grünen Leuchtbalken. Er war kürzer geworden und blinkte mit geringerer Frequenz. Es ging der Sonde nicht mehr so gut wie bisher. Sie hatte mit fremden Einflüssen zu kämpfen. Die Zahlen in der Abstandsspalte, die sich bisher in monotonem Rhythmus geändert hatten, je weiter sich die Sonde von der GIRGELTJOFF entfernte, begannen zu rasen. Die Sonde wurde von einer unbegreiflichen Kraft beschleunigt. »Zweihundert Gravos«, rief Nockemann. »Vektor in Richtung Flekto-Yn.« »Kursänderung – seitwärts!« befahl Atlan dem Computer, der die Steuerung der Sonde besorgte. Das Schwirren der Ziffern in der Abstandsspalte verlangsamte
sich nicht. »Kein Effekt«, meldete Hage Nockemann. »Das künstliche Schwerefeld läßt sie nicht los.« Der grüne Balken schrumpfte weiter. Aus dem hellen Flackern war ein düsteres, träges Pulsieren geworden. Die Sonde hatte infolge der mörderischen Beschleunigung die drei Planeten inzwischen längst hinter sich gelassen und schoß mit zunehmender Geschwindigkeit in den Raum innerhalb des Walles hinaus, in dessen Zentrum das Flekto-Yn trügerisch glitzerte. »Schockfront!« schrie Nockemann. Der Balken erlosch. Die Sonde existierte nicht mehr. Betroffen musterte Atlan die Zahlen, die ihn von der Videofläche her anstarrten. Der Planetenwall hatte sein erstes Opfer gefordert. Der Beweis war erbracht, daß in den Lücken zwischen den Planeten Kräfte am Werk waren, von denen die Wissenschaft der Solaner nichts wußte. Eine Auswertung der Sondendaten würde ergeben, ob Hoffnung bestand, daß der Wall jemals durchdrungen werden könne. Ehrfürchtig starrte Apram Nungess das Diagramm an, das der Computer für ihn gezeichnet hatte. »Sanny hat recht«, hauchte er. »Es gibt intelligentes Leben dort drunten!« Maginot Mernbek hatte den Lichtzeiger zur Hand und ließ die Leuchtmarke über das vielfach gezackte, nach rechts hin auslaufende Ende der Kurve gleiten. »Nicht-thermische Emissionen im Mikro- bis Radiowellenbereich«, erklärte sie. »Es gibt keinen deutlicheren Hinweis auf die Existenz einer technologischen Zivilisation.« »Können wir uns per Funk mit ihnen verständigen?« fragte Bjo Breiskoll. »Ich halte es für unwahrscheinlich«, antwortete Maginot. »Die Verhältnisse auf Thalia sind so unirdisch, wie ich sie mir nicht einmal in meinen finstersten Träumen ausmalen kann. Ebenso
fremdartig wird die Mentalität der Bewohner sein. Wir können es versuchen. Aber es besteht die zusätzliche Gefahr, daß Hidden-X auf unser Experiment aufmerksam wird.« Bjo Breiskoll schüttelte den Kopf. Es war nicht klar, worauf die Geste sich bezog. Er sah eine Weile vor sich hin, offenbar tief in Gedanken versunken. Dann wandte er sich an Apram. »Wie sind die Oberflächenverhältnisse auf Thalia«, wollte er wissen. »Akzeptabel bis sonderbar«, antwortete der Xenotechniker. »Der Luftdruck beträgt nullkommaneun Atmosphären, das Gasgemisch enthält einunddreißig Prozent Sauerstoff und ist atembar. Schwerkraft liegt bei eins Komma zwei Gravo. Das -Thermometer steht auf dreiundzwanzig Grad – und zwar überall auf der Planetenoberfläche, unabhängig von der thaliographischen Breite. Auch eine zeitliche Variation der Temperatur konnte bis jetzt nicht festgestellt werden.« »Lichtverhältnisse?« fragte Bjo. »Nicht so miserabel, wie man erwarten sollte. Es gibt einen gewissen Betrag an Helligkeit. Etwa so wie eine Vollmondnacht auf der Erde, sagt der Computer.« »Gut«, sagte Bjo. »Noch eine Frage: Läßt sich etwas über die Bevölkerungsdichte aussagen?« »Nein«, antwortete Apram. »Denk nach, bevor du den Mund aufmachst, Junge«, keifte Maginot. An Bjo gewandt, fuhr sie fort: »Sie stehen entweder am Anfang ihrer technischen Entwicklung, und Funk-, Radio- und sonstige Geräte sind äußerst dünn gestreut. Dann könnte es sein, daß dort unten eine ganze Menge fremder Wesen lebten. Aber aus dem Vorhandensein von Mikrowellensignalen schließe ich, daß ihre Technik recht weit fortgeschritten ist. In diesem Fall sollte man erwarten, daß Geräte der genannten Art zum alltäglichen Gebrauch gehören. Wäre eine umfangreiche Bevölkerung vorhanden – sagen wir: mehr als eine oder zwei Millionen – dann müßte der nicht-
thermische Teil des Spektrums so hell sein wie ein mittlerer Suchscheinwerfer. Er ist es nicht. Also schließe ich, daß wir es mit nicht allzu vielen Individuen zu tun haben.« Bjo nickte. Das war seine einzige Reaktion, auf Maginots wortreiche Ausführung. Einen Augenblick stand er wie unschlüssig. Dann wandte er sich ab und schritt auf seine Konsole zu. Sekunden später hatte er die Verbindung zur GIRGELTJOFF hergestellt. Man hörte ihn sagen: »Atlan, ich bitte um dein Einverständnis. Ich habe vor, mit der ULTRAHEXE auf Thalia zu landen.«
5. Zehn Kilometer über der Oberfläche der fremden Welt tauchte die ULTRAHEXE in eine dünne, nebelartige Wolkenschicht, der ein fahler, lumineszierender Glanz innewohnte. Die Sinkgeschwindigkeit des Schiffes betrug nur wenige Meter pro Sekunde. Unter der ULTRAHEXE zeigte der Taster ebenes Gelände, das von vereinzelten Hügelgruppen unterbrochen wurde. »Wir sind in die Wolkenschicht eingetaucht«, berichtete Bjo Breiskoll an die GIRGELTJOFF. »Die Helligkeit, die auf der Oberfläche herrscht, scheint aus den Wolken zu kommen. Wir sehen einen silbernen, lumineszierenden Glanz, der homogen über die gesamte Schicht verteilt ist. Von welchem Mechanismus er erzeugt wird, ist vorerst noch unklar. Die Außentemperatur beträgt dreißig Grad und ist langsam am Sinken. Ein umgekehrter Temperaturgradient also. Wir sind …« Er unterbrach sich und fuhr einen Atemzug später mit erregter Stimme fort: »Die Wolkenschicht liegt hinter uns. Über uns spannt sich ein Himmel wie ein matt leuchtender Baldachin. Größere Einzelheiten der Oberfläche werden erkennbar. Ich sehe einen Fluß, der sich durch die Ebene windet. Abseits des Flusses ein regelmäßig geformtes Detail, das so aussieht,
als könne es eine Siedlung sein. Daran anschließend …« Er stutzte, als das rote Warnlicht aufblinkte. »GIRGELTJOFF! Hier ULTRAHEXE. Hört ihr uns?« Es knisterte im Empfänger. »Der Störgeräuschpegel ist sprungartig um vierhundert Prozent gestiegen«, meldete Apram Nungess hinter seiner Batterie von Meßgeräten hervor. »Was heißt das?« rief Bjo ungeduldig. »Daß plötzlich ein neuer Einfluß aufgetreten ist«, belehrte ihn Maginot. »Den Einfluß selbst können unsere Meßinstrumente nicht registrieren, weil sie nicht dafür gemacht sind. Sie merken nur den Streueffekt, die Erhöhung des Störpegels.« Bjo zog das Mikrophon näher zu sich heran. »GIRGELTJOFF! Hier ULTRAHEXE«, begann er von neuem. »Könnt ihr uns hören?« »Wahrscheinlich nicht«, bemerkte Maginot trocken. Bjo sah sie verwundert an. »Der neue Einfluß kommt nicht von ungefähr«, sagte die Hyperphysikerin. »Irgendeine Art Schirm hat sich zwischen uns und die anderen Schiffe geschoben. Er ist undurchlässig für Hyperund vermutlich auch Radiowellen. Wenn du Verbindung mit der GIRGELTJOFF aufnehmen willst, mußt du umkehren. Falls das noch geht.« »Was soll das heißen?« »Solche Dinge geschehen nicht zufällig«, antwortete Maginot im Tonfall eines geduldigen Lehrers, der sich mit einem begriffsstutzigen Schüler befaßt. »Oder meinst du, es hätte sich gerade so ergeben, daß just in dem Augenblick, in dem die ULTRAHEXE zur Landung ansetzt, ein undurchdringliches Störfeld entsteht?« Unsicherheit spiegelte sich in Bjos Blick. »Sie hat recht«, sagte Sanny. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Hidden-X beobachtet unser Manöver. Es hat dafür gesorgt, daß wir
uns nicht mehr mit Atlan verständigen können.« Bjo Breiskoll begriff, daß er sich entscheiden mußte. Zurück zur GIRGELTJOFF, oder Fortsetzung des Landeunternehmens. »Falls es noch geht«, hatte Maginot sich düster über die erstere Möglichkeit geäußert. Bjo gab dem Computer einen knappen Befehl. Die Sinkgeschwindigkeit der ULTRAHEXE verringerte sich, wurde null und wechselte das Vorzeichen. Das Feldtriebwerk tat seine Schuldigkeit. Das Schiff stieg. Maginots Befürchtung war unbegründet. Er konnte umkehren, wenn er wollte. »Wir landen«, sagte er knapp. Die Straße war breit. Häßliche, vielfach gezackte Risse durchzogen das Pflaster. Dickblättriger, kriechender Pflanzenwuchs quoll aus den Öffnungen und breitete sich nach allen Seiten aus. Die Blätter waren bleich und schimmerten feucht im Schein des diffusen Lichts, das aus dem mattsilbernen Himmel kam. Die Gebäude zu beiden Seiten der Straße lagen in Ruinen. Leere Fensterhöhlen starrten finster und drohend wie die Augen in einem Totenschädel. Hohe, halbrunde Portalöffnungen gähnten wie die aufgerissenen Mäuler unterseeischer Monstren. Unheimliche Stille ruhte über der Szene. Kein Windhauch bewegte die klamme, feuchte Luft. Nur hin und wieder regte sich ein Geräusch: das hohle Echo der Schritte derer, die gekommen waren, der fremden Welt ihr Geheimnis zu entreißen. Die Silhouette der ULTRAHEXE erhob sich weit über die Trümmergebäude am Rand der Stadt. Der helle Schimmer der Sichtluken war wie ein Signal aus einer vertrauten, freundlichen Welt inmitten der Fremdheit. Nirgendwo fand sich eine Spur der Wesen, die den finsteren Planeten bewohnten. Bjo Breiskoll kam zu Bewußtsein, daß ihre Suche eine langwierige sein mochte, wenn die fremde Welt tatsächlich so dünn besiedelt und verlassen war, wie die zerfallenen Häuser der Stadt andeuteten. Er hatte sich mit Maginot Mernbek, Apram Nungess und zwei Robotern ins Freie gewagt, nachdem ausgiebige Analysen die Luft
als frei von Gift- und potentiell gefährlichen Fremdstoffen identifiziert hatten. Submikroskopische Beimengungen, die in den Luftproben gefunden wurden und offenbar pflanzlich-organischen Ursprungs waren, wiesen darauf hin, daß die Flora dieser Welt nicht nur gänzlich unirdisch, sondern auch arm an Arten war. Die fleischblättrige, bleiche Pflanze, die aus den Rissen im Pflaster und Sprüngen in Gebäudewänden hervorkroch, schien den größten Teil der örtlichen Artenvielfalt auszumachen. Die ULTRAHEXE hatte einen Mikrowellensender angepeilt, der sich nahe dem Zentrum der Ruinenstadt befand. Er gab in monotoner Wiederholung eine Sendung von sich, deren Inhalt unverständlich blieb. Maginot war der Ansicht gewesen, der Vorstoß in die Stadt lohne nicht; die Tätigkeit des Senders lasse keinen anderen Schluß zu, als daß es sich um eine automatisch arbeitende Installation handele. Aber Bjo hatte nicht lockergelassen. Eine innere Stimme sagte ihm, daß es in dieser scheinbar verlassenen Stadt etwas zu finden gab. Er selbst steuerte den sechssitzigen Gleiter. Wo immer es etwas Interessantes zu sehen gab, setzte er das Fahrzeug ab und nahm sich Zeit, die Szenerie zu inspizieren. Die Funkverbindung mit der ULTRAHEXE funktionierte einwandfrei. Auf der Oberfläche des Planeten blieb Hidden-X' Störschild ohne Wirkung. Die breite Straße mündete auf einen Platz von beeindruckender Ausdehnung. Er hatte die Form eines Achtecks, und Straßen gleicher Breite endeten an jeder der acht Ecken. Es war alles sehr symmetrisch und übersichtlich. Im Zentrum des Platzes erhob sich eine mächtige Gebäudemasse. Sie war kreisförmig. Bjo umrundete sie mehrmals hoch über den zerfallenen Mauerkronen und versuchte mit angestrengter Konzentration, sich zu erinnern, wo er ein ähnliches Bauwerk zuvor gesehen hatte. Schließlich fiel es ihm ein. In seinem Gedächtnis fand sich ein Bild des römischen Kolosseums. Das war es, woran ihn der Riesenbau erinnerte. »Ihr seid annähernd in der Stadtmitte«, meldete sich Vorlan Brick
aus der ULTRAHEXE. »Ein paar hundert Meter noch.« Der Platz hatte einen Durchmesser von zwölfhundert Metern. »Alles klar«, antwortete Bjo. »Ich glaube, wir haben das Ziel vor der Nase.« Er landete außerhalb des Gebäudes. Die unterste Etage bestand aus einem zehn Meter hohen Säulengang. Zum Innern des Gebäudes hin war er durch eine gemauerte Wand abgegrenzt, die in regelmäßigen Abständen von torbogenähnlichen Eingängen durchbrochen wurde. Hinter den Torbogen war es finster. Die gewaltige Gebäudemasse absorbierte einen Großteil des ohnehin schwächlichen Lichts. Bjo zog die Handlampe aus dem. Gürtel. Als er sie einschaltete und der grelle Lichtkegel durch die mit Feuchtigkeit gesättigte Luft stach, wurde es lebendig ringsum. Quietschende Geräusche waren zu hören. Es raschelte und kratzte im Mauerwerk, als hätten Tausende von Ratten nichts Eiligeres zu tun, als vor der unerwünschten Helligkeit zu fliehen. Aber die Ursache war, wie Bjo und seine Begleiter sofort sahen, eine ganz andere. Staunend starrte er die bleichen, fleischigen Pflanzen an, die aus jeder Mauerritze quollen und plötzlich in Bewegung geraten waren. Sie krümmten und wanden sich und verkümmerten, verwelkten vor seinen Augen. Büschelweise verloren sie den Halt und stürzten aus der Mauer herab, und während sie sich krümmten und dem verderblichen Lichtstrahl zu entkommen versuchten, gaben sie das unheimliche Quietschen von sich, das so plötzlich die Stille der fremden Nacht zu zerreißen begonnen hatte. Schuldbewußt löschte Bjo die Lampe. Er wandte sich an Maginot und Apram. »Sie können das Licht nicht vertragen. Von jetzt an finden wir uns ohne die Lampen zurecht.« Er schickte die beiden Roboter voran. Das Innere des Gebäudes war mit Schutt erfüllt, der sich zu Bergen auftürmte. Zwischen den
Schutthalden führten finstere, vielfach gewundene Gänge dahin. Überall wucherte es von dickblättrigen Pflanzen. Die stählernen Gehflächen der Roboter trampelten sie nieder. Sie schmatzten und quietschten unter Bjo Breiskolls Tritt, und hinter dem Katzer schimpfte und fluchte Maginot Mernbek über den »schliddrigen Morast«, in dem sie jeden Augenblick ihr Gleichgewicht zu verlieren drohte. Bjo wäre längst umgekehrt. Das war kein Gelände für eine Erkundung ohne Licht. Ein scharfer, unangenehmer Geruch stieg von den zertretenen Pflanzenteilen auf und reizte die Schleimhäute. Aber irgendwo im Innern dieser Riesenruine mußte sich der Mikrowellensender befinden, den die ULTRAHEXE angepeilt hatte. Es wäre töricht gewesen, die Suche so kurz vor dem Ziel abzubrechen. Er rutschte auf einem glitschigen Pflanzenrest aus und taumelte vorwärts. Mit beachtlicher Wucht prallte er gegen etwas Hartes. Er schrie auf – mehr aus Zorn als aus Schmerz. Mit fahrigen Händen betastete er das Hindernis. »Heh, Robot«, rief er wütend. »Rühr dich!« Das tonnenschwere Gebilde aus ultraharter Atronital-Legierung bewegte sich nicht. Bjo arbeitete sich um das Hindernis herum. Dort, wo der Robot stehengeblieben war, wurde der Pfad zwischen den Trümmerbergen etwas breiter. Ein wenig Licht drang von oben herab. Bjo musterte das Maschinenwesen. Es gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Die kleine Kontrollampe unterhalb des Halsansatzes war erloschen. Bjo fuhr herum. Ein paar Schritte weiter stand der zweite Robot – ebenso reglos wie sein metallener Artgenosse. Bjo schob die kleine Metallplatte auf der linken Brustseite des Roboters beiseite und legte die Kontrolleiste bloß. Er schaltete auf Notleistung und versuchte, das Robot-Aggregat zu aktivieren. Der Versuch mißlang. Die LEDs, die die Ergebnisse der Schaltung hätten anzeigen sollen, blieben dunkel.
Maginot kam um das stählerne Hindernis herumgekeucht. »Was geht hier vor?« prustete sie entrüstet. »Warum bleiben wir stehen?« »Die Roboter sind ausgefallen«, antwortete Bjo. Maginot bewies, von welchem Kaliber sie war. Sie lamentierte nicht. Sie stellte keine überflüssigen Fragen. Sie sah sich um und versuchte, das Halbdunkel zu durchdringen. »Etwas hat sie lahmgelegt«, sagte sie mit rauher Stimme. Bjo wollte ihr recht geben. Aber bevor er das erste Wort über die Lippen bekam, ertönte hinter dem Robot ein langgezogener Schrei des Entsetzens. Maginot war sofort in Bewegung. »Mein Gott, das ist Apram!« stieß sie hervor. Bjo hatte Mühe, ihr zu folgen. Zur linken Hand sah er etwas Bleiches, Formloses die Schutthalde herabstoßen. Es bewegte sich wie eine Schlange. Ein blasser Schemen hob sich für Sekundenbruchteile vom finsteren Untergrund der Trümmer ab und schoß mit der Geschwindigkeit des Blitzes auf eine Gestalt zu, die ängstlich auf der Sohle des Pfades kauerte. »Ich bringe dich um!« grölte Maginot. »Laß Apram in Ruhe, oder ich schieß' dir sämtliche Lichter aus!« Maginot war voller Kampfeswut. Bjo sah sie auf Aprams reglose Gestalt zueilen. Er erkannte an der Bewegung ihres Armes, daß sie im Begriff stand, nach der Waffe zu greifen. Der fahle Schatten war einen Atemzug lang mitten in der Bewegung erstarrt. Konnte es sein, daß Maginots röhrender Baß ihn erschreckt hatte? »Nicht schießen!« rief Bjo im Laufen. »Maginot – nimm die Lampe!« Er wußte nicht, woher ihm die Idee kam. Er hatte die Pflanzen auf die grelle Helligkeit des Handstrahlers reagieren sehen. Vielleicht half sie auch gegen den blaßgrauen Schemen, der es auf Apram abgesehen hatte. Maginot reagierte blitzschnell. Sie hatte die Lampe in der Hand. Ein greller Lichtstrahl stach durch die Finsternis. Ein schriller Laut – grell und unbeschreiblich, hoch an der oberen
Grenze des menschlichen Hörbereichs. Bjo schloß unwillkürlich die Augen. Stechender Schmerz drang ihm ins Bewußtsein. Mehrere Sekunden lang war er benommen. Dann hörte er Maginots grollende Stimme. »Dem hätten wir's besorgt. Auf die Beine, mein Junge. Oder soll ich dir aufhelfen?« Bjo schlug die Augen auf. Es war finster ringsum. Maginot hatte die Lampe wieder abgeschaltet. Das Bleiche, Formlose war spurlos verschwunden. Apram Nungess war dabei, sich aufzurichten. Er schlotterte. »Wohin …«, begann Bjo. Maginot machte eine ungewisse Geste die Trümmerhalde hinauf. »Weg wie der geölte Blitz«, sagte sie und ließ das Auge nicht von Apram, dem ihre ganze Fürsorge galt. »Licht können sie hier auf Thalia nicht vertragen.« Es war Bjo klar, daß unter diesen Umständen das Unternehmen abgebrochen werden mußte. Das Risiko war zu groß. Er setzte sich mit der ULTRAHEXE in Verbindung und berichtete über den Zwischenfall. Vorlan Brick machte einen automatischen Transporter startbereit, der die beiden Robotleichen abholen sollte. Inzwischen war Apram Nungess seelisch wiederhergestellt. Die Art, wie er sich verhalten hatte, schien ihn zu bedrücken. »Ihr hättet es sehen sollen«, sagte er mit gepreßter Stimme, wie um sich zu entschuldigen. »Es war unbeschreiblich, gräßlich …« Sie machten sich auf den Rückweg. Die beiden leblosen Roboter ließen sie stehen. Der Transporter würde sie finden. Maginot schritt voran. Ihr robustes Temperament hatte den Schock am ehesten verwunden. Bjo erinnerte sich an den stechenden Schmerz, der ihm durchs Gehirn gefahren war, als Maginot den Strahl der Lampe auf den bleichen Angreifer richtete. Er hatte einen Gedankenimpuls empfangen, einen mentalen Aufschrei voller Pein und Entsetzen. Bjo kannte die telepathischen Fähigkeiten seines Bewußtseins. Auf die mentale Emanation eines primitiven Wesens hätten sie niemals mit
solcher Schärfe reagiert. Es war ein Gedanke, der Unbehagen verursachte: Das Bleiche, Formlose wurde von einem hochentwickelten, komplexstrukturierten Geist beherrscht. Nur die Ausstrahlung eines Bewußtseins dieser Art konnte er mit solcher Intensität empfinden. Es beunruhigte ihn, sich vorstellen zu müssen, der heimtückische Angriff auf Apram sei von einem Vertreter der intelligenten thalischen Lebensform durchgeführt worden. Etwas ging schief. Der Pfad stieg an. Er erinnerte sich, daß sie auf dem Herweg fast ununterbrochen bergauf gegangen waren. Sie mußten vom Weg abgewichen sein. Maginot war stehengeblieben und sah sich ratlos um. Es war finster; nur auf den Kuppen der Schuttberge schimmerte ein Abglanz des silbernen Lichts. »Auf dem Herweg«, sagte Apram, »haben wir uns von den Robotern führen lassen. Wir selbst kennen den Weg nicht.« »Umkehren«, schlug Maginot vor. »Erst müssen wir uns orientieren«, entschied Bjo. Er griff den Schaft der Lampe fester und kletterte den nächsten Trümmerberg hinauf. Es hätte eine mühselige Angelegenheit werden können, denn der Schutt lag locker angehäuft und wäre normalerweise unter seinen Schritten in Bewegung geraten. Aber überall wucherten die blassen Pflanzen mit den fleischigen Blättern. Ihr Wurzelgeflecht verlieh dem Geröll offenbar Halt. Er kam rasch voran. Unterm Klettern horchte er in sich hinein und hielt mit telepathischen Sensoren Ausschau nach den Signalen fremder Bewußtseine. Er empfing nichts. Im Mentaläther herrschte Stille. Er erreichte die Kuppe des Hügels. Das Innere des riesigen Gebäudes wirkte wie eine miniaturisierte Gebirgslandschaft: Ein Gipfel reihte sich an den andern. Unmöglich, sich in diesem Durcheinander zu orientieren. Er sah die hoch aufragenden Außenmauern; aber wenn er zu dem finsteren Pfad dort unten zurückkehrte und ein paar seiner Windungen folgte, würde er die Richtung in wenigen Minuten wieder verlieren.
Er wandte sich um. Sein Blick fiel hinab in die Senke. Zuerst wunderte er sich darüber, daß es unten so hell war. Dann entdeckte er das Pflanzengewirr, das sich auf dem Grund der Senke kegelförmig zu mehr als drei Metern Höhe auftürmte. Und schließlich sah er graues, verwittertes Metall, das unter den bleichen Blättern hervorlugte. Er winkte, ohne sich umzudrehen, und verließ sich darauf, daß Maginot und Apram seine Geste verstünden. Augenblicke später hörte er sie die Halde heraufklettern. Er wies mit dem Arm hinunter in die Senke. »Der Sender …«, hauchte Maginot. Langsam und vorsichtig machten sie sich an den Abstieg. Es war etwas Merkwürdiges um diesen Ort, umrahmt von Trümmerbergen, inmitten eines riesigen Gebäudes, das vor ungezählten Jahrtausenden den Pomp, die Feierlichkeiten, die Staatszeremonien einer längst vergangenen Zivilisation miterlebt haben mochte. Es war, als schritten sie in ein Heiligtum hinab – und doch lag vor ihnen nur ein halb verrostetes Aggregat, das seit wer weiß wie langer Zeit automatisch Mikrowellensignale von sich gab und einem Wust bleicher Pflanzen als Stütze diente. Sie erreichten die Sohle der Senke. Niemand sprach. Andächtig, in fast feierlicher Stimmung, musterten sie das Produkt einer unsäglich fremden Technik, das hier und da aus dem blassen Geranke hervorlugte. Als ob die Pflanzen ihre Andacht spürten, gerieten sie plötzlich in Bewegung. Die bleichen Ranken entflochten sich; Ordnung entstand inmitten des Gewirrs. Stiele, Äste und Zweige sanken beiseite und entblößten immer mehr von dem verwitterten, alten Sendeaggregat. Ein merkwürdiges Raunen war plötzlich in Bjo Breiskolls Bewußtsein. Starr vor Staunen sah er, wie eine Gestalt sich aus dem Boden zu erheben begann. Er sah nicht, woher sie kam. Sie war wie dichter, flüssiger Nebel, die aus dem Gewirr der bleichen Pflanzen emporwuchs, und während sie wuchs, nahm sie die Form eines
Menschen an. Der Nebel war farblos, ein namenloses Hellgrau; aber während er in die Höhe stieg und sich formte, nahm er Farbe an. Die Falten eines silbrigen Gewands entstanden. Das zarte, blasse Rosa menschlicher Haut formte sich – dort, wo Hände, Hals und Kopf aus dem wallenden Kleid hervorragten. Vor Bjo Breiskolls Augen entstand eine humanoide Frau von unirdischer Schönheit. Der Nebel war verschwunden – er hatte feste Form angenommen. Das Gewirr der Pflanzen war nicht mehr so dicht wie zuvor. Fast war es, als hätten sie einen Teil ihrer Substanz dazu hergeben müssen, die menschliche Gestalt zu bilden. Ein mattes, trauriges Lächeln erschien auf dem Gesicht der Fremden. Sie bewegte sich, trat einen Schritt auf die Solaner zu. Dann streckte sie die Hand aus und machte eine Geste, die unter humanoiden Wesen nur das eine bedeuten konnte: Friedfertigkeit. Bjo Breiskoll schüttelte die Ungewißheit von sich. Er ergriff die dargebotene Hand. Sie war fest und warm – nicht anders, als sich die Hand eines Menschen angefühlt hätte. »Wer bist du?« fragte er. Die Lippen der Fremden zuckten, als der Mund sich vergeblich bemühte, Worte zu formen. Bjo Breiskoll hatte ein seltsames Empfinden. Er fühlte sich durchleuchtet. Eine unbekannte Kraft war in ihn eingedrungen und sezierte sein Innenleben, zerstückelte sein Bewußtsein und inspizierte jedes Bruchteil mit großer Aufmerksamkeit. Die fremde Kraft war nicht bösartig. Sie verursachte keinen Schaden. Und schließlich zog sie sich zurück, ohne eine Spur zu hinterlassen. »Ich bin … Druska«, sagte die Fremde zögernd. Sie sprach Interkosmo. Bjo Breiskoll begriff, was er soeben gespürt hatte. Er war telepathisch durchleuchtet worden. Acht oder zehn Sekunden hatten der Fremden genügt, sich die Kenntnisse anzueignen, die in seinem Bewußtsein gespeichert waren. Seltsam – er dagegen konnte ihre Gedanken nicht erkennen. Er spürte das eigenartige Raunen, aber es enthielt keine Information.
Was in Druskas Bewußtsein vorging, blieb ihm verborgen. Er sah sich um. Maginot stand neben ihm, erstarrt vor Schreck oder Verwunderung. Apram Nungess war ein paar Schritte zur Seite getreten und hatte das Gesicht in den Händen verborgen. Das schien Bjo eine eigenartige Reaktion zu sein; aber im Augenblick hatte er keine Zeit, sich damit zu befassen. »Bist du eine Bewohnerin dieser Welt, Druska?« fragte er die Fremde. Sie nickte. Selbst diese Geste hatte sie seinem Bewußtseinsspeicher entnommen. »Ich lebe auf Thalia«, sagte sie. »Mit den wenigen andern, die die Zeit der großen Katastrophen überlebt haben.« »Wo sind die anderen, Druska?« erkundigte sich Bjo. Die Fremde machte eine ungewisse Geste, die die gesamte Umgebung zu umfassen schien. »Sie sind überall«, antwortete sie. Es war eine eigenartige Unterhaltung. Druska selbst schien keinerlei Wißbegierde zu empfinden; sie stellte keine Fragen. Auf Bjos Erkundigungen antwortete sie bereitwillig, wenn auch nicht immer in verständlicher Form. In gewisser Weise war ihr Verhalten das eines Automaten. Ihre Funktion war, Auskunft zu erteilen. »Wir sind der Spur dieses Senders gefolgt«, sagte Bjo und deutete auf das verwitterte Aggregat, das inzwischen von Pflanzenwuchs völlig frei war. »Welchem Zweck dient es?« »Es soll uns Rettung bringen«, antwortete Druska. »Es soll das Zeitalter der Katastrophen beenden und uns eine Welt finden helfen, auf der wir in Sonne und Frieden leben können.« Die Formulierung machte einen eigenartigen Eindruck auf Bjo. Jedes Wesen sehnte sich nach Frieden. Auf dieser Welt des ewigen Halbdunkels kam der Wunsch nach Sonne hinzu. »Vielleicht können wir euch helfen«, sagte er. »Willst du mit uns kommen, damit wir darüber sprechen können?« »Ich komme mit euch«, bestätigte Druska.
Minuten später tauchte der Transporter auf. Es fiel Bjo nicht schwer, seinen Auftrag so zu modifizieren, daß er erst die im Innern der Ruine Gestrandeten ins Freie brachte, bevor er die beiden desaktivierten Roboter auflud. Der Gleiter nahm Kurs auf die ULTRAHEXE. Es war ein Bericht, wie Bjo Breiskoll ihn noch nie zu hören bekommen hatte. Er war voller Rätsel und Mystik. Es war, als ob Druska eine uralte Sage erzähle, nicht die Geschichte ihres Volkes. Vieles von dem, was sie berichtete, war unverständlich; anderes ergab keinen Sinn, und Bjo gewann den Eindruck, daß erst das Unverständliche begriffen werden müsse, bevor der Gesamtzusammenhang klar wurde. Über sich selbst sprach Druska mit keinem Wort. Sie erklärte nicht, wie sie inmitten des zertrümmerten Gebäudes quasi aus dem Nichts heraus hatte entstehen können. Sie äußerte sich nicht darüber, wo sie wohnte, wovon sie sich ernährte, und machte keine Angaben über ihre Lebensgewohnheiten. Entsprechende Fragen ignorierte sie. Sie nannte ihr Volk »die Thali« – weil sie in Bjos Bewußtsein gelesen hatte, daß die Solaner dem Planeten den Namen Thalia gegeben hatten. Alles, was sie berichtete, bezog sich auf die Thali in ihrer Gesamtheit, als gebe es in ihrem Volk keine Individuen. Vor endlos langer Zeit, so erzählte sie, lebten die Thali in Sonne und Frieden. Sie besaßen eine hoch entwickelte Zivilisation, betrieben interstellare Raumfahrt und handelten mit anderen Sternenvölkern. Es war eine Ära des Glücks, des Wohlstands und der Zufriedenheit. Die Thali führten keine Kriege und konnten so ihr gesamtes Talent der Weiterentwicklung ihrer Zivilisation widmen. Eines Tages jedoch »verschwand die Sonne«. Das war alles, was Druska über den sensationellen Vorgang zu sagen bereit war. Aus ihren Worten ging nicht hervor, ob sie das Verschwinden der Sonne für eine Art Wunder hielt, oder ob ihr klar war, daß solche Dinge
auf natürliche Weise – wenn auch mit Kräften, die außerhalb des normalen Vorstellungsvermögens lagen – bewerkstelligt werden konnten. Auf der Welt der Thali wurde es vorübergehend bitter kalt. Zwar besaßen sie die technischen Mittel, mit denen sie das Überleben ihrer Kultur selbst unter den widrigsten Umständen hätten ermöglichen können. Aber mit der Sonne war offenbar auch ihre Initiative verschwunden. Sie starben zu Millionen dahin. Das totale Einfrieren der Planetenoberfläche wurde dadurch verhindert, daß kurze Zeit nach der Katastrophe eine silbern schimmernde Wolke sich über ganz Thalia ausbreitete und nicht nur Licht, sondern auch Wärme spendete. Die silberne Wolke – offenbar dieselbe, die den Planeten auch jetzt noch umlagerte – war ein weiteres Beispiel äußerer Eingriff nähme, und wiederum ließ Druska nicht durchblicken, ob sie an ein Wunder oder eine technische Machination glaubte. Die Zivilisation der Thali zerfiel. Altes Wissen geriet in Vergessenheit. Aber die Natur hatte Erbarmen mit den Überlebenden. Sie gab ihnen neue Kräfte und Fähigkeiten, mit denen sie sich der veränderten Umwelt anpassen konnten. Es kam soweit, daß die Herkunft des Volkes um ein Haar in Vergessenheit geraten wäre und die Thali zu glauben begonnen hätten, es habe niemals etwas anderes als diese finstere, sonnenlose, feuchte Welt gegeben. Sozusagen in letzter Sekunde bildete sich »der Rat der Erinnerung«, offenbar ein Gremium intellektueller Thali, das sich zur Aufgabe machte, die Überlieferung zu pflegen und das Postulat, daß das thalische Volk ein besseres Dasein verdient habe, aufrechtzuerhalten. Auf die Tätigkeit des Rats der Erinnerung war auch die Installation von Mikrowellensendern zurückzuführen, die ihren Hilferuf unermüdlich ins All strahlten. Die Kenntnis der hyperenergetischen Kommunikation war inzwischen offenbar verlorengegangen. Eine große Rolle spielte in den Legenden der Thali eine Wesenheit, die sie den »Silbernen Feind« nannten. Den Solanern fiel es nicht
schwer, zu erraten, daß es sich dabei nur um Hidden-X handeln könne. Aber der Silberne Feind befand sich im geistigen Vakuum. Es wurde nicht offenbar, warum die Thali ihn als Feind betrachteten. Mit dem Verschwinden der Sonne und dem Niedergang der thalischen Kultur wurde er jedenfalls nicht in Verbindung gebracht – wenigstens nicht, soweit aus Druskas Bericht hervorging. Bjo Breiskoll wiederholte sein Angebot, den Thali zu helfen. Es war keineswegs ein vages Versprechen. Die Evakuierung eines ganzen Sternenvolks – wie viele Thali es insgesamt gab, darüber sagte Druska ebenfalls nichts aus – überstieg zwar die Mittel der SOL. Aber mit Hilfe der Völker der Galaxis Pers-Mohandot, meinte Bjo, müsse sie sich bewerkstelligen lassen. Druska nahm das Angebot entgegen – sachlich, ohne jede Begeisterung, als wäre es etwas durchaus Selbstverständliches. Aber darüber zu entscheiden hätte der Rat der Erinnerung. Sie selbst sei nicht autorisiert, sich in einer derart wichtigen Angelegenheit ein Urteil zu bilden. »Also gut«, sagte Bjo, »dann wenden wir uns an den Rat. Wo ist er?« »Ich werde euch führen«, versprach Druska. Bjo zögerte. Es lag nicht in seiner Absicht, eine Expedition auszustatten und sie auf der Suche nach dem Rat der Erinnerung im gefährlichen Gelände des Dunkelplaneten umherirren zu lassen. »Die Thali beherrschen den Funk«, hielt er Druska vor. »Ist es möglich, daß wir auf dem Funkweg Verbindung mit dem Rat aufnehmen?« »Der Rat der Erinnerung spricht mit vielen Mündern«, lautete Druskas orakelhafte Antwort, »aber nicht mit dem Mund der elektromagnetischen Strahlung.« »Dann bring den Rat zu uns«, schlug Bjo vor. »Eure Welt ist gefährlich für uns. Bevor wir dich fanden, wurden wir von einem unbekannten Wesen angegriffen.« »Das wird nicht mehr geschehen«, versprach Druska. »Ich führe
euch zum Rat der Erinnerung.«
* Dabei blieb es. Druska ließ sich nicht umstimmen, und Bjo gab schließlich nach. Schließlich war sein eigentliches Anliegen nicht die Rettung der Thali, sondern das Einsammeln von Informationen, mit denen das Geheimnis des Planetenwalls gelüftet und ein Anhaltspunkt für das weitere Vorgehen gegen Hidden-X gefunden werden konnte. Er hoffte, von den Ratsmitgliedern ausführlichere und weniger mystische Auskünfte zu erhalten als von Druska. Da die Thalin auch über die Dauer der Fahrt zum Sitz des Rates keine Aussage machen wollte, ließ Bjo zwei schwere Shifts mit voller Expeditionsausstattung herrichten. Die beiden Fahrzeuge hatten die Namen TALLATA und PARSIS. Das eine würde Bjo selbst steuern, das andere vertraute er Maginot Mernbeks Befehl an. An der ausführlichen Besprechung, die dem Beginn des Unternehmens vorausging, nahm Apram Nungess nicht teil, obwohl er als Maginots Mitarbeiter selbstverständlich zur Besatzung der PARSIS gehörte. Er legte, seit sie Druska in der Ruine des thalischen Kolosseums gefunden hatten, ein merkwürdig zurückhaltendes Benehmen an den Tag, wich Unterhaltungen aus und war am liebsten mit sich allein. Maginot hatte ihn ein paarmal auf sein seltsames Verhalten angesprochen, ohne daß Apram jedoch auf ihre Bemerkungen eingegangen wäre. Von der Besprechung wollte er entschuldigt werden, weil er die Absicht hatte, ein paar Sonden auszuschicken, die von jenseits der silbernen Wolkenschicht aus Verbindung mit der GIRGELTJOFF aufnehmen sollten. Bjo hielt dies für eine ausgezeichnete Idee und gewährte seine Bitte anstandslos. »Ich wollte, ich wüßte, was er hat«, sagte Maginot nachdenklich, nachdem Apram sich entfernt hatte. »Es wäre mir so viel wohler zumute.«
Der Blick, den sie Bjo zuwarf, war auffordernd. Der Katzer verstand, was sie im Sinn hatte. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Apram hat einen Anspruch auf seine privaten Gedanken wie jeder andere auch. Ich schnüffle nicht in seinem Bewußtsein.« Maginot seufzte resigniert. »Vielleicht sollte ich mich an Druska wenden«, sagte sie. »Sie besitzt offenbar die gleiche Begabung wie du.« »Das glaube ich nicht«, widersprach Bjo. »Woher kennt sie sonst unsere Sprache?« »Sie hat unser Wissen absorbiert, aber ich glaube nicht, daß sie in unseren Gedanken lesen kann. Vergleiche den menschlichen Verstand mit einem Computer-System! Druska kann die Speicher abgreifen, aber das Funktionieren des Prozessors durchschaut sie nicht.« »Wofür hältst du sie?« fragte Maginot, unerwartet das Thema wechselnd. »Wie meinst du das?« »Tier, Pflanze oder Mineral?« grinste Maginot. »Ich meine, daß wir sie nicht in ihrer wahren Gestalt sehen, ist inzwischen jedermann klar, oder nicht?« »Ich habe daran gedacht«, bekannte Bjo. »Aber ich wollte sie nicht danach fragen. Es ist eine Geste der Höflichkeit, daß sie uns in einer Gestalt erscheint, die uns vertraut ist. Wenn ich sie drängte, zeigte sie sich womöglich in ihrer natürlichen Form, und die …« »Könnte abstoßend auf uns wirken?« »Ja. So wie das bleiche Ding, das Apram angriff.« »Sie sprach von Kräften und Fähigkeiten, die die Natur den Thali verliehen hat, um sie vor dem Aussterben zu bewahren. Allomorphie, so nennt man das wohl, wenn ein Wesen in die Gestalt eines anderen schlüpfen kann. Glaubst du, das gehört mit zu den Gaben, die die Natur an die Thali verteilt hat?« »Wahrscheinlich«, antwortete Bjo. Sie ließen das unergiebige Thema ruhen. Die Einzelheit des
bevorstehenden Einsatzes wurden besprochen. Während Bjos Abwesenheit übernahm Vorlan Brick das Kommando an Bord. Falls Aprams Sondenexperiment gelang, konnte er Atlan über den Verlauf des Unternehmens auf dem Laufenden halten. Funkverbindung zwischen den beiden Shifts und der ULTRAHEXE war zu jeder Zeit zu gewährleisten. Sanny und Argan U wurden der TALLATA zugeteilt. Maginot begnügte sich mit Apram Nungess als Begleiter. Allerdings bestand sie darauf, drei Allzweckroboter an Bord der PARSIS zu nehmen. »Du weißt, daß du dich auf sie nicht unbedingt verlassen kannst«, warnte Bjo. Maginot nickte. »Was war mit den beiden Maschinen, die uns plötzlich im Stich ließen?« »Blockierung der Interprozessor-Verbindungen«, antwortete Bjo. »Das Bewußtsein der Roboter besteht aus Tausenden von Mikroprozessoren, die miteinander kommunizieren. Die Kommunikationskanäle wurden blockiert. Die Sicherheitsautomatik schaltete daraufhin ab.« »Eine Idee, wie das bewerkstelligt wurde?« »Keine. Die Prozessoren sind gegen alle möglichen Einflüsse abgeschirmt. Wer da am Werk war, versteht mehr von positronischer Robotik als wir.« Als Maginot gegangen war, kam eine Meldung von Apram: Das Sondenexperiment war mißlungen. Die absorbierende Wirkung des Hyperfunkschirms reichte offenbar Lichtsekunden weit in den Raum hinaus. Bis zum Aufbruch der Expedition waren es noch gute drei Stunden. Bjo Breiskoll gönnte sich eine Pause der Abgeschiedenheit. Er aktivierte die telepathischen Sensoren und horchte in die gottverlassene Weite der Planetenoberfläche hinaus. Wenn es dort draußen intelligente Bewußtseine gab, dann hätte er sie spüren müssen. Aber da war nichts außer dem seltsamen, undeutlichen Raunen, das er zum ersten Mal empfunden hatte, als Druska aus dem Nichts
auftauchte. Oder doch …? Er stutzte. Ein Gedanke – nein, kein Gedanke: eine Empfindung machte sich in seinem Bewußtsein breit. Angst. Ein fremder Geist suggerierte ihm Furcht. Warnung. Gefahr. Er erinnerte sich. Was er hörte, war das Gewisper der fernen Mentalstimme, die zu ihm gesprochen hatte, als die ULTRAHEXE sich anschickte, in den Linearraum zu gehen. Die Thali? fragte er sich verwundert. Nein. Das Gewisper kam anderswoher. Es versuchte, ihn zu warnen. Gefahr war im Verzug. Die Warnung konnte sich nur auf die bevorstehende Expedition beziehen. Er lauschte und spürte, wie die fremden Gedanken immer deutlicher wurden – als sei Übung alles, was dem unbekannten Bewußtsein fehlte, um auf verständliche Weise mit ihm zu kommunizieren. Die Gefahr besteht, verstand er. Aber sie ist nicht unüberwindlich. Hüte dich vor der teuflischen Schläue des Störfaktors. Wer bist du? fragte Bjo. Er erhielt keine Antwort. Wer ist der Störfaktor? Das Wispern war erloschen, die telepathische Verbindung getrennt. Ein eigenartiges Gefühl ergriff von Bjo Besitz. Irgendwo in der düsteren Weite des fremden Universums gab es einen Freund. Er sprach ihm Mut zu, wenn die Zuversicht ihn verlassen wollte, und warnte ihn vor Gefahren. Er beobachtete ihn über weite Entfernungen hinweg und nahm Anteil an seinem Geschick. Es war gut, einen solchen Freund zu haben. Aber es wäre Bjo wohler zumute gewesen, hätte er seine Identität gekannt. Der Störfaktor. Wer anders als Hidden-X könnte es sein? Die Gefahr, die auf ihn wartete, ging also nicht von den Thali, sondern vom Herrn der Nickelfestung aus. Das zu wissen, war nützlich. Gefahr bestand, aber sie war nicht unüberwindlich. Das war trostreich. Aber je länger Bjo über diese Äußerung nachdachte, desto nachhaltiger prägte sich ihr erster Teil seinem Bewußtsein ein und
desto schwächer wurde der Rest. Die Gefahr besteht …
7. Das Abreißen der Funkverbindung mit der ULTRAHEXE hatte an Bord der GIRGELTJOFF nicht mehr als gedämpfte Besorgnis hervorgerufen. Irgendwie war mit einem solchen Effekt gerechnet worden. Im Bereich des Planetenwalls walteten unverständliche Kräfte. Man konnte sich unschwer ausmalen, daß einer der Einflüsse, von denen der Wall zusammengehalten wurde, einen für Hyperkom-Signale undurchdringlichen Schirm bildete. Inzwischen war die Bemühung, weitere besiedelte Planeten innerhalb des Walls nachzuweisen, in vollem Gang. Apram Nungess' Entdeckung hatte wie eine Bombe eingeschlagen. Vom derzeitigen Standort der vier Einheiten aus waren mittlerweile fünf Welten entdeckt worden, deren Spektren nicht-thermische, auf das Vorhandensein einer technologischen Zivilisation hinweisende Züge aufwiesen. Atlan gab sich damit nicht zufrieden. Er schickte die FERNWEH, die STERNLOK und die OSERFAN aus, den Wall zu umrunden und nach weiteren bewohnten Welten Ausschau zu halten. Das Unternehmen war vor mehreren Stunden angelaufen. Mit der Rückkehr der Schiffe, deren Kurs so gewählt war, daß ihre Instrumente die gesamte Walloberfläche abdeckten, wurde in neunzig Minuten gerechnet. Das Bild, das sich schließlich ergab, war verwirrend. Insgesamt sechzig besiedelte Planeten waren gefunden worden. Es ließ sich nicht ausschließen, daß es eine weitaus größere Zahl bewohnter Welten gab. Falls ihre Technik nicht wenigstens den Stand der irdischen um das Jahr 1950 erreicht hatte, konnten sie mit den verwendeten Meßmethoden nicht nachgewiesen werden. Alle als bewohnt identifizierten Planeten waren Körper mit Durchmessern
über achttausend Kilometern, und es stellte sich zudem heraus, daß in der riesigen Kugel des Walls kleine und große Welten nicht statistisch, sondern nach einer gewissen Auswahlregel verteilt waren. Ein großer Planet hatte als Nachbarn mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit umfangreiche als kleine Welten. Es gab ausgedehnte Felder, in denen fast nur Körper mit Durchmessern von mehr als siebentausend Kilometer gefunden wurden – und andere, die ausschließlich von kleinen Planeten besiedelt waren. Umfang – oder vielmehr Masse – eines Planeten und seine Fähigkeit, organisches Leben zu entwickeln: Das sind zwei Faktoren, die in engem Zusammenhang miteinander stehen. Eine gewisse Planetenmasse ist zur Bindung einer Atmosphäre erforderlich. Liegt die Masse eines planetarischen Himmelskörpers unter einem bestimmten Schwellenwert, dann kann eine Atmosphäre zwar Entstehen, aber infolge der geringen Gravitation nicht gebunden werden. Sie entflieht in den Raum hinaus. Atlan betrachtete dieses Naturgesetz auch hier als gültig, obwohl im Bereich des Planetenwalls absonderliche, nicht-natürliche Bedingungen herrschten. Es gelang ihm, weite Abschnitte in der Wand des Walls zu identifizieren, die nach bestem Ermessen frei von organischem Leben waren. Demgegenüber gab es andere Sektoren, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit besiedelte Planeten enthielten. So entstand eine »Landkarte« der Walloberfläche: Leblose Bereiche hier, nachgewiesenermaßen oder potentiell bewohnte Welten dort. Es war vorläufig nur ein akademisches Unterfangen. Atlan ahnte nicht, wie bald ihm die gesammelten Daten zustatten kommen sollten.
* Es war ein riesiges Gebilde – und so eigenartig, daß einem
unwillkürlich eine Gänsehaut auf den Rücken stieg. Ein mächtiger Tafelberg, der sich mitten aus der wüsten, von Geröll bedeckten Ebene erhob und mehr als achthundert Meter weit in die Höhe ragte. Ein Berg nicht aus Erdreich und Felsen, sondern aus Pflanzen. Bleich, mit großen Blättern, die vor Feuchtigkeit schimmerten, ineinander verwachsen wie das Dickicht eines tropischen Dschungels, wuchsen sie vor den beiden Shifts auf. Bjo Breiskoll schätzte die Breite des Tafelbergs auf zwei Kilometer. Falls er kreisförmig war, was sich angesichts der unsicheren Beleuchtung zwar vermuten, aber nicht mit Sicherheit feststellen ließ, bedeckte er eine Fläche von mehr als drei Quadratkilometern. »Das ist der Sitz des Rates der Erinnerung?« fragte Bjo, nachdem Druska ihn aufgefordert hatte, zu landen und anzuhalten. »Er ist es«, bestätigte die Thalin. »Was geschieht jetzt?« »Ich spreche zum Rat von eurem Angebot«, sagte Druska. »Der Rat entscheidet, ob er euch anhören will oder nicht.« Bjo deutete durch die Glassitkanzel hinaus auf das wuchernde Pflanzengebilde. »Du gehst dort hinein?« fragte er verwundert. »Ja. Dort hinein gehe ich.« »Wie lange wird es dauern, bis der Rat seine Entscheidung getroffen hat?« »Das weiß allein der Rat.« Bjo schien es an der Zeit, die Rolle des allzeit Geduldigen und Verständnisvollen über Bord zu werfen. »Höre, Druska«, sagte er voller Ernst. »Ich habe den Thali angeboten, sie von diesem Planeten der Finsternis zu einer Welt des Friedens und der Sonne zu führen. Meine Begleiter und ich befinden sich in Gefahr, solange wir uns auf Thalia aufhalten; denn der Silberne Feind ist nicht nur der eure, er ist auch der unsere. Der Rat mag über unser Angebot nachdenken; aber wenn er dazu länger als die Zeit braucht, die wir fünf Stunden nennen, dann ziehe ich mich
zurück, und unser Raumschiff verläßt euren Planeten. Sag das dem Rat!« Sie musterte ihn mit ausdrucklosem Blick. »Ich werde es dem Rat sagen«, antwortete sie, und mehr denn je zuvor machte sie auf ihn den Eindruck eines Automaten. Er öffnete die Schleuse und sah ihr nach, als sie auf das Gewirr der Pflanzen zuschritt. Die Pflanzen schienen ihre Annäherung zu bemerken; denn kurz bevor Druska sie erreichte, gerieten sie in Bewegung, und zwar entlang einer Fläche von bedeutender Ausdehnung. Mehrere Sekunden lang herrschte unter den blassen Flechten und Blättern ein derart verwirrender Tumult, daß Bjo die Übersicht verlor. Als sich die Lage klärte, war Druska verschwunden. An Bord der PARSIS hatte man die kurze Unterhaltung über Radiokom mitgehört. »Was jetzt?« fragte Maginot. »Wir stellen unsere Wecker auf T plus fünf Stunden«, antwortete Bjo. »Wenn sie klingeln und der Rat sich bis dahin noch nicht gemeldet hat, machen wir uns auf den Rückweg.« »Gut«, lobte die Hyperphysikerin. »Die Pause kommt mir gerade recht. Ich habe seit dreißig Stunden kein Auge mehr zugetan.« »Halte deine Roboter wach«, riet Bjo. »Niemand weiß, was HiddenX oder dem Rat der Erinnerung inzwischen einfallen mag.«
* Maginot machte es sich auf dem Lager bequem, das sie sich im Heck des Shifts eingerichtet hatte. Sie hatte damit gerechnet, daß sie einschlafen würde, sobald sie sich ausstreckte. Aber die menschliche Natur spielte ihr einen Streich. Maginot hatte, wie man so sagte, die Müdigkeit übergangen. Eine hellwache Phantasie beschäftigte sich mit all den erstaunlichen Dingen, die im Verlauf der vergangenen
Stunden geschehen waren, und machte keinerlei Anstalten, sich zur Ruhe zu begeben. Hinzu kam, daß Apram Nungess in dem großzügig ausgelegten Innenraum des Shifts auf und ab schritt und ein Selbstgespräch führte. Schließlich hielt es Maginot nicht länger aus. Sie stemmte sich auf dem rechten Ellbogen in die Höhe und knurrte: »Mensch, leg dich hin und halt Ruhe! Wer soll bei diesem ewigen Hin- und Hergelaufe einschlafen können.« Anstatt von der ärgerlichen Zurechtweisung beeindruckt zu sein, kam Apram herbei und kauerte sich vor Maginots provisorischem Lager zu Boden. »Was willst du?« fragte sie in gespielter Angst. »Mich belästigen?« »Maginot, hör mir zu«, bat Apram. »Ich muß dir etwas … erzählen.« Sein Tonfall war eindringlich. Kein Zweifel, er hatte etwas Dringendes auf dem Herzen. Mit mißbilligendem Brummen rückte Maginot näher. »Und ich dachte, es wäre endlich soweit«, sagte sie. »Wie lange, meinst du, kannst du dich meiner Anziehungskraft noch widersetzen?« Apram nahm auch davon keine Kenntnis. »Maginot«, begann er, »ich bin nicht das, was man einen Frauenhelden nennt. Wer mich kennt, nennt mich schüchtern oder verklemmt, je nach Weltanschauung. Aber es gab einmal eine Zeit, in der ich nur an einem interessiert war: die Frau zu besitzen, die mein Herz in Flammen gesetzt hatte.« »Schön drückst du das aus, mein Junge«, nickte Maginot mürrisch. »Hört sich an wie aus einer drittklassigen Erotik-Story.« »Du verstehst nicht«, fuhr Apram fort, noch immer unbeirrt. »Die Frau, die ich verehre, machte sich nichts aus mir. Mein Traum blieb … unerfüllt, nennt man das, glaube ich.« Maginot gähnte. »Mein Freund, wenn du mir die Geschichte deiner verlorenen
Liebe erzählen willst, hast du dir die falsche Zeit ausgesucht.« »Nein, warte!« drängte Apram. »Ich bin noch nicht fertig. Ich glaube, ich blieb deswegen einsam, weil ich das Mädchen nie vergessen konnte. Ich trug ihr Bild mit mir herum, und … und …« Maginot war plötzlich hellhörig geworden. »Wie hieß sie?« wollte sie wissen. Apram antwortete nicht sofort. Es fiel ihm schwer, den Namen über die Lippen zu bringen. »Druska«, sagte er schließlich. »Aha«, machte Maginot. »Und sie sieht genauso aus wie die … wie die …« »Wie die Thalin«, bestätigte ihr Apram. Er machte ein Gesicht, als habe er soeben die schwerste Sünde seines Lebens eingestanden. Maginot mustere ihn lange und nachdenklich. »So also sieht dein Traumbild aus?« fragte sie schließlich. Apram war verwirrt. »Ja, aber das spielt doch jetzt keine Rolle«, stieß er hervor. »Ich meine, wir müssen Bjo … er sollte wissen … das ist doch …« Maginot winkte ab. »Reg dich nicht auf«, sagte sie. »Wir wissen, daß die Thali sich unsere Erinnerungen aneignen können. Sie müssen in deinen Gedächtnisspeicher gestiegen sein, kurz bevor Druska materialisierte.« Sie sah ein wenig betroffen auf und fügte hastig hinzu: »Ich meine die Druska, mit der wir es im Augenblick zu tun haben. Bjo, selbst wenn er nicht schliefe, berichteten wir damit nichts Neues. Die neue Druska hat sich Aussehen und Namen von der alten abgeschaut. Was wäre daran so erstaunlich?« Apram, in Gedanken verloren, erhob sich. »So einfach siehst du das also«, murmelte er. Er ging ein paar Schritte und starrte an den reglosen Gestalten der Roboter vorbei in das Halbdunkel hinaus. »Heißt das, ich habe bei dir überhaupt keine Chancen?« rief Maginot hinter ihm her.
Als sie keine Antwort bekam, rollte sie auf die andere Seite und war wenige Sekunden später eingeschlafen. Zwei Stunden später tauchte Druska wieder auf. Der Vorgang war ebenso gespenstisch wie ihr Verschwinden. Auf einer Fläche von mehreren hundert Quadratmetern geriet der Pflanzenvorhang ins Wallen, und während das verwirrte Auge dem hektischen Schlingern, Zucken und Peitschen der blassen Stränge und Blätter zu folgen versuchte, war Druska plötzlich da. Es gab kein anderes Wort dafür. Sie kam nicht durch eine Öffnung zum Vorschein, sie trat nicht aus dem Innern des Pflanzengewirrs, sie war einfach da. Sanny hatte die Szene keine Sekunde lang aus dem Auge gelassen. Während Druska auf den Shift zuschritt, wandte sie sich an Bjo. »Ich glaube, ich weiß jetzt, mit welchen besonderen Kräften und Fähigkeiten die Natur die Thali ausgestattet hat«, sagte sie. Bjo nickte, ohne den Blick von Druska zu wenden. Er hatte Zeit zum Nachdenken gehabt. Es gab soviel Geheimnisvolles an der schönen Thalin, daß der Verstand sich genötigt sah, an Wunder zu glauben – wenn, ja, wenn er nicht willens war, eine in jedem Sinn des Wortes sensationelle Möglichkeit in Rechnung zu stellen. Die Möglichkeit nämlich, daß die Natur den Thali die Gabe verliehen hatte, sich rasch wechselnden Umwelten ohne die Zuhilfenahme langwieriger biologischer Prozesse anzupassen. Damit ließ sich alles erklären. Jetzt hatte auch Sanny es erkannt. Bjo war überzeugt, daß die Lösung des Rätsels, warum Druska wie eine Solanerin aussah und sich Druska nannte, entweder bei Maginot oder bei Apram zu finden sei. Wenn sich die Gelegenheit ergab, würde er sie danach fragen. Druska betrat die Schleuse. »Ihr sollt kommen, sagt der Rat der Erinnerung.« »Wer wir?« »Du und deine beiden Begleiter – der Bär und die Kleine mit den großen Augen.« Bjo deutete auf das dichte Gewirr der Pflanzen.
»Komme ich dort mit meinem Fahrzeug hindurch?« fragte er. »Nicht mit dem Fahrzeug«, belehrte ihn Druska. »Zu Fuß.« Bjo wollte widersprechen; aber er wußte, daß er Druska nicht beeinflussen konnte. Sie hatte keine Entscheidungsgewalt. Was für ein Risiko ging er ein, wenn er sich ins Innere des Pflanzenbergs wagte? Er war bewaffnet. Außerdem hatte er die PARSIS mit Maginot und Apram in Reserve. Es gab keinen Hinweis, daß der Rat der Erinnerung sich ihm gegenüber feindselig verhalten werde. Immerhin kam er, um den Thali die Rettung aus der Einöde ihrer Dunkelwelt anzubieten. Er war seiner Sache nicht sicher. Unter normalen Umständen hätte er Druskas Ansinnen wahrscheinlich abgelehnt. Aber er stand so dicht vor der Lösung eines atemberaubenden Rätsels, daß er einfach nicht mehr zurück konnte. Risiko oder nicht – er würde sich anhören, was der Rat ihm zu sagen hatte. Er rief die PARSIS an. Apram meldete sich. Bjo trug ihm auf, Maginot zu wecken. »Warum, zum Teufel, kann man nicht wenigstens drei Stunden ungestört schlafen?« grollte die Hyperphysikerin. Bjo erklärte ihr die Lage. Er schloß mit den Worten – und störte sich nicht daran, daß Druska unmittelbar neben ihm stand und alles mithörte: »Wir bleiben in ständiger Verbindung. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr stoßt ihr vor. Mit unseren Waffen können wir uns eine Zeitlang halten – lange genug, bis ihr zur Stelle seid und uns an Bord nehmt.« »Klar«, sagte Maginot. »Übrigens, bevor ihr geht – ich hatte vorhin eine längere Unterhaltung mit Apram. Er weiß etwas über Druska.« Bjo lächelte. »Sie ist ein Bild und ein Name in seiner Erinnerung, nicht wahr?« »Du hast es dir also schon zusammengereimt«, reagierte Maginot verblüfft. »Ich habe zwei Stunden lang nachgedacht«, sagte Bjo. »Dabei kommt einem vieles in den Sinn, was man zuvor übersehen hat.«
Sie kletterten hinaus ins Freie. Druska führte sie auf den Pflanzenvorhang zu. Als sie sich ihm bis auf ein Dutzend Meter genähert hatten, entstand im Dickicht der blassen Ranken eine übermannsgroße Öffnung. Druska tat ein paar Schritte zur Seite und blieb stehen. »Tretet ein«, sagte sie. Bjo ging weiter. Als er sich kurze Zeit später umdrehte, war die Thalin verschwunden. Er hatte es nicht anders erwartet. Er schritt durch die Öffnung. Sie bildete einen Tunnel von mehreren Metern Länge. Am anderen Ende des Tunnels wurde es hell – heller als er es je auf dieser Welt des ewigen Halbdunkels erlebt hatte. Das Licht war isotrop. Es kam aus allen Richtungen. Es war, als hätte das Gewirr der Pflanzen über Stunden hinweg die Helligkeit der silbernen Wolke in sich aufgesogen und gebe sie jetzt in konzentrierter Form wieder von sich. Bjo trat aus der Tunnelmündung. Seitdem er das Wesen der Thali durchschaut hatte, war er sicher gewesen, daß keine größeren Überraschungen ihn mehr erwarteten. Aber als er jetzt in den riesigen, zwei Kilometer weiten, hell erleuchteten Hohlraum hineinblickte, geriet sein Puls ins Stocken. Mehrere Sekunden lang stand er reglos, überwältigt von maßlosem Staunen.
* Es waren ihrer zwölf: lange, schlanke, schnittige Giganten, die fast bis zur achthundert Meter hohen Decke des Hohlraums hinaufragten. Blankes Metall schimmerte in Goldglanz. Mächtige Schleusenschotte unterbrachen die glatten Hüllen. Dreiecksfinnen waren für das Manövrieren innerhalb planetarischer Atmosphären gedacht. Mehr als fünfzig Meter durchmaß jeder der Giganten am Heck, und zum Bug hin verjüngten sich die Rümpfe und nahmen die Form von Geschossen an. Ingenieurtechnisch gesehen, kein
effizienter Entwurf – aber ungeheuer beeindruckend in seiner einfachen, klassischen Eleganz. Sanny war Bjo auf den Arm gesprungen. Argan U hielt sich dicht an seiner Seite, als suche er in seinem Schatten Schutz. Von irgendwoher kam plötzlich eine mächtige Stimme. Sie war isotrop wie das Licht. Ein hallender Stereoeffekt ließ es erscheinen, als entstünde sie mitten in der Luft zwischen den zwölf Raumschiffen. »Fremder, du bist gekommen, um uns Rettung anzubieten«, sagte die Stimme. »Sag uns, wo wir Rettung finden können in diesem Universum, in dem es keine sonnenbeschienenen Planeten mehr gibt.« Bjo horchte. Auch jetzt empfand er keinerlei Regung eines intelligenten Bewußtseins. Vor ein paar Stunden hätte die Abwesenheit mentaler Signale ihn um ein Haar zu der Überzeugung gebracht, daß es sich bei den Thali um Roboter handeln müsse. Inzwischen wußte er es besser. Ihre Bewußtseine waren von so fremdartigem Aufbau, daß sie den Sensoren humanoider Telepathie verschlossen blieben. Der Telepath kann nur mit solchen Geistkomplexen korrespondieren, deren logische und physiologische Struktur dem seinen wenigstens annähernd ähnlich ist. Das, was er über sich sah – das endlose Gewirr und Gewimmel blasser Ranken und fleischiger, feuchter Blätter: Das waren die Thali, Gemeinschaftsintelligenz oder intelligente Gemeinschaft. Sie kannten die Worte seiner Sprache, weil sie sie von Druska gelernt hatten. Druska aber war in diesem Augenblick weiter nichts als eine unter Millionen von Ranken, ein Dutzend unter einem Dutzend Millionen fleischiger Blätter. »Der Silberne Feind hat die Planeten dieses Universums geraubt«, antwortete Bjo mit fester Stimme, »und für seine Zwecke mißbraucht. Aber es gibt außer diesem Universum andere, auf die sich seine Macht erstreckt. Wir kennen den Weg dorthin, und diesen Weg wollen wir euch weisen.«
»Was verlangt ihr dafür?« Bjo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Fremdartig mochten sie sein, aber den Grundsatz, daß eine gute Tat der anderen wert ist, kannten auch sie. »Der Silberne Feind ist der Gegner alles intelligenten Lebens«, sagte er. »Wir sind gekommen, um seine Macht zu brechen. Ihr wißt mehr über ihn als wir. Wir begehren euer Wissen.« Das war der entscheidende Punkt. Bjo horchte hinter dem Echo seiner Worte her. Wie würden sie sein Angebot aufnehmen? Hatte er sich zu weit vorgewagt? War ihre Mentalität so fremd, daß sie seine Überlegung nicht nach vollziehen konnten: Gemeinsame Feinde machen Freunde? Es lag etwas in der Luft. Ihre Antwort ließ zu lange auf sich warten. Er spürte einen fremden Einfluß, und als er erkannte, woher er kam, lief es ihm kalt über den Rücken. Gefahr, signalisierte der Instinkt. Er riß den Arm in die Höhe und sprach in das Mikrophon des Minikoms: »Maginot, wir stecken in der Klemme. Ich versuche …« Weiter kam er nicht. Es rauschte und raschelte hinter ihm. Der Tunnel hatte sich geschlossen. Über sich hörte er ein Geräusch, als risse eine der Pflanzenranken entzwei. Er sah auf und erblickte Druska, die sich aus dem dschungelartigen Dickicht löste. Sie sprang herab und landete unmittelbar neben ihm. Um diese Zeit hatte Bjo die Waffe längst in der Hand. Er war bereit, sie zu gebrauchen; aber auf Druskas beschwörende Geste hin ließ er den Lauf sinken. »Der Silberne Feind!« stieß die Thalin hervor, und zum erstenmal merkte man ihrer Stimme so etwas wie Erregung an. »Er hat mein Volk in seinen Bann gezwungen.«
8.
Seit dem Aufbruch der ULTRAHEXE waren zwanzig Stunden vergangen, als an Bord der GIRGELTJOFF die Alarmpfeifen zu schrillen begannen. In der Kommandozentrale wies der Kontrollcomputer mit monotoner Stimme darauf hin, daß die Orter eine Reihe mysteriöser Bewegungen über den als besiedelt erkannten Planeten entdeckt hätten. Atlan, durch den erbarmungslosen Lärm der Alarmgeräte aus wohlverdientem Schlummer aufgescheucht, eilte aus seiner provisorischen Kabine in die Zentrale und entdeckte auf dem Orterbild eines wahllos herausgegriffenen Planeten eine Schar heller Reflexe, die sich von der Oberfläche des Himmelskörpers entfernte. »Eine Übersicht, bitte«, forderte er den Kontrollcomputer auf. »Während der vergangenen fünfzehn Minuten«, antwortete das Gerät bereitwillig, »sind von den Oberflächen von insgesamt achtundfünfzig Planeten Schwärme von Fahrzeugen aufgestiegen und in den interstellaren Raum vorgestoßen.« »Wie interpretierst du das Phänomen?« wollte der Arkonide wissen. »Es scheint, daß die Restzivilisationen, die gewisse Welten des Planetenwalls bewohnen, eine Gefahr für ihr Dasein erkannt haben und dieser Gefahr durch schleunige Flucht entgehen wollen.« »Wenn ihnen Raumfahrzeuge zur Verfügung stehen, warum haben sie die Misere ihrer dunklen Welten nicht schon längst im Stich gelassen?« rief Atlan voller Erregung. »Diese Frage kann nur durch Spekulation beantwortet werden«, rügte ihn der Computer. »Ich bin nicht befugt zu spekulieren.« Atlan zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Was hätte er dafür gegeben, Sanny um sich zu haben! Wenn irgend jemand sich ein Bild davon machen konnte, was dort draußen vorging, dann nur die kleine Paramathematikerin mit ihrer nahezu magischen Begabung, Berechnungen anzustellen und verborgene Zusammenhänge zu erkennen. »Es darf nicht übersehen werden, daß Hidden-X hier womöglich
die Hand im Spiel hat«, sagte eine schrille, blecherne Stimme hinter ihm. Atlan wandte sich unwillig um. Das letzte, was er jetzt brauchte, war ein Streitgespräch mit dem ständig aufsässigen Roboter Blödel. Aber das ofenrohrförmige Gebilde mit den ein- und ausfahrbaren Tentakelarmen und den zahllosen Schubfächern im metallenen Leib, das Hage Nockemann ursprünglich zu seiner privaten Belustigung gebaut und mit einem erheblichen Maß Intelligenz ausgestattet hatte, wirkte im Augenblick durchaus ernst und schien nicht daran interessiert, seinen verschrobenen Sinn für Humor an einem unschuldigen Mitglied der Besatzung auszulassen. »Wie meinst du das?« fragte er. »Ich nehme an«, erklärte Blödel, »daß Hidden-X die Möglichkeit hat, mentalen Einfluß auf die Planetenvölker zu nehmen. Er hat ihnen entweder den Auftrag gegeben, ihre Welten zu verlassen – oder er hat seinen Einfluß plötzlich zurückgezogen, woraufhin die Planetenbewohner erkannten, daß sich ihnen jetzt endlich eine Möglichkeit böte, ihrem Gefängnis den Rücken zu kehren.« Die Hypothese klang nicht abwegig; besonders ihr erster Teil hatte etwas für sich. Wenn Hidden-X seinen Reservehilfsvölkern in der Tat befohlen hatte, ihre Planeten zu verlassen, dann hatte es besondere Absichten, die sich auf den Planetenwall bezogen und womöglich auf eine Änderung der Wallstruktur abzielten, die den Planetenbewohnern hätte gefährlich werden können. In diesem Fall würde man nicht lange zu warten brauchen, bis die ersten Auswirkungen des Vorhabens sichtbar wurden. Mit mattem Knall öffnete sich an Blödels Leib eine der Laden, die zur Unterbringung verschiedener wissenschaftlicher Geräte und Werkzeuge gedacht waren. In der Lade ruhte ein kugelrundes, blauschwarzes Pelzbündel von acht Zentimetern Durchmesser. Es machte eine halbe Seitwärtsdrehung, so daß ein Teil der Körperunterseite mit einer erstaunlich kräftig ausgebildeten Eß- und Sprechöffnung zum Vorschein kam, und verkündete mit
meckernder Stimme: »Jetzt habe ich mir diesen Quatsch lange genug angehört. Die dritte Möglichkeit überseht ihr natürlich völlig.« Das war Wuschel, der Bakwer, den sich Blödel beim letzten Einsatz im Innern des Fleko-Yn angeeignet hatte. Wuschel hatte beizeiten unter Beweis gestellt, daß ein gerüttelt Maß an Intelligenz in ihm wohnte. Blödel betreute ihn, lehrte ihn Interkosmo und bot ihm vor allen Dingen eine Unterkunft – in einer Lade, die bis dahin einem hypersensitiven Ionen-Indikator als Heimstatt gedient hatte. Infolge der engen Verbindung mit Blödel hatte Wuschel dessen Gewohnheiten übernommen, was sich am penetrantesten in seiner respektlosen Redeweise äußerte. »Welche dritte Möglichkeit?« fragte Atlan verblüfft. »Wir wissen alle, daß Bjo Breiskoll – kurz bevor wir in den Linearraum tauchten – eine mentale Botschaft von Unbekannten empfing.« Das war übertrieben. Alle wußten es nicht. Bjo hatte Atlan über den undeutlichen telepathischen Kontakt in Kenntnis gesetzt. Während des Gesprächs waren Hage Nockemann und Blödel zufällig in der Nähe gewesen. Auf diese Weise hatte Wuschel davon erfahren. »Also gut«, nickte Atlan. »Was hat das mit unserer Beobachtung zu tun?« »Ganz einfach. Der Unbekannte, eine dritte Macht, hat den Planetenbewohnern den Auftrag gegeben, ihre Welten zu verlassen.« Atlan winkte ab. »Das ist mir zu vage«, sagte er. »Auf solche Spekulationen kann ich mich nicht einlassen.« »Dann bleib eben bei deiner Sturheit«, keifte Wuschel und verschwand, indem er die Lade zuknallte. Atlan wandte sich an den diensthabenden Ingenieur. »Was tut sich auf Thalia?« wollte er wissen. »Starten dort auch Schiffe?«
»Auf Thalia ist alles ruhig«, wurde ihm geantwortet.
* »Du schmähst den Mächtigen!« donnerte die Stimme. »Du bist sein Feind. Alle Bewohner dieser Welt erheben sich, um dich und deinesgleichen zu vernichten …« Die Wand der Pflanzen war in Bewegung geraten. Bjo Breiskoll trat nach vorne, um den peitschenden Ranken zu entgehen. »Maginot, kommen!« schrie er über das Dröhnen der fremden Stimme hinweg in den Mikrokom. »Schon unterwegs«, antwortete Maginot mit unerschütterlicher Ruhe. »Ihr müßt umkehren«, bedrängte sie Bjo. »Zurück zur ULTRAHEXE, auf dem schnellsten Weg. Die Thali stehen unter dem Einfluß von Hidden-X. Sie betrachten uns als Feinde und wollen alles vernichten, was mit uns zusammenhängt. Unser Schiff ist in Gefahr.« »Und du?« konterte Maginot. »Wir können uns hier heraushauen«, rief Bjo. »Nimm auf uns keine Rücksicht.« Maginot war nicht so leicht zu überzeugen. »Ich kann diesen Pflanzenberg in Grund und Boden fahren«, grollte sie. »Warum sollte ich …« »Maginot – funktionieren deine drei Roboter noch?« fiel Bjo ihr ins Wort. Er fühlte sich an der Hand gefaßt. Druska führte ihn seitwärts, den Blick ständig auf die unruhig hin- und herwogende Wand der bleichen Pflanzen gerichtet. Sanny hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen, und Argan U hielt sich an den Hosenbeinen seiner Montur fest, um den Kontakt nicht zu verlieren. »Bei allen dreizehn Teufeln – nein!« schrie Maginot aufgebracht.
»Sie sind so tot wie die beiden Maschinen, die uns im Kolosseum im Stich ließen.« »Der Einfluß der Thali«, belehrte sie Bjo. »Sie verstehen es, positronische Geräte außer Betrieb zu setzen. Wie lange, meinst du, wird dein Autopilot noch funktionieren?« »Und was wird aus euch?« schrie Maginot verzweifelt. »Ich sagte dir schon: Wir können uns hier heraushauen.« Er musterte die Hand, die die seine umfangen hielt. »Wir haben Hilfe. Druska steht uns zur Seite. Hau ab, Maginot. Zurück zur ULTRAHEXE. Fort von Thalia. Berichtet Atlan, was wir hier erlebt haben.« »Ich weiß nicht …«, zögerte Maginot. »Verdammt nochmal: Das ist ein Befehl!« »Okay«, sagte Maginot. »Wenn du es nicht anders willst.« Ihre Stimme klang resigniert. Eine halbe Sekunde später war die Verbindung unterbrochen. »Tod über euch!« donnerte die Stimme der Pflanzenintelligenz. »Ihr seid die Feinde des Mächtigen.« Argan U hielt die Lampe in der Hand. Er hatte sie eingeschaltet und ließ den Lichtkegel über den dichten Pflanzenvorhang streichen. Die Wirkung war mäßig. Hier, im Innern des Hohlraums, waren die Pflanzenwesen an ständige Helligkeit gewöhnt. Das grelle Licht der Lampe beeindruckte sie nicht. »Wir müssen uns den Weg freischießen«, keuchte Bjo und legte an. Druska riß ihm den Arm beiseite. »Nicht hier«, beschwor sie ihn. »Ich weiß einen besseren Weg.« Er hatte keinen Grund, ihr zu vertrauen. Vor einer halben Stunde noch war sie ein Automat gewesen, ein vorübergehend aus dem Pflanzenreich entlassener Vertreter ihres Volkes ohne eigene Entscheidungsfähigkeit. Aber plötzlich hatte sie sich geändert. Sie zeigte Emotion. Sie war aufgeregt. Sie bemühte sich, die, die mit einemmal Anlaß hatten, sich als ihre Freunde zu betrachten, vor dem von Hidden-X angefachten Wüten ihres Volkes zu bewahren.
Noch vor Minuten, dachte Bjo bitter, war es der Silberne Feind gewesen; jetzt nannte man es den Mächtigen. Die Unbekannten hatten recht gehabt. Die Gefahr drohte nicht von den Thali. Sie ging von Hidden-X aus. Es beherrschte das Bewußtsein der Planetenbewohner, und zu welchem anderen Zweck sollte es die daraus abgeleitete Macht benützen als dazu, seine erbittertsten Gegner, die Solaner, zu vernichten? Druska zog und zerrte. Argan U verlor den Halt an Bjos Hosenbein, stolperte und hatte Mühe, wieder aufzuschließen. Überall ringsum war die Masse der bleichen Pflanzen in wallender Bewegung. Mitunter, wenn Bjo in die Höhe blickte, sah er blasse Formen, die wie ungeschlachte Baumstrünke wirkten, sich aus dem Dach des Dschungels lösen und auf die metallenen Hüllen der Raumschiffe herabklatschten. Hier und da entstanden breite Lücken in der Abdeckung des Hohlraums, durch die der Himmel sichtbar wurde – trotz seines silbernen Schimmers finster wirkend in der Helligkeit der Höhle. »Hier«, keuchte Druska. »Versucht es hier!« Der Pflanzenvorhang schien sich teilen zu wollen. Bjo ging der verrückte Gedanke durch den Sinn, daß an dieser Stelle ein paar Thali-Individuen vereinigt seien, die sich zusammen mit Druska gegen Hidden-X' Einfluß stemmten. Aber ihre Kraft reichte nicht aus. Die Öffnung, die sie bilden wollten, kam nicht zustande. Statt dessen schossen aus anderen Teilen des dschungelähnlichen Gewirrs Gebilde herab, die auf den ersten Blick wie Schlangen wirkten. Bjo dachte an das blasse, formlose Geschöpf, das Apram Nungess in der Ruine des Kolosseums angegriffen hatte. Genauso sahen diese Kreaturen aus. Sie waren aus Pflanzensubstanz entstanden – ein weiterer Beweis der unglaublichen, allomorphischen Fähigkeit, die die Natur den Thali verliehen hatte. Bjos Blaster entlud sich mit knallendem Fauchen. Zwei blasse Schlangen verwandelten sich in flammende Fackeln, die zu knisternden Stücken schwarzen Zunders erstarrten, auf deren
Oberfläche sich häßlich zischende Blasen bildeten. Der fauchende Strahl der Waffe wanderte seitwärts, erfaßte den bleichen Pflanzenvorhang. Flammen waberten auf. Druska schrie voller Verzweiflung. Eine Öffnung bildete sich in dem dschungeldichten Gewirr. Bjo schoß hinein, Sanny auf der Schulter, Argan Us verzweifelten Griff am rechten Bein seiner Montur. Bjos Blaster brannte einen glühenden Stollen durch den Wall der Pflanzen. Hinter ihm kam Druska. Sie schrie Worte einer fremden Sprache – jener Sprache, deren sich die Thali bedient hatten, bevor die gnädige Natur sie in Allomorphe verwandelte? Kreischende, schrille Geräusche folgten den Flüchtenden auf den Fersen. Der riesige Pflanzenkäfig begann sich aufzulösen. Aus den Ranken und Blättern wurden individuelle Gebilde unterschiedlicher Form. Die Mehrzahl strebte in Richtung der zwölf Raumschiffe. Aber einige Dutzend kamen hinter den Fliehenden her und gaben sich alle Mühe, den Willen des »Mächtigen« zu vollziehen. Kühle, feuchte Luft schlug Bjo ins Gesicht. Sie hatten den Pflanzenwall durchdrungen. Die Umwelt wirkte finster nach all der Helligkeit, dieff sich im Innern der Höhle über sie ergossen hatte. »Sanny – du voran!« keuchte er. »Zusammen mit Argan U. Findet den Shift. Ich halte euch den Rücken frei!« Es war keine Zeit zum Diskutieren. Er spürte, wie Sanny ihm von der Schulter sprang, und fühlte den Griff an seinem Hosenbein sich lockern. Er fuhr herum. Druska kam auf ihn zu, verfolgt von einer Horde unwirklicher Geschöpfe. Er feuerte. Glut waberte auf. Plötzlich hing ihm Druska am Arm. »Nicht«, flehte sie. »Nicht mehr! Sie haben es nicht auf dich …« Weiter kam sie nicht. Zwei der unbeschreiblichen Geschöpfe, die Bjos Feuerhagel entgangen waren, stürzten sich auf sie. Es entstand ein Gerangel, in dem sich Einzelheiten nicht mehr erkennen ließen. Bjo stand keine Zehntelsekunde lang still. Er hüpfte von einem Ort zum andern, ständig auf der Suche nach einem Ziel, an dem er einen sicheren Schuß anbringen konnte, ohne Druska zu gefährden. Er sah
sie nicht mehr. Sie war inmitten des blassen Zuckens und sich Windens verschwunden. Der Aufruhr legte sich. Aus den zwei bleichen Würmern war ein einziger geworden. Bjo stand bereit. Bevor sie ihn zu fassen bekamen, würde er die ganze Brut vernichten. Aber der Wurm kümmerte sich nicht um ihn. Er kroch dahin zurück, woher er gekommen war, und Bjo, der die ganze Zeit über nicht auf seine weitere Umgebung geachtet hatte, sah voller Staunen, daß sich der riesige Pflanzenberg inzwischen aufgelöst hatte. Er erblickte Hunderte, Tausende blasser Gestalten, die sich auf die zwölf schlanken Raumschiffe zubewegten. Exodus, fuhr es ihm durch den Sinn. Sie ziehen ab! Er warf einen Blick auf den Ort, an dem vor wenigen Sekunden noch Druska mit den beiden unbeschreiblichen Formen gerungen hatte. Das Grauen saß ihm noch im Nacken. Er war dankbar dafür, daß der Minikom sich meldete. »Wir haben die TALLATA gefunden«, sagte Sanny. »Aber sie rührt sich nicht vom Fleck.«
9. »Orterreflexe über Thalia«, meldete der diensthabende Ingenieur. Atlan sah auf. »Kontakt mit der ULTRAHEXE?« »Nein.« »Wieviel Reflexe?« »Zwölf. Auf abseitigem Kurs. Sie bewegen sich tangential zur Oberfläche des Planetenwalls in den interstellaren Raum hinaus.« »Wie viele von uns als besiedelt identifizierte Planeten haben inzwischen Raumschiffe gestartet?« »Sechzig von sechzig«, antwortete der Ingenieur. »Also alle«, murmelte Atlan. Es war mehr eine Bemerkung im
Selbstgespräch. Aber der Ingenieur hatte sie gehört. »Ja, alle«, bestätigte er. Sternfeuer näherte sich der Konsole des Arkoniden. Ein schmales Lächeln stand auf ihrem fein gegliederten Gesicht. Einen Augenblick lang überkam es Atlan wie eine Vision. Sternfeuer auf einer zivilisierten Welt. Sternfeuer auf der Erde. Mit ihrer Begabung, mit ihrer Einfühlsamkeit, mit ihrem Aussehen – mein Gott, sie hätte Wunder wirken können! Statt dessen war sie an diesen rachitischen Kreuzer gefesselt, der vor kurzem zum ersten Mal seit mehr als einhundert Jahren seine erste Generalüberholung erlebt hatte. Und wenn der Kreuzer an den Ausgangsort seiner Reise zurückkehrte, was wartete dann auf sie? Die SOL. Eine Gesellschaft von hunderttausend Unzufriedenen, die nicht wußten, wohin sie wollten. Oh, Sternfeuer! Würde es dir auf Terra wirklich gefallen? »Noch ist nicht alles verloren«, sagte sie sanft. Atlan war zu sehr in den Problemen des Augenblicks befangen, als daß er diese Bemerkung so hätte nehmen können, wie sie gemeint war. »Was heißt das?« fragte er schroffer als beabsichtigt. Sternfeuer neigte den Kopf zur Seite und sah ihn aus blauen Augen an. Das Lächeln wurde deutlicher. »Was soll es anderes heißen, als daß wir auch diese Kalamität hinter uns bringen werden?« Er antwortete nicht sofort. Ihre Worte bedurften des Nachdenkens. »Ja, aber wie?« sagte er schließlich. »Es tut sich etwas«, sagte Sternfeuer und wies mit lockerer Geste auf die Bildfläche des Orters. »Jedesmal, wenn eine Veränderung eintritt, bietet sich uns eine neue Gelegenheit, die Entwicklung zu beeinflussen.« Atlan nickte. »Ich wollte, ich hätte deinen Optimismus. Welche Gelegenheit siehst du?«
Als Sternfeuer nicht antwortete, sah er zu ihr auf. Überrascht bemerkte er den Wandel, der sich in ihrem Gesicht vollzogen hatte. Das Lächeln war geschwunden, der Blick in weite Ferne gerichtet. Angestrengte Konzentration spiegelte sich in den ernsten, angespannten Zügen. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, als müsse sie sich in der Dunkelheit zurechttasten. Atlan sprang auf und führte sie zu einem Sessel. »Was ist?« fragte er voller Sorge. »Kontakt«, hauchte Sternfeuer. »Ich habe Verbindung mit Bjo …«
* Es war nicht schwer, den Shift zu finden. Argan U gab ihm Blinksignale mit der Handlampe. Als er durch die kleine Schleuse kletterte, begegnete er Sannys fragendem Blick und verstand, ohne daß ein Wort gesagt wurde. »Ich weiß es nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Sie war plötzlich verschwunden. Tot oder mit ihren Artgenossen verschmolzen.« Er zuckte mit den Schultern. Weitaus schwieriger war, festzustellen, warum die TALLATA nicht funktionierte. Ihre Positronik war genau so tot wie die der beiden Roboter, die sie ins Kolosseum begleitet hatten. Zweifellos war die Ursache eine störende Einwirkung der Thali. Bjo war nicht sicher, daß der Schaden mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, repariert werden konnte. Es überlief ihn ein Schauder, wenn er daran dachte, daß die PARSIS hilf- und reglos neben ihnen stünde, wenn er nicht auf so grobe Weise darauf bestanden hätte, daß sie auf dem schnellsten Weg zur ULTRAHEXE zurückkehrte. Der Versuch, die PARSIS per Minikom zu erreichen, schlug fehl. Das war ein gutes Zeichen. Maginot und Apram befanden sich außerhalb der Reichweite des kleinen Armbandgeräts. Sie waren
gewarnt, daß überall auf Thalia die eingeborenen Intelligenzen unter Hidden-X' mentalem Bann standen und als feindselig betrachtet werden mußten. Sie würden die Warnung inzwischen an die ULTRAHEXE weitergegeben haben. Er brauchte sich keine Vorwürfe zu machen. Er hatte getan, was getan werden konnte. Seine Verantwortung konzentrierte sich jetzt auf Sanny und Argan U und natürlich auf ihn selbst. Sie waren keineswegs weniger gefährdet als die PARSIS und die ULTRAHEXE, im Gegenteil – auch wenn die Lage ringsum gegenwärtig ruhig wirkte. Der riesige Pflanzendom hatte sich aufgelöst. Die Thali hatten sich aus einem verfilzten Dschungel zu Zehntausenden von Einzelwesen verwandelt und waren an Bord ihrer zwölf Raumschiffe gegangen. Bjo konnte den Vorgang nicht anders deuten, als daß sie beabsichtigten, Thalia den Rücken zu kehren. Aber warum? Und was würde aus den zahllosen anderen Thali werden, die als Pflanzen oder sonstwie verkleidet auf der Oberfläche dieses Planeten lebten? Welch seltsames Schicksal! Wer hätte sich das darunter vorstellen können, als Druska von den besonderen Kräften und Fähigkeiten gesprochen hatte, die den Thali von einer barmherzigen Natur verliehen worden waren. Und doch steckte hinter allem eine strenge Logik. Das Volk der Thali hatte damals, als Hidden-X seinen Planeten raubte und ihm sozusagen die Sonne vom Himmel riß, zwei traumatische Entwicklungen zu verwinden. Die erste war das Verschwinden der Sonne selbst, die zweite das Auftauchen der silbern schimmernden Wolke, die die Temperatur- und Lichtverhältnisse stabilisierte. Wenn die Thali nicht eine hochentwickelte Zivilisation besessen hätten, wären sie ohne Zweifel dem ersten Ereignis restlos zum Opfer gefallen. So aber gelang es ihnen, die Weltraumkälte fürs erste abzuwehren und wenigstens einen Teil der Substanz ihrer Spezies zu retten. Aber welche Bedingungen mußten damals auf Thalia geherrscht haben! Unablässiger, fast stündlicher Wandel der Umwelt. Zerfall der
Vegetation. Sauerstoffmangel. Vorübergehendes Einfrieren der Weltmeere. Verlagerung der Planetenachse. Erdbeben. Vulkanismus. Anpassungsfähigkeit war die Forderung der Stunde! Nur der, der sich den mit rasender Geschwindigkeit ablaufenden, drastischen Veränderungen der Umwelt adaptieren konnte, hatte eine Chance zu überleben. Die Natur reagierte rasch, und sie reagierte gründlich. Durch einen drastischen Eingriff, wie er in der orthodoxen Genetik unbekannt ist, gab sie den Thali die Möglichkeit, zu überleben, indem sie ihnen die Fähigkeit verlieh, auf Umweltveränderungen binnen weniger Minuten zu reagieren. Niemand wußte, wie die Bewohner des Planeten Thalia in ihrer Urgestalt ausgesehen hatten – aber von diesem Augenblick an war die Urgestalt nur eine von vielen, die die Thali nach Belieben annehmen konnten. Die Pflanzen mit den fleischigen Blättern, die bleichen Würmer und Schlangen, die menschliche Gestalt Druskas – das alles waren Formen, die die Thali anzunehmen vermochten, vom Untergang gerettet durch die Gabe der totalen Allomorphie. So mußte es gewesen sein, schloß Bjo Breiskoll. Nur so ergab es einen Sinn. »Sieh doch!« sagte Sanny plötzlich. Ihr zierlicher Arm war auf die Gruppe der zwölf Raumschiffe gerichtet. Bjo hatte, während er seinen Gedanken nachhing, die Welt ringsum vergessen. Staunend sah er, indem er Sannys Wink folgte, daß die thalischen Raumgiganten vom Boden abgehoben hatten. Sie schienen in der feuchten Luft zu zittern, während ihre geräuschlosen Antigrav-Triebwerke sie in die Höhe schoben – zögernd zunächst, dann mit rasch zunehmender Geschwindigkeit, bis sie im milchigen, silbernen Halbdunkel zu blassen Schemen wurden und schließlich ganz verschwanden. »Ich frage mich, wohin sie wollen«, sagte Argan U. »Oder was sie dazu getrieben hat«, ergänzte Bjo, »die ungastliche Welt, auf der sie ungezählte Jahrtausende geduldig ertragen haben,
ausgerechnet in diesem Augenblick zu verlassen.« Er sah Sanny an, und die Molaatin schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, ich kann es nicht berechnen«, sagte sie. »Zu viele Einflüsse sind hier zur gleichen Zeit am Werk. Wer sich in diesem Durcheinander auskennen wollte, der müßte mehr als nur ein Paramathematiker sein.« Bjos Blick wurde durch ein buntes Flackern abgelenkt. »Die Kontrollen funktionieren wieder«, rief er erstaunt. »Kein Wunder«, bemerkte Sanny philosophisch. »Die Thali sind verschwunden, und mit ihnen ihr positronischer Bann.« Bjo schwang den Sessel herum und aktivierte den Hyperkom. Mindestens zehnmal strahlte er das vereinbarte Rufzeichen ab. Aber weder die PARSIS noch die ULTRAHEXE meldeten sich. »Das heißt«, sagte er nachdenklich, »sie haben sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können.« »Hoffentlich«, kommentierte Sanny. Bjo wandte sich an den Autopiloten. Auf seinen Zuruf hin erwachte das Triebwerk zu kraftvollem Leben. Die Schleuse schloß sich. »Wohin willst du?« fragte Sanny. »Ich will mir die Stelle ansehen«, antwortete Bjo, »an der bis vor kurzem der Rat der Erinnerung noch Hof hielt.« Es war nichts mehr übrig außer einer gewissen Unebenheit des Geröllfelds, die daher rührte, daß die blassen Pflanzen hier ihre Wurzeln in den Boden gesenkt hatten. Dort, wo die zwölf schlanken Raumschiffe gewesen waren, fand sich kein Abdruck in der Geröllfläche. Sie mußten die ganze Zeit über auf Prallfeldern geruht haben, so daß ihr Gewicht nicht zur Wirkung kam. Es war schwierig, sich zu orientieren. Früher hatte das Gewirr der Pflanzen den Weg gewiesen, jetzt war nur noch die von Geröll besäte Ebene übrig, die sich nach allen Seiten erstreckte, soweit das Auge reichte. Bjo versuchte, die Stelle zu finden, an der er sich mit dem Thermoblaster eine Lücke in den Pflanzenwall gebrannt hatte,
um dem von Hidden-X erzeugten Zorn der Thali zu entgehen. Plötzlich blieb er stehen. Sanny sah ihm über die Schulter und erblickte ein Stück silbernes Zeug, so groß wie eine menschliche Handfläche. An den Rändern entlang wirkte es zerfasert, als bestünde es tatsächlich aus Gewebe. Aber als Bjo sich bückte und es aufhob, hatte er das Gefühl, ein Stück Haut in der Hand zu haben. »Ob das von Druskas Gewand stammt?« fragte Sanny. »Wer weiß«, sagte Bjo und ließ das kleine Stück silbriger Substanz wieder fallen. »Sie trug nicht wirklich ein Gewand. Alles, was wir an ihr sahen, war aus dem Material ihres Körpers gefertigt.« Er richtete sich auf und schob mit der Kante des Stiefels ein wenig Erdreich auf das silberne Stück. Sanny verstand die Symbolik des Vorgangs. Druska, die Thalin, wurde beerdigt. Warum hatte sie sich der Solaner angenommen, als Hidden-X' mentaler Bann sich über die Bewußtseine ihrer Artgenossen senkte und sie nur noch Haß und Feindseligkeiten gegenüber denen empfinden ließ, die gekommen waren, um ihnen Hilfe anzubieten? Warum hatte sie Bjo, als er sich an der erstbesten Stelle einen Weg ins Freie schießen wollte, zur Seite geführt und ihm erklärt, sie wisse einen besseren Ausweg? Der Mensch, dachte Sanny, neigt zum Verallgemeinern. Wenn er eine Gemeinschaftsintelligenz wie die der Thali erblickt, gelangt er zu der Überzeugung, daß die individuellen Bewußtseine der Gemeinschaft alle auf der gleichen Wellenlänge schwingen. Es kommt ihm nicht in den Sinn, daß es innerhalb einer Gemeinschaftsintelligenz unterschiedliche Meinungen geben könne. Das widerspricht der Definition des Begriffs. Aber Druska hatte sich Hidden-X' hypnotischem Zwang entziehen können – und sie hatte gewußt, daß es im Gewirr der Pflanzen Artgenossen gab, die ähnlich wie sie empfanden. Woran lag es? Daß sie zu lange mit den Solanern zusammengewesen war und einen Teil ihrer Mentalität absorbiert hatte? Daß sie ihr Empfinden jenen Thali hatte mitteilen können, von denen sie erwartete, daß sie
freiwillig einen Weg nach draußen bahnen würden? Wer würde es je erfahren? Druska war nicht mehr, und ob die Solaner den Thali je wieder begegnen würden, ließ sich im Augenblick nicht ermessen. Bjo Breiskoll wandte sich ab und schritt in Richtung des Shifts. Sanny saß ihm, wie üblich, auf der Schulter. Argan U trottete vor ihm her. Der silberne Schimmer der Wolke lag über der Landschaft, und alles wirkte recht friedlich, wenn es auf dieser Welt auch noch Tausende von Thali geben mußte, die gemäß dem Auftrag, den Hidden-X ihnen erteilt hatte, keine dringendere Pflicht kannten, als die fremden Eindringlinge auf dem schnellsten Weg unschädlich zu machen. Bjo empfand deswegen wenig Sorge. Soweit der Blick ging, war die Geröllebene frei von organischem Bewuchs. Die Thali hatten einen weiten Anmarschweg, wenn sie sich mit den drei übriggebliebenen Solanern einlassen wollten, und die TALLATA war ihnen an Beweglichkeit weit überlegen. Es galt nur dafür zu sorgen, daß sie ihren positronischen Störeinfluß nicht mehr geltend machen konnten. Bjo schwang sich durch die Schleuse und ließ sich im Sessel des Piloten nieder. Was jetzt? ging es ihm durch den Sinn. Sie waren an die Oberfläche des Planeten gebunden. Atlan würde auf dem Umweg über die ULTRAHEXE von ihrem Schicksal erfahren und die nötigen Schritte unternehmen. Ihnen selbst blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Mitten im von der hektischsten Aktivität erfüllten Sektor des Kosmos waren sie von allem, was um sie herum vorging, hermetisch abgeschlossen. Er machte es sich in seinem Sessel bequem. Ein paar Stunden Schlaf, das wäre keine schlechte Idee. Er erinnerte sich nicht mehr genau, wann er das letzte Mal zur Ruhe gekommen war. Er schloß die Augen. Aber die Entspannung war ihm nicht gegönnt. Eine wispernde Stimme machte sich in seinem Bewußtsein bemerkbar, und diesmal war sie eindringlicher als je zuvor. »Die Welten des Planetenwalls sind von ihren Bewohnern
entblößt«, referierte Sternfeuer mit monotoner Stimme. »Jetzt bietet sich die Möglichkeit, dem Wall mit stärksten Mitteln zu Leibe zu rücken. Hinter dem Wall versteckt sich der Störfaktor unseres Universums. Wir wünschen, ihn zu beseitigen – aber der Wall steht uns im Wege. Ihr verfügt über die Macht. Schlagt ihr zu und macht den Anfang, damit wir das Werk beenden können.«
* Sternfeuer stockte. Sie saß eine Zeitlang still, dann kehrte ihr abwesender Blick in die Wirklichkeit zurück. Die Hände klammerten sich um die Armlehnen des Sessels. Sie zog sich in die Höhe. »Es besteht keine Verbindung mehr«, sagte sie. »Bjo schweigt.« »Wie ist seine Lage?« fragte Atlan. »Seine Gedanken waren frei von Sorge«, antwortete die Mutantin. »Er befürchtet wenig für sich und seine Begleiter. Es scheint, die ULTRAHEXE ist auf dem Weg hierher. Bjo, Sanny und Argan U sind die einzigen, die auf Thalia zurückblieben. Sein einziges Anliegen war, die Botschaft, die er von den Unbekannten erhielt, an uns zu übermitteln.« »Er hat keine Ahnung, wer sie sind?« »Keine«, verneinte Sternfeuer. »Sie sprechen mit wispernden Stimmen. Ihre telepathischen Kräfte reichen über große Entfernungen hinweg. Den ›Störfaktor des Universums‹ hält Bjo für identisch mit dem Flekto-Yn oder Hidden-X. Er selbst unterstützt die Absicht der Unbekannten. Er hat den Abflug der Thali selbst beobachtet und weiß, daß auch die anderen Welten von ihren Bewohnern zum größten Teil verlassen sind. Eine bessere Möglichkeit, den Wall zu zerschlagen, gibt es nach seiner Ansicht nicht.« »Dreht er sich damit nicht selbst den Hals um?« erkundigte sich
Hage Nockemann besorgt. »Keineswegs«, antwortete Atlan. »Wir sind aufgrund unserer beschränkten Feuerkraft ohnehin darauf angewiesen, uns mit der Beschießung gewisser Abschnitte des Planetenwalls zu begnügen. Wir werden uns auf die Bereiche konzentrieren, in denen es nur kleine, unbewohnte Welten ohne Atmosphäre gibt. Die entsprechenden Daten liegen uns vor.« Anweisungen ergingen an die FERNWEH, die STERNLOK und die OSERFAN. Jedem Schiff wurde ein bestimmter Zielbereich zugewiesen. Arkonbombenwerfer und Transformgeschütze wurden in gefechtsbereiten Zustand versetzt. Die entscheidende Offensive gegen den titanischen Planetenwall stand unmittelbar bevor. »Ortung!« meldete Uster Brick. »Unbekanntes Fahrzeug im Anflug aus Sichtung Thalia.« »Sprich es an«, forderte Atlan ihn auf. Noch bevor Uster reagieren konnte, begann der Empfänger des Hyperkoms zu plärren: »GIRGELTJOFF, hier ULTRAHEXE. Wir sind auf dem Rückweg von Thalia. Drei Besatzungsmitglieder sind uns abhanden gekommen …« Atlan lächelte, als er Maginot Mernbeks Stimme erkannte. »Wir wissen davon, Maginot«, antwortete er. »Schließt zu uns auf. Der Zauber beginnt in wenigen Minuten.«
10. Das All flammte. Gigantische Explosionen zerrissen Himmelskörper zu glutenden Gaswolken. Auf anderen schwelte der Brand der Arkonbomben. Der mächtige Planetenwall geriet in Unordnung. Die ULTRAHEXE war inzwischen längsseits gekommen. Atlan hatte einen detaillierten Bericht über die Vorgänge auf Thalia erhalten, aber das Schicksal der drei Zurückgebliebenen war
weiterhin unklar. Während die Stunden verstrichen, machte sich innerhalb des Prozesses, der den Planetenwall zu zerstören drohte, der Einfluß einer fremden ordnenden Macht bemerkbar. Die glühenden Bälle vom Atombrand erfaßter Planeten trieben aufeinander zu und schlossen sich zusammen. Gravitationsschockwellen brachten die Meßgeräte der GIRGELTJOFF zum Zittern, als aus vereinten Planetenmassen Himmelskörper entstanden, die groß genug waren, das nukleare Feuer in ihrem Innern aus eigener Kraft weiterbrennen zu lassen. Aus zweitausend, dreitausend Kleinplaneten wurden Sonnen, die das All mit ihrer Helligkeit erleuchteten. Aus den Resten des Walls lösten sich größere Himmelskörper, die die neu entstandenen Sonnen als Satelliten zu umkreisen begannen. Es war ganz so, als sei jemand dabei, aus den Überresten der Planetenbastion neue, lebenstragende Systeme zu formen – leuchtende Sonnen, die von biogenen Planeten umkreist wurden. Die Kräfte, die dabei zur Anwendung kamen, waren dieselben wie die, mit denen Hidden-X operierte, und den Solanern ebenso unverständlich wie jene. Aber der Prozeß, der sich hier vollzog, widersprach dem Charakter des Herrn der Nickelfestung. Aus destruktiver Ordnung entstand konstruktives Durcheinander; aus dem lebensfeindlichen Wall der Planeten entwickelten sich Sonnensysteme, die organisches Leben auf Jahrmillionen hinaus zu unterhalten vermochten. All das geschah mit einer Geschwindigkeit, die den Solanern den Atem verschlug. Nur eines war ihnen klar: Hier war nicht Hidden-X am Werk. Es konnten nur die Unbekannten sein, mit denen Bjo Breiskoll korrespondiert hatte. Warum aber rührte Hidden-X sich nicht, während sein Bollwerk Stück um Stück der Vernichtung – und der Wiedergeburt – anheimfiel? Hatte es nur auf den günstigsten Augenblick gewartet, seine Kräfte wirksam werden zu lassen. So schien es wenigstens, als der Chef der Ortung plötzlich meldete: »Der große Hohlspiegel des Flekto-Yns wird aktiv!«
Die Nickelfestung war, da der Planetenwall nur noch in Bruchstücken existierte, deutlich sichtbar. Das Orterbild zeigte einen scharfgebündelten Energiestrahl, der von dem 16.000 Kilometer großen zentralen Hohlspiegel ausging und die glühenden, brennenden Welten bestrich, die im Vorfeld des ehemaligen Planetenwalls umherirrten, weil der Einfluß der freundlichen Unbekannten sie noch nicht erfaßt hatte. Etwas Eigenartiges geschah. Die brennenden Welten, die der Energiestrahl des großen Hohlspiegels bestrich, lösten sich auf und wurden zu reiner Energie. Ein neuer Wall begann, rings um das Flekto-Yn zu entstehen. Er war enger als die Barriere, die die 500.000 Planeten gebildet hatten. Er leuchtete in den rot-grünen Farbtönen der Jenseitsenergie, mit der die Solaner in der Vergangenheit Erfahrung gesammelt hatten. Das Flekto-Yn verschwand aufs neue - hinter einer Wand aus Energie, von der Atlan wußte, daß sie selbst der leistungsstärksten seiner Waffen mühelos widerstehen würde. Das Unternehmen war beendet. Erfolge waren erzielt worden, aber im Endeffekt stellte sich heraus, daß Hidden-X' Festung unangreifbarer war als je zuvor. Atlans Einheiten konnten in diesem Raumsektor nichts mehr ausrichten. Es war Zeit, sich auf die Ausgangsbasis zurückzuziehen und eine neue Strategie zu planen. Sternfeuers Vorhersage, daß sich mit jeder Änderung der Lage neue Möglichkeiten zur Beeinflussung der Entwicklung ergäben, hatte sich nicht bewahrheitet. »Wo in diesem Durcheinander«, fragte Atlan grollend, bevor er den Befehl zum Aufbruch gab, »habe ich Thalia zu suchen?« Er bekam keine Antwort – weder von den mit der Beobachtung beauftragten Fachkräften, noch von dem Kontrollcomputer, dessen vorprogrammierte Aufgabe es war, sich nichts entgehen zu lassen. Thalia war verschwunden – und mit ihr Bjo Breiskoll, Sanny und Argan U. Niemand wußte, ob der Planet der Thali sich in rot-grüne Jenseitsenergie verwandelt hatte oder ob er mit zu den glücklichen Welten gehörte, die sich um neu entstandene Sonnen drehten.
* Die wispernden Stimmen schwiegen. Bjo Breiskoll hatte keinen Kontakt mehr mit der Außenwelt. Es hatte ihn den Rest seiner ohnehin angezehrten Kräfte gekostet, telepathische Verbindung mit Sternfeuer aufzunehmen und ihr die Botschaft der Unbekannten zu übermitteln. In seinen Gedanken lag alle Macht der Überzeugung, deren er noch habhaft werden konnte; denn er war sicher, daß die Unbekannten mit ihrem Plan das Richtige zu bewirken versuchten: die Rettung der Ungezählten, die von ihren sonnenlosen Planeten in den freien Raum hinaus aufgebrochen waren, und die Beseitigung der bösen, destruktiven Macht, die von Hidden-X ausging. Der Kontakt mit Sternfeuer war schließlich abgerissen. Die Erschöpfung hatte ihm einen mehrstündigen, ohnmachtsähnlichen Schlaf beschert. Als er erwachte, sah er, daß seine Ermahnungen nicht auf taube Ohren gefallen waren. Über der silbernen Wolkenschicht flammte der Himmel. Der Shift war nicht in der Lage, sich über den planetenumfassenden Wolkenmantel zu erheben. Aber auch so wußten Bjo, Sanny und Argan U, daß der Planetenwall sich im Zustand der Auflösung befand. Heftige Beben erschütterten die Oberfläche des Planeten. Orkane erhoben sich und fegten über die größtenteils ebene Welt. Die TALLATA bewegte sich in geringer Flughöhe durch das Chaos, im Flug gegen die seismischen Erschütterungen geschützt und durch ihre leistungsfähigen Stabilisatoren gegen die Wucht des Sturmes gefeit. »Was jetzt?« fragte Argan U verzweifelt. Bjo sah ihn an und grinste. Die Frage war so kompliziert, die Antwort so einfach. »Wir warten«, sagte er.
* Das trübe, rote Auge der kleinen Sonne, die Hage Nockemann und Blödel auf den Namen »Schlupfloch« getauft hatten, lugte vom großen Bildschirm. »Wir müssen Nachricht an die SOL durchgeben«, drängte Atlan. »Nockemann – wie weit ist die Dimensionsspindel noch von der Sonne entfernt?« »Ein paar tausend Kilometer von der äußersten Schicht der Korona«, antwortete der Galakto-Genetiker. »Ist es sicher, ein Schiff durch die Spindel zu schicken?« Diese Frage war an den Kontrollcomputer gerichtet. »Nicht beantwortbar«, antwortete die Maschine. »Die Wechselwirkung zwischen der Sonne und der Dimensionsspindel ist unbekannt. Analysen sind erforderlich.« »Bis wir die Analysen fertiggestellt haben«, rief Blödel, »ist die Spindel in der Sonne verschwunden.« Atlan nickte zustimmend. Er zog das Mikrophon des Hyperkoms zu sich heran. Auf dem Orterschirm glommen die Reflexe der vier Begleitschiffe. »GIRGELTJOFF an OSERFAN.« »OSERFAN hier. Was liegt an?« antwortete Lyta Kundurans sachliche Stimme. »Wir brauchen einen Freiwilligen, der der SOL einen Bericht überbringt.« »Und ich wurde ausgewählt?« lächelte Lyta. »Das Unternehmen ist gefährlich«, sagte Atlan ernst. »Der Kommandant muß auf die leisesten Signale der Positronik achten und kann es sich nicht leisten, auf automatische Warnanzeigen zu warten.« Lyta Kunduran, die wegen ihrer phänomenalen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Computertechnik den Spitznamen »Bit« erhalten
hatte, nickte gelassen. »Ich verstehe«, sagte sie. »Gib mir ein paar Minuten, und ich bin unterwegs.« Kurze Zeit später brach die OSERFAN auf. Der Bericht, den sie der SOL überbringen sollte, war inzwischen an ihren Bordcomputer überspielt worden. In der Zentrale der GIRGELTJOFF beobachteten Atlan, Uster Brick und Hage Nockemann, wie das Schiff sich dem Stern namens Schlupfloch näherte. Auf optischem Weg ließen sich die Sonne und der Umriß der Dimensionsspindel nicht mehr voneinander trennen. Nur der Orter entzerrte das Bild mit Hilfe der rechnergestützten Projektion. »Wir fliegen ein«, meldete Lyta Kunduran. »Es bleibt uns eine Toleranz von wenigen Minuten. Davon abgesehen, scheint die Sache ungefährlich.« »Sei vorsichtig!« Atlans Warnung klang wie ein Stoßgebet. »Was ist das?« fragte Nockemann plötzlich. Seine Hand zeigte auf eine dreidimensionale Darstellung der Energieflüsse in der Umgebung der Spindel. Das Bild war in Bewegung geraten. Farben veränderten sich. Eine Störung breitete sich von links nach rechts über die Videofläche aus. »Lyta! Zurück!« schrie der Arkonide. Er bekam keine Antwort. Es gab nur eine einzige Deutung für die Vorgänge, die das Bildgerät darstellte. Über eine Entfernung von zwölf Lichtjahren hinweg schlug Hidden-X ein weiteres Mal zu. Die Energiefront hatte die Aufgabe, die Funktion der Dimensionsspindel zu stören. Wenn die OSERFAN nicht sofort umkehrte, würde sie in ein fremdes Kontinuum verschlagen werden, aus dem es keine Rückkehr mehr gab. »Lyta …« Ein greller Blitz zuckte über das Orterbild. Der Vorgang spielte sich zu schnell ab, als daß das Auge ihm hätte folgen können. Als das Bild sich eine Zehntelsekunde später stabilisierte, war der Umriß der Dimensionsspindel verschwunden – und mit ihr der
Reflex der OSERFAN. »Mein Gott …«, hauchte Uster Brick. Atlan stand starr, den Blick auf den großen Optikschirm gerichtet. Zwei Minuten vergingen, dann blitzte es vor dem roten Leuchtpunkt der fremden Sonne auf. Ein neuer Stern ging auf, ein Gebilde von strahlend heller Intensität. Es war kurzlebig. Binnen weniger Sekunden verschwand es wieder; aber seine Leuchtkraft hinterließ einen Schatten auf der Retina des Auges, der noch eine Minute lang weiterlebte. »Wir haben die OSERFAN verloren«, sagte der Arkonide mit spröder Stimme, »und mit ihr die Dimensionsspindel. Hidden-X hat uns im letzten Augenblick den entscheidenden Strich durch die Rechnung gemacht. Wir sind im Sternenuniversum gefangen …« Ein Hyperempfänger erwachte knatternd und knisternd zum Leben. Durch das Rauschen der Störungen, ausgelöst durch die Explosion der Spindel, drang zaghaft eine menschliche Stimme: »Lyta Kunduran an GIRGELTJOFF. Da muß etwas schiefgegangen sein …« Ein wilder Freudenschrei, aus Dutzenden von Kehlen kommend, gellte durch die Zentrale. Atlan reckte sich in die Höhe und gebot mit ausgebreiteten Armen Ruhe. »Lyta!« rief er. »Wie steht es mit der Mannschaft?« »Es hat Verluste gegeben«, antwortete die schwache Stimme. »Aber die meisten sind wohlauf. Ich hatte sie alle in die Rettungsboote geschickt – für den Fall, daß es zu Schwierigkeiten kommt …« Der Arkonide wandte sich ab. Während Uster Brick dem Autopiloten auftrug, Kurs auf die Unfallstelle zu nehmen, gab Atlan sich dem Gefühl der Dankbarkeit hin, das ihn durchflutete. Gewiß, sie waren gefangen. Aber die größte aller Katastrophen, der großmaßstäbliche Verlust von Menschenleben, hatte sich wie durch ein Wunder abwenden lassen.
* An Bord der SOL wurde Breckcrown Hayes durch das Schrillen der Alarmgeräte aus dem Schlaf geschreckt. Durch Zuruf aktivierte er die Interkomverbindung mit der Zentrale. Curie van Herling meldete sich. »Die Dimensionsspindel ist explodiert«, sagte sie mit monotoner Stimme. Stunden später, nach Auswertung sämtlicher Daten, stand fest, daß der Vorgang von dieser Seite her nicht erklärt werden konnte. Der Einfluß, der die Spindel hatte detonieren lassen, mußte aus dem Sternenuniversum gekommen sein. Es war nicht auszuschließen, daß Hidden-X zugeschlagen hatte, um Atlan und seinen Schiffen den Rückweg zu versperren. Niedergeschlagenheit breitete sich an Bord des großen Fernraumschiffs aus. So kurz vor dem Ziel hatte man sich gewähnt, und mit solch brutaler Endgültigkeit waren alle Hoffnungen zerschlagen worden. Niemand wagte es, Breckcrown Hayes zu fragen, was als nächstes geschehen solle. Der High Sideryt wußte die Antwort nicht. Man mußte warten, bis die Nachwirkung des Schocks sich verflüchtigt hatte. Was aber blieb dann anderes übrig, als zu warten? Undenkbar, daß die SOL sich einfach auf den Weg machte und Atlan mit seinen Begleitern endgültig verloren gab. Man mußte ausharren und den winzigen Funken alogischer Hoffnung nähren, daß das sprichwörtliche Glück des Arkoniden ihn womöglich doch nicht für immer im Stich gelassen hatte.
ENDE
Durch die Zerstörung der Dimensionsspindel scheint für Atlan und die Solaner ein absoluter Tiefpunkt in ihrem Kampf gegen Hidden-X erreicht zu sein. Dennoch gibt das Wirken einer geheimnisvollen Macht Grund zu neuer Hoffnung. Ob diese Hoffnung berechtigt ist oder nicht, das berichtet Hans Kneifel im Atlan-Band der nächsten Woche. Der Roman erscheint unter dem Titel: DER KATZER UND DAS FLEKTO-YN